Dämonen, Monster, Fabelwesen
1201
1998
978-3-8649-6758-0
978-3-8676-4118-0
UVK Verlag
Ulrich Müller
Werner Wunderlich
»Alles ist durch das Wort geworden«, heißt es im Johannesevangelium. Tatsächlich erzeugt das Wort immerfort Welt, daran hat sich seit biblischen Zeiten nichts geändert. Zu dieser Welt gehörten und gehören die imaginären, fantastischen Geschöpfe, die als mythische Kreaturen die Landschaften von Literatur und Kunst bevölkern.
Der zweite Band der Reihe Mittelaltermythen stellt Dämonen, Monster und Fabelwesen vor. Das Mittelalter hat diese wundersamen und Furcht einflößenden Fantasiegeschöpfe nicht von realen Naturgeschöpfen unterschieden, weil man in Gottes Schöpfung nichts für unmöglich hielt. Deshalb begegnen uns in Naturkunden, Reiseberichten, Bestiarien, Epen, Chroniken, in den Vorstellungen des Volksglaubens und immer wieder an den Portalen der Kathedralen die absonderlichsten und schrecklichsten Wesen in Wort und Bild. Darunter sind Geschöpfe wie Medusa oder Pegasus, wie Leviathan oder Lilith, die antike und biblische Mythen an das Mittelalter weitergegeben haben. Vor allem aber sind es Wesen wie das Einhorn oder der Drache, wie Riesen oder Hexen, die nach mittelalterlicher Ansicht zu den Lebewesen und übernatürlichen Geschöpfen der beschreibbaren Welt gehören.
Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Fachgebieten stellen solche fantastische Wesen vor, von denen viele bis in unsere Gegenwart hinein auch in den modernen Medien lebendig geblieben sind.
Weitere Bände der Reihe Mittelalter-Mythen:
Band 1: Herrscher, Helden, Heilige
Band 3: Verführer, Schurken, Magier
Band 4: Künstler, Dichter, Gelehrte
Band 5: Burgen, Länder, Orte
<?page no="2"?> Dämonen Monster Fabelwesen <?page no="3"?> Mittelalter Mythen Band 2 Herausgegeben von Ulrich Müller und Werner Wunderlich <?page no="4"?> Ulrich Müller We rn er Wu nd er li ch (H g. ) Dämonen Monster Fabelwesen UVK · erlag · V sgesellschaft Konstanz und München <?page no="5"?> Gedruckt mit freundlicher Förderung der Universität St. Gallen (HSG) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abruf bar. ISSN 0947-6725 ISBN 978-3-86764-118-0 (Print) ISBN 978-3-86496-757-3 (EPUB) ISBN 978-3-86496-758-0 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 1999, unv. Nachdruck 2015 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> Vorwort Die Herausgeber danken der Universität St. Gallen (HSG) und ihrer Forschungskommission, die die Arbeiten an dem Projekt »Medieval Myths« sowie die Drucklegung der einzelnen Bände großzügig fördern. Zu danken ist außerdem Professor Paul E. Szarmach, Direktor des »Medieval Institute« an der Western Michigan University in Kalamazoo, der als Nachfolger von Otto Gruendler und Veranstalter des alljährlichen »International Congress on Medieval Studies« den Herausgebern weiterhin die Sektionen zum Thema »Medieval Myths« ermöglicht hat. Ein Dank, der gleichermaßen auch an Axel Müller, den Verantwortlichen des »International Medieval Congress« an der University of Leeds, geht. Wiederum zu großem Dank verpflichtet sind wir Doris Überschlag (Kantonsbibliothek »Vadiana« St. Gallen) für die Mühen der Literaturbeschaffung. Salzburg/ St. Gallen, im Oktober 1998 U.M./ W.W. <?page no="8"?> Inhalt Dämonen, Monster, Fabelwesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe Werner Wunderlich (St. Gallen) Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters . . . . . . . . 39 Leander Petzoldt (Innsbruck) Bestiarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 L.A.J.R. Houwen (Groningen) Die arthurische Dämonologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie Rolf Bräuer (Greifswald) Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Die Zoologie der mappae mundi Margriet Hoogvliet (Groningen) Monster und Dämonen am Kirchenbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Peter Dinzelbacher (Salzburg) Gargoyles - Wasserspeier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Phantasieprodukte des Mittelalters und der Moderne Albrecht Classen (Tucson) Basilisk - regulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Eine bedeutungsgeschichtliche Skizze Marianne Sammer (München) Die Monster in Beowulf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Marijane Osborn (Davis) Mythos Drache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Winder McConnell (Davis) Dracula - Der Herrscher der Finsternis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Vom mittelalterlichen Mythos zum modernen Zelluloid-Nervenkitzel Klaus M. Schmidt (Bowling Green) Der Wandel des Einhorns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Jochen Hörisch (Mannheim) <?page no="9"?> 8 Dämonen, Monster, Fabelwesen Fenriswolf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .229 Wilhelm Heizmann (Göttingen) Golem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .257 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Mythos Greif . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .267 Winder McConnell (Davis) Harpyie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .287 Sieglinde Hartmann (Frankfurt a.M.) Hexen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .319 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Incubus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .333 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Klabautermann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .343 Karin Lichtblau (Wien) Kobold . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .353 Karin Lichtblau (Wien) Laurin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .373 John L. Flood (London) Leviathan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .387 Daniel Brühlmeier (Baden) Lilith . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .395 Edith Wenzel (Berlin) Medusa, Pegasos und Perseus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .403 Antiker Mythos, mittelalterliche Rezeption und Nachleben in der Neuzeit Albrecht Classen (Tuscon) Midgardschlange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .413 Wilhelm Heizmann (Göttingen) »Nicchus - Nix« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .439 Claude Lecouteux (Paris/ Caen) Percht und Krampus, Kramperl und Schiach-Perchten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .449 Felix und Ulrich Müller (Salzburg) <?page no="10"?> Inhalt 9 Perkeo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Jürgen Fröhlich (Essen) Der Phönix: Vom Christussymbol zum Firmenlogo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 Romy Günthart (Basel) Satan, Teufel, Antichrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 485 Werner Wunderlich (St. Gallen) Der Teufel in der amerikanischen Kultur und in der biblischen Tradition . . . . . . . 487 Francis G. Gentry (State College) Der Teufel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Anmerkungen zu einem nicht allein mittelalterlichen Komplex Günther Mahal Der Antichrist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Barbara Könneker (Frankfurt a.M.) »daz si totfuorgiu tier sint« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Sirenen in der mittelalterlichen Literatur Rüdiger Krohn (Chemnitz) Eine kleine Kulturgeschichte des Werwolfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Keith Roberts (St. Louis) Die Wilde Jagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 John L. Flood (London) Wilde Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Der Wilde Mann - ein Mythos vom Andersartigen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Ernst Ralf Hintz (Hayes) Der Wunderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627 Die Rolle des Dämonischen in der Heldenepik Hans-Joachim Behr (Braunschweig) Zwerge und Riesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 Christa Habiger-Tuczay (Wien) Enzyklopädische Stichworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659 Bibliographische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 681 <?page no="12"?> Dämonen, Monster, Fabelwesen Eine kleine Einführung in Mythen und Typen phantastischer Geschöpfe Werner Wunderlich (St. Gallen) Aus all den erfunden und eingebildeten Geschöpfen eine nach welchen Gesichtspunkten auch immer systematische, repräsentative und methodisch wie historisch begründete Auswahl für einen Sammelband zu treffen, scheint unmöglich zu sein. Wir haben versucht, solche imaginären Kreaturen zu finden, die über Kulturgrenzen und Epochenschwellen hinweg existieren, wenn auch ihre Bedeutung schwankt und wir der westlichen Kultur den Vorzug einräumen. Vor allem aber richtet sich unser Sortiment schlichtweg nach der besonderen Vorliebe, die der eine und der andere Autor für »seine« Kreatur hat. Will man diese »Kreaturen« planmäßig erfassen und nach typologischen Kriterien vorstellen, muß man zuvor einräumen, daß begriffliche Unterscheidungen und Differenzierungen nach Herkunft und Überlieferung, nach Erscheinung und Funktion natürlich möglich und auch hilfreich sind, daß aber eine strikte und unangreifbare Einteilung in »Dämonen«, »Monster« und »Fabelwesen« wegen der fließenden Übergänge und Überschneidungen nicht in jedem Fall eine zweifelsfreie Zuordnung einzelner Geschöpfe möglich und auch nicht sinnvoll macht. Unser Buchtitel will deshalb einen thematischen Bereich umreissen und nicht eine kategoriale Systematik suggerieren. So soll es auch im folgenden in erster Linie nur darum gehen, Wesensmerkmale mythischer Geschöpfe unter typischen Aspekten vorzustellen, nicht eine systematische Typologie für alle im Band vertretenen Dämonen, Monster und Fabelwesen vorzugeben. Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe heute Der Titelheld der Filmreihe (1987, 1990, 1993) und gleichnamigen TV-Serie Robocop (1992 ff.) räumt als Ordnungshüter in der Unterwelt von Detroit gründlich auf. Robocop ist ein künstliches Geschöpf. Ein Roboter mit allen elektronischen Finessen der Kommunikations- und Waffentechnik, gesteuert von einem Computerprogramm und dem Gehirn eines erschossenen Polizisten, eines Cops. Roboter plus Cop ergibt Robocop. Das Produkt futuristischer Biomechanik und Computertechnologie ähnelt im Aussehen einem mittelalterlichen Ritter mit Harnisch und Helm. Wie dieser kann er von Feinden verletzt oder sogar fast zerstört werden und benötigt menschliche Fürsorge und - selbstredend - technisches Knowhow, um wieder hergestellt zu werden. An der Herstellung solcher Maschinenmenschen, Menschenmaschinen übten sich seit dem Barock Uhrmacher und Feinmechaniker, zugleich tauchten sie seit dieser Zeit als Figuren in der Literatur und auf der Opernbühne auf. In der Romantik hatten sie Hochkonjunktur und tummelten sie sich zu Hauf in Romanen und Novellen. Bis heute erfreuen sie sich hoher Beliebtheit in vielen Fantasy- und Science Fiction-Filmen und -Romanen. Die Perfektion der modernen special effects bringt immer neue, immer phantastischere Gestalten und <?page no="13"?> 12 Werner Wunderlich Mixturen aus menschlichen Lebewesen und elektronisch-mechanischen Apparaten hervor. Androide, Humanoide, Biomechanoide düsen durchs All und übernehmen als Helfer von Menschen die Rolle putziger Märchenwichtel, als Widersacher der Menschen die Rolle greulicher Sagenungeheuer. Daneben bedrohen grauenhafte Bestien des Kosmos (z.B. Alien 1979, 1986, 1992) ahnungslose Astronauten oder bevölkern auf fernen Planeten ganze Menagerien fantastischer Geschöpfe schumrige Kneipen (z.B. Star Wars, 1977 - 97) und machen unerfahrenen Raumfahrern das Leben schwer. Regisseure und Autoren lassen uns auch auf der Erde gefährliche Begegnungen mit Vertretern seltsamer und ungewöhlicher Spezien erleben. Sei es mit Besuchern aus dem All wie den gefräßigen Gremlins (Gremlins, 1984, 1990) oder dem erbarmungslosen Menschenjäger, dem nur ein Arnold Schwarzenegger Paroli bieten kann (Predator, 1987) oder den heuschreckenartigen Raubrittern, die beinahe die Feiern um den Independence Day (1996) verdorben hätten. Nicht wenige Monster aber sind »menschlichen Ursprungs« und entstammen den Laboren und Gen-Küchen moderner Wissenschaftler (resp. den Köpfen ausgebuffter special effects-Spezialisten). Zu dieser Kategorie zählen sicher die durch Genexperimente wiederbelebten Dinosaurier (Jurassic Park, 1993, 1997), oder das wunderschöne und zugleich grauenhafte Ergebnis der Kreuzung menschlicher und außerirdischer Gene (Species, 1995). Der Schweizer Hans Rudolf Giger (Schöpfer u.a. von Alien und Species) ist heute weltweit der bekannteste »Master of the Macabre«, dessen bizarre Filmmonster als Hollywood-Stars eine ständig wachsende Fan-Gemeinde haben, die in der virtuellen Welt des Internets wie auf Ausstellungen renommierter Galerien den Geschöpfen eines phantastischen Realismus ihre Referenz erweisen kann. Gewiß starken Einfluß auf die neue Hochkonjunktur unheimlicher Gestalten, magischer Welten und infernalischer Kulte hat das bevorstehende Jahr 2000, das Endzeitängste schürt, okkulte Praktiken in Schwung bringt, übersinnliche Erscheinungen aufkommen läßt - und die Diskussion über die Existenz und den Einfluß dämonischer und fabelhafter Wesen zum allgegenwärtigen Medienereignis macht. Niemand kann diese Ausgeburten der Phantasie leibhaftig auftreten lassen, aber dafür werden sie von ihren Zeugen umso eifriger in allen Einzelheiten einfallsreich geschildert und in Wort und Bild wiedergegeben. In Originalität und Präzision sind dabei aktuelle Berichte denen des Altertums in nichts voraus. Schon antike Naturbeobachtungen konnten fremde und unbekannte Kreaturen oft nur beschreiben, indem sie deren einzelne Körperteile mit denen ihnen bekannter Lebewesen verglichen. Mittelalterliche Reiseberichte ließen deshalb zur Erklärung des Unbekannten ihre Kombinationsgabe und Phantasie ins Kraut schießen. Zeichner und Autoren, die solche Darstellungen beim Wort nahmen, haben dann die groteskesten Kreaturen daraus geschaffen, wundersame Tiere, seltsame Menschen, Hybriden aus beiden. Es sind Geschöpfe des Menschen, der sie nach seinem Bild und seiner Vorstellung formt und verformt. »Alles ist durch das Wort geworden« steht im Prolog des Johannesevangeliums über die Schöpfungsgeschichte. Tatsächlich zeugt das Wort immerfort Welt, daran hat sich seit biblischen Zeiten nichts geändert. Deshalb auch werden immer wieder immer neue imaginäre Geschöpfe geschaffen. In der Un-Wahrscheinlichkeit ist unsere Zeit dem Mittelalter auf diesem Gebiet in nichts voraus. Die Nachfahren mittelalterlicher Schöpfungsphantastik sind heute gespenstische <?page no="14"?> Dämonen, Monster, Fabelwesen 13 Technik- oder Genfiktionen, die Panik und Ekel auslösen. Das Paradoxe: Gerade wegen ihrer Existenz als Hirngespinste sind solche Geschöpfe eben durchaus Realität. Dann, wenn sie als Projektionen psychischer Zustände und seelischer Verfassungen dienen; dann, wenn sie - gleichviel ob als triviale Stereotpyen oder originelle Deutungsmodelle - zum Verständnis von Welt beitragen und menschliche Erfahrung, Angst oder Hoffnung ausdrücken und verstehbar machen wollen. Diese Funktion macht imaginäre Geschöpfe zu mythischen Kreaturen. Wovon wir keine genaue Vorstellung haben, was wir uns nicht erklären können, wovon wir nicht wissen, ob es existiert, nehmen wir dessen ungeachtet ernst, halten es für wahr und fürchten uns davor, glauben an seine Bedeutsamkeit und Wirksamkeit, wenn uns vorrationale Annahmen über die Welt und unser Selbst in Geschichten und in Gestalten erzählt werden. Wo man nichts genaues wissen kann, erzählt man Geschichten. Der Mythos erteilt dazu das Wort und bringt es in Religion und Philosophie, Kunst und Literatur, Sitte und Brauchtum als »Wissen« zur Sprache. So vermittelt der Mythos heilige Wahrheiten, schafft Vorbilder für Schuld oder Unschuld, erklärt die Herkunft von Gott und der Welt, macht Mensch und Natur begreiflich, berichtet die Geschichte von Institutionen und Kulten, veranschaulicht gesellschaftliche und politische Zeitläufte. Insofern hat der Mythos nicht nur konstativen, sondern auch performativen Charakter. Immer schon, denn immer sind bestimmte Dimensionen von Wirklichkeit unserer vorstellbaren Erfahrungswelt und unserer erlebten Geschichte einen Schritt voraus. Was theoretisches Denken, abstrakte Rationalitätsentwürfe, wissenschaftliches Sprechen noch nicht verbindlich erklären und als Macht des Unergründlichen enttabuisieren, als Geheimnis des Unbegreiflichen entschleiern können, wird durch den Mythos und seinen Verbindlichkeitsanspruch vorstellbar und verständlich gemacht. Deshalb entstehen mit den Vorstößen in neue Wissensbereiche auch immerzu neue Mythen über das unerklärlich und geheimnisvoll Bleibende. Auch das Medienzeitalter erfindet neue Mythen, die keiner unbewußten Tätigkeit der Einbildungskraft entspringen, sondern planvollem Handeln, das letzte Wahrheiten oder massensuggestive Leitbilder in symbolischen, erzählten Wirklichkeiten verdichtet und diesen Realität unterstellt. Deshalb auch wird von den Kulturwissenschaften auf den drohenden Verlust von Kontingenzbewußtsein, auf den Mangel an Selbstreflexion jener mythischen Realitätskonstruktion hingewiesen, wenn diese für Seinsformen oder für Sinntransparenz Erklärungskompetenz und Moralansprüche behaupten. So ist der Mythos stets auch wegen seiner Komplementärfunktion zum Diskurs des Logos, des vernünftiges Wortes, und nicht etwa allein schon wegen der vermeintlichen oder tatsächlichen Überlegenheit seiner Bilder und Argumente im Gebrauch. Weil das, was Menschen beispielsweise für das Böse halten, rational kaum als Teil unserer Wesenheit erklärt werden kann, erklärt uns der Mythos vom Satan die Entstehung des Bösen in der Welt und hilft uns religiöse Werte und moralische Normen für den ethischen und sozialen Umgang damit - etwa die Abwehr und Bestrafung des Bösen - zu entwickeln. Auf diese Weise schlägt der Mythos den Bogen vom Einst zum Jetzt und verweist auf das Künftige, gründet also im Immer. Im Mythos wird das Dazumal, von dem berichtet und erzählt wird, im Derzeitigen erfahren. Deshalb ist der Mythos nicht nur archaische Vergangenheit, sondern auch beständige Gegenwart. Natürlich hängt vom Grade der Aufklärung und vom Stand des Wissens ab, in welcher Weise Gegenwart den Mythos erlebt und vergegenwärtigt. Wo rationale Geschichtsauffassung und empirische Naturkenntnisse Mysterien und Magie ersetzt haben, verliert der Mythos seine Überzeugungs- <?page no="15"?> 14 Werner Wunderlich kraft. Wo aber Fragen nach Herkunft und Ziel unserer Welt, nach Geburt und Tod zu immer neuen Rätseln führen, behalten Mythen nach wie vor ihre Funktion für die Welt- und Selbstauslegung des Menschen. Und selbst wenn im Alltag Banalitäten für außergewöhnlich, für mysteriös oder wenigstens für ungewöhnlich gehalten werden, bietet der Mythosbegriff wenigstens die Möglichkeit, das scheinbar in sich selbst Unergründliche faßbar und befreiflich zu machen: sei’s als Mythos des »Wunders von Bern«, das 1954 Deutschland zum Fußballweltmeister machte, sei’s als Mythos der legendären Blue Jeans als einer Ikone amerikanischer Lebenskultur mit globalem Modeerfolg, sei’s als Mythos von Madonna als einer Kultfigur und eines Sexidols mit sagenhaftem Erfolg. Der Mensch als einziges uns bekanntes Wesen, das über sich selbst nachdenken kann, nutzt diese Fähigkeit manchmal auf wunderbare Weise und denkt sich Geschichten und Gestalten aus, um mit deren Hilfe über sich selbst etwas zu erfahren: woher er kommt, wohin er geht. In einem vorhellenischen Schöpfungsmythos paart sich Eurynome, die dem Chaos entsteigt, mit dem Nordwind Boreas, der die Gestalt der Schlange angenommen hat. Eurynome legt das Weltei, dem alles entsprungen ist, was unsere Erde trägt. Und schon bei dieser Weltschöpfung sind auch jene Wesen entstanden, die unsere Welt seither mit uns zusammen bevölkern. Geschöpfe, die keine erdgeschichtliche Evolution hervorgebracht hat, sondern die menschliche Einbildungskraft. Dämonen, Monster, Fabelwesen: chtonische Wesen, die mit dem Diesseits verhaftet sind; uranische Wesen, die himmlische Sphären bewohnen und von dort aus irdische Kreise ziehen. Geschöpfe, die nie aussterben und die durch immer andere und neue Spezien bereichert werden oder auch Zuwachs und Nachwuchs erhalten. Über Generationen hinweg haben Gesellschaften und Kulturen mit ihnen gelebt, sie mit symbolhaften Bedeutungen versehen. Freilich, im Vergleich zur unendlichen Artenvielfalt der Natur nimmt sich die phantastische Zoologie und Ethnologie in bezug auf die Mannigfaltigkeit ihrer imaginären Geschöpfe eher bescheiden aus. Da Phantasie und Imagination immer nur aus der empirischen Realität und der menschlicher Vorstellungskraft, einem begrenzten Reservoir, schöpfen können, wiederholen sich im Grunde stereotyp relativ wenig Variationstypen: als Puzzle aus menschlichen und tierischen Körperteilen, als übersteigerte Formen und Prinzipien bekannter Fehlbildungen, als diffuse wesenhafte Verkörperungen schematisierbarer Ängste, als Repräsentanten furchteinflößender, geheimnisvoll wirkender Orte und deren Merkmale. Die Wirklichkeit mythischer Geschöpfe im Mittelalter »Scheusale existieren, weil sie Teil des göttlichen Plans sind, und selbst in den schrecklichsten Fratzen offenbart sich die Größe des Schöpfers.« Diese für das Mittelalter charakteristische Auffassung vertritt in Umberto Ecos postmodernem Roman Der Name der Rose (1980) Benediktinerabt Abbo gegenüber seinem franziskanischen Besucher William von Baskerville. Eco versetzt uns mit der Handlung ins Mittelalter. Er thematisiert dessen Vorliebe für Fabulöses und demonstriert damit gleichzeitg auch dessen immer noch fortwährende, nie nachlassende Anziehungskraft imaginierter Welten auch auf die Neugier unserer Gegenwart. Gegen das stattliche Aufgebot phantastischer Wesen auf den Rändern bebilderter Manuskriptseiten in Codices oder auf Mauern und Mobiliar von Kathedralen und Klö- <?page no="16"?> Dämonen, Monster, Fabelwesen 15 Abb. 1 <?page no="17"?> 16 Werner Wunderlich stern hat Bernhard von Clairvaux in seiner Apologia ad Guillelmum Abbatem von 1125 heftig protestiert. Unflätige Affen und monströse Kentauren würden sich in romanischen Klöstern breitmachen, und er warnte vor der Macht dieser Bilder, die Mönche zu verwirren und von ihrer Frömmigkeit abzubringen. Aber weder die Einwände Bernhards noch von irgendjemand anders konnten wenig später die Vermehrung der unzähligen hypbriden Monster (Abb. 1) auf den sogenannten Marginalien gotischer Kirchen (i.e. Fassadenreliefs, Fensterbögen, Wasserspeier, Teile des Chorgestühls, Kragsteine, Dachabschlüsse oder anderes architektonisches Dekor) und den Seiten gotischer Handschriften von Bestiarien, Fabeln, Sprichwort- und Rätselsammlungen oder Ritterepen verhüten. Mittelalterliches Bewußtsein wollte wundersame Phantasiegeschöpfe nicht von realen Naturgeschöpfen unterscheiden. Zum einen, weil die Bibel den Unterschied auch nicht macht; zum anderen, weil nach allgemeiner Anschauung vom Begriff auch auf das Wesen der Sache geschlossen wird: Worte sind der Dinge Zeichen. Deshalb bezeichnet »Drache« unbezweifelbar einen existierenden Drachen oder »Kynokephalos« eben einen wirklichen Hundsköpfigen. Natürlich hat man auch im Mittelalter nach dem Wahrheitsgehalt und dem Wahrscheinlichkeitsgrad von Naturberichten und Tierkunden gefragt, aber man hat eben auch grundsätzlich in Gottes Schöpfung und als Gottes Geschöpf nichts für unmöglich gehalten. Deshalb gehören auch Fabelwesen in Gottes Heilsplan. Von diesem Glauben legen die zahllosen bebilderten Chroniken und Bestiarien mit ihren absonderlichen Geschöpfen und den exakten Beschreibungen der phantastischen Zoologie ein oft prachtvolles Zeugnis ab. Bestiaren sind gleichsam die schöpferische Fortsetzung der biblischen Genesis durch den Menschen, da es in 1. Mos 2.19, 20 heißt: »Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen. Und der Mensch gab einem jeden Vieh und Vogel unter dem Himmel und Tier auf dem Felde seinen Namen.« Hinter dieser Darstellung steckt eine Grunderkenntnis naturwissenschaftlichen Denkens. Wie sich das Werden in Entwicklungsperioden vollzogen hat, so hat sich analog das Lebendige in Arten ausgebildet. Es wird nicht von der Erschaffung beliebiger oder bestimmter einzelner Tiere gesprochen, sondern von der Erschaffung der Tierarten. Die Grunderkenntnis der in Arten oder Gattungen gegliederten Fauna liegt also schon der biblischen Schöpfungsdarstellung zugrunde. Es ist dem Menschen aufgetragen, das komplexe Ganze der Natur durch Einteilen und Auseinanderhalten zu erfassen, indem die einzelnen Tiere einen Namen erhalten sollen. Das Schöpfungshandeln Gottes hat eine Welt von Lebewesen hervorgebracht, die der Mensch nicht zu erfinden, sondern nur zu finden und zu benennen braucht, damit es sie gibt. Und just deshalb gibt es selbstverständlich auch die phantastischen Lebewesen. Diese sind immer auch Objekte analogischer Deutungen. Daß beispielsweise wiederkäuende Tiere für rein gehalten wurden, soll die Pflicht, stets Gott zu gedenken, einschärfen, und Tiere mit gespaltenen Klauen versinnbildlichen die Dichotomie von Recht und Unrecht. So ergibt sich eine unendliche Vielfalt der Ding- und Sinnkombinationen. Um Laster und Tugenden begrifflich und inhaltlich vorstellbar zu machen, kombiniert und konstruiert die Scholastik ganz rational Montagen aus Tieren und Menschen (Abb. 2). Gerhoh von Reichersberg, Propst des Innviertler Augustiner Chorherrenstifts, läßt in seinem Psalmenkommentar die Stelle »facies peccatorum meorum« durch ein Wesen illu- <?page no="18"?> Dämonen, Monster, Fabelwesen 17 strieren, das sich aus dämonischen Geschöpfen und negativen Symboltieren zusammensetzt: das Wesen hat ein Menschengesicht, Kuhhörner, Pferdehals, Schweinerücken, Bärenfüße, zwei Schwänze. Dieses Wesen hat die didaktische und mnemotechnische Funktion, die schrecklichen Laster zu verdeutlichen und stets erinnerlich zu halten. Derartiges Analogiedenken konstruiert bis in die Frühe Neuzeit hinein solche Kreaturen. Berühmt ist jener Einblattdruck, der um 1500 auftaucht: Er zeigt ein Monster mit kahlem Kopf und einem nach oben gekrümmten Horn. Die Ohren sind flammengestaltig und statt der Arme hat das Wesen zwei gefiederte Flügel. Über einer männlichen und einer weiblichen Brust sind zwei griechische Kreuze und darunter zwei Flammenzungen, die nach unten auf kreisförmige Punkte zeigen. Das Geschlecht besteht aus Vulva und Phallus. Das rechte Bein hat am Knie ein Auge, das linke ist geschuppt und hat einen Krallenfuß mit Sporn. Es ist eine aus Florenz stammende Allegorie des Bösen und des Lasters, das die schamlose Nacktheit, die diabolische Sündhaftigkeit, die androgyne Wollust darstellt. Prodigienliteratur, Chroniken, Exemplasammlungen, Predigten schildern in Wort und Bild solche phantastischen und monströsen Allegoresen des schrecklich Wunderbaren, in dem die Alpträume eines durch den Teufelsglauben und apokalyptischen Endzeiterwartungen erschütterten Zeit Gestalt annahmen. Wie wichtig dämonisch-monströse Wesen für die Realität allegorischer Deutungen waren, zeigt besonders die satansartig geflügte figura mundi (Frau Welt) mit Hahnklaue und drachenköpfigem Schweif als fabulöse Verkörperung der Welt und Gegengestalt zur religio. Die Figur und ihre Attribute repräsentieren symbolisch die sieben Todsünden als die verführerischen Laster der Welt, vor deren verderblichen Wirkungen die monströsen Scheußlichkeiten warnen. Das Buch ist im Mittelalter das Medium, durch das die Wirklichkeit und die Natur wahrgenommen und gewertet werden. Die empirische Umwelt war kaum der Maßstab für die Darstellung der Welt in den Büchern. Eher wurde umgekehrt die Welt nach den Büchern wahrgenommen und beurteilt. Fiktion und Realität waren keine Kategorien für die Wirklichkeitserfahrung. Deshalb galt überliefertes Naturverständnis wie das des Physiologus und die Weltauffassungen von Autoritäten wie Thomas Cantimpratensis, Jacob van Maerlant oder Konrad von Megenburg als vielleicht noch wichtiger und zuverlässiger als die unmittelbare Wirklichkeitsbeobachtung des einzelnen. Infolgedessen wurde zwischen imaginären und natürlichen Geschöpfen kein deutlicher Unterschied gemacht. Wahr und real waren beide, und die Differenzierung zwischen fictum und factum oder zwischen erfundener Dichtung und Tatsachenberichten war bis in die Frühe Neuzeit kein Dilemma, wie die Beispiele der Nachrichtensammlung des Pfarrers Johann Jakob Wick aus den Jahren 1560 bis 1587 etwa lehren. Das Mittelalter war die Zeit, in der die erdachten Geschöpfe immer Saison hatten. Abb. 2 <?page no="19"?> 18 Werner Wunderlich Von den skurrilen, dekorativen Figuren der keltischen Mythologie in den Illuminationen irischer Evangeliare bis zur Zeit des Teufelsglaubens und der Hexenverfolgungen mit ihren Nachwirkungen bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Dämonen, Monster, Fabelwesen waren nicht allein exotische Geschöpfe fremder Lebenswelten, sondern sie waren im Lebensraum des mittelalterlichen Menschen allgegenwärtig: in Religion und Recht, Medizin und Astronomie, Kunst und Literatur. Durch die Übertragung dämonologischer Vorstellungen auf gewisse Arten wie Schafe und Ziegen oder Stiere und Vögel kam es zur rituellen Opferung dieser Tiere oder auch zu kuriosen Tierprozessen, in denen schon mal ein Esel oder eine Kröte, ein Krebs oder ein Hahn wegen vermeintlicher zauberischer Fähigkeiten und diabolischer Vergehen angeklagt und anschließend hingerichtet wurden. Dämonen Begriff und Bedeutung Das griechische »δαιμον« (daimon) bezeichnet einen Verteiler oder Zuteiler des Schicksals. Im 6. Jahrhundert v. Chr. verstand Thales von Milet unter dem Begriff einen der die Welt erfüllenden Geister, und Sokrates meinte damit das Gewissen. Die Neuplatoniker hatten Naturgeister im Sinn, wenn die Rede auf Dämonen kam, und Augustin gab hilfreichen ebenso wie übelwollenden Geistern diesen Namen. In der Bibel steht der Ausdruck im Singular synonym für den unreinen oder bösen Geist sowie im Plural für die Engel des Teufels. Das sind nach animistischer Vorstellung körperlose Wesen, die an wüsten und unreinen Orten hausen, von wo aus sie von Menschen Besitz ergreifen und ihnen Schaden zufügen. Ulfilas übersetzte das griechische Wort mit »unhultho«, und Notker Teutonicus gab in seiner Lukasübersetzung den Begriff mit »holdo« wieder, was aber dem mittelhochdeutschen »unholt« und dem neuhochdeutschen »Unhold« entspricht. Diese Bedeutung im Sinne von »jemand nicht hold sein«, »feindlich« oder »böse« wurde mit dämonologischer Bedeutung sinngleich für mächtige, feindselige, schädigende Dämonen gebraucht; in der Christianisierungsphase vor allem für die heidnischen Gottheiten, antike und germanische Götter, die auf diese Weise als furchterregende und schadenstiftende Dämonen diabolisiert wurden. Deshalb wird der Begriff heute noch weitgehend negativ verwendet. Der Begriff überschneidet sich mit anderen Ausdrücken zur Kennzeichnung imaginärer Wesen wie Monster und Fabelwesen, Gespenst und Geist, Unhold und Ungeheuer oder Bestie und Scheusal. Wesen, Erscheinungsweise und Funktion In der Antike waren Dämonen - in den Epen Homers etwa - ursprünglich Götter mit menschlichen Charakterzügen, die in nachhomerischer Zeit vor allem mit den chthonischen Gottheiten wie Hades, Demeter, Persephone, Moira oder Tyche identifiziert wurden. Hesiod beschreibt dann Dämonen als Zwischenwesen zwischen Göttern und Menschen, die in gutem wie in bösem Sinne auf menschliche Geschicke Einfluß nehmen konnten. Auch der germanische Mythos kennt mit Loki einen Gott, dessen Unstetigkeit, Boshaftigkeit, Tücke und Zauberkünste ihm zu einem gelegentlich geradezu dämonischen Charakter gereichen. Andererseits sind in der Sage sowohl historisch bekannte <?page no="20"?> Dämonen, Monster, Fabelwesen 19 Personen wie Dietrich von Bern als auch anonyme Gestalten wie der Rattenfänger von Hameln dämonisiert. Die Legende wiederum kennt den umgekehrten Vorgang der Entdämonisierung wie im Falle des Christopherus, der von einem hundsköpfigen Riesen zum christlichen Heiligen, der den Märtyrertod erleidet, umgedeutet wird. Dämonen sind unsichtbar oder aber können die körperliche Gestalt natürlicher wie auch phantastischer Wesen annehmen. Sie können aber auch als Geister in übernatürlicher Erscheinung auftreten. Sie verführen und peinigen den Menschen; selten helfen sie ihm auch. Der Kampf gegen die Dämonen ist eine Hauptaufgabe der Heiligen. Hexen und Magier schließen häufig einen Pakt mit einzelnen Menschen oder verkehren sogar geschlechtlich mit ihnen. Der Incubus, der »Daraufliegende«, ist der männliche Dämon, der mit Hexen schläft. Da er selbst zeugungsunfähig ist, kann er nur solchen Samen weitergeben, den er vorher im Geschlechtsverkehr in weiblicher Gestalt als Succubus, »Darunterliegende«, in sich aufgenommen hat. Es gibt jeweils nach Kulturkreisen, Ethnien oder Landschaften typische Dämonen. Sie treten dort hordenweise in Kollektiven wie dem Wilden Heer, der Wilden Jagd, dem Totenheer, den Venedigern, als Weiße Frauen, Wasserfrauen und Waldleute auf. Die Oberhäupter solcher Scharen sind auch als Einzeldämonen bekannt, wie beispielsweise die Precht und Herodias als Anführerinnen dämonischer Haufen, wie Odin bzw. Wotan als Anführer des Wilden Heeres, wie Dietrich von Bern in der Rolle des Wilden Jägers als Chef der Wilden Jagd. Familienweise treten Zwerge bzw. Wichte, Heinzelmännchen, Riesen, Alben, Trolle, Feen, Nymphen, Nixen, Elfen und Hexen auf. Solitäre Gestalten aus all diesen Gruppen mit einer eigenen Erzähltradition als Kristallisationsfigur sind u.a. die Riesen Haymon oder Thürse, die Waldgeister Rübezahl, Hehmann, Meister Epp, Salvan oder Schratt, die Berggeister Gangerl oder Ork, der Brunnengeist Frau Holle, der »Ewige Jude« Ahasver, der untote Vampir Dracula, der künstliche Riese Golem, die Hexen Diana oder Margot, die heidnischen Götzen Appollo oder Trevigant, der auch als Drache, Greif, Pudel, Mönch oder Feuerkugel herumgeisternde Teufelsdämon Mephistopheles, der Zauberer Krabbat, die Schreckfigur Krampas, der Schiffskobold Klabautermann, die Wasserfrauen Melusine, Undine oder die Raue Else, die Wassergeister Elbst und Fossegrimm, die Kobolde Butzenmann, Entenwick, Ekke Nekkepenn, Kasermandl, Puck oder Poppele, die Zwerge Laurin, Fenixmännlein, Goldemar oder Rumpelstilzchen, der Nachtgeist Mahr in Gestalt eines Haares oder Strohhalms, die Spukgestalt Feuerputz, der Kinderschreck Langtüttin. Besonders im Mittelmeerraum sind fabulöse Mischwesen wie Hundsköpfiger, Kentauros, Sirene, Pan oder Sphinx dämonisiert worden, während in nördlichen Kulturkreisen Dämonen in Gestalt phantastischer Tiere wie Drache oder Basilisk und vor allem in anthropomorphisierter Gestalt vorkommen. Da Dämonen immer auch menschliche Fähigkeiten und Fertigkeiten, Eigenschaften und Verhaltensweisen verkörpern, sind sie auch nach dem Bild und den Vorstellungen des Menschen geschaffen, gerade dort, wo sie sich von ihm durch einzelne tierische Körperteile wie Fischschwanz, Entenfüße oder Pferdeleib unterscheiden. Als Hauchwesen können Geister in menschlicher, tierischer oder phantastischer Statur sichtbar werden. In Geistergestalt können Dämonen gelegentlich auch als Beschützer und Begleiter des Menschen auftreten, aber vor allem als Polter- und Plagegeister ihr Unwesen treiben, wenn sie in einen Menschen fahren und nur durch Abwehrriten wie dem Exorzismus wieder vertrieben werden können. Die Macht der Geister ist oft auf einen bestimmten Ort begrenzt. In Gebäuden, auf Kreuzwegen, an Hinrichtungsstätten spuken zur Geisterstunde die Schreckgespenster, <?page no="21"?> 20 Werner Wunderlich die als Totengeister, Gerippe, Ungeheuer, Kobolde, wilde Tiere oder in furchterregender, monströster Menschengestalt auftreten. Anthropomorphisches Aussehen haben oft auch die Elementargeister in Wäldern und Bergen, an Gewässern, auf Wiesen, wo sie Naturkräfte und Naturerscheinungen repräsentieren. Im allgemeinen genießen Dämonen keine kultische Verehrung, aber ihnen werden als Ausdruck eines Abhängigkeitsverhältnisses gelegentlich Opfer zur Begütigung oder auch als Entgelt für erbrachte bzw. erwartete Hilfeleistungen dargebracht. Auch zu Verträgen zwischen Dämon und Mensch kommt es mitunter. Das wohl bekannteste literarische Beispiel dafür ist der Teufelspakt zwischen Faust und Mephistopheles, mit dem der Schwarzkünstler und Negromant aus Knittlingen seine Seele aufs Spiel setzt. Als mythologische Gestalten sind Dämonen ein Instrument zur Erklärung von Welt. Denn was der Mensch von seiner Umwelt wahrnimmt und nicht rational versteht, kann für ihn durch das Wirken von Dämonen verständlich werden. Aitiolische Sagen erzählen von Erscheinungen wie der Wilden Jagd und erklären damit metereologische Vorgänge wie Unwetter, Nebel, Regenbogen; sie schreiben Naturkatastrophen dem gewalttätigen Unmut oder dem Leichtsinn von Riesen zu, bringen bizarre Felsen und Steine mit verzauberten Menschen in Zusammenhang. Als Projektionen von Träumen oder Halluzinationen, als Konfigurationen von Ängsten, Furcht oder schlechtem Gewissen, als Verkörperung von Wunschdenken und des Unbewußten, als gestaltgewordene sexuelle Obsessionen sind Dämonen eine individuelle, höchst subjektive Erfahrung und eine objektive psychische Realität, ein Teil der Persönlichkeit des Menschen. Schon die Stoiker hatten Träume und Krankheiten, aber auch Witterungserscheinungen durch die Existenz von Dämonen erklärt. Heute werden vor allem Märchen gerne als Zeugen psychologischer Erklärungs- und auch Bewältigungsansätze für Konfliktlösungen, Behauptungsversuche und Entwicklungsphasen gedeutet. Als Glaubensgestalten konkretisieren Dämonen religiöse Vorstellungen, oft abhängig von den ethischen Werten und den sozialen Normen einer Gesellschaft oder einer Gruppe. Die Ambivalenz gerade ältester Vorstellungen des Volksglaubens und seiner Brauchtumstraditionen zeigt dabei besonders der Umgang mit Totengeistern als verehrungswürdige Ahnen oder als schreckliche Wiedergänger. Christliche Dämonologie Als personifizierte Ursachen von Vorgängen, die erst auf der Stufe empirisch-wissenschaftlicher Naturbeobachtung erklärt werden können, finden wir Dämonen, die durch Zeremonien oder Abbildungen beschworen und magisch gebannt werden können, in der Frühstufe aller Kulturen, wo der Animismus an eine von Dämonen beseelte Natur glaubt. Weltreligionen wie das Christentum greifen diese Dämonenvorstellungen auf, konkretisieren sie immer wieder in neuen Gestalten und Kreaturen und verändern auch deren faktische, symbolische oder allegorische Bedeutung. Der Glaube an Dämonen war im Mittelalter ganz selbstverständlich. Die christliche Dämonologie sah und sieht in den Dämonen nicht die Verkörperung eines bösen Urprinzips, sondern gefallene Engel, die in ihrem sündigen Hochmut Gott zu gleichen nicht wesensmäßig böse sind, sondern durch freien Willen schuldig wurden. Ihr oberster Repräsentant Luzifer wurde nach außerbiblischer Überlieferung durch den Erzengel Michael in die Hölle gestürzt. Origines sah im Sturz der Engel eine übergeschichtliche himmlische Vorsehung, die die Schöpfungs- und Heilsgeschichte bestimmt. Im Engelsturz verbreite sich das Dämonische im <?page no="22"?> Dämonen, Monster, Fabelwesen 21 Luftraum über der Welt und über der Unterwelt. Als Beherrscher der Lüfte sehen Augustin in De divinatione daemonum (um 410/ 40) oder Hrabanus Maurus in De magicis artibus (um 850) die Dämonen, denen sie eine ätherische, alles Körperliche durchdringende Wesenhaftigkeit sowie teuflischen Zauber und Magie zuschreiben. Analog zur himmlischen Hierarchie nahm man auch eine Teufelshierarchie an. An der Spitze steht der Höllenfürst mit mancherlei Namen wie Beelzebub, Belial, Gottseibeiuns, Mephistopheles, Luzifer, Satan oder Teufel. Er tritt auf in verschiedenen Erscheinungsweisen wie der des Mischwesens als Gehörnter oder Bocksfüßiger, in Tiergestalt als Hahn oder Schlange und vor allem als Ungeziefer, in Gestalt von Fabelwesen als Drache. Sein Vetter Antichrist gehört zu den dämonischen Gestalten der mittelalterlichen Eschatologie. Geboren vor dem Weltuntergang von einer jüdischen Hure zu Babylon ähnelt sein Lebensweg dem Christi. Nachdem er vergeblich versucht hatte, sich den Zugang zum Himmel zu erzwingen, wurde er in die Abgründe des Erdinneren verbannt. Die christliche Theologie handhabte von Anfang an die Dämonologie in der Auseinandersetzung mit den heidnischen Göttern, die von Tertullian, Ambrosius oder Augustin zu Dämonen erklärt wurden, an deren Existenz es keinen Zweifel geben konnte und die den Menschen Angst und Schrecken einjagten (Abb. 3). Abb. 3 <?page no="23"?> 22 Werner Wunderlich Der Theologe Maximus Confessor nannte im 7. Jahrhundert als den wichtigsten Grund, warum Gott den Dämonen erlaube uns anzugreifen, daß wir so über die Versuchung das Laster verabscheuen lernen und die innere Freiheit erlangen, niemals unsere Schwächen zu vergessen und an Gott und seine Erlösungskraft fest zu glauben. In solcher Tradition rationalisiert die kirchliche Teufelslehre, die offizielle Satanologie, bis heute den Mythos und differenziert zwischen dem prinzipiell Bösen und dem personifizierten Bösen. Sie überträgt die Idee der Theodizee, das im freien Willen gründende Erz- und Erbübel, mutatis mutandis auf die bis zum jüngsten Tag allgegenwärtigen Dämonen, die sich in stetem apokalyptischen Kampf mit den Engeln um die Seele des Menschen befinden. Dämonen im Mittelalter Gelehrte Schriften, Kunst und Literatur vermittelten im Mittelalter dämonologische Vorstellungen. Das 4. Laterankonzil von 1215 formulierte lakonisch: »Diabolus enim et alii daemones a Deo quidem natura creati sunt boni, sed ipsi per se facti sunt mali.« (Denn der Teufel und die anderen Dämonen wurden von Gott der Natur nach als gut erschaffen, doch wurden sie durch sich selbst böse.) Unter Berufung auf Augustins De civitate Dei (413 - 26) nannte Thomas von Aquin in der Summa Theologica (um 1267/ 73) die Dämonen einen »genus simulans deos et animas defunctorum«, eine Art, die die Gestalt von Göttern und die Geister Verstorbener annimmt. Im Dialogus Miraculorum (1219 - 23) des Caesarius von Heisterbach, in den Erzählwerken von Vincent de Beauvais, Stefan de Bellevilla oder in den Legenda aurea (um 1260/ 67? ) des Jacobus a Voragine tummeln sich Dämonen in teuflischer und tierischer Gestalt, als Soldaten, Bauern und immer wieder als lüsterne Verführerinnen. Oft ist ihr Auftreten von Lärm und Schwefelgestank begleitet. Es sind Exempla, in denen es um die Auseinandersetzung des Menschen mit Dämonen und die Überwindung dämonischer Mächte geht. Seit dem 15. Jahrhundert entstand eine reiche Literatur, die sich wie die Chronologia mystica (1515) des Johannes Trithemius oder wie die Occulta philosophia (1531) des Agrippa von Nettesheim mit der Beschwörung und Bannung der magia daemonica sowie mit Aussehen und Wirken von Dämonen befaßte und - auch unter dem Einfluß kabbalistischen Gedankenguts - in Schriften wie dem berüchtigten Malleus maleficarum, dem Hexenhammer (1487), ein diagnostisches System zur Identifizierung von Hexen und Schwarzen Magiern entwarf. Die Einteilung von Geistern nach den vier Elementen versprach dabei eine Pseudo-Systematik, denn ihre Logik verdankte sich der spekulativen Naturphilosophie beispielsweise eines Theophrastus Paracelsus. Dessen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandribus (1556) beschrieb Wesen, die als Najaden, Undinen oder in der Figur der Lorelei durch die naturromantische Dichtung des 19. Jahrhunderts dann wieder neu belebt wurden. Da diese weiblichen Dämonen keine Seele haben, sehnen sie sich nach der Verbindung mit Menschen, um an deren Transzendenz teilzuhaben. Schon im Liber quaestionum (1508) hatte Trithemius doziert, daß Dämonen zumeist in weiblicher Gestalt erschienen, weshalb die sexuelle Begierde bei ihnen besonders ausgeprägt sei. Freilich, eindringen in die weiblichen Körper können die sexistischen Dämonen am leichtesten mit männlicher Unterstützung bei der Kopulation. Die mittelalterliche Ikonographie kennt Dämonen vor allem in der Kirchenplastik: zum einen in der Gestalt phantastischer zoomorpher Mischwesen; zum anderen als häufig geflügelte, schwarze Teufel. Erstere finden sich zu Hauf an den Kapitellen der West- <?page no="24"?> Dämonen, Monster, Fabelwesen 23 portale, an den sogenannten Bestienpfeilern, sowie an Taufsteinen von Kirchen. Als Feinde der Heiligen besiedelten die Dämonen den Westen, von wo aus sie die Kirchen gewissermassen belagerten und bestürmten, wo sie mit magischen Zeichen gebannt und durch den Gegenangriff der Engel unter Führung Michaels geschlagen wurden. Mit der Gotik verschwanden die Dämonen weitgehend aus den Kirchen und fristeten als Wasserspeier mit teuflischen Fratzen ihr Dasein unter den Dächern, um so den ausfahrenden Dämon darzustellen. Geflügelte Teufel gehören als fester Personalbestand zu den malerischen Darstellungen zahlreicher Fresken, Altäre, Buchillustrationen, Gemälde, Holzschnitte von den Austreibungen Besessener, von den Versuchungen der Heiligen, von Szenarien der Weltgerichte und Höllendarstellungen. Hieronymus Bosch und seine Nachfolger entwickelten als Gegenbild zur ikonographischen Heiligenwelt ein regelrechtes Genre des Dämonischen. Monster Begriff und Bedeutung Aus dem lateinischen »monstrum« für Wahrzeichen - bedeutungsähnliche Begriffe sind »miraculum« (Wunderding), »portentum« (Vorzeichen), »ostentum« (Omen) oder »prodigium« (Vorbedeutung) - ist das im Singular und Plural verwendete Wort »Monster« abgeleitet. Wir haben uns für diese eingebürgerte neudeutsche Form, die auch im Englischen gebräuchlich ist, entschieden. Schon in der Antike verstand die Medizin unter dem Begriff »monstra« Menschen und Tiere mit angeborenen Fehlbildungen, die sogenannten Mißgeburten, die oft gleich nach der Geburt getötet wurden. Reisebeschreibungen und Naturschilderungen versetzen ganze Völkerschaften von Monstern zumeist in exotische Länder, weshalb ihre wirkliche Existenz kaum nachgeprüft werden konnte. Weil angeborene Fehlbildungen oft den Nimbus von Wunderbildungen, »terata«, besaßen, wurde daraus der Begriff Teratologie für die medizinische Lehre von den angeborenen Mißbildungen. Der dreiköpfige Höllenhund, der den Hades Abb. 4 <?page no="25"?> 24 Werner Wunderlich bewacht, Kerberos, wird auch als ein Teras bezeichnet, und Platon nennt ein wunderliches, abnormes Wesen Teratolos. Widernatürliche, normabweichende Variationen, Anomalien und Deformationen sind also die Merkmale von tierischen und menschlichen Monstern von Mißgeburten, Zwittern, Riesen, Zwergen, Doppelbildungen, Vielbrüstigen, Wesen mit über- und unterzähligen oder zusammengewachsenen Extremitäten, Mischwesen aus verschiedenen Tieren oder aus Mensch und Tier (Abb. 4). Daß derartige Wesen als reale oder fiktive Erscheinungen unnatürlich, unmenschlich und aufgrund ihres monströsen Aussehens nicht nur fremdartig, sondern auch unheimlich, wild und fürchterlich wirkten, liegt auf der Hand. Deshalb steht das deutsche Wort »Ungeheuer« für das, was Schutz, Sicherheit, Vertrautheit vermissen läßt, als Synonym Abb. 5 <?page no="26"?> Dämonen, Monster, Fabelwesen 25 für Monster, das aus der Sicht des Schutzlosen und Schwachen widerwärtig, gräßlich, entsetzlich, grauenvoll und furchterregend ist (Abb. 5). Ein Geschöpf, das auf solche Weise Abscheu erregt, ist deshalb auch ein schreckeneinjagendes Scheusal; ein Begriff, der von »Scheuche« im Sinne von Schreckbild abgeleitet ist. Wesen, Erscheinungsweise und Funktion Solche Sichtweise identifiziert dann natürlich auch Eigenschaften und Verhaltensweisen von Monstern in diesem negativen Sinn als feindselig, bösartig, widerwärtig, ungestüm, gierig, schändlich und abscheulich. Monster verschlingen gerne fremde Kinder, schieben ihre eigenen unförmigen, häßlichen als Wechselbälger den Wöchnerinnen unter, sodaß eine Familienplage daraus wird. Eine rühmliche Ausnahme unter den Monstern ist Bardewitt, der fünfköpfige wendische Gott des Friedens, des Handels und der fünf Sinne. Die Dämonisierung der Monster warf auch praktische Fragen des Glaubensvollzugs auf. Die Unterscheidung von beseelten und unbeseelten Monstern war für die Taufpraxis beispielsweise entscheidend. Nach Konrad von Megenberg (Buch der Natur, vor 1350) waren jene Monster seelenlos, die durch kosmische Einflüsse gezeugt und mit einem Viehhaupt geboren worden waren. Diese sollten nicht getauft werden. Auch für Petrus de Abano (Conciliator differentiarum philosophorum medicorum, um 1310) war die Kopfform eines Lebewesens ausschlaggebend für die Einstufung als Mensch und damit für die Taufe. Entstehung und Verbreitung von natürlichen Monstern Vergleichsweise nüchterne Theorien für die Entstehungen von Monstern waren in der Antike verbreitet und gründeten auf medizinischen Beobachtungen und einleuchtenden Folgerungen. Schläge oder Stöße auf den Leib der Schwangeren, die Enge des Uterus oder Erkrankungen des Unterleibs wurden als Ursachen für Fehlbildungen gehalten. Daneben aber gab es auch magische Auffassungen wie jene, die Träume und Trugbilder einer Schwangern für die ursächlichen Faktoren von Mißgeburten hält: der Anblick oder die Vorstellung von etwas Abscheulichem, Widerwärtigem während der Schwangerschaft könne teratogene Wirkung haben. Ein Aberglaube, der über viele Jahrhunderte lebendig blieb und sich im mittelalterlichen Teufels- und Hexenwahn austobte. Allerdings kennt auch unser Jahrhundert mit der imagologischen Erklärung von Leberflecken und Feuermalen noch derartige volkstümliche Ansichten. Aber Monster entstehen auch durch die Einnahme verbotener und gefährlicher Mittel. Die Wiener Genesis (um 1060/ 80? ) beispielsweise schreibt Pflanzen letztere Wirkung zu: Adam habe seine Töchter vergeblich vor dem Verzehr embryotoxischer Kräuter gewarnt, weswegen die Monster in die Welt gekommen seien. Vielfältig sind die Ansichten über die Entstehung von Monstern durch oder nach dem Zeugungsakt. Hildegard von Bingen war überzeugt, daß Monster die Frucht widernatürlicher Verbindungen seien. Sodomie, Geschlechtsverkehr mit Tieren und Sexualkontakte zu Teufeln und Dämonen galten im Mittelalter und gelten in manchen Aberglauben auch heute noch ganz allgemein als eine der möglichen Ursachen für die Entstehung monströser Geschöpfe. Abartiger Verkehr während der Menstruation sollte Mißbildungen beim Neugeborenen hervorrufen, und die Seitenlage beim Koitus sei für <?page no="27"?> 26 Werner Wunderlich Klumpfuß und Schiefwuchs verantwortlich. Durch die Vereinigung mit Dämonen, Fabelwesen oder Tieren während einer bestimmten Planetenkonstellation sollten ebenfalls diverse Monster wie Hermaphroditen, Albinos oder Kyklopen gezeugt werden. Zwergen- oder Riesenwuchs sei von einer zu geringen oder zu großen Spermamenge abhängig, und Zwitterwie Doppelbildung vermutete man als Folge einer Sameneinnistung in der Scheitelkammer des siebenzelligen Uterus. Für Albertus Magnus waren solche Mißgeburten Störungen in der natürlichen Entwicklung der Individuen, womit er einer der wenigen Gelehrten war, der sich eher auf naturkundliche Beobachtungen denn dämonologische Spekulationen stützte. Indes, nach mittelalterlicher Vorstellung gehörten sie - ebenso wie die Dämonen - zum erklärten Weltplan des Schöpfers. Angesichts der medizinisch-rationalen Unzulänglichkeit solcher Erklärungen und angesichts des erschreckenden Aussehen der Monster lag es nahe, daß reale Monster dämonisiert und daß phantastische Monster vor allem als Fabelwesen eigens zu diesem Zwecke erfunden wurden. Das Vergnügen an Kuriosem und der Glaube an das Wunderbare verband sich mit dem Bedürfnis, in diesen Geschöpfen existentielle Ängste zu veranschaulichen. In bildlicher wie literarischer Darstellung dienten sie deshalb als Gruselwesen und Unholde. In mittelalterlichen Epen sind sie Widersacher von Helden, so wie Kundrie von Parzival oder Ydrogant von Apollonius. Auch die Heraldik kannte abnorme Wappentiere wie den doppelköpfigen Adler (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation) oder den zweischwänzigen Löwen (Böhmen). Vor allem Bildzeugnisse und weniger Textzeugen überliefern uns eine Vielzahl von Monstervorstellungen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dabei bieten illustrierte Flugblätter wie die schon erwähnte Sammlung Wickiana (1560 - 87), Weltchroniken wie Hermann Vincents Liber chronicarum (1495), polyhistorische Weltbeschreibungen wie Sebastian Münsters Cosmographey (1544) und zahlreiche Reisebeschreibungen des Späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit eine Fülle von Anschauungsmaterial für die Sensationslust an Mirakulösem, Exotischem, Mysteriösem. Oft ist der Realitätsgrad nur sehr schwer zu bestimmen, wenn Phantasmagorien wichtigste Anregerinnen für die Illustratoren sind. Da bestimmte Fehlbildungen etwa des Vorderkopfes nicht lebensfähig sind, dürften zyklopische oder rüsselköpfige Mißbildungen bei Erwachsenen ins Reich der Phantasie gehören oder nach Hörensagen entstanden sein. Im 16. Jahrhundert entstand - auch unter dem Einfluß anatomischer Studien wie Andreas Vesalius’ berühmtem Werk De humani corporis fabrica (um 1550) - eine regelrechte Monsterliteratur. Jacob Rueffs Hebammenbuch De conceptu et generatione hominis (1554), Conrad Wolfhardts Wunderbuch Prodigiorum ac ostentorum chronicon (1557) oder Ambroise Parés chirurgisches Werk Des monstres tant terrestres que marins avec leurs portraits (1573), das im übrigen die Vererbung als ursächlichen Faktor annimmt, sind Beispiele illustrierter teratologischer Darstellungen. Diese enthalten neben medizinischen Erklärungen auch dämonologisches und abergläubisches Gedankengut und beeinflußten damit die Schulmeinung der Gelehrten bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Bekanntes Bespiel dafür ist das Werk De monstris (1616) des Philosophen Licetus von Padua, der nach Obduktionsbefunden als Ursachen für die Terata göttliche (supranaturale), satanische (infranaturale) und physische Gründe nannte. Darstellungen wie die des italienischen Arztes Ulisse Aldrovandus, Monstrum historia (1642), und des Jesuiten Caspar Schott, Physica curiosa sive mirabilia naturae et artis (1662), setzten diese Tradition fort. <?page no="28"?> 27 Kurz nach 1560 schuf vermutlich der Florentiner Bartolomeo Ammanati im Auftrag von Vicino Orsini der Park von Bomarzo bei Viterbo als ein »Schauerarkadien«, in dem Architektur und Plastik als verzerrte Wahnvorstellungen und irreale Kuriositäten als künstliche Natur Gestalt und Form angenommen haben (Abb. 6). Die monströse Entstellung der Natur durch überdimensionale Abnormalitäten und hypermanieristische Monumentalität erinnern an die zeichnerischen Monster von Leonardo da Vinci oder Michelangelo und haben surrealistisch-visionären Künstler wie Max Ernst oder Dali immer wieder als Inspiration gedient. Seit den Bauernkriegen und der Reformation hatte sich aus den monströsen Darstellungen auch die Stilrichtung der Karikatur entwickelt, mit der die politischen und konfessionellen Protagonisten und Antagonisten durch groteske Körperverzerrungen oder tierische Attribute monströse Gestalt annahmen, um derart als Scheusal verhöhnt werden zu können. Ein berühmtes Beispiel dafür ist der Papstesel auf weit verbreiteten Flugblättern zur Zeit Luthers und Melanchthons. Diese Zeichen- und Maltechnik, die wir seit den Flugschriften des Vormärz vor allem auch von politische Karikaturen kennen und in den surrealistischen Bildern beispielsweise von Max Ernst, Magritte oder Dali sowie in den skurrilen, an Rabelais’ Gestalten erinnernden Figurenkombinationen aus Körperteilen, geometrischen Figuren oder Zeichenwerkzeugen des polnischen Graphikers Zygmunt Januszewski (Abb. 7 auf der folgenden Seite) entdecken können. Abb. 6 <?page no="29"?> 28 Werner Wunderlich Abb. 7 <?page no="30"?> 29 Fabulöse Monster Eine ganze Reihe von Fabelwesen haben als fiktive Geschöpfe monströse Merkmale, die nach dem Vorbild von Mißbildungen ersonnen waren. Namentlich die Naturalis historia (vor 79 n. Chr., deutsch 1543) von Plinius d. Ä. kennt eine Vielzahl solcher phantastischer Menschen und Tiere, die oft in Äthiopien oder Indien beheimatet sind: Acephalen sind kopflose Menschen, Ambaren Vierfüßler ohne Ohren und Amphisbaena zweiköpfige Schlangen, Antipoden Menschen mit nach rückwärts gekehrten Füßen. Choromandaren sind behaarte Menschen, die nur brüllen können. Auf allen vieren laufen Artabatiten, und die mundlosen Astomen ernähren sich vom Duft. Außerdem erzählt Plinius von Menschen ohne Nase, ohne Zunge, mit vier Augen, verwachsenen Mündern, riesiger Unterlippe und sechsfingrigen Händen, von Frauen mit doppelten Pupillen, vom Volk der schleppbeinigen Himantopoden, vom Volk der Panotier mit überlangen Ohren, vom Volk der Skiapoden mit riesenhafter, schattenspendender Fußsohle, von den skythischen Hippopoden mit Pferdehufen (Abb. 8). Als Menschen mit vorstehenden Eckzähnen beschreibt Isiodor von Sevilla die Kynodoten, und die Epistola Premonis (10./ 11. Jahrhundert) berichtet von kahlköpfigen Frauen mit brustlangen Bärten. In den volkssprachlichen Literaturen kämpfen die Helden mit solchen Monstern in Gestalt von Riesen wie dem Heiden Fierrabras, von Waldmenschen oder von Ungeheuern wie dem gierigen und schrecklich grausamen Grendel, dem Herrscher des Moores. Die Erzählliteratur der Frühen Neuzeit kennt sie vor allem im Zusammenhang mit wundersamen Begebenheiten oder auch als Mißgeburten wie Berta mit den großen Füßen, die Tochter von Flore und Blancheflur. Fabelwesen Begriff und Bedeutung Der Begriff »fabula« bezeichnet in Antike und Mittelalter eine erfundene Geschichte, erzählt im epischen Präteritum, und meint damit auch abwertend die unwahre Erzählung. Für das Mittelalter sind die entwicklungsgeschichtliche Wirklichkeit sowie die naturwissenschaftliche Richtigkeit der fabula bedeutungslos, weil sich Wahrheit allein durch eine Entsprechung zum Heilsgeschehen erweist. Es ist unwichtig, ob das Einhorn real existiert, wenn es dank methodischer Bibelhermeneutik vom Physiologus als typologische Verkörperung Christi ver- Abb. 8 <?page no="31"?> 30 Werner Wunderlich standen wird. Zum biblischen Typus »Herabkunft des Erlösers und Menschwerdung im Schoß der Jungfrau« wird gleichsam als Antitypus in einer quasi-naturkundlichen Geschichte das Einhorn als typologische Inkarnation von Passion und Auferstehung Jesu ersonnen. Die fabula stellt das Einhorn so dar, als ob es eine in der Natur vorgegebene Eigenschaft durch sein Dasein nur auslege. So werden res naturales durch die bibelexegetische Methode der Typologie fiktiv erschaffen und mit Artmerkmalen ausgestattet, die den tatsächlichen res naturales gleichen und von diesen faktisch nicht mehr unterschieden werden. Deshalb auch kennt das Mittelalter auch nicht den Terminus »creatura fabulae«. Das Kompositum »Fabelwesen« fügt ja Begriffe aus den uns heute nur konträr vorkommenden Bedeutungsbereichen des Erfundenen und der Natur zusammen, um Geschöpfe als imaginäre, als nicht-existente Kreaturen zu kennzeichnen. Dieses Verständnis aber wurde erst in der Aufklärung auf den Begriff Fabelwesen gebracht, und zwar weil fiktive Naturerscheinungen empirisch-rational von realen zu unterscheiden begonnen worden waren. Aus dem von Carl von Linné entwickelten Ordnungssystem von Fauna und Flora unseres Planeten waren die Fabelwesen verbannt. Im aufgeklärten Verständnis sind deshalb Fabelwesen real nicht existierende, aber in Antike und Mittelalter für real gehaltene mythische Geschöpfe (Abb. 9), die von den erdichteten und unwahren fabula ausgedacht worden waren und die in Literatur und Kunst sowie in der Volksüberlieferung ein Eigenleben zu führen begonnen hatten. Abb. 9 <?page no="32"?> 31 Wirklichkeit und Wahrheit Dennoch wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Fabelwesen wirklich existierten. Im 16. und 17. Jahrhundert wurde eine heftige und kontroverse gelehrte Debatte geführt, ob es das Einhorn, den Greif oder den Phönix tatsächlich gegeben habe oder noch gebe. Mit dem Aufkommen von Archäologie und Paläontologie gingen Wissenschaftler der Frage nach, ob es in unserer Fauna nicht doch Lebewesen gegeben haben könnten, die später fälschlich für Fabelwesen gehalten wurden oder an die die Fabelwesen erinnerten. Viele Drachenbilder ähneln tatsächlich den Rekonstruktionen von Sauriern und Flugechsen. Indes, zweifelsfreie Beweise hat man bislang nicht gefunden. Bei der Ausgrabung des Ishtar-Tores in Babylon fand der Archäologe Robert Koldeway zu Beginn unseres Jahrhunderts unter den über 500 Tieren, die Nebukadnezar hatte abbilden lassen, eines mit Schlangenkopf, Vordertatzen und Vogelkrallen an den Hinterläufen. Dieser sogenannte Sirrush wurde analog zu den anderen Tieren für existent gehalten und in Zentralafrika vermutet. Aber weder dort noch in Mesopotamien fanden Paläontologen passende Knochen als Beweis. So wenig wie bislang von Nessie, dem Ungeheuer aus dem schottischen Loch Ness, eine einwandfreie Spur, die seine biologische Existenz beweisen könnte, gefunden wurde. Vielleicht gerade wegen dieser scheinbaren Ungewißheit hat beispielsweise auch das Einhorn bis heute nichts von seiner Faszination eingebüßt. Nicht nur, daß es in Literatur, Film und Kunst weiterlebt, sondern es gibt auch immer wieder Anlaß zu naturwissenschaftlichen Studien über seine Natur. Der Pariser Paläontologe Georges Cuvier bewies 1827, daß es Einhörner aus anatomischen Gründen nicht geben könnte. Paarhufer haben ein zweiteiliges Stirnbein, und genau über der Teilung hätte das Horn wachsen müssen, was aber statisch unmöglich ist. Das Horn des Rhinozeros im übigen ist kein echtes Horn, weil es keinen Knochenkern hat. 1933 entfernte Franklin Dove an der University of Maine einem neugeborenen Kalb die beiden Hornknospen und verpflanzte eine von ihnen an die Nahtstelle beider Schädelhälften, so daß tatsächlich ein einziges, gerades Horn wuchs. Daraufhin wollten Ethnologen nicht ausschließen, daß orientalische oder afrikanische Völker diese simple Operationstechnik zu kultischen Zwecken angewandt hatten. Die wichtigsten Nachrichten über Fabelwesen entnehmen wir enzyklopädischen, kosmographischen, geographischen, chronikalischen, naturkundlichen Werken, Reiseberichten und Weltkarten sowie Epen, Sagen und Märchen. Meist stellte man sich die Fabelwesen in exotischen Ländern voller Wunder und Magie wie Indien, Äthiopien, Libyen oder Skythien vor. Wir haben uns in unserer Lebenswelt an die Fabelwesen als Sternzeichen und als Haustiere längst gewöhnt: vollbusige Sphinxe stemmen Tischplatten, Drachen flankieren Kamine, Nixen halten Spiegel und Einhörner galoppieren auf Krawatten. Entstehung, Erscheinungsweise und Verbreitung Viele Fabelwesen sind antiken Ursprungs. Aus mythologischen Vorstellungen Griechenlands und des Orients schöpften die Berichte des Seefahrers Skylax im 6. Jahrhundert, des Historiographen Ktesias im 5. Jahrhundert oder des Ethnographen Megasthenes um etwa 300 v. Chr. über fremdartige Völker und Tiere Indiens. Über die Naturalis historia (vor 79 n. Chr.) von Plinius d. Ä. und die Collectanea rerum memorabilium (um 250 n. Chr.) <?page no="33"?> 32 Werner Wunderlich des Cajus Julius Solinus wurden diese Erzählungen dem Mittelalter bekannt. Der wichtigste Vermittler antiker Fabelwesen ist eine im 2. Jahrhundert vielleicht in Alexandria ursprünglich in Griechisch verfaßte Beschreibung und allegorische Deutung wunderbarer Tiere, Pflanzen und Steine, die in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts ins Lateinische übersetzt wurde. Unter dem Namen »Physiologus« (der Naturkundige) - zunächst auf Aristoteles gemünzt - war sie verbreitet, ehe sie seit dem 11./ 12. Jahrhundert auch in mehrere Volkssprachen übersetzt wurde. Nach dem Vorbild des Physiologus entstanden die Bestiarien, illustrierte Bücher, die Tiere und Fabelwesen unterscheidungslos auflisten. Sie verbinden eine allgemeine pseudonaturkundliche Beschreibung mit einer heilsgeschichtlichen Auslegung der den Kreaturen angedichteten Eigenschaften und Verhaltensweisen. Auf Augustins Erörterung in der Civitas dei (413/ 26), ob die Monster von Adams oder Noahs Geschlecht abstammten, beruhen die Bestiarien De monstris et bellius und Liber monstrorum de diversis generibus (6./ 7. Jahrhundert), wo Sirenen, Hippokentauren, Kyklopen, Zwitterwesen und andere monströse Fabelwesen behandelt werden. Der Überlieferer des Ktesias, Photios, Patriarch von Konstantinopel und bedeutender Vertreter der sogenannten byzantinischen Renaissance, erzählt im 9. Jahrhundert von Pygmäen, Schattenfüßlern, Hundsköpfigen, langschwänzigen Menschen, vom Manticora mit Menschengesicht, Löwenrumpf und Skorpionschwanz, vom Einhorn und vom Greifen. Der Katalog der hier überlieferten Fabelwesen wurde im Laufe des Mittelalters durch eine Gruppe untereinander verwandter Texte wie die Epistola Premonis Regis ad Trajanum Imperatorem (10./ 11. Jahrhundert), die Marvels of the East (11. bis 13. Jahrhundert) oder den Liber monstrorum (14. bis 16. Jahrhundert) erweitert. Auf antiker Alexanderliteratur einerseits, auf naturwissenschaftlichen Werken der lateinischen Spätantike andererseits beruhen vor allem die Ausführungen der Enzyklopädisten über Fabelwesen. In seinen Etymologiae behandelt Isidor von Sevilla (7. Jahrhundert) ebenso wie Hrabanus Maurus in seiner De rerum naturalis (um 850) menschliche und tierische Fabelwesen. Eine Trennung, die auch Thomas von Cantimprensis im Liber de natura rerum (um 1250) als »de monstruosis hominibus« (über menschliche Monster) und »de animalibus quadrupedibus« (über Vierbeiner) vornimmt und die in den volkssprachlichen Bearbeitungen Jacobs van Maerlant (1267) und Konrads von Megenburg (um 1350) übernommen wird. Auch De bestiis et aliis rebus (12. Jahrhundert) des Pseudo- Hugos von St. Victor, Gervasius von Tilbury in Otia imperalia (1209/ 14), De animalibus (nach 1250) von Albertus Magnus oder der Speculum naturale (um 1256/ 59) des Vincent de Beauvais führen Fabeltiere und menschliche Fabelrassen auf, während das fälschlicherweise Hugos von Folieto zugeschriebene De bestiis et aliis rebus (um 1150) und Alexander Neckhams De naturis rerum (um 1200/ 10) nur tierische Fabelwesen berücksichtigen. Geographische Handbücher und Erdbeschreibungen wie Imago mundi (um 1100) von Honorius Augustodunensis, Liber floridus (nach 1100) von Lambert de St-Omer, Apologia (um 1180) von Guido de Bazochis, De rerum proprietatibus (nach 1235) von Bartholomäus Anglicus, Image du monde (1246) von Gossouin de Metz, Li livres dou trésor (1260 - 66) von Brunetto Latini, Imago mundi (1410) von Petrus de Alliaco, Mirour of the World (um 1480) von William Caxton, Cosmographey (1544) von Sebastian Münster oder De principiis astronomiae et cosmographiae (1530) des Löwener Arztes und Kartographen Rainerus Gemma Frisius erwähnen Fabelwesen. Kosmologische Literatur des Elucidarius und Prodigiensammlungen widmen sich ebenfalls Fabeltieren und Fabelmenschen. Noch zu Beginn der Neuzeit befaßten sich selbst zoologische Werke von Edward Wotton, <?page no="34"?> 33 Conrad Gesner oder Ulysses Aldrovandi und sogar medizinische Bücher über Mißbildungen von Conradt Wolfhardt, gen. Lycosthenes, von Heinrich Kornmann oder von Gasparius Schott mit anthropomorphen Fabelwesen. Weltchroniken wie jene Rudolfs von Ems (um 1250/ 54), wie Filippo Forestis Supplementum Chronicarum (1483), Hartmann Schedels Buch der Chroniken (1493) oder Sebastian Francks Chronica (1531) glauben, die Fabelrassen seien nach der Zerstreuung der Menschheit über die Erdteile entstanden. Zahlreiche mittelalterliche Weltkarten wie die berühmten mappae mundi von Ebstorf und Hereford, die Carta Marina (1530) des Lorenz Fries und auch Martin Behaims Globus von 1491 zeigen einige Fabelwesen. Reiseberichte vermischen authentische Erlebnisse und Beobachtungen mit Überliefertem, Hörensagen und phantastischen Ausschmückungen. In Marco Polos Aufzeichnungen, in den franziskanischen Berichten der Giovanni di Pian del Carpine, Benedikt von Polen und Odoricus de Pordenone aus dem 13. und 14. Jahrhundert vom mongolischen Hof, im Bericht Fraters Jordanus über seine Indienreise, in dem fingierten Reisebericht De mirabilibus Jeans de Mandeville (um 1350) sowie im Livre nomme les merveilles du monde (1475 - 76) fallen immer wieder Bemerkungen über Fabelwesen. Auch in Erzählwerken wie den Gesta Romanorum (um 1280? ), in den Artusepen, den Alexanderromanen, der Heldendichtung um Dietrich von Bern, Ritterepen wie Herzog Ernst (um 1160/ 70? ) und in zahlreichen frühneuhochdeutschen Prosaromanen oder in der Emblematik spielen Fabelwesen in Gestalt von Drachen, Meeresungeheuern oder Waldmenschen eine wichtige Rolle. Oft sind auf sie menschliche Fähigkeiten wie Sprache und Denken und Eigenschaften wie Tugenden und Laster übertragen. Neben den Darstellungen der Buchillustrationen sind Fabelwesen in fast allen Kunstbereichen verbreitet: Malerei, Tapisserie, Bauskulptur, Mosaik, Möbel, Aquamile, Fresken, Heraldik usw. Zu rein dekorativen Zwecken verwenden auch Drôlerien, Grillen und Grotesken Elemente von phantastischen Fabelwesen, ohne ihnen eine sinnhafte Bedeutung geben zu wollen. Den Variations- und Kombinationsmöglichkeiten von menschlichen und tierischen Mischwesen sind hier kaum Grenzen gesetzt. Vogelmenschen und Meermenschen, Bauchgesichter und Schlangenfüßler, Skorpionmenschen und Schildkrötenmenschen, Baummenschen und Hirschköpfige, drachenfüßige und mehrköpfige Riesen, Mannweiber und borstige Riesenfrauen mit Eberzähnen und Stierschwänzen, Seepferdchen und Elephantenfische, Schlangenhalslöwen und Ameisentiger, Vögel mit Eisenkrallen oder Eisenschnäbeln, geflügelte Steinböcke und Schlangenvögel tummeln sich beispielsweise auf den Holzschnitten in den Ausgaben von François Rabelais’ Romanzyklus Gargantua et Pantagruel (1532 - 64, deutsch 1575), wo im Speichel des Vielfraßes Eusthenes eine Vielzahl von Fabelwesen von Amphisbäen bis zu den Zekken hausen. Eine Sehenswürdigkeit sind heute noch jene Fabelwesen auf den 153 Holztafeln der romanischen Bilderdecke (1. Hälfte des 12. Jahrhunderts) der Kirche St. Martin im rätomanischen Zillis an der Via Mala in Graubünden. Der österreichische Schriftsteller und Literaturkritiker Franz Blei bediente sich zu satirischen Zwecken der Darstellung- und Illustrationsweise des mittelalterlichen Bestiariums für seine 1920 unter dem Pseudonym Dr. Peregrinus Steinhövel erschienene Sammlung Bestiarum literaricum. Darin sind karikierende Porträts zeitgenössischer Dichter enthalten, die witzig und spöttisch literarische und persönliche Charakteristika der Betroffenen aufs Korn nehmen. <?page no="35"?> 34 Werner Wunderlich Symbolik und Magie Eine umfassende und eindeutige Sinngebung für all diese Phantasiewesen läßt sich wohl kaum finden. Wir können aber über alle Kulturgrenzen und über Generationen hinweg immer gleichbleibende Funktionen der imanginären Kreaturen feststellen. In Fabelwesen drückt sich die Suche des Menschen nach einer durchschaubaren Ordnung von Welt, nach Begründung übernatürlicher Erscheinungen, nach Möglichkeiten der Erklärung und des Umgangs mit dem Unbekannten und Fremden, der stete Wunsch nach Erweiterung des physischen und kognitiven Erfahrungshorizonts, das Bedürfnis nach existentieller Sicherheit durch Kontakt und Bündnis mit göttlichen und übernatürlichen Mächten aus. Und gewiß spielt auch die Lust am Spiel mit der fiktiven Aufhebung von Naturgesetzen, mit der Absurdität, mit Normverstößen, mit den wundersamen Möglichkeiten der Verkehrten Welt eine kreative Rolle. Phantastische Literatur, Fantasy-Spiele, Kinderbücher, Comics und Filme schicken immer wieder alte und neue Fabelwesen aus den Welten der Einbildungskraft zu ihrem Publikum, um dieses auf unterhaltsame Weise den Spaß an Rollenwechseln, das Vergnügen an der Überwindung von Realitätszwängen oder auch den Schauer vor greulichen Begegnungen erleben zu lassen. Ihre magischen Fähigkeiten, ihre gewaltigen Kräfte oder ihr furchteinflößendes Äußeres machen Fabelwesen zu Wächtern von Grenzen, Hütern von heiligen Jenseitsstätten und zu Wärter der Schranken zwischen Leben und Tod. Der Kerberus mit den drei Hundsköpfen beispielsweise bewacht den Hades, die Sphinx die ägyptischen Nekropolen. Fabelwesen sind auch ein Mittel, um ein duales Weltbild oder die Doppelnatur von Menschen zu versinnbildlichen. Das Verhältnis dieser Fabelwesen zum Menschen ist grundsätzlich vom ethischen Prinzip, das sie verkörpern, abhängig. Gilt ein Fabelwesen wie der Drache als Symbol für das Naturgesetz des Bösen, übernimmt es die Funktion, als Gegner dem Helden im Kampf um das Gute zu unterliegen. Beispiele dafür sind etwa der Kampf zwischen Herakles und der Hydra, zwischen Bellerophon und der Chimäre, zwischen Sigurd und Fafnir oder zwischen St. Georg und dem Drachen. Der Sieg und die Macht über Fabelwesen beweisen die Stärke des Helden und erhöhen dessen Status. Einmal vom Helden besiegt, wurden manche Fabelwesen wie der Greif Embleme der Kühnheit und Stärke und vom Helden oder von einer Tugend bzw. von einem christlichen Prinzip in allegorischer Gestalt in Dienst genommen. So zieht in Dantes Purgatorio, dem zweiten Teil der Divina comedia (1318), ein Greif den Triumphwagen des Himmlischen Jerusalem. Auf den Schilden der Helden prangten solche Fabelwesen, deren Stärke und Zauber auf den Helden übergehen sollen, um die Feinde in magischen Bann zu schlagen und zu besiegen. Agamemnon hatte beispielsweise auf seinem Schild das Gorgonenhaupt und eine blaue Schlange. Auch Feldzeichen wie Standarten und Banner trugen Fabelwesen. Besonders beliebt waren Drachen oder natürliche Tiere, die in biblischer Überlieferung oder in der Fabeltradition Kraft und Stärke, Mut und Tapferkeit, Macht und Herrschaft verkörperten wie Löwe, Adler, Falke, Eber, Hirsch, Stier oder Hengst, die auf diese Weise mythisiert wurden. Seit dem 14. Jahrundert finden wir Fabelwesen wie das Einhorn, die Nixe oder den Löwenadler als Beschützer und Erkennungszeichen auch auf Wappen und - wie beispielsweise im englischen Königswappen das Einhorn - als seitlichen Schildhalter. Heute noch werden Fabelwesen von Apotheken, Banken, Versicherungen, Parteien, Verbänden und Vereinen als Symbole und Imageträger verwendet, um mit ihrer Hilfe Vertrauenswürdigkeit auszustrahlen. Aus lokalen Neckbräuchen entste- <?page no="36"?> 35 hen immer wieder mal neue Fabelwesen wie der bayrische Wolpertinger, eine kuriose Mischung aus Hase, Hirsch, Ente oder anderem Wild, mit dem Jägerlatein oder Bauernscherze Ortsfremde foppen. Dämonen, Monster, Fabelwesen - all diese imaginären Geschöpfe machen die Grenzen zwischen den phantastischen und den wirklichen Arten deutlich, und sie sind zugleich ein Ausdruck menschlichen Urstrebens nach göttlicher Schöpferkraft und lebendigem Zeugungswillen. Bibliographische Hinweise Robinson, M. W.: Fictious Beasts. A Bibliography. London 1961 * Aranda, Maria; Vich-Campos, Maryse: Des monstres. Actes du colloque de mai 1993 à Fontenay aux Roses. Fontenay-St. Cloud 1994. Ashton, John: Curious Creatures in Zoology. London 1890. Baltrusaitisl, Jurgis: Das phantastische Mittelalter. Antike und exotische Elemente der Kunst der Gotik. Frankfurt a.M. 1985. Barber, Richard W.; Riches, Anne: A Dictionary of Fabulous Beasts. London 1971. Beth, Karl: Dämonen. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns Bächtold- Stäubli unter Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer mit einem Vorwort von Christoph Daxelmüller, Bd. 2. Unveränd. photomech. Nachdr. Berlin, New York 1987, Sp. 140-168. Berger de Yivrey, J.: Traditions tératologiques ou récits de l´Antiquité et du moyen âge en occident sur quelques point de la fable, du merveilleuy e de l´histoire naturelle. Paris 1836. Bernheimer, Richard: Wild Men in the Middle Ages. A Study in Art, Sentiment and Demonology. Cambridge, Mass. 1952. Biedermann, Hans: Dämonen, Geister, dunkle Götter. Lexikon der furchterregenden mythischen Gestalten. Graz, Stuttgart 1989. Bischof, Norbert: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschafften. München [1996]. Borges, Jorge Luis: Einhorn, Sphinx und Salamander. Das Buch der imaginären Wesen. Frankfurt a.M. 1993 (Jorge Luis Borges Werke in 20 Bänden, Bd. 8; Fischer Taschenbuch 10584). Borsje, Jacqueline: From Chaos to Enemy. Encounters with Monsters in early Irish Texts. An Investigation related to the process of Christianization and the Concept of Evil. Steenbrugis 1996 (Instrumenta patristica, Bd. 29). Brückner, Annemarie: Quellenkritik zu Konrad von Megenberg: Thomas Cantipratanus De animalibus quadrupedibus als Vorlage im Buch der Natur . Phil. Diss. Frankfurt a.M. 1961. Clébert, Jean-Paule: Bestiare fabuleux. Paris 1971. Clark, Willene B. (Hrsg.): Beasts and Birds of the Middle Ages. The Bestiary and its Legacy. Philadelphia 1990 (Middle Ages Series). Dacqué, Edgar: Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie. 9., unveränd. Aufl. München 1941. Engemann, J(osef); Filip, V(áclav): Fabelwesen. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4. Zürich, München 1989, Sp. 208 - 211. Cherry, John (Hrsg.): Fabeltiere. Von Drachen, Einhörnern und anderen mythischen Wesen. Stuttgart 1997. <?page no="37"?> 36 Werner Wunderlich Fabeltiere. Die geheimnisvolle Welt der Mythen und Sagen. Hrsg. von der Time Life Redaktion. Augsburg 1995. Farkas, Ann E. (Hrsg.): Monsters and Demons in the Ancient and Medieval Worlds. Papers presented in Honor of Edith Porada. Mainz 1987 (The Franklin Jasper Walls Lectures, Bd. 10). Fischer, Helmut: Gespenst. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich [u.a.], Bd. 5. Berlin, New York 1987, Sp. 1187 - 1194. Flores, Nona C. (Hrsg.): Animals in the Middle Ages. A Book of Essays. New York [u.a.] 1996 (Garland medieval casebooks, Bd. 13). Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. 8. Aufl. Frankfurt a.M. 1990 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 96). George, Wilma; Yapp, William B.: The Naming of the Beasts. Natural History in the Medieval Bestiary. London 1991. Gerhardt, Christoph: Gab es im Mittelalter Fabelwesen? In: Wirkendes Wort 38 (1988), H. 2, S. 156 - 171. Gould, Charles: Mythical Monsters. London 1886. Harf-Lancner, Laurence: Métamorphose et Bestiaire fantastique au Mogen Age. Paris 1985. Harms, Wolfgang; Reinitzer, Heimo (Hrsg.): Natura Loquax. Naturkunde und allegorische Naturdeutung vom Mittelalter bis zur frühen Neuzeit. Frankfurt a.M., Bern 1981 (Mikrokosmos, Bd. 7). Hassig, Debra: Medieval Bestiaries. Text, Image, Ideology. Cambridge [u.a.] 1995 (RES Monographs on Anthropology and Aesthetics). Haussig, Hans Wilhelm (Hrsg.): Götter und Mythen im alten Europa. Suttgart 1973 (Wörterbuch der Mythologie, Bd. 2). Headon, Deirde: Mythical Beasts. London 1981 (The Leprechaun Library). Henkel, Nikolaus: Studien zum Physiologus im Mittelalter. Tübingen 1976 (Hermae, N.F. Bd. 38). Hicks, Carola: Animals in Early Medieval Art. Edinburgh 1993. Hopf, Andreas und Angela: Fabelwesen. München 1980. Holländer, Eugen: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblattdrucken des 15. bis 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1921. Holms, Urban Tiger: The Monster in Medieval Literature. In: Robert T. Cargo, Emanuel J. Mickel (Hrsg.): Studies in Honor of Alfred G. Engstrom. Chapel Hill 1972 (Studies in the Romance Languages and Literatures, Bd. 124), S. 53 - 62. Kappler, Claude: Monstres, Démons et Merveilles à la Fin du Moyen Age. Paris 1980 (Le Regard de l’ Histoire). Kastner, Jörg: Mundus mirabilis fictus. Phantasie und Wirklichkeit in der Welt der Fabelwesen. Passau 1994 (Staatliche Bibliothek Passau). Klingender, Francis D.: Animals in Art and Thought to the End of the Middle Ages. London 1971. Kretzenbacher, Leopold: Kynokephale Dämonen südosteuropäischer Volksdichtung. Vergleichende Studien zu Mythen, Sagen, Maskenbräuchen um Kynokephaloi, Werwölfe und südslawische Pesoglavci. München 1968 (Beiträge zur Kenntnis Südosteuropas und des Nahen Orients, Bd. 5). Lecouteux, Claude: Les monstres dans la litterature Allemande du Moyen Age, 3 Bde. Göppingen 1982 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 330). Lecouteux, Claude: Le Géant allemand au Moyen Age: Typologie et Mythologie. In: Les Géants processionnels en Europe. Ath 1983. Lecouteux, Claude: Fantômes et Revenants au Moyen Age. Paris 1986. Lecouteux, Claude: Mara - Ephialtes - Incubus: Le Cauchemar chez le Peuples germaniques. In: Etudes Germaniques 42 (1987), S. 1 - 24. Lecouteux, Claude: Les Nains et les Elfes au Moyen Age. Paris 1988. <?page no="38"?> 37 Lecouteux, Claude: Petit Dictionnaire de Mythologie Allemande. Paris 1991. Lecouteux, Claude: Les monstres dans la pensée médiévale européenne. Essai de présentation. 2. Aufl. Paris 1995 (Cultures et civilisations médiévales, Bd. 10). Le Goff, Jacques: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart 1990. Lippert, Julius: Christentum, Volksglaube und Volksbrauch. Geschichtliche Entwicklung ihres Vorstellungsinhaltes. Berlin 1882. Lloyd-Jones, Hugh; Quinton, Marcell: Mythical Beasts. London 1980. Lurker, Manfred: Lexikon der Götter und Dämonen. Namen, Funktionen, Symbole, Attribute. 2., erw. Aufl. Stuttgart 1989 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 463). Matuschka, Michael Graf von: Monstren. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6. München, Zürich 1993, Sp. 772f. Michel, Paul: Formosa Deformitas. Bewältigungsformen des Hässlichen in mittelalterlicher Literatur. Bonn 1976. Michel, Paul: Tiere als Symbol und Ornament. Wiesbaden 1979. Mode, Heinz: Fabeltiere und Dämonen in der Kunst. Die fantastische Welt der Mischwesen. Stuttgart [u.a.] 1983. Mundus mirabilis fictus. Phantasie und Wirklichkeit in der Welt der Fabelwesen. Hrsg. von Jörg Kastner. Passau 1994. Nischik, Traude-Marie: Das volkssprachliche Naturbuch im späten Mittelalter. Sachkunde und Dinginterpretation bei Jacob von Maerlant und Konrad von Megenberg. Tübingen 1986 (Hermaea, N.F. Bd. 48). O’Flaherty, Wendy Doniger: Women, Androgynes, and other mythical Beasts. Chicago 1980. Petzoldt, Leander: Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister. München 1990 (Beck´sche Reihe, Bd. 427). Petzoldt, Leander (Hrsg.): Der Dämon und sein Bild. Berichte und Referate des 3. und 4. Symposions zur Volkserzählung, Brunnenburg/ Südtirol 1986/ 87. Frankfurt a.M. 1989 (Beiträge zur Europäischen Ethnologie und Folklore, Reihe B, Tagungsberichte und Materialien, Bd. 2). Praz, Mario: Phantastisches Mittelalter. In: Ders.: Der Garten der Erinnerung. Essays 1922 - 1980, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1994, S. 35 - 41. Riedl-Dorn, Christa: Wissenschaft und Fabelwesen. Ein kritischer Versuch über Conrad Gessner und Ulisse Aldrovandi. Mit einem Beitrag von Helmuth Grössing. Wien, Köln 1989 (Perspektiven der Wissenschaftsgeschichte, Bd. 6). Rowland, Beryl.: Animals with Human Faces. London 1974. Röhrig, Lutz: Dämon. In: Enyzklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke [u.a.], Bd. 3. Berlin, New York 1981, Sp. 223 - 237. Röhrig, Lutz: Geist, Geister. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 5. Hrsg. von Rolf Wilhelm Brednich [u.a.]. Berlin, New York 1987. Sand, A(lexander) [u.a.]: Dämonen, Dämonologie. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3. München, Zürich 1986, Sp. 476 - 487. Scheibelreiter, Georg: Tiernamen und Wappenwesen. 2., erg. Aufl. Wiesbade [u.a.] 1992 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 24). Schiffler, B.: Die Typologie der Kreaturen. Frankfurt a.M. 1976. Schöpf, Hans: Fabeltiere. Graz 1988. Schumacher, Gert-Horst: Monster und Dämonen. Unfälle der Natur. Eine Kulturgeschichte. Berlin 1993. Simek, Rudolf: Erde und Kosmos im Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus. München 1992. Solé, Jacques: Christliche Mythen. Von der Renaissance bis zur Aufklärung. Frankfurt, Berlin, Wien 1982 (Ullstein-Buch 35155). <?page no="39"?> 38 Werner Wunderlich South, Malcom (Hrsg.): Mythical and Fabulous Creatures. A Source Book and Research Guide. Westport 1987. Streicher, Sonnfried: Fabelwesen des Meeres. Frankfurt a.M. 1984 (Kolibri). Stietencron, Heinrich von: Dämonen und Gegengötter. Antagonistische und antinomische Strukturen in der Götterwelt. Freiburg i.B., München 1984 (Saeculum, Bd. 34, H. 3/ 4 1984. Toorn, Karel van der: Dictionary of Deities and Demons in the Bible. Leiden [u.a.] 1995. Unterkircher, Franz: Tiere, Glaube, Aberglaube. Die schönsten Miniaturen aus dem Bestiarium. Graz 1986. Volborth, Carl-Alexander von: Fabelwesen in der Heraldik in Familien- und Städtewappen. Stuttgart, Zürich 1996. Walter, Philippe: Mythologie Chretienne. Rites et Mythes du Moyen Age. Paris 1992. Weigert, Hans: Dämonen. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Bd. 6. München 1973, Sp. 1015 - 1027. Williams, David: Deformed Discourse. The Function of the Monster in Medieval Thought and Literature. Exeter 1996. Wittkower, Rudolf: Die Wunder des Ostens. Ein Beitrag zur Geschichte der Ungeheuer. In. Ders.: Allegorie und Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1984 (Du Mont-Taschenbücher, Bd. 142), 87 - 150, 364 - 384. Wolff, Uwe: Der gefallene Engel. Von den Dämonen des Lebens. Freiburg i.B., Basel, Wein 1995. Zajadacz-Hastenrath, Salome: Fabelwesen. In: Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte. Stuttgart 1954, Bd. 3, Sp. 739 - 815. <?page no="40"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters Leander Petzoldt (Innsbruck) Der alemannische Naturforscher Theophrastus von Hohenheim, genannt Paracelsus schreibt in seinem 1566 posthum erschienenen Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus, also in seinem Büchlein über die Nymphen, Sylphen, Pygmäen, Salamander und die übrigen Elementargeister, ein jeglicher Mensch habe die Erkenntnis seiner selbst, aber im Menschen sei auch ein Licht, »ausserthalb dem Liecht so in der Natur geboren ist: Dasselbig ist das Liecht dordurch der Mensch übernatürlich dinge erfart, lehrnt und ergründt«. Er unterscheidet zwischen dem »Liecht der Natur«, der irdischen Weisheit und dem »Liecht des Menschen, das über das Liecht der Natur ist« und er fährt fort, »Die im Liecht der Natur suchen, die reden von der Natur, die im Liecht des Menschen suchen, die reden über die Natur«. Da der Mensch Anteil an der Natur hat, ist er Natur, aber »er ist auch ein Geist« und darüberhinaus hat er nach Paracelsus sogar Anteil an der Natur der Engel. Durch den Geist steht er zugleich über der Natur und vermag sie zu ergründen. Die Aufgabe des Menschen sei es, die Natur und ihre Geschöpfe zu erkennen und zu beschreiben, welche Wunderwerke Gott geschaffen habe. Getreu dem Auftrag der Bibel schreibt er in einem heute nicht mehr nachvollziehbaren Wissenschaftsoptimismus: »Denn nichts ist beschaffen, das nit dem Menschen zu ergründen sey.« 1 In seinem Büchlein stellt sich Paracelsus die Aufgabe »die Geschöff ausserthalb des Liechts der Natur« zu beschreiben; für ihn sind alle diese Dämonen und Geister von unbezweifelbarer Realität, er bezeichnet die Elementargeister sogar als »Geistmenschen« 2 , wie wohl sie nicht aus Adam geboren sind. Sie sind sozusagen von menschlicher Natur, besitzen aber keine Seele: »Also sind sie Menschen vnd Leuth, sterben mit dem Viech, wandeln mit den Geistern, essen und trinken mit den Menschen [...] Ihr Wohnung sind viererley, das ist nach den Vier Elementen. Eine im Wasser, eine in Lufft, Ein in der Erden, Eine im Feuer. Die im Wasser sind Nymphen, die im Lufft sind Sylphen, die in der Erden sind Pygmaei, die im Feuer Salamandrae.« 3 Was Paracelsus hier von den Elementargeistern schreibt, kennzeichnet den Endstand einer Entwicklung der Dämonenvorstellung, die ihre Wurzeln in der griechischen Naturphilosophie und im Neuplatonismus hat und, dies sei vorweg betont, die sich als Ergebnis vorwissenschaftlicher Spekulation bezeichnen läßt, einer Gelehrtenkultur, die im wesentlichen neben und außerhalb der Volkskultur anzusiedeln ist. 1 Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus), Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus, Theophrastus Paracelsus Werke, ed. Will-Erich Peuckert, 5 vols., Darmstadt 1967, Bd. 3, Philiosophische Schriften, »Prologus«, S. 462 - 463. 2 Ebda., S. 468. 3 Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus), »Tractatus II«, S. 470 - 471. <?page no="41"?> 40 Leander Petzoldt Abb. 1: Ein (wahrscheinlich authentisches) Porträt von Paracelsus. In der Hand hält er eine Parierstange. Das Blatt zeigt weiterhin zwei kabbalistische Tafeln sowie mehrere Bibelsprüche und ein lateinisches und griechisches Gedicht. In der Mitte ist sein Grab abgebildet, unten sein Wappen mit drei Kugeln. (Flugblatt wohl vor 1606 entstanden). <?page no="42"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 41 Es gibt wohl kein Volk, das nicht übernatürliche Wesen kennt, mit denen es seine Umwelt bevölkert und deren Funktion letztlich darin besteht, die unerklärlichen Dinge im menschlichen Leben zu erklären. Die griechischen Philosophen versuchten, diese Vorstellungen in ein System zu fassen, indem sie zwischen den Göttern und den Menschen die »Daimones« ansiedelten und die Rangfolge: Gott, Dämon, (Heros), Mensch entwickelten. Die Grundbedeutung des Wortes »Daimon« im Griechischen weist auf den Begriff des Teilens, Zuteilens hin; dies bezieht sich auf das Schicksal, das bei der Geburt jedem Menschen zugeteilt wird. Dämonen sind also übernatürliche Wesen, Geister, auch Schutzgeister und Begleiter des Menschen, und sie nehmen, wie die Rangfolge zeigt, eine Mittel- (oder Mittler-)stellung zwischen Gott und den Menschen ein. 4 Der griechische Schriftsteller Plutarch, der im ersten nachchristlichen Jahrhundert lebte, bemerkte daher ganz richtig: »Diejenigen, die entdeckt haben, daß ein Geschlecht von Dämonen zwischen Menschen und Göttern in der Mitte steht und beide untereinander verbindet, haben mehr und größere Schwierigkeiten gelöst, als Platon durch seine Theorie von der Materie.« 5 In dieser Erkenntnis zeigt sich die Einsicht in das Wesen und die Funktion der Dämonen. Der Glaube an Dämonen trägt zum Verständnis dieser Welt bei, er erklärt die Welt und macht menschliche Erfahrungen verstehbar. In diesem Sinne bezeichnet etwa Sigmund Freud die ›Erfindung‹ der Geister und Dämonen als die erste theoretische Leistung des Menschen. 6 Die Dämonen stehen in mehr oder weniger enger Verbindung mit den Menschen und sind in ihrer ursprünglichen Bedeutung neutrale Wesen oder unpersönliche Kräfte. In diesem Sinne sind Engel zunächst Dämonen. Engel als Vermittler zwischen Gott und den Menschen kannte bereits das frühe Judentum. Ursprünglich wohl im vorislamischen 4 Cf. Ruth Petzoldt u. Paul Neubauer, Demons. Mediators between this World and the other. Frankfurt/ M., New York, Paris 1998, passim. 5 Plutarch, Über Gott und Vorsehung, Dämonen und Weissagung, übers. v. Konrat Ziegler, Zürich 1952, S. 84. 6 Cf. Sigmund Freud, »35. Vorlesung: Über eine Weltanschauung«, in: Vorlesungen zur Einführung in die Psycholanalyse: Und neue Folge, eds. Alexander Mitscherlich et. al., Frankfurt 1969, S. 586-608, hier S. 592. Abb. 2: Zwei tetramorphe Engel mit Menschen- und Vogelköpfen, aus dem »Hortus deliciarum der Herrad von Landsberg« (12. Jh.). <?page no="43"?> 42 Leander Petzoldt Iran entstanden, hat der Islam die Vorstellung weiterentwickelt und das System der Engel als eigenständige dämonische Wesen (Todes-, Straf-, Würge-Engel) ausgebaut. Das griech./ lat. angelos entspricht dem hebräisch/ arab. mal’ak in der Bedeutung »Bote«, »Gesandter«. Im islamischen wie im christlichen Glauben hat der Mensch zwei Schutzengel, die ihn vor Unglück bewahren sollen. Engel sind Mitglieder der himmlischen Hierarchie; das Alte Testament kennt verschiedene Arten von Engeln, die an der Grenze zwischen (anthropomorphen) Dämonen und ätherischen Geistern stehen: Die Cherubim, geflügelte Mischwesen zwischen Mensch und Tier sowie die Seraphim, die sechs Flügel besitzen; ihr Name weist auf einen Schlangendämon hin. Es gibt zudem Engel, die den Elementen Wind, Feuer, Wasser zugeordnet sind. So heißt es bei Agrippa von Nettesheim: »Vier Engelfürsten sind über die vier Winde und die vier Theile der Welt gesetzt, und zwar Michael über den Ostwind, Raphael über den Westwind, Gabriel über den Nordwind, Nariel, der von Anderen auch Uriel genannt wird, über den Südwind. Auch die Elemente haben ihre Beherrscher: über die Luft herrscht Cherub; über das Wasser Tharsis; über die Erde Ariel; über das Feuer Seraph, oder nach Philo Nathaniel.« 7 Was die Wesensbestimmung der Dämonen, wie sie uns im Volksglauben der abendländischen Völker entgegentreten, so schwierig gestaltet, ist die Unbestimmtheit und Flüchtigkeit ihres Wesens, der Wandlungsreichtum ihrer Gestalt und die Ambivalenz ihres Charakters. 8 Dämonen sind Glaubensgestalten und Erzählgestalten zugleich, Phänomene des Volksglaubens, die sich in der Volkserzählung konkretisieren. Der Glaube an Dämonen und Elementargeister ist bereits in der Antike, aber auch noch im 16., 17. und 18. Jahrhundert mindestens ebenso durch die zeitgenössische gelehrte Literatur verbreitet worden wie durch die Volkserzählung, d.h. die Erlebnisberichte von Betroffenen. Die Volksglaubensforschung geht von der subjektiven Glaubwürdigkeit solcher Berichte aus. Der 7 Heinrich C. Agrippa von Nettesheim, Magische Werke (De occulta philosophia), 5 Bde., Berlin 1921, Bd. 3, Kap. 24, S. 144. 8 Leander Petzoldt u. Siegfried de Rachewiltz (Hrsg.), Der Dämon und sein Bild. Frankfurt/ M., New York 1989, passim. Abb. 3: Islamischer Engel aus einer Miniatur der Mogulzeit. Auffallend ist die phänomenologische Übereinstimmung. <?page no="44"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 43 Volksglaube und die Volkssage sind damit neben den naturwissenschaftlich-philosophischen Schriften von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert die wichtigste Quelle für die Vorstellungen von Dämonen und Elementargeistern. 9 Freilich muß hier zugleich einschränkend betont werden, daß es müßig wäre, den Versuch zu machen, aus den Memoraten und dämonologischen Sagen, die von numinosen und dämonischen Begegnungen berichten, sich ein präzises Bild von der Gestalt und dem Wesen der Dämonen machen zu wollen. Die Volkserzählungen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie sie uns in den Sagensammlungen vorliegen, geben ein widersprüchliches und unvollständiges Bild. Sie sind als Quelle für die Dämonenvorstellung nur bedingt brauchbar, und es ist daher notwendig, auf die mittelalterliche Literatur und historischen Quellen verschiedenster Art zurückzugreifen. Im übrigen sagen auch diese Quellen nur wenig über die Glaubenskontinuität, Frequenz und Verbreitung bestimmter Dämonengestalten und ihren Phänotyp aus. Ihre Umrisse sind oft unscharf, wie auch das Wesen der Dämonen nicht eindeutig ist, die Formen wechseln wie die Konturen vorüberziehender Wolken; Heinrich Heine hat dies in einem treffenden Bild ausgedrückt: »Den Volksglauben selbst in ein System zu bringen, wie manche beabsichtigen, ist aber ebenso untunlich, als wollte man die vorüberziehenden Wolken in Rahmen fassen.« 10 Zu den ältesten Vorstellungen gehören zweifellos die von den Totengeistern, die sich den Lebenden zeigen, und deren Erscheinen nicht ohne Folgen bleibt. Insgesamt könnte man dieses Kapitel der Volkssage unter den Titel stellen: Zur Frühgeschichte der Angst, denn wie der archaische Totenkult aus der Angst vor den Toten entstanden ist, spiegeln die Sagen die Ambivalenz der Einstellung des Menschen zu seinen Toten als verehrungswürdige Ahnen und bösartige Dämonen und Wiedergänger wider. Doch nicht nur in den Totensagen wird die Angst des Menschen manifest. Neben dem Totenglauben und den daraus erwachsenen Dämonen, die man auch als Kulturgeister bezeichnen kann, treten schon in früher Menschheitsgeschichte die Natur- oder Elementargeister auf, Personifikationen der Elemente, aber auch Konkretisierungen metereologischer Vorgänge und Erscheinungen wie Gewitter, Wolken, Wind und Nebel. Ihre Genese beruht auf dem entwicklungsgeschichtlichen Konzept des Animismus, der Vorstellung einer von Geistern bzw. dämonischen Wesen beseelten Natur, Vorstellungen, die sich teilweise bis in den Volksglauben der Gegenwart erhalten haben. Die Fülle und der »Artenreichtum« der Dämonen allein in unserem Kulturkreis macht eine Systematisierung fast unmöglich. Seit dem 15. Jahrhundert hat es immer wieder Versuche gegeben, Dämonologien zu entwerfen und die Dämonenwelt in ein System zu bringen. Johannes Trithemius, der Abt von Sponheim etwa spekuliert in seiner Chronologia mystica über die Dynastien der Geister. Auch in seinem Buch von den acht Fragen (Liber octo questionum, 1515) beschäftigt er sich mit solchen Themen und stellt eine Systematik der Geister auf. Freilich sieht der gelehrte Abt in den antiken Dämonen nur noch Ausgeburten des Teufels. Dieser Vorgang der Diabolisierung setzt schon früh ein und wird, vor allem durch Luther, im 16. Jahrhundert konsequent zu Ende geführt. Durch das Christentum wird den spätantiken und mittelalterlichen Dämonologien die biblische Überlieferung 9 Cf. L. Petzoldt, Art. »Magisches Weltbild«, in: Enzyklopädie des Märchens, ed. K. Ranke u. a., Bd. 9, Berlin, New York 1997, Sp. 19 - 24. 10 Cf. Manfred Windfuhr (Hrsg.), Heinrich Heine, Sämtliche Werke Bd. 9, bearb. von A. Neuhaus-Koch, Hamburg 1987, S. 12. <?page no="45"?> 44 Leander Petzoldt vom Sturz der abtrünnigen Engel hinzugefügt, eine Vorstellung, die bereits in der jüdischen Überlieferung der späthellenistischen Zeit verbreitet ist, nach der die Dämonen Abkömmlinge jener gefallenen Engel sind, wie es Gen. 6, 1 - 4 heißt, die sich mit den Töchtern der Menschen vermischten. Trithemius kennt nun mehrere Geschlechter von Dämonen, die er zunächst den Elementen zuordnet: »Es seind viel Geschlecht der bösen Geister, haben auch unter einander etliche unterschiedliche Grad und Staffel, nach Gelegenheit der Örter, in welche sie am Anfang ihres Falles erstlich verstoßen worden sind. Zum ersten, so ist ein Geschlecht der Teufel, das heißt man Igneum, das seind feurige Teufel; die wohnen in der obersten Luft, kommen nimmermehr vor dem jüngsten Tag herab auf Erden, sondern sie bleiben stetig in der Region des Mondes, haben auch gar keine Gemeinschaft mit den Menschen, die auf Erden wohnen [...] Das ander Geschlecht der Teufel heißt Aereum, seind die bösen Geister, die da in der Luft unter dem Himmel, nahe bei uns, umher wohnen und fahren. Diese könnten wohl herab auf die Erde kommen, und so sie von der groben Luft einen Leib an sich genommen haben, erscheinen sie zu Zeiten den Menschen sichtbarlich. Diese Geister betrüben aus Verhängnis Gottes oftmals die Luft, machen donnern und Ungewitter, seind allzugleich miteinander zu Verderben der Menschen geneigt und verbunden. Sie haben gleich wie die Menschen ihre Affektion und Beweglichkeit, sonderlich in Hoffahrt und Neid, werden ohn Unterlaß mit Anfechtung getrieben; haben nit einen steten Körper, bleiben auch nit immerzu an einem Ort. Sie haben auch nit alle eine gleiche Gestalt [...] Das dritt Geschlecht der bösen Geister nennen wir die irdischen Teufel, welche, als wir in keinen Zweifel setzen, aus dem Himmel auf das Erdreich für ihre Verschuldung gestürzt worden sind [...] Von diesen Teufeln und bösen Geistern wohnt ein Teil in den Hölzern und Wäldern, Abb. 4: Johannes Trithemius (1462 - 1516), Abt von Sponheim. Benannt nach seinem Geburtsort Trittenheim b. Trier. Er galt als überaus gelehrter »Okkultist«, dessen zahlreiche Bücher zu Unrecht als »Zauberbücher« bezeichnet wurden. Agrippa von Nettesheim und Paracelsus wurden stark durch seine Schriften über die Dynastien der himmlischen Geister, insbsondere durch seine »Chronologia mystica«, beeinflußt. <?page no="46"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 45 die tun den Jägern viel Schalkheit; etliche wohnen auf dem freien Felde, die bei Nacht die Leut, so über Feld gehn, irrig machen und abwegs führen; ein Teil wohnt in heimlichen, verborgenen Winkeln und Höhlen, und etlich, die da nit so gar wütend und tobend seind als die andern, die wohnen gern um die Menschen, doch in einem verborgenen dunkeln Winkel. Sie haben nit all einen, sondern mancherlei Sinn, Willen und Anmutung, denn es ist immer einer böser denn der andere [...] Das viert Geschlecht und Art der Teufel heißt man Aquaticum, das ist darum, daß sie gern um die Wasser wohnen. Ist ein bös, zörnig, unruhig, betrogenes Geschlecht der Teufel, erweckt auf dem Meer allerlei Ungewitter, versenkt die Schiff in die Tiefe, ertränkt viel Menschen [...]« 11 Darüber hinaus nennt er als fünftes Geschlecht der Geister die Unterirdischen, die in »Höhlen und Löchern und in den heimlichen Winkeln auf den Bergen wohnen.« Sie sind seiner Meinung nach die allerbösesten, stellen den Leuten nach, die unter der Erde arbeiten, den Brunnengräbern und vor allem den Erzknappen. Es wird deutlich, daß nur Weniges, was Trithemius hier über die Dämonen sagt, in den mittelalterlichen Volksglauben eingegangen ist. Zusehr ist er der antiken und neuplatonischen Gelehrtentradition verpflichtet, die er nur wenig modifiziert. Nur die Beschreibung der Dämonen, die »in den Hölzern und Wäldern« wohnen, erinnert an die Vielzahl der Waldgeister, Moosweibchen, Fänggen und Wildleute der volkstümlichen Überlieferung. Auch die subterranen Geister, die Unterirdischen, entsprechen den um 1500 im mitteleuropäischen Raum weitverbreiteten Vorstellungen von den Bergwerksdämonen. Schon Georg Agricola, der als Begründer der Montanwissenschaft gilt, betont, daß das Vorhandensein dämonischer Berggeister durch die Erfahrung bestätigt werde. In seinem Werk De animantibus subterraneis ( Von den Lebewesen unter Tage , 1549), in dem er von verschiedenen Tieren handelt, spricht er in einer besonderen Gruppe von den Dämonen, d.h. den Berggeistern, die er damit gleichsam in einen naturkundlichen Zusammenhang stellt. Es sind Stollengeister, die als »kleine graue männel« vorgestellt werden und deren Prototyp bei Agricola ( De re metallica, 1557) beschrieben wird als »daemon subterraneus truculentus bergteufel, mitis bergmenlein, kobel, güttel. Oder daemon metallicus berg- 11 Cf. Will-Erich Peuckert, Deutscher Volksglaube des Spätmittelalters, Stuttgart 1942, S. 120 - 122. Abb. 5: Georg Agricola (1494 -1555). Eigentlich Georg Bauer; gilt als Begründer des Bergbauwesens und der Mineralogie. In seinem kleinen Werk »De animantibus subterranis« (1548) beschreibt er das seit Aristoteles weitergegebene Wissen über die Lebewesen unter der Erde. <?page no="47"?> 46 Leander Petzoldt menlein, dessentwegen man eine fundige zech liegen läßt«. Sie stehen sozusagen zwischen den Zwergen und dem Kobold, wie die Bezeichnung »kobel«, »güttel« andeutet 12 . Auch ihr Verhalten bewegt sich zwischen bereitwilliger Hilfe und bösartigen Schädigungen. Mehrmals heißt es bei Agricola, das Bergmännlein sei die Ursache für die Auflassung von Bergwerken: »Die fünffte vrsach ist das greuwlich bergkmenlin / das die leut vmm bringet / dann so dieses nicht mag ausgetrieben werden / so bleibet kein hauwer in der gruben / der seinen wartet/ «. 13 Eine eingehende Beschreibung der gutartigen kleinen Dämonen gibt Agricola in seinem bereits erwähnten Werk De animantibus subterraneis. »Des weiteren gibt es ungefährliche Geister, die manche Deutsche wie auch die Griechen Kobolde nennen, weil sie die Menschen nachmachen. Denn sie kichern, als ob sie es vor Freude nicht lassen könnten, und es sieht so aus, als ob sie vieles täten, obwohl sie rein gar nichts tun. Andere nennen sie ›Bergmännlein‹ wegen der Statur, die sie meist haben: sie sind nämlich Zwerge von drei Spannen Länge. Sie sehen aber wie Greise aus und sind nach Art der Bergleute gekleidet, das heißt mit einem Kittel, der durch einen Gürtel gerafft ist und mit einem Leder, das um die Schenkel herabhängt.« 14 12 Leander Petzoldt, Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister, München 2. Auflage 1995, S. 110 f. - Ders., Piccolo Dizionario di Demoni e spiriti Elementari, Napoli 1995, S. 218. 13 Georg Agricola, De re metallica, eds. Herbert C. Hoover and Lou H. Hoover, New York 1950, S. 218. Abb. 6: Ein Bergwerksdämon in Teufelsgestalt mit Schweinsohren und Krallenfüßen. Aus Olaus Magnus, Bearbeitung der mitternächtigen Länder, 1565. <?page no="48"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 47 Eine differenziertere Dämonenlehre finden wir bei Agrippa von Nettesheim. Er versucht in seiner Occulta Philosophia (1531), das Christentum mit den Dämonen der Antike zu versöhnen und entwickelt seine Dämonologie: »Endlich spricht man von Tag-, Nacht- und Mittagsgeistern sowie von Wald-, Berg-, Feld- und Hausgeistern. Daher die Silvanen, Faunen, Satyrn, Pane, Nymphen, Najaden, Nereiden, Dryaden [...] Einige dieser Dämonen verlieben sich in Frauenzimmer, andere in Knaben, noch andere haben eine Freude an verschiedenen Haus- oder Waldtieren. Einige wohnen in Wäldern und Hainen, andere bei Quellen und auf Wiesen. So bewohnen die Faune und Lemuren die Felder, die Najaden die Quellen, die Potamiden die Flüsse, die Nymphen die Seen und sonstigen Gewässer, die Oreaden die Berge, die Humeaden die Wiesen, die Dryaden und Hamadryaden die Wälder, welche auch die Satyre und Sylvanen bewohnen und wo sie sich an den Bäumen und Rasenplätzen erfreuen, wie die Nepeten und Agapeten an den Blumen, die Dodonen an den Eichen, die Paleen und Fenilien an Futter und Feldbau.« 15 Agrippa beschreibt auch das Aussehen und die Körperlichkeit seiner Elementargeister: »Eine Art Körper besteht nur aus Feuer und kann nicht gesehen werden, weshalb Orpheus die, welche einen solchen besitzen, feurige und himmlische Dämonen nennt; eine andere ist aus Feuer und Luft gemischt, daher diese Dämonen ätherische und Luftgeister heißen; kommt etwas Wasser hinzu, so entsteht eine dritte Körpergattung, von der die Wassergeister ihren Namen haben, die manchmal sichtbar werden; wird endlich noch etwas Erde hinzugefügt, so werden solche Dämonen Erdgeister genannt.« Er fährt fort: »Nicht jede Dämonengattung kann alle Gestalten nach Belieben annehmen, sondern die feurigen und luftigen verwandeln sich leicht in alles das, was ihre Einbildungskraft auffaßt; den unterirdischen und finsteren Dämonen aber, deren Phantasie durch einen dichten und trägen Körper begrenzt wird, steht eine weit geringere Mannigfaltigkeit der Gestalten zu Gebote als 14 Georg Agricola, Ausgewählte Werke, 8 Bde., ed. Georg Fraustadt, Bd. 6, Vermischte Schriften 1, Berlin 1961, S. 141 - 234, hier S. 164. 15 Agrippa von Nettesheim, Kap. 16, S. 88ff. Abb. 7: Agrippa von Nettesheim (1486 - 1535). Nach einem wechselvollen Leben in der Armee Maximilians und als Gelehrter, Advokat und Mediziner wirkte er zuletzt als Archivar und Historiograph in Mechelen. Sein berühmtestes Werk »De occulta Philosophia« brachte ihn in den Ruf eines Teufelsbündners und Zauberers. <?page no="49"?> 48 Leander Petzoldt Abb. 8: Der Teufel greift zwei Wildleute an. Der Wilde Mann wird »pilosus« (behaart) bezeichnet. Darstellung aus dem Bereich des »Physiologus«, in einer Hs. des 15. Jhs. <?page no="50"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 49 den übrigen. Die Wassergeister, welche die feuchte Oberfläche der Erde bewohnen, nehmen in Folge der Weichheit ihres Elementes gemeiniglich die Form weiblicher Wesen an, wie die der Najaden und Dryaden. Die, welche dagegen wasserfreie und trockene Örter bewohnen, zeigen sich auch in trockneten und männlichen Körpern, wie die Satyre, die Onosceli mit Eselsbeinen, die Faunen, Silvane und Incubus, von welchen Augustinus erzählt, daß viele aus Erfahrung wissen, daß dieselben öfters Frauenzimmern unanständig begegnet seien, ihnen nachgestellt und Umgang mit ihnen gepflogen haben. Besonders sollen die Dämonen, welche die Franzosen Dusi nennen, beständig lüsterne Absichten hegen.« 16 Vieles, was bis in die Gegenwart in der populären Erzählüberlieferung eine Rolle spielt, ist bereits bei Agrippa angelegt, wobei dieser die ganze antike und mittelalterliche Dämonenliteratur kompiliert hat. Er schreibt: »Die Dämonen haben sehr oft ihren Fall eingestanden. In dieses Jammertal herabgestürzt, irren sie teils in der Finsternis der Luft um uns her, teils bewohnen sie die Seen, Flüsse und Meere, wieder andere die Erde. Diese letzteren greifen diejenigen an, welche Brunnen und Metallschächte ausgraben; sie machen Klüfte in die Erde, erschüttern die Grundlagen der Berge und plagen nicht allein die Menschen, sondern auch die Tiere. Die einen, mit Lachen und Blendwerk zufrieden, suchen eher zu ermüden als zu schaden, andere erheben sich zu Riesengröße, schrumpfen dann wieder zu winzigen Pygmäen ein und verwandeln sich überhaupt in verschiedene Gestalten, wodurch sie den Menschen einen leeren Schrecken einzujagen suchen.« 17 Die antiken Vorstellungen von den Elementargeistern haben bis weit in das ausgehende Mittelalter gewirkt. Dahinter steht die anthropologische Konzeption einer von geheimnisvollen Wesen und Mächten belebten Natur, wie sie animistischem Denken entspricht. Einer ihrer Hauptvertreter war Theophrastus Paracelsus, der in seinem bereits erwähnten Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandribus eine Hierarchie der Elementargeister aufstellt und gemäß seiner Vorstellungen von der Kosmogonie lehrte, daß alle Dinge des Mikrokosmos ihre Entsprechungen im Makrokosmos haben. Er erklärt auch das Begehren der Dämonen nach menschlichen Ehepartnern. Da sie keine Seele besitzen, versuchen sie durch die Verbindung mit den Menschen an dessen Transzendenz teilzunehmen. Von den Wassergeistern schreibt er: »Nun aber, Menschen sinds, aber allein in tierischer Art, ohne Seel. Nun folgt aus dem, daß sie zu Menschen verheiratet werden, also daß eine Wasserfrau einen Mann aus Adam nimmt, und hält mit ihm Haus und gebiert. Von den Kindern wisset, daß solch Gebären dem Mann nachschlagt, drum daß der Vater ein Mensch ist aus Adam, darum wird dem Kind eine Seel eingegossen und es wird gleich einem rechten Menschen, der eine Seel hat. Nun aber weiter, so ist das auch in gutem Wissen, daß auch solche Frauen eine Seel empfahen, indem so sie vermählt werden, also daß sie wie andere Frauen vor Gott sind und durch Gott erlöst sind [...] Daraus folgt nun, daß sie um den Menschen buhlen sich zu ihm fleißigen und heimlich (vertraut) machen, gleicherweis wie ein Heide, der um die Tauf bittet und buhlt, auf daß er sein Seel erlange. Also stellen sie nach solcher Liebe gegen die Menschen, auf daß sie mit dem Mensch in demselben Bündnis sind. Denn aller Verstand und Weisheit ist bei ihnen außer der Seel.« 18 16 Ebda. 17 Agrippa von Nettesheim, Kap. 18, S. 112 ff. 18 Theophrastus von Hohenheim (Paracelsus), »Tractatus III u. IV«, S. 479 - 481. <?page no="51"?> 50 Leander Petzoldt Gerade diese Vorstellung von der erotischen Bedürftigkeit dämonischer Wesen nach der Liebe der Menschen hat in der Volkserzählung vielfache Entsprechungen gefunden, so etwa in den Sagen von den Saligen und Wildfrauen oder auf der höfischen Ebene in der Melusinensage wie auch in den Erzählungen von der menschlichen Frau des Wassermanns. 19 Schon der Prediger Berthold von Regensburg kennt die »Saligen« und bezeichnet sie als »felices dominae«. Sie »sind von zierlicher Wohlgestalt mit glänzenden Gesichtern und weißen Kleidern, besuchen die Häuser und spenden Segen, wo ihnen Speis und Trank bereitgestellt wird«. Eine der hervorstechendsten Eigenschaften dieser dämonischen Wesen ist ihr Bedürfnis nach der Liebe der Menschen. Erzählungen von den »Saligen« sind in der Folklore der Alpenbewohner weit verbreitet und von signifikanter Häufigkeit. Erotische Wunschvorstellungen und Träume spielen hier psychologisch gesehen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die faszinierende Vorstellung einer überirdisch schönen Frau, der man sorglos, außerhalb der Normvorstellungen und Zwänge der eigenen Gemeinschaft, beiwohnen kann, eine Frau, die nicht nur Schönheit, sondern auch übernatürliches Wissen in allen Angelegenheiten des Ackerbaus und der Viehzucht besitzt und die zudem arbeitsam, anstellig und immer gleichmäßig freundlich ist, eine solche Vorstellung mag zweifellos die Tagträume mancher Alphirten und Bergbauern ausgefüllt und sie von ihrem entbehrungsreichen Leben abgelenkt haben. 19 Leander Petzoldt, Die Haare der Saligen. Wanderungen und Wandlungen eines dämonologischen Motivs in der Literatur und Volksdichtung, in: Ders. u. S. de Rachewiltz (eds.): Der Dämon und sein Bild, Frankfurt/ M. 1989, S. 85 - 102 (Beiträge zur Europäischen Ethnologie und Folklore, Reihe B. Bd. 2). Abb. 9: Wilde Frauen werden erstmals bei Burchard von Worms (ca. 965 - 1025) als »agrestes feminae quas silvaticas« erwähnt. Die Vorstellung von Wilden Leuten bzw. Naturdämonen ist wohl europäischer Gemeinbesitz (Ludw. Lavater, Von gespänsten, ungehüren fälen …, Zürich 1518). <?page no="52"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 51 Während die Elementargeister bei Paracelsus noch als eine Art Menschen, jedoch ohne Seele verstanden werden, geht Luther einen Schritt weiter und vollendet die interpretatio christiana, indem er alle diese dämonischen Wesen schlechtweg als Verwandlungsgestalten des Teufels erklärt. Freilich hat sich diese Interpretation im Volksglauben nur teilweise durchgesetzt. Und viele der hier beschriebenen Gestalten bewahren trotz aller Diabolisierungstendenzen ihr archaisches Wesen bis auf unsere Tage. Die mittelalterliche Dämonenlehre mit ihrer Einteilung der »Elementargeister« nach den vier Elementen Wasser, Feuer, Erde, und Luft verspricht eine scheinbar logische Systematik. Aber ihre Logik entstammt den Spekulationen der Naturphilosophen des 15. und 16. Jahrhunderts und nicht zuletzt der naturromantischen Dichtung des 19. Jahrhunderts. Die Sylphen und Najaden, Undinen und Nymphen waren niemals Gestalten des Volksglaubens, sie waren Schöpfungen der vorwissenschaftlichen Naturphilosophie, die ihr Material den spätantiken Dämonenlehren verdankte. Die Volkssage berichtet von zahlreichen übernatürlichen Erlebnissen, von numinosen Begegnungen mit dem Wilden Heer, dem Nachtvolk, mit Hexen und Druden, dämonischen Wesen verschiedenster Art, von Spukphänomenen und Poltergeistern, Aufhokkern und Alpträumen, von Erscheinungen, die wir heute als psychologische oder parapsychologische Phänomene einordnen würden. Versteht man diese Erlebnissagen als Konkretisierung des Volksglaubens, so stellen sie, um es mit einem Wort Hedwig von Beits zu sagen, den »untragbaren Einbruch des Unbewußten ins Bewußtsein« des Menschen dar. Dämonen sind also, ungeachtet ihrer Glaubenswirklichkeit in frühen Kulturen, psychische Realitäten, Projektionen menschlicher Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen. Sie Abb. 10: Melusine, die Ahnfrau des Geschlechtes von Lusignan (Mère Lusine). Die Geschichte von der übernatürlichen Ahnfrau, die jeweils an einem Tag der Woche einen Fischschwanz hat, den der Ehemann nicht sehen darf (Tabu), wird auch von dem Ritter Peter Dimringer von Staufenberg in der Ortenau erzählt. Hier entflieht Melusine, da das Tabu gebrochen wurde. <?page no="53"?> 52 Leander Petzoldt sind »Geschöpfe« des Menschen, der sie nach seinem Bild formt und unter dem Eindruck psychischer Zwänge und Ängste zu grauenerregenden Gestalten verformt. Die Begegnung des Menschen mit der Welt der Dämonen wird in zahlreichen Sagen geschildert; sie sind Dokumente der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins und der Erfassung der Welt. Daher stehen solche Glaubensvorstellungen von Dämonen jeweils in einem engen Konnex zur sozialen Ordnung, zu Normen und Werten einer Gesellschaft oder Gruppe. Eine frühe Stufe dieser Glaubensvorstellungen ist in der Verkörperung bzw. Dämonisierung archaischer Vegetationsgottheiten zu sehen, die Wilhelm Mannhardt mit dem Sammelbegriff »Korndämonen« bezeichnete. 20 Es sind Vegetationsdämonen, die sich im Kornfeld (aber auch in allen anderen Pflanzungen wie Flachs, Bohnen, Mohn, Hopfen usw.) aufhalten. Sie treten in menschlicher (Kornmuhme), wie auch in tierischer (Roggenwolf) Gestalt auf. Sie können sowohl männlichen, als auch weiblichen Geschlechts sein. Zweifellos treten Vegetationsdämonen bei allen agrarisch orientierten Völkern auf. In Jägerkulturen werden sie durch die dämonischen Tierherren ersetzt. Ursprünglich waren es wohl Vegetationsgottheiten, die dämonisiert wurden und schließlich zum Kinderschreck abgesunken sind. Man opferte ihnen, damit sie die Frucht schützen und fördern. Die Präsenz der Korndämonen wird im Wogen des Korns gesehen, und man begleitet diese Erscheinung mit zahlreichen Redensarten etwa »Die Kornmutter ist im Feld«, oder man sagt von der Roggenmuhme (Ostpreußen), sie sitze im Feld und reiche den Kindern ihre schwarzen Brüste, so daß sie daraus trinken und sterben müssen; daher wird sie im Volksmund als »Langtüttin« bezeichnet. Die Personifizierungen, Namen und Gestalten der Korndämonen sind überaus zahlreich, neben der Roggenmuhme, dem Kornmann und dem Kornengel, dem Sichelweib, dem Bilmesschnitter (Bilwis) sind es vor allem dämonische Tiere: Wolf, Bär, Habergeiß, Schwein und der Kornvater oder die Kornkatze, die zugleich als Kinderschreckgestalten gelten, mit denen man die Kinder vom Betreten der reifenden Kornfelder abhalten will. Eine der interessantesten Gestalten, die der Forschung viele Rätsel aufgibt, ist in diesem Zusammenhang der (oder die) Bilwis mit einem überaus umfangreichen Spektrum regionaler Namensformen: Der Bilwis taucht bereits in der mittelalterlichen Literatur auf, macht jedoch im Laufe der Zeit eine widersprüchliche Entwicklung durch, indem sich sehr komplexe Züge in ihm vereinen. In Wolfram von Eschenbachs Roman Wille- 20 Wilhelm Mannhardt, Wald- und Feldkulte, 2 Bde., 2. Aufl., Berlin 1904/ 05, bes. Bd. II, passim. Abb. 11: Die Langtüttin. Weiblicher Dämon mit langen Brüsten, die er über die Schulter werfen kann. Aus Conrad Lycosthenes, »Prodigiorum ac ostentorum chronicon …«, Basel 1557. <?page no="54"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 53 halm (1220) wird der »Bilwizschuß« erwähnt: »si wolten, daz kein pilwisz / si da schüzze durh diu knie.« 21 Damit wird dieser nicht näher beschriebene Dämon der niederen Mythologie als feindselig und gefährlich charakterisiert. Claude Lecouteux macht in der Entwicklung dieser Gestalt drei Phasen aus. Von einer germanischen, wenig bekannten Göttin (Asin) Bil, die eine Personifizierung des abnehmen den Mondes u nd dessen lähmender W irkung war, entw ickelt sie sich zu einem elbischen, zwergenhaften Wesen, das Mensch und Vieh durch den Abschuß eines Pfeiles lähmen kann. Im Laufe des 13. Jahrhunderts verliert dieses Wesen, das eine übernatürliche Kraft personifizierte, allmählich seine Identität und wird mit den Unholden, der Trud und ähnlichen Gestalten identifiziert bis es schließlich als Hexe anthropomorphisiert wird. 22 Es findet hier der Übergang von einem Wesen der niederen Mythologie zu einer anthropomorphen Gestalt statt. Schließlich wird der/ die Bilwis in Menschengestalt diabolisiert, sie wird eine Verwandlungsgestalt des Teufels, zur Hexe und zum Zauberer. Eine letzte Entwicklung liegt vor, wenn der Bilwis etwa seit dem 16. Jahrhundert als Reichtum bringender Korngeist (vor allem im Nordosten Deutschlands) aufgefaßt wird. Zugleich kennt ihn der bairisch-thüringische Raum als schädigenden Korndämon, den Bilwisschnitter, dem die bisweilen in den Kornfeldern streifenförmig umgelegten Halmreihen zugeschrieben werden. In Kärnten sieht man im Bilwis einen Dämon im Wirbelwind (Windsbraut), der Gliederreißen und andere rheumatische Schmerzen (vgl. Hexenschuß) verursachen soll. Wie die angedeutete Entwicklung zeigt, ist die Vorstellung dieses Dämons überaus polymorph, und sie geht Kontaminationen mit anderen Sagengestalten ein. Dementsprechend ändern sich auch die Eigenschaften; in der letzten Entwicklungsphase ist er ein Zauberer oder eine Hexe, die das Korn mit Sicheln, die an den Füßen befestigt sind, abschneidet. Damit reiht er sich in die Reihe der Korndämonen ein, deren Wesen schadenstiftend ist. Der Bilwis ist damit eines der eigenartigsten und geheimnisvollsten Wesen unter den Glaubensgestalten der Volksüberlieferung, dessen variierende Gestalt typisch für eine bäuerliche Kultur ist, die damit einer Naturerscheinung, den unheilvoll umgelegten Zeilen im reifen Korn, eine mythische Deutung gibt. 23 Von ähnlicher Komplexität ist die Gestalt des daemonium meridianum, des Mittagsgespenstes, das man als die Personifizierung eines physischen und psychischen Zustands bezeichnen könnte. Der Ursprung der Vorstellung von einem Dämon, der am hohen Mittag dem Menschen erscheint, ist im vorderasiatischen Volksglauben der vorchristlichen Zeit zu suchen. Schon im hebräischen Original der Septuaginta wird im Psalm 90, 6 (bzw. 91, 6) ein gefährliches dämonisches Wesen erwähnt, das den Menschen am Mittag bedroht; die Übersetzer bezeichnen es unter dem Einfluß des zeitgenössischen Dämonenglaubens als »daemonium meridianum« (Mittagsdämon). Origines setzt den Mittagsdämon in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts mit dem Begriff der »Akedia« (acedia; Langeweile, Überdruß) gleich, die im Klosterleben zu den Hauptsünden gerechnet wurde. 21 Wolfram von Eschenbach, Willehalm, eds. Karl Lachmann u. Dieter Kartschoke, Berlin und New York 1968. 22 Claude Lecouteux, »Der Bilwiz: Überlegungen zu seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte«, in: Euphorion 82 (1988), S. 238 - 250. 23 Ebda. 246; vgl. auch Petzoldt, wie Anm. 12, S. 41ff. <?page no="55"?> 54 Leander Petzoldt Die Peinigung des Mönchs durch die (in der Gestalt des Mittagsdämons personifizierte) acedia wird bei Evagrius Ponticus aus Kleinasien (3. Jahrhundert) beschrieben: »Die Sonne scheint dem der Akedia verfallenen Mönch stillzustehen, der Tag kommt ihm unendlich lang vor. Er wird von dem Dämon getrieben, aus der Behausung zu gehen, die Sonne anzustarren und ihren Stand zu prüfen. Haß gegen seinen Aufenthaltsort, gegen sein Leben und seiner Hände Arbeit überkommt ihn, und er glaubt, daß die Liebe seiner Gefährten nachgelassen habe und es niemanden gebe, der ihn mit seinem Trost zu helfen bereit sei. [...] und schließlich setzt der Dämon alle Mittel ein, den Mönch zur Flucht zu bewegen.« 24 Offensichtlich werden, wie auch andere Quellen dies bezeugen, hier die Symptome einer in der Mittagszeit auftretenden, durch die Eintönigkeit und die Mittagshitze erzeugten, seelischen Depression beschrieben, die besonders Anachoreten und Eremiten des östlichen Mittelmeeraumes betraf. Auch körperliche Erschöpfung, Kopfschmerzen, Fieberanfälle, Verwirrung und Umnebelung des Verstandes um die heißeste Mittagsstunde werden von christlichen Autoren dem Mittagsgespenst zugeschrieben. Franz Werfel hat die psychischen Grundlagen der Vorstellung vom Mittagsdämon treffend beschrieben: »Die Alten haben geglaubt, daß zur sonnigen Mittagsstunde etwas aus der angespannten Natur springen kann, gestaltlos und sichtbar, scheußlich und voller Herrlichkeit, jeglichen Wan- 24 Cf. Dietrich Grau, Das Mittagsgespenst (daemonium meridianum), Siegburg 1966, S. 20f. Abb. 12: Erste und wahrscheinlich einzige Darstellung des »Daemonum meridianum« (oben, Mitte) als fratzenhafter Kopf, aus einer Miniatur um 830, Reims. <?page no="56"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 55 derer tötend, den es anfällt, gleichsam die in einen Augenblick zusammengepreßte Vision des Ganzen«. Im spätantiken Gallien war »der Glaube an die Unheimlichkeit der Mittagsstunde tief im Volk verwurzelt« 25 und Gregor von Tours berichtet von einer Bauersfrau, die bei der Rückkehr von der Feldarbeit einen Schwächeanfall erleidet, zu Boden stürzt und nicht mehr sprechen kann. Herbeieilende Nachbarn behaupten, der Zustand der Bäuerin sei durch den Angriff des Mittagsdämons verursacht. Mit fortschreitender Entwicklung wird der zunächst unbestimmte Dämon zu einer festumrissenen Spukgestalt mit anthropomorphen Zügen, der in allen sozialen Schichten von den Klerikern und dem Adel bis zu den Bauern bekannt ist. Immer tritt er in der Mittagsstunde auf und zeigt seine bösartige Wirkung, indem er den Menschen Lebensüberdruß und sinnliche Begierde, aber auch Furcht und Entsetzen bis zum Wahnsinn, einflößt. Im Volksglauben verbindet er sich mit den Korngeistern, dem Kornweib (Roggenmutter), welches auch als Mittagsfrau bezeichnet wird, und die mittags um zwölf Uhr bei sengender Hitze erscheint. Sie gilt als Schreckgestalt, die auf die Einhaltung der mittäglichen Arbeitsruhe achtet; wen sie mittags bei der Arbeit trifft, den fragt sie zu Tode. Der Mensch, der in ihre Gewalt fällt, kann sich nur dadurch befreien, daß er die Fragen des Dämons beantwortet (z.B. über die Flachsbereitung); dieser altartige Zug erinnert an das Rätsel der Sphinx und an die germanischen Halslöserätsel. 26 Eine der wesentlichen Wurzeln unserer Dämonenvorstellungen liegt im Totenglauben. Der Glaube an wiederkehrende Tote ist so alt wie die Menschheit. Seine Ursprünge liegen sowohl in Traumerlebnissen als auch in der Furcht vor der Rache des Toten, der nicht mehr am Leben Anteil hat. Unerklärbare klinische Phänomene, Scheintod u.ä., die immer wieder zu beobachten sind, haben ein Übriges zu der ambivalenten Einstellung des Menschen zu seinen Toten beigetragen. Zu den wichtigsten dämonischen Gestalten des Volksglaubens gehören die Wiedergänger. Als Wiedergänger bezeichnet die Volkserzählung einen Verstorbenen, der wegen einer Schuld oder aus anderen Gründen als dämonischer Toter, meist in der Gestalt, in der er lebte, als Lebender Leichnam o der Untoter, umgehen muß. Die altgermanische Literatur, die isländischen Sagas und auch die mittelalterliche Überlieferung sind reich an Erzählungen über Wiedergänger. Der umgehende, wiederkehrende Tote tritt in der Körperlichkeit auf, die er zu Lebzeiten besaß: »Die Toten sind Wesen mit Fleisch, Sehnen und Haut, manchmal sprechen sie, manchmal töten sie oder rufen um Hilfe«. 27 Es fällt auf, daß sich gerade in diesem Bereich vorchristliche (germanische) Vorstellungen relativ lange erhalten haben, betrachtet man die auffallend geringe Zahl der »christianisierten Wiedergänger«. Teufel und Fegefeuer spielen in den volkstümlichen Vorstellungen und Berichten eine vergleichsweise geringe Rolle und »nirgends stoßen wir auf das Bild des verwesenden Leichnams«. Insofern sind Wiedergänger keine Gespenster, es sind »lebende Leichname«, d.h. Menschen, die eines unnatürlichen Todes starben oder eine Schuld auf sich geladen haben und deswegen ruhelos an den Ort ihres Wirkens zurückkehren müssen. 25 Ebda., S. 33. 26 Ebda., S. 22ff. 27 Claude Lecouteux, »Altgermanische Gespenster und Wiedergänger«, in: Euphorion 80 (1968), S. 219 - 231. <?page no="57"?> 56 Leander Petzoldt Die wichtigste Gruppe ist diejenige, von denen die altnordische Literatur berichtet, es sind die Toten, die wie im Leben erscheinen und sich wie die Lebenden verhalten. Sie sind die eigentlichen dämonischen Wiedergänger, die Untoten, die auch in verwandelter Gestalt, als Akephalos, oder in Tiergestalt, als Hund, Pferd oder als feurige Gestalten den Lebenden erscheinen, um sich zu rächen, um eine Schuld wieder gutzumachen, oder um die Lebenden auf ein Versäumnis hinzuweisen. Religionsgeschichtlich sehr alt ist die Vorstellung des durch die Lüfte jagenden Totenheeres oder nächtlicher Geisterkämpfe. Ursprünglich waren es die in der Schlacht gefallenen Kämpfer, die, wie es in der Snorra-Edda heißt, immer wieder aufgeweckt wurden um weiterzukämpfen. Der Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat beschreibt im 16. Jahrhundert die Umgetriebenen ebenfalls als Menschen, deren Lebenszeit gewaltsam verkürzt wurde. In seinem Bericht vermischen sich Züge der Wilden Jagd mit dem spezifisch schweizerischen Phänomen des Totenzuges. Ein typischer Zug, der zur Wilden Jagd gehört, ist die Figur des »Warners«, der die Begegnenden aus dem Wege gehen heißt; auch davon berichtet Cysat: »Von dem seitzamen Gespenst, so by Nacht wandert vnd von dem gemeinen Pöffel das Guott jns Heer oder die Säligen Lütt genennt würdt, sollt aber billicher heissen das Wuot jns Heer. Es war diss der Hallt [Meinung], das diss die Seelen wärent der Menschen, die vor der rechten Zyt vnd Stund, die jnen zuo dem End jres Lebens gesetzt, verscheiden vnd nitt dess rechten natürlichen Tods gestorben wärent. Die müesstend nun erst nach jrem Tod vff Erden allso wandten, bis sy dieselbig Stund nachmalen erreichtend, vnd allso jn Processions Wys mit einandern umbherzühen, von einem Ort an das ander, vnd jeder, der ettwan von Waffen vmbkommen, dessen ein Wortzeichen (Wahrzeichen) mitttragen, wie ouch die übrigen sonsten ein Anzeig geben, wie sy jr Leben verloren. Vor der Ordnung har gienge allzyt einer, der schrüwe: ›Abwäg, abwäg! Es kommend die Säligen.‹ Hettend ouch liepliche Seittenspiel, die glychwol sich nit starck, sonder timmer [leise] hören lassen.« 28 Wie die volkstümlichen Bezeichnungen für das in der Nacht dahinjagende Wilde Heer von Landschaft zu Landschaft verschieden sind, wechseln auch die Namen und Gestalten der dämonischen Anführer: Wode, Frau Perchta, Rübezahl, oder es sind historische Gestalten wie Herodes, Hackelberg und der Rodensteiner. Später, unter dem Einfluß des Christentums, waren es Ketzer, Hexen und Zauberer, die unter der Führung des Teufels (»infernalis venator«) oder Dietrichs von Bern, der als Arianer der Kirche als Ketzer galt, ewig und ruhelos durch die Lüfte jagen mußten. 29 Der Glaube an die unruhig umherziehenden Toten wurzelt in einem Vorstellungskomplex, der nicht nur auf die germanischen Völker beschränkt ist. Schon die griechische und römische Antike, Herodot, Plinius und Pausanias kennen die Vorstellungen von Geisterheeren. So schreibt Pausanias um 150 n. Chr. über die Ebene von Marathon: »Dort kann man die ganze Nacht hindurch wiehernde Pferde und kämpfende Männer vernehmen. Wer sich in der Absicht hinstellt, es deutlich zu schauen, kommt nicht ungestraft davon [...]« 30 . Dieser Zug von der unheilbringenden Begegnung mit dem Geisterheer ist auch noch in der neueren Volkssagenüberlieferung festzustellen. 28 Renward Brandstetter, Renward Cysat, Luzern 1909, S. 393. Vgl. auch: L. Petzoldt, Deutsche Volkssagen, München 1970, S. 393ff. 29 Petzoldt, wie Anm. 12, S. 186 - 190. 30 Karl Meisen, Die Sagen vom wütenden Heere und vom wilden Jäger, Münster 1935, S. 20. <?page no="58"?> Das Universum der Dämonen und die Welt des ausgehenden Mittelalters 57 Die Wilde Jagd, sozusagen das säkularisierte Totenheer, verunsichert den einsamen Wanderer, der zudem noch durch Gehörs- und Gesichtshalluzinationen geplagt wird. Der dämonische Aufhocker verdankt seine Existenz solchen Angstvorstellungen, wobei noch nicht einmal eine besondere psychische Disposition gegeben sein muß. Numinose Orte provozieren die dämonische Begegnung. Solche Ängste konkretisieren sich in Erlebnissen physischer Natur: Der Aufhocker springt dem einsamen, von unbestimmter Furcht geplagten, durch Schatten und Geräusche überreizten Wanderer auf die Schulter, nimmt ihm den Atem und treibt ihn bis zur Erschöpfung zu immer größerer Eile an. Die Vorstellung von der äußeren Gestalt des Aufhockers aber entnimmt er dem geistigen Fundus der kollektiven mythischen Phantasie: Geisterhunde, Werwölfe, Kobolde, Wiedergänger und andere dämonische Wesen, mit denen die Welt des Sagenerzählers bevölkert ist. 31 Am Beispiel des Aufhockers und noch mehr an der Entwicklung der Gestalt des Bilwis wird deutlich, wie wenig präzise die Vorstellungen vom Phänotyp dieser Dämonen sind. Oft sind es nur vage Vorstellungen theriomorpher, anthropomorpher oder dinglicher Art unter denen der Dämon, die dämonische Begegnung, konkretisiert wird. Die Bilwis-Vorstellung wandelt sich im Laufe ihrer Entwicklung vom Mittelalter bis zur Neuzeit von einem elbischen Zwergwesen der niederen Mythologie zur anthropomorphen Gestalt eines Korndämons und Zauberers. Damit ist jedoch nur sehr unvollkommen die polymorphe Variationsbreite dieser Gestalt angedeutet, und es werden die Schwierigkeiten der Erforschung dieser Vorstellungen deutlich, wenn etwa Name und Gestalt, Vorstellung und Funktion dieser Dämonen von Landschaft zu Landschaft und über größere Zeiträume hinweg variieren. 31 Petzoldt, wie Anm. 12, S. 27ff. Abb. 13: Frau Perchta mit der eisernen Nase. Aus: Hans Vintler, Pluemen der tugent. Augsburg 1486. <?page no="60"?> Bestiarien L. A. J.R. Houwen (Groningen) Definitionen, Versionen und deren Verbreitung Bestiarien sind jene Werke, die direkt oder indirekt ihre Information über Tiere von der einen oder anderen Version des lateinischen Physiologus beziehen, zu der weitere Details und neue Kapitel hinzugefügt werden, die auf eine Anzahl anderer Quellen zurückgehen. 1 In den Bestiarien werden Tiere, gelegentlich auch Steine und Bäume, zuerst im Rahmen ihrer naturwissenschaftlichen Abstammung beschrieben und eingestuft. Danach werden die beschriebenen Eigenschaften entweder als Allegorie oder als moralisierte Metapher behandelt. Die einflußreichste Quelle, auf die sich viele Bestiarien beziehen, ist die sogenannte versio B des Physiologus, die 36 Kapitel umfaßt und ihrerseits auf die erste altgriechische Fassung mit 48 Kapiteln zurückgeht. 2 Bereits zu Beginn der Physiologus-Tradition setzte ein Vorgang der Diversifikation und Kontamination ein, der zu mehreren verschiedenen Versionen führte. Eine solche Entwicklung fand spätestens ab dem 10. Jahrhundert statt, als bestimmte Details (inbesondere Etymologien von Tiernamen) dem zwölften Buch von Isidors von Sevilla Etymologiae (»De animalibus«) entnommen und zur versio B des Physiologus hinzugefügt wurden. 3 Diese B-Is Fassung, die sich in etwa 15 Manuskripten vom 10. bis hin zum späten 13. Jahrhundert findet 4 , gilt schlechthin als die erste »richtige« Bestiarie. Allerdings ist die Entwicklung des B-Is nicht einzigartig. Die 1 Die Bezeichnung »Bestiarie« erscheint sowohl in lateinischen als auch in frühen Vernakulärtexten. Oxford, Bodleian Laud 247 (ca. 1120) z.B. bezeichnet sich selbst als »liber bestiarium« und Philippe de Thaon nennt sein Werk aus dem zwölften Jahrhundert »bestiaire«. 2 Carmody, Francis J.: Physiologus Latinus. Éditions préliminaires versio B. Paris 1939. Für die vier Redaktionen der altgriechischen Texte, die in mindestens 77 Manuskripten aus dem 10. bis 16. Jahrhundert erhalten sind, vgl. Sbordone, Francesco: Physiologus. Mailand 1936 (Nachdr. Hildesheim 1976) und Henkel, Nikolaus: Studien zu Physiologus im Mittelalter. Tübingen 1976, S. 18 f. 3 Das älteste überlieferte Manuskript ist Rom, Codex Palat. lat 1074; siehe McCulloch, Florence: Mediaeval Latin and French Bestiaries. Chapel Hill 1962 und Henkel (Fn. 2), S. 28. 4 Darunter befinden sich sechs Fragmente, von denen vier direkt einer Aviarie folgen, wie z.B. in Oxford, Bodleian MS Lyell 71, in der das Löwenkapitel der Aviarie folgt, oder Chalon-sur-Saône, Bibl. Mun. S 14, Paris, BN S lat. 2495 A und lat. 2495 B, in denen die Kapitel über den Ibis und die Farben der Ringeltaube und der Turteltaube nachfolgen; zur genaueren Beschreibung dieser Manuskripte siehe Clark, Willene B.: The Medieval Book of Birds. Hugh of Fouilloy’s Aviarium. Binghamton 1992, Katalog Nr. 40; 13; 44; 45; 21; Hassig, Debra: Medieval Bestiaries. Text, Image, Ideology. Cambridge 1995 (Cambridge, Corpus Christi College MS 22), S. 184. Selbstverständlich läßt sich die Anzahl der Manuskripte, auf die in dieser Studie verwiesen wird, nicht eindeutig bestimmen; die Daten hinsichtlich Anzahl von Bestiarientexten und hinsichtlich Inhalt und Besonderheiten von Manuskripten basieren vor allem auf folgenden Quellen: James, M. R. (Hrsg.): The Bestiary. Oxford 1928, S. 7 - 26; McCulloch (Fn. 3), S. 29 - 42, 48 - 63; Lindsey, Elizabeth: Medieval French Bestiaries. Diss. University of Hull 1976, S. 17 - 71; Clark, Willene B.; McMunn, Meradith T. (Hrsg.): Beasts and Birds of the Middle Ages. Philadelphia 1989, Anhang S. 197 - 203; George, Wilma; Yapp, Brunsdon: The Naming of the Beasts. London 1991, S. xi- xiv; Hassig, Anhang S. 182 - 187; Henkel (Fn. 2, S. 29 f.) legt eine Liste von Dicta-Manuskripten vor (vgl. auch Fn. 43). Zur Auflistung der Aviarienmanuskripte siehe Clark, S. 267 - 313. <?page no="61"?> 60 L.A.J.R. Houwen sogenannte Dicta Chrysostomi, d.i. die Bestiarie, die in einigen Manuskripten dem heiligen Johannes Chrysostomus (etwa 347 - 407), Bischof von Konstantinopel, zugeschrieben wurde, soll sich auch aus versio B entwickelt haben. Damit können die Dicta, die die Tiere in unterschiedene Gruppen (bestia, reptilia) klassifizieren und keine gesonderten Kapitel über Pflanzen und Steine enthalten, sowohl aufgrund der Erweiterung des Adlerkapitels als auch des Vorhandenseins e iniger textlicher Korruptio nen, die sie von vorhergehenden Versionen unterscheiden, sehr wohl als eine Bestiarie gelten. 5 Natürlich stehen die frühesten Bestiarien dem Physiologus am nächsten. Obwohl alle Bestiarien zumindest Teile des viel älteren lateinischen Physiologus enthalten, werden nach und nach diesem Grundmaterial weitere Tierbeschreibungen hinzugefügt. Während die B- Version des Physiologus manchmal bis zu 36 Kapitel einschließt, umfassen einige der späteren englisch-lateinischen Bestiarien teilweise bis zu 150 Kapitel. In manchen Fällen ist der Einfluß des Physiologus auf die Bestiaren klar zu erkennen, da die aus dem Original stammenden Physiologus-Kapitel oftmals mit den Worten »Physiologus dicit« eingeleitet werden. Allerdings fügen die Bestiarien dem Physiologus nicht nur Kapitel hinzu; oftmals werden Kapitel auch beträchtlich erweitert. Darüber hinaus zeichnen sich die späteren Bestiarien durch eine enzyklopädische Anordnung der Tiere nach Abstammung aus, während im Physiologus die Beschreibungen der Tiere einigermaßen ungeordnet aufeinander folgen. Bestiarien lassen sich in verschiedene Gruppen oder Familien einordnen. 6 Die erste Familie umfaßt 29 Texte und Fragmente und beinhaltet außer der B-Is Version auch noch eine andere Version, die Teile von Hugh of Fouilloys ornithologischem Werk, das Aviariums, enthält. Diese Version wird als H-Version bezeichnet und hat sich in neun Texten über acht Kodices, von denen allein sieben in das 13. Jahrhundert fallen, erhalten. Fünf noch erhaltene Transitional-Bestiarien schließen die Lücke zwischen der ersten und der zweiten Familie. 7 Diese fünf Texte unterscheiden sich anhand ihrer Kombination der B- Is Fassung mit weiteren Einschüben, die hauptsächlich aus den Texten von Isidor stammen. Die bekannteste und beliebteste dieser lateinischen Bestiarien ist die zweite Familie, die in 33 Manuskripten erhalten ist. Vollständige Ausgaben dieses Textes umfassen über einhundert Kapitel, eine sinnstiftende Klassifikation der Tiere und eine Anzahl von Einschüben, meistens aus den Werken von Isidor, Ambrosius und Solinus. Obwohl diese Manuskripte auf das zwölfte bis 16. Jahrhundert datiert sind, entstand die Mehrzahl im 13. Jahrhundert. 5 Für eine Liste der Charakteristika der Dicta-Versionen s. Henkel (Fn. 2), S. 31 - 32. Es ist umstritten, ob die Dicta als Bestiarium oder als Physiologus einzustufen sind, vgl. McCulloch (Fn. 3); Frank, Lothar: Die Physiologus-Literatur des Englischen Mittelalters und die Tradition. Diss. Universität Tübingen 1971) und Henkel (Fn. 2) binden die Dicta in die Physiologus-Tradition ein; Eden, P.T.: Theobaldi Physiologus. Leiden 1972, S. 3 bezeichnet diese andererseits als »die erste richtige Bestiarium«, und Clark/ McMunn schließen die Dicta in ihrer Liste der »Manuscripts of Western Medieval Bestiary Versions« ein ([Fn. 4], S. 197 - 198). 6 James (Fn. 4) unterteilte als erster die ihm vorliegenden 40 - hauptsächlich englischen - Manuskripte in vier Familien, eine Klassifikation, die Florence McCulloch (Fn. 3) durch eine weitere Unterteilung der sog. ersten Familie in verschiedene Unterfamilien verfeinerte. Wilma George und Brunsdon Yapp (Fn. 4) unterteilten die zweite Familie in verschiedene Unterfamilien. 7 MS Gall 16 (Isabella Psalter) in der Bayerischen Staatsbibliothek München enthält zusätzlich zu diesen fünf Texten eine Reihe von Bestiarienilluminationen, die der Struktur der Übergangsbestiarie zu folgen scheinen; McCulloch (Fn. 3), S. 211, Anm. 4. <?page no="62"?> Bestiarien 61 Darüber hinaus läßt sich eine dritte Familie mit fünf Manuskripten (alle aus dem 13. Jahrhundert) feststellen. Diese Manuskripte, die sich durch ihren mit Haustieren beginnenden Aufbau unterscheiden, enthalten weitere Einschübe aus den Texten von Isidor, unter anderem die Erzählung der fabelhaften Stämme aus dem elften Buch der Etymologiae und Auszüge von Werken wie z.B. der Cosmologia von Bernardus Silvestris, des Pantheologus von Peter of Cornwall, dem Policraticus von John of Salisbury und De remediis fortuitorum von Seneca. Diese nicht zum ursprünglichen Textkonvolut gehörenden Stoffe sind entweder nur lose angehängt oder in das Bestiarium integriert. Die sogenannte vierte Familie ist nur durch ein Manuskript aus dem 15. Jahrhundert vertreten und enthält viele Hinzufügungen aus der im 13. Jahrhundert sehr populären Enzyklopädie des Bartholomaeus Anglicus, De proprietatibus rerum. 8 Den vier französischen Bestiarien, von denen zwei in Anglonormannisch geschrieben sind, liegen zwei unterschiedliche Versionen des lateinischen Physiologus zugrunde. Philippe de Thaons bestiaire, für den englischen Hof konzipiert und Aelis de Louvain, der zweiten Frau Heinrichs I. gewidmet, ist die älteste (ca. 1121) und in drei Manuskripten überliefert. 9 Die andere, in den Manuskripten oft als Li Bestiaire Divin bezeichnet, wurde von dem normannischen Kleriker Guillaume de Clerc (frühes 13. Jahrhundert) verfaßt und ist in 23 Exemplaren überliefert. Alle Manuskripte entstammen dem 13. und 14. Jahrhundert - die Mehrzahl der Texte jedoch (ca. 14) datiert aus dem 13. Jahrhundert. Ein anderes Bestiarium entstammt der Feder von Gervaise von Tilbury (frühes 13. Jahrhundert), das in nur einem Manuskript aus der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts überliefert ist. Das einzige französische Prosa-Bestiarium wurde von Pierre de Beauvais vor 1218 verfaßt und ist in einer Langversion und einer Kurzversion in je vier Manuskripten erhalten (13. - 15. Jahrhundert). 10 Außer Gervaises bestiaire, das einer Verarbeitung der Dicta Chrysostomi nahesteht, basieren die französischen Bestiarien alle auf der B-Is Version des Physiologus. Von den Dicta sind zumindest 36 vollständige oder teilvollständige Exemplare, wahrscheinlich noch einige mehr, erhalten. Die Dicta Chrysostomi sind wahrscheinlich im 11. Jahrhundert in Frankreich entstanden und erfreuten sich großer Beliebtheit in Deutschland und Österreich vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Die Dicta dienten auch als Grundlage für die drei deutschen vernakulären Adaptionen aus dem 12. und 13. Jahrhundert und für die Kurzversion aus dem 15. Jarhrhundert. 11 Der Melker Physiologus und der sog. Moralische Physiologus entstammen ebenfalls dem 15. Jahrhundert, lassen sich aber nicht genau einordnen. 12 Im Italienischen existieren um die 14 Bestiarien-Manuskripte, 13 von denen sich vier auf das 14. Jahrhundert datieren lassen, obwohl sie erst im 15. Jahrhundert bekannt wur- 8 Universitätsbibliothek Cambridge, MS Gg 6 5. Es ist umstritten, ob eine »Familie«, die nur ein Manuskript enthält, tatsächlich als ihre eigene »Klasse« gelten kann. Siehe auch James, M.R. (Fn. 4), S. 25. 9 In dem Text Oxford, Merton College 249 der bestiaire ist die Widmung umgeändert worden auf »Eleanor von Aquitanien« (die Frau Heinrichs II.). Dies würde das Manuskript auf ca. 1152 datieren. 10 McCulloch (Fn. 3), S. 62 - 63; Mermier, Guy R.: A Medieval Book of Beasts. Pierre de Beauvais’ Bestiary. Lampeter 1992, S. xiii- xiv. 11 Die Kurzversion erscheint in zwei Manuskripten. In Melk, Cod. 662 ist sie als »Dictamen brevissium de naturis 19 animalium« bezeichnet; in beiden Kodices ergänzt dieser Text die Tiere, die nicht in der Kurzversion des Physiologus Theobaldi erscheinen, der sich ebenfalls in diesem Manuskript befindet; siehe Henkel (Fn. 2), S. 48. <?page no="63"?> 62 L.A.J.R. Houwen den. Man nimmt an, daß die italienischen Bestiarien auf eine frühere Übersetzung des Physiologus zurückgehen, doch da die überlieferten Exemplare alle spät sind, komplizieren sich die Überlieferungsgeschichte und die inneren Zusammenhänge dieser Bestiarien. Außer den Vernakulärmanuskripten besteht noch eine lateinische Version, die in den überlieferten Drucken als Libellus de natura animalum bekannt ist. Diese Version ist in zwei Manuskripten und acht Exemplaren aus zwei Drucken (1508, 1524) erhalten. Der Verleger der Ausgabe aus dem Jahre 1508 brachte ebenfalls eine italienische Ausgabe heraus, von der anscheinend nur ein Exemplar erhalten ist. 14 Das Libellus ist eng mit dem Waldenser Bestiarium verwandt, von dem zwei Manuskripte aus dem späten 15. oder frühen 16. Jahrhundert überliefert sind. Das Waldenser Bestiarium und das Libellus könnten auf ein verlorengegangenes, extensiveres lateinisches Bestiarium zurückgehen. 15 Außer den französischen und italienischen Vernakulärbestiarien sind um die fünf Manuskripte einer katalanischen Adaption der toskanischen Übersetzung der Bestiarie bekannt, alle aus dem 15. und 16. Jahrhundert. 16 Das beliebteste Tierbuch von allen jedoch, das Aviarium des Augustinerprobstes von St. Nicholas de Regny, Hugh of Fouilloy, entstand in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Hugh hatte das Werk als Bestiarium angelegt, fügte aber der im höchsten Maße allegorisierenden und moralisieren Sammlung von Vogelbeschreibungen keine Tierbescheibungen an. 17 Daß sich das Fehlen 12 Henkel (Fn. 2), S. 96 - 104, 134 - 136. Entgegen Henkels Vorschlag, daß der »Moralische Physiologus« eher als Bestiarie denn als eine Version des Physiologus anzusehen sei, scheint er mir keiner dieser beiden Formen anzugehören. Bis heute ist nicht geklärt, ob dieses »Bestiarium« mehr als gröbste Merkmale mit dem Physiologus gemein hat. Die eher klischeegeprägten didaktischen Moralisationen ähneln keinesfalls denen des Physiologus oder der Bestiarien; vgl. Stammler, Wolfgang: Ein ›Moralischer Physiologus‹ in Reimen. In: Festschrift für Josef Quint. Berlin 1964, S. 231 - 235. 13 In Clark/ McMunn (Fn. 4), S. 202 f., sind elf italienische Bestiarien aufgelistet; für »cl. XII Cod. Strozz. Magliabecchiano 135« siehe »cl. XXI Cod. Strozz. Magliabecchiano 135«, wobei »Cod. 2183 R. IV Nr. 2260« zwei Kodices enthält, nämlich »Cod. 2183« und »Cod R.IV 4 Nr. 2260«, beide in der Biblioteca Ricardiana (Florenz); des weiteren werden bei Goldstaub, Wendriner und McKenzie noch andere Manuskripte zusätzlich zu den bei Clark/ McMunn erwähnten in diese Tradition eingestuft: Goldstaub, Max; Wendriner, Richard: Ein Tosco-Venezianischer Bestiarius. Halle 1892, S. 74 - 82; McKenzie, Kenneth: Unpublished Manuscripts of Italian Bestiaries. In: PMLA 20 (1905), S. 380 - 433; siehe auch Garver, S.: Some Supplementary Italian Bestiary Chapters. In: Romanic Review 11 (1920), S. 308 - 327. 14 Die Ausgabe aus dem Jahre 1508 wurde von Vincentius Berruerius in Mondovi (Piemont) gedruckt und ist in vier Exemplaren erhalten, ähnlich der Version aus dem Jahre 1524, die von Joseph Berruerius in Savona mit den Holzschnitten aus der Version von 1508 gedruckt wurde; die Aufenthaltsorte dieser beiden Drucke sind z.Zt. unbekannt. Für die Möglichkeit einer zweiten italienischen Ausgabe und einer Beschreibung der Manuskripte und Drucke vgl. Raugei, A.M.: Bestiario Valdese. Florenz 1984, S. 21 - 28. 15 McCulloch, Florence: The Waldensian Bestiary and the »Libellus de natura animalium«. In: Medievalia et Humanistica 5 (1963), S. 15 - 30, und Raugei (Fn. 14), Kap. 1 - 3. 16 Außer den bei Michel Salvat erwähnten Bestiarien (Salvat, Michel: Notes sur les bestiaires catalans. In: Salvat, Michel; Bianciotto, Gabriel [Hrsg.]: Epopée animale, fable, fabiau. Actes du IV e Société Internationale Renardienne. Paris 1984, S. 499 - 508), erreichte auch ein Bestiarium aus der zweiten (? ) Familie Spanien durch die verschiedenen (katalanischen und kastilischen) Übersetzungen von Bruno Latinis Li Livres dou Tresor, einer Enzyklopädie, die nicht nur viele italienischen Bestiarien beeinflußte, sondern auch in eigenem Recht in Spanien große Popularität erlangte; vgl. Baldwin, Spurgeon: The Medieval Castillian Bestiary. Exeter 1982, S. xx - xxii. 17 Siehe Prolog 1: »De quibusdam vero tam volucribus quam animalibus quae ad exemplum morum Divina Scriptura commemorat, quam citius potero breviter assignare temptabo.« (= Aber ich will versuchen, so kurz ich es kann, über bestimmte Vögel und Tiere zu berichten, die in die Heiligen Schrift als Beispiel guten Betragens erwähnt.); siehe Clark (Fn. 4), S. 118 f. <?page no="64"?> Bestiarien 63 anderer Tierbeschreibungen oft als Lücke bemerkbar machte, zeigt sich darin, daß die Aviarien in Manuskripten oftmals mit anderen Bestiarien ergänzt wurden - eine Tatsache, die die enge Verwandtschaft der beiden zu dieser Zeit aufzeigt. 18 Die Popularität der Aviarien bestätigt sich in den 96 vollständigen oder teilvollständigen Manuskripten. Obwohl Aviarien hauptsächlich von 12. bis zum 16. Jahrhundert produziert wurden, stammt der Großteil der Manuskripte aus dem 13. Jahrhundert. Insgesamt bestätigen die 285 überlieferten Bestiarien oder Aviarien und deren Fragmente die Beliebtheit dieser Form, obwohl diese Anzahl immer noch weit entfernt ist von den über 800 Manuskripten der Legenda Aurea oder der Enzyklopädien, von denen allein die von Bartholomaeus Anglicus in über 160 Texten in lateinischer Sprache erhalten ist. 19 Überlieferung und geographische Verteilung Um die Bedeutung der Bestiarien als Träger und Vermittler von Tiermythen darzustellen, muß deren Überlieferung und geographischer Verteilung Beachtung zukommen. Die hauptsächlichen Produktionszentren der verschiedenen Bestiariengattungen im westlichen Europa scheinen England, Frankreich, die deutschsprachigen Regionen und, in geringerem Maße, Italien und Spanien gewesen zu sein. England war das alleinige Produktionszentrum der Übergangsbestiarien und der Bestiarien der dritten und vierten Familie. Des weiteren lassen sich fast alle Bestiarien der zweiten Familie und etwa ein Fünftel aller Aviarien nach England zurückverfolgen. In England und Frankreich wurden etwa die Hälfte aller bekannten B-Is Bestiarien produziert. Die französischen Vernakulärbestiarien sind hauptsächlich in Frankreich entstanden, obwohl zwei der drei erhaltenen Exemplare von Philippes de Thaon Bestiarien wahrscheinlich englisch sind - was sich ebenfalls von zumindest einem Drittel der Bestiarien aus Guillaumes le Clerc Feder sagen läßt. Zusätzlich zu den Vernakulärbestiarien stellte Frankreich den wichtigsten Entstehungsort für Aviarien und den alleinigen Entstehungsort für Bestiaren vom Typ H dar. Außer in Frankreich erfreute sich das Aviarium auch großer Beliebtheit in Süddeutschland und Österreich sowie in geringerem Maße in den Niederlanden und in Italien. 20 Nach der Anzahl und dem Verbreitungsgrad extanter Manuskripte, die hauptsächlich aus dem 12. und 13. Jahrhundert stammen, aber auch in einigen Exemplaren aus dem 14. und 15. Jahrhundert überliefert sind, zu urteilen, waren die Dicta Chrysostomi am verbreitetsten in Süd- 18 Siehe Clark (Fn. 4), Kat. nummern 6, 21, 28, 29, 37, 40 (Aviarie/ B-Is); Nummern 7, 10, 22, 27, 58 (Aviarie/ DC); Nummern 12, 13, 44, (45), 46, 52, 77 (Aviarie/ H); Nummern 1, 11, 36, 38, 39, 41 (Aviarie/ Zweite Familie); Nummer 42 (Aviarie/ Guillaume le Clerc); Nummern 23, 25, 26, (Aviarie/ ungenannte Bestiarie). In den Bestiarien der zweiten Familie ist die Aviarie in die Bestiarie integriert; in allen anderen Fällen folgt die Bestiarie meistens unmittelbar der Aviarie. 19 Reames, Sherry L.: The ›Legenda aurea‹. Madison 1985, S. 4; Seymour, C. [u.a.]: Bartholomaeus Anglicus and His Encyclopdia. Aldershot 1992, S. 257 - 261. 20 Siehe die Karte mit den tatsächlichen und wahrscheinlichen Produktionsorten der Aviarien, die S. 1 bei Clark (Fn. 4), voransteht. Clark unterteilt etwa 88 Aviarien hinsichtlich Provenienz und Stil (S. 25) in die folgenden Kategorien: 32 - 33 stammen wahrscheinlich aus (Nord)frankreich; 17 sind englisch, 14 deutsch oder österreichisch, 8 oder 9 aus den Niederlanden, 8 aus Italien, 4 - 5 aus Portugal und 2 aus Böhmen. <?page no="65"?> 64 L.A.J.R. Houwen deutschland und Österreich - allerdings treten auch einige wenige Manuskriptexemplare in Frankreich und Flandern auf. 21 In England waren die Dicta anscheinend nicht sehr populär; das einzige in einer englischen Bibliothek erhaltene Manuskript ist Sloane 278, das selbst auf dem europäischen Festland entstand. 22 Etwa die Hälfte aller zwischen dem 10. und dem 16. Jahrhundert produzierten Bestiarien und Aviarien stammen aus dem 13. Jahrhundert. Ab Ende dieses Jahrhunderts nimmt die Anzahl der Bestiarien und Aviarien besonders in England und Frankreich ab. Nach dem 13. Jahrhundert werden in England außer einer Handvoll Bestiarien der zweiten Familie (bis etwa 1330) keine lateinischen Bestiarien der B-Is, des Übergangstypus, und der dritten Familie mehr produziert. 23 Die an diesem Punkt alleinige englische Innovation beschränkt sich auf die einzige überlieferte Kopie der bereits erwähnten Bestiarie aus der vierten Familie von ca. 1450. 24 Beinahe die Hälfte aller Bestiarien stammen aus dem 13. Jahrhundert; im 14. Jahrhundert entstanden kaum ein Fünftel, und im 15. Jahrhundert kaum ein Sechstel aller Bestiarien. Diese numerische Verteilung läßt sich auf die kontinuierliche Beliebtheit der Dicta in Deutschland und Österreich und auf die Bestiarienproduktion in Italien und Spanien zurückführen. Damit ergibt sich ab dem 14. Jahrhundert eine klare geographische Verschiebung der Popularität von England und Frankreich in weiter östlich und besonders in weiter südlich liegende Gebiete - ein Phänomen, das ebenfalls bezüglich des bekannten Physiologus Theobaldi auftritt. 25 Besitzer, Leser und Sinnzweck der Bestiarien Die in Form von Manuskriptsiglen, Illuminationen, Ex Libris und Bibliothekskatalogen erhaltenen Belege lassen vermuten, daß, besonders vor 1400, viele Bestiarien in Klöstern und Bruderschaften produziert und aufbewahrt wurden. 26 Das Ex Libris des MS 18421 - 29, eines Exemplares der Dicta aus dem 13. Jahrhundert in der Königlichen Bibliothek in Brüssel, läßt zum Beispiel annehmen, daß es sich einst im Besitz des Benediktinerklosters St. Martin in Tournai befand. Eine Miniatur in der British Library (BL), MS Harley 3244 (ca. 1255; zweite Familie), die einen zur Segnung Christi knienden Dominikaner darstellt, läßt ein Dominikanerkloster als Auftraggeber und Besitzer dieses Bestiarums vermuten. 27 In einer aus dem 13. Jahrhundert stammenden englischen Kopie des Bestiariums von Guillaume le Clerc treten sowohl Franziskaner als auch Dominikaner auf, wobei die Franziskaner den Großteil der Illustrationen bestimmen. 28 Nur wenige Klöster und Bruderschaften waren jedoch so vorrangig ausgestattet wie das Benediktinerkloster St. Em- 21 Henkel (Fn. 2), S. 29; Clark (Fn. 4), Kat. nummern 7, 10, 22, 27. 22 Eden (Fn. 5), S. 4; Payne, Ann: Medieval Beasts. London 1990, S. 12. 23 George/ Yapp (Fn. 4), S. xiii. Das letzte auf dem Festland entstandene Bestiarum ist anscheinend MS 82 in der Stadibibliothek Nîmes (frühes 16. Jahrhundert): McCulloch (Fn. 3), S. 36, Anm. 43. 24 Universitätsbibliothek Cambridge MS Gg 6 5. 25 Eden (Fn. 5), S. 14 f. 26 Clark (Fn. 4), S. 22. In der folgenden Diskussion, die auf der bekannten mittelalterlichen Besitzerschaft von lediglich einem Fünftel aller Texte ausschließlich Aviarie und einem Drittel aller Texte einschließlich Aviarie basiert, kann nicht oft genug auf die Unvollständigkeit der Belege hingewiesen werden 27 Payne (Fn. 22), S. 15. 28 Hassig (Fn. 4), S. 13, 42, 89, 112, 162 - 163. In Clarks Katalog von Manuskriptilluminationen der Aviarien sind viele weitere Beispiele aufgelistet ([Fn. 4], S. 267 - 311). <?page no="66"?> Bestiarien 65 meran bei Regensburg (Bayern), das im 15. und 16. Jahrhundert nicht nur fünf Exemplare des Physiologus Theobaldi besaß, sondern wohl auch im 12. und 13. Jahrhundert jeweils ein Exemplar der Dicta Chrysostomi entweder angekauft oder selbst produziert hat. 29 Des weiteren lassen sich Belege für den klösterlichen Besitz von Vernakulärbestiarien finden. Das BL, Cotton Nero Exemplar des Bestiariums von Phillippe de Thaon enthält ein Ex Libris der Zisterzienserabtei Holmcultram (Cumberland) und wurde dort entweder kopiert oder als Schenkung überreicht, und das Merton College Exemplar desselben Bestiariums hat wahrscheinlich einst einem Kloster in den West Midlands gehört. 30 Außerdem besaß im 14. Jahrhundert die Abtei St. Martin in Dover ein bestiarius in gallicis. 31 Demnach könnte Gervaises bestiaire das Produkt eines Zisterzienserklosters in der Normandie sein. Das älteste überlieferte Exemplar der althochdeutschen Dicta befand sich einst im Besitz der Benediktinerklosters St. Paul in Kärnten, und eine der katalanischen Bestiarien aus dem 16. Jahrhundert wurde von Franziskanern kopiert und aufbewahrt. 32 Daß die Aviarien (und die im gleichen Einband befindlichen Bestiarien) in die Klosterwelt gehören, macht Hugh in seinen Moralschriften über die religiöse Verwandlung des Menschen und über die öffentlichen und klösterlichen Verhaltensmaßregeln klar. 33 Der Manuskriptkontext unterstützt diese Forderung Hughs, denn seine Abhandlung erscheint stets im Verband mit anderen monastisch theologischen Werken, die ebenfalls meistens aus seiner Feder stammen (De claustro animae, De rota, De medicina animae, De pastoribus), oder aus der Feder von Richard of St. Victor (De institutione novitiae), St. Anselm, St. Bernard (Meditationes, De diligendo deo), und vielen anderen. 34 In non-aviarischen Manuskripten findet sich eine etwas geringere Konzentration monastischer und ausschließlich theologischer Texte. In den Manuskripten stehen den lateinischen und den Vernakulärbestiarien sehr oft Werke moraldidaktischer oder religiöser Natur gegenüber, 29 Eden (Fn. 5), S. 17 f.; Henkel (Fn. 2), S. 32. 30 Für die Zisterzienser-Verbindung des Cotton Nero MS vgl. Morson, Fr. John O.C.R.: The English Cistercians and the Bestiary. In: Bulletin of the John Rylands Library 39 (1956), S. 146 - 70, hier: S.168 f. Morson bemerkt, daß die Notiz auf Folio 82 am Ende der Bestiarie (»liber sancte marie de homcoltrum«) etwa ein Jahrhundert älter als das Manuskript selbst sein könnte und schließt daraus, daß es dem Kloster »vor dem Jahr 1200« als Schenkung überreicht wurde. Für eine Diskussion des Merton-Manuskripts vgl. Lindsey (Fn. 4), S. 410. 31 James, M.R.: The Ancient Libraries of Canterbury and Dover. Cambridge 1913, Nr. 390, zitiert bei Clark (Fn. 4), S. 23, Anm. 4. 32 In seinem Prolog erwähnt Gervaise die (Zisterzienser-)Abtei von »Barberie« in der Diözese Bayeux, aber die Verbindung von Gervaise mit diesem Kloster ist unklar; vgl. Meyer, Paul (Hrsg.): Le Bestiaire de Gervaise. In: Romania 1 (1872), S. 420 - 43; für die Provenienz der althochdeutschen Dicta vgl. Henkel (Fn. 2), S. 60 - 63; Salvat (Fn. 16), S. 500 f.. Siehe auch Frank (Fn. 5), S. 30 f. und McCulloch (Fn. 3), S. 55. 33 Clark (Fn. 4), S. 16 - 21. In dem Prolog legt Hugh sein Ziel offen dar, nämlich »per picturam simplicium mentes aedificare decrevi« (= durch ein Bild die Geister einfacher Menschen zu bilden) (S. 116 f.). Hugh erklärt die Verwendung von Tierabbildung und zugehörigem Text als eine Art Gedächtnismittel - eine Idee, die auch das Bestiarium von Richard de Fournival (Bestiaire d’Amour) einleitet und im ganzen Werk von Philippe de Thaon zu finden ist. Vgl. auch Carruthers, Mary: The Book of Memory. Cambridge 1990, S. 126 und Rowland, Beryl: The Art of Memory and the Bestiary. In: Clark/ McMunn (Fn. 4), S. 12 - 25. Joanne S. Norman argumentiert für dieselbe mnemonische Verwendung in Predigttexten, wie den Etymachia, John Ridevalls Fulgentius metaforalis und Robert Holcots Moralitates (Text and Image in Medieval Preaching. In: Heusser, Martin (Hrsg.): Word and Image Interactions. Basel 1993, S. 41 - 52). 34 Clark (Fn. 4), S. 24, 267 - 311. <?page no="67"?> 66 L.A.J.R. Houwen z.B. Predigttexte, Vitae, Übersetzungen und Paraphrasen von Bibeltexten, Auslegungen des Vaterunser, Abhandlungen über die Heilige Jungfrau und über Tugenden und Laster. Ebenso häufig treten enzyklopädische Texte mit starken moraldidaktischen Untertönen und Fabeln auf. 35 Unter ersteren befindet sich die Lapidarie, die oftmals der Bestiarie zur Seite steht; oder auch Honorius Augustodunensis Imago Mundi und dessen französische Übertragung von Gautier de Metz. In den lateinischen Manuskripten ist noch ein Bodensatz von theologischen Abhandlungen enthalten, die allerdings fast immer in den Vernakulärfassungen fehlen, in denen die nicht-lateinischen Bestiarien normalerweise zu finden sind. Ihre Inhalte sind meist moraldidaktischer oder frommer Natur, und nur vereinzelt findet man »wissenschaftliche« oder, noch seltener, »historische« oder »literarische« Texte. 36 Insgesamt stellen die Texte in den Manuskripten der Vernakulärbestiarien eine klare Verschiebung von religiösen zu weltlichen Inhalten dar, besonders zu der Welt der niederen Klerik und der gebildeten Laien. 37 Das mag noch nicht einmal überraschend klingen, wenn man bedenkt, daß viele Vernakulärbestiarien zu einem späten Zeitpunkt geschrieben wurden, als der Alphabetismus und das Interesse an moraldidaktischen und religiösen Angelegenheiten in der Laienklerik dramatisch anstieg. Auf jeden Fall läßt sich eine ähnliche Entwicklung hinsichtlich der Kopien des Physiologus feststellen (auf Latein und in den Vernakulärsprachen), die ab dem 14. Jahrhundert oftmals im Verband mit andren moraldidaktischen Werken auftreten. 38 Aviarien waren anscheinened bei den Zisterziensern und Benediktinern, aber auch bei den Augustinern und in geringerem Maße bei den Franziskanern, Viktorinern und Dominikanern sehr geschätzt. 39 In gewissem Sinne gilt dies auch für die Bestiarien, mit der Ausnahme, daß hier die Benediktiner den Zisterziensern und Franziskanern hinsichtlich Besitzerschaft voranstehen. Zusammengenommen besaßen die Benediktiner und Zisterzienser über die Hälfte aller Bestiarien, deren frühe Provenienz bekannt ist. Des weiteren läßt sich aufgrund von Belegen vermuten, daß den Zisterziensern - wichtig in der Verbreitung von Aviarien - eine ähnliche Rolle hinsichtlich der Bestiarien in England zukommt. 40 Entscheidend für die klösterliche Beaufsichtigung der Bestiarien und Aviarien könnte deren Verwendbarkeit für Predigten und moral- oder religiös-didaktische Diskurse gewesen sein. Ein anderer Nutzen könnte aus deren Verwendbarkeit als Lehrtexte für die Ausbildung von Novizen oder weniger begabten Mönchen und Laienbrüdern ge- 35 Daß Fabeln in engem Zusammenhang mit moralischen Tierweisheiten stehen, bestätigt sich in den Manuskripttraditionen der Bestiarien und des Physiologus; siehe außerdem die Kapitel über Adler (X), Phoenix (XIII), Spinne (XV a ), Antilope (XVII), Krokodil und Wasserschlange (XVIII), Ameise (XLII b ), Fuchs (XLIX), Pelikan (LVII), und den Panther (LX) in den Fabeln des Odo of Cheriton (ca. 1185 - ca. 1247). In: Hervieux, Léopold (Hrsg.): Les fabulistes latins. 5 Bde. Paris 1893-99, IV., S, 195 - 245. 36 Unter den altfranzösischen Manuskripten zeichnet sich eines (Paris, BN, fr. 2168) durch die beinahe ausschließliche Verwendung von unterhaltsamen Texten wie Aucassin et Nicolette, Marie de Frances Lais, Fables und einiger Fabliaux aus. 37 Siehe Lindsey (Fn. 4), S. 402 - 448, und Henkel ([Fn. 2], S. 136), der erwähnt, daß der deutsche Moralische Physiologus (siehe Anm. 12) in einem Manuskript erhalten ist, das ausschließlich solche moraldidaktische Lyrik enthält, die nur von dem Benediktinerprediger, der dieses Manuskript ursprünglich zusammenstellte, zur Unterrichtung seiner Gemeinde benutzt werden konnte. 38 Henkel (Fn. 2), S. 57 - 58. 39 Clark (Fn. 4), S. 24 - 25. 40 Morson (Fn. 30), S. 167 - 170. Morson identifiziert vier Bestiarien, für die Belege einer Besitzerschaft durch eine englische Zisterzienserabtei vorhanden sind. <?page no="68"?> Bestiarien 67 zogen worden sein. 41 Die Verwendung als klosterinterner Lehrtext würde auch die Präsenz des Vernakulärbestiariums von Guillaume le Clerc in englischen Nonnenkloster Nuneaton erklären. Das Manuskript, in dem das Bestiarium erscheint (Cambridge, Fitzwilliam Museum, MS McLean 123) ist frommer Natur und umfaßt u.a. auch Grossetestes Château d’amour, eine Auslegung des Vaterunser, eine französische Versübersetzung des Gopsel of Nicodemus (Evangelium des Nicodemus), eine illustrierte Apokalypse in Französisch und Latein, Musik für das Officium beate Virginis und den Text der englischen Verspredigt, das Poema morale. 42 Gegen Ende des Mittelalters nehmen die Besitzerschaft und Produktion von Bestiarien bei Bettelorden zu. Eine der zwei prinzipalen katalanischen Bestiarien aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde von einem Franziskanermönch kopiert, der seine Anonymität wahren wollte »per avitar vanaglòria e per humiliat.« 43 Desgleichen wurden die beiden Manuskript-Kopien des Libellus entweder von den Franziskanern produziert oder verwahrt. 44 Die Bettelorden haben wahrscheinlich die in ihrem Besitz befindlichen Bestiarien hauptsächlich zu Predigtzwecken verwendet. Aus diesem Grunde umfaßt BL, Harley 3244 (wahrscheinlich dominikanischer Provenienz) 45 außer solchen bevorzugten Texten aus Bestiarienmanuskripten wie dem Elucidarium, Alanus de Insulis’ De sex alis cherubim, und der allgegenwärtigen Lapidarie ebenfalls solche Werke wie Peraldus’ Summa de vitiis et virtutibus, eine Sammlung von exempla, und Alanus’ Liber penitentialis, welches impliziert, daß das Manuskript als eine Art Predigthandbuch zusammengestellt wurde, in dem ein Pastor alles Notwendige finden sollte: sogar Richards von Thetford diesbezügliches Handbuch, die Ars dilatandi sermones ist mit eingeschlossen. 46 Das incipit in der katalanischen Bestiarie aus dem 15. Jahrhundert (Barcelona, MS 310) folgt einer ähnlichen Tendenz: »Naturals condicions de varios animals aplicades per comparacion als hòmens pecadors per exemples utils a la predicacio«. 47 Die umfangreichen Belege für den monastischen und kirchlichen Besitz der Bestiarien lassen leicht die Möglichkeit der Laienpatronage und des Laienbesitzes in Vergessenheit geraten. Die Belege für letzteres sind nicht schlüssig, obwohl bei einigen Bestiarien Anzeichen für Laienpatronage und -besitz bestehen. Das reich illustrierte Bestiarium der zweiten Familie, MS Bodley 764, enthält die Miniatur eines Elefanten, in der die vier Familienwappen derer von Monhaut (Marches), Clare (Marches), und Berkeley (Gloucestershire) zu sehen sind - eine Illustration, die auf Hofpatronage und wahrscheinlich auch Hofbesitz eines Bestiarums schließen läßt. 48 Laienbesitz läßt sich ohne Zweifel für 41 Siehe Clark, Willene B.: The Illustrated Medieval Aviary and the Lay-Brotherhood. In: Gesta 21 (1982), S. 63 - 74; (Fn. 4), S. 23. 42 Hassig (Fn. 4), S. 185; Lindsey (Fn. 4), S. 50. Lindsey bemerkt, daß die Inhalte nicht »too dogmatic for secular use« und »sufficiently pious for convent use« sind (S. 406). 43 Salvat (Fn. 16), S. 501. 44 Raugei (Fn. 14), S. 22 f., 25. 45 Raugei (Fn. 14), S. 8. 46 Payne (Fn. 22), S. 15; Hassig (Fn. 4), S. 175. 47 Salvat (Fn. 16), S. 501. 48 Baxter, Ronald: A Baronial Bestiary. Heraldic Evidence for the Patronage of MS Bodley 764. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 50 (1987), S. 196 - 200. Baxter bemerkt, daß außer Bodley 764 »no other English Latin bestiary can be unequivocally ascribed to lay patronage« (S. 200). Clark nimmt Hofpatronage für Malibu, Getty Museum, MS XV, 3 (13. Jahrhundert), an und ist der Meinung, daß der Adressat ein Zisterzienserkloster gewesen sein könnte ([Fn. 4], S. 291). <?page no="69"?> 68 L.A.J.R. Houwen ein Exemplar von Guillaume le Clercs Bestiarium aus dem 15. Jahrhundert bestimmen. Dieses Exemplar gehörte Anne Malet de Graville, der Tochter des französischen Admirals Louis Malet de Graville, die das Manuskript vor 1517 in Lyon erwarb und nach ihrem Tode ihrem Schwiegersohn hinterließ. 49 Das gleiche könnte auch für eine der italienischen Bestiarien (Florenz, Biblioteca Ricardiana Cod. R IV 4 Nr. 2260) gelten, die sich auf die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts datieren läßt und 1412 von »Zuccherino dorsino daccingnano« erworben und 1423 verkauft wurde. 50 Wahrscheinlich erhöhte sich gegen Ende des Mittelalters die Anzahl der Laienbesitzer, deren Bestiarien, ähnlich der von Anne Malet, wahrscheinlich in der Vernakulärsprache abgefaßt waren. Aufbrechen des Genres Trotz der abnehmenden Beliebtheit des Genres nach Ende des 13. Jahrhunderts haben die Bestiarien ihre literarische Spur hinterlassen. Es lassen sich zwei maßgebliche Entwicklungen im Genre des Bestiariums feststellen. Die erste fand etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts in Frankreich statt, als Richard de Fournival seine Bestiaire d’amour verfaßte. 51 Diese Bestiarie und ihre anonyme Gegenschrift gilt als Wegbereiter für die fortlaufende Beliebheit vieler Tiermythen, obwohl hier das Genre fast gänzlich verweltlicht wird. Richards »Bestiarie« war extrem populär, was sich nicht nur an der Anzahl extanter Manuskripte und Übersetzungen messen läßt, sondern auch an ihren überlieferten Adaptionen und an ihrem Einfluß auf andere, traditionellere Bestiarien. In der Bestiaire d’amour ersetzt das aristotelische Weltverständnis den traditionellen neoplatonischen Hintergrund; Bibelzitate, die Gruppenzuordnung der Tiere und die Kapitelaufteilung in einen Abschnitt über die natürlichen Charaktermerkmale der Tiere, der von einer moraldidaktischen Interpretation begleitet wird, fallen weg. Richard revidiert die Tiermythen komplett und stellt sie um in die Form eines pseudo-höfischen Liebesgeplänkels, in dem der liebesentbrannte Autor das Herz einer Dame zu gewinnen sucht und Similes und Metaphern aus der Tierwelt benutzt, um seinen Standpunkt zu stärken. Er wählt die Tiermetaphern nach deren Tauglichkeit für die verschiedenen thematisierten Liebesaspekte aus. 52 Daß die Weiterentwicklung des Genres nicht unbedingt eine Entwicklung weg von den Bestiarien bedeuten muß, wird offensichtlich in der Bestiarie von Cambrai und der engverwandten provenzalischen Übersetzung. Erstere ist eine Adaption von Richard de Fournivals Bestiaire d’amour, frei von allen höfischen Anspielungen und damit der traditionelleren Bestiarie sehr nahestehend (ohne die Moralisationen). 53 Eine andere Art Revision betrifft die sogenannten »heraldischen Bestiarien.« Diese Bestiarien kamen im 14. Jahrhundert auf, nahmen im 15. und 16. Jahrhundert an Beliebt- 49 Lindsey (Fn. 4), S. 403 f. Lindsey erwähnt auch, daß Paris, BN 24428 für Laien zusammengestellt worden sein könnte (S. 404 f.), aber Clark ([Fn. 4], S. 300 f.) ist anderer Meinung. Es ist jedoch sicher, daß ein Laie namens Nicholas of Lessey das Manuskript im frühen 15. Jahrhundert besaß. 50 Goldstaub/ Wendriner (Fn. 13), S. 78. 51 Le Bestiaires d’Amours di Maistre Richart de Fornival e li Response du Bestiaire. Hrsg. C. Sergre. Mailand 1957. Für eine Übersetzung ins heutige Englisch vgl. Beer, Jeanette: Master Richard’s Bestiary of Love and Response. Berkeley 1986. 52 Jeanette Beer diskutiert Richards Verwendung der Bestiarie, vgl. (Fn. 51), S. xvii - xxi; dies.: Duel of Bestiaries. In: Clark/ McMunn (Fn. 4), S. 96 - 105. 53 Edition von Ham, E. B.: The Cambrai Bestiary. In: Modern Philology 36 (1939), S. 225 - 237. <?page no="70"?> Bestiarien 69 heit zu und neigten dann zu dramatischen Erweiterungen. Dieses Entwicklungsschema ähnelt dem der B-Is Version, das für die Entstehung der verschiedenen Familien verantwortlich ist. Heraldische Bestiarien entsprechen den traditionellen Bestiarien in Anlage und dem Klassifikationsabschnitt, wobei die moralische Interpretation durch eine ritterliche Interpretation ersetzt wurde. Anders als die traditionellen Bestiarien erscheinen sie nicht als Einzelwerke. Man findet die heraldischen Bestiarien eingebunden in heraldische Abhandlungen, wie z.B. De Bado Aureos Tractatus de Armis aus dem späten 14. Jahrhundert, oder in einer stark erweiterten Fassung in einem nordfranzösischen Manuskript aus dem 15. Jahrhundert. 54 In beiden Texten stehen Bestiarium und Enzyklopädie in engem Zusammenhang - vieles von De Bado Aureos Tiermaterial basiert auf Bartholomaeus Anglicus’ Enzyklopädie, und das des französischen Textes auf Brunetto Latinis Li livres dou tresor, das wiederum vieles mit den Bestiarien gemeinsam hat. Ähnlich haben Richard de Fournivals Bestiaire d’amour und dessen Derivate die heraldischen Bestiarien zur Fortsetzung der Bestiarientradition und zur Verbreitung von Tiermythen aus den Grenzen von Kirche und Kloster in die Welt der gebildeten Laienschaft beigetragen. Bestiarien und die Verfestigung und Revision von Tiermythen Die in den Bestiarien enthaltenen Tiermythen haben zwei genreverändernde Entwicklungen durchlaufen: Die Erweiterung der Bestiarien durch Einfügungen von mit dem Physiologus unverbundenem Material, wie oben als Teil der Bestiarientradition erläutert, und die Verschiebung in verschiedenen Bestiarien von einer allegorischen hin zu einer moraldidaktischen Interpretationsbasis. Letztere hat zum Großteil in den lateinischen und Vernakulärtexten stattgefunden. Während im Physiologus die Beschreibungen der Tiercharakteristiken auf einer christlich-dogmatischen Interpretationsgrundlage beruhten, werden die Physiologus-Interpretationen in den Bestiarien verändert und eher ersetzt durch Diskussionen über den Platz des Individuums in der klösterlichen oder weltlichen Gesellschaft als durch Diskussionen über ein Leben nach dem Tode. Dieser Prozeß ist jedoch graduell. Die frühen Bestiarien wie z.B: die Dicta und die französischen Vernakulärbestiarien sind noch eng mit ihren Quellentexten verwandt. Philippes de Thaon Bestiaire beispielsweise übernimmt im Gegensatz zu den griechischen und lateinischen Physiologi die charakteristische Klassifikation in Tiere, Vögel, und Steine. Allerdings bleibt hier die mystische Interpretation der Tiere erhalten, die sogar, wie in der B-Version des im Physiologus verwendeteten Methode, nach ihrer Repräsentationsgestalt (Christus, Mensch, oder Teufel) geordnet sind. 55 54 Für die lateinischen Texte und deren walisische Übersetzung vgl. Jones, E. J. (Hrsg.): Medieval Heraldry. Cardiff 1943 (Privatdruck), S. 2 - 94 (walisischer Text), S. 95 - 143, 144 - 212 (lateinische Texte); eine mittelenglische Übersetzung des Tractatus aus dem 15. Jahrhundert ist in Oxford, Bodleian Library, MS Laud Misc 733; ein kurzer Auszug ist bei Gray, Douglas (Hrsg.): The Oxford Book of Late Medieval Verse and Prose. Oxford 1989, S. 143 f. abgedruckt. Der französische Text befindet sich in London, College of Arms, MS M 19 (Edition: Houwen, L.A.J.R.; Eley, P. (Hrsg.): A Fifteenth-Century French Heraldic Bestiary. In: Zeitschrift für Romanische Philologie 108 (1992), S. 460 - 514; eine Übersetzung ins Middle Scots erscheint in vier Manuskripten, vgl. Houwen, L.A.J.R. (Hrsg.): The Deidis of Armorie. A Heraldic Treatise and Bestiary. 2 Bde. Edinburgh 1994 (Scottish Text Society). Siehe auch Dennys, Rodney: The Heraldic Imagination. London 1975, Kap. 6 und 7. <?page no="71"?> 70 L.A.J.R. Houwen Allmählich ändern sich jedoch die Interpretationsschwerpunkte und besonders in den Bestiarien der zweiten und dritten Familie erweitern sich die deskriptiven Passagen, so daß die Bedeutung der Interpretation in den Hintergrund tritt oder, wie in der Bestiarie der Vierten Familie, »propter prolixitatem« fast vollständig verschwindet. 56 Diese Entwicklung wirkt der Tendenz in der Physiologus-Struktur, in der der Allegorieteil oft die Beschreibung des Tieres an Länge übertrifft, entgegen. Der »sensus moralis« in der Beschreibung des Fasans in einem Bestiarum der zweiten Familie stellt ein gutes Beispiel dar: In dem Bestiarium beginnt das Kapitel nicht mehr mit einem Bibelzitat, wie noch im Physiologus, sondern mit einem langen Zitat von Isidors Etymologiae, das die Bedeutungsgeschichte des Wortes perdix (onomatopoeisch) zusammen mit den homosexuellen Neigungen des männlichen Vogels und den diebischen Neigungen des weiblichen Vogels, hin und wieder Eier aus einem anderen Nest zu stehlen, erläutert. Ausschließlich im letzten Teil wird in der Art des Physiologus moralisiert. Während jedoch im Physiologus die Rolle von Christus, der Kirche, und der Gemeinschaft der Gläubigen betont wird, findet sich in der Bestiarie eine Verschiebung hin zu einer christlich-ethischen Interpretation, die die »Anziehungskraft des Körpers«, durch die der Teufel Menschen in Versuchung führt, hervorhebt. Der kurze Moralabschnitt wird von einem langen Zitat aus Solinus’ Collectanea überschattet, in dem einige der bei Isidor erwähnten Charakteristiken wiederholt sind. 57 Sogar bei den Tierbeschreibungen, die entlang der Maßstäbe des Physiologus moralisiert wurden, lassen sich eindeutige Veränderungen feststellen. Wo im Physiologus oftmals die Allegorieteile mit »sic et« (tu, homo; christiane; diabolus) oder »ergo et tu ...«, oder einer einfachen Identifikation wie »saluator noster charadrius est« eingeführt werden, wird in dem Bestiarium oft stärker analogiebetonende Phrasen »ist wie« oder Verben wie »imitare« und »simulare« verwendet, die die Interpretation in eine Art »exemplum« verwandeln. 58 Diese Verschiebung hin zu einer moralischen an Stelle einer allegorischen Interpretation kommt am deutlichsten in der Beschreibung der nicht im Physiologus enthaltenen Tiere zum Vorschein, bei denen pastorale Themen wie Beichte, Sühne, und die Tugenden und Laster den immer entscheidenderen Teil einnehmen. Auf diese Weise unterscheiden sich die Bestiarien nicht von anderen Genres, die ab dem 14. Jahrhundert moralisiert werden. Zu dieser Zeit werden Fabeln in »exempla« umgewandelt, wie z.B. im Dialogus creaturarum und in Enzyklopädien wie Isidors Etymologiae und Bartholomaeus’ De proprietatibus rerum, und sogar die Tierbeschreibungen von Aristoteles werden moralisiert. 55 Siehe auch Lindsey (Fn. 4), S. 99; aber vgl. McCulloch (Fn. 3), S. 50 f. 56 Zit. bei James (Fn. 4), S. 25. 57 Die erhöhte Betonung von Details aus der »natürlichen« Geschichte wird gelegentlich als Anzeichen für eine Klassifikation einiger Bestiarien als »naturwissenschaftliche« Dokumente interpretiert. Die Kritik hat ebenso vorgeschlagen, daß diese Bestiarien als Lehrmittel für den naturwissenschaftlichen Unterricht verwendet wurden. Ich halte beide Annahmen für nicht besonders glaubwürdig: zum einen, weil nicht jede Hinzufügung rein naturwissenschaftlicher Art ist (die in St. Ambroses Hexaemeron sind of exhortativer Natur und nehmen oft Homilienform an); zum anderen, weil der Mangel an Interpretationspassagen die Verwendung solcher Tiere in einem moraldidaktischen Kontext nicht unbedingt ausschließt, da eine Moralisation der Kapitel, wenn nötig, relativ einfach gewesen sein müßte. 58 Im Libellus wird das Verb oft im Infinitiv zusammen mit »debemus« (= wir müssen) verwandt. <?page no="72"?> Bestiarien 71 Einfluß auf andere Genres Löwen, die ihren toten Jungen am dritten Tage Leben einhauchen, Pelikane, die ihre toten Küken nach drei Tagen durch eine Verletzung in der eigenen Brust zum Leben erwekken, und Panther, die nach dreitägigem Schlaf erwachen und mit einem süßlich riechenden Gebrüll ausgestattet sind, gehören zu dem allzu bekannten Inventar der mittelalterlichen Tiersymbolik. Im Physiologus beginnend stellten solche Beschreibungen nicht nur die Basis für die Bestiarien dar, sondern wurden auch schnell in die hexaemerale Literatur, Kommentare, Homilien, Gedichte, und besonders die Enzyklopädien eingebunden, die mit dem Verschwinden der Bestarien immer häufiger auftauchten. Die Einzigartigkeit vieler im Physiologus enthaltenen Tierweisheiten garantierte beinahe die Erwähnung des Materials in Enzyklpädien, wie z.B. das Liber de natura rerum (ca. 1240) von Thomas von Cantimpré, de De proprietatis rerum von Bartholomaeus Anglicus (ca. 1242 - 47) und dem Speculum naturale (1256 - 59) des Vincent de Beauvais, in denen diese zur Erweiterung der Hauptquellen benutzt wurden. Die sparsame Einbindung der Bestiarien in diese Enzyklopädien läßt sich andererseits mit der Tatsache erklären, daß die Herausgeber bereits viele dieser Information in den Hauptquellen finden konnten. 59 Brunetto Latini stellt hier allerdings eine Ausnahme dar, da er anscheinend ein Bestiarium der zweiten Familie als Hauptquelle für Tierweisheiten in Li livres dou tresor benutzt hat (1260 - 1270). 60 Latinis Tresor hat wiederum Einfluß auf die italienischen und durch diese auf die katalanischen Bestiarien genommen. Diese gegenseitige Verbindung von Bestiarien und Enzyklopädien und die große Popularität der letzteren erschwert selbstverständlich die unmittelbare Quellenbestimmung für spätere Referenzen auf Tiere und Tiermythen. Die wenigen Studien, die versucht haben, die unmittelbaren Quellen für mittelalterliche Tierweisheiten zu bestimmen, schließen sehr oft mit der Erkenntnis, daß ein Großteil der Metaphorik wahrscheinlich eher aus mittelalterlichen Enzyklopädien als aus den Bestiarien stammt. So hat wohl Nicole Bozon das meiste, wenn nicht die Gesamtheit, seiner Vogelmetaphorik in seinen Contes moralisées nicht den Bestiarien, sondern der De proprietatibus rerum entnommen, 61 und der Mönch, der die Enzyklopädie Liber de naturis animalium cum moralitatibus gegen Ende des 13. Jahrhunderts in der Zisterzienserabtei Heiligenkreuz verfaßt hatte, entnahm sein Material über Vögel nicht dem seit dem frühen 13. Jahrhundert in der Klosterbibliothek befindlichen reich illustrierten Aviarium, sondern den Enzyklopädien von Bartholomaeus und Thomas (obwohl das hoch allegorisierende und moralisierende Aviarium eine sehr naheliegende Quelle gewesen wäre). 62 Ebenso gehen die Bestiarienweisheiten in solch beleibten Sammlungen wie dem Dialogus creaturarum und der Fiore 59 Vincent verwendet anscheinend den Physiologus und die Bestiarien am meisten, obwohl beide als Physiologus identifiziert werden. In De proprietatibus wird die Quelle often als »Plinius« oder »der Philosoph« falsch angegeben, aber siehe Seymour (Fn. 19), Kommentar zu Büchern 12 und 18 und Seiten 137, 209. Thomas bezieht sich nur hin und wieder auf den Physiologus. 60 McCulloch (Fn. 3), S. 47 schreibt: »The final seventy chapters of Book I of Brunetto Latini’s Li Livres dou Trésor treat Fish, Serpents, Birds, and Beasts. The closeness in wording in endless examples between the French composition and the Latin of a manuscript of the Second Family leads one to think that Brunetto in many instances did no more than translate the expanded bestiary«. 61 van den Abeele, Baudouin: L’exemplum et le monde animal. Le cas des oiseaux chez Nicole Bozon. In: Le Moyen Age 94 (1988), S. 51 - 72. <?page no="73"?> 72 L.A.J.R. Houwen di Virtù in großem Maße, oder auch in ihrer Gesamtheit, eher auf die Enzyklopädien als auf die Bestiarien zurück - und dies, obwohl die Fiore in vielen Manuskripten dicht bei den Bestiarien steht und sogar den Titel von einem dieser Bestiarien übernommen hat. 63 Daher ist es wahrscheinlich, daß der Inhalt vieler Bestiarien durch die Enzyklopädien Verbreitung fand. 64 Die aus den Bettelrorden stammenden Enzyklopädien mit ihrem allumfassenden Interpretationsansatz für die Welt und den Kosmos gehörten zu den einflußreichsten Quellen der Moralisten und Predigern, besonders da das Ziel der letzteren, die Lehre von der Moral, ebenso den Zweck der Bestiarien darstellte. In den Händen von Predigern hätten die Enzyklopädien eine weitaus größere Zielgruppe erreicht als die Bestiarien, da diese nur im Bereich der Klöster und in den Bibliotheken einiger Priviligierter wirken konnten. 65 Weniger umstritten ist der Einfluß der Bestiarien auf mittelalterliche Kunst. Dieser Einfluß konzentriert sich anscheinend auf die reich illustrierten Bestiarien der zweiten Familie und auf die aus der Feder von Guillaume le Clerc. Die standardgemäß nicht illustrierten Enzyklopädien wären für die Künstler auf der Suche für Vorlagen zur Verzierung von Gebäuden und von anderen Manuskripten von geringem Nutzen gewesen. Daß die Künstler oftmals auf Bestiarien zurückgriffen, läßt sich mit der Tatsache belegen, daß einige Bestiarien tatsächlich als Vorlagen benutzt wurden, oder daß verschiedene überlieferte Skulpturn und Miniaturen eindeutige Verbindungen zu den Bestiarien aufweisen. Ein reich illustriertes englisches Bestiarium könnte sehr wohl den nun sehr verblaßten Türverzierungen der Pfarrkirche in Alne (Yorkshire) zugrundegelegen haben. Diese Verzierungen sind heute nur noch anhand ihrer lateinischen Bezeichnung erkennbar. Die Abbildungen über den Portalen in Bradbourne und Kilpeck könnten ebenso auf Bestiarienilluminationen zurückgehen - was auch für die Wandmalereien in Longthorpe Tower 62 Für eine Beschreibung der Heiligenkreuzer Aviarie, die ein ex libris aus dem 13. Jahrhundert auf fol. 153 v hat, vgl. Clark (Fn. 4), S. 41 - 44. Für das Liber de naturis siehe van den Abeele, Baudouin: Bestiaires encyclopédiques moralisés. Quelques succédanés de Thomas de Cantimpré et de Barthélemy l’Anglais. In: Reinardus 7 (1994), S. 209 - 228. 63 Goldstaub/ Wendriner (Fn. 13), S. 81; McKenzie (Fn. 13), S. 384, 402; Hermann Varnhagen schließt, daß Bartholomaeus Anglicus, zusammen mit Details aus Albertus Magnus De animalibus das »Bestiarien«material der Fiore stellte; allerdings bezieht seine Forschung die moralisierten Enzyklopädien nicht ein (Varnhagen, Hermann: Die Quellen der Bestiär-Abschnitte im Fiore di Virtù. In: Raccolta di studii critici dedicata ad Alessandro d’Ancona. Florenz 1901, S. 515 - 538); Gregory Kratzmann und Elizabeth Gee zeigen das Problem der Identifikation von direkten Quellen für den Dialogus und schließen trotz vieler Bezüge auf Bestiarien und die »Bestiarientradition« mit der Vermutung, daß die Enzyklopädien die »mediating sources of much of the material« darstellten (Kratzmann, Gregory; Gee, Elizabeth: The Dialoges of Creatures Moralysed. Leiden 1988, S. 16 [Einleitung]). 64 Vgl. Henkel, der für die deutsche Literatur des Mittelalters feststellt: »In unselbständiger Überlieferung, innerhalb von Texten der geistl. und didakt. Lit. sowie in der Minnedichtung, sind seit dem 13. Jh. nicht selten Tiergeschichten (auch mit Auslegungen) erhalten, die mit den in den B. überlieferten inhaltl. übereinstimmen, ohne daß dabei quellenmäßige Abhängigkeit zu erweisen wäre« (Lexikon des Mittelalters. Hrsg. Robert Auty [u.a.]. Bd. 1. München 1977, Sp. 2076). Diese Beobachtung scheint auch für andere Literaturen des Mittelalters zu gelten. 65 Andere einflußreiche Werke über Tiere und Tierweisheiten, die Priester in ganz West- und Zentraleuropa vom 14. bis zumindest dem 16. oder sogar dem 17. Jahrhundert beeinflußten, sind z.B. Sammlungen wie Petrus Berchorius’ Reductorium morale, Johannes de San Geminianos Summa de exemplis et rerum similitudinibus, das Lumen animae (14. Jahrhundert) und die Etymachia. Vgl. Twomey, Michael W.: Medieval Encyclopedias. In: Kaske, R. E. [u.a.]: Medieval Christian Literary Imagery. Toronto 1988, S. 182 - 215. <?page no="74"?> Bestiarien 73 in der Nähe von Peterborough zutrifft, die verschiedene Bestiarien-Tiere darstellen. Auf dem europäischen Festland findet sich das gemalte Bestiarium in der Form von 40 Illustrationen auf zwei Pfeilern in der Kirche in Savin-le-Mont (Frankreich), und Misericordien in ganz Westeuropa enthalten Szenen aus dem Bestiarium, besonders die des Fuchses, welcher seinen Tod vortäuscht, obwohl die Popularität dieser Metapher unzweifelhaft auch auf den Einschluß der Bestiarie in die Tierepik zurückzuführen ist. Tiersymbolik könnte ebenfalls verschiedene mittelalterliche »mappae mundi« (Weltbilder) beeinflußt haben, wie z.B. die Weltkarten von Ebstorf und Hereford. 66 Bestiarienilluminationen finden sich zusätzlich in Manuskripten ohne Bestiarien, teilweise sogar als vollständige Zyklen, wie z.B. in zwei englischen Psaltern aus dem 14. Jahrhundert. 67 Des weiteren ist der Einfluß der Bestiarien und deren Illustrationen auf die mittelalterliche Wappenkunde nicht zu unterschätzen; viele heraldische Abhandlungen zeigen den Einfluß von Tierweisheiten, und viele mittelalterliche Wappen sind mit solchen Tieren wie dem frommen Pelikan, dessen Symbolkraft direkt von den Bestiarien herrühren könnte, dekoriert. 68 Rezeption der mittelalterlichen Tiermythen Auch wenn der Einfluß der Bestiarien als Träger mittelalterlicher Tiermythen kleiner als vermutet ist, bedeutet dies nicht, daß die Mythen, zu deren Popularität sie beitrugen, am Ende des Mittelalters einfach verschwanden. Der Physiologus Theobaldi wurde verschiedene Male im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert nachgedruckt, und das Bestiarium erwachte, wenn auch nur für kurze Zeit, durch Kombination mit einer Herbarie in den Hortus sanitatis zu neuem Leben. 69 Die Popularität dieses 1491 erstmals in Köln gedruck- 66 George/ Yapp (Fn. 4), S. 14 - 19; Yapp, Brunsdon: The Birds and Other Animals of Longthorpe Tower. In: Antiquaries Journal 8/ 2 (1978), S. 355 - 58; Druce, G.C.: The Medieval Bestiaries and their Influence on Ecclesiastical Decorative Art. In: Journal of the British Archeological Association 25 (1919), S. 41 - 82, 26 (1920), S. 35 - 79. Druce ([1920], S. 48) vermutet, daß die Saviner Abbildungen von der Bestiarie des Guillaume le Clerc beeinflußt sind. Die »Reynardisation« des Bestiarienfuchses findet sich in Varty, Kenneth: Reynard the Fox. Leicester 1967, S. 90 - 92. Margriet Hoogvliet hat detailliert nachgewiesen, daß der Physiologus und insbesondere die Bestiarien der zweiten Familie die Illustrationen verschiedener Tiere in den »mappae mundi« beeinflußt haben. Vgl. Hoogvliet, Margriet: De ignotis quarumdam bestiarum naturis. In: Animals and the Symbolic in Mediaeval Art and Literature. Hrsg. L.A.J.R. Houwen. Groningen 1997, S. 189 - 208. Siehe auch Ruberg, Uwe: Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik. In: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Hrsg. H. Kugler; E. Michael. Lüneburg 1991, S. 319 - 346. 67 Queen Mary’s Psalter (London, BL Royal 2 B vii) und der Isabella-Psalter (München, Staatsbibliothek, MS gall. 16). Siehe auch Morson (Fn. 30), S. 165, Anm. 1, der die Zisterzienser-Antiphone vom Berg St. Bernard (flämisch, 13. Jahrhundert) und die Morimondo Bibel aus dem 12. Jahrhundert (Como, Seminario Maggiore 2 X 6) erwähnt. 68 Siehe z.B. die Tierwappen in BL, MS Harley 6149, deren Ikonographie (Elefant, Strauß, Phoenix, Pelikan, Sirene) der der Bestiarien sehr ähnelt, obwohl ein unmittelbarer Einfluß nicht zwingend nachgewiesen werden kann. Vgl. auch Dennys, Rodney: The Heraldic Imagination. London 1975, S. 50, 113; Pastoureau, Michel: Le bestiaire héraldique au Moyen Age. In: L’Hermine et le sinople. Études d’heraldique médiévale. Paris 1982, S. 105 - 16, hier: S. 115 f. Der rückwirkende Einfluß der Heraldik auf die Ikonograhie in den Bestiarien kann anhand von Cambridge, Gonville and Caius College MS 384 / 604, beobachtet werden, in denen der Löwe auf heraldische Art abgebildet ist: George/ Yapp (Fn. 4), S. 48. <?page no="75"?> 74 L.A.J.R. Houwen ten Werkes läßt sich durch den fünfmaligen Nachdruck (zuletzt 1517) belegen. Jan von Doesborch druckte 1520 eine holländische Version als Der dieren palleys - ein Text, der von Lawrence Andrewe als The noble lyfe and natures of man übersetzt und nach 1520 von Doesborch für den englischen Markt gedruckt wurde. 70 Trotz des neu aufkommenden wissenschaftsorientierten Zeitgeistes trugen einige Naturalisten im 16. und 17. Jahrhundert wie Conrad Gesner und Ulise Aldrovandi wesentlich zur Bewahrung der alten Mythen und Legenden bei. Das Ausmaß, in dem die alten »Irrtümer« das England des 17. Jahrhunderts durchzogen, wird in der Pseudodoxia Epidemica von Sir Thomas Browne ersichtlich, in der der Autor es sich zum Ziel setzt, viele gemeine Fehler zu korrigieren. Die Emblembüchlein, den Bestiarien ähnlich in Struktur und Ansatz in der Verbindung von Text, Moralisationen und Illuminationen, wurden zu einer weiteren wichtigen Verbreitungsgrundlage für Bestiarienelemente. Diese Mythen sind noch nicht in Vergessenheit geraten und befinden sich immer noch im Gebrauch von Literatur, Werbung, Zeichentrick, und der Umgangssprache, in der viele Redewendungen, Sprüche und Ausdrücke Tierweisheiten enthalten. Der Pelikan rührt uns immer noch mit seiner Frömmigkeit, der Elefant und das Schloß bezeichnen noch heute viele wohlbekannte Wirtshausschilder, der der Asche entsteigende Phönix hat sich als Metapher gehalten, ebenso wie der Schwanengesang, die Krokodilstränen und die Bärenjungen, die in ihre spätere Form geleckt werden müssen. Daß die Bestiarie selbst nicht der Vergessenheit zum Opfer gefallen ist, wird durch die erhöhte wissenschaftliche Aufmerksamkeit, die diese Form erfährt, und durch deren Verwendung in Titeln für ikonographische Studien, Museumskataloge, Gedichte und einer geraumen Anzahl von Veröffentlichungen in den Naturwissenschaften (in denen sie oft die beigeordnete Bedeutung von »Fiktion« und »Fabel« erhält) deutlich. 71 Bestiarien regen auf jeden Fall immer noch unsere Vorstellungskraft an und lassen exotische Bilder vor unseren Augen erscheinen. 72 Übersetzt von Sonja H. Streuber 69 Eden (Fn. 5), S. 19. 70 Es gibt auch eine deutsche und eine französische Übersetzung; siehe Hudson, Noel: An Early English Version of ›Hortus sanitatis‹. London 1954, S. vii - xiii; vgl. auch Franssen, P.J.A.: Jan van Doesborch (? - 1536), Printer of English Texts. In: Quærendo 16 (1986), S. 259 - 80, hier: S. 266. 71 Friedmann, Herbert: A Bestiary for Saint Jerome. Animal Symbolism in European Religious Art. Washington 1980; Randall, Richard H.: A Cloisters Bestiary. New York 1960, 1965; Hunter-Stiebel, Penelope: A Bronze Bestiary. New York 1985. Guillaume Apollinaire and Pablo Neruda haben beide 1911 eine Gedichtsammlung unter diesem Titel veröffentlicht. - Im folgenden seien einige willkürlich ausgewählte Titel aus den Natur- und Sozialwissenschaften aufgeführt: Michael III, Max; Boyce, W. Thomas; Wilcox, Allen J.: Biomedical Bestiary. An Epidemiologic Guide to Flaws and Fallacies in the Medical Literature. Boston 1984; Hübsch, Tristan: Calabi-Yau Manifolds. A Bestiary for Physicists. Singapore 1992; Phillips, D.C.: The Social Scientist’s Bestiary. A Guide to Fabled Threats to, and Defenses of, Naturalistic Social Science. Oxford 1992; Gauder, Mike: Baudrillard’s Bestiary. Baudrillard and Culture. London 1991; McCarthy, Eugene J.; Kilpatrick, James J.: A Political Bestiary. Viable Alternatives, Impressive Mandates and Other Fables. New York 1978. 72 Ich danke meinen Kollegen vom Centre for Classical, Oriental, Mediaeval and Renaissance Studies (Universität Groningen) und besonders Dr. P. Binkley für ihre Hilfe und wertvollen Kommentare. <?page no="76"?> Bestiarien 75 Bibliographische Hinweise Clark, Willene B.; McMunn, Meradith T. (Hrsg.): Beasts and Birds of the Middle Ages. Philadelphia 1989. Clark, Willene B. (Hrsg.): The Medieval Book of Birds. Hugh of Fouilloy’s ›Aviarium‹. Binghamton 1992. Eden, P.T. (Hrsg.): Theobaldi Physiologus. Leiden 1972. Garver, M.S.: Some Supplementary Italian Bestiary Chapters. In: Romanic Review 11 (1920), S. 308 - 327. George, Wilma; Yapp, Brunsdon: The Naming of the Beasts. London 1991. Goldstaub, Max; Wendriner, Richard (Hrsg.): Ein Tosco-Venezianischer Bestiarius. Halle 1892. Hassig, Debra: Medieval Bestiaries. Text, Image, Ideology. Cambridge 1995. Henkel, Nikolaus: Studien zum Physiologus im Mittelalter. Tübingen 1976. Houwen, L.A.J.R. (Hrsg.): The Deidis of Armorie. A Heraldic Treatise and Bestiary. 2 Bde. Edinburgh 1994 (Scottish Text Society). James, M.R. (Hrsg.): The Bestiary. Oxford 1928. Kaske, R.E. [u.a.]: Medieval Christian Literary Imagery. Toronto 1988. Lindsey, Elizabeth: Medieval French Bestiaries. Diss. University of Hull 1976. McCulloch, Florence: Mediaeval Latin and French Bestiaries. Chapel Hill 1962. McCulloch, Florence. The Waldensian Bestiary and the »Libellus de natura animalium«. In: Medievalia et Humanistica 5 (1963), S. 15 - 30. McKenzie, Kenneth: Unpublished Manuscripts of Italian Bestiaries. In: PMLA 20 (1905), S. 380 - 433. Morson, O.C.R.; John, Fr.: The English Cistercians and the Bestiary. In: Bulletin of the John Rylands Library 39 (1956), S. 146 - 70. Payne, Ann: Medieval Beasts. London 1990. Raugei, A.M. (Hrsg.): Bestiario Valdese. Florenz 1984. Salvat, Michel: Notes sur les bestiaires Catalans. In: Epopée animale, fable, fabliau. Actes du IV e Colloque de la Société Internationale Renardienne. Hrsg. Michel Salvat; Gabriel Bianciotto. Paris 1984, S. 499 - 508. Seymour, M.C. [u.a.]: Bartholomaeus Anglicus and His Encyclopedia. Aldershot 1992. <?page no="78"?> Die arthurische Dämonologie Umdeutung eines archaischen Mythos zu einem mythischen Teilsystem ritterlich-höfischer Utopie Rolf Bräuer (Greifswald) Die Dämonen 1 sind bildgewordene Zeichen einer an sich unsichtbaren geistig-emotionalen Dimension menschlicher Vorstellungskraft und psychischer Befindlichkeit. In oft vorgeformten, aber auch abwandelbaren und innovativen Gestaltungen tradieren sie aktuelle Erfahrungen, Gefühle, Ängste und Wünsche. Als Glaube oder sinnbildhafte Imagination verweisen sie auf eine erdachte »Andere Welt« nichtmenschlicher (oder real so nicht existierender) Wesen, die häufig mit den Hoffnungen und Nöten schwierig zu bewältigender gesellschaftshistorischer Prozesse korrelieren. Sie bieten - semiotisch formuliert - für erkenntnistheoretische Nullstellen der Unerklärbarkeit dämonische Welten, Gestalten und dämonisch-zauberische Gegenstände als einen plausiblen, weil konkret vorstellbaren, ikonischen Ersatz an. Ähnlich wie im religiösen Bereich spielt in diesem metaphysischen Korrelationssystem die Frage des Glaubens eine zentrale Rolle: im jeweils positiven Fall des Theismus oder Dämonismus (d.h. des Glaubens an die göttlichen oder dämonischen Mächte) gewinnen die zugehörigen zeichenhaften Gestalten eine grundlegende zusätzliche Funktion aktiver Beeinflussung und Verhaltenslenkung, durch welche die menschliche Realexistenz subjektiv wie objektiv weitgehend determiniert werden kann. Für den mittelalterlichen Menschen stand das von ihm nicht nur erlebte, sondern auch gelebte System des Glaubens - in welcher Form auch immer - prinzipiell außer Frage. Es gab für ihn somit über der konkreten Welt seines Daseins und des dieses Dasein unmittelbar reflektierenden und verwaltenden pragmatischen Bewußtseinsstandes eine verbindliche zweite Welt des religiösen Bewußtseins mit ihrem relativ feststehenden Kanon an historisierend-metaphysischen Tatsachen, Gestalten und Dogmen, die sein Denken, Fühlen und Handeln nachhaltig prägten, tiefer und wesenhafter jedenfalls als alle anderen soziokulturellen und semiotischen Systeme, in die er eingebunden war und mit denen er in Kommunikation stand. Nur locker mit dieser zweiten semiotischen Welt des religiösen Bewußtseins verbunden, gab es für den mittelalterlichen Menschen - partiell und abgewandelt bis in die Gegenwart vererbt - auch noch die dritte mehr oder weniger eigenständige Welt eines 1 Vgl. Lecouteux, Claude: Les monstres dans la litterature allemande du moyen âge. Contribution à l’étude du merveilleux médiéval. 3 Bde. Göppingen 1982 (GAG, Bd. 330); Reisner, Erwin: Der Dämon und sein Bild. Frankfurt a.M. 1989; Giloy-Hirtz, Petra: Begegnung mit dem Ungeheuer. In: Kaiser, Gert (Hrsg.): An den Grenzen höfischer Kultur. Anfechtungen der Lebensordnung in der deutschen Erzähldichtung des hohen Mittelalters. München 1991 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur, Bd. 12), S. 167 - 209. <?page no="79"?> 78 Rolf Bräuer zeichenhaften metaphysischen Systems, das man begrifflich etwas ungenau auch als die »Andere Welt« bezeichnet, ungenau deswegen, weil der Terminus das religiöse Bewußtsein als eine ja ebenfalls andere metaphysische Welt, die sogar die eigentliche und weit wesentlichere andere Welt ist, nicht mitreflektiert. Dieses dritte semiotische Bewußtseinssystem - über dem komplexen soziokulturellen der konkret-historischen Kommunikation und neben dem metaphysischen des religiösen Bewußtseins und seiner Interdependenz mit dem Prozeßhaft-Realen - ist die metaphysische Welt des Dämonischen, Phantastisch-Zauberischen und Mythischen, die ihr eigenes Systeminventar, ihre eigenen Strukturen und Funktions- und Wirkungsmechanismen besitzt und im folgenden - eingeschränkt auf den Rahmen der arthurischen Poetik - untersucht und dargestellt werden soll. 2 Definitorisch schließen wir in die Welt des Dämonischen alles Metaphysische ein, das nicht in die Sphäre des autonomen religiösen Dogmas (in unserem Falle der mehr oder weniger offiziellen christlichen Dogmatik) gehört, also neben den mit dem Begriff des Dämonischen vorwiegend negativ assoziierten metaphysisch-phantastischen Gestalten und Phänomenen unterschiedlichster Art und Provenienz wie Ungeheuer, Gespenster, Monstren, Bestien, verzauberte und verderbenbringende Orte und Gegenstände etc. auch ihre positiven Pendants wie (heidnische bzw. nichtchristliche) Göttinnen, gute Feen, freundliche Zwerge oder die zahlreichen positiv verzauberten, Rettung bringenden Gegenstände, Waffen und Reliquien, und dies schon deswegen, weil häufig die gleichen Figuren wie Zwerge oder Riesen mit den genau entgegengesetzten Wertungen und Funktionen belegt sind und weil in wenigen, aber gerade hochpoetischen Sonderfällen - wie etwa bei Wolframs Cundrie - Positiv- und Negativ-Dämonisches sogar unauflösbar miteinander verschmelzen können. Die Überlieferung und literarische Um- und Neugestaltung der arthurischen Dämonologie und damit auch ihr Erhalt bis in unsere Gegenwart ist ein einzigartiger Glücksfall der europäischen Geistesgeschichte, der mehrere kulturhistorische Gründe hat, die um die Mitte des 12. Jahrhunderts fokusartig zusammentreffen und die Artusepik kreieren, deren weltliterarische Wirkung und deren spezifischer poetischer Reiz nicht zuletzt auf dem faszinierenden Stoff der Matière de Bretagne beruht, die über Jahrhunderte hinweg mündlich tradierte keltische Helden- und Göttersage zugleich ist, häufig schon nicht mehr verstanden und säkular oder christlich überformt und daher auch nicht mehr ge- 2 Ein Bindeglied zwischen der ersten und zweiten metaphysischen Welt bildet die metaphysische Zwischenwelt des Satanischen, die in unterschiedlicher - häufig auch subjektiv und intersubjektiv differenzierter - Wichtung und Wirkung an beiden semiotischen Systemen teilhat. Diese Sphäre wird aus dem Zeichen- und Begründungsinventar der beiden metaphysischen Hauptsysteme mit unterschiedlichen Anteilen ausgeformt, zu ihr zählen etwa die Teufelsbündler und Teufelsritter des Wigalois. Aber auch blutgierige Monster wie das bauchlose Ungeheuer des Daniel von dem Blühenden Tal sind wenigstens partiell der satanischen Sphäre zuzurechnen, wie es die zahlreichen mittelalterlichen bildlichen Darstellungen der höllischen Bewohner bezeugen. Dabei ist es von besonders aufklärungsnotwendigem Interesse, daß sich zwar die »erste große diabolische Explosion« (Jacques Le Goff) im christlichen Abendland bereits zu Beginn des Hochmittelalters im 11. und 12. Jahrhundert ereignet, daß der Teufelswahn sich aber erst seit dem 14. Jahrhundert verstärkt auszubreiten beginnt und seinen orgiastischen Kulminationspunkt - entgegen den gewohnten Denkschablonen - mit dem Beginn der Neuzeit erreicht: Eine detaillierte Teufelsliteratur, das sprunghafte Anschwellen der Hexenverfolgungen und die bildhaften Darstellungen der höllischen Schrecken durch Hieronymus Bosch oder die Gebrüder van Eyck dokumentieren dies auf wahrhaft erschreckende Weise. <?page no="80"?> Die arthurische Dämonologie 79 fährlich. 3 Ungefährlich im übrigen auch deshalb, weil mit dem Sieg der Sachsen über die Kelten und dem Sieg der Normannen über die Sachsen im angevinisch-französischen Machtbereich ein reales Durchsetzungsvermögen spezifischer keltischer Interessen politisch nicht mehr - bzw. noch nicht wieder - zu befürchten war. Dies bot die Überlebenschance für die umfunktionierte Bilderwelt der keltischen Mythologie, die sich so zumindest stofflich-anschaulich zu erheblichen Teilen in den Gestaltenreichtum der arthurischen Dämonologie hinüberretten konnte, während zum Beispiel in der germanisch-deutschen Heldenepik die ebenfalls reiche germanische Mythologie weitgehend eliminiert oder auf das Notwendigste zurückgeschnitten ist. 4 Einer der Gründe für die Überlieferung und Konstituierung der arthurischen Dämonologie in den Neugestaltungen der märchenhaften Welt der Matière de Bretagne liegt also ganz einfach in dem üppigen Vorhandensein - bis dahin vor allem mündlich tradierten - poetischen Materials von inzwischen weitgehend konkret-historischer Ungebundenheit. Und genau dieses frei verfügbar gewordene Material mythisch-erzählerischen Ursprungs bot sich auf dem Höhepunkt des ökonomischen, sozialen und bildungsmäßigen Zivilisationsschubs des 12. Jahrhunderts mit seiner klassischen Vollentfaltung der Feudalität, des höfischen Rittertums, mit der Bevölkerungsexplosion und der rasanten Entwicklung der Höfe, der Städte und nicht zuletzt der Geburt der europäischen Intellektuellenschicht geradezu an, mit Hilfe der überlieferten stofflichen Signale alter Mythen eine neue Sinngebung feudaladliger Existenz und der psychischen Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Ängste der ritterlich-höfischen Gesellschaft und des höfischen Individuums zu gestalten. Das mit dem Beginn der feudalklassischen Epoche etwa 3 Zu Artus und dem keltischen Einfluß auf seine Geschichte vgl. in Bd. 1 der Mittelalter-Mythen Lacy, Norris J.: König Artus. Mythos und Entmythologisierung. In: Herrscher, Helden, Heilige. Hrsg. Ulrich Müller u. Werner Wunderlich. St.Gallen 1996, S. 47 - 63. Aus der Fülle der Literatur vgl. mit stärkerer Betonung der keltischen Quellen die repräsentativen Arbeiten von Roger Sh. Loomis, unter ihnen besonders: Arthurian Tradition and Chretien de Troyes, New York 1949; Wales and the Arthurian Legend, Cardiff 1956. Vgl. ferner Birkhan, Helmut: Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur I. Nach dem Text des Weißen Buches aus dem Mittelkymrischen übertragen, mit einer Einführung und Anmerkungen versehen von H. B. Wien; Köln; Graz 1986. 4 Die weitgefächerte Gattung der europäischen Volks- und Heldenepik kennt neben meist nur noch rudimentären Erinnerungen an die alte heidnische Götterwelt (teils allerdings auch noch recht gut erhalten wie in der nordischen Dichtung) vor allem den gefährlichen Drachen in seinen verschiedensten Spielarten (auch als Wasserungeheuer wie im Beowulf oder als Greif und Flugdrache wie in der Kudrun o der in den altrussischen Bylinen) als ein wohl merkwürdiges Phänomen des Volkslangzeitgedächtnisses, das auf eine urtümliche Bekanntschaft des frühen Menschen mit den vielleicht letzten überlebenden Exemplaren von Wasser-, Land- und Flugsauriern deutet. Auch Riesen wie Ecke, Aspilian oder Rennewart und Zwerge wie Alberich, Laurin oder Auberon spielen hier bekanntlich eine nicht unbeträchtliche Rolle, sie verbleiben jedoch entsprechend dem historisierenden und realitätsnahen Gestus und Kostüm der Gattung weitgehend in einem unmetaphysisch-menschenähnlichen Bereich und unterscheiden sich von anderen Figuren neben ihrem spezifischen Äußeren vor allem durch Rolleneigenschaften wie etwa die furchtgebietende Kraft und charakterliche Ungehobeltheit der Riesen und die List und Klugheit der Zwerge. Gerade weil sie so wenig im engeren Sinne »dämonisch« sind, vermögen sie - unter anderem - auch die literarische Funktion der unbeschwerten Erheiterung des Publikums zu tragen wie der Zwerg Alberich im Ortnit , die Riesen des König Rother oder der riesenhafte Rainouart in der altfranzösischen Bataille d’Aliscans bzw. Rennewart in Wolframs Willehalm . Natürlich gibt es in der Heldenepik bereits Wunderrequisiten wie besonders tüchtige Waffen, Rolands Horn oder Siegfrieds unsichtbar machende »Tarnkappe«, doch erscheinen auch diese Dinge ihres metaphysischen Charakters weitgehend entkleidet. <?page no="81"?> 80 Rolf Bräuer seit der Mitte des 12. Jahrhunderts quantitativ wie qualitativ sprunghaft angewachsene Bedürfnis nach einer ganz neuen, viel umfassenderen und länger andauernden Unterhaltung, wie es nur die Schriftlichkeit ermöglichen kann, aber auch nach Selbstfindung und Gestaltung einer schöneren und gerechteren Welt der Hoffnungen, Wünsche (und natürlich auch Ängste) traf also auf den bekannten, beliebten und bereitliegenden volksläufigen Stoff, wie ihn Marie de France, Bérol oder Chrétien de Troyes, das vielleicht größte epische Genie des Mittelalters, vorfanden, die daraus ein innovatives laienadliges Gesellschaftsmodell mit einem eigenen Normen- und Wertekanon und einem spezifischen höfischen Menschenbild schufen, wobei gerade durch die Beschwörung und säkulare Umfunktionierung der realitätsfernen, phantastischen keltischen Mythen- und Märchenwelt die Sozialaussage feudaladliger Wunsch- und Wertvorstellungen um so schärfer und präziser formuliert werden konnte. Eher als wundersame Realität betrachtet denn als Referenz auf eine metaphysischdämonische Welt erscheinen die seltsamen Gestalten ferner Länder, wie sie in der Antikeepik der Alexanderroman und in der Orientabenteuerepik der Herzog Ernst in durchaus vergleichbarer Weise versammelt. Dabei dringen die Titelhelden über die Grenzbereiche der geographisch bekannten Zivilisation hinaus und gelangen so zu den exotischen sogenannten Wundervölkern, die sich durch seltsame Anomalitäten in Aussehen, Eigenschaften und Gewohnheiten auszeichnen. Im Alexander sind dies zum Beispiel die sechshändigen Menschen, die Kopflosen (Acephales) oder Hundsköpfigen (Cynocephales), die im Mittelalter große Popularität erlangten, aber auch die furchtbaren Endzeitvölker Gog und Magog, die Alexander hinter einer Mauer einschließen läßt, im Herzog Ernst sind es unter anderem die Kranichschnäbler, die einäugigen Arimaspen, die Plattfüßler oder die Langohren, sie alle aber sind mehr oder weniger naturkundlich geglaubte Fiktion, die auch in Enzyklopädien und geographische Weltkarten Eingang findet und für die wissenschaftliche Beschreibungs- und Erklärungsversuche beigezogen werden. Sieht man von den Endzeitvölkern Gog und Magog ab, die nach der Danielprophetie eine noch bevorstehende Bedrohung der gesamten Menschheit signalisieren, dann werden diese Fabelvölker ferner Länder also nicht der dämonischen, sondern der naturwissenschaftlichfaktischen Sphäre real-materieller Existenz zugeordnet. In die religiös-metaphysische Sphäre entführt hingegen die ungemein verbreitete mittelalterliche Gattung der Legende, die mit ihrem plakativen Dualismus von Gut und Böse auf religiöse Leitbilder orientiert, die in der radikalen Ungesichertheit mittelalterlicher Existenz mit ihren spezifischen Nöten und Ängsten sowohl die Kirchentreue in den Seelen der Gläubigen verankern als auch Halt und Lebenshilfe vermitteln sollten. Hier geht es - wie bei allen metaphysischen Systemen - nicht eigentlich um das Vordergründig-Faktische, sondern um die Gestaltung und Beeinflussung psychischer Befindlichkeiten, die durch die äußeren Signale des Faktischen innerlich konnotiert werden. Die metaphysische Sphäre des Dämonischen ist von Beginn an konstitutiver Bestandteil des arthurischen Stoffes, wobei sich eine historisch-soziokulturell determinierte interessante Entwicklungskurve der mythisch-dämonischen Komponente des Artusstoffes erkennen läßt. Auf der ersten Stufe der sich über Jahrhunderte erstreckenden mündlichen Entwicklung und Tradierung der Matière de Bretagne besitzt die mythisch-dämonische Sphäre nach Ausweis aller uns bekannten Zeugnisse einen den übrigen Stoff geradezu beherrschenden Anteil; manches hiervon hat sich - in teils stark veränderter Gestalt - in die <?page no="82"?> Die arthurische Dämonologie 81 Schriftlichkeit hinübergerettet. Gerade die zweite Stufe aber, die zugleich die erste Stufe der Verschriftlichung des Artusstoffes darstellt, die Stufe der propagandistischen Historisierung im gleichsam nationalen Interesse des anglonormannischen Herrscherhauses durch Geoffrey von Monmouth und Wace, mußte die mythisch-dämonische Komponente der Sagenüberlieferung schon deswegen radikal zurückschneiden, weil sie aus Gründen eigener Herrschaftslegitimation ein Konstrukt glaubhafter Realgeschichte aufbauen wollte. Die dritte Entwicklungsstufe, auf der die arthurische Epik als schriftliche Gattung sui generis entsteht, entfaltet sich zweigeteilt: zum einen noch eng mit der volkstümlichen Basis der ersten Stufe verbunden, aus der sie ohne große stoffliche Veränderungen schöpft, repräsentiert durch die Lais (z.B. den Lai de Lanval der Marie de France) oder den Lanzelet, wobei auch die mythisch-dämonische Komponente relativ ungebrochen erhalten bleibt, zum anderen durch die epochale Kreation des sogenannten klassischen Artusromans durch Chrétien de Troyes, in dessen sinntragendes episches Modell die mythisch-dämonische Komponente in überlegener rationaler Umdeutung und Aktualisierung - zum Teil mit deutlich erkennbarer humorvoller oder gar ironischer Distanz - einstrukturiert, anverwandelt und mit neuen Funktionen im Sinne seiner generellen Gesellschaftsvorstellungen belegt und zu einem nicht geringen Teil auch mit großflächtig narrativen, strukturtragenden Aufgaben betraut wird. Auf der vierten Entwicklungsstufe des sogenannten nachklassischen Artusromans hingegen bricht sich die mythisch-dämonische Komponente des Stoffes erneut Bahn und überwuchert mit alten Motiven und neuen phantastischen Erfindungen die übrigen Erzählstrukturen wie im Daniel oder gar in der Krone. Spätestens mit Chrétiens Perceval beginnend, wird verstärkt auch die christlich-religiöse metaphysische Welt in den Stoff einkomponiert, die ihre plakativste Ausformung unter spezifischer Einbeziehung der satanischen metaphysischen Zwischenwelt im Wigalois erhält. In dem relativ stabilen narrativen Grundmuster der Artusepik auch außerhalb des klassischen Chrétienschen Schemas des dreifachen Kursus 5 , den der Held in seinem Bewährungsaufstieg zu durchlaufen hat, ziehen sich um die gesellschaftliche Utopie des mehr oder weniger vorbildhaft und ideal gedachten Artushofes mit seiner als Ausgangskonstrukt bereits ringförmig gebildeten »table ronde« in konzentrischen Kreisen die symbolträchtigen Zonen einer noch nicht von der höfischen Kultur erfaßten und beherrschten Welt, die zugleich die vielfachen Bedrohungen jedes mittelalterlichen Menschen durch die tatsächlichen feudalanarchischen Verhältnisse verkörpern. Diese Zonen der Waldwildnis und der bedrohlichen, bedrohten oder verwunschenen Burgen, Schlösser und Höfe sind nicht nur von Dämonen und dämonischen Kräften bevölkert, sie erscheinen auch insgesamt als ein literarischer Raum, in dem das Metaphysisch-Dämonische allgegenwärtig ist und das Atmosphärische des Ortes bestimmt. Die hochkarätige strukturell-narrative Leistung, die von der arthurischen Dämono- 5 Entgegen der noch immer tradierten Ansicht handelt es sich bei dem klassischen Schema des Artusromans nicht um den seit Kuhn so benannten Doppelten Kursus, dessen narrative Struktur ja dann auch erst irgendwo mitten im Text einsetzen würde, sondern sowohl unter strukturellem als auch unter semiotisch-sinngtragendem Aspekt um einen Dreifachen Kursus, den der Protagonist vom Beginn der Erzählung bis zum Schluß in drei stabilen Varianten ein und derselben Grundstrukgtur durchläuft. Siehe Bräuer, Rolf (Hrsg.): Der Helden minne, triuwe und êre. Literaturgeschichte der mittelhochdeutschen Blütezeit. Berlin 1990, S.196 ff. <?page no="83"?> 82 Rolf Bräuer logie für den Aufbau des Artusromans erbracht wird, ist bislang weitgehend unterschätzt worden. Da der Beleg für den erstaunlichen Anteil des Dämonischen am kompositorischen Gerüst des Artusromans nur in der vollständigen Demonstration seiner Erzählabfolge erbracht werden kann, soll dies im folgenden am Beispiel von Hartmanns Iwein geschehen, dessen Titelheld den symptomatischen Bewährungsweg des dreifachen Kursus durch die um den Artushof gelegten narrativen konzentrischen Kreise der feudalanarchischen Verhältnisse - modellartig verkürzt - wie folgt durchläuft (dämonische Elemente erscheinen kursiv): 1. Kursus (Initialvariante): 1.1. Artushof: Erzählung Kalogreants vom Zauberbrunnen, 1.2. Wald: unhöfisch-anarchische Elemente: das bäuerliche Ungeheuer, 1.3. Kritikwürdiger Hof mit Brunnenwunder, Tötung Askalons und Heirat der Witwe Laudine. 2. Kursus: 2.1. Artushof: Verfluchung Iweins durch Lunete wegen der Fristversäumnis, 2.2. Wald: Iwein verliert den Verstand, hält sich selbst für ein bäuerliches Ungeheuer, 2.3. Kritikwürdiger Hof: Befreiung der Gräfin von Narison von dem Grafen Aliers, der sie mit Gewalt zu erringen sucht, 2.4. Wald, unhöfisch-anarchische Elemente: Iwein hilft einem Löwen im Kampf gegen einen Drachen, woraufhin der Löwe zu seinem ständigen Begleiter und Helfer wird, 2.5. Wald und kritikwürdiger Hof: Der eigene Hof befindet sich in der Hand unhöfischer Elemente, Verabredung zum Gerichtskampf, 2.6. Kritikwürdiger Hof: Iwein hilft dem von dem Riesen Harpin belagerten Burgherrn, der die Auslieferung der Tochter verlangt. 3. Kursus: 3.1. Kritikwürdiger Hof: Die ältere Schwester des Grafen vom Schwarzen Dorn will die jüngere um ihr Erbe betrügen, 3.2. Kritikwürdiger Hof und unhöfisch-anarchische Elemente: Auf der »Burg zum Schlimmen Abenteuer« besiegt Iwein zwei Riesen und befreit 300 zu Textilarbeiterinnen degradierte adlige Damen, 3.3. Artushof: Entscheidung zugunsten Iweins, seine Heimkehr und Versöhnung mit Laudine, nachdem er noch einmal das verheerende Unwetter durch den Zauberbrunnen ausgelöst hat. Diese prototypische Struktur des klassischen Artusromans bezeugt nicht nur exemplarisch den bedeutenden Anteil der arthurischen Dämonologie an der epischen Gesamtkonzeption und narrativen Grundkonstruktion dieser Gattung, in ihr zeigt sich auch in idealtypischer Weise die realpolitische Auseinandersetzung zwischen der herrschenden Feudalanarchie und dem Territorialisierungs- und Höfisierungsprozeß mit der Durchsetzung von Recht und Ordnung im Sinne der großen Landesherrschaften, in deren Dienst und Auftrag die großen Epiker wie Chrétien oder Wolfram zweifellos standen. Dabei ragt der Artushof wie eine Insel aus der ihn umbrandenden Gewaltanarchie heraus, die nur zum einen Teil durch menschliche Figuren, zum anderen aber durch dämonische Gestalten und Phänomene poetisch symbolisiert wird. <?page no="84"?> Die arthurische Dämonologie 83 Die hier gestaltete zweite metaphysische Welt des Dämonischen und Zauberisch- Phantastischen zeigt - nicht nur im Iwein bis in Einzelheiten belegbar - den Rückgriff auf das volkstümlich-mythische keltische Erzählsubstrat und seine sowohl einerseits motivisch-narrative Umstrukturierung als auch andererseits semiotische und ethische Umfunktionierung zum Zweck der symboltragenden Darstellung negativ konnotierter politisch-soziokultureller Zustände und Prozesse und der (unter anderem durch sie ausgelösten) negativen Wertungen, Emotionen und Ängste aus der Sicht der höfisch-feudaladligen Ideologie um 1200. Dies wird bereits in der Eingangsaventiure von Kalogreants Erzählung deutlich, die entsprechend dem keltischen Mabinogi The Lady of the Fountain bzw. Die Geschichte von der Gräfin vom Brunnen 6 wohl auf einem keltischen Feenmärchen basiert, in dem eine Brunnenfee (im Iwein Laudine) den Helden (Owein bzw. Iwein) in ihr jenseitiges Feenreich lockt. Dabei trifft die narrativ notwenig werdende aventiureauslösende Ersatzfigur Kalogreant (für Iwein) im düsteren Gefilde des Urwalds auf den über die wilde Tierwelt regierenden »waltman«, einen monströsen Menschen mit schwarzem auerochsengroßem Kopf, rußig verfilztem Haupt- und Barthaar, ochsengroßer Nase, wannenbreiten Ohren, Buckel und Eckzähnen, die ihm wie bei einem Wildschwein aus dem breiten Maul herausragen. 7 Dieses ehemalige mythische Wesen des keltischen Märchens als Wegweiser zwischen Menschenwelt und jenseitigem Feen- und Zauberbrunnenreich ist hier im Artusroman sozial zu einem feudalen Bauern und Wildhüter als Symbol denkbar größter Kultur- und Hofesferne und zur Kontrastfigur alles schönen, edlen, höfisch gepflegten Menschentums umfunktioniert. Er weist dem Ritter den Weg zu dem Wunderbrunnen, der an altkeltischen Steinfetischismus und Regenzauber erinnert und wo nach Auslösung des Unwetters Askalon, der Herr des Brunnens (und ehemals mythische Brunnenwächter), heransprengt und den Eindringling mit Schande verjagt. Hier nun wird der mythische Regenzauber in die narrative Motivik eines feudalen Rechts- und Landfriedensbruchs umstrukturiert und umfunktioniert, wobei in beiden Fällen das dämonische Substrat sichtbar erhalten bleibt, die Signale der dämonischen Zeichen aber mit neuen und aktuellen gesellschaftlichen Inhalten und Indizien versehen werden. Auch Iweins Terminversäumnis, Verfluchung und Wahnsinn sind aus ihren keltischen Ursprüngen narrativ umstrukturiert und sozial umfunktioniert worden, wobei hier das Faßbar-Dämonische zwar weitgehend ausgeschaltet, das Atmosphärische in Iweins Waldtorendasein - einschließlich seiner Angst, ein Bauer geworden zu sein, und seiner Heilung durch eine Wundersalbe - wenigstens partiell erhalten bleibt. Als Iwein auf einer Waldlichtung den Löwen mit einem Drachen in einen tödlichen Kampf miteinander verstrickt findet, hilft er dem Löwen als dem Symbol von Recht, Kraft und Ordnung gegen den Chaos und Unheil symbolisierenden Drachen, woraufhin ihn der Löwe als treuer Mitkämpfer und Reisegefährte begleitet, gleichsam als sein verlebendigtes Attribut von Herrschaft und Recht, wie es - entsprechende Bedeutung tragend - auch als Wappentier 6 Vgl. Birkhan (Fn. 2), S. 79 ff. 7 Vgl. Seitz, Barbara: Die Darstellung häßlicher Menschen in mittelhochdeutscher erzählender Literatur von der Wiener Genesis bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts. Zwickau 1967 ( Diss.); Dallapiazza, Michael: Häßlichkeit und Individualität. Ansätze zur Überwindung der Idealität des Schönen in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 59 (1985), S. 400 - 421. <?page no="85"?> 84 Rolf Bräuer der bedeutendsten zeitgenössischen deutschen Dynastengeschlechter wie der Staufer und der Welfen fungierte. Sein Einstehen für Recht und Ordnung beweist Iwein dann auch in seinem Kampf gegen den roten Riesen Harpin, der einen Burgherrn belagert, das Land verwüstet, dessen sechs Söhne in seine Hand gebracht und zwei von ihnen bereits umgebracht hat und nun die Herausgabe seiner schönen Tochter fordert. Der Riese erscheint hier nicht nur als symbolisch-mythische Hypostasierung der permanenten feudalen Bedrohung des Landfriedens, er ist zugleich Versinnbildlichung des antihöfischen Subjekts mit seinem kulturlosen Aggressionspotential und der ungezügelten Durchsetzung seiner animalischen Begierden. Eine ganz andere Funktion repräsentieren die Riesen auf der »Burg zum Schlimmen Abenteuer« zum Zweck der Dämonisierung des frühstädtischen Manufakturbetriebes, indem sie im Dienst eines Feudalherrn als Wächter der Ausbeutung versklavter Arbeiterinnen fungieren, die im sozialen Bezugsrahmen des Ritterromans natürlich gefangene adlige Damen sind. Dadurch daß Iwein nach seiner Bestätigung durch den Artushof mitsamt seinem Löwen in die Heimat zurückreitet und dort noch einmal das Unwetter durch die Zauberquelle auslöst, bestätigt sich dieses dämonische Element der Gewitterquelle als das zentrale und handlungsauslösende ebenso wie handlungsabschließende und damit auch rahmenbildende epische Hauptmotiv des Romans überhaupt, wodurch zugleich bewiesen ist, daß die Dämonologie in der arthurischen Literatur keineswegs nur einen akzidentiellen Part, sondern nach Herkunft, narrativem Konzept und Sinngebung eine kaum zu überschätzende Hauptrolle spielt. Eine vertiefende Bestätigung erfährt dieses aus der exemplarischen Analyse des Iwein gewonnene Untersuchungsergebnis durch die vergleichende Betrachtung strukturidentischer Stellen und Rollen anderer Artusromane, die eine zunehmende Frequenz und Verdichtung der so erfolgreichen mythisch-dämonischen Elemente, Strukturen und Figuren anzeigen, wie es vor allem der mythos- und bildbesessene, sich aber auch oft auf überlegene oder gar ironische Weise von seinem Stoff distanzierende Wolfram von Eschenbach in seinem Parzival vorführt, wobei er häufig die in seiner Quelle schon angelegten dämonisch-phantastischen Ansätze noch lustvoll verstärkt und ausbaut. Das vielleicht berühmteste Beispiel hierfür bietet die bei Chrétien noch namenlose Gralsbotin Cundrîe als Unheilverkünderin vor dem Artushof in der narrativen Schemarolle, wie sie im oben beschriebenen Struktogramm des Iwein Lunete zu Beginn des 2. Kursus unter 2.1. vertritt. 8 Bereits Chrétien beschreibt die Gralsbotin als ein wahres Monstrum an Häßlichkeit, wobei eine deutliche Beschreibungsverwandtschaft (sicherlich auch in Form unmittelbarer Abhängigkeit) mit dem oben ausführlich dargestellten und interpretierten ›waltman‹ des Iwein besteht. Die Ähnlichkeit beruht wahrscheinlich auf der gemeinsamen Herkunft der beiden Figuren aus dem Mythos des mit einem Zauberbann be- 8 Vgl. hierzu an neueren Interpretationen: Brall, Helmut: Imagination des Fremden. Zu Formen und Dynamik kultureller Identitätsfindung in der höfischen Dichtung. In: Kaiser (Fn. 1), S.152 - 165, aber auch Bräuer (Fn. 7), zum Parzival insgesamt S. 259 - 303, hier speziell S. 289 ff.; Cieslik, Karin: Die Zauberin in der höfischen Dichtung des Mittelalters. In: Angela Bader u. a. (Hrsg.): Sprachspiel und Lachkultur. Beiträge zur Literatur- und Sprachgeschichte. Rolf Bräuer zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1994 (SAG, Bd. 300), S. 215 - 226. <?page no="86"?> Die arthurische Dämonologie 85 legten keltischen Feen- und Totenreichs, wobei der dämonische ›waltman‹ als Wegweiser in die »Andere Welt« fungiert und Cundrîe, die bei Chrétien nur das »häßliches Fräulei« heißt, mit ihrer körperlichen Entstelltheit den auf ihrem Reich lastenden furchtbaren Zauberbann symbolisiert, den Parzival durch sein Versagen auf der Gralsburg nicht hatte lösen können - sie erscheint also als ein verlebendigter Vorwurf und anschaulich versinnbildlichender Hintergrund für die schreckliche Anklage- und Verdammungsrede, die sie gegen Parzival formuliert. Wolfram baut nicht nur die Beschreibung der teils erschreckenden, teils komischen (vgl. etwa den feschen Importhut aus London, den sie auf dem Rücken trägt) weiblichen Horrorgestalt aus, er nennt das »häßliche Fräulein« auch »Cundrîe la surziere« (V.517,18), was soviel wie »Zauberin« oder auch »Hexe« oder »Dämonin« heißt und stellt damit ausdrücklich die ursprüngliche Verbindung der Gestalt zur mythischen Welt wieder her. Er tut aber noch ein übriges: Er verleiht ihr durch seine Namensgebung (Cundrîe ist eine der typisch Wolframschen sprechenden Namensbildungen und bedeutet soviel wie »Kundige«, »Wissende«, aber auch »Künderin«) und vor allem durch die umfassende Aufzählung ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten zusätzlich das soziale Signum einer Intellektuellen, die alle Sprachen spricht, das Trivium und das Quadrivium studiert hat und Dialektik, »jeometrie« und Astronomie beherrscht. So entwirft Wolfram mit der dämonischen Cundrîe hier mitten im feudalklassischen Zeitalter der Bildungsexplosion, der Entstehung der ersten bedeutenden europäischen Hochschulen und Universitäten und der Geburtsstunde einer völlig neuen europäischen Intellektuellenschicht, an der Frauen einen bedeutenden Anteil hatten und im Durchschnitt gebildeter waren als die auf ihre nüchternen Geschäfte orientierten Männer, bereits die erste ebenso erschreckende wie belustigende männliche Horrorvision der studierten und gelehrten Frau, wie sie grundsätzlich bis in unsere Gegenwart Bestand hatte und die erst jetzt - im Zustand einer gerade erneut beginnenden allgemeinen europäischen Massenverdummung - wieder an Boden gewinnt. Die Bedeutung des Dämonischen für den arthurischen Stoff erweist sich auch strukturell durch die Tatsache, daß zumindest die klassischen Artusromane ausnahmslos in ein abschließendes Höhepunkt-Abenteuer aufgipfeln, in dem der Held eine bizarre, dämonisch verwunschene und von Trauer und Entsetzen beherrschte Welt durch seine Erlösungstat befreit. Dies betrifft neben dem Iwein und der oben unter 3.2. exemplarisch beschriebenen Befreiung der »Burg zum Schlimmen Abenteuer« im Erec das abschließende Abenteuer der »Joie de la Curt« mit der symbolträchtigen Besiegung des egoistisch-minnesüchtigen Ritters Mabonagrin in dem »Hofesfreude« genannten Zaubergarten mit dem berüchtigten Zaun, auf dessen Pfählen die abgehackten Köpfe von achtzig besiegten Rittern stecken, und dies betrifft in der Doppelhandlung des Parzival und seiner beiden Haupthelden Parzival und Gawein die Erlösung und Befreiung von Munsalvaesche und Schastel marveile. Als beiden Abenteuern gemeinsam erweist sich das ritterliche - und für eine Kriegerkaste sicherlich verständliche - Trauma der Entmannung und seine literarische Dämonisierung in dem Verödungszauber, der im Parzival sowohl Clinschors Schastel marveile als auch Amfortas’ Gralsburg Munsalvaesche heimgesucht hat. 9 Die Unfruchtbarkeit des Herrschers belegt sein ganzes Land mit einem totenhausähnlichen Bann. War Amfortas 9 Eder, Annemarie: Der verhinderte Eros als Anabiose in der Gralssage. In: Bader (Fn. 8), S. 88 - 129. <?page no="87"?> 86 Rolf Bräuer einst im Minnekampf um die stolze Minneherrin Orgeluse an den Hoden verwundet worden, so hatte man Clinschor zur Strafe für sein ehebrecherisches Verhältnis mit der Frau des Königs von Sizilien entmannt. Auch hier wird die Umfunktionierung der alten religiösen Mythen in die aktuelle Spiegelung exemplarischer ritterlich-höfischer Ängste und Befindlichkeiten besonders deutlich greifbar, denn die beiden verödeten Schlösser und ihr Umfeld basieren stofflich gemeinsam auf den Jenseits- und Totenreichvorstellungen der Kelten, die wir bereits anläßlich der Beschreibung Cundrîes und des »bäuerlichen Ungeheuers« als Erklärungshintergrund beizogen, mit dem Glauben aller Mythen und Religionen an Erlösung, und natürlich sind es hier die Ritter der arthurischen Tafelrunde Gawein und Parzival, die dieses Erlösungswerk vollbringen. Zu den dämonischen Gegenständen ist sicherlich auch der Gral selbst zu rechnen, wie er bei Wolfram vor allem in den Büchern V, IX und XVI des Parzival beschrieben und interpretiert wird. Er ist nicht nur Kommunikationsmittel zwischen Himmel und Erde, er besitzt neben anderen auch lebenserhaltende Fähigkeiten und eine phönixgleiche Verjüngungskraft, er spendet Speisen und Getränke jeglicher Art - kurz: Er ist »erden wunsches überwal« (V. 235,24), er ist Inbegriff alles dessen, was man sich auf Erden überhaupt wünschen kann. Andere dämonische Gegenstände oder Orte, von denen eine besondere Zauberkraft ausgeht, sind der siegverleihende Zaubergürtel aus dem Wigalois, mit dem allein Jorams Land zu erreichen ist, in dem sich nicht nur die Frau von Wigalois, sondern auch das berühmte Goldene Gücksrad befindet, das später zum symbolträchtigen Wappen des »Ritters mit dem Rade« wird, ein eher lustiger, sich auch sonst findender Tugendstein am Artushof, der die Fehler oder Vorbildlichkeit dessen erweist, der sich auf ihn setzt, das Zaubermoor oder die furchtbare Schwerterbrücke, die im Wigalois die Burg des Teufelsbündlers Roaz schützen. Damit ist zugleich der fließende Übergang zu dem in zahlreichen Artusromanen thematisierten »Dämon Technik« angesprochen, der - meist von Zauberhand geleitet - dem sonst vom technischen Knowhow unberührten Ritter feindselig entgegentritt - hierher gehört das Zauberbett auf Schastel marveile im Parzival ebenso wie die genannte Schwerterbrücke im Wigalois oder die goldene Tierstatue am Eingang zum Reich des Königs Matur in des Strickers Daniel von dem Blühenden Tal, deren Gebrüll alle Feinde außer Gefecht setzt. Aber auch hier vermögen Ethos, Wagemut und Geschicklichkeit des Artusritters jeweils die unheimliche Dämonie technischer Entwicklung zu bezwingen. Nicht so sehr in den engeren sozialen, als vielmehr in den größeren soziokulturellideologischen und sozial-biologischen Bereich gehört die Minnedämonologie der erotischen ritterlichen Wünsche, Normverfehlungen und Ängste. Hierzu zählt zum Beispiel im Lanzelet die Verwandlung Elidias in einen Drachen als Strafe für ihr Fehlverhalten, weil sie gegen die höfische Minnedoktrin gehandelt und einen Ritter nicht erhört hatte, der durch seinen Minnedienst Anspruch auf sie besaß. Daß Ungeheuer und Dämonen auch als Träger sadoerotischer Wunsch- und Schreckensphantasien fungieren, belegen die zahlreichen Darstellungen, in denen Riesen, Drachen oder andere furchtbare Monster immer wieder schöne Jungfrauen verfolgen, zu entführen und ihnen Gewalt anzutun versuchen; daneben verkörpern und symbolisieren sie aber auch die azivilisatorische Triebhaftigkeit der anarchischen antihöfischen Welt. Insgesamt vermittelt eine selbst nur exemplarische Kartographie des Dämonischen in der Artusliteratur, wie sie hier entworfen wird, ein fast lückenloses Psychogramm rit- <?page no="88"?> Die arthurische Dämonologie 87 terlich-höfischer Befindlichkeiten, Wünsche, Hoffnungen und Ängste. Da gibt es die Dämonologie des Guten und Erträumten in Form der freundlichen und befreundeten Dämonen als Verkörperung von Wunschvorstellungen für eine Helferschaft aus der »Anderen Welt« - es sind dies vor allem Zwerge und Feen wie die Meerfee Iweret im Lanzelet, aber gelegentlich auch Riesen und Drachen wie der kußfreudige Drache Elidia. Da gibt es auch und vor allem die Dämonologie des Bösen und Gefürchteten als Spiegelung feudaladliger Negativvorstellungen und Ängste. Zu ihnen zählen die Ungeheuer der Wildnis und die zauberisch-dämonisierten Höfe und Burgen als Verkörperungen der bedrohlichen und vom Artushof und seinen Rittern zu bekämpfenden feudalanarchischen Verhältnisse als Spiegelung des historischen Höfisierungs- und Zivilisationsprozesses und zentraler Gehalt der höfischen Ideologie. Da gibt es die Minnedämonologie als Bebilderung der Ängste und Freuden des neuentdeckten Eigengewichts der Weiblichkeit und der Minne als wichtiger Werte im Kanon der höfischen Ethik, durchsetzt mit den alten sadoerotischen Vorstellungen von der Frau als einem jagenswerten Lustobjekt. Da gibt es in diesem Zusammenhang aber auch das ritterliche Trauma der Entmannung und seine literarische Dämonisierung durch den Verödungszauber, der sich über die Höfe und Reiche dieser Minneopfer legt. Da gibt es schließlich nicht zuletzt die Dämonisierung sozialer Andersartigkeit als Spiegelung der Ängste vor ihrer bedrohlichen Fremdheit, aber gleichzeitig auch der Überlegenheit, wie die Dämonisierung des Bauern und des einfachen Menschen in der Figur des »bäuerlichen Ungeheuers« im Iwein, die Dämonisierung des frühstädtischen Manufakturbetriebes durch die Darstellung des Geschehens auf der »Burg zum Schlimmen Abenteuer« und die Dämonisierung der Intellektuellen durch die Gestalt Cundrîes. Lancelot (1488). Holzschnitt aus dem ersten bekannten Druck. <?page no="89"?> 88 Rolf Bräuer So gewinnen die Dämonen im klassischen Artusroman eine fast lückenlose neue mentale und psychosoziale Dimension, Determination und Sinngebung, die den späteren Artusromanen zumindest in der Genauigkeit und Treffsicherheit ihrer sozialrepräsentativen Spezialisierung wieder verlorengeht. Natürlich behält die wachsende Zahl der Ungeheuer und Dämonen ihre zentrale Funktion als Widerspiegelung der nichthöfischen Welt und des bedrohlichen Chaos der realiter herrschenden feudalanarchischen Verhältnisse sowie als angstvermittelnde Kampfobjekte zur Bewährung ritterlichen ›hohen Mutes‹, doch wird die skurrile äußere Spezifizierung des Monströsen kaum noch von einer funktionalen begleitet, die Dämonen werden von durchdachten zeichenhaften Symbolen sozialer und soziopsychologischer Prozesse zur geglaubten Fiktion und naive Gemüter unterhaltenden grusligen Pseudorealität, wie sie heute noch - oder genauer: heute gerade wieder - zahlreiche Bücher, Comics und Horrorfilme vermitteln. Sicherlich erweist sich die Imagination des Monströsen und Dämonischen als ein genuiner Bestandteil menschlicher Phantasie und ein sich unter den verschiedenen historischen soziokulturellen und poetologischen Bedingungen stets wandelndes literarisches Faszinosum, doch angesichts der äußeren Primitivität und vor allem der inneren Sinnleere der Masse der aktuellen Monster und Horrorgestalten sollten wir uns darüber im klaren sein, daß wir zumindest auf diesem Gebiet der Verweiskunst der dämonologischen Zeichensprache zur Zeit des hochmittelalterlichen arthurischen Romans schon einmal poetologisch und intellektuell eine Stufe höher entwickelt waren als heute. <?page no="90"?> Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 1 Die Zoologie der mappae mundi Margriet Hoogvliet (Groningen) Ist vom besonderen Weltbild mittelalterlicher Karten die Rede, so denkt man zumeist an die sehr bekannten, sogenannten T-in-O-Karten. 2 Diese schematischen mappae mundi zeigen eine kreisförmige Weltscheibe, umgeben von dem kreisrunden Weltozean und durchschnitten von einem T-förmigen Gewässersystem bestehend aus dem Mittelmeer und den beiden Flüssen Tanais und Nilus. Die mittelalterliche Ökumene (d.h. die Vorstellung von der gesamten bewohnten Erde) kennt nur drei Kontinente: die obere Hälfte des Weltkreises ist »Asia«, die linke Seite der unteren Hälfte ist »Europa«, die recht Seite »Africa«. Neben diesen rein schematischen Karten gibt es noch andere Typen mittelalterlicher Weltkarten 3 , aber Tiere finden sich fast nur auf den großformatigen Kreiskarten 4 . Wie die T-in-O-Karten zeigen sie den Osten oben und teilen sie die Erde in drei Kontinente ein, aber sie stellen Länder, Küsten, Flüsse, Städte usw. viel detaillierter dar und bieten außerdem ikonische Darstellungen von historischen und biblischen Ereignissen, von Tieren und Monstervölkern. Meistens befinden sich die Monstervölker im Süden, während die Tiere mit Ausnahme von Europa fast überall verbreitet sind. Das Wissen der mittelalterlichen Kartenmacher von diesen Tieren beruhte nicht auf direkter Beobachtung, sondern stammte aus Texten, die wegen ihres Alters und aufgrund ihrer allgemein aner- 1 Die Ebstorfer mappa mundi (13. Jahrhundert). Diese Karte wurde während des Zweiten Weltkriegs vernichtet. Texte und Nachbildung bei Miller, Konrad: Mappae mundi: Die ältesten Weltkarten. 6 Bde. Stuttgart 1895 - 1898, Bd. V: Die Ebstorf mappa mundi. Stuttgart 1896, S. 44. Dieser Beitrag ist eine veränderte und erweiterte Version meines Artikels: De ignotis quarumdam bestiarium naturis: Texts and Images from the Beastiary on Medieval Maps of the World. In: Houwen, L.A.R.J. (Hrsg.): Animals and the Symbolic in Mediaeval Art and Literature. Groningen 1997, und wurde (zum Teil) gefördert von der Stiftung für Literatur-, Musik- und Theaterwissenschaft, die von der Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Forschung (NWO) subventioniert wird. 2 Destombes, Marcel S.: Mappemondes A.D. 1200 - 1500. Amsterdam 1964 (Imago Mundi, Suppl. IV). Destombes hat für das 8. bis zum 15. Jahrhundert insgesamt 1106 Karten gezählt; 660 von diesen Karten sind schematische T-in-O-Karten (S. 21 - 23). 3 Die jüngste Übersicht über die verschiedenen Klassifikationssysteme mittelalterlicher Weltkarten bietet: Woodward, David: Medieval Mappaemundi. In: The History of Cartography. Bd. 1: Cartography in Prehistoric, Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean. Hrsg. J.B. Harley; David Woodward. Chicago 1987, S. 294 - 299. Woodward unterscheidet vier Typen: - Tripartite (Asia, Europa und Africa, der Osten oben) - Schematic and non-Schematic - Zonal (unsere Halbkugel u. ein südl. Kontinent, in 5 Klimagürtel geteilt, Norden ist oben) - Quadripartite (eine Mischform von den tripartite und zonal Karten, der Osten oben) - Transitional (14. u. 15. Jh., diese Karten sind von Portulanresp. Ptolemäuskarten beinflußt). 4 Woodward (Fn. 3), S. 296: »tripartite non schematic maps«, inventarisiert in Destombes (Fn. 2), S. 17 als »type D«. <?page no="91"?> 90 Margriet Hoogvliet kannten Verbindlichkeit (auctoritas) für glaubwürdig gehalten wurden. Deswegen sind viele Tiere mythischer Herkunft und haben meist fabelartige und seltsame Eigenschaften. Im allgemeinen beschäftigt sich die historische Kartographie kaum mit diesen Tieren. 5 Nur knapp werden die hellen Farben, mit denen sie gemalt, beschrieben. Sehr häufig versteht man sie als bedeutungslose Zauberwesen, »mirabilia«, die den Zweck haben, die weißen Flecken auf der Karte zu kaschieren 6 . Der Grund für diese Ansicht ist vielleicht die technisch-positivistische Interpretation, die für die Kartographiegeschichte sehr lange bezeichnend war. Sie führte dazu, daß man sich vor allem mit dem Fortschritt des Wissens von der Erdoberfläche und mit der Verbesserung der kartographischen Projektionssysteme befaßte. Dementsprechend hat man die mittelalterlichen mappae mundi oft negativ bewertet, weil ihre geographische Gestaltung und ihre Inhalte nicht auf empirischen Kenntnissen beruhen. In den letzten Jahrzehnten haben besonders J.B. Harley 7 und Anna-Dorothee von den Brincken 8 diesen traditionellen technischen Ansatz der historischen Kartographie in Frage gestellt. Trotz dieses neueren Ansatzes ist in einschlägigen Handbüchern noch immer die alte Grundidee vom Fortschritt des Wissens im erwähnten Sinne anzutreffen. Im Gegensatz zu modernen Landkarten wurden die mappae mundi stets in Übereinstimmung mit den überlieferten und als Autoritäten anerkannten Anschauungen angefertigt. Die mittelalterlichen Kartenmacher suchten keine neuen, bis dato unbekannten Daten, sondern sie versuchten aus ihren Vorlagen und Quellen eine zusammenhängende Komposition zu konstruieren, deren innere Ordnung ihrer Komposition einen tieferen Sinn verleihen sollte 9 . Bis heute aber hat sich die traditionelle Kartographiegeschichte sehr wenig mit den Inhalten der mappae mundi, und d.h. auch nicht mit den Tieren, be- 5 Eine Ausnahme ist George, Wilma: Animals and Maps. London 1969. George weist hin auf einige Entlehnungen aus den Bestiaria auf mappae mundi (z.B. S. 32: der »eale«), aber sie vergleicht überwiegend die Darstellung der Tiere auf mappae mundi und auf Renaissancekarten mit biologischen Merkmalen, z.B. der »alce« auf der Ebstorfer Karte stellt einen russischen Maulesel (Saiga tatarica, S. 30) dar, und der »manticora« einen Chitah (Acinonyx jubatus, S. 34). Meiner Meinung nach sollte man die Tiere auf mappa mundi nur mit solchen Quellen vergleichen, die den mittelalterlichen Kartenmachern zugänglich waren, wie z. B. Solinus, Isidor, den Physiologus, die Bestiarien, usw. 6 Eine Übersicht über die »weiße Flecken«-Theorien enthält George (Fn. 5, S. 21). Es gibt sehr viele andere Beispiele, vgl. u. a: Kliege, Herma: Weltbild und Darstellungspraxis hochmittelalterlicher Weltkarten. Münster 1991: »Indem er [der Zeichner] sie und dazu für die betreffenden Länder typische, in Europa jedoch unbekannte Tiere in die pictura einarbeitete, kaschierte der Kartograph zugleich seine Unkenntnis der realen Verhältnisse und konnte weiße Flecken im Kartenbild vermeiden.« (S. 122); und: Von den Brincken, Anna-Dorothee: Fines Terrae. Die Enden der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten. Hannover 1992 (Monumenta Germaniae Historica. Schriften, Bd. 36): »Statt leerer Bildflächen mangels Erfahrung füllt man die Fläche mit Phantasie.« (S. 93); und: Von den Brincken, Anna-Dorothee: Kartographische Quellen, Welt-, See, und Regionalkarten. Turnhout 1988 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental, Fasc. 51), S. 50 und S. 96 f. 7 Vgl. die Einleitung von Harley/ Woodward (Fn. 3), S. 1 - 39; und Harley, J.B.: Deconstructing the Map. In: Cartographica 26 (1989), S. 1 - 20. 8 Anna-Dorothee von den Brincken hat schon 1968 (Von den Brincken, Anna-Dorothee: Mappa Mundi und Chronographia. Studien zur imago mundi des abendländischen Mittelalters. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 24 (1968), S. 118 - 186) eine neue (nicht-technische) Interpretation der mappae mundi vorgeschlagen. Sie sieht einen Zusammenhang zwischen mappae mundi und mittelalterlichen Weltchroniken, d.h. mappae mundi seien visuelle Weltchroniken. Allerdings gibt es in dieser Hypothese keinen Raum für eine Deutung der Tiere auf mappae mundi, vielleicht ist sie deswegen geneigt, die Anwesenheit der Tiere als die Folge eines »horror vacui« zu interpretieren (vgl. Anm. 6). <?page no="92"?> Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 91 schäftigt. Um das tun zu können, muß festgestellt werden, welche Tiere überhaupt auf mittelalterlichen Weltkarten vorkommen, aus welchen Quellen die Kartenmacher schöpften und zu welchem Zweck man die Tiere auf den mappae mundi eingetragen hat. Auf dieser Grundlage kann man dann die Vorstellungen, die der Fauna jener Weltkarten zugrunde lagen, erschließen. Die älteste mittelalterliche mappa mundi, die ein Tier zeigt, ist die sogenannte Cotton-Karte 10 aus dem 11. Jahrhundert. Hier findet sich ein Löwe im Nordosten zusammen mit dem Text »Hic abundant leones« (Hier kommen reichlich Löwen vor). Die späteren Karten aus dem 12. und 13. Jahrhundert lassen vermuten, daß sie zunehmend mit Abbildungen von Tieren (und auch von Städten, Mischwesen, Ungeheuern usw.) und erklärenden Texten versehen wurden. Ein Beispiel dafür ist die mappa mundi in einer Isidor-Handschrift aus dem 12. Jahrhundert in München 11 , welche fünf Tiere in Africa mit ihren Namen als Unterschrift abbildet: »lupus cornutus, leo, serpentes, coluber mire longitudinis, prester«; und etwas weiter steht noch »simie« ohne Abbildung. Die kleinformatigen Buchkarten aus dem 13. Jahrhundert weisen noch immer so gut wie keine Tiere auf. Ausnahmen sind die mappae mundi am Anfang der Imago mundi des Honorius von Autuns in einer Handschrift in Cambridge 12 und die sogenannte Londoner Psalter-Karte 13 . Beide sind wahrscheinlich Nachbildungen von größeren Karten. Der Mangel an Tieren erklärt sich vielleicht aus dem Raummangel auf den Buchkarten: die Cambridger Karte kennt nur den »basiliscus« in Afrika (und diese Abbildung ist genau dieselbe wie auf der Hereford-Karte); die Psalter-Karte hat keine Tiere, immerhin doch die Monstergalerie im Süden (vgl. dieselben Abbildungen auf der Ebstorfer Karte und dem Duchy of Cornwall-Fragment). Die größten und inhaltlich reichsten mappae mundi des Mittelalters sind hauptsächlich im 13. Jahrhundert entstanden. Diese Karten bilden manche Tiere zusammen mit erklärenden Texten ab. Uns sind leider nur eine komplette Karte (die Hereford Karte 14 ), eine schwer beschädigte Karte (die Vercelli-Karte 15 ) sowie einige Fragmente 16 erhalten. Die größte mappa mundi aus dem Mittelalter, die niedersächsische Ebstorfer Weltkarte 17 , ist nur noch in Nachbildungen überliefert. 9 Vgl. z.B. die Dekorationsprogramme mittelalterlicher Kathedralen: Katzenellenbogen, Adolf: The Sculptural Programs of Chartres Cathedral. New York 1964; und auch: Esmeijer, Anna C.: Divina Quaternitas. A preleminary study in the method and application of visual exegesis. Assen/ Amsterdam 1978. 10 London, British Library, Ms Cotton Tib. B.V., f. 58 v , 21 x 17 cm. Texte und Abbildung in: McGurk, Peter: Mappa Mundi. In: An Eleventh-Century Anglo-Saxon Illustrated Miscellany (British Library Cotton Tib. B V part 1, together with leaves from British Library Cotton Nero D II). Hrsg. P. McGurk [u.a.]. Koppenhagen 1983 (Early English Manuscripts in Facsimile, Bd. XXI), S. 79 - 87. 11 München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm 10058, f. 154 v , ∅ 26,6 cm. Texte und Abbildung in: Gautier Dalché, Patrick: La »Descriptio Mappe Mundi« de Hugues de Saint-Victor. Paris 1988, S. 193 - 195 (Appendice II). 12 Cambridge, Corpus Christi College, Ms. 66, S. 2, 13. Jh., 29,5 x 20,5 cm. Texte und Abbildung in: Lecoq, Danielle: La mappemonde d’Henri de Mayence ou l’image du monde au XII e siècle. In: Iconographie médiévale. Image. Texte. Contexte. Hrsg. G. Duchet-Suchaux. Paris 1993, S. 155 - 207. Aufgrund einer Bemerkung im Text hat man sie fälschlicherweise Heinrich von Mainz (Henricus Magontiae) zugeschrieben, vgl. Dalché (Fn. 11), S. 183. 13 London, British Library, Add. Ms 28681, f. 9, nach 1262 (? ), ∅ 9,5 cm. Texte in Miller (Fn. 1), Bd. III: Die kleineren Weltkarten. Stuttgart 1895, S. 37 - 43. 14 Hereford Cathedral, ca. 1277 - 89 (? ), 162,6 x 134,6 cm. Texte und farbige Nachbildung in: Miller (Fn. 1), Bd. IV: Die Hereford mappa mundi. Stuttgart 1895. <?page no="93"?> 92 Margriet Hoogvliet 15 Vercelli, Archivio Capitolare, Ende 12., Anfang 13. Jh., ca. 84 x 72 cm. Texte und Nachbildungen (Photos und Zeichnungen) in: Capello, C.F.: Il mappamundo medioevale di Vercelli (1191 - 1218? ). Torino 1976 (Università di Torino, Memorie e Studi Geografici, Bd. 10). 16 Das Duchy of Cornwall Fragment, ca. 1270 - 1300, Duchy of Cornwall Office, Maps and Plans 1, 61 x 64 cm, Durchmesser des Originals 164 cm. Farbige Abbildung in Harley/ Woodward (Fn. 3, plate 14). Texte in: Kliege (Fn. 6), S. 151 - 165. Ein anderes Kartenfragment aus dem 13. Jh. in Wiesbaden (Hauptstaatsarchiv, Mscr. A.60) ist leider nicht mehr entzifferbar. 17 Zweite Hälfte des 13. Jhs.; 356 x 358 cm. Texte und farbige Faksimile in: Miller (Fn. 1). Eine gute Übersicht der Faksimiles and Rekonstruktionen der Karte ist: Michael, Eckhard: Das wiederentdeckte Monument - Erforschung der Ebstorfer Weltkarte, Entstehungsgeschichte und Gestalt ihrer Nachbildungen. In: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdiziplinäres Colloquium 1988. Hrsg. Hartmut Kugler [u.a.]. Lüneburg 1991, S. 9 - 22. Hartmut Kugler hat eine neue Edition der Ebstorfer Texte für 1995 angekündigt, die mir während der Arbeit an diesem Beitrag leider noch nicht zugänglich war. Die Ebstorf mappa mundi (nach dem Faksimile von Konrad Miller). <?page no="94"?> Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 93 Aus dem 14. Jahrhundert sind weniger verschiedene mappae mundi übriggeblieben: ein Fragment einer großformatigen Karte, das Aslake-Fragment 18 , und die ovale Buchkarte von Ranulf Higden, die in 21 Handschriften seines Polychronicon überliefert ist. Man nimmt an, daß von diesen Kopien die große Karte in einer Handschrift der British Library sowie die Karte in der Huntington Library der originalen mappa mundi von Ranulf H igden am n ächste n stehen 19 . Die neuere Forschung nimmt an, daß am Ende des 13. Jahrhunderts und am Anfang des 14. Jahrhunders unter dem Einfluß des Kompasses ein sehr akkurater Kartentypus für die Schiffahrt im Mittelmehr, die Portulankarte 20 , entwickelt wurde. Besonders die Karten aus dem katalanischen Bereich sind sorgfältig und reich dekoriert 21 . Neben diesen Portulankarten gibt es auch noch einen Mischtypus 22 , der die Küstenlinie der Portulankarten mit den Eigenarten der rein mittelalterlichen Karten kombiniert. Die zwei wichtigsten und bekanntesten Beispiele sind erstens der katalanische Atlas in der Bibliothèque Nationale in Paris 23 , hergestellt auf Mallorca von Abraham Cresques um 1375 für den französischen König Charles V., und zweitens die große Kreiskarte von Fra Mauro, die dieser um 1459 für den König von Portugal, Alfonso V. zusammmengestellt hat und die noch in einer Nachbildung aus derselben Zeit in der Biblioteca Marciana in Venedig überliefert ist. 24 All diese Karten sind sehr schön verziert mit Städten, exotischen Herrschern, Fabelmenschen und Tieren. 25 Die Darstellungen benutzen - neben den traditionellen Quellen für die obengenannten Weltkarten aus dem 13. Jahrhundert - auch spätere Quellen wie den Reisebericht Marco Polos, und wahrscheinlich verfügte man auch über Auskünfte arabischen Ursprungs. Der katalanische Atlas zeigt - genauso wie die mappae mundi aus dem 13. Jahrhundert - Elefanten mit einem Turm auf dem Rücken (Blatt 5, 8, 10) und stellt den Kampf der Pygmäen gegen Kraniche (Blatt 9) dar. Die Vögel im Nordosten (»molt bons grifalts et falcons«; Blatt 9) stammen aus späterer Quelle. Fra Mauro porträtiert fast keine Tiere, denn er stellt die Existenz von monströsen Menschen und Tieren in Zweifel 26 . Er nennt aber in den weiteren Texten auf seiner Karte eine Anzahl von Tie- 18 London, British Library, Ms Add. 63841 C, ca. 1350 - 1400, 60 x 23 cm/ 48 x 0,8 cm. Texte und Nachzeichnungen in: Barber, Peter; Brown, Michelle: The Aslake World Map. In: Imago Mundi 44 (1992), S. 24 - 44. 19 Vgl. Destombes (Fn. 2), S. 151. Karten: London, British Library, Royal Ms. 14.C.IX, nach 1342, 46,5 x 34,2 cm; San Marino, Huntington Library, HM 132, nach 1342, 16 x 20,3 cm. Text: Miller (Fn. 1), Bd. III: Die kleineren Weltkarten. Stuttgart 1895, S. 99 - 108. Der jüngste Aufsatz über die Karten von Ranulf Higden ist: Barber, Peter: The Evesham World Map. In: Imago Mundi (1995), S. 13 - 33. 20 Wichtigste Fachliteratur: De la Roncière, Monique; Mollat du Jourdin, Michel: Les Portulans. Cartes marines du XIII e siècle au XVII e siècle. Fribourg 1984; und Campbell, Tony: Portolan Charts from the Late Thirteenth Century to 1500. In: The History of Cartography. Bd. 1: Cartography in Prehistoric Ancient, and Medieval Europe and the Mediterranean. Hrsg. J.B. Harley; David Woodward. Chicago 1987, S. 371 - 509. 21 Campbell (Fn. 20), S. 392 - 395. 22 Woodward (Fn. 3), S. 294 - 299: »transitional maps«. 23 Paris, Bib. Nat., Ms. Espagnol 30, 12 Blätter, 64 x 25 cm. Faksimile und Texte in: Grosjean, G.: Mappamundi. Der katalanische Weltatlas vom Jahre 1375. Dietikon/ Zürich 1977. 24 Venezia, Biblioteca Nazionale Marciana, ∅ 1 96 cm. Faksimile und Texte in: Leporace, T.G.; Almagià, R. (Hrsg.): Il Mappamondo di Fra Mauro. Venezia 1966. 25 Auch hier taucht die Weiße-Flecken-Theorie wieder auf: De la Roncière/ Mollat du Jourdin (Fn. 20), S. 18 und Campbell (Fn. 20), S. 394. <?page no="95"?> 94 Margriet Hoogvliet ren, die auch auf den mittelalterlichen mappae mundi vorkommen: »serpenti, dragoni, basillischi« (Schlangen, Drachen, Basiliske) in Afrika, »formige grandissime« (große Ameisen) in Indien und »la fenice« (Phönix) in Arabien. Im großen und ganzen weisen die späteren Karten weniger Tiere auf als die mappae mundi des 13. Jahrhunderts und sie schöpfen teilweise auch aus anderen Quellen, so daß ich mich hier vor allem auf die Karten von Hereford, Ebstorf und ihre Schwesterkarten beschränken kann. Die mittelalterlichen mappae mundi stellen hauptsächlich wunderliche und gefährliche Tiere in Gebieten dar, die weit von Europa und der Mitte der bekannten, bewohnten Welt entfernt sind. Die Verteilung der Tiere, wie sie schon die älteren Karten vorgenommen hatten, nämlich Raubtiere im Norden und Schlangen im Süden, wird von allen späteren Karten übernommen und erweitert. Auffallend ist, daß alle mappae mundi ungefähr das gleiche Gesamtbild der Fauna mit geringen Variationen in der Auswahl der Tiere vorführen 27 . In Europa gibt es im allgemeinen nur sehr wenig Tiere: Einzig die Hereford-Karte zeigt in Europa einen Ochsen (buglossa) und eine Katze (geneis). Die zwei Löwen auf der Ebstorfer Karte stehen nicht für Tiere, sondern symbolisieren Rom und Braunschweig 28 . In den Texten ist sonst die Rede von Inseln in Europa, die von gefährlichen Tieren wie Schlangen und Kröten gemieden werden: Die Karten von Hereford und Ebstorf melden dies von Ebosus insula im Mittelmeer, und die Ebstorfer Karte berichtet noch von »Augia insula« im Bodensee und von Sardinien 29 , daß dort keine Gefahr von Schlangen drohe; dagegen sei Kreta voller wilder Tiere. Der Norden Asiens wird für kalt und unheimlich gehalten, und vielleicht gibt es dort deswegen so viele gefährliche Tiere. Die oben genannte Cotton-Karte zeigt schon, daß der Norden Asiens von Löwen geradezu überflutet ist, und diese Ansicht findet sich auf fast allen anderen Karten. Der Ebstorfer Karte nach leben in jener Gegend wegen der wilden Tiere und Schlangen keine Menschen: »Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides. Hec terrra etiam serpentibus est referta« 30 . Selbst die Hunde aus dieser Gegend seien fürchterlich: sie könnten Stiere und Löwen töten, denn sie stammen aus der Paarung von Hunden und Tigern 31 . Am nördlichen Ozean wacht der schreckliche Greif über Dia- 26 Leporace/ Almagia (Fn. 24), Pl. XX: »Alguni scriueno che in questi Indie sono molte diuersità de monstri sì de homeni come de animali, ma perchè a questo cosse pochi dano fede qui non ne faço nota [...].« 27 Für die Texte verweise ich auf die besonderen Textausgaben, die ich bei jeder mappa mundi angegeben habe. Ich beschränke mich auf die Hauptlinien, denn es ist nicht möglich, hier jedes Detail zu benennen. 28 »Secundum formam leonis inchoata est Roma«, zitiert nach Honorius Augustodunensis: Imago mundi (I,26). Miller (Fn. 1), S. 18: »Leo, den ehernen Löwen andeutend, welchen Heinrich der Löwe vor dem Schlosse in Braunschweig, a. 1166 errichtet hat, und welcher den Platz vor der sogen. Burgerkaserne in Braunschweig heute noch ziert.« 29 Dieser Text steht in Africa; dasselbe bei Higden: »Sardinia insula caret serpentibus [...]«. 30 Die Ebstorfer Karte fährt fort: »Leo nobilissimus; Leopardus ex adulterio leene nascitur et pardi; Pardus animal varium ac velocissimum et praeceps ad sanguinem, saltu enim ad mortem ruit; Tigris animal; Ursus ananet.« Hereford hat hier auch den Tiger: »Hircani Oxi fluminis habent, gens silvis aspera, feta tigribus copiosa immanibus feris« und »Tigris [...]«. Vercelli: »In ista terra animalia silvestria sunt; Animalia silvestria sunt hic; Hic sunt bicornes, tricornes, bubali, honagri, hiene, tigres, leones, pantere et cetera; Hic situs terre superioris est, hic sunt leones, cignus, panteres.« Higden: »Hircania [...] habet tigrides et panteras.« 31 Ebstorf im Text zu Albania mit dem Bild eines Hundes, der einen Stier angreift; Vercelli zeigt im Norden einen Panther oder Tiger, verfolgt von einem Jäger mit zwei Hunden; Higden: »Albania. [...] Huius terre canes leones occidunt.« <?page no="96"?> Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 95 manten und Edelsteine 32 . In »Asia minor« gibt es merkwürdige Tiere, wie den »bonacus«: Ein Stier, der sich von seinem Verfolger durch seinen versengenden Kot befreit 33 . Allerdings gibt es hier auch gute Lasttiere wie Pferde 34 und Kamele 35 . In den von Europa am weitesten entfernten Regionen, da wo Indien und das Paradies liegen, gibt es viele Edelsteine und Goldschätze - und selbstverständlich auch exotische Tiere. Die Ebstorfer Karte zählt in dem langen Text über Indien die meisten dieser wunderlichen Kreaturen auf: »Gignit bestias mirabiles: ealem, manticoram, taurum Indicum, unicornem; psytacum [...]«. In der Tat sind diese Tiere auf fast jeder der drei vollständigen mappae mundi dargestellt: der zweihörnige Eale 36 , der menschenfressende Manticorus 37 , der indische Stier 38 , das Einhorn oder das Nashorn 39 und der Vogel Psytacus 40 . Weiter in Richtung Arabien und Ägypten finden wir den Vogel Phönix 41 . Die Hereford-Karte und die Vercelli-Karte geben in Indien außerdem noch den Elefant mit einem Turm auf seinem Rücken wieder 42 . Die Goldschätze dieses Landes sind wegen gefährlicher Schlangen und Drachen schwer zu erlangen: die goldenen Berge würden von Drachen und Greifen bewacht 43 , und die Hälfte der reichen Insel Taprobane sei wegen der Elefanten und Schlangen überaus gefahrenreich und praktisch unzugänglich 44 . Die Ebstorfer Karte verrät außerdem noch, daß in Indien Riesenschlangen leben: »serpentes tam vasti ut cervos devorent et ipsum oceanum transnatent«. In Afrika, am Nil, leben Affen und der Vogel »pellicanus« 45 . Schon die sogenannte Cotton-Karte aus dem 11. Jahrhundert gibt an, daß sich an fruchtbare Gebiete Nordafrikas nur eine entvölkerte, heiße Wüste mit Schlangen und wilden Tieren anschließe: 32 Ebstorf in dem Text zu Scitia (mit Bild); Hereford (mit Bild); Vercelli: »Gens ista [...] / cum griponibus« 33 Ebstorf und Hereford (beide mit Bild); Vercelli im Text zu Asia Minor: »[...] habet bonacu animal simile boum [...]«. 34 Ebstorf (mit Bild); Higden nur im Text. 35 Hereford (mit Bild); Ebstorf zeigt das Bild eines Kamels neben Jerusalem ohne Text. 36 Ebstorf (mit Bild) und Hereford (mit Bild); Vercelli: der »eale« ist wahrscheinlich der linke Vierbeiner über dem Paradies. 37 Hereford (mit Bild); Ebstorf nennt den »manticore« nur in dem Text zu India; Aslake (Fragment 2) beim Caucasus nur noch lesbar »manticore« (Barber/ Brown [Fn. 18], S. 28). 38 Ebstorf nennt den indischen Stier nur im Text zu India; Vercelli: der »taurus« ist wahrscheinlich der rechte Vierbeiner über dem Paradies. 39 Hereford (mit Bild): »monoceroti« und »rinoceros« (beide sind nach Ägypten verschoben); Ebstorf nennt den »unicornus« nur im Text zu India; Vercelli zeigt ein Einhorn ohne Text neben dem irdischen Paradies. 40 Ebstorf (mit Bild) in der Fortsetzung des Textes zu India; Hereford (mit Bild); Vercelli: der »psittacus« ist wahrscheinlich der Vogel neben dem Paradies. 41 Ebstorf (mit Bild); Hereford (mit Bild); Higden (Text); Aslake (Text). 42 Hereford (mit Bild); Vercelli (nur Bild); Ebstorf und dieAslake- und Cornwall-Fragmente haben das Tier auch (ohne Turm), siedeln es aber ganz unten in Africa an. 43 Ebstorf: »Montes Aurei, qui propter dracones et grifes adiri non possunt.« Hereford: »Montes aureos a draconibus custodit[i].« Aslake (im Text zu Asia): »Montes aurei sunt in ista parte et a dragonibus et serpentibus custudiuntur.« 44 Schon die mappa mundi aus dem 8. Jh. in der Bibliotheca Vaticana (Vat. Lat. 6018, f. 63v - 64) hat: »Insola taberbana <<unleserlich>> bestiarum [...].« Ebstorf: »Taprobane. [...] Tota margaritis et gemmis repleta. Una pars eius homines habet, alia vero pars eius quasi dimidia bestiis et elefantis repleta est; Heac pars inhabitabilis est ob nimiam multitudinem bestiarum.« Hereford: »Taprobana [...] Sed ulterior pars elephantis et draconibus plena.« 45 Beide auf Ebstorf. Hereford hat einen Affen im Norden Europas und den »pellicanus« in Indien. <?page no="97"?> 96 Margriet Hoogvliet »Zugis regio ipsa est et Affrica est enim fertis[? ] set uberor [ulterior] bestiis et serpentibus plena«. Diese Bemerkung wird von fast allen Karten übernommen 46 , und alle siedeln hier denn auch den Basilisk an, den König der Schlangen, und vieles andere Gewürm 47 . Es gibt in Africa auch andere Tiere, wie die »pantera« 48 (Panther), den »cameleopardalus« 49 (eine Kreuzung aus Kamel und Panther), den »parandrus« 50 (eine Art Hirsch), den gefährlichen »catoseplas« 51 mit seinem tödlichen Blick), die »hiena« 52 (Hyäne), den »strucio« 53 (Strauß), den »elephans« 54 (Elefant) und die »formice« 55 (Ameisen). Die Karten von Vercelli und Hereford zeigen im Süden etwas abweichende Versionen dieser Tiere 56 . Im großen und ganzen kann man sagen, daß die Karten ein extremes Klima, kalt, heiß oder sehr feucht, für die außergewöhnlichen Tiere verantwortlich machen. Außerdem beschäftigen sich die Karten mit der Frage, wo es viele Schlangen und Raubtiere gibt, und welche Gebiete frei davon sind. Es ist weiterhin auffällig, daß alle mappae mundi in groben Zügen dieselbe Verteilung der fabulösen Fauna aufweisen: Greife und Tiger im Norden, wunderliche Tiere in Indien und Schlangen im Süden. Die Weltkarten kennen auch kaum Variationen in der Auswahl der Tiere: es scheint so, als ob man nur bestimmte Tiere auf den mappae mundi abbildet. Gelegentlich findet sich auch ikonographisch ein und dersselbe Bildtypus: beispielsweise der »basiliscus« auf der Hereford-Karte und auf der Karte in der Cambridger Handschrift. Die Ebstorfer Karte und die Duchy of Cornwall- und Aslake-Fragmente situieren dieselben Tieren links unten in Afrika in nahezu derselben Reihenfolge. Peter Barber und Michelle Brown stellten in ihren Publikationen über das Aslake-Fragment (Fn. 18, S. 31) schon fest, daß sich die Monstergalerien auf der Psalter-Karte und auf den Duchy of Cornwall- und Aslake Fragmenten erstaunlich äh- 46 Psalter-Karte: »Terra arenosa et sterilis«. Ebstorf (z.B.): Desertum. Hic multitudo bestiarum, serpentium, onagrorum.« Ferner: »Sirtes maiores. Hec terra est arenosa et hominibus inhabitabilis propter immanes serpentes et nimiis solis ard[oribus].« Hereford: »Interna Affrice, ut Solinus testatur, plurime quidem bestie, set principaliter leones tenent.« Higden: »Ethiopia calidissima habet mirabiles bestias« und: »Cirses sunt loca badosa et arenosa.« Aslake: »Arcas maiores arephinorum terra hec arenosa ac sine aqua et propter sterilatem nimiam in habitata sed serpentibus plena.« 47 Schon die Münchner Karte aus dem 12. Jh. zeigte hinter dem Nil Schlangen. Hereford und die Karte in Cambridge haben genau denselben »basiliscus« in der Mitte von Africa. Ebstorf hat den »basiliscus«, zusammen mit dem »draco« und dem »aspis«, ganz oben in Africa. Ebstorf und Cornwall haben die Baumschlange »iaculus« mitten im Gebiet hinter dem Nil. Ebstorf hat unten in Africa noch weitere Schlangen: »scitalis, amphisbena, prester, cerastes, vipera, coluber, sereni«, und »emorrois«; mit vielen Bildern. Duchy of Cornwall hat auch den »scitalis«; Kliege ([Fn. 6], S. 162) liest (falsch) »squalis«. Higden nennt nur den »basiliscus«. 48 Ebstorf (mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); Aslake. 49 Ebstorf (mit Bild); Aslake: Barber/ Brown (Fn. 18, S. 36) lesen »Camelo« und »Pardalus«. 50 Ebstorf (mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); Aslake: »perandes«. 51 Duchy of Cornwall (mit Bild); Aslake (»cathiophiplas«); Ebstorf hat dieses Tier (»cateplebas«, mit Bild) im Norden am kaspischen Gebirge. 52 Ebstorf (»yena«, mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); Aslake. 53 Ebstorf (mit Bild); Vercelli zeigt den Vogel mit Reiter und einem Hufeisen im Schnabel; Hereford hat das Bild im Norden mit der Unterschrift: »[...] ferrum comedit«. 54 Ebstorf (mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); vgl. Fn. 42. 55 Hereford (mit Bild); Duchy of Cornwall (mit Bild); Ebstorf im Süden »mirmicaleon« (mit Bild) und in Indien (mit Bild). 56 Beide Karten nennen und zeigen den »Leopardus«; Vercelli bildet noch zwei Drachen ab; ferner zeigt Hereford noch einen heraldischen Löwen (»leo«); Vercelli hat noch ein Kamel (»cameli«), einen Bären, und einen Greif, der einen Drachen in seinen Klauen hält. <?page no="98"?> Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 97 neln. Das scheint auch für die Auswahl und Verteilung der Tiere in Afrika zu gelten. Daraus könnte man schließen, daß die mappae mundi aus dem 13. und 14. Jahrhundert lediglich einander nachahmen, aber es gibt Indizien, daß die mappae mundi mehr als bloße Kopien sind, da die Karten noch aus vielen anderen Text- und Bildquellen schöpfen. In seinen Texteditionen mittelalterlicher Weltkarten hat sich Konrad Miller schon eingehend mit den schriftlichen Quellen der mappae mundi befaßt. Leider beschränkte er sich dabei auf die ältesten Quellen, denn seiner Meinung nach sind die mappae mundi nichts anderes als mittelalterliche Versionen der antiken Weltkarte des Agrippas 57 , die schon die gleichen Tiere wie die mappae mundi enthielt 58 . Aus diesem Grund hat Miller grundsätzlich alle nach-antiken, d.h. mittelalterlichen Vorlagen und Bildquellen außer Acht gelassen. Es ist zweifellos richtig, daß die Kartenmacher fast nirgendwo nach-antike Werke und visuelle Vorlagen auf ihren mappae mundi genannt haben. Trotzdem ist es möglich, die Benutzung einiger anderer Quellen für die Darstellung von Tieren auf diesen Karten nachzuweisen. Auf ihre Textvorlagen haben die Karten jedenfalls gelegentlich verwiesen, z.B. steht rechts unten auf der Ebstorfer Karte in roter Tinte ein Verweis auf Isidor von Sevilla: »Si quis plus nosse desiderat de animalibus bestiis volucribus piscibus serpentibus lapidibus arboribus et aromatibus Ysidorum legat«. Es handelt sich hier um das 12. Kapitel aus den Etymologiae des Isidor (ca. 570 - 636) über Tiere, Vögel, Fische, Schlangen usw. Auch die Hersteller der Hereford-Karte geben ihre Textquellen preis: neben Isidor wird Solinus (Collectanea rerum memorabilium, 3. Jahrhundert) häufig für die Tiere genannt. Daneben spürte Konrad Miller noch einige sekundäre, nicht von den Karten genannte Quellen auf. Die Hereforder Karte etwa zeigt den Strauß, den »scorpio« und im Norden den Affen nach dem Beispiel von Aethicus Ister. 59 Eine große Anzahl der Tiere in Indien auf der Ebstorfer Karte, z.B. die »serpentes tam vasti ut cervos devorent [...]« 60 , sind wörtlich dem Imago mundi (zwischen 1110 und 1139) des Honorius von Autun entnommen. Zu den üblicherweise angenommenen Quellen der mittelalterlichen Tierdarstellungen in Wort und Bild, den Bestiarien, sah Miller keinen Zusammenhang 61 . Wahrscheinlich hat er sich zu sehr von der Idee der »alten Karte« als Urbild aller mittelalterlichen Weltkarten leiten lassen, denn die Entlehnungen aus den Bestiarien sind so zahlreich, daß sich die Veränderungen in den Bestiarien vom Ende des 12. Jahrhunderts bis zum Anfang des 13. Jahrhunderts in den Weltkarten wiederfinden lassen 62 . 57 Miller (Fn. 14): »Die Karten von Hereford und Ebstorf, [und andere mittelalterliche Karten] weisen alle [...] auf die im öffentlichen Bewusstsein fortlebende Thatsache hin, dass die Augustuskarte die Grundlage der mittelalterlichen Weltkarte bildet« (S. 53). Vgl. Kugler, Hartmut: Abschreibfehler. Zur Quellenproblematik der Ebstorfer Weltkarte. In: (Fn. 17), S. 347 - 366, bes. S. 347 - 351. 58 Miller (F. 14), S. 48; und Miller (Fn. 1), Bd. VI: Rekonstruierte Karten. Stuttgart 1898, S. 147. 59 Miller (Fn. 14), S. 18. 60 Miller (Fn. 1), S. 71. 61 Miller (Fn. 14): »[...], manche Tiere [finden sich] in den Bestiarii, welche aber auch wieder aus den Karten schöpften, und im Physiologus; eine direkte Beziehung ist nicht nachweisbar.« (S. 49). 62 Für die Entwicklung vom lateinischen Physiologus zu den Bestiaria verwende ich hier die Wortwahl Florence McCullochs: Mediaeval Latin and French Bestiaries. Chapel Hill 1960, S. 28 - 40. Nach dem lateinischen Physiologus unterscheidet sie eine intermediäre erste Familie: De bestiis et aliis rebus des Pseudo- Hugo von Sankt Viktors und eine Fassung mit Interpolationen aus Isidors Etymologiae (B-Is Version). Am Ende des 12. Jahrhunderts folgt das eigentliche Bestiarium: zunächst das der zweiten Familie, später, im 13. Jh., das der dritten Familie und das der vierten Familie. <?page no="99"?> 98 Margriet Hoogvliet Ein gutes Beispiel ist das »yena« auf der Ebstorfer Karte. Der Wortlaut der Beschreibung der Hyäna als Aasfresser - es frißt Leichen aus Gräbern - stimmt genau überein mit einer frühen Fassung des Bestiariums De bestiis et aliis rebus (12. Jahrhundert) 63 . Uwe Ruberg 64 hat den nur fragmentarisch erhaltenen Text zum »ibex« auf derselben Karte mit Hilfe des De bestiis ergänzen können. Für Ruberg bietet dieser Quellentext »keinen Anhaltspunkt für eine mögliche Spätdatierung«, denn ihr Grundgedanke finde sich schon in den Moralia Gregors des Großen (6. Jahrhundert). Dem steht gegenüber, daß Florence McCulloch (Fn. 62, S. 31) Gregor den Großen zu den wichtigsten Quellen von De bestiis zählt, und deswegen ist die thematische Ähnlichkeit nicht erstaunlich. Das Zitat allein, das Wort für Wort aus De bestiis übernommen wurde, ist schon ein ausreichender Beleg für den Gebrauch dieses Textes durch die Ebstorfer Karte. Es gibt noch einige genauere Hinweise auf die Verwendung einer späteren Stufe aus der Entwicklung des Bestiariums für die Konstruktion der mappae mundi , das sogenannte Bestiarium der zweiten Familie vom Ende des 12. Jahrhunderts (s. Fn. 62). Dieser Text basiert größtenteils auf den intermediären Fassungen, aber unterscheidet sich von diesen durch eine große Anzahl Ergänzungen, besonders Zitate aus Solinus, Isidor und aus dem Hexameron des Kirchenvaters Ambrosius. Auch die Ikonographie des Miniaturenprogramms enthält mehrere Erneuerungen. Eine Ergänzung aus Solinus im Bestiarium der Zweiten Familie ist das Tier »eale«, ein schwarzes Huftier mit beweglichen Hörnern. In der Beschreibung des Solinus hat dieses Tier »maxillis aprinis« (den Kiefer eines Wildschweins). In einigen Versionen des Bestiariums der Zweiten Familie ist dieser Ausdruck falsch als »maxillis caprinis« (den Kiefer einer Ziege) geschrieben 65 . Genau dieser Fehler findet sich auch in den Ebstorfer und Hereforder Karten, und es ist unwahrscheinlich, daß verschiedene Schreiber denselben Abschreibfehler gemacht haben sollen. Dasselbe gilt für das Tier »parandrus« auf der Ebstorfer Karte und im sogenannten Cambridge-Bestiarium (13. Jahrhundert), wo in beiden Fällen »bisulco vestigio« (Paarhufe) falsch als »ibico vestigio« geschrieben ist 66 . Die Hereford-Karte erzählt von dem Raub der Tigerjungen, und daß der Räuber das nachjagende Muttertier mit einem Spiegel täuschen konnte 67 . Wie Miller schon bemerkte, stammt diese Anekdote aus Ambrosius (Hexam. 6,4), aber sie wurde vom Bestiarium der Zweiten Familie übernommen und dort zum ersten Mal illustriert. Eine spätere Karte, die Borgiakarte aus der Biblioteca Vaticana (15. Jahrhundert) 68 , siedelt noch immer in Übereinstimmung mit der mittelalterlichen Überlieferung Tiger und Löwen im Norden an und verwendet bei der Abbildung des Tigers das Spiegelmotiv der Bestiarien. 63 McCulloch (Fn. 62), S. 131. 64 Die Tierwelt auf der Ebstorfer Weltkarte im Kontext mittelalterlicher Enzyklopädik. In: (Fn. 17), S. 319 - 346, hier S. 345. 65 McCulloch (Fn. 62), S. 191. 66 McCulloch (Fn. 62), S. 150. Cambridge University Library, Ms Ii.4.26, f. 16. Reproduktion dieser Handschrift in James, Montague Rhodes: The Bestiary; Being a reproduction in Full of the Manuscript Ii.4.26 in the University Library, Cambridge, With Supplementary Plates from Other Manuscripts of English Origin, and a Preleminary Stury of the Latin Bestiary as Current in England. Oxford/ The Roxburghe Club 1928. 67 »Tigris bestia cum catulum suum captum percipit, concito cursu persequitur cum catulo fugientem. At ille velocis equi cursu in fugam properans speculum ei proicit et sic liber evadit.« 68 Vaticano: Biblioteca Apostolica Vaticana, Borgia XVI (galerie), Kupfer, ∅ 63 cm. Abbildung: Destombes (Fn. 2), pl. XXIX. <?page no="100"?> Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 99 Die Beschreibung vieler neu in das Bestiarium der Zweiten Familie aufgenommener Tiere stammt von Autoritäten wie Solinus und Isidor. Die Herkunft der Ikonographie steht hingegen nicht mit Sicherheit fest, denn es gibt keine ununterbrochene bildliche Überlieferung dieser Tiere, weder in den Handschriften noch in anderen Medien. Manche Tiere wurden zum ersten Mal nach einer Unterbrechung von mehreren Jahrhunderten im Bestiarium der Zweiten Familie gezeigt, und andere Tiere, die schon in der Antike und im frühen Mittelalter abgebildet wurden, tauchen jetzt im 12. Jahrhundert mit einer veränderten Ikonographie auf 69 . Viele dieser Tiere, die im Bestiarium der Zweiten Familie erstmals (oder erneut) erscheinen wie »manticora, eale, parandrus« und »bonnacus«, sind auch auf den mappae mundi abgebildet, für die das illustrierte Bestiarium der Zweiten Familie die einzige verfügbare Bildquelle und Autorität war. In mehreren Fällen gibt es eindeutige Hinweise, daß dieses Bestiarium die visuelle Vorlage für die »pictores« der mappae mundi bildete. Zum Beispiel sprechen die Texte der Ebstorfer Karte nicht von den spiralförmigen Hörnern des »bonacus«, doch er wird mit ihnen dargestellt. Die einzige verfügbare Vorlage für die »pictores« aber war die Abbildung im Bestiarium der Zweiten Familie. 70 Dieselbe Karte zitiert nur Isidor über die »pantera« - sie sei befreundet mit allen Tieren und die Jungen reißen mit ihren Klauen den Schoß der Mutter auf -, wie aber Ruberg (Fn. 64, S.327) festgestellt hat, beruht die Abbildung auf einer Anekdote, die bereits im Physiologus steht. Dort und in den Bestiarien wird erzählt, daß die »pantera«, drei Tage nachdem sie gefressen hat, durch ihren sehr wohlriechenden Atem alle Tiere, außer dem »draco«, anzieht. Die Abbildung mit der Beischrift: »Hic est pantera et alie multe immanes bestie« weicht von den ältesten Versionen ab und ist fast identisch mit einer Miniatur im sogenannten Cambridger Bestiarium (13. Jahrhundert) 71 . 69 Die antike Herkunft der Tiere wird häufig behauptet, ist aber umstritten. Eine gute Zusammenfassung der Diskussion bei: Muratova, Xenia: Problèmes de l’origine et des sources des cycles d’illustrations des manuscrits des Bestiaires. In: Epopée animale, fable, fabliau. Actes du IV e Colloque de la Société Internationale Renardienne. Évreux 1981. Hrsg. von G. Bianciotto (u.a.). Paris 1981, S. 383 - 408, bes. 384 - 385; und: Klingender, Francis: Animals in Art and Thought to the End of the Middle Ages. London 1971, S. 384 f. 70 Wie Miller schon bemerkte, stammt der »bonnacus« aus Solinus (40: 10 - 11), doch entspricht die Abbildung derjenigen in den Bestiarien. Vergleichbar mit dem Jäger (mit einem Schild) des »bonnacus« auf der Ebstorfer Karte ist: Cambridge, Fitzwilliam Museum 254, f. 24 r (McCulloch [Fn. 62], S. 98) und: Westminster Abbey Library, Ms 23, f. 32 r (13. Jh.), Abbildung in: Porsia, F. (Hrsg.): Liber monstrorum. Bari 1976, Abb. IX. Vergleichbar mit dem »bonnacus« der Hereford-Karte ist: Paris, B.N., Ms. lat. 3630, f. 78 (13. Jh.). Einige falsche Deutungen dieses Tieres: Hahn-Woernle, Birgit: Die Ebstorfer Weltkarte. Ebstorf 1989: »Diese Geschichte ist wohl zur Zeit der Kreuzzüge entstanden: die einheimische Landbevölkerung, symbolisiert hier im Ochsen, ihrem wichtigsten Tier, wehrt sich gegen die Eindringlinge und verbrennt das Land.« (S. 45). S. auch Arentzen, Jörg-Geerd: Imago Mundi Cartografica. Studien zur Bildlichkeit mittelalterlicher Welt- und Ökumenekarten unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenwirkens von Text und Bild. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bd. 53): »[...] die Zeichnung des Kreuzritters oberhalb Konstantinopels.« (S. 169). 71 Vgl. Fn. 66, f. 4; Ruberg (Fn. 64), Abb. 4. Im allgemeinen folgen die Tiere der »pantera« (vgl. McCulloch [Fn. 62], Abb. VI, 4 = Ms Bodley 602 [spätes 12. Jh.], f. 20). In der ältesten illustrierten Handschrift des Physiologus (Bern, Stadtbibliothek, Codex 318 [9. Jh.]) befindet sich die »pantera« in einer Höhle. Vgl. Woodruff, Helen: The Physiologus of Bern. A survival of Alexandrian Style in a Ninth Century Manuscript. In: The Art Bulletin 12 (1930), S. 226 - 253; hier: S. 249 (fig. 26 = f. 15 r ). <?page no="101"?> 100 Margriet Hoogvliet Schließlich stimmt die Hereford-Karte in mehreren Einzelheiten mit dem französischen Bestiaire des Pierre de Beauvais (vor 1218) überein: vom Vogel »avalerion« gebe es nur ein Paar 72 , der Greif könne einen Ochsen tragen 73 und der Strauß Eisen verdauen 74 . Es ist nicht sicher, ob Pierre de Beauvais wirklich eine der Vorlagen für die Hereford-Karte war, es könnte auch sein, daß beide aus derselben lateinischen Quelle schöpften. Die Frage nach der Bedeutung der Tiere auf den mappae mundi ist noch nicht oft behandelt worden. Jedenfalls ist klar, daß die Tiere nicht, wie häufig behauptet, allein aus individueller Einbildungskraft geschaffen wurden, sondern sie sind in den meisten Fällen von Autoritäten übernommen. Zweifellos sind die mappae mundi regelrechte Kompilationen 75 , vergleichbar mit den mittelalterlichen Enzyklopädien oder Summae. Der Gebrauch mehrerer Quellen läßt sich - wie im Falle des »bonnacus« - aus der Diskrepanz zwischen Beschreibung und Abbildung mehrerer Tiere ableiten: der »bonnacus« auf der Ebstorfer Karte hat Hörner, die nicht in der Textüberlieferung genannt wurden; andererseits spricht die Hereford-Karte vom Einhornfang durch eine reine Jungfrau, hat diesen Topos aus den Bestiarien aber nicht abgebildet. Vermutlich wurden Texte und Abbildungen aus verschiedenen Vorlagen auf der Karte zusammengebracht. Ein Zusammenhang zwischen der Ebstorfer Karte und der mittelalterlichen Enzyklopädik ist schon von Ruberg (Fn. 64) vorgeschlagen worden 76 . Seiner Meinung nach ist die räumliche Anordnung der Tiere auf der Karte und in den vier Aussenlegenden vom Ordnungsprinzip der Schöpfung und der vier Elemente bestimmt 77 , und zwar genauso wie in den Enzyklopädien. Jedoch läßt sich eine solche Verteilung auf der Ebstorfer Karte (und auf anderen Karten) nicht eindeutig feststellen. So kann man seiner Behauptung, die Flugtiere bevölkerten die obere Kartenhälfte, entgegenhalten, daß sich die Mehrzahl der Tiere dort befindet. Auch in den Außenlegenden ist die Vierteilung nicht eindeutig: Der Text über dem »pantera« beginnt rechts oben und setzt sich rechts unten fort. Nach dem »pantera« folgen hier noch »castor, ursus« und »simia«, erst dann die Schlangen (»draco, vipera« usw.), doch ist danach von »sulphur«, und »alumen« die Rede, und schließlich 72 »Avalerion par in Mundo«. McCulloch (Fn. 62), S. 197 - 198. Der »alerion« wird auch in dem altfranzösischen Brief des Priesters Johannes erwähnt (ca. 1190); Gosman, Martin (Hrsg.): La lettre du Prêtre Jean, édition des versions en ancien français et en ancien occitan. Groningen 1982 (Medievalia Groningana, fasc. II), S. 158 f., v. 61 f. 73 »Griphes [...] volando bovem portabunt«. Die Abbildung zeigt trotzdem den Kampf mit den »Arimaspi« (McCulloch [Fn. 62], S. 123). Links unten auf der Vercelli-Karte ist ein Greif abgebildet, der einen Drachen trägt. 74 »Ostricus [...] ferrum comedit«. Die Vercelli-Karte hat links unten einen Strauß mit einem Hufeisen in seinem Schnabel (McCulloch [Fn. 62], S. 146 f.). Vgl. auch Alexander Neckam (1157 - 1217): De natura rerum, (Cap. L) und Thomas von Cantimpré (1201 - 1263/ 72): Liber de natura rerum, (5, 110, 29). 75 Vgl. Kugler: »Die Ebstorfkarte [kann] aus einer Mehrzahl von Quellen erarbeitet sein, und zwar sowohl aus Buchwie aus Kartenquellen.« ( [Fn. 57], S. 365 ). 76 Vgl. auch Brincken (Fn. 6, 1992): Kapitel II. 7: »Das 13. Jahrhundert - Summenliteratur in Wort und Bild« (S. 77 - 97). 77 Ruberg (Fn. 64), S. 335: »Die Flugtiere bevölkern den oberen, die Kriechtiere dagegen vornehmlich den unteren Halbkreis des Orbis. Diese Zuordnungstendenz dürfte eine Wurzel in den alten systematischen Vorstellungen über die Anteile und Wirkungen der vier Elemente haben [...].« und S. 343: »Durch den programmatischen Ausgang vom Sechstagewerk des Schöpfers reiht sich die Ebstorfkarte unmißverständlich in die Gattungstradition der Enzyklopädik ein«. In den Außenlegenden unterscheidet Ruberg der Reihenfolge des Schöpfungswerkes gemäß: links oben »volatila«, links unten »pisces« (postuliert), rechts oben »quadrupedia«, rechts unten: »serpentes«. <?page no="102"?> Hic nulli habitant propter leones et ursos et pardes et tigrides 101 werden Tiere von Inseln behandelt. Dieser Text wird links unten fortgesetzt. Rechts oben sind zwei Textkolumnen über Vögel (aus Isidor, XII. Kapitel) und De regione pene inhabitabili (aus Aethicus) durcheinander geschrieben. Die Anwesenheit der »pisces«, links unten, wo die Karte beschädigt ist, beruht auf bloßer Annahme (Fn. 78). Meiner Meinung nach stehen die mappae mundi in einem viel eindeutigeren Zusammenhang mit den schriftlichen Weltbeschreibungen. Der Terminus »mappa mundi« wurde auch für die literarische Gattung benutzt 78 , und diese Texte tauchen gelegentlich als selbständige Kapitel in Enzyklopädien auf 79 . Die Kartenmacher haben sie offenbar für ihre mappae mundi konsultiert, denn die Karten folgen erkennbar der inneren Einteilung dieser Texte. Wörtlich wird z. B. aus dem XIV. Kapitel (De terra et partibus) der Etymologiae des Isidor von Sevilla zitiert; der nördliche Teil der Hereford-Karte entspricht Aethicus Ister, der Nordosten auf der Ebstorfer Karte entspricht dem Imago mundi des Honorius von Autuns und eine Anzahl der Tiere im Süden auf der Ebstorfer Karte und auf den Fragmenten stammt aus Solinus. Ein fester Bestandteil dieser Weltbeschreibungen sind die Tiere. Die Texte listen fast immer diejenigen Tiere auf, die charakteristisch für die unterschiedlichen Regionen der Welt sind 80 . Auch die Bestiarien erwähnen häufig die Verbreitung der Tiere 81 . Von daher liegt es nahe, diese beiden Überlieferungen auch bildlich auf der Kartenoberfläche zu kombinieren. Wahrscheinlich hat man zu Anfang des 13. Jahrhunderts die folgenden drei verschiedenen Sichtweisen auf den mappae mundi zusammengebracht: »leere« kartographische Vorstellungen der Welt, literarische Weltbeschreibungen und illustrierte Bestiarien. Insofern zeigt sich hier eine Analogie zwischen mappae mundi und den mittelalterlichen Enzyklopädien: die mappae mundi sind gewissermaßen visuelle Kompilationen. Es gibt auf den mappae mundi keine ausdrücklichen Hinweise auf einen »sensus spiritualis« und daher auch nicht auf eine moralische oder spirituelle Interpretation der Tiere. Die 78 Diese Verwendung des Terminus »mappa mundi« wurde zuerst von Richard Uhden bemerkt: Gervasius von Tilbury und die Ebstorfer Weltkarte. In: Jahrbuch der Geographischen Gesellschaft zu Hannover (1930), S. 185 - 200, hier S. 199, Anm. 73. Eine jüngere Besprechung in: Gautier Dalché (Fn. 11) 23, S. 87 - 95. 79 Z.B. Richard von Sankt-Viktor: Liber exceptionum. Liber III: De situ terrarum; Bartholomäus Anglicus: De proprietatibus rerum. Buch XV: De regionibus; Vinzenz von Beauvais: Speculum Naturale. Liber XXXII: De tribus orbis partibus. 80 Z.B. Isidorus, C. XIV »De terra et partibus«; India: »Gignit autem [...] elephantos ingentes, monoceron bestiam, psittacum avem [...].« (XIV,iii,6). Ultima Africae: »regio gignens feras, simias, dracones et struthiones.« (XIV,v,12). Aethiopia: »Ferarum quoque et serpentia referta est multitudine. Illic quippe rhinoceros bestia et cameleopardus, basiliscus, dracones ingentes [...].« (XIV,v,15). (Oroz Reta, J.; Marcos Casquero, M.-A. (Hrsg.): San Isidoro de Sevilla: ›Etimologías‹. Edicion bilingüe. Madrid 1982 (Biblioteca de autores Christianos declarada de interés nacional, Bd. 433). - Honorius von Autun, Imago mundi (I, 12: De bestiis) nennt: »serpentes tam vasti ut cervos devorent« (nicht in den Bestiarien, aber zitiert und abgebildet auf der Ebstorfer Karte), »Ceucrota, Eale, fulvi tauri, Mantichora, boves tricornes, monoceros.« (Flint, V. I. J.: Honorius Augustodunensis Imago Mundi. In: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 57 (1982), S. 7 - 153. 81 Einige Beispiele aus dem Cambridger Bestiarium: »In Asia animal nascit[ur] q[uo]d bonnacon dicunt.« (f. 10); »In India nascitur bestia que manticora dicitur.« (f. 15 v ); »Ethiopia mittit bestiam parandrum nomine.« (f. 16); »Camelus [...] alie regiones mittunt, s[ed] Arabia plurimos. Bactri camelos fortissimo[s] [...]« (f. 24); »Sola India mittit auem psitacu[m] [...]« (f. 33); «Fenix Arabie auis dicta [...]« (f. 36). <?page no="103"?> 102 Margriet Hoogvliet einzige Ausnahme ist der »ibex« auf der Ebstorfer Karte. Hier hat man, wahrscheinlich durch eine Unaufmerksamkeit, die spirituelle Auslegung des Textes De bestiis et aliis rebus mitkopiert. In allen anderen Fällen ist nur der sensus literalis aus der Vorlage übernommen worden. Trotzdem ist eine gewisse positive oder negative Bewertung der Tiere auf den Karten spürbar: Extreme Kälte oder Hitze bringt gefährliche Tiere hervor, und diese Gebiete sind für Menschen nicht zugänglich. Es ist daher nicht zufällig, daß die Ebstorfer Karte auch für Reisende gedacht war, aber, wie es im selben Text heißt, sie hält ebenso zur Kontemplation an: »Mappa [...] que scilicet non parvam prestat legentibus utilitatem, viantibus directionem rerumque viarum gratissime speculationis dilectionem.« Die mappae mundi beschreiben nur den sensus literalis der Tiere, aber sie bieten eine weitergehende Interpretationsmöglichkeit an, indem die literale Bedeutung den Betrachter auf die moralische Bedeutung, die in den Bestiarien enthalten ist, verweist 82 . Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Tiere auf mittelalterlichen Weltkarten nicht als bedeutungslose Zusätze zu verstehen sind, sondern daß sie den Gebrauch und die Interpretation der mappae mundi steuern. 83 82 Auch hier gibt es eine Analogie zu den Enzyklopädien, wo oft nur der »sensus literalis« genannt wird, der aber einen »sensus spiritualis« konnotiert. Vgl. Meyer, Heinz: Zum Verhältnis von Enzyklopädik und Allegorese im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster 24 (1990), S. 290 - 313: »Im Hinblick auf die Funktion der Werktypen als Hilfsmittel für die Bibelauslegung ist festzuhalten: Die naturkundlichen Beschreibungen der Enzyklopädien legen dem Exegeten eine Liste von deutungsfähigen Eigenschaften vor, ohne selbst in den Auslegungsprozeß einzugreifen.« (S. 302); vgl. auch: Van den Abeele, Badouin: Bestiaires encyclopédiques moralisés. Quelques succédanés de Thomas de Cantimpré et de Barthélemy l’Anglais. In: Reinardus 7 (1994), S. 209 - 228. 83 Ich habe eine Publikation in Vorbereitung über die spirituelle Deutung der mappae mundi. Mappae mundi and Medieval Hermeneutics of Cartographical Space. In: P. F. Ainsworth (et al.) (eds.). Regions and Landscapes in the Middle Ages. (Forthcoming). <?page no="104"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau Peter Dinzelbacher (Salzburg) Von der Skulptur des Mittelalters schrieb Henri Focillon 1 , wenn auch nicht ohne Übertreibung: »Elle est l’image du monde, et non seulement de la création tout entière, mais d’un cycle historique, d’une société, d’une manière de vivre, de sentir et de penser. Elle contient probablement le Moyen Age tout entier.« Ein Teil dieser Welt bestand aus höchst unheimlichen Gestalten, Monstern, Fabelwesen, Tiermenschen, Masken ... Keine zeitgenössische Quelle sagt explizit, was diese versteinerten Wesen und Unwesen im Zwielicht von Tag und Nacht, am Rande von bekannter Welt und unbekanntem Jenseits wirklich bedeuten sollten. So sind der Deutungsmöglichkeiten viele. 1 Focillon, Henri: L’art des sculpteurs romans. 3. Aufl. Paris 1982, S. 7. Canterbury, Krypta, um 1100. <?page no="105"?> 104 Peter Dinzelbacher Entstehung Daß die Architektur des Kultbaus nicht nur von den Statuen und Bildern der Gottheiten bewohnt wird, sondern auch von anderen, bisweilen anscheinend kaum in der jeweiligen Mythologie verankerten Wesen oft monströsen Charakters, ist eine religionswissenschaftlich vollkommen geläufige Erscheinung. Um nur die Tempel des klassischen Altertums zu zitieren: hier gab es Löwenhäupter als Wasserspeier, Schlangen, Sphingen, Gorgonen in den Zwickeln der Tympana u.ä. Eine durchgehende Kontinuität in die christliche Epoche ist jedoch nicht festzustellen. Im Gegensatz zu den frühmittelalterlichen Bauten sind erst die der Romanik geradezu heimgesucht von monströsen Gestalten. Stellt man sich einmal vor Augen, in wie vielen Kirchen nach der Jahrtausendwende fast jede Konsole einen Teufel trägt, jede Basis eine Tierfratze, jedes Kapitell eine Versuchung zur Sünde, dann wird man das dämonisch-angstbesetzte Element in der gelebten Religiosität jener Zeit nicht unterschätzen. Ebenso unzählbar sind die Initialminiaturen der Handschriften, in denen Menschen von Bestien verschiedenster Gestaltung angegriffen werden oder diese gegeneinander kämpfen. Wie sehr Bild und Wesen in eins gesetzt wurden, erweisen die zahllosen Manuskripte, in denen die Teufelsdarstellungen ausgekratzt sind, die zahllosen Plastiken, wo nur die Dämonen beschädigt wurden ... 2 Mit großer Wahrscheinlichkeit liegt an der Wurzel der steigenden Präsenz des Dämonischen im hohen Mittelalter als ein wichtiger Faktor jene asketische Wendung, die sich besonders in der Cluniazensischen Reform und ihren Ausstrahlungen manifestierte. Schon Werner Weisbach hat angesichts der explosionsartigen Zunahme entsprechender Darstellungen in der Romanik vermutet, daß die Kirchenreform »dem Umsichgreifen solcher Angstgeburten Vorschub leistete. Indem Tiere und Monstra zur Versinnbildlichung des Bösen, der Sünde und der Hölle eine ausgiebige Verwendung fanden, verband sich mit der Darstellungsaufgabe eine mit geistlich-didaktischen und moralischen Absichten in Beziehung stehende Bestimmung.« Nicht zufällig finden sich die Unwesen am Kirchenbau gehäuft an den Fassaden bzw. im Bereich der Portale: »Es war beabsichtigt, in diesen Gebilden das Schreckenerregende und Grauenhafte zu veranschaulichen und dem Kirchenbesucher am Eingang vor Augen zu führen, um ihn zur Buße aufzurufen.« 3 Nicht zufällig erscheint auch Burgund als Zentrum der romanischen Dämonen- und Tierplastik und die Benediktinerkirchen auch in anderen Regionen als hauptsächliche Träger dieser Ikonographie, denn diese Landschaft und dieser Orden standen am Ursprung der Reformbewegung. Die Umdeutung auch eher neutraler antiker Figuren (wie der Terra Mater in die Luxuria, den Dämon der Unkeuschheit) in der figuralen Kunst des hohen Mittelalters ist ein sprechendes Symptom der Intensivierung des Diabolischen. 4 Mit noch größerer Wahrscheinlichkeit hat dann die gegenseitige Verteufelung, die die beiden Parteien im großen Streit zwischen Regnum und Sacerdotium, im Investiturstreit, einander angedeihen ließen, die Ausbreitung des Dämonischen in Wort und Bild ganz generell gefördert. 2 Beliebige Beispiele: Link, Luther: The Devil. London 1995, S. 47; 103 (38). 3 Religiöse Reform und mittelalterliche Kunst. Zürich 1945, S. 90, 92; vgl. S. 84 f., S. 141 ff. und pass. 4 Hamann, Richard: Kunst und Askese. Bild und Bedeutung in der romanischen Plastik in Frankreich. Worms 1987, S. 43 - 64. <?page no="106"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 105 »Gregorianische Mönche, Kirchenmänner, Literaten verteufeln Heinrich IV. (und seine Nachfolger als Könige und Kaiser des ›Heiligen Römischen Reiches‹ bis zu Friedrich II.). Eine königliche Gegenpropaganda möchte dem furchtbaren Feind (hat er nicht in jedem Kloster, in jedem Bischofssitz heimliche Verbündete? ) nichts schuldig bleiben: Papst Gregor VII. wird als ein plebejischer Lump, ein Satanssproß, erfüllt von teuflischem Hochmut, dargestellt.« 5 Diese Propaganda blieb durchaus nicht auf Briefe und Disputationen zwischen den gelehrten Kirchenmännern beider Seiten beschränkt, sondern wurde auch den Laien gepredigt. Ein nicht weniger wichtiger Anlaß für die wachsende Präsenz des Dämonischen war gewiß die Konfrontation mit dem radikalen Dualismus der Katharer, die nur wenige Jahre nach der offiziellen Beilegung des Investiturstreites auftreten und bis zu ihrer Vernichtung durch die Albigenserkreuzzüge und die Inquisition geradezu eine eigene Konfession »avant la lettre« bilden, die erste ernstliche Konkurrenz zum Katholizismus. Diese »Sekte« sah den Teufel als Gegengott und keineswegs nur als eigentlich schon von Christus überwundenen Versucher. 6 Wie auch auf anderen Gebieten, wo man Elemente der Häresie in den Katholizismus übernahm, 7 führte die theologische Beschäftigung mit dem ketzerischen Dualismus zu einer Intensivierung des ohnehin latenten Dualismus der Großkirche. 5 Heer, Friedrich: Abschied von Höllen und Himmeln. Eßlingen 1970, S. 118. 6 Manselli, Raoul: Dämonen. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, Sp. 482. 7 Dinzelbacher, Peter: Heilige oder Hexen? Zürich 1995, S. 245. Vézelay, um 1130. <?page no="107"?> 106 Peter Dinzelbacher Grundlegender noch dürfte jene emotionale Sensibilisierung der Intellektuellen des hohen Mittelalters gewesen sein, die, positiv gewendet, den Hintergrund sowohl für Innovationen wie die theoretische als auch die praktische Mystik darstellte, namentlich für die Brautmystik, aber auch den Hintergrund für entsprechende Entwicklungen im profanen Bereich, speziell Amour courtois bzw. höfische Minne. 8 Es wäre verwunderlich, wenn die dunklen Seiten des emotionellen Lebens damals nicht gleichermaßen deutlicher ins Bewußtsein getreten wären, Haß und Angst nicht vermehrt auf Sündenböcke projiziert worden wären, auf irdische (Heiden und Juden) wie auf unirdische (Dämonen). Die fortschreitende Durchdringung der Gläubigen mit der im Grunde dualistischen Lehre des Christentums machte den Teufel zu einer immer häufiger herangezogenen Projektionsgestalt für die eigenen Ängste und Aggressionen. Sollten diese nicht auch eine Antwort auf die Ansätze einer tendenziell vom religiösen Bereich unabhängigen Laienkultur, wie sie sich seit dem 12. Jahrhundert zeigten, gewesen sein? Wenn die Laien besonders in den Städten dem System zu entgleiten drohten, mochte eine Intensivierung aller Glaubens-Aspekte der Geistlichkeit als angemessene Reaktion erschienen sein. Orte Als Elemente der Bauplastik treten Dämonen und Monstren nie zentral, sondern immer in Randzonen auf: wo sich Grund und Säulen treffen (Basen), wo letztere enden (Kapitelle), wo die Vertikale der Wand auf die Schräge des Daches trifft (Friese), wo die Feste der Wand sich nach innen öffent (Tor- und Fensterlaibungen), wo der heilige Raum (vgl. »templum«) aus dem profanen Umraum herausgeschnitten wird (Vorhalle, Chorabschluß). Es sind dies tatsächlich Orte des Zwielichts, der unvermittelten Hell-Dunkel-Kontraste, die Anteil haben sowohl an der Helle der Eingänge und Fenster als auch dem Dunkel des Kircheninneren. Auch wo der Turm den Umraum visuell und seine Glocken akustisch beherrscht, liegt der äußerste Rand des von Menschen für Gott Geschaffenen. Betrachtet man die Bauplastik der Romanik (und auch späterer Epochen) insgesamt, so läßt sich oft eine »Abstufung des sakralen Gehalts« 9 konstatieren: Die skulptierte Umrahmung der Tore zeigt im Tympanon, d.h. im Zentrum, die Figuren der Glaubenswelt und Heilsgeschichte (Christus, Maria, Heilige ...), um und unter ihnen gelegen Zonen minderer Heiligkeit (Figuren des Alten Testaments ...), symbolischer Aussagen (Tiergestalten ...), Ornamente (vegitabile und geometrische Formen). Auch Innenraum und Außenwand besetzten unterschiedliche sakrale Dignität: Während die romanische Kirche von Saint-Pierre in Aulnay-de-Saintong außen überquillt von skurrilen und lasziven Figuren, ist das Innere nur heilsgeschichtlichen Darstellungen vorbehalten: »[...] denn die, die außen sind, wird Gott richten« (1. Kor 5, 12). Auch die Gotik beachtet in der Regel solche Hierarchien: So ist oft der Bereich, in dem der Hauptaltar steht, Chor und Chorquadrat, freigehalten von Darstellungen der dunklen Wesenheiten. Oder: Die Statuen der Heiligen stehen gern unter einem Baldachin, einem Würdezeichen, das auch das Himmlische Jerusalem verkörpert. Unter ihnen, als tra- 8 Dinzelbacher, Peter: Christliche Mystik im Abendland. Paderborn 1994, S. 92 ff. 9 Ganter, Joseph: Romanische Plastik. Wien 1948, S. 26 ff. u.ö. <?page no="108"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 107 gende Konsolen, kommen nicht nur typologische Figuren vor (z.B. Propheten unter Aposteln), sondern die ganze Halbwelt der Mischwesen und Teufelsfiguren. Insofern die Kirche ein Abbild des christlichen Kosmos sein sollte, waren die Rand- und Sockelzonen der richtige Platz in der Hierarchie der Geschöpfe für Dämonen und Monstren. Daran hielten sich auch die Buchmaler, die ihre »Drolerien« kontrapostisch zum heiligen Zentrum der Seite dem heiligen Text oder seiner Verbildlichung - anordneten 10 und die Bildhauer, die ähnliche Figuren im Inneren des Kirchenraums abseits an Konsolen und Miserikordien, in Zwickeln und Schlußsteinen anbrachten. Sie klettern zwar den Aufgang zu einer Kanzel hinauf, sind aber vom Korb, der traditionellerweise die Kirchenväter zeigt, ausgeschlossen. 11 Formen Wenn es auch richtig ist, daß gerade im Bereich der an Kapitellen, Gewänden, Friesen etc. angebrachten figuralen Skulptur oft rein formale Tendenzen wie die axiale Symmetrie, das Ineinanderschieben von Körpern oder der »horror vacui« die Komposition bestimmten 12 und auf diese Weise etwa doppelleibige Löwen mit nur einem Kopf entstehen konn- 10 Kröll-Camille, Michael: Image on the Edge. London 1992. 11 Vgl. Gerhardt, Christoph: Der Hund, der Eidechsen, Schlangen und Kröten verbellt. Zum Treppenaufgang der Kanzel im Wiener Stephansdom. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 38 (1985), S. 115 - 132, 291 ff. 12 Vgl. Michel, Paul: Tiere als Symbol und Ornament. Wiesbaden 1979, S. 22. Sens, Basilisk und Skiapode. <?page no="109"?> 108 Peter Dinzelbacher ten, so haben doch wohl alle fabelhaften Wesen der mittelalterlichen Bildwelt eine lange Geschichte, was ihre Gestaltung betrifft. Auch wo sie ad hoc Erfindungen zu sein scheinen, wie etwa im Œuvre eines Hieronymus Bosch, lassen sich Vorläufer feststellen. Neues entstand oft durch die Veränderung oder Kombination älterer Motive. Die Bildhauer, die die romanischen Kirchen mit Skulpturen ausstatten, benützten gezeichnete und gemalte Vorlagen und orientierten sich an Überresten der römischen Skulptur, die in Frankreich und Italien noch vielfach in situ zu sehen waren. 13 Menschen verschlingende Untiere der gallorömischen Kunst konnten durchaus im Mittelalter wieder aufgegriffen werden. 14 Man »benutzt im Bedürfnis nach Gestaltung der dunklen Mächte die von der Antike vorgebildeten und geläuterten Gestalten der antiken Götter, um sie von neuem zu dämonisieren und zu bestialisieren ...« 15 Die Meister der Bauhütten hatten ihr Handwerk eingebunden in Traditionen gelernt und verfügten über Musterbücher. Außerdem gehörten diese Handwerker verständlicherweise zu den mobilsten Teilen der mittelalterlichen Gesellschaft - war eine Kirchenausstattung fertiggestellt, mußten sie notwendigerweise weiterziehen. So wird verständlich, daß man von Süditalien bis Schweden oft derselben Formensprache und Ikonographie begegnet. Nun ist in der Regel nicht daran zu denken, daß der Leiter eines Bildhauerateliers mit einem der entsprechenden antiken Autoren über Monster, etwa Plinius oder Solinus, oder einer einschlägigen mittelalterlichen Enzyklopädie, etwa Isidor von Sevilla oder Hrabanus Maurus in der Hand seine Entwürfe konzipierte. Vielmehr wurden die Ikonographie wohl stets von den geistlichen Auftraggebern vorgegeben, die Zugang zu solchen Quellen besaßen, die teilweise mit Bildern nach spätantiken Vorwürfen versehen waren. 16 Die berühmten Revuen monströser Rassen an romanischen Trichterportalen wie dem von Saint-Pierre in Aulnay (1119/ 35) oder dem von Vézeley (um 1120) entstammen eindeutig solchen gelehrten Traditionen. Sie waren den Auftraggebern leicht zur Hand, denn eine Menge dieser unheimlichen Gestalten, von denen man nicht wußte, ob sie nur im Traum existierten oder auch im Wachleben, ob sie Dämonen in ihren Urgestalten waren oder nur Kuriositäten am Rande der zugänglichen Welt, sperrte man, säuberlich klassifiziert, in Bücher ein: Bestiarien, Monstruarien, Tierbücher. 17 Die konkrete formale Gestaltung dürfte hingegen den Bildhauern überlassen worden sein, die sich nicht nur auf ihre Phantasie und Erinnerung, sondern auch auf Musterbücher stützten. Die in so zahlreichen gotischen Kirchen wiederkehrende Blattmaske etwa findet sich genauso im Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt (um 1230). 18 13 Adhémar, J.: Influences antiques dans l’art du Moyen Age français. London 1939; Lehmann, E.: Die Bedeutung des antikischen Bauschmucks am Dom zu Speyer. In: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 5 (1951), S. 1 - 16. 14 Renard, M.: Des sculptures celtiques aux sculptures médiévales fauves androphages. In: Collection Latomus 2, S. 27. 15 Hamann (Fn. 4) S. 64. 16 Beispiele für die symbolischen Tiergestalten bietet Muratova, Xenia: Sources classiques et paläochrétiennes des illustrations des manuscrits des Bestiaires. In: Bulletin de la Société nationale des antinquaires de France 1991, S. 29 - 50. 17 Lexikon des Mittelalters, Bd.1, Sp. 2072 ff. - Zu Bestiarien vgl. auch den Beitrag von Luuk Houwen in diesem Band. <?page no="110"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 109 Neben der Antike haben aber auch andere Kulturen formale Muster gerade für die Wesen der Randzonen am Bau geliefert. Namentlich seit dem Beginn der Kreuzzugsbewegung und der Errichtung von »fränkischen« Staaten im Heiligen Land kam es zu einem stärkeren Einströmen orientalischer Kunstobjekte in den christlichen Westen. Wenn man auch nicht von allen Analogien überzeugt sein kann, die v.a. Baltrusaitis 19 eruiert hat, so sind doch in mehreren Fällen derartige formale Übereinstimmungen von romanischen und gotischen Gestaltungen mit asiatischen festzustellen, daß die Vorlage eines Manuskripts, Teppichs oder Kleinkunstwerks aus dem Osten höchste Wahrscheinlichkeit besitzt. Natürlich waren auch Umformungen möglich, die aufgrund von Mißverständnissen der Vorlage entstanden. 20 Im Norden sind auch Elemente der germanischen Tierplastik weiterverwendet worden: die drei flachen Drachenköpfe an der Westfassade von St. Mary and David in Kilpeck (Herefordshire) aus der Mitte des 12. Jahrhunderts z.B. gleichen vollkommen den entsprechenden Köpfen an den Firstbalken wikingerzeitlicher Stabkirchen. Dabei ist von Formkonstanz mit gleichzeitiger Bedeutungsänderung auszugehen: während im chinesischen Altertum ein wildes Tier mit aufgerissenem, zähnestarrenden Maul, von Schlangen umwunden, das einen Menschen in seinen Klauen hält, den tigergestaltigen Erdgeist repräsentiert, der den Menschen freundlich umfängt, 21 kann eine analoge Darstellung im christlichen Kontext nur als böser und zu bekämpfender Dämon gedeutet werden, der sich der Seele zu bemächtigen versucht (z.B. Kapitell in Chauvigny, Poitou 22 ). Ein meines Wissens nie systematisch gesammeltes Feld stellen die zahlreichen menschlichen, tierischen oder dämonischen Köpfe, Gesichter, Masken, Fratzen innen und außen an den Kirchen dar. Oft bilden sie lange Reihen, etwa an Dachstuhlkonsolen (Vaernes, Nord-Trondelag, um 1150, abwechselnd mit geballten Fäusten 23 ), starren aus Rundbogenfriesen (Weinsberg, Württemberg, 13. Jahrhundert), in der englischen Gotik finden sie sich besonders häufig unter Türen und Fenster umrahmenden Spitzbögen (Elgin, Ende 13. Jahrhundert). Über dem Trichterportal der St. Brendan’s Cathedrale (Clonfert, Galway, nach 1164) sind sie en masse in ein geometrisches Giebelornament eingebunden, aus den Portalsäulen der Klosterkiche in Millstadt (Kärnten, um 1170) lugen sie aus Löchern hervor. Dies, wie ihre Applizierung an sonst völlig unskulptierte Flächen, wie das Gewände des Südeingangs der Salzburger Franziskanerkirche (um 1220? ), findet so deutliche Analogien im Einschluß echter Köpfe in keltische Heiligtümer und zum Kult der têtes coupées, 24 daß es hier trotz mangelnden Kontinuitätsnachweises schwer erscheint, keine Verbindungen zu ziehen. Die Argumentation, »daß die alten Ahnenkultsymbole bewußt in die Kirchen hereingenommen und geduldet wurden, um den Landschaften mit lebendigen keltischen Glaubenstraditionen den Übertritt ins Christentum zu erleichtern«, 25 erledigt sich freilich, bezogen auf Bauten, die achtbis neunhundert Jahre nach der Christianisierung entstanden, von selbst. 18 Jászai, Géza: Das Gewölbe-Ornament der Kathedralkirche Sankt Paulus in Münster. Münster 1988, S. 36 f. 19 Baltrusaitis, Jurgis: Das phantastische Mittelalter. Frankfurt 1985. 20 Michel (Fn. 12), S. 74. 21 Speiser, Werner: China. London 1960, S. 33 ff. 22 Tetzlaff, Ingeborg: Romanische Kapitelle in Frankreich. 3. Aufl. Köln 1979, Abb. S. 45 f. 23 Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder fra vikingetid til reformationstid, Bd. 11, Pl. 6. 24 Sheridan, Ronald; Ross, Anne: Grotesques and Gargoyles. Newton Abbot 1975, S. 106 ff. 25 Braun, Rainer: Zur Deutung der Steinmasken an fränkischen Kirchen. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 34 (1975), S. 279 - 297. <?page no="111"?> 110 Peter Dinzelbacher Kopfreihe, 12. Jh. Freiburg, 14. Jh. <?page no="112"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 111 Eine Neuschöpfung des frühen 13. Jahrhunderts sind dagegen die Wasserspeier, bei denen es keine Anlehnung an die entsprechenden Bauteile der Antike gibt. Ihre Funktion kommt in ihren mittelalterlichen Bezeichnungen zum Ausdruck, die lautmalend an »gurgeln« anklängen: altfranzösisch »gargouille«, mittelenglisch »gargule« (vgl. lateinisch »gurgulio«, Schlund; »gurges«, Strudel). Sie haben sogar völlig seriöse Kunsthistoriker zu romantischen Poeten werden lassen: »Was wollen diese langhalsigen, heulenden Wasserspeier, die uns von der Höhe herab anstarren? Wenn ihre steinernen Flügel sie nicht zurückhielten, würden sie sich hinausstürzen, ihren Flug ins Weite nehmen und am Himmel eine furchtbare Silhouette abzeichnen. Keine Epoche, keine Rasse hat je grauenhaftere Larven ersonnen.« So kein Geringerer als Emile Mâle. 26 Wieweit reicht hier das rekonstruierende Nachfühlen vergangener Mentalität, wo beginnt phantastische Mittelalterromantik? Deutungen Der mittelalterliche Kirchenbau, so nochmals Focillon bildet »un énorme dépôt de croyances, de traditions et de pensées.« 27 - Bloß welcher? Wenigstens die folgenden Deutungsvorschläge, die gleichzeitig etwas über die jeweiligen Haltungen der neuzeitlichen Betrachter aussagen, sind kurz vorzustellen: Die nicht auf den ersten Blick erkennbare christliche Lehre oder Wissen wiedergebende mittelalterliche Bauplastik sei 1. bedeutungsloses Spiel der Bilderhauer; 2. christliche Bild-Katechese; 3. Spiegel von Glaubensvorstellungen aus der Zeit vor der Christianisierung; 4. apotropäische Bannung; 5. Konkretisierung unbewußter Seelenvorgänge. 1. Eine öfter wiederholte Auffassung hinsichtlich der nicht zu den Standardszenen der christlichen Ikonographie zählenden Darstellung ist die, es handle sich bloß um bedeutungslose Spielereien der Skulpteure, Ausbrüche mittelalterlichen Humors, Experimente offenbar gelangweilter Handwerker, »sorglose Spiele eines phantastischen Humors, den ernst zu nehmen erst den gelehrten Exegeten unserer Tage vorbehalten blieb«, wie immerhin Georg Dehio meinte. 28 Und Mâle: »On devine de jeunes sculpteurs pleins de verve, qui se défient, qui renchérissent les uns sur les autres.« 29 Aber: Wie lange dauerte die Herstellung einer solchen Figur in Stein! Wurden die Skulpteure dafür wochenlang bezahlt? Bekamen sie dafür Material zur Verfügung gestellt? Dieses Verständnis stützt sich auf eine unzulässige Verallgemeinerung von kritischen Äußerungen mittelalterlicher Autoren über figurale Bauplastik. Berühmt ist eine Stelle in der Apologia Bernhards von Clairvaux: 26 Zit. ohne Stellennachweis bei Möbius, F. u. H.: Bauornament im Mittelalter. Berlin 1974, S. 118. Original: Mâle, Emile: L’Art religieux du XIIIe siècle en France. Paris ND 1968, Bd. I, S. 118. 27 Focillon (Fn. 1), S. 8. 28 Geschichte der deutschen Kunst, Bd. 1. Berlin [u.a.] 1919, S. 176 f. 29 Mâle (Fn. 26), S. 121. <?page no="113"?> 112 Peter Dinzelbacher »›Was macht da jene lächerliche Monstrosität, jene erstaunliche unschöne Schönheit und schöne Unschönheit [deformis formositas ac formosa deformitatas]? ‹ Da sind Affen abgebildet, Löwen, Kentauren, Halbmenschen, Tieger, kämpfende Ritter, Jäger, die das Horn blasen. Ein Kopf mit vielen Leibern, ein Leib mit vielen Köpfen, zusammengesetzte Tiergestalten - das verführt doch nur, lieber in den Marmorbildern zu lesen als in den Handschriften und sich den ganzen Tag über dabei aufzuhalten, statt über Gottes Gesetz zu meditieren. ›Bei Gott, wenn man sich schon nicht der Albernheiten schämt, warum verdrießen nicht wenigstens die Kosten! ‹« 30 Auch wenn Alexander Neckam (1157 - 1217) bemängelt, daß Reichtum bei Plastiken und Bildern zu Dummheiten führe, 31 bedeutet dies nur, daß er Übertreibungen verwirft, nicht aber, daß die Darstellungen sinnleer wären. Vereinzelte Ablehnung der symbolischen Bauplastik gab es auch weiterhin. So schrieb im frühen 13. Jahrhundert der Verfasser des Lehrgedichtes Pictor in carmine, 32 man solle doch lieber statt doppelköpfigen Adlern, vierleibigen Löwen, Kentauren, Kopflosen, Chimären und Tierfabeln die Werke des Erlösers und die Mysterien des Evangeliums abbilden. Auch hier wird diesen »häßlichen« Darstellungen nicht ein Sinn abgesprochen, vielmehr von einigen gesagt, er sei profan und somit unnütz für die Gläubigen; die Verbildlichung der zentralen Heilswahrheiten sollte an ihre Stelle treten. Wenn das Überhandnehmen der »fantasmatum ludibria« den Handwerkern in die Schuhe geschoben wird, dürfte darin eine Kritik am langsamen Erstarken der sich zünftisch organisierenden Steinmetzen gegenüber den Auftraggebern liegen. Andererseits aber gab es, so Gautier von Coincy († 1236), Äbte, die Tierfabeln offensichtlich als geeigneten Wandschmuck in den Mönchszellen betrachteten. 33 2. Daß auch die Dämonen und Monster genauso wie die andere figurale Ausstattung einer Kirche didaktische Funktion im Sinne der christlichen Verkündigung besaß, ist die am weitesten akzeptierte Interpretationsrichtung. Sie wurde schon im 19. Jahrhundert von der »kirchlichen Kunst-Archäologie« mit Erfolg vertreten. Schriftquellen verweisen darauf, daß dämonische Gestaltungen am Kirchenbau gezielt katechetisch eingesetzt wurden. Sie sollten die Betrachter in Schrecken versetzen, um sie zu einem Leben gemäß der kirchlichen Normen zu motivieren. Ein spanischer Bischof sagte um 1230 ausdrücklich, Plastiken mit Tierdarstellungen würden in der Kirche deshalb aufgestellt, damit sie die Leute erschrecken und von sündigen Taten abhalten sollten. 34 Es gibt in dieser Funktion symbolische und erzählende Darstellungen. Erstere stellen ein Situation dar, und keine Geschichte: etwa eine Figur zwischen zwei Tieren oder einen Leib, der aus einem Löwenmaul ragt. Sie dürften in der Regel auf die Bedrohung der Seele durch den Teufel und auf den Kampf zwischen den guten und bösen Mächten zu deuten sein. Zu den erzählenden Szenen gehören u.a. die vielen satirischen Komposi- 30 Bernhards von Clairvaux: Apologia. 12, 29. Opera. Hrsg. Leclercq, Jean u.a. Rom 1957 ff., Bd. III, S. 106, 114 ff. 31 Zit. Kroll S. 76. 32 Zit. Kroll (Fn. 31), S. 76 f. 33 Camille, Michael: Mouth and meanings. In: Cassidy, B. (Hrsg.): Iconography at the Crossroads. Princeton 1993, S. 69. 34 Zit. Camille (Fn. 33), S. 48, Anm. 19. <?page no="114"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 113 tionen, die Mönche und Geistliche auf das Korn nehmen. Daß sie prinzipiell Zugeständnisse mit »Ventilfunktion« an die Laien gewesen sein sollen, ist angesichts ähnlicher Bilder in Handschriften aus geistlichem Besitz wenig wahrscheinlich. Allerdings war der Kirchenbau in den Städten des späten Mittelalter vielfach Sache der Bürger geworden, weswegen diese Erklärung nicht ausgeschlossen ist. Schon manche der Gestalten an romanischen Kirchen sind - unsicher - als Baumeister und Skulpteure gedeutet worden, die daran gewesen seien, der kirchlichen Kontrolle zu entgleiten. 35 Aber üblicherweise wird es sich um Warnungen der Kirchenherrn an ihren eigenen Klerus gehandelt haben. So gegen Unkeuschheit, wenn ein betender Mönche von zwei Schlangen angefallen wird, wie in S. Isidoro, Léon (Mitte 11. Jahrhundert) 36 oder gegen schlechte Gewohnheiten, denen der Mönch auch in Gedanken nicht nachgeben sollte, wie der notorische Wolf im Mönchsgewand, der doch an nichts anderes denkt, als an seinen Bauch (Freiburger Münster, um 1200; Parma, Kathedrale). 37 Die Interpretation der Tier-, Teufels- und Fabelwesen in der Bauplastik macht keine Schwierigkeiten, wo es sich von der Bibel her um eindeutig positive (Lamm, Taube) oder eindeutig negative (Drache, Dämon) Wesen handelt. Manchmal werden sie auch epigraphisch identifiziert, wie der Basilisik, gegen den der St. Michael auf dem Tympanon der Kirche von Kjells Nöbbelöfs in Schonen kämpft (um 1180). 38 Zur Erklärung vieler sonst unklarer Figuren und Szenen sind die Schriften der Kirchenväter, die einschlägigen Lehrbücher wie der Physiologus und seine Nachfolger, die Enzyklopädien etc. bereits mit Erfolg herangezogen worden. 39 Monströse Gestalten wie zweiköpfige schlangenförmige Amphisbaenen, einäugige Zyklopen, vieräugige Aethiopoes maritimi, kopflose Akephale, Skiapoden, die sich mit einem Riesenfuß beschatten, und ähnliche mittelalterliche Zeitgenossen sind meist aus Traditionen Asiens über antike Autoritäten (Plinius, Solin usw.) übernommen 40 und mit einer christlichen Bedeutung belegt worden. So bot sich etwa die Manticora (Menschenhaupt, Löwenkörper, Skorpionstachel) geradezu als Sinnbild für den Teufel an, verspeiste sie doch vorzugsweise Menschenfleisch. 41 Dagegen hängt das Verständnis mehrdeutiger Gestalten wie Löwe oder Einhorn, die in der mittelalterlichen Literatur sowohl Christus als auch den Teufel bezeichnen konnten, vom ikonographischen Zusammenhang und der Position am Bau ab. Das Einhorn z.B. symbolisiert zumeist Christus, da es nach dem Physiologus nur von einer Jungfrau (d.h. Maria) eingefangen werden kann (z.B. Fries am Nordturm des Straßburger Münsters, um 1300). 42 Wenn jedoch in der Kirche von Hal (Belgien) in einem Zwickel eine nackte Frau mit aufgelöstem Haar auf einem Einhorn gallopiert (um 1400), 43 dann ist nur 35 Kenaan-Kedar, Nurith: Les modillons de Saintonge et du Poitou comme manifestation de la culture laique. In: Cahiers de civilisation médievale 29 (1986), S. 311 - 330. 36 Weir, Anthony; Jerman, James: Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches. London ND 1993, S. 74. 37 Blankenburg, Wera v.: Heilige und dämonische Tiere. Leipzig 1943 (Nachdr. Köln 1975), S. 264 ff. 38 KLNM 1, Sp. 379. Zum Mythos Basilisk vgl. den Beitrag von Marianne Sammer in diesem Band. 39 Das klassische Beispiel ist Mâle (Fn. 26). 40 KLNM 4, Sp. 110 - 115; LcI 2, Sp. 1 - 4. 41 Zaradacz-Hastenrath, S.: Die Manticora. In: Aachener Kunstblätter 41 (1971), S. 42. 42 Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 1, Sp. 592. 43 Beer, Rüdiger R.: Einhorn. 3. Aufl. München 1977, Abb. 103. Zum Mythos Einhorn vgl. auch den Beitrag von Jochen Hörisch hier in diesem Band. <?page no="115"?> 114 Peter Dinzelbacher eine negative Deutung auf ein Laster denkbar, hier offenbar die Unkeuschheit wie im Reductorium morale des Petrus Berchorius († 1362). 44 3. Seit der Volkstumsideologie der Romantik bis in die Gegenwart 45 versuchen immer wieder Gelehrte, aber vielleicht noch häufiger Amateure, wenigstens manche der geheimnisvollen Skulpturen durch den Rückgriff auf die Mythologien der »heidnischen Rassen« zu erklären; in Frankreich und England waren dies natürlich die Kelten (und Angelsachsen), in Deutschland die Germanen. In der Regel waren sich die Interpreten nur unzureichend des Problems bewußt, daß diese Mythologien erst aufgrund von Quellen rekonstuiert wurden, die deutlich nach der Christianisierung entstanden waren. Im Falle der Germanen dienten hierzu meist erst im 19. Jahrhundert zu belegende und als uralt vorausgesetzte mündliche Traditionen und vor allem die (durchgehend in christlicher Zeit aufgezeichnete) altnordische Literatur. Doch ist die Frage nach den authentisch »heidnischen« Elementen in der altisländischen Überlieferung auch in der heutigen Nordistik, Volkskunde und Mythenforschung keineswegs eindeutig gelöst. Eine vorschnelle Zustimmung wäre genauso unwissenschaftlich wie eine pauschale Verwerfung solcher Thesen. Immerhin steht fest, daß es in Skandinavien Kirchen gab, die sogar an so prominenter Stelle wie dem Eingangsportal germanische Sagen verbildlichten: so schnitzte man um 1200 die Gunthersage an den Stabkirchen von Hylestad und Austad und an erstgenannter auch die Sigurdsage. 46 Darf dies aber auch auf die in viel länger christianisierten Gebieten stehenden west- und mitteleuropäischen Kirchenbauten übertragen werden? Ein beliebig gewähltes Beispiel für die ältere Richtung der Kontinuitätshypothese bietet das Buch Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit von Erich Jung. 47 Dort wird unter anderem der vielleicht »dämonischste« Überrest des Mittelalters besprochen, die Bestiensäule 48 in der Freisinger Domkrypta (2. Hälfte 12. Jahrhundert) mit ihrem Gewirr von Monstern, Schlinggewächsen und sich wehrenden Menschen. Der Kampf dieser Figuren gegen die Untiere wird mit Hilfe von Gylfaginning aus der Snorra- Edda gedeutet: Dort streiten die Götter beim Weltuntergang gegen den Fenriswolf. Der Griff einer der Gestalten der Säule an den Kiefer des Wolfes sei eine Illustration derselben Bewegung Widars im Ragnarök-Kampf. Der Halbverschlungene verkörpere Odin, der von dem Untier getötet wird. 49 Völlig außer Acht gelassen sind jedoch die übrigen Unwesen und Menschen, etwa die Frau mit der Blume, so daß hier nur eine recht unwahrscheinliche Teilerklärung angeboten wird. Andere germanische Deutungen dieses Kunstwerks sehen darin die steingewordene Sigurd- oder die Dietrichsage. Ähnlich vorschnell werden auch gern angeblich in graue Urzeiten zurückgehende Volksbräuche mit symbolischer Bauplastik korreliert; so ist das Thema der so verbreiteten gotischen Blattmasken 44 Berchorius, Petrus: Reductorium morale. Venedig 1583, S. 427 b. 45 Zuletzt (ohne Kenntnis der älteren Literatur): Link (Fn. 2), S. 46. 46 KLNM 14 (Fn. 23), Sp. 663 f.; Margeson, Sue: The Volsung legend in medieval art. In: Andersen, Fleming G. u.a. (Hrsg.): Medieval Iconography and Narrative. Odense 1980, S. 183 - 211. 47 Jung, Erich: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit. München 1922. 48 Die neueste Studie zu den Bestiensäulen: Camille (Fn. 33), ist wenig hilfreich. 49 Jung (Fn. 47), S. 39 ff. <?page no="116"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 115 »thought to derive from May Day rites«. 50 Warum hätte man aber diese an Schlußsteinen und Konsolen im Kirchenraum präsent haben wollen? Innerhalb dieses Interpretationsmodelles wird gern spekuliert, daß es sich bei den bewußten Figuren um im Widerstand zum Christentum angebrachte Manifestationen eines noch nicht gänzlich unterworfenen Heidentums gehandelt habe. Daß der Klerus als Feind der alten Religionen solche Bilder an seinen Kirchen auch nur geduldet haben würde, geschweige denn selbst um teueres Geld in Auftrag gegeben hätte, ist quellenmäßig jedoch nicht belegt und entbehrt der Wahrscheinlichkeit. Selbst wenn der eine oder andere Priester vielleicht ein Anhänger »abergläubischer« Vorstellungen im Sinne von Vorstellungen aus der vorchristlichen Mythologie gewesen ist, wofür in der Ketzergeschichte des hohen Mittelalters meines Wissens nur ganz wenige Belege existieren (im Gegensatz zu zahlreichen für ignorante, faule oder desinteressierte Geistliche), so wurde jede Kirche durch den zuständigen Bischof eingeweiht und wurden die Pfarren regelmäßig von bischöflichen Visitatoren besucht, die solches nicht hätten durchgehen lassen (in Arras bekam ein Kleriker schon Schwierigkeiten mit seinem Ordinarius, weil er nicht dessen Erlaubnis eingeholt hatte, sein Haus mit Wasserspeiern auszustatten 51 ). Eine Kirche ist, wie zahllose Texte belegen, 52 ein Werk für den christlichen Gott, Opus Dei, in dem der Besitzer, der heilige Patron, körperlich in Gestalt seiner Reliquien anwesend ist. 53 Hier konnten die alten Götter, wenn überhaupt, nur in der Form von überwundenen Dämonen Platz finden. Dies kommt deutlich zum Ausdruck, wenn man antike Götterstatuen umgekehrt oder in der Sockelzone einer Kirche einmauerte. 54 Andererseits können Einzelfälle nicht ausgeschlossen werden: wenn es stimmt, daß 1282 ein Priester in Fife einen Fruchtbarkeitstanz um eine phallische Skulptur anführte und daß die Mönche von Frithelstock im 14. Jahrhundert eine Diana-Statue verehrten, 55 dann kann ein gelegentlicher Mißbrauch auch der Kirchenskulptur nicht ausgeschlossen werden. Nur wurde eben solches Verhalten schon im Mittelalter von den Obrigkeiten bestraft und hätten seine Manifestationen in der Kunst wohl nur ausnahmsweise die Reinigungswellen des nachtridentinischen Katholizismus bzw. der Reformation überstanden. In der Tat hat man ja an manchen Kirchen vergessen, phallische oder erotische Darstellungen zu vernichten, meist wohl wegen ihrer Anbringung an eher versteckten Stellen. 56 Noch zweifelhafter ist die Konzeption derjenigen Interpreten, die davon ausgehen, esoterische Programme wären nach langer mündlicher Tradition in einem kleinen Kreis von Eingeweihten dann plötzlich in der mittelalterlichen Bauplastik öffentlich sichtbar gemacht worden. 57 Sie stößt auf ähnliche Einwände wie oben. Auch daß ein Kultbau, der die Stein gewordenen Lehren von Ketzern trage, unbeschadet bis in die Gegenwart überlebt hätte, ist unwahrscheinlich. So ist etwa der Versuch Hammer-Purgstalls (1818), die 50 Sheridan/ Ross (Fn. 24), S. 36. 51 Camille (Fn. 33) S. 78. 52 Z.B. Warnke, Martin: Bau und Überbau. Frankfurt 1984, S. 63 ff. 53 Dinzelbacher, Peter: Die Realpräsenz der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen. In: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Dinzelbacher, Peter; D. Bauer, Ostfildern 1990, S. 115 - 174. 54 LcI 2 (Fn. 42), Sp. 173. 55 Bord, Janet u. Colin: Earth Rites. London 1983, S. 75. 56 Beispiele bei Weir/ Jerman (Fn. 36). 57 Vgl. Schade, Herbert: Dämonen und Monstren. Regensburg 1962, S. 13. <?page no="117"?> 116 Peter Dinzelbacher Plastiken einer Reihe von niederösterreichischen Kirchen als Monumente des Geheimkultes der Templer, als Beweis einer gnostischen Baphomet-Verehrung zu deuten, 58 aus historischen Gründen völlig unhaltbar: weder gehörten die Kirchen diesem Orden, noch läßt sich bei ihm überhaupt der Nachweis tatsächlicher Häresie führen. 4. Nicht selten sind Darstellungen, wo Unholde zum Dienst für die guten Mächte gezwungen erscheinen, etwa die Last einer Säule - Symbol des Apostels 59 - tragend (z.B. Alpirsbach, Hauptschiff, um 1100), unter eine Konsole gedrückt und so dem auf ihr triumphierenden Heiligen unterworfen (z.B. Drachen und Löwen unter dem Pferd des Heiligen Martin an der Fassade des Domes zu Lucca, um 1240), unbeweglich als Träger unter einem Pfeiler angekettet (z.B. Millstadt, Stiftskirche, Südportal, um 1200). Auch die Wasserspeier hat man als in den Dienst der Kirche gezwungene Dämonen erklärt. 60 Auch hier ist natürlich von Einzelfall zu Einzelfall zu entscheiden: Wenn z.B. im niederösterreichischen Schöngrabern als Sockelfiguren zweier Chorsäulen aus dem frühen 13. Jahrhundert Dämonenköpfe dienen, die mit ihren geflochtenen Haaren an die Säulen gebunden 58 Feuchtmüller, Rupert: Schöngrabern. Die steinerne Bibel. Wien 1979, S. 75 f. 59 LcI 4 (Fn. 49), Sp. 55. 60 Camille (Fn. 33), S. 79. Alpirsbach, 12. Jh. <?page no="118"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 117 sind, 61 schiene es schwer, eine andere Erklärung zu finden als die der Bannung. Ähnliches gilt etwa auch für die bösartig wirkenden Vogelköpfe, die sich im Gewölbe der Kathedrale von Münster in Westfalen (um 1230) in die Rippen verbissen haben. 62 Überhaupt ist das so häufige Motiv der ineinander verschlungenen und verknoteten Schlangen, Drachen und Fabelwesen (z.B. Krypta der Stiftskirche Denkendorf, Württemberg, 12. Jahrhundert), auch das der miteinander kämpfenden Monster (z.B. Kapitell in der Steinkammer des Kölner Doms, Anfang 13. Jahrhundert) wohl in diesem das Böse bindenden Sinn zu verstehen. Die dämonischen Gegner der Gläubigen waren damit in den Stein festgezaubert. Man kann diese Darstellungen sicher gleichzeitig katechetisch verstehen: sie belehren den Betrachter, daß die Kirche über die bösen Mächte siegt. Wenn man von der Bedrohtheit vieler mittelalterlicher Menschen ausgeht, die sich allenthalben von Dämonen »umsessen« glaubten, 63 und wenn man gleichzeitig die zahlreichen Zaubersprüche und Segen jener Zeit gegen böse Geister kennt, 64 scheint es naheliegend, daß solche Fratzen magisch in den Stein gebannte, unschädlich gemachte Dämonen verkörpern konnten. Ein wohl hier her gehörendes Motiv, das in der ganzen norditalienischen Romanik verbreitet war, dann auch über die Alpen bis nach Skandinavien ausgriff, ist das Löwen- 61 Feuchtmüller (Fn. 58), S. 166 u. Abb. 101. 62 Jászai (Fn. 18), S. 20 u. 50 f. 63 Dinzelbacher, Peter: Angst im Mittelalter. Paderborn 1996. 64 Z.B. Haubrichs, Wolfgang: Von den Anfängen bis zum hohen Mittelalter. Frankfurt 1988, S. 412 ff.; Kieckhefer, Richard: Magie im Mittelalter. München 1992. Denkendorf, 12. Jh. <?page no="119"?> 118 Peter Dinzelbacher paar, das (gern mit der Funktion von Säulenträgern) vor den Kircheneingängen liegt oder das Portal flankiert. Beliebige Beispiele wären Verona (S. Zeno maggiore, 1135/ 38), Königslutter am Harzrand (um 1135), Hablingbro in Schweden (Ende 12. Jahrhundert). Daß dieser Usus in der Gotik weiterbestand, zeigen etwa die Portale der Kirche S. Maria Maggiore in Bergamo (Lombardei), denen noch um 1360 entsprechende Figuren vorgesetzt wurden. Bisweilen hat man so auch die Apsis gesichert (Lihme, Dänemark). Hier »mischt sich die Wächterfunktion mit apotropäischem Charakter; diese Löwen sind Gegenbild der Kirche: Die Weisheit ist an einen Ort gezogen, ›den die Raubtiere nie betreten und den der Löwe nicht beschreitet‹ (Hrabanus Maurus)«. 65 Da zahlreiche dieser Tiere, wie etwa am Dom von Modena, ein anderes Lebewesen, auch einen Menschen, in ihren Pranken halten, sind sie auch als Warnung vor dem Teufel gemeint, den der Heilige Petrus mit einem »brüllenden Löwen« verglich (I. Petr. 5,8) und vor dessen Rachen der Christ um Schutz fleht (Ps. 21, 22). Doch gibt es immer wieder lokale Abwandlungen, die vor einer pauschalen Festlegung der Interpretation warnen: In Reichenhall, St. Zeno, wird ein Portallöwe von einem Drachen in die Zunge gebissen (1228) - der Drache kann aber kein positives Symboltier sein. Also Kampf der bösen Mächte gegeneinander? Und im Rundbogen über dem von Löwen bewachten Hauptportal des Veroneser Domes lautet die Inschrift: HIC DOMINUS MAGNUS LEO CHRI- 65 Bloch, P. In: LcI 3 (Fn. 49), Sp. 117, zit. Partologiae cursus completus. Series Latina, Bd. 111, Sp. 218 ff.; 112, Sp. 983. Königslutter, um 1135. <?page no="120"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 119 STUS CERNITUR AGNUS 66 - also wurde das Tier hier auf den Erlöser, das Lamm Gottes, als den Löwen von Juda bezogen (Gen. 9 f., Apk. 5, 5). Die zahllosen Schreckgespenster an den Außenwänden der Kirchen, an ihren Türmen und Fialen, namentlich die Wasserspeier, lassen sich als Apotropaia verstehen. Was ein um 1500 entstandenes Hexenbüchlein von Abwehrbildern auf Backsteinen sagt, darf wohl auch auf andere Figuren an der Zwischenzone zwischen Heiligem und Unheiligem übertragen werden: »Item etliche figuren, so sie auff ziegelsteyn gemacht, und gegen wetter gericht, die treiben dz wetter zurück... also werden auch die Hexen, so in katzen, wölffen, böcken etc. verkört, geschlagen, gefangen und getödt.« 67 Das Ausspeien von Wasser entspricht dem Abwehrritus des Ausspuckens, der im Mittelalter gegen den Teufel gebraucht wurde. 68 Ebenso das Defäkieren - von Luther bekanntlich als Teufelsschreck gepriesen 69 -, weswegen Wasserspeier sich häufig anal ihrer Aufgabe entledigen (z.B. in Autun oder am Freiburger Münster). 70 Durchgehend in der ganzen mittelalterlichen Bauplastik tauchen Köpfe, Masken, Gesichter ohne Körper auf. Sie waren sicher Träger verschiedener Symbolik. Daß unter ihnen die sogenannten Zanner oder Neidköpfe, Visagen mit aufgerissenen Augen und Mündern, hervorhängender Zunge und gebleckten Zähnen unheilabwehrende Funktion hatten, ist nicht zuletzt aufgrund anthropologischer Vergleiche unbestreitbar. Darauf weist auch hin, daß sie bevorzugt über Eingängen und Fenstern angebracht wurden. Diese Gesichter gleichen also nicht nur oft formal dem antiken Gorgonen-Haupt (z.B. Kopf am südlichen Gewölbe des Westquerschiffes der Kathedrale von Münster, um 1235), sie erfüllten auch die nämliche bannende Funktion. Hier ist nicht an Diffusion zu denken, sondern an analoge Neuschöpfungen, da die Wut- und Schreck-Mimik des Menschen verhaltensbiologisch vorgegeben ist. 71 Eine besonders bekannte Gruppe Unheil abwehrender Figuren an Kirchen sind die irischen Sheelas, weibliche Gestalten, die betont ihr Geschlecht vorweisen. Sie wurden dann verchristlicht, indem man sie als Warnungen vor Unkeuschheit interpretierte. 72 Möglicherweise sind auch die ausdruckslosen Masken, die sich nicht weniger häufig finden, oft apotropäisch gemeint gewesen: »Ein starres Gesicht, das seine Gestimmtheit nicht verrät, ist das unheimliche, unlesbare Gesicht. Es macht den Träger stark und unverwundbar ...« 73 Sie werden allerdings von manchen auch als Bilder von Toten erklärt, was sich jedoch auf keine schriftlichen Belege zu stützen scheint. Ob sich freilich einzelne apotropäische Programme von Bauplastiken, angefangen von den positiven Zeichen des Dreisprosses (heraldische Lilie) über verschiedene Mas- 66 Baltl, Herman: Zur romanischen Löwensymbolik. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 54 (1963), S. 195 - 220, hier: S. 205. 67 Zit. bei Möbius, F. u. H.: Bauornament im Mittelalter. Berlin 1974, S. 181 ohne Stellennachweis. 68 Möbius (Fn. 67). 69 Erikson, Eric H.: Der junge Mann Luther. Reinbek 1970, S. 84 u. S. 270 f. 70 Sheridan/ Ross (Fn. 24), S. 66 f.; Kröll (Fn. 10), S. 32, Abb. 23. 71 Sheridan/ Ross (Fn. 24), S. 28 f.; Sütterlin, Christa: Schreck-Gesichter. Symbole des magischen Alltags. In: Blaschitz, G. u.a. (Hrsg.): Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Festschrift H. Kühnel. Graz 1992, S. 517 - 553. 72 So dürften die Thesen von Andersen, Jørgen: The Witch on the Wall. København 1977 und Weir/ Jerman (Fn. 36), S. 15 ff. zu verbinden sein. Vgl. auch Kislinger, Ewald: Anasyrma. Notizen zur Geste des Schamweisens. In: Blaschitz, G. (Fn. 71), S. 377 - 393. 73 Kislinger (Fn. 72). S. 531. <?page no="121"?> 120 Peter Dinzelbacher kenformen bis hin zu Drachen und Löwen, die eine romanische Stiftskirche wie z.B. das schwäbische Farndau zieren, zu einem bis ins Detail kohärenten Ganzen zusammenfügen, das noch dazu genaue Entsprechungen zu den Laudes der Liturgie haben soll, 74 sei dahingestellt. Es scheint eher, daß Heils- und Abwehrzeichen oft ohne theologische Planung, aber in Erwartung ihrer Wirksamkeit, relativ beliebig zusammengestellt wurden, wie z.B. Köpfe, Stern, Schlangen und das Lamm Gottes am Tympanon der Kirche von Geibenstetten bei Kelheim. 75 Die Möglichkeit, daß astrologische Konzeptionen (über die Monatsbilder hinaus) auch in der Bauplastik verwirklicht wurden, bliebe bei gelehrten Auftraggebern zu bedenken; desgleichen ihre Relation zu den Himmelsrichtungen. 76 5. Sind die Tierbilder der Romanik, fragte Blankenburg, »noch Ausdrucksträger eines mythischen Tiererlebens ... Ausdruck für ein Fortleben ursprünglich mythischer Bewußtseinsstufen«? 77 Sicher darf für den Plastiker des Mittelalters kein unreflektiertes eidetisches »Hineinsehen« von Gestalten in sein Material mehr angenommen werden, wie es etwa Eskimokünstler von sich selbst berichten. Trotzdem darf auch im christlichen Europa nach unbewußten Funktionen der schöpferischen Äußerungen gefragt werden. In diesem Bereich dürfte die Konkretisierung des Bedrohlichen für diejenigen, die diese Werke in Auftrag gaben und schufen, nicht nur eine religionsdidaktische, sondern auch eine entlastende Funktion gehabt haben: unbestimmte Angst wandelte sich in auf Greifbares gerichtete Furcht. Im hohen Mittelalter dürften ja die Abnahme äußerer Bedrohungen einerseits und die zunehmende Komplexität des sozialen Lebens andererseits im 74 Metzger, Wolfgang: Die romanische Stiftskirche in Faurndau. Weißenhorn 1971. 75 Braun (Fn. 25), Abb. 8. 76 Schade (Fn. 54), S. 35 f. 77 Blankenburg (Fn. 37), S. 114, 121. »Zanner«, 12. Jh. <?page no="122"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 121 »Prozeß der Zivilisation« darauf hingewirkt haben, daß die Beschäftigung mit vom Über- Ich vermittelten Binnenängsten sich steigerte. »Nun verstärken sich proportional zur Abnahme der äußeren die inneren Ängste ... die dort, wo die Menschen beständig starke und unabwendbare Bedrohungen von außen zu erwarten haben, notwendigerweise fehlen. Nun wird ein ganzer Teil der Spannungen, die ehemals unmittelbar im Kampf zwischen Mensch und Mensch [oder gegen die Umwelt] zum Austrag kamen, als innere Spannung im Kampf des einzelnen mit sich selbst bewältigt.« 78 Trotzdem ist zu betonen, daß nicht jede Maske, jedes Fabelwesen, jedes Tier an jedem Bau mit einer bestimmten Symbolik angebracht worden sein muß. Wie auch in der Miniaturmalerei wurden zweifellos bisweilen Vorlagen dekorativ verwendet, ohne daß man sich um den genauen Sinn gekümmert hätte. Auch ist in einem Zeitalter noch primär mündlicher Kommunikation mit der Möglichkeit von Fehlern und Umdeutungen bei der Übermittlung von Inhalten zu rechnen, wovon neben der Erzählforschung auch die Ikonographie Beispiele kennt (etwa Umdeutung des Christustypus »Volto Santo« zur heiligen Kümmernis). Selbst Gelehrte waren sich hinsichlich der richtigen Auslegungen nicht immer sicher: Konrad von Megenberg (1309 - 1374) erklärt in seinem Buch der Natur viele Tiere allegorisch, gelegentlich läßt er aber auch dem Prediger die Freiheit: »dâ mach auz, waz dú wellest.« 79 Es gibt keinen Schlüssel, der uns die ganze Welt der Dämonen und Monster öffnen würde, und auf viele unserer Fragen hätte wohl auch kein Bauherr und Bildhauer jener Zeit eine Antwort gehabt. Epigonen Manches aus der Welt der Dämonen und Monster ist nach dem Mittelalter weitergeführt worden, ist zu ornamentaler Zier am Bau »gesunken«, der usprünglichen Bedeutungen oder auch nur Assoziationen entleert. Daß etwa die Fratzen an Schloßportalen und Brunnen, die sich so oft in der Kunst des Manierismus und des Barock finden, 80 noch eine abwehrende Funktion besessen hätten, an die ihre Hersteller glaubten, scheint angesichts dessen, was wir sonst über die höfische und die bürgerliche Kultur der Frühneuzeit wissen, unwahrscheinlich. Die Schwelle wird in etwa im 16. Jahrhundert liegen: ein Renaissance-Maskenkopf mit beweglicher Zunge wie am Stadttor von Kientzheim (Elsaß) diente wohl nur mehr zur Verspottung der Angreifer. 81 Anders dürfte es im ländlichen Bereich geblieben sein, wo Neidköpfe auch an der Bauernhausarchitektur vorkommen, wie auch im Maskenbrauchtum. - Eher drollig-verspielte steinerne und metallene Wasserspeier in Drachenform wurden seit dem Manierismus immer wieder für Kirchen- und Profanbauten bestellt und zieren noch manche von Mittelalterromantik angehauchte Villen des Fin du Siècle. Daß sich die Neogotik und die sie fortsetzende phantastische Architektur des Fin de Siècle à la Antoni Gaudì sich ihrer bedienten, bedarf keiner Betonung. Auch die martialische Bauplastik der Zwischenkriegszeit griff letztlich auf mittel- 78 Elias, Norbert: Der Prozeß der Zivilisation. Zürich 1969, Bd. II, S. 406 f. 79 III C, 10, zit. Michel (Fn. 12), S. 77. 80 Beispiele: Sütterlin (Fn. 71), Abb. 2 f. 81 Kröll (Fn. 10), S. 29, Abb. 19. <?page no="123"?> 122 Peter Dinzelbacher alterliche Konzeptionen zurück, wenn sie Bauten mit Tiermonstern bestückte, wie z.B. die schlangenartigen Genien an der Holzmeisterstiege außen am Kleinen Festspielhaus in Salzburg, die wie eine Mischung aus germanischer Tierornamentik und altamerikanischer Sakralkunst anmuten. Viele »Epigonen« wurden aber auch gezielt als Ersatz für zerstörte Originale angefertigt. Ein großer Teil der »mittelalterlichen« Figuren am Außenbau der Kirchen, mehr als meist angenommen, sind Rekonstruktionen, die sich mehr oder weniger genau an den mehr oder weniger zerfallenen Originalen orientieren, an deren Stelle sie treten. Dies gilt besonders für alle dem Wetter ausgesetzten Bauteile, und da viele dieser Restaurationen schon im 19. Jahrhundert erfolgten, wirken diese Skulpturen heute bereits so alt, daß kaum einer der Betrachter einer romanischen »Schmuckkirche« wie St. Johannes in Schwäbisch Hall oder einer gotischen Kathedrale wie Notre Dame de Paris bemerkt, daß es sich um Kopien oder Neuschöpfungen »im Geiste des Mittelalters« handelt. Ein typisches Beispiel für einen solchen romantischen Epigonen verkörpert jener so oft (auch von Kunsthistorikern) als »gotisch« abgebildete Dämon vom Dach letztgenannter Kirche, der melancholischen Blickes in die Ewigkeit starrt, »in die hant gesmogen daz kinne und die wangen« 82 . Speziell in England zeigen die kirchlichen und profanen Bauten ein oft schwer entwirrbares Nebeneinander von gotischen Originalen mit neuzeitlichen Ergänzungen und freien Nachschöpfungen. 83 Größer dürften freilich die Verluste sein: als nach dem Tridentinum die katholische Ikonographie tiefgehend gereinigt wurde, sind fraglos viele der kirchenkritischen, skatologischen oder erotischen Skulpturen abgehauen oder verstümmelt worden. Ein bekanntes Beispiel ist die Prozession von verschiedenen liturgische Zeremonien ausführenden 82 Frei nach Walther von der Vogelweide, L. 8, 7 f. 83 Vgl. z.B. Blackwood, John: Oxford’s Gargoyles and Grotesques. Oxford 1986. Würzburg, Marienkirche, 19. Jh. <?page no="124"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 123 Tieren am Straßburger Münster von 1298, die 1685 vernichtet wurde. 84 Unser Mittelalterbild ist sehr oft nur ein zensiertes. Mythen Es wäre eine lohnende Aufgabe, einmal systematisch Reflexen der Bauplastik in lokalen Sagen und Legenden nachzugehen. Hier nur zwei Beispiele: Der von lombardischen Handwerkern erbaute Dom von Lund in Südschweden wird von einer 1123/ 31 eingeweihten Krypta unterfangen. In ihrer Mitte stehen zwei Säulen, deren eine von einem Mann, deren andere von einer Frau mit Kind umklammert wird. Sie wurden u.a. als Samson und Dalila, Jachin und Boas, Laurentius und Maria erklärt. 85 Die Volksüberlieferung sieht darin jedoch den Riesen Finn, der die Kirche für ihren Patron Laurentius erbaute und dafür dessen Augen oder Sonne und Mond forderte; er sei deswegen hier mit seiner Familie in Stein verwandelt worden 86 (ein verbreiteter Typus der Bausage). 87 Unter den zahlreichen Heiligen des Namens Romanus ist einer der bekanntesten der Bischof von Rouen (Regierungszeit 629 - 639). Sein Viten datieren freilich erst aus dem 10. Jahrhundert und haben erwartungsgemäß einen Zug zum Wunderbaren. So soll der 84 Flögel, Karl-Friedrich: Geschichte des Grotesk-Komischen. Dortmund 1978 (Nachdr.), S. 414 f. 85 KLNM 10 (Fn. 23), Sp. 353. 86 Graebe, Eiler: Der Dom zu Lund. Lund 1975, S. 14 f. 87 KLNM 9 (Fn. 23), Sp. 685 f. Lund, Krypta, 1123/ 31. <?page no="125"?> 124 Peter Dinzelbacher Heilige einer Überschwemmung erfolgreich mit dem Kreuz in der Hand und einem Gebet auf den Lippen entgegengetreten sein. 88 Diese Flut wurde nun in der Überlieferung zu einem Drachen mit dem an »gurges«, Wasserstrudel, anklingenden Namen Garguille - und dies offensichtlich eben, weil im Französischen so die oft drachenartigen Wasserspeier bezeichnet werden. 89 Gerade diese Wesen wurden dann in der Romantik und Phantastik des 19. Jahrhunderts belebt, so in Chares Meryon’s Le Stryge (1853). Sie wirken als Chiffren für die Fremdheit einer Epoche, eine Fremdheit, die offensichtlich seit etwa den achtziger Jahren eine Faszination ausstrahlt, die sogar der akademischen Mittelalterforschung als Mythenerzählerin und -deuterin zugutekommt. 88 Platelle, Henri: Romano di Rouen. In: Bibliotheca sanctorum XI. Roma 1968, Sp. 328 - 330. 89 Holbek, Bengt, Piø, Iørn: Fabeldyr og sagnfolk. København 1967, S. 375. <?page no="126"?> Monster und Dämonen am Kirchenbau 125 Bibliographische Hinweise Allgemeine Hinweise Die einschlägigen Stichworte im Lexikon der christlichen Ikonographie (LcI), Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte, Lexikon des Mittelalters (LexMA), Dictionary of the Middle Ages, Kulturhistorisk leksikon for nordisk middelalder (KLNM), Lexikon für Theologie und Kirche (LThK); in den Symbollexika. Forschungsliteratur Adeline, Jules: Les sculptures grotesques et symboliques. Rouen 1879. Adloff, I.: Die antiken Fabelwesen in der romanischen Bauornamentik des Abendlandes. Tübingen 1947 (Diss.). Baltl, Herman: Zur romanischen Löwensymbolik. In: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 54 (1963), S. 195 - 220. Bernheimer, Richard: Romanische Tierplastik. München 1931. Basford, Kathleen: The Green Man. Ipswich 1978. Blankenburg, Wera v.: Heilige und dämonische Tiere. Leipzig 1943 (Nachdr. Köln 1975). Bod, A., Heilige Zeichen. o.O. 1938. Bougoux, Christian: Petite grammaire de l’obscène - églises du duché d’Aquitanie, XIe - XIIe siècle. Bordeaux 1992. Bridham, Lester B.: Gargoyles, Chimeres and the Grotesque in French Gothic Sculpture. New York 1930. Charbonneau-Lassay, L.: Il bestiario del Cristo. Roma 1994. Conrades, C.: Dämonen und Drolerien an romanischen und gotischen Kirchenbauten Frankreichs. Marburg 1950/ 51 (Diss.). Debidour, V. H.: Le bestiaire sculpté du Moyen Age en France. Paris 1961. Deonna, W.: »Salva me ex ore leonis«. A propos de quelques chapiteaux romans de la cathédrale Saint-Pierra à Geneve. In: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 28 (1950), S. 479 - 511. Evans, E. P.: Animal Symbolism in ecclesiastical Architecture. London 1895 (Nachdr. Detroit 1969). Friedman, John B.: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge, Mass. 1981. Gerhardt, Christoph: Der Hund, der Eidechsen, Schlangen und Kröten verbellt. Zum Treppenaufgang der Kanzel im Wiener Stephansdom. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 38 (1985), S. 115 - 132, 291 ff. Hotz, Walter: Mittelalterliche Groteskplastik. Leipzig 1937. Kappler, Claude: Monstres, démons et merveilles à la fin du Moyen Age. Paris 1980. Kröll, Katrin; Steger, Hugo (Hrsg.): Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiburg 1994. Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Kunst des Mittelalters. In: Kröll, Katrin; Steger, Hugo (Hrsg.): Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiburg 1994, S. 11 - 105. Lascault, G.: Le Monstre dans l’art occidental. Paris 1973. Michel, Paul: Tiere als Symbol und Ornament. Wiesbaden 1979. Möbius, F. u. H.: Bauornament im Mittelalter. Berlin 1974. Mode, Heinz: Fabeltiere und Dämonen in der Kunst. Stuttgart 1973. Naud, C.: Le dragon dans l’art roman de Poitou-Charentes. Poitiers 1972. <?page no="127"?> 126 Peter Dinzelbacher Romilly Allen, J.: Norman Sculpture and the medieval Bestiaries. London 1885. Roy, Bruno: En marge du monde connu: les races de monstres. In: Aspects de la mariginalité au Moyen Age. Hrsg. Allard, G.-H. Montréal 1975, S. 70 - 81. Schade, Herbert: Dämonen und Monstren. Regensburg 1962. Schahl, Adolf: Der gefeite Bau. In: Schwäbische Heimat 1961/ 6, S. 202 ff. Sheridan, Ronald; Ross, Anne: Grotesques and Gargoyles. Newton Abbot 1975. Steiner, M.: Wasserspeier an Kirchengebäuden als Bestandteil des mittelalterlichen Dämonenglaubens. Erlangen 1953 (Diss.). Stief, W.: Heidnische Sinnbilder an christlichen Kirchen. o.O. 1938. Sütterlin, Ch.: Mittelalterliche Kirchen-Skulptur als Beispiel universaler Abwehrsymbolik. In: Hohenzollern, J. G. Prinz v.; Liedtke, M. (Hrsg.): Vom Krizeln zur Kunst. Heilbronn 1987, S. 82 - 100. Tetzlaff, Ingeborg: Romanische Kapitelle in Frankreich. 3. Aufl. Köln 1979. Troescher, G., Keltisch-Germanische Götterbilder an romanischen Kirchen. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 16 (1953), S. 1 - 42. Wegner, I.: Studien zur Ikonographie des Greifen. Freiburg 1928 (Diss.). Weir, Anthony; Jerman, James: Images of Lust. Sexual Carvings on Medieval Churches. London ND 1993. Wiebel, R.: Die geistige Botschaft romanischer Bauplastik. München 1949. Wittkower, R.: Allegorie und Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1983. <?page no="128"?> Gargoyles - Wasserspeier Phantasieprodukte des Mittelalters und der Moderne Albrecht Classen (Tucson) Wer kennt sie nicht, diese seltsamen, zugleich durch ihre furchterregende Häßlichkeit, manchmal durch ihre Skurrilität Komik auslösenden Wesen, die praktisch bei allen gotischen Kirchengebäuden, oftmals auch bei weltlichen Gebäuden hoch über dem Betrachter direkt am Dachrand angebracht sind und zunächst die schlichte Funktion besitzen, wie der deutsche Name besagt, das in der Regenrinne gesammelte Wasser weit abwärts von der Mauer wegzuleiten und »auszuspeien«? Diese Wasserspeier stellen überall einen wichtigen Teil des Skulpturenprogramms vor allem der gotischen Architektur dar, ohne daß man bis heute ganz das dahinterstehende künstlerische, ästhetische, religiöse, epistemologische oder ideologische Konzept ergründet hätte. Im Englischen spricht man von »gargoyle«, was sich vom altfranzösischen »gargoule« ableitet und heute »gargouille« heißt, soviel wie »Abflußrinne« oder »Traufe« bedeutet. Das Verb »gargariser« meint »gurgeln«. Im Italienischen nennt man diese Skulpturen »grónda sporgente« (herausragender Wasserleiter), im Holländischen »waterspuwer« (Wasserspucker). Alle diese Bezeichungen hängen teils etymologisch, teils nur in metaphorischer Hinsicht eng zusammen. Die Funktion dieser Wasserspeier ist sofort einsichtig, denn Regenwasser, das direkt an der Mauer nach unten laufen würde, könnte leicht Erosionsschäden verursachen und muß daher im sicheren Abstand vom Gebäude weggeführt werden. Man kannte bereits in der Antike solche Skulpturen, wenn man etwa an den Löwenkopf am Parthenon von Athen (5. Jahrhundert vor Christus) oder an die terra-cotta-Köpfe in Pompeji denkt, die genauso wie die Gargoyles das Wasser vom Dach ableiten sollten. 1 Ähnliche Figuren sind uns auch aus der etruskischen und sogar schon aus der altägyptischen Kultur bekannt 2 . Freilich besteht immer noch ein großer Unterschied zwischen den hochmittelalterlichen und den antiken Wasserspeiern, was die äußere Form angeht, obwohl die bautechnische Absicht im wesentlichen die gleiche gewesen ist. Die Allgegenwart dieser Skulpturen in ganz Europa braucht uns daher überhaupt nicht zu überraschen, zu untersuchen ist hingegen, was die monströse Erscheinung bedeuten mag, die vor allem die mittelalterlichen Gargoyles charakterisiert. Zu unterscheiden wäre zunächst zwischen Wasserspeiern im funktionalen Sinne und den vielen monströsen Skulpturen an den Außenwänden von den verschiedensten Gebäuden, die kein Wasser leiteten und daher als »chimära« zu bezeichnen sind. Erst mit der Entwicklung der gotischen Bauweise ab dem frühen 12. Jahrhundert griff man auch auf 1 Mertens-Horn, Madelaine: Die Löwenkopf-Wasserspeier des griechischen Westens im 6. und 5. Jahrhundert im Vergleich mit den Löwen des griechischen Mutterlandes. Mainz 1988. 2 Ludwig, Kirsten: Wasserspeier. Form und Funktion eines altägyptischen Architekturdetails. München 1989 (Magisterarbeit). <?page no="129"?> 128 Albrecht Classen diese schon in der Antike bekannten Wasserspeier zurück, die sich oftmals besonders an den Schwebebögen finden (wie beispielsweise in den Kathedralen von Burgos oder Notre Dames). Freilich nahmen beileibe nicht alle Wasserspeier die monströse Form an, vielmehr gab es selbst im 12. und 13. Jahrhundert, als diese Skulpturen mit besonderer Vorliebe angebracht wurden, Wasserleitungen ohne jegliche figürliche Gestalt. Die ältesten mittelalterlichen Gargoyles scheinen diejenigen an der Kathedrale von Laôn von ca. 1220 zu sein; jedenfalls legen ihre primitiven Formen diese Datierung nahe. Gefolgt wurden sie von den Wasserspeiern von Notre Dame in Paris, und sie verbreiteten sich von da an als überaus funktionale Gewerke und zugleich höchst originelle Dekorelemente in ganz Europa. Seit dem späten 13. Jahrhundert nahmen die Wasserspeier zunehmend menschliche Formen an (z.B. an der Kathedrale von Poitiers) und wurden immer sorgfältiger bildhauerisch gestaltet. Bald verloren sie ihre höllischen oder dämonischen Gestaltungsmerkmale und wirkten eher grotesk und absurd als erschreckend und abstoßend. Auch obszöne und skatologische Skulpturen finden sich darunter (wie z. B. am Freiburger Münster) . 3 Die meisten mittelalterlichen Gargoyles sind aus Sandstein oder Marmor, nur gelegentlich findet man auch solche aus Blei (wie an der Kathedrale von Reims). Im 19. Jahrhundert griff man gerne in Nachahmung mittelalterlicher Wasserleiter auch auf diese Skulpturen zurück, bediente sich dann aber überwiegend des Metalls (wie im Falle des Hôtel Dieu in Beaune). Viele Wasserspeier waren wahrscheinlich farbig, obgleich heute davon nichts mehr erhalten ist. Erstaunlich, daß trotz der großen Zahl von noch vorhandenen Wasserspeiern praktisch keiner dem anderen gleicht, mithin jeder einzelne ein individuelles Kunstwerk darstellt. Wieso die meisten Gargoyles, die man von ebener Erde aus gar nicht genau erkannen kann, bildhauerisch so überaus phantasievoll und detailliert gestaltet wurden, läßt sich bisher nicht zufriedenstellend erklären. Legionen von Dämonen, Monstern und Fabelwesen bevölkern wasserspeiend in schwindelnder Höhe vor allem kirchliche, aber auch weltliche Gebäude: Man entdeckt absurde, manchmal rückwärts gewandte menschliche Figuren, bei denen das Wasser aus ihrem Anus schießt (Kathedralen von Saint-Lazare und Autun). Manchmal finden sich Kombinationen von tierischen Monstern mit menschlichen Gesichtszügen(Kathedralen von Notre-Dame-des-Marais, Villefranche-sur-Saône) oder groteske menschliche Gestalten mit tierischen Gliedmaßen (Cathedral Church of St. Peter in York). In Laôn befindet sich an der Nordseite der Kathedrale ein wilder Eber als Wasserspeier, während die Kirche von Thaxted in England mit einem großen Löwen in dieser Funktion aufwartet. Am Dachgiebel der Kollegiatskirche von Sainte-Waudru im belgischen Mons sieht man einen wasserspeienden Widder, während in Nürnberg am »Schönen Brunnen« auf dem Hauptmarkt eine Ziege und ein Affe das Wasser ableiten. In Bourges dient am Hause Jacques Coeurs ein Affe als Wasserspeier, während an der Kirche von Saint-Etienne in Cahors eine Sirene als Gargoyle ihre Aufgabe erfüllt. Einem drachenähnlichen Gargoyle begegnet man am Erker des Collegium Carolinum der 1348 von Karl IV. gegründeten Prager Universität. Hundeähnliche Gestalten tummeln sich an der Wand des Südquerschiffs der Pfarrkirche St. Marien in Mühlhausen in Thüringen. Ein fliegender Fisch ergießt das Wasser an der Kirche Saint Gommarus im belgischen Lier, und ein geflügelter Hasen tut es ihm an der Domkerk von Utrecht nach. Ein Kosmos höl- 3 Koester, Heike; Jeras, Jean: Die Wasserspeier am Freiburger Münster. Lindenberg 1997. <?page no="130"?> Gargoyles - Wasserspeier 129 lischer Phantasiegestalten, orientalischer Monster und ins Groteske verzerrter Fauna. Geistliche und weltliche Reiseliteratur oder Musterbücher für Künstler dienen dabei als Vorlage, und der kreativen Einbildungskraft ist offensichtlich bei der Gestaltung von Gargoyles im gesamten europäischen Mittelalter 4 keine Grenze gesetzt. Die Wasserspeier stellen bis heute ein schwieriges epistemologisches Problem dar. Die Diskussion, was die geistige, dämonologische oder religiöse Bedeutung der Gargoyles ausmachen könnte, wird schon sehr lange geführt, und es gibt insgesamt nur stark divergierende Spekulationen, die das Phänomen immer nur in bestimmten Teilaspekten erfassen. Emile Mâle glaubte noch, daß sich in den Wasserspeiern ein Urbewußtsein der Menschheit manifestiere, das zunächst von mündlicher Erzähltradition bewahrt und erst später im hohen Mittelalter erneut in diesen skurrilen Skulpturen Ausdruck gefunden habe 5 . Man hat auch die Gargoyles mit den Monsterbildern und grotesken Figuren, die in Straßenprozessionen und in Mysterienspielen auftraten, in Verbindung gebracht, doch dabei vergessen, daß diese Aufführungen erst wesentlich später ab dem 13. und 14. Jahrhundert begannen und sich eher die Wasserspeier als Vorbild nahmen anstatt diesen als Quelle zu dienen 6 . Am häufigsten liest man die Auffassung, diese steinernen Fratzen haben böse Geister davonjagen oder als Allegorien der Sünde diese aus dem kirchlichen Bereich fernhalten sollen. 7 Ronald Sheridan und Anne Ross wiesen jedoch jüngst darauf hin, daß Gargoyles sogar innerhalb von Kirchen auftauchen und deswegen nicht immer dazu dienen konnten, das Böse zu verscheuchen. 8 Statt dessen repräsentierten sie nach ihrer Meinung archaische Überbleibsel paganen Glaubens. Indes scheint problematisch, daß kirchliche Auftraggeber und Baumeister solche Figuren gestattet hätten, wenn diese Erklärung stimmen sollte. 9 Laut Michael Camille stellen Wasserspeier schlicht Objekte dar, die den Schmutz aus der Kirche leiten und damit primär eine hygienisch-architektonische und zugleich moralisch-theologische Reinigungsfunktion besässen. Freilich, auch dies ist letztlich keine befriedigende Erklärung, denn das Regenwasser kann nicht ohne weiteres mit Schmutz identifiziert werden, vor allem da Wasser auch als Taufwasser verwendet wird und der Regen vom Himmel kommt. 10 Janetta Rebold Benton erblickt in den Gargoyles symbolische Wesen, die den Betrachter erschrecken und einschüchtern, vielleicht auch an die Hölle selbst erinnern sollten; sie berücksichtigt jedoch wiederum nicht, daß viele jener Objekte so weit oben angebracht waren, daß die meisten Menschen gar nicht die Wasserspeier aus der Nähe betrachten konnten 11 . Benton macht freilich darauf aufmerksam, daß Höllengestalten oftmals die Phanta- 4 Jenni, Ulrike: Vom mittelalterlichen Musterbuch zum Skizzenbuch der Neuzeit. In: Die Parler und der schöne Stil 1350 - 1400. Europäische Kunst unter den Luxemburgern. Bd. 3. Hrsg. Anton Legner. Köln 1978, S. 139 - 150. 5 Mâle, Emile: The Gothic Image: Religious Art in France of the Thirteenth Century. New York 1984, S. 58 f. 6 Lester Burbank Bridaham: Gargoyles, Chimeres, and the Grotesque in French Gothic Sculpture. New York 1930, 2. erw. und revidierte Aufl. 1969, S. x - xiv. 7 Abbé Auber: Histoire et théorie du symbolisme réligieux. Paris 1870 - 71. 8 Sheridan, Ronald; Ross, Anne: Gargoyles and Grotesques. Paganism in the Medieval Church. Boston 1975, S. 12. 9 Vgl. Sheridan/ Ross (Fn. 8). 10 Camille, Michael: Image on the Edge: The Margins of Medieval Art. Cambridge, Mas. 1992, S. 78. 11 Benton, Janetta Rebold: Gargoyles. Animal Imagery and Artistic Individuality in Medieval Art. In: Animals in the Middle Ages. A Book of Essays. Hrsg. Nona C. Flores. New York; London 1996 (Garland Medieval Casebooks), S. 147 - 165, hier S. 157. <?page no="131"?> 130 Albrecht Classen sie der mittelalterlichen Menschen beschäftigten und daß insoweit Gargoyles keine mentalitätsgeschichtliche Ausnahme darstellten. Trotzdem gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen Höllentorabbildungen, wie sie oftmals in Tympani über den Hauptpforten von Kathedralen zu sehen sind, und den monströsen Wasserspeiern: es fehlt diesen der entsprechende topographische oder dämonologische Kontext, und sie erfüllen eine äußerst nützliche Funktion für den Erhalt der Bausubstanz. Dennoch kann man eine Verbindung zwischen der theologischen Monstertradition und den abschreckenden Skulpturen nicht völlig ausschliessen, weil die Typologie in vielerlei Hinsicht doch recht ähnlich ist. Besonders auffallend ist die Übereinstimmung zwischen visionären Bildern und Schreckgestalten aus der Apokalypse und den Wasserspeiern. Möglicherweise sollten diese Skulpturen die menschlichen Alpträume in Stein fassen, um die Betrachter an ihre Ängste und ihr Schuldbewußtsein zu gemahnen, die ihnen als physische Realität vorgeführt und Bedrohung für ihre Seele bewußt gemacht wurden 12 . Wie sich aber erklären läßt, daß die meisten Gargoyles nichtsdestotrotz so hoch über den Menschen aus dem Mauerwerk ragen, bleibt weiterhin unklar und ist vielleicht letztlich auf technische Gründe zurückzuführen. Wesentlich ist wohl ihre Präsenz, nicht die Möglichkeit ihrer konkreten Wahrnehmung. Nicht alle Wasserspeier waren im übrigen völlig der Sicht entzogen, obwohl sie meistens unterhalb des Daches angebracht waren und so das Regenwasser sogleich von dort wegleiten konnten. Vom Glockenturm aus konnten sie ohne weiteres betrachtet werden, oder auch während ihrer längeren Entstehungszeit in den Werkstätten und Bauhütten. Nicht alle diese Skulpturen sind der menschlichen Phantasie entsprungen. Oft entdeckt man teils komische, teils lächerliche, teils absurde, teils närrische Figuren, über die man lachen kann, aber vor denen man keine Angst empfindet. Von daher bietet sich die Überlegung an, daß die Bildhauer vor allem des späteren Mittelalters gerne auf solche skurrilen Figuren zurückgriffen, um dem Betrachter die Möglichkeit zu bieten, sich aus dem gar zu strengen Paradigma von Himmel und Hölle für eine kurze Zeit zu befreien und schlicht über diese Wasserspeier zu lachen, was durchaus mit dem Phänomen der vielen burlesken und gelegentlich sogar vulgären Skulpturen oder Schnitzereien (siehe z.B. die Misericordi) übereinstimmt. Von daher scheint besonders der kunsthistorische Unterschied zwischen den hochgotischen und den spätgotischen Gargoyles beachtenswert, denn je weiter wir in der Zeit voranschreiten, desto grotesker und auch phantasiereicher werden diese Figuren 13 . Während noch im 12. und 13. Jahrhundert der religiöse Faktor eine bedeutende Rolle bei der Gestaltung von Wasserspeiern gespielt hat, insoweit als sie sich typologisch eng an die Höllendarstellungen in früh- und hochmittelalterlicher Literatur sowie in bildlichen Darstellungen anlehnen, scheinen ab dem 14. und 15. Jahrhundert zunehmend Volksüberlieferung, Erzählungen aus dem und über den enigmatischen Orient sowie der Einfluß der Monster- und Reiseliteratur (Marco Polo, John Mandeville) auf die Gestaltung dieser Figuren eingewirkt zu haben. Daß die Künstler späterer Jahrhunderte Wasserspeier auch als phantasievolles und kreatives Dekors schufen, ohne sich von religiöser, geistlicher oder moralischer Programmatik leiten zu lassen, ist offensichtlich. So erklärt sich auch die un- 12 Benton (Fn. 11), S. 159. 13 Kenaan-Kedar, Nurith: Marginal Sculptures in Medieval France. Towards the Deciphering of an Enigmatic Pictorial Language. Brookfield, VT. 1995, S. 143. <?page no="132"?> Gargoyles - Wasserspeier 131 endliche Anzahl von menschlichen wie tierischen Monstergestalten, Dämonen oder Fabelwesen der Skulpturen 14 . Sogar Mönche (Château de Blois), Pilger (St. Urbain in Troyes), Ritter (St. Urbain), nackte weibliche (St. Urbain) und männliche Figuren (Kreuzgang der Kathedrale von Rouen) werden als Wasserspeier gestaltet. Mit anderen Worten, der künstlerischen Phantasie waren praktisch keine Grenzen gesetzt. Wieso aber - und diese Frage drängt sich stets von neuem auf - waren Bauherren bereit, mit solchen schreckenerregenden Gestalten ihre Gebäude schmücken zu lassen? Zu berücksichtigen wäre insbesondere, daß Gargoyles keineswegs nur bei Kirchen oder Klöstern verwendet wurden, sondern ebensogut, wenn auch erst ca. ab dem 14. Jahrhundert in der weltlichen Architektur Verwendung fanden. Laut Sheridan und Ross hatte die Kirche einzusehen gelernt, daß man die Bevölkerung nicht allein mit Hilfe der Bibel und der Predigt erreichen konnte, sondern immer auch dadurch ansprechen mußte, daß man sich in irgendeiner Form auf den weiterhin unterschwellig vorhandenen paganen Glauben bezog und sich mit diesem in einen kritischen Dialog einließ. Die absurde Welt der Wasserspeier wäre dann teils als Verspottung des »Aberglaubens« anzusehen. Aber die angsteinjagenden Figuren sollten auch als höllische Gestalten vorgeführt werden, um deutlich zu machen, daß auch andere religiöse Vorstellungen existierten, insoweit als die Gargoyles nicht-christliche Glaubensformen reflektierten. 15 Obwohl es sich um eine faszinierende Hypothese handelt, dürfte sie sich kaum belegen lassen, da während des gesamten Mittelalters keine anderen Glaubensformen als die des Christentums toleriert wurden und die Kirche darauf bedacht war, keinerlei ketzerische oder häretische Gedanken aufkommen zu lassen. Eine irrtümliche Meinung ist auch, die Kirche habe einzusehen gelernt, daß der Aberglaube nicht auszulöschen ist und die Gargoyles plastisch vorführen sollten, daß fremde, also nicht-christliche Glaubensformen ohne weiteres neben den Kultobjekten der eigenen Religion existieren durften 16 . Einen ganz anderen Gedankengang entwickelte Janetta Bentson, die auf die strengen Regelungen innerhalb des mittelalterlichen Handwerks und mithin auch der Bildhauer hinweist. Während üblicherweise ein Künstler sich genauestens nach den Vorschriften seiner Zunft richten mußte und keine Freiheit in der Gestaltung seiner Werke besaß, die er streng nach den Richtlinien seiner Bauherren entwerfen mußte, bot sich ihm anhand der Wasserspeier die einmalige Möglichkeit, die Normen zu sprengen und sich in den Bereich der individuellen Kreativität zu begeben. Auch Marginalzeichnungen in mittelalterlichen Handschriften weisen eine Unzahl von grotesken Wesen auf, Drôlerien und Miniaturen, mit denen der Illuminator eigene Wege beschreiten konnte. Zwar handelt es sich in beiderlei Hinsicht um Marginalkunst, aber trotz des beschränkten Raumes scheinen die Künstler mehr oder weniger freizügig ihre Phantasie ausgelebt zu haben 17 , ohne damit als ethisch, moralisch oder theologisch anstößig angesehen worden 14 Bridaham, Lester Burbank: Gargoyles, Chimeres, and the Grotesque in French Gothic Sculpture. New York 1930, S. xiii. 15 Sheridan/ Ross (Fn. 8), S. 8: »that the representations are pagan deities dear to the people which the Church was unable to eradicate and therefore allowed to subsist side-by-side with the objects of Christian orthodoxy«. 16 Vgl. Sheridan/ Ross (Fn. 8). 17 Randall, Lilian M. C.: Images in the Margins of Gothic Manuscripts. Berkeley 1966; Weir, Anthony; Jerman, James: Images of Lust: Sexual Carvings on Medieval Churches. London 1986. <?page no="133"?> 132 Albrecht Classen zu sein 18 . Die aus heutiger Sicht fast unglaublich wirkende Obszönität und die Grobianismen wie skatologische oder groteske Darstellungen scheinen dies zu bestätigen. Die Wasserspeier sind zwar Objekte der Marginalkunst des Mittelalters, aber sie gehören mit zu den bedeutsamen visuellen Reflexionen mittelalterlicher Mentalität, sei es, daß sie tiefsitzende Ängste vor der Hölle repräsentierten 19 , sei es, daß sie einer neu aufblühenden curiositas zum Ausdruck verhalfen, die freilich noch nicht von naturkundlichen Studien, empirischen Betrachtungen und Reiseerfahrungen begleitet wurde. Wie komparatistische Untersuchungen von Katrin Kröll vorgeführt haben, stand im Mittelalter »Buchwissen und Sinnenfreude« in einem eigentümlich engen Zusammenhang, und dementsprechend dienten die Gargoyles sowohl zur bloßen Dekoration als auch zur theologischen Belehrung, sowohl als Repräsentanten einer Anderswelt, die sich auch innerhalb der christlichen Welt zu erkennen gibt, wie auch als konkret wahrnehmbare Schreckensgebilde aus den eigenen Alpträumen 20 , mit denen die Kirche die Gläubigen konfrontieren wollte, um sie auf die innere Konversion vorzubereiten. Die Wasserspeier, so grotesk und obszön sie oftmals wirken mögen, bildeten einen integralen Bestandteil der gotischen Architektur. Sie waren künstlerischer Ausdruck und phantasievolle Verkörperung für eine breite Skala von Empfindungen und Gefühlen - auch bei den Betrachtern. Ungeachtet der individuellen Erklärungen, welche Funktion man diesen Skulpturen letztlich zuschreiben möchte, entscheidend bleibt für unser Verständnis, daß sie im Auftrag der Kirche an allen architektonisch erdenklichen und bautechnisch funktionalen Stellen der Kathedralen oder anderen Kirchengebäuden angebracht wurden und somit stets im Kontext des kirchlichen Lebens gesehen werden müssen. Erst im späteren Mittelalter tauchen viele Gargoyles auch an weltlichen Gebäuden auf 21 . Als architektonisches Element behielt der Wasserspeier bis heute seine funktionale Bedeutung, während er in seiner mittelalterlichen Form seit dem 15. und 16. Jahrhundert starken Wandlungen unterworfen war. Sobald man sich jedoch im 19. Jahrhundert im Zuge der romantischen Rückbesinnung auf das Mittelalter erneut darum bemühte, diese wasserspeienden Dämonen, Monster und Fabelwesen wieder aufleben zu lassen, brachte man auch an den neogotischen Kirchen Imitationen der mittelalterlichen Gargoyles an. Insbesondere in den USA lassen sich viele Skulpturen dieser Art finden, die bedeutendsten Exemplare wohl an der Washington Cathedral, mit derem Bau man 1907 begann und die erst 1990 eingeweiht wurde. Insgesamt 106 Wasserspeier wurden dort angebracht, die größtenteils den mittelalterlichen Vorbildern nachempfunden sind, oftmals aber auch, weil von privaten Stiftern bezahlt, persönliche Anspielungen oder konkrete Abbildungen aufweisen. Verschiedentlich bedienten sich Dichter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts der Gargoyles als Motive oder Themen für ihre Romane und Gedichte, so Howard Mumford 18 Kröll, Katrin: Der schalkhaft beredsame Leib als Medium verborgener Wahrheit. In: Kröll, Katrin; Steger, Hugo (Hrsg.): Mein ganzer Körper ist Gesicht. Groteske Darstellungen in der europäischen Kunst und Literatur des Mittelalters. Freiburg 1994, S. 239 - 294, hier S. 288 f. 19 Siehe die Abbildungen in: Himmel, Hölle, Fegefeuer. Das Jenseits im Mittelalter. Katalog von Peter Jezler. München 1994 (2., durchgesehene Aufl.), Kat. 127 - 152. 20 Kröll (Fn. 18), S. 293 f. 21 Kröll, Katrin: Die Komik des grotesken Körpers in der christlichen Bildkunst des Mittelalters. Eine Einführung. In: Kröll/ Steger (Fn. 18), S. 11 - 105, hier S. 41. <?page no="134"?> Gargoyles - Wasserspeier 133 Jones: Gargoyles, and Other Poems (Boston 1918), Ben Hecht mit seinem Gargoyles (New York 1922), Louis Auchincloss in seiner Erzählung Billy and the Gargoyles (1952) und Stephen King mit Nightmares in the Sky: Gargoyles and Grotesques (New York 1988). Ebenso hat das Jugendfernsehn die Faszination der monströsen Wasserspeier seit einigen Jahren auszunützen verstanden. Greg Weisman, der sich als Student der Architektur an der University of Oxford, England, aufgehalten hatte, schuf zwischen 1987 und 1990 eine Zeichentrickfilm-Serie Gargoyles, die später von The Goliath Chronicles gefolgt wurde, wobei die Hauptfigur, ein Gargoyle namens Goliath, die Hauptrolle spielt. Im wesentlichen handelt es sich darum, daß ein gewissenloser amerikanischer Geschäftsmann Xanatos eine Reihe von meist geflügelten Wasserspeier-Figuren aus Schottland nach New York gebracht hat, wo sie, weil sie auf seinem Hochhaus über den Wolken angebracht worden sind, nachts erneut zum Leben kommen und sich dann als tapfere Kämpfer gegen das organisierte Verbrechen in der Stadt beweisen. 1994 erschien dann eine Kinoversion: Gargoyles: The Heroes Awaken, womit das europäische Mittelalter in seinen grotesken Formen endgültig zu einem festen Bestandteil der Phantasie amerikanischer Jugendlicher geworden ist. 1995 erschien ein aufklappbares Kinderbuch Gargoyles: While the City Sleeps (Burbank, CA, 1995), und viele weitere Publikationen und Kunstwerke, die sich auf diese mittelalterlichen Wasserspeier beziehen, sind für die Zukunft noch zu erwarten. <?page no="136"?> Basilisk - regulus Eine bedeutungsgeschichtliche Skizze Marianne Sammer (München) I. Naturgeschichtliches Umfeld Hat auch Plinius der Ältere den Basilisken in seinen naturalis historiae libri xxxviii nicht erfunden, so stehen doch seine Ausführungen und der zum Teil von ihm abhängige Bericht des Solinus 1 am Anfang der Bedeutungsgeschichte dieses Fabeltieres. In der lybischen Provinz Kyrenaika lebe, so Plinius 2 , eine Schlangenart, nicht mehr als zwölf Fingerbreit lang, die sich nicht in Windungen, sondern hochaufgerichtet - »celsus et erectus« - fortbewege und auf dem Kopf einen weißen Fleck trage, der ihn wie ein Diadem schmücke. Nicht genug, daß der Basilisk alle Lebewesen, die ihm in die Augen sehen, unverzüglich mit seinem Blick töte, seine Berührung, ja sein bloßer Anhauch versenge Kräuter und sprenge Steine, sein Zischen jage selbst andere Schlangen in die Flucht. 3 Nach Solinus sollen sogar die Vögel, die im Begriff sind, über ihn hinwegzufliegen, tot vom Himmel herabstürzen, weil er mit seinem Atem die Luft verpeste. 4 Man habe, Plinius zufolge, das Gift eines Basilisken einst für stark genug gehalten, den Speer, mit dem ein Reiter einen Basilisken erstochen hatte, emporzusteigen und den Reiter mitsamt seinem Pferd tödlich zu infizieren (die Formulierung »creditum« [man hat geglaubt] ist angesichts dieser unnatürlichen Wirkungsweise des Basiliskengiftes freilich nicht zufällig). Am sichersten entledige man sich dieses Untiers, so die einhellige Meinung, indem man ein Wiesel, den einzigen natürlichen Feind des Basilisken, in seine Höhle werfe: »adeo naturae nihil placuit esse sine pare« (so [weise] hat es die Natur eingerichtet, daß nichts ohne gleich starken Widerpart sei). Gegen die Ausdünstung des Wiesels sei kein Basilisk gefeit, doch verliere es selbst nach seinem Sieg über den Basilisken das Leben. Nicht einmal die sterblichen Überreste des Basilisken sollen ihr Gift verlieren; so weiß Solinus von einem Apoll-Tempel zu berichten, den Spinnen und Vögel gleicherweise mieden, seit man einen toten Basilisken in einem goldenen Netz darin aufgehängt hatte. Diese Ausführungen, die über die übliche Schullektüre jedem Gelehrten geläufig waren, bilden das naturgeschichtliche Grundwissen über den Basilisken vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Ein philologisch motiviertes Interesse an den ersten Bezeugungen des Basilisken ist nicht nachzuweisen. Ergänzend zu Plinius und Solinus wurden vor allem für naturkundliche Schriften bisweilen noch berühmte antike und spätantike Autoren, wie Galenos, Ailianos oder Pseudo-Dioskurides, hinzugezogen, was mitunter zu widersprüchlichen Aussagen führte, die bedeutungsgeschichtlich aber irrelevant blieben. So 1 Solinus, C. Julius: Collectanea rerum memorabilium, sive Polyhistor. 2 Vgl. C. Plinius Secundus d.Ä.: Naturalis Historiae Libri xxxviii, lib. vii, xiii 78, 79. 3 Vgl. Solinus (Fn. 1), Nr. 602. 4 Vgl. Solinus (Fn. 1), Nr. 601. <?page no="137"?> 136 Marianne Sammer spricht etwa Galenos, abweichend von Plinius, von einer dreigliedrigen Verhornung am Kopf des Basilisken 5 , die später zwar die Dreizackung der Krone (nicht die Krone selbst! ) motiviert haben dürfte, mit der man in der bildenden Kunst das Basiliskenhaupt oftmals geziert findet, aber keine allegorische Deutung erfährt. 6 In den rein literarischen Quellen wird den bei Pseudo-Dioskurides angegebenen Gegenmitteln zum Basiliskenbiß - entweder Bibergeil mit Wein oder Mohnsaft 7 - keine Beachtung gezollt, weil sich der Basilisk hier nun einmal als eher »passiver Verderbenträger« durch seinen tödlichen Blick und seine giftige Aura auszeichnet. Naturkundliche Quellen erwähnen diese Empfehlungen mitunter, berichten aber von keinen Heilerfolgen - allerdings auch von keinen Todesfäl- 5 Dieser Widerspruch wird beispielsweise in einer kommentierten Solinusausgabe von 1603 festgestellt (vgl. C. Julii Solini Memorabilia Mundi [...] aucta a M. Georgio Dravido, Francofurti MDCIII). 6 Dem gefleckten Leib, mit dem Isidor den Basilisken ausgestattet hat, begegnet man gerne in der Malerei, als Gegenstand allegorischer Auslegungen hat aber auch er nicht gedient. Ebensowenig die gelblich-fahle Färbung des Basilisken, die ihm von Galenus verliehen wurde, oder der rote Basiliskenleib, nachzulesen bei Luc. Apuleius Madaurensis. 7 Diese Aussage stammt von Erasistratos, vgl. Pseudo-Dioskurides: De materia medica libri quinque. Hrsg. M. Wellmann. 3 Bde. 1906 - 1914, Bd. II. Abb.1: Antiken Vorstellungen nachempfundene Basiliskenschlange mit dreigezackter Krone. <?page no="138"?> Basilisk - regulus 137 len - durch ihre Anwendung. 8 Wo die Wirksamkeit der Therapie nicht offen in Zweifel gezogen oder gar bestritten 9 wird, wird ihre unverzügliche Anwendung dringend empfohlen; 10 die bereits in der Antike entwickelte Diagnose kann jedoch erst mit den Anzeichen des nahenden Todes als gesichert gelten: »Der gebissznen leyb ist überall hitzig und entzündt. Die wunden (als Erasistratus anzeigt) wirdt gelb wie gold (dieweyl ein theil deß faulenden geblüts in gallen verkehrt wirt) die haar fellen von stunden auß / der bebisszne geschwilt / förchtet das wasser als were er von einem wütenden hund gebisszen / unnd volgt als bald der todt. Sölche zeichen sind desto gewisser wenn einer unversehens darvon stirbt ...« 11 Als letztes Beispiel sei noch die Furcht des Basilisken vor dem Hahn und sein Tod durch den Hahnenschrei erwähnt, eine Behauptung des Ailianos 12 , die bereits von der Patristik eindeutig zugunsten der Todfeindschaft des Basilisken und des Wiesels entschieden wurde und deshalb hauptsächlich in den Volksglauben Eingang gefunden hat. Die von Isidor von Sevilla in den Etymologiae auf der Grundlage der genannten antiken Quellen entwickelte Definition des Basilisken enthält für seine Bedeutungsgeschichte entscheidende Weichenstellungen: die Latinisierung des griechischen Leihwortes durch »regulus« und die sich daraus zwingend ableitende Klassifizierung als »rex serpentium« (König der Schlangen). Bis in die Neuzeit beginnen die meisten zoologischen Bestimmungen des Basilisken mit dieser Etymologie, aus der Literatur ist das Epitheton »rex serpentium« nicht wegzudenken, eine Unzahl theologischer Auslegungen und Metaphorisierungen nimmt von ihm seinen Ausgang, jede bildliche Darstellung des Basilisken als bekrönte Schlange oder als bekröntes schlangenartiges Mischwesen geht auf diese Bestimmung zurück. Dagegen hat das von Isidor angebotene Synonym »sibilus« (der Zischende) die naturkundliche Literatur nicht verlassen. Dieser starken Definition ist es wohl auch zu verdanken, daß die Beobachtung des tödlichen Blickes und die Infizierung der Luft, die ja aus verschiedenen Quellen stammen, ebenso wie die Tötung des Basilisken durch das Wiesel mit der auf Plinius anspielenden Bemerkung, »nihil enim parens ille rerum sine remedio constituit« (denn der Schöpfer der Natur ließ nichts ohne Gegenmittel), geradezu kanonisch geworden sind. 13 Die Montage tödlicher Blick - tödliche Luft 8 Vgl. z.B. Geßner, Jacob C.: Schlangenbuch. Das ist ein grundtliche und vollkommene Beschreybung aller Schlangen / so im Meer / süsen Wassern und auff Erden ir wohnung haben [...] Zürych MDLXX- XIX, Von dem Basiliscken, 29 r ; Lonitzer, Adam: Kreuterbuch, künstliche Conterfeyung der Bäume / Stauden / Hecken Getreyd / Gewürtze [...] Item von den Führnehmsten Gethieren der Erden / Vögeln / Fischen und Gewürm [...], 1679, Teil III: Von den Thieren auff der Erden, cap. 70, S. 629. 9 S chon in der Antike besteht über die Heilbarkeit des Basiliskenbisses keine Einigkeit; vgl. z.B. Aetius: »Aiunt autem quod conspectus modo, & sibilans auditur, eos qui ipsum audierunt, tollat, similiterque ab ipso conspectos. Quare vanum & superfluum duximus auxilia contra eum referre« (Man sagt, daß der bloße Anblick und das Hören seines Zischens diejenigen, die ihn gehört haben, dahinrafft, und ebenso diejenigen, die von ihm angeblickt werden.). Zit. nach: Aetii Medici Graeci contractae ex veteribus medicinae tetrabiblos, hoc est, quaternio, sive libri universales quatuor, singuli quatuor sermones complectentes. Lugduni 1549 [...] tetrabibl. iv, sermo i, cap. xxxiii: De Basilisco, S. 776. 10 Vgl. z.B. Geßner (Fn. 8), S. 29 r . 11 Geßner (Fn. 8), ebd. 12 Vgl. Scholfield, A.F. (Hrsg.): Aelian. On the characteristics of animals, in three volumes, with an English translation. London 1958, Bd. III, S. 193, Nr. 31. Aelianos berichtet, daß Reisende in Lybien als Schutz vor dem Basilisken einen Hahn mitführten, um sich gegen Basiliskenbefall zu schützen. 13 Vgl. z.B. zusätzlich zu Anm. 20 - 23 Thomas Cantimpratensis: Liber de natura rerum. Berlin; New York 1973, 8, 4. <?page no="139"?> 138 Marianne Sammer ist in den Quellen sogar häufiger anzutreffen als die ursprüngliche Kombination von tödlichem Blick, tödlichem Anhauch und tödlicher Berührung. 14 Isidors während des Mittelalters vielzitierter Bemerkung, daß der Basilisk sogar das Wasser verpeste, das sein Opfer wasserscheu und wahnsinnig mache - ein seit Erasistratos gängiges Beispiel für seine seine tödliche Aura, die alle vier Elemente zu Reaktionen zwingt - kommt in den neuzeitlichen Naturkundebüchern nicht mehr viel Beachtung zu. Neuzeitliche Basilisken wohnen gemäß den Chroniken und Sagen immer häufiger in Brunnen und Zisternen und vergiften deshalb nicht über das Wasser, sondern töten die Menschen mit ihrem Blick oder der von ihnen verseuchten Luft. 15 Wie einflußreich Isidors Definition 16 im Mittelalter gewesen ist, mag man an der wortwörtlichen Wiedergabe bei Rabanus Maurus 17 , Pseudo-Hugo von St. Victor 18 und der paraphrasierenden bei Petrus Berchorius 19 erkennen: Isidor / Rabanus Maurus / Pseudo-Hugo von St. Victor »Basiliscus Graece, Latine interpretatur regulus, eo quod rex serpentium sit, adeo ut eum videntes fugiant, quia olfactu suo eos necat, nam et hominem, vel si aspiciat, interimit. Siquidem ad ejus aspectum nulla avis volans illaesa transit, sed quamvis procul sit, ejus ore combusta devoratur. A mustelis tamen vincitur, quas illic homines inferunt cavernis in quibus delitescit. Itaque ea visa fugit, quem illa persequitur, et occidit. Nihil enim parens ille rerum sine remedio constituit. Est autem longitudine semipedalis, albis maculis lineatus. Reguli autem, sicut scorpiones, arentia quaeque sectantur, et postquam ad aquas venerint, hydrophobos et lymphaticos faciunt. Sibilus idem est qui et Regulus. Sibilo enim occidit, antequam mordeat, vel exurat.« (Das griechische Wort ›Basilisk‹ wird im Lateinischen mit ›regulus‹ [kleiner König] wiedergegeben, weil er der König der Schlangen ist. Denn die, die ihn sehen, fliehen, weil er sie durch seinen Anhauch tötet. Auch für den Menschen, wenn er ihn nur anblickt, ist er todbringend. Auch kein Vogel fliegt an seinem Anblick unbeschadet vorbei, sondern wird schon aus der Ferne von seinen Augen verbrannt und verzehrt. Von Wieseln aber wird er überwunden, die die Menschen deshalb in die Höhlen einbringen, in denen er lauert. Daher flüchtet er, wenn er eines gesehen hat, jenes verfolgt ihn und tötet ihn. Denn der Schöpfer der Natur ließ nichts ohne Gegenmittel. Es ist ½ Fuß lang und hat streifenförmig angeordnete weiße Flecken. Die Basilisken suchen , wie die Skorpione, gerne die Sandwüste auf, und nachdem sie eine Wasserstelle erreicht haben, machen sie [ihre Opfer] wasserscheu und wahnsinnig. Der ›Zischer‹ ist das gleiche wie der Basilisk, denn er tötet durch Zischen, noch bevor er [sein Opfer] beißt oder vielmehr zersetzt.) Petrus Berchorius »Basiliscus Latine dicitur regulus, quia rex est serpentium, & tanquam rex in capite macula candida in signum diadematis, decoratur. Ipsum omnia timent, quia flatu, & aspectu interimit. Aves etiam sibi appropinquantes, flatu vel solo sibilo destruit, & comburit. Vix habet duodecim digitos in longitudine, herbas exurit, frutices & omnia circumiacentia destruit, tangentem se etiam cum hasta, interficit & consumit. Celsus & erectus incedit, aquas quas tangit, inve- 14 Gerade die »tödliche Berührung«, die sogar Steine zerbersten läßt, verlor zwischen dem 15. bis 17. Jahrhundert, einer Zeit, in der man viele Basilisken in Brunnenschächten und Kellerlöchern aufgefunden haben will, rapide an Bedeutung. 15 Vgl. z.B. Geßner (Fn. 8), S. 29 r . 16 Vgl. Isidor: Ethymologiae. In: PL Bd. 83, Sp. 443. 17 Rabanus Maurus: De universo libri xxii, lib, vii, cap. III: De serpentibus. In: PL Bd. 111, Sp. 231. 18 Ps.-Hugo St. Victoris De bestiis et aliis rebus liber tertius, cap. xli. In: PL Bd. 177, Sp. 100. 19 Petrus Berchorius: Reductorium morale, lib. x, cap. xiii: De basilisco, S. 640. <?page no="140"?> Basilisk - regulus 139 nenat, herbas flatu suo exurit, lapides quoque rumpit. Istum tamen hostem naturae mustela ruta invadit & victoriam de eo obtinens ipsum necat, sicut dicit Isidorus [...]« (Der Basilisk heißt auf Lateinisch ›regulus‹, weil er der König der Schlangen ist und wie ein König am Kopf mit einem Fleck, der wie ein Diadem aussieht, geziert ist. Alle Lebewesen fürchten ihn, weil er durch seinen Anhauch und durch seinen Anblick tötet. Sogar die Vögel, die ihm zu nahe kommen, vernichtet er durch Anhauchen oder bloßes Zischen und verbrennt sie. Er ist kaum 12 Finger lang, zersetzt Pflanzen, zerstört Sträucher und alles, was am Boden liegt, und tötet und zerfrißt denjenigen, der ihn mit einem Speer berührt. Hochaufgerichtet bewegt er sich fort, vergiftet die Gewässer, die er berührt, zersetzt Pflanzen mit seinem Anhauch und bricht sogar Steine entzwei. Dennoch greift - nach Isidor - das Wiesel diesen Feind der Natur an und tötet ihn, wenn es den Sieg über ihn erringt.) Bestand - zumindest bis zur Aufklärung - weitgehend über alles, was die antiken Quellen vom Basilisken erzählen, ein gewisser naturwissenschaftlicher Konsens, so entbrannte über die verbleibenden Lücken in der Biographie eines Basilisken, nämlich seine Geburt, seinen Tod und sein Wirken nach seinem Tod, eine jahrhundertelange Diskussion. Für Hildegard von Bingen etwa ist auch ein toter Basilisk noch des Tötens fähig und stellt deshalb eine Bedrohung dar: liege er auf einem Acker oder einem Weinberg begraben, werde dieser unfruchtbar, liege er in einem Gebäude begraben, erkrankten die menschlichen Bewohner chronisch, während die Tiere von einer meist tödlichen »pestilentia, id est schelmo« befallen würden. 20 Für Autoren wie Konrad Geßner jedoch - und die antiken Quellen sprechen für ihn - beginnt mit dem Tod eines Basilisken seine »nutzbarkeit« für den Menschen als eine Art »selbstreinigende Haushaltsvorrichtung«: »Von nutzbarkeit der Basiliscken. Die Pergament [= Einwohner Pergamons] haben daß so von einem todten Basiliscken überbliben mit grossem gaelt erkaufft / auff daß in dem hauß Appellis / daß von handarbeit koestlich gewesen / ein spinnen wupp geweben wurde / auch die vogel nit darein flugen / und haben derhalben sein coerpel an ein guldin band daselbst auffgehenckt.« 21 Tote Basilisken seien auch in der Alchimie zu gebrauchen: Reibe man Silber mit Basiliskenasche ab, so nehme es die Farbe, die Dichte und das Gewicht von Gold an, referiert - unter Berufung auf Hermes - selbst Albertus Magnus, ohne dabei seiner ewigen Skepsis Ausdruck zu verleihen. 22 Bei Hornstein dagegen bewirkt der Anblick eines toten Basilisken nichts weiter als ein nahezu erleichtertes »Grausen« 23 , denn »wie viel erschröcklicher unnd grausamer dann sie werden anzuschawen seyn / so sie lebendig.« Ist aber einem Augenzeugen zu glauben, der dem Basilisken einerseits die Kraft einräumt, eine ganze Stadt zu verderben, und auf der nächsten Seite von der Erschlagung eines Basilisken spricht, »auff daß jederman / unnd alle Einwohner vor solchem Thier sicher« 24 ? 20 Vgl. S. Hildegard: Physica. Lib. viii. De Reptilibus, cap. xii: De Basilisco. In: PL Bd. 197, Sp. 1343. 21 Geßner (Fn. 8), S. 29 r . Zur Empfehlung, im Haushalt als Schutz gegen giftige Tiere und Ungeziefer Basiliskenasche aufzubewahren vgl. auch Conrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Hrsg. Hugo Schulz. Greifswald 1897: Von der Unke, S. 223. 22 Vgl. Albertus Magnus: De animalibus. Lib xxv, cap. xiii. In: Opera Omnia. Bd. 12. Paris 1891, S. 549, 550. 23 Hornstein, Jacob: Basiliscus / Das ist Entwerffung des sehr vergifften unnd Menschverderbenden Lasters des Nachredens [...]. München 1594, S. 51. 24 Hornstein (Fn. 23), S. 52. <?page no="141"?> 140 Marianne Sammer Der tödliche Blick Bei der Erschlagung des Basilisken handelt es sich um eine erst in der Neuzeit ins Auge gefaßte Tötungsart, die wohl zu profan war, als daß man sie einer Allegorisierung gewürdigt hätte. Bedeutungsgeschichtlich relevant und traditionsbildend jedoch ist neben der Tötung des Basilisken durch das Wiesel seine Tötung durch einen Spiegel oder einen großen Kristall, von der die Alexanderschlacht berichtet. Bei der Durchquerung eines Tales »[...] Da sach man auf dem perg stan Büsch, die warn also dik Daz weder weg noch stig Dar uber ging dan ain Klainer steig allain. Da zoch er mit ungehag Pizz an den sibenden tag. Da begegnent in ain solich smak, Da von ir manger töt lag Die zu dem ersten dar zugent, Und sprachent all: ›wir mügent Nit für, die göter sind wider uns.‹ Allexander sprach sünß: ›Stet all still gar, Ich wil allain gann dar. Raich mir den schilt mein, Der von gold und gestain fein Leuht als ain spigel. Lan schawen waz daz triegel Sey oder daz künder.‹ Der kunig parg sich under Den schilt und slaich all dar. Dez nam der basalistus war Und warf seiner augen schein Wider den schilt fein, Dar ynnnen er sich selber ersach: Daz kom im ze ungemach, Wann er dar umb starb Und zu stund all da verdarb. Da Allexander vernam daz Der basalistus töd waz, Er rüft seinen dienern dar Und sprach: ›nempt all war, Daz ist der uns ermordet hat.‹ Sie lobten all die getat.« 25 Diese berühmte, vielfach von den Dichtern besungene Episode diente seit jeher als Anleitung, wie man sich eines Basilisken ohne Wiesel entledige, und wurde vor allem bei der Tötung des Basilisken in Brunnen, Zisternen und Kellern zur Anwendung gebracht, ja re- 25 Der Große Alexander aus der Wernigeroder Handschrift. Hrsg. Gustav Guth. Berlin 1908 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 13), S. 66, Z. 4592 - 4626. <?page no="142"?> Basilisk - regulus 141 gelrecht nachgespielt; mitunter reicht dies sogar bis zur Enträtselung der mysteriösen Todesfälle durch einen zufällig anwesenden Magister, der die beratende Rolle des Meisters Aristoteles in diversen Alexanderdichtungen übernimmt. »Der Grund, weshalb der Basilisk durch seinen Blick den Menschen tötet, ist allein, weil infolge des Anblickes und der Vorstellung in seinem Körper ein Giftstoff erregt wird, durch welchen zuerst die Augen infiziert werden, dann die umgebende Luft und so ein Teil derselben nach dem andern, bis zu der den Menschen umgebenden Luft; und wenn nun der Mensch diese durch Einatmen in sich aufnimmt, wird er behext und stirbt [...] [blickt aber der Basilisk in einen Spiegel,] wird die Luft durch die Spiegelung von ihnen [= den Spiegeln] aus infiziert und so fort bis sie zum Basilisken kommt, der nun so getötet wird. Aber es ist zweifelhaft, warum der Mensch, der Töter des Tieres, nicht selbst stirbt; hier muß man eine geheime Ursache annehmen.« 26 - soweit die zur Neuzeit allgemein anerkannte Vergiftungstheorie nach dem Hexenhammer, die im Grunde nicht mehr als ein umständliches Zitat des Thomas von Cantimpré darstellt und keine wesentlichen Erkenntnisfortschritte aufweist: »Radii oculorum basilisci corrumpunt spiritum visibilem hominis, quo corrupto corrumpuntur alii spiritus, qui a cerebro et vita cordis descendunt; et sic homo moritur«. 27 (Die Strahlen der Basiliskenaugen vergiften die unmittelbare Atemluft des Menschen. Deren Vergiftung greift auf andere Luftströme, die vom Gehirn und vom Herzen ausgehen, über, und so stirbt der Mensch.) Albertus Magnus stört sich zwar an der Formulierung »radius oculis«, gäbe es doch keinen natürlichen Grund, warum tödliche Strahlen aus den Augen heraustreten sollen, doch die von ihm angebotene Alternative, der Atem, der alle Substanzen in unmittelbarer Basiliskennähe durchdringe und sie vernichte, läßt leider ihrerseits die geforderte Letztbegründung vermissen. Die Idee, den tödlichen Blick des Basilisken gegen ihn selbst zu richten, wurde sehr früh mit christlichen Deutungen verbunden, deren Tenor allgemein auf die Vernichtung des Bösen durch Erkenntnis des Bösen lautet. Vor dem Hintergrund, daß der erkennende, »gute« Blick die Kraft des Bösen überwindet und Heil stiftet, hat sich bald die Vorstellung entwickelt, daß der Blick des Menschen für den Basilisken tödlich sein müsse, falls dieser den Basilisken zuerst erblickt. 28 Auf diese Aussage nun läßt sich die soeben diskutierte naturwissenschaftliche Erklärung nicht mehr anwenden. In Ermangelung eines antiken Kronzeugen weigert sich Albertus Magnus deshalb, daran zu glauben, wie er sich überhaupt als Zweifler erweist, bemerkt er doch selbst zur Tötung des Basilisken durch das Wiesel lapidar: »si hoc est verum, hoc videtur esse mirabile« (wenn das wahr ist, muß es ein Wunder sein). 29 Ein Naturwissenschaftler wie Paracelsus dagegen fühlt sich nicht veranlaßt, die Existenz des tödlichen Blickes in Frage zu stellen, sondern Ursache und Ursprung des Basiliskenblickes zu erforschen. Da diese Eigenschaft des Basilisken angeboren ist, sucht er 26 Sprenger, Jacob; Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer. Malleus maleficarum. Hrsg. J.W.R. Schmidt. München 1982, S. 33, 34. 27 Thomas Cantimpratensis (Fn. 13), 8, 4. 28 Ambrosius etwa erinnert an Mt. 9, 20 - 22 (die Heilung einer Frau durch Berührung des Gewandsaumes Jesu) und an Lk. 9, 38 (die Heilung eines besessenen Jungen) in Zusammenhang mit der beschränkten Fähigkeit des Menschen, den Basilisken durch seinen Blick zu töten (Ambrosius: In Psalmum cxviii expositio, Nr. 24, PL 15, Sp. 1339). 29 Albertus Magnus (Fn. 22), S. 550. <?page no="143"?> 142 Marianne Sammer die Lösung bei der Zeugung des Basilisken, die wiederum nicht unter natürlichen Voraussetzungen - etwa der von Plinius oder von Is. 14,29 nahegelegten Geburt aus dem Schlangenei 30 - stattfinden könne, weil Basilisken unter die Monstra zu zählen seien. Gott habe vor ihnen »ein grewel und mißfallen [...] / dieweil sie nicht die bildnuß Gottes tragen« und stattdessen »vom Teufel geformt« worden seien. 31 Monstra fielen aus der Natur, weil sie ihr Leben nicht von der Natur (d.h. von artgleichen Eltern) erhielten, sondern »durch kunst«, also alchimistisch unter Simulierung natürlicher Umstände erzeugt werden müßten. 32 Es gelte daher, eine künstliche Umgebung herzustellen, in der die primitivste Form der Entstehung von Leben, nämlich die Genese durch feuchte Wärme, gemeinhin als »putrefactio« oder »Fäulung« bezeichnet, stattfinden kann: » [...] der Basiliscus wächßt und würt geboren auß unnd von der grossen unreinigkeit / der Weiber / nemlich auß dem menstruo unnd auß dem blut spermatis, so dasselbig inn ein glaß und cucurbith gethon / und in ventre equino putreficiert, in solcher putrefaction der Basilisc geboren würt.« 33 Frauen und Basilisken sind also nach der Auffassung des Paracelsus artverwandt. Seinen tödlichen Blick habe der Basilisk dem weiblichen »menstruo« zu verdanken, denn eine menstruierende Frau führe wie der Basilisk »ein verborgen gifft« in ihren Augen, in ihrem Atem und in ihrer Berührung. Jedermann könne sich davon mühelos überzeugen, denn ihr Blick in einen Spiegel hinterlasse während dieser Zeit Flecken, »mit ihrem athem unnd angriff« vergifte sie »vil ding«, verderbe sie und mache sie »krafftlos«. Essig, Wein, ja selbst Weinbrand würden unverzüglich ungenießbar. 34 Bei der Befreiung des Basilisken aus der »Retorte« rät Paracelsus, sich mit einem Spiegel zu schützen. Dies würde allerdings bedeuten, daß kein Basilisk lebendig zur Welt kommt. Einem unbenannten Gelehrten, von dem Konrad von Megenberg berichtet, sei die nicht näher beschriebene Erzeugung eines harmlosen Basilisken aus reinen Eidottern gelungen: »Als er ihn [= den Basilisken] bis zur Größe eines kleinen Hühnchens aufgezogen hatte, ließ er von oben in das Glas, in dem er den Basilisken hielt, Spinnen und Rautenkraut hinein, wovon das Thier starb. Dann pulverisierte er es und machte nachher mit dem Pulver, was er wollte.« 35 30 Bei Origenes und Eustathius wird eine Art »praedarwinistische« Entstehungstheorie vertreten, nach der diejenige Schlange, die alle anderen mit ihr zusammengepferchten Schlangen vernichtet hat, zum Basilisken wird. Vgl. Eustathius Antiochenus Episcopus: Spuma - Commentarius in Hexameron. In: PG Bd. 18, Sp. 747: »[...] cum plures angues in unum conclusi, fameque vexati fuerint ( est enim animal scelestissimus ), alius alium sibi viciniorem comedit, fortiorque imbecilliore vorato, omnium anguium, quos loco cibi adhibuit, venenis plenus ac refectus, fit basiliscus, venenum habens perniciosissimum, ita ut vel solo necet aspectu.« (Wenn mehrere Schlangen zusammengepfercht wurden und sie ausgehungert sind - es handelt sich [bei der Schlange] um ein äußerst bösartiges Lebewesen -, frißt die eine die andere auf. Wenn die stärkere die schwächere gefressen hat und angefüllt ist mit dem Gift aller Schlangen, die sie verschlungen hat, wird sie zum Basilisken und besitzt das allerverderblichste Gift, so daß sie schon durch den bloßen Anblick töten kann.) Vgl. auch Origines: Selecta in Jeremiam. In: PG Bd. 13, Sp. 594. 31 Paracelsus, Theophrastus: De natura rerum libri ix. Straßburg 1584, lib. I: De generatione rerum naturalium, S. 6 r . 32 Vgl. Paracelsus (Fn. 31), S. 4 v . 33 Paracelsus (Fn. 31), 5 v . 34 Vgl. Paracelsus (Fn. 31), 5 r . 35 Konrad von Megenberg (Fn. 21), S. 223. <?page no="144"?> Basilisk - regulus 143 Die Geburt aus dem Ei Neben den durch Alchimie erzeugten Monstra gibt es allerdings auch von der Natur geschaffene Monstra, bei deren Genese nicht naturähnliche Umstände aus naturwidrigen Vorgaben erzeugt, sondern natürliche Abläufe unter naturwidrigen Umständen stattfinden. In Zusammenhang mit der Glaubwürdigkeit des Wunders der Inkarnation kommt Cassian auf Geburten zu sprechen, die innerhalb der Natur und außerhalb ihrer Gesetze stattfinden, wobei er die Geburt einer Schlange, namentlich des Basilisken, aus einem Ibisei mit dem Prädikat »unbezweifelbar« versieht - »ex ovis volucrum, quas in Aegypto ibes vocant, basiliscos serpentes gigni indubitabile est« 36 (aus den Eiern der Vögel, die in Ägypten Ibisse heißen, entstehen ohne Zweifel Basiliskenschlangen). Die Theorie von der Geburt des Basilisken aus einem nur in Ägypten anzutreffenden Ibisei wurde bald durch die Theorie von seiner Geburt aus dem Ei eines sieben-, neun- oder 14jährigen Hahnes ersetzt, was natürlich zur Folge hatte, daß das Vorkommen des Basilisken sich nicht mehr auf Afrika beschränkte, sondern sich auf Bestände in Utopia 37 und im Abendland erweiterte. Eine besonders genaue und daher vielzitierte Beschreibung des Hahneneies findet sich in De occultis naturae miraculis des Levinus Lemnius 38 , der zufolge es sich um ein kugelförmiges, gelblich-bleiches, hin und wieder bläuliches, mitunter gesprenkeltes Ei handele, das keine Schale, sondern eine, wie Geßner übersetzt, »zeche haut / welche starke streich erleyden möge / eh daß sie zerschlagen werd« 39 , besitze, in den heißesten Sommertagen gelegt und 19 Tage lang bebrütet werde. Dieses Ei entstehe durch putrefactio aus dem »verdorbnen und verhaltnen samen oder anderer böser feuchtigkeit« des bereits senilen Hahnes und seiner Körperhitze. Ob der Hahn sein Ei selbst bebrüte, oder ob es von einer Kröte bebrütet werde - diese Variante wird vom Volksmund favorisiert -, wagen selbst namhafte Vertreter der Hahneneitheorie, wie etwa Levinus Lemnius oder mit ihm Geßner, nicht zu entscheiden 40 , obwohl ersterer selber in Zirizaea (= Zierikzee) zwei Hähne gesehen haben will, die stranguliert werden mußten, um sie am Bebrüten ihrer Eier zu hindern, welche man vorsichtshalber mitvernichtete. Die an die antike und die biblische Tradition anknüpfenden Befürworter der Genese des Basilisken aus dem Schlangenei mit ihrem Motto »certum enim est, & experientia fidem fecit, quod Basiliscum Basiliscus naturaliter generet« 41 (es ist sicher und durch die Erfahrung erwiesen, daß ein Basilisk den anderen auf natürliche Weise zeugt) räumen gerne ein, daß sich im Bauch von Hähnen durch putrefactio »ein gewechs [...] mit einer weissen haut oder schalen uberzogen / inwendig mit geäder durchwachsen / wie ein uberbein« 42 bilden könne, aber aus dieser Wucherung entstehe kein Leben, und weil nur Hühner und niemals Hähne Eier 36 Cassian, Ioannes: De incarnatione Christi contra Nestorium haereticum. Lib. vii, cap. v. In: PL Bd. 50, Sp. 210. 37 Vgl. Ryff, Walter (Hg.) Thierbuch. Alberti Magni / Von Art Natur und Eygenschafft der Thier ..., o.O., o.J., 4. Buch: Von den Schlangen und Gewürmen. Von der Art / Natur und eygenschaft der gifftigen Thier unnd Ungeziefers / wellicher namen anfahendt an dem Buchstabenn B, nicht paginiert. 38 Vgl. Lemnius, Levinus: Levini Lemnii Medici Zirzaei De occultis Naturae Miraculis, ac veriis rerum documentis [...] libri iv [...] Köln 1572, lib. iv, cap. xii, S. 437. 39 Geßner (Fn. 8), S. 28 r . 40 Vgl. Geßner (Fn. 8), S. 28 r ; Lemnius (Fn. 38), S. 437. 41 Arendes, Christianus Ludovicus: De Dracone et Basilisco. Disquisitio Historico physica [...]. Halberstadt 1670, B2 v . <?page no="145"?> 144 Marianne Sammer legen, handele es sich dabei auch um kein Ei. Hermes habe die Mär von der Geburt des Basilisken aus einem Hahnenei aufgebracht, damit aber kein Tier, sondern ein alchimistisches Elixier bezeichnen wollen, mit dem man Metalle verwandeln könne. 43 Mit diesem Einwand versuchte schon Albertus Magnus vergeblich, die Hahneneitheorie als »verissime falsum et impossibile« (mit absoluter Sicherheit falsch und unmöglich) aus der Welt zu schaffen. Hildegard von Bingen beleuchtete die Geburt des Basilisken aus der Sicht der Kröte und festigte damit natürlich die Theorie von der widernatürlichen Geburt des Basilisken, egal ob aus einem Hühner-, Hahnen- oder Schlangenei: Wenn die Kröte fühle, daß sie befruchtet sei und dann das Ei einer Schlange oder einer Henne sehe, beginne sie, es heftig zu lieben, zu hegen und zusammen mit ihren eigenen Eiern zu bebrüten. Ihre eigene Brut sterbe nach kurzer Zeit, woraufhin die Kröte beim Anblick ihrer toten Jungen das Basiliskenei erst recht hüte, bis sie Leben in ihm fühle. Erschrocken über ihren unrechten Umgang fliehe sie, noch bevor ihre Brut ihren ersten giftigen Atem verströmt - »sed postquam rubeta illud in ovo vivere senserit, statim de injusta consuetudine obstupescit et fugit« (Aber wenn die Kröte gemerkt hat, daß etwas im Ei lebt, erschrickt sie sogleich über ihren unrechten Umgang und flieht). 44 Da man in kritischen Kreisen die Geburt des Basilisken aus dem Ei von Federvieh verworfen hat, konnte sich hier natürlich auch die Stiefmutterschaft der Kröte nicht durchsetzen. Nichtsdestoweniger behielt die Vorstellung vom »Basilisco, monstroso illo Gallo-Bufone« 45 (Basilisk, jenes monströse Mischwesen aus Hahn und Kröte) ihren Reiz und führte zu einer alternativen Ikonologie des Basilisken, in die traditionelle antike Elemente, so sie nicht den Phänotyp des Basilisken betreffen, problemlos eingefügt werden konnten: »[...] ein Thier / aller ding gestalt wie ein Hahn / aber ohne Federn / mit einem Schlangen Schwantz / das allzeit das allerschedlichste gift von sich blest und damit alle Menschen / alle Thier und Gewechse / die es ansihet und anbleset / tödtet. Kan auch nicht getilget werden / ohn das man an den orth da es wohnet / viel Spiegel hinsetzet / biß das es in einem sein Bild sehe. Dann wann es das wil tod blasen / so berste es von zorn unnd sterbe.« 46 II. Bedeutungsgeschichtliches Umfeld Setzt sich der »Steckbrief« des Basilisken aus den genannten Quellen zusammen, so entwickeln sich die Bedeutungsfelder, in denen der Basilisk in den literarischen und künstlerischen Quellen begegnet, aus der christlichen Bibelexegese. Hierbei stehen die Traditionen und Auslegungen, die auf die entsprechenden Bibelstellen selbst zurückgehen, neben denjenigen, die sich der naturkundlichen Kategorien zur Bestimmung des Basilisken bedienen und diese auf einen theologischen Unterweisungsgegenstand innerhalb des 42 Rollenhagen, Gabriel: Vier Bücher wunderbarlicher, bis daher unerhörter und unglaublicher indianischer Reisen durch die Luft, Wasser, Land, Hölle, Paradies und den Himmel. Stuttgart 1995 (Rarissima Litterarum, Bd. 2), S. 210. 43 Vgl. z. B. Kirchmaier, Georg,: De Basilisco, Unicornu, Phoenice ..., Wittenberg 1736, B4 v ; Albertus Magnus (Fn. 22), S. 550. 44 Hildegard (Fn. 20), Sp. 1343. 45 De Basilisco, Unicornu, Phoenice (Fn. 43), praefamen. 46 Rollenhagen (Fn. 42), S. 210. <?page no="146"?> Basilisk - regulus 145 Abb. 2: Emblematische Darstellung der Bosheit aus der exegetischen Tradition von Is. 59, 5. Unrecht und Bosheit fallen auf den Sünder selbst zurück. <?page no="147"?> 146 Marianne Sammer durch den biblischen Kontext abgesteckten Bedeutungsfeldes beziehen. Beide Arten der Traditionsbildung sind im Fall des Basilisken aufgrund der fortwährenden Rezeption der Kirchenlehrer gleichermaßen stabil. Gemäß dem Grundsatz, daß jede Erscheinung ad bonam et ad malam partem ausgelegt werden kann, vermochten die Kirchenlehrer unter Berücksichtigung der entsprechenden Schriftstellen und antiker naturkundlicher Beobachtungen, todbringenden Tieren wie der artverwandten Schlange oder dem Löwen durchaus positive Bedeutungen abzugewinnen. Beim Basilisken jedoch, der in der Bibel nur in Zusammenhang mit Sünde, Sündern, Tod und Parusie auftaucht, sollte dies nur ausnahmsweise gelingen: »Manus enim vestrae pollutae sunt sanguine, / Et digiti vestri iniquitate; / Labia vestra locuta sunt mendacium, / Et lingua vestra iniquitatem fatur. / Non est qui invocet iustitiam, / Neque est qui iudicet vere; / Sed confidunt in nihilo, et loquuntur vanitates; / Conceperunt laborem, et pepererunt iniquitatem. / Ova aspidum ruperunt, / Et telas araneae texuerunt. / Qui comederit de ovis eorum, morietur; / Et quod confotum est erumpet in regulum« (Is. 59, 3 - 5) (Denn eure Hände sind mit Blut besudelt und eure Finger mit Ungerechtigkeit. Eure Lippen haben Lügen geredet, und eure Zunge schwätzt, was Unrecht ist. Es ist keiner, der für Gerechtigkeit schreit, auch keiner, der recht richtet; sondern sie vertrauen auf das, was nichtig ist und reden eitle Dinge. Sie haben unter Mühen empfangen und haben Ungerechtigkeit geboren. Sie haben Natterneier ausgebrütet und Spinnennetze gewebt. Wer von ihren Eiern ißt, der wird sterben, und aus dem, was ausgebrütet wurde, wird ein Basilisk hervorbrechen.) Blut klebt dem Sünder an den Händen, Unrechtschaffenheit, Lüge, Bosheit und Verleumdung - die Zusammenziehung von dem Bild des Schlangeneies, dem ein Basilisk entschlüpft, ist in der Wendung »Basiliskeneier ausbrüten« 47 für den von Isaias geschilderten Sachverhalt sprichwörtlich geworden. Die Sündverfallenheit seines Volkes werde Gott veranlassen, so Isaias weiter, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und Vergeltung zu üben. Isaias 30, 6 gebraucht das Bild des Basilisken zur Charakterisierung Ägyptens, dem »die Söhne des Herrn« ihre Reichtümer zu verschaffen im Begriff sind, indem sie ein schandvolles Bündnis mit diesem Land der Sünde eingehen wollen: »In terra tribulationis et angustiae / Leaena, et leo ex eis, / Vipera et regulus volans; / Portantes super humeros iumentorum divitias suas. / Et super gibbum camelorum thesauros suos, / Ad populum qui eis prodesse non poterit.« ([...] Im Land der Drangsal und Not, sind Löwin und Löwe aus ihnen, und Nattern und der fliegende Basilisk. Sie tragen ihren Reichtum auf den Achseln von Tieren und ihre Schätze auf dem Höcker von Kamelen zu einem Volk, das ihnen nichts nützen können wird.) Nach dem Tode des Königs Achaz, dem Prototyp eines Sünders, ergeht in Isaias 14, 29 an das »Land der Philister« die Aufforderung zur Klage über eine Verderben verheißende Zu- 47 Die Wendung stammt von Luther, der in seiner Bibelübersetzung bei Is. 59, 5 schreibt: »SJe brüten Basilisken eyer / und wircken Spinneweb. Isset man von iren / / Eyern / so mus man sterben / zutrit mans aber / so feret ein Otter eraus.« - Bei Georg Henisch wird dieses Sprichwort für Menschen verwendet: »quorum conatus omnes perniciosi sunt, ita ut nec tuto recipi, nec impune repudiari possint. Qui enim ovum basilisci comedit, e vestigio moritur: quibus pedibus conterit, a catulo basilisci inde erumpente ictum lethalem accipit.« ([...] deren Bestrebungen alle verderblich sind, so daß man sie weder unbeschadet aufnehmen noch zurückweisen kann. Wer nämlich ein Basiliskenei gegessen hat, stirbt auf der Stelle; wer es zertritt, empfängt von dem ausschlüpfenden Basiliskenjungen den Todesstoß), zit. nach: Henisch, Georg: Teutsche Sprach und Weißheit. Thesaurus Linguae et sapientiae Germanicae [...] Augsburg 1616, Bd. I, s.v. ayer, S. 161. <?page no="148"?> Basilisk - regulus 147 kunft (unter Hiskias): »Ne laeteris, Philisthaea omnis tu, / Quoniam comminuta est virga percussoris tui; / De radice enim colubri egredietur regulus, / Et semen eius absorbens volucrem« (Freue dich nicht, ganz Philisterland, daß der Stock, der dich schlug, zerbrochen ist! Denn aus der Wurzel der Schlange wird ein Basilisk hervorkriechen und sein Same wird den Vogel verschlingen.). Als Strafe auf Häresien des Gottesvolkes verkündet Ieremias (8, 17) dessen Tod und knüpft damit einen Bezug zum Weltgericht: »Quia ecce ego mittam vobis serpentes regulos, / Quibus non est incantatio; / Et mordebunt vos, ait Dominus« (Denn siehe, ich will Schlangen und Basilisken unter euch senden, die nicht zu beschwören sind; die sollen euch beißen, spricht der Herr). Demjenigen, der seine Zuflucht zu Gott nimmt, wird Schutz vor der Sünde und dem Teufel gewährt, das Gift des Basilisken ist ihm unschädlich, so verheißt es Psalm 90, 13 (Vulg.): »... super aspidem et basiliscum ambulabis, et conculcabis leonem et draconem« (Über die Schlange und den Basilisken wirst Du gehen, und den Löwen und den Drachen wirst Du zertreten .). Die Reihe an Bedeutungszuweisungen, die unmittelbar auf die genannten Bibelstellen rückführbar sind, ist vielfältig und führt quer durch die Jahrhunderte. Caesare Ripa etwa rekurriert auf Is. 59, 3 - 9, wenn er die Allegorie der »Verleumbdung« (= calunnia, üble Nachrede) 48 mit einem »Weib / von zornigen Gebährden« darstellt, die in ihrer linken Hand eine brennende Wachskerze trägt, mit ihrer rechten Hand einen nackten Jungen an den Haaren zieht und von einem Basilisken begleitet wird: Zornig werde die Frau gezeigt, weil nach der Affektenlehre die Verleumdung von zornigen Regungen herzurühren pflegt, einen Knaben zerrt sie an den Haaren, weil die Verleumdung eine »Zerreissung deß guten Leymuhts / der ehrlichen und unschuldigen Leute« sei, das brennende Licht bedeute die von der Verleumdung entfachte Zwietracht. Mit dem Basilisken werde die Vorgehensweise der Verleumdung bezeichnet, die dem Menschen schadet, ja ihn ruiniert, ohne daß er sich zur Wehr setzen oder seinem Gegner ins Auge sehen könne, weil der Basilisk durch seinen Blick tötet, ohne sein Opfer anzugreifen oder sich ihm zu stellen. Darauf beruht auch der entscheidende Gedanke der subscriptio: »Calumniator injuriam facit accusato, non praesentem accusans« (der Verleumder schadet dem Beschuldigten, indem er ihn in Abwesenheit beschuldigt). »Harm without contact« 49 ist auch das tertium comparationis einer anderen auf Ripa zurückgehenden Allegorie der Verleumdung, in der die schwer bewaffnete calumnia den Basilisken als Helmzier trägt. Bei dieser Art der Allegorese wird also das naturkundliche Wissen über den Basilisken zu dem aus Isaias gewonnenen Bedeutungsfeld - üble Nachrede, Verleumdung - gestellt und als Vergleich formuliert. Diese Vorgehensweise ist natürlich nicht nur auf die Emblematik beschränkt. In Hornsteins dritter Predigt »Von dem Schandlaster deß Affterredens« beispielsweise wird das Laster der Verleumdung ebenfalls »sampt seinem gantzen Anhang / dem aller abschewlichsten und vergifftigisten Thier / nemblich dem Basilisco verglichen« 50 , und wieder wird die giftige Aura des Basilisken in Zusammenhang mit dem tückischen Vorgehen der Verleumdung gesehen: 48 Vgl. Strauß, Laurentius D. (Hrsg.): Herrn Caesaris Ripa von Perusien / [...] erneuerte Iconologia oder Bilder-Sprach [...]. Frankfurt 1669, s.v. Lästerung. Verleumdung. Vgl. auch Ripa, Caesare: Iconologia. Padua 1611 (Nachdr. London 1976), s.v. calunnia, 55. 49 Maser, Edward A.: The 1758 - 60 Hertel Edition of Ripa’s Iconologia with 200 Engraved Illustrations. New York 1971, S. 94. 50 Hornstein (Fn. 23), S. 50. <?page no="149"?> 148 Marianne Sammer »Andere gifftige Thier / tödten den Menschen mit anrühren oder beissen / aber diß tödt durch blosse Gegenwertigkeit. Eben also auch ist ein jeder Verleumbder und Nachreder beschaffen / welcher mit seiner Gifftzungen / wie wir bißhero gehört / nit allein die Zuhörer / und die Abwesenden gantze Freundschafften / Statt und Land (nit in Gegenwertigkeit / sondern hinderrucks unnd in Abwesen dessen allens) sonder auch sich selbst mit seinem verleumbden und Gottlosen Nachreden / vergifft und verderbet [...]« 51 Mitunter können sich sogar die Vergleichspunkte - hier »harm without contact« - auf Bibelauslegungen beziehen. So spricht Bernhard von Clairveaux bei der Exegese von Ps. 90, 13 von Werken der Bosheit (= operationes malitiae), die auf unsichtbare Weise in vielfacher Hinsicht schaden (= invisibili modo varie noceant), gleichsam wie die Viper, der Basilisk, der Löwe und der Drache durch ihren Biß, ihren Blick, ihr Gebrüll und ihren Anhauch. 52 Wird hier auch der Basilisk nicht ausdrücklich mit übler Nachrede als einem besonderen Werk der Bosheit gleichgesetzt, so erfolgt der Vergleich dennoch auf dem naturkundlichen Wissen über den Basilisken, und er formuliert einen Gedanken, der sich mit dem aus Is. 59, 3 - 9 gewonnenen Kontext der üblen Nachrede problemlos zu einer wahren Aussage innerhalb eines dritten Mediums (Emblem, Predigt ...) verbinden läßt. Aufgrund seines bösen Blickes wurde der Basilisk daneben auch dem Neid als Lastertier zugeordnet. Als biblische Grundlagen dienten vielgelesene Exegesen, wie sie etwa Cassian vorlegt, wenn er an Ier. 8, 17 die Bemerkung knüpft, daß der Prophet völlig zu Recht den todbringenden Biß des Basilisken mit dem Neid vergleiche - eine Unterstellung -, weil das Gift des Neides das allerverderblichste sei, insofern es den Menschen veranlasse, die Tugenden, gute Gedanken und gute Werke zu verabscheuen. 53 Bernhard von Clairvaux dagegen verbindet bei seiner Auslegung von Ps. 90, 13 den tödlichen Basiliskenblick mit dem Neid, sich dabei eines Wortspieles bedienend: »Quid vero invidere, nisi malum videre est? « 54 (Was aber bedeutet neidisch zu sein anderes als das Böse zu sehen? ). Der Neider könne nichts Gutes ansehen, ohne es, lieblos wie er ist, zerstören zu müssen, er hasse das Gute im Menschen, weshalb man ihn ohne weiteres einen Mörder nennen könne. In der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs, einer in den 1330er Jahren entstandenen Übersetzung von Le Pelerinage de Vie humaine des Guillaume de Deguileville, wird dieser Bedeutungskomplex dem Neid in den Mund gelegt, dargestellt als altes kriechendes Weib, aus dessen Augen zwei Lanzen, der Zorn und die Schadenfreude, hervorragen. Bei der Bosheit angesiedelt, haßt der Neid die Tugenden und das Gute, er ist ohne Liebe, und wo er seinen Basiliskenblick hinlenkt, tötet er: »Ich bin die hubsche slengynne, / Die aller boßheit ist nachberynne, / die hasset alle lude die wol dunt, / Und yn nach myme vermogen kein gut dun. / Es ist nicht das ich lieb moge han, / In hiemel, in erde noch in meres bann. / Ich dun Gôtlicher Liebe großes leyt [...] Myn augen sint augen von basiliscus, / Die dôdent wen sie aneblickent sus, / Odir die nahe bij mir wanent, / Die sint dot so balde ich sij beschawen / Odir so balde ich sij angesehen.« 55 51 Hornstein (Fn. 23), S. 51. 52 Vgl. Bernhard Claraevallensis: In Psalmum 90 Qui habitat, sermo xiii, Nr. 2. In: PL Bd. 183, Sp. 236. 53 Vgl. Cassianus: Collatio 18: De tribus generibus monachorum. Cap. xvii: De invidiae malo. In: PL Bd. 49, Sp. 1122. 54 Bernhard Claraevallensis (Fn. 52), sermo xiii, Nr. 4, Sp. 237. 55 Die Pilgerfahrt des träumenden Mönchs. Aus der Berleburger Handschrift. Hrsg. Aloys Bömer. Berlin 1915 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 25), Z. 8294 - 8300, 8329 - 8333. <?page no="150"?> Basilisk - regulus 149 Der Basilisk als Tod und Teufel Insbesondere die uneinheitlichen Auslegungen zu Ps. 90, 13 haben traditionsbildend gewirkt und ein weites Bedeutungsfeld des Basilisken erschlossen, das die Begriffe peccatum, mors, diabolus und Antichrist umspannt. Auch hier dient die todbringende Gegenwart des Basilisken als Ausgangspunkt der vielgestaltigen christlichen Interpretation. Rabanus Maurus etwa reiht ohne weitere Erklärungen »aspis - peccatum«, »basiliscus - mors«, »leo - diabolus«, »draco - Antichrist« 56 , will aber wenige Zeilen zuvor für Ier. 8, 17 unter basiliscus »diabolus vel daemones« (= Basilisk als Teufel oder Dämonen) verstanden wissen, die mit ihrem Atem die Seelen der Menschen verwunden. 57 Damit nicht genug, belegt er im gleichen Text an anderer Stelle »basiliscus« generell mit »diabolus« und speziell bezogen auf Ps. 90, 13 mit den verschiedenen Zerstörungsstrategien des Teufels; eine Bedeutungszuweisung, die er Cassiodors Psalmenkommentar 58 entnommen hat und die auch von S. Bruno 59 zitiert wird: »aspis« steht für sein Wirken im Verborgenen, »basiliscus« für sein Wirken in der Öffentlichkeit, »leo« bezeichnet seinen Angriff auf Unschuldige, »draco« die Gier, mit der er die Unvorsichtigen verschlingt. Besiegt und zertreten wird das Teufelswerk von Christi Tugenden. 60 Diese Auslegung bildet wiederum eine freie Variation aus Augustins Psalmenkommentar 61 : hier wird der Löwe mit der öffentlichen Wirksamkeit des Teufels verglichen und als Beispiel die Tötung von Märtyrern angeführt; der Drache wird mit dem verborgenen Vorgehen des Teufels gleichgesetzt, das er beispielsweise bei Irrlehrern zur Anwendung bringe; »aspis« und »basiliscus« schließlich werden beide für »diabolus« im Sinne von »rex daemoniorum« gesetzt. Bei Augustinus zertritt Ecclesia, die Unbesiegbare, die Tiere des Teufels. Im Genesiskommentar Isidors 62 lauten die Zuweisungen wiederum abweichend »aspis - mors«, »basiliscus - peccatum«, »leo - Antichrist«, »draco - diabolus«. Hierin eine Widersprüchlichkeit sehen zu wollen, würde allerdings bedeuten, das Prinzip der christlichen Allegorese, die potentiell unendlich viele Bedeutungen für ein und dasselbe signum bereitstellt, mißzuverstehen, da es sich bei der Allegorese um einen auf Gott bezogenen Erkenntnisvorgang handelt und sich im Bild, von dem sie ausgeht, die Unerfaßbarkeit Gottes gemäß den geflügelten Versen »omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum« 63 wiederspiegelt. Bilden sich bestimmte Konventionen, dann nicht im Sinne einer einsträngigen Bedeutungszuweisung für das signum, sondern eines Bedeutungsfeldes, das sich aus den jeweiligen Kontexten zusammensetzt. Ein weiteres Beispiel bildet eine Palm- 56 Vgl. Rabanus Maurus: De universo libri xxii, lib. vii, cap. iii: De serpentibus. In: PL Bd. 111, Sp. 234. Dt: Natter (aspis) - Sünde (peccatum), Basilisk - Tod (mors), Löwe (leo) - Teufel (diabolus), Drache (draco) - Antichrist. 57 Vgl. Rabanus Maurus (Fn. 56), Sp. 233. 58 Vgl. Cassiodorus: In Psalterium Expositio. Expositio in Psal. XC, V. 13. In: PL Bd. 70, Sp. 654. 59 Vgl. S. Bruno Herbipolensis: Expositio Psalmorum. Psal. XC, V. 13. In: PL Bd. 142, Sp. 340. 60 Vgl. Bruno Herbipolensis (Fn. 59), Sp. 231 f. 61 Vgl. Augustinus, Aurelius: Enarratio in Psalmos, Ps. 90.13, sermo 2, cap. 9. In: PL Bd. 37, Sp. 1168. 62 Vgl. Isidorus: Mysticorum Expositiones Sacramentorum, seu Quaestiones in Vetus Testamentum. In Genesin, cap. v, Nr. 8. In: PL Bd. 83, Sp. 221. 63 Alanus ab Insulis: De incarnatione Christi Rhythmus perelegans. In: PL Bd. 210, Sp. 579. Dt. vgl. Angelus Silesius: »Die Schöpfung ist ein Buch. Wer’s weislich lesen kann, / Dem wird darin gar fein der Schöpfer kundgetan.« Zit. nach: Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. 1674. Nachdr. Stuttgart 1990, S.43. <?page no="151"?> 150 Marianne Sammer sonntagspredigt des Honorius Augustodunensis 64 , in der, wie oben bei Rabanus, »aspis« mit »peccatum« und »basiliscus« mit »mors« gleichgesetzt wird, abweichend davon jedoch »leo« mit »Antichrist« und »draco« mit »diabolus«. Am Bedeutungsfeld ändert sich also nichts, die Durchführung der Allegorese »basiliscus - mors« aber erfolgt abweichend unter naturkundlichen Gesichtspunkten: aus dem Bild der Vögel, die, vom Basilisken vergiftet, tot vom Himmel herabfallen, und unter dem Hinweis, daß der Basilisk zu den vierfüßigen Tieren zu zählen sei, werden die vier Schritte, mit denen der Tod den Menschen ( = aves) ereilt, entwickelt, nämlich die Erbsünde, die Verletzung des Naturgesetzes, die Übertretung der Gesetze der Schrift und die Verachtung des Evangeliums. Der Basilisk als Leviathan und Antichrist Sprechen Ier. 8, Is. 59 und Is. 11 unverhohlen vom Endgericht und von den Strafen, die Gott für die unverbesserlichen Sünder bereithält, und wird in Is. 30 und Is. 14 die Warnung vor einer Zukunft ausgesprochen, die über die Sünde ins Verderben führt, so erscheint die Belegung des Basilisken, über Ps. 90 weit hinausgehend, mit den Bedeutungsfeldern Antichrist - Leviathan als den prophezeihten Figuren des Weltendes naheliegend. Der bedeutungsgeschichtliche Umweg, der hier eingeschlagen wurde, führt über Hieronymus, der in seinem Isaiaskommentar mit »regulus, serpens volans, ut draconem volantem intellegas« (Der Basilisk, eine fliegende Schlange, so daß man darunter einen fliegenden Drachen verstehen kann) 65 die Weichen für die oftmals verwirrende Gleichsetzung von Basilisk und Drache stellte, wie sie Is. 14, 29 und Is. 30, 6 mit ihren Formulierungen »de radice enim colubri egredietur regulus, / Et semen eius absorbens volucrem« (Denn aus der Wurzel der Schlange wird ein Basilisk hervorbrechen, und sein Same wird den Vogel verschlingen.) und »vipera et regulus volans« (die Natter und und der fliegende Basilisk) auch anbieten. 66 Die Septuaginta übersetzt »regulus volans« mit »genimina aspidum volantium« (Lebewesen der Art von fliegenden Nattern), und diese fliegende Schlange werde in der Apokalypse, so Hieronymus, »draco« genannt. 67 Der apokalyptische Drache und der Drache aus Ps. 90, 13 hinwiederum seien nichts anderes als der Leviathan. 68 Noch Albertus Magnus rezipiert das zoologische Ergebnis dieser Montage, den fliegenden Basilisken, als eine eigene Basiliskenart, nicht ohne seinen Zweifeln an ihrer Existenz Ausdruck zu verleihen. 69 Auch Thomas von Cantimpré und Konrad von Megenberg 70 kennen dieses Tier 71 , und selbst die Therobiblia verknüpft den Basilisken noch, wie Hierony- 64 Vgl. Honorius Augustodunensis: Opera Omnia. Pars III. Liturgica, Dominica in Palmis. In: PL Bd. 172, Sp. 915. 65 Hieronymus: Commentariorum in Esaiam. Lib. iv, 14, 29 - 30. In: CS Bd. 73, S. 173. 66 Dieser Gleichsetzung in Verbindung mit seiner sagenhaften Geburt aus dem Hahnenei hat man es zu verdanken, daß der Basilisk mitunter auch zu den Vögeln gezählt wird. Auch das hat seinen literarischen Niederschlag gefunden: in den Ornithologiae moralis von Fortunatus Hueber beispielsweise findet sich eine Basiliskenpredigt (Ausg. München1678). 67 Hieronymus (Fn. 65), lib. ix, 30, 7, S. 385 f: »[...] pro regulo volante, quam LXX genimina aspidum volantium transtulerunt [...] regulumque volantem, et viperas, et genimina aspidum, illum de quo supra legimus, colubrum tortuosum; et de quo Salvator in evangelio loquebatur: Videbam satanam, quasi fulgur de caelo cadentem. Qui draco apellatus in Apocalypsi [ ...]«. 68 Vgl. z.B. Hieronymus (Fn. 65), 27.1, S. 344, 345. 69 Albertus Magnus (Fn. 22), S. 550. 70 Konrad von Megenberg (Fn. 21), S. 223. <?page no="152"?> Basilisk - regulus 151 mus, anhand des Belegs aus Is. 14, 29 mit dem Drachen. 72 Ein Meisterlied von Hans Folz zeugt von dieser Tradition: »Von dir wolt er mensch werdenn, / Der milt unnd guttig pellican, / Auff das er uns mit seinem plut erquicket / Auß dem stinckenden rachenn / Des mort gifftigen trachenn / Und helle hund, / Der basilisc und uncke / Dieff yn des kerkers tuncke / Und abegrund, / Der uberkempft auff erdenn [...]« 73 Gregor Magnus setzt ausgehend von der Beobachtung, daß der Basilisk die Luft verpeste und durch seinen Anhauch töte, unter Hinzuziehung von Is. 14, 29 den Basilisken mit dem Leviathan gleich (= Quia vero Leviathan est alias non solum serpens, sed etiam regulus dicitur) und versteht unter dem Dampf, der dem Maul dieses Ungeheuers entweicht, die todbringenden Dämpfe, die täglich durch schlechte Gedanken in den Herzen der Menschen entstehen, ihren Geist schwächen und sogar den Geist rechtschaffener Menschen benebeln. 74 Von dem Atem des Leviathan, der die Leidenschaften entzündet und die Ruhe des Geistes zerstört, und seinem Feuerrachen, der die Liebe zu irdischen Gütern entfacht 75 , ist es nicht mehr weit zum Antichristen, entwickelt aus der Exegese von Is. 59, 5: Der Basilisk, der aus dem zerdrückten Schlangenei hervorkriecht, ist der Antichrist (= Regulus namque serpentum rex dicitur. Quis vero reproborum caput est, nisi antichristus? [= Der Basilisk wird König der Schlangen genannt. Wer aber ist das Haupt der Bösen, wenn nicht der Antichrist? ]), der die Menschen verführt, seiner falschen Rede zu lauschen und seine Versuchungen in ihren Herzen zu nähren. 76 Auch Hieronymus interpretiert Is. 59, 5 mit der bevorstehenden Ankunft des Antichristen, der als Basilisk in Gestalt einer fliegenden oder gefiederten Schlange (= serpens pennata) dem Schlangenei entschlüpfe und zu Häresien verleite. 77 Bei Garnerius finden sich diese Auslegungen zu Is. 59, 5 kompiliert: »Et quod confotum est, erumpet in regulum, quia consilium maligni spiritus quod corde tegitur ad plenam iniquitatem nutritur, regulus namque serpentum rex dicitur. Quis vero reproborum caput est, nisi Antichristus? [...] is qui in se nutrienda aspidis consilia receperit, membrum iniqui capitis factus, in corpus Antichristi accrescit.« 78 (Und was unrein ist, wird als Basilisk hervorbrechen, weil das Trachten eines bösartigen Geistes, das im Herzen verborgen ist, bis zum Gipfel der Ruchlosigkeit genährt wird, und weil der Basilisk König der Schlangen genannt wird. Wer aber ist das Haupt der Bösen, wenn nicht der Antichrist? Jener, der in sich das Trachten einer Natter aufgenommen hat und es nährt, wird zum Glied eines bösen Hauptes und verwächst mit dem Körper des Antichristen.) In seiner Bedeutung als Häretiker und Verführer lebt der Basilisk natürlich auch in der Literatur. So trägt er in den Dialoges of Creatures Moralysed in der Verkleidung eines 71 Thomas Cantimpratensis (Fn. 13). 72 Vgl. Frey, Heinrich: Therobiblia. Biblisch Thierbuch. Leipzig 1595 (Nachr. Graz 1978), Teil 5, cap. iv: Von dem Basilißken, S. 347. 73 Folz, Hans: Die Meisterlieder des Hans Folz aus der Münchener Originalhandschrift und der Weimarer Handschrift Q 566. Hrsg. August L. Mayer. Berlin 1909 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 12), xxxiv, Z. 199 - 208. 74 Vgl. Gregor Magnus: Moralia in Job. lib. xxxiii, 37. In: CS, S. 1272 ff. 75 Vgl. Gregor Magnus (Fn. 74), lib. xxxiii, 34 und 39, S. 1730 ff. 76 Vgl. Gregor Magnus (Fn. 74), lib. xv, S. 15, 760. 77 Hieronymus (Fn. 65), lib. xvi, 59, 5, CS 73A, S. 680. 78 Garnerius: Gregorianum. Lib. iii, cap. xxix: De Regulo. In: PL Bd. 193, Sp. 127. <?page no="153"?> 152 Marianne Sammer Basilisk an der 1638 geweihten Mariensäule in München. <?page no="154"?> Basilisk - regulus 153 Mönches einem Meerestier die Bitte vor, ihn im Christenglauben zu unterweisen, damit er seine Verurteilung beim Jüngsten Gericht zu verhindern lerne. Der Fisch jedoch erkennt, daß er nur in einen gefährlichen Disput über den Glauben gelockt und darin verunsichert werden soll, woraufhin er dem Basilisken den Rücken kehrt, auf Jesu Worte gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer (Mt. 23) anspielend: »A false ypocryte full of pompe an pryde / Is euyr subtyll all vertewe layde asyde.« 79 Der Basilisk als Sünde Zu den Bedeutungsfeldern Tod, Teufel, Leviathan, Antichrist fügt sich der Bereich der Sünde, die bei der Allegorese gerne mit der giftigen Aura des Basilisken verknüpft wird. Wie gut sich die Bedeutungsfelder verbinden lassen, demonstriert beispielsweise Petrus Berchorius: »Iste serpens significat diabolum, vel eius vicarium Antichristum, qui erit rex serpentum, id est, princeps & caput omnium peccatorum [...] ipse est rex super omnes filios superbiae.« 80 (Diese Schlange bezeichnet den Teufel oder dessen Stellvertreter, den Antichristen, der König der Schlangen sein wird, d.h. Fürst und Haupt aller Sünder [...] er selbst ist König über alle Söhne des Hochmuts.) Gregor der Große beschreibt, wie der Hauch der geflügelten Schlange die einen mit Hochmut, die anderen mit Neid, die dritten mit Unkeuschheit oder mit Habsucht entzündet, wobei die Allegorese nicht nur die Laster selbst, sondern auch das cor reproborum, den Sünder, einbezieht. Abgesehen von der tristitia, wird kaum ein Laster ausgelassen: »... halitus prunas accendit, quotiens eius occulta suggestio humanas mentes ad delectationes illicitas pertrahit. Alias namque superbiae, alias invidiae, alias luxuriae, alias avaritiae facibus inflammat. [...] tunc eius halitus ardere vehementius prunas fecit, quia reproborum mentes, quas iam calentes amore gloriae temporalis invenerit, suggestionis suae flatibus usque ad nequitiam exercendae crudelitatis incendit. [...] Igne autem terrenae concupiscentiae eorum mens tangitur, qui nequaquam fieri pretiosa metalla concupiscunt.« 81 (Der Hauch entzündet die Kohle, sooft dessen geheime Einflüsterung den menschlichen Geist zu unerlaubten Vergnügungen verleitet. Manche entflammt er mit den Fackeln des Hochmuts, andere mit denen des Neides, der Unkeuschheit oder der Habgier. Sein Hauch läßt die Kohle stärker glühen, weil er die Bösen, die er schon von Liebe zu zeitlichen Ruhm entflammt vorfand, durch seine Einflüsterung [noch weiter] anfacht und sie so weit entzündet, daß sie zügellos werden und Grausamkeiten begehen. Vom Feuer irdischer Begierde aber werden jene erfaßt, die vergeblich wertvolle Metalle herstellen wollen.) Allerdings ruht innerhalb des Bedeutungsfeldes »peccatum« im Fall des Basilisken das Augenmerk vor allem auf der invidia, der gula, der luxuria und der superbia. Für die gula, und hier insbesondere die Säuferei, liefert Prov. 23, 29 - 33 die biblische Grundlage, wo vor den Weintrinkern gewarnt wird, die zanken, weinerlich werden, wirres Zeug reden und trübe Augen haben. Nach dem Wein solle man als vernünftiger Mensch gar nicht erst 79 Leeu, Gheraert: The Dialoges of Creatures Moralysed. Gouda 1480 (Nachdr. Köln 1988 [Medieval and Renaissance Texts, Bd. 4]), Dialogo 41, S. 125. 80 Berchorius, Petrus: Reductorium morale lib. x, cap. xiii: De Basilisco, S. 640. 81 Gregor Magnus (Fn. 74), lib. xxxiii, 34 und 39, S. 1730 ff. <?page no="155"?> 154 Marianne Sammer schielen, denn »in novissimo mordebit ut coluber, / Et sicut regulus venena diffundet« [...] letztlich wird er wie eine Schlange beißen und wie der Basilisk sein Gift verspritzen) (Prov. 23, 32). Im 16. Abschnitt des Narrenschiffes, »von fullen und prassen«, paraphrasiert Sebastian Brant diese Bibelstelle, seinen Ausführungen ein pointiertes Ende setzend: »Eyn narr mueß vil gesoffen han / / Eyn wiser maeßlich drincken kan / / und ist gesünder vil dar mit / / Dann / der mit kübeln in sich schüt / Der syn ist gar senfft am ingang / Zue letzst sticht er doch wie eyn Schlang / Und güßt syn gifft durch alles bluet / Glich wie der Basiliscus duet.« 82 Eine mittelalterliche Parabel weiß von einem Mönch zu berichten, der einen Basilisken aufzog und nährte. Dennoch wurde er von seinem Basilisken getötet, woraus man den Schluß ziehen müsse, daß jeder, der die Völlerei oder die Unkeuschheit an seinem Busen nährt, zugrunde gerichtet wird - »ita, qui vermen peccati per gulam vel luxuriam in carne sua nutrit, ab ipso peribit« 83 (Wer den Wurm der Sünde durch Völlerei oder Unkeuschheit in seinem Fleisch nährt, wird durch eben diese Sünde zugrunde gehen.). Auf den Zusammenhang zwischen dem bösen Blick der Frau und dem tödlichen Blick des Basilisken haben nicht erst die Naturkundler hingewiesen; auch die Kirchenlehrer wußten von den Gefahren, die ein weiblicher Blick bergen kann. Den tugendhaften, starken Männern wies man die Rolle der vielen Toten, der zerborstenen Steine und der verbrannten Erde zu, die den Basilisken durch sein Leben begleiten; der Basilisk selbst fungierte als »caro«, »luxuria« oder »mala mulier« 84 : »Vel pone, quod basiliscus est caro, vel etiam mala mulier, cuius visus est alijs venenosus, quae aves, i.e. ipsos viros spirituales, per luxuriam comburit, petras etiam, i.e. viros fortes & stabiles frangit, & herbas, i.e. virorem conversationis, frutices, i.e. fructum bonae operationis adnihilat, & in eius consumit.« 85 (... der Basilisk ist das Fleisch oder auch ein schlechtes Weib, dessen Blick für andere giftig ist, das die Vögel, d.h. die Geistlichen, durch Unkeuschheit verbrennt, Felsen, d.h. starke und kräftige Männer bricht und Pflanzen d.h.den Umgang der Männer untereinander, und Sträucher, d.h. die Frucht der guten Tat, zunichte macht.) Im Etymachietraktat ist der Basilisk der Unkeuschheit als Wappentier im Banner mitgegeben, »das ist also zueversteen, das sich die unkewschen und der welt kind mit irem unkeweschen unzymlichen gesicht offt tötten an sele und an leybe [...] Also ist dz gesicht ein anfang der sünd. Darumb zeücht ein sünd die andern«. 86 Philippus Picinelli versieht das Bild des Basilisken mit dem Lemma »necat ante vulnus« (Er tötet bevor er verwundet) und verschlüsselt so den Blick einer Frau, der der Seele ihres Opfers unermeßlichen Schaden zufügen kann, dabei der Mahnung des Augustinus gedenkend, daß nicht nur die Berührung und die Leidenschaft, sondern auch schon der Anblick einer Frau die Wollust wecken könne. Ein schamhaftes Gemüt könne keiner aufweisen, dem die Schamlosigkeit in den Augen stehe, denn diese Augen seien der Aus- 82 Brant, Sebastian: Das Narrenschiff. Hrsg. Manfred Lemmer. Tübingen 1986, 16, S. 87 - 90, 44. 83 Hervieux, Léopold: Les Fabulistes latins. Paris 1896, Bd. iv: Odonis de Ceritonia Parabolae, Nr. 31, S. 277 (= Tubach, Bd. 496). 84 Caro - Fleisch, luxuria - Unkeuschheit, mala mulier - schlechtes Weib. 85 Berchorius (Fn. 80), S. 641. 86 Etymachie-Traktat. Dt. Ausgabe. Augsburg 1482, SPK Berlin, 4 Inc. 82, 7 r , v . <?page no="156"?> Basilisk - regulus 155 druck eines schamlosen Herzens. 87 Mit »oculi procul, et aures« (fern die Augen und die Ohren) überschreibt Picinelli ein weiteres Emblem, das von der giftigen Aura des Basilisken seinen Vergleichspunkt bezieht und die »laszive Frau« bezeichnet. Wiederum bezieht sich die Erklärung dieses allegorischen Arrangements auf Augustinus, der die These vertritt, eine Frau errege die »pestilentia concupiscentiae« (Pest der fleischlichen Begierde) durch ihr Lachen, ihre Schmeichelhaftigkeit, und, was besonders vergiftend wirke, durch ihren Tanz und ihren Gesang, mit diesem verglichen das Pfeifen eines Basilisken noch harmlos sei. Das entsprechende Epigramm lautet: »Tutius in sylvis basiliscum audire frementem, / Quam molles cantus, foemineumque melos« 88 (Ungefährlicher ist es, das Schnauben eines Basilisken in den Wäldern zu hören, als süße Lieder und weiblichen Gesang). Von der »pestilentia concupiscentiae« zur pestilenzartigen Ansteckung (»contagione«) ist der Bogen leicht gespannt: Ihre Personifikation, eine entkräftete, blasse junge Frau in zerfetztem, billigem Gewand trägt in ihrer Rechten einen Nußbaumzweig - beim Nußbaum handele es sich um einen ansteckenden Baum -, in ihrer Linken einen Basilisken, ihr zu Füßen liegt ein Jüngling, schmachtend und leidend. Caesare Ripa erklärt bei diesem Bild die Verbreitung der Syphilis, der Lepra und der Schwindsucht, das tertium comparationis bildet wieder die tödliche Aura des Basilisken. 89 Der Basilisk vor dem Spiegel Auch der unfreiwillige Selbstmord des Basilisken beim Blick in einen Spiegel wurde auf unterschiedlichste Weise allegorisiert. In einer Predigt für Mariä Lichtmeß 1729 (purificatio Mariae) beispielsweise wird Maria einem Spiegel, der Basilisk einem Ketzer verglichen: »Die Spiegel haben auch an sich vim reflexionis die Krafft deß Gegenscheins oder Zuruckschickung, so gar das Gifft schiessen sie zuruck«, wie die Basiliskenepisode Alexanders gezeigt habe. Die nämliche Kraft besitze auch der »Marianische Spiegel«, der auf die Lästerer Mariens - die Basilisken - den Schaden, den sie ihr zugefügt haben, zurückwerfe: »Nestorius als ein vergiffter Basiliscus spritzte wider disen Spiegel aus sein Gifft, und sagte, sie sey nit zu nennen ein Mutter Gottes; Aber das Gifft kame wider auf ihn zuruck, sein Gottslästerische Zung wurde ihm faul, voller Würm mit einem unleydentlichen Gestanck.« 90 Unter Beibehaltung der aus der Bibelexegese gewonnnen Bedeutungsfelder sind auch anderslautende Auslegungen möglich: Maria, interpretiert als »speculum sine macula« (Spiegel ohne Flecken), vernichtet den Basilisken, in diesem Fall verstanden als Dämonen und Versuchungen, wenn sich der Sünder ihr zuwendet. Hat Maria in der Predigt die Sünde auf den Sünder zurückgeworfen und ihn für seine Häresien bestraft, so vernichtet sie hier nicht den Sünder, sondern seine Dämonen. In diesem Emblem (Lemma: »ipse peribit«) heilt Maria als fleckenloser Spiegel den Sünder von seiner Sündbefallenheit mit dem »Gift« ihrer Reinheit, das sie auf die Dämonen zurückschleudert. 91 Ganz anders wird in 87 Vgl. Picinelli, D. Philippi: Mundus Symbolicus. Bd. 1. Köln 1694 (Nachdr. New York 1976), Basiliscus, 480, Nr. 1. 88 Vgl. Picinelli (Fn. 87). 89 Ripa, Caesare: Della Novissima Iconologia di Cesare Ripa Perugino. Parte Prima. Padova 1625, S. 126 f. 90 Steffan, Alberus: Tubae sonitus, incitans et excitans justos et peccatores, illos ad perseverantiam, hos ad poenitentiam [...]. Augsburg 1729, S. 21. 91 Vgl. Picinelli (Fn. 87), 482, Nr. 22. <?page no="157"?> 156 Marianne Sammer einer Physiologusschrift allegorisiert, die in dem Spiegel Christus sieht, der »wie in einem Spiegel leuchtet [...] durch das Fleisch hindurch in die Welt«, und im Basilisken den Teufel, der den Strahlen der Gottheit Christi bei seinem Hinabstieg in die Hölle nicht entgegentreten konnte und zugrunde gehen mußte. 92 Selbst wenn sich die Deutung des Basilisken vor dem Spiegel mitunter auch auf weltliche Inhalte bezieht, können die Bedeutungsfelder, die sich aus der exegetischen Tradition entwickelt haben, unverändert fortbestehen. So zeigt ein Emblem bei Picinelli einen sich spiegelnden Basilisken mit dem Lemma »suis peribit viribus« (er wird durch seine eigenen Kräfte zugrundegehen). Damit soll der Überzeugung Ausdruck verliehen werden, daß jedes begangene Unrecht auf seinen Urheber wieder zurückfällt: »Erit iniquitas ejus super ipsum, cum ipse iniquitati suae subdetur« 93 (Seine Bosheit wird auf ihn selbst herabkommen, wenn er seiner eigenen Bosheit ausgeliefert wird.). Den nämlichen Vergleich - wenn auch auf jemand beschränkt, der zu Unrecht straft - führt Jacobus Boschius in einem Emblem, das ebenfalls einen Basilisken vor einem Spiegel zeigt und das Lemma »Redit in auctorem scelus« (= ein Verbrechen fällt auf seinen Urheber zurück«) trägt. Hier wird der Bezug zu Is. 59 deutlicher als bei Picinelli hergestellt, da sich das Emblem in der Gruppe der Darstellungen »in judices corruptos &c.« 94 (gegen bestechliche Richter) befindet. Als Sonderfälle sind Auslegungen des Basilisken zu behandeln, die sich von den aus der Bibel entwickelten Bedeutungsfeldern gelöst haben und ihr tertium comparationis den naturkundlichen Quellen entnehmen. Bei diesen Fällen handelt es sich bevorzugt um positive Deutungen oder um konfessionelle Polemik. Zu ersteren zählt beispielsweise die Belegung des Basilisken mit Unerschrockenheit (= mens intrepida). Nicht der Tod, der von der Aura des Basilisken ausgeht, sondern seine Fähigkeit des Todbringens und damit seine potentielle Unbesiegbarkeit rückt in den Mittelpunkt der Auslegung. Bei Boschius und Picinelli findet sie sich mit dem beigegebenen Lemma »semper invictus« (stets unbesiegt) in Zusammenhang mit »bellatores« (Krieger). Picinelli führt dazu als Beispiel zwei historische Persönlichkeiten an, die lieber den Tod als ihre Unterwerfung auf sich genommen hatten. 95 Ebenfalls von der Unbesiegbarkeit des Basilisken nimmt eine Interpretation ihren Ausgang, die vor dem Hintergrund der traditionellen biblischen Bedeutungsfelder geradezu grotesk wirkt - der Basilisk als Bild des »charitativus«. Einzig die Nächstenliebe, so die Erläuterung des Emblems, besiege alles, daher lautet das Lemma »vincit omnia« 96 (sie besiegt alles). Im Zuge der konfessionellen Auseinandersetzungen läßt sich seit dem 16. Jahrhundert eine grundlegende Umdeutung der traditionellen Bereiche »Irrlehre« und »Sünde« konstatieren. Sie erfolgt natürlich gemäß den neuen konfessionellen Bedürfnissen und bricht insofern mit der bisherigen exegetischen Tradition: »Sihe aber / wie unser Herr Gott in seinen wercken so wunderbar ist. Der Basilisck (Bapst hett ich schier gesagt ) sey so gifftig und bös / als er immer wölle / noch darff ihn das kleine Wisselchin angreiffen. Denn so bald ein Wissel eins Basiliscken gewahr wirt / ist er bald hinder ihm her / und beist ihn todt. Das mag ia heyssen / o mors ero mors tua. A Domino factum est 92 Vgl. Treu, Ursula (Hrsg.): Physiologus. Frühchristliche Tiersymbolik. Berlin 1981, S. 96; Vgl. Mélanges D’ Archéologie. D’Histoire et de littérature [...]. Paris 1851, S. 213, 214. 93 Picinelli (Fn. 87), Basiliscus, 481, Nr. 17. 94 Boschius, Jacobus: Symbolographia sive De Arte Symbolica sermones septem. Augsburg 1761 (Nachr. Graz 1972, classis iv, Symbola Satirica, Nr. 140). 95 Picinelli (Fn. 87), Basiliscus, 481, 21; Boschius (Fn. 94), classis ii, Heroicorum. Bellator, Nr. 151. 96 Picinelli (Fn. 87), Basiliscus, 481, 21. <?page no="158"?> Basilisk - regulus 157 istud: & est mirabile in oculis nostris [O Tod, ich werde dein Tod sein. Von Gott ist dies vollbracht worden, und es ist ein Wunder in unseren Augen]. Danck habe das liebe Wisselchin [= Jesus Christus].« 97 Unter Berufung auf Is. 59 war es von protestantischer Seite auch möglich, neben dem Papsttum auch die Werkheiligkeit mit dem Basilisken zu vergleichen. Da die Protestanten von den Deutungen nach dem vielfachen Schriftsinn Abstand nehmen, stellt deren Parodiesierung und das damit gewonnene neue Auslegungsergebnis einen besonderen Affront dar: »Gleichwohl mahlet Esaias 59. Mit dem Basilißken die falsche Propheten und unrechte Lehrer [...] Lutherus aber erklerets von den Werckheiligen Gleißnern / die mit eusserlichen Wercken umbgehen / inwendig aber / das sie nicht achten / voll Heucheley und Schand sind / und doch nichts thun / denn die andern urtheilen / richten / verdammen / verfolgen / erwürgen / wie das gantze Bapsthumb in den Hohenschulen / Stifften und Klöstern Exempla gnug gibt.« 98 Ergebnisse Den Ausgangspunkt dieser bedeutungsgeschichtlichen Skizze bildeten naturgeschichtliche Quellen zum Basilisken, anhand deren bestimmte Beobachtungen zur Gestalt und zu den Eigenschaften dieses Fabeltieres herausgearbeitet wurden, auf die sich seine christlichen Belegungen stützen. Sieht man von einigen Unstimmigkeiten zu Detailfragen in der Reihe der Belege aus der griechischen und römischen Antike ab, die nichtsdestoweniger ihre bedeutungsgeschichtlichen Traditionen gebildet haben, so begründeten diese Quellen eine stabile und einheitliche Vorstellung vom Basilisken. Charakteristisch ist ihr sachlicher, deskriptiver Charakter, der den christlichen Gelehrten eine ebenso ideologiefreie wie autoritativ beglaubigte Basis schuf, auf die sie eigene interpretierende oder unterweisende Aussagen zum Basilisken stellen konnten. Spätere naturgeschichtliche Quellen aus Mittelalter und Neuzeit ergänzten die antiken Berichte um natürliche Erklärungen zur tödlichen Aura des Basilisken, sie füllten die berüchtigten »biographischen Lücken« und führten Diskussionen über die Glaubwürdigkeit von beidem, berührten aber in der Regel nicht die antike Überlieferung, wie sie etwa Isidor in den Etymologiae zusammenstellte. Anschließend wurde das bedeutungsgeschichtliche Umfeld des Basilisken erschlossen, das sich aus den biblischen Belegen des Basilisken und deren Auslegungen durch die Kirchenlehrer entwickelte. Im Rahmen der Bibelexegese entstanden Bedeutungskategorien, die die Bereiche peccatum (insbesondere im Bereich der invidia, der luxuria, der superbia und der gula), mors, diabolus und Weltende (Antichrist) abdecken. Bei diesen Bedeutungskategorien handelt es sich, insgesamt betrachtet, um keine einsträngigen Bedeutungszuweisungen, die die Herausbildung eines festen allegorischen Vokabulars bewirkt hätten, sondern um offene Bedeutungsraster, denen die jeweiligen Kontexte wohl zugeordnet, nicht aber einverleibt werden können. Sie bilden seit der Patristik stabile, ungebrochene Traditionen, die mühelos bis in die Neuzeit verfolgt werden können und sich in den verschiedensten literarischen und künstlerischen Gattungen niedergeschlagen haben. Da die Tradierung der Bedeutungsfelder an die kontinuierliche Rezeption christli- 97 Alberus, Erasmus: Vom Basilisken zu Magdeburg [...]. Hamburg 1552, Diiv. 98 Frey (Fn. 72), S. 345 v . <?page no="159"?> 158 Marianne Sammer cher Autoren geknüpft war, nimmt es nicht wunder, daß die Kontexte, mit denen sich die Bedeutungsfelder füllten, im Mittelalter und im Barock hauptsächlich theologischen, mitunter katechisierenden und moralisierenden, Bereichen zugehören. Als Methode, die Bedeutungsfelder mit konkreten Inhalten zu belegen, bediente man sich in der Regel der Bildung von Analogien: eine aus der Naturgeschichte allgemein bekannte Eigenschaft oder Verhaltensweise des Basilisken wurde auf eine der vorgeprägten Bedeutungskategorien im Sinne eines Vergleichs bezogen und in den jeweiligen situativen Kontext eingepaßt. Der genaue Kontext, innerhalb dessen der Vergleich steht, definiert die Bedeutung des Basilisken im Einzelfall als (Sprach-)Bild für eines der Bedeutungsfelder. Bedeutungsgeschichtlich gesehen, sind nicht die einzelnen definierbaren Kontexte, deren Reihe beliebig erweiterbar und variierbar ist, sondern die übergeordneten Bedeutungsfelder von Interesse, weil sich aus ihnen allgemeine Aussagen zur Kontinuität und Stabilität christlicher Traditionsbildungen gewinnen lassen, ebenso wie sie allgemeine Regeln der Allegorese und ihre Umsetzung in den Medien der verschiedenen Künste abzuleiten erlauben. Letzteres würde die Berücksichtigung der verschiedenen Quellenarten (Medizinbücher, Bestiarien, Naturgeschichten, Homilien, Predigten, Sagen, Embleme, Bauplastik ...) einschließen und konnte im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Dies bleibt an anderer Stelle, auch für die modernere Literatur 99 , nachzuholen. Hingegen konnte gezeigt werden, daß der Basilisk kein Fabeltier ist, das ein mysteriöser Volksgeist zum Monster erklärt hätte, im Volksglauben beheimatet sei - was immer man darunter auch verstehen mag - und seine negativen Konnotationen aus dunklen Vorstellungen schöpfe. Vielmehr wurden seine Epiteta auf klar benennbaren antiken und vor allem kirchlichen Traditionen entwickelt, deren kulturbildende Funktion generell noch nicht hinreichend reflektiert wurde, und die nichtsdestoweniger bedeutungsgeschichtlich überall gegenwärtig sind. Hinter der Komik, die zwangsläufig entsteht, wenn man, wie es in der Sekundärliteratur häufig geschieht, die vielen Sagen und Aussagen über ein fiktives Tier deskriptiv-paraphrasierend aneinanderreiht, steht eine jahrhundertelange Rezeption von Quellen, die sich sehr ernsthaft um ein einheitliches Wahrheits-, Gottes-, und Weltbild bemüht hat. Ohne diesen metaphysischen Anspruch, der nicht die Erscheinungen selbst, sondern die prinzipielle Bedeutbarkeit ihres Begriffs in den Mittelpunkt eines fortwährenden Interesses rückt, wäre die Ausbildung von stabilen bedeutungsgeschichtlichen Traditionen nicht möglich gewesen. Handelte es sich auch um Gelehrte, die für den Basilisken die Kontexte schufen und damit für die Kontinuität der Bedeutungskategorien sorgten, so ist dennoch nicht auszuschließen, daß die Bedeutungskategorien selber auch einfacheren Bevölkerungsschichten geläufig gewesen sind, zumal bestimmte Quellen, die sie tradieren, sich an eine Öffentlichkeit richteten (Predigten, Parabeln, Sagen ...) und die Allegorese nicht nur der Schriftauslegung diente, sondern auch eine katechetische Funktion erfüllt hat. Eine Veranstaltung wie der Nürnberger Schembartlauf von 1507 etwa, bei dem die Hölle von einem Basilisken dargestellt wurde 100 , setzt das Wissen der Brauchträger um die Bedeutungsfelder, 99 Vgl. z.B. Rosendorfer, Herbert: Vorstadt-Miniaturen gefolgt von ›Der Basilisk‹. München 1982. Bergengruen, Werner: Der Basilisk und andere Spuknovellen. Frankfurt/ M. 1988 (Phantastische Bibliothek, Bd. 205). Edwards, Graham: Der Basilisk. Die Saga vom Ende der Zauberdrachen. Bergisch Gladbach 1996. Bachmann, Guido: Der Basilisk. Novelle. Basel 1987. <?page no="160"?> Basilisk - regulus 159 in denen der Basilisk steht, voraus. Für Nürnberg kann dies belegt werden, hat doch der Franziskaner Stephan Fridolin in seiner Predigt zum Sonntag Quinquagesima 1507 seiner Gemeinde einige mögliche Bedeutungen des Basilisken erklärt. Mit dem Ende des konfessionellen Zeitalters und dem Anbruch der Aufklärung werden die Kontexte, in denen der Basilisk steht, natürlich zunehmend profan, doch finden sich auch in der Folgezeit - manchmal merkwürdig verworrene - Reminiszenzen an die alten Bedeutungsfelder ... »Vult lächelte ihn [=Walt] seltsam an und sagte: er [=Walt] kopiere ja mémoires érotiques mit und ohne Feder und jage Mädchen [...] ›Allein‹, setzt’ er dazu, ›ein Greifgeier, ein Basilisk wie ich hat so gut seinen Liebes-Pips als ein Phönix wie du‹.« 101 ... und an alte Methoden der Allegorese ... »Firmian machte keine andern Einreden mehr als verzögerliche: er schob bloß seine Beichte auf und dachte, da Apollo der schönste Tröster [Paraklet] der Menschen ist, und da Natalie dem Basilisk des Grams sein eigenes Bild im Spiegel der Dichtkunst gewiesen, so werde er an seinem Bildnis umkommen. So werden alle tugendhaften Bewegungen in uns durch die Reibungen der Triebe und der Zeit entkräftet.« 102 100 Vgl. Küster, Jürgen: Spectaculum Vitiorum. Studien zur Intentionalität und Geschichte des Nürnberger Schembart-Laufes. Remscheid 1983 (Kulturgeschichtliche Forschungen, Bd. 2), S. 79 f. 101 Jean Paul: Flegeljahre. Bd. 4, Nr. 59: Notenschnecke. München 1996, S. 1034. 102 Jean Paul: Siebenkäs. Bd. 4, Kap. 24. München 1996, S. 553 f. <?page no="161"?> 160 Marianne Sammer Abbildungen: Abb. 1: Antiken Vorstellungen nachempfundene Basiliskenschlange mit dreigezackter Krone. Aus: Marcus Aurelius Severinus, Vipera Pythia [...] (Kupferstich von Giovanni Georgi), Patavii 1651, Exemplar: Bayerische Staatsbibliothek München. Abb. 2: Emblematische Darstellung der Bosheit aus der exegetischen Tradition von Is. 59, 5. Unrecht und Bosheit fallen auf den Sünder selbst zurück. Die der Bosheit zugeordnete Pflanze ist bei Hohberg der Oleander, der wie ein Basilisk tödliches Gift in sich berge: »Wie lange sollen die gottlosen prahlen? Der Oleander ist dem vieh und menschen schad und sein verborgen gifft sehr strenge wirckung hat: Also der bösen schar, je mehr sie böses üben je mehr sie tyranney und grausamkeit lieben.« Aus: Wolfgang Helmhard Freiherr von Hohberg, Lust- und Arzeney-Garten des königlichen Propheten Davids, Regensburg 1675, Exemplar: Bayerische Staatsbibliothek München. Abb. 3: Basilisk an der 1638 geweihten Mariensäule in München. In Ps. 90 (Vulg.) wird den Gläubigen Rettung verheißen und Schutz. Maria als Himmelsgöttin und Gottesmutter, Szepter in der Linken und Christus auf dem rechten Arm, steht 14 Meter hoch auf einer Säule. An den vier Ecken der Säulenbasis sind die vier gegossenen Tiere aus Ps. 90,13 angebracht, jedes in eine andere Himmelsrichtung weisend. Sie werden alle von einem bewaffneten Putto in Rüstung angegriffen. Gott hat, wie in Ps. 90,11 versichert wird, seinen Engeln befohlen, diejenigen, die bei ihm Zuflucht nehmen, zu beschirmen, damit sie unbeschadet über die Schlange, den Basilisken, den Löwen und den Drachen hinwegschreiten können - an der Münchner Mariensäule ist das wörtlich dargestellt. Die Szene spielt kurz vor dem Sieg der Putti, denn die vier Tiere leben noch, liegen den Kämpfern jedoch schon zu Füßen. Im Gegensatz zu den anderen Engeln blickt derjenige, der den Basilisken niederwirft, an seinem Opfer vorbei, vermutlich um nicht noch in letzter Sekunde dessen tödlichem Blick zu erliegen. Auf den Schilden der Engel läuft Ps. 90, 13 als Inschrift um das Denkmal. Foto: Privat. <?page no="162"?> Die Monster in Beowulf Marijane Osborn (Davis) Das angelsächsische Langgedicht Beowulf, wahrscheinlich zwischen dem achten und zehnten Jahrhundert entstanden, ist die älteste verzeichnete durchgängige Erzählung im englischen Sprachraum. Abgesehen von einigen Riesen und Seeungeheuern von geringerem Interesse, die in diesem Artikel außer Acht gelassen werden sollen, kämpft der Kulturheld 1 Beowulf vor allem gegen drei Monster. Als junger Krieger segelt er nach Dänemark, um den menschenähnlichen Kannibalen Grendel, einen Riesen mit feurigen Augen, zu bezwingen, und muß, als Folge seines Sieges über Grendel, dann mit dessen rachesuchender Mutter kämpfen. Jahre später, als König der Gauten, die im Gebiet des heutigen Schweden leben, kämpft Beowulf gegen einen feuerspeienden Drachen, der das Land verwüstet. Jede dieser drei Begegnungen kommt zustande durch einen Angriff der Monster auf die Menschen und zehrt in zunehmendem Maße an den Kräften des Helden 1 Der Kulturheld, auch als Volksheld bezeichnet, tötet ein Chaos schaffendes Monster oder stiftet eine Kulturleistung (bringt z.B. wie Prometheus das Feuer); er beschützt und erhält sein Volk. Er geht in sein Kulturgut ein als maßgebliches Vorbild an körperlicher Stärke, Mut und Ehrenhaftigkeit. <?page no="163"?> 162 Marijane Osborn und geschieht in zunehmender Entfernung von der vom Feuerschein erleuchteten Halle der Gefährten und des sozialen Gabentausches: zuerst in der nächtlichen Halle selbst, danach in der unheimlichen Unterwasserhöhle der Mutter, und schließlich am Eingang zu einer Schatzhöhle, die mit einem ausgestorbenen Volk in Verbindung steht - und die das Ende der Erzählung vorwegnimmt, als Beowulfs Gefährten mit einem Fluch belegt werden. In seinem letzten Kampf fällt Beowulf dem Gift des Drachen zum Opfer, obwohl es ihm noch gelingt, ihn zu töten. Diese kurze Zusammenfassung des Mythos, der dem Dichter wahrscheinlich in einer relativ vollständigen Fassung vorlag, läßt sowohl die komplexen sozialen und historischen Hintergründe Skandinaviens, in das der angelsächsische Dichter die Geschichte plaziert, als auch die gewählte Form (Versmaß), die dem Gedicht einen so nachhaltigen Eindruck verleiht, unbeachtet. Auch nachdem J.R.R. Tolkien in seinem berühmten Vortrag The Monsters and the Critics 2 die Bedeutsamkeit der Monsterkämpfe betont hat, wendet sich der Großteil der Beowulf-Forschung nach wie vor bevorzugt den »periphären« Aspekten zu, und selbst Tolkien konzentriert sich in seinem Vortrag eher auf die Kritiker als auf die Monster. Beowulfs allnächtliche Monster, die im Dunkeln ihr Unheil treiben, wirken mehr auf unser Gefühl als auf unseren Verstand und sollten daher eher erfühlt denn analysiert werden. Noch vieles könnte zu den anderen expliziten oder impliziten Themen von Beowulf gesagt werden, ohne den Monstern im Zentrum des Gedichtes irgendwelche Beachtung zu schenken. Der vorliegende Aufsatz jedoch befaßt sich zuerst mit der Wesensnatur der Monster und mit zeitlich sowie geographisch weitreichenden Analogien, um etwaigen Vorgängern dieser Monsterfiguren nachzuspüren. Es schließt sich ein Kommentar an zu der Art und Weise, in der verschiedene moderne Autoren, die sich des angelsächsischen Materials bedient haben, Beowulfs Monster umgearbeitet haben, um den Erwartungen ihres eigenen Kulturraumes zu entsprechen. Die Wesensnatur der Monster Der Teil des Gedichtes, in dem Beowulf gegen die zwei menschenähnlichen Monster Grendel und dessen Mutter kämpft, wird auch als »two-troll« Abschnitt bezeichnet 3 , analog der skandinavischen Erzählungen, in denen die zwei Gegenspieler des Helden als männlicher und als weiblicher Wassertroll auftreten. Der Einfluß dieser Troll-Erzählungen auf den ersten Teil der Beowulf-Erzählung wurde bereits intensiv erforscht. Obwohl Beowulfs Grendel-Monster im Rahmen der typischen Wasserfall-Troll-Erzählung auftreten, sollte man sie vielleicht nicht so sehr als Trolle, denn als eine andere Form menschenähnlicher Monster einstufen: als Wargs. Der Dichter nennt Grendel einen »heorowearh« (Höllenwarg, maskulin, V. 1267a) und seine Mutter eine »grund-wyrgen« (Tiefenwargin, feminin, V. 1518b). 4 Beide Schlußteile, das maskuline »-wearh« und das feminine »-wyrgen«, sind etymologisch mit dem Wort »warg« verwandt, das Tolkien dement- 2 Tolkien, J.R.R.: The Monsters and the Critics (Festschrift für Israel Gollancz). In: Proceedings of the British Academy (Nachdruck) 22 (1936), S. 2 - 53. 3 Vgl. Stitt, J. Michael: Beowulf and the Bear’s Son: Epic, Saga, and Fairytale in Northern Germanic Tradition. New York 1992. <?page no="164"?> Die Monster in Beowulf 163 sprechend in das heutige Englisch übernommen hat. Andere etymologische Verwandtschaften dieses Wortes lassen sich durch frühere germanische Formen verfolgen, z.B. ein Ausdruck für »Verbannung« im Lex Salica: »wargus sit«, oder auch den althittitischen Begriff »hurkil« (Vogelfreier), das einen sozial Geächteteten, Kriminellen oder Außenseiter bezeichnet, den das Gesetz der Hittiter mit »du bist zum Wolf geworden« verbannt (Weitenberg). Die Forschung ist sich uneinig, ob dieser Ausdruck als Metapher zu verstehen sei und meint, daß der Geächtete die Menschenrechte verliert und wie ein Tier in der Wildnis vegetiert (wie bei Weitenberg), oder ob er wörtlich zu nehmen sei, daß also der Geächtete vielleicht in einem an die literarische Romantik erinnernden Bgriffsrahmen als in einen Werwolf verwandelt aufzufassen ist (wie Gerstein argumentiert). Letztere Interpretation hängt selbstverständlich von einer bestimmten Auffassung des Begriffs »Werwolf« 5 ab. Was auch immer die Implikationen des hittitischen Satzes sein mögen, die Etymologie von »warg« zeigt geographisch unterschiedliche Veränderungen in der Wortbedeutung auf. Im Norden entwickelt es sich zum Altisländischen »vargr«, das 4 Amn. der Übersetzerin: Genzmer (Beowulf und das Finnsburg-Bruchstück. Aus dem Angelsächsischen übertr. Von Felix Genzmer. Stuttgart 1982.) übersetzt an diesen Stellen »Höllenwolf« und »Tiefenwölfin«. 5 Zum Mythos des Werwolfes vgl. in diesem Band den Beitrag von Keith Roberts. <?page no="165"?> 164 Marijane Osborn wahrscheinlich sowohl den Geächteten als auch den Wolf bezeichnet (im Neuisländischen wird dieses Wort oftmals als Schimpfwort für Frauen benutzt, wie das Englische »bitch«, nur um einige Grade stärker). Im modernen Englisch steht das Wort weniger mit konkreten Tieren als mit dem Unheimlichen schlechthin in Verbindung, wie z.B. im dialektalen Gebrauch von Chaucers »John the Carpenter« in der Miller’s Tale (Erzählung des Müllers), der sein Haus gegen »nightes verye« (den Nachtwolf oder Schwarzen Mann) segnet. 6 Tolkien verbindet den Horror assoziierenden Kontext dieses Wortes mit der isländischen Bedeutung, um den dämonischen, wolfähnlichen »Wargs« in Der Hobbit und Herr der Ringe Leben einzuhauchen, und die Popularität seiner Erzählung von Mittelerde bestärkt die Annahme, daß die meisten modernen Leser von Fantasy-Literatur mit diesem Begriff eine Assoziation von Dämon und Wolf verbinden. Obwohl die Bedeutungsebene »Tier« später aus dem Englischen verschwindet, wird Grendels Mutter zweimal, in den Versen 1506a und 1599a, als »brimwylf« (Meereswolf) bezeichnet. Dies verleiht der Figur eine weitere Bedeutungsebene und läßt vermuten, daß zu dieser Zeit die Begriffe »Warg« und »Wolf« in gegenseitiger Abhängigkeit existierten. Ich denke jedoch, daß nur schwerlich Beowulfs Wargs, oder Wargs generell, als Werwölfe per se zu akzeptieren sind, da das moderne Konzept eines Werwolfes eine Transformation von Mensch (Altenglisch »wer«) in Wolf und möglicherweise eine durch offene Wunden übertragbare »Werwolf-Krankeit« (ähnlich dem Vampirismus) beinhaltet. Andeutungen jeglicher Transformation, Ansteckung seitens Grendels oder seiner Mutter, oder wolfsähnlicher Gestalt fehlen jedoch im Beowulf. Stattdessen betont der Dichter deren Exil 7 , das in seiner Struktur dem Exil des Außenseiters in menschlicher Gesellschaft gleicht. Anders als der isländische Geächtete Grettir, der sich im Exil auf der Insel Drangey in einen »vargr« verwandelt, existieren Gendel und dessen Mutter von Geburt an als Wargs, als geborene Gesetzesbrecher vom Stamme der Geächteten, und als Nachfahren von Kain, wie der Dichter immer wieder betont. Tolkien befindet, daß die Namen für Grendel, die sich auf seinen Geächtetenstatus beziehen, »seine Wesensnatur bezeichnen, aber ebenso selbstverständlich einen Nachfahren Kains oder einen Teufel beschreiben; daher heorowearh, dædhata, mearcstapa, angenga« 8 . Dieses wesensnatürliche »Wargtum« verurteilt ihn zur Außenseiter-Existenz und zur Teilhabe an solch »wargeigenem« Verhalten wie Kannibalismus. Dieser Kannibalismus kann tatsächlich nur als solcher bezeichnet werden und nimmt an Horrorgehalt zu, wenn Wargs, als typische Nachfahren Kains, zumindest zum Teil menschliche Züge erhalten. In gewissem Sinne sind Grendel und dessen Mutter tatsächlich menschlich; er trägt eine Tasche, in der er die geraubten Körperteile transportiert, und sie schmiedet einen Dolch mit bemerkenswerter Geschicklichkeit. Ihre Wesensnatur als Wargs macht die beiden jedoch auch zu dämonenähnlichen Wesen, zu »helrunan«, Höllenkreaturen, ein der Hexenkultur entstammendes Wort. Vor allem aber sind sie »uns« feindlich gesinnt. Daß solch ein Anderssein Andeutungen von Rassismus, d.h. von phäno- und genotypisch begründeten Haßgefühlen und Berührungsängsten enthält, steht außer Frage. 6 Chancer, Geoffrey: A Variorumedition of the Works, Bd. 3: The Miller’s tale. Hrsg. Von Thomas W. Ross. Norman 1983, v. 3485. 7 Orchard, Andy: Pride and Prodigies: Studies in the Monsters of the Beowulf-Manuscript. Cambridge 1995, S. 58 - 85. 8 Orchard (Fn. 7), S. 38. <?page no="166"?> Die Monster in Beowulf 165 Die rassistischen Anspielungen auf Grendels dämonisches Anderssein überzubetonen bedeutet allerdings auch, die Fabel in einem Maße zu entstellen, wie dies frühere Mythenforscher durch Interpretation der Monster als Allegorien von jahreszeitabhängigen Naturkatastrophen und Beowulfs als kämpferischem Sonnenheld taten 9 . Dagegen zeigt eine Untersuchung der Interpretationgeschichte in Abhängigkeit von dem sich zeitlich verändernden Sozialgefüge vielleicht einen erfolgversprechenderen Weg auf, den beiden Monstern Bedeutung zu entlocken. Ob man sie in Beowulf nun als Trollin, Meereswolf (was auch immer dies sein mag), Warg, oder eine Mischung dieser drei verstehen sollte - Grendels Mutter wird zweimal als »ides«, lady (V. 1259 u. 1351), bezeichnet, ein Wort normalerweise im Gebrauch für eine höhergestellte Dame. Und tatsächlich beweisen ihre literarischen Vorgängerinnen (und die ihres Sohnes), daß die Figuren komplexer gezeichnet sind, als die Wörter »Troll« oder »Warg« vermuten lassen. Im Sinne der Anthropologie und des kulturellen Wandels betrachtet, könnte Grendels Mutter in ihrem trostlosen See ein negatives Spiegelbild zu einer Götterfigur aus vorchristlicher Zeit darstellen: das der weitverbreiteten See- oder Meeresgöttin, die auch oft als Wasserfee, Nixe 10 , oder Undine auftritt. In verschiedenen klassischen und modernen Kulturen kontrolliert die Göttin in dieser Rolle die Nahrungsquelle, wie z.B. Sedna, Meeresgöttin der Eskimos, und die Mescalan-indianische Göttin des Lake Chapala in Mexico, die nach dem nun verstreuten Stamm »Mescala« benannt ist. Die mazedonische Seegöttin oder Seefee Volve, die in einem nun trockengelegten See gleichen Namens wohnt, stellt eine ausgezeichnete Analogie zu einer Göttin dar, die, weder gut noch böse, auf Grendels Mutter verweist. Sühneopfer am Schrein ihres Heldensohnes am Seestrand bewegen sie, ihre Beute freizugeben 11 . Obwohl der Kopf des ermordeten Æschere auf dem Weg zu dem See wahrscheinlich die apotropaische oder defensive Magie von Grendels Mutter symbolisiert, erinnert er den Leser an Sühneopfer, ähnlich den wahrscheinlich geopferten Moorleichen in Skandinavien, die verschiedene Wissenschaftler mit den von Tacitus beschriebenen Ritualen der Göttin Nerthus in Verbindung gebracht haben (Germania 40 12 ). Ein positiveres Beispiel der Seegöttinnen im nordwestlichen Europa findet sich in König Arthurs Wohltäterin, der »Lady of the Lake« (Seefee). Mit der Einführung des Ackerbaus und der Nahrungsmittelverteilung in den Frühkulturen (zwei Phänomene, die die Entstehung sozial komplexer Strukturen bedingten) werden weibliche Götterfiguren oftmals einer männlichen Götterfigur untergestellt (z.B. wird die Gottesmutter im christlichen Kulturraum lediglich zur sterblichen Mutter des Gottessohnes), oder als Trolle, Wargs, oder sogar Seemonster dämonisiert, so daß ein neuerlich auftauchender Kulturheld sie als Kräfte des Bösen unterwerfen kann. Wie die Seemonster-Transformation bereits andeutet, finden sich auch klassische Vorbilder für Beowulfs Drachen 13 . In den Vedas steht der drachenähnliche Vrtra, den der heroische Indra bezwingt, ähnlich der Wasserfee mit der Kontrolle über die zur Ernteerbringung notwendigen und als feminine Kräfte dargestellten Wasser der Schöpfung in 9 Konzepte diskutiert bei Chambers, R.W.: Beowulf: An Introduction to the Study of the Poem. Cambridge 1963, S. 46 - 47. 10 Zum Mythos Nixe vgl. in diesem Band den Beitrag von Claude Lecouteux. 11 Burkert, Walter. Homo Necans: The Anthropology of Ancient Greek Sacrificial Ritual and Myth. Trans. Peter Bing Berkeley: University of California Press, 1983. 12 Publius Cornelius Tacitus. Germania: lateinisch und deutsch. [Übers.] Gerhard Perl. Darmstadt 1990. 13 Zum Mythos Drache vgl. in diesem Band den Beitrag von Winder McConnell. <?page no="167"?> 166 Marijane Osborn Verbindung 14 . Der Drachen ist der letztendliche Feind, und alle Kommentatoren sind sich prinzipiell einig, daß »die Tötung eines Drachen die universelle Handlung darstellt, durch welche die teutonischen Helden ihre Legitimität unter Beweis stellen« 15 . Watkins schlägt des weiteren vor, den Drachentötungsmythos als »potentiell quasi-universell« aufzufassen 16 . Die Forschung hat auf verschiedene Zusammenhänge zwischen Beowulfs Drachen und dem vorzeitlichen Drachen des Chaos (und des Wassers), dem skandinavischen Midgardsorm oder Welt-Drachen hingewiesen, mit dem Thor bei Ragnarok kämpft, und in welchem Kampf jeder den anderen erschlägt, und hat andere Zusammenhänge mit dem christlichen Drachen der Apokalypse extrapoliert. Beowulfs Drache jedoch wirkt lebensechter als diese zwei. Während verschiedene Versuche gemacht wurden, ihn als Grendels wiederauferstandene Mutter oder als den zum Drachen gewordenen Geist des Goldhüters zu interpretieren, akzeptieren ihn die meisten Leser genauso, wie ihn der Dichter darstellt: als die klassische, 20 Meter lange, geschuppte, geflügelte und feuerspeiende Version der angelsächsischen Drachen, deren Instinkt sie dazu leitet, gemäß den altenglischen Erzählungen, einen Goldhort aufzusuchen und ihn zu bewachen. Die Etymologie des Wortes »Drachen«, ein Wort, das aus dem altgriechischen drákon und dem lateinischen draco von der indogermanischen Wurzel *drk (verbunden mit derkein, derkesthai: »sehen, anschauen« 17 ) stammt, bekräftigt die Perspektive des Drachen als Hüter des Schatzes. In der klassischen Literatur hüten Drachenwächter das Goldene Vlies, die Äpfel der Hesperiden, und vielleicht sogar den berühmten Baum im prähebraischen Eden. Nördliche Drachen dagegen, wie diejenigen, die Beowulf und Sigurd zum Opfer fallen, wachen über einen Goldhort, einen verborgenen Schatz. Durch den Diebstahl des Bechers gestört, erhebt sich der Drache in Beowulf wütend in die Nacht, um die Gegend mit Flammen zu verwüsten. Man könnte ihn, wie es ein Teil der Forschung tut, als Allegorie der Gier lesen, aber es ist wahrscheinlich textgetreuer, ihn als Symbol einer »wahren« Naturgewalt zu verstehen, mit der nicht zu Spaßen ist - es sei denn, er wurde unversehens aufgeweckt, verwüstet die Lande, und man gehört der Klasse der Kulturhelden an. Drachen sind erst kürzlich ausgestorben. R.W. Chambers berichtet von der Sichtung eines Drachen in den Schweizer Alpen noch im Jahre 1649 18 , und ich stelle mir gerne vor, daß ich in Schweden »die genaue Stelle«, an der Beowulfs Drache (oder sein Bruder) seine Höhle hatte, beobachtet habe. Dies war eine dunkle Höhle hoch in einer Steilwand, die das Meer bei dem Dorf Dragsmork im heutigen Bohuslän überschattete. Als meine Begleiterin und ich uns in der örtlichen Pfarrei nach dem Loch, das wir in der Steilwand erblickt hatten, erkundigten, bestätigte man uns die mythische Bedeutung des Ortsnamens. »Da wohnte früher ein Drache! « Zudem soll derselbe Drache einen Silberbecher in dem Skålberg (Becherberg) 19 bewacht haben; obwohl sich Genaueres nicht herausfinden 14 Stitt (Fn. 3), S. 29 - 32. 15 Evans, Johnathan: As Rare as They Are Dire: Dragons, Tolkien, and Jacob Grimm. Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages gehalten auf dem 32ten International Medieval Congress at Kalamazoo (Freitag, 9. Mai 1997), S. 12. 16 Watkins, Calvert: How to Kill a Dragon: Aspects of Indo-European Poetics. Oxford 1995, S. 297. 17 Evans (FN. 15), S. 6. 18 Chambers (Fn. 9), Anm. S. 11. 19 Overing, Gillian; Marijane Osborn: Landscape of Desire: Partial Stories of the Medieval Scandinavian World. Minneaplis: University of Minnesota Press, 1994, S. 30. <?page no="168"?> Die Monster in Beowulf 167 ließ, nehmen wir an, daß dies der Name des Berges mit der Steilwand ist, in dem die Drachenhöhle liegt. Was darüber hinaus läßt sich über Beowulfs Monster sagen? Der Dichter konzipiert seine Wargs hauptsächlich als auf Grund ihrer Wesensnatur Geächtete, als sozial ausgestoßene Einzelgänger, die an ihrem Einzelgängertum leiden, verzweifeln. Sie sind wolfsähnlich und dämonisch genug, um glühende Augen zu besitzen, und sind unheimlich und dem Teufel verbunden, obwohl nicht wesensmäßig Teufel. Sie setzen die mit der Racheethik verbundene Tötung in der frühen Germanischen Gesetzeshütungskultur in die Tat um, aber lassen die gegenseitige Kompensationsregel außer Acht. In einer, wunderbarerweise trockenen, Höhle auf dem Grunde eines Sees lebend sind sie menschlich genug, um andere mit Zaubersprüchen zu belegen und Werkzeuge zu benutzen, und nicht menschlich genug, da sie beinahe Riesenstatur besitzen (ähnlich dem Bigfoot, mit dem sie oft verglichen werden). Der Dichter hat diese Wargs an eine Schnittstelle zwischen Mensch, Tier, und Dämon plaziert - ein Ort außerhalb der Gesellschaft, an dem sie bei Nacht nach Nahrung hungern. Ebenfalls ein Einzelgänger, jedoch ohne menschliche Züge, ist uns der Drache hingegen eher verständlich: ein zwanzig oder dreißig Meter langes, geflügeltes und feuerspeiendes Reptil von betächtlichem Alters, das sein Nest auf vergrabenem Gold baut und sowohl Nest als auch Gold bis zur letzten Konsequenz verteidigt. 2. Die Monster in moderner Form Obwohl der schatzhütende Drache Smaug in Tolkiens Hobbit eine romantisierende Version des Beowulf-Drachens darstellt und der Drachen des spanischen Beowulfo in den mit Kunstpreisen ausgezeichneten Illustrationen dieses Buches als Brachiosaurus erscheint, der von einem Don-Quixote-ähnlichen Beowulfo angegriffen wird, haben sich moderne Adaptationen des Beowulf-Monsters gänzlich auf die Grendels konzentriert und benutzen diese mit vielen verschiedenen Absichten. In dem folgenden eher deskriptiven denn kritischen Teil dieses Essays sollen drei Romane stellvertretend besprochen werden: John Gardners Grendel, Michael Crichtons Thriller Eaters of the Dead, und das Teamautorenwerk The Legacy of Heorot, ein Horror-Fantasy Buch. Des weiteren werden zwei Filme untersucht, die Musical-Parodie Grendel, Grendel, Grendel und der Spielfilm Clash of the Titans. Da letzterer Film der Monsterstruktur von Beowulf eine Fabel aus der griechischen Mythologie überstülpt, eignet er sich in ausgezeichnetem Maße für eine Zusammenfassung dieser Diskussion. Gardners Grendel (1971) hat so große Berühmtheit und Beliebtheit erlangt, um selbst eine kritische Untersuchung in Buchform und unzählige Artikel, von denen viele auf die tierkreiszeichenähnliche Kapitelanordnung hinweisen, zu inspirieren. Der im Titel benannte Antiheld ist ein bekannter und beliebter Protagonist in der modernen Literatur, der, wenn er keine Dänen verspeist, als selbstbenannter »armer Grendel« uns im Gespräch mit dem philosophierenden Drachen vieles über seine unterprivilegierte Jugend erzählt. Chrichtons Eaters of the Dead aus dem Jahre 1976 (wird zur Zeit verfilmt), integriert ein weiteres Thema von neuzeitlichem Interesse in das Beowulf-Material: Kolonialisierung und der damit verbundene Rassismus. Der Roman basiert auf einer echten Erzählung, dem Bericht des historischen Arabers Ibn Fadlan auf seiner Reise als Gesandter von Bagdad zum Bulgarenkönig. Unterwegs trifft er auf eine Gruppe schwedischer <?page no="169"?> 168 Marijane Osborn Handlungsreisender und verzeichnet als Beobachter deren Kultur und deren Rituale. Wie bisher hat Crichton sich hier von authentischem und faszinierendem Material inspirieren lassen. Im Gegensatz zu dem Bericht jedoch erreicht in Crichtons Roman der Araber die Halle der Dänen kurz vor dem Angriff durch die Grendel. Diese Grendel sind augenscheinlich Neanderthaler, die eine Muttergottheit verehren und deren Land erst kürzlich von den skandinavischen Gastgebern des Arabers erobert wurde. »Buliwulf« hilft bei der Verteidigung des skandinavischen Stammes, als die entwurzelten Grendel ihr Vaterland zurückzuerobern versuchen. Es fließt viel Blut. Der Science Fiction Roman The Legacy of Heorot aus dem Jahre 1987 von dem Autorenteam Larry Nivel, Jerry Pournelle und Steven Barnes dreht sich um einen dritten Anstoßpunkt: Als die Menschen das ökologische Gleichgewicht des Planeten zerstören, tritt eine große Armee von saurierähnlichen »Grendeln« auf den Plan, ähnlich der weißen Blutzellen, die eine Krankheit bekämpfen. Cadmann Wayland (der Beowulf-Charakter hier) kommt zu Hilfe. Es fließt (wiederum) viel Blut. Dieser Roman hat neuerdings einen Nachfolger, Beowulfs Children (1995) erhalten. Grendel, Grendel, Grendel, der australische Zeichentrickfilm über Gardners Roman mit einem amüsanten Drehbuch von Bruce Sweaton verwandelt die Geschichte in ein Musical mit der Hauptarie »Mother Loves You«. In der Filmmusik und durch sozial rollenvertauschenden Dialekt verbalisiert sich demnach ein weiterer kultureller Anstoßpunkt, der besonders für England und seine ehemaligen Kolonien von Bedeutung ist: die Art und Weise, in der Sprache soziales Klassenverständnis beeinflußt. In diesem Film unterhalten sich die Menschen, die der dänischen Aristokratie in Beowulf entsprechen, in der Sprache der australischen Arbeiterklasse, während der Drache mit der eleganten Stimme Peter Ustinovs ausgestattet wird. Grendel, vor Selbstmitleid zerfließend oder in philosophischer Diskussion mit dem Drachen vertieft, betreibt auf hochherrschaftliche Art und Weise Konversation. Nach der in diesem Teil besprochenen Abfolge moderner politischer Themen, wie sie in künstlerischen Wiederaufarbeitungen der Geschichte erscheinen, wird der Leser die Diskussion einer frauenorientierten, wenn nicht sogar feministischen, Version erwarten. Mein letztes Beispiel kann eine solche (noch) nichtexistente Version nicht ansprechen, liefert aber Öl für das Feuer feministischen Interesses. In dem überraschend starbesetzten, aber verkünstelten MGM-Spielfilm von 1981, Clash of the Titans, der »auf jahrhundertealten griechischen und nordischen Legenden basiert« (Videohülle), schreibt der englische Drehbuchautor Beverley Cross die Heldensage des Perseus um in die Form von Beowulf. Der Held, auf dem Meer als kindlicher Dänenkönig Scyld enthüllt, bezwingt in seiner Jugendzeit nach und nach drei Monster. Sein erster Gegenspieler ist der zum Moormonster gewordene Mensch Calibos (benannt nach der selbstreflexiven Schlammkreatur aus Brownings Gedicht »Caliban upon Setebos«), dann eine furchterregende Höhlenfrau, die Medusa (in Nyes Roman Beowulf aus dem Jahre 1966 tritt Grendels Mutter ebenfalls als Medusa auf) und schließlich ein titanischer Meeresdrache, der eine Jungfrau zu verschlingen droht. Die in Ketten gelegte Andromeda erfüllt das notwendige »damsel in distress«-Seitenthema, das in Beowulf - inzwischen der Hollywood-Version sehr entfremdet - fehlt. Obwohl manche Puristen Anstoß nehmen mögen an den künstlerischen Freiheiten, mit denen der Stoff des großen germanischen Heldengedichtes in diesen fünf modernen Adaptationen behandelt wird, sollte man bedenken, daß der Beowulf-Dichter selbst un- <?page no="170"?> Die Monster in Beowulf 169 zweifelhaft mit ähnlicher Freiheit traditionelle Monstersagen verarbeitet hat, um seinen eigenen derzeitigen Zielen auf künstlerische Art Ausdruck zu verleihen. Übersetzt von Sonja H. Streuber Abbildungen: Die Abbildungen stammen von James Robinson und wurden in Zusammenarbeit mit der Autorin angefertigt. Bibliographische Hinweise Burkert, Walter: Homo Necans: The Anthropology of Ancient Greek Sacrificial Ritual and Myth. Übers. Peter Bing Berkeley. Berkeley, CA 1983. Chambers, R.W.: Beowulf: An Introduction to the Study of the Poem. Cambridge 1963. Evans, Johnathan: As Rare as They Are Dire: Dragons, Tolkien, and Jacob Grimm. Unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrages gehalten auf dem 32ten Internationalen Mediävistik-Kongreß in Kalamazoo 1997. Gerstein, Mary R.: Germanic Warg: The Outlaw as Werwolf. In: Myth in Indo-European Antiquity. Hrsg. Gerald James Larson. Berkeley, CA 1974, S. 131 - 56. Orchard, Andy: Pride and Prodigies: Studies in the Monsters of the Beowulf-Manuscript. Cambridge 1995. Osborn, Marijane. Translations, Versions, Illustrations. In: A Beowulf Handbook. Hrsg. Robert E. Bjork, John D. Niles. Lincoln, Nebraska 1997, Kap. 17. Overing, Gillian; Osborn, Marijane: Landscape of Desire: Partial Stories of the Medieval Scandinavian World. Minneaplis, Minnesota 1994. Ryan, J.S.: Warg, Wearg, Earg, and Werewolf. In: Mallorn: Journal of the Tolkien Society 23 (1986), S. 25 - 29. Stitt, J. Michael: Beowulf and the Bear’s Son: Epic, Saga, and Fairytale in Northern Germanic Tradition. New York, NY 1992. Tolkien, J.R.R.: The Monsters and the Critics (Festschrift für Israel Gollancz). In: Proceedings of the British Academy 22 (1936), S. 2 - 53 (Nachdruck). Watkins, Calvert: How to Kill a Dragon: Aspects of Indo-European Poetics. Oxford 1995. Weitenberg, Jos: The Meaning of the Expression ›To Become a Wolf‹ in Hittite. In: Perspectives in Indo-European Language, Culture, and Religion: Studies in Honor of Edgar C. Polomé. Mc Lean, Virginia: Journal of European Studies Monographs (1991), S. 189 - 98. <?page no="172"?> Mythos Drache Winder McConnell (Davis) Wenn einer zum Helden werden will, so muß die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind. (Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches) Über den Begriff »Mythos« ist in den letzten 25 Jahren viel geschrieben worden. 1 Keine einzige Definition jedoch kann seiner breiten Bedeutungsskala wirklich gerecht werden. Im allgemeinen Sprachgebrauch findet der Begriff häufig Verwendung im Sinne von »Unwahrheit«, »unfundiertem Glauben«, gelegentlich aber auch »Lüge«, besonders im anglophonen Sprachraum. Dabei kann es sich um den »falschen« Glauben eines einzelnen Individuums oder auch einer Gruppe handeln. Während für viele Tiefenpsychologen und Religionswissenschaftler der Mythos lebensbejahend ist und tiefere Einsichten vermitteln kann, vermag er auf der anderen Seite jedoch auch den Blick auf historische Tatsachen zu verstellen: In der Einleitung zu seinem Buch 1 940. Myth and Reality schreibt Clive Ponting: »Yet the way in which Britain survived and the other stirring events of that year have become obscured by myth. […] The purpose of this book is to strip away the myth and examine the events of 1940 from a different perspective […]. After fifty years it is time to face up to reality.« 2 Spricht man ganz allgemein von »den alten Mythen«, wird im Abendland zumeist an die Göttergeschichten der alten Griechen gedacht. Im 20. Jahrhundert kann der Begriff auch schlicht »Glaube« bedeuten, er hebt dann die mystisch-spirituelle Dimension hervor. Dem nationalsozialistischen Parteiideologen Alfred Rosenberg war Der Mythus des 20. Jahrhunderts ein »Blutmythus«, dessen Grundlage in dem unerschütterlichen Glauben an Einheit, Kraft und künftiges Potential des deutschen Volkes lag, dessen Größter »den Grundstein legt zu dem, was noch nie war, was aber die Sehnsucht aller unserer Sucher beflügelt hat: ein deutsches Volk und eine echte deutsche Volkskultur. Und dies alles ist das wesentlich Neue, was den Mythus unseres Jahrhunderts ausmacht [...] Dieser alt-neue Mythus [...] sagt heute mit tausend Zungen [...] daß wir mit erhöhtem Bewußtsein und flutendem Willen zum erstenmal als ganzes Volk wir selbst werden wollen.« 3 1 Siehe z.B. Kirk, G. S.: Myth. Its Meaning and Functions in Ancient and Other Cultures. Berkeley 1975; Murray, Henry A. (Hrsg.): Myth and Mythmaking. Boston 1960; Sebeok, Thomas A. (Hrsg.): Myth. A Symposium. Bloomington, 1965. 2 Ponting, Clive: 1940. Myth and Reality. London 1990, S. 2 - 3. Der Mythos darf also das historische Ereignis nicht verfälschen. Zum Verhältnis Geschichte - Mythos ist eine Bemerkung Spenglers von großem Interesse: »Nach der Zerstörung Athens durch die Perser warf man alle Werke der älteren Kunst in den Schutt - aus dem wir sie heute wieder hervorziehen - und man hat nie gehört, daß jemand in Hellas sich um die Ruinen von Mykene oder Phaistos zum Zwecke der Ermittlung geschichtlicher Tatsachen gekümmert hätte. Man las seinen Homer, aber man dachte nicht daran, wie Schliemann den Hügel von Troja aufzugraben. Man wollte den Mythus, nicht die Geschichte.« (Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 76. - 81. Auflage München 1950 [Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit], S. 18.) Hier ist der Begriff »Mythos/ Mythus« mit »Glaube« gleichzusetzen. 3 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts. 129. - 132. Aufl. München 1938, S. 685, 699. <?page no="173"?> 172 Winder McConnell Dem Tiefenpsychologen C.G. Jung war das Leben »im Mythos« wesentlicher Bestandteil menschlicher Existenz. Im Vorwort zur vierten Auflage seines Werkes Symbole der Wandlung hat Jung behauptet: »Kaum hatte ich nämlich das Manuskript abgeschlossen, dämmerte es mir, was es heißt, mit einem Mythus oder ohne denselben zu leben. Der Mythus ist das, worüber ein Kirchenvater sagt: ›Quod ubique, quod semper, quod ab omnibus creditum est‹, also bildet der, welcher ohne Mythus oder außerhalb desselben zu leben glaubt, eine Ausnahme. Ja, er ist sogar ein Entwurzelter, welcher weder mit der Vergangenheit, dem Ahnenleben (das immer in ihm lebt), noch mit der gegenwärtigen menschlichen Gesellschaft in wahrhafter Verbindung steht.« 4 Der Mythos Drache spielt offenbar nicht allein in der Antike eine wichtige Rolle. Es handelt sich vielmehr um ein physisch-metaphysisches Phänomen, das in der Vergangenheit nicht nur bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen reale Gestalt gewonnen hat; bis heute glauben Kinder unvermindert an seine Existenz. Drachen haben einst »existiert«; sie existieren auch in unserer Zeit - als etwas Konkretes, sichtbar in der Vorstellungswelt der Kinder, schattenhaft, furchteinflößend, überwältigend-böse, also primär als etwas Negatives im Unterbewußtsein ihrer Eltern. Zentral scheint uns, ganz gleich, ob es sich um das Mittelalter oder die Gegenwart handelt, der Einfluß des Mythos auf die Glaubenswelt. Das ist auch der Kitt, der die verschiedensten Epochen und Kulturen miteinander verbindet, denn der Drache, ob als physische Realität oder metaphysische Vorstellung, war im Glauben der Menschen durch die Jahrhunderte hindurch stets präsent. In seinem Theaterstück An Ideal Husband läßt Oscar Wilde den Vicomte de Nanjac behaupten: »The English young lady is the dragon of good taste.« 5 Unwahrscheinlich, daß die Zuschauer bei der Premiere am 3. Januar 1895 im Theatre Royal, Haymarket die Metapher nicht verstanden hätten. Wie etwa der Drache im altenglischen Beowulf den Hort überwacht hatte, so fungiert nun die englische junge Dame als (nicht ungefährliche! ) Hüterin des guten Geschmacks. Also eine durchaus positive Vorstellung im sozialliterarischen Kontext jener Zeit. Aber eine Ausnahme, denn der Drache, zumindest in der abendländischen Tradition, gilt seit dem Mittelalter als Inbegriff des Chaos und des Zerstörungswillens, eine gewaltige Herausforderung an die Verfechter des »ordo«, ganz gleich, ob es sich dabei um den heldenhaften Siegfried/ Sigurd oder den legendären Sankt Georg handelt. Ob jenes Publikum vor hundert Jahren die vielleicht unbeabsichtigte Ironie des Vicomteschen Appellativs erkannt hat? Das Wort »Drache« (engl. dragon) leitet sich vom lateinischen »draco« 6 ab, Kluge übersetzt: »der scharf Blickende« 7 . Ältere Sprachformen sind das althochdeutsche 4 Jung, C[arl] G[ustav]: Vorrede zur vierten Auflage. In: Symbole der Wandlung. Analyse des Vorspiels zu einer Schizophrenie. Olten 1973 (C.G. Jung: Gesammelte Werke, Bd. 5), S. 11 - 15, hier S. 13. 5 Wilde, Oscar: An Ideal Husband. In: The Picture of Dorian Gray and Other Writings. Hrsg. Richard Ellmann. Toronto 1982, S. 309. 6 Siehe Hogarth, Peter; Clery, Val: Dragons. New York 1979, S. 98: »As it happened, in the latter days of the Roman Empire one of the common military standards was the draco, a representation of a winged dragon. It seems quite possible that this emblem, adopted by the Romans from the conquered peoples of the Empire’s eastern provinces, shaped the evolution of the dragon’s image in the west. Eventually the draco’s wings were to sprout on the dragons of the north.« 7 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Hrsg. Walther Mitzka. 20. Aufl., Berlin 1967, S. 140. <?page no="174"?> Mythos Drache 173 »trahho«, das mittelhochdeutsche »trache«, das altsächsische »draca« und das altnordische »dreki«. Die Formen »drac« und »draic« sind im Altirischen überliefert. Bemerkenswert ist, daß die Bezeichnung für ein Ungeheuer, das - wenigstens im Abendland - als Verkörperung von Zerstörung und Chaos betrachtet wird, ursprünglich mit scharfer oder durchdringender (Ein)Sicht assoziiert wurde; natürlich mag dabei auch eine bestimmte Nebenbedeutung eine Rolle gespielt haben, nämlich die Bedrohlichkeit des durch dringenden oder starren Blicks. Der Drache repräsentiert also eine gewisse Dichotomie: einerseits ist er zerstörerisch und ein Menschenfeind; andererseits haftet ihm etwas durchaus Positives an, er kann über die Gabe der Weisheit, der Voraussage oder der tiefen Einsicht verfügen. Wir können Peter Lum beipflichten, daß »[t]he dragon is pre-eminent among fabulous beasts. He possesses an elemental grandeur, a majesty and an awful power unique in animal mythology.« 8 Joëlle Fuhrmann unterstreicht jene Dichotomie: »Ainsi, l’image de cet animal énigmatique a, depuis les millénaires, fasciné et effrayé les hommes. Les uns voyaient en lui un monstre dévorant les êtres vivants, les autres le caractérisaient comme le symbole du changement et de la vie.« 9 Der Drache ist mit Sicherheit diejenige Gestalt der niederen Mythologie, deren Symbolgehalt sich am schwierigsten auf eine konsistente Weise definieren läßt: »On the symbolic side it has been interpreted as a monster of chaos, an emblem of feminine depravity, a synonym for the life-giving powers of water and earth, a dispenser of dangerous wisdom, a personification of the element Mercury, a martial ensign signifying bravery.« 10 Er symbolisierte also sowohl Gutes als auch Böses. Wie Francis Huxley meint, ist der Drache »the animating principle of every place - the genius loci of trees and rocks, of pools, rivers, mountains and sees, of bridges and buildings, of men and women and children« 11 . Man hat ihn unter anderem als das Große Wesen, die Große Mutter, den Uroboros (Schwanzfresser), die Weltschlange der nordischen Mythologie, als Monstrum »mirabile et audax« interpretiert. 12 Hier wird er weniger als ewiger Gegner des Menschen denn als weiser, scharfsichtiger Beobachter der Weltlage angesehen. In der abendländischen Tradition jedoch ist das Drachenbild, wenigstens seit dem Mittelalter, vorwiegend negativ geprägt. Eine der ältesten dieser negativen Manifestationen des Drachen im Westen findet man allerdings schon in der griechischen Geschichte von Cadmos, dessen Mannschaft von einem brunnenbewachenden Drachen hinge- 8 Lum, Peter: Fabulous Beasts. London [1952], S. 94. 9 Fuhrmann, Joëlle: Les Origines de la Représentation négative du Dragon au Moyen Age. In: Le Dragon dans la Culture Médievale. Hrsg. Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1994 (Wodan. Greifswalder Beiträge zum Mittelalter, Bd. 24), S. 37 [So hat das Bild dieses rätselhaften Tieres über Jahrhunderte hinweg die Menschen fasziniert und erschreckt. Die einen sahen in ihm ein Ungeheuer, das die lebenden Wesen verzehrte, die anderen bezeichneten ihn als ein Symbol der Verwandlung und des Lebens.] 10 Newman, Paul: The Hill of the Dragon. An Enquiry into the Nature of Dragon Legends. Totowa, New Jersey 1979, S. 253. 11 Huxley, Francis: The Dragon. Nature of Spirit, Spirit of Nature. New York 1979, S. 5 - 6. 12 Nicht berücksichtigt worden ist in diesem Beitrag der Drachen-Mythos in morgenländischen Kulturen. Der Hauptunterschied zwischen östlichen und abendländischen Vorstellungen wird sehr anschaulich von Huxley dargestellt: »Courtesies [...] have very generally been paid to dragons in the East, where they are seldom harried to death as in the West« (Huxley [Fn. 11], S. 30). <?page no="175"?> 174 Winder McConnell schlachtet wird. Dieser Drache wird von Cadmos getötet, der sich dann selbst, wie seine Frau, in eine Schlange verwandelt, ehe sie sterben und zum »Ort der Gesegneten« gebracht werden. Von primitiven Zeiten bis zur Gegenwart hat der Drache die Mythologien der verschiedensten Völker durchdrungen. Oft mit dem Schlangenbild verbunden, ist der Drache in seiner negativen Gestalt der ewige Gegner und der Versucher des Menschen und die Inkarnation des Bösen in der Welt, des Teufels Geselle. Der Drache mag ein Opfer verlangen, eine Jungfrau, wie z.B. in der Geschichte des Heiligen Georg 13 ; des öfteren ist er auf das Verschlingen seiner menschlichen Gegner versessen. Der Ursprung dieses Drachenbildes ist vielleicht in Offenbarung 12,3ff. zu finden: »Und ein anderes Zeichen wurde im Himmel gesehen, und siehe! ein großer, feuerfarbener Drache mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und auf seinen Köpfen sieben Diademe; und sein Schwanz zieht ein Drittel der Sterne des Himmels fort, und er schleuderte sie zur Erde hinab. Und der Drache blieb vor dem Weibe stehen, das im Begriff war zu gebären, damit er, wenn sie geboren hätte, ihr Kind verschlänge. Und sie gebar einen Sohn, einen Männlichen, der alle Nationen mit eisernem Stabe hüten soll. Und ihr Kind wurde entrückt zu Gott und zu seinem Thron. Und das Weib floh in die Wildnis, wo sie eine von Gott bereitete Stätte hat, damit man sie dort tausendzweihundertsechzig Tage ernähre. Und Krieg brach aus im Himmel: Michael und seine Engel kämpften mit dem Drachen, und der Drache und seine Engel kämpften, doch gewann er nicht die Oberhand, auch wurde für sie keine Stätte mehr im Himmel gefunden. Und hinabgeschleudert wurde der große Drache - die Urschlange -, der Teufel und Satan genannt wird, der die ganze bewohnte Erde irreführt; er wurde zur Erde hinabgeschleudert, und seine Engel wurden mit ihm hinabgeschleudert.« Teufel in Schlangen- oder Drachengestalt sind ein integraler Bestandteil vieler Schöpfungsmythen; im nordeuropäischen z.B. spielt der Drache Midgardsorm eine wesentliche Rolle. In der nordischen Mythologie ist das Ziel des Drachen Nidhoggr die Zerstörung von Yggdrasil, dem Weltbaum. Sein Zuhause hieß Niflheim, die Unterwelt. Das Ungeheuer erscheint in den unterschiedlichsten Manifestationen überall auf der Welt, sein Wesen ist überaus komplex und rätselhaft, gelegentlich haftet ihm geradezu etwas Göttliches an: »... [T]he dragon - like all other symbols of the instincts in the non-moral religions of antiquity - sometimes appears enthroned and all but deified, as, for example, in the standards and pennons pertaining to the Chinese Manchu dynasty and to the Phoenicians and Saxons.« 14 Die wissenschaftliche Literatur über den Drachen ist kaum überschaubar 15 . Einer Untersuchung des Phänomens bieten sich die verschiedensten Betrachtungsweisen an: Der Drache als »objektive Realität« in primitiven Kulturen, als Symbol, als Projektion, als Allegorie. Eine einzige Perspektive jedoch genügt nicht, der symbolischen Bedeutungsskala dieses Ungeheuers gerecht zu werden, da es all die oben genannten und noch mehr repräsentiert. Der Versuch, eine »drakonische« Typologie zu bestimmen, ist bis heute geschei- 13 Vgl. dazu: John L. Flood: Sankt Georg. In: Herrscher, Helden, Heilige. Mittelalter-Mythen, Bd. 1. Hrsg. Ulrich Müller und Werner Wunderlich. St. Gallen 1996, S. 589 - 605. 14 Cirlot, J. E.: A Dictionary of Symbols. Übersetzt aus dem Spanischen von Jack Sage. New York 21991, S. 86. 15 Siehe Evans, Jonathan D.: The Dragon. In: Smith, Malcolm (Hrsg.): Mythical and Fabulous Creatures. A Source Book and Research Guide. New York 1987, S. 27 - 58. <?page no="176"?> Mythos Drache 175 tert. Joyce Ann Tally hat in ihrer Dissertation die Unmöglichkeit gezeigt, auch nur für die eines »pan-germanischen« Drachen eine überzeugende, konsistente Basis zu schaffen: 16 Ihre Untersuchung dreier mittelalterlicher Quellen: des Beowulfes, der Völsungasaga und des Nibelungenliedes, sowie auch der Gestalt Fafners aus dem Ring Richard Wagners, jenem Werk, dem man das Weiterleben der Nibelungentradition in weiten Kreisen sowohl innerhalb als auch außerhalb Deutschlands verdankt, betont die je besonderen Charakteristika des Drachen in den analysierten Werken. Tally, angeblich in Übereinstimmung mit J.R.R. Tolkien, betrachtet lediglich den Drachen des Beowulf und den Fáfnir der mittelalterlichen skandinavischen (und späteren Wagnerschen) Tradition als einer wissenschaftlichen Untersuchung würdig. Am wichtigsten in Tallys Dissertation ist ihre Beobachtung der Verbindung des Drachen mit dem Helden selbst, und zwar nicht einfach innerhalb des Rahmens einer Auseinandersetzung zwischen Ungeheuer und Held, sondern auch im Sinne einer Verwandlung des Helden in eben jenes Monstrum, das er vernichtet hat: »By bathing in the dragon’s blood, Sîvrit becomes the monster he has slain.« 17 Dabei handelt es sich um einen Verwandlungsprozeß, »Enantiodromia« genannt (Verwandlung eines Dinges in sein Gegenteil) 18 - einen Vorgang, der Tiefenpsychologen schon lange bekannt ist. Ihnen stellt der Drache die Schattenseite der menschlichen Psyche dar. Newman hat mit Recht vorgeschlagen, daß der »dragon must be comprehended as an infinitely complex monster, embodying the paradoxes, aspirations and disturbing psychological traits found in the human personality.« 19 Jolande Jacobi spricht von »außerordentlich vielfältigen Aspekten der Symbolik, in welcher Schlange und Drache in Erscheinung treten«. Sie stellen »im Material des Unbewußten eines der häufigsten und überall vorhandenen Sinnbilder dar«, deren »Bedeutung, je nach dem Zusammenhang, in dem sie erscheinen, zahllosen Variationen unterworfen« ist. 20 Die Allgegenwart des Drachen-Mythos im mittelalterlichen Europa weist auch die mediävistische Forschungsliteratur nach: Drachen findet man sowohl in der Heldendichtung, in den höfischen (Artus)Romanen, in den Heiligenlegenden, Enzyklopädien, Bestiaria, in der Reiseliteratur als auch in der bildenden Kunst (besonders in der allegorischen Kunst der Kirche), in Kirchenfenstern, in Altarstücken oder älteren Runenschnitzereien. Untersucht man die verschiedenen Manifestationen des Drachen in der mittelalterlichen deutschen Literatur, so ist zu fragen, inwieweit er sich in Art und Weise seiner Darstellung von seinen Gegenbildern bei anderen Völkern zu anderen Zeiten unterschei- 16 Tally, Joyce Ann: The Dragon’s Progress: The Significance of the Dragon in ›Beowulf,‹ the ›Volsunga Saga,‹ ›Das Nibelungenlied,‹ and ›Der Ring des Nibelungen‹. University of Denver 1983 (Diss.). Siehe auch: Joyce Tally Lionarons: The Medieval Dragon: The Nature of the Beast in Germanie Tradition. Entfieldhock 1997. 17 Tally (Fn. 16), S. 143. 18 Vgl. C.G. Jung (Fn. 4), S. 478. Weiter oben heißt es: »Der den Drachen bekämpfende Held hat vieles mit dem Drachen gemeinsam, respektive er übernimmt Eigentümlichkeiten von ihm, zum Beispiel die Unverwundbarkeit, die Schlangenaugen usw. Drache und Mensch können ein Brüderpaar sein, wie auch Christus sich selbst mit der Schlange identifiziert, welche - similia similibus - die Schlangennot in der Wüste bekämpft hat. (Johannes 3, 14)« ([Fn. 4], S. 468). 19 Newman (Fn. 10), S. 253. 20 Jacobi, Jolande: Komplex, Archetypus, Symbol in der Psychologie C.G. Jungs. Mit einem Vorwort von C.G. Jung [...]. Zürich 1957, S. 170. <?page no="177"?> 176 Winder McConnell det: Gibt es etwas Besonderes am Drachenbild der mittelhochdeutschen literarischen Denkmäler? Oder sollte er hier, wie auch anderswo, als einer jener Elementargedanken aufgefaßt werden, von denen Adolf Bastian berichtet hat; sollte man ihn unter die Jungschen Archetypen einreihen, die die psychische Einheit der Menschheit widerspiegeln? In der Tat: Der Drache weist bei verschiedenen Völkern und Kulturen deutliche Ähnlichkeiten auf, was Newman auch unterstreicht. Er weist hin auf die »striking similarities of theme, incident and religious belief connected with the dragon in cultures which ostensibly have little bearing upon each other.« 21 Inwieweit mag der mittelalterliche Mensch, der freilich an die reale Existenz von Drachen und anderen Ungeheuern geglaubt hat, den Drachen auch als Metapher betrachtet haben, die mit Aspekten seines eigenen inneren Wesens identifizierbar war? Vor mehr als siebzig Jahren scheint Sir Grafton Elliot Smith implizit eine Antwort auf diese Frage gegeben zu haben: »An adequate account of the development of the dragon-legend would represent the history of the expression of mankind’s aspirations and fears during the past fifty centuries or more.« 22 Eine erschöpfende Behandlung der mittelalterlichen Drachen-Mythen würde Bände füllen. Hier soll der altnordische Fáfnir der Völsungasaga und sein Gegenbild im mittelhochdeutschen Nibelungenlied und in Wagners Ring im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Die Bedeutung Fáfnirs in mittelalterlichen literarischen Zeugnissen ragt über die traditionellen Topoi hinaus, in denen Drachen in literarischen Werken dieser Zeit dargestellt werden. 23 In der Völsungasaga wird der Drache im Prinzip noch als etwas Reales angesehen, das es zu besiegen gilt. Während dieses Motiv in anderen Werken nicht fehlt, scheint der dort jeweils vorhandene symbolische Verwandlungsprozeß noch wichtiger zu sein, der es dem Drachen ermöglicht, in menschlicher Gestalt weiterzuleben - allerdings mit recht verheerenden Folgen. In der Völsungasaga (zwischen 1200 und 1270 entstanden) erfährt Sigurd von seinem Pflegevater Regin, wo er sich einen gewaltigen Schatz aneignen kann. Als Regin erwähnt, daß dieser Hort von Fáfnir auf der Gnitaheide bewacht wird, antwortet Sigurd: »Kann ek kyn þessa orms, þótt vér sém ungir, ok hefi ek spurt, at engi þorir at koma á mót honum fyrir vaxtar sakir ok ilzku« [Obwohl ich jung bin, bin ich mir des Wesens dieses Wurms bewußt, und ich habe erfahren, daß niemand gegen ihn anzutreten wagt - wegen seiner Größe und seiner Grausamkeit.] 24 Fáfnir war einst ein Mensch, ein Sohn Hreidmars, Regin und Otr waren seine Brüder. Er selbst war aber »miklu mestr ok grimmastr ok vildi sitt eitt kalla láta alt þat, er var« [der Größte und Fürchterlichste und wollte alles sein eigenes nennen] (14: 24). Habgier veranlaßte Fáfnir, Vatermord zu begehen und mit dem Lösegeld zu entfliehen, das Loki für die nach dem Mord an Otr in Geiselhaft genommenen anderen Aesir, Odin und Hoenir, bezahlt hatte. Bei diesem Lösegeld handelte es sich allerdings um einen Schatz, der ur- 21 Newmann (Fn. 10), S. 2. 22 Smith, Grafton Elliot: The Evolution of the Dragon. Manchester 1922, zitiert bei Newman (Fn. 10), S. 1. 23 Evans faßt jene Erzählstrukturnarrative prägnant zusammen: »[...] the dragon guards something valuable; someone tries to take it; the dragon resists, and a battle ensues; the dragon is slain; the victor acquires the object sought« (Evans [Fn. 15], S. 29). 24 Die Volsungasaga. Nach Bugges Text mit Einleitung und Glossar. Hrsg. Wilhelm Ranisch. Berlin 2 1908. Zitate im Text sind dieser Ausgabe entnommen und werden mit Kapitelnummer und Seitenzahl angegeben; hier: 13: 23. <?page no="178"?> Mythos Drache 177 sprünglich dem Zwerg Andravi gehört hatte. Dieser hatte, besiegt und gezwungen, sein letztes Stück Gold herzugeben, den Ring Andvaranaut, den Hort mit einem Fluch belegt. Fáfnir verwandelte sich daraufhin in eine Schlange und zog in die Wüste. Zu beachten ist, daß - im Vergleich zu einem Ungeheuer wie Grendel im Beowulf - Fáfnir anscheinend so gut wie gar nichts mehr mit der Welt zu tun hat, nachdem er sich auf die Gnitaheide zurückgezogen hat: »Hann gerþiz svá illr, at hann lagþiz út, ok unni ø ngum at njóta fjárins nema sér ok varþ síþan at inum versta ormi ok liggr nú á því fé« [Er wurde so unleidlich, daß er in die Wildnis ging und sonst niemanden den Schatz genießen ließ und seitdem ist er der übelste Wurm geworden und liegt auf dem Hort] (14: 25) erklärt Regin, aber es gibt keinen Hinweis darauf, daß Fáfnir irgendetwas anderes unternimmt, als durch seine bloße Anwesenheit auf der Gnitaheide alle die abzuschrecken, die auf den Gedanken kommen sollten, sich den Hort anzueignen. Der Drache hat natürlich als Vatermörder seine dunkle Vergangenheit, aber als abschreckendes Hindernis erfüllt er doch eine durchaus positive Funktion. Der Schatz ist verflucht, er repräsentiert zerstörerische, unbegrenzte Macht, Habgier und den Verlust jeglichen Maßes. So ist er machtvoll genug, die Harmonie, den »ordo« der Gesellschaft zu bedrohen, sogar zu zerstören. Paradoxerweise beschützt also der Drache die Gesellschaft, schützt den Menschen vor sich selbst. In der Wüste stellt weder er selbst noch der Hort, den er hütet, eine mittel- oder unmittelbare Gefahr für die Welt dar. Der Fluch wird in diesem Sinne neutralisiert. Im Vergleich zu Grendel im Beowulf, dem boshaft-aggressiven Drachen im Tristan oder dem die höfische »vröude« zerstörenden Greif der Kudrun, die alle die »höfische Welt« überfallen und Chaos unter den Menschen stiften, ist Fáfnir recht passiv. Er selbst und sein Reich sind die von außen, vom Menschenbereich eigentlich Bedrohten. Sehr ausführlich wird vom Tode Fáfnirs berichtet. 25 Das Ungeheuer ist weit und breit bekannt, denn Sigurd scheint schon vor seiner »Aufklärung« durch Regin von ihm gewußt zu haben. Getrieben vom Wunsch, sich den Schatz anzueignen, drängt Regin Sigurd, seinen Bruder Fáfnir zu töten, ohne zu ahnen, daß dies - mittelbar - auch zu seinem eigenen Ableben beitragen wird. Auffallend ist die eindimensionale Reaktion Sigurds auf die von Regin erzählte Geschichte. Fixiert auf die Aussicht auf eine heldenhafte Tat reflektiert Sigurd keinen Augenblick über die Bedeutung des Fluches. Er kommt auch nie darauf zurück, sondern widmet sich ganz der Zerstörung Fáfnirs. Zwar dient Sigurd anfänglich als Werkzeug des rachsüchtigen Regin, denn er ist selbst über die schlechte Behandlung des letzteren vonseiten seiner Verwandten empört. Erst als es Regin zweimal mißlingt, ein passendes (d. h. unzerbrechliches) Schwert für Sigurd zu schmieden, wird die wachsende Spannung zwischen ihnen deutlich. Verschwunden ist Sigurds Mitleid mit der Lage Regins schon längst, als er schließlich diesen zwingen muß, die Einzelteile seines Vaterschwertes Gram zusammenzuschweißen. Auch wenn die ursprüngliche Hauptmotivation Sigurds bei der Erschlagung Fáfnirs die Erfüllung seines Regin gegenüber geschworenen Eides bildet, ist seine Haltung in dieser Hinsicht nicht konsistent. Das Gespräch zwischen Sigurd und Fáfnir, das gleich nach der tödlichen Verwundung des Drachen stattfindet, verdient unsere Aufmerksamkeit. Sigurd bezeichnet sich 25 Siehe Byock, Jesse L. (Übers.): The Saga of the Volsungs: The Norse Epic of Sigurd the Dragon Slayer. Berkeley, CA 1990, Kap. 13 ff. Ursprünglich dürfte, wie Beowulf bezeugt, Siegmund (der Vater Sigurds) und nicht Sigurd der Besieger des Drachen gewesen sein. <?page no="179"?> 178 Winder McConnell als das »gfugt dýr« [das vornehme Tier] (18: 29), ehe er seinen eigenen Namen und die Identität seines Vaters bekannt gibt. 26 Von Fáfnir erfährt Sigurd noch einmal das, was er schon von Regin über den Fluch mitgeteilt bekommen hatte. Dabei übernimmt der Drache die Rolle des Sehers, des Wahrsagers, sogar des (wenn auch nicht in Anspruch genommenen) Helfers. Er scheint Sigurd durchaus gutgesinnt zu sein: »Heiptyrþi tekr þú hvetvetna þat, er ek mli, en gull þetta mun þér at bana verþa, er ek hefi átt [...]. Fátt vill þú at mínum d ø mum gera, en drukna muntu, ef þú ferr um sjá úvarliga, ok bíþ heldr á landi, unz logn er« [Alles, was ich erzähle, faßt du böse auf, aber dieses Gold, das mir gehörte, wird dein Tod sein [...]. Du willst nicht auf meinen Rat hören, aber du wirst ertrinken, wenn du unvorsichtig auf dem Meer fährst. Bleib stattdessen auf dem Festland, bis es ruhig wird.] (18: 30) 27 Das sind nicht die zornigen (nicht einmal trotzigen) Worte eines sterbenden Gegners, sondern ist eher der wohlgemeinte Hinweis einer fast väterlichen Gestalt auf die Gefahr, die von der Beute ausgeht. Sigurds Antwort klingt recht lakonisch, fast floskelhaft: »Hverr vill fé hafa alt til ins eina dags, en eitt sinn skal hverr deyja« [Jeder will bis auf jenen Tag Eigentum haben, aber jeder muß irgendwann mal sterben] (18: 30). Als Sterbender hat Fáfnir nichts mehr zu verlieren. Sein Rat an Sigurd ist tatsächlich der Rat des alten Weisen; wir erkennen darin einen Rest jener ursprünglichen Bedeutung »des scharf Blickenden«, der sich durch seine Weisheit und sein Wissen von der mutigen, gleichzeitig aber auch arroganten Jugendgestalt Sigurds unterscheidet. Während die Völsungasaga noch die Drohung Fáfnirs enthält: »þat rþ êk þér, at þú takir hest þinn ok ríþir á brott sem skjótast, þvíat þat hendir opt, at sá, er banasár fr, hefnir sin sjálfr,« [Ich rate dir, daß du dein Pferd nimmst und wegreitest, so schnell du kannst, denn es kommt oft vor, daß derjenige, der tödlich verwundet wird, sich rächt] (18: 31), bleiben Fáfnirs Worte in der Edda frei davon: »Ich rate dir, Sigurd, den Rat nimm an und reit von hinnen heim: Das gleißende Gold und der glutrote Schatz - es bringt der Hort dich zur Hel! « (Genzmer 125-126) Die Rolle Fáfnirs in der Völsungasaga (und auch im Fáfnismál) hat eigentlich herzlich wenig mit dem von ihm selbst beschriebenen Terror zu tun, den er mit seinem »Schreckenshelm« unter abenteuersuchenden Helden ausgeübt haben soll, sondern vielmehr mit seiner Funktion als archetypischem Ratgeber, dessen Rat und Weisheit vom Helden wohl erkannt, aber nicht befolgt werden. Der sterbende Fáfnir ist mit der Wahrheit identifizierbar; sie wird von Sigurd zwar nicht verneint, ändert jedoch nichts an seinem vorgefaßten Entschluß, der vom Moment des Heroischen, nicht Weisen, bestimmt wird. Solange Fáfnir den Hort hütete, solange er von keinem Helden, der den Schatz begehrte, besiegt wurde, blieb der Fluch wirkungslos. Fáfnir hat eigentlich den Teufelskreis von 26 Vgl. auch das Fáfnismál der Edda, wo Fáfnir gleich wissen möchte, wessen Sippe Sigurd entstammte. Der Prosateil bietet eine Erklärung an, weswegen Sigurd nicht sofort die Wahrheit sagte: »Sigurd verbarg seinen Namen; denn das war der Glaube in alter Zeit, daß das Wort eines Sterbenden viel vermöchte, wenn er seinen Feind mit Namen verfluche«. Genzmer, Felix (Hrsg.): Edda. Bd. 1: Heldendichtung. Einleitungen und Anmerkungen von Andreas Heusler und Felix Genzmer. Revidiert und mit Nachwort versehen von Hans Kuhn. 4. Aufl., Darmstadt 1975 (Thule: Altnordische Dichtung und Prosa, Bd. 1), S. 121. 27 Deutlich und vielleicht noch eindrucksvoller sind die Worte Fáfnirs im Fáfnismál: »Feindlichen Sinn / findst du in allem; / doch Wahrheit nur weis ich dir« (Genzmer [Fn. 25], S. 123). <?page no="180"?> Mythos Drache 179 Tragik und Zerstörung, den der Fluch förderte, gebrochen. Mit seinem Tod findet jener Fluch neues Leben. Das übliche Symbol des Chaos war in der Völsungasaga und im Fáfnismál zum Hüter des ordo geworden. Mit seinem Tode wurde das malum, die inordinatio wieder in die Welt gesetzt: der Träger des neuen Chaos ist Sigurd/ Siegfried. Fáfnir wird im mittelhochdeutschen Nibelungenlied niemals beim Namen genannt und ist längst tot, als dem burgundischen König Gunther die Geschichte von Siegfrieds jugendlichen Abenteuern von einem »wissenden« Hagen in der dritten Aventiure des Epos berichtet wird. Die Forschung hat sich relativ wenig für die vierzehn einschlägigen Strophen interessiert, galten sie doch nur als notwendig übernommenes Relikt aus der Nibelungenüberlieferung. Stellvertretend für diese Haltung ist der Kommentar der Herausgeber einer Standardausgabe des Nibelungenlieds zur Strophe 87ff.: »Siegfrieds ganze Jugendgeschichte wird nur hier in Hagens Bericht und nur soweit berührt, als sie zum Verständnis späterer Ereignisse (Hornhaut, Tarnkappe, Schatz) unentbehrlich ist. Das Märchenhaft-Wunderbare der Jung-Siegfried-Geschichten paßte nicht zu dem höfisch erzogenen Königssohn, den der Dichter vorbildhaft darstellen wollte.« 28 Obwohl der anonyme Dichter des Nibelungenliedes nicht lange bei den Einzelheiten des Aufenthalts seines Helden in der »anderen Welt« verweilte, galt die Treue zur Tradition mit Sicherheit nicht als einziger Grund, weswegen dieser relativ kurze Bericht der Nibelungenlandabenteuer in das Epos übernommen wurde: Zum einen findet sich hier ein Hinweis auf die enge, jedoch höchst problematische Beziehung Siegfrieds zur unhöfischen Sphäre; zum anderen wird die Neigung des Helden zu unvorsichtigem Handeln und Reden angedeutet, die die Stabilität der höfischen Gesellschaft bedroht. Die Beschreibung des Kampfes zwischen Siegfried und dem »lintdrachen« 29 beschränkt sich auf eine Strophe (100), die die drei entscheidenden Momente schildert: 1. Siegfried hat den Drachen getötet; 2. Siegfried hat im Drachenblut gebadet; 3. das Blut hat Siegfrieds Haut so zäh gemacht, daß sie von keiner Waffe verletzt werden kann. Dieselbe Information wird von Kriemhild in Strophe 899 kurz vor Siegfrieds Tod wiederholt; in Strophe 902 teilt sie Hagen mit, daß ein Lindenblatt zwischen den Schultern ihres Gatten eine verwundbare Stelle hinterlassen habe. Man tendiert dazu, die Bedeutung der Drachenepisode des Nibelungenliedes geringzuschätzen, sie diene nur dazu, Siegfrieds »Unverwundbarkeit« zu erklären, ansonsten wäre sie aber für die Handlung des Werkes von wenig Belang. Es ist durchaus richtig, daß der Dichter eher das menschliche als das mythologische Element in seinem Epos hervorgehoben hat; Betonung des einen bedeutet aber nicht notwendigerweise Verzicht auf das andere. Statt daß Siegfried vom Drachen verschlungen wird, findet eine symbolische Einbindung Siegfrieds - durch das Bad im Drachenblut - in die Welt des Mythos statt. Er verleibt sich seinerseits durch diesen Akt den Drachen ein, was als symbolische Teilhabe des Helden am Chaos (das er ja kurz danach in der höfischen Welt auslösen wird) ausgelegt werden kann. Ähnliches findet man in der nachnibelungischen Kudrun. Der entführte Prinz Hagen von Irland wird von einem gabilûn angegriffen, der ihn verschlingen will: 28 Aus dem Nibelungenlied wird zitiert nach der Ausgabe von Helmut de Boor (nach der Ausgabe von Karl Bartsch), 21. Aufl., revidiert von Roswitha Wisniewski, Deutsche Klassiker des Mittelalters. Wiesbaden 1979; hier: S. 20, Kommentar zur Strophe 87. 29 Nibelungenlied, 100,2a. Man merke, daß dieses Kompositum aus dem alten Wort »lint« = Schlange und drache zusammengesetzt wird. <?page no="181"?> 180 Winder McConnell »Von sîner herberge gieng er in den walt. dâ sach er vil der tiere frevele unde balt. dar under was ir einez, daz wolde in verslinden. daz sluog er mit dem swerte; ez muoste sînes zornes harte enphinden.« 30 Hagen gelingt es, den gabilûn zu töten. Nachdem er ihn enthäutet hat, heißt es: »in luste sînes bluotes. dô er des vol getranc, / dô gewân er vil der krefte« (101,3 - 4a). Nach seiner Heimkehr und Krönung benimmt er sich so, daß ihm berechtigterweise die Bezeichnung »Vâlant aller künige« (168,2a) zuteil wird. Auch sein Wüten gegen die Freier seiner Tochter Hilde kann in der Gesellschaft nicht auf die Dauer geduldet werden. Im Gegensatz zu Siegfried wird er aber rechtzeitig zum »Maßhalten« gezwungen, bevor man ihn töten muß, weil seine Wut und sein »übermuot« chaotische Zustände herbeiführen. Als Siegfried hingegen versucht, sich wieder in die höfische Welt zu integrieren, tritt in seiner Gestalt das Drachenhaft-Chaotische in die geordnete Welt des Hofes ein, wo ihm natürlich Einhalt geboten werden muß. Siegfried repräsentiert nicht nur eine Gefahr für Worms, sondern für die gesamte höfische Welt. Das Chaotische des Helden manifestiert sich in seinem ungebändigten »übermuot«, worauf auch der spätere Klage-Dichter hinweist. 31 Siegfrieds Tod ist angesichts seiner Andersartigkeit und deren negativer Folgen unvermeidlich, wenn die höfische Gesellschaft weiterhin bestehen soll. Womit man allerdings nicht gerechnet hat, war die Verwandlung Kriemhilds in eine »vâlandinne«, die wie ein neuer Drache die Welt verwüstet und schließlich auch, nicht mehr als Mensch, sondern als Ungeheuer von Hildebrand in Stücke zerhauen wird. Fafner erscheint in Wagners Ring des Nibelungen als Riese (im Rheingold ), Bruder Fasolts, aber auch als Schlangenwurm (im Siegfried). Uns interessiert hier weniger seine Rolle als Mitentführer der Freia in R heingold als sein Gespräch mit Siegfried im Siegfried - Teil der Oper. Angelockt vom Pfeifen Siegfrieds erscheint Fafner »in der Gestalt eines ungeheuren eidechsenartigen Schlangenwurmes« 32 . Lachend begrüßt der Held die drachenähnliche Gestalt und, sobald er festgestellt hat, daß diese reden kann, fragt er: »wohl ließ’ sich von dir was lernen? « 33 , nämlich das Fürchten. Fafner beabsichtigt, Siegfried zu verzehren, wird aber im Kampfe gegen ihn tödlich verwundet. Es ist eigentlich ein Kampf zwischen einem Wissenden und einem sich selbst nicht kennenden Jungen: »Viel weiß ich noch nicht, / noch nicht auch, wer ich bin.« 34 Siegfried bekommt eine ähnliche Botschaft mitgeteilt wie Sigurd in der Völsungasaga , nämlich: das Gold sei verflucht, denn »des Hortes Herrn umringt Verrat [...] Merk’, wie’s endet; - acht’ auf mich! « 35 Siegfried erkennt durchaus die Weisheit und Erfahrenheit des Sterbenden, der aber stirbt, bevor er ihm mitteilen kann, woher er stammt. Zum Hüter des Hortes wird jetzt Siegfried, wie in der Völsungasaga u nd im N ibelungenlied , gleichzeitig aber auch zum Erben des Fluches; Siegfried ist der neue Drache, ist zum Symbol des Chaos geworden. 36 30 Kudrun. Hrsg. Karl Bartsch. Überarbeitet und neu eingeleitet von Karl Stackmann. 5. Aufl., Wiesbaden 1965 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), Str. 100. 31 Diu Klage. Mit den Lesarten sämtlicher Handschriften. Hrsg. Karl Bartsch. Darmstadt 1964, V. 38 f.: »unt daz er selbe den tôt / gewan von sîner übermuot«. 32 Wagner, Richard: Werke in zwei Bänden. Hrsg. Peter A. Faessler. Bd. 2: Der Ring des Nibelungen; Zweiter Tag: Siegfried. Zürich 1966, S. 175. 33 Wagner (Fn. 32), S. 175. 34 Wagner (Fn. 32), S. 177. 35 Wagner (Fn. 32), S. 177. <?page no="182"?> Mythos Drache 181 Das Motiv des Verschlingens, das auch auf den siegreichen Helden übertragen wird, bezieht sich vielleicht auf den alten Glauben an die Übertragbarkeit der Eigenschaften eines besiegten Feindes, die durch dessen Verzehr vom Sieger »assimiliert« werden können. Der Drache war wegen seiner Angriffslust, seiner Macht und seines Vermögens (als Hüter eines [Welt? ]-Hortes), aber auch wegen seiner chaotischen Natur berühmt-berüchtigt. Cirlot behauptet: »The dragon […] stands for ›things animal‹ par excellence.« 37 Das »Verschlingen« des Drachen durch den mittelalterlichen Helden stellt eine Assimilation dieser »things animal« dar, d.h. die Aneignung von Charakteristiken, die zu den Sitten und Gebräuchen der höfischen Gesellschaft im Widerspruch stehen. Die Begegnung des Helden mit dem Ungeheuer führt nicht unbedingt zu einer Rettung jener Gesellschaft vor zerstörerischen Kräften der »anderen Welt«, sondern kann leicht einen geistigen Verwandlungsprozeß herbeiführen, der einen neuen Drachen im Helden selbst erzeugt. Der Held wird zum Drachen in einer mittelalterlichen Reflexion dessen, was viel früher z. B. in der ägyptischen Mythologie stattgefunden hatte: »[A]s the gods developed and their natures became increasingly dualistic, they acquired some of the traits of the monsters they so assiduously dispatched. Hathor, for example, in the myth of ›the destruction of Mankind‹, to restore the health of Re, employs the destructive vehicle known as the ›Eye of Re‹ to slaughter rebellious mankind.« 38 Der altenglische Held Beowulf hat einen wirklichen Drachen erschlagen. In der nordischen Völsungasaga tötet Sigurd einen Mann (Fáfnir), der sich selbst in einen Drachen verwandelt hat. Im Nibelungenlied berichtet Hagen von Siegfrieds Sieg über einen Drachen im Nibelungenland, der niederländische Held eignet sich selbst Charakteristiken des erschlagenen Ungeheuers an. Tristans Drache ist auch ein wirklicher Drache, der allerdings in seiner Fähigkeit, Chaos in der höfischen Welt zu stiften, von Tristan mühelos übertroffen wird. In der Kudrun schließlich weist Hagen von Irland dem von ihm getöteten »gabilûn« nach seiner Heimkehr sehr ähnliche Eigenschaften auf, aber bei ihm wird der Transformationsprozeß nicht verabsolutiert. Gehört Fáfnir lediglich der mittelalterlichen Welt der Nibelungen bzw. der bunten Welt der Nibelungenüberlieferung an? Als Hüter eines verfluchten Schatzes oder als besiegter Gegner eines Helden, der trotzdem dem Sieger guten Rat und weise Worte - wie sie auch von Wagners Fafner gesprochen werden - anbietet, findet Fáfnir wenige, wenn überhaupt irgendwelche Gegenstücke in der Gegenwart. 39 Die durchaus magische Macht, die der Drache im mittelalterlichen Glauben einst besaß, hat er verloren. Im 20. Jahrhundert wirkt jenes Ungeheuer jedoch immer noch nach. Diese Nachwirkung läßt sich am besten aus der psychologischen Perspektive beschreiben: Die Metapher des Drachen wird in unserer Zeit verwendet, um alles zu bezeichnen, was als überwältigend, äußerst gefährlich oder bedrohend, zerstörerisch, chaosstiftend 36 Ähnliches könnte man von Tristan in Gottfrieds höfischem Epos behaupten. Nachdem er den irischen Drachen erschlagen hat, der ganz Irland bedroht und unzählige andere höfische Gegner ums Leben gebracht hatte, schneidet er ihm die Zunge aus, deren Gestank, als er sie zwischen Hemd und Brust legte - auch eine symbolische Assimilation! - dazu beiträgt, daß er in Ohnmacht fällt. Tristan wird durch seine Liebe zu Isolde auch zur Verkörperung des Chaotischen am Hofe Markes. 37 Cirlot (Fn. 14), S. 86. 38 Newman (Fn. 10), S. 20 . <?page no="183"?> 182 Winder McConnell angesehen wird. Das Wort »Drache« findet sich heutzutage buchstäblich überall in unserer Sprache. Jonathan D. Evans meint: »[W]ith few exceptions, modern dragon lore offers no major departures from the medieval dragon tradition from which it borrows its most salient features.« 40 In seinem Werk Also sprach Zarathustra hat Nietzsche in der ersten Rede Zarathustras (»Von den drei Verwandlungen«) von dem »großen Drachen« gesprochen, der »Dusollst« heißt. 41 Der Drache bleibt häufige Metapher in der Literatur 42 . Von dem zeitgenössischen Literaturkritiker Harold Bloom wird die Drachengestalt beispielsweise verwendet, um auf die Bedrohung des abendländischen literarischen Kanons von seiten der Verfechter der »political correctness« hinzuweisen: »The dragon is out there, all right [...]. They’ve destroyed literary studies at all but four or five universities, reading Alice Walker instead of Spenser, Milton and Shakespeare.« 43 Es gibt kaum einen Bereich der modernen Welt, in dem die Drachenmetapher keine Verwendung findet, ob es sich dabei um die Umweltprobleme Hongkongs handelt 44 , oder die gigantische Landmasse Chinas (wozu sich ein unbegrenztes wirtschaftliches und militärisches Potential gesellt), 45 Medizin (die AIDS-Epidemie; es gibt sogar den »Malpractice«-Drachen in den USA) 46 , Psychologie (den Depressionsdrachen) 47 , sowie noch viel esoterischere Gegenstände wie den Versuch, Abfallprodukte in Energie zu verwandeln. 48 Der bekannte britische Golfplatz Royal St. George’s wurde - wegen der Schwierigkeiten, die er sogar dem professionellen Golfspieler bietet - als »Drache« bezeichnet. 49 Es gibt 39 Eine Ausnahme bildet der Drache (»Draco«) im Spielfilm Dragon Heart. Als letzter Drache befreundet er sich mit seinem einstigen Feind, einem drachentötenden Ritter, und leistet ihm Hilfe in Bedrängnis. Aber auch bei diesem vorwiegend positiven Bild eines lebensspendenden Drachen schimmert die dunkle Seite durch. Indem der von einer verzweifelten Mutter und König aufgesuchte und um Hilfe angeflehte Draco dem sterbenden Sohn derselben (und künftigen - freilich auch brutalen und ungerechten König) neues Leben einflößt, setzt er ein neues Unheil in die Welt, das erst druch das endgültige Verschwinden des Drachen selbst (d.h. des Ursprungs des Chaos) ausgelöscht werden kann. (Dragonheart, US 1996; Regie: Rob Cohen). 40 Evans (Fn. 13), S. 27. 41 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Werke in zwei Bänden, Bd. 1. Hrsg. Ivo Frenzel auf Grund der dreibändigen Ausgabe von Karl Schlechta. München 1967, S. 559. 42 Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Beschreibung des »unmäßige[n] Papierkorb[s]« des Zeitungsredakteurs in Knut Hamsuns Roman Hunger (1890): » […] ein unmäßiger Papierkorb, der aussah, als könne er einem Mann mit Haut und Haar verschlingen. Mir wurde traurig zumute beim Anblick dieses ungeheuren Rachens, dieses Drachenmaules, das immer offen stand, immer bereit, neue abgelehnte Arbeiten - neue zerbrochene Hoffnungen aufzunehmen.« (Hamsun, Knut: Hunger. Romane Bd. 1. München 1974, S. 19 - 180, hier S. 99). 43 Zitiert nach Leo, John: How the West was lost at Yale. In: U.S. News & World Report (3. April 1993), S. 19. 44 Siehe Hills, Peter; Barron, William: Hongkong: Can the Dragon clean its Nest? In: Environment 32 / Nr. 8 (1990), S. 16. Und weiter zu Hongkong: Gaylord, Mark S. Galliher, John F.: Riding the Underground Dragon: Crime Control and Public Order on Hong Kong’s Mass Transit Railway. In: The British Journal of Criminology 31 / Nr. 1 (1991), S. 15-26. 45 Siehe: China: The Dragon Awakes. In: Chilton’s Food Engineering International 18 / Nr. 6 (1993), S. 65; Theroux, Paul: Going to see the Dragon. In: Harper’s 287 / Nr. 1721 (1993), S. 33; Godwin, Paul; Schulz, John J.: Arming the Dragon for the 21st Century: China’s Defense Modernization Program. In: Arms Control Today: A Publication of the Arms Control Association 23 / Nr. 10 (1993), S. 3. 46 Z.B. Wachter, R. M.: Dragon within the Gates: The Once and Future AIDS Epidemic. In: JAMA: The Journal of the American Medical Association 269 / Nr. 22 (1993): [Keine Seitenzahlen]; Griffin, Glen C.: Get Congress to Kill the Malpractice Dragon. In: Postgraduate Medicine 88 / Nr. 6 (1990), S. 13 - 18. <?page no="184"?> Mythos Drache 183 auch immer noch die Bezeichnung »dragon lady« im Sinne einer starken und wachsamen Frau (wie einst Oscar Wildes »English young lady«). 50 Die früheren Vorstellungen vom bösen Drachen finden also in der Gegenwart ihre Gegenstücke in den mannigfaltigen Metaphern für überwältigende Gegenstände, Ereignisse, Prozesse, Länder, sogar anscheinend unheilbare Krankheiten und unlösbare Umweltprobleme, die die Menschheit plagen. Auch diese Drachen gilt es zu besiegen, wie einst Fáfnir, Beowulfs fürchterlichen Gegner, oder den angriffslustige Drachen, den Tristan erschlägt. Wenn auch die meisten zeitgenössischen Drachen-Metaphern auf dessen durchaus negative oder zumindest potentiell gefährliche Natur abzielen, unterstreichen die Hinweise auf berühmte «Dragon Ladies« die als sehr positiv aufzufassende Hüter-Funktion der Drachengestalt. Die Kontinuität der Ambivalenz des Mythos Drache bleibt also erhalten, bis heute vermag er sowohl Schrecken zu verbreiten als auch den Menschen zu imponieren. Die alten Drachenbilder faszinieren weiterhin Schriftsteller, Erzähler und Poeten: So erinnert der feuerspeiende Smaug in J. R. Tolkiens Lord of the Rings an viele Vorläufer in der germanischen und keltischen Mythologie; und der Midgard-Schlangen-Drache der nordischen Mythologie bildet die dritte »Zeichnung« der »Three Drawings« (betitelt: A Haul) des irischen Nobelpreisträgers Seamus Heaney: »The one that got away from Thor and the giant Hymir was the world-serpent itself. The god had baited his line with an ox-head, spun it high and plunged it into the depths. But the big haul came to an end when Thor’s foot went through the boards and Hymir panicked and cut the line with a bait-knife. Then roll-over, turmoil, whiplash! A Milky Way in the water. The hole he smashed in the boat opened, the way Thor’s head opened out there on the sea. He felt at one with space, unroofed and obvious - surprised in his empty arms like some fabulous high-catcher coming down without the ball.« 51 Als Elementargedanke ist der Drache wahrscheinlich so alt wie die Menschheit selbst. Angesichts seiner ungebrochenen Präsenz in Volksglauben, Mythologie, Literatur und Kunst und vor allem im Bereich der Metapher bis in unsere Zeit scheint sein Platz in der Vorstellung der Menschen auch darüberhinaus, bis ins kommende Jahrtausend, gewährleistet zu sein. 47 Siehe Ulanov, Ann u. Barry: Transforming Sexuality. The Archetypal World of Anima and Animus. Boston 1994, S. 6: »A woman scientist has worked hard on a difficult experiment, feeling she has worked ›like a man.‹ Then she looks to her close male friend to ›reward‹ her. He misses her signal. She falls into bad moods and wants him to get her out of them, to slay the dragon of her depression and rescue her from her isolated castle.« 48 Siehe: Slay the WTE plant dragon: Boiler tube wastage. In: Power 136 / No. 10 (October 1992), S. 42; Sludge Buster slays can plant’s dragon of waste. In: Modern Metals 47 / No. 7 (1991), 66N- 66Q. 49 Doust, Dudley: The Dragon. In: Golf Magazine 35 / Nr. 7 (1993), S. 36. 50 Siehe Benze, James G.: Nancy Reagan: China Doll or Dragon lady? In: Presidential Studies Quarterly 20 (1990) Nr. 4, S. 777; The dragon lady’s revenge. Prosecutor Cathy Palmer’s war against heroin lords. In: U.S. News and World Report 109 (2. Juli 1990) Nr. 1, S. 23 - 27. Siehe auch die Besprechung Roger Kimballs von Sex, Art, and American Culture der amerikanischen Professorin und Essayistin Camille Paglia: »Dragon Lady of Academe« (in: Wall Street Journal [17. September 1992]). Obwohl die Gegner der zwar kontrovers diskutierten, zweifellos aber brillianten Camille Paglia sie wohl am liebsten als feuerspeienden Drachen bezeichnen möchten, halten doch viele diese »Dragon Lady of Academe« keineswegs für ein zerstörerisches, chaosstiftendes Ungeheuer, sondern eher für eine erfolgreiche und glaubwürdige Hüterin akademischer Maßstäbe und Integrität in einer armseligen Zeit. 51 Heaney, Seamus: Seeing Things. New York 1993, S. 14. <?page no="186"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis Vom mittelalterlichen Mythos zum modernen Zelluloid-Nervenkitzel Klaus M. Schmidt (Bowling Green) Es ist erstaunlich, daß bei Anbruch des modernen Zeitalters, um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, nachdem die letzte Feuerwalze des Hexenwahns Europa und zum Teil auch die neue Welt überrollt hatte, und als sich die Regierungen daran machten, die tödlichen Scheiterhaufen ein für alle Mal zu ersticken, ein neues, uraltes Monster sein Haupt aus dem Grab reckte, der menschliche Vampir, der Nosferatu, der Untote. 1 Nachdem dieses Monster sich zunächst an den verletzlichen Geistern einer naiven Landbevölkerung gelabt hatte, drang es bald auch in die intellektuellen literarischen Zirkel des westlichen Europas ein. Dennoch sollte es noch fast ein Jahrhundert dauern bis das literarische Musterexemplar eines solchen Monsters, Graf Dracula, durch den irischen Schauer-Romancier Bram Stoker geboren war. Stoker hatte sich den Namen seines Anti-Helden von dem sinistren historischen Herrscher der Wallachei, Dracula, Vlad Tepes (dem Aufspießer, 143 - 1476), entlehnt. Als er um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert seinen Dracula schuf, waren die Scheiterhaufen der hysterischen Hexenjagden längst erloschen, und die grausigen Exorzismen mit zugespitzten Holzpflöcken und Äxten auf entlegenen Landfriedhöfen hatten aufgehört, Teil des täglichen Lebens zu sein. Dennoch hat die Faszination von Dracula die Unterhaltungsindustrie unseres Jahrhunderts zu unglaublichen Höhenflügen gepeitscht. Bislang wurden weit mehr als 650 Vampirfilme und unzählige Vampirromane und -kurzgeschichten produziert. Vampire erscheinen als Comic-Heftserien, auf Schachteln für Frühstücksflocken und auf den Regalen der Spielzeugläden, und sie sind zu einem der beliebtesten Karnevals-, Mardi-Gras-, Halloween- und Maskenballkostüme geworden. Überall auf der Welt hat man Vampirgesellschaften gegründet, und schließlich umspannt schon seit 1 Siehe Klaniczay, Gábor: The Uses of Supernatural Power. The Transformation of Popular Religion in Medieval and Early-Modern Europe. Übers. Susan Singerman. Hrsg. Karen Margolis. Princeton, N.J. 990, Kap. 10, S. 168 - 88. Fürst Dracula, eigentlich Fürst Vlad III. <?page no="187"?> 186 Klaus M. Schmidt Jahren ein internationales Vampir-Computernetz die Kontinente Amerika, Europa und Australien. Es versorgt seine Mitglieder mit Nachrichten über die neuesten Trends auf dem Gebiet der vampirischen Unterhaltung und Praktiken. Daneben bietet das Vampirnetz auch ein »schwarzes« Brett, auf dem lebhafte Diskussionen über ernsthafte und weniger ernstgemeinte Theorien zum Vampirismus und seinen Ursprüngen ausgetragen werden. Ebenso erscheinen Vampirromane in Fortsetzungsfolge, Kurzgeschichten, Vampirgedichte und -songs regelmäßig auf den Seiten dieser elektronischen Zeitschrift. Schließlich hat das WorldWideWeb dem Vampir einen Nährboden beschieden, der die rattenverseuchte Friedhofserde eines Dracula als kümmerliches Medium zur Ausbreitung seines Erbes erscheinen läßt. Der elektronische Biß verbreitet den Spaß am Vampirismus in atemberaubender Geschwindigkeit um den Globus. Eine schnelle und oberflächliche Suche ergab in wenigen Minuten mehr als 250 vampirische »Home Pages«. Da gibt es zum Beispiel eine »Transylvanian Society of Dracula (TSD)« die ein Internet Vampire Tribune Quarterly (IVTQ) herausgibt, man findet dort draußen Vampir-Nachtklubs, Adressen wie »The Vampire Garden«, »Vampires’ Universe«, »The Vampire’s Lair« (Die Höhle des Vampirs), »Vamp’s Parlor« (Vamps Salon), »Vampire’s Mud« (Der Schlamm des Vampirs), »Vampire’s Mall«, »Real Vampires«, »You Might Be A Vampire if ...« und so weiter. Dieser Aufsatz verdankt einige wichtige Informationen zu Neuerscheinungen und bestimmte Einsichten in kulturelle und psychologische Verhaltensmuster unserer modernen Gesellschaft dem Vampirnetz. Woher kommt unsere Faszination für Dracula, den Herrscher der Finsternis, dem untoten Aufhocker, Blutsauger und wahnwitzigen Töter? Befinden wir uns auf dem Wege der Regression vom aufgeklärten ins sogenannte finstere Zeitalter? Wenn nicht, was sind dann die Unterschiede zwischen den mittelalterlichen und unseren modernen Mythen, die Unterschiede zwischen echtem Aberglauben und einer Gänsehaut-Unterhaltung? Inwieweit spiegelt dieses Vampir-Genre die kuturellen, gesellschaftlichen und politischen Werte unserer Zeit wider, oder gibt es gemäß der wahren vampirischen Tradition überhaupt kein Spiegelbild, da wir es mit etwas Urzeitlichem, Vorkulturellem zu tun haben, das sich niemals endgültig auslöschen läßt? Die Masse der kritischen Literatur, die sich mit Vampiren beschäftigt, ist fast so überwältigend wie die Verbreitung vampirischen Materials in den modernen Medien. Indem ich einige der wichtigsten Erkenntnisse aus der neueren kritischen Literatur zusammenfasse, versuche ich in diesem Aufsatz durch Verschiebungen des Blickwinkels zu einigen neuen Ansätzen zu gelangen. Bram Stokers Roman Dracula von 1897, ist eine so gelungene Mischung aus uralten, archetypischen Mythen mit modernen Angstträumen und gesellschaftlicher Bewußtseins-problematik, daß man ihn, gemessen an seiner Rezeptionswirkung, in eine Reihe mit Homer, Dante und Shakespeare stellen könnte. Clive Leatherdale argumentiert, Stoker zu übersehen sei »akin from discarding Plato from Western philosophy, for Dracula is almost the Gothic novel par excellence, and has given rise to arguably the most potent literary myth of the twentieth century.« 2 Stokers Geheimformel liegt in der Tatsache, daß der Dracula-Mythos fast alle wichtigen Tabus berührt, die auch in unserer modernen Gesellschaft noch wirksam sind und die 2 Leatherdale, Clive: Dracula. The Novel and The Legend. A Study of Bram Stoker’s Gothic Masterpiece. Wellingborough, Northamptonshire 1985, S. 11. <?page no="188"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 187 sich in ihrer wesentlichen Substanz nicht verändert haben. Sie umkreisen Tod und Krankheit, Sexualität und Körperflüssigkeiten, des Menschen Hang zum Bösen und die Religion. Darüber hinaus umfängt der Dracula-Mythos auch noch die zeitgenössischen Sozialtabus von Politik und Klassenkampf. Einige dieser Tabus sind noch viel intensiver in der amerikanischen Gesellschaft wirksam, die den Puritanismus deutsch-schweizerischer Herkunft stärker bewahrte als das früh im staatlichen Religionsdiktat versunkene Europa. Dies mag mit ein Grund für die stärkere Verbreitung des Dracula-Mythos in den USA sein, wo es bei gesellschaftlichen Zusammenkünften noch immer zum guten Ton der bürgerlichen Gesellschaft gehört, die Themen Politik, Sex und Religion zu meiden wie die Pest. Der Dracula-Mythos besteht aus zwei Grundkomponenten: 1. Dem Vampir, einem archetypischen Mythos; 2. Dracula, dem grausamen spätmittelalterlichen Herrscher, der zu einer wichtigen Figur des volksmythologischen Untergrundes wurde. Der Vampir Die Geschichte des Vampirs reicht weit zurück in die Nebel der Frühgeschichte, vielleicht sogar der prähistorischen Vergangenheit. Der Vampir durchstreift die meisten größeren Kulturkreise inklusive Asiens und der beiden Amerikas und qualifiziert sich somit eindeutig als Archetypus. Der Mythos läßt sich in die Komponenten Untote oder lebende Leichname und Blutsauger unterteilen. Beide Vorstellungen sind fest mit dem Begriff Blut verbunden, das schon seit Urzeiten als wichtigste Lebensessenz galt, deren Ausrinnen zum Tode führt. Deshalb spielt Blut auch die wichtigste Rolle beim Versuch der Toten, ins Leben zurückzukehren oder sich in einem Durchgangsstadium zwischen Leben und Tod zu erhalten. Wenn wir heute der allgemein verbreiteten Theorie folgen, daß Mythen aus dem Bestreben entstehen, das Irrationale und Unerklärbare zu bewältigen, müssen wir uns auch eingestehen, daß Leben und Tod noch immer gewisse Mysterien darstellen, die trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse und allen technologischen Fortschritts noch nicht ausreichend erklärt sind. Noch finden wilde Auseinandersetzungen bis hin zu Straßenschlachten statt, bei denen es einzig und allein darum geht, Leben (in bezug auf Abtreibung) oder Tod (in bezug auf Euthanasie, Sterbehilfe, Organtransplantation) zu definieren, Auseinandersetzungen, die bisweilen an die Massenhysterie der Hexenverfolgungen erinnern. Zu Stokers Zeiten (1885) bestätigt eine britische medizinische Zeitschrift, »it is true that hardly any one sign of death, short of putrefaction, can be relied upon as infallible.« 3 Wenn sich in der Folge häufigen Begrabens komatoser Menschen, besonders während Pest- und Pockenepidemien die Opfer in Leichentücher gehüllt aus ihren hastig zugescharrten Gräbern erhoben, oder wenn bestimmte chemisch - physikalische Bedingungen den normalen Verwesungsprozeß verhinderten, so kann man sich leicht vorstellen, daß solche Ereignisse den Glauben an übernatürliche Erscheinungen von Untoten seit der antiken über die mittelalterliche Welt bis in unsere moderne Gesellschaft hinein ge- 3 Zitiert nach Leatherdale (Fn. 2), S. 40. <?page no="189"?> 188 Klaus M. Schmidt nährt haben. Auch der nächtliche zerstörerische Friedhofbesuch der Neonazis hat eher mit Exorzismus und Tabuberührung als mit politischem Volkssport zu tun. Ähnliche Assoziationen mit dem Übernatürlichen ergeben sich bei der Begegnung mit den Symptomen gewisser Krankheiten wie Porphyrie oder bösartiger Anämie, die oft bei den Opfern einen Blutdurst auslösen oder mit dem Symptom des Blutspuckens bei Tuberkulose, oder den Krämpfen und Zuckungen, die zusammen mit extremem Flüssigkeitsverlangen durch Tollwut ausgelöst werden. All dies hat über die Jahrtausende eine universelle Grundströmung volkstümlichen Aberglaubens geschaffen, die sich auch bei den Durchschnittsbürgern moderner Gesellschaften nur unter einer dünnen Decke von Pseudowissenschaftlichkeit verbirgt. Ebenso universell ist die Assoziation von Finsternis mit dem Phänomen der Untoten. Daß der Tod in enger Verbindung mit dem Bösen steht, ist vor allem ein judäo-christliches Phänomen, das seine besondere Verbreitung in der westlichen Kultur gefunden hat. Das Mittelalter hat zur Entwicklung des Mythos vom vampirischen Untoten dessen Einbettung in die gesellschaftlichen Mechanismen der christlichen Kirche beigetragen. Die frühesten Vampirgeschichten aus dem christlichen Mittelalter gehen auf das 12. Jahrhundert zurück. Sie erscheinen in William Newburghs Historia Rerum Anglicarum (einer Geschichte Englands für die Jahre 1066 bis 1198). Eine dieser Geschichten soll hier zur Verdeutlichung der historischen Lage des Vampirmythos zitiert werden: »Ein Mann, der ein lasterhaftes und unehrliches Leben führte, starb, ohne die letzte Beichte abgelegt zu haben, nachdem er seine Frau mit einem kräftigen Jüngling im Bett erwischt hatte. Durch die Macht des Satans entstieg darauf der Tote immer wieder in den finsteren Stunden seinem Grab und versetzte die Einwohner der Gegend in Angst und Schrecken. Bald wurde die Luft faul und verdorben, wenn dieser stinkende und verweste Leichnam herumwanderte, und eine schreckliche Pest brach aus, die die örtliche Bevölkerung dezimierte. Während sich der Priester der Gemeinde und einige weise und fromme Männer mit anderen führenden Bürgern traf, rückten zwei jüngere Brüder, deren Vater an der Pest gestorben war, aus, um dessen Tod zu rächen. Wahnsinnig vor Kummer und Zorn gruben sie den Körper des Vampirs aus der Erde und durchstachen ihn mit einem scharfen Spaten. Ein Strom warmen, roten Blutes aus der Wunde war der Beweis, daß sich das Monster am Blut vieler armer Leute fettgemästet hatte. Die beiden Brüder schleppten den Körper hinaus vor die Ortschaft, und verbrannten ihn auf einem großen Scheiterhaufen, während der Gemeindepfarrer und die führenden Männer des Kreises zusahen. Kaum war das infernalische Monster auf diese Weise vernichtet, so verschwand die Pest, die so schmerzlich unter den Leuten gewütet hatte, zur Gänze, als sei die verpestete Luft durch das Feuer, das die Höllenbrut vernichtete, welche die ganze Atmosphäre vergiftet hatte, gereinigt worden.« 4 Diese Geschichte ist nicht nur typisch für die zahllosen Versionen, die im Volksglauben der damaligen Zeit verbreitet gewesen sein mußten, sondern sie zeigt gleichzeitig die deutliche Vereinnahmung des Mythos durch die Kirche und ihre besonderen Zwecke. Sie verbindet nämlich den »Nosferatu« mit gesellschaftlich unakzeptablem Verhalten und erklärt die Pestepidemie als dessen Folge. Dazu werden satanische Elemente hereingebracht, und die Kirche etabliert sich schließlich durch ihren Vetreter, den Dorfpriester, als führende Autorität bei der Jagd nach dem Vampir und der Vertreibung des Bösen. So sollte die allgemeine Bevölkerung durch Furcht hilflos an die Allmacht der Kirche gekettet werden. Zusätzlich erkennen wir an dieser Geschichte, daß die Austreibung des Bösen durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen keine Erfindung der Hexenjagdpogrome des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts gewesen ist. <?page no="190"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 189 Im Hochmittelalter wurde der uralte Mythos des Vampirs nicht nur von christlichkirchlichem Ideengut durch die beiden Grundkonzeptionen, der Glaube an ein Leben nach dem Tode und die magische Kraft von Blut erfüllt, sondern er ganz deutlich sexuelle Untertöne. Der Vampirglaube war eng mit den Vorstellungen eines »succubus«, der satanischen Verführerin junger Männer, die diesen während des Beischlafs die Lebenssäfte, den Samen, aussaugt, um danach als »incubus« in männlicher Gestalt Hexen zu schwängern. Sprenger und Kramer stellen im Hexenhammer ebenfalls die Verbindung zu Krankheit und Blut her, indem sie in bezug auf die sexuelle Vereinigung mit einem »succubus« oder »incubus« von einer »pestbringenden Gemeinschaft« 5 sprechen. Dazuhin definieren sie den Teufel mit einer eigenartigen vom Vampirglauben geprägten Etymologie: »Es ist nämlich der Brauch der Schrift und der Rede, jeden beliebigen unsauberen Geist Diabolus zu nennen, von Dia, d.h. duo (zwei) und bolus , d.h. morsellus (Biß, Tod), weil er zweierlei tötet, nämlich Leib und Seele. [...] Man nennt ihn auch Daemon, d.h. nach Blut riechend oder blutig, nach Sünden nämlich, nach denen er dürstet und die er begehen läßt [...]«. 6 Das allmähliche Hochschaukeln des Kreuzzuges der Kirche gegen die Hexen ließ für einige Zeit den Vampirglauben verblassen, oder er ging überhaupt auf in der Hexenjagdhysterie, die durch das Übergreifen der Pest auf Westeuropa besonders angeheizt wurde. Diese Entwicklung, die mit dem Ende des vierzehnten Jahhunderts einsetzte, hatte ihren Höhepunkt im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert erreicht. Der Vampirkult hielt sich dagegen in Südosteuropa durchgehend am Leben, besonders in einer Region, wo der Kampf um die Vormacht zwischen der orthodoxen und der katholischen Kirche bizarre Erscheinungen hervorrief. Entlang der Demarkationslinien zwischen den Einflußbereichen der beiden Kirchenkolosse setzten diese den alten Vampirmythos gegen die jeweiligen Anhänger des »falschen« Glaubens als Terrorinstrument ein. 7 Transsylvanien und die Wallachei liegen genau auf dieser Verschiebungslinie. Wie bereits erwähnt, erfolgte die letzte Welle des Vampirglaubens gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts in den östlichen Regionen des habsburgischen Reiches. Maria Theresia war zuvor erfolgreich gegen die Hexenverfolgungen vorgegangen. Vielleicht als Ersatz für die Hexenjagd schnellten dann die Vorfälle von Vampirexorzismen urplötzlich in die Höhe. Die Berichte aus dem 4 [»A man given to a ›depraved and dishonest life‹ died without making his final confession, after having caught his wife in bed with a ›lusty youth‹. ›By the power of Satan in the dark hours‹, the dead man ›was wont to come forth from his tomb‹, terrifying all the inhabitants of the district. Soon ›the air became foul and tainted as this fetid and corrupted body wandered abroad‹, and a terrible plague broke out, decimating the local population. While the parish priest met with ›a number of wise and devout men‹ together with other ›leading citizens‹, two younger brothers whose father had died of the plague set out to avenge his death. ›Mad with grief and anger‹, they dug up the vampire's corpse and struck it with a sharpened spade. ›A stream of warm red gore‹ from the wound proved that the monster had ›battened in the blood of many poor folk‹. The brothers dragged the corpse outside of the town and burned it in a large pyre while the parish priest ›and the chief men of the district‹ watched. ›No sooner had that infernal monster been thus destroyed than the plague, which had so sorely ravaged the people, entirely ceased, just as if the polluted air was cleansed by the fire which burned up the hellish brute who had infected the whole atmosphere.‹«] (Summers, Montague: The Vampire in Europe. New Hyde Park, N.Y. 1961 [1. Aufl. 1929], S. 85 - 88; zitiert nach Waller, Gregory A.: The Living and The Undead. From Stoker’s ›Dracula‹ to Romero’s ›Dawn of the Dead‹. Urbana; Chicago 1986, S. 13). 5 Sprenger, Jacob; Institoris, Heinrich: Malleus Maleficarum. Der Hexenhammer. Ins Deutsche übertragen und eingeleitet von J.W.R. Schmidt. 3 Teile. Berlin 2 1920, 2, S. 61. 6 Sprenger/ Institoris (Fn. 5), 1, S. 62. 7 Vergl. Ronay, Gabriel: The Truth about Dracula. New York 1972. <?page no="191"?> 190 Klaus M. Schmidt achtzehnten Jahrhundert über die Vampirerscheinungen und deren Bekämpfung unterschieden sich nicht wesentlich von denen aus dem Hohen Mittelalter. 8 Dieser Zustand hielt bis zum Ende des Jahrhunderts an, als dann die ersten literarischen Vampirwerke erschienen. Goethes vampyrische Ballade, wie er sie selbst genannt hat, 9 Die Braut von Korinth (1797) war eines der ersten Gewächse dieses Genres. Ein schöner Jüngling fällt der Verführung durch die untote Schwester seiner Braut zum Opfer, der er ursprünglich durch die Eltern versprochen worden war. Nachdem die Mutter die Liebesvereinigung eines Lebenden mit einer Untoten unterbricht, enthüllt die Vampirfrau ihr letztes Geheimnis: »Aus dem Grabe werd ich ausgetrieben, Noch zu suchen das vermißte Gut, Noch den schon verlornen Mann zu lieben Und zu saugen seines Herzens Blut. Ist’s um den geschehn, Muß nach andern gehn, Und das junge Volk erliegt der Wut.« 10 Während Goethe die unappetitlichen Vorgänge des Blutsaugens noch dezent hinter zweideutiger Liebesmetaphorik verbirgt 11 , geht Polidori’s The Vampyre (1819) ganz ins blutige Detail. Seine Erzählung basiert auf einem Entwurf von Lord Byron 12 , der während der berühmten Zusammenkunft in der Schauervilla am Genfer See (1816) entstand. Daran nahmen neben Lord Byron und Mary Shelley Percy Bysshe Shelley, Marys Stiefschwester Claire und der Arzt Dr. John Polidori teil. Lang anhaltender Regen hatte sie zu einem Schreibwettbewerb getrieben, aus dem schließlich die erste Vampirgeschichte und Mary Shelleys Roman Frankenstein (1818) hervorgingen. Während sich der Vampir in der bürgerlichen Literatur immer mehr verfeinerte, blieb der gewöhnliche Vampir des europäischen Volksaberglaubens eine ziemlich ekelhafte und grauenerregende Gestalt. Das neunzehnte Jahrhundert fügte dem Vampirismus noch einige pseudo-wissenschaftliche Elemente hinzu in Form der Elektrizität als lebensbestimmender Kraft und des Mesmerismus oder der Hypnose, durch die der Vampir vor dem Biß seine Opfer in Trance versetzen konnte. Weibliche Medien, so wurde damals be- 8 Vergl. Klaniczay (Fn. 1). 9 Tagebucheintrag, Jena, 4. Juni 1797. In: Steiger, Robert: Goethes Leben von Tag zu Tag. Zürich; München 1984, 3, S. 587 f. 10 von Goethe, Johann Wolfgang: Gedichte und Epen. Hamburger Ausgabe. 11. überarb. Aufl. Hamburg 1978, 1, S. 268 - 73. 11 Siehe Schemme, Wolfgang: Goethe: Die Braut von Korinth: Von der literarischen Dignität des Vampirs. In: Wirkendes Wort 36 (1986), S. 335 - 346. 12 Die Erzählung wurde auch unter Byrons Namen veröffentlicht. Dieser distanzierte sich aber deutlich davon: »Damn ›the Vampire‹. What do I know of Vampires? It must be some bookselling imposture; contradict it in a solemn paragraph.« (Brief an den Hon. Douglas Kinnaird, Venedig, 24. April 1819). - »I’ve got your extract, and the Vampire. I need not say it is not mine. There is a rule to go by: you are my publisher (till we quarrel), and what is not published by you is not written by me.« (Brief an John Murray, Venedig , 15. Mai 1919). Byron bekennt sich aber klar zu einem Entwurf zum Vampire: »I sent you, before leaving Venice, a letter containing the real original sketch which gave rise to the Vampire, etc.: did you get it? « (in einem Nachtrag zu einem Brief an John Murray, 1. August 1919; zitiert nach: Byron. A Self-Portrait. Letters and Diaries 1798 to 1824. Hrsg. Peter Quennell. Oxford; New York; Toronto 1990 [1. Aufl. 1950]). - Siehe auch Seed, David: ›The Platitude of Prose‹: Byron’s Vampire Fragment in the Context of His Verse Narrative. In: Byron and the Limits of Fiction. Hrsg. Bernard Beatty; Vincent Newey. Liverpool 1988, S. 126 - 147. <?page no="192"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 191 richtet, hätten orgiastische Gefühle unter dem Einfluß von Hypnose erlebt, obwohl der Begriff »Orgasmus« noch nicht in die Vorstellung der allgemeinen Öffentlichkeit gedrungen war. 13 Damit war die westeuropäische Welt vorbereitet auf die begeisterte Aufnahme von Bram Stokers modernem Vampir. Dracula Dracula, Vlad Tepes (der Aufspießer), der von 1431 bis 1476 lebte, war mehr schlecht als recht der Herrscher über die Wallachei, die sich zu Füßen der Berge Transsylvaniens ausbreitet. 14 Zweimal wurde er verjagt und wiedereingesetzt. »Dracul« bedeutet entweder »Teufel« oder »Drache«. Dracula bedeutet »Sohn des Dracul«. 1431 war Vlad, der Vater, von Kaiser Sigismund mit dem religiösen, aber halbmilitärischen Drachenorden bedacht worden, wohl als Ermunterung, sich dem Kampf gegen die Türken zu stellen. Aber erst der Sohn entwickelte sich dann zum wilden und brutalen Streiter wider die türkischen Invasoren. Ebensowenig zimperlich ging er mit den vielen wirklichen und eingebildeten internen Feinden um, die sich gegen seine Herrschaft in der Wallachei stellten, einer Region, die von großer ethnischer Vielfalt geprägt war. Rumänen, Ungarn, Sachsen (so hießen die damaligen deutschen Siedler) und Szekelys (Nachfahren der Hunnen) teilten sich ein und denselben Lebensraum. Historisch unumstritten ist die Tatsache, daß Vlad Tepes/ Dracula ausgesprochen rücksichtslos vorging und daß er seine Feinde am liebsten bestrafte, indem er sie lebendigen Leibes und in aller Öffentlichkeit durch Anus und Mundöffnung aufpfählen ließ. Je nach dem welcher Seite wir allerdings Glauben schenken wollen, erscheint Dracula entweder als wahnsinniger Psychopath, Folterknecht und Inquisitor, den spätere Gewissensnöte zur Frömmelei trieben, oder als geschickter Schüler Machiavellis, als hochgebildeter früher Nationalist, der einen heldenhaften Abwehrkampf gegen die türkischen Invasoren führte. Mehr als fünfzig Klöster wurden von ihm gestiftet, und in der rumänischen Volkstradition ist er zu einer Art Robin Hood-Figur verklärt worden, der als Freund der Armen die Reichen verfolgte. Zeugnis davon gibt sein schonungsloser Umgang mit den Bojaren, einer alteingesessenen Oberklasse. 15 Die Russen haßten Dracula wegen seiner Preisgabe des orthodoxen Glaubens zugunsten des römischen Katholizismus und die Sachsen/ Deutschen wegen des Massakers, das er an ihnen verübte, um ihre Dominanz über den wallachischen Handel zu brechen. So konnte die Dracula-Geschichte bereits gegen Ende des fünfzehnten Jahhunderts zu einem internationalen Bestseller in Europa werden. Die ersten schriftlichen Geschichten erschienen als Haßpamphlete, die mit expliziten Holzschnitten illustriert waren. Sie waren wohl von geflohenen deutschen Siedlern inspiriert, in deren Interesse es lag, solche Schreckensbilder im germanischen Europa zu verbreiten, vielleicht in der vagen Hoffnung, daß irgendjemand auf die Idee kommen könnte, gegen die Rumänen eine Strafexpedition in die Wege 13 Siehe King, Stephen: Danse Macabre. New York 1981, S. 74. 14 Seine Regierungszeit umspannt die Jahre 1448, 1456 - 62, 1476. 15 Unter anderem ließ er die Bojaren in Zwangsarbeit sein Schloß bei Arges in der Nähe von Poenari bauen. Siehe McNally, Raymond T.; Florescu, Radu: In Search of Dracula: A True History of Dracula and Vampire Legends. Greenwich, Conn. 1972, S. 99. <?page no="193"?> 192 Klaus M. Schmidt zu leiten, die den Deutschen in der Wallachei die alten Privilegien wiederbringen könnte. Eine der zwei frühesten Flugschriften dieser Art wird auf das Jahr 1462 datiert: »Hier beginnt die grausame und schreckliche Geschichte des wilden Wüterichs Dracula, des Kriegsherrschers, wie er die Menschen aufpfählte, wie er sie am Spieß röstete, wie er Menschenköpfe in Kesseln absott, wie er Menschen häutete und wie Kraut kleinhackte, auch wie er Säuglinge briet und ihre Mütter zwang, sie zu essen, und viele andere schreckliche Dinge, die er tat, und das Land in dem er herrschte, werdet ihr in diesem Traktat finden.« 16 In dieser Form haben die Traktate wohl kaum einem direkten politischen Zweck gedient, besonders wenn man eine weite geographische Verbreitung voraussetzt. Sie dienten eher einer allgemeinen Stimmungsmache, vergleichbar mit den Horrormeldungen der modernen Boulevardpresse, von deren Seiten besonders während Kriegszeiten das Blut in Stömen fließt. Berichte über Feinde, die unschuldige Babies an Scheunenwände nageln, um sie mit Höllenmaschinen zu verbinden, waren während der beiden Weltkriege auf beiden Seiten nichts Ungewöhnliches. Es gibt ein amerikanisches Kriegsposter aus dem zweiten Weltkrieg, das einen Hunnen ähnlichen Nazi-Dracula mit großen Fangzähnen darstellt, 17 und an amerikanische Soldaten, die in Übersee dienten, wurden Freiexemplare von Stokers Dracula verteilt. 18 Gibt es eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen der Tradition des Vampir- Aberglaubens und der historischen Geschichte von Dracula, Vlad dem Aufspießer, oder entsprang die Mixtur der beiden Bereiche ausschließlich Bram Stokers Einbildungskraft? Stoker stieß eher zufällig als durch bewußte Materialsuche auf die Dracula-Geschichte, während er über seinen Plan eines Vampirromans nachdachte. Eine andere historische Schreckensfigur, die Gräfin Elisabeth Bathory, geborene Nadasdy, die 1556 - 1614 in Südostungarn nahe der Grenze zu Transsylvanien lebte, könnte für Stoker als verbindendes Glied für die Transformation Draculas zum Vampir fungiert haben. Nach dem Tode ihres Mannes lockte die Gräfin junge Bauernmädchen auf ihr Schloß, um sie dort einzusperren und ihnen für ihre Verjüngungsbäder das Blut abzulassen. Als man schließlich das Schloß stürmte und untersuchte, fand man fünfzig Leichen. 19 Während die rumänische Folklore keine Verbindungen zwischen Dracula und dem Vampirismus aufweist, findet man in seiner Geschichte jedoch einige Anknüpfungspunkte, die Stokers Gedanken in die Richtung Dracula als Nosferatu gewiesen haben könnten. Zum Beispiel ist der zugespitzte Holzpfahl, den Dracula als Exekutionsinstrument bevorzugte, auch die bevorzugte Methode, wie man sich in dieser Region der Vampire entledigte. Draculas Bruder war offensichtlich das Opfer eines vorzeitigen Begräbnisses gewesen. Als man sein Grab öffnete, um ihn nachträglich mit gebührendem Pomp zu bestatten, fand man ihn in verdrehter Lage mit dem Kopf nach unten. Dracula selbst war im Kloster Sagov ohne Kopf beigesetzt worden. Das Kloster liegt auf einer Insel in einem See in der Nähe von Bukarest. Legenden sprechen davon, daß sich von Zeit zu Zeit Draculas Geist aus den Wassern erhebe. Er war in einer Schlacht von den Türken getötet und zum Beweis seines Todes sein Haupt in Konstantinopel auf einem Pfahl zur Schau gestellt worden. 20 16 Sie ist in niederdeutschem Dialekt verfaßt und wird in der Klosterbibliothek St. Gallen unter der Signatur 806 aufbewahrt. Gedruckt von Ambrosius Huber in Nürnberg 1499. 17 Siehe Popular Culture Collection, Bowling Green State University, Ohio. 18 Leatherdale (Fn. 2), S. 218. 19 McNally/ Florescu (Fn. 15), S. 156 - 58. <?page no="194"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 193 Wie die eigentliche Genesis der Geschichte auch aussehen mag, aus diesen Quellen und Anregungen war es Stoker gelungen, einen dichten erzählerischen Knoten zu knüpfen, der die kollektive Geschichte der Mythen vom Mittelalter her mit unseren von Angst geplagten Projektionen der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft verband. Obwohl Sheridan LeFanus Vampirnovelle Carmilla (1868), die ein lesbisches Verhältnis zwischen einer Lebenden und Untoten andeutet, sich zunächst nicht geringer Beliebtheit erfreute, wird erst Stokers Roman zur Quelle der meisten Vampirgeschichten bis heute, einer Quelle, zu der die Autoren vampirischer Literatur gelegentlich immer wieder zurückkehren, um aus ihr das Genre zu verjüngen. Durch die Kombination des Vampirmythos mit den soziopolitischen Dimensionen, die durch die Figur des Grafen Dracula impliziert werden, konnte Stoker sein Werk durch eine moderne Komponente erweitern, obwohl die Geschichte schon fest innerhalb des Vierecks von Archetypen verankert ist, das die moderne und mittelalterliche Welt innerhalb der judäo-christlichen Tradition gleichermaßen bestimmt. Die alten Tabus von Religion, Sexualität und Tod, die die suppressive viktorianische Gesellschaft zu einem siedenden Druckkessel machte, wurden nun mit dem politischen Tabu des Klassenkampfes verbunden. Darwin, Freud und Nietzsche hatten sich als gleichrangige Paten über die Wiege von Stokers Dracula gebeugt, und Jack the Ripper (1888) hatte ein paar Tropfen Blutes seiner Opfer beigesteuert. Der »East London Advertiser« kommentierte die Untaten des sexuell pervertierten Massenmörders wie folgt: »[...] the myths of the Dark Ages arise before the imagination, Ghouls, vampires, bloodsukkers [...] take form and seize control of the excited fancy.« 21 Unter dem Einfluß der Darwinschen Evolutionstheorie wurde Kriminalität im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert mit physiologischen Phänomenen verknüpft. Damit stand auch einer Verbindung von Kapitalverbrechen und Vampirismus nichts mehr im Wege. Auf derselben Ebene führte die pseudowissenschaftliche Rechtfertigung rassistischer Vorurteile auf direktem Weg zu den Nürnberger Gesetzen der Nationalsozialisten. Zum Beispiel spielte das Elaborat Degeneration (1893) des deutschen Kriminologen Max Norden noch eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der nazistischen Theorien über Rasse und Verbrechen. 22 Im frühen zwanzigsten Jahrhundert bedrohte der böse, halborientalische Osteuropäer Dracula das britische Reich der Reinheit. Dracula ist nicht nur der Antichrist, der Menschenblut schlürft, um sich zu regenerieren, während Christus sein Blut vergießt, um durch die Eucharistie die Menschheit zu retten, sondern Dracula ist auch der verachtete Klassenfeind, der den alteingesessenen Adel und die Großbourgeoisie repräsentiert. Er muß ausgerottet werden, um den sozialen Status der kleinbürgerlichen Emporkömmlinge zu festigen, einer Klasse, die durch den Kanzleiangestellten Jonathan Harker und die Schullehrerin Mina vertreten wird. Sie fühlen sich in heimlicher Bewunderung seiner Größe zu Dracula hingezogen, hassen ihn aber gleichzeitig abgrundtief und werden so zu seinen Opfern und Jägern. Die im Unterbewußten aggressive Natur des Kleinbürgers hat Erich Fromm als eine der Hauptursachen für den kometenhaften Aufstieg der Nazis zur absoluten Macht analysiert: 20 McNally/ Florescu (Fn. 15), S. 128 - 34. 21 Zitiert nach McNally/ Florescu (Fn. 15), S. 178. 22 Quelle: Leatherdale (Fn. 2), S. 210. <?page no="195"?> 194 Klaus M. Schmidt »Die Frage, wieso die Nazi-Ideologie einen solchen Anreiz für das Kleinbürgertum darstellte, beantwortet sich aus dessen sozialer Lage und seinem Charakter. Er unterschied sich scharf von dem der Arbeiterklasse, des gehobenen Bürgertums und des Adels der Zeit vor 1914. Bestimmte Züge waren für diesen Teil des Mittelstandes zu allen Zeiten seit seinem Bestehen charakteristisch gewesen: seine Verehrung des Starken, sein Haß auf den Schwachen, Engherzigkeit, Kleinlichkeit, Feindseligkeit, Sparsamkeit bis zum Geiz (sowohl mit Gefühlen wie mit Geld und besonders seine Kargheit, sein Asketismus. Des Kleinbürgers Blick ins Leben war eng, er beargwöhnte und haßte den Fremden, beneidete die eigenen Bekannten, spionierte sie aus und verdeckte (rationalisierte) seinen Neid in Gestalt von moralischer Entrüstung. Sein ganzes Dasein beruhte auf Dürftigkeit - seelisch und wirtschaftlich.« 23 Marx hatte für den volkswirtschaftlichen Kontext schon vorher seine eigenen Parallelen zum Vampirismus gezogen: »Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmäßig belebt durch Einsaugung lebendiger Arbeit, und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.« 24 Draculas wichtigste Waffe ist die Sexualität, obwohl sich Stoker von jeglicher beabsichtigten Schlüpfrigkeit distanzierte. 1908 näherte er sich sogar einem Plädoyer für die Zensur, als er den modernen Roman wegen seiner fehlenden moralischen Standards unter Beschuß nahm. Die Lawine der Rezeptionsgeschichte des Vampirgenres, die Stoker in Richtung auf das zwanzigste Jahrhundert lostrat, hat ihn eindeutig widerlegt. Im Zentrum des erotischen Interesses an Stokers Roman stand und steht die Episode, in der Jonathan Harker von Draculas inzestuösen Geschwister-Mätressen halb verführt und halb vergewaltigt wird. Leatherdale sagt, »Dracula can be seen as the great submerged force of Victorian libido breaking out to punish the repressive society which had imprisoned it.« 25 Es bedarf keiner Freudschen Tiefenpsychologie, um die unzähligen sexuellen Anspielungen in Stokers Roman zu entdecken, von der Verführung zur Vergewaltigung, vom Inzest zum oralen Sex und von der Pädophilie zur Nekrophilie. Besonders auf den Zelluloidstreifen des zwanzigsten Jahrhunderts wurden diese dann nach und nach genüßlich an die Oberfläche gebracht, bis hin zur offenen Pornographie. Phallische Symbole, wie etwa die aufgerichtete Lanze, hatten schon im Mittelalter weite Verbreitung gefunden. So ist auch des historischen Draculas bevorzugte Exekutionsmethode, seine Opfer durch den After aufzuspießen, bis die Spitze des Pfahls durch die Mundöffnung herausragte, doppeldeutig zu verstehen. Neben der Funktion der extremen Grausamkeit als Abschreckung, werden damit kaum verhüllte Nebentöne des sexuellen Mißbrauchs angeschlagen, denn diese Art der Pfählung sollte durchaus auch als extremste Form der Vergewaltigung verstanden werden. In ironischer Umkehrung stirbt Stokers Dracula als Vampir dann durch den Pfahl, den er selbst als Aufspießer so gern verwendet hatte. Daß Dracula, Vlad Tepes, die böse historische Vaterfigur, durch Enthauptung sein jähes Ende gefunden hat, ist spätestens seit Freud als symbolischer Kastrationsakt zu verstehen. Die Verbindung von Sexualität und Tod im allgemeinen ist eine nahtlose Übernahme aus dem Mittelalter. Man denke dabei an die allegorischen Darstellungen der Frau Fortuna mit ihrer aufreizenden, voluptiösen Vorderfront, die eine von Würmern zerfressene Kehrseite 23 Fromm, Erich: Die Furch vor der Freiheit. Zürich 1945, S. 207. 24 Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1. Hamburg 1890. In: Karl Marx, Friedrich Engels Gesamtausgabe. Hrsg. Internationale Marx-Engels Stiftung. Berlin 1991, Kap. 8, S. 209. 25 Leatherdale (Fn. 2), S. 146. <?page no="196"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 195 verdeckt. Eine ähnliche Verbindung von Sexualität und Tod findet man in der Tradition des Totentanzes oder im Motiv des Todesengels, der als Bräutigam verkleidet junge Frauen in ihrer sexuellen Blüte verführt und dahinrafft. Diese Elemente sind in den Lenore- Balladen des ausgehenden 18. Jahrhunderts wiederbelebt worden und finden ihre Ergänzung und Fortführung im Genre der Vampirerzählung, die etwa zur selben Zeit entstand. Jonathan Harkers Reise in die Berge Transsylvaniens kann aber auch als Gralsqueste mit umgekehrten Vorzeichen verstanden werden. Die Reise führt statt zur geheimnisvollen Quelle der Erleuchtung direkt ins »Herz der Finsternis«. Ähnlich wie in Joseph Conrads gleichnamigen Roman, The Heart of Darkness, stößt dort der Held auf die innerste, vom Atavismus geprägte Natur des Menschen, einer Mischung aus ungezügelter Gewalt und Sexualität. Im Laufe von Stokers Dracula wandelt sich der Vampir vom schleichenden Jäger zum gejagten und schließlich gepfählten Opfer. Das gesamte moderne Genre der Vampirerzählung entwickelt sich jedoch um eine ambivalente Beziehung zwischen Jäger und Opfer. Der Jäger erregt Furcht und Schrecken, das Opfer Mitgefühl und Sympathie. Andererseits spricht der Jäger auch im Opfer den masochistischen Hang an, sich quälen zu lassen, während das Opfer die sadistischen Gefühle des Peinigers erweckt. Dies ist eines der wichtigsten Geheimnisse hinter dem Erfolg der Draculageschichte. Wir müssen inzwischen nicht mehr die Schulpsychologie bemühen, um zu wissen, daß diese Verbindung aus Sexualität und Gewalt, dieses ständige Auf und Ab von Machtausübung und Unterwerfung nicht nur den innersten Kern der persönlichen sexuellen Beziehungen sondern auch unsere Gesellschaft als Ganzes durchzieht. Diese Erkenntnis öffnet der positiven Sicht des Antichrists als notwendiger, antithetischer Komponente der menschlichen Natur Tür und Tor. Ganzheitserfahrung steht für das bewußte Ausleben von Gut und Böse, für das Umfassen von Licht und Finsternis als unlösbarer Einheit. Nietzsche hat der längst überfälligen positiven Antichrist-Figur konkrete Gestalt verliehen, der bereits die Stürmer und Dränger und die Romantiker nachgejagt waren. Der symbolische Dualismus von Licht und Dunkel, von Appollo und Dyonisos, der zum letzten Mal in der traditionellen klassischen Harmonisierung durch den absoluten Sieg des Lichts in Mozarts/ Schikaneders Zauberflöte überwunden wurde, hatte sich nun verkehrt. Die Stunde Draculas hatte endgültig geschlagen. Die folgenden Auszüge aus Also sprach Zarathustra könnten auch aus einem modernen Dracula-Roman stammen: »Lass mich, du dummer tölpischer dumpfer Tag! Ist die Mitternacht nicht heller? « 26 »Alle Lust will aller Dinge Ewigkeit, will Honig, will Hefe, will trunkene Mitternacht, will Gräber, will Gräber-Thränen-Trost, will vergüldetes Abendroth - was will nicht Lust! sie ist durstiger, herzlicher, hungriger, schrecklicher, heimlicher als alles Weh, sie will sich, sie beisst sich, des Ringes Wille ringt in ihr« - 27 Das - der Wahrheit Freier? Nicht still, starr, glatt, kalt, Zum Bilde geworden, Zur Gottes-Säule, [...] Nein! Feindselig solchen Wahrheits-Standbildern, 26 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Werke in drei Bänden. Hrsg. Karl Schlechta. Bd. II. München 1954/ 55, S. 555. 27 Nietzsche (Fn. 26), S. 557. <?page no="197"?> 196 Klaus M. Schmidt [...] Dass du in Urwäldern Unter buntgefleckten Raubthieren Sündlich-gesund und bunt und schön liefest, Mit lüsternen Lefzen, Selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig, Raubend, schleichend, lügend liefest [...]« 28 Nietzsches Übermensch und Dracula haben vieles gemein. Beide haben unzähligen Männerphantasien vom sinistren, unzerstörbaren Superhelden Vorschub geleistet. Beide verweisen auch auf das peinliche Dilemma, daß der menschliche Held sterblich und langweilig und der unsterbliche und aufregende Held böse und unmenschlich ist. Eine weitere wichtige Parallele zwischen Nietzsches Übermenschen und Dracula ist die Abneigung gegen körperlichen Sex. Die Nazis waren das »Parade«-Beispiel dieser modernen Hybris. Ihr Blutdurst und ihre Vorstellungen von der Superrasse bringen sie in nächste Nähe mit der Vampir/ Dracula-Tradition. Das Vampirische, das der Bewegung als unverkennbarer innerer Kern zugrunde lag, wurde jedoch zur Ablenkung nach außen in einen Sündenbock projiziert. Hans- Heinz Ewers, der Schreiber des ersten Romans über Horst Wessel (1932), hatte seinen vorhergehenden Romanen einen exotisch-exzentrischen, sexual-sadistischen Hintergrund verliehen. Einer dieser Romane trägt den Titel Vampir (1921). Es ist ein anti-semitistischer Erguß, der die Untoten mit dem Bild der schaurigen, wandernden Jüdin in Verbindung bringt. Erst 50 Jahre später schuf Hans W. Geissendörfer den ersten eindeutig vampirischen Anti-Nazifilm mit seinem Jonathan, Vampire sterben nicht (1970). Hier triumphiert Dracula/ Hitler am Ende durch seine Wiederauferstehung, um uns allegorisch daran zu gemahnen, daß nationalsozialistisches Gedankengut so unauslöschlich wie der Vampir ist. Dracula, der Antichrist, besitzt auf Grund seiner Natur das Potential, unbegrenzt negative wie positive Assoziationen zu erwecken. Die Verbindung mit physischer Stärke und der Ausbeutung sexueller Instinkte lassen ihn viel attraktiver als Jesus Christus erscheinen, wenn erst einmal das christliche Prinzip der Gewaltlosigkeit als Opium für die Schwachen diffamiert und damit außer Kraft gesetzt ist. So läßt sich auch an der Entwicklung des Vampir-Genres sowohl in der Literatur als auch im Film in Richtung auf eine allmähliche Ausbreitung des positiven Vampirbildes der allmähliche Einflußverlust christlichen Gedankengutes ablesen. So besteht ein großer Unterschied zwischen Max Schrecks phallisch steifem und fast golemhaftem Graf Orlac/ Dracula in Fritz W. Murnaus Nosferatu ( 1922) 29 und Frank Langellas gut aussehendem, beredtem, elegantem und erotisch ungemein anziehendem Dracula in John Badhams Produktion aus dem Jahre 1979. Der Weg zu diesem beinahe sympathisch wirkenden Dracula war zuvor durch Brownings Film aus dem Jahre 1931 und Terence Fishers Horror of Dracula ( 1958) geebnet worden, einem Film, der eine ganze Serie mit dem gut aussehenden, aber bedrohlichen und physisch starken Dracula, dargestellt von Christopher Lee, nach sich zog. 28 Lied der Schwermut. In: Nietzsche (Fn. 26), Bd. II, Abschnitt IV, S. 3. 29 Murnau hatte es versäumt, sich die Verfilmungsrechte von Stoker zu beschaffen. Es kam zu einer Klage und einstweiligen Verfügung. Obwohl er dann die Namen der Hauptcharaktere und den geographischen Hintergrund änderte, ließ das Gericht alle Kopien beschlagnahmen und ordnete deren Vernichtung an. Glücklicherweise haben einige überlebt. <?page no="198"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 197 Murnau hatte bereits einige Elemente in seinen Film aufgenommen, die bei Bram Stoker nicht zu finden sind. So wird zum Beispiel der Vampir durch sein Opfer sexuell dazu verführt, über den Tagesanbruch hinaus bei ihm zu bleiben. Nach ausgiebigem Genuß zerstört ihn das Licht der Sonne. So wird die Menschheit nicht mehr durch die Gehirnakrobatik des männlichen Pseudo-Wissenschaftlers, Van Helsing, sondern durch das sexuelle Opfer einer Frau gerettet. Die Bedeutung des Vampirjägers wird bei Murnau heruntergespielt, und es wird eine viel größere Emphase auf die Wirkung gelegt, die die Erscheinung des Vampirs in der sogenannten zivilisierten Welt auslöst. Es ist eine Welt, die das Monster aus seinem Inneren selbst hervorgebracht zu haben scheint. Mit dessen tatsächlichem Erscheinen fällt sie ins Chaos. Diese Aspekte werden in Werner Herzogs Verfilmung, Nosferatu - Phantom der Nacht (1978) noch verstärkt. Dabei werden Lucys sexuellen Verführungskünsten große Bedeutung beigemessen, und dem Publikum wird eine gewisse Sympathie für den uralten Dracula suggeriert, der alle Schrecken der Welt schon erlebt hat, aber nicht sterben kann. Zwischen Bram Stokers Dracula und Anne Rices aktuellem Bestseller Vampire Lestat (1985) aus der gehobenen Unterhaltungsliteratur liegt schließlich der längste Weg. 30 Darin tritt der Vampir als Rockmusik-Idol im Stil von KISS auf und versetzt sein modernes Massenpublikum in Begeisterungshysterie, die in tödlichen Ausschreitungen endet. Die Grundidee, die hinter Anne Rices erstaunlich populären Romanen steckt, ist die Vorstellung, daß es Vampire als geheime Eliterasse schon immer gegeben hat, während die Jahrhunderte und Jahrtausende verstreichen, ja selbst innerhalb der Vampire gibt es noch eine deutliche rassisch angehauchte Klassengesellschaft. Gelegentlich gewähren sie einem von uns die Aufnahme in den Kreis der Unsterblichen und erfüllen damit unsere tiefsten Sehnsüchte nach individueller Freiheit, unbegrenztem Wissen und Macht. Während sich das Vampir-Genre im 20. Jahrhundert in atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt und ausbreitet 31 , nimmt es rasch gewisse formale Züge uralter populärer Gattungen an, Züge, die es zum Beispiel mit der epischen Tradition des Mittelalters teilt. Dazu gehört die Wichtigkeit der Konvention, die Freude am Vertrauten 32 und das Spiel mit der Wiederholung und den feinen Unterschieden. 33 Diese Entwicklungsstufe des Genres hält aber nur so lange an, bis die Wirkung der Akzeptanz einsetzt. Die Akzeptanztheorie stellt die psychologische Wirkungskomponente den soziologischen und ideologischen Einflüssen auf das Genre voran. So wird zum Beispiel das, was anfänglich schockiert, für den Rezipienten allmählich akzeptabel. Dies treibt wiederum die Produzierenden dazu, immer größere Orgien von Blut und Gekröse und von explizitem Sex zu liefern, wodurch schließlich das Genre selbst total verändert wird. In ähnlicher Weise wurden die Vampire immer menschlicher und die Vampirjäger gleichzeitig entmenschter. 30 Vampire Lestat ist der zweite Teil einer Romanserie, die mit dem inzwischen verfilmten Titel Interview With the Vampire begann. 31 Die Filme der vierziger und fünfziger Jahre haben die der zwanziger und dreißiger Jahre an Zahl um mehr als das Doppelte übertroffen. Die Produktionen der sechziger Jahre haben an Zahl dann nochmals die der vorangegangenen zwanzig Jahre verdoppelt, und zwischen 1970 und 1975 wurden mehr als zweihundert Vampirfilme gedreht, wodurch wiederum der Ausstoß der sechziger Jahre verdoppelt wurde, was auch die gesamte Produktion von 1897 bis 1959 übertraf. 32 »[...] the pleasures of familiarity« (Braudy, Leo: The World in a Frame: What We See in Films. Garden City, N.Y. 1977, S. 105.) 33 Siehe Waller (Fn. 4), S. 7 - 10. <?page no="199"?> 198 Klaus M. Schmidt Anknüpfend an bestimmte Motive kann auch ein gewisser Cloning-Effekt eintreten, so daß neben schlechten Vampiren gute Zwillingsgestalten auftreten und sich so das Schauerdrama in Komödie verwandelt. Filme wie Roman Polanskis Tanz der Vampire [Dance of the Vampires] (1967) und Liebe auf den ersten Biß [Love at First Bite] (1978) von Robert Kaufman sind gute Beispiele für solche Trends. Ein weiterer Effekt, der sich aus der Akzeptanztheorie erklären läßt, ist das Verschmelzen von zwei unterschiedlichen Gattungen. Ein solcher Trend setzte bereits in den 40er Jahren, mit den sogenannten »monster combos« ein. So gelang es zum Beispiel dem Film The House of Dracula (1944), Dracula, den Wolfsmenschen, Frankenstein, den Glöckner von Notre Dame und den verrückten Wissenschaftler auf einem Zelluloidstreifen zu vereinen. Als man ausschließlich die übermenschliche Körperkraft als vereinigendes Bindeglied herauspickte, entstanden die sogenannten »Fleischklops«-Vampirfilme aus vorwiegend italienischer, spanischer und mexikanischer Produktion, die herkulische Bodybuilder und Freistilringer gegen Dracula antreten ließen. Sogar mit der Gattung des Westerns hat sich der Dracula-Film vereint, zum Beispiel in Billy the Kid Versus Dracula (1965). Ähnliche Mischformen gibt es mit dem Gangster-, dem Agenten-, dem Science-Fiction-Monster-aus-dem-Weltall- Film, dem kalifornischen Kultfilm-Genre, sowie dem Road-Gang-Film. Kurz und gut, jede Filmgattung mit einem Potential für Sex und Gewalt hatte bereits ihre Begegnung mit einem Vampir. Dasselbe gilt für die Unterhaltungsliteratur. Die ernsthafteren Adepten des Genres kehren jedoch von Zeit zu Zeit zu Bram Stoker zurück, um sich neuen Schwung für die Gattung zu holen, indem sie zum Beispiel Stokers Roman noch ein weiteres Mal gegen den Strich bürsten. Francis Coppola hatte sein letztes Oeuvre, die Farben- und Blutorgie Dracula (mit Gary Oldman als Dracula und Anthony Hopkins als VanHelsing, Winona Ryder als Mina und Keanu Reeves als ihr Ehemann Jonathan Harker) als die »untold story« angekündigt. Der »noch nicht erzählte« Teil der Geschichte war nichts anderes als die Einführung eines Vlad Tepes Prologs. Allerdings handelte es sich dabei keineswegs um eine Neuheit fürs Publikum, denn Vlad Tepes Material findet man bereits in der CBS Fernsehserie, von Dan Curtis mit Jack Palance in der Hauptrolle, aus dem Jahre 1973 und in der BBC Serie Count Dracula von 1978, unter der Regie von Philip Saville, mit Louis Jourdan in der Rolle des Grafen. Coppola hatte auch eine neue Einstellung auf van Helsing versprochen, einem Mann, der in die Finsternis fiel. In der Tat prägt Anthony Hopkins die Rolle des Vampirjägers mit seinem ganz persönlichen Gesicht, das ein Leben widerspiegelt, das ihn schon durch die dunkelsten Abgründe der Perversion und des Mißbrauchs geführt hat. Bei diesem Van Helsing liegt das Schicksal der Menschheit in den Händen einer Gestalt, die für das Publikum keinerlei Vertrauenswürdigkeit mehr ausstrahlt. Ein Wilder, Halbwahnsinniger tritt gegen die monströse Bestie an, und so kann man genüßlich die Randzonen zwischen Normalität und Wahnsinn, Gesundheit und Perversion ausloten. 34 Dracula erlebt seine Wiederauferstehung in der Bestie Mensch. Trotz allem Aufwand war Coppolas Film weder ein finanzieller noch ein künstlerischer Erfolg. Obwohl er die Geschichte im bereits erfolgreichen Comic-Strip-Stil von Superman und Batman anging, wobei alles im Studio gefilmt wurde und sich ein Spezialeffekt an den anderen drängte, konnte der Film gerade das so wichtige Teenager-Publikum nicht voll begeistern. Coppolas Dracula fehlte nämlich eine Grundvoraussetzung der Comic-Strip-Filme, eine klare Unterscheidung von 34 Siehe Abramowitz, Rachel: In the Works. In: Premiere 2 (1992), S. 13. <?page no="200"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 199 Gut und Böse. Das Bild der Vampirjäger ist bereits stark überschattet durch den zweifelhaften Charakter ihres geistigen Kopfes, Van Helsing. Der Rest ist eine Ansammlung von schwachen Charakteren, inklusive des neu eingeführten texanischen Zuchtbullen. Die Figur des texanischen Geschäftsmannes, der sich bei Stoker als das damals beliebte Klischee des reichen amerikanischen Hinterwäldlers den Vampirjägern anschließt, wird bei Coppola zur Karikatur des Cowboy-Helden aus der Tradition des Western-Films. Verfehlen schon die Vampirjäger die wichtigsten Kriterien des positiven Helden, so kommt Dracula der Vorstellung vom Erzbösewicht in der Nachfolge eines Joker in Batman nicht einmal nahe. Er gleicht eher dem Unglückswurm aus einer gigantischen pseudo-historischen Seifenoper. Wie der Prolog, die »unerzählte Geschichte« uns belehrt, entspringt Draculas Charakter keineswegs dem Urbösen, sondern er wurde durch einen Fall von gebrochenem Herzen vom Pfad der Tugend abgebracht. Vlads innig geliebter Braut wurde während der Türkenkämpfe ein gefälschter Brief zugespielt, der von Draculas Tod in der Schlacht berichtet. Aus Schmerz über den Tod des Geliebten begeht sie Selbstmord. Dracula nach seiner Heimkehr seinerseits beim Anblick der toten Geliebten arg vom Schmerz gebeutelt, wendet nun seine Rachegelüste buchstäblich gegen Gott und die Welt. In einer Parallele zum Siegfriedmythos - er attackiert das Heilige statt des bösen Monsters - durchbohrt er mit seinem Schwert ein Kruzifix, und das Blut, das daraus hervorquillt, verleiht ihm Unverwundbarkeit. Mina, die sich nach Dracula ebenso sexuell verzehrt wie Lucy, sieht aus wie die Reinkarnation von Draculas Braut. Sie zwingt Dracula dazu, sie aus einer selbstgeschlagenen Wunde auf seiner Brust sein Blut schlürfen zu lassen, um sich so in der Unsterblichkeit auf ewig mit dem Geliebten zu vereinigen. Die Wunde hat dieselbe Form und sitzt an derselben Stelle wie die Wunde, die Jesus vom Speer des Longinus geschlagen wurde. Wieder wird an mittelalterliche Mythen angeknüpft, denn das Blut, das aus dieser Wunde quoll, wurde von Joseph von Arimathia in einem Kelch aufgefangen, der nach einer weitverbreiteten Legende später zum Gral wurde. Unter solch mitellalterlichem Mythenballast geht die klare Schwarz-weiß-, Gut- Böse-Struktur des verfilmten Comic-Strips in die Knie. An dieser unverträglichen Mischung aus Comic-Strip-Stil und psycho-mythologischem Nebel, in dem die Konturen von Gut und Böse hoffnungslos verschwimmen, scheitert schließlich auch der künstlerische Anspruch von Coppolas Dracula, ganz abgesehen davon, daß hier einfach zu tief in den Topf von Sex, Blut und Gekröse gegriffen wird. Außerdem verschwendet Coppola schon die ganze Energie seiner schaurigen Horrorvisionen im Vorspann und beraubt sich so einer erfolgreichen Erzählstruktur, die den Spannungsbogen ganz allmählich anzieht, bis zu dem Zeitpunkt, an dem Dracula in London mit seiner geballten Macht des Bösen unter der glatten Oberfläche der steifen bürgerlichen Gesellschaftsnormen hervorbricht. Dem Spannungsbogen wird zusätzlich noch dadurch Energie abgesaugt, daß Renfield von Anfang an wie ein tollwütiger Affe in seiner Zelle herumhüpft, während Lucy sich unaufhörlich in sexueller Extase windet. Viel weniger wäre mehr gewesen, und so bleibt die Herausforderung an zukünftige Regisseure erhalten, mit der endgültigen und werkgetreuesten Verfilmung von Stokers Erfolgsroman herauszukommen. Die Vampire muß man im Kontext des allgemeinen Genres Horrorfilm sehen. Dazu meint Stephen Neale, was die spezielle Eigenart des Horrorfilms bestimme, sei nicht die Darstellung von Gewalt an sich, sondern deren Verbindung mit Bildern und Definitionen des Monströsen. 35 Stephen King, der seinen eigenen Beitrag zum Vampir-Genre mit dem Film Salem’s Lot machte 36 , unterscheidet in seiner Abhandlung zum Horrorfilm unter <?page no="201"?> 200 Klaus M. Schmidt dem Titel Danse Macabre das Genre in zwei Gruppen. In der einen wächst das Schreckliche gewissermaßen von innen heraus als Resultat einer freien und bewußten Entscheidung zum Bösen, während in der anderen der Horror prädestiniert erscheint und wie ein Blitzschlag von außen eindringt. 37 King meint weiter, daß Horrorgeschichten, die mit dem von außen eindringenden Bösen umgehen, sehr viel schwerer ernst zu nehmen seien. Sie erwiesen sich oft als nichts anderes als wild gewordene Abenteuergeschichten, die pubertären Knabenphantasien entspringen. Dennoch erscheine aber das von außen eindringende Böse im Grunde größer und furchterregender, da es den Menschen allgemeinen, kosmischen Mächten unterwerfe. 38 Das Vampirgenre hat sich in beide Richtungen entwickelt. Es gibt zahlreiche, sogenannte B-Filme, die mit einer relativ simplen, von außen eindringenden Macht operieren, die dann schnell von einer Koalition »guter« menschlicher Kräfte überwunden werden kann. Unter den wenigen ernsthafteren Filmen in diese Richtung wären Romeros Night of the Living Dead und Dawn of the Dead zu nennen. Die ernsthafteren Bearbeitungen des Vampir-Genres tendieren aber allgemein nach der Darstellung des von innen herauswachsenden Bösen, wo der Mensch als Jäger und Opfer die Grenzen des Status quo auslotet und die Beziehungen zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich, den bürgerlichen Bestrebungen und der individuellen Triebwelt in Verwirrung geraten. 39 Bei Stoker kann das Blutbad immer noch im Namen Gottes und der menschlichen Zivilisation angerichtet werden. Gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts haben aber nicht nur die traditionellen christlichen Symbole des Kruzifixes und der Hostie als Abschreckungswaffe gegen den Vampir ihre Wirksamkeit verloren, sondern die Vampirjäger sind mehr und mehr zu einem Spiegelbild des Bösen geworden, das sie verfolgen. Gewaltausübung im Namen der Rechtschaffenheit hat in der Tat heute einen hohlen Klang, angesichts der Berge verstümmelter Leichen, die dieses Jahrhundert allein aufgehäuft hat. Im Vergleich mit diesem Schlachthaus erscheint das Mittelalter wie ein unterkühlter Operationssaal. Ohne auf die anhaltende wilde Diskussion um das Verhältnis der Gewalt in den Medien zur Gewalt auf den Straßen näher eingehen zu wollen, möchte ich mir abschließend nur die Bemerkung erlauben, daß die Faszination mit den blutsaugenden Draculas in der Literatur, in den Kinosälen und vor den Fernsehschirmen sicherlich nicht unsere Teenager in schaurige Monster verwandeln wird, bei denen sich eines Tages jugendliche Exstase angesichts eines Knutschflecks in eine tödliche Blutorgie verwandeln könnte. Auch wird dadurch nicht die Anzahl der psychotischen Mörder oder der Mitglieder vampirischer Kultgemeinschaften erhöht. 40 Solche Phänomene gab es schon immer, wofür der antike Nero, die mittelalterliche Gräfin Bathory und Jack the Ripper als historisch besonders berüchtigte Zeugen aus der Masse herausragen. Es ist also wohl nicht unsere Faszination von der Gewalt in den Kinosälen und auf Bildschirmen, die die Welt da draußen in ein Blutbad verwandelt, sei es in Form von sogenannten chirurgischen militärischen Eingriffen, ethnischen Reinigungsakten, Bandenkriegen, Straßenschlachten oder neona- 35 Siehe Neale, Stephen: Genre. London; New York 1980, S. 21. 36 Der Film wurde von Tobe Hooper 1976 fürs Fernsehen bearbeitet. 37 Siehe King (Fn. 13), S. 71. 38 Siehe King (Fn. 13), S. 72. 39 Siehe Waller (Fn. 4), S. 15. 40 Siehe Dresser, Norine: American Vampires: Fans, Victims and Practitioners. New York 1989. Hoyt, Olga: The Lust for Blood. The Consuming Story of Vampires. New York 1984. <?page no="202"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 201 zistischen Umtrieben. Es ist eher der Totalausverkauf von Werten oberhalb der materialistischen Ebene in uns und unseren Werken, dieser Orientierungsverlust in enger Verbindung mit der Achterbahnfahrt durch atavistische Emotionen, die das gute Schiff »Demeter« irgendwo zwischen London und New York, Sidney und Yokohama, Varna und Wismar auf schwarzer See in Kreisen treiben läßt. Zumeist ist es Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung und vor allem das Gefühl, eigentlich nicht mehr zu den Lebenden zu gehören, was junge Menschen in Scharen als untote »Bloods,« »Crips« oder »Ghouls« nachts auf die Straßen treibt, um sich gewaltsam an solchen zu vergehen, die kaum selbst die Ufer eines menschenwürdigen Daseins erreicht haben. Wenn uns gegen diese Form von Vampirismus nichts anderes einfällt als noch mehr hilflose Van Helsings in Polizeiuniform aufzubieten, wird Dracula tatsächlich immer wieder von neuem auferstehen. Bram Stokers Dracula und der Vampir in Literatur, Geschichte, Volkskunde und Film seit 1970. Kleine chronologische Auswahl Bibliographien Dalby, Richard: Bram Stoker: A Bibliography of First Editions. Illustrated by Richard Dalby. London 1983. Riccardo, Martin V.: Vampires Unearthed: The Complete Multi-Media Vampire and Dracula Bibliography. New York 1983. Carter, Margaret L.: The Vampire in Literature: A Critical Bibliography. Ann Arbor, MI 1989. Bram Stoker Edition Stoker, Bram: Dracula. Ed., with introd. and notes by A. N. Wilson. Oxford 1983 (World’s Classics) [Kritische Ausgabe]. Adaptationen Johnson, Crane: Dracula. Dramatic Version. From The Novel By Bram Stoker; freely adapted by Crane Johnson. New York 1976. Tremayne, Peter: Dracula Unborn. A Memoir of Mircea, Son of Vlad Tepes, Prince of Wallachia, also Known as Dracula. Who Was Born on this Earth in the Year of 1431. Who Died in 1476 But Remained Undead - as Translated by Professor Abraham van Helsing and Released to the Public for the First Time by Peter Tremayne. London 1977. Hall, Bob: The Passion Of Dracula: A Drama In Three Acts Based Upon The Novel By Bram Stoker. Rev. and rewritten. New York 1979. Monette, Paul: Nosferatu: The Vampyre: A Novel [based on Werner Herzog’s screenplay]. New York 1979. Abbot, Rick: Dracula: The Musical. Book, music and lyrics by Rick Abbot. New York 1982. McFarland, Ronald E: The Vampire on Stage. A Study in Adaptations. In: Comparative Drama 21/ 1(1987), S. 19 - 33. <?page no="203"?> 202 Klaus M. Schmidt Jones, Steve (Steven Philip); Schnieders, Robert; Taillefer, Craig: Dracula. Based on the novel by Bram Stoker. Newbury Park, CA 1990. Deane, Hamilton; Balderston, John L.: Dracula. The ultimate, illustrated edition of the world-famous vampire play; Hrsg. and annotated by David J. Skal. New York 1993. Biographie Belford, Barbara: Bram Stoker. A Biography Of The Author Of Dracula. New York 1996. Allgemeine Analysen Rudorff, Raymond: The Dracula Archives. New York 1971, London 1973. Ronay, Gabriel. The Dracula Myth. London 1972. Wolf, Leonard (Hrsg.): The Annotated Dracula. Boston 1972. Glut, Donald F.: The Dracula Book. With introductions by Christopher Lee; William Marshall. Metuchen, N.J. 1975. Haining, Peter (Hrsg.): The Dracula Scrapbook. Articles, Essays, Letters, Newspaper Cuttings, Anecdotes, Illustrations, Photographs and Memorabilia. New York 1976. Demetrakopoulos, Stephanie: Feminism, Sex Role Exchanges, and Other Subliminal Fantasies in Bram Stoker’s Dracula. In: Frontiers: Jour. of Women Studies 2/ 3 (1977), S. 104 - 13. Hennelly, Mark M. Jr.: ›Dracula‹: The Gnostic Quest and the Victorian Wasteland. In: English Literature in Transition 20/ 1 (1977), S.13 - 26. Roth, Phyllis A.: Suddenly Sexual Women in Bram Stoker’s Dracula. In: Literature and Psychology 27 (1977), S. 113 - 21. Weissman, Judith: Women and Vampires: Dracula as a Victorian Novel. In: Midwest Quarterly: A Journal of Contemporary Thought 18/ 4 (1977), S. 392 - 405. Blinderman, Charles S.: Vampurella. Darwin and Count Dracula. In: Massachusetts Review: A Quarterly of Literature, the Arts and Public Affairs 21(1980), S. 411 - 28. Roth, Phyllis A.: Bram Stoker. Boston 1982. Oinas, Felix: East European Vampires and Dracula. In: Journal of Popular Culture 16/ 1 (1982), S. 108 - 116. Coats, Daryl R.: Bram Stoker and the Ambiguity of Identity. In: Publications of the Mississippi Philological Association (1984), S. 88 - 105. Leatherdale, Clive: Dracula. The Novel and The Legend. A Study of Bram Stoker’s Gothic Masterpiece. Wellingborough, Northamptonshire 1985. Greenway, John L.: Seward’s Folly: Dracula as a Critique of ›Normal Science‹. In: Stanford Literature Review 3/ 2 (1986), S. 213 - 230. Leatherdale, Clive: The Origins Of Dracula. The Background To Bram Stoker’s Gothic Masterpiece. London 1987. Siegel, Mark Richard: Hugo Gernsback, Father Of Modern Science Fiction. With Essays On Frank Herbert And Bram Stoker. San Bernardino, Ca. 1988. Arata, Stephen D.: The Occidental Tourist. Dracula and the Anxiety of Reverse Colonization. In: Victorian Studies: A Journal of the Humanities, Arts and Sciences 33/ 4 (1990), S. 621 - 645. Gagnier, Regenia: Evolution and Information. Or, Eroticism and Everyday Life, in Dracula and Late Victorian Aestheticism. In: Sex and Death in Victorian Literature. Hrsg. Barreca, Regina. Bloomington 1990. S. 140 - 157. Aldiss, Brian Wilson: Dracula Unbound. New York, NY 1991. Kline, Salli J.: The Degeneration of Women. Bram Stoker’s Dracula as Allegorical Criticism of the <?page no="204"?> Dracula - Der Herrscher der Finsternis 203 Fin de Siècle. Mit einer Zusammenfassung auf deutsch; avec un résumé en français. Rheinbach- Merzbach 1992 (Bonner Untersuchungen zur vergleichenden Literaturwissenschaft, Bd. 7). Leatherdale, Clive: Dracula. The Novel and The Legend. A Study Of Bram Stoker’s Gothic Masterpiece. Rev. ed. Brighton, East Sussex 1993. Glover, David: Vampires, Mummies and Liberals. Bram Stoker and the Politics of Popular Fiction. Durham, NC 1996. Stoker, Bram: Dracula. Authoritative Text, Contexts, Reviews And Reactions, Dramatic And Film Variations, Criticism. Hrsg. Nina Auerbach; Skal, David J. New York 1997. Vampirliteratur Anthologien Shepard, Leslie (Hrsg.): The Dracula Book Of Great Vampire Stories. With an introd. by Leslie Shepard. Secaucus, N.J. 1977. Ryan, Alan (Hrsg.): The Penguin Book Of Vampire Stories. London; New York 1987. Sturm, Dieter (Hrsg.): Von denen Vampiren oder Menschensaugern: Dichtungen und Dokumente. Frankfurt/ M. 1994 (Suhrkamp-Taschenbuch Bd. 2281: Phantastische Bibliothek Bd. 306). Vergleichende Analysen Schleifer, Ronald: The Trap of the Imagination: The Gothic Tradition, Fiction, and The Turn of the Screw. In: Criticism. A Quarterly for Literature and the Arts 22 (1980), S. 297 - 319. Twitchell, James B.: The Living Dead. A Study of the Vampire in Romantic Literature. Durham, N.C. 1981. Harmenig, Dieter: Der Anfang von Dracula. Zur Geschichte von Geschichten. Würzburg 1983 (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, Bd.1). Lottes, Wolfgang: Dracula & Co. Der Vampir in der englischen Literatur. In: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen, 220/ 2 (1983), S. 285 - 299. Wood, Robin: Burying the Undead. The Use and Obsolescence of Count Dracula. In: Mosaic. A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature 16/ 1 - 2 (1983), S. 175 - 187. McFarland, Ronald E.: The Vampire on Stage: A Study in Adaptations. In: Comparative Drama 21/ 1 (1987), S. 19 - 33. Hochhausen, Ronald: Der aufgehobene Tod im französischen Populärroman des neunzehnten Jahrhunderts: Ewiger Jude - Vampire - Lebenselixiere. Heidelberg 1988 (Studia Romanica, Bd. 71) [Diss. Univ. Heidelberg, 1987]. Senf, Carol A.: The Vampire in Nineteenth Century English Literature. Bowling Green, OH 1988. Frost, Brian J.: The Monster With A Thousand Faces: Guises Of The Vampire In Myth And Literature. Bowling Green, Ohio 1989. Pütz, Susanne: Vampire und ihre Opfer: der Blutsauger als literarische Figur. Bielefeld 1992 (Diss. Univ. Bonn, 1991). Ruthner, Clemens: Unheimliche Wiederkehr: Interpretationen zu den gespenstischen Romanfiguren bei Ewers, Meyrink, Soyka, Spunda und Strobl. Meitingen 1993 (Studien zur phantastischen Literatur, Bd. 10) [Zugl. Kurzfassung von Dipl. Arb., Univ. Wien, 1990]. Ryan, J. S.: The Vampire before and After Stoker’s Dracula. In: Contemporary Legend. The Journal of the International Society for Contemporary Legend Research 3 (1993), S. 145 - 54. Breuer, Horst: Dracula lebt. Zur Psychodynamik von Schreckensliteratur. In: Unterhaltung. Sozial- und literaturwissenschaftliche Beiträge zu ihren Formen und Funktionen. Hrsg. Petzold, Dieter; Späth, Eberhard. Erlangen 1994, S. 139 - 53. <?page no="205"?> 204 Klaus M. Schmidt Knödl, Gerda: Der Vampir in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Untersuchungen zu ausgewählten Texten von Hanns Heinz Ewers, Elfriede Jelinek, Adolf Muschg und H. C. Artmann. 1994. Jonasch, Monika: Vampire: eine Untersuchung der literarischen Figur des Vampirs anhand ausgewählter Texte. E.T.A. Hoffmann: Der Vampir, Karl Hans Strobl: Das Grabmal auf dem Père Lachaise, H.C. Artmann: Dracula Dracula. Ein transsylvanisches Abenteuer. 1995. Williams, Anne: Art Of Darkness. A Poetics Of Gothic. Chicago 1995. Hoppenstand, Gary; Browne, Ray B.: The Gothic World Of Anne Rice. Bowling Green, OH 1996. Jänsch, Erwin: Vampir-Lexikon. Die Autoren des Schreckens und ihre blutsaugerischen Kreaturen. 200 Vampire in der Literatur. Augsburg 1996. Signorotti, Elizabeth: Repossessing the Body. Transgressive Desire in ›Carmilla‹ and Dracula. In: Criticism. A Quarterly for Literature and the Arts 38/ 4 (1996), S. 607 - 32. Prüßmann, Karsten. Die Dracula-Filme: von Friedrich Wilhelm Murnau bis Francis Ford Coppola (Heyne-Bücher: 32, Heyne Filmbibliothek Bd. 190). München: Heyne, 1993. Dorn, Margit. Vampirfilme und ihre sozialen Funktionen: ein Beitrag zur Genregeschichte. Frankfurt am Main/ Wien u.a.: Lang, 1994. Copper, Basil. Der Vampir in Legende, Kunst und Wirklichkeit. Ins Dt. übertr. von Friedrich A. Hofschuster. München: Goldmann, 1974. In Geschichte und Volkskunde Dracula. In: Enzyklopädie des Märchens: Handwörterbuch zur histor. u. vergleichenden Erzählforschung, Hrsg. by Ranke, Kurt, Hermann Bausinger, Lotte Baumann ... [et al.] ; New York: de Gruyter, 1977. Märtin, Ralf-Peter. Dracula: das Leben des Fürsten Vlad Tepes. (Wagenbach: Taschenbuch ; 266); Veränd. Neuausg. Berlin: Wagenbach, 1996. Schmidt. Berlin u.a.: Ullstein, 1996. Meurer, Hans. Der dunkle Mythos: Blut, Sex und Tod: die Faszination des Volksglaubens an Vampyre. Schliengen: Hrsg.Argus, 1996. Film Dorn, Margit. Vampirfilme und ihre sozialen Funktionen: ein Beitrag zur Genregeschichte. Frankfurt am Main/ Wien u.a.: Lang, 1994. <?page no="206"?> Der Wandel des Einhorns Jochen Hörisch (Mannheim) To be or not to be »To be or not to be - that is the question.« Hamlets berühmtes Diktum bezieht sich nicht nur auf die Frage, ob Hamlet sein Leben durch Selbstmord beenden oder allen Zumutungen zum Trotz fortsetzen soll. Es benennt zugleich auch ein Grundproblem jeder Kultur. Die Unterscheidung zwischen dem, was es gibt und nicht gibt, gehört zum elementaren Code aller Kulturen. Ob es, um mit dem ersten Beispiel bei Hamlet zu bleiben, die Geister der Verstorbenen wirklich gibt, ob es Ufos, ob es den Yeti, ob es Engel, ob es Antimaterie, ob es den Teufel, ob es die Amts-Unfehlbarkeit des Papstes, ob es ein Leben nach dem Tode, ob es das Ungeheuer von Loch Ness, ob es Telepathie, ob es Phlogiston, ob es Wunder, ob es Transzendentalsubjekte, ob es synthetische Urteile a priori, ob es die Transsubstantiation, ob es Zukunft, ob es göttliche Offenbarung, ob es das Nichts gibt oder eben nicht - diese und viele andere Fragen nach Sein oder Nichtsein von x,y,z regeln elementar die Grundstrukturen von Kulturen. Die Frage nach Sein oder Nichtsein ist bedeutend in jedem Wortsinn. Abb. 1: Einhorn, aus: De Generatione Christi (um 1470). <?page no="207"?> 206 Jochen Hörisch Die Antworten auf solche Fragen variieren interkulturell erheblich. Aber eben auch innerkulturell: die Frage nach der Existenz des Einhorns wird z.B. im Rahmen der sog. abendländisch-christlichen Kultur um 300 v. Chr., um 250 n. Chr., um 1300, um 1600 und um 1900 radikal unterschiedlich beantwortet. Um sogleich zu schematisieren: zur Zeit des Aristoteles galt das Einhorn (monoceros) als existent, war aber nicht eigentlich interessanter als andere bemerkenswert auffällige »orientalische / indische« Tiere. Für lange Jahrhunderte nach 250 n. Chr. aber wurde die Existenz des Einhorns zu einem heißen Problem: sollte es doch, nach der Auskunft des weitverbreiteten Tierkundebuchs Physiologus so etwas wie eine Realallegorie für die Existenz des Gottessohnes sein. Um 1300 erreicht diese hohe semantische Aufladung der naturkundlichen Frage nach Existenz oder Nichtexistenz eines Tieres ihren Höhepunkt. Durch laszive Überformungen der tradierten theologischen Einhorn-Exegese, durch Reformation und Tridententiner Konzil verblaßt nach 1600 die fundamentalsemantische Strahlkraft des weißen Tieres. Es wird aber in dem Maße, wie es von theologischen Anforderungen entlastet wird, ästhetisch freigegeben. Um 1900 hat es dann z.B. im Werk R.M. Rilkes eine poetische Hochkonjunktur. Und wer weiß: warum sollten Gentechniker das Einhorn-Fake nicht alsbald zum existenten Faktum machen, das um 2050 die postpostmodernen Klon-Zoos bevölkert? Aus dem Fabeltier wäre dann das wirklich existente fabelhafte Tier geworden. Das Einhorn ist wohl auch deshalb seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren eines der prominentesten Nicht-Lebewesen bzw. das attraktivste aller fabelhaften Tiere, weil sich in ihm die Hamletfrage als eine Frage nach dem Ineins von Sein und Sinn so markant inkarniert. Am Einhorn, dessen Existenz - um die angelsächsiche Wendung aufzunehmen - buchstäblich Sinn macht, läßt sich paradigmatisch beobachten, wie unterschiedlich Kulturen und eben auch aufeinanderfolgende Epochen eines Kulturzusammenhangs, Differenzen markieren, wenn sie »Natur« beobachten. Wer den Wandel des Einhorns nachzeichnet kann so schnell erfahren, daß es lohnt, auf second-order-observation umzustellen und also zu beobachten, aufgrund welcher Differenzmarkierungen Kulturen ihre Beobachtungen machen. Der frühe Wandel des Einhorns »Ex oriente lux.« Nicht nur das Licht der Morgensonne, auch das lichte Fabeltier ist dem Osten zu danken. In Indien gab und gibt es eine variantenreich überlieferte 1 Fabel von einem Einsiedler namens Rsyasrnga (Gazellenhorn). Die ebenso hintersinnige wie sinnliche Geschichte ist Teil des großen indischen Nationalepos Mahabharata, dessen verzweigte Episoden bereits viele Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung kurrent sind und das spätestens im vierten Jahrhundert nach Christus seine endgültige Form fand. Sie 1 Das folgende synoptisch nach Jürgen W. Einhorn, (Spiritualis unicornis. Das Einhorn als Bedeutungsträger in Literatur und Kunst des Mittelalters. 2., rev. und erw. Aufl. München 1996, S. 34 ff.), der sich seinerseits auf die Arbeit von W. Haug, S. 157 - 164 stützt, die fünf Fassungen der Fabel festgestellt hat. Wiedergegeben ist die Legende auch bei M. Winterwitz (Hrsg.): Indische Sagen, S. 131 ff., textkritisch kommentiert wird sie von H. Lüders 1897 und 1901. Lüders kommentiert vor allem »die Widersprüche im Anfang des zweiten Teils dieser Erzählung [...] Wie kann der König die Brahmanen um Rat fragen, von denen er eben gesagt hat, daß sie ihn im Zorn verlassen haben! « <?page no="208"?> Der Wandel des Einhorns 207 stellt die wohl älteste Textschicht dar, von der andere Einhornerzählungen ihren Ausgang genommen haben. Der besagte Einsiedler ist der Sohn eines Asketen und einer Gazelle, die ihrerseits göttlichen Ursprungs ist. Auf seinem Kopf trägt er, der aufgrund seiner asketischen Lebensweise Einfluß auf Regen und Fruchtbarkeit hat, ein langes Horn - Zeichen seiner übermenschlichen Herkunft. Als einmal für bedrohlich lange Zeit der Regen aussetzt, weil der König Lomopada von Anga einen Brahmanen von seinem Hof vertrieben hat, erklären die befragten Brahmanen, es werde erst dann wieder regnen, wenn es dem König gelänge, den eremitischen Büßer Gazellenhorn, den mit Ausnahme seines Vaters noch niemand gesehen hat, an seinen Hof zu bringen. Nur eine Frau, so läßt der König sich beraten, vermag den Ungeselligen dorthin zu locken. Und so wird eine Hetäre ausgewählt, die mit einem zum künstlichen Paradies hergerichteten Floß in die Nähe der einsiedlerischen Hütte gelangt. Ihr gelingt es, Gazellenhorn, der sie gleichfalls für einen Einsiedler hält, zu betören und bei der zweiten Begegnung, den Warnungen des intervenierenden Vaters vor der dämonischen Gefahr zum Trotz, auf ihr Floß zu locken. So kann er zum Königspalast und genauer in dessen Frauengemach gebracht werden. Der versprochene Regen bleibt nicht aus; und nach diesem glücklichen Vorgang kehrt Gazellenhorn mit der ihm inzwischen vermählten Hetäre in seine Einsiedelei zurück. Viele Elemente der späteren okzidentalen Versionen der Einhorn-Semantik sind bereits in dieser fernöstlichen Fassung angelegt: die ungewöhnliche Scheu des einsiedlerischen Tiermenschen, seine göttliche Abkunft, aber auch seine deutlich erotische, Fruchtbarkeit verheißende Valenz. Aus dem chinesisch-japanischen Kulturkreis, der seinerseits mit dieser indischen Legende in Berührung kam, flossen der Überlieferung der Geschichte(n) vom Einhorn weitere Motive zu. Das einhörnige Ch’i-lin zählt dort zusammen mit dem Drachen, dem Phönix und der Schildkröte zu den vier heiligen Wundertieren. »Es kann über Wasser und Land schreiten, geht aber so behutsam, daß es kein Gras und keine Lebewesen zertritt. Schmutziges Wasser genießt es nicht. Seine Stimme ist wie die einer Glokke. Als glückhaftes Tier erscheint es, um die Geburt eines vollkommenen Weisen oder Herrschers anzukündigen.« 2 Das halten noch die weitverbreiteten Bilder von den Lebensspuren des Vollkommenen - gemeint ist Konfuzius - aus dem 18. Jahrhundert fest. Sie zeigen ein Ch’i-lin, das vor der Geburt des außerordentlichen Kindes der werdenden Mutter eine Jade-Urkunde ausspeit, auf der zu lesen steht: »Der Sohn des Bergkristalls wird das zerfallende Reich der Chou fortsetzen und König ohne Königsabzeichen sein.« Anders die aggressivere Variante des Ch’i-lin, des Hsieh-chai: es »besitzt ein spitzes, langes Stirnhorn und hat die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden. Zur Zeit des legendären Kaisers Shun half es bei der Rechtsprechung und war der Schrecken der Schuldigen, weil es sie zu durchbohren drohte.« 3 Der epischen Präsenz des Einhorns im Osten entspricht seine Anwesenheit in zahlreichen Bildern und Reliefs. Und schon hier - etwa auf einem um 3500 v. Chr. entstandenen Spielbrett aus Babylonien, einem auf 2800 zu datierendem Einlegeplättchen aus Mesopotamien oder an den Reliefs der Treppenaufgänge am Apardana-Palast des Darius und des Xerxes um 500 4 - ist ihm als kämpferischer Gegner der Löwe zugesellt: Sinnbild des ewi- 2 Einhorn, S. 39 f. 3 Ebda., S. 38. <?page no="209"?> 208 Jochen Hörisch gen Wechsels von Sommer und Winter, Trockenheit und Regen, Untergang und Wachstum, Stirb und Werde. Daß das Einhorn im Osten seinen Gang durch Erzählungen und Bilddarstellungen antrat, bezeugt auch die erste und gleich äußerst konsequenzenreiche abendländische Quelle: der Reisebericht des griechischen Arztes Ktesias, den es nach der Schlacht bei Kunaxa im Jahre 401 v. Chr. an den Hof des Perserkönigs Artarxerxes II. verschlug. Er ist De Indica überschrieben. Von der Fabulierlust der indischen Legende aber ist in dem nüchternen Bericht des aufgeklärten Arztes nicht viel oder aber fast alles eingegangen. Wo die Legende lustvoll Profanes und Sakrales, Laszives und Asketisches, Narratives und Gelehrtes ineinander verschränkt, rubriziert der griechische Text Gewicht, Größe und Funktion einzelner Körperteile eines Tieres, von dessen wundersamer und in jeder Weise fruchtbarer Kraft hier noch eben eine pharmakologische Restpotenz übrig geblieben ist - Ursprung der weit über einhundert Einhorn-Apotheken, die heute noch allein in Deutschland ihre gesunden Dienste anbieten. Solche Sachlichkeit aber schließt ganz offenbar elementare Irrtümer über Sein und Nichtsein nicht aus, sondern legt sie vielmehr nahe. Daß es das Einhorn gibt, bezeugen fortan Bücher, die eben nicht von geistreichen Erzählern berichten, sondern von nüchternen Empirikern und systematisierenden Philosophen geschrieben wurden. Was Ktesias beschrieb, bestätigt ein weiterer Indienfahrer: Megasthenes, der sich um 300 v. Chr. im Auftrag des syrisch-makedonischen Herrschers Seleukos I. Nikator als Gesandter am Hof des indischen Königs Tschandragupta aufhielt. In seinem vierbändigen Reisebericht über Indien findet sich auch eine Beschreibung des Einhorns (indisch: Kartazonos), die allerdings geeignet wäre, der Geschichte des Tieres, das es nicht gibt, ein frühes Ende zu bereiten. Denn nur allzu offensichtlich ist das dort beschriebene große Tier mit den elefantengleichen ungegliederten Füßen, dem Schweineschwanz und dem gelbbraunen Fell kein Einhorn, sondern ein durchaus unelegantes und unpoetisches Tier: das Rhinoceros. Einer seltsamen List der poetischen Vernunft ist es zu danken, wenn das Einhorn dieser möglichen schlichten Aufklärung seines Rätsels zum Trotz fortexistierte. Sie schlüpfte nämlich in das Gewand des eleganten, suggestiven Arguments und fand in keinem Geringeren als Aristoteles ihren unfreiwilligen Fürsprecher. Eben der Philosoph von unvergleichlicher und wirkungsmächtiger Autorität, der in seiner Poetik als Differenz von Geschichtsschreiber und Dichter festgehalten hatte: »daß es nicht die Aufgabe des Dichters ist zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit oder Notwendigkeit« 5 - gerade eben Aristoteles und somit der Philosoph schlechthin, deduziert die notwendige Existenz des Einhorns, genauer: des Einhornhorns. Gehörnte Tiere überhaupt und solche mit doppelten Hörnern zumal sind nämlich, so der scharfsinnige Denker, schon aus Gründen der Symmetrie in der Regel, Spalthufer. 6 Eine Ausnahme macht nur der indische Esel. Aristoteles hat ganz offenbar Ktesias gelesen und ist gerne bereit, wie dieser das Einhorn zu privilegieren. Denn es bildet eine Klasse für sich, eine Ausnahme-Klasse freilich, welche ihrerseits die Regel bestätigt, die da 4 Einhorn (Fn. 2), S. 25 - 27. 5 Aristoteles: Poetik. Griechisch/ deutsch. Übers. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 1984 (Universal-Bibliothek, Nr. 7828), § 9. 6 The works of Aristoteles: Historia animalium. Repr. 1967, S. 499 b 16. <?page no="210"?> Der Wandel des Einhorns 209 lautet: es gibt eine Symmetrie zwischen Zweihörnigkeit und zweigespaltenem Huf. Subtler argumentiert: ein gespaltener Huf ist durch jenen Mangel an Stoff bedingt, den die doppelten Hörner mit sich bringen; und deshalb, so der Umkehrschluß, können einhufige Tiere, sofern sie überhaupt gehörnt sind, auch nur ein zentrales Horn tragen. 7 Ein Horn allerdings, das in jeder Weise einmalig ist. »Es haben die einhörnigen Tiere das Horn mitten auf dem Kopf. So dürften wohl beide Seiten (der Stirn) das eine Horn in möglichst ausgeprägter Weise besitzen. Die Mitte nämlich ist in gleicher Weise beiden Seiten gemeinsam.« 8 So der große Philosoph der Mitte, der Vermittlung und des Ausgleichs. Er dürfte nicht im entferntesten geahnt haben (wie sollte er auch? ), welche Verwirrung seine deduktive Klärung der Einhörnigkeit später einmal, in Zeiten christlicher Aristoteles-Lektüre, anrichten würde. Hat der Philosoph, dem im Mittelalter eine bibelgleiche Autorität zukam, dem Einhorn doch mit spekulativer Stringenz buchstäblich einen diabolischen Pferdefuß zugedacht ... Doch bis zu dieser Verwirrung seiner Qualitäten hat das Einhorn noch einen weiten Weg zurückzulegen. Seine Wanderungen und Wandlungen führen es, um nur wenige Etappen zu nennen, in die sensationsheischenden Berichte von Cäsar, der das edle Tier für sein eitles Jägerlatein mißbraucht, und dann in die gelehrten Abhandlungen zur Naturgeschichte von Plinius und Aelian sowie in die »Sammlung merkwürdiger Dinge«, mit der Solinus im dritten nachchristlichen Jahrhundert sein Publikum erregt. Unterschieden sind beide Weisen der Diskursproduktion, die gelehrte und die effektheischende, auch dadurch, daß die erstere (siehe das stupende Literaturverzeichnis des Plinius, das noch heute Dissertationen gut anstehen würde) akribisch die Schriften anführt, aus denen sie sich speist, während die zweite verschlingt, was andere geschrieben haben, um auf diese Weise elegant die Differenz von Welt und Buch zu verschlingen und also sich selbst dem lesebzw. weltgierigen Verzehr anzubieten. Die christliche Codierung des Einhorns Der Weg des Einhorns führte aber nicht nur in antik-naturkundliche und dem frühen Jägerlatein verpflichtete Schriften, sondern auch in den Kreis von 70 theologisch, philosophisch und philologisch gelehrten Männern, die im dritten Jahrhundert vor Christus in der bibliomanen Stadt Alexandria zusammensaßen, um auf Geheiß des Ägypterkönigs Ptolomäus II. das (später so genannte) Alte Testament ins Griechische zu übersetzen. Eine Großtat für die Geschichte der (wiederum: später so genannten) abendländischchristlichen Kultur überhaupt und - für das Einhorn, das seitdem (und also lange vor Christi Geburt) der Geschichte des Christentums unlösbar verbunden ist. Diese Verbindung aber stiftete nicht etwa ein subtiler Geist von kulturell-philosophischer Verständnisinnigkeit, sondern eine kleine philologische Inkompetenz. An nicht weniger als acht Stellen des hebräischen Textes nämlich ist von einem durchaus ungeistigen Tier namens »re'em« zu lesen. Das heißt nichts anderes als »Auerochse« oder allgemeiner »wildes 7 De partibus animalium I and De generatione animalium I (with passages from II. 1 - 3). Transl. with notes by David M. Balme. Oxford 1992, S. 663 a 18 ff. 8 Aristoteles (Fn. 7), 24 - 27. <?page no="211"?> 210 Jochen Hörisch Tier«. Doch diese Vokabelkenntnis war den »Septuaginta« offenbar unvertraut. Vertraut aber war ihnen, den alexandrinisch Gebildeten, ebenso offenkundig die gelehrte Literatur. Und so übersetzten sie das schöne hebräische Wort für das unschöne Tier mit dem gleichermaßen wohlklingendem wie Beeindruckendes bezeichnendem griechischem Wort »monoceros« (Einhorn). Also kam das Einhorn durch einen schieren Übersetzungsfehler in die Bibel. Ein Übersetzungsfehler, der sich fortschrieb. Denn der heilige Hieronymos, der in den Jahren um 383 nach Christus die griechische Bibel ins Lateinische übersetzte, verwirrte die philologisch unübersichtliche Lage noch mehr und schaffte damit sofort erneuten Interpretationsbedarf, als er mit gleich drei Äquivalenten aufwartete: er latinisierte (wie andere schon vor ihm) einfach das griechische Wort »monoceros« (Psalm 92, 11), er brachte das aus der gelehrten Tradition vertraute »unicornis« (Psalm 22, 22 bzw. Vulgata 21, 22; Je- Abb. 2: Einhorn, aus: Thierbuch Alberti Magni (um 1545). <?page no="212"?> Der Wandel des Einhorns 211 saja 34, 7), und er scheute auch vor dem profanen Wort »rhinoceros‹« nicht zurück (4. Mose 23, 22 und 4. Mose 24, 8; 5. Mose 33, 17; Psalm 29, 6). Doch damit nicht genug der Schwierigkeiten. Schwerer als die philologische Nicht- Feststellbarkeit des Tieres, das es damals so wenig gab, wie es das Wissen über dieses Nichtgegebensein gab, wog und wiegt bis heute sicherlich der Umstand, daß das re'em/ monoceros/ unicornis/ rhinoceros/ Einhorn selbst in der einen Bibel den unterschiedlichsten, ja widersprüchlichsten Kontexten entspringt. Bebildert es doch den Segen wie die äußerste Bedrohung. »Gott hat sie aus Egypten gefüret / seine freidigkeit ist wie eins Einhorns«, heißt es nach Luthers Übersetzung im Segen des Bileam (4. Mose 23, 22). Und der Herr, der dies großartig vollbracht hat, wird, da er kraftvoll ist wie das Horn des Einhorns, die seinem auserwählten Volk feindlichen Stämme »stossen zu hauff / bis an des Lands ende« (5. Mose 33, 17). Da mag es noch eben angehen, wenn Gott, der dermaßen mit dem Einhorn verglichen ward, Hiob die Frage stellt: »Meinstu das Einhorn werde dir dienen / vnd werde bleiben an deiner krippen? « Denn dem Alten Testament ist der unberechenbare Gott, der so wenig menschlichen Vorstellungen sich fügt, wie das Einhorn sich nicht zum Haustier domestizieren läßt, mindestens ebenso plausibel die der gütige. In sich widersprüchlich ist dieser Gott gewiß - so wie das Tier, mit dem er bevorzugt verglichen wird. Theologisch kaum mehr sinnvoll zu verarbeiten aber ist der ungeheure Psalm 22 (bzw. Vulgata 21), der im gekreuzigten Christus seinen verzweifeltsten Sänger fand. »Mein Gott / mein Gott / warum hastu mich verlassen? « fragt der Gottessohn seinen Vater, um ihn, dessen Kraft und Freudigkeit zuvor wiederholt mit der des Einhorns verglichen ward (5. Mose 33, 17), dann anzuflehen: »Hilff mir aus dem Rachen des Lewen / Vnd errette mich von den Einhörnern.« Ob ein schriftkundiger Sohn hier, metaphorisch nur ein wenig verrätselt, keinen anderen als den Vater bittet, vor und von dem Vater errettet zu werden? Wie immer auch dieser Psalm zu lesen und zu singen sei: skandalös ist er, und hochparadox ist zumal seine Synopse mit anderen Bibelstellen, die vom Einhorn handeln. In seiner negativen Eindeutigkeit kaum interpretationsbedürftig ist hingegen die schreckliche Drohung gegen die Heiden, die Jesajas Weissagung über die Zerstörung Edoms ausspricht: »Da werden die Einhörner sampt jnen erunter müssen / vnd die Farren sampt den gemesteten Ochsen / Denn jr Land wird truncken werden von blut und jr Erden dick werden von fettem« (Jes. 32, 7). Sofern es überhaupt legitim ist, in geistlichen Dingen Statistik zu betreiben, ergibt sich also ein seltsamer Befund. Von den acht Einhorn-Erwähnungen des Alten Testamentes zählen, da 4. Mose 24, 8 schlicht ein Double von 23, 22 ist, nur sieben. Davon bezeichnen, nein: feiern vier Gottes Herrlichkeit, Kraft und Freudigkeit (4. Mose, 5. Mose, Psalm 29, Psalm 92), zwei weitere aber beschwören in strikter Umkehrung nichts anderes als die Gefahr, die von seinen heidnischen Gegnern ausgeht (der überaus prominente Psalm 22 und Jesaja 32, 7). Zumindest ambivalent muß schließlich die siebte Erwähnung des Einhorns in den göttlichen Fragen an Hiob heißen. Andere Relationen, andere Verteilungen göttlicher, heidnischer und insgesamt semantischer Kräfte ergeben sich natürlich, wenn das re’em nicht durchweg mit »monoceros« oder »unicornis« übersetzt wird, wenn es gar, wie nach dem zweiten vatikanischen »Konzil der Buchhalter« 9 oder nach endlosen aufgeklärt-philologischen Revisionen der 9 Vgl. dazu Lorenzer, Alfred: Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt a.M. 1992. <?page no="213"?> 212 Jochen Hörisch Lutherbibel ganz aus der Heiligen Schrift vertrieben wird, wenn durch elegante Manipulation ein weiteres (deutlich negatives) Einhorn in die Bibel geschmuggelt wird (so phantasierte Hieronymos in Psalm 37, 20 noch einen »ut monocerotes«-Vergleich hinzu, wo im griechischen Text keiner zu finden war: »die Feinde des Herrn werden umkommen (wie die Einhörner)« oder wenn man das einzige textlich real existierende unter den einhörnigen Tieren der Bibel, den »Ziegenbock« nämlich mit dem »ansehelichen Horn zwischen seinen Augen« aus Daniels Vision über die Burg Susa (Daniel 8, 5) mitrechnet. Wie immer auch diese Rechnung im einzelnen sich präsentieren mag - elementare Inkonsistenzen sind unübersehbar. Und das heißt: ohne die Widersprüche, die seinen philosophisch-theologisch-gelehrt-poetischen Weg begleiten, ist das Einhorn nicht zu haben. Wer ihm begegnet, muß der Möglichkeit gewahr sein, daß der Gläubige und der Heide, der Teufel und der liebe Gott, die Verdammung und die Verheißung, das Laszive und das Keusche, das Starke und das Zärtliche, das tief Bedeutende sind das archaisch Ausdruckslose, das Sein und das Nichtsein dem Einhorn zugehören. Wer sich auf das Einhorn einläßt, kann die Erfahrung machen, daß diese die Seiten dieser Widerspruchspaare mehr mit dem jeweils anderen ihrer selbst gemein haben, als dem ordentlichen Verstand lieb sein mag. Festgeschrieben aber haben diese Widersprüchlichkeiten eben jene Bücher (bzw. ihre verständigen Übersetzer), die antraten, Ordnungen im Denken und Glauben zu stiften. Vom »paradoxen Doppelwesen« des Einhorns und anderer alchemistischer Paradigmata zu sprechen, wie C. G. Jung es tut 10 , ist sicherlich angemessen. Solchen Widerspruch dann aber sogleich mit einem neuen Integral namens archetypischen »Ahnungen vom paradoxen Wesen des Unbewußten« beikommen zu wollen, ist eine noch zu harmlose Wendung des Theoretikers, der damit nur eine neue konsistentere Ordnung stiften will. Widersprüche, sofern sie binär organisiert sind, gehören nämlich Ordnungssystemen selbst zu. Zu denken aber gibt das vielfältige Einhorn nicht nur einen ordentlichen Widerspruch, sondern gar irreduzible Vielheiten. Vielheiten zudem, die weniger durch eine etwaige Widerspruchslust des Geistes als vielmehr durch die träge Dummheit des Buchstabens bedingt sind. »Le signifiant est bête«. 11 Der Signifikant sei blöde (wie ein Tier), so heißt es wiederholt bei dem französischen Psychoanalytiker Lacan. Und auch das geistreichste Tier, das Einhorn eben, ist von blöden Signifikanten umstellt, die mit ihm das dumme Spiel ihrer schwerfälligen Materialität treiben. Die Materialität der Signifikanten »monoceros« und »unicornis«, die durch mangelnde Geistespräsenz und also durch einen dummen Übersetzungsfehler in die Bibel gerieten, bestimmt aber fortan auch über das geistige und geistliche Schicksal des »unicornis spiritualis«, des geistlichen Einhorns. Was schwarz auf weiß geschrieben steht, steht schwarz auf weiß geschrieben, und kann nicht einfach wieder getilgt werden. Auch dann nicht, wenn es ein Fehler ist. Was schwarz auf weiß geschrieben steht, steht geschrieben und kann kaum mehr getilgt werden. Wohl aber interpretiert. Was ab und an fast so gut wie getilgt ist. 12 Mit den 10 Jung, Carl Gustav: Psychologie und Alchemie. 7. Aufl. Zürich [u.a.] 1994, S. 494. 11 Lacan, Jacques: Encore. Le séminaire XX. Paris 1975, S. 16 ff. Ders.: Les Psychoses. Le séminaire III. Paris 1981, S. 171: »Qu’ est-ce que veut dire le signifiant primordial? Il est clair, très exactement, ca ne veut rien dire.« Und zum Problem der Übersetzung von Lacans Wendung Prasse, J.: Der blöde Signifikant und die Schrift. In: Der Wunderblock 10 (1983), S. 37 - 49. 12 Vgl. Hörisch, Jochen: Literaturwissenschaft als Medium der Verkennung von Literatur. In: G. Stötzel (Hrsg.): Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven, Bd. 2. Berlin, New York 1985, S. 451 - 456. <?page no="214"?> Der Wandel des Einhorns 213 indischen Legenden-Motiven, den griechischen Reiseberichten, ihren philosophisch gelehrten Folgen und den biblischen Übersetzungsfehlern liegt bereits ein breites unicornologisches Material vor, dessen kombinatorische Möglichkeiten enorm und dessen träge Buchstäblichkeiten kaum mehr zu bändigen sind. Solche Widerspenstigkeit muß geradwegs Versuche einer synthetisierenden und interpretierenden Domestizierung von Diskursen hervorrufen, weil diese andernfalls ihren Buchstabensinn zu erfüllen drohen: entbunden zu dis-currieren, auseinanderzulaufen. Was dem widersprüchlichen, vielfältigen, disseminierten Einhorn nottut, ist somit ein »transzendentales Signifikat«. 13 Ein Sinnzentrum bzw. ein Zentralsinn, der seine signifikante Materialität, der seine verwirrende Buchstabenfülle, der seine pagan-gläubige, lasziv-keusche und wild-kultivierte Potenz domestiziert. Zum Haustier (nicht nur früh-) christlicher Kultur hat das entbundene und schöne Tier eine kleine Schrift machen wollen, deren Wirkungsmächtigkeit kaum zu überschätzen ist: der Physiologus. Das heißt nichts anderes als »der Naturkundige«. Hinter diesem Attribut wurde von verklärungswilliger Seite als Autor gar Aristoteles vermutet. Der aber lebte nicht um 200 nach Christus, in welcher Zeit der Physiologus entstanden ist, sondern ein halbes Jahrtausend früher, und so konnte er auch kaum Teile des Neuen Testamentes lesen. Dieses nämlich ist durchweg die Sinnfolie, auf der der Naturkundige sein pflanzliches und tierisches Wissen ausbreitet. Ob Löwe oder Sirene, ob Walfisch oder Phönix, ob Igel oder eben Einhorn angeführt werden - stets folgt der anonyme Autor ein und demselben Schreibschema. Eingeleitet wird die naturkundige Beschreibung des fraglichen Tieres zumeist mit einem Bibelspruch: »Und wird erhöhet werden, sagt der Psalmist, mein Horn wie das des Einhorns.« Folgt der biologisch-präzise Teil, der ausgedehnte Lektüre wissenschaftlicher Schriften vermuten läßt. Abgeschlossen wird die Darstellung schließlich regelmäßig mit einem theologiegesättigten fabula-docet. »Dies nun« - der naturkundlich beglaubigte Umstand nämlich, daß das Einhorn in den Schoß reiner Jungfrauen zu springen pflegt - »wird übertragen auf das Bildnis unseres Heilands.« Und natürlich dürfen dann auch wieder biblische Parallelstellen nicht fehlen. In diesem Fall die hochprominenten Passagen Lukas 1, 69: Gott der Herr »hat vns auffgericht ein Horn des Heils / Jn dem hause seines dieners Dauid«, sowie Johannes 1, 14: »Vnd das Wort ward Fleisch / vnd wonet vnter vns.« Gewichtigere theologische Nobilitierung könnte dem Einhorn nicht zuteil werden. Das Tier, das in den Schoß der schön ausstaffierten, dennoch aber reinen Jungfrau springt, allegorisiert nichts geringeres als das Kernstück christlichen Glaubens, die Menschwerdung des Gottessohns im Schoße Marias. Das Einhorn wird fast so wichtig wie das christliche Zentralsakrament der Eucharistie. Es erhält quasi-sakramentalen Charakter. So als sei der Physiologus selbst über diese allzu hohe Etablierung des Einhorns erschrocken, nimmt er seine Heilsbedeutung insofern zurück, als seinem Horn erst einmal heilende Wirkung in diesem Leben hier zugesprochen wird. Dies geschieht mit einer schönen rhetorischen Überleitungsfigur. »Ist ein einhörniges Tier, und so wird’s auch geheißen.« (Physiologus, 22, S. 21) Das Einhorn ist, was es heißt und heißt so, wie es ist. In ihm kommen verbum und res zur vollendeten Deckung. Es ist wie das Abendmahl 14 von onto-semiologischer (also die Korrespondenz von Sein und Sinn bezeugender) Qualität. 13 Derrida, Jacques: Die Schrift und die Differenz. 6. Aufl. Frankfurt a.M. 1994, S. 424. 14 Vgl. dazu Hörisch, Jochen: Brot und Wein - Die Poesie des Abendmahls. Frankfurt a.M. 1992. <?page no="215"?> 214 Jochen Hörisch Auf diese Feier der Einhorn-Bedeutsamkeit folgt die Beschreibung seiner pharmakologischen Effizienz, auf die sich Hunderte von Einhorn-Apotheken nicht nur in Deutschland heute noch berufen: »Aber in jenen Gegenden ist ein großer See, und da sammeln sich die wilden Tiere um zu trinken. / Ehe jedoch die Tiere versammelt sind, kriecht die Schlange heran und speit ihr Gift in das Wasser. Die Tiere nun spüren das Gift und wagen nicht zu trinken; und da warten sie auf das Einhorn, und das kommt, und stracks geht es in das Wasser und schlägt mit dem Horn ein Kreuz, und damit macht es die Kraft des Giftes zunichte, und da es von dem Wasser trinkt, trinken auch all jene anderen Tiere.« So nah liegen Heils- und Heilungsversprechen beieinander. Das Kreuzeszeichen, das das Einhorn mit seinem Horn schägt, ist das beste Antidot gegen alle satanischen Vergiftungen. Das Einhorn bewährt, so die plausible Konstruktion, sein göttliches Heilsversprechen schon hienieden, indem es, der bösen Gifte Gegengift, Heilung spendet, so wie Christus selbst es getan hat. Ein Analogiezauber von ebenso großer Suggestivität und Eleganz wie Gewaltsamkeit und Abenteuerlichkeit; ein Integral, das die zuvor discurrierenden legendarischen, naturwissenschaftlichen, poetischen, reiseberichtenden und biblischen Texte von einem Zentralsinn her zusammenzubinden verspricht. Ein gefährdetes Integral aber auch. Denn nur um den Preis irritierender Gewaltsamkeit scheint die Zähmung des widerspenstigen Tieres nunmehr gelungen: aus dem scheuen Tier wird das kommunikative, das Kommunionssymbol schlechthin, aus dem deutlich phallische Züge tragenden Fruchtbarkeitsgaranten wird die Allegorie göttlicher Caritas, aus dem aggressiven Bedroher wird der Heilsspender - »les extrêmes se touchent«, wieder einmal. Gefährdungen also sind auch diesem hochwirksamen Text immanent, der sich bis ins Spätmittelalter in zahlreichen Sprachen und Varianten von Gelehrtenstube zu Kloster und von Klosterbibliothek zu weltlichen Büchersammlungen fortschrieb. Gefährdungen nimmt zumal der in Kauf, der allegorisierend so hoch reizt und dabei nicht bedenkt, ja kaum bedenken kann, daß er sein Sach buchstäblich auf nichts anderes als auf Buchstaben gestellt haben könnte. Wenn nämlich die Existenz des Einhorns das Sein göttlicher Bedeutsamkeit wie auch die Bedeutsamkeit des Seins gleichsam eucharistisch sinnfällig macht, dann ist eben die Diskussion um Sein oder Nichtsein des Einhorns kein bloß gelehrt-naturkundliches Scharmützel. Einer christlichen Kultur, die den Typus des säkularisiert indifferenten Menschen von gleichschwebender Neugier mitsamt komplementärer Abschaltfähigkeit noch nicht kannte, war die Nichtexistenz des Einhorns so schwer zu vermitteln wie die Entdeckungen des Galilei. Viele Epochen, Zeiten und Neuordnungen des Verhältnisses von Worten und Sachen 15 müssen stattgehabt haben, bis es gar auch umgekehrt möglich sein wird, »das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig zu erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre«. So der Vorbericht Jean Pauls von 1796 zur Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei. 15 Vgl. Foucault, Michel: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. [Paris] 1966 (Collection tel, Bd. 166). - In dieser grundlegenden und grundstürzenden Schrift werden die elementaren Annahmen dreier historisch wichtiger Zeichenordnungen analysiert. <?page no="216"?> Der Wandel des Einhorns 215 Die Hochzeit des Einhorns Daß ein Gott sei, daß zudem ein Gott sei, der sich in seinem Sohn und im Schoß einer Jungfrau vermenschlicht, ist das Versprechen, für das das Einhorn, sit venia verbo, seit dem Physiologus realallegorisch einsteht. Eine mächtige patristische und scholastische Exegetik wird fortan dafür sorgen, daß dieses Versprechen kein Versprecher wird. Die patristisch-scholastischen Deutungen des Einhorns knüpfen nicht nur an die Bibelstellen, sondern zumeist ebenso an den doch Einheit stiften wollenden Physiologus an. Zwei Texte aber sind zwei Texte, und sie werden nicht weniger, wenn sie interpretiert und exegetisiert werden. Einige der mittelalterlichen Exegesen bringen den Naturkundigen denn auch gleich in Mißkredit. Beweist nämlich aufmerksame Lektüre nicht, daß auch das fromme kleine Einhorn, das einem »Zicklein ähnelt«, einen Pferdefuß hat? Und zwar den Pferdefuß, in der frühsten Form christlicher Häresie, der Gnosis, seinen Entstehungs-Kontext zu finden. Die Physiologus-Passage, in der es heißt: »Nicht vermochten die Engelsgewalten ihn (unseren Heiland) zu bewältigen, sondern er ging ein in den Leib der wahrhaftig und immerdar jungfräulichen Maria« korrespondiert nämlich geradezu verdächtig der gnostischen Annahme, nicht Gott selbst, sondern die von ihm erschaffenen Engel oder ein Demiurg hätten ihrerseits die Welt in all ihrer gottfernen Materialität und Schlechtigkeit geschaffen. So gerät der fromme Physiologus mitunter gar auf den Index. Als »liber ab hereticis conscriptus« führt eine im sechsten Jahrhundert in Südfrankreich entstandene Schrift den Physiologus auf. Nach Kräften rezipiert wurde der Physiologus im Mittelalter dennoch und vielleicht eben gerade wegen dieser und anderer latenter Anrüchigkeiten. Im Physiologus der häretischen Waldenser (um 1200 verunsicherten sie nicht nur Oberitalien) ist diese diabolische Anrüchigkeit in aller wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen. Ihm gilt das Einhorn zweifelsfrei als Bild des Teufels - und die Begründung ist frappant: »gleich dem Einhorn kann auch der Teufel nur durch den Geruch der Jungfräulichkeit, durch Tugend und gute Werke gefesselt werden«. 16 Wo bleibt da die differentia specifica zum Heiland? Allerdings entfaltete sich eine Deutungskombinatorik, die allen »katholisch«-umfassenden Ansprüchen Hohn spricht, 17 schon bei den Autoren, die nur auf die biblischen Stellen rekurrierten. Denn diese sind, wie bereits die frühe Lektüre bemerkt, in sich zweispältig: »Man hat beobachtet, daß die Schrift das Bild des Einhorns in zweifacher Weise verwendet: einmal im guten, ein andermal im schlechten Sinn«, heißt es philologisch abgeklärt schon früh in der Predigt des großen Bischofs Basilius von Caesarea (ca. 330 - 379) über den 28. (Vulgatazählung) bzw. 29. Psalm. 18 So sachlich verfahren nicht alle frühen Bibelexegeten. Die meisten sind Feuer und Flamme für jeweils eine Seite der guten oder schlechten Alternative. Das gängigste unter den »guten« Interpretationsschemata versteht das Einhorn als Symbol Christi. Dafür entscheidet sich auch der ambivalenzbewußte Basilius selbst: »Christus autem Dei virtus est; ideo unicornis appellatus est, tanquam qui unum habeat cornu, id est, unam cum Patre communem potentiam.« 19 So beglaubigt das eine Horn des 16 So faßt F. Lauchert (Geschichte des Physiologus. Straßburg 1989, S. 153) die Pointe zusammen. 17 Vgl. zum Folgenden die Aufstellungen und Ausführungen bei H. Brandenburg, Sp. 847 ff. und L. Wehrhahn-Stauch, Sp. 1511 ff. 18 Migne: Patrologia series graeca, [künftig zit.: PG] Bd. 29, Sp. 296. <?page no="217"?> 216 Jochen Hörisch Einhorns auch die Einheit und die einheitliche Macht von göttlichem Vater und gottmenschlichem Sohn. Das stimmt weitgehend mit der Lehre überein, die schon der allegoriebesessene und auf dem fünften ökumenischen Konzil in Konstantinopel von 553 verurteilte Origines (ca. 185 - 253) vorgetragen hatte: »wir begegnen diesem Tier häufig in den göttlichen Schriften« und zwar zumeist an den Stellen, »in quibus [...] Christus intelligitur designari«. 20 Einmal etabliert und vom Physiologus überdies suggestiv illustriert, werden spätere Exegeten nicht müde, diesem Deutungsschema noch weitere Argumente beizubringen. Und sie schrecken dabei auch vor hübschen Spitzfindigkeiten nicht zurück. Als da etwa sind: »Hörner haben einzig die Tiere, von denen gesagt wird, daß sie uns erzittern machen (animalia ventilare dicuntur). Der Mensch aber hat keine Hörner: wie kann er [dem doch die Erde untertan sein soll, J. H.] dann erzittern machen? [...] Unser Horn bist du, Herr Jesus«, 21 so der heilige Ambrosius (ca. 340 - 397), der als Mailänder Bischof die Arianer, die Heiden und auch den Kaiser Theodosios, den er zum Kirchenbuße nötigte, im Namen Christi erzittern machte. Ambrosius ist auch ein Wortspiel zu danken, das James Joyce und Arno Schmidt alle Ehre machen würde, das aber durchaus ernst gemeint ist. Führt es doch ein semantisches Indiz dafür an, daß die Gleichsetzung von Christus und Einhorn gerechtfertigt ist. Danach kann es kein Zufall sein, daß das unicornis, das heißt, wie es ist, und Christus fast ähnlich heißen: unicornis/ unigenitus, der eingeborene Sohn. Nach der Feier dieses sinnreichen Fast-Gleichklangs folgt dann sofort die Apologie zentral-einheitlichen Sinns überhaupt. »Verbum Dei unum est, non multa verba« 22 , heißt es im Liber de benedictionibus Patriarchorum ausgerechnet an jener Stelle, die sich von schierer Lust an vielsinnigen Homophonien treiben läßt - primogenitus, unigenitus, unicornis, unum verbum ist die Buchstabenkete, die dem frommen Delirium als roter Faden dient. Kaum weniger delirant, wenn auch eher auf den inneren Schoß der Jungfrau als auf Buchstabenfolgen fixiert, sind die Einhorn-Deutungen des Honorius Augustodunensis (um 1120 in seiner Weihnachtspredigt über die Geburt Christi) und seines Pariser Zeitgenossen Hugo von St. Viktor. Beide erfreuen sich mit folgender identischer Wendung geistlich des Umstands, daß »in uterum virginis« 23 wie das Einhorn so auch der Gottessohn heimisch ist. »Sic et Dominus Jesus Christus spiritualis unicornis descendens in uterum virginis.« So Hugo von St. Viktor in enger und eingestandener Anlehnung an den Physiologus. Christus ein spiritualis unicornis, ein geistliches, ein spirituelles Einhorn. Eine Formulierung, die geradezu danach schreit, daß ihre nichtspirituelle, nämlich fleischlich erotische Differenz ausdrücklich bestimmt werde, die in den vorgenannten Formulierungen nur und doch kaum mehr verhohlen mitpräsent ist. Die frechen Vaganten-Lieder der Carmina burana geben denn auch dreist alle spirituellen Bemühungen um das Verständ- 19 PG (Fn. 18), Bd. 29, Sp. 298. 20 PG (Fn. 18), Bd. 12, Sp. 695. 21 Corpus scriptorum ecclesiasticorum, Bd. 64, 272 f. 22 Migne: Patrologia series latina (künftig zit.: PL) Bd. 14, Sp. 725. Bei Wehrhahn-Stauch (Fn. 17), Sp. 1511 wird fälschlich auf PL 14, 1099 verwiesen. 23 PL (Fn. 22), Bd. 172, Sp. 819 und PL, Bd. 177, Sp. 59. <?page no="218"?> Der Wandel des Einhorns 217 nis des keuschen Einhorns dem Gelächter preis: »selbst das Einhorn, mit der Zeit / ruhts in Mädchenarmen«. Doch bevor das Einhorn vollends säkularisiert und vorbehaltlos erotisiert sein wird - was in diesem Fall ein und dieselbe Entwicklung ist -, bevor also aus der heiligen Jungfrau ein zärtlichkeitsbedürftiges Mädchen und aus dem spiritualis unicornis (wieder) ein Phallus geworden ist, hat das Einhorn noch einige Wanderungen und Wandlungen hinter sich zu bringen. An ein einziges und einigendes Wort, ans unum verbum aber ist es umso weniger zu binden, je mehr Worte über das sprachlose (in einigen Varianten freilich hochmusikalische, mit orphischen Assoziationen versehene) Tier ergehen. Viele Worte und eben kein unum verbum. Schon der Deutung der Einhorngeschichte auf die Menschwerdung Christi in uterum virginis widersprechen diejenigen, denen die pagane Herkunft des Tieres, sein Pferdefuß und sein gutes Verhältnis zu Frauen nie recht geheuer waren. Diese Exegeten setzen auf Psalm 21, 22 und Hiob 39, 9 und können Augustinus zu den ihren zählen, wenn sie das Einhorn als Inkarnation des Bösen in all seinen Schattierungen begreifen: als Symbol der Stolzen, die sich über das Wort Gottes erheben, statt von ihm sich bannen zu lassen; der Juden, die einen Monotheismus vertreten, der zum Pseudomonotheismus der christlichen Dreifaltigkeitstheologie in peinlicher Konkurrenz steht; derjenigen Häretiker, die nur an ein (sei’s das Alte, wie wiederum die Juden, sei’s das Neue) Testament glauben; und schließlich gar als Symbol des planen Widerspruchs Gottes und Christi, des Teufels: »sed ipse diabolus merito rhinoceros vel unicornis dicitur«, heißt es bei Petrus Capuanus dem Jüngeren (gest. 1242). 24 Einem Papst und keinem geringeren als Gregor dem Großen aber blieb es vorbehalten, das Einhorn mit dem teuflischen »Fürsten dieser Welt« (Johannes 12, 31) in Beziehung, ja gleichzusetzen. »Terrenus princeps = rhinoceros« 25 heißt es schlicht in den Moralia in Job, der Abhandlung über Moralprobleme im Buch Hiob, wobei Gregor unter rhinoceros eindeutig das Einhorn versteht. Wenn das Einhorn aber mit dem »Fürsten dieser Welt« identifiziert wird, so erscheint es als eine Matamorphose des Leviathan, des Ungeheuers und Chaosdrachens, der das Alte Testament durchzieht (Psalm 74, 14; 104, 26; Jesaja 27, 1) und in Hiob 3, 8 sowie in den Kapiteln 40 und 41 in göttlichen Fragen, die schon rhetorisch dem vorherigen Einhorn-Vergleich (38, 9 - 12) entsprechen, ausdrücklich als schrecklich-weltlicher Widerpart Gottes gekennzeichnet wird. Da schickt es sich gut und hintersinnig, wenn an die Formulierung des Johannes-Evangeliums (12, 31) 26 gleich eine Wendung anschließt, die unschwer aufs Einhorn beziehbar und tatsächlich auch immer wieder bezogen worden ist. Jesus spricht dort: »Jtzt geht das Gerichte vber die Welt / Nu wird der Fürst dieser Welt ausgestossen werden. Vnd ich / wenn ich erhöhet werde [Anspielung, ja direktes Zitat aus Psalm 92, 11: Und wird erhöht werden mein Horn wie das eins Einhorns, J. H.] / von der erden / so wil ich sie alle mit mir ziehen.« Dichter als in diesen beiden Versen und dem Assoziationsgeflecht, das sie mit sich füh- 24 Zitiert bei Pitra: Spicilegium 3, S. 57. 25 PL (Fn. 22), Bd. 76, Sp. 571 f. und 574. 26 Luthers Lied Ein feste Burg ist unser Gott hat die Wendung vom Teufel als dem »Fürsten dieser Welt« in breiten Gemeindekreisen kurrent gemachtdie Tradition politischer Theologie von Hobbes’ Leviathan bis zu Carl Schmitt hat sie auch unter den Gebildeten nicht berüchtigt werden lassen. Vgl. zum Kontext und zu den nicht nur theoretischen Folgen des Problems Taubes, J. (Hrsg.): Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen. München [u.a.] 1983. <?page no="219"?> 218 Jochen Hörisch ren, könnten die positive/ christologische wie die negative/ diabolische Valenz des Einhorns nicht beisammenstehen. Eben der Christus, der so häufig mit dem Einhorn verglichen ward, wird also dem Fürsten dieser Welt, der gleichermaßen mit dem Einhorn verglichen ward, entgegengestellt. Dann aber haben der Teufel und der Gottessohn zumindest ein tertium comparationis - im Einhorn. Eine späte Physiologus-Handschrift (aus dem 11. Jahrhundert), der nicht ganz unmotiviert, aber dennoch fälschlich der für Ambivalenzen sensible Basilius als Autor unterschoben wurde, spricht diese theologische Ungeheuerlichkeit denn auch unverhohlen aus. Er erzählt übrigens zusätzlich eine halbneue, weil synkretistische (vgl. Cäsar und Solinus) Geschichte von der Freundschaft zwischen Elefant und Einhorn. Der Elefant hat, wie Cäsars Jagdlatein-unicornis, keine Gelenke und bedarf also, um auszuruhen, der Bäume, an die er sich lehnen kann. Darum müssen die Jäger, die dem Elefanten nachstellen, zuerst die unterstützenden Bäume ansägen und dem brüllend-hilflosen Koloß schnell die wertvollen Elfenbeinzähne brechen. Denn sonst kommt das Einhorn und vernichtet die Jäger. Insofern ist es dem Menschen so bedrohlich wie der Teufel. Sofern es aber ab und an zur rechten Zeit kommt, um seinem Freund auf die schweren Beine zu helfen, gleicht es Christus, der den kreatürlichen »gefallenen und ehrbarmungswürdigen Menschen als unser König des Heils wieder aufrichtet«. 27 Zwei Seelen wohnen nicht bloß in der Brust des Menschen, sondern auch in der des Einhorns. Wenn aber zwei miteinander streiten, dann tun sie bekanntermaßen dasselbe: sie streiten miteinander. »Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen« 28 , und das Tun des Einhorns ist das Tun des Paradoxen. Denn dies ist die Funktion, in die - jenseits des Willens der Kommentatoren - die vielen kontroversen Einhörner das Phantasma des Einhorns schlechthin treiben: Paradoxien und Ambivalenzerfahrungen zu codieren. Erfahrungen wie die, daß Gott nicht bloß gut und strafend, sondern als strafender gut sein kann; daß keine Allmacht so weit reicht, eine Macht zu schaffen, die größer ist als sie selbst; daß das Schreckliche schön und das Schöne schrecklich sein kann; daß der Gottessohn stirbt und dennoch an der Macht seines unsterblichen Vaters teilhat, der ihn verlassen hat; daß die Eucharistie Gott ehrt, indem sie ihn verzehrt; daß Zeit vergeht und doch nicht weniger wird; daß die Kirche im Namen des Gottes spricht, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, und dabei selbst alles daran setzt, der terrenus princeps zu werden - diese und ähnliche Erfahrungen von Paradoxien und Ambivalenzen sind außerordentlich schwer zu verarbeiten. Das Einhorn ist mehr als eine kulturhistorische Kuriosität, weil an ihm solche Paradoxien wenn nicht verarbeitet, so doch immerhin versuchsweise und stellvertretend benannt werden. Das Einhorn nämlich ist nicht nur theologisch, sondern auf vielen Ebenen einer Semantik der Oppositionen verpflichtet. Es gilt, um die Liste seiner gängigen mittelalterlichen Exegesen wenn nicht zu vervollständigen (das dürfte kaum möglich sein), so doch zumindest anzudeuten, als Symbol des Kreuzes (etwa in Justinus’ feinsinnigem Dialog mit dem Juden Tryphon) und somit der Erlösung und der Bedrohung zugleich. Welch letztere Komponente in der Parabel von dem rettungs- und hoffnungslosen, weil gottfernen Mann, der vor einem rasenden und schrecklich brüllenden Einhorn flieht und dabei in einen Abgrund stürzt, wo neue Heillosigkeiten seiner harren, ihren auch volkslitera- 27 Vgl. Sbordone, F.: I bestiare le rime amoroso del secolo XIII. Neapel 1943, S. XXXI ff. 28 Hegel, G.W.F.: Phänomenologie des Geistes, Bd. 3. Frankfurt a.M. 1970, S. 146; vgl. auch Stierlin, H.: Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher Beziehungen. Frankfurt a.M. 1976. <?page no="220"?> Der Wandel des Einhorns 219 risch wirkungsmächtigen Ausdruck findet. Sie steht im Zentrum des frommen Bekehrungstextes Barlaam und Josaphat, den Johannes Damescenus um 700 nach indischen Vorbildern verfaßte. Eine der raren Dichtungen übrigens, die abendländisch-orientalische Literaturbeziehungen schon im frühen Mittelalter zweifelsfrei dokumentieren. Das Einhorn gilt zudem als Sinnbild für die Patriarchen und Propheten, die aus dem festen Glauben an den Einen Gott ihre Stärke ziehen, aber eben auch, wie oben bereits dargelegt, als Sinnbild der Überheblichen und Stolzen, der sophistischen Häretiker und der unkultivierten Wilden. Da liegt auch der Vergleich nicht fern, zu dem Gregor sich entschließt: der wilde Christenverfolger Saulus, der zum frommen Paulus sich bekehrte, findet im wilden Tier, das zum milden Marienanbeter wird, eine ebenso elegante wie ambivalenzbetonte Entsprechung. 29 Und das symbolträchtige Tier gilt schließlich als das »animal castissimum«: »Das Einhorn ist nämlich das keuscheste unter allen Tieren. Denn es kann von niemandem als von wahrhaften Jungfrauen gefangen werden, zu denen es kommt, um dann sein Haupt in ihren Schoß zu legen und einzuschlafen« 30 , schreibt der englische Benediktiner Beda Venerabilis. Ganz offenbar betreibt seine superlativische Formulierung wissenschaftlichen Abwehrzauber gegenüber erotisierenden Einhorn-Deutungen und macht doch alles noch viel schlimmer - durch die Pluralformulierung von den vielen Jungfrauen nämlich, zu denen das Einhorn sich gesellt. Mit einer Jungfrau geben sich die erotischen Einhorndarstellungen denn auch selten zufrieden. Eine der berühmtesten und laszivsten schmückt ausgerechnet die Decke des päpstlichen Schlafgemachs in der Engelsburg bei Rom 31 , die der »Kardinal von Unterrocks Gnaden«, wie das römische Volk den späteren Papst Paul III. nannte, weil seine Schwester »La Bella« die Mätresse seines päpstlichen Vorgängers war, in besten Renaissancezeiten, von 1543 bis 1548, an altkaiserlicher Gräberstätte neu erbauen ließ. Mit Mephistopheles können diese Bewunderer des Einhorns feststellen: »Ich sage Fraun; denn ein für allemal / denk’ ich die Schönen im Plural.« 32 Kurzum: das Einhorn ist ohne die Paradoxien, die es verrätselt, nicht zu haben. Und es wird wohl eben wegen dieser Fähigkeit, Ambivalenzerfahrungen zum unschuldig scheinenden Ausdruck zu verhelfen, von der frühen und hohen christlichen Kultur so hartnäckig und gründlich umworben. Von einer Kultur somit, deren mentale Grundlage noch auf ordentlich erkennbaren Gegensatzpaaren aufruht und die also (zumindest in der Zeit vor Nicolaus von Kues) kaum über große und repräsentative Möglichkeiten verfügt, die dialektische Erfahrung auszudrücken, danach etwas auch mit dem anderen seiner selbst verwechselbar sein kann. Das Einhorn schmuggelt eine Frühform genuin dialektischen Symbol- und Bilder-Denkens in eine Kultur, die sich noch problemlos zutraute, zwischen Gott und Welt, Gut und Böse, Erlösung und Verdammung zu unterscheiden. Um die Reihe der einhörnigen coincidentiae oppositorum vorläufig zu resümieren: das Tier ex oriente wird zum Kulttier des abendländischen Christentums; es symbolisiert 29 PL (Fn. 22), Bd. 76, Sp. 573. 30 PL (Fn. 22), Bd. 93, Sp. 909. 31 Die Malergruppe um Domenico Zaga hat das päpstliche Schlafgemach mit den Einhorndarstellungen dekoriert. Sie wurden jüngst sorgfältig restauriert. Vgl. dazu den Bericht von Ute Diehl in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. Januar 1982, S. 25. 32 V. 10174 f. <?page no="221"?> 220 Jochen Hörisch dabei Christus und den teuflischen Fürsten dieser Welt; es ist, seiner deutlichen fruchtbar-phallischen Qualitäten zum Trotz das keuscheste Tier; es ist ebenso schrecklich wie schön und ebenso wild wie mild; es bedroht und heilt gleichermaßen; es brüllt fürchterlich und ist dennoch musikliebend; und - nicht zu vergessen - es gibt es und es gibt es möglicherweise denn doch nicht. Letzteres ist unter den Frommen des Mittelalters eine radikale Minderheitenmeinung. Vertreten wird sie, in Form leiser Zweifel und als Wissen zweiter Hand, aber zumindest einmal - bei eben dem Ambrosius, der sich vielleicht deshalb bei seiner Exegese lieber auf die Suggestivität von Buchstaben als auf krude Faktizität verließ und der indigniert feststellt: »Ut periti aiunt« - wie (empirisch) Kundige versichern, ward ein solches Tier nirgends angetroffen. 33 Doch die große Zeit des empirischen Wissens ist noch nicht angebrochen. Und wer zu Lebzeiten des Ambrosius und auch noch Jahrhunderte später überhaupt zwischen dem peritus und dem Gläubigen Differenzen vermutet, wer gar den naturkundlichen vom philosophischen und den philosophischen vom frommen und den frommen vom poetischen Diskurs unterscheiden, kurzum: wer Diskurse discurrieren lassen will, ist Außenseiter oder gar Häretiker am katholisch allumfassenden Glauben. Was nichts daran ändert, daß die Literatur über und um das Einhorn zum intellektuellen Experimentierfeld wird. Das unicornis mag noch so eng mit Christus selbst liiert sein - über seine Paradoxien und über seine Existenz oder Nichtexistenz läßt sich denn doch problemloser reden als über die Aporien oder gar über das Sein oder Nichtsein des sterblich-allmächtigen Gottes, der die schrecklich-herrliche Welt schuf. Die Poetisierung des Einhorns Über Stellvertreter zu sprechen, zu spekulieren und auch zu lästern, mag gefährlich sein - es ist aber kaum je so angstbesetzt wie die Rede über den machtvoll Abwesenden, der da vertreten und repräsentiert wird. Über Gott läßt sich kaum etwas sagen; wir wissen nicht einmal seinen Namen. Über seinen Sohnes-Stellvertreter, der uns auch mit diesem Nichtwissen versöhnt, ist schon sehr viel mehr bekannt und also auch aussagbar. Über den Stellvertreter dieses Stellvertreters, über das unicornis spiritualis, aber läßt sich geradezu lustvoll entbunden all das sagen, was unvermittelt über Gott und seinen Sohn auszusprechen die Scham, die Scheu, die Tradition oder auch handfeste Verbote unmöglich machen. Und also gilt die These: im Übergang vom Spätmittelalter zur beginnenden Neuzeit läßt sich über die Existenz oder Nichtextistenz Gottes direkt noch nicht diskutieren - wohl aber über Sein oder Nichtsein des Einhorns. Das Einhorn wird zwischen 1500 und 1800 zum Stellvertreter Gottes in der noch unmöglichen Atheismus-Debatte. Vorbereitet und ermöglicht wird diese Debatte auch durch die seit dem Hochmittelalter voranschreitende Poetisierung des Einhorns. Poetische Qualitäten hatte das göttliche Tier schon in zeitlicher Parallelität zu seiner theologischen Blütezeit gewonnen. Solche Ästhetisierungen nahm die theologische Disziplin immer auch als Bedrohung wahr. Kein Wunder: an der Realexistenz des Einhorns hing ja eine schwere Beweislast. Und dennoch läßt sich das Ende der theologischen Überreizung des Einhorns einigermaßen präzise angeben. Das Tridentiner Konzil hat es zumindest implizit depotenziert. 33 PL (Fn. 22), Bd. 14, Sp. 725. <?page no="222"?> Der Wandel des Einhorns 221 Durch seine phantasiereichen, legendarischen und zumal erotischen Ausgestaltungen schien das Einhorn allzu sehr entartet zu sein, um noch zum Kernbestand christlichen Glaubens zu zählen. Direkten Verboten ist das Einhorn zwar zumeist entkommen - einmal freilich nur mit knapper Not: eben auf dem Tridentiner Konzil. Es fand in drei Tagungsperioden zwischen 1545 und 1563 in Trient statt und versuchte, dem Ereignis Luther und seinen schismatischen Folgen zu wehren. Eine der Sektionen in letzter Minute, die Sessio XXV von 1563, beschäftigte sich auch gründlich mit allen Fragen der ästhetischen Religiosität, die durch den protestantischen Bildersturm in ihre tiefste Krise geraten war. Diskutiert wurden dabei offenbar immer wieder zwei Beispielskreise: Darstellungen der Empfängnis Mariae durch das Ohr, 34 die als gnosisverdächtig und auch sonst als unschicklich galten, und Bilder des pagan-fromm-phallisch-keuschen Einhorns. Mit dem Resultat, daß künftig alle unkeuschen und lasziven Darstellungen (»imagines forma impudica et lasciva« 35 ) tunlichst unterbleiben sollten. Schlechterdings verwunderlich ist dieser implizite Vorbehalt gegenüber dem Einhorn nicht. Wenn das machtvolle Christussinnbild auch nicht einfach zu verbieten war, so konnte man immerhin versuchen, es aussterben zu lassen. Denn es schien gefährlich zu werden. War es doch nicht mehr zu bändigen. Die kontroverse Fülle auch nur der exegetischen Deutungsmöglichkeiten demonstriert bereits, auf welch weitem semantischen Terrain sich das Einhorn tummelt und vervielfältigt. Die Grenzen dieses Terrains werden bald immer durchlässiger; denn das Einhorn durchbricht schnell seine exegetische Gefangenschaft, um sich zum Grenzgänger zwischen theologischen, mystischen, belehrenden und poetischen Texten zu verselbständigen. Daraus resultiert eine erneut komplexere Kombinatorik, die allerdings eine kaum mehr untergründig zu nennende Entwicklungslinie erkennen läßt. Sie verweist nämlich deutlich auf die Erotisierung des zuvor theologisch domestizierten keuschen Tieres. So schon in der Naturkunde Hildegards von Bingen. Sie beschreibt einigermaßen lustvoll die Szene, da das Einhorn den Philosophen, der es festhalten will, meidet, um sich stattdessen den vielen jungen Mädchen zuzuwenden, die sich ihrerseits von dem Denker abgewandt haben. Daß sich das »monosceros« gerne »vor di magit leget«, erwähnt auch das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht, aber es entledigt sich des Zwangs, daran die theologische Exegese dieses seltsamen Tuns anzuschließen. Durchaus weltlich ist gleichermaßen das Kompliment, das Orgeluse ihrem Geliebten Cidegast in Wolframs Parzival (um 1200) macht; er sei treu und rein wie ein »monîzirus«, welches Tier aber, seiner edlen Prädikate ungeachtet, hier als Symbol eben nicht Christi, sondern eines Geliebten dient. Solche Szenen zersetzen feinsinnig die Grenze zwischen weltlicher und himmlischer Liebe. Jenseitig, nämlich jenseits von Gut und Böse und jenseits von höfischen Zwängen zumal darf auch die Liebe zwischen Tristan und Isolde heißen. Wo diese Liebenden sich aufhalten, erfährt die Tristan und Isolde suchende Gesellschaft des Königs Marke durch ein Tier, das mit dem Einhorn zumindest verwandt ist. Ein »wunderbarer weißer Hirsch« geleitet die Suchenden zur Minnegrotte, in der die Leidenschaftlichen sich vereint haben. 34 Der Psychoanalytiker S. Jones hat über dieses Motiv einen aufschlußreichen Aufsatz geschrieben. 35 Aus dem Entwurf der sogenannten Pariser Sentenz zum Tridentinum; in: Jedin, H.: Entstehung und Tragweite des Trienter Dekrets über die Bilderverehrung. In: Ders.: Kirche des Glaubens - Kirche der Geschichte. Freiburg [u.a.] 1966, S. 184. <?page no="223"?> 222 Jochen Hörisch In diesem Hirsch, der eine wilde Pferdemähne trägt, ist denn auch nicht nur von späteren Philologen, 36 sondern schon von mittelalterlichen Illustratoren eine Deckfigur des Einhorns vermutet worden, dessen theologische Herkunft dem gelehrten Autor denn doch zu heikel scheinen mochte, um es unverrätselt zum Mitwisser außerordentlicher Liebe zu machen: die sieben Pariser Minnekästchen bebildern Tristan-Szenen nicht mit Darstellungen des weißen Hirsch es, sondern des Einhorns. 37 Große erotische Kompetenz schreiben dem Einhorn aber offenbar auch diejenigen zu, die ihm eine welthistorisch bedeutsame Aufgabe anmuten. In der Weltchronik des Rudolf von Ems (um 1250) und im Lob der Keuschheit des Johannes Rothe um 1400 hat das indische Einhorn, auf welche Weise auch immer, die wahren Jungfrauen von denen zu unterscheiden, die solche zu sein nur vorgeben. Der detektivischen folgt auch gleich die richterlich vollziehende Gewalt. Bei nichtbestandener Prüfung pflegt das Einhorn die Pseudo-Jungfrau nämlich recht uncharmant mit seinem Horn zu durchbohren. Liebenswürdiger und weniger sittenstreng sind da schon die beiden Einhörner aus den Carmina burana: sie haben des »harten Sinnes Sprödigkeit«, der bei Jungfräulichkeitsproben unabdingbar sein mag, zugunsten einer prinzipiellen Bereitschaft zur Zärtlichkeit abgelegt. Nicht länger in theologischen Allegorien und Verrätselungen, sondern in eindeutig erotischen Assoziationsfeldern bewegt sich das Einhorn auch in den Liebes-Liedern des Königs von Navarra, Thibaut IV. de Champagne (1201 - 1253). Er vergleicht sich, den verzehrend Liebenden, gleich zu Beginn seines 34. Liebesliedes mit einem bis zur Besinnungslosigkeit liebestollen Einhorn. Nicht minder Dramatisches ereignet sich im Tierbuch der Liebe, im Bestiaire d’ amour des Kanonikus aus Amiens, Richart de Fournival (um 1250). Er verwendet die Tierfolge des Physiologus gleichsam als Deklinationsschema für die von ihm entworfene Logik möglicher Liebesbeziehungen. Getragen ist diese Logik von der Zentrierung unserer fünf Sinne auf den einen erotischen Zweck - eine erstaunliche Affinität zur Bilderfolge auf den berühmten Teppichen des Pariser Cluny-Museums, die um 1500 in Brüssel entstanden sein dürften. Danach wird der Mann wie das Einhorn vom »süßen Flair der Jungfräulichkeit« (»douc flair de la virgineté«) zu eben den verstrickenden Taten angetrieben, die dieser Jungfräulichkeit ein Ende zu machen drohen bzw. verheißen. Um diese Ambivalenz zu verdeutlichen, kommt auch die betroffene Jungfrau selbst zu Wort - sie lehnt es kluger Weise ab, »sich in solche Gefahr zu begeben, wie das Einhorn sie der Jungfrau bereite.« 38 »Omnis lascivia« 39 , alles Laszive sei zu meiden. So hatte das Tridentiner Konzil dekretiert. Und verwunderlich wäre es sicherlich nicht, wenn in diesem Beschluß des Einhorns zumindest mitgedacht wäre. Generalisierende Wendungen haben ja auch den unbestreitbaren Vorteil, peinliche Konkreta - in diesem Fall die jahrhundertelange kirchliche Hochschätzung des mittlerweile suspekt gewordenen Tieres - dem dezent mitmeinenden Schweigen zu überlassen. Jedenfalls aber kam der Beschluß zu spät, um etwa noch Rabelais davon abzuhalten, das berühmte und recht konkret deutende Hörnertraumka- 36 Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde, vv. 17278 - 17458. Als Einhorn-Ersatz hat J. Rathofer den weißen Hirsch gedeutet. Einhorner finden sich auch sonst häufig in mittelalterlicher Literatur (u. a. bei Hugo von Trimberg, beim Meistersinger Hans Folz und vor allem auch bei Johann von Würzburg und Konrad von Würzburg). Vgl. dazu Einhorn (Fn. 2), S. 154 ff. 37 Sie befinden sich heute im Barber Institute in Birmingham, Abb. 102 bei Einhorn (Fn. 2). 38 So die zusammenfassende Paraphrase bei Einhorn (Fn. 2), S. 169. 39 Dies die zusammenfassende Formulierung des Konzils; zit. bei Jedin (Fn. 35), S. 184 f. <?page no="224"?> Der Wandel des Einhorns 223 pitel seines berüchtigten Romans zu schreiben. Und auch die gerade frisch entstandenen und in der Tat lasziven Einhorn-Fresken in der päpstlichen Engelsburg blieben erhalten. Unverkennbar aber ist, daß die zuvor machtvolle Präsenz, ja Omnipräsenz des Einhorns seit der Mitte des 16. Jahrhunderts schwindet. Wenn auch umstritten ist, ob das Tridentiner Konzil direkt anti-unicornisch eingestellt war 40 - dem Fortleben des Einhorns hat es gewiß geschadet. Denn offensichtlich haben diejenigen, die ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten, sich von der Verbotsformel des gegenreformatorischen Konzils angesprochen gefühlt. Vor dieser konzertierten protestantisch-tridentiner Jagdaktion hat sich das Einhorn in andere Gefilde geflüchtet. Aus den Zentren gläubiger Geistigkeit vertrieben, wurde es zum in jeder Weise ex-zentrischen Tier. Und als Exzentriker hat der auch in unicornologischen Dingen schwankende Luther, der zwar von Wallfahrten nach Grimmenthal und seinem Einhornbild abriet, 41 auf dem Sterbebett aber die Einnahme von Einhornpulver nicht verschmähte, 42 in einer seiner seltsamsten Predigten das unicornis spiritualis denn auch charakterisiert: Christus, so der Theologe der Gnadenwahl, sei ab und an auch »ein wenig eigensinnig« und gerade deshalb mit dem kaum bezähmbaren Tier zu vergleichen. Das Lieblingsrequisit subtiler und manirierter 43 Exegese verwildert zusehends. Seiner wild-paganen und fabelhaften Ursprünge, denen es hochzivilisiert entsprungen schien, entsinnt sich das aus der Theologie exilierte Einhorn seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zusehends. Es taucht, da es auf Altären keinen Platz mehr findet, in die Wälder unter und gesellt sich zu den wilden Männern und Frauen, die dort seit dem ausgehenden Mittelalter, nur mit Haaren und Blättern bekleidet, ihr dämonisches Dasein fristen. 44 Dieser meist mündlich tradierte Motivkreis ist bildnerisch immerhin ein wenig, 45 literarisch hingegen kaum dokumentierbar. Aber natürlich entstammt ihm das wilde Einhorn aus dem Märchen vom tapferen Schneiderlein, so wie ja auch die ungeschlachten Riesen Verwandte der wilden und verwilderten Männer sind. Aber auch sofern es Eingang in sogenannte hohe, jedenfalls tradierte Literatur gefunden hat, erliegt das Einhorn einem deutlichen Wechsel seiner Bedeutungshöfe. Es gehört fortan nicht länger zum Kernbestand der abendländisch-christlichen Kultur, sondern gerät an deren problematischen Rand. Eben in dem Zeitraum, da der Prozeß der Zivilisation machtvoll anhebt, 46 schlägt sich das Einhorn auf die Seite dessen, was in diesem Prozeß der Verdrängung erliegt. Als solchermaßen verdrängtes frequentiert es nicht länger die Zentren von Geist, Zivilisation und Kultur. Aber es kehrt doch insistent an deren Grenzen wieder. Das Einhorn wird zum Randgänger. Es würzt nicht bloß exotisch 40 L. Wehrhahn-Stauch (Fn. 17) sieht direkte Zusammenhänge zwischen dem Tridentiner Konzil und dem Rückgang an Einhornmotiven, ähnlich R. R. Beer: Einhorn (Fn. 2) sieht allenfalls mittelbare Zusammenhänge. 41 Weimarer Luther-Ausgabe, Bd. 4, S. 493 f. 42 Vgl. dazu Beer (Fn. 40), S. 179. 43 »Das ›Unicorne magique‹ ist ein Lieblingstier des Manierismus - im Sinne eines deformierten Mythos«, heißt es bei G. R. Hocke (Die Welt als Labyrinth. Manier und Manie in der europäischen Kunst. Reinbek 1963, S. 192.), der allerdings kaum neues Material ausbreitet. 44 Zu diesem Motiv vgl. Bernheimer, R.: Wild Men in the Middle Ages. Cambridge/ Mass. 1952; Mölle, L.L. (Hrsg.): Die wilden Leute des Mittelalters. Hamburg 1963. 45 Vgl. die Hinweise bei Einhorn (Fn. 2), S. 174. 46 Vgl. dazu das Standardwerk: Elias, Norbert: Der Prozeß der Zivilisation. Sozialgenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. Frankfurt a.M. 1976. <?page no="225"?> 224 Jochen Hörisch Rabelais’ Gargantua-Geschichten; es verzaubert auch manieristisch Ariosts Rasenden Roland, dient Shakespeares besten Rhetorikern zu wüsten Vergleichen (Timon von Athen IV,3 / Julius Cäsar II,1) und stellt die galante liebesbesessene Gesellschaft in Honoré d’Urfés monumentalem (zwischen 1607 und 1637 erschienenem) Schäferroman L’Astrée vor schwer zu lösende Aufgaben. In diesem sinnreich verspielten Roman ist die unicornologische Überlieferung zugunsten eines entbundenen Synkretismus außer Kraft gesetzt: die weise Bellinde rät dem liebeskranken Silvandre, die Quelle amouröser Wahrheit zu befragen. Aber dieser bemerkenswerte Quell wird von zwei Löwen und zwei Einhörnern bewacht, die sich ein böser und Liebesweisheiten offenbar abholder Zauberer dienstbar gemacht hat. Nur »durch das Blut und den Opfertod des treusten Liebhabers und der treusten Geliebten, die es zu dieser Zeit in der weiten Umgebung gibt, kann der Zauber gelöst werden.« 47 Kaum zu erfüllende Bedingungen, wie der unablässig räsonnierende Roman zu demonstrieren nicht aufhört. Und dennoch kommt es zu einer bemerkenswerten Lösung des Problems. An der Treue des jeweils anderen zweifelnd und über all der Liebesungewißheit gar verzweifelnd, begeben sich die vier Hauptfiguren, die sich zu zwei wahlverwandten Liebespaaren konstellierten, vereinzelt zur besagten Quelle, wo sie, gleichzeitig eintreffend, ihre gegenseitige Liebe erkennen. Doch bleibt für Bekenntnisse und Geständnisse aller Art kaum Zeit; denn die Löwen stürzen sich sogleich auf die Liebenden, die verloren wären, wenn ihnen die Einhörner nicht zu Hilfe kämen. Daß aber diese fabelhaften Tiere ihnen beistehen, erfahren sie erst, dann aber auch gleich von Amors Lippen selbst, als sie aus ihrer Ohnmacht erwachen und die zu Statuen erstarrten Fabeltiere erblicken, die so wieder einmal ihre Nähe zu Eros und Thanatos bewähren. Fortan differenzieren sich die theologischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und poetischen Diskurse immer entschiedener gegeneinander aus. Die Bedingung der Möglichkeit solcher Ausdifferenzierung ist schnell benannt: die säuberliche Trennung von fictum und factum. An dieser Trennungslinie ist die beginnende Neuzeit auffallend interessiert. Und ihr fällt auf, daß vorangehende Epochen an solcher Säuberung durchaus desinteressiert waren. Was aber nunmehr aus den Registern des faktisch Existierenden herausgeworfen wird, fällt einer Poesie als unfreiwilliges Geschenk anheim, die sich nicht mehr horazisch vermittelnd als ebenso belehrend wie erfreuend begreifen kann. Einer spezifisch neuzeitlichen Dichtung, die angesichts der Konkurrenz sachlich erfolgreicherer Diskurse versucht, mit dem Abfall (von) der Theologie, Philosophie und Wissenschaft jenen Zauber zu betreiben, der die neuzeitliche Entzauberung der Welt konterkariert. »Now I will believe, that there are unicorns«, ruft Sebastian in Shakespeares zauberhaftestem Werk, im Sturm, aus. Er ist noch der sachlichste, der ab- und aufgeklärteste unter den verstörten Schiffbrüchigen, die durch Prosperos verwunschene Insel taumeln. Aber als plötzlich »wundersam liebliche Musik« ertönt, steht auch er mit den anderen Gestrandeten gebannt, um Zeuge eines unvergleichlich verzauberten Schauspiels zu werden. Geister führen es den verschlagenen Aufgeklärten, den vielen Odysseusen, vor, und das sprachlose Erstaunen, das sie bei ihrem Schwinden hinterlassen, durchbricht eben der Bekehrungssatz Sebastians: 47 d’Urfé, H.: L'Astreé. Hrsg. von H. Vagonay. Straßburg 1910, S. 420. Auch der Phönix hat in diesem Buch als Symbol vergehender und neu erstehender Liebe einen festen Platz. <?page no="226"?> Der Wandel des Einhorns 225 »Nun will ich glauben, daß es Einhörner gibt, daß in Arabien ein Baum des Phönix Thron ist und ein Phönix zur Stunde dort regiert.« Er gibt damit nicht nur zu erkennen, daß ihm die Existenz des Einhorns keineswegs mehr selbstverständlich war, sondern auch, daß verzaubernde Dichtung sich getrost dessen annehmen kann, was es nachweislich nicht gibt, weil das Verlangen nach zauberhaft schönem Schein komplementär zur aufklärenden Entzauberung von Welt und Dasein zunimmt. Ein kleines Wort gibt das nachhaltig zu verstehen: »Now I will believe« statt einfach »Now I believe«. Unerträglich wird in strikter Umkehrung des Shakespeareschen Motivs diese poetische Lust an der Rede über Inexistentes dem »Naturforscher«, den es in Wielands Roman zu den ebenso dummen wie geschwätzigen Abderiten (1774 erschienen) verschlägt. Diese antiken Schildbürger kennen noch keine Trennung von Wissenschaft und Poesie. »Die zeitverkürzende Gesellschaft, welche die Laune des Naturforschers unerträglich zu finden anfing, begab sich nun wieder nach Hause, und dahlte unterwegs, beym Glanz des Abendsterns und einer schönen Dämmerung, von Sfinxen, Einhörnern, Gymnosofisten [= nackte Weise; griech. Bezeichnung für indische Asketen - welch eine Zusammenstellung! J.H.] und Schlaraffenländern; und so viel Mannigfaltigkeit auch unter allen den Albernheiten, welche gesagt wurden, herrschte, so stimmten doch alle darin überein: daß Demokrit ein wunderlicher, einbildischer, überkluger, tadelsüchtiger, wiewohl bey allem dem ganz kurzweiliger Sonderling sey. - Sein Wein ist das Beste, was man bey ihm findet, sagte der Ratsherr. / Gütiger Anubis! dachte Demokrit, da er wieder allein war; was man nicht mit diesen Abderiten reden muß, um sich - die Zeit von ihnen vertreiben zu lassen.« 48 Der Ausschluß des und der Anderen aber ist der Ausschluß des Selbst: die Abderiten halten natürlich umgekehrt den »einbildischen Naturforscher« für geistesgestört und übergeben ihn dann auch, ihrerseits von aufgeklärter Therapiewilligkeit, dem Arzt Hippokrates zur Behandlung, der allerdings kein Einhornpulver zur Hand hat. Rückkehr zur Naturkunde Dichtung profitiert aber nicht nur vom Abfall der Theologie und der Philosophie, sondern auch vom Auswurf der empirischen Wissenschaften. Diese brauchen zwar recht lange, um die Existenz des Einhorns definitiv auszuschließen. Aber sein erst schleichender, dann offenkundiger philosophico-theologischer Prestigeverfall animiert zunehmend kecke Zweifel. Man braucht nur die beiden Tierbücher zu vergleichen, die weit über ihre Entstehungszeit hinaus Verbreitung fanden, um den Unterschied zwischen mittealterlicher Einhornseligkeit und neuzeitlichem Einhornzweifel und darüber hinaus die unterschiedlichen Wissenschafts- und Beobachtungsgesten zu markieren. In Konrad von Megenbergs um 1350 entstandenem Tierbuch ist das Einhorn noch in direkter Physiologus -Tradition intakt. Halbwegs neu ist nur die antijüdische Tendenz: 48 Vgl. M. Wieland: Die Abderiten, S. 114 (erstes Buch/ zehntes Kapitel). Ein ähnliches Motiv findet sich bei Voltaire: La princesse, S. 35. <?page no="227"?> 226 Jochen Hörisch »Das Tier bedeutet unseren Herrn Jesus Christus, der war zornig und böse über die Hoffärtigkeit der Engel und über den Ungehorsam der Menschen auf Erden, bevor er Mensch wurde. Den fing die hochgelobte Jungfrau Maria mit ihrer keuschen Reinheit in der Wüste dieser sündhaften Welt, als er vom Himmel in ihren keuschen, reinen Schoß sprang. Danach wurde er von den bösen Jägern gefangen, nämlich von den Juden [...]«. 49 Wie anders dagegen das umfangreiche Einhorn-Kapitel in Gesners 1669 erschienenem und lange Zeit weitverbreitem Tierbuch. Es will in objektiver Distanz »alter und neuer Scribenten Meynungen nach einander setzen / wie ein jeder das Thier beschreibt / damit der Leser desto besser Acht haben möge / den wahren Grund zu erfahren.« Und die wahren Hintergründe des Einhorns werden in dem langen Artikel, der mit »Lustigen Historien« über das Tier schließt, immerhin angedeutet: »Niemand ist / der dieses Thier jemahls in Europa gesehen habe.« Aber es gibt viele Fürsten, die Unsummen dafür ausgegeben haben, ein Einhorn-Horn in ihrer Kunstkammer zu haben. 50 Erschüttert wurde der alteuropäische Einhornglaube u. a. durch den weitgereisten Marco Polo. 51 Er hält freilich noch dann verwundert am Wort »unicorn« fest, wenn seine sinnliche Gewißheit ein ander Ding, ein Rhinoceros, gewahrt und seine diktierte Reiseerinnerung mit falschem Begriff die rechte Sache beschreibt. Sicherlich hat dieser Widerspruch mit dazu beigetragen, daß das Italien des Cinquecento und des Seicento das gelobte Land der Unicornologie wird. 1566 erschienen in dem Land, dessen großer Renaissancegelehrter Leonardo da Vinci es vorgezogen hatte, sich dem Einhorn vorrangig ästhetisch zuzuwenden, gleich zwei grundlegende und grundkontroverse Bücher. 52 Discorso contra la falsa Opionione dell’ Alicorno ist das eine betitelt. Es stammt aus der Feder eines Andrea Marini und macht - der Titel ist die These - dem abergläubischen Einhorn- Hokuspokus kurzen Prozeß. Das teure Horn, das an fürstlichen Tafeln Giftanschläge verhindern und universal heilen solle, sei schon deshalb eine Unmöglichkeit, weil viele Gifte viele und eben nicht ein Gegenmittel erforderlich machten. Dagegen rehabilitiert die Abhandlung Andreas Baccis aus demselben Jahr die »vorzüglichen Eigenschaften des Einhorns«, die schon der Titel verheißt. Das Buch schließt mit einer atemberaubenden Argumentation: schon im Interesse des Fürsten, der sich die hohen Ausgaben für Einhorn-Hörner leiste, dürfe der Glauben an das Tier und seine fabelhafte Kraft nicht untergraben werden. Der schiere Zufall will es, daß Francesco di Medici, dem das Buch des Arztes, der auch Päpste und Kardinale behandelte, gewidmet ist, stolzer Besitzer eines solchen Einhorn-Horns war. Daß dieses in Schickeria-Apotheken und an Fürstenhöfen real existierende Horn vom in der Tat interessant behörnten, seltenen, schwer zu fangenden und also teuren Narwal stamme, ist die grundstürzende These, die in aller Deutlichkeit erstmals der Däne Caspar Bartholinus in seinem 1628 in Kopenhagen veröffentlichten Buch De Unicornu aufstellt. Das eigentümliche Buch hält schon in seiner Kapitelfolge beeindruckend den 49 Konrad von Megenberg: Tierbuch. Ins Neuhochdeutsche übertragen und eingeleitet von G.E. Sollbach. Dortmund 1989, S. 110. 50 Gesner; Conrad: Gesnerus redivivus auctus & emendatus - Allgemeines Thierbuch. Reprint, Hannover 1995, S. 71 ff. 51 Vgl. hierzu Wittkower, R.: Allegorie und der Wandel der Symbole in Antike und Renaissance. Köln 1983, S. 153-155 und für den Gesamtzusammenhang den Aufsatz über Wechselbeziehungen zwischen »Orient und Okzident« im selben Band. 52 Vgl. zum Folgenden Beer (Fn. 40), S. 187 ff. <?page no="228"?> Der Wandel des Einhorns 227 Paradigmenwechsel fest, den das Einhorn inzwischen erlitten hat und fürderhin erleidet. Seine biblische Buchvergangenheit wird im ersten Kapitel abgetan - mit dem dezenten Hinweis auf die problematische Übersetzung »re’em« (Caspar Bartholinus schreibt »Raam«) = unicornis. Kapitel II sichtet nüchtern die unzweifelhaft bekannten einhörnigen Tiere - mitsamt den »unicorne marinum boreale«. Caput III dechiffriert das plumpe Rhinoceros als das einzig empirisch dingfest zu machende »Einhorn«, und das vierte Kapitel problematisiert schließlich unter dem vieldeutigen Titel »De monocerote vero« die vorliegende naturwissenschaftliche Literatur seit Ktesias. Folgen schließlich Kapitel, die bezweifeln, ob das Horn des univornis, sollte es denn doch existieren, aus prinzipiell anderer Substanz als etwa die Zähne des Elefanten bestehe. Verblüffend ist dann freilich der Schluß - er listet trotz aller vorgetragenen Zweifel all die Übel auf, gegen die das Horn zu helfen vermag. Ein Dokument des Umbruchs und ein Forschungsprogramm zugleich, das Bartholinus’ Sohn Thomas mit seiner Schrift De Unicornu Observationes Novae weiterführt und auch entscheidet. Danach steht nunmehr definitiv fest, daß die real existierenden Hörner von keinem Landtier stammen. Und diese Feststellung erfolgt, der Titel sagt es bereits, vorrangig durch Beobachtungen und nicht etwa durch Buchlektüre. Wie denn überhaupt auffällt, daß die Anzahl der gelesenen Bücher zumeist im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur richtigen These von der Nichtexistenz des Einhorns steht. Bücherkonsumenten stehen eben nicht immer auf den Schultern von Riesen, sondern häufig genug hinter einem breiten (Buch-)Riesen-Rücken, der jede Aussicht versperrt. 53 Auch soll es vorgekommen sein, daß der Riese, auf dessen Schultern ein späterer Gelehrter stand, einfach in die falsche Richtung schaute. Es helfen nun in the long run keine bibliomanen Abwehrgefechte mehr. Das Einhorn wird, nachdem es aus Theologie und Philosophie vertrieben ward, nunmehr aus den seriösen Wissenschaften vertrieben. Es erliegt nämlich dem »Erfahrungsdruck« und dem »Empirisierungszwang« 54 , den diese Disziplinen ausüben. Zuflucht findet es bald nur noch bei jenen, die sich in die Trennung von Wissenschaft, Weisheit, Theologie und Poesie nicht schicken wollen, bei den Alchemisten. In der Chymischen Hochzeit des Christian Rosencreutz von 1616 wird dem Einhorn als Symbol der Verwandlung eine zentrale Rolle zugewiesen: nachdem es, das schneeweiß-reine Tier, den Löwen gegrüßt hat, erfährt das Christussymbol seine Metamorphose zur Taube und somit zum Zeichen des Heiligen Geistes. 55 Ein symptomatischer Beleg: hohes und höchstes Prestige genießt das Einhorn im Prozeß zunehmender Aufklärung nur noch bei den Wissenschaften, die sich bald das Beiwort »Pseudo« gefallen lassen müssen. Aus dem »seriösen« wissenschaftlichen Inventaren aber wird es nun immer hartnäckiger vertrieben. In den großen Naturgeschichten des 18. Jahrhunderts von Linné und Buffon etwa kommt das Einhorn nur noch als das Tier vor, das nicht vorkommt. Doch eines ist immerhin bemerkenswert: mit dem Einhorn schwindet auch jene spezifische Textgattung, die noch Narratives und Gelehrtes zusam- 53 Vgl. R. K. Mertons spannendes Buch: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Frankfurt 1980, könnte mit unicornologischem Material glanzvoll illustriert werden. 54 Lepenies, Wolf: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. Und 19. Jahrhunderts. München 1976, S. 17. 55 Vgl. Rosencreutz, Christian: Chymische Hochzeit. Straßburg 1616, S. 54 und zum Rosenkreuzertum insgesamt die interessante Studie von Yates, F.A.: Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes. Stuttgart 1975. <?page no="229"?> 228 Jochen Hörisch menband und die nunmehr, da sie das schöne Tier für inexistent erklärt, selbst zu existieren aufhört. Das Ende des wissenschaftlich beglaubigten Einhorns ist eins mit dem »Ende der Naturgeschichte«. 56 Es steht schlecht ums Einhorn im endenden 18. Jahrhundert. Zwar legt noch im Jahr 1852 ein gewisser John Wilhelm von Müller »seiner Majestät Friedrich Wilhelm IV. König von Preussen in tiefster Ehrfurcht« (so die Widmung) eine Untersuchung vor, deren Zweck »erfüllt ist, wenn es [...] gelang, den Leser zur Überzeugung zu bringen, daß ein Einhorn wirklich existiert und wir dasselbe über Kurz oder Lang entdecken müssen«. Der Verfasser dieser Schrift ist nicht irgendwer. Die Reihung seiner Titel und ehrenvoller Ämter auf dem Frontispiz nimmt fünfzehn eng gesetzte Zeilen ein und heischt Ehrfurcht: »John Wilhelm von Müller, Dr. der Philosophie, Commenthur des Großherzoglich Hessischen Ordens Philipp’s des Großmüthigen, des königl. sächsischen Verdienstordens und des preußischen rothen Adlerordens Ritter, Inhaber der königl. württembergischen großen goldenen Verdienstmedaille für Kunst und Wissenschaft, der kaiserlich Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher, der Sociéte Asiatique zu Paris [...]« Doch dieser wissenschaftliche Beschwörungszauber hilft nicht weiter. Zwar finden sich bis in die einschlägigen Artikel der großen Lexika oder in die Spalten des Morgenblatts für die gebildeten Stände hinein immer wieder Beiträge von Einhorn-Gläubigen. Doch sie werden immer mehr zu Außenseitern in einem Prozeß der Verwissenschaftlichung, der eben deshalb so erfolgreich sein kann, weil er Sinn- und Seinsfragen voneinander trennt. Es geht dem Einhorn, aller Abwehrgefechte gläubiger Unicornologen zum Trotz, im beginnenden 19. Jahrhundert schlecht. Denn es steht nicht länger im Zentrum sei’s der philosophischen, sei's der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Es steht auch nicht im Brehm. Seine glorreiche Auferstehung aber wird dem Einhorn in eben dem Maße, in dem es aus den Wissenschaften vertrieben wird, in der Dichtung (und heute auch in Fantasy- Filmen und -Literatur 57 ) zuteil. Christian Morgenstern, Gertrud Kolmar, Garcia Lorca, Heimito von Doderer, Hilde Domin, Günter Eich, Irmtraud Morgner, Martin Walser, Rose Ausländer, Umberto Eco und viele andere Dichter/ Innen mehr retten es vor dem blanken Nichtsein. Der wirkungsmächtigste unter den poetischen Rettern des Einhorns ist sicherlich Rainer Maria Rilke. Denn sein berühmtes Einhorn-Sonett wendet die Magie des Tieres, das heißt, wie es ist, und ist, wie es heißt, in die abgründige Dimension, die spezifisch modern genannt werden darf: »O dieses ist das Tier, das es nicht giebt.« Gekürzte und stark überarbeitete Fassung des Nachwortes zu Jochen Hörisch (Hg.): Das Tier, das es nicht gibt - Eine Text- und Bild-Collage über das Einhorn. Nördlingen (Greno) 1986. Abb. 1 u. 2: Jenny, Hans A.: Das haarsträubende Panopticum. Die exquisiesten »Subertiere«. Erschröcklich! fabulös! Basel 1996, S. 105. 56 So der Titel der Studie von Lepenies, die leider nur wenig Material ausbreitet und auch die damals paradigmatische Einhorndiskussion unerwähnt läßt. 57 Vgl. Wunderlich, Werner: Hunting the unicorn. Über Abstammung, Arten und Lebensweise des amerikanischen Fantasy-Einhorns. In: Mittelalter-Rezeption III. Hrsg. von Jürgen Kühnel [u.a.]. Göppingen 1988 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Nr. 479), S. 579 - 607. <?page no="230"?> Fenriswolf Wilhelm Heizmann (Göttingen) Mehr als jedes andere Monster der altnordischen Überlieferung, mehr als selbst die schreckliche Midgardschlange (altnord. miðgarðsormr), die erdumspannend im Weltmeer liegt, verkörpert Fenrir, der ungeheure mythische Wolf, das stets drohende Menetekel über der Götterwelt des Nordens. Sein Losbrechen markiert in der großen kosmischen Visionsdichtung der V ô lospá den Auftakt zum Weltuntergang (Vsp 44) 1 und die dafür verwendeten Verse klingen im Folgenden als Kehrreim leitmotivisch zwei weitere Male an signifikanter Stelle auf: vor dem Aufmarsch der dämonischen Phalanx der Götterfeinde (Vsp 49) und nach der Vernichtung der alten Welt (Vsp 58). Der Wolf folgt Óðinn, dem Göttervater, gleichsam als dunkler Schatten, den dieser nie abzuschütteln vermag. Wohl weiß er um die Unausweichlichkeit des Untergangs, der jederzeit über die Welt der Götter und Menschen hereinbrechen kann, doch stemmt er sich dagegen mit aller Macht und sammelt ein gespenstisches Heer von toten Kriegern, die Einherier, um für den aussichtslosen Endzeitkampf gerüstet zu sein. Und diese immerwährende und immer präsente Bedrohung gibt die Begründung ab für Óðinns scheinbar so paradoxes Verhalten: Daß er gerade den besten und kühnsten seiner irdischen Schützlinge ganz plötzlich seine Protektion entzieht und oft sogar aktiv zu deren Untergang beiträgt. Daß dieses Verhalten gerade in einem Kriegermilieu, das Treue und Loyalität als Tugenden propagierte, als höchst irritierend empfunden wurde, lassen die Quellen erahnen, die Óðinn immer wieder mit dem Vorwurf der Treulosigkeit konfrontieren. Zugleich aber legen sie ihm die Begründung für sein Verhalten selbst in den Mund. Auf die Frage, warum er König Eiríkr des Sieges beraubte, läßt ein anonymer Dichter des 10. Jahrhunderts Óðinn in den Eiríksmál antworten: » Óvist ‘s at vita, »Man weiß nie! sér ulfr enn hôsvi Der graue Wolf sieht greypr á sjôt goða. « grimmig auf die Wohnsitze der Götter.« (Eirm 7) 2 I Die Zeugnisse zu Fenrir sind über viele Quellen verstreut, 3 doch liefert der isländische Historiker und Mythograph Snorri Sturluson (1178/ 79 - 1241) in seiner Gylfaginning 4 ei- 1 Die Gedichte der Lieder-Edda werden mit den entsprechenden Siglen zitiert nach Neckel & Kuhn 1983. 2 Skaldische Gedichte werden zitiert nach Finnur Jónnson 1912, 1915; die Siglen nach Finnur Jónsson 1931a. 3 Die umfangreichste Monographie zum Fenriswolf ist noch immer die von Ernst Wilken aus dem Jahr 1896; für zusammenfassende Darstellungen aus neuerer Zeit vgl. Paul 1981, S. 174 ff.; Dillmann 1994; Simek 1995, S. 96 f. <?page no="231"?> 230 Wilhelm Heizmann nen einigermaßen konsistenten Bericht (Gylf 33 - 34, 51 - 52; vgl. SnEFrg 1 431 f.; SnEFrg 2 515 5 ): Fenrir entstammt der Verbindung des zwielichtigen Gottes Loki mit einer Riesin, die den sprechenden Namen Angrboða »Kummer Bereiterin« trägt (vgl. Skáldskaparmál 24 6 ; Haustl 8; Ls 10; Hdl 40). Mit ihr zeugt er noch zwei weitere dämonische Wesen, die Midgardschlange (vgl. Hym 23) und Hel (vgl. St 25; Sturl 4, 24). Von unheilvollen Voraussagungen aufgeschreckt befiehlt Óðinn, die drei Ungeheuer zu ergreifen und zu ihm zu bringen. Während er die Midgardschlange ins Weltmeer schleudert und Hel mit der Herrschaft über das Totenreich betraut, wächst der Wolf bei den Asen selbst heran. Seine Kraft nimmt so gewaltig zu, daß bald der Gott Týr allein es noch wagt, sich ihm zu nähern und ihn zu füttern. Da alle Weissagungen nur Schlimmes befürchten lassen, beschließen die Götter schließlich, das Ungeheuer zu fesseln (vgl. Mhkv 21). Dazu bedarf es dreier, sich episch steigender Anläufe. Zunächst kommen die Götter mit der Fessel Lœðing und fordern den Wolf scheinheilig auf, seine Kraft daran zu messen. Diese Fessel zerreißt er mit Leichtigkeit. Stärker ist er bei der zweiten Fessel namens Drómi gefordert, denn sie ist doppelt so stark. Verlockt durch die Aussicht auf Ruhm, läßt er sich die Fessel anlegen und zersprengt sie ebenfalls. Darauf schickt Óðinn Skírnir, den vertrauten Diener des Gottes Freyr, ins Land der Schwarzalben hinab, um bei Zwergen die Fessel Gleipnir in Auftrag zu geben. Diese setzt sich aus nicht weniger als sechs Adynata zusammen: dem Schritt der Katze, dem Bart der Frau, den Wurzeln des Gebirges, den Sehnen des Bären, dem Atem des Fisches und dem Speichel des Vogels (vgl. SnEFrg 1 432; SnEFrg 2 515). Die Asen rudern nun mit dem Wolf über den See Ámsvartnir zur Insel Lyngvi. 7 Dort soll die Fesselprobe stattfinden. Doch Fenrir mißtraut der Fessel gerade wegen ihres scheinbar so harmlosen Aussehens (glatt und weich wie ein Seidenband) und argwöhnt, daß hier List und Trug im Spiel sei. Trotz aller Überredungsversuche der Asen willigt er nur unter der Bedingung ein, daß ihm einer von ihnen seine Hand als Pfand in den Rachen legt. Während die anderen Götter betreten schweigen und nur vielsagende Blicke wechseln, streckt Týr seine Rechte vor. Als der Wolf sich dann vergeblich gegen die sich verhärtende Fessel stemmt, da lachen zwar die Götter, nicht aber Týr, denn er verliert seine Hand (Abb. 1). Er wird deshalb einhendi áss, »einhändiger Ase«, genannt (vgl. Gylf 25; Ls [Prosa]; Ls 38, 39; Skáldsk 17; Rúnnorw 5; Rúnisl 20 8 ; GSúrs 16). An anderer Stelle präzisiert Snorri, daß der Körperteil, an dem der Wolf zubeißt, ulfliðr genannt wird (Gylf 25), ein Wort, das auch sonst im Altnordischen in der Bedeutung »Handgelenk« gut belegt ist. 9 4 Zitiert nach Finnur Jónsson 1931; die Kapitelangaben beziehen sich auf die bei Finnur Jónsson in Klammern gesetzten Nummern. Einen ausführlichen Kommentar zum Folgenden bietet Lorenz 1984, S. 416 ff. u. 601 ff. 5 Fragmente der Snorra-Edda AM 748 I 4to und AM 757 4to (Jón Sigurðsson 1852). 6 Zitiert nach Finnur Jónsson 1931. 7 Nach der Lokasenna liegt Fenrir gefesselt vor einer Flußmündung (Ls 41). Die Örtlichkeit erinnerte schon Olrik (1922, S. 81) an die Insel, auf der der Schmied Vôlundr gefangengehalten wird. Ihm wurde seine Bewegungsfreiheit zwar nicht durch Fesseln, wohl aber durch die Durchtrennung der Sehnen an den Kniekehlen genommen. Wohl nicht zufällig wird er in diesem Zusammenhang als ein wildes Tier beschrieben (Vkv 17). 8 Das norwegische und isländische Runengedicht zitiert nach Kålund 1884 - 1891, S. 1 - 21. 9 Vgl. Fritzner 1896, S. 764. <?page no="232"?> Fenriswolf 231 Fenrir wird dann mit einem Tau aus der Fessel Gelgja an zwei Steinen (Gjôll und Þviti) fest gemacht, die tief in die Erde versenkt werden. Als der Wolf sich wehrt und nach allen Seiten schnappt, stoßen ihm die Götter ein Schwert als Gaumensperre (gómsparri) in den Rachen, ein Detail, das eine Strophe des norwegischen Skalden Eyvindr Skáldaspillir schon um 960 belegt, wenn darin »Schwert« mit der Kenning »Sperre der Lippen des Fenrir« (Fenris varra sparri) umschrieben wird (Eyv Lv 6). Fenrir heult schrecklich, Geifer rinnt ihm aus dem Maul und bildet den Fluß Ván (SnEFrg 1 432; SnEFrg 2 515; 10 Stríðk) (Abb. 2). Snorri bezeichnet den Wolf deshalb in den Skáldskaparmál als Vánargandr 11 (Skáldsk 16). Vor einem schlimmeren Schicksal bewahrt ihn allein die Achtung der Götter vor ihren Heiligtümern und Friedensstätten, die sie trotz der Weissagungen, daß der Wolf Óðinn töten werde, nicht mit dem Blut des Wolfs entweihen wollen. So liegt er gebunden bis zu den Ragnarök, dem Weltuntergang (vgl. Ls 39, 41; siehe auch Hák 20). Den Auftakt zum Untergang bilden Naturkatastrophen kosmischen Ausmaßes, in deren Verlauf die Fessel des Wolfs bricht. Dann rottet er sich mit anderen dämonischen Mächten des Chaos zusammen. Feuer brennt in seinen Augen und Nüstern, und er rennt mit weit aufgerissenem Maul, dessen Kiefer die Erde und den Himmel berühren, zum Schlachtfeld Vígríðr. Dort stellen sich die Götter und ihre Krieger zum Endkampf (vgl. Grm 23). Óðinn tritt, gerüstet mit Goldhelm, Brünne und seinem Speer Gungnir allein gegen Fenrir an (vgl. St 24 u. 25). Dieser Kampf endet für Óðinn tödlich, denn der Wolf verschlingt ihn (vgl. Gylf 34; Vsp 53; Vm 52 - 53; Ls 58). Die Tat bleibt aber nicht ungesühnt und die Rache folgt buchstäblich auf den Fuß. Óðinns Sohn Víðarr tritt auf den Plan und stemmt einen Fuß in den Unterkiefer der Wolfs. Dann packt er den Oberkiefer und reißt das Maul so weit auseinander, daß Fenrir verendet (vgl. Vm 53). Den tödlichen Tritt ermöglicht ein besonderer Schuh, der nach Snorris aitiologischer Erklärung aus den Resten gefertigt ist, die beim Zuschneiden des Schuhleders anfallen. Eine von Snorri abweichende Variante liefert die V ô lospá. Dort stößt Víðarr dem Wolf das Schwert ins Herz (Vsp 55). Laut Snorri nimmt am Endkampf auch der Hund Garmr (»Hund«) teil. Er lag gebunden vor Gnipahellir und war seiner Fesseln ebenfalls ledig geworden (vgl. Vsp 44, 10 Die Fragmente AM 748 I 4to und AM 757 4to nennen jeweils zwei Flüsse: van/ víl bzw. vil/ vôn. 11 Vgl. dazu Simek 1995, S. 447. Abb. 1 <?page no="233"?> 232 Wilhelm Heizmann 49, 58). Er trifft auf den Gott Týr und beide töten einander. Unklar bleibt, ob und in welchem Verhälttnis Fenrir und Garmr zueinander stehen. 12 Snorri unterscheidet sie klar von einander, denn er benötigt Garmr in seinem System der Gegnerpaare als Widerpart für Týr. Ob dies allerdings auch für die V ô lospá gilt, ist höchst fraglich. In der Forschung ging man zumeist von deren Identität aus. 13 Die Überlieferung läßt eine sichere Entscheidung kaum zu. Dennoch fällt folgendes auf: Beide sind an bzw. vor Felsen angebunden und heulen oder bellen und beide kommen mit Anbruch der Endzeit los. Die Skaldendichtung kennt Garmr als mythologisches Wesen nicht, sondern verwendet den Namen appellativisch in der Bedeutung »Hund« in verschiedenen Kenningar. 14 Zu bedenken ist auch, daß ein von Fenrir verschiedener Garmr in der V ô lospá im Grunde ohne rechte Funktion bliebe, da es dort, anders als bei Snorri, einen direkten Gegner nicht gibt. Er bellt, kommt frei und rennt los. Mehr wird nicht gesagt. Andererseits kommt aber der Strophe durch die zweimalige Wiederholung ein so großes Gewicht zu, daß nicht zu verstehen wäre, wenn mit diesem Garmr nicht auch der gewichtigste Gegner der Götter gemeint wäre. Der Name widerspricht dem nicht, denn »Hund« als Bezeichnung des Wolfs ist weit verbreitet. 15 Auch bei Snorri heißt übrigens ein mondverschlingender Wolf Mánagarmr (Gylf 11). Nachkommen des Fenrir erwähnen die eddischen Gedichte Grímnismál und V ô lospá. Snorri bemüht sich, die beiden Texte in einen einigermaßen konsistenten Bezug zu setzen (Gylf 12). 16 Zunächst berichtet er in Anschluß an die Grímnismál (Grm 39) von den Wölfen Scôll und Hati. Letzterer wird Sohn des Hróðvitnir genannt, ein Name, den die Lokasenna als Bezeichnung des Fenrir kennt (Ls 39). 17 Während Scôll der Sonne (sol) folgt, läuft ihr Hati voraus. Nur Snorri bringt diese beiden Wölfe in einen eschatologischen Zusammenhang, indem er hinzufügt, daß Scôll eines Tages die Sonne einholen und Hati den Mond (tungl) packen wird. Daß Snorri mit tungl den Mond meint, 18 geht aus der Gegenüberstellung sowie seiner sonstigen Verwendung des Wortes, die im übrigen der im Altisländischen gewöhnlichen entspricht, 19 unzweifelhaft hervor. Zudem erwähnt Snorri bei seiner Schilderung des Weltuntergangs zwei namenlose Wölfe, von denen einer die Sonne, der andere den Mond verschlingen wird (Gylf 51). Snorri kombiniert nun die genannte Stelle der Grímnismál mit zwei Strophen der V ô lospá, die er im weiteren auch wörtlich zitiert (Vsp 40 - 41). Dort ist von einer Alten die Rede, die in dem östlich gelegenen Járnviðr (»Eisenwald«) Fenrirs Nachkommen gebiert. Snorri fügt weitere Details hinzu: Der Wald, in dem die Riesin (g ý gr) haust, ist von Trollweibern bewohnt und sie gebiert als Söhne viele Riesen in Wolfsgestalt. 20 Die V ô lospá berichtet weiter von ei- 12 Vgl. Paul 1981, S. 179 f., Dillmann 1994, S. 371 und Lorenz 1984, S. 418 f. u. 617 f. mit weiteren Literaturhinweisen. 13 Vgl. Sigurður Nordal 1980, S. 86. 14 Finnur Jónsson 1931a, S. 173. 15 Vgl. Peuckert 1938/ 1941, Sp. 716 f. Zur Etymologie von Garmr vgl. Lincoln 1979. 16 Vgl. Paul 1981, S. 181 f. 17 Zu erwägen ist, ob hierher nicht auch die Bezeichnung Þórrs als Hróðrs andscoti »Gegner des Hróðr« (zu hróðr »Ruhm«) aus der Hymisqviða Str. 11 zu stellen ist. Björn Magnússon Ólsens Deutung, daß sich Hróðr zu Hróðvitnir verhält wie Fenrir zu Fenrisulfr (1909, S. 151), wurde in der Forschung jedenfalls zumeist akzeptiert. Der Name verwundert kaum, wenn man bedenkt, daß bei Snorris Bericht der Fesselung gerade das Argument der Berühmtheit für den Wolf eine große Rolle spielt (Gylf 34). 18 Vgl. Faulkes 1987, S. 15; Neckel & Niedner 1925, S. 59; Lorenz 1984, S. 194. 19 Vgl. Fritzner 1896, S. 730. <?page no="234"?> Fenriswolf 233 nem Nachkommen des Fenrir, der als tungls tiúgari (»Vernichter des Gestirns«) bezeichnet wird (Vsp 40). Daß Snorri hier tungl als Bezeichnung des Mondes versteht, ist wiederum evident, denn er nennt den nahmenlosen Wolfssproß der V ô lospá Mánagarmr (zu máni »Mond« und garmr »Hund«). Als eine Art Leichendämon 21 nährt er sich vom Fleisch 22 aller Menschen, die sterben und verschlingt schließlich den Mond (tungl). So eindeutig Snorris Auffassung von zwei Sonne und Mond verschlingenden Wölfen auch sein mag, es ist doch zu fragen, auf welche Überlieferung er sich dabei stützen kann. In den Grímnismál ist lediglich von zwei Wölfen die Rede, die vor und hinter der Sonne her laufen (Grm 39). Gleiches ist in der Heiðreks saga überliefert. 23 Anders als bei Snorri fehlt jeder eschatologische Bezug. Die Forschung hat längst vermutet, daß wir es hier vielmehr mit der poetischen Ausgestaltung des im Norden verbreiteten Naturphänomens der Nebensonnen zu tun haben. Sie werden in der skandinavischen Volksüberlieferung solulv bzw. solulf und solvarg genannt. Wenn die Nebensonnen vor und nach der Sonne stehen, dann heißt es auf Island: sólin sè í úlfakreppu (»die Sonne sei in der Wolfsklemme«). 24 Es bleibt also nur die Stelle in der V ô lospá. Die Forschung hat aber gerade dort für das Wort tungl überwiegend die Bedeutung Sonne angenommen. 25 Dies scheint eine plausible Deutung zu sein, denn Strophe 41 der V ô lospá schildert plastisch das Wüten des tungls tiúgari und seine unmittelbaren Auswirkungen: » Fylliz fiorvi feigra manna, rýðr ragna siot rauðom dreyra; svort verða sólscin of sumor eptir, veðr ôll válynd - vitoð ér enn, eða hvat ? « (Vsp 41) »Er füllt sich mit Fleisch von Sterbenden, rötet die Sitze der Götter mit rotem Blut; schwarz wird der Sonnenschein die Sommer danach, widrig alles Wetter - wißt ihr noch mehr, oder was? « Ganz offensichtlich wird hier eine irreversible Sonnenfinsternis beschrieben, 26 die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Anbruch der Endzeit steht. Davon nicht zu trennen ist die Nachricht der Vafðrúðnismál, daß Fenrir die Sonne verschlingt (Vm 47). Denn unabhängig davon, ob man hier zwischen zwei Überlieferungsvarianten (Nachkomme Fenrirs/ Fenrir selbst) trennt oder man für das Wort fenrir allgemein die Bedeutung »Wolf« annimmt 27 so haben wir es im Gegensatz zu den Grímnismál doch in beiden Quellen mit einem eschatologischen Ereignis zu tun. Daß Snorris Harmonisierungsver- 20 Möglicherweise besteht hier ein Zusammenhang mit der ebenfalls gýgr genannten Angrboða in Kap. 33 der Gylfaginning (vgl. Lorenz 1984, S. 197 u. 417). Demnach wären die Wölfe Abkömmlinge einer inzestuösen Verbindung des Fenrir mit seiner Mutter. 21 Vgl. Peuckert 1938/ 1941, Sp. 744; Kretschmar 1938, S. 226 ff.; Lincoln 1979, S. 284. 22 Zu den unterschiedlichen Auffassungen von altnord. fjor vgl. Sigurður Nordal 1980, S. 82; Lorenz 1984, S. 194 u. 198. 23 Jón Helgason 1924, S. 68. 24 Vgl. Much 1898, S. 30; Olrik 1902, S. 190 f.; 1922, S. 37 ff., 424 ff.; Peuckert 1938/ 1941; Paul 1981, S. 181. 25 Vgl. Finnur Jónsson 1931a, S. 574; Kuhn 1968, S. 204, 206; Sigurður Nordal 1980, S. 81; Paul 1981, S. 181; Genzmer 1981, S. 31; weitere Literaturhinweise bei Lorenz 1984, S. 200 f. Wie Lorenz (S. 200) spricht auch Dillmann sich dafür aus, daß mit tungl hier der Mond gemeint sei (1994, S. 372). 26 Vgl. Paul 1981, S. 181; Lorenz 1984, S. 199. 27 Nachweise bei Dillmann 1994, S. 372. <?page no="235"?> 234 Wilhelm Heizmann suche hier nicht nahtlos geglückt sind, zeigt schon allein, daß er von zwei verschiedenen Mondverschlingern (zuerst Hati, dann Mánagarmr) spricht. Auch wenn ein mondverschlingender Wolf in den altnordischen Quellen außer bei Snorri sonst also nicht mit Sicherheit nachzuweisen ist, so ist dennoch zweifelhaft, ob die Umdeutung der beiden Wölfe in den Grímnismál allein auf einem Mißverständnis Snorris beruht. Dafür sind Vorstellungen, Sonnen- und Mondfinsternisse würden durch die Attacke von Ungeheuern, darunter auch Wölfen, verursacht, viel zu häufig auf der ganzen Welt verbreitet. Oft genug tragen diese auch einen eschatologischen Zug. 28 Vor diesem Hintergrund dürften auch die Sonne und Mond verschlingenden Wölfe bei Snorri ausreichend zu erklären sein. Soweit die literarischen Zeugnisse aus dem Norden. Auch wenn uns nur Snorri, der gut zweihundert Jahre nach der Annahme des Christentums auf Island schreibt, eine zusammenhängende »Biographie« Fenrirs erzählt, so enthält sie doch zum einen nichts spezifisch Christliches und sie läßt sich zum anderen durch die übrigen Zeugnisse, die überwiegend der heidnischen Zeit angehören, ja im Falle der Haustlông des norwegischen Skalden Þjóðólfr ór Hvíni sogar noch ins 9. Jahrhundert zurückreichen, in vielen Details bestätigen. Die offenkundigen Bemühungen Snorris, seine unterschiedlichen Quellen zu harmonisieren, fallen dabei nicht ins Gewicht. Snorri trägt dadurch auf seine Weise nicht mehr zur Variantenbildung einer sich in stetem Fluß befindlichen Überlieferung bei, als dies in den Jahrhunderten zuvor im Medium der Mündlichkeit der Fall war. 28 Vgl. Lasch 1900; von der Leyen 1908, S. 16 ff.; Peuckert 1938/ 1941, Sp. 739; Olrik 1902, S.192 ff.; 1922, S. 39 ff.; Paul 1981, S. 182. Abb. 2 <?page no="236"?> Fenriswolf 235 II Neben den Schriftquellen steht eine spärliche Zahl von Bildquellen zu Fenrir. Während der gefesselte Wolf aber wohl einige Male in jungen Papierhandschriften der Snorra-Edda aus Island abgebildet wird (NKS 1867 4to x [1760], Bl. 98v [Abb. 1]; ÍB 299 4to x [1764], Vorderseite 29 ; AM 748 4to x [1680], Bl. 43v [Abb. 2] 30 ), so ist uns doch im Gegensatz zur Midgardschlange, dem anderen Erzmonster der nordischen Mythologie, für die Wikingerzeit aus ganz Skandinavien keine einzige gesicherte Darstellung des Fenrir erhalten. Dies gilt auch für den bildtragenden Runenstein von Ledberg aus der schwedischen Landschaft Östergötland vom Anfang des 11. Jahrhunderts (Abb. 3). 31 Auf der Rückseite des Steins ist zuoberst ein behelmter Krieger zu sehen. Unter ihm läuft auf dem Runenband ein Canide, der einen Fuß des Kriegers mit dem Maul packt. Dahinter befindet sich ein zweiter Krieger mit Helm, jedoch ohne Füße. Obwohl die Bilder des Steins immer wieder mit den Ragnarök und insbesondere dem Kampf Óðinns mit dem Wolf in Verbindung gebracht wurden, 32 zeigt die Darstellung kein einziges signifikantes Detail, das diese Identifizierung absichern könnte. Die alte Deutung Brates, daß hier verschiedene Szenen jener Schlacht abgebildet werden, die dem in der Inschrift genannten Torgöt den Tod brachte, 33 kann da weit mehr Wahrscheinlichkeit für sich beanspruchen. Einzig von den britischen Inseln sind aus Gebieten mit stark skandinavischem Einfluß 34 mehrere Bilddenkmäler, vor allem des 10. Jahrhunderts bekannt, auf denen man vielleicht Darstellungen des Fenrir vermuten darf. Dazu gehört insbesondere das Fragment des Thorwald-Kreuzes von Kirk Andreas auf der Isle of Man. Es zeigt einen Mann mit einem Raubvogel (Adler oder Rabe) auf der Schulter und einem Speer in der Hand, der auf einen von unten angreifenden Caniden gerichtet ist. Ein Fuß steckt bereits zwischen dessen Zähnen (Abb. 4). Da Speer und Raubvogel als Óðinn-Attribute gut über- 29 Abb. bei Bæksted 1986, S. 33. 30 Vgl. auch Wilson 1980, S. 24, Abb. 19. 31 Vgl. auch Brate 1911, Nr. 181, Pl. LXI. 32 Shetelig 1933, S. 226; Pàroli 1986, S. 304, Anm. 152; Jansson 1987, S. 152; Gschwantler 1990, S. 521; Dillmann 1994, S. 371; McKinnell 1994, S. 17. 33 Vgl. Brate 1911, S. 176. 34 Vgl. Haavardsholm 1996, S. 128 f. Abb. 3 <?page no="237"?> 236 Wilhelm Heizmann liefert sind, liegt es zumindest nahe, diese Szene als Óðinns Kampf mit Fenrir zu deuten. 35 Axel Olrik 36 dachte aber an Víðarr, denn die eine Hand des Kriegers geht deutlich zum Oberkiefer des Caniden, wenngleich sie diesen jedoch nicht wirklich packt. Allerdings wären zu einer solchen Identifizierung weder Speer noch Raubvogel passend. Schließlich wurde die Szene auch auf Christus hin gedeutet, der den Rachen des Höllenhundes aufbricht, um ihn dann mit dem Speer aufzuspreizen. 37 Auch wenn der Adler bei dieser Deutung noch mit dem Hinweis erklärt werden könnte, daß er in der irischen Kunst öfter auf dem Haupt Christi erscheint, 38 so wird dabei doch die Funktion der Speers gänzlich mißverstanden. Er tritt nämlich hier überhaupt nicht als Gaumensperre in Erscheinung. 39 Zudem wird die Aktivität der linken Hand fehlgedeutet, denn es ist 35 Shetelig 1933, S. 225 f.; Pàroli 1986, S. 304 f., Anm. 153; McKinnell 1987, S. 332; Gschwantler 1990, S. 521. 36 Olrik 1902, S. 162 f.; 1922, S. 10 f. 37 Reitzenstein 1924, S. 172 ff.; 1926, S. 163 f.; de Vries 1957, S. 397. 38 Reitzenstein 1924, S. 178; vgl. Reil 1904, S. 120 f. Abb. 4 <?page no="238"?> Fenriswolf 237 Abb. 5 <?page no="239"?> 238 Wilhelm Heizmann nicht zu erkennen, daß diese etwa den Oberkiefer des Caniden aufreißt. 40 Die ganze Art der Darstellung verbietet es geradezu, hier die Überwindung des tierischen Gegners herauszulesen. Abgebildet ist vielmehr dessen Attacke. Daß diese dem wichtigsten Repräsentanten der heidnischen Götterwelt gilt, der den einheimischen Überlieferunge n zufolge in diesem Kampf unterliegt, ist umso naheliegender, als auf der anderen Seite des Fragments gezeigt wird, wie Leviathan in Gestalt eines Fisches überwunden an der Angel des christlichen Gottes hängt und damit umso nachdrücklicher die Überlegenheit des neuen christlichen Glaubens unter Beweis gestellt wird. Das Kreuz von Gosforth 41 (Abb. 5) aus der nordenglischen Landschaft Cumberland zeigt auf der Ostseite über einer Kreuzigungsdarstellung zwei ineinandergeflochtene wolfsköpfige Schlangen, von denen sich die eine nach oben wendet, während die andere den Rachen gegen einen Mann öffnet. Dieser tritt mit einem Fuß zwischen die herausgestreckte zweigespaltene Zunge auf den Unterkiefer und stemmt mit der einen Hand den Oberkiefer nach oben. Die andere Hand hält einen Speer oder eher einen Stab (Abb. 5a). 42 Die Forschung hat überwiegend daran festgehalten, daß hier Víðarrs Rachetat dargestellt wird. 43 Zu dieser Deutung gibt insbesondere die charakteristische Art und Weise, wie der Rachen des Untiers aufgerissen wird, Anlaß. Sie findet in der christlichen Überlieferung kein Gegenstück. 44 Dies gilt zwar umgekehrt auch für den Stab, von dem die schriftlichen Quel- 39 Davon abgesehen ist mir aus der Überlieferung des westlichen Abendlandes kein Beispiel bekannt, daß Christus eine Lanze als Sperre des Höllenrachens verwendet. Diese Funktion erfüllt vielmehr bevorzugt der Kreuzesstab (vgl. Schmidt 1907, S. 179 mit Abb. 38 u. 39; Gschwantler 1990, S. 526 u. Anm. 48); literarisch ist dieses Motiv im Norden in einer Predigt der Hauksbók ( ca. 1290 - 1334) belegt (Eiríkur Jónsson & Finnur Jónsson 1892 - 1896, S. 169). Daß in einer serbischen Erzählung Gottes Sohn eine Lanze benützt (Jagič 1881, S. 11 ff.; vgl. Bugge 1899, S. lxii ff.; Krohn 1907, S. 158; Reitzenstein 1924, S. 190 f.), erscheint mir in diesem Zusammenhang unerheblich (vgl. Gschwantler 1990, S. 518). 40 So richtig beobachtet von Gschwantler 1990, S. 521, Anm. 36. 41 Bailey & Cramp 1988, S. 100 ff., Ill. 288 - 308 mit ausführlichen Literaturhinweisen. 42 Vgl. Bailey & Cramp 1988, S. 101; Gschwantler 1990, S. 524 f. Sowohl bei den insgesamt vier Reitern auf der Süd-, West- und Nordseite als auch bei Longinus auf der Ostseite ist jeweils die Spitze der Speere deutlich zu erkennen. Dagegen halten die beiden Gestalten auf der West- und Ostseite, die vor den geöffneten Mäulern der Ungeheuer stehen, eher Stäbe in Händen, denn es fehlt jeweils die Spitze. 43 Vgl. Olrik 1902, S. 161 f.; Parker & Collingwood 1917, S. 102 f.; Olrik 1922, S. 9 f.; Berg 1958, S. 222; Bailey 1980, S. 127 f.; Bailey & Cramp 1988, S. 102; Gschwantler 1990, S. 515 ff.; Dillmann 1994, S. 371. Als Alternative hat McKinnell auch Þórr in die Diskussion gebracht, der beim Endkampf gegen die Midgardschlange antritt (McKinnell 1987, S. 331). Skeptisch gegenüber einer Anknüpfung an heidnische Vorstellungen äußert sich Jørgen Haavardsholm (1996). Die vorgetragenen Argumente, die sich hauptsächlich mit der hier nicht zur Debatte stehenden sog. Lokiszene beschäftigen, reichen allerdings nicht aus, um diese Skepsis nachvollziehbar zu rechtfertigen. 44 Gschwantler 1990, S. 517. Abb. 5a <?page no="240"?> Fenriswolf 239 len des Nordens zum Kampf Víðarrs nichts wissen. Allerdings wäre hier zu erwägen, ob es sich bei dem Stab nicht um ein Langszepter handelt, das passende Requisit für einen Gott, dessen Name wohl als »der weithin Herrschende« zu deuten ist. 45 Vereinzelt wurde die Szene als Darstellung Christi gedeutet, der dem Höllendrachen das Maul aufreißt, um die Seelen daraus zu befreien. 46 Auf diese Weise ergäbe sich eine logische Szenenfolge, denn auf die Kreuzigung Christi und seinen Tod folgt bekanntlich der Descensus ad inferos. Daß weder die heidnische noch die christliche Deutung ohne Rest mit der Bilddarstellung in Einklang gebracht werden konnte, führte schließlich zur Vermutung, daß hier eine Vermischung beider Traditionen stattgefunden habe. 47 Dies wäre am ehesten damit zu erklären, daß beide vom Sieg eines jungen Gottes über die Mächte des Todes berichten. Während für die beiden zuletzt genannten Zeugnisse ein Bezug zu einheimischer Mythenüberlieferung in visionärer Perspektive vorausgesetzt werden kann, bewegen wir uns bei anderen Bilddenkmälern auf höchst unsicherem Boden. Mit den Ragnarök wurde etwa die Darstellung auf einem Stein aus Skipwith (Eastern Yorkshire) in Verbindung gebracht. 48 Sie zeigt eine Gruppe behelmter Krieger in heftiger Bewegung. Mitten unter ihnen befindet sich ein Canide, der in den Fuß eines Kriegers beißt. 49 Auch hier gibt, wie auf dem Stein von Ledberg, allein der Biß in den Fuß Anlaß, an Fenrir und Óðinn zu denken. Nun fällt aber auf, daß die Krieger größenmäßig deutlich voneinander verschieden sind. Handelte es sich hier um eine Ragnarök-Darstellung, dann wäre folglich Óðinn entsprechend seiner Bedeutung als Göttervater mit der größten Figur zu identifizieren. Gerade ihr aber beißt der Canide nicht in den Fuß. Zudem ist ein Canide, der nach dem Fuß einer menschlichen Gestalt schnappt, allein für eine Identifizierung nicht ausreichend. Der Stein von Ovingham (Northumberland), 50 der sich als Fragment eines Steinkreuzes bestimmen läßt, zeigt auf zwei Seiten Bilddarstellungen, von denen die eine wohl einem christlichen Kontext zuzuordnen ist. 51 Die andere zeigt ein Tier zwischen zwei anthropomorphen Gestalten. Eine von ihnen trägt einen Gegenstand, der einem gewaltigen Horn ähnelt, vielleicht aber auch als Keule zu identifizieren ist. Die zweite Gestalt umfaßt das Tier, dessen geöffnetes Maul gegen ein scheiben- oder eher ringförmiges Gebilde gerichtet ist. Diese Szene wurde als Darstellung des Gottes Heimdallr mit seinem Horn sowie des losbrechenden Fenriswolfs gedeutet, der nach der Sonnenscheibe schnappt. 52 Unerklärt bleibt dabei die zweite menschliche Gestalt, die jedoch von anderer Seite als Víðarr identifiziert wurde. 53 Víðarrs Kampf mit dem Fenrir wird aber in keiner Quelle sonst mit der Verschlingung der Sonne in Verbindung gebracht und ebensowenig wird Heimdallr unmittelbar zu Fenrir in Bezug gesetzt. Daß auch eine Gestalt auf der Westseite des Gosforth-Kreuzes als Heimdallr gedeutet wird, der gegen zwei wolfsköpfige 45 Vgl. de Vries 1977, S. 659; Simek 1995, S. 454. 46 Bugge 1899, S. lxv f.; Meyer 1903, S. 60; Krohn 1907, S. 160 f.; Reitzenstein 1924, S. 172; de Vries 1957, S. 397. 47 Bugge 1899, S. lxiv f.; Dumézil 1965, S. 3, Anm. 1. 48 Shetelig 1933, S. 226; McKinnell 1987, S. 330; 1994, S. 100, Anm. 24; vgl. Bailey 1980, S. 134 u. 234; Lang 1991, S. 214 f., Ill. 823. 49 Abb. bei Bailey 1980, S. 113, Plate 38. 50 Bailey 1980, S. 133 f., Fig. 24; Cramp 1984, S. 215 f., Pl. 210, Ill. 1197 - 1200. 51 Bailey 1980, S. 133. 52 Bailey 1980, S. 133; Cramp 1984, S. 216. 53 McKinnell 1987, S. 330 f.; Gschwantler 1990, S. 531. <?page no="241"?> 240 Wilhelm Heizmann Schlangen antritt, 54 besagt in diesem Zusammenhang wenig, da diese Identifizierung ihrerseits wieder höchst unsicher ist. 55 Der Grabstein (hogback) von Sockburn (Durham) zeigt auf beiden Längsseiten (A u. C) je eine menschliche Gestalt, die von mehreren Vierfüßlern umgeben ist. 56 Da die rechte Hand der einen Gestalt (A) deutlich im geöffneten Maul eines der Tiere, das zudem gefesselt ist, erscheint, hat man hier eine Darstellung der Fesselung des Fenriswolfs erkennen wollen, dem Týr als Pfand seine Hand in den Rachen legt. 57 Das Tier zur Linken wurde dagegen als Garmr interpretiert, die übrigen Vierfüßler als Begleiter des Wolfs. 58 Diese Deutung berücksichtigt nicht, daß nicht nur das Tier gefesselt ist, in dessen Rachen die rechte Hand erscheint, sondern, soweit erkennbar, auch die meisten anderen der insgesamt acht größeren Vierfüßler. Dieser Befund läßt sich ebenfalls mit der literarischen Überlieferung zur Fesselung des Fenrir nicht in Einklang bringen. Die Darstellung ist weit eher der so reich belegten Bildformel des »Herrn der Tiere« zwischen antithetischen Tieren zuzuordnen, die in vielen Kulturen belegt ist und mit ganz unterschiedlichen Inhalten gefüllt wurde. 59 Methodisch aufschlußreich kann an dieser Stelle ein Blick auf ein Bilddenkmal sein, das räumlich und zeitlich weit genug vom Norden abliegt, daß ein heidnisch-germanischer Hintergrund wohl ausgeschlossen werden darf. Die aus dem 12. Jahrhundert stammende sog. Bestiensäule aus der Krypta des Freisinger Doms zeigt mehrere anthropomorphe und theriomorphe Gestalten, die in heftige Kämpfe verwickelt sind. 60 Zwar könnte man auch hier an Óðinn und Víðarr denken, 61 doch gelingt dies nur, wenn gegen die methodischen Grundprinzipien einer wissenschaftlichen Ikonographie einzelne Motive (hier: Verschlingung eines Mannes, Stich mit dem Schwert, Griff in das Maul, Biß in den Fuß) aus einem weit komplexeren Bildkontext isoliert werden, der sonst mit der nordischen Ragnarök-Überlieferung keinerlei Gemeinsamkeiten aufweist. 62 Zwar bewegen wir uns bei den genannten Bilddenkmälern der britischen Inseln in einem Raum und in einer Zeit, in der mit stark skandinavischem Einfluß zu rechnen ist, doch mindert sich auch hier grundsätzlich die Aussicht auf eine Bestimmung der Bildinhalte in dem Maße, indem wir uns mit Details konfrontiert sehen, die wir nicht identifizieren bzw. die wir mit der literarischen Überlieferung nicht in Einklang bringen können. Es bleibt somit als Fazit, daß nur das Thorwald-Kreuz und das Gosforth-Kreuz so signifikante Details zeigen, daß ein Bezug zu Fenrir durchaus wahrscheinlich zu machen ist. Doch auch hier ergab sich nicht in jedem Punkt völlige Übereinstimmung mit der literarischen Überlieferung. Dies bedeutet, daß wir entweder mit Varianten zu rechnen haben - was nie ausgeschlossen werden kann, wie allein schon die unterschiedliche Überlieferung von Víðarrs Vaterrache zur Genüge zeigt - oder aber, daß wir mit Mischformen 54 Bailey 1980, S. 128; McKinnell 1987, S. 330; Bailey & Cramp 1988, S. 102. 55 Vgl. Krohn 1907, S. 161; Olrik 1922, S. 12 f.; Reitzenstein 1924, S. 174. 56 Lang 1972; Bailey 1980, S. 135 f., Fig. 26; Cramp 1984, S. 143 f., Pl. 145, 767 - 768, dort auch weitere Literaturhinweise. 57 Bailey 1980, S. 135 f.; McKinnell 1987, S. 330, 332; Gschwantler 1990, S. 531. 58 Lang 1972, S. 240. 59 Vgl. Cramp 1984, S. 144; zur genannten Bildformel vgl. Holzapfel 1973. 60 Abb. bei Goldschmidt 1895, S. 68, Fig. 17. 61 Vgl. Jung 1939, S. 455. 62 Vgl. Goldschmidt 1895, S. 69 f.; Reitzenstein 1924, S. 154, Anm. 2. <?page no="242"?> Fenriswolf 241 rechnen müssen. Daß also als verwandt empfundene christliche und heidnische Überlieferungen eine Gemengelage eingegangen sind, die es uns unmöglich macht, die einzelnen Elemente sauber voneinander zu scheiden. Tatsache bleibt allerdings, daß wir es bei den angeführten Denkmälern überwiegend mit christlichen Monumenten zu tun haben. Daß sich das Christentum einheimische Überlieferung durchaus zu Nutze machen wußte, um eigene Glaubensvorstellungen zu transponieren, zeigen wiederum eindrucksvoll jene Kreuzfragmente von den britischen Inseln mit Darstellungen von Þórrs Angelung der Midgardschlange 63 oder der Wieland- 64 und Sigurdsage. 65 Wie man sich dabei allerdings den theologischen Hintergrund im Einzelnen vorzustellen hat, bleibt durchaus noch im Unklaren. Die neuere Forschung hat hier insbesondere unter dem Eindruck der Arbeiten Friedrich Ohlys 66 mit dem Begriff der Typologie experimentiert und darauf hingewiesen, daß in dieses Verweissystem auch Gestalten der klassischen Antike wie Odysseus, Orpheus oder Herakles einbezogen und auf Christus gedeutet werden. In gleicher Weise wäre zu bedenken, ob nicht auch Überlieferungen aus der nordischen Vorzeit typologisch umgesetzt werden konnten. 67 Dem stellen sich jedoch schwerwiegende Bedenken entgegen. Denn wohl ließe sich etwa Sigurðrs Sieg über den Drachen auf Christi Sieg über den Tod beziehen, doch beschränken sich die Bilddarstellungen keineswegs auf diese eine Episode, sondern fügen andere an, die sich jedem typologischen Bezug verweigern. 68 Zudem ist zu bedenken, daß das typologische Verweissystem auf Christus hinführt und folglich nur solche Ereignisse Verwendung finden, die zeitlich vor Christus liegen. Dies gilt aber nicht für die germanische Heldensage. Sie ist zwar in einer sagenhaften Vorzeit angesiedelt, doch handelt es sich dabei keineswegs um einen zeitlosen Raum. Dies läßt sich etwa am Beispiel des Nornagests þáttr 69 zeigen. Als der norwegische König Ólafr Tryggvasons (reg. 995 - 1000) Nornagestr nach seinem Alter befragt, nennt dieser die erstaunliche Zahl von 300 Jahren (NornFlat 358). Da er aber in seiner Jugendzeit Augenzeuge der Heldentaten Sigurðrs und seines tragischen Endes geworden war, wäre dieses Geschehen nach 700 anzusiedeln. Noch problematischer ist es, ein Ereignis miteinzubeziehen, das noch gar nicht eingetreten ist, sondern wie im Falle von Óðinns und Víðarrs Kampf gegen den Fenriswolf visionärer Schau zu verdanken ist. 70 Nicht ausser Acht gelassen werden sollte ferner, daß die Typologie in der frühchristlichen Kunst nur eine sehr bescheidene Rolle spielt. Ihre Blütezeit liegt erst im 12. und 13. Jahrhundert, also lange nach der Zeit, in der wir uns mit den hier diskutierten Bilddenkmälern der britischen Inseln bewegen. 71 Aufgrund dieser Überlegungen sollte man sehr zurückhaltend sein, im Zusammenhang mit der Darstellung von Motiven aus der germanischen Helden-und Göttersage auf christlichen Monumenten mit dem Begriff Typologie zu operieren. Zwar geht es auch hier um ein In-Bezug-setzen, ein Vergleichen und Verweisen, doch kaum auf jenem systematischen Niveau, das die christliche Typologie voraussetzt. 63 Vgl. Gschwantler 1968 und 1990, S. 533 f. sowie den Beitrag »Midgardschlange« in diesem Band. 64 Bailey 1980, S. 103 ff. 65 Bailey 1980, S. 116 ff; Düwel 1986 mit weiterführender Literatur. 66 Vgl. Ohly 1966 sowie den Sammelband Ohly 1977. 67 Gschwantler 1968, S. 163 f.; 1990, S. 509 f.; Düwel 1986, S. 264 ff. mit weiteren Literaturhinweisen. 68 Diese Schwierigkeit räumt auch Düwel ein (1986, S. 270 f.). 69 Zitiert nach Guðbrandur Vigfússon & Unger 1860. 70 Gschwantler hat dies in seiner Publikation von 1990 bereits als auffällig registriert (S. 529 f.). 71 Vgl. Schrenk 1997, Sp. 1133 f.; Engemann 1997, Sp. 1134 f. <?page no="243"?> 242 Wilhelm Heizmann III Eine andere Frage ist, ob und in welcher Weise christliche Vorstellungen auf die heidnische Überlieferung und umgekehrt die heidnische auf die christliche eingewirkt haben. Zumeist ist man dieser Frage überhaupt nur im Hinblick auf die erste Richtung nachgegangen. 72 Nur Otto Gschwantler hat die Frage auch anders herum gestellt. Er machte auf eine Passage in dem um 1120 entstandenen frühmittelhochdeutschen Gedicht Leben Jesu 73 der Frau Ava aufmerksam, 74 der ersten namentlich bekannten Dichterin in deutscher Sprache. 75 Sie schildert dort in teilweise wörtlicher Übereinstimmung mit der zwischen 1060 und 1080 entstandenen Althochdeutschen Genesis 76 (v. 5586 ff.) den Abstieg Christi in die Hölle und die Überwindung des Höllenhundes. Diesem werden von Christus zunächst die Kiefer auseinandergebrochen (nur bei Frau Ava), dann wird er gefesselt und in den Abgrund geschleudert. Damit sein Rachen für immer geöffnet bleibt, steckt Christus dem Untier einen Ring - in der Millstätter Genesis (um 1150) und der Görlitzer Handschrift des Avatextes (14. Jahrhundert) ist es ein Klotz (zol) - als Gaumensperre zwischen die Kiefer (Str. 161). Wie bei Snorri, wenn auch in anderer Reihenfolge und als ein Ereignis geschildert, erscheinen hier die Motive »Zerbrechen der Kiefer«, »Fesselung des Untiers« und »Gaumensperre«. 77 Da diese auffällige Motivkombination nur bei Frau Ava 78 und bei Snorri begegnet, ist die Frage nach einer gegenseitigen Beeinflussung der Traditionen legitim. Da die literarischen Zeugnisse für den Fenrir-Mythos weit vor Frau Avas Gedicht liegen, wäre in diesem Fall der Weg von Nord nach Süd nicht ausgeschlossen. 79 Gschwantler erwägt als Kontaktzone das England des 9./ 10. Jahrhunderts und nimmt an, daß sich die Nordversion zunächst in der Mündlichkeit verbreitet hätte. 80 Über die Parallelen zu christlichen Überlieferungen hinaus hat insbesondere die ältere volkskundlich orientierte Erzählforschung immer wieder auf verschiedene motivliche Übereinstimmungen zum Fenrir-Mythos in Erzählungen hingewiesen, die vom Balkan bis Sibirien anzutreffen sind. Dazu gehören etwa das von der Erde bis zum Himmel klaffende Maul, 81 das Zerbrechen der Kiefer, 82 der Tritt in das Maul des Untiers, 83 die Gaumensperre, 84 das gebundene Raubtier 85 oder das unscheinbare Band als Fessel, die 72 Meyer 1889, S. 150 ff., 203 f.; 1903, S. 346 f.; Bugge 1899, S. lvii ff.; Falk 1908; Hagen 1910; Krohn 1907, S. 156; 1911, S. 542 f.; vgl. dazu auch die ausführliche Zusammenstellung bei Dillmann 1994, S. 373. 73 Maurer 1966. 74 Gschwantler 1990, S. 510 ff.; vgl. Bugge 1899, S. xl f.; Krohn 1907, S. 159 f.; Reitzenstein 1924, S. 172 f. 75 Papp 1978. 76 Dollmayr 1932. 77 Anders als Gschwantler kann ich nicht erkennen, daß in dieser Kombination bei Frau Ava das Brechen der Kiefer überzählig ist (Gschwantler 1990, S. 521). Die Reihenfolge erscheint mir logisch und konsequent. Zuerst wird der Höllenhund unschädlich gemacht, indem ihm die Kiefer gebrochen werden. Die Fesselung schränkt seine Bewegungsfreiheit ein. Erst die Gaumensperre stellt sicher, daß die Seelen derjenigen, die durch ihre Sünden in seinen Schlund geraten sind, daraus auch wieder ohne weiteres befreit werden können. 78 Vgl. Gschwantler 1990, S. 531 f. 79 Vgl. dazu auch grundsätzlich Gschwantler 1990, S. 528 ff. 80 Gschwantler 1990, S. 523 ff., 532 f. 81 Jagi č 1881, S. 11 f.; Bugge 1899, S. lxii f.; Krohn 1907, S. 158; Olrik 1922, S. 91 ff. 82 Gschwantler 1990, S. 522. 83 Olrik 1922, S. 92. 84 Jagič 1881, S. 11 f.; Bugge 1899, S. lxii f.; Krohn 1907, S. 158; Olrik 1922, S. 91 ff. <?page no="244"?> Fenriswolf 243 sich immer stärker zusammenzieht 86 . Über die Feststellung motivlicher Gemeinsamkeiten hinaus ist der Erkenntnisgewinn solcher Vergleiche jedoch eher gering, denn alle Versuche, die unleugbar vorhandenen Parallelen des Fenrir-Mythos zu christlichem, manichäischem 87 oder dem Erzählgut anderer Kulturen im Sinne einer Einflußnahme auf die Ausprägung der nordischen Überlieferung zu erklären, sind in höchstem Grade hypothetisch. Für uns ist zum einen keinerlei Sicherheit über die Wege möglicher Motivwanderungen zu gewinnen, und zum andern sind die herangezogenen Parallelen oft erheblich jüngeren Datums als die Zeugnisse zum Fenrir-Mythos selbst. IV Um zu einem angemessenen Verständnis des Fenrir-Mythos zu gelangen, bedarf es in der Tat der bislang vorgebrachten Überlieferungen anderer Kulturen nicht. Er erweist sich vielmehr bei näherem Zusehen als bemerkenswert konsistent und durchaus aus sich selbst heraus verstehbar. Fenrir ist genealogisch verbunden mit dem Todesreich (Hel) und dem Chaosungeheuer (Midgardschlange) und gehört damit zu den prominentesten Repräsentanten der Todeswelt. Durch visionäre Zukunftsschau (goþin r ô kþv til spadoma) 88 ist das Schicksal dieser Wesen bereits von Anbeginn an das der Götter und der Schöpfung geknüpft und das große Thema der Ragnarök, nämlich deren Untergang, angestimmt. Deshalb kann auch Fenrirs vorläufige Überwindung sowie der Verlust von Týrs Hand in seinem Rachen als Vorausdeutung auf Zukünftiges gesehen werden: Die Jugendzeit des Wolfs nimmt in entsprechend bescheidenerem Ausmaß gleichsam spiegelbildlich die in kosmische Dimensionen gesteigerten Ereignisse der Endzeit vorweg. In deren Verlauf tritt Fenrir nicht nur als gewaltiges Verschlingungsungeheuer in Erscheinung. Zugleich wird dort auch von seiner endgültigen Überwindung durch den Óðinn- Sohn Víðarr berichtet. Die kosmische Perspektive kommt daher nicht erst später und von außen dazu, 89 sondern ist von Anfang an im Mythos angelegt. 90 Darüber hinaus verbinden Fenrirs Taten mit Týr, den er verstümmelt, und Óðinn, den er verschlingt, die beiden wichtigsten Repräsentanten höchster Herrschergewalten (Souveränität). 91 Daß der Wolf 85 von der Leyen 1908, S. 9 ff.; Olrik 1922, S. 85 ff., 291 ff. Insbesondere Bugge (1899, S. lvii f.) und Axel Olrik (1902, S. 236; 1922, S. 81) wollten die Fesselung des Fenriswolfs mit der Lokis parallelsetzen. Nach Olrik gehöre auch der gebundene Fenriswolf letztlich zu den vor allem im Kaukasus verbreiteten Vo rstellungen vom gebundenen Erdbebendämon (1922, S. 133 ff., 322 ff.). Während aber selbst dem gefesselten Loki, der von Snorri expressis verbis mit Erdbeben in ursächliche Verbindung gebracht wird (Gylf 50), von George Dumézil die Verwandtschaft mit »den großen ›Gefangenen‹ des Kaukasus« abgesprochen wird (1959, S. 116 f.), so fehlt bei Fenrir bis auf das Moment der Fesselung erst recht jeglicher Zug, der in diese Richtung weist (vgl. Krohn 1907, S. 165 f.). Fenrir ist vielmehr ein Verschlingungsungeheuer (vgl. dazu mehr weiter unten). 86 Krohn 1907, S. 153 ff.; von der Leyen 1908, S. 24 f. 87 Diese These wurde insbesondere von Richard Reitzenstein vorgetragen (1924; 1926). 88 Finnur Jónsson 1931, S. 34.18f. 89 So die Auffassung von Gschwantler (1990, S. 521). 90 Wegweisend für diese Sicht Christel Meier 1990, S. 43 (vgl. unten Anm. 108). 91 Damit wird ein Thema aufgerufen, das Dumézil bei verschiedenen indogermanischen Völkern nachweisen zu können glaubte (vgl. 1959, S. 61 ff.; 1973, S. 26 ff.). Eine scharfe Abfuhr erteilt den Dumézilschen Thesen dagegen Klaus von See (1988, S. 56 ff.). <?page no="245"?> 244 Wilhelm Heizmann einerseits den Göttervater tötet und andererseits die Sonne verschlingt, macht wiederum den engen Bezug zwischen den Göttern, speziell Óðinn und der Weltordnung und damit auch der Unordnung durch die Ragnarök deutlich. 92 Mit beider Verschlingung ist das letzte Wort im kosmischen Drama allerdings noch nicht gesprochen. Óðinns Tod wird durch seinen Sohn Víðarr gerächt, den die Quellen nur in dieser einen Funktion kennen und der den Untergang der alten Welt überleben wird (Grm 51). Und auch die Sonne gebiert eine Tochter, die auf den Pfaden der Mutter der neuen Welt leuchten wird (Vm 47). Die literarische Überlieferung des Nordens beläßt es also nicht allein beim Thema Tod und Vernichtung, sondern kündet zugleich von deren Überwindung und den regenerativen Potenzen der Schöpfung, die einen Neubeginn ermöglichen. Daß diese Zusammenhänge nicht erst im nordischen Mittelalter hergestellt wurden, läßt sich mit Hilfe einer alten Bildüberlieferung, die bis in die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends zurückreicht, zeigen. Denn als sicheres Bildzeugnis zu Týrs Handverlust im Rachen des Wolfs darf der Avers des Goldbrakteaten von Trollhättan-B (IK 190) aus der schwedischen Landschaft Västergötland gelten (Abb. 6). 93 Auf künstlerisch höchst eindrucksvolle Weise ist hier das Problem bewältigt, auf einem winzigen Bildfeld von 28 mm Durchmesser jenen Augenblick wiederzugeben, als der Wolf zubeißt. Der ungeheuerliche Schmerz des Gottes findet dabei seinen expressiven Ausdruck darin, daß der Künstler Týrs Körper aus der Bildachse in die dem Wolf entgegengesetzte Seite dreht. Das hier in die Waagerechte gekippte Doppelknaufszepter in der rechten Hand des Gottes sowie der kurze gestreifte Rock verbinden ihn ikonographisch mit dem Speerträger auf den Drei-Götter-Brakteaten, die von Karl Hauck überzeugend als Darstellung des Götterfürsten Óðinn in der Marsbildnachfolge gedeutet wurde, die zunächst Týr zukam. 94 Zusammen mit Óðinn selbst erscheint der Wolf auf dem südjütländischen Brakteaten Skrydstrup-B (IK 166) (Abb. 7). 95 Zwar ist sein zahnbewehrter Rachen weit aus- 92 Vgl. Lindow 1985, S. 47. 93 Zuerst gesehen von Eric Graf Oxenstierna, ohne jedoch mit der einschlägigen Schriftüberlieferung zu argumentieren (1956, S. 36); vgl. auch Hauck 1977 (XIII), S. 169 f.; 1980 (XX), S. 282; 1988 (XL), S. 18; 1992 (XLIX), S. 127 f.; 1993 (LII), S. 444; Die verfehlte Interpretation als Seherin, die von Lotte Motz vorgetragen wurde (1994, S. 15 ff.), berücksichtigt weder die ikonographischen Äquivalente zu Tracht und Requisite noch die antike Mars-Ikonographie. 94 Hauck 1980 (XX), S. 282; 1988 (XL), S. 19; (LV), im Druck, nach Anm. 191 u. nach Anm. 209. Als Beispiel ist dort Gudme-B (IK 51,3) verwendet; das Doppelknaufszepter wird neben dem Speer auf Fakse-B (IK 51,1) abgebildet. Abb. 6. <?page no="246"?> Fenriswolf 245 einandergerissen, zugleich erweist ihn die Rückenlage den antiken und frühmittelalterlichen Bildkonventionen gemäß als besiegt und überwunden. 96 Vor dem Wolf erscheint im Epiphanie-Gestus 97 eine mächtige menschliche Gestalt, die durch die Haartracht mit dem am Nacken angesetzten Vogelkopf und das Vogelgeleit als Óðinn charakterisiert ist. 98 Die Aussage des Bildes erschließt die Figurengruppe rechts von der Bildmitte. Sie zeigt einen Hirsch über einem ineinander geflochtenen Schlangenpaar. Das eine Tier erhebt sein weit geöffnetes Maul gegen die Weichen des Hirsches. Der bildlichen Darstellung dieser lebensbedrohenden Schlangenattacke 99 antwortet die runische Wortüberlieferung mit der Versicherung von Rettung und Heil. Denn gegen diesen perfiden Angriff ist ein Kraut gewachsen. Seinen Namen teilt der Brakteat über dem Rükken des Hirsches mit dem runischen Wort lauka R »Lauch« mit. 100 Diese Pflanze rühmen die mittelalterlichen Schriftzeugnisse des Nordens als Panacee und Lebenskraut. 101 Der Hirsch, so lehrt die antike und mittelalterliche Naturkunde, kennt das rettende Kraut und vermag damit die tödliche Bedrohung abzuwehren. 102 Diese Heilsgewißheit deutet schon die Darstellung des Schlangenpaares selbst an. Nicht nur dessen Verschlingungen kennzeichnen die Angreifer als gebannt und überwunden 103 , sondern auch der trium- 95 Zuerst gesehen von Eric Graf Oxenstierna (1956, S. 36, Abb. 99 bei S. 144) und auf Týr umgefälscht durch Tilgung der signifikanten Haartrachtelemente Óðinns sowie seines Rabengeleits. Für einen ersten Versuch einer Gesamtdeutung der Ikonographie dieses Brakteaten siehe Hauck 1970, S. 322 ff.; vgl. auch 1977 (XIII), S. 171 ff.; 1980 (XX), S. 282; 1984 (XXX), S. 288, 292. 96 Vgl. Hauck 1970, S. 324 f.; (LIV), im Druck, vor Anm. 76. 97 Hauck 1993 (LII), S. 456. 98 Vgl. Hauck 1977 (XIII), S. 173; 1980 (XX), S. 282; 1984 (XXX), S. 288; 1988 (XL), S. 24 f.; 1992 (XLIX), S. 114 f.; 1994, S. 78 f.; (LIV), im Druck, nach Anm. 6. 99 Der hier dargestellte Antagonismus von Hirsch und Schlange steht in einer reichen literarischen und bildlichen Tradition (vgl. Clermont-Ganneau 1901; Puech 1949; Ettinghausen 1955; Kolb 1971; Gerlach 1970, Sp. 286; Domagalski 1991, Sp. 573 ff.). 100 Zu den lauka R -Inschriften auf Goldbrakteaten vgl. Heizmann 1987. 101 Vgl. Heizmann 1992, S. 380 ff., speziell die Anm. 33 - 35. 102 Vgl. Peuckert 1931/ 1932, Sp. 87 f.; Orth 1913, Sp. 1944. 103 Vgl. Hauck 1988 (XL), S. 33, 35, 36. Abb. 7 <?page no="247"?> 246 Wilhelm Heizmann phierende Tritt des Götterfußes auf die Schwanzenden der Schlangen. 104 Das Bild vom Kampf des Hirsches mit den Schlangen auf dem Skrydstrup-B Brakteaten kündet demnach von einem Sieg über lebensbedrohende Mächte. 105 Dieser Sieg findet im Bild des überwundenen Fenriswolfs seine unmittelbare Entsprechung, denn beide Darstellungen sind auf dem Brakteaten nach dem synoptischen Prinzip als zwei unterschiedliche Phasen aufeinander bezogen. 106 Die Botschaft des Brakteaten muß daher lauten: Daß der Hirsch die Schlangenattacke abzuwehren vermochte und in den Ragnarök auch Fenrir, das gewaltige Verschlingungsungeheuer besiegt wird, 107 ist der sichere Garant für die grundsätzliche Überwindbarkeit aller unheilvollen Mächte. Diese beiden Phasen verbinden somit vergangene Heilstaten und visionär geschaute zukünftige mit der Gegenwart des Amuletträgers und schaffen mit dieser Synopse der Zeiten ein Abbild von Dauer und Ewigkeit. 108 Im Bild vom Schlangenkampf des Hirsches wird aber noch ein weiterer Aspekt sichtbar. Nach früher christlicher Überlieferung gewährleistet nämlich die Kraft der Heilkräuter, daß sich der Hirsch durch den Verzehr der Schlangen verjüngt. 109 Daß solche Regenerationsprozesse auch auf dem Brakteaten thematisiert sind, wird augenfällig durch die Nennung des Lauchs. Denn für dessen außergewöhnliche Wertschätzung als Lebenskraut liefert die V ô lospá eine genuin mythische Begründung. In Strophe 4 heißt es dort, daß die von Burs Söhnen aus dem Ginnungagap emporgehobene Erde zu allerst bewachsen war mit grünem Lauch (þá var grund gróin gr œ nom lauki). Die Pflanze der mythischen Urzeit ist nach altnordischer Überlieferung also nicht irgendeine Pflanze, sondern der Lauch, der somit die produktiven und regenerativen Potenzen der Welt in ihrem primordialen Zustand in sich birgt. 110 Von solchen regenerationsmythischen Vorstellungen weiß zwar auch die mittelalterliche isländische Textüberlieferung des Fenrir-Mythos zu berichten, doch regenerieren sich dort die Repräsentanten der alten Welt in ihren Nachkommen. Die Elterngeneration geht dagegen im großen Vernichtungskampf der Ragnarök zugrunde. Nach Ausweis von Skrydstrup-B ist es dagegen der heilkundige und zaubermächtige Götterfürst Óðinn selbst, dem die größtmögliche Tat eines Gottes vorbehalten bleibt: den Tod zu 104 Hauck 1984 (XXX), S. 287 f.; 1985 (XXXI), S. 120; 1986 (XXXV), S. 497 ff.; (LV), im Druck, nach Anm. 233. 105 Vgl. damit auch die Lauch-Darstellung auf einem der Mähnenstühle aus Mammen (Abb. bei Näsman 1991, S. 227 f. mit Fig. 11), dessen wikingerzeitliche Bilder ebenfalls davon berichten, daß Chaos und Vernichtung durch göttliche Macht überwunden wird (Schmidt-Lornsen 1991, S. 265). 106 Zu dem im Zusammenhang mit den mittelalterlichen Schemabildern eingeführten Begriff »synoptisches Prinzip« vgl. grundlegend Christel Meier: »Neben dem Schematischen und Geometrisch-Abstrakten ist für diesen Bildtyp vor allem das synoptische Prinzip kennzeichnend, das heißt die Vereinigung vieler verschiedener Elemente differenter Gegenstands- und Bedeutungsbereiche in einer Bildkomposition.« (1990, S. 38). Vgl. auch Hauck 1992 (XLIX), S. 118 f. 107 Vgl. das ikonographische Äquivalent Ulvsunda-B (IK 195) mit der auf dem Rücken liegenden Ketosversion des Untiers. 108 Vgl. dazu Meier 1990, S. 43: »Neben Vielheit und Reduktion ist vor allem die Synopse der Zeiten zur Simultaneität, die Zusammenschau von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Abbild der Ewigkeit ein Merkmal des kontemplativen contuitus, des Sehens mit dem ›anderen Auge innen‹«. Zum Aspekt der Ewigkeit siehe auch Heizmann, im Druck (b). 109 Belege bei Domagalski 1991, Sp. 575 und Gerlach 1970, Sp. 286. 110 Vgl. Heizmann 1992, S. 383 mit Anm. 36. <?page no="248"?> Fenriswolf 247 überwinden und damit seine Weiterexistenz in einem neuen Weltzyklus zu sichern. 111 Gewiß ist diese Sehweise aus der Perspektive der literarischen Quellen des Nordens zunächst eine überraschende und ungewohnte. Das Thema selbst aber ist auch dieser Überlieferung nicht fremd. Denn Óðinn wiederholt damit eine Tat aus den Urzeiten der Schöpfung, als er sich im Vollzug seines göttlichen Selbstopfers schon einmal der Todeswelt aussetzte und sie überwand. Erst durch diese Urinitiation wurde die Findung der Runen möglich (Háv 138 - 139). Wie sehr dieses Ereignis in eine zyklische Weltsicht 11 2 eingebunden ist, zeigt, daß sich die Götter im Augenblick des Neubeginns nach den Ragnarök gerade daran als erstes erinnern (Vsp 60). Auch hier ist unüberhörbar das Thema Regeneration angestimmt, denn Óðinns in den Tagen der Urzeit gefundene Runen gehen damit ein in den Bestand der neuen Welt und stellen mit ihren enormen Wachstumskräften eine gedeihliche Zukunft sicher. 113 Daß Óðinns Verschwinden im Rachen des Verschlingungsungeheuers in den hier skizzierten Kontext gehört, zeigt eine weltumspannende Überlieferung. Sie kennt das Verschlungenwerden durch ein Ungeheuer und das Wiederhervortreten als zentralen Bestandteil von Initiationsriten- und mythen. Das verschlingende Ungeheuer symbolisiert den Tod und die Rückkehr zum primordialen Zustand der Finsternis und des Chaos. Über diese Erfahrung führt der Weg zur Wiedergeburt, die jedoch nicht einfach die Fortsetzung der alten Existenz bedeutet, sondern eine neue Daseinsqualität durch Zuwachs an Wissen und Fertigkeiten ermöglicht. 114 Das Schicksal des Verschlungenwerdens teilt Óðinn u.a. mit Väinemoinen und Illmarinen aus der finnischen Überlieferung, mit dem polynesischen Helden Nganaoa oder schließlich auch dem alttestamentlichen Propheten Jonas, um nur einige wenige prominente Beispiele zu nennen. 115 In allen diesen Mythen bleibt es nicht allein beim Verschwinden der Protagonisten. Sie berichten zugleich auch von deren Befreiung. Die Brakteatenüberlieferung legt nahe, daß dies auch Óðinn gelingt. 116 In diese Zusammenhänge fügt sich auch jenes Verschlingungsungeheuer ein, das in so mannigfach variierter Form auf den Brakteaten begegnet. Denn es ist nicht allein in Form der literarisch bezeugten, realistischen Wolfs-Gestalt wie auf Trollhättan-B und Skrydstrup-B anzutreffen. Ikonographische Äquivalente zeigen den Fenriswolf vielmehr auch als Nord-Version des antiken Ketosungeheuers, 117 das in zwei Formen auftritt, für die hier stellvertretend die Brakteaten von Ulvusunda-B (IK 195) 118 und Hohenmemmingen-B (IK 278) 119 angeführt seien. (Abb. 8 u. 9) Der Schlüssel zum Verständnis die- 111 Zu dieser neuen Sicht vgl. Hauck 1984 (XXX), S. 293 f.; 1985 (XXXI), S. 106; (LIV), im Druck, nach Anm. 55. 112 Vgl. dazu Dronke 1989, S. 40 ff.; Schjødt 1981; 1991, S. 54. 113 Vgl. dazu Heizmann, im Druck(b). 114 Frobenius 1904, S. 59 ff.; Hauck 1976 (X), S. 104 ff.; 1977 (XIII), S. 179 ff.; 1985 (XXXI), S. 119 ff.; Eliade 1961, S. 9 ff., 67 ff.; 1961a, S. 306 ff., 312 ff.; Grohs 1993, S. 239, 244, 247 f.; vgl. auch Sigurður Nordal, der von einer vermehrten und verbesserten Neuausgabe der alten Welt spricht (1980, S. 108). 115 Schmidt 1907; Eliade 1961, S. 106 ff.; 1961a, S. 307 ff.; Hauck 1977 (XIII), S. 181 f.; Steffen 1963, S. 30 ff. 116 Aufgrund der ethnologischen Parallelen hat im übrigen schon Freda Kretschmar den Gedanken geäußert, daß Víðarrs Rachetat eine Befreiungstat sei, daß also Óðinns Existenz durch die Verschlingung nicht vernichtet wird (1938, S. 178). 117 Zum Folgenden vgl. insbesondere Hauck (LIV), im Druck, Unterabschnitt 7 nach Anm. 40. 118 Hauck 1976 (X), S. 97 f.; 1977 (XIII), S. 177 f.; (LIV), im Druck, nach Anm. 48. 119 Hauck 1985 (XXXI); 1986 (XXXXIII), S. 268 f.; (LIV), im Druck, nach Anm. 53. <?page no="249"?> 248 Wilhelm Heizmann ser unterschiedlichen Darstellungen liegt im Nachweis von Land- und Seevarianten des die Todeswelt repräsentierenden Verschlingungsungeheuers. 120 Die Seeversion konkretisiert das Jonas-Ketos des frühen 4. Jahrhunderts auf dem Mosaik der Bischofskirche des Theodorus in Aquileia. 121 In seinem Bauch verbringt nicht nur der Prophet Jonas drei Tage und Nächte, bevor er wieder ausgespieen wird (Jon 2,1 - 11), vielmehr vergleicht damit auch Jesus im Neuen Testament ausdrücklich seinen eigenen Aufenthalt im Reich des Todes (Mt 12,40). Die Darstellung dieses Verschlingungsungeheuers führt zurück auf wolfsköpfige antike Seemonstren mit geringeltem Drachenleib. 122 Die Landversion des Ketos als Wächter vor dem brennenden Höllenpfuhl wurde von Psalterien des 6. Jahrhunderts überliefert, die im karolingischen Stuttgart-Psalter als Vorlagen dienten. 123 Auch hier ist das Ketos wolfsköpfig. Diese Überlegungen führen schließlich zu gewichtigen Konsequenzen für die Deutung des Namen »Fenrir« selbst. 124 Denn die unterschiedlichen Bemühungen um eine Deutung stimmen doch zumeist in dem einen Punkt überein, daß der Name etymologisch mit altnordisch fen zu verknüpfen sei. Das Verschlingungsungeheuer der nordischen Überlieferung wäre demnach durch seinen Namen als Bewohner des fen charakterisiert. 120 Vgl. Eliade 1961a, S. 311 f.; Hauck 1977 (XIII), S. 183. 121 Hauck 1976 (X), S. 97; 1977 (XIII), S. 177 f.; (LIV), im Druck, Fig. 10 b; vgl. auch Schmidt 1907, S. 92 ff. mit Abb. 13 - 15. 122 Hauck 1976 (X), S. 97 f. u. Tav. VIII; (LIV), im Druck, nach Anm. 47. 123 Hauck (LIV), im Druck, nach Anm. 61, Fig. 16 a und b. 124 Vgl. zum Folgenden Heizmann, im Druck(a), mit ausführlichen Literaturhinweisen. Abb. 8 <?page no="250"?> Fenriswolf 249 Da aber das Neutrum fen sowohl in der Bedeutung »Sumpf« wie »Meer« belegt ist, verteilen sich die Ansichten, welche von beiden Möglichkeiten zu bevorzugen sei, auf zwei Lager. Vor dem Hintergrund der oben angeführten Überlieferung von Land- und Seevarianten des Verschlingungsungeheuers, die den Norden seit der Spätantike erreichte und in die letztlich auch der Fenriswolf einzuordnen ist, erweist sich dieser Streit als müßig. 125 125 Daß wir neben der Landvariante auch im wikingerzeitlichen Horizont auf die Seevariante stoßen, zeigt die Verschlingungsszene des Mähnenstuhls aus Mammen (Schmidt-Lornsen 1991, S. 264 ff.; Näsman 1991, S. 227 f. mit Abb. 15; vgl. auch Hauck 1976 (X), S. 98 f.; 1977 (XIII), S. 179), denn dort kann das Verschlingungsungeheuer als Seewesen ikonographisch ermittelt werden (unveröffentlichte Beobachtung von Karl Hauck). Abb. 9 <?page no="251"?> 250 Wilhelm Heizmann Bibliographische Hinweise Bailey, Richard N.: Viking Age Sculpture in Northern England. London 1980. Bailey, Richard N.; Rosemary Cramp: Corpus of Anglo-Saxon Stone Sculpture in England. Bd. 2: Cumberland, Westmorland and Lancashire North-of-the-Sands. Oxford 1988. Berg K.: Gosforth-korset. En ragnaroksfremstilling i kristen symbolikk. In: Viking 21 - 22 (1958), S. 203 - 229. Björn Magnússon Ólsen: Strøbemærkninger til Eddakvadene. In: Festskrift til Ludv. F.A. Wimmer ved hans 70 Års Fødselsdag 7. Februar 1909. København 1909, S. 150 - 161. Brate, Erik: Östergötlands Runinskrifter. Stockholm 1911 (Sveriges Runeinskrifter, Bd. 2). Bugge, Sophus: The Home of the Eddic Poems with Especial Reference to the Helgi-Lays. Revised Edition with a New Introduction Concerning Old Norse Mythology. London 1899 (Grimm Library, No. 11). Bæksted, Anders: Goð og hetjur í heiðnum sið. Alþ ýðlegt fræðirit um goðafræði og hetjusögur. o.O. 1986. Clermont-Ganneau, Ch.: Les cerfs mangeurs de serpents. In: Receuil d’archéologie orientale 4 (1901), S. 319 - 322. Cramp, Rosmary: Corpus of Anglo-Saxon Stone Sculpture. Bde 1: 1 - 2: County Durham and Northumberland. Oxford 1984. Dillmann, F.-X.: Fenrir, Fenriswolf. In: Hoops, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 8. Zweite, völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Aufl. unter Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter. Berlin, New York 1994, S. 367 - 375. Dollmayr, Viktor (Hrsg.): Die althochdeutsche Genesis. Nach der Wiener Handschrift. Halle a.S. 1932 (Altdeutsche Textbibliothek, Nr. 31). Domagalski, Bernhard: Hirsch. In: Reallexikon für Antike und Christentum. Bd. 15. Stuttgart 1991, Sp. 551 - 577. Dronke, Ursula: Marx, Engels and Norse Mythology. In: Leeds Studies in English, New Series 20 (1989), S. 29 - 45. Düwel, Klaus: Zur Ikonographie und Ikonologie der Sigurddarstellungen. In: Zum Problem der Deutung frühmittelalterlicher Bildinhalte. Akten des 1. Internationalen Kolloquiums in Marburg a.d. Lahn, 15. bis 19. Februar 1983. Hrsg. von Helmut Roth. Sigmaringen 1986, S. 221 - 271. Dumézil, George: Loki. Darmstadt 1959. Dumézil, George: Le dieu scandinave Víðarr. In: Revue de l’Histoire des Religions 168 (1965), S. 1 - 13. Dumézil, George: Gods of the Ancient Northmen. Berkeley, Los Angeles, London 1973. Eiríkur Jónsson; Finnur Jónsson (Hrsg.): Hauksbók. Udgiven efter de Arnamagnæanske håndskrifter no. 371, 544 og 675, 4° samt forskellige papirshåndskrifter. København 1892 - 1896. Eliade, Mircea: Das Mysterium der Wiedergeburt. Initiationsriten, ihre kulturelle und religiöse Bedeutung. Zürich, Stuttgart 1961. Eliade Mircea: Mythen, Träume und Mysterien. Salzburg 1961a (Wort und Antwort, Bd. 25). Engemann, J.: Typologie IV: Mittelalter. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8, Lieferung 6. München 1997, Sp. 1134 - 1135. Ettinghausen, Richard: The »Snake-Eating Stag« in the East. In: Late Classical and Mediaeval Studies in Honor of Albert Mathias Friend, Jr. Princeton 1955, S. 272 - 286. Falk, Hjalmar: Til Fenresmyten. In: Sproglige og historiske Afhandlinger viede Sophus Bugges Minde. Kristiania 1908, S. 139 - 144. Faulkes, Antony (Übers.): Snorri Sturluson. Edda. London, Melbourne 1987. <?page no="252"?> Fenriswolf 251 Finnur Jónsson (Hrsg.): Den norsk-islandske Skjaldedigtning. Bde. A: 1 - 2: Tekst efter håndskrifterne. Bde. B: 1 - 2: Rettet tekst. København, Kristiania 1912, 1915. Finnur Jónsson (Hrsg): Edda Snorra Sturlusonar. København 1931. Finnur Jónsson: Lexicon poeticum antiquæ linguæ septentrionalis/ Ordbog over det norsk-islandske skjaldesprog. København 2 1931a. Fritzner, Johan: Ordbog over Det gamle norske Sprog. Bd. 3. Omarbeidet, forøget og forbedret Udgave. Kristiania 1896. Frobenius, Leo: Das Zeitalter des Sonnengottes. Berlin 1904. Genzmer, Felix (Übers.): Die Edda. Götterdichtung, Spruchweisheit und Heldengesänge der Germanen. Eingeleitet von Kurt Schier. Düsseldorf, Köln 1981. Gerlach, P.: Hirsch. In: Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 2. Rom etc. 1970, Sp. 286 - 289. Goldschmidt, Adolph: Der Albanipsalter in Hildesheim und seine Beziehung zur symbolischen Kirchenskulptur des XII. Jahrhunderts. Berlin 1895. Grohs, Elisabeth: Initiation. In: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Bd. 3. Stuttgart, Berlin, Köln 1993, S. 238 - 249. Gschwantler, Otto: Christus, Thor und die Midgardschlange. In: Festschrift für Otto Höfler zum 65. Geburtstag. Bd. 1. Wien 1968, S. 145 - 168. Gschwantler, Otto: Die Überwindung des Fenriswolfs und ihr christliches Gegenstück bei Frau Ava. In: Poetry in the Scandinavian Middle Ages. The Seventh International Saga Conference. Spoleto, 4 - 10 septembre 1988. Atti del 12° congresso internazionale di studi sull‘alto medioevo. Spoleto 1990, S. 509 - 534. Guðbrandur Vigfússon; C.R. Unger (Hrsg.): Flateyjarbok. En Samling af norske Konge-Sagaer med indskudte mindre Fortællinger om Begivenheder i og udenfor Norge samt Annaler. Bd. 1. Christiania 1860. Haavardsholm, Jørgen: Gosforthkorset og dets kontekst. In: Studier i kilder til vikingtid og nordisk middelalder. Hrsg. von Magnus Rindal. Oslo 1996, S. 117 - 146 (KULTs skriftserie nr. 46). Häßler, Hans-Jürgen; Morten Axboe; Karl Hauck; Wilhelm Heizmann: Ein neues Problemstück der Brakteatenikonographie: Issendorf-B, Landkreis Stade, Niedersachsen. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LIV). Studien zur Sachsenforschung. Bd. 10. Im Druck. Hagen, S.N.: Om navnet Fenrisulfr. In: Maal og Minne 1910, S. 57 - 59. Hauck, Karl: Goldbrakteaten aus Sievern. Spätantike Amulett-Bilder der »Danica Saxonica« und die Sachsen-»Origo« bei Widukind von Corvey. München 1970 (Münstersche Mittelalter- Schriften, Bd. 1). Hauck, Karl: Formen der Aneignung spätantiker ikonographischer Konventionen im paganen Norden. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, X). In: Simboli e simbologia nell’alto medioevo. Spoleto, 3 - 9 aprile 1975. Settimane di studio del Centro italiano di studi sull’alto medioevo 23. Spoleto 1976, S. 81 - 106. Hauck, Karl: Schlüsselstücke zur Entzifferung der Ikonographie der D-Brakteaten: Die Nordversion des Jonasmotivs und ihre geschichtliche Bedeutung. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XIII). In: Studien zur Sachsenforschung. Bd. 1. Hildesheim 1977, S. 161 - 188. Hauck, Karl: Die Veränderung der Missionsgeschichte durch die Entdeckung der Ikonologie der germanischen Bilddenkmäler, erhellt am Beispiel der Propagierung der Kampfhilfen des Mars- Wodan in Altuppsala im 7. Jahrhundert. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XX). In: Westfalen 58 (1980), S. 227 - 307. Hauck, Karl: Varianten des göttlichen Erscheinungsbildes im kultischen Vollzug erhellt mit einer ikonographischen Formenkunde des heidnischen Altars. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XXX). In: Frühmittelalterliche Studien 18 (1984), S. 266 - 313. Hauck, Karl: Gott und Hölle in Bildzeugnisssen des völkerwanderungszeitlichen Nordens. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XXXI). In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 103 - 130. <?page no="253"?> 252 Wilhelm Heizmann Hauck, Karl: Die Wiedergabe von Göttersymbolen und Sinnzeichen der A-, B- und C-Brakteaten auf D- und F-Brakteaten exemplarisch erhellt mit Speer und Kreuz. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XXXV). Frühmittelalterliche Studien 20 (1986), S. 474 - 512. Hauck, Karl: Zwanzig Jahre Brakteatenforschung in Münster/ Westfalen. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XL). In: Frühmittelalterliche Studien 22 (1988), S. 17 - 52. Hauck, Karl: Fünens besonderer Anteil an den Bildinhalten der völkerwanderungszeitlichen Brakteaten. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, XLIX). In: Frühmittelalterliche Studien 26 (1992), S. 106 - 148. Hauck, Karl: Die bremische Überlieferung zur Götter-Dreiheit Altuppsalas und die bornholmischen Goldfolien aus Sorte Muld. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LII). In: Frühmittelalterliche Studien 27 (1993), S. 409 - 479. Hauck, Karl: Die Ikonographie von Issendorf-B. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LIV). In: Häßler, Axboe, Hauck & Heizmann, im Druck. Hauck, Karl: Der Kollierfund vom fünischen Gudme und das Mythenwissen skandinavischer Führungsschichten in der Mitte des Ersten Jahrtausends. Mit zwei runologischen Beiträgen von Wilhelm Heizmann. (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LV). In: Die Alemannen und Franken bis zur Schlacht bei Zülpich (496/ 97). Hrsg. von Dieter Geuenich. (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Bd. 17). Im Druck. Heizmann, Wilhelm: Bildformel und Formelwort. Zu den lauka R -Inschriften auf Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. In: Runor och runinskrifter. Stockholm 1987, S. 145 - 153 (Kungl. Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien: Konferenser 15). Heizmann, Wilhelm: Lein(en) und Lauch in der Inschrift von Fløksand und im V ô lsa þáttr. In: Germanische Religionsgeschichte. Quellen und Quellenprobleme. Hrsg. von Heinrich Beck, Detlev Ellmers und Kurt Schier. Berlin, New York 1992, S. 365 - 395 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 5). Heizmann, Wilhelm: Zur Bedeutung von altnordisch fen. Exkurs zu Karl Hauck: Die Ikonographie von Issendorf-B. In: Häßler, Axboe, Hauck & Heizmann (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LIV). Im Druck(a). Heizmann, Wilhelm: Anhang zum Schlußstück. Runologische Zeugnisse zum Odins-Namen Fimbultýr. In: Hauck (Zur Ikonologie der Goldbrakteaten, LV). Im Druck(b). Holzapfel, Otto: Stabilität und Variabilität einer Formel. Zur Interpretation der Bildformel »Figur zwischen wilden Tieren« mit besonderer Berücksichtigung skandinavischer Beispiele. In: Mediaeval Scandinavia 6 (1973), S. 7 - 38. IK = M. Axboe; K. Düwel; K. Hauck; L. von Padberg: Die Goldbrakteaten der Völkerwanderungszeit. Ikonographischer Katalog. (Einleitung, Text-und Tafelbde. 1 - 3). München 1985 - 1989 (Münstersche Mittelalter-Schriften, Bde. 24: 1,1 - 3,2). IK 4 Auswertungsband, in Vorbereitung. Iversen, Mette (Hrsg.): Mammen. Grav, konst og samfund i vikingetid. Aarhus 1991 (Jysk Arkæologisk Selskabs Skrifter XXVIII/ Viborgs Stiftsmuseums række bind 1). Jagič, V.: Mythologische Skizzen II. In: Archiv für slavische Philologie 5 (1881), S. 1 - 14. Jansson, Sven B.F.: Runes in Sweden. o.O. 1987. Jón Helgason (Hrsg.): Heiðreks saga. København 1924 Samfund(et) til udgivelse af gammel nordisk litteratur (STUAGNL 48). Jón Sigurðsson (Hrsg.): Edda Snorra Sturlusonar/ Edda Snorronis Sturlæi. Bd. 2. Hafniæ 1852. Jung, Erich: Germanische Götter und Helden in christlicher Zeit. Urkunden und Betrachtungen zur deutschen Glaubensgeschichte, Rechtsgeschichte, Kunstgeschichte und allgemeinen Geistesgeschichte. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. München, Berlin 1939. Kolb, Herbert: Der Hirsch, der Schlangen frißt. Bemerkungen zum Verhältnis von Naturkunde und Theologie in der mittelalterlichen Literatur. In: Mediævalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor. München 1971, S. 583 - 610. <?page no="254"?> Fenriswolf 253 Kretschmar, Freda: Hundestammvater und Kerberos. Teil II: Kerberos. Stuttgart 1938. Krohn, Kaarle: Der gefangene unhold. In: Finnisch-ugrische Forschungen 17 (1907), S. 129 - 184. Krohn, Kaarle: Tyrs högra hand, Freys svärd. In: Festskrift til H.F. Feilberg fra nordiske sprogog folkemindeforskere på 80 års dagen den 6. august 1911. København, Stockholm, Kristiania 1911, S. 541 - 547. Kuhn, Hans: Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Bd. 2: Kurzes Wörterbuch. Dritte umgearbeitete auflage des Kommentierenden glossars. Heidelberg 1968. Kålund, Kristian (Hrsg.): Et gammel-norsk rune-rim og nogle islandske rune-remser. In: Småstykker. Hrsg. von Kristian Kålund et al. København 1884 - 1891, S. 1 - 21 Samfund(et) til udgivelse af gammel nordisk litteratur (STUAGNL 13). Lang, James: Illustrative Carving of the Viking periode at Sockburn-on-Tees. In: Archaeologia Aeliana or Miscellaneous Tracts Relating to Antiquity. Fourth Series, 50 (1972), S. 235 - 248. Lang, James: Corpus of Anglo-Saxon Stone Sculpture. Bd. 3: York and Eastern Yorkshire. Oxford 1991. Lasch, Richard: Die Finsternisse in der Mythologie und im religiösen Brauch der Völker. In: Archiv für Religionswissenschaft 3 (1900), S. 97 - 152. von der Leyen, Friedrich: Der gefesselte Unhold. Eine mythologische Studie. In: Untersuchungen und Quellen zur Germanischen und Romanischen Philologie Johann von Kelle dargebracht. Erster Teil. Prag 1908, S. 7 - 35 (Prager Deutsche Studien 8). Lincoln, Bruce: The Hellhound. In: The Journal of Indo-European Studies 7 (1979), S. 273 - 285. Lindow, John: Fenris wolf. In: Dictionary of the Middle Ages. Bd. 5. New York 1985, S. 47 - 48. Lorenz, Gottfried (Hrsg./ Übers.): Snorri Sturluson: Gylfaginning. Texte, Übersetzung, Kommentar. Darmstadt 1984 (Texte zur Forschung, Bd. 48). Maurer, Friedrich (Hrsg.): Die Dichtungen der Frau Ava. Tübingen 1966 (Altdeutsche Textbibliothek, Nr. 66). McKinnell, John: Norse Mythology and Northumbria: A Response. In: Scandinavian Studies 59 (1987), S. 325 - 337. McKinnell, John: Both One and Many. Essays on Change and Variety in Late Norse Heathenism. Roma 1994. Meier, Christel: Die Malerei des Unsichtbaren. Über den Zusammenhang von Erkenntnistheorie und Bildstruktur im Mittelalter. In: Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Hrsg. von Wolfgang Harms. Stuttgart 1990, S. 35 - 65 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 11). Meyer, Elard Hugo: Völuspa. Eine Untersuchung. Berlin 1889. Meyer, Elard Hugo: Mythologie der Germanen. Berlin 1903. Motz, Lotte: The Magician and His Craft. In: Collegium medievale 7 (1994), S. 5 - 31. Much, Rudolf: Der Germanische Himmelsgott. In: Abhandlungen zur Germanischen Philologie. Festgabe für Richard Heinzel. Halle a.S. 1898, S. 189 - 278. Näsman, Ulf: Mammen 1871. Ett vikingatida depåfynd. In: Iversen 1991, S. 217 - 260. Neckel, Gustav; Hans Kuhn (Hrsg.): Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Bd. 1: Text. 5. verbesserte Auflage. Heidelberg 1983. Neckel, Gustav; Felix Niedner (Übers.): Snorri Sturluson: Die jüngere Edda mit dem sogenannten ersten grammatischen Traktat. Jena 1925 (Thule 20). Ohly, Friedrich: Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung. In: Judentum und Mittelalter. Beiträge zum christlich-jüdischen Gespräch. Miscellanea Mediaevalia 4 (1966), S. 350 - 369 (wiederabgedruckt bei Ohly 1977, S. 312 - 337). Ohly, Friedrich: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977. Olrik, Axel: Om Ragnarok. In: Aarbøger for nordisk Oldkyndighed og Historie 1902, S. 157 - 291. Olrik, Axel: Ragnarök. Die Sagen vom Weltuntergang. Berlin, Leipzig 1922. Orth [falsch für Ohrt], Ferdinand: Hirsch. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Bd. 8. Stuttgart 1913, Sp. 1936 - 1950. Oxenstierna, Eric Graf: Die Goldhörner von Gallehus. Lindingö 1956. <?page no="255"?> 254 Wilhelm Heizmann Papp, Edgar: Ava. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Bd. 1. Berlin; New York, Sp. 560 - 565. Parker, C.A.; W.G. Collingwood: A reconsideration of Gosforth Cross. In: Transactions of the Cumberland & Westmorland Antiquarian & Archæological Society 17 (1917), S. 99 - 111. Pàroli, Teresa: Lupi e lupi mannari. Tra mondo classico e germanico a partire da Petronio 61 - 62. In: Semiotica della novella latina. Atti del seminario interdisciplinare »La novella latina«, Perugia 11 - 13 aprile 1985. Roma 1986, S. 281 - 317. Paul, Martha: Wolf, Fuchs und Hund bei den Germanen. Wien 1981 (Wiener Arbeiten zur Germanischen Altertumskunde und Philologie 13). Peuckert, W.-E.: Hirsch. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 4. Berlin 1931/ 1932, Sp. 86 - 110. Peuckert, W.-E: Wolf. In: Handwörterbuch der Deutschen Aberglaubens. Bd. 9. Berlin 1938/ 1941, Sp. 716 - 794. Puech, Henri-Charles: Le cerf et le serpent. Note sur le symbolisme de la mosaïque découverte au Baptistère de l’Henchir Messaouda. In: Cahiers archéologiques 4 (1949), S. 17 - 60. Reil, Johannes: Die frühchristlichen Darstellungen der Kreuzigung Christi. Studien über christliche Denkmäler. Neue Folge H. 2. Leipzig 1904. Reitzenstein, R.: Weltuntergangsvorstellungen. Eine Studie zur vergleichenden Religionsgeschichte. In: Kyrkohistorisk Årsskrift 24 (1924, ersch. 1925), S. 129 - 212. Reitzenstein R.: Die nordischen, persischen und christlichen Vorstellungen vom Weltuntergang. In: Vorträge der Bibliothek Warburg. Vorträge 1923 - 1924. Leipzig, Berlin 1926, S. 149 - 169. Schjødt, Jens Peter: Cykliske tidsopfattelse i gammelnordisk religion. In: Danske Studier 76 (1981), S. 91 - 95. Schjødt, Jens Peter: Horizontale und vertikale Achsen in der vorchristlichen skandinavischen Kosmologie. In: Old Norse and Finnish Religions and Cultic Place-Names. Hrsg. von Tore Ahlbäck. Åbo, Stockholm 1991, S. 35 - 57 (Scripta Instituti Donneriani Aboensis 13). Schmidt, Hans: Jona. Untersuchung zur vergleichenden Religionsgeschichte. Göttingen 1907. Schmidt-Lornsen, Jutta: Zur Bildwelt des Mähnenstuhlpaares aus Mammen. In: Iversen 1991, S. 261 - 266. Schrenk, S.: Typologie III. Frühchristliche Kunst. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8, Lieferung 6. München 1997, Sp. 1133 - 1134. von See, Klaus: Mythos und Theologie im skandinavischen Hochmittelalter. Heidelberg 1988 (Skandinavistische Arbeiten, Bd. 8). Shetelig, Haakon: Vikingeminner i Vest-Europa. Olso etc. 1933 (Instituttet for sammenlignende kulturforskning, Serie A: Forelesninger XVI). Sigurður Nordal (Hrsg.): Völuspá. Aus dem Isländischen übersetzt und mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Ommo Wilts. Darmstadt 1980 (Texte zur Forschung, Bd. 33). Simek, Rudolf: Lexikon der germanischen Mythologie. Zweite, ergänzte Auflage. Stuttgart 1995 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 368). Steffen, U.: Das Mysterium von Tod und Auferstehung. Formen und Wandlungen des Jona-Motivs. Göttingen 1963. Stephens, George: Prof. S. Bugges Studier over nordisk Mythologi. In: Aarbøger for nordisk Oldkyndighed og Historie 1884, S. 1 - 47. de Vries, Jan: Altgermanische Religionsgeschichte. Bd. 2. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Berlin 1957 (Grundriss der Germanischen Philologie 12/ II). de Vries, Jan: Altnordisches etymologisches Wörterbuch. Zweite verbesserte Auflage. Leiden 1977. Wilken, E.: Der Fenriswolf. Eine mythologische untersuchung. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 28 (1896), S. 156 - 198, 297 - 348. Wilson, David M. (Hrsg.): Kulturen im Norden. Die Welt der Germanen, Kelten und Slawen 400 - 1100 n. Chr. München 1980. <?page no="256"?> Fenriswolf 255 Abbildungsnachweis Abb. 1: Die Hand Týrs im Rachen des gefesselten Fenriswolfes; NKS 1867 4to x (1760), Bl. 98v (Bæksted 1986, S. 144). Abb. 2: Der gefesselte Fenriswolf; AM 748 4to x (1680), Bl 43v (Den arnamagnæanske Kommission, Bengt Mann Nielsen). Abb. 3: Kampfszene mit einem Caniden; Stein von Ledberg (McKinnell 1994, Fig. 4). Abb. 4: Óðinn kämpft mit dem Fenriswolf; Thorwald-Kreuz, Kirk Andreas, Isle of Man (McKinnell 1994, Fig. 5). Abb. 5: Gosforth-Kreuz, Cumberland (McKinnell 1994, Fig. 14). Abb. 5a: Kampf mit einer wolfsköpfigen Schlange, Detail aus der Ostseite des Gosforth- Kreuzes, Cumberland (Stevens 1884, S. 16). Abb. 6: Týrs Hand im Rachen des Fenriswolfes; Trollhättan-B, Avers (IK 190 Av b). Abb. 7: Fenriswolf (links), Óðinn (mitte), Attacke zweier Schlangen auf einen Hirsch (rechts); Skrydstrup-B (IK 166b). Abb. 8: Óðinn und das Ketosungeheuer; Ulvsunda-B (IK 195 b). Abb. 9: Óðinn und das Ketosungeheuer; Hohenmemmingen-B (IK 278 b1). <?page no="258"?> Golem Christa Habiger-Tuczay (Wien) Christa Habiger-Tuczay Der Golem in den jüdischen Quellen Die jüdische Sage von einem aus Erde oder Lehm geformten Wesen, das durch ein magisches Wort zum Leben erweckt wird, steht in engem Zusammenhang mit den biblischen Schöpfungsgeschichten, die von der Erschaffung des Adam berichten. Die Vorstellung eines von Menschenhand geschaffenen künstlichen Menschen entwickelte sich in talmudischer Zeit (200 - 500 n.Chr.), seitdem hat der Stoff bis ins 20. Jahrhundert zahlreiche mündliche und schriftliche Bearbeitungen erfahren. Zum ersten Mal findet sich das hebräische Wort in einer Stelle der Bibel, Ps. 139, 15. »Meinen Golem sahen deine Augen«. Diese Stelle wurde unterschiedlich übersetzt: Luther gibt »Golem« mit »unvorbereitet«, Kautzsch als »Erdklümpchen« wieder. 1 Das Wort »Golem« taucht als Bezeichnung für den künstlich geschaffenen Menschen aber erst im 12. Jahrhundert in den Schriften der sog. deutschen Kabbalisten 2 auf, die den größten Anteil an der Entwicklung und Entstehung des Motivs zu haben scheinen. 3 Die biblische Vorstellung des Unvorbereiteten, Unfertigen, erfährt in den Schriften des Talmud eine allgemeinere Bedeutung. Eine Ableitung bezeichnet einen rohen unfertigen, ungeschickten Menschen als Golem. Dieser Aspekt hat auch in einigen späteren Varianten 4 der Golemsage Eingang gefunden. Die Adamsage der Talmudzeit 5 bezeichnet den unfertigen ungeformten Menschen Adam als Golem. Adamsage und Golemsage stehen inhaltlich in einem sehr engen Zusammenhang. Beide handeln von einem Erdklumpen, der zum Leben erweckt wird. Der Unterschied liegt in der Identität des Schöpfers. Die Adamssage schöpft allerdings aus verschiedens ten Quellen. Verschiedene Auslegungen der Schöpfung sgeschichte brachten ebenso unterschiedliche Auslegungen des Begriffes »Golem«. Der erste Mensch war ein undifferenzierter Lehmklumpen, ohne Sprachvermögen. Diese Stummheit des Golem war gleichzeitig sein Unterscheidungskriterium zu dem von Gott geschaffenen Menschen. Eine Talmudstelle grenzt den Golem als Zustand Adams, in der er zeitlich eine gewissen Spanne, bis zu seiner Erweckung verharren mußte: »In der ersten Stunde wurde das materielle Substrat gesammelt, in der zweiten seine Gestalt roh geformt [= Golem], in der dritten seine Glieder gebildet, in der vierten ihm die Seele eingehaucht.« 6 1 Kautzsch, E.: Die heilige Schrift des Alten Testamentes. Bd. II. 1903, S. 240. 2 Epstein hat diese mystische Richtung der Kabbalisten in Deutschland als deutsche Kabbala bzw. auch deutschen »Chassidismus« bezeichnet, vgl. dazu Hachoker: Zum Ursprung der deutschen Kabbala. Wien 1894, S. 1 f. Scholem, Gershom: Ursprung und Anfänge der Kabbala. Berlin 1962, (Studia Judaica, Bd. III); ders.: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957; ders.: Die Kabbala und ihre Symbolik. Zürich 1960; ders.: Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt/ M. 1981. 3 Vgl. bes. die Dissertation von Rosenfeld, Beate: Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen Literatur. Breslau 1934. 4 Vor allem in Zusammenhang mit den Sagen um den Prager Rabbi Löw. 5 Vgl. Fröhlich, Ida: Adam. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 1, Sp. 85 - 89. <?page no="259"?> 258 Christa Habiger-Tuczay Im Midrasch Abkin bleibt Adam ein Golem bis zuletzt, also während der ganzen Schöpfung. Erst am Schluß wird er beseelt. 7 Im Psalm 2,7 heißt es: »Hierauf bildete Gott, der Herr den Menschen aus Erdenstaub und hauchte ihm ins Angesicht Odem des Lebens; so wurde der Mensch zu einem lebenden Wesen.« Diese Verbindung zwischen Geist und Materie wurde von den jüdisch-gnostischen Sekten als »unio mystica« 8 verstanden. 9 Analog zur Erschaffung des Menschen bedarf es bei der Erschaffung des künstlichen Geschöpfes bestimmter unabdingbarer Grundsätze: den Rohstoff, die (jungfräuliche) Erde, den Geist, der die Seele in den Erdkörper hineinlegen kann, und als Wichtigstes das Wort der Macht, das Leben bewirkt. Das Gotteswort allein ließ, so die Genesis, die ganze Schöpfung entstehen. Adam als Abbild Gottes hat als einziges Wesen die Gabe des Wortes. Als mit Sprache begabtes Wesen kann er alle anderen Geschöpfe beherrschen, indem er sie benennt, ihnen mit dem Namen Identität verleiht. Im Mittelalter wird ein jeder seelenloser, aber lebendiger Körper als Golem bezeichnet. Das Leben wird diesen Körpern durch ein Schildchen mit dem Gottesnamen, das sie an der Stirn tragen, eingehaucht. Beraubt man sie dieses Schildchens, sterben sie. Die Magier Der talmudische Traktat Sanhedrin 10 überliefert den Ausspruch des Rabbi Rabha, daß die Frommen dazu fähig wären, eine Welt zu erschaffen. 11 Diese Überlieferung ließ möglicherweise folgende Legende entstehen: Rabha schuf einst einen Golem und schickte diesen zu Rabbi Zeira. Dieser rief ihn an und erhielt keine Antwort. Da wußte Zeira, daß er ein mit Hilfe von dämonischer Magie 12 erschaffenes künstliches Wesen vor sich habe, das deshalb auch kein Sprachvermögen besaß. Deshalb ließ er es in seinen Grundstoff, Staub, zurückkehren. 13 Ein interessantes Detail bietet diese frühe Fassung der Legende: Das Motiv der Stummheit des künstlichen Menschen, an der er als Golem erkannt werden kann. In späteren Fassungen wird die Gleichsetzung Sprachlosigkeit = Seelenlosigkeit weiter herausgearbeitet. Eine Besonderheit ist der rasche Zerfall des künstlichen Menschen in seinen ursprünglichen Zustand. Der ihn erschaffen hat, der Magier oder der Adept, kann ihn mit Hilfe eines Wortes beleben und mit einem anderen Machtwort wieder auflösen. Die größte Macht und Kunst, die ein Magier anstreben und letztlich erreichen konnte, war 6 Sanhedrin, 38b; zit. nach Encyclopaedia Judaica. 1928 ff., Bd. I, S. 762. 7 Encyclopaedia Judaica (Fn. 6), Bd. I, S. 761. 8 Vgl. Scholem, Jüdischen Mystik (Fn. 2); Leisegang, H.: Die Gnosis. Leipzig 1924 (5. Aufl. 1985); Filorama, Giovanni: A History of Gnosticism. Cambridge 1992; vgl. Figura: »unio mystica«. In: Wörterbuch der Mystik. Hrsg. Peter Dinzelbacher. 1989, S. 503 ff. 9 Die Philosophumena des Bischofs Hippolyt erwähnen sie in: Widerlegung aller Häresien. München 1922, S. 134 - 136 (zit. nach Mayer, Sigrid: Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern 1975, S. 12). 10 65 b, zit. nach Rosenfeld (Fn .3), S. 5, Anm. 24. 11 Rabbi Rabha (280 - 352 n.Chr.) »Wenn die Gerechten wollten, so könnten sie eine Welt schaffen.« 12 Er stammt von den »Zauberern«. Vgl. Ableitung des hebräischen Wortes bei Rosenfeld (Fn. 3), S. 5, Anm. 26. 13 Vgl. Gorion, Micha, Josef ben: Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen. Bd. I. Leipzig 1921, S. 153. <?page no="260"?> Golem 259 die der Schöpfung: etwas, das vorher noch nicht vorhanden war, zum Leben zu bringen. Die Talmudisten vertraten die Meinung, daß mit Hilfe von magischen Kräfte lediglich rohe und große Dinge und Geschöpfe erschaffen werden könnten, nicht aber Zartes oder Feines. Rabbi Eleazar 14 , der große Mystiker (ca. 1160 - ca. 1230) glaubte, daß die Dämonen, die dem Magier dessen Kräfte verleihen, nichts Kleineres als ein Getreidekorn schaffen könnten. In der Gemara heißt es zusammenfassend, daß die Dämonen (damit auch ihre Diener die Magier), nichts grundsätzlich Neues zu schaffen imstande wären. Lediglich aus bereits Vorhandenem wären sie zu schöpfen imstande. 15 Das Ritual der Schöpfung Im Talmud wird jedoch eine andere, in Bezug auf den Golem weit wichtigere, Methode, beschrieben: Die Schöpfung geschieht mit Hilfe der »Gesetze der Schöpfung«. Wendet der Gerechte diese in der richtigen Art und Weise an, so ist er imstande, ein ganzes Universum zu erschaffen. Rabbi Chanina und Oshaja pflegten jeden Freitag die Gesetze der Schöpfung zu studieren und dabei ein Kalb zu schaffen, das sie dann aufaßen. Die Methode, die sie dabei anwandten, ist uns durch den Bibel- und Talmudkommentator R. Salomon ben Isaak, »Raschi« genannt, (1040 - 1105) überliefert. Er beschreibt, daß sie Buchstaben des Namens, mit dem das Universum erschaffen worden war, miteinander kombinierten. Das sei, so betont er, nicht verbotene (verbotene = dämonische) Magie, denn die Werke Gottes sind aus seinem heiligen Namen entstanden. Die talmudischen Gesetze der Schöpfung erscheinen als Sonderfall der bereits im Altertum bekannten und praktizierten Wortmagie 16 , die auch im jüdischen Glauben eine wichtige Rolle spielte. Diese Wortmagie sei, so glauben Juden (und Christen) im Mittelalter, sogar imstande, Leben zu erschaffen. Der bereits erwähnte Raschi stellt fest, daß Rabha den künstlichen Menschen mit Hilfe des Sefer Jezira 17 , einem zahlenmystischen Werk, erschaffen habe. In diesem wird der Ursprung der Welt aus der schöpferischen Kraft und Wesenhaftigkeit der Laute und Zahlen erklärt. Die Berichte von künstlichen Menschen und Tieren können als Versuche in der praktischen Magie aufgefaßt werden. 14 Vom 8. Jahrhundert erreicht die in Palästina entstandene jüdische Mystik Italien, Spanien und Frankreich. Die aus Italien stammende Familie der Kalonymiden ließen sich in Speyer, Worms und Mainz nieder, so konnte der deutsche Chassidismus Fuß fassen. Seinen Höhepunkt erreichte er unter Samuel dem Chassid, Sohn des Kalonymus aus Speyer (um 1150), dessen Sohn Juda aus Worms († 1217) und besonders dessen Schüler und Verwandten Eleazar ben Juda aus Worms († 1223 - 1232). Vgl. Sill: Jüdische Mystik. In: Wb. der Mystik (Fn. 8), S. 282 ff. 15 Vgl. Moses und die ägyptischen Magier, der Zauberwettkampf. Die Ägypter konnten bloß Vorhandenes umwandeln, nur Moses war zu der Erschaffung eines Neuen imstande, da die göttliche Kraft ihm half. 16 Vgl. Thorndike, Lynn: History of Magic and experimental Science, New York 1923, Bd. I, S. 422 - 432; Bd. II, S. 282 ff. Siehe auch Blau: Das altjüdische Zauberwesen. Budapest 1914, S. 124. 17 Ein zwischen dem 3. und 6. Jahrhundert entstandenes Zahlen- und sprachmystisches Werk handelt von den 10 Urzahlen, Sefirat genannt, und den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets, welchen verborgene Kräfte innewohnen, die am Aufbau der Schöpfung beteiligt waren. Vgl. Dornseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie. Leipzig; Berlin 1925 (Nachdr. Leipzig 1980). <?page no="261"?> 260 Christa Habiger-Tuczay Die Weiterentwicklung des Golemmotivs ist mit dem vielfach kommentierten Buch Jezira verknüpft. Der deutsche Kabbalismus bzw. Chassidismus bemühte sich besonders um die magischen Anwendungen des Buches Jezira und stieß dabei zwangsläufig auf die Golemvorstellung. Im Zentrum der Schöpfungslegende steht der Bericht der Schöpfung aus dem Nichts durch das Wort Gottes. Viele andere Schöpfungsmythen kommen nicht ohne eine Grundmaterie aus, aus der die Welt entstehen kann. Die Forschung hat die unterschiedlichsten Einflüsse auf die Entstehung des jüdischen Schöpfungsmythos aufgezeigt. 18 Wenn ein Wort imstande ist, eine ganze Welt zu erschaffen, so liegt es nahe, sich mit diesem Wort bzw. mit magischen Wörtern schlechthin besonders zu beschäftigen. Spekulationen über bestimmte Buchstabenfolgen, mittels derer die Schöpfung vor sich gegangen sein könnte, öffneten ein weites Feld. In den Schriften der deutschen Kabbalisten finden sich Rezepte zur Erschaffung eines Golem, womit die Legendbildung weitere Nahrung erhielt. Das älteste erhaltene Golemrezept beschrieb der bedeutendste deutsch-jüdische Mystiker Eleasar von Worms in seinem Kommentar zum Buch Jezira. Der Golem kann nur aus jungfräulicher Erde, die von einem Berg, den noch niemals ein Menschenfuß betreten hat, geholt werden und aus dieser geformt werden. Gershom Scholem hat das Ritual wie folgt wiedergegeben: »Die sich zum Golemritual verbindenden zwei oder drei Adepten nehmen jungfräuliche Bergerde, die sie in fließendem Wasser kneten und daraus einen Golem formen. Über dieser Figur sollen sie dann die aus den »Pforten« des Buches Jezira sich ergebenden Kombinationen des Alphabets sprechen. Das Besondere des Verfahrens besteht nun darin, daß nicht etwa diese 221 Kombinationen an sich rezitiert werden, sondern vielmehr Verbindungen von deren Buchstaben mit je einem Konsonanten des Tetragrammatons, und auch diese wiederum der Reihe nach in allen ihren Vokalisierungen durch die von den Chassidim angenommenen fünf Hauptvokale. Und zwar scheint es, daß zuerst alle Alphabete in allen diesen Verschlingungen und Vokalisierungen des Gottesnamens zu rezitieren waren, dann aber - vielleicht aber auch nur diese letztere allein - der Reihe nach die Verbindungen, in den die einzelnen Konsonanten, die nach dem Buch Jezira je ein Glied des menschlichen Organismus ›beherrschen‹ mit je einem Konsonanten des Tetragrammatons allen nur erdenkbaren Vokalisierungen zusammengebracht wurden. Über die Abfolge dieser Vokalreihen geben zwar nicht die gedruckten Texte, wohl aber mehr die Handschriften noch genau Anordnungen.« 19 Ab diesem Zeitpunkt finden sich immer wieder derartige Rezepte, die alle von Buchstabenkombinationen ausgehen, um die schöpferische Kraft zu gewinnen. Sie unterscheiden sich lediglich in dem angeschlossenen magischen Ritual. Voraussetzung für eine Golem- Schöpfung ist also die gründliche Beschäftigung mit dem Buch Jezira. Darüber hinaus benötigt man dazu, wie erwähnt, jungfräuliche Erde. Die Erde soll noch gereinigt und auch der Adept selbst soll sich einer Reinigung unterziehen, bevor er an sein Schöpfungswerk geht. Über jedem Glied, das er lebendig machen will, muß er den auf es bezogenen Buchstaben sprechen und außerdem alle Buchstaben des Namens Gottes. Nach einer anderen Version 20 soll der Adept im Kreis um das Geschöpf schreiten und dabei die Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge und Vokalisation sprechen. 18 Rosenfeld vermutete ägyptischen Ursprung der Vorstellung von der Macht des Wortes, dessen Gewalt eine ganze Schöpfung hervorbringen kann (vgl. Rosenfeld [Fn. 3], S. 8). 19 Nach Scholem, Gershom: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Zürich 1960, S. 240. 20 Im Kommentar zum Sefer Jezira des sog. Pseudo Saadja (II, 5), vgl. dazu Rosenfeld S. 5 f. <?page no="262"?> Golem 261 Eine weitere Variante 21 weiß, daß man 462 mal herum gehen und das in der Erde vergrabene Geschöpf bei jeder neuen Runde höher aus dieser aufsteigt. Will man das Geschöpf wieder zerstören, so geht man rückwärts und spricht auch die Alphabete rückwärts. 22 Dann sinkt das Geschöpf wieder in die Erde ein und stirbt. Wie wichtig die genaue Reihenfolge und die strikte Einhaltung dieser für das Gelingen des Rituals ist, zeigt eine Legende von den neugierigen Schülern eines Adepten, die das erforderliche Ritual durcheinanderbrachten und die ihr Meister nur mit knapper Not vor drohender Vernichtung bewahren konnte. 23 Die Legende von der mißglückten Schöpfung ist eine eindeutige Warnung an die Leichtfertigen. So soll sichergestellt werden, daß sich nur der vorbereitete, gut ausgebildete Adept mit der diesen magischen Dingen angemessenen Ehrfurcht beschäftigt. Besonders bedeutsam bei dem Golemritual scheint die jungfräuliche Erde zu sein, was wiederum mit der Vorstellung von der Erde als Mutter Adams zusammenhängt. Dieses Motiv verknüpft die Golemlegende mit der Adamssage 24 . Rosenfeld vermutet, daß es erst von den deutschen Kabbalisten auf die Golemvorstellungen übertragen worden sein könnte. 25 Das Umkreisen eines Objektes mit der Sonne und umgekehrt gegen den Lauf der Sonne findet sich in vielen magischen Schriften. 26 Besondere Probleme bereitete den Talmudkommentatoren die Frage nach der Legitimität einer Golem-Schöpfung, da ja die Nekromantie im besonderen und die dämonische Zauberei im allgemeinen als verboten und verabscheuungswürdig galt, wie zahlreiche Bibelstellen beweisen. 27 Daher versuchten einige Gelehrte Unterscheidungen zwischen auf Jezira-Schriften basierender Magie und verbotener dämonischer Magie zu treffen. Andere vertraten die Einstellung, jegliche Magie müsse als verdammenswert gelten. Der Kreis der deutschen Kabbalisten scheint der Auffassung gewesen zu sein, daß der Golem ein vollkommener Mensch sein könne, da das Geschöpf Leben und Seele kraft des Gotteswortes erhalte. Im Unterschied zu der erwähnten Rabhalegende stellten sie sich den Golem nicht stumm vor. Das Golemritual der deutschen Chassidim hat Symbolcharakter, es dient dazu die im Buch Jezira enthaltenen Gesetze nachzuvollziehen. »Dieser Ritualcharakter der Golemschöpfung, der einen ekstatischen Zustand der Beteiligten entweder voraussetzt oder aber induziert, geht nicht nur aus der esoterischen Natur der ›Golemrezepte« hervor, sondern auch aus der Tatsache, daß bei dieser symbolischen Wiederholung des Schöpfungsmythos wie bei jedem echten Ritual mindestens zwei oder drei Personen beteiligt sein mußten. Während der Schöpfer des Sabbathkalbes aus dem Sanhedrin ihr Produkt offenbar auch genießen durften, findet sich in keiner Anweisung der mittelalterlichen Chassidim ein Hinweis auf eine Verwendung des Geschaffenen. Sobald die Kraft der Heiligen Normen erwiesen war, folgte die Umkehr der Handlung und die Rezitation.« 28 21 Nach dem Gesetz der Analogie. 22 Ps. Saadja zu Jezira, S. 11. Goethe hat wohl in seinem Zauberlehrling darauf Bezug genommen. 23 Zit. nach Scholem (Fn. 19), S. 241. 24 Zur Erde als Mutter Adams in der mittelhochdeutschen Literatur vgl. Köhler, Reinhold: Die Erde als jungfräuliche Mutter Adams. In: Germania VII, S. 476 ff.; ders.: Kleine Schriften. Bd. II, S. 7 ff. 25 Rosenfeld (Fn. 3), S. 12. 26 Bereits Plinius erwähnt es in seiner Naturgeschichte. Vgl. auch die Auseinandersetzung des Origines mit Celsus: Contra Celsum. Hrsg. P. Migne. Paris (PG, Bd. 11), S. 224, 237. 27 Tob, 3, 8; 6, 4 ff.; Eod. 22, 17; Levit. 20, 27; Deuter. 18, 10, 11; etc. 28 Mayer (Fn. 9), S. 16. <?page no="263"?> 262 Christa Habiger-Tuczay Im Gegensatz dazu vertritt das Buch des Glanzes (Sefer ha Bahir) die Überzeugung, daß die Unvollkommenheit des künstlichen Menschen aus der Sündhaftigkeit seiner Erschaffung begründet ist. Seine Sprachlosigkeit wird gleichgesetzt mit Seelenlosigkeit. Damit kommt die Frage des Unterschieds bzw. Qualitätskriteriums des künstlichen Menschen ins Spiel: Was dem Golem fehlt, ist die Seele, und damit deren äußere Manifestation, die Sprache. Ein Mystiker des 13. Jahrhunderts hat diesen Gedanken in eine Seelenvorstellung eingebunden. Er meint, daß dem Golem die höheren Seelen die Vernunftseele Neschama fehle, nicht aber die Vitalseele. Damit ergibt sich auch der Qualitätsunterschied zwischen Gottesschöpfung und Menschenschöpfung. Die Menschenschöpfung ist von minderer Qualität. 29 Die Macht des Wortes Eine an den Propheten Jeremias und seinen Sohn geknüpfte Legende weist diese Erzählung eindeutig als Warnersage aus. Als die beiden nach dreijährigem Studium des Buchs Jezira einen Menschen erschaffen, erscheint auf dessen Stirn das Wort »Emeth« (= Wahrheit) oder nach einer anderen Version »IHWH«. Der Golem besitzt ein Messer, mit dem er den ersten Buchstaben des Wortes Emeth auslöscht, so daß nur meth (= tot) übrigbleibt. Mit dem getilgten Buchstaben stirbt zugleich das Geschöpf. Diese Buchstaben- Magie steht gleichnishaft dafür, daß Gott keine Schöpfer - also Götter - neben sich duldet. Eine Variante der Adamlegende läßt auf Adams Stirn das Wort Emeth erscheinen. Gott selbst, als er Adam sterben lassen will, löscht den ersten Buchstaben. Eine der drei von Scholem mitgeteilten Legenden verschärft diese Botschaft des Golem: auf dessen Stirn ist zu lesen: Gott ist Wahrheit (IHWH Elohim EMETH). Beim Auslöschen des Aleph entsteht die Botschaft: Gott ist tot. Auch der Schluß dieser Legende unterscheidet sich radikal von den anderen. Der Golem stirbt nicht, sondern paraphrasiert das Bildnisverbot und begründet es mit der Verwirrung der Menschen, die durch die Schöpfung des Golem entstanden wäre: so müßten doch die Leute an zwei Götter glauben: an den, der den Menschen und an jenen, der den Golem geschaffen habe. 30 Dieses Emeth-Motiv hat sich bis in die neuesten Rezeptionen der Legende erhalten. 31 Die Automatensage Einige Motive rücken die Golemlegende in die Nähe der Automatensagen. So ist im Pseudo Saadja 32 von einem weiblichen Golem die Rede, der als Dienerin fungiert, die Salomo 29 Bachja ben Ascher in seinem Pentateuch-Kommentar, vgl. dazu Rosenfeld (Fn. 3), S. 15, Anm. 92. 30 Scholem (Fn. 19), S. 234. 31 Siehe Kapitel »Neuzeitliche Fassungen«. 32 Aus den mittelalterlichen Kommentaren zum Jezira lassen sich die jeweiligen Entwicklungen etlicher Motive der Golemlegende ableiten, die für spätere Legendenvarianten konstituierend sind: Die Stummheit des Golem und des weiteren die Notwendigkeit von zwei Adepten zum Vollzug und Gelingen des Schöpfungrituals. Das Emeth-Motiv tritt bereits im 12. und 13. Jahrhundert auf. In allen Varianten scheint sich das Geschöpf gegen den Namen Emeth aufzulehnen. <?page no="264"?> Golem 263 ibn Gabirol, Dichter und Mystiker, geschaffen haben soll. Deshalb angeklagt, kann er sich dem Urteil entziehen, indem er den Golem in seine Bestandteile zerlegt. Viele Gelehrte des Mittelalters diskutierten zum einen die Frage, ob der Golem nun als Mensch gewertet werden solle oder nicht. Dies ist für viele der Rituale, in die der gläubige Jude eingebunden ist, von großer Bedeutung. Zum anderen fragt man sich, ob der Golem am Sabbat geschaffen werden dürfe. Einmütig kam man zum Beschluß, daß es sich beim Golem um ein Tier in Menschengestalt handle und leitete daraus die nötigen Konsequenzen ab. Das Golemmotiv läßt sich gemeinsam mit dem jüdisch-christlichen Schöpfungsmythos in jene Gattung einordnen, die den ersten Menschen ohne Zeugungsakt entstehen lassen. Die Nachahmung bzw. die Symbolhandlung des Golemrituals und auch die in mehreren Legenden zum Ausdruck gebrachte Überhebung des Menschen finden Niederschlag in zahlreichen literarischen Bearbeitungen. Die Tragik jenes Menschen, der Gott oder die Götter nachahmt und von seinem Geschöpf überwunden wird, hat bereits die antiken Schriftsteller beschäftigt. Ovid erzählt die berühmte Geschichte von Prometheus, der seine Geschöpfe aus Lehm formte und belebte. 33 Die magische Komponente, die Rabha nachgesagt wurde, nämlich den Golem mittels Buchstabenzauber herzustellen, bringt ihn im Mittelalter in die Nähe der Meistermagier, die unter anderem künstliche Menschen und Tiere herstellen konnten wie beispielsweise der im Mittelalter als Zauberer berüchtigte Dichter Vergil. 34 Neuzeitliche Fassungen Seit dem Ausgang des Mittelalters bleiben Automaten- und Dienermotiv mit den Golemüberlieferungen verbunden. Die Gefährlichkeit des Dieners für seine Unmgebung findet sich erstmals thematisiert in der im 17. Jahrhundert in Polen entstandenen Sage um den Rabbiner von Chelm, den Baal Schem († 1583). Das mit dem Namen Gottes (Schem) beschriebene Pergament verleiht dem Golem Leben. Er besitzt übernatürliche Kräfte, die sich ständig vermehren, bis er zur Bedrohung wird. Als der Schöpfer den Schem entfernt, greift er diesen noch an, bevor er zu Staub zerfällt. 35 Diese Sage wurde später auf den Rabbi Löw von Prag († 1609) übertragen. Das Interesse an der Kabbala brachte auch das Eindringen des Motives in die nichtjüdische Gelehrtenliteratur mit sich. Bereits 1517 erwähnt Reuchlin die Golemsage. Wagenseil publizierte die Chelmersage zusammen mit der Reuchlinschen Fassung. Die deutsche Übersetzung wurde zum Ausgangspunkt für die Golemerzählungen der Romantiker. Der zweite Strang der Golemrezeption kreist um den Prager Rabbi Löw. 36 33 Ovid: Metamorphosen 10, 42 ff. 34 Vgl. Spargo, John Webster: Virgil the Necromancer. Cambridge 1934; Hammerstein, Reinhold: Macht und Klang. Tönende Automaten; Plank, R.: The Golem and the Robot. In: Literature and Psychology 15 (1965), S. 12 - 28. 35 Rosenfeld (Fn. 3), S. 20 f. 36 Rosenfeld (Fn. 3); Thieberger, F.: The great Rabbi Löw of Prague. London 1955. <?page no="265"?> 264 Christa Habiger-Tuczay Bibliographische Hinweise Quellen Bergmann, J.: Die Legenden der Juden. Berlin 1919. Gorion, Micha Josef ben: Der Born Judas. Legenden, Märchen und Erzählungen, 6 Bde. Leipzig 1921. Ders.: Die Sagen der Juden. Mythen Legenden und Auslegungen. Berlin 1935. Paracelsus, Theophrastus: De natura rerum. In: Werke. Bd. V. Hrsg. Will Erich Peuckert. Darmstadt 1968, S. 53 - 133. Ders.: Liber de Homunculis. In: Werke. Bd. III. Hrsg. Will Erich Peuckert. Darmstadt 1967, S. 427 - 438. Kautzsch, E.: Die Apokryphen und Pseudoapokryphen des Alten Testaments. Tübingen 1900. Forschungsliteratur Lexika Encyclopaedia Judaica. Berlin 1928 ff. Encyclopaedia Judaica. Jerusalem 1971 ff. Frenzel, Elisabeth: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1962, S. 251 - 254. Dies.: Stoff- und Motivgeschichte. Berlin 1966. Dies.: Motive der Weltliteratur. Stuttgart 1988. Jewish Encyclopaedia. New York; London 1901 - 1906. Scholem, Gershom: Bibliographia kabbalistica. Berlin 1933. Allgemeine Forschungsliteratur Blau: Das altjüdische Zauberwesen. Budapest 1914. Chapuis, Alfred; Droz, Edmond: Automata. A Historical and Technological Study. London 1958. Cohen, John: Golem und Roboter. Über künstliche Menschen. Frankfurt 1968. Dornseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie. Leipzig; Berlin 1922. Filorama, Giovanni: A History of Gnosticism. Cambridge 1992. Hachoker: Zum Ursprung der deutschen Kabbala. Wien 1894. Hammerstein, Reinhold: Macht und Klang. Tönende Automaten. o.O. o.J. Held, Hans Ludwig: Von Golem und Schem. Eine Studie aus der hebräischen Mystik. In: Das Reich 3 (1916), S. 334 - 379; 4 (1917), S. 515 - 559. Ders.: Das Gespenst des Golem. Eine Studie aus der hebräischen Mystik mit einem Exkurs über das Wesen des Doppelgängers. München 1927. Köhler, Reinhold: Die Erde als jungfräuliche Mutter Adams. In: Germania VII, S. 476 ff. Ders.: Kleine Schriften II, S. 7 ff. Leisegang, H.: Die Gnosis. Leipzig 1924 (5. Aufl. 1985). Mayer, Sigrid: Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Bern 1975. Dies.: Golem. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 5. 1987, Sp. 1387 - 1394. Plank, R: The Golem and the Robot. In: Literature and Psychology 15 (1965), S. 12 - 28. Rosenfeld, Beate: Die Golemsage und ihre Verwertung in der deutschen Literatur. Breslau 1934 (Germanistische Reihe, Bd. 5). Scholem, Gershom: Ursprung und Anfänge der Kabbala. Berlin 1962 (Studia Judaica, Bd. III). <?page no="266"?> Golem 265 Ders.: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Zürich 1957. Ders.: Die Kabbala und ihre Symbolik. Zürich 1960. Ders.: Die Vorstellung vom Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen. In: Eranos Jb. 22 (1953), S. 235 - 289. Ders.: Studien zur jüdischen Mystik. Frankfurt/ M. 1981. Sill: Jüdische Mystik. In: Wörterbuch der Mystik. Hrsg. Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989, S. 282 ff. Spargo, John Webster: Virgil the Necromancer. Cambridge 1934. Thieberger, F.: The Great Rabbi Loew of Prague. London 1955. Thorndike, Lynn: History of Magic and experimental Science. 8 Bde. Neyork 1923 - 1958. Trachtenberg, Joshua: Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion. New York 1939. <?page no="268"?> Mythos Greif Winder McConnell (Davis) Der Mythos vom Greif, jenem »[s]agenhafte[n] Vogel mit Adlerkopf und löwenartigem Körper, vier Füßen und zwei mächtigen Flügeln« 1 , der von Waltraud Bartscht als »one of the most enigmatic creatures in the kingdom of fabulous animals« 2 bezeichnet wird, scheint sehr alt zu sein: »Vogelgreife als Wüstentiere, die jagen und gejagt werden, und als dämonische Wesen lassen sich in Ägypten bis in die vorhistorische Zeit (vor 3300) zurückverfolgen.« 3 Ingeborg Flagge hat allerdings auf überzeugende Weise gezeigt, daß der Greif seinen Ursprung eher in Mesopotamien zu suchen hat: »Daß Ägypten und nicht Mesopotamien das Ursprungsland des Greifen gewesen ist, ist unwahrscheinlich, denn die Einflußnahme der beiden Länder in dieser Zeit aufeinander scheint fast ausschließlich von Susa bzw. Mesopotamien nach Ägypten erfolgt zu sein, nicht umgekehrt.« 4 Der Greif wird wahrscheinlich über den östlichen Mittelmeerraum nach Europa gelangt sein: »Der assyr. k’rub am Palast des Assurnasirpal, ein Riesenvogel mit Löwentatzen und Menschenkopf, gelangt dann als gryps zu den Griechen, über vulgärgr. grýpos als grÿ phus nach Rom. Von da stammt germ. *grip- , das unter Anlehnung an grï pan › greifen‹ zum märchenhaften Vogelungeheuer ausgebildet wird. Daher ahd. grï f(o) , mhd. grï f(e) un d unser Vogel Greif.« 5 Neuerdings hat Adrienne Mayor aufgrund von Beweismaterial aus verschiedenen Fachdisziplinen versucht zu zeigen, daß der Greif nicht unbedingt »purely imaginary and symbolic« [ganz imaginär und symbolisch] war: »An interdisciplinary approach drawing from classical art and literature, folklore, archaeology, geology, and palaeontology supports a zoological origin.« 6 Ihr Beitrag ist ein Musterbeispiel dafür, wie durch eine sorgfältig unternommene interdisziplinäre Analyse - besonders einleuchtend ist Mayors Vergleich des Greifen mit dem 1 Bächtold-Stäubli, Hanns (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. III. 8. Lieferung. Berlin/ Leipzig 1931, Sp. 1129. 2 Bartscht, Waltraud: The Griffin. In: Mythical and Fabulous Creatures: A Source Book and Research Guide. Hrsg. Malcolm South. New York 1987, S. 85 [eine der rätselhaftesten Kreaturen im Reich der Fabeltiere]. 3 Wild, Friedrich: Gryps - Greif - Gryphon (Griffin). Eine sprach-, kultur- und stoffgeschichtliche Studie. Wien 1963 (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, Bd. 241, 4. Abhandlung), S. 10. 4 Flagge, Ingeborg: Untersuchungen zur Bedeutung des Greifen. Sankt Augustin 1975, S. 11. Eine führende Rolle spielte der Greif im ägyptischen (und später im römischen) Totenkult: »Von der 5. Dynastie in Ägypten ab [...] ist seine Bedeutung innerhalb des Totenkultes als Herrschaftssymbol, welches in dem Greifen den König als Ausdruck seiner ungeheuren Kraft verkörpert sieht, versichert. Die Mischgestalt des Greifen steht dabei in engstem Zusammenhang mit dem kosmischen Geschehen des Aufgangs und des Untergangs der Sonne, das der Auferstehung der Seele verglichen wird« (S. 122). 5 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 20. Aufl. bearbeitet von Walther Mitzka. Berlin 1967, S. 269. Eine ausführliche Analyse der etymologischen Geschichte des Wortes »Greif« bietet auch Friedrich Wild (siehe Fn. 3). 6 Mayor, Adrienne; Heaney, Michael: Griffins and Arimaspeans [erscheint fälschlicherweise als »Arismapaeans« im Inhaltsverzeichnis des Bandes]. In: Folklore 104, Nr. i/ ii (1993), 40 - 66, hier: S. 41. Adrienne Mayor hat den ersten Teil (»What were the Griffins? «, S. 40 - 53) geschrieben. <?page no="269"?> 268 Winder McConnell Protoceratops (siehe Abbildung Nr. 7 auf S. 50) - neue Kenntnisse hinsichtlich eines alten Mythos gewonnen werden können. In alten Kulturen und vor allem im klassischen Altertum wird dem (mythologischen) Greifen sowohl in der Ikonographie 7 als auch in der Literatur zwei Hauptfunktionen zugewiesen: Er erscheint als Wächter 8 , Begleiter oder »Transportmittel« eines Königs oder Gottes, sowie auch als Bewacher eines Goldschatzes. Friedrich Wild weist auf das Vorkommen von Vogelgreifen »[i]n der kretisch-mykenischen Kunst [...] als Schützer des Königs im Thronsaal von Knossos« 9 hin. Daß der Greif im klassischen Altertum vorwiegend positiv, wenn auch manchmal als furchterregend angesehen wurde, zeigt Konrat Ziegler: »Gemäß seiner Zusammensetzung aus Teilen des stärksten Vierfüßlers und des stärksten Vogels stellt der G[reif] die aufs höchste potenzierte physische Kraft, zugleich durch den gewöhnlich aufgesperrten Schnabel und die geschmeidige Anspannung der Glieder größte Wut und Wildheit dar. Er wird daher, wie in den Kulturen, aus denen er zu den Griechen kam [...] als starker Trabant und Wächter verschiedenen Gottheiten beigegeben, erscheint aber noch häufiger allein als allgemeines Symbol göttlicher Macht und Wachsamkeit. Daraus resultierte seine Brauchbarkeit als apotropäisches Symbol, und sicherlich hat diese zu seiner vielfältigen Verwendung erheblich beigetragen.« 10 Drachen und Greife sind sich physisch nicht unbedingt ähnlich, sie teilen aber doch eine gemeinsame Eigenschaft: Beide wurden als Hüter von Gold, bzw. Schätzen beschrieben: »Halb Adler, halb Löwe, spielte der G[reif] im antiken Volksglauben eine weit geringere Rolle als das Wappentier und Wirtshausschild des Mittelalters, wohl aber galt der G[reif] als Wächter der Goldgruben.« 11 Der Grieche Aristeas scheint um 675 v. Chr. in seinem inzwischen verschollenen Werk Arimaspea als erster das Wort gryps gebraucht zu haben 12 ; Aischylos hat dann später in seinem Prometheus (ca. 460 v. Chr.) nicht nur von Genesis, dessen Wagen von einem Greifen gezogen wird, berichtet, sondern auch - im Gespräch des Prometheus mit dem Wanderer - darauf hingewiesen, wie fürchterlich die Greifen seien. Er erwähnt sie fast im gleichen Atemzug mit den Arimaspen, die in der klassischen Tradition immer bemüht 7 Siehe auch die aus archäologischer Perspektive geschriebene Studie der Greifenprotomen aus dem Heraion von Samos von Jantzen, Ulf: Griechische Greifenkessel. Berlin 1955 (Deutsches Archäologisches Institut) [Mit guten Abbildungen, wie auch bei Flagge (Fn. 4).] Weiter: Bisi, Anna M.: Il grifone: storia di un motivo iconografico nell’antico oriente mediterraneo. Rom 1965 (Studi Semitici, Bd. 13). 8 Siehe Flagge (Fn. 4), S. 34 ff.: »Der Greif als Wächter«. 9 Wild (Fn. 3), S. 10. 10 Ziegler, Konrat; Prinz, H.: [Art.] Gryps. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung begonnen von Georg Wissowa. Hrsg. Wilhelm Kroll. 14. Halbband. 1912 (Nachdr.: Stuttgart 1970), Sp. 1902 - 1929, hier: Sp. 1924 [Konrat Ziegler: Sp. 1902 - 1904 u. 1918 - 1929; H. Prinz: Sp. 1904- 1918]. Mit seinen zahlreichen Belegen aus dem klassischen Altertum ist dieser ausführliche Beitrag zum Thema »Gryps« (»Greif«) für den Forscher unerläßlich. Siehe auch Flagge (Fn. 4), S. 20, wo die Verfasserin den Zusammenfall positiver und negativer Eigenschaften beim Greifen erläutert. 11 Wilsdorf, Helmut: [Art.] Greif. In: Lexikon der Antike. Leipzig 1984, S. 202. Für viele Hinweise, besonders zur klassischen und mittelenglischen Tradition, bin ich Professor Lois Roney zu Dank verpflichtet, mit der ich vor nunmehr 16 Jahren einen Briefwechsel über gerade dieses Thema geführt habe. 12 Siehe die ausführliche Diskussion der gesamten klassischen Tradition des Greifen von Bolton, J.D. P.: Aristeas of Proconnesus. Oxford 1962. Über den Ursprung des Kampfes zwischen Greifen und Menschen siehe insbesondere S. 6 f. Ausführlich über alle Aspekte des Greifen im klassischen Altertum berichtet auch: Armour, Peter: Dante’s Griffin and the History of the World. A Study of the Earthly Paradise (Purgatorio, cantos xxix-xxxiii). Oxford 1989. <?page no="270"?> Mythos Greif 269 waren, den Greifen das Gold zu rauben. 13 Vor allem haben Herodot 14 , Plinius 15 und Solinus 16 auf die Funktion der Greifen als Goldhüter (besonders im Land der Skythen) hingewiesen 17 , wobei eine Bemerkung des Solinus, der die Greifen fast als Wächter der Tugend darstellt, unsere besondere Aufmerksamkeit verdient: »quippe visos discerpunt, velut geniti ad plectendam avaritiae temeritatem« 18 . Diese Funktion der Greifen ist mit der verschiedener Drachen zu vergleichen 19 , wie etwa des Beowulf-Drachen und des Ungeheuers Fáfnir der altnordischen Völsungasaga. Dabei wird man an die Stelle in Gottfrieds Tristan erinnert, wo ein irischer Drache das Pferd Tristans angreift, verbrennt und verschlingt. 20 In der Ornamentik der Wikingerzeit spielte der Greif eine nicht unbedeutende Rolle 21 . Der Einfluß der Kunst der nordischen Angreifer ist auch in Irland zu finden, wie die Ausgrabungen in der Fishamble Street (Wiking-Dublin) gezeigt haben. 22 Keineswegs wird der Greif in jener Kultur als etwas primär Negatives angesehen, sondern eher als ein 13 Siehe Prometheus Bound in: Aeschylus I, mit einer englischen Übersetzung von Herbert Weir Smyth, The Loeb Classical Library (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1988), S. 288, V. 803 ff. 14 Herodotus, mit einer englischen Übersetzung von A. D. Godley, 4 Bde., The Loeb Classical Library (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1938) Bd. 2, Buch III, S. 142, Abs. 116.; Buch IV., S. 212, Abs. 13 und S. 226, Abs. 27. 15 C. Plini Secundi Naturalis Historiae libri XXXVII. Hrsg. Karl Friedrich Theodor Mayhoff. Leipzig 1892-1909, vii. 2, Abs. 10. 16 C. Ivlii Solini Collectanea Rervm Memorabilivm. Hrsg. Theodor Mommsen. Berlin 1895, S. 86. 17 Was dann auch durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder erwähnt wird. Siehe z.B. Denis, M. Ferdinand: Le Monde Enchanté. Cosmographie et Histoire Naturelle Fantastiques du moyen âge. 1845 (Nachd.: New York [o.J.]), S. 28-29, wobei Denis auch auf die andauernde Feindschaft zwischen den Greifen der Antike und den einäugigen Arimaspen hinweist: »les griffons [...] gardent soigneusement l’or, et [...] sont continuellement en guerre avec les Arimaspes, cyclopes vivants, hommes à un œil.« [Die Greifen bewachen sorgfältig das Gold und sind ständig im Krieg gegen die Arimaspen, lebendige Cyclopiden, Männer mit einem Auge.] 18 Solinus (Fn. 16), S. 86 [denn gewiß zerreißen sie auf Anhieb Männer, als ob sie dazu geboren worden wären, die Tollkühnheit zu bestrafen, die von der Habsucht herrührt]. Siehe auch Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive Originum libri XX. Hrsg. W. M. Lindsay. Oxford 1962, xii. 2, Abs. 17: »Gryphes vocantur, quod sit animal pennatum, et quadrupes. Hoc genus ferarum in Hyperboreis montibus nascitur. Omni parte corporis leones sunt: alis et facie aquilis similes, et equis vehementer infesti. Nam et homines visos discerpunt.«[Die Greifen werden genannt, was ein gefiedertes und vierfüßiges Tier ist. Diese Art von wilden Tieren stammt aus den nördlichen Bergen. Am ganzen Körper sind sie Löwen: Hinsichtlich der Flügel und des Kopfes sind sie den Adlern ähnlich, und den Pferden sind sie sehr feindlich. Und wenn sie Menschen sehen, so zerreißen sie diese.] Die Vorstellung von Greifen als wilden Tieren, die in den Bergen (vor allem Indiens) wohnen, Gold hüten und Menschen in Bedrängnis bringen (seltener auch als Feinde von Pferden [»et equis vehementer infesti« - siehe auch Fn. 62 und entsprechendes Zitat] bezeichnet werden), findet man in den folgenden Jahrhunderten in zahlreichen literarischen Zeugnissen des Abendlandes. Siehe z.B. Hermann von Sachsenheim: Die Mörin. Nach der Wiener Handschrift ÖNB 2946 herausgegeben und kommentiert von Horst Dieter Schlosser. Wiesbaden 1974 (Deutsche Klassiker des Mittelalters, N.F. 3), S. 55, Verse 450 ff.: »Und anderhalb z u o yener syt Das groß gebirg von golde rich, Daruff die griffen steteklich Den t o v ben lüten fügen pin.-« Als dezidierte Pferdefeinde (»et equis vehementer infesti«) erscheinen Greife hingegen eher selten, vgl. dazu z.B. Servius (Servii grammatici qui feruntur in Vergilii carmina commentarii. Hrsg. Georg Thilo, Hermann Hagen. Leipzig 1881-1902, iii/ I.96.) und die Beschreibung von Konrad von Megenberg weiter unten im Text (bibliographischer Nachweis s. Fn. 31). <?page no="271"?> 270 Winder McConnell Symbol gewaltiger Macht, als Zeichen des Majestätischen. Die zwei Teile, aus denen er zusammengesetzt ist, Adler und Löwe, wurden wohl mit Himmel/ Licht/ Macht oder Erde/ Licht/ Macht identifiziert. 23 Zu dieser Kombination meint Cirlot: »The blending of these two superior solar animals points to the generally beneficent character of this being; it was consecrated by the Greeks to Apollo and Nemesis. The griffin, like certain kinds of dragon, is always to be found as the guardian of the roads to salvation, standing beside the Tree of Life or some such symbol.« 24 Sowohl Quellen als auch die Forschung betrachtet die Natur des Greifen mit einer gewisse Ambivalenz, wie das auch im Falle des Drachens zu verzeichnen ist. Darauf hat unter anderen Cirlot hingewiesen: »In mediaeval Christian art [...] the griffin is very common, being associated with signs which tend towards ambivalence, representing, for instance, both the Saviour and Antichrist.« 25 Auch Christoph Koch meint, daß »[i]n der Vorstellung des Greifen [...] seit alters heterogene Vorstellungen zusammengeflossen [sind]« 26 . Hinweise auf den Greifen oder auf Greifen allgemein - hauptsächlich als Begleiter, 19 Drache und Greif konnten aber auch als gegenseitige Feinde angesehen werden. Siehe Spenser, Edmund: The Faerie Queene [ 1596]. In: The Poetical Works of Edmund Spenser. Hrsg. J.C. Smith, E.De Selincourt. London 1965, Buch 1, Canto v, Str. 8: »So th’one for wrong, the other striues for right, As when a Gryfon seized of his pray, A Dragon fiers encountreth in his flight, Through widest ayre making his ydle way, That would his rightfull rauine rend away; With hideous horrour both together smight, And souce so sore, that they the heauens affray; The wise Southsayer seeing so sad sight, Th’amazed vulgar tels of warres and mortall fight.« 20 Gottfried von Strassburg: Tristan . Hrsg. Karl Marold. Dritter Abdruck von Werner Schröder. Berlin 1969, S. 128, Verse 8988-8991: »der trache gieng ez aber an mit vrâze und mit fiure, unz ez der ungehiure vor dem satele gâr verswande.« Der Drache wird - ähnlich dem Greifen - mit dem Teufel in Verbindung gebracht (er ist »des tiuveles kint« [V. 8976]); vgl. dazu weiter unten die Ausführungen zur Kudrun. 21 Siehe Meehan, Aidan: The Dragon and the Griffin. The Viking Impact, Celtic Design. London 1995, insbesondere S. 34 - 35 und die Abbildungen der Greifen aus Broa, Gotland, die im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts entstanden sind. 22 Siehe Meehan (Fn. 21), S. 113 mit Abbildung eines Greifenkopfes. 23 Die Beziehung des Greifen zum Licht im klassischen Altertum wird besonders von Flagge im 7. Kapitel ihres Buches (Fn. 4, S. 68 ff., mit zahlreichen Hinweisen) behandelt. Siehe insbesondere S. 70: »Der Greif selbst ist von lichtem und feurigem Wesen; er begleitet die Seelen in den Himmel, und alle mit dem Licht und der Flamme verbundenen Vorstellungen treffen ohne Abstriche auch auf ihn zu.« Weiter S. 73: »Wenn die römische Kunst den Greifen im Totenkult [...] mit einer Lichtsymbolik zusammenbringt, so geschieht dies auf dem Umweg über Apollo, dessen Lichtnatur schon in klassischer Zeit dazu führte, ihn als Sonnengott zu verstehen.« Und schließlich: »Als mythisches Wesen, dessen Bestandteile Adler und Löwe zwar realer Natur sind, das sich aber in dieser Zusammensetzung eben von der Wirklichkeit entfernt und unwirklich anderen, unbekannten Gesetzen unterliegt, bietet sich der Greif als Begleiter der Toten in eine ihnen unbekannte Welt an. Seine Fähigkeiten als Lichtwesen, das der Sonne verwandt ist, garantieren den Toten die Sicherheit einer astralen Verewigung« (S. 81). <?page no="272"?> Mythos Greif 271 genauer: Transportmittel des Königs Alexander, als Entführer (in dieser Eigenschaft gelegentlich auch als unfreiwillige Retter von Menschen aus der Not) oder als Goldhüter - sind sowohl in der geistlichen als auch in der weltlichen Literatur des deutschen Mittelalters relativ häufig zu finden, wenn auch zumeist nur auf wenigen Zeilen. 27 Typisch für diese kurzen Hinweise auf das Fabelwesen sind einige Verse des Annolieds (um 1100). Dort wird von Daniels Traum erzählt, in dem ihm u.a. vier Tiere erscheinen. Das dritte ist ein Leopard mit vier Adlerflügeln, der Alexander den Großen bezeichnet. Letzterer fliegt selbst mit zwei Greifen durch die Luft: »mit zuein grîfen vuor her cin liuften« 28 . Ansonsten gibt es im Text keine weitere Information zum Zweck oder Ausgang dieses merkwürdigen Fluges. 29 Wir dürfen aber ohne weiteres annehmen (mit Rathofer), daß Alexander - der langen und bekannten Tradition seiner Jugend zufolge - von den Greifen zum Himmel hinaufgetragen wird. Aus dem Kontext ist zu entnehmen, daß Alexander sich freiwillig mit diesen Greifen zusammentut. Er galt als Weltreisender, dem kein Abenteuer zu bunt sein konnte, der sowohl Indien als auch den Meeres Grund erforschen wollte. Die Greifen werden vielleicht von Alexander gerade zu diesem Reisezweck »gezähmt«. Nichts deutet darauf an, daß sie etwa als Boten Gottes Alexander zu Hilfe kommen; an ihrer sonst wilden Natur läßt der Text keine Zweifel aufkommen. Die Verbindung zum klassischen Erbe des Greifen als Hüters eines kostbaren Schatzes ist in der um 1140 in Österreich niedergeschriebenen Beschreibung des himmlischen Jerusalem deutlich. 30 Dort wird vom wertvollen grünen Stein Smaragdus (Vers 210) berichtet, über den die Greifen wachen: »di vogele unreine/ werent daz gesteine« (Verse 221-222) 31 , alle tötend, die ihn sich aneignen wollen. Die einäugigen Arimaspi (wovon Herodot, Historiarum berichtet hatte, die auch wenig später im Herzog Ernst, Verse 24 Cirlot, J[uan] E[duardo]: A Dictionary of Symbols. Aus dem Spanischen übersetzt von Jack Sage. New York 1971, S. 133. Siehe auch Servii grammatici (Fn. 18), iii/ I; Claudius Claudianus: Panegyricus de sexto consulatu Honorii Augusti. In: Claudian. Mit einer englischen Übersetzung von Maurice Platnauer. Cambridge, MA 1956 (The Loeb Classical Library), Bd. 2, Z. 30-33; weiter: F. Nork [Pseudonym für Friedrich Korn]: Etymologisch-symbolisch-mythologisches Real-Wörterbuch zum Handgebrauche für Bibelforscher, Archäologen und bildende Künstler. Stuttgart 1843, Bd. 1, S. 127-128: Greif: »Der Greif war als wachsames, scharfsehendes Thier in Indien der Sonne geweiht [...] bei den Hellenen überhaupt den Lichtgöttern heilig [...]« (S. 128). Siehe auch De Gubernatis, Angelo: Die Thiere in der indogermanischen Mythologie. Aus dem Englischen übersetzt von M. Hartmann. Leipzig 1874, S. 298: »Im griechischen Alterthum waren die Greife der Nemesis, der Rachegöttin, heilig, und wurden auf Gräbern dargestellt, wie sie einen Stierkopf niederdrücken; doch waren sie weit berühmter als der goldenen Sonne, dem Apollo, heilig, dessen Wagen sie zogen (der Hippogryph, der in mittelalterlichen Heldengedichten den Helden trägt, ist völlig gleichbedeutend mit ihnen). Und da Apollo die prophetische und wahrsagende Gottheit ist, deren Orakel sich auf Befragen in Räthseln offenbart, so bedeutet das Wort Greif auch Räthsel: Logogryph ist eine räthselhafte Rede, und griffonnage ist das, was wir etwa ›Krähenfüsse‹ nennen.« 25 Cirlot (Fn. 24), S. 133. 26 Koch, Christoph: Die slawische Bezeichnung des Greifen. In: Wiener Slavistisches Jahrbuch 35 (1989), S. 111. Koch bietet auch eine ausführliche etymologische Analyse des Wortes im slavischen Sprachraum. 27 Ähnliches gilt auch für manche mittelenglischen Quellen, die hier nicht ausführlich behandelt, von denen einige aber zumindestens genannt werden sollten: Layamons Brut (um 1205), 28062-28063; Havelok (um 1270), 572, 2029 (Personenname); Kyng Alisaunder (vor 1330), 496, 4880, 5667, 5684, 6344, 6602; Sir Eglamour of Artois (zwischen 1350 und 1400), 841, 847, 850, 866, 1030, 1035, 1116; hinweisen möchte ich auch auf altfranzösische Werke wie die St. Brendan-Legende oder auch La Chanson de Roland. <?page no="273"?> 272 Winder McConnell 4505ff. begegnen; siehe auch Fußnote 17) »[...] sint so chune,/ si nement di staine grune/ den vogelen mit gewalte« (Verse 237-239). Das Land selbst »haizit Cythia« (Vers 103); 28 Roediger, Max (Hrsg.): Das Annolied. In: Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. Hrsg. Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde. 1. Bd., 2. Abteilung: Trierer Sylvester. Annolied. 1895 (Nachdr. Dublin 1968), S. 120, V. 215. Bis ins 15. Jahrhundert hinein wurde immer wieder in der deutschen Literatur auf diese Episode aus der Alexandersage hingewiesen. Ich erwähne hier: Reinfrid von Braunschweig. Hrsg. Karl Bartsch. Tübingen 1871 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 109), S. 654, Verse 22514 ff. (»dar truogen in zwên grîfen schôn«, 22521); in dem um 1255 geschriebenen Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein wird in dem »3. Büchlein« die Reise Alexanders mit den Greifen als äußerst freudenvolles Ereignis dargestellt, das freilich kaum mit der Freude zu vergleichen wäre, die das lyrische Ich der Geliebten und seiner eigenen metaphorischen Liebesfahrt gegenüber empfindet, die seine Sinne »[...] gefuoret so beidiu verre und so ho, als ich in dem himel si oder aber vil nahen da bi. Alexander maere der edel wunderaere, dem geschach nie vreuden halp so vil, do er über der sterne zil von griffen chla gefüeret wart. wol mich miner saeliclichen vart, da ich gewan so hohen gewin, des ich so hohe getiuret bin.« (Ulrich von Liechtenstein: Frauendienst . Hrsg. Franz Viktor Spechtler. Göppingen 1987 [Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 485], S. 256, V. 143-154.) Etwa 200 Jahre später weiß auch der Meister Altswert in seiner Minneallegorie Der Spiegel sowohl von Greifen als Transportmittel als auch von der Heimat der Greifen in Indien und Alexanders Greifenflug zu berichten: »Man spricht, in Indien dort Da sin griffen wild Und sy nit gros unbild, Das man uff griffen far, Gar dick ein gros schar Von eynem land ins ander. Der magnus Allexander Ein griffen auch beswur, Das er gar hoh uff fur, Die ganzen welt beschawt.« (Meister Altswert. Hrsg. W . Holland, A. Keller. Stuttgart 1850, S. 199 f.) 29 Hier ist anzumerken, daß Johannes Rathofer in seiner Übersetzung jener Stelle einen zusätzlichen Vers hinzufügt, der den (im Original fehlenden) Grund für diesen merkwürdigen Flug erklärt: »Um in die Himmelsau’n zu schweifen [...]« (Monumenta Annonis. Köln und Siegburg. Weltbild und Kunst im hohen Mittelalter, eine Ausstellung des Schnütgen-Museums der Stadt Köln in der Cäcilienkirche vom 30. April bis zum 27. Juli 1975. Hrsg. Anton Legner. Köln 1975, S. 79. 30 Kleinere deutsche Gedichte des 11. und 12. Jahrhunderts. Nach der Auswahl von Albert Waag neu herausgegeben von Werner Schröder. Tübingen 1972 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 71/ 72), S. 92-111: Die Beschreibung des himmlischen Jerusalem. 31 Siehe auch Konrad von Megenberg: Das Buch der Natur. Die erste Naturgeschichte in deutscher Sprache. Hrsg. Franz Pfeiffer. 1861 (Nachdr.: Hildesheim 1962), S. 459: »Von dem Smaragden«: »aber der ist der pest, den man vint in dem land Scythia, und nimt man in auz der greifen nest, wan die behüetent in mit grôzer grimmichait«. Warum er von den Menschen so begehrt wird, geht aus folgender Erklärung hervor: »der smaragd bedäut käusch, wan diu behelt des menschen leip grüen, daz ist ganz und rain. diu tugent übertrift all ander tugent an dem menschen, wan daz ain mensch käusch und rain beleib, das ist mêr engelisch wan menschleich.« <?page no="274"?> Mythos Greif 273 der anonyme Dichter weiß es mit Kälte, Untreue, Lieblosigkeit (Verse 245-247) und die Greifen selbst mit dem Teufel zu verbinden: »die grife dar inne,/ di bezeichenent di tivele, di da varent/ unte den gelouben biwarent« (Verse 248-250). Der Smaragdus bezeichnet den Glauben, den die Arimaspi durch Gewalt den Greifen abzuringen gedenken (Verse 256-257). 32 Auch in Wolframs Parzival (um 1220) weiß der Dichter von den goldgierigen Greifen zu berichten: sîn wâpenroc was harte wît: [...] mit golde er gebildet was, dâz zer muntâne an Kaukasas ab einem velse zarten grîfen klâ, diez dâ bewarten und ez noch hiute aldâ bewarnt. 33 Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht (um 1150) stellt eine Beziehung zwischen Alexander dem Großen und dem Greifen her und zwar bei der Beschreibung der wunderbaren Geburt des mazedonischen Helden und seiner außergewöhnlichen Eigenschaften. Während das eine Auge dem eines Drachen gleicht: »ein ouge daz was weitîn,/ getân nâch eineme drachen« 34 , erinnert das andere an das Auge eines Greifen: »Swarz was ime daz ander,/ nâch eineme grîfen getân« (Verse 138-139). Sein Gesicht ist also geprägt von dem scharfen Blick der Drachenbzw. Greifenaugen, die mit dem Wunderbaren assoziiert werden. Es wird aber weiter nichts darüber berichtet als: Daz chom von den sachen: dô in sîn mûter bestunt ze tragene, dô chômen ir freslîch pilide ze gagene; daz [was] ein vil michel wunder. (Verse 134-137) Diese Stelle erinnert an Parzival 104,8-16, wo Herzeloyde vor der Geburt ihres Sohnes »[...] umbe einen mitten tac/ eins angestlîchen slâfes phlac«: ir lîp si dâ nâch wider vant, dô zucte ein grîfe ir zeswen hant. daz wart ir verkêrt hie mite: si dûhte wunderlîcher site, 32 Vgl. auch den um 1270 geschriebenen Jüngeren Titurel (des Albrechts von Scharfenberg? ). Hrsg. Werner Wolf. Bd. II/ 2 (Strophe 3237-4394). Berlin 1968, S. 363, Str. 3400, wo die Greifen wieder in der Rolle von Goldsammlern und -hütern erscheinen. Im weiteren [Bd. III/ 1 (Strophe 4395 - 5417). Nach den Grundsätzen von Werner Wolf kritisch herausgegeben von Kurt Nyholm. Berlin 1985 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 73), S. 107, Strophe 4820] ist von den von Greifen nach Indien transportierten Reichtümern die Rede. Später wird von der Reitkunst auf Greifen erzählt und zwar mit Anspielung auf die Geschichte Alexanders (Strophe 4850 ff.); schließlich wird von der räuberischen Natur der Greifen berichtet, die tote Pferde und Menschen zu ihrem Nest hintragen [Bd. III/ 2 (Strophe 5418-6327). Hrsg. Kurt Nyholm. Berlin 1992 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 77), S. 427, Strophe 6095 f.)]. Dies erinnert an die Ereignisse am Magnetberg im Herzog Ernst; im Jüngeren Titurel wehren sich die Leute allerdings erfolgreich gegen die Greifen. 33 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hrsg. Albert Leitzmann. 7. Aufl. revidiert von Wilhelm Deinert, 1. Heft: Parzival Buch I-VI. Tübingen 1961 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 12), 71,7; 71,17 - 21. 34 Das Alexanderlied des Pfaffen Lamprecht. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Hrsg. Friedrich Maurer. Darmstadt 1964 (Deutsche Literatur, Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwicklungsreihen), S. 24, Verse 132-133. <?page no="275"?> 274 Winder McConnell wie si wære eins wurmes amme, der sît zevuorte ir wamme, und wie ein trache ir brüste süge und daz der gâhes von ir vlüge, sô daz sie in nimmer mêr gesach. daz herze er ir ûz dem lîbe brach. 35 Ähnliches begegnet auch in der Rabenschlacht , als die Gattin Etzels, Helche, zunächst von einem wilden Drachen träumt, der ihr beide Söhne entreißt. Anschließend: »si sach in dem troume, / daz sie der grîfe zebrach« 36 . Der Mütter fürchterliche Träume enthalten Bilder von Drachen und Greifen, die kein gutes Omen für die Zukunft darstellen. Wichtig scheint hier zu sein, daß sowohl im Alexanderlied als auch im P arzival der noch ungeborene Held eng mit diesen furchtbaren Gestalten und Ereignissen verknüpft ist. Ist nicht Parzival selbst der Drache, der an dem Herzen der Mutter säugt und es schließlich bricht? Symbolisiert ihn nicht auch der Greif, der Herzeloyde die rechte Hand »zucte«? Das mhd. Verb »zücken, zucken« wird von Lexer mit Gewalt assoziiert: »[...] schnell u. mit gewalt ziehen (empor, heraus, zurück, fort), schnell ergreifen, an sich reissen, fortreissen, wegnehmen, entreissen, rauben, stehlen [...]« 37 . Das gleiche Verb kommt auch in der K udrun 69,3 vor, als berichtet wird, wie einer der jungen Greifen den kleinen Hagen an sich »reißen« will, um ihn zu verschlingen: »dô zuhte ez <ir> einer« 38 . Damit wird eine Haupteigenschaft des Greifen bezeichnet, die sich in den mittelhochdeutschen Zeugnissen besonderer Häufigkeit erfreut: Seine räuberisch-, fleischfressende Natur überwiegt. 39 Ob das auch dem Einfluß des fortschreitenden Christentums zu verdanken ist, scheint fraglich zu sein. Während der Drache in kirchlichen Kreisen verteufelt wird, bewahrt der Greif, wie die Mandala im Kloster Sankt Urban in Luzern (mit Bildnissen des Hirsches, des Löwen, des Einhorns und des Greifen 40 ) beweist, auch in den Augen der Frommen recht positive Züge. 35 Parzival (Fn. 33), 103,25 - 26; 104,7 - 16. Siehe den kurzen Kommentar zu Herzeloydes Traum von Blamires, David: Characterization and Individuality in Wolfram’s ›Parzival‹. Cambridge 1966, S. 77-78; weiter: Green, D. H.: The Art of Recognition in Wolfram’s Parzival. Cambridge 1982, S. 42. In beiden Fällen wird allerdings dem Greifen wenig bzw. keine Achtung geschenkt, man konzentriert sich auf den Drachen. Am ausführlichsten beschäftigt sich Rudolf Roßkopf mit dem Traum Herzeloydes in seinem Werk: Der Traum Herzeloydes und der rote Ritter. Erwägungen über die Bedeutung des staufisch-welfischen Thronstreites für Wolframs ›Parzival‹. Göppingen 1972 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik, Bd. 89), S. 2ff. Zu dem Greifen (mit beachtenswerter Kritik an früheren Interpretationsversuchen) siehe S. 7ff. Recht überzeugend erscheint mir Roßkopfs Beschreibung des Greifen als »das negative Symbol königlicher Macht und Herrschaft« (S. 27). Er »versinnbildlicht genau das Gegenteil jenes Herrschertums, wie es der Gral von all denen verlangt, die er in die Welt hinausschickt« (S. 28) und weiter die »Gesinnung und Taten ihres [= Herzeloydes] zurückliegenden Lebens [...] die Tiersymbolik für Herzeloydes sündhaftes Verhalten nach ihrem Abfall von den Gralsgesetzen« gleichzeitig aber auch »ihr Gerichtszeichen« (S. 31). 36 Rabenschlacht. In: Alpharts Tod, Dietrichs Flucht, Rabenschlacht . Hrsg. Ernst Martin. Deutsches Heldenbuch, 2. Teil. Berlin 1866, S. 231, Str. 125,3-4. 37 Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 1878 (Nachdr.; Stuttgart 1974), Bd. 3, Sp. 1165. 38 Kudrun. Hrsg. Karl Bartsch. 5. Aufl. überarbeitet und neu eingeleitet von Karl Stackmann. Wiesbaden 1965 (Deutsche Klassiker des Mittelalters), S. 18. 39 Eine Widerspiegelung der brutal räuberischen Natur des Greifen, die im 13. Jahrhundert von Hugh von St. Victor (? ) in De bestiis et aliis rebus libri IV , iii. 4 beschrieben wird: »Nam et homines vivos discerpit, et integros in nidum asportat.« [Denn er zerreißt lebende Männer und bringt sie ganz (= ihre ganzen Leichen) in sein Nest.] <?page no="276"?> Mythos Greif 275 Daß der Greif im Mittelalter keineswegs nur als positives Wesen angesehen wurde, zeigen die schon vorher erwähnten Hinweise auf dessen räuberische (als Entführer) und geizige (als Hüter des Goldes) Natur. 41 Es ist wahrscheinlich, daß er wegen einer Vermischung mit Aspekten der Sindbad-Erzählungen gerade zu dieser Zeit eine (negative) Verwandlung durchgemacht hat: »In der Zeit der Kreuzzüge vermischte sich damit die arabische Sage von dem riesigen Vogel Roch oder Rock, wie sie besonders aus Sindbads des Seefahrers Abenteuern in ›Tausend und einer Nacht‹ bekannt ist. Sindbad wird dort vom Roch in das Tal der Diamanten getragen. Ebenso tragen in der Sage von Herzog Ernst die Greifen diesen und seine Begleiter vom Magnetberg fort.« 42 Der jüdische Weltreisende Benjamin von Tudela hat auf seinen Reisen zwischen 1169 und 1171 vor allem von den jüdischen Gemeinschaften berichtet, denen er unterwegs begegnet ist, aber in seinem Bericht über China erzählt er auch von einem Greifen, der genau die gleiche Funktion hat, wie der alte Greif im Herzog Ernst. Im Meer von Nikpa, wo Schiffe steckenbleiben und sich nicht fortbewegen können, verhungert die erschöpfte Mannschaft. In Rinderhäute gehüllt und mit Messern bewaffnet springen die Überlebenden ins Meer. In der Überzeugung, es handele sich um ein Tier, packt ein Greif einen Matrosen, bringt ihn ans Festland und macht Anstalten, ihn zu verschlingen. Er wird dann aber vom Matrosen getötet. 43 Ein etwas späterer Weltreisender, Marco Polo, erzählt im CXCII. Kapitel seines mit 40 In Offenbarung 4, 7 ist die Rede von vier um den Allmächtigen versammelten Wesen, von denen zwei die Komponenten des Greifen bilden: »Und das erste lebende Geschöpf ist gleich einem Löwen [...] und das vierte lebende Geschöpf ist gleich einem fliegenden Adler«. Möglich, daß dabei dem Schreiber auch die Vorstellung eines Greifen vorschwebte. Siehe auch Campbell, F. E. A.: Die Prosa-Apokalypse der Königsberger Handschrift Nr. 891 und die Apokalypse Heinrichs von Helser. Greifswald 1911 (Diss.), S. 13: »Das erste thier was eime lewen glich [...] das virde thier was glich einem vligenden arn.« 41 Siehe z.B. auch den Abschnitt XXXIII (»Also Helfferich mit der konnigin ging vnd sie hies ein nuwe gewant an legen«) in von der Hagen, Friedrich Heinrich (Hrsg.): Heldenbuch. Altdeutsche Heldenlieder aus dem Sagenkreise Dietrichs von Bern und der Nibelungen. 1855 (Nachdr.: Hildesheim 1977), Bd. 2, S. 317, Strophe 595,9 - 12, als Ute Hildebrand fragt, wo Dietrich geblieben sei: »›sage mir, vff die truwe din, wo ist der Bernere? das du aleyn(e) byst (her) kumen.‹ ›frowe, sol uch (ich? ) die worheit sagen, ein gryffe het den hin genumen.‹« 42 Trübners Deutsches Wörterbuch. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für Deutsche Wortforschung herausgegeben von Alfred Goetze. Berlin 1939-1957, Bd. 3, S. 231. Siehe auch: Gräße, Johann Georg Theodor: Beiträge zur Literatur und Sage des Mittelalters. Dresden 1850, Teil III: »Zur sagenhaften Naturgeschichte des Mittelalters«, 9. Kapitel: »Der Vogel Greif«, S. 87-90; weiter: von Dobeneck, Friedrich Ludwig Ferdinand: Des deutschen Mittelalters Volksglauben und Heroensagen. Hrsg. Jean Paul. Berlin 1815, S. 194-200. Von Dobeneck weist auf die Wirkung der Kreuzzüge und den Einfluß der Sagen des Orients (Sindbad) bei der Umgestaltung des goldhütenden Greifen in einen Seeleute entführenden hin. Siehe auch Bartsch, Karl (Hrsg.): Herzog Ernst. 1869 (Nachdr.: Hildesheim 1969), S. CLII-CLIII: »Dass die Sage von den Greifen nicht deutschen Ursprunges, sondern aus dem Orient zu uns gekommen ist, hat man mit Wahrscheinlichkeit vermuthet. [...] Am meisten berührt sich die Ernstsage wieder mit den Reisen Sindbads, der mit seinen Begleitern sich auch in Rinderhäute einnähen und von den Greifen forttragen lässt.« 43 The Itinerary of Benjamin of Tudela. Travels in the Middle Ages. Mit Einleitungen von Michael A. Signer (1983), Marcus Nathan Adler (1907) und A. Asher (1840). Malibu, CA 1987, S. 123. Siehe auch Denis (Fn. 17), S. 36 - 37, der die Geschichte wiederholt und sich dabei auf Benjamin bezieht. <?page no="277"?> 276 Winder McConnell Rustichello von Pisa zusammen verfaßten Reiseberichtes (1298/ 1299) von einer Insel Mogdasio, die südlich von Çanghibar (Sansibar) liegt, wo Greife, die von den Einwohnern »rukhs« genannt werden, wohnhaft seien. Er weist auf die Augenzeugenberichte anderer hin, die bestreiten, daß die Ungeheuer eine Mischung von Vogel und Löwe seien; nach ihnen seien sie eher wie außergewöhnlich kräftige Adler, die sogar Elefanten in die Luft tragen können. Marco Polo selbst meint, jene Wesen müßten mit Sicherheit wegen ihrer unglaublichen Stärke Greife sein. 44 Im Spielmannsepos Herzog Ernst (um 1180) geht die an den Bericht Benjamins von Tudela erinnernde Greifen-Episode wenigstens auf der Oberfläche kaum über das Episodenhafte hinaus. Vor dem Magnetberg im Lebermeer steckengeblieben, droht Herzog Ernst und seinem Gefolge der Hungertod. Tote werden dann in der Tat von Greifen weggetragen. Der Verfasser hat ein bekanntes Motiv aufgegriffen und ohne ausführlichen Kommentar verwendet. Die Stelle erinnert an Kudrun; die Greifen wollen ihrem Nachwuchs die Verhungerten als Futter bringen. Dem Greifen wird allerdings nur diese eine Funktion - als eine Art Geier - zugewiesen. Es fehlt dem Spielmannsepos jedoch - im Vergleich zur Kudrun - jeglicher Hinweis auf eine Verbindung des Greifen mit dem Teufel: »die grîfen kâmen dar geflogen / und fuortens hin zir neste« 45 . Ganz im Gegenteil: die Greife werden zu einem Symbol der Freiheit und des Lebens für Ernst und seine Gefolgsleute. 46 Nachdem sich diese in Meerrinderhäute eingenäht ha- 44 Polo, Marco: Il Milione. Die Wunder der Welt. Übers. aus altfranzösischen und lateinischen Quellen und Nachwort Elise Guignard. Zürich 1983, S. 364 f. 45 Herzog Ernst (Fn. 42), V. 4124-4125. Siehe auch die ausführlichere Beschreibung dieser Episode in Die Historie von Herzog Ernst. Die Frankfurter Prosafassung des 16. Jahrhunderts. Aus dem Nachlaß von K. C. King herausgegeben von John L. Flood. Berlin 1992 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, Bd. 26), S. 110-115. Die Episode findet, mit leichter Veränderung, im anonymen Reinfrid von Braunschweig (um 1300) Erwähnung: ir hânt wol gehoeret wie ein herzog ûzer Beigerlant, Ernest sô was er genant, und grâve Wetzel sîn man hie vor ouch zuo dem steine kan, als ich von in gelesen habe, und wie sî beide grîfen drabe in roshiuten fuorten. (Verse 21056-21063; siehe Fn. 28) In der altnordischen Thidrekssaga wird König Hertnit von einem Drachen auf eine ähnliche Weise fortgetragen, um dessen Nachwuchs als Futter zu dienen. In diesem Fall wird aber der Held vorher getötet: »König Hertnit ritt auf den Drachen ein, mit mehr Hitze und Vermessenheit als Vorsicht, dieweil dieser Drache so stark war, daß, sobald sie zusammenkamen, der Drache ihn mit seinen Klauen ergriff, und mit ihm in ein tiefes Tal flog. Da war ein Berg und eine weite Höhle, in welcher der Drache drei Junge hatte. Denen warf er den toten König vor, und sie nagten ihm alles Fleisch von den Gebeinen.« (Die Thidrekssaga oder Dietrich von Bern und die Niflungen. Übersetzt durch Friedrich Heinrich von der Hagen. Mit neuen geographischen Anmerkungen versehen von Heinz Ritter-Schaumburg. St. Goar 1989, Bd. 2, S. 693.) 46 Siehe auch Herzog Ernst D (wahrscheinlich von Ulrich von Etzenbach). Hrsg. Hans-Friedrich Rosenfeld. Tübingen 1991 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 104), S. 112, Verse 3366 ff.: »Wetzel der muotes veste dô er niht anders trôstes sach, ze sînem hêrren er dô sprach: ›ich sage iu, wes ich habe gedâht, dâvon wir hinnen werden brâht: von den grîfen sô muoz daz geschehen.‹« <?page no="278"?> Mythos Greif 277 ben, werden sie von den Greifen vom steckengebliebenen und verdammten Schiff ans Land ans Land gebracht. Einmal dort fällt es den Geretteten nicht schwer, den jüngeren Greifen zu entkommen: »alsô wart ouch ze leste dem herzogen und sînen man von den grîfen geholfen dan: dâ von sie sît genâsen.« (Verse 4126-4129) Wenn auch von den Greifen so nicht beabsichtigt, werden sie zu Ernsts und seines Gefolges Helfern aus der Not. Es findet zwischen ihnen und den Helden auch kein Kampf statt. Interessant in dieser Hinsicht ist die Bemerkung von David Blamires: »They are creatures that, though dangerous, can be used to the hero’s advantage. If he were to kill them, he would in effect be killing himself. In psychoanalytical terms the griffin may be regarded as a dark and dangerous part of the human psyche which the hero must harness or come to terms with in order to survive.« 47 Mit Recht weist Blamires die Bemerkung von Hulda Braches zurück, daß »[d]er mythische Greif [...] im Mittelalter stets als das Sinnbild Christi [galt], der ja sowohl im Himmel wie unter irdischen Menschen wohnt« 48 : »This identification is crass and unconvincing with regard to Herzog Ernst, and the claim that the griffin is always a symbol of Christ is totally unjustified.« 49 Dagegen hat Braches recht, wenn sie meint, der Verfasser von Herzog Ernst habe »der Rettung durch die Greife noch eine tiefere Bedeutung [...] beilegen wollen« 50 . Mir scheint, daß manches für die psychoanalytisch fundierte Erklärung von David Blamires spricht. Blamires betrachtet die Greifen-Episode im Herzog Ernst als kennzeichnend für jenes »stage in development at which the individual is no longer in direct control of his destiny. He must give himself over to forces that are out of his conscious c ontrol«. 51 Dabei gehe es, laut Blamires, um den Anfang eines Untersuchungsprozesses, wobei der Held mit seinem eigenen Schatten konfrontiert wird. Am ausführlichsten in der mittelhochdeutschen Literatur berichtet der anonyme Dichte r der mittelhoch deuts chen Kudr un ( um 1240? ) v on dem chaos erzeugenden Greifen, dessen Vorkommen im ersten (fast märchenhaften) Teil dieses »Frauenromans« dem Herzog Ernst manchen Zug verdankt. 52 Ihm gilt der Greif als des Teufels Bote 53 : »ez hêt der übele tiuvel gesant in daz rîche / sînen boten verre« (54,3 - 4a). Somit wird er nicht nur als gesellschaftsgefährdende Gestalt einer anderen Welt angesehen, sondern auch als Inkarnation des Bösen, des Nichtchristlichen, des Zerstörerischen, des Chaosstiftenden. Er kommt aus dem Bereich des Dämonisch-Unbekannten, seine Heimat wird nicht genannt, lediglich wird erzählt, sie liege weit entfernt. Im Gegensatz zur höfischen Gesell- 47 Blamires, David: Herzog Ernst and the otherworld voyage. A comparative study. Manchester 1979, S. 45 48 Braches, Hulda H.: Jenseitsmotive und ihre Verritterlichung in der deutschen Dichtung des Hochmittelalters. Assen 1961 (Studia Germanica, Bd. 3), S. 65. 49 Blamires (Fn. 47), S. 45. 50 Braches (Fn. 48), S. 65. 51 Blamires (Fn. 47), S. 46. 52 Siehe Panzer, Friedrich: Hilde - Gudrun. Eine sagen- und literargeschichtliche Untersuchung. 1901 (Nachdr. Hildesheim 1978), S. 193 ff. 53 Zitate aus der Kudrun sind der Karl Bartsch/ Karl Stackmann-Ausgabe entnommen (siehe Fn. 38). <?page no="279"?> 278 Winder McConnell schaft ist der Greif »wild« (55,1a). 54 Sein Auftreten gerade zum Zeitpunkt des größten Festes des irischen Hofes hat freilich eine symbolische Bedeutung. Es geht um das unerwartete Eindringen des ordnungszersetzenden Chaos in eine scheinbar durch Freude und Harmonie gekennzeichnete Gesellschaft und zwar ausgerechnet in dem Moment, in dem man die stets vorhandenen Gefahren der Umwelt verdrängt und sich den allzu vergänglichen und trügerischen Freuden des Jetzt hingegeben hat: »vor ir manigen freuden si nâmens war vil kleine« (56,3). Von seiner Struktur her läßt sich das Erscheinen des Greifen am irischen Hof durchaus mit dem unerwarteten Auftreten des Aussatzes im Armen Heinrich Hartmanns von Aue vergleichen: beides soll die Wahrheit der christlichen Mahnung bestätigen: »mêdiâ vîtâ / in morte sûmus« 55 . Von vornherein wird auch das Ziel des Greifen klar: Der Sohn des irischen Königs - selbst ein Symbol: der Zukunft, der Kontinuität, des Lichts - soll entführt werden. Der Greif wird als Symbol des Dunklen dargestellt: »Ez begunde schatewen [...] / als ez ein wolken wære« (56,1a und 2a). 56 Der Einbruch in die höfische Gesellschaft wird als kosmisches Ereignis dargestellt, wobei nicht nur das Tageslicht überschattet, sondern auch die Natur unter der überwältigenden Kraft des Greifen beschädigt, bzw. zerstört wird: »Vor des grîfen krefte der walt dâ nider brach« (57,1). Hof, Gastgeber und Gäste sind dem Greifen wehrlos ausgeliefert. Der Hof wirkt ineffektiv. Ungestört darf der Greif sein Opfer entführen und man nimmt sogleich an, der junge Hagen sei des Todes. Das Ungeheuer ist unangreifbar, ihm kann auch nicht nachgesetzt werden, da sein Reich den Iren völlig unbekannt ist. Als Gestalt einer anderen Welt - des Teuflisch-Dämonischen - wird dem Greifen und dessen Vorhaben nur durch das Eingreifen einer höheren Macht Einhalt geboten werden können. 57 Schon am Anfang der 2. Aventiure wird auf die Rolle Gottes hingewiesen (68,1b). Ihm ist zu verdanken, daß Hagen nicht von dem jungen Greifen verschlungen wird (69,3b - 4). Das Motiv hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Greifen-Motiv im Herzog Ernst - in beiden Fällen könnte es sich um eine Vereinigung des Sindbad-Greifen-Motivs aus Tausendundeine Nacht mit den älteren klassischen Vorstellungen des wilden Raubtiers handeln -, geht aber darüber hinaus, indem der alte Greif von Anfang an mit dem Teufel verbunden wird. Die Welt, in die er Hagen hineinträgt, liegt außerhalb des Rahmens der höfischen Welt, ist eigentlich eine Sphäre des Unterweltlichen, des Teuflischen. 54 Zum Begriff »wild« in der mhd. Literatur siehe: Stauffer, Marianne: Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter. Bern 1959 (Studiorum Romanicorum collectio Turicensis, Bd. 10); Hufeland, Klaus: Das Motiv der Wildheit in mittelhochdeutscher Dichtung. In: ZfdPh 96 (1976), S. 1-19; Thelen, Lynn Marsha: Beyond the Court. A Study of the ›wilde‹-Motiv in Medieval German Literature. University of Pennsylvania 1979 (Diss.); Schmid-Cadalbert, Christian: Der wilde Wald. Zur Darstellung und Funktion eines Raumes in der mittelhochdeutschen Literatur. In: Gotes und der werlde hulde. Literatur in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Heinz Rupp zum 70. Geburtstag. Hrsg. Rüdiger Schnell. Bern 1989, S. 24-47. 55 Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. Hermann Paul. 14. Aufl. besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1972 (Altdeutsche Textbibliothek, Bd. 3), S. 3, Verse 92-93. 56 Zahlreiche volkstümliche Varianten dieses Motivs sowohl innerhalb als auch außerhalb des deutschen Sprachraums (einschließlich des Morgenlandes! ) erwähnt Panzer (Fn. 52), S. 191 - 192. 57 Auffallend in der ersten Strophe der zweiten Aventiure ist der Gebrauch von grîfen nicht nur als Substantiv, sondern auch als Verbum: »und grîfen an diu mære, welch ein swinde vart / mit dem wilden grîfen daz edel kint <dô reit>« (67,2-3). Sicherlich mehr als Zufall! Der Dichter scheint von der Vorstellung des »Greifens« in seiner mannigfachen Bedeutung mitgerissen zu sein. <?page no="280"?> Mythos Greif 279 Hagen sollte von dieser Welt »verschlungen« werden. Der junge Greif - wie auch der Teufel - überschätzt in seinem Übermut seine Kraft und es gelingt Hagen zu entkommen. Es kann allerdings nicht ohne weiteres behauptet werden, die Funktion der Greifen bestehe nur darin, höfische Kinder zu entführen, damit sie als Futter für die jüngeren Greifen verwendet werden. Drei Prinzessinnen sind auch von den Greifen entführt worden, aber zu welchem Zweck? Nimmt man an, daß sie, wie Hagen, den jungen Greifen als Futter gegolten haben sollen, so werden sie unmöglich allein diesem Schicksal entkommen sein können. Offensichtlich genießen sie den Schutz Gottes, aber wie er sie vor den Greifen gerettet haben mag, wird im Epos überhaupt nicht erwähnt. Daß sie sich vor ihren Entführern noch in Acht nehmen müssen, bezeugt die Tatsache, daß sie sich »in einem <holen> steine« (74,4b) aufhalten, wo sie sich weder frischer Luft noch Sonne erfreuen dürfen. 58 Die Entführung durch den Greifen trägt zur Entfaltung des Selbstständigkeitsgefühls des jungen Prinzen bei. Während z.B. tote Kreuzzügler am Strande den jungen Greifen nur als Futter dienen (86,2-3), wird Hagen jetzt die Möglichkeit geboten, sich als Retter der Prinzessinen und Vorkämpfer Gottes (sogar in der Bekleidung eines toten Kreuzzüglers) gegen diese teuflische Macht zu profilieren. Daraufhin gerät er in einen mörderischen Kampf gegen den alten Greifen, der ihn an Ort und Stelle verschlingen will, einen Kampf, den er auch gewinnt, wie auch einen zweiten gegen einen anderen Greifen. Schließlich tötet er das ganze Geschlecht (94,3), aber das gelingt ihm nur, weil er sich der Hilfe Gottes erfreut: »des half im got von himele; jâ mohte er solher krefte niht gewalten« (94,4). Während aber der Erzähler hervorhebt, daß Hagen Gott seinen Sieg verdankt, wird im weiteren Verlauf dieser Aventiure - vor allem nach Hagens erfolgreichem Kampf gegen den gabilûn (100,3ff.) auffällig, wieviel von der Wildheit seiner Umgebung der Held sich selbst aneignet. Schließlich wird auch Hagen konsistent das Beiwort »wild« beigelegt (z.B. 106,1a; 124,1a; 198,1a; 226,4a; 255,4a; 312,1a; 315,1a; 362,1a; 381,1a; 433,1a; 447,1a) und er wird auch durch das Substantivum »Vâlant« (168,2a) mit dem Teufel, zumindest dem Teuflischen assoziiert. Diese »Verwilderung« Hagens wird allerdings in der Kudrun nicht verabsolutiert; nach dem (an sich verlorenen) Kampf gegen die Hegelingen, die seine Tochter »entführt« haben, wird der irische König wieder ganz in die höfische Gesellschaft integriert. Trotz der negativen Darstellung des Greifen in der Kudrun und anderen mittelhochdeutschen Literaturdenkmälern wahrt dieses mythologische Wesen anscheinend seine Affinität zum Höheren, Geistigen. Hugos von Trimberg zwischen 1290 und 1300 entstandenes Lehrgedicht Der Renner - das sich mit 60 überlieferten Handschriften offensichtlich einer großen Beliebtheit im späten Mittelalter erfreute 59 - widmet dem Greifen einen ganzen Abschnitt, der hier vollständig zitiert wird: 58 Nachdem Hagen das ganze Greifengeschlecht vernichtet hat, »dô hiez er sîne frouwen von dem steine gân. / er sprach: ›lât iu erschînen den luft und ouch die sunnen‹« (95,2-3). Gerade diese Bewegungsfreiheit verweigert Hagen später seiner eigenen Tochter Hilde, als er sie allen Freiern vorenthält und diese auf rohe Weise ums Leben bringt. In einer Hinsicht kann man behaupten, Hagen habe selbst die chaotische Rolle des Greifen übernommen, indem er in sein eigenes Reich einen Zustand eingeführt hat, der eher der Situation im Greifenland als der einer höfischen Gesellschaft entspricht. 59 Siehe Frenzel, Herbert A. und Elisabeth: Daten deutscher Dichtung. Chronologischer Abriß der deutschen Literaturgeschichte, Bd. I: Von den Anfängen bis zur Romantik. München 13 1977, S. 67. <?page no="281"?> 280 Winder McConnell Von dem grîfen Wer könde grôz wunder grôzer grîfen Mit kleinen worten wol begrîfen, An die gotes hôhiu wirdikeit Besunder wunder hât geleit? Daz zwêne künige offenbâr, Hinden lewen, vorn adelar, Gemischet sint in einer hiute, Des mac wol wundern alle liute! Si sint sô starc und ouch sô grôz, Daz lützel tier sîn ir genôz. Des füerent ouch si spât und fruo Vil groezer âmen irn jungen zuo Denne meisen, sparn oder künigelîn 60 : Gelobet muoz der schepfer sîn, Der kleinen vogelîn hât gegeben Als grôzen grîfen, swes si leben! Der adelar und der lewe sint Zesamen gemischet, dâ gotes kint Der meide kint ouch wolte werden Und bî uns wonen hie ûf erden. 61 Neben dem Wunderbaren am Wesen des Greifen unterstreicht Hugo das Edle und auch durchaus Positive an der mythologischen Gestalt. Der Greif besteht aus zwei Königen (»zwêne künige«), d.h. dem König der Luft und dem König der Erde; noch wichtiger ist aber die Art und Weise, wie der Greif in den Versen 19513-19516 mit Christus in Verbindung gebracht wird - als eine (geglückte) Mischung von Himmlischem und Irdischem. Im Gegensatz dazu ist jedoch die Beschreibung des Greifen, die uns Konrad von Megenberg in seinem Buch der Natur ( 1349/ 1350) bietet: »Grifis haizt ain greife. daz ist ain vogel, sam Jacobus spricht, der ist auzdermâzen grimme und übele und ist des leibes sô starch, daz er ainen gewâpenten man überwindet und in toett. er hât grôz scharpf klâen oder kræuel, dâ mit er den menschen und andreu tier zereizt, und die klâen sint sô grôz, daz in die läut köpf dar auz machent und trinkväzzer. der vogel ist vierfüezig und ist dem adlarn gleich an dem haupt und an den flügeln, iedoch ist er verr groezer. daz ander tail seines leibes ist ainem lewen geleich. und wont auf den pergen, die dâ haizent hyperborei. der vogel ist den menschen gar veint und den pfärden. er legt in sein nest ainen stain, der haizt agathes. waz kraft der hab, daz wirt her nâch kunt, wenn wir von den edeln stainen sagen. Rabanus spricht, daz die greifen golt auzgraben und sich gar sêr fräuen, wenn si daz golt ansehen.« 62 Der Greif hat aber auch offensichtlich eine durchaus positive Rolle in der Heraldik gespielt: »As a hybrid of two noble beasts, the griffin was well-fitted to parade the strength 60 Es bleibe dahingestellt, ob Hugo mit »künigelîn« lediglich »Kaninchen« und nicht auch, in Anspielung auf den Hagenteil der Kudrun und die Entführung Hagens, »kleinen König« gemeint hat. 61 Hugo von Trimberg: Der Renner. Hrsg. Gustav Ehrismann. Mit einem Nachwort und Ergänzungen von Günther Schweikle, Bd. 3. 1909 (Nachdr.: Berlin 1970 [Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters]), S. 106, Verse 19497 - 19516. 62 Konrad von Megenberg (Fn. 31), S. 190. <?page no="282"?> Mythos Greif 281 and grandeur of the European nobility.« 63 Auch die Klauen des Tieres wurden zum Wappen eines Ritters, wie etwa bei Heinrich von dem Türlîn in seiner Crône (um 1220): »Ein ritter kumt ûf den sant, Der heizt Fiers von Arramîs, Des herze vert nâch hôhem prîs Und vüert eines grîfen klâ.« 64 Die Klauen des Greifs wird unmittelbar nach der Absicht des Fiers von Arramîs erwähnt, »nâch hôhem prîs« zu streben. Er gilt offenbar als Symbol des Mutes, des Draufgängertums. In einem ganz anderen Zusammenhang wird die Greifenklaue mit christlichem Brauchtum in Verbindung gebracht. Sie galt als eine Bezeichnung für bestimmte »cornua« (Reliquienbehälter) im europäischen Mittelalter bis in das 17. Jahrhundert hinein: »Aus einem Büffelhorn gemachte cornua werden, wenn stark gekrümmt, in den Inventaren als ungula griffonis, deutsch als Greifenklaue bezeichnet. So im Inventar der Kathedrale zu Durham von 1382; im Inventar von St-Bertin von 1465: In uno cornu sive ungula griffonis valde curvo habentur reliquiae etc.; im Wiener Heiligtumsbuch von 1502: Ain Greiffenkla, mit Silber beschlagen; im Halleschen Heiltumsbuch: Eyne greyffenn Clawe, in Silber gefaßt, und in einem Inventar des Klosters Belbuck (Pommern) von 1525: I gripesklage, unbeslagen; im Wittenberger Heiltumsbuch von 1509: Ein Greiffklawe; in einem Inventar des Domes zu Goslar von etwa 1525: Ein greiffen clawen, die olde, die andere greiffen clawe, und noch in einem Inventar der Abtei zu Siegburg von 1608: Item ein Greiffklaw schwartz mit silber beschlagen, darinnen verschiedene Reliquien erfindlich.« 65 Eine möglicherweise sehr positive Vorstellung vom Greifen läßt sich auch an der Divina Commedia von Dante nachweisen. Im 29. Canto der Purgatorio liest man von dem Wagen Christi, der von einem Greifen gezogen wird: »un carro, in su due rote, trïunfale ch’al collo d’un grifon tirato venne. [...] le membra d’oro avea quant’ era uccello, e bianche l’altre, di vermiglio miste.« 66 H. Flanders Dunbar sieht in der Darstellung des Greifen bei Dante nichts weniger als einen Vertreter Christi: »Through the nature of the grifon was the unique unification of the dual nature of finite creation, symbolized in the two wheels of the car he drew. [...] The eternal pairs, divine and human, church and empire, theology and philosophy, together with their fruit the mystic consummation in contemplation and action, are suggested in the two wheels of the car, and united 63 Payne, Ann: Medieval Beasts. London 1990, S. 29 (mit Abbildung). [Als Hybride zweier edler Tiere eignete sich der Greif besonders dazu, die Macht und Herrlichkeit des europäischen Adels darzustellen.] Siehe auch die vielen Beispiele des Greifen als Wappentier bei Fairbairn, James: Heraldic Crests. A Pictorial Archive of 4,424 Designs for Artists and Craftspeople. New York 1993, besonders die Tafeln 62-65. 64 Heinrich von dem Türlîn: Diu Crône. Hrsg. Gottlob Heinrich Friedrich Scholl. 1852 (Neudr.: Amsterdam 1966), S. 220, Verse 17919 - 17922. 65 Braun, Joseph: Die Reliquiare des christlichen Kultes und ihre Entwicklung. Freiburg im Breisgau 1940, S. 55. 66 Dante Alighieri: Die Göttliche Komödie. Übers. Karl Witte, durchges. von Berthold Wiese. Hrsg. v. Werner Bahner. Leipzig 1990, S. 255 (V. 107 f., 113 f.): »[...] ein Siegeswagen, ruhend auf zwei Rädern, / und diesen zog ein Greif an seinem Halse [...] die Glieder waren Gold, so weit des Vogels / Gestalt ging, aber rot und weiß die andren.« <?page no="283"?> 282 Winder McConnell in the two natures of the grifon, the white and vermilion signifying the elements of the Eucharist. [...] [T]he grifon, drawing the car, is representative of Christ as the head of his mystical body, humanity.« 67 In einer der bisher ausführlichsten Untersuchungen über den Greifen - und nicht nur beim italienischen Meister! - hat Peter Armour jedoch gezeigt, daß zur Zeit Dantes das vorherrschende Bild des Fabeltiers ein unverkennbar negatives war, was seine Interpretation als Sinnbild Christi unmöglich machen müßte: »The connotations of the griffin in Dante’s time constitute strong external evidence against the theory that his griffin symbolizes Christ. The internal evidence likewise points inescapably towards the rejection of this reading.« 68 Armour identifiziert den Greifen Dantes mit einer idealisierten Projektion eines künftigen römischen Kaisers, einer Vorstellung der Danteschen Theologie der Weltgeschichte , deren Zentrum Rom sein soll. 69 Hinsichtlich der christlichen Symbolik des Greifen scheiden sich also die Geister. Louis Charbonneau-Lassay hat gemeint, der Greif sei das »Lieblingswesen« der christlichen Symbolisten bei der Darstellung der Natur und Vorzüglichkeit Christi. 70 Indem er auch auf Dante hinweist, erklärt er: »Joining in itself the two natures of eagle and lion, the griffin is one of the most satisfactory emblems of Christ’s dual nature« 71 , wobei das Vorderteil des Tieres die Göttlichkeit, das Hinterteil die Menschlichkeit Christi darstellt. Charbonneau-Lassay suggeriert sogar, daß dieses Fabelwesen ein Symbol der Weisheit, des höchsten Lichts des Geistes und auch der Macht Christi gewesen sei. 72 Weiter soll der Greif auch die Heiligen symbolisiert haben. 73 Andererseits räumt der Verfasser ein, daß in der mittelalterlichen Ikonographie der Greif öfters als Sinnbild des Teufels gegolten habe, vor allem dann, wenn das Hinterteil, das sonst löwenartig ausgesehen hat, die Eigenschaften eines Drachen annahm. 74 67 Dunbar, H. Flanders: Symbolism in Medieval Thought and its Consummation in the Divine Comedy. New York 1961, S. 318 und S. 321 [Durch die Natur des Greifen spiegelte sich die eigenartige Vereinigung der zweifachen Natur der begrenzten Schöpfung wider, die durch die zwei Räder des von ihm gezogenen Wagens symbolisiert wird. [...] Die ewigen Paare, göttlich und menschlich, Kirche und Reich, Theologie und Philosophie, zusammen mit ihrer Frucht, der mystischen Vollendung in Kontemplation und Handlung, erscheinen in den beiden Rädern des Wagens und sind in den beiden Naturen des Greifen vereinigt, das Weiße und Vermillon die Elemente der Eucharistie bezeichnend. [...] [D]er Greif, der den Wagen zieht, stellt Christus als Haupt seines mystischen Körpers, der Menschheit, dar.] Siehe auch Toynbee, Paget: A Dictionary of Proper Names and Notable Matters in the Works of Dante. Oxford 1898, S. 289, s.v. Grifone: »[...] commonly understood to be symbolical of Christ«. 68 Amour (Fn. 12), S. 46. Siehe auch Colin Hardie, The Symbol of the Gryphon in Purgatorio x xix. 108 and following Cantos, in: Centenary Essays on Dante, hrsg. von Mitgliedern der Oxford Dante Society. Oxford 1965, S. 113: We have found nothing in the tradition to suggest the gryphon even distantly as a symbol of Christ [...]» Hardie suggeriert, der Greif »stands for Dante’s restored nature in its two sides, animal and spiritual [...]. In letzter Hinsicht ist eine Bemerkung Waltraud Bartschs von Interesse: »[I]f we contemplate their proud images intently enough, we come to the realization that they hold up a mirror to humankind - showing us our own dual nature, composed of spirit and matter, good and evil« (Fn 2, S. 99). 69 Armour (Fn. 12), S. 290 - 291. 70 Charbonneau-Lassay, Louis: The Bestiary of Christ. Übersetzt von D. M. Dooling. New York 1991, S. 397. Die mittelalterlichen Bestiarienenthalten im allgemeinen recht wenig über den Greifen. 71 Charbonneau-Lassay (Fn. 70), S. 402. 72 Charbonneau-Lassay (Fn. 70), S. 403 - 404. 73 Charbonneau-Lassay (Fn. 70), S. 405- 406. <?page no="284"?> Mythos Greif 283 Der Greif war im Mittelalter ein Phänomen, das Europäer mit »dem anderen« (= exotischen Ländern und Völkern) verbunden haben. In seinem Reisebericht (Narrative of Travels), der zwischen 1357 und 1371 zunächst auf lateinisch und französisch erschienen ist, hat Sir John Mandeville von den Greifen in Bacharie (Baktrien - einst teilweise im nordöstlichen Afghanistan und teilweise in der südlichen ehemaligen UdSSR) erzählt: »In þat contree ben many Griffounes more plentee þan in ony other contree. Summen seyn þat þei han the body vpward as an Egle And benethe as a Lyoun.« 75 Allerdings schreibt Mandeville dem Greifen die Stärke von acht Löwen und mehr als hundert Adlern, »wie sie unter uns bekannt sind«, zu, der auch ein starkes Pferd oder zwei Ochsen in seinen Klauen wegtragen könnte. 76 Auch Goethe kannte den Greifen, hat ihn doch im zweiten Teil seines Faust: »Klassische Walpurgnisnacht« verwendet, wo er auch mit dem altüberlieferten Motiv des Greifen als Goldhüters assoziiert wird: Gold in Blättchen, Gold in Flittern Durch die Ritzen seh' ich zittern. Laßt euch solchen Schatz nicht rauben, Imsen, auf! es auszuklauben. [...] Herein! Herein! Nur gold zuhauf! Wir legen unsre Klauen drauf; 74 Charbonneau-Lassay (Fn. 70), S. 407. Das dichotomische Wesen des Greifen fällt besonders in der Heraldik auf: »[I]n the medieval religious heraldry and sigillography (the study of seals), when the griffin appears alone it must be regarded as the image of Jesus Christ, God and man. The ›griffin-dragon‹ of heraldry, which is opposed to the usual ›griffin-lion,‹ and whose body ends like that of a reptile, always represents an abominable enemy - in a word, Evil« (S. 408). Siehe auch: Borges, Jorge Luis [in Zusammenarbeit mit Margarita Guerrero]: Einhorn, Sphinx und Salamander. Buch der imaginären Wesen. Nach den Übers. von Ulla de Herrera und Edith Aron bearbeitet und ergänzt von Gisbert Haefs. Nachwort Dietmar Kamper. Gesammelte Werke, Bd. 8. München; Wien 1982, S. 54: »Die Auslegungen des Mittelalters bezüglich der Symbolik des Vogels Greif sind widerspruchsvoll. Ein italienisches Bestiarium meint, er stelle den Teufel dar; im allgemeinen ist er das Sinnbild Christi, und so erklärt Isidor von Sevilla in seinen Etymologien: ›Christus ist Löwe, weil er herrscht und die Kraft besitzt; Adler, weil er nach der Auferstehung in den Himmel steigt.‹« 75 Mandeville’s Travels. Übersetzt aus dem Französischen des Jean d’Outremeuse von P. Hamelius. Bd. I: Text. 1919 (Nachdr. London 1960 [Early English Text Society, Bd. 153]), S. 178. Siehe auch: Sir J. Mandevilles Reisebeschreibung in deutscher Übersetzung von Michel Velser. Hrsg. Eric John Morrall. Berlin 1974 (Deutsche Texte des Mittelalters, Bd. 66), S. 153: »Von dem land so kumpt mann in ain land das haisset Balkerya [...] Item in dem land sind me griffen wan in kainem andren land. Nun spricht etlich volck, der gryff sy vornen als der adler und hinen als ain l o e w. Sicher sie sagend wär, wann sie sind also geschaffen. Aber ir s o e llend wissen das ain griff hät gr o e ssern und sterckern lip wan acht l o e wen und hät mer sterckin und gr o e ssin wan hundert adler. Wann sicher ain griff f u e rt an dem flug ainen man mit roß und mit allem, und zwen ochsen die zesamen gebunden sind, als wenn sie ziehen s o e llend in dem wagen. Wann sicher er hät der vordren gr u e wel clauwen als lang und als groß als ain ochsen horn, wann man g u o t bogen machet uß seinen clauwen. Von sinen fedren die sind als starck das man da von als g u o t horn machet z u o schiessend als sie gesin múgend.« 76 Mandeville, S. 179 [Ausg. d’Outremeuse/ Hamelius]. Siehe auch das Kapitel über »Prestre Jehan«, ein Werk des 15. Jahrhunderts bei Ferdinand Denis (Fn. 17), S. 187 ff., in dem berichtet wird: »Item, sachez que nous avons les oyseaulx qui s’appelent grifons et portent bien ung beuf ou ung cheval en leur nid pour donner à leurs petiz oyseaulx.« [Ebenso wißt, daß wir Vögel haben, die Greifen genannt sind und wohl einen Rind oder ein Pferd zu ihrem Nest tragen, um sie ihren kleinen Vögeln als Futter zu geben.] <?page no="285"?> 284 Winder McConnell Sind Riegel von der besten Art, Der größte Schatz ist wohlverwahrt. 77 Hier rufen die Greifen dem Chor der Ameisen zu, die als Goldsammler dargestellt werden. (Das Motiv der »Zusammenarbeit« zwischen Ameisen und Greifen bei der Erschaffung und Bewachung von Gold kommt zunächst bei dem Griechen Flavus Arrianus (2. Jahrhundert) in seiner Anabasis Alexandri vo r . 78 ) Der goldhütende Greif war auch Wieland bekannt: »Nie werden wir, in Wasser noch in Luft, Noch wo im Blütenhain die Zweige Balsam regnen, Noch wo der hagre Greif in ewig finstrer Gruft Bei Zauberschätzen wacht, einander mehr begegnen.« 79 Wenn aber der Greif offensichtlich in verschiedenen Kulturen zu verschiedenen Zeiten zweideutiger Natur sein konnte 80 , scheint die dunkle Seite seines Wesens zu überwiegen, auch wenn der Greif im klassischen Altertum mit Apollo und dem Streben nach Höherem identifiziert wurde. Armour meint, daß nur wenige klassische Quellen etwas Positives über den Greifen berichteten, wobei auch diese nicht außer Acht ließen, daß es sich um einen wilden Vogel handelt, der in der Wüste lebte. 81 Der Greif erfreut sich offensichtlich keiner breiten zeitgenössischen »Beliebtheit« - ob im negativen oder im positiven Sinne - wie etwa der Drache. 82 Woran mag das liegen? Es scheint klar zu sein, daß der Vogel Greif unter dem Einfluß des Christentums niemals 77 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Zweiter Teil. In: Goethes Werke. 6. Teil. Hrsg. Robert Riemann. Berlin o.J.), S. 209 - 210. 78 Arian . Mit einer englischen Übersetzung von E. Iliff Robson. Bd 2: Anabasis Alexandri (Bücher V-VII), Indica (Buch VIII). London 1933 (The Loeb Classical Library), S. 14, V. 4.3. 79 Wieland, Christoph Martin: Oberon . In: Werke. Hrsg. Fritz Martini, Hans Werner Seiffert. Bd. 5, bearbeitet von Hans Werner Seiffert. München 1968, S. 270, 6. Gesang, Strophe 99. Gleich am Anfang seiner Verserzählung läßt Wieland den Erzähler die Musen auffordern, ihm den Hippogryphen (ein fabelhaftes Wesen mit Greifenkopf und Pferderumpf) zu satteln, damit er (wie Alexander! ) in höhere Sphären hinaufreiten kann: »Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen, ihr Musen, / zum Ritt ins alte romantische Land! « (S. 165, 1. Gesang, Strophe 1). Das erinnert an Ludovico Ariostos Orlando Furioso (1516), wo im 4. Canto der Hippogriff des Zauberers Atlante erscheint und in Strophe 17 ausführlich beschrieben wird. Siehe: Ariosto, Ludovico: Orlando Furioso, übersetzt von Barbara Reynolds (Baltimore: Penguin Books, 1975), Teil 1, S. 179 ff. 80 Wir können ohne weiteres mit der lakonischen Bemerkung von Angelo De Gubernatis übereinstimmen: »Die Greife werden mit einer Doppelnatur dargestellt, bald als günstig, bald als bösartig« ([Fn. 24], S. 498). Christoph Koch hat fünf verschiedene Funktionskategorien des Greifen aufgestellt, die gleichzeitig die dunkle und helle Seite des Fabeltieres unterstreichen: 1) Greifen als Gehilfen der höchsten Gottheit, 2) Die goldhütenden Greifen, 3) Der Höhenflug mit Hilfe von Greifen, 4) Der Greif als Unterweltsvogel (vor allem in Märchen), 5) Der Greif als Raubvogel (»Die slavische Bezeichnung des Greifen«, S. 111 - 115). 81 Armour (Fn. 12), S. 25 - 26. 82 Siehe Clark, Anne: The Griffin and the Gryphon. In: Jabberwocky. The Journal of the Lewis Carroll Society 6,1 (Winter 1977), S. 16: »[...] yet this strange beast would be almost forgotten today except for two factors: its widespread adoption in heraldry, and its inclusion by Lewis Carroll in Alice’s Adventures in Wonderland«.Siehe jedoch Waltraud Bartscht (Fn. 2), S. 85: »[...] to this very day, griffins are still very much with us«. <?page no="286"?> Mythos Greif 285 konsistent und mit effektiver Nachwirkung zur Inkarnation des Bösen, zum Symbol des Teuflischen, des Chaos geworden ist, wie das dem Drachen geschah. 83 Es sieht sogar aus, als ob er schon früh selbst - gelegentlich! - als Symbol Christi gegolten haben mag und - trotz seiner durchaus bezeugten dunklen Seite in der mittelhochdeutschen Literatur - durch die Jahrhunderte hindurch gewisse prinzipiell positive Eigenschaften neben den negativen wahrte. Diese Ambivalenz hat dem Greifen von seinen Ursprüngen an angehaftet. Der Drache ist dagegen früh mit der Schlange (= Satan) in Verbindung gebracht. In der Kudrun geschieht das freilich mit dem Greifen, der Hagen entführt, und damit kann auch der Kampf Hagens (unterstützt von Gott! ) gegen das Greifengeschlecht als stellvertretend für den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse bezeichnet werden. Aber eine konzentrierte und konsistente Verteuflung ist ihm erspart geblieben. Der Greif interessiert infolgedessen nicht wie der Drache, der Verborgenes, Geheimliches, in seinem Wesen trägt. Der Drache ist mehrdimensional geblieben, während der Greif, insoweit er überhaupt in unsere Zeit hinein übergetragen wurde, relativ »unproblematisch« wirkt, vor allem im volkstümlichen Bereich. 84 Es verwundert nicht, daß die Bezeichnung »Greif« vor allem noch im militärischen Bereich Verwendung findet; dabei hat man an des Greifen Wildheit, Stärke und seine Neigung zum schnellen Eingreifen mit zerstörerischer Wirkung gedacht. 85 Man denke z.B. an das während der Ardennen-Offensive durchgeführte Unternehmen »Greif« unter der Leitung des Mussolini-Befreiers Otto Skorzeny, wobei englischsprechende deutsche Soldaten in amerikanischer Uniform hinter der alliierten Front Sabotageakte durchgeführt haben, um Verwirrung und Chaos unter den amerikanischen Truppen zu stiften, oder an den Namen des 924-Tonnen-Torpedobootes der einstigen deutschen Kriegsmarine, das am 24. Mai 1944 nordwestlich von Ouistreham versenkt wurde. 86 »Greif« diente auch als Deckname für den in Österreich geborenen antifaschistischen Spion Paul Rosbaud. 87 83 Obwohl im Märchen »Der Vogel Greif«, in dem der dumme (aber redliche) Hans eine Feder vom Greifenschwanz holen muß, der Greif als »Christenfresser« bezeichnet wird. Siehe: Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm. Vollständige Ausgabe auf der Grundlage der dritten Auflage (1837). Hrsg. Heinz Rölleke. Frankfurt a. M. 1985 (Bibliothek deutscher Klassiker), S. 620. Es soll aber gleichzeitig nicht vergessen werden, daß in diesem Märchen der Greif als allwissendes Wesen erscheint. 84 Man merke z.B. das Kleinbasler Fest »Vogel Gryff«, das jeden Januar stattfindet und von drei Ehrengesellschaften veranstaltet wird, dessen Zentralgestalt eher der »Wilde Mann« ist, der die eine Gesellschaft repräsentiert. Der »Vogel Gryff« und der Leu (Löwe) bezeichnen die beiden anderen Gesellschaften. Alle Aktivitäten, einschließlich der Fahrt auf dem Rhein und der Tänze auf der Mittelbrücke, dürfen nie die Mitte des Rheins oder der Brücke überschreiten, d.h. auf die Grossbasler Seite gelangen, sonst wird man dem Hohn und Spott der Beobachter ausgesetzt. Grossbasel wird fast als eine »andere Welt« angesehen, auf die die drei phantastischen Figuren nicht einmal einen Blick hinüberwerfen. Siehe: Kearney, Shirley L.: Basel: A Cultural Experience. Basel 1987, S. 18. Ich danke meinem Kollegen Prof. Dr. Richard Falk (University of California, Davis) für diesen Hinweis. 85 Interessant in dieser Hinsicht ist auch das Kapitel bei Flagge (Fn. 4), S. 44 ff.: »Der Greif als kämpferisches Prinzip«, in dem sich die Verfasserin freilich auf altassyrische, etruskische, altgriechische und römische Belege stützt. 86 Siehe Tarrant, V. E.: The Last Year of the Kriegsmarine May 1944 - May 1945. Annapolis 1994, Bild gegenüber S. 128. Nach der Wende wurde das alte DDR-Marine-Schulschiff »Wilhelm Pieck« (Heimathafen: Greifswald) auf den Namen »Greif« umgetauft und dient heute als Schul-, Ausflugs-, und Ferienschiff für Jugendliche. Lotte Gaebel (St. Gallen) bin ich für diesen Hinweis dankbar. 87 Siehe Kramish, Arnold: The Griffin. Boston 1986. <?page no="287"?> 286 Winder McConnell Obwohl der Greif öfters als Verzierung dient 88 , wird er dem Menschen der letzten Jahre des zweiten Jahrtausends wenig bedeuten, es sei denn, dieser ist mit der Literatur des klassischen Altertums oder des europäischen Mittelalters gut vertraut. 89 Auch in der Kinderliteratur stellt er - wenn auch keineswegs ganz abwesend! 90 - keine Konkurrenz für den Drachen dar. Im Gegensatz zum letzteren, mit dem er in der Tradition tatsächlich sehr viel Gemeinsames hat, hat sich der »Mythos Greif« in unsere Zeit hinein als etwas Bewußtes kaum bewahrt. 88 Wie etwa bei einer zum Verkauf angebotenen Briefpapier-Kasette des Metropolitan Museum of Art, die das Bildnis eines assyrischen Greifen trägt. Ich verdanke meiner Kollegin, Dr. Ingeborg Henderson, den Hinweis auf diese moderne Verwendung eines sehr alten Motivs. Siehe auch Bartscht (Fn. 2), S. 87: »Even today, griffins are in favor as emblems for business firms, from insurance companies to publishing houses.« [Auch heute werden Greifen als Embleme für Geschäfte wie Versicherungsfirmen und Verlage bevorzugt.] Siehe z.B. den New Yorker Verlag St. Martin’s Griffin. »Greif« taucht auch immer wieder in Personen- und Ortsnamen auf, wie etwa »Grifford«, »Griffen«, »Griffith« und »Griffin« und »Greifswald«, »Greifenberg«, »Greifenhagen«, »Greifensee« (Bartscht, S. 87). Freilich ist dem breiten Publikum die Kenntnis jener Symbolik, die einst den Greifen (im Vergleich zum Drachen) auszeichnete, abhanden gekommen. 89 Trotz der Behauptung Waltraud Bartschts, »[t]hey are still exerting their power« (Fn. 2, S. 99). 90 Siehe z.B. Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1866) oder Wallace Tripp Sir Toby Jingle's Beastly Journey (1976). Ein Gedicht des amerikanischen Dichters Vachel Lindsay aus dem Jahr 1912 bietet auch ein Bild des Greifen, das an den Drachen des bekannten Liedes von Peter, Paul und Mary ( Puff, the Magic Dragon ) aus den sechziger Jahren erinnert: »Yet Gentle Will the Griffin Be (What Grandpa Told the Children) The moon? It is a griffin’s egg, Hatching tomorrow night. And how the little boys will watch With shouting and delight To see him break the shell and stretch And creep across the sky. The boys will laugh. The little girls, I fear, may hide and cry. Yet gentle will the griffin be, Most decorous and fat, And walk up to the Milky Way And lap it like a cat.« <?page no="288"?> Harpyie Sieglinde Hartmann (Frankfurt a.M.) Von den ältesten Mythenwesen aus vorgeschichtlicher Zeit sind nur wenige in die christliche Glaubenspraxis des abendländischen Mittelalters aufgenommen worden. Zu diesen seltenen Ausnahmen gehört die Harpyie, die um 1200 in Handbüchern und Traktaten von Theologen und Predigern in neuen, christlich-spirituellen Funktionen auftaucht, welche sich im Spätmittelalter über die Predigtpraxis oder mittels erbaulicher Schriften einen festen Platz im Glaubensleben erobern konnten. Das Erscheinen dieser »neuen« Harpyie, wie sie der Kunsthistoriker Karl-August Wirth, einer der besten Kenner mittelalterlicher Harpyien, nennt 1 , stellt die Forschung vor mancherlei Rätsel. Denn es ist zwar deutlich erkennbar, daß die christlichen Harpyienvorstellungen aus einer Metarmorphose sehr viel älterer, teils antiker, teils vorgeschichtlicher Mythenwesen hervorgegangen sind. Die Ursachen oder Phasen dieser Verwandlung sind jedoch nicht dokumentiert beziehungsweise noch nicht wiederentdeckt. Harpyien in griechischer und römischer Antike Erstmals faßbar wird die Harpyie für uns unter dem Namen, mit dem sie in den griechischen Mythen bezeichnet worden ist. Der Gattungsname Harpyie leitet sich aus dem Verb »harpázein« (gr. »`arp£zh«) ab, was zu deutsch »blitzschnell, wie im Flug erhaschen«, »wegraffen« bedeutet. Dieser Bedeutung entsprechend werden die Harpyien in den ältesten griechischen Quellen als Greifvögel mit weiblichen Köpfen und Brüsten dargestellt. Bei Homer sind die Harpyien teils den Windkulten, teils der Unterwelt zugeordnet. So erwähnt er in der Ilias lobend die Harpyie Podarge (= Schnellfüßige), die ihrem Gemahl Zephyr die »weitberühmten« Kinder Xanthos und Balios, die windschnellen Rosse des Helden Achill, geboren habe. 2 Durch die Verbindung mit Zephyr rückt Homer die Harpyien gleichzeitig in die Nähe von Fruchtbarkeitsgottheiten, da dieser als Gott des regenreichen Westwinds verehrt wurde. In der Odyssee dagegen berichtet Penelope von 1 Wirth, Karl-August: Wege und Abwege der Überlieferungsgeschichte von Gestalten des klassisch-antiken Mythos: das Bild der Harpyie im ausgehenden Mittelalter (und bei Giorgio Vasari). Novi Sad 1981 (17 Zbornik Za Likovne Umetnosti 17), S. 21; für alle Nachweise von christlichen Behandlungen der Harpyien im Mittelalter sowie von Abbildungen mittelalterlicher Harpyiendarstellungen ist diese Arbeit grundlegend. - Eine Kopie dieser Untersuchung hat mir freundlicherweise Prof. Dr. Christoph Gerhardt, Universität Trier, zur Verfügung gestellt. Dafür sowie für weitere Informationen und die Überlassung zweier bisher unveröffentlichter Meisterlieder über die Harpyie aus der Kolmarer Liederhandschrift sage ich meinen herzlichen Dank. 2 Homer: Ilias und Odyssee. Deutsch von Johann Heinrich Voss. Eltville a. Rh. o.J., 16. Gesang, V. 150 - 151: »Diese [= beiden Rösser] gebar dem Westwind einst die Harpyie Podarge, / Weidend auf grünender Au an Okeanos’ strömenden Wassern«; 19. Gesang, V. 400 - 417 feuert Achill die beiden Rosse zum Kampf an, worauf Xanthos mit einer Prophezeiung von Achills gewaltsamem Tod antwortet. <?page no="289"?> 288 Sieglinde Hartmann namenlosen Harpyien, welche die Töchter des Pandareos für die »verhaßten« Erinnyen, die griechischen Rachegöttinnen, geraubt hätten. 3 Wenig später als Homer, um 700 v.Chr., überliefert Hesiod in seiner Theogonie zwei weitere Harpyien-Namen, Aello (= Windstoß) und Okypete (= Schnellfliegende). In der Schilderung ihrer Abstammung von Thaumas, einem Sohn des Meeresgottes Pontos, schimmert gleichfalls ein Zusammenhang mit vorklassischen Fruchtbarkeitsgottheiten durch: »Thaumas führte die Tochter des tiefströmenden Okeanos, Elektra, als Frau heim. Diese aber gebar die schnelle Iris und die schönhaarigen Harpyien, die Aello und die Okypete, die dem Wehen des Windes und den Vögeln folgen mit schnellen Flügeln. Über die Erde nämlich schwebten sie dahin.« (V. 265 - 269). 4 Die positiven Züge, wie sie in Hesiods Harpyienschilderung vorherrschen, werden in der Folgezeit fast völlig durch Dämonisierungen dieser Eigenschaften verdrängt sowie durch ein stärkeres Hervortreten von Wesensmerkmalen anderer prähistorischer Gottheiten chthonischer Natur, wie sie schon in der Verbindung zu den Erinnyen bei Homer erkennbar wurden. Die Verbreitung solch negativer Hapyienvorstellungen mit teilweise von Hesiod abweichenden Genealogien und Namen ist in mehreren Werken griechischer wie römischer Literatur von den klassischen bis in die spätantiken Zeiten überliefert. 5 Bestimmend für das Mittelalter wurden davon vor allem die Harpyienepisoden aus der Argonautensage sowie aus Vergils Aeneis. Dabei erscheinen neben Wasser und Meer erstmals Darbringung und Genuß von Speisen als mythische Kernmotive, die bekanntlich zu den Hauptbestandteilen archaischer Fruchtbarkeitsriten gehören. Im Gegensatz zu ihren mutmaßlichen Vorgängerinnen wirken die Harpyien nun jedoch nicht mehr als Spenderinnen, sondern als Räuberinnen lebenserhaltender Speisen. So fungieren sie in einer Version der Argonautensage, an die später der römische Dichter Vergil anknüpfen sollte, als fliegende Ungeheuer, welche dem geblendeten Seher Phineus aus Pontos (! ) am Schwarzen Meer ständig die Speisen rauben und besudeln, bis ihn die Argonauten Kalais und Zetes, die geflügelten Söhne des (Nord)-Windgottes Boreas, von dieser Heimsuchung befreien. 6 3 Homer (Fn. 2), 20. Gesang, V. 61 - 79. 4 Hesiod: Theogonie. Hrsg., übers. u. erl. von Karl Albert. 5. Aufl. St. Augustin 1993 (Texte zur Philosophie, Bd. 1), S. 65 - 66. 5 Vgl. die alten, aber materialreichen Lexikon-Artikel von Engelmann, R.: Harpyia. In: Ausführliches Lexikon der griech. u. röm. Mythologie. Hrsg. W. H. Roscher. Leipzig 1886, Bd. 1, 2. Abtlg., Sp. 1886 - 1890; Sittig, E: Harpyien. In: Paulys Real-Encyclopädie der Class. Altertumswissenschaft. Hrsg. G. Wissowa. Stuttgart 1912, Bd. 7, Sp. 2417- 1431; Cressedi, G.: Arpia. In: Enciclopedia dell’Arte Antica e Classica e Orientale. Rom 1958, Bd. 1, Sp. 670 f., mit teilweise neuen Bewertungen bildlicher Darstellungen. 6 Ältere Versionen der Argonautensage, wie beispielsweise der sog. Epische Kyklos, sind noch im 2. Jahrhundert n.Chr. bezeugt, jedoch nicht erhalten; statt dessen liegt uns die Sage in der Version des Apollonios von Rhodos (ca. 295 - 215 v.Chr.) vor; Edition: Apollonios von Rhodos: Das Argonautenepos. Hrsg. übers. u. erl. von Reinhold Glei u. Stephanie Natzel-Glei. Darmstadt 1996, Bd. 1, S. 85 - 93. In einer der älteren Versionen werden die Harpyien von den Boreaden getötet. - Zu bildlichen Darstellungen siehe Schefold, Karl; Jung, Franz: Die Sagen von den Argonauten, von Theben und Troia in der klassischen und hellenistischen Kunst. München 1989; Nachweise der wenigen erhaltenen bildlichen Darstellungen von Phineus mit Harpyien ebda. S. 22, 26 und 27. <?page no="290"?> Harpyie 289 Harpyien auf den Strophaden und in der Unterwelt: Vergils Aeneis Einzelheiten über ihr weiteres Schicksal sowie die einzige ausführliche Beschreibung dieser räuberischen Harpyien liefert Vergil in seiner Aeneis. Vergil läßt den Helden Aeneas selbst berichten, wie er und seine Gefolgsleute die Harpyien nach ihrer Zwischenlandung auf den Strophaden erlebt haben: 7 »Inseln sind die Strophaden, mit griechischem Namen geheißen, In dem großen jonischen Meer, wo die grause Kelaeno (d.h.dunkel wie eine Gewitterwolke) Haust und andre Harpyen, seitdem die Wohnung des Phineus Ihnen sich schloß und aus Furcht sie die früheren Tische verließen. Grausiger ist kein Scheusal als sie [tristius haud illis monstrum], und schlimmer ist niemals Je eine Pest und ein Götterfluch aus den stygischen Wellen Aufgestiegen, ein Vogelgezücht, jungfräulich das Antlitz [virginei volucrum vultus] Scheußlich ihr Unrat, die Hände sind Krallen, und ständig vor Hunger Bleich ihr Gesicht.« Die Harpyien bleiben auf unerklärliche Weise stets bleich und hungrig. Daher stürzen sie sich mit rasender Gier auf die Speisen der Troischen Flüchtlinge herab, als diese ihr Mahl gerade beginnen wollen: »Aber plötzlich im grausigen Sturz von den Bergen sich hebend Nahn die Harpyen und schlagen mit lautem Brausen die Flügel, Reißen die Speisen uns weg und besudeln mit garstigem Unrat Alles; dazu noch das schrille Gekreisch und der scheußliche Pesthauch.« Als die zweite Mahlzeit den Harpyien in ähnlicher Weise zum Opfer fällt, fordert Aeneas seine Leute auf, die »scheußlichen Vögel des Meeres« mit ihren Schwertern zu zerhauen: »Aber keine Gewalt durchdringt das Gefieder und keine Wunde den Rücken; in eiliger Flucht zu den Sternen sich hebend, Lassen sie halbverschlungen das Mahl und häßliche Spuren. Eine nur setzte sich dort auf schroffe Klippen, Kelaeno, Eine Prophetin des Unglücks, und stieß aus dem Busen die Worte: ›Krieg für den Mord an den Rindern und hingeschlachteten Stieren, Krieg nun wollt ihr dafür uns, Laomedons Enkel, bereiten, Wollt aus der Heimat uns, die Harpyen, schuldlos verjagen? Höret mich also und prägt mein Wort euch tief in die Seele: Was der allmächtige Vater dem Phoebus und Phoebus mir selber Offenbarte, das melde ich euch, der Furien größte.‹« Die Dämonisierung einer ursprünglichen Göttin läßt sich an dieser Schilderung für moderne Mythenforscher deutlich ablesen. Vor allem Kelaenos Vorwurf, mit der Schlachtung von Rindern und Stieren ihres Territoriums ein Sakrileg begangen zu haben, enthüllt einen weiteren archaischen Wesenzug der Harpyien, der eine Verwandtschaft mit der Gattung der »génies du terroir« (lokale Schutzgeister/ Genien) zu erkennen gibt, wie sie Claude Lecouteux für Nordeuropa beschrieben hat. 8 Bezeichnenderweise läßt der antike Autor Vergil seine Helden mit ähnlich heiligem Schrecken reagieren wie bei einer tat- 7 Dritter Gesang, V. 209 - 262; zitiert nach der Übers. von Wilhelm Plankl. Stuttgart 1959, S. 64-66. <?page no="291"?> 290 Sieglinde Hartmann sächlichen Gotteserscheinung, auch wenn sie nicht klar erkennen, »Ob es nun Göttinnen sind, ob Vögel des Fluchs und Entsetzens« (= »sive deae seu sint dirae obscenaeque volucres« [V. 262]). Ob jedoch auch Vergil und seine Zeitgenossen diese archaische Harpyienvorstellung geteilt haben, läßt sich schwerlich nachweisen. In den antiken Kommentaren zur Aeneis werden die Harpyien jedenfalls überwiegend allegorisch abstrahierend und verflachend als Verkörperungen menschlicher Laster wie Geiz, Habgier, Raub und Gefräßigkeit gedeutet, wobei man das griechische »`arpag»« mit dem lat. »rapina« (= Raub, Wegraffen) gleichsetzte. 9 Dieser Wandel der Harpyienvorstellungen von leibhaftig in das Schicksal der Menschen eingreifenden Mythenwesen zu abstrakten Gedankenbildern wie Lasterallegorien wurde möglicherweise durch Vergils gleichzeitige Bezeichnung der Harpyien als Furien (= griech. Erinnyen) sowie seiner Zuordnung der Harpyien zum Totenreich (= »vestibulum Orci« - VI. Gesang, V. 273), wo sie als bloße »Schatten« mit anderen »gewaltigen Tieren« wie Kentauren oder Gorgonen hausen, noch zusätzlich gefördert. Während der gesamten heidnischen Antike unterliegen die Harpyienvorstellungen somit einem vielschichtigen Wandlungsprozeß, der schließlich in eine weitgehende Demystifizierung mündet: Im Zuge einer moralisierenden Mythenallegorese werden die Harpyien nach und nach sowohl ihres göttlichen Status’ als auch ihrer dämonischen Kräfte beraubt. Sie bleiben aber im Sprachgebrauch immer noch sehr lebendig: als Bild für habgierige Personen, die sich maßlos alles einverleiben, besonders Despoten, wurden sie sogar sprichwörtlich; letzteres ist vor allem in Moral- und Politsatiren belegt. 10 In religiösen Kulten scheinen sie jedoch keine Rolle mehr gespielt zu haben. Aus all diesen Gründen stellten die Harpyien keine eigentliche Gefahr mehr für die neue christliche Religion dar. Rezeption antiker Harpyien-Mythen im lateinischen Frühmittelalter Dennoch sind uns nur wenige Schriften aus dem frühen Mittelalter erhalten, worin sich die christlichen Schriftsteller und Theologen mit Harpyien beschäftigen. Zu den wenigen Ausnahmen, die Karl-August Wirth ausführlich beschreibt, zählen das Liber monstrorum de diversis generibus sowie die sogenannten Mythographi Vaticani, eine dreiteilige Sammlung mit enzyklopädischen Beschreibungen und Erläuterungen antiker Mythen. 11 Diese beiden Zeugnisse sind überdies schwer einzuordnen, da bisher weder ihre Verfasser noch ihre genaue Datierung bestimmt werden konnten. 8 Lecouteux, Claude: Démons et Génies du Terroir au Moyen Age. Paris 1995. Der Begriff »génie du terroir« bezeichnet germanische, keltische und nordische Äquivalente des lat. »genius loci« der klassischantiken Mythen. 9 Ausführliche Darstellung der antiken Vergil-Kommentierungen durch Donatus, Servius und Fulgentius bei Wirth (Fn. 1), S. 5 - 8, Zitat: S. 7. 10 Siehe dazu Wirth (Fn. 1), S. 8 - 9. 11 Siehe Wirth (Fn. 1), S. 9 - 18. <?page no="292"?> Harpyie 291 Liber monstrorum de diversis generibus Der erste und wahrscheinlich ältere Textzeuge, ein lexikalisches Handbuch über Ungeheuer, das in mehreren Handschriften des 9. und 10. Jahrhunderts überliefert ist, enthält folgenden Eintrag über die Harpyien (Kap. 44): »Legitur quod harpyiae quaedam monstra in Strophadibus insulis maris Ionii fuissent in forma volucrum, facie tamen virginali, quae hominum linguas loqui potuerunt et rabida fame semper insaturabiles erant et cibum cum uncis pedibus de manu manducantium traxerunt.« 12 [Von den Harpyien. Man liest, daß Harpyien jene Ungeheuer auf den Strophaden-Inseln im Ionischen Meer waren. Sie hatten die Gestalt von Vögeln, das Gesicht jedoch von Jungfrauen. Sie konnten menschliche Sprachen sprechen und waren aufgrund ihres rasenden Hungers immer unersättlich und raubten die Speise mit ihren Krallenfüßen den Essenden aus der Hand.] Trotz der Kürze liefert uns diese Mitteilung Hinweise auf zwei Faktoren, welche das Weiterleben der Harpyien im Mittelalter entscheidend begünstigen sollten: Erstens sorgte der Umstand, daß Vergil seit dem Frühmittelalter zu den Schulautoren gehörte, dafür, daß die Kenntnis von Aussehen und Wesen der Harpyien im antiken Mythos bewahrt wurde. Die wörtlichen Übereinstimmungen in den Schlüsselbegriffen illustrieren diese Vergil-Rezeption augenfällig. Und zweitens konnten die Harpyien inzwischen, von jeglichem mythengeschichtlichen Kontext gelöst, als naturhistorische Spezies betrachtet und dementsprechend in literarischen Gattungen behandelt werden, die an der Verbreitung der neuen Harpyienvorstellungen im Spätmittelalter einen erheblichen Anteil haben sollten: naturkundliche Handbücher und Enzyklopädien. Mythographi Vaticani Ein weiteres Novum dokumentieren die Werke der sogenannten Vatikanischen Mythographen. Inhaltlich teilt zwar keiner der drei Autoren etwas gänzlich Neues zu Aussehen, Wesen und Genealogie der Harpyien mit. Die dort gebotenen Informationen hätte ein gelehrter, mittelalterlicher Leser ebensogut aus Glossarien oder Kommentaren zu antiken Schulautoren entnehmen können, wie es Karl-August Wirth auch nachgewiesen hat. 13 Die Tatsache jedoch, daß die antiken Mythen samt ihren Gottheiten zu einem Gebiet der christlichen Wissensliteratur gemacht wurden, läßt eine neue, sachlichere Haltung zu den antiken Religionen erkennen, welche das Interesse an der Götterwelt der Antike in neue Bahnen lenkte und so eine neue Bewertung beziehungsweise Anverwandlung antiker Mythen erst möglich machte. Infolgedessen ist der Schluß erlaubt, im Werk dieser und zahlreicher anderer Gelehrter des Früh- und Hochmittelalters 14 eine der Vorstufen zur Verchristlichung antiker Mythenwesen zu sehen, wie wir sie beispielsweise in der Dichtung Dantes, dem wirkmächtigsten gelehrten Autor des Spätmittelalters, beobachten können. 12 Zitiert nach der alten Ausgabe von Haupt, Moritz: Liber monstrorum. Programm Gymnasium Berlin 1863, S. 14; Wirth zitiert nach folgender Edition, die nicht von Haupts Text abweicht: Bologna, Corrado (Hrsg. u. Übers.): Liber monstrorum de diversis generibus . Libro delle mirabili difformità. Mailand 1977 (Nuova Corona, Bd. 5), S. 66. Weitere Ausgabe: Porsia, Franco (Hrsg.): Liber monstrorum. Bari 1976, dort: Kap. XLIII. <?page no="293"?> 292 Sieglinde Hartmann Das Hochmittelalter und »neue« christliche Harpyien Rund ein Jahrhundert vor der Vollendung von Dantes Göttlicher Komödie erscheint indes eine gänzlich andere christliche Harpyie. Ihre Geschichte und ihre allegorische Bedeutung sind in keiner der bisher bekannten frühmittelalterlichen Quellen überliefert. Ebensowenig sind die möglichen Vorstufen ihrer Metamorphose oder etwaige Verschmelzungen mit anderen Mythenwesen entdeckt worden, da sich alle Berufungen auf Quellen als fiktiv erwiesen haben. Deshalb hat sie Karl-August Wirth mit Fug und Recht als »neue« Harpyie bezeichnet. In welchem Text taucht diese Harpyie zum ersten Mal auf und was wird von ihr berichtet? Pierre de Beauvais und sein volkssprachliches Bestiarium Den bisher ältesten Textzeugen bildet das Harpyienkapitel aus der langen Version von Pierre de Beauvais’ Bestiarium, wie es in einer illustrierten Handschrift auf Altfranzösisch überliefert ist (s. Abb. 1). 15 Nach neueren Erkenntnissen läßt sich die Herstellung dieser Handschrift auf 1245 datieren, das Bestiarium selbst soll jedoch schon vor 1218 verfaßt worden sein. 16 Was den Inhalt der längeren Fassung dieses altfranzösischen Tierbuches 13 Siehe Wirth (Fn. 1), S. 15 - 16, der Bedeutung und Alter der Sammlung für »erheblich überschätzt« hält, Zitat ebda. S. 15. Die Sammlung liegt in folgender Edition vor: Bode, Georg Heinrich: Scriptores rerum mythicarum Latini tres Romae super reperti. Celle 1834 (Nachdruck Hildesheim 1968); ebda. über Harpyien: Mythograph I, 111, S. 35: »Tres Harpyiae seu Stymphalides. Tres Harpyiae in inferis vigiliis deputantur. Aëllo cupit; rapit Ocypete; Celaeno recondit. Aëllo, id est alienum tollens; Ocypete, id est citius auferens; Celaeno, id est nigra.« Neueste Edition: Le premier mythographe du Vatican. Hrsg. von N. Zorzelti, Übers. von G. Berlioz. Paris 1995 (Collection des Universités de France). Harpyien: S. 17 - 18, 35, 63; für diesen und weitere wertvolle Hinweise danke ich herzlich Claude Lecouteux in Paris. Mythograph II, 13, S. 78: »Jovis Harpyiae. Harpyiae, quae et ipsae Furiae vocantur, secundum Virgilium tres esse dicuntur, Aëllo, Ocypete, Celaeno; secundum Apollonium, quem etiam Vergilius in duodecimo sequitur, duae tantum. Perhibentur etiam canes esse Jovis, a rapiendo Harpyiae dictae.... « Mythograph III, 5,5 (= Abschnitt aus dem Kapitel über Neptun), S. 172: »Neptunum etiam Harpyias dicunt generasse... « Die Abstammung wird erläutert mit Verweis auf Thalet von Milet und Fulgentius, wobei auch die Phineus-Sage wiedergegeben wird. - Zu Art und Bedeutung der unterschiedlichen Harpyien-Darstellungen bei den drei Mythographen siehe Wirth, ebda. 14 Harpyien werden außer im Liber monstrorum sowie in den Mythographi Vaticani in Wörterbüchern, Enzyklopädien sowie Kommentaren zu Vergils Aeneis behandelt; Nachweise bei Wirth (Fn. 1), S. 10 - 15; hinzukommen mittelalterliche Kopien eines der antiken Standardwerke über Mythen, die Mitologiarum libri tres des Fabius P. Fulgentius; Ausgabe: Helm, Rudolfus; Préaux, Jean: Fabii Planciadis Fvlgentii V. C. Opera. Leipzig 1898 (Nachdruck Stuttgart 1970), Fabula de Arpyis S. 21 f. ebda. - In den volkssprachlichen Nachdichtungen der Aeneis, dem afz. Roman d’Eneas (zweisprachige Ausgabe: Le Roman d’Eneas. Übers. u. eingel. von Monica Schöler-Beinhauer. München 1972) und dem mhd. Eneasroman Heinrichs von Veldeke (Mhd./ Nhd. Übers. u. komm. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986) sind die Harpyien jedoch eliminiert. 15 Dabei handelt es sich um folgende Handschrift: Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, fr. 3516, das Bestiarium steht auf f. 198 v - 212 v , Abbildung zu Beginn des Textes auf Bl. 201 v ; Erstausgabe mit Wiedergabe der Illustrationen von Cahiers, Charles; Martin, Arthur: Le Physiologus ou Bestiaire. In: Mélanges d’Archéologie, d’Histoire et de Littérature. Bd. II. Paris 1851, S. 85 - 232, Harpyien-Artikel, Kap. 16, S. 157 f.; Abbildung der Harpyie ebda. im Anhang ohne Seitenzahl. Eine neuere Edition der beiden Versionen bietet Mermier, Guy R.: A medieval Book of Beasts. Pierre de Beauvais’ Bestiary. Followed by a diplomatic transcription of the Malines (Mechelen) ms. of Pierre de Beauvais, short version, and with, in appendix, an English transl. of the Cambrai Bestiary. Lewiston 1992. <?page no="294"?> Harpyie 293 betrifft, die mit 71 Kapiteln fast doppelt so umfangreich wie die kürzere Version desselben Autors ist, so läßt sich darin keine durchgängig systematische Anordnung nach Tiergattungen erkennen. Das zeigt sich auch am Harpyien-Artikel, der zwar zwischen zwei Vogel-Kapiteln (Rabe und Nachtigall) plaziert ist, aber die Beschreibung einer gänzlich anders gearteten Spezies liefert: »DELE ARPIE, SA NATURE. Unne beste est qui est apelée arpie. Phisiologes nos dit qu’èle a samblant a home, et chevels; a cors de lion et èles de serpent et coe deceval; si est une des plus cruels bestes qui soit. Si est de tel nature qu’èle ocit le premier home qu’èle encontre devant lui. Et après s’en vait maintenant sor I aighe, si se mire ens. Si voit iluec qu’èle a mort son samblant, et èle en demaine moult grant dolor; et à totes les fois qu’èle se voit et se mire, renovèle sa dolor. Ceste arpie senefie l’ame qui a mort son semblant; car Jhésu Cris fu mors por nos péchiés, qui prist nostre samblance. De ce doit avoir li ame grant doel.« 17 [Von der Harpyie, ihre Art. Ein Tier heißt Harpyie. Physiologus sagt uns, daß es einem Menschen und einem Pferd ähnle: es hat einen Löwenleib und Schlangenflügel und einen Pferdeschwanz; es ist eines der grausamsten Tiere, die es gibt. Das Tier ist von solcher Art, daß es den ersten Menschen tötet, dem es begegnet. Darauf begibt es sich zu einem Wasser und betrachtet sich darin. Da erblickt es in demjenigen, den es getötet hat, seinesgleichen, und das verursacht ihm sehr großen Schmerz; und jedesmal, wenn es sich erblickt und betrachtet, erneuert sich sein Schmerz. Diese Harpyie bedeutet die Seele, die ihresgleichen getötet hat; denn Jesus Christus, der unseresgleichen geworden war, wurde um unserer Sünden willen getötet. Darüber soll die Seele große Trauer empfinden.] Damit ist das Harpyienkapitel allerdings nicht beendet. Auf diese geistliche Auslegung folgen noch zwei weitere Beispiele, an denen die gleiche Ermahnung, Christi Kreuzestod unablässig zu betrauern, exemplifiziert wird. Das erste Beispiel besteht aus einem knappen Vergleich mit der Turteltaube (= Seele), die um ihren toten Gefährten (= Christus) trauert, während im zweiten Beispiel ausführlicher geschildert wird, wie eine Königstoch- 16 Zu Überlieferungs- und Datierungsfragen s. Mermier, Guy: De Pierre de Beauvais et particulièrement de son Bestiaire: vers une solution des problèmes. In: Romanische Forschungen 78 (1966), S. 338 - 371. 17 Zitat nach Cahiers / Martin (Fn. 15), S. 157 f. Abb. 1: Harpyie über menschlichem Opfer. Miniatur zu Pierre de Beauvais, Bestiaire. <?page no="295"?> 294 Sieglinde Hartmann ter (= Adams Seele) um ihren Gemahl (= Christus) trauert, der im Kampf um die Rückeroberung ihres Erbes (= Paradies) gefallen sei (= Kreuzestod). Die gleiche Geschichte von der mordenden und trauernden Harpyie taucht wenig später in drei Werken auf, die ebenfalls in Frankreich entstanden sind: erstens in der Enzyklopädie De natura rerum 18 des Dominikaner-Gelehrten Thomas von Chantimpré (ca. 1201 - 1270), zweitens in einer Tierallegorie über das rechte Verhalten von Klostergeistlichen, dem Bonum universale de apibus, 19 desselben Autors, drittens in einem allegorischen Traktat auf die Palmsonntagsperikope Cc 7,8 in altfranzösischer Sprache, dem ältesten Textzeugen der bis ins 16. Jahrhundert populären Palmbaumallegorien. Alle drei Versionen unterscheiden sich zunächst in einem wesentlichen Punkt von der Darstellung in Pierres Bestiarium: Sie beschreiben die Gestalt der Harpyie nicht als Sphynx-ähnliches Tier, sondern als Vogel mit Menschenantlitz: »Faciem hominis habet«. 20 Darüberhinaus liefert Thomas von Chantimpré im Harpyienkapitel seines Naturbuchs eine rein naturkundliche Beschreibung von Aussehen und Verhalten der Harpyie, im Bonum universale wiederholt er diesen Text, fügt aber eine geistliche Auslegung der Harpyie auf das gesamte Menschengeschlecht statt der einzelnen Seele hinzu. Der Palmbaumtraktat überliefert die Geschichte der mordenden Harpyie samt der allegorischen Auslegung mit den beiden weiteren Exempeln in fast wörtlicher Übereinstimmung mit Pierres Bestiarium. Aufgrund dieser frappierenden Übereinstimmungen sowie weiterer Kriterien glauben nicht wenige Forscher, daß die allegorische Auslegung der Palmsonntagsperikope als ältestes Zeugnis des neuen Harpyienmythos zu gelten und daher Pierre de Beauvais als Vorlage für sein Harpyienkapitel gedient habe. 21 Diese These konnte bisher noch nicht mit überzeugenden Beweisen erhärtet werden. Fest steht lediglich, daß Pierres Bestiarium keine durchschlagende Wirkung beschieden war. Statt der Vorstellung von der Harpyie als Sphynx-ähnlichem Mischwesen hat sich das Bild von der Harpyie als Vogel mit 18 Thomas von Chantimpré: De natura Rerum. Hrsg. H. Boese. Berlin; New York 1973, Harpyie in Kap. V, 4 Incipit: Arpia avis est. Von den mhd. Übersetzungungen dieser Naturenzyklopädie fand Das Buch der Natur Konrads von Megenberg (Edition von F. Pfeiffer, Nachdruck Hildesheim/ New York 1971) die weiteste Verbreitung bis hin zu Drucken im 16. Jahrhundert, die jedoch nicht alle das Harpyienkapitel enthalten. 19 Das Werk war mir nur in folgendem Druck zugänglich: Thomae Cantipratensis Bonum universale de apibus. Douai 1627 (Stadtu. Univ.-Bibl. Frankfurt am Main, Sign. 44/ 7905). Harpyienbeschreibung in Cap. XXV,3, S. 98, Überschrift: »De harpyia aue, et de eius mysterio.« Text: »De hoc & in libro de natura rerum, figurate valde scribitur. Harpyia auis quædam est in deserto Indiæ, in loco qui Strophades dicitur, iuxta mare Ionicum, rapinis ferè semper insatiabilis. Faciem hominis habet, sed in se nihil virtutis humanæ. Nam ferocitate deprædatur, insanit, & grassatur vltra humanum modum. Hæc auis primum hominem quem viderit in deserto, fertur occidere. Inde cùm fortuitu aquas inuenerit, & faciem suam in aquis fuerit contemplata, mox sui similem hominem se occidisse perspiciens, tristat non modicè, & hoc aliquando vsque ad mortem: vel saltem plangit mortuum omni tempore vitæ suæ.« Darauf folgt die Allegorese S. 98- 99. - Das Bienenbuch ist ebenfalls ins Deutsche übersetzt worden, in Teiledition hrsg. von Heinertz, Otto: Die mittelniederdeutsche Version des Bienenbuches von Thomas von Chantimpré. Das erste Buch. Lund 1906 (Diss.). 20 Zitat aus dem Bienenbuch, Quelle wie Fn. 19: Er (d.h. der Vogel) hat das Antitz eines Menschen. 21 Zuerst Fleischer, Wolfgang: Untersuchungen zur Palmbaumallegorie im Mittelalter. München 1976, S. 13; in ausführlicherer Argumentation von Nigel F. Palmer in seiner Rezension zu Fleischer, in: PBB (Tüb.) 100 (1978), S.482- 486 sowie vorsichtig zustimmend Wirth (Fn. 1), S. 24 f. - Von anderer Seite wird dagegengehalten, daß eine lat. Version als die älteste Quelle des neuen Harpyien-Mythos zu gelten habe, so von Frederic P. Pickering in seiner Rezension zu W. Fleischer, in: The Modern Language Review 73 (1978), S. 946- 948: die lat. Versionen der Palmbaumallegorie sind allerdings erst aus späterer Zeit überliefert. <?page no="296"?> Harpyie 295 Menschenantlitz vor allem mittels der großen Naturenzyklopädien durchgesetzt. Sie stammen alle aus der Feder bedeutender Dominikaner, nämlich Thomas von Chantimpré, Vincent von Beauvais (ca. 1190 - ca. 1264) 22 und Albertus Magnus (ca. 1193 - 1280), 23 und sind in einer kaum übersehbaren Fülle von Handschriften und Drucken bis ins 16. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet worden. Der altfranzösische Palmbaumtraktat und die Harpyie als Exempel der Compassio Die neue christliche Auslegung der Harpyie als Exempel für die rechte Trauer um Christi Kreuzestod, die den naturkundlichen Werken fehlt, hat sich dagegen mittels der Palmbaumallegorien verbreitet, die uns ebenfalls in über hundert bisher bekannten Kopien und Drucken aus dem gesamten europäischen Spätmittelalter und der frühen Neuzeit überliefert sind. Noch entscheidender als die schriftliche Verbreitung dürfte für unseren Zusammenhang jedoch die Tatsache sein, daß sowohl die mündliche Verbreitungsform als auch die schriftliche Rezeption der Palmbaumallegorie einem rituell bestimmten Platz im Glaubensleben zugeordnet war: Als Predigt gehörte sie zur Liturgie der Palmsonntagsgottesdienste und als Leseversion diente sie das ganze Jahr über einzelnen Laien oder geistlichen Gemeinschaften als Anleitung zur geistlichen Erbauung und Meditation. Eine Miniatur ohne Textüberlieferung, die wahrscheinlich als Andachtsbild für eine vornehme Kosterfrau um 1300 in Flandern oder den Rheinlanden geschaffen wurde, dokumentiert, welch hohen Bekanntheitsgrad die Palmbaumallegorie schon Ende des 13. Jahrhunderts erreicht hatte und wie fest sie bereits im Glaubensleben geistlicher Kreise verankert war (s. Abb. 2). 24 Auf welche Weise ist die Harpyie in diesen neuen religiösen Kontext integriert? Der älteste französische Textzeuge ist in Form eines Traktats verfaßt, worin die Auslegung des Predigtwortes im unpersönlichen Stil einer Aufzählung gehalten ist. Auf die litur gische Funk tion des Palm sonntags und die Palmenw eihe mit anschlie ßender Palmenprozession, die im lateinischen Westen seit dem 9. Jahrhundert bezeugt ist, geht der anonyme Verfasser nicht eigens ein. Verwendungsmöglichkeiten an anderen Festtagen mit der gleichen Perikope, wie Mariä Empfängnis beispielsweise, werden ebenso wenig erwähnt. 25 Statt dessen werden zunächst die unterschiedlichen allegorischen Bedeutungen des Palmbaums vorgestellt: 26 22 Speculum naturale . Liber XVI, Cap. 94. Der Druck von 1624 ist in folgendem Faksimile leicht zugänglich: Vincentius Bellovacensis. Speculum Naturale. Douai 1624. Faksimile-Ausg. Graz 1964. Incipit des Harpyienkapitels: »Avctor. Harpyæ dicuntur quedam aues maximæ quæ nunquam satiantur, manducando. Explicit: aliquando tamen domestica & docta loquitur humana voce.« - Woher die Vorstellung von der gezähmten Harpyie stammt, gehört zu den weiteren ungelösten Quellenfragen der »neuen« Harpyie, vgl. dazu Wirth (Fn. 1), S. 26. 23 Edition von Stadler, Hermann (Hrsg): Albertus Magnus De Animalibus Libri XXVI. Bd. 2. Münster 1920, Harpyien-Kapitel Lib. XXIII, 3, S.1439: Incipit: »Arpyam || quidam non magnae auctoritatis vir, quorum dicta non sunt experta, dicunt esse avem rapacem; « Explicit: »Sed haec inexperta sunt et fabulosa videntur quae maxime narrant Adelinus quidam et Solinus et Jorach de membris loquentes animalium.« Albertus zweifelt als einziger an den Nachrichten über die Harpyien; die Quellen bei Adelinus, Solin und Jorach, die auch in den übrigen Naturkunden angegeben werden, konnten bis heute nicht aufgespürt werden; siehe dazu Wirth (Fn. 1), S. 10 und 28 f. <?page no="297"?> 296 Sieglinde Hartmann »Ascendam in palmam et aprehendam fructus eius. Li prophetes dist ces paroles: Je monterai dist il el palmier et si prenderai les fruits de lui. En sainte escriture Aucune fie entent on par le palmier le crois Aucune fie peneance Aucune fie contemplacion. El palmier de le crois cuelt on le fruit de vie.« [Ich werde auf den Palmbaum steigen und seine Frucht pflücken. Der Prophet spricht diese Worte: Ich werde auf den Palmbaum steigen seine Früchte(! ) pflücken. In der Heiligen Schrift versteht man unter dem Palmbaum manchmal das Kreuz, manchmal das Mitleiden, manchmal die Kontemplation. Auf dem Palmbaum des Kreuzes pflückt man die Frucht des Lebens.] Daß mit Leben das ewige Leben gemeint war, brauchte der Autor nicht eigens zu erläutern. Die allegorischen Gleichsetzungen des Palmbaums im Hohelied- Vers Cc 7,8 mit dem Kreuz und der Frucht mit Christus, der ewiges Leben durch seinen Kreuzestod spendet, war schon in der Spätantike entwickelt und im Hochmittelalter längst zum Gemeingut der Glaubensverkündigung geworden. 24 Gemeint sind die sogenannten Rothschild Canticles, eine geistliche Sammelhandschrift aus Pergament, kleinformatig (118x84 mm), aber kostbar illuminiert. Der Inhalt besteht aus zwei ungleichen Teilen. Teil II (Bl. 107 - 190) enthält ein Florilegium aus lateinischen Bibelexzerpten, Auszügen aus Väterschriften, dem Elucidarius plus 14 Exempel, die in traditioneller Weise zur Erläuterung der Texte illustriert sind. Im I. Teil (Bl. 1 - 106) bilden die Miniaturen den Hauptsinnträger, welche (nicht durchgängig) durch lat. Meditationstexte, komponiert aus Liturgie- und Bibelzitaten, ergänzt sind. Zu diesen reinen Andachtsbildern ohne Textbeigabe zählt die Illustration der Palmbaumallegorie auf. Bl. 5 r . Aufbewahrungsort und Signatur der Hs.: Yale University, New Haven, USA, Beinecke Rare Book and Ms-Library, MS 404. Beschreibung und Analyse der Hs. bei Hamburger, Jeffrey F.: The Rothschild Canticles. Art and Mysticism in Flanders and the Rhineland circa 1300. Yale University Press New Haven; London 1990; Abbildung der Palmbaumallegorie als Illustration 4, ikonographische und geistesgeschichtliche Einordnung der Palmbaumallegorie auf S.35 - 42; die Abbildung stellt eine Variante dar, die nach Fleischer (Fn. 21) zur sogenannten G-Redaktion gehört. Die unterschiedlichen Textredaktionen weichen nur unwesentlich in der Harpyienbeschreibung ab und werden daher hier nicht erörtert. Ikonographisch folgt der Miniator der Harpyiengestaltung im Bestiaire d es Pierre de Beauvais, der sie als geflügelten Löwen mit Menschenantlitz über seinem Opfer darstellt. 25 Textabdruck einer Predigt mit Palmbaumallegorie zu Mariä Empfängnis aus einer dt. Papierhandschrift des 14./ 15. Jahrhunderts bei Fleischer (Fn. 21), S. 256 - 264. - Lat. Predigten zu dem Thema Cc 7,8 verzeichnet Schneyer, J. B.: Repertorium der lateinischen Sermones des Mittelalters für die Zeit von 1150 - 1350. Münster 1989, S. 52 (Index der Textanfänge, A-L); Schneyer verzeichnet Predigten auf St. Andreas (= S 1), Erhebung des Kreuzes (= S 66), das Fest in visitatione domus religiosae (= C 19), Palmsonntag (= T 24) und die Karwoche (= T 26). Hinweise zu weiteren volkssprachlichen Predigten bei Fleischer (Fn. 21). 26 Zitiert wird hier und im folgenden aus der in Paris aufbewahrten Handschrift der Bibliothèque Nationale, fr. 6447, f. 362 va - 364 va (Pergament, flandrisch, entstanden nach 1275, Provenienz unbekannt) nach der Edition bei Fleischer (Fn. 21), S. 227 - 231, Zitat: S. 227. Unabhängig von Fleischer hat Michel Zink: La prédication en langue romane avant 1300. Paris 1982, den französischen Ursprung der Palmbaumallegorie genauer bestimmt; Zink hält die Versionen in Hs. 2058, f. 67 r2 - 69 r1 , Paris, Bibl. de l’Arsenal, sowie Hs. 788, f. 189 v2 - 195 v1 , Paris, Bibl. Mazarine, für die ältesten Überlieferungszeugen; aufgrund sprachlicher Merkmale weist er sie nördlichen Bereichen des Afz. zu (S. 57), aus stilistischen Gründen charakterisiert er sie als eigenständige Redaktionen einer gemeinsamen lat. Quelle (S. 55), inhaltlich von Lehren des Heiligen Bernhard sowie Alain de Lille geprägt (S. 132 und S.465 - 468), ursprünglich für Beguinenkreise in nördlichen Teilen des französischen Sprachgebiets (Diözese Lüttich, S.136 - 137) verfaßt. Eine Edition der beiden Versionen, die Fleischer ebenfalls berücksichtigt, sowie paläographische Analysen der beiden Handschriften stehen jedoch noch aus. Vgl. deshalb die ältere Edition einer pikardischen Version vom Ende des 13. Jahrhunderts durch Christ, Karl: Le Livre du Paumier. Leipzig 1926, S. 57 - 81. <?page no="298"?> Harpyie 297 Neu hinzu kommt hingegen die Gleichsetzung des Palmbaums mit der Kontemplation, der Beschauung. Dieser programmatische Schlüsselbegriff zahlreicher mystischer Bewegungen des 12. und 13. Jahrhunderts beinhaltete gewöhnlich ein sogenanntes mehrgliedriges Aufstiegsschema. In den Palmbaumallegorien umfaßt dieses Aufstiegsschema sieben Läuterungsstufen, welche die menschliche Seele erklimmen muß, um zur unio mystica mit Gott zu gelangen und Christus, die göttliche Frucht, zu kosten, wie es nach Ps 33,9 (»gustate et videte quoniam bonus Domini« [schmeckt und seht wie gütig der Herr ist]) 27 gelehrt wurde. Welcher Art diese sieben Stufen sind, enthüllt sich in der sinnbildlichen Bedeutung der sieben Äste und sieben Blumen des Palmbaums. Die sieben Vögel, die auf den sieben Ästen nisten, exemplifizieren mit ihrem Verhalten dagegen, wie diese Stufen zu erreichen sind. Im einzelnen ergeben diese dreifachen Septenare, welche in den übrigen lateinischen, mittelniederländischen, mittelniederdeutschen und mittelhochdeutschen Versionen mit nur geringen Abweichungen verbreitet sind, 28 folgendes Aufstiegsschema: 29 27 Zit. nach Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem. Hrsg. B. Fischer u.a. Stuttgart 1985, Bd. 1, S. 807. Peter Dinzelbacher, Salzburg, stimmte mir zu, daß hier das sogenannte Kosten Gottes Erleben gemeint war, »das Kirchenväter wie Augustinus oder Bonaventura als Inbegriff der Gottesbegegnung behandelt hatten«, Zitat aus: Dinzelbacher, Peter: Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit. Zürich 1995, S. 111, Hinweis auf folgenden Artikel ebda. S. 328: Adnès, P.: Goût spirituel. In: Dictionnaire de la Spiritualité. Bd. 6, 626 - 644. 28 Zusammenfassung der Überlieferungs- und Verbreitungsgeschichte, vor allem der unterschiedlichen Redaktionen, von Fleischer, Wolfgang: »Palmbaumtraktate«. In: Die Deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 7. Berlin; New York 2 1989, Sp. 277 - 287. Abb. 2: Palmbaumallegorie, Miniatur aus den Rothschild Canticles (ca. 1300). <?page no="299"?> 298 Sieglinde Hartmann 1. Ast: Selbsterkenntnis Als erstes muß die Seele zur Selbsterkenntnis gelangen: »Li premiers rains est consideracions de li quant li ame se connoist« 30 [Der erste Ast ist die Betrachtung, wodurch sich die Seele erkennt]. 31 Auf diesem Ast nistet der Pfau, dessen Verhalten die Seele lehrt, wie sie ›in der Nacht dieser Welt‹ die Gnade Gottes bewahrt und alle ihre Fehler erkennt. Das Veilchen, das auf diesem Ast wächst, bedeutet die dazu nötige Tugend der Demut, deren angenehmer Duft zum Himmel steigt. 2. Ast: Barmherzigkeit Auf dem zweiten Ast des »Mitleidens mit seinem Nächsten« 32 dient der Wiedehopf als Beispiel für die rechte Barmherzigkeit. Denn wie der Wiedehopf um die Gräber der Toten streicht und den nahenden Tod eines Menschen durch Klagelaute anzeigt, so soll die Seele versuchen, die Todsünder unter ihren Nächsten durch Mitleiden, Gebete und Tränen auf den Weg des Heils zurückzuführen. Die Gladiolen auf diesem Ast symbolisieren die Tränen, weil diese Blumen »in Wassern wachsen«, weshalb sie in der mhd. Version auch mit »wasserblum« übersetzt werden. 33 3. Ast: Buße Auf dem dritten Ast der »zeitlichen Betrübnis« 34 soll sich die Seele wieder der eigenen Läuterung zuwenden und am Beispiel des Schwans, der singt, wenn er sterben muß, lernen, wie man Buße und alle Widrigkeiten um des Herrn willen fröhlich und mit Friedem im Herzen erleiden kann. Als Sinnbild für diese Freude in Schmerzen blüht die Lilie auf diesem Ast, weil sie nach den Worten des Hohelieddichters »unter Dornen« wächst. 35 4. Ast: Reue Mit dem dritten Ast hat die Seele alles Irdische hinter sich gelassen. Denn mit dem vierten Ast der Reue (»compunctions«) erklimmt sie die erste Stufe zur Vereinigung mit Christus. Reue bedeutet hier nämlich nicht Zerknirschung über eigene Sünden, sondern reui- 29 Überblick von Köpf, U.: Aufstiegsschemata. In: Wörterbuch der Mystik. Hrsg. Peter Dinzelbacher. Stuttgart 1989, S. 35 - 37. - Zink ([Fn. 25], S.465 - 468) führt das Aufstiegsschema auf Alain de Lille und seinen Traktat De sex alis cherubim zurück. 30 Fleischer (Fn. 21), S. 227. 31 Lat.: »Primus (ramus) est consideratio sui«; zitiert nach Fleischer (Fn. 21), S. 232 - 235, aus Ms. Nr. 671 (A 454), Bibliothèque Municipale, Rouen, Perg., Provenienz: Abtei St. Ouen/ Rouen, 13./ 14. Jh., f. 89 r - 91 v . - Mndl.: »Die yerste telch es dat die siele bescouwen haer seluen«; zitiert nach Fleischer (Fn. 21), S. 236 - 242, aus Hs. Nr. 1305, Centrale Bibliotheek, Rijksuniversiteit, Gent, Pap. + Perg., Provenienz: Katherinendael/ Hasselt, 2. Hälfte 15. Jahrhundert, f. 209 - 228. - Mhd.: »Der erst ast ist ein betrachtung ir selbs«; zitiert nach Fleischer (Fn. 21), S. 243 - 245, aus Cod. 74 A 50, S’Gravenhage, Koninglijke Bibliotheek, Pap., Provenienz: unbekannt, Sprache: rheinfränkisch, Anfang 15. Jahrhundert, f. 102 rb - 104 vb . 32 »Li secons rains de contemplacion est compassions de ses proismes«; Fleischer (Fn. 21), S. 228. Zink (Fn. 25, S.132) interpretiert diese Zuwendung zu den Nächsten als »Unterbrechung« im Aufstiegsschema, welche auf den Einfluß der Bernhardinischen Mystik zurückzuführen sei. 33 Fleischer (Fn. 21), S. 243. 34 »Li tiers rains del palmier est temporels afflictions quant li ame est afflite par peneance et ke ele suefre liement e a pais de cuer toutes aduersites por nostre signor«; Fleischer (Fn. 21), S. 228. 35 Vulgata-Text: »sicut lilium inter spinas sic amica mea inter filias«, zit. nach der Edition von B. Fischer (Fn. 26), S. 997. <?page no="300"?> Harpyie 299 ge Trauer über das Leiden des Herrn am Kreuz: »Compunctions est quant li ame est si pointe des maus nostre signor ke ele en oublie tous les trauaus ki au cuer li poignent« 36 [Reue ist, wenn die Seele von den Leiden des Herrn so gepeinigt ist, daß sie darüber alle Schmerzen vergißt, die ihr eigenes Herz peinigen]. Wie die Seele zu dieser Art reuiger compassio mit Christi Leiden gelangt, vergegenwärtigt das Verhalten der »neuen« Harpyie, das hier etwas knapper als in Pierres Bestiarium geschildert wird: »Sor cest rain fait li arpie sen nit. Li arpie a sanlane d’omme et est si cruels ke ele ocit le premier home ke ele voit et s’en va deseur vne aigue si se mire si voit ke ele a mort sen sanblant si mainne grant dolor. Ceste senefie l’ame ki doit penser ke ele a mort sen sanlant ki prist se sanlance quant ihesucris fu mors por nos pechiés. de cou doit li ame auoir grant duel.« 37 [Auf diesem Ast nistet die Harpyie. Die Harpyie ähnelt dem Menschen und ist so grausam, daß sie den ersten Menschen, den sie sieht, tötet, dann geht sie zu einem Wasser, betrachtet sich darin und sieht, daß sie ihresgleichen getötet hat, und verharrt dort in großem Schmerz. Diese (Harpyie) bedeutet die Seele, die bedenken soll, daß sie ihresgleichen umgebracht hat, als Jesus Christus, der ihresgleichen geworden war, um unserer Sünden willen umgebracht worden ist. Darüber soll die Seele große Trauer empfinden.] Wie wichtig dieses reuige Mitleiden für den Aufstieg der Seele zur unio mystica ist, demonstrieren die beiden zusätzlichen Exempel von der Turteltaube und der Königstochter, die sich zwar ebenfalls in Pierres Harpyienkapitel wiederfinden, aber erst hier ihren eigentlichen spirituellen Zweck erfüllen. Gleichzeitig wird nur aus dem Kontext der Palmbaumallegorie deutlich, daß der Vergleich mit der Turteltaube, die in der mittelalterlichen Tierallegorese traditionell als Beispiel für eheliche Liebe und Treue angeführt wird, hier als Variante des Harpyienexempels fungiert. Denn die Harpyie wird hier zwar als mordgierige Bestie eingeführt, in ihrer reuigen Trauer wandelt sie sich jedoch zu einem guten Sünder, welcher den Tod »seinesgleichen« gleich einem liebenden Ehegatten »in großem Schmerz« betrauert. Deshalb darf es nicht mehr verwundern, wenn der Harpyie im Palmbaumtraktat die Rose als Symbol zugeordnet wird (Abb.3). Die Rose fungiert in diesem Zusammenhang verständlicherweise nicht als Symbol weltlicher, sondern geistlicher Liebe, deren Bedeutung zudem noch als »geistliche Marter aus Liebe« spezifiziert wird. 38 5. Ast: Sehnsucht nach dem Herrn Nachdem die Seele auf dem vierten Ast in rechter geistlicher Liebe entzündet ist, beginnt sie auf dem fünften Ast mit den direkten Vorbereitungen für die unio mystica. Die Seele muß die Ankunft ihres Herrn im Zustand solch sehnsüchtigen Verlangens erwarten wie die Nachtigall die aufgehende Sonne: »Cis oiseles senefie le sage ame ki en le nuit de cest monde atent nostre signor le vrai soleil de iustice« 39 [Dieser Vogel bedeutet die weise Seele, die in der Nacht dieser Welt unsern Herrn, die wahre Sonne der Gerechtigkeit, erwartet]. Als weiteres Symbol für die zum Himmel aufsteigende Sehnsucht erblüht auf diesem Ast der gelbe Safran aus dem Hohelied (Cc 4,13), dessen Symbolik mit einem anderen 36 Fleischer (Fn. 21), S. 229. 37 Fleischer (Fn. 21), S. 229. 38 »Sor cest rain croist li rose ki senefie martire. car li ame ki si est eslite par compunction est martirue espirituelment. Et cele ki ensi est pointe oublie de legier toutes autres pointures et si puet dire: Wlnerata caritate ego sum. Je suis nauree par carite. Ciste oeure est de carite.« (Fleischer [Fn. 21], S. 229). 39 Fleischer (Fn. 21), S. 230. <?page no="301"?> 300 Sieglinde Hartmann Wort der biblischen Braut erläutert wird: »Erquickt mich mit Blumen, labt mich mit Äpfeln, denn ich verzehre mich in Liebe« (Cc 2,5). 40 6. Ast: Heimsuchung (unio mystica) und 7. Ast: Zunichtewerden (mors mystica) Folgerichtig erreicht die Seele jetzt die mystische Vereinigung mit Christus, deren Erlebnis hier in zwei Etappen gegliedert ist. Auf Ast 6 wird der Seele die Gnade der göttlichen Schauung zuteil 41 und auf dem 7. Ast folgt die »defectio« (afz. »defections« = Zunichtewerden), 42 die in heutiger Terminologie als mors mystica bezeichnet wird. Den obersten Ästen werden nacheinander folgende Vögel und Blumen zugeordnet: zunächst die Schwalbe und die Wegwarte (afz. »li flamine«, lat. »solsequium«) als Sinnbilder für die Seele, sodann der Phönix und die Feldblume aus Cc 2,1 (»ego sum flos campi«), als Christus-Symbole, wobei die Todesart des Vogels Phönix, das zum Himmel aufsteigende Rauchopfer, hier zugleich auf die Seele bezogen wird: »Li fenix ausi senefie le sainte ame espirituel ki assanle les espesces de bones vertus et les porte en haut en le caleur de charite. si fait sacrefice a deu de son cors et de s’ame quant ele s’offre a lui en odeur de suauite en l’autel de le crois de sen cuer par saint desirier.« [Der Phönix bedeutet auch geistlich die heilige Seele, welche die Gewürzkräuter guter Werke sammelt und sie nach oben zum Feuer der Liebe trägt. Dort bringt sie ihren Leib und ihre Seele Gott zum Opfer, wenn sie sich ihm im süßen Duft auf dem Altar des Kreuzes seines Herzens aus heiligem Verlangen hingibt.] Diese abschließende zweifache Allegorese des Vogels Phönix macht vollends deutlich, daß die Vögel in dieser Palmbaumallegorie die zentrale Funktion von Handlungsträgern erfüllen. Daher sind die Verhaltensweisen aller genannten Vogelarten wie Pfau, Wiedehopf, Schwan, Harpyie, Nachtigall, Schwalbe und Phönix ausschließlich in bonam partem, d.h. positiv auf die Seele bezogen 43 und entsprechen der inneren Logik des mystischen Aufstiegsschemas (s. Abb. 3). 44 Die Verquickung von Christus-, Passions- und Brautmystik in diesem Schema ergibt sich aus der liturgischen Bedeutung des Palmsonntags sowie der Hohelied-Perikope: Einzug Christi in Jerusalem (d.h. in die Seele), Erlö- 40 »Fulcite me floribus. Apoiies moi de fleurs. Auirones moi de pumes car ie languis d’amours«; Fleischer (Fn. 21), S. 230. 41 In bezeichnender Unbeholfenheit für die Frühzeit volkssprachiger Mystik vermag der Verfasser diese Erlebnisse nur ungelenk zu umschreiben: »Li siziemes rains del paumier est visitations quant nostre sires a pitie de l’ame desirant et il le uisite par se grace ke il li done sentir presente ke ele auoit tant desiree«; Ed. Fleischer (Fn. 21), S. 230. Die lat. Version setzt statt dessen den Begriff »uisitatio suprena« (Fleischer, Fn. 21, S. 234), und in der rheinfränk. Redaktion aus dem 15. Jahrhundert erscheint schon der feste Begriff »gotlich schauwung« (Fleischer [Fn. 21], S. 245). 42 »Li sietimes rains de contemplacion ce est defections« (Fleischer [(Fn. 21], S. 231). 43 Zur geistlichen Allegorese dieser Vögel in der mittelalterlichen Literatur s. unter den entsprechenden Begriffen in der grundlegenden Arbeit von Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretationen in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100 - 1500) 2 Teile. Berlin 1968 (Diss.); zur Harpyie s. Teil II, S. 514, Anm. 380. 44 Im Unterschied zur Darstellung in den Rothschild Canticles vollzieht sich hier der Aufstieg im Uhrzeigersinn von unten rechts nach unten links: Pfau, Wiedehopf, Schwan, Harpyie (4. Ast oben Mitte mit Rose), Nachtigall, Schwalbe und Phönix auf dem Palmbaum, Holzschnitt zu einer mittelhochdeutschen Version der Palmbaumallegorie. In: Gaistliche vßlegung des lebens Jhesu Christi. Wiegendruck o. J. Augsburg bei Joh. Schobser, ca. 1490/ 95; abgebildet und erläutert bei Philipp Strauch: Palma Contemplationis. In: PBB 48 (1924), S. 374 B. <?page no="302"?> Harpyie 301 sertod und Auferstehung zu neuem ewigem Leben, woran die Seele als Braut Christi mittels Unio und mors mystica schon im Diesseits teilhaben kann. Daß die Harpyie in diesem Zusammenhang als Exempel für die rechte compassio fungiert und ihr gleichzeitig die Tugend der caritas zugeordnet ist, erklärt sich mithin aus der mystischen Exegese der Palmsonntags-Perikope. Aber nicht nur aus dem spezifisch religionshistorischen Kontext, sondern auch aus mythengeschichtlicher Sicht läßt sich die Funktion der Harpyie in dieser Palmbaumallegorie schlüssig erklären. Diese Schlußfolgerung mag zunächst überraschen. Aber bei Vergleichen mit antiken und altorientalischen Mythen erweisen sich alle Motive der mittelalterlichen Harpyienallegorie als christliche Umdeutungen von Elementen archaischer Toten- und Fruchtbarkeitskulte. So begibt sich die Harpyie nach dem Mord an ein Wasser, um in ihrem Spiegelbild zu erkennen, daß sie ihresgleichen getötet hat, was mythengeschichtlich gesprochen bedeutet, daß sich die Harpyie im Element ihres (göttlichen) Ursprungs (= die griechischen Meeresgötter Thaumas, Pontos und Okeanos) selbst erkennt. Dort verharrt sie in großer Trauer. In dieser Funktion einer Totenklägerin ist die Harpyie auf Grabmonumenten aus der griechischen Antike dargestellt - möglicherweise in Kontamination mit den gleichgestaltigen Sirenen. 45 Des weiteren sitzt sie auf einem Palmbaum und weist der Seele den Weg zum Genuß der Frucht, die ewiges Leben spendet. Ein vergleichbarer Vorgang ist laut Bericht des Symbolforschers Manfred Lurker aus der altägyptischen Mythologie überliefert: »Aus einer P.[alme] heraus reicht die ägyptische Himmelsgöttin dem Abb. 3: Harpyie (4. Ast oben Mitte mit Rose) auf dem Palmbaum, dt. Holzschnitt ca. 1490/ 95. <?page no="303"?> 302 Sieglinde Hartmann Toten oder seinem Seelenvogel Speise und Trank; P.[alm]wedel (bzw. -rippen) waren Symbol für langes, ja unendliches Leben und wurden deshalb bei Begräbnisprozessionen mitgetragen.« 46 Bezeichnend für den wahrscheinlich polygenetischen Ursprung der Harpyie ist ihr in der mittelalterlichen Palmbaumallegorie die Rose als Blume zugeordnet, die im Hohelied nicht vorkommt, sondern aus der griechisch-römischen Antike stammt, wo sie als Attribut der Schönheits- und Fruchtbarkeitsgöttinnen Aphrodite bzw. Venus galt. Auf die Tatsache, daß die Harpyien Charakteristika aufweisen, welche an Aussehen und Wesenszüge vorgeschichtlicher weiblicher Fruchtbarkeitsgottheiten mit chthonischvegetabilischen Zügen erinnern, ist Beryl Rowland, ein Kenner mythischer Wesen in Vogelgestalt, schon vor einigen Jahrzehnten gestoßen, und zwar in einer methodischen Kombination von mythenvergleichenden und psychologischen Deutungen. Rowland hat auf diesem Wege auch eine Erklärung für die Dämonisierung dieser archaischen Vogelgottheiten in der klassischen Antike gefunden. Seine Ergebnisse, die jedoch noch nicht die Harpyie der Palmbaumallegorie miteinbeziehen, hat er kürzlich so zusammengefaßt: »Psychologically, these creatures are not difficult to explain. As I have observed elsewhere, 47 the wings and avian body symbolize feminine, nurturing characteristics; the talons represent an infantile projection of destructive impulses which converts the maternal figure into a cruel predator [...]. For this reason nearly all the great mother-goddesses had birdlike features. Horapollo described the Egyptian mother-goddess as a vulture [...]. She possessed traits sometimes ascribed to the Harpies - she was made pregnant by the wind, and she had the gift of prophecy. She was also death-bringing and corpse-devouring. In the case of Harpies, Greek and Roman writers simply chose to emphasize their negative role as destroyers of life and the object of masculine fear and hatred. Yet references to the Harpies’ flowing hair and virginal faces as well as subsequent illustrations of firm, seductive breasts or soft avian curves suggestive of fecundity point to their dual role. The so-called Harpy monument brought to the British Museum from the ruins of Xanthos, the ancient capital of Lycia in Asia Minor, shows a flying Harpy holding a child in a suckling position in her arms while she clings to the child’s lower limbs with her talons. 48 Centuries earlier, features of the Harpy were represented in the winged mother goddess of the Isin-Larsa period in Mesopotamia[...]. In a Sumerian terra-cotta relief (ca. 2000 B.C.), Lilith, the goddess of death, has wings and talons [...]. Such examples raise the possibility that the harpy figure may have been more widely disseminated and more ancient than her appearance in classical literature suggests.« 49 Rowlands Erwägungen, daß die klassischen Harpyien aus altorientalischen Vogelgottheiten hervorgegangen sein könnten, liefern Hinweise auf eine mögliche Symbiose beider 45 Das legt die kunsthistorische Studie von Hofstetter, Eva: Sirenen im archaischen und klassischen Griechenland. Würzburg 1990, nahe. Hofstetter weist auf Spuren von Windkulten im Sirenenmythos (ebda. S.14.), und auf eine ähnliche polymorphe Genese, die sich vor allem in der Abstammung von Acheloos, »einer der bedeutenden Flüsse, ein Gott mit einem umfassenden Wirkungsbereich und als Spender des fruchtbringenden Wassers ein Gott mit chthonisch-vegetabilischen Zügen« (S. 15), manifestiere. Gleichzeitig deutet Hofstetter die Funktion der Sirenen auf Grabstelen u.a. »als Vollzieherinnen der Totenklage« (S. 185). 46 Lurker, Manfred: Wörterbuch der Symbolik. Stuttgart 5 1991, S. 550 f., Forschungsliteratur ebda. unter Artikel »Baum«, S. 81; ausführlich zur Baumsymbolik: Ders.: Der Baum in Glauben und Kunst. 2 1976. 47 Rowland, B.: Birds with Human Souls: A Guide to Bird Symbolism. Knoxville 1970. 48 Abbildung in: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten. Hrsg. M. Grant; J. Hazel. München 11 1995, S.170. 49 Rowland, B.: Harpies. In: Mythical and Fabulous Creatures. A Source Book and Research Guide. New York u.ö. 1987, S.155 - 161, hier: S.160; weiterführende Literatur ebda. S.160 - 161. <?page no="304"?> Harpyie 303 Mythen im Orient. Zu welchem Zeitpunkt dies geschehen sein könnte, bleibt allerdings völlig unbestimmt. Rowland weist überdies auf die Tatsache, daß Harpyien in ähnlich dualistischer Bedeutung wie die westlichen Vögel mit Menschenantlitz ab dem 11. Jahrhundert in der islamischen Kunst und Literatur des Orients auftauchen. Ob westliche Kreuzfahrer und Geistliche die Harpyien des islamischen Kulturkreises kennengelernt und mit den Harpyien aus der lateinischen Tradition identifiziert oder verwechselt haben, gehört zu den weiteren Fragen, die vorläufig unbeantwortet bleiben müssen. Denn die literarischen Zeugen unserer westeuropäisch-mittelalterlichen Harpyien liefern dafür keinerlei Indizien. Zudem konnten Islamforscher wie Eva Baer bisher keine direkte Verbindung zwischen den westlichen und östlichen Harpyien entdecken, sondern lediglich Vermutungen über eine mögliche Beeinflussung islamischer Harpyienvorstellungen durch Traditionen der klassischen Antike äußern. 50 Die Entstehungsgeschichte oder besser: die Renaissance archaischer Harpyienmythen in der »neuen« Harpyie des christlichen Mittelalters muß infolgessen weiterhin als ungeklärt gelten. Derzeit verdichten sich lediglich Hypothesen, die auf ein Weiterleben archaischer Harpyienvorstellungen im Vorderen Orient deuten, woher sie dann durch Vermittlung von Kreuzfahrern auf einem nicht näher zu bestimmenden Wandlungsprozeß nach Frankreich in den Westen gelangt sein könnten. 51 Für eine Vermittlung durch direkte Kontakte mit den Kulturen des Orients würde überdies die Tatsache sprechen, daß französische Kreuzritterheere als erste nach Palästina gezogen waren und dort sowie in Griechenland eigene Staaten gegründet haben. 52 Die vielfältigen Beziehungen, welche sich daraus entwickeln sollten, geben den wenigen Fakten, die das erste Erscheinen der »neuen« positiven Harpyie in Frankreich dokumentieren, ein besonderes Gewicht: - Erstens stammen die ältesten schriftlichen Zeugen für die »neue« Harpyie zweifelsfrei aus dem französischen Sprachraum. Das gilt sowohl für das Bestiarium Pierres de Beauvais als auch für den Palmbaumtraktat. Denn beide Versionen sind in Handschriften überliefert, die kurz nach 1200 in französischer Sprache aufgezeichnet worden sind. - Zweitens ist das Exempel von der mordenden und trauernden Harpyie von Frankreich aus verbreitet worden. Das haben die bisherigen Ergebnisse der rezeptionsgeschichtlichen Forschungen zu den lateinischen Enzyklopädien des Thomas von 50 So die Zusammenfassung von Baer, Eva: Sphinxes and Harpies in Medieval Islamic Art. An Iconographical Study. Jerusalem 1965, S. 82. E. Baer weist außerdem auf Parallelen in der christlich-armenischen Kultur des Mittelalters. Ihre Beispiele (Abb. 62 aus einer Evangelienhandschrift und Abb. 52 aus einer Alexanderroman-Handschrift) sind jedoch jünger als die ältesten westl. Zeugen der »neuen« Harpyie. Zudem sind die Vögel mit Menschantlitz im Alexanderroman namenlos und geschichtslos, also nicht unbedingt mit Harpyien zu identifizieren. Die armenischen Harpyien-Illustrationen in biblischen Handschriften des Spätmittelalters könnten aber ein weiteres Indiz dafür liefern, daß wesentliche Impulse zur Verbreitung der »neuen« christlichen Harpyie aus dem Vorderen Orient kamen. 51 Eventuell ist mit einer bisher unentdeckten Christianisierung der griechischen Harpyien-Mythen durch griechische Kirchenväter zu rechnen, so wie es für die Sirenen-Mythen bezeugt ist: s. Rahner, Karl: Griechische Mythen in christlicher Umdeutung. Freiburg; Basel; Wien 1992, S. 300 - 315; Rahner weist nach, daß die Sirenen durch einen Übersetzungsfehler von Hiob 30,29 und Isaias 13,21 in die Septuaginta gelangt sind, und zeichnet dann die Anverwandlung des Mythologems in christlicher Exegese nach. 52 Grundlegend dazu Lock, Peter: The Franks in the Aegean, 1204 - 1500. London; New York 1995; zur Kirche, zu den christlichen Orden sowie zur kulturellen Symbiose siehe S. 193 - 239 und 266 - 309. <?page no="305"?> 304 Sieglinde Hartmann Chantimpré und Vincent von Beauvais sowie zu den Palmbaumallegorien bestätigt. - Hinzu kommt drittens ein spezifisch französischer Brauch im Ritus der Palmsonntagsfeier. Nach der Palmweihe, d.h. nachdem die immergrünen Zweige, die man in Ermangelung echter Palmwedel verwendete, mit Weihwasser (! ) besprengt waren, schmückten die Gläubigen in mehreren Regionen Nord- und Mittelfrankreichs die Gräber ihrer Vorfahren und Verwandten mit den gleichen Zweigen, die in der Palmsonntagsprozession mitgeführt wurden. 53 Im deutschen Sprachraum waren im Mittelalter zwar auch Frühlingsbräuche mit der Palmweihe verbunden: »Bei der Palmsonntagsfeier vermischte sich offenbar jüdischchristlicher Einfluß mit uralten einheimischen Bräuchen, die in Lebenserweckung und Schutz mit Frühlingszweigen bestanden.« 54 Die gesegneten Zweige, die in Deutschland meist aus Buchsbaum geschnitten waren, wurden aber lediglich in Haus, Hof und Feld befestigt. Damit erweisen sich die deutschen Praktiken zwar ebenfalls als christianisierte Formen heidnischer Fruchtbarkeitsriten. Ihnen fehlt jedoch die Verbindung mit Elementen des Totenkults, wie sie für die Funktion der »neuen« Harpyie in der Palmsonntagsmeditation so wesentlich sind. Möglicherweise liefern die französischen Palmsonntagsbräuche ein bisher unentdecktes Indiz dafür, daß in die christianisierte Harpyienvorstellung neben antiken und orientalischen auch gallo-romanische oder gar keltische Mythen eingeflossen sind. Die Langlebigkeit der französischen Bräuche, die sich in ländlichen Gegenden außerhalb von Paris, wie in der Sarthe beispielsweise, bis heute erhalten haben, spricht jedenfalls für eine tiefe Verankerung dieses Brauchtums in vorchristlichen Glaubenspraktiken. Die Popularisierung der »neuen« Harpyie im Spätmittelalter Inwieweit die Anverwandlung und Umformung mythischer Traditionen die Verbreitung der Palmbaumallegorie und damit die Entstehung einer »neuen« Harpyienmythe begünstigt hat, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand kaum abzuschätzen. Die einzig kon- 53 Dokumentiert ist dieser Brauch im 20. Jahrhundert für folgende Regionen bzw. Départements: Picardie, Seine-et-Oise, Ardennen, Marne, Meuse, Centre, Touraine und Sarthe, in: Manuel de Folklore Français contemporain. Hrsg. Arenold van Gennep. 3. Bde. Les Cérémonies Périodiques cycliques et saisonnieres. Paris 1947, S. 1158 - 1209. 54 Zit. aus: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. Hanns Bächthold-Stäubli. Bd. 6. Berlin; New York 1987, Sp. 1383 - 1386 unter dem Stichwort »Palm«, hier: Sp. 1368; allerdings nur in wenigen Gegenden (Böhmen z.B.) wurden Palmwedel bzw. andere immergrüne Zweige »auch auf Gräber von Verwandten und Freunden gesteckt«, ebda. Sp. 1386. - Meine eigenen Nachforschungen ergeben allerdings ein anderes Bild: In ländlichen Gemeinden des Hunsrück und in Oberschwaben bei Füssen werden die Palmwedel der Palmsonntagsprozession ebenfalls noch heute auf die Gräber gesteckt. In den städtischen Gemeinden des Mittelrheins hat sich der Brauch jedoch nicht erhalten. Somit ergäbe sich, zumindest für diese Regionen ein ähnlicher Befund wie in Nordfrankreich. D.h. in den Landgemeinden hat sich die mittelalterlichen Verbindung von Palmweihe und Totenkult in den Glaubenspraktiken erhalten, während sich das Glaubensleben in den Städten verändert hat. Falls sich diese These einer ununterbrochenen Tradition religionsgeschichtlich erhärten läßt, gewinnt die Verbreitung der Palmbaumpredigt im deutschen Sprachraum ein neues Gewicht. Dann wäre auch der etwaige Einfluß der Verehrung galloromanischer Gottheiten in den deutschen Gebieten zu klären, die in der Spätantike zum römischen Reich gehört haben. <?page no="306"?> Harpyie 305 kret bestimmbaren Faktoren, die nachweislich eine Popularisierung der »neuen« Harpyie bewirkt haben, liefern uns die volkssprachlichen Verbreitungszeugen der Mythe von der mordenden und reuig trauernden Harpyie. Die literarische Rezeptionsgeschichte des »neuen« Harpyienmythos ist allerdings noch nicht systematisch erforscht. Infolgedessen läßt sich hier lediglich ein vorläufiges Bild skizzieren. Dabei fallen zunächst erhebliche geographische Unterschiede ins Auge. In der volkssprachlichen Literatur Frankreichs bleiben bis zum Ende des Mittelalters die beiden unterschiedlichen Versionen der Harpienmythe aus dem mystischen Palmbaumtraktat sowie aus dem Bestiarium Pierres de Beauvais nebeneinander erhalten. Im deutschen Sprachraum haben die Tierbücher vergleichsweise wenig zur Verbreitung der »neuen« Harpyie beigetragen. Denn Pierres Bestiarium ist nicht ins Deutsche übersetzt worden. Und die führende deutsche Tierenzyklopädie, das Buch der Natur Konrads von Megenberg, enthält das Harpyienkapitel nicht in allen Abschriften bzw. Drucken. 55 Dafür ist die Harpyiengeschichte hauptsächlich mit der Palmbaumallegorie sowie in mehreren abweichenden Versionen über Predigthandbücher wie den sogenannten Etymachietraktat bekannt gemacht worden. Für die italienische Literatur ist die Rezeptionsgeschichte der Palmbaumallegorie meines Wissens noch nicht erforscht. Die überlieferten italienischen Bestiarien enthalten, soweit sie bisher bekannt geworden sind, keine Harpyienkapitel. 56 Statt dessen ist die Kenntnis von Aussehen und Wesen der Harpyien wohl hauptsächlich durch Dante und die Harpyienepisode in seiner Göttlichen Komödie vermittelt worden. Dantes Harpyien unterscheiden sich jedoch in wesentlichen Aspekten von den übrigen »neuen« Harpyien. Für die englische Literatur des Mittelalters liegen meinen Kenntnissen zufolge noch keine Spezialuntersuchungen vor. Angelsächsische Mythenforscher wie Beryl Rowland haben die Harpyie jedoch in der Heraldik entdeckt. 57 In der Tat sind Harpyien mehrfach in englischen Wappen dokumentiert (s. Abb. 4). Die älteste heraldische Beschreibung aus dem 15. Jahrhundert stammt ebenfalls von einem englischen Autor, Nicholas Upton. 58 In seinem Werk über die Kriegskunst (De studio militari) zitiert er die Harpyiengeschichte, wie sie in den lateinischen Enzyklopädien verbreitet war, und erläutert, daß die Harpyie den Wappenträger zur immerwährenden Reue über den von ihm begangenen 55 Ausgabe von Pfeiffer, Franz: Das Buch der Natur von Konrad Megenberg. o.O. 1861 (Nachdruck Hildesheim 1971); Harpyienkapital ebd. S. 167 - 168, Überschrift: »Von dem Arpen«, Incipit: »Arpia ist ain vogel, sam Adelînus spricht, der wont in verren landen an der stat, diu Strapedes haizt, in der wüesten pei dem mer Jonicum«, Explicit: »der vogel wenn er gezämt wirt redet menschleich stimm, aber er hât nihit menschleich vernunft«. Außer dem Genuswechsel in der Namensform inhaltlich keine Abweichung zu den lat. Enzyklopädien. - Das Werk ist in über 100 Handschriften und 8 Drucken überliefert. Zur Textgeschichte s. Steer, Georg: Zur Überlieferung des »Buchs von den natürlichen Dingen« Konrads von Mergenberg. In: ZfdA 113 (1984) und zusammenfassend Steers Artikel zu Konrad von Mergenberg in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 5, Sp. 231 - 234, bes. Sp. 234: »Das ›BnD‹ fand in Laienkreisen rasch weite Verbreitung. Kaum tradiert wurde es jedoch im monastischen Bereich. Weitgehend unbekannt ist neben der Textgeschichte noch immer seine Wirkungsgeschichte. »Daß die Harpyrie nicht in allen Überlieferungszeugen des ›BnD‹ behandelt wird, haben meine eigenen stichprobenartigen Recherchen ergeben. 56 Vgl. folgende Editionen: McKenzie, K: Unpublished mss. of Italien Bestiaries. In: PLMA 20 (1905), S. 380 - 433; McKenzie, K.; Garver, M. S.: Il Bestiario Toscano. In: Studi Romanzi VIII (1912), S. 1 - 100 (Neudruck 1942). 57 Rowland (Fn. 47), S. 158 - 159. <?page no="307"?> 306 Sieglinde Hartmann Todschlag mahnen solle. 59 Die Bedeutung des Wappens entspricht mithin der Funktion, welche die »neue« Harpyie seit dem 13. Jahrhundert im christlichen Glaubensleben erfüllte. Ein genaueres Bild wird sich erst nachzeichnen lassen, wenn die Überlieferungsgeschichten der einzelnen Texte gesondert rekonstruiert vorliegen. Ohne solche Vorarbeiten läßt sich die Wirkungsgeschichte der »neuen« Harpyienmythe nur in schemenhaften Umrissen erkennen. Wir begnügen uns daher damit, diejenigen Werke vorzustellen, welche die spätmittelalterliche Rezeption der »neuen« Harpyie um neue Aspekte ergänzen. Dazu zählen Predigthandbücher wie der Etymachietraktat und Dantes Divina Commedia, beides Werke des 14. Jahrhunderts. Die Harpyie im Etymachietraktat und anderen Predigthandbüchern des 14. Jahrhunderts Der Etymachietraktat gehört zu der Gattung theologischer Handbücher des Spätmittelalters, die zwar überwiegend in lateinischen Abschriften verbreitet waren, die aber den Stoff für Predigten in der Volkssprache lieferten und daher auf mündlichem Wege eine erheblich umfangreichere Wirkung entfalteten. Insofern dürfen wir damit rechnen, daß der zahlreich überlieferte Etymachietraktat in ähnlichem Ausmaß wie die Palmbaumallegorie zur Popularisierung der neuen Harpyienvorstellung beigetragen hat. 60 Die Verwendung des Traktats ist zudem an keinen spezifischen Festtag im Kirchenjahr gebunden, da sein Inhalt aus einer 58 Näheres dazu siehe Dennis, Rodney: The Heraldic Imagination. London 1975, S. 76 - 82, über Harpyien- Wappen s. S. 125 - 129; über die Unterschiede zum deutschen Jungfrauenadler, u.a. im Wappen der Stadt Nürnberg, ebda. S. 128 - 129. Die deutsche Heraldik sieht im deutschen Jungfrauenadler neuerdings eine Ableitung aus dem hochmittelalterlichen männlichen Kaisersiegel, also keine Harpyiendarstellung, sondern eine Umformung des kaiserlichen Adlers. 59 »De Arpia. Arpiam quedam avis est, ut dicit Adelmus, in remotis mundi partibus loco qui Strapades dicitur in solitudine juxta mare Jonicum, rabida fame semper fere insaciabilis esse dicitur, ungues habet mirabiliter graves, ad discerpendum & lacerandum semper paratos. Avis ista habet faciem humanam, set nihil in se habet virtutis humane, nam ferocitate grassatur ultra humanum modum, hec primum hominem quem viderit in deserto fertur occidere, Inde cum fortuito aquas invenerit in quibus faciem suam fuerit contemplata, mox sui similem hominem se occidisse perspiciens multum tristatur, & aliquando propter hoc usque ad mortem se abstinendo a cibis cruciat, plangitque occisum omni tempore sue vite. Hec avis aliquando domesticata loquitur docta humana voce, set racione omnino caret. Tales aves videlicet arpias portare deberunt hominum occisores, ad plagendum hoc peccatum.« Zitiert nach folgender Ausgabe Nicolai Vptoni. De studio militari. Libri Quatuor. Typis Rogeri Norton, impensis Johannis Martin, Jacobi Allestrye. London 1654, S. 174.; vgl. die wörtlichen Anklänge zu Thomas von Chantimpré in Fn. 20. Abb. 4: Drei Harpyien Wappen des William Tenderden, ca. 1450. <?page no="308"?> Harpyie 307 allgemeinen Tugend- und Laster-Darstellung in Form von Tierallegoresen besteht. Der Titel wirkt heute leicht irreführend, da die Gegensätzlichkeit der Tugenden und Laster nicht am Beispiel eines Kampfes (= »etimachia«) vorgeführt wird, sondern mittels einfacher gedanklicher Gegenüberstellungen. Bewegung und Anschaulichkeit kommen dadurch in die Darstellung, daß die personifizierten Laster und Tugenden, wie für einen Kampf gerüstet, auf Tieren reitend eingeführt werden und ihre Rüstung mit je drei redenden Tierwappen auf Helm, Schild und Rock ausgestattet sind. Da insgesamt sieben Laster und sieben Tugenden behandelt werden, liefert der Traktat mit seinen 56 Tierexempeln zugleich ein kleines Bestiarium nach Art des Physiologus, eine Tatsache, die nicht unerheblich zur Beliebtheit dieses Traktats beigetragen haben dürfte. Wie wichtig die Tierexempel waren, zeigt sich unter anderem darin, daß die volkssprachlichen Versionen vielfach theologische Erläuterungen und Schriftzitate auslassen, die Tierbeispiele aber vollständig wiedergeben. In der ältesten lateinischen Fassung, die aus einer auf 1332 datierten Handschrift aus der Stiftsbibliothek Vorau in Österreich stammt, treten zunächst die sieben Hauptsünden »superbia« (Hochmut), »luxuria« (Unzucht), »avaricia« (Geiz), »ira« (Zorn), »invidia« (Neid), »accidia« (Melancholie) und »gula« (Völlerei) auf den imaginären Plan. Dann kommen folgende Tugenden, um die Laster unschädlich zu machen: »humilitas« (Demut), »castitas« (Keuschheit), »largitas« (Freigebigkeit) , »paciencia« (Geduld), »caritas« (Liebe), »devocio« (Andacht) und »abstinencia« (Enthaltsamkeit). Die Harpyie ist hier, ähnlich wie im Palmbaumtraktat, der »caritas« zugeordnet. Ich zitiere aus einer der deutschen Übersetzungen, die, wie ihr Herausgeber Nigel Harris ermittelt hat, größtenteils für Laienkreise hergestellt waren: 61 »De funft tugent ist de lieb, vnd chumpt wider den neid vnd siczt auff einem tyer haist orasius. Furt auff dem helem ein coredulum, an dem schilt ein pellican, an dem roch ein arpium.« [Die fünfte Tugend ist die Liebe und kommt gegen den Neid und sitzt auf einem Tier, das Orasius heißt. Sie führt auf dem Helm einen Coredulum, auf dem Schild einen Pelikan, auf dem Rock eine Harpyie.] Das dazu gehörige Exempel trägt in dieser Version folgenden Wortlaut: »An dem roch furt sy ein vogel haist arpia, vnd hat ein menschleichen anplich, vnd den ersten menschen, den er ansich, den czucht er vnd zereist in. Darnach chumpt er zw dem wasser vnd schaut sich darin, vnd wan er dann erchent, das er getot hot sein geleich, so chlagt er es, de weil er lebt, vnz in den tod. Der vogel bedeut ain menschen, der Got lieb hat, wann er gedencht, das Christus, der im geleich ist nach der menschait, ist durch seiner sund willen gestorben, den chlagt vnd waint er, dy weil er lebt, das leiden vnd de marter Christi.« 62 60 Zusammenfassend Schmidtke, Dietrich: Etymachietraktat. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon.Bd. 2. 2 1980, Sp. 636 - 639. 61 Harris, Nigel: The Latin and German ›Etymachia‹. Introduction, edition and commentary. Oxford 1988 (Diss.); Edition des lat. Originals (in 106 Textzeugen erhalten) S. 133 - 160; von 4 deutschen Übersetzungen sind hier 2 ediert: Version A von 1443 = freie Übersetzung, erhalten in bair.-österr. Handschriften des 15. Jahrhunderts, S.164 - 197; Version B = schwäbische Version des 15. Jahrhunderts, die eine Kontamination aus unterschiedlichen lat. Redaktionen darstellt, S. 198 - 247; Zitat aus Version A, S. 190. Diese Diss. ist in überarbeiteter Form mit Abb. in Deutschland unter folgendem Titel erschienen: The Latin and German ›Etymachia‹. Textual History, Edition, Commentary. Tübingen 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 102). Wichtig ist ebenfalls folgende Faksimile-Edition: Etymachie-Traktat. Ein Todsündentraktat in der katechetisch-erbaulichen Sammelhs. Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek, 2º Cod. 160. Hrsg. von Harris, Nigel und Williams- Krapp, Werner. München 1995 (Codices illuminati medii aevi, Bd. 36). <?page no="309"?> 308 Sieglinde Hartmann [Auf dem Rock führt sie (= die Tugend der Liebe) einen Vogel, genannt Harpyie. Der hat ein menschliches Antlitz. Und den ersten Menschen, den er erblickt, ergreift er und zerfleischt er. Darnach kommt er zum Wasser und betrachtet sich darin. Und wenn er dann erkennt, daß er seinesgleichen getötet hat, so beklagt er das zeit seines Lebens bis in den Tod. Der Vogel bedeutet einen Menschen, der Gott lieb hat, wenn er bedenkt, daß Christus, der ihm in seiner menschlichen Natur gleich ist, um seiner Sünden willen gestorben ist; den beklagt er und beweint er zeit seines Lebens, d.h. das Leiden und die Marter Christi.] Die Akzentverschiebung, die der unbekannte Autor hier vorgenommen hat, wirkt auf den ersten Blick gering. In Aussehen und Verhalten, mittelalterlich gesprochen: in den »proprietates« (Eigenschaften), wird die Harpyie nur etwas artgerechter als Greifvogel charakterisiert. Und die geistliche Auslegung (d.h. die »moralitas«) stellt nicht mehr Reue und Mitleiden mit Christi Martertod in den Vordergrund, sondern die christliche Liebe, die im Palmbaumtraktat lediglich als Attribut der Harpyie fungierte. Wenn man jedoch bedenkt, daß die »caritas« zu den Kardinaltugenden zählt, bewirkt diese Bedeutungsverschiebung, im Vergleich zur Palmbaumallegorie, eine nochmalige und nicht unerhebliche Aufwertung. Denn die Harpyie ist zwar als Beute schlagender Greifvogel charakterisiert, wird aber nicht mehr als grausam bezeichnet. Statt dessen ist sie zum Exempel vorbildlicher christlicher Liebe zu Gott erhoben. Karl-August Wirth hat als erster entdeckt, daß die »neue« Harpyie damit den Höhepunkt »ihrer erstaunliche[n] Karriere« erreicht. 63 Gleichzeitig hat Wirth beobachtet und beschrieben, wie rasch sich mit der vollständigen Christianisierung die Verwendungsmöglichkeiten der »neuen« Harpyie als Predigt-Exempel vervielfältigen und wie unterschiedlich sich ihr geistliches Bedeutungsspektrum innerhalb der Predigtliteratur erweitern sollte. Dies gilt erstmals wieder für Deutungen in »malam partem«, wobei erneut die chthonischen Züge der alten Harpyien hervortreten. 64 Die negativste dieser Auslegungen, die zugleich am engsten mit der christlichen Heilsgeschichte verflochten ist, findet sich in einem typologischen Predigthandbuch, das Ulrich von Lilienfeld, Abt des gleichnamigen Zisterzienserstifts in Österreich, um die Mitte des 14. Jahrhunderts verfaßt hat. Das lateinische Werk trägt den Titel Concordantiae caritatis 65 und bietet im Stil sogenannter Armenbibeln einen illustrierten Predigtzyklus für das gesamte Kirchenjahr, worin die christliche Glaubensbotschaft für jeden Sonn-, Feier- und Festtag mit Bildszenen aus dem Alten und Neuen Testament sowie mit naturkundlichen Gleichnissen, meist Tierexemplen, veranschaulicht ist. Die Harpyie ist hier, ähnlich wie im Palmbaumtraktat, der Passionszeit zugeordnet. Aber Ulrich führt sie als Gleichnis für Judas’ Selbstmord und seinen Lohn, die ewige Verdammnis, an. 66 62 Ebda., § 74. 63 Wirth, (Fn. 1), S. 36. 64 Wirth, (Fn. 1). S. 36 - 41. 65 Das Werk ist nach neustes Erkenntnissen in 36 Handschriften aus dem süddeutschen Sprachraum überliefert. Text- und Wirkungsgeschichte sind nur unzureichend erforscht. Der Text ist bisher unveröffentlicht, der Bilderzyklus ist hrsg. von Weis-Liebersdorf, J. E.: Das Kirchenjahr in 156 gotischen Federzeichnungen. Ulrich von Lilienfeld und die Eichstätter Evangelienpostille. Studien zur Geschichte der Armenbibel und ihrer Fortbildungen. Strassburg 1913. Das Projekt einer Textedition der ältesten Handschrift aus Lilienfeld, von H. Douteil angekündigt, ist aufgegeben. Zusammenfassend zu Ulrich von Lilienfeld siehe Suntrup, Rudolf: Ulrich von Lilienfeld. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 10. 2 1996, Sp. 1 - 8. <?page no="310"?> Harpyie 309 Karl-August Wirth hat für diese Variante der Harpyiengeschichte eine Tradition aufgespürt, wonach sich die Harpyie »aus Verzweiflung über ihre Untat selbst richtet«. 67 Die typologische Gleichsetzung der Harpyie mit Judas sei so, wie sie Ulrich begründet, seines Wissens jedoch nirgends belegt: »Arpia est Iudas, qui quasi faciem, id est actum exteriorem, habuit hominis, sed propositum bestialem sui cordis. Hominem interfecit, cum Christum vendens in mortem dedit. In aqua autem se ipsam conspexit, quando se dampnandum aspexit, et sic pre dolore mortua fuit, cum ex desperacione laqueo se suspendit«. 68 [Die Harpyie ist Judas, der seinem Antlitz nach, d. h. seinem äußeren Betragen nach, menschlich gewesen ist, aber in seinem Herzen einen viehischen Vorsatz getragen hat. Er hat einen Menschen getötet, dadurch daß er Christus verkauft und ihm so den Tod gegeben hat. Aber im Wasser hat er sich erblickt, als er sich verdammt sah, und ward so voller Todesschmerz, daß er sich aus Verzweiflung mit einem Strick erhängte.] Bis in den Wortlaut seiner Judas-Interpretation identifiziert der Theologe Ulrich den Verräter Jesu mit der naturkundlichen Harpyienbeschreibung, wie sie in den lateinischen Enzyklopädien zur Verfügung stand. Ein erstaunlicher Vorgang, der nach heutigem Bibel- und Weltverständnis kaum nachvollziehbar ist, der aber die Prinzipien mittelalterlicher Schriftexegese vollkommen erfüllte. Dementsprechend hatte der geistliche Autor eigens den Titel »Concordantiae caritatis« gewählt und im Prolog seine Absicht bekräftigt, »die in der Heilsgeschichte und in der Natur geoffenbarte ›Übereinstimmung des liebenden Wirkens‹ Christi darzustellen«. 69 Zur Natur oder genauer: zur geschaffenen Welt des christlichen Gottes gehörte die Harpyie spätestens seit der Kodifizierung der Naturphänomene in den oben genannten Enzyklopädien. Die Zugehörigkeit zur Schöpfung bedeutete, daß jedes dieser Geschöpfe in seinen »proprietates« einzelne, teilweise sehr unterschiedliche Geheimnisse der Heilsgeschichte offenbarte und dadurch Teil an der Heilsgeschichte (wie in Ulrichs Judas-Erklärung) oder am Heilsgeschehen (wie in der mystischen Palmbaum-Meditation) haben konnte. Die Harpyie, die in diesem Sinn zum Werkzeug der allgemeinen Heilsgeschichte oder zum Medium der individuellen Gotteseinung gemacht wird, ist deshalb kein bloßes Vergleichsobjekt und darf daher nicht als abstraktes Gedankenbild mißverstanden werden. Sie ist, im Gegensatz zu den Allegorien der Spätantike, wieder höchst lebendig geworden. Mehr noch: Die Gläubigen begreifen die Harpyien als Wesen, die ihnen Wahrheiten und Wege zum christlichen Heil offenbaren, modern gesprochen: als Mythenwesen. Dante Alighieri (1265 - 1321) und die Harpyien in der Divina Commedia Auch Dante hatte sein Werk über die Hölle, das Fegefeuer und das Paradies zur Unterweisung seiner Landsleute im rechten Christenglauben verfaßt. Aber seine Harpyien unterscheiden sich dennoch von allen übrigen christlichen Harpyien des Spätmittelalters. In welcher Hinsicht? Und: Wo begegnet Dante den Harpyien? 66 In der Edition von Weis-Liebersdorf (Fn. 63) Nr. 85, Zusammenfassung des Textes auf S. 43, Abb. der Illustration auf S. LIII: Judas erhängt. 67 (Fn. 1), S. 40. 68 Zitiert nach einer Transkription von H. Douteil aus Wirth (Fn. 1), S. 40. 69 Zitiert nach R. Suntrup (Fn. 63), Sp. 3. <?page no="311"?> 310 Sieglinde Hartmann Dantes Lehrdichtung besteht bekanntlich aus der poetischen Schilderung seiner eigenen visionären Wanderung durch die drei christlichen Jenseitsreiche. Als er mit Hilfe seines Mentors Vergil die gefahrvollen Kreise der Hölle durchquert, trifft er in einem dunklen Gehölz voller dornigen Buschwerks auf die Harpyien. Dante beschreibt sein Erlebnis folgendermaßen: »Quivi le brutte Arpie lor nido fanno, Che cacciar delle Strofade i Trojani Con tristo annunzio di futuro danno. Ale hanno late, e colli e visi umani, Piè con artigli, e pennuto ‘l gran ventre: Fanno lamenti in su gli alberi strani. E ‘l buon Maestro: Prima che più entre, Sappi, che se’ nel secondo girone, Mi cominciò a dire, e sarai, mentre Che tu verrai nell’orribil sabbione. Però riguarda bene, e sì vedrai Cose, che torrien fede al mio sermone. Io sentia d’ogni parte tragger guai, E non vedea persona, che ‘l facesse: Perch’io tutto smarrito m’arrestai. Io credo, ch’ei credette, ch’io credesse, Che tante voci uscisser tra quei bronchi Da gente, che per noi si nascondesse.« 70 [Hier nisten die häßlichen Harpyien, welche die Trojaner von den Strophaden mit einer Ankündigung künftigen Schadens vertrieben. Breite Flügel haben sie, Gesicht und Hals wie Menschen, Füße mit Krallen und gefiedert den großen Bauch: Klagen erheben sie auf den sonderbaren Bäumen. Und der edle Meister: ›Bevor du weiter eindringst, wisse, daß du auf der zweiten Stufe (des 7. Höllenkreises) bist,‹ so begann er zu reden, ›und du bleibst darin, bis du in die schreckliche Sandwüste kommst. Doch schau dich gut um; du wirst hier Dinge sehen, die dir den Glauben an meine Rede nehmen könnten.‹ Ich hörte von allen Seiten Wehgeschrei ertönen, und sah keinen, der es erhob: Deshalb blieb ich völlig verwirrt stehen. Ich glaube, daß er glaubte, ich könnte glauben, soviel Stimmen kämen aus dem Geäst von Leuten, die sich vor uns darin versteckten‹.] Dantes Lehrmeister zeigt ihm jedoch, wie er das Geheimnis lüften könne, und der Visionär erfährt, daß es Selbstmörder sind, die hier in Bäume verwandelt für ihre Sünde büßen. Als Vergil auf Dantes Bitte einen der Sünder, die Seele des berühmten Dichters und 70 Zitiert nach der führenden, kommentierten Ausgabe des Spätmittelalters: L’Ottimo Commento della Divina Commedia. Testo inedito d’un contemporaneo di Dante. Hrsg. Accademia della Crusca. Pisa 1827. Bd. 1, S. 240 - 242 (= 13. Gesang, V. 10 - 27). <?page no="312"?> Harpyie 311 Kanzlers Kaiser Friedrichs II., Pier della Vigna, befragt, wie dies geschehen sei, »brauste« es im Stamm des Baumes und der »Wind verwandelte sich in jene Stimme« (V. 91 - 92): »Quando si parte l’anima feroce Dal corpo, ond’ella stessa s’è disvelta, Minos la manda a la settima foce. Cade in la selva, e non l’è parte scelta; Ma là dove fortuna la balestra, Quivi germoglia come gran di spelta; Surge in vermena, ed in pianta silvestra; l’Arpie pascendo poi delle sue foglie, Fanno dolore, ed al dolor finestra. Come l’altre, verrem per nostre spoglie, Ma non però ch’alcuna sen rivesta: Che non è giusto aver ciò, ch’uom si toglie. Qui le strascineremo, e per la mesta Selva saranno i nostri corpi appesi, Ciascuno al prun dell’ombra sua molesta.« 71 (V. 94 - 108) [Wenn sich die wilde Seele vom Leib scheidet, von dem sie sich selbst entwurzelt hat, schickt Minos sie in die siebte Senke (= 7. Höllenkreis). Sie fällt in diesen Wald, ohne die Stelle gewählt zu haben; sondern da, wo der Zufall sie hinschleudert, da keimt sie wie ein Samenkorn Dinkel. Sie treibt zum Schößling und zum Buschwerk: dann weiden die Harpyien sich an ihren Blättern, sie fügen Schmerzen zu und stoßen dem Schmerz ein Fenster auf. Wie die anderen werden wir nach unserer sterblichen Hülle suchen, aber nicht damit sich jede (= Seele) wieder mit ihr bekleide; denn es ist nicht recht, das zu behalten, wessen sich der Mensch entäußert. Wir schleifen sie dann hierher, und in diesem Wald der Trauer werden unsere Leiber aufgehängt, ein jeder am Dornbusch seiner unausstehlichen Seele.] Im Unterschied zu manchen anderen mittelalterlichen Visionen bedarf es bei Dante keiner langen Beweisführungen um zu erkennen, daß es sich bei seinen Jenseitsschilderungen um authentische Visionen und Auditionen handelt. Die visionäre Kraft und die Gestaltungskunst des italienischen Dichters zeugen auch heute noch von der Intensität emotioneller Erfahrung des Gesehenen und Gehörten. Haben die mittelalterlichen Leser und Interpreten Dantes Dichtung ähnlich beurteilt? Dank der zahlreich überlieferten und edierten Kommentare aus dem Spätmittelalter zur Divina Commedia kann uns die Dante-Forschung ein recht genaues Bild von ihrer Wirkungsgeschichte zeichnen. Dabei sind bisher drei Rezeptionsphasen unterschieden: In der ersten, teilweise noch zeitgenössischen Phase von rund 1330 bis 1375 wurde Dantes Dichtung »as an authentic account of a journey through the other world granted the 71 L’Ottimo Commento (Fn. 70), S. 248 - 251. - Um diese Passagen in wörtlicher Genauigkeit zu übersetzen, hat mir Paola Schulze-Belli, Triest, wertvolle Hinweise gegeben, wofür ich ihr an dieser Stelle herzlich danke. <?page no="313"?> 312 Sieglinde Hartmann author by God« aufgefaßt. 72 In der zweiten, von Boccaccios Dante-Interpretation dominierten Phase von 1375 bis 1410 wird die Göttliche Komödie eher als Werk eines »großen Genius« gelesen, der seine »persönlichen Erfahrungen« beschreibt. In der letzten mittelalterlichen Phase von 1410 - 1480 ist Dantes Ansehen stark von Petrarcas Ruhm überschattet, sein Werk wird von den Humanisten wegen seiner Volkssprache wenig geschätzt und im übrigen als bloßes »Kompendium« eines großen aber teilweise abstrusen Wissens verachtet. 73 Die Schilderungen Dantes aus der jenseitigen Welt sind folglich recht unterschiedlich beurteilt worden. Das zeigt sich auch in den Kommentaren zu der Harpyienerscheinung im Wald der Selbstmörder. 74 Trotz der divergierenden Bewertungen fallen aber in unserem Zusammenhang zunächst folgende Eigenheiten auf. Die beiden wirkmächtigsten Kommentare aus der ersten Rezeptionsphase, der sogenannte Ottimo Commento 75 und das Werk des Jacopo della Lana 76 , behandeln Dantes Vision wie eine göttliche Offenbarung und legen die einzelnen Stellen wie Schriftworte im mehrfachen Schriftsinn aus. Sie stehen mithin in der selben hermeneutischen Tradition wie die Palmbaumtraktate und die Tierallegoresen in den Predigtexempeln. So wundert es eigentlich kaum, wenn beide Exegeten die spirituelle Bedeutung der Harpyien auch übereinstimmend im allegorischen Sinn auf die Verzweiflung der Selbstmörder und ihre Bestrafung deuten: »le arpìe, han per allegorìa a significare la volontade assoluta, cioè la desperazione« [= Die Harpyien bedeuten allegorisch den absoluten Willen, das heißt die Verzweiflung.] 77 Zur Untermauerung ihrer Auslegung führen beide mehrere Zitate aus der Heiligen Schrift und den Vätern an. In Erläuterungen zur wörtlichen Bedeutung einzelner Begriffe und Motive fügen sie noch eine Zusammenfassung von Vergils Schilderung der Harpyienepisode auf den Strophaden ein, wobei der jüngere Ottimo Commento Rolle und Namen der Harpyien in der Aeneis wesentlich ausführlicher beschreibt. Auf die Harpyienallegorese christlich-mittelalterlicher Theologen verweist jedoch keiner der Kommentatoren. 72 Die prägnante Zusammenfassung gibt Brieger, P.: Pictorial Commentaries to the Commedia. In: Brieger, P.; Meiss, M.; Singleton, Ch. S.: Illuminated Manuscripts of the Divine Comedy. Bd. 1. Princeton; New York 1969, S. 83 - 113, Zitat: S. 88. 73 Brieger (Fn. 72), S. 89. 74 Die mittelalterlichen Dantekommentare behandelt ausführlich Sandkühler, Bruno: Die frühen Dantekommentare und ihr Verhältnis zur mittelalterlichen Kommentartradition. München 1977. 75 Verfaßt vor 1350, nicht ganz so reichhaltig überliefert wie der Lana-Kommentar, aber grundlegend für das Dante-Wörterbuch der Accademia della Crusca. Zitiert nach der in Fn. 68 angegebenen Ausgabe. Neuerdings wird die Verfasserschaft des Ottimo Commento Andrea Lancia zugeschrieben, dazu siehe Sandkühler (Fn.72), S. 206 f. 76 Vor 1350 verfaßt, etwas älter als der Ottimo Commento, in über 80 Handschriften bis ins 15. Jahrhundert verbreitet, nach Sandkühler (Fn. 72), S. 193, »der beliebteste Dantekommentar« im 14. und 15. Jahrhundert; Untersuchung ebda. S. 192 - 206. Faks.-Ausgabe der Frankfurter Handschrift des 14. Jahrhunderts von Schmidt-Knatz, F.: La Commedia col commento di Jacobo della Lana: Frankfurt am Main 1939. Hier zitiert nach der Ausgabe von Scarabelli, Luciano: Commedia di Dante Allaghierii col comento die Jacobo della Lana. Bologna 1866. 77 Jacopo della Lana (Fn. 74), S. 250; Schriftzitate aus den Psalmen, Boethius’ De Consolatione, Paulus’ Brief an die Epheser, Pseudo-Dionysius, De divinis nominibus, ebda. - Ottimo Commento: »L’arpie hanno per allegoria a significare la volontade assoluta, cioè la disperazione« (Fn. 68), S. 236; dann folgen die gleichen Schriftzitate in der Einleitung, die in der fortlaufenden Kommentierung jedoch gegenüber Lana noch vermehrt werden. <?page no="314"?> Harpyie 313 Das wirkt um so erstaunlicher, als die Parallelen aus unserer Sicht auf der Hand liegen. Die Übereinstimmungen beginnen schon im ersten Vers der Harpyienepisode, der sogar wörtliche Anklänge zur altfranzösischen Palmbaumallegorie aufweist: »Quivi le brutte Arpie lor nido fanno« »Sor cest rain fait li arpie sen nit«. Daß die Harpyien auf Bäumen nisten, wird außer in den Palmbaumtraktaten nirgends erwähnt. Bei Vergil hausen die Harpyien bekanntlich auf »Bergen« und »schroffen Klippen« hoch über der Meeresbucht, wo Aeneas mit seinem Volk gelandet war. Ihr äußeres Erscheinungsbild beschreibt Dante ebenfalls von Vergil abweichend: Sie tragen nicht an Händen, sondern an den Füßen Krallen. Und ihr Gesicht ist nicht als Jungfrauenantlitz (»virginei volucrum vultus«), sondern geschlechtsneutral als menschliches Antlitz charakterisiert, offensichtlich in einer Übersetzung der mittelalterlichen Formel »facies hominis« (Menschenantlitz), wie sie sich seit Thomas von Chantimpré eingebürgert hatte. 78 Desweiteren gehört ihr Klagegeschrei (»lamenti«) zu den typischen Verhaltensmerkmalen der »neuen« christlichen Harpyie, was bei Vergil überhaupt nicht vorkommt, aber über die Predigtexempel hinaus in den Tierbüchern weithin bekannt gemacht worden waren. Die Ähnlichkeiten scheinen zu groß, als daß man annehmen könnte, Dante habe weder die lateinischen Naturenzyklopädien noch die ebenfalls in lateinischen Versionen verbreiteten Predigtexempel von der »neuen« Harpyie gekannt. Zu offensichtlich verschmilzt der Dichter Dante die einzelnen »proprietates« der »neuen« Harpyie hier zu einem Negativexempel ähnlicher Art wie bei Ulrich von Lilienfeld. Denn wie der gelehrte deutsche Theologe schildert der nicht minder gelehrte italienische Autor die Harpyien als Allegorie für die Sünde des Selbstmords und ihre Strafe, die ewige Verdammnis. Dabei deutet Dante selbst die positiven Züge der »neuen« Harpyie aus den Palmbaumallegorien negativ um. Sie nisten auf den Bäumen der verdammten Seelen, aber sie weisen ihnen nicht den Weg zur Frucht, die ewiges Leben spendet. Im Gegenteil. In genauer Umkehrung dazu, nähren sich die Harpyien von den sündigen Seelen, wobei sie den Sündern zugleich Schmerzen zufügen und ihnen Erleichterung verschaffen, indem sie »dem Schmerz ein Fenster aufstoßen«. Ein circulus vitiosus, der bis zum Jüngsten Gericht dauert, wenn die Körper der Verdammten zum letzten Mal am »Dornbusch ihrer Seelen« erhängt werden. Damit beschließt Dante seine Harpyienvision ähnlich wie Ulrich von Lilienfeld: mit dem abschreckenden Beispiel des erhängten Selbstmörders. Einer der mittelalterlichen Dante-Illustratoren hat die Harpyienepisode mit diesem Schlußbild illustriert, vielleicht weil sich darin die erstrebte Abschreckung bis zu höchstem Grauen steigert. Erstaunlicherweise ist dort der Selbstmörder mit einem Strick an einem Ast aufgehängt, was aus Dantes Wortlaut nicht hervorgeht, wohl aber von Judas im Harpyienexempel überliefert ist. 79 Der Dante-Forscher Peter Brieger hatte schon 1969 vermerkt, wie sehr die italienischen Miniaturisten mitunter vom Dante-Text abwichen und sich bei ihren Harpyiendarstellungen mehr nach Vorbildern aus Bestiarien richteten (s. Abb. 5). 80 Deshalb wirkt es 78 In den altfranzösischen Palmbaumtraktaten und in Pierres Bestiarium heißt es »sanlane d’omme« bzw. »samblant a home«, was auch als »ähnlich wie ein Mann« übersetzt werden kann. In einigen Illustrationen zum 13. Gesang sind die Harpyien mit bärtigen Männerköpfen dargestellt, s. dazu Brieger (Fn. 70), S. 133 und Wirth (Fn. 1), S. 67 und Abb. 24. 79 Beschrieben bei Brieger (Fn. 70), S. 133. <?page no="315"?> 314 Sieglinde Hartmann um so frappierender, daß die Text-Kommentatoren diese Traditionen, die den Miniaturisten offenbar bekannt waren, vollkommen mit Schweigen übergingen. 81 Statt auf das naheliegende Exempel von der mordenden und trauernden Harpyie, die sich »ex desperacione« (Ulrich von Lilienfeld) das Leben nimmt, verweisen die Kommentaren einzig auf die fernstehende antike Quelle. Dabei schildern sie die Harpyienepisode in Vergils Aeneis immer ausführlicher, um ihren Lesern Herkunft, Namen und Wesen dieser »häßlichen Vögel« im historischen Rückgriff auf den vermeintlichen Ursprung genauer zu erklären. 82 So wurden Dantes eigentlich »neue« Harpyien bereits in der ersten, noch sozusagen ganz mittelalterlichen Rezeptionssphase wieder in die »alten« Harpyien der Antike zurückverwandelt. 80 Siehe die ikonographische Analyse des 13. Gesangs von Brieger (Fn. 70), S. 132 f. sowie die dazu gehörigen Abbildungen. Brieger unterscheidet allerdings nicht deutlich genug zwischen Bestiarien (mit Allegorese) und Enzyklopädien (ohne Allegorese), daher sind unbedingt die Richtigstellungen von Wirth (Fn. 1), S. 65 - 68 zu beachten. 81 Folgender Aufsatz geht möglicherweise darauf ein, war mir jedoch nicht zugänglich: Stephany, William A.: Dante’s harpies. In: The Poetry of Allusion: Virgil and Ovid in Dante’s Commedia. Hrsg. Rachel Jacoff; Jeffrey T. Schnapp. Stanford 1991, S. 47 - 44, 258 - 261. 82 Im Lana-Kommentar (Fn. 74) in 8 Zeilen, im Ottimo Commento (Fn. 68) in 39 (! ) Zeilen. Im Ottimo Commento (S. 241) werden erstmals auch Namen genannt und in ihrer Bedeutung erläutert; bezeichnenderweise färbt der Kommentator Vergils Harpyien-Episode mit Dante-Motiven ein, indem er die Harpyien auch bei Vergil in einem Wald auf Bäumen, statt auf Klippen ansiedelt. Abb. 5: Männliche Harpyien mit Bärten, Miniatur von ca. 1400 zum 13. Gesang der Divina Commedia. <?page no="316"?> Harpyie 315 Abb. 6: Gabrielle Wittkop, Harpyies. Federzeichnung 1984. <?page no="317"?> 316 Sieglinde Hartmann Die Rückbesinnung auf die lateinische Antike löste bekanntlich zuerst in Italien einen vielschichtigen geistigen Erneuerungsprozeß aus. Daran war bereits Dante maßgeblich beteiligt, da er Vergil zu seinem Lehrmeister im Inferno erhoben hatte. Die Nähe zu Vergil oder genauer: seine unmittelbare Gegenwart in der Dichtung hatte jedoch zur Folge, daß Dantes Bezug auf mittelalterliche Inspirationsquellen wie beispielsweise auf das Exempel der mordenden und trauernden Harpyie stark überschattet oder vollkommen unkenntlich wurde. Bodo Guthmüller hat kürzlich nachgezeichnet, in welch widersprüchlichen und gegenläufigen Bewegungen sich im Italien des Humanismus, der Renaissance und der Gegenreformation das Mythenverständnis im Rekurs auf die antiken Quellen entwickelt hat. 83 Dabei zeigt Guthmüller anhand von Ovids Metamorphosen-Rezeption, wie neue Formen des Antikenverständnisses die mittelalterlichen Methoden christlicher Allegorese der mythischen »fabulae zu Predigtzwecken« obsolet werden lassen, 84 und warum schließlich »die christliche Allegorese heidnischer Autoren durch das Konzil von Trient offiziell verboten wird«. 85 Eine ähnliche Entwicklung bestätigt sich für den Harpyienmythos. Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts, d. h. bis zum Verdikt des Trienter Konzils (1545 - 1563), bleibt die Geschichte von der »neuen« Harpyie in Kanzelreden und Predigtliteratur lebendig. Gleichzeitig erlebt die »alte« Harpyie eine erstaunliche Renaissance in Kunst und Literatur, zuerst in Italien, später in den übrigen Ländern Europas. Im Aussehen unterscheiden sich die neuen »alten« Harpyie allerdings wenig von ihren mittelalterlichen Vorgängerinnen. Wie es Karl August Wirth beschrieben hat, wird ihre Gestalt in einer ebenso großen Vielfalt von unterschiedlich zusammengesetzten Mischwesen dargestellt, wie es seit Pierres Bestiaire und den Illustrationen der Predigtbücher dokumentiert ist. 86 Auch wirken sie nicht immer als scheußliche Ungeheuer, sondern können, wie in Vasaris Urteil, sogar als »arpie bellissime« (wunderschöne Harpyien) gepriesen und geschätzt werden. 87 Möglicherweise lebt in der Schönheit dieser Harpyien ein Wesenszug aus der ältesten Mythenüberlieferung auf, wie wir sie aus Hesiod kennen, oder sogar aus noch älteren vorgeschichtlichen Zeiten. Die Renaissance der schönen Harpyien sollte jedoch nur von kurzer Dauer sein. Denn unsere Neuzeit hat lediglich das Bild von den häßlichen »alten« Harpyien bewahrt: Als Inbegriff weiblicher Furien, sprichwörtlicher Ausbund an Raffgier und als Projektion männlicher Ängste vor weiblicher Übermacht (s. Abb. 6). 83 Guthmüller, Bodo: Formen des Mythenverständnisses um 1500. In: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992. Hrsg. H. Boockmann u.a. Göttingen 1995, S. 109 - 131. 84 Guthmüller (Fn. 83), S. 131. 85 Guthmüller (Fn. 83), S. 120. 86 Wirth (Fn. 1), S. 68 - 75. 87 In seinen Vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architetti beschreibt Vasari in diesen Termini einen Sokkel, den der Bildhauer Desiderio da Settignano geschaffen hatte, zitiert nach Wirth (Fn. 1), S. 68 f. <?page no="318"?> Harpyie 317 Bibliographische Hinweise Baer, Eva: Sphinxes and Harpies in Medieval Islamic Art. An Iconographical Study. Jerusalem 1965. Bode, Georg Heinrich: Scriptores rerum mythicarum Latini tres Romae super reperti. Celle 1834; Nachdr. Hildesheim 1968. Bologna, Corrado (Hrsg. u. Übers.): Liber monstrorum de diversis generibus. Libro delle mirabili difformità. Mailand 1977 (Nuova Corona, Bd. 5). Brieger, Peter: Pictorial Commentaries to the Commedia. In: Brieger. P.; Meiss, M.; Singleton, Ch. S: Illuminated Manuscripts of the Divine Comedy. Bd. 1. Princeton; New York 1969. Cahiers, Charles; Martin, Arthur: Le Physiologus ou Bestiaire. In: Mélanges d’Archéologie, d’Histoire et de Littérature. Bd. II. Paris 1851, S. 85 - 232, Harpyien-Artikel, Kap. 16, S. 157 f.; Abb. der Harpyie ebda. im Anhang. Christ, Karl: Le Livre du Paumier. Ein Beitrag zur Kenntnis der altfranzösischen Mystik. In: Mittelalterliche Handschriften. Festgabe für Hermann Degering. Leipzig 1926. Fleischer, Wolfgang: Untersuchungen zur Palmbaumallegorie im Mittelalter. München 1976. Guthmüller, Bodo: Formen des Mythenverständnisses um 1500. In: Literatur, Musik und Kunst im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1989 bis 1992. Hrsg. H. Boockmann u.a. Göttingen 1995. Harris, Nigel: The Latin and German ›Etymachia‹. Textual History, Edition, Commentary. Tübingen 1994 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, Bd. 102). Mermier, Guy R.: A medieval Book of Beasts. Pierre de Beauvais’ Bestiary. Followed by a diplomatic transcription of the Malines (Mechelen) ms. of Pierre de Beauvais, short version, and with, in appendix, an English transl. of the Cambrai Bestiary. Lewiston 1992. Nicolai Vptoni. De studio militari. Libri Quatuor. Typis Rogeri Norton, impensis Johannis Martin, Jacobi Allestrye. London 1654, Harpyienkapitel: S.174. L’Ottimo Commento della Divina Commedia. Testo inedito d’un contemporaneo di Dante. Hrsg. von der Accademia della Crusca. Pisa 1827. Bd. 1, S. 240 - 242 (13. Gesang). Pfeiffer, Franz (Hrsg.): Das Buch der Natur von Konrad von Megenberg. 1861; Nachdr. Hildesheim 1971; Harpyienkapitel ebda. S.167 - 168. Rowland, Beryl: Harpies. In: Mythical and Fabulous Creatures. A Source Book and Research Guide. New York u.a. 1987. Schmidtke, Dietrich: Geistliche Tierinterpretationen in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100 - 1500) 2 Teile. Berlin 1968 (Diss.); zur Harpyie s. Teil II, S. 514, Anm. 380. Stadler, Hermann (Hrsg): Albertus Magnus De Animalibus Libri XXVI. Bd. 2. Münster 1920, Harpyienkapitel Lib. XXIII, 3. Strauch, Philipp: Palma Contemplationis. In: PBB 48 (1924), S.335 - 375. Thomae Cantipratensis Bonum universale de apibus. Douai 1627 (Stadtu. Univ.-Bibl. Frankfurt am Main, Sign. 44/ 7905). Harpyienbeschreibung in Kap. XXV,3. Thomas von Chantimpré: De natura Rerum. Hrsg. H. Boese. Berlin; New York 1973, Harpyie in Kap. V, 4. Vincentius Bellovacensis. Speculum Naturale. Douai 1624. Faksimile-Ausg. Graz 1964. Liber XVI, Harpyie in Cap. 94. Weis-Liebersdorf, J.E.: Das Kirchenjahr in 156 gotischen Federzeichnungen. Ulrich von Lilienfeld und die Eichstätter Evangelienpostille. Studien zur Geschichte der Armenbibel und ihrer Fortbildungen. Strassburg 1913. Wirth, Karl-August: Wege und Abwege der Überlieferungsgeschichte von Gestalten des klassischantiken Mythos: das Bild der Harpyie im ausgehenden Mittelalter (und bei Giorgio Vasari). Novi Sad 1981 (17 Zbornik Za Likovne Umetnosti 17). <?page no="319"?> 318 Sieglinde Hartmann Zink, Michel: La prédication en langue romane avant 1300. Paris 1982. Zorzelti, N. (Hrsg.) und Berlioz, G (Übers.): Le premier mythographe du Vatican. Paris 1995 (= Collection des Universités de France), Harpyie auf S. 17 - 18, 35 und 63. Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Harpyie über menschlichem Opfer, Miniatur zu Pierre de Beauvais, Bestiaire. Hs. von 1245, Paris, Bibliothèque de l’Arsenal, ms. fr. 3516, Bl. 201 v ; schwarz-weiß Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis der Bibliothèque de l’Arsenal. Abb. 2: Palmbaumallegorie mit Harpyie auf 2. Ast rechts unten, Andachtsbild von ca. 1300, 118 x 84 mm, aus den Rotschild Canticles, MS 404, Yale University, New Haven, USA, Beinecke Rare Book and Ms-Library. Beschreibung und Analyse der Hs. bei Hamburger, Jeffrey F.: The Rothschild Canticles. Art and Mysticism in Flanders and the Rhineland circa 1300. Yale University Press New Haven and London 1990; Abb. der Palmbaumallegorie als Illustration 4 im Anhang; ikonographische und geistesgeschichtliche Einordnung der Palmbaumallegorie auf S.35 - 42. Abb. 3: Pfau, Wiedehopf, Schwan, Harpyie (4. Ast oben Mitte mit Rose), Nachtigall, Schwalbe und Phönix auf dem Palmbaum, Holzschnitt zu einer mhd. Version der Palmbaumallegorie. In: Gaistliche vßlegung des lebens Jhesu Christi. Wiegendruck. Augsburg bei Joh. Schobser, ca. 1490/ 95; abgebildet und erläutert bei Philipp Strauch: Palma Contemplationis. In: PBB 48 (1924), S. 374 B. Abb. 4: Drei Harpyien, Wappen des William Tenderden, ca. 1450, gezeichnet von G. Mussett nach der Hs. L. 8, Bl. 45, College of Arms, London; abgebildet bei R. Dennys: The Heraldic Imagination. London 1975, S. 127. Abb. 5: Männliche Harpyien mit Bärten, Miniatur zu Dantes Divina Commedia, 13. Gesang; Rom, Biblioteca Angelica, ms. 1102, Anfang des 15. Jahrhunderts, Bl. 11 r ; die Abb. erfolgt »su concessione del Ministero per i Beni Culturali ed Ambientali« und schließt das Verbot jeglicher weiteren Reproduktion ohne ausdrückliche Genehmigung des Ministeriums ein. Abb. 6: Gabrielle Wittkop, Harpyies, Federzeichnung weiß gehöht auf olivgrünem Karton, 35 x 41,5 cm, 1984; Privatbesitz (S. Hartmann), Frankfurt am Main. <?page no="320"?> Hexen Christa Habiger-Tuczay (Wien) Die weitverbreitete Meinung, daß Hexen 1 und Hexenverfolgungen im »finsteren« Mittelalter stattgefunden haben, ließ sich auch nicht durch die großangelegten Untersuchungen der letzten Jahrzehnte ausrotten. 2 Gewisse Abstriche sind in rezenter Zeit sogar in den populärwissenschaftlichen Werken zu beobachten, welche die echte Hexenverfolgung ins Spätmittelalter verlegen. Der Terminus Hexe wird aber nach wie vor für alle weiblichen Personen, die in irgendeiner Form mit übernatürlichen Kräften zu tun haben, angewendet bzw. verwendet. Daß das nicht gerade zu einer Klärung der Begriffe beiträgt, liegt auf der Hand, weshalb ich vorerst für das Mittelalter je nach Zeugnis entweder den Begriff Zauberin oder den in der jeweiligen Quelle ausgewiesenen spezifischen Begriff verwende. Aus der Antike ist die Vorstellung von der »strix« oder »striga« als Bezeichnung für nachtfahrende Frauen schon bei Schriftstellern wie Plinius dem Älteren, Apuleius, Petronius und anderen 3 überliefert. Die Nachtfahrerinnen Die Luftfahrt, bereits bei Apuleius anschaulich geschildert, geschieht mittels einer Salbe oder auf dem Rücken eines Tieres bzw. mit Hilfe der Verwandlung in einen Vogel. Grimm erwähnt in seiner Deutschen Mythologie, daß der Göttin Freja Besen geweiht wurden, eine Vorstellung, die bereits die Assyrer gekannt haben sollen. Die antiken Nachtfahrerinnen waren eigentlich Gespenster, Verbindungen zum Vampirglauben lassen sich auch bei den Lamien 4 und Empusen nachweisen. 1 Hier eine Bibliographie bieten zu wollen, wäre ein undankbares Unterfangen, da kaum ein Gebiet der Volks- und Völkerkunde in den letzten Jahrezehnten auf mehr Aufmerksamkeit gestoßen ist. Außer der zitierten Literatur habe ich vor allem benutzt: Russell, Jeffrey, B: Witchcraft in the Middle Ages. Ithaca 1972. - Kieckhefer, Richard: European Witch Trials. Berkely 1976. - Kors, C./ Peters, Edward: Witchcraft in Europe 1100 - 1700, a documentary History. Philadelphia 1972. - Lobouvie, Eva: Zauberei und Hexenwesen. Frankfurt 1991. - Ziegeler, Wolfgang: Möglichkeiten der Kritik am Hexen-und Zauberwesen im ausgehenden Mittelalter. Wien 1973. - Leutenbauer, Siegfried: Hexerei und Zaubereidelikt in der Literatur von 1450 - 1550. Berlin 1972. - Marwick, Max (Hrsg.): Witchcraft and Sorcery. London 1982. - Biedermann, Hans: Hexen. Graz 1974. - McFarlane, A.: Witchcraft in Tudor and Stuart England. A Regional and comparative Study. London 1970. - Michelet, Jules: Satanism and Witchcraft, a Study in Medieval Superstition. London 1965. - Russell, Jeffrey, B.: A History of Witchcraft, Sorcerers, Heretics, Pagans. London 1980. - Schormann, Gerhard: Der Krieg gegen die Hexen. Göttingen 1991. 2 Oft wird in der volkskundlichen Forschung, die mit der frühen Neuzeit ansetzt, nicht zwischen der mittelalterlichen Zauberin und den tatsächlich angeklagten Frauen unterschieden, bzw. ohne Einsehen der mittelalterlichen Zeugnisse, einfach zurückgeschlossen. 3 Vgl. Luck, Georg: Hexen und Zauberei in der römischen Dichtung. Zürich 1962. 4 Lecouteux, Claude: Lamia. In: Euphorion 75 (1981), S. 360 - 365. <?page no="321"?> 320 Christa Habiger-Tuczay Auch bei mittelalterlichen Zeugnissen von »Holden« und »Unholden« hat es sich offenbar nicht um menschliche Wesen, sondern ebenfalls um Gespenster gehandelt. Die Volkssitte, diesen Nachtfahrerinnen Speiseopfer darzubringen, um dem Haus Glück zu gewährleisten, läßt sich in Italien, Gallien und Germanien nachweisen. 5 Damit gekoppelt war auch der Verwandlungsmythos, 6 der auch in Zusammenhang mit den Zauberkünsten auftritt. Bereits bei Apuleius ging ja die Verwandlung der Zauberin ihrem Flug voraus. Simon Magus wird neben seinen Flugkünsten auch der Gebrauch einer verwandlungskräftigen Zaubersalbe nachgesagt. 7 Die Herstellung der Salbe gehört in den Bereich des »Veneficiums«, des Schadenzaubers mittels Giften, und damit auch des »Maleficiums«, wodurch die Verbindung Maleficium-Verwandlung hergestellt ist. Stephan von Bourbon stellte sich die Holden Frauen auf Besen reitend vor, die Unholden auf Wölfen. In Gervasius’ von Tilbury Otia Imperialia hat die Vorstellung bereits ambivalenten Charakter: Einerseits nimmt er an, daß die Nachtfahrenden nicht-menschliche Wesen seien, aber an einer anderen Stelle spricht er davon, daß die Nachtfahrerinnen doch wirklich flögen. Er habe eine Frau gekannt, welche an Nachtfahrten teilgenommen hatte. Diese hatte nicht beachtet, daß sie dabei den Namen Christi nicht aussprechen dürfe, und wäre durch diesen Tabubruch in die Rhone gestürzt. 8 An die Tierverwandlung, vorzugsweise in Katzen, glaubt er ebenfalls: »Scimus quasdam (feminas) in forma cattarum a furtiva vigilantibus de nocte visas ac vulneratas in crastino vulnera truncationesque membrorum ostendisse.« 9 Die Antikerezeption hat eine Vermischung der römischen Striga mit der volkstümlichen Nachtfahrerin nach sich gezogen, wodurch aber auch die »unholden« Aspekte ein gewisses Übergewicht erhielten. In der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine begegnen wir dieser Mischform. Er erzählt die Geschichte des Germanus von Auxerre, der Herberge in einem fremden Haus nahm und nach dem Abendessen bemerkt, daß der Tisch neuerlich gedeckt wird. Als er verwundert nach den neuen Gästen fragt, gibt man ihm zur Antwort: »do seitent si, es were eine gewonheit, daz die frowen die des nahtes farent gewonlich in daz hus koment; den were der tisch bereit. Hie von wachet Sant Germanus. do sach er daz vil túfel in menschen personen koment und sattent an den tisch.« 10 5 Hansen hat sie als keltische Vorstellung angesehen. Vgl. Hansen, Joseph: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozesse im Mittelalter und die Enstehung der großen Hexenverfolgung. München 1900, S. 17. 6 Über die Verwandlungskulte vgl. bes. Höfler, Otto: Verwandlungskulte, Volkssagen und Mythen. Wien 1973 (Sitzungsberichte der Österr. Akademie der Wiss., Phil-Hist. Kl., Bd. 279). 7 Kraus: Realenzyklopädie der christlichen Altertümer. Bd. II, S. 1001. - Döllinger, Johann: Christentum und Kirche, S. 322. - Kuhlen, Franz-Josef: Zur Geschichte der Schmerz-, Schlaf- und Betäubungsmittel in Mittelalter und früher Neuzeit, Stuttgart 1983, S. 266 - 357. Die Zauberin bei Apuleius bestreicht sich ebenfalls mit einer Salbe. - Ferckel, Siegbert: ›Hexensalbe‹ und ihre Wirkungen. In: Kosmos. Bd. 50. Stuttgart 1954, S. 414 f. - Peuckert, Will-Erich: Hexensalben. In: Medizinischer Monatsspiegel 8 (August 1960). 8 Vgl. Hansen (Fn. 5), S. 139 f. Liebniz, G.W.: Scriptores rerum Brunsvicensium. Bd. I. Hannover 1701, 3 c. 93; Die König Otto IV. gewidmete Schrift vermischte antike Lamienvorstellungen mit dem Alp, der Männer und Frauen drücken, aber auch die die Gebeine der Menschen zerstückeln und wieder zusammensetzen kann. 9 Gervasius von Tilbury: Otia imperialia I,c.93, zit. nach Hansen (Fn. 5), S. 140. 10 Aus Krapp, William (Hrsg.): Die Elsässische Legenda Aurea. Tübingen 1980, Bd. I, S. 480. <?page no="322"?> Hexen 321 Aus dem Gesagten geht also hervor, daß die volkstümliche Vorstellung von den nachtfahrenden Frauen mit den Zauberinnen vorerst gar nicht bzw. nur am Rande zu tun hatte. In der Lex Salica 11 und den alemannischen und langobardischen Rechtsvorschriften wird ein Volksglauben erwähnt, der von vampirartigen Frauen, die Menschen innerlich verzehren können, weiß. Der Edictus Rothari (643) kennt ebenfalls diese Vorstellung und erklärt, daß Christen, die solches glauben, dem Wahn verhaftet wären und jene Frauen, die man als Strigen denunzierte, nicht zu bestrafen seien. Im alemannischen Recht gab es sogar eine Bestimmung gegen diese wahnhaften Denunziationen. Der Canon Episcopi 12 , der das erste Zeugnis der Nachtfahrerinnen im Detail beinhaltet, beschäftigt sich gleichfalls mit diesem Volksglauben. Er ermahnt die Bischöfe, diesen Wahn auszurotten, den der Teufel verwirrten Frauen im Traum eingibt, daß diese nämlich in der Nacht auf Tieren mit der Göttin Diana durch die Luft reiten. Diese Vorstellungen sollen als Wahnbilder bekämpft und als Vorspiegelungen des Teufels entlarvt werden. Burkhard von Worms (1020) hebt durch die Bezeichnung »Holde« den freundlichen Charakter dieser Wesen hervor. Wer diesem Wahn trotz Ermahnungen anhing, wurde mit zwei Jahren Buße bestraft. Burkhard erwähnt aber auch die unholden nachtfahrenden Frauen, welche die Christenmenschen mit unsichtbaren Waffen töten 13 , deren Fleisch kochen und essen und anstelle des Herzens einen anderen Gegenstand dafür einsetzen. Am nächsten Tag beleben sie ihre Opfer wieder. Der Dichter Stricker widmet ihnen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine eingehende Beschreibung und tut die Vorstellung als kindischen Aberglauben ab: »Ich bin gewesen ze Portigâl und ze Dolêt sunder twâl, mir ist kunt Kalatrâ daz lant, [...] waz ein unholde waere? daz gehôrt ich nie gelesen, waz ein unholde müge werden. daz ein wip ein chalp rite, daz waeren wunderliche site, ode rit ûf einer dehsen, ode ûf einem hûspesem nâch slaze ze Halle füer; [...] daz en wip ein man über schrite und im sin herze ûz snite, wie zaeme daz einem wibe, daz sie snite ûz einem lîbe ein herze, und stieze dar in strô, wie möhter leben ode werden frô? [...] 11 Ward, John, O.: Witchcraft and Sorcery in the Later Roman Empire and the Early Middle Ages. In: Prudentia 12 (1980), S. 93 - 100. 12 Unverhau, Dagmar: Volksglaube und Aberglaube als glaubensmäßig nicht sanktionierte Magie auf dem Hintergrund des dämonologischen Hexenbegriffs der Verfolgungszeit. In: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter. Hrsg. Peter Dinzelbacher/ Dieter Bauer, S. 375 - 397. 13 Zu »Hexenschuß« vgl. Schmitz, C.A.: Todeszauber in Nordost-Neuguinea. In: Religionsethnologie. Hrsg. Schmitz. Frankfurt/ M. 1964, S. 335 - 374, bes. S. 353 f. <?page no="323"?> 322 Christa Habiger-Tuczay Ich wil iu sagen maere, waz sin rechte unholdaere: daz sint der herren râtgeben.« 14 Herbort von Fritzlar verwendet in seinem Trojaroman 15 das schauerliche Herausnehmen des Herzens als Metapher für die Liebeskrankheit: »Ich han nicht in dem lîbe, / Da miîn herz solde wesen, / Da trage ich ein lîhte vesen, oder ein stro oder eine wisch.«(V. 9418) 16 Jacob Grimm hat zu dieser Vorstellung auch die serbische »vjechtitza« gestellt, welche den schlafenden Männern mit einer Rute die Brust öffnet, das Herz herausnimmt und es aufißt. Die offene Brust schließt sie wieder. Einige leben darauf noch weiter, sterben aber bald. Im alpenländischen Volksglauben erzählt man ähnliches von der Berchta, welche den Körper aufschneidet und mit Heckerling auffüllt. 17 Johann von Salisbury hat beide Vorstellungen, die Holden und die Unholden, als Träume von Ungebildeten bezeichnet. Walter Map will beweisen, daß die Nachtfahrerinnen nicht mit den Frauen identisch seien, die schlafend im Bett liegen und dennoch behaupten auszufahren. Es handelt sich dabei vielmehr um Dämonen, die in Gestalt jener Frauen Böses tun. Er führt ein Beispiel an, in welchem ein Dämon in der Gestalt einer alten Frau bereits drei Kinder erwürgt hatte. Als er ein viertes bedroht, konfrontiert man ihn mit seinem Ebenbild. Der Dämon flüchtet durch ein offenstehendes Fenster. 18 Mensch oder Dämon? Die Anschuldigungen der Spätzeit, daß sich die Hexe an Ernte und Vieh vergreife und Wetterzauberei übe, bringt sie nicht nur mit den alten Tempestari in Zusammenhang, sondern auch mit einem Korndämon. 19 Es handelt sich dabei um den »Bilwiz«, den schon Berthold von Regensburg zusammen mit den Nachtfahrerinnen erwähnt: »non debes aliquo modo credere nec hulden nec unhulden nec pilwiz, nahtvare, nahtvrowen [...] Totum sunt demones.« 20 Bei ihm handelt es sich noch um Dämonen, während aus den Nachtfahrerinnen im Gefolge der Diana, Herodias, Abundia oder Berchta plötzlich Frauen werden. Auch der Bilwis entwickelt sich im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts zum Zauberer bzw. wird mit den Hexen gleichgesetzt: »Auch wellen und gebieten wir, daß alle 14 Wiener Hs. 428, 154d; Vgl. Schwab, Ute: Die bisher unveröffentlichten geistlichen Bîspelreden des Strickers. Göttingen 1959; Zöllner, Walter/ Gloger, Bruno: Teufelsglaube und Hexenwahn. Wien 1985, S. 47 f. 15 Die Popularität des Trojastoffes im Mittelalter beruht nicht auf der Rezeption von Homers Dichtung, sondern auf den spätantiken Darstellungen der Pseudogeschichtsschreiber Dares Phrygius und Dictys Cretensis. Herbort verfaßte seine Version des Stoffes nach der französischen Fassung des Benoît de Sainte-More im Auftrag des Landgrafen Hermann von Thüringen. Die Datierung schwankt zwischen 1190 und 1210. 16 Frommann, G. K. (Hrsg.): Herbort von Fritzlar: Das liet von Troie. Quedlinburg; Leipzig 1837. 17 Grimm, Jakob: Deutsche Mythologie. Bd. II, S. 902 f.; Waschnitius, Viktor: Perht, Holda und verwandte Gestalten, ein Beitrag zur deutschen Religionsgeschichte. Wien 1913 (Sitzungsberichte der Kais. Akademie der Wiss. Wien Phil-Hist. Kl., Bd. 174). 18 Hansen (Fn. 5), S. 137. 19 Gerlach, Hildegard: Hexe. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 6. Berlin 1990, Sp. 973. 20 Schönbach, A.E.: Studien zur Geschichte der altdeutschen Predigt. Bd. II: Zeugnisse Bertholds von Regensburg zur Volkskunde. Wien 1900, S. 18. <?page no="324"?> Hexen 323 Zauberer, weydeler, pilwitte, Schwarzkünstler undt wie diese Gotteslesterer megen genandt werden [...]. 21 Lecouteux führt noch weitere Gemeinsamkeiten des Korndämons mit dem Hexenbild an. Den Bilwis faßte man ab 1400 als weibliches Wesen auf, das in Zusammenhang mit dem Flug zum Brocken Erwähnung findet. Es zeigt sich, daß ebenso wie bei der »Hagazussa« ein ursprünglich der niederen Mythologie angehöriges Naturwesen antropomorphisiert und zugleich dämonisiert wurde. »Wenn die Entwicklung des Bilwiz zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert parallel zu der hagazussa verläuft, so kann man vermuten, daß sich eine kleine Gottheit hinter dem Bilwiz versteckt, wie eine hinter der hagazussa stand.« 22 Auf die langwierige etymologische Diskussion, die das Wort Hexe ausgelöst hat, sei nur kurz eingegangen. Die heute vielfach akzeptierte Meinung stellt das Wort als Kompositum »hag« verwandt mit gallisch »caium«, kymrisch »ke«, angelsächsich »haga«, altnordisch »hagi«, ahd. Glossen »indago« (Einfriedung, abgeschlossenem Weideplatz) mit »zussa« zusammen. Jakob Grimm stellt »lodix« (Decke) bzw. »cingulum« (Gürtel) dazu. Nach Kluge geht »zussa« auf die idg. Wurzel »dheuos/ dhus« (Dämon) zurück. Im angelsächsichen Raum ist das Wort »haegetesse« schon im 8. Jahrhundert bezeugt und wird lateinisch mit »striga«, »furia« und »pythonissa«, »filia noctis« wiedergegeben. Ein Zauberspruch des Lacnunga rückt den Begriff in die Nähe der Elfen. Die Etymologie ist nach wie vor noch nicht abschließend geklärt. Vorerst scheint nur, wie Lecouteux betont, der erste Teil des Kompositums, also »hag«, als Bestimmungswort zahlreicher Termini festzustehen: er bezeichnet das Zaubereiunwesen. 23 Dem Haag als Einfriedung kam kultische Bedeutung zu. »Alle Glaubensvorstellungen und Aberglauben, die der Einfriedung gelten, beweisen, daß dieser Ort - heilig für die alten Germanen - die Wohnstätte eines genius loci (an. landvaettr) ist.« 24 Diese durch einen Zaun geschützte Einfriedung deutet auch eine Verbindung zwischen Hexe und Zaun an. Altnordisch »tunrda« (Zaunreiterin), »hagazussa« wird aus diesem Grund auch oft mit Zaunreiterin übersetzt. Lecouteux führt weiter aus, daß es sich bei diesem genius loci um den gallischen Dusius handeln müsse. Dazu zieht er eine Augustinusstelle heran 25 , wo der Dusius mit einem »Incubus« und »Faunus« gleichgesetzt wird. Auch bei Hinkmar von Reims läßt sich diese Gleichsetzung belegen. Dieser Dusius oder Waldgeist lebt im heutigen bretonischen Volksglauben als »Dus« weiter. 26 Thomas von Cantimpré († 1273) hat sich ebenfalls mit dem Dusius beschäftigt. Allerdings gibt er als dessen Heimat Preußen an und hält ihn für einen Teufel in Menschengestalt, der unter anderen verwerflichen Künsten auch die Nekromantie ausübt. Lecoutoux kommt zum Schluß, daß das Wort »Hagazussa« auf eine Dusia der Einfriedung, also auf einen verweiblichten Genius loci hindeute: 21 Zitat aus den Gesetzen des Hochmeister Konrad von Jungingen (1394) nach Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens, Bd. I, S. 1317. 22 Lecoutoux, Claude: Hagazussa, Striga, Hexe. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung NF 15 (1989), S. 57 - 70. 23 Lecouteux (Fn. 22). 24 Lecouteux (Fn. 22). 25 Augustinus: De civitate Dei. XV, 23. 26 Sébillot, Paul: Le Folk-Lore de France. 4 Bde. Paris 1904 - 1907 (Nachdr. 1968), Bd. I, S. 456. <?page no="325"?> 324 Christa Habiger-Tuczay »...daß die Hexe im heutigen Sinne des Begriffs, keine deutsche Vorstellung ist, was schon die Vielfalt der Bezeichnugen nahelegt. Die alten Germanen kannten Zauberer, Hellseher, Wahrsagerinnen, Traumdeuter usw. Es ist anzunehmen, daß diese Anhänger der weißen wie der schwarzen Magie bei den Christen malem partem gedeutet wurden und sich folglich in Hexen und -meister verwandelten, also in die römische Striga.« 27 Schadenzauber Die Wettermacherei, welche die sogenannten »Tempestari« ausübten, ist bereits aus der Antike bekannt. Agobard, Bischof von Lyon, berichtet in seiner Schrift Gegen die törichte Volksmeinung über die Entstehung von Unwettern (9. Jahrhundert), daß in seiner Heimat sowohl Adelige als auch einfache Leute glaubten, daß Wetterzauberer einen Sturm entfachen und somit die Ernte gefährden bzw. zerstören könnten. Sie drohten den Bauern, daß, wenn sie die geforderten Schutzgelder nicht zahlten wollten, nicht nur Sturm und Hagel zu senden, sondern auch die Ernte zu rauben, die sie dann in ihren Wolkenschiffen nach »Mangonia« verfrachten, um sie dort zu verkaufen. 28 »Ich selbst habe mehrer dieser Narren gesehen, die so absurde Behauptungen für Wahrheit hielten. Sie zeigten der versammelten Menge drei Männer und eine Frau, die angeblich aus diesen über den Wolken fliegenden Schiffen gestürzt waren und seit mehreren Tagen in Ketten gehalten wurden. Jetzt wurden sie vor mich gebracht und sollten gesteinigt werden.« 29 Agobard war imstande diese Strafe zu verhindern. Die Teilnehmer der Synode zu Paris von 829 gehörten offenbar zu den Strafbefürwortern: »Man sagt, daß die Zauberer auch Sturm und Hagelschlag verursachen können, die Zukunft vorhersagen, Feldfrüchte und Milch dem einen wegnehmen und einem andere zukommen lassen und zahllose ähnliche Dinge vermögen. Wenn Männer oder Frauen entdeckt werden, die solche Taten begangen haben, muß man sie ganz besonders streng bestrafen, weil sie sich nicht scheuen, ganz offen dem ruchlosen Teufel zu dienen.« Eine weitere bereits in der Antike bekannte Vorstellung, die man auf die Hexen übertrug, stand ursprünglich nicht in Zusammenhang mit den Strigen, sondern mit einem sexuellen Schadenzauber, der nicht auf bestimmte Zauberpersonen bezogen war, das berüchtigte »Nestelknüpfen«, ein Brauch, der sich noch bis in unser Jahrhundert belegen läßt. 30 Das Ritual besteht darin, daß während einer Trauungszeremonie ein Knoten geknüpft bzw. ein Schloß zugesperrt wird. Dann wirft der Magier Knoten oder Schloß ins Wasser. Hinkmar von Reims erwähnt den Brauch und Vintler 31 listet ihn in seinem Aberglaubenskatalog auf. Als Abwehrzauber empfiehlt sich ein bereits verschlossenens Schloß in der Tasche zu tragen. 32 Der Hexenhammer gib t an, daß die Hexen 27 Lecouteux (Fn. 23), S. 66. 28 Boshof, Egon: Erzbischof Agobard von Lyon. Köln 1969. - Cohn, Norman: Europe’s Inner Demons. An Enquiry Inspired by the Great Witch Hunt. New York 1975, S. 152 f. 29 Agobard: Liber contra in salsam vulgi opinionem de Grandine. Hrsg. P. Migne. Paris (PL, Bd. 104), Sp. 148, übers. v. Riché, Pierre, in: Ders.: Die Welt der Karolinger. Stuttgart 1981, S. 221. 30 Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. III, S. 1014. 31 Der Südtiroler Hans von Vintler hatte 1411 das italienische Exempelbuch Fiori di virtù e ines gewissen Tommaso Leoni übersetzt und in Versform gebracht. Vintler listet die zu seiner Zeit gebräuchlichsten abergläubischen Praktiken auf. Vgl. Ziegeler (Fn. 1), vor allem Kapitel II, S. 34 - 61. <?page no="326"?> Hexen 325 »die Erektion des Gliedes, die zur Befruchtung nötig ist, unterdrücken [...] und die Sendung der Geister zu den Gliedern [...] verhindern, indem sie gleichsam die Samenwege versperren, daß er nicht zu den Gefäßen der Zeugung gelangt, oder nicht ausgeschieden oder ausgeschickt wird [...] durch die geheime Kraft der Dämonen, die derartige Hexen täuschen, können sie durch solche dann die Zeugungskraft behexen, daß nämlich der Mann der Fau nicht beiwohnen und die Frau nicht empfangen kann. Und der Grund ist, weil Gott bei diesem Akte, durch die erst Sünde verbreitet wird, mehr zuläßt, als bei den anderen Handlungen der Menschen.« 33 Nestelknüpfen ist ein Analogiezauber, den Handlungen bei der Kastration von Tieren nachgebildet. 34 Überhaupt verdächtigte man besonders die Hexen, Übles gegen die Männlichkeit und die Fruchtbarkeit im Sinne zu haben. Der Hexenhammer verleumdete die Hebammen und stellte sie in die Nähe der Hexen aber auch der Giftmischerinnen, die Liebes- und Abtreibungstränke brauen könnten. Diese angebliche Spezialität der Hexen war schon seit der Antike ein Zaubereidelikt. Schamanistische Vorstellungen Eine weitere recht alte Vorstellung, die dann gleichfalls auf die Hexen übertragen wurde, ist die Gabe der Verwandlung. Die Fähigkeit der Tierverwandlung wurde im Ausgang des Mittelalters mit den Flugvorstellungen gekoppelt. Die Hexe vermag sich in alle Tierarten zu verwandeln, außer eindeutig christlich religiös besetzten Symboltieren wie Taube oder Lamm. Eine der beliebtesten Verwandlungsmöglichkeit en war die in eine Katze, aber auch in Kröte, Hase, Pferd, Schwein, Kuh etc. Als Maus oder Ratte frißt sie die Feldfrüchte, in Katzengestalt hat sie es auf die Milch abgesehen. Die Katze gilt auch als besonderer Schutz- oder Hilfsgeist der Hexe, als »Familiar«, weshalb diese Tiere auch zusammen mit den Frauen verurteilt und hingerichtet wurden. 35 Diese Tiere sind unter anderem auch eines der Indizien, die viele Forscher veranlassen, Hexen mit schamanistischen Vorstellungen in Zusammenhang zu bringen. Die Erzählungen, daß in Katzen verwandelte Frauen in Tiergestalt verletzt wurden und am nächsten Tag dieselben Wunden am Menschenkörper sichtbar waren, stellt Hexen deutlich in den totemistischen schamanistischen Bereich, wie auch die Tranceerlebnisse, in denen sie zu fliegen meinen, bzw. glauben, in Tiergestalt herumzustreifen. Ein weiteres Indiz für diesen Komplex sind Hinweise auf die Hexe als Herrin der Tiere. »[...] daß wir in der Physiognomie der nächtlichen Göttin, und allgemeiner noch in der vielgestaltigen, später in das Sabbatstereotyp eingeflossenen Glaubensschicht, sehr viel ältere Elemente eingelagert sein könnten, überkommen von den Nomadenvölkern Zentralasiens, die wiederum mit den Kulturen der in den Genden des extremen Nordens ansässigen Jäger in Zusammenhang stehen.« 36 32 Zeitschrift für Volkskunde 14, S. 119. 33 Sprenger, Jakob; Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer. München 3 1983, Bd. I, S. 175. 34 Vgl. Delaumeau, Jean: Die Angst im Abendland. Hamburg 1989, S. 81. 35 Vgl. Dale-Green, P.: The Cult of the Cat. London 1963, S. 74 - 143. 36 Ginzburg, Carlo: Nächtliche Zusammenkünfte. Die lange Geschichte des Hexensabbat. In: Freibeuter 25 (1985), S. 141. Ders.: Der Sabbat, Berlin 1990. <?page no="327"?> 326 Christa Habiger-Tuczay Bis zu Ginzburgs Untersuchungen über die Benandanti 37 ging die Forschung davon aus, daß der Schamanismus, abgesehen von eindeutig bestimmbaren Beispielen aus dem finno-ugrischen Raum, im europäischen Volksglauben und der Religion des mittelalterlichen Europa und der Neuzeit keine Rolle spielt. Ginzburgs Entdeckung der guten Zauberer in Friaul, die gegen die bösen, die Fruchtbarkeit der Felder gefährdenden, Hexen kämpfen, zog Untersuchungen nach sich, die zu ähnlichen Ergebnissen kamen. Weitreichende Studien der jugoslawischen und ungarischen Volkskundler konnten Parallelen zu den jugoslawischen »kresnik« und den ungarischen »táltos« aufzeigen. Die kresnik kämpften nachts in verwandelter Gestalt gegen die Hexen, die in Gestalt eines weißen Tuches flohen. 38 Diese Kämpfe vollführten sie in Trance: Während der schlafende Körper bewegungslos dalag, focht die Seele in Tiergestalt gegen die Hexen. Ein anderer Gegenspieler der kresnik war »vucodhak«, eine Art Werwolf, der ebenso wie die kresnik und die Benandanti mit einer Glückshaube geboren wurde und deshalb die Fähigkeit zur Verwandlung besaß. In Serbien, Bosnien und Herzegowina heißt der Zauberer »zduhac« und besitzt ebenfalls eine Glückshaube, die ihn zur Verwandlung befähigt. Die Glückshaube hängt auch mit der Vorstellung von der »external soul« zusammen. 39 Die ungarische Variante, der »táltos«, wurde wie seine jugoslawischen Kollegen der Zauberei und Hexerei bezichtigt, konnte genauso den Vorwurf zurückweisen, indem er angab, den Schadenzauber der Hexen wieder rückgängig gemacht bzw. geheilt zu haben. Bei den Prozessen betonten die angeklagten táltos immer wieder, daß sie nicht infolge diabolischer Fähigkeiten, sondern durch die Kraft »gottgefälliger Wissenschaft« 40 zu heilen vermögen. Diese Gewalt erlangt der táltos durch Trance. Die Inquisition sah in den Berichten von jenen Seelenreisen Beweise für Hexerei. Vielen Beschuldigten gelang es, diesen Vorwurf zurückzuweisen und sich der Verurteilung zu entziehen. Im Unterschied zu den Benandanti und auch den kresnik kämpfen die táltos-Zauberer nicht gegen Hexen, sondern gegen andere táltos, was sie als die archaischere Form der im europäischen Volksglauben auftretenden Schamanen ausweist. All diese »Protagonisten der ekstatischen Kulte« wie Benandanti, Werwölfe, kresnike, táltos u.a. stellten sich als Wohltäter, als der Gemeinschaft dienende Menschen dar. Die táltos, die zuweilen die Bauern erpreßten, indem sie drohten, Gewitter zu entfesseln, die Benandanti, die angaben, die in der Gemeinschaft lebenden Hexen identifizieren zu können, zogen oft den Unmut ihrer Mitmenschen auf sich. Sie betätigten sich als Heiler, die in ihrer engen Umgebung als Hexer gefürchtet, Kranke von weitentfernten Gegenden versorgten. Vergeblich beteuerten sie, ihre Kräfte dem Enthexen zu widmen, man blieb bei der Meinung, daß jemand, der enthexen könne, auch das Hexen beherrschen müsse. »Wenn also eine schamanenähnliche Figur die Rolle des Heilers übernahm, wie es die Benandanti taten, geriet sie unweigerlich in die Falle, von ihrer eigenen Gemeinschaft als Hexe betrachtet zu werden.« 41 37 Ginzburg, Carlo: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert. Frankfurt/ M. 1980. 38 Klaniczay, Gábor: Heilige, Hexen, Vampire. Vom Nutzen des Übernatürlichen. Berlin 1990, S. 31. 39 Vgl. Tuczay, Christa: Der Unhold ohne Seele. Wien 1982, S. 173 ff. 40 Klaniczay (Fn. 38), S. 36. 41 Klaniczay (Fn. 38), S. 49 f. <?page no="328"?> Hexen 327 Der Sabbat Die typische Ausformung des Hexensabbats war wie auch die Ketzerbewegung zuerst auf Südfrankreich konzentriert. Hier mischte sich die jüdisch-mystische Bewegung mit islamisch-maurischen und häretischen Strömungen. Die Fülle der Quellen ist fast unübersehbar und die Protokolle der Inqusition ergeben die immer gleichen Erörterungen. Als Beispiel sei ein relativ später Bericht angeführt, der jedoch einige sehr interessante Details einthält: »Nun komme ich uff ein ketzerei und sect, davon ich will schreiben, und ist die allergroste und heisset ein irsall und sect Gazariorum, das ist der unholden, und die bei der nacht faren uff besamen, offengabeln, katzen, bocken oder uff andern dingen darzu dienend [...] Zum ersten, wer in die verflucht sect wil komen, so man ine uffnimpt, muss er schweren, als offt er berufft wirt von einem der sect, so soll er von stund an alle ding ligen lassen und mit dem beruffer in die sinagog und samelung gehen, doch also, das der verfurer salben, besame oder stecken mit ime neme, das er dem verfurten antworten sol. Item wie si in die singoga komen, so antwort man den verfurten armen menschen, dem deuffel, der zu stund erscheint in einr gestalt einr schwartzen katzen oder bock, oder in ein anderen gestalt des menschen. Darnach fragt der deuffel oder der verfurer den verfurten, ob er in der gesellschaft wil bleiben und gevolgig wil sein dem verfurer, und so antwort der arme verfurt mensch: ja. Darnach muss er schweren, als hernach steht. Item er schwerdt, das er getreuw wil sein dem ketzermeister und alle seinr gesellschaft; zum anderen, das er alle, die er moge zu solcher gesellschaft bringen, das er fleis dazu thun wollt; zum dritten, das er bis in den dot die heimlichkeit verschwigen wolt; zum vierten, das sie alle die kind, die under drein jarn sint, wollen doten und in die gesellschaft bringen; [...] das sie alle eheleut verwirren wollen und darvor woln sein, das inen ire gemacht verhalten werden mit zauberei oder sunst sachen. Un wenn der arme die artickel also geschwert, so kniet er nider und betet den ketzermeister an und ergibt sich ime und kust ine in den ars, und sie sagen, es sei der deuffel selbs, der uff dem stul sitzt in eins menschen wise und gibt im zins ein glidt von seinem leibe, so er gestirbt. Darnach so sint die in der gesellschaft frolich und freuwen sich des neuen gesellen und ketzers und essen, das sie haben, gebraten und gesodten kinder. Wen sie gessen haben so schreit der deuffel oder der ketzermeister: ›Meselet, Meselet‹ und lescht die liecht aus; darnach lauffen sie undereinander und vermischen sich fleischlich und der vatter mit der dochter, desgleich bruder mit der schwester etc. und halten nit naturlich ordenung in dem werck [...] Item wenn der arme verfurte mensch sich dem deuffel zu lehn hot gegeben, so gibt im der meister ein buchsen mit salben, ein stabe, besame oder was dazu gehort. Uff den muss der verfurt in die schule gehn und lert ine, wie er den stab sol schmeren mit der salbe, und die salbe wirt deuffelisch gemacht von der feistigkeit der kinde, gebaten und gesodt sein, und mit anern vergifften dingen, als schlangen, eidessen, krotten, spinnen. Die salben brauchen sie auch dazu, so sie iematen domit beruren oder bestreichen einmale, muss der mensch eines bosen dots sterben zustunde gehlingen. Item sie machen pulver aus dem inngeweide, aus der lungen, leber, hertz etc. und so es neblichte ist, so werffen sie das pulver in den nebel, der zeucht es uff in die lufft. Derselbig lufft ist vergifft, also das die leut sterben oder sunst ein ewig krankheit gewinen, und das ist die ursach, das in ettlichen dorffern pestilentz regiert und zu allernechst dobei ist man frisch und gesundt.« 42 42 Aus der Chronik des Mathias Widman von Kemnat, Hofkaplan des Kurfürsten Friedrich von der Pfalz in Heidelberg - zit. nach Becker, Gabriele / Bovenschen, Silvia/ Brackert, Helmut [u.a.]: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt/ M. 1977, S. 336 f. <?page no="329"?> 328 Christa Habiger-Tuczay Diese Vorstellungen sind uns bereits als Anschuldigungen gegen die Urchristen, Juden und Ketzer begegnet, und zwar genau in dieser Form: sexuelle Orgie, Lichterverlöschen, Kindestötung und Kannibalismus, Verehrung eines tiergestaltigen Gottes, Krankheiten und Seuchen. Die spätere Vorstellung der Verfolgungszeit, daß die Hexen mit dem Teufel geschlechtlich verkehren bzw. daß sich der Teufel in Frauengestalt Männern nähert, um sie zu verführen, ist im Mittelalter erst ab dem späten 13. Jahrhundert nachgewiesen. Dazu Hansen: »Es ist bis zu diesem Zeitpunkt keiner Instanz eingefallen, einem Zauberer vorzuwerfen, daß er mit Dämonen Unzucht übe.« 43 Die Vorstellung des Verkehrs von Menschen mit elbischen bzw. göttlichen Wesen war im Altertum weit verbreitet, aber stand nicht in Zusammenhang mit Zauberei. Im Altertum und auch später rühmten sich viele Adelsgeschlechter aus einer Verbindung mit halbgöttlichen bzw. elbischen Wesen hervorzugehen. Carlo Ginzburg, hat mit seiner Studie über den Sabbat versucht, verschiedenen Vorurteilen gegenüber dem Stoff, die sowohl von der Seite der Forscher, als auch in den Quellenzeugnissen selbst zum Ausdruck kommen und die Interpretation erschweren, mit einem anderen Ansatzpunkt zu umgehen. Er konzentrierte sich nicht auf die Geschichte der Verfolgung, wie das Gros der Forscher vor und nach ihm 44 , sondern versucht den dahinterliegenden aber verdeckten Mythos freizulegen, also die Problematik religionsgeschichtlich phänomenologisch anzugehen. Das Ergebnis von Ginzburgs Untersuchungen der Verfolger und der Verfolgten ist die Definition des Hexensabbats als »kulturelle Kompromißgestalt« und als »das hybride Resultat eines Konfliktes zwischen Volkskultur und Gelehrtenkultur.« 45 Seit ca. 1114 waren die Kannibalismusanschuldigungen aus der antihäretischen Propaganda verschwunden und nun taucht in den letzten Jahren des 14. Jahrhunderts ein Bericht über eine namenlose Sekte mit dualistischen Vorstellungen auf, die Luzifer, den sie als verstoßenen Bruder Gottes betrachten, anbeten, die Sakramente ablehnen, sexuelle Orgien feiern und die eigenen Kinder töten. 46 Ginzburg regt an, den kathartischen Dualismus in Zusammenhang mit der Herausbildung des Hexensabbats zu überdenken. 47 Er betont abschließend: »Im Bild vom Sabbat hatten wir zwei kulturelle Schichten verschiedener Provenienz unterschieden: Zum einen das von Inquisitoren und Laienrichter ausgebreitete Thema vom Komplott, daß eine Sekte oder feindliche soziale Gruppe geschmiedet haben soll; zum anderen Elemente schamanistischer Provenienz, die in der Volkskultur bereits fest verwurzelt waren, so etwa den magischen Flug und die Tierverwandlung.« 48 Zwischen beiden besteht eine untergründige Affinität. Der chronologische Ablauf der Entwicklung des Phänomens kann folgendermaßen geschehen sein: Von der alten international nachgewiesenen Vorstellung, daß bestimmte Tiere den Kühen oder Ziegen die 43 Hansen (Fn. 5), S. 19. 44 Ginzburg (Fn. 36) bespricht die Forschungsgeschichte S. 1 ff. 45 Ginzburg (Fn. 36), S. 20. 46 Ginzburg (Fn. 36). Der Passus »Errores haereticorum Waldensium«, wonach ein gewisser Bruder Peter 600 Waldenser bekehrte, wobei er neben den Irrtümern dieser auch die einer unbekannten Sekte erwähnt. 47 Ginzburg (Fn. 36), S. 84. 48 Ginzburg (Fn. 36), S. 293. <?page no="330"?> Hexen 329 Milch abziehen, die in Europa mit den Feen und später den Hexen verbunden wurden, können die ebenfalls recht alten Vorstellungen von den Nachzehrern, den eifersüchtigen Toten, die Blut saugen in Analogie gesetzt werden. In der Antike bezeichnete »strix« ursprünglich einen Nachtvogel, der Säuglingsblut trinkt, doch schon Ovid identifiziert strix mit den skythischen Zauberinnen, die sich in Vögel verwandeln und Säuglinge rauben. Stefan von Bourbon übernahm den Begriff, um damit einen Dämon, der in Gestalt eines alten Weibes auf dem Rücken eines Wolfes kleine Kinder ermordete, zu bezeichnen. Den letzten Entwicklungsschritt des Sterotyps stellten jene Frauen dar, die vom Teufel verblendet, ihre eigenen Kinder töten. Die historischen Vorläufer der Hexen wie Juden, Leprakranke, Ketzer, Benandanti, táltos u.a. können ebenso wie diese als Grenzbzw. Schwellengänger bezeichnet werden. Zusammenfassend ist zu sagen, daß der Hexenbegriff des Spätmittelalters nicht mit dem der Zauberin oder Magierin identisch ist, obwohl sich einige Gemeinsamkeiten feststellen lassen. Mit dem Begriff Hexe sind ganz bestimmte klar definierte Attribute verbunden, die sowohl aus den älteren Zauberei- und Aberglaubensvorstellungen als auch aus anderen Bereichen des Volksglaubens, aber auch aus der Definitorik der Theologen stammen. Auch der Ketzeraspekt spielt eine bedeutende Rolle, insbesondere bei der Entwicklung der Ketzersabbatvorstellung zum Hexensabbat. Die Gleichung Zauberin = Hexe geht nicht auf. Auch das bündische Element, Hexen als Hexensekte in Geheimgesellschaften organisiert, unterscheidet sie von den Zauberern, die stets als Einzelpersonen auftraten. <?page no="331"?> 330 Christa Habiger-Tuczay Bibliographische Hinweise Quellen Hartlieb, Johann: Buch aller verbotenen Kunst. Hrsg. Dora Ulm. Halle 1914. Herbort von Fritzlar: Das liet von Troie. Hrsg. G. K. Frommann. Quedlinburg; Leipzig 1837. Caesarius von Heisterbach: Hundert auserlesene, wunderbare und merkwürdige Geschichten. Hrsg. O. Hellinghaus. Aachen 1925. Die Elsässische Legenda Aurea. Hrsg. William Krapp. Tübingen 1980. Liebniz, G. W.: Scriptores rerum Brunsvicensium. Bd. I. Hannover 1701. Sprenger, Jakob; Institoris, Heinrich: Der Hexenhammer. München 3 1983. Stricker: Die bisher unveröffentlichten geistlichen Bîspelreden. Hrsg. Dora Ulm. Göttingen 1959. Forschungsliteratur Amman, Karl: Ein Mordversuch durch Zauberei im Jahre 1372. In: Kleine Mitteilungen des Instituts für Geschichtsforschung. o.O. 1889. Bartels, Max: Zur Aberglaubensliste in Vintlers Pluemen der Tugend. In: Zeitschrift für Volkskunde 23 (1913). Becker, Gabriele; Bovenschen, Silvia; Brackert, Helmut [u.a.]: Aus der Zeit der Verzweiflung. Zur Genese und Aktualität des Hexenbildes. Frankfurt a.M. 1977. Biedermann, Hans: Hexen. Graz 1974. Boshof, Egon: Erzbischof Agobard von Lyon. Köln 1969. Cohn, Norman: Europe’s Inner Demons. An Enquiry Inspired by the Great Witch Hunt. New York 1975. Dale-Green, P.: The Cult of the Cat. London 1963. De Couzons, Theophile de: La magie et la sorcellerie en France. Paris 1910 - 11. Delaumeau, Jean: Die Angst im Abendland. Hamburg 1989. Ebel, Karl: Allerlei Todes- und Liebeszauber. In: Hessische Blätter für Volkskunde, Bd. III. Leipzig 1904. Evans-Pritchard, E. E.: Witchcraft Oracles, and Magic among the Azande. Oxford 1937. Ferckel, Siegbert: ›Hexensalbe‹ und ihre Wirkungen. In: Kosmos, Bd. 50, Stuttgart 1954. Frazer, Sir James: The Golden Bough. London 2 . Gerlach, Hildegard: Hexe. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 6. Berlin 1990, Sp. 960 - 992. Ginzburg, Carlo: Die Benandanti. Feldkulte und Hexenwesen im 16. und 17. Jahrhundert. Frankfurt 1980. Ginzburg, Carlo: Nächtliche Zusammenkünfte. Die lange Geschichte des Hexensabbat. In: Freibeuter 25 (1985). Ginzburg, Carlo: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Berlin 1990. Habiger-Tuczay, Christa: Die Darstellung des populären Zauberwissens in mittelalterlichen literarischen Texten und Gebrauchstexten am Beispiel des Wachspuppenzaubers bzw. Bildzaubers und der Dämonenbeschwörung, in: Hexenverfolgung in Mecklenburg, hg. v. Dietmar Harmening und Andrea Rudolph, Dettelbach 1997, S. 247 - 268. Hansen, Joseph: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozesse im Mittelalter und die Entstehung der großen Hexenverfolgung. München 1900. Ders.: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns und der Hexenverfolgung im Mittelalter. Bonn 1901. Höfler, Otto: Verwandlungskulte, Volkssagen und Mythen. Wien 1973 (Sitzungsberichte der Österr. Akademie der Wiss., Phil-Hist. Kl., Bd. 279). Horsley, Richard: Who were the Witches. In: Journal of Interdisciplinary History 9 (1976), S. 689 - 715. <?page no="332"?> Hexen 331 Kieckhefer, Richard: European Witch Trials. Berkely 1976. Klaniczay, Gábor: Heilige, Hexen, Vampire. Vom Nutzen des Übernatürlichen. Berlin 1990. Kors, C.; Peters, Edward: Witchcraft in Europe 1100 - 1700, a documentay History. Philadelphia 1972. Lecouteux, Claude: Lamia. In: Euphorion 75 (1981), S 360 - 365. Ders.: Hagazussa, Striga, Hexe. In: Hessische Blätter für Volks- und Kulturforschung NF 15 (1989), S. 57 - 70. Leutenbauer, Siegfried: Hexerei und Zaubereidelikt in der Literatur von 1450 - 1550. Berlin 1972. Lobouvie, Eva: Zauberei und Hexenwesen. Frankfurt 1991. Luck, Georg: Hexen und Zauberei in der römischen Dichtung. Zürich 1962. Macfarlane, Alan: Witchcraft in Tudor and Stuart England. A regional and comparative Study. London 1970. Marwick, Max (Hrsg.): Witchcraft and Sorcery, Pinguin 1982. Michelet, Jules: Satanism and Witchcraft, a Study in Medieval Superstition. London 1965. Peters, Edward: The Magician, the Witch and the Law. UP Pennsylvania 1978. Peuckert, Will-Erich: Hexensalben. In: Medizinischer Monatsspiegel 8 (August 1960). Pfister, F: Atzmann. In: HdA I, S. 671 f. Ricardo-Gil, : The Practice of Witchcraft and Magic in Fact and Fiction during the French Middle Ages. Boston 1980. Russell, Jeffrey, B.: A History of Witchcraft, Sorcerers, Heretics, Pagans. London 1980. Ders.: Witchcraft in the Middle Ages. Ithaca 1972. Schormann, Gerhard: Der Krieg gegen die Hexen. Göttingen 1991. Schwab, Ute: Die bisher unveröffentlichten geistlichen Bîspelreden des Strickers. Göttingen 1959. Summers, Montague: The Geography of Witchcraft. New York 1927. Tuczay, Christa: Der Unhold ohne Seele. Wien 1982. Unverhau, Dagmar: Volksglaube und Aberglaube als glaubensmäßig nicht sanktionierte Magie auf dem Hintergrund des dämonologischen Hexenbegriffs der Verfolgungszeit. In: Volksreligion im hohen und späten Mittelalter. Hrsg. Peter Dinzelbacher/ Dieter Bauer, S. 375 - 397. Ward, John, O.: Witchcraft and Sorcery in the Later Roman Empire and the Early Middle Ages. In: Prudentia 12 (1980), S. 93 - 100. Waschnitius, Viktor: Perht, Holda und verwandte Gestalten, ein Beitrag zur deutschen Religionsgeschichte. Wien 1913 (= Sitzungsberichte der Kais. Akademie der Wiss. Wien Phil-Hist. Kl., Bd. 174). Ziegeler, Wolfgang: Möglichkeiten der Kritik am Hexen- und Zauberwesen im ausgehenden Mittelalter. Wien 1973. Zöllner, Walter/ Gloger, Bruno: Teufelsglaube und Hexenwahn. Wien 1985. <?page no="334"?> Incubus Christa Habiger-Tuczay (Wien) Das aus dem Lateinischen »incubare« (»auf etwas liegen«) abgeleitete Wort bezeichnet in der christlichen theologischen Überlieferung einen dämonischen Verführer bzw. Liebhaber. Im Spätlateinischen war der Terminus allerdings noch auf einen Alptraum bzw. durch einen Alp 1 verursachten sexuellen Traum begrenzt. Später wurde der Begriff in Bezug auf den männlichen Dämon, der Frauen zur körperlichen Liebe verführte, erweitert. Der Succubus bezeichnete das weibliche Pendant zum Incubus und spielte besonders in der Heiligenlegende als Illustration der Versuchung der männlichen Heiligen eine topische Rolle. Das Konzept findet sich bereits in antiken Belegen. Als herausragendes und bekanntestes Beispiel sind die als lüstern bezeichneten Elementargeister, Faune und Satyrn, zu nennen. Strabo erwähnt sie in seinen Geographika (I, 19) und Petronius im Satyricon (38, 8). Zur Zeit des Horaz glaubte man nächtliches Asthma und Alpträume von den Ephialtes oder Incubi verursacht. In späterer Zeit übertrug man die Vorstellung auf wollüstige Träume von Waldgeistern. In der Bibel (Gen. 6, 1) heißt es: »Als die Menschenkinder sich auf der Erdoberfläche zu mehren begannen und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Gotteskinder, daß die Menschentöchter schöne seien und nahmen sich zu Frauen, welche immer sie wollten.« Über Augustinus, Hieronymus und Isidor von Sevilla 2 fanden die Begriffe Eingang in die mittelalterliche Theologie. Jene Gotteskinder (d.i. Söhne) beschäftigten die Theologen vielfach und regten zu unterschiedlichen Deutungen und Kommentaren an. Dabei setzte sich die Ansicht durch, daß es sich dabei um gefallene Engel handeln müsse. 3 Mensch und Dämon Die zahlreichen Geschlechtergründungssagen, die von einer halbmenschlichen bzw. halbgöttlichen Abstammung erzählen, lassen sich einerseits auf antike Vorstellungen und andererseits auf volkssprachlich-heidnische Traditionen zurückführen. Merovech 4 , der mythische Stammvater der Merowinger galt als Sohn des Meergottes. Die Bibel (Gen. 6, 1) läßt die Riesen aus der Verbindung der Söhne Gottes, welche mit gefallenen Engeln gleichzusetzen sind, mit den Töchtern der Menschen entspringen. 1 Stith Thompson hat Alp und Incubus der gleichen Kategorie zugeordnet und aufeinanderfolgen lassen: Mot. F 471.1 Nightmare; F 471.2 Incubus; F. 471.2.0.1 Demon lover; F 471.2.1 Succubus (Thompson, Stith: Motif-Index of Folk-Literature. 5 Bde. Kopenhagen 1955 - 58). 2 Isidor von Sevilla: Etymologiae seu Origines. Hrsg. W.M. Lindsay. Isidori Hispalensis episcopus etymoligiarum sive originum libri XX.II. (= scriptorum classicorum Bibliothecae Oxoniensis Lat. 8, 1 - 2) Oxoni 1911. VIII 9. 3 Vgl. Roskoff, Gustav: Die Geschichte des Teufels. Stuttgart 1993 (Nachdr.), S. 219. - Augustinus: De civitate Dei. Bde. I-III. Übers. C.J. Perl. Salzburg 1951 - 1953 (CSEL 40, 1 - 2), III, 5. 4 Grimm, Jakob: Deutsche Sagen, Nr. 419. <?page no="335"?> 334 Christa Habiger-Tuczay Burkhard von Worms leugnet, daß es elfenartige Wesen gebe, die sich mit den Menschen verbinden, 5 aber später im 13. und 14. Jahrhundert treten diese Legenden gehäuft auf, nicht zuletzt wegen der Popularität des Merlinstoffes. Guibert von Nogent berichtet um 1120 nicht nur, daß sein Vater durch Zauberei am Vollzug der Ehe gehindert wurde, sondern auch, daß seine Mutter in Gestalt eines Incubus vom Teufel besucht worden war. Dieser konnte jedoch von einem Engel vertrieben werden. 6 Wilhelm von Paris hält diese Erzählungen für einen von Dämonen hervorgerufenen Traum, in dem ein erzwungener Verkehr stattfinde. Er bestreitet auch, daß Dämonen Nachkommen zeugen können. Um ein Vorurteil handelt es sich bei dem Bericht des Goten Jordanis, welcher in seiner Getica (um 550) behauptet, daß die verhaßten Hunnen Dämonenabkömmlinge seien 7 : »Magae mulieres, Halirunnae [...] quas spiritis immundi per heremum vagantes dum vidissent et eorum complexibus in coitu miscuissent, genus hoc ferocissimum ediderunt.« 8 In Prokopios Anekdota aus dem 6. Jahrhundert heißt es, daß Justinian der Sohn eines Dämons gewesen sei. Damals sei seiner Mutter ein Dämon erschienen, den sie aber nicht sehen, sondern dessen Anwesenheit sie lediglich spüren konnte. Er hätte ihr beigewohnt und wäre wie ein Traum (! ) verschwunden. Robert, der Vater Wilhelms des Eroberers, sogar Luther, Alexander der Große 9 , Plato, Caesar, Scipio Africanus, Romulus und Remus, Merlin, die Einwohner von Zypern etc. 10 sollen von Dämonen abstammen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts war die Incubus-Vorstellung durchaus populär, wie die zahlreichen Varianten des Merlin- 11 und Melusinestoffes u.a. beweisen. Auch den gallischen Korndämon Dusius bezeichnet Augustinus als Incubus und erklärt den tatsächlichen sexuellen Umgang der Waldgeister mit Menschenfrauen als erwiesen. Jedes Leugnen des Sachverhaltes wäre unverschämt. 12 Als bedeutendster Vermittler der Incubus-Vorstellung kann Isidor von Sevilla gelten. 13 Im Corrector (d.i. das 19. Buch des Decretums) des Burkard von Worms († 1025) wird die Existenz der Succubi bestritten. 14 Psellus (1018 - ca. 1078) belegt als erster die absichtliche Verführung durch Incubi und Sucubi. Walter Map (1180) hat in seiner 5 Vgl. Hansen, Joseph: Zauberwahn, Inquisition und Hexenprozeß im Mittelalter. München 1900 (Nachdr. 1964), S. 83. 6 Hansen (Fn. 5), S. 142. 7 Wilhelm von Paris: Getica, 2. 24 (MG. Auct. ant., Bd. 89). 8 Wilhelm von Paris (Fn. 7). 9 In die Literaturgeschichte als »Trug des Nectanebos« eingegangen. Die Mutter Alexanders, vom Zauberer Nectanebos getäuscht, glaubte sich einem Gott hinzugeben, da ihr der Zauberer in Schlangengestalt erscheint. Vgl. Weinreich, Otto: Der Trug des Nectanebos. Leipzig 1911. 10 Molitor nennt Merlin im Dialogus de lamiis et pythonicis mulieribus einen Wechselbalg. 11 Nach Beda Venerabilis, Robert von Cluny, Martin von Troppau war er Sohn eines Incubus und einer Tochter des englischen Königs. (M.G. SS. 22,420). 12 Augustinus (Fn. 3), l. XV, c. 23. 13 Isidor von Sevilla: Etymologiae seu Origines. Hrsg. W. M. Lindsay. Oxonii 1911, XI, 3, 22 (Fn. 2); Hrabanus Maurus: De rerum naturis seu De universo. Hrsg. P. Migne (PL, Bd. 111), VII, 7; Liber monstrorum, I, 16; Gervasius von Tilbury: Otia imperialia. Hrsg. Felix Liebrecht. 1856, I, 18; Thomas von Cantimpré: Liber de natura rerum. Hrsg. H. Boese. o.O. 1973, III, 1. Vincent von Beauvais: Speculum historiale. Douai 1624 (Nachdr. 1964), I, 92: Faunus=Satyrus=Incubus=ficarius=homo silvestris; XXXI, 127. 14 Burkard von Worms: Corrector. Hrsg. P. Migne. Paris (PL), 140, 68,69,151,152,169. <?page no="336"?> Incubus 335 Schrift De nugis curialium 15 zahlreiche Volkserzählungen von solchen Dämonen-Menschen-Verbindungen wiedergegeben. Besonders die Früchte dieser Verbindungen regte die Phantasie der Dichter an und gab zu Diskussionen und Spekulationen Anlaß. Da die ursprüngliche Vorstellung von Fruchtbarkeitsdämonen ausging, ergab sich zwangsläufig die Vorstellung von einer zahlreichen Nachkommenschaft. Doch diente das Konzept nicht allein zur Erhellung des mystischen Dunkels, die Geschlechtsgründer umgab, sondern wurde fester Bestandteil alltäglicher Glaubensvorstellungen. Das beweist der Bericht des Guibert von Nogent, der von seiner Mutter erzählt, daß sie den Teufel nächtens zu Besuch hatte. Dieser wurde aber glücklicherweise von einem Engel vertrieben. Durch dieses nächtliche Zwischenspiel kam es, daß Guibert erst nach sieben Jahren geboren wurde, da sich sein Vater seiner Mutter erst viel später nähern konnte. 16 Wilhelm von Paris, der den Incubi und Succubi in seiner Lebensbeschreibung einen längeren Absatz widmet, erwähnt ein interessantes Detail: Daß sich die Incubi besonders von Frauen mit schönem Haar angezogen fühlten, da diese dessen Pflege und damit ihrer Eitelkeit besonderen Raum gäben. Bernhard von Clairvaux soll »eigenhändig« durch Exorzismus einen Incubus vertrieben haben, wie Caesarius von Heisterbach (1180 - 1240) in seinem Dialogus miraculorum (1150) berichtet. 17 Matthäus Paris weiß von einem zu seiner Zeit im 13. Jahrhundert lebenden Dämonenkind. 18 Wilhelm von Paris wiedrum leugnet die Zeugungsfähigkeit der Dämonen. Wie allerdings käme es dann zu den behaupteten Nachkommen? Die Dämonen gaukeln den Menschen lediglich Halluzinationen vor (erinnert an die Alptraumvorstellung), aber sie könnten sich männlichen Samen verschaffen und diesen in die Gebärmutter der Frau plazieren. Diese komplizierte Beschreibung hängt mit der Vorstellung vom Luftkörper der Dämonen zusammen. Hervorstechend ist, daß er diesen Dämonenverkehr noch als erzwungen betrachtet, ähnlich einem Besessenheitsanfall. Der Incubus als Liebhaber In der Dietrichepik kommt eine Variante des Succubusglaubens vor. Als Dietrichs Mutter mit ihm schwanger ist, nähert sich ihr der böse Geist Machmet (Mohammed) in der Gestalt ihres Mannes Dietmar: »Als des berners muter sein swanger ward da machet ein böser geist machmet sein gespenst eins nachtens da dietmar in der reiss was, da trumte ir wie sie bey irem man dietmar lege. Da sie erwachet, da greiff sie neben sich, vnd greiff auf einen holen geist, da sprach der geist. Ich sag dir, der sun den du treist wort der sterckest geist der ye geborn ward.« 19 Incubi sollen besonders gern weibliche Heilige gequält haben. So z.B. die heilige Margaretha von Cartona: Während sie betete, sang der Teufel schmutztige Lieder und wollte sie zum Mitsingen animieren, was ihm allerdings mißlang. In der Vita des heiligen Bern- 15 Walter Map: De nugis curialium. Hrsg. M. R. James, Aned. Oxon. XIV (1914). 16 Guibert von Nogent: De vita sua. I c.12, 13. Hrsg. P. Migne. Paris (PL, Bd. 156), Sp. 857. 17 Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. Hrsg. V. A. Hilka. 3 Bde. Bonn 1933 - 1937, Dial. 3,7. 18 Matthäus Paris: Chronica minor sive Historia Anglorum. o.O 1866 - 69 (Rer. Brit. Script., Bd. 44), Otia Imperialia III, 61. 19 Heldenbuch, Heldenlieder aus dem Sagenkreis Dietrichs von Bern und der Nibelungen. Hrsg. Friedrich von der Hagen. 2 Bde. Leipzig 1855, 6, 37 - 7,2. <?page no="337"?> 336 Christa Habiger-Tuczay hard wird erzählt, daß bei einer Visitation in Nantes, 1135, eine Frau zu ihm gebracht wurde, welche 6 Jahre mit einem Incubus als Liebhaber gelebt hatte. Im 7. Jahr hatte der Ehemann ihre Untreue entdeckt und sie verlassen. Der Teufel bestand aber weiterhin auf der Beziehung, doch St. Bernhard gelang es, diesen zu vertreiben. Ab dem 13. Jahrhundert wird das Konzept, welches beim Decretum noch als unsinnig, bei Wilhelm von Paris u.a. als Angriff der Dämonen auf Menschen, nun als freiwillige Befriedigung sündiger Lust betrachtet. In engem Zusammenhang steht dieser Perspektivenwechsel mit der Vorstellung des freiwilligen Paktes 20 des Menschen mit einem dämonischen Wesen. Einen Fall brachte man vor den Inquisitor Sylvester Priarias, in dem eine Frau ihrer sündige Lust unbemerkt an der Seite ihres Ehemanns frönen konnte. Caesarius von Heisterbach erzählt in einer seiner Teufelsgeschichten von einem Bonner Priester, der seine liebliche Tochter, vor den lüsterenen Augen der Kanoniker verbarg. Doch besuchte diese der Teufel in Jünglingsgestalt. Schließlich beichtet das Mädchen seinem Vater, der es fortsandte. Der Teufel, um seine Gespielin betrogen, bedrohte den Priester und stieß ihn so heftig vor die Brust, daß er an den Folgen nach drei Tagen starb. In den apokryphen Thomasakten bittet der heilige Thomas einen Incubus zu verschwinden, der grollend bemerkt, daß er sich nun eine andere Dame suchen müsse, anstatt jener, die er schon 35 Jahre besessen habe. Der bereits erwähnte Inquisitor Prieras beschreibt in seiner Schrift De strigi magis (1521) die Verwendung eines doppelten Penis durch Incuben. Die volkstümliche Vorstellung wurde fester Bestandteil von theologischen Abhandlungen. Man debattierte über die Natur der Incubi (Körper oder Geist), das Ausmaß der Sünde, die der Verkehr mit diesen repräsentierte und die Techniken des Verkehrs selbst. »The curiosity of the judges was insatiable to learn all the possible details as to sexual intercourse and their industry in pushing the examinations was rewarded by an abundance of foul imagination.« 21 Papst Benedict XIV. behandelt in De Servorum Dei Beatificatione die Genesisstelle (VI, 4) als Beispiel für Incubi und Succubi. Papst Innozenz VIII. in seiner (Hexen)bulle Summi desiderantes affectibus (1484) und Bonaventura halten ebenfalls den Verkehr zwischen Menschen und Dämonen für möglich. Augustinus und sein wichtigster Nachfolger, Thomas von Aquin 22 , stimmen überein, daß die Dämonen entweder Leichname besetzten oder neue Körper aus den Elementen erschaffen. Martin von Arles meinte, daß diese Samen aus Leichen herauspressen oder ihn von den nächtlichen Ergüssen der Männer nähmen. Petrus von Avila verstieg sich sogar zu der Bemerkung, daß auf diese Weise der Antichrist in die Welt kommen werde: »sicut aliqui senserunt de generatione Merline, et forte quod illo modo concipietur Antichristus.« 23 Die Vorstellung verfestigte sich insoweit, daß sie als tatsächliches Verbrechen in die Rechtsvorschriften einging und auch geahndet werden konnte und als gewichtiger Vorwurf in den Prozessen - die Teufelsbuhlschaft kam bei den Hexen einem Pakt gleich - behandelt wurde. Der älteste Beleg von 1275 stammt aus den Akten des Inquisitors von 20 Vgl. Hansen (Fn. 5), S.167 ff.; Harmening, Dieter: Superstitio. Berlin 1979, S.116 ff. 21 Lea, Henry C: Materials towards a History of Witchcraft. New York 1957. 22 Thomas von Aquin: Summa theologica. 1,51,3; Zeugungsunfähigkeit behauptet er in De potentia 6,8. 23 Fol. 106, zit. nach Hansen (Fn. 5), S. 187, A. 1. <?page no="338"?> Incubus 337 Carcassonne. Die Vorstellung des Verkehrs zwischen Menschen und Dämonen war vor dem 13. Jahrhundert allerdings nicht mit der Zaubereivorstellung verbunden. Nachdem die drei wichtigsten mittelalterlichen Theologen, Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Bonaventura übereinstimmend die Existenz der Incubi und Succubi bestätigt hatten, konnten die praktischen Konsequenzen aus der christlichen Engels- und Dämonentheorie für das kirchliche und weltliche Strafrecht gezogen werden. Ende des 13. Jahrhunderts ging die Inquisition gegen zahlreiche Personen vor, die des Verbrechens der teuflischen Unzucht angeklagt wurden. Von 1430 an häufen sich die Belege der Inquisition. Sogar Berichte von Kinderhexen 24 , die mit dem Teufel sexuellen Kontakt hatten, sind belegt. Bereits im Templerprozeß hatte dieser Vorwurf einen der Anklagepunkte gebildet. Das Verbrechen des Teufelsverkehrs fügte sich gut in das Bild, das die Kirche von den Häretikern entworfen hatte. Damit konnte die Kirche das alte Konzept vom Dämonenverkehr in die Vorstellung vom Ketzersabbat integrieren, der die Folie für den Hexensabbat abgab. Alle jene Vorstellungskreise, die vordem nicht miteinander verknüpft waren wie: Zauberei, nächtlicher Flug, Kannibalismus, Dämonenverkehr, Sabbat wurde zu einem Schreckbild zusammengefaßt. Nach Johann Weyer wird den Hexen vom Teufel Schein für Wahrheit verkauft, gerade in Bezug auf die Buhlschaft. Durch ihn sind wir in den Besitz einiger Aussage von einer als Hexe angeklagten Frau gekommen: »Sey als bald ein mansbild langer gliedmaß vnd schöner gestalt zu jr getrete / mit eim schwartzem mantel sampt anderem gewant angethan [...] und darzu da er jimmer ewig wölle jr Bul sein versprochen hat.« 25 Auch Luther, der sich in seinen Tischreden mit der Thematik beschäftigt hat, diabolisiert die Gestalten des Volksglaubens. Der Teufel scheint nicht nur Hexen verführt zu haben, sondern er hat auch einsame und enttäuschte Frauen in Gestalt eines schönen Jünglings befriedigt. Eine Stelle bei Weyer zeigt aber noch das ältere Bild: wie der Teufel Frauen zu sexuellen Handlungen nötigt: Im Kloster St. Nazareth zu Köln waren die Jungfrauen vom Teufel besessen und zu unzüchtigen Handlungen gezwungen worden. 26 Weyer ist sich nicht sicher, ob es sich dabei um Wunschträume oder tatsächlichen Verkehr der Frauen gehandelt hat. Die Frauen hätten sogar geglaubt, schwanger zu sein, was ihn zu der Bemerkung veranlaßt, daß das wohl nicht möglich sein könne und auf die bereits angesprochene, theologisch konstatierte Zeugungsunfähigkeit der Dämonen rekurriert. Auch die umständliche Theorie mit dem Samenstehlen hält der Mediziner für blanken Unsinn. Er berichtet über den Volksglauben, daß nicht nur der Zauberer Merlin, sondern auch Luther aus der Verbindung mit einem Dämon abstamme. 27 Zu Ende des 15. Jahrhunderts war die Entwicklung der Theorie vom Dämonenverkehr noch nicht ganz abgeschlossen, als die beiden Inquisitioren Sprenger und Insistoris das vorhandene Material zusammenfaßten und systematisch einordneten. Der Malleus maleficarum 28 unterscheidet drei Personengruppen, die mit den Incubi Verkehr haben: 24 Vgl. Weber, Hartwig: Kinderhexenprozesse. Leipzig 1991, S. 143 ff. 25 186r / 691 f., 489 (zit. nach Nahl, Rudolf von: Zauberglaube und Hexenwahn im Gebiet von Rhein und Maas. Spätmittelalterlicher Volksglaube im Werk Johan Weyers (1515 - 1588). Bonn 1983, S. 87. 26 108, 427, 305 (zit. nach Nahl [Fn. 25], S. 88. 27 67r / 338 / 240 (zit. nach Nahl [Fn. 25], S. 91. <?page no="339"?> 338 Christa Habiger-Tuczay 1. Freiwillige Teufelsdiener, die Hexen; 2. jene, die unfreiwillig von den Hexen zum Verkehr mit dem Teufel gezwungen werden; 3. jene, die von den Incubi zum Verkehr gezwungen werden. Die Teufelsbuhlschaft war einer der wichtigsten Anklagepunkte in den Hexenprozessen und wurde, weil der Incubus einer nicht-menschlichen Spezies angehört, als Sodomie, eine der schlimmsten Sünden, bestraft. Alle Hexen, die die beiden Inquisitoren zur Exekution führten, hatten zuvor den Teufelsverkehr gestanden. Die meisten Geständnisse in den europäischen Hexenprozessen erbrachten, daß die Frauen, welche den Sabbat besuchten, dort Geschlechtsverkehr mit dem Teufel hatten. Die berühmteste irische Hexe, Lady Alice Kyteler, wurde 1324 u.a. beschuldigt, mit dem Robert Artissan genannten Incubus verkehrt, Orgien gefeiert und eine Gruppe von dreizehn gebildet zu haben. 29 Während die früheren Belege die Intensität der Lust beim Dämonenverkehr betonten, häufen sich in der Spätzeit die Belege der Schmerzen beim Teufelsverkehr. Beschreibungen kreisen um die Kälte des Teufelsgliedes und seines Samens. Diese Kälte wurde auf verschiedene Weise erklärt. 30 Henry More (1653) war überzeugt, daß daß der Teufel aus komprimierter, also flüssiger Luft bestünde und deshalb eiskalt wäre. Succubi Im jüdischen Sohar findet sich die Vorstellung, daß die erotischen Träume bei Männern durch Succubi hervorgerufen würden. Im frühen Christentum stand wohl die Succubus- Vorstellung im Vordergrund in Zusammenhang mit der Tatsache, daß sich überwiegend Männer als Einsiedler zurückzogen. Die frühen Heiligen waren den Belästigungen von Succuben ausgesetzt, so der heilige Hieronymus u.a. Die meisten waren imstande, die Versuchung abzuwehren, nur St. Victorinus gab sich dem schönen Teufel hin. Durch diese Ausschweifungen geschwächt wurde er innerhalb eines Monats dahingerafft. Bei den zahlreichen Legenden um Gerbert von Aurillac, den späteren Papst Sylvester II. (999 - 1003) hören wir von der Begegnung des jungen Gerbert mit Meridiana 31 , einem Feenwesen, welches sich mit ihm verbindet und ihm jede Nacht erscheint. Johann Nider (1435) berichtet, daß beim Konzil von Konstanz (1414 - 1418) viele Prostituierte ihre Dienste anboten. Besonderen Erfolg soll ein Succubus gehabt haben, der sogar mit seinen großen Verdiensten prahlte. Nider weiß auch von einem Bordellbesitzer, den man deshalb zum Tode verurteilte, weil er nur Succubi beschäftigte. Erzählungen von dieser Mahrtenehe, die meist durch einen Tabubruch auseinandergeht, finden sich in der Literatur recht h