eBooks

Die Rache der Nerds

0912
2012
978-3-8649-6623-1
UVK Verlag 
Oliver Bendel

Wer deckt Plagiate von Prominenten auf? Die Nerds. Wer trägt schwarze T-Shirts und Kapuzen-Shirts? Die Nerds. Wer kommt per Datei in Ihr Wohnzimmer? Die Nerds. Wer taucht immer häufiger in Talkshows auf? Die Nerds. Wer lässt ökonomische Modelle zum Einsturz bringen? Die Nerds. Wer baut unsere Gesellschaft um? Die Nerds. Wer regiert die Welt? Die Nerds. Sie glauben das nicht? Nach dieser Lektüre über alle Hacker, Piraten und sonstige Nerds werden Sie diese Meinung uneingeschränkt teilen. Die Nerds sind omnipräsent und sie nehmen Rache... Der Autor illustriert auf unterhaltsame Weise, wie sich unsere Welt längst um Bits und Tweets, um Daten und Informationsethik dreht. Nichts ist erdichtet - alles ist erlebt. Aber Achtung! Für Politiker und Laien kann es gefährlich sein, in die vermeintlich ruhige See der Programmierer, Systementwickler und Prozessoptimierer einzutauchen.

Oliver Bendel Die Rache der Nerds Prof. Dr. Oliver Bendel studierte Philosophie, Germanistik und Informationswissenschaft und erlangte seine Promotion im Bereich der Wirtschaftsinformatik an der Universität St. Gallen. Heute lebt er als freier Schriftsteller in der Schweiz und lehrt und forscht als Professor an der Hochschule für Wirtschaft in Basel, Olten und Brugg (Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW). http: / / www.oliverbendel.net Oliver Bendel Die Rache der Nerds UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISBN 978-3-86764-390-0 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft Konstanz und München 2012 Einband: Susanne Fuellhaas, Konstanz Einbandfoto: © iStockphoto Inc. Druck und Bindung: CPI - Ebner & Spiegel, Ulm UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung - Ein Plädoyer für die Informationsethik . . 9 Die Moral der Informationsgesellschaft. . . . . . . . . . . . . 17 Verrückte Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Eine bessere Schreibmaschine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Scheinbare Prozessoptimierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Schöne neue Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Bibliotheken und Archive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Virtuelle Assistenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Schuldfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Der Zorn der Blogger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Wikipediaitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 E-Learning und Blended Learning . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Demokratisierung und Totalitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Netiquetten, Leitlinien, Kodizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Ingenieurswissenschaftliches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Automatismen und Manipulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Der Matthäus-Effekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Personalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Unerbetene Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Genügsame Verbraucher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Die geheimnisvolle Agentur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Im Rachen des Thesaurus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Gedruckte und elektronische Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Sterne holen und sehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Die Laien kommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Abhängigkeit von IT und IT-Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . 146 6 Cyborgs und Maschinenmenschen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 Das gläserne Produkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Der gläserne Patient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Die Modellierung der Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Die Ängste der Studierenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Der Latex-Professor. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Datensauger und -schleudern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Anonymität und Identifizierbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 Die digitale Unterschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Mobbing und Denunziation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Der Verlust der Privatheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Überwachung im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Kontrolle im Netz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Das Recht am eigenen Bild. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Der Bürger als Kunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Allmachtsphantasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Die Macht der Konzerne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Schwarmintelligenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Die Hüte der Hacker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Der Künstler als Selbstvermarkter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Plagiate in Studium und Beruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Der Verlust von Sprache und Stringenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Die Sklaven der Nerds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Der Zugang zur digitalen Information . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Das lange Gedächtnis des WWW . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Technologiefreie Räume, Gegenstände und Lebewesen . . 274 Die Mängel der Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Sachregister und Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 7 Vorwort G erne würde ich an dieser Stelle meinen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie meinen Sekretärinnen und Sekretären danken. Aber ich verfüge als Professor an einer Fachhochschule über keinen »Apparat«. Einerseits ist das gut so, denn jeder Fehler und jeder Irrtum auf diesen Seiten liegt in meiner Verantwortung. Andererseits braucht es bei einem Buch, das in der Freizeit neben vielen anderen Verpflichtungen entstehen muss, am Ende kritische Stimmen. Ich bin froh, dass ein Freund, Andreas Leber, und meine Freundin, Stefanie Hauske, hilfreiche Hinweise gegeben haben. Und dass sich Jürgen Schechler als Programmleiter und Lektor des Manuskripts angenommen hat. Winterthur, April 2012 Benutzungshinweis Im Buch finden Sie QR-Codes, mit deren Hilfe Sie weitere Hintergrundinformationen abrufen können. Ohne internetfähiges Smartphone erreichen Sie die Informationen unter http: / / www.die-rache-der-nerds.de . Dort finden Sie weitere Informationen zum Thema Informationsethik, zum Buch und zum Autor. 9 Einleitung - Ein Plädoyer für die Informationsethik I nformatiker und Wirtschaftsinformatiker haben die Welt erobert, zusammen mit den Unternehmen, die die Besten beschäftigen, den Verwaltungen, die die Übriggebliebenen aufnehmen - die Programmierer, die Systementwickler, die Prozessoptimierer haben die Welt erobert, kurz: die Nerds. Zum Bill-Gates-Nerd und Steve-Jobs-Nerd (als Typen von Nerds werden sie ewig leben) sind der Larry-Page-Nerd und der Mark-Zuckerberg-Nerd getreten. Und die Piratennerds, die die politischen Gremien entern. ( à QR-Info 1) Es sind mehrheitlich immer noch die kleinen, pickeligen, geradezu pixeligen Jungs, die keine Freundin abbekommen und sich dem Computer in die Arme geworfen haben. Aber sie sind gefährlicher - und im Falle von Zuckerberg auch muskulöser - geworden, und die Alten schauen sich von der Gefährlichkeit der Jungen etwas ab. Microsoft war für viele das Feindbild der 1980er- und der 1990er-Jahre, und das Verbrechen, das die Firma begangen hat, war schlimm genug: Es hat die Leute von schlechter Software abhängig gemacht. Apple hat sich immerhin damit begnügt, die Leute nach schöner Hardware süchtig zu machen, hinter der auch der Steve-Wozniak- Nerd stand, auf den vielleicht Weizenbaums Rede vom zwanghaften Programmierer passt, und nach guter Software; leider ist Apple aber in Domänen eingedrungen, in denen der Geist der Nerds zerstörerisch zu wirken begann. ( à - QR-Info- 2) Wie auch immer: Informatik und ihre kleine, ökonomisch angehauchte Schwester, die Wirtschaftsinformatik, sind die Leitwissenschaften geworden. 10 Die Rache der Nerds Seit geraumer Zeit gibt es einen Teilbereich der Informatik namens Informatik und Gesellschaft (IuG). Man könnte meinen, dass seine Bedeutung proportional zur Bedeutung der ganzen Wissenschaft und zur Zunahme moralischer und sozialer Umbrüche durch Informations- und Kommunikationstechnologien und digitale Medien gewachsen wäre. Dass seine Bedeutung geradezu explodiert wäre durch die Sprengkraft von Internet und Web, insbesondere Web 2.0. Aber das Gegenteil ist der Fall. Viele Studiengänge verzichten ganz auf die Beilage, ohne die das Hauptgericht aber nicht mehr schmeckt. Und ohne die man manchmal gar zu würgen beginnt. Ich bin froh, dass ich an meiner eigenen Hochschule Informationsethik unterrichten kann, und zwar unter der seltsamen (und umfassenderen) Bezeichnung »Informatik, Ethik und Gesellschaft«, die auf meine Initiative hin abgeschafft werden soll. Und glücklich wäre ich, wenn das Fach flächendeckend eingeführt würde, an allen Schulen, Berufsschulen und Hochschulen, in allen Industrie- und Schwellenländern. Froh bin ich auch darüber, dass die Studierenden durchaus, nach anfänglichen Zweifeln, die denkende Menschen auszeichnen, für solche Themen zu gewinnen sind. Ich kritisiere Informatik und Wirtschaftsinformatik sowie andere informationstechnische Wissenschaften und Beschäftigungsfelder nicht, um sie zu zerstören, was auch ein unsinniges und vermessenes Ziel wäre, sondern um sie zu wappnen gegen berechtigte Angriffe, die zunehmen werden. Die Bücher von Weizenbaum sind Klassiker und deshalb nicht mehr so »gefährlich«. Aber andere Schriftsteller und Experten haben sich aufgemacht, unsere Fachgebiete in Frage zu stellen. Und wir sollten ihnen nicht den Wind aus den Segeln nehmen, sondern den Wind dazu benutzen, in neue Gefilde zu segeln. Informatik und Wirtschaftsinformatik müssen sich, das ist meine Behauptung, grundlegend verändern, um zu überleben. Ökonomisch scheint das Überleben zwar über Jahrzehnte und Jahrhunderte 11 Einleitung gesichert zu sein, aber die technischen Disziplinen zerstören die Fundamente unserer Gesellschaft und Kultur. Und sie haben nicht die Reputation, die sie haben müssten, locken nicht genügend junge Leute an, die neben die Nerds treten und ihnen ein bisschen Manieren beibringen könnten. Die Wirtschaftsinformatik litt darunter, dass man sie nicht in allen Elfenbeintürmen als Wissenschaft anerkannte und sie keine eigenen Methoden besaß. Inzwischen nimmt man ihren eigenen Gegenstandsbereich wahr, der sich über die ganze Welt ausgebreitet hat. Und in St. Gallen und anderswo versuchen ihre Vertreter eigene Methoden zu etablieren; Methoden zwar, die aus anderen Wissenschaften oder den Mutterwissenschaften stammen, aber mit Fug und Recht als besonders geeignet für die Wirtschaftsinformatik angesehen werden. Man kann diesen Bemühungen mit Respekt begegnen und man kann feststellen, dass das Fach lebt und sich verändert, und man kann bemängeln, dass wir eigentlich ganz andere Probleme haben. Dass man sich viel zu wenig um die Folgen des Einsatzes von Informations- und Kommunikationstechnologien und Anwendungs- und Informationssystemen kümmert, gerade im betrieblichen bzw. ökonomischen Kontext. Und man kann bemängeln, dass man trotz des omnipräsenten Geredes von Interdisziplinarität den Absolventinnen und Absolventen anderer Studiengänge kaum eine Chance gibt, bei der Entwicklung und Anpassung mitzumischen. So wie man selbst als aussätzig betrachtet wurde und immer noch betrachtet wird, so straft man jetzt die Geistes- und Sozialwissenschaftler mit Verachtung, außer wenn sie einen in bestimmten Belangen unterstützen können (dann bestraft man sie nur mit schlechter Bezahlung). Ich habe mit Gewinn die Texte von Insidern wie Joseph Weizenbaum und Jaron Lanier und von Outsidern wie Nicholas Carr gelesen. Ich stimme ihnen oft zu, bin jedoch hin und wieder auch skeptisch. ( à - QR-Info- 3) 12 Die Rache der Nerds Ich teile ihren Pessimismus bezüglich einiger Entwicklungen und glaube, dass wir keine Kulturpessimisten sind und dass uns diejenigen, die uns dies vorwerfen, in der Regel gar keine Ahnung von Kultur haben. Natürlich sind Facebook und Google+ irgendeine Form von Kultur oder Teil irgendeiner Kultur. Genaugenommen handelt es sich um eine Entwicklungsstufe, die wir eigentlich bereits vor langer Zeit verlassen haben. Nicht, dass ich an die ständige Weiter- oder gar Hochentwicklung des Menschen glauben würde, aber drastische Rückschritte innerhalb von kurzen Zeiträumen, etwa bezüglich der Lese- und Schreibkompetenz, und ein webweites Hauen und Stechen müssen schon verwundern. Nein, Facebook ist nicht für alles verantwortlich, Google ebenso wenig. Und doch sind es die Summe der Dienste und Anwendungen und die Kombination der daraus resultierenden Gewohnheiten und Umstellungen, die uns - zusammen mit anderen gesellschaftlichen Veränderungen - in den Abgrund ziehen. Ich spreche von Nerds und fasse diesen Begriff recht weit. Ich verstehe darunter die Jungs mit dicken Brillen und dünnen Klamotten; viele von ihnen tragen das ganze Jahr ein T-Shirt, im Sommer ein Sommer-T-Shirt und im Winter ein Winter-T- Shirt. Es gibt aber auch Nerds, die Kapuzenpullis tragen, gerade unter den Hackern und Piraten, oder Rollkragenpullis wie Steve Jobs oder Arbeitskleidung wie ein politischer Newcomer, der durch die Sendungen gereicht wurde, oder ganz elegant daherkommen und nicht einmal in Old-Business-Kreisen auffallen. Und es gibt weibliche Nerds, die nach meiner Erfahrung etwas flexibler in ihrer Garderobe und in ihren Gedanken sind. ( à QR-Info 4) Das Nerdtum ist zu einer Massenbewegung geworden. Und damit nicht genug: Die Nerds haben Millionen von Followern. Der Begriff des Followers kommt aus dem Microblogging-Bereich. So wie es wichtig ist, auf Facebook viele Freunde zu haben, ist es wichtig, auf 13 Einleitung Twitter viele Follower zu haben. »Folgende«, »Jünger«, es passen mehrere Übersetzungen, und natürlich gab es schon vor Twitter verschiedene Bedeutungen. Die Nerds haben zahlreiche Jünger; diese surren wie kleine Server in den klimatisierten Redaktionen vor sich hin und verbreiten euphorische Nachrichten über das iPhone und das iPad bzw. das Samsung Galaxy oder über Google Street View. Sie stellen eine große Zahl der mehr oder weniger professionellen Blogger, die ihren eigenen Kosmos erschaffen und das Gerät bzw. sich in den Mittelpunkt rücken; sie sind überall und nirgendwo und haben sofort ihre Wunderwaffe zur Hand, das Schimpfwort des Kulturpessimismus. Auch der Begriff des Fortschrittsgläubigen (oder der Ideologie des Modernismus) ist ein Schimpfwort, und es ist wahrscheinlich genauso plump wie das andere. All diese Begriffe suchen mit Hilfe ihrer Herrchen (und Frauchen) nach Opfern, denen man in die Waden oder in den Hals beißen kann. Im Falle der Fortschrittsgläubigen wird angenommen, ihre Technik würde sie und uns beherrschen. Es kommt uns in der Tat so vor und es ist in gewisser Weise auch so, wenn die Menschen diese Technik »losgelassen« und sich selbst überlassen haben. Dennoch ist es immer noch so, dass Technik von Menschen erschaffen und wieder zerstört werden kann. Und es ist so, dass man manch eine Technik mit Hilfe von Technik beherrschen kann. In meinem Buch kann ich nicht alles ansprechen. Ich lege keine umfassende Beschreibung, keine lückenlose Theorie des Nerdtums vor. Und kein Lehrbuch der Informationsethik. ( à - QR-Info- 5) Ich führe zuerst in die Informationsethik ein (s. Kapitel »Die Moral der Informationsgesellschaft«), identifiziere und beschreibe dann 50 Gebiete, die in informationsethischer Hinsicht relevant sind, und kritisiere zuletzt die informationstechnische und »informationswissenschaftliche« Aus- und Weiterbildung (s. Kapitel »Die Mängel der Ausbildung«). Ich sammle, illustriere, mache 14 Die Rache der Nerds mir Gedanken und erzähle Geschichten. Immer wieder beginne ich in den 1980ern und 1990ern und lande dann mitten in der Gegenwart. Ein Schwerpunkt des Buchs sind die Entwicklungen der letzten zehn Jahre. Ich sehe mich, wie angedeutet, in der Tradition von Joseph Weizenbaum und Jaron Lanier, und was mir an Erfahrung und Wissen fehlt, kann ich vielleicht durch Aktualität und Begeisterung ausgleichen. Begeisterung, nicht zuletzt für eine neue Informatik und Wirtschaftsinformatik; denn als Professor für Wirtschaftsinformatik will ich eben nicht an der Abschaffung der Fächer, sondern im Gegenteil an ihrer Erneuerung mitwirken. Wirtschaftsinformatik sollte endlich ein wirklich interdisziplinäres Fach werden, sollte nicht nur zwischen Homo faber und Homo oeconomicus, sondern zwischen allen Vertretern des Homo sapiens vermitteln. Und es sollte für mehr Quereinsteiger möglich sein, ihre Erkenntnisse und Besonderheiten einzubringen. Die Informatik muss endlich ihren Teilbereich Informatik und Gesellschaft ernst nehmen, in Zusammenarbeit mit den Experten aus Philosophie (hinsichtlich der ethischen Fragen) und Soziologie (hinsichtlich der gesellschaftlichen Herausforderungen). An dieser Stelle höre ich ein Lachen des Lesers und den Einwand, die Philosophie sei doch tot. Der Tod ist mit Menschen (und Lebewesen überhaupt) verbunden, und es kann jederzeit Menschen geben, die das Fach wiederauferstehen lassen. Götter können nichts auferstehen lassen, aber Menschen. Und bei der Philosophie hätte man keineswegs ein Skelett ohne Muskeln und Fleisch vor sich. Es ist alles noch ziemlich frisch, auch wenn es an der einen oder anderen Stelle schon ein wenig unangenehm riechen mag. Was sind ein paar Jahrhunderte im Angesicht der Ewigkeit! Wir brauchen die Philosophie mehr denn je, die Mutter der Wissenschaften, die Verbindende, die Unbestechliche, die Unvergängliche. Sie könnte, so paradox es klingt, die wilde, 15 Einleitung die ungehorsame Tochter der Wissenschaften werden. Und wir brauchen Menschen, auch Nichtwissenschaftler, die die Tochter immer wieder einfangen und hegen und pflegen - und den »Informationswissenschaften« ein neues Gesicht geben, das man betrachten kann, ohne zu erschrecken. ( à QR-Info 6) Die Ausführungen und Geschichten möchte ich bewusst nicht zusammenfassen. Entscheidend ist die Art und Weise des Erzählens und Erkennens (oder Nichterkennens). Dennoch kann man ein paar Punkte identifizieren, um die anscheinend alles kreist im digitalen Himmel des irdischen Ethischen und auch in diesem Buch: - Wir nehmen Einbußen bei der Qualität in Kauf. - Wir verschwenden Zeit und Aufmerksamkeit. - Wir gleichen uns an in unserem Denken und Verhalten. - Wir schaffen Alternativen ab und stellen Abhängigkeiten her. - Wir verlieren unsere Erkenntnisse und unsere Fähigkeiten. - Wir lassen Kunden, Mitarbeiter und Freunde zu Schaden kommen. - Wir vermeiden in Aus- und Weiterbildung ethische Reflexionen. Und man kann ein paar Fragen aufwerfen: - Was haben uns die Nerds eingebrockt? - Welche informationsethischen Probleme sind entstanden? - Welche Konsequenzen für Informatik und Wirtschaftsinformatik ergeben sich? Nerdigen Unternehmen wie getAbstract würden diese Sätze und Fragen genügen. Ihnen kommt es auf eine vermeintliche Quintessenz an, bei Fachbüchern und bei Romanen (in Kooperation mit der alten Tante des Journalismus, der Neuen Zürcher Zei- 16 Die Rache der Nerds tung, kurz NZZ). Aber selbst wer die wichtigsten Aussagen verstanden hat, hat noch gar nichts verstanden. Es wäre gut, wenn man solche Unternehmen ausschließen könnte, so wie man Suchmaschinen von Websites ausschließen kann. Ich versuche, die einzelnen Themen zu finden, zu umkreisen, einzukreisen. Ich verlasse ein Thema, greife ein neues auf, gewinne eine andere Perspektive, entscheide mich für eine Lösung, widerrufe die Entscheidung, nähere und entferne mich. Das ist kein einfacher Weg, aber es ist ein Weg, und so platt der Satz auch klingt, passt er doch auf dieses Buch: Der Weg ist das Ziel. Und das Ziel ist in weiter Ferne. 17 Die Moral der Informationsgesellschaft W ährend meines Philosophiestudiums, das ich 1987 begann, beschäftigten mich natürlich auch ethische Fragen. Ich versuchte die »Nikomachische Ethik« von Aristoteles zu verstehen; vor allem aber widmete ich mich der so genannten Tierethik und las Autorinnen und Autoren wie Ursula Wolf (»Das Tier in der Moral«) und Dieter Birnbacher. Es ist auffällig, dass Ethiker oft auch Logiker sind, als bräuchte in ihnen die scheinbar weiche Wissenschaft eine offensichtlich harte Wissenschaft an ihrer Seite. ( à - QR-Info- 7) Logik und Wissenschaftstheorie spielten ebenfalls eine wichtige Rolle in meinem Studium und überhaupt an der Universität. Auf die Philosophen der Universität wird noch an anderer Stelle eingegangen (s. Kapitel »Eine bessere Schreibmaschine«). Heute, nach Büchern und Einlassungen von Jonathan Safran Foer, Karen Duve und Iris Radisch, könnte man glauben, dass tierethische Argumente erst wenige Jahre alt seien. Aber sie sind schon lange da, so lange, wie sie ignoriert wurden. Und die genannten Philosophen haben sie scharfsinnig formuliert. Ich persönlich benötigte nie ein Argument für meinen Vegetarismus; der Ekel vor Fleisch, vor Tier- und Menschenfleisch, muss (und kann womöglich) nicht begründet werden. Aber das ist ein anderes (wenn auch verwandtes) Thema (s. Kapitel »Cyborgs und Maschinenmenschen« und »Das gläserne Produkt«). Ausgangs- und Kulminationspunkt des vorliegenden Buchs ist die Informationsethik. Alle behandelten Gegenstände und 18 Die Rache der Nerds Entwicklungen kann man aus ihrer Perspektive betrachten. Eine andere mögliche Perspektive ist die der Sozialwissenschaft. Und die der Rechtswissenschaft. Ich habe, wie erwähnt, nicht die Absicht gehabt, ein Lehrbuch der Informationsethik zu schreiben. Vielmehr versuche ich zu untersuchen, welche moralischen Fragen sich ergeben, und diese zu systematisieren und zu exemplifizieren. Aber was ist überhaupt Informationsethik? Was ist überhaupt Ethik? Und was ist Moral? Ich will es kurz machen und mich auf Otfried Höffe berufen, der hochkompetent auf diesem Gebiet ist: Die philosophische Ethik »sucht … auf methodischem Weg … u. ohne letzte Berufung auf politische u. religiöse Autoritäten … oder auf das von alters her Gewohnte u. Bewährte allgemeingültige Aussagen über das gute u. gerechte Handeln« 1 . An dieser Erklärung ist jedes Wort wichtig, was typisch für gute philosophische Texte ist. Ergänzen will ich sie durch die Definition von Annemarie Pieper: »Die Ethik als eine Disziplin der Philosophie versteht sich als Wissenschaft vom moralischen Handeln.« 2 Ich will einen Schritt weitergehen und nochmals Höffe bemühen. Er unterteilt in empirische (die man auch deskriptive nennen kann) und normative Ethik. Die empirische suche die mannigfachen Phänomene von Moral und Sitte der verschiedenen Gruppen, Institutionen und Kulturen zu beschreiben und »in ihrer Herkunft u. Funktion zu erklären u. evtl. zu einer empirischen Theorie menschlichen Verhaltens zu verallgemeinern« 3 . Das Ziel der normativen Ethik sei es, »die jeweils herrschende Moral im Vorgriff auf eine zu Recht geltende, kritische Moral … zu beurteilen«, sie »gegebenenfalls zu kritisieren« oder »ein begründetes Sollen« darzulegen. Moral und Sitte stellen nach Höffe den »normativen Grundrahmen für das Verhalten vor allem zu den Mitmenschen, aber auch zur Natur u. zu sich selbst dar«. Sie »bilden im weiteren Sinn einen der Willkür der einzelnen entzogenen Komplex von 19 Die Moral der Informationsgesellschaft Handlungsregeln, Wertmaßstäben, auch Sinnvorstellungen« 4 . Ich bezeichne die Moral gerne als Gegenstand der Ethik; diese beschäftigt sich eben wissenschaftlich mit ihr. »Moralphilosophie« ist ein anderes Wort für Ethik und verweist auf den skizzierten Zusammenhang. Eine religiöse Ethik beschäftigt sich ebenfalls mit Moral. Sie hat aber einen entscheidenden Nachteil, nämlich die Berufung auf »religiöse Autoritäten«, also auf das, was Höffe zu Recht für eine philosophische (wissenschaftliche) Ethik ablehnt. Das macht sie nicht nur besonders angreifbar, sondern auch für unsere Zwecke unbrauchbar. Um den Begriff der Informationsethik definieren zu können, möchte ich noch den Begriff der Informationsgesellschaft einführen. ( à -QR-Info-8) Die Informationsgesellschaft ist eine Wirtschafts- und Gesellschaftsform, in der die Gewinnung, Speicherung, Verarbeitung, Vermittlung, Verbreitung und Nutzung von Informationen und Wissen einschließlich wachsender technischer Möglichkeiten der Kommunikation, Kooperation und Transaktion eine wesentliche Rolle spielen. Wie bei diesem Kompositum meint der Bestandteil »Information« eigentlich die Informations- und Kommunikationstechnologien (auch »IKT« oder, bezogen auf das englische Wort, »ICT« abgekürzt). Die Informationsethik hat die Moral (in) der Informationsgesellschaft zum Gegenstand. Sie untersucht, wie wir uns, Informations- und Kommunikationstechnologien und digitale Medien anbietend und nutzend, in moralischer Hinsicht verhalten und verhalten sollen. Von Belang ist damit auch unser Denken, das dem Verhalten vorausgeht und von diesem beeinflusst wird. Wie die Tierethik, die Medizinethik, die Wirtschaftsethik oder die Wissenschaftsethik ist die Informationsethik eine so genannte Bereichsethik. Der Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen - Informationswissenschaft wird im Folgenden nicht mehr als Sammelbegriff, sondern in einem engeren Sinne, als bestimmte interdis- 20 Die Rache der Nerds ziplinäre Disziplin (»information science«) verstanden - nähert sich dem Begriff in seinem Buch »Informationsethik« mit folgenden Worten: Das Internet ist der Raum, das Ensemble der intellektuellen Lebenswelten, in dem beim Umgang mit Wissen und Information neue Verhaltensformen, neue Normen - und eine neue, noch unsichere und noch unentschiedene Moral entstehen. Entsprechend kann Informationsethik (wie Ethik allgemein) als die Reflexion über moralisches Verhalten bzw. die Reflexion über real existierende, d.h. von bestimmten Gruppen oder von der Allgemeinheit als richtig angesehene Wertvorstellungen und normative Verhaltensformen bestimmt werden. Informationsethik ist dann das Ensemble offener Aussagen über normatives Verhalten, das sich in fortschreitend telemediatisierten Lebenswelten und in der Auseinandersetzung mit den in bisherigen Lebenswelten gültigen Werten und normativen Verhaltensweisen entwickelt. 5 Während Kuhlen also zunächst vom Internet spricht, weitet er anschließend den Bezugsrahmen mit der Rede von den telemediatisierten Lebenswelten; ich bevorzuge im vorliegenden Zusammenhang die Begriffe »Informations- und Kommunikationstechnologien« und »digitale Medien«. Der Medienwissenschaftler Rafael Capurro hat vor Jahren die Informationsethik in Netz-, Medien- und Computerethik unterschieden. ( à - QR-Info- 9) Informationsethik ist für ihn sowohl eine auf Informations- und Kommunikationstechnologien als auch auf Information bezogene Beschäftigung; von daher ist es konsequent, dass die Medienethik unter ihren Begriff fällt. Es liegt vor allem an der Entwicklung der Technologien und Medien, dass die Abgrenzung im Einzelfall schwer sein kann. Wenn man die Moral in sozialen Netzwerken analysiert - betreibt man dann Netzethik, Medienethik oder Computerethik? Wahrscheinlich alles zusammen, und je nach Schwerpunkt schlägt man in die erste, zweite oder dritte Richtung aus. Und wozu brauchen wir die Informationsethik? ( à -QR- Info-10) Unter anderem, um Lösungen für die Probleme zu finden, die in der Einleitung skizziert wurden, bzw. 21 Verrückte Prozesse die Probleme zu verstehen und die Lösungen vorzubereiten. Wenn wir unsere Freundinnen und Freunde ins Unglück stürzen, weil wir soziale Netzwerke benutzen, müssen wir die Ursachen identifizieren und diskutieren. Wenn unsere Kolleginnen und Kollegen durch die Ausbreitung von Anwendungs- und Informationssystemen an Freiheit einbüßen, müssen wir die Strukturen und Machtverhältnisse untersuchen. ( à - QR-Info- 11) Ich möchte versuchen, die moralischen Herausforderungen auf unterschiedlichen Gebieten zu reflektieren und zu veranschaulichen. So entsteht zwar, wie gesagt, kein Lehrbuch der Informationsethik, aber ein innerhalb der Informationsethik verwendbares Buch der Gedanken und Geschichten. ( à -QR-Info-12) Verrückte Prozesse Anfang 2008 startete ich mein Weblog mit dem Namen »Crazy Processes«. Von Anfang an zeichnete ich mit meinem vollen Namen und gab eine Kontaktadresse an. Wer mich verklagen will, soll das ohne Umstände können, ist meine Devise bis heute (s.- Kapitel »Anonymität und Identifizierbarkeit«). Am Anfang hatte ich nur wenige, aber zum Teil prominente Leser. Oder halbprominente. Mein erster Beitrag bestand aus folgenden Zeilen: Unser Alltag ist von verrückten Prozessen durchzogen. Ständig stolpern wir darüber und regen uns auf, aber es passiert selten etwas. Viele der Prozesse sind technologiegestützt. Sie wurden von fleissigen Informatikern und Wirtschaftsinformatikern oder von Ingenieuren erfunden. Die Informatik scheint ein bisschen das zu sein, was früher die Philosophie war. Eine Grundlagen- und Leitwissenschaft, die alle anderen Wissenschaften und etliche Bereiche des Lebens tangiert. Während die Philosophen, selbst die verrücktesten, für (oder gegen) den Menschen philosophiert haben, geht der Blick der Informatiker in eine andere Richtung. Ein perfekter Code, eine autonome Maschine: Ein User kann manchmal ganz schön stören. Und so stolpern wir dahin ... Dieses Blog soll »crazy processes« - vor allem IT-gestützte - sammeln und diskutieren. Vielleicht kommen wir so einen Schritt weiter. 6 22 Die Rache der Nerds Die Professorin der Universität St. Gallen, die ein paar Jahre lang meine Chefin gewesen war und die von einer Frauenzeitschrift als »Miss E-Learning der Schweiz« bezeichnet wurde, gratulierte mir zu dem Vorhaben. In Form eines Kommentars selbstredend. Am Anfang waren es kurze Beobachtungen dieser Art: Januar 2008. Ich schreibe meiner deutschen Versicherung eine E-Mail. Die Antwort kommt schnell. Zu schnell. »Gerne würden wir Ihre E-Mail noch zügiger beantworten, konnten sie aufgrund des Inhalts jedoch nicht direkt einem Vorgang zuordnen. Bitte unterstützen Sie uns dabei, indem Sie zusätzliche Angaben unter dem folgenden Link eingeben ...« Der Kunde als Sortierer seiner eigenen Post. Auch nicht schlecht. Oder dieser: Was ist ein Prozess und wie kurz darf er sein? Wenn mein Drucker mit mir kommuniziert, ist das sicherlich ein Prozess (ein Kommunikationsprozess). Meistens meldet er einen Stau. Er befiehlt mir, die hintere Klappe zu öffnen. Da ist das böse, zu entfernende Papier. Nun ist nur noch vorn ein Stau. Ich öffne die andere Klappe und hole ein zweites Papier heraus. Das erste ist immer schön bedruckt, vom zweiten löst sich die Farbe. Meine Finger werden schmutzig. Vorgestern bin ich an meinem Drucker vorbeigegangen und habe zufällig eine mir bisher unbekannte Meldung bemerkt. »Seitenpfad wird geleert.« Was, um Himmels Willen, ist ein Seitenpfad? Und warum wird er bitteschön geleert? Vor allem aber: Warum meldet mir mein Drucker das? Auf jeden Fall handelt es sich um einen sehr kurzen Prozess. Der Drucker sagt mir etwas. Und ich verstehe es nicht. Bis heute sammle ich solche »verrückten Prozesse«. Die Artikel sind länger geworden. Und sie haben mehr Leserinnen und Leser gefunden. Sie behandeln inzwischen auch politische und humanistische Themen. Und ich schenke Kunst und Literatur meine Aufmerksamkeit. Der Name, den ich mit Hilfe eines Bildbearbeitungsprogramms auf das Bild geschrieben habe, schließt verrückte Prozesse, Systeme und Menschen mit ein. Ich weiß, dass ich mich auf einer populären Plattform bewege, über die professionelle Blogger die Nase rümpfen. Ich bin dort seit 2005 Mitglied, und damals war mir nur wichtig, ein bisschen 23 Eine bessere Schreibmaschine herumprobieren und Erfahrungen für erste Artikel zu Social Media sammeln zu können. Heute ist mir wichtig, dass mein Blog werbefrei ist, vor allem frei von Google-Anzeigen. Es gibt höchstens Verweise auf meine Bücher und Websites. Und auf zwei, drei Angebote, an denen ich mitgewirkt habe. Neulich suchte ich auf der Website der »Achse des Guten« - Broder und Co schreiben dort, mal gut, mal schlecht, meistens formal nachlässig - nach einem Autor. Ich vertippte mich zunächst und korrigierte mich dann. Es kam eine Fehlermeldung mit der Erklärung: »Sie dürfen nur alle 15 Sekunden eine Suche starten.« Exakt um solche Prozesse und Systeme wollte ich mich kümmern, um dahinholpernde Gefährte, die gut gemeint, aber schlecht gebaut waren, und deren Achse bald brechen würde. Aus meinem Blog werde ich an der einen oder anderen Stelle zitieren. Es war mir hilfreich als Vorbereitung und Material für dieses Buch. Bloggen kann eine Form des lauten Nachdenkens sein. Eine bessere Schreibmaschine Im Alter von 16 Jahren kaufte ich eine elektronische Schreibmaschine. Bis dahin hatte ich mit einer mechanischen Gabriele geschrieben - und mit der einen oder anderen elektrischen Schreibmaschine, die mir in die Finger gefallen war. Auch eine gusseiserne stand bei mir herum, vor allem zur Dekoration, denn die Arme mit den Händen, die ihren Abdruck auf der weißen Fläche hinterlassen sollten, verhakten sich ständig ineinander, und die Hände griffen durch das Papier hindurch, als hätten sie besondere Kräfte. Manche Zeichen bestanden nicht aus Farbe, sondern aus Luft. Die Maschine, die Luft produzieren konnte, war freilich so schwer, dass man sie fast nicht alleine zu schleppen vermochte. Die elektronische Schreibmaschine war so groß wie ein heutiges Notebook und - Kunststoff sei 24 Die Rache der Nerds Dank - ein Leichtgewicht. Sie stammte von der japanischen Firma Canon, die man heute vor allem für ihre Fotoapparate und Kopierer kennt, und besaß einen Thermodruckkopf. Das beschichtete Papier wurde erhitzt, und dort, wo es erhitzt wurde, entstand erstaunlicherweise keine heiße Luft, sondern ein gestochen scharfer Buchstaben oder eine gestochen scharfe Zahl. Das Gerät verfügte über einen Speicher von einer Seite, und man konnte Seite für Seite in Flatter- und in Blocksatz setzen. Sie funktioniert, ganz nebenbei, noch heute. Anfang, Mitte der 1980er-Jahre konnte man sich natürlich schon einen »richtigen« Computer besorgen. Im Zimmer meines älteren Bruders stand einer. Er war nicht zu überhören, denn ein Nadeldrucker war an ihn angeschlossen, gleich hinter meiner Wand. Das Ergebnis sah so aus, wie der Prozess sich anhörte: Die Buchstaben waren wie gemeißelt. Keine Stanzung, mehr ein Relief. Auf dem grün-weißen Endlospapier, dem Klopapier der Nerds. Ich war ziemlich froh um meine Schreibmaschine. Ich weiß nicht, ob mein Bruder insgeheim neidisch war. Ich glaube es nicht, denn er benötigte den Computer für ganz andere Zwecke. Er war angehender Mathematiker, und die Ästhetik, die er anstrebte, lag in der Welt der Zahlen. Allerdings programmierte er auch ein bisschen, Basic und Pascal, wenn ich mich recht erinnere, und das war eben das Gebiet der Nerds, das man von der Mathematik aus leichtfüßig begehen konnte. Ich benötigte die Schreibmaschine, um Bücher mit Lyrik zu setzen, die in meinem Selbstverlag erschienen. Mit meiner Lyrik, die ich seit meinem 14. Lebensjahr absonderte und seit meinem 16. Lebensjahr erfolgreich schrieb und veröffentlichte. Als ich volljährig war, meldete ich ein Gewerbe an, was der Beginn des Niedergangs meines ersten und letzten Unternehmens war. Wir verwendeten die Schreibmaschine auch für unsere Schülerzeitung, mit der wir gerade einen Preis des Landes Baden-Württemberg gewonnen hatten. Einen Preis, den wir kriti- 25 Eine bessere Schreibmaschine sierten, wie in der Tageszeitung zu lesen war, genauer gesagt in der Schwäbischen Zeitung vom 21. Dezember 1984. Damals gab es noch klare Feindbilder, und Gerhard Mayer-Vorfelder war die hässliche Fratze unserer Jugend. Er hatte als Kultusminister die harmlosen Fotos von Nackten aus unseren Biologiebüchern verbannt und durch ungelenke Strichmännchen ersetzen lassen, eine Säuberungsaktion, die im Jahre 2011 in der Schweiz SVP, EVP, EDU und anderen rechten und religiösen Parteien und Gruppen vorschwebte. Eines Tages ging ich mit einem Freund und dessen Freundin, die ich in Bad Cannstatt besuchte, zu MVs Einfamilienhaus in dem Stuttgarter Stadtbezirk. Es war spät am Abend, und als ministeriales Einschlaflied pfiffen wir die Deutschlandhymne, mit sechs gespitzten Lippen und ohne jede Begabung für das Patriotische. Anschließend wurden wir von der Polizei mit Suchscheinwerfern durch die halbe Stadt gejagt und wegen Terrorismusverdacht zum Polizeiauto abgeführt, wo man unsere Personalien überprüfte. »Warum sind Sie geflüchtet? «, fragte der Polizist. »Weil wir verfolgt wurden! «, antwortete ich. Ein Reflex, der auch im Internet eine Rolle spielt, wobei manche sich immer verfolgt fühlen. Mein Freund lag auf dem Boden vor Lachen. Aber zurück zu der kleinen digitalen Schreibmaschine und der großen analogen Schülerzeitung. Ein-, zweimal im Jahr mieteten wir uns ein altes Haus auf dem platten Land südlich von Ulm und layouteten ein Wochenende lang. Wir waren zehn bis 15 Jungen und Mädchen, 15 bis 18 Jahre alt, wir hörten laut Musik und arbeiteten die Nächte durch. Wir aßen viel und tranken kaum. Es wurde ein bisschen herumgeknutscht, aber viel mehr passierte nicht. Das in sexueller Hinsicht Aufregendste geschah, als im Fernsehen Billy Idol mit der Bühne, damals noch seine beste Freundin, intim wurde. Wir waren also ungeheuer pflichtbewusst. Wir tippten die Artikel in verschiedenen Abmessungen, in breiten und schmalen Spalten, und klebten die Streifen 26 Die Rache der Nerds auf weiße Seiten in der Größe von DIN A3, die wir später auf DIN A4 verkleinern würden. Dazu gesellten sich Zeichnungen, Fotos, schmückendes Beiwerk aller Art. Die Zeichnungen wurden meist vor Ort von in dieser Hinsicht mehr oder weniger Begabten produziert. Mit meiner Schreibmaschine vermochten wir etwas ganz Neues, Unerhörtes umzusetzen. Plötzlich hatten wir Textblöcke vorzuweisen, die aus einer professionellen Zeitung hätten stammen können. Da flatterte nichts, da war nichts nur linksbündig. Nicht nur wir, auch die Leserinnen und Leser waren beeindruckt. Die Schülerinnen und Schüler und die Lehrerinnen und Lehrer des Hans-und-Sophie-Scholl-Gymnasiums in Ulm. An die wir die fertige Zeitung für wenig Geld weitergaben. Dass wir unsere Namen unter der Überschrift V.-i.-S.-d.-P. angaben, verstand sich von selbst. Verantwortlich im Sinne des Presserechts mussten und wollten wir sein. Ich nahm die Canon mit nach Konstanz zum Studium der Geisteswissenschaften, der Philosophie und der Germanistik, und schrieb meine ersten Hausarbeiten mit ihr, Seite für Seite, Block für Block. Eines Tages stand ich mit einem Professor für Philosophie im Aufzug. Bei ihm, Gereon Wolters, belegte ich Veranstaltungen zur Philosophie der Biologie und zur Tierethik. Ich hatte außerdem schon Friedrich Kambartel kennengelernt, der so schön hinkte wie kein zweiter, Martin Carrier, der nach jedem Satz »Okay? « ausrief, um unsere Aufmerksamkeit zu wecken und unser Verständnis zu testen, und den prominenten Jürgen Mittelstrass, der seinen Text offenbar ablas und deshalb am geschliffensten sprach. Neben den Veranstaltungen zur Biologie der Philosophie belegte ich Veranstaltungen zur Philosophie der Physik und der Mathematik, und neben dem stupenden Kambartel hatte der fundierte Klaus Mainzer dazu etwas zu sagen. Endlich verstand und mochte ich die Naturwissenschaften, und ich begriff, dass die Mathematik zu den Geisteswissenschaften (zumindest zu den Wissenschaften des Geistes) gehörte. Wolters 27 Eine bessere Schreibmaschine also, mit dem ich in diesem Moment nach oben fuhr, hatte vor kurzem eine Hausarbeit von mir erhalten und sprach zu mir: »Herr Bendel, Sie sind der am besten ausgerüstete Student dieser Universität! « Die zu diesem Zeitpunkt schon mehrere Jahre alte, schon veraltete Canon hatte mich in die technische Elite der heutigen Eliteuniversität katapultiert. Ich hatte einen Rechner, einen scheinbar modernen Rechner im altmodischen Gewand einer Schreibmaschine. Später verfasste ich meine Hausarbeiten mit einem echten Computer, einem aufgebohrten 386er, der alles Mögliche konnte und für mich trotzdem eine bessere (und in Bezug auf das Schriftbild der Ausdrucke schlechtere) Schreibmaschine blieb. Das war es, in den ersten Jahren war ein Computer für mich nichts anderes als ein Gerät, das mich bei meiner Lieblingsbeschäftigung, dem Schreiben und Setzen von Texten, unterstützte. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich mein Schreiben durch den Gebrauch des Computers verschlechterte. ( à -QR-Info-13) Ich hatte ja auch in den Jahren zuvor mit einer Maschine geschrieben. Dass ich nun Texte speichern und löschen sowie hin und her schieben konnte, empfand ich keineswegs als Mangel oder Problem, sondern als enorme Bereicherung. Zweifellos hat die Art des Schreibens Einfluss auf das Geschriebene. Wahrscheinlich produziert man mit der Hand anders als mit der Maschine. Ich denke aber nicht, dass ich schlechter formulierte, ganz im Gegenteil. Ich konnte meine Handschrift nie besonders gut lesen, ganz zu schweigen von anderen Bedauernswürdigen. Einem meiner Lehrer im Gymnasium musste ich einmal eine Klausur vorlesen, so schlecht konnte er sie entziffern. Das mit der elektronischen Maschine Geschriebene war nicht nur mühelos lesbar, sondern wirkte wie aus einer Zeitschrift oder einem Buch. Man sah es so, wie es später aussehen würde. Ich dachte damals, einer wie Günter Grass 28 Die Rache der Nerds durfte gerne mit der Hand schreiben, wenn es ihm half, sich auszudrücken; mir half es, wenn ich die Finger zum Drücken von Tasten verwenden konnte. Den einen helfen die Maschinen, den anderen schaden sie. Es ist optimal, wenn man die Technik so benutzen kann, wie es einem gefällt. Und wenn man sie weglassen kann, wenn man Probleme oder Bedenken hat. Ich würde einem anderen Schriftsteller niemals vorschreiben wollen, womit er seine Texte erstellt, ob mit einem Füller oder einem Notebook. Ein Problem ist natürlich, dass die Entscheidungsfreiheit des Schriftstellers schon heute stark eingeschränkt ist. Er muss einen handgeschriebenen Text maschinell »nachschreiben« lassen, damit er ihn an einen Verlag schicken kann. Wenn er berühmt bzw. bereits unter Vertrag ist, wird der Verlag Kompromisse machen bzw. eigene Ressourcen einsetzen. Diese Probleme sterben aus, könnte man einwenden, zusammen mit den Schriftstellern, die mit der Hand schreiben. Allerdings gibt es noch immer Schriftsteller, auch junge, für die das Schreiben mit der Hand die bessere Methode wäre. Aber diese Schriftsteller können sich heute nicht mehr entscheiden. Heute sind Verlage nicht einmal zufrieden, wenn man einen mit der Schreibmaschine geschriebenen Text abgibt. Sie wollen eine Datei haben, die sie direkt weiterverarbeiten können. Zum Beispiel einen RTF-File, den sie unproblematisch in ihr Satzsystem übertragen, oder einen TXT-File, aus dem sie ein Handybuch machen können. Selbstverständlich akzeptiert man, wie angedeutet, bei einem Schriftsteller der Weltliteratur sogar Handgeschriebenes. Aber es macht Arbeit. Arbeit, die man heute kaum noch tun will. Die größte Freiheit besteht vielleicht in den Übergangszeiten. Wenn eine neue Technologie eingezogen, aber noch nicht etabliert ist. In Zukunft gibt es solche Übergangszeiten nicht mehr. Wir - als Schriftsteller und Verlage - haben uns für den Computer entschieden und kaum noch eine Wahl. 29 Eine bessere Schreibmaschine Auch andere haben keine Wahl mehr. Ich weiß nicht, ob es ein Fach gibt, in dem die Studentinnen und Studenten noch eine handgeschriebene Arbeit abgeben können, oder einen Dozenten, dem an dieser persönlichen Ausdrucksform seiner Schützlinge gelegen ist. Ein Sonderfall sind vielleicht die Pädagogischen Hochschulen, die zu bestimmten Gelegenheiten die Handschrift beurteilen möchten, aus esoterischen oder aus praktischen Gründen. Bei Klausuren ist es kein Thema. Es dürfte eher die Ausnahme darstellen, dass man Studierende beim Abschlusstest den Computer benutzen lässt, es sei denn, es handle sich um einen Online-Test. Journalisten haben keine Wahl mehr, und so weiter und so fort. Wer auf das geschriebene Wort angewiesen ist, hat die Maschine dazwischen zu schalten. Und obwohl ich selbst die Wörter mit Lust und Gewinn in die Maschine eingebe und mit der Maschine verarbeite, halte ich den Verlust der Wahlfreiheit für bedenklich. Nicht nur in diesem Zusammenhang, wie sich herausstellen wird. Ich muss gestehen, dass die ausschließliche Arbeit am Bildschirm für mich nicht taugt. Ein weiteres Ausgabegerät ist mir zu Diensten: mein Laser- oder vielmehr Multifunktionsdrucker, der so gestochen scharf die Buchstaben auf das Papier überträgt wie damals meine Canon. Diese hatte ein langes, schmales Display, in dem ich nicht einmal einen durchschnittlichen Satz unterbrachte, heute ist es - nachdem die Bildschirme auf meinem Tisch zu Hause immer größer geworden und dann verschwunden sind - immerhin ein 15-Zoll-Monitor des Notebooks. Dieser ist nicht optimal, aber ich bin viel im Zug unterwegs, und das Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Monitorarten wäre mir lästig. Insofern prägt die Mobilität meine Arbeitsweise, gleichgültig wo ich bin. Und sicherlich hat wiederum der Monitor Einfluss auf das Geschriebene, und wiederum glaube ich nicht, dass das Geschriebene schlechter ausfällt als früher. Viel größeren Einfluss, ebenso nützlichen 30 Die Rache der Nerds wie schädlichen, hat die Internetverbindung, das Online-Sein im Offline-Leben. Der intensive Gebrauch meines Laserdruckers ist eine Verhöhnung des papierlosen Büros, dieses ewigen Traums der ökologisch Bewegten, zu denen ich mich im weitesten Sinne zählen würde. Ich korrigiere und lektoriere am besten auf Papier, und mir ist nicht einmal klar, woran das liegt. Liegt es an der gestochenen Schärfe der Buchstaben, dem unveränderlichen Material des Papiers? Oder am Wechsel, an der Möglichkeit, den Text in anderer Form anschauen und in ihn mit anderen Mitteln eingreifen zu können? Wie auch immer, so mühelos ich von der Schreibauf die Druckschrift umgestellt habe, vom Papier auf das Display, so mühevoll wäre es, wenn ich der Maschine die Wörter nicht wieder entlocken dürfte. Merkwürdigerweise hilft es mir schon, wenn ich von Microsoft Word oder OpenOffice. org Writer auf ein PDF-Dokument wechsle. Plötzlich sehe ich besser, klarer, fast wie auf Papier. Scheinbare Prozessoptimierung Im Jahre 1987 fing ich, nachdem ich für einen Monat Briefträger gewesen war, ein ganz klassischer, mit Angst vor Hunden, einen weiteren Ferienjob an, der mir für über vier Jahre mein Ein- und Auskommen sichern würde. Insgesamt war ich als angehender und als praktizierender Student nicht zimperlich, lieferte für eine Fachbuchhandlung aus, bis in die Gassen des Telefunken- Konzerns hinein, ließ mich in Zeichenkursen an der Volkshochschule von Hausfrauen porträtieren und malträtieren, brachte Kleider, Röcke, Hosen und Schuhe an die gutverdienende Frau, zog Sandplätze ab und besprengte sie, um mich dann den Matches und den Büchern zu widmen, gab ausländischen Kindern Nachhilfe in Mathematik und inländischen in Deutsch, korrigierte sprachlich desaströse Diplom- und Doktorarbeiten und 31 Scheinbare Prozessoptimierung bediente jahrelang in einem Café, in dem Skater, Punker und Geschäftsleute zusammentrafen und doch meistens unter sich blieben. Erst spät ergatterte ich mir einen der begehrten Jobs als studentische Hilfskraft und - nach meinem ersten Studium - als wissenschaftliche Hilfskraft an einem der Lehrstühle der Informationswissenschaft. Man hat heute romantische Vorstellungen vom damaligen Studentenleben. Aber für viele bedeutete es einfach viel Arbeit, zum einen für das Überleben, zum anderen für die Bildung. Die zahlreichen Partys waren der Ausgleich. Der Job, für den ich mich im Herbst 1987 entschied, kurz vor dem Beginn meines Studiums, war bei der Telefonauskunft angesiedelt. Ich war Operator, wobei man das Wort noch nicht kannte - man sagte einfach »Fräulein vom Amt« (das eigentlich das Fräulein war, das Verbindungen herstellte), auch wenn der Begriff des Fräuleins schon lange abgeschafft, zumindest aus dem Amtsdeutschen verbannt worden war. Es gab kaum Männer beim Fernmeldeamt, das später zur Deutschen Telekom wurde, und manchmal läuteten Kundinnen und Kunden durch, die sogar dann beim »Fräulein« blieben, als die Stimme ein eindeutig männliches Signal gegeben hatte. In der ersten Zeit hantierten wir noch mit Mikrofichekarten. Auf diesen bilderbuchgroßen Karten aus Kunststoff waren alle Daten der Telefonbücher winzig klein abgedruckt. Wir schoben sie in einen speziellen Apparat, der sie durchleuchtete und die Zeichen auf eine Mattscheibe warf. Ein paar Sekunden, nachdem die Kunden uns Name und (Wohn-)Ort des »Teilnehmers« (etwa einer Person oder einer Organisation) genannt hatten, lasen wir die dazugehörige Nummer vor. Wenn die Angaben ungenau waren, unterbreiteten wir Vorschläge, und meistens erreichten wir auf diese Weise das Ziel. Nach meinem zweiten oder dritten Aufenthalt in dem dämmerigen Großraumbüro stellte man auf Computer um. Es kam uns entgegen, dass man nun das Gerät über eine Tastatur be- 32 Die Rache der Nerds dienen konnte und nicht mehr in den Kasten mit den Karten greifen musste. Und es kam mir entgegen, dass man nicht mehr wissen musste, welche Karten man für welche Stadt oder Region benötigte. Heute haben selbst Taxifahrer nicht mehr alle Straßen im Kopf; sie fragen ihr Navi oder, noch weniger vertrauenserweckend, ihren Gast. Der Raum wurde vielleicht ein bisschen heller; jedenfalls warfen die Bildschirme ein helleres, moderneres Licht auf unsere Tastaturen und Tische. Inzwischen war die Mauer gefallen, und es riefen Menschen mit sächsischen oder anderen gewöhnungsbedürftigen Dialekten am Rande des Verständlichen an. Manche von ihnen waren jenseits der Sprache schwierige Kunden. Die Angaben waren weniger präzise als vorher; manchmal stand in einer großen Stadt nur ein Nachname zur Verfügung. Vorname oder Adresse waren auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht herauszukriegen. Aber selbst wenn die Ostberliner und Sachsen und Thüringer nicht da gewesen wären - unsere Arbeit hatte sich durch unser Werkzeug verändert. Die Einführung der Computer war Teil einer typischen Prozessoptimierung; in diesem Falle ersetzte man einen ganzen Vorgang durch ein neues Verfahren. Die Optimierung bestand darin, dass man etwas Zeit sparte. Wir waren schnell gewesen mit unseren Mikrofichekarten, erstaunlich schnell, aber nun waren wir noch schneller. Allerdings vermochten wir unpräzise Anfragen weniger gut zu bearbeiten. Vorher konnten wir, wie in einem Telefonbuch, eine Spalte absuchen. Wir konnten den Anrufern Vornamen oder Straßen oder gar eine andere Schreibweise des Nachnamens vorschlagen. In solchen Fällen hatte das Nachfragen häufig Erfolg gehabt; man erinnerte sich auf der anderen Seite der Leitung und ergänzte seine Angaben nach Möglichkeit. Mit dem Computer konnten wir nur den Nachnamen und die Stadt eintippen, und entweder es kam etwas dabei heraus oder es kam nichts dabei heraus. Bei einer unklaren oder falschen Schreibweise des Namens 33 Scheinbare Prozessoptimierung war nichts zu machen, selbst wenn im Telefonbuch der Name gleich daneben zu finden war. Letztlich wurde die Qualität der Ergebnisse unserer Tätigkeit schlechter. Das ist typisch für eine Prozessoptimierung durch Wirtschaftsinformatiker: Eine Dienstleistung wird schneller, aber schlechter, zumindest für ein paar Jahre. Einen ähnlichen Fall habe ich im Zusammenhang mit Computer und Schreibmaschine geschildert (s. Kapitel »Eine bessere Schreibmaschine«). Die Schreibmaschine war in Bezug auf die Druckqualität über Jahre überlegen. Alles in allem war es eine stupide Fließbandarbeit, die wir in dem immer noch nicht hellen Großraumbüro verrichteten. In Spitzenzeiten waren wir bis zu 50 Leute, wobei jeweils ein Teil in ein kleineres Büro abwanderte. 40 ältere Damen, zwei, drei Azubinen, drei, vier Studentinnen, zwei Männer. Einer von ihnen war ich, und es war so, als würde mein Erwachsenwerden durch die Fließbandarbeit beschleunigt. Nach acht Stunden war ich so müde, dass ich kaum noch ausgehen mochte. Ich las weniger, interessierte mich weniger. Und ich schwor mir, nie einen solchen Beruf dauerhaft auszuüben. Eines Tages hörten wir, dass man bei der Telekom über eine Halb- und eine Vollautomatik nachdachte. Man wollte zuerst die Maschine dazu bringen, die Nummer durchzugeben, die der Mensch herausgesucht hatte. Dann dazu, den kompletten Vorgang zu übernehmen. Mein Interesse war eher akademischer, grundsätzlicher Art. Meine Kolleginnen aber hatten erste Existenzängste, von denen ich noch zu wenig verstand. Die Halbautomatik habe ich nicht mehr miterlebt. Ich habe nur mit der einen oder anderen früheren Kollegin darüber gesprochen. Und ich erlebte sie selbst, als Kunde der Dienstleistung, an der ich mitgewirkt hatte. Ich empfand die Neuerung als Bruch. Man sprach mit einer Person, die einen plötzlich an eine Maschine weitergab, von der man sich nicht mehr verabschieden konnte. Vermutlich war es für die Operators unbefrie- 34 Die Rache der Nerds digend, nicht mehr über den ganzen Prozess hinweg zuständig zu sein. Nicht ohne Grund hatten verantwortungsvolle Fabrikherren und -damen bei der richtigen Fließbandarbeit die Arbeiterinnen und Arbeiter immer mehr in den Prozess einbezogen. Man hatte festgestellt, dass es diese kaputtmachte, wenn sie nur eine Schraube drehen durften und nicht wussten, was am Ende herauskam, nicht wussten, ob es eine Waffe oder ein Auto war. Von meinen früheren Kolleginnen erfuhr ich, dass ein Teil der Kunden unzufrieden war. Manche der älteren Anruferinnen und Anrufer begriffen gar nicht, dass sie an eine Maschine weitergereicht wurden. Sie wunderten sich vielleicht, dass aus dem Mann - das gar nicht so schweigsame Geschlecht war inzwischen nicht mehr ganz so selten anzutreffen - eine Frau geworden war. Sie versuchten vielleicht, ihr etwas Nettes zu sagen, zum Beispiel, dass sie jetzt viel sympathischer klinge als vorher. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Schlussendlich wurde manchen nie klar, dass sie sich mit einer Maschine unterhielten. Bis heute hat die Deutsche Telekom keine vollautomatische Telefonauskunft realisiert. Es war auch nicht notwendig, denn in den 1990er-Jahren etablierte sich das WWW, und bereits um die Jahrhundertwende hatte die Auskunft etliche Kunden an die elektronischen Telefonbücher - zuerst an die offline verfügbaren - verloren, von denen nur ein Teil von der Telekom selbst verantwortet wurde. Ich habe keinen Kontakt mehr zu den früheren Kolleginnen, und es werden nicht einmal mehr alle leben. Ich versuche mir aber vorzustellen, wie es für sie war, mit einem ganz bestimmten Menschenbild konfrontiert zu werden. Wie war es für sie, jahrelang Nummern herauszusuchen, die ihnen dann von einer Maschine entrissen wurden? Es ist eigentlich absurd: Der Suchvorgang, der gut von einer Maschine hätte übernommen werden können, wurde von einem Menschen durchgeführt. Die Weitergabe der Nummer dagegen, eine zutiefst menschliche Angelegenheit, wurde von einem Computer verantwortet, der so 35 Scheinbare Prozessoptimierung tat, als wäre er ein Mensch. Gewiss kann man einwenden, dass der Mensch den Vorgang eingeleitet hat; der Operator nimmt im übertragenen Sinne den Hörer ab, er begrüßt den Kunden und fragt nach seinem Wunsch. Bis dahin scheint der Prozess zu stimmen. Aber dann gerät er durch die Optimierung völlig durcheinander. Eine »ganzheitliche Betrachtung«, wie sie sich manche Wirtschaftsinformatiker, etwa die St. Galler Fraktion, mutig auf die Fahne schreiben, war das nicht. Wir müssen nicht darüber streiten, welche Experten in das Projekt involviert waren, ob Informatiker und Wirtschaftsinformatiker oder die altgedienten Kommunikationsexperten und Elektroingenieure des Fernmeldeamts. Es waren einfach die Nerds, die ich in diesem Buch meine und beschreibe. Die Nerds haben uns diese »Verbesserung« eingebrockt, und wenn sie uns nicht auch das Internet und das WWW beschert hätten, hätten sie in der Telefonauskunft die Vollautomatisierung durchgesetzt. Und natürlich haben die Nerds immer Auftraggeber, Manager, Verwaltungsleute, Politiker, wen auch immer. Und sie haben Anhänger, Jünger, die ihnen oder den Anweisungen ihrer Systeme folgen. Wir müssen nicht darüber diskutieren, ob es sich im einzelnen Fall um eine Geschäftsprozessoptimierung oder eine Geschäftsprozesserneuerung bzw. Geschäftsprozessneugestaltung (Business Process Reengineering) handelt. Wir können in einem Lehrbuch für Wirtschaftsinformatik oder Informationsmanagement nachschlagen, um die Details zu verstehen. Entscheidend ist schlicht und ergreifend die Idee, dass man mit Hilfe von Technologien und Systemen Prozesse verbessern kann. Selbstverständlich kann man das. Teile von Prozessen, vollständige Prozesse, Prozessketten. Geschäftsprozesse im engeren und im weiteren Sinne. Im Unternehmen, zwischen Unternehmen, zwischen Unternehmen und Kunden, und so weiter und so fort. Und das Entscheidende ist, dass man häufig im 36 Die Rache der Nerds Zuge der Verbesserungen eklatante Verschlechterungen ins Leben ruft und in Kauf nimmt. Manchmal geht man zwei Schritte vorwärts und einen Schritt zurück. Und manchmal geht man einen Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück. Schöne neue Welt Als ich Mitte der 1990er-Jahre zum ersten Mal die schöne, neue Welt des WWW bemerkte, wurde ich nicht nur angezogen. Ich wurde regelrecht verschlungen. Ich war den ganzen Tag im Web unterwegs. »Weltweites Wandern« bedeutete die Abkürzung (und »weltweites Warten«, wie bei einem Gewitter). Die Leute sprachen freilich lieber vom Surfen. Und vom Untergehen in der Informationsflut. Tags surfte ich also. Und nachts träumte ich, ich würde surfen. Klick für Klick raste ich durch das bunt schillernde Wasser, von Pixelinsel zu Pixelinsel, und ich wusste, dass es kein Ende geben würde und ich eine Grenze überschritten hatte. Eines Tages ging ich durch die Stadt, in der ich wohnte, durch das winterliche Konstanz. Ich hing meinen Gedanken nach und blickte nach links und nach rechts, wie man es eben tut, wenn man nicht überfahren werden oder eine andere unliebsame Überraschung erleben will. Plötzlich bewegte ich den Arm, die Hand, die Finger. Ich wollte etwas anklicken, ich weiß nicht mehr was. Ich weiß auch nicht mehr, was ich damit bewirken wollte, ob ich auf eine hübschere An- oder Aussicht hoffte - oder darauf, etwas rückgängig zu machen. Der Back-Button der Realität. Ich erschrak heftig und zog meine Hand zurück, als wäre sie für einen Moment in der Virtualität gewesen. Was mir passiert war, passierte mir nicht wieder. Ich war nicht verrückt geworden. Ich war aber in etwas hineingezogen worden, das mich - vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben, Liebesschmerz einmal ausgenommen - außer Kontrolle gebracht hatte. Drogen kannte ich nicht, Erscheinungen spielten 37 Schöne neue Welt in meinem Leben keine Rolle; aber die schöne neue Welt hatte mich auf eine Weise gelockt, der ich nicht hatte widerstehen können. Es war kein bestimmtes Angebot, keine bestimmte Website. Es war der Rausch der Geschwindigkeit, der Sog der Endlosigkeit, der Sturm der Zufälligkeit. Es war eine Form der Abhängigkeit, die ich zum Glück schnell überwunden habe. Trotzdem ist ein Schaden geblieben, eine alte Wunde, die immer wieder aufbricht. Das Web hat mich ausgespuckt, aber die erste Begeisterung darüber, dass ich überlebt habe, ist der Enttäuschung darüber gewichen, dass mich das Biest an irgendeiner denkenden Stelle meines Ichs erwischt hat. Ich checke jeden Tag bis zu 40 Mal meine E-Mails. Das Schlimme ist, dass jeden Tag interessante Nachrichten eintreffen, und manche verändern meinen Tag, manche sogar mein Leben. Das ist keine Übertreibung; die Zusage für die Veröffentlichung meines ersten Romans habe ich per E-Mail erhalten, und ich habe sie zu diesem Zeitpunkt erhalten, weil ich im Urlaub in ein Internetcafé gegangen bin. Wichtiges also, Tag für Tag, Woche für Woche. Trotzdem ist mein Verhalten - bei allem Verständnis für mich selbst - nicht gerade gesund. Dabei bin ich nicht einmal verhaltensauffälliger als viele andere. Es gibt Leute, die in jeder Minute ihre E-Mails checken, über 15 Stunden hinweg. Ich selbst habe mich, als ich versucht habe, meine Klicks zu zählen, dadurch für eine Weile diszipliniert. Das Nachdenken über den Missbrauch der Maus kostet Zeit und mindert Lust. Ich hätte eine Software installieren können, und nach ein paar Tagen, wenn ich sie vergessen hätte, wäre ich zu realistischeren Ergebnissen gekommen. Die Frage ist freilich, was mir diese nützen würden. Ob ich 40 Mal meine Box aktualisiere oder 400 Mal - bin ich im zweiten Fall zehn Mal verrückter oder zehn Mal nervöser als im ersten? Ich war diszipliniert, eine Woche lang. Dann fing ich wieder hemmungslos an zu klicken und machte mich auf zu neuen Rekorden. 38 Die Rache der Nerds Was andere Dienste angeht, bin ich nie den Verlockungen erlegen. Instant Messengers benutze ich vielleicht einmal die Woche. Wer mit mir zu Mittag essen will, muss mich auf andere Weise kontaktieren. Am besten per E-Mail, dann kann ich mir die Sache in Ruhe überlegen; E-Mail ist ja immer noch ein asynchrones Medium, auch wenn es mehr und mehr synchron verwendet wird. Oder er oder sie steht einfach in der Tür, wenn ich im Büro bin. Das ist zwar ebenso unvermittelt, aber ich kann ja sagen, dass ich keine Zeit habe. Und dazu zwinkern, fast wie ein Smiley. Allerdings bin ich meistens im Büro unseres Hauses. Auch Social Networks waren nie mein Ding. Die Idee finde ich grundsätzlich nicht schlecht; nur habe ich keine Lust, ein Profil anzulegen, das allzu viel vom Geisteszustand der Betreiber verrät (von meinem ganz zu schweigen), und keine Lust, meine Aktivitäten den voyeuristischen Benutzern und meine Beziehungen einem datengeilen Unternehmen offenzulegen. Selbst eBay frequentiere ich selten, allenfalls einmal, um eine Lithografie oder einen signierten Druck zu beschaffen. Als ich Anfang 2011 für eine Heldin aus einem meiner Romane einen Twitter-Account eröffnete, dachte ich eigentlich nur daran, ein paar Nachrichten pro Woche abzusetzen und den Microblog mit meinem Blog zu verbinden. Schon Jahre zuvor hatte ich einen Twitter-Account gehabt, jedoch gleich wieder aus Desinteresse geschlossen. Dieses Mal kam meine Lucy (aka Lulu) in einen Strudel, der meinem damaligen Sog im Web ähnlich war. In der ersten Woche schickte sie um die 200 Tweets ab. In der zweiten nochmals so viel. Nach dem 1.111. Tweet wurde es ruhiger um sie; ihr Schöpfer hatte eine Ahnung davon bekommen, wie der Dienst die Zeit fragmentieren kann. Und wie man gegen eine Netiquette verstoßen kann, die man selbst aufgestellt hat (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes«). Lucy folgte einem jungen Popstar, Eliza Doolittle. Ich hatte sie im Fernsehen gesehen und war sofort von ihr eingenommen 39 Schöne neue Welt gewesen, wahrscheinlich wegen ihrer kurzen Hosen, die sie, wie sie behauptete, winters wie sommers trug. Eliza setzte ständig Nachrichten ab, und wenn man gewollt hätte, hätte man jeden von ihr zurückgelegten Meter auf einer Karte nachzeichnen können, besser als von einer polizeilich überwachten Zielperson. Ihr Künstlername hängt indirekt mit dem Programm ELIZA zusammen, das Joseph Weizenbaum geschaffen hat (s.- Kapitel »Virtuelle Assistenten«); aber die Tweets werden wahrscheinlich nicht nur von einem echten Menschen abgesetzt, sondern sogar von Eliza Doolittle persönlich. ( à -QR-Info-14) Die ersten 2.000 Tweets von Lulu wurden in dem Band »Blondinengezwitscher« dokumentiert, der im August 2011 in der »Kindle Edition« von Amazon herausgekommen ist. Alle Links sind vorhanden und können verfolgt werden. Vermutlich werden unterdessen nicht mehr alle funktionieren. Das ist Dokumentationen dieser Art immanent. Unsere gedruckte Analyse der Bundestagswahl 1998 in Deutschland, das Buch »Die Mondlandung des Internet«, wird etliche fehlerhafte Links enthalten (s. Kapitel »Demokratisierung und Totalitarismus«). Wobei die Links eigentlich in Ordnung und nur die Ziele nicht mehr gegeben sind. Oder gehört zu einem Link ein Ziel? Nach dem zweitausendsten Tweet zwitscherte mein Vögelchen noch eine Weile weiter. Dann drehte ich ihm den Hals um und setzte mich an seiner Stelle auf den Ast. ( à -QR-Info-15) In den letzten Jahren ist viel über die Abhängigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten der Benutzer geschrieben worden. Es sind mehrere Bücher in diesem Themenkreis auf den Markt gekommen. Die Autorinnen und Autoren haben Beängstigendes an sich festgestellt. Sie waren entweder im Virtuellen süchtig geworden, was das Reale des Virtuellen zeigt. Oder sie hatten etwas im Realen verloren, beispielsweise die Fähigkeit, einen 40 Die Rache der Nerds langen Text an einem Stück zu lesen und zu verstehen. In der Tat dürfte das Herumspringen im Netz die Konzentrationsfähigkeit nicht gerade steigern. Auch Instant Messengers lenken uns ab und zerbröseln die Zeit. Manchen Texten merkt man den Zustand der Autorinnen und Autoren an. Sie wirken wie zusammengeklaubt, zusammengestückelt, und manch ein Blogger hat höhnisch festgestellt, dass man bei der Produktion die Techniken anwandte, die man in den Texten verteufelte. Das traf tatsächlich bei einigen Büchern zu; man muss aber der Gerechtigkeit halber anmerken, dass die Autorinnen und Autoren sich meistens aus Hypertexten eigener Produktion bedienten, aus ihren Blogs, von ihren Websites. Das Web faszinierte mich damals so stark, dass ich unbedingt selbst Websites erstellen wollte. Ich bewarb mich für ein Praktikum an der Universitätsbibliothek Konstanz, einer der Leuchttürme in Deutschland. Schon seit Jahren war die Bibliothek etwas Besonderes gewesen. Sie hatte bis weit in die Nacht geöffnet, damals bis 23 Uhr. Heute kann man rund um die Uhr hinein, und vielleicht ist das der einzige Weg, eine Buchverwahrungsanstalt vor der Schließung zu bewahren. In dem Moment, wo alle Bücher elektronisch verfügbar werden und sie sich im Elektronischen transformieren, muss man den Raum der Bibliothek noch stärker den lesenden Menschen widmen. Oder eine Diskothek daraus machen. Beim Bewerbungsgespräch nahm man mir ab, dass ich die Hypertext Markup Language (HTML) beherrschen würde, obwohl ich keine Ahnung davon hatte. Ich bekam den Job und arbeitete mich rasch ein. Die Fachführer, die ich erstellte, waren nicht besonders schön, aber sie funktionierten. Die meisten Mitarbeiter, die Leitung eingeschlossen, waren zufrieden damit. Ich verfasste einen kleinen Bericht, der veröffentlicht wurde, ohne dass man mich vorher gefragt hatte. Es war die erste »wissenschaftliche« Veröffentlichung nach meiner Magisterarbeit. 41 Schöne neue Welt Bibliothekarinnen und Bibliothekare sind häufig furchtbar langweilige Menschen. Gleichzeitig haben sie eine gewisse Verbissenheit, wie die Bücherwürmer, die sie eigentlich sind. Ein anderer Vergleich gefällt mir allerdings besser: Sie sind die Nerds der Bücherwelt. Ohne Zweifel gibt es ab und zu spannende Exemplare unter ihnen. Ein gelassener, gebildeter Bibliothekar, den ich damals kennenlernte, war Uwe Jochum. Er wird sich kaum an mich erinnern; mir gefiel, dass er weder sich noch anderen etwas beweisen musste und sogar gegenüber Praktikanten gnädig in seinem Urteil war. Bekannt geworden ist er einem breiten Publikum durch seine »Kleine Bibliotheksgeschichte«, die neben Umberto Ecos Werk »Die Bibliothek« in jedem bildungsbürgerlichen Haushalt im Regal stehen oder auf der Festplatte liegen sollte. Übrigens war das Praktikum so schlecht bezahlt, nämlich gar nicht, dass ich nebenbei weiter arbeiten musste, um es mir leisten zu können. Es ist also keineswegs so, dass man zu dieser Zeit jedem Einäugigen unter den Blinden Bündel von Geldscheinen oder Haufen von Goldstücken in den Hut geworfen hätte. Praktischerweise war der Job in der Bibliothek selbst angesiedelt, und eine Hauptaufgabe war das Einsortieren der zurückgegebenen Bücher. In meinem ersten Studium hatte ich nicht viele zweifelhafte Gestalten kennengelernt, die Prüfer meiner Magisterarbeit ausgenommen. In meinem zweiten Studium, dem Studium der Informationswissenschaft, in dessen Rahmen ich das Praktikum absolvierte, war es schon anders. Ein als Kommilitone getarnter Nerd bat uns - wir hatten zu zweit eine Hausarbeit geschrieben - um unser Literaturverzeichnis. Aus irgendwelchen Gründen überließen wir es ihm, und er klebte es einfach an seine Hausarbeit an, was offenbar niemandem auffiel und wahrscheinlich niemanden interessierte. Die eigentlichen Asozialen waren indes die Jurastudenten, deren Bücher ich zurückstellen musste. Meine Kolleginnen und 42 Die Rache der Nerds Kollegen erzählten mir haarsträubende Storys, die ich in meiner Arbeit bis ins Detail bestätigt fand. Ein Ärgernis war, dass die Jurastudenten - vor allem kurz vor Klausuren - Bücher versteckten oder Seiten aus ihnen herausrissen. Das bedeutete Kosten und Aufwand für die Bibliothek - und einen Imageverlust der Rechtsexperten bereits an der Hochschule, um den sie sich freilich nicht scherten. Die Logik der Juristen habe ich seitdem an verschiedenen Stellen wiedergefunden. Die UB Konstanz wurde 2010 mit einem Preis (»Bibliothek des Jahres«) ausgezeichnet. Dann wurde ein Problem mit Asbest bekannt, das zur zeitweiligen Schließung führte. Nicht geschlossen werden mussten die Fachdatenbanken und Zeitschriftenkataloge. Es war ein Segen, dass ein Teil der Literatur elektronisch vorhanden war und man auf eine Unmenge an Literatur auf der ganzen Welt zugreifen konnte. So viele Menschen schwärmen vom Duft der Bücher. Kaum jemand räumt ein, dass Bücher stinken können. Sie nehmen wie Menschen mit der Zeit einen unangenehmen Geruch an. Und kaum jemand ist sich der physischen Gefahren bewusst; Gegenstände können verbrennen, im Wasser Schaden erleiden - oder eben in Räumen aufbewahrt sein, die verseucht wurden. In diesen Fällen ist es gut, ein Backup zu haben. Bibliotheken und Archive Ich will nochmals auf Bibliotheken und Archive ein- und dafür noch weiter in die Vergangenheit - in meine Vergangenheit - zurückgehen. Für manche wird die Geschichte so klingen, als wäre sie vor Ewigkeiten passiert. Mir selbst kommt es auch so vor, und es ist ein merkwürdiges Gefühl, mit der eigenen Erinnerung zwischen den Zeiten hin und her zu wandeln, ohne schon ein Greis zu sein. 44 Jahre alt bin ich bei Erscheinen des vorliegenden Buchs, und vielleicht werden es 88, wenn mich kei- 43 Bibliotheken und Archive ne Nerds in einen Serverraum sperren und mich erst erfrieren und dann verhungern lassen. Als ich Inge Scholl kennenlernte, war ich 18 Jahre alt. Ihre jüngere Schwester war von 1932 bis 1940 auf meine damalige Schule gegangen. Sophie kämpfte zusammen mit ihrem Bruder Hans gegen die Nazis, was beide bekanntlich mit ihrem Leben bezahlten. Hans und Sophie Scholl waren und sind meine Helden. In der Stadt, in der ich aufgewachsen bin und aus deren Bauch auch Einstein kommt, in Ulm an der Donau, war in meiner Jugend in den 1980er-Jahren von der unheilvollen Zeit rein äußerlich nichts mehr zu bemerken, abgesehen von den baulichen Blähungen der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre und vom Fehlen der Juden. Jedes Jahr nahmen wir im Unterricht den Nationalsozialismus durch. Aber wir erfuhren nichts darüber, wie die Juden Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft bereichert hatten, und wir wurden nicht darüber belehrt, was Juden überhaupt sind, Angehörige einer Kultur oder einer Religion. Die von den Nazis ermordeten Widerstandskämpfer wurden für uns konkret. Aber nicht die anderen Opfer. Ich traf mich mehrmals mit Inge Scholl, um im Stadtarchiv weniger bekannte Fotos ihrer Geschwister für eine Ausstellung an der Schule auszuwählen. Ich erschrak beim Sichten darüber, wie jung sie gewesen waren. Inge Scholl lebte mit ihrem Mann Otl Aicher in Rotis bei Leutkirch. Eine schlichte Schriftart von ihm trägt den Namen des Dorfs. Und jedes Kind, zumindest der 1970er- und 1980er-Jahre, kennt seine Olympia-Piktogramme mit den stilisierten Sportlern. Zusammen mit dem Winterthurer Max Bill hatte das Ehepaar die berühmte Hochschule für Gestaltung in Ulm aufgebaut, die nach einigen Jahren trotz des Erfolgs von ignoranten schwäbischen Politikern geschlossen wurde, die nicht rechtzeitig an ihren Maultaschen erstickt waren. Von Inge Scholl stammte das kleine, große Buch »Die Weiße Rose«. Der Duft dieser Blume berauschte meine Generation, 44 Die Rache der Nerds zumindest ein paar davon. In meine Stadt reiste sie, um sich die Haare machen zu lassen. Merkwürdigerweise weiß ich nicht, ob ich sie vor dem Friseurtermin traf oder danach. Inge Scholl ist vor langer Zeit gestorben. Ihr Leben hat alles umspannt, von den schrecklichen Jahren im Dritten Reich bis zu unseren für sie nicht so wichtigen und für mich so wichtigen Treffen, von dem tragischen Tod ihres Mannes bis hin zu ihren Jahren mit sich selbst. Ich erinnere mich nicht mehr an den Raum, in dem wir arbeiteten, von einer gewissen Dämmerung abgesehen. Aber die Fotos sind immer noch vor meinem inneren Auge, hell und leuchtend, was an der damaligen Leselampe liegen mag. Eine Lese- und Gucklampe, könnte man sagen. Was empfand Inge Scholl, als wir das ganz besondere Papier hin und her reichten, das Papier der Erinnerung? Ich war jünger, als ihre Geschwister bei ihrem Tod gewesen waren, aber nicht viel. Aus ihrer Perspektive musste ich ein sehr, sehr junger Mann gewesen sein, wenn überhaupt ein Mann. Nach meinen Treffen habe ich erfahren, dass sie von mir angetan war. Ich weiß nicht mehr, wer mir das erzählt hat, vielleicht jemand von der Ulmer Volkshochschule, die sie aufgebaut und geleitet hatte, und wo eine Lesung mit mir arrangiert worden war. Und ich weiß nicht mehr, in welchem Sinne sie das meinte. Auf jeden Fall machte es mich sehr stolz, so etwas zu hören, gerade weil ich nur eine Fußnote in ihrem Leben war, eine Nummer mit ein paar Wörtern oder Sätzen daran. Es war für mich damals selbstverständlich, die Stadtbibliothek zu besuchen, die sich noch im selben Gebäude wie das Archiv befand, im über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Schwörhaus. Ich wurde nie ein Meister im Bedienen des Katalogs, der aus zehntausenden Karteikarten in Holzschubern in einem raumfüllenden Möbel bestand, aber ich war hartnäckig und getraute mich, die Bibliothekarinnen zu fragen. Es waren 45 Bibliotheken und Archive meistens Bibliothekarinnen, als wären nur sie in Liebe zum Buch entbrannt, und als wären nur sie in der Lage, die Liebe soweit abkühlen zu lassen, dass sie die papierenen Geschöpfe in ihr Gefängnis stecken konnten. Ein typisches Exemplar half mir beim Suchen und Finden, eine Suchmaschine mit Pagenkopf und ohne Werbung an ihrem Körper. Zehn Jahre zuvor war ich ständiger Gast der Kinder- und Jugendbibliothek gewesen. Sie war in den gleichen Gebäuden wie die Volkshochschule untergebracht, ohne dass mir der Name Inge Scholl etwas gesagt hätte, und nicht einmal Hans und Sophie Scholl waren mir ein Begriff. Das änderte sich erst, als ich von der Grundschule, deren Name eine Hommage an den Schneider von Ulm war, auf das Gymnasium wechselte. Ich war fasziniert von dem alten Gebäude, das in einem Park lag, durch den ich hunderte Male gegangen war, an der Hand meiner Eltern oder mit anderen Kindern, von dem alten Gebäude, dessen Äußeres ich hunderte Male durch die Bäume hindurch erblickt, dessen Inneres sich mir aber bisher verschlossen hatte. Ich rannte jeden Tag die Treppen rauf und runter, am liebsten dann, wenn sie frisch gebohnert worden und gefährlich waren, vorbei an den steinernen Säulen und stillgelegten Wandbrunnen und an den wenigen Fotografien der beiden Widerstandskämpfer. In der Jugendbibliothek lieh ich mir die Drei Fragezeichen aus und andere mehr oder weniger wertvolle Bücher, die ich dann in dem schwarzweißen James-Bond-Ohrensessel unserer Wohnung verschlang wie andere Jungen einen Hamburger. Und zwei, drei Mal besuchte ich auch Lesungen, wobei das später gewesen sein muss, Lesungen von Jugendbuchautorinnen wie Mirjam Pressler, und noch ein wenig später verließ ich die Jugendbibliothek und hörte mir in den Stockwerken darüber Kurt Schwitters’ Ursonate an, und noch später pilgerte ich zu Walter und Inge Jens, Günter Grass, Martin Walser und Peter Härtling. Der chronisch unterschätzte Härtling fertigte eine kleine Zeich- 46 Die Rache der Nerds nung für mich an, die ich in meiner Schatzkammer der Bilder und Texte aufbewahre. Heute würde ich Inge Scholl vielleicht im Internet treffen und mit ihr Bilder über E-Mail, Instant Messengers, Bildplattformen und Filesharing-Netzwerke austauschen. Wir könnten sehr viel effektiver und effizienter zusammenarbeiten. Wir könnten die Fotos gleich auf einer Website präsentieren und nicht nur den Besuchern der Schule, sondern der ganzen Welt zugänglich machen. Für mich persönlich würde wahrscheinlich weniger übrigbleiben und herauskommen. Ich bin froh, dass ich Inge Scholl damals persönlich treffen durfte. Virtuelle Assistenten Wenn man über die Autobahnen Italiens fährt, kommt unausweichlich der Moment, wo man sich in eine Schlange aus Blech einreihen und Maut bezahlen muss. Ich nehme die kürzeste Schlange, die in der Regel vor den Stationen ist, bei denen man mit Kreditkarte bezahlen kann. Mein Kreditkartenunternehmen weiß, wo ich unterwegs bin, und ich weiß nicht, was es mit diesen Erkenntnissen anfängt. Möglicherweise ist es unklug, die Kreditkarte zu verwenden, aber im Apenninen- und Alpenland spart es Zeit, offensichtlich genau deshalb, weil sie dort nicht weit verbreitet oder zumindest auf den Autostrade nicht beliebt ist. Wenn der Bezahlvorgang abgeschlossen ist, sagt eine weibliche Stimme »Arrivederci«, und die Schranke öffnet sich. Ich finde die Stimme angenehm, und meistens erwidere ich den Gruß. Es ist merkwürdig, dass ich mit einer Maschine solche Grußformeln austausche. Sinn macht der maschinelle Abschiedsgruß allemal, denn mir wird dadurch angezeigt, dass ich gehen bzw. fahren kann. Trotzdem, ein ungutes Gefühl bleibt, und vielleicht versuche ich dieses durch meine Erwiderung des Grußes zu überspielen. ( à -QR-Info-16) 47 Virtuelle Assistenten Eigentlich sollte ich mich aus verschiedenen Gründen in die lange Schlange einreihen. Ich müsste keine Kreditkarte benutzen, und mein Weg könnte nicht nachverfolgt werden, zumindest nicht vom Kreditkartenunternehmen, nur vom Autobahnbetreiber, der seine Kameras auf mich richtet. Und natürlich von der Telekommunikationsfirma, die mein Handy orten kann. Zudem müsste ich keine Plastikkarte in einen Metallschlitz stecken, sondern könnte mein echtes Geld einer richtigen Person übergeben. Ich könnte mich bedanken, so wie sie sich möglicherweise bedankt hat, und mich von ihr verabschieden und ihr zuwinken. Sie könnte sich darüber freuen und sich ebenfalls verabschieden und mir zurückwinken, und vielleicht wäre ihr trostloser Job ein bisschen besser geworden, eine Sekunde lang. Ich frage mich, ob es solche Tätigkeiten überhaupt geben sollte. Aber zum einen fällt es mir schwer, über die Personen zu urteilen, die in den Kabinen sitzen, und zum anderen scheint es Fahrerinnen und Fahrer zu geben, die diese Art des Bezahlens bevorzugen. Bei den einen wird das Fehlen der Kreditkarte der Grund sein, bei den anderen das Vorhandensein des Menschen. Wenn wir mit den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) unterwegs sind, werden wir nicht verabschiedet, sondern begrüßt. Eine virtuelle Dame - die virtuellen Männer scheinen in den europäischen Ländern aus zu sein - heißt uns in verschiedenen Sprachen willkommen und informiert uns darüber, wo wir halten werden. ( à - QR-Info- 17) Auch eine echte Dame oder ein echter Herr könnte uns auf diese Weise informieren, wobei uns der individuelle Wohlklang und die unterschiedliche Aussprache und Betonung von Mal zu Mal vielleicht noch mehr erfreuen würden. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob so viele Leute ein Problem mit der automatischen Ansage haben. Bei entsprechenden Befragungen ernte ich verständnislose Blicke. 48 Die Rache der Nerds Wir haben uns nicht nur an die vielen Automatismen gewöhnt, die unser Leben strukturieren, determinieren, an die hilfreichen Maschinen im Hintergrund, sondern auch daran, dass unsere Kommunikation, etwas zutiefst Menschliches, meinetwegen Tierisches, etwas, das uns von Person zu Person und von Tier zu Tier (und von Mensch zu Tier) verbindet, von Maschinen übernommen wird (s. Kapitel »Scheinbare Prozessoptimierung«). Unsere Kommunikationspartner sind immer öfter Computersysteme, und anscheinend akzeptieren wir sie als mehr oder weniger vollwertiges Gegenüber. Das lässt an ELIZA denken, die bereits erwähnte Antwort- und Illusionsmaschine von Joseph Weizenbaum (s. Kapitel »Schöne, neue Welt«) aus den 1960er-Jahren des letzten Jahrhunderts, deren Gesprächspartner zu seiner Bestürzung emotionale Beziehungen zu ihr aufbauten. Und an die hunderten künstlichen Kreaturen, die sich die Menschen seit der Antike ausgedacht haben und die eben in der Regel nicht sprechen konnten und deshalb nicht akzeptiert werden durften, es sei denn, ihre Schönheit oder Begabung glich ihre Sprachlosigkeit aus (s. Kapitel »Cyborgs und Maschinenmenschen«). ( à -QR-Info-18) Rainer Kuhlen, bei dem ich studiert und als wissenschaftliche Hilfskraft gearbeitet habe, schrieb vor einigen Jahren ein ganzes Buch zu den »Informationsassistenten« - ich durfte ein wenig dazu im Web und in Online-Katalogen recherchieren - und meinte damit unter anderem die automatischen Telefonsysteme, die den Unternehmen die Arbeit erleichtern sollen und zugleich den Kunden das Leben schwer machen. ( à -QR-Info-19) Diese müssen den Automaten klar machen, welcher Art die Anfrage ist, welches Anliegen sie haben - und minutenlang Wörter und Zahlen sprechen oder Tasten drücken. Dann wird man mit Musik konfrontiert, die man nicht einmal im schwersten Suff auflegen würde. Und wenn man Glück hat, oder Pech, je nachdem, wird man endlich 49 Virtuelle Assistenten zu einem Menschen durchgestellt; es kann aber auch sein, dass man vorher aus der Leitung geworfen wird und von vorne beginnen muss. Es hilft nicht einmal, die Maschine zu beschimpfen. Sie wird erbarmungslos wiederholen, dass man eine bestimmte Zahl sprechen oder eine bestimmte Taste drücken soll. Und wieder haben wir uns an die Maschine anzupassen, nicht umgekehrt. Auch die umgekehrte Anpassung - etwa mithilfe intelligenter bzw. adaptiver Systeme - führt nicht unbedingt zu den gewünschten Ergebnissen. Es gibt ein grundsätzliches Kommunikationsproblem zwischen Menschen und Maschinen. Zu diesem Kommunikationsproblem noch zwei Geschichten. Die Post hatte vor ein paar Jahren damit angefangen, ihr Produkt- und Dienstleistungsportfolio, wie es so schön heißt, zu diversifizieren. Man stellte sich in die Schlange aus Fleisch und Blut, kam nach einer Viertelstunde dran, gab einen Brief auf, was zum Glück noch möglich war - und wurde dann gefragt, ob man den Stromanbieter wechseln wolle. Ich weiß nicht mehr, was mich zu der Poststelle getrieben hatte, vielleicht das pure Bedürfnis nach einer Briefmarke. Nach einer, die man kleben konnte und vorher nicht lecken musste. Ich wurde ärgerlich, denn man missbrauchte meine Anwesenheit und vergeudete unsere Zeit. Sogar einen Beschwerdebrief verfasste ich, und ich bekam sogar eine Antwort. Ich solle doch bitteschön Verständnis haben für die Erweiterung des Angebots, ohne die man die Gebühren erhöhen müsste. Mit anderen Worten: Wenn ich nicht den Stromanbieter wechsle, mit Hilfe der Post, wird meine Briefmarke teurer. Das war die eine Geschichte. Die andere beginnt mit einem regelrechten Problem, ich glaube, es ging um ein Päckchen, dessen Inhalt ich über das Web bestellt hatte und das mir nicht zugestellt werden konnte, und um das Problem zu lösen, musste die Angestellte in der Postfiliale, die ich aufgesucht hatte, zum Telefon greifen. Kurioserweise war für sie keine andere Lösung 50 Die Rache der Nerds als für mich als Kunde vorgesehen. Sie musste sich, schlecht abgeschirmt, vor meinen Augen und meinen Ohren mit einem Telefonassistenten abmühen. Ich hörte sie Zahlen brüllen, bejahen und verneinen, brüllen und schimpfen. Und sah Teile von ihr durch die Luft fliegen: wildes Gestikulieren. Dann war plötzlich Ruhe. Sie war aus der Leitung geflogen. Bis dahin hatte ich gedacht, dass das nur mir passierte. Aber es passierte genauso der Angestellten, die mit ihrem eigenen Unternehmen telefonieren wollte und nicht konnte. Irgendwie haben wir das Problem - nachdem sie ziemlich zerknirscht nach vorne gekommen war - doch noch gelöst, ohne maschinelle Hilfe. Mit einem Rest menschlichen Verstandes. In der Schweiz funktioniert E-Commerce übrigens seit jeher besser als in Deutschland, zumindest der Vertrieb der online bestellten Waren. Der Grund dafür ist, dass viele Briefkästen gleichzeitig Milchkästen sind. Unter dem kleinen Fach für die Briefe ist ein großes für die weißliche Säuglingsnahrung, in das auch Päckchen passen. Und da diese nicht geklaut werden, kann man einfach etwas bestellen und erhält es auch, wenn man nicht zuhause ist. Wer keinen Milchkasten hat, dafür eine eigene Haustür, findet das Päckchen dort, gemütlich vom Stein emporwachsend oder lässig gegen das Holz gelehnt. Trust, Vertrauen, war immer schon ein wichtiger Faktor im E-Commerce, obgleich meistens etwas anderes damit gemeint war. Schuldfragen Manchmal male ich im Unterricht an meiner Hochschule ein Horrorszenario an die Wand bzw. Tafel. Ein technisches System in einer Organisation oder in einer Stadt versagt. Detonationen, Explosionen, Brände. In der Folge sterben tausende Menschen. An der Tafel lodernde Flammen und flüchtende Überlebende. Flammenkurven, um genau zu sein, ein Auf und Ab wie im E- 51 Schuldfragen Business, und Strichmännchen, mit einem X als Augen. Wenn ich meine Studierenden der Wirtschaftsinformatik frage, wer Schuld daran ist, sagen sie, diejenigen, die das System bestellt haben; sie seien nur diejenigen, die das System entworfen und eingeführt hätten; eine Verantwortung für den Einsatz könnten sie nicht übernehmen, beim besten Willen nicht. Sie hören sich an wie ein Beipackzettel, auf dem ein Produzent jegliche Verantwortung und Haftung ablehnt. Wenn ich meine Studierenden der Betriebsökonomie, potenzielle Managerinnen und Manager mit einer Teilverantwortung für Informationstechnologie (IT), frage, wer Schuld daran ist, sagen sie, diejenigen, die das System gemacht haben, die Informatiker und Wirtschaftsinformatiker; sie seien nur diejenigen, die das System bestellt hätten, und würden dieses nicht verstehen; sie müssten sich auf den Sachverstand der technischen Experten verlassen und darauf, dass das System reibungslos läuft. Sie hören sich ein wenig an wie die Eltern eines Kindes, das sein Spielzeug aufgegessen hat. ( à -QR-Info-20) Natürlich ist dieses Szenario sehr grob. Es ist nicht so, dass ich es nicht je nach Gelegenheit präzisieren und ausschmücken würde. Und natürlich kann man sich schnell darauf einigen, dass es Fälle gibt, in denen die einen Verantwortung übernehmen, und Fälle, bei denen die anderen zur Verantwortung gezogen werden müssen. Die Informatiker und Wirtschaftsinformatiker werden es nicht leicht haben, wenn ihnen Fehler bei Umsetzung und Einführung nachgewiesen werden können, und die Manager werden sich nicht einfach herausreden können, wenn deutlich wird, dass ein solches System gar nicht hätte eingesetzt werden dürfen. Es beunruhigt mich, dass meine Studierenden zunächst dazu neigen, die Vertreter anderer Fachrichtungen verantwortlich zu machen. Würden sie nicht nur als Studierende, sondern auch als Mitarbeitende diese Strategie bevorzugen? Manche meiner Studierenden sind Mitarbeitende - diejenigen, die be- 52 Die Rache der Nerds rufsbegleitend studieren. Und sie reagieren nicht anders als die anderen. Und welche Mitarbeitenden würden sie verantwortlich machen? Die Leiter der IT-Abteilungen die anderen Abteilungsleiter? Und was ist mit den Vorgesetzten dieser Leiter und mit den Vorgesetzten der Vorgesetzten? Was mich genauso beunruhigt wie der Umstand, dass man selbst keine Verantwortung übernehmen möchte, ist der Umstand, dass meine angehenden Wirtschaftsinformatiker so reagieren, wie man es von Informatikern erwarten würde. Ich glaube nicht, dass es an der Hochschule liegt, und ich habe diese Umfrage auch schon in anderen Hochschulen in Deutschland und in der Schweiz durchgeführt - mit demselben Ergebnis. Ein Grund könnte sein, dass Wirtschaftsinformatiker näher an der Informatik sind als an der Wirtschaft. Informatiker würden so etwas allerdings bestreiten; sie würden sagen, dass sie kaum einen Wirtschaftsinformatiker kennen, der nach ihrer Vorstellung ernstzunehmende Fähigkeiten hätte. Es gibt, was die Ökonomieferne anbelangt, durchaus Ausnahmen, etwa die Universität St. Gallen alias HSG, wo man allerdings - obwohl dort ein Institut für Wirtschaftsinformatik wirtschaftet - die Disziplin im engeren Sinne gar nicht studieren kann (angeboten wird ein Master in Informations-, Medien- und Technologiemanagement). Wenn meine Vermutung zutrifft, besteht ein ernsthaftes Problem für die Wirtschaftsinformatik: Genau diejenigen, die die Schnittstelle zwischen Informatik und Betriebswirtschaftslehre bilden sollten, versagen in der Kommunikation zwischen beiden Bereichen. Die Studierenden können freilich nicht viel dafür. Natürlich wäre es ideal, wenn Wirtschaftsinformatiker von sich aus mehr Interesse an anderen Denkweisen und Fächern hätten. Aber man muss in ihnen dieses Interesse auch wecken. Die Auswahlverfahren, Studienordnungen und Lehrpläne gehören entsprechend angepasst und umgebaut. Die Weiterbildungen gehören 53 Schuldfragen erweitert. Es sollten nicht nur Quereinsteiger aus anderen Fächern zu IT-Experten, sondern auch IT-Experten zu Quereinsteigern in anderen Fächern werden. Das Problem ist allerdings noch auf anderen Ebenen anzutreffen. Die Professorinnen und Professoren respektive die Institutsleiter stellen bevorzugt Akademiker mit Stallgeruch ein. Man hat eine gradlinige, effizient abgewickelte Ausbildung vorzuweisen. Wer erst Philosoph war und dann Informatiker oder Wirtschaftsinformatiker wurde, hat keine guten Chancen. Vor langer Zeit habe ich mich für eine Habilitationsstelle interessiert, an einem Lehrstuhl für Informatik in Zürich. Der Lehrstuhlinhaber, ein Experte für CSCW, also für Computer-supported Cooperative Work, war nicht abgeneigt. Er fragte sicherheitshalber seine Kollegen. Diese wehrten, als ihnen mein Werdegang vorlag, energisch ab. Offenbar zeugt es weder von einem guten Charakter, wenn man mehrere Fächer studiert hat, noch fördert es die Kompetenzen. Das mit dem Charakter möchte ich einmal dahingestellt lassen; das mit den Kompetenzen sollten wir kurz vertiefen. Ich bin der Meinung, dass es für einen Informatiker oder Wirtschaftsinformatiker heute essenziell ist, andere Perspektiven zu kennen. Wenn diese nicht nur durch den Alltag und die Praxis vermittelt werden, sondern auch durch ein Studium - was kann man sich Besseres vorstellen? Informatiker und Wirtschaftsinformatiker entwickeln ihre Systeme in komplexen Zusammenhängen, die es zu begreifen gilt. Der Einsatz der Systeme kann weitreichende Auswirkungen haben, was von der Technikfolgenabschätzung (auch Technologiefolgenabschätzung genannt) und der Informationsethik untersucht wird (s. Kapitel »Die Moral der Informationsgesellschaft«). Es ist wichtiger denn je, dass die Studierenden in interdisziplinärer Weise an ihre Aufgaben herangeführt werden. Doch die Zuständigen sind noch nicht einmal bereit, einen einzigen Schritt auf die anderen Disziplinen zuzugehen, nicht bei der Umstellung der 54 Die Rache der Nerds Lehrpläne, nicht bei der Einstellung der Professoren und nicht bei der Besetzung des Mittelbaus, es sei denn, der Markt ist völlig ausgetrocknet (s. Kapitel »Die Mängel der Ausbildung«). Die Interdisziplinarität der Wirtschaftsinformatik (und in anderer Weise auch der Informatik) ist Fakt und Fake zugleich. Vor einiger Zeit haben wir uns einen neuen Wagen geleistet. Da wir uns nicht viel aus Autos machen, hatten wir uns nicht sehr gründlich informiert und eingelesen. Wichtig waren uns geringer Verbrauch und ausreichender Platz für uns und unser Gepäck gewesen. Als man uns das Modell vorführte, waren wir verblüfft darüber, was es alles kann. Es schaltet in einem Tunnel oder bei Nacht automatisch das Licht ein. Die Scheibenwischer werden aktiv, sobald die ersten Tropfen fallen. Und wenn man nicht angeschnallt ist, beginnt das System zu meckern. Man kann das Auto sogar selbstständig einparken lassen. Bisher habe ich das noch nie probiert, weil ich nicht wüsste, warum ich das Lenkrad aus der Hand geben sollte. Aber möglich wäre es, und sicherlich sehr verblüffend für andere, wenn man ihnen dabei mit beiden Händen zuwinken würde. Ich muss einräumen, dass der Wagen für meinen Geschmack etwas zu viel Elektronik hat. Zweifelsohne ist es praktisch, wenn der Motor auf Stand-by geht, wenn man vor einer Ampel steht. Und wahrscheinlich trägt die Elektronik auch in anderer Weise zu einem sparsamen Verbrauch bei. Und toll ist es, wenn die magnetische Handbremse das Auto vor dem Davonrollen hindert, an der Ampel und auf dem Parkplatz. Nervig ist es allerdings, wenn ich eine schwere Tasche auf den Beifahrersitz packe und das System dann will, dass man diese anschnallt. Und es fragt sich, wer dafür haftet, wenn beim automatischen Einparken etwas passiert. Ich vermute, dass die Polizei zunächst mich behelligen würde und nicht die Programmierer. Vor Gericht hätte ich wahrscheinlich nur eine Chance, wenn ich einen Softwarefehler nachweisen könnte. Nach einigen Jahren würde ich vielleicht 55 Schuldfragen Recht und eine kleine Entschädigung von dem Autohersteller bekommen. Es gibt inzwischen Spezialisten, die sich um genau solche Fragen kümmern. ( à -QR-Info-21) Ein weiteres Problem wurde mir im Sommer 2011 bewusst. Wir waren in einem Mietwagen auf der Insel Kreta unterwegs, einem Peugeot voller Beulen. Talos hatte uns nicht abhalten können, aber anscheinend bei früheren Fahrten Steine auf das Blech geworfen (s. Kapitel »Cyborgs und Maschinenmenschen«). Der Sixt-Chef lästerte 2011 über Griechenland; zugleich scheint er das Land als Schrottplatz für seine ausrangierten Modelle zu begreifen. Beim Fahren wechselten wir uns ab. Von Heraklion ging es zum Ida-Gebirge in der Mitte der Insel. An einer Ampel hielt ich schon deshalb an, weil der Fahrer vor mir anhielt. Und dann passierte es: Das Auto rollte. Ich hatte vergessen, die Handbremse anzuziehen. Denn ich war eine manuelle Bremse überhaupt nicht mehr gewohnt, ja ich hatte vergessen, dass es eine solche gab. Zum Glück schaute ich in dem Moment zufällig nach vorne und bemerkte, dass wir uns außerplanmäßig bewegten. Ich stieg in die Bremsen und verhinderte einen Auffahrunfall. Später stellten wir den Peugeot auf einem kleinen Parkplatz ab, um die grandiose Aussicht auf Berge, Täler und Meer mit der Digitalkamera einzufangen. Er rollte schon wieder, und zum Glück war ich noch in ihm, als ich es bemerkte. »Digitale Autos« mögen also Vorteile haben - wenn man jedoch auch »analoge Autos« fahren muss, bedeutet das eine gewisse Herausforderung. ( à -QR-Info-22) Wenn heutzutage ein Personenkraftwagen liegenbleibt, hat er in etwa der Hälfte der Fälle einen mit der Elektronik zusammenhängenden Schaden (s. Kapitel »Ingenieurswissenschaftliches Denken«). Das bedeutet zum einen, dass die Elektronik das Auto anfälliger macht. Zum anderen bedeutet das, dass man kaum noch Chancen hat, aus eigener Kraft den Schaden zu 56 Die Rache der Nerds beheben. Natürlich ist man auch als Informatiker, Wirtschaftsinformatiker oder Elektroingenieur ohne Spezialisierung aufgeschmissen. Und selbst wenn man eine Ahnung hat, was der Fehler sein könnte, wird man in der Regel das Werkzeug für die Behebung nicht besitzen. Dadurch, dass wir Maschinen erschaffen, die wir nicht beherrschen können, geben wir Macht her und erzeugen Machtlosigkeit. Wir sind angewiesen auf Fachleute und Unternehmen, und wir können froh sein, wenn es keine Engpässe gibt. Hier ist es wiederum die Alternativlosigkeit, an der ich mich reibe. Ich kann nur eine Art von Autos kaufen, außer wenn ich mich für Oldtimer entscheide. Und mit dieser Art muss ich Experten aufsuchen, manchmal sogar Experten dieser einen Marke. Vor wenigen Jahren hat die Öffentlichkeit verblüfft zur Kenntnis genommen, dass an der Börse heute nicht nur Menschen, sondern auch Maschinen handeln (s. Kapitel »Cyborgs und Maschinenmenschen«). Diese wickeln sogar einen guten Teil des folgenreichen Geschäfts ab. In den Systemen steckt die Expertise von Börsianern. Und von Programmierern. Es kommen wie immer die Nachteile und Vorteile von Maschinen zum Tragen. Die Maschinen sind schnell, sie arbeiten Tag und Nacht, sie kennen keine Würde und keinen Schmerz. Aber sie vereinfachen zugleich, sie folgen einer Vernunft, der die Intuition fehlt. Und sie haben Fehler, wie die Menschen, nur dass die Fehler schnell, systematisch, massenhaft verbreitet werden können. Und am Ende kann man nur schwer von menschlichem Versagen sprechen. Obwohl sich dieses hinter den Vorgängen versteckt. Der Zorn der Blogger Wer etwas Kritisches zu Informations- und Kommunikationstechnologien und zum WWW der zweiten (und vielleicht letz- 57 Der Zorn der Blogger ten) Generation sagt bzw. veröffentlicht, zieht schnell den Zorn der Blogger und anderer Fürsprecher des virtuellen Raums auf sich. ( à -QR-Info-23) Ein beliebtes Totschlagargument ist, wie in der Einleitung erwähnt, das vom Kulturpessimismus. Eigentlich handelt es sich dabei um gar kein Argument, sondern um eine Beleidigung. In den meisten Fällen um eine ziemlich hirnlose, hingeworfen von Leuten, die Kunst und Kultur nur vom Hörensagen kennen. Es ist eben sehr interessant, dass gerade die Kulturfernen, etwa diejenigen, die nie ein Theater oder ein Museum von innen gesehen haben, nie in einen Film von Fellini, Bertolucci oder Godard hineingezogen wurden, so gerne von Kulturpessimismus sprechen. Die nie die Ursonate von Schwitters gehört haben, wie vom Donner gerührt. Der Begriff der Kultur könnte indes viel weiter gemeint sein, könnte das Gegenüber der Natur meinen, unsere Zivilisationsgeschichte ansprechen, unsere Kulturtechniken, und ein Kulturpessimist wäre dann einfach einer, der den Sprung von der einen Stufe zur nächsten verpasst hat. Aber muss man alles als Fortschritt sehen? Darf man nicht vor einem Rückschritt warnen, wenn man einen solchen erkennen und die Ursachen aufzeigen kann? Sind nicht schon große Kulturen bei geringeren Wandlungen untergegangen? Wäre es in manchen Fällen möglich gewesen, dies zu verhindern? Es ist einfach, jemanden als Kulturpessimisten hinzustellen. Und man rückt sich selbst in den Kreis der Kulturoptimisten. Zählt zum erlesenen Kreis derjenigen, die eine Neuerung mit offenen Armen und Herzen empfangen. Geek statt Nerd, Avantgarde statt alte Garde. Alles, was neu ist, ist gut. Ein »Edu- Blogger« schrieb über ein Nachschlagewerk, das eine Autorin und ich über Monate erarbeitet und der Learntec, der großen E-Learning-Messe und -Konferenz, verkauft hatten, das sei ja Web 1.0. Was für eine Beschimpfung! Es kommt nicht auf die 58 Die Rache der Nerds Inhalte an, sondern darauf, ob es Web 1.0 oder Web 2.0 ist! Der Blogger war vielleicht der Ansicht, dass eine Horde von Laien mit ein paar Meinungsführern als Oberaffen ein besseres Lexikon hinbekommen hätte. Auf jeden Fall wäre das Lexikon gleichförmiger gewesen, mehrheitsfähiger, langweiliger. Man hätte keine Schule mehr erkennen können, keinen Hintergrund, zumindest keinen individuellen. Man hätte die gleichen Begriffe verwendet und doch nicht die gleichen Bedeutungen gemeint. Das Web 2.0 macht alles gleich: ein Satz, den man wunderbar aus dem Zusammenhang reißen könnte, der aber genau hierher gehört, und der die Gleichheit im Sinne des Mittelmaßes anspricht. Zu viele Köche erzeugen nur Brei. Wikipedia fehlt der rote Faden, der gemeinsame Hintergrund, die Abstimmung der Begriffe (s. Kapitel »Wikipediaitis«). Dies liegt, wie angedeutet, an den Produktionsbedingungen - und inzwischen auch an der puren Masse. Für einen roten Faden bei Millionen von Beiträgen bräuchte man eine Spule, die so groß wie ein Berg wäre. So ein Lexikon, und ich werde noch an anderer Stelle darauf eingehen, ist eine Erfindung von Nerds, obwohl Jimmy Wales auf einer anderen Etage aufgewachsen ist (und sehr wohl die Grenzen der Enzyklopädie kennt). Der Zorn der Blogger ist eine Form der Selbstverteidigung. Sie sind längst im Mainstream angekommen. Und dennoch schlagen sie immer noch wild um sich, wenn jemand sie, ihre Form zu leben und zu kommunizieren, kritisiert. Es gibt herausragende Blogs, und ich persönlich liebe mehrere von ihnen als wertvolle Ergänzung zu den Massenmedien. Wer berichtet noch über Tiertransporte? Wer ist kirchen- und religionskritisch? Nicht sehr viele professionelle Journalisten. Aber einige Bloggerinnen und Blogger. Und wenn dann das Niveau stimmt, wenn nicht nur die Medien kommentiert werden und ab und zu eine eigene Recherche durchgeführt wird, im Rahmen des Möglichen und über den Rahmen des WWW hinaus, und wenn 59 Der Zorn der Blogger der Text inhaltlich verständlich und formal sauber ist, dann macht das Lesen Laune (allerdings ist es so, dass im Web 2.0 die Wiederverwertungskulturen gedeihen; insofern sind auch Beziehungen zum Hip-Hop vorhanden). In vielen Fällen gilt auch, dass Journalisten erst anreisen müssen, während die Blogger schon da sind. Oder dass die Blogger noch da sind, während die Journalisten schon abreisen mussten, wie im Falle des Hurrikans in New Orleans. Die Massenmedien konnten irgendwann kaum mehr darauf verzichten, auf Blogs zu verweisen - und eigene Blogs zu betreiben, was gewisse Widersprüche in sich birgt. Ich blogge, wie bereits angesprochen, selbst seit ein paar Jahren, und am Anfang war mir so unwohl dabei, dass ich von einem Unblog oder Nichtblog sprach (s. Kapitel »Verrückte Prozesse«). Ich wollte mich nicht vernetzen, und wenn ein Kommentar eintraf, war ich unangenehm berührt. Es war, als wollte ich für die Welt schreiben, aber so wenig von der Welt mitbekommen, als handelte es sich um ein Buch, das von einem anonymen Publikum gelesen wird. Das funktionierte freilich nicht auf Dauer, und ich musste mir einige Prinzipien und Regeln zurechtlegen. Ich begann mein Blog zu moderieren; ich schaltete die Kommentare frei und ging auf sie ein. Nur in ein paar Fällen habe ich auf eine Freischaltung verzichtet. Ich hatte eine muslimische Wissenschaftlerin kritisiert und wurde umgehend mit bösartigen Bemerkungen überhäuft. Offensichtlich ließ sich jemand mit Google Alerts melden, sobald jemand den Namen der Person im Web erwähnte, und dann wurde zur Unterstützung aufgerufen oder zum Angriff geblasen, zum virtuellen Dschihad. Dabei bin ich mir unsicher, ob es überhaupt muslimische oder christliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben kann; es handelt sich eher um Menschen mit einem Doppelleben, einem wissenschaftlichen und einem religiösen. Meine Netiquette 2.0, die ich im Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes« ausführlich behandle, hatte ich in das Impres- 60 Die Rache der Nerds sum kopiert, und natürlich wurde sie dort kaum zur Kenntnis genommen. Es wurde ausdrücklich dazu aufgefordert, keine anonymen Kommentare zu veröffentlichen, aber kaum jemand hielt sich daran. Ich glaube an das Prinzip des Gleichgewichts der Namen und bin der Meinung, dass man zumindest dann seinen Namen nennen sollte, wenn man einen anderen nennt, einer Person oder einer Organisation (s. Kapitel »Sterne holen und sehen« und Kapitel »Anonymität und Identifizierbarkeit«). Ein Ungleichgewicht der Namen kann großen Schaden anrichten. Das Impressum ist übrigens eine bemerkenswerte Erfindung. In Deutschland ist die Situation so, dass man bei einem geschäftsmäßig geführten Blog ein Impressum angeben muss, mit Namen und Adresse. Geschäftsmäßig bedeutet nicht kommerziell, sondern regelmäßig; wer jede Woche postet, muss als redaktioneller Anbieter zu identifizieren sein. In der Schweiz wurde am 1. April 2012 eine Impressumspflicht für Websites eingeführt, die sich auch auf Blogs beziehen dürfte. Ich bin in Deutschland in einem einzigen Fall aktiv geworden. Es war sehr mühsam, die richtigen Ansprechpartner herauszufinden. Und als ich bei der richtigen Stelle in Nordrhein-Westfalen gelandet war, wurde man dort nur im Zeitlupentempo aktiv. Aussitzen scheint die Devise der Behörden im Zusammenhang mit dem Web 2.0 zu sein. Und in der Tat, in den meisten Fällen lohnt sich eine Verfolgung nicht; zudem hätte man kaum die Ressourcen, um gegen allzu viele Betreiber vorzugehen. Trotzdem bleibt etwas Störendes, ja Verstörendes: Die anonymen Blogger setzen sich den Hut von Journalisten und zugleich eine Maske auf, als wären sie Straßenkämpfer. Das passt in rechtsstaatlichen Umgebungen nicht zusammen, und es ist pure Feigheit von ihnen, so zu verfahren. Gut möglich, dass ich zu viel Vertrauen in Vater Staat und Mutter Regierung habe. In etlichen Bereichen ist dieses Vertrauen tatsächlich nicht gerechtfertigt. Es wurden in Deutschland 61 Der Zorn der Blogger jahrzehntelang Atomkraftwerke betrieben, obwohl man genau wusste, dass die Technologien nicht beherrschbar sind, weder die Technologien zur Spaltung und Lagerung noch die Technologien zum Betrieb und zur Steuerung der Kraftwerke. Die Argumente prallten an den Regierungen ab, bis ausgerechnet die CDU-Regierung, ohne neue (oder alte) Argumente zu bemühen, den Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg verkündete. Es werden, um ein weiteres Beispiel zu nennen, harmlose Bürger ausspioniert, und Wolfgang Schäuble wollte als Innenminister gar einen Bundestrojaner verteilen, um unser großer Bruder zu sein. ( à -QR-Info-24) In der Tat, wenn wir in offenen Umgebungen kommunizieren, hört immer jemand mit, sei es eine Firma oder der Staat. Allerdings können wir ja in geschützte Räume gehen, so wie wir uns auf einem Platz in eine Ecke zurückziehen können. Wo Blogger sind, da sind, wie gesagt, auch Kommentatoren. Manche, die kommentieren, bloggen selbst, andere bloggen nicht selbst, sind aber Gäste bei ein paar Blogs, und wieder andere ziehen von Blog zu Blog und hinterlassen ihre Spuren. Ich habe in den letzten Jahren wahrscheinlich ein paar tausend Kommentare gelesen. Ein paar hundert davon waren hilf- und aufschlussreich. Aber die Mehrzahl von ihnen war unverständlich oder, wenn sie verständlich waren, ziemlich dumm. Ich habe versucht herauszufinden, ob eine Abhängigkeit besteht zwischen der Intelligenz der Blogger und der Intelligenz der Kommentatoren. Man könnte vermuten, dass Dummheit Dummheit anzieht und Intelligenz Intelligenz. Ich habe regelmäßig im Blog von Luise F. Pusch gelesen, die seit Jahrzehnten intelligente und investigative Bücher schreibt, und ab und zu kommentiert. Die Kommentatorinnen und Kommentatoren des Blogs wussten nicht viel Gescheites zu sagen, mich durchaus eingeschlossen. Die meisten gefielen sich darin, der verdienten feministischen Linguistin und sich gegenseitig 62 Die Rache der Nerds auf die Schultern zu klopfen. Es war eine eingeschworene Gemeinschaft von Schulterklopferinnen, von Gebetsmühlinnen, und wehe, jemand wagte Widerworte zu geben - dann prasselte es Wörter und Sätze der übelsten Art. Als Student der Universität Konstanz hatte ich Luise F. Pusch verpasst (dort hatte sie in den 1980er-Jahren eine außerplanmäßige Professor innegehabt). Ich hatte aber noch während des Studiums mit Genuss und Gewinn das Büchlein »Das Deutsche als Männersprache« gelesen. Darin wurde eindrucksvoll geschildert, wie der damalige Reisepass der Bundesrepublik auf sprachliche Weise das weibliche Geschlecht übersah. Da mir auch Benjamin Lee Whorfs »Sprache - Denken - Wirklichkeit« aus den 1960er-Jahren präsent war, war mir der Zusammenhang zwischen sprachlicher Konstruktion und gesellschaftlicher Wirklichkeit einigermaßen klar. Puschs Veranstaltungen hätten mich vielleicht zum ersten Feministen der Hochschule gemacht, wobei Feministen von niemandem misstrauischer beäugt werden als von Feministinnen, und ich weiß nicht, ob ich den Blick der strengen, klugen Frau ausgehalten hätte - ein Problem nicht nur derjenigen Männer, die sich für Feministen halten. Luise, wie sie von den Kommentatorinnen liebevoll genannt wurde, war eine gute Bloggerin. Aber in ihren Büchern war sie noch besser. In ihren Posts unterliefen ihr ab und zu formale Fehler, wie sie jedem unterlaufen (ich ärgere mich über jeden Fehler dieser Art in meinem Blog, den ich nachträglich entdecke bzw. auf den ich hingewiesen werde), und man sah ihr gewissermaßen beim Denken zu, was überwiegend, aber nicht ausnahmslos ein Vergnügen war. Man hatte das Gefühl, dass ihr das Schulterklopfen der virtuellen Freundinnen gefiel und dass sie sich auf ihr Niveau herab begab. Eine Kommentatorin, die sie persönlich zu kennen schien, hatte zu fast jedem Post etwas zu sagen, und die Kommentare ähnelten sich so, dass man denken konnte, dass sie Textbausteine wie Legosteine immer 63 Wikipediaitis wieder neu zusammenbaute und der Denkerin vor die Füße warf. Ab und zu wagte es ein Mann zu kommentieren. Er wagte es, der eingeschworenen Gemeinschaft der Kommentatorinnen zu widersprechen. Die wandten sich dem »Papierschiffchen« - so der leichtsinnige Nickname des Benutzers - zu und versuchten es zum Kentern zu bringen, durch das bloße Gewicht ihrer Worte. Das Papierschiffchen fuhr weiter, schlingerte ein bisschen, fuhr weiter. Dann trafen es Brandpfeile, die eigentlich Giftpfeile waren. Ich habe nicht mehr verfolgt, ob es unterging, oder ob es seinen sicheren Hafen fand, in einem anderen Blog, den keine Pseudopiratinnen beherrschten. Irgendwann zog ich weiter, gelangweilt von den Ritualen, enttäuscht nicht von den Beiträgen, doch von der Wirkung, die sie auf den Kreis der Erlauchten hatten. Wikipediaitis Die »Sternstunde Philosophie« im Schweizer Fernsehen widmete sich am 2. Mai 2010 den »Krisen der Computergesellschaft«. Roger de Weck hatte den Soziologen Dirk Baecker, einen früheren Mitarbeiter von Niklas Luhmann, eingeladen. Überzeugend waren - wie meistens - die Fragen des Journalisten und Publizisten, der später Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR wurde. Die Antworten des Wissenschaftlers warfen vor allem Fragen auf. Zuweilen konnte man sich auf eine Weisheit einigen. Wikipedia sei weniger ein brauchbares Nachschlagewerk als vielmehr ein brauchbares Abbild unserer Gesellschaft, mit all ihren Fehlern und Schwächen. Nun muss man den Menschen nur noch beibringen, dass die Plattform, die sie so gerne benutzen, in Wirklichkeit ein Spiegel ist. Der »Migros-Preis« des Jahres 2011 wurde ausgerechnet an Jimmy Wales verliehen. Bei der Lancierung des Projekts zehn 64 Die Rache der Nerds Jahre vorher hatte der Amerikaner ohne Zweifel honorige Absichten. Lesen wir die Begründung, die das zuständige »Gottlieb Duttweiler Institut« auf seiner Website liefert: Der Gottlieb Duttweiler Preis 2011 geht an Jimmy Wales, Begründer der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Wales hat es in knapp einem Jahrzehnt geschafft, ein weltumspannendes Wissensnetz aufzubauen. Seine auf Internet unentgeltlich zugängliche Enzyklopädie ist zum Symbol geworden für den Umbruch in der Medienwirtschaft. Zudem hat sie den Zugang zu Wissen als wichtigste Ressource des Menschen revolutioniert und so zur Wissensdemokratisierung beigetragen. Dank ihrer Unabhängigkeit und Neutralität geniesst Wikipedia grosse Akzeptanz und Glaubwürdigkeit. Ihr Pionier Wales sucht nicht Geld oder Ruhm, sondern will Wissen teilen und weitergeben. Seine Non-Profit-Organisation finanziert sich durch Donationen, die Mitarbeit ist ehrenamtlich, das partizipative Modell zutiefst demokratisch - denn »Freiwilligkeit ist der Preis der Freiheit« (Gottlieb Duttweiler). ( à -QR-Info-25) Fragen wir nicht danach, welchen Umbruch die Verfasser der Hymne meinen, ob sie nur die Sonnen- oder auch die Schattenseiten kennen, und fragen wir nicht danach, inwiefern der Zugang zum Wissen revolutioniert wurde. Lesen wir vielmehr gleich einige Zeilen aus Wikipedia über Wikipedia. Diese sind vermutlich vertrauenswürdig, schon weil der Text eingefroren war, also nicht von Normalsterblichen verändert werden konnte: Zum engeren Kern der deutschsprachigen Wikipedia zählt Wales nur »etwa 800 bis 900« Autoren, dies sind nach seiner Definition »Wikipedianer, die mehr als 100 Beiträge monatlich neu schreiben oder ändern« … Über diese zentrale Gruppe meinte er im November 2007 in der New York Times, dass sie »in Wahrheit ganz schön eingebildet« sei. Für das »größte Missverständnis über Wikipedia« hält er die Annahme, dass sie demokratisch wäre. »Wir glauben, einige Leute sind Idioten und sollten gar nicht schreiben« ... Eine weitere Beurteilung äußerte er 2006: Wikipedia sei »in vielerlei Hinsicht egalitaristisch und basisdemokratisch«, aber »auch elitär« … Er gehe »vom Guten im Menschen« aus und setze daher auf »offenen Austausch von Informationen« und auf eine »breite öffentliche Beteiligung« … 7 Wechseln wir noch einmal zur Begründung des Instituts: Mit Jimmy Wales erhält den Preis erneut ein Vordenker, der vom Guten im Menschen ausgeht. Die Übergabe der mit 100 000 Franken dotier- 65 Wikipediaitis ten Auszeichnung findet am 26. Januar 2011 im Gottlieb Duttweiler Institut in Rüschlikon bei Zürich vor geladenen Gästen statt. Roger de Weck, designierter Generaldirektor der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG SSR, wird den Preisträger würdigen. Als einer der erfahrensten Journalisten und profiliertesten Publizisten des Landes kennt er die fundamentale Bedeutung eines freien Wissenszugangs. Als Medienmanager weiss de Weck aber auch um die Schwierigkeiten kostenloser Informationsverbreitung. Ich werde in Zukunft auch behaupten, dass ich vom Guten im Menschen ausgehe. Man wird begeistert sein, man wird verbreiten, dass ich das wahre Gesicht des Homo sapiens gesehen habe - und mir Preise verleihen. Aber nochmals zu Wikipedia: Nach den Aufbaujahren geht es Wales heute (2009) darum, nicht mehr nur die Anzahl, sondern vor allem die Qualität der Artikel zu steigern: »Unser Anspruch muss es sein, so gut zu sein wie der Brockhaus! « … Daher begrüßt er es, wenn mehr akademische Spezialisten über ihr Fachgebiet in Wikipedia publizieren. Mittlerweile gab Wales einige seiner Sonderrechte zurück, da er die Community mittels unabgestimmter Löschungen brüskiert hatte. Es handelte sich dabei um das Löschen von - seiner Meinung nach - pornografischen Inhalten. Das Institut verleiht demnach einen Preis für ein Werk, weil es dieses für demokratisch hält, und der Urheber des Werks hält gerade das, dass man es für demokratisch hält, für ein Missverständnis. Warum wird nicht dieser Widerspruch thematisiert? Glaubt der »Think Tank« der Migros, dass er Wikipedia besser versteht als Wales? Oder glaubt er einfach das, was er glauben will? Freilich bezeichnet Wales die Enzyklopädie als »basisdemokratisch«, wobei er diesem Begriff gleich ein »elitär« gegenüberstellt. Warum wird dieser Wankelmut nicht diskutiert? Eine andere Form des Wunschdenkens zeigt der Detaileinzelhändler seit Jahrzehnten mit seinem Verbot des Alkoholverkaufs. Obwohl bestimmte Mengen an Wein und Bier durchaus der Gesundheit zuträglich sind, von anderen Vorzügen ganz zu schweigen, wird alles verdammt, was unter den Begriff des Alkohols fällt. Es wird nicht einmal akzeptiert, dass erwachsene Menschen selbst für sich entscheiden können. Das ist Esoterik 66 Die Rache der Nerds pur, und leider ist diese in der Schweiz weit verbreitet. Allerdings fährt man eine zweigleisige Strategie. Bei fast jeder Migros gibt es - oft im selben Gebäude - ein anderes Geschäft, das Alkohol feilbietet. Die »Drecksarbeit« lässt man andere machen, und mit Vergnügen hilft man ihnen dabei, sich an der richtigen Stelle niederzulassen, denn von dem Angebot profitieren beide. Diese Geschäfte gehören in manchen Fällen - wie im Falle von Denner und Globus - sogar zur Unternehmensgruppe. Immerhin hat sich der Verwaltungspräsident im Frühjahr 2012 für den Verkauf von Wein in den Läden mit dem M ausgesprochen. Die Esoterik ist die Feindin der Aufklärung - und wohl auch der Demokratie. Werfen wir einen weiteren Blick auf das Lexikon, aus feministischer Perspektive. »Nichts wie rein in die Welt des Wissens« lautet der Titel eines interessanten Beitrags von Susanne Patzelt in der Winterausgabe 2010/ 2011 der Emma, deren Offline-Ausgabe ich in unregelmäßigen, länglichen Abständen lese. 87 Prozent der »Wiki-AutorInnen« seien Männer, wobei ein bestimmtes Wiki gemeint ist, eben Wikipedia. Das ist in der Tat ein Problem, und sicherlich ein Grund dafür, dass man bestimmten Ansprüchen nicht genügen kann. Bestimmt würde das usergenerierte Lexikon an Qualität gewinnen, wenn die Männer mit 20 oder 30 Prozent weniger vertreten wären. Ob die Frauen wirklich gut daran täten, ihre Zeit und ihre Energie in Wikipedia zu investieren, steht auf einem anderen Blatt. ( à -QR-Info-26) Sie könnten alternativ an Nachschlagewerken arbeiten, in denen frau mit ihrem Namen für den Inhalt steht. Aber das sollte jede Frau für sich entscheiden. Lesenswert sind die Passagen im Artikel über die Wikipedia- Einträge zu Frauenhass und Männerhass. Man kann die Erkenntnisse durchaus auf andere Auslassungen übertragen, denn die Mitmach-Enzyklopädie ist in hohem Maße tendenziös. Ins- 67 Wikipediaitis gesamt lobt die Autorin die Qualität und führt die hinlänglich bekannten (und mehrheitlich wenig seriösen) Studien an. Und sagt bzw. schreibt etwas, das einen nicht nur verwundern, sondern auch verstören kann: Der Internet-Service ist das umfangreichste Nachschlagewerk, das jemals existierte, und die erste Referenzadresse für fast jede Recherche von JournalistInnen und WissenschaftlerInnen. 8 »Na, hoffentlich nicht! «, möchte man ausrufen und die normative Seite der Aussage tadeln. Was die empirische Seite angeht, muss man etwas genauer hinschauen. Sicherlich gibt es viele Journalisten und Wissenschaftler, die seriös recherchieren. Und viele, auf die die Aussage zutrifft, und denen man zurufen möchte: Nichts wie raus aus dieser Welt des Wissens! Rein in die Bibliotheken, in denen die wahren Wissensschätze liegen - und in die Zeitschriftenkataloge und Fachdatenbanken. Viel zu teuer? Nicht, wenn man studiert oder promoviert oder projektbezogen an einer Hochschule arbeitet, und auch nicht, wenn man sich in die Weiten des WWW begibt. Zur Wirtschaftsinformatik etwa gibt es ein fachlich hervorragendes Werk über http: / / www.enzyklopaedie-der-wirtschaftsinformatik.de. ( à - QR-Info- 27) Und alle, Männer wie Frauen - mehrheitlich Professorinnen und Professoren der Wirtschaftsinformatik -, zeichnen mit ihrem guten oder zumindest geläufigen Namen. Ich habe Wikipedia stets für ein interessantes Projekt und nicht so interessantes Nachschlagewerk gehalten (selbst die vielgerühmten Quellen sind oft zweifelhafter Herkunft). ( à - QR-Info- 28) Wenn ich mir die Artikel so ansehe, gewinne ich Dutzend für Dutzend den Eindruck, dass es viele saumäßige gibt, sehr viele mittelmäßige, sehr wenige übermäßige. Exzellenz kommt kaum vor, und man kann sich auch kaum vorstellen, wie sie in das Lexikon geraten würde. ( à -QR-Info-29) Es exis- 68 Die Rache der Nerds tieren durchaus ein paar Experten, die sich die Mühe machen, ihr Wissen zu teilen. Und gerade im freien Internet - wenn Wikipedia dazu gezählt werden soll - funktioniert Knowledge Sharing (wie die Anhänger des Wissensmanagements sagen würden) seit den 1970er-Jahren hervorragend. Aber die meisten Experten, die bei Wikipedia mitschreiben, haben keine altruistischen Gründe, sondern wollen sich selbst darstellen oder einen Artikel mit Angaben zu ihrer Literatur schmücken. Führende Wissenschaftler benutzen Wikipedia allenfalls für eine Mehrfachverwertung - und nachdem sie ihre Ergebnisse in Fachjournalen und -büchern publiziert haben. Im Sommer 2011 machte die Runde, dass Wikipedia nach Studierenden sucht, die für das Wörterbuch schreiben. Eine gar nicht schlechte (wenngleich nicht sehr »demokratische«) Idee. Waren das die Akademiker, die Wales gemeint hatte? Als Projekt ist Wikipedia bis heute interessant geblieben; zugleich wurde offensichtlich, dass hier nicht nur selbstlose Gutmenschen am Werk sind, die ihr gesichertes Wissen mit anderen teilen wollen, sondern etliche Blender und Schwätzer und Angehörige eines inneren Kreises, die weniger an Inhalten als vielmehr an Macht interessiert sind. Genau diesen heiklen Punkt hat Wales immer wieder betont. Dabei war er selbst auch nicht uninteressiert an Macht. Im Januar 2012 hat er Wikipedia eingesetzt, um - wie andere Plattformen und Organisationen, die sich für »das Netz« halten - gegen ein in den USA geplantes Gesetz zu protestieren. Nicht, indem er einen Beitrag auf der Plattform schrieb. Sondern indem er diese für 24 Stunden vom Netz nahm. Die englischsprachige Version, um genau zu sein. Zweifellos spielt Macht auch in wissenschaftlichen Kreisen eine große Rolle. Bis man es in gewisse akademische Positionen geschafft hat, braucht es manchmal Glück, manchmal Verstand, manchmal Beziehungen. Als Universitätsprofessor kann man Doktoranden unterstützen oder ausnutzen, und auch für den Fachhochschul- 69 Wikipediaitis professor gibt es irgendein Gefälle, das er nutzen kann. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung findet dann aber idealerweise so statt, dass einem die bloße Macht nichts mehr hilft, sondern zusätzliche Fähigkeiten vorhanden sein müssen. Im Jahr 2008 habe ich den Artikel zum Thema »Handyroman« in Wikipedia begonnen. Nach einigen Minuten landete er auf der Liste zur sofortigen Löschung. Eine Begründung war, dass Handyromane allenfalls eine Unterkategorie von E-Books seien, eben elektronische Bücher, die auf Handys gelesen werden. Das war natürlich Unsinn, denn Handyromane haben sich in Japan als Genre entwickelt, und die verschiedenen Bewegungen auf der Welt haben kaum an die E-Book-Tradition (das Übertragen von vorhandenen Inhalten auf neue Medien à - QR-Info- 30) angeknüpft, sondern sich an neuen Produktionsformen und neuen Formen und Inhalten versucht. Eine mir unbekannte Person eilte mir zu Hilfe. Der Artikel wurde dank ihr in seiner Existenz gesichert und von verschiedenen Autoren - darunter bestimmt Autorinnen, zumal es mehr Expertinnen als Experten für Handyliteratur zu geben scheint - weitergetrieben. Alles bestens, könnte man sagen, die Weisheit der Masse hat sich durchgesetzt, wobei es eigentlich die Weisheit von ein paar wenigen war. Aber was wäre gewesen, wenn sich in diesem Moment kein Retter in der Not gefunden hätte? Ich selbst hätte wahrscheinlich zu diesem Zeitpunkt, obwohl ich bereits seit einer Weile Handyromane schrieb, nicht so gut argumentieren und das Ruder nicht so schnell herumreißen können. Vielleicht würde es den Artikel ohne diesen Zufall gar nicht mehr geben, und nun gibt es ihn, übrigens in ausreichender Qualität. Auf die Qualität soll genauer eingegangen werden. Wikipedia wurden, selbst in Studien, die Inhalte gelobt haben, strukturelle Mängel bescheinigt. Es gelingt Laien häufig nicht, ein Thema stringent und übersichtlich darzustellen. Diejenigen, denen 70 Die Rache der Nerds es gelingt, kann man mit Fug und Recht Experten nennen. Es gibt freilich gewichtige Gründe, warum Wikipedia auch in inhaltlicher Hinsicht scheitern muss. ( à - QR-Info- 31) Ein bereits angedeuteter Grund sind die abweichenden Bedeutungen (s. Kapitel »Der Zorn der Blogger«). Wenn verschiedene Autoren gemeinsam an einem Artikel schreiben, gebrauchen sie Begriffe auf unterschiedliche Weise. Eine Angleichung ist ein schwieriges und über Diskussionsforen - wie sie den Artikeln zugeordnet sind - kaum lösbares Geschäft. Neben den Begriffen sind (vor allem in den weichen Wissenschaften) die verschiedenen Hintergründe und Schulen ein Problem. Wikipedia ist letztlich ein Projekt, das der Phantasie von Nerds entsprungen ist. Nur Nerds können glauben, dass man Sätze wie Bausteine aufeinanderlegen kann. In ein paar wenigen Bereichen kann die gigantomanische Enzyklopädie dennoch punkten. ( à -QR-Info-32) Wenn man nach einem Thema googelt, bingt oder quakt (mit DuckDuckGo), findet man häufig einen Wikipedia-Eintrag zum Thema an oberster Stelle. Es gab Gerüchte hinsichtlich dieses Umstands. Es wurde spekuliert, ob Wikipedia und Google kooperieren. Ein Grund für das gute Ranking dürfte einfach sein, dass auf Artikel in Wikipedia vielfach verlinkt wird, was Googles PageRank-Algorithmus bis heute gefällt (eine verstärkte inhaltliche Orientierung wurde 2012 versprochen). Dies liegt nicht zuletzt an automatischen und an manuellen Verwertungen von Einträgen und Beiträgen. Wer einmal an einem »wichtigeren« Artikel in Wikipedia mitgeschrieben hat, weiß genau, was gemeint ist. Plötzlich entdeckt man die eigenen Sätze auf zahlreichen Plattformen wieder. ( à -QR-Info-33) Tatsache ist - in empirischer Hinsicht müssen wir Emma ja Recht geben -, dass Wikipedia von Journalisten (und von Studenten) intensiv genutzt wird. Obwohl gerade sie es besser wissen müssten, halten viele von ihnen, zu viele, Wikipedia 71 Wikipediaitis für eine unerlässliche und verlässliche Referenz. Sie nehmen die Sätze und Gedanken von Hunderten und Tausenden und vermitteln sie Zehntausenden und Hunderttausenden. Dass sie von so vielen unbekannten Menschen stammen, scheint ihnen nichts auszumachen, obwohl in ihrem Milieu normalerweise der Namen zählt, und zwar sowohl der Namen, den man trägt, als auch der Namen, den man sich gemacht hat. Vor allem aber scheinen sie anzunehmen, dass die Wahrheit mit der journalistischen Verwendung und Verbreitung weiter zunimmt. Letzten Endes entsteht ein selbstreferenzielles System, das sich selbst, jedoch nicht den Ansprüchen genügt, die man stellen sollte. Die Frage ist, ob man es nicht besser machen könnte. Ob man nicht die Potenziale eines Wikis und zugleich von Experten nutzen könnte. Das ist natürlich längst geschehen. Larry Sanger hatte im Jahre 2000 - ich folge der Darstellung von Andrew Keens - Jimmy Wales vorgeschlagen, ein Kulturblog aufzubauen. Wales nahm den Doktoranden in seine Dienste, die beiden gründeten Nupedia und dann, Anfang 2001, Wikipedia. Der Philosoph Larry Sanger warf aber nach zwei Jahren hin. Warum? Weil Larry Sanger in Bezug auf Wikipedia zur Vernunft kam. Er erkannte, dass das Wikipedia-Experiment ausgesprochen zerstörerische Folgen hatte. Er war für den täglichen Betrieb der Online- Enzyklopädie verantwortlich und musste die bescheuerten Amateure an der Peripherie des Projekts in Schach halten, die täglich Tausende von Beiträgen posteten oder abänderten. 9 Sanger gründete 2006 Citizendium. Ich möchte nochmals Wikipedia zitieren: Citizendium (Abkürzung von: The citizens’ compendium, d.h. Kompendium für Bürger) ist eine MediaWiki-basierte Webpräsenz zur Erarbeitung eines englischsprachigen Nachschlagewerkes. Das Wiki wurde von Larry Sanger gegründet, dem ehemaligen Chefredakteur der Nupedia, eines Vorgängerprojekts der Wikipedia. Im Unterschied zu Wikipedia erlaubt Citizendium keine anonymen Beiträge; die Qualität sollen Fachlektoren (»editors«) gewährleisten. Dadurch soll Citizendium zu einer »besseren Wikipedia« werden, doch auch Citizendium stellt wie Wikipedia gemeinfreie Informationen ins Netz. 10 72 Die Rache der Nerds Das hört sich so an, als hätte Sanger gar nichts direkt mit Wikipedia zu tun gehabt. Und als würde ein Widerspruch zwischen Qualität und Gemeinfreiheit bestehen. Im Anschluss die Darstellung von Citizendium: Citizendium, a »citizens’ compendium of everything«, is an open wiki project dedicated to creating a free, comprehensive, and reliable repository of structured knowledge. Our community is built on the principles of trust and respect; contributors, or »citizens«, work under their own real names, and all are expected to behave professionally and responsibly. Additionally, experts are invited to play a gentle role in overseeing the structuring of knowledge. 11 Citizendium hat Vorteile. Und Nachteile. Es liegt nur auf Englisch vor und hat »nur« ca. 16.000 Beiträge. Das ist wenig gegenüber den knapp vier Millionen der englischen Version von Wikipedia. Und es hat noch einen Nachteil, der auch mit den wenigen Beiträgen zusammenhängt: Es wird nur wenig genutzt. E-Learning und Blended Learning Als ich 1999 an der Universität St. Gallen zu arbeiten anfing, hörte ich zum ersten Mal den Begriff »E-Learning«. Bei meinem vorherigen Arbeitgeber (ich war Mädchen für alles gewesen, für die Öffentlichkeitsarbeit genauso verantwortlich wie für IT-Projekte) hatte ich ein internes Papier zum »Telelernen« geschrieben und während des zweiten Studiums, des Studiums der Informationswissenschaft, weitreichende E-Learning- Methoden kennengelernt, ohne dass der Begriff schon zur Verfügung gestanden hätte. Wir mussten eine Arbeit in einem webbasierten Workspace verfassen, vor den Augen der anderen, was ungewohnt und anregend zugleich war, und wir konnten auf der Plattform diskutieren und voten. Und wiederum davor, Anfang der 1990er-Jahre, hatte ich Vokabeln mit Hilfe einer Software auf Diskette gepaukt. E-Learning hatte es also, in der einen oder anderen Form, schon lange gegeben. Namen wie 73 E-Learning und Blended Learning Michael Kerres und Rolf Schulmeister standen im deutschsprachigen Raum für die akademische Beschäftigung damit; naheliegenderweise interessierten sich Pädagogen und Psychologen für das Thema. »E-Learning« war ein frischer Begriff aus den USA, und er brachte einen anderen Geruch mit sich bzw. tilgte den Geruch, den das Lernen bis dahin gehabt hatte, nach Mühe und Schweiß. Das Lernen klang plötzlich sexy und fancy, und es geschah scheinbar mit der gleichen Leichtigkeit wie das Schreiben von E-Mails oder das Überweisen von Geld beim E-Banking. Lernen ist selbstverständlich immer hart, außer man ist jung und gierig, insbesondere in eher formellen Arrangements. Daran änderten nicht einmal Edutainment und Game-based Learning etwas, die die Kindheit zurückzuholen versuchten in das Leben ausgebrannter Erwachsener (oder tatsächlich für Kinder gedacht waren, die freilich schnell dahinter steigen, wenn sie beim Spielen etwas lernen sollen), wobei man sich bei jedem Programm darüber unterhalten könnte, ob es eher dem Formellen oder dem Informellen zuzuordnen wäre. Ich schrieb 2000 eine der ersten deutschsprachigen Definitionen von »E-Learning« und veröffentlichte sie in einem Lexikon einer Online-Akademie, die - im Gegensatz zu ihrem Elaborat - noch heute existiert. Ab 2001 folgten mehrere Varianten, in Artikeln und in Büchern, etwa unserem 2001 erschienenen »E-Learning im Unternehmen«, das zu einem Standardwerk der 2000er-Jahre wurde. ( à -QR-Info-34) Auch in dem im gleichen Jahr publizierten »E-Learning: Weiterbildung im Internet« war - im Vorwort - meine Definition zu finden, leider ohne Quellenangabe; überhaupt tauchte im ganzen Buch - außer im Titel und im Vorwort - der Begriff nicht mehr auf. Mein Deutsch dieser Zeit war ziemlich gestelzt, was mir die Identifizierung von Plagiaten erleichterte. Etliche Studierende, Wissenschaftler und Unternehmen übernahmen 74 Die Rache der Nerds die Erklärungen, und nicht alle gaben die Quelle an. Es hatte keine ernsthaften Konsequenzen für die Vorreiter Guttenbergs; ich schrieb sie allenfalls höflich an und bat sie, meinen Artikel oder unser Buch zu nennen. Die meisten reagierten einsichtig, nur manche ein wenig pampig, zum einen diejenigen, die ihre Texte von anderen Webseiten übernommen hatten und sich keiner Schuld bewusst waren, zum anderen diejenigen, in denen sich so etwas wie ein Schuldgefühl - aus welchen Gründen auch immer - nicht zu entwickeln vermochte. Ein Fall war besonders gravierend: Jemand hatte sich die Mühe gemacht, unser ganzes Glossar am Ende des Buchs abzutippen, darunter meine Definitionen von »E-Learning«, »Blended Learning« und »Mobile Learning«. Plagiiert wird eben seit jeher nicht nur zwischen elektronischen Werken, sondern auch von gedruckten zu elektronischen. Im Hauptteil von »E-Learning im Unternehmen« erging ich mich über zehn Seiten zu Mobile Learning. Wir glaubten fest daran - das hatten unsere Diskussionen in einem urigen Hotel im Appenzell gezeigt, in dem wir drei uns zur Einigung auf Begriffe und Konzepte und zur Verteilung der Arbeit getroffen hatten (wenn doch nur Wikipedia-Autoren diese Gelegenheit hätten, zu einem Austausch über das Forum hinaus) -, dass das Lernen über Handys und Personal Digital Assistants (PDAs) kurz vor dem Durchbruch stand. Es war nicht so, dass wir besonders visionär gewesen wären; wir versuchten nur den Begriff zu fassen, die Konzepte zu erklären und auf Projekte in diesem Feld einzugehen. Das Visionärste war vielleicht, dass wir der Thematik so viel Platz einräumten. Mit unserer zeitlichen Einschätzung des Durchbruchs konnten wir nicht weiter danebenliegen. Zehn Jahre sollten vergehen, bis Mobile Learning zu einer viel beachteten und genutzten Form der Wissensvermittlung wurde. Wichtig war dabei nicht zuletzt der große Sprung von Afrika, über die webbasierten Anwendungen hinweg, direkt 75 E-Learning und Blended Learning in das Gebiet der mobilen Anwendungen hinein (s. Kapitel »Gedruckte und elektronische Bücher«). In der ersten Phase der neuen E-Learning-Bewegung schenkte man den Technologien besondere Aufmerksamkeit. »Technology was King«, um eine damals übliche Redewendung in die aus heutiger Sicht richtige Zeit zu bringen. Das freute insbesondere die Informatiker und Wirtschaftsinformatiker und mit ihnen die technischen Berater, Dienstleister und Entwickler. Endlich durften sie in Bezug auf das Lehren und Lernen mitreden, in Bezug auf die Wissensvermittlung; endlich durften sie nicht mehr nur Daten und Informationen verarbeiten helfen, sondern im großen Spiel um Bildung und Qualifikation mitmischen. Das musste schiefgehen - und es ging gründlich schief. Dass der Hype um E-Learning bereits nach zwei, drei Jahren am Ende war (selbst wenn das noch nicht bis zu jedem vorgedrungen ist), ist nicht zuletzt auf die spezifische Herangehensweise der Technologen zurückzuführen. Die Lernenden waren frustriert, denn sie bekamen nicht - wie bis dahin im besten Falle bei Büchern oder im Unterricht - wertvolle Inhalte aus pädagogischer Perspektive, sondern teure Plattformen und Web-based Trainings, deren Benutzung man erst erlernen musste, bevor man lernen konnte. Und sogar die Umsetzenden waren zeitweise frustriert, denn die neuen, hippen Web-based Trainings erlaubten viel geringere Datenmengen und Dateigrößen als die zu diesem Zeitpunkt erhältlichen Computer-based Trainings. Was die Umsetzenden anbelangt, könnte man ein eigenes Buch nur über sie schreiben. In Großbritannien und anderen Ländern gibt es das Berufsprofil des Instructional Designer. Dieser plant und entwickelt Lernsoftware und -umgebungen. Er ist didaktischer Experte und kennt sich mit Autorentools aus. In Deutschland, in Österreich und in der Schweiz hat kaum ein Unternehmen, das E-Learning einsetzt, je nach einem Instructional Designer gesucht. Es gibt auch nicht sehr viele, und wenn 76 Die Rache der Nerds es sie gibt, sind es meist Pädagogen oder Medien- und Informationswissenschaftler, die ihren Horizont erweitert haben. 12 Eingestellt wurden vor allem Informatiker und Wirtschaftsinformatiker. Oder man holte, wenn der Markt schwächelte, selbstausgebildete Nerds aus den Kellern: Die Hauptsache war, dass sie etwas entwickeln konnten, das nach E-Learning aussah. Es war egal, ob es Spaß machte oder ob man etwas lernte. Seltsam war auch, dass die Lernexperten nicht immer der deutschen Sprache mächtig waren (s. Kapitel »Der Verlust von Sprache und Stringenz«). Selbst diejenigen aus den Instituten und Hochschulen nicht. Wissensvermittlung hängt nicht zuletzt von einer gelingenden Kommunikation ab, von aussagekräftigen Bildern und Texten und von entsprechenden »akustischen Signalen«, also von Tönen, Mono- und Dialogen sowie Musik. Waren nicht unsere Lehrerinnen und Lehrer ziemlich gut im Schreiben und Sprechen gewesen? Aber die neuen Pädagogen zerbrachen die Wörter zu »E-Learning Konferenzen«, »Lern Portalen« und »E-Mail Adressen«, als hätten sie zu viel »Gemüse Suppe« von Maggi oder Knorr gelöffelt. Die E-Learning-Experten waren gut darin, das Deppenleerzeichen zu verbreiten; und nicht so gut waren sie darin, Wissenslücken zu schließen. Wie hatten sie ihre Diplomarbeit geschafft? Ihre Bachelor- oder Masterarbeit? Ihre Doktorarbeit? Viele Professoren lassen für sich schreiben, aber um als Student oder Doktorand für sich schreiben zu lassen, muss man in der Regel horrende Preise bezahlen. Offenbar kennt man einen Goldesel persönlich. Oder Leute, die einem mit ihrem Freundschaftswomöglich einen Bärendienst erweisen. Am Ende des ersten Hypes und nachdem die Anbieter millionenschwere Verträge abgeschlossen und ihre zweifelhaften Plattformen in oder unter die Hochschulen und Unternehmen gebracht hatten, fiel einigen Dozenten und Mitarbeitern auf, dass man Content brauchte. Natürlich hatte man digitale Inhalte 77 E-Learning und Blended Learning besorgt, Web-based Trainings gebastelt sowie Computer-based Trainings eingekauft und in den Wechsler des Servers gesteckt; aber es fehlte die Masse, von der Klasse ganz zu schweigen. Die Verantwortlichen in den Unternehmen und die etwas sensibleren E-Learning-Experten gaben die neue Parole »Content is King« aus. Es wurden noch weitere Herrscher gekrönt, und mal ergriff der eine, mal der andere Ansatz das Zepter. Das Ende vom Lied ist, dass heute E-Learning in größeren Betrieben und in den meisten Hochschulen im deutschsprachigen Raum etabliert und nicht besonders gern gesehen ist. Man produziert - Stichwort Rapid E-Learning - schnelle, oberflächliche Kurse, oft unter Verwendung von PowerPoint-Folien oder einer Aufzeichnungssoftware. E-Learning ist angekommen. Aber toll ist es nicht. Es lohnt sich, die erste Phase der Plattformen etwas genauer anzuschauen, und ich erlaube mir wieder, es aus meiner persönlichen Perspektive zu tun. In St. Gallen hatte ich eine Zwei- Zimmer-Wohnung auf dem Rosenberg, der an dieser Stelle Grünberg heißt, in einem alten, stattlichen, verwohnten Haus mit dem Namen Campanula. Ich kauerte in dem Erker meines Schlafzimmers wie in einer Glockenblume und las Seite für Seite, Buch um Buch. Und ich bedichtete, von oben herab, im räumlichen Sinne, die Stadt, die sich in dem Hochtal ausgebreitet hatte und der ich im eigentlichen Sinne zu Füßen lag, und den Berg, der sich liebenswürdigerweise nebenan, in meinem Wohnzimmerfenster, zeigte. Es war der Säntis, die höchste Erhebung des Alpsteins, und ein paar der Gedichte widmete ich ihm. Der Blick aus dem Küchenfenster fiel auf eine Holztreppe, eine der berühmten Stiegen von St. Gallen, und in einen kleinen, wilden Park. Über die Stufen stöckelten am Abend die Mädchen aus dem Eliteinternat, Russinnen, Weißrussinnen, Italienerinnen, Deutsche. Das Wenige, was sie am Leib hatten, war sehr teuer, und so wie Armut schön machen kann, kann es auch 78 Die Rache der Nerds Reichtum. Ich habe sie ebenfalls besungen, in einem Gedicht, das vielleicht das beste in dem Band war, der zwei, drei Jahre später unter dem Titel »Die Stadt aus den Augenwinkeln« erschien (und 2011 als digitaler Nachdruck unter dem Titel »Deine Lippen sind nicht rot wie Mohn« in der »Kindle Edition«). Ein Redakteur der lokalen Zeitung fragte mich am Telefon, warum ich die Schweizerinnen so bewundern würde, und ich ließ ihn im Glauben, rühmte die Schweizerinnen im Allgemeinen und im Besonderen und verstieg mich am Ende sogar zu der Behauptung, sie würden sich besser kleiden als die Deutschen. Der Redakteur notierte sich alles fleißig, hörbar fassungslos, und nach einem letzten Schnaufen legte er auf. Die Rezension war dann weitgehend wohlwollend, aber auch ziemlich inkompetent. Die wahre Würdigung war für mich ein Vorabdruck von fünf Gedichten in der legendären Zeitschrift neue deutsche literatur (ndl) gewesen. Am Ende des Parks war ein Fenster zu sehen, und im Winter wurde sogar ein Teil der Fassade sichtbar. Es war ein Haus, das dem Haus, in dem ich wohnte, nicht unähnlich war, zumindest von außen. Allerdings war es besser in Schuss. Und innen ergab sich ein anderes Bild bzw. eine andere Geräuschkulisse. Da wohnte nicht der alte Herr vom zweiten Stock, dessen rechtes oder linkes Knie nicht mehr in Ordnung und der deshalb auf einen Stock angewiesen, nicht die magere Studentin vom Erdgeschoss, die nicht zu hören war. Da wohnte gar niemand, zumindest nicht auf den Stockwerken, die ich kannte. Sondern da residierte unter den Klängen der eintreffenden E-Mails und des sich einwählenden Instant Messengers die Viviance, eine Anbieterin eines Lernmanagementsystems. Sie hatte überall Dependancen eröffnet, wo es schön war, etwa in Sophia Antipolis an der Côte d’Azur. Dabei war auch wichtig, dass ein Kunde vor Ort war, und mit einem Büro und einem Mitarbeiter konnte man ihn besser betreuen. 79 E-Learning und Blended Learning Die Köpfe von Viviance gehörten einer früheren Krankenschwester und einem begnadeten Programmierer. Ursula Suter war eine weitsichtige, didaktisch versierte Frau, die die Fäden im Hinter- und im Vordergrund zog. Im Beirat des aufstrebenden, ja nach den Sternen greifenden Unternehmens saß der Mitbegründer und Hauptnerd von Apple, der Woz oder Wizard of Woz, wie er auch genannt wird, Steve Wozniak. Die Lampe hinter dem Fenster, das ich am Ende des Parks sah, leuchtete bis weit in die Nacht hinein. Nicht zu weit, nicht bis zum Ende der Nacht. Die Nerds holten sich ihren Schlaf zur gerechten Stunde. Alles schien in Ordnung zu sein. Auch die Lernplattform war in Ordnung. In dem Unternehmen hatten eben nicht nur die Nerds das Sagen, sondern die Didaktiker, die Instructional Designer, und obschon das Wissen nicht immer fundiert erworben war, war es doch meistens fundiert. In didaktischer Hinsicht war das Produkt sogar ausgezeichnet. Wie wir durch den Fall Microsoft wissen, setzen sich nicht die besten Produkte durch, sondern die am besten angepriesenen und verkauften. Word ist bis heute ein lausiges Textverarbeitungsprogramm, und einzelne Funktionen wie Rechtschreibprüfung und Thesaurus haben sich sogar verschlechtert. Darauf gehe ich noch detailliert an anderer Stelle ein, wobei ich keinesfalls nur Word in Frage stellen werde (s. Kapitel »Im Rachen des Thesaurus«). Wenn man in jeder Ecke der Welt eine Tochter hat (oder einen Sohn), kostet das ein Vermögen; Rockstars können ein Lied davon singen. Und wenn man nicht genügend Lizenzen verkauft, fehlt das Geld, das die Tochter fordert, einem selbst und der Bank. Man hatte sich in einer Zeit, in der es möglich, ja einfach war, einige Millionen Risikokapital besorgt. Man hatte es durchaus nicht verprasst; das Haus am Ende des Parks war schön, aber das ist fast jedes Haus in St. Gallen; die Stadt war einmal die reichste der Welt gewesen (bzw. die zweit- oder 80 Die Rache der Nerds drittreichste, um solchen Rankings nicht zu sehr zu vertrauen). Die Türklinken waren, das kann ich bestätigen, nicht aus Gold, und die Tische und Stühle wahrscheinlich von USM - nicht gerade billig, dafür für die Zukunft gebaut. Manchmal saß ich in einem Besprechungsraum dieses Gebäudes, und wie der Zufall es wollte, sah ich am Ende des Parks mein Küchenfenster. Die Viviance war die Partnerin des Kompetenzzentrums, das ich leitete, die wichtigste, wichtiger als die Swissair, die demnächst ihr ultimatives Grounding erleben sollte, wichtiger als die Polizei Baden-Württemberg, die wir nach den Anthrax-Anschlägen beraten würden. Und diese Viviance fuhr mit hoher Geschwindigkeit voll gegen die Wand. Eigentlich fuhren auffällig viele Partner von uns gegen die Wand. Nur die Polizei Baden-Württemberg existiert trotz unserer Bemühungen noch. Demokratisierung und Totalitarismus In den Anfangstagen des WWW haben viele von einer Demokratisierung durch Strukturen und Angebote des Netzes geträumt. Jeder Empfänger kann ein Sender sein - beispielsweise seine Meinung äußern, ohne auf die Massenmedien angewiesen zu sein -, und alle können an allem partizipieren. Faktisch wird das Netz nicht nur zur Kommentierung und Aufklärung genutzt, sondern im Gegenteil zum antiaufklärerischen Kampf durch religiöse und rechtsradikale Gruppen. Rechtsradikale fühlen sich seit jeher wohl im Netz und nutzen es, um junge Leute anzulocken und zu binden, um Andersgesinnte in Misskredit zu bringen und - dies inzwischen vor allem im »Untergrund« des Netzes - um Anschläge vorzubereiten. Vielleicht wäre auch die Rote Armee Fraktion (RAF) im Web aktiv gewesen, wenn es dieses schon gegeben hätte. Und die Fahndungsplakate hätten nicht auf den Postämtern gehängt, wo sie uns Kinder und Jugendliche zu erschrecken pflegten, sondern an elektronischen Pinnwänden. 81 Demokratisierung und Totalitarismus Ich erinnere mich, dass ich früh skeptisch geworden bin gegenüber den Heilserwartungen und -versprechungen der »Forumsfetischisten« (der Begriff des Forums galt in den 1990er- Jahren dem öffentlichen, interaktiven Raum im Internet, sogar dem Web oder Internet insgesamt, und manche verklärten das Forum zu einer alten, neuen, besseren Welt). Im Rahmen einer studentischen Arbeit zur Informationsethik führte ich eine Recherche durch (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes«). Ich wollte herausfinden, in welcher Form die Rechtsradikalen das Netz benutzten. Nach wenigen Minuten fand ich eine Anleitung für den bewaffneten Überfall auf Asylbewerberheime, ein in den 1990er-Jahren nicht unbeliebter Sport, wenngleich kein eigentlicher Volkssport. Auf diese Weise ging es weiter, und mit jedem Fund wurde ich weniger optimistisch. Natürlich fand ich auch das Gegenteil, antifaschistische Websites und Foren, Blumen des Widerstands und Bäume der Demokratie. Gerne hätte ich die Bomben nicht nur gefunden, sondern auch entschärft; aber dazu war ich, anders als ein Hacker, nicht in der Lage (s. Kapitel »Die Hüte der Hacker«). Immer wieder war in den letzten Jahren zu lesen, dass die deutsche Politik neuerdings das Internet entdeckt habe respektive die jeweilige Bundestagswahl die erste sei, die - mit ihren Wahlkämpfen und ihren Meinungsbildungsprozessen - im Netz stattfinde. Die TAZ beanstandete am 13. August 2009 auf ihrer Website: Die Parteien versuchen, sich im Onlinewahlkampf zu profilieren. Dass das Web 2.0 aber Mitmachinternet und kein einseitiger Kommunikationsweg ist, haben sie noch nicht verinnerlicht. 13 Die Tagesschau meldete am 9. Juli 2009 auf ihrer Website: »Spätestens seit Obamas Wahlsieg hat auch die deutsche Politik das Netz entdeckt.« 14 Und Welt Online hatte am 25. Juni 2009 ganz ähnlich geschrieben: »Spätestens seit Barack Obama ist das Internet als Wahlkampfmittel populär. Auch in Deutschland 82 Die Rache der Nerds nutzen die Parteien das Netz, um Anhänger zu gewinnen.« 15 Tatsächlich aber ist die deutsche Politik spätestens seit der Bundestagswahl von 1998 aktiv im Netz vertreten. Politiker und Parteien aller Couleur machten sich damals die Möglichkeiten des WWW zunutze - und ließen die Bürgerinnen und Bürger, die Wählerinnen und Wähler durchaus zu Wort kommen. Ein Mitmachweb, als noch keiner das Wort kannte, und das noch nicht den weitreichenden kommerziellen und sozialen Zwängen unterlag wie das Web 2.0 und noch nicht von studiVZ, Myspace und Facebook ausgehöhlt wurde. ( à -QR-Info-35) Rainer Kuhlen und ich haben die erste Bundestagswahl im Netz in einem Buch dokumentiert, das im Wahljahr herausgekommen ist, im Universitätsverlag Konstanz. »Die Mondlandung des Internet« - die Zeit für die deutsche Deklination des Fremdworts war anscheinend noch nicht reif - behandelte auf 350 Seiten die Ziele und Methoden der Parteien, wobei der Fokus auf die Kommunikationsmöglichkeiten und die Bürgerpartizipation gerichtet war. Die Dokumentation war, im Rahmen der Diplomarbeit für mein zweites Studium, meine Sache, und so habe ich dutzende Websites und Foren beschrieben und mit Hilfe von Snapshots verewigt. Etwa die Hälfte des Werks stammte von mir, und freundlicherweise wurde mein Name auf dem Titelblatt hinter ein »unter Mitarbeit von« gesetzt, sodass ich in einschlägigen Katalogen aufzufinden war. Der Titel stammte von dem politisierten Professor und spielte auf das erste Ereignis an, das die Menschen auf der ganzen Welt vor den Computerbildschirm lockte, so wie sie sich im Jahre 1969 vor dem Fernsehbildschirm versammelt hatten. Nicht 9/ 11 war gemeint, sondern die Clinton-Lewinsky-Affäre, die mit Sätzen wie »Das schmeckt gut« ins kollektive Gedächtnis eingebrannt ist. Gemeint hatte Clinton, falls das jemand vergessen oder verdrängt hat, den Genuss seiner Zigarre, die offensichtlich 83 Demokratisierung und Totalitarismus trotz der Sekrete angezündet werden konnte. Unter der Überschrift »Der erste (politische) Wahlkampf im World Wide Web« schrieb Kuhlen auf den Seiten 9 und 10: Der Bundestagswahlkampf 1998 in Deutschland war noch keine Mondlandung einer neuen Demokratierealität. Direkte Politikformen, z.B. elektronische Abstimmungen oder gar elektronisch beschlossene Entscheidungen der großen und kleinen Politik, ersetzen noch keineswegs die eingeübten Verfahren der repräsentativen Demokratie. Es ist jedoch unverkennbar, daß der Bundestagswahlkampf ’98 das erste größere Wahlgeschehen war, vermutlich weltweit, das sich auf den elektronischen Publikumsmärkten abgespielt hat. Bislang beanspruchte diesen Rang der amerikanische Präsidentenwahlkampf von 1996. Aber der war im elektronischen Medium noch eher von den USENET- Newsgroups der Internet-Freaks, der Intellektuellen, Akademiker, Online-Journalisten, Anarchisten und Basisdemokraten bestimmt. Die Vielfalt der Newsgroups macht(e) die basisdemokratische Substanz der Netzwelt aus. In diesen Newsgroups wurde und wird auch noch weiter die politische Diskussion zu allen erdenklichen Themen am intensivsten geführt, bis heute zu der Clinton-Lewinsky-Affäre. In Deutschland hat es diese Basis-Kultur der politischen Diskussion nicht in diesem Ausmaß gegeben. Deutschland ist mit der üblichen Verspätung, aber dann gleich in das auf das allgemeine Publikum bezogene World Wide Web eingestiegen. Das World Wide Web mit seiner Graphik-Oberfläche und mit der Möglichkeit des Anwählens von beliebig verteilten Objekten durch einfaches Anklicken mit der Maus hat eine fast schon spielerische Unterhaltungskultur des Internet entstehen lassen, die sich ja auch in der Wortwahl des Surfens widerspiegelt. Seriöse politische Diskussion muß sich in diesem Umfeld erst entwickeln, wenn sie denn überhaupt möglich ist. Vielleicht kann das dadurch begünstigt werden, daß das World Wide Web nicht nur als Informations-, Shopping-, Business- oder Unterhaltungsmedium angesehen wird, sondern insgesamt als Forum, das auf vielfältige elektronische Weise den Austausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern gestattet. 16 Nun, genau diese Hoffnung hat sich wohl nicht erfüllt. Und selbst dort, wo scheinbar das klassische Forum vorhanden ist, der Platz des Tauschs und des Austauschs, werden die Benutzer gnadenlos vermarktet. Ansonsten war Kuhlen wie so oft seiner Zeit weit voraus. Das Buch ist längst vergriffen, und den Journalistinnen und Journalisten ist kaum zuzumuten, dass sie sich vom Bildschirm fortbewegen und eine Bibliothek aufsuchen. 84 Die Rache der Nerds Aber sogar über eine Suchmaschine hätten sie unsere Dokumentation im weltumspannenden Hypertext in irgendeiner linearen Form gefunden. Ohne Zweifel haben die neuen Medien das Potenzial, totalitären Strukturen zu schaden. Blogs und Microblogs verbreiten Nachrichten von Demonstrationen (s. Kapitel »Datensauger und -schleudern«), machen Gewalt gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern sichtbar, stacheln das Volk an und klären es auf. Internet und Web können aber auch totalitäre Strukturen unterstützen, ja zu totalitären Strukturen werden. Das liegt an Anbietern und an Benutzern gleichermaßen. Ein Shitstorm kann ein reinigendes Gewitter mit sich bringen, kann aber auch eine reine Schlammschlacht sein, bei der die Schlammwerfer im Trockenen und Sauberen sitzen. 17 Und wenn Millionen etwas im Netz tun, wenn sie klicken, streamen, downloaden, entsteht die Macht des Faktischen. Es sind nicht wenige mit viel Macht, sondern viele mit viel Macht. In einem Artikel in der ZEIT über den Kampf um das geistige Eigentum wird Alex Ross zitiert, der zum Stab von US-Außenministerin Hillary Clinton gehört: Die Macht, sagt Ross, verschiebt sich. Unaufhaltsam. Nicht von Nord nach Süd. Nicht von West nach Ost, nicht von Amerika und Europa nach Asien. Sondern von oben nach unten. Von den Institutionen zu den Individuen. Und die treibende Kraft hinter dieser fundamentalen Verschiebung ist das Netz. 18 Das kann man nun in einen allgemeinen Kontext stellen. Und man kann es als Teil einer Demokratisierung begreifen. Ich fürchte aber, so einfach ist es nicht. Seit ein paar Jahren streiten zu diesem Thema auch die Social-Media-Experten Clay Shirky und Evgeny Morozov. Morozov zeigt sich in seinem Buch »The Net Delusion« und in weiteren Veröffentlichungen skeptisch in Bezug auf das demokratische Potenzial des Internets und macht geltend, dass es auch den Machthabern helfen kann. Shirky glaubt, dass soziale Medien antiautoritären Aktivisten helfen. Sicherlich ist beides der Fall, und man muss in jeder Situation genau hinschauen. 85 Netiquetten, Leitlinien, Kodizes Netiquetten, Leitlinien, Kodizes Von der Netiquette hörte ich zum ersten Mal im Rahmen meines zweiten Studiums in den 1990er-Jahren. Im Usenet war ich bis dahin nicht aktiv gewesen, ebenso wenig in neueren Diskussionsforen; auch andere öffentliche und halböffentliche Räume, für die die Netiquette galt, hatte ich kaum genutzt. In einer bereits erwähnten Arbeit zur Informationsethik (s. Kapitel »Demokratisierung und Totalitarismus«) fragte ich nach der Verantwortung von Maschinen und Menschen und den Risiken von Informations- und Kommunikationstechnologien in ausgewählten Bereichen und stellte die Entwicklung der klassischen Netiquette dar. Daneben untersuchte ich die damaligen sogenannten »ethischen Leitlinien« der Gesellschaft für Informatik (GI). Ich kam zu Ergebnissen, die nicht unbedingt positiv waren. Mein Professor bat mich, die Arbeit an die GI zu schicken. Auf der Website und in den einschlägigen Materialien forderte die Gesellschaft zum Dialog auf. Gerade was die Leitlinien anging, wollte man - so die eigene Aussage - Vorschläge und Erkenntnisse sammeln und umsetzen, ganz im Sinne der normativen Ethik, die (eigentlich begründete) Vorschläge zum Verhalten machen will, die man kritisieren können soll; und damit man kritisieren kann, muss man Kanäle dafür vorsehen. ( à -QR-Info-36) Ich war von dieser Offenheit beeindruckt und erfüllte frohen Herzens die Bitte des Professors, der übrigens kein Informationswissenschaftler, sondern Informatiker war. Es war schwer, Informationswissenschaftler zu bekommen, also begnügte man sich mit Informatikern, und zum Dank fraßen diese das Fach auf. ( à - QR-Info- 37) Es war so ähnlich wie bei Neandertalern und Homo sapiens, nur umgekehrt. Von der GI habe ich nie etwas gehört. Vielleicht wurden Nachrichten oder Analysen, die nicht von etablierten Akademikern oder po- 86 Die Rache der Nerds tenziellen Sponsoren kamen, automatisch vernichtet. Vielleicht wollte man gar keinen Dialog führen, sondern nur einen solchen vortäuschen. Ich werde nie erfahren, wie es wirklich war, denn es blieb eben beim Monolog, eines engagierten, blauäugigen, frustrierten Studenten. Man könnte sich fragen, warum der Hochschullehrer damals nicht vermittelt hat. Hätte er die hohen Herrschaften der GI (die früher auch nur Kellerkinder waren) nicht darauf vorbereiten müssen, dass etwas aus dem wissenschaftlichen Bodensatz aufsteigen würde? Nein, ich finde nicht, dass er das hätte tun müssen. Aber hätte er nicht wenigstens nachhaken müssen, als nichts gekommen war? Vielleicht hätte er das, wobei ich nicht einmal weiß, welches Ziel er damit verfolgte, dass er mich die Arbeit an die GI schicken ließ. Vielleicht versprach er sich Kontakte für sich selbst, und er wusste sicher genau, dass ein Nachhaken nichts half, wenn grundsätzlich kein Interesse vorhanden war. Es wäre übertrieben, mich als Spielball der Mächtigen darzustellen; und doch war es ein Spiel, das mit den Ohnmächtigen getrieben werden kann. Eines meiner ersten Projekte an der Universität St. Gallen umfasste die konzeptionelle Unterstützung von virtuellen Communities of Practice in der Deutschen Bank. Meine Aufgabe war es unter anderem, eine Netiquette für das Verhalten der Mitarbeiter aufzustellen. Da unser Dokument nie von der Bank zur Publikation freigegeben wurde, kann ich nicht daraus zitieren. Eine merkwürdige Art, Wissenschaft zu treiben, mag man sagen; man entwickelt etwas in einer öffentlichen Einrichtung, lässt dies von einer großen Bank des Landes (in diesem Falle freilich des Auslands) bezahlen - und die Bevölkerung bekommt es nicht zu Gesicht. In der Tat waren wir manchmal eher Berater als Wissenschaftler, was man kritisieren kann und muss. Speziell in diesem Dokument steckte aber durchaus Wissenschaft. Umso ärgerlicher, dass das Unternehmen nicht 87 Netiquetten, Leitlinien, Kodizes freigiebiger war. Hinzuzufügen ist noch, dass mein Institut nur in eingeschränktem Sinne eine öffentliche Einrichtung war. Es finanzierte sich nämlich fast vollständig durch Drittmittel. Und diese kamen mehrheitlich aus der freien Wirtschaft, die es mit unserer eigenen Freiheit nicht immer gut meinte. Dass man dies ebenfalls kritisieren kann und muss, versteht sich von selbst. Ich kann ergänzen, dass die Institutsdirektoren - jeder der Leiter durfte sich mit der Bezeichnung schmücken - beim Erreichen ihrer ökonomischen Ziele immer wieder über wissenschaftliche Leichen gingen. Die Hochschulleitung war davon anscheinend nicht gerade begeistert, aber da man finanziell selbstständig war, konnte oder wollte sie wenig dagegen tun. Hätte Josef Ackermann, der später die Deutsche Bank leitete und dann zur Zurich wechselte, das Dokument freigegeben? Immerhin war er Absolvent der Hochschule, an der ich arbeitete, oder ich muss besser sagen, für die ich arbeitete. Und genau deshalb bin ich eher pessimistisch; er hätte sicher verstanden, dass sich ein paar Leute wirklich für ein Thema, für die Sache interessierten, aber er hätte sich auch erinnert, dass für die meisten Leute der Hochschule die Beratung einer Bank ein Business war, und da er selbst nur Business machte … Und so weiter und so fort. Wahrscheinlich hätte er unser Projekt völlig unnötig gefunden und uns noch nachträglich das schmale Budget entzogen. Normalerweise hatten wir nämlich Wucherpreise, doch dank einer besonderen Konstellation hatte es - ausgerechnet für die Deutsche Bank - einen Preisnachlass gegeben. Die Netiquette in ihren verschiedenen Varianten entstand ursprünglich, wie angedeutet, für das Usenet. Als Mutter der bekanntesten Form gilt Arlene H. Rinaldi, die an der Florida Atlantic University gearbeitet und die vorhandenen Texte und Ansätze zusammengeführt bzw. -geschrieben hat; sie ist noch recht jung im Jahre 2010 verstorben. Die zentralen Gebote regten zum Nachdenken an und taugten als Hilfe und Stütze in 88 Die Rache der Nerds Newsgroups und anderen Foren. Sie waren mehr als ein Knigge und weniger als ein Gesetz. Das Netz hat sich inzwischen stark verändert, genauso wie das Verhalten der Benutzer darin, und neue Netze wie die des Mobilfunks sind dazugekommen (über die man wiederum auf das Internet zugreifen kann, zum Beispiel auf speziell aufbereitete mobile Seiten oder die »normalen« Angebote). Manche Gebote werden zu Recht nicht mehr beachtet, manche - gerade sehr sinnvolle und zeitgemäße - klammheimlich umgeschrieben, bis hin zum Gegenteil ihrer ursprünglichen Bedeutung. Das Gebot für das deutschsprachige Usenet, den wirklichen Namen anstelle eines Pseudonyms zu benutzen, wurde schon früh kontrovers diskutiert. Heute ist die Anonymität der Benutzer weit verbreitet, ja sie wird von vielen als selbstverständlich oder sogar als unabdingbar betrachtet. So genannte und selbst ernannte Experten empfehlen, niemals mit dem realen Namen in Chats und Diskussionsforen einzutreten, nicht in Gästebüchern, Wikis und Blogs zu unterschreiben, nicht einmal Online- Zeitungen und -Zeitschriften mit Briefen identifizierbarer Leser zu bereichern. Argumentiert wird häufig mit dem Schutz der eigenen Person. Was ist aber mit dem Schutz von anderen, von Personen und Einrichtungen? Was ist, wenn man beleidigt wird und sich wehren will? Wenn eine Falschinformation verbreitet wird und man die Wahrheit ans Licht bringen will? Was ist, wenn man als Betroffener wissen will, wer hinter den kommentierenden und wertenden Beiträgen steckt? Mein Vorschlag in diesem Zusammenhang ist, auf ein Gleichgewicht der Namen zu achten. Wenn man den Namen eines anderen in den Mund nimmt, sollte man den eigenen Namen nicht verschweigen. Und wenn man dazu nicht bereit ist, sollte man schweigen, wie übrigens auch ein Heranwachsender, der sich durch die Nennung seines Namens gefährden würde. Im Netz gibt es viele Baustellen; Eltern haften für ihre Kinder. Ein 89 Netiquetten, Leitlinien, Kodizes Gleichgewicht der Namen würde uns auf dieselbe Augenhöhe bringen. Wir könnten eine Ohrfeige erwidern und den anderen einen Lügner nennen und uns danach wieder in die Augen sehen. Wenn wir anonym bleiben, gelingt uns dies nicht. Auf diese Problematik gehe ich noch an anderer Stelle ausführlicher ein (s. Kapitel »Sterne holen und sehen« und »Anonymität und Identifizierbarkeit«). Es ist längst an der Zeit, unsere Verhaltensweisen im Netz, insbesondere im Web 2.0 und im mobilen Netz, gründlich zu überdenken. Eine neue Netiquette kann dabei ein Element sein, weniger als Ergebnis, mehr als Anstoß des Denkens. Hier meine Version 1.0, in der ich die klassische Netiquette mit eigenen Ansätzen kombiniere und die ich in verschiedenen Zeitschriften publiziert habe: 1. Du sollst im virtuellen Raum deinen Namen nennen, wenn du einen anderen Namen nennst, und auf deiner Website, in deinem Blog und bei deinem Wiki ein Impressum führen. 2. Du sollst nachdenken und recherchieren, bevor du einen Beitrag postest, und weder Dummheiten noch Fehlinformationen verbreiten. 3. Du sollst das Werk von anderen im Netz nicht als dein eigenes ausgeben und andere um Erlaubnis fragen, wenn du ihr Werk nutzen willst. 4. Du sollst Funkchips, Handys und Computer nicht zur Überwachung von anderen benutzen, nicht von Erwachsenen, nicht von Jugendlichen und nicht von Kindern. 5. Du sollst deine Person nur öffentlich darstellen, wenn du eine öffentliche Person bist oder mit allen Konsequenzen werden willst. 6. Du sollst Personen, die nicht öffentlich sind, nicht ohne ihr Wissen oder gegen ihren Willen öffentlich machen, 90 Die Rache der Nerds auch nicht deine Kolleginnen und Kollegen, deine Lehrerinnen und Lehrer, deine früheren oder gegenwärtigen Partnerinnen und Partner oder deine Kinder. 7. Du sollst mit einer fremden Identität oder einem Fake andere nicht irreführen und anderen weder in deiner Sprache noch in deinen Handlungen Gewalt antun. 8. Du sollst andere nicht mit deinen Nachrichten und mit deinen Gesprächen belästigen und sowohl den privaten als auch den öffentlichen Raum achten. 9. Du sollst bedenken, dass auf dem Netz basierende Technologien wie Suchmaschinen und Blogs respektive Microblogs viel Strom verbrauchen und Stromerzeugung zu Lasten unserer Umwelt geht. 10. Du sollst Handy und Computer so oft wie möglich ausschalten und dem Gesang der echten Vögel lauschen. Ein einzelner Mensch kann und darf wohl keine »allgemeingültige« Netiquette schaffen. Das hat nicht einmal Rinaldi gemacht; sie war sozusagen die Gebrüder Grimm der moralischen Seite des Netzes. Meine Version - die, wie gesagt, auf frühere Versionen rekurriert - muss immer weiter entwickelt werden, von allen, die sich nicht vom Mainstream mitreißen lassen, die sich verantwortlich fühlen und verantwortlich sein wollen, zur Version 1.1, 1.2 und so weiter. Sie muss, um zur ethischen Seite zu gehören, begründet werden, in separaten Texten, muss überprüft und kritisiert werden. Bis wir sie haben, die Netiquette 2.0. Eine erzählenswerte Geschichte am Rande ist, dass ich meine Version der Netiquette nicht nur in einer Fachzeitschrift, sondern auch in der Schweizer Boulevard- und Gratiszeitschrift Blick am Abend (BAA) veröffentlicht habe. 19 Ich habe zu dieser den Zugang nicht als professioneller Autor gesucht, was vielleicht möglich, wenn auch merkwürdig gewesen wäre, sondern als normaler Leser. Die Zeitschrift hat nämlich - Vorsicht An- 91 Netiquetten, Leitlinien, Kodizes glizismenflut - Web-2.0-Prinzipien umgesetzt, indem sie Usergenerated Content integrierte und diesen mit einem Mobile- Business-Konzept verband. Man bewarb sich als Leser mit ein paar Kolumnen. Wenn man Glück hatte, wurde eine von ihnen veröffentlicht. Dann entschieden die Leser, ob die Kolumnistin bzw. der Kolumnist weiterschreiben durfte oder aufhören musste. Sie schickten eine SMS an die Zeitschrift, und anscheinend waren die 70 Rappen nicht zu viel für diese Form der Meinungsäußerung. Auf diese Weise hat die Zeitschrift gleich doppelt verdient: Sie hat den Autoren kein Honorar bezahlt und von den Lesern Geld kassiert. Elf Kolumnen habe ich geschrieben, und jeden Tag wunderte ich mich darüber, dass ich weitergewählt wurde, quälte ich doch das Publikum mit wissenschaftlichem, literarischem und künstlerischem Zeug. Wie mit der Netiquette, in einer Zeitung mit einer Auflage von einer Viertelmillion. Die elfte Kolumne war vielleicht zu politisch und deshalb nicht eines Abdrucks würdig - was aber bedeuten würde, dass die Redaktion Einfluss genommen hat. Ein Einfluss anderer Art wurde einige Wochen später geltend gemacht. Eine Verbraucherzeitschrift der Schweiz kontaktierte mich per E-Mail; man habe ihr gegenüber gemutmaßt, dass die Kolumnen gar nicht von Lesern, sondern von Redakteuren des BAA stammten. Man sei vom Textchef auf mich verwiesen worden, da ich angeblich solche Kolumnen verfasst hätte. Ich erklärte der Verbraucherzeitschrift, dass das tatsächlich der Fall gewesen sei - und dass die Konsumenten anscheinend noch nie etwas von Web-2.0-Prinzipien gehört hätten. Sie, die Redakteure der investigativen Zeitschrift, würden also einen Skandal suchen, wo gar keiner sei. Man sollte in der Schweiz nicht zu direkt sein. Ich habe weder ein Dankeschön noch eine weitere Nachricht erhalten. Ein erwähnenswertes Thema in diesem Zusammenhang sind die Kodizes. Von diesen hat schon Albert Einstein wenig ge- 92 Die Rache der Nerds halten. Im Sommer 1944, etwa ein Jahr vor Hiroshima, schrieb Max Born an Einstein, dass die Wissenschaftler einen »internationalen Verhaltenskodex zur Ethik« bräuchten, um nicht länger bloße »Werkzeuge der Industrien und Regierungen« zu sein. Die Leistungen der Techniker und Naturwissenschaftler der letzten Jahre und die eingetretenen und erwartbaren Folgen hatten Born zu dieser Aussage getrieben. Einstein antwortete im September lapidar: Mit einem ethical code haben die Mediziner erstaunlich wenig ausgerichtet, und bei den eigentlichen Wissenschaftlern mit ihrem mechanisierten und spezialisierten Denken dürfte noch weniger eine ethische Wirkung zu erwarten sein. ( à -QR-Info-38) Sicher ist es so, dass sich vor allem solche Unternehmen, Organisationen und Stände einen Kodex geben, die besonders sensibilisiert für das Thema sind. Und sensibilisiert kann man auf die eine oder andere Weise werden. Ein Kodex sollte einen auf jeden Fall hellhörig machen und einen geschärften Blick werfen lassen. Manchmal handelt es sich um einen Baum, an den man sich lehnen oder auf den man sich retten bzw. von dessen Früchten man naschen kann. Und manchmal nur um ein Blatt, um ein Feigenblatt, um genau sein, um Peinlichkeiten und Missstände dahinter zu verbergen. Ingenieurswissenschaftliches Denken Das ingenieurswissenschaftliche und technikzentrierte Denken dominiert die Gesellschaft. Geistes- und sozialwissenschaftliche, auf den Menschen bezogene Ansätze und Methoden werden verdrängt. Alles wird messbar gemacht, die quantitative Erhebung der qualitativen vorgezogen. Die Auswertungen übernimmt ein Computer, wobei wir die Modelle und Methoden selten kennen bzw. verstehen. Selbst wenn die Ergebnisse verblüffen, werden sie kaum angezweifelt. Das ingenieurswissenschaft- 93 Ingenieurswissenschaftliches Denken liche Denken scheint das Denken an sich abzuschaffen, ebenso wie das computerisierte Denken, das in ihm seine Ursache hat. Die Computer seien »universelle« Maschinen, schrieb Joseph Weizenbaum, womit er meinte, dass sie »alles« können. 20 Diejenigen aber, die alles können, können oft nichts besonders gut. ( à -QR-Info-39) Die Avaloq ist ein Schweizer Unternehmen, das Bankensoftware programmiert und vertreibt. Mehrere kleinere und mittlere Banken setzen die Software ein. Der CEO der Avaloq, Francisco Fernandez, äußerte sich in einem Interview wie folgt: Wir Schweizer gelten immer noch als fleissig, aber es geht uns zu gut! Wir sind nicht mehr »hungrig« genug, um leidenschaftlich an unseren Zielen zu arbeiten. In der Tendenz schrumpft unser Leistungswille. Wir studieren lieber Kunst und Psychologie als Naturwissenschaften und Ingenieurdisziplinen. Dies überlassen wir den Emerging Markets - die Experten kaufen wir uns dann ein. Doch diese Entwicklung ist überaus gefährlich. Um im internationalen Vergleich bestehen zu können, müssen wir uns auf unsere starken Schweizer Werte und Tugenden besinnen: Bodenständigkeit, Beharrlichkeit, Ehrlichkeit, Qualitätsbewusstsein - und dies gepaart mit einem unbändigen Leistungswillen und Innovationsfreude. Nur so gelingt es uns, als Hochpreisinsel im internationalen Vergleich nachhaltig zu bestehen. 21 Es werden ganze Studiengänge und damit verbundene Berufe schlechtgeredet. Dabei ist es so, dass die Informatiker und Wirtschaftsinformatiker - und Softwareanbieter - dringend Beistand bräuchten. Es wäre gut, wenn Ökonomen, Psychologen, Philosophen, Kunst- und Literaturwissenschaftler ihnen nicht nur über die Schulter schauen, sondern sie auch an die Hand nehmen würden. ( à - QR-Info- 40) Nicht immer, nicht bei jeder Entwicklung und Optimierung, aber immer öfter. In der Tat ist es so, dass wir immer mehr Informatiker, Wirtschaftsinformatiker und Ingenieure brauchen, außer wenn sie sich versehentlich selbst wegrationalisiert haben, durch eine nicht ganz so sinnhafte Vollautomation (zum Begriff der sinnhaften Vollautomation s. Kapitel »Cyborgs und Maschinenmenschen«). ( à - QR-Info- 41) 94 Die Rache der Nerds Zum einen sollte man aber überprüfen, ob wir ständig so weitermachen wollen, zum anderen sollte man mehr Quereinsteiger »produzieren«. Einer, der Psychologie studiert hat, wird an die Gestaltung von Benutzeroberflächen ganz anders herangehen als einer, der sich nur ein paar GUI-Erkenntnisse zusammengesammelt hat (»GUI« steht für »Graphical User Interface«). Und nicht umsonst sind einschlägige Studiengänge der Psychologie und den Neurowissenschaften verpflichtet. Es lässt aufhorchen, dass der CEO ausgerechnet über Psychologen lästert, denen wir im informationstechnischen Bereich (und damit im Bereich der Banken) wichtige Erkenntnisse und Ergebnisse zu verdanken haben. Oder spielt bei der Software des Unternehmens eine benutzerfreundliche Oberfläche keine Rolle? So wie die Psychologie müssten auch andere geistes- und sozialwissenschaftliche Disziplinen in den technischen Gebieten berücksichtigt werden, eben um den Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, um den Bedürfnissen des Individuums und der Gesellschaft Genüge zu leisten. Es ist heute eher möglich, eine Bank ohne Banker zu betreiben als ohne Informatiker. Es ist heute eher möglich, eine KFZ-Werkstatt ohne KFZ-Mechaniker zu unterhalten als ohne Elektroniker. Die Informatiker, Wirtschaftsinformatiker und Ingenieure haben es geschafft, unentbehrlich zu werden. Das ist schön für sie, das ist schön für uns - aber nicht unbedingt schön für andere. An einer Hochschule braucht es immerhin noch einige, die Lehre und Forschung verantworten. Doch Lehre und Forschung sind nicht mehr denkbar ohne Informations- und Kommunikationstechnologien und digitale Medien (s. Kapitel »E-Learning und Blended Learning«). Auch die Administration wurde elektronifiziert und automatisiert. Man kann sich auf elektronischem Wege einschreiben und rückmelden. Man bekommt die Prüfungsergebnisse in geschützten Räumen angezeigt. All das ist wunderbar, wenn es funktioniert. Nur: Zu- 95 Ingenieurswissenschaftliches Denken gleich sind die Budgets für den Betrieb der Technologien und Systeme explodiert. Drei Jahre lang war ich an einer süddeutschen Hochschule der Leiter von Rechenzentrum und Medienzentrum und der E- Learning-Einrichtung, die ich mit einer Mitarbeiterin aufgebaut habe. Zugleich habe ich doziert, in den Fächern Deutsch und Wirtschaft. Ich musste den Studierenden Medienkompetenz beibringen, womit nicht mehr die Bedienung des Tageslichtprojektors gemeint war, und sie über E-Business informieren und instruieren. Dadurch war ich nicht nur Dienstleister für die anderen Dozierenden, sondern auch ihr Kollege. Ich trank mit ihnen Kaffee, zur Not auch Tee, und besuchte sie in ihren Büros, wenn ich eingeladen wurde. Ich bekam möglicherweise mehr mit von ihrem Denken als ein gewöhnlicher Rechenzentrumsleiter. Was ich schnell mitbekam, war das Unverständnis hinsichtlich der Verteilung der Ressourcen. Die Höhe unseres Budgets war den Dozierenden nicht zu vermitteln. Wir, die wir studentische Computerpools modernisierten, dubiose WLAN- Netze in barocken Gebäuden hochzogen und unsichtbare und undurchsichtige Server betrieben, sollten mehr Geld erhalten als alle Dozierenden zusammen? Wir, die wir Mittel zum Zweck waren, sollten die Einrichtung sein, die die Gelder anzog wie der Magnet die Eisenspäne? Ich habe mein Bestes versucht, die Notwendigkeit unserer Bemühungen zu erklären. Aber schon damals war mir klar, dass sie nicht ganz Unrecht hatten. Für die eigentlichen Anliegen, für die relevanten Inhalte bleibt immer weniger Zeit, Raum und Geld. Wir stecken unsere Ressourcen in Hilfsstrukturen, die ein Eigenleben entwickeln. Die zu Hauptstrukturen werden, die unsere Welt dominieren. Welche Konsequenzen hat die Konzentration auf den Computer für die handwerklichen, künstlerischen, geistigen Berufe? Es läuft darauf hinaus, dass man heutzutage vor allem eine Fähigkeit haben muss, nämlich die Fähigkeit der Bedienung 96 Die Rache der Nerds des Computers. Das kann bedeuten, dass man nur ein paar Daten eingeben und ein paar Knöpfe drücken muss. Es kann aber ebenso bedeuten, dass man hochkomplexe Vorgänge beherrschen muss, etwa beim Computer-aided Design, kurz CAD (oder beim Computerspiel, das freilich von den meisten aus Spaß betrieben wird). In jedem Fall scheint es die Ersetzung von handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten durch Computer- und Medienkompetenz zu bedeuten. ( à - QR-Info- 42) Und auch die geistigen Berufe werden immer mehr mit technischen Krücken versehen, nur dass man damit nicht unbedingt besser, sondern vielleicht sogar schlechter geht. Weizenbaum hat ein weiteres Problem herausgearbeitet. Er erzählt in seinem Buch »Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft« den bekannten Witz von dem Mann, der in der Nacht etwas, das er verloren hat, unter einer Laterne sucht, obwohl er es an einer anderen Stelle verloren hat. Der Computer, so seine These, wird zum Maßstab, ob es passt oder nicht. Die Computermetapher sei »zu einer weiteren Laterne geworden, unter deren Licht, und nicht nur dort, die Menschen nach Antworten auf brennende Fragen suchen« 22 . Als Beispiel nennt er Mensch bzw. Gehirn und Computer, ihre Gleichsetzung als informationsverarbeitende Systeme, wie sie in der Psychologie und in der Allgemeinheit vorgenommen wurde. Auch in diesem Zusammenhang ist meine Meinung, dass wir eine Alternative haben sollten. Damit wir beim Ausfall von Systemen noch handlungsfähig sind. Und damit wir die Vorgänge an sich begreifen und beherrschen. Wir sollten reflektieren, wie befriedigend die Arbeit für uns ist. Vor langer Zeit hat man verstanden, dass es nicht unbedingt zur Zufriedenheit beiträgt, wenn der Arbeiter oder Angestellte nur einen Handgriff tun darf und das Gesamte des Prozesses nicht verstehen kann. ( à - QR-Info- 43) Es mag durchaus im 97 Automatismen und Manipulationen Sinne der Prozessoptimierung sein, wenn er nur einen kleinen, geistlosen Schritt verantworten darf. Aber die Optimierung der Arbeit weist in eine andere Richtung. Automatismen und Manipulationen Die Älteren von uns erinnern sich noch an die nervige Büroklammer von Microsoft. Sie glaubte meistens, wir wollten einen Brief schreiben. Aber nur selten wollten wir das wirklich tun. Schon weil wir immer häufiger E-Mails schrieben, was dem unglückseligen Avatar wohl entging. Das Unternehmen aus Redmond hat lange gebraucht, um in der netzbasierten Welt anzukommen, Outlook hin oder her; sicherlich muss man einer Büroklammer, die ja nur Blätter und Briefe zusammenhält, eine mangelnde Online-Kompetenz nachsehen, durch die übrigens die Metapher fast konsistent wird. An die Unbrauchbarkeit der Avatare - neben der Büroklammer gab es, wenn ich mich richtig erinnere, einen Ball, einen Hund, eine Katze, einen Zauberer sowie eine Beleidigung für einen Physiker - passten sich leider die Rechtschreibprüfung und der Thesaurus an. Diese wurden von den Programmierern intelligenter (sozusagen automatischer) und damit schlechter gemacht. Microsoft Word oder OpenOffice.org Writer schlagen mit ihrem Rechtschreib- und Grammatikprogramm und mit dem Thesaurus zahllose Wörter vor, die nach den Regeln gar nicht vorgesehen sind, etwa Komposita mit Deppenleerzeichen (s. Kapitel »Im Rachen des Thesaurus« und »Der Verlust von Sprache und Stringenz«). Genauso interessant wie das Aufspüren und Analysieren von unsinnigen Automatismen ist das Aufspüren von verpassten Gelegenheiten. Vielleicht könnte man ja ein paar Bereiche identifizieren, wo ein bisschen maschinelle Intelligenz gar nicht schaden würde. Die Betreffzeile von E-Mails könnte dazu gehören, und natürlich gibt es Systeme, die aufmerksam sind und 98 Die Rache der Nerds sich beschweren, wenn kein Subject vergeben wird. Es gibt indes auch Systeme, die nicht aufmerksam sind, und vor allem Benutzer, die keinen Wert darauf legen, erinnert zu werden, zugleich aber immer wieder etwas einzutragen vergessen, was für den Empfänger lästig ist. Facebook hat bei seinem neuen Nachrichtensystem bei der Einführung auf einen Betreff ganz verzichtet, weil man festgestellt hat, dass den meisten nur Unsinn einfällt. Nun ja, das ist eben Facebook, und das sind seine Benutzer, und viel mehr muss man gar nicht dazu sagen. Die Twitter-Nachrichten sind freilich nicht anders aufgebaut. ( à -QR-Info-44) Ständig akzeptieren wir die so genannten Allgemeinen Geschäftsbedingungen, ohne sie gelesen zu haben. Wir glauben, sie wären so allgemein, dass wir sie bereits kennen. Doch nicht nur der Teufel steckt im Detail. Wäre das nicht eine passende Gelegenheit, maschinelle Intelligenz einzusetzen? Wenn man nach einer Sekunde einen Haken setzen oder ein Kreuz machen wollen würde, würde das System im mehrfachen Sinne feststellen, dass man die AGB noch gar nicht gelesen haben kann, und sich verweigern. Natürlich würde das nerven; aber sinnvoll könnte es sein, zumindest als Unterstützung der menschlichen Intelligenz. Die meisten Anbieter haben allerdings gar kein Interesse, solche Automatismen einzusetzen. Ein wirklich informierter, aufgeklärter User ist nicht in ihrem Sinne. Tatsächlich würde man etliche Dienste nicht benutzen, wenn man die AGB kennen würde. So ist es ein idealer Deal zwischen bestimmten Unternehmen und bestimmten Kunden. Die Unternehmen machen ihr Geschäft, und die Benutzer haben - zumindest in diesem Augenblick - ihre Ruhe. Mir ist klar, dass das Beispiel einen schlechten Nachgeschmack hinterlässt. Ein informierter, aufgeklärter Benutzer, der sich von einem System belehren lässt? Sind wir nicht in der Lage, uns bessere und menschenfreundlichere Lösungen auszudenken, Lösungen womöglich, die mit IT gar nichts zu tun haben? 99 Automatismen und Manipulationen Mit Hilfe von Automatismen kann man suchen und finden lassen. Und man kann steuern, kontrollieren und manipulieren. Man baut in ein Nachrichtenportal oder eine Online-Zeitung ein Programm ein, das die Klicks der Benutzer zählt und gewichtet, man erweitert das Programm um eine Navigation, beispielsweise in Form einer Tag Cloud oder Word Cloud, und schon entsteht der Matthäus-Effekt, auf den noch die Sprache kommt (s. Kapitel »Der Matthäus-Effekt«). Manipulieren kann man aber auch, indem man in die Automatismen eingreift, mit händischer bzw. geistiger Arbeit oder wiederum mit neuen Automatismen, etwa über Filter. Ein Beispiel für solche Manipulationen ist die Suchmaschine von Google. Zu den undurchsichtigsten Diensten zählt Google Suggest, und die immer wieder vorgenommenen Änderungen daran schaffen nicht gerade mehr Transparenz. Das Prinzip dürfte den meisten klar sein. Man gibt einen Buchstaben in den Schlitz der Suchmaschine ein, und schon unterbreitet der Dienst eine Liste von Vorschlägen. Ein I? Google Deutschland schlägt mir an erster Stelle »ikea« vor. An letzter Stelle nochmals Ikea in Form von »ikea.de«. Google Schweiz bringt ebenfalls »ikea« an erster Stelle, an vorletzter »ikea.ch«, an letzter »immobilien«. Ein G? Google schlägt »gmx« vor, und ein paar Mal etwas von Google. Weiter hinten »gez«; daran sieht man, dass es sich um keine alphabetische Liste handelt. ( à -QR-Info-45) Am Anfang waren Zahlen hinter den Vorschlägen zu finden. Auf eine hohe Zahl konnte eine niedrige folgen, auf eine niedrige Zahl eine hohe etc. Die Vorschläge waren also nicht, wie man erwarten könnte, nach der Häufigkeit der Anfragen gerankt. Wer 2009 nach »Hitler« recherchiert hat, erhielt den Vorschlag »hitler mein kampf« (496.000 Ergebnisse) vor »hitler rede« (1.000.000 Ergebnisse). Es folgte »hitler attentat« mit 303.000 Resultaten (was zeigt, dass auch hier keine alphabetische Reihenfolge eingehalten wurde). Ob die deutsche Version 100 Die Rache der Nerds von Google das Machwerk von Hitler vorschlagen sollte, ist ein anderes Thema. In einem Artikel vom 8. April 2009 auf Spiegel Online wurden vor allem Haftungsfragen zu den Suchen mit Google behandelt. Nebenbei erfuhr man interessante Details zu Google Suggest. Der Google-Sprecher Stefan Keuchel wurde mit den Worten zitiert: Die Vorschläge von Google Suggest werden über populäre Anfragen von unseren Nutzern generiert. Dies geschieht vollautomatisch und wird - wenn man von SafeSearch absieht - nicht von Google gefiltert. 23 Wenn man allerdings bestimmte Buchstaben- oder Wortkombinationen eingibt, bekommt man überhaupt keine Vorschläge, obwohl »Filtern mit SafeSearch« ausgeschaltet ist. Vielleicht wurde seit der Aussage des Sprechers an Google herumgeschraubt; es wird auf jeden Fall ständig etwas an der Suchmaschine verändert, und die Millionen Benutzer sind die Versuchskaninchen, die auf der Seite herumhoppeln und die Möhren fressen, wenn sie sie finden. Ein ewiger Release Candidate, ein Prinz Charles der webbasierten Anwendungen. Ein weiterer Verdacht hat 2011 kurz für Aufsehen gesorgt. Anscheinend hat Google noch an anderer Stelle manipuliert: Die Kommission hat Google unter anderem im Verdacht, die Seiten konkurrierender Suchdienste in seinen Trefferlisten vorsätzlich weit unten angezeigt zu haben. Es geht dabei um spezialisierte Suchdienste, die etwa Preisvergleiche anbieten. Da Google selbst solche Dienste anbiete, könnte es die Konkurrenten ausgebremst haben, glaubt die EU-Kommission. ( à -QR-Info-46) Die Macht der Suchmaschinen ist beträchtlich, zumal nur noch wenige internationale existieren und die wichtigsten ausgerechnet Google und Microsoft gehören. Der Reiz, diese Macht zu missbrauchen, ebenfalls. Immerhin hat Google im Sommer 2011 eine Bereinigung durchgeführt, die bestimmte Manipulatoren - natürlich nicht aus den eigenen Reihen - in die Schranken weist. ( à -QR-Info-47) 101 Der Matthäus-Effekt Der Matthäus-Effekt Suchmaschinen wie Google rücken in der Trefferliste diejenigen Websites nach oben, die viel besucht werden bzw. auf die häufig verlinkt wird. Zu diesen Websites gehört, wie gesagt, Wikipedia. Die Beiträge in Wikipedia werden durch tausende Benutzer abgeschliffen, ohne dass Edelsteine entstehen würden; der Großteil ist weder exzellent noch katastrophal (s. Kapitel »Wikipediaitis«). Navigationselemente und Vorschlagslisten (unter Überschriften wie »Meistgelesen« und »Top-Artikel« bzw. »Meistgesehen«) und Tag Clouds in Online-Magazinen locken die Leser auf Artikel und Videos, die bereits häufig aufgerufen wurden. Das Web, insbesondere das Web 2.0, macht alles gleich und stutzt alles auf ein Mittelmaß. Und die, die viel haben, bekommen noch mehr, und die, die wenig haben, noch weniger, könnte man sehr frei nach Matthäus sagen, und diesen Effekt nach ihm benennen. ( à -QR-Info-48) Zu den Algorithmen der Suchmaschine und den Verfahren der Betreiber ist heftig spekuliert und emsig geschrieben worden. Und mehr oder weniger windige Personen und Organisationen haben versucht, sie in ihrem Sinne zu nutzen. Eine Weile war die Manipulation von Metainformationen in Mode, eine Weile die Einrichtung von abertausenden Websites über Serverparks. Google hat auf die Manipulationen mit gerechteren Verfahren und eigenen Manipulationen reagiert. Über »Google Suggest« werden, wie erwähnt, fragwürdige Begriffskombinationen vorgeschlagen (s. Kapitel »Automatismen und Manipulationen«). Und grundsätzlich werden von der Suchmaschine eben Websites bevorzugt, die bereits von anderen bevorzugt wurden, etwa durch eine Verlinkung von der eigenen Website aus. Ob die versprochene verstärkte inhaltliche Orientierung bessere Resultate bringen wird, muss sich weisen. Als unbekannter Anbieter hat man im Moment vor allem dann eine Chance, ganz oben 102 Die Rache der Nerds zu landen, wenn man ein Nischenthema besetzt und über die richtige Webadresse verfügt. Analyse- und Trackingtools ermöglichen es Unternehmen, den Traffic und die Aktivitäten auf ihrer Website zu messen und zu untersuchen. Richten wir den Blick einmal auf Zeitschriften und Zeitungen. Diese können mit Hilfe der Tools berechnen, welche Artikel am häufigsten aufgerufen werden und welche Tags am beliebtesten sind; unter Umständen können sie auch etwas über das Leseverhalten herausfinden. Wenn der Benutzer nach zwei Dritteln auf einen Link klickt, spricht das dafür, dass er bis zu dieser Stelle gelesen hat. Auch die Verweildauer kann in diesem Sinne interpretiert werden. Und mit Hilfe der Betreiber und ihrer Technologien schaufeln sich die Leser gegenseitig den von ihnen bevorzugten Content zu. Oft genug ist das Trash. Davon kann sich jeder mit einem einfachen Test überzeugen. Man besuche eine Woche lang jeden Tag die »Meistgelesen«bzw. »Top-Artikel«-Rubrik von mehreren Zeitungen. Von Boulevardblättern und der Wahrheit verpflichteten Zeitungen. Man notiere sich die ersten drei Plätze. Man sichte am Schluss das Material und vergleiche. Mit großer Wahrscheinlichkeit befindet sich viel Müll im Eimer. Das erstaunt vielleicht nicht allzu sehr. Aber vielleicht erstaunt, dass der Unterschied zwischen Regenbogen- und Edelpresse nicht erheblich ist. Die »Meistgelesen«-Rubrik spült die boulevardesken Artikel nach oben. Und noch mehr: Sie macht aus den seriösen Zeitungen ganz nebenbei Boulevard. Letzten Endes erhält der Leser scheinbar das, was er will. Er erhält aber oft auch das, was ein anderer will. Er wird willenlos und glaubt, sein Wille geschehe. Es ist, als würde man das Sichtfeld einengen. Das geschieht nach und nach, und erst wenn man blind ist, merkt man, dass etwas nicht stimmt. Oder man merkt es nicht. Verwandt ist dieses Phänomen mit dem, was man in Communities und in Blogosphären erlebt. Man folgt den Blog- 103 Personalisierung gern und Twitterern, die man mag und schätzt und von denen man profitiert. Das ist naheliegend, und man wird auf diese Weise passender Informationen habhaft. Aber irgendwann geht der Sinn für die Realität verloren. Man gewöhnt sich daran, dass bei einem Ereignis bestimmte Meinungen geäußert werden, und man hinterfragt diese Meinungen immer weniger. Verwandt ist dieser Effekt mit der Personalisierung im informationstechnischen Sinne. Personalisierung Personalisierung war in den 1990er-Jahren ein Hype. Gerade Wirtschaftsinformatiker waren begeistert von der Idee, dass man als Benutzer nur noch die Inhalte und Funktionen angezeigt bekommen würde, die man angezeigt bekommen wollte. In der Tat handelt es sich um einen Ansatz, der auf den ersten und auch auf den zweiten Blick verlockend ist. Personalisiert hat man zum Beispiel Portale, innerhalb von Unternehmen, zwischen Unternehmen und zwischen Unternehmen und Kunden. Arbeitnehmern wurden nur die Objekte ihrer Begierde präsentiert - oder der Begierde ihres Arbeitgebers. Partnern und Zulieferern wurden die bevorzugte Sicht und der bevorzugte Weg angeboten. Kunden konnten sich ganz nach ihren Vorlieben und Bedürfnissen Informationen und Dienste zusammenstellen und den Seiten ein mehr oder weniger individuelles Antlitz verpassen. Bald sah die Website aus wie das eigene Wohnzimmer oder Auto; in einer Ecke hing man mit Freunden ab, und von oben baumelte etwas herab, das einen ständig ablenkte. Der Personalisierungsansatz findet bis heute seine Anhänger. Mir persönlich wäre es lieb, wenn meine Zeitung keinen Sportteil hätte. Warum sollte es mich interessieren, dass 22 Männer oder Frauen um einen Ball gekämpft und elf verloren haben, weil die anderen elf (wenn man den Torwart mitzählen darf) 104 Die Rache der Nerds ihn über die Linie vor einem Netz befördert haben? Oder dass flache, laute Autos, in denen kleine Männer kauern, mit hoher Geschwindigkeit im Kreis gefahren sind? Und warum sollte ich es nicht mögen, wenn ich auf einem Reader oder auf dem Smartphone eine Zeitung lesen kann, die ohne Sportteil, aber dafür mit doppeltem Kulturteil daherkommt? Oder wenn ich einen Ausdruck erhalte, der nach meinen Vorlieben gestaltet und zusammengestellt ist? Jeder kriegt nur noch die Informationen, die er haben will, für die er sich interessiert, die er versteht. Das spart Zeit, Geld, Material, je nachdem. Es fragt sich wieder, wo die Überraschung bleibt. Das Fremde. Das Neue. Eine vollkommen personalisierte Zeitung ist wie ein Spiegel, in dem man eben nur sich selbst erblickt. Man kann sich höchstens über sich selbst wundern, etwa über seinen dummen Gesichtsausdruck. Man bekommt vielleicht gar nicht mehr mit, wie sich die Welt verändert. Und verändert sich selbst nicht mehr. Wahrscheinlich bewegen wir uns eh in Paralleluniversen. Wir schaffen es, noch nie von etwas gehört zu haben, das für das Leben unserer unmittelbaren Nachbarn essenziell ist. Sie denken Tag und Nacht daran. Und wir wissen nichts von ihren Gedanken. Für Zehntausende in Deutschland (und Tausende im übrigen Europa) ist Cosplay ein Teil des täglichen Lebens oder zumindest der großen Treffen, der Conventions. Zehntausende schneidern und shoppen, was das Zeug hält, um bei den Treffen so auszusehen wie ihre Heldinnen oder Helden, wie eine Figur aus einem Computerspiel oder eine Comicfigur. Millionen haben noch nie etwas davon gehört. Hunderttausende in Deutschland und Frankreich lieben Manga. Millionen kennen nicht einmal den Begriff. Rainer Kuhlen sprach in den 1990er-Jahren gerne von Teilöffentlichkeiten. Eine beliebte und sicherlich nicht falsche Vorstellung war, dass die postmoderne Welt in solche zersplittere (s. Kapitel »Sterne holen und sehen«). Früher wurden zwei, drei 105 Personalisierung Fernsehprogramme ausgestrahlt, wenn überhaupt. Alle sahen das Gleiche, und man konnte sich am nächsten Morgen über das Gleiche unterhalten. Ob dieses Gleiche von Belang war, ist ein anderes Thema. Heute kann man durch ein paar hundert Fernsehprogramme zappen und sich mittels Al Jazeera über die Vorgänge im arabischen Raum unterrichten. Das kann man auch im Internet, und während des arabischen Frühlings war der Internetauftritt eine vielzitierte und hochbegehrte Quelle. Dazu war es noch spannend; einmal erlebten die Benutzer mit, wie die Polizei das Gebäude stürmte, aus dem heraus der Platz in Kairo gefilmt wurde, und die Kamera zu tanzen anfing, bis sie endlich wieder, von Mitarbeitern beruhigt, das Bild der bewegten Menge einfing. Das Internet hat stark zur Fragmentierung der Öffentlichkeit beigetragen. Und zugleich hat es die Gesamtöffentlichkeit gestärkt, nicht zuletzt mit Hilfe des Matthäus-Effekts (s. Kapitel »Der Matthäus-Effekt«). Auch die Gratis- und Pendlerzeitungen und die Fusionen in der Medienlandschaft haben ihr Übriges getan. Heute wissen wir alle, wer Paris Hilton und Lady Gaga sind, unabhängig davon, welcher Bildungsschicht wir angehören, und wir könnten uns am nächsten Morgen über sie unterhalten, wenn wir uns noch unterhalten würden. Die Gesamtöffentlichkeit zeigt nicht ihr bildungsbürgerliches Gesicht, sondern eine geistlose Visage. Es wäre interessant, einen Blick auf die Millionen personalisierter Websites von Anwendern und Konsumenten werfen zu können. Vielleicht konsumieren wir, auch wenn die Maschine um unsere individuellen Vorlieben weiß, alle dasselbe, weil wir gar nicht so individuell sind, wie wir glauben. Der Computer tut so, als wären wir individuell, und wir glauben es, wenn wir auf seine Oberfläche schauen. Doch in Wirklichkeit sind wir über das Netz zusammengewachsen, und wenn wir etwas lesen, lesen es andere, und wenn uns etwas gefällt, gefällt es 106 Die Rache der Nerds anderen. Aber davor muss es überhaupt thematisiert und angeboten werden. Im Grunde sind die Profile der Social Networks eine Fortsetzung und Pervertierung der Idee der Personalisierung. Sie erscheinen individuell und sind doch nichts anderes als Fakes von der Stange. Man glaubt, seine Person und seine Interessen zu beschreiben, und wählt doch nur aus einem Katalog an Phrasen aus. Jeder hat seine personalisierte Website, seine virtuelle Maske, die Millionen von anderen wie ein Ei dem anderen gleicht. Hier kommt die Gruppen- und Schwarmintelligenz ins Spiel, die wir in ihrer aktiven Form schon kennengelernt haben und deren passive Form noch thematisiert wird (s. Kapitel »Schwarmintelligenz«). Vielleicht muss man bald keinen Schwarm mehr analysieren, sondern nur die Voraussetzungen des Schwarms. Das Web 2.0 ist eine selbsterfüllende Prophezeiung. Social Networks und Blogosphären machen nicht nur gleich. Sondern sie machen uns auch glauben, wie bereits angedeutet, dass die Welt wirklich so sei. Unerbetene Werbung Das Abheben am Geldautomaten mag einem als vorbildlich optimierter Prozess erscheinen. An einem Bankschalter dauert es, so würde man meinen, erheblich länger. Man muss sich in eine Schlange stellen, der oder dem Angestellten die Wünsche mitteilen, die Karte abgeben und zurücknehmen - und kann ein paar freundliche Worte oder ein bisschen Geld wechseln. Allerdings kann es auch am Geldautomaten Schlangen geben. Und manche Banken verlangen eine Reihe von Klicks, bis die Kunden ans Ziel kommen. Je mehr man auf die individuellen Bedürfnisse eingeht, umso aufwendiger. Von meiner Bank in der Schweiz werde ich zum Beispiel gefragt, ob ich kleine oder große Scheine haben will und ob ich eine Quittung brauche 107 Unerbetene Werbung oder darauf verzichten kann. Das ist durchaus praktisch, bedeutet jedoch jeweils einen Klick mehr. Wenn man am Bankautomaten abhebt, muss man auf den Bildschirm schauen. Das nutzen manche Finanzdienstleister aus, indem sie Werbung einblenden, am Anfang und am Ende oder sogar - in Deutschland nicht unüblich - während des Vorgangs. Für den Kunden ist die normale Geschwindigkeit des Abhebevorgangs schwer zu beurteilen. Die Banken werden dazu verführt, einen Vorgang künstlich zu verlängern, damit möglichst lange Werbung konsumiert wird. Vor den Automaten der Sparkasse in Deutschland steht man verdächtig lange. Die Optimierung löst sich einmal mehr in Wohlgefallen auf; an Geschwindigkeit in Bezug auf den Prozess ist kaum etwas gewonnen, und der Kunde wird in mehrfacher Weise (aus-)genutzt - eine Optimierung allenfalls für das an schnellen Gewinnen interessierte Unternehmen. Bei meiner Schweizer Bank gibt es immerhin eine Blitzabhebung, mit der man 200 Franken ohne Umwege erhält, also den Betrag, den ein Mittelschichtsangehöriger gerne bezieht und der für ihn das Taschengeld für einen Tag darstellt. Dennoch muss ich am Anfang aufpassen, nicht an der gezeigten Werbung hängenzubleiben. In mitteleuropäischen Städten ist Werbung nicht besonders gern gesehen. Haushohe Transparente sind in Zürich und München eine Seltenheit. Das klamme Berlin nutzt die Anreicherung von öffentlichen Plätzen und Gebäuden als zusätzliche Einnahmequelle - oder als peinliche Hommage, wie während des Besuchs von Joseph Aloisius Ratzinger. ( à -QR-Info-49) Auch von Autobahnen und Straßen aus dürfen Blicke in die Landschaft wandern und müssen nur ab und zu an Plakatwänden hängenbleiben. Das ist gut so, schon weil Werbung ablenkt. In Bregenz und Umgebung werden regelmäßig Unfälle wegen der überdimensionierten Plakate von Wolford, Wolff und Palmers passieren; in dieser viel 108 Die Rache der Nerds befahrenen Ecke Österreichs haben die Strumpfhosenhersteller offensichtlich Handlungs- und Narrenfreiheit. Wenigstens ein schöner Tod, mit einem anziehenden Bild im herunterfahrenden Gehirn. ( à - QR-Info- 50) Aber ansonsten haben wir außerhalb von McDonald’s und der Pizzerien weder amerikanische noch italienische Verhältnisse, Frankreich vielleicht ausgenommen. Offline hat sich die totale Kommerzialisierung nicht durchsetzen können. Online sieht es ganz anders aus. Und wie gerade gezeigt wurde, sind es keinesfalls nur Internet und World Wide Web, die uns mit Dauerbotschaften beglücken, sondern auch andere Netze und Systeme. Die Bankautomaten werden uns in Zukunft noch mehr Aufmerksamkeit abverlangen. Man bekommt inzwischen mancherorts die Gebühren eingeblendet, die man für eine Abhebung berappen muss, etwa bei Automaten, die zu einem anderen Dienstleister gehören, oder im Ausland. Diese zusätzlichen Angaben schaffen Transparenz und sind eine gute Sache. Aber sie werden es unmöglich machen, dass wir die Werbung auf den Terminals ignorieren. Je mehr man uns informieren will, desto mehr kann man uns manipulieren. Und desto weniger kann man uns informieren. Wenn man uns überhaupt noch informieren will. Es wird immer schwieriger, eine publizistische Website in Ruhe und ohne Störung zu konsumieren. Wir sollen die Werbung konsumieren, die um die Texte und Bilder herumhüpft, die sie überlagert, sie verdeckt. Und selbst Texte und Bilder beinhaltet, die die eigentlichen Botschaften relativieren. Es ist wie in den Anfangszeiten des WWW, nur dass es keine niedlichen animierten Gifs mehr sind, sondern ausgewachsene Flash-Monster und bildschirmfüllende Streaming Videos. Bei bestimmten Online-Zeitungen muss man inzwischen aufpassen, wie man die Maus bewegt; wenn man von der falschen Seite kommt, ist von den redaktionellen Inhalten nichts mehr zu sehen, bis man auf das Kreuz der Er- 109 Genügsame Verbraucher lösung klickt. Gerne würde ich für die Inhalte bezahlen, um solche Erlebnisse in der Zukunft zu vermeiden. Genügsame Verbraucher Die Nerds unter den Verbrauchern bevorzugen Digitales selbst dann, wenn es gravierende Nachteile bringt. Und zwar Nachteile bei den Kernfunktionen der Produkte. Nichts dagegen, dass die Nerds die Touchscreens mehr betatschen als ihre Lebensabschnittsgefährtinnen und -gefährten. Das Glas bleibt immer jung und frisch und kann allenfalls einen Sprung bekommen. Kein Vergleich mit den Runzeln der Menschen. Vor einiger Zeit habe ich ein iPhone mit einem völlig zersplitterten Screen gesehen, das einwandfrei funktionierte. Zwei auffällige Linien kreuzten sich zu einem x; kein Problem für das Gerät. Vielleicht gibt es irgendwann Blutspuren auf den Fingerabdrücken, aber selbst das wird den jungen Mann - den Besitzer des xPhones - nicht an der Benutzung hindern. Und neulich hatte eine Studentin von mir, die in der ersten Reihe saß, ebenfalls einen zersplitterten Screen. Ich zeigte ihr die obigen Zeilen aus meinem Manuskript, und sie kicherte und bewegte ihren Zeigefinger, der ganz normal wirkte und blieb. Seit einigen Jahren sind Flachbildschirme auf dem Markt. Inzwischen ist ihre Qualität recht gut. Sie wurden aber auch bereitwillig gekauft, als die Qualität zu wünschen übrig ließ. Dies hing nicht nur mit der neuen Technik zusammen, die man ausprobieren wollte oder musste, sondern ebenso mit dem Design. Braunsche Röhren galten plötzlich aufgrund ihrer Abmessungen als uncool und von gestern. Als 80er-Jahre, um ein ebenso beliebtes wie dummes Schimpfwort zu benutzen. Das neue Design war nicht unbedingt besser, entsprach jedoch den technischen Entwicklungen und Vorstellungen; der Bildschirm wurde flacher und konnte zugleich in der Breite und in der Höhe 110 Die Rache der Nerds wachsen. Die Braunsche Röhre, diese wunderbare Erfindung, wurde entsorgt, und der letzte Blick auf das sperrige Gerät im Container des Wertstoffhofs schien einem Recht zu geben. ( à -QR-Info-51) Jahrelang war die analoge Kamera der digitalen weit überlegen. Dennoch war früh ein Bedarf nach der digitalen Version der Fotografie vorhanden. Dies hatte auch zu tun mit den Möglichkeiten der Erstellung, der Bearbeitung und der Verbreitung von Fotos. Natürlich konnte man alternativ ein Papierbild einscannen; aber dies war ein relativ hoher Aufwand und der Qualität nicht unbedingt zuträglich. Heute ist die digitale Kamera der analogen in verschiedenen Aspekten ebenbürtig. Sie ist sogar, wie das Handy, smart geworden, und kann als leistungsfähige Filmkamera dienen. Und man findet sie im Handy oder Smartphone, sodass sie immer verfügbar ist - oft ein Vorteil für den Benutzer und ein Nachteil für das »Modell«. Auch Zeitungen und Zeitschriften gingen Kompromisse ein. Ein paar Jahre lang durfte man über verpixelte Fotos staunen, die vor 20 Jahren durch keine Schlussredaktion gekommen wären. Die professionellen Bildvermittler gaben sich plötzlich mit schlechter Qualität zufrieden, um Vorteile bei der Verarbeitung zu gewinnen. Ich fühlte mich an die primitive Rasterung erinnert, die wir bei unserer Schülerzeitung in den 1980er-Jahren anwandten (s. Kapitel »Eine bessere Schreibmaschine«). Nicht nur das; die Medien beauftragten auch immer weniger professionelle Fotografen und griffen immer mehr auf die Fotoplattformen der Welt zurück. Als Privatperson und Schriftsteller profitiere ich sehr von diesen Plattformen. Für den Betrieb meiner Websites kaufe ich zum Beispiel bei iStockphoto, und einem kleinen Verlag habe ich für die Neuauflage eines Gedichtbands ein Cover auf der Grundlage eines Fotos von Getty Images spendiert. Dass Zeitungen nun genauso ökonomisch denken müssen wie Schriftsteller, ist eine schwer verdauliche Tatsache. 111 Die geheimnisvolle Agentur Mit meinen Studierenden habe ich dieses Problem der mangelhaften Qualität und der genügsamen Verbraucher wiederholt diskutiert. Es war nicht viel Verständnis für meinen Standpunkt vorhanden. Es hieß, es handle sich nur um einen gewissen Zeitraum, in dem die Kurve nach unten zeige. Danach gehe es wieder aufwärts, mit Leistung und Güte. Aber sind fünf Jahre nichts im Leben eines Menschen? Müssen wir ständig mit Einbußen leben, damit wir in der Zukunft in einer schönen, neuen Welt voller Perfektion existieren? Die geheimnisvolle Agentur Ende der 1990er-Jahre war ich an einem Institut für Telematik beschäftigt, das ein Fraunhofer-Institut werden wollte. Das hat es nie geschafft, und vielleicht war das gut für die berühmte Gesellschaft, obwohl dort auch nicht alles Gold ist, was glänzt, nicht einmal Silber; manchmal ist es nur der Schweiß ehrgeiziger Männer und Frauen, die den Sprung in die Wirtschaft (oder in die Wissenschaft) verpasst haben. Das Institut war irgendwann pleite und musste aufgelöst werden. Dabei war es vom Land Rheinland-Pfalz mit Millionenbeiträgen unterstützt worden. Man hätte in der ältesten Stadt Deutschlands gerne das bayerische Prinzip von Lederhose und Laptop umgesetzt. Porta Nigra und Portable Devices sozusagen. Das Personal des Instituts war günstig; es bestand aus schlecht bezahlten Nachwuchswissenschaftlern, die teilweise an der Universität Trier promovieren konnten, manche von ihnen Russen und Chinesen, die ein »Stipendium« erhalten hatten, das sich auf 1.000 Mark belief und kaum ihnen selbst zum Leben reichte, geschweige denn ihren Familien. Ab und zu verkaufte die Klitsche eine mehr oder weniger ausgereifte Software, einmal an die betagte lokale Zeitung, die sich noch weniger auskannte als die beiden Leiter, der Informatikprofessor, der auch an der genannten Hochschule 112 Die Rache der Nerds arbeitete, und sein Gehilfe, ein promovierter, milchgesichtiger Jüngling. Man fragt sich vielleicht, wohin die Millionen des Landes geflossen sind. Als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wir uns das auch gefragt. Kurt Beck persönlich hatte uns am Stand der Cebit besucht, im schummrigen Licht der Hallen, in dem die Stacheln seiner Haare ein bisschen weniger spitz wirkten, doch wir bekamen weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt eine Antwort; offensichtlich gab es ein Interesse, nicht allzu viel Licht ins Dunkel zu bringen. Zugleich hörte man Gerüchte, dass unser Institut bei der Regierung nicht gut angesehen war und man die Zahlungen schweren Herzens leistete. Schweren Herzens, aber immer leichteren Portemonnaies. Und man wusste, dass irgendwann der für uns reservierte Geldbeutel ganz leer sein würde, was wiederum Unsicherheit unter den schlecht Bezahlten hervorrief. Bei den lokalen Softwareunternehmen war das Institut übrigens auch nicht beliebt, denn es machte dieselbe Arbeit, war aber subventioniert. Und bei der Fraunhofer-Gesellschaft auch nicht, obwohl das Logo des Instituts sozusagen eine Hommage an diese war. Eines Tages wurde bekannt, dass ein Teil unserer Aufträge von einer »Internet Agentur Luxemburg« stammte. Wir recherchierten nach der Website der Agentur. Mit Hilfe von Altavista und Yahoo, einer Suchmaschine und des Katalogs, der Yahoo damals noch war. Doch ohne Erfolg. Das war eine Neuheit: eine »Internet Agentur« ohne Bindestrich und ohne Internetauftritt. Immerhin war man am Ende der 1990er-Jahre angelangt, und selbst der Vatikan präsentierte sich schon seit einer Weile im Web - das Bräunliche der Website ist bis heute unverändert geblieben. Ich sprach mit einem Freund von mir, zufällig Anwalt von Beruf. Er rief einen Kollegen an, der in Luxemburg zum Sitz der Agentur fuhr und schließlich vor einem Haus stand, das viele Briefkästen hatte. Sehr viele. Und einer der vielen Brief- 113 Die geheimnisvolle Agentur kästen gehörte tatsächlich dieser ominösen Agentur. Er hatte noch weitere interessante Nachrichten für uns: Die Eigentümer waren identisch mit den Leitern unseres Instituts. Heute findet man die Inhaber eines Unternehmens mit ein paar Mausklicks heraus; damals brauchte es noch andere Möglichkeiten und Kompetenzen. Es kommt in der Informatik und Wirtschaftsinformatik von Hochschulen und Instituten häufig vor, dass private Unternehmen ausgegründet werden. Manchmal ist der Sinn und Zweck, eher kommerzielle Projekte durchführen zu können, oder Projekte, die sich an den Endkundenmarkt richten. Dagegen spricht nichts, es ist sogar oftmals notwendig, und in einigen Fällen hat man zu lange gezögert und verlor in den unprofessionellen Strukturen Informationen und Vorteile. In diesen Kontext passt zum Beispiel die Entwicklung und die Vermarktung von MP3 durch ein Fraunhofer-Institut. ( à - QR-Info- 52) Manchmal dienen die Spin-offs aber auch nur dem Transfer bzw. der Wäsche von Geldern. Besonders schlimm ist es, wenn schlecht verdienende Mitarbeiter einer so genannten wissenschaftlichen Einrichtung gleichzeitig für ein assoziiertes privates Unternehmen arbeiten müssen, ohne entsprechend entlohnt zu werden. Und die erzielten Gewinne in den Taschen der Professoren und Doktoren verschwinden, die sich diese Master-Slave-Modelle der besonderen Art ausgedacht haben. ( à -QR-Info-53) Man kann in Deutschland, Österreich und in der Schweiz nach solchen Modellen suchen und wird schnell an verschiedenen Orten fündig, durchaus auch bei den großen und renommierten Einrichtungen. Es ist erstaunlich, dass die Leiter und Rektoren so wenig Interesse an den Machenschaften ihrer Mitarbeiter haben. Und dass die Medien, die Blogs eingeschlossen, so wenig darüber berichten. 114 Die Rache der Nerds Solche Machenschaften sind natürlich nicht nur in den technischen Fächern zu finden. Sondern überall dort, wo man gutes Geld verdienen kann. Die Betriebswirtschaftler sind ebenfalls Meister darin. Selbst die Sozial- und Geisteswissenschaftler sind nicht davor gefeit. Und es gibt zahlreiche Varianten der missbräuchlichen Verwendung. Wenn man nicht in die eigene Tasche wirtschaftet, dann benutzt man die Gelder mindestens zur Subventionierung des eigenen Lehrstuhls. Man beantragt Mittel für Bereiche, die man längst erforscht hat, und kann bereits bei der ersten Meilensteinpräsentation - oh Wunder! - der Kommission einen Strauß an Ergebnissen überreichen. Und die Kommission bedankt sich und sucht eine Vase. In Wirklichkeit hat man inzwischen ganz andere Themen bearbeiten lassen, eben solche, die einem in den Kram passen und der eigenen Karriere dienlich sind. Dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in Deutschland sind die Praktiken bekannt, aber diese werden nicht nur geduldet, sondern sogar unterstützt; oft sind es gerade die etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich solche Freiheiten erlauben. Vielleicht spricht auch in moralischer Hinsicht gar nichts dagegen, weil die Professoren besser als die staatlichen Stellen einschätzen können, was erforscht werden muss? So einfach ist es leider nicht; allzu oft verfolgen sie ihre eigenen, individuellen Interessen, und allzu oft bleiben ihre wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihren Möglichkeiten und Interessen auf der Strecke. Die Freiheiten, die sie sich erlauben, werden zu den Gefängnissen der anderen. Im Rachen des Thesaurus Vor ein paar Jahren schrieb ich im Büro an einem Text, in dem das Wort »dunkel« vorkam. Ein »dunkler Bart«, um genau zu sein. Weiter oben saß bereits eine »dunkle Brille« im Gesicht 115 Im Rachen des Thesaurus des Artikels. Ohne Zweifel war es zu dunkel. Da ich mein blaues, papierenes Synonymwörterbuch von Duden nicht zur Hand hatte - dieses stand bei seinen Brüderchen und Schwesterchen im häuslichen Regal -, warf ich den virtuellen Thesaurus von Microsoft Office an, wie früher schon einige Male. Inzwischen war ich, ganz unverschuldet, bei Version 2007 angelangt. »Dunkel« markieren, sodass es noch dunkler wurde, wie kurz vor Anbruch der Dämmerung. Zur Überprüfungsfunktion und zum Thesaurus. Rechts erschien eine Kaskade von Substantiven und Adjektiven. Ich scrollte und scrollte, und da war es: das Wort »negerfarbig«. Nie gehört. Nie gesehen. Nie für möglich gehalten. ( à -QR-Info-54) Ich googelte und altavistate (heute würde ich vielleicht auch noch bingen, um meine Daten gleichmäßig zu verteilen). An einer Hand abzählbare Treffer, in der Legendensammlung »Passional« aus dem 13. Jahrhundert und bei Wilhelm von Humboldt ein paar Jahrhunderte später, in Brehms Tierleben (wo es über den amerikanischen Schieferaffen heißt: »die nackte Stelle am Schwanze und die Zunge sind negerfarbig, also bräunlichschwarz« 24 ) sowie in einem mysteriösen Forum und einem geschlossenen Blog. Da ich immer noch keinen Duden zur Hand hatte, ja überhaupt kein modernes Wörterbuch, konnte ich das Wort nicht auf dem Papier suchen, das mir geduldiger und vertrauenswürdiger erschien als etwaige Online-Adaptionen (die Online-Version des Dudens existierte noch nicht). Ich beschloss, auf Entdeckungsreise in Word zu gehen, wie die inneren und äußeren Entdecker, die Wilhelms und Alexanders. Aber wo anfangen und wohin sich wenden? Die Welt ist so groß wie ihre Entdecker, und unsere Sprache ist es auch. Sollte ich eine Systematik entwickeln und in ihren Schubladen kramen? Oder assoziativ von Begriff zu Begriff hüpfen, dem Hypertext angemessen, der der Thesaurus auch war? Für wen wollte ich meine Beobachtungen aufschreiben? Für interessierte Leser 116 Die Rache der Nerds aller Art oder für womöglich uninteressierte, aber überkritische Wissenschaftler? Für mein frisches Blog, das eines Tages vielleicht eine Quelle sein könnte für ein frisches Buch? Die Entscheidung war getroffen. Einfach mal machen. Erkenntnisgewinn stellt sich von selbst ein. Ich erinnerte mich daran, dass ich den virtuellen Thesaurus nicht allein für die Überarbeitung von Texten, sondern ebenso in der Hochschullehre eingesetzt hatte. Ich dozierte damals in der Wirtschaftswissenschaft (mit technischem Fokus) sowie in der Literatur- und Sprachwissenschaft. Dem erstaunten studentischen Publikum führte ich vor, welche Synonyme Microsoft für »Mädchen« kannte: »Fräulein, Besen, Kind, Bluse, Biene …« Spätestens an dieser Stelle begannen alle zu lachen. Ich bildete angeberische Beispielsätze: »Die Mädchen fielen über mich her.« Mit Bienen ergab sich ein völlig anderes Bild, in dem ich einen eher jämmerlichen Anblick bot. Ein Synonymwörterbuch muss möglichst viele Wörter für einen Austausch anbieten. Schon beim »Mädchen« war mir aber aufgefallen, dass die Redakteure oder Programmierer des Thesaurus bis in die äußersten Randbereiche der Sprache vorgedrungen waren. »Fratz«, hieß es da weiter, »Jungfrau, Ricke, Käfer«. Käfer? Nun ja, warum nicht, wenn bereits die Bienen summten. Und weiter: »Maid, Pflänzchen«. Ich hatte gehört, dass in Sachsen die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen, aber dass sie selbst die Bäume oder vielmehr die Sprösslinge waren, hatte sich mir bis dahin verborgen. Obwohl, die »Sprösslinge« passten ja soweit … Und schließlich: »Püppchen, Bub«. Ach nein, »Bub« war bereits ein Antonym. »Der Bub spielte mit dem Püppchen.« Bis dieses ihm eine Ohrfeige verpasste. Meiner assoziativen Methode folgend, griff ich das »Kind« heraus. Hier wurde es schon viel komplizierter. Es gab mehrere Rubriken, nämlich »Unschuld, Trabant, Nachkomme, Baby«. Mit der »Unschuld« konnte ich wenig anfangen. »Trabant« war 117 Im Rachen des Thesaurus faszinierend, enthielt aber nur die zwei Wörter »Kind« und »Trabant«. Dass »Kind« das Synonym für »Kind« war, leuchtete mir unmittelbar ein. Der »Trabant« kreiste das Wort ein und entfernte sich zugleich davon. Die Kategorie »Nachkomme« war sauber durchdekliniert, vom »Sprössling« (aha! ) bis zum »Erbe«. Das »Baby« krabbelte zum Spiegel und erblickte neben einigen bekannten Menschenarten den seltenen »Hemdenmatz« und das rare »Wiegenkind«, aber auch das beliebte »Nesthäkchen«. Daneben Besonderheiten wie »Bambino« und »Infant«. Hatten vielleicht italienische Auswanderer, die in Deutschland eingewandert waren und nun in die USA … Keine Ahnung. »Infant« wollte ich, wie andere Begriffe, später nachschlagen. Das Erbe hat mich seit jeher interessiert, als Wort und Gegenstand. Der Thesaurus machte das Wort noch interessanter und spaltete es in »Erbgut« und »bekomme« auf. Die substantivische Kategorie kannte das »Erbgut«, den »Besitzer« und die »Erbmasse«. Mir persönlich fielen noch zahlreiche andere nahe liegende Begriffe ein, die »Erbschaft« und der »Nachlass«. Leider nichts davon in dem elektronischen Buch mit sieben Siegeln (man gelangt über »Erbschaft« zu »Erbe«, nur eben nicht umgekehrt). In der Rubrik der Verben - »Erbe« wurde als 1. Person Singular identifiziert - »bekomme«, »empfange« und »erlange« ich etwas. Wenn ich meinen Großvater beerbe, so könnte es gemeint sein, bekomme ich etwas von ihm. Als Antonyme wurden u.a. »vererbe« und »vermache« angegeben. Auch das ist nicht falsch: Der Großvater vererbt, der Enkel erbt. Ein schönes Antonym wäre auch »zahle Erbschaftssteuer«, doch so weit (und so deutsch) dachte das Wörterbuch nicht, wenn überhaupt etwas dachte. Die »Erbmasse« führte mich zum »Erbe« zurück, aber auch weiter zum »Genotyp«, zur »Anlage« und zum »Idioplasma«. Letzteres Wort, das ich bisher nicht gekannt hatte, sicher aus reiner Unwissenheit auf diesem Gebiet, war eine Sackgasse à la Jurassic Park; ich konnte es durch sich selbst oder wieder durch 118 Die Rache der Nerds »Erbmasse« ersetzen. Zeit, leicht irritiert und schwer atmend auszuruhen. Ich war mit wenigen Sätzen vom »Mädchen« zum »Idioplasma« gelangt. Der Thesaurus verweigerte sich im Naheliegenden, eroberte aber das Exotische. Er war selbst, wie ich, ein Entdecker. Und manchmal schien er Wörter zu entdecken, die es gar nicht gab. Freilich hatte ich noch keinen Beweis dafür, denn nach wie vor mangelte es mir an einem Thesaurus aus Fleisch und Blut. Aber allein die Tatsache, dass ein Textverarbeitungsprogramm einige Textstücke produzierte, denen ich in 40 Jahren nicht begegnet war, ließ mich erschaudern. Ich befand mich unmittelbar vor dem Rachen des elektronischen Thesaurus. Dieser spuckte Wörter aus, die die Welt noch nicht gesehen hatte. Sie blieben auf dieser kleben und machten sie fremd. Auch die Kategorien, die von einem Begriff abgeleitet wurden, waren mitunter verblüffend. Und verblüffend war wiederum, was sie enthielten. Der Sprung von einem Substantiv zum Verb oder zum Adjektiv ließ sich nicht vermeiden. Der Thesaurus war wie ein Hund von geringem Verstand, der sich brav hinsetzte, wenn man begeistert ausrief: »Dies ist ein schöner Platz! « Er reagierte auf die Gestalt eines einzelnen Worts. Und der »Platz« konnte ein Ort sein, aber auch ein Befehl. Ja, wenn er nicht nur das Wort, sondern darüber hinaus den Satz um das Wort herum erfassen würde! Aber die Sätze bleiben den klügeren Tieren und den Menschen vorbehalten. Ich hatte bei dem Mädchen angefangen und wollte nun gendergerecht den Jungen mitnehmen, der sich als Antonym in der Nähe getummelt hatte. Der Thesaurus unterschied feinsinnig in die Rubriken »Buben«, »Buben« und »Buben« sowie »flegelhaften«, »blutjungen« und »werfen«. Das erste »Buben« war als Plural gemeint, das zweite als Singular, das dritte als Genitiv. Die Phantasie der Nerds ging bei den Jungen längst nicht so weit wie bei den Mädchen. »Bengel, Burschen, Jüngling, Kerl« - dazu 119 Im Rachen des Thesaurus brauche ich doch kein Synonymwörterbuch. »Flegelhaften« war spannend, da es Adjektive und das Wort »halbwüchsigen« enthielt. So wurden Zusammenhänge deutlich und Wahrheiten offenkundig. Die weitere Rubrik mit dem Adjektiv »blutjungen« wartete mit Vorschlägen wie »jugendfrischen« (selten), »kindischen« (unpassend), »kindlichen« (passend) und »mädchenhaften« (im Kontext irritierend, aber passend) auf. Ebenfalls beim Weiblichen landete man in der Kategorie »werfen« mit den Wörtern »entbinden« und »zur Welt bringen«. Man könnte also sagen, dass die Katze, die eigentlich bloß jungen wollte, zu ihrem Leidwesen entbunden wurde. Ich sprang weiter, vom »Bengel« zum »Frechdachs, Strick, Dreikäsehoch, Laffe, Fant und Gelbschnabel«, und geriet in einen regelrechten Wortrausch. Was war ich doch für ein nüchternes »Müttersöhnchen« - auch dieses war Teil des Sammelsuriums - gewesen, als ich nur den »Grünschnabel« gekannt hatte! Vom »Gelbschnabel« hopste ich - über die Kategorie »Rowdy« (aha! ) - zum »Luder« (oho! ), vom »Luder« geriet ich direktemang zum »Aas«, einmal im Singular und einmal im Plural. Der Singular war eine Endstation im doppelten Sinne, wo ein »Kadaver«, eine »Tierleiche« und »faulendes Fleisch« herumlagen. Der Rausch ist vorbei, der »Kater« (Rubriken »Tiere«, »Nachwirkungen« und »Nachwehen«) da. Ich bin daheim und umgeben von Büchern. Ich nehme die Bände des Dudens aus dem Regal, doppelt hält besser, das schmutziggelbe »Deutsche Universalwörterbuch« und das hellblaue Werk »Die sinn- und sachverwandten Wörter«. Ein »Gelbschnabel« ist in ihnen nicht zu finden (wohl aber im notfallmäßig und online herbeigezogenen »Deutschen Wörterbuch« von Jacob und Wilhelm Grimm, einen jungen Menschen meinend, der den Rat der Alten verachtet). Der »Fant« ist im Universalwörterbuch tatsächlich ein »junger, noch unerfahrener, unreifer Mensch«, der »Strick« verweist im Synonymwörterbuch wahrhaftig auf »Junge«. Der »Infant« 120 Die Rache der Nerds ist zwar etymologisch ein Kind, ein Knabe oder ein Edelknabe, bedeutet aber heutzutage aus gelber Perspektive einen bestimmten Titel bzw. dessen Träger. Mit blauen Augen ist eine »Bluse« einfach eine Bluse, und mit dem »Besen« reitet man eher zum Männlichen als zum Weiblichen hin: Verwiesen wird zunächst auf »Handfeger«, »Mop« und »Staubsauger«, dann noch eindeutiger auf »Penis« - und im Anschluss daran auf den Spruch »Ich fresse einen Besen, dass …«. Manche Wörter also veraltet, manche grenzwertig, manche falsch, manche Verbindungen nicht nachvollziehbar. Mir fällt der Begriff »negerfarbig« wieder ein. In Brehms Tierleben hatte es weiter geheißen: »Wir haben … bei diesen Affen nicht das sanfte Wesen bemerkt, welches H u m b o l d t ihnen zuschreibt, fanden sie im Gegentheile bösartiger, frecher und unverschämter als alle übrigen Arten.« 25 Emsiges Blättern der Seiten und tiefes Bohren des Blicks. In keinem meiner schlauen Bücher werde ich fündig. Was hat das zu bedeuten? Wird der Thesaurus wirklich, wie bösartig unterstellt, von Nerds gemacht? Veranstalten die Programmierer etwa Saufgelage (die der Thesaurus humanistisch gebildet »Bacchanale« nennt), bei denen aus eher humoristischer Bildung heraus Neologismen (im Thesaurus ganz korrekt »Wortneubildungen«) entstehen? Oder soll man nicht von schlechten Scherzen sprechen, sondern eben von (gefährlichen) Versuchen, die Welt neu zu benennen und alt zu deuten? Verschwindet im Rachen des Thesaurus nicht nur ein Teil der seriösen Sprachkunde, sondern auch ein Teil der aufgeklärten Gesellschaft? Den Thesaurus von Microsoft Word 2010 habe ich noch nicht im Detail überprüft. Mit Erleichterung habe ich aber zur Kenntnis genommen, dass das Wort »negerfarbig« als Synonym von »dunkel« nicht mehr auftaucht. Es taucht gar nicht mehr auf, weder im Thesaurus noch im Wörterbuch; bei der Eingabe meldet das Programm: »Es wurden keine Ergebnisse gefunden.« Bei 121 Gedruckte und elektronische Bücher der Suche nach »Mädchen« weniger Erleichterung als vielmehr Enttäuschung. Microsoft hat gründlich ausgefegt und den »Besen« weggeworfen. Und die »Biene« und den »Käfer« mit seinen virtuellen Insektiziden vernichtet. Ob das Unternehmen meine Auslassungen zum Thema gelesen hat? Möglich ist es schon; ich bin immer wieder erstaunt, wie schnell sich Verantwortliche auf meinem Blog zu Wort melden. Einmal hat sich ein ehemaliger Mitarbeiter des IT-Unternehmens in einem Kommentar offenbart, im Zusammenhang mit security4kids (s. Kapitel »Der Bürger als Kunde«). Dass Microsoft allerdings Veröffentlichungen zu einem solchen Thema auf dem Radar hat bzw. Beachtung schenkt, ist eher unwahrscheinlich. Gedruckte und elektronische Bücher Im Sommer 1984 durfte ich mit einem bekannten Schriftsteller ein Interview durchführen. Wegen der räumlichen Distanz musste es in schriftlicher Form stattfinden. Ich meine mit der Distanz nicht die Strecke von Ulm, wo ich damals wohnte, nach Rom, wo der Schriftsteller war, sondern nach Stuttgart, wo er bei seinem Verlag »Station machte«, wie es in dem Brief hieß, der im September eintraf, die Antworten enthielt und von einer unbekannten Person geschrieben worden war. Ich war vor ein paar Monaten 16 geworden und noch nicht so mobil, wie man es heutzutage zu sein pflegt. Nach Zürich war ich ein Jahr später mit dem Fahrrad gefahren, aber bei Stuttgart wäre mir das nie eingefallen. Nicht nur wegen der Stadt, diesem Unkraut in den Weinbergen, sondern auch wegen der Schwäbischen Alb. Dabei war ich durchaus in Stuttgart gewesen, eben beim Thienemann Verlag, dessen Lektor Roman Hocke mich im Rahmen eines Literaturstipendiums betreute und der das Interview vermittelt hatte. Elf kurze Fragen habe ich gestellt und elf kurze Antworten erhalten. Soweit ich mich erinnern kann, war ich ein bisschen 122 Die Rache der Nerds enttäuscht. Wenn ich die Fragen und Antworten heute lese, bin ich fasziniert. Denn es ist viel Zeit vergangen, und die eine oder andere Stelle liest sich anders als damals. Der Schriftsteller, den ich interviewt habe, ist noch heute bekannt. Sehr bekannt, und wer seine Bücher nicht gelesen hat, hat die eine oder andere Verfilmung gesehen, etwa der »Unendlichen Geschichte«. Oder hat von »Momo« und den grauen Herren gehört, die einem Zeit stehlen, wie die Informatiker und Wirtschaftsinformatiker, die freilich ebenso behaupten, dass sie einem Zeit einsparen helfen. Zeit spielt für den Schriftsteller keine Rolle mehr, denn er ist längst gestorben und liegt in München begraben. Spätestens jetzt dürfte klar sein, dass es sich um Michael Ende handelt. Nach mehreren Fragen, die teils offen, teils mürrisch beantwortet wurden, wartete ich mit folgender Zumutung auf: »Zukunftsaussichten für das Buch - wird der Tag kommen, an dem man anstatt zu lesen sich lieber mit neuen Medien oder Computern beschäftigt? « Ich hätte schwören können, den Begriff der neuen Medien erst viele Jahre später erlernt und gebraucht zu haben. Eine Art Computer besaß ich, eine elektronische Schreibmaschine, die eine Seite Text speichern konnte (s. Kapitel »Eine bessere Schreibmaschine«). Die Fragen an Michael Ende hatte ich aber offensichtlich mit meiner alten Gabriele geschrieben. Wie auch immer, 1984 frage ich nach den Zukunftsaussichten für das Buch ... Die Antwort lässt an Deutlichkeit nichts vermissen: »8) ME glaubt, dass Computer u. dgl. n i e Bücher ersetzen werden.« Derjenige, der die Antworten aufschrieb, war ein Meister der Abkürzung, und dass der Meister selbst abgekürzt wurde, rückte diesen in die Nähe von Unsterblichen, Jahre vor seinem Tod. »Computer u. dgl.« - besser kann man es nicht sagen, wenn man es abfällig meint. Und das gesperrte »n-i-e« - schöner kann man es nicht setzen, nicht einmal mit den heutigen technischen Möglichkeiten. ( à - QR- Info-55) 123 Gedruckte und elektronische Bücher Jahrzehnte später ersetzen Computer zwar nicht Bücher, aber gedruckte Bücher. Man liest auf Kleinst- und Mikrocomputern. Bei den E-Books wandert das gute, alte Buch auf den Reader, oder dieses wird - Stichwort »Enriched E-Books« bzw. »Enhanced E-Books« - mit Bildern, Videos, Tönen und weiterführenden Informationen angereichert. Im Falle von Handyliteratur berücksichtigen manche Künstlerinnen und Künstler die Möglichkeiten des Geräts. Es bilden sich spezielle Genres wie Handyromane und -haikus heraus. Die Produktion ändert sich noch in einer anderen Weise. Manche Bücher entstehen in Gruppen, und es kommt vor, dass am Ende kein Autor mehr sichtbar ist, kein Name auf dem virtuellen Umschlag prangen kann. Ich selbst arbeite lieber in Werkstätten. Man kann Talente suchen und finden und sie Aufgaben übernehmen lassen, bei denen man selbst nicht so stark ist. Umgekehrt kann man als Erfahrener Hand anlegen, straffen, strecken, korrigieren. Apple, der weltweit operierende Konzern, den alle geliebt haben, vom Alpöhi (in Deutschland auch Almöhi genannt) bis zum Fischkopf, schränkt die Freiheit der Literatur ein. Bücher erscheinen heute entweder in gedruckter oder in elektronischer Form. Sie werden von Verlagen bzw. spezialisierten Anbietern oder direkt von Autoren veröffentlicht. Handyromane wurden im deutschsprachigen Raum jahrelang bevorzugt über Premium-SMS-Dienste und spezielle Shops vertrieben, bis sie bei den normalen Buchhändlern landeten, E-Books waren schon früh über spezielle Shops und Online-Buchhändler zu beziehen. Der App Store erlangt Bedeutung nicht nur wegen tausender Anwendungen, die mehr oder weniger sinnvoll sind, sondern auch wegen elektronischer Literatur. In Europa ist es schwer, auf einen Index zu kommen. Einen skandalösen Versuch hat vor einiger Zeit Ursula von der Leyen bei einem aufklärerischen, humanistischen Kinderbuch um ein neugieriges, kritisches Ferkel unternommen; sie, die christliche Ministerin, die nicht grund- 124 Die Rache der Nerds los Zensursula genannt wird, ist zum Glück mit ihrem Anliegen in einem freien Europa gescheitert. 26 Apple hat es offensichtlich leichter mit der Zensur. Dieser sind bereits Zeitschriften zum Opfer gefallen, und kaum ein Monat vergeht ohne neue Meldungen zu Einschränkungen im medialen und literarischen Betrieb. Apple ist nicht irgendein Verlag; Apple ist gar kein Verlag. Zumindest nicht im herkömmlichen Sinne. Wenn das Buch eines Autors von dem einen Verlag abgelehnt wird, kann er es unter Umständen in dem anderen herausbringen. Im elektronischen Bereich ist die Situation komplizierter. Man möchte das mobile Buch als Java-Anwendung herausbringen oder im EPUB-Format. Man möchte es aber vielleicht auch als »klassische App« im App Store platzieren. Das unter erheblichen Aufwänden entstandene Buch, das weder in der klassischen Verlagslandschaft eines freien Europas noch eines freien Amerikas ein Problem mit der Zensur hätte, darf von einem amerikanischen Unternehmen, das die Welt so rein und glatt halten will wie seine Touchscreens, verboten werden. Von einem Unternehmen, das kein Verlag ist (oder eben doch) und von Literatur nichts versteht. Dagegen müssen sich Verlage und Autoren frühzeitig wehren, zusammen mit der Politik und mit Interessenverbänden. Sonst müssen sie bald, wenn sie die Freiheit lieben wie der sagenhafte Wilhelm Tell, auf den Apfel schießen. Unter den deutschen Verlegern formiert sich bereits seit längerem Widerstand. Aber eine schlagkräftige Antwort steht noch aus. Neue Unruhe hat im Jahre 2012 der Vorstoß von Apple in den Schulbuchbereich gebracht. ( à - QR-Info- 56) Die Bildung sollte sich nicht in dieser Weise mit der Wirtschaft gemein machen. Google ist ebenfalls ein mächtiger Anbieter von Büchern. Früh war klar, dass man Amazon konkurrieren wollte. Die Methoden waren, typisch für das Unternehmen, gewissenhaft und skrupellos. Google hat, wie so oft, Tatsachen geschaffen. Millionen 125 Gedruckte und elektronische Bücher Bücher wurden eingescannt. Ein erheblicher Teil davon war mit Urheber- und Vervielfältigungsrechten behaftet. Kein Problem für Google, nur für die anderen, für die Verlage und Autoren, die sich inzwischen in Europa erfolgreich gewehrt haben. Das Unternehmen tat damals so, als wollte es die Welt retten; kein Begriff, kein Satz, der jemals geschrieben und abgedruckt wurde, sollte verloren gehen. Eine Weltbibliothek, dank Google, eine neue Bibliothek von Alexandria (oder die »totale Bibliothek« von Jorge Luis Borges, wobei diese eher für das Web insgesamt stehen könnte). ( à -QR-Info-57) Natürlich war der Massenscan nur der Anfang des Einstiegs in das Buchgeschäft, in den Wettbewerb mit Amazon und Apple. Google versucht, das Buchportal zu werden. Wenn ich mir ein Buch über Google Books anschaue - warum sollte ich nicht bereit sein, ein weiteres zu kaufen, das dort nicht vorhanden ist? Dabei kann ich einer Werbung folgen, die auf der Plattform geschaltet wird. Damit bediene ich das klassische Google-Geschäft. Oder ich kaufe das Buch von Google selbst. Seit 2012 heißt es auf http: / / books.google.com unter der Überschrift »Bücher auf Google Play kaufen«: »Stöbern Sie im größten eBookstore der Welt und lesen Sie noch heute im Web, auf Ihrem Tablet, Telefon oder E-Reader.« Ob Google nicht nur eine gute Werbefirma, sondern auch ein guter Buchhändler ist, muss sich weisen. So wie sich weisen muss, ob Amazon ein guter Verleger ist - denn das Unternehmen macht sich auf, zum ernstzunehmenden Konkurrenten für klassische und für neue Mittler zu werden, zu einem flexiblen Konkurrenten, der je nach Bedarf die elektronische oder die gedruckte Variante aus dem Hut zaubern kann. Die erste Abschlussarbeit auf dem Volltextserver der Universitätsbibliothek Konstanz - nach einem Versuchsballon, an dem die Arbeit über »Felchen im Internet« hing - stammte von mir. Die Magisterarbeit untersuchte das revolutionäre 126 Die Rache der Nerds Arbeitertheater der Weimarer Zeit. Sie war nicht gut bewertet worden, weil sie dem adligen Betreuer zu »positivistisch« (und wahrscheinlich zu sozialistisch in ihrem Gegenstand) gewesen war. Doch im Vergleich zu manchem von dem, was heute abgegeben wird, fällt sie in verschiedener Hinsicht positiv auf. Ich glaube tatsächlich, dass das Niveau der Arbeiten abgenommen hat. Aber das lässt sich schwer beweisen. Und ich sollte schon deshalb vorsichtig sein, weil ich nach meinen Studien mehrmals zwischen verschiedenen Hochschularten hin und her gewechselt habe. Ich habe an der Universität St. Gallen unterrichtet, an Pädagogischen Hochschulen in Deutschland und in der Schweiz - und bin dann an einer Fachhochschule gelandet. Jedenfalls wird die Magisterarbeit noch heute nachgefragt, im Paket mit meiner in diesem Bereich verblassenden Expertise, zuletzt von einem Regisseur und Musiker, der Sprechchöre auf die Bühne zurückkehren lassen wollte. Die Digitalisierung von Publikationen ist inzwischen weit fortgeschritten. Viele Hochschulen unterhalten seit Jahren Volltextserver. Die Studierenden und Doktorierenden können oder müssen ihre Arbeit in elektronischer Form abgeben. Wenn Texte auf Papier vorhanden sind, werden sie - auch jenseits von Amazon und Google - eingescannt und verwertet. Vielleicht ist der Scan überhaupt das gefährlichste Werkzeug der Piraterie. Elektronische Bücher kann man mit einem Kopierschutz versehen, der nur von Profis (oder Teenies) geknackt werden kann. Gedruckte Bücher laden zum Diebstahl ein wie aus der Gesäßtasche ragende Geldbeutel. Es besteht immer die Gefahr, dass ein gerade veröffentlichtes Werk illegal eingescannt und im Internet angeboten wird. Vielleicht geraten Scanner, wie sie von Google und Co entwickelt wurden, in die Hände von Kriminellen oder Feinden des Urheberrechts; dann bedeutet es nicht einmal einen Aufwand, die Bücher allen zur Verfügung zu stellen. ( à -QR-Info- 58) Die Digitali- 127 Gedruckte und elektronische Bücher sierung hat erhebliche Konsequenzen für den Literaturbetrieb, und was wir bei der Musik erlebt haben, wiederholt sich gerade unter anderem Vorzeichen. 27 Der elektronischen Literatur bringe ich viel Sympathie entgegen. So viel, dass ich selbst zu einem ihrer Protagonisten wurde. 28 Meine Handyromane und -haikus wurden in etlichen Zeitungen und Zeitschriften und von einigen Radiosendern thematisiert und waren Gegenstand von Sendungen des ZDF und des Schweizer Fernsehens. Ich habe das Rad der Handyromane nicht erfunden, das ist in Japan geschehen, aber ich habe es in Europa mit in Bewegung gesetzt, und es wird keine Mühe habe, sich selbst weiterzudrehen. 29 Wenn man genauer hinschaut, wird man die zahllosen kleinen Hände sehen, die an das Rad greifen, oder die das Rad ölen, das Zahnrad des Mitmachwebs. Ich eröffnete vorübergehend - nachdem ich eigene Titel in Umlauf gebracht hatte - eine Werkstatt, in der Autorinnen und Autoren meine Ideen weiterentwickeln und mit Leben füllen sollten. Ich stellte einer jungen Luzernerin die Idee des Mundarthandyromans vor, und nachdem wir bei Starbucks die wesentlichen Elemente besprochen hatten, schrieb sie den ersten Roman dieser Art, der im September 2011 erschienen ist. Web-2.0-Prinzipien heißen allerdings mehr - und weniger. Man kennt sich in der Regel nicht und entwickelt in sich verändernden Gruppen mehr oder weniger konsistente Texte. Das macht mir etwas Sorge, genauso wie die Tendenz, Texte mit anderen Formen, etwa mit Musik, zusammenzubringen. Wenn man eine anrührende Stelle in einem Roman liest, mit dem Reader oder dem Handy, und zeitgleich die Geigen wimmern hört, könnte das zu viel sein, wie bei einem schlechten Kinofilm oder einer typischen Fernsehproduktion. ( à -QR-Info-59) Es spricht natürlich nichts dagegen, die Musik in anderer Weise einzusetzen, und doch habe ich den Eindruck, dass diese Kombination einigen Büchern 128 Die Rache der Nerds mehr schaden als helfen würde, und zwar genau den Büchern, die autonome, sich selbst genügende Kunstwerke darstellen. Vielleicht ist diese Autonomie aber gar nicht haltbar und Teil einer untergehenden Ideologie. Einer Ideologie, die auch davon ausgeht, dass nur zeitlose Romane gute Romane sind, ohne dafür eine Begründung anzugeben. Auf jeden Fall setzen inzwischen nicht nur japanische Unternehmen auf die »Soundtracks für Bücher«. Amerikanische und europäische sondieren den Markt und geben sich passende Namen wie »Booktrack«. Von der Buchmusik und der literarischen Geräuschkulisse wird man noch einiges hören. Im Sommer 2010 lud mich Al Imfeld, ein anerkannter Afrikaexperte und fleißiger Autor, in seine Altbauwohnung in Zürich ein. Er hat Albert Schweitzer kennengelernt und mit Martin Luther King zusammengearbeitet. Imfeld wollte seine Bücher auf dem Kontinent bekannter machen, auf den sie sich bezogen. Er hatte von meiner Handyliteratur gehört und mich über einen Mittelsmann kontaktiert. Wir saßen also zusammen und tranken kühles Leitungswasser, das aus einem Krug in unsere Gläser geschüttet wurde, und zerbrachen uns den Kopf über diesen Markt. Wir wussten, er noch besser als ich, dass Computer wenig, Handys stark in Afrika verbreitet waren, und er erklärte mir, dass man dort lieber höre als lese. Eine junge Farbige werkelte in der Küche, und irgendwann hieß es, dass wir nun gehen müssten, weil es bald Nachtessen, also Abendessen, gebe. Eine konkrete Zusammenarbeit ist nicht entstanden, aber Imfeld und ich haben später unsere Gedichtbände und darauf bezogene Komplimente ausgetauscht, und ich hoffe, dass wichtige Informationen auf dem andiskutierten Weg auch in afrikanischen Ländern verbreitet werden. 129 Sterne holen und sehen Sterne holen und sehen Auf Amazon, buch.ch und vergleichbaren Plattformen kann man Büchern sowie Musikalben und -stücken Sterne vergeben. Man behängt sie wie einen Weihnachtsbaum. Ein Stern ist schlecht, fünf Sterne sind toll. Kein Stern ist weder gut noch schlecht, und doch hat die Nichtbeachtung auf Amazon eine gewisse Bedeutung. Für die Vergabe muss man keinerlei Qualifikation vorweisen. Man muss noch nicht einmal lesen können, um ein Buch zu bewerten. Man muss nur ein paar Sätze schreiben oder zusammenkopieren können. Es gibt ein paar Rezensenten, die sich wirklich auskennen. Und es gibt tausende, die keinen blassen Schimmer haben (und eigentlich keine Rezensenten sind). Für Schriftsteller und Wissenschaftler ist es unter Umständen nicht unwichtig, dass ihre Bücher auf Amazon wahrgenommen werden und vier, noch besser fünf Sterne erhalten. Und ein bisschen Lametta. Einmal bin ich auf einen Wissenschaftler gestoßen, dessen Bücher in den höchsten Tönen gelobt wurden. Das machte mich neugierig und misstrauisch, und ich beschäftigte mich ein wenig mit den »Rezensenten«. Dabei stellte ich fest, dass diese fast ausnahmslos die Bücher einer Person besprochen hatten - eben diejenigen des Wissenschaftlers. Dieser hatte sich offensichtlich die Mühe gemacht, sich in mehrere Identitäten zu teilen. Es gab allerdings eine sehr negative Besprechung. In diesem Falle schien eine nichtgespaltene Persönlichkeit dahinterzustecken, die sich ernsthaft mit anderen Büchern beschäftigt hatte. Und die selbstredend nicht identisch mit dem Wissenschaftler war. Es tummeln sich inzwischen zehntausende, hunderttausende Rezensionswillige im Web. Sie äußern sich auf Amazon und bei anderen Online-Buchhändlern und in ihren eigenen »Literaturblogs«. Nun ist eben nicht jeder, der lesen kann, ein Rezensent (und nicht jeder, der schreiben kann, ein Schriftsteller). Leider 130 Die Rache der Nerds verleiht das Web 2.0 den ganz unterschiedlichen Stimmen eine ähnliche Bedeutung. Wenn Marcel Reich-Ranicki oder Joachim Kaiser (eine Musik- und Literaturkapazität gleichermaßen) und ein literarischer Laie ein Buch besprechen und dessen Titel oder den Namen des Autors erwähnen, werden die Beiträge von der Suchmaschine unter- und damit nebeneinander gelistet. Bei unbekannten Autoren fallen einzelne Aussagen von Laien durchaus ins Gewicht. Und bei bekannten macht es die Masse. Es haben sich ein paar Literaturblogs herausgebildet, bei denen Anführungszeichen unnötig sind, hervorragend umgesetzte, bis ins Detail durchdachte Angebote von Experten oder Laien, die keine Laien mehr sind. Demgegenüber steht eine enorme Anzahl von Blogs, die anstelle der Werke das Seelenleben der Blogger behandeln. Es spielt weniger eine Rolle, wie das Buch ist, wie es zusammenzufassen, sprachlich und inhaltlich zu bewerten, historisch und kulturell einzuordnen wäre, sondern mehr, wie es auf den Rezensenten wirkt, wie er sich fühlt beim Lesen und davor und danach. Das Gefühl drängt sich in den Vordergrund und wird häufig in einem euphorischen oder vernichtenden Urteil ausgedrückt; der interessierte Leser läuft ins Leere, da er bei einem Urteil eine Begründung erwartet und diese nicht erhält. Er kann sich nicht informieren und aufklären lassen, er kann keine eigene Meinung und kein Auge für die Ästhetik der Texte entwickeln. Trotzdem hinterlassen die Liebesschwüre und Hasstiraden deutliche Spuren: Was im Web liegenbleibt, tritt sich fest, ein Satz, den ich nicht oft genug wiederholen kann und der in unterschiedlichen Zusammenhängen passt. Wenn sich solche Blogs gegen ihre Tendenz an Analysen versuchen, drohen sie zu scheitern, denn es fehlt ihnen die Fachsprache, die wie die natürliche Sprache über Jahre erlernt werden muss. Und die natürliche Sprache ist selten das, was sie in diesem Kontext sein könnte und sollte. 131 Sterne holen und sehen Etliche der zweifelhaften Blogs werden geschäftsmäßig betrieben, veröffentlichen also regelmäßig Beiträge und stellen ein dauerhaftes Angebot dar. »Geschäftsmäßig« ist, wie erwähnt, nicht mit »kommerziell« zu verwechseln; private Angebote können sehr wohl geschäftsmäßig sein, und hunderttausende Blogs im deutschsprachigen Raum haben geschäftsmäßigen Charakter. Etlichen fehlt aber nicht nur ein Impressum, sondern ein Name eines Betreibers überhaupt; es ergibt sich ein Ungleichgewicht der Namen, ein unseliges Verhältnis zwischen dem anonymen Rezensenten und dem genannten Schriftsteller (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes«). Solche Ungleichgewichte können wesentliche Errungenschaften des Rechtsstaats zerstören: Die scheinbare, grenzenlose Meinungsfreiheit vermag die echte Meinungsfreiheit auszuhöhlen und zusammenstürzen zu lassen. Die Aufsichtsbehörden der Länder hätten die Pflicht, auf Meldungen zu reagieren und die Betreiber der Plattformen und Blogs auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen (s. Kapitel »Der Zorn der Blogger«); die Betreiber der Plattformen hätten die Pflicht, ihre Angebote zu sichten und die Betreiber der Blogs auf ihre Pflicht aufmerksam zu machen. Es existieren genügend Gesetze, Regelungen und Standards, für die sich allerdings nicht wirklich jemand interessiert. ( à -QR-Info- 60) Die Verwaltungen des Rechtsstaats verwalten den Rechtsstaat; dessen Grundlagen und Ideale sind ihnen egal. Doch selbst mit dem Verwalten wollen oder können sie nicht nachkommen. Der Rezensentenmob, zu dem die Laien im Web immer wieder werden, durchbricht die Schranken. Die Partizipationskonzepte auf Amazon sind, wie bereits angedeutet, anfällig für Manipulationen. Dabei muss man nicht unbedingt selbst Hand anlegen. Ich habe vor ein paar Jahren versucht, ein Buch über das Web 2.0 zu lesen, das von Professorinnen und Professoren der Universität St. Gallen stammte. Formal ist jeder zweite Satz verunglückt, inhaltlich jeder zwanzigste. 132 Die Rache der Nerds Die Hauptautorin war keine Muttersprachlerin, die durch ihre Partnerschaft und ihren Burnout bekannte Nebenautorin hatte sich offenbar nicht die Mühe gemacht, die aneinandergereihten Texte zu lesen. Trotzdem überschlugen sich die Rezensenten auf der Plattform und priesen das Pamphlet als neues Standardwerk. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurden wissenschaftliche Mitarbeiter vom Lehrstuhl und Personen aus dem »Netzwerk« verpflichtet; wer seine Promotion mit Erfolg abschließen oder gewisse Privilegien genießen will, muss sich eben ein wenig prostituieren. Natürlich sind nicht alle (Kunden-)Rezensionen auf Amazon »eingekauft«; fast alle stammen aber von fachlich oder literarisch ungebildeten (bzw. nicht ausgebildeten) Lesern, und Literatur- und Sprachwissenschaftler oder andere Experten sind selten dabei. Nebenbei zeigt sich, dass Experten Laien sein können und ein Titel nicht vor Torheit schützt. Wer die Besprechungen der »Feuchtgebiete« gelesen hat, wundert sich, dass Charlotte Roche noch lebt; der Mob durfte auf Amazon seine Wortkeule schwingen, unter der sie durchaus hätte zusammenbrechen können. Ihr scheinbar unseriöser Roman über die Hämorriden einer 18-Jährigen hat aber das Recht auf eine seriöse Beurteilung, obwohl sie in den ersten Interviews den Fehler begangen hat, ihre Figur und sich selbst in eins zu setzen. Bei ihrem Roman »Schoßgebete« ging die Verwirrung weiter, und als sich Alice Schwarzer in einem offenen Brief an »Charlotte« wandte, wusste man genauso wenig, wen sie eigentlich meinte, die Figur, die Erzählerin, die Autorin, den Menschen. Genau dies machte ihr Roche in einem Interview im Sommer 2011 zum Vorwurf, freilich ohne auf ihre eigene Verwirrung in diesem Punkt hinzuweisen. An den Beiträgen und Klicks der User verdienen die Betreiber der Plattformen. Das ist der Grund, warum sie kein gesteigertes Interesse daran haben, Ordnung und Qualität herzustellen. Es sind also nicht allein die Benutzer Schuld, sondern auch die Be- 133 Sterne holen und sehen treiber, die ihnen eine Plattform bieten. Davon sind die früheren Massenmedien nicht ausgenommen. Sie mischen bei dem Spiel mit, um wie ein Online-Kasino abzukassieren, und was sie in der gedruckten Form nach wie vor vorschreiben, beim guten alten Leserbrief, der mit dem echten Namen unterzeichnet ist, hebeln sie bei ihrem Webauftritt aus (s. Kapitel »Anonymität und Identifizierbarkeit«). Eine weitere Entwicklung ist für die beschriebene Kulturkrise verantwortlich. Wer die Rezensionen in den Massenmedien betrachtet, stellt schnell fest, dass fast ausschließlich Bücher der »mächtigen« bzw. »etablierten« Verlage besprochen werden. Diese umsorgen die Redaktionen auf liebevolle Weise und lassen ihnen Rezensionsexemplare und Geschenke zukommen, womöglich mitsamt dem Versprechen, bei Gelegenheit an die Anzeigenabteilungen zu denken. Dies können sich »unbedeutende« bzw. »unbeachtete« Verlage nicht leisten, und genauso wenig Autoren, die auf ihre Werke hinweisen wollen. Die Verstrickungen und Abhängigkeiten betreffen keineswegs nur die großen Zeitungen und Zeitschriften; auch kleine Radiosender profitieren von »Rahmenverträgen« mit Verlagen und Buchhandlungen. Vor ein paar Jahren führte ein kleiner, gefährlich klingender Radiosender aus St. Gallen mit mir ein Interview durch. Ich stellte auf Wunsch des Senders, für eine Verlosung, wie man mir sagte, mehrere Exemplare meines neuesten Romans »Künstliche Kreaturen« zur Verfügung. Als das Interview nicht gesendet wurde und ich mich nach dem Grund erkundigte, hieß es von Seiten der Verantwortlichen, es sei doch nicht so einfach, den Beitrag zu bringen, da man vertragliche Verpflichtungen habe. Im Klartext bestimmte ein Verlag oder eine Buchhandlung, welche Bücher der Sender vorstellte. Ich habe übrigens meine Bücher - meinem Verlag zum Autorentarif abgekauft - nie wieder gesehen. 134 Die Rache der Nerds Wir sollten den kleinen und großen Massenmedien nicht vertrauen, wenn es um die Vorstellung und Bewertung von Literatur geht. Wir dürfen ihnen ebenso wenig vertrauen, wenn sie einen Autor als den besten oder ein Buch als das wichtigste rühmen, denn sie kennen 99 Prozent der Literatur nicht, nicht nur wegen der fehlenden Lebenszeit der Redakteure, sondern auch weil sie sie nicht kennen wollen oder sollen. Im Grunde ist jedes literarische Urteil der Medien in diesen Zeiten und unter solchen Bedingungen eine Anmaßung. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass bei den Lesern eine Wut entstanden ist - und ein Wille, ihr Lesen in den öffentlichen Raum zu verlagern. Das Web 2.0 schien die historische Chance zu bieten, unbekannter Literatur und unbekannten Autoren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Einigen ist es tatsächlich geglückt, an Verlagen, Medien und Kritikern vorbei ein großes Publikum zu erreichen. Generalisieren lässt sich das jedoch nicht, ja man kann von einem Scheitern dieses Ansatzes der »Rechtsprechung« ausgehen. Die Gründe für das Scheitern sind vielfältig und reichen von der Zersplitterung der Öffentlichkeit in zahllose Teilöffentlichkeiten über die Kostspieligkeit unabhängiger Rezensionstätigkeit bis hin zu dem angedeuteten Umstand, dass das Web 2.0 ein Nachmachweb ist, ein neues Medium, das sich in bestimmten Prinzipien an den alten Medien orientiert, etwa mit der Neigung, etablierten Verlagen und bekannten Autoren den Vorzug zu geben, und in bestimmten eben nicht. Es entsteht das Phänomen der Laien, die sich den Systemen anpassen, in denen sie keinen Platz gefunden haben, oder vielmehr, die sich anpassen, soweit sie können: Sie sprechen von der Literatur, von der auch andere sprechen, nennen ihren unvollständigen Beitrag eine Rezension, und was auf den ersten Blick an das Genie früherer Tage denken lässt, offenbart auf den zweiten den Wahnsinn einer Generation. Was kann man tun, um den User-generated Content - um 135 Sterne holen und sehen an dieser Stelle allgemeiner zu werden - nicht der völligen Lächerlichkeit preiszugeben und ihn nicht in der Masse zum Usergenerated Nonsense geraten zu lassen? Wie könnte man hehre Ansätze des Mitmachwebs retten und fruchtbar machen? Von Politik und Verwaltungen, Hochschulen und Wissenschaften sowie Plattformen und Medien darf man sich momentan nicht zu viel versprechen; noch durchblicken sie nicht das ganze Ausmaß der Misere oder profitieren zu sehr von dem anscheinend einträglichen Geschäft. Dabei wären gerade Politik und Hochschulen in der Pflicht; sie müssten Ressourcen und Methoden bereitstellen, um Informations- und Medienkompetenz und Technologie- und Medienkritik zu vermitteln. Das ist die erste Antwort auf die Frage: Gegen den Verlust der Aufklärung hilft nur die Stärkung der Aufklärung selbst. Die Verschmutzer des Internets müssen wissen, was sie tun. Und wenn sie wissen, was sie tun, müssen sie die Konsequenzen tragen. Die Benutzer müssen wissen, was sie vor sich haben; und wenn sie es wissen, müssen sie nachdenken und handeln. Beispielsweise können sie - eine mögliche zweite Antwort - versuchen, die anonymen Blogger und Blogs selbst zum Thema zu machen. In der Masse sind diese stark, in der Anonymität, aber wehe, man bespricht ihre Angebote und Beiträge. Genau hier wird indes wieder das Problem des Ungleichgewichts der Namen sichtbar: Man kann zwar auf ein zweifelhaftes Blog verlinken, man kann seinen Namen nennen, wenn es einen hat; doch der nicht nennbare, weil namenlose Blogger wird sich ins Fäustchen lachen. Wenn er den Mut hat, seinen Namen zu nennen, muss er auch den Mut haben, die Reaktionen auf seine Bemühungen zu ertragen. Wenn er diesen nicht hat, wird er irgendwann nachdenken oder aufgeben. Das wäre sie endlich, die Selbstreinigungskraft des Internets. Womöglich ist diese zweite Antwort auf die Frage auch falsch; wer zweifelhafte Blogs in den Mittelpunkt rückt, rückt sie eben dorthin, wohin sie nicht gehö- 136 Die Rache der Nerds ren. Eine dritte Antwort könnte darin bestehen, eine Netiquette 2.0 zu entwickeln und zu verbreiten, aus der Kooperation von Selbstmach- und Mitmachweb heraus (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes«). Über den Nutzen von Netiquetten kann man geteilter Meinung sein; jedenfalls scheint es so zu sein, dass man in der Anfangszeit des WWW solche Regelwerke kannte und diskutierte und teilweise befolgte und wir in der »Wissensgesellschaft« in die digitale Steinzeit zurückgefallen sind. Das Web 2.0 zeigt sein hässliches Gesicht. Im Zeitalter der Schönheitsoperationen und der Leibesertüchtigungen müssen wir damit nicht zwangsläufig leben. Wir sollten freilich aufpassen, dass keine Schlauchbootlippen entstehen, die die Benutzer nicht mehr küssen möchten, oder Synchronschwimmerinnennasen, die nicht mehr riechen können. Im Web 2.0 spiegelt sich unser eigenes Antlitz, und eigentlich kann sich niemand wünschen, dass dieses einer Fratze gleicht. Wenn uns unsere Literatur etwas wert ist, sollten wir Talente mit ihr flirten und den Mob nicht über sie herfallen lassen. In einer »Literaturgruppe« des studiVZ habe ich einmal Sätze über Vladimir Nabokov gelesen, die zutiefst beunruhigend waren. Verwechselt wurden Figur bzw. Erzähler und Autor, und das Buch wurde nicht als Fiktion, sondern als Dokumentation gelesen, mit fatalen Konsequenzen für den berühmten Schriftsteller. Die Sätze wurden in einer »Diskussion« von Personen vorgebracht, die sich anschließend wahrscheinlich heftig gegruschelt haben. Man hat sich lieb im Web 2.0, wenn man nicht gerade jemanden steinigt. Obwohl studiVZ schon bald von Hausmeistern und Autoverkäufern heimgesucht wurde, die sich in meinVZ zu alt fühlten, und Massen zu Facebook übergetreten waren, waren lange Zeit genügend Studierende vorhanden, die ein gewisses Niveau hätten aufrechterhalten können. Hätten können, denn auch das ist interessant am Web 2.0: Auf den Schattenseiten der verschiedenen Social und Antisocial Net- 137 Die Laien kommen works sind bezüglich Kommunikation und Kompetenz keine erheblichen Unterschiede festzustellen. Den Mob gibt es - wie den Schwachsinn - vor allem im Singular. In einer Diskussion mit Studierenden haben mir diese entgegengehalten, man dürfe die Rezensionen auf Amazon nicht vergleichen mit richtigen Rezensionen. Dem kann man in gewisser Weise zustimmen. Allerdings verwendet das Unternehmen den Begriff der Rezension und kokettiert mit dessen tieferer Bedeutung. Er lässt an unsere alten Intellektuellen und Kunstsinnigen denken, obwohl die Urheber eher den Dumpfbacken zuzurechnen sind. Ohne Zweifel haben die Studierenden Recht damit, dass es sich eigentlich um keine Rezensionen, sondern um bloße Meinungsäußerungen handelt; aber warum spricht Amazon dann nicht von solchen? Warum steht über den Texten nicht »Was unsere Leser denken« oder »Was unsere Leser meinen«? Warum etikettiert man sie nicht mit »Geblubber aus dem Bauch«? Denn in den meisten »Rezensionen« geht es eben nicht um eine Zusammenfassung, Analyse, Bewertung und Einordnung eines Buchs, sondern um ein bloßes Bauchgefühl. Die Laien kommen In dieser Wunde muss ich ein wenig weiterbohren. Ich habe nichts gegen Laien, vor allem nicht, wenn sie Experten sind. Ich bedauere es sehr, dass manchen Experten und Begabten die Räume und Ressourcen für ihre Betrachtungen und Forschungen verwehrt bleiben, nur weil sie keine akademische Laufbahn eingeschlagen und nicht die richtigen Papiere gesammelt haben (die freilich im besten Fall mehr als bloße Papiere sind). Oder dass manchen Akademikern die Räume und Ressourcen verwehrt bleiben, weil sie keinen Anschluss an eine Hochschule oder eine Forschungseinrichtung finden. Privatgelehrte haben leider bei uns kaum eine Chance, sich dauerhaft zu etablieren, 138 Die Rache der Nerds es sei denn, sie sind zugleich herausragende bzw. öffentlichkeitswirksame Publizisten. Ich habe auch nichts gegen Laien, wenn sie keine Experten sind. Ich habe nur etwas dagegen, wenn man ihnen Tätigkeiten zumutet, für die ihnen die Kompetenzen fehlen. ( à QR-Info 61) In der Schweiz sind Experten - diesen Eindruck habe ich seit meinem Zuzug gewonnen - nicht überall gern gesehen, genauso wie Akademiker und Intellektuelle. In Deutschland und in Österreich ist die Abneigung wahrscheinlich nicht ganz so groß; aber vorhanden ist sie allemal. Vielleicht muss man die Situation etwas differenzierter beschreiben. Experten kann man beschimpfen, indem man sie selbsternannte Experten nennt. In der Regel handelt es sich gerade in diesen Fällen um echte Experten. Umgekehrt gibt es Scharlatane, die man als Experten akzeptiert. Wahrsager sind ja tatsächlich Experten auf dem Gebiet der Dummheit, sowohl ihrer eigenen als auch der der anderen. Der Punkt ist, dass wir Probleme haben, die nur von Experten zu lösen sind, etwa die Umweltverschmutzung oder die Abhängigkeit von den Informations- und Kommunikationstechnologien (die in diesem Buch aus informationsethischer Perspektive diskutiert wird). Man kann behaupten, dass uns diese Probleme auch von Experten beschert wurden, aber das ist offensichtlich nur die halbe Wahrheit. Um die Umwelt zu zerstören, braucht es kein Expertentum, nur Masse oder Macht, wobei es durchaus richtig ist, dass man mit einer gewissen Expertise besonders weit kommt. Die Schweiz ist »demokratisches Mittelmaß«, lautete ein Befund des 2011 veröffentlichten »Demokratiebarometers«, eines Projekts im Rahmen des NCCR Democracy. 30 In den mehrheitlich konservativen Medien wurden wie üblich die Akademiker angegriffen, als wären sie nicht für die Studie, sondern für das Demokratiedefizit verantwortlich. Und von den Journalisten hörte man Phrasen dieser Art: »Demokratiebewertungen blei- 139 Die Laien kommen ben immer selektiv, beruhen zumeist auf Expertenmeinungen und sind somit nie wertfrei.« 31 Dass die Experten wissenschaftliche Methoden angewandt haben, wird unter den Tisch gekehrt. Und überhaupt zählen die »Experten« in der Schweiz eben zu den Schimpfwörtern; dagegen sind die »Praktiker« und die »Laien« beliebt. Völlig legitim war, dass andere Wissenschaftler die Ergebnisse der Wissenschaftler in begründeter Weise in Frage gestellt haben; lebhafte öffentliche Diskurse gehören zum Herzen der Wissenschaft und finden viel zu selten statt. Das Web 2.0 ist der Lobgesang des Laientums. Es verstärkt Tendenzen, die in unseren Gesellschaften vorhanden sind, wie ein Lautsprecher. Wenn bisher leise über Experten geschimpft wurde, dann geschieht dies nun laut und vernehmlich. Wenn sich Laien in aller Stille geäußert haben, brüllen sie nun in die Welt hinaus. Wie schade, dass das Web 2.0 nicht das Lob des Expertentums ist! Oder ist es das womöglich, in Anbetracht der unzähligen Blogs und Wikis? Manche von ihnen werden von Experten erstellt, doch um sie zu finden und sie zu schätzen, muss man selbst Experte sein. Und welches Lob singt das Web 3.0? Das Lob der Maschinen. Die Maschinen sollen die Experten sein, die wir eines Tages alles fragen können, was wir wollen, und die uns die richtigen Antworten geben sollen. Diese Experten werden nicht besser als die Wahrsager sein, die in Schweizer Fernsehsendern auftreten. Auf jeden Fall ist es so, dass die Laien kommen. Die Amateure zum Beispiel. Nein, sie sind längst da. Sie haben die Medien und die Kunst erobert. - Ein Mann und eine Frau in den besten Jahren (erinnert sich noch jemand an die Namen? ) gewinnen oder gewinnen fast einen Talentwettbewerb. Sie singen nicht schlecht; aber gegen einen ausgebildeten Opernsänger kann der eine mit seinen Arien nicht anstinken; die andere ist, mit 140 Die Rache der Nerds ihrem Zusammenbruch, ziemlich nahe bei den Stars. Die rührenden Geschichten der beiden stimmen nicht ganz, und es stand schon vorher fest, dass man sie hypen würde. - In Pseudodokumentationen sieht man, wie schlechte Tänzerinnen und Tänzer zu mäßigen werden; sie können performen, sie können ihren Körper so bewegen, wie es die Pseudochoreographen gerne haben; aber gegen die Truppe von William Forsythe ... Nein, dieser Vergleich verbietet sich. Er ist einfach unanständig. Ihre Körper üben allenfalls ein letztes Aufbäumen vor der ewigen Bedeutungslosigkeit. - Bürgerjournalisten bloggen zu jedem Thema und kommentieren jeden Beitrag, ob in einem Blog oder in einer Zeitung bzw. Zeitschrift (s. Kapitel »Der Zorn der Blogger«). Selten entwickeln sie eigene Gedanken, und wenn, dann dazu, dass sie morgens den Müll rausgetragen haben und sich selbst wieder rein. Wenn möglich, bleiben sie anonym. Man möchte ja nicht verantwortlich gemacht werden können wie die richtigen Journalisten. Die Medien hassen und lieben die Bürgerjournalisten und die Freizeitblogger. Sie hassen sie, weil sie zu ihrem Untergang beitragen. Und sie lieben sie, weil sie sie am Leben erhalten, so wie die Industrieländer die Entwicklungsländer. Von ihren Klicks leben sie, und von den Handybildern pinkelnder und rammelnder Stars. - So genannte Autorinnen und Autoren, die sich früher allenfalls in einen Zuschussverlag hätten einkaufen können, haben Books on Demand (BoD) und Lulu entdeckt. Gegen diese Dienste ist an sich nichts einzuwenden; sie sind recht seriös und ziemlich professionell, wenn man von der Druckqualität bei Bildern absieht. Es ist auch eher so, dass diese Dienste die Masse entdeckt haben und kein schlechtes Geschäft mit ihr machen. Publishing on 141 Die Laien kommen Demand oder Selfpublishing ist eine perfekte Lösung für aussichtsreiche Nischenprodukte. Für Romane und Gedichte war es bis vor kurzem alles andere als perfekt, vielmehr ein Makel für den Autor und eine Beschädigung für den Markt. An der Abwanderung sind die hochnäsigen großen Verlage auch selbst Schuld. Wenn ein Robert Schneider über 20-mal abgelehnt wurde, ist das ein kollektives Versagen, und vielleicht würde er sich heute nach dem zehnten Versuch selbst verlegen. Leider sind die meisten auf BoD nicht mit ihm zu vergleichen. Seit einiger Zeit schießen Selfpublishing-Plattformen wie BookRix und XinXii aus dem Boden. Das Publizieren geht mit ihnen noch einfacher, noch schneller. Nach einigen Minuten können andere das Buch online lesen oder herunterladen (was inzwischen auch bei BoD und Lulu möglich ist). Ich will kein pauschales Urteil fällen, aber die Bücher, in die ich hineingelesen habe, waren eine derartige Zumutung, dass man sich fragt, was in den Gehirnen dieser Leute abläuft bzw. ob sie überhaupt über solche für das Denken hilfreiche Organe verfügen. Dass es in den deutschsprachigen Ländern viele funktionale Analphabeten gibt, ist bekannt, dass diese gerne bloggen und twittern, ebenfalls; aber dass sie gerne Romane schreiben und veröffentlichen, wusste man bis vor kurzem noch nicht. Nun ja, man konnte es ahnen, und schon vor ein paar Jahren habe ich vor dem Web-2.0-Content gewarnt, der im Buchbereich über uns kommen würde. Aber die Texte verschlagen sogar mir die Sprache. 32 - Millionen von Fotos warten bei Getty Images, iStockphoto und Picasa und auf hunderten anderen Plattformen darauf, von Magazinen, Agenturen, Hochschulen, Unternehmen entdeckt zu werden. Der normale Fotograf ist zu teuer geworden, und da man ihn nicht mehr beauftragt, 142 Die Rache der Nerds wird er bald nicht mehr existieren. Schade eigentlich, aber es tummeln sich ja Millionen Hobbyfotografen im Netz, die mit ihren teuren Ausrüstungen und ein bisschen Photoshop zu respektablen Ergebnissen kommen. Kunst ist das nicht, höchste Qualität ebenso wenig, aber dafür existiert eine Masse an Fotos, unter denen sich theoretisch auch einmal eine Perle befindet. Außerdem erkennen die Laien nicht, ob das Foto von einem Laien gemacht wurde oder von einem Profi. Die Amateure, die Laien sind zum Maßstab geworden, und zwar sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption. Endlich wird wahr, was man in einem Museum, vor einem abstrakten Kunstwerk stehend, ausgerufen hat: Das kann ich auch! Logo können wir das auch, wir können alles, ein heraustretendes Auge hier und eine hängende Brust dort, und schon ist er fertig, unser Picasso. Ein bisschen Fett, ein bisschen Haar - ein Beuys im Badezimmer! Und ist das nicht schön, dass wir nun alle kreativ sind? Ist nicht jeder Mensch ein Künstler, wie kluge Menschen gesagt haben, und ist die singende, tanzende, schreibende, fotografierende, malende Menschheit nicht eine bessere? Den Amateur als Künstler gab es schon früher; er war Teil von lokalen Vereinigungen, die entweder Streichelzoos waren oder Haifischbecken, oder einer der verkannten und sich deshalb selbst promotenden Genies. Allerdings ist der Laie heute, dank der Medien und des Netzes, immer und überall und mit Seinesgleichen zusammen. Die Massenmedien haben die kommunistische Forderung von Brecht nach einem Rückkanal umgesetzt und sind kapitalistischer denn je. Und das World Wide Web verbreitet unsere Elaborate, seinem Namen gemäß, weltweit, und so schnell wie das Licht der untergehenden Sonne. Als ich sehr jung war, war es mein Traum, Schriftsteller zu werden. Ich wollte klug sein, klug schreiben, und nebenbei den 143 Die Laien kommen lesenden Mädchen den Kopf verdrehen, mindestens in meine Bücher hinein, und wenn es gut lief, auch zu mir her, dem 16-Jährigen, der gerne für eine Weile die Hände von seiner Schreibmaschine nahm. Ich wuchs auf in einer Welt, die eine überschaubare Anzahl von Schriftstellerinnen und Schriftstellern kannte. Zumindest die Literatur einzelner Länder und Jahrhunderte konnte man sich in ein paar Jahren erschließen. Ich fing an mit der neueren deutschsprachigen Literatur und entdeckte, zusammen mit meinem Körper, die neuere französische und amerikanische. Lesen machte süchtig und machte frei. Ich konnte tausende Gedanken denken, die ich nicht von selbst gehabt hätte, und begann irgendwann, selbst solche Gedanken zu haben. Nichts war irriger als die Annahme, die Literatur hätte nichts mit unserem Leben zu tun. Die Literatur war mit unserem Leben so eng verschlungen, dass man erst gar nicht versuchen musste, die Beine und Arme jemandem zuzuordnen und zu entscheiden, zu wem die Lippen gehörten, die sich aufeinander drückten. Damals, als ich sehr jung war, stellte ich mir vor, wie ich bei Gesellschaften (oder auf Partys, falls es diese noch geben sollte) als Schriftsteller vorgestellt wurde, sich die Köpfe zu mir drehten und das Getuschel klang wie Applaus. Heute, wo ich nicht mehr sehr jung bin, interessiert sich kein Schwein dafür, dass ich Schriftsteller bin. Damit meine ich weniger die Auflagen und die Medien. Die Auflagen sind und waren so, wie sie sind, im Realen mau, im Virtuellen wow; die Medien berichteten über meine Handyromane und Handyhaikus ausgiebig, über meine gedruckten Romane kaum. Das liegt daran, dass sie den großen und etablierten Verlagen und Buchhandlungen verpflichtet sind; der Leipziger Literaturverlag, der mich seit 2007 verlegt, ist durchaus angesehen, aber das heißt nicht, dass man ihn beachtet. Für Tage schon, wenn eines seiner Bücher auf eine Bestsellerliste gerät, durch aufmerksame und unabhängige Leserinnen und Leser, aber nicht dauerhaft, nicht 144 Die Rache der Nerds verlässlich. Bei den Handyromanen dagegen gab es noch keine Abhängigkeiten und wenig Konkurrenz. Nein, was ich meine, sind Freunde und Bekannte und die Menschen, die man unterwegs trifft und bei Gesellschaften in Wohnungen und Häusern. Es sind Gesellschaften, die keine Partys mehr sind, und in denen ich mich nicht immer in bester Gesellschaft befinde. Wenn ich gefragt werde, was ich bin, und ich sage, dass ich Schriftsteller bin, um nicht sagen zu müssen, dass ich lehre und forsche, dann ist kein begeistertes Aufblitzen die Folge, kein wohlwollendes Grummeln, nicht einmal ein erschrockenes Zusammenzucken. Wenn ich Glück habe, werde ich gefragt, was ich denn schreibe. Romane? So etwas wie Simmel und Suter? Romane, das waren für mich »Homo faber« und »Stiller« gewesen, »Der Wendekreis des Krebses« und »Betty Blue«. Und, weiter zurück, der »Zauberberg« und der »Radetzkymarsch«. Und der »Simplicius Simplicissimus«. Wenn man Pech hat, wird geantwortet, man schreibe auch, und man habe schon 20 Gedichte im Internet veröffentlicht und ein Buch bei BoD oder auf BookRix oder im Kindle-Shop (wo übrigens respektable Produktionen zu finden sind, selbst aus dem Eigenverlag). Man sei Schriftsteller, und eines Tages werde man einen großen Roman verfassen, nicht so etwas wie von Simmel, eher wie von John Ronald Reuel Tolkien oder Stephenie Meyer. In dem Land, in dem zu leben ich mich entschieden hatte, ist der Intellektuelle (der zuweilen ein Experte ist und umgekehrt) verpönt, und wenn etwas Schwieriges in der Zeitung steht, folgen häufig Leserbriefe, in denen das Schwierige beanstandet und mit der Kündigung des Abonnements gedroht wird, obwohl man mit einiger Wahrscheinlichkeit gar keines hat. Der Intellektuelle mit seinen eigenen, radikalen Gedanken ist verdächtig in einer Welt, in der das Verständliche zählt und das Verständliche das ist, was man zwischen Laien versteht und was sich augenblicklich einstellt, ohne Zögern und ohne Mühe. Es 145 Die Laien kommen ist die gleiche Gesellschaft, in der die Hochschulen auf Eigenständigkeit und Selbstlernen setzen und die Lehrer und Dozenten zu Verdächtigen werden. Ist nicht alles in Wikipedia oder in einem Web-based Training, was man zu wissen braucht? Ist es nicht einfacher und direkter, wenn man mit Kommilitoninnen und Kommilitonen lernt, wenn man zusammen brainstormt und workshopt und sich nicht die Weisheit mit dem Löffel des Experten verabreichen lässt? Die Experten seien es gewesen, die die Krise verursacht haben, welche auch immer. Allerdings werden es wiederum die Experten sein, die uns wieder heraushelfen. Man hat vergessen, dass es nicht nur die Laien gibt und die Experten, dass es Laien unter den Laien gibt und Laien unter den Experten und Experten unter den Experten. Und dass Laien zu Experten werden können, durch Aus- und Weiterbildung, durch Talent und Anleitung. Die Laien kommen, und zwar über uns. Es wird der Tag kommen, an dem unsere Museen leer sind, ohne Besucher und ohne Bilder, oder mit Bildern von unseren Kindern und Nachbarn, die ihn nie finden würden, diesen fremd gewordenen Ort, der Tag, an dem in unseren Theatern und Opern nur noch Laiengruppen spielen und tanzen, nicht als Ergänzung des Professionellen, sondern als Ersetzung, Vernichtung, der Tag, an dem die Amateure in unseren Zeitungen und Büchern bloggen und twittern und Autorinnen und Autoren, die mehr als 5.000 Zeichen verbrauchen, gesteinigt werden, mit den Steinen aus den Ruinen unserer Hochschulen. Der Intellektuelle (und der Experte) ist dann ebenso verdächtig wie der Künstler unnötig ist. Unsere Hochkultur wird versinken, und weil sie es seit Jahren tut, wird es kaum auffallen, wenn sie ganz verschwunden ist, außer zukünftigen Archäologen, die eher Psychologen der Zeit sind. Es ist ja nicht so, dass man alles auf das Internet und das World Wide Web schieben könnte oder die Medien oder den Amateur. Es ist komplizierter, allgemeiner und grundsätzlicher. Es ist, als wür- 146 Die Rache der Nerds de unser Gehirn vor sich hin faulen, und der penetrante Geruch, der sich entwickelt, macht uns süchtig wie Fast Food. Wer jeden Tag bei McDonald’s isst, wird gutes Essen nicht vermissen. Der Tag wird kommen, an dem wir nichts vermissen werden und an dem wir scheinbar alles tun, was wir schon immer tun wollten, jeder von uns, alleine oder noch besser gemeinsam. Abhängigkeit von IT und IT-Unternehmen Die Abhängigkeit von Informations- und Kommunikationstechnologien und von Anwendungs- und Informationssystemen ist groß. Hard- und Software sind eng mit unserem Leben und unserer Arbeit verzahnt und verwoben, ob sie autonom arbeiten oder wir sie operativ benutzen. ( à -QR-Info- 62) Die IT-Unternehmen und die einschlägigen Hochschulinstitute und Forschungseinrichtungen haben es mit ihren Produkten und Dienstleistungen geschafft, in alle Gesellschaftsbereiche vorzudringen und sich in Alltag und Beruf unentbehrlich zu machen. Wir müssen unsere Software regelmäßig updaten und upgraden, wir müssen alle zwei bis drei Jahre die Hardware erneuern; wir benutzen zahlreiche betriebliche Anwendungen und arbeiten und lernen in der Cloud, und ein guter Teil der Belegschaften besteht aus Ingenieuren, Informatikern und Wirtschaftsinformatikern. Gut für uns, könnte ich als Wirtschaftsinformatiker sagen. Aber was machen die Vertreter anderer Berufe? Bleiben wir kurz bei der Wolke, die den Himmel der IT verdüstert. Cloud Computing wird von einflussreichen Unternehmen und Organisationen propagiert. Auf den ersten Blick klingen die Konzepte einleuchtend; man muss Technologien nicht selbst beschaffen, kann Daten und Services outsourcen. Das spart Kosten und Ressourcen. Die Zauberworte für Unternehmen sind »Infrastructure as a Service (IaaS)«, »Platform as a Service (PaaS)«, »Software as a Service (SaaS)« - und sogar »Eve- 147 Abhängigkeit von IT und IT-Unternehmen rything as a Service (EaaS)«. In gewisser Weise kennt man die Konzepte auch schon, wenn man als privater Nutzer bestimmte Dienstleistungen nutzt. Aber sind die Unternehmen, denen man alles anvertraut, wirklich zuverlässig? In welchem Land sind sie überhaupt angesiedelt? Und wer kauft sie morgen auf? Ein nachdenklich stimmendes Statement zu Cloud Computing stammt von dem Miterfinder des WWW, Robert Cailliau. In einer schweizerischen Computerzeitschrift meinte er: Aus meiner Sicht pervertiert Cloud Computing den ursprünglichen Sinn des Webs. Unsere Idee bestand ja gerade nicht darin, zentralisierte mächtige Datencenter zu schaffen, auf die dumme Terminals zugreifen. Sinn und Zweck des Webs war es, Inhalte dort gespeichert zu lassen, wo sie kreiert wurden, und sie dann über Links zugänglich zu machen. 33 Genauso pervers finden Cailliau und Berners-Lee Facebook und andere geschlossene Gesellschaften. Bedauerlicherweise hört man den Erfindern des WWW nicht mehr zu. Man könnte noch heute - gerade heute - eine Menge von ihnen lernen. In Zukunft gibt es nur noch einen Computer, so IT-Zeitschriften und Computermessen in den Jahren 2011 und 2012, nämlich die Cloud. Ein Versuch einer Zentralisierung, der auch noch bejubelt wird. Ein vergeblicher Versuch, und mindestens wird es viele Clouds geben, so wie am Himmel nicht nur eine Wolke schwebt. Die angesprochene Zuverlässigkeit lässt sich auf verschiedenen Ebenen hinterfragen. Ein Punkt ist eben, ob das Unternehmen wirklich zuverlässig sichert und ob auf die Daten bei einem Gebäudebrand oder nach einem terroristischen Anschlag noch zugegriffen werden kann. Diese Art der Zuverlässigkeit betrifft u.a. die technischen Systeme und die technische Kompetenz der Mitarbeitenden. Ein anderer Punkt ist, ob die Mitarbeitenden in Bezug auf die Datenverwaltung zuverlässig sind. Droht ein Datenmissbrauch, eine Datenweitergabe? Wer hat überhaupt Zugriff auf die Daten, wer Zugang zum Server? Betriebliches Wissen und persönliche Informationen gehören vielleicht gar nicht ins Netz, zumindest nicht ins weltweite. 148 Die Rache der Nerds Letzten Endes führt Cloud Computing - wie fast jede Form der IT-Nutzung - zu Abhängigkeiten, die nur schwer wieder zu beseitigen sind. Zu Abhängigkeiten von Technologien, Personen, Unternehmen, Ländern. Man sollte zumindest Alternativen schaffen, sollte ein Backup haben, und sei es in Papierform. Das papierlose Büro ist nie Realität geworden, und das ist aus dieser Perspektive gar nicht tragisch. Wir benötigen elektronische Sicherungen, weil eine physische Einrichtung zerstört werden kann. Wir benötigen aber ebenso physische Sicherungen und Sicherungen des Physischen; denn IT ist physischer, als man denkt. Nicht nur die Peripherie besteht aus Hardware, sondern auch das Herz des Elektronischen. Der Begriff der Cloud ist in diesem Zusammenhang ebenfalls zu hinterfragen. Er suggeriert Unverletzlichkeit, Abgehobenheit. Er hängt aber ebenso mit der Vorstellung von Luftschlössern zusammen. Auf den ersten Blick ein genialer Fund, auf den zweiten ein Marketingtrick, der noch Hohn und Spott auf sich ziehen könnte. Womöglich wird der Begriff der Cloud ein paar Jahre lang positiv belegt sein. Und dann kippt womöglich die Stimmung. Und alle würden sich fragen: Wie konnten wir nur glauben, wir könnten auf Wolken bauen? Vielleicht richtet man sich aber auch in den Wolken ein, jahrzehntelang, bis der endgültige Absturz kommt. Die Unternehmen zwingen uns im privaten und beruflichen Kontext häufige Produktwechsel auf. Vorbei die Zeiten, in denen ein Rasierapparat eine Dekade und länger gehalten hat. Wenn man Pech hat, wechselt man heute alle drei, vier Jahre das Gerät; entweder der Motor schwächelt, oder das Netzteil oder der Akku geht kaputt. Der Akku ist überhaupt die Wunderwaffe der Wirtschaft. Insgesamt gilt: Je mehr Informationstechnologie, desto anfälliger. Es gibt eindrückliche Zahlen von den Unternehmen und Verbänden, die liegengebliebene Autos reparieren oder abschleppen. Irgendetwas ist immer, es sei denn, 149 Abhängigkeit von IT und IT-Unternehmen man hat das Glück, ein Gerät zu erstehen, das versehentlich für die Ewigkeit gebaut wurde. Die Qualität der Standrechner und Notebooks scheint ebenfalls nachgelassen zu haben, und auch bei ihnen gibt es geplante Obsolenz (s. Kapitel »Schwarmintelligenz«); aber der Druck für neue Geräte kommt beileibe nicht nur aus dieser Richtung. Die Hersteller von Mikrocomputern haben uns erfolgreich eingeredet, dass man mit einem älteren Gerät nichts mehr anfangen kann. Zum Teil stimmt das sogar, und die Industrie tut alles, um eine Kompatibilität zu verhindern. Natürlich kann man mit einem alten Computer über Jahre Texte schreiben; aber ob das Format noch von allen Empfängern verstanden wird, steht auf einem anderen Blatt. Und selbst wenn die Abwärtskompatibilität gewährleistet ist, was ist, wenn etwas geändert und in einem neuen Format gespeichert wird? Wenn die Aufwärtskompatibilität nicht vorhanden ist, schaut der ursprüngliche Erzeuger des Dokuments in die Röhre bzw. auf das Display. In manchen Fällen sind Virtualisierungen und Simulationen eine Lösung; ich kann zum Beispiel unter dem neueren Windows 7 das ältere Windows XP simulieren. Auf diese Weise kann ich auch alte Druckertreiber installieren, wenn es neue für Windows 7 (noch) nicht gibt. Das ist aber aufwendig und umständlich, und der Laie mag sich an so etwas erst gar nicht wagen. Im Unternehmensbereich ist es noch viel schwieriger, sich dem Druck der Hersteller zu entziehen. Man muss die Releasewechsel mitmachen, weil die Verträge es vorsehen, weil man im Unternehmen kompatibel sein muss, weil man kompatibel mit anderen Unternehmen und Partnern und Kunden anderer Länder sein muss. Man stelle sich ein modernes Büro vor, in dem ein alter Computer vor sich hin werkelt. Kaum denkbar, und vielleicht auch nicht sinnvoll, wenn man an den Stromverbrauch oder andere Faktoren denkt. Und doch - für einige Aufgaben 150 Die Rache der Nerds wäre ein 486er noch heute ein passendes Gerät. Das führt zu einem anderen beachtenswerten Phänomen. Fast jeder Arbeitsplatz in einem Büro oder einer Hochschule ist mit einem Computer ausgestattet. Nicht mit einer besseren Schreibmaschine, sondern mit einem Hochleistungsgerät, mit dem man surfen, chatten, bloggen, twittern, Bilder bearbeiten, Videos hochladen, Musik abspielen, Spiele spielen und Profile pflegen kann. Jede Pause kann für private Zwecke genutzt werden, und auch ein Teil der Arbeitszeit verschwindet im Schlund des universalen Rechners. Was ist mit dem Effizienzgewinn, den man uns mit dem Einsatz der IT versprochen hat? Und was ist mit den Kolleginnen und Kollegen, die sich im Griff haben und ihre Leistung bringen? Es ist eine der außerordentlichsten Leistungen der IT-Industrie, die Unternehmen davon überzeugt zu haben, dass jeder Büromitarbeiter über eine völlig überdimensionierte Maschine verfügen muss. Man stelle sich vor, die Immobilienbranche könnte die Unternehmen davon überzeugen, dass jedem Mitarbeiter ein Schloss anstelle eines Büros zustehe. Man brauche ja Bewegungsfreiheit, und die Freiheit des Körpers sei die Freiheit der Gedanken. Die Hochleistungsrechner auf den Tischen der Sekretärinnen und der Manager und Managerinnen sind nichts anderes als Schlösser, manche in der Art von Charlottenburg, manche in der Art von Versailles. Und wer sich ein 2.000 bis 3.000 Euro teures Gerät genehmigt, macht nichts anderes, als sich sein persönliches Sanssouci zu bauen. Alternativen gäbe es durchaus, und das eine oder andere Unternehmen hat das erkannt. Man kann einen Mehrbenutzerbetrieb umsetzen und »dumme« Terminals an einen Server anschließen, der sie mit Anwendungen und Dateien versorgt (was allerdings wieder zu Szenarien des Cloud Computing führen kann). 34 Natürlich steht einem so nicht die Arbeitskraft der Mitarbeiter rund um die Uhr zur Verfügung; wenn sie heimgehen, 151 Cyborgs und Maschinenmenschen ist es so, als würde man die Nabelschnur durchtrennen, die sie mit dem Unternehmen verbindet. Zum Glück haben sie zu Hause private Rechner, mit denen sie weiterarbeiten können (oder sogar sollen, nach dem Motto »Bring your own device«), und mit Hilfe von speziellen Programmen wie VPN-Clients können sie doch auf die benötigten Daten zugreifen. Es wäre zynisch, diese Abhängigen mit Sklaven zu vergleichen. Aber wahrscheinlich gab es noch nie so viele Sklaven wie heute, was auch mit der Masse von Menschen zu tun hat. Und wahrscheinlich gab es noch nie so viele Abhängige, permanent Verfügbare, bis zum letzten Rest Auslutschbare seit der industriellen Revolution. Abhängigkeiten stellt man auch her, indem man sich als Unternehmen auf Soft- oder Hardware eines einzigen Unternehmens verlässt. Sicherlich sind damit auch Vorteile verbunden, etwa bezüglich Schulung und Wartung. Aber was ist, wenn das Unternehmen vom Markt verschwindet? Und was ist, wenn es nicht verschwindet, sondern im Gegenteil mächtig wird und den Druck ständig erhöht? Als Privatperson stellt man Abhängigkeiten her, wenn man sich auf eine einzige Kommunikationsplattform verlässt, auf einen E-Mail-Anbieter, auf ein Social Network. Wenn man einen einzigen Kanal benutzt, hat man ein Problem, wenn dieser Kanal verstopft, oder wenn er entfernt wird aus der verwirrend vielfältigen Infrastruktur der modernen Zeit. Es gilt, Risiken abzuwägen. Das Risiko, dass einem der E- Mail-Account bei einem etablierten Anbieter geschlossen wird, ist relativ gering, das Risiko, dass einem das Profil bei einem Social Network gelöscht wird, relativ groß. Trotzdem verhalten sich Millionen so, als gäbe es in Zukunft nur noch Facebook. Cyborgs und Maschinenmenschen In den Höhlen, in denen Frühmenschen gelebt haben, halte ich die Augen offen und studiere die Zeichnungen und die Male- 152 Die Rache der Nerds reien genau. Ich habe viel Faszinierendes gefunden, aber noch nicht das, wonach ich suche. Ich habe Zeichnungen von Tieren gesehen und Abdrücke von Händen, denen Finger fehlten. Das Leben war hart in der Eis-, Stein- und Bronzezeit, und schnell wurden Glieder abgetrennt, unabsichtlich oder absichtlich. Ich habe viel gesehen in den Höhlen Europas und Afrikas. Aber noch keine einzige künstliche Kreatur. Dabei ist die Idee der künstlichen Kreatur so alt. Vielleicht so alt wie der Traum vom Fliegen. Die Ideengeschichte lässt sich spätestens seit Homer und Ovid verfolgen. Einer der großen Erfinder war Hephaistos, der hinkende Gott der Schmiede und des Feuers. Die goldenen Dienerinnen, künstliche Jungfrauen, von ihm geschmiedet, stützten ihn. Die eine oder andere war ihm wohl auch zu Diensten, wenn seine Frau Aphrodite anderweitig beschäftigt war, etwa mit dem Speer des Ares. Seine zwanzig automatischen Dreifüße bedienten die Götter bei ihren Gelagen, brachten ihnen Speis und Trank. Talos, der riesige Wächter von Kreta, sein Meisterstück, warf Steine auf Eindringlinge, die er vorher heransegeln oder -rudern sah. Wenn ihm danach zumute war, wurde er glühend heiß und drückte seine Opfer gegen seinen zum Grill gewordenen Leib. Sie fielen geröstet von ihm ab und blieben zur Abschreckung auf dem Boden liegen. Möglicherweise ist aber nicht Talos, sondern Pandora, die schönste Frau der Welt, sein Meisterstück. Hephaistos war nicht für alles verantwortlich an ihr, für die Schönheit schon, aber nicht für ihre Dummheit, Böswilligkeit und Faulheit, das war Zeus, der sie in Auftrag gegeben hatte und dem Bruder des Prometheus zukommen lassen wollte, um auch ihn unglücklich zu machen. Sie öffnete ein Kästchen, in das Prometheus alle Übel der Menschheit eingesperrt hatte. Viele andere Erfinder gab es, und in den tausenden Jahren hunderte von künstlichen Kreaturen, auf die das unvergessliche Wort von Ovid zutraf: »Dass es nur Kunst war, verdeckte die Kunst.« 35 153 Cyborgs und Maschinenmenschen Spätestens im 18. Jahrhundert ist aus der Ideeneine Entwicklungsgeschichte geworden. Und heute treffen wir Avatare, Agenten und Roboter an. Und Drohnen, die fliegenden Roboter und tötenden Maschinen. Avatare und Agenten können, müssen aber nicht zwei Seiten einer Medaille sein. Für das Lexikon der Wirtschaftsinformatik von Mertens und Co hatte ich den Begriff des Avatars im Jahre 2001 wie folgt definiert: Der Begriff Avatar stammt aus dem Sanskrit und bezeichnet dort die Gestalt, in der sich ein (hinduistischer) Gott auf der Erde bewegt. Im Computerbereich hat sich der Begriff durchgesetzt für grafisch, teils dreidimensional realisierte virtuelle Repräsentationen von realen Personen oder Figuren. Avatare finden zum einen Verwendung in kollaborativ genutzten virtuellen Räumen wie Chats, Internet-Spielwelten, webbasierten Lern- und Arbeitsumgebungen und kommerziellen 3D- Anwendungen ... Sie fungieren dort als sichtbare und teils auch bewegliche und manipulierbare Stellvertreter eines Benutzers. Avatare dieser Art können ein menschliches Aussehen haben, aber auch jede beliebige andere Gestalt und Form. Als Stellvertreter realer Personen haben sie kaum autonome Züge. Avatare können zum anderen eine beliebige Figur mit bestimmten Funktionen repräsentieren. Solche Avatare treten - beispielsweise als Kundenberater und Nachrichtensprecher - im Internet auf oder bevölkern als Spielpartner und -gegner die Abenteuerwelten von Computerspielen. Sie haben häufig ein anthropomorphes Äußeres und eigenständige Verhaltensweisen oder sogar regelrechte Charaktere ... 36 Die Definition scheint immer noch gültig zu sein, wobei man sie mit neuen Beispielen ergänzen könnte, mit neuen Figuren, von denen manche schon wieder Veteranen sind. Agenten sind Computerprogramme, die in Anwendungs- oder Informationssystemen bzw. in Netzwerken mehr oder weniger autonom und zielorientiert agieren. Die Programme sind meistens für den Benutzer unsichtbar und in ihrer Funktion unauffällig. Sie sammeln und aggregieren z.B. Daten in Datenbanken. In einigen Fällen reichen sie, wie die Bots der Suchmaschinen, Informationen an Benutzer weiter oder assistieren diesen bei Anforderungen und Aufgaben. Richtig interessant im vorliegenden Kontext werden sie erst, wenn sie sich mit Avata- 154 Die Rache der Nerds ren zusammentun, wenn sie ein Gesicht erhalten, einen Körper, mimische und gestische Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten haben Avatare oft, aber was sie nicht haben, nicht aus sich heraus, ist die Intelligenz. Die künstliche Intelligenz der Agenten macht Avatare erst lebendig, genauso wie das Sichtbare die Agenten erst lebendig macht. Zusammen sind sie die künstliche Kreatur. Vielleicht sind sie auch jeweils für sich künstliche Kreaturen, das hängt vom Begriff ab, aber zusammen sind sie auf jeden Fall das, womit wir uns mindestens 2.500 Jahre lang beschäftigt haben, reflektierend und produzierend. Nicht immer muss das ganze Wesen künstlich sein; für manche Belange reicht es, wenn es ein Teil davon ist. Prothesen sind so alt wie die Menschheit, Herzschrittmacher gibt es seit einigen Jahren. Neu ist, dass auch spezielle Informations- und Kommunikationstechnologien ihren Weg in den Körper finden. Vielleicht können bald Blinde wieder sehen, ganz ohne Wunder, und vielleicht können schwere Hirnschäden teilweise ausgeglichen werden. Zugleich sind Manipulationen des Gehirns zu befürchten, und indem die Technologien ein Teil von uns werden, sind sie weniger gut zu kontrollieren und zu steuern. Oder ist etwa das Gegenteil der Fall? Die elektronische Fußfessel ist ein Vorbote für weitere Anwendungen in diesem Bereich, die elektronische Handfessel, die in der Schweiz an Alten und Dementen ausprobiert wird, eine Art Big-Brother-Swatch, und die ersten erfolgreichen Hacks von Herzschrittmachern. Der Energetically Autonomous Tactical Robot (EATR) gewinnt seine Energie für Antrieb, Fortbewegung und Bewegung dadurch, dass er isst oder frisst. 37 Er ist ein Allesfresser in dem Sinne, dass er alles fressen kann, zumindest alles, was er zu verwerten imstande ist. Ein naturalistischer Fehlschluss wäre es, wenn man daraus ableiten würde, dass er tatsächlich alles zu sich nimmt. In Bezug auf Menschen ist dieser Fehlschluss bei Fleischfressern beliebt. Sie denken, dass sie alles essen können 155 Cyborgs und Maschinenmenschen und deshalb alles essen müssen, und vergessen dabei, dass sie ein Gehirn haben, mit dem sie entscheiden könnten, wenn sie wollten. Wie es um das Gehirn des EATR bestellt ist, ist nicht im Detail bekannt. Allerdings hat sein Schöpfer ein Gehirn, und dieses beeilte sich vor einiger Zeit, sich eine Marketingoffensive auszudenken, um denjenigen Menschen, die wieder einem naturalistischen Fehlschluss aufgesessen sind, unmissverständlich klarzumachen, dass sein Geschöpf zwar alles essen kann, was es will, dass es aber nicht alles essen will, weil er (der Besitzer des Gehirns) es nicht will, nicht wollen will. ( à -QR-Info- 63) Mit anderen (und in etwa seinen) Worten: Der EATR ist ein Vegetarier, ein HERBAGE-EATR, wie die Griechen vielleicht sagen würden. Er frisst, um genauer zu sein, weder Tiere noch Menschen (oder wie seine Erfinder versicherten: »This robot is strictly vegetarian.«). Als Kampfroboter hätte er beispielsweise Leichen auf dem Schlachtfeld verspeisen können. Er hätte auch Menschen töten und verspeisen können, um ein bisschen Energie zu gewinnen. Solche unappetitlichen Vorstellungen führten bei Menschen, die naturalistischen Fehlschlüssen erliegen, also tendenziell bei Fleischfressern, zu Brechreizen in den muskelgewöhnten Speisewegen. Nicht nur, dass uns Roboter die Tiere wegessen könnten; jetzt essen sie auch noch diejenigen weg, die ihnen die Tiere wegessen wollen. Vegetarier weisen gerne darauf hin, dass Tiere die Pflanzen wegessen, die sie essen wollen, ohne sie den Tieren wegessen zu wollen. Genau darauf könnten nun Roboter der Art des EATR hinweisen und sich nicht nur als Tier-, sondern auch als Menschenfreunde aus eigenem Antrieb entpuppen. Die von Peter Mertens vor längerer Zeit beschworene Vollautomation schreitet unaufhaltsam voran. Immer häufiger finden wir Maschinen vor und müssen uns an diese anpassen. Nicht wir bedienen die Maschinen, die Maschinen bedienen uns. Dabei haben wir diese ursprünglich nicht nur zur Optimierung 156 Die Rache der Nerds von Prozessen, sondern auch zur Erleichterung unserer eigenen, menschlichen Arbeit erschaffen. Mertens hatte übrigens, um genau zu sein, eine »sinnhafte Vollautomation« 38 gefordert, als Ziel der Wirtschaftsinformatik. Das Sinnhafte wäre heute nicht nur im Einzelfall, sondern auch im Zusammenhang zu überprüfen, und einige Beispiele für sinnlose Automatismen wurden schon genannt (s. Kapitel »Automatismen und Manipulationen«). ( à - QR-Info- 64) Das »Mensch-folgt-Maschine«- Prinzip kann man in allen möglichen Gebieten entdecken, im Alltag und im Berufsleben. Wir verändern unsere Prozesse, unsere Kommunikation, unsere Begriffe. Wenn die Maschine etwas nicht kann oder will, müssen wir uns ihr andienen. Sollte es nicht eigentlich umgekehrt sein? Ein Beispiel sind die virtuellen Berater auf Websites. Ich räume ein, dass ich oft Spaß mit diesen hatte. Mit Leo, dem Barkeeper auf der Schweppes-Seite, konnte man sich blendend unterhalten, bis er auf dem Avatar-Friedhof beerdigt wurde, und Stefanie von der Bundeswehr war immer zum Schießen, vor allem wenn man sie mit gemeinen Sprüchen wie »Ich will töten! « konfrontiert hat. Aber schon bei Cor@, der futuristischen Beraterin auf der Website der Deutschen Bank, war ich skeptisch geworden, und nicht nur, weil ich zu dieser Zeit schlechte Erfahrungen mit dem Finanzdienstleister machte (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes«). Cor@ beriet um die Jahrtausendwende zahlungskräftige Kunden und hatte intime Kenntnisse des Golfsports. Das ging viele Monate lang so, und man hatte sich fast an sie gewöhnt. Plötzlich war sie weg; potente Business Men wollen sich nicht mit einem personifizierten System, sondern mit einem persönlichen Berater unterhalten. Zudem möchten sie nicht ein System mit Fragen füttern, die womöglich nicht in eine legale Richtung zielen. Hey, Cor@, ich habe fünf Millionen aus meinem Handel mit Organen übrig; wie soll ich die am besten anlegen? Für solche Fragen sucht man 157 Cyborgs und Maschinenmenschen sich lieber, gerade in diesen wilden Zeiten, einen schweigsamen Berater einer Schweizer oder Luxemburger Bank - und keine phänotypisch reizvolle Benutzerschnittstelle. Virtuelle Berater auf Websites können durchaus eine Hilfe sein. Es ist angenehm, sich in natürlicher Sprache zu unterhalten. Und es ist beeindruckend, wenn die Avatare für den Benutzer die richtige Seite aufrufen und er nicht die Suchfunktionen benutzen oder sich zur richtigen Stelle durchklicken muss. Aber nicht so angenehm ist es, wenn sie einen nicht verstehen und man die Frage in anderer Form zu wiederholen hat. Anna von Ikea versteht nicht, wenn man sie fragt, wann es die nächste Rabattaktion gibt. Sie gibt zur Auskunft: »Mmh, lassen Sie mich überlegen ... also spätestens ... aber andererseits ... obwohl, wenn ich ehrlich bin: Keine Ahnung! « Eine echte Ikea-Verkäuferin würde vielleicht ebenso wenig eine Antwort wissen; aber sie würde es etwas geschickter formulieren - oder behaupten, dass die Preise in dem Laden immer niedrig seien. Wir müssen uns nicht an die Verkäuferinnen dieser Welt anpassen, zumindest nicht sehr, wohl aber an die Annas der anderen Welt. Interessant ist, dass man von Anna, wie im obigen Beispiel, jahrelang gesiezt wurde. Irgendwann rutschte sie auf der Website herunter und stellte ihre Anrede um. Ikea ist ja die Firma, die das Duzen salonfähig gemacht hat, auch in Ländern, in denen man sich schwer damit tut. In der Schweiz ist man schnell beim Du, in Deutschland langsam, Kneipen und Bordelle ausgenommen. Wobei sich die BRD in dieser Hinsicht verändert, zumal alle davon zu profitieren scheinen. Man ist über 40 und darf sich nochmals jung fühlen, man ist unter 20 und fühlt sich nicht mehr so jung, weil alle geduzt werden. Einmal bekam ich einen Brief von einem Unternehmen, in dem ich geduzt wurde, und weil ich gerade Lust dazu hatte, beschwerte ich mich. Die Erklärung war, dass man wie Ikea die Kunden auf eine persönliche Weise ansprechen wolle. Wie gut, dass wir uns noch nicht von 158 Die Rache der Nerds allen duzen lassen müssen, und wie gut, dass wir uns Firmen gegenüber verwahren können. Facebook und andere Nerdfirmen ausgenommen … Natürlich duzen einen auch die realen Mitarbeiter von Ikea nicht. Zumindest nicht in den deutschsprachigen Ländern. Doch zurück zu den künstlichen Wesen. Manchen Benutzern genügen die einfachen und durchschaubaren Reize der Avatare, um ein erstaunliches Balzverhalten an den Tag zu legen. Sie machen den Annas und Cor@s Komplimente, fragen sie, wie alt sie und ob sie noch zu haben sind. Sie fordern sie auf, sich auszuziehen. Die Nachfolgerinnen der Pandora sind gut auf solche Annäherungen vorbereitet. Ihre Antworten sind korrekt und witzig. Das Alter spiele bei ihnen keine Rolle. Sie seien mit ihrem Beruf verheiratet etc. Und wenn sie sich ausziehen, sieht man ihr metallenes Skelett - oder die pikante Szene verschwindet in virtueller Unschärfe. Und nach einer Weile versuchen sie, das Interesse der Benutzer auf die Produkte zu lenken. So, wie sie ausweichen müssen, wenn sie überfragt sind, können sie auf den Punkt kommen, wenn zu viel Zeit verstrichen oder zu viel an Neckerei vorhanden ist. ( à -QR-Info-65) Manch ein Abschiedsgruß - »Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen! « - zeigt, dass die Avatare sogar ein »Gefühl« für die Zeit haben können. Ein Gefühl, das so echt ist wie die Emotionen von Commander Data vom Raumschiff Enterprise; bei ihm ist es ein Chip, der ihn zeitweise menschlicher zu machen scheint, bei den Avataren die Kommunikation mit der Uhr des Computers. Im Jahre 2003, als ich bei einem Fraunhofer-Institut im Ruhrgebiet arbeitete, bei einem richtigen, nicht einem Möchtegern wie ein paar Jahre zuvor (s. Kapitel »Die geheimnisvolle Agentur«), hatte ich die Idee, die Handys der Kids in Wohnungen von Avataren umzuwandeln. Ich kannte mich einigermaßen mit Avataren und Agenten aus, da ich über anthropomorphe 159 Cyborgs und Maschinenmenschen Agenten promoviert hatte, und ein Kollege von mir hatte Lust, die technischen Details auszuarbeiten. In einem gemeinsamen Artikel, der 2004 in einer Schweizer IT-Zeitschrift veröffentlicht wurde, stellten wir unsere Ideen und Konzepte vor. 39 In einer Abbildung war ich selbst zum Avatar geworden, und eine Sprechblase deutete mein Sprachvermögen an. Die Grundidee war, dass einem die personalisierten Avatare mit einer Nachricht zugestellt wurden und dann auf dem eigenen Handy verfügbar waren. Immer wenn Nelli eine SMS an Liza schickt, liest der Nelli-Avatar Liza die Nachricht vor; oder Liza liest die Nachricht in einer Sprechblase des Nelli-Avatars. Nelli und Liza sind, ganz am Rande, Figuren aus zwei verschiedenen Romanen von mir, und sie hätten es nicht leicht, sich eine Nachricht zukommen zu lassen, außer wenn ich mir als Autor einen erzählerischen Trick ausdenken würde. Wir hatten uns von Tamagotchis inspirieren lassen und von einschlägigen Arbeiten und Entwicklungen der Amerikaner. Im Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten wurden beträchtliche Mengen in die Entwicklung und Erforschung von künstlichen Kreaturen gepumpt, vor allem vom so genannten Verteidigungsministerium. Ersatzmenschen und -tiere sind ein beliebtes Anwendungsgebiet des Militärs, obwohl sie nicht so schön bluten können wie echte. Auch die neueren Handyapplikationen von Siemens hatten uns inspiriert; eine Comicfigur fungierte bereits ansatzweise in der Weise, wie wir uns das vorgestellt hatten. Aber sie war ohne Zweifel zu grün, zu tierisch und zu albern. Ich ging auf die Website des Unternehmens, schaute mir den Aufbau der E-Mail-Adressen an und schrieb Klaus Kleinfeld, der bald Heinrich von Pierer ablösen (und später über eine Affäre stürzen) sollte, eine Nachricht. Es ist unglaublich, aber die Nachricht kam an, sie wurde von KK (wie er von manchen genannt wurde) gelesen, und er schrieb postwendend zurück und flog uns einen Mitarbeiter ein. 160 Die Rache der Nerds Mit dem Mitarbeiter diskutierten wir die Umsetzung und den Einsatz von Handyavataren. Wir erklärten ihm, wie wir die zuweilen spezielle Sprache von SMS nutzen wollten. Der Avatar sollte Smileys umsetzen können. Wenn in der SMS ein zwinkerndes Smiley vorkommen würde, würde er selbst zwinkern. Wenn eine ASCII-Art-Rose vorhanden wäre, würde er dem Benutzer eine Rose überreichen, vielleicht eine echt wirkende, mit Blütenblättern und Dornen. Zudem wollten wir Morphingfunktionen einbauen. Nelli sollte sich ein Stück weit in Angelina Jolie oder Hannah Montana - gab es die damals schon? Nelli gab es noch nicht - verwandeln können. Sie sollte sozusagen eine Brise eines Idols herunterladen können, wie einen Klingelton, ein Logo oder ein Video. Und diese Brise über sich selbst streuen. Ihr Avatar würde plötzlich vollere Lippen oder größere Augen haben - oder das Gegenteil, je nach Geschmack. Der Mitarbeiter war begeistert; manches hatte Siemens schon umgesetzt oder geplant, manches war neu und cool. Wir selbst waren fasziniert davon, etwas für den Endkundenmarkt entwickeln zu können. Und so begannen wir zu träumen, von Millionen Benutzern und Millionen Euro. Und einem Spin-off, das wir in diesem Fall gründen mussten. Ein paar Wochen später war der Traum ausgeträumt. Siemens verkaufte seine Handysparte. Unsere Ideen waren nicht mehr von Interesse für das Unternehmen. Handyavatare faszinieren mich bis heute. Eine Figur eines Handyromans von mir heißt Handygirl. Handygirl ist ein Avatar und lebt auf dem Handy von Liza, von der Liza, die oben genannt wurde. Sie liest die SMS vor und ist ein bisschen eifersüchtig, wenn Liza chattet. Liza ist 14 und mit der gleichaltrigen Kathi befreundet. Kathi hat schon einige Erfahrungen mit Jungs gesammelt, Liza ist ein fast unbeschriebenes Blatt. Niemand ahnt, dass Handygirl eines Tages zur Superheldin wird. Am wenigsten sie selbst. Handygirl kann viel mehr, als ein echter Handyavatar jemals können wird. Und ist viel interessanter 161 Das gläserne Produkt als eine solche natürlichsprachliche und menschenähnliche Schnittstelle auf dem mobilen Gerät. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee wäre, Handygirl als funktionsfähigen Avatar auf den Markt zu bringen. Die Mädchen würden ihr Handy vielleicht schütteln, damit Handygirl aus dem Handy steigt und zur Superheldin wird. Aber alles, was der Avatar könnte, wäre Pixel ins Gehäuse zu kotzen. An diesem Thema sehe ich mein eigenes Dilemma, das Widersprüchliche in mir. Die Maschinen faszinieren mich, und zwar so sehr, dass ich bereit bin, mit an ihnen zu bauen, soweit mir das möglich ist, und sogar ein menschliches Gesicht zu fordern. Der Nerd in mir huldigt dem Hephaistos. Er will wie er die Welt mit seinen künstlichen Kreaturen bevölkern. Der Antinerd in mir ärgert sich darüber, wenn diese den Ton angeben, selbst wenn sie stumm bleiben, wenn wir sie ernst nehmen müssen mit ihrem schiefen Grinsen und ihren ungelenken Bewegungen und wir uns mehr an sie anpassen müssen, als uns lieb sein kann. Er lacht über den Hephaistos, sogar über die goldenen Dienerinnen, diese personifizierten Krücken, diese metallgewordenen Altgötterphantasien, diese roboterhaften Vorboten einer entmenschlichten Zeit. Das gläserne Produkt In meiner kurzen Zeit am Fraunhofer-Institut hatte ich noch eine andere Idee. Als Vegetarier wusste ich, wie lästig es ist, auf Lebensmittelverpackungen die Inhaltsstoffe zu studieren und zu analysieren (s. Kapitel »Die Moral der Informationsgesellschaft« und »Cyborgs und Maschinenmenschen«). Man musste wissen, was die E-Nummern bedeuteten, oder ein Büchlein bei sich tragen, das beim Entschlüsseln half. Am Ende war einem vielleicht immer noch nicht klar, ob man das Brot essen oder die Limonade trinken durfte. Beispielsweise wird dem Verbraucher in der 162 Die Rache der Nerds Regel nicht mitgeteilt, ob die Mono- und Diglyceride oder die Farbstoffe pflanzlicher oder tierischer Herkunft sind. Ob aber etwas aus einem Sellerie- oder einem Schweinskopf stammt, ist für einen Vegetarier durchaus von Relevanz, von einem Veganer ganz zu schweigen. Gläserne Kunden gab es zu diesem Zeitpunkt schon mehr als genug, gläserne Produkte dagegen viel zu wenig. Das Szenario, das ich entwickelte, war folgendes: Der Kunde interessiert sich im Tanta-Emma-Laden oder im Supermarkt für ein bestimmtes Produkt. Er scannt mit dem Handy eine ID auf der Verpackung ein. Die ID wird mit einem persönlichen Profil gematcht, das auf dem Handy oder einem Server liegt. Auf dem Display wird eine Empfehlung angezeigt, etwa mithilfe eines Ampelsystems. Der Kunde weiß sofort, ob sich das Produkt für ihn eignet (grün) oder nicht (rot). Oder ob er sich anderweitig informieren sollte (gelb). Neben Vegetariern stellte ich mir Allergiker und Diabetiker als Zielgruppen vor. Auch für Leute, die beim Einkaufen ökologische oder ökonomische Faktoren einbeziehen, könnte ein Profil angefertigt werden, oder für Juden, Moslems und Hindus mit ihren unterschiedlichen religiösen Vorschriften. Wir sahen die Chancen, aber auch die Risiken. Das Profil würde Angaben zu Vorlieben und Krankheiten enthalten. Was wäre, wenn das Handy in falsche Hände käme? Wenn die Daten auf dem Server gestohlen würden? Die Krankenkassen und andere Dienstleister lieben solche Daten (s. Kapitel »Der gläserne Patient«). Es wäre wichtig, diese mindestens so gut zu sichern wie Daten beim Online-Banking. Wir machten uns übrigens auch Gedanken darüber, von wem das Profil zu erstellen wäre, vom Betroffenen selbst, von seinem Arzt, von weiteren Experten, die jeweils ein Sicherheitsrisiko bedeuten könnten. Eine weitere Herausforderung war die Beschreibung des Produkts. Es genügte eben nicht, die Inhaltsstoffe zu kennen, sondern man musste etwas über ihre Herkunft und Herstellung 163 Das gläserne Produkt wissen. Die Angaben hierfür mochten vom Produzenten, vom Zulieferer oder von neutralen Stellen stammen. Die Lebensmittelindustrie hat ein eher geringes Interesse, ihre Produktion transparent zu machen, außer wenn dies zu Wettbewerbsvorteilen führt. Zunächst aber sind bewusste Verbraucher eher abgeschreckt, wenn sie erfahren, was in gewissen Produkten enthalten ist bzw. wie diese entstanden sind. Für mich persönlich blieb es beim Szenario und bei einem Treffen mit einem Mitarbeiter von Greenpeace. Die Umweltorganisation hatte bis dato wertvolle Arbeit beim Aufbau von Produktdatenbanken geleistet. Ferner kam ein Gespräch mit Coop in Basel zustande, das aber in keine weitere Aktivität mündete, obwohl die beiden Ansprechpartnerinnen Interesse gezeigt hatten. Nach meinem Weggang habe ich nicht mehr verfolgt, was das Institut aus meiner Idee machte. Ein Kollege war an dem Projekt beteiligt gewesen, das wir innerhalb eines vom BMBF finanzierten Großprojekts durchführten, und womöglich dachte und entwickelte er die Sache weiter. 40 Jahre später jedenfalls entdeckte die ETH Zürich das Thema, und ich war erstaunt, über das Projekt in den Medien und auf der Website der Hochschule zu lesen, ohne dass auf unsere Anstrengungen Bezug genommen wurde. Heute würde ich Zertifikaten und Labels den Vorzug geben, und tatsächlich sind diese in manchen Bereichen zu finden. Sie können freilich zu Frustration und Verunsicherung beim Kunden führen. Coop ließ ein Vegi-Symbol auf Produkten aufbringen, leider nicht auf allen, die vegetarisch waren. Wenn ich mich an ein Label gewöhne und diesem vertraue, bevorzuge ich damit ausgezeichnete Produkte und vermeide die übrigen. Übrigens gab es auch Produkte, bei denen das Symbol nach einiger Zeit wieder entfernt wurde - man fragt sich dann als Vegetarier, was man da die ganze Zeit gegessen bzw. getrunken hat. Natürlich kann auch eine Umstellung der Produktion der Grund sein und 164 Die Rache der Nerds nicht der Umstand, dass man ungeeignete Inhaltsstoffe nachgewiesen hat. Immerhin ist ein seriöses Vegi-Label besser als gar kein oder ein irrelevantes Label. Im Sommer 2011 hatte ich mich im rollenden Restaurant der Schweizerischen Bundesbahnen geärgert. In der Speisekarte stellte sich ein Fernsehkoch namens Studer vor, und einzelne Gerichte trugen das »Studi«-Label. Das bedeutete nicht, dass sie - weil für Studis geeignet - besonders billig waren, sondern dass sie von einem Mann gekocht bzw. verantwortet wurden, der sich aus irgendwelchen Gründen im fortgeschrittenen Alter wie ein Kind rufen ließ. Ich schrieb einen bösen Blogpost, einen offenen Brief an »SBB Restaurant«, und beschwerte mich darin, dass dieses Label in der Speisekarte zu finden war, aber kein Vegi-Label und kein einziger Hinweis auf die Inhaltsstoffe. Die SBB sind ein Unternehmen, das internationale Fahrgäste mit unterschiedlichen Lebens- und Essgewohnheiten durch die Gegend chauffiert, und sie taten nach meiner Meinung gut daran, diesem Umstand Rechnung zu tragen. Bereits nach einigen Stunden kommentierte der Medienchef der SBB meinen Beitrag und versprach, mein Anliegen weiterzuleiten. Als ich Anfang 2012 wieder im Zugrestaurant saß, staunte ich nicht schlecht. In den neuen Karten wies ein Label auf ovolacto-vegetarische Speisen hin. Schon davor, nach einem Dioxin-Skandal in Deutschland, hatte mich das Thema wieder beschäftigt. Ich veröffentlichte in meinem Blog folgenden Beitrag: In diesen Tagen wird die Berichterstattung vom sogenannten Dioxin- Skandal beherrscht, der mit Lebensmitteln tierischer Herkunft zusammenhängt und bald wieder vergessen sein wird. Der Futtermittelhersteller Harles und Jentzsch aus Schleswig-Holstein hat »technische Fette« verarbeitet, die eigentlich »nicht in die Nahrungskette gelangen dürfen« (Spiegel Online vom 4. Januar 2011). Der Geschäftsführer wird im »Westfalen-Blatt« vom 4. Januar 2011 mit den Worten zitiert: »Wir waren leichtfertig [in] der irrigen Annahme, dass die Mischfettsäure, die bei der Herstellung von Biodiesel aus Palm-, Soja- und Rapsöl anfällt, für die Futtermittelherstellung geeignet ist.« 165 Das gläserne Produkt Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, die Verwendung von anderen Fettsäuren einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Zahlreiche Lebensmittel wie Backwaren und Süssigkeiten enthalten Inhaltsstoffe, die aus Fetten gewonnen werden. Beispiele sind die Salze der Speisefettsäuren (E 470) - gängige Emulgatoren, Stabilisatoren, Trennmittel und Überzugsmittel - und die Mono- und Diglyceride von Speisefettsäuren (E 471), die als Emulgatoren eingesetzt werden; als solche treten die Zusatzstoffe übrigens gerne im Doppelpack auf. Der Verbraucher weiss in der Regel nicht, woher die Salze und Glyceride stammen, ob sie z.B. pflanzlicher oder tierischer Herkunft sind. Die europäischen Verordnungen erlauben es, ihn im Ungewissen zu lassen. Nicht einmal der Produzent des Endprodukts weiss zwangsläufig Bescheid. Nur wenn er ein entsprechendes Label vergeben will, muss er sich über die Herstellung des Vorprodukts informieren. Theoretisch ist es sogar möglich, dass menschliche Fette verwendet werden. Es ist manchen noch gut in Erinnerung, dass in Berlin menschliche Embryonen in Strassenbeläge eingearbeitet wurden - nicht in den 30er- oder 40er-, sondern in den 1990er-Jahren. Ein Problem ist die Intransparenz für Vegetarier und Veganer, aber auch für Moslems und Juden. Und für alle Menschen, die wissen wollen, was sie essen. Es ist ein Skandal, dass dem Verbraucher diese Angaben vorenthalten werden. Selbst wenn die Fettsäuren unbedenklich sein sollten - sich etwas in den Mund zu stecken, dessen Herkunft man nicht kennt, ist entweder ziemlich mutig oder einfach dumm. Reagiert hat die Industrie allenfalls bei Stoffen, die Allergien auszulösen vermögen, etwa Erdnüssen. Was Fette angeht, verbreitet sie keine Informationen, sondern Nebel. Dieser Skandal besteht seit Jahrzehnten, aber solange keine physischen Schädigungen oder Todesfälle auftreten, werden sich die Medien kaum dafür interessieren. Die Europäische Union muss den Produzenten vorschreiben, die Herkunft der Inhaltsstoffe zu deklarieren. Sie muss es den Mitgliedern der angeführten Gruppen erleichtern, sich nach ihren Vorstellungen zu ernähren; als Vegetarier und Veganer ist man derzeit dazu gezwungen, einen Teil der Lebensmittel wegzulassen. Ein Ansatz sind auch Vegi- Labels, die eine Transparenz der Produktion voraussetzen. Eines Tages müssen die Konzerne vielleicht die eine oder andere Verpackung mit dem Hinweis versehen: »Kann Spuren von Menschen enthalten.« 41 Für Fleischesser ist die Vorstellung, dass Menschenfleisch in ihrem Kebab sein könnte, nicht besonders angenehm. Dabei kommt so etwas immer wieder vor. Der Spiegel berichtete über einen Fall, der sich 2009 ereignete. 42 Ich habe mir diesen Exkurs erlaubt, um deutlich zu machen, dass es in diesem Bereich 166 Die Rache der Nerds erhebliche Informationsdefizite gibt. Alle sind dazu aufgerufen, das Potenzial neuer Informations- und Kommunikationstechnologien erneut zu erkunden und zu erforschen. Bis heute denke ich über »informationslogistische Optimierungsmöglichkeiten« nach. Anfang 2010 hatte ich einen Gedichtband herausgebracht, der mit QR-Codes angereichert war. Jedes Haiku aus »handyhaiku« konnte man auf das Handy übertragen und weitersenden. QR-Codes waren zu meiner Leidenschaft geworden, zunächst in der Kunst, nicht im Sinne der Optimierung, sondern des Experiments. Im Jahre 2011 habe ich mit Kolleginnen und Kollegen meiner Hochschule Szenarien mit QR-Codes entwickelt. Die Codes waren wie Fenster in den Produkten, durch die man schauen konnte. Man erfuhr etwas über die Produktionsbedingungen, den Ort, an dem das Produkt entstand, die Menschen dahinter. Mit Hilfe von QR-Codes konnte man Geschichten erzählen, spannende Geschichten, die der Kunde auf sein Handy lud und mit sich herumtrug. Eine informationelle Veredelung, wenn man so will, und eine Verlinkung von realen Produkten mit virtuellen Informationen und Angeboten. Eine ganz besondere, menschenfreundliche Art der Optimierung. Mit QR-Codes, denen man vertrauen könnte, die vielleicht ein Label tragen würden. Wir versuchten wieder Coop für die Idee zu gewinnen, scheiterten aber schon daran, dass man im Unternehmen - ausgerechnet bei der IT-Abteilung - falsch über diese mobilen Anwendungen informiert war. Dann interessierten wir Bio Suisse für das Thema. Aber ausgerechnet an meinem Part, der Sicherheit von QR-Codes, war man nicht interessiert. 167 Der gläserne Patient Der gläserne Patient Die elektronische Patientenakte ist ein alter Traum von Unternehmen und Krankenkassen. Und von Patienten. Bei jedem Arztwechsel müssen wir unsere (Krankheits-)Geschichte neu erzählen. Der Arzt nimmt unnötige Tests und Untersuchungen vor; manche davon können unserer Gesundheit schaden. Die elektronische Patientenakte kann persönliche Patientendaten mitsamt den Diagnosen, Empfehlungen und einer Liste mit unverträglichen Medikamenten speichern. Sie ist eine mindestens 15 Jahre alte Vision, ohne dass sie bisher flächendeckend umgesetzt werden konnte. Auch Google war mit Google Health bis 2012 in diesem Markt aktiv. Was passiert, wenn die Akte gehackt wird und die Daten für Dritte einsehbar werden? Und was fangen die involvierten Unternehmen und Krankenhäuser bzw. Arztpraxen mit den Daten an? Tatsache ist, dass die Krankenkassen sehr interessiert an den Daten ihrer jetzigen und zukünftigen Kundinnen und Kunden sind. In den USA haben sie bereits Facebook-Profile ausgewertet, um Risikopatienten ausfindig zu machen. Ben, der zum zehnten Mal eine Diät versucht hat. Rahel, die das ganze Foto ausfüllt. Die Profile erzählen etwas über Gesundheit und Krankheit der Benutzer, über ihre Präsenz und ihre Absenz. Man kann zu richtigen Erkenntnissen kommen und - nicht weniger gefährlich - zu falschen. Manche Krankenkassen und Versicherungen befreunden sich sogar mit Benutzern (oder folgen ihnen auf Twitter). Auf diese Weise werden ihre Interessen immerhin offenbar. Die Erkenntnisse werden kombiniert mit dem wissenschaftlich unhaltbaren Body Mass Index, den man eigentlich Bullshit Mass Index nennen müsste, oder mit der neuerdings populären Angabe des Bauchumfangs. Und schon kann man die Kundinnen und Kunden von bestimmten Versicherungsfällen ausnehmen oder ihre Prämien erhöhen. Es 168 Die Rache der Nerds wäre für die Krankenkassen ideal, das Gewicht direkt aus einer Akte zu erfahren, aus einer scheinbar unzweifelhaften Quelle; sie könnten mit dieser Information potenzielle Kunden abwimmeln oder Angaben von Kunden überprüfen. Insgesamt sind Krankenkassen interessiert an lückenlosen Beschreibungen, um die Risiken für sich zu minimieren. Auch Unternehmen sind sehr interessiert an den Daten. Nicht nur die Werbefirmen und Datenhändler. Auch die Gesundheitsportale und die Online-Apotheken. Man kennt die Wehwehchen und die echten Krankheiten; man kann die Kunden kontaktieren und ihnen ohne Umweg über den Arzt teure Placebos und Medikamente andrehen. Oder man geht über den Arzt und beteiligt ihn an dem Geschäft. Der Arzt könnte personalisierte Werbung einblenden, im Wartezimmer und im Sprechzimmer. Im Wartezimmer denkt man noch, diese Krankheit habe ich aber nicht, und tatsächlich hat sie der Patient zur Linken, und dann denkt man, aber diese habe ich, und vielleicht frage ich den Arzt gleich nach diesem Medikament, im Sprechzimmer, wo ebenfalls diese Werbung gezeigt wird, nur diese Werbung, bis man mit dem Medikament in der Hand das Zimmer verlässt-... Eine Schwierigkeit auf Erstellerseite besteht darin, eine Unterscheidung von relevanten und nicht relevanten Daten vorzunehmen. Eine weitere ist, wer Einfluss auf die Akte haben darf. Nur der Arzt? Auch Heilpraktiker und Homöopathen, obwohl diese zweifelhafte Methoden anwenden? Auch der Patient, der sich ja schließlich - von den Eltern oder Erziehungsberechtigten einmal abgesehen - am längsten und am besten kennt? Oder muss die Akte gerade vor dem geschützt werden, dem sie zugehört? Nicht zuletzt sind bei der heutigen Mobilität internationale Standards einzuführen und einzuhalten. Wenn die Akte an der Grenze abgegeben werden muss, leidet ihre Relevanz. Dadurch entstehen neue Risiken, gerät die Akte in gierige Hände und ins Visier international agierender Gruppen. 169 Die Modellierung der Wirklichkeit Im Herbst 2011 wurde in Deutschland die Gesundheitskarte vorgestellt. Diese sollte bereits 2006 die Krankenversicherungskarte ersetzen. ZEIT ONLINE schrieb am 28. September 2011 in dem Artikel »Neue Gesundheitskarte macht den Praxis-Test«: Geplant ist, die Stammdaten der Versicherten regelmäßig online zu aktualisieren. Das erspart etwa bei einem Umzug den bisherigen Kartenaustausch. Die Versicherten können künftig auch freiwillig Notfalldaten etwa zu Vorerkrankungen, Allergien oder Blutgruppe speichern lassen. Auch die Bereitschaft zur Organspende könnte theoretisch auf der Gesundheitskarte dokumentiert werden. Zudem soll die Gesundheitskarte den Online-Austausch zwischen Ärzten ermöglichen, etwa um Befunde zügig zu übermitteln. 43 Äußerlich ist die neue Karte kaum von der alten zu unterscheiden. Innerlich ist sie, dank ihres Speicherchips, weit davon entfernt. Es wird trotzdem noch Jahre dauern, bis die Gesundheitskarte in die Nähe der Vision der Patientenakte kommt. Im November 2011 berichteten die Lübecker Nachrichten, dass tausende Psychiatrieakten aus Schleswig-Holstein offen im Internet gewesen seien. Auf ZEIT ONLINE hieß es: Medizinische Befunde, psychiatrische Gutachten, eingescannte Berichte, Briefe der Kliniken, Verhaltensstudien von Patienten - alles, was für die psychiatrische Betreuung von Patienten relevant sein könnte, lag ungeschützt auf einem Server der Rebus gGmbH, einem IT- Dienstleister, der für verschiedene Betreuungseinrichtungen arbeitet. 44 Der Fall zeigt, so der Artikel, »die Risiken vernetzter Patientendaten«. Und die Verrücktheit mancher IT-Dienstleister, könnte man hinzufügen. Die Modellierung der Wirklichkeit Vor 20 Jahren war ein Profil im Virtuellen noch etwas Ungewöhnliches. Man zeigte sich im Realen im Profil, man entwickelte ein Profil; etwas hatte ein Profil oder kein Profil; ein Profil war abgefahren. Natürlich existierten genügend virtuelle Communities, in denen man etwas über sich sagen und sich 170 Die Rache der Nerds visualisieren konnte. Sehr beliebt waren Chat-Communities, und sie sind es bei den Jüngeren bis heute. In den 1990er-Jahren war ich viel in Chats unterwegs. In den Schwatzbuden hingen Sekretärinnen jedes Alters herum. Sie waren frühzeitig mit Computern ausgestattet worden, und offensichtlich fanden sie zwischen ihren realen Tätigkeiten genügend Zeit, einem virtuellen Zeitvertreib nachzugehen. Für manche war es nicht nur Zeitvertreib, sondern Menschenjagd, und wenn die Chance groß war, ein Blind Date auszumachen, dann in dieser frühen Phase des WWW. Als wir Ende der 1990er-Jahre und Anfang der 2000er-Jahre als Mitarbeitende der HSG zu E-Learning und Wissensmanagement berieten, rieten wir zur Einführung von Yellow Pages. Gelbe Seiten, so der deutsche Ausdruck, sind elektronische Nachschlagewerke in Unternehmen, auf Personen bezogene Wissenskarten. Man sucht zum Beispiel einen Experten in einem bestimmten Bereich. Und findet über die Yellow Pages die Mitarbeiterin, die drei Sprachen beherrscht, Projektmanagementkenntnisse hat und sich mit Tunnelbohrmaschinen auskennt - alles nicht unwichtig für eine führende Position beim Bau eines Alpentunnels. Yellow Pages weisen häufig ein Profil auf. Ich erinnere mich, dass dieses elektronische Abziehbild um die Jahrhundertwende nicht allen recht war. Plötzlich war man, zumindest für einen Kreis von Befugten, als greif- und sichtbare Person verfügbar, mit Namen, Kompetenzen und Bild; und zugleich war man nur ein Abziehbild der Person, und man musste sich gut überlegen, was man von sich preisgab, wenn man überhaupt eine Wahl hatte. Man hatte sich geteilt, und diese Teilung spaltete die Belegschaft. Heute denkt kaum noch jemand darüber nach, wie merkwürdig es ist, ein Profil aufzubauen und zu unterhalten. Viele hundert Millionen in sozialen Netzwerken wie Facebook und Google+ bzw. in XING und LinkedIn können sich anscheinend 171 Die Modellierung der Wirklichkeit nicht irren, genauso wenig wie die verbliebenen Millionen in Second Life. In St. Gallen hatte ich vor ein paar Jahren eine öffentliche Vorlesung über künstliche Kreaturen. Es interessierte sich zu unserer Verwunderung - die Verantwortliche, eine Freundin des Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa und das Vorbild für eine Figur eines seiner Romane, hatte ich für das Thema erwärmen, ja entflammen können - niemand dafür, obwohl in der Schweiz die Maschinenmenschen eine gewisse Tradition hatten, vom Automaten des Heinrich Müller aus St. Gallen von 1742 bis hin zum sagenhaften Sennentuntschi. Einer der wenigen Teilnehmer lauerte mir nach einer Veranstaltung auf. Er war unzufrieden damit, dass ich die Übel der Menschheit, die aus der Büchse der künstlichen Frau Pandora entwichen waren, aus seiner Sicht verniedlicht hatte, dass ich gesagt hatte, wir würden manchen Lastern heute recht aufgeschlossen gegenüber stehen. Ich hörte mir seine wirren Ausführungen an, während wir den Rosenberg hinuntergingen, nicht ganz so leichtfüßig wie die Mädchen aus meinen Gedichten (s. Kapitel »E-Learning und Blended Learning«), und war schon beim innerlichen Wegnicken, als es plötzlich interessant wurde. Irgendwie war er auf Facebook gekommen, das gerade populär wurde in der Schweiz, und rief aus: »Ich habe kein Profil, ich bin kein Profil, und ich weiß auch gar nicht, was dieser Begriff bedeuten soll.« Vielleicht war er davon überzeugt, dass man nicht nur von seinem Gott, sondern auch von sich selbst kein Bildnis machen sollte. Auf jeden Fall war er mir ein paar Sekunden lang fast sympathisch. Heute scheint es so zu sein, dass manche mehr an ihrem Profil als an sich selbst arbeiten. Mehr an ihrer Timeline als an ihrem Leben. Das entbehrt nicht einer gewissen Logik. Im realen Leben scheint vieles flüchtig zu sein, und wenn man einen schlechten Ruf hat, kann man die Schule wechseln oder die Stadt verlassen. Im virtuellen Leben hat man keine Chance, wenn der Ruf ruiniert ist. Vielleicht ist nur der Nickname 172 Die Rache der Nerds betroffen; dann kann man diesen austauschen und sich eine neue Existenz aufbauen. Aber schon wenn eine mit Liebe und Mühe (und Geld) aufwendig gestaltete Figur betroffen ist, etwa ein Avatar in Second Life, hat man ein Problem. Und wenn man mit dem eigenen Namen unterwegs war, bleibt einem womöglich nur das Verlassen des Planeten übrig, was bekanntlich nicht einmal in unseren fortgeschrittenen Zeiten so einfach ist. Oder eine Umbenennung, wie sie Eric Schmidt vorgeschlagen hat, der langjährige Chef von Google, wobei man mal wieder nicht wusste, ob er es spaßhaft meinte oder ob der Nerd in ihm durchgegangen war. ( à - QR-Info- 66) Er war so sehr Nerd, dass es sogar dem Obernerd Larry Page zu viel wurde und dieser wieder - inzwischen sozusagen volljährig und geschäftsfähig geworden - das Ruder übernahm. Eine Schönheitsoperation wäre zu empfehlen, wenn man reale Bilder hinterlassen hat. Denn wer im Netz erkannt wird, wird auch in der Wirklichkeit erkannt. Selbst wenn man annimmt, dass das Netz längst die wichtigere Wirklichkeit ist, wird man spüren, wie grausam Blicke und wie hart Schläge in der Offline-Welt sein können. Social Networks und andere Plattformen modellieren auf jeden Fall unsere Wirklichkeit. Wir stellen unser Profil in den Vordergrund, haben Freunde und Kontakte (und kaum noch Freundinnen und Bekannte), lassen uns unseren Beziehungsstatus und unsere politische Ausrichtung vorgeben. Die Software schlägt uns neue Freunde vor und fordert uns auf, unsere Freunde zur Aktivität anzuhalten; eine virtuelle Petze der besonders fiesen Art. Wer nicht dabei ist, wird aus dem öffentlichen und sozialen Leben ausgeschlossen. Buchplattformen analysieren unsere Lesegewohnheiten und machen uns Buchvorschläge. Es wird nichts dem Zufall überlassen, vor allem wenn wir Geld für etwas ausgeben können. Aber wollen wir uns wirklich von Maschinen strukturieren und beraten lassen? 173 Die Ängste der Studierenden Zwei Studenten haben in einer meiner Vorlesungen bemerkenswerte Geschichten erzählt. Von einem jungen Mann (vielleicht von sich selbst), dessen Freundin in Rage geraten war. In dem einen Fall war es ein frisch liiertes Paar. Sie war wütend darüber, dass er seinen Beziehungsstatus dennoch auf »Solo« gelassen hatte. In dem anderen Fall war es ein frisch getrenntes Paar. Sie war wütend darüber, dass er seinen Beziehungsstatus sofort auf »Solo« geändert hatte. Und damit seine Freunde, die teilweise ihre Freunde waren, darüber informiert hatte, dass man nicht mehr zusammen war. In beiden Fällen scheint das Online-Verhalten eine tiefe Wunde hinterlassen zu haben. Das Verhalten in der Offline-Welt scheint dem nachgeordnet gewesen zu sein. Die Ängste der Studierenden Heutige Studierende scheinen vor allem zwei Ängste zu haben. Die eine ist die Angst vor Dehydrierung. Auf den Tischen fallen Ansammlungen von Flaschen und Behältnissen auf. Genuckelt und gezischt wird nicht nur in den Pausen, sondern auch während der Vorlesungen und Seminare. An unserer Hochschule sind die Gruppen klein, zwischen 20 und 40 Teilnehmerinnen und Teilnehmer stark. Es ist also nicht so, dass in einem riesigen Hörsaal, in der hintersten Reihe, in der man eh nichts mehr erkennen kann, jemand heimlich, still und leise einen Schluck aus der Flasche tun würde. Sondern man tut es im Seminarraum, direkt vor mir, in der ersten oder zweiten Reihe, ausgiebig und nicht immer geräuschlos, mit einem unschuldsvollen Blick. Es ist nicht so, dass ich das schlimm finden oder für ein Zeichen der Verwahrlosung halten würde - ich wundere mich einfach, dass wir früher zwei, drei Stunden ohne Wasserbzw. Flüssigkeitszufuhr überlebt haben. 174 Die Rache der Nerds Die andere Angst ist die Angst, etwas zu verpassen. Meine angehenden Wirtschaftsinformatikerinnen und -informatiker (zu 90, 95 Prozent sind es Männer, was ich sehr bedauere, weil ich mit gut gemischten Gruppen gute Erfahrungen mache) sitzen hinter ihrem Notebook von Apple, Acer, Dell, Sony oder HP (die Markennamen drängen sich mir regelrecht auf, über die Rückseiten der aufgeklappten Bildschirme), oder ihre gerillten Fingerkuppen bewegen sich über die glatten Oberflächen ihrer Smartphones und Tablets. Sie sind in Facebook oder in Google+, schreiben E-Mails und treiben sich in Chats herum und tragen im besten Fall etwas zu ihrem Studium bei, wenn auch nicht gerade zu der Lehrveranstaltung, in der sie sich gerade befinden. Ein paar wenige machen sich tatsächlich Notizen zu meinen Ausführungen, und wenn man der ganzen Gruppe die Benutzung der Notebooks verbieten will, kommt eben dieses Argument: »Wie sollen wir uns dann bitteschön Notizen machen - etwa auf einem Blatt Papier? « Nein, Papier kann man »Klimbimfetischisten« ( à - QR-Info- 67) nicht zumuten. Papier ist Mittelalter, oder eben noch schlimmer, 80er-Jahre. Und das Schreiben mit der Hand ist Steinzeit. Ich denke wirklich, der Hauptgrund dafür, dass sie mit ihrem Notebook dasitzen - dass sie online sind, über WLAN oder Kabel, ist kaum noch eine Erwähnung wert -, ist die Angst, etwas zu verpassen. Schließlich könnten sie eine Nachricht von Kolleginnen oder Kollegen erhalten, wie die Freundinnen oder Freunde in der Schweiz heißen. Oder auf eBay oder ricardo.ch könnte etwas von der falschen Person - also nicht von ihnen selbst - ersteigert werden. »Always connected« ist das Gebot der Stunde. »Overconnected and underfucked«, könnte man auch denken. Wobei sie vielleicht während der Vorlesung begehrenswerte potenzielle Partnerinnen und Partner kennenlernen. Die sich sogar - geografischen, interaktiven Diensten sei Dank - in ihrer unmittelbaren Nähe 175 Die Ängste der Studierenden befinden und sie (wie ihre nervösen Klicks gezeigt haben) ebenfalls attraktiv finden. Immer wieder schicken mir Studierende aus der Vorlesung heraus E-Mails. Mit Links, Anmerkungen, Ergänzungen, Fragen. Das ist ein bemerkenswerter und komplexer Vorgang. Eigentlich sind wir ja alle im selben Raum. Und eigentlich herrscht eine Atmosphäre, in der man sich durchaus etwas zu sagen oder zu fragen getrauen sollte. Aber die Studierenden nutzen die Gunst der Stunde nicht, sondern kommunizieren per Internet. Und sie verwenden einen asynchronen Dienst. Das ist auch gut so, denn ich kann während der Vorlesung schlecht chatten oder skypen; aber merkwürdig ist es trotzdem, dass aus einer »synchronen Situation« heraus in dieser Art und Weise mit mir Kontakt aufgenommen wird. Wenn ich im Büro oder zu Hause bin, rufe ich die Nachrichten ab. Und meistens antworte ich ganz freundlich darauf. Natürlich haben die Studierenden noch andere Ängste. Sie haben Angst, die ihnen zustehenden ECTS-Punkte nicht zu bekommen. Alles dreht sich um diese Punkte, mit denen man die Studierenden abrichtet wie Hunde. Wenn ich ihnen - zugegebenermaßen etwas beschönigend - erzähle, dass wir früher Seminare und Vorlesungen aus Interesse besucht haben, und manchmal gar, ohne an einen Leistungsnachweis zu denken, aus Freude und Interesse, erzeuge ich ungläubiges Staunen. Es ist in diesem Falle eher eine Ökonomisierung des Denkens, eine Kosten-Nutzen-Rechnung. Meine Wirtschaftsinformatiker erweisen sich ausnahmsweise als echte Betriebswirtschaftler, wobei ich befürchte, dass die anderen Studierenden auch solche geworden sind. Leider übertragen sich ihre Ängste auf die Dozierenden. Die bereits mit ihren Ängsten kämpfen. Dass sie alt werden im Angesicht der Jugend, ist nicht das Problem. Sondern dass sie ebenfalls abgerichtet werden wie Hunde. Sie springen genauso den 176 Die Rache der Nerds Punkten nach, und sie weichen dem Stock aus, der von neuen, engagierten Managerinnen und Managern geschwungen wird. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass an den Spitzen der Hochschulen betriebswirtschaftlich geschulte Führungskräfte sitzen. Wenn sie dann noch Kompetenzen in Bezug auf Informations- und Kommunikationstechnologien haben, weckt das Vertrauen nicht nur in Wirtschaftsinformatikern. Aber wenn sie die Hochschule mit einem Unternehmen verwechseln, kann das fatale Auswirkungen haben. Quantität vor Qualität, das ist der Denkfehler des Homo faber und des Homo oeconomicus. Bildung ist nicht nur eine Ware. Sie ist etwas, das reifen muss in den Köpfen von angstfreien, freien Menschen. Von Studenten, die nicht nur Kunden sind. Eine Hochschule, die Angst und Schrecken verbreitet und in der man nicht in Freiheit atmet, ist dem Untergang geweiht. Der Latex-Professor Ein paar Jahre habe ich an einer Pädagogischen Hochschule in Deutschland gearbeitet, als Leiter des Rechen- und Medienzentrums und der E-Learning-Einrichtung und Dozent in Deutsch und Wirtschaft (s. Kapitel »Ingenieurswissenschaftliches Denken«). Ich war der erste richtige Chef, und trotz des kompetenten und engagierten Teams waren die Zustände bedenklich. Ein Server duckte sich unter einer Wasserleitung im Keller. Der, als Teil eines barocken Gebäudes, eh nicht besonders trocken war. Und im eigentlichen Serverraum benutzte die Putzfrau regelmäßig für ihren Staubsauber die Steckdose, an der die Server hingen. Nur eine kommissarische Leitung hatte es gegeben, durch einen Mathematikprofessor, der kurz vor der Pensionierung stand, und sicherlich war auch ich mit meinem Hintergrund nicht bei allen Belangen die richtige Wahl. Für das Rechenzentrum hätte es einen harten Informatiker gebraucht (mit weichen Skills, 177 Der Latex-Professor etwa für die Kommunikation mit den Dozierenden und das Verständnis für ihre Anliegen, was die Sache wieder schwierig macht), und wir konnten froh sein, dass uns die Infrastruktur in dieser Zeit nicht um die Ohren flog. Eines Tages erhielt die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit eine E-Mail von einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin einer anderen Hochschule. Zumindest gab sie sich als solche aus. Auf einer Website, die man unzweifelhaft mit uns in Verbindung bringen müsse, seien tausende von Gegenständen aufgelistet und beschrieben, darunter Produkte aus Latex. Die Gegenstände gebe es auf eBay zu ersteigern, etwa Anzüge aus dem genannten Material. Die Mitarbeiterin der Hochschule warf in ihrer Nachricht die Frage auf, ob dies dem Ansehen unserer Anstalt zuträglich sei, und kam persönlich zu einem eher pessimistischen Schluss. Mir war es ziemlich egal, ob jemand bei uns mit Catsuits und Korsagenanzügen handelte; die Person sollte aber nicht unbedingt unsere Infrastruktur dafür nutzen. Ich beriet mich mit dem Verwaltungsdirektor, der inzwischen nicht mehr im Dienst ist, und für ihn stellte sich noch eine weitere Frage, nämlich die nach der Verletzung des Beamtenrechts wegen einer unangemeldeten Nebenbeschäftigung. Mit meinem Team ging ich der Spur nach, und wir fanden heraus, dass ein Professor der Hochschule einen Server in unserem Netz betrieb, über den die genannte Website abrufbar war. Er belegte mehrere Räume für die Gegenstände, mit denen er handelte, vor allem mit technischen Geräten und Teilen, deren Existenz in seinem Fach nicht unbedingt erklärungsbedürftig war. Ich marschierte mit einem Mitarbeiter in das Büro des auffällig gewordenen Beamten und beschlagnahmte den Server. Mein Mitarbeiter musste diesen tragen; ich trug die Verantwortung - und erklärte dem zufällig aufgetauchten Professor, was wir gerade getan hatten. Er rief aus, wir seien wahnsinnig, aber dasselbe dachten wir von ihm. 178 Die Rache der Nerds Ein, zwei Tage später kam es zu einer Besprechung zwischen ihm, dem Verwaltungsdirektor und mir. Der Verwaltungsdirektor fragte ihn, ob er mit den Produkten gewerbsmäßig handeln würde, etwa mit den Latexanzügen, und es war seinem Gesicht anzusehen, dass er noch immer rätselte, was man im Detail mit diesen anstellte. Er trug selbst gerne Trachten und hatte mit Edelgummi so gar nichts am Tirolerhut. Der Professor erklärte, das würde er auf keinen Fall tun; vielmehr seien die Anzüge seiner Frau zu klein geworden. Kein professioneller Handel also, sondern privater Flohmarkt. Der Verwaltungsdirektor bekam ein rotes Gesicht, weil seine Vorstellungskraft verstärkt worden war, und ich lag am Boden vor Lachen, allerdings nur im übertragenen Sinne, im Sinne des ROFL bzw. ROTFL, des »rolling on (the) floor laughing«. Es ergaben sich keinerlei Konsequenzen für den Professor, und er nutzte noch eine ganze Zeit die Räume der Hochschule für seinen illegalen Handel. Der eigentliche Skandal war allerdings ein anderer. Und dieser Skandal zeigt, wie nerdig der Professor war. Er pflegte nämlich, wie die Studierenden berichteten, in seine Veranstaltungen einen Wecker mitzubringen. Wenn es klingelte, rannte er hinaus. Er musste rechtzeitig zum Abschluss einer eBay- Auktion vor Ort sein. Er war süchtig nach dieser Plattform, den Möglichkeiten des Kaufens und Verkaufens. Er wollte nichts verpassen, so wie meine Studierenden, die mit einem Notebook oder Tablet in die Vorlesung kommen (s. Kapitel »Die Ängste der Studierenden«). Aber sein Vergehen war ungleich schwerwiegender. Seine Sucht beeinträchtigte noch mehr als die der Studierenden seine Arbeit, die Vorlesungen, die Kommunikation. Er folgte dem Ruf der Maschine, und der Ruf der Studierenden verhallte ungehört. Der Professor war kein Informatiker und schon gar kein Wirtschaftsinformatiker, die es an Pädagogischen Hochschulen kaum gibt, schon weil kein entsprechendes Schulfach 179 Datensauger und -schleudern existiert (und die, wie an unserer Hochschule, mehrheitlich Auslaufmodelle waren). Aber er war aus einem technischen Fach, und seine Kenntnisse auf dem Gebiet des E-Commerce hatten - zusammen mit seiner Skrupellosigkeit der Hochschule und dem Land gegenüber - seine Leidenschaft ermöglicht und genährt. Wenn es sich wirklich um eine Sucht handelte, kann man vielleicht gar nicht von Skrupellosigkeit sprechen; aber dass es ein schwieriger Fall war, vor dem die Entscheidungsträger der Hochschule die Augen verschlossen, ist offensichtlich. Am Ende musste ihn eine Studentin dazu bringen, die belegten Räume freizuräumen, damit sie für offizielle Belange benutzt werden konnten. Das Rektorat war nicht fähig dazu gewesen. Datensauger und -schleudern Vorgeblich dienen Social Networks dazu, dass wir uns vernetzen und Kontakt zu unseren Bekannten und Freunden halten können. Oder dass wir neue Freunde und Freundinnen gewinnen, neue Liebhaber und Liebhaberinnen. Aus Betreibersicht geht es allerdings meistens um Gewinnmaximierung. Das ist an sich nicht schlimm; aber das Mittel dafür sind die individuellen Daten des Benutzers. Personalisierte Werbung, Gewinnspiele und Geschenke nutzen Profil- und Netzwerkdaten aus. Dabei treten diese oft eine unbekannte Reise an, landen auf fremden Servern und in fremden Datenbanken. Viele Datensätze werden ihre Benutzer überdauern; allein in Facebook gibt es schon zehntausende Datenleichen, die zu »richtigen« Leichen gehören. Und auch Google+ wird die Toten bald nicht mehr zählen können. Aber der Reihe nach. Die Toten kommen am Schluss. Der Begriff des Social Network wurde durch die bestehenden Produkte pervertiert. Es wäre besser, man würde von Antisocial Networks sprechen. Denn Kommunikation und Kooperation werden nicht nur auf merkwürdige Weise vorgegeben, sondern 180 Die Rache der Nerds auch unter einem ganz bestimmten Blickwinkel gesehen. Die Benutzer sollen sozial aktiv sein, damit Dritte davon profitieren. Wenn man einem Freund in Facebook ein Geschenk macht und der Freund das Geschenk akzeptiert, verrät man seine Daten an ein Unternehmen. Das ist normalerweise nicht der Sinn und Zweck eines Geschenks, und normalerweise ebenso wenig Bestandteil einer vertrauensvollen Freundschaft. In Facebook werden lauter kleine Verräter herangezüchtet, und schlimmer als der Umstand, dass der Begriff des Social Network pervertiert wurde, ist die Tatsache, dass die Begriffe des Geschenks und des Freundes ihre Bedeutung verändern (s. Kapitel »Die Modellierung der Wirklichkeit«). Immer wieder hat Facebook Daten illegal genutzt und herausgegeben. ( à - QR-Info- 68) Benutzer und Datenschützer haben das Unternehmen immer wieder erfolgreich zurückgedrängt. Aber es ist wie das Ungeheuer, dem man zwei Köpfe abschlägt und dem gleich vier neue Köpfe wachsen. Niemand scheint Anstoß daran zu nehmen, ein Akteur in einem offenbar illegalen Netzwerk zu sein. Bei Privatpersonen ist das befremdlich genug; aber dass tausende achtbare Unternehmen und Hochschulen auf der Plattform aktiv und auch noch stolz darauf sind, ist erstaunlich. Ein Teil der organisierten Kriminalität zu sein, ist nicht mehr nur in Italien oder in Russland selbstverständlich. Es ist auf der ganzen Welt verbreitet und chic. Allerdings scheint sich seit Ende 2011 ein wenig zu bewegen. Die Meldungen, dass Privatpersonen und Staatsdiener gegen die Unternehmen klagen, nehmen zu. Es sind Jurastudenten darunter, die sich profilieren wollen, und Benutzer, die ernsthaft um ihre Daten besorgt sind. 45 Und Datenschützer verschiedener Länder. Vielleicht resultiert ja eine Massenbewegung daraus, und man kann eines Tages Facebook einen Daumen zeigen, der nach unten weist. 2011 und 2012 musste Facebook gravierende Fehler einräumen und sich 181 Datensauger und -schleudern in manchen Punkten geschlagen geben. Und es wurde über ein deutschlandweites Verbot von Like-Buttons und Fanseiten diskutiert. ( à -QR-Info-69) Im Folgenden werfe ich 20 Argumente gegen Facebook in den Raum, die ich 2010 auf meinem Blog vorgestellt habe. 46 Der Beitrag wird häufig aufgerufen und (überwiegend wohlwollend) kommentiert. Noch mehr (überwiegend negative) Kommentare gibt es bei meinen Vorwürfen gegen Google. Es ist merkwürdig, aber Google scheint noch mehr als Facebook etwas Religiöses zu haben. Vielleicht wissen die Leute letzten Endes bei Facebook doch, dass sie betrogen werden. Und bei Google glauben sie, trotz der vielen Skandale, dass es ein nützliches Unternehmen ist mit vielen interessanten, kostenlosen Tools. Leider stimmt das teilweise sogar, und das macht die Sache so schwierig. Doch zurück zu dem Antisocial Network. Ich weiß, es gibt hunderte Argumente, aber ich habe damals einfach mal nachgedacht und zusammengestellt. 1. Facebook ist hässlich Facebook ist total hässlich. Die Seiten kommen langweilig daher und sind schlecht designt. Auf der Einstiegsseite eine gestauchte Weltkarte mit ein paar Büsten. Auf den Profilseiten ein visueller Einheitsbrei. Hey, das geht echt besser! 2. Facebook ist eine Uniform Facebook ist eine Uniform. Deine Seite sieht aus wie 400 Millionen andere. Hast du das wirklich verdient? Bist du im richtigen Leben auch so? Stehst du auf Cheerleading und Bundeswehr? Solltest du nicht wenigstens eine Uniform anziehen, die dir passt und steht? 47 3. Facebook ist eine geschlossene Gesellschaft Facebook ist eine geschlossene Gesellschaft. Wir haben das freie, offene Internet und Web und könnten davon 182 Die Rache der Nerds profitieren. Und geschlossene Räume könnten wir verwenden, wenn wir echte Geheimnisse hätten. Gehst du freiwillig in ein Gefängnis? 4. Facebook veröffentlicht deine Daten Facebook schaufelt deine Daten nach draußen, damit es im Web noch präsenter ist. Gib mal in eine Suchmaschine deinen Namen und »Facebook« ein. Dann weißt du, ob deine Privatsphäreeinstellungen noch die richtigen sind. Die werden ja ständig von Facebook selbst verändert. 5. Facebook weiß alles über dich Facebook weiß alles über dich. Egal, welche Privatsphäreeinstellungen du hast. Was du wem geschrieben, welche Fotos du für wen hochgeladen, welche Mädels und Jungs du angeklickt hast. Sie speichern das für die nächsten 150 Jahre, zumindest auf ihren Backup-Systemen, und haben dich in der Hand. 6. Facebook hat dein Vertrauen missbraucht Facebook hat dein Vertrauen missbraucht und deine persönlichen Daten an Dritte weitergegeben. Wenn du auf eine Werbung geklickt hast, hat die Firma erfahren, wer du bist. Das hat sogar gegen die Richtlinien von Facebook verstoßen. Ups, hat Facebook gesagt, als es herauskam, und Mark Zuckerberg ist vor lauter Aufregung ein Pickel geplatzt. Soll aber nicht wieder vorkommen. 7. Facebook lässt alles bewerten Facebook lässt alles bewerten. Willst du wirklich, dass du ständig bewertet wirst? Und dass du andere ständig bewertest? Und interessiert dich wirklich immer, was andere über etwas denken? Was ist, wenn du bekanntgibst, dass du Krebs hast? Sagen dann deine Freunde: Gefällt mir? Und dann schnell: Gefällt mir nicht mehr? 183 Datensauger und -schleudern 8. Facebook ist imperialistisch Facebook breitet sich wie ein Krebsgeschwür im ganzen Web aus. So wie Google. Man kann kaum noch auf Seiten gehen, auf denen nicht Google Daten von dir abzieht. Über Google Analytics oder Google AdNonsense. Die netten Blogger von nebenan integrieren das in ihre Websites, um ein paar lausige Cents zu verdienen. Deine Daten sind ihnen genauso egal wie Facebook. Genau, Facebook macht das nun auch. Du kommst auf eine Website und erfährst, ob deine Freunde diese oder ein Angebot darauf gut finden. Gefällt dir? Gefällt dir nicht mehr? 9. Facebook macht dich zum Objekt Facebook macht dich zum Objekt deiner so genannten Freunde. Sie bekommen alles mit, was du tust. Im virtuellen und im richtigen Leben. Du stehst unter ständiger Beobachtung. Möchtest du nicht ein paar Dinge für dich behalten? Reden ist Silber, Schweigen ist Gold? So wie bei den Bilderbuchindianern? Ihr seid echt eine Gruppe von Waschweibern, oder? Noch schlimmer ist es, wenn du deine Kinder zum Objekt machst. Gehörst du zu denjenigen, die Fotos ihrer Kinder auf Facebook einstellen oder über sie berichten? Kennst du die verschiedenen Arten des Missbrauchs? 10. Facebook modelliert deine Wirklichkeit Facebook modelliert deinen Umgang, deine Kommunikation mit Freunden, gibt die Werkzeuge vor, die Begriffe. Willst du nicht selbst bestimmen, wie du mit deinen Bekannten und Freunden usw. umgehst, wie du es nennst? Willst du sie wirklich anstupsen? Oder gruscheln wie bei studiVZ? Und du stupst die anderen dann auch im richtigen Leben an? Und gruschelst sie? 184 Die Rache der Nerds 11. Facebook verdreht unsere Sprache Facebook hat den Begriff des Freundes entwertet. Es ist auch merkwürdig, dass es nur Freunde gibt und keine Feinde, keine Bekannte, keine Freundinnen, keine Kolleginnen, keine Kommilitonen. Wie wäre es, wenn du Facebook diesen Begriff wieder entreißen würdest? Weil wir die Sprache machen und nicht ein paar Nerds aus den USA? 12. Facebook verlangt von dir ständige Aufmerksamkeit Facebook verlangt von dir ständige Aufmerksamkeit. Und wenn du nicht aktiv genug bist, wirst du bei deinen »Freunden« verpetzt. Facebook sagt ihnen, dass man dir helfen muss. Manche Staaten haben ähnliche Foltermethoden. Du musst die ganze Zeit Xavier Naidoo hören. Bis du verrückt wirst. Wenn du es nicht schon bist. 13. Facebook ist eine Maschine Facebook ist eine Maschine. Und tut so, als wäre es ein Mensch. Es schlägt dir neue Freunde vor. Wie krank ist das denn? Ist es denn nicht schon schlimm genug, dass uns Maschinen Bücher und CDs vorschlagen? Und jetzt auch noch Freunde? Weißt du eigentlich, was das heißt? Ist dir die monströse Idee dahinter klar? Sind wir einfach Figuren, die man hin und her schieben und auf einen Haufen werfen kann? 14. Facebook hält dich vom Vögeln ab Facebook frisst deine Zeit. Was du alles tun könntest ohne Facebook! Du könntest spazierengehen, Bücher lesen, Dates haben. Dates, stell dir vor, echte Dates. Du könntest fummeln und vögeln. Wahnsinn, oder? Echte Haut spüren, kennst du das noch? Berührt werden, erinnerst du dich noch daran? Verdammt, willst du echt die ganze Zeit vor diesen Seiten abhängen? 185 Datensauger und -schleudern 15. Facebook ruiniert deinen Arbeitgeber Facebook verbraucht die Zeit deines Arbeitsgebers. 48 Vielleicht willst du das ja, weil man dich schlecht behandelt. Dann kannst du ihm jeden Tag eins auswischen. Die drei Stunden, in denen du auf Facebook bist, vernichten seine Produktivität. Eigentlich wärst du ja auch gerne reich und unabhängig. Und du hasst Arbeit. Und endlich kannst du es deiner Firma zeigen. 16. Facebook ist eine Umweltsau Facebook verbraucht Strom. Netzbasierte Anwendungen sind nämlich echte Energiefresser. Gerade durch das Hoch- und Herunterladen von Bildern wird viel Strom verbraucht. Und durch die permanente Kommunikation. Vielleicht wird bald in deiner Nähe ein neues Atomkraftwerk gebaut. Um weiteren 100 Millionen auf Facebook eine Heimat geben zu können. 17. Facebook ist Unterschicht Facebook ist Unterschicht. Hey, nichts gegen Unterschicht, echt nicht. Aber wenn ein gutes Hotel oder ein bekannter Schauspieler auf Facebook ist, ist das nicht gut für den Ruf. Wenn man auf sich hält, ist man einfach nicht auf studiVZ, Myspace und Facebook. In der Ober- und Mittelschicht gibt es schon diesen total grausamen Ausruf: »Ey Alda, isch mach disch Facebook! « 18. Facebook ruiniert deinen Ruf Facebook ruiniert deinen Ruf. Obwohl du vielleicht gar keinen hast. Du glaubst immer, du bist zuhause, wenn du etwas tust. Und du tust alles, was du zuhause auch tun würdest. Du stupst andere an. Du ziehst dich aus. Du bohrst in der Nase. Und die ganze Welt schaut durch die Fenster und lacht sich tot. 186 Die Rache der Nerds 19. Facebook macht dich kriminell Facebook verführt dich dazu, Bilder und Videos hochzuladen, die du gar nicht hochladen darfst, verführt dich dazu, Urheberrechte zu verletzen und das Recht am eigenen Bild. Und dazu, Bilder zu verlinken, obwohl die Leute das vielleicht gar nicht wollen. Findest du wirklich, du solltest ständig über andere bestimmen? Und wie ist es umgekehrt? 20. Facebook macht Demos langweilig Facebook ist ein Tummelplatz für Wahnsinnige, für Rechtsradikale und Religiöse. Okay, du kannst gegen das ganze Zeug auch protestieren und demonstrieren. Aber wie uncool ist es denn, das auf Facebook zu tun? Meinst du, Gerechtigkeit gibt es für ein paar Klicks? Dann geh wenigstens auf die Straße und lass dich dabei filmen, wie man auf dich einprügelt. So, wie es die Iraner tun. Die dann hoffen, dass man die Bilder und Videos auf YouTube und Facebook stellt. Aber vielleicht finden wir in Europa noch andere Möglichkeiten? Ich möchte diese Argumente durch ein Zitat von Joseph Weizenbaum aus den 1970er-Jahren ergänzen, ohne dass ich dieses zu kommentieren brauche: Es gibt … zwei Arten der Anwendung von Computern, die entweder überhaupt nicht zum Einsatz kommen oder, wenn sie erwogen werden, mit äußerster Vorsicht praktiziert werden sollten. 49 Und in den nächsten beiden Absätzen: Die erste Art würde ich einfach als obszön bezeichnen. Dies sind Anwendungen, bei deren bloßem Gedanken eine zivilisierte Person schon Ekelgefühle verspüren müßte. Der … Vorschlag, das visuelle System und das Gehirn eines Tieres mit einem Computer zu koppeln, ist ein Beispiel hierfür. … Ich würde alle Projekte, bei denen ein Computersystem eine menschliche Funktion ersetzen soll, die mit gegenseitigem Respekt, Verständnis und Liebe zusammenhängt, zur selben Kategorie rechnen. ( à -QR-Info-70) 187 Datensauger und -schleudern Werfen wir nochmals einen Blick auf die Datensicherheit der Social Networks. Immer wieder wurden über diese in großem Maßstab persönliche Daten gesammelt. Ich ziele an dieser Stelle nicht auf interne, sondern auf externe Kräfte. Mehrmals waren keine kriminellen Energien im engeren Sinne am Werk, sondern fleißige Schüler oder Studenten. Millionen Datensätze haben sie mit Hilfe eines Crawlers zusammengetragen. Einer, der schülerVZ erpressen wollte, ist dadurch natürlich kriminell geworden - und hat sich selbst gerichtet, hingerichtet im Gefängnis. ( à -QR-Info-71) Die Politik, die jahrelang nicht auf Social Networks reagiert hat, hat vorher aufgeschrien. Die VZ-Gruppe hat selbst das größte Interesse, auch wesentlich in die Sicherheit ihrer Netzwerke zu investieren. Die Verweise auf vermeintliche Einzelpannen müssen nun endlich der Vergangenheit angehören. 50 So sprach Sabine Leutheusser-Schnarrenberger im Jahre 2010 gegenüber der Zeitschrift Spiegel Online. Clemens Riedl, der Geschäftsführer von studiVZ, meinVZ und schülerVZ, stellte - so Spiegel Online - fest, der Kopierschutz von öffentlich zugänglichen Daten werde immer ein Katz-und-Maus-Spiel bleiben. Der Mann hat leider recht. Denn Social Networks dieser Art können weder sicher noch legal betrieben werden. Sicher können sie nicht sein, weil man eben Daten, die man einsehen kann, in irgendeiner Weise zu kopieren vermag. Selbst wenn ein Foto nicht direkt heruntergeladen werden kann, ist dies kein Problem, wenn man weiß, was ein Screen- oder Snapshot ist. Die Frage ist am Ende allenfalls, wie leicht es ein Datendieb hat. In einem der Fälle hatte es der angehende Forscher sehr leicht; der genannte Artikel auf Spiegel Online zitiert ihn mit den Worten: »Ich hätte den Crawler auch weiterlaufen lassen können, irgendwann wären dann auch die fünf Millionen voll gewesen. Aber ich dachte, 1,6 Millionen reichen ja auch.« Legal können die Social Networks schon deshalb 188 Die Rache der Nerds nicht sein, weil sie in jedem Moment eine erhebliche Menge an gestohlenen und missbräuchlich verwendeten Daten enthalten. Es sind abertausende Fotos vorhanden, die Urheber- und Persönlichkeitsrechte verletzen. Man könnte nun sagen, dass die Welt insgesamt weder sicher noch legal gestaltet werden kann. Doch so einfach ist es nicht. Zum einen forderten und fordern »soziale« Netzwerke wie studiVZ, meinVZ, schülerVZ, Facebook und Google+ dazu auf, massenhaft Daten und Bilder hochzuladen. Es gehört zum Reiz der Plattformen, Bilder zur Schau zu stellen, in Fotoalben zu stöbern und Objekte zu verlinken. Rechtsbrüche werden dabei von den Betreibern und von bestimmten Benutzern billigend in Kauf genommen, auch wenn erstere inzwischen ein Häkchen setzen lassen, mit dem man die Legalität der Daten garantiert, bzw. zweiteren Beschwerden ermöglichen. Zum anderen sind die Social Networks, anders als die Welt, geschlossene Gemeinschaften (die ein Login verlangen und zugleich Content nach draußen schaufeln). Wer ihnen aus gutem Grund fernbleiben will, kann oft nur von aufmerksamen Benutzern darauf hingewiesen werden, dass gerade - um ein Beispiel zu nennen - sein Recht am eigenen Bild gebrochen wird. Dass die geschlossene Gemeinschaft einen guten Teil der Bevölkerung umfasst, macht die Sache nicht besser und nicht einfacher. Mit der Größe wächst die Gefahr, dass Missbräuche entstehen, dass das Recht massiv gebrochen und der Schaden grenzenlos wird. Wäre der Gesetzgeber konsequent, würde er Netzwerke dieser Art in die Schranken verweisen. Dies würde auch dem Schutz der User dienen, die nicht wissen, was sie tun. Und man könnte sich endlich der Entwicklung von wirklich sozialen Netzwerken widmen, die z.B. nach dem Peer-to-Peer- Prinzip funktionieren und nur autorisierten Personen den Zugriff erlauben. Und die es der Vergangenheit angehören lassen, dass Betreiber wie Holtzbrinck und Facebook zu Millionen von 189 Datensauger und -schleudern vernetzten Datensätzen und intimsten Informationen Zugang haben. Eigentlich könnten Social Networks eine nützliche Sache sein; man muss nur den Benutzer in den Mittelpunkt stellen mit seinen Interessen, muss in ihm den Zweck und das Ziel erkennen. Das tun die gegenwärtigen Netzwerke nur scheinbar; in Wirklichkeit sind die Benutzer und ihre Daten ihnen Mittel zum Zweck. Was den Datenschutz angeht, könnte man seiten-, ja bücherweise weitere Überlegungen anstellen. Facebook vermag jedes einzelne Mitglied auszuspähen, so wie das auch andere Benutzer können, je nach Privatsphäreeinstellungen, aber auch die Mitglieder in ihrer Gesamtheit, ihre Zusammenhänge, ihre Kommunikation. Überhaupt die Gesamtheit: Ein privates Unternehmen kann auf einen Schlag fast eine Milliarde Mitglieder erreichen, oder jedes einzelne Mitglied persönlich anhauen, über personalisierte Werbung. Was für Möglichkeiten, was für eine Macht. Zweifelsohne haben auch die Mitglieder Macht. Diese kommt etwa dann zum Ausdruck, wenn sie gegen Neuerungen von Facebook protestieren. ( à -QR-Info-72) Ich lese nur ein paar Weblogs. Diese dafür recht intensiv. In einem meiner früheren »Lieblingsblogs« stand einmal: »Ihr könnt euren Protest öffentlich ausdrücken, indem ihr XYZs Facebook-Gruppe beitretet, die für eine Wiederaufnahme von XYZ eintritt.« 51 Ich habe folgenden Kommentar hinterlassen: Da gibt es allerdings ein kleines Problem. Um XYZs Facebook-Gruppe beizutreten, müsste man ja Facebook beitreten. Und das kann man nicht wirklich wollen. Ich halte es für fragwürdig, Proteste über geschlossene kommerzielle Netzwerke zu organisieren. Aber ansonsten haben die Artikel dieses Blogs meinen Respekt. Ich hoffe, dass der Autor diese enorme Produktivität aufrechterhalten kann. Inzwischen ist das Blog in eine fragwürdige Richtung abgedriftet, und ich lese es nur noch punktuell. Es waren wohl auch die Rückmeldungen und Anmerkungen, die den Betreiber frust- 190 Die Rache der Nerds riert und im negativen Sinne radikalisiert haben; auf jeden Fall hat er sich dazu entschieden, keine Kommentare mehr zuzulassen. Es mögen triftige Gründe dafür existieren, dass man heutzutage Proteste und Demonstrationen über Facebook und Co abwickelt. Und es mögen, wie in meinem 20-Argumente-Post angedeutet, triftige Gründe dagegen existieren. Im Folgenden lege ich diese etwas ausführlicher dar. Zunächst einmal stört mich eben die Geschlossenheit des Netzwerks. Wir haben den öffentlichen Raum der Straßen und Plätze, und wir haben das offene freie Internet und Web. In beiden Bereichen kann man protestieren und demonstrieren, mit oder ohne Bewilligung, vermummt oder unvermummt. Jeder kann teilnehmen und mitlaufen oder -posten; man muss in der Regel nirgendwo Mitglied sein und einen Ausweis vorzeigen. In Facebook ist das ganz anders. Das Social Network ist trotz der knappen Milliarde aktiver, passiver und toter Mitglieder eine geschlossene Gesellschaft. Man muss einen bestimmten Geisteszustand haben, um dort zu sein (sofern man noch lebt). Das meine ich nicht unbedingt positiv. Wenn nun große Aktionen in solchen Netzwerken durchgeführt werden, sperrt man viele Menschen aus. Und zwar ausgerechnet viele von denjenigen, die kritisch und eigenständig sind. Die Gefahr liegt nahe, dass Facebook-Aktionen innerlich belanglos bleiben, während sie äußerlich erfolgreich sind. Zudem stört mich, dass wichtige Proteste und Demonstrationen ausgerechnet in einen Bereich abwandern, der von kommerziellen Interessen bestimmt ist und von »unmoralischen Angeboten« an seine Mitglieder lebt. Facebook nutzt Informationen in unverantwortlicher Weise, lässt über Applikationen zu, dass Dritte persönliche Daten abziehen, spioniert Adressverzeichnisse der Mitglieder aus, setzt mit Hilfe von automatischen Meldungen Einzelne unter Druck, die die Einstellungen zur Privatsphäre verändern oder das Netzwerk verlassen wollen, und 191 Datensauger und -schleudern macht Mitglieder auf weniger aktive »Freunde« aufmerksam, als wären diese asozial. Asozial ist aber allenfalls das Netzwerk, und wenn in Zukunft dieses und nicht mehr der öffentliche Raum dem Protest dient, sehe ich schwarz für diejenigen, für die etwas erreicht werden soll. Und das wäre mein letzter Punkt: Verdient es die Sache oder die Person, dass man sich ausgerechnet bei Facebook für sie einsetzt? Verliert sie nicht sofort ihre Würde, ihre Bedeutung, ihre Glaubwürdigkeit? Ein Protest gegen das Verschwindenlassen von Ai Weiwei im April 2011 ausgerechnet auf Facebook? Ein Bejubeln bei seiner Freilassung im Juni? Wieder kann man sagen, der Zweck heilige die Mittel, und wieder kann man den Erfolg einzelner Aktionen anführen. Trotzdem bleiben meine Bedenken. ( à -QR-Info-73) Ich möchte noch einen allerletzten Punkt hinterherschieben. Nachdem die Plagiate von Karl-Theodor zu Guttenberg bekannt geworden waren, rollten Protest- und Unterstützungswellen durchs Land. Die einen fühlten sich beschädigt, als ehrliche Menschen, als ehrliche Wissenschaftler. Einige von ihnen engagierten sich auf dem »GuttenPlag Wiki« (s. Kapitel »Plagiate in Studium und Beruf«). Die anderen sahen einen populären Politiker beschädigt. Natürlich ploppten auch auf Facebook zig Fangruppen auf, und Zehntausende »demonstrierten« für »ihren« Minister. Als er gefallen war, meldete er sich - ebenso populistisch wie populär - bei seiner Fangemeinde und bedankte sich bei ihr. Allerdings war bereits aufgefallen, dass es viele Unterstützer im Virtuellen gab und wenige auf der Straße. Nun lassen sich auf Facebook bekanntlich vor allem die Massen mobilisieren, die auf Facebook verbleiben. Es kam aber noch etwas anderes hinzu: Zahlreiche der Sympathisanten waren Chimären. Mit Unterstützung von manipulativen Medien waren Fake-Accounts eingerichtet worden. Eine Blase platzte nach der anderen. 192 Die Rache der Nerds Haben eigentlich Kinder und Jugendliche ein Recht auf informationelle Selbstbestimmung? Bekanntlich hat das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil aus dem Jahre 1983 anerkannt, dass es in Deutschland ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gibt, mit dem »Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen«. ( à -QR-Info-74) Im Urteil wird nicht zwischen Erwachsenen und Minderjährigen unterschieden. Einwenden kann man, dass Eltern die Daten ihrer Kinder immer wieder weitergeben müssen, etwa bei der Einschulung oder bei Anträgen auf Kindergeld. Natürlich müssen sie dafür keine Erlaubnis einholen. Dennoch ist zu fragen, wie weit die Eltern gehen dürfen. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung wird in Deutschland als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts angesehen und wie dieses verfassungsrechtlich aus Art. 2 Abs. 1 (allgemeine Handlungsfreiheit) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Unantastbarkeit der Menschenwürde) hergeleitet. Obwohl der Begriff der Menschenwürde unscharf ist, könnte er dafür geeignet sein, die informationelle Selbstbestimmung von Kindern und Jugendlichen zu präzisieren. Die UN-Kinderrechtskonvention (Convention on the Rights of the Child, CRC) nennt überdies ausdrücklich die Berücksichtigung des Kindeswillens (Artikel 12) und den Schutz der Privatsphäre und Ehre (Artikel 16) sowie, ausgehend von der Person des Kindes, die Meinungs- und Informationsfreiheit (Artikel 13) und den Zugang zu den Medien (Artikel 17). 52 Erstaunlich ist es, dass heutzutage hunderttausende Eltern bzw. Mütter und Väter und Erziehungsberechtigte die Daten ihrer Schützlinge einer breiten Öffentlichkeit bereitstellen, sei es über fernseh- und internetübertragene Videos, in denen Tollpatschig- und Niedlichkeiten vorgeführt werden, sei es - wie in meinem 20-Argumente-Post erwähnt - über Social Networks 193 Datensauger und -schleudern wie Google+ und Facebook, in denen sie Fotografien von der Geburt bis zur Pubertät hochladen (s. Kapitel »Das Recht am eigenen Bild«). Manche richten einen Account für jedes Baby ein. Über dessen informationelle Selbstbestimmung oder unantastbare Menschenwürde scheinen sie sich keine Gedanken zu machen, und auch nicht darüber, dass die Bilddaten ihrem eigenen Zugriff entzogen und für alle Ewigkeit im Internet (oder zumindest auf den Bändern und Platten der Unternehmen) verfügbar sein könnten. Vielleicht gehen sie davon aus, dass man die Kinder nicht in den Erwachsenen erkennen wird? Natürlich verändern sich viele Menschen mehr vom zehnten bis zum 20. Lebensjahr als vom 30. bis zum 40. Aber zum einen ist das Kind an sich schützenswert, auch wenn es sich in einen äußerlich ganz verschiedenen Erwachsenen verwandelt. Und zum anderen ist es ein Leichtes, gerade über neue Medien und soziale Netzwerke, Verbindungen zwischen den Bildern einer Person aller Altersstufen herzustellen. Das Baby wächst, wird zum Kleinkind, zum Kind, und mit ihm wächst das Recht auf Autonomie. ( à -QR-Info-75) Freilich handeln die Kinder und Jugendlichen in der Mehrheit ebenso fahrlässig, in Bezug auf ihre eigenen Daten und die Daten ihrer Freunde und Freundinnen, Feinde und Feindinnen. Aber: Es sind eben Kinder, und sie wissen nicht immer, was sie tun. Es wächst eine Generation von Selbstdarstellern und Fremdbestimmten heran, die noch vor ihrem 18. Geburtstag, vor Erlangung der vollen Geschäftsfähigkeit und des Wahlrechts, ihr junges Leben auf Websites, in Social Networks und auf Denunziationsplattformen dokumentiert und kommentiert finden. Wir täten gut daran, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung weit zu deuten und ernst zu nehmen. Im Herbst 2011 kündigte Mark Zuckerberg eine Neuerung an, die Datenschützer aufschreien und Facebook-Gegner wieder einmal am Verstand des Obernerds zweifeln ließ. Die Benutzer 194 Die Rache der Nerds erhielten die Möglichkeit, die Geschichte ihres Lebens zu erzählen. Ende 2011 wurde die Timeline bei der deutschsprachigen Version eingeführt, unter dem Namen »Chronik«. ( à -QR-Info-76) Millionen von Biografien, Millionen von Honigtöpfen für die Wirtschaft, die sich die Lippen leckte. Irgendwann wird es auch Facebook-Befürwortern zu viel sein - die angesprochenen Klagen wurden nicht nur von ausgesprochenen Gegnern eingereicht -, und sie werden ihren Stachel ausfahren, wenn er ihnen noch nicht gezogen wurde, und ihren Honig besser vor feindlichen Übergriffen schützen. Anonymität und Identifizierbarkeit Das bereits erwähnte Gebot für das deutschsprachige Usenet, den wirklichen Namen anstelle eines Pseudonyms zu benutzen, wurde trotz seiner Überzeugungskraft schon früh kontrovers diskutiert (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes«). Heute ist die Anonymität der Benutzer weit verbreitet, ja sie wird von vielen als selbstverständlich oder sogar als unabdingbar betrachtet. Aber ist sie wirklich in allen Zusammenhängen wünschenswert? Funktionieren persönliche Beziehungen und rechtsstaatliche Strukturen ohne den echten Namen? ( à -QR-Info-77) Eine Anregung des deutschen Innenministers Hans-Peter Friedrich in diesem Zusammenhang im Sommer 2011, nach dem Anschlag in Norwegen, wurde sofort entschieden bekämpft, obwohl niemand so genau wusste, was er eigentlich gemeint hatte, wahrscheinlich nicht einmal er selbst. Dabei ist es durchaus vernünftig, darüber nachzudenken, in welchen Bereichen wir Anonymität brauchen und in welchen sie schädlich ist. Einer der wenigen Experten, die der Anonymität gegenüber kritisch eingestellt sind, ist Jaron Lanier. In seinem Buch »Gadget« arbeitet er an mehreren Stellen heraus, was aus ihr 195 Anonymität und Identifizierbarkeit erwachsen kann. Dabei macht er - etwa im Zusammenhang mit Mobbing - auch einen Unterschied zwischen individuellen und kollaborativen Aktivitäten: Der Verfall der anonymen, fragmentierten Kommunikation erfolgt in erkennbaren Stufen. Solange noch keine Meute entstanden ist, beginnen einzelne mit dem Kampf. Das geschieht in der Online-Welt ständig. Sobald eine Hackordnung hergestellt ist, erreicht der Prozeß eine neue Stufe. Dann verhalten die Mitglieder der Meute sich freundlich zueinander und unterstützen einander, auch wenn sie sich gegenseitig zu immer stärkerem Haß auf Nichtmitglieder anstacheln. 53 Lanier stellt die bemerkenswerte These auf, dass die Ethik in der digitalen Welt auf dem (Web-)Design beruhe. Das zu Fehlverhalten einladende Design sei charakterisiert durch eine »mühelose, folgenlose, vorübergehende Anonymität im Dienst einer Zielsetzung wie der Förderung einer Meinung, die nichts mit der eigenen Identität oder Persönlichkeit zu tun hat« 54 . Von einer »beiläufigen« Anonymität spricht Lanier an der gleichen Stelle, und er fragt sich sogar, ob sie »die einst im Kommunismus und Faschismus benutzten Methoden verstärken« 55 könnte. Eine wenig diskutierte Frage ist, welche Konsequenzen es für Minderjährige hat, im Netz ohne ihren richtigen Namen aufzuwachsen. 56 In Kinder- und Jugendheften, in Ratgebern für das Internet, in Beiträgen von Pädagogen und Medienwissenschaftlern und auf einschlägigen Websites werden Heranwachsende davor gewarnt, im Web ihren eigenen, richtigen, realen Namen anzugeben. Die Warnung bezieht sich entweder auf bestimmte Räume wie Chats oder auf das ganze Netz. Auf educa.ch, dem Schweizer Bildungsserver, findet sich beispielsweise die folgende Aussage: Sagen Sie Ihrem Kind ausdrücklich, dass es niemals in einem Chat oder Blog Angaben zu seinem Namen, seiner Adresse, Telefonnummer oder zur Schule, zur Klasse, zum Lehrer machen darf, und schon gar nicht, wenn sich diese Angaben auf andere beziehen. 57 Obwohl der Satz ziemlich verunglückt ist, kann eine Kernaussage herausgeschält werden. Auf klicksafe.de - einem von der EU 196 Die Rache der Nerds geförderten Projekt - heißt es allgemeiner und radikaler: »Gib nie deine persönlichen Daten (Name, Adresse, Telefonnummer, Fotos oder Passwörter) im Internet weiter.« 58 Ohne Anonymität scheint man im Netz, wenn man noch nicht volljährig ist, dem Untergang geweiht zu sein. Wie lernen die Kinder und Jugendlichen aber, mit ihrem Namen für etwas einzustehen? Wie sollen sie als Personen Verantwortung übernehmen? Wie sollen sie persönlich eine Antwort erhalten, wenn sie nicht als Person erkennbar sind? Wie sollen sie stolz auf etwas sein, das ohne jeden Zweifel sie und nicht die anderen geschaffen haben? Wie werden sie Teil des Rechtsstaats, der sein Recht nicht ohne Grund auf Namen und Unterschriften baut? Wie bringt man ihnen bei, dass der Nickname lonelyboy18 oder catgirl14 nicht in jedem Kontext richtig ist? Wie erfahren sie, dass sie ohne ihren Realname nur halbe Menschen und womöglich schlechte Bürger sind? Die pauschale Forderung nach Anonymität im Netz ist falsch und fatal, nicht nur in Bezug auf Erwachsene, die sich selbst schützen können, wenn sie Glück und Verstand haben, sondern auch in Bezug auf Minderjährige. Sicherlich gibt es virtuelle Räume, in denen der reale Name nicht relevant ist oder sogar schädlich wäre. Chats können dem Rollenspiel dienen, dem Identitätswechsel, der Grenzüberschreitung. Man kann in ihnen durchaus ernsthafte Unterhaltungen führen und sich für die Realität verabreden; aber man kann sich nie sicher sein, ob man auf dem Marktplatz oder in dem Café statt dem hübschen Jungen nicht einen sabbernden Mann trifft. Medienkompetenz (und Menschenkenntnis) bedeutet in diesem Fall, das Grundsätzliche zu wissen und beim Konkreten die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Nun gibt es allerdings auch politische oder themenbezogene Chats, in denen sich die Benutzer über Gegenstände, Personen und Organisationen austauschen. Hier ist die Frage nach der Anonymität schon komplizierter und abhängig von Inhalten und 197 Anonymität und Identifizierbarkeit Zusammenhängen. Und von der Verwertung der entstandenen Gespräche, denn es ist durchaus ein Unterschied, ob die Worte flüchtig sind, Schall und Rauch, oder ob sie als Chatprotokoll zur Verfügung gestellt werden. Ist es korrekt und fair, wenn ein Politiker in einem Chat vor der Wahl von besserwessi_koeln, rechtesocke oder ulalala61 beschimpft wird? Oder ist es die erste Bürgerpflicht von besserwessi_koeln, seiner virtuellen Existenz ein Gesicht zu geben? Bei Foren und Blogs dürfte die Sache noch vielschichtiger sein. Es ist eher selten, dass man Beiträge postet, um mit sich und anderen ein Spiel zu spielen, oder bloggt, um eine gänzlich neue Identität zu schaffen. Man will sich vielleicht als ein Experte ausgeben, der man gar nicht ist, einen Mythos pflegen, für den sich niemand interessiert, oder eine Meinung äußern, um überhaupt ein Profil zu gewinnen. Dennoch ist eine gewisse Ernsthaftigkeit bei den meisten virtuellen Log- und Tagebüchern nicht von der Hand zu weisen, und zum Ausdruck kommt das schon dadurch, dass man Personen und Dinge beim Namen nennt. Das kann, wie gesagt, auch im Chat passieren, wobei es dort überwiegend ein räumlich und zeitlich begrenztes Getuschel ist und kein Schreiben an die Wand der Welt. Tatsache ist, dass hunderttausende Blogger persönliche Angaben verweigern, selbst wenn ihre Blogs als geschäftsmäßige Angebote einer Impressumspflicht unterliegen. Ein Jugendlicher, der ein solches geschäftsmäßiges Blog betreibt, hält sich in gewissem Sinne in der Erwachsenenwelt auf, und dass er dort den Schutzmantel der Anonymität trägt, ist nicht einzusehen. Was, wenn Personen oder Organisationen einen Schaden erleiden durch die Aussagen in seinem Blog, wenn die Seele schmerzt und der Kurs abstürzt? Der Vorschlag des Gleichgewichts der Namen wurde an verschiedenen Stellen vorgebracht, und man könnte ihn sowohl aus ethischer als auch aus rechtswissenschaftlicher Perspektive betrachten. Das Mindeste ist, dass man den Verursacher schnell 198 Die Rache der Nerds identifizieren kann, ganz gleichgültig, welchen Geisteszustand und welches Alter er hat; ob er dann belangt werden kann, ist eine andere, zu klärende Frage. Es geht indes nicht nur um Destruktives, es geht auch um Produktives; denn was ist das eigene Gedicht, das eigene Drehbuch, das man in der Community vorzeigen will, das eigene Foto, der eigene Film, wenn man den eigenen Namen nicht nennen darf? Was würde das Einhalten der sich auch auf Foren und Blogs erstreckenden Forderung nach Anonymität an Selbstentfaltung und Selbstwertgefühl kosten? Freilich kann man sich auch mit einer anderen Identität zu profilieren versuchen. Bei Animexx.com etwa lädt man seine Cosplay-Fotos hoch, seine dokumentierten Verwandlungen nach dem Vorbild von Figuren aus Mangas, Trickfilmen und Videospielen. Das Sichtbare gleicht das Nichtgenannte ein Stück weit aus, und nur wenige wollen unter ihrer Verkleidung vollständig verschwinden. Es wird deutlich, dass man genau hinschauen muss. Trotzdem gibt es Kontexte, in denen die Unverzichtbarkeit des eigenen Namens offensichtlich ist, die Notwendigkeit des Gleichgewichts der Namen ins Auge sticht. Ein Beispiel sind die guten, alten Leserbriefe, die man einschicken oder posten kann. In den gedruckten Medien ist es seit altersher üblich, dass man den Namen nur in seltenen Fällen unterschlägt, etwa wenn der sich äußernde Leser bei einer Preisgabe der Identität gravierende Nachteile zu befürchten hätte. Leserbriefe, die nicht unterzeichnet oder nicht eindeutig zuzuordnen sind, werden mit wenigen Ausnahmen nicht abgedruckt. Zumindest die Redaktion soll wissen, um wen es sich handelt, und im Bedarfsfalle nachfragen und handeln können. In den elektronischen Medien wird auf das Obligatorische der Namensnennung leichtfertig verzichtet, und zwar nicht nur von der neuen Generation der Unternehmen, sondern auch von den Online-Versionen der klassischen Medien wie Spiegel Online oder Süddeutsche.de. Eine Regist- 199 Anonymität und Identifizierbarkeit rierung führt höchstens dazu, dass die Betreiber den Namen kennen, und ob es der richtige ist, weiß nur der Benutzer. Leserbriefe können auch von Kindern und Jugendlichen geschrieben werden (auch wenn sie sie vielleicht nicht so nennen würden) und sind ein plausibles Beispiel für eine ernsthafte Äußerung im öffentlichen Raum. ( à -QR-Info-78) Für mich waren sie mit 14, 15, 16 Jahren - neben der Mitarbeit an der Schülerzeitung (s. Kapitel »Eine bessere Schreibmaschine«) - eine wichtige Möglichkeit, mich öffentlich und kritisch zu äußern. Die pauschale Empfehlung der Anonymität bedeutet, dass der junge Einsender seinen Namen verschweigen soll. Aber ist dies wirklich angemessen, wenn er sich mit einem seriösen Beitrag einer erwachsenen Person auseinandersetzen und ihn mit seiner eigenen Meinung ergänzen will? Auch hier müssten die Regeln der Welt der Erwachsenen gelten, was gar nicht so einfach ist, wenn sie im allgemeinen Rausch der Anonymität verloren gehen. Der Rausch der Anonymität hat weite Bereiche unserer Gesellschaft erfasst. Es sind eben nicht nur die entfesselten Benutzer selbst, die neues, unbekanntes Terrain erobern. Es sind nicht nur die Medien, die sich etwas von der Eroberung erhoffen, wenn nicht eine neue Heimat, dann doch ein bisschen Gold, geschürft von den fleißig klickenden Lesern. Es sind nicht nur die Eltern, die fassungslos vor neuen Verhaltensoptionen und -weisen stehen, die sie nicht ansatzweise einordnen können, und die lautesten Meinungen mitbrüllen. Sondern es sind auch die Wissenschaftler und Experten, die sich den neuen Fragen aufgeklärt nähern und sie auf einer rationalen Grundlage beantworten sollten. Während sie das eine betrachten, das Medium und seine Benutzer, gerät ihnen das andere aus dem Blick, die Bedeutung der Namen für unsere Kultur. Sie erkennen bestenfalls die Gefahr und springen aus dem Fenster, oder vielmehr, sie lassen aus dem Fenster springen. Eine Jugend ohne Namen 200 Die Rache der Nerds wird eine nicht erstrebenswerte sein. Ein wirklicher Experte sollte zunächst einmal jedes Wort auf die Goldwaage legen. Er sollte Empfehlungen aussprechen und die Einwände dagegen ernst nehmen, auch die Einwände der Zeit. Er sollte theoretisch scharf argumentieren und pragmatisch verfahren können. Denn es sind wirklich andere Zeiten angebrochen, und es ist schwierig, zeit- und menschengemäß zu reagieren. Was also tun? Mehr als genereller Warnungen, die in die Irre führen können, bedarf es einer differenzierten Sicht auf die virtuellen Räume. So wie wir uns zu Hause anders verhalten als auf der Straße, auf einer Party anders als im Büro, benötigen wir unterschiedliche Verhaltensregeln für unterschiedliche Bereiche im World Wide Web (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes«). Wenn wir unsicher sind, ob wir unseren Namen nennen sollen, müssen wir überlegen, ob wir an dem Ort, an dem wir angekommen sind, überhaupt aktiv sein sollen. Wir müssen nicht überall sein im Web, es genügt, wenn wir dort sind, wo wir uns selbst sein können. Wir selbst, das können lonelyboy18 und catgirl14 in einem Chat sein, aber auch Werner Maier und Lisa Müller in einem Forum oder in einem Social Network (wo eher das Gegenteil der Anonymität das Problem ist). So wie Kinder und Jugendliche in der realen Welt nicht überall Zugang haben, sollten ihnen Teile der virtuellen Welt verschlossen bleiben bzw. sollten sie wissen, dass sie dort nichts verloren haben. Und auch sie können sich das Gleichgewicht der Namen vor Augen führen und sich fragen, ob sie die vielleicht notwendigen Auseinandersetzungen anonym oder nichtanonym führen wollen. Aufklärung ist das Gebot der Stunde, nicht um das Verbotene verlockender zu machen, sondern um das zerstörerische Moment der schönen neuen Welt vor Augen zu führen. Eigentlich wissen junge Menschen genau, was es bedeutet, gemobbt, verleumdet, an den Rand gedrängt zu werden. Wir müssen erreichen, dass sie dieses Wissen zum richtigen Zeitpunkt pa- 201 Anonymität und Identifizierbarkeit rat haben und in richtiger Weise anwenden; wir brauchen neue Konzepte in den Schulen und Hochschulen, verlässliche Hilfestellungen für die Erziehenden und neutrale Anlaufstellen bei Fragen und Problemen. Lassen wir der Jugend ihren Lauf und helfen ihr gleichzeitig dabei, den Wert ihres Namens zu bewahren. Als Leserbriefe per E-Mail erlaubt wurden, mussten die Redaktionen umdenken. Auf eine Unterschrift verzichtete man, der Name war nach wie vor obligatorisch, und als Adresse hatte man mindestens diejenige des E-Mail-Accounts. Die Online-Redaktionen verfuhren von Anfang an anders. Sie stellten die Prinzipien ihrer großen Schwestern und Brüder - oder sind es die Mütter und Väter? - auf den Kopf. Manchmal kennen sie die gute, alte Tradition vielleicht gar nicht, etwa wenn sie mit der Printredaktion nur lose verbandelt sind. Trotzdem arbeiten dort Journalisten (und nicht nur Content-Produzenten), die eigentlich wissen müssten, was sie angerichtet haben. Oder sind es die Informatiker und Wirtschaftsinformatiker, die den Ton angeben (der ein Misston ist), wie in immer mehr gesellschaftlichen Bereichen? Verändern sie die Zeitungen und Zeitschriften so, wie die Nerds von Facebook die Kommunikation ad absurdum geführt haben? Oder sind es die Marketingleute, die auf der Jagd nach möglichst vielen Klicks sind? Es sind wahrscheinlich alle, und alle tragen eine enorme Verantwortung. Die Mehrzahl der Medien gehen mit Kommentaren auf ihren Online-Plattformen in geradezu fahrlässiger Weise um. Um konkret zu werden, soll ein investigativer Blick auf die jahrelange Praxis einer Schweizer Zeitung geworfen werden. Der Tages-Anzeiger (genauer gesagt seine Informatik- oder Kommunikationsabteilung) macht seinen Job im Online-Bereich weder besonders gut noch besonders schlecht, womit er stellvertretend für tausende Medien dieser Art stehen mag. Wenn ein Artikel erschienen ist, kann man als Leser in der Regel zur Tat schreiten (nur in wenigen Fällen ist keine Interaktion möglich). 202 Die Rache der Nerds Man füllt ein paar Felder aus und schickt seinen Kommentar ab. Man muss Vorname und Nachname eingeben. Zudem werden die E-Mail-Adresse, die Postleitzahl und der Wohnort verlangt. Eigentlich ist diese Kombination nicht schlecht - wenn man etwas mit ihr anfängt. Manche Anbieter senden nämlich nach dem Abschicken des Kommentars eine Nachricht an die E- Mail-Adresse und bitten um eine Bestätigung. Typischerweise ist dieser Vorgang automatisiert, und der Leser muss lediglich einen Link anklicken. Hat er die falsche E-Mail-Adresse hinterlassen, erhält er die Nachricht nicht, und der Beitrag wird nicht freigeschaltet. Eine andere Methode ist die vorherige Registrierung. Ähnlichkeiten bestehen in beiden Fällen mit dem traditionellen Leserbrief, der per E-Mail zur Redaktion gelangt. Dass Vorname und Nachname richtig sind, ist mit keinem Verfahren gewährleistet, aber immerhin könnte die Redaktion über die E- Mail-Adresse bzw. weitere Angaben Nachforschungen anstellen und sich zusätzlich die IP-Adresse zunutze machen. Wenn man Vor- und Nachname verlangt, auf eine echte Registrierung oder eine elektronische Bestätigung aber verzichtet, lädt man zum Missbrauch ein. Warum sollte sich Lisa Müller nicht Werner Maier nennen? Und warum sollte sie nicht endlich ihrem Nachbarn eins auswischen, der tatsächlich Werner Maier heißt? Oder der, viel schlimmer, einen seltenen Namen hat, den sich Lisa Müller borgt? Und der dort wohnt, wo sie es haben will? So kann man Online-Redaktionen mit Kommentaren beehren und den Ruf von unbescholtenen und nichtsahnenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern und von unliebsamen Zeitgenossen beschädigen. Das Ungleichgewicht der Namen wird um eine weitere Variante »bereichert«: Ein richtiger Name wird verwendet, doch mit einer falschen Identität. Dass die Zeitung auf der Angabe eines Vor- und Nachnamens besteht, ist eigentlich löblich. Auf etlichen Plattformen kann man mit jedem beliebigen Nickname daherkommen. Man kann 203 Anonymität und Identifizierbarkeit als rechtsvorlinks70 einen Roger de Weck oder einen Oskar Lafontaine beschimpfen oder als singing_lena die Namenscousine. In einem Disclaimer des Tages-Anzeigers wird behauptet: »Kommentare mit Fantasienamen oder mit ganz offensichtlich falschen Namen werden ebenfalls nicht veröffentlicht.« Aber wie will die Zeitung entscheiden, ob Werner Maier ein Fantasienamen oder ein richtiger Namen ist? Wie will sie auch nur ein bisschen Sicherheit haben ohne die skizzierten Verfahren, die immerhin von der einen oder anderen Plattform angewendet werden? Im Grunde macht man alles richtig, wenn man sich nicht gerade Lucy Luder nennt. Einen Rudi Ratlos habe ich bereits entdeckt, und vielleicht hat sich der wachhabende Redakteur gedacht, dass man so durchaus heißen kann, wenn man diese Zeitung liest. Natürlich trägt Rudi Ratlos genauso zu einem Ungleichgewicht der Namen bei, wenn er über Cedric Wermuth oder Christoph Blocher herzieht, wie ein Benutzer, der automatisch unter »Gast« firmiert oder eben rechtsvorlinks70 heißt. Nachdem man den Beitrag abgeschickt hat, wird er angeblich von der Redaktion geprüft und dann gegebenenfalls freigeschaltet. Es fällt auf, dass zahlreiche hetzerische Kommentare vorhanden sind, und es fragt sich, was die Redaktion genau prüft. Im Prinzip erfährt man das in dem genannten Disclaimer: Die Redaktion behält sich vor, Kommentare nicht zu publizieren. Dies gilt ganz allgemein, aber insbesondere für ehrverletzende, rassistische, unsachliche, themenfremde Kommentare oder solche in Mundart oder Fremdsprachen. Es wäre schön, wenn die Verantwortlichen die Kommentare nach ihren eigenen Regeln überprüfen würden. Faktisch werden jede Menge ehrverletzende, rassistische und unsachliche - wie auch wahrheitswidrige - Kommentare freigeschaltet; dafür gehen Kommentare, die das Gebaren der Zeitung thematisieren, auffällig häufig verloren. Wahrscheinlich gehören diese grundsätzlich nicht zum Thema. 204 Die Rache der Nerds Schön wäre es auch, wenn die Verantwortlichen dem Leser wie beim traditionellen Leserbrief erlauben würden, sich der Sache angemessen zu äußern. Zugelassen sind bei einem Kommentar aber nur 400 Zeichen (NZZ Online erlaubt immerhin 950). Mit 400 Zeichen kann man wenig ausdrücken, außer wenn man Gedichte schreiben darf, und man ist fast dazu gezwungen, oberflächlich und grob zu sein - oder einen Link auf einen längeren Artikel oder Post einzubauen. Tatsächlich lässt die Zeitung solche Links zu. Damit lädt sie sich eine nicht geringe Verantwortung auf, denn sie müsste eigentlich die entsprechenden Websites kontrollieren. Zudem entlässt sie ihre Leserinnen und Leser auf andere Seiten, was zumindest den Geschäftsführern und den Marketern im eigenen Haus nicht ganz recht sein dürfte. Sie sind es, die nach möglichst vielen Kommentaren und möglichst vielen Klicks verlangen. Klicks bedeuten Geld; deshalb bieten Zeitschriften wie Spiegel Online so viele Foto- und Textstrecken an und sind so erfolgreich in ihrem Metier. Wie die Zeitschriften und Zeitungen mit den Kommentaren umgehen, ist nicht nur unmoralisch, sondern kann auch rechtlich problematisch sein - und teuer werden. Sie setzen auf Masse, und wenn jemand beschädigt wird, kann er Entschädigung verlangen. Dies kann er auch, wenn in seinem Namen ein paar Leserbriefe geschrieben wurden, die ihn in ein falsches oder intime Stellen ausleuchtendes Licht rücken. Die Zeitungen und Zeitschriften setzen auf Masse, auf eine Flut von Klicks, und für Anwälte wären die Kommentare womöglich ein einträgliches Geschäft. Im Moment sind sie aber noch zu sehr mit Klagen zum Urheber- und Vervielfältigungsrecht beschäftigt. Doch noch einmal zurück zu der Zeitung. Wenn einem ein Kommentar nicht gefällt, kann man ihn als Regelverstoß melden. In einem Formular wird man gefragt: »Sie sind der Meinung, dass dieser Kommentar gelöscht werden sollte? « Und wenn man der Meinung ist, muss man den Namen, die E-Mail-Adresse 205 Anonymität und Identifizierbarkeit und den Grund eintragen. Die Zuständigen - davon kann man sicherlich ausgehen - prüfen den Vorwurf nach bestem Wissen und Gewissen, ob sie Redakteure oder Volontäre sind. Noch besser wäre es freilich, wenn es zu bestimmten Kommentaren erst gar nicht kommen würde. Die Online-Redaktionen müssen dringend umdenken und die gute, alte Tradition des Leserbriefs erinnern oder entdecken. Und sie müssen sich einem Missbrauch entgegenstemmen, der das Web zu einem unangenehmen Ort gemacht hat, zu einem Ort, an dem der Mob regiert. Ich habe den Tages-Anzeiger, den ich früher, vor allem in der geschriebenen Form, sehr geschätzt habe, in mehreren Blogposts getriezt. Gut möglich, dass diese gelesen wurden, zumal die Zeitung über mich berichtet hat, übrigens überaus freundlich. Sicherlich hat die Zeitung auch von anderen Personen und auf anderen Plattformen Hinweise erhalten. Und 2011 geschah es eben, dass der Kommentarbereich leicht umgestaltet und zusätzlich eine Anmeldung über das Facebook-Konto angeboten wurde. Das schließt freilich alle aus, die kein Konto bei diesem mehr oder weniger sozialen Netzwerk haben. Das Problem löst es ein Stück weit. Viele Menschen sind auf Facebook - ganz im Sinne der Betreiber - unter ihrem realen Namen unterwegs. ( à -QR-Info-79) Es ist allerdings ein fragwürdiger Umweg, den die Zeitung erzwingt. Sie hängt sich ohne Not an die Authentifizierung eines Unternehmens an, das eine höchst zweifelhafte Reputation besitzt und für hemmungslosen Datenklau und intensive Datennutzung bekannt ist. ZEIT ONLINE erlaubt seit 2009 die anonyme Kommentierung von klassischen Leserbriefen. Diese - ob per Briefpost oder per E-Mail zugestellt - werden im Web veröffentlicht, mit dem Namen und dem Ort der Schreiberinnen und Schreiber, wie bei klassischen Leserbriefen üblich. Der Kommentierende darf sich hinter seinen Nickname und in seine Ortslosigkeit zu- 206 Die Rache der Nerds rückziehen. Ich habe das Mitglied »Leserbrief« damals darum gebeten, dass das Konzept der Anonymität überdacht wird. Bedauerlicherweise habe ich keine Antwort erhalten. Übrigens ist die Online-Zeitung in einem Punkt eine löbliche Ausnahme: Sie überprüft jeden Kommentar, und wenn beleidigt, gehetzt oder zu Straftaten aufgerufen wird, zieht man Konsequenzen wie beim klassischen Leserbrief. Es wäre zu begrüßen, wenn man sich seiner Verantwortung vollumfänglich bewusst werden und die Kommentatorinnen und Kommentatoren ihre Verantwortung tragen lassen würde. In Unrechtsstaaten gelten natürlich ganz andere Regeln. Wer bei seinen Kommentaren um sein Leben fürchten muss, tut gut daran, seine Identität zu verbergen. Wenn man ihn lässt: Chinas Regierung möchte zum Beispiel, dass sich die Nutzer des Microblogs Sina Weibo eindeutig identifizieren lassen. Und es kann Zusammenhänge in Rechtsstaaten geben - jenseits von Chats und Spielewelten -, in denen die Offenlegung der Identität fragwürdig erscheint, etwa wenn man von einem Anbieter systematisch analysiert wird. Hier wird es freilich schwierig, denn längst wird unsere Kommunikation, werden unsere Posts und Tweets nicht mehr nur vom Geheimdienst und von der Polizei, sondern auch von Unternehmen und Privatleuten ausgewertet und verwertet. WikiLeaks, OpenLeaks und Anonymous haben die Diskussion nochmals auf eine andere Ebene gebracht. Es scheint Gebiete zu geben, in denen die Anonymität zumindest zunächst unausweichlich zu sein scheint. Ein Whistleblower muss manchmal um seinen Job, manchmal um sein Leben fürchten. Übrigens legte auch Google großen Wert darauf, dass man mit seinem echten Namen in dem sozialen Netzwerk mit dem + auftrat. Google plus Realname, konnte man sagen, war die Vision. Man baue eine Plattform auf, auf der man identifiziert werden können solle, meinte Eric Schmidt. 59 Erst Anfang 2012 207 Die digitale Unterschrift änderte der Konzern seine Politik und erlaubte - unter gewissen Einschränkungen - Pseudonyme. Meine Position in diesem Zusammenhang ist deutlich geworden: Wenn man über sein Profil andere bespricht und bewertet, sollte man innerhalb von Rechtsstaaten seinen eigenen Namen nennen. ( à -QR-Info-80) Wenn man aber zum Beispiel nur mit Freundinnen und Freunden kommuniziert, sehe ich diese Notwendigkeit nicht. In diesem Falle sollte man sich vor Google und allen Mitlesern schützen. ( à - QR- Info-81) Die digitale Unterschrift »Gefühl ist alles«, spricht Faust zu Margarete, »Name ist Schall und Rauch«. Treffender könnte man die Entwicklungen im Web nicht beschreiben (s. Kapitel »Anonymität und Identifizierbarkeit«). Wenn sich der Name auflöst, was ist dann mit seinem Gesicht, mit der Unterschrift? Was ist mit ihren Winkeln, ihren Linien, ihren Bogen? Verschwinden sie im realen Raum, erscheinen sie im virtuellen; oder sind sie gerade dort vom Verschwinden bedroht? Margarete übrigens antwortet Faust mit den Worten: »Das ist alles recht schön und gut; ungefähr sagt das der Pfarrer auch, nur mit ein bisschen andern Worten.« 60 Aber verlassen wir den deutschen Dichterfürsten und sein berühmtes Drama und werfen wir einen Blick in die eher prosaische Schweiz. An den Schaltern der Schweizerischen Post muss man seit einiger Zeit auf einem kleinen Display signieren. Diese Praxis wirft Fragen auf. Zunächst einmal ist unklar, was mit der digitalen Unterschrift passiert. Auch Unternehmen, die das Verfahren seit langem einsetzen, wie der United Parcel Service (UPS), unterrichten die Unterschreibenden selten. Sie halten einem das Gerät hin und verlangen die Signatur. Die digital erstellte Unterschrift dürfte von der auf Papier erbrachten abweichen. 208 Die Rache der Nerds Auf dem kleinen, glatten Display schreibt es sich schlecht, sodass krakelige Linien und Bogen entstehen. Wie ist es um die Gültigkeit dieser Unterschrift bestimmt? Wie weit darf man vor diesem Hintergrund vom Original abweichen? Wie leicht wird es Betrügern gemacht, eine der Abweichungen zu treffen? Und ein ganz anderes Thema in diesem Zusammenhang: Werden die geleisteten Unterschriften miteinander verglichen? Werden Schreibprofile erstellt? Werden Vorgang und Schriftbild miteinander in Beziehung gesetzt? Gefahren und Probleme gibt es zuhauf. Es wäre an der Zeit, dass die Post mit ihren Kunden ins Gespräch kommt. Wäre die digitale Unterschrift in dieser Form nicht eine Basis für E-Commerce? Man könnte ein Board neben dem Computer liegen haben, wie es für die Erstellung von Zeichnungen üblich ist. Oder ein beliebiges Display. Oder ein Smartphone; dieses müsste nicht einmal mit dem Computer verbunden sein, sondern könnte selbst ins Internet gehen. Oder man schreibt direkt auf den Bildschirm, was bequem ist, wenn es sich um einen Tablet-PC oder einen Tablet-Computer handelt. Eine Identifizierung und Verifizierung, die nicht auf einer elektronischen Identität aufbaut, sondern auf der guten alten Handschrift, auf der unverwechselbaren Schreibung des eigenen Namens, auf dem Blick in das einzigartige Gesicht. Aber dann kämen eben nicht nur etliche Anbieter in den Besitz einer Unterschrift, sondern sie könnten diese sofort weiterverarbeiten und abspeichern, und wenn Datenbanken mit den Unterschriften gehackt würden, hätten wir den GAU. Aber passiert das nicht eh? Scannen die Unternehmen nicht jetzt schon Unterschriften ein und machen sie nicht schon jetzt von der digitalisierten Form Gebrauch? Zum Teil ist dies sicherlich der Fall. Aber im Rahmen des E- Commerce würde man eine erhebliche Masse erzeugen. Auch bei diesen Entwicklungen gilt, dass Nerds sich etwas ausgedacht haben bzw. auf Wunsch der Unternehmen ausden- 209 Mobbing und Denunziation ken mussten und die Implikationen mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht bedacht und mit großer Wahrscheinlichkeit nicht kommuniziert wurden. Wir werden wieder in eine Rolle gedrängt, in die Rolle von Benutzern und Benutzten, wir müssen uns wieder an die Maschinen anpassen, damit sie unsere Eingaben verarbeiten können, und wir erfahren nicht, was mit den maschinenverarbeiteten Daten passiert (s. Kapitel »Cyborgs und Maschinenmenschen«). Und ganz nebenbei entfremden wir uns unserer Unterschrift. Es ist ein wichtiger Moment im Leben eines Menschen, wenn die Unterschrift eine verlässliche, gültige Form angenommen hat, die nur noch beständig altert. Und diese Form verliert sich jetzt im Ungefähren. Vor kurzem kam die Post, irgendeine Post, und ich musste auf einem kleinen, mobilen Gerät unterschreiben. Das Ergebnis war etwas, das meiner Unterschrift nicht sehr ähnlich sah. Der Mitarbeiter fragte mich, ob das meine Unterschrift sei. »Äh«, sagte ich, »ja, oder vielmehr nein.« Man habe Probleme mit den Geräten, erklärte er, und ich solle nochmals unterschreiben. Also nicht nur Geräte, auf denen sich schlecht unterschreiben ließ, sondern die die Unterschrift unkenntlich machten. Ein Softwarefehler, mit großer Wahrscheinlichkeit, das Produkt eines durchgedrehten Nerds. Ich unterschrieb nochmals, in der Hoffnung, dass ich immer noch dasselbe unterschrieb. Eigentlich kann man nie wissen, was man bestätigt und quittiert bzw. welchem Vorgang die Unterschrift zugeordnet wird. Das zweite Ergebnis war nicht besser. Aber wir beließen es dabei. Mobbing und Denunziation Mobbing und Denunziation sind weit verbreitet in Social Networks, in Blogosphären (in den Posts der Blogs ebenso wie in den Kommentaren), in Diskussionsforen und in Chats. ( à -QR-Info- 82) Die Angreifenden verstecken 210 Die Rache der Nerds sich oft hinter einem Pseudonym, sind also nicht gewillt, mit ihrem Namen zu ihren Äußerungen zu stehen und die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen. Die Medien unterstützen die Entwicklung, indem sie - etwa bei der Kommentarfunktion - Pseudonyme und Nicknames zulassen (s. Kapitel »Anonymität und Identifizierbarkeit«) und zugleich nicht ausreichend filtern. Denunziationsplattformen wie Rottenneighbor.com, DontDate- HimGirl.com und www.isharegossip.com eröffneten qualitativ und quantitativ neue Möglichkeiten. Sie haben allerdings eine niedrige Lebenserwartung; auf Rottenneighbor.com kann in Europa seit Jahren nicht mehr zugegriffen werden, und auch www. isharegossip.com hat das Zeitliche gesegnet. spickmich.de, nicht als Denunziationssondern als Lehrerbewertungsplattform angelegt, behauptet sich trotz Rechtsstreitigkeiten seit Jahren. Nicht nur im politischen Raum tritt das Phänomen des Negative Campaigning auf. ( à -QR-Info-83) In einer Studie wurde festgestellt, dass sich Kinder und Jugendliche heute nicht erst, wie früher, um die Mittagszeit zu prügeln beginnen, sondern bereits am frühen Morgen (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes«). Experten und Praktiker standen eine ganze Weile vor einem Rätsel, denn auch sie wissen nicht immer, was ihre »Gegenstände« und Schützlinge den ganzen Tag so treiben. Schließlich gab es erste Vermutungen und Hinweise, und die Studie lieferte den Nachweis: Die Kids bekriegen sich in Social Networks, in Chats, in Diskussionsforen, in Communities, in Spielewelten, bis spät in den Abend hinein. Am nächsten Morgen lassen sie den Druck ab, der sich bei manchen noch während der Nacht weiter angestaut hat. Sie identifizieren die Jungen und Mädchen, die sie im virtuellen Raum geärgert haben, im realen Raum, und hauen ihnen real eins auf die Nase. Das geht freilich nur, wenn man sich erkannt hat, wenn der Nickname vielleicht vorhanden, aber entschlüsselt war, oder wenn die Kids unter ihrem Realname auf der Bühne des Internets aufgetreten sind. 211 Mobbing und Denunziation Durch die Medien der Welt ging der Fall eines jungen Mädchens, das von einer (zumindest physisch) erwachsenen Frau getäuscht wurde, indem diese sich hinter der erfundenen Identität eines Jungen versteckte. Rollenspiele sind in virtuellen Räumen weit verbreitet, und es ist grundsätzlich nichts gegen sie zu sagen. Es gibt Räume, in denen man sich bewusst sein muss, dass man in ihnen falsche Charaktere vorfindet. Die Frage ist freilich, ob sich auch die jüngsten Benutzer dieses Umstands bewusst sind, und an anderen Stellen führe ich aus, dass das Web womöglich in weiten Teilen ungeeignet für Kinder ist (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes« und »Anonymität und Identifizierbarkeit«). Was die Frau allerdings dem Mädchen gegenüber unternahm, war weit entfernt von einem gewöhnlichen Rollenspiel. Ungewöhnlich war zum Beispiel, dass sie bei einer einzelnen Kommunikationspartnerin blieb und sie die fremde Identität durchhielt und ausformte. Sie wollte von Anfang an nicht spielen, sondern täuschen. Sie wollte erreichen, dass sich das Mädchen in den Jungen verliebte, dessen Identität sie frei erfunden hatte. Und sie erreichte es; das Mädchen verliebte sich, und als die echte Frau dem falschen Jungen Beleidigungen diktierte, verzweifelte die Verliebte und brachte sich um, im zarten Alter von 13. ( à -QR-Info-84) Eine Frage in diesem Kontext ist, was passiert, wenn verschiedene Kulturen und Rechtssysteme aufeinander prallen. Im Moment ist die Situation äußerst unbefriedigend. Religiöse Hetzplattformen wie kreuz.net werden in deutscher Sprache betrieben. In der Sprache der Dichter und Denker wird gegen »Heiden« und Schwule hergezogen. Diese können sich nicht wehren, selbst wenn sie persönlich und namentlich angegriffen werden, weil der Anbieter in den USA sitzt und dort eine befremdende Meinungsfreiheit genießt. Sowohl Sprache als auch Adressaten wären Kriterien für eine Revision der nationalen Rechte, die in Bezug auf das Internet einen internationalen Überbau be- 212 Die Rache der Nerds nötigen. Auch das Betroffensein wäre zu berücksichtigen; das erwähnte Rottenneighbor hat es jahrelang zugelassen, dass rote Häuschen nicht nur auf dem virtuellen Boden der USA, sondern ebenso der Schweiz, Deutschlands und Österreichs gebaut wurden. ( à -QR-Info-85) In Bern, Berlin und Wien wurden Leute beleidigt und beschimpft, sie wurden mit Drogenhandel und Kindsmissbrauch in Zusammenhang gebracht. Aber da sie in einem anderen Land als der Anbieter waren, konnten sie sich nicht ernsthaft wehren. Nicht nur die »Kleinen«, auch die »Großen« trifft es. Karl- Theodor zu Guttenberg und Christian Wulff haben 2011 und 2012 den Spott und die Häme der »Netzgemeinde« auf sich gezogen. Und auch Joachim Gauck musste 2012 erheblichen Widerstand spüren. Eigentlich sollte man den Begriff der Netzgemeinde meiden; es gibt keine homogene Gruppe im Netz, und das einzige gemeinsame Merkmal ist, dass man dieses benutzt. Auf jeden Fall zogen die beiden zuerst genannten Politiker die Blogger und Twitterer an wie Licht bzw. Kot die Fliegen. Im Januar 2012 waren Tweets mit dem Hashtag #wulfffilme (ein Hashtag ist ein Schlagwort auf Twitter) außerordentlich beliebt bei der deutschsprachigen Twitter-Community; in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz wurden Filmtitel wie »Einer flog übers Eigenheim«, »onkel wulffs hütte« und »Liebling, ich habe die Würde des Amtes geschrumpft« erfunden. Internetphänomene dieser Art werden auch Meme genannt, und offensichtlich - dies haben Stellungnahmen der Politiker und anderer Menschen gezeigt - werden sie von den Betroffenen durchaus (unter Schmerzen) wahrgenommen. Von Mobbing und Denunziation muss man in vielen Fällen gar nicht sprechen; vielmehr wird das Web gerne für humorvolle, pointierte Statements genutzt. Manchmal schlägt das Humorvolle freilich um ins Bösartige. Als Bettina Wulff als Escort-Girl dargestellt wurde, ist die grandiose Titanic nicht zum ersten Mal aufgelaufen. ( à -QR-Info-86) 213 Der Verlust der Privatheit Der Verlust der Privatheit Wenn wir in den 1970er- und 1980er-Jahren telefoniert haben, geschah dies meistens diskret. Wenn der Apparat nicht gerade im Flur stand und die Verwandtschaft lange Ohren machte. Ich habe das Glück, in einer Telekommunikationsfamilie aufgewachsen zu sein. Meine Mutter war Fräulein vom Amt im ursprünglichen Sinne und vermittelte Gespräche. Mein Vater, ebenfalls beim Fernmeldeamt - der späteren Telekom - tätig, war eher für die Randbereiche der Kommunikation zuständig, zuletzt für das Kabelfernsehen. In fast jedem Zimmer unserer kleinen Wohnung war eine Fernsprecheinrichtung. Zuerst handelte es sich um graue Ungetüme mit dicken Wählscheiben und schweren Griffen. Später gehörten wir zu den ersten, die farbige Apparate mit Tasten ausprobieren durften. Man tauchte den Finger nicht mehr in die kreisrund angeordneten Löcher, bis Nagel oder Kuppe auf einen Widerstand trafen, sondern drückte halbe Würfel in das Gehäuse, die nicht mit Punkten, sondern mit Nummern versehen waren. Wir hatten sehr lange Nummern, nämlich Dienstnummern. Diese wählte ich selten, allenfalls, wenn ich bei Freunden war, oder von einer Telefonzelle aus. Man telefonierte nicht so häufig. Und trotzdem kannte ich sie auswendig. Wen ich häufig anrief, war die Dame von der Zeit. Ich mochte ihre beruhigende, synthetische und dennoch sympathische Stimme. »Beim nächsten Ton ist es …«, begann sie, und dann sagte sie die genaue Uhrzeit - und man hörte den angekündigten Ton. Wenn ich etwas einzuwerfen versuchte, begann sie wieder mit den bekannten Worten, sagte eine neue Uhrzeit an, und man hörte wieder diesen Ton durch die Leitung. Es war anders als das Vorrücken des Zeigers und doch genauso unausweichlich. Ich vermute, dass ich bei diesen frühen Flirts mit einer Maschine eine Ausnahme war; denn die anderen mussten die Anrufe bezahlen. ( à - QR-Info- 87) Es gab viele Telefondienste, 214 Die Rache der Nerds und vielleicht gibt es sie bis heute. Auch ein sogenanntes Poesietelefon wurde in unserer Region angeboten, Mitte der 1980er-Jahre, und wenn meine Gedichte zu hören waren, rief ich besonders häufig an. ( à -QR-Info-88) Wie es heute ist, muss man kaum näher erläutern. Wer häufig mit Bus, Tram, U-Bahn oder Zug unterwegs ist, hat das nicht versiegende Geschwätz der Mitreisenden zu ertragen - oder spricht selbst laut und vernehmlich mit einem Gegenüber, das für die anderen nicht nur unsichtbar bleibt, sondern auch unhörbar. Das ist, wie man inzwischen durch Untersuchungen weiß, besonders störend, weil einem die Hälfte der Kommunikation fehlt, die man mehr oder weniger bewusst mitverfolgt. Und weil man zwar wegsehen, aber kaum weghören kann. Wir sind Zeugen des Endes einer Beziehung, des Beginns eines Seitensprungs; oder wir erfahren, dass wir uns in der Nähe von Zürich, Salzburg oder München - »hallo, hallo? « - in einem Tunnel befinden. Es ist erstaunlich, dass im öffentlichen Raum nicht nur Privatheiten und Intimitäten aller Art, sondern ebenso Geschäftsgeheimnisse ausgeplaudert werden, und Arbeitgeber sich und ihre Mitarbeiter für dieses Problem offenbar zu wenig sensibilisieren. Manche Geheimnisse sollten Geheimnisse bleiben. Die Unternehmen sollten sich ihrer omnipräsenten Gelegenheitswhistleblower annehmen. ( à -QR-Info-89) Bereits in den 1990er-Jahren hatte es sich angedeutet. Bis dahin waren die Telefonzellen richtige Zellen gewesen. Wenn man drin war, war man drin. Und die anderen waren draußen. Und schlichen um die Zelle herum, wenn sie dringend telefonieren mussten. Manchmal war man mit Freunden oder Freundinnen in der Kabine. Das war lustig und eng. Manchmal sah man junge Leute, die sich am Boden rollten vor Lachen (so wie man das im Chat tut, wo man es eben ROFL oder ROTFL nennt). Dann, in den 1990er-Jahren, wenn ich mich richtig erinnere, tauchten 215 Der Verlust der Privatheit in Deutschland die Telefonboxen auf, mit der transparenten Schale vor dem bzw. um den Kopf. Plötzlich konnte jeder einem zuhören. Und jeder konnte so laut reden, dass es jeder hören konnte. Wenn ich bei einem solchen Apparat landete, sprach ich sehr leise und steckte den Kopf so weit wie möglich in die Schale hinein. Es war mir sehr unangenehm. Unangenehm war auch, dass man den Gesprächspartner kaum noch verstand. Die Hintergrundgeräusche hatten sich in den Vordergrund geschoben. Meine Nummern kann ich mir übrigens nicht mehr merken. Keine Ahnung, wie es anderen geht. Das Telefon ist nur ein Aspekt von vielen. Die Privatsphäre wird von allen Seiten bedroht. Und interessanterweise kommt die Bedrohung weniger vom Staat als vielmehr von den Bürgern. Was waren wir schockiert, als der deutsche Staat in den 1980er- Jahren ein paar belanglose Details von uns wissen wollte. Was haben wir oder unsere Eltern oder Großeltern gegen die Volkszählung gekämpft. Selbst die Staatshörigen rümpften die Nase und zogen die Brauen hoch. Im Zeitalter des WWW kann man darüber nur kichern. In Social Networks, in Blogs und Microblogs, in Communities und auf persönlichen Websites stellen sich Benutzer zur Schau und zur Diskussion. Sie sind keine öffentlichen Personen, verhalten sich aber als solche - und büßen ihre Privatheit und ihre Privatsphäre ein. Das Leben wird dokumentiert, wird als Chronik präsentiert, wobei die Verlässlichkeit des Gezeigten und Vermittelten nicht zwangsläufig ist. Wir zeigen alles, und was wir zeigen, manipulieren wir. Nicht nur das eigene Leben, auch das Leben der Kinder wird ausgestellt (s. Kapitel »Netiquetten, Leitlinien, Kodizes« und »Datensauger und -schleudern«). Eine künftige Bedrohung könnten Drohnen sein, die in unsere Wohnungen eindringen und uns bei den intimsten Verrichtungen begleiten (s. Kapitel »Überwachung im Alltag«). Wie groß oder wie klein wird die Privatsphäre eines Tages sein? ( à -QR-Info-90) 216 Die Rache der Nerds Das Szenario mit der Drohne habe ich in einem Roman aufgegriffen, der »Verlorene Schwestern« heißt und 2009 erschienen ist. Der Klappentext: Maik, ein 16-jähriger Junge, hat eine Drohne entwickelt, die einer Fliege gleicht und mit deren Hilfe er alles sehen kann, was er sehen will. Sein Plan ist, Prominente und Reiche auszuspionieren und, wenn er das ultimative Bild gefunden hat, zu erpressen. Nur seinem Tagebuch vertraut er sich an, einem digitalen Rekorder. Nancy, die früher als Mundmodell und für die Stasi gearbeitet hat, surft mit ihrer kleinen Maschine auf elektromagnetischen Wellen, bis sie auf Schallwellen trifft. Wie früher belauscht sie andere, aber ohne an verwanzte Räume gebunden zu sein - und nicht, um Böses zu schaffen, sondern um Böses zu verhindern. Maik und Nancy kommen über die ahnungslose Stadt. Sie wissen nichts voneinander, bis die Frau ein merkwürdiges Brummen hört. Fast eine Fliege. Aber eben nur fast. Am Schluss holt Nancy die Fliegenklatsche, und vielleicht ist rohe Gewalt ein Weg, sich zu wehren. Ein anderer (und eleganterer) ist die Entwicklung von Gegentechnologien (s. Kapitel »Technologiefreie Räume, Gegenstände und Lebewesen«). Man konstruiert einen Frosch, der in der Wohnung auf Fliegen lauert, die nicht echt zu sein scheinen. Wenn sie da sind, schnellt die lange, gummiartige Zunge heraus. Und kurz darauf hört man ein metallisches Knirschen. Überwachung im Alltag Drohnen sind noch nicht omnipräsent in Straßen und Gebäuden. Aber Videokameras und Webcams. Besonders weit ist in dieser Sache England gegangen. In den Städten hängen so viele Kameras, dass man jeden Tag hunderttausende Stunden Film produziert. Die Filme sind live, unzensiert und ungeschnitten, und sie zeigen Bewohner aller Art und in jeder Situation. Über EC- und Kreditkarten verraten wir den Banken, wo wir waren und was wir getan haben. Kundenkarten ermöglichen den Einzelhändlern die Erstellung persönlicher Profile. Durch mobile Dienste haben bestimmte Unternehmen ein noch genaueres 217 Überwachung im Alltag Bild von uns. Und wenn wir den Dienst Goggles benutzen, sieht Google durch unsere Augen. Millionenfach, wenn es gelingt, Millionen für diesen Dienst einzunehmen. Wir können kaum mehr einen Schritt in der realen Welt tun, der unbeobachtet wäre und der nicht automatisch verfolgt und analysiert werden könnte. Der Einsatz von Videokameras ist vielleicht sinnvoll in schlecht (aber nicht zu schlecht) beleuchteten, schlecht (aber nicht zu schlecht) einsehbaren Bereichen. Schon die Sichtbarkeit der Geräte könnte helfen, Übeltaten zu verhindern. Nur wenige lassen sich gerne bei Straftaten fotografieren oder filmen. Und durch die Auswertung des Materials könnten Übeltäter überführt werden. Die Studien zu diesem Problemkreis sprechen keine eindeutige Sprache. Manche Täter sind so abgebrüht, dass nicht einmal sichtbar angebrachte Kameras sie abschrecken, zumal diese in manchen Fällen Attrappen sind. Die Krawalle in England im Sommer 2011 haben das gezeigt. Andere sind zu betrunken, um über das Entdecktwerden nachzudenken. Und wieder andere weichen einfach in nicht überwachte Bereiche aus. Möglicherweise wären auch andere Maßnahmen sinnvoller. So könnte man z.B. Unterführungen in ihrer baulichen Struktur verändern, durchgehend taghell erleuchten oder regelmäßig von Sicherheitspersonal bzw. Polizei kontrollieren lassen, man könnte in Selbstverteidigung und in der Benutzung von Pfeffersprays schulen - alles Ansätze, die verfolgt werden. Oder man könnte versuchen, eine größere Zufriedenheit bei den Bürgerinnen und Bürgern herzustellen. Für unbescholtene Bürgerinnen und Bürger, die es übrigens nur in Ausnahmefällen gibt, da die meisten irgendwann im Laufe ihres Lebens gegen irgendein Gesetz verstoßen, bewusst oder unbewusst, scheint eine einzelne Foto- oder Videokamera, eine punktuelle visuelle Überwachung, kein Problem zu sein. Aber was ist, wenn man am Tag mehrmals von einer Kamera erfasst 218 Die Rache der Nerds wird (in Städten und Ballungsgebieten ist das der Normalfall), und was ist, wenn die Betreiber diese Daten aggregieren? Wer sind diese Betreiber überhaupt, und warum kennen wir in den meisten Fällen ihre Namen und ihre Bedürfnisse nicht? Warum fällt uns so selten ein Schild auf, auf dem über die Überwachung informiert wird, und warum gibt es trotz einschlägiger Vorschriften ein solches Schild in vielen Fällen nicht? Und was ist, wenn sich Unternehmen aufmachen, um den öffentlichen Raum der ganzen Welt zu vermessen, zu erfassen und die Bilder in einem Dienst zur Verfügung zu stellen? Mehrere meiner Studierenden haben im Rahmen von studentischen Arbeiten im Fach Informationsethik den Weg, den sie von ihrem Zuhause bis zur Hochschule zurücklegen, unter die Lupe genommen. Sie waren erstaunt, wie viele Kameras sie entdeckt haben; und vermutlich haben sie nicht einmal alle entdeckt. In ihren Präsentationen haben sie Fotos von Kameras gezeigt; ab heute wird zurückgeschossen, könnte man sagen, ohne dass das etwas helfen würde. Man wird buchstäblich auf Schritt und Tritt verfolgt. Es sind Augen auf einen gerichtet, deren Besitzer man nicht kennt und vermutlich auch nicht kennenlernen will und wird. Jeder offene Hosenschlitz, jede über den Rock gezogene Strumpfhose kann in unbekannten, schummrigen Räumen zur Lachnummer werden. Und das sind nur die harmlosen Varianten. Es hat mich erstaunt, dass in Deutschland erst spät eine Diskussion über Google Street View losbrach. In der Schweiz war der Dienst schon vorher eingeführt worden, unter Protest und Jubel von Betroffenen und Datenschützern. Der oberste Schweizer Datenschützer, Hanspeter Thür, wandelte sich vom Wegschauenden zum Betrachtenden, vom Betrachtenden zum Eingreifenden. Am Anfang unternahm er aus meiner Sicht nicht genügend gegen den Dienst, verharmloste, relativierte, doch plötzlich legte er los. Ich vermute, er hat meinen Blog gelesen, 219 Überwachung im Alltag in dem Google Street View ein wiederkehrendes Thema war. Er oder ein Mitarbeiter bzw. eine Mitarbeiterin. Tatsächlich brachte er nach und nach Argumente, von denen ich noch nie gelesen und die ich selbst entwickelt hatte. Wer im Web gezielt nach einem speziellen Thema recherchiert, landet eben bei den Wenigen, die darüber berichten. Natürlich ist Google Street View nicht besonders speziell; aber die Kritik daran hat sich erst nach und nach entwickelt. Wer auf der Suche nach Argumenten war, konnte diese in manchen Blogs frühzeitig aufspüren, gerade in speziellen Regionen mit ihren besonderen Befindlichkeiten. Ich möchte an dieser Stelle meine 20 Argumente aus dem Sommer 2009 wiedergeben: 61 1. Definition von Google Street View Google Street View ist ein Dienst, der 3D-Ansichten von Straßenzügen samt der Passantinnen und Passanten zeigt und in Dienste wie Google Maps und Google Earth integriert ist. Es wird häufig von touristischen Zwecken ausgegangen; allerdings dürften daneben voyeuristische Interessen eine Rolle spielen. Zudem ist zu beachten, dass es sich um einen von mehreren Diensten handelt, bei denen Google massenhaft Daten erhoben hat. 2. Betreiber von Google Street View Google ist ein Unternehmen, das Daten und Informationen sammelt und den Benutzer von Computern und Handys Daten, Informationen, Websites, Gegenstände und Lebewesen finden lässt. Dabei sammelt das Unternehmen wiederum Daten und Informationen über die Benutzer selbst. Daneben bietet es Programme und Anwendungsprogramme an, über deren Nutzung es ebenfalls Aufschluss über das Verhalten von Benutzern erhält. In diesem Sinne ist Google ein Big-Brother-Dienst, wobei 220 Die Rache der Nerds Teile des Dienstes den Benutzern und Teile des Dienstes nur Google selbst zur Verfügung stehen. 3. Massenhafte Sammlung von persönlichen Daten Mit Google Street View werden weltweit hunderttausende Erwachsene, Jugendliche und Kinder aufgenommen. Sie werden vor der Aufnahme nicht gefragt und erfahren oft nur durch Zufall oder durch Dritte davon. Kinder wiederum begreifen nicht unbedingt, was mit ihnen geschieht. Google sammelt damit massenhaft persönliche Daten in der Form von Bilddaten und legt sie als Rohdaten auf Rechnern ab. 4. Zugriff auf Rohdaten Das Unternehmen verfügt also über die Rohdaten, etwa über Bilder von erkennbaren Gesichtern, von Handlungen aller Art und auch von Autokennzeichen. Es ist unklar, wer bei Google Zugriff auf die Daten hat. Auf jeden Fall dürfte es sich um einen größeren Personenkreis handeln, sodass bereits in diesem Stadium das Recht am eigenen Bild verletzt sein könnte. Die Sicherheitskonzepte sind weitgehend unbekannt, und es ist die Frage, wie leicht Kriminelle und Partner an die Daten gelangen können. 5. Fehlerhafte Software zur Verfremdung der Rohdaten Die Rohdaten werden ab einem bestimmten Zeitpunkt mit Hilfe einer Verfremdungssoftware bearbeitet. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat diese Software immer fehlerhaft gearbeitet, sodass z.B. etliche Gesichter und Autokennzeichen nicht verfremdet wurden. Es ist unverständlich, warum ein Projekt online geht, wenn es noch erhebliche Probleme mit den Technologien gibt. Viele nicht verfremdete Bilder wurden von Benutzern lokal abgespeichert bzw. auf Websites und in Social Networks zur Verfügung gestellt. 6. Verfremdung der Rohdaten als ungenügende Maßnahme Selbst wenn die Gesichter unkenntlich gemacht werden, 221 Überwachung im Alltag sind viele Menschen bei Google Street View identifizierbar. Dies liegt unter anderem daran, dass sie eben nicht losgelöst, sondern in einem bestimmten Umfeld - etwa vor ihrem Haus oder in der Nachbarschaft - gezeigt werden. Auch typische Kleidungsstücke oder Verhaltensweisen können zu einer Identifizierung führen. Unter Umständen kann das Recht am eigenen Bild in diesem Zusammenhang ebenso geltend gemacht werden. 7. Erfassung von privaten Bereichen Google bewegt sich nach eigener Auskunft bei seinen Fahrten auf öffentlichem Gelände. Allerdings erfassen die Kameras auch private Bereiche. So wird in private Gärten und in Privatstraßen hineinfotografiert; zuweilen erkennt man sogar etwas hinter einem Fenster in einem Gebäude. Während ein Passant normalerweise nur einen kurzen Blick auf das Private wirft, hält Google das Private dauerhaft für die Weltöffentlichkeit fest. Die Privatsphäre wird damit verletzt und zugreifbar gemacht. 8. Erfassung von privaten Gegenständen Nicht nur privates Terrain, auch private Gegenstände werden durch Google Street View aufgenommen, etwa Autos, Fahrräder, Musikinstrumente, Kunstwerke, Bücher, Spielzeug, Kleidung und Baumaterial. Manche Gegenstände lassen Schlüsse auf ihren Besitzer zu und haben persönlichen Charakter. Auch mit diesen Aufnahmen wird die Privatsphäre von Menschen und teilweise vielleicht auch das Urheberrecht verletzt. 9. Ungenügende Rechtssicherheit Die durch Google Street View erhobenen Daten liegen vermutlich mehrheitlich auf Servern in den USA, sodass Bürgerinnen und Bürger in Europa nur vage Chancen haben, sich im Rahmen von rechtlichen Schritten erfolgreich gegen die Aufnahmen im Gesamten zu wehren. Obwohl 222 Die Rache der Nerds der Dienst die privaten Gegenstände und Bereiche sowie die Menschen eines Landes erfasst, können diese nicht ohne weiteres ihr nationales Recht in Anspruch nehmen. 10. Förderung von Kriminalität und Denunziation Google Street View erleichtert die Planung von Diebstählen, Einbrüchen und Terrorakten. Weltweit können sich Kriminelle einfach und systematisch über Straßen und Gebäude informieren und aufgrund von Gegenständen und Autos Rückschlüsse auf das Vermögen der Bewohner ziehen. Darüber hinaus ist Google Street View ein hilfreiches Instrument für Denunzianten und fördert damit die Überwachungsgesellschaft. 11. Verwendung durch Polizei und Justiz Google Street View fördert nicht nur die Überwachungsgesellschaft, sondern auch den Überwachungsstaat. Die Aufnahmen wurden bereits bei polizeilichen Fahndungen und als Beweismaterial bei Rechtsbrüchen eingesetzt. Es kann nicht angehen, dass von einem Unternehmen massenhaft erhobene Daten aus unserem gemeinsamen Lebensraum für polizeiliche und gerichtliche Zwecke ausgewertet werden. 12. Daten im Rahmen von Fahndungen und als Beweismaterial Genauso wenig kann es angehen, dass vom Staat - etwa über Videokameras - oder von Einzelnen - etwa über Handykameras - gesammelte und auf Plattformen zur Verfügung gestellte Daten für Fahndungen und als Beweismaterial eingesetzt werden. Eine Folge wäre, dass man sich im öffentlichen Raum nicht mehr sicher fühlen könnte und sich in den privaten Raum zurückziehen müsste. Das öffentliche Leben wäre eingeschränkt bzw. gefährdet. 13. Sammlung und Zurverfügungstellung von Daten durch Private und Staat 223 Überwachung im Alltag Auch die Sammlung von Daten durch private Nutzer auf Denunziations- und Bewertungsplattformen und in Social Networks, durch private Nutzer und Organisationen mit Hilfe von Webcams und durch den Staat mit Hilfe von Videokameras und über Lauschangriffe verschiedener Art stellen Beeinträchtigungen der Privatsphäre dar; dadurch wird die Bedeutung des Google-Dienstes aber nicht kleiner, sondern die ganze Problematik größer. 14. Umkehrung der Rechtslogik Persönlichkeitsrecht und das Recht am eigenen Bild sollen Aufnahmen, die diese Rechte verletzen, verhindern und Personen vor solchen Übergriffen schützen. Google kehrt diese Logik um; das Unternehmen bricht massenhaft Recht und verweist darauf, dass die Betroffenen bei Google eine Verfremdung ihres Gesichts oder eine Löschung von Daten im Nachhinein erwirken können. 15. Das Unternehmen als rechtliche Anlaufstelle Merkwürdig ist zunächst, dass sich ein Bürger oder eine Bürgerin an ein privates Unternehmen wenden soll, damit dieses auf seinen eigenen Rechtsbruch - in diesem Fall durch Google Street View - reagieren kann. Zuständigkeit und Aufwand werden von Google an die Bürger übertragen. Weiterhin ist die Problematik zu erkennen, dass das Unternehmen Daten über diejenigen Personen speichern könnte, die sich an Google wenden und dem Unternehmen kritisch gegenüber eingestellt sind. Die Daten könnten mit anderen Daten, etwa aus der Nutzung von Suchmaschinen, abgeglichen werden. 16. Integration von Diensten Integrationen auf anderen Ebenen werden bereits vorangetrieben. Google lädt Benutzer z.B. dazu ein, zusätzlich zu den Bildern von Google Street View eigene Fotos in Google Maps einzubinden. Die Bilder können wiederum 224 Die Rache der Nerds verschiedene Rechte verletzen und verraten Google auch etwas über die Beziehung zwischen Benutzer und Ort. Google hat zudem die Möglichkeit, die Daten von Google Street View mit verschiedenen anderen seiner Dienste zu kombinieren und damit zu aussagekräftigen und gegebenenfalls die Persönlichkeitsrechte verletzenden Profilen zu gelangen. 17. Kontrolle von Google Es ist offensichtlich, dass Google in den meisten europäischen Ländern seinen Dienst in der gegebenen Form nicht aufrechterhalten darf und prinzipiell stärker kontrolliert werden muss. Google und Social Networks verfügen über Daten, die Millionen von Benutzerinnen und Benutzern gefährlich werden können und teilweise bereits schaden. Dennoch müssen sie kaum Rechenschaft über die Verwendung und Sicherung dieser Daten ablegen. Eines der größten Datenexperimente der Geschichte wird auf dem Rücken der Bürgerinnen und Bürger des Rechtsstaats durchgeführt. 18. Abhängigkeiten von Google Der Bund und die Länder bzw. die Kantone, öffentliche Einrichtungen und vom Staat mitgetragene Institutionen sind nicht nur ohnmächtig gegenüber der Ausbreitung entsprechender Dienste, sondern auch zu weitreichenden Kooperationen bereit. Zahlreiche Hochschulen integrieren Google-Dienste, und auch Bibliotheken arbeiten mit dem Unternehmen zusammen. Selbst Seiten, die sich explizit an Kinder wenden, setzen oft Google Analytics ein. Es gilt, diese Abhängigkeiten zu beenden und dort, wo es notwendig ist, auch andere Anbieter mit einzubeziehen. 19. Stromverbrauch durch Google Street View Wie alle netzbasierten Dienste verbraucht Google Street View nicht unerheblich Strom und stellt damit ebenfalls 225 Überwachung im Alltag Abhängigkeiten her. Da Bilddaten übertragen werden, handelt es sich um einen besonders hohen Stromverbrauch. Bereits jetzt gehört Google zu den IT-Unternehmen, die weltweit am meisten Energie benötigen. Es unterhält wohl über eine Million Rechner und betreibt Dienste, auf die viele Millionen Computer und Handys zugreifen. Google fördert diese Entwicklung, indem es weitere netzbasierte Dienste aufbaut und Cloud Computing propagiert. Wer einwendet, dass das nur 19 Punkte seien, hat Recht. Unter der Nummer 20 rief ich die Leserinnen und Leser dazu auf, weitere Argumente zu liefern. Die Realität war schneller, und am unglaublichsten war vielleicht, dass Google die ganze Zeit illegal Daten von den WLAN- Punkten einsammelte, deren Standorte es mit seinem Dienst nebenbei erhob. Bruchstücke aus dem E-Mail-Verkehr und vieles mehr - und angeblich wusste das Unternehmen nichts davon, bis ein Zufall die Sache ans Licht brachte. Dass das Unternehmen doch etwas wusste, wurde im April 2012 bekannt. Ein Konzern, der auf Daten angewiesen ist, weil er darauf Werbung aufbaut, und nicht weiß, welche Daten er einsammelt, ist gefährlich, sehr gefährlich sogar. Man hat gerne - etwa in Kommentaren auf meinem Blog - den 19. Punkt gewählt, um meine Argumentation in Zweifel zu ziehen. Das war natürlich alles andere als redlich. Es handelt sich um einen Regenguss der Kritik, und man sollte nicht nur den einzelnen Tropfen betrachten. Übrigens hat Google erst Mitte 2011 aussagekräftige Daten zum Stromverbrauch seiner Anlagen veröffentlicht. Ob sie stimmen, sei dahingestellt. ( à -QR-Info-91) Wir sind noch nicht so weit, dass wir unabhängige Beobachter entsenden könnten. Ich muss weiter in der Wunde bohren, die manche gar nicht bemerken, weder an sich noch an anderen. Google erlaubte den 226 Die Rache der Nerds Antrag auf »Unkenntlichmachung« von Gebäuden und Grundstücken in seinem Dienst Street View. Auf der entsprechenden Website (von den Medien gerne »Widerspruchseite« genannt) werden wir - mein eigener Test findet 2010 statt - in merkwürdigem Deutsch begrüßt. ( à - QR-Info- 92) »Herzlich Willkommen« heißt es, als wäre »Willkommen« hier ein Substantiv. Dann dürfen wir Straße, Hausnummer, Postleitzahl und Ort des Gebäudes bzw. Grundstücks angeben. Klar, das ist notwendig, denn ohne Adresse kann man nichts finden, was man unkenntlich machen kann. Man aktualisiert die bereits eingeblendete Karte und erhält die Meldung: »Bitte ziehen Sie den Marker auf die Mitte Ihres Gebäudes/ Grundstückes.« Na gut, dann ziehen wir mal; damit erfährt das Unternehmen, wo die Mitte ist. Was es damit anfängt, ist unklar. Es könnte sich aber - eine ausreichende Menge an Beschwerden vorausgesetzt - um eine relevante Information handeln, um den Häuserabstand oder die Bebauungsdichte zu berechnen. Oder zumindest die Dichte an »Querulanten«. Aber macht ja nichts; das Unternehmen bietet uns kostenlose Programme, und warum sollten wir nicht kostenlos für es arbeiten. Dass es sich dabei dumm und dämlich verdient, soll an dieser Stelle nicht weiter interessieren. Dann soll man weitere Informationen preisgeben. »Machen Sie bitte Angaben dazu, wie das Gebäude/ Grundstück von der Straße aus aussieht.« Okay, machen wir. »Bitte geben Sie die Anzahl der sichtbaren Stockwerke ein.« Gut, tipptipptipp. »Beschreiben Sie das Dach (Flachdach, Giebeldach usw.).« Als Beispiel: »Ein Giebeldach mit braunen Ziegeln und Dachfenstern.« Aha, tipptipptipp. »Beschreiben Sie die Fassade des Gebäudes (Material, Farbe usw.).« Beispiel: »Grau verputzt mit vier großen Fenstern zur Straße.« Tipptipptipp. Nach dem Ausfüllen erfährt man, dass die Angaben gar nicht obligatorisch sind: »Ich möchte keine näheren Angaben zum Gebäude/ Grundstück machen.« 227 Überwachung im Alltag Wenn man diese Option anklickt, ploppt allerdings folgende Meldung auf: Nähere Angaben helfen uns, das richtige Gebäude/ Grundstück zu identifizieren. Ohne diese Angaben können wir Ihren Antrag unter Umständen nicht bearbeiten. Sind Sie sicher, dass Sie keine näheren Angaben machen wollen? Nun, sicher kann man nie sein in diesen Zeiten. Außerdem wurde einem schon lange nicht mehr so nett gedroht. Also gut, lassen wir es so und gehen wir weiter. »Geben Sie hier Ihre E-Mail-Adresse an«, lautet nun die Anweisung. Logisch, das Unternehmen braucht Sicherheiten. Und es nimmt unsere, Schritt für Schritt. »Bitte geben Sie hier Namen und Anschrift an, an die der Verifizierungscode geschickt werden soll« - damit hat der Konzern Namen, Adresse und E-Mail-Adresse eingesackt und sich Texte zu den Gebäuden erstellen lassen. Lassen wir kurz die persönlichen Daten beiseite und konzentrieren wir uns auf die zweite Kategorie. Alles wertvolle Informationen, etwa für Glaser, Dachdecker und Maler. Aber man kann es auch allgemeiner und grundsätzlicher sehen. Google lässt sich auf diese Weise hunderttausende Beschreibungen von Gebäuden und Grundstücken anfertigen. Man könnte die Beschreibungen in andere Dienste einbauen. Und man könnte aus ihnen interessante Erkenntnisse gewinnen. Alles eine Frage der Phantasie, und über diese verfügt das Unternehmen ohne Zweifel. Darüber hinaus kommt es eben in den Besitz der Namen und Adressen von hunderttausenden Menschen, kann sie maschinell weiterverarbeiten und mit bereits vorhandenen Daten verknüpfen. In letzterem Kontext ist es von Bedeutung, dass Google nicht die Namen und Adressen von beliebigen hunderttausenden Menschen, sondern von hunderttausenden Kritikern erhält. Und das könnte eines Tages viel wert sein. Auch Microsoft erlaubte bei seinem Dienst »Streetside« die Unkenntlichmachung von Gebäuden. Im Herbst 2011 meldete 228 Die Rache der Nerds die Süddeutsche Zeitung, dass nur 80.000 Bürgerinnen und Bürger ihre Einwilligung zur öffentlichen Sichtbarkeit ihres Gebäudes verweigert hätten. ( à - QR-Info- 93) Und Spiegel Online schrieb süffisant: »Der Zweite zu sein, ist manchmal ganz angenehm …« 62 Manchmal muss eben der Pionier die Drecksarbeit machen. Im mehrfachen Sinne. Kontrolle im Netz Jede Anfrage bei einer konventionellen Suchmaschine verrät dem Betreiber etwas über uns. Jeder Post und jeder Tweet. Jedes Telefonat. Wir hinterlassen ständig Spuren im Netz, freiwillig oder unfreiwillig. Staatliche und private Organisationen werten die Informationen aus, etwa um politische und wirtschaftliche Prognosen zu erstellen und Kundenwünsche zu erahnen (s. Kapitel »Schwarmintelligenz«). Am Arbeitsplatz kann jeder Tastenschlag aufgezeichnet und ausgewertet werden. In manchen Ländern gibt es eine betriebliche Überwachung im großen Stil. Dadurch, dass wir ständig Informations- und Kommunikationstechnologien benutzen, stehen wir unter permanenter Kontrolle. Besonders freizügig und -giebig ist man innerhalb von mobilen Netzen. Wer sein Handy angeschaltet hat und damit durch die Gegend geht oder fährt, verrät den Betreibern oder den Hackern jede Bewegung. Wer seinen Aufenthaltsort einem noch größeren Kreis mitteilen will, benutzt entsprechende Dienste oder Plattformen. Auch Twitter hat eine solche geografische Option integriert; dort nennt sie sich »Twittern mit Standort«. Sogenannte Freunde werden zu Überwachern, zu Schnüfflern. Voyeurismus und Stalking werden zum Volkssport (s. Kapitel »Der Verlust der Privatheit« und »Überwachung im Alltag«). Bereits Heranwachsende werden zum Opfer von modernen Überwachungsmethoden. Die fürsorglichen Eltern kaufen ih- 229 Kontrolle im Netz nen ein Handy, das vor allem einem Zweck dient: Jederzeit feststellen zu können, wo sie sich befinden. Mit der Kids-Serie von Docomo etwa lässt sich der Nachwuchs punktgenau orten. Man setzt nicht auf Gespräche, Absprachen und Vertrauen, sondern auf Technologie. Den Kindern bleiben nicht mehr viele Freiräume; auch die wichtige Möglichkeit, einmal über die Stränge zu schlagen, einmal verbotene und gefährliche Räume zu betreten, wird ihnen genommen. Sie sollen so wenig Fehler wie möglich machen. Aber durch Fehler lernt man, lernt man dazu, entwickelt man sich weiter. Es ist wichtig, Schmerz zu empfinden, schon um noch größeren Schmerz vermeiden zu können. Noch perfider wird es, wenn sich die Eltern kennen, die ihre Kinder überwachen, oder die Technologien gemeinsam einsetzen. Ein erstes Techtelmechtel zwischen den Nachbarskindern, und die Eltern sind dabei, als handelte es sich um eine Seifenoper auf RTL. Kindern und Jugendlichen selbst werden, wie im Kapitel »Allmachtsphantasien« angedeutet, mobile Dienste offeriert, mit denen sie ihre Freundinnen und Freunde überwachen können. Die anbietenden Unternehmen wecken systematisch und bewusst ihr Misstrauen; ihre Freundinnen und Freunde verdienen kein Vertrauen, sondern müssen überwacht werden. Ob die Dienste funktionieren oder nicht, ist gar nicht erheblich; erheblich ist, dass Überwachung zur Normalität wird, frei nach dem zweifelhaften Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die Big-Brother-Software wird so wie der rülpsende Frosch heruntergeladen, mit einem kleinen Unterschied: Der Frosch ist so albern, wie man es in der Kindheit immer wieder sein muss, aber das Tool ist so perfide, dass man sich erst als Erwachsener damit beschäftigen sollte. Und zwar in dem Sinne, dass man Gegentechnologien entwickelt. Das ist überhaupt eine entscheidende und schon angedeutete Erkenntnis, die an anderer Stelle (s. Kapitel »Technologiefreie Räume, Gegenstände und Lebe- 230 Die Rache der Nerds wesen«) vertieft wird: Gegen Technologien ist kaum ein Kraut gewachsen; in erster Linie sind andere Technologien in der Lage, ihnen Einhalt zu gebieten. Joseph Weizenbaum hat sich in seinem Buch »Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft« gegen bestimmte Verwendungen der Spracherkennung ausgesprochen. 63 Seine Hauptsorge in den 1970er-Jahren war, dass man Gespräche automatisch würde überwachen können. Als ich zum ersten Mal davon gehört habe, dass Facebook sich für Internettelefonie interessiert - eine Weile hat Mark Zuckerberg auch bei Skype mitgeboten -, habe ich sofort an diese Option der Überwachung gedacht. Die Betreiber von sozialen Netzwerken wissen bereits viel über ihre Mitglieder, die meistens mit ihrer echten Identität eingetreten sind. In Zukunft werden sie noch viel mehr über sie wissen. Das Recht am eigenen Bild Auf Partys werden Bilder von Jungen und Mädchen gemacht. Sie saufen, kiffen, knutschen, liegen auf dem Boden herum oder hängen über der Schüssel. Alles schön und gut, alles normal. Doch dann richtet sich plötzlich eine Kamera auf die Gesichter und Körper. Klick, klick. Ein Fotoapparat. Und nochmals klick. Ein Handy. Noch nie war es so leicht wie heute, Bilder von Menschen anzufertigen und großflächig zu verteilen. Auf zahllosen Plattformen kann man Fotos hochladen und verlinken. Gefragt werden die Abgebildeten nur selten, außer von manchen Partyfotografen. Und manche wären enttäuscht, wenn diese - häufig professionelle oder semiprofessionelle Dienste - sie nicht verewigen würden. Das Treiben auf der Party, das Pinkeln am Straßenrand, das Verlassen eines Bordells, das Umziehen am Strand - alles wird schnell erfasst und verschickt oder online gestellt. 231 Das Recht am eigenen Bild Google Street View fotografiert Erwachsene, Kinder und Hunde auf der Straße. Manchmal werden sogar Menschen in ihren eigenen Häusern erfasst, hinter einem Fenster stehend, eine Gardine aufziehend. Sie fragen sich vielleicht gerade, was das für ein hässliches Auto ist, das gerade am Haus vorbeifährt, diese Designkatastrophe auf vier Rädern. Als wären die Nerds des milliardenschweren Unternehmens noch kleine Kinder und hätten etwas in ihrem Kinderzimmer zusammengebaut. Ein Matchboxauto mit einer Stange darauf, an der Klopapierrollen befestigt sind. Auf diesen Dienst, auf diese massenhafte Herstellung von Bildern durch einen Akteur, der kommerzielle Interessen verfolgt, wurde ausführlich eingegangen (s. Kapitel »Überwachung im Alltag«). Designmäßig ist das Auto von Microsoft übrigens um keinen Deut besser. Immerhin scheinen die Modelle beider Unternehmen vom TÜV und von vergleichbaren Organisationen abgenommen worden zu sein. Das Recht am eigenen Bild ist ein zentrales Persönlichkeitsrecht. Es wurde in einer Zeit entwickelt, als es noch keine digitalen Fotoapparate und keinen flächendeckenden Einsatz von Videokameras gab. Und kein Flickr und kein Facebook. In Deutschland und Österreich sieht es ziemlich ähnlich aus. In der Schweiz gibt es durch die Rechtsprechung die eine oder andere Besonderheit. Der Kern ist in allen Ländern gleich: Niemand darf ohne weiteres von einem Menschen ein Bild anfertigen und dieses veröffentlichen. Ausnahmen gibt es bei Personen des öffentlichen Interesses und bei Menschenmengen. ( à -QR-Info-94) Zudem darf man nicht ohne weiteres ein Bild einer Person manipulieren, etwa ihr größere Ohren oder kleinere Brüste verpassen oder sie durch abgelichtete Doubles in ihrem Recht verletzen. Das Recht am eigenen Bild scheint nichts mehr zu gelten. Es scheint in den jüngeren Generationen eine totale Umwertung gegeben zu haben. Müssen wir wirklich damit leben, dass man unsere Abbilder ungefragt veröffentlicht? 232 Die Rache der Nerds Es ist ja in Ordnung, wenn sich manche nicht daran stören. Aber was ist mit den anderen? Google hat bei einer Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht in der Schweiz ein Argument gebracht, das einen aufhorchen lassen sollte. Sinngemäß wurde gesagt, dass in der heutigen Zeit das Recht am eigenen Bild auch von anderen Leuten oder Organisationen gebrochen werde. ( à -QR-Info-95) Was viele tun, kann nicht schlecht sein, scheint man an der Konzernspitze - dort, wo die Luft dünn ist - zu denken. Aber es kann, und wir sollten nicht ein Gesetz, das wir mühsam erarbeitet haben, einfach kippen, wenn sich eine Mehrheit nicht in seinem Sinne verhält. Wir sollten zuerst prüfen, ob etwas falsch gemacht wurde bei der Aufklärung oder der Sanktionierung. Ich halte die Persönlichkeitsrechte für wesentlich relevanter als das Recht eines Monopolisten, Geschäfte zu treiben und Visionen zu verwirklichen. Multimediasuchmaschinen sind eine weitere Herausforderung in diesem Zusammenhang. Auf dem Desktop funktioniert Software mit Gesichtserkennung schon recht gut. Man markiert ein Bild, auf dem jemand zu sehen ist, und das Programm stellt alle Bilder von der Person zusammen. SAPIR war um das Jahr 2009 eine Multimediasuchmaschine im Web, hinter der u.a. IBM und die EU steckten. Gehostet wurde sie in Italien, und immer wieder war sie aus unbekannten und nicht kommunizierten Gründen nicht erreichbar. Die Kontrolle durch die EU-Kommission dürfte wie die des BMBF nicht in allen Fällen funktionieren (s. Kapitel »Die geheimnisvolle Agentur«). Inzwischen wurde das Projekt offenbar ganz eingestellt; über die frühere Adresse sind auf jeden Fall keine Informationen und Funktionen mehr aufrufbar. Man fütterte SAPIR nicht mit Begriffen, sondern mit Bildern. In der Experimentierphase standen als Referenzobjekte die Exponate von Flickr zur Verfügung; das ist ein Grund, warum 233 Das Recht am eigenen Bild die Ergebnisse nicht besonders gut waren. Man lud ein Foto von Shakira hoch, und man erhielt andere Bilder von blonden Frauen sowie von mehr oder weniger blonden Afghanen. Ähnlich waren sich meist Aufbau, Ausschnitt, Farben, und auf den ersten Blick war durchaus eine Übereinstimmung zu erkennen. Es schien so, als wäre die Software halbblind, wie nach einer Operation, und müsste das Sehen erst lernen. Wesentlich weiter waren schon zum damaligen Zeitpunkt die Entwickler von Google. Sie brauchten keine komplexe und komplizierte Allianz zu schmieden, sie bildeten selbst die Allianz und machten einfach. Sie haben Google Goggles entwickelt, einen Dienst, der bereits gut funktioniert und auf Android-Handys läuft. Das Unternehmen hatte vor längerer Zeit zur Auskunft gegeben, es verfüge über eine weit entwickelte Gesichtserkennung, halte diese aber aus gesellschaftlichen Gründen zurück. Das ließ aufhorchen, denn Skrupel waren bis dato von Google nicht bekannt. Später hat Google weitere Patente in diesem Kontext angemeldet und Unternehmen mit hoher Expertise in diesem Bereich übernommen. Heute setzt das Unternehmen auf Gesichtserkennung, wie andere auch. Ende 2011 hat Google im deutschsprachigen Raum seine neue Bildersuche lanciert. Nun kann man, wie bei SAPIR, Bilder hochladen und nach ähnlichen Bildern suchen. Man wechselt zur Bildersuche und klickt auf das Kamerasymbol. Die Ergebnisse sind noch ein wenig enttäuschend. Aber bereits viel besser als bei SAPIR. Und sie beruhen nicht auf einem geschlossenen, sondern einem offenen System. Es sind nicht mehr die Bilder von Flickr, sondern die Bilder des Webs. Auch das TinEye, eine »Reverse Image Search«, funktioniert ausgezeichnet. Und ich habe mit Hilfe dieser Suchmaschine schon mehrmals die Herkunft von Bildern herausbekommen. ( à -QR-Info-96) Es ging nicht um die Arbeiten von Studierenden; aber diese sollten sich noch wärmer als bisher anziehen. 234 Die Rache der Nerds Auf Google+ kann man mit der Funktion »Find My Face« die Qualität der seit 2011 eingesetzten Gesichtserkennung testen. Auch Facebook setzt entsprechende Verfahren ein. Die Gesichter der Benutzer und auf den Fotografien, die die Benutzer hochladen, werden standardmäßig vermessen. Die biometrischen Daten hält das amerikanische Unternehmen für sein Eigentum. Es werden innerhalb kurzer Zeit weitere Anbieter auf den Markt drängen, und letzten Endes wird es keine große Rolle spielen, wer die perfekte Analyse- und Überwachungssoftware auf den Markt bringt. Übrigens nicht nur für das Netz, sondern auch für die Straßen der Städte: Es laufen erste Versuche mit Werbeflächen, die je nach Geschlecht der Vorübergehenden passende Werbung einblenden. ( à -QR-Info-97) Vielleicht wird man in Zukunft mit Namen an einer Kreuzung angesprochen? Wir, die Querulanten aus den staubigen Zimmern der Privatsphäre, werden in Zukunft den Drang verspüren, uns auf offener Straße zu verhüllen, und es wird uns nicht mehr wohl sein in der Haut, die wir zu Markte tragen. Tarnkappen werden boomen oder ganz normale Burkas, wenn die Gesetze sie zulassen, sozusagen Anti-Web-2.0-Burkas mit Facebook-Schutzfaktor 100. ( à -QR-Info-98) Und noch ein weiteres Problemfeld, das in diesen Kontext gehört. Inzwischen wird ein nicht unerheblicher Teil der Kinderpornografie von den Kindern selbst hergestellt. ( à - QR-Info- 99) Nicht alle Aufnahmen wandern gleich in die Öffentlichkeit. Sie werden aber oft genug von den Kids weitergeschickt. Und manchmal landen sie eben auf professionell oder kommerziell betriebenen Portalen. Das Mädchen, das sich von seinem Freund hat filmen lassen, weil es Spaß daran hatte oder es unter Druck gesetzt wurde, muss damit rechnen, dass sein Körper nach der Trennung - oder schon davor - von unbekannten Jungen und Mädchen begafft wird. 235 Der Bürger als Kunde Und sein Gesicht, wenn es so unvorsichtig war, dieses zu zeigen. Der Junge, der sein bestes Stück abgelichtet hat, ebenso. Wenn die Aufnahmen in weiteren Kreisen zirkulieren, nutzt es nichts mehr, wenn die oder der Geschädigte die Schule verlässt. Man müsste schon den Planeten verlassen oder die Bilder vernichten lassen, um eine Verbesserung der Situation zu erreichen. Beides dürfte sich ähnlich schwierig gestalten. Das Recht am eigenen Bild wird also von Unternehmen gebrochen. Es wird von semiprofessionellen und professionellen Fotografen gebrochen. Von Freunden und Bekannten, von Unbekannten. Von Eltern (s. Kapitel »Datensauger und -schleudern«). Und von den Betroffenen selbst, so paradox das klingt. Sie tun ihrem Bild etwas an, indem sie es hochladen und verbreiten, und dass sie sich damit selbst etwas antun, merken sie zu spät. Es ist ein Vergehen des Jüngeren gegen den Älteren, und der eine kann nicht einmal Schadensersatz von dem anderen verlangen, weil es sich um ein und dieselbe Person handelt. Der Bürger als Kunde Früh übt sich, wer ein Kunde werden will. Firmen wie Microsoft und Symantec versuchen in Schulen einzudringen, um schon die Kleinsten mit ihren Produkten vertraut zu machen. Sie bauen Lernangebote im Web auf und verlinken auf ihre kommerziellen Websites. Die Banken zwingen uns, am Geldautomaten (meist auf Finanzdienstleistungen bezogene) Werbung zu konsumieren, und nehmen eine Verlangsamung des Prozesses der Abhebung in Kauf (s. Kapitel »Unerbetene Werbung«). Unternehmen machen über Wikipedia, YouTube und andere Kanäle virales Marketing. In manchen Fällen handelt es sich in Wirklichkeit um Parodien und Plagiate - die dennoch ihre Wirkung nicht verfehlen. Werbung für IT und mit Hilfe von IT ist immer und überall, ohne dass wir es unbedingt merken oder verhindern können. 236 Die Rache der Nerds Natürlich sind es nicht nur die IT-Unternehmen, die die Schülerinnen und Schüler behelligen. In der Schweiz ist es nicht unüblich, dass Kinder mit gesponserten Lernmedien und -materialien umgehen. Die NZZ schrieb in dem Artikel »Smartphone statt Schulbuch« am 8. November 2010: »Immer öfter sponsern Firmen und Verbände Lerninhalte selbst für die Volksschule.« 64 Zunächst wurde auf das Beispiel Swisscom eingegangen, ein Telekommunikationsunternehmen, das den Schulen hauseigene Lehrmittel zur Verfügung stelle. Dies reiche »vom Ratgeber zu Handy und Co. bis zum Lernmodul zum Umweltschutz; pro Monat verzeichnet Swisscom für solche Angebote rund 1.000 Bestellungen«. Und weiter hieß es: Auch die Post bringt neuerdings viel Pädagogisches unters Volk: Sie führt einen Schulservice, der 13 Lehrmittel für Kindergarten bis Sekundarstufe II im Angebot hat, zudem verleiht sie Filme und einen Spiel-Postschalter. Jährlich gehen »einige tausend« ein, sagt Sprecher Mariano Masserini; 2009 hätten gut 400 000 Schüler vom Angebot profitiert. … Spitzenreiterin in Sachen Sponsoring ist aber Kiknet.ch in Baden. Seit acht Jahren bietet das Unternehmen Lektionseinheiten an, welche die Schulen gratis im Internet beziehen können. Zirka 140 Module für alle Stufen stehen zur Auswahl, die knapp 18 000 registrierten Lehrkräfte beziehen pro Monat rund 50 000 Dokumente. Das Besondere daran: Alle Lektionen sind gesponsert - für eine solche »soziale PR-Aktion« bezahlt jeder Auftraggeber rund 20 000 Franken, wie Kiknet-Leiter Timo Albiez erklärt. So kommt es, dass Bodyshop eine Lektion über »Die Haut« vertreibt, Fielmann eine über »Das Auge«, Bayer eine über »Sexualität«. Aber auch Verbände, Ämter und Parteien machen mit, etwa Swissnuclear mit einem Modul zur Atomkraft, die Schweizer Armee mit einer Lektion zu ihrem Auftrag oder die FDP Schweiz mit einer kleinen Staatskunde. Die NZZ beleuchtete diesen Skandal nicht weiter, bemerkte aber immerhin: Wie unabhängig die Inhalte sind, wie es um deren Qualität steht - das zu prüfen, bleibt Aufgabe der Lehrperson. Timo Albiez auf jeden Fall sieht in seiner Dienstleistung grosses Potenzial und weitet das Angebot auf Schulreisetipps aus - die Klasse besucht den Bärengraben in Bern oder fährt mit der Rhätischen Bahn und bezieht das fixfertige Programm bei Kiknet. »Viele Lehrer haben einfach keine Zeit, immer 237 Der Bürger als Kunde neue Materialien zu erstellen«, weiss der ehemalige Sekundarlehrer Albiez, »wir nehmen ihnen hier einiges ab.« Wer die Website von Kiknet aufruft und sich die neuesten oder beliebtesten Angebote anschaut, reibt sich verdutzt die Augen. Das kann nicht sein, denkt man, dass Unternehmen mit einer solchen Dreistigkeit ihre Produkte und Dienstleistungen schon den Kleinsten schmackhaft machen. Ich habe mit einigen Leuten in der Schweiz darüber gesprochen, mit Studierenden, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Unternehmen, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Non-profit-Organisationen (NPO). Die meisten fanden nichts dabei. Die meisten fanden es gut, dass sich Unternehmen engagieren. Nur diejenigen, die für ihre NPO in der Jugendarbeit tätig waren, waren etwas bedachter. Es gibt Länder, in denen Werbung für Kinder verboten ist. Und es gibt Länder, die keinerlei Anstand gegenüber ihren Kindern haben und sie nicht schützen vor den Begehrlichkeiten der geschäftstreibenden Erwachsenen. Inzwischen hat das Unternehmen die negative Berichterstattung anscheinend realisiert, und es ist schwieriger geworden, von außen einen Einblick zu erhalten. Man müsste sich anmelden, um das ganze Ausmaß des Sponsorings begreifen zu können. Und man müsste die Unternehmen anfragen, um ihr Engagement richtig einschätzen zu können. Wahrscheinlich würde man nicht von allen eine Auskunft bekommen, und wenn, dann würden sie betonen, wie wichtig ihnen das Engagement für die Bildung ist. ( à -QR-Info-100) In Deutschland ist man ähnlich weit, was solche Indoktrinationen anbetrifft. Aber holen wir etwas weiter aus, um das ganze Ausmaß zu sehen, und werfen wir einen Blick auf die seit ein paar Jahren bestehende Initiative »Deutschland sicher im Netz e.V.«. Da gibt es zunächst den Vorstand des Vereins. Vorstandsvorsitzender ist Ralph Haupter, Vorsitzender der Geschäftsführung der Microsoft GmbH. Das ist wenigstens transparent, 238 Die Rache der Nerds denn hinter »Deutschland sicher im Netz e.V.« steht eben dieses Unternehmen. Die Deutsche Telekom ist auch noch dabei. Puh, dachte ich, mit der Deutschen Telekom fühlt man sich eigentlich nicht so sicher im Netz. SAP und Google sind auch mit von der Partie. Sicher ist sicher. Neben dem Vorstand gibt es einen Beirat. In diesem sitzt zum Beispiel jemand vom Bundesministerium des Innern ein. Diesem Ministerium war die Sicherheit schon immer ein Anliegen - so oder so. Und vor allem haben es Bund und Länder jahrzehntelang versäumt, ihre Bürgerinnen und Bürger, ihre Studentinnen und Studenten, ihre Schülerinnen und Schüler informationsethisch zu sensibilisieren und medienkompetent zu machen. Da muss man 5 vor 12 schon dabei sein. Sonst bleibt auf dem Schlachtfeld des Pausenhofs bald niemand mehr übrig. Die lieben Kleinen beschimpfen sich, wie bereits dargestellt, im mobilen und klassischen Netz und schlagen sich dann am nächsten Morgen im Freien die Köpfe ein (s. Kapitel »Mobbing und Denunziation«). Früher sind sie erst zur Mittagszeit aufeinander losgegangen. Dank der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien wird alles beschleunigt. Im Beirat sind noch andere wichtige Menschen, vor allem Professorinnen und Professoren. Je wichtiger die Menschen, desto wichtiger die Initiative. Die Inhalte sind nicht so wichtig. Das Motto ist wichtig. »Deutschland sicher im Netz«. Wer sonst. Sogar die Europäische Kommission ist mit dabei. Das ist wiederum von Bedeutung, denn vielleicht wird die Initiative ja einmal europäisch. Vielleicht ist sie es ja schon. Europa ist »sicher im Netz.« Und niemand weiß es. Eine Geschäftsstelle gibt es auch noch. Und eine Satzung. Die Initiative richtet sich u.a. an Kinder und Jugendliche. In der Schweiz hat sich Microsoft mit security4kids Zutritt zu den Schulen verschafft. Mit freundlicher Unterstützung des Staats. In der EU sollte das in gleicher Weise gelingen. Wer mit zehn Jahren etwas von dem 239 Der Bürger als Kunde Unternehmen lernt, wird mit 18 Jahren etwas von ihm kaufen. Spätestens. Wahrscheinlich schon mit 12, wenn es Mama und Papa erlauben. Es ist nicht schlimm, Produkte für Heranwachsende zu entwickeln und an sie zu verkaufen. Comics und Lollis müssen nicht nur an den Mann und die Frau. Aber schlimm ist es, Kinder an Produkte zu gewöhnen. Damit sie als Jugendliche oder Erwachsene diese für notwendig halten. Und noch schlimmer ist es, wenn das Unternehmen mit seinen Produkten in die Schulen eindringt. Genau das macht Microsoft. In der Schweiz besonders aggressiv. Mit Web-based Trainings, von denen aus direkt auf die Website des Unternehmens verlinkt wird. Für Deutschlands Kinder und Jugendliche gibt es den Medienkoffer »für Grund- und weiterführende Schulen« 65 . »Das Unterrichtspaket wurde ... von der Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter (FSM), dem Deutschen Kinderhilfswerk (DKHW) und Microsoft Deutschland entwickelt ...« Das muss man sich einmal vorstellen. Ein Koffer für Deutschlands Schülerinnen und Schüler von einem weltweit agierenden Konzern. Ein Kinderhilfswerk, das sich wie ein Gehilfe eines Rattenfängers aufführt. Und Diensteanbieter, die außer Kontrolle geraten sind. Und niemand unternimmt etwas dagegen. Alle finden es toll, dass endlich etwas geschieht. Und morgen stellt McDonald’s das Pausenbrot. Und Vattenfall erklärt den Kids, wie der Strom entsteht. Einige Zeit habe ich gedacht, dass so etwas nicht möglich sei. Aber wie deutlich wurde, ist es in der Schweiz gang und gäbe. Bei den deutschen »Internauten«, die ihre Weisheiten über eine separate Website verbreiten dürfen, erfährt man übrigens, dass Premium-SMS »teure SMS« 66 sind. Es wird überhaupt nicht differenziert. Warum sollte ein Buch, das per Premium-SMS- Dienst drei Euro kostet, teuer sein? Für die »Internauten« steht fest: Handys sind »kleine Taschengeldmonster«. Oft stimmt das (wenn man die merkwürdige Metapher erträgt). Aber eben 240 Die Rache der Nerds nicht immer. Und das Handy ist der Kleinstcomputer, den die Kids jeden Tag mit sich herumtragen. Lasst uns doch etwas daraus machen! Sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz gibt es Schulen, die das Handy im Unterricht verboten haben. Sie hören nur die lauten Klingeltöne und sehen die unanständigen Videos. Sie wissen nicht, dass hunderttausende Schülerinnen und Schüler mit dem Handy lernen und lesen. Bzw. lernen und lesen könnten. Apropos Schule. Das Schlimme ist eben, dass Microsoft die Heranwachsenden dort heimsucht, wo sie nicht flüchten und nicht wegschauen können. Im Unterricht. Wir haben Schulpflicht. Den geschickt deponierten Koffern der Redmonder kann niemand entkommen. Allmachtsphantasien Blogger und Microblogger fühlen sich oft allmächtig, insbesondere wenn sie sich oft ohnmächtig fühlen (s. Kapitel »Der Zorn der Blogger«). Nicht wenige Randgruppen, Minderheiten und Benachteiligte funktionieren so. Ich erinnere mich an eine Professorin, die sich über jemanden geärgert hatte und ausrief: »Der weiß wohl nicht, dass ich blogge! « Nein, das wusste er wohl nicht. Und wenn er es gewusst hätte, hätte es ihn wohl kalt gelassen. Zumindest hätte er sie in diesem Moment nicht so wichtig gehalten wie sie sich selbst. Professorinnen und Professoren als Benachteiligte? Vielleicht eher als Verlierer einer Wissensgesellschaft, die ihren Namen nicht verdient. Ein gewisses Allmachtsgefühl ist auch der Mehrzahl der Nerds zu eigen. Und die Nerdindustrie - zu der man durchaus die Anbieter von Handyapplikationen zählen kann - möchte, dass man sich früh allmächtig fühlt. Da wird zum Beispiel ein angeblicher Nacktscanner angeboten, mit den Worten »Mach aus deinem Alltag eine Peep-Show, wo und wann immer du willst! « ... Das ist wahrscheinlich nicht nur eine Nerdphantasie, 241 Allmachtsphantasien sondern eine Pubertätsphantasie vieler Jungen und mancher Mädchen. Es ist aber kein Zufall, dass die Allmachtsphantasien ausgerechnet mit dem Kleinstcomputer umgesetzt werden sollen, den die Jugend ständig bei sich trägt. Überhaupt erinnern Nerds, selbst wenn sie längst erwachsen sind, an Heranwachsende. Bill Gates ist ein gutes Beispiel dafür. Er ist immer noch der kleine Junge aus seiner Garage, und das, obwohl er in der Garage gar kein kleiner Junge mehr war. Und obwohl er jetzt kein Nerd mehr sein will, sondern ein Wohltäter der Menschheit, ein Stifter von Glück und Gesundheit. Richtige Nerds möchten eigentlich nur spielen. Und sie entwickeln Spielzeug, das möglichst viel kann, wie ein Schweizer Taschenmesser, das die Schweizer Sackmesser nennen. Es soll schneiden können, sägen, bohren, eine Lupe sein und ein Speicher, ein sicherer sogar, wie früher ein Schweizer Konto. Am Ende haben sie ein Spielzeug, das selbst nur spielen will, und der Ball, den es benutzt, ist die Erde. Die Google-Manager haben ebenfalls Allmachtsphantasien. Sie haben faktisch enorme wirtschaftliche Macht. Und sie nehmen inzwischen politisch Einfluss. Sie drohen Gerichten (wobei sie, wie in Bezug auf das Schweizer Bundesgericht, stark betonen, dass sie nicht drohen); und sie finanzieren universitäre Institute. ( à -QR-Info-101) Ausgerechnet im Bereich der Technologiefolgenabschätzung und der Informationsethik soll die Humboldt-Universität zu Berlin mit Google-Geld Forschung betreiben (s. Kapitel »Die Moral der Informationsgesellschaft« und »Die Mängel der Ausbildung«). Die Probleme, die uns das Unternehmen einbrockt, werden gleich von Wissenschaftlern erforscht, die an seinem Tropf hängen. Und vielleicht vermögen sie auf Daten zuzugreifen, von denen sie bisher nur träumen konnten. Ach ja, die Daten. An ihnen lässt sich der Machtanspruch von Google natürlich am besten zeigen. Zehn Jahre Datengier und -sammlung. Und Anfang 242 Die Rache der Nerds 2012 wurde bekannt, dass man Internet Explorer und Safari austrickste und sich über die Datenschutzeinstellungen der Benutzer der Browser hinwegsetzte. 67 Neben den Google-Chefs zeigt vielleicht noch Mark Zuckerberg am deutlichsten seine Allmachtsgefühle. Im Herbst 2011 gab er bekannt, dass die Mitglieder von Facebook ihr Leben vor ihm und allen anderen Menschen ausbreiten sollen. Entlang einer Zeitleiste, die er mit seinen Nerds gestaltet und die, wie erwähnt, bei uns Chronik genannt wird (s. Kapitel »Datensauger und -schleudern«). Man hat wirklich den Eindruck, dieses Mal geht es ihm nicht nur um Daten, nicht nur um die Verwertung von Daten, nicht nur um die Werbung um diese Daten herum. Es geht ihm um die Träger der Daten. Er will nicht nur die Daten der Menschen in die Hand bekommen, sondern die Menschen selbst. Damit knüpft er an den Ursprung von Facebook an. Er erfand diese Plattform, um Mädchen und Frauen zu beurteilen, zu vergleichen, um sie in seine Hand zu bekommen. Er verwandelte sein typisches Nerdproblem, das Problem, das alle kleinen, pickeligen Jungen mit dicker Brille haben, in eine Maschine, die Geld ausspuckt und Menschen verschlingt. Die Timeline - der englische Name hält sich bei uns hartnäckig - wurde schließlich zur Grundlage des Dienstes und damit zur Pflicht. Von der Wiege bis zur Bahre, vom unteren Rand der Seite bis zum oberen - bis man sie für immer verlässt. Auch Piratinnen und Piraten dürften Allmachtsphantasien haben. Zum einen scheinen auch sie getrieben zu sein von den Ohnmachtsgefühlen, die manche von ihnen kennengelernt haben. Zum anderen wissen sie, dass sie erhebliche faktische Macht haben. Und sie wollen noch mehr, noch viel mehr. Gerne argumentieren sie damit, dass ihre Anliegen nicht genügend berücksichtigt werden. Die meisten ihrer Anliegen werden allerdings nicht nur genügend, sondern übermäßig berücksichtigt. Freilich nicht unbedingt im Politischen, nicht in den Gesetzen 243 Die Macht der Konzerne und nicht in der Rechtsprechung. Der Griff nach der politischen Macht ist nur konsequent. Manches erinnert an die Anfänge der Grünen. Der Bundesparteitag der Piratenpartei im Dezember 2011 war - dies bekam man schon mit, wenn man einigen Protagonisten auf Twitter folgte - chaotisch, lebendig, faszinierend. Und der Wahlerfolg im Saarland im Frühjahr 2012 führte zu einem bundesweiten Umfragehoch, obwohl sich in Interviews und Talkshows gezeigt hatte, dass die Piraten noch nicht auf alles eine Antwort wissen - und auch nicht auf alles eine Antwort wissen wollen. Die Macht der Konzerne Microsoft war das Unternehmen, das man in den 1980er- und 1990er-Jahren gehasst hat. Google ist das Unternehmen, das man heute hasst. Außer man liebt es, was die Jugend teilweise tut. Zumindest wollen viele Berufsanfänger gerne bei Google arbeiten. Zum Beispiel in Zürich, wo ich eine Weile gewohnt habe. Das Unternehmen hat offensichtlich eine »Kultur«, die junge Leute bzw. zwangsläufig junggebliebene Nerds anspricht. Wenn man die verschiedenen Bewerbungsrunden geschafft hat, darf man in den exklusiven Zirkel eintreten. Es scheint die Mitarbeiter nicht zu stören, dass sie für einen Konzern arbeiten, der systematisch Recht bricht. Wahrscheinlich ist es zu hart, von organisierter Kriminalität zu sprechen. Aber ganz sicher bin ich mir nicht. Dass Microsoft heute einen besseren Ruf hat als früher, ist durch nichts zu rechtfertigen. Außer durch die Tatsache, dass das Unternehmen im Schatten des großen Bruders steht. Wo es allerdings weiterhin blüht und gedeiht. Und wo es auf ihn aus allen Rohren schießt. Vielleicht hat das von Bill Gates und Paul Allen gegründete Unternehmen keinen so ausgeprägten Datenhunger wie Google oder Facebook. Aber es ist durchaus 244 Die Rache der Nerds am Nutzerverhalten interessiert. Spiegel Online schrieb am 4. Februar 2011: Microsoft protokolliert das Surfverhalten der Nutzer seiner Browser- Toolbars. Anonymisiert, behauptet der Konzern - verweigert aber jede weitere Auskunft über seine Datensammlung. Nun verlangt Bayerns oberster Datenschützer Auskunft. … Zuständig für die Beobachtung des Surferverhaltens sind wohl die millionenfach installierten Browser-Erweiterungen »MSN Toolbar« (heißt inzwischen »Bing Bar«) und »Windows Live Toolbar«. Die Analysten der Beratungsfirma »Directions on Microsoft« haben in mehreren Berichten schon 2009 ausgeführt, dass Microsoft diese Erweiterungen nutzt, um das Surf- Verhalten der Anwender zu protokollieren. 68 Wie sieht es mit den deutschen IT-Firmen aus? Mit den Telekommunikationsunternehmen? Es fällt auf, dass die großen unter ihnen in Abhör- und Spionageskandale verwickelt waren oder sind. Siemens und die Deutsche Telekom haben die eigenen Angestellten bespitzelt. Bei der Deutschen Telekom habe ich den Eindruck, dass die Bespitzelung dort Tradition hat. Auch in den 1980er-Jahren wurde man bei der Telefonauskunft immer wieder heimlich überprüft (s. Kapitel »Scheinbare Prozessoptimierung«). Und man wurde als Operator unter Vorspiegelung einer falschen Identität angerufen, mit einem fingierten Wunsch. Das ist freilich harmlos gegenüber dem, was Jahrzehnte später mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angestellt wurde. Interessant ist es auch, zum Thema Unternehmen und Wissenschaft zu recherchieren und sich umzuhören und umzuschauen. IT-Firmen lobbyieren zum einen über Verbände wie die BITKOM. ( à -QR-Info-102) Zum anderen dringen sie direkt in den Bildungsbereich ein. Die Mittel dafür sind vielfältig. Sie sponsern ganze Institute und Lehrstühle, sie lassen Hörsäle nach sich benennen, sie wirken bei Forschungsprojekten mit, die nicht immer den Namen verdienen. Oder sie schleusen ihre Leute ein. Manche Professoren haben eine 100-Prozent-Stelle an ihrer Hochschule, aber Gehaltsabrechnungen von ihrer Hochschule und dem Unter- 245 Die Macht der Konzerne nehmen, aus dem sie stammen und das sie nur scheinbar verlassen haben. Und wer mitbekommt, wie sie in ihrer Lehre für die Produkte werben und wie sie sogar PowerPoint-Folien mit dem Corporate Design der Unternehmen auflegen, wird diesen gegenüber kritisch werden. Der große Coup von Google war der Einkauf bei der Humboldt-Universität. Von dem Konzern bezahlte Wissenschaftler dürfen dort ausgerechnet zu Fragen der Technologiefolgenabschätzung und Informationsethik forschen (s. Kapitel »Allmachtsphantasien« und »Die Mängel der Ausbildung«). Es hat den Anschein, als wären IT- und insbesondere IKT- Firmen prädestiniert für Inspektionen und Repressionen aller Art. Das wäre auch kein Wunder, verfügen sie doch über Technologien, die sie nicht nur verkaufen, sondern auch selbst einsetzen können. Aber ist es wirklich so einfach? Was ist mit der Chemie- oder der Pharmabranche? Was ist mit der Lebensmittelindustrie (s. Kapitel »Das gläserne Produkt«)? Was ist mit den Energieanbietern? Was wird täglich in den Verwaltungen vertuscht und aufgedeckt? Was ist, um wieder zur Bespitzelung zu kommen, mit den Einzelhandelsketten? Zum Teil setzen diese Technologien ein, zum Teil Menschen, um Menschen zu überwachen. Auf jeden Fall gilt: Wer Technologien beherrscht, setzt sie ein zur Beherrschung. Und wer sie nicht beherrscht, lässt sich beraten. Neben den Konzernen darf man die tausenden kleinen und mittleren Unternehmen nicht vergessen, die vielleicht weniger an der Bespitzelung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dafür aber der Bürgerinnen und Bürger interessiert sind (s. Kapitel »Schwarmintelligenz«). Manche veräußern ihre Produkte an den Staat, manche an große Unternehmen. Manche von ihnen werden irgendwann von den großen Unternehmen verschluckt, von diesen Walen der elektronischen Meere. Und die Daten der Benutzer sind das Plankton, von dem sie sich ernähren. 246 Die Rache der Nerds Schwarmintelligenz Vor ein paar Jahren hielt ich in Salzburg einen Vortrag auf einer Konferenz, die der Untersuchung von »Kreativität und Innovationskompetenz im digitalen Netz« verpflichtet war. Bei mir ging es um Handyromane, vor allem um meine eigenen, die dem Experiment verpflichtet waren. Weder von Kreativität noch von Innovation würde ich sprechen, einfach nur von moderner Literatur; aber dieser kleine Einwand gehört nicht hierher. Am Rande der Konferenz las ich aus meinen flüchtigen Werken vor, verglich sie mit Eisenskulpturen und Groschenromanen. Ein Mann erschien im Publikum, den ich bei seinem Vortrag erlebt und der mich an Jim Carrey erinnert hatte. Durch die Maskenhaftigkeit seines Gesichts stieß er mich ab, durch die Professionalität seines Auftritts zog er mich an. Nach meiner Lesung, die in einen Vortrag eingebettet gewesen war, kamen wir ins Gespräch. Er forschte am MIT und war Chef eines Schweizer IT-Unternehmens. Entwickelt hatte er eine Software, die sich die sogenannte Schwarmintelligenz zunutze machte. Früher war Schwarmintelligenz die Intelligenz der Person, von der man geschwärmt hat; heute versteht man die Weisheit der Masse darunter. Einer Masse, die gewisse Parameter hat und etwa Meinungsführer kennt oder gemeinsame Interessen. Die Nachfrage war nicht schlecht, bis hin zur CIA. ( à -QR-Info-103) Eingesetzt wurde die Software offiziell für Prognosen. Beispielsweise wollte man wissen, wer der nächste Präsident Irans wurde. Nebenbei hat man vielleicht andere interessante Erfahrungen und Entdeckungen gemacht. Und ein paar vermeintliche und tatsächliche Kriminelle entdeckt. Vielleicht war unter den Millionen sogar ein Staatsfeind dabei. Oder ein Spaßvogel, der sich mit seinem Verhalten und seiner Kommunikation ernsthafte Probleme einhandelte. 247 Schwarmintelligenz Die automatische Analyse, ob sie sich auf Schwärme oder Herden oder andere natürliche und künstliche Organisationsformen bezieht, liegt nahe. Und in einer offenen Struktur wie der des Webs ist sie kaum zu verhindern. Ethisch ist sie überaus fragwürdig. Die eigene Kommunikation wird zum wirtschaftlichen Wert, ohne dass man etwas davon hätte (oder etwas davon wüsste). Die eigene Person gerät ins Visier, nur weil man von der Norm abweicht. Es sind nicht nur sprachliche Analysen, die in den Netzen stattfinden. Die Gesichtserkennung wurde am Rande thematisiert (s. Kapitel »Das Recht am eigenen Bild«); ihr vorgeschaltet kann eine visuelle Analyse sein, deren Ziel die Identifizierung von Auffälligkeiten und Besonderheiten sein mag. Wenn jemand einen Koffer stehen lässt, etwa in einer Fußgängerzone oder an einem Flughafen, schlägt das System Alarm. Im Einzelfall kann man auf diese Weise Schaden abwenden; aber ist es nicht eine grauenvolle Vorstellung, dass überall Systeme aufgebaut werden, die Abweichungen registrieren, Unregelmäßigkeiten im menschlichen Verhalten? Der falsche Jim Carrey hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Er wohnte in Aarau, in einem der Häuser, die Napoleon für seine Offiziere hatte errichten lassen, als die Stadt der Provinz für einen Lidschlag der Geschichte zur Hauptstadt geworden war. Wir saßen draußen, mit Blick auf die auslaufende Stadt und das beginnende Land, während er mal seinen wissenschaftlichen und mal seinen unternehmerischen Hut aufsetzte. Irgendwo vor uns und unter uns floss die Aare. Es gab Wein, nur so viel, dass meine Fahrtüchtigkeit und mein Denkvermögen nicht beeinträchtigt waren. Noch nie hatte ich ein Gespräch geführt, in dem man bei jedem einzelnen Gegenstand anderer Meinung war. Ich kritisierte Google, er bejubelte es. Ich pries die Privatsphäre, er verlachte sie. Wir kamen auf keinen grünen Zweig und keinen gemeinsamen Nenner und trennten uns freundlich, aber im Wissen, dass es kein weiteres Treffen geben würde. 248 Die Rache der Nerds Interessant am Rande ist, dass er Wert darauf legte, kein Nerd, sondern ein Geek zu sein. Irgendwie spürte er vielleicht, jenseits unseres Gesprächs, dass das, was er machte, sehr kritisch betrachtet werden konnte. Dass er sich an anderen Leuten bereicherte, scheinbar ohne ihnen etwas wegzunehmen. Dass er ein Nerd durch und durch war. Auf jeden Fall wusste er genau, was ein Nerd ist. Und wer so etwas genau weiß, lebt entweder damit. Oder findet eine neue Schublade für sich. »Geek«, das klingt wie die Überwindung des Nerds. Beides kann »Computerfreak« und »Streber« bedeuten. Aber während beim Nerd der Langweiler und der Sonderling durchscheint, schiebt sich beim Geek der Gelehrte in den Vordergrund, auch wenn der Stubengelehrte gemeint ist. Wenn ich meinen Studierenden von den erwähnten Technologien erzähle, kommt regelmäßig die Frage auf, ob ihre Mundart sie vor den Analysen schütze. Eine seltene Sprache oder dialektale Variante kann tatsächlich ein gewisser Schutz sein, im Schriftlichen wie im Mündlichen. Natürlich fokussieren die Unternehmen oder Geheimdienste auf für sie relevante und weit verbreitete Sprachen. Nicht jedes Analysetool wird sich mit Bärndütsch so leicht tun wie mit Hochdeutsch. Der Gebrauch einer der vielen Varianten kann denjenigen schützen, der seinen Dialekt mündlich - etwa über Instant-Messaging-Systeme - oder schriftlich einsetzt. Diese Schriftlichkeit hat in der Schweiz in den letzten 15 Jahren stark zugenommen, und gerade jüngere Menschen mailen, simsen und chatten ganz selbstverständlich in ihrem lokalen Dialekt. Michael Schmidt-Salomon stellt in seinem Buch »Keine Macht den Doofen« dem Begriff der Schwarmintelligenz den Begriff der Schwarmdummheit gegenüber, wobei er sich nicht auf Phänomene des Internets beschränkt. Sein Fazit im ökonomischen Kontext lautet: »Erst gemeinsam sind wir richtig doof.« 69 Eines seiner Beispiele ist die Wegwerfgesellschaft, die 249 Die Hüte der Hacker »einerseits völlig irrsinnige Konsequenzen hat, andererseits jedoch sehr wohl auf rationalen Wirtschaftsstrategien beruht, etwa auf der sogenannten geplanten Obsolenz« 70 . Viele Gadgets halten viel weniger lang, als sie halten könnten. Notebooks geben nach zwei, drei Jahren den Geist auf, ebenso Handys; die Geräte verschleißen oder werden über Chips angewiesen, den Betrieb einzustellen. Wir werden zum Neukauf gezwungen, was scheinbar betriebs- und volkswirtschaftlich sinnvoll und offenbar ökologisch unsinnig und nicht zuletzt eine weitere Facette der Abhängigkeit ist (s. Kapitel »Abhängigkeit von IT und IT- Unternehmen«). Die Hüte der Hacker Was Hacker sind, ist heute allgemein bekannt. Joseph Weizenbaum wurde mit seiner Aussage zitiert, dass »der zwanghafte Programmierer oder Hacker, wie er sich selbst nennt, normalerweise ein brillanter Techniker ist« 71 . Ein brillanter und skrupelloser Techniker, könnte man sagen, dessen Beruf bzw. Berufung, das Hacken, ebenso gerne verklärt wie verteufelt wird. Viele Verbesserungen in der Soft- und Hardware sind auf Zu- und Angriffe von Hackern zurückzuführen. Aber überschreiten Hacker nicht in unzulässiger Weise Grenzen? Was haben sie in Systemen von Unternehmen und Behörden zu tun, was in den Rechnern von Privaten? Und macht sich der Staat nicht zum Gehilfen, wenn er Informationen und Daten ankauft? Längst sind Hacker nicht nur einzelne Begabte und Getriebene, sondern auch Angestellte von demokratischen und totalitären Staaten. Zu unterscheiden ist - frei nach der Konvention in Western - zwischen White-Hat-, Grey-Hat- und Black-Hat-Hackern. ( à - QR-Info- 104) Die einen sind die Guten, die anderen die Bösen. Und der Rest ist irgendwo dazwischen. Wobei man es so einfach wohl nicht sagen kann. 250 Die Rache der Nerds Die White-Hats wollen ihre Vorstellung von Informationsfreiheit verbreiten und beweisen, dass es keine hundertprozentige Sicherheit in Netzen und bei Computern gibt. Sie handeln in der Regel nach der (einen oder anderen) » Hackerethik« (bzw. Hackermoral) und suchen ohne Auftrag nach Sicherheitslücken in fremden Systemen. ( à -QR-Info-105) Die Black-Hats werden auch Cracker genannt und handeln mit krimineller Energie. Sie suchen und finden ebenfalls Sicherheitslücken, wollen diese aber bewusst ausnutzen und dabei fremde Systeme beschädigen. Sie verdienen mit ihren Aktivitäten, nicht nur Ruhm, sondern auch Geld. Sie hacken sich im Auftrag in Atomkraftwerke oder in Herzschrittmacher und lösen einen allgemeinen oder persönlichen GAU aus. Die erwähnte Hackermoral ist teilweise etwas platt. Und leider haben die Piraten einiges davon übernommen. Was soll ein Satz wie »Alle Informationen müssen frei sein.« bedeuten? Sind Informationen Vögel, die in der Gefangenschaft zugrunde gehen? ( à -QR-Info-106) In der Kombination mit der Aussage »Öffentliche Daten nützen, private Daten schützen.« gewinnt der Satz freilich etwas an Sinn. Dass man mit dem Computer Kunst und Schönheit schaffen kann, kann ich nur unterstreichen; aber warum sollte ich diese Aussage aus dem Mund eines Hackers ernst nehmen? Sind Hacker die Experten für die schönen Künste? ( à - QR-Info- 107) Haben sie Minderwertigkeitskomplexe, die sie kompensieren müssen? Vielleicht, und vielleicht haben sie auch Allmachtsgefühle, wie die Blogger (s. Kapitel »Allmachtsphantasien«); es geht immer wieder darum, Recht zu brechen, um Gerechtigkeit herzustellen. Hacker sind anscheinend die Robin Hoods der digitalen Wälder. Die Frage ist nur, wie unser politisches Engagement und System zu bewerten ist, unsere Demokratie und unsere Rechtsstaatlichkeit, wenn Einzelkämpfer das zerstören können, was wir mühsam 251 Die Hüte der Hacker zusammen austariert haben. Natürlich ist das eine idealisierte Sicht, und wenn Lobbys, Medien und Politik vertuschen und desinformieren, einzeln oder im Verbund, muss hin und wieder zu drastischen Mitteln gegriffen werden. Sicher stellen Hacker in manchen Fällen Alternativen her, die ansonsten fehlen würden. Aber sicher verunmöglichen sie in manchen Fällen auch Alternativen. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik meldete im Juni 2011: »Bundesinnenminister Dr. Hans-Peter Friedrich eröffnet das Nationale Cyber-Abwehrzentrum«. Und schrieb auf der Website http: / / www.bsi.bund.de: Gemeinsam mit den Präsidenten der beteiligten Behörden stellte er die Aufgaben des Cyber-Abwehrzentrums der Presse vor. Das Cyber- Abwehrzentrum wurde als gemeinsame Plattform zum schnellen Informationsaustausch und zur besseren Koordinierung von Schutz- und Abwehrmaßnahmen gegen IT-Sicherheitsvorfälle errichtet. Unter der Federführung des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und direkter Beteiligung des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) und des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) hat das Cyber-Abwehrzentrum bereits am 1. April 2011 seine Arbeit aufgenommen. Die drei Behörden stellen gemeinsam die zehn festen Mitarbeiter des Cyber-Abwehrzentrums. Seit heute wirken auch das Bundeskriminalamt (BKA), die Bundespolizei (BPol), das Zollkriminalamt (ZKA), der Bundesnachrichtendienst (BND) sowie die Bundeswehr als assoziierte Behörden mit. 72 Wer einmal in Deutschland im öffentlichen Dienst gearbeitet hat, hat gehört oder am eigenen Leib erfahren, was dort Informatiker und Techniker verdienen. Es ist schwer, gute Leute zu bekommen und zu halten. Wer etwas kann, ist in der Wirtschaft. Oder an der Hochschule, wo zwar kein Geld, aber immerhin - so glaubt man am Anfang - ein bisschen Ehre lockt. Kann man mit zehn schlecht bezahlten Mitarbeitern ernsthaft den Kampf gegen kriminelle Hacker und Manipulatoren aufnehmen? Oder gelten für die Informatiker des Abwehrzentrums spezielle Konditionen? Das werden sicher bald Hacker herausfinden, die in die Systeme der Einrichtungen eindringen. ( à -QR-Info-108) 252 Die Rache der Nerds Wer über bestimmte Technologien und Techniken verfügt, hat die Macht. Das gilt auch dann, wenn die Technologien zu Medien werden. Über diese können geheime Dokumente weltweit verbreitet werden. Die Akteure von WikiLeaks haben die Möglichkeiten und Konsequenzen aufgezeigt. Sie haben auch gezeigt, dass es mit Hilfe von Verbündeten möglich ist, mächtige Konzerne anzugreifen. Hacker liefern nicht nur einen Teil des kompromittierenden Materials, sondern stehen auch für andere Aktivitäten zur Verfügung. Den Denial-of-Service-Attacken auf die »Störer« der Aktionen von WikiLeaks Ende 2010 vermochten die Verantwortlichen kaum etwas entgegenzusetzen. 73 Die Zeitungen und Zeitschriften sowie die Sender zeigten sich beunruhigt darüber, dass diejenigen die Macht ausspielen, die sie haben - und dass es sich nicht um diejenigen handelt, die normalerweise das Sagen haben. Allerdings verkennen sie, dass die Nerds schon lange über diese Macht verfügen, und dieses Jahrhundert wird die Verhältnisse weiter klären. Natürlich muss man auch an dieser Stelle zwischen den verschiedenen Nerds unterscheiden. Manchmal kann man sie in einen Topf werfen, manchmal muss man sie aus der Suppe fischen. Es gibt die Nerds der Garagen. Die Nerds der Konzerne. Die Nerds der Plattformen, von denen WikiLeaks eine ist. Und es gibt die Nerds von der Straße. Dass die Nerds der Straße sich massenhaft verbünden, ist relativ neu. Hackerattacken einer bestimmten Sorte sind alt, und immer wieder werden Attacken abgesprochen. Aber dass nach Aufrufen in Facebook oder von WikiLeaks hunderte oder tausende Nerds ihren Unmut bekunden, ist ein Phänomen des 21. Jahrhunderts. Hier muss man nochmals unterscheiden. Es ist etwas anderes, ob sich Facebook- Benutzer einem Protest anschließen oder ob sich Aktivisten Software herunterladen und ihren Rechner für Attacken zur Verfügung stellen bzw. selbst Attacken ausüben, unter Verwendung der Computer ahnungsloser Nutzer oder auf direktem Wege. 253 Der Künstler als Selbstvermarkter Dass die Transparenz, die WikiLeaks, Anonymous und andere herstellen, die Welt freier und besser macht, ist unwahrscheinlich. ( à -QR-Info-109) Das Problem ist vielleicht weniger, dass nicht alles transparent gemacht werden sollte. Sondern dass sich immer mehr gefälschte Dokumente unter den verbreiteten finden werden. Es wird in Zukunft einfach die Frage sein, ob etwas wahr oder falsch ist. Und je mehr sich als falsch herausstellt, desto mehr wird dem nicht geglaubt, was wahr ist. Der Künstler als Selbstvermarkter Es ist beliebt und verbreitet, mit dem Computer oder dem Smartphone Texte, Lieder, Bilder und Filme herunterzuladen. Kein Problem, wenn Urheber oder Befugte die Erlaubnis dazu gegeben haben. Manche definieren für sich aber auch das Recht, auf illegale Weise entstandenen und eingestellten Content nutzen zu dürfen, als wären sie kleine Hacker (s. Kapitel »Die Hüte der Hacker«). Und manchmal werden sie sogar vom Staat unterstützt, wie in der Eidgenossenschaft. ( à -QR-Info- 110) In vielen Fällen geht der Urheber, der Arbeit in seine Werke investiert hat, leer aus. Manche führen an, die Künstlerinnen und Künstler müssten sich für die Online-Welt neue Geschäftsmodelle ausdenken. Zudem wird behauptet, dass endlich die bösen, großen Konzerne abgestraft würden. Aber warum sollten die Kreativen (man verzeihe dieses hässliche Wort) nicht mehr für ihr Werk direkt bezahlt werden, sondern für Anstrengungen, die ihnen vielleicht fremd sind und in denen sie nicht professionell sein können? Und sind die Betriebe wirklich immer böse und groß? Die Industrien und Regierungen sind gewillt, etwas gegen die massiven Urheberrechtsverletzungen zu unternehmen. Allerdings scheinen sie dabei auch Verletzungen der Meinungs- und 254 Die Rache der Nerds Informationsfreiheit in Kauf zu nehmen. 2012 gab es massive Proteste gegen das Anti-Counterfeiting Trade Agreement, kurz ACTA, ein internationales Handelsabkommen, das auf Initiative der USA und Japans ausgehandelt wurde und die Durchsetzung des Urheberrechts im Internet regeln sollte. Konrad Lischka hat in einem Artikel auf Spiegel Online vom 10. Februar 2012, in dem er die Feinde der »Contentmafia« als »Heuchler« bezeichnet, kommentiert: Das Urheberrecht hat im Internet viele Feinde, oft schlagen sie in Debatten hysterische Töne an. Tatsächlich ist das Urheberrecht eine gute, nützliche Sache - es gibt Künstlern Macht gegenüber Konzernen und gehört gestärkt, nicht geschwächt. 74 Dennoch hatte ACTA genügend problematische Punkte und Auswirkungen. Eine Neuregelung müsste wesentlich präziser ausfallen; und sie dürfte Provider nicht zu Polizisten machen. Ein ebenfalls umstrittenes Center for Copyright Information (CCI) wurde im Frühjahr 2012 in den USA gegründet. ( à -QR-Info-111) Im Juni 2011 war Hans Magnus Enzensberger zu Gast im Schauspielhaus in Zürich. Er war eine seiner »Geisterstimmen«, die seit Jahren das bildungsbeflissene Publikum erfreuen. Der Name des Hauses mochte auf den einen oder anderen zutreffen, der hier aufgetreten war, aber nicht auf ihn. Er gehörte nicht zu den »Pfauen«, sondern zu den letzten Universalgelehrten und Sprachexperimentatoren, ohne jeden Dünkel gegenüber der Sprache und ihren Benutzern. In dem Gespräch, das sich an die Lesung anschloss, verteidigte er die brotlose Kunst des Poetisierens. Dass man mit Gedichten nichts verdiene, mache nichts aus; diese seien, so der Gesprächspartner - ein emeritierter Philosoph der Universität Zürich - zusammenfassend, unbezahlbar. Das hat etwas, und man nimmt es Enzensberger ab, dass er aus reiner Lust dichtet, dass er an die Sprache und die Form denkt und nicht an die Bezahlung. Allerdings muss er 255 Der Künstler als Selbstvermarkter sich um sein Einkommen nicht mehr sorgen, und manchem Lyriker würde man ein angstfreies Leben und einen geräuschlosen Magen gönnen. Die »Sternstunde Philosophie« im Schweizer Fernsehen widmete sich ein Jahr davor, am 2. Mai 2010, den »Krisen der Computergesellschaft«; diese Sendung wird auch an anderer Stelle thematisiert (s. Kapitel »Wikipediaitis«). Roger de Weck traf auf den Soziologen Dirk Baecker, einen früheren Mitarbeiter von Niklas Luhmann, und stellte ihm die eine oder andere Frage. Unbefriedigend war die eine oder andere Antwort, etwa auf die Frage, wie sich ein Künstler finanzieren soll. Enzensberger hätte so etwas nie zum Besten gegeben. Das Hungertuch hängt stets vor dem inneren Auge des Künstlers, und das ist traurig genug, vor allem wenn man weiß, was Informatiker, Wirtschaftsinformatiker und Wirtschaftswissenschaftler in der Schweiz verdienen, selbst wenn sie in den Apparaten der Hochschulen wirken. In Zukunft wird zum Hungertuch das Leichentuch gelegt, in das sich der Künstler bei Bedarf einwickeln kann. Er kann sich aber auch gleich in seinem T-Shirt beerdigen lassen, das er aus anderen Gründen als der Nerd trägt. Baecker meinte nämlich allen Ernstes, Peter Bichsel (als Stellvertreter seiner Zunft) könne ja Peter-Bichsel-T-Shirts herstellen lassen. Roger de Weck war sichtlich entsetzt, und er wird den Vorschlag nicht zum ersten Mal gehört haben. Jaron Lanier hat bereits darauf hingewiesen, dass Künstler für ihr Kunstwerk bezahlt werden müssen (und Enzensberger könnte ergänzen, dass dies nicht bei jedem Künstler der Fall sein muss). ( à - QR-Info- 112) Und alles andere nur Beiwerk sein darf. Ohne Zweifel müssen wir uns andere Geschäftsmodelle überlegen, zumal die klassischen noch nie überzeugt haben. Zehn Prozent des Ladenpreises für den Autor, das funktioniert schon deshalb nicht mehr, weil es bald keinen Laden mehr gibt. Und weil der Urheber zu Recht darauf 256 Die Rache der Nerds drängt, mehr vom Kuchen zu bekommen. Die Verlagsleistungen gehen zurück, es wird kaum noch lektoriert und korrigiert, und für das Cover wird ein kostenloses oder günstiges Bild aus einer einschlägigen Datenbank genommen. Warum sollte sich der Autor mit zehn Prozent begnügen, wenn 20 bis 70 Prozent angemessen wären? Bis zu 70 Prozent kann er erhalten, wenn er in der »Kindle Edition« veröffentlicht, und man kann gespannt sein, wie sich die Geschäftsmodelle von Amazon weiterentwickeln. ( à -QR-Info-113) Es muss betont werden, dass Internet, Web und mobiles Netz phantastische Möglichkeiten für Schriftsteller, Musiker, Designer etc. bieten. Schriftsteller können, wie an anderer Stelle dargestellt wird (s. Kapitel »Gedruckte und elektronische Bücher«), ihre Produktionsweisen und ihre Vertriebskanäle revolutionieren; sie können inhaltlich in einer Weise experimentieren, die vielen von ihnen verwehrt war. Gerade das mobile Netz lässt eine neue Avantgarde in verschiedenen Künsten entstehen. Zugleich werden die quasimafiösen Strukturen aufgebrochen; die großen Verlage und Buchhandlungen haben keine uneingeschränkte Macht mehr über den Markt. Irgendwann werden die Kunst- und Literaturkritiker reagieren, die in den letzten Jahren von den Konzernen gefüttert und dadurch fett und unbeweglich wurden. Alte Abhängigkeiten werden verlorengehen. Aber die neuen Abhängigkeiten sind eben schon in Sichtweite. Nein, sie sind schon da. Und nicht nur Abhängigkeiten, sondern auch Gefahren, die mit dem Hacken (s. Kapitel »Die Hüte der Hacker«) und mit der Piraterie (s. Kapitel »Gedruckte und elektronische Bücher«) zusammenhängen. Digitale Technologien machen die massenhafte illegale Verbreitung von reproduzierbaren Kunstwerken möglich. Und wie bereits angesprochen, ist der Scan vielleicht in Zukunft das gefährlichste Werkzeug der Piraterie. Elektronische Bücher kann man mit einem mehr oder weniger sicheren 257 Der Künstler als Selbstvermarkter Kopierschutz versehen. Gedruckte Bücher können von allen eingescannt werden. Außer man entwickelt Papier, das nicht kopiert werden kann; solche Bücher werden aber mit den früheren nicht mehr viel gemein haben. Andere Künste werden es nicht ganz so schwer haben. Gerade die scheinbar altmodische Kunst der Ölmalerei ist, Fälschungen hin oder her, relativ sicher. In den 1990er-Jahren waren viele von uns der Meinung, dass man Inhalte im WWW nur für eine Weile kostenlos anbieten würde. Wir dachten: Spätestens um die Jahrhundert- und Jahrtausendwende herum schnappt die Falle zu. Vielleicht, wenn das Web schneller sein würde. Kein weltweites Warten mehr. Aber das Gegenteil war der Fall. Immer mehr Zeitschriften und Zeitungen gingen ins Web, immer mehr bauten ihr Angebot aus, alles war gratis. Heute ist man ein wenig pikiert, wenn man feststellt, dass eine Zeitung online nicht die gleichen Informationen vorhält wie offline. Die Schweizer WOZ war so ein seltener Fall, bis sie damit begann, ausgewählte Artikel online zu stellen. Man ist verwundert, wenn etwas nicht gratis ist; aber man wird nicht mehr lange verwundert sein. Rupert Murdoch ist seit Sommer 2011 - seit dem Abhörskandal - nicht gerade ein leuchtendes Beispiel für den Journalismus und die Verlagsbranche. Aber er hat, was die kommerzielle Basis anbetrifft, umgedacht, und viele Verlage und Anbieter werden noch mit ihm umdenken. Für Informationen soll wieder bezahlt werden. Was nichts kostet, ist nichts wert, sagt der Volksmund. Doch einigen Leserinnen und Lesern scheint der Unterschied zwischen einer Gratiszeitung und einer »richtigen« Tageszeitung gar nicht mehr klar zu sein. In der Schweiz ist 20 Minuten die größte Tageszeitung, gelesen von hunderttausenden Pendlern; und auch der Blick am Abend (ein Ableger der Boulevardzeitung Blick) hat eine enorme Reichweite, wobei man allenfalls fünf Minuten zu seiner Lektüre benötigt, nicht nur wegen des Umfangs. Manch eine Tageszeitung steigt dieser Tage, was das 258 Die Rache der Nerds Niveau angeht, in den Keller der Gratiskultur. Und manch eine, ausgerechnet aus dem Online-Bereich, steigt aus ihm heraus. Das iPad galt vielen als Möglichkeit, die Branche zu retten, und in der Folge eine ganze Palette an Tablets. Im Moment wird durch die kostenlose Verwendung von Apps die gedruckte Zeitung weiter kannibalisiert. ( à -QR-Info-114) Es braucht auch hier neue Geschäftsmodelle. Insgesamt zeichnet sich ab, dass die Benutzer bereit sind, etwas zu bezahlen, wenn sie Mehrwerte in Produkt oder Dienstleistung entdecken. ( à -QR-Info-115) Sie sind aber nicht bereit, das Gleiche zu zahlen wie im gedruckten Bereich. Der elektronische Bereich wird die Preise drücken. Es werden Zeitschriften für einen Teil des üblichen Preises und Bücher für einen Bruchteil des üblichen Preises verkauft. Ich selbst war sehr erstaunt, dass meine Handybücher, die jahrelang für zwei bis drei Euro zu haben waren, in der Schweiz plötzlich für einen Franken angeboten wurden, wogegen ich allerdings Einspruch erhob. Ich war noch mehr erstaunt, dass ich selbst bereit war, meine Bücher in der »Kindle Edition« zu Dumpingpreisen anzubieten. Ich sollte nicht jammern, denn solange ich ein bisschen an meiner Literatur verdiene, kann ich zufrieden sein. Und gerade Kanäle wie Amazon bieten den Autoren attraktive Möglichkeiten. Sie erhalten im Falle der »Kindle Edition« eben bis zu 70 Prozent des Endpreises, etwa sieben Mal so viel wie bei gewöhnlichen Anbietern. Und sie können - Amazon ist nicht mehr nur Buchhändler, sondern auch Verleger - Bücher in unterschiedlichen Formaten und Formen anbieten. Gefährlich wird es, wenn die Werke sofort nach dem Erscheinen gehackt oder gescannt und illegal verbreitet werden. Eine kleine Anerkennung wäre dahin, und was diejenigen anstellen, für die das Geld mehr als eine Anerkennung darstellt, möchte man sich gar nicht ausmalen. 259 Plagiate in Studium und Beruf Plagiate in Studium und Beruf Der Diebstahl geistigen Eigentums ist weit verbreitet. Plagiate sind eine Herausforderung für Schulen und Hochschulen sowie für Unternehmen. Die eigene Leistung wird beschönigt, die fremde beschädigt. Wenn sich ein Student einen Abschluss mit Hilfe von Plagiaten erschwindelt hat, sind nicht nur andere Studierende, sondern auch einstellende Arbeitgeber die Betrogenen. Soll man bei eindeutigen Beweisen die Verantwortlichen informieren? Soll man stärker präventiv tätig sein? Und wie hilft man den Geschädigten auf allen Seiten? Der Fall Hegemann wirft ein bestimmtes Licht auf die nachrückenden Generationen, der Fall Guttenberg auf die nachgerückten Politiker. Für eine Weile habe ich an einer Hochschule in der Innerschweiz einen kleinen Auftrag gehabt. Ich habe Expertenvorträge gehalten und studentische Arbeiten bewertet. Das heißt, ich sollte studentische Arbeiten bewerten, denn genau genommen kam es nur ein einziges Mal dazu. Es war ein Weiterbildungsstudiengang, und die Studierenden waren ausgewachsene Mitarbeiter von Unternehmen und Organisationen. Die Arbeit, die ich zu bewerten hatte, war eine Gruppenarbeit und hatte einen beträchtlichen Umfang. Ich quälte mich durch die Seiten und war einmal mehr verblüfft über das ungelenke Deutsch, das sowohl Einzelne als auch Gruppen hervorzubringen imstande sind. Als ich zu einem neuen Kapitel kam, stutzte ich nach wenigen Sätzen. Der Stil, wenn man von Stil sprechen konnte, änderte sich abrupt. So schlecht schreibt doch nur einer, dachte ich und googelte mit zwei, drei Strings. Und tatsächlich, ich fand den Text eines alten Bekannten, mit dem ich mehrere Workshops auf der Learntec geleitet hatte, bis ich entnervt aufgab. Seine Sprache war immer derart metaphorisch gewesen, dass man vor lauter Schiffen und Kapitänen das Meer nicht mehr sah. Die 260 Die Rache der Nerds Studierenden, offensichtlich die Leichtmatrosen der Hochschule, hatten etwa 15 Seiten wörtlich von ihm übernommen, ohne Quellenangabe. Natürlich ein astreines Plagiat. Ich schrieb ihnen eine nicht sehr freundliche E-Mail und meldete den Fall der Studiengangsleitung. Es ergaben sich Konsequenzen, und zwar für mich. Da man mit den Studierenden gut verdiente, wurde ich für keine weitere Betreuung mehr angefragt. Man muss sich als Arbeitgeber gut erkundigen, welchen Wert ein Abschluss hat. Wenn man den Abschluss durch eine Überweisung erhält, ist die Qualifikation nicht zwangsläufig gegeben. Der Rädelsführer ist heute als Dozent bei dem Studiengang beschäftigt, und selbst bei Guttenberg gewann man ja schon bald den Eindruck, dass er gestärkt aus der Affäre hervorgehen würde. Das Zeitalter der Nerds ist ein Zeitalter der Mashups, und die Kultur der Nerds ist eine Copy-and-Pastebzw. Shake-and- Paste-Kultur. Man kombiniert nicht nur Texte, sondern Medien aller Art. Alles wurde ja schon einmal gedacht, von allen möglichen Personen, und warum sollte nicht auch ich das alles denken, mit meinem Gehirn, das dem Gehirn eines anderen nicht unähnlich ist, mit den gleichen Windungen des gleichen Materials. Ich hätte doch genau die gleichen Gedanken hervorbringen können, und manches ist sogar so, als müsste man es gar nicht denken, als wäre es schon immer so gewesen oder vom Himmel gefallen. So vermengt man fremde Ideen mit anderen fremden Ideen. Und wenn dazwischen eine eigene Idee sprießt, fällt diese gar nicht mehr auf, denn alles ist eines, alles ist von allen und von mir. Als Schriftsteller wende ich Montagetechniken an. In die Handyromane einer Serie sind Wikipedia-Zitate eingebaut, da die junge Heldin immer wieder in der fragwürdigen Online- Enzyklopädie recherchiert (s. Kapitel »Wikipediaitis«). Bei manchen Handyhaikus zitiere ich ebenfalls, in einem Fall den bereits genannten Satz »Dass es nur Kunst war, verdeckte die 261 Plagiate in Studium und Beruf Kunst« von Ovid. In beiden Fällen verdeutliche ich, dass das Element nicht von mir stammt. Dass das Wort des römischen Dichters fast ein geflügeltes ist, zeigen die kleinen Schwingen der Anführungszeichen. Über die Montagen und Collagen hinaus ist es auch in anderen Zusammenhängen unumgänglich, dass wir unsere Luftschlösser auf fremden Gedanken bauen. Es ist nicht möglich, jede Aussage und Idee zu identifizieren. Auf wen verweise ich, wenn ich erwähne, dass die Erde rund ist oder sich um die Sonne bewegt? Natürlich handelt es sich in diesem Fall um Allgemeinwissen, das nicht mehr gesondert hervorgehoben werden muss. Ansonsten ist es unabdingbar, dass wir Fremdes und Eigenes separieren, dass das Fremde im eigenen Werk so deutlich wie möglich wird, dass keine Verwechslungen passieren und keine Anmaßungen. ( à -QR-Info-116) Wir gleichen Milliarden von anderen Menschen, unser Gehirn ist ähnlich aufgebaut wie das von Milliarden höher entwickelter Tiere, und nichts scheint merkwürdiger zu sein als eine lange Folge von noch nie gedachten Gedanken (womit ich weniger die Numeralität, eher die Originalität meine). Jedes Kunstwerk von Bedeutung ist freilich genau das bzw. entsteht genau daraus, und jedes wissenschaftliche Werk von Relevanz. Wenn wir uns mit einem Bild beschäftigen oder ein Buch lesen, kann die Aneignung so tiefgehend sein, dass wir das Werk für unser eigenes halten. Wir müssen uns immer wieder kneifen und schütteln und uns fragen, wer der wirkliche Urheber ist. Guttenberg ist kein Nerd, aber er ist ein Produkt (und ein Produzent) der Copy-and-Pastebzw. Shake-and-Paste-Kultur. Er hat so schnell und viel kopiert und kombiniert, so fleißig gerührt und geschüttelt, dass er den Überblick verloren hat. Vielleicht ist er ja auch gar nicht der Urheber seines Plagiats, nur die Ursache; für einen Ghostwriter würde sprechen, dass der Politiker nach dem Aufkommen der Vorwürfe seine Arbeit 262 Die Rache der Nerds erst lesen musste. Wer über Jahre eine Doktorarbeit schreibt, kennt sie normalerweise in- und auswendig. Wie auch immer, das Besondere des Falles war, dass dieselbe Kultur, aus der heraus das Plagiat entstanden ist, das Plagiat auch entlarvt hat; das »GuttenPlag Wiki« hat die Tatsachen so schnell ans Tageslicht gebracht, dass man fast an die Schwarmintelligenz glauben mochte (s. Kapitel »Schwarmintelligenz«). ( à -QR-Info-117) Als ich auf meinem Blog nach »GuttenPlag« suchte, stieß ich auf sieben Artikel. Das Thema scheint mich Anfang 2011 sehr beschäftigt zu haben. In meinem vorerst letzten Beitrag zum König der Plagiatoren hieß es: Die Anstrengungen sind grundsätzlich zu begrüssen. In die Kritik werden die Betreiber kommen, weil sie zwangsläufig auch Arbeiten nennen und behandeln werden, die wissenschaftlich korrekt erstellt wurden. Es werden zudem Personen zur Jagd blasen, die ihre früheren Dozenten, Kollegen oder Mitarbeiter in Misskredit bringen möchten. Dennoch ist zu sagen, dass die Betreiber und ihre Helfer eine Lücke füllen, vor der die Hochschulen seit Jahrzehnten zitternd stehen, als würde es sich um einen Abgrund handeln. Und vielleicht ist es ja auch ein Abgrund, der sich nun auftut. Es kann durchaus sein, dass in den nächsten Monaten und Jahren hunderte Promovierte ihren Hut nehmen und den Doktorhut wegwerfen müssen. 75 Das ist bisher nicht der Fall, aber was noch nicht ist, kann ja noch werden. Den Hochschulen würde es genauso wenig schaden wie der Wirtschaft und der Politik. Der Verlust von Sprache und Stringenz Nicht nur E-Learning-Experten, die aus Informatik und Wirtschaftsinformatik stammen, sondern Nerds aller Art beherrschen ihre Muttersprache oft nicht besonders gut (s. Kapitel »E-Learning und Blended Learning«). Die Auswirkungen sind allgemein bekannt. Bei der Benutzung von Lern- und von Computerprogrammen kann man manche Begriffe nicht direkt ver- 263 Der Verlust von Sprache und Stringenz stehen. Sondern man muss sie erst einmal interpretieren. Weil sie in merkwürdiger Weise gebraucht werden oder geschrieben sind. Auch Websites und Beiträge geben Rätsel auf, besonders solche im Web 2.0. Ich habe einmal einen Informatiker, der funktionaler Analphabet war, gefragt, wie er denn mit der Programmiersprache umgehe. Wenn er in der normalen Sprache so viele Fehler machte, so meine Überlegung, würde es doch bei der Verwendung der künstlichen auch nicht anders sein. Tatsächlich räumte er ein, sich beim klassischen Programmieren zu verschreiben. Dieses Problem löse er mit »trial and error«. Mit anderen Worten: Er verschreibt sich, das Programm funktioniert nicht, also kontrolliert er, was er geschrieben hat, schreibt es nochmals, das Programm funktioniert immer noch nicht, also kontrolliert er und schreibt es nochmals - und so weiter, bis es klappt. Man könnte »trial and horror« dazu sagen. Manchmal hat man den Eindruck, dass man für Programmierer nichts anderes ist als eine Maschine. Sie kommunizieren in irgendeiner Weise, die ihnen geeignet erscheint, und wenn man sie nicht versteht, erwarten sie, dass man nachfragt, damit sie wieder zu kommunizieren versuchen, und so weiter und so fort (s. Kapitel »Cyborgs und Maschinenmenschen«). Nerds machen typische Fehler, die ihnen nicht abzugewöhnen sind, in der gesprochenen und in der geschriebenen Sprache. Sie sprechen »Ressourcen« beispielsweise mit einem »o« aus und nicht mit einem »u«, wie es richtig wäre. Möglicherweise klingt das total englisch in ihren Ohren - in meinen klingt es einfach falsch. Zudem sagen sie »Rauter« statt »Ruuter« zu dem »Router«, was erstaunlich ist, weil dieses Wort mehr noch als »Ressourcen« zur Fachsprache gehört. Das alles ist nicht weiter schlimm, solange es eine Randerscheinung bleibt. Aber die Nerds sind nicht nur aus ihren Kellern gekrochen, sie haben sich nicht nur in den Büros breitgemacht, sondern sie beherrschen 264 Die Rache der Nerds die Welt. Die Beherrschung der Welt geht einher mit der Nichtbeherrschung der Sprache, die die Welt beschreibt und erzeugt. In den letzten Jahren hat sich, nicht nur bei Nerds, das Deppenleerzeichen rasant verbreitet. Das Beispiel der »Gemüse Suppe« wurde erwähnt (s. Kapitel »E-Learning und Blended Learning«). Gerne wird behauptet, dass das Englische hinter dieser neuen Schreibweise stecke. Aber es könnte auch die Rechtschreibprüfung von Word sein (s. Kapitel »Automatismen und Manipulationen«). Eines Tages erhielten wir an unserer Schweizer Hochschule Besuch von einem technischen Redakteur. Er dokumentierte technische Geräte und Anlagen, etwa Atomkraftwerke. Er hatte festgestellt, dass seine Dokumentationen nicht von allen verstanden wurden, und war der Meinung, dass die Übertragung auf elektronische Medien bei der Vermittlung helfen könnte. Ich hatte bereits vor dem Treffen ein paar Texte des Redakteurs erhalten, die sehr fehlerhaft gewesen waren. Auch auf den Folien der Präsentation, die der Redakteur vor uns hielt, wimmelte es von Fehlern. Dem Redakteur war mit E-Learning nicht zu helfen; der springende Punkt war, dass er der deutschen Sprache nicht mächtig war. Ich stellte mir vor, was bei einem GAU wäre. Man nimmt das Handbuch in die Hand. Und versteht kein Wort. Muss man diese Taste drücken oder diese? Man kann hoffen, dass es bei Raketenabschussrampen bessere Handbücher gibt, ausgenommen bei denen, die in unsere Richtung zielen. In den technischen Wissenschaften sowie in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hat sich längst das Englische durchgesetzt. Es scheint die universale Sprache zu sein, die die Menschen der Welt verbindet und sie alles begreifen lässt. In gewisser Weise stimmt das auch, und man kann sich schnell auf einem niedrigen Niveau verständigen. Allerdings ist Englisch auf einem hohen Niveau alles andere als leicht. Das merkt man als Dozent spätestens dann, wenn schwierige Inhalte in 265 Der Verlust von Sprache und Stringenz dieser Sprache zu vermitteln sind. Und man merkt es, wenn die Studierenden auf englisch zu präsentieren haben. Viele Veranstaltungen verlieren erheblich an Wert und Reiz, wenn man die Muttersprache aufgeben muss. Dennoch setzen immer mehr Hochschulen im Sinne einer »Internationalisierung« auf englischsprachige Veranstaltungen. Ich glaube, dass hinter diesen Bemühungen ein tiefes Missverständnis bezüglich der Funktionen der Sprache steckt, ähnlich wie beim Umgang mit Wikipedia (s. Kapitel »Wikipediaitis«). Eine Funktion der Sprache wird in der Kommunikation erfüllt. Zur Kommunikation gehört das möglichst präzise Benennen, die möglichst präzise Beschreibung von Gegenständen und Sachverhalten. Die Kommunikation scheint an der Hochschule in irgendeiner Weise zu funktionieren. Man lehrt, die Studierenden hören zu, machen sich Notizen. Sie stellen Rückfragen, man gibt Antworten. Niemand merkt, dass man nicht auf den Punkt kommt, dass es an Präzision mangelt. Letzten Endes redet und schreibt man aneinander vorbei. Die Möglichkeit der Kommunikation überdeckt die Unmöglichkeit der Präzision. Ich wüsste kaum eine Wissenschaft, in der man ohne diese Präzision auskäme. Eine weitere Funktion von Sprache ist der Transport von Modellen, von Kultur, von Gefühl. Manche Wissenschaft ist, so intersubjektiv sie scheinen mag, in einer Sprache entstanden, zu der sie immer eine Verbindung haben wird, und es ist z.B. sehr schwer, die deutsche Literaturwissenschaft von der deutschen Sprache zu trennen, was weniger mit dem Gegenstand der Wissenschaft, der Literatur, zu tun hat, mehr mit ihrem Sprechen darüber. Wenn man die Internationalisierung ernst nehmen würde, müsste man konsequenterweise die Vielfalt der Sprachen abschaffen. Oder nur Dozierende und Mitarbeiter einstellen, die mehrere Muttersprachen beherrschen. Umgekehrt bemühen sich Unternehmen aus englischsprachigen Ländern, ihre Plattformen und Dienste in der jeweiligen 266 Die Rache der Nerds Landessprache anzubieten. Damit sind wir bei der Sprache des Mitmachwebs. Twitter-Funktionen benutze ich seit langer Zeit. Ein Text von mir über solche Funktionen in Social Networks hat es in ein deutsches Schulbuch geschafft. Vor ein paar Jahren probierte ich zum ersten Mal das originale Twitter. Als ich 2011 zum zweiten Mal auf Twitter war, fiel mir das schlechte Deutsch bei den Beschreibungen und Funktionen auf. Das Deutsch der Twitterer ist ein eigenes Thema, wobei es auch nicht schlechter sein dürfte als in den Makroblogosphären. ( à - QR-Info- 118) Ich untersuchte die Plattform selbst und begann dann einen Blogpost mit folgenden Worten: Warum ist bei Twitter eigentlich alles falsch geschrieben? Und gibt es niemanden, der sich daran stört? Lassen wir die längeren Texte einmal weg, die sich in Rubriken wie »Über uns«, »Hilfe« oder »Unternehmen« finden. Konzentrieren wir uns auf das Hauptmenü der Website. Ich brachte etliche Beispiele und schloss dann mit den Worten: In der Rubrik »Über uns« heisst es: »Twitter existiert momentan auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch, Japanisch und Spanisch.« So wenige Sprachen. Und so viele Fehler. Ich glaube, Twitter braucht Hilfe. Nachhilfe. 76 Übrigens haben auch Hypertexte die Anforderungen an Autoren und Leser verändert. Gefragt sind im Web und auf Smartphones und Tablets kurze, prägnante Darstellungen. Lange, komplexe Texte mit einem durchgehenden roten Faden werden immer seltener. Durch Links springt man aus einem Text ebenso schnell heraus, wie man hineingesprungen ist. Fehler von Benutzern werden von anderen Benutzern übernommen; es kommt zu regelrechten Epidemien. Seminararbeiten und Projektberichte ähneln mehr und mehr unfertigen Stückwerken. Präzise, fehlerfreie Darstellungen sind aber wichtig, für den Bildungsbereich ebenso wie für Unternehmen. 267 Die Sklaven der Nerds Die Sklaven der Nerds Die vielfach erwähnte Dominanz des ingenieurswissenschaftlichen und technikzentrierten Denkens hat auch Auswirkungen auf Berufe, Funktionen und Hierarchien. Informatiker und Wirtschaftsinformatiker und mithin die Vertreter und Anhänger des Technischen und des Ökonomischen haben die Geisteswissenschaftler zunächst verdrängt. Die Mathematiker, eigentlich Geisteswissenschaftler, kamen in den technischen Berufen unter. Die Naturwissenschaftler haben eh eine Neigung zu diesen, seitdem sie sich von der Philosophie abgespalten und -gewandt haben, und sind auch seit Jahrhunderten nicht ohne Technologien zu denken; die Astronomen brauchen optische Apparate, um sich durch das leere Weltall zu bewegen und auf gewaltige Sterne zu treffen, die Biologen, um in die belebte Natur einzudringen und niedlichen Pantoffeltierchen gegenüberzustehen. Sogar die Sozialwissenschaftler haben sich mit den Nerds verbündet, vor allem die Experten für Statistik. Immerhin gibt es noch ein paar, die die gesellschaftlichen Auswirkungen der Informations- und Kommunikationstechnologien untersuchen und alle paar Jahre einen Befund in einem Sammelband veröffentlichen. Sie haben sich nicht getraut, Philosophie zu studieren, und wenn sie es getan hätten, dann wären sie nun in der gleichen Lage wie sie. Und wie die Sprach-, Literatur- und Kunstwissenschaftler oder die Historiker und Politologen. An dieser Stelle möchte ich wieder den hellsichtigen Joseph Weizenbaum und seine Erklärung des Begriffs des zwanghaften Programmierers zitieren: Wir haben … ein Kontinuum vor uns; an dessen einem Extrem befinden sich diejenigen Naturwissenschaftler und Technologen, die dem zwanghaften Programmierer sehr ähnlich sind. Am anderen Extrem befinden sich die Naturwissenschaftler, Humanisten, Philosophen, Künstler und Theologen, die sich mit ihrer Gesamtpersönlichkeit und 268 Die Rache der Nerds unter Berücksichtigung aller möglicher Perspektiven um ein Verständnis der Welt bemühen. Die Angelegenheiten unserer Erde scheinen sich in den Händen von Technikern zu befinden, deren psychische Verfassung sich der zuerst genannten in gefährlichem Maße annähert. Die Stimmen derer, die zur zweiten Gruppe gehören, scheinen indessen immer schwächer zu werden. 77 Was war mit den zunächst verdrängten Geisteswissenschaftlern geschehen? Sie waren in Kneipen gelandet, hinter oder vor der Theke. Sie fuhren Taxi oder mit der S-Bahn hin und her, um es warm zu haben. Dann kehrten einige von ihnen zurück. Insbesondere in wirtschaftlich guten Zeiten. Sie wurden zu den Sklaven der Nerds. Ihre Handlanger und Hilfskräfte. Ihre Schreiberlinge. Ihre Übersetzer. Sie, die für die geistige Arbeit ausgebildet wurden, sind der verlängerte Arm der Minderbegabten; und sie überschminken deren hässliches Gesicht. Natürlich müssen auch die Informatiker und Wirtschaftsinformatiker publizieren, so verlangt es das wissenschaftliche Geschäft, und natürlich gibt es auch bei ihnen Standards, in ihren Zeitschriften und auf ihren Konferenzen. Und da sie selbst der deutschen Sprache nicht mächtig sind und ihnen der rote Faden manchmal aus dem Öhr der Nadel rutscht, mit der sie ihre Versatzstücke zusammennähen, benötigen sie professionelle Hilfe (s. Kapitel »Der Verlust von Sprache und Stringenz«). Früher hat die Sekretärin das kleine Wunder zustande gebracht, aus einem Gestammel halbwegs sinnvolle Sätze zu formen, oder ein Assistent, oder noch besser ein Hilfsassistent, der vor nicht allzu langer Zeit die Schulbank drückte; aber bei ihnen haben sich die Prioritäten verschoben und die Kompetenzen verändert, sodass man sich auf den eigentlichen Apparat nicht mehr verlassen kann. Dafür stellt man eben einen Geisteswissenschaftler ein; es ist in Mode gekommen, sich einen zu halten. Ich muss an dieser Stelle aufpassen, dass ich nicht ungerecht werde, und betonen, dass ich Informatiker und Wirtschaftsinformatiker kennengelernt oder gelesen habe, die sehr wohl mit 269 Die Sklaven der Nerds der Sprache umzugehen wussten. Was die Muttersprache anbetrifft, stößt man vor allem bei den älteren Generationen auf solche Talente; und die jüngeren Generationen sind weit hinaus in die Welt gekommen und sogar mit chinesischen oder arabischen Sätzen und Ideen zurückgekehrt. Und man muss gerecht sein und die Geisteswissenschaftler einer genauen Untersuchung unterziehen. Der Verlust der Schreib- und Lesekompetenz hat auch sie erfasst, ist an den Hochschulen, bei den Medien und in den Verlagen anzutreffen. Wenn man die Tweets von Rowohlt im Sommer 2011 gelesen hat, war man einfach nur baff. Und nochmals muss man gerecht sein, denn wahrscheinlich saß auf dem Ast kein Germanist, sondern ein Praktikant. Und so ergibt sich eben nicht das Gezwitscher der Amsel, sondern das Gepfeife des Murmeltiers. Meine Intervention beim Chef des Verlags, Alexander Fest, hat Früchte getragen. Die Qualität der Tweets hatte sich zumindest im Spätsommer des Jahres stark verbessert. Es wäre interessant an dieser Stelle, von der Sprache zur Literatur zu wechseln. Zu untersuchen, welche Rolle die Nerds in Romanen (und in Filmen) spielen. Oder die Vorgänger der Nerds, über die Jahrzehnte hinweg. War Walter Faber aus »Homo faber« von Max Frisch ein Nerd? Er war ein moderner Handwerker, ein technischer Mensch par excellence. Aber ich muss sagen, dass ich von der ersten Seite an das Poetische seiner Sicht geschätzt habe; ausgerechnet sein kühler Blick auf den Mond war in dieser Hinsicht beeindruckend. Aus dem steifen Homo faber wird der bewegliche, und während sein Körper zerfällt, schweifen seine Gedanken in alle Richtungen, tun sich - kurz vor seinem Ende - ungeahnte Möglichkeiten auf. Am poetischsten ist der Roman, als die bewegten Bilder von Sabeth beschrieben, ja besungen werden. Des einst lebenslustigen, jetzt toten Mädchens, dessen Vater er ist. Und was ist mit Houellebecq? Was ist mit dem Informatiker, der er ist und war, und mit dem Schriftsteller, der er 270 Die Rache der Nerds geworden ist? Ein Nerd ist, und das ist kein Zufall, zu einem der einflussreichsten Schriftsteller der Gegenwart geworden. Leider ist hier nicht der Platz, dem weiter nachzugehen. ( à -QR-Info-119) Der Zugang zur digitalen Information Alle behaupten, wir lebten in einer Informationsgesellschaft. Mit diesem Begriff ist, wie angedeutet, nicht die informierte Gesellschaft gemeint, auch nicht die Gesellschaft der Information, sondern die Gesellschaft, die sich der Informations- und Kommunikationstechnologien bedient. Mehrere Komposita, die den Bestandteil »Information« enthalten, funktionieren auf diese Weise, auch die »Informationsethik« und das »Informationsmanagement« (das von einigen in die Nähe des Wissensmanagements gerückt wird; s. Kapitel »Die Moral der Informationsgesellschaft«). Der Zugang zum Internet wird als essenziell für weit entwickelte Kulturen angesehen, und von den weniger weit entwickelten trennt uns der digitale Graben. Interessant ist, dass der Zugang zum Wissen im Web über Suchmaschinen erfolgt, die uns mit Werbung bombardieren. Der Benutzer hat offensichtlich keine Wahl. Warum gibt es keine hochwertigen Suchmaschinen, für die man bezahlen kann? Fünf Euro oder Franken im Monat und dafür keine Ads? Ixquick gehört zu den datenschutzfreundlichsten Suchmaschinen und deklassiert diesbezüglich Giganten wie Google Search und Microsoft Bing. Was die Anzahl und Genauigkeit der Treffer angeht, muss der Dienst meines Erachtens noch zulegen; keine leichte Sache, wenn man bedenkt, was das Betreiben einer weltweit leistungsfähigen Suchmaschine heute kostet und welche Beträge und Strukturen den beiden Big Players (ein Begriff, der auf beide wunderbar passt) zur Verfügung stehen. Duck- DuckGo kommt sympathisch daher, ist datenschutzfreundli- 271 Der Zugang zur digitalen Information cher als die Suchdienste von Google und Microsoft und wird von Medien wie WIRED, TIME und CNN empfohlen. Und der Ente genügt momentan offenbar - scheinbar ein Widerspruch zum oben Gesagten - ein Minimum an Ressourcen. Werbemäßig wird nur dezent gequakt, mit Hilfe von »sponsored links«. Es wäre überlegenswert, ob Suchsoftware dieser Art durch öffentliche Gelder unterstützt werden sollte. Momentan finanzieren die Deutschen mit ihren Zwangsgebühren den Musikantenstadl oder die Live-Berichterstattung zum Papstbesuch. Und die Schweizerinnen und Schweizer esoterische Inhalte von SF1 und SF2 (laut einer Studie wird diesen noch mehr Aufmerksamkeit als bei den europäischen Nachbarn deutscher Sprache geschenkt). Warum nicht diesen Unsinn stoppen und die freigewordenen Gelder in ein Angebot stecken, das sich um Freiheit und Datenschutz verdient macht? Wenn Geld übrig bleibt, könnten diejenigen Zeitungen etwas abbekommen, die für ihren kritischen Journalismus bekannt und in ihrer Existenz bedroht sind. Ob das Leistungsschutzrecht für Presseverlage, für das sich im März 2012 der schwarz-gelbe Koalitionsausschuss entschlossen hat, der richtige Weg für eine solche Unterstützung ist, mag dahingestellt sein. ( à -QR-Info-120) Wir brauchen also freien, kostenlosen Zugang zur Information, über entsprechende Informations- und Kommunikationstechnologien, und wir brauchen die Information selbst, die durchaus etwas kosten soll und darf. Der Idee, dass Information kostenlos sein muss, dieser Ideologie nicht weniger Nerds und Piraten, muss vehement widersprochen werden. Die Frage, die eingangs gestellt wurde, kann leicht beantwortet werden. Wir haben keine hochwertigen Bezahlsuchmaschinen, weil kaum jemand bereit wäre, dafür zu bezahlen. Und auch die Ente wird nur überleben können, wenn jemand bereit ist, sie zu füttern, je größer sie wird, desto mehr. 272 Die Rache der Nerds Das lange Gedächtnis des WWW Wenn man früher einen Fehler gemacht, einen Fehltritt begangen hat, wuchs nach einer Weile Gras darüber. Man konnte in Archiven stöbern; aber es war aufwendig, die Vergangenheit in die Gegenwart zu zerren (s. Kapitel »Bibliotheken und Archive«). Heute ist die Vergangenheit einen Mausklick weit entfernt. Google bietet den Cache an, und archive.org archiviert möglichst viele Seiten des WWW und macht sie über seine Wayback Machine zugänglich. ( à - QR-Info- 121) Übrigens ohne die Urheber von Bildern und Texten zu fragen, womit das Angebot gegen das Recht zahlreicher Länder verstößt. Was im Web liegenbleibt, tritt sich fest. Kennt die Informationsgesellschaft keine Gnade? Eigentlich ist es noch viel schlimmer. Denn wenn etwas bisher nicht im Web war, heißt das eben nicht, dass es nicht zukünftig im Web sein könnte. Nehmen wir einmal an, ein Vater oder eine Mutter hat in jungen Jahren etwas Unsägliches geschrieben. Etwas Unfassbares. Einen Artikel, der voller Dummheit ist. Die Eltern sind inzwischen tot, und man ist als ihr Kind unendlich froh, dass der Zahn der Zeit an den Texten genagt hat. Aber man hat die Rechnung ohne das Internet gemacht. Dummerweise wurde genau dieser Artikel eingescannt und der Welt zur Verfügung gestellt. Und der Cache von Google oder die Wayback Machine von archive.org lassen ihn ewig leben. Schon klar, man glaubt weder an die Erbsünde noch lebt man in einem Kulturkreis, in dem die Blutrache beliebt ist. Aber peinlich ist es einem trotzdem. Artikel und Bücher sind nicht das Einzige, was durch den Sog der Digitalisierung ins Web befördert wird. Wenn man einen Leserbrief an die NZZ geschrieben hat und dieser in der Zeitung gedruckt wird, bleibt es nicht dabei. Man suche nach ein paar Wochen in einer einschlägigen Datenbank nach dem Brief 273 Das lange Gedächtnis des WWW - und man wird ihn finden. Ich finde das nicht grundsätzlich schlecht; ich frage mich aber, ob die Leserbriefschreiber gut über diesen Umstand informiert sind. Viele werden nie erfahren, was man über sie erfahren kann, weil sie gar keinen Zugriff auf diese Datenbanken haben. Wenn die Telefonnummer in einem Telefonbuch zu finden ist, ist sie wahrscheinlich genauso im elektronischen Telefonbuch im Internet zu finden. Und so weiter und so fort. Man wird selbst dann ein Teil des Webs, wenn man mit diesem überhaupt nichts zu tun haben will. Man hat keine Chance, sich draußen zu halten. Vielleicht findet man wenig über einen. Aber mit jedem Tag steigt die Wahrscheinlichkeit, dass man mehr über einen findet. Man hat wieder einmal keine Alternative. So wie man in die Welt geworfen wurde, was zugegebenermaßen ohne Alternative war, zumindest für einen selbst, wird man in die virtuelle Welt geworfen. Jetzt oder später. Auf Facebook werden Bilder von Benutzern hochgeladen, die nichts mit dieser Plattform zu tun haben (s. Kapitel »Der Verlust der Privatheit«). Wenn man von einer der zahllosen privaten oder institutionellen Webcams gefilmt wird, ist man ebenfalls im Web zu finden. Und wenn man von Google Street View erwischt wurde, kann man nur hoffen, dass die Verpixelungssoftware funktioniert (und dass niemand die Datenbanken mit den Rohdaten hackt). Es kann auch sein, dass man es mag, dass das eigene Konterfei im Web gezeigt wird, selbst wenn man nicht gefragt wurde. Dann ist einem auch nicht mehr zu helfen. Ganz bestimmt nicht wird man es mögen, wenn man auf den Seiten von DontDateHimGirl.com abgebildet ist. Auf dieser berühmten Denunziationsplattform werden Porträts von Männern gesammelt, die Frauen etwas angeblich oder tatsächlich angetan haben; echte Täter finden sich neben echten Opfern. Auch nicht mögen wird man es, wenn man auf einem der immer beliebter werdenden Pranger gezeigt wird. Das Mittelalter erlebt im Internet eine Renaissance. Mit dabei sind zum Beispiel rechts- 274 Die Rache der Nerds gerichtete Parteien wie die Schweizerische Volkspartei (SVP), die vermeintliche Rechtsbrüche als Einladung zu tatsächlichen Rechtsbrüchen ansehen, und - ein Treppenwitz der Geschichte - kirchliche Einrichtungen. Die Nerds haben also Mittel gefunden, um zu verhindern, dass Gras über die Sache wächst. Über welche Sache auch immer. Selbst wenn man verantwortlich handelt, selbst wenn man sich bedeckt hält, selbst wenn man draußen bleiben will - man hat keine Chance. »Ich bin drin«, hat Boris Becker vor Jahren in einem Werbespot gesagt, und damit gezeigt, wie einfach es ist, mit einem bestimmten Anbieter ins Internet zu gehen. »Ich bin ja schon drin«, wird heute der eine oder andere sagen, »dabei wollte ich gar nicht rein.« Das WWW ist eine Zwangsveranstaltung, wie bei einer Sekte. Aber es ist noch schlimmer. Aus dieser Sekte kann man nicht austreten. ( à -QR-Info-122) Technologiefreie Räume, Gegenstände und Lebewesen In gar nicht allzu ferner Zeit wird es einen ebenso ansehnlichen wie erstaunlichen Markt für »technologiefreie Räume, Gegenstände und Lebewesen (TFRGL)« geben. Ein Label für Kleidungsstücke und Schuhe garantiert, dass keine RFIDs eingenäht oder angeklebt sind. Tiere sind nach einer bestimmten Norm nicht mit Chips oder Funkchips kontaminiert. Supermärkte treten einem Verband gegen Kundenkarten bei. Wohnungen, Häuser und Hotels sind nach einer entsprechenden Zertifizierung garantiert WLAN-frei. Nach einer anderen Zertifizierung sind sie sicher vor Überwachung durch Wanzen und Drohnen. In Stadtgebieten und Regionen darf der Elektrosmog vorgeschriebene Grenzwerte nicht überschreiten. Permanente Online-Verbindungen von mobilen Geräten werden durch 3D- 275 Technologiefreie Räume, Gegenstände und Lebewesen und 4D-Codes teilweise überflüssig. Müssen Gegentechnologien eingesetzt werden, etwa zur Zerstörung von RFIDs oder Google-Street-View-Apparaturen, so unterliegen diese strengen Bestimmungen und müssen nach Vollendung der Aufgabe aus dem Verkehr gezogen werden. Eine weitgehende Elektronifizierung und Automatisierung des Privat- und Berufslebens fördert totalitäre Strukturen. TFRGL bietet eine Chance, diese Entwicklung aufzuhalten. Am Namen muss man noch feilen. Vielleicht wird man in Naturreservate gelockt, an deren Eingang ein Schild aus Holz angebracht ist: Achtung, Sie betreten ein Gebiet, in dem es keinerlei Empfang gibt und wo keine Steckdosen vorhanden sind. Wenn Sie ein Gerät bei sich führen, das eine autonome Stromversorgung hat, belästigen Sie damit keine anderen Touristinnen und Touristen. Der Handel mit Chips und Gadgets ist strengstens untersagt. Die Zerstörung von technischen Anlagen, die zur Abschirmung von Strahlen und Wellen dienen, kann mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren belegt werden. Genießen Sie den Aufenthalt und entdecken Sie den Menschen in sich. Diese Drohungen sind natürlich schrecklich. Vielleicht braucht es sie gar nicht. Das liegt an uns. Eine Lösung ist also offensichtlich das Weglassen von Technologien. Eine andere ist die Bekämpfung von Technologien durch Technologien. Und wir müssen die Aus- und Weiterbildung verändern. 277 Die Mängel der Ausbildung I n der Informatikausbildung auf Berufsfachschul- und Berufsschulniveau finden sich immerhin sprachliche Vertiefungen. Aber kaum ethische Reflexionen. ( à - QR-Info- 123) Man könnte sagen, kein Wunder, denn die Jungen und Mädchen sollen eher zu passablen Schraubern, weniger zu begnadeten Denkern ausgebildet werden. Ich glaube, dass man die Auszubildenden mit dieser Ansicht herabsetzt. Jeder, der professionell mit Informations- und Kommunikationstechnologien umgehen soll, muss die Auswirkungen dieser Technologien kennen. Alles andere wäre verantwortungslos, gegenüber den Informatikern und gegenüber den Anwendern - und gegenüber denjenigen, die keine Anwender sind, aber dennoch betroffen sind von den Auswirkungen der Technologien und Medien. Aber auch Universitäten und Fachhochschulen engagieren sich nur halbherzig für eine lebenswerte Zukunft mit informatischen und telematischen Lösungen. Auch dort, in den heiligen Hallen der theorieerzeugenden oder praxisorientierten Wissenschaft, regieren die Nerds, die (als Prorektoren für Lehre und Studiendekane sowie Studiengangsleiter getarnt) philosophische und soziologische Reflexionen für Gedöns halten. Sie glauben, dass ein Informationssystem perfekt ist, wenn Hard- und Software funktionieren und so miteinander verbunden werden, dass ein technischer oder wirtschaftlicher Nutzen entsteht. Aber zu Informationssystemen gehören fühlende, denkende Menschen, und wenn schon ein normaler Benutzer stört, wie stört dann erst ein kritischer Benutzer! 278 Die Rache der Nerds ( à -QR-Info- 124) Und was richtet ein Informatiker an, dem ein kritischer Geist zu eigen ist: Das Informationssystem droht schon in der Planungs- und nicht erst in der Anwendungsphase zu scheitern. Eine nichtrepräsentative Umfrage unter meinen Kolleginnen und Kollegen an verschiedenen Hochschulen ergab ein noch grundsätzlicheres Problem. Die meisten von ihnen wissen gar nicht, was Informationsethik ist. Sie wissen nicht einmal, was Ethik ist. Zuerst muss also die Informationsethik erklärt und bekannt gemacht werden, gerade unter Informatikern und Wirtschaftsinformatikern und unter Studiengangsleitern in den entsprechenden Fächern. Wenn sie um die Bedeutung im doppelten Sinne wissen bzw. bei ihnen ein Gesinnungswandel stattgefunden hat, können sie sich in angemessener Weise dafür einsetzen, dass Informationsethik ein Pflichtfach in allen informations- und kommunikationstechnischen sowie medientechnischen Studiengängen wird (s. Kapitel »Die Moral der Informationsgesellschaft«). Vorzugsweise werden als Dozierende solche Philosophen eingestellt, die sich mit dem Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien und digitalen Medien befasst haben. Auch Informatiker, Wirtschaftsinformatiker und Ingenieure mit einer geeigneten Fortbildung sind denkbar. Informationsethik muss von daher als Gegenstand in der Weiterbildung auftauchen. Daneben müssen soziale und rechtliche Fragen behandelt werden, also Fragen, die zum Teil mit ethischen Problemen zusammenhängen. Dafür wiederum braucht es Sozial- und Rechtswissenschaftler. Und Fragen der Medienkompetenz. Der Teilbereich »Informatik und Gesellschaft« hat an Bedeutung verloren, und auch die gelegentlich aufgelegten Sammelbände können nicht über diese Entwicklung hinwegtäuschen. Mehr als ganze Gruppen und Disziplinen haben Rafael Capurro und Rainer Kuhlen mit ihrer hartnäckigen Beschäftigung mit Informationsethik und mit ihren einschlägigen Publikationen 279 Die Mängel der Ausbildung vollbracht. Kuhlen hat Ende der 1990er-Jahre einen Verein gegründet, der sich in Zusammenarbeit mit der UNESCO mit informationsethischen Fragestellungen beschäftigen wollte. Ich war unter den Gründungsmitgliedern, allein der anzustrebenden Zahl wegen, verlor das Projekt dann aber aus den Augen und aus dem Sinn. Die Website zeigt, dass es weitergehen soll, auf irgendeine Weise, und tatsächlich scheint die Zeit nun reif zu sein. Dafür spricht auch die massive Berichterstattung in den Medien zu informationsethischen Themen - und das Engagement der Konzerne in diesem Bereich. Denn ausgerechnet Google finanziert ein Institut an der Humboldt-Universität in Berlin, das sich mit den Implikationen des Einsatzes von Informations- und Kommunikationstechnologien beschäftigen soll. Und ausgerechnet »Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft« nennt es sich; der große Wissenschaftler muss wieder einmal seinen Namen hergeben, ohne dass er gefragt werden kann. ( à -QR-Info-125) Natürlich bedeutet ein Geldfluss noch keine Käuflichkeit; aber Abhängigkeit bedeutet er allemal. Google hat systematisch Recht gebrochen und sich nicht um die moralischen Bedenken der Bürgerinnen und Bürger gekümmert, zumindest nicht auf dem alten Kontinent. Dass das Unternehmen nun in die ethischen Diskussionen und Forschungen eingreift, kann man entweder als Gesinnungswandel interpretieren. Oder als Versuch, die Konsequenzen der eigenen Arbeit in einem angenehmen, weichen Licht darzustellen. Oder wird das Institut auch - wenn es normative Ethik betreibt - mit dem Finger auf die Mutter der Gratisdienste zeigen und seine eigenen Aktivitäten kritisch hinterfragen? Man darf gespannt sein, und die Hoffnung stirbt zuletzt. In Deutschland gibt es zum Glück auch Einrichtungen, die sich in eher neutraler Weise mit Technologiefolgenabschätzung oder Informationsethik beschäftigen (s. Kapitel »Die Moral 280 Die Rache der Nerds der Informationsgesellschaft«). In der Schweiz ist die TA-Swiss eine gesetzlich vorgeschriebene Einrichtung. ( à -QR-Info-126) Sie produziert Studien zu allen möglichen Themen und stellt sie Politik und Gesellschaft zur Verfügung. Vor allem Politik, denn ihre Aufgabe ist die Beratung derselben. Ich interessierte mich, wer in dieser Einrichtung arbeitete, und schrieb eine E-Mail, in der ich mich und meine Arbeit vorstellte. Ich wurde eingeladen und reiste nach Bern, eine Stadt, die ich wegen ihrer Schönheit und Lebendigkeit sehr schätze. Ein grünlicher Phönix aus der mittelalterlichen Asche. Der Leiter und drei Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter empfingen mich. Wir tauschten uns aus, vereinbarten Kooperationen und standen eine Weile in Kontakt. Ein Student von mir hat zuletzt mit seiner Einschätzung zu Datenschutzproblemen einen Beitrag für den Newsletter geleistet. Hochschulen und Einrichtungen dieser Art sollten zusammenarbeiten und etwas zur informationsethischen Grundbildung beitragen. Die Nerds sind nicht dumm, ganz im Gegenteil. Viele von ihnen sind hochintelligent. Man muss sie in die Gesellschaft einführen und integrieren, man muss sie mit Individuen aller Denkrichtungen und Lebensarten zusammenbringen, und man muss mit ihnen diskutieren, was Mensch und Maschine sein und tun sollen. Nerds sind lernfähige Menschen, und sie werden erkennen, dass man Hirne nicht durch Prozessoren und Speicher ersetzen kann. Und die reale Welt nicht durch eine virtuelle. Die Rache der Nerds hat ihre Ursachen und ihre Zeit. Einerseits werden die Nerds eine immer größere Macht gewinnen, auch eine politische. Andererseits werden sie, wenn wir es richtig anstellen, ihr Kainsmal verlieren. Sie werden die Ängste und Sorgen der Menschen verstehen, die sich wiederum die Sehnsüchte der Nerds zu eigen machen werden. Hoffen wir, dass Homo faber und Homo oeconomicus und ihre Kinder sich der Zuordnung zum Homo sapiens als würdig erweisen. 281 Anmerkungen 1 Höffe, Otfried. Lexikon der Ethik. 7., neubearb. und erweit. Auflage. C.-H.-Beck, München 2008. Eintrag Ethik. Die Abkürzungen sind in dieser Weise in den Texten enthalten. 2 Pieper, Annemarie. Einführung in die Ethik. 6., überarb. u. akt. Auflage. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2007. S.-17. Je nach Begriff kann man das moralische Denken hinzunehmen oder als Bedingung für das moralische Handeln auffassen. 3 Höffe, Otfried. Lexikon der Ethik. 7., neubearb. und erweit. Auflage. C.-H.-Beck, München 2008. Eintrag Ethik. 4 Höffe, Otfried. Lexikon der Ethik. 7., neubearb. und erweit. Auflage. C.-H.-Beck, München 2008. Eintrag Moral. 5 Kuhlen, Rainer. Informationsethik: Umgang mit Wissen und Informationen in elektronischen Räumen. UVK/ UTB, Konstanz 2004. S.-23. 6 Der Text stammt von meinem Weblog http: / / crazyprocesses.blog.de und wird in Schweizer Rechtschreibung wiedergegeben. 7 Der Text - wie auch das weitere Zitat - stammt von http: / / de.wikipedia.org, Eintrag Wikipedia. Letzter Aufruf 10. Juli 2011. 8 Den Artikel kann man über http: / / www.emma.de/ index.php? id=wikipedia_2010_1 beziehen. 9 Keen, Andrew. Die Stunde der Stümper: Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören. Hanser, München 2008. S.-200 f. 10 Der Aufruf des Citizendium-Artikels auf http: / / de.wikipedia.org erfolgte am 24. Oktober 2011. 11 Der Aufruf der Citizendium-Website (http: / / en.citizendium.org) erfolgte am 24. Oktober 2011. Der Text ist der Einstiegsseite entnommen. 12 Oder die Absolventen seltener Studiengänge. Einen davon bietet die Universität Freiburg im Breisgau an. 13 Der Artikel »Krampfhaft locker« von Meike Laaff ist über http: / / www.taz.de/ ! 39030/ zu finden. 14 Die Webseite mit dem zitierten Text ist nicht mehr verfügbar. 15 Der Artikel »Politik im Netz - zwischen Profit und Peinlichkeit« von Antonia Beckermann ist über http: / / www.welt.de/ politik/ article3773675/ Politik-im-Netz-zwischen-Profit-und-Peinlichkeit.html aufrufbar. 16 Der Text wird in der damals gültigen Rechtschreibung wiedergegeben. 17 Dies gilt auch gegenüber Unternehmen, die die Macht der Benutzer, die soziale Medien benutzen, zunehmend einkalkulieren müssen. 282 Die Rache der Nerds 18 Der Artikel »Hollywood ist besiegt« stammt von Heinrich Wefing und erschien in der ZEIT vom 26. Januar 2012 auf Seite 3. 19 Vgl. Bendel, Oliver. Netiquette 2.0 - der Knigge für das Internet. In: Netzwoche, 5 (2010). S.-40 - 41. Vgl. weiterhin Bendel, Oliver. Hier ist er: Der Web-2.0-Knigge! In: Blick am Abend vom 17. März 2009. S.-37. 20 Vgl. Joseph Weizenbaum. Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1978. S.-9. 21 Das Interview mit dem CEO der Avaloq vom 14. Mai 2010 ist abrufbar über die Website von Moneycab, direkt über http: / / moneycab.presscab. com/ de/ templates/ default.aspx? a=78647&z=8&page=1 (letzter Aufruf 28. März 2012). Die Schweizer Rechtschreibung wurde belassen. 22 Weizenbaum, Joseph. Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1978. S.-212. 23 Der Artikel trägt den Titel »Google rät zur Raubkopie-Suche« und wurde von Konrad Lischka verfasst. Er kann über http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ web/ 0,1518,618089,00.html aufgerufen werden. 24 Das Zitat ist entnommen aus: Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig 1884. S.-CXCV195-CXCVIII198. CXCV195-CXCVIII198. Online über http: / / www.zeno.org/ nid/ 20007929153. 25 Das Zitat ist entnommen aus: Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig 1884. S.-CXCV195-CXCVIII198. CXCV195-CXCVIII198. Online über http: / / www.zeno.org/ nid/ 20007929153. 26 Der Humanistische Pressedienst meldete am 29. Januar 2008 unter der Überschrift »Großer Ärger um ein kleines Ferkel«: »Bundesfamilienministerium will religionskritisches Kinderbuch indizieren.« Der Artikel von Stefanie Finke ist abrufbar über http: / / hpd.de/ node/ 3715. 27 Vgl. Mauermann, Johanna; Bendel, Oliver. Angriff von unten: Tiefgreifende Veränderungen durch elektronische Literatur. In: Libreas. Library Ideas 20, 1 (2012) 8. Über http: / / libreas.eu. 28 Vgl. Andreotti, Mario. Die Struktur der modernen Literatur. 4. Aufl. Haupt/ UTB, Bern 2009. S.-401. 29 Vgl. Bendel, Oliver. Von »keitai shousetsu« zu Handyromanen. In: Bibliothek - Forschung und Praxis, 1 (2010) 34. S.-95 - 100. 30 Siehe hierzu den Artikel von Martin Senti in der NZZ vom 28. Januar 2011, aufrufbar über http: / / www.nzz.ch/ nachrichten/ politik/ schweiz/ die_schweiz_ist_demokratisches_mittelmass_1.9251110.html. 283 Anmerkungen 31 Dieser Satz entstammt dem Kommentar »Schlechte Note hat auch Gutes« (veröffentlicht unter dem Kürzel »se.«), der ebenfalls in der NZZ vom 28. Januar 2011 zu finden ist und über die Adresse http: / / www.nzz.ch/ nachrichten/ politik/ schweiz/ schlechte_note_hat_auch_gutes_1.9251111. html aufgerufen werden kann. 32 In vielen Fällen bestehen die Bücher auch nur aus wenigen Seiten. Das ist nicht grundsätzlich problematisch, nur dann, wenn falsche Erwartungen geweckt werden. 33 Die Aussage findet sich in der Netzwoche, Ausgabe 19/ 2010, Seite-42. 34 Inzwischen kann man sich mit dem Smartphone die Abwechslung verschaffen, die der Arbeitgeber mit diesem Konzept vielleicht unterbinden will. 35 Ovid, der römische Dichter, meinte damit das Meisterstück des Künstlers Pygmalion, dessen lebendig wirkende Statue oder Puppe, die von Aphrodite zum Leben erweckt wird. 36 Bendel, Oliver. Avatar. In: Mertens, Peter; Back, Andrea; Becker, Jörg et al. (Hrsg.). Lexikon der Wirtschaftsinformatik. 4., vollst. neu bearbeit. u. erweit. Aufl. Springer, Berlin u.a. 2001. S.-60. 37 Weitere Informationen zu diesem ebenso bemerkenswerten wie umstrittenen Roboter sind über http: / / www.robotictechnologyinc.com/ index.php/ EATR erhältlich. 38 Mertens, Peter. Wirtschaftsinformatik: Von den Moden zum Trend. In: König, W. (Hrsg.). Wirtschaftsinformatik ’95. Heidelberg 1995. S.-25 - 64. 39 Vgl. Bendel, Oliver; Gerhard, Michael. Handy-Avatare - Möglichkeiten der mobilen Kommunikationsunterstützung. In: InfoWeek.ch (2004) 12. S.-51 - 55. 40 Die Arbeiten waren Teil eines Projekts, das ich leitete und zum INTERVAL-Projekt gehörte, das ab 2004 durchgeführt und vom BMBF gefördert wurde. 41 Der Text wird in der Schweizer Rechtschreibung wiedergegeben. Die eckige Klammer stammt von mir und dient der Korrektur. 42 Der Artikel von Spiegel Online vom 23. Juni 2010 auf der Grundlage von Agenturmeldungen (jdl/ dpa) trägt den Titel »Russen verkauften Menschenfleisch an Imbiss« und kann über http: / / www.spiegel.de/ panorama/ justiz/ 0,1518,702375,00.html abgerufen werden. 43 Der Beitrag »Neue Gesundheitskarte macht den Praxis-Test« basiert auf Agenturmeldungen (AFP, dpa) und kann über http: / / www.zeit.de/ wirtschaft/ 2011-09/ gesundheitskarte-krankenkasse-Aerzte abgerufen werden. 44 Der Artikel »4.000 Psychiatrie-Akten offen im Netz« von Kai Biermann wurde am 4. November 2011 veröffentlicht und ist über http: / / www.zeit. de/ digital/ datenschutz/ 2011-11/ datenschutz-psychiatrie-krankenakten einsehbar. 45 Vgl. den Artikel »Österreichische Studenten zwingen Facebook in die Knie« vom 21. Dezember 2011, über http: / / derstandard. 284 Die Rache der Nerds at/ 1324410995072/ Europe-vs-Facebook-Oesterreichische-Studentenzwingen-Facebook-in-die-Knie. Die in diesem Artikel der Redaktion erwähnte studentische Gruppe betreibt eine Website mit der Adresse http: / / europe-v-facebook.org/ DE/ de.html. 46 Der Text wird im Original wiedergegeben (s. http: / / crazyprocesses.blog.de); ich habe lediglich die Schweizer Rechtschreibung aufgehoben. 47 Jaron Lanier empfiehlt in seinem Buch »Gadget«: »Schaffen Sie Websites, die mehr über Ihre Persönlichkeit aussagen als die Schablonen, die auf Social-Networking-Sites zur Verfügung stehen.« Lanier, Jaron. Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2010. S.-35. 48 Anfang 2012 erschienen Artikel zu einer Studie, die diesbezüglich Klarheit schafft. Die Süddeutsche Zeitung meldete am 14. Januar 2012 unter der Überschrift »Karriere: Jeder Vierte ist während der Arbeit bei Facebook«: »Jeder vierte Beschäftigte in Deutschland ist während der Arbeitszeit privat beim Online-Netzwerk Facebook aktiv. Nach einer repräsentativen Umfrage der Kölner Agentur YouCom geht Firmen damit im Jahr Arbeitszeit im Wert von 26,8 Milliarden Euro verloren.« Der Artikel ist teilweise über http: / / newsticker.sueddeutsche.de/ list/ id/ 1261712 verfügbar. 49 Weizenbaum, Joseph. Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1978. S.-350 f. 50 Die Aussage ist dem Artikel »Datenklauber alarmiert Justizministerin« von Christian Stöcker und Konrad Lischka auf Spiegel Online (http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ web/ 0,1518,692963,00.html) vom 4. Mai 2010 entnommen. 51 XYZ ist der Platzhalter für den tatsächlich verwendeten Namen, der hier keine Rolle spielt. 52 Die Konvention wurde weder von den USA-noch von Somalia unterzeichnet. 53 Lanier, Jaron. Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2010. S.-87. Die alte Rechtschreibung, wie sie Suhrkamp verwendet, wurde belassen. 54 Lanier, Jaron. Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2010. S.-89. 55 Ebd., S.-90. 56 Vgl. Bendel, Oliver. Jugend ohne Namen: Zur Anerziehung der Anonymität im Netz. In: Computer + Unterricht, 2 (2010). S.-54 - 55. 57 Diese Unterweisung wurde am 2. November 2011 von einer Unterseite von Educa kopiert, nämlich von http: / / unterricht.educa.ch/ de/ pr%C3%A4ventionsmassnahmen. 58 Dieser Satz wurde Anfang 2011 von der Website http: / / www.klicksafe.de kopiert. 59 Vgl. den Artikel »Eric Schmidt verteidigt Googles Klarnamen-Politik« von Kai Biermann auf ZEIT ONLINE vom 29. August 2011, erreichbar 285 Anmerkungen über http: / / www.zeit.de/ digital/ datenschutz/ 2011-08/ eric-schmidtgoogleplus. 60 Im Original ist nach jedem Satz bzw. Nebensatz ein Umbruch. 61 Der Text wird im Original wiedergegeben (s. http: / / crazyprocesses.blog.de); ich habe lediglich die Schweizer Rechtschreibung aufgehoben. 62 Der Satz fiel in dem Artikel »80.000 Einsprüche gegen Microsofts Panoramadienst« von Richard Meusers vom 10. Oktober 2011 (über http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ web/ 0,1518,790878,00.html). 63 Vgl. Weizenbaum, Joseph. Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1978. S.-352 ff. 64 Der hier und im Folgenden zitierte Artikel von Beat Grossrieder kann über NZZ Online nachgelesen werden (http: / / www.nzz.ch/ nachrichten/ startseite/ smartphone_statt_schulbuch_1.8303424.html). Der Text wird in der Schweizer Rechtschreibung wiedergegeben. 65 Dieses Zitat und das folgende stammen von der Website von »Deutschland sicher im Netz«, http: / / www.sicher-im-netz.de (letzter Aufruf 3. Dezember 2011). 66 Dieses Zitat und das folgende stammen von der Edutainment-Website der »Internauten«, http: / / www.internauten.de. Der letzte Aufruf war am 21. August 2009. 67 Nachzulesen ist das etwa in dem Artikel »Microsoft und Google streiten über Datenschutz« vom 21. Februar 2012 auf Süddeutsche.de (http: / / www.sueddeutsche.de/ digital/ internet-explorer-microsoft-und-googlestreiten-ueber-datenschutz-1.1289588). 68 Der Artikel »Wie Microsoft Internet-Surfer beobachtet« von Konrad Lischka kann über http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ netzpolitik/ 0,1518,743566,00.html aufgerufen werden. 69 Michael Schmidt-Salomon. Keine Macht den Doofen! : Eine Streitschrift. Piper, München 2012. S.-46. 70 Ebd. 71 Weizenbaum. Joseph. Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1978. S.-163. 72 Die Meldung kann über die Website des genannten Bundesamts nachgelesen werden, und zwar direkt über https: / / www.bsi.bund. de/ ContentBSI/ Presse/ Pressemitteilungen/ Presse2011/ Eroeffnung- Nationales-Cyber-Abwehrzentrum_16062011.html. Im Frühjahr 2012 wurde die Bildung eines europäischen Einsatzzentrums gegen Online- Kriminalität angekündigt. 73 Vgl. den auf Agenturmeldungen (pat/ dapd/ Reuters/ AFP) beruhenden Artikel auf Spiegel Online vom 8. Dezember 2010, »Hacker-Großangriff auf Mastercard, Visa & Co«, erreichbar über http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ web/ 0,1518,733520,00.html. 74 Der Artikel ist erhältlich über http: / / www.spiegel.de/ netzwelt/ netzpolitik/ 0,1518,814276,00.html. 286 Die Rache der Nerds 75 Der Text stammt von meinem Weblog http: / / crazyprocesses.blog.de und wird in Schweizer Rechtschreibung wiedergegeben (direkt über http: / / crazyprocesses.blog.de/ 2011/ 02/ 27/ professoren-betrueger-10704969/ ). 76 Der Blogpost ist über http: / / crazyprocesses.blog.de zu finden. Der Text wird in der Schweizer Rechtschreibung wiedergegeben. 77 Joseph Weizenbaum. Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1978. S.-174. 287 Literatur Andreotti, Mario. Die Struktur der modernen Literatur. 4. Aufl. Haupt/ UTB, Bern 2009. Back, Andrea; Bendel, Oliver; Stoller-Schai, Daniel. E-Learning im Unternehmen: Grundlagen - Strategien - Methoden - Technologien. Orell Füssli, Zürich 2001. Baker, Stephen. Die Numerati: Datenhaie und ihre geheimen Machenschaften. Hanser, München 2009. Bendel, Oliver. Informationsethik im Unternehmen.-In: Netzwoche, 4 (2012). S.-25 - 26. Bendel, Oliver. Netiquette 2.0 - der Knigge für das Internet. In: Netzwoche, 5 (2010). S.-40 - 41. Bendel, Oliver. Wikipedia als Methode und Gegenstand der Lehre. In: Hildebrand, Knut; Hofmann, Josephine (Hrsg.). HMD - Praxis der Wirtschaftsinformatik, 252 (2006) 43. S.-82 - 88. Bendel, Oliver. Avatar. In: Mertens, Peter; Back, Andrea; Becker, Jörg et al. (Hrsg.). Lexikon der Wirtschaftsinformatik. 4., vollst. neu bearbeit. u. erweit. Aufl. Springer, Berlin u.a. 2001. S.-60. Bendel, Oliver; Gerhard, Michael. Handy-Avatare - Möglichkeiten der mobilen Kommunikationsunterstützung. In: InfoWeek.ch 12 (2004). S.-51 - 55. Bendel, Oliver. Von »keitai shousetsu« zu Handyromanen. In: Bibliothek - Forschung und Praxis, 1 (2010) 34. S.-95 - 100. Borchardt, Alexandra. Her mit den Piratinnen! Nach dem Erfolg einer Männer-Partei: Verschlafen die Frauen gerade die digitale Revolution? In: Süddeutsche Zeitung vom 1./ 2./ 3. Oktober 2011, Wochenende, Seite V2/ 1. Capurro, Rafael. Ethik im Netz. Schriftenreihe zur Medienethik, Bd. 2. Franz Steiner, Stuttgart 2003. Carr, Nicholas. Wer bin ich, wenn ich online bin … Und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert. Karl Blessing Verlag, München 2010. Coy, Wolfgang; Pias, Claus (Hrsg.). Powerpoint: Macht und Einfluss eines Präsentationsprogramms, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 2009. Einstein, Albert; Born, Max. Briefwechsel 1916 - 1955. LangenMüller, Frankfurt/ Main 1982. Ess, Charles. Digital Media Ethics. Digital Media and Society Series. Polity Press, Cambridge 2009. 288 Die Rache der Nerds Gesellschaft für Informatik (GI). Ethische Leitlinien der GI. Über http: / / www. gi-ev.de/ fileadmin/ redaktion/ Down-load/ ethische-leitlinien.pdf. Gleick, James. Jenseits von Gut und Böse. In: Das Magazin, Nr. 35, 16. September 2011. S.-18 - 24. Hellige, Hans Dieter (Hrsg.). Mensch-Computer-Interface: Zur Geschichte und Zukunft der Computer-Bedienung. transkript-Verlag, Bielefeld 2008. Höffe, Otfried. Lexikon der Ethik. 7., neubearb. und erweit. Auflage. C.-H.-Beck, München 2008. Keen, Andrew. Die Stunde der Stümper: Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören. Hanser, München 2008. Kreowski, Hans-Jörg (Hrsg.). Informatik und Gesellschaft: Verflechtungen und Perspektiven. Kritische Informatik, Bd. 4. LIT Verlag, Münster, Hamburg, Berlin 2008. Kuhlen, Rainer. Informationsethik: Umgang mit Wissen und Informationen in elektrischen Räumen. UVK/ UTB, Konstanz 2004. Kuhlen, Rainer. Die Konsequenzen von Informationsassistenten: Was bedeutet informationelle Autonomie oder wie kann Vertrauen in elektronische Dienste in offenen Informationsmärkten gesichert werden? Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999. Kurbel, Karl; Becker, Jörg; Gronau, Norbert et al. (Hrsg.). Enzyklopädie der Wirtschaftsinformatik. Online-Lexikon. 5. Aufl. Oldenbourg, München 2011. Über http: / / www.oldenbourg.de: 8080/ wi-enzyklopaedie. Kurzweil, Ray. Homo sapiens: Leben im 21. Jahrhundert. Was bleibt vom Menschen? 2. Aufl. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999. Kündig, Albert; Bütschi, Danielle (Hrsg.). Die Verselbständigung des Computers. Vdf Hochschulverlag, Zürich 2008. Lanier, Jaron. You are not a Gadget: A Manifesto. Knopf, New York 2010. Auch auf Deutsch: Gadget: Warum die Zukunft uns noch braucht. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 2010. Mauermann, Johanna; Bendel, Oliver. Angriff von unten: Tiefgreifende Veränderungen durch elektronische Literatur. In: Libreas. Library Ideas 20, 1 (2012) 8. Über http: / / libreas.eu. Mertens, Peter. Wirtschaftsinformatik: Von den Moden zum Trend. In: König, Wolfgang. (Hrsg.). Wirtschaftsinformatik ’95. Heidelberg 1995. S.-25 - 64. Mertens, Peter. Moden und Nachhaltigkeit in der Wirtschaftsinformatik. In: HMD - Praxis der Wirtschaftsinformatik, Heft 250 (2006). S.-109 - 118. Pieper, Annemarie. Einführung in die Ethik. 6., überarb. u. akt. Auflage. A. Francke Verlag, Tübingen und Basel 2007. Reischl, Gerald. Die Google-Falle: Die unkontrollierte Weltmacht im Internet. Carl Ueberreuter, Wien 2008. Rosenthal, David. Autonome Informatiksysteme: Wie steht es mit der Haftung. In: Kündig, Albert; Bütschi, Danielle (Hrsg.). Die Verselbständigung des Computers. Vdf Hochschulverlag, Zürich 2008. S.-131 - 144. 289 Literatur Schmidt-Salomon, Michael. Keine Macht den Doofen! : Eine Streitschrift. Piper, München 2012. Schweizer Informatik Gesellschaft. Ethikrichtlinien. Über http: / / www.s-i.ch/ fileadmin/ s-i/ download/ SI_Ethik_v1.0_20070110_D_04.pdf. Weber-Wulff, Debora; Class, Christina; Coy, Wolfgang et al. Gewissensbisse - Ethische Probleme der Informatik. Biometrie - Datenschutz - geistiges Eigentum. transkript-Verlag, Bielefeld 2009. Weizenbaum, Joseph. Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1978. Whorf, Benjamin Lee. Sprache - Denken - Wirklichkeit: Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie. Rowohlt, Reinbek b. Hamburg 1963. 291 A Account ACTA 254 Agent 153 Anonymität 21, 60, 88, 89, 133, 135, 194, 197, 200, 206, 210 Autonomie 128, 193 Avatar 97, 153, 156, 160, 172 B Benutzer Bereichsethik 19 Blog 21, 23, 38, 59, 60, 61, 62, 115, 116, 121, 135, 181, 197 C Chat 88, 153, 170, 195, 197, 206, 209 Cloud Computing 146, 150 Computerethik 20 Content 76, 91, 134, 188, 253 Cyborg 17, 48, 55, 56, 93, 133, 161 Sachregister und Glossar 292 Die Rache der Nerds D Datenschutz 189, 271 Denunziation 209 Digitalisierung 126, 272 Digital Natives Diskussionsforum 70, 74, 85, 88, 115, 200, 209 E E-Book 69, 123 Edutainment E-Learning 22, 57, 72, 75, 77, 94, 170, 171, 176, 264 Ethik 10, 17, 18, 19, 10, 85 F Facebook 12, 82, 98, 136, 147, 151, 158, 167, 174, 179, 191, 230 Forum 74, 81, 83, 88, 115, 197 Freiheit 21, 28, 64, 87, 124, 271 G Gesichtserkennung 232, 234, 247 Gleichgewicht der Namen 60, 88, 131, 200, 202, 203 Google 12, 13, 23, 59, 70, 99, 167, 174, 179, 181, 206, 217 Google Street View 13, 218 H Hacker 81, 249, 250, 253 Haftung 51 Handy 47, 104, 110, 240 Handyhaiku 143, 260 293 Sachregister und Glossar Handyroman 28, 69, 123, 128, 246, 260 Hilfefunktion Hypertext 40, 84, 115 I Identifizierbarkeit 21, 60, 89 Identität 195, 197, 202, 206, 244 Informatik 9, 10, 14, 15 Informationsethik 10, 13, 17, 19, 20, 81, 85, 218 Informationsgesellschaft 13, 19, 161 Informations- und Kommunikationstechnologien 10, 11, 19, 20, 11, 56, 85, 94 Interaktion Internet 10, 20, 25, 81, 105 Internetdienst K Kodex 38, 59, 85, 91, 92 Künstler 123, 142, 253, 267 L Logik 17, 42, 171 294 Die Rache der Nerds M Macht 56, 68, 84, 96, 138, 189, 242 Mashup 260 Matthäus-Effekt 99, 105 Medien 10, 19, 58, 76, 94, 264 Medien, lineare Medien, neue Medienethik 20 Mobbing 195, 209 Moral 13, 17, 18 Moralphilosophie 10, 17, 18, 19 N Nerd 9, 11, 12, 24, 35, 41, 43, 57, 70, 76, 79, 109, 161, 201, 209 Netiquette 38, 59, 85, 87, 90, 136 Netzethik 20 O Obsolenz 149, 249 P Personalisierung 103 Philosophie 14, 21, 26, 63 Piraten 12, 63, 242, 250 Plagiat 191, 235, 259, 262 Portal 103 Privatheit 215, 228 Privatsphäre 190, 192, 215, 234 Profil 38, 106, 162, 169, 197 Pseudonym 207, 210 295 Sachregister und Glossar S Schwarmintelligenz 106, 149, 246 Smartphone 104, 110 Social Media 23 Social Network 38, 151, 179, 187, 209 Social Software studiVZ 82, 136, 187 Sucht 178, 179 T Tablet 125, 178, 258 Tagging Twitter 13, 38, 98, 167, 212, 228 U Überwachung 215, 228, 274 Urheberrecht V Verantwortung 7, 51, 85, 177, 196, 201 Vervielfältigungsrecht 204 Virtualität 36 W Web 10, 36, 40, 48, 83 Web 2.0 10, 58, 81 Weblog Website Weiterbildung 13, 15 Wiki 71, 88, 191, 262 296 Die Rache der Nerds Wikipedia 58, 63, 65, 69, 70, 101, 235, 260 Wirtschaftsinformatik 9, 10, 11, 14, 15 WLAN 95, 174, 274 World Wide Web Y YouTube 186, 235