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Zeiten und Räume – Rhythmus und Region

1125
2015
978-3-8649-6856-3
978-3-8676-4634-5
UVK Verlag 
Dietmar Schiersner

Parallel zur >>Wiederentdeckung<< des Raumes in der Geschichte ist auch das Interesse an historischen Zeitordnungen, Zeitbegriffen und Zeitgefühlen gewachsen. Der Frage aber, ob und wie sich Raum und Zeit jeweils aufeinander beziehen, wird dabei nur selten konsequent nachgegangen. Im vorliegenden Band - der Dokumentation einer Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte im Jahr 2013 - steht dagegen die konkrete Verräumlichung abstrakter Zeitlichkeit - die Rhythmisierung von Zeit im Raum, von Raum durch Zeit - im Zentrum. Kultur- und Regionalgeschichte begegnen einander in Beiträgen über landwirtschaftliche und kirchliche bzw. religiöse Rhythmen, zu Zeitordnungen gesellschaftlicher Sondergruppen, zu Jugend und Alter, zur Konfessionalisierung der Zeiten in der Region - vom Kalenderstreit und der Normaljahrsregelung bis hin zur konfessionskulturellen Prägung von Arbeit und >>Muße<< - oder zu den Konsequenzen, die sich aus der Industrialisierung nicht zuletzt für das Verhältnis von Stadt und Land ergaben. Die Fallbeispiele veranschaulichen Zeitlichkeitsphänomene, stellen makrogeschichtliche Thesen auf den Prüfstand und in Frage und sie lassen erkennen, was der Umgang mit "Zeit" zur Entstehung von Räumen und Regionen beiträgt.

<?page no="2"?> Dietmar Schiersner (Hg.) Zeiten und Räume - Rhythmus und Region <?page no="3"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Herausgegeben von Dietmar Schiersner im Auftrag des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e.V. Band 11 <?page no="4"?> FORUM SUEVICUM Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen Band 11 Zeiten und Räume Rhythmus und Region Herausgegeben von Dietmar Schiersner UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München <?page no="5"?> Dieser Band wurde veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Stadt Memmingen, der Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau und der Lechwerke AG. Abbildung auf der Einbandvorderseite: „Von der Verlierung der Zeit“ (Phlegmatiker, über die Vergänglichkeit nachsinnend), Petrarcameister tätig 1. Drittel 16. Jh., Holzschnitt. © akg-images Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. ISSN 1431-9993 ISBN 978-3-86764-634-5 (Print) ISBN 978-3-86496-855-6 (EPUB) ISBN 978-3-86496-856-3 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz Lektorat und Layout: Angela Schlenkrich, Augsburg Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D- 78462 Konstanz Tel. 07531- 9053- 0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> 5 Vorwort Selbst wenn wir es könnten: Wie unsere Welt ohne ›Zeit‹ aussähe, sollten wir uns nicht vorstellen wollen. Denn ohne Zeit gäbe es weder Geschichte noch Historiker. Und weil es dann logischerweise auch keinen Zeitdruck gäbe, würde es auch nicht zu Tagungsbänden wie diesem kommen. Dabei interessieren sich die Geschichtswissenschaften keineswegs für die Zeit an sich, die es eher Mathematikern, Physikern oder Philosophen angetan hat. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 14. Tagung des Memminger Forums für schwäbische Regionalgeschichte e. V. fanden sich vom 15. bis 17. November 2013 also nicht deshalb im Rathaussaal der ehemaligen Reichsstadt zusammen, um der Zeit beim Vergehen zuzuschauen und so - ähnlich wie der Gelehrte auf dem Schutzumschlag dieses Bandes - über deren Wesen durch beharrliches Fokussieren vorrückender Stundenzeiger und rieselnden Sandes zu meditieren. Vielmehr interessierte sie die Frage, was Menschen früher mit der Zeit machten, wie sie mit ihr umgingen und was das wiederum für sie bedeutete: ›Zeitordnungen - Zeitbegriffe - Zeitgefühle‹ war das Thema, dem sich die Referentinnen und Referenten in unterschiedlichen Zugängen, aber mit einer ganz speziellen Perspektive auf Räume und Regionen als konkreten ›Bezugsgrößen‹ von Zeitlichkeit näherten. Das konnte ein kleines Damenstift, die Allgäuer Kleinstadt Immenstadt, die Reichsstädte Memmingen und Augsburg, die Herrschaft Engelberg in den Schweizer Bergen oder Schwaben und der deutsche Südwesten sein. Immer ging es darum, ›Zeit‹ am Raum konkret werden zu lassen und dadurch zugleich das Individuelle des Raumes und der Region sichtbar zu machen. Ich danke vor allem den 15 Referentinnen und Referenten - für die Drucklegung entfiel ein Beitrag, zwei weitere kamen neu hinzu -, die sich auf diese Ausgangsüberlegung einließen und bereit waren, sie in ihren Aufsätzen nochmals zu vertiefen. Den Vorstandskollegen im Memminger Forum für schwäbische Regionalgeschichte e. V., insbesondere dessen Geschäftsführer Dr. Hans-Wolfgang Bayer, Leiter des Memminger Kulturamts, und seinen Mitarbeiterinnen Julia Mayer M. A., Gerlinde Stanzel und Stefanie Vetter gilt mein Dank für die versierte Organisation und Hilfe bei der Durchführung der Tagung, der Stadt Memmingen, ihrem Oberbürgermeister Dr. Ivo Holzinger und dem Stadtrat, für Gastfreundschaft und großzügige finanzielle Förderung. In gleicher Weise ermöglichten die Sparkasse Memmingen-Mindelheim-Lindau sowie die Lechwerke AG durch ihre Unterstützung die Drucklegung dieses Bandes. Herrn Vorstandsvorsitzenden Dipl.-Volkswirt Thomas Munding sowie Herrn Ekkehard Wruck und Frau Gertrud Abt gebührt dafür ebenfalls mein ganz herzlicher Dank. Das Memminger MedienCentrum hat, wie auch in den vergangenen Jahren, den Druck des Bandes sorgfältig und ansprechend durchgeführt - herzlichen Dank! <?page no="7"?> 6 Schließlich bin ich ganz besonders dankbar, daß auch der 11. Band der Reihe Forum Suevicum mit der erfahrenen, verläßlichen und stets freundlichen Hilfe von Lektorin Angela Schlenkrich M. A. und Uta C. Preimesser vom UVK-Verlag verwirklicht werden konnte. Den Leserinnen und Lesern dieses Buches wünsche ich Vergnügen bei der Lektüre und - wie es der Duden formuliert - jene »freie Zeit und innere Ruhe, um etwas zu tun, was den eigenen Interessen entspricht«: Muße. Weingarten, im September 2015 Dietmar Schiersner <?page no="8"?> 7 Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 9 D IETMAR S CHIERSNER Zeit im Raum. Zur Regionalität von Zeitphänomenen - eine Einführung 11 I. Gemeinsame Rhythmen W ERNER R ÖSENER Bäuerliches Zeitverständnis im Rhythmus von Natur, Jahreslauf und Alltag in der Vormoderne 29 A NKE S CZESNY Differierende Zeiten in ländlichen Gesellschaften der frühneuzeitlichen Gewerbelandschaft Ostschwaben 45 G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM Glocken und Uhren. Zeitmessung und Zeitordnungen in der Stadt 73 G ERHARD A MMERER Alle Zeit der Welt? Zeit als Dimension von Bewußtsein, Erfahrung und ökonomischem Kalkül von Nichtseßhaften am Beispiel des Habsburgerreiches im 18. Jahrhundert 95 D IETMAR S CHIERSNER Zeit und Frömmigkeit. Schwäbische Damenstifte am Ende des 18. Jahrhunderts 111 II. Geteilte Zeiten B ARBARA R AJKAY Zeiten des Abschieds, Zeiten des Rückzugs. Kindheit, Jugend und Alter in der Augsburger Oberschicht 1500-1800 133 N ICOLAS D ISCH Im Gewebe der Zeiten. Ländliche Zeitvorstellungen in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Herrschaft Engelberg 155 <?page no="9"?> 8 R OLF K IESSLING Juden und Christen im konkurrierenden Zeittakt. Zum Umgang mit den Alltagsabläufen in den schwäbischen Judengemeinden im 17./ 18. Jahrhundert 179 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Von der Lokalisierung zur Globalisierung. Kalenderzeit, ideologische Zeit und Zeitpraxis im Bodenseeraum in der Frühen Neuzeit und im ›langen‹ 19. Jahrhundert 203 G ERHARD K LEIN Bürger, Bauern, Arbeiter. Unterschiedliche Lebensrhythmen in einer Allgäuer Kleinstadt 235 III. Kontroverse Zeiten W OLFGANG P ETZ Doppelt Calender halten. Kalenderreform und Konfessionalisierung der Zeit im ländlichen Raum 253 R ALF -P ETER F UCHS Ein Termin als Rechtsgrundlage für die Konfession. Das Normaljahr 1624 in der Region 277 S ABINE H OLTZ Lob der Muße? Barocke Konfessionskulturen im deutschen Südwesten 295 G EORG S EIDERER Aufgeklärte Zeiten. Von der Feiertagsreduktion zur ›Verbürgerlichung‹ der Zeit 311 A NDREAS L INK Die ›chiliastischen Träumereien‹ des Ignaz Lindl. Radikalisierung am Rande der Allgäuer Erweckungsbewegung im Elendsjahr achtzehnhundertunderfroren 333 K LAUS W OLF Die fünf tausent iaur wurden verloren. Zeitordnungen, Zeitbegriffe und Zeitgefühle in schwäbischer Literatur des Mittelalters - ein Votum regionaler Literaturgeschichtsschreibung 367 Autorenverzeichnis 377 Nachweis der Abbildungen 379 <?page no="10"?> 9 Abkürzungsverzeichnis AA StaatsA Augsburg, Damenstift Edelstetten, Amtsbücher und Akten AdBA Archiv des Bistums Augsburg Augsburger Stadtlexikon Augsburger Stadtlexikon, hg. von G ÜNTHER G RÜN - STEUDEL u. a., 2. neu bearb. Aufl. Augsburg 1988 BayHStA Bayerisches Hauptstaatsarchiv Bh. Beiheft(e) cgm codex germanus monacensis clm codex latinus monacensis d. Ä. der Ältere d. J. der Jüngere EKG Evangelisches Kirchengesangbuch ETP Engelberger Talprotokolle FA Fuggerarchiv Dillingen FS Festschrift GWU Geschichte in Wissenschaft und Unterricht HAB S Historischer Atlas von Bayern, Teil Schwaben HHStA Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien HistA Historisches Archiv HoA Hohenems Akten HZ Historische Zeitschrift IPO Instrumentum Pacis Osnabrugensis LA Landesarchiv MF Ministerium der Finanzen MK Ministerium für Unterricht und Kultus MüB StaatsA Augsburg, Augsburg Damenstift St. Stephan, Münchener Bestand NA Neuburger Abgabe ND Nachdruck NF Neue Folge RGG K URT G ALLING u. a. (Hg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Tübingen 1957f. RHR Reichshofrat s. l. sine loco StaatsA Staatsarchiv StadtA Stadtarchiv <?page no="11"?> 10 StadtA Imm Stadtarchiv Immenstadt StiAr Stiftsarchiv StiBi Stiftsbibliothek SuStBA Staats- und Stadtbibliothek Augsburg TLA Tiroler Landesarchiv u. d. T. unter dem Titel Veröff. Veröffentlichungen VLA Vorarlberger Landesarchiv WA D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe) HStAS Hauptstaatsarchiv Stuttgart ZAA Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie ZB Zentralbibliothek ZbKG Zeitschrift für Bayerische Kirchengeschichte ZBLG Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte ZHF Zeitschrift für Historische Forschung ZHVS Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben (und Neuburg) zit. n. zitiert nach ZWLG Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte <?page no="12"?> 11 D IETMAR S CHIERSNER Zeit im Raum. Zur Regionalität von Zeitphänomenen - eine Einführung 1. Das Interesse an ›Fragen der Zeit‹ Mit dem Thema seiner im November 2013 veranstalteten Tagung ›Rhythmen und Region: Zeitordnungen - Zeitbegriffe - Zeitgefühle‹ lag das Memminger Forum für schwäbische Regionalgeschichte offenbar im geschichtswissenschaftlichen Trend, um nicht zu sagen auf der Höhe der Zeit. In den vorangegangenen Jahren war ein eigenes Graduiertenkolleg zu ›Zeitkulturen‹ eingerichtet worden, hatten sich mehrere Netzwerke gebildet bzw. Forschungsgruppen zusammengeschlossen, die sich der ›Zeit‹ in der Geschichte widmen wollten, wurden zahlreiche Konferenzen zum Thema veranstaltet und fand sogar eine Ausstellung statt, die einen entsprechenden Tagungsband flankierte: Zwischen 2007 und 2012 förderte ein interdisziplinäres Konstanzer Doktorandenkolleg 14 Promotionsvorhaben unter anderem aus der Geschichtswissenschaft, die der »Forschungsfrage nach unterschiedlichen Modi der Herstellung und Organisation von Temporalität« nachgingen. 1 Seit 2011 gibt es die Arbeitsgruppe ›Erfurter RaumZeit-Forschung‹, die 2015 zu ihrem mittlerweile achten Workshop einlud und bereits mehrere Tagungen veranstaltet hat. 2 Ein weiterer Forschungsverbund, das Netzwerk der Deutschen Forschungsgesellschaft ›Zeitenwelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter‹, wurde im Sommer 2012 eingerichtet und wird bis zu seinem Abschluß Ende 2015 ebenfalls mehrere Arbeitstreffen organisiert haben, 3 1 https: / / exzellenzcluster.uni-konstanz.de/ zeitkulturen.html? &L = 1Andreas (aufgerufen am 28.3.2015). 2 Insbesondere fand im Juli 2013 ein Symposium ›Taktungen. Zeiten. Rhythmen. Räume‹ statt (5. Workshop der Erfurter RaumZeit-Forschungseinheit, 26.7.2013-27.7.2013 Erfurt, in: H-Soz-Kult, 4.7.2013, http: / / www.hsozkult.de/ event/ id/ termine-22288). - Mitinitiiert wurde die Arbeitsgruppe von der 2009 an der Universität Erfurt eingerichteten Heisenberg-Professur mit der Denomination ›Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit‹, die Susanne Rau bekleidete. 3 Unter anderem eine Konferenz zu ›Praxen der Zeitlichkeit‹: Thema waren »Techniken der Zeitmessung« ebenso wie »konkrete Handlungsvollzüge, in denen Zeitkonzepte zum Ausdruck gebracht wurden« (Tagungsbericht: Arbeitstreffen des DFG-Netzwerks ›Zeitenwelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittel- <?page no="13"?> D I ETMAR S C HI E R S NE R 12 um einem Desiderat abzuhelfen: Denn während sich die Mediävistik zwar am Forschungsdiskurs zum ›Raum‹ beteiligt habe, sei die »Kategorie der Zeit […] bislang weitgehend unberücksichtigt« geblieben. 4 Mit neuester und Zeitgeschichte befaßte sich dagegen ein im November 2012 vom Deutschen Historischen Institut in London veranstalteter Workshop unter dem Titel ›Tales about time. Temporality, modernity and the order of time‹. 5 Sukzessive wurde die Thematik durch kulturgeschichtliche bzw. anthropologische Fragestellungen, etwa nach »Zeitwahrnehmungen und -praktiken« oder nach den Zusammenhängen von Zeit und Emotionen erweitert. 6 Hervorgehoben sei auch ein erst 2013 von den Berliner Kulturwissenschaftlern Christian Kassung und Thomas Macho herausgegebener Tagungsband ›Kulturtechniken der Synchronisation‹, der auf eine allerdings bereits 2007 veranstaltete Konferenz ›Adressieren, Speichern, Takten‹ zurückgeht. 7 Im Kontext der Genese dieses Bandes stand auch ein disziplinübergreifendes studentisches Ausstellungsprojekt ›Synchron. Wie unsere Zeit unsere Kultur prägt‹, das zwischen Februar und April 2013 an der Humboldt-Universität realisiert wurde. 8 Für die Fragestellung des vorliegenden Tagungsbandes höchst einschlägig sind schließlich die Erträge eines zwischen 2001 und 2011 bestehenden Münchener Sonderforschungsbereichs alter‹, 12.4.2013-13.4.2013 Göttingen, in: H-Soz-Kult, 24.7.2013, http: / / www.hsozkult.de/ conferencereport/ id/ tagungsberichte-4936). 4 ZeitenWelten. Zur Verschränkung von Weltdeutung und Zeitwahrnehmung im frühen und hohen Mittelalter. Abschlußtagung des DFG-Netzwerks, 16.4.2015-18.4.2015 Essen, in: H-Soz-Kult, 20.2.2015, http: / / www.hsozkult.de/ event/ id/ termine-27193. 5 Tagungsbericht: ›Tales about time‹. Temporality, modernity and the order of time, 29.11.2012-30.11.2012 London, in: H-Soz-Kult, 23.3.2013, http: / / www.hsozkult.de/ conferencereport/ id/ tagungsberichte-4731. 6 Tagungsberichte: ›Zeit-Geschichte(n)‹. Zeitwahrnehmungen und -praktiken (ca. 1400- 1700), 21.6.2013 Berlin, in: H-Soz-Kult, 14.1.2014, http: / / www.hsozkult.de/ conference report/ id/ tagungsberichte-5172; Zeit - Planung - Emotionen. Zur Anwendbarkeit temporaler Analysekategorien in der Planungs- und Emotionsgeschichte, 22.11.2013 München, in: H-Soz-Kult, 27.3.2014, http: / / www.hsozkult.de/ conferencereport/ id/ tagungsberichte- 5259. - Vgl. - als glänzendes Beispiel für die gelungene Integration von Zeit- und Emotionsforschung - die Studie von M ARTINA K ESSEL , Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2001, sowie die Beiträge aus unterschiedlichen Fachdisziplinen im Sammelband von H ART - MUT H ELLER (Hg.), Gemessene Zeit - Gefühlte Zeit. Tendenzen der Beschleunigung, Verlangsamung und subjektiven Zeitempfindens, Münster 2006. 7 C HRISTIAN K ASSUNG / T HOMAS M ACHO (Hg.), Kulturtechniken der Synchronisation (Reihe Kulturtechnik), München 2013. 8 Die Eröffnung der Ausstellung ›Synchron. Wie Zeit unsere Kultur prägt‹ fand am 6.2.2012 im neu eröffneten Pergamon-Palais in Berlin statt (https: / / www.hu-berlin.de/ pr/ presse mitteilungen/ pm1201/ pm_120131_00 [aufgerufen am 26.3.2015]). <?page no="14"?> Z E IT IM R AUM . Z U R R E GIONALITÄT VO N Z E IT PHÄN OMEN EN - EINE E IN FÜH RUNG 13 ›Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit‹. Dem in diesem Rahmen 2007 publizierten Tagungsband ›Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit‹ kommt dabei eine Vorreiterrolle für die Erforschung der spezifisch frühneuzeitlichen Zeitkultur zu. 9 Unschwer ließe sich diese Liste von Tagungen, Ausstellungen und Veröffentlichungen der letzten knappen Dekade zeitlich verlängern und quantitativ erweitern. Sichtbar würde dabei ein bestimmer Konjunkturverlauf. Während sich vor allem die Philosophie, aber auch die Historische Chronologie als Hilfswissenschaft kontinuierlich dem Zeit-Thema widmete, 10 kann man beobachten, daß etwa ab den 1990er Jahren bis knapp nach der Jahrtausendwende das Phänomen starke Präsenz durch interdisziplinäre - auch populärwissenschaftliche - Veröffentlichungen gewann und Überlegungen aus Biologie, Physik und Nanochemie ebenso wie aus Medienwissenschaften, Pädagogik und Theologie in Sammelbänden gemeinsam 9 A RNDT B RENDECKE / R ALF -P ETER F UCHS / E DITH K OLLER (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung und Autorität 10), Berlin 2007. - Vgl. die verschiedenen Beiträge des Mitherausgebers mit einem Schwerpunkt auf der historischen und historiographischen Wahrnehmung von Jahrhundertwenden und Zeitschwellen, z. B. A RNDT B RENDECKE , Fin(s) de siècle und kein Ende. Wege und Irrwege der Betrachtung von Jahrhundertwenden, in: HZ 268 (1999), S. 107-120; D ERS ., Die Erfindung des Jahrhunderts, in: K LAUS P ETER D ENCKER (Hg.), Die Politik der Maschine. Computerodyssee 2001 (Interface 5), Hamburg 2002, S. 114-123. - Vgl. jetzt auch A CHIM L ANDWEHR (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 11), Bielefeld 2012, sowie darin insbesondere die Einleitung von D EMS ., Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, S. 9-40, sowie speziell zu Zeitvorstellungen in der Aufklärung W OLFGANG S CHMALE (Hg.), Time in the Age of Enlightenment. 13th International Congress for 18th-Century Studies (Jahrbuch der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts 27), Bochum 2012. 10 Grundlegend bereits J OHANN C HRISTOPH G ATTERER , Abriß der Chronologie, Göttingen 1777; vgl. H ERMANN G ROTEFEND , Abriss der Chronologie des deutschen Mittelalters und der Neuzeit (Grundriss der Geschichtswissenschaft, Reihe 1: Historische Hilfswissenschaften und Propädeutik 3), 2. Aufl. Leipzig 1912; D ERS ., Taschenbuch der Zeitrechnung des deutschen Mittelalters und der Neuzeit, 14. Aufl. Hannover 2007 (1. Aufl. 1898); A NNA - D OROTHEE VON DEN B RINCKEN , Historische Chronologie des Abendlandes. Kalenderreformen und Jahrtausendrechnungen. Eine Einführung, Stuttgart 2000; T HOMAS V OGT - HERR , Zeitrechnung. Von den Sumerern bis zur Swatch, 2., durchges. Aufl. München 2006; speziell zum Kalender darüber hinaus T HOMAS S CHMIDT , Kalender und Gedächtnis. Erinnern im Rhythmus der Zeit, Göttingen 2000; W OLFGANG H AMETER / M ETA N IEDER - KORN -B RUCK / M ARTIN S CHEUZ (Hg.), Ideologisierte Zeit. Kalender und Zeitvorstellungen im Abendland von der Antike bis zur Neuzeit (Querschnitte 17), Innsbruck 2005. Vgl. neuerdings die umfangreiche - insbesondere auch hilfswissenschaftlich orientierte - Studie von D IRK S TEINMETZ , Die Gregorianische Kalenderreform von 1582. Korrektur der christlichen Zeitrechnung in der Frühen Neuzeit, Oftersheim 2011. <?page no="15"?> D I ETMAR S C HI E R S NE R 14 präsentiert wurden. 11 Gleichzeitig begann sich auch die allgemeine Geschichtswissenschaft immer stärker auf die Problematik zu konzentrieren, 12 bis innerhalb der Disziplin ›Zeit‹ die eingangs skizzierte heutige Bedeutung erlangte. Breitere Aufmerksamkeit für das Thema im weiteren Sinne schien sich anzubahnen mit belletristischen Erfolgstiteln wie Sten Nadolnys ›Entdeckung der Langsamkeit‹ (1983), dessen Autor übrigens promovierter Historiker ist, oder auch Milan Kunderas ›Langsamkeit‹ (1994). In den Feuilletons ebenso wie in der Sparte Lebenshilfe-Literatur läßt das Interesse an Möglichkeiten zur Optimierung des persönlichen Zeitmanagements einerseits ebenso wenig nach wie andererseits das an alternativen Strategien der ›Entschleunigung‹. ›Zeit‹ bleibt aktuell; als Stichwort genüge der Hinweis auf gegenwärtige Diskussionen zum Thema ›Multitasking‹. 13 11 Besondere Beachtung fand über Jahre hinweg das Thema in ›Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft‹, hg. von C HRISTIAN R OTTA . Das Aprilheft 1993 hatte den »Schwerpunkt: Ökologie der Zeit«, und im selben Jahr erschien in der ›Edition Universitas‹ auch ein eigener Sammelband zum selben Thema: M ARTIN H ELD / K ARLHEINZ A. G EISS - LER (Hg.), Ökologie der Zeit. Vom Finden der rechten Zeitmaße, Stuttgart 1993. - Vgl. als neueres Beispiel für eine multidisziplinär-populäre Publikation zum Thema A DAM H ART - D AVIS , Das Buch der Zeit, Darmstadt 2012 (engl. Original London 2011). 12 Seine seit 1982 erschienenen Vorträge und Texte zum Thema stellte Reinhart Koselleck im Jahr 2000 zu einem Sammelband zusammen: R EINHART K OSELLECK , Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt/ Main 2000. - Trotz des Titels ohne Reflexion der Zeit- Problematik ist P HILIPPE A RIÈS , Zeit und Geschichte, Frankfurt/ Main 1988 (franz. Original u. d. T. ›Le temps de l’histoire‹, Paris 1986). - G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM , Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, Köln 2007 (Originalausgabe München 1992), bezieht im zeitlichen Längsschnitt von der Antike bis zur Moderne Beobachtungen zur Sachkultur bzw. Technikgeschichte und kulturgeschichtliche Fragestellungen aufeinander. - Für den vorliegenden Zusammenhang besonders hervorzuheben ist ein mediävistischer Sammelband: P ETER D ILG / G UNDOLF K EIL / D IETZ -R ÜDIGER M OSER (Hg.), Rhythmus und Saisonalität. Kongreßakten des 5. Symposions des Mediävistenverbandes in Göttingen 1993, Sigmaringen 1995; vgl. W ERNER S ULZGRUBER , Zeiterfahrung und Zeitordnung vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters 4), Hamburg 1995; T RUDE E HLERT (Hg.), Zeitkonzeptionen, Zeiterfahrung, Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne, Paderborn 1997. 13 Vgl. anstelle vieler weiterer Hinweise z. B. S TEFAN R IEGER , Multitasking. Zur Ökonomie der Spaltung, Berlin 2012. - Unter den Beiträgen philosophischer Provenienz sind aktuell zwei wegen ihrer breiten Rezeption besonders hervorzuheben: R ÜDIGER S AFRANSKI , Zeit. Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München 2015; sowie in 3. Auflage innerhalb eines Jahres R ALF K ONERSMANN , Die Unruhe der Welt, Frankfurt/ Main 2015. <?page no="16"?> Z E IT IM R AUM . Z U R R E GIONALITÄT VO N Z E IT PHÄN OMEN EN - EINE E IN FÜH RUNG 15 Es hat einige Plausibilität für sich, wenn das Einsetzen der beobachteten Konjunktur in Verbindung gebracht wird mit dem Nahen der Jahrtausendwende, was ganz allgemein die Sensibilität für Zeitfragen, insbesondere aber auch das Bewußtsein für Wandel und Vergänglichkeit geschärft haben mag. Hinzu kommt, und bei einem großen Teil der Publikationen ist es offensichtlich, daß gesellschaftlicher, ökonomischer, kultureller Wandel zunehmend als Problem allgemeiner Beschleunigung, ja als Zerbrechen zeitlicher Ordnungen und als Herausforderung für das Leben in der Gegenwart begriffen und verarbeitet wird. 14 Die Geschichtswissenschaft bzw. der einzelne Geschichtswissenschaftler ist als Teil der Geschichtskultur in diese Zusammenhänge verstrickt und agiert oder reagiert auf seine, historiographische Weise. Innerwissenschaftliche Pendel- und Gegenbewegungen - von der Raumzur Zeitwende; vielleicht auch weg vom herrschenden Konstruktivismus hin zu einer (scheinbar) elementaren Universalie - und generationelle Zyklen - z. B. die ›Wiederentdeckung‹ der Texte Reinhart Kosellecks nach zum Teil rund 30 Jahren - 15 entfalteten und entfalten dann ihre eigene Dynamik. Die eingangs beobachteten Institutionalisierungsvorgänge - Sonderforschungsbereiche, Netzwerke, Forschungsgruppen, Studiengänge - werden das Thema schließlich noch eine Weile auf der Agenda halten. Der vorliegende Tagungsband trägt ebenfalls dazu bei - auch indem sein Herausgeber tut, was im Grunde alle Tagungsorganisatoren, Herausgeber, Autoren und Antragsteller tun: Sie konstatieren ein Desiderat, das anzugehen sie sich vornehmen, freilich nicht ohne sogleich das Tentative, Vorläufige und Unabgeschlossene des Unternehmens einzugestehen. 16 Worin liegt das Forschungsdesiderat aus der Perspektive der Regionalgeschichte bzw. aus der des Landeshistorikers? 14 Vgl. zur Auseinandersetzung mit der Beschleunigungserfahrung der Moderne insbes. H ARTMUT R OSA , Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/ Main 2005; A LEIDA A SSMANN , Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013. Im diagnostischen Urteil letztlich vergleichbar sind auch F RANÇOIS H ARTOG , Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, 2. Aufl. Paris 2012 (1. Aufl. 2003), sowie der Tenor der Sammelbände von E LIZABETH S HOVE / F RANK T RENTMANN / R ICHARD W ILK (Hg.), Time, Consumption and Everyday Life. Practice, Materiality and Culture, 2. Aufl. Oxford 2013 (1. Aufl. 2009), oder von C HRIS L ORENZ / B ERBER B EVERNAGE (Hg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future (Schriftenreihe der FRIAS School of History 7), Göttingen 2013. Vgl. auch R. K ONERSMANN , Unruhe (Anm. 13). 15 R. K OSELLECK , Zeitschichten (Anm. 12). - Vergleichbare Wirkung auf die Rezeption könnte auch von der Neuedition von zwischen 1984 und 2004 erstmals publizierten Texten von H ANS U LRICH G UMBRECHT , Präsenz, Berlin 2012, ausgehen. 16 Vgl. den erfrischend (selbst-)ironischen Essay von A NNETTE V OWINCKEL , Kritik der Forschungslücke, in: Werkstatt Geschichte 22 (2013), S. 43-48. <?page no="17"?> D I ETMAR S C HI E R S NE R 16 2. Zeit u n d Raum - ein Desiderat In Selbstbezeichnung und Rahmenpapier der ›Erfurter RaumZeit-Forschung‹ wird - mittels Binnengroßschreibung auch graphisch - eine besondere Verbindung von Raum und Zeit als Forschungsmethode und -ziel postuliert. So heißt es, man gehe davon aus, »daß Räumlichkeit und Zeitlichkeit in ihrer Konstruiertheit lebens- und alltagsweltlich nicht voneinander zu trennen sind«, und - besonders für den vorliegenden Zusammenhang hilfreich - man ziele auf »Regionalisierung u n d Historisierung der temporal-spatialen Praktiken« ab. 17 Instruktive Beispiele für die Umsetzung des Ansatzes sind die einzelnen Beiträge etwa zu den Workshops der Forschungsgruppe im Juli 2013 oder im Oktober 2014. 18 Sichtet man die Literatur zum Thema, können die Versuche, Raum und Zeit in der Geschichte zusammenzudenken, allerdings nicht immer überzeugen, sei es weil entweder nur über Raum oder nur über Zeit gehandelt wird bzw. die beiden Dimensionen kaum in eine engere Verbindung zueinander gebracht werden oder weil auch noch den entlegensten Themen ein räumlicher oder zeitlicher Aspekt ›abverlangt‹ wird. Warum ist das Unternehmen offenkundig so schwierig? Daß es letztlich an unübersteigbaren epistemischen Hürden liegen könnte, daran, daß die Raum-Zeit-Dimension unserer Erfahrung unzugänglich ist, mag sein. Doch scheint gerade der ›Blick über die Grenze‹ zu faszinieren und dazu herauszufordern, angemessene Formen der historischen - auch der sprachlichen - Darstellung zu suchen und zu erproben. Aber auch aus dem Alltagsverständnis drängt sich eine Begründung auf: So ist Zeit als universelles Phänomen etwas »geradezu gefährlich Allgegenwärtiges«, wie der Sammelband zur ›Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit‹ weiß, so daß man »die Zeit - einmal thematisiert - überall entdeckt und nicht mehr sinnvoll disziplinär eingrenzen oder wissenschaftstheoretisch zuordnen kann«. 19 Mit dem ›Raum‹ als abstrakter Größe verhält es sich kaum anders - ein Problem, das nicht gerade einfacher wird, wenn man beide Begriffe zusammennimmt. 20 17 Rahmenpapier der Erfurter RaumZeit-Forschung vom 21.2.2012, 7 S. (https: / / www.unierfurt.de/ fileadmin/ public-docs/ Ostasiatische_Geschichte/ Rahmenpapier%20Erfurter %20 RaumZeit_Forschung.pdf [aufgerufen am 28.3.2015]), hier 4 (Hervorhebung im Original). 18 Tagungsberichte: Taktungen. Zeiten. Rhythmen. Räume., 26.7.2013-27.7.2013 Erfurt, in: H-Soz-Kult, 28.8.2013, http: / / www.hsozkult.de/ conferencereport/ id/ tagungsberichte-4982; Raumzeitlichkeit des Imperialen, 8.10.2014-11.10.2014 Erfurt, in: H-Soz-Kult, 13.1.2015, http: / / www.hsozkult.de/ conferencereport/ id/ tagungsberichte-5790. 19 A. B RENDECKE / R.-P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 9. 20 Zeit und Raum kombinierende Veröffentlichungen finden sich dementsprechend zahlreich auch in den Nachbardisziplinen. Anstelle vieler Einzelnachweise nur beispielhaft zitiert sei ein literaturgeschichtlicher Beitrag von L UTZ G ÖTZE , Zeit-Räume - Raum-Zeiten. Gedanken über Raum und Zeit in den Kulturen (Im Medium fremder Sprachen und Kulturen 18), Frankfurt/ Main 2011. <?page no="18"?> Z E IT IM R AUM . Z U R R E GIONALITÄT VO N Z E IT PHÄN OMEN EN - EINE E IN FÜH RUNG 17 Andererseits läßt sich theoretisch der Zusammenhang zwischen Raumerfahrung und Zeitteilung gerade für vormoderne ›Anwesenheitsgesellschaften‹ nicht von der Hand weisen und verlangt nach systematischer Aufarbeitung, weil dadurch zugleich die Rahmenbedingungen für Interaktion und Kommunikation bewußt gemacht werden können. 21 Gemeinsamer Raum und geteilte Zeit bedingen sich gegenseitig, Utopie korrespondiert mit Achronie ebenso wie Synchronie mit Syntopie. Austauschbar wirkende »Nicht-Orte«, wie sie der Soziologe Marc Augé für unsere Gegenwart beschreibt, sind dementsprechend zugleich Stätten hochgradiger zeitlicher Individualisierung. 22 Es sind Supermärkte, Autobahnen, Tankstellen oder die virtuellen Räume des Internets, an denen Menschen grundsätzlich ungleichzeitig anwesend sein können und es idealerweise auch sein sollten - weil es andernfalls zu Staus kommt. Für die Betrachtung je geschichtlicher Koinzidenzen von Raumerfahrung und Zeitteilung bietet sich deshalb der Begriff der ›Synchronisation‹ an. Die »Kulturtechniken« ihrer Herstellung zu untersuchen hieße demnach, der geforderten Historisierung von Raum-Zeit-Phänomenen näher zu kommen. 23 Tatsächlich eingelöst wurde dieser Anspruch jedoch bislang eher selten. 24 Gerade die Landesgeschichte könnte dagegen als von konkreten Räumen ausgehende Disziplin wichtige Beiträge leisten und die abstrakten soziologischen Begriffe mit lebendiger Anschauung füllen. Hier nun setzt der vorliegende Band an. Seine Erträge lassen sich aufgrund zweier unterschiedlicher Erkenntnisrichtungen sortieren: Ein mikrohistorischer Ansatz zielt darauf ab, Zeitlichkeitsphänomene anhand eines Raumes in den Blick zu nehmen, ein regionalgeschichtlicher Ansatz fragt umgekehrt anhand der Zeit nach dem Raum, genauer: nach der Prägung eines Raumes durch Zeitordnungen, -begriffe und -erfahrungen. Wendet man Michel de Certeaus praxeologisches Raumverständnis auf beide Fragerichtungen an, dann entstehen sowohl Räume als auch Zeiten erst durch Handeln, d. h. durch ›Umgehen‹ mit Raum bzw. Zeit, sind also nicht schon ›an sich‹ existent. Dem doing space läßt sich 21 Vgl. jetzt grundlegend R UDOLF S CHLÖGL , Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit, Konstanz 2014, bes. S. 111-115. 22 M ARC A UGÉ , Nicht-Orte, 3. Aufl. München 2012 (Originalausgabe Paris 1992). 23 Vgl. C HR . K ASSUNG / T H . M ACHO (Hg.), Kulturtechniken der Synchronisation (Anm. 7). 24 Vgl. als Beispiele für konkreten Raumbezug J AKOB M ESSERLI , Gleichmässig - pünktlich - schnell. Zeiteinteilung und Zeitgebrauch in der Schweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 1995; R ALF -P ETER F UCHS , Die Autorität von ›Normaljahren‹ bei der kirchlichen Neuordnung nach dem Dreißigjährigen Krieg - Das Fürstbistum Osnabrück und die Grafschaft Mark im Vergleich, in: A. B RENDECKE / R.-P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 353-374; H ANS -B ERND S PIES , Zeitrechnung und Kalenderstile in Aschaffenburg und Umgebung. Ein Beitrag zur regionalen historischen Chronologie (Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, Bh. 3), Aschaffenburg 2009, S. 52-56. <?page no="19"?> D I ETMAR S C HI E R S NE R 18 ein doing time zur Seite stellen. 25 Deren Verschränkung könnte dann - um im Jargon zu bleiben - mikrohistorisch als spacing time, als Verräumlichung von Zeit, regionalhistorisch als timing space, als Verzeitlichung von Raum, lesbar sein. 3. Zeit im Raum: ein mikrohistorischer Ansatz In einem Beitrag für die ›Historische Zeitschrift‹ hat sich neuerdings Matthias Pohlig mit der geschichtstheoretischen Problematik von Beispiel und Fallstudie beschäftigt. 26 Pohlig ruft einige wesentliche, doch in den meisten Fällen nur implizierte Voraussetzungen historischen Arbeitens in Erinnerung, die für die Regionalgeschichte als Disziplin von grundlegender Bedeutung sind: Dem deduktiven, von der Regel herkommenden ›Beispiel‹ kommt demnach eine belegende, wenigstens aber illustrierende Funktion in der Argumentation zu, das Gegenbeispiel besitzt dementsprechend widerlegende Wirkung oder kann als Ausnahme verbucht werden. Die induktive, zur Regel hinführende Fallstudie dagegen will modellhaft erklären oder verstehen helfen, was als allgemeines Phänomen gilt oder gelten soll. Bezugspunkt des mikrohistorischen Zugriffs ist deshalb immer die allgemeine Gesc hi chte, d er die Besc hä ftigung mi t re gi ona ler od er Or tsge sc hic ht e ihr en S toff liefert. 27 In diesem Sinne kann es auch als Aufgabe der hier versammelten Beiträge gelten, Illustrationen und Belege für ansonsten häufig leer bleibende Begriffe zu zeigen und nach der konkreten Verräumlichung abstrakter Zeitlichkeit (spacing time) zu fragen, etwa wenn vom Übergang von der ›Zyklizität‹ zur ›Linearität‹ des Zeitverständnisses im 18. Jahrhundert die Rede ist (D. Schiersner) oder von der ›Globalisierung‹ der Zeitvorstellungen (W. Scheffknecht). 28 Nimmt man es methodisch 25 Vgl. A NDREAS R UTZ , Doing territory! Politische Räume als Herausforderung für die Landesgeschichte nach dem spatial turn, erscheint vorauss. 2015 in: S IGRID H IRBODIAN / C HRISTIAN J ÖRG / S ABINE K LAPP (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Landesgeschichte 1). Beiträge zur Tagung vom 6.-8.6.2013 in Tübingen. 26 M ATTHIAS P OHLIG , Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem, in: HZ 297 (2013), S. 297-319. 27 Vgl. zu beiden Erkenntnisrichtungen bzw. zum Zusammenhang von Regional- und allgemeiner Geschichte mit Beispielen auch D IETMAR S CHIERSNER , Überblick von unten - oder: ein kleines Reich. Was hat die Regionalgeschichte der Reichsgeschichte zu sagen? , in: J OHANNES B URKHARDT / M AX S AFLEY / S ABINE U LLMANN (Hg.), Geschichte in Räumen FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Konstanz 2006, S. 295-322; D ERS ., Alter Zopf oder neue Chance? - Regionalgeschichte in Historiographie und Geschichtsunterricht, in: GWU 62 (2011), S. 50-60. 28 Vgl. auch die kritischen Anmerkungen zur scheinbaren Evidenz solcher ›Paradigmenwechsel‹ in der Forschung von A. B RENDECKE / R.-P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 13 (Einleitung). <?page no="20"?> Z E IT IM R AUM . Z U R R E GIONALITÄT VO N Z E IT PHÄN OMEN EN - EINE E IN FÜH RUNG 19 genau, lassen sich allerdings die Postulate der allgemeinen Geschichte nur falsifizieren und - auch nicht durch noch so viele bestätigende Beispiele und Fallstudien - verifizieren. In diesem Sinne stellt nicht zuletzt die Dekonstruktion verbreiteter Interpretationen und modernisierungstheoretischer Meistererzählungen einen besonderen Reiz bei der regionalgeschichtlichen Arbeit an den hier behandelten Themen dar: Verlief - um beispielhaft einige revisionistische Fragen aufzuwerfen - in der Vormoderne das Leben auf dem Land wirklich in den von Witterung und Vegetation vorgegebenen Geleisen nach ›natürlichen‹ Rhythmen und Strukturen (W. Rösener) oder zeigen die Verhältnisse vor Ort nicht vielmehr erheblich differenziertere, ›polyrhythmische‹ Zeitordnungen - vom Ablauf des Tages bis zur Ordnung biographischer Abschnitte (A. Sczesny)? Waren alter evangelischer und neuer katholischer Kalender im Alltag bikonfessioneller Räume tatsächlich so inkompatibel, daß sie abweichende Zeit- und Raumerfahrungen hervorbrachten, oder bewirkten nicht zuletzt ökonomische Motive die Etablierung geschmeidiger Kompromißlösungen, während umgekehrt die Konfliktlinien auch innerhalb ein und derselben Konfession verlaufen konnten? Ja, führte die kalendarische Spaltung am Ende sogar zu ungeahnten ›positiven‹ Effekten, z. B. bei der Intensivierung und Bürokratisierung von Herrschaft vor Ort (W. Petz und W. Scheffknecht)? Werden - zuletzt noch einmal sehr prominent gemacht durch Peter Hersches fulminante Darstellung des europäischen Barockzeitalters - 29 die komplementären Meistererzählungen von der katholischen Mußepräferenz einerseits und der protestantischen Verfleißigung andererseits den konkreten regionalen Befunden, z. B. in Ostschwaben, überhaupt gerecht? Werden nicht insbesondere theologische Unterschiede und Entwicklungen innerhalb des Protestantismus zu wenig wahrgenommen (S. Holtz)? Erproben ließe sich auch eine andere Perspektive: Möglicherweise handelt es sich bei den konstatierten Gegensätzen ja eher um theologisch sekundär legitimierte Varianzen, die letztlich von unterschiedlichen agrarstrukturell-ökonomischen Grundlagen bedingt waren und sich im Spannungsfeld von vorkonfessionellem Askeseideal bzw. Kampf gegen sündhafte acedia und gewissermaßen anthropologisch konstantem Fest- und Feierbedürfnis ausprägten. Schließlich: Zu welchen tatsächlichen Veränderungen in der Lebens- und Arbeitspraxis führten die Feiertagsreduktionen im ausgehenden 18. Jahrhundert bei den Katholiken (G. Seiderer)? Möglicherweise werden ja sowohl die Vakanzwirkung des vorgängigen Feiertagskalenders als auch der Verfleißigungseffekt des neuen weit überschätzt. Ohnehin scheint die Entwicklung dann eine andere Richtung genommen zu haben. Denn 29 P ETER H ERSCHE , Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg/ Br. 2006; vgl. D ERS ., Gelassenheit und Lebensfreude. Was wir vom Barock lernen können, Freiburg/ Br. 2011. <?page no="21"?> D I ETMAR S C HI E R S NE R 20 das sich im 19. Jahrhundert ausprägende - bürgerliche - Konzept von ›Freizeit‹ war mit den ländlich-bäuerlichen Strukturen kaum in Einklang zu bringen. Die skizzierten Fragestellungen sind dabei - trotz eines unverkennbaren Schwerpunktes auf der Frühen Neuzeit - nicht epochen-, sondern raumbezogen: In regionalen Grenzen unbegrenzte Längsschnitte vom Mittelalter bis zur Gegenwart können den Blick für Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten der (auf den jeweiligen Raum bezogenen) Zeitordnungen, -begriffe und -erfahrungen schärfen und ebenfalls zur Relativierung gängiger Topoi beitragen. Zumindest für zwei Jahrhunderte von 1600 bis 1800 hat beispielsweise Nicolas Disch in seiner Dissertation einen entsprechenden Versuch unternommen und die Zeitkultur der Menschen einer alpinen Region untersucht; 30 in seinem Beitrag zu den Zeitvorstellungen in der Herrschaft Engelberg kann er aus der Fülle eigener Forschungsergebnisse schöpfen. Noch ungeschrieben ist dagegen die Fallstudie, die den Wandel von Zeitlichkeit auf allgemeingeschichtlicher Ebene am überschaubaren, zugleich aber hinreichend heterogenen, nicht nur herrschaftlich, sondern auch wirtschaftlich, sozial und konfessionell-kulturell kleingekammerten Modell ›Ostschwaben‹ verständlich machen kann. Die hier versammelten Aufsätze lassen sich aber zum Teil - auch - als Beiträge oder Vorarbeiten dazu verstehen. 4. Raum in der Zeit: ein regionalgeschichtlicher Ansatz In der Dissertation von Nicolas Disch fungiert Zeit umgekehrt aber auch als Sonde, um sich einer vergangenen Lebenswelt zu nähern und sie besser zu begreifen. Die Auseinandersetzung mit Zeit vermag wichtige Einsichten über die Beschaffenheit jenes Raumes zu vermitteln, auf den sie sich bezieht: In der Zeit lesen wir den Raum, könnte man sagen. Timing space im Sinne des regionalgeschichtlichen Ansatzes nimmt auf diesen Zusammenhang Bezug. Zeitordnungen, -begriffe und gefühle der Menschen - so wird vorausgesetzt - besitzen raumschaffende Wirkung und tragen zur Genese spezifischer und charakteristischer Räume bei, sei es der Raum eines Klosters, eines Mietshauses, eines Stadtviertels, einer Reichsstadt oder einer flächigen Region: Zu den Räumen, die sie sind, werden sie durch Stundengebet, Kehrwoche, Sabbat, Schwör- und Markttage oder Eisenbahnzeit. Die Ambivalenz der Vorgänge liegt auf der Hand: Gemeinsame Raumerfahrungen führen zu 30 N ICOLAS D ISCH , Hausen im wilden Tal. Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600-1800) (Norm und Struktur 41), Wien 2012. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt bereits C ORNELIA B RINK , Zeiterfahrung im Paderborner Land vor der Industrialisierung, Büren-Wewelsburg 1998, in einem ›Themenheft‹ des Historischen Museums des Hochstifts Paderborn. <?page no="22"?> Z E IT IM R AUM . Z U R R E GIONALITÄT VO N Z E IT PHÄN OMEN EN - EINE E IN FÜH RUNG 21 untereinander geteilten Zeiten, umgekehrt bringen gemeinsame Zeiten auch wieder untereinander geteilte Raumerfahrungen mit sich. Zu fragen ist deshalb nach der Genese der Repräsentationen und Praktiken von Zeitregimen und Zeitverhalten, an denen herrschaftliche Setzungen, kollektive Übereinkünfte, provozierende Gegenmodelle und subversive Taktiken jeweils ihre sich wandelnden Anteile besitzen. Kirchlich oder obrigkeitlich bzw. staatlich verordnete Zeit(en) - die Londoner Tagung ›Tales about time‹ sprach von programmatischen »chronopolitics« und pragmatischer »chronopolicy« - 31 wie die beiden konfessionellen Zeitstile seit 1582 (W. Petz; vgl. W. Scheffknecht) oder das Normaljahr 1624 (R.-P. Fuchs) bzw. die zahllosen Policeyordnungen, Predigten und Traktate mit ihren Vorstellungen von moralisch-sittlich definierter ›Recht-Zeitigkeit‹ bzw. gebotener Zeit-›Nutzung‹ (S. Holtz; G. Seiderer) 32 sind dabei ebenso zu berücksichtigen wie jene kosmologisch-biologisch sich aufdrängenden Zeitabläufe, die sich z. B. aus Jahreslauf und Vegetationsperiodik (W. Rösner) oder aus den biographischen Eckdaten von Geburt und Tod und dem Heranwachsen und Altern dazwischen (B. Rajkay) ergaben. Provozierende Gegenzeiten konnten nicht nur einem gemischtkonfessionellen Raum seinen spezifischen Charakter verleihen, auch das Nebeneinander von Christen und Juden in Schwaben (R. Kießling), von heterogenen sozialen Schichten in den vormaligen Ackerbürgerstädten seit der Industrialisierung (G. Klein) oder die von den Seßhaften als Achronie empfundene ›Eigenzeit‹ der Nichtseßhaften (G. Ammerer) lassen sich unter dieser Zeit-Perspektive betrachten. Gerade Ostschwaben als in Spätmittelalter und Früher Neuzeit charakteristischer Wirtschaftsraum hat dazu angeregt, die enge Verbindung von ökonomischen und temporalen Strukturen freizulegen und etwa nach den raumschaffenden Wirkungen zeitlich aufeinander bezogener, getakteter lokaler und regionaler Märkte zu fragen; Rolf Kießling hat die Zusammenhänge als »komplexe[s] System von Marktorientierungen« beschrieben. 33 Der Blick auf die lokalen ländlichen Verhältnisse zeigt, welche Folgen ökonomisch bedingt unterschiedliche - in ihrer Gesamtheit komplexe - temporale Orientierungen für das gemeinsame Leben vor Ort im 18. Jahrhundert haben konnten (A. Sczesny). 31 Vgl. den Tagungsbericht (Anm. 5). 32 Vgl. K ARL H ÄRTER , Zeitordnungen und ›Zeitverbrechen‹: Reglementierung, Disziplinierung und Fragmentierung von Zeit in der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung, in: A. B RENDECKE / R.-P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 187-232. - Siehe auch die Quellensammlung von P AUL M ÜNCH (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«, München 1984. 33 R OLF K IESSLING , Kleinräumige Jahrmarktzyklen in Schwaben. Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes im Spätmittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit, in: H ANS -P ETER B ECHT / J ÖRG S CHADT (Hg.), Wirtschaft - Gesellschaft - Städte. FS für Bernhard Kirchgässner zum 75. Geburtstag, Ubstadt-Weiher 1998, S. 139-156, hier 139. <?page no="23"?> D I ETMAR S C HI E R S NE R 22 Die hier vorgestellten Zeit-Sonden ließen sich zweifellos ergänzen: Substantielle Erweiterungen wären vor allem im Bereich der Historiographie wünschenswert: Die Geschichtsschreibung eines Bezugsraumes, die Stadt- oder Klosterchronistik, aber ebenso auch die moderne Landesgeschichte leisteten und leisten einen kaum zu unterschätzenden Beitrag zur Raumkonstitution, indem sie die geschichtliche Darstellungszeit auf ihren (Untersuchungs-)Raum beziehen, sie entsprechend strukturieren und interpretieren und dabei zugleich die Erinnerung der Rezipienten mit diesem oder jenem Raum verknüpfen. Vergangene Zeit wird vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, im Medium der Historiographie zur gemeinsamen Geschichte eines Raumes. 34 Generell als hilfreich könnte sich bei den behandelten Fragestellungen auch eine systematische Einbeziehung der Zeitbegrifflichkeit in Dialekt bzw. Sprachgeschichte erweisen. 35 Schwerer als solche Fehlanzeigen wiegt jedoch das methodische Problem einer latenten Zirkularität des regionalgeschichtlichen Ansatzes, geradezu zwangsläufig den einmal der Untersuchung zugrundegelegten Raum auch hinsichtlich seiner Zeitlichkeit einmal mehr als historisch konsistent zu bestätigen. Nicht prinzipiell aufgehoben, aber entschärft wird die Problematik dort, wo der Vergleich mit anderen Räumen und Regionen geleistet werden kann und darüber hinaus vermutliche Grenzräume und -säume Berücksichtigung finden (vgl. insbesondere W. Scheffknecht). 5. Rhythmus und Region - das praxeologische Verständnis Nicht nur dem Reiz der Alliteration geschuldet ist die Formulierung in der Überschrift des Tagungsbandes ›Rhythmus und Region‹. Denn die begriffliche Engführung bringt Schärfe in das abstrakte Raum-Zeit-Konzept und wird der faktischen Integration der Dimensionen von Raum und Zeit eher gerecht. Was die spatialen Begrifflichkeiten angeht, liegen die Dinge etwas komplexer, weil ›Raum‹ sowohl als Abstraktum entsprechend ›Zeit‹ verwendet wird - in diesem Sinn häufiger noch 34 Erinnert sei nur an das immer neu zitierte Diktum von der »glückhaften Rückständigkeit« Oberschwabens, mit dem die zeitgenössische Geschichtsschreibung (und Literatur) einer Region im Grunde den sie - ob tatsächlich oder vermeintlich, ist hier unerheblich - charakterisierenden ›Zeit-Stempel‹ aufgedrückt hat. Dazu zusammenfassend E LMAR L. K UHN , Glückhafte Rückständigkeit? , in: Mitteilungen der Gesellschaft Oberschwaben 9 (2010), S. 180-191; vgl. auch die Tagung › ›Glückhafte Rückständigkeit‹? Kulturregion Oberschwaben‹ am 23.11. 2001 in Schwendi. Konzeption und Beiträge der Tagung sowie ein Resümee liegen vor in: Mitteilungen der Gesellschaft Oberschwaben 4 (2002), S. 9-85 (http: / / www. oberschwaben-portal.de/ inhalte-ausgabe/ items/ oberschwaebische-modelle.html [aufgerufen am 8.9.2015]). 35 Zur historischen Sprechgeschwindigkeit des Engelberger Dialektes finden sich Bemerkungen bei N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 30), S. 490f. <?page no="24"?> Z E IT IM R AUM . Z U R R E GIONALITÄT VO N Z E IT PHÄN OMEN EN - EINE E IN FÜH RUNG 23 das Adjektiv ›räumlich‹ und vollends dann das lateinische ›spatial‹. Andererseits aber wird dieser abstrakte Sinn an vielzitierter, übersetzter Stelle, nämlich in Michel de Certeaus (1925-1986) ›Kunst des Handelns‹, mit dem Begriff ›Ort‹ apostrophiert, während ›Raum‹ bei ihm den bereits durch (menschliches) Handeln veränderten ›Ort‹ bezeichnen soll: »Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht«. 36 In dieser Einführung und auch in den meisten Beiträgen wird dagegen der ›Raum‹-Begriff auf beiden Bedeutungsebenen, der abstrakten wie der konkreten, benutzt, zum einen - um einer begrifflichen Differenzierung Maurice Merleau-Pontys (1908-1961) zu folgen - im Sinne eines ›geometrischen Raumes‹, zum anderen im Sinne eines ›anthropologischen Raumes‹. Durch ursprüngliche Bewegung oder schließlich jede Art der Kommunikation wird der e i n e geometrische Raum erschlossen und in viele, von einander unterschiedene anthropologische Räume gegliedert. Die Problematik muß an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. 37 Es genügt vorerst festzuhalten, daß eine ›Region‹ in jedem Fall - weil durch je historische Konstruktionsleistung hervorgebracht - ein solcher certeauscher ›Raum‹ ist. In vergleichbarer Weise läßt sich auch die temporale Dimension differenzieren und ›Rhythmus‹ von ›Zeit‹ abgrenzen. Denn ›Rhythmus‹ ist nichts anderes als das Ergebnis einer Strukturierungsleistung des Menschen oder doch die Kultivierung einer - kosmologischen, klimatischen, vegetativen oder sonstigen - natürlichen Struktur. 38 Die zugrundeliegende Ordnungsvorstellung wird in der - meist lateinisch zitierten - musiktheoretischen Definition Platons vom ›Rhythmus‹ im Sinne von ›Rhythmisierung‹ als ordo motus bzw. im Sinne des Rhythmisierungsergebnisses als motus ordinatus greifbar, während das Künstliche - ›Artifizielle‹ - jeder Kultivierung in Augustins Formel vom Rhythmus als einer ars bene movendi anklingt. 39 In ähnlicher Weise umschreibt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht 36 M ICHEL DE C ERTEAU , Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218. - Vgl. M ARIAN F ÜSSEL , Tote Orte und gelebte Räume. Zur Raumtheorie von Michel de Certeau S. J., in: Historical Research 38,3 (2013), S. 22-39; sowie jetzt auch im Zusammenhang und Überblick S USANNE R AU , Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen (Historische Einführungen 14), Frankfurt/ Main 2013. 37 Zum unterschiedlichen Gebrauch der Raum-Begriffe vgl. D IETMAR S CHIERSNER , Räume der Kulturgeschichte - Räume der Landesgeschichte: Affinitäten, Divergenzen, Perspektiven, in: S. H IRBODIAN / C HR . J ÖRG / S. K LAPP (Hg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte (Anm. 25). 38 Vgl. als wichtigen Markstein für die Erforschung von historischen Rhythmen P. D ILG / G. K EIL / D.-R. M OSER (Hg.), Rhythmus und Saisonalität (Anm. 12). 39 Vgl. F RANCISCO DE S ALINAS , De musica libri septem in quibus eius doctrinae veritas tam quae ad harmoniam, quam quae ad rhythmum pertinent, iuxta sensus ac rationis iudicium ostenditur, & demonstratur, Salmanca 1577, S. 235-237 (Volltext online verfügbar: http: / / reader.digitale-sammlungen.de/ de/ fs1/ object/ display/ bsb10148098_00249.html). <?page no="25"?> D I ETMAR S C HI E R S NE R 24 (geb. 1948) in einem - allerdings literaturwissenschaftlich argumentierenden Essay - über ›Rhythmus und Sinn‹ den »Rhythmus« als »das Gelingen von Form unter der (erschwerenden) Bedingung von Zeitlichkeit«. 40 Im ›Handbuch Historische Anthropologie‹ findet sich unter dem Stichwort ›Zeit‹ ein inspirierender Essay von Wolfgang Kaempfer (1923-2009), der den Rhythmus von der nicht-rhythmisierten Zeit abgrenzt. 41 Auf der Grundlage von Edmund Husserls (1859-1938) Überlegungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins unterscheidet Kaempfer eine - dem Rhythmus entsprechende - reversible, weil in Zyklen und Phasen wiederholbare ›Verkehrszeit‹ von einer irreversiblen bzw. einzigartigen, als »Zeitpfeil« visualisierbaren ›Geschichtszeit‹: »Während die Verkehrszeit formbildend und -bewahrend ist, d. h. die Systeme erhält, stabilisiert, konstituiert und restituiert, sorgt die Geschichtszeit für die Veränderung der Systeme, für Wachstum und Verfall, Entstehen und Vergehen. Die Geschichtszeit wird also nicht wiederkehren können, die Verkehrszeit muß dagegen wiederkehren können, weil sich die Systeme anders nicht erhalten könnten.« 42 Kaempfer versucht im folgenden, die komplementäre Dichotomie von Verkehrs- und Geschichtszeit zu historisieren und schreibt der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ›entfesselten Verkehrszeit‹ den ›Bruch des Zeitgetriebes‹ zwischen 1890 und 1914 zu, 43 also einem Abschnitt der deutschen und europäischen Geschichte, der auch schon als ›Zeitalter der Nervosität‹ (Joachim Radkau) bekannt gemacht wurde. 44 Man muß dieser auch aufgrund der essayistischen Form zugespitzt vorgetragenen Interpretation nicht unbedingt folgen, um zu bemerken, daß das Erkenntnisinteresse dieses Sammelbandes auf die hier so bezeichnete ›Verkehrszeit‹ gerichtet ist, auf reversibel gemachte und gedachte Zeiten. Ihre je historische Konstruktion ist nicht nur Ausdruck einer kulturellen Leistung des Menschen, sondern offenbar auch seines anthropologischen Bedürfnisses nach »Wiederholung«, die der Philosoph Bernhard Waldenfels »Rettung aus der Zeit«, also wohl der kaempferschen ›Geschichtszeit‹, nennt, weil das Wiederholen - die Nähe zum ›Ritual‹ ist offenkundig - den »hartnäckige[n] Versuch« darstelle, »dem Wandel, der alles Bestehende und Erworbene bedroht, mit einer Ordnung des Wandels zu be- 40 H ANS U LRICH G UMBRECHT , Rhythmus und Sinn, in: D ERS ., Präsenz (Anm. 15), S. 223- 239, hier 227. 41 W OLFGANG K AEMPFER , Zeit, in: C HRISTOPH W ULF (Hg.), Vom Menschen. Handbuch historische Anthropologie, Weinheim 1997, S. 179-197. 42 W. K AEMPFER , Zeit (Anm. 41), S. 183. 43 W. K AEMPFER , Zeit (Anm. 41), S. 190, 194. 44 J OACHIM R ADKAU , Technik, Tempo und nationale Nervosität. Die Jahrhundertwende als Zäsur im Zeiterleben, in: M. H ELD / K. A. G EISSLER (Hg.), Ökologie der Zeit (Anm. 11), S. 151-168; J OACHIM R ADKAU , Geschichte der Nervosität, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissenschaft 49 (1994), S. 533-544. <?page no="26"?> Z E IT IM R AUM . Z U R R E GIONALITÄT VO N Z E IT PHÄN OMEN EN - EINE E IN FÜH RUNG 25 gegnen. Man hebt etwas heraus oder hervor, das in seiner Selbigkeit beharrt und auf diese Weise dem Wandel entrückt ist.« 45 Wiederholen indes bedeutet nicht nur striktes Repetieren, sondern läßt das - auch zeitliche - Variieren und Modifizieren, das Steigern und sogar das die Ordnung im Hiatus noch bestätigende Entfallen-Lassen zu. Ergebnis sind Rhythmen mit langer Phase - päpstliche Jubeljahre, Reformationsjubiläen oder Millennien - ebenso wie kurz getaktete - Stundengebete, Schichtbetrieb oder Unterrichtsstunden. Teilen Menschen diese Rhythmen, leben sie in ›Gemeinsamen Rhythmen‹ (I.) - womit zugleich die erste Gruppe der Beiträge zu diesem Buch überschrieben sei - und es liegt - in der Begrifflichkeit der Rhythmusanalyse Henri Lefebvres - ›Isorhythmie‹ vor. 46 Von ›Polyrhythmie‹ läßt sich dagegen sprechen, wenn die allen gemeinsame ›Zeit‹ geteilt und in unterschiedliche Rhythmen gegliedert ist, also synchronisierte Verschiedenheit herrscht. Das zweite Kapitel faßt deshalb Aufsätze zusammen, die sich mit ›Geteilter Zeit‹ befassen (II.). Verläuft die Teilung der gemeinsamen Zeit dabei reibungsfrei und harmonisch, waltet ›Eurhythmie‹, andernfalls verweist die unmögliche oder sehr erschwerte praktische Synchronisation der Ordnungen, die ›Arrhythmie‹, auf dahinter stehende divergierende Zeitkonzepte: Die gemeinsame Zeit wird kontrovers und zerfällt - so das dritte Kapitel - in konkurrierende ›Kontroverse Zeiten‹ (III.). Es ist dabei nur eine Frage des Blickwinkels, ob - beispielsweise - die ›Zeit‹ der Nichtseßhaften (G. Ammerer), der Juden (R. Kießling) oder der Arbeiter (G. Klein) aus der Binnenperspektive als die Zeit einer homogenen Gruppe betrachtet wird (Isorhythmie) oder im Hinblick auf die mit den Seßhaften, den Christen oder den Bauern geteilten Zeit (Polyrhythmie) bzw. ob dabei sogar das Konfliktpotential ihrer kontroversen Zeitbegriffe überwiegt (Arrhythmie). Untersucht werden dabei jeweils ›Zeitordnungen‹, die, unterschiedlich dicht gestaltet und in irgendeiner Weise be- und gemessen, ganz wörtlich, mit bestimmten Begriffen beschrieben werden und die sich, in abstrakterer Lesart, jeweils auf einen Begriff, eine Vorstellung, ein Konzept von Zeit zurückführen lassen: Es sind astronomische, kalendarische und horologische Maße, aber auch Zeitregime und -politiken. Unter ›Zeitbegriffe‹ werden daher auch alle - religiösen bzw. konfessionellen und säkularen - Letztbegründungen für diese oder jene Zeitordnung subsumiert oder, allgemeiner, alle jeweils kulturell denkmöglichen und legitimen Deutungs- 45 B ERNHARD W ALDENFELS , Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt/ Main 2009, S. 176. 46 H ENRI L EFEBVRE , Eléments de Rythmanalyse. Introduction à la Connaissance des Rythmes, Paris 1992; englische Übersetzung: D ERS ., Rhythmanalysis. Space, Time and Everyday Life, London 2004. Vgl. die instruktiven Ausführungen im Vortrag von S USAN - NE R AU , Rhythmusanalyse nach Lefebvre am Beispiel eines Messekalenders aus dem 16. Jahrhundert auf der Tagung ›Taktungen. Zeiten. Rhythmen. Räume‹ (Tagungsbericht Anm. 18). <?page no="27"?> D I ETMAR S C HI E R S NE R 26 angebote. Sie bringen - ganz umfassend - ›Recht-Zeitigkeit‹ und natürlich deren inkriminiertes Gegenteil hervor. 47 Die ›Entdeckung‹ der Pünktlichkeit beispielsweise, der Rechtzeitigkeit im engsten Sinne, bedurfte nicht nur eines uhr-zeitlichen Begriffes vom Zeitpunkt, sondern auch einer das Zuspätkommen sanktionierenden kulturellen Norm. 48 ›Zeitgefühle‹ schließlich meint die vor dem Hintergrund der normativen Zeitbegriffe immer auch emotional konnotierten Erfahrungen der Menschen mit Zeitlichkeit, mit der Endlichkeit ihres Lebens hin zum Tod (B. Rajkay) ebenso wie mit der Vergänglichkeit der geschichtlichen Welt hin zur Apokalypse (A. Link). Dazu zählen religiös grundierte Vanitasempfindungen und Endzeitängste, aber auch profane Beschleunigungsgefühle, chronomane Rauschzustände oder die Auserwähltheitssuggestion bestimmter Generationen. Wie nun hängen Raum und Zeit zusammen? Rhythmus und Region, Rhythmen und Regionen sind jeweils Konstrukte, die durch Handeln im weitesten Sinne erst entstehen, kulturelle Schöpfungen, Gliederungen von Ort bzw. geometrischem Raum und Zeit. Das Ordnen der Zeit, ihr ›Rhythmisieren‹ findet immer innerhalb konkreter Räume oder im Hinblick auf konkrete Räume statt, auf die sich das Rhythmisieren als Handeln im Sinne eines spacing time bezieht. Der Umgang mit Zeit - das Messen und Strukturieren, das Entstehen und Vergehen begründender Konzepte und die jeweils damit verknüpften Erfahrungen der Zeit-Genossen - prägt dabei aber auch den Raum im Sinne eines timing space, genauer: Es bringt den anthropologischen Raum allererst hervor. Insofern gilt: Regionen sind rhythmisierte Räume. 47 Vgl. S TEFAN E HRENPREIS , Zeitkonzepte im frühneuzeitlichen Erziehungs- und Schulwesen, in: A. B RENDECKE / R.-P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 171-186; K. H ÄRTER , Zeitordnungen und ›Zeitverbrechen‹ (Anm. 32); E DITH K OLLER , Die Suche nach der richtigen Zeit - Die Auseinandersetzung um die Autorisierung der Gregorianischen Kalenderreform im Alten Reich, in: A. B RENDECKE / R.-P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 233-255; K LAUS S CHREINER , »Abwuerdigung der Feyertage« - Neuordnung der Zeit im Widerstreit zwischen religiöser Heilssorge und wirtschaftlichem Fortschritt, in: A. B RENDECKE / R.-P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 9), S. 257-304. 48 Vgl. W OLFGANG B EHRINGER , Pünktlichkeit, in: Enzyklopädie der Neuzeit 10 (2009), Sp. 555-557. <?page no="28"?> I. Gemeinsame Rhythmen <?page no="30"?> 29 W ERNER R ÖSENER Bäuerliches Zeitverständnis im Rhythmus von Natur, Jahreslauf und Alltag in der Vormoderne 1. Einleitung Vor mehr als hundert Jahren, und zwar im Jahre 1892, stellte Gustav Bilfinger in einer interessanten Studie fest, daß die Technikgeschichte allein nicht in der Lage sei, den Übergang von der mittelalterlichen zur modernen Zeitrechnung zu erklären. 1 Vielmehr sei dabei neben dem technischen Aspekt ein sozialer und kulturgeschichtlicher Gesichtspunkt viel allgemeinerer Art ins Auge zu fassen. Denn der Übergang habe nicht nur von der antiken zu einer modernen Stunde, sondern zugleich von einer kirchlichen zu einer weltlichen Zeiteinteilung stattgefunden. 2 Am Beispiel der oberitalienischen Stadtkommunen und besonders der Stadt Florenz hat Jacques Le Goff 1963 im Anschluß an Bilfinger auf den fundamentalen Wandel der Zeitordnung im Rahmen der Stadtwirtschaft des 14. Jahrhunderts hingewiesen. 3 Nach Auffassung von Le Goff war es vor allem die städtische Gesellschaft des 14. Jahrhunderts in Oberitalien, die im Rahmen ihrer Wirtschaftsformen das Zeitmaß veränderte und es an die neuen Arbeitsbedürfnisse mit regelmäßigen Arbeitszeiten anpaßte. Als Instrument dieser Disziplinierung der Arbeitsverhältnisse diente besonders die Arbeitsglocke, die die Länge der Arbeitszeiten vor allem in der Textilindustrie der Städte lautstark determinierte. 4 Was die Arbeitsglocke oder die Verwendung der Stadtglocke mit ihrem Stundentakt für die Arbeit an Neuem brachte, war offensichtlich eine regelmäßige, lineare Zeit an Stelle einer »Ereignis- 1 G USTAV B ILFINGER , Die mittelalterlichen Horen und die modernen Stunden, Stuttgart 1892. 2 G. B ILFINGER , Die mittelalterlichen Horen (Anm. 1), S. 143. 3 J ACQUES L E G OFF , Le temps du travail dans la »crise« du XIVe siècle, in: D ERS ., Pour un autre Moyen Age, Paris 1970, S. 46-65; deutsch: Die Arbeitszeit in der »Krise« des 14. Jahrhunderts, in: D ERS ., Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.- 15. Jahrhunderts, Frankfurt/ Main 1984, S. 29-42. 4 J. L E G OFF , Die Arbeitszeit (Anm. 3), S. 29. Vgl. auch K AZIMIERZ P IESOWICZ , Lebensrhythmus und Zeitrechnung in der vorindustriellen und in der industriellen Gesellschaft, in: GWU 31 (1980), S. 465-485; F RANZ I RSIGLER , Kaufmannsmentalität im Mittelalter, in: C ORD M ECKSEPER / E LISABETH S CHRAUT (Hg.), Mentalität und Alltag im Spätmittelalter, Göttingen 1985, S. 53-75; E DITH E NNEN , Zeitbewußtsein in der mittelalterlichen Stadt, in: P ETER D ILG (Hg.), Rhythmus und Saisonalität, Sigmaringen 1995, S. 93-100. <?page no="31"?> W ER NER R ÖS ENER 30 zeit, die sich nur episodenhaft und ausnahmeweise« zeigte. Die Arbeitsglocke war nach Le Goff zwar ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine genauere Bemessung der Arbeitszeit, aber noch entscheidender war die Erfindung und Verbreitung der mechanischen Uhr, die eine exakte Einteilung der Tageszeit in 24 Stunden gewährleistete. 5 Das späte 14. und das 15. Jahrhundert brachten dann eine Verbreitung der Uhren in den großen Städtelandschaften, von Norditalien über Frankreich und Flandern nach England und Deutschland. Weite Teile des ländlichen Raumes blieben aber noch lange von den natürlichen Rhythmen der agrarischen Welt und von den landwirtschaftlichen Arbeiten zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang beherrscht, die je nach Jahreszeit und Bodenverhältnissen variierten. 6 Bis zum 19. Jahrhundert, als sich im Zuge der industriellen Revolution allmählich die moderne Industriegesellschaft ausbreitete, blieb Deutschland eine Agrargesellschaft, in der 60-70 Prozent der Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt waren. 7 Seit der ersten Phase der Urbanisierung im Hochmittelalter spielten die Städte zwar eine wichtige Rolle in Handel und Gewerbe, doch die Masse der Bevölkerung lebte weiterhin im ländlichen Raum, der von der Agrarwirtschaft und bäuerlichen Lebensformen geprägt war. Von welchem Zeitgefühl wurden die Bauern während des Mittelalters und der Frühneuzeit bestimmt? Welche Unterschiede bestanden hinsichtlich der Zeitdimension zwischen den Bauern im ländlichen Raum und den Bewohnern der städtischen Zentren? Von welchem Zeitverständnis waren die Bauern, die im Rhythmus von Naturabläufen und Jahreszeiten ihr alltägliches Leben gestalteten, geleitet? Es geht hier also nicht um das Zeitbewußtsein der Stadtbürger, der Kaufleute und Handwerker, sondern um die Frage, wie die Zeit im Denken und Handeln der Bauern, der Hauptakteure im ländlichen Raum, wahrgenommen wurde. Im folgenden sollen zunächst das Zeitempfinden und Epochenbewußtsein der Menschen des Mittelalters im allgemeinen behandelt werden, um so die Andersartigkeit der damaligen Epoche im Unterschied zur Moderne aufzuzeigen. In einem zweiten Schritt wird das Verhältnis der Bauern zum Naturzyklus und zur Umwelt untersucht, bevor drittens die Zeitordnung der Bauern im saisonalen Ablauf von Jahreszeiten und Monatszyklen erläutert wird. In einem vierten Schritt wird die Einbindung des bäuerlichen Lebens in den Zyklus des kirchlichen und weltlichen Festkalenders untersucht, bevor dann auf Veränderungen im bäuerlichen Arbeits- 5 J. L E G OFF , Die Arbeitszeit (Anm. 3), S. 35. 6 Vgl. W ERNER R ÖSENER , Die Bauern und die Zeit. Anmerkungen zum bäuerlichen Zeitverständnis in der vormodernen Gesellschaft, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 52 (2004) Heft 2, S. 8-24. 7 Vgl. W ILHELM A BEL , Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 274-341; W ERNER R ÖSENER , Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, S. 163-183. <?page no="32"?> B ÄUERLICHES Z EITVERSTÄNDNIS 31 rhythmus durch neue Wirtschaftsformen und ihre Auswirkungen auf das bäuerliche Leben hingewiesen wird. In einem abschließenden Teil wird schließlich auf das Eindringen der städtischen Zeitrechnung seit dem Spätmittelalter eingegangen und der Kontrast von städtischem und bäuerlichem Zeitempfinden herausgestellt. 2. Zeitgefühl und Epochenbewußtsein im Mittelalter Das Weltbild der Menschen wurde im Mittelalter und noch weit bis in die Neuzeit hinein vom Christentum und dessen Geschichtsauffassung geprägt. 8 Der Mensch als Ebenbild Gottes wird demnach seit der Vertreibung aus dem Paradies sündig und erst durch Christus erlöst. Die Urquelle des Seins, die Macht Gottes, ist mit Christus aus der Zeitlosigkeit in die Zeit gekommen und erlöst die Menschen gemäß den Aussagen des Evangeliums. Letztlich ist demnach die Weltgeschichte die Verwirklichung der göttlichen Weisheit gegen das diesseitige Wirken der Menschen. Vor allem in den Schriften des Apostels Paulus erscheint das Schicksal der Menschheit als Heilsgeschichte, die den einzelnen Menschen in die Entscheidung zwischen Gut und Böse zwingt. Mit der Wiederkehr Christi und dem Endgericht kommt dann die dritte Geschichtsepoche nach der Zeit des Alten und Neuen Testaments. Diese Dreiteilung der Geschichte wirkte über Hieronymus bis zu Hegel und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Einen großen Einfluß auf das Zeitverständnis des Mittelalters hatte vor allem der Kirchenvater Augustinus (354-430 n. Chr.), der den Ablauf der Geschichte mit der Anschauung von den verschiedenen Zeitaltern erklärte. 9 Er wurde zum geistigen Vollender und Überwinder der Antike und zur theologischen Autorität aller christlichen Kirchen bis ins 17. Jahrhundert. Seine Lebensgeschichte, die ›Confessiones‹, schrieb er als persönliche Bekenntnisschrift, die viele Autobiographien der nachfolgenden Zeit beeinflußte. Von großer Bedeutung war auch seine 24 Bücher umfassende Weltgeschichte ›De civitate Dei‹, in der er den Dualismus der Geschichte der beiden Staaten zu erfassen suchte. Gegen das antike Persönlichkeitsbild stellte er das Bild des Heiligen, gegen den antiken Begriff der Vernunft die göttliche Vorsehung, die das römische Weltreich wegen seiner Sündhaftigkeit gestraft 8 Allgemein zum Weltbild und zum Epochenbewußtsein der Menschen im Mittelalter: J ACQUES L E G OFF , Kultur des europäischen Mittelalters, Zürich 1970, S. 181-213; A ARON J. G URJEWITSCH , Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen, München 1980, S. 28-41; D IETHER K RYWALSKI , Die Welt des Mittelalters, Münster 1985, S. 88-93; A RNOLD E SCH , Zeitalter und Menschenalter, München 1994, S. 9-38; R OBERT F OSSIER , Das Leben im Mittelalter, München 2007, S. 13-23. 9 Vgl. H. J. O ESTERLE , [Art.] Augustinus, in: Lexikon des Mittelalters 1, München 1980, Sp. 1223-1227. <?page no="33"?> W ER NER R ÖS ENER 32 habe und die den gläubigen Christen zum ewigen Heil führen werde. 10 Gegen die antike Lehre vom ewigen Kreislauf entwarf Augustinus eine Entwicklungsgeschichte der Welt in sechs Geschichtsepochen, die den sechs Tagen der Erschaffung der Welt durch Gott entsprechen. Für das Mittelalter wurde seine Lehre maßgeblich, daß durch den Kreuzestod Christi das Zeitalter der Kirche begonnen habe und das Zeitalter der Erlösung vorbereitet werde. Damit war der Gegensatz von Civitas Dei (Gottesstaat) und Civitas Mundi (Weltstaat) theologisch und geschichtsphilosophisch begründet. 11 Beide Staatsformen erscheinen in der Welt ebenso vermischt wie die göttliche und menschliche Natur Christi. Erst am Ende der Zeit wird nach Auffassung von Augustinus mit der Wiederkunft Christi eine klare Scheidung beider Staatselemente erfolgen; im Wandel der Zeit ist die Kirche das bleibende Element und damit Garant für das ewige Heil der Menschen. Von Augustinus war Otto von Freising stark beeinflußt, der in seiner ›Weltchronik‹ im 12. Jahrhundert die Lehre von den beiden Staaten und der Abfolge der Zeitalter übernahm. 12 3. Naturzyklus und bäuerliche Zeitordnung Von welchen Charakteristika und Besonderheiten war in der vormodernen Gesellschaft das Zeitgefühl der Bauern bestimmt? Die ländlich-bäuerliche Welt war lange Zeit besonders eng mit dem Naturzyklus verbunden, der das bäuerliche Leben intensiv beeinflußte. Zeitgefühl und Arbeit der Bauern orientierten sich an der Natur, die mit ihren jahreszeitlichen Zyklen periodisch wiederkehrende Tätigkeiten wie Einsaat und Ernte vorschrieb. 13 Dem Rhythmus der Natur verhaftet, floß die Zeit der Bauern nicht gleichförmig dahin, sondern kannte große Belastungsunterschiede, etwa wenn durch Dürre oder Regenfälle Arbeitsvorgänge sich verzögert hatten und die Zeitressourcen knapper wurden. Zu den Launen von Natur und Witterung traten in Notzeiten der Abgaben- und Leistungsdruck der Grund- und Gerichtsherren. Ein nachlässiger Umgang mit der Zeit war unter solchen Umständen ausgeschlossen, so daß die Bauern auf eine sinnvolle Nutzung ihrer Arbeitszeit bedacht sein mußten. Die in der vormodernen Landwirtschaft zyklisch auftretenden 10 Vgl. J OHANNES H IRSCHBERGER , Geschichte der Philosophie 1, Freiburg 1976, S. 345- 374. 11 J. H IRSCHBERGER , Geschichte der Philosophie 1 (Anm. 10), S. 373f. 12 W ALTER L AMMERS (Hg.), Otto Bischof von Freising. Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten, Darmstadt 1974. 13 Vgl. W ERNER R ÖSENER , Bauern im Mittelalter, München 1985, S. 133f.; W. A BEL , Landwirtschaft (Anm. 7), S. 88-96; R ICHARD VAN D ÜLMEN , Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 2: Dorf und Stadt, 16.-18. Jahrhundert, München 1992, S. 30-44. <?page no="34"?> B ÄUERLICHES Z EITVERSTÄNDNIS 33 Getreideausfälle und Mißernten führten zudem immer wieder zu Versorgungskrisen und Hungerkatastrophen, die heftig auf das bäuerliche Leben einwirkten. 14 Bäuerliche Selbstzeugnisse, die während des 17. und 18. Jahrhunderts immer häufiger in Gestalt von Hofchroniken, Anschreibeheften und Tagebüchern auftauchen, verzeichnen neben den Naturereignissen und Witterungsabläufen bereits die Erfahrungen im Umgang mit der eigenen Arbeitszeit. 15 Die aufgabenbezogene Zeiteinteilung forderte von den Bauern ein sorgfältig geplantes Zeitmaß, das Ruhepausen nur im Kontext der Naturereignisse und der Witterungsverläufe erlaubte. Die städtisch-bürgerliche Zeitordnung, die sich auf eine klar gegliederte Tageseinteilung nach Stunden stützte, berücksichtigte zu wenig die Perioden unterschiedlicher Arbeitsintensität im Agrarbereich und das Bedürfnis der Bauern nach Mußezeiten und Warteperioden. Die bürgerlichen Klagen über die »Zeitvergeudung« und »Untätigkeit« der Bauern spiegelten daher ein Zeitempfinden, das den wirtschaftlichen Vorgängen im ländlichen Raum wenig angemessen war und die starke Verflechtung der Bauern mit den Naturvorgängen nicht beachtete. 16 Die bäuerliche Zeitordnung entsprach dem Rhythmus der Natur, der von den sich zyklisch wiederholenden Phasen in der Pflanzenvegetation und im Leben der Haustiere gekennzeichnet war. Das Erblühen bestimmter Pflanzen, das Abfallen von Früchten und Blättern sowie die Fortpflanzung und Ernährung der Tiere schufen einen natürlichen Kalender, der mit dem Wirtschaftsleben und den Gewohnheiten der Agrargesellschaft jahrhundertelang übereinstimmte. Die bäuerliche Zeitrechnung konnte daher nur ungenau und ungleichmäßig sein, da die sich wiederholenden Perioden und Momente weder gleich waren noch sich in gleiche Zeitabschnitte einteilen ließen. Auch nach Übernahme des Julianischen Kalenders im 14 Vgl. W ILHELM A BEL , Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem Mittelalter, 2. Aufl. Hamburg 1966, S. 22-26; D ERS ., Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa, Hamburg 1974. 15 Zu den bäuerlichen Selbstzeugnissen: J AN P ETERS / H ARTMUT H ARNISCH / L IESELOTT E NDERS , Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19. Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholland (Veröff. des Staatsarchivs Potsdam 23), Weimar 1989; K LAUS -J. L ORENZEN -S CHMIDT / B JÖRN P OULSEN (Hg.), Bäuerliche Anschreibebücher als Quellen der Wirtschaftsgeschichte, Neumünster 1992; K LAUS -J. L ORENZEN -S CHMIDT , Schriftliche Elemente in der dörflichen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit: das Beispiel Schleswig-Holstein, in: W ERNER R ÖSENER (Hg.), Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne (Veröff. des Max-Planck- Instituts für Geschichte 156), Göttingen 2000, S. 169-187. 16 Vgl. K EITH T HOMAS , Work and Leisure in Pre-industrial Society, in: Past and Present 29 (1964), S. 50-62; J AN P ETERS , »… dahingeflossen im Meer der Zeiten«. Über frühmodernes Zeitverständnis der Bauern, in: R UDOLF V IERHAUS u. a. (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit eines Übergangsprozesses (Veröff. des Max- Planck-Instituts für Geschichte 104), Göttingen 1992, S. 180-205. <?page no="35"?> W ER NER R ÖS ENER 34 Frühmittelalter blieb die bäuerliche Zeitordnung in der Agrargesellschaft in ihrem Kern erhalten, so daß zwischen der linearen Zählung des Kalenders und dem beweglichen Rhythmus der natürlichen Zeitabläufe weiterhin eine erhebliche Distanz bestand. 17 Im Alltagsleben der Bauern spielten die Schwankungen der natürlichen Zyklen und besonders der Wechsel von Winter und Sommer eine viel größere Rolle als die abstrakte Diktion des Kalenders. Wechselnde Saat- und Erntezeiten waren für die bäuerliche Bevölkerung bedeutsamer als exakt festgelegte Kalenderdaten, zumal der astronomische Kalender mit dem natürlichen Jahresablauf nicht übereinstimmt. Die längsten Tage im Jahr sind nämlich keineswegs die wärmsten und die kürzesten Tage nicht die kältesten. Das Sonnenjahr ist außerdem abhängig von der geographischen Lage, so daß man in der gemäßigten Zone Mitteleuropas vier Jahreszeiten, in den Tropen aber nur zwei unterscheidet, nämlich die Trockenperiode und die Regenzeit. 4. Bäuerlicher Arbeitsrhythmus im Jahreslauf Welche Zeitabläufe prägten nun das Arbeitsleben der Bauern, das eng mit dem allgemeinen Naturzyklus verbunden war? Der Ackerbau vollzog sich in Mitteleuropa seit dem Hochmittelalter in erster Linie im Betriebssystem der Dreifelderwirtschaft, 18 wobei die Ackerfelder der Dörfer im jährlichen Wechsel von Wintergetreide, Sommergetreide und Brache bebaut wurden. Im Frühmittelalter wurden die Äcker der Siedlungen noch überwiegend in der extensiven Form der Feldgraswirtschaft mit längeren Ruhezeiten zwischen den Getreidebaujahren bestellt und das Weideland nur für begrenzte Zeit umgebrochen und ackerbaulich genutzt. Die Dreifelderwirtschaft, die sich seit dem Hochmittelalter allmählich durchsetzte und als Betriebssystem bis zu den Reformen des 19. Jahrhunderts andauerte, besaß gegenüber den älteren Formen der Bodenbewirtschaftung den Vorteil, daß sie einerseits zu einer beträchtlichen Steigerung der Ernteerträge führte und andererseits die saisonalen Arbeiten des Pflügens, Säens und Erntens gleichmäßiger über das ganze Jahr verteilte und so die Arbeitskraft der Bauern insgesamt stärkte: Die Erntearbeiten bei der Winter- und Sommerfrucht folgten in den Monaten Juli und August jetzt nacheinander und entzerrten die bäuerliche Arbeitsbelastung. Im Frühjahr war es notwendig, das Sommerfeld rechtzeitig zu bestellen, und im Herbst mußte vor allem das Winterfeld für die Einsaat vorbereitet werden. Das Brachfeld aber konnte im Juni oder Juli zu einer Zeit gepflügt werden, in der auf 17 Vgl. A. J. G URJEWITSCH , Weltbild (Anm. 8), S. 98-103; W. R ÖSENER , Bauern im Mittelalter (Anm. 13), S. 133-153. 18 W ERNER R ÖSENER , [Art.] Dreifelderwirtschaft, in: Lexikon des Mittelalters 3, München 1986, Sp. 1377-1381; W. A BEL , Landwirtschaft (Anm. 7), S. 38. <?page no="36"?> B ÄUERLICHES Z EITVERSTÄNDNIS 35 den beiden anderen Feldern keine Feldarbeiten anstanden. Neben der Dreifelderwirtschaft gab es in den unterschiedlichen Agrarzonen Mitteleuropas selbstverständlich auch andere Anbausysteme wie die Zweifelderwirtschaft oder die Einfelderwirtschaft im nordwestdeutschen Raum in Gestalt des kontinuierlichen Roggenanbaus auf den Eschflächen der Dörfer und Höfe. 19 Die bäuerliche Arbeit verteilte sich insgesamt relativ ungleichmäßig über das ganze Jahr und wechselte mit ihren verschiedenen Schwerpunkten von Monat zu Monat. Sicherlich gehörte in den meisten Gebieten die Ernteperiode zu den Spitzenzeiten der bäuerlichen Arbeitsbelastung, wenn alle verfügbaren Arbeitskräfte des Dorfes auf den Feldern benötigt wurden, um bei der Heu- und Getreideernte zu helfen. Die Sommermonate waren bei den Bauern zweifelsohne die arbeitsintensivste Zeit, während man im Winter deutlich weniger Aufgaben zu erfüllen hatte. 20 Der Rhythmus des bäuerlichen Lebens beruhte demnach vor allem auf dem Gegensatz von sommerlicher Aktivität und winterlicher Arbeitspause auf den Feldern. Man muß in diesem Zusammenhang aber bedenken, daß die Arbeit der Bauern auch viele Tätigkeiten umfaßte, die ohne saisonale Höhepunkte in den zeitlichen Rahmen eines Jahres eingefügt waren. Sie bildeten ein buntes Ensemble bäuerlicher Aktivität und erstreckten sich über das ganze Jahr, wie die Monatsbilder der Kalender verdeutlichen. 21 Dazu gehörten neben den Feldarbeiten die vielfältigen Tätigkeiten in Haus und Hof sowie die regelmäßige Versorgung der Haustiere. Bis auf wenige Wochen mußten das ganze Jahr hindurch die Kühe gemolken und die Milch verarbeitet werden. In den Ställen wurde regelmäßig gestreut und der Mist in bestimmten Zeitabständen auf die Felder gebracht. Die Haustiere mußten getränkt und mit Futter versorgt werden, und dazu kamen die immer wiederkehrenden Hausarbeiten und die Zubereitung des Essens, die vor allem zu den Pflichten der Bäuerin gehörte. All dies bescherte der bäuerlichen Bevölkerung einen Grundbestand an kontinuierlicher Tätigkeit. Trotz dieser häuslichen Arbeiten markierten Beginn und Ende der Vegetationsperiode und der allgemeine Naturzyklus den Bauern die wichtigsten Einschnitte im Jahresverlauf, in denen die Arbeit keinen Aufschub duldete, um die Ernährung 19 W. A BEL , Landwirtschaft (Anm. 7), S. 85-92. 20 Vgl. R AINER B ECK , Unterfinning. Ländliche Welt vor Ausbruch der Moderne, München 1993, S. 211f.; W ERNER R ÖSENER , Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992, S. 20. 21 Vgl. S IEGFRIED E PPERLEIN , Bäuerliches Leben im Mittelalter. Schriftquellen und Bildzeugnisse, Darmstadt 2003, S. 4; W ALTER A CHILLES , Die Monatsbildzyklen zweier Salzburger Handschriften des frühen 9. Jahrhunderts in agrarhistorischer Sicht, in: K ARL H. K AUFHOLD / F RIEDRICH R IEMANN (Hg.), Theorie und Empirie in Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsgeschichte. FS für Wilhelm Abel zum 80. Geburtstag (Schriftenreihe für ländliche Sozialfragen 92 / Göttinger Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 11), Göttingen 1984, S. 85-107. <?page no="37"?> W ER NER R ÖS ENER 36 sicherzustellen. Entsprechend den Vegetationsphasen ergaben sich passende Zeitmomente für Düngung, Einsaat und Pflege der Äcker und auch die Zeittermine für die Erntearbeiten, ob auf Wiesen und Feldern, in den Gärten oder im Wald, von wo Laub geholt wurde. Diese saisonalen Bodenbestellungs- und Erntearbeiten besaßen insgesamt eine vorrangige Stellung, da der Ertrag der Ernten für das ganze Jahr die entscheidende Existenzbasis darstellte und auch in Bezug auf die Viehbestände den Winter hindurch reichen mußte, bevor im Frühjahr die Wiesen von neuem zu grünen begannen und die neue Weidesaison eröffnet wurde. Der zusätzliche Arbeitsanfall, den das Sommerhalbjahr mit sich brachte, konnte aber teilweise durch die Verlegung einiger Arbeiten auf das Winterhalbjahr ausgeglichen werden. Die bäuerliche Bevölkerung des ländlichen Raumes hatte anders als die Stadtbevölkerung mit ihrer Handels- und Gewerbetätigkeit ohne Zweifel ein enges Verhältnis zum Boden und zur natürlichen Umwelt. Nur bei günstiger Witterung konnten die Bauern die Ernte sichern und mit Getreideverkäufen auch Gewinne erzielen. Starke Regenfälle, Hagelschauer und lange Winterfröste verminderten aber häufig die Höhe der Ernteerträge, so daß die Existenz bedroht war. Die Höhe der Ernteerträge war außerdem abhängig von der Güte des Bodens, vom Verlauf der Witterung und von der Intensität der Bearbeitung. Die Düngung war in der vormodernen Landwirtschaft in der Regel unzulänglich, das Saatgut nur partiell tauglich und hohe Verluste traten bei der Ernte auf, so daß die Produktivität gering blieb. In günstigen Sommerperioden und in fruchtbaren Agrarzonen gab es in guten Jahren ergiebige Erträge, aber in der Regel ernteten die Bauern nur das Vierbis Sechsfache der Aussaat, was sich vom Hochmittelalter bis zum 18. Jahrhundert nicht wesentlich änderte. 22 Nur gute Ernteerträge sicherten die Existenz der Bauernfamilien, die zudem durch die Abgaben an die Grundherren stark belastet waren. Mißernten, die in zyklischer Form regelmäßig auftraten, führten jedoch immer wieder zu schweren Hungerkrisen und bedrohten vor allem die ländlichen Unterschichten. 23 5. Der Festkalender der Bauern im ländlichen Jahreslauf Festtage und Feierlichkeiten bildeten in der vormodernen Gesellschaft einen integralen Bestandteil des bäuerlichen Lebens, das durch einen regelmäßigen Wechsel von Phasen intensiver Arbeit und Perioden der Entspannung charakterisiert war. Man muß bei den bäuerlichen Festen zwischen verschiedenen Formen und Bezugspunkten unterscheiden: Einerseits waren sie eng mit dem ländlich-agrarischen Jahresablauf verbunden, andererseits standen sie im Kontext des bäuerlichen 22 Vgl. F RIEDRICH -W ILHELM H ENNING , Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, 800 bis 1750, Paderborn 1979, S. 27f. 23 Vgl. W. A BEL , Agrarkrisen (Anm. 14), S. 215-222. <?page no="38"?> B ÄUERLICHES Z EITVERSTÄNDNIS 37 Lebenszyklus im allgemeinen. Viele Dorffeste waren außerdem stark kirchlich geprägt, während andere einen vorwiegend weltlichen Charakter hatten. Die meisten Dorffeste und bäuerlichen Festtage waren eng mit dem Rhythmus der Jahreszeiten und dem Verlauf saisonaler Arbeitsvorgänge verbunden. 24 Zahl und Gewicht bäuerlicher Feste im Jahreskalender wurden demnach stark von den Naturzyklen bestimmt, die auch das übrige Leben der Bauern beeinflußten. Wendepunkte im jahreszeitlichen Ablauf gaben oft auch Anlaß zu Feierlichkeiten, da sie bedeutsame Zeitabschnitte der bäuerlichen Arbeitswelt markierten. Solche jahreszeitlichen Wendepunkte wie den Winter- und Sommeranfang, den Frühjahrsbeginn mit dem Einsetzen der Feldbestellung und den Abschluß der Ernte im Herbst griff auch die Kirche auf, verband sie mit kirchlichen Festen und gab solchen Tagen durch Gottesdienste und Sakralhandlungen einen religiösen Akzent. 25 Im Sinne dieser kirchlichen Beeinflussung des bäuerlichen Festtagskalenders sollte den Bauern und der ländlichen Bevölkerung bewußt gemacht werden, in welchem Maße Jahresablauf und landwirtschaftliche Arbeit vom göttlichen Segen abhängig waren. Die bäuerlichen Festtage der vormodernen Agrargesellschaft lassen demnach einen engen Zusammenhang von weltlichen und kirchlichen Elementen erkennen. Zum bäuerlichen Festkalender eines Jahres gehörten in vielen Landschaften vor allem volkstümliche Feste, die bei Frühlingsanfang und besonders im Monat Mai inszeniert wurden. Der Frühlingsbeginn wurde in vielen Dörfern mit Umzügen und Prozessionen gefeiert, die von den Bauern und der Dorfbevölkerung mit großer Anteilnahme veranstaltet wurden. 26 Die Dorfbewohner zogen häufig in die Flur hinaus und organisierten dort Aufführungen und Spiele, die das Winterende und den Einzug des Frühlings zum Thema hatten. Mit den Frühlingsfesten waren oft Maifeiern verbunden, die diesen Festtagen einen fröhlichen und ausgelassenen Charakter verliehen. 27 Auffällige Kennzeichen solcher Maifeiern waren bereits seit dem Hochmittelalter Maisträucher und Maibäume, die von der Dorfjugend aus den frisch ergrünten Wäldern in die Dörfer und Siedlungen geholt wurden. Neben 24 Zum Festkalender der Bauern: W ERNER R ÖSENER , Ländlich-bäuerliche Feste im Hoch- und Spätmittelalter, in: D ETLEF A LTENBURG u. a. (Hg.), Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposium des Mediävistenverbandes, Sigmaringen 1991, S. 153-163; R EIN - HARD S PRENGER , Bäuerliches Feiern im spätmittelalterlichen Deutschland, in: Mediaevistik 2 (1989), S. 215-224; A LFRED H AGELSTANGE , Süddeutsches Bauernleben im Mittelalter, Leipzig 1898, S. 221. 25 Vgl. H ANS -W ERNER G OETZ , Kirchenfest und weltliches Alltagsleben im früheren Mittelalter, in: Mediaevistik 2 (1989), S. 128-171; W ALTER K OCH , Kirchenjahr und Endlichkeit, in: P. D ILG u. a. (Hg.), Rhythmus und Saisonalität (Anm. 4), S. 83-92, hier 83. 26 Vgl. W. R ÖSENER , Ländlich-bäuerliche Feste (Anm. 24), S. 155f.; L EANDER P ETZOLDT , Volkstümliche Feste, München 1983, S. 86. 27 Dazu H ANS M OSER , Maibaum und Maienbrauch, in: D ERS ., Volksbräuche im geschichtlichen Wandel, München 1985, S. 199-268. <?page no="39"?> W ER NER R ÖS ENER 38 einem großen Maibaum, der in der Regel mitten im Dorf aufgestellt war, besorgten die Bauernburschen häufig auch Maisträucher und Blumen, die sie den Mädchen des Dorfes übergaben. Schriftliche Nachrichten zum bäuerlichen Maibrauchtum und zu den Frühlingsfesten erhält man bereits aus dem 13. Jahrhundert. Aus dem Spätmittelalter sind dann zahlreiche bildliche Darstellungen zu Maifeiern und Maibäumen überliefert; sie finden sich vor allem in den Monatsbildern, die den Kalendern und Stundenbüchern eingefügt sind und durch ihre Farbenpracht und Detailfreude beeindrucken. 28 Außer den Frühlingsfesten waren vor allem die Erntefeste des Herbstes herausragende Ereignisse im bäuerlich-ländlichen Festkalender. 29 Mit dem Vollzug der Ernte war alljährlich im Herbst ein Höhepunkt im bäuerlichen Jahresablauf gegeben. Mit einem erfolgreichen Einbringen des Getreides und anderer Feldfrüchte war die Basis der bäuerlichen Ernährung weitgehend gesichert und eine Grundlage der Existenzerhaltung im anstehenden Winter gelegt. Die Bauern konnten sich jetzt eine verdiente Ruhepause gönnen, ehe sie sich mit den Aufgaben der Wintersaison beschäftigten. Bereits in vorchristlicher Zeit wurde offenbar der erfolgreiche Abschluß der Ernte feierlich begangen und den Göttern Dank für die eingebrachten Feldfrüchte abgestattet. Die Kirche übernahm nach der Christianisierung verschiedene Erntebräuche und baute sie in ihre liturgischen Festformen ein. Getreidegarben und andere Feldfrüchte wurden beim Erntedankfest in die Kirche gebracht und nahe beim Altar zusammen mit Brot und Wein dem Priester überreicht. Zeitgenössische Darstellungen und Texte mit Erntebildern bezeugen, daß die Erntedankfeiern mit Eß- und Trinkgelagen sowie mit ausgelassenen Dorftänzen verbunden waren. Im Jahreszyklus der Dorffeste spielte die Kirmes, das Kirchweihfest, eine wichtige Rolle. 30 Die Kirmes war ursprünglich das jährliche Fest zur Erinnerung an die Einweihung der Dorfkirche oder eine Feier für den Lokalpatron dieser Kirche. Das Kirchweihfest besaß dabei schon früh neben dem kirchlichen Bestandteil der Zelebration auch einen weltlichen Teil, wie sich dies bei vielen bäuerlich-ländlichen Festen beobachten läßt. Der kirchliche Teil des Kirchweihfestes wurde feierlich im Kircheninnern begangen und häufig mit einer Prozession verknüpft. Die sich daran anschließenden weltlichen Festformen gewannen in der Wertung des Volkes zunehmend an Bedeutung, so daß die Kirmes allmählich zum wichtigsten Dorffest 28 Vgl. W ILHELM H ANSEN , Kalenderminiaturen der Stundenbücher im Jahreslauf, München 1984, S. 76. 29 Vgl. H EINO P FANNENSCHMIDT , Germanische Erntefeste im heidnischen und christlichen Cultus, Hannover 1878; R. S PRENGER , Bäuerliches Feiern (Anm. 24), S. 216. 30 Vgl. D IONYS S TIEFENHOFER , Die Geschichte der Kirchweihe vom 1.-7. Jahrhundert, 1909; N IKOLAUS K YLL , Zur Geschichte der Kirmes und ihres Brauchtums im Trierer Lande und in Luxemburg, in: Rheinisches Jahrbuch für Volkskunde 20 (1969), S. 93-132; A. H AGELSTANGE , Bauernleben (Anm. 24), S. 236f. <?page no="40"?> B ÄUERLICHES Z EITVERSTÄNDNIS 39 im Jahreszyklus wurde. Das Kirchweihfest erhielt auch dadurch eine zusätzliche Bedeutung, daß mit ihm in der Regel ein Jahrmarkt verbunden war, der durch sein Waren- und Unterhaltungsangebot den Festcharakter vermehrte. Zu den Kirmesfeiern gehörten immer mehr außer Verkaufsständen auch Darbietungen mit Musik und Tanz. Wettkämpfe und Pferderennen sowie Tanzspiele erhöhten zusammen mit Wein und Bier die Stimmung auf den Kirmesfesten. Die Mehrzahl der Kirchweihfeste fand im Frühjahr oder im Herbst statt, und zwar an Zeitterminen, an denen den Bauern im jährlichen Arbeitszyklus mehr Zeit zur Verfügung stand. Aus der Kirmes entwickelten sich allmählich ländliche Feste, die einen immer größeren Umfang annahmen und für die Bauern Anlässe zu mehr Lebensfreude und Vergnügen wurden. Die Landbevölkerung betrachtete diese Termine oft als Höhepunkte im Jahreszyklus, wofür man seine Ersparnisse aufwendete und ausgiebige Eß- und Trinkgelage veranstaltete, die das Mißfallen der Obrigkeit erregten und einschränkende Verordnungen zur Folge hatten. 31 Die bäuerliche Fest- und Alltagskultur war im allgemeinen viel stärker als im städtischen Bereich dem natürlichen Rhythmus des ländlich-agrarischen Lebens angeglichen, der auch das Kirchenjahr und das religiöse Leben beeinflußte. Die Zeitordnung der Pfarrer und das Kirchenjahr nahmen dabei Rücksicht auf den Naturzyklus und die natürliche Abfolge der ländlichen Arbeiten. 32 Die Häufung der Feiertage von Advent bis Pfingsten mit den drei Hochfesten Weihnachten, Ostern und Pfingsten entsprach dem Arbeitsrhythmus der Bauern, die während dieser Zeit weniger belastet waren als im Sommer und Herbst. Die Hochfeste der Kirche wurden durch zahlreiche Heiligenfeste ergänzt, die den Bauern viel vertrauter waren als die abstrakten Daten des weltlichen Kalenders. Die Feste der großen Heiligen und die Gedenktage der zahlreichen Ortspatrone prägten daher in der vormodernen Agrargesellschaft den Jahreskalender der bäuerlichen Bevölkerung in beträchtlichem Maße. 6. Veränderungen in der bäuerlichen Zeitordnung während der Frühneuzeit Welche Wandlungen erfuhr der bäuerliche Zeit- und Arbeitsrhythmus während der frühneuzeitlichen Epoche? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick auf die allgemeinen Veränderungen notwendig, die sich während der Frühneuzeit vollzogen. Vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts erlebte Mitteleuropa einige 31 W. R ÖSENER , Ländlich-bäuerliche Feste (Anm. 24), S. 161. 32 Zum kirchlichen Festkalender vgl. H.-W. G OETZ , Kirchenfest (Anm. 25), S. 123-171; K ARL -H EINRICH B IERITZ , Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart, München 1987. <?page no="41"?> W ER NER R ÖS ENER 40 tiefgreifende Wandlungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Herrschaft, die sich auch auf die Landwirtschaft und die ländliche Gesellschaft auswirkten. 33 Diese Umwälzungen zeigten sich deutlich in verschiedenen Lebensbereichen und Handlungsräumen. Als im 16. Jahrhundert nach Überwindung der spätmittelalterlichen Krisenphase die Bevölkerung Deutschlands wieder kräftig anstieg, wirkte sich dies vor allem auf die Siedlungsverhältnisse und die Agrarwirtschaft aus. Die Bevölkerungszunahme spiegelte sich neben dem Wachstum der Dörfer und Städte besonders im Landesausbau und in der Neulandgewinnung. 34 Man begann wieder zu roden und zu kultivieren, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zur Versorgung der städtischen Zentren wurde auch durch eine Verbesserung und Intensivierung der Produktionsformen erreicht, die aber einen größeren Arbeitsaufwand der Bauern voraussetzte. An erster Stelle ist hier die im 18. Jahrhundert sich ausbreitende Praxis zu nennen, Teile des Brachfeldes zu bepflanzen und so zu einer verbesserten Dreifelderwirtschaft überzugehen. Als Hauptpflanze bot sich zunächst der Klee an, da durch den Kleeanbau die Viehhaltung gesteigert und über den dadurch vermehrten Düngeranfall auch der Getreideanbau intensiviert werden konnte. Neben dem Klee bewährten sich andere Pflanzen wie Kohl, Runkelrüben, Felderbsen und Linsen. 35 Durch den verstärkten Anbau von Futterrüben, Kartoffeln und Gartengemüse sowie durch die Zunahme der Stallfütterung der Kühe veränderte sich die Bauernwirtschaft während des 18. und 19. Jahrhunderts beträchtlich. Die von dieser Intensivierung der Landwirtschaft betroffenen Bauernfamilien waren zu größerem Arbeitseinsatz gezwungen, so daß sich auch die bäuerliche Zeitordnung veränderte. Der bisher vorherrschende Getreideanbau erforderte zwar große Anstrengungen beim Pflügen und beim Einfahren der Ernte, doch erlaubte er auch lange Ruhezeiten. Anders verhielten sich die Arbeitsverhältnisse beim Pflanzen von Futterrüben. Der Anbau von Rüben erforderte nämlich eine andere Arbeitsorganisation, da nach dem Setzen der Pflanzen mühsame Anstrengungen notwendig waren, um eine erfolgreiche Ernte zu garantieren. Durch diese Neuerung wurde der bäuerliche Arbeitsrhythmus grundlegend verändert, da der bebaute Rübenacker ein höheres Maß an Arbeit verlangte und die Struktur der Bauernbetriebe sich auf diese Weise wandelte. Wenn einzelne Bauernhöfe zum Anbau von Futterrüben und zu anderen Sonderkulturen übergingen, mußten die bäuerlichen Familien weit mehr 33 Vgl. W. A BEL , Agrarkrisen (Anm. 14), S. 97-181; P ETER K RIEDTE , Spätfeudalismus und Handelskapital. Grundlinien der europäischen Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1980. 34 Vgl. F.-W. H ENNING , Landwirtschaft (Anm. 22), S. 183-202; W. A BEL , Agrarkrisen (Anm. 14), S. 97-113. 35 Vgl. W. A BEL , Landwirtschaft (Anm. 7), S. 125-128; G ERTRUD S CHRÖDER -L EMBKE , Die Entwicklung des Raps- und Rübenanbaus in der deutschen Landwirtschaft, in: D IES ., Studien zur Agrargeschichte, Stuttgart 1978, S. 183-198. <?page no="42"?> B ÄUERLICHES Z EITVERSTÄNDNIS 41 Arbeit auf die entsprechenden Ackerstücke verwenden als früher und ihren Arbeitseinsatz gleichmäßiger über das ganze Jahr verteilen. Die Auswirkungen dieser landwirtschaftlichen Innovationen auf die bäuerliche Bevölkerung sind klar erkennbar. Studien zu württembergischen Dörfern ergaben, daß die Spezialisierung der Agrarproduktion während des 18. und 19. Jahrhunderts zu einem neuen Zeitgefühl der Bauern und zu neuen Formen der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau führte. 36 In Dörfern mit intensivem Feld- und Gartenbau und guten Verkehrsverbindungen zu Marktstädten veränderte sich vor allem die Arbeitssituation der Bäuerinnen, da sie ihren Arbeitseinsatz bedeutend vergrößern mußten. Der Anbau von neuen Pflanzen wie Futterrüben und Gemüse verlangte eine Intensivierung der Arbeitsleistung, die besonders die Frauen betraf. Die Pflege der neuen Pflanzen erforderte die Ausweitung der Arbeitsstunden und außerdem eine weit größere Sorgfalt. Den Hauptteil dieser vermehrten Anstrengungen übernahmen in der Regel die Frauen, während die Männer weiterhin vor allem mit dem Anbau von Getreide beschäftigt blieben. Frauen, die damals über ihre Arbeitslage befragt wurden, kennzeichneten ihre Situation besonders mit Ausdrücken von Eile und Hetze: Ihr Leben sei von Eile beherrscht, so daß ihnen zu wenig Zeit für ihre Familie bleibe. 37 Sie bedauerten vor allem, daß sie sich infolge ihrer Zeitknappheit zu wenig um ihre Kinder kümmern konnten und ihre häuslichen Arbeiten vernachlässigten. Die vermehrten Konflikte zwischen Mann und Frau und Auseinandersetzungen in den Familien waren teilweise Folgen dieser Wandlungen im Zeit- und Arbeitsrhythmus. Im politischen Bereich kam es während des 17. und 18. Jahrhunderts zu einer Verstärkung der Territorialgewalt und zu einer Verdichtung der Herrschaftsstrukturen, die auch erkennbare Auswirkungen auf die ländliche Gesellschaft und die bäuerliche Zeitordnung hatten. Im Rahmen des Ausbaus der Gutsherrschaft im östlichen Deutschland 38 verdichteten sich auch die Herrschaftsbeziehungen zwischen Adel und Bauern, wodurch das ältere Zeitgefühl der traditionellen Agrargesellschaft verändert wurde. Verwalter und Amtsleute der Adelsherrschaften suchten ihre neuen Vorstellungen von Pünktlichkeit gegenüber den abhängigen Bauern konsequent durchzusetzen. Der Typ des etwas nervösen und hektischen Gutsverwalters, der die Bauern an eine exakte Stundeneinteilung im Tagesverlauf gewöhnen wollte, bildete sich im frühmodernen Ostdeutschland aus, wie Jan Peters bei 36 D AVID W. S ABEAN , Verwandtschaft und Familie in einem württembergischen Dorf 1500 bis 1870, in: W ERNER C ONZE (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 231-246; M ARIA B IDLINGMAIER , Die Bäuerin in zwei Gemeinden Württembergs, Stuttgart 1918. 37 D AVID W. S ABEAN , Intensivierung der Arbeit und Alltagserfahrung auf dem Lande. Ein Beispiel aus Württemberg, in: Sozialwissenschaftliche Informationen 6 (1977), S. 148-152, hier 149. 38 Vgl. F.-W. H ENNING , Landwirtschaft (Anm. 22), S. 202-210. <?page no="43"?> W ER NER R ÖS ENER 42 seinen Untersuchungen zu den ostdeutschen Sozialverhältnissen im ländlichen Raum beobachtete. 39 Die im 17. und 18. Jahrhundert entstehende neue Welt des eiligen Stadtbürgers und des kontrollierenden absolutistischen Staates erfaßte auch den Adel, der den neuen Anspruch an Disziplinierung, Selbstkontrolle und Nützlichkeit auch an die abhängigen Bauern weitergeben wollte. Eine neue Mentalität drang in die traditionelle Agrargesellschaft ein und stellte das alte Zeitempfinden der Bauern in Frage. Die bäuerlichen Selbstzeugnisse und Schreibebücher, die in dieser Epoche vermehrt entstehen, bezeugen das neue Zeitverständnis, das das alte bäuerliche Zeitempfinden zurückdrängte. Diese Schreibebücher und Chroniken bäuerlicher Autoren sind zumeist nach Jahren gegliedert und halten vergleichend die wechselnden Abhängigkeiten von Natur und Markt fest: Unterschiede in Beginn, Dauer und Ertrag der anfallenden Arbeiten, schwankende Preise und Gesindelöhne. 40 Wichtige konkrete Fixpunkte waren vor allem der Beginn der Getreideernte, der Ertrag der Heumahd und die Höhe der Getreidepreise. Kalenderdaten und Wetterregeln empfahlen eine Zeiteinteilung nach den Monatstagen statt wie früher nach den Festtagen des Kirchenjahres. Der Einfluß der städtischen Zeitmessung mit Hilfe der mechanischen Uhr wurde auch im ländlichen Raum spürbar und drängte das traditionelle bäuerliche Zeitgefühl zurück, das stark mit dem Naturzyklus verbunden war. Dazu Jan Peters resümierend: »Nur langsam und von außen kommend, gewinnt die mechanische Zeit Zutritt zu der am Natur-Zyklus orientierten Welt des bäuerlichen Zeitverständnisses.« 41 7. Schluß Als Fazit unserer Untersuchungen zum bäuerlichen Zeitverständnis in der vorindustriellen Gesellschaft ergibt sich, daß die Bauern in ihrem Alltagsleben stark vom Rhythmus der natürlichen Verhältnisse und dem Zyklus der Jahreszeiten bestimmt waren. Die Arbeit der Bauern vollzog sich in enger Anlehnung an den Wechsel der Jahreszeiten, der saisonal die Vornahme der Einsaat, die Pflege der Äcker und die rechtzeitige Bergung der Feldfrüchte verlangte. Selbst die Viehhaltung und die Milchviehwirtschaft erforderten die Anpassung an den Naturzyklus im Wechsel von Sommerweide, Heugewinnung und winterlicher Stallfütterung. Dem Naturrhythmus war auch der Ablauf des bäuerlichen Lebens im Tag- und Nachtwechsel und im Gang der bäuerlichen Tätigkeiten von Monat zu Monat 39 J. P ETERS , Zeitverständnis der Bauern (Anm. 16), S. 184f. 40 J. P ETERS , Zeitverständnis der Bauern (Anm. 16), S. 187. Vgl. auch M ARIE -L UISE H OPF - D ROSTE , Das bäuerliche Tagebuch. Fest und Alltag auf einem Artländer Bauernhof, 1873- 1919, Cloppenburg 1981, S. 65-151. 41 J. P ETERS , Zeitverständnis der Bauern (Anm. 16), S. 205. <?page no="44"?> B ÄUERLICHES Z EITVERSTÄNDNIS 43 unterworfen. Höhepunkte im Naturzyklus waren dabei auch mit herausragenden Ereignissen im bäuerlichen Festtagskalender verbunden, da sie wichtige Einschnitte im bäuerlichen Jahresablauf markierten. Die vorindustrielle Agrargesellschaft war demnach in Mitteleuropa stark durch den Naturzyklus geprägt, der auch im bäuerlichen Zeitempfinden zum Ausdruck kam. Die städtisch-bürgerliche Zeitordnung, die von einer präzisen Tageseinteilung nach Stunden auf der Basis der mechanischen Uhren bestimmt war, bildete dabei einen Kontrast zum bäuerlichen Zeitempfinden. Das Gegenbild der modernen industrialisierten Landwirtschaft mit Massentierhaltung und Großflächenwirtschaft läßt die Unterschiede zur vormodernen Zeitordnung der Bauern noch deutlicher hervortreten. Moderne Landwirtschaftsbetriebe, die auch als Agrarfabriken charakterisiert werden, lassen nur noch wenige Bezüge zum alten bäuerlichen Wirtschaftsstil mit seiner naturverbundenden Lebensweise erkennen. 42 Die Zeitpräzision moderner Agrarbetriebe mit ihren exakten Zeitvorgaben und technischen Licht- und Fütterungsformen haben daher fast überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit alten Bauernhöfen. Energiestarke Traktoren und mächtige Mähdrescher kümmern sich wenig um Tag- und Nachtzeiten und nutzen auch voll die Sonn- und Feiertage des alten Bauernkalenders zur Bearbeitung der Großfelder. Das naturverbundene Zeitgefühl der vormodernen Bauern gehört bei derartigen Großbetrieben jedenfalls endgültig der Vergangenheit an. 42 Vgl. W. R ÖSENER , Die Bauern in der europäischen Geschichte (Anm. 7), S. 248-252; H ANS -W. W INDHORST , Agrarindustrie in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: T ONI P IERENKEMPER (Hg.), Landwirtschaft und industrielle Entwicklung, Stuttgart 1989, S. 237-249. <?page no="46"?> 45 A NKE S CZESNY Differierende Zeiten in ländlichen Gesellschaften der frühneuzeitlichen Gewerbelandschaft Ostschwaben Nicht nur in der Zeit sind wir ausgebreitet. Auch im Raum erstrecken wir uns weit über das hinaus, was sichtbar ist. Wir lassen etwas von uns zurück, wenn wir einen Ort verlassen, wir bleiben dort, obgleich wir wegfahren. 1 1. Problemaufriß Im Jahre 1809/ 10 ergab eine statistische Erhebung aller »Künstler und Handwerker« im Landgericht Göggingen, daß in diesem ländlichen Raum 95 Uhrmacher, sieben Uhrgehäusemacher und ein Uhrschließmacher arbeiteten. 2 In der benachbarten ehemaligen Reichsstadt Augsburg gingen zur gleichen Zeit 55 Personen dem Uhrmacherhandwerk nach, eine Person war Uhrschlüsselmacher. 3 Obwohl in Augsburg mit knapp 30.000 Einwohnern fast 2,5mal so viele Menschen wohnten wie im Gögginger Landgericht, lagen die Handwerkerdichten nicht wesentlich auseinander: In Göggingen kamen auf 1.000 Einwohner insgesamt 78, in Augsburg 82 Handwerker jeder Couleur. Die große Handwerkerzahl in Göggingen mag befremdlich erscheinen, doch lag die Handwerkerdichte in Stadt, Markt und Land im Raum zwischen Ulm, Augsburg, Memmingen und Kaufbeuren bei 8,1 %, eine Ziffer, die sonstige europäische Werte übertrifft, 4 wobei die Hälfte aller Handwerker auf dem platten Land zu finden war und der Rest in den Städten (1/ 3) und 1 P ASCAL M ERCIER , Nachtzug nach Lissabon, 8. Aufl. München 2006, S. 285. 2 A NKE S CZESNY , Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 7), Tübingen 2002, Anhang 5, S. 416. 3 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), Anhang 1, S. 409f. 4 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), Anhang 18, S. 438f.; R OLF K IESSLING / A NKE S CZES - NY , Ostschwabens Gewerbe um 1800: Die Montgelas-Statistik, in: H ANS F REI / P ANKRAZ F RIED / R OLF K IESSLING (Hg.), Historischer Atlas von Bayerisch-Schwaben, 5. Lieferung, 2. Aufl. Augsburg 2010, Karte XI,8 (siehe Abb. 1). <?page no="47"?> A NKE S C ZE S NY 46 Marktorten (1/ 6). Keineswegs waren somit Handwerk und Gewerbe eine nur städtische Domäne, wie auch die Gewerbekarte belegt (Abb. 1, S. 52). 5 Konzentriert man sich zudem auf das Textilgewerbe innerhalb aller Handwerker, so wird die Dominanz des Landhandwerks noch deutlicher, da 69 % der Weber auf dem Land lebten! 6 Das sowohl bezüglich seiner Quantität als auch hinsichtlich der Produktion nicht unbedeutende ländliche Handwerk und Gewerbe 7 legt jedoch über allein wirtschaftliche Belange hinaus etliche Überlegungen nahe, die schon bei der Semantik für das ›platte Land‹ beginnen. Die Begrifflichkeiten für ländliche Gesellschaften 8 changieren zwischen Agrargesellschaft, bäuerlicher Gesellschaft, Landbevölkerung oder Bauernstand und Bauerntum, implizieren damit freilich eine bis weit in das 19. Jahrhundert hinein hauptsächlich landwirtschaftlich arbeitende Bevölkerung. Verknüpft mit dieser traditionalistischen Denkart sind agrarromantische Vorstellungen, angefangen von Otto Brunners Konzept des ganzen und autarken Hauses, das »vom Neolithikum bis ins 19. Jahrhundert das Fundament der europäischen Sozialstruktur« 9 bildete, über Riehls Beharrungskraft des Bauern 10 bis hin zu neueren Untersuchungen, die der »traditionellen Agrargesellschaft […] gegen Ende des 18. Jahrhunderts« bzw. den »Landbewohnern« die Anpassung an naturzeitliche Rhythmen zuschreiben, die ergänzt würden durch »die zyklisch im Leben der Menschen auftretenden Veränderungen von Kindheit, Jugend, Reife und Alter.« 11 5 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 57. 6 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 57. 7 Zwischen 1500 und 1600 erhöhte sich allein die Augsburger Textilproduktion um das Zehnfache auf ca. 500.000 Stücke pro Jahr; vgl. C LAUS -P ETER C LASEN , Die Augsburger Weber - Leistungen und Krisen des Textilgewerbes um 1600 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 27), Augsburg 1981, S. 427; allein auf dem Land dürften für diese Produktion ca. 3.000-4.000 Personen tätig gewesen sein; vgl. R OLF K IESSLING , Oberschwaben - eine offene Gewerbelandschaft. Wirtschaftliche Entwicklungen und ›Republikanismus‹, in: P ETER B LICKLE (Hg.), Verborgene republikanische Traditionen in Oberschwaben (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 4), Tübingen 1998, S. 25-55, hier 42-44. 8 Vgl. dazu den instruktiven Aufsatz von N IELS G RÜNE , Vom »Taglöhner« zum »Landwirth«. Semantische Karrieren im sozialen Wandel südwestdeutscher Dorfgesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, in: D ANIELA M ÜNKLER / F RANK U EKÖTTER (Hg.), Das Bild des Bauern. Selbst- und Fremdwahrnehmungen vom Mittelalter bis ins 21. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 85-107. 9 O TTO B RUNNER , Das ›ganze Haus‹ und die alteuropäische ›Ökonomik‹, in: D ERS ., Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 103-127, hier 107. 10 W ILHELM H EINRICH R IEHL , Die bürgerliche Gesellschaft, Frankfurt/ Main 1976, S. 57. 11 W ERNER R ÖSENER , Die Bauern und die Zeit. Anmerkungen zum bäuerlichen Zeitverständnis in der vormodernen Gesellschaft, in: ZAA 52/ 2 (2004), S. 8-24, hier 8, 12. <?page no="48"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 47 Letzteres ist unbestritten, und auch ein naturzeitlicher Rhythmus mag einer rein agrarwirtschaftlich geprägten Gesellschaft entsprechen, doch verläuft auch in diesem Zitat der Übergang von der Agrargesellschaft zum Landbewohner recht mühelos. Freilich kann aber gerade am Ende des 18. Jahrhunderts, das von Umbrüchen in Wirtschaft und Gesellschaft hin zur Industrialisierung 12 gekennzeichnet war, kaum von einer nur landwirtschaftlich dominierten Grundstruktur auf dem Land ausgegangen werden. Zahlreich sind die Forschungen zur frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft, deren Ergebnisse bei allen Unterschieden mindestens eines gemeinsam haben: Die Differenzierung der dörflichen Bevölkerung durch die ländliche Gewerbeverdichtung, die Ausbildung von Schichten und Klassen, schlicht die Auflösung übergreifender agrarsozioökonomischer Strukturen, in allem auch auf der Folie von Grund- oder Gutsherrschaften sowie von landwirtschaftlichen Ressourcen und marktwirtschaftlichen Verflechtungen. 13 12 So auch schon kritisch P ETER K RIEDTE / H ANS M EDICK / J ÜRGEN S CHLUMBOHM , Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 53), Göttingen 1977; modifiziert in D IES ., Die Proto-Industrialisierung auf dem Prüfstand der historischen Zunft. Antwort auf einige Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 87-105; D IES ., Sozialgeschichte in der Erweiterung - Proto-Industrialisierung in der Verengung? Demographie, Sozialstruktur, moderne Hausindustrie: eine Zwischenbilanz der Proto-Industrialisierungs-Forschung, in: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), S. 70-87, 231-255; R OLF K IESSLING , Ländliches Gewerbe im Sog der Proto-Industrialisierung? Ostschwaben als Textillandschaft zwischen Spätmittelalter und Moderne, in: P ETER K RIEDTE / H ANS M EDICK / J ÜRGEN S CHLUMBOHM (Hg.), Proto-Industrialisierung (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2), München 1998, S. 49-78; D ERS ., Entwicklungstendenzen im ostschwäbischen Textilrevier während der Frühen Neuzeit, in: J OACHIM J AHN / W OLFGANG H ARTUNG (Hg.), Gewerbe und Handel vor der Industrialisierung. Regionale und überregionale Verflechtungen im 17. und 18. Jahrhundert (Regio Historica I), Sigmaringendorf 1991, S. 27-48; E CKART S CHREMMER , Standortausweitung der Warenproduktion im langfristigen Wirtschaftswachstum. Zur Stadt-Land-Arbeitsteilung im Gewerbe des 18. Jahrhunderts, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 59 (1972), S. 1-40; K ARL H EINRICH K AUFHOLD , Gewerbelandschaften in der Frühen Neuzeit 1650- 1800, in: H ANS P OHL (Hg.), Gewerbe- und Industrielandschaften vom Spätmittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Bh. 78), Wiesbaden 1986, S. 112-202. 13 Vgl. in Auseinandersetzung mit genaueren Begrifflichkeiten sowie Beschreibungen ländlicher Gesellschaften den zwar auch hauptsächlich auf bäuerliche Gesellschaften zugeschnittenen, jedoch instruktiven Aufsatzband von F RANK K ONERSMANN / K LAUS - J OACHIM L ORENZEN -S CHMIDT (Hg.), Bauern als Händler. Ökonomische Diversifizierung und soziale Differenzierung bäuerlicher Agrarproduzenten (15.-19. Jahrhundert) (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 52), Stuttgart 2011; in Auswahl der Monographien zu nennen sind H ANS M EDICK , Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalge- <?page no="49"?> A NKE S C ZE S NY 48 Ohne einer Polarisierung von Bauern und Handwerkern und damit einer Atomisierung ländlicher Gesellschaften das Wort reden zu wollen, sind zunächst die sozioökonomischen und kulturellen Gegebenheiten und Bedingungen zu eruieren, 14 um von diesen Erkenntnissen aus in die Tiefen einer Gesellschaft eindringen zu können. Erst in der Auslotung unterschiedlicher - nennen wir sie: Bevölkerungsgruppen eines ländlichen Dorfes oder Raumes sind Verknüpfungen, Divergenzen, Gleichheiten und Ungleichheiten erkennbar, die nicht zwangsläufig in wie auch immer geartete Konformitäten oder Differenzen münden müssen, sondern jede Gruppe in ihren Eigenarten bestehen lassen. Was hat dies alles mit ›Zeit‹ oder besser: mit differierenden Zeiten zu tun? Während die »Wahrnehmung verschiedener Zeiten und Zeitsysteme« zumindest im Ansatz für die bäuerliche Bevölkerung der Frühen Neuzeit schon analysiert und diskutiert wird, 15 fehlen derartige Überlegungen für Zeitsysteme der ländlichen schichte als Allgemeine Geschichte (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 126) Göttingen 1996; T HOMAS M EIER , Handwerk, Hauswerk, Heimarbeit. Nicht-agrarische Tätigkeiten und Erwerbsformen in einem traditionellen Ackerbaugebiet des 18. Jahrhunderts (Zürcher Unterland), Zürich 1986; J OSEF M OOSER , Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 64), Göttingen 1984; S HEILAGH O GIL - VIE , State corporatism and proto-industry. The Württemberg Black Forest, 1580-1797, Cambridge 1997; U LRICH P FISTER , Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. zum 18. Jahrhundert, Zürich 1992; D AVID S ABEAN , Property, production and family in Neckarhausen, 1700-1870 (Cambridge studies in social and cultural anthropology 73), Cambridge 1990; J ÜRGEN S CHLUMBOHM , Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit 1650-1860 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 110), Göttingen 1994; A LBERT S CHNY - DER -B URGHARTZ , Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive - Bretzwil und das obere Waldenburger Amt von 1690 bis 1750, Liestal 1992; A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2). 14 Vgl. jetzt auch R OLF K IESSLING , Die Textilregion Ostschwaben und ihre sozialen Implikationen. Überlegungen zur Justierung einer ›Geschichtslandschaft‹ in der Vormoderne, in: A NGELIKA W ESTERMANN (Hg.), Montanregion als Sozialregion. Zur gesellschaftlichen Dimension von »Region« in der Montanwirtschaft, Husum 2012, S. 151-176. 15 J AN P ETERS , Die Recht-Zeitigkeit bäuerlichen Lebens und Arbeitens: Wiederholen oder Verändern? , in: A RNDT B RENDECKE / R ALF -P ETER F UCHS / E DITH K OLLER (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität 10), Berlin 2007, S. 133-148, Zitat S. 134; J AN P ETERS , Märkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Priegnitz, 1550-1800 (Veröff. des Brandenburgischen Landeshauptarchivs 53), Berlin 2007, S. 759-769; J AN P ETERS , »… dahingeflossen ins Meer der Zeiten«. Über frühmodernes Zeitverständnis der Bauern, in: R UDOLF V IER - HAUS (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von <?page no="50"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 49 Handwerkerschaft fast völlig. Dabei hatten sich die Handwerker in Ostschwaben den Landzünften anzuschließen, 16 um ihre Waren auf den Märkten absetzen zu können, woraus sich schon zweierlei Brüche mit landwirtschaftlichen Rhythmen ergeben: Erstens die durch die Zunftnormen vorgegebenen Ausbildungszeiten vom Lehrling bis zum Meister sowie zunfteigene Festivitäten und zweitens die Anpassung an die ›Öffnungszeiten‹ der umliegenden Märkte, um Produkte verkaufen und Rohstoffe aufkaufen zu können. Diese von agrarischen Zeitläuften differenten Bedingungen blieben ferner keineswegs nur auf unmittelbar auf das Handwerk bezogene Tätigkeiten beschränkt, sondern wirkten sich im gewerblichen Raum auch demographisch aus. Sogenannte vitalstatistische Ereignisse wie Hochzeiten, Geburten und Sterbefälle, mit deren Hilfe Veränderungen im Verhalten der Bevölkerung erklärt werden können, belegen spezifisch handwerkliche Lebensweisen, die mit jenen der bäuerlichen Bevölkerungsgruppe nicht mehr zu vergleichen sind bzw. diese überlagerten. Schließlich beschritten die Handwerker andere Wege der Zukunftsgestaltung, die unmittelbar mit dem Gewerbe verknüpft waren und die, wie zeitgenössisch dann auch wahrgenommen wurde, die Bauern ins Hintertreffen geraten ließen. ›Zunftzeiten‹, ›Marktzeiten‹ und ›Lebenszeiten‹ von Handwerkern - im folgenden stehen aufgrund ihrer Mehrzahl die Weber im Vordergrund - dokumentieren insofern die im Eingangszitat genannte ›Ausbreitung in der Zeit‹, weil die gewerbliche Entwicklung ein - wenn auch nicht unbedingt linearer - Prozeß mit Folgen für den soziokulturellen Wandel vom 17. bis zum 19. Jahrhundert herbeiführte. Zugleich Übergangsprozessen (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 104), Göttingen 1992, S. 180-205; N ICOLAS D ISCH , Hausen im wilden Tal. Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600-1800) (Norm und Struktur 41), Wien 2012, S. 489-518; vgl. auch dessen Beitrag in diesem Band; W. R ÖSENER , Die Bauern (Anm. 11). 16 Vgl. zu den Landzünften A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 168-216; D IES ., Von Handwerkern, Zünften und Bauern: Gewerbe und Gesellschaft im ländlichen Ostschwaben der Frühen Neuzeit, in: ZHVS 95 (2002), S. 139-158; D IES ., Die Zunft im Dorf. Handlungsfelder von Webern in ländlichen Gemeinden Ostschwabens, in: A NDRÉ H O - LENSTEIN / S ABINE U LLMANN (Hg.), Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 12), Tübingen 2004, S. 33-46; D IES ., Die ländlichen Zünfte Ostschwabens und ihre wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturgeschichtliche Bedeutung - Eine Projektskizze, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Stadt und Land in der Geschichte Ostschwabens (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 10), Augsburg 2005, S. 325-350; J OHANNES M ORDSTEIN , Die ländlichen Zunftordnungen in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit - Dokumentation, in: Ebd., S. 351- 412; S ABINE S CHUSTER , Zünfte in Fuggerschen Herrschaften, in: J OHANNES B URK - HARDT / F RANZ K ARG (Hg.), Die Welt des Hans Fugger (1531-1598) (Materialien zur Geschichte der Fugger 1), Augsburg 2007, S. 143-151. <?page no="51"?> A NKE S C ZE S NY 50 läßt sich auch eine ›Ausbreitung im Raum‹ konstatieren, weil sich gewerblich dominierte Lebensmuster im Untersuchungsraum ausdehnten und bäuerliche Rhythmen und Zeiten zurückdrängten. 2. Zunftzeiten Ende Juli 1677 baten die Weber der Fuggerherrschaft Babenhausen um eine Modernisierung ihrer schon im Jahre 1562 erlassenen Zunftordnung, denn was die Handwercksarticul anlanget, selbige auf die damals [ = 1562] in gang gewesene Barchetarbaith eingericht gewest, und sich in so langer Zeith nit allein die Arbeit und das Gewürckh selbsten, sondern auch viel andere Sachen das Handwerckh betreffend, gänzlich geendert hätten. 17 Ganz konkret bezogen sich die babenhausischen Weber auf vergangene Zeiten und Zeiträume, und es spiegeln sich zwei Ereignisse wider, die einen nicht unerheblichen Umbruch in Wirtschaft und Gesellschaft im 17. Jahrhundert kennzeichneten. Zum einen war das vormals diesen Raum dominierende Baumwollmischgewebe Barchent vom Leinengewebe abgelöst worden. Der Barchent hatte seit dem 14. Jahrhundert nicht nur dieser Textilregion mit der Reichsstadt Augsburg als Wirtschaftsmetropole, sondern auch dem flachen Land als Zulieferer von Halbfertig- und Fertigprodukten zu einem enormen ökonomischen Wachstum verholfen. Dies schlug sich auch in Expansionsbestrebungen kleinerer Märkte nieder, die am ›Barchentboom‹ partizipieren wollten, im Falle Babenhausens beispielsweise durch die Institutionalisierung einer Textilresp. Barchentschau, deren Qualitätsprüfung die geforderten Standards im überlokalen und internationalen Absatz kontrollierte. 18 Verschiedene Faktoren führten schon Ende des 16. Jahrhunderts, befördert dann im 17. Jahrhundert durch den Dreißigjährigen Krieg und dessen Folgen, zum Niedergang der Barchentproduktion, was zum Teil durch die Rückkehr zur traditionellen Leinenherstellung aufgefangen oder - wiederum mit Augsburg an der Spitze - durch die Innovation des Kattundrucks ersetzt wurde. 19 Dieser Wandel in der 17 StaatsA Augsburg, Adel Fugger Babenhausen, Lit. 48a: Zunfft- und Ordnungsbrieff des ehrsammen Weeberhandtwercks in der Herrschafft Babenhausen, 27.7.1677. 18 Zum Markt Babenhausen und seiner Textilschau A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 137-141; D IES ., Ländliches Textilgewerbe im 17. und 18. Jahrhundert in Schwaben - das Beispiel der Fuggerherrschaft Babenhausen, Magisterarbeit [masch.], Augsburg 1995. 19 Zur wirtschaftlichen Entwicklung Ostschwabens R. K IESSLING , Entwicklungstendenzen (Anm. 12); D ERS ., Stadt und Land im Textilgewerbe Ostschwabens vom 14. bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, in: N EITHART B ULST / J OCHEN H OOCK / F RANZ I RSIGLER (Hg.), Bevölkerung, Wirtschaft und Gesellschaft. Stadt-Land-Beziehungen in Deutschland und Frankreich. 14. bis 19. Jahrhundert, Trier 1983, S. 115-137; R OLF K IESSLING / A NKE S CZESNY , Ländliche Gewerbestruktur und ›Proto-Industrialisierung‹ im Umfeld der Großbauten des schwäbischen Barock, in: M ARKWART H ERZOG / R OLF K IESSLING / B ERND <?page no="52"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 51 Textilherstellung wurde von einem zweiten, gleichfalls von den Babenhausener Webern angesprochenen Komplex begleitet, nämlich einer im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts einsetzenden, bereits zweiten Gründungswelle von ländlichen Zunfterrichtungen im mittleren Ostschwaben, die gekennzeichnet ist durch Neuinstitutionalisierungen von Zünften wie auch durch judizielle Erneuerungen schon existierender Korporationen. Erkennbar an der nebenstehenden Karte (Abb. 2) ist, daß eine erste Phase bereits im 16. Jahrhundert mit den Fuggerherrschaften Babenhausen und Pfaffenhofen einsetzte, die sich bis zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges durch Zunftgründungen in weiteren adligen und reichsritterschaftlichen Herrschaften fortpflanzte. Die Verzunftungen ab den 1670er Jahren waren vor allem vom Domkapitel und Hochstift Augsburg sowie von den wittelsbachischen Territorialherrschaften getragen. Diese chronologische sowie räumliche Zweiteilung der Entwicklungsstränge hatte eine Ursache einerseits in der Dominanz der Reichsstadt Augsburg, die ihr gewerbliches Monopol in seinem weiteren Umfeld - und das waren mithin die beiden geistlichen sowie die wittelsbachischen Herrschaften - behaupten wollte, indem das augsburgische Textilzentrum eine Verzunftung durch die Einbindung der Landweber aus seinem Umland relativ lang verhindern konnte. Umgekehrt illustrieren andererseits die frühen Inkorporationen östlich der Iller und westlich der Zusam die nachlassende Strahlkraft Augsburgs und, in zweiter Linie, auch Ulms, dessen ökonomische Kraft in der ostschwäbischen Textillandschaft nicht nur durch den wirtschaftlichen Aufstieg Günzburgs, sondern auch durch die gewerblich aufstrebende Uracher Leinwandhandlungskompagnie sowie durch die Neue Heidenheimer und Biberacher Handlung geschwächt war. 20 R OECK (Hg.), Himmel auf Erden oder Teufelsbauwurm? Wirtschaftliche und soziale Bedingungen des süddeutschen Klosterbarock (Irseer Schriften 1), Konstanz 2002, S. 59-80. 20 Zu Ulm vgl. W OLFGANG M ERKLE , Gewerbe und Handel der Stadt Ulm am Übergang der Reichsstadt an Bayern im Jahre 1802 und an das Königreich Württemberg im Jahre 1810 (Beiträge zur südwestdeutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte 7), St. Katharinen 1988; H ANS E UGEN S PECKER , Ulm. Stadtgeschichte, Ulm 1977; zu Günzburg vgl. P AUL A UER , Geschichte der Stadt Günzburg, Günzburg 1963; R OLF K IESSLING , Günzburg und die Markgrafschaft Burgau - die Entwicklung eines ländlichen Raumes im Spannungsfeld der Großstädte (Heimatkundliche Schriftenreihe für den Landkreis Günzburg 10), Günzburg 1990; D ERS . (Hg.), Schwäbisch-Österreich. Zur Geschichte der Markgrafschaft Burgau (1301-1805), Augsburg 2007; A NKE S CZESNY , Eine europäische Textilregion im Wandel, in: Ebd., S. 53-90; zu Urach und Biberach vgl. G RETE K ARR , Die Uracher Leinenweberei und die Leinwandhandlungskompagnie. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Alt-Württembergs (Tübinger wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen III/ 7), Stuttgart 1930; H. M EDICK , Weben und Überleben (Anm. 13); W OLFGANG Z ORN , Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648-1870. Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte des schwäbischen Unternehmertums (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 6), Augsburg 1971. <?page no="53"?> A NKE S C ZE S NY 52 Abb. 1: Ostschwabens Gewerbe um 1800 <?page no="54"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 53 Abb. 2: Die ländlichen Weberzunftgründungen <?page no="55"?> A NKE S C ZE S NY 54 Während die erste Phase den Landhandwerkern den Zugang auf städtische Märkte grundsätzlich eröffnete, waren die Zunftgründungen ab den 1670er Jahren den zunehmend konkurrierenden ländlichen Marktorten geschuldet, denn die im Textilgewerbe ökonomisch aufstrebenden Kleinstädte und Märkte versuchten durch die Implementation der Handwerkerkorporationen ihren Platz im regionalen Wirtschaftsgefüge zu finden bzw. zu behaupten. Das bedeutete zunächst, daß sich die Handwerker einer städtischen Normen angepaßten Ausbildung zu unterziehen hatten, um marktfähige und ergo absatzkonforme Ware produzieren zu können. Zugleich sollte eine solche Ausbildung die Landhandwerker vom Vorwurf der Nicht-Passierlichkeit, also der Nicht-Zulassung auf städtische Märkte oder auch des Arbeitsverbotes in der Stadt befreien. Noch bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts hinein versuchten die Städte, das Landhandwerk und die ländliche Verzunftung zu verhindern, da sie sich in ihrem Handel und Gewerbe bedroht sahen. Augsburg dekretierte z. B. im Jahr 1789 gegen das heimliche Hereinpracticiren und Verhausieren allerhand auf dem Land und sonsten von Meistern oder Stümpleren gefertigter Waaren und Arbeiten, 21 womit ausgebildete Meister noch immer mit ›Pfuschern‹, ›Störern‹ oder ›Stümplern‹, wie ungelernte Handwerker auch genannt wurden, gleichgesetzt wurden. 22 Obwohl die Landhandwerker sich seit dem 16. und vor allem im 17. Jahrhundert den städtischen Ausbildungs- und Produktionsbedingungen anpaßten, sahen sie sich dem Vorwurf des ›Störhandwerks‹ also weiter ausgesetzt, was nicht zuletzt zu Auseinandersetzungen führte, die mithin auch auf der Ebene der supraterritorialen Instanz des Schwäbischen Kreises verhandelt wurden. 23 Letztlich scheiterten die Städte in ihren Versuchen, das Landhandwerk als ›Pfuscherhandwerk‹ zu diskreditieren, weil einerseits die Städte schlicht auf die ländliche Produktion angewiesen waren, andererseits der Ausbildungsweg der Landhandwerker der städtischen Ausbildung und damit rechtlichen Normen entsprach. Wie sah dieser Weg vom Lehrling bis zum Meister aus? In den Herrschaften des Untersuchungsraumes war eine zweibis dreijährige Lehrzeit - beginnend mit dem zwölften Lebensjahr - vorgeschrieben, die sich um ein Jahr verlängern konnte, wenn ein Lehrling bzw. dessen Eltern das Lehrgeld, das zwischen acht und 21 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 164. 22 K NUT S CHULZ , Störer, Stümpler, Pfuscher, Bönhasen und »Fremde«. Wandel und Konsequenzen der städtischen Bevölkerungs- und Gewerbepolitik seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: H ELMUT J ÄGER / F RANZ P ETRI / H EINZ Q UIRIN (Hg.), Civitatum Communitas. Studien zum Europäischen Städtewesen 2. FS für Heinz Stoob zum 65. Geburtstag (Städteforschung A 21/ 2), Köln-Wien 1984, S. 683-705. 23 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 159-164; D IES ., Zur Verbesserung des Oeconomicum Civile Circuli. Wirtschaftsmaßnahmen des Schwäbischen Reichskreises zwischen Reichs- und Territorialpolitik im 17. und 18. Jahrhundert, in: R OLF K IESSLING / S ABINE U LLMANN (Hg.), Das Reich in der Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum 6), Konstanz 2005, S. 259-278. <?page no="56"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 55 15 fl. liegen konnte, nicht aufzubringen vermochte. 24 Ein Blick in die von 1626 bis 1800 erhaltenen Zunftbücher der Fuggerherrschaft Kirchheim belegt, daß nicht nur Lehrjungen aus dieser Herrschaft selbst, sondern auch Lehrlinge aus auswärtigen Herrschaften eine Ausbildung in Kirchheim antraten. Ihre Zahl war doppelt so hoch wie die der einheimischen Lehrlinge, was bedeutet, daß Kirchheim seinen Bedarf an Weberlehrjungen allein nicht decken konnte. 25 Weniger die Zahlen sind hier wichtig als vielmehr die Mobilität der Lehrjungen, infolge derer sie möglicherweise nicht mehr in der elterlichen Landwirtschaft mitarbeiten konnten, sondern nun in einem handwerklichen Haushalt lebten und arbeiteten. 26 Über die Lerninhalte während der Ausbildung ist kaum etwas bekannt - lediglich in der Zunftordnung der Weldener Weber war festgelegt, daß erst mit der Abnahme eines vom Lehrling gewebten Tuchstückes nach den Qualitätsanforderungen der Ulmer Schau die Lehre beendet war und die sogenannten Freisprechung oder Ledigzählung erfolgen konnte. Dieser Freisprechung nach den Lehrjahren folgte die zweibis vierjährige Gesellenzeit, in der der Webergeselle zur Wanderschaft verpflichtet war, wie es am deutlichsten in einer Gesellenordnung der reichsstiftischen Herrschaft Roggenburg zum Ausdruck kommt: Die am 20. Mai 1703 erlassenen Normen orientierten sich en detail an einer Gesellenordnung aus Innsbruck, die vor allem das Verhalten der Gesellen auf ihrer Wanderschaft genauestens vorschrieb. Die mindestens überregional verpflichtenden Verhaltenskodizes der Gesellenordnungen verweisen nicht nur auf den, wenn auch nur selten nachweisbaren Vollzug der Wanderschaft - immerhin gelangte ein Kirchheimer Geselle bis in die französische Champagne, worauf er nach seiner Rückkehr in die Heimat den Beinamen ›Schambani-Weber‹ erhielt und relativ weit in der ländlichen Zunfthierarchie aufstieg -, vielmehr belegen sie die Adaption städtischer Normen im Prozeß der Professionalisierung des Landhandwerks. 27 Der Erwerb der Meisterwürde schließlich war in den Zunftordnungen Ostschwabens unterschiedlich geregelt und reichte von der Zahlung einer von der jeweiligen Ordnung abhängigen Aufnahmegebühr bis zur Herstellung eines oder mehrerer vorgeschriebener Tücher. 28 24 S ABINE S CHUSTER , Die Zunftordnungen der Landweber im östlichen Mittelschwaben des 17. Jahrhunderts, Zulassungsarbeit [masch.], Augsburg 1994. 25 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 124f., 199; ähnliches gilt, wenn auch eingeschränkt, für die Seifriedsberger Zunft; ebd., S. 197f. 26 Definitiv stammten diese Lehrlinge nicht aus Weberhaushalten, da in den Zunftbüchern eigene Rubriken für ›fremde‹ und ›einheimische‹ Meistersöhne geführt wurden. Ausgewertet in A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 196f. 27 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 204f. 28 S. S CHUSTER , Zunftordnungen (Anm. 24), S. 61. <?page no="57"?> A NKE S C ZE S NY 56 Der jahrelange Werdegang vom Lehrling bis zum Meister illustriert die Durchdringung des ländlichen Raumes mit städtischen Wirtschaftsweisen, denn die Ausbildungszeiten im Handwerk reduzierten oder verunmöglichten sogar landwirtschaftliche Arbeiten. Mit anderen Worten: Gewerbeverdichtung und Zunftgründungen führten nicht nur zur ländlichen Professionalisierung, sondern auch zu einer Abkehr von naturzeitlichen, von Aussaat- und Erntezeiten bestimmten Jahresrhythmen. Wenn auch in den Zunft- und Gesellenordnungen kaum konkrete Arbeitszeiten festgelegt sind, 29 so verweisen einige Momente doch auf einen zumindest grob geregelten Arbeitstag. In der Zunftordnung der Herrschaft Babenhausen von 1677 soll kein Knecht […] dem anderen am Wercktag feüren Ursach oder Anleitung geben, oder einfach aus der Werckstatt gehen wie auch Meister und Knecht nicht mehr nach der Vesper arbeiten sollen. 30 Ferner dokumentieren die Kündigungsfristen in Arbeitsverhältnissen recht eindeutige Zeiträume, da sowohl Geselle als auch Meister jeweils 14 Tage Zeit hatten, die Arbeit aufzusagen. 31 Einer Arbeitszeitregelung ist schließlich die Verordnung in der Herrschaft Schwabegg von 1676 zuzuschreiben, da den Gesellen und Meistersöhnen der gute Montag oder Bottag nur alle 14 Täg erlaubt sei, jedoch nicht vor 2 Uhr nachmittags. 32 Zwar sind solche konkreten Zeitangaben nur selten dokumentiert, doch veranschaulichen sie unmißverständlich die Einbindung der Handwerker in einen zeitlich bestimmten Arbeitstag. ›Zunftzeiten‹ beschränkten sich indes nicht allein auf die Ausbildungs- und Arbeitszeiten, sondern auch auf zunfteigene Feier- und Festtage, die nicht mit bäuerlich-agrarischen Festen übereinstimmen mußten. Wenn auch nicht für jede 29 Lediglich in StaatsA Augsburg, Amtsbücherei 1282: Der Ehehalten/ Handwercksleuthen/ Taglöhner vnd anders halber gemachter Ordnung von 1652, werden z. B. für die Schreiner, Zimmer- und Maurermeister, die morgens von vier bis abendts 7 vhren für Speiß vnd Lohn deß Tags arbeiten, bestimmte Lohnsätze festgelegt. Diese Ordnung bezieht sich mehrheitlich auf den württembergischen Teil des Schwäbischen Kreises und kann deswegen hier nicht herangezogen werden. Immerhin aber verweist sie auf die schon Mitte des 17. Jahrhunderts festgelegten Arbeitszeiten. Hier auch ließe sich die von R EINHOLD R EITH , Arbeitszeit und Arbeitslohn im städtischen Gewerbe der Frühen Neuzeit, in: W ILLIBALD K ATZINGER (Hg.), Zeitbegriff. Zeitmessung und Zeitverständnis im städtischen Kontext (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas XVII), Linz/ Donau 2002, S. 39-63, hier 39, vorgenommene Differenzierung in Zeit- und Stücklohn, die wiederum im Konnex zur Arbeitszeit steht, hervorragend festmachen. 30 StaatsA Augsburg, Adel Fugger Babenhausen Lit. 48a: Zunfft- und Ordnungsbrief des ehrsammen Weeberhandwerckhs in der Herrschafft Babenhausen, Nr. 22, 23. 31 StaatsA Augsburg, Adel Fugger Babenhausen Lit. 48a: Zunfft- und Ordnungsbrief des ehrsammen Weeberhandwerckhs in der Herrschafft Babenhausen, Nr. 21. 32 StaatsA Augsburg, Kurbayerische Herrschaften, Akt 1785: Handwerksordnungen der Leinenweber […]; Gesellenordnung, Nr. 12. <?page no="58"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 57 Zunft einzeln nachweisbar, so war doch jede an einen Schutzpatron gebunden. Nach dem zweiten Artikel der Babenhausener Zunftordnung soll wie nach altem Zunfftbrief […] auch hinfüro dem Patron St. Ulrich der 4. Monatstag des Juli ein Gottesdienst gehalten und gebeichtet werden. 33 Die Leinenweber der Herrschaft Schwabegg feierten als Patron den heyl. Bischoff Seuerino, dessen fesst am 3. Octobris war, 34 während in Edelstetten St. Blasius und damit der 3. Februar als zu ehrender Zunftpatron galt. 35 Diese Jahrtage waren für die Zunftmitglieder bindend, da die Handwerkerordnungen verlesen sowie Lehrjungen auf- und abgedingt und Meister aufgenommen wurden, die Zunftmeister Abrechnungen vorzulegen hatten und verstorbener Mitmeister gedacht wurde. Infolge dieser konstitutiven Elemente des Jahrtages für die Korporationen wurde unerlaubtes bzw. unentschuldigtes Fernbleiben mit Strafe belegt, denn sowohl die religiösen wie auch die profanen Pflichten der Zunftmitglieder am Jahrtag hatten die Zunft schützende und Nichtmitglieder exkludierende Funktionen. Die Bedeutung der Jahrtage für die Zunftmitglieder läßt sich an einem Versuch der Weber von Kettershausen, Bebenhausen und Mohrenhausen im Jahre 1737 ablesen, sich von der Zunft Babenhausen, in der sie inkorporiert waren, zu trennen. Sie begründeten dies nicht nur mit der Entfernung zum Zunftsitz im Markt Babenhausen, wodurch sie meist zu spät zu den Gottesdiensten kämen, so daß sie fast allezeit oder quatemberlich Bestraffungen auferlöget [bekämen], da doch wegen Entfernung oder schlimmer Wetter die rechte Zeit just zu treffen vast unmöglich sei. Zudem sei es ihnen nicht möglich, dergleichen Gottesdienst zu deren Abgestorbenen Trost und unserm Seelenheyl zu halten. 36 Die Argumentation dieses Separationsversuches basiert einerseits auf der Funktionalisierung der in den Handwerksordnungen enthaltenen Normen, da durch die Entfernung zum Markt Babenhausen eben diese Regeln nicht eingehalten werden könnten und infolgedessen unliebsame Strafgebühren zu entrichten wären. Über dieses Argument hinaus ist jedoch zu berücksichtigen, daß die Totenmemoria auch eine Gruppenidentität stiftete und zur »symbolischen Markierung von Inklusion und Exklusion verwendet« werden konnte. 37 33 StaatsA Augsburg, Adel Fugger Babenhausen Lit. 48a: Zunfft- und Ordnungsbrief des ehrsammen Weeberhandwerckhs in der Herrschafft Babenhausen, Nr. 2. 34 StaatsA Augsburg, Kurbayerische Herrschaften, Akt 1785: Schwabegger Leinenordnung, Vorrede. Der hl. Severus war der Schutzpatron der Weber, Spinner, Tuch-, Strumpf-, Handschuh- und Hutmacher; vgl. H ILTGART K ELLER , Reclams Lexikon der Heiligen und biblischen Gestalten, Stuttgart 1985, S. 515f. 35 Mittelschwäbisches Heimatmuseum Krumbach, Inventar-Nr. 98: Weberordnung zue Edelstetten 1672 Februar 2, Art. 2, S. 5. 36 FA 7.51. Herrschaft Babenhausen, Gewerbewesen: Supplikation der Weber von Ketters-, Beben- und Mohrenhausen, 27.6.1737. 37 C LAUDIA S TRIETER , Aushandeln von Zunft. Möglichkeiten und Grenzen ständischer Selbstbestimmung in Lippstadt, Soest und Detmold (17. bis 19. Jahrhundert) (Westfalen in <?page no="59"?> A NKE S C ZE S NY 58 Ähnliches spiegelt sich in den Jahrtagen und in der genau festgelegten Abfolge in der Zunftprozession zu Ehren des Schutzpatrons - zuerst die Zunftmeister, dann die Gesellen und am Ende die Lehrlinge - wie auch im abschließenden gemeinsamen Essen der Zunftmitglieder in der Zunftstube, die sich auf dem Land meist im Wirtshaus befand. 38 Schilderungen, wie sich diese Prozessionen in den Dorfalltag einfügten, liegen nicht vor, doch könnten sie, da sie nicht an bestimmten Wochentagen, sondern an bestimmten Daten stattfanden, wie beispielsweise in Edelstetten am 3. Februar, landwirtschaftliche Arbeiten unterbrochen oder ›gestört‹ haben. Fielen jedoch die Patronsfeste mit bäuerlichen Feiertagen, wie beispielsweise dem St. Ulrichstag am 4. Juli zusammen, sind gemeinsame Feste anzunehmen. 39 Nicht zuletzt waren die gemeinsamen Jahrtagsessen im Wirtshaus, das in diesem Moment zu einer Zunftstube umfunktioniert wurde, Teil einer zu demonstrierenden Gruppenzugehörigkeit, die andere ausschloß. Darauf deutet im Jahre 1770 ein auflauff unter dem gesamten handtwerck der weber in der Fuggerherrschaft Kirchheim, als diese den Herbergsvater resp. den Wirt absetzen wollten, weil sie am Jahrtagsessen kein krauth und schweinefleisch gehabt dan verstunkene würst. 40 Bei diesem Konflikt, der friedlich beigelegt werden konnte, ging es weniger um das Essen an sich, als um die Abwertung der Zunft durch das verdorbene Essen an diesem für die Korporation konstitutiven Festtag. 41 Der Karriereweg eines Handwerkers - dargestellt am Webergewerbe - vom Lehrling bis zum Meister, die Einbindung in die Institution der Zunft, die Abhaltung der Jahrtage - all dies illustriert handwerkliche Lebensrhythmen, die nicht immer mit jenen der Bauern kompatibel waren. Infolge der Übertragung städtischer Zunftnormen auf ländliche Verhältnisse hatte spätestens im 17. Jahrhundert in Ostschwaben eine Differenzierung der Dorfgesellschaft eingesetzt, die mit einem Auseinanderdriften agrarwirtschaftlich und handwerklich bestimmter Zeiten einherging. Da die ländliche Verzunftung ferner ihren Impetus der Anbindung an lokale und regionale Märkte verdankte, um hier die Produkte absetzen zu können, der Vormoderne. Studien zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Landesgeschichte 7), Münster 2011, S. 308. 38 A. S CZESNY , Handlungsfelder (Anm. 16), S. 40-42. 39 Ich danke Dietmar Schiersner sehr für den Hinweis auf den St. Ulrichstag (4. Juli), der im gesamten Bistum Augsburg als Feiertag galt und somit kein für die Zunft exklusiver Feiertag war. 40 StaatsA Augsburg, Adel Fugger Kirchheim, Lit. 9, Bd. 4: Verhörsprotokolle 1767-1770, 3.7.1770. 41 A. S CZESNY , Handlungsfelder (Anm. 16), S. 40f.; vgl. zur Bedeutung von Trinken und Essen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft B. A NN T LUSTY , Bacchus und die bürgerliche Ordnung. Die Kultur des Trinkens im frühneuzeitlichen Augsburg (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwaben 34), Augsburg 2005. <?page no="60"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 59 kommt dem Markt als privilegierten Ort für den Warenaustausch eine nicht zu unterschätzende Rolle im Arbeitsleben der Handwerker zu. 3. Marktzeiten Für die Handwerker Ostschwabens hatten die Marktorte zwei fundamentale Bedeutungen: erstens eine rechtliche, weil eine Zunftgründung durch die Herrschaftsinhaber unter Beteiligung der Handwerker nur in einem privilegierten, also mit Blutbann und/ oder Hochgerichtsbarkeit ausgestatteten Marktort gestattet war, woraufhin dieser Zentralpunkt zum Sitz der Zunft avancierte. 42 Der schon geschilderte Separationsversuch der Weber von Kettershausen, Bebenhausen und Mohrenhausen im Jahr 1737, denen ihr Zunftmittelpunkt und Marktort Babenhausen zu weit entfernt war, scheiterte an der fehlenden Privilegierung eines der Dörfer. Zweitens war der Markt jener konkrete Raum, an dem Waren gehandelt wurden, d. h. wo Rohstoffe gekauft und Halbfertig- und Fertigprodukte veräußert wurden, wie vor allem wiederum am Beispiel des Textilgewerbes konkretisiert werden kann, und wo sich komplementär die Handwerker mit bäuerlichen Produkten eindecken konnten. 43 Das »komplexe System von Marktorientierungen«, 44 bedingt durch die hohe Konzentration von zyklisch stattfindenden Jahr- und Wochenmärkten in der ost- 42 Vgl. zu den Motivationen von Herrschaft und Handwerkern sowie zu den rechtlichen Voraussetzungen einer Zunftgründung A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 182-192. Dies ist wohl auch der Grund, warum die Uhrmacher des Gögginger Landgerichts trotz ihrer Zahl keiner Zunft angehörten, da in diesem Landgericht kein privilegierter Markt existierte. Möglicherweise hatten sich die Gögginger Uhrmacher der Augsburger Uhrmacherzunft angeschlossen. Zu dieser vgl. E VA G ROISS , Das Augsburger Uhrmacher-Handwerk, in: K LAUS M AURICE / O TTO M AYR (Hg.), Die Welt als Uhr. Deutsche Uhren und Automaten, 1550-1650, München-Berlin 1980, S. 63-89. 43 Vgl. dazu R OLF K IESSLING , Zur Kommerzialisierung ländlicher Regionen im 15./ 16. Jahrhundert. Das Beispiel Ostschwaben, in: ZAA 59/ 2 (2011), S. 14-36, hier 14f. 44 R OLF K IESSLING , Kleinräumige Jahrmarktzyklen in Schwaben. Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes im Spätmittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit, in: H ANS -P ETER B ECHT / J ÖRG S CHADT (Hg.), Wirtschaft - Gesellschaft - Städte. FS für Bernhard Kirchgässner zum 75. Geburtstag, Ubstadt-Weiher 1998, S. 139-156, hier 139; D ERS ., Markets and marketing, town and country, in: B OB S CRIBNER (Ed.), Germany. A new social and economic history, Vol. I, London 1995, S. 145-179; D ERS ., Kleinstädte und Märkte als Instrument der Regionalpolitik. Ostschwaben vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, in: H ELMUT F LACHENECKER / R OLF K IESSLING (Hg.), Städtelandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben (ZBLG Bh. B 15), München 1999, S. 243-288; D ERS ., Städte und Märkte vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart in Schwaben, Karte IV,1, in: H ANS F REI / P ANKRAZ F RIED / F RANZ S CHAFFER (Hg.), Historischer Atlas von Bayerisch- <?page no="61"?> A NKE S C ZE S NY 60 schwäbischen Gewerbelandschaft, erlaubte es den Handwerkern, verschiedene Märkte zum Absatz ihrer Waren bzw. zum Erwerb von Rohwaren für ihre Produktion aufsuchen zu können. 45 Vor allem das Textilgewerbe wurde noch durch spezielle Garnmärkte gefördert, wie es z. B. in der Babenhausener Zunftordnung von 1677 festgeschrieben ist. In dieser Fuggerherrschaft sollten zur Förderung an Babenhausener Wochenmärkten die inländischen Meister eine ½ Stunde früher [Garn] einkaufen dürfen als die fremden. 46 Solche auch in Zunftordnungen anderer Herrschaften existierenden Normen sollten es den ›herrschaftseigenen‹ Webern ermöglichen, ihren Garnbedarf, der Grundlage für ihre Produktion war, zu decken, bevor außerherrschaftliche Käufer auf dem Markt auftraten und das Garn knapp werden konnte. Daß die Herrschaft aufgrund von Markt- und Standgebühren von der Bindung der Weber und anderer Handwerker an ihren Markt auch finanzielle Vorteile hatte, ist ebensowenig zu übersehen wie auch eine gewisse Vorausschau, die Produktionsbasis der Weber durch den vorzeitigen Zugang zum Markt zu sichern. Zu Engpässen in der Garnversorgung, dem Rohstoff der Weber, kam es im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert, als die Schweizer Textilproduktion und das seit dem späten 17. Jahrhundert im Textilgewerbe enorm expandierende vorderösterreichische Günzburg große Mengen schwäbischen Garns abschöpfte, was die Weber in Bedrängnis versetzte. 47 Diese Faktoren führten zu verschiedenen Gegenmaßnahmen der schwäbischen Städte und Territorien, um das der Handtier und Nahrung [der Weber] so schädliche Aufkauffen und Verführen deren Schnellern zu unterbinden. 48 Zu diesen Mitteln zählte auch das oben beschriebene Vorrecht der herrschaftseigenen Weber, den Markt vor fremden Käufern oder Händlern aufsuchen zu dürfen, wie es außer für Babenhausen auch für den Markt Kirchheim durch die Fuggerherrschaft verfügt worden war. Verstöße wurden bei Entdeckung von den Marktaufsehern geahndet. Die nicht aus der Herrschaft Kirchheim stammende Schwaben, 4. Lieferung, 2. Aufl. Augsburg 1998, S. 150-171; D ERS ., Die Märkte - Kristallisationspunkte für eine Urbanisierung des Landes, in: W ALTER P ÖTZL (Hg.), Bauern - Handwerker - Arbeiter. Beiträge zur Wirtschafts-, Sozial- und Bildungsgeschichte (Der Landkreis Augsburg 5), Augsburg 2001, S. 188-227; D ERS ., Zwischen Stadt und Dorf? Zum Marktbegriff in Oberdeutschland, in: P ETER J OHANEK / F RANZ -J OSEPH P OST (Hg.), Vielerlei Städte - der Stadtbegriff (Städteforschung A/ 61), Köln 2004, S. 121-143. 45 Eine weitere Bedeutung erlangten die Märkte für die Handwerker, weil diese sich dort notwendigerweise mit landwirtschaftlichen Produkten eindecken mußten, worauf hier jedoch nicht weiter eingegangen werden kann. 46 StaatsA Augsburg, Adel Fugger Babenhausen Lit. 48a: Zunfft- und Ordnungsbrief des ehrsammen Weeberhandwerckhs in der Herrschafft Babenhausen, Nr. 13. 47 Vgl. A NKE S CZESNY , Das Problem der Garnversorgung in den ländlichen Weberhaushalten Ostschwabens, in: ZBLG 66/ 2 (2003), S. 495-517. 48 StadtAGünzburg, Nr. 5.666: Verbotsbrief, 9.3.1765. Ein Schneller war eine bestimmte Menge auf Haspeln aufgezogenes Garn. <?page no="62"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 61 Rosalia Brauchlin hatte z. B. 1777 versucht, schon vor dem Kirchheimer Marktbeginn Garn zu erwerben. Und ein Jahr später wollten Maria Josefa Trippeldreyin und Thomas Hamp außerhalb der Marktzeiten Garn verkaufen, wofür sie je 30 kr. Strafe zu zahlen hatten. 49 Die Herrschaft Babenhausen wiederum dämmte erfolgreich schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts den Garnkauf durch Aufstellung eigener Männer, die auf denen Märckhten keine Verkäuffler gestatten sollen, ein. 50 Das Kalkül der Garnproduzenten dürfte es dagegen gewesen sein, außerhalb der Marktzeiten Gebühren einzusparen, was noch deutlicher bei den Versuchen zu sehen ist, Garn gänzlich außerhalb des lokalen Marktes - also vor Ort bei den Spinnern im Hause - zu erwerben. Der aus Babenhausen stammende Weber Georg Gögel, der sich mehrmals des Garnkaufs in Häusern schuldig gemacht hatte, wurde deswegen im Jahre 1683 mit der nicht geringen Geldsumme von 30 fl. Strafe belegt. 51 Neben der Gebührenersparnis schlug die für das Aufsuchen der Märkte aufzuwendende Zeit im Arbeitsalltag nicht unwesentlich zu Buche. Im Herbst 1737, als die Fuggerherrschaft Babenhausen die Weber ihrer Herrschaft zur Wiedereinrichtung der Textilschau befragte, hatten diese zwar prinzipiell nichts dagegen, verlangten aber gleichzeitig einen Faktor, der bei ihnen die Ware aufkaufen sollte, damit sie selbst nicht weiters herumlaufen und das geldt für den Verzöhr ausgeben müßten. 52 Dahinter stand wohl die Erfahrung des Zeitaufwandes, die Babenhausener Textilschau wegen der zu kontrollierenden Webwaren aufsuchen zu müssen, denn die von 1613 bis 1733 bestehende Schau fand mit einbis zweimal pro Woche recht häufig statt und wurde von der Mehrzahl der Weber der Herrschaft Babenhausen auch regelmäßig aufgesucht. 53 Schon während dieser 120 Jahre hatte sich ein System entwickelt, in dem jene Weber mit nur geringem Warenausstoß ihre Waren an sogenannte Weber-Marchands bzw. Stückhändler weitergaben, die die Produkte en gros zur Schau brachten oder auch auf einem ferner gelegenen Markt veräußerten. 54 Durch die Bündelung des Warenverkaufs in der Hand dieser Webermeister und Stückhändler sparten sich vor allem die Kleinproduzenten Zeit und Geld. 49 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 211. 50 StadtA Ulm, A[2941]: Acten betr. Garnmarkt und Garnhandel 1591-1748, No. 166, Deputationsprotokoll, 5.6.1732; die Bedeutung des Garns für die Produzenten, die es zu unterstützen galt, wird durch Versuche klar, regionale Garnhandelskompagnien u. ä. zu gründen; vgl. A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 148-156. 51 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 211. 52 StaatsA Augsburg, Adel Fugger Babenhausen, Lit. 157: 1737-1738, 20.10.1737, fol. 94v. 53 A. S CZESNY , Ländliches Textilgewerbe (Anm. 18), S. 31-36. 54 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 346-349. Ein ähnliches System findet sich im Ulmer Territorium, wo Aufkäufer über Land reisten, Waren erwarben und auf überlokalen Märkten mit den besten Absatzbedingungen wieder verkauften; vgl. ebd., S. 98; vgl. auch H. M EDICK , Weben und Überleben (Anm. 13) S. 121-140. <?page no="63"?> A NKE S C ZE S NY 62 ›Zeit ist Geld‹ könnte man diese Praxis der Produzenten nennen, und zieht man ein weiteres Beispiel heran, dürfte diese Bewertung nicht ganz falsch sein. Im Jahre 1766 wurden die Spinner der wittelsbachischen Herrschaft Schwabegg verpflichtet, für eine im merkantilistischen Sinne gegründete Wollzeugmanufaktur in Landshut Schafwolle zu verarbeiten. 55 Die von 260 Spinnern der gesamten Herrschaft erarbeiteten knapp 75 Zentner Wolle, die diese nicht zwar per Gewalt oder hauptsächlichem Zwang, sondern in einer halberzwungenen Freywilligkeit 56 produziert hatten, reichten dem Faktor Rochus Pierling jedoch nicht aus, da er eine Gesamtmenge von mindestens 90 Zentnern gesponnenen Garns pro Jahr für die Verarbeitung in der kurbayerischen Wollzeugmanufaktur in Landshut anstrebte. Daraufhin wiesen die Spinner des herrschaftlichen Dorfes Ettringen auf das Mißverhältnis von Arbeitszeit, Lohn und Produktionsmenge hin, da mit der ›kurbayerischen‹ Wolle zwar mehr verdient werden könne, aber deren Feinheit und Kürze eine längere Spinndauer benötige. Deswegen wären nur künder und feine Leuthe zu gebrauchen, welche keiner harten Arbeit obliegen derffen und solche zarten Fünger haben, die alle Härlein an disem [der kurbayerischen Wolle, A. S.] empfinden, sonst reiße die Wolle, weswegen sie damit behutsam umgehen müessen und nicht so fix sind. Andere Wolle sei länger und schmalziger, schlupfft nicht so schnell aus den Füngern, und sei somit auch für grobe Hände geeignet. 57 Zweifelsohne dürften die ›groben Hände‹ Ergebnis bäuerlicher Arbeiten gewesen sein, auch weil gerade das Garnspinnen in ärmeren Haushalten als Zusatzverdienst zur Existenzsicherung fungierte und die Einwohner der Herrschaft Schwabegg als ausgesprochen bedürftig galten. 58 Der Argumentation der Wollspinner, daß die feine bayerische Wolle trotz höherer Entlohnung zu viel Verarbeitungszeit in Anspruch nehme, infolgedessen der Verdienst geringer sei und somit nicht zu ihrer materiellen Sicherung beitrüge, liegen nicht nur rationale Überlegungen zugrunde, sondern sie wirft einen Blick auf den Umgang mit Zeit in ländlichen Handwerkerhaushalten. 59 55 Nachfolgendes nach A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 104-108. 56 StaatsA Augsburg, Kurbayerische Herrschaften, Akt 1790: Berichte über die kurfürstliche Wollmanufaktur in der Herrschaft Schwabegg und Türkheim, 1766, Überschlag vom 1.2.1767. 57 StaatsA Augsburg, Kurbayerische Herrschaften, Akt 1790: Berichte über die kurfürstliche Wollmanufaktur in der Herrschaft Schwabegg und Türkheim, 1766, undatierte Specification. 58 J OHANN L AMBERT K OLLEFFEL , Schwäbische Städte und Dörfer um 1750. Geographische und topographische Beschreibung der Markgrafschaft Burgau 1749-1753, hg. von R OBERT P FAUD (Beiträge zur Landeskunde von Schwaben 2), Weißenhorn 1974, S. 378. 59 Zudem fungierten zwei Ettringer Spinner ähnlich den Weber-Marchands als Vermittler zwischen den Spinnern und den Märkten in Lindau und Memmingen; A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 107. <?page no="64"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 63 Marktzeiten - seien es Jahr- und Wochenmärkte, Textilschauen oder Garnmärkte - als verbindliches Strukturmerkmal handwerklicher Lebensweisen auf dem Land sind in der Forschung noch weitgehend unberücksichtigt. Nicht zuletzt agrarwirtschaftlich zentrierte Prämissen, die alles ländliche Leben auf ein bäuerliches Leben beziehen, marginalisieren die Bedeutung gewerblicher Arbeit, weil sie diese lediglich als Zusatzerwerb zum landwirtschaftlichen Erwerb bewerten, nicht jedoch als eigenständig zeitabhängiges und zeitbestimmendes Phänomen. Daß sich vielmehr die Ökonomisierung und Kommerzialisierung des flachen Landes in Ostschwaben zu »Marktstrategien als eigene Handlungsmuster« 60 der ländlichen Gewerbetreibenden entwickelten, belegen die durchdachten Zeit-Kosten-Nutzen- Analysen der Landhandwerker. Ferner konnten konkrete Marktzeiten, ähnlich den Zunftzeiten, quer zu agrarisch bestimmten Abläufen liegen, zumal dann, wenn das Handwerk zum Haupterwerb geworden war, wie es für das 17. und 18. Jahrhundert vielfach belegt ist. 61 Zeit wurde dann nicht nur zum Argument, wie es sowohl die Babenhausener Weber als auch die Schwabegger Spinner nutzten, sondern der pragmatische Umgang mit Zeit führte zu Lösungen wie dem Aufkommen von Weber-Marchands, die aus Zeitersparnis für die Produzenten die Märkte aufsuchten. Insofern schlagen sich unterschiedliche Zeitsysteme - bäuerliche oder handwerkliche - in festgesetzten Zeiten agrarwirtschaftlich bedingter Rhythmen oder institutioneller Einrichtungen wie Markt und Zunft nieder, die je nach Gesellschaftsgruppe genutzt wurden. 4. Lebenszeiten Bei der Betrachtung einschneidender Lebensereignisse wie Trauung und Geburt lassen sich grundsätzlich Erkenntnisse über die Auswirkungen handwerklicher oder bäuerlicher Lebensrhythmen ermitteln. 62 Üblicherweise wird angenommen, daß Hochzeiten und Geburten ein Licht auf geburtenregulierende Maßnahmen werfen, die durch kirchliche Vorschriften sowie durch den bäuerlichen Arbeitsrhythmus im Jahresverlauf geprägt gewesen seien. 63 Inwieweit dies für eine stark 60 R. K IESSLING , Zur Kommerzialisierung ländlicher Regionen (Anm. 44), S. 15. 61 Vgl. A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 219-249. 62 Vgl. allgemein zur historischen Demographie J OHN E. K NODEL , Demographic behaviour in the past. A study of fourteen German village populations in the 18 th and 19 th century, Cambridge 1988; A RTHUR E. I MHOF , Einführung in die Historische Demographie, München 1977; C HRISTOF D IPPER , Übergangsgesellschaft. Die ländliche Sozialordnung in Mitteleuropa um 1800, in: Zeitschrift für Historische Forschung 23 (1996), S. 57-87. 63 W ERNER L ENGGER , Leben und Sterben in Schwaben. Studien zur Bevölkerungsentwicklung und Migration zwischen Lech und Iller, Ries und Alpen im 17. Jahrhundert, Teil I: Darstellung (Historische Migrationsforschung in Bayerisch-Schwaben 2), Augsburg 2002, <?page no="65"?> A NKE S C ZE S NY 64 gewerblich geprägte Region zutrifft, kann am Beispiel des westlich von Augsburg gelegenen Ortes Langenneufnach, dessen Bevölkerung im 18. Jahrhundert um 20 % auf ca. 830 Einwohner anstieg 64 und dessen Einwohner mehrheitlich von der Weberei lebten, 65 überprüft werden. Für dieses Weberdorf sind Hochzeiten und Geburten über 140 Jahre hinweg - zwischen 1662 und 1800 - quellenmäßig sehr gut dokumentiert, 66 so daß Rückschlüsse auf Verhaltensmuster in der ländlichen Gesellschaft gezogen werden können, die einen Einblick in die Saisonalität dieser zwei Ereignisse gewähren. Angenommen wird, daß das sogenannte ›europäische Heiratsmuster‹ und damit die Geburten durch kanonische Vorschriften und landwirtschaftlich bedingte Erfordernisse in einer bäuerlichen Gesellschaft geprägt worden seien. Das habe zeitversetzt sinkende Trauungs- und Geburtenziffern in der Fasten- und Adventszeit zur Folge gehabt. Umgekehrt seien beide Ziffern in den Wintermonaten angestiegen, die Geburten vor allem deshalb, weil eine arbeitswirtschaftliche Belastung der Frauen in den sommerlichen Erntemonaten die Pflege und Versorgung der Neugeborenen zu stark eingeschränkt hätte, so daß empfängnisverhütende Maßnahmen eingesetzt worden seien. 67 Diesen Modellen entspricht die monatsspezifische Geburtenhäufigkeit in Langenneufnach, wie nebenstehende Graphik verdeutlicht, nicht in Gänze. Die relativ hohen Werte in den Sommermonaten - den, wie gesagt, arbeitsreichen Monaten im landwirtschaftlichen Jahreslauf - sprechen gegen eine durch Landwirtschaftszyklen bedingte Empfängnisverhütung. Vor allem die in Relation zueinander stehenden geringen absoluten Unterschiede in den Prozentwerten weisen auf eine tendenzielle Angleichung von Sommer- und Wintergeburten hin, so daß der Einfluß von bäuerlichen Lebens- und Arbeitsrhythmen geschwunden sein könnte. Und schließlich scheint die von der Kirche geforderte sexuelle Enthaltsamkeit in der Advents- und in der Fastenzeit angesichts der hohen Geburtszahlen im August/ September und im Dezember kaum gegriffen zu haben. 68 S. 368-370; C HRISTIAN P FISTER , Bevölkerungsgeschichte und Historische Demographie 1500-1800 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 28), München 1994, S. 24, 85, 90-92, 96. 64 Vgl. zur Demographie in Langenneufnach A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 250-266. 65 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 252f. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gingen 47 % der Haushaltsvorstände einem Handwerk nach, wovon 20 Haushalte hauptberuflich die Weberei betrieben; ebd., S. 240. 66 Es wurden 4.278 Geburten und 906 Trauungen nicht-namentlich und aggregativ aufgenommen; vgl. A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 251 Anm. 154. 67 Vgl. zu den unterschiedlichen Modellen W. L ENGGER , Leben und Sterben (Anm. 64), S. 368-370. 68 W. L ENGGER , Leben und Sterben (Anm. 64), S. 370 und Anm. 203, der darauf hinweist, daß kirchliche Forderungen nach sexueller Enthaltsamkeit im Mittelalter noch stärker befolgt wurden als in der Frühen Neuzeit. <?page no="66"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 65 Graphik 1: Monatsspezifische Verteilung der Geburten in Langenneufnach 1662- 1800 69 Obgleich nicht ganz so prägnant, so entspricht auch die saisonale Verteilung der Hochzeiten nicht den typisch bäuerlichen Rhythmen (Graphik 2). Das Heiratsverbot in der Fasten- und Adventszeit konnte offensichtlich durchgesetzt werden, und die Hochzeiten in den arbeitsarmen Wintermonaten unterstreichen eine noch bestehende agrarische Tradition der Heiratspraxis. 70 Untypisch dagegen sind die hohen Trauungsziffern in den in der Landwirtschaft arbeitsreichen Monaten Mai bis Juli. Ein eindeutiger Konnex von bäuerlichem Jahresrhythmus und den bevorzugten arbeitsarmen Hochzeitsmonaten im Winter ist nur bedingt festzustellen. Vielmehr deuten gerade die sommerlichen hohen Hochzeitsziffern auf Auflösungserscheinungen bäuerlicher Heiratsmuster, weil wohl eine zunehmende Zahl gewerblicher Haushalte dank »saisonal ausgeglichenerem Arbeitsanfall« 71 unabhängiger zu agieren vermochte. 69 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), Diagramm 18, S. 258. 70 W. L ENGGER , Leben und Sterben (Anm. 64) S. 582. 71 C HR . P FISTER , Bevölkerungsgeschichte (Anm. 64), S. 90; W. L ENGGER , Leben und Sterben (Anm. 64), S. 580. 8,63% 8,63% 9,38% 8,43% 7,71% 7,50% 6,97% 8,75% 8,24% 9,00% 8,31% 8,45% 0% 1% 2% 3% 4% 5% 6% 7% 8% 9% 10% Anteil der einzelnen Monate Monat <?page no="67"?> A NKE S C ZE S NY 66 Graphik 2: Monatsspezifische Verteilung der Trauungen in Langenneufnach 1662- 1800 72 Die Bevölkerung Langenneufnachs scheint sich insgesamt der Kausalität von Trauungen und Geburten zu entziehen, 73 da sich die Schwankungen der Hochzeiten im saisonalen Verlauf nicht im selben Maße bei der Verteilung der Geburten wiederfinden, sondern fast im Gegenteil die Heiratsabstinenz in der Fasten- und Adventszeit nicht einer sexuellen Abstinenz entsprach. Obgleich hier lediglich Tendenzen aufgezeigt werden können, scheinen die monatsspezifischen Verteilungen von Geburten und Trauungen in Langenneufnach nicht ausschließlich vom bäuerlichen Arbeitskalender geprägt gewesen zu sein, weil sich die gewerbliche Arbeit zunehmend über das ganze Jahr hin ausgewogen verteilte. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß die hier zugrundegelegten Werte auf beide Bevölkerungsgruppen rekurrieren, also auf handwerkliche u n d bäuerliche Gruppen, waren agrarisch bestimmte Faktoren wohl bei weitem nicht (mehr) so dominant in der ländlichen Gesellschaft, sondern wurden von handwerklich bestimmten Arbeits- und Lebensrhythmen durchbrochen. Ähnliches gilt bei Beschreitung eines anderen Weges, der nicht auf aggregativstatistischen Werten basiert, sondern auf qualitativ-prosopographischen Analysen der Lebenswege von Handwerkern. Im schon genannten Weberdorf Langenneufnach konnten ›Weber-Dynastien‹ ausgemacht werden, die ihr Handwerk über Generationen hinweg weitergaben. 74 Frappierend dabei ist, daß trotz der Erweiterung der landwirtschaftlich zu bebauenden Ackerflächen, mit denen spätestens in 72 A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), Diagramm 19, S. 259. 73 W. L ENGGER , Leben und Sterben (Anm. 64), S. 370. 74 Vgl. zum folgenden A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 288-292. 11,52% 13,62% 1,22% 8,08% 11,63% 9,86% 13,07% 5,54% 7,97% 7,42% 9,86% 0,22% 0% 2% 4% 6% 8% 10% 12% 14% 16% Anteil der einzelnen Monate Monat <?page no="68"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 67 der dritten Generation eine bäuerliche Existenzform hätte gewählt werden können, die Weberei bis in die fünfte Generation Fixpunkt des Erwerbslebens blieb. Die Handwerker traten weiterhin der Zunft bei und wurden mithin Zunftmeister, obgleich die Mitgliedschaft Kosten verursachte. Das weist auf nicht-agrarische Lebensziele hin, für die Lebenszeit eingesetzt wurde, angefangen von der Ausbildung bis zum zeitraubenden Amt als Zunftmeister. Obwohl die Mischökonomie aus Landwirtschaft und Gewerbe durchaus auch die Grundlage eines Handwerkerhaushaltes bilden konnte, war die Persistenz des Handwerks Dreh- und Angelpunkt der Existenzsicherung, nicht die Persistenz des Hofes wie in bäuerlichen Haushalten. 75 Ein Beispiel kann dies illustrieren: Im Jahre 1737 übergaben das Weberehepaar Katharina und Lienhard Thoma nach 46jähriger Ehe ihrem Sohn Matthias ihr im Laufe der Zeit erworbenes Gut von 24 Jauchert Acker, knapp 10 Tagwerk Mahd, je drei Pferde und Kühe, Ackergeräte und drei Webstühle, um sich auf das Altenteil zurückziehen zu können. 76 Durch den frühzeitigen Tod des Sohnes Matthias nur fünf Jahre später wurde das Ehepaar jedoch wieder in die Pflicht genommen, weil es nicht nur das Gut für die beiden verwaisten Enkel, den dreijährigen Anton und den 18 Monate alten Josef, zu verwalten hatte, sondern sich zudem der Großvater Lienhard verpflichtete, die beiden Enkel bis zum 15. Lebensjahr zu versorgen und sie im Weberhandwerk auszubilden. 77 Damit aber wurde - trotz der Größe des landwirtschaftlichen Gutes, das als alleiniges Fundament zur Existenzsicherung ausgereicht hätte 78 - das Handwerk als weitere Erwerbsgrundlage tradiert. In diesem wie in weiteren Fällen geht es weniger um eine Bewertung dessen, ob die agrarische oder die gewerbliche Erwerbsgrundlage ›einkommensmächtiger‹ war, sondern um die Perspektive auf die jeweiligen Ziele im Lebenslauf. Es wäre irreführend, großen Grundbesitz zwangsläufig mit bäuerlichen Lebenszielen gleichzusetzen, zumal dann, wenn das Handwerk über bis zu fünf Generationen weitergegeben wurde. Vice versa war nicht jeder Handwerkerhaushalt einer agrarisch begründeten Lebenssicherung abgeneigt, indem in Grund und Boden investiert wurde und späterhin das Handwerk an Bedeutung verlieren konnte. Das heißt: Der Blick auf die spezifischen Handlungsmuster von Handwerkern und Bauern in einem Dorf wie Langenneufnach macht differierende Zeitkulturen und individuelle Lebensziele erkennbar - die mithin aber auch kollidieren konnten. 75 Vgl. dazu J. S CHLUMBOHM , Lebensläufe (Anm. 13), passim. 76 FA 32.5.17, Herrschaft Mickhausen: Briefprotokolle 1736-1745, 8.7.1737, fol. 56r; Matthias mußte dieses Erbe mit 1.100 fl. ablösen. 77 FA 32.5.17, Herrschaft Mickhausen: Briefprotokolle 1736-1745, 14.7.1842, fol. 142r. 78 H ERMANN G REES , Ländliche Unterschichten und ländliche Siedlung in Ostschwaben (Tübinger Geographische Studien 58), Tübingen 1975, S. 56. <?page no="69"?> A NKE S C ZE S NY 68 Im Jahre 1710 entspann sich zwischen Bauern und Handwerkern in Langenneufnach ein Streit, bei dem es um eine gerechte Besteuerung der Grundstücke ging. 79 Die bis dato vollzogene Pauschalbesteuerung belastete Bauern und Handwerker nach vorhandenen Stückzahlen von Grund-, Acker- und Viehbesitz ohne Berücksichtigung unterschiedlicher Größen, d. h. kleine Grundbesitzer mußten die gleiche Steuer abführen wie große Gutsbesitzer. Die Forderung nach einer Steuer, die abhängig sein sollte von einer größenabhängigen Taxation des Gesamtbesitzes, hätte vor allem die handwerklichen Seldenbesitzer entlastet, wie in einer protokollierten Befragung aller Bewohner evident wird. Die anfänglichen Argumentationen der Bauern handelten von der Erfordernis eines größeren Hofes zur Unterbringung des Viehs und des für dieses notwendigen Heus, während die kleinen Seldenbesitzer wegen ihres geringen Viehbestandes kaum eines größeren Hofes bedurften. Dagegen verwiesen die Seldner wiederum auf die Kosten, die sie aufgrund des Heukaufes aufzubringen hatten. 80 Ohne den Konflikt hier bis ins Detail nachzeichnen zu können, wurden die unterschiedlichen Lebensbedingungen von Bauern und Handwerkern in einer abschließenden Stellungnahme des fuggerschen Pflegers, der die Befragung durchgeführt hatte, recht klar umrissen. Seiner Ansicht nach war problematisch, daß die mehriste aus solchen söldnern bestehen, die wenigist ein oder 1,5 Jauchert ackers in jedem ösch zu pawen haben und darneben ein handtwerckh treiben, als maurer, zimmerleuth, kistler, wagner und die mehriste weber seint, die jahraus und jahrein, zwei und gar drei knappen sezen, sommer und winter ihr gewisse nahrung haben, ia gar auch gewinn machen. Dagegen seien den Bauern trotz ihrer harten Arbeit höhere Steuern auferlegt, zumal ihre Landwirtschaft ständig durch Unwetter bedroht sei. Der Handwerker wiederum könne nach eines ieden handtwerckhart gelegenheit und des handtwerckhs erfahrenheit, fleis […] seine mittel so hoch bring[en], daß er anderer gueter umb einen leuthen preiß an sich bringet, seine kinder besser dann der mit arbait überhauffte bauer aussteuerte und den beträngten, der gn. Herrschaft mehr stifft und gült bringende bauern zu stolzieren suchet. 81 Recht offensichtlich nimmt der Pfleger die Perspektive der Bauern ein, da er unterschwellig sowohl den ausreichenden und gewinnbringenden Erwerb der Handwerker negativ darstellt - nicht nur hätten die Seldner ›immer‹ ihr sicheres Einkommen, sondern sie schafften es ›gar‹ durch ihre Gewinne, weitere Güter zu erwerben, den Kindern eine gute Aussteuer zu verschaffen und würden auf die Bauern herabsehen. Bezüglich des Bauern entwirft der Fuggerangestellte ein Bild 79 Vgl. zum folgenden A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 241-246. 80 FA 32.2.8 1/ 6, Gemeinde Langenneufnach: Neuer Steuerverschreibung und ihre Verweigerung durch die Untertanen, 1710/ 11, Supplik der beiden Gerichte Langenneufnach und Mickhausen. 81 FA 32.2.8 1/ 6, Gemeinde Langenneufnach: Neuer Steuerverschreibung und ihre Verweigerung durch die Untertanen, 1710/ 11, Supplik der beiden Gerichte Langenneufnach und Mickhausen, Bericht des Pflegers J. K. Schol. <?page no="70"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 69 des schwer arbeitenden, aber rechtschaffenen und der Herrschaft weit höhere Steuern einbringenden Ackermannes, der von klimatischen Bedingungen abhängig und bedroht sei. Der Pfleger beklagte damit letztlich, daß das dörfliche Sozialgefüge, das normalerweise den Bauern an die ranghöchste Stelle verwies, durch die Handwerker nicht nur aufgebrochen, sondern nahezu auf den Kopf gestellt sei. Denn überspitzt gesagt, hätten die Gewerbetreibenden jene Sicherheit und materielle Grundlage erreicht, die eigentlich den Bauern zustehe. Ohne Zweifel stecken in diesen Beschreibungen Vorurteile und Übertreibungen, doch belegen sie anschaulich die Unabhängigkeit der Handwerker von agrarisch bestimmten Zeitrhythmen, wie sie anhand der Markt- und Zunftzeiten und auch schon der Geburten und Trauungen eruiert werden konnte. Noch prägnanter werden die Unterschiede freilich in der Auslotung der Lebensziele von Handwerkerdynastien und Bauern und nicht zuletzt im Steuerkonflikt, der - und das ist entscheidend - in zeitgenössischer Perspektive das Auseinanderdriften von Handwerk und Landwirtschaft offenlegt. 5. Zeit in ländlichen Gewerbegesellschaften Um die Pluralität von Zeitordnungen auf dem Land zu erfassen, sind hier weniger die agrarwirtschaftlich determinierten Jahresrhythmen zu betrachten, die wie eingangs vermerkt schon vielfach beschrieben wurden. Vielmehr ist hier aus der Binnenperspektive der Handwerker bzw. der Weber nochmals zu resümieren, wie und wodurch ihre gewerbliche Arbeits- und Lebenszeit getaktet war. Die Zunftzugehörigkeit der Handwerker nahm wegen der Ausbildung vom Lehrling bis zum Meister ein erhebliches Maß an Zeit in Anspruch. Daß eine Ausbildungszeit von einigen Jahren durchlaufen werden mußte, garantierte nicht nur den Handwerkern später ein mehr oder weniger gesichertes Ein- und Auskommen, sondern war im mittleren Ostschwaben Voraussetzung, um städtische und ländliche Märkte zum Erwerb und Absatz der produzierten Waren aufsuchen zu können. Eben diese regionale und auch überregionale Bedeutung ließ Zeit in den Zunft- und Gesellenordnungen mit regionaler und überregionaler Bedeutung zum Regelungsgegenstand werden, 82 in denen zumindest im groben Rahmen Arbeits-, aber auch Gottesdienst- und Festzeiten festgehalten wurden. Durch diese Festlegungen wurde Zeit nicht nur zu einem Reglementierungsinstrument für den handwerklichen Arbeitsalltag, sondern umgekehrt nutzten die Handwerker Zeit als Argument, wenn sie die Ordnung nicht einhalten konnten oder wollten. Darauf 82 Vgl. dazu K ARL H ÄRTER , Zeitordnungen und ›Zeitverbrechen‹: Reglementierung, Disziplinierung und Fragmentierung von Zeit in der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung, in: A. B RENDECKE / P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Die Autorität der Zeit (Anm. 15), S. 187-232. <?page no="71"?> A NKE S C ZE S NY 70 verweist die Supplik der Kettershausener, Mohrenhausener und Bebenhausener Weber, die wegen der Ferne zum Zunftmittelpunkt, dem Markt Babenhausen, nicht, nicht rechtzeitig oder nur mit Mühe zum Gottesdienst und zu den für die Zunft konstitutiven Jahrtagen zu erscheinen vermochten und damit gegen ihren Willen gegen die Zunftordnung verstießen. 83 Mit anderen Worten: Die Zeit war zu knapp, um den Raum bewältigen zu können. Die Weber waren ferner durch die Märkte zeitgebunden, wollten sie ausreichend Rohware für ihr Handwerk erwerben. Denn der in Zunft- und Marktordnungen gesetzte vorzeitige Zugang zum (Waren-)Markt, der außerherrschaftliche Aufkäufer erst später zuließ, garantierte den Textilproduzenten eine relative Sicherheit, sich durch den ausreichenden Garnerwerb gegen die Konkurrenz durchsetzen zu können. Die Notwendigkeit der Marktzeitregelungen war durch die seit dem 15. Jahrhundert zunehmende Garnknappheit gegeben, was sich u. a. bis ins 18. Jahrhundert in Garnausfuhrverboten wie auch Verboten des Fürkaufs durch in der Region herumziehende Garnhändler niederschlug. Die Umgehung der Marktzeiten durch vorzeitigen oder außerhalb der Märkte vorgenommenen Garnkauf belegt nichts weniger, als daß Zeit auch im konkreten Fall Geld war: infolge der Einsparung von Markt- und Zollgebühren. ›Zeit ist Geld‹ war für die Weber in der Herrschaft Babenhausen ein klares Argument, denn der Versuch einer erneuten Schauerrichtung sollte mit dem Einsatz von Mittelsmännern, den Faktoren, verknüpft werden, da die Handwerker keine Zeit für das ›Herumreisen‹ und kein Geld für den ›Reiseunterhalt‹ aufbringen wollten, um ihre Textilware einer Qualitätskontrolle zu unterziehen. Noch prägnanter ließen dies die Schwabegger Spinner verlautbaren, die mit einem direkten Zusammenhang von Arbeitszeit, Lohn und Arbeitsaufwand als Rechtfertigung für ihre ablehnende Haltung der kurbayerischen Wolle gegenüber argumentierten. Wenn auch nicht immer meßbar, so hatte Zeit im Hinblick auf Zunft und Markt konkrete Auswirkungen für die Handwerker, weil weite Teile des Alltags durch herrschaftliche Verordnungen im Zusammenspiel mit kollektiven Übereinkünften in Bezug auf Zeit und Raum gestaltet waren. 84 Durch die Reglementierungs- und Konsenszeiten, die das Arbeitsleben der Handwerker im weitesten Sinne einem mehr oder weniger starken Takt unterwarfen, wurden die Gewerbetreibenden zunehmend unabhängig von natürlichen Pflanz- und Erntezeiten im Jahreslauf. Diese Unabhängigkeit und gleichmäßiger im Jahr verteilte Arbeit sowie regelmäßigere Einkommen brachten ein Heirats- und 83 Ähnliches gilt im Prinzip für die Weber des Domkapitels Augsburg, dessen Zunftmittelpunkt, der Markt Dinkelscherben, für einige Weber im recht großen Ausdehnungsgebiet des Domkapitels zu weit entfernt war; vgl. A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 201-203. 84 Vgl. Einführung von Dietmar Schiersner in diesem Band. <?page no="72"?> D IF F ER IER ENDE Z EITEN IN LÄNDLIC HEN G E S ELL S CHAF TEN 71 Geburtenmuster hervor, die den bäuerlichen Zyklen und kirchlichen Konzeptionsvorschriften nur noch bedingt entsprachen. 85 Verläßt man Stunden-, Monats- und Jahreszeiten und wendet sich den langfristigen Zielen der Handwerker zu, wird die Relevanz des Gewerbes im Lebenslauf greifbar, weil die Persistenz des Handwerks über mehrere Generationen einen Stellenwert erlangt hatte, der die Existenzsicherung durch landwirtschaftliches Einkommen mindestens an die zweite Stelle treten ließ. Evident wird dies an den zeitgenössischen Aussagen im Steuerstreit zu Beginn des 18. Jahrhunderts, die dem Handwerk jene existenzsichernden Einkommen zusprachen, welche die Landwirtschaft nicht mehr zu erbringen vermochte. 86 Allerdings: So deutlich die Verschiebungen innerhalb eines Dorfes wie auch innerhalb des ostschwäbischen Gewerberaumes im Verhältnis von Bauern und Handwerkern - numerisch, arbeitstechnisch und lebenszeitlich - sind, eine Polarisierung beider Gruppen ergab sich daraus nicht. Schnittmengen zwischen Bauern und Handwerkern erwuchsen allein schon aus dem Marktgeschehen, da die Handwerker von Agrarwaren und die Bauern von Gewerbeprodukten abhängig waren. Solche Komplementarität generierte gemeinsame Zeiten und Räume, während die spezifischen Erfahrungen in Zunft oder Landwirtschaft die Eigenart und das Nebeneinander ihrer jeweiligen Zeitordnungen betonen - von Zunftausbildung und Jahrtagsfestivitäten in Gewerbehaushalten und von meteorologisch-jahreszeitlichen Gegebenheiten in bäuerlichen Haushalten. 87 Die sich verändernden ökonomischen Rahmenbedingungen und die soziokulturellen Wandlungsprozesse in der ostschwäbischen Gewerbelandschaft brachten ein »Umgehen mit Raum bzw. Zeit« hervor, 88 das dem je eigenen Lebensrhythmus entsprach. Doch was wem jeweils genau entsprach, ist nur erkennbar, wenn eine Gesellschaft durch eingehende Detailstudien in ihren spezifischen Lebensbedingungen und Räumen dechiffriert wird. Erst dann - um das Eingangszitat modifiziert nochmals aufzunehmen - wird auch heute noch sichtbar, was Handwerker und Bauern im Raum zurückgelassen und wie sie sich in der Zeit ausgebreitet haben. 85 Freilich ist es ein dringendes Forschungsdesiderat, wie dauerhaft bäuerliche Rhythmen oder Heiratsmuster überhaupt bestanden. Angemahnt sei hier eine grundlegende Dekonstruktion agrarhistorischer Prämissen. 86 Zu berücksichtigen wären im Hinblick auf diesen ›Lebensziel-Faktor‹ auch die unterschiedlich ausgerichteten Kreditaufnahmen von Handwerkern und Bauern, da Handwerker als Bürgschaft für Kreditaufnahmen die zukünftig zu erzielenden Gewinne aus dem Handwerk geltend machten; vgl. A. S CZESNY , Kontinuität (Anm. 2), S. 295-327. 87 Quellen zu Konflikten von Bauern und Handwerkern im Hinblick auf die genannten Faktoren liegen nicht vor. Im übrigen ist anzunehmen, daß Handwerker an Erntedankfesten usw. teilnahmen. 88 Vgl. Einführung von Dietmar Schiersner in diesem Band. <?page no="74"?> 73 G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM Glocken und Uhren. Zeitmessung und Zeitordnungen in der Stadt Die Geschichte der Zeitmessung, speziell der Zeitmeßtechnik, und die Geschichte der mechanischen Uhren waren und sind klassische Themen der Technikgeschichte. Dieses Thema hat, seit neuerdings Zeitfragen oder Zeitprobleme in einem ganz weiten Sinn so große Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nicht an Interesse verloren. Die Entwicklung und die Einführung der mechanischen Uhr im späten Mittelalter wird immer wieder als eine technikgeschichtliche Wende beschrieben, und die mechanische Uhr wird als prototypische Maschine, als erster Automat, als ›Selbstbeweger‹, als Vorläufer der Computer bezeichnet. Immer wieder wird das Diktum des amerikanischen Technikhistorikers Lewis Mumford zitiert: »Die Uhr, nicht die Dampfmaschine, ist die Maschine, die das Industriezeitalter am stärksten geprägt hat.« 1 Die Uhr bzw. die Uhrenzeit und uhrengesteuertes Verhalten stehen faktisch und symbolisch für verbesserte Praxen von Organisation, Koordination, Pünktlichkeit und für striktere Disziplinanforderungen. Uhrenbesitz und Uhrenbenutzung gelten als Indikator für die in verschiedenen Gesellschaften schon oder noch nicht erreichte Modernisierung und damit implizit für die Überlegenheit der entwickelten gegenüber den unterentwickelten Gesellschaften, der Ersten bzw. Zweiten Welt gegenüber der sog. Dritten Welt. Seit der Industrialisierung mit ihrer maschinellen Produktion und den damit einhergehenden verschärften Anforderungen an die Zeitdisziplin der Fabrikarbeiter steht die Uhrenzeit auch für die Entfremdung von natürlichen Rhythmen, für Zeitknappheit, für Zeitdruck, für alle Formen von Zeitkontrolle, für die Durchsetzung der Zeit-Geld-Gleichung, und auch für die Frage ob die sog. Beschleunigung des Lebens auch mal ein Ende findet. Uhren und Uhrengebrauch sind nicht nur zu einem Symbol für Modernisierungsprozesse geworden, sie gelten auch als Chiffre für das moderne, seit dem Spätmittelalter, genauer seit der Wende zum 14. Jahrhundert faßbar werdende moderne Zeitbewußtseins. Diese Modernisierungsprozesse beginnen eindeutig in den europäischen Städten des späten Mittelalters. Die Verwendung von Uhren und von modernen, gleichlangen Stunden für die stadtöffentliche Zeitorganisation war bis in die frühe Neuzeit hinein eine europäische Besonderheit. Dabei waren die Ähnlichkeiten hinsichtlich 1 L EWIS M UMFORD , Technics and Civilisation, New York 1934, S. 14. <?page no="75"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 74 der Zeitmeß- und Zeitanzeigetechnik und des sozialen Umgangs mit der Uhrenzeit in den ca. 5.000 europäischen Städten weit größer als die Verschiedenheiten zwischen Städten, Regionen und Kulturräumen. Unter dem Einfluß der Arbeiten des französischen Historikers Jacques Le Goff wird dieser Übergang in die Moderne in zahlreichen Geschichtsbüchern ganz verschiedenen Niveaus oft als Übergang von einer ›Zeit der Kirche‹ zu einer ›Zeit der Kaufleute‹ beschrieben. Damit ist gemeint, daß zunächst allein die Kirche über die technischen Mittel der Zeitmessung und Zeitindikation verfügte und damit auch eine Art Herrschaft bzw. eine temporale Organisationshoheit über die Umgebungsgesellschaft ausüben konnte. Im Spätmittelalter sei dann in den Städten diese Dominanz auf die Kaufleute als Händler und als Arbeitgeber übergegangen. 2 Die parolenhafte Entgegensetzung von der ›Zeit der Kirche‹ und der ›Zeit der Kaufleute‹ verliert bei genauerem Hinsehen an Plausibilität, sie ermöglicht aber, damit verbundene Fragen schärfer in den Blick zu nehmen. Seit der Spätantike waren in Klöstern und Kirchen v. a. Sonnen- und Wasseruhren sowie verschiedene astronomische Geräte zur Zeitmessung und erst kleinere, dann auch größere Glocken zur Anzeige der Zeit und zum Ruf zu den Gottesdiensten in Gebrauch. Diese Glockensignale strukturierten in gewissem Umfang auch den Alltag der Menschen in der Umgebung. Während des ganzen Mittelalters vermehrte sich überall in Europa das kirchliche und dann auch das weltliche Geläut. Danach verminderte sich bis ins 19. Jahrhundert die Vielfalt der Glockensignale. Privater Uhrengebrauch machte sie als Zeitsignale obsolet, der Lärm der Städte und Fabriken übertönte sie immer mehr. 3 Glocken waren bekanntlich oft Kriegsbeute, Glocken sind in gegen das Christentum gerichteten Kampagnen gestürzt und immer wieder aus militärischen Gründen konfisziert und zu Kanonen umgegossen worden. Diese Verluste haben das Interesse an ihrer Inventarisierung stimuliert und zur Begründung eines eigenen Wissenschaftszweiges, der Campanalogie, geführt. Neuerdings interessiert man sich verstärkt für die Rolle der Glocken in der christlichen Liturgie, wie auch für ihr Geläut als Rhythmusgeber und Signalmittel im städtischen Alltag. Die unverwechselbare städtische Glockenkulisse stiftete und festigte gemeindliche und urbane Identitäten. Unter Begriffen wie ›paysage sonore‹, 2 J ACQUES L E G OFF , Zeit der Kirche und Zeit des Händlers im Mittelalter [frz. 1960], in: M ARC B LOCH / C LAUDIA H ONEGGER (Hg.), Schrift und Materie der Geschichte.Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, Frankfurt 1977, S. 393-414; D ERS ., Die Arbeitszeit in der »Krise« des 14. Jahrhunderts: Von der mittelalterlichen zur modernen Zeit [frz. 1963], in: D ERS ., Für ein anderes Mittelalter. Zeit, Arbeit und Kultur im Europa des 5.-15. Jahrhunderts (Sozialgeschichtliche Bibliothek), Weingarten 1987, S. 29-42. 3 A LAIN C ORBIN , Die Sprache der Glocken. Ländliche Gefühlskultur und symbolische Ordnung im Frankreich des 19. Jahrhunderts [frz. 1994], Frankfurt 1995. <?page no="76"?> G LOCKEN U ND U H R EN 75 ›paessagio sonoro‹, ›soundscape‹ wird gegenwärtig in zahlreichen Studien die vielfältig tönende und emotional stark besetzte akustische Umwelt in den vormodernen und weitgehend illiteraten Gesellschaften mit Hilfe - allerdings stummer - Textzeugnisse untersucht. 4 Dabei spielt ganz deutlich ein nostalgisches Interesse an den untergegangenen bzw. vom modernen Lärm und Krach verdrängten Tönen in ›Glockeneuropa‹ eine Rolle - um einen sehr glücklichen Ausdruck des österreichischen Kulturhistorikers Friedrich Heer zu zitieren. Schließlich ist heutzutage immer wieder in politischen Auseinandersetzungen und juristischen Expertisen vom Recht auf bzw. vom Verbot von Glockengeläut die Rede. 5 Gefragt wird, ob das Recht auf Glockenläuten von der Freiheit auf Religionsausübung (Grundgesetz Art 4,2) oder durch das hergebrachte Recht auf öffentlichen Kult der großen Kirchen gedeckt ist. Dem steht gegenüber das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Gesundheit (Grundgesetz Art. 2,2). Aus solcher Perspektive ist Glockenläuten für manche eine vermeidbare ›Lärmimmission‹, also ein ökologisches Problem, eine ›emotionale Belästigung‹ oder, wie gelegentlich vorgebracht, Bestandteil des klerikalen ›Lärmterrors‹. Aktuell geht es in einigen europäischen Ländern beim Streit um die Errichtung von Moscheen auch um die akustische Luftüberlegenheit des Kirchengeläuts über den Ruf der Muezzin. Das ist eine interkulturell nicht triviale Frage, weil im Bereich des Islam Glockengeläut seit Mohammed Anathema war und ist, d. h. keinesfalls geduldet werden soll. 6 Im folgenden seien die historischen Entwicklungslinien der Glockengeschichte und der Verbreitung der öffentlichen Uhren in den europäischen Städten skizziert und, soweit möglich, an den Quellen zur Geschichte von Memmingen als einer typischen vormodernen Mittelstadt veranschaulicht. 7 Glöckchen und Glocken, auch große Glocken waren als Signalmittel, Musikinstrumente und Begleiter festlicher Aufzüge in vielen alten Kulturen in Gebrauch. 8 Die frühe Kirche hat sie vor allem wegen ihrer traditionell apotropäischen, d. h. Unheil abwehrenden Bedeutung, 4 R ENATO B ORDONE , Campane, trombe e carroci nelle città del regno d’Italia durante il medioevo. Il »paesaggio sonore« delle città italiane nel medioevo, in: A LFRED H AVERKAMP (Hg.), Information, Kommunikation und Selbstdarstellung in mittelalterlichen Gemeinden (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 40), München 1998, S. 85-101. 5 A NSGAR H ENSE , Glockenläuten und Uhrenschlag. Der Gebrauch von Kirchenglocken in der kirchlichen und staatlichen Rechtsordnung (Staatskirchenrechtliche Abhandlungen 32), Berlin 1998. 6 R OBERT I GNATIUS B URNS , The Crusader Kingdom of Valencia. Reconstruction on a Thirteenth-Century Frontier, 2 Bde., Cambridge 1967, hier Bd. 2, Kap. 4: The Parish as a Frontier Institution, S. 55 f. 7 Das Folgende ausführlicher bei G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM , Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München 1992. 8 Vgl. die Übersicht bei K URT K RAMER , Die Glocke. Eine Kulturgeschichte, Kevelaer 2007. <?page no="77"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 76 und ihrer Verwendung bei den sog. Heiden nur zögernd für ihren Gebrauch übernommen. Spätestens seit dem 6. Jahrhundert jedoch werden Glocken neben anderen Signalinstrumenten, wie z. B. Schlaghölzern, als Wecksignal und für die Strukturierung des monastischen Tageslaufs benutzt. Allmählich wurden dann auch die Kirchen der Christenheit mit Glocken zum Gebetsruf ausgestattet. Seit dem 8. Jahrhundert werden die Glocken größer und auch auf eigens dafür errichteten Türmen installiert. Bald wird es üblich, mehr als eine Glocke in den Turm zu hängen und deren Signale zu differenzieren. Die Zahl der Glocken sagte in der Folgezeit auch etwas über den Rang der Kirche aus. Bei Gelegenheit einer Glockenstiftung durch Papst Leo IV. in Rom taucht im 9. Jahrhundert zum ersten Mal das Wort ›campanile‹ auf, und erst seit dieser Zeit bestimmen die Glockentürme - die meisten wurden erst im 12. Jahrhundert errichtet - das Bild der Städte des lateinischen Europa. Weltlicher Gebrauch der Kirchenglocken ist seit dem 7. Jahrhundert belegt. Nach Widukind von Corvey riefen in der Mitte des 10. Jahrhunderts in Regensburg die Glocken das Volk zur Verteidigung zusammen, ebenso in Prag um das Jahr 1000. 9 Während des Hochmittelalters wurde der städtische Alltag nicht nur durch das reichhaltige und differenzierte Ensemble der Glocken von Kirchen und Klöstern rhythmisiert, sondern auch durch ein immer komplexeres weltliches bzw. stadtbürgerliches Glockenensemble. 10 Die Reichweite der Glockenzeichen umgrenzte den Raum ihrer jeweiligen Adressaten, und differenzierte Schlagtechniken modulierten ihre Signale. Man konnte eine Abfolge verschiedener Zeichen zwischen Aufruf und Beginn einer Veranstaltung festlegen; man konnte die Zahl der Zeichen variieren. Man konnte die Dauer des Geläuts in ein Verhältnis zu einer zurückzulegenden Wegstrecke setzen, indem man entweder den jeweiligen ›Schallraum‹, etwa die Stadt oder einen ländlichen Herrschaftsbezirk, beschrieb oder - später - Uhrzeitangaben für die Läutdauer benutzte. Aufmerksamkeit haben daher vielfach solche Quellen gefunden, die das akustische Signal in einen direkten Zusammenhang mit dem Raum einer Herrschaft bringen. Das gilt z. B. für die sog. Bannglocken. ›Unter die Glocke gehen‹ war noch im 19. Jahrhundert ein geflügeltes 9 signo nolae: A LBERT B AUER / R EINHOLD R AU (Bearb.), Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit. Widukinds Sachsengeschichte (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe A/ 8), 4. Aufl. Darmstadt 1992, S. 148; campana cives ad bellum sonitu hortantes: T HIETMAR VON M ER - SEBURG , Chronik, hg. von W ERNER T RILLMICH (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe A/ 9), 5. unveränd. Ausgabe Darmstadt 1974, S. 256. 10 R. B ORDONE , Campane (Anm. 4); G. D OHRN - VAN R OSSUM , Stunde (Anm. 7), S. 185 f.; A LDO A. S ETTIA , Codici sonori e nomi di campane nelle città medievali italiane, in: Del fondere campane: dall’ archeologia alla produzione, quadri regionali per l’Italia settentrionale, a cura di S ILVIA L USUARDI S IENA / E LISABETTA N ERI , Florenz 2007, S. 79-84; N IALL A TKINSON , Sonic Armatures: Constructing an Acoustic Regime in Renaissance Florence, in: Senses and Society 7/ 1 (2012), S. 39-52. <?page no="78"?> G LOCKEN U ND U H R EN 77 Wort für den Eintritt in einen bestimmten Herrschaftsbezirk, etwa auch den in eine Fabrik. Glocken rhythmisierten nicht nur städtische Alltage und Festtage, sie waren vielfach auch wirkmächtiges Symbol für kommunale Herrschaft, ebenso wie Mauern, Türme oder die Schlüssel der Stadt. 11 Vor allem in Nordwesteuropa waren Stadtglocken auch Symbol für die kommunale Autonomie. Da diese Herrschaft als ein von der Herrschaft der Könige und Fürsten abgeleitetes Privileg galt, wurde das Recht auf eine Glocke in Stadtrechtsverleihungen ausdrücklich erwähnt. 12 Gerade weil die Glocken hoheitliche Symbole waren, wurden sie gelegentlich auch verweigert, so in Valencia von König Peter IV. von Aragón, Pedro el Ceremonioso, 1378 mit der Begründung, Glocken stünden nur Kirchen und königlichen bzw. fürstlichen Palästen zu; ähnlich in Barcelona 1393. 13 Entsprechend konnte das Recht auf eine Glocke z. B. nach Rebellionen auch entzogen werden. Bis in die Zeit der französischen Revolution sind Glocken von Türmen gestürzt oder weggebracht worden. Solche Vorgänge waren für die betroffenen Städter Ausdruck tiefster Erniedrigung. (Abb. 1) Das Instrument, die Bürger zur Versammlung zu rufen, war zugleich Ausdruck des Rechts, solche Versammlungen abzuhalten. Die vor allem in Italien sehr verbreitete Formel ›zum Schlag der Glocke nach gewohnter Weise versammelt‹ verbürgte die Rechtmäßigkeit und Gültigkeit der Beschlüsse und Verkündigungen. Die dort geläufige Bezeichnung städtischer Gremien als ›Consilium Campanae‹ (Siena) und die Verzierung städtischer Statutensammlungen mit Glocken und Glöcknern (Turin) zeigen den Zusammenhang von Signal und signalisierter Information. Nach Ankündigung durch die Stadtglocke wurden auch Todesurteile, Verbannungen, Versteigerungs- und Zinstermine ausgerufen. Noch heute verständliche Redensarten erinnern an Stadtturm und Glocke als Ort und Mittel aller wichtigen Nachrichten in der städtischen Öffentlichkeit: ›An die große Glocke laufen‹ oder ›an die große Glocke hängen‹ bedeutet, etwas vor die Allgemeinheit zu bringen oder auszuposaunen, ›etwas läuten hören‹ bzw. ›wissen, was die Glocke geschlagen hat‹ ist gleichbedeutend mit ›Bescheid wissen‹. (Abb. 2) 11 A LFRED H AVERKAMP , »… an die große Glocke hängen«. Über Öffentlichkeit im Mittelalter, in: Jahrbuch des historischen Kollegs (1995), S. 71-112; R AYMOND VAN U YTVEN , Flämische Belfriede und südniederländische städtische Bauwerke im Mittelalter: Symbol und Mythos, in: A. H AVERKAMP (Hg.), Information (Anm. 4), S. 125-159. 12 G EROLD B ÖNNEN , Zwischen Kirche und Stadtgemeinde. Funktion und Kontrolle von Glocken in Kathedralstädten zwischen Maas und Rhein, in: A. H AVERKAMP (Hg.), Information (Anm. 4), S. 161-199. 13 T ERESA -M ARIA V INYOLES I V IDAL , La vida quotdiana a Barcelona vers 1400, Barcelona 1985, S. 32 f. <?page no="79"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 78 Abb. 1: Titelblatt des Liber conciliorum 1346 <?page no="80"?> G LOCKEN U ND U H R EN 79 Abb. 2: ›An die große Glocke hängen‹, Holzschnitt aus Thomas Murners ›Die Mühle von Schwindelsheim und Gredt Müllerin Jahrzeit‹, 1515 <?page no="81"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 80 Seit dem 12. Jahrhundert können wir bei Bischofskirchen und in großen Städten eine intensive Prestige-Konkurrenz um besonders große bzw. besonders schwere Glocken beobachten, die natürlich auch durch Fortschritte bei der Gußtechnik befördert worden ist. Zu großen Städten gehörte um 1300 eine große Glockenkulisse. Für Rom hat Pietro Romano 1.270 Glocken mit 51.840 Schlägen pro Tag geschätzt. 14 Die Vermehrung der Glocken führte dazu, daß am Ende des 13. Jahrhunderts deren bloße Anzahl zu einem Index für die Größe und Bedeutung einer Stadt geworden war. Als ein Meilenstein in der Geschichte der Statistik gilt die 1288 verfaßte Stadtbeschreibung ›De magnalibus urbis Mediolani‹ des Bonvesin de la Riva, weil sie durch eine Flut von Zahlen und Maßen Mailands Größe zu beweisen sucht. 15 Bonvesin gibt die Zahl der Einwohner (200.000) an, die Länge des Mauerrings, den täglichen Getreide- und Fleischverbrauch, die Zahl der festen Häuser (12.500), der Brunnen (6.000), der Mühlen (über 900) und ihrer Räder (über 3.000), der Chirurgen (150) der Ärzte (28) etc. Die Zahl der Kirchen veranschlagt er auf ca. 200, die der Altäre auf 480. Von 120 Kirchtürmen werde mit über 200 Glocken geläutet (c. 2, IX). Vermehrte Erwähnungen einer ›campana grossa‹, einer ›grosse cloche‹, von großen Glocken und einer Vielzahl kleinerer Glocken deuten auf die Entfaltung immer differenzierterer und komplexerer Glockenensembles in großen und kleineren Städten. Die Namen der Glocken oder Glockenzeichen zeigen ihre vielfältigen alltäglichen Funktionen: Prim-, Morgen-, Tor-, Wächter-, Hirten-, Werk-, Weinberg-, Markt, Korn-, Rats-, Schul-, Vesper-, Bier-, Wein-, Schlaf-, Bann-, Sperrglocke etc. Dazu kommen die unregelmäßigen ›aufregenden‹ Signale: Sturm-, Kriegs-, Mord-, Feuer-, Akklamations-, Begrüßungs-, Gerichts-, Arme Sünder-, Malefiz-, Schand- und Totenglocken. Machten Zahl und Größe der kirchlichen und städtischen Glocken, machte also das akustische Ensemble die Größe und die Bedeutung der Stadt hörbar, so zeigte die Verschiedenartigkeit des Geläuts darüber hinaus politische und ökonomisch-soziale Differenzierung. Im ›Libellus de descriptione Papiae‹ des Opicino de Canistris (um 1320) wird, wie bei Bonvesin für Mailand, auf die große Zahl der Kirchenglocken in Pavia hingewiesen. 16 Danach hing die größte Glocke, die man über 6.000 Schritt (ca. 9 km) hören konnte, in der Kathedrale. Unter den Klosterglocken waren die der Prädikanten und der Karmeliter die größten. Die Zünfte besaßen eine eigene große Glocke, die geläutet wurde, um das Volk zu den Waffen zu rufen. Durch ein bestimmtes Glockenzeichen 14 P IETRO R OMANO , Campane di Roma, Rom 1944. 15 B ONVESIN DE LA R IVA , De magnalibus Mediolani/ Meraviglie di Milano, Testo critico, traduzione e note a cura di P AOLO C HIESA , Mailand 1997. 16 O PICINO DE C ANISTRIS , Opicino de Canistris »l’Anonimo Ticinese« [Libellus de Descriptione Papie] (Cod. Vat. Palat. lat. 1993), ed. F AUSTINO G IANANI , Pavia 1927. <?page no="82"?> G LOCKEN U ND U H R EN 81 (certum sonus campanae) wurde der Rat der Weisen zusammengerufen, der Rat der Hundert durch ein davon verschiedenes (alius dissimilis sonus). Noch ein anderes Zeichen (diversus sonus) rief die Gesamtheit der Einwohner zusammen, ein weiteres (alius sonus) rief zu Urteilsverkündungen und städtischen Ankündigungen. Der Text erwähnt außer dem Geläut zu Beerdigungen noch das Ave-Maria-Läuten am Abend und am Morgen, die Weinglocke (campana bibitorum), eine Schelle (scilla) für den abendlichen Torschluß und eine andere Glocke, die am Morgen mit sieben Schlägen anzeigt, daß man die Stadt verlassen darf. Voller Stolz benutzt der Text das entfaltete akustische Ensemble der Stadt als Indiz für die Vielfalt und die relative Selbständigkeit der städtischen Funktionsbereiche. Bei aller Ähnlichkeit waren die differenzierten städtischen Glockenkulissen jeder einzelnen Stadt eigentümlich. Schon den Zeitgenossen war klar, daß nur diejenigen die jeweiligen Signalkulissen verstehen konnten, die unter diesen Glocken geboren waren. Fremden mußten die Glockenzeichen erklärt werden. Beschreibungen dieser akustischen Umwelten sind auf Textquellen angewiesen und bleiben daher ebenso unvollständig wie stumm. Das mittelalterliche kirchliche Geläut, d. h. der Ruf zu Gottesdiensten, Andachten, Unterweisungen, Taufen und Beerdigungen in Memmingen läßt sich also nur unvollkommen rekonstruieren. Nach den Chroniken von Christoph Schorer und Philipp Jakob Karrer gab es auf dem Rathausturm eine ›Eilfer‹, d. i. Rats- oder Leichenglocke. Sie war 1420 gegossen und wurde an den Tagen der Verurteilung und Hinrichtung von Verbrechern geläutet. Seit 1663 rief sie um 11 Uhr auch zum Türkengebet. Außerdem gab es ein Feuerglöckchen. Dann wird berichtet vom Guß der 75 Zentner schweren großen Glocke für St. Martin im Jahr 1460 und von einer ebenso schweren für die Marienkirche. Letztere wurde 1539 zerschlagen und durch eine kleinere und schöner klingende ersetzt. Um 1460 läutet man bei Gefahr Sturm und spätestens seit 1567 werden durch die Torglocke die Schließungszeiten festgesetzt. 17 Seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts werden nun die städtischen Glockenkulissen durch die regelmäßigen Signale der mechanischen Uhren, die die Tagesstunden nach der Zählzahl angaben, ergänzt und auf sehr lange Sicht größtenteils überflüssig gemacht. (Abb. 3) Die mechanische Uhrwerkhemmung ist um die Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert entwickelt worden. Von einer Erfindung kann man m. E. nicht sprechen, weil die frühen Uhrwerkhemmungen, die wir kennen, wohl einfache gebrauchs- 17 C HRISTOPH S CHORER , Memminger Chronick. Oder Kurtze Erzehlung vieler denckwürdigen Sachen, die sich allda […] begeben und zugetragen von Ao. 369 biß 1660, Ulm 1660, Nachdr. Kempten 1964, S. 25, 26, 39; P HILIPP J AKOB K ARRER , Memminger Kronik, oder Topographie und Geschichte der kurpfalzbayerischen Stadt Memmingen, Memmingen 1805, S. 84, 89, 94. <?page no="83"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 82 fähige, robuste und leicht reproduzierbare Versionen mehrerer alter Hemmungstypen gewesen sind. Abb. 3: Skizze Waagbalkenhemmung In den Jahrhunderten davor sind in den mittelalterlichen Klöstern verschiedene Formen von Wasseruhren als Wecker zu den nächtlichen Offizien benutzt worden. Sie waren störanfällig, wartungsintensiv und notorisch unzuverlässig. Seit dem Auftauchen der mechanischen Hemmung finden sich Uhren auch außerhalb von Kirchen und Klöstern. Einzelne Städte beschäftigten Glöckner und eigens angestellte Uhrwärter mit dem Schlagen der Tagestunden mit Hilfe von Türmeruhren. (Abb. 4) Große mechanische Uhrwerke wurden dann verwendet als Antriebe für verschiedene Glockenspiele und Figurenlaufwerke sowie für astronomische Simulationen, wie wir sie heute nur noch von der ersten Fassung der Straßburger Münsteruhr kennen. Etwa ein Menschenalter nach der Entwicklung der Hemmung hören wir in einer Chronik aus Mailand zum Jahr 1336 von einer sensationellen technischen Neuerung: Der Stadtfürst Azzo Visconti habe bauen lassen eine Uhr mit einer Glocke, die in der ersten Stunde einmal, in der zweiten Stunde zweimal etc. […] die 24 Stunden des Volltages schlägt. 18 (Abb. 5) 18 G ALVANO F IAMMA , Opusculum de rebus gestis ab Azone Luchino et Johanne vicecomitibus, ed. C ARLO C ASTIGLIONI (Rerum Italicarum Scriptores 12,4), Bologna 1938, S. 16. <?page no="84"?> G LOCKEN U ND U H R EN 83 Abb. 4: Türmeruhr Nürnberg, 15. Jh. Abb. 5: Schloßscheibe <?page no="85"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 84 Es ging hier ganz offenbar um einen zusätzlichen, neuartigen und - verglichen mit der Uhrwerkhemmung - eher noch komplizierteren Mechanismus einer zusätzlichen Erfindung: das Stundenschlagwerk mit Übersetzungen, mit die Geschwindigkeit des Läutmechanismus regulierenden Windflügeln und als Clou mit einer Schloßscheibe, auf der sich beliebige Läutsequenzen programmieren ließen. Die Schloßscheibe wird mit Recht als Vorläufer von Lochkarte und Computer bezeichnet. Das automatische Stundenschlagwerk machte, wie die Zeitgenossen voller Staunen feststellten, die schwere Arbeit der Glöckner ›von selbst‹, ›ohne menschliche Arbeit‹, ›scheinbar belebt‹. In vielen Städten wird erfreut und stolz von der Übernahme dieser technischen Innovation berichtet. Erst die stundenschlagenden Uhrwerke wurden als eine großartige neue Erfindung gefeiert. Sie waren auch aus der Sicht der damaligen Zeitgenossen die ersten von Europäern gebauten Automaten. Und weil die neue Schlagwerktechnik sich technisch kaum auf unterschiedliche Tages- und Nachtstunden ständig wechselnder Dauer einstellen ließ, wurde erst durch diese Schlagwerke der Übergang zu den modernen, gleichlangen Stunden im stadtöffentlichen Leben möglich und auf lange Sicht unvermeidlich. Die mittelalterliche Kirche hatte die antike Stundenteilung mit jeweils zwölf Tages- und Nachtstunden, die zwar unter sich gleich lang, in der Länge aber mit den Jahreszeiten wechselten, übernommen. Für den Alltag begnügte man sich mit der durch die kirchlichen Stundengebete ausgezeichneten Siebener- oder Fünferreihe: (Vigil), Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, (Complet). Andere Tagesstundenangaben kamen k aum vor. Un glei che S tu nde n me chan is c h a nzuge ben, w ä re t ech n is ch se hr u mständlich gewesen, und man hat das im europäischen Mittelalter gar nicht erst versucht. Gleichlange Stunden als 24. Teil des Volltages, nicht etwa als 60 Minuten, waren den Astronomen zwar geläufig, wurden aber von ihnen nicht gemessen und spielten im Alltag keine Rolle. Der Gebrauch der modernen Stunden (›horae horologii‹/ ›Uhrstunden‹) folgte der Verbreitung der Stunden schlagenden Turmuhren in Europa zeitgleich. Der Dichter Francesco Petrarca schildert in einem Brief aus Mailand aus dem Jahr 1353, daß er einen lästigen Besucher erst beim Schlag des horologium publicum (der öffentlichen Uhr), wie sie - vor kurzem erfunden - schon in fast allen oberitalienischen Städten zur Messung der Zeit dienten, aus dem Hause habe schaffen können. 19 Auch andere Hinweise machen plausibel, daß zumindest das automatische Stundenschlagwerk in Italien entwickelt wurde. Gleichzeitig mit der mechanischen Uhr und den modernen Stunden taucht - möglicherweise zuerst in nautischem Gebrauch - ein anderes Zeitmeßgerät auf, das man oft für älter hält als es in Wahrheit ist: die Sanduhr oder das Stundenglas. Das gleichzeitige Auftreten von mechanischer Räderuhr und Sanduhr ist aber ganz 19 F RANCESCO P ETRARCA , Epistolae de rebus familiaribus et Variae, ed. G IUSEPPE F RAN - CASSETTI , vol. III, Florenz 1863, Var. 44, S. 419. <?page no="86"?> G LOCKEN U ND U H R EN 85 plausibel: Sanduhren messen oder befristen immer nur gleiche Stunden oder Teile von gleichen Stunden. Was hätte man in den vergangenen Jahrhunderten mit den jahreszeitlich ungleichen Stunden mit Sanduhren auch anfangen sollen? Eine der ersten Abbildungen einer Sanduhr ist präzis auf das Jahr 1352 datiert und findet sich auf einem Fresko des Tommaso da Modena im Kapitelsaal des Dominikanerklosters San Nicolò in Treviso. Etwas übergroß ist sie dargestellt als ein Arbeitsgerät, als Befristungsmittel in der Zelle eines gelehrten Klerikers. Unmöglich zufällig wird im gleichen Freskenzyklus eine andere gleichzeitige technische Innovation, die Brille, als Arbeitsgerät gelehrter Kleriker ›vorgezeigt‹. (Abb. 6) Abb. 6: Tommaso da Modena, Fresken im Kapitelsaal von San Nicolò, Treviso, 1352 In der Folgezeit breiteten sich die öffentlichen Uhren rasch überall in Europa von Santiago de Compostela bis Moskau aus. Dabei ist klar eine Boom-Dekade mit zweistelligen Zuwachsraten von 1370 bis 1380 auszumachen. Um 1400 hatten die größeren europäischen Städte ein öffentliches Zeitsignal. In der Urkunde für Montreuil-sur-Mer aus dem Jahr 1377 einigen sich die Bürger und der Abt des Klosters über den Gebrauch des Turms der Klosterkirche für die Installation der öffentlichen Uhr wegen des ›gemeinen Nutzens‹. Die Initiale ›A‹, die meines Wissens erste Darstellung einer öffentlichen Uhr, zeigt den mechanisierten Turmwärter, der von den Schöffen dem Schutz der Heiligen vor Dämonen anvertraut wird. (Abb. 7) <?page no="87"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 86 Abb. 7: Initiale ›A‹ einer Urkunde für Montreuil-sur-Mer, 1377 Auch wenn direkte Quellenzeugen fehlen, scheint es kaum zweifelhaft, daß die Reichsstadt Memmingen noch im 14. Jahrhundert eine Uhr wohl auf dem Turm von St. Martin erhalten hat. Die erhaltenen Zeugnisse entstammen einer etwas späteren Zeit. Im Jahr 1449 wird eine Stundenglocke gegossen. Bei Christoph Schorer wird zum Jahr 1445 eine weitere Uhr erwähnt: In diesem Jahr machten die am Kalch [der auch Stauferstadt genannten Stadterweiterung des 13. Jahrhunderts], die Stund- Glogg auff Tagbrechts Capell [auf dem Türmchen der von Nikolaus Tagbrecht 1399 gestifteten Kapelle] zu den Hl. Drey Königen auf ihren Kosten, angeblich, weil man den Stundenschlag der städtischen Hauptuhr nicht recht hören konnte. 20 Die Marienkirche hat ihre Uhr sicher noch im 15. Jahrhundert erhalten. Später ist die Rathausuhr und die Uhr am Kemptner Tor dazugekommen. Auf der ältesten Stadtansicht 20 S CHORER , Chronick (Anm. 17), S. 11; K ARRER , Kronik (Anm. 17), S. 93. <?page no="88"?> G LOCKEN U ND U H R EN 87 läßt sich die Vielfalt der Zeitsignale im vormodernen Memmingen veranschaulichen. (Abb. 8) Marienkirche nach 1449 St. Martin 14. Jh. Kapelle beim Kalchtor 1445 Kemptner Tor 1626 Rathaus nach 1589 Abb 8: Ansicht von Memmingen 1573 und seinen öffentlichen Uhren, Radierung von Georg Wechter, Nürnberg Um das Jahr 1410, am Beginn der europäischen Moderne, schlüpft ein bis heute anonymer Autor in die Rolle eines englischen Predigermönchs und beschreibt aus der Sicht seiner Gegenwart Neuerungen im Umgang mit der Zeit. Er wendet sich gegen die Künste der Astrologen und erläutert, Gott habe das Firmament erschaffen aus Licht und aus Zeit, wie eine Uhr, die nicht fehlgehe. Licht und Zeit, der gestirnte Himmel, sollten den Menschen dienen und nicht die Menschen ihnen. Vom Firmament als großer Uhr kommt er zu den damals neuen Schlaguhren und erklärt, ebensowenig wie die Gestirne die irdischen Kreaturen regierten, regierten die Uhren in größeren und kleineren Städten die Menschen. Vielmehr regierten sich in den Städten die Menschen mit Hilfe der Uhren selbst. 21 Der Autor nennt die städtischen Uhren ›clokke‹ und stellt damit auf die akustische Zeitindikation ab, wie auch das in Süddeutschland gebräuchliche Wort ›Zeitglocke‹. Was heißt nun: ›sich mit Hilfe der Uhren selbst regieren‹? Wo, wie und wie rasch sind die neuen Möglichkeiten der Zeitorganisation, der Terminierung und Befristung durch Uhrstunden genutzt worden? Welche neuen Formen des Umgangs mit der Zeit konnten sich auf Dauer durchsetzen? Nahezu zeitgleich mit der Verbreitung der öffentlichen Uhren beginnen Chronisten und Notare, die oft als städtische Chronisten tätig waren, die Tageszeit nach 21 Dives and Pauper, Vol. 1.1, ed. P RISCILLA H EATH B ARNUM (Early English Text Society: Original Series 275), Oxford 1976, S. 119 f. <?page no="89"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 88 der neuen Stundenrechnung anzugeben, die Notare oft demonstrativ, indem sie zum Beispiel nicht ›in der achten Stunde‹, sondern ›in der achten Uhrstunde‹ schreiben und gelegentlich auch den Standort der Uhr genau bezeichnen ›nach der neuen Uhr an der XY-Kirche‹. Daraus folgt nun aber nicht, daß diese professionellen Autoren besonders rasch und dauerhaft auf die neue Form der Zeitangaben umgestellt hätten. Es zeigt sich vielmehr, daß, sobald die öffentlichen Uhren ihren Neuigkeitswert verloren hatten, die Chronisten und Notare wieder zu den alten Formen der Tageszeitangaben, ›um die Non‹, ›zur Vesper‹ etc., zurückkehren oder solche Angaben ganz unterlassen. Also: Solange sie neu war, hatten sie der Uhr Reverenz erwiesen, aber ein dauerhaftes Bedürfnis nach größerer tageszeitlicher Präzisierung war bei ihnen offenbar damals noch nicht vorhanden. Der Übergang zu den modernen Stunden hat auch in Memmingen sicher mit dem Ende des 14. Jahrhunderts begonnen, aber die spätmittelalterlichen Quellen dafür sind äußerst karg. In Christoph Schorers Memminger Chronik (1660), die sich auf die älterere Chronik des Erhardt Wintergerst († 1471) stützt, heißt es z. B. gelegentlich eines Krieges von Mitgliedern eines südwestdeutschen Städtebundes gegen die Herren und Ritter im Hegau zum Jahr 1442: Da fieng man an außzuziehen vmb zwey Vhr nach Mitternacht/ je zwey vnd zwey mit einander/ die von Uberlingen waren die ersten/ darauff die von Memmingen/ Lindaw/ Ravenspurg/ Biberach/ Wangen/ Pfulendorff/ Buchhorn/ Kempten/ Kauffbeuren/ vnd Leutkirch. Diß Außzihen werete biß es vier Vhr schlug vor Tag. 22 Andere und dauerhaftere Spuren der neuen Stundenrechnung lassen sich in zahlreichen Ordnungen für städtische Rats- und Gerichtsgremien verfolgen. Die Stadtbürger hatten politische Mitspracherechte erkämpft, aber zugleich hatte sich der Aufgabenbereich der städtischen Verwaltungen enorm ausgeweitet. Die hohe Ehre, als Handwerker in einem städtischen Gremium zu sitzen, hatte sich vielfach als eine immer zeitaufwendigere, meist unbezahlte Pflicht entpuppt. 23 Aus Nürnberg berichtet der Ratskonsulent Christoph Scheurl zu Beginn des 16. Jahrhunderts, daß der kleine Rat wol alle tag schier drei gantze stunt aneinander rath gehalten habe. Die Geschäfte hätten so zugenommen, daß die septemvir als engeres Gremium ausgegliedert worden seien und zusätzliche Sitzungen gehalten hätten. 24 Seit 22 S CHORER , Chronick (Anm. 17), S. 8 = J AKOB F RIEDRICH U NOLD , Geschichte der Stadt Memmingen: Vom Anfang der Stadt bis zum Tod Maximilian Josephs I. Königs v. Bayern, Memmingen 1826, S. 100. 23 Zu den Belastungen der Ratsherren durch auswärtige Verpflichtungen vgl. K ARL -E RNST G EITH , Im Dienste der Stadt. Bemerkungen zur zeitlichen Belastung eines Magistrats von Colmar im 15. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 137 (1989), S. 472-478. 24 Christoph Scheurl’s Epistel über die Verfassung der Reichsstadt Nürnberg 1516, in: Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Bd. 11: Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg, Bd. 5, Leipzig 1874, S. 793; vgl. O LIVER L ANDOLT , Zur <?page no="90"?> G LOCKEN U ND U H R EN 89 dem Spätmittelalter wurde die Sitzungsdisziplin städtischer Gremien immer schlechter. Zahlreiche neue Rats- und Gerichtsordnungen sehen seit dem Ende des 14. Jahrhunderts nicht nur Diäten vor, sondern präzisieren die Sitzungszeiten auch durch Uhrzeitangaben und setzen Geldstrafen für unpünktliches Erscheinen fest: Zuckerbrot und Peitsche. Der Rat begann also nicht mehr am frühen Morgen oder nach einem Gottesdienst und schloß nicht mehr vor dem Ende des Marktes oder mit der Mittagsglocke. Er tagte nach der Uhrzeit. Uhrzeitangaben für Beginn und Ende einer Gremiensitzung boten die Möglichkeit, diese zeitlich von anderen städtischen Terminen, etwa der Gottesdienste oder der Marktzeit, zu entkoppeln und ihre Dauer nach Bedarf und ohne Rücksicht auf andere Termine zu variieren. Zur Sicherung der Pünktlichkeit waren Uhrzeiten weniger gut geeignet, weil die Sitzungen natürlich nicht genau mit dem Schlag der Uhrglocke begannen und kleinere Zeiteinheiten nur selten angezeigt wurden. Daher wendete man bei Sitzungsbeginn ein ›Viertelstundenglas‹, nach dessen Ablauf Diätenkürzungen oder Geldstrafen fällig wurden. Diese Form der uhrzeitunabhängigen, aber dennoch abstrakten und objektiven Pünktlichkeitskontrolle wurde in zahlreichen Gremien bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bzw. bis zur Verbreitung privater Uhren, die auch Minutenzeiger hatten, beibehalten. Als ›akademisches Viertel‹ sind solche Regelungen bis heute in Gebrauch. 25 Die unveröffentlichten Memminger Ratsprotokolle setzen erst mit dem Jahr 1508 ein, aber Friedrich Dobels Beiträgen zur Verfassungsgeschichte der Stadt lassen sich aufschlußreiche Hinweise entnehmen. Danach hat auch in Memmingen die Fülle der Beratungsgegenstände dazu geführt, daß an drei Tagen der Woche (Montag, Mittwoch und Freitag) Sitzung gehalten werden mußte. Zu den Sitzungen wurde mit einer kleinen Glocke in einem Turm von St. Martin geläutet. 26 Die Sitzung begann im Winter um halb acht Uhr. In den Protokollen zu 1525 heißt es, Man soll das glogglin [Ratsglocke] wie von alters her auf achte lewten. Im Sommer fingen die Sitzungen um sechs Uhr an. Die Geistlichkeit war angewiesen, den Frühgotteszeitlichen Belastung von städtischen Ratsherren und anderen politischen Führungsschichten im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: H ANS -J ÖRG G ILOMEN / B EATRICE S CHUMACHER / L AURENT T ISSOT (Hg.), Freizeit und Vergnügen vom 14. bis 20. Jahrhundert - Temps libre et loisirs du 14e au 20e siècle, Zürich 2005, S. 47-59, hier 52. 25 G. D OHRN - VAN R OSSUM , Stunde (Anm. 7), S. 220-227; zahlreiche Beispiele bei E BER - HARD I SENMANN , Ratsliteratur und städtische Ratsordnungen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. Soziologie des Rats - Amt und Willensbildung - politische Kultur, in: P IERRE M ONNET / O TTO G ERHARD O EXLE (Hg.), Stadt und Recht im Mittelalter - La ville et le droit au Moyen Âge (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 174), Göttingen 2003, S. 374-385, 398-407. 26 Sie wird auch deshalb die Ratsglocke gewesen sein, weil mit ihr den während ihrer Amtszeit verstorbenen Ratsmitgliedern zu Grabe geläutet wurde. <?page no="91"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 90 dienst um diese Zeit beendigt zu haben, damit die Ratsmitglieder ihren Gremienpflichten nachkommen konnten. So heißt es im Jahr 1548: Mit maister Hans Humeli [dem Wochenprediger bei St. Martin] soll geredt werden, an rhatstagen in bredig zu leithen zu verordnen, das er bis in 6 uhrnn allwegen usgeprdigt. 27 Auch in Memmingen zeigte sich das Problem der Überlastung der Ratsmitglieder durch die immer zahlreicheren Sitzungen. Sie kamen zu spät oder blieben ganz weg. Schon im Denkbuch des Stadtschreibers Marquard aus dem Jahr 1397 werden also Strafen festgesetzt: Es hat ein Rat geordnet, wie die Rat hierauf gan sullen zu rechter zit: Item man sol ein Risenden halben or ufsetzen als bald man zu sant Anthonien mess auf sant Anthonien altar [dem St. Martin geweihtes Antoniterkloster mit Patronatrecht über St. Martinskirche] den segen gegeben hat, dan sol man anfahen luten daz ander zaichen. Und welher darnach kumpt, so die or vsgerisen ist […] Dann folgen Strafen auch für die, die ohne Urlaub des Bürgermeisters ganz ausbleiben. 28 Da Sanduhren nur bei Gebrauch gleichlanger Stunden Sinn machen, muß man für Memmingen die Benutzung mechanischer Uhren schon im 14. Jahrhundert annehmen. Von Diäten hören wir in Memmingen im Jahr 1544. Für jede Sitzung erhielt ein Ratsmitglied, sofern es pünktlich erschien, also bevor die stund ist ussgeloffen, einen Batzen. 29 Zur Straffung der Gremienarbeit gab es außerdem Regelungen zur Tagesordnung und zur Redezeit. Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts werden abstrakte Befristungstechniken, d. h. Befristungen in Stunden oder Stundenbruchteilen, auch auf den Kanzeln der Kirchen üblich oder vorgeschrieben. Luther hat die Stunde als ein vernünftiges Maß der Predigt empfohlen, und aus seinen Tischreden ist der Ausspruch überliefert: Lange predigen ist kein kunst, aber recht und wol predigen, lehren, hoc opus, hic labor est. 30 - Also: Inhalt ist wichtiger als Dauer. An den sehr zahlreichen Predigtbefristungsvorschriften der nachreformatorischen Zeit fällt die Vielfalt der Begründungen auf. Den Predigern sollte - meist gegen ihren Willen - eine Frist nicht nur aus didaktischen oder theologischen Gründen gesetzt werden, sondern auch, weil andernfalls die Leute von ihrer Erwerbsarbeit, von ihrem Herrendienst, ihren politischen Pflichten abgehalten würden. Die Schwangeren sollten nicht beschwert und Heizkosten für die Kirche gespart werden. Befristung sollte die Prediger auch von allen unnützen Tautologien, Historien, ›Kontroversien‹ und Streitpunkten fernhalten, Exempel und Zitate in fremden Sprachen sollten vermieden werden. Jeden einzelnen dieser vielfältigen Zwecke hätte man auch mit anderen Mitteln evtl. 27 F RIEDRICH D OBEL , Beiträge zur Verfassungsgeschichte der Reichsstadt Memmingen, in: ZHVS 3 (1876), S. 1-71, hier 22-25, 59 Anm. 82-84. 28 F. D OBEL , Beiträge (Anm. 27), S. 59 Anm. 85. 29 F. D OBEL , Beiträge (Anm. 27), S. 25 mit Anm. 108. 30 M ARTIN L UTHER , D. Martin Luthers Werke, Abt. 2: Tischreden, Bd. 3 (1531-1546) (Kritische Gesamtausgabe), Weimar 1914, Nr. 3419, S. 309. <?page no="92"?> G LOCKEN U ND U H R EN 91 sogar besser verfolgen können. Durch abstrakte Befristung ließen sich alle zugleich und in einer für Prediger und Zuhörer leicht zu kontrollierenden Form erreichen. Ganz verschiedene Zwecke ließen sich so gleichzeitig und in transparenter Weise verfolgen. Unter den zahlreichen Predigtbefristungen fallen die für Memmingen angeordneten durch besondere zeitliche Präzisierungen auf, weil sie teilweise wegen des simultanen Gebrauchs der Kirchen durch die beiden Konfessionen erforderlich geworden waren. Für Memmingen berichtet Jakob Friedrich Unold zum Jahr 1575: »Es wurde verordnet, daß man Sonntag immer eine Stunde lang, an den Wochentagen aber nur eine halbe Stunde lang predigen solle. Um 7 Uhr solle am Sonntag immer das erste Zeichen gegeben werden, um ¾ auf 8 Uhr soll der Prediger auf der Kanzel stehen, das Gebet verrichten und um 8 Uhr die Predigt anfangen. An Werktagen wurde im Sommer immer um halb 7 Uhr im Winter um halb 8 Uhr geläutet.« 31 Genaueste Befolgung der Befristungen bei der Predigt eines Jesuitenpaters wurde während einer kriegsbedingten katholischen Zeit im Jahr 1626 zum Thema: »Da es nun aber dem Rath nicht möglich war, die Sache zu hintertreiben, so wachte er desto mehr, daß die Jesuiten nicht weiter gehen, als sie selbst ausgemacht hatten. Sorgsam wurde darüber gewacht, daß der Jesuite ja nie länger als bis 8 Uhr bei U. Frauen predige und als es einst geschah, daß er eine Viertelstunde länger auf der Kanzel war, und er sich damit entschuldigte, die Sanduhr sey nicht recht gegangen, wurde schleunigst eine neue angebracht […].« 32 (Abb. 9) Zeitdruck ist bei humanistischen Autoren seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert zu einem Dauerthema geworden. Gerade im Kontext von Erziehung, Lernen und Studieren häufen sich bei ihnen Mahnungen und Ratschläge, mit der eigenen Zeit, verstanden als Tageszeit wie Lebenszeit, hauszuhalten, Zeitverschwendung zu vermeiden und über die Zeitverwendung ständig Rechenschaft abzulegen. Sachlich ging es um Interesse und Neugier an neuen Texten und mithin um das Problem zusätzlicher Unterrichtsgegenstände. Organisatorisch war nach den Vorschlägen dieser Autoren dem Zeitdruck nur durch Ordnung, Methode und Planung zu begegnen. Die vorgeschlagenen Lösungen laufen vielfach auf stundenplanähnliche Arrangements hinaus: die Stunden der Arbeit und der Lektüre sorgfältig einzuteilen, zeitliche Zwischenräume zu meiden bzw. zu nutzen, Autoren oder Themen bestimmte Stunden zuzuweisen. In diesem Milieu tauchen Uhren und vor allem Sanduhren als Mittel zur Befristung und zur Selbstkontrolle auf. Schüler - und davon getrennt - Schülerinnen verschiedener Altersstufen in verschiedenen Fächern ggf. durch verschiedene Lehrer an einem Vormittag zu unterrichten, führte seit 31 J. F. U NOLD , Geschichte (Anm. 22), S. 181, 188-189. 32 J AKOB F RIEDR . U NOLD , Geschichte der Stadt Memmingen im dreissigjährigen Kriege: Von 1618 bis 1633, Bd. 1, Memmingen 1818, S. 16. <?page no="93"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 92 dem 15. Jahrhundert zu zahlreichen Stundenplänen in den Schulordnungen. Ihre große Zahl erklärt sich auch durch die reformatorische Bildungsoffensive. Gleiche Fristen sind gegenüber der Vielfalt der Inhalte, ihrer unterschiedlichen Bedeutung oder ihrer unterschiedlichen Schwierigkeit neutral. Befristete Studien- oder Unterrichtseinheiten erlauben eine gegenüber den Inhalten abstraktere und freiere Organisation des Studiums unter der Bedingung knapper Zeit. Gleichzeitig wurden damit die Arbeitsnormen der Lehrer festgelegt. 33 Das am Ende des 15. Jahrhunderts erreichte Ausmaß eines durch öffentliche, schlagende Uhren geregelten und koordinierten Schul- und Gottesdienstbetriebs macht in Memmingen die unter dem humanistisch gesonnenen Schulmeister Bartholomäus Hauser errichtete Schulordnung aus den Jahren 1513/ 14 deutlich. In ihrer Ausführlichkeit ist sie nur mit der Nürnberger Schulordnung von 1485 und der Nördlinger von 1512 zu vergleichen. 34 Nach dem ›Regiment der Schuol‹ beginnt der Unterricht im Sommer, wans finfe schlecht, und endet zunächst, wans sibene schlecht. Danach besuchen die Schüler die Messe, die entsprechend pünktlich beginnen, sich also auch nach der öffentlichen Uhr richten muß. Dar nach komends wans achte schlecht, und werden vssgelassen vff der halben stund zwischend niunen vnd zechnen, darnach wans zwelfe schlecht, vnd werden vssgelassen wans fiere schlecht. Der Dienstagnachmittag und der Samstagnachmittag waren wegen des Wochenmarktes frei, weil die Knaben von den Eltern für den Markt benötigt wurden. Die Ordnung ist offenbar angegriffen worden, denn der Schulmeister beruft sich in einer Art Verteidigung auf Erfahrungen aus Wangen, Lindau, Konstanz, Überlingen, Ravensburg, Biberach, Ulm, Augsburg, Landsberg, Mindelheim und Kempten. 35 Seit dem Spätmittelalter werden in den europäischen Städten zahlreiche Formen der zeitlichen Strukturierung des Alltags entwickelt, die verschiedenartige Aktivitäten mit Hilfe von Uhren koordinieren, und diese mehr oder weniger komplexen Ordnungen werden allmählich als städtische Zeitordnungen wahrgenommen. Unolds Beschreibung zum Jahr 1570 in Memmingen bietet dafür ein durchaus typisches Beispiel: »Man läutet viel, am Morgen die Thorglocke, dann um 11 Uhr zu dem Türkengebet; ferner um 12 Uhr, um 3 Uhr, Abends die Thorglocke, dann Nachts um 8 Uhr, 9 Uhr, 10 Uhr, 11 Uhr, 12 Uhr, hat jedes seine besondere 33 Vgl. E LISABETH VON S TECHOW , Erziehung zur Normalität. Eine Geschichte der Ordnung und Normalisierung der Kindheit, Wiesbaden 2004, S. 70-92. 34 H ERBERT S CHALLHAMMER , Das Schulwesen der Reichsstadt Memmingen von den Anfängen bis 1806, in: Memminger Geschichtsblätter (1962; sep. 1963), S. 5-103, hier 10. 35 J OHANNES M ÜLLER , Vor- und frühreformatorische Schulordnungen und Schulverträge in deutscher und niederländischer Sprache 2: 1505-1523, Zschopau 1886, S. 180-188; vgl. noch E MIL R EICHENHART , Die Memminger Lateinschule im Reformationszeitalter, in: H ERMANN M ASIUS , Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik, 2. Abt., Leipzig (1880), S. 225-235, 273-280, 331-345, 401-412, hier 231. <?page no="94"?> G LOCKEN U ND U H R EN 93 Abb. 9: Martin Luther: An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, Wittenberg 1524, Titelblatt <?page no="95"?> G E RHAR D D OHR N - VAN R OS S UM 94 Bedeutung. Auf dem St. Martinsthurn blasen die 2 Thurnblaser den Tag an und sind zugleich Wächter aufgestellt und auf jedem der sieben Thore ist ein Wächter, der muß Nachts alle Stund zwey mal den Wächtern auf der Gasse und auf der Stadtmauer Antwort geben. Die Wächter auf der Gasse rufen die Stunde aus, die Wächter auf der Stadtmauer wechseln ab in der Runde, welche jede Stunde ist. […] Am Sonntag ist um 8 Uhr Predigt zu St. Martin, […]. Bey Unser Frauen ist zuerst katholische Meß und Predigt, dann fangen die Evangelischen an Psalmen zu singen und dann wird gepredigt. […] um 3 Uhr abermals eine Predigt. […] Am Montag läutet man um 6 Uhr in den Rath, dann ist wieder Predigt bey St. Martin […] (Freitag) um 11 Uhr läutet man die große Glocke. Am Samstag ist Wochenmarkt, Nachmittag Bad, um drei Uhr Predigt bey St. Martin.« 36 Man sieht, wie schon im 16. Jahrhundert die alte akustische Kulisse vieler Glocken von verschiedenen Türmen allmählich zu einer abstrakten Sequenz von Uhrzeitsignalen schrumpft. Die Diffusion der Uhren und die Einführung der modernen Stundenrechnung läßt sich nicht als konfliktträchtige Durchsetzung einer ›Zeit der Händler‹ gegen eine ›Zeit der Kirche‹ beschreiben. Von einer ›Zeit der Städte‹ zu sprechen scheint mir angemessener, weil es vor allem die Koordinationsbedürfnisse großer sozialer Gemeinschaften waren, die diese Prozesse beschleunigt haben. Je mehr Menschen zur gleichen Zeit mit vielen verschiedenen Dingen beschäftigt sind, desto höher wird der zeitliche Koordinationsbedarf und desto wahrscheinlicher die Verwendung abstrakter Koordinationsmittel. Vielfach wird von einem zunehmenden ›Terror‹ der Uhrzeiten gesprochen. Aber die als Zwang empfundenen, gleichwohl menschengemachten Zeitstrukturen sind irreversibel, weil auch alle Modelle und Projekte, zeitliche Ordnungen elastischer bzw. menschenverträglicher zu gestalten, sich moderner Zeitmeßgeräte bedienen müssen. 36 J. F. U NOLD , Memmingen (Anm. 22), S. 183 f. zum Jahr 1570. <?page no="96"?> 95 G ERHARD A MMERER Alle Zeit der Welt? Zeit als Dimension von Bewußtsein, Erfahrung und ökonomischem Kalkül von Nichtseßhaften am Beispiel des Habsburgerreiches im 18. Jahrhundert Zunächst ist man doch einigermaßen verblüfft, wenn man in einem Sammelsteckbrief aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach und nach auf acht Personen stößt, die Sackuhren mit sich trugen, von denen einige sogar mit einem Silbergehäuse ausgestattet waren. 1 Und man kämpft intuitiv sofort gegen die trügerische Vorstellung an, daß sich von den Behörden gesuchte, nichtseßhafte Personen bei der Gestaltung ihres Tages nach den Stunden- und Minutenzeigern einer Uhr gerichtet haben könnten. 2 Taschenuhren wurden in aristokratischen und gutbürgerlichen Kreisen im Ancien Régime zwar mehr und mehr zu einem unverzichtbaren Teil der Lebensführung und des Lebensstils, stellten auf dem Land jedoch nach wie vor die große Ausnahme dar, wie die Zeitspezialisten unter den Historikern bestätigen. 3 Erst um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert leisteten sich die ersten vermögenden Bauern silberne Sackuhren, die neben der Kenntnisnahme der genauen Zeit auch und nicht zuletzt als Statusobjekte geschätzt wurden. 4 Letzteres kann wohl auch für das Milieu der devianten, weitestgehend vermögenslosen Vaganten angenommen werden. Den Menschen auf der Straße war es wohl ein Anliegen, etwa durch den Besitz einer Uhr, eines wertvollen Luxusgegenstandes, ein wenig von ihrem minderen An- und ärmlichen Aussehen zu kompensieren, ein klein wenig von der Misere ihres Lebens abzulenken und so ihr Selbstwertgefühl zu steigern. 5 Selbst bei den Ärmsten der Armen, die zur Subsistenzmigration 6 gezwungen 1 Oberösterreichisches LA, Stadt Freistadt 347/ XII: Sammelsteckbrief o. D. (2. Hälfte des 18. Jahrhunderts). 2 Vgl. C HRISTOPH P RIGNITZ , Bürgerliches Leben im Zeichen der Uhr. Bemerkungen zu einer literarischen Kontroverse um 1800 in Deutschland, Frankfurt/ Main 2005, S. 37. 3 Vgl. Alle Zeit der Welt. Von Uhren und anderen Zeitzeugen. Katalog zur Ausstellung des Landesmuseums für Technik und Arbeit in Mannheim in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Chronometrie e. V., 26.10.2002-30.3.2003, Mannheim 2002, S. 50f. 4 Vgl. Alle Zeit der Welt (Anm. 3), S. 42. 5 Vgl. G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM , Uhrenluxus - Luxusuhren. Zur Geschichte der ambivalenten Bewertung von Gebrauchsgegenständen, in: R EINHOLD R EITH / T HORSTEN <?page no="97"?> G E RHAR D A MM E R ER 96 waren, offenbart sich damit ein Streben nach Repräsentation und Anerkennung. Unbestritten war die Uhr für Vagierende jedenfalls kein Instrument zum Ablesen der Zeit, sondern ein Kleinod, ein Schatz, den man herzeigte und welcher der Prestigesteigerung dienlich sein sollte. Freilich konnte ein Mitglied der Gesellschaft der Landstraße den Kaufpreis für eine solche Preziose niemals zusammensparen. Somit war der Besitz einer Uhr ausnahmslos das Ergebnis einer deliktischen Handlung. 7 Jeder Nichtseßhafte, der von einem Amtsträger mit einer solchen angetroffen wurde, mußte daher zwangsläufig verdächtig erscheinen. Berechtigt war daher der Kausalschluß in einem 1779 gedruckten Steckbrief aus Salzburg: Der Schlosserhannsl […] traget auch eine Sackuhr, und ist eben darum ein großer Dieb. 8 Die Uhr wurde erst in der Zeit der Frühindustrialisierung zum Koordinierungs- und Synchronisierungsinstrument schlechthin. Darauf, daß die arbeitsteilige Produktion in der Fabrik Zeitdisziplin verlangte, hat die Wirtschaftsgeschichte schon früh hingewiesen. 9 Das Konzept der Zeitökonomie, 10 die Annahme, daß der Mensch erst mit dem Beginn der Industriellen Revolution und der Fabrikarbeit an einen rationalen, vernünftigen Umgang mit der Zeit gewöhnt werden mußte und damit erst das Zeitmanagement geboren wurde, schloß unmittelbar an Werner Sombarts These vom ›natürlichen Menschen‹ der Frühen Neuzeit an, der nur so lange gearbeitet haben soll, bis seine notwendigsten Bedürfnisse befriedigt waren. Diese Mutmaßung hat in der Wissenschaft lange nachgewirkt und die Meinung verfestigt, daß ein »modernes ökonomisches Verhalten« in der Protoindustrialisierungsphase noch M EYER (Hg.), Luxus und Konsum. Eine historische Annäherung (Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt 21), Münster 2003, S. 97-116. 6 Vgl. zur Begrifflichkeit W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Illegale Migration als Lebensform: »Zigeuner« zwischen Arlberg und Bodensee im 18. Jahrhundert, in: R EINHARD B AUMANN / R OLF K IESSLING , Mobilität und Migration in der Region (Forum Suevicum 10), Konstanz- München 2014, S. 189-228, hier 187. 7 Vgl. z. B. Steiermärkisches LA, Steckbriefe, Nr. 2678/ 512: Beschreibung des nach einem Diebstahl flüchtigen Bräuhelfers Johann Georg Hoffmann: Flucht nach Diebstahl einer silbernen Uhr beim bürgerlichen Braumeister Scherb zu Enns. Der Uhrendiebstahl wurde auch in der bildlichen Darstellung vielfach variiert, vgl. z. B. William Hogarths Ölbild ›The Theft of a Watch‹ von 1731 (http: / / www.wikipaintings.org./ genre painting; abgerufen am 17.3.2014); vgl. auch G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM , »Unzeit« und »Zeitordnung«. Ein Nachtrag zu Lichtenbergs Erklärungen der Hogarthschen Kupferstiche und ein Beitrag zur Ikonographie der Uhren, in: Ästhetik und Kommunikation 12 (1981), H. 45/ 46, S. 51-74. 8 Salzburger LA, Hofgericht oder Hofrat 1779: Sammelsteckbrief o. D. 9 Vgl. Alle Zeit der Welt (Anm. 3), S. 47. 10 Vgl. G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM , Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, München 1995 (Erstausgabe: München-Wien 1992), S. 266, 290. <?page no="98"?> A LL E Z EIT DER W EL T ? 97 nicht vorhanden gewesen sei. 11 Damit wurde auch die Frage in den Hintergrund gedrängt, welche Formen der persönlichen Arbeitszeiteinteilung es bereits in dieser Epoche der Entdeckung von historischer Perspektive 12 gegeben hat und erst recht, ob nicht auch Zeitstrategien bei Bevölkerungsschichten zu entdecken sind, die von der Industrialisierung und einem normativ geregelten Arbeitsrhythmus in keiner Weise betroffen waren. 13 Wohl als allerletztes denkt man in dieser Hinsicht an die große Schar der Nichtseßhaften, an jene, welche von der Hand in den Mund lebten, die das Heute, vielleicht noch das Morgen, kaum mehr jedoch das Übermorgen in ihrem Blickfeld hatten. Diesem Gesellschaftssegment möchte ich mich im Folgenden in zwei Schritten annähern: Bevor ich mich dem Aspekt der sozialen Zeit, dem Umgang des Einzelnen oder von Gruppen mit diesem (auch für Vaganten knappen? ) Gut zuwenden werde, soll es zunächst um die individuelle Zeitwahrnehmung, den subjektiven Aspekt der Zeit gehen. Eine nicht unwesentliche Rolle für das Leben der nichtseßhaften Menschen spielte zudem die Außensicht, die obrigkeitliche, zumeist mit recht negativen Konnotationen begleitete Wahrnehmung ihrer Zeitgestaltung. Für die folgenden Ausführungen habe ich die Kernländer des Habsburgerreiches im 18. Jahrhundert als Untersuchungsgebiet und -zeit gewählt. Diejenigen, die heimat-, recht- und weitestgehend besitzlos waren, diejenigen, die keine Ego-Dokumente hinterlassen haben, sind für Historikerinnen und Historiker fast ausschließlich über Steckbriefe und gerichtliche Untersuchungsakten zu fassen. 14 Da letztere zumeist auf strategischen Aussagen basieren und zudem einen 11 Vgl. S EMA S IMON , Die Taglöhner und ihr Recht im 18. Jahrhundert (Berliner Juristische Universitätsschriften, Zivilrecht 2), Berlin 1995, S. 262. 12 Vgl. G[ ERALD ] J. W HITROW , Die Erfindung der Zeit. Aus dem Englischen von D ORIS G ERSTNER , Hamburg 1999 (urspr.: Oxford 1991), S. 223-231. 13 Schon die aufgabenbezogene Zeiteinteilung der Agrargesellschaft bedingte zwar ein rhythmisch unregelmäßiges, aber doch genau geplantes Zeitmaß; J AN P ETERS , »… dahingeflossen ins Meer der Zeiten«. Über frühmodernes Zeitverständnis der Bauern, in: R UDOLF V IERHAUS u. a. (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 104), Göttingen 1992, S. 180-205, hier 183. 14 Zu diesen Quellengattungen vgl. z. B. E VA W IEBEL / A NDREAS B LAUERT , Gauner- und Diebslisten. Unterschichten- und Randgruppenkriminalität in den Augen des absolutistischen Staates, in: M ARK H ÄBERLEIN (Hg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne. Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.-18. Jahrhundert) (Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven 2), Konstanz 1999, S. 67-96; G ERHARD A MMERER , Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancién Regime (Sozial- und Wirtschaftshistorische Studien 29), Wien-München 2003, S. 37, 44-47; H ELFRIED V ALENTI - NITSCH , Fahndungs-, Gerichts- und Strafvollzugsakten als Quelle zur Alltagsgeschichte des Barockzeitalters, in: O THMAR P ICKL / H ELMUTH F EIGL (Hg.), Methoden und Probleme der <?page no="99"?> G E RHAR D A MM E R ER 98 (unterschiedlich) starken behördlichen Filter aufweisen, ist eine vorsichtige Annäherung an die Quellen erforderlich. Richtet man beim Lesen dieser Akten seinen Blick auf die Dimension Zeit, so erweisen sich rasch jedwede romantischen Vorstellungen eines von Lust und Laune diktierten Umherziehens, eines zwanglosen, freien Zigeunerlebens, wie es vom Autor der ›Carmina Burana‹ bis zu diversen Liedermachern des 20. Jahrhunderts immer wieder besungen wurde, wenn sie sich des Themas der herumziehenden Leute bemächtigt haben, als vollkommen illusorisch. 15 Nämliches gilt für die von Schillers ›Die Räuber‹ (1781) initiierten und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts boomenden trivialen Räubergeschichten. 16 Die Zeit bedeutete für nichtseßhafte Menschen - von dieser Hypothese gehe ich im folgenden aus - vielmehr eine Kategorie, die durchaus einer strategischen Ausrichtung bedurfte, die unter den besonderen strukturellen Bedingungen eine gegenüber der seßhaften Bevölkerung zumindest teilweise abweichende Nutzung verlangte, aber auch andere Wirklichkeitserfahrungen mit sich brachte. 1. Innen- und Außensicht: Zeitbewußtsein und Zeitverschwendung Von keiner hohen Wertigkeit inner- und unterhalb der ländlichen Gesellschaft war es offenbar, die eigene Lebenszeit zu messen. 17 Die Verhörprotokolle bezeugen jedenfalls ein mangelndes Interesse sowie vielfach Uninformiertheit von nichtseßhaften Befragten, was das eigene Lebensalter betraf. Sie seye sehr jung gewesen, die eigentliche Zeit aber wisse sie nicht zu bestimmen, 18 beantwortete Margaretha Steurin vor Gericht die Frage, wann sie von ihren Eltern weggekommen sei. Viele Vagierende konnten auf die Frage nach ihrem Alter keine exakte Antwort geben. Neben der faktischen Bedeutungslosigkeit dieser Kenntnis dürfte auch die Tatsache, daß Geburtstage im 18. Jahrhundert nicht gefeiert wurden - von einer größeren Bedeutung waren die Namenstage - ihren Teil zur Unkenntnis des eigenen Lebensalters beigetragen haben. Alltagsforschung im Zeitalter des Barock (Österreichische Akademie der Wissenschaften: Veröff. der Kommission für Wirtschafts-, Sozial- und Stadtgeschichte 5 / Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde, Sonderbd. 1991), Wien 1992, S. 69-82; H ELGA S CHNABEL -S CHÜLE , Ego-Dokumente im frühneuzeitlichen Strafprozeß, in: W INFRIED S CHULZE (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, S. 295-317. 15 Vgl. etwa die durchwegs diesem romantischen Topos entsprechenden Zigeunerlieder von STS, Andre Heller oder Georg Danzer. 16 Inbegriff des Genres: V ULPIUS , Rinaldo Rinaldini; vgl. W ALTRAUD W OELLER , Illustrierte Geschichte der Kriminalliteratur, Frankfurt/ Main 1985, S. 42. 17 Vgl. J. P ETERS , Zeitverständnis (Anm. 13), S. 188f. 18 TLA, Hofregistratur, Reihe L, Faszikel 217: Protokollextrakt vom 24. Juli 1783. <?page no="100"?> A LL E Z EIT DER W EL T ? 99 Wie sah es auf der Landstraße überhaupt mit der Lebenserwartung aus? Die Auswertung von Steckbriefen läßt den Schluß zu, daß betagte Personen nur einen sehr geringen Anteil der Vagierenden ausmachten. Graphik: Steckbrieflich gesuchte Personen nach dem Lebensalter 1750-1800 Quelle: Steiermärkisches LA, Bestand Steckbriefe; auswertbare Altersangaben bei 1.578 von 1.884 erfaßten Personen. Von einem großen Sample an Steckbriefen im Steiermärkischen Landesarchiv, 19 das 1.578 Namen von Gesuchten aufweist, die Angaben über ihr Alter machten - inwieweit diese tatsächlich zutreffend waren, bleibt eine offene Frage -, waren nur sieben Frauen und 29 Männer älter als 55 Jahre. Trotz der unsicheren Angaben, ist dennoch darauf zu schließen, daß unter den Vagierenden nur wenige betagte Menschen zu finden waren und man von einer äußerst niedrigen Lebenserwartung dieses Bevölkerungssegments ausgehen muß. Die große Mehrzahl der vagierenden Menschen starb früh, ›mitten im Leben‹, durch einen Unfall oder an den Folgen einer Krankheit, oft verursacht durch mangelnde Hygiene. An Altersschwäche starb kaum jemand. 20 Vaganten, die ihr Alter mit über 90 Jahren angaben, waren 19 Vgl. nähere Details über den Bestand bei G. A MMERER , Heimat Straße (Anm. 14), S. 264f. 20 So auch A RTHUR E[ RWIN ] I MHOF , Der Beitrag der Historischen Demographie zur Altersforschung, in: P ETER B ORSCHEID (Hg.), Alter und Gesellschaft, Stuttgart 1995, S. 25-42, hier 32. 9 219 812 337 147 40 13 1 0 100 200 300 400 500 600 700 800 900 1 10 11 20 21 30 31 40 41 50 51 60 61 70 71 80 Anzahl Altersgruppen <?page no="101"?> G E RHAR D A MM E R ER 100 daher entweder krasse Ausnahmefälle oder, was wahrscheinlicher ist, sie logen oder schätzten ihr Alter völlig falsch ein. 21 Da es nur wenige (zumindest aus heutiger Sicht) alte Menschen unter den Vagierenden gab, stellt sich die Frage, wen die Zeitgenossen denn mit dem Adjektiv ›alt‹ belegten. In den Akten entdeckt man dazu sehr unterschiedliche Angaben: Der alte Wolf, bey 50. Jahre alt, ein Abdecker, ein schon hibsch alter Mensch, über etliche und 40. Jahr, Die alte Margreth: Ist beyläufig 38. Jahr alt, Die alte Singer Fränzl […] ist bey 30 22 - so steckbriefliche Ausführungen zu einigen Personen, bei welchen die Altersangabe mitunter sogar zu einem Bestandteil des Vulgonamens geworden war. Die Verwendung des Adjektivs ›alt‹ scheint sich also nicht ausschließlich, möglicherweise nicht einmal primär auf die Lebensjahre bezogen zu haben, sondern richtete sich offenbar stark an der körperlichen Verfassung und am minderen Grad der Erwerbsfähigkeit aus. Befragt man die Protokolle nach der Zeitwahrnehmung bzw. nach Zeitangaben der Verhörten, so ist zunächst festzuhalten, daß sich Vagierende nicht an Kalendertagen und erst recht nicht nach der Uhr orientierten, sondern beinahe ausschließlich an den traditionellen Fixpunkten des Jahres, den religiösen Feiertagen: Am Pfingsttag; 23 eine Woche vor Martini; 24 vor Lichtmeß; 25 nach Georgi […] nach Lichtmeß […] diese Fastenzeit […] vor letzten Weihnachten 26 - so und ähnlich lauteten die Auskünfte bei Verhören, wenn es um Zeitbestimmungen ging. Die Verständigung mit Hilfe von Angaben aus dem kirchlichen Jahreszyklus war offenbar handhabbar und ausreichend. Das selbst Erlebte war, wie die protokollierten Aussagen zeigen, im Bewußtsein der Vagierenden häufig noch sehr präsent und die Erinnerungsleistungen vielfach 21 Vgl. z. B. Steiermärkisches LA, Murau, Schachel 11, H 211: Extrakt aus dem Verhörprotokoll des angeblich 92jährigen Bettlers Andree Staudinger vom 1. Juli 1750; ebd., A G-K, Sch 364, H 560: Summarisches Examen Lorenz Amon vom 5. Mai 1774, dessen Frau als 91 Jahre alt angegeben wird; ebd., Domstift Seckau, Schachtel 859: Verhörprotokoll Jacob Preyss vom 30. Sept. 1772, der als Alter 92 Jahre nennt. 22 Steiermärkisches LA, Steckbriefe, 17. April 1765: Beschreibung eines Flüchtigen bei einem Geldfälscherprozeß; ebd., 31. Mai 1766: Beschreibung einer flüchtigen Diebin; ebd., 23. Jan. 1767: Beschreibung eines wegen Diebstahls Gesuchten; ebd., 11. Juni 1773: Sammelsteckbrief für 83 Personen, Nr. 8. 23 TLA, Landgericht Kufstein 1798, Kriminalia, Faszikel 4, Nr. II: Extrakt aus dem Innsbrucker Zuchthausprotokoll Ursula Kaltschmidin vom 23. Okt. 1798. 24 TLA, Landgericht Kufstein 1798, Kriminalia, Faszikel 4, Nr. II: Verhörprotokoll Maria Kopferin vom 9. Sept. 1798. 25 Salzburger LA, Hofrat-Kriminalia, Faszikel 2, Nr. 1604: Relatio Criminalis im Verfahren gegen Thoman Prinpacher vom 5. Aug. 1771. 26 Salzburger LA, Hofrat-Kriminalia, Faszikel 1, Nr. 920: Relatio criminalis im Verfahren gegen Johann Obermayr vom 14. Sept. 1765. <?page no="102"?> A LL E Z EIT DER W EL T ? 101 sogar hervorragend, doch bestand offenbar kein Bedarf nach exakten Angaben einer Zeitdauer. 27 So belegt der als Invalide entlassene Soldat Joseph Martin Aupigler, der nicht nur die habsburgischen Länder, sondern auch westeuropäische Staaten bereist hatte, in seinen Erzählungen eindrucksvoll die Bedeutung, die Raum und Topographie für ihn spielten. Er konnte detailliert benennen, wo er überall gewesen war, doch mangelte es ihm an jeglicher Vorstellung der (belanglosen? ) zeitlichen Dimension: Wie lang er sich aber auf ieden Orth aufgehalten, seye ihme ohnbewust. 28 Daß die Lebensweise eines Joseph Martin Aupigler als deviantes Verhalten etikettiert wurde, hatte zum Gutteil mit der Zeitgestaltung zu tun, die so gar nicht der christlichen Vorstellung von der flüchtigen, den Menschen von Gott zur Verfügung gestellten Zeit entsprachen, die zu vergeuden als sündhaft angeprangert wurde. Bedeutungslos waren für sie die Aufrufe der Merkantilisten zur rechten Zeitverwendung. 29 Das Handeln von nichtseßhaften Personen war auf die gegenwärtigen Bedürfnisse und nicht auf ein Planen für die Zukunft ausgerichtet, was, folgen wir Norbert Elias, darüber hinaus nur eine geringe Selbstzügelung verlangte. 30 Ebenso argumentiert schon der Autor im Zedlerschen Universallexikon: Der Mensch darf die Zeit seines Lebens nicht nach seinem Gefallen brauchen, indem er da ist, daß er sich und andere glückselig mache, folglich soll er die Zeit so brauchen, wie es GOttes [sic! ] Willen gemäß ist, daß er Nutzen in der Welt schaffe, und den wahren Fleiß ausübe […]. Der Mißbrauch der Zeit bestehet im Müßiggange, da man eines Theils solche Verrichtungen vornimmt, die eitel sind, und keinen Nutzen bringen; andern Theils seinem verderbten Triebe zu gefallen gar nichts thut. 31 Auch das bekannte Sprichwort: ›Müßiggang ist aller Laster Anfang‹ zielt auf die zeitverschwendende Lebensführung hin, die in den Augen der Obrigkeit zu deviantem Verhalten und in der Folge zwangsläufig zur Kriminalität führen mußte. Diese Argumentationsführung findet sich in den zeitgenössischen Vorstellungen vielfach, etwa in einer gereimten Moralrede am Schluß einer offiziösen Flugschrift zur Hinrichtung des Vaganten und Diebes Kaspar Bloch in Salzburg. Vom Einzelfall ausgehend weist sie generalisierend auf diesen Zusammenhang hin: Der Müßiggang, die nicht sinnvoll genutzte Zeit, wird als Ursache allen Übels - nicht nur der Verbrechen des Verurteilten - betrachtet und bildet die programmatische Basis des generalpräventiv ausgerichteten Gedichts: 27 Vgl. J. P ETERS , Zeitverständnis (Anm. 13), S. 191. 28 TLA, Landgericht Lienz 1728-1789, Kriminalprozesse, Faszikel 47: Verhörprotokoll Joseph Martin Aupigler vom 24. Jan. 1749. 29 Vgl. näher R UDOLF W ENDORFF , Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, 2. Aufl. Opladen 1980, S. 274f. 30 Vgl. N ORBERT E LIAS , Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt/ Main 1988, S. 126. 31 J OHANN H EINRICH Z EDLER , Grosses Universal-Lexikon 61, Leipzig-Halle 1749 (Reprint: Graz 1964), Sp. 732. <?page no="103"?> G E RHAR D A MM E R ER 102 Moralrede. […] Jünglinge! wo sind die Tage? Lebet ihr nicht allzufrey? Wird von euch die edle Zeit nur zum Guten angewendet? O! daß ihr auf diese Frag euch gerecht und rein befändet! Aber leider! Ganze Stunden, ganze Tage sterben hin; Es verstreichen ganze Jahre ohne Nutzen und Gewinn. Mit den Jahren stirbt der Fleiß, und die Tugend wird stets kleiner, Die doch immer wachsen soll. Nicht wahr, euer Herz war reiner, Als es im gesunden Alter bey erwachsnem Leibe ist? Ey! Woher kommt dieser Schaden, der das Mark der Seele frißt? Glaubet mir, der Müßiggang ist die Seuche ganzer Länder, Und der Jugend ärgstes Gift […] Spiegelt euch ihr Müßiggänger! Und befürchtet jenes Schwert, Das heut diesem Uebelthäter durch die junge Gurgel fährt. Hätte er die goldne Zeit und die Kräfte gut gebrauchet, Wurde er dem Schwert’ entgeh’n, das nach seinem Blute rauchet. Aeltern! Stellt das Müßiggehn bey den jungen Kindern ein, Und es wird zum Trost der Bürger kein Gericht und Bettler seyn. 32 Vor allem jugendlichen, arbeitsfähigen Dieben wurde der Müßiggang vom Gericht als erschwerender Sachverhalt vorgeworfen, der lediglich noch dadurch verschlimmert werden konnte, wenn einer wie der 20jährige Johann Landmann, der 65 Gulden gestohlen hatte, nicht nur die Zeit verschwendet, sondern diese auch noch dazu mißbraucht hatte, das entwendete Geld mit Saufen und Spielen binnen 8 Tägen beynahe ganz zu verschleudern. 33 Der Dieb verlor wiederholt beim Kegeln und bezahlte Zechgelage bei verschiedenen Wirten. Die Bündelung von nicht sinnvoll eingesetzter Arbeitskraft, Zeitvergeudung, Trinken und Spielen mußte nach den behördlichen Vorstellungen und dessen normativen Formulierungen jedermann in die Kriminalität abgleiten lassen, da man vor allem in den Wirtshäusern entlang der wichtigsten Landstraßen permanent der ›schlechten Gesellschaft‹ ausgesetzt war. So soll es auch bei Thomas Langegger der Fall gewesen sein, einem Müßiggänger, der mehrere schwere Diebstähle begangen hatte und dem die Flucht aus dem Salzburger 32 Salzburger LA, Hofrat Akten Neuhaus 11 ½: Wohlverdientes Todsurtheil nebst einer Moralrede Ueber das Verbrechen des Kaspar Bloch […] 1769. Vgl. dazu ausführlicher: G ERHARD A MME - RER / F RIEDRICH A DOMEIT , Armesünderblätter, in: K ARL H ÄRTER / G ERHARD S ÄLTER / E VA W IEBEL (Hg.), Repräsentation von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Bilder, Vorstellungen und Diskurse vom 16. bis zum 20. Jahrhundert (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt/ Main 2010, S. 271-307. 33 TLA, Landgericht Kitzbühel, Criminalia 1799-1800: Rechtliche Erkenntnis des Kitzbühler Pflegers vom 4. Aug. 1800. <?page no="104"?> A LL E Z EIT DER W EL T ? 103 Festungskerker gelungen war: Von Jugend auf liederlich dem Trunk auch Spiel ergeben, hielt er sich bey schlechter Gesellschaft, in spezie den Kontrabandierern auf. 34 2. Die Einteilung der Zeit Das komplexe Phänomen ›Zeit‹ bedeutete für Vagierende nicht nur eine soziale Dimension des Erlebens, des Bewußtseins und der Erfahrung, sondern stellte auch eine Kategorie des ökonomischen Verhaltens dar. 35 Die Nichtseßhaften verfolgten innerhalb ihres Lebensraumes bewußt oder unbewußt spezifische soziale und wirtschaftliche Strategien und setzten Handlungen, die erst erlernt, also im eigentlichen Sinn des Wortes ›erfahren‹ werden mußten. Es benötigte einige Zeit, bis man sich die regionalen Spezifika der Infrastruktur der Straße und die sozioökonomischen Gegebenheiten und Möglichkeiten des Raumes aneignete, die hernach eine Grundlage für die Zeiteinteilung und Lebensführung gaben. Erst wenn man die Märkte, Feste, Almosenanlaufpunkte, Nächtigungsmöglichkeiten und andere Gegebenheiten kannte, war man ›bewandert‹. Diese durch Übung erworbenen Kenntnisse, die das Leben und Überleben auf der Landstraße erst ermöglichten, wurden nur selektiv an andere weitergegeben. 36 Die Zeiteinteilung orientierte sich nicht nur an der festgelegten Ordnung von Messen und kirchlichen Feiertagen, sondern basierte auch auf dem Rhythmus der Natur und der Jahreszeiten. Man mußte wissen, wo es zu welcher Zeit althergebrachte Terminalalmosen 37 zu heischen gab, bei welchen Personen oder Institutionen an welchen Feiertagen Speisenausteilungen stattfanden - vielerorts wurde zu solchen Anlässen Brot vor den Kirchentüren gereicht - 38 , und vor allem wann und 34 TLA, Landgericht Kitzbühel, Criminalia 1781-88, Faszikel 102: Untersuchungsprotokoll im Fall Thomas Langegger vom 5. Nov. 1787. 35 Vgl. N. E LIAS , Zeit (Anm. 30), S. 52; E DITH S AURER , Straße, Schmuggel, Lottospiel. Materielle Kultur und Staat in Niederösterreich, Böhmen und Lombardo-Venetien im frühen 19. Jahrhundert (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 90), Göttingen 1989, S. 41. 36 Vgl. D IRK R IESENER , Die Produktion der Räuberbanden im kriminalistischen Diskurs. Vagantische Lebensweise und Delinquenz im niedersächsischen Raum im 18. und 19. Jahrhundert, in: C ARL -H ANS H AUPTMEYER (Hg.), Hannover und sein Umland in der frühen Neuzeit. Beiträge zur Alltags-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte 8), Bielefeld 1994, S. 183-213, hier 185. 37 Dieser Terminus nach E RNST S CHUBERT , Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts (Veröff. der Gesellschaft für fränkische Geschichte IX/ 26), 2. Aufl. Neustadt/ Aisch 1990, S. 191. 38 Vgl. E. S CHUBERT , Arme Leute (Anm. 37), S. 180; T HOMAS F RICKE , Zigeuner im Zeitalter des Absolutismus. Bilanz einer einseitigen Überlieferung. Eine sozialgeschichtliche <?page no="105"?> G E RHAR D A MM E R ER 104 wo sich im bäuerlichen Jahreslauf Verdienstmöglichkeiten ergaben. Die Wegführung der Nichtseßhaften richtete sich stark nach den Ernte- und Schlachtzeiten, wurde also vom agrarischen Jahreszyklus mitbestimmt, der auch diverse andere Möglichkeiten der Nahrungsbeschaffung eröffnete, vom Sammeln von Früchten des Waldes bis zum Stehlen von reifem Obst bei den Bauern u. a. m. 39 Von größter Bedeutung - nicht nur für das gesellschaftliche Leben der seßhaften Landbevölkerung - waren die verschiedenen Festtage und Jahrmärkte. Für die Vagierenden eröffneten etwa die vielbesuchten Kirchweihfeste Erwerbsmöglichkeiten durch Bettel oder Austausch von Informationen, 40 auch war dort mit einer erhöhten Spendierfreudigkeit zu rechnen und es konnten Belustigungen, Dienstleistungen oder Waren angeboten, inmitten des Festtrubels aber auch kleine Eigentumsdelikte begangen werden. In Steckbriefen finden sich immer wieder Hinweise auf die Wertschätzung bestimmter Orte durch die Vagierenden: 41 Sein Aufenthalt ist stäts in Böhmen, ausser der Marktszeit zu Linz, Krems, Stadt = Steyer, Wels, und Salzburg, bei welcher er sich sicher allda einfindet. 42 Und zur Beliebtheit, zur Besucherfrequenz und dem Verhalten der Nichtseßhaften stellt der große Satiriker der Aufklärungszeit Johann Pezzl fest: Wenn nun an einem Orte vollends Kirchweihfest, oder Markt ist, dann wird man beinahe ganz von Bettlern aufgefressen. 43 Vaganten und Vagantinnen trafen sich auf Kirchweihen, Jahrmärkten oder Messen bisweilen ungeplant, 44 vielfacht jedoch auch verabredet: Diese 4 beschriebenen Diebe, und Räuber seyn alle aus Bayern, und halten sich meistens um die Stadt Steyer, Wels, Linz ec. herum auf, geben sich als Landkrämmer aus, führen in einem mit einem Pferd bespannten Wagen, oder Chaise auch Waaren, in seidenen Halstücheln, so anderen bestehend, mit sich, und besuchen alle umliegende Jahrmärkte, sogar auch die Grazer Messe […] und kommen meistens auf denen Jahrmärkten oder Messen alle 4 zusammen. 45 Solche Veranstaltungen Untersuchung anhand südwestdeutscher Quellen (Geschichtswissenschaft 40), Pfaffenweiler 1996, S. 462. 39 Vgl. E RNST S CHUBERT , Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995, S. 70. 40 So erfuhr etwa Maria Mayrhoferin auf einem Jahrmarkt von einer Frau namens Krazerin, mit der sie einige Jahre zuvor bettelnd herumgezogen war, daß Carl Peyerl, der sie geschwängert hatte, (angeblich) neben ihr auch andere Frauen gehabt habe; TLA, Landgericht Lienz 1728-1789, Kriminalprozesse, Faszikel 47: Verhörprotokoll Maria Mayrhoferin vom 10. Jan. 1772. 41 Vgl. auch E. W IEBEL / A. B LAUERT , Gauner- und Diebslisten (Anm. 14), S. 77. 42 Oberösterreichisches LA, Stadt Freistadt 347/ XII: Sammelsteckbrief o. D. (2. Hälfte des 18. Jahrhunderts). 43 [J OHANN P EZZL ], Reise durch den Baierischen Kreis, Salzburg-Leipzig 1784, S. 157. 44 Vgl. z. B. TLA, Landgericht Lienz 1728-1789, Kriminalprozesse, Faszikel 47: Verhörprotokoll Maria Mayrhoferin vom 8. Nov. 1771: Sye häten sich nicht unterreth, weren halt zum Aufhofner Kirchtag zusammen gekommen, und sodan wiederumen voneinander gegangen. 45 Steiermärkisches LA, Steckbriefe, 15. Mai 1790 (Sammelsteckbrief). <?page no="106"?> A LL E Z EIT DER W EL T ? 105 erfüllten also für dieses Gesellschaftssegment neben den ökonomischen auch wesentliche kommunikative Funktionen und bestimmten die Wanderrouten und damit die Nutzung des Raumes und die Einteilung der Zeit im Jahreslauf. 46 Bettlerinnen und Bettler machten dort bisweilen Bekanntschaften - fast ausschließlich innerhalb ihres Milieus - und fanden mitunter neue Wegbegleiter, Sexualpartner oder auch Lebensgefährt(inn)en. 47 Die wenigen erhalten gebliebenen Aufzeichnungen einer spezifischen Gruppe von Nichtseßhaften, der wandernden Schausteller, thematisieren zudem die ökonomisch relevanten Auswirkungen der Gesetzmäßigkeiten des Kirchenjahres wie beispielsweise Aufführungsverbote an bestimmten Feiertagen oder kirchlichen Festen. Einen großen Einfluß auf die Zeitgestaltung und die Erwerbsmöglichkeiten vor allem der Kleinkunsttreibenden hatten auch punktuelle politische Ereignisse, beispielsweise Spielverbote beim Tod eines Regenten, gestörte Marktverbindungen während kriegerischer Auseinandersetzungen oder die Grenzsperren in Seuchenzeiten. 48 Da nichtseßhafte Personen überwiegend in Begleitung vagierten - die Regel waren Kleingruppen von drei bis zehn Personen -, 49 mußte es auch zu einer gewissen Synchronisierung ihrer Handlungen kommen. Darauf, daß für jede Form der Vergesellschaftung die Notwendigkeit besteht, das Verhalten der einzelnen Individuen aufeinander abzustimmen, hat bereits Norbert Elias hingewiesen. 50 Alle Zeit der Welt hatte daher auch die vagierende Population nicht. Auf Probleme bei der Koordinierung innerhalb des Milieus der Straße deuten zeitliche Dissonanzen hin, beispielsweise in Form von Vorwürfen, mit denen Maria Mayrhoferin von seiten ihres Partners konfrontiert wurde: Sie sei beim Betteln zu langsam. 51 46 Vgl. M ARTIN S CHEUTZ , »Mental Maps« von Vagierenden in der Frühen Neuzeit. Mobilität und deren textliche Repräsentation im niederösterreichischen Voralpengebiet aus der Perspektive von Verhörten, in: Volkskunde in Sachsen 24 (2012), S. 111-140, hier 113. 47 Zu Sexualität und Partnerschaft auf der Landstraße vgl. G ERHARD A MMERER , Von Gutschen, fleischlichen Begierden und Ehefleppen - Partnerschaft, Sexualität und Nachkommen im Milieu der Landstraße, Die Gesellschaft der Nichtsesshaften. Daseinsbewältigung, Lebens- und Umgangsformen, in: D ERS ./ G ERHARD F RITZ (Hg.), Die Gesellschaft der Nichtsesshaften. Zur Lebenswelt vagierender Schichten vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Affalterbach 2013, S. 107-132. 48 Vgl. G. A MMERER , Heimat Straße (Anm. 14), S. 398-410. 49 Vgl. G. A MMERER , Heimat Straße (Anm. 14), S. 282-286. 50 Vgl. L UCIA S TANKO / J ÜRGEN R ITSERT , »Zeit« als Kategorie der Sozialwissenschaften. Eine Einführung, Münster 1994, S. 159. 51 TLA, Landgericht Lienz 1728-1789, Kriminalprozesse, Faszikel 47: Verhörprotokoll Maria Mayrhoferin vom 5. Nov. 1771. <?page no="107"?> G E RHAR D A MM E R ER 106 Die Zeit spielte eine wesentliche Rolle, wenn man gemeinsam Ansiedlungen oder Täler abbettelte. 52 Das Abgehen oder Abstreifen der Häuser und Höfe bestimmte das Tempo der Bewegung im Raum und die Zeitdauer, die man in der Region war. Nur eine möglichst kurze Zeitspanne sollte der Wortwechsel zwischen Almosengeber und -empfänger ausmachen. Daher wurde das Anliegen üblicherweise prägnant vorgetragen, was, worauf Norbert Schindler hingewiesen hat, zu Verkürzungen, Formelhaftigkeit und Habitualisierung bei den Dialogen zwischen bettelnden Vagierenden und Seßhaften führte. 53 Die Subsistenzsicherung einer Familie oder einer Gruppe war allerdings allein durch Bettelerträgnisse kaum möglich. Die fahrende Gemeinschaft nahm, um die Versorgung zu gewährleisten, verschiedene Verdienstmöglichkeiten wahr und kombinierte sie, wofür Richard Wall - für die seßhafte Landbevölkerung - den Begriff der »adaptive family economy« geprägt hat. 54 Das Überleben mittels einer kombinierten Ökonomie erforderte daher auch Improvisation, was eine kulturelle, im tagtäglichen Umgang mit den materiellen Zwängen erworbene Kompetenz voraussetzte. 55 Aussagen zu arbeitsteiligen Gruppenstrukturen und den unterschiedlichen Facetten des kollektiven Mischerwerbs finden sich laufend in den Verhörprotokollen: Wir Weibsbilder sind meistentheils allein geblieben, haben bey denen Häusern und Schwaig Hütten gebettlet, der Peter und der Klampferer haben geklampfert, und seynd abends […] auch allzeit zusammen gekommen, sie haben etwas wenigs Geld von der Klampferer Arbeit auch bisweilen Spöck und Fleisch mitgebracht 56 - so beispielsweise die Aussage einer Elfjährigen, deren fünfköpfige Gruppe (zwei Männer, eine Frau und zwei Mädchen) im Gebirge unterwegs war, zu deren ökonomischer Praxis und Zeiteinteilung. 52 Dieser Terminus scheint wiederholt in den Quellen auf; vgl. z. B. TLA, Landgericht Lienz 1728-1789, Kriminalprozesse, Faszikel 47: Verhörprotokoll Viktoria Spitalerin vom 10. Jan. 1784: Über den Berg herunter [hätten sie] die Häuser abgebetelt. 53 Vgl. N ORBERT S CHINDLER , Die Entstehung der Unbarmherzigkeit. Zur Kultur und Lebensweise der Salzburger Bettler am Ende des 17. Jahrhunderts, in: D ERS ., Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt/ Main 1992, S. 258- 314, hier 297. 54 Zur Anwendung auf die Vagierenden vgl. G ERHARD A MMERER , Survival Strategies of Beggars in Early Modern Europe - an adaptive »family economy«? , in: S ABINE V EITS - F ALK / G ERHARD F RITZ (Hg.), Beggars, Peasants and Soldiers in the Early Modern Age. Papers of the »Paupers and Beggars« Section European Social Science History Conference, Gent, Belgium, April 2010 (Schriftenreihe des Instituts für Gesellschaftswissenschaften der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd 4), Schwäbisch Gmünd 2011, S. 9-14. 55 Vgl. N ORBERT S CHINDLER , Jenseits des Zwangs? Zur Ökonomie inner- und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, in: D ERS ., Widerspenstige Leute (Anm. 53), S. 20-46, hier 41. 56 Steiermärkisches LA, Domstift Seckau, Schachtel 859: Verhörprotokoll Cäcilia Maßtnerin vom 10. Juni 1774. <?page no="108"?> A LL E Z EIT DER W EL T ? 107 3. Tages- und Jahreszeiten Über die Reisegeschwindigkeit bzw. die Distanzen, die von Vagierenden pro Tag zurückgelegt wurden, sind nur singuläre Aussagen möglich. Das Vorwärtskommen hing von mehreren Faktoren ab, neben dem persönlichen Gesundheitszustand, der Gruppengröße und der Dichte der Anlaufpunkte in einer Region etwa auch von der Willkür der Witterung. Zwischen fünf und zehn Kilometer am Tag dürften ein übliches Maß dargestellt haben, wenn Vagierende von Hof zu Hof um Almosen gingen. 57 Die Bettlerin Rosina Ebner legte innerhalb einer Gebietsfläche von rund 150 bis 200 Quadratkilometern nach amtlichen Angaben in sieben Jahren rund 2.000 Kilometer zurück. 58 Auf den Tag umgerechnet bedeutet das wesentlich weniger als den eben genannten Wert, was einerseits mit temporärem Verbleiben an einem Standort (Winter, Krankheit, Arbeit) erklärbar ist, andererseits wohl auch aus der Tatsache, daß die (Um-)Wege etwa beim Almosensammeln von Haus zu Haus oder beim Überqueren eines Bergrückens, um ins nächste Dorf zu gelangen, für den protokollierenden Beamten als unerhebliche Größen nicht detailliert wahrgenommen wurden und in die Wegstreckenberechnung keinen Eingang fanden. Distanzen von 20 Kilometern und mehr pro Tag kamen allerdings vor, dienten jedoch zumeist einem raschen und markanten Gebietswechsel. 59 Innerhalb weniger Tage zurückgelegte Wegstrecken von 100 Kilometern und mehr sind für einige Fälle dokumentiert, in denen es galt, zeitgerecht einen Wallfahrtsort oder ein Dorf zu erreichen, wo etwa ein Kirchweihfest stattfand. 60 In der wissenschaftlichen Literatur wird die bisher nur dürftig belegte These vertreten, daß es in Abständen von höchstens einem Tagesmarsch sichere (geheime) Herbergen gab, die das Rückgrat des Wegenetzes von Vagierenden bildeten. 61 57 So R OLF W OLFENSBERGER , »Heimatlose und Vaganten«. Die Kultur der Fahrenden im 19. Jahrhundert in der Schweiz, Diss. phil., Bern 1996, S. 118. 58 Vgl. H ELFRIED V ALENTINITSCH , Frauen unterwegs. Eine Fallstudie zur Mobilität von Frauen in der Steiermark um 1700, in: H EIDE W UNDER / C HRISTINA V ANJA (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, Göttingen 1996, S. 223-236, hier 231. 59 Vgl. T HOMAS D OMINIK M EIER / R OLF W OLFENSBERGER , »Eine Heimat und doch keine«. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.-18. Jahrhundert), Zürich 1998, S. 270. 60 Vgl. N ORBERT S CHINDLER , Die Mobilität der Salzburger Bettler im 17. Jahrhundert, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde 19 (1989), S. 85-91, hier 90. 61 Vgl. W OLFGANG J OHN , … ohne festen Wohnsitz … Ursache und Geschichte der Nichtseßhaftigkeit und die Möglichkeiten der Hilfe, Diss. Universität Heidelberg, Bielefeld 1988, S. 214; A NDREAS B LAUERT , Diebes- und Räuberbanden in Schwaben und in der Schweiz, an Bodensee und Rhein im 18. Jahrhundert, in: H ARALD S IEBENMORGEN (Hg.), Schurke oder Held? Räuber und Räuberbanden (Volkskundliche Veröff. des Badischen Landesmuseums Karlsruhe 3), Sigmaringen 1995, S. 57-64. - Vgl. auch G ERHARD A MMERER , Die <?page no="109"?> G E RHAR D A MM E R ER 108 Das Übernachten in einer Herberge war allerdings nicht die Regel. Zumeist suchten Vagierende bei Bauern, Randgruppenangehörigen, in Klöstern oder Pfarrhäusern um Nachtquartier an. Die übliche Ankunftszeit für das Anherbergen war der mittlere bis späte Nachmittag. Jedenfalls sollte es noch hell sein: Wür seynd so um 3: Uhr hingekommen, und haben das Dörfl durch abgebettlt, bey dem letzten Haus haben wür um die Herberg gebittet, und seyn dorten geblieben. 62 War es bereits Nacht, so gestaltete sich die Suche nach einem Quartier wesentlich schwieriger. Denn nach Sonnenuntergang standen die Vaganten zumeist vor verschlossenen Türen, da die Hausbewohner mit dem Einbruch der Dunkelheit schlafen gegangen waren. 63 Man mußte schon Glück haben, wenn man zu später Stunde noch ins Haus gelassen wurde, wie das Familien- und Gruppenoberhaupt Balthaußer Schubes 1783 bei einer Befragung berichtet: Sie haben beym Bauern noch Liecht gehabt, und haben mich wohl gefragt, warum wir so spath anherbergen thäten: Ich hab ihn halt gesagt, wir haben zu Sillian keine Herberg bekommen. Meine Kinder haben halt so stark geweint und da haben sich die Leut über selbe erbarmet […]. 64 Konnte man, wenn man zu spät angekommen oder der Bitte um Nachtquartier nicht entsprochen worden war, während der warmen Jahreszeit noch leicht im Wald, in Stadeln oder an anderen geschützten Orten übernachten, so bot die kalte Jahreszeit wesentlich schlechtere Möglichkeiten für Schlafplätze. Sie war für Vagierende gefährlich, besonders für Einzelgänger. In strengen Wintern erfroren immer wieder Bettlerinnen und Bettler auf der Straße, nach der Schneeschmelze fand man mitunter die halbverwesten Leichen von Vagantinnen und Vaganten. 65 Die Toten, von denen die betroffene Gemeinde nichts wußte und auch nichts wissen wollte, wurden zumeist rasch verscharrt, kaum jemals förmlich-rituell beigesetzt und fanden nur in Ausnahmefällen Erwähnung im Amtsschrifttum. Die Winterquartiere, die sich die Nichtseßhaften suchten oder aneigneten, waren von unterschiedlicher Qualität. Daß Vaganten zum Überwintern in eine »Betteltour« - Aspekte der Zeit- und Raumökonomie nichtsesshafter Armer im 18. Jahrhundert, in: D ERS . u. a. (Hg.), Armut auf dem Lande. Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Wien 2010, S. 37-62. 62 TLA, Landgericht Lienz 1728-1789, Kriminalprozesse, Faszikel 47: Verhörprotokoll Maria Sämin vom 13. Dez. 1783. 63 Vgl. W ERNER S ULZGRUBER , Zeiterfahrung und Zeitordnung vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert, Hamburg 1995, S. 26, 30. 64 TLA, Landgericht Lienz 1728-1789, Kriminalprozesse, Faszikel 47: Verhörprotokoll Balthaußer Schubes vom 22. Dez. 1783. 65 Vgl. K LAUS O. M AYR , Kriminalität in einer ländlichen Gesellschaft. Rechtsprechung in Kärnten im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. 1740-1792, Diplomarbeit, Klagenfurt 1986, S. 161. <?page no="110"?> A LL E Z EIT DER W EL T ? 109 andere Region zogen, ist in den Quellen belegt, 66 scheint jedoch nicht der Normalfall gewesen zu sein. Manche wählten Almhütten als Unterschlupf, 67 die Mehrzahl hingegen versuchte, bei einem Bauern oder einem Landhandwerker unterzukommen. Der Bitte, jemanden über den Winter zu behalten, 68 wurde häufig entsprochen, auch wenn die Vaganten oft nur behelfsmäßig in Scheunen und Ställen untergebracht werden konnten. Als Gegenleistung mußten sie häusliche und agrarische Arbeiten verrichten. Beim Eder, so Hans Wallenstainer 1758, het er sich wohl von Winter an, bis auf den Länzen aufgehalten, darnach het ihme Eder fortgehen gehaissen. Während seines Aufenthalts habe er Fahren, Dröschen, und andere Hausarbeit mehr 69 verrichtet. Vaganten wirkten also am Hof bei den ländlichen (Winter-)Arbeiten mit und führten Tätigkeiten aus, die auch Knechte und Mägde, Tagwerker und Inwohner wahrnahmen. Die Erwähnungen in den Quellen geben diesem Aspekt keine quantitative Dimension, doch wären nähere Kenntnisse darüber - vornehmlich in den Getreide- und protoindustriell geprägten Regionen - für die Darstellung der agrarischen Arbeitsverhältnisse in der kalten Jahreszeit möglicherweise für Wirtschaftshistoriker von einigem Interesse. Jedenfalls deuten die schriftlichen Hinweise auf eines hin: Selbst im Winter hatten die Nichtseßhaften nicht alle Zeit der Welt. 66 Vgl. Wienbibliothek im Rathaus, C39.530: Beschreibung. Der von einer bey dem Landgericht Pottenbrunn […] gefänglich insitzenden Weibsperson angegebenen, und noch im Freyen herumgehenden Dieben, Wien 28. Dez. 1791: […] halten sich im Winter in Ungarn bey Preßburg auf, im Sommer an der Donau in der Gegend bei Schönbüchel und Ayspach, auch bey Traißmauer, Oberndorf, und Tulln; auch Steiermärkisches LA, Steckbriefe, 20. Mai 1757: Spezification deren […] in Oesterreich, sonderheitlich auf offentlichen Jahr = Märkten herumstreichen = gefährlich = und land = schädlichen Diebs = Banden, und Beutel = Abschneidern. Von einem Tuchmacher unbekannten Namens und dessen Frau heißt es: Diese Leuthe halten sich Winters = Zeit meistens in Mähren, Sommers = Zeit aber dort und da auf denen Märkten in Oesterreich auf. 67 Vgl. G ERNOT E GGER , Ausgrenzen - Erfassen - Vernichten. Arme und »Irre« in Vorarlberg, Bregenz 1990, S. 41. 68 Steiermärkisches LA, Fürstenfeld, Faszikel 36: Verhörprotokoll Anna Kernin vulgo Hüttgraber Andl vom 10. Jan. 1783. 69 TLA, Landgericht Lienz 1728-1789, Kriminalprozesse, Faszikel 47: Verhörprotokoll Hans Wallenstainer vom 13. Nov. 1758. <?page no="112"?> 111 D IETMAR S CHIERSNER Zeit und Frömmigkeit. Schwäbische Damenstifte am Ende des 18. Jahrhunderts 1. Zeit und monastische Ordnung Für das Zusammenleben von Menschen in einem Kloster oder Stift besitzt die detaillierte Strukturierung des Tagesablaufes von jeher allergrößte Bedeutung. Es geht dabei nicht nur um organisatorisch und ökonomisch sinnvolle Synchronisationen, etwa um gemeinsames Arbeiten zu ermöglichen, Kosten und Zeit bei der Zubereitung und Einnahme von Mahlzeiten zu reduzieren oder gegenseitige Störungen durch festgelegte Ruhebzw. Schlafzeiten zu vermeiden, also um die Nutzung der ›Synergieeffekte‹ kollektiver Lebensformen. Denn auch diese dem Lebensunterhalt und -erhalt dienenden Tätigkeiten sind eingebettet in eine von allem Anfang an intendierte spirituelle Struktur, die gewissermaßen den Kern der klösterlichen Interessensgemeinschaft ausmacht: der gemeinsame Gottesdienst, das Beten oder Singen der kanonischen Horen zu festgelegten Zeiten bzw. in geregelten Abständen. Von dieser Struktur aus erhalten alle anderen Tätigkeiten ihren besonderen Sinn, indem sie gleichsam zu einer Form des Gebets sublimiert werden. 1 Die Ordnung der Zeit dient nicht in erster Linie sozial-organisatorischen, auch nicht individuell-therapeutischen Zwecken, 2 die geordnete Zeit wird vielmehr selbst zum Gebet. Der Begriff ›Stundengebet‹ läßt sich auch in diesem zweiten, wörtlichen Sinn verstehen. Präzision und Geräuschlosigkeit, mit der die eingeübten (Bewegungs-)Abläufe in solchen Gemeinschaften - ›uhrwerkgleich‹ - vor sich gehen, üben auf den Beobachter besondere Faszination aus, weil sie auf einen verborgenen Antrieb dieses ›Uhrwerks‹, auf einen tieferen Sinn des Geschehens verweisen. Einen Eindruck beispielsweise vom heutigen Alltag der Kartäuser vermittelt der mehrfach ausgezeichnete Film ›Die große Stille‹ (2005) von Regisseur Philip Gröning, der über viele Wochen hinweg das heutige Leben der Mönche in der Grande Chartreuse 1 Vgl. z. B. für die benediktinische Tradition A QUINATA B ÖCKMANN , RB 48: Of the Daily Manual Labor, I. In: The American Benedictine Review 59 (2008), S. 141-166. 2 Vgl. in diesem Sinne den lat. Sinnspruch »Serva ordinem et ordo servabit te«, der in der Lebenshilfeliteratur immer wieder aufgegriffen wird, so z. B. bei M ICHAEL S CHINDLER / O LIVER S CHÜTZ , Halte die Regel und die Regel hält dich. Lebenswissen aus Ordensregeln, Ostfildern 2009. <?page no="113"?> D IETMA R S C HIE R S NER 112 dokumentiert hat. Das Verlassen der Klosterzelle, das schweigende, zielstrebige, aber gemessene Eilen über den Gang zum Chor, dort das Stehen, Sitzen, Knien und Verneigen, die Regelhaftigkeit, mit der in Gebet und Gesang das Mit- und Ineinander geordnet ist - all dies setzt individuelle und kollektive Disziplinierungsbemühungen von ebenso geistiger wie körperlicher Dimension voraus, deren Ergebnis man in der Begrifflichkeit Pierre Bourdieus allgemein als ›Habitus‹, konkret als ›Hexis‹ bezeichnen kann. 3 Es ist nachvollziehbar, daß auch auf dieser Mikroebene des Verhaltens ein unmittelbarer Raumbezug stets gegeben ist, nicht nur aufgrund der spezifischen Gepflogenheiten im jeweiligen Kloster, die sich z. B. an der Architektur seiner Gebäude orientieren, sondern auch aufgrund der individuellen Plazierung jedes einzelnen Konventsmitglieds, dem eine Zelle, eine Stalle, ein Platz bei Tisch, in der Werkstatt oder bei einer anderen Tätigkeit zugewiesen ist. Die Bedeutung der Rhythmisierung für den monastischen Alltag, der hier idealtypisch an einem streng kontemplativen Modell skizziert wird, aber im Prinzip für alle auf die Liturgia horarum verpflichteten männlichen wie weiblichen Gemeinschaften gilt, 4 erstreckt sich indes nicht nur auf die Strukturierung von Tag und Nacht. Geordnete Wiederkehr des Gleichen kennzeichnet auch im Kloster den Ablauf der Woche und des Kirchenjahres, und auch hier wird die zeitliche Ordnung körperlich nachvollzogen, etwa durch Beachtung von Fasttagen und -zeiten ebenso wie durch - freilich kirchlich nicht gebotene, aber doch konventionelle - Festmahlzeiten oder -speisen. Prozessionen zu bestimmten Anlässen des Kirchenjahres illustrieren z. B. besonders deutlich die körperliche ›Verräumlichung von Zeit‹ durch gemeinsame, synchrone Bewegung im Kirchenraum, um das Gebäude herum, auf dem Friedhof oder über die Flur. Zeitliche Ordnung kennt das Zusammenleben im Kloster aber auch noch auf einer dritten Ebene, die sich mit Blick auf die Gemeinschaft als Ganzes ebenfalls als Zyklus begreifen läßt: die lebenszeitliche Ordnung, die durch mehrere Schritte der Aufnahme, ggf. durch die Übernahme von Ämtern im Konvent und schließlich durch Krankheit und Tod eine Richtung erhält. Junge Aspirantinnen und Aspiranten treten in das Kloster ein, Tote finden ihre letzte Ruhestätte auf dem Klosterfriedhof oder in der Gruft. Dabei gehört es zum Selbstverständnis der klösterlichen Memorialgemeinschaft, die Verstorbenen, speziell die verstorbenen Angehörigen der eigenen Gemeinschaft, im Gedenken präsent zu halten und ihnen die Gebete der lebenden Konventualen zuzuwenden. Lebenszeitliche Ordnungen regeln schließ- 3 Vgl. P IERRE B OURDIEU , Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/ M. 1993, S. 129. 4 Nach wie vor einen besonders konzisen Überblick über die vielgestaltige Ordenslandschaft bietet L EOPOLD S TUDERUS , Art. Orden, in: J OSEPH H ERGENRÖTHER / F RANZ K AU - LEN (Bearb.), Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon oder Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hülfswissenschaften 9, 2. Aufl. Freiburg/ Br. 1895, Sp. 972-984. <?page no="114"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 113 lich insbesondere das Zusammenleben unterschiedlicher Generationen im selben Kloster. 5 Generell werden dabei den Älteren gewisse Ehrenvorzüge gewährt, während die Jüngeren, insbesondere die Novizen, besondere Verpflichtungen auf sich nehmen müssen. Geschieht dies im Rahmen der Liturgie oder des Jahreslaufs, so stützen sich die unterschiedlichen Zeitordnungen in ihrer jeweiligen Autorität gegenseitig. Insgesamt erscheint damit das Kloster als nach außen - nicht zuletzt aufgrund seiner Zeitstrukturen, seiner ›Eigenzeit‹ - abgegrenzter, spezifischer Raum. Das hier gezeichnete Bild ist einerseits nur eine Skizze, die in vielen Details zu ergänzen wäre. Andererseits blendet die - zudem idealisierte - Schilderung des Innenlebens jene konkreten und mentalen Beziehungen zwischen Kloster und Außenwelt aus, 6 die sich auch in einer Modifikation der Zeitstrukturen, vor allem aber in deren latenter Gefährdung oder offenen Infragestellung niederschlagen. Der Aufenthalt von Fremden im Kloster oder umgekehrt der Ausgang, das Reisen von Klosterangehörigen in umliegende Städte oder zu Verwandten macht - sofern es erlaubt bzw. praktiziert wurde - jedenfalls vorübergehend die Anpassung der Rhythmen erforderlich. Die in Visitationsberichten geradezu regelmäßig kritisierte Eile, mit der das Stundengebet vollzogen wird, 7 läuft dem spirituellen Zweck der Gemeinschaft im Grunde zuwider. In diesem Fall geben unangenehme ›Zeitgefühle‹ - Langeweile, Ablenkung bzw. mangelnde Konzentration z. B. aufgrund von Hunger oder Müdigkeit -, also gewissermaßen anthropologische Hürden, den Anlaß für die Störung der Zeitstruktur, und Ermahnungen der Visitatoren führen die einzelnen Sünder für eine gewisse Zeit wieder auf den vorgesehenen Weg zurück. Andere Ursachen lagen den Entwicklungen zugrunde, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Infragestellung des hergebrachten Stundengebets führten. 5 Das Thema ist für die Frühe Neuzeit erst in Ansätzen erforscht; vgl. S ABINE VON H EU - SINGER / A NNETTE K EHNEL (Hg.), Generations in the Cloister. Youth and Age in Medieval Religious Life (Vita regularis 36), Münster 2008; D IETMAR S CHIERSNER , Räume und Identitäten. Stiftsdamen und Damenstifte in Augsburg und Edelstetten im 18. Jahrhundert (Studien zur Germania Sacra NF 4), Berlin-Boston 2014, S. 435-441 (Kap. VI.2.2. »Ordnung unter Spannung: Generationen im Damenstift«). 6 Glänzendes Beispiel für eine Untersuchung der Außen-Kommunikation von Klöstern mit geistlichen Institutionen, Familien und Stiftern ist C HRISTINE K LEINJUNG , Frauenklöster als Kommunikationszentren und soziale Räume. Das Beispiel Worms vom 13. bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts (Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 1), Korb 2008, bes. Kap. I. 7 So bemängelte, um nur wahllos ein regionales Beispiel vom Beginn des 18. Jahrhunderts herauszugreifen, eine 1707 im Zisterzienserinnenkloster Gutenzell (Landkreis Biberach) durchgeführte Visitation die Eile beim Chorgebet; O TTO B ECK , Gutenzeller Äbtissinnen, in: D ERS ./ L UDWIG H AAS (Hg.): Gutenzell. Geschichte und Kunstwerke. FS zur 750-Jahrfeier der einstigen Frauenzisterze 1238-1988 (Große Kunstführer 155), München 1988, S. 7-20, hier 13. Vgl. unten S. 129. <?page no="115"?> D IETMA R S C HIE R S NER 114 Die Kritik richtete sich dabei gegen die Verwendung des ›unverständlichen‹ Lateins und gegen zu lange Gebetszeiten, die ›nützlichere‹ Tätigkeiten verhinderten. Der Sinn des ›immerwährenden Betens‹ als Lebensform verlor an Plausibilität bzw. ›praktischer Logik‹ (Pierre Bourdieu). 8 Diese Kritik war systemsprengend und trug letztlich zur Delegitimation der monastischen Lebensform an sich am Vorabend der Säkularisation bei. 9 Einwände wurden dabei nicht nur als pauschale und polemische Mönchskritik von ›außen‹, aus norddeutsch-protestantischer Sicht, erhoben; die kritischen Stimmen waren vielmehr meist der ›katholischen Aufklärung‹ zuzuordnen und kamen zum Teil aus den Klöstern selbst. 10 So beklagte der St. Emmeramer Benediktiner P. Roman Zirngibl (1740-1816) die widersinnigste Tagordnung im Kloster. 11 Das ewige […] Chorgehen und die Regularitätsbeobachtung 12 erschwere nämlich das wissenschaftliche Arbeiten - die ernsthaften Studien - 13 ungemein. Diese aber sollten die Mönche dem Staate, der Kirche, der Litteratur nützlicher machen - 14 mit anderen Worten: die monastische Lebensform - hier die der Benediktiner - auf neue, ›zeitgemäße‹ Art legitimieren. 15 Solche Kritik blieb nicht ohne 8 Vgl. K ATHARINA T ALKNER , Art. Stundengebet, in: F RIEDRICH J AEGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 12, Stuttgart 2010, Sp. 1178-1183, hier 1179. 9 Vgl. demnächst D IETMAR S CHIERSNER , Aufklärung und Auflösung. Zum Untergang katholischer Damenstifte vor der Säkularisation, in: K ATHARINA B ECHLER / D ERS (Hg.), Aufklärung in Oberschwaben. Barocke Welt im Umbruch [erscheint Stuttgart 2015]. 10 Vgl. H ANS -W OLF J ÄGER , Mönchskritik und Klostersatire in der deutschen Spätaufklärung, in: H ARM K LUETING (Hg.), Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 15), Hamburg 1993, S. 192-207. Vgl. darin auch zur Problematik der Begrifflichkeit den Aufsatz von H ARM K LUETING , »Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht«. Zum Thema ›Katholische Aufklärung‹ - oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung, in: Ebd., S. 1-35; K ONSTANTIN M AIER , Auswirkungen der Aufklärung in den schwäbischen Klöstern, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 86 (1975), S. 329-355, bes. 346- 355. Maier geht aber auch ausführlich auf Kritik an der Aufklärung aus schwäbischen Klöstern ein (S. 336-342). 11 Zitat aus einem Brief Zirngibls an Lorenz von Westenrieder vom 15.1.1795, zit. n. M ARIA R OTTLER , »O goldene Zeiten: die uns allen Appetit zu leben am Ende nehmen.« P. Roman Zirngibl (1740-1816) und seine Wahrnehmung einer Umbruchzeit (Regensburger Beiträge zur Regionalgeschichte 9), Regensburg 2010, S. 49. 12 Zirngibl an Westenrieder, 8.6.1797, zit. n. ebd. 13 Zirngibl an Westenrieder, 10.9.1787, zit. n. ebd., S. 50. 14 Zirngibl an Westenrieder, 6.4.1788, zit. n. ebd., S. 49. 15 Der Begriff des ›Zeitgemäßen‹ beginnt damals seinen bis heute ungebrochenen Aufschwung als Argumentationschiffre und -ersatz schlechthin und verweist letztlich auf einen tieferliegenden Wandel des Verständnisses von ›Zeit‹ selbst, die als handelndes Subjekt mit klaren Vorstellungen, als ›Zeitgeist‹ gedacht wird. So wird es nun möglich, sich nach den zeiten zu richten; Zitat StaatsA Augsburg, Damenstift Edelstetten, Amtsbücher und Akten <?page no="116"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 115 Wirkung auf den klösterlichen Alltag. So beschloß 1787 die schwäbische Benediktinerkongregation vom Heiligen Geist, der acht Klöster innerhalb des Bistums Augsburg angehörten, »den Tagesablauf abzuändern«. 16 Welche Verbreitung und welche Dimensionen solche und andere normierenden Eingriffe in das monastische ›Zeitgetriebe‹ hatten, welche Positionen dabei aufeinandertrafen, insbesondere aber, ob und wie sich der Umgang mit der Zeit in der Alltagspraxis von Klöstern und Stiften am Ende des 18. Jahrhunderts konkret änderte - all das ist bislang noch kaum untersucht worden; möglicherweise auch deshalb, weil man immer davon ausging, daß die prinzipielle monastische Regelbindung für abweichende Zeitordnungen im Alltag wenig Spielraum bot. 2. Damenstifte - Sonderfall und methodischer Glücksfall Einen gut erforschbaren - kirchenrechtlichen und sozialgeschichtlichen - Sonderfall stellen demgegenüber die auf veränderbare Statuten gegründeten freiweltlichen adligen Damenstifte dar. 17 An ihnen läßt sich zeigen, wie normative Repräsentationen und tatsächliche Praktiken am Ende des 18. Jahrhunderts in einen massiven Konflikt gerieten, der die ›Revolutionierung‹ der Zeitbegriffe in den katholischen Damenstiften zur Folge hatte. 18 In den gewählten Beispielen Augsburg-St. Stephan [künftig AA] 68, 1779 VII 26); vgl. T HEO J UNG , Zeitgeist im langen 18. Jahrhundert: Dimensionen eines umstrittenen Begriffs, in: A CHIM L ANDWEHR (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 11), Bielefeld 2012, S. 319-355. 16 K. M AIER , Auswirkungen der Aufklärung (Anm. 10), S. 346. 17 Streng genommen kennt das Kirchenrecht solche Institutionen gar nicht. In kurialen Schreiben werden die Frauen deswegen meist als Benediktinerinnen oder Augustinerinnen bezeichnet, »um damit den tatsächlichen Stand offiziell nicht zur Kenntnis nehmen zu müssen«; H ELMUT F LACHENECKER , Damenstifte in der Germania Sacra. Überblick und Forschungsfragen, in: D IETMAR S CHIERSNER / V OLKER T RUGENBERGER / W OLFGANG Z IMMERMANN (Hg.), Adelige Damenstifte Oberschwabens in der Frühen Neuzeit. Selbstverständnis, Spielräume, Alltag (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 187), Stuttgart 2011, S. 17-43, hier 26. - Die exklusive Adligkeit der Konvente entwickelte sich in der Regel erst zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit; vgl. ebd., S. 20; sowie F RANZ J. F ELTEN , Wie adelig waren Kanonissenstifte (und andere weibliche Konvente) im (frühen und hohen) Mittelalter? In: I RENE C RUSIUS (Hg.), Studien zum Kanonissenstift (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 167/ Studien zur Germania Sacra 24), Göttingen 2001, S. 39-128. 18 Zum begrifflichen Konzept der ›Repräsentationen‹ und ›Praktiken‹ im Kontext der Aufklärung vgl. M ATTHIAS P OHLIG u. a., Säkularisierungen in der Frühen Neuzeit. Methodische Probleme und empirische Fallstudien (ZHF Bh. 4), Berlin 2008, S. 115-120. - Vgl. zum Folgenden mit Bezug auf die Totenmemoria D IETMAR S CHIERSNER , Krankheit und <?page no="117"?> D IETMA R S C HIE R S NER 116 und Edelstetten (Landkreis Günzburg) wurden die Statuten mehrfach, vor allem Mitte des 17. und Ende des 18. Jahrhunderts verändert bzw. durch bischöfliche Dispense Abweichungen von älteren Regelungen sanktioniert. Eine rege, schriftlich bezeugte Diskussion begleitete solche Normsetzungen zumeist. Dabei läßt sich dank günstiger Überlieferung gut nachvollziehen, wie einerseits aufgeklärte Vorstellungen aus der diözesanen Leitungsebene ebenso wie aus dem Kreis der Stiftsdamen und ihrer adligen Familien auf die Reform der Stifte einwirkten. Andererseits zeigt die Betrachtung des Alltags auch, daß sich die Veränderungen in den Damenstiften zum Teil langfristig angebahnt hatten. 19 Diese adligen Einrichtungen der Reichskirche setzten sich meist aus etwa sieben jungen Frauen unter einer sog. ›Äbtissin‹ zusammen, die keine Ordensgelübde abgelegt hatten und im Fall einer Eheschließung auch wieder austreten konnten. Bei den im folgenden an den ostschwäbischen, unter der Jurisdiktion des Augsburger Bischofs stehenden Stiften Edelstetten und St. Stephan in Augsburg dargestellten Phänomenen handelt es sich keineswegs um Ausnahmeerscheinungen; 20 vielmehr können diese regionalen Beispiele für die Institution ›Damenstift‹ insgesamt die Rezeption anderer, neuartiger Zeitvorstellungen aus überregional geführten Diskursen illustrieren. An ihnen läßt sich der allgemeine Vorgang und seine Folgen im Detail, gewissermaßen modellhaft, beschreiben. Schließlich zeigt sich, daß die zu beobachtende Departimentalisierung der Zeit in verschiedene Zeiten, die Ent- Tod. Aufklärung und Säkularisierung in oberschwäbischen Damenstiften des 18. Jahrhunderts, in: D ERS ./ V. T RUGENBERGER / W. Z IMMERMANN (Hg.), Adelige Damenstifte Oberschwabens (Anm. 17). Stuttgart 2011, S. 223-258, bes. 245-254; sowie jetzt auch D ERS ., Räume und Identitäten (Anm. 5), Kap. VI. (»Zeitenräume«) und VII. (»1789: Neue Zeiten - Schluss«). 19 Zu den Quellen zählen, abgesehen von den (innen-)architektonischen und bildlichen Zeugnissen, die Korrespondenz, die vor, während und nach dem Erlaß von Statuten geführt wurde, die Statutentexte selbst, Beobachtungen aus Visitationen sowie vor allem die im Umfeld von Krankheiten und Todesfällen angefallene Überlieferung (rechtliche Auseinandersetzungen um Weitergewährung des Pfründeneinkommens, Testamente, Totenzettel, Inventare); vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 21-37; D ERS ., Krankheit und Tod (Anm. 18), S. 222f. 20 Zu den beiden reichsritterschaftlichen Stiften - mit Seitenblicken auf das gefürstete Damenstift Lindau im Bodensee - D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5). Vergleichbare Entwicklungen während der Spätaufklärung wurden auch für das hochadlige Stift Essen oder das reichsgräfliche Buchau beschrieben; vgl. dazu U TE K ÜPPERS -B RAUN , Frauen des hohen Adels im kaiserlich-freiweltlichen Damenstift Essen (1605-1803). Eine verfassungs- und sozialgeschichtliche Studie. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Stifte Thorn, Elten, Vreden und St. Ursula in Köln (Institut für kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen: Quellen und Studien 8), Münster 1997; B ERNHARD T HEIL (Bearb.), Das (freiweltliche) Damenstift Buchau am Federsee (Germania Sacra NF 32), Berlin-New York 1994. <?page no="118"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 117 rhythmisierung des gemeinsamen Stiftslebens, mit einer Fragmentierung des gemeinsamen Stiftsraumes in unterschiedliche Räume einherging, daß aber bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hinein auch gegenläufige Tendenzen und umgekehrt bereits lange vor dem ›Einbruch‹ der Aufklärung Phänomene eines später als ›neu‹ apostrophierten linearen Zeitverständnisses greifbar sind. Solche Einschränkungen sollen die Säkularisierungsthese als Interpretament nicht widerlegen. 21 Denn aus der Rückschau spielte sich die jeweils zu beobachtende ›Pluritemporalität‹ der Verhältnisse innerhalb einer langfristigen, ›säkularen‹ Tendenz ab. 22 3. Vom gemeinsamen Rhythmus zu geteilten Zeiten - der säkulare Wandel des Zeitverständnisses in den Damenstiften Die Edelstettener Äbtissin Adelheid Keller von Schleitheim (1791-1802) fand im Herbst 1799 deutliche Worte gegenüber Bischof Clemens Wenzeslaus (1768-1812). 23 In einer Dispensbitte äußerte sie ihren Unmut über die traditionelle Form des allgemeinen Totengedenkens in ihrem Stift. Die Stiftsdamen könnten nämlich bey diesen lateinischen gebethen, auch bey dem immerwährenden herumlaufen, besonders an allerheiligen- und allerseelentage, oft bey der übelsten witterung auf dem ofentlichen kirchhof, wo nicht gar keine, doch sehr wenig andacht verspiehren. Auch auf die Abschaffung der in der kirche zu betenden lateinischen Totenvesper an gestifteten Jahrtagen zugunsten der deutschen Totenvesper auf dem chore drängte sie, weil die Damen überzeugt seien, dadurch unserer andacht zum trost der armen seelen besser steuern zu können als durch daß lateinische uns unverständliche gebeth und herumlaufen in der kirche. 24 21 Die Eignung des Säkularisierungsbegriffes zur Beschreibung der langfristigen Wandlungsvorgänge in der Moderne kann hier nicht diskutiert werden. Statt dessen sei verwiesen auf den pragmatischen Ansatz, der einer vielzitierten Studie von R UDOLF S CHLÖGL , Glaube und Religion in der Säkularisierung. Die katholische Stadt. Köln, Aachen, Münster 1700-1840 (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution 28), München 1995, zugrundeliegt; vgl. D ERS ., Rationalisierung als Entsinnlichung religiöser Praxis? Zur sozialen und medialen Form von Religion in der Neuzeit, in: P ETER B LICKLE / D ERS . (Hg.), Die Säkularisation im Prozess der Säkularisierung Europas Oberschwaben - Geschichte und Kultur 13), Epfendorf 2005, S. 37-64. 22 Unter ›Pluritemporalität‹ versteht A CHIM L ANDWEHR , Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: D ERS . (Hg.), Frühe Neue Zeiten (Anm. 15), S. 9-40, hier 25, »zahlreiche, parallel zueinander bestehende Zeitformen« innerhalb einer Gesellschaft, »eine […] Welt der Gleichzeitigkeiten«. 23 Das Folgende ausführlicher in: D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 410- 415 (zum Andachts-Diskurs). 24 AA 486, 1799 IX 18. <?page no="119"?> D IETMA R S C HIE R S NER 118 Bereits zehn Jahre zuvor waren in Augsburg aus ähnlichen Gründen einschneidende Veränderungen beim Chorgebet veranlaßt worden. Die neuen Statuten vom Juli 1789 hatten das lateinische Gebet als für jene, ßo dieße sprache nicht verstehen, gar nicht zweckmäsßig beurteilt und festgesetzt: Alles, was ßonst in latein gebetet worden, ßoll in zukunft in deütscher sprache verrichtet werden. 25 Worin die angepeilte ›Zweckmäßigkeit‹ des Betens bestand, führt die für Edelstetten adaptierte Fassung der Statuten aus, denn durch das bisher üblich gewesene lateinische brevierbeten könne jene gemüthserhebung zu gott, welche die seele alles betens ist, nicht erreicht werden. 26 Das für die Damen alsbald verbindlich gemachte, allerdings 1795 wieder eingezogene Deutsche Brevier von Thaddäus Dereser (1757-1827) sollte den neuen Ansprüchen gerecht werden und die gewünschte ›Gemütserhebung zu Gott‹ ermöglichen. 27 Aus dem Schlaglicht auf den Stand der liturgischen Diskussion am Ausgang des 18. Jahrhunderts können mehrere Schlüsse gezogen werden: Daß Äbtissin Adelheid überhaupt ihre Dispensbitte vorbrachte, macht deutlich, daß Norm und Praxis im Stift keineswegs generell, jedenfalls nicht in den hier als Ärgernis angesprochenen Punkten divergierten. Speziell bei der allgemeinen Totenmemoria, darüber hinaus aber auch in den anderen Bereichen der Liturgie, die 1789 durch die Statutenreform neu geregelt wurden, kann man davon ausgehen, daß bis dahin die tradierten Formen - hier Gebet (und Gesang) in lateinischer Sprache sowie Prozessionsübungen - grundsätzlich befolgt wurden. Wenn noch über ein Jahrzehnt nach der Einführung der neuen Statuten und des neuen Breviers in Edelstetten 25 StaatsA Augsburg, Augsburg Damenstift St. Stephan, Münchener Bestand [ = künftig MüB] 4, 1789 VII 6, Statuten, Kap. I, §§ 1f. 26 AA 19, 1789 IX 15, [Statuten], § 3. 27 Zedlers Enzyklopädie definiert den Begriff bereits 1732, allerdings aus der evangelischen Perspektive: »Andacht ist diejenige Gemüths = Beschaffenheit bey dem Gebeth, da ich mir sowohl von der Hoheit desjenigen, zu dem ich bete, und mit dem ich gleichsam Unterredung halte, als auch von der Wichtigkeit der Sache, die ich GOtt durch das Gebeth vortrage, eine lebhafte Abbildung mache […]. Hieraus erhellet 1) daß man alle Gedancken zusammen nehmen, und eintzig und allein auf das Objectum unsers Gebeths, das ist, GOtt, richten muß, und dieses heißet Aufmercksamkeit. 2) Erfordert die Andacht das gantze Gemüth, daß sowohl die Würckungen des Verstandes als des Willens übereinkommen, man mag nun sagen, daß die geschehene Einrichtung des Willens durch die Vorstellung, die Vorbereitung, und die Aufmercksamkeit, welche den Verstand angehe, die Andacht selbst, oder das Wesen derselben sey. […]«; J OHANN H EINRICH Z EDLER / J OHANN P ETER VON L UDEWIG / C ARL G ÜNTHER L UDOVICI (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 2, Halle-Leipzig 1732, Sp. 138. - Zu Thaddäus Anton Dereser vgl. K ARL -F RIEDRICH K EMPER , Art. Dereser, Thaddaeus a Sancto Adamo, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 23 (2011), Sp. 222-229; zur Einführung des neuen Breviers und seinem Vorläufer vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 396f. <?page no="120"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 119 Gebetsformen eines älteren Frömmigkeitstypus erhalten geblieben waren, die ihre spirituelle Begründung letztlich der Vorstellung des ›immerwährenden Gebets‹ verdankten, ist dies auch als Beleg für Pluritemporalität, für das parallele Existieren unterschiedlicher Zeitkonzepte im Alltag der Stiftsdamen, zu werten. Gleichwohl hatte das ältere liturgische Zeitkonzept so stark an fragloser Plausibilität eingebüßt, daß für die Stiftsdamen kein Sinn mehr in der Aufrechterhaltung der ihm entsprechenden Gottesdienstformen erkennbar war. Prozessionen mit den für sie kennzeichnenden rituellen Wiederholungen nahmen sie als ›immerwährendes Herumlaufen‹ wahr, die Kirchensprache mit ihrer Tradition und Dignität beurteilten sie schlicht als ›unverständlich‹. Gerade die relative Unverständlichkeit der lateinischen Sprache hatte - wenn auch kaum intendiert - in der Vergangenheit gewissermaßen ›reine Temporalitätserfahrung‹ bei Gebet und Gesang vermittelt. Wenn vormals je die spirituellen Chancen solcher Erfahrungen von den Stiftsdamen geschätzt worden sein sollten - jetzt jedenfalls dürften sie diese mit ›Langeweile‹ konnotiert haben. 28 Von zentraler Bedeutung für die Argumentation war ein spezifischer - neuerer - Begriff von ›Andacht‹. 29 Sie galt offenkundig als zugleich intellektueller und emotionaler, deswegen auch ausschließlich subjektiv beurteilbarer Wert. Man konnte Andacht ›verspüren‹, im Gegensatz zur Dauer oder Häufigkeit von Gebeten aber nicht messen oder zählen. Die Augenblicklichkeit, mit der sich die Beterin einer Glaubenswahrheit oder -erkenntnis innewurde, besaß im Grunde überhaupt keine zeitliche Ausdehnung mehr, sondern war das punktuelle, von - angenehmen - Gefühlen begleitete Ergebnis einer Konzentrationsleistung, die in entscheidender Weise durch das - dann freilich muttersprachliche - Wort stimuliert werden mußte. Ja, es scheint darüber hinaus sogar, daß aufgeklärte Theologen generell einen Widerspruch argwöhnten zwischen zeitlich ausgedehnteren Gebetsübungen und der Chance auf ›wahre Andacht‹. 30 28 Vgl. M ARTINA K ESSEL , Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2011. 29 Es gab auch einen ›älteren‹ Andachtstypus; vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 413f. 30 Als es beispielsweise im Bistum Augsburg wegen der Einschränkung von Bittgängen und insbesondere von Prozessionen zu Pferde zum Widerstand unter den Gläubigen kam, bemühte sich ein bischöfliches Mandat von 1783 V 5 klarzustellen, »daß es bei der wahren Andacht doch nicht auf die Länge des Weges ankomme, den man zurücklegt, nicht auf die Zahl der Stunden, die mit dem Kreuzgang zugebracht würden, sondern auf die Lebhaftigkeit des Glaubens, auf die Grösse der Liebe Gottes und des Nächsten und auf die Untadelhaftigkeit des Wandels«; A NTON G ULIELMINETTI , Klemens Wenzeslaus, der letzte Fürstbischof von Augsburg und die religiös-kirchliche Reformbewegung, in: Archiv für die Geschichte des Hochstifts Augsburg 1 (1909-1911), S. 493-598, hier 510f. <?page no="121"?> D IETMA R S C HIE R S NER 120 Daß die Äbtissin in ihrem Schreiben an den Augsburger Bischof in so unverhohlener Weise Kritik an den überkommenen Gebetsnormen übt und sich in ihrer Begründung dezidiert auf eine ganz spezifische Vorstellung von ›Andacht‹ bezog, zeigt schließlich, wie sie die Lage im Ordinariat einschätzte: Sie ging davon aus, daß man ihre Auffassungen dort teilen und ihre Argumentation nachvollziehen würde. Zurecht: Vier Wochen später, noch lange genug vor dem Allerheiligenfest, erteilte Generalvikar Coelestin Nigg die gewünschte Dispens. 31 Damit war die liturgische Entwicklung in Edelstetten - die Situation in St. Stephan stellte sich vergleichbar dar - am Vorabend des 19. Jahrhunderts, wenige Jahre vor der Säkularisation, an einem Endpunkt angelangt. Der eingetretene Wandel bedeutete nichts Geringeres als eine Revolution des Zeitverständnisses. 32 Denn noch bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein hatte die Ableistung der kanonischen Horen für das Leben jeder einzelnen Stiftsdame und für die soziale Gemeinschaft im Stift prägende Bedeutung besessen. 33 Gebet und Gottesdienst nahmen Tag für Tag insgesamt mehrere Stunden in Anspruch. Gesprochen bzw. gesungen wurden die drei nächtlichen, wenn auch frühmorgens gehaltenen Gebetszeiten der Matutin (Mette oder Vigil), bestehend aus drei Nocturnen, und die sieben Tagzeiten von Laudes, teils zusammengefaßten kleinen Horen (Prim, Terz, Sext und Non), Vesper und Komplet. Kürzere Tischgebete und persönliche Nachtgebete sowie zusätzliche Rosenkränze und die Teilnahme an der Hl. Messe kamen hinzu. 34 Die damit verknüpften Zeitstrukturen wurden im Laufe der Jahre den einzelnen Stiftsdamen, aber auch der Gemeinschaft der ›Chorfrauen‹ geradezu körperlich imprägniert: 35 Zu den Gottesdiensten war eine genau vorgeschriebene Kleidung anzulegen, bestimmte Bewegungsabläufe begleiteten das Gebet, das Singen in einer nur kleinen Gruppe vermittelte dabei eine prinzipiell intensivere Körpererfahrung und schließlich trimmte auch eine differenzierte Läutordnung auf Wahrnehmung, Deutung und Befolgung akustischer Reize. 36 Das Vergehen der Zeit wurde auf diese Weise am eigenen Leib erfahren, tagtäglich, Jahr für Jahr, bis zum Austritt aus der Gemeinschaft oder ein Leben lang. Wie die Zeit 31 AA 486, 1799 X 12. 32 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 398f. 33 Zum Folgenden vgl. ausführlicher D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 393-398. 34 Vgl. die Statuten-Edition in D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 567- 654. 35 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), Kap. III. 2. (»Chor-Fräulein: Disposition, Instrumentalisierung und Disziplinierung«). 36 AA 13, [G] 3: Von dem geleit; ediert bei D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), hier 593f. Vgl. G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM , Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnungen, 2. Aufl. Köln 2007, S. 58f., zur »Vielfalt kirchlicher Glockensignale« seit dem Hochmittelalter. <?page no="122"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 121 selbst idealiter zum Gebet wurde, so war für die Stiftsdamen - die Vorgängerstatuten des 17. Jahrhunderts nennen sie stets ›Chorfräulein‹ - 37 auch das spirituelle Ziel die »Perpetuierung eines oranten Habitus«. 38 Daß diese Zielsetzung deswegen nicht auch zwangsläufig von den Betroffenen erfüllt, geschweige denn bewußt und überzeugt geteilt werden mußte, steht auf einem anderen Blatt. Die Zeiterfahrung der Stiftsdamen besaß jedoch nicht nur die skizzierte individuell-körperliche Dimension; sie war zugleich soziale Erfahrung, und sie war - damit untrennbar verknüpft - in der Regel an konkrete Räume innerhalb der Kirche, der Stiftsgebäude und deren unmittelbare Umgebung gebundene Erfahrung, bedingt nicht zuletzt durch das weitgehende Fehlen von bzw. den Verzicht auf ›Uhr-Zeitlichkeit‹. Wie generell für den klösterlichen Tageslauf üblich, waren auch in den Damenstiften nur wenige Fixpunkte, etwa der Beginn des Tages oder die Zeit der Vesper, als Uhrzeiten angegeben, die meisten Gebete bzw. Tätigkeiten wurden dagegen durch eine Vorher-Nachher-Folge in ihrer Länge und ihrem Anfangs- und Endpunkt terminiert. Mit Angaben wie nachdem die Messe vollendet, nach der prim oder wan die non auß in der Edelstettener Neuen Kirchenordnung (1643) 39 wurden »Zeitpunkte in der Sequenz des kollektiven Verhaltensrhythmus« bezeichnet, 40 die nur bestimmt werden konnten, wenn man - und zwar gemeinschaftlich - durch Sprechen oder Singen Zeit vergehen ließ. Voraussetzung war die Anwesenheit der Gemeinschaft, die notwendigerweise an e i n e m Ort ›statt-fand‹. Erst der individuelle Gebrauch von Uhren ließ eine generelle Verlagerung der Zeitbestimmung und -messung ins Private zu. 41 Symptomatisch für das sich allmählich ändernde Verhältnis zwischen Sozialität und Temporalität ist es deshalb, wenn, parallel zur allgemeinen Entwicklung, 42 37 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 115. 38 D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 394. 39 AA 13, [G] 2: Von der zeit zu dem gottßdienst; ediert bei D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), hier S. 592f. 40 G. D OHRN - VAN R OSSUM , Geschichte der Stunde (Anm. 36), S. 55. 41 Vgl. A NTHONY G IDDENS , Konsequenzen der Moderne, Frankfurt/ M. 1995 (Original Oxford 1990), S. 29f., der das ›moderne‹ Auseinandertreten von Zeit und Raum zu einem wesentlichen Teil der allgemeinen Durchsetzung mechanischer Uhren zuschreibt. Für die »vormodernen Gesellschaften« konstatiert Giddens ein Zusammenfallen von Raum und Ort, »weil die räumlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens für den größten Teil der Bevölkerung und in den meisten Hinsichten von der ›Anwesenheit‹ bestimmt werden: an einen Schauplatz gebundene Tätigkeiten sind vorherrschend«. 42 G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM , Uhrenluxus - Luxusuhren. Zur Geschichte der ambivalenten Bewertung von Gebrauchsgegenständen, in: M ICHAEL P RINZ (Hg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklung der Konsumgesellschaft seit der Vormoderne (Forschungen zur Regionalgeschichte 43), Paderborn 2003, S. 97-116, hier 110, urteilt, die Orientierung an der Uhrzeit sei spätestens im 18. Jahrhundert allgemein »zu <?page no="123"?> D IETMA R S C HIE R S NER 122 auch unter den Stiftsdamen von Edelstetten und St. Stephan während des 18. Jahrhunderts insbesondere der Besitz von Taschenuhren zunahm, die man stets bei sich tragen konnte. 43 In Edelstetten zeigen zwei Äbtissinnenporträts des 18. Jahrhunderts die Vorsteherinnen mit einer Uhr. 44 Während zu Beginn des Jahrhunderts bei Carolina von Westernach (1691-1726) die Plazierung einer Taschenuhr auf einem Tischchen unmittelbar neben einem Totenschädel noch eindeutig der barocken Memento-mori-Topik verpflichtet ist (Abb. 1), 45 fehlt dieser Bezug zwei Generationen später bei Antonia von Bodman (1760-1782). Sie trägt die Uhr - eindeutig gekennzeichnet als ihre eigene Uhr - befestigt mit einer kostbaren Kette am Kleid unmittelbar bei sich (Abb. 2). 46 einem unhinterfragbar positiven Leitbild« geworden, worin ihm Peter Hersche für das (ländliche) katholische Europa allerdings widersprechen dürfte; vgl. P ETER H ERSCHE , Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Freiburg/ Br. 2006, z. B. S. 601-609, 633-644. 43 Für Einzelnachweise aus Testamenten und Nachlaßinventaren vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 404 Anm. 65. 44 Alle Äbtissinnenporträts des Jahrhunderts bei B ERNHARD B RENNER , Edelstetten. Vom Damenstift zum Schloss der Fürsten Esterházy, Lindenberg 2012, S. 24-26. Vgl. K ARIN S CHRADER , Fürstin und Äbtissinnen. Protestantische Frauenbildnisse der Frühen Neuzeit als Zeugnisse politischen und kulturellen Handelns, in: S USANNE R ODE -B REYMANN (Hg.), Musikort Kloster. Kulturelles Handeln von Frauen in der Frühen Neuzeit (Musik - Kultur - Gender 6), Köln 2009, S. 169-201, bes. S. 194 Anm. 58. Zur Ausdeutung weiterer Bildmotive am Beispiel der Gandersheimer Äbtissin Elisabeth von Sachsen-Meiningen vgl. J OHANNES Z AHLTEN , Bildprogramme als Bildungsprogramm. Ein Porträt der Gandersheimer Äbtissin Elisabeth Ernestine Antonie von Sachsen-Meiningen und ihr Schloß Brunshausen, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte 16 (1977), S. 69-82. 45 Vgl. allgemein zum Hintergrund A NDREA VON H ÜLSEN -E SCH , Elfenbein in der Kunstkammer. Zu Funktion und Materialität von Memento-mori-Objekten, in: D IES ./ H ILTRUD W ESTERMANN -A NGERHAUSEN (Hg.), Zum Sterben schön. Alter, Totentanz und Sterbekunst von 1500 bis heute, Bd. 1: Aufsätze, Regensburg 2006, S. 301-309. 46 Die Abbildung des auf »um 1780« datierten Porträts Ulmer Provenienz und dessen Beschreibung - wenngleich ohne weitere Interpretation des Uhrenbeseitzes - bei U LRICH H ARANT / M ARGOT L UDA , Maria Antonia Leopoldina von Bodman (1709-1782), in: H ANS F REI / B ARBARA B ECK (Hg.), Lebensbilder. Geschichte und Kunst in Bildnissen aus Schwaben (Schriftenreihe der Museen des Bezirks Schwaben 30), Augsburg 2002, S. 144f. <?page no="124"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 123 Abb. 1: Carolina von Westernach, Äbtissin von Edelstetten (1691-1726) <?page no="125"?> D IETMA R S C HIE R S NER 124 Hier ist die Uhr nicht Zeichen der Vergänglichkeit irdischen Lebens, sondern Ausdruck vom Wohlstand und Anspruch der Äbtissin, »Herrin ihrer Zeit« zu sein. 47 Vor dem skizzierten Hintergrund müssen die Neuregelungen der Statuten von 1789 gerade beim Chorgebet als radikal eingeschätzt werden. 48 Besonders hervorgehoben wurde - begründet durch die intendierte ›Gemütserhebung zu Gott‹ - jetzt die Verbindlichkeit der deutschen Sprache für alle Gebetsformen (außer der Hl. Messe). Die Gebetszeiten selbst sind noch stärker, nämlich auf eine morgendliche und nachmittägliche Andacht, zusammengezogen und nun durch absolute Zeitpunkte exakt terminiert, der Gesang ist abgeschafft. An dessen Stelle trat einerseits lautes gemeinsames, andererseits stilles privates Beten. 49 47 D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 405. Wohl nicht von ungefähr hatte sich am Uhrenbesitz von Frauen im 18. Jahrhundert Kritik entzündet; vgl. G. D OHRN - VAN R OSSUM , Uhrenluxus - Luxusuhren (Anm. 42), S. 108; für das ländliche Milieu im 19. Jahrhundert vgl. E RHARD C HVOJKA , Zeitbewußtsein und Uhrenbesitz in ländlichen Milieus des 19. Jahrhunderts. Bilder von Modernität und Traditionalität im Widerstreit, in: R ICHARD VAN D ÜLMEN / E RHARD C HVOJKA / V ERA J UNG (Hg.), Neue Blicke. Historische Anthropologie in der Praxis, Wien 1997, S. 301-316, hier 310f. 48 MüB 4, 1789 VII 6, Statuten, Kap. I. - Alle das Chorgebet betreffenden Regelungen wurden explizit für Edelstetten übernommen; vgl. AA 19, 1789 IX 15, [Statuten], bes. § 3. - Zur Entstehung der Statuten vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 505-521. 49 Morgens und nachmittags sollte ein deütsches pßalmengebett nebst einer geistlichen vorleßung abgehalten werden, an Sonn- und Feiertagen zwischen 6.15 und 7 Uhr, an Werktagen zwischen 6.30 und 7.15 Uhr, jeweils vor der Messe. Eine deütsche abend-andacht und geistliche vorleßung sollte nachmittags stets um 15 Uhr stattfinden und zußamen eine halbe stunde dauern. Nach der Einführung des deutschen Stundengebetbuches sollten morgens Mette, Laudes, Prim und Terz vor, Sext und Non nach der Messe gebetet werden, also eine stimmschonende Unterbrechung eingelegt werden, damit das lange lautbetten den damen nicht an ihrer geßundheit schaden möge; nachmittags waren Vesper und Komplet in direktem Anschluß aneinander zu beten. Besondere, vormals zusätzliche Gebetsverpflichtungen wie die Bußpsalmen waren in der Fastenzeit um 10 Uhr zu beten, machten jetzt im Gegenzug aber die nachmittägliche vesper - ob auch die Komplet bzw. das bis dato zu sprechende deutsche Abendgebet, bleibt in der Formulierung unklar - verzichtbar. Die Totenvigil war auf eine einzige Nocturn reduziert worden, alle nebenandachten wurden abgestellt. Der Rosenkranz galt künftig als freiwillige privat = andacht, und das Tischgebet sollte jede dame für ßich still beten. War auf Reisen bis dahin die vollständige private Ableistung des Gebetspensums der sieben Tagzeiten vorgeschrieben (AA 13, [A] 1/ IV; ediert bei D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten [Anm. 5], hier S. 568), und so zumindest der Anspruch auf Fortsetzung des betenden Habitus während des Urlaubs in die außerstiftische Umgebung hinein erhoben worden, war jetzt das sonst im Stift gemeinsam verrichtete chorgebett individuell nur sonn- und feiertags, sonst jedoch eine halbstündige geistliche leßung abzuhalten (MüB 4, 1789 VII 6, Statuten, Kap. I). <?page no="126"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 125 Abb. 2: Antonia von Bodman, Äbtissin von Edelstetten (1760-1782) <?page no="127"?> D IETMA R S C HIE R S NER 126 Durch diese Veränderungen näherte sich die Gebetsverrichtung sprachlich der alltäglichen Kommunikation an, verlor an körperlicher Intensität und beschleunigte und verkürzte sich insgesamt. Insbesondere die teilweise Privatisierung des Gebets - sie steht im Kontext einer generellen Individualisierung des Stiftslebens - ging einher mit dem Verzicht auf räumlich konkrete Verbindlichkeit. Die Neuerungen blieben indes nicht unwidersprochen. Die Augsburger Äbtissin Antonia von Welden (1789-1803/ 1806) kritisierte - freilich ohne Erfolg -, das alsbald neu eingeführte deutsche Brevier enthalte gar nicht die gewöhnliche[n] horas, ja, nicht einmal so vieles als das bisher gebrauchte andacht- und erbauungsbuch, so daß ausser dem morgen-, abend- und einigen anderen gebetter, 3 psalmen und 3-4 lectionen das ganze tagwerk der chorandacht seyn würden. 50 Damit argumentierte die Äbtissin - ebenso wie bereits einige Monate zuvor ihre Edelstettener Kollegin - 51 aus der Vorstellung einer vormals ›repräsentativen‹ zählenden Frömmigkeit heraus. 52 Auch ihr Verständnis von chorandacht beruhte auf einem formalen Begriff von ›Andacht‹, für die Zahl und Dauer der Gebete essentiell sein sollten. Der Neudefinition liturgischer Zeitlichkeit stand umgekehrt auch ein neuartiges Verständnis von ›Freizeit‹ gegenüber oder vielmehr überhaupt erst die Entstehung der Freizeit in einem modernen Sinn. 53 Zielte vormals der orante Habitus dem Anspruch nach auf die Ineinssetzung von Zeit und Gebet, so ging man jetzt von der neutralen Unterscheidung in Gebetszeiten und Freizeit aus. Die Zeitvorstellung selbst wurde dabei gewissermaßen zur Geometrie eines inneren Ziffernblattes und seiner Zeiger abstrahiert. 54 Wie ein leeres Gefäß ließ sich Zeit nun in unterschiedlicher, und zwar individueller Weise befüllen: z. B. mit Gebet und Gottesdienst, gegenseitigen Besuchen, Lesen, Musizieren und Spazierengehen, aber auch mit 50 MüB 4, 1791 IX [? ] 28. 51 Im Vorfeld der Statutenreform hatte auch die Edelstettener Äbtissin Anselmina von Freyberg (1782-1791) vergleichbare Einwände erhoben; AA 486, 1789 VI. 52 Zum Begriff vgl. A RNOLD A NGENENDT u. a., Gezählte Frömmigkeit, in: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1-71. 53 Zur Begriffsgeschichte vgl. A LESSANDRO A RCANGELI , Art. Freizeit, in: F. J AEGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 3 (Anm. 8), Stuttgart 2006, Sp. 1215-1221; zur historischen Entwicklung P AUL M ÜNCH , Lebensformen in der frühen Neuzeit 1500-1800, Frankfurt/ M. 1992, S. 414-416, sowie P ETER B URKE , The invention of leisure in Early Modern Europe, in: Past and Present 146 (1995), S. 136-150, die den Begriff aber in seinem Gegensatz zur ›Arbeit‹ fassen, was sich auf die spezifische Situation adliger Damen im Stift nur bedingt übertragen läßt. 54 A. G IDDENS , Konsequenzen der Moderne (Anm. 41), S. 29, spricht von der ›Entleerung der Zeit‹ am Ende des 18. Jahrhunderts, die er ebenfalls mit der allgemeinen Durchsetzung der Uhren in Verbindung bringt: »Die Uhr brachte eine einheitliche Dimension ›leerer‹ Zeit zum Ausdruck, welche derart quantifiziert wurde, daß die präzise Bezeichnung von Zeitzonen des Tages (wie zum Beispiel der täglichen ›Arbeitszeit‹) möglich wurde.« <?page no="128"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 127 dem Genuß von Tee oder Kaffee. Auch der jährlich gestattete Urlaub vom Stift wurde für die fest aufgenommenen Stiftsdamen auf bis zu drei Monate ausgedehnt - vormals waren es nur sechs Wochen gewesen. 55 Tatsächlich läßt sich der steigende (Kultur-)Konsum in den Damenstiften Edelstetten und St. Stephan anschaulich belegen, wobei die alltägliche Praxis während des 18. Jahrhunderts den normativen Wandel längst angebahnt hatte. 56 Die temporale Departimentalisierung korrespondierte zur selben Zeit mit zunehmender räumlicher Differenzierung: In Edelstetten ließ man vermutlich zwischen 1788 und 1790 anstelle des älteren in Verschläge getrennten Schlafsaales regelrechte Einzel-Appartements für die Stiftsdamen einbauen, 57 St. Stephan wurde zwischen 1795 und 1802 von Grund auf neu errichtet; Einzelzimmer für die Stiftsdamen machte man dort sogar in den Statuten explizit verbindlich. 58 Beide Vorgänge, zeitliche wie räumliche Neustrukturierung, können als Ausdruck bzw. ihrerseits Wirkung entfaltende Folge einer zunehmenden Individualisierung des Stiftslebens gedeutet werden. 59 Dabei kannte natürlich auch die ›vorrevolutionäre‹ Ordnung im Stift Zeiten, in denen nicht im eigentlichen Sinn gebetet oder gesungen wurde. Die Statuten des 17. Jahrhunderts definierten sie aber ganz aus der liturgischen Perspektive, als Zeiten, die den Damen den tag hindurch nach gehaltem gottßdienst und anderen gewohnlichen verrichtungen uberig verbleibet. 60 Sie galten als problematische Zeit-›Lücken‹ - problematisch deshalb, weil sie zur Sünde des ›Müßiggangs‹ verleiteten. Die Stiftsdamen waren deshalb gehalten, sich under dem gebett der tagzeitten dz gemütt mit gutten, eüfferigen gedanckhen unnd anmuttungen gegen gott zu richten und also zu erhalten, wan sie öfftermahl, sonderlich an den feyrtägen bedechtlich unnd fleissig gaistliche bücher, leben der heiligen lesen und bedenckhen. 61 Die Gebetshaltung sollte also ausdrücklich auch auf die nicht-spezifisch liturgische Zeit ausgedehnt werden. 62 55 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 345. 56 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), Kap. IV.2. (»Raum für Eigentümliches: Einzelzimmer als Konsumräume«) und IV.3. (»Räume der Imaginationen«). 57 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 277f. 58 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 281f. 59 Vgl. auch D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 502f. 60 AA 13, [A] 3/ III.; ediert bei D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), hier S. 571. - Zum Folgenden ausführlicher ebd., S. 399-402. 61 AA 13, [A] 3/ III.; ediert bei D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), hier S. 571. 62 Die Lücken in den nicht von gemeinsamem Gebet und Gottesdienst erfüllten Zeiten hatte schon die Benediktsregel als neuralgische Punkte erkannt. Vgl. z. B. Regula Benedicti, Kap. 48, § 1: Otiositas inimica est animae, et ideo certis temporibus occupari debent fratres in labore manuum, certis iterum horis in lectione divina. Vgl. dazu A. B ÖCKMANN , RB 48: Of the daily <?page no="129"?> D IETMA R S C HIE R S NER 128 Die Statuten des ausgehenden 18. Jahrhunderts lassen dagegen den inzwischen im Verständnis von Freizeit und Müßiggang eingetretenen Wandel erkennen: 63 Zum einen wird die außerliturgische Zeit nun nicht mehr vom Gottesdienst her als potentiell gefährliche ›Lücke‹ im Zeit-Gebets-Kontinuum definiert, zum anderen haben sich jetzt alle Tätigkeiten an einem neuen Leitbild zu orientieren: anständig und nützlich sollen sich die Damen beschäftigen. Neben den hausgeschäfte[n] sollen sie ihre Zeit für nützliche, verstand und herz besßernde lectür verwenden und ßich vor dem müsßiggange hüten. Das Müßiggehen wird damit zwar nach wie vor kritisiert, jetzt aber aus sittlichen, nicht mehr spezifisch religiösen Gründen. Maßstab ist die Bereitschaft zu ›nützlichem‹ Verhalten. 64 4. Vielzeitigkeit in der Praxis - eine notwendige Differenzierung Die Radikalität, mit der am Ende des 18. Jahrhunderts die überkommenen Grundlagen des Stiftslebens, insbesondere die spezifische Verknüpfung von Zeit- und Frömmigkeitsverständnis, einer Revision unterzogen wurden, läßt den Schluß zu, daß die neuerdings mit den Argumenten der Aufklärung begründeten Vorstellungen an vorgängige Bedürfnisse anknüpfen konnten. 65 Vergleichbare Zusammenhänge sind auch für die nachmals protestantischen Damenstifte zur Zeit der Reformation zu vermuten. 66 Tatsächlich kannten die Stiftsdamen lange vor der Neufassung der Statuten - aus welchen Gründen, wäre freilich im einzelnen zu fragen - ein »Unbehangen am kanonischen Zeitregime«. 67 Die Entwicklung verlief keineswegs linear. Vielmehr führten die häufig erst nach dem Dreißigjährigen Krieg umgesetzten Reformforderungen des Trienter Konzils auch in Edelstetten und St. Stephan gegenüber dem spätmittelalterlichen manual labor (Anm. 1), bes. S. 150, 157; sowie D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 399 Anm. 51. 63 MüB 4, 1789 VII 6, Statuten, Kap. IV: Vom betragen der damen zuhauße. 64 Es versteht sich dabei von selbst, daß weder hier noch in den älteren Statuten mit dem Müßiggang der Gegenbegriff zu einer Art »protestantische[r] […] Arbeitsamkeit« vorliegt; P. H ERSCHE , Muße und Verschwendung (Anm. 42), S. 601, entwickelt den Mußebegriff im Gegensatz zu dem der (Erwerbs-)Arbeit (vgl. ebd., Kap. »Mußepräferenz«, S. 601-666), was für das Verständnis der als Müßiggang denunzierten Muße innerhalb feudaler Gruppen nicht weiterführt. 65 Vgl. dazu ausführlicher D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 402-404, 406-410. 66 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 26 und Anm. 67; S. 135 und Anm. 96. 67 D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 402. <?page no="130"?> Z EIT UND F RÖMMIGKEIT 129 Zustand zunächst einmal zu einer ›spirituellen‹ Trendwende, 68 die beispielsweise in den in Edelstetten ausdrücklich unter Mithilfe der Jesuiten entstandenen Statuten von 1643 zum Ausdruck kommt. Das mit der Vorstellung des ›immerwährenden Gebets‹ verknüpfte Zeitbewußtsein war nicht gewissermaßen ›natürlich‹, es konnte erst am Ende einer stetigen (Selbst-)Erziehungsarbeit stehen. Das beweisen beispielsweise die Warnungen vor dem Müßiggang oder Ermahnungen zur Anwesenheit im Stift bzw. beim Chorgebet. Für den Gottesdienst selbst mußte explizit ein rituell angemessenes Tempo vorgeschrieben werden, also dz ein chor dem anderen nit in die letste worth falle. 69 Auch bei der bischöflichen Visitation in St. Stephan wurde 1667 gefordert, im gottsdienst soll mann nit gar zu häfftig eilenn. 70 Hundert Jahre später beschwerten sich dort die Stiftsdamen über eine stotternde Mitkapitularin, sie halt uns umb ein ganze viertl stundt länger auff, wo öfters all übrige ordnung leidet, auch jederman zu gröster ohngedult raizet. 71 Hatten es die Stiftsdamen mit ihrer Eile insgeheim nicht vielleicht doch auch lange vor 1789 auf so etwas wie zusätzliche ›Freizeit‹ abgesehen? Die Zeugnisse sprechen jedenfalls kaum für eine vollständige Verinnerlichung des oranten Habitus. Legitimiert indes wurden die Abweichungen von der Norm bis in die 1780er Jahre hinein nicht durch theologische Gegenvorstellungen, etwa mit einem neuartigen Verständnis von ›Andacht‹ oder ›Nützlichkeit‹. Eher dachte man wohl in den Kategorien von menschlicher Schwäche bzw. Sünde. Die in anderen Stiften und vor allem bei den Domherren übliche Praxis, einen Teil der beschwerlichen Gesangsverpflichtung an Chorvikarier zu übertragen, war grundsätzlich ein gangbarer Weg, sich systemkonform Entlastung und ›Freizeit‹ zu verschaffen, ohne deswegen die Gebetsordnung an sich in Frage zu stellen. In Edelstetten scheiterte eine entsprechende Initiative der Reichsritterschaft 1772 jedoch an der Finanzierung. 72 Auf der anderen Seite wurden Formen des kollektiven, zeitintensiven Gebetes noch bis knapp über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus überhaupt erst neu eingeführt: 1738 genehmigte das Ordinariat dem Damenstift Edelstetten die Abhaltung des Zehnstündigen Gebetes an den letzten drei Fasnachtstagen, 73 1755 68 Vgl. z. B. auch einen entsprechenden Reformprozeß im Herzogtum Bayern. Dazu M AN - FRED W EITLAUFF , Vom Damenstift zur Benediktinerinnenabtei. Das altbayerische Kloster Frauenchiemsee in der Tridentinischen Reform, in: D. S CHIERSNER / V. T RUGENBER - GER / W. Z IMMERMANN (Hg.), Adelige Damenstifte Oberschwabens (Anm. 17), S. 259- 288. - Zur Bedeutung der Jesuiten für die Damenstifte St. Stephan und Edelstetten vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 371-375. 69 AA 13, [G] 1/ III.; ediert bei D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), S. 590. 70 MüB 2, Statutenbuch, 1667 VIII 13, fol. 189r. 71 MüB 36, 1768 IX. 72 Vgl. D. S CHIERSNER , Räume und Identitäten (Anm. 5), 407f. 73 AA 486, 1738 I 31. Ob die bereits im 16. Jahrhundert entstandene Gebetsform vielleicht bereits zuvor in Edelstetten gepflegt wurde, geht aus dem Schreiben des bischöflichen Hof- <?page no="131"?> D IETMA R S C HIE R S NER 130 wurden dort, 1761 in St. Stephan Kreuzwegstationen installiert, die der Pflege entsprechender Andachtsformen dienten, 74 und 1759 veranstaltete die Augsburger Äbtissin Beata von Welden (1747-1789) in ihrem Stift während der Karwoche ein dreitägiges Zaeher-Fest. Die in diesem Rahmen von einem Jesuiten gehaltenen Ansprachen wurden zur häufigeren Wiederholung als Lektüre einige Zeit später auch zum Druck befördert. 75 Nach 1761 lassen sich jedoch in beiden Damenstiften keine vergleichbaren Initiativen mehr feststellen. War 1772 in Edelstetten noch der Vorschlag aufgekommen, den Chorgesang zu delegieren, so verlief dort wie auch in St. Stephan der Weg seit den 1780er Jahren über mehrere Stufen hinweg vom gemeinsamen Singen zum gemeinsamen lauten Beten zum privaten stillen Lesen. Dieser Prozeß besaß eine eminent temporale Dimension, und er war Ausdruck eines tieferliegenden und langfristigen Wandels des Zeitempfindens, der in die parallele Departimentalisierung von Zeiten und Räumen im Damenstift mündete. Die ›unzeitgemäßen‹ Beobachtungen widersprechen dieser Diagnose nicht prinzipiell; sie belegen nur, daß unterschiedliche Frömmigkeitsstile und Zeitkonzepte im Alltagsleben der Stifte mehr oder minder harmonisch nebeneinander bestehen konnten. Nichtsdestoweniger war am Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur das liturgische Leben in den schwäbischen Damenstiften ›aus dem Takt‹ geraten. Die Stiftsdamen teilten immer weniger Zeit miteinander, die Sozialität des Konvents trat immer stärker zurück. Innere Identitäts- und äußere Legitimitätskrise ihrer Lebensform bedingten einander. Mit der Säkularisation waren die katholischen Damenstifte endgültig aus der Zeit gefallen. rates Zeller nicht hervor. - Zum Vierzigstündigen Gebet und seinen Teilungsvarianten vgl. W ILDT , Art. Gebet, vierzigstündiges, in: J. H ERGENRÖTHER / F. K AULEN (Bearb.), Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon 5 (Anm. 4), 2. Aufl. Freiburg/ Br. 1888, Sp. 151-155. 74 StaatsA Augsburg, Damenstift Edelstetten, Urkunden 787, 1755 XII 17; StaatsA Augsburg, Augsburg Damenstift St. Stephan, Akten 368, 1761 VI 28. 75 F RANZ N EUMAYR , Festum Lacrymarum Oder, Dreytägiges Zäher-Fest. Bey einer feyerlichen Erneuerung des Geistes angestellt und gehalten von dem andächtigen Geschlechte zu Augsburg in der Hochadel. Pfarr- und Stiftskirche zu St. Stephan, im Jahr ein tausend, sieben hundert, neun und fünfzig. Jetzt […] samt einer an dem hohen Festtage der H. Magdalena gehaltenen Lobrede anstatt einer Vorbereitung in Druck gegeben von P. Francisco Neummayr, S. J. […], Augsburg 1764. <?page no="132"?> II. Geteilte Zeiten <?page no="134"?> 133 B ARBARA R AJKAY Zeiten des Abschieds, Zeiten des Rückzugs. Kindheit, Jugend und Alter in der Augsburger Oberschicht 1500-1800 Für die Gliederung der Lebenszeit in einzelne Phasen wählten unsere Vorfahren gerne symbolträchtige Bilder. Großer Beliebtheit erfreute sich die Analogie der Lebensalter mit den Jahreszeiten, die bereits von den altgriechischen Naturphilosophen in Beziehung zueinander gesetzt wurden. 1 Ebenfalls sehr populär waren die Alterstreppen, die im 13. Jahrhundert aufkamen und sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts enorm verbreiteten. Noch bis ins 19. Jahrhundert wurde das Motiv massenhaft gedruckt. 2 Vier bis fünf Stufen führten den Aufstieg bzw. Abstieg vor Augen, auf den Stufen waren Männer, Frauen oder Paare zu sehen. Zusätzlich verwendeten viele Künstler Tiersymbole, die noch die Wertung der einzelnen Stufen verstärkten: den zehnjährigen Knaben begleitete ein springender Bock, die Jugendjahre symbolisierte ein Kalb, auf dem Weg nach unten stand der Wolf für die Dekade 60, es folgten noch Katze, Hund, Esel - und zuletzt die gestopfte Gans. 3 Bereits im Liederbuch der Augsburgerin Clara Hätzler von 1473 finden sich diese Zuordnungen. Bei den Frauen griff man auf Vögel bzw. flugfähige Tiere zurück, Wachteln und Tauben verwiesen auf die Jugend, Storch, Fledermaus und Eule auf die Altersjahre. 4 1 D ANIEL S CHÄFER , Alter und Krankheit in der Frühen Neuzeit. Der ärztliche Blick auf die letzte Lebensphase (Kultur der Medizin. Geschichte - Theorie - Ethik 10), Frankfurt-New York 2004, S. 34. 2 Eine anthropologische Einführung in dieses breite Thema findet sich bei W OLFGANG R EINHARD , Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004, S. 174-197; zu den populären Vorstellungen D OROTHEE E LM u. a. (Hg.), Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Literatur, Kunst und Theologie, Berlin 2009; K LAUS T. W IRAG , Lebensalterdarstellungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, München 1995. 3 J OSEF E HMER , [Art.] Alterstreppe, in: F RIEDRICH J ÄGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 1, Stuttgart-Weimar 2005, Sp. 269-272. 4 T HORSTEN F ITZON , Das Kind in Lebensaltermodellen der Frühen Neuzeit, in: K LAUS B ERGDOLT / B ERNDT H AMM / A NDREAS T ÖNNESMANN (Hg.), Das Kind in der Renaissance (Wolfenbütteler Abhandlungen zur Renaissanceforschung 25), Wiesbaden 2008, S. 197- 220, hier 209-211. <?page no="135"?> B AR BAR A R A JKAY 134 Daneben existierten weitere Zahlensysteme, ebenso kamen Kombinationen verschiedener Schemata zur Anwendung. 5 Der Siebenjahresrhythmus, bei dem die Vielfachen von Sieben jeweils einen Wechsel auf die nächste Lebensstufe anzeigten, erwies sich als besonders verbreitet und langlebig. 6 Gefürchtet war bis ins 17. Jahrhundert vor allem das 63. Lebensjahr, das auch als ›annus fatalis‹ oder ›großes klimakterisches Jahr‹ bezeichnet wurde. 7 Der Augsburger Humanist Hieronymus Wolf (1516-1580) war geradezu besessen von dem Gedanken, mit 63 Jahren tödlich zu erkranken. Er sah sich hier im Kreis mit antiken Geistesgrößen wie Cicero, Aristoteles und Demosthenes. 8 Die Thematisierung der Stufenjahre im Sinne einer Zäsur läßt sich sogar noch in einzelnen Autobiographien des ausgehenden 18. Jahrhunderts nachweisen. 9 Das Lebensalter hat sich als mehr oder weniger starres Ordnungsprinzip des Lebenslaufs durchgesetzt: »Die Entwicklung zur Moderne ist ein Prozeß der Verzeitlichung des Lebens.« 10 Allerdings folgte die Chronologisierung in ihrer langen Entwicklung nicht abstrakten mathematischen Gesetzen, wie es etwa das Modell der Lebenstreppe mit den Zehnerschritten suggeriert, sondern basierte immer auf sozialen Setzungen. Die Zuschreibungen, die mit den jeweiligen Lebensaltern ver- 5 A NNE -C HARLOTT T REPP , Zum Wandel von Altersbildern und Alterserfahrungen im späten Mittelalter und am Beginn der Frühen Neuzeit, in: E LISABETH V AVRA (Hg.), Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Veröff. des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 21), Wien 2008, S. 299-313, hier 304. 6 K LAUS T. W IRAG , Cursus Aetatis. Lebensalterdarstellungen vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Diss., München 1995, S. 170-195. 7 M ICHAEL S TOLBERG , Zeit und Leib in der medikalen Kultur der Frühen Neuzeit, in: A RNDT B RENDECKE / R ALF -P ETER F UCHS / E DITH K OLLER (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung & Autorität 10), Berlin 2007, S. 49-68, hier 51f. 8 So schrieb Wolf an Christoph Peutinger: Augsburg, am 19. Februar, im 1579. Jahr des wiedergewonnenen Heils, in meinem 63. Lebensjahr, welches die Astrologen das männermordende nennen und in dem der Überlieferung zufolge Cicero, Demosthenes, Aristoteles und sehr viele andere berühmte Männer gestorben sind, sodass, falls es auch mich dahinraffen sollte, jener Ausspruch Achills bei Homer (Ilias 21,107) zurecht auf mich übertragen werden könnte: Auch Patroklos musste sterben, der viel besser war als du; Brief 478 der Online-Edition des Briefwechsels von Hieronymus Wolf (http: / / www.uni-mannheim.de/ mateo/ cera/ wolf1/ wolf_repositorium.html) (aufgerufen am 20.1.2015, Übersetzung: Dr. Helmut Zäh). 9 H ARALD T ERSCH , Schreiben in Gewissen Jahren. Alter(n) und Autobiographie in der Neuzeit, in: U. K LINGENBÖCK / M. N IEDERKORN -B RUCK / M. S CHEUTZ (Hg.), Alter(n) hat Zukunft, S. 184-232, hier 202-206. 10 M ARTIN K OHLI , Lebenslauf und Lebensalter als gesellschaftliche Konstuktionen: Elemente zu einem interkulturellem Vergleich, in: G EORG E LWERT / M ARTIN K OHLI / H ARALD K. M ÜLLER (Hg.), Im Lauf der Zeit. Ethnographische Studien zur gesellschaftlichen Konstruktion von Lebensaltern (Spektrum - Berliner Reihe zu Gesellschaft, Wirtschaft und Politik in Entwicklungsländern 25), Saarbrücken 1990, S. 11-32, hier 15. <?page no="136"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 135 bunden sind, grenzen die Generationen voneinander ab und bilden damit die Basis für die »gesellschaftliche Regelung der Zeitlichkeit«. 11 Bei den gegenwärtigen Diskussionen über das Renteneintrittsalter wie auch über das Alter bei der Einschulung stellen letztlich die Anforderungen des Arbeitsmarkts den Bezugsrahmen. 12 In der Frühen Neuzeit operierte man mit Begriffen wie ›Nahrung‹ und ›Auskommen‹. Denn nur der Nachweis eines gesicherten Auskommens ermöglichte eine Heirat und damit den entscheidenden Schritt in ein eigenständiges Leben. 13 In diesem Beitrag soll konkret der Frage nachgegangen werden, wie sich zwischen 1500 und 1800 in der Reichsstadt Augsburg das Rhythmisieren der Lebenszeit auf die ersten und letzten Phasen des Lebens auswirkte. Es geht hier nicht um metaphorische Zeitordnungen, sondern um die realen Zeitfenster, die sich mit dem Verlassen des Elternhauses für die Jugendlichen öffneten und im Normalfall mit der Heirat schlossen. In welchem Alter zogen die Jugendlichen los und wie lange blieben sie in der Fremde? Wie groß war der Abstand zwischen der endgültigen Heimkehr und der Heirat? Beim Alter bedeutete Rückzug zum einen die Aufgabe öffentlicher Ämter und/ oder die Übergabe der Handlung an die nächste Generation. Kann auch der Verzicht auf eine erneute Heirat ab einem bestimmten Alter als Indiz für eine Form des Rückzugs gewertet werden? Der Historiker Kaspar von Greyerz hat auf der Basis einer umfangreichen Sammlung deutsch-schweizerischer Autobiographien die einzelnen Phasen der Lebensläufe nachgezeichnet. 14 Leider gibt es bisher keine vergleichbare Zusammenstellung zum schwäbischen Raum. Dafür bietet Augsburg eine reiche und aufbereitete Überlieferung an Leichenpredigten. Der bibliophile Notar und Antiquar Georg Wilhelm Zapf (1747-1810) legte unter dem Titel ›Augsburgische Bibliothek‹ 1795 unter anderem auch ein ausführliches Verzeichnis jener gedruckter Leichenpredigten an, die sich in einen Zusammenhang mit der städtischen Geschichte 11 L UCIA A MBERG , Wissenswerte Kindheit. Zur Konstruktion von Kindheit in deutschsprachigen Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts, Bern 2004, S. 48. 12 J OSEF E HMER , Sozialgeschichte des Alters (Neue historische Bibliothek 541), Frankfurt/ Main 1990, S. 11. 13 C HRISTINE W ERKSTETTER , Auskommen: Arbeit und Nahrung, in: S TEPHAN W ENDE - HORST / S IEGRID W ESTPHAL (Hg.), Lesebuch Altes Reich, München 2006, S. 176-182, hier 177; A NDREAS G ESTRICH , [Art.] Ledige, in: F RIEDRICH J ÄGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7, Stuttgart-Weimar 2008, Sp. 736-738. 14 K ASPAR VON G REYERZ , Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen 2010. Bei den Auswahlkriterien folgte Greyerz nicht den politischen Grenzen, sondern nahm auch Autobiographien einiger schwäbischer Autoren auf, wie jene des bekannten Ulmer Stadtbaumeisters Joseph Furttenbach (1591-1667), mit dem er seine Einführung beginnt (S. 9f.). Mittlerweile liegt auch die vollständige Edition dieser Autobiographie vor; K ASPAR VON G REYERZ / K IM S IEBENHÜNER / R OBERTO Z AUGG (Hg.), Joseph Furttenbach: Lebenslauff 1652-1664, Köln 2013. <?page no="137"?> B AR BAR A R A JKAY 136 stellen lassen. 15 Auf insgesamt 337 Seiten gab Zapf detailreich daraus die Inhalte der einzelnen Biographien wieder, neben den obligaten genealogischen Informationen wichtige Stationen der Ämterlaufbahn bzw. des beruflichen Werdegangs des Verstorbenen. Auch die ausführlichen Schilderungen der Ausbildungsphase samt den absolvierten Bildungsreisen sparte er nicht aus, ebenso wenig den letzten Lebensabschnitt. Die allermeisten der gedruckten Originale sind in der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg einsehbar. Leichenpredigten zählen spätestens seit den Publikationen von Rudolf Lenz und seinen Mitstreitern zu den elementaren Bausteinen der Biographieforschung in der Frühen Neuzeit. 16 Für Fragen nach der Strukturierung der Lebenszeit bietet sich diese Quellengattung ganz besonders an. Bereits 1984 hat Ralf Berg in einem Aufsatz das Bildungsverhalten protestantischer Eliten des 16. und 17. Jahrhunderts auf der Basis von 3.003 Leichenpredigten ausgewertet. 17 Dabei interessierte er sich vor allem für das Alter der Studienanfänger. Der Augsburger Bestand an Leichenpredigten entspricht dem gängigen Verteilungsmuster: Er enthält mit wenigen Ausnahmen nur Predigten für Protestanten der Ober- und Mittelschicht und würdigt sehr viel mehr und vor allem sehr viel ausführlicher Männer als Frauen, weshalb bei der vorliegenden Untersuchung nur die Biographien der Männer herangezogen wurden. 18 Da die Reichsstadt eine bedeutende Handels- und Finanzmetropole war, findet sich auch ein hoher Anteil von Kaufleuten darunter. Ein Vergleich ihrer Jugend- und Altersphase mit derjenigen von Akademikern ist somit ebenfalls möglich. Die erste Leichenpredigt in Augsburg wurde schon 1565 gehalten, in gedruckter Form verbreitete sie sich 15 G EORG W ILHELM Z APF , Augsburgische Bibliothek. Oder historisch-kritisch literarisches Verzeichnis aller Schriften welche die Stadt Augsburg angehen und deren Geschichte erläutern, 2 Bde., Augsburg 1795. Die Biographien der Leichenpredigten finden sich im 1. Bd., S. 203-539. Zu Zapf siehe E DITH S EIDL , Sammeln als existenzielle Notwendigkeit. Der Augsburger Notar, Privatgelehrte und Büchersammler Georg Wilhelm Zapf (1747- 1810) als Antiquar, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 67 (2012), S. 145-167. 16 Ein Überblick über die Arbeiten an der Forschungsstelle für Personalschriften an der Marburger Universität liefert der Aufsatz von U WE B REDEHORN / E VA -M ARIA D ICK - HAUT / R UDOLF L ENZ , Die Ausstellung »Deß einen Todt, deß andern Brod«. 25 Jahre Leichenpredigten-Forschung. Ergebnisse und Perspektiven, in: R UDOLF L ENZ (Hg.), Leichenpredigten als Quelle Historischer Wissenschaften, Bd. 4, Stuttgart 2004, S. 525-625. 17 R ALF B ERG , Leichenpredigten und Bildungsverhalten. Einige Aspekte des Bildungsverhaltens ausgewählter sozialer Gruppen, in: R UDOLF L ENZ (Hg.), Leichenpredigten als Quelle Historischer Wissenschaften, Bd. 3, Marburg a. d. Lahn 1984, S. 139-162. 18 R UDOLF L ENZ , [Art.] Leichenpredigt, in: Theologische Realenzyklopädie XX (1990), S. 665-669, hier 667f. Zu Frauen in Leichenpredigten ganz allgemein vgl. H EIDE W UNDER , Frauen in den Leichenpredigten, in: R. L ENZ (Hg.), Leichenpredigten, Bd. 3 (Anm. 17), S. 57-68. <?page no="138"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 137 jedoch erst im 17. Jahrhundert. 19 Ergänzend wurden daher noch edierte wie handschriftliche Selbstzeugnisse hinzugezogen, um die Entwicklung der frühen und späten Lebensphasen über einen Zeitraum von knapp 300 Jahren nachzuzeichnen. 20 Damit stehen die folgenden Ausführungen zum einen an der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Migrationsforschung und zum anderen im Kontext der in den letzten Jahren aus aktuellem Anlaß besonders intensiv diskutierten Frage nach der Rolle der Alten und ihrer Bedeutung in der Geschichte. 21 1. Die Zeiten des Abschieds Christoph von Stetten, der jüngste Sohn des erfolgreichen Kaufmanns Michael von Stetten (1449-1525) wurde am 20. Mai 1506 in Augsburg geboren. Über seine Kinder- und Jugendphase berichtet er in dem von ihm angelegten Geschlechterbuch sehr detailliert. 22 Demnach unterrichtete ihn zunächst seine ältere Schwester 19 B ARBARA R AJKAY , Evangelisches Bekenntnis und profane Memoria, in: R OLF K IESS - LING (Hg.), St. Anna in Augsburg. Eine Kirche und ihre Gemeinde, Augsburg 2013, S. 367-409, hier 370f. 20 Die Auswahl der Quellen ist auch der Tatsache geschuldet, daß das Augsburger Stadtarchiv seit 2010 nur noch sehr beschränkt zugänglich ist. 21 Um nur einige der in den vergangenen Jahren erschienenen Sammelbände und Monographien zu nennen: D. S CHÄFER , Alter und Krankheit (Anm. 1); U RSULA K LINGENBÖCK / M ETA N IEDERKORN -B RUCK / M ARTIN S CHEUTZ (Hg.), Alter(n) hat Zukunft. Alterskonzepte (Querschnitte 26), Innsbruck 2009; B RIGITTE R ÖDER / W ILLEMIJN DE J ONG / K URT W. A LT (Hg.), Alter(n) anders Denken. Kulturelle und biologische Perspektiven (Kulturgeschichte der Medizin 2), Köln 2012; E. V AVRA (Hg.), Alterskulturen (Anm. 5); P AT T HANE (Hg.), The Long History of Old Age, London 2005. Die historische Jugendforschung wurde vor allem von Philippe Ariès’ Veröffentlichung ›Geschichte der Kindheit‹ angeregt, die erstmals 1975 in deutscher Übersetzung erschien; vgl. A LBRECHT C LASSEN , Philippe Ariès and the consequences: History of childhood, family relations, and personal emotions. Where do we stand today? , in: D ERS . (Hg.), Childhood in the Middle ages and the Renaissance: The results of a paradigmen shift of mentality, Berlin-New York 2005, S. 1- 65; M ICHAEL M ITTERAUER , Sozialgeschichte der Jugend (Neue historische Bibliothek 278), Frankfurt/ Main 1986; zur Schnittstelle M ATHIAS B EER , Migration, Kommunikation und Jugend. Studenten und Kaufmannslehrlinge der Frühen Neuzeit in ihren Briefen, in: Archiv für Kulturgeschichte 88 (2006), S. 355-387. 22 A LBERT H AEMMERLE (Hg.), Derer von Stetten Geschlechterbuch (Stetten-Jahrbuch 2), München 1955. Das Original befindet sich im Hausarchiv derer von Stetten in Aystetten, Nr. 239. Einen Überblick zur Ausbildung Christoph von Stettens (1506-1556) in den betreffenden Handelgesellschaften in Venedig und Lissabon gibt auch M ARK H ÄBERLEIN , Migration und Mobilität in Augsburger Familienbüchern, in: R EINHARD B AUMANN / R OLF K IESSLING (Hg.), Mobilität und Migration in der Region (Forum Suevicum 10), Konstanz <?page no="139"?> B AR BAR A R A JKAY 138 Apollonia (1498-1566) im Lesen und Schreiben. Erst mit neun Jahren kam er in eine Schule bei St. Moritz, wo er auch ein wenig Latein lernte. Für die fließende Beherrschung der lateinischen Sprache wurde er zu Johannes Kening, genannt Pinicianus, geschickt, der auch den Kindern des Konrad Peutinger Privatunterricht gab. 23 Mit zwölfeinhalb Jahren endete seine Zeit als Lateinschüler. Da er zu jung war, um wegzugehen und ain Vaters-Kindlin, ime fast [sehr] lieb, verbrachte er noch ein dreiviertel Jahr bei einem Notar, um das Teutsche schreiben besser zu ergreifen. 24 Der Tag des Abschieds vom Elternhaus am Weinmarkt war für Christoph der 26. April 1519, der Dienstag nach Ostern, wenige Wochen vor seinem 13. Geburtstag. Wie bei vielen anderen Zeitgenossen begann seine Ausbildung zum Kaufmann in Venedig. Zuerst ging er in der Lagunenstadt bei einem Spezereihändler in die Lehre. Als Ansprechpartner hatte er den jeweiligen Vertreter der Handelsgesellschaft Konrad Rehlinger. Nach fünf Monaten kam er in eine Rechenschule, die er nach 22 Monaten mit ausreichenden Kenntnissen im Rechnen, Buchhalten und in der italienischen Sprache verließ, um in der Obhut des Augsburger Venedigboten wieder zurück in die Heimat zu reisen. Bereits zwei Wochen später mußte er erneut aufbrechen. Mit dem Schwager schickte ihn der Vater nach Frankfurt zur Messe und von dort weiter mit Sebastian Neithart, dem Schwiegersohn und Gesellschafter der Handlung des Christoph Herwart, über Köln nach Antwerpen. Die nächste längere Ausbildungsphase absolvierte er in Lille, wo sein ältere Bruder Lukas, genannt Laux (1493-1545), geschäftliche Beziehungen hatte. Christoph lernte dort Französisch, und 1523, wiederum zur Zeit des Ostermarkts, beendete er seine Lehrzeit. Mit knapp 17 Jahren stand er auf eigenen Beinen, bis dahin war der Vater für alle Unkosten aufgekommen: Diesen Einschnitt kommentierte Christoph nicht ohne Stolz mit der Bemerkung: sonder nach diser Zeyt mein Kost selber gwune. 25 Wie seine beiden älteren Brüder Lukas (1493-1545) und Georg (1498- 1562) arbeitete er als Handelsdiener in der Gesellschaft des Christoph Herwart. Zwischen 1523 und 1531 vertrat er diese Handlung in Antwerpen und im Rahmen einer Handelsreise auch in Lissabon. Während dessen starb 1525 sein Vater, und die älteren Brüder begaben sich für ihn in Augsburg auf Brautschau. Das Angebot, die Tochter des Bürgermeisters Anton Bimmel zu ehelichen und damit auch 80.000 fl. 2014, S. 85-104, hier 92f.; M ARK H ÄBERLEIN , Fremdsprachen in den Netzwerken Augsburger Handelsgesellschaften des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: D ERS ./ C HRISTIAN K UHN (Hg.), Fremde Sprachen in frühneuzeitlichen Städten. Lernende. Lehrende und Lehrwerke (Fremdsprachen in Geschichte und Gegenwart 7), Wiesbaden 2010, S. 23-44, hier 29. 23 Zum Lehrer Johannes Pinicianus (um 1477/ 78-1542) vgl. Rolf S CHMIDT , [Art.] Pinicianus, in: Augsburger Stadtlexikon online (Stand 3.1.2012). 24 A. H AEMMERLE (Hg.), Geschlechterbuch (Anm. 22), S. 48f. 25 A. H AEMMERLE (Hg.), Geschlechterbuch (Anm. 22), S. 52. <?page no="140"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 139 Mitgift zu erhalten, schlug er mit der Begründung aus, seiner Jugend halben (1529 war er 23 Jahre) sei er noch nicht gesinnt zu heiraten. 26 Ostern 1531 beendete er seine Dienste für die Herwartgesellschaft, kehrte nach Augsburg zurück, errichtete eine eigene Handlung und ehelichte schließlich 1532 Magdalena, die Tochter des Konrad Rehlinger (1470-1553). 27 Die Jugendjahre des Christoph von Stetten sind in vielerlei Hinsicht typisch für Augsburger Kaufleutesöhne des 16. und 17. Jahrhunderts. Auch wer nicht die Gelehrtenlaufbahn anstrebte, lernte Latein. Dem schloß sich eine längere Ausbildung fern der Heimat an, wobei möglichst Handelshäuser in mehreren Ländern für eine umfassende Vermittlung kaufmännischer Praktiken sorgen und die Fremdsprachenkenntnisse breit fächern sollten. 28 Ortswechsel während der Lernphase waren häufig mit einem kurzen Aufenthalt von wenigen Wochen in der Heimatstadt verbunden. Die Aufenthaltsdauer stand nicht von vorne herein fest, der Vater bestimmte aus der Ferne den Ablauf der Ausbildung. Die großen Messen in Frankfurt, Leipzig und Bozen waren nicht nur der Umschlagplatz für Waren, sondern ebenso ›Jobbörsen‹ für die angehenden Kaufleute. Die Messetermine bestimmten im Jahreslauf die Zeiten des Abschieds. Am Prinzip der Kaufmannsausbildung änderte sich in den nächsten Generationen nichts, wohl aber am Bildungsanspruch. Der Kaufmannssohn Melchior Linck (1529-1587) begann mit zwölf Jahren zunächst ebenfalls als Lateinschüler bei Pinicianus, allerdings gab ihn sein Vater Ulrich (1495-1560) nach einem Jahr zu dem neu in Augsburg wirkenden Magister Wolfgang Merz für weitere zwei Jahre. 29 Anschließend verließ Melchior Augsburg, um in Tübingen zu studieren, nach 15 Monaten zog er weiter nach Padua und traf schließlich im November 1548 wieder in Augsburg ein. Erst mit 19 Jahren begann die Kaufmannsausbildung: Nach dem Messebesuch in Frankfurt reiste Melchior 26 A. H AEMMERLE (Hg.), Geschlechterbuch (Anm. 22), S. 55. 27 P AUL VON S TETTEN d. J., Neues Ehrenbuch oder Geschichte des adel. Geschlechtes Der Von Stetten […], 1766. Das vollständige Manuskript des Neuen Ehrenbuchs befindet sich in der SuStBA 2° Cod S 103; Stettens Ergänzung der Biographie von Christoph von Stetten, fol. 39v. 28 Zur Kaufmannsausbildung M ARKUS A. D ENZEL , Professionalisierung und sozialer Aufstieg bei oberdeutschen Kaufleuten und Faktoren im 16. Jahrhundert, in: G ÜNTHER S CHULZ (Hg.), Sozialer Aufstieg. Funktionselite im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 25), München 2002, S. 413-442, hier besonders 425-432. 29 Wie Christoph von Stetten schilderte auch Melchior Linck im Ehrenbuch der Familie ausführlich seine Jugendphase; SuStBA 2° Cod. Aug. 489, fol. 41v-44v. Zum Ehrenbuch K ARL -G EORG P FÄNDTNER / E LISABETH W UNDERLE , Ehrenbuch der Linck, in: C HRI - STOPH E MMENDÖRFFER / H ELMUT Z ÄH (Hg.), Bürgermacht und Bücherpracht. Augsburger Ehren- und Familienbücher der Renaissance (Katalogband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg vom 18. März bis 19. Juni 2011), Luzern 201, S. 152-157. <?page no="141"?> B AR BAR A R A JKAY 140 über Köln und Maastricht nach Antwerpen zu Hans Bimmel, der wie Melchiors Vater zum Kreis der Haug-Langnauer-Linck-Gesellschaft zählte. 30 Die Gesellschaft hatte Faktoreien in Lyon und Venedig, in beiden Städten absolvierte Melchior mehrmonatige Aufenthalte. Dazwischen gab es immer wieder kurze Heimreisen, die der Vater veranlaßte. Auch die Wahl der Ehefrau traf der Vater, nachdem Melchior im Februar 1553 gerade von Nürnberg zurückgekommen war: Allda bin ich von meinem geliebten herren Vattern, meines Alters von Gott inn dem vierundzwaintzigsten Jahr ehlich versprochen worden Anna Maria Manlich, Tochter des Matthäus Manlich. 31 Möglicherweise verdankte Melchior Linck seine lange ›duale‹ Ausbildung von Universitätsbesuch und Handelslehre der Tatsache, daß seine Familie 1538 nicht den Sprung ins Patriziat geschafft hatte und daher versuchte, ihre einfache Herkunft aus dem Weberhandwerk durch Bildung und ambitionierte Partnerwahl auszugleichen. 32 Jedenfalls zeigt die langfristige Entwicklung, daß Lincks Ausbildungsweg im wahrsten Sinn des Wortes Schule machte. Rückblickend kommentierte Paul von Stetten d. J. im Ehrenbuch seines Geschlechts diese Entwicklung im ausgehenden 16. Jahrhundert mit den Worten, daß nach der Gewohnheit dießes Jahrhunderts alle junge Leuthe von Geschlechtern eben sowohl zum Studieren als zum HandlungsWesen erzogen worden. 33 Dies konnte zum einen bedeuten, daß Universitätsbesuch und Handelslehre aufeinander folgten. So etwa bei Markus von Schnurbein (1671-1746), der bis zu seinem 15. Lebensjahr zunächst von Hauslehrern und auf dem Gymnasium unterrichtet wurde. Dann nahm ihn der Vater unter die Fittiche und reiste mit ihm 1686 zur Leipziger Messe. In den folgenden zwei Jahren blieb er in Leipzig, um sich noch mehr im Lateinischen und in andern Wissenschaften zu vervollkommen. 34 Die Ausbildung zum Kaufmann begann er dann 1688 bei einem Lehrherrn in Bozen; diese mündete schließlich in eine große Italienreise, von der er im Mai 1690 heimkehrte. Johannes Koch (1614-1693) mußte mit 14 Jahren nach Lucca zur Ausbildung und anschließend in Leipzig in der väterlichen Handlung arbeiten. Er nutzte die Gelegenheit, um nebenbei Vorlesungen in Mathematik an der dortigen 30 M ARK H ÄBERLEIN , Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Colloquia Augustana 9), Berlin 1998, S. 174f. 31 K.-G. P FÄNDTNER / E. W UNDERLE , Ehrenbuch der Linck (Anm. 29), fol. 45r. Zu Melchior Link und der Familie seiner Frau Anna Maria Manlich (1499-1559) vgl. W OLFGANG R EINHARD (Hg.), Augsburger Eliten des 16. Jahrhunderts. Prosopographie wirtschaftlicher und politischer Führungsgruppen 1500-1620, bearb. von M ARK H ÄBERLEIN u. a., Berlin 1996, S. 473, 511. 32 M. H ÄBERLEIN , Brüder, Freunde und Betrüger (Anm. 30), S. 172f.; K.-G. P FÄNDTNER / E. W UNDERLE , Ehrenbuch der Linck (Anm. 29), S. 152. 33 P. VON S TETTEN d. J., Neues Ehrenbuch (Anm. 27), fol. 52v; M. A. D ENZEL , Professionalisierung (Anm. 28), S. 431f. 34 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 421. <?page no="142"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 141 Universität zu besuchen. Seine spätere Standeserhöhung und die Aufnahme ins Patriziat verdankte er seinen mathematischen Schriften, die er auch Kaiser Ferdinand III. sandte, nicht seinem Geschäftssinn. 35 Zum anderen bedeutete die zweigleisige Erziehung den Besuch des örtlichen Gymnasiums als solider Basis für alle weiteren beruflichen Werdegänge. Der gleichnamige Ururenkel des Christoph von Stetten (1644-1681), verließ erst im 17. Lebensjahr sein Elternhaus, um in Amsterdam eine Handelslehre anzutreten. Davor hatte er Privatunterricht erhalten und das Gymnasium bei St. Anna besucht. 36 Dies war 1531 als städtische Lateinschule gegründet worden und unter dem Rektorat des bereits zitierten Hieronymus Wolf nach dem Vorbild des Straßburger Gymnasiums illustre ausgebaut worden; das Eintrittsalter der Kinder lag zwischen fünf und sieben Jahren. 37 Während ihrer Schulzeit absolvierten die Schüler sechs Klassen mit einem je zweijährigen Kursus. 38 Wer einen Universitätsbesuch anstrebte, konnte sich zusätzlich im evangelischen Kollegium bei St. Anna auf das Studium vorbereiten. Es war 1582 von protestantischen Bürgern gegründet worden und bot die Fächer Latein, Griechisch, Rhetorik, Logik, Ethik und Musik. 39 Die Absolventen des Kollegs waren meist schon um die zwanzig Jahre alt, wenn sie zum Universitätsbesuch aufbrachen. Adolph Zobel (1657-1678), der Urenkel eines der Stifter wechselte mit 15 Jahren vom Gymnasium auf das Kolleg und mit 19 auf die Universität nach Jena. 40 Daniel Welser (1630-1692) war bereits 21, als er sich in Altdorf immatrikulierte, Johannes Weidner (1671-1735), der spätere Pfarrer der evangelischen Kirche St. Ulrich, begann sein Studium 1691 in Jena. 41 35 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 322. 36 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 449. 37 K ARL K ÖBERLIN , Geschichte des humanistischen Gymnasiums bei St. Anna 1531-1931, Augsburg 1931, S. 80-82; R OLF K IESSLING , Humanistische Gelehrtenwelt oder politisches Instrument? Das Gymnasium St. Anna und die Bildungslandschaft Schwaben im Zeitalter der Konfessionalisierung, in: K ARL -A UGUST K EIL (Hg.), Das Gymnasium bei St. Anna in Augsburg. 475 Jahre von 1531-2006, Augsburg 2006, S. 11-29. 38 D ANIEL E BERHARDT B EYSCHLAG , Kurze Nachrichten von dem Gymnasium zu St. Anna in Augsburg, nebst einem Verzeichniß gesammter ordentlicher und besonders aufgestellter Lehrer desselben, vom Jahre 1531 bis zum Jahre 1831, Augsburg 1831, S. 14f. 39 Zur Gründung und zu den Unterrichtsfächern C HRISTINA D ALHEDE , Augsburg und Schweden in der Frühen Neuzeit, St. Katharinen 1998, Bd. 1, S. 102-109. 40 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 527. 41 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 506 (Weidner), 516 (Welser); nach Bergs Untersuchungen stieg das Alter der Studienanfänger von 17,99 Jahren um 1600 auf 18,98 Jahre um 1700, R. B ERG , Leichenpredigten und Bildungsverhalten (Anm. 17), S. 144. <?page no="143"?> B AR BAR A R A JKAY 142 2. Von ›Nestflüchtern‹ zu ›Nesthockern‹ Die schrittweise Verlängerung der Schulzeit im Laufe des 16. Jahrhunderts verschob besonders für viele Söhne aus dem Patriziat und der Kaufmannschaft die Zeit des Abschieds vom Elternhaus um etliche Jahre. Spätestens im 18. Jahrhundert schickten vor allem die alten patrizischen Familien ihre Söhne fast nur noch auf die Universität und überließen das Geschäft den neuen Kaufmanns- und Bankiersdynastien, wie den Gullmann, Liebert, Rauner oder Halder. Der Rückzug aus dem aktiven Handel hatte sehr viel mit der Ausbildungsfrage zu tun. 42 Das Patriziat mußte seit der radikalen Verfassungsänderung durch Kaiser Karl V. 1548 alle zentralen Positionen im Magistrat lebenslänglich besetzen. 43 Für die zunehmend komplexeren Aufgaben in Politik und Verwaltung konnte man die Söhne am besten durch ein Universitätsstudium mit dem Schwerpunkt Rechtswissenschaft vorbereiten. Bei Antritt ihres Studiums waren die meisten zwischen 17 und 20 Jahre alt. Paul von Stetten d. J. (1731-1808) zwang 1792 seinen Sohn sogar, die letzte Klasse in St. Anna ein halbes Jahr länger zu besuchen, weil er ihn erst mit Erreichen des 18. Lebensjahrs auf die Universität nach Göttingen lassen wollte. 44 Der allmähliche Wandel vom ›Nestflüchter‹ zum ›Nesthocker‹ bot den Vorteil, daß man sich im Schoße der Kernfamilie behütet vom Kind zum jungen Mann entwickeln konnte. Zur Bewältigung der zukünftigen Aufgaben bedurfte es genauer Kenntnisse der Institutionen und Verwaltungspraktiken von Stadt und Reich. Durch den Vater, der seine Arbeit für die städtischen Ämter in aller Regel am häuslichen Schreibtisch erledigte, gewannen die Söhne tagtäglich Einblicke in ihre zukünftige 42 Dieser Rückzug war durchaus auch reversibel und im 17. Jahrhundert noch keineswegs durchgehend zu beobachten; M ARK H ÄBERLEIN , Sozialer Wandel in den Augsburger Führungsschichten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, in: G. S CHULZ (Hg.), Sozialer Aufstieg (Anm. 28), S. 73-96; zum allmählichen Rückzug der Welser seit der Mitte des 16. Jahrhunderts, M ARK H ÄBERLEIN , Die Augsburger Welser und ihr Umfeld zwischen Karolinischer Regimentsreform und Dreißigjährigem Krieg: Ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital, in: D ERS ./ J OHANNES B URKHARDT (Hg.), Die Welser. Neue Forschungen zur Geschichte und Kultur des oberdeutschen Handelshauses (Colloquia Augustana 16), Berlin 2002, S. 382-406. 43 Zur Aufhebung der Zunftverfassung und dem neu errichteten Patrizierregiment vgl. K ATARINA S IEH -B URENS , Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518-1618 (Schriften der philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 29), München 1986, S. 29-38. 44 C HRISTOPH D AVID VON S TETTEN , Selbstbiographische Skizze, Hausarchiv derer von Stetten in Aystetten, Nr. 42 (Manuskript ohne Seitenzählung, die Passage zur verlängerten Schulzeit findet sich im Jahr 1792). <?page no="144"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 143 Arbeitswelt. 45 Für die Vermittlung der Fremdsprachen fanden sich ausreichend Privatlehrer und Lehrbücher vor Ort. 46 Auch das Gymnasium bot schon früh entsprechende Möglichkeiten. Der spätere Pfarrer der evangelischen Heilig-Kreuz- Gemeinde, Gustav Adolph Jung (1632-1689), der eigentlich vom Vater für eine kaufmännische Ausbildung bestimmt war, lernte daher laut Zapf schon auf dem Gymnasium Italienisch. 47 Neben den angehenden Berufspolitikern aus dem Patriziat drückten auch die Söhne der Kaufleute zunächst die Schulbank bei St. Anna. Einige durchliefen dabei alle Klassen, so etwa Johann Balthasar Gullmann (1666- 1732) oder der Buchhändler Gottlieb Göbel (1642-1684). 48 Diejenigen, die schon nach vier Klassen das Gymnasium verließen, folgten weiterhin dem alten Zeitmuster, was den Beginn der Handelslehre betraf: Christian Thurm (1650-1691) kehrte schon mit 13 Jahren 1663 nach der vierten Klasse der Schule den Rücken. Anschließend begleitete er drei Jahre seinen gleichnamigen Vater bei Messebesuchen, bevor er zur weiteren Ausbildung 1666 nach Italien und 1671 nach Frankreich geschickt wurde. 49 Christoph von Rad (1676-1730) war bereits 17, als er in Begleitung seiner Eltern nach Venedig aufbrach, um dort bei seinem Onkel in die Lehre zu gehen. 50 Jakob Gabriel Laire (1714-1744) lernte nur bei seinem Vater und setzte das Reisen an das Ende seiner Ausbildungsphase. 51 Gerade die Jugendjahre der erfolgreichen Firmengründer, die keine zahlungskräftige Familie im Rücken hatten, zeigen, daß man sich auch in den schwäbischen Handelshäusern das nötige Wissen aneignen konnte. Zur Vertiefung des Rechungswesens stand genügend Fachliteratur bereit. 52 Johann Thomas von Rauner (1659-1735) - sein 45 Für die Arbeit außerhalb der Diensträume im häuslichen Umfeld spricht auch die Akteneinforderung seitens des Rats bei Amtsverzicht bzw. Tod eines Amtsinhabers; z. B. StadtA Augsburg Geheimer Rat, Diarien 40 (1797/ 98), S. 133. 46 P AUL VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie. Die Lebensbeschreibung des Patriziers und Stadtpflegers der Reichsstadt Augsburg (1731-1808), Bd. 1: Die Aufzeichnungen zu den Jahren 1731 bis 1792, bearb. von B ARBARA R AJKAY / R UTH VON S TETTEN , hg. von H ELMUT G IER (Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayerisch-Schwaben 5.1), Augsburg 2009, S. 11; B ARBARA K ALTZ , Wie lernte man in der Frühen Neuzeit Französisch in Augsburg und Nürnberg, in: M. H ÄBERLEIN / C HR . K UHN , Fremde Sprachen (Anm. 22), S. 121- 133. 47 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 318. 48 Die Biographien von Gullmann bei G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 276, 266 (Göbel). 49 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 488. 50 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 375f. 51 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 335. 52 M ARK H ÄBERLEIN , Aneignung, Organisation und Umsetzung von Kaufmannswissen in Süddeutschland im 16. und 17. Jahrhundert, in: M ICHAEL N ORTH (Hg.), Kultureller Aus- <?page no="145"?> B AR BAR A R A JKAY 144 Vater war Rektor des Anna-Kollegs - begann mit 13 Jahren eine Handelslehre in Augsburg und begab sich erst mit 17 Jahren auf eine Frankreichreise; 1686 gründete er eine eigene Wechselhandlung, 1699 gelang ihm der Aufstieg ins Patriziat. 53 Dank seines großen wirtschaftlichen Erfolgs konnte er es sich leisten, seinen gleichnamigen Sohn (1689-1728) mit 16 zur Lehre nach Amsterdam und weiter zum Spracherwerb nach England zu schicken. 54 Der große Bankier und Mäzen Joseph von Halder (1701-1757) aus Lindau trat 1716 in Augsburg eine Lehre beim Handelshaus ›Rad & Hößlin‹ an und blieb dort anschließend als Handlungsdiener; mit 25 Jahren machte er sich selbständig und stieg als Gesellschafter bei seinem Cousin Johann Conrad Caspar ein. 55 3. Die Jugend in der Fremde Friedrich Endorfer d. Ä. (um 1566-1628) gehörte zu denjenigen Augsburger Patriziern, die sich mehr und mehr aus dem Handel zurückzogen und stattdessen ganz der städtischen Ämterlaufbahn verschrieben. Trotzdem sollten seine Söhne eine umfassende kaufmännische Ausbildung absolvieren. Der ältere Sohn Friedrich (1604-1668) wurde nach dem Gymnasium 1620 nach Lucca geschickt, verwandtschaftliche Beziehungen hatten die Wahl des Ausbildungsortes bestimmt. Aus dem erhaltenen Briefwechsel mit seinem Vater geht hervor, daß nicht nur der Lehrherr bezahlt werden mußte, sondern auch Geld für einen Sprachmeister, einen Schreibmeister sowie für Lautenunterricht ausgegeben wurde. Außerdem unterbrachen mehrere Reisen innerhalb Italiens das Lehrlingsdasein des jungen Endorfer. Dabei standen vor allem touristische Attraktionen wie die Besichtigung der Kunstkammer tausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln 2009, S. 273-288, hier 278-280. 53 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 380-382. Zu den Raunern siehe auch A NTON M AYR , Die großen Augsburger Vermögen in der Zeit von 1618 bis 1717 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 4), Augsburg 1931, S. 68-75. 54 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 379f. 55 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 282-284. Ähnliche Beispiele für die schwäbische Ausbildungsvariante wären auch die beiden gebürtigen Lindauer Christian Hößlin (1700-1760), der zunächst sieben Jahre in Ulm lernte und 1732 bei ›Caspar & Halder‹ einstieg, oder Johannes Köpf (1669-1722), der in Augsburg bei ›Greif & Stenglin‹ in die Lehre ging; G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek, S. 300 (Hößlin), 327f. (Köpf). Das Handelshaus ›Rad & Hößlin‹ war 1690 vom Goldschmied und Silberhändler Christoph Rad und dessen Schwiegersohn Bartholomäus Hößlin gegründet worden. Sie belieferten zahlreiche Höfe und waren auch im Wechselhandel tätig; W OLFGANG Z ORN , Handels- und Industriegeschichte Bayerisch-Schwabens 1648-1870 (Studien zur Geschichte des bayerischen Schwabens 6), Augsburg 1961, S. 25-36. <?page no="146"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 145 in Neapel oder San Lorenzo und der Dom in Florenz auf dem Programm. Kavalierstouren und Lernphasen wechselten sich ab und am Ende kostete dem Vater die erste dreijährige Ausbildungsphase 2.250 fl. 56 Der junge Endorfer lebte in Lucca zwar im Haus eines italienischen Kaufmanns, doch sein Freundeskreis bestand aus vielen oberdeutschen Kaufmannssöhnen, die in der Stadt untereinander intensive Kontakte pflegten. Der zweite Auslandsaufenthalt nach einem kurzen Zwischenstopp in Augsburg im Sommer 1623 führte Friedrich Endorfer nach Lyon. 57 Offenbar war geplant, daß er sich nach der Ausbildung verstärkt dem Seidenhandel widmen sollte. Diesmal blieb er fast vier Jahre im Hause des Daniel Herwart (1574-1630), eines Augsburger Kaufmanns, der um die Jahrhundertwende dorthin ausgewandert war. Auch in Lyon gab es genügend oberdeutsche Kaufmannssöhne, mit denen man die Freizeit verbringen konnte. 58 Zudem leistete ihm in den letzten beiden Jahren sein jüngerer Bruder Hans (1610-1661) Gesellschaft. Die Jugendlichen gingen zwar lange in die Fremde, aber nur bedingt unter die Fremden. Während Friedrich Endorfer den italienischen Kulturtourismus in seine Lehrjahre in Lucca einflocht, nützte der Kaufmann Matthäus Miller (1625-1685) die Heimreise von Florenz zu einem eigenmächtigen und ausführlichen Umweg durch die Toskana. Er besuchte die Städte Pistoia, Pisa, Lucca, Livorno und Siena, um nach der lustigen spazier reiß über Venedig und Verona nach Augsburg zurückzukehren. 59 Auf der Frankfurter Herbstmesse 1641 wurde er dann zur weiteren Ausbildung an einen Nürnberger Kaufmann vermittelt. 60 Der überzeugte Protestant Miller hatte offenbar keine Probleme, in Italien zu leben, und berichtet davon, daß er in Venedig im teütschen hauss bei einem evangelischen Prediger comuniciert habe. 61 56 M ARK H ÄBERLEIN / H ANS -J ÖRG K ÜNAST / I RMGARD S CHWANKE , Die Korrespondenz der Augsburger Patrizierfamilie Endorfer 1620-1627 (Documenta Augustana 21), Augsburg 2010, S. 9-62; I RMGARD S CHWANKE , Briefe aus Lucca und Lyon nach Augsburg. Kaufmannsausbildung und Kulturtransfer im 17. Jahrhundert, in: D OROTHEA N OLDE / C LAUDIA O PITZ (Hg.), Grenzüberschreitende Familienbeziehungen. Akteure und Medien des Kulturtransfers in der Frühen Neuzeit, Köln 2008, S. 253-271. 57 Zur Bedeutung Lyons für die schwäbischen Kaufleute vgl. T HOMAS N ICKLAS , Bücher, Handel, Krieg. Die Stadt Lyon als Forum europäischer Kontakte im 16. Jahrhundert, in: ZHVS 100 (2008), S. 367-378. 58 M. H ÄBERLEIN / H.-J. K ÜNAST / I. S CHWANKE , Korrespondenz (Anm. 56), S. 49. 59 T HOMAS M AX S AFLEY (Hg.), Die Aufzeichnungen des Matheus Miller. Das Leben eines Augsburger Kaufmanns im 17. Jahrhundert (Reiseberichte und Selbstzeugnisse aus Bayerisch-Schwaben 4), Augsburg 2003, S. 54. 60 T H . M. S AFLEY , Miller (Anm. 59), S. 54 f. 61 T H . M. S AFLEY , Miller (Anm. 59), S. 53; zur protestantischen Gemeinde im Fondaco dei Tedeschi vgl. S TEPHAN O SWALD , Die deutsche protestantische Gemeinde in der Republik Venedig, in: U WE I SRAEL / M ICHAEL M ATHEUS (Hg.), Protestanten zwischen Venedig und <?page no="147"?> B AR BAR A R A JKAY 146 Das Muster der mehrteiligen Ausbildung fern der Heimat findet sich nicht nur bei den angehenden Kaufleuten, sondern auch bei den zukünftigen Politikern und Juristen. Der Besuch von mindestens zwei Universitäten war üblich. 62 Allerdings spielte bei der Auswahl des Studienorts die konfessionelle Landkarte die entscheidende Rolle. Im 17. Jahrhundert zählte Straßburg zu den Favoriten, im 18. Jahrhundert vor allem Jena, Halle und Tübingen, in der zweiten Jahrhunderthälfte Göttingen und Leipzig. Der Geheime Rat Johann Adolph Amman (1692-1750) begann mit 19 Jahren in Jena, wechselte dann weiter mit seinem Lehrer, dem von Leibnitz protegierten Juristen Johann Paul Kreß, nach Helmstedt, um zuletzt in Halle zu studieren. Nach einer ausgiebigen Kavalierstour durch Deutschland beschloß er 1716 seine Jugendphase. 63 Der Stadtpfleger Paulus von Stetten (1653- 1729) studierte in Straßburg und Basel, sein Amtsnachfolger Johann Jakob Sulzer (1685-1751) in Jena und Halle und Paul von Stetten d. J. (1731-1808) in Genf und Altdorf. 64 Die Bildungsreise entwickelte sich immer mehr zum letzten Kapitel der Jugendphase, 65 das man gerne mit dem Erlebnis einer Krönung oder dem Besuch anderer dynastischer Großereignisse abschloß. Dafür wurden Reiserouten geändert und Reisezeiten entsprechend verlängert oder verkürzt. Der spätere Pfarrer von evangelischen St. Ulrich, Georg Laub, wohnte der Krönung Christina von Schwedens 1650 in Stockholm bei, Philipp Jakob Crophius (1666-1742), Balthasar Schnurbein (1673- 1729) und Christoph Raimund Schifflin (1669-1716) kehrten vorzeitig zurück, um die Wahl und Königskrönung Josephs I. (1678-1711) zum Jahreswechsel 1689/ 90 in Augsburg mitzuerleben. 66 Martin Hieronymus Langenmantel (1683-1739) reiste 1712 zusammen mit Christoph von Rad zu den ungarischen Krönungsfeierlichkeiten von Karl VI. (1685-1740) nach Preßburg. 67 Die häufigen Erwähnungen in den Rom in der Frühen Neuzeit (Schriftenreihe des deutschen Studienzentrums in Venedig NF VIII), Berlin 2013, S. 113-127. 62 Der Besuch mehrerer Universitäten wurde auch in den Studienführern empfohlen: M ARIAN F ÜSSEL , Grenzen erfahren. Räumliche Mobilität in Selbstzeugnissen protestantischer Studenten des 18. Jahrhunderts, in: C HRISTIAN H ESSE / T INA M AURER (Hg.), Von Bologna zu ›Bologna‹. Akademische Mobilität und ihre Grenzen Basel 2011, S. 47-67, hier 51. 63 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 211. 64 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 468f.; S. 478 f.; P. VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie (Anm. 46), S. 12-17. 65 M ATHIS L EIBETSEDER , Die Kavalierstour. Adlige Erziehungsreisen im 17. und 18. Jahrhundert (Bh. zum Archiv für Kulturgeschichte 56), Köln 2004, S. 205. 66 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 342 (Laub), 242 (Crophius), 403 (Schifflin), 416 (Schnurbein). 67 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 339; und M. B EER , Migration (Anm. 21), S. 385. <?page no="148"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 147 Leichenpredigten belegen den enormen Stellenwert der »Kultur der Präsenz« auch im Bewußtsein der Augenzeugen. 68 Hinsichtlich der Reisedauer zeigt sich allerdings zwischen den Akteuren auf den politischen Bühnen und ihren jugendlichen Zuschauern kein Unterschied. Die von Eva Bender analysierten Prinzenreisen im ausgehenden 17. Jahrhundert unterscheiden sich hinsichtlich der Länge und der Reiseziele nicht grundsätzlich von den Augsburger Beispielen. 69 4. Zeitpunkte des Abschieds und Wiedersehens Geburts-, Heirats- und Sterbedaten gelten als die zentralen Koordinaten des Lebenslaufs. 70 In den Augsburger Leichenpredigten stößt man häufig auch auf genaue Angaben zum Zeitpunkt der Abreise bzw. der Rückkehr im Kontext des Universitätsbesuchs, der Lehre oder der Kavalierstour. Demnach bezog der Patrizier Johann Ferdinand Herwart (1674-1716) am 1. Mai 1693 die Universität Altdorf; der spätere Rat und Bauherr Johannes von Stetten (1694-1773) begann sein Studium in Halle am 13. April 1713 und kehrte am 13. Januar 1719 wieder nach Augsburg zurück. 71 Weitere Reisen werden mitunter erwähnt, hatten aber offenbar in der Bilanz des Lebens keinen so hohen Stellenwert. 72 All diese exakten Zeitangaben dürften aus den biographischen Aufzeichnungen der Betroffenen selbst stammen und sollten nicht zuletzt dem Verfasser der Leichenpredigt zur Erstellung des 68 B ARBARA S TOLLBERG -R ILINGER , Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, S. 299; H ARRIET R UDOLPH , Die Herrschererhebung als Fest. Krönungsfeste im Vergleich, in: M ICHAEL M AURER (Hg.), Festkulturen im Vergleich. Inszenierung des Religiösen und Politischen, Köln 2010, S. 13-42, hier 20f. 69 E VA B ENDER , Die Prinzenreise. Bildungsaufenthalt und Kavalierstour im höfischen Kontext gegen Ende des 17. Jahrhunderts (Schriften zur Residenzkultur 6), Berlin 2011, S. 83-86. 70 Eine ausführliche Darlegung des Lebenslaufs liefert J OSEF E HMER , [Art.] Lebenlauf, in: F. J ÄGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 7 (Anm. 13), Sp. 677-699. 71 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 294 (Herwart), 465 (Stetten). Zur Kultur des Abschieds auch M. F ÜSSEL , Räumliche Mobilität (Anm. 62) S. 52. 72 Die Reisen des Diplomaten Gottfried von Schnurbein (1700-1749) an die Höfe in Dresden und München sind z. B. nur summarisch aufgelistet, während die Rückkehr von seiner Reise nach dem Studium (24.5.1721) genau angegeben ist; G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 418-420; eine ausführliche Biographie schrieb W OLFGANG Z ORN , Gottfried Frhr. von Schnurbein, in: D ERS . (Hg.), Lebensbilder aus dem Bayerischen Schwaben 10, Weißenhorn 1973, S. 177-190. Auch die Geschäftsreisen des Kaufmanns Christoph von Rad (1676-1730) werden nur allgemein erwähnt; G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek, S. 376. <?page no="149"?> B AR BAR A R A JKAY 148 Lebenslaufs dienen. 73 Sie unterstreichen den Charakter der Zäsur, des Stufenwechsels, den man den Erfahrungen seiner Jugendzeit in der Fremde im eigenen Leben zuwies. Der Abschied von Elternhaus, Freunden und Verwandten war nicht nur den direkt Betroffenen bekannt. So notierte unter dem Datum des 5. August 1700 der damals fünfzehnjährige Wolfgang Jakob Sulzer (1685-1751) in sein Tagebuch: Ist Martin Hieronymus Langenmantel von hier nach Jena, aldorten noch ferner seine Studiis abzuwarten, verreist. 74 Langenmantel und Sulzer verband keine engere verwandtschaftliche Beziehung, ihr gemeinsamer Nenner war das Gymnasium bei St. Anna und die Zugehörigkeit zum Patriziat. 75 Der Eintrag über Langenmantels Aufbruch ist kein Einzelfall, Sulzer war über die Reisetätigkeit seiner Mitbürger offenbar bestens informiert. Während für die Bildungsreisen der Söhne aus wohlhabenden Familien der Zeitrahmen meist großzügig bemessen war, endete nach der Rückkehr die Jugendphase sehr schnell. Marx Christoph Welser (1663-1731) startete seine Kavalierstour direkt im Anschluß an die Studentenzeit in Tübingen am 10. Juni 1684. Sie führte ihn nach Holland, England, die spanischen Niederlande und schließlich nach Paris; Lyon und Genf bildeten die letzten größeren Stationen. Am 14. Juni 1685 erreichte er Augsburg, bereits am 23. Juli stand er vor dem Traualtar. 76 Beim Kaufmann Raimund Egger (1639-1696) liest sich das Ende seiner Italienreise so: Endlich berief ihn sein Vater nach Haus zurück, wo er ihn an Catharina, Georg Zollers, von Memmingen, Tochter, den 24. April 1662. verheurathete, und 5 Kinder von ihr erhielt. 77 Mit der allmählichen Verlängerung und Institutionalisierung der schulischen Ausbildung wuchs die Verweildauer der Söhne der Augsburger Funktionseliten in ihrer Herkunftsfamilie. Im 18. Jahrhundert fand ihre Sozialisation schließlich überwiegend im Elternhaus statt. Eine von Vater und Mutter behütete Kindheit und Jugend bedeutete dabei auch eine sukzessive Verteuerung der Ausbildung. Die Aneignung profunder Kenntnisse und die Entwicklung der Persönlichkeit dürften 73 So etwa bei Paul von Stetten d. J., als er über den Tod des Vaters berichtet: Wir fanden gleich nach dem Tode eine von ihm selbst verfaßte Lebens Beschreibung, darauß Herr Senior Degmair zu den Personalien den Stoff genommen; P. VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie (Anm. 46), S. 218. 74 SuStBA 4° Cod Aug 87, Diarium Wolfgang Jacob Sulzer: Eintrag vom 5.8.1700. Sulzers Eintrag deckt sich mit den entsprechenden Angaben in Langenmantels Leichenpredigt, wonach dieser im August 1701 nach Jena aufbrach; G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 339. 75 Zu Sulzer vgl. R EGINA K ÖHLER , Wolfgang Jakob Sulzer der Jüngere (1685-1751). Erlebnis- und Erfahrungsräume eines evangelischen Patriziers aus Augsburg, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Neue Forschungen zur Geschichte der Stadt Augsburg (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 12), Augsburg 2011, S. 121-163; zu Langenmantel G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 338-340. 76 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 518. 77 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 248. <?page no="150"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 149 nicht das einzige Motiv für den Bildungsmarathon gewesen sein. Der zeitliche Umfang und die Wahl der Aufenthaltsorte signalisierten die Stellung, die die Eltern für ihre Kinder in der Gesellschaft beanspruchten. Mehrjährige Reisen durch halb Europa lohnten sich auf jeden Fall für die jungen Männer. 78 Ob sie sich auch rechneten, ist eine andere Frage. Die ganz großen Aufsteiger aus dem späten 17. und 18. Jahrhundert wie Josef von Halder, Johann Balthasar Gullmann, Johann Thomas von Rauner oder Johann Adam Liebert von Liebenhofen absolvierten ihre Ausbildung in der Region und lernten erst als bezahlte Handlungsbediente auf Geschäftsreisen die Welt jenseits von Süddeutschland kennen. Die eingeschränkte räumliche Mobilität in der Jugendphase scheint bei ihrem Aufstieg an die Spitze der Wirtschaftselite kein Hindernis gewesen zu sein. Auf der anderen Seite konnte sich das Augsburger Patriziat, das seit dem 17. Jahrhundert seinen Lebensunterhalt zunehmend von den Gehältern aus der Stadtkasse bestritt, eine standesgemäße Ausbildung mehrerer Söhne kaum mehr leisten. Der Steuerherr Friedrich Endorfer unterschlug in seiner Not Steuergelder im großen Umfang, damit er den Aufenthalt seiner Söhne in Lucca und Lyon überhaupt ermöglichen konnte. Er starb 1628 in den Eisen! 79 Für den Platz der nachfolgenden Generation an der Sonne brauchte es in jedem Fall sehr viel Finanzkapital. Was lag da näher als eine lebenslängliche Verbindung mit den Neureichen. Die jungen Männer von Welt heirateten daher mit Vorliebe die Töchter der daheim zu Reichtum gelangten Väter. 80 78 Johannes von Stetten (1658-1738) zog nach dem Studium in Jena elf Jahre durch Europa, längere Aufenthalte absolvierte er in Leiden, London, Rom und Paris; G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 459-462; P. VON S TETTEN d. J., Neues Ehrenbuch (Anm. 27), fol. 75v, 76r. 79 M. H ÄBERLEIN / H.-J. K ÜNAST / I. S CHWANKE , Korrespondenz (Anm. 56), S. 9-12. Beim landsässigen Adel halfen mitunter Sondersteuern, um die Finanzierungslücken bei der Kavalierstour zu stopfen; M. L EIBETSEDER , Kavalierstour (Anm. 65), S. 55. 80 Eine Tochter von Johann Thomas von Rauner, Maria Magdalena (1690-1733), heiratete z. B. den bereits genannten Martin Hieronymus Langenmantel; Paul von Stetten d. Ä. (1705-1786) die Tochter des Kammer- und Hofjuweliers Maria Cordula von Rad (1708- 1774); Johann Nikolaus von Garb freite eine Tochter von Benedikt Adam Liebert von Liebenhofen; A LBERT H AEMMERLE , Die Hochzeitsbücher der Augsburger Bürgerstube und Kaufleutestube bis zum Ende der Reichsfreiheit, Privatdruck München 1936, S. 265, Nr. 3637, S. 280, Nr. 3860, S. 203, Nr. 4088. Ein Beispiel für diese Partnerwahl aus dem 16. Jahrhundert schildert M. H ÄBERLEIN , Sozialer Wandel (Anm. 42), S. 95. <?page no="151"?> B AR BAR A R A JKAY 150 5. Die Zeiten des Rückzugs An der Grenzziehung für das Alter um das 60. Lebensjahr hatte sich seit der griechisch-römischen Antike nichts geändert. 81 Zur Altersgruppe der über 60jährigen zählten in der Frühen Neuzeit nur zwischen acht bis elf Prozent der Gesamtbevölkerung. 82 Dennoch finden sich in den Augsburger Biographien genügend Beispiele, die zeigen, daß den Herausforderungen am Lebensabend mit höchst individuellen Lösungen begegnet wurde. Bei den Kaufleuten beförderten vor allem die Anstrengungen des Reisens den Wunsch nach Rückzug. Christoph Georg Mair (1591-1671), der viele Jahre auf den Messen in Bozen und Leipzig präsent gewesen war, übergab mit 73 Jahren die Handlung an seine Söhne, weil er im Alter nicht mehr reisen wollte. 83 Johann Balthasar Gullmann d. Ä. (1637-1714) schied bereits mit 68 Jahren 1705 aus der Handlung aus. 84 Noch jünger war der Bankier Christian von Münch (1690-1758), der schon mit 59 Jahren seinen Platz in der Wechselhandlung zugunsten der beiden Söhne räumte. 85 Ein ganz anderes Bild vermitteln die Biographien von Stadträten. Prinzipiell wurden die Ratsämter lebenslänglich vergeben. Dies gilt auch für alle anderen aus der Stadtkasse bezahlten Funktionsträger. In den Leichenpredigten finden sich aus dieser Gruppe vor allem Ratskonsulenten und Pfarrer. Die Mitglieder der beiden Ratsgremien, Geheimer Rat und Innerer Rat, nutzten in der Regel die Wochen vor den jährlichen Ratswahlen Anfang August, um ihr Ausscheiden bekannt zu machen. 86 Paul von Stetten d. Ä. (1705-1786) resignierte im Juli 1785 nach 46 Jahren Mitgliedschaft im Rat. Er verfaßte in den folgenden Monaten eine Selbstbiographie, die für die Leichenpredigt verwendet werden sollte. Die letzten Zeilen des überzeugten Aufklärers lauten: Da ich dieses schreibe, sehe ich mich dem Schluß des 80ten Jahres meines Alters, ich sehe also meinem Tod nach der Ordnung der Natur entgegen. Er starb am 9. Februar 1786, nachdem den ganzen Winter hindurch die Altersschwachheit 81 Zur Altersgrenze von 60 Jahren siehe J OSEF E HMER , Altersstrukturen im historischen Wandel. Demographische Trends und gesellschaftliche Bewertung, in: B. R ÖDER / W. DE J ONG / K. W. A LT (Hg.), Alter(n) anders Denken (Anm. 21), S. 403-436, hier 404. 82 J. E HMER , Altersstrukturen (Anm. 81), S. 413. 83 G EORG P HILIPP R ISS , Leichenpredigt für Georg Christoph Mair, Augsburg 1671 [SuStBA 4° Aug 821-182], S. 52. 84 Gullmann übergab die Handlung an seine beiden ältesten Söhne; G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 274. 85 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 366. 86 P AUL VON S TETTEN , Beschreibung der Reichs-Stadt Augsburg nach ihrer Lage, jetzigen Verfassung, Handlung und den zu solchen gehörenden Künsten und Gewerben auch ihrer andern Merkwürdigkeiten, nebst beygefügtem Grundriss, Augsburg 1788, S. 46. <?page no="152"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 151 zugenommen hatte, wie sein Sohn beklagte. 87 Weitere Beispiele für die kurze Phase zwischen Rückzug und Tod liefert die Biographie des Kaufmanns und Inneren Rats Isaac Hosenestel (1599-1679), der ebenfalls ein halbes Jahr vor seinem Tod wegen seines hohen Alters alle Ämter abgab. 88 Der Stadtpfleger David von Stetten (1595-1675) bat im Juli 1675 um seine Entlassung: Nach der Niederlegung seiner Würden lebte er nicht lange mehr. Die Entkräftungen nahmen zu und er starb mehr aus Alter als durch eine Krankheit den 17. November 1675. 89 Nicht das biologische Alter oder die Anzahl der Amtsjahre, sondern allein die körperlichen und geistigen Fähigkeiten bestimmten den Zeitpunkt des Rückzugs aus dem Erwerbsleben. Der Stadtpfleger Paul von Stetten (1643-1729) gab mit 83 Jahren 1726 das höchste Amt in der Stadt ab. Er blickte dabei auf eine 54jährige Mitgliedschaft im Rat. 90 Der 1688 in Memmingen geborene Martin Stählin begründete 1770 nach 31 Jahren Mitgliedschaft im Inneren Rat und 16 Jahren Tätigkeit als Bürgermeister seinen Rückzug mit den Worten: Da aber nunmehro meine Lebens Jahre sich bis in die 82 erstrecken, da mich die Last des Alters mehrmalen drücket und ich deßen Gebrechen eine Zeit vor der andern merklich empfinde, indem die Lebensgeister nach und nach beginnen schwächer zu werden. 91 Nur acht von 38 Stadtpflegern, deren Amtszeit nicht aus politischen Ursachen beendet wurde, resignierten aus Gesundheits- oder Altersgründen. Auch das Alter bei Beginn der Amtszeit stieg nach der Verfassungsänderung 1548 kontinuierlich an. Zwischen 1548 und 1600 lag der Durchschnitt bei 49,7; in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts waren die Stadtpfleger bei Amtsantritt im Schnitt 53,8 Jahre alt, und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kletterte der Altersdurchschnitt weiter auf 61 Jahre. Das Regiment der Greise war auch die logische Konsequenz der verlängerten Ausbildungsphase in Kindheit und Jugend. Schuld an dieser Entwicklung dürfte außerdem die Vorstellung vom Alter als Ordnungsprinzip gewesen sein. Beim Erklimmen der Karriereleiter ließ man dem älteren Kollegen im Rat den Vortritt. Nur wenn dieser sich nicht zur Wahl stellte, konnte ein Jüngerer zum Zug kommen. 92 87 P. VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie (Anm. 46), S. 218 Anm. 2 (Zitat), 185-187 (Rückzug). 88 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 308. 89 P. VON S TETTEN d. J., Neues Ehrenbuch (Anm. 27), fol. 55v, 56r. 90 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 470. 91 StadtA Augsburg, Reichsstadt, Innerer Rat, Großer Rat, Ratswahlen 29/ 1: Resignationes und Rudedonationes der Senatoren […]. 92 Paul von Stetten (1705-1786) verzichtete z. B. 1774 mit 69 Jahren darauf, das Amt des Stadtpflegers zu übernehmen; P. VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie (Anm. 46), S. 186. Zur Gerontokratie in oligarchisch-republikanischen Systemen H ANS -J OACHIM VON K OND - RATOWITZ , [Art.] Gerontokratie, in: F. J ÄGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4 (Anm. 16), Sp. 559-561. <?page no="153"?> B AR BAR A R A JKAY 152 Amtsmüde Stelleninhaber, die auf ihr Gehalt angewiesen waren, versuchten den Zeitpunkt ihres Ausscheidens möglichst lange hinauszögern. Seit 1759 regelte ein neues Dekret den Personalwechsel in den Ämtern. Demnach mußte der Nachfolger seinem Vorgänger statt wie bisher zwei Jahre künftig nur noch ein Jahr den Genuß der Einkünfte überlassen. 93 Eine häufig genutzte Möglichkeit war ein Rückzug auf Raten. Der Schönfärber Gabriel Zorn (1715-1806) gehörte seit 1781 dem Rat an. Er bat 1792 zunächst wegen hohen Alters um Entlassung aus dem Geschworenen-Amt, während er die Deputation zum Kunst- und Handwerksgericht noch bis 1800 beibehielt. 94 Die Mitglieder des Geschworenen-Amts mußten sich mit Baustreitigkeiten befassen und daher viele Ortstermine wahrnehmen. Offenbar konnte Zorn hier nicht mehr mitmachen. Für den aus Memmingen stammenden Ratskonsulenten Dr. Daniel Koch (1645-1723) wurde sogar ein Ratsdekret erlassen, das ihn mit 74 Jahren vom persönlichen Erscheinen bei den Ratssitzungen entband. Stattdessen durfte er alle Arbeiten zu Hause erledigen. 95 Auch für die Pfarrer fand man mitunter sehr individuelle Lösungen. Über den Diakon Johann Mattsperger (1514-1594) steht in seiner Biographie aus dem 18. Jahrhundert zu lesen: er wurde zuletzt Alters halben zum predigen untauglich und demnach alleine zum Vorlesen/ Kinder = Tauffen und Handlung des Heil. Abendmahls gebraucht, wie er denn Anno 1594. den 17. Februar allhier gestorben in einem Alter von 80. und im allhiesigen Predig = Amts 51. Jahren. 96 Im Alter von 80 Jahren bekam der Rektor des Gymnasiums bei St. Anna, Gottfried Hecking (1687-1773), 1767 einen sogenannten ›Adjuncten‹ zu Seite. Der 24jährige Assistent legte den Reformeifer an den Tag, den die verantwortlichen Schulherren am Alten so schmerzlich vermißten. Sechs Jahre mußte Hieronymus Andreas Mertens (1743-1799) auf dieser untergeordneten Position ausharren, bevor er nach dem Tod Heckings als Nachfolger die Schule leiten durfte. Die Kostenfrage für diesen sanften Generationenwechsel in Form einer Doppelspitze aus Jugend und Alter war nicht einheitlich geregelt. Mertens unterrichtete ja auch als Lehrer am Gymnasium und erhielt ohnehin ein Gehalt. 97 Ungeachtet dieser allgemeinen Regelung finden sich in den Diarien des Geheimen Rats auch vereinzelt Fälle, bei denen die lebenslängliche Gehaltsfortzahlung zugesichert wurde, ohne den Nachfolger zu belasten. Die Position des Amtes in der städtischen Besoldungshierarchie spielte dabei offenbar keine Rolle. Marx Conrad Friedrich Schmidt, Stadtkassierer, konnte 1794 auf Grund seiner langjährigen 93 StadtA Augsburg, Reichsstadt, Rat, Geheimer Rat, Dekrete 431, Blatt 86. 94 StadtA Augsburg, Reichsstadt, Innerer Rat, Großer Rat, Nr. 14: Vikarieren. 95 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 321. 96 J OSEPH F RIEDRICH R EIN , Das evangelische Ministerium in Bildern und Schriften von den ersten Jahren der Reformation Lutheri, bis Anno 1748, oder das JubelJahr wegen des Westphälischen Friedens, 2 Teile, Augsburg 1749, Nr. 35. 97 P. VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie (Anm. 46), S. 40f. <?page no="154"?> Z EITEN DE S A B S CHIEDS , Z EITEN DE S R ÜCKZU GS 153 und sehr geschätzten Dienste schließlich mit über 1.200 fl. Jahresgehalt den Abschied nehmen. 98 Er starb erst 1801 mit 77 Jahren. 1795 wurde der Baugewölbsknecht Isidor Haag unter Beibehaltung seines jährlichen Gehalts von 119 fl. 17 kr. zur Ruhe gesetzt. 99 Der Pfarrer von St. Georg, David Schön (1560-1633), konnte noch ein halbes Jahr bei vollem Gehalt im Ruhestand verbringen. 100 Auch für den privaten Bereich sind entsprechende Beispiele bekannt. Michael Geizkofler (1527- 1614), seit 1556 oberster Rentmeister der Fugger, bekam von seinen Dienstherren nach über 60jähriger Tätigkeit, als er wegen grossen Alters und Schwachheit der gedechtnuß nichts wichtiges mehr verrichten können, eine ahnsehnliche Pension, wie es in der Leichenpredigt heißt. 101 Die letzten 20 Jahre seines langen Lebens hatte Geizkofler als Witwer verbracht, umsorgt von seiner einzigen Tochter. Sein Seelsorger, der Pfarrer Bernhard Albrecht (1569-1637), entschloß sich mit 64 Jahren, nochmals zu heiraten, er wählte eine Witwe, um in seinem Alter eine Gehülfinn zu haben. 102 Paul von Stetten d. Ä. (1705-1786) verlor 1774 seine Ehefrau. Die beiden waren 44 Jahre verheiratet gewesen. Der Verlust traf den 69jährigen offenbar sehr, und dieses um so mehr, da er bereits dem hohen Alter sich näherte, wie es sein Sohn formulierte. 103 Der gebeugte Witwer behielt zwar seine Ratsämter, verzichtete aber darauf, wie bereits erwähnt, zum Stadtpfleger gewählt zu werden. Sein älterer Bruder, David von Stetten (1703-1774), hatte mit 62 Jahren 1766 nochmals geheiratet. Seine Braut paßte aus der Sicht des Schwiegersohns perfekt, denn sie war schon 48 Jahre alt und ein Glück für Ihn und uns, weil sie ihn mit ganz besonderer Liebe und Treue pflegte. 104 Er hatte noch das ganz große Ziel im Alter und bewarb sich zwei Jahre später erfolgreich um das Amt des Stadtpflegers. 105 Ebenfalls mit 62 Jahren verlor der Geheime Rat Johannes Koch von und zu Gailenbach (1614-1693) seine Frau. Er blieb alleinstehend, zog sich aber erst mit 77 Jahren aus seinen öffentlichen Ämtern zurück. 106 Leider finden sich keine entsprechenden Beispiele bei den Kaufleuten, viele starben vor dem 60. Lebensjahr oder überlebten ihre Ehefrauen nicht. 98 StadtA Augsburg, Geheimer Rat, Diarien 38 (1793/ 94), S. 407f., 439f., 447, 535f. 99 StadtA Augsburg, Geheimer Rat, Diarien 39 (1795/ 96), S. 16, 43f. 100 B ERNHARD A LBRECHT , Christliche Leichpredigt Bey Volckreicher Leichbegängnuß Deß weyland Ehrwürdigen, Wolgelehrten Herren M. David Schönen, alten und rudedonirten Pfarrers der Evangelischen Kirchen zu S. Georgen in Augspurg [SuStBA 4 Aug 821-297], S. 39. 101 B ERNHARD A LBRECHT , Exequiae Geizkoflerianae, Augsburg 1614 [SuStBA 4 Aug 821- 75], S. 23. 102 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 208. 103 P. VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie (Anm. 46), S. 66. 104 P. VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie (Anm. 46), S. 37. 105 P. VON S TETTEN d. J., Selbstbiographie (Anm. 46), S. 37. 106 G. W. Z APF , Augsburgische Bibliothek (Anm. 15), S. 323. <?page no="155"?> B AR BAR A R A JKAY 154 6. Resümee Wie hat sich das Rhythmisieren der Lebenszeit hinsichtlich Kindheit, Jugend und Alter bei den Angehörigen der Oberschicht in der Reichsstadt Augsburg ausgewirkt? Gründung und Ausbau von Bildungseinrichtungen vor Ort verschoben im Laufe des 16. Jahrhunderts den Zeitpunkt des Abschieds der Söhne aus ihrem familiären Umfeld um mehrere Jahre. Mit einer zweigleisigen Ausbildung versuchten viele Eltern bis zum 18. Jahrhundert, den Lebensweg der nachfolgenden Generation offen zu halten. Sie sollte dazu befähigt werden, sowohl den Beruf des Kaufmanns als auch den des Stadtpolitikers kenntnisreich auszufüllen. Am mehrfachen Ortswechsel während der Ausbildung änderte sich nichts. Bei der Auswahl der Universitäten spielte die Konfession eine Rolle, bei den Lehrherren dagegen nur die Ausrichtung der elterlichen Handlung. Die Kavalierstour bildete immer öfter den teuren Abschluß der Ausbildung. Unabhängig vom Alter der Jugendlichen bestimmte der Vater die Aufenthaltsorte und die Dauer der Abwesenheit. Mit der Rückkehr und einer zeitnahen Verlobung bzw. Hochzeit war das erste große Etappenziel im Leben schließlich erreicht. 107 Das allmähliche Verschwinden der Altersheterogenität in Kindheit und Jugend durch die Standardisierung der Ausbildung findet in den letzten Lebensabschnitten keine Entsprechung. Im Hinblick auf die Frage nach dem Lebensalter als Ordnungsprinzip beim Rückzug aus dem Erwerbsleben herrschte durchgehend vom 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eher ein großes Unordnungsprinzip. Die unterschiedliche Leistungsfähigkeit und das Fehlen einer institutionalisierten Altersversorgung waren dafür verantwortlich. Nur bei der Frage der Wiederverheiratung scheint sich mit dem Erreichen des 60. Lebensjahres ein Zeitfenster geschlossen zu haben. Greise Amtsinhaber hatten als Gehilfinnen im Alter also eher Töchter oder Mägde als Ehefrauen. 107 M. M ITTERAUER , Sozialgeschichte der Jugend (Anm. 21), S. 87. <?page no="156"?> 155 N ICOLAS D ISCH Im Gewebe der Zeiten. Ländliche Zeitvorstellungen in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Herrschaft Engelberg Das Zeitverständnis der vormodernen ländlichen Bevölkerung ist verhältnismäßig wenig erforscht. 1 Jedenfalls erlaubt der gegenwärtige Wissensstand ein ungleich differenzierteres Urteil, was die Zeitauffassung städtischer Gesellschaften betrifft. 2 Dieses Ungleichgewicht ist umso beklagenswerter, als der Anteil der ländlichen Bevölkerung in der Vormoderne bekanntlich weit überwog. Immerhin kann die überholte Auffassung, wonach ländliche Gesellschaften der Vormoderne weitgehend zeitlos gelebt hätten, inzwischen eindeutig zurückgewiesen werden. Insbesondere läßt sich Marc Blochs bekanntes Urteil über die spätmittelalterliche Gesellschaft, wonach diese von einer »weitgehenden Gleichgültigkeit der Zeit gegenüber« geprägt gewesen sei, nicht mehr unbesehen auf den ländlichen Raum der Vormoderne übertragen. Ebenso ist glaubwürdig aufgezeigt worden, daß polare bzw. lineare Deutungsmuster nicht geeignet sind, den Wandel des ländlichen Zeitverständnisses angemessen zu beschreiben. 3 Die Gegenüberstellung von natürlicher, archaischer, einfacher bzw. ungenauer Zeit auf dem Land und künstlicher, moderner, komplexer bzw. präziser Zeit in der Stadt ist zu vereinfachend und vermag den beobachtbaren historischen Wandel nicht angemessen zu beschreiben. Mit Recht ist ferner darauf hingewiesen worden, daß für die Erforschung des ländli- 1 Zum gegenwärtigen Forschungsstand vgl. P IERRE D UBUIS , Les paysans médiévaux et le temps, in: Etudes de Lettres 213 (1987), S. 3-10; J AN P ETERS , »… dahingeflossen ins Meer der Zeiten«, in: R UDOLF V IERHAUS (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 103), Göttingen 1992, S. 180-205; P IERRE D UBUIS , Le temps des paysans alpins au moyen âge, in: Traverse 4 (1997), S. 63-72; E RHARD C HVOJ - KA , Zeit der Städter, Zeit der Bauern, in: E RHARD C HVOJKA / A NDREAS S CHWARCZ / K LAUS T HIEN , Zeit und Geschichte (Veröff. des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 36), Wien-München 2002, S. 192-202; W ERNER R ÖSENER , Die Bauern und die Zeit, in: ZAA 52 (2004), S. 8-24. 2 Ein neuerer Forschungsüberblick in W ILLIBALD K ATZINGER (Hg.), Zeitbegriff - Zeitmessung und Zeitverständnis im städtischen Kontext (Beiträge zur Geschichte der Städte Mitteleuropas 17), Linz-Donau 2002. 3 Vgl. P IERRE D UBUIS / J AKOB M ESSERLI (Hg.), Zur Sozialgeschichte der Zeit (Traverse 4), Zürich 1997. <?page no="157"?> N IC OL AS D I S C H 156 chen Zeitverständnisses nicht dieselben Untersuchungsrahmen bzw. Fragestellungen gewählt werden können wie bei der Erforschung städtischer Zeitauffassung. Ein solches Vorgehen vermag die spezifischen Aspekte ländlicher Zeitordnung nicht zu erfassen und verleitet fast zwangsläufig zum Befund, der bäuerliche Umgang mit Zeit sei rückständig gewesen. Hingegen besteht ein bedauerlicher Mangel an komparatistischen Arbeiten, die nicht Städte mit Dörfern, sondern verschiedene Dörfer hinsichtlich ihrer Zeitordnungen miteinander vergleichen. 4 Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Gegenüberstellung von städtischer und ländlicher Zeit selbst Schwierigkeiten aufwirft, insofern sich dadurch wechselseitige Einflüsse schwerer beschreiben lassen. Zudem klingt in der Unterscheidung bäuerlicher und städtisch-gelehrter Zeitauffassung ein kulturelles Zweischichtenmodell an, das kaum mehr vertreten wird. 5 Wenn diese heikle Kategorisierung in den folgenden Ausführungen dennoch beibehalten wird, so vornehmlich mangels besserer Alternativen und mit dem geäußerten Vorbehalt. Die Erforschung des vormodernen ländlichen Zeitverständnisses wird überdies durch die Überlieferungslage erschwert. Bäuerliche Selbstzeugnisse sind spärlicher vorhanden, ihre Dichte und Verteilung lassen regionale Untersuchungen nur bedingt zu. Für katholische Gegenden fehlen sie in der Regel weitgehend. Einen alternativen Zugang erlauben zeitgenössische Darstellungen ländlichen Lebens, die von Angehörigen der Bildungsschicht verfaßt worden sind, etwa in Form von Reiseberichten oder Verwaltungsakten: Quellen dieser Art sind jedoch oft von starker Voreingenommenheit geprägt und lassen eher Rückschlüsse auf die Wahrnehmungsweise ihrer Verfasser denn auf die beschriebene Wirklichkeit zu. 6 Ein dritter Ansatz führt über strukturgeschichtliche Untersuchungen, bei denen gewöhnlich eine Vielzahl örtlich und zeitlich auseinanderliegender Quellen verschiedenster Art zusammengeführt wird. 7 Der Versuch jedoch, die Zeitauffassung d e s vormodernen Bauern bzw. d e s vormodernen Dorfes zu rekonstruieren, ist methodisch 4 Vgl. M AURICE H ALBWACHS , La mémoire collective, Paris 1997 [1950], S. 178-180; P. D U - BUIS , Les paysans médiévaux (Anm. 1), S. 4-5; D ERS ., Le temps des paysans (Anm. 1), S. 63-67. 5 Die Dichotomie von Stadt- und Landzeit problematisieren u. a. E. C HVOJKA , Zeit der Städter (Anm. 1), S. 195-201, und A CHIM L ANDWEHR , Geburt der Gegenwart, Frankfurt/ Main 2014, S. 280. Zur Kritik am Zweischichtenmodell vgl. N ATALIE Z. D AVIS , From ›Popular Religion‹ to Religious Cultures, in: S TEVEN O ZMENT (Hg.), Reformation Europe, St. Louis 1982, S. 321-341; P ETER B URKE , Popular Culture between History and Ethnology, in: Ethnologia Europea 14 (1984), S. 5-13; W OLFGANG B RÜCKNER , Popular Culture - Konstrukt, Interpretament, Realität, in: Ethnologia Europea 14 (1984), S. 14-24. 6 Zum Ethnozentrismus der aufklärerisch gesinnten Bildungseliten vgl. P ETER H ERSCHE , Muße und Verschwendung, Freiburg 2006, S. 960-962. 7 So ausdrücklich bei J. P ETERS , »… dahingeflossen« (Anm. 1), S. 181. <?page no="158"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 157 heikel. Der strukturgeschichtliche Ansatz muß von den sozialen Interaktionen konkreter Gemeinschaften abstrahieren. Zeitauffassungen bilden und wandeln sich jedoch genau in spezifischen sozialen Kooperationen, wie Norbert Elias in seinem klassischen Essay über die Zeit hervorgehoben hat. 8 Auf der mikrogeschichtlichen Ebene lassen sich jene Interaktionen, die zur Entstehung bzw. zum Wandel der sozialen Zeit beitragen, am besten beobachten. Wenn ländliches Zeitverständnis untersucht werden soll, dann steht also die Erforschung sozialer Zeitkategorien im Vordergrund. Diese entstanden in konkreten Situationen bäuerlichen Lebens und Wirtschaftens, für deren Bewältigung sie überhaupt entwickelt wurden. Auch ihre Vermittlung blieb in der Regel eng an die konkreten Handlungszusammenhänge gebunden. 9 Abstrakte Zeitvorstellungen - etwa im Sinne der mathematischen Zeit der Newtonschen Physik - waren ländlichen Kreisen ebenso fremd wie anderen nichtgelehrten Kreisen der Vormoderne. Ferner ist zu berücksichtigen, daß sich ländliche Gemeinden aus heterogenen Gruppen zusammensetzten, deren Zeitordnungen unterschiedlichen Anforderungen zu genügen hatten. Ein besonderes Forschungsinteresse ist also mit der Frage verbunden, welche verschiedenen Zeitordnungen innerhalb derselben ländlichen Gesellschaft zugleich bestanden. Die angesprochene Pluritemporalität führt zwangsläufig zur Frage, wie die verschiedenen Gruppen ihre Zeitauffassungen aufeinander abstimmten, wenn sie miteinander kooperieren mußten. Gerade die Konflikte, die sich aus entsprechenden Versuchen der Synchronisierung ergaben, weisen einen hohen Erkenntniswert auf. 10 Die einleitenden Überlegungen lassen sich insgesamt zur Frage verdichten, wie ländliche Gesellschaften den richtigen Zeitpunkt bzw. die angemessene Dauer bestimmter Handlungen festlegten. Diese Problemstellung untersucht der vorliegende Beitrag am Beispiel der Herrschaft Engelberg für den Zeitraum des 17. und 8 N ORBERT E LIAS , Über die Zeit, Frankfurt/ Main 1988 [1984]. 9 Die Habitus-Theorie kann die Verinnerlichung sozialer Zeitkategorien stichhaltig erklären; vgl. allgemein P IERRE B OURDIEU , Esquisse d’une théorie de la pratique, Paris 2000 [1972], S. 285-300; und besonders N. E LIAS , Über die Zeit (Anm. 8), S. 30, 121-125; T HO - MAS L UCKMANN , Gelebte Zeiten und deren Überschneidungen im Tages- und Lebenslauf, in: R EINHART H ERZOG / R EINHART K OSELLECK (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein (Poetik und Hermeneutik XII), München 1987, S. 293-294; A CHIM L AND - WEHR , Alte Zeiten, Neue Zeiten: Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: D ERS . (Hg.), Frühe Neue Zeiten: Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 29-32. 10 Auf das Phänomen der Pluritemporalität hat bereits M. H ALBWACHS , La mémoire collective (Anm. 4), S. 173, hingewiesen; vgl. dazu auch A. L ANDWEHR , Geburt der Gegenwart (Anm. 5), S. 25-29, 250-251. Zur Erforschung der Synchronisierungstechniken vgl. C HRI - STIAN K ASSUNG / T HOMAS M ACHO (Hg.), Kulturtechniken der Synchronisation, München 2013. <?page no="159"?> N IC OL AS D I S C H 158 18. Jahrhunderts, und zwar ausgehend von einer umfassenderen Fallstudie. 11 In einem ersten Schritt werden die besagte Gemeinde sowie die Überlieferungssituation vorgestellt, soweit es für das Verständnis der nachfolgenden Ausführungen erforderlich ist. Die drei anschließenden Abschnitte stellen dar, wie in der engelbergischen Gesellschaft kurze, mittlere bzw. lange Zeiträume gegliedert wurden. Dies beinhaltet insbesondere die Aufarbeitung der jeweiligen sozialen Zeitkategorien. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und einem Hinweis auf den weiteren Forschungsbedarf. 1. Die Herrschaft Engelberg im 17. und 18. Jahrhundert Die zentralschweizerische Herrschaft Engelberg bildete bis zur Revolutionszeit ein unabhängiges Gemeinwesen, das als Zugewandter Ort der Eidgenossenschaft lose angeschlossen war. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebten rund 1.500 Seelen im abgelegenen Hochtal. Luzern, die nächstgelegene Kleinstadt, war eine Tagesreise mit umständlicher Seeüberquerung entfernt. Hohe Gebirgszüge, die das Bergdorf umringten, erschwerten den Austausch mit den benachbarten Gegenden, insbesondere in der Winterszeit. In herrschaftlicher Hinsicht lagen die Hoheitsrechte seit dem 12. Jahrhundert in der Hand des örtlichen Benediktinerstifts. Allerdings vertrug sich diese geistliche Herrschaft mit einer weitgehenden kommunalen Selbstverwaltung: Die Talleute übten eine umfassende politische Mitbestimmung aus, wie sie in den umliegenden Landsgemeindeorten Uri, Schwyz, Ob- und Nidwalden üblich war. Wichtige öffentliche Angelegenheiten wurden in öffentlichen Gemeindeversammlungen beratschlagt und entschieden. Verwaltung und Rechtsprechung wurden durch das Talgericht besorgt, dessen Mitglieder angesehenen Bauern-, Händler- und Handwerkerfamilien angehörten. Eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben spielten zudem die Alpgenossenschaften, die für die gemeinsame Nutzung der Hochweideflächen zuständig waren. Die wirtschaftliche Grundlage des Hochtals bildete die Ausfuhr von Käse und Vieh zu den norditalienischen Märkten. Der umfangreiche Außenhandel wurde durch die Einführung der Hartkäserei um 1550 ermöglicht und veränderte die wirtschaftliche Struktur Engelbergs nachhaltig. Die jährliche Ausfuhr, die im 18. Jahrhundert bis zu 125 Tonnen Hartkäse erreichte, erforderte nicht nur einen beträchtlichen Aufwand an Gütern und Arbeit, sondern führte auch zu einem erheblichen Kooperationsbedarf. Die Einkünfte aus dem Außenhandel kamen vor allem einer Minderheit von Bauern und Händlern zugute, was zu starken sozialen Spannungen 11 N ICOLAS D ISCH , Hausen im wilden Tal - alpine Lebenswelten am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600-1800) (Norm und Struktur 41), Wien 2012. <?page no="160"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 159 innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung führte. Insgesamt aber bescherte der Ausfuhrhandel Engelberg eine wirtschaftliche Blütezeit, die sich nicht zuletzt in einem überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstum ausdrückte. Ferner etablierte sich im Hochtal ab den 1760er Jahren die Seidenkämmelei, wobei die hausindustrielle Erwerbsform die wirtschaftliche Verfassung Engelbergs nicht grundlegend änderte. Der katholische Süden prägte das Hochtal nicht nur in wirtschaftlicher, sondern auch in kultureller Hinsicht. Diesbezüglich kam nicht nur den Händlern, Säumern und Handwerkern eine Vermittlungsfunktion zu, sondern auch den zahlreichen Söldnern, die sich befristet in den Dienst einer katholischen Mittelmeermacht begaben. Ein kulturelles Scharnier stellte zweifellos auch der Benediktinerkonvent dar. Es läßt sich jedenfalls nachweisen, daß Inhalte gelehrter Schriftkultur oft erstaunlich rasch Eingang ins bäuerliche Gespräch fanden. Im Alltag bestanden jedenfalls vielfältige Kontakte zwischen der bäuerlichen Bevölkerung und den Mönchen. Aufgrund der ausgezeichneten Überlieferung eignet sich die Herrschaft Engelberg als Fallstudie ganz besonders. So sind die Geschäfte der Gemeinden, des Talgerichts sowie der äbtischen Kanzlei ab den 1580er Jahren weitgehend lückenlos überliefert. Das umfangreiche Schriftgut dokumentiert den Lebensalltag im Alpental in einem bisweilen einzigartigen Auflösungsgrad. Die sogenannten Talprotokolle sind wertvoll, weil sie mehrheitlich von alltäglichen, wenig aufsehenerregenden Tagesgeschäften handeln. Während die Gemeinde- und Ratsprotokolle detaillierte Einsichten in das öffentliche Leben der Dorfgemeinschaft ermöglichen, eröffnen Notariats- und Justizakten den Blick auf private bzw. familiäre Lebensverhältnisse. Schließlich waren die Protokolle für den Eigenbedarf der Dorfgemeinschaft bestimmt, nicht für eine äußere Herrschaftsgewalt oder Öffentlichkeit. Als Protokollführer amteten während zweier Jahrhunderte Dutzende von Konventualen, Klosterbeamte oder dörfliche Würdenträger, die selbst im Hochtal lebten und mit den örtlichen Verhältnissen entsprechend vertraut waren. Die Talprotokolle sind aufgrund des langen Entstehungszeitraumes, der Herkunft und Anzahl der Protokollanten sowie der Vielfalt der Textgattungen vielfach gebrochen und gerade darum ausgesprochen zuverlässig. In besonderer Weise ist die Fallstudie zur Herrschaft Engelberg auch geeignet, das Zeitverständnis einer vormodernen, bäuerlichen Gesellschaft zu erforschen. Erstens ist die Rekonstruktion der sozialen Zeit einer spezifischen Gesellschaft beispielhaft möglich, insofern die wirtschaftlichen Verhältnisse ebenso detailliert überliefert sind wie die alltäglichen sozialen Interaktionen innerhalb der Dorfgemeinschaft. Zweitens bieten die verhältnismäßige Abgeschiedenheit und die bäuerlich-alpine Bevölkerung Engelbergs Gewähr, spezifisch ländliche Zeitauffassungen in den Blick nehmen zu können. Drittens läßt sich am Beispiel Engelbergs auch untersuchen, inwiefern gelehrte Zeitauffassungen (vermittelt über den heimischen Benediktinerkonvent) in das bäuerliche Zeitverständnis Eingang fanden. <?page no="161"?> N IC OL AS D I S C H 160 In den folgenden Ausführungen sind die untersuchten Zeitkategorien entsprechend ihrer zeitlichen Reichweite gruppiert, wobei zwischen einem nahen, mittleren oder weiten Zeithorizont unterschieden wird. Bei Ausführungen, die sich nicht ohne längere Herleitungen belegen lassen, wird auf die einschlägigen Stellen der Fallstudie verwiesen. 2. Der nahe Zeithorizont Kurze bzw. kürzeste Zeitspannen im Sinne des Minutenbzw. Sekundenmaßes wurden im vormodernen Engelberg in den üblichen Gebetsbzw. Wortlängen bemessen. Wurden das Herrengebet oder der Engelsgruß als Zeiteinheiten verwendet, konnten sie jeden frommen Bezug verlieren. Wenn beispielsweise Ehebrecher vor Gericht die Dauer des unehelichen Beischlafs in Gebetslängen einschätzten, stieß sich keiner der Anwesenden an dieser Ausdrucksweise - ein anderes Zeitmaß stand nicht zur Verfügung. Offen bleibt allerdings die Frage, mit welcher Geschwindigkeit im Hochtal gesprochen bzw. gebetet wurde. 12 Die Viertelstunde war die nächste geläufige Zeiteinheit, die sich uhrzeitlich bemessen ließ, sofern ein entsprechender Bedarf überhaupt bestand. Die mechanische Uhrzeit war dank des Benediktinerklosters verhältnismäßig früh ins abgelegene Bergtal gelangt. Wahrscheinlich wurde der Kirchturm im 16. Jahrhundert mit einer mechanischen Uhr versehen. Als in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Klosterkirche neu errichtet wurde, bestückte man deren Turm nach allen Seiten mit weithin sichtbaren Uhrblättern, die auch das Ablesen von Viertelstunden erlaubten. Auch im Innenraum der Kirche zierte früh eine mechanische Uhr den Hochaltar. Im barocken Neubau wurde die besagte Uhr zusätzlich aufgewertet und als unübersehbarer Augenfang gestaltet. So wurde eine übergroße Uhr, deren Stundenzeiger Gottvater in Händen hält, als Obblatt des Hochaltars eingesetzt. Die Darstellung des Zeitenherrschers ragte unübersehbar über das Chorgitter hinaus. 13 Wann mechanische Uhren erstmals Eingang in Bauernstuben fanden, kann nicht genau bestimmt werden. Entsprechende Nachweise sind erst für das 18. Jahrhundert erhalten, wobei der Besitz einer mechanischen Uhr offenbar kein Aufsehen mehr erregte. Ob die Anschaffung einer Hausuhr tatsächlich einem Bedürfnis nach der Uhrzeit entsprang oder eher repräsentative Zwecke erfüllte, läßt sich nicht beurteilen. 14 12 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 490-491. 13 Zur klösterlichen Baugeschichte vgl. R OBERT D URRER , Die Kunstdenkmäler des Kantons Unterwalden 1971 [1899], S. 102-151; M ICHAEL T OMASCHETT , Planung, Bau und Ausstattung der barocken Klosteranlage Engelberg, Diss., Zürich 2007. 14 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 493-494. <?page no="162"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 161 Die meisten Bauernhaushalte besaßen jedenfalls keine eigene Uhr und mußten sich nach der Kirchturmuhr bzw. deren Glockenschlag richten. Fünf Kapellen zeigten in den abgelegenen Außenbezirken wohl mindestens den Angelus an, der - vom Lichttag entkoppelt - ganzjährig um fünf, elf bzw. 19 Uhr geläutet wurde. Das Hochtal verfügte damit über ein dichtes Glockensystem. Eine besondere Regelung bestand für die Nachtzeit. So wurden die feuerpolizeilich bestellten Nachtwächter beauftragt, bei ihren Rundgängen die vollen Stunden auf den Schlag genau auszurufen. Die Nachtwächter hatten einen genau festgelegten Weg abzuschreiten, was ihrem Stundenruf eine gewisse Genauigkeit verlieh. Einzelne Haushalte konnten sich ferner zu einer gewünschten Zeit einen besonderen Ruf vor ihrem Haus erbeten. Nacht- und Morgenruf wurden übrigens an die Dauer des Lichttags gekoppelt, so daß die Nachtruhe im Winter sieben, im Hochsommer jedoch nur vier Stunden dauerte. 15 Der uhrzeitliche Glockenschlag diente erwartungsgemäß dazu, bevorstehende kirchliche und weltliche Gemeinschaftsanlässe anzukündigen. 16 So brach z. B. das Pfarrvolk stets zur selben Uhrzeit zu auswärtigen Wallfahrten auf. Das Stundengeläut zeigte auch die Sperrstunde für die Wirtshäuser an, die auf 21 Uhr an gewöhnlichen Tagen bzw. 24 Uhr an Festtagen angesetzt war. Die bäuerliche Bevölkerung anerkannte ferner den Mitternachtsschlag als Zeitpunkt des Tageswechsels: So kam es durchaus vor, daß bäuerliche Festgesellschaften an Fastentagen abends zusammenkamen, jedoch erst nach Mitternacht zu Speis, Trank und Tanz ansetzten, um das Fastengebot nicht zu brechen. Uhrzeitliche Pünktlichkeit war auch bei öffentlichen Versammlungen gefordert. Das Talgericht verhandelte wiederholt darüber, wie Verspätungen seiner Mitglieder zu handhaben seien. Die Gerichtsherren einigten sich 1691 darauf, daß eine einstündige Verspätung unangemessen und mit einer Buße - in diesem Fall zwei Mass Wein - zu belegen sei. Die Frist war angesichts der oft unwegsamen Anfahrtswege und des Gebirgswinters verhältnismäßig knapp angesetzt. Die Talleute bestimmten auch ihre gemeinnützigen Arbeitspflichten mittels uhrzeitlicher Angaben. Ein Tagewerk sollte demnach von 8 bis 16 Uhr, manchmal von 9 bis 15 Uhr dauern. Die Regelung antwortete auf den oftmals geäußerten Verdacht, nicht alle Talleute würden sich gleichmäßig an der Gemeinarbeit beteiligen. Die Frist war übrigens so angesetzt, daß die Bauern ausreichend Zeit für die morgendliche Käsebzw. abendliche Melkarbeit bewahrten. Die Forderung nach uhrzeitlicher Pünktlichkeit erforderte auch in diesem Fall ein gewisses Augenmaß. So wurde 1738 auf der Gemeindeversammlung einer großen Genossenalp beschlossen, den Beginn gemeinnützigen Tagewerks auf neun Uhr anzusetzen. Die genaue Zeit- 15 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 465-467, 492-493. 16 Vgl. für die entsprechenden Ausführungen N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 493-495. <?page no="163"?> N IC OL AS D I S C H 162 angabe erwies sich offenbar als unzweckmäßig, jedenfalls änderten die Alpgenossen die Satzung bereits drei Jahre später ab: Die Arbeiter hatten sich nun zwischen neun und zehn Uhr am Versammlungsort einzufinden. Im bäuerlichen Arbeitsjahr spielte der Schießtag eine besondere Rolle. An diesem Tag wurden die Hochweideflächen, die zur Allmend gehörten, zur Mahd freigegeben. Das Bergheu war außerordentlich beliebt und entsprechend umstritten. Manche Bauern brachen schon am Vorabend in die steilen Bergflanken auf, um sich die ertragreichsten Weiden zu sichern. Die Gemeinde schritt solchen Übervorteilungsversuchen entgegen, indem sie den Beginn des Schieß auf eine genaue Uhrzeit, nämlich acht Uhr, festlegte. Demnach durfte sich keine Sense rühren, bis nicht die Kirchenbzw. Kapellenglocken die achte Stunde geschlagen hatten. Die Uhrzeit spielte ferner auch bei Gerichtsverhandlungen eine wichtige Rolle, wenn das Urteil eine genaue Kenntnis von Zeitpunkten, Abfolgen und Dauern voraussetzte. Parteien und Zeugen verwendeten in ihren Aussagen uhrzeitliche Angaben ganz selbstverständlich und brauchten nicht vom Gericht dazu aufgefordert zu werden. Die Stunden waren zweifellos das geläufigste Zeitmaß, wobei deren Genauigkeit üblicherweise mit Wendungen wie ›ungefähr um‹ oder ›etwa um‹ relativiert wurde. Stundenangaben wurden besonders bei der Schilderung nächtlicher Geschehnisse herangezogen, da die Uhrzeit in solchen Fällen die einzig verfügbare Zeitbestimmung bot. Als sich z. B. das Gericht 1710 mit der Schwangerschaft der unverheirateten Magd Anna Maria Waser beschäftigte, befragte es mehrere Zeugen über ihre abendliche Gesellschaft. Dabei wurden etliche nächtliche Stundenangaben geäußert (ohngefehr umb 10 oder 11 Uhr in der Nacht, etwa zwey Stund lang in der Nacht, umb 2 Uhr in der Nacht, ohngefahr umb 2 oder 3 Uhren, etwan bis 11 Uhren, den andern Tag umb 4 Uhren), allem Anschein nach ohne Nachfrage der Richter. 17 Die Todesstunde war ebenfalls Gegenstand uhrzeitlicher Festlegung. Seit dem späten 17. Jahrhundert begannen die Pfarrer vermehrt - wenn auch unregelmäßig -, genaue Todeszeitpunkte in den Sterberegistern zu vermerken. Der Brauch verschwand erst in den späten 1770er Jahren, bedingt durch eine neue Registerführung. Die Stunden blieben auch in diesem Zusammenhang das vorherrschende Zeitmaß. Genauere, halbstündliche Angaben blieben selten (circa mediam quintam matutinam, horas inter 11. et 12.). Die Vermerke lassen keine sicheren Schlüsse über ihren Zweck zu, doch weist ihr unregelmäßiger Gebrauch darauf hin, daß sie nicht nur formelhaften Charakter besaßen. 18 An dieser Stelle läßt sich ein erstes Zwischenergebnis festhalten: Die mechanische Uhrzeit war im Hochtal spätestens um 1600 verfügbar. Die Talleute nutzten 17 StiAr Engelberg, ETP V, S. 198-218. 18 StiAr Engelberg, Pfarrbücher der Pfarrei Engelberg, Codices 341-345. <?page no="164"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 163 die Uhrzeit besonders zur Koordination öffentlicher Anlässe bzw. Arbeiten. Die bäuerliche Bevölkerung bediente sich der mechanischen Zeit zwar nur situativ, jedoch gewohnheitsmäßig. In Rechtsfragen waren uhrzeitliche Angaben auch für einfache Leute selbstverständlich. Es gibt keine Hinweise dafür, daß die Talleute der Uhrzeit ablehnend oder gleichgültig gegenübergestanden wären. Die Tagesgliederung war allerdings nicht ausschließlich von der Uhrzeit bestimmt. Die diesbezüglichen Zeitvorstellungen der Talleute wären nur unzureichend erschlossen, wenn man sich darauf beschränken würde, ihren Umgang mit der Uhrzeit zu untersuchen. Die Bestimmung des rechten Augenblicks bzw. der angemessenen Dauer wurde in vielen Fällen situativ festgelegt, d. h. vom Eintreffen bestimmter Ereignisse abhängig gemacht. Dies setzte einen gesellschaftlichen Konsens voraus, der durch alltäglichen Brauch implizit immer wieder erneuert wurde. Allerdings war eine solche Übereinkunft nicht selbstverständlich, verhandelten doch die Talleute häufig über Zeitfragen. Da diese in ganz bestimmte Lebensbezüge eingebunden blieben, wurden sie jedoch selten ausdrücklich als solche ausgewiesen. Diese allgemeinen Feststellungen lassen sich etwa an der Art und Weise veranschaulichen, wie die Tagesarbeitszeit festgelegt wurde. So hatten sich etwa die beiden Brüder Joseph und Christian Matter 1749 als Tagelöhner für Forstarbeiten anheuern lassen. 19 Später beschwerten sich die Auftraggeber vor Gericht, die Brüder seien von und zu der arbeit gegangen, wan es ihnen beliebet habe, was die Beschuldigten jedoch bestritten. Das Gericht befragte darauf mehrere Augenzeugen, die in der Nähe gearbeitet hatten. Der erste Zeuge bestätigte, daß die Brüder ihren Arbeitsort stets früh verlassen hätten, ergänzte jedoch, daß auch andere Tagelöhner ihre Arbeit zur selben Zeit niedergelegt hätten. Der zweite Zeuge berichtete, daß er sich mit den beiden Brüdern über das Ende der Arbeitszeit unterhalten hatte: Offenbar hatten die Tagelöhner gemeinsam über das Arbeitsende beratschlagt. Ein dritter Zeuge erklärte schließlich, daß sie [d. h. die Brüder] oftmahl abend und morgen fast allzeit ein stund und mehr von der arbeit gegangen als er, so er selbst gesehen, indem er nit weit von ihnnen gearbeitet habe und sie [ = sei] solches oft früöer beschechen. Es fällt auf, daß kein einziger Zeuge eine uhrzeitliche Festlegung ins Spiel brachte. Im folgenden Gerichtsurteil fehlten uhrzeitliche Angaben ebenso. Wie ließ sich die Dauer eines Arbeitstags dann bestimmen? Offenbar sprachen sich Tagelöhner, die denselben Arbeitsort teilten, untereinander ab. Gelegentlich beriet man sich über das angemessene Arbeitsende, oft auch genügte ein rascher Blick zu den anderen Arbeitern. Die rechte Arbeitsleistung hing nicht von der Uhrzeit ab, sondern war von der sozialen Einschätzung zahlreicher Einflüsse wie Witterung, Arbeitsort bzw. -art, usw. abhängig. Es ist erstaunlich, wie gut die gegenseitige Ver- 19 StiAr Engelberg, ETP XI, S. 634-635. <?page no="165"?> N IC OL AS D I S C H 164 ständigung gelang. Der besprochene Rechtsstreit blieb ein Ausnahmefall. Die gesellschaftliche Aufsicht reichte offenbar aus, daß die geschmeidige Arbeitszeitregelung nicht mißbraucht wurde. Die soziale Zeit wirkte sich selbst auf einfachste bäuerliche Arbeiten aus, wie ein bemerkenswerter Gerichtsfall - stellvertretend für andere - aus dem Jahr 1744 nahelegt. 20 Johann Eugen Matter, ein Landeigentümer, hatte sich in jener Zeit über seinen Nachbarn Gregor Waser beschwert, weil dieser angeblich einen Tränkweg durch Matters Grundstück dazu mißbrauchte, um sein Vieh zu ätzen. Waser klagte daraufhin Matter wegen Ehrverletzung vor dem Talgericht an, das in dieser Angelegenheit verschiedene Zeugen anhörte. Das Protokoll der Verhandlung ist ausgesprochen aufschlußreich: Gregori bringt selbsten vor, dass er wegen dem tränckhweg durch des Johann Eügeni Matters acher im Oberberg seye angeben und angriffen worden, er habe schelmischerweis und zu langsam getränkt und also schaden verursachet. Seye aber nit deme also, dan er das wasser vihl treit, damit er kein schaden thüe, doch aber, damit er das recht dises wegs nit verliehre, habe er ihn gebraucht ohne schaden. Jung Johan Eügeni Matter gibt antwort, er und der vatter hätten es gesehen, dass er Gregori im träncktreiben weyden lassen, ja, seyen die khüö in der weid umen gangen wohl vast ein stund lang. […] Der Placi Matter habe es auch gesehen, dass das weib [gemeint ist Gregor Wasers Frau Maria Amrhein] ein kind auf dem arm, das andere aber an der hand gfürt, habe die khüe müessen gehen lassen. […] Placidus Matter, Johann Eügenis des alten bruoder, gibt bricht, […] das weib seye mit den kinden auf dem arm und an hand habend gmach durch die weyd gfahren, müösse nit gwüst haben, was tränken seye, habe ihn nit billich und manierlich dünckht, so zu gehen und tränckhen. […] Josephli Waser ab dem Porth zeügt, er habe die khüö in der matten gesehen, die sach seye gmach zugangen, ein khuo da us, die ander dorth us. Marili Amrhein, Gregoris frau, antwortet, hierauf und ist der kinden halben gichtig, seye mit den khüönen gangen, was es hab mögen; es habe 2 getriben und des Martis büeblin Thomeli habe auch 2 getriben […]. Die Anwesenden debattierten also über die Frage, wie rasch eine Viehherde über einen Tränkweg zu treiben sei. Zunächst fällt auf, wie selbstverständlich der junge Matter auf das Stundenmaß zurückgriff, um die Dauer des strittigen Weidegangs zu schätzen. Allerdings wurde eine uhrzeitliche Regelung von keiner Seite auch nur ansatzweise angestrebt. Alle Beteiligten waren sich jedoch einig, daß der Viehtrieb nicht gemächlich sein dürfe. Auch schien niemand zu bestreiten, daß ein langsamerer Durchzug statthaft sei, wenn Frauen und Kinder den Hirtendienst besorgten. Die statthafte Geschwindigkeit war ganz ausgesprochen von der gesellschaftlichen Einschätzung abhängig, deren Kenntnis vorausgesetzt wurde. Genau darauf spielte Plazidus Matter an, wenn er über Maria Amrhein urteilte, sie müösse nit gwüst haben, was tränken seye. 20 StiAr Engelberg, ETP XI, S. 442-444. <?page no="166"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 165 3. Der mittlere Zeithorizont Witterungsverhältnisse und Vegetationszyklen prägten die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Hochtal entscheidend mit. Die jahreszeitlichen Wechsel waren aufgrund der Höhenlage ausgeprägter als in tieferen Lagen: Der Sommer war verhältnismäßig kurz, wogegen die kalte Jahreszeit bei ungünstiger Witterung durchaus ein knappes Halbjahr andauern konnte. Da sich die Nutzflächen über verschiedene Höhenstufen erstreckten (600 bis 2.000 m. ü. M.), bewegte sich zudem die bäuerliche Bevölkerung zeitgleich in unterschiedlichen Jahreszeiten. Es liegt auf der Hand, daß zeitliches Denken und Verhalten im Hochtal durch den natürlichen Jahreskreis beeinflußt waren. Dies berechtigt allerdings nicht zur Annahme, daß die Talleute schlicht nach einer natürlich vorgegebenen Zeit bzw. einem Naturkalender gelebt hätten. Natürliche Erscheinungen besaßen auch in Engelberg keinen Zeitcharakter, solange sie nicht gesellschaftlich zu Zeitanzeigern erklärt und entsprechend symbolisch besetzt wurden. So blieben natürliche Ereignisse hinsichtlich ihrer zeitlichen Bedeutung verhandelbar. Beispielsweise hatten die Talleute das Recht, das Gras auf den zur Allmend gehörenden Hochweiden zu mähen. Allerdings gab es durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber, wann das Gras erntereif war. So wurde 1707 das Heuen auf den besagten Weiden verboten, bis die Banwärth gemeiner Alpen vermeinen, das das Heüw gewachsen undt sollen selbe mit Consens des Gnädigen Herren einen Tag undt die Stundt im Tag bestimmen, wan die Gnossen sambt den gmeinen Thalleuthen heüwen könen. 21 Abt und Bannwarte beratschlagten also gemeinsam darüber, wann die Grasreife erreicht wäre. Ein vergleichbarer Ermessensspielraum bestand auch bei Schnee-Einbrüchen, die Hirten grundsätzlich berechtigten, ihr Vieh auf tiefere Weiden zu treiben bzw. Futter vom jeweiligen Alpverpächter zu beziehen. Wann allerdings diese Schneefluchtrechte geltend gemacht werden durften, war keineswegs selbstverständlich. So vereinbarte etwa Alpbesitzer Johann Anton Amrhein 1768 mit seinem neuen Pächter schriftlich, wan er lehmann auf der alp gentzlich [! ] sollte verschneith werden und abzufahren gezwungen wurde, soll Antoni ihme mit heüw oder gras gegen billiche bezahlung an die hand gehen. 22 Selbst mit dieser Regelung blieb allerdings verhandelbar, wann von einer geschlossenen Schneedecke gesprochen werden konnte. Jedenfalls wird offenkundig, daß selbst Grasreife und Schneefall keine naturgegebenen Zeitgrößen boten, sondern einer gesellschaftlichen Aushandlung bedurften: Natürliche Ereignisse schufen nur in seltenen Fällen vollendete Tatsachen bzw. Zeitpunkte. Das bäuerliche Jahr war durch zahlreiche, kalendarisch festgelegte Stichtage und Fristregelungen gegliedert. Diese waren für die kollektive und damit synchro- 21 StiAr Engelberg, ETP IV, S. 522-527. 22 StiAr Engelberg, ETP XIII, S. 459-460. <?page no="167"?> N IC OL AS D I S C H 166 nisierungsbedürftige Nutzung von Gemeinalpen und Allmend unverzichtbar. Zwar waren jene Termine, die mit der landwirtschaftlichen Arbeit zusammenhingen, auf die durchschnittlichen Witterungs- und Vegetationsbedingungen abgestimmt, doch konnten jährliche Schwankungen kaum berücksichtigt werden. Dabei wich das Gericht nur ungern von gebräuchlichen Stichtagen ab. So hatte es Seltenheitswert, als das Gericht 1751 die Alpzeit - wohl der besonders günstigen Witterung wegen - ausnahmsweise um eine Woche verlängerte, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß es sich dabei um eine einmalige Maßnahme handle. 23 Ebenso bewilligte das Gericht einen vorgezogenen, räumlich eng begrenzten Holzzug 1767 nur deshalb, weil sich die ganze Gemeinde kräftig dafür einsetzte. 24 Einen festen kalendarischen Platz hatten auch die Markttage sowie die ordentlichen Gerichtstage. Die ordentlichen Genossengemeinden wurden etwas freier, doch stets in denselben Zeiträumen einberufen. Zahlreiche Stichtage und Fristregelungen waren mit den vielfältigen Dienstbarkeiten verbunden, die auf den einzelnen Gütern lasteten. Es handelte sich vorrangig um verschiedene, zeitlich abgestufte Wegrechte, allerdings waren vergleichbare Zeitbestimmungen auch für Holz-, Streu- und Wassernutzungsrechte üblich. Schriftliche Verträge erwiesen sich oft als unverzichtbar, um die Vielfalt der Nutzun gs fr isten üb er bl ic ken z u kö nn en, zu ma l sie v on Grund st üc k zu G rund st üc k abweichen konnten. Über das ganze Hochtal erstreckte sich so ein Fristensystem babylonischen Ausmaßes, dessen konfliktreiche Umsetzung das Gericht immer wieder beschäftigte. 25 Insgesamt war das Kalenderjahr für die bäuerliche Bevölkerung eine selbstverständliche Bezugsgröße. Die kalendarische Zeitgliederung wurde nicht zuletzt über die kirchlichen Feier- und Gedenktage vermittelt, deren je spezifische Liturgien den Jahreskreis geradezu sinnfällig machten. 26 Da das Kirchenjahr kaum auf alpine Witterungsbedingungen ausgerichtet war, mußten liturgische Vorschriften oft angepaßt werden: So fanden die Prozessionen der marianischen Bruderschaften ab Ostersonntag oft in der Kirche und nicht im Freien statt, wie eigentlich vorgesehen. Kirchliches und natürliches Jahr bildeten jedenfalls keine identischen Größen. Weiter wurde der wirtschaftliche Verkehr durch Rechtsfristen aller Art geregelt. So kam es etwa regelmäßig vor, daß Alprechtsbesitzer ihre Nutzungsrechte nicht selbst beanspruchten. In solchen Fällen war deren Übertragung durch ein detailliertes Zugrecht geregelt, das die Rangfolge der Anspruchsberechtigten sowie verbindliche Zeitfristen für die jeweilige Geltendmachung setzte. Geschäfte mit Gülten, d. h. mit Grundpfandtiteln, unterstanden einem nicht minder ausgefeilten 23 StiAr Engelberg, ETP XI, S. 675. 24 StiAr Engelberg, ETP XIV, S. 293-294. 25 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 44-83. 26 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 452-489. <?page no="168"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 167 Zugrecht. In ganz anderem Zusammenhang galten bei Viehkäufen bzw. -pachten verschiedene Nachwährfristen, falls das Vieh später erkrankte oder starb. Zudem gaben Verkäufer gewöhnlich an, wieviel Milch eine Kuh erbrachte oder - falls es sich um ein trächtiges Tier handelte - wann sie kalben würde. Spätere Haftungsklagen nahmen auf solche Fristangaben Bezug, waren aber ihrerseits nur befristet zulässig. Besondere Fristen galten auch für die Einfuhr fremden Viehs, die eine ausreichende Versorgung des Talviehs sicherstellen sollten. Beispiele dieser Art ließen sich hier beliebig fortführen. 27 Die genannten Beispiele weisen auf einen allgemeineren Sachverhalt hin: Die Mehrstufenwirtschaft erforderte insgesamt eine genaue und vorausschauende Zeitplanung. 28 Für die nahtlose Versorgung jeder Viehherde mußte ein detaillierter Weideplan erstellt werden. Dabei mußten auch die sehr unterschiedlichen Witterungs- und Vegetationsbedingungen auf den jeweiligen Weiden berücksichtigt werden. Die hauptsächliche Schwierigkeit bestand darin, die konkurrierende Mahdbzw. Atznutzung ins richtige Verhältnis zu bringen: Die Beurteilung, zu welchen Zeitpunkten eine Weide abwechslungsweise zu bestoßen bzw. zu mähen war, stellte die größte Herausforderung in der Mehrstufenwirtschaft dar. Da viele Bauern ihren Grund- und Viehbesitz nur teilweise oder überhaupt nicht selber bewirtschafteten, waren verschiedene Vieh- und Landpachten aufeinander abzustimmen, aber auch zeitlich zu staffeln. Viehställe und Heuscheunen mußten rechtzeitig geliehen werden, ferner war die Versorgung mit Heu, Holz, Streu und Wasser sicherzustellen, was sich angesichts knapper Ressourcen oft als schwierig erwies. Im Herbst schließlich war der Viehbestand so anzupassen, daß einerseits das Winterfutter ausreichte und andererseits der Aufwuchs für das nächste Jahr nicht gefährdet war. Eine einigermaßen erfolgreiche Planung in der Mehrstufenwirtschaft setzte erhebliches Erfahrungswissen voraus, mußten doch zahlreiche und jährlich wechselnde Einflüsse miteinbezogen werden. Der Planungshorizont erstreckte sich dabei mindestens bis ins Folgejahr. 29 Die bäuerliche Sensibilität für Zeitfragen wurde nicht zuletzt durch den Ausfuhrhandel nach Norditalien angeregt. Dieser erforderte in vieler Hinsicht einen haushälterischen Umgang mit Zeit. So schwankten die Preise auf den Absatzmärkten, insbesondere im Viehhandel, stark und rasch. Entsprechend schnell mußten die Zulieferer auf solche Preisentwicklungen reagieren können, die sie deshalb aufmerksam beobachteten. Diesbezüglich ist aufschlußreich, wie der klösterliche Großkellner Joachim von Deschwanden am 2. Dezember 1772 einem Freund in Zürich schrieb: So werth die käs im sommer waren, so unwerth scheinen selbe 27 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 44-83, 90 f. 28 Vgl. dazu P. D UBUIS , Les paysans médiévaux (Anm. 1), S. 4. 29 Zahlreiche Ausführungen zur landwirtschaftlichen Arbeit finden sich in einem klösterlichen Gutsbeschrieb von 1742 in StiAr Engelberg, Abteiakten: Emanuel Crivelli (1730-1749). <?page no="169"?> N IC OL AS D I S C H 168 anietzo, und wo der zentner käs um 18. gl: dargeboten worden, kann man ietzt für 14 haben. Der butter ist in einem ertraglichen preis, das Vich aber stehet noch immer hoch, und kan es wohl seyn, dass ihre Metzger solches nicht so heüfig bekommen kennen; hier haltet man darfür, das Vich so wohl als andern victualia werde im preis fallen. Unsere erd apfel Ernt ware so heüffig, dass wir unsere wein, nussen, apfel usw. in Mondslanden verschickt und alda verkauffen lassen. Noch immer haben wir das beste wetter, und welches recht wunderlich, haben wir sommer und winter neben einander, auf der seiten des titelsberg [Titlis] fahret man mit schlitten durch den schne, auf der anderen seiten des thals hat es sommer ohne schne, alwo das horn Vich sich mit spatzieren gehen divertieret. 30 In Engelberg wurde zweifellos darüber beraten, wann Käse, Vieh, Butter und andere Erzeugnisse sich am besten verkaufen ließen. Dafür mußten die Marktpreise in den einzelnen Absatzgebieten bekannt sein, aber auch ihre wahrscheinliche Entwicklung richtig eingeschätzt werden. Der Großkellner fand dabei die Ungleichzeitigkeiten auf den Märkten in der heimischen Natur wieder, wo - je nach Höhenlage und Sonneneinwirkung - unterschiedliche Jahreszeiten nebeneinander bestanden. Die Warenausfuhr ins Welschland erforderte erhebliche zeitliche Abstimmungen. Die Waren wurden häufig in Rodfuhr auf die südalpinen Märkte geführt, d. h. mehrfach umgeschlagen, was entsprechender Koordination bedurfte. Erheblichen Planungsbedarf mußten auch jene Säumer meistern, welche die Waren bis zu den Märkten selbst führten. Vielfältige Faktoren wie Witterung, Schiffswege, Geleitstrecken, Zollstellen, Raststätten, Weideplätze usw. wirkten sich auf den Zeitplan aus. Daß die Handelswege nach Italien über das Hochgebirge führten, machte deren Bewältigung nicht einfacher. Dennoch verlangten die Auftraggeber von den Säumern zeitliche Zuverlässigkeit, da Verspätungen erhebliche Kosten verursachen konnten. 31 So belangte das Kloster den Säumer Adam Schmid 1631 wegen wiederholter Verspätungen. In der Anklage hieß es, Adam hab den tag vermeldet, das der win solle zuo buochs [am Vierwaldstättersee] sin, da sigen die knecht [des Klosters] mit 4 oder 5 ochsen gen buochs gsin, aber vergebens, will kein win vorhanden war; sig dis zum wenigsten einmal gescheen. Daß die Knechte wegen einer falschen Verabredung eine halbtägige Fahrt umsonst unternommen hatten, schien nicht annehmbar, selbst wenn der Vorfall einmalig war. Auch auf der Paßroute hatte sich Schmid als unzuverlässig erwiesen, als Adam versprochen habe, an Sant Gallentag [16. Oktober] umb den mittag bim spital [auf der Grimsel] zuo sin mit den rossen und den win zu laden. Hierzwischen sig Adam sinem gwirb nachzogen und des gotshus bott vergeben dahin geschickt worden. Also habe Adam den win 8 tag spötter geladen, dan er hatte versprochen; hiemit und der ursachen halben habens mit dem win nit mögen über Joch[paß] kon, wetters halben. Wan aber Adam nach sinem verheissen den win gefürt hätte, so hetten si mit dem win bis zum gotshus ein einzige nacht müssen 30 ZB Zürich, Nachlass Rudolf Schinz: Ms. Car. 163, Brief vom 2. Dez. 1772. 31 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 141-164. <?page no="170"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 169 us sin und hetten noch mögen über Joch kommen. 32 Der Bericht legt nahe, daß auf den Handelsrouten strenge Zeitpläne trotz aller Unwägbarkeiten gefordert wurden. Auf den rationalisierten Zeitumgang mußten sich auch jene zahlreichen Säumer einstellen, die ihre Tätigkeit nicht berufsmäßig, sondern teilberuflich bzw. gelegenheitshalber ausübten. Wie in anderen bäuerlichen Gesellschaften, so war auch im Hochtal die Arbeitslast ungleich über das Jahr verteilt. Die Arbeitsmenge nahm im Winter spürbar ab. Da jedoch die Talleute vorwiegend Viehwirtschaft betrieben, war der besagte Rückgang weniger ausgeprägt als in Ackerbaugebieten. Die Sommerzeit war aufgrund der Hochgebirgslage stark verkürzt: Die meisten landwirtschaftlichen Erzeugnisse waren in einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne zu erwirtschaften, wofür alle Kräfte aufgeboten werden mußten. Die sommerliche Arbeitslast erreichte in der Mehrstufenwirtschaft ein kaum vorstellbares Ausmaß. In Engelberg wiederholten sich nicht von ungefähr die Klagen, daß in der Sommerzeit die Arbeitskräfte fehlten. 33 Die winterliche Ruhe blieb im Hochtal bis in die 1760er Jahre unhinterfragt, ebenso die geselligen Anlässe, die mit ihr verbunden waren. In den einzelnen Bauernhäusern kam es zu zahlreichen Festgesellschaften. Beliebte Festgelegenheiten boten der Nikolaustag, die Neujahrs- und die Fastnachtstage, aber auch Hochzeits- und Kindbettmähler. Solcherlei Feste stießen nur auf öffentliche Ablehnung, wenn unsittliche oder verschwenderische Verhaltensweisen vermutet wurden. So stellte das Gericht 1714 fest, aufwendige Festgesellschaften schwächten vorab Minderhabenten, also, das sie an einem Dag so vill unnutzlich gebraucht, das sie ihre gantze Haushaltung mehrere Däg und Wochen darus häten erhalten khönnen. Es sei nebenbei bemerkt, daß zeitliche Verschwendung in diesem Zusammenhang kaum thematisiert wurde. Den Gerichtsherren war durchaus bewußt, daß die ärmeren Leute gezwungen waren, den gesellschaftlichen Maßstäben zu genügen, die von reicheren Haushalten gesetzt wurden. Das Gericht unternahm darauf verschiedene Versuche, die materiellen Aufwendungen der Feiern zu begrenzen. Die Maßnahmen stießen in der bäuerlichen Bevölkerung auf Zustimmung, wie deren Erfolg beweist. 34 Dies änderte sich allerdings, als die Klostergemeinschaft ab den 1760er Jahren begann, aufklärerisches Gedankengut zu rezipieren. So gelangten die Klosterherren zur Auffassung, daß auch Engelbergs bäuerliche Bevölkerung zu anhaltender Arbeit diszipliniert werden sollte. Die Einführung der Seidenkämmelei nach 1761 erfolgte in der ausdrücklichen Absicht, damit klein und grosse sowohl bei wüestem als gutem wetter ein schilling verdinen könnten. Es ging den aufklärerischen Geistlichen nicht nur darum, im Hochtal einen zusätzlichen Erwerbszweig aufzubauen, sondern 32 StiAr Engelberg, ETP II maius, S. 122-125. 33 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 448. 34 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 365-396. <?page no="171"?> N IC OL AS D I S C H 170 auch ausdrücklich darum, die Talleute vom Müßigang ab- und zu gleichmäßiger Arbeit anzuhalten. Die Seidenkämmelei entwickelte sich bald zum klösterlichen Vorzeigeprojekt: Die Klosterherren führten fremde Reisende mit Vorliebe in die Seidenstube, um die Fortschrittlichkeit ihrer Wirtschaftsweise unter Beweis zu stellen. So überschwenglich die fremden Besucher die Seidenkämmelei in ihren Reiseberichten erwähnten, so still blieb es in der heimischen Bevölkerung um sie. Die vorwiegend winterliche Hausarbeit blieb unbeliebt, nicht zuletzt, weil sie als Arbeit für arme Frauen und Kinder galt. Die zeitliche Disziplinierung fand in der Talbevölkerung keine erkennbare Zustimmung. 35 Die aufklärerische Geistlichkeit übte auch umfassende Kritik an der bäuerlichen Geselligkeit. Wie scharf deren Verurteilung ausfiel, zeigt etwa eine Predigt des Engelberger Geistlichen Berchtold Villiger (1767-1810) aus dem Jahr 1795. Villiger predigte am zweiten Adventssonntag - der nahe Nikolaustag war ein Höhepunkt bäuerlicher Geselligkeit - von der einreissenden Armuth und ihren Quellen oder Ursachen. Villiger legte den Predigtbesuchern dar, daß Müßigang, Wohlleben, Unhäuslichkeit und Mangel an Gottesfurcht die wesentlichen Ursachen für Armut seien. Villiger geißelte - wenig überraschend - die Genußkultur, die mit den bäuerlichen Festgesellschaften einherging, aber auch deren angeblich sittenverderbenden Einfluß. Er griff auch den hergebrachten Gemeinplatz, wonach Armut auf Arbeitsscheu zurückgehe, ausführlich auf. Auf die selbstgestellte Frage, wie diesen Mißständen abzuhelfen sei, antwortete Villiger bündig: Der arme soll dem schändlichen müssigang entsagen. Er soll seine eigene hände, und seine kinder und hausgenossen immer zu beschäftigen beflissen sein. Er soll dem wohleben entsagen, überflüssige ergözungen, lüste abschneiden; üppigkeit in kleidern, unmässigkeit im essen und trinken entfernen. 36 Es ist fraglich, ob die bäuerlichen Predigtbesucher eine unablässige Beschäftigung - selbst der Armen - ebenfalls für geboten hielten. Villigers Ausführungen bieten keinen Zugang zu bäuerlichem Zeitverhalten, selbst wenn sie gewissermaßen gegen den Strich gelesen würden. Allgemein ist vom Versuch abzuraten, bäuerliche Lebens- und Verhaltensweisen aus aufklärerischen Berichten zu rekonstruieren. Aufklärer begegneten dem schweizerischen Hirtenland - sofern sie es überhaupt aus eigener Anschauung kannten - mit ausgeprägter Voreingenommenheit. Sie wertschätzten nicht nur die ungebildete ländliche Bevölkerung wenig, sondern hielten die alpine Viehwirtschaft - beeinflußt durch entwicklungsgeschichtliche Theorien - für ein vorgeschichtliches Überbleibsel. Zudem verstärkten konfessionelle Vorurteile die Neigung, gerade die innerschweizerische Gesellschaft als besonders rückständig einzustufen. 37 35 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 189-194. 36 StiBi Engelberg, Berchtold Villiger: Predigten, Codex 813. 37 Vgl. dagegen die unkritische, jedoch rezeptionsgeschichtlich bedeutsame Auswertung alpiner Reiseberichte aus der Aufklärungszeit in R ALPH B IRCHER , Wirtschaft und Lebens- <?page no="172"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 171 Die bisherigen Ausführungen lassen mindestens umrißhaft erkennen, wie die Talleute das Jahr zeitlich gliederten. Dabei drängt sich allerdings die Frage auf, inwieweit auch mehrjährige Voraussicht bzw. Planung in bäuerlichen Kreisen verbreitet war. Der Ausbau des Außenhandels und die Mehrung größerer Bauernvermögen im 18. Jahrhundert sprechen dafür, daß die bäuerliche Oberschicht zu langfristiger Planung fähig war. Was die ärmeren Haushalte betrifft, besteht die grundsätzliche Schwierigkeit, daß sich aus deren beobachtbarem Verhalten nicht zwingend auf eine weiterreichende Vorausschau schließen läßt. Allerdings war den Gemeindeangehörigen mehrjährige Planung durchaus vertraut, wenn es um die Bewirtschaftung der Gemeingüter ging. So führte die Verschriftlichung der Alpordnungen dazu, daß diese anläßlich der alljährlichen Genossengemeinden immer weiter verfeinert und ausgebessert wurden: Diese Überarbeitungen bezogen die (verschriftlichten) Erfahrungen vieler Jahre mit ein und trugen zu einem Regelwerk bei, das weit über den anstehenden Alpsommer Geltung haben sollte. 38 Wenn ferner die Talleute über die Waldbewirtschaftung befanden, wurde dessen langfristiger Erhalt in den Beratungen nicht nur einbezogen, sondern ausdrücklich eingefordert. Die Gefahr eines schleichenden Waldschwunds beschäftigte die Gemeinde spätestens seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Die Waldnutzung erfuhr in den folgenden anderthalb Jahrhunderten zahllose Einschränkungen, die umso einschneidender waren, als die Bevölkerung existentiell davon betroffen war. Gleichwohl bestand ein grundsätzlicher Konsens in der Gemeinde, daß der Wald möglichst zu schonen sei, um dessen langfristige Nutzbarkeit zu gewährleisten. Uneinigkeit bestand höchstens bei der näheren Ausgestaltung der Nutzungsbeschränkungen. In der Alp- und Waldwirtschaft zeigte sich also die breite Bevölkerung durchaus fähig, in mehrjährigen Zeiträumen zu denken, und zwar sowohl in vergangene als auch in zukünftige Richtung. 39 4. Der weite Zeithorizont Die Talleute hatten verschiedene Möglichkeiten, sich als Individuen bzw. als Gemeinschaft in größeren Zeitspannen zu verorten. So war der bäuerlichen Bevölkerung die Vorstellung durchaus vertraut, daß sich das eigene, individuelle Dasein haltung im schweizerischen »Hirtenland« bis Ende des 18. Jahrhunderts, Bern 1979 [1938]. Vgl. diesbezüglich Anm. 6 sowie zur Wahrnehmung des Alpenraums seit der Frühen Neuzeit J ON M ATHIEU / S IMONA B OSCANI -L EONI (Hg.), Die Alpen! Zur europäischen Wahrnehmungsgeschichte seit der Renaissance, Bern 2005. 38 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 100-134, 320-339. 39 Im selben Sinn auch P. D UBUIS , Les paysans médiévaux (Anm. 1), S. 4; und J. P ETERS , »… dahingeflossen« (Anm. 1), S. 202. <?page no="173"?> N IC OL AS D I S C H 172 als Abfolge verschiedener Lebensabschnitte begreifen lasse. 40 Ob die bäuerliche Bevölkerung entwickelte Theorien über die Lebensalter besaß, läßt sich nicht genauer bestimmen, doch war die Unterscheidung zwischen Kindheit, Jugend, mittleren Jahren und Alter durchaus geläufig. Die Lebensabschnitte bildeten keine losgelösten Zeitkategorien, sondern waren ebenfalls in spezifische gesellschaftliche Zusammenhänge eingebettet. Typische Arbeits-, Beziehungs- und Verhaltensweisen gaben den einzelnen Lebensabschnitten ein abgrenzbares Profil, nicht das eigene Alter. Ohnehin kannten die Talleute dieses nur ungefähr, wie die oft ungenauen Selbstangaben vor Gericht belegen. 41 Wie die Talleute ihre eigene Kindheit erlebten und welche Erinnerungen sie damit verbanden, läßt sich mangels Selbstzeugnissen nicht beurteilen. Mindestens rechtlich war das erste Lebensalter klar abgegrenzt, vorab um die Dauer allfälliger Unterhaltspflichten festzulegen. Die Obrigkeit erinnerte regelmäßig daran, daß Eltern bzw. Pflegeeltern ihren Kindern die nötige Fürsorge und Erziehung schuldig seien. 42 Bei schwerem Versagen griff das Gericht mahnend bzw. strafend ein, so etwa 1759, als sich Pflegeeltern wegen ihres rauhen Kinderumgangs rechtfertigen mußten. Ein Zeuge erklärte, das klein hab müessen den gantzen summer geiss hüethen und einist hab er an einem sontag den knaben antroffen mit einer burdi würtzen, die hab ihn schier zu boden trucktht, dass sie ihm heben müessen aufhelfen, sunsten wüss er nichts, als dass der knab ihm gesagt, sie seien unmanierlich mit ihm umgangen und zeigen ihm nit, wie er müesse arbeiten. Die Hausmagd hingegen ergriff die Partei der Pflegeeltern und erklärte, daß den kindteren sei zu essen geben worden in allem, wie sie es gha heigit; gschlagen habens den bub einist beim tisch, dass der bub wegen essen gschmählt, da heben sie ihn beim haar gno und ein maultäschen gä, und das klein haben sie etwan einist geislet, sonsten heben sie die kindter bekleidt, dass sie heben vor die leüth dörfen, und unbillichs hab sie nichts gesechen. 43 Im Grunde genommen drückten beide Zeugen vergleichbare Vorstellungen aus, was den geziemenden Umgang mit Kindern betraf: Die Kleinen sollten ausreichend ernährt und gekleidet werden, nur maßvoll und begründet gezüchtigt werden, zu leichter Arbeit (wie der Hut des Kleinviehs) angeleitet, aber nicht ausgebeutet werden. Eltern sollten auch dafür sorgen, daß ihre Kinder bis zum 16. Lebensjahr die sonntägliche Kinderlehre besuchten und nicht etwa sonntags arbeiteten. Die Pfarr- 40 Zur frühneuzeitlichen Konzeption der Lebensphasen vgl. K ASPAR VON G REYERZ , Passagen und Stationen: Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen 2010. Zur Entstehung und Funktion biographischer Schemata vgl. T H . L UCKMANN , Gelebte Zeiten (Anm. 9), S. 283-304. 41 Vgl. auch J. P ETERS , »… dahingeflossen« (Anm. 1), S. 189. 42 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 275-277. 43 StiAr Engelberg, ETP XIV, S. 104-105. <?page no="174"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 173 herren zeigten sich allerdings verständnisvoll mit jenen Kindern, welche den Sommer hindurch auff den alpen und bergen wohnend öffters die christliche lehr versaumen. 44 Die Jugendzeit war zeitlich nicht genauer abgegrenzt, da ein gesellschaftliches Interesse dafür fehlte. Jugendliche zeichneten sich hingegen durch spezifische Arbeits- und Beziehungsformen aus. So erweiterte sich das Arbeitsfeld spürbar: Viele Jugendliche verließen zeitweilig ihre Familie und begaben sich innerbzw. außerhalb des Hochtals in verschiedene Dienste, vornehmlich als Magd bzw. Knecht, Lehrling oder Soldat. Dabei spurte die Familientradition den Entscheid für den einen oder anderen Dienst stark vor. Die familiären Beziehungen lockerten sich während der Dienstzeit nur bedingt, zumal Jugendliche oft aus dem Elternhaus auszogen und wieder dahin zurückkehrten. Diese Pendelbewegung war - wenn auch nicht ausschließlich - ein Kennzeichen jugendlichen Arbeitsverhaltens. Jugendliche pflegten ferner gesellschaftliche Beziehungen und Verhaltensformen, die für diese Lebensphase typisch waren. Von entscheidender Bedeutung waren diesbezüglich die jugendlichen ›peer groups‹, welche die Obrigkeit - vorab in ihrer männlichen Ausprägung - immer wieder beschäftigten. Weiter spielte die abendliche Geselligkeit eine wichtige Rolle, was die geschlechterübergreifenden Beziehungen betrifft. Diesbezüglich setzten ritualisierte Verhaltensweisen und gesellschaftliche Aufsicht - gerade auch der ›peer groups‹ - allerdings klare, bisweilen enge Grenzen. 45 Wer sich von den besagten Netzwerken und deren Geselligkeit löste, ließ auch die Jugendzeit hinter sich zurück. Es liegt auf der Hand, daß die Heirat einen solchen Schritt nach sich zog. Junge Leute verzichteten bisweilen nur ungern auf ihre jugendliche Ungebundenheit, wie der Fall des jungen Georg Dillier belegt, dem sein Vater in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Braut und Gut angeboten hatte. Der Sohn lehnte das Angebot ab, was er später damit erklärte, daß er, Georg, demme es [d. h. das Bauerngut] der Vatter antragen, hab noch kein Frauw ghabt, undt kein Lust darzuo. Der Vatter hab ihmme wollen Dorothe Firabet geben, die er nit gwolt. Eine Mutter sorgte ferner 1680 für erhebliches Aufsehen, als sie ihre beiden jungen Söhne verheiratete, nachdem diese zuo diser früözeitigen Ehe, daran sie von selbsten, ihrer eigenen Bekantnus nach noch nit gedenckht heten, durch ihre [d. h. der Mutter] Anmahnungen beredt worden waren. 46 Wann jedoch Ledige infolge ihres Alters aus den jugendlichen Netzwerken ausschieden, läßt sich schwerlich beurteilen. Ein Bericht aus dem frühen 19. Jahrhundert nennt in diesem Zusammenhang das 30. Lebensjahr, doch ist wahrscheinlicher, daß auch in diesem Fall das soziale Ermessen den Ausschlag gab. Wie die Talleute ihre mittleren Lebensjahre erlebten, läßt sich aufgrund der fehlenden Selbstzeugnisse nicht mehr feststellen. Andere Überlieferungszusammenhänge lassen selbst mittelbare Rückschlüsse nicht zu, so etwa die zahlreichen 44 StiAr Engelberg, Verkündbuch 1731-1733, Eintrag vom März 1732. 45 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 177-187, 513 f. 46 StiAr Engelberg, ETP IV, S. 74 bzw. 76. <?page no="175"?> N IC OL AS D I S C H 174 und ausführlich belegten Ehe- und Familienkonflikte, die vornehmlich bei häuslicher Gewalt zu gerichtlichen Auseinandersetzungen führten. Aus solchen Fällen lassen sich zwar die gesellschaftlichen Erwartungen herausarbeiten, die an das Ehebzw. Familienleben geknüpft wurden, aber kaum die Art und Weise, wie dieses gewöhnlich erfahren wurde. 47 Talleute begannen bereits in mittleren Jahren, für das Leben im Alter vorzusorgen. Die beunruhigende Aussicht, in späteren Jahren auf Unterstützung und Pflege angewiesen zu sein, führte zu verschiedensten Vorkehrungen. 48 Ehepaare ließen Testamente anfertigen, die vornehmlich darauf abzielten, die Versorgung des überlebenden Teils sicherzustellen. Die testamentarischen Ausführungen wurden von den Kanzleischreibern häufig mit einem ›Memento mori‹ eingeleitet, das gelegentlich kunstvoll auf den bzw. die Auftraggeber abgestimmt war. So wurde beispielsweise 1784 das Testament eines Jägers folgendermaßen eröffnet: So unsicher das gewild von dem tödlichen schutz des jegers, so wenig mag sich der jeger selbst, gleich all anderen sterblichen, von denen immer auf ihne gespanten pfeilen des todts gesicheret halten, und da er nit wüssen kann, wan er auf ihne ab- und lostruckht, so macht und sezte er alles in gute richtigkeit, was er für sich und die liebe seinige gethan zu haben wünschte. 49 Alleinstehende vermachten Vermögenswerte an Dritte, die sich als Gegenleistung zu genau festgelegten Unterstützungsleistungen verpflichteten. Die Betreuung durch Familienangehörige war nicht selbstverständlich angesichts der Tatsache, daß solche Verträge auch unter nahen Angehörigen geschlossen wurden. Hilfe war tatsächlich nötig, wenn sich die Altersbeschwerden einstellten, wobei vornehmlich Gehschwierigkeiten und abnehmendes Sehbzw. Hörvermögen beklagt wurden. Wenn etwa 1769 bei der Gemeindeversammlung bekannt wurde, daß herr amman Joseph Eugenii Häckhi ab dem Bergli von wegen seinem hochen alter, weiten entlägenheit von denen leüthen, besonders wegen sehr starckh und immer abnemmendten gehör, und der richter Joseph Feyraben wegen sein fürdaurendten leibsschwach- und krankheiten, auch ebenmässig starchem alter, ernstlich gebätten und angehalten, dass sie ihrer empter und beschwerden möchten entlassen werden, so waren damit die geläufigsten Altersgebrechen bezeichnet. 50 Es werde ihm nit mehr so manchen Schnee uf die Nasen schneyen als uf die [Alp] Blanggen, brachte ein ehemaliger Älpler seine zur Neige gehende Lebenszeit auf den Punkt. 51 Ältere Menschen verfügten allerdings auch über weit zurückreichende Erinnerungen, welche die Gemeinde regelmäßig beanspruchte. So gab beispielsweise der greise Georg Dillier 1679 bereitwillig Auskunft vor Gericht und erklärte, was er wisse, habe ihm sin Vatter erzelt, 47 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 243-272, 297-320. 48 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 273-279, 287-291. 49 StiAr Engelberg, ETP XVII, S. 537-539. 50 StiAr Engelberg, ETP XV, S. 53. 51 StiAr Engelberg, ETP IV, S. 113 f. <?page no="176"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 175 undt habs von dess Georgen Grossvatter naher, der im Raht anno 1600 gsi sie. 52 Wenn schließlich das Lebensende bevorstand, sorgten sich viele um einen guten Tod und ein wunschgemäßes Begräbnis. Wer nicht überraschend vom Tod ereilt wurde, legte in der Sterbestunde die Beichte ab und empfing die Sterbesakramente. Inwieweit die Sterbenden die kirchlichen Jenseitsvorstellungen teilten, läßt sich nicht beurteilen. Kinderlose errichteten jedenfalls bevorzugt Gebetsstiftungen, um sich irdischer Fürsprecher zu versichern. 53 Die Talleute verorteten sich nicht nur biographisch, sondern auch als Gemeinschaft in umfassendere Zeiträume. Vornehmlich erinnerte man sich an die kollektive Vergangenheit, wenn es um die Durchsetzung bzw. Bewahrung politischer Rechte ging. Die Talleute hatten nämlich im 15. Jahrhundert die klösterliche Grundherrschaft erfolgreich zurückgedrängt, wobei die Schirmorte der Herrschaft Engelberg wiederholt mit Truppen einmarschieren mußten, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Der Streit schwelte unter der Abtsherrschaft Jakob Benedikt Sigerists (1603-1619) nochmals kurz, aber heftig auf. Die Talleute legten großen Wert darauf, den erkämpften Rechtszustand schriftlich zu sichern, um diesen bei späteren Unstimmigkeiten einfordern zu können. Urkunden und Freiheitsbriefe wurden im sogenannten Talkasten aufbewahrt, der sich in der Obhut des Säckelmeisters befand. Die gültige Rechtsordnung war ferner im Talbuch kodifiziert. Der Talkasten bzw. das Talbuch bewahrten bis ins späte 18. Jahrhundert ihre Bedeutung, wie zwei Beispiele verdeutlichen. So verursachte 1771 das Gerücht erhebliche Unruhe, wonach der verstorbene Talammann heimlich Briefe aus dem Talkasten entwendet und dem Kloster übergeben hätte. Die Schriftstücke hätten von Rechten gehandelt, die für die Talleute vorteilhaft, aber für das Kloster nachteilig gewesen seien. Geradezu possenhafte Szenen spielten sich 1790 bei der längst überfälligen Revision des Talbuchs von 1582 ab. Ein gemischter Ausschuß wurde beauftragt, überholte bzw. unverständliche Stellen zu überarbeiten. Der Entwurf stieß in der Talgemeinde jedoch auf heftige Ablehnung. Schließlich einigte man sich darauf, eine genaue Kopie des alten Talbuchs herzustellen. Die Abschrift erfolgte in der äbtischen Kanzlei: Während der amtierende Abt Leodegar Salzmann die Bestimmungen des alten Talbuchs einzeln diktierte, schrieb Pfarrer Magnus Waser diese in ein neues Buch nieder, wobei Talleute beiden Geistlichen über die Schulter schauten. 54 In diesem Zusammenhang ist aufschlußreich, wie die Talleute 1619 ihre Freiheiten gegenüber den zuständigen Schirmorten Luzern, Schwyz und Unterwalden verteidigten: Item so finden wir auch in den Croneckhen wie auch in dem Regimentbüöchly, 52 StiAr Engelberg, ETP IV, S. 74. Vgl. diesbezüglich A. L ANDWEHR , Geburt der Gegenwart (Anm. 5), S. 109-112. 53 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 294. 54 N. D ISCH , Hausen im wilden Tal (Anm. 11), S. 339-364. <?page no="177"?> N IC OL AS D I S C H 176 dass die 3 alten orth niemallen undrem zwang oder hus ostreich gsin sygend anders weder mit etlicher ihrer vorbehaltener freyheiten und auch harnach eidtgnosen worden. gutter hofnung, will unsren gnädigen schirmherren und vatteren uns under ihrem schirm habend, so hofen wie sy seyen auch [wir] ehrliche eidtgnosen, dieweill wir oder die unsren alten tallleüth auch zu capell sich ehrlich gehalten und sy sich auch so vill dahin verfüegt, dass einem solchen willdem kleinen thall nit mehr zu vermutten gesin sigen, deren namen man nit alle wüssen mag, doch noch heüth in dem tall vorhanden sind darein sy etliche kennt, die hernach mit dem namen vermuetet sindt als namlich Marquart Amos, Caspar Amstutz, Heinrich Firabet, Hans Diller, Uly Willer, Heiny Waser, Mathis Niderberger, Jöry Barmettler, Niclaus Würsch, Melchior Matter, Hans Staller und anderen mehr, deren namen man nit weiss die von unseren getrüwen lieben alten tallleüth sind geschickt worden […]. 55 Einleitend erinnerten die Talleute an den gemeinsamen Kampf gegen die Habsburger, aber auch an die Teilnahme an der Schlacht von Kappel 1531. Daß die Erinnerung an die Engelberger Wehrleute auch nach fast 90 Jahren nicht verblaßt war, belegten die Talleute durch eine lange Namensliste. Die kollektive Erinnerung war deshalb von herausragender Bedeutung, weil die Vergangenheit identitätsstiftend bzw. normsetzend wirkte. 56 Ein bemerkenswerter Versuch, die Vergangenheit für die Gegenwart verfügbar zu machen, unternahm der Engelberger Dorfscherer Sepp Flori Feierabend (1694-1740) mit seinem umfangreichen Sammelband Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten aus dem Jahr 1731. Der Autor stammte - das ist bemerkenswert - nicht aus einer Ratsfamilie, d. h. er gehörte nicht der bäuerlichen Oberschicht an. Feierabend muß für die Abfassung seines Werks umfangreiche Recherchen vorgenommen haben. Es ging ihm offensichtlich darum, die politische Geschichte seiner Heimat darzustellen. Gewiß spielte auch die Absicht mit, bestehende Rechtsverhältnisse zu legitimieren. Allerdings bestand kaum ein unmittelbarer Anlaß dafür, zumindest standen Talvolk und Kloster unter der Abtsherrschaft Emanuel Crivellis (1730-1749) in gutem Verhältnis. Es ist also - bei aller gebotenen Vorsicht - anzunehmen, daß Feierabends historische Forschungen nicht rein zweckgebunden waren, sondern auch einem tieferen Interesse für die Vergangenheit entsprangen. Feierabend bemühte sich durchaus, historischen Veränderungen nachzuspüren, und begnügte sich nicht mit der Berufung auf eine undifferenzierte Vergangenheit. Ein einfacher Talmann wie Feierabend bewegte sich mit einiger Selbstverständlichkeit in einem Zeithorizont, der mehrere Jahrhunderte weit reichte. 55 StiAr Engelberg, Alphons Floridus Joseph Feierabends ›Thals Engelberg Rechtsbriefe, Schuldigkeiten und Gewohnheiten‹, Codex 325, 1731. 56 Zusammenfassend A. L ANDWEHR , Geburt der Gegenwart (Anm. 5), S. 101-111. <?page no="178"?> I M G EW E BE DER Z EITEN 177 5. Zusammenfassung Im vormodernen Engelberg bestanden ereigniszeitliche und uhrzeitliche Zeitauffassung während Jahrhunderten weitgehend konfliktfrei nebenbzw. miteinander. 57 Uhrzeitliche Regelungen wurden der bäuerlichen Gesellschaft nicht obrigkeitlich aufgedrängt. Die Bauern nutzten die Uhrzeit auch aus eigenem Antrieb, wenn dies die Koordination bzw. Synchronisierung landwirtschaftlicher Arbeiten bzw. öffentlicher Anlässe erleichterte. Die Uhrzeit blieb jedoch ein sektorieller und kein universeller zeitlicher Bezugsrahmen: 58 Wo uhrzeitliche Festlegungen nicht geeignet erschienen, blieben zeitliche Festlegungen von gesellschaftlicher Verständigung abhängig, wobei diese stets aufs Neue ausgehandelt werden mußten. Ein rationalisierter Umgang mit Zeit war der bäuerlichen Bevölkerung durchaus vertraut. Erhöhte Zeitwirksamkeit wurde jedoch nur in jenen Wirtschaftszweigen gefordert, bei denen der Nutzen einer solchen Einstellung offenkundig war, so etwa im Außenhandel. Dies bedeutet, daß Talleute fähig waren, sich in verschiedenen Zeitauffassungen bzw. in einer pluritemporalen Zeitlandschaft zu orientieren. Fremde Zeitvorstellungen, die der bäuerlichen Lebenswelt nicht angepaßt waren, wurden hingegen kaum integriert. So wurde der Aufruf der aufklärerischen Geistlichkeit, andauernd und gleichförmig zu arbeiten, kaum ohne zwingende Gründe befolgt. Die Talleute kannten ferner keine natürliche Zeit bzw. keinen natürlichen Kalender: Witterungs- und Vegetationsbedingungen wurden erst durch gesellschaftliche Aushandlung zu Zeitanzeigern. Da zahlreiche Stichtage und Fristen kalendarisch festgelegt waren, ließen sich natürliche Schwankungen nur bedingt berücksichtigen. Weiter erforderte die Mehrstufenwirtschaft erhebliche zeitliche Vorausplanung. Gemeinalpen und Allmend wurden durchaus in mehrjähriger Voraussicht bewirtschaftet. Ferner ermöglichten biographische Zeitkategorien, umfassendere Zeiträume - wenn auch stark kontextgebunden - zu integrieren. Was vergangene Zeiträume betraf, reichte das dörfliche Gedächtnis noch deutlich weiter. Insgesamt prägten Fragen nach dem rechten Augenblick bzw. der rechten Dauer den bäuerlichen Alltag und hielten ein hohes Zeitbewußtsein wach. Zeitfragen wurden mit beachtlicher Häufigkeit ausgehandelt, was der Vorstellung widerspricht, ländliche Gesellschaften hätten sich nach einer vorgegebenen Naturzeit ausgerichtet. Ferner besaß die bäuerliche Bevölkerung nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Neigung, längerfristig zu planen. Der Befund spricht insgesamt 57 Im selben Sinn P. D UBUIS , Le temps des paysans (Anm. 1), S. 64; A. L ANDWEHR , Alte Zeiten (Anm. 9), S. 25-29. 58 Mit den Worten von N. E LIAS , Über die Zeit (Anm. 8), S. 14, 23, 114 bzw. 190, könnte wertungsfrei von einer niedrigeren Synthesehöhe bzw. Integrationsstufe zeitlicher Kategorien gesprochen werden. <?page no="179"?> N IC OL AS D I S C H 178 nicht für die Behauptung, die vormoderne Landbevölkerung wäre der Zeit gleichgültig gegenüber gestanden. Zeitfragen waren zwar im bäuerlichen Alltag allgegenwärtig, wurden aber kaum als solche ausgewiesen. Zeitkategorien gingen aus spezifischen gesellschaftlichen Abläufen hervor, die einer zeitlichen Koordination bedurften. Entsprechende Zeitvorstellungen blieben stark situationsbzw. handlungsgebunden: Sie wurden nicht nur durch entsprechende Kooperationssituationen gebildet, sondern auch durch diese überliefert und verändert. Dies erklärt auch, warum die bäuerliche Bevölkerung keinen übergreifenden Zeitbegriff entwickelte: Es gab im ländlichen Alltag keine Situation, die eine solche Zeitvorstellung erfordert hätte. In der Vormoderne machte die Frage, was Zeit an sich sei, höchstens im wissenschaftlichen, philosophischen oder theologischen Kontext Sinn. Es empfiehlt sich daher, ländliche Zeitkategorien möglichst in jenen konkreten gesellschaftlichen Situationen zu untersuchen, die ihren Ursprung bilden. Auch wären - ganz in Maurice Halbwachs’ Sinne - Untersuchungen wünschenswert, welche die Zeitordnung verschiedener Dörfer miteinander verglichen. Die Zeit d e s Landes oder d e r Bauern gibt es nicht. <?page no="180"?> 179 R OLF K IESSLING Juden und Christen im konkurrierenden Zeittakt. Zum Umgang mit den Alltagsabläufen in den schwäbischen Judengemeinden im 17./ 18. Jahrhundert Die Sonntagsheiligung beschwor vielfach Konflikte im jüdisch-christlichen Zusammenleben der Frühen Neuzeit herauf: Die Forderungen der kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten an ihre christlichen Untertanen, vor allem ihre Pflicht des Gottesdienstbesuchs nicht zu vernachlässigen und sich ansonsten aller Arbeiten zu enthalten, fanden die stete Ergänzung für die jüdischen Schutzverwandten, diesen Sonntag als christliche Einrichtung zu respektieren und sich Zurückhaltung aufzuerlegen. Ein Beispiel unter vielen ist der Schutzbrief für die Judengemeinden der Grafschaft Oettingen-Wallerstein im Ries von 1762: Wird ihnen Juden unter 5. R[eichs]th[a]l[ern] Straf überhaupt an christl[ichen] Sonn-und Feyertägen, auch anderen Heil[igen] Zeiten nicht nur sich still, ruhig und eingezogen zu halten, ernstl[ich] gebotten, sondern auch in Specie das Handlen in Christen Häußern, das offentl[iche] Waschen, das Hochzeithalten mit ofentl[icher] Musik und das Tanzen zur Fastenzeit, auch an Vorabenden heil[iger] Zeiten geschärftest untersaget. 1 Die unterschiedlichen Wochen- und Jahresabläufe der beiden Bevölkerungsgruppen sorgten regelmäßig für Irritationen und lösten dementsprechend Normsetzungen der Obrigkeiten aus. Das ist jedoch nur die eine Seite. Die andere bezieht sich auf die Einhaltung der Normen, denn hier gab es offenbar sehr unterschiedliche Gewohnheiten. Während die Christen immer wieder ermahnt wurden, die Sonntagsheiligung ernster zu nehmen, erscheint die Umsetzung der Schabbatgebote bei den Juden als etwas ganz Selbstverständliches. In Nördlingen meinte der Rat in einem Erlaß von 1695, der sich gegen die Abwicklung von Geldgeschäften mit Juden - aus benachbarten Dörfern - am Sonntag richtete, sogar: […] daß die blinden und verstockten Juden ihren Sabbath mit höherer Andacht hielten als solche der wahren Religion zugethane, aber laulichte und kaltsinnige Christen, die des christlichen Namens unwürdig seien. 2 1 J OHANNES M ORDSTEIN , Selbstbewußte Untertänigkeit. Obrigkeit und Judengemeinden im Spiegel der Judenschutzbriefe der Grafschaft Oettingen 1637-1806 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 2), Epfendorf 2005, S. 257-262, Zitat 260. 2 L UDWIG M ÜLLER , Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Riess, in: ZHVS 25 (1898), S. 1-124; 26 (1899), S. 81-182; hier 25, S. 106 Anm. 1. <?page no="181"?> R OLF K IE S S LING 180 Abgesehen von der antijüdischen Grundhaltung, die sich in dieser Äußerung spiegelt: Der Lebensalltag folgte offenbar auch unterschiedlichen Graden der Verbindlichkeit - die etwas zu tun haben mit dem Selbstverständnis von Mehrheit und Minderheit. Gerade an dieser Stelle erscheint eine genauere Analyse der ›konkurrierenden Zeittakte‹ in der voremanzipatorischen Zeit aufschlußreich, in der die religiöse und kulturelle Verschiedenartigkeit noch zu den Grundkonstanten christlichjüdischer Begegnung gehörte. Nach einigen Vorüberlegungen zu den Rahmenbedingungen (1.) sollen deshalb zumindest einige Bereiche aus den Wochen- und Jahresabläufen von Christen und Juden in den Blick genommen werden, wie sie in den schwäbischen Gemeinden praktiziert wurden (2.), und anschließend einige Schlußfolgerungen daraus für das Verhältnis der Räume gezogen werden, in denen Juden und Christen mit- oder nebeneinander lebten (3.). Werden die konkurrierenden Zeitordnungen somit als Element für den Umgang mit dem ›Anderen‹ begriffen, so vermag auch die Veränderung dieser Größen von Zeit und Raum als Element der Akkulturation im Übergang zur Moderne (4.) zumindest ansatzweise den Wandel zur Integration anzudeuten. Freilich ist dabei einzugestehen, daß die folgenden Überlegungen vorwiegend aus der christlichen Perspektive entwickelt werden, weil Quellen nur auf dieser Seite reichlicher überliefert sind. 1. Voraussetzungen: ›Volkstümliche Orthodoxie‹ und Konfessionalisierung Anknüpfend an die eingangs zitierte Gegenüberstellung der Sicht auf die Gewohnheiten christlicher Sonntagsbzw. jüdischen Schabbatheiligung erscheint die Erinnerung an einige Rahmenbedingungen notwendig. 3 Es geht dabei vorwiegend um die jüdische Existenz im ›Medinat Schwaben‹, die aus jüdischem Selbstverständnis heraus mit dem ostschwäbischen Raum verbunden war und in der Markgrafschaft Burgau ihr Zentrum hatte 4 - ganz ähnlich wie im ›Medinat Bodase‹ oder ›Medinat 3 Vgl. generell dazu R OLF K IESSLING (Hg.), Judengemeinden in Schwaben im Kontext des Alten Reiches (Colloquia Augustana 2), Berlin 1995; zum schwäbischen Landjudentum darin D ERS ., Zwischen Vertreibung und Emanzipation - Judendörfer in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit, S. 154-180. 4 S TEFAN R OHRBACHER , Medinat Schwaben. Jüdisches Leben in einer süddeutschen Landschaft in der Frühneuzeit, in: R. K IESSLING , Judengemeinden in Schwaben (Anm. 3), S. 80- 109; S TEFAN R OHRBACHER , Die jüdischen Gemeinden in den Medinot Aschkenas zwischen Spätmittelalter und Dreißigjährigem Krieg, in: C HRISTOPH C LUSE / A LFRED H AVERKAMP / I SRAEL J. Y UVAL (Hg.), Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlicher vergleichender Betrachtung von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, Hannover 2003, S. 451-463. <?page no="182"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 181 Ries‹ und ›Medinat Aschpah‹ in Franken 5 - bzw. in der ›gemainen Jüdischheit in Schwaben‹, 6 einer aus der Sicht des Kaisers weiter ausgreifenden Zusammengehörigkeit im Südwesten des römisch-deutschen Reiches. Sie war zum einen von der komplexen Durchdringung der drei herrschaftlichen Ebenen Reich - Landesherrschaft - Ortsherrschaft bestimmt, woraus sich die Wechsellagen von Schutz und Vertreibung ableiten lassen. Die relative Größe der ›Kehillot‹, der voll ausgeprägten jüdischen Gemeinden, 7 die schließlich im 17./ 18. Jahrhundert aus den anfänglich nur kleinen Ansiedlungen erwuchsen, fiel schon den Zeitgenossen auf und sorgte zusammen mit der Gewährung von Gemeinderechten für die Ausbildung von ›Doppelgemeinden‹, in denen die Nutzungsgenossenschaft die parallelen Strukturen von christlicher Kirchengemeinde und jüdischer Synagogengemeinde überwölbte. 8 Das ist insofern von Bedeutung, als damit der Status der numerischen Minderheit zumindest innerhalb der Orte wegfiel und so die jüdischen Gemeinden ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein entwickelten, das sich im Alltag niederschlug. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Christen und Juden trotz ihrer unterschiedlichen Religionen und damit kulturellen Verankerungen keine völlig separierten Gruppen darstellten, sondern auf verschiedenen Beziehungsebenen miteinander kommunizierten. Worauf sich der Rat von Nördlingen aber vor allem bezog, war die Beachtung der Halacha, des Gebotskatalogs für die Lebenspraxis. Mordechai Breuer hat sie für das Landjudentum mit dem Begriff der ›volkstümlichen Orthodoxie‹ umrissen: »In den typischen Landgemeinden sprach man einen deutschjüdischen Dialekt, gemischt mit vielen Ausdrücken örtlicher Mundart. Man schrieb seine deutschen Briefe und Notizen mit hebräischen Schriftzeichen.« Man war trotz »minimaler« jüdischer Bildung »gewissenhaft in der Beachtung jüdischen Gesetze und Gebräuche, fromm ohne Prunk und Pathos. Das Zentrum [des] häuslichen und gesellschaft- 5 Vgl. K ARL H EINZ B URMEISTER , Medinat Bodase. Zur Geschichte der Juden am Bodensee, 3 Bde., Konstanz 1994-2001; B ERNHARD P URIN , Judaica aus der Medina Aschpah: die Sammlung des Jüdischen Museums Franken in Schnaittach, Fürth 2003. 6 S TEFAN L ANG , Ausgrenzung und Koexistenz. Judenpolitik und jüdisches Leben in Württemberg und im »Land zu Schwaben« (1492-1650) (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 63), Ostfildern 2008, S. 233-264. 7 Vgl. dazu R AINER J OSEF B ARZEN , Ländliche jüdische Siedlungen und Niederlassungen in Aschkenas. Vom Hochmittelalter bis ins 16. Jahrhundert. Typologie, Struktur und Vernetzung, in: Aschkenas 21 (2013), S. 5-35, hier 18-20. 8 Vgl. dazu die materialreiche Studie von S ABINE U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151), Göttingen 1999; zusammenfassend R OLF K IESS - LING / S ABINE U LLMANN , Christlich-jüdische »Doppelgemeinden« in den Dörfern der Markgrafschaft Burgau während des 17./ 18. Jahrhunderts, in: C HR . C LUSE / A. H AVER - KAMP / I. J. Y UVAL , Jüdische Gemeinden (Anm. 4), S. 513-534. <?page no="183"?> R OLF K IE S S LING 182 lichen Lebens waren der Sabbat und die Feiertage«. Die Verankerung in der religiösen Tradition war also eng mit dem Rhythmus des Wochen- und Jahresablaufs verbunden. Breuer weist aber - vor allem mit Blick auf das 19. Jahrhundert - darauf hin, daß »der Zyklus der Jahreszeiten und die Folge der religiösen Festtage ihrem religiösen Leben eine Stabilität und Regelmäßigkeit [verliehen], die von der Unruhe, den Spannungen und Versuchungen des Stadtlebens noch unberührt war«. 9 Das schließt freilich nicht aus, daß gerade in den ländlichen Räumen, in denen die Siedlungsstruktur noch von Kleinstgemeinden und Einzelfamilien gekennzeichnet war - und das war zunächst im 16. Jahrhundert generell der Fall, dann aber in vielen Territorien weiterhin von den Herrschaftsträgern als ›Atomisierung‹ 10 gewollt -, die Beachtung der halachischen Vorschriften vielfach nur eingeschränkt möglich war. 11 Somit bildeten sich unterschiedliche Räume des Verhaltens. Sie schlugen sich etwa in der Ausformung eines spezifischen ›Minhag‹, also einer regionalen Praxis von Alltagsgewohnheiten nieder, wie sie Stefan Rohrbacher etwa am Beispiel des Gebrauchs von Butter gezeigt hat: So war es in Schwaben üblich, »die Butter der Nichtjuden [zu] essen und sich dem nicht entgegen[zu]stellen, weil man sie von den Bergen bringt« - man konnte ihre Produktion also nicht darauf kontrollieren, ob sie auch koscher zubereitet wurde. Der ›Minhag Schwaben‹, »also eine für diese Region kennzeichnende Ausprägung von Ritus, Brauchtum und religiöser Observanz«, der in vieler Hinsicht wohl auf den berühmten Rabbi Jakob Weil in seiner Augsburger Zeit zurückging, hatte durchaus verbindlichen Charakter. 12 Auf der anderen Seite stand die christliche Umwelt, für die im Zeitalter der Konfessionalisierung eine neue Welle der ›Verchristlichung‹, eine Verinnerlichung 9 M ORDECHAI B REUER , Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871-1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt/ Main 1986, S. 41-60, hier 48f.; vgl. auch seine grundsätzlichen Bemerkungen: D ERS ., Jüdische Religion und Kultur in den ländlichen Gemeinden 1600-1800, in: M ONIKA R ICHARZ / R EINHARD R ÜRUP (Hg.), Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 56), Tübingen 1997, S. 69-78. 10 Der Begriff stammt von D ANIEL J. C OHEN , Die Landjudenschaften in Hessen-Darmstadt bis zur Emanzipation als Organe der jüdischen Selbstverwaltung, in: C HRISTIANE H EINEMANN , Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden 1983, S. 151-214, hier 151f., und meint die gewollte extreme Vereinzelung jüdischen Lebens, so daß häufig nur 1-2 Familien in einem Ort wohnen durften. 11 S TEFAN R OHRBACHER , »Erlaubt es uns, ihm folgen wir.« Jüdische Frömmigkeit und religiöse Praxis im ländlichen Alltag, in: S ABINE H ÖDL / P ETER R AUSCHER / B ARBARA S TAU - DINGER (Hg.), Hofjuden und Landjuden. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Berlin- Wien 2004, S. 271-282. 12 S T . R OHRBACHER , Medinat Schwaben (Anm. 4), S. 82-84. <?page no="184"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 183 der kirchlichen Normen, intendiert war. Gerade in Schwaben, wo das kleinräumige Gegenüber evangelischer Reichsstädte und nur weniger lutherischer Herrschaften wie der Teilgrafschaft Oettingen-Oettingen, des Fürstentums Pfalz-Neuburg (evangelisch nur bis 1614) oder reichsritterschaftlicher Enklaven wie Burtenbach oder Grönenbach mit einem ansonsten flächigen katholischen ›Land‹ für komplexe Verhältnisse sorgte, 13 bewirkte die jeweilige Selbstvergewisserung der beiden Konfessionen eine intensive Kontrolle des Alltags. Mit einer Mischung aus obrigkeitlicher Normensetzung und Selbstkonfessionalisierung der Gemeinden wurde die Homogenisierung des kirchlichen Lebens betrieben und abweichendes Verhalten sanktioniert. Auf die jeweiligen ›Policeyordnungen‹ der Herrschaftsträger braucht hier nur pauschal verwiesen zu werden. 14 Unter ihnen waren nicht wenige, die auf die strikte Beachtung der Sonn- und Feiertage, insbesondere des Gottesdienstbesuches, pochten und damit den Rhythmen des Lebens besonderes Augenmerk schenkten. Im Gegensatz zu den Juden in Schwaben ist aber nicht davon auszugehen, daß die Umsetzung der jeweiligen kirchlichen Normen bereits als gelungen gelten konnte - man denke nur an die vehementen Versuche, den sog. Aberglauben auszumerzen -, sondern sie mußten erst einmal gefunden und immer wieder neu eingeschärft werden. In den jeweiligen herrschaftlichen Zusammenhängen von Reichsstadt und städtischem Territorium selbst, vor allem aber bei den vielen herrschaftlich und damit konfessionell umstrittenen Dörfern in der Markgrafschaft Burgau 15 oder im Allgäu 16 sollten manche eingeübten Gewohnheiten beseitigt werden, und bei einem Konfessionswechsel wie 1609 in Donauwörth oder 1614 in Pfalz-Neuburg wurde dementsprechend eine ›Umpolung‹ vollzogen. Selbstvergewisserung im Gegenüber zum ›Anderen‹ war also auch ein Handlungsmuster für die Beziehungen der christlichen Konfessionen. Gegenüber den Juden verschärften sich derartige Abgrenzungen, basierten sie doch zusätzlich auf 13 Vgl. dazu die Karte bei W OLFGANG Z ORN , Historischer Atlas von Bayerisch-Schwaben, Augsburg 1966, Karte 36; sowie den Band P EER F RIESS / R OLF K IESSLING (Hg.), Konfessionalisierung und Region (Forum Suevicum 3), Konstanz 1999. 14 Vgl. dazu K ARL H ÄRTER , ›Gute Ordnung und Polizei‹ des Alten Reiches in der Region: Zum Einfluß der Reichsgesetzgebung auf die Ordnungsgesetzgebung süddeutscher Reichsstände, in: R OLF K IESSLING / S ABINE U LLMANN (Hg.), Das Reich in der Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Forum Suevicum 6), Konstanz 2005, S. 187- 223. 15 D IETMAR S CHIERSNER , Politik, Konfession und Kommunikation. Studien zur katholischen Konfessionalisierung der Markgrafschaft Burgau 1550-1650 (Colloquia Augustana 19), Berlin 2005. 16 S TEFAN B IRKLE , … dem laidigen pabsttumb urlaub zu geben. Reichsritterschaft und Reformation in Oberschwaben, Diss., Augsburg 2012. <?page no="185"?> R OLF K IE S S LING 184 unterschiedlichen religiös-kulturellen Verankerungen - und Konflikte waren damit vorprogrammiert. 2. Der Umgang mit unterschiedlichen Rhythmen und deren Kulturen Auszugehen ist von der einfachen Tatsache, daß der jüdische und der christliche Kalender in der Frühen Neuzeit grundlegend voneinander abwichen. Daß das Kirchenjahr wie das jüdische Festjahr von der bereits üblich gewordenen Datumsbestimmung abwichen, war zwar den beiden Seiten gemeinsam, blieb aber letztlich ohne Relevanz. Die unterschiedliche Jahreszählung, die Monatsfolgen und die Tagesbenennung fielen ebenfalls kaum ins Gewicht, weil sie einerseits - wie etwa bei den Ereignissen des Lebenskreises von der Geburt bis zum Grab - intern gehandhabt wurden, andererseits der administrative und wirtschaftliche Verkehr gleichsam selbstverständlich auf die Gewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft ausgerichtet war, was sich aufgrund der herrschaftlichen Vorgaben auch in der Protokollierung der Geschäftsabschlüsse wie des Verwaltungsschrifttums niederschlug. Für die Begegnung im Alltag spielten demgegenüber vor allem die Schabbat/ Sonntags-Heiligung und die Folge der Jahresfeste eine entscheidende Rolle, realisierten sich doch in ihnen andersartige Rhythmen, die für die andere Seite nicht nur wahrnehmbar waren, sondern auch konkrete Auswirkungen hatten und den Kern eines vielfältigen Konfliktpotentials bildeten. Die strenge Beachtung der religiösen Vorschriften verstärkte die kollektive Einordnung als ›Fremde‹ 17 oder zumindest als ›die Anderen‹. (1) Das nächstliegende Unterscheidungsmerkmal im christlich-jüdischen Alltag, das schon in den einleitenden Bemerkungen angesprochen wurde, war zweifellos die Schabbat- und Feiertagsheiligung. Am Schabbat gehörte dazu insbesondere neben dem obligatorischen Synagogenbesuch vor allem das Einhalten des Ruhegebots. Aufgrund des hohen Stellenwerts dieses siebten Wochentags gestaltete sich der Umgang mit der ›Ruhezeit‹ ganz anders als bei den Christen. Denn bekanntlich war den Juden nicht nur jegliche Arbeit, sondern auch die Herstellung von Mahlzeiten oder das Entzünden von Licht und Feuer verboten, 18 weshalb es üblich war, christliche Hilfskräfte für die alltäglichen Arbeiten zu beschäftigen. Die wöchentliche Ruhezeit im jüdischen Leben war damit weit rigoroser definiert als bei den Christen - auch wenn es einige Möglichkeiten gab, die strenge Beschränkung des Aufenthalts auf das Haus zu erweitern. Der bekannteste und vielfach genutzte 17 Vgl. dazu W ERNER C AHNMANN , Der Dorf- und Kleinstadtjude als Typus, in: Zeitschrift für Volkskunde 70 (1974), S. 169-193. 18 Vgl. dazu S USANNE G ALLEY , Das jüdische Jahr. Feste, Gedenk- und Feiertage, München 2003, S. 39-43. <?page no="186"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 185 Weg, um den Bewegungsspielraum auszudehnen, war der ›Eruw‹, das Spannen von Schabbatschnüren bzw. das Aufrichten von Schabbatschranken: Sie waren um die Judenhäuser bzw. an den Ortsausgängen befestigt und signalisierten die Erweiterung des engeren Hausbezirks als Schabbat-Ruhesitz. Doch es gab noch andere Möglichkeiten. Barbara Rösch hat auf den ›Schabbesweg‹ hingewiesen: Zwar waren nach der Halacha nur Spaziergänge in einer Entfernung von 2.000 Ellen zulässig, doch konnte man die Distanz auch vervielfachen. 19 So wird beispielsweise die Sitte beschrieben, daß man »vor Eintritt des Schabbats am Ende der 2.000 Ellen einen bestimmten Gegenstand, ein Stück Brot etwa, niederlegt und den Segen spricht, oder dort eine Zeitlang stehen bleibt, um somit einen zweiten Schabbatsitz zu gründen. Daraufhin können von diesem Punkt aus durch die Verbindung von ›erlaubtem‹ und ›unerlaubtem‹ Gebiet weitere 2.000 Ellen gegangen und Gegenstände getragen werden«. 20 Die Fischacher Juden benutzen auf diese Weise am Schabbat gerne einen Waldweg zwischen dem nahen Aretsried und Ustersbach zur Erholung. 21 Aus innerjüdischen Gründen errichtet, ist leicht nachzuvollziehen, daß sich an den innerdörflichen Schabbatschranken Konflikte entzündeten, weil sich die christliche Bevölkerung in ihren Belangen tangiert fühlte und die Erweiterung des Hausbezirks als Versuch interpretierte, die jüdische Präsenz im Dorf zu steigern. Aus Fischach ist überliefert, daß der Pfarrer seit 1767 mehrmals gegen diese ›Porta Jerusalem‹ polemisierte. Die dicht gedrängten Häuser des Judenhofs lagen nahe der Pfarrkirche, so daß die aufgespannten Drähte Kirche, Pfarrhof und weitere Christenhäuser umschlossen. Noch 1821 beklagte sich der neue Ortsgeistliche darüber, vor lauter Drahtstangen komme man sich wie in einem Käfig vor, könne man nicht mit Kreuz und Fahnen durch den Ort gehen und werde so in der Ausübung religiöser Bräuche aufs schlimmste behindert. 22 Ähnliche Auseinandersetzungen sind auch in anderen Dörfern belegt. 23 Besonders aufschlußreich ist dabei ein Beispiel aus Kriegshaber bei Augsburg: Dort war der Streit um die Drähte 1721 eskaliert, weil Burschen aus der Christen- 19 B ARBARA R ÖSCH , Der Judenweg. Jüdische Geschichte und Kulturgeschichte aus Sicht der Flurnamenforschung (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 8), Göttingen 2009, S. 165f. 20 B. R ÖSCH , Judenweg (Anm. 19), S. 169. 21 B. R ÖSCH , Judenweg (Anm. 19), S. 165f. 22 M ICHAEL P ILLER , Fischach. Geschichte einer mittelschwäbischen Marktgemeinde, Weißenhorn 1981, S. 302f., Zitat 303. 23 Vgl. dazu R. K IESSLING , Zwischen Vertreibung und Emanzipation (Anm. 3), S. 178; S ABINE U LLMANN , Sabbatmägde und Fronleichnam. Zu den religiösen Konflikten zwischen Christen und Juden in den schwäbischen Landgemeinden, in: H ARTMUT L EHMANN / A NNE -C HARLOTT T REPP (Hg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 152), Göttingen 1999, S. 243- 264, hier 259f. <?page no="187"?> R OLF K IE S S LING 186 gemeinde die Pfähle umgerissen hatten - immerhin sorgte das Vogteiamt der Markgrafschaft unter Strafandrohung dafür, daß sie wieder aufgerichtet werden mußten. In einer Grundsatzbeschwerde des zuständigen Pfarrers von Oberhausen - Kriegshaber war Filialort - beim bischöflichen Ordinariat wird die hohe symbolische Deutung sichtbar: weilen Christus selbsten in dem hochheiligsten Sakrament, da Er […] zu einem Kranken getragen wird, sich gleichsam demütigen muß, durch solchen teuflischen abgöttischen Draht durch zu schliefen, wobei die Juden sich schon einmal haben verlauten lassen, ›sehet, wie der Christen Gott sich gedemütiget‹. 24 Die Beschäftigung der ›Schabbesgojim‹, der Mägde - seltener der ›Machores‹, der Knechte -, war der andere Konfliktfall, der ebenfalls insbesondere die katholischen Geistlichen zum Protest veranlaßte. Sie fanden im bischöflichen Ordinariat auch Gehör dafür, während die weltliche Obrigkeit die Praxis als Gewohnheitsrecht akzeptierte. 25 Die Argumentation der Geistlichkeit folgte dabei der christlichen Lehre von der ›Knechtschaft der Juden‹, die es den Christen nicht gestatte, sich in deren Dienste zu stellen. 1698 beschuldigte die Judengemeinde von Pfersee den dortigen Pfarrer, daß er in seinen Predigten gegen die Judenschafft auf eine unanständige und nur zur ärgernuß und zerrüttung dienliche Weiße loßgezogen sei. Sein Gegenargument, er habe die Frauen an ihre Christenpflichten erinnert, da sie auch an Sonn- und Feiertagen den ganzen tag hindurch um etl. Kreüzer zu erhaschen bey denen Juden dienst machen in der fruhe aber nur geschwind etwas wenigs von einer Messe ihrem grossen gott für den ganzen [Tag] hingeben vnd fuer ihr ewiges wohl so wenig besorgt sind, daß sie für wenig Geld ihr Seelenheil riskierten. 26 In Ichenhausen stellten die 31 christlichen ›Schabbesgojim‹ und ›Machores‹ 1748 nach einer derartigen Missionspredigt tatsächlich ihre Arbeit ein, und die Juden mußten Aushilfen aus dem evangelischen Burtenbach holen. 27 Bei einem gleichartigen Streit in Steppach 1746 verwiesen die Juden gegenüber dem Generalvikariat darauf, »daß es sich bei den Sabbathgojim nicht um geldsüchtige, sondern vielmehr um geldnötige und sehr arme weiber handle; der Schabbatdienst sei zudem keine knechtliche Arbeit, sondern ein althergebrachter Brauch, der auch bei Erzbischöf, Bischöf und andern hochgeistlichen Decasterien geübt werde. Tatsächlich wiegelte das Generalvikariat die Beschwerden ab - selbst wenn es dem Pfarrer in der Sache Recht gab, wollte es doch keine verdrießliche Neuigkeit anfangen«. 28 Die Pragmatik siegte im Umgang mit der Andersartigkeit - oder anders 24 G ERHARD H ETZER , Anmerkungen zur Geschichte der Judensiedlungen in Steppach und Schlipsheim, in: M ANFRED N OZAR / W ALTER P ÖTZL (Hg.), Neusäß. Die Geschichte von acht Dörfern auf dem langen Weg zu einer Stadt, Neusäß 1988, S. 239-260, hier 251. 25 R. K IEßLING , Zwischen Vertreibung und Emanzipation (Anm. 3), S. 177f. 26 S. U LLMANN , Sabbatmägde und Fronleichnam (Anm. 23), S. 255f. 27 E UGEN G ANZENMÜLLER , Ichenhausen. Vom Dorf zum Markt zur Stadt, Ichenhausen 1970, S. 155f. 28 G. H ETZER , Anmerkungen (Anm. 24), S. 252. <?page no="188"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 187 formuliert: die Berechtigung, nach anderen Vorgaben zu leben, wurde letztlich akzeptiert. Dennoch darf aus derartigen grundsätzlichen Streitigkeiten nicht der Schluß gezogen werden, die aus dem unterschiedlichen Wochenzeittakt resultierenden Konflikte seien wegen ihrer religiösen Dimension prinzipiell unlösbar gewesen. So zeigte die Regelung der gemeindlichen Verpflichtungen durchaus Auswege auf. Gemäß dem Modell der Partizipation an den Gemeindelasten, die sich daraus ergaben, daß auch viele Judenhäuser Gemeindegerechtigkeit hatten, waren die Juden auch verpflichtet, sich an den Gemeindearbeiten zu beteiligen. Weil dafür aber in der Regel der Samstag vorgesehen war, leisteten sie eine finanzielle Entschädigung. So hatte man sich in Binswangen 1681 darauf geeinigt, daß die Vierer mit den Juden weegen machung der Weeg vnnd steg uf 6 Jarlang solchergestalten Verglichen, dz sie fur solche Arbeit ein Jeder Jerlich geben solle 1 fl. 20 kr. 29 Als in Pfersee 1718 umfangreiche Arbeiten an der benachbarten Wertach nötig wurden, um bei Hochwasser Überschwemmungen zu verhindern, weigerten sich die Juden zunächst: Während der christliche Teil des Dorfes damit argumentierte, daß die Juden der Schar Arbeit an der Wertach gleich denen Christen zu behandeln seien, weil in betrachtung ihrer Häuser im dorf nicht weniger vor diesen schädlichen Fluß beschirmet werden, verwies die jüdische Gemeinde darauf, daß man ohnehin die Gemeindearbeiten jährlich bezahle - doch auch hier einigte man sich schließlich auf eine Fixierung des jüdischen Anteils in Höhe von 25 fl. 30 Aus diesen Beispielen läßt sich bereits entnehmen, daß das Konfliktpotential weniger in der Andersartigkeit der jüdischen Zeitabläufe lag, sondern sehr viel mehr in der Frage, welcher Bevölkerungsteil dadurch über Gebühr beansprucht wurde. Nicht die Schabbatruhe per se war anstößig, sondern die Konsequenzen, durch die sich die christliche Majoritätsgesellschaft in ihrer als selbstverständlich angesehenen Dominanz beeinträchtigt sah. (2) Im Fall des Festkalenders wird besonders deutlich, daß die Beschwerden vor allem dort ansetzten, wo das Befremden außerordentliche Dimensionen annahm: etwa wenn die Juden ihre Finanz und Wuecherey meistens an Sonn: oder anderen Feyertagen exercirn oder - so ein Vorwurf des oettingen-wallersteinischen Hofrats Kirsinger 1707 - die Untertanen gerade an diesen Tagen zu Besuchung der Zechhäuser verlaitet werden, wo sie dann zu leichtfertigen Geschäften überredet würden; 31 oder wenn in Kriegshaber ausgerechnet an einem Pfingstsonntag 1746 großer Waschtag bei den Juden angesagt war oder an katholischen Festtagen nach dem Schlachten auch Kutteln und Viehwampen gereinigt wurden. 32 In Pfersee wurde im Dezember 1649 29 S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 8), S. 407. 30 S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 8), S. 407. 31 J. M ORDSTEIN , Selbstbewußte Untertänigkeit (Anm. 1), S. 261f. 32 G. H ETZER , Anmerkungen (Anm. 24), S. 252. <?page no="189"?> R OLF K IE S S LING 188 der Jude Seligmann vom herrschaftlichen Vogt mit dem Stock und einer Geldstrafe von 38 kr. belegt, weil er an einem feiertag zu schechten und under der kirch flaisch außzuwegen sich understanden habe. 33 Ähnliche Konflikte finden sich vielfach im deutschen Südwesten, bis hin zur Grafschaft Hohenems am Bodensee. 34 Bekanntlich waren die Karwoche und - katholischerseits - das Fronleichnamsfest überall Tage besonderer Empfindlichkeit gegenüber nichtchristlichem Verhalten. Generell wurden die Juden dazu verpflichtet, sich an diesen Tagen möglichst in ihren Häusern aufzuhalten oder zumindest höchste Zurückhaltung zu üben - die Judenordnungen der Frühen Neuzeit sind voll von derartigen Bestimmungen. 35 So ist auch in Schwaben die Forderung der Geistlichkeit überliefert, »daß die jüdische Bevölkerung sich von den Fronleichnamsprozessionen fernhalten oder ihnen nur in demütiger Haltung beiwohnen und ihre Fensterläden während des Prozessionszuges geschlossen halten sollte«. 36 Demonstrative Gesten blieben nicht aus. So notierte 1786 der Pfarrer in Steppach in seinem Seelenbeschrieb: »Umzüge unter reger Beteiligung der katholischen Bevölkerung veranstaltet die Pfarrei an Fronleichnam und an Sonntagen innerhalb der Fronleichnamsoktav, um den Juden zu zeigen, daß die Christen frei auch im Dorf selbst also procedieren dürften.« 37 Doch die Umkehrung gilt wiederum nur sehr bedingt: Auch wenn der jüdische und christliche Kalender in der Regel keine Deckungen der Hochfeste nach sich zog - der Herkunft einiger jüdischer Festtage aus dem ländlich-agrarischen Kontext, aus dem sich Parallelen ergeben konnten, war man sich offensichtlich nicht mehr bewußt -, finden sich überraschenderweise kaum Hinweise darauf, daß die Festtage des jüdischen Jahres grundsätzlich in Frage gestellt worden wären - zumindest liefern die Quellen keine dezidierten Aussagen dazu. Die jüdischen Feiertage wurden (fast) immer an den beiden Polen jüdischen Lebens, der Synagoge und des Hauses, begangen: Vor allem Jom Kippur (das Versöhnungsfest), Schawu’ot (das in der Diaspora als Fest der Gabe der Thora gefeiert wurde), selbst Rosch 33 S. U LLMANN , Sabbatmägde und Fronleichnam (Anm. 23), S. 252. 34 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Akzeptanz und Fremdheit. Jüdische Räume im Spannungsfeld von Territorium und Reichkreis: Das Beispiel Hohenems, S. 170-213, hier 190f. 35 Vgl. etwa F RIEDRICH B ATTENBERG , Judenordnungen der frühen Neuzeit in Hessen, in: in: C HR . H EINEMANN , Neunhundert Jahre (Anm. 10.), S. 83-122, für Hessen, für Hessen- Darmstadt 1646 (S. 97), und Hanau-Münzenberg 1562 (S. 103); oder R OCHUS S CHOLL , Juden und Judenrecht im Herzogtum Pfalz-Zweibrücken. Ein Betrag zur Rechtsgeschichte eines deutschen Kleinstaates am Ende des alten Reiches (Rechtshistorische Reihe 139), S. 58-62; I MKE K ÖNIG , Judenverordnungen im Hochstift Würzburg (15.-18. Jh.) (Studien zur Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt/ Main 1999, S. 176-178, 195f.; A RON TÄN - ZER , Die Geschichte der Juden in Hohenems, Meran 1905, ND Bregenz 1982, S. 23, 113f., u.a.m. 36 S. U LLMANN , Sabbatmägde und Fronleichnam (Anm. 23), S. 258. 37 G. H ETZER , Anmerkungen (Anm. 24), S. 252. <?page no="190"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 189 ha-Schanah (das Neujahrsfest) waren Feste der Besinnung, bei denen vorrangig der Gottesdienst besucht wurde. Bei Sukkot (dem Laubhüttenfest), Pessach (der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten) oder Channukka (dem Lichterfest) stand das gemeinsame Mahl im Mittelpunkt. 38 An diesen Festen entwickelten sich in unserem Untersuchungsraum keine derartigen Streitigkeiten, wie sie sich bei der Umsetzung der Schabbatheiligung ergaben. Eine formelle Erlaubnis zur Feier der jüdischen Gottesdienste, wenn auch in der Stille an abgelegenen Orten, da es ohne Uff- und Zusehen und also sonder Ärgernüß der Christen geschehen mag, wie 1679 für Hessen-Kassel überliefert, 39 stand offenbar gar nicht zur Debatte. Offenbar war die Größe und damit das Gewicht der jüdischen Gemeinden dafür ausschlaggebend. Lediglich Ausnahmefälle werden greifbar: Als etwa 1742 einige jüdische Familien, die sich wegen der Kriegsereignisse zeitweise in Augsburg einmieten durften, in den dortigen Höfen ihre Hütten für das Laubhüttenfest errichteten, löste das Protest aus; im städtischen Magistrat wurde zunächst die Forderung erhoben, daß ihnen die offentliche haltung solch ihres Lauberfestes abzuschaffen sei, aber nach eingehender Diskussion dann doch die Erlaubnis dafür erteilt, da dieser culth nicht eigentlich publicus sondern domesticus sey. 40 Selbst bei Purim, das in der Diaspora als Fest der Errettung ein besonderes Gewicht erhielt, kam es in Schwaben kaum zu Auseinandersetzungen mit den christlichen Gemeinden - auch wenn ansonsten zu beobachten ist, daß die Feier nicht selten zum Kristallisationspunkt für gewaltsame Konfrontationen zwischen Juden und Christen wurde. 41 Am ehesten finden sich noch innerjüdische Kontroversen über die Aufführung von Theaterstücken, die den Fastnachtsspielen ähnlich waren. 42 Das Frankfurter Vintz-Purim-Spiel, das in Erinnerung an den Wiedereinzug in die Judengasse nach dem von Vinzenz Fettmilch initiierten Pogrom seit 1617 gefeiert wurde, stand in einem ganz spezifischen Kontext, 43 doch ist für 1708 auch ein Schauspiel überliefert, das von den Gemeindevorstehern »konfisziert und verbrannt wurde, weil es gar albern und abgeschmackt sei, zu schweigen der Gottlosigkeit, 38 S. G ALLEY , Das jüdische Jahr (Anm. 18), passim; E FRAT G AL -E D , Das Buch der jüdischen Jahresfeste, Frankfurt/ Main-Leipzig 2001. 39 F. B ATTENBERG , Judenordnungen (Anm. 35), S. 98, 108f. 40 S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 8), S. 442. 41 Zur Ausformung und Traditionsbildung bis zur Gegenwart umfassend E LLIOTT H ORO - WITZ , Reckless Rites. Purim and the Legacy of Jewish Violence, Princeton UP 2006. 42 Vgl. dazu S. G ALLEY , Das jüdische Jahr (Anm. 18), S. 124-128; E. G AL -E D , Das Buch der jüdischen Jahresfeste (Anm. 38), S. 194, 202. 43 Zum Ereignis M ORDECHAI B REUER , Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: D ERS ./ M ICHAEL G RAETZ (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. I: Tradition und Aufklärung, München 1996, S. 85-250, hier 94-96; vgl. auch E. H OROWITZ , Reckless Rites (Anm. 41), S. 89, 310. <?page no="191"?> R OLF K IE S S LING 190 daß sie den frommen Mardochai als einen garstigen unzüchtigen Unfläther aufführen.« 44 Auch in Franken löste die offensichtlich breite burleske Spieltradition am Ende des 18. Jahrhunderts die Kritik aufgeklärter Juden aus. 45 Die einzige bislang bekannte Überlieferung in Schwaben bezieht sich auf Thannhausen: In einem zwölfstrophigen Lied aus dem Jahr 1619 wurde der Ort zum Schauplatz, dass man macht ein Spiel von tab [taub] Jäklein, un‘ mit sein Weib Kendlein, un‘ mit zwei Sünlich fein. Fein hat man es thun verlesen, wie sie haben geführt ein Wesen, un‘ das is ach kürzlich geschehen, ehe ich mich hab umgesehen […]. 46 Das Spiel wird als »Satyre auf die genannten Personen« verstanden und ist am ehesten als Schwank einzuordnen. 47 Offensichtlich blieb Purim dabei ebenfalls ganz im innerjüdischen Bereich. Dem entspricht auch das im Kahlsbuch von Sugenheim (im fränkischen Steigerwald) 1756 überlieferte Verbot, sich an Purim zu vermummen und in Närrischer Kleidung oder mit Liecht und Fackel herum zu laufen, 48 weil es sich wiederum auf das Überschreiten der Grenze des Privaten bezog. »Die ausgelassene Freude am Purimfeste wurde auf das Haus beschränkt und für die Straße verboten, zumal das Fest häufig in die christliche Fastenzeit fiel und die Juden bei dieser einzigen Gelegenheit im Jahre, an der sie einmal die sonstigen Leiden vergessen wollten, keinerlei Rücksicht auf ihre Umgebung zu nehmen pflegten.« 49 (3) Konfliktträchtig wurden die Feste also immer dann, wenn sie sich zumindest teilweise auf der Straße abspielten: Bei den Hochzeiten ergaben sich grundsätzliche Probleme schon aus den unterschiedlichen Zeittakten im Jahresablauf. 44 M. B REUER , Frühe Neuzeit (Anm. 43), S. 172. 45 J UTTA S TRAUSS , Purimspiel und Familiengemälde - Theaterstücke von Fürther Juden aus dem 18. und 19. Jahrhundert, in: G UNNAR O CH / H ARTMUT B OBZIN (Hg.), Jüdisches Leben in Franken (Bibliotheca Academica, Reihe Geschichte 1), Würzburg 2002, S. 85-114. 46 M ORITZ S TEINSCHNEIDER , Jüdische Literatur und Jüdisch-Deutsch, in: Serapeum. Zeitschrift für Bibliothekswissenschaft, Handschriftenkunde und ältere Litteratur 25 (1864), S. 102; ein Hinweis darauf bei S T . R OHRBACHER , Medinat Schwaben (Anm. 4), S. 102. 47 Der Inhalt: »Zur Zeit wo man Laubhütten baut, komt [! ] ein Bauer mit einer (elenden) Kuh zu Schlenkers Hause, welcher unter Verabsäumung des Gebets u.s.w. mit den zwei Söhnen dieselbe kauft, während die Frau Kendlein dagegen remonstrirt. Die Kuh legt ein Kalb, wovon nach dem Gebrauch der Ortsrichter die Zunge bekommen muss, aber sie wird ›kurz und dünn‹ abgeschnitten und der Richter verurteilt Kendlein, die ›Geige‹ auf dem Markt herumzutragen, so dass die Leute sie fragen, ob sie in ihren alten Tagen eine Geigerin geworden. Die letzte Strophe beginn zu erzählen wie Jäklein von Abraham Schlenker bei einem ›Knasmahl‹ geschoren wird.« M. S TEINSCHNEIDER , Jüdische Literatur (Anm. 46), S. 102. 48 M AX F REUDENTHAL , Die Verfassungsurkunde einer reichsritterschaftlichen Judenschaft. Das Kahlsbuch von Sugenheim, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1( 1929), S. 44-68, hier 67. 49 M F REUDENTHAL , Verfassungsurkunde (Anm. 48), S. 48. <?page no="192"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 191 Auf das Verbot in der Grafschaft Oettingen - das Hochzeithalten mit ofentl[icher] Musik und das Tanzen zur Fastenzeit, auch an Vorabenden heil[iger] Zeiten - wurde schon eingangs verwiesen. 50 Ebenso dezidiert wollte der Pfarrer von Steppach nicht dulden, wenn die Juden »Hochzeiten im Advent, zur Fasten- und Quatemberzeit und an hohen christlichen Feiertagen mit Tanzmusik bis in den frühen Morgen feierten«. 51 Die hohen Festtage des christlichen Kalenders samt den vorausgehenden Fastenzeiten sollten auch für die Juden tabu sein - was freilich vice versa nicht thematisiert wurde. Vielmehr wurde schlicht übersehen, daß auch im jüdischen Jahresablauf Fastengebote bestanden und Hochzeiten an bestimmten Zeiten ausgeschlossen waren. 52 Anstößig wurde auf christlicher Seite nicht zuletzt der jüdische Brauch in Aschkenas empfunden, die Vermählung unter dem Baldachin im Freien zu begehen. Während das in Oettingen mit dem Begriff ofent[licher] Musik lediglich angedeutet wird, findet sich im Bistum Speyer die detaillierte Nachricht, daß Bischof Kardinal Schönborn 1743 bei seiner Reise durch das Hochstift daran Anstoß nahm, mit was Pracht, mit was offentlicher ostentation, und was vielen offentlichen Ceremonien eine Juden Hochzeith in unser anwesenheit sich da ergeben hat, um dann erstaunt festzustellen: Wir haben unser Lebtag nicht gehöret, noch gesehen, daß dergleich ahn einem orth gestattet worden, wo die Juden so gar ordentliche Synagoge haben und zu Kirrweiler hat mann in unserer praesenz solhches zu thun getraut, das OberAmt hat es zugelassen. 53 Die Beanspruchung des öffentlichen Raumes für die Mehrheitsgesellschaft verband sich hier mit dem Erstaunen darüber, daß des Bischofs eigene Amtleute eine konkurrierende Nutzung überhaupt zugelassen hatten - was wiederum ein Beispiel dafür ist, daß vor Ort die Dinge durchaus anders gesehen wurden, als es theologisch bestimmte Grundsatzvorstellungen vorsahen, die lediglich den Status der Duldung gewährten und die Praxis eher restriktiv gehandhabt wissen wollten. In Schwaben finden sich bezeichnenderweise differenzierte Verhaltensmuster: Im Fürstentum Pfalz-Neuburg schien die Grenze in einem Fall von 1637 bereits überschritten, Alß neulich Abrahamb Jud hochzeit gehalten, undt ein so großes geschrey bei ihnen gewesen, auch der Tumult bis umb 2 oder 3 Uhren morgens früe gewehret, so daß der Rat zur Strafandrohung schritt. 54 Läßt sich das immerhin als öffentliche Ruhestörung einordnen, so wird die Problematik 1652 deutlicher: Ein Pater des Klosters Obermedlingen beklagte sich, es heten die Jueden zu Laugingen hochzeitl. Spielleith und 50 Vgl. oben Anm. 1. 51 G. H ETZER , Anmerkungen (Anm. 24), S. 252. 52 S. G ALLEY , Das jüdische Jahr (Anm. 18), S. 177f. 53 B ERTHOLD R OSENTHAL , Heimatgeschichte der badischen Juden seit ihrem geschichtlichen Auftreten bis zur Gegenwart, Bühl/ Baden 1927, S. 139f. 54 M ONIKA M ÜLLER , Judenschutz vor Ort. Jüdische Gemeinden im Fürstentum Pfalz-Neuburg, Diss., Augsburg 2013, S. 163. <?page no="193"?> R OLF K IE S S LING 192 offentliche Täntz, gehalten auch geschossen und dominiert, da doch den Christen die Spielleüth nit weren zugelassen, sondern verbotten gewesen; die Untersuchung darüber, Ob den Juden […] erlaubt seye, bey deren Hochzeitten Spilleüth auf offentlichen gassen heraum zuführen, Pistoln Schiessen, Reütten, Rennen, danzen, Springen, Juxen, Rosspringen unnd Umbtrünckh mit den Trompeten zu halten, wurde freilich von der Stadt Lauingen damit beantwortet, daß Juden und Christen Spielleute beschäftigten und dafür sogar die fürstliche Erlaubnis hätten. 55 Gegenüber dem badischen Vorfall war hier also eine, wenn auch auf die Festumrahmung begrenzte Akzeptanz gegeben - wobei nicht übersehen werden darf, daß auch aus jüdischer Sicht exzessive Hochzeitsfeiern durchaus der Kritik unterlagen und sich Einschränkungen gefallen lassen mußten. 56 Anders - wohl schon wegen der damit verbundenen fremden Religionsausübung - stellt sich ein Fall in Kriegshaber dar: Der Pfarrer von Oberhausen beklagte sich beim bischöflichen Ordinariat in Augsburg über das Verhalten der Kriegshaberer Juden, daß sie die Zwölf Gebote, »von Spielleuten mit hebraischer Music begleitet, unter einem Traghimmel und auf ausgestreutem Grase zur Synagoge [begleiteten], während sie sich ihre Gebetbücher auch von angestellten Christenknaben nachtragen ließen«. 57 Es handelte sich dabei um die Stiftung einer neuen Thora-Rolle, was besonders feierlich begangen wurde und auch in anderen Orten überliefert ist. Ein solches Fest gehörte jedoch für den katholischen Geistlichen offenbar in die gleiche Kategorie wie die Schabbatdrähte. Der entscheidende Punkt für die divergente Einschätzung war somit überall die Frage, wer die Öffentlichkeit beherrschte; sie gibt den Schlüssel für das Verständnis ab. »Der jüdische Kultusbereich wurde zwar weiterhin im Innenbereich nicht angetastet, jede Äußerung aber, die irgendwie einen missionarischen Effekt auf die christlichen Gemeinden haben konnte, unterbunden und die öffentliche Ausübung religiöser Zeremonien auf ein Minimum beschränkt«. 58 Das Muster derartiger Abwehr ist freilich auch außerhalb der christlich-jüdischen Begegnungen nicht unbekannt: Die Profilierungsbestrebungen in bikonfessionellen Städten und Dörfern zeigen die gleichen Merkmale. In den schwäbischen Reichsstädten finden wir zahlreiche Maßnahmen, in denen die Mehrheitskonfession die Minderheit von der Besetzung des öffentlichen Raumes fernzuhalten suchte. So mußten die Ulmer Katholiken Privattaufen gestalten und ihre Leichenzüge zum Friedhof außerhalb der Stadt in der Stille vollziehen, weil die Evangelischen nicht nur das Münster als zentrale Pfarrkirche als allein ihnen zugehörig 55 M. M ÜLLER , Judenschutz vor Ort (Anm. 54), S. 245; der Fall auch bei L OUIS L AMM , Zur Geschichte der Juden in Lauingen und in anderen pfalz-neuburgischen Orten, 2. Aufl. Berlin 1915, S. 25f. 56 M. B REUER , Frühe Neuzeit (Anm. 43), S. 172f. 57 G. H ETZER , Anmerkungen (Anm. 24), S. 251. 58 Vgl. F. B ATTENBERG , Judenordnungen (Anm. 35), S. 98. <?page no="194"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 193 betrachteten, sondern auch die Straßen und Plätze der Stadt allein ihrer Domäne zuordneten. 59 Wenn auch den jüdischen Gemeinden vor allem die Versuche, den öffentlichen Raum zu besetzen, angelastet wurden, 60 so ist doch zu berücksichtigen, daß die Vorwürfe von Grenzüberschreitungen eher moderat ausfielen. Man wird wohl nicht fehlgehen, das darauf zurückzuführen, daß die Judendörfer aufgrund ihrer Bevölkerungsstruktur und wegen ihrer Ausformung als ›Doppelgemeinden‹ vor Ort oft keine numerischen Minderheiten mehr aufwiesen. Bezogen auf den Zeitablauf: Der andersartige Festtagsrhythmus wurde also nicht zum grundsätzlichen und permanenten Problem, sondern war nur partiell strittig. 3. Judendörfer als Räume verschiedenartiger Lebensrhythmen Wenn es immer wieder die Pfarrer waren, die Konflikte verschärften und auf eine Unterordnung der Juden pochten, also auf der dominanten Rolle der Christen im Ort beharrten, dann ist auch davon auszugehen, daß die mittelalterlichen antijüdischen Stereotype nach wie vor präsent waren, eine latente Abwehr jüdischer Existenz nach sich zogen und die Kirche ihre antijüdische Sicht ausspielte. Erinnert sei an die Traditionen antijüdischer geistlicher Spiele 61 - wobei beispielsweise das Oberammergauer Passionsspiel die Augsburger Vorlage aufnahm 62 - oder an die immer noch aktualisierbare Ritualmordlegende wie in Sappenfeld 1540, die zwar 59 P ETER L ANG , Die Ulmer Katholiken im Zeitalter der Glaubenskämpfe: Lebensbedingungen einer konfessionellen Minderheit (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23/ 89), Frankfurt/ Main-Bern 1977; vgl. R OLF K IESSLING , Konfession als alltägliche Grenze - oder: Wie evangelisch waren die Reichsstädte, in: W OLFGANG J AHN u. a. (Hg.), »Geld und Glaube«. Leben in evangelischen Reichsstädten (Veröff. zur bayerischen Geschichte und Kultur 37), Augsburg 1998, S. 48-66, hier 55-57. 60 Ganz ähnliche Beobachtungen aus einem Dorf in Lothringen bei C LAUDIA U LBRICH , Shulamit und Margarethe. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts (Aschkenas Beiheft 4), Wien 1999, S. 276-280. 61 W OLFGANG B ENZ (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7: Literatur, Film, Theater, Kunst, Berlin 2015; darin die Artikel von K LAUS W OLF , Augsburger Heiligkreuzspiel, S. 225-227, Ulmer Simongedicht, S. 508. Vgl. auch K LAUS W OLF , »die judden sollen dis spiel in iren husen bliben.« Die Ghettoisierung der Frankfurter Juden im Spiegel des stadtbürgerlichen Spiels, in: F RITZ B ACKHAUS u. a. (Hg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit (Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main 9), Frankfurt 2006, S. 189-199. 62 K LAUS W OLF , Art. Passionsspiele, in: W. B ENZ , Handbuch 7 (Anm. 61), S. 377-380. <?page no="195"?> R OLF K IE S S LING 194 vom Reformator Andreas Osiander entkräftet wurde, aber dennoch Wirksamkeit entfaltete, 63 sowie allgemein an die »Sprache der Judenfeindschaft«. 64 Dennoch: Betrachtet man die Verhältnisse vor Ort, also in den Gemeinden, so erscheint das nur als eine, aber nicht als die allgemeine Sichtweise; den Alltag bestimmte eher das Zusammenleben vor Ort, und zwar vor allem im 18. Jahrhundert unter zunehmender Akzeptanz. So sahen Feste, die sich zwanglos in die beiden Jahresrhythmen einordnen ließen, durchaus wechselseitige Gäste aus der jeweils anderen Bevölkerungsgruppe. Wenn das Augsburger Ordinariat etwa den Christen den Besuch von jüdischen Hochzeiten oder Beschneidungen meinte verbieten zu müssen, so deutet das auf eine nachbarschaftliche Begegnung in der Praxis hin. 65 Dazu gehörte beispielsweise die Einweihung von neuen Synagogen. Nicht nur die auch in Schwaben nachweisbare Richtlinie des bischöflichen Ordinariats, daß die Synagogen nicht wie Kirchen aussehen dürften, wurde übergangen - im Gegenteil, die Synagogenarchitektur fällt hier im 18. Jahrhundert besonders repräsentativ aus -, 66 sondern auch Formen gemeinsamen Arbeitens und Feierns waren durchaus nicht unüblich; für Fischach ist jedenfalls überliefert, daß der Bau der neuen Synagoge 1739 unter Beteiligung der domkapitlischen Untertanen bewerkstelligt wurde und zur Einweihung katholische Spielleute - und vermutlich nicht nur sie - geladen wurden. 67 Die Auswirkungen sind bis in den Alltag zu verfolgen: Christliche Handwerker arbeiteten in jüdischen Häusern und für sie, das Wirtshaus war vielfach Treffpunkt 63 Vgl. dazu generell S TEFAN R OHRBACHER / M ICHAEL S CHMIDT , Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek b. Hamburg 1991, S. 269-303, hier 302; ausführlich zu diesem Fall W ILHELM V OLKERT , Die Juden im Fürstentum Pfalz-Neuburg, in: ZBLG 26 (1963), S. 560-605, hier 571-574; und jetzt M. M ÜLLER , Judenschutz vor Ort (Anm. 54), S. 47-54. In der Grafschaft Oettingen wurden zwei Fälle 1555 und 1690 demgegenüber durch das Eingreifen des Kaisers bzw. der Regierung gestoppt; L. M ÜLLER , Aus fünf Jahrhunderten 26 (Anm. 2), S. 121-125. 64 N ICOLINE H ORTZITZ , Die Sprache der Judenfeindschaft in der frühen Neuzeit (1450- 1700). Untersuchungen zu Wortschatz, Text und Argumentation, Heidelberg 2005; vgl. auch ihre Vorstudie D IES ., Verfahrensweisen sprachlicher Diskriminierung in antijüdischen Texten der Frühen Neuzeit. Aufgezeigt am Beispiel der Metaphorik, in: R. K IESSLING , Judengemeinden in Schwaben (Anm. 3), S. 194-216; und H ANS W ELLMANN , Linguistik der Diskriminierung. Über die Agitation gegen Juden in Flugblättern der Frühen Neuzeit, in: Ebd., S. 183-193. 65 L UDWIG R EISSLER , Geschichte und Schicksal der Juden in Binswangen, einem Dorf in der ehemals österreichischen Markgrafschaft Burgau im heutigen Bayerisch-Schwaben. Ein Beitrag zum Problem ethnisch-religiöser Minderheiten, Zulassungsarbeit (masch.), München 1982, S. 64f., belegt allerdings erst in Aufzeichnungen des Pfarrers von 1826. 66 Vgl. dazu jetzt B ENIGNA S CHÖNHAGEN (Hg.), »Ma Tovu …«. »Wie schön sind deine Zelte, Jakob …«. Synagogen in Schwaben, Augsburg 2014, S. 59-84. 67 M. P ILLER , Fischach (Anm. 22), S. 200f. <?page no="196"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 195 für jüdisch-christliche Geschäftskontakte. 68 In Pappenheim wurde erzählt, daß sich die Juden Rabbinin und Berles Töchterlein in der Rockenstube mit Christinnen unterhalten hätten und daß Moyses Guggenheimer während seines Aufenthalts in der Kleinstadt nicht nur mit verschiedenen Juden gespielet, Thée oder Coffée gtrunken, sondern auch mit dem Kastner Rehau und dem Kronenwirt. 69 Begegnungen im (halb- )öffentlichen Raum waren also durchaus nicht selten. Generell muß man davon ausgehen, daß in den Dörfern und Kleinstädten des Landjudentums in Schwaben abgeschlossene Wohnquartiere fehlten 70 - das lange Zeit als typisch angesehene Ghetto war bekanntlich nur in Frankfurt am Main Realität. Dabei waren die Siedlungsmuster durchaus unterschiedlich: Es gab Binnenlagen der Judenhäuser nahe dem Mittelpunkt, insbesondere der Kirche, wie in Fischach oder Buttenwiesen 71 bzw. am Marktplatz wie in Pappenheim 72 und in Monheim 73 , es gab aber auch Marginalisierungen entlang der Ausfallstraßen und in den Randzonen des Dorfes wie in Hürben (heute Ortsteil von Krumbach) 74 - freilich nur selten das Wohnen von Christen und Juden in einem Haus, wie es in Neresheim 1658 überliefert ist, 75 während es im Hochstift Würzburg 1750 strikt verboten wurde. 76 Der Alltag der beiden Religionsgruppen spielte sich also mehr oder weniger offen vor den Augen der anderen ab. Dennoch wissen wir über das alltägliche Leben in den Judendörfern wenig, fast gar nichts. Ob und inwieweit die Rhythmen des Tagesablaufs sich unterschieden, überschnitten oder parallel liefen, darüber läßt sich nur wenig sagen, weil die Quellen weitgehend schweigen. Einige wenige Ansatzpunkte können festgehalten werden. Eine der Ähnlichkeiten war auf jeden Fall der vielfache Gang zum Gottesdienst in Kirche bzw. Synagoge - zum Morgen- und Abendgebet, am Schabbat bzw. Sonntag, im Rahmen der hohen Feste. Aber man wird auch an den täglichen Schulbesuch der Kinder denken dürfen: Neben der durchaus wichtigen häuslichen Unterrichtung sind für die schwäbischen Gemeinden seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert nicht nur die vielfach beobachteten Privatlehrer gut situierter 68 S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 8), S. 443-448. 69 T ILL S TROBEL , Jüdisches Leben unter dem Schutz der Reichserbmarschälle von Pappenheim 1650-1806 (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte Schwabens 3), Epfendorf 2009, S. 305. 70 R. K IESSLING , Zwischen Vertreibung und Emanzipation (Anm. 3), S. 175f. 71 Ausführlich S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 8), S. 355-358. 72 T. S TROBEL , Pappenheim (Anm. 69), S. 115-127. 73 M. M ÜLLER , Judenschutz vor Ort (Anm. 54), S. 346-356. 74 E RWIN B OSCH , Die Entwicklung der jüdischen Gemeinde, in: D ERS ./ E STER B LOCH / R ALPH B LOCH (Bearb.), Der jüdische Friedhof von Krumbach-Hürben (Quellen und Darstellungen zur jüdischen Geschichte 4), Augsburg 2014, S. 13-42. 75 L. M ÜLLER , Aus fünf Jahrhunderten 26 (Anm. 2), S. 85. 76 I. K ÖNIG , Judenverordnungen Würzburg (Anm. 35), S. 222. <?page no="197"?> R OLF K IE S S LING 196 Familien nachgewiesen, sondern auch gemeindliche Leermeister oder Schulmeister 77 - wie sie in den christlichen Gemeinden seit dem 15./ 16. Jahrhundert belegt sind und im 18. Jahrhundert schon fast die Regel waren. 78 Am gewichtigsten war jedoch zweifellos, daß sich die Geschäfte in unterschiedlichen Räumen und Zeitabläufen abspielten: was die jüdische Seite betrifft, in unmittelbarer Nachbarschaft oder im Nahraum bei den vielfältigen Formen des Vieh- und Naturalienhandels, dann in den abgesteckten ›Medinen‹ des Hausierhandels, schließlich in den Besuchen der regionalen und überregionalen Messen, bei denen die Waren des nichtalltäglichen Bedarfs eingekauft wurden, die dann wiederum in den regionalen Verteilerkreisen umgesetzt wurden. Nimmt man den Aktionsradius in einigen ländlichen Judengemeinden in der Markgrafschaft Burgau zum Maßstab, dann lief die Masse der Geschäftsbeziehungen im Umkreis von zwölf bis 25 km ab, war also innerhalb eines Tages zu bewältigen, doch wurden auch »punktuell weiträumigere Kontakte bis zu 60 km gepflegt«, »und für den Bezug der Handelsprodukte reiste man z. B. im Viehhandel ins Allgäu oder zum Einkauf von Textilien auf die Leipziger Messe«. 79 Waren die Geschäfte auf den lokalen Umkreis konzentriert, dann waren die Zahlungstermine für die Kredite oft mit den Erntezeiten gekoppelt, die jüdischen Viehhändler mußten ihre Geschäfte mit den Phasen der Viehhaltung koordinieren, bei der bekanntlich im Herbst die Ausdünnung des Bestandes vergenommen wurde, um den Rest über den Winter zu bringen. War der Arbeitsrhythmus von Jahrmarkt- und Messebesuchen bestimmt, so zog er die Abwesenheit vom Wohnort nach sich, oft während der Woche, gelegentlich auch für längere Zeit. Dabei mußten sich die jüdischen Händler in die lokalen und regionalen Zyklen der Wochen- und Jahrmärkte 80 einpassen, die innerhalb des engeren Umkreises lagen, wie das beispielsweise für die Neresheimer Juden auf der Nörd- 77 R EINHARD J AKOB , Judenschul und jüdische Schule. Zur Bildungsgeschichte der Juden in Schwaben vor Moses Mendelssohn, in: P ETER F ASSL (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben (Irseer Schriften 2), Sigmaringen 1994, S. 45-61. 78 Vgl. dazu H ELMUT F LACHENECKER / R OLF K IESSLING (Hg.), Schullandschaften in Altbayern, Franken und Schwaben. Untersuchungen zur Ausbreitung und Typologie des Bildungswesens in Spätmittelalter und früher Neuzeit (ZBLG Beihefte B 26), München 2005; darin zu Schwaben R OLF K IESSLING , Ansatzpunkte und Entwicklungstendenzen in den spätmittelalterlichen Schullandschaften Schwabens, S. 247-279; zum Ulmer Territorium A NGELA S CHLENKRICH , »Man kann nicht jedermann Schulmeister geben«. Das Schulwesen der Reichsstadt Ulm im Spiegel der Visitationen im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung, S. 281-302. 79 S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 8), S. 230-343, Zitat 339. 80 Vgl. dazu R OLF K IESSLING , Kleinräumige Jahrmarktzyklen in Schwaben. Zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes im Spätmittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit, in: H ANS -P ETER B ECHT / J ÖRG S CHADT (Hg.), Wirtschaft Gesellschaft Städte. FS Bernhard Kirchgässner zum 75. Geburtstag, Ubstadt-Weiher 1998, S. 139-156. <?page no="198"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 197 linger Pfingstmesse detailliert nachzuweisen ist. 81 Bei weiter entfernten Messebesuchen dagegen benötigte man Quartiere und Verpflegung nach den Vorschriften der Halacha. Für die schwäbischen Viehhändler, die ins Allgäu reisten, war beispielsweise in Obergünzburg (im Fürststift Kempten) eine Unterkunft für jüdische Händler bereitgestellt - weil im südlichen Schwaben nach dem Dreißigjährigen Krieg keine Judensiedlung mehr bestand. 82 Nicht nur aus den Leipziger und Naumburger Messestandregistern ist bekannt, daß Garköche für koschere Speisen sorgten. 83 Auch in Augsburg läßt sich jedenfalls für das ausgehende 18. Jahrhundert, als jüdische Händler über Akkordverträge zunehmend informelle Aufenthaltsmöglichkeiten fanden, nachweisen, daß Simon Jacob Levi 1799 zumindest die Duldung einer Garküche erreichte. 84 Damit unterschieden sich nicht nur die Erwerbsstrukturen von Juden und Christen in den schwäbischen Judendörfern, sondern auch die Lebensrhythmen. Für manche jüdischen Haushalte bedeutete das, daß sie zumindest partiell von Formen bestimmt waren, die man etwas zugespitzt als ›Schabbatfamilien‹ bezeichnen könnte: Nur an den ›Wochenenden‹ waren die Familien wirklich in ihrer Gesamtheit zugegen, während unter der Woche viele Familienväter wegen ihrer Geschäfte auf ihrer Hausiertour waren oder Märkte und Messen besuchten. Die Lebensweise in den jüdischen Haushalten der Dörfer war also zweifellos eine andere. Die Wohnhäuser selbst, als einfache Bauten, oft eng zusammenhängend in Zeilen errichtet, standen - trotz Partizipation an Weide und Krautgärten - in der Regel in keinem echten landwirtschaftlichen Konnex. Demgegenüber wird sich das Alltagsleben in den oft auch repräsentativen Häusern der Kleinstädte - wie in Monheim oder Pappenheim - von denen der christlichen Nachbarn sehr viel weniger unterschieden haben. Utz Jeggle spricht für das beginnende 19. Jahrhundert in Württemberg von einer »städtische[n] Kultur im dörflichen Bereich«, 85 81 Vgl. dazu H OLGER F EDYNA , Neresheim - Geschichte einer Kleinstadt, Diss., Augsburg 2015. 82 Eberhard Andreas Freiherr von Stuben: Beschreibung der Pflege Liebenthann von 1713 (StAA Fürststift Kempten Archiv B 150), gedruckt in: H ERMANN E PPLEN (Bearb.), Die Beschreibung der Pflege Liebenthann von 1648 und 1714 (Alte Allgäuer Geschlechter 39), Kempten 1964, S. 39 (freundlicher Hinweis von Dr. Alois Koch, Schwifting b. Landsberg). 83 M AX F REUDENTHAL , Leipziger Messgäste. Die jüdischen Besucher der Leipziger Messen in den Jahren 1675 bis 1764, Frankfurt/ Main 1928; dazu auch die Rezension von G UIDO K ISCH in: Zeitschrift für Geschichte der Juden 1 (1929), S. 69-71, mit weiteren Belegen. 84 A NKE J OISTEN -P RUSCHKE , Die Geschichte der Juden in Augsburg während der Emanzipationszeit 1750-1871, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Neue Forschungen zur Geschichte der Stadt Augsburg (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 12), Augsburg 2011, S. 278-349, hier 294. 85 U TZ J EGGLE , Judendörfer in Württemberg, 2. erw. Aufl. Tübingen 1999, S. 152f. <?page no="199"?> R OLF K IE S S LING 198 was für die überdauernden Formen des Landjudentum generell noch bis in das beginnende 20. Jahrhundert bestätigt wird. 86 So gesehen, wird man die Lebensform der ›Landjuden‹ generell als Element eines langfristigen Urbanisierungsprozesses begreifen müssen. Nicht nur der spezifisch jüdische Zeittakt durch Schabbat und Festkultur muß somit als Unterscheidungsmerkmal herangezogen werden, sondern auch die sozio-ökonomischen Erfordernisse und ihre Auswirkungen hatten Gewicht. Die jüdischen Häuser dürfen mit Sicherheit als ein Faktor der Veränderung von Lebensgewohnheiten auf dem Land betrachtet werden. Denn von Anfang an wurde durch sie die wirtschaftliche Verflechtung des flachen Landes mit der Stadt forciert. Das Landjudentum verstärkte somit die gewerblich bestimmte Lebensform, die seit dem Spätmittelalter in den Dörfern des ostschwäbischen Textilreviers bekanntlich eine charakteristische Alternative zur agrarischen ausgebildet hatte. 87 Und die gehobenen Familien in den Dörfern und Kleinstädten rezipierten spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Elemente der städtischen Wohnkultur. 4. Ausblick: Die Akkulturation des 19. Jahrhunderts Von der ›Stadt‹, der städtischen Kultur, kamen dann auch die weiteren Impulse für die Akkulturation des 19. Jahrhunderts, 88 die zumindest kurz angedeutet werden sollen, denn die Wandlung der Lebensumstände zog auch Veränderungen der räumlich-zeitlichen Dimensionen des Alltags nach sich. Träger dieses Prozesses, der noch im 18. Jahrhundert einsetzte, war anfangs vorwiegend das Hofjudentum. 89 86 Vgl. W. C AHNMANN , Dorf- und Kleinstadtjude (Anm. 17), S. 169f., 191f. 87 A NKE S CZESNY , Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 7), Tübingen 2002, S. 219-351. 88 Generell dazu M ICHAEL B RENNER / S TEFI J ERSCH -W ENZEL / M ICHAEL A. M EYER , Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II: Emanzipation und Akkulturation 1780-1871, München 1996, zur Begegnung von Juden und Christen S. 201-207; zu Bayern zusammenfassend vgl. R OLF K IESSLING , Die jüdischen Gemeinden, in: M AX S PINDLER / A LOIS S CHMID (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV: Das neue Bayern. Von 1800 bis zur Gegenwart, 2. Teilbd.: Die innere und kulturelle Entwicklung, München 2007, S. 356-384, hier 364-367. 89 Vgl. dazu R OTRAUT R IES / J. F RIEDRICH B ATTENBERG (Hg.), Hofjuden - Ökonomie und Interkulturalität. Die jüdische Wirtschaftselite im 18. Jahrhundert (Hamburger Beiträge zur Geschichte der Juden XXV), Hamburg 2001. <?page no="200"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 199 Ein signifikantes Beispiel dafür ist in der Vorarlberger Gemeinde Hohenems greifbar - die in langer Tradition mit dem ›Medinat Schwaben‹ verbunden war. 90 Anhand eines Bündels von 30 Originalbriefen der dort ansässigen Hofjudenfamilie Levi, von denen auch einige an die verwandte Pferseer Familie Ephraim Ullmann gingen, konnte Eva Grabherr zeigen, daß sich um 1800 die Lebensformen der Mitglieder zu wandeln begannen und Traditionsorientierung sich mit Aufgeschlossenheit für die Moderne verband. 91 Aufklärerische Ideen wurden über den Bücherbesitz rezipiert, wie eine Privatbibliothek mit zeitgenössischer Belletristik, Reisebeschreibungen und Ratgebern sowie einigen philosophischen Titeln belegt - während nur zwei mit eindeutig jüdischem Bezug, nämlich Moses Mendelssohns ›Ritualgesetze der Juden‹ und ein ›taitsch-jitisch Gebetbuch‹ zu verzeichnen sind. Letzteres repräsentiert als einziges die Zugehörigkeit zur alten innerjüdischen Sprache des Jiddischen. Die Briefe selbst spiegeln den allmählichen Sprachwandel und damit auch die Öffnung in die bürgerliche Gesellschaft, so wie einzelne Nachweise von ›Maskilim‹ von der Tätigkeit als Hauslehrer zeugen. Für dieselbe Gemeinde gibt es zudem einen Vorfall, der die Konvergenz der Lebensrhythmen in dieser Phase schlagartig sichtbar werden läßt: 1811 fand in Hohenems eine »jüdische Fasnacht« statt, die wegen der damit verbundenen Auseinandersetzungen aktenkundig wurde. 92 Vom Landgericht Dornbirn bewilligt, fand sich am 10. März eine christlich-jüdisch gemischte Faschingsgesellschaft zusammen, an der auch zahlreiche Schweizer teilnahmen. Während des Tages fand ein Umritt statt, bei dem einige Juden auf lächerliche Weise eine Maske vorgestellt hätten, darunter auch Beamtenuniformen. 93 Beim anschließenden abendlichen Ball - ebenfalls mit Maskierungen - kam es zu Beschimpfungen und tätlichen Angriffen auf die Juden, die in eine Anzeige wegen »ungerechtfertigen Tragen[s] von Uniformen […] und Beleidigung des bayerischen Königs« mündeten. Unabhängig von der nach wie vor latenten antijüdischen Stimmungslage - wobei die Anklage freilich im Sande verlief - wird in diesem Vorfall auch deutlich, wie jüdisches Purimfest und 90 Vgl. B ERNHARD P URIN , Landjudentum im süddeutschen Raum. Die jüdische »Landschaft« im 17. und 18. Jahrhundert, in: E VA G RABHERR (Hg.), »… eine ganz kleine jüdische Gemeinde, die nur von den Erinnerungen lebt! « Juden in Hohenems. Katalog des Jüdischen Museums Hohenems, Hohenems 1996, S. 23-28; jetzt auch W. S CHEFFKNECHT , Akzeptanz und Fremdheit (Anm. 34), S. 96-201. 91 E VA G RABHERR , Hofjuden auf dem Lande und das Projekt der Moderne, in: R. R IES / J. F. B ATTENBERG , Hofjuden (Anm. 89), S. 209-229. 92 K ARL H EINZ B URMEISTER , Hohenemser Purim, eine jüdische Fasnacht im Jahre 1811, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 105 (1987), S. 131-137; zum Kontext auch E VA G RABHERR , Die bürgerliche Gleichstellung der Juden im 19. Jahrhundert am Beispiel der Jüdischen Gemeinde Hohenems, in: D IES . (Hg.), Juden in Hohenems (Anm. 90), S. 36-44. 93 K. H. B URMEISTER , Hohenemser Purim (Anm. 92), S. 133. <?page no="201"?> R OLF K IE S S LING 200 christlicher Karneval konvergierten, sowohl was die Teilnehmer wie die Abläufe betraf. Dieses Beispiel in einer eher abgelegenen, aber immer noch ›schwäbischen‹ Landgemeinde dürfte auf die Augsburger Vorortgemeinden und ihre Führungsfamilien prinzipiell übertragbar sein, insbesondere auf die mit den Levi familiär verbundenen Ullman in Pfersee, deren »Lebensstil« städtisch geprägt war und sich »von ihrer jüdisch-ländlichen Umwelt deutlich abhob«. 94 In dem seit 1803 von Bankiersfamilien bestimmten jüdischen Leben in Augsburg vollzog sich die Bildungsvermittlung an die Söhne über den Besuch der städtischen Schulen, und bei aller Aufrechterhaltung der eigenen Traditionen suchte man auch die gesellschaftliche Begegnung. 95 In den ländlichen Gemeinden Schwabens lief dieser Prozeß der Akkulturation allerdings sehr viel zögerlicher ab; insbesondere die tradierten Konflikte um die Schabbatstangen und die Sonntagsruhe setzten sich noch weiter fort. 96 Immerhin entwickelten sich weitere Begegnungsräume von Mehrheit und Minderheit, in denen sich auch die Angleichung der Lebensformen vollziehen konnte: die Elementarschule, die nicht selten jüdische und christliche Kinder zusammenführte, 97 und dann vor allem das Vereinswesen, was sich etwa in Hürben schon seit den 1830er Jahren beobachten läßt. 98 Der Assimilationsdruck mit seiner ›Verkirchlichung‹ der Synagoge - mit Predigt, Orgel und Gemeindegesang - sowie der sprachlichen Angleichung - der Reduktion des Hebräischen auf die Kultsprache und der Verdrängung des Jiddischen - war das eine. Im liberalen jüdischen Bürgertum vollzog sich zudem aber an charakteristischen Stellen eine weitere auffällige Konvergenz der Festkulturen in 94 Unter vorwiegend wirtschaftlicher Perspektive S. U LLMANN , Nachbarschaft und Konkurrenz (Anm. 8), S. 328-338, Zitat 338. 95 H ANS K. H IRSCH , Juden in Augsburg, in: G ÜNTHER G RÜNSTEUDEL u. a. (Hg.), Augsburger Stadtlexikon, 2. Aufl. Augsburg 1998, S. 135-145, hier 138-142; P ETER F ASSL , Die wirtschaftliche und soziale Stellung der Juden in Augsburg im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: D ERS ., Geschichte und Kultur (Anm. 77), S. 129-146, hier 138-142. 96 Dazu ausführlich C LAUDIA R IED , Jüdische Landgemeinden Schwabens in der Zeit der Emanzipation, Diss., Augsburg 2015. 97 Vgl. C LAUDIA P RESTEL , Jüdisches Schul- und Erziehungswesen in Bayern 1804-1933 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 36), Göttingen 1989; zu Schwaben demnächst C. R IED , Emanzipation (Anm. 96). 98 H ERBERT A UER , Die Einbindung der Juden in das öffentliche Leben und das Vereinswesen in der Gemeinde Hürben/ Krumbach, in: P. F ASSL (Hg.), Geschichte und Kultur (Anm. 77), S. 117-128; vgl. allgemein R. K IESSLING , Die jüdischen Gemeinden (Anm. 88), S. 368f. <?page no="202"?> J U DEN UND C HR IS TEN IM KONKU R RIER ENDEN Z EITTAKT 201 der Adaption der christlichen Weihnachtsbräuche in jüdischen Haushalten. 99 Hatte schon Rahel Levin in Berlin 1806 die Faszination zum Ausdruck gebracht, die das Weihnachtsfest auf sie ausübte, so war es vor allem der Christbaum, der die Übernahme in das jüdische Brauchtum begünstigte: Vom Wiener Salon der Fanny Arnstein 1814 während des Wiener Kongresses berichtet die Metternichsche Geheimpolizei, wie unter Anwesenheit der gesellschaftlichen und politischen Prominenz, Christen und Juden, dort nach Berliner Sitte ein sehr zahlreiches Weihbaum- oder Christbaumfest gefeiert wurde. Den Siegeszug im bürgerlichen Judentum trat die Adaption von Weihnachten als Familienfest dann in der Kaiserzeit an - und zog auch die gelegentliche jüdische Kritik wegen der Vernachlässigung der Chanukka-Tradition nach sich. ›Weihnukka‹, der Zusammenklang von Weihnachten mit dem Chanukkafest, war allgegenwärtig geworden. 100 Wann und wie das den Weg auch nach Schwaben gefunden hat, ist freilich noch eine offene Frage. Damit reduzierte sich die Divergenz in den Rhythmen der christlichen und jüdischen Feier- und Festtagszyklen, die das Alltagsleben in den Dörfern und Kleinstädten vor Ort jahrhundertelang mitbestimmt hatte. Das strenge Festhalten an den religiösen Traditionen, das aufgrund der ›volkstümlichen Orthodoxie‹ in den jüdischen Gemeinden selbstverständlich war und das in den christlichen Gemeinden durch die ›Konfessionalisierung‹ vertieft eingeübt wurde, war in der Emanzipationszeit keine dominante Größe mehr. Hatte sich in diesen Rhythmen die Erfahrung einer ›Andersartigkeit‹ des jeweiligen Gegenüber immer wieder neu manifestiert, so trug die Akkulturation nun zu einem Zusammenleben in der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ bei. Daß damit die latenten Konfliktpotentiale zwischen Christen und Juden nicht verschwanden, sondern nur überdeckt wurden, offenbarte das erneute Aufbrechen des Antisemitismus mit seinen nunmehr primär rassistischen Interpretamenten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. 99 M ONIKA R ICHARZ , Weihnukka - Das Weihnachtsfest im jüdischen Bürgertum, in: C ILLY K UGELMANN (Hg.), Weihnukka. Geschichten von Weihnachten und Chanukka. Eine Ausstellung des Jüdischen Museums Berlin, Berlin 2006, S. 87-99. 100 Vgl. dazu die weiteren Aufsätze in C. K UGELMANN , Weihnukka (Anm. 99), die bis in die weltweiten Praktiken der Gegenwart reichen. <?page no="204"?> 203 W OLFGANG S CHEFFKNECHT Von der Lokalisierung zur Globalisierung. Kalenderzeit, ideologische Zeit und Zeitpraxis im Bodenseeraum in der Frühen Neuzeit und im ›langen‹ 19. Jahrhundert 1. Der Bodenseeraum als Kalender- und Zeitlandschaft in der Frühen Neuzeit Wenn im folgenden vom Bodenseeraum die Rede ist, so liegt dem die Definition des ›Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung‹ zugrunde. 1 Während der Frühen Neuzeit finden wir in diesen Grenzen eine Reihe von verschiedenen Territorien unterschiedlichster Größe, Struktur und Zugehörigkeit: Geistliche Fürstentümer wie das Stift Kempten oder das Bistum Konstanz, weltliche Reichsfürstentümer wie das gefürstete Damenstift Lindau oder Liechtenstein, Prälatenherrschaften wie Weingarten, zu der in Vorarlberg die Reichsherrschaft Blumenegg zählte, Reichsgrafschaften wie Hohenems, Tettnang, Zeil oder Wolfegg und Reichsstädte wie Lindau, Ravensburg, Buchhorn, Überlingen oder Buchau, die z. T. über recht umfangreiche Territorien verfügten. Alle diese reichsunmittelbaren Gebilde gehörten zum Schwäbischen Reichskreis. 2 Dazu kommen österreichische Territorien wie etwa die Herrschaften vor dem Arlberg, aber auch vorderösterreichische Territorien in Oberschwaben, 3 die nicht eingekreisten reichsunmittelbaren 1 http: / / www.bodensee-geschichtsverein.eu/ bodenseeraum.html, aufgerufen am 30.3.2015. 2 Zu den Mitgliedern des Schwäbischen Kreises vgl. H EINZ -G ÜNTHER B ORCK , Der Schwäbische Reichskreis im Zeitalter der französischen Revolution (1792-1806) (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg B 61), Stuttgart 1970, S. 27-30; P ETER -C HRISTOPH S TORM , Der Schwäbische Kreis als Feldherr. Untersuchungen zur Wehrverfassung des Schwäbischen Reichskreises in der Zeit von 1648 bis 1732 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 21), Berlin 1974, S. 51-53; G ERD F RIEDRICH N ÜSKE , Reichskreis und Schwäbische Kreisstände um 1800. Beiwort zur Karte VI,9 (Historischer Atlas von Baden-Württemberg, Erläuterungen VI,9), Stuttgart 1978, S. 16-18; W INFRIED D OTZAUER , Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Aktenedition, Stuttgart 1998, S. 143f. 3 F RANZ Q UARTAL , Vorderösterreich, in: M EINRAD S CHAAB / H ANSMARTIN S CHWARZ - MAIER / G ERHARD T ADDEY (Hg.), Handbuch der Baden-Württembergischen Geschichte, Bd. 1: Allgemeine Geschichte, Teil 2: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches <?page no="205"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 204 Territorien der Reichsritterherrschaften 4 sowie Gebiete und Herrschaften der Schweizer Eidgenossenschaft, die sich ihrerseits in souveräne Kantone, zugewandte Orte mit ihren Untertanengebieten und gemeine Herrschaften aufgliederten. 5 Auch konfessionell haben wir es mit einer Vielfalt zu tun. Diesen Aspekt betonten nicht zuletzt die frühneuzeitlichen Kartographen: In einer 1720 von Johann Baptist Homann angefertigten Karte werden insbesondere die konfessionellen Grenzen hervorgehoben. 6 Katholisch waren vor allem die österreichischen Gebiete, 7 die meisten Reichsgrafschaften sowie die geistlichen Herrschaften, evangelisch Teile der Eidgenossenschaft wie etwa Schaffhausen oder die Stadt St. Gallen sowie ein Teil der Reichsstädte. 8 Wir finden aber auch bikonfessionelle oder paritätische Territorien und Städte. In der evangelischen Reichsstadt Lindau lag ein adeliges Damenstift. 9 In Isny gab es neben der seit 1531 evangelischen Bürgerstadt eine katholische »Klostervorstadt« - die beiden Konfessionen lebten hier also in »eine[r] (Veröff. der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg), Stuttgart 2000, S. 587-780; F RANZ Q UARTHAL / G EORG W IELAND / B IRGIT D ÜRR , Die Behördenorganisation Vorderösterreichs von 1753 bis 1805 (Veröff. des Alemannischen Instituts Freiburg i. Br. 43), Bühl/ Baden 1977; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Vorarlberg als Bestandteil der Vorlande, in: Vorderösterreich nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? Die Habsburger im deutschen Südwesten, Ulm 1999, S. 89-93. 4 F RANZ W ERNER R UCH , Die Verfassung des Kantons Hegau-Allgäu-Bodensee der unmittelbaren freien Reichsritterschaft, Mainz 1955. 5 M AX B AUMANN , Konfessionelle, politische, wirtschaftliche Vielfalt, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 3: Frühe Neuzeit: Territorien, Wirtschaft, St. Gallen 2003, S. 11-149; Bd. 9: Register und Dokumentation, St. Gallen 2003, S. 40-44. 6 Dazu: W OLFGANG P FEIFER , Der »Schwäbische Kreis« in zwei Homann-Karten (um 1700 und ab 1707), in: ZHVS 86 (1993), S. 219-233; U TA L INDGREN , Die Grenzen des Alten Reiches auf gedruckten Karten, in: R AINER A. M ÜLLER (Hg.), Bilder des Reiches (Irseer Schriften 4), Sigmaringen 1997, S. 31-50. 7 H ERMANN E HMER , Antaustriaca semper catholica? Die Reformation und Vorderösterreich, in: Vorderösterreich nur die Schwanzfeder des Kaiseradlers? (Anm. 3), S. 219-223; D IETMAR S CHIERSNER , Katholische Konfessionsbildung in den habsburgischen Vorlanden. Bedingungen, Entwicklungen, Akteure, in: D ERS . u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt. Neue Beiträge zur Landes- und Regionalgeschichte. FS für Rolf Kießling zum 70. Geburtstag, Augsburg 2011, S. 193-219. 8 Für den Schwäbischen Kreis: G. F. N ÜSKE , Reichskreis (Anm. 2), S. 16-18; für die Eidgenossenschaft: F RAUKE V OLKLAND , Katholiken und Reformierte im Toggenburg und im Rheintal, in: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 4: Frühe Neuzeit: Bevölkerung, Kultur, St. Gallen 2003, S. 131-146; Bd. 9, S. 51f., hier Bd. 4, S. 134f. 9 J OHANNES C. W OLFART , Religion, government and political culture in early modern Germany. Lindau, 1520-1628, Basingstoke u. a. 2002, S. 47, 53f., 82. <?page no="206"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 205 räumliche[n] Trennung in konfessionell einheitliche[n] Wohngebiete[n]«. 10 Auch in Leutkirch lebten neben den seit 1546 evangelischen Stadtbürgern katholische Untertanen des Abtes von Weingarten. 11 In Ravensburg wiederum beherrschte eine katholische Minderheit bis 1648 den Rat. Hier wurde der evangelischen Mehrheit erst im Westfälischen Frieden die Gleichheit in politischen Belangen zugestanden. 12 Auch einzelne Teile der Eidgenossenschaft waren gemischtkonfessionell. Sowohl im Thurgau als auch im Rheintal finden wir reformierte Minderheiten, die teilweise mit Katholiken in Simultanpfarreien lebten, also gemeinsam eine Kirche nutzten. Appenzell zerfiel überdies seit der Landesteilung von 1597 in einen reformierten (Außerrhoden) und einen katholischen (Innerrhoden) Teil. 13 Dazu kam noch die religiöse Sondergruppe der Juden. In rund einem Dutzend Gemeinden des Bodenseeraumes lassen sich während der Frühen Neuzeit jüdische Gemeinden oder einzelne jüdische Familien nachweisen. Es sei lediglich auf die Gemeinden in Rheineck, Hohenems, Sulz und Eschnerberg hingewiesen. 14 10 P AUL W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648 (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für abendländische Religionsgeschichte 111), Wiesbaden 1983, S. 12-14, 12 Anm. 48, Zitate S. 12f. Dazu auch: H ERMANN T ÜCHLE , Die oberschwäbischen Reichsstädte Leutkirch, Isny und Wangen im Jahrhundert der Reformation, in: ZWLG 29 (1970), S. 53-70, hier 60-64. 11 Das Zusammenleben wurde 1562 durch einen Vertrag zwischen dem Rat und dem Abt, in dem die Aufteilung der Kirchen und der Gefälle der Kaplaneipfründen geregelt und in dem festgelegt wurde, daß »[k]ünftig […] nicht mehr als 25 katholische (Voll-)bürger in der Stadt geduldet werden« sollten; P. W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen in einer Stadt (Anm. 10), S. 13 Anm. 53. Dazu auch: H. T ÜCHLE , Reichsstädte (Anm. 10), S. 69. 12 P. W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen in einer Stadt (Anm. 10), S. 14. 13 F. V OLKLAND , Katholiken und Reformierte (Anm. 8); B EAT I MMENHAUSER / B ARBARA S TUDER , Geld vor Glauben? Die Teilung Appenzells 1597 aus finanzgeschichtlicher Sicht, in: P ETER B LICKLE / P ETER W ITSCHI (Hg.), Appenzell - Oberschwaben. Begegnungen zweier Regionen in sieben Jahrhunderten, Konstanz 1997, S. 177-200. 14 K ARL H EINZ B URMEISTER , Medinat bodase, Bd. 3: Zur Geschichte der Juden am Bodensee 1450-1618, Konstanz 2001; D ERS ., Die Entwicklung der Hohenemser Judengemeinde, in: Hohenems - Geschichte, Bd. 1, Hohenems 1975, S. 171-188; D ERS ., Die jüdische Gemeinde am Eschnerberg 1637-1651, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum Liechtenstein 89 (1991), S. 153-176; D ERS ., Die Juden in Altenstadt (Feldkirch) 1663-1667, in: Montfort 43 (1991), S. 250-260; D ERS ., Die Juden in Tisis 1635- 1640, in: R AINER L INS (Hg.), Tisis. Dorf- und Kirchengeschichte (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 28), Feldkirch 1992, S. 141-147; K ARL H EINZ B URMEISTER , Die jüdische Landgemeinde in Rheineck im 17. Jahrhundert, in: Landjudentum im süddeutschen- und Bodenseeraum. Wissenschaftliche Tagung zur Eröffnung des Jüdischen Museums Hohenems vom 9. bis 11. April 1991, veranstaltet vom Vorarlberger Landesarchiv (Forschungen zur <?page no="207"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 206 Bekanntlich reagierten die Konfessionen unterschiedlich auf die Kalenderreform Gregors XIII. Im Bodenseeraum übernahmen die katholischen Territorien den neuen Kalender »größtenteils in den Jahren 1582 und 1583«, die katholischen Orte der Eidgenossenschaft folgten 1584. 15 Die evangelischen Territorien lehnten Geschichte Vorarlbergs 11; 18 der ganzen Reihe), Dornbirn 1992, S. 22-37; D ERS ., Geschichte der Juden in Stadt und Herrschaft Feldkirch (Schriftenreihe der Rheticus-Gesellschaft 31), Feldkirch 1993; D ERS ., Spuren jüdischer Geschichte und Kultur in der Grafschaft Montfort: Die Region Tettnang, Langenargen, Wasserburg (Veröff. des Museums Langenargen), Sigmaringen 1994; D ERS ., Die jüdische Gemeinde in Hohenems im 17. und 18. Jahrhundert, in: E VA G RABHERR (Hg.), »… eine ganz kleine jüdische Gemeinde, die nur in der Erinnerung lebt! « Juden in Hohenems. Katalog des Jüdischen Museums Hohenems, Hohenems 1996, S. 15-22; K ARL H EINZ B URMEISTER , Beziehungen von Juden und jüdischen Gemeinden in Schwaben und Vorarlberg vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: P ETER F ASSL (Hg.), Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben II. Neuere Forschungen und Zeitzeugenberichte (Irseer Schriften 5), Stuttgart 2000, S. 217-228; M ARKUS E RATH , Die Juden in Vorarlberg und Tirol im Dreißigjährigen Krieg, in: Montfort 57 (2005), S. 328- 345; A LOIS N IEDERSTÄTTER , Die jüdische Gemeinde in Hohenems, in: K ARL H EINZ B UR - MEISTER (Hg.), Rabbiner Dr. Aron Tänzer. Gelehrter und Menschenfreund 1871-1937 (Schriften des Vorarlberger Landesarchivs 3), Bregenz 1987, S. 11-25; B ERNHARD P URIN , Die Juden von Sulz. Eine jüdische Landgemeinde in Vorarlberg 1676-1744 (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 9), Bregenz 1991; D ERS ., Die Juden in Vorarlberg und die süddeutsche Judenheit im 17. und 18. Jahrhundert, in: M ARTIN K EIL / K LAUS L OHRMANN (Hg.), Studien zur Geschichte der Juden in Österreich (Handbuch zur Geschichte der Juden in Österreich B/ 2), Wien 1994, S. 121-130; B ERNHARD P URIN , Landjudentum im süddeutschen Raum. Die jüdische »Landschaft« im 17. und 18. Jahrhundert, in: E. G RABHERR (Hg.), »… eine ganz kleine jüdische Gemeinde, die nur in der Erinnerung lebt! « (Anm. 14), S. 23-28; A RON T ÄNZER , Die Geschichte der Juden in Hohenems und im übrigen Vorarlberg, Bregenz 1982 (Nachdruck der Ausgabe Meran 1905); T HOMAS A LBRICH , Jüdisches Leben in Tirol und Vorarlberg von 1700 bis 1805, in: D ERS . (Hg.), Jüdisches Leben im historischen Tirol, Bd. 1: Vom Mittelalter bis 1805, Innsbruck-Wien 2013, S. 247-332, 362-367; W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Akzeptanz und Fremdheit. Jüdische Räume im Spannungsfeld von Territorium und Reichskreis: Das Beispiel Hohenems, in: Jahrbuch des Vorarlberger Landesmuseumsvereins (2013), S. 170-213. 15 J AKOB M ESSERLI , Gleichmäßig - pünktlich - schnell. Zeiteinteilung und Zeitgebrauch in der Schweiz im 19. Jahrhundert, Zürich 1995, S. 43. Dazu auch: M ARTIN S CHEUTZ , »Den neuen bäpstischen Calender anlangen würdet derselb […] durchaus nit gehalten«. Der gregorianische Kalender als politischer und konfessioneller Streitfall, in: W OLFGANG H AME - TER / M ETA N IEDERKORN -B RUCK / M ARTIN S CHEUTZ (Hg.), Ideologisierte Zeit. Kalender und Zeitvorstellungen im Abendland von der Antike bis zur Neuzeit (Querschnitte 17), Innsbruck 2005, S. 116-143. Zur Einführung des Gregorianischen Kalenders im Reich und den damit verbundenen Schwierigkeiten vgl. außerdem: H ANS -B ERND S PIES , Zeitrechnung und Kalenderstile in Aschaffenburg und Umgebung. Ein Beitrag zur regionalen historischen <?page no="208"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 207 es dagegen großteils lange Zeit ab, sich an einem ›papistischen‹ Kalender zu orientieren. Wie »das konfessionell gespaltene Heilige Römische Reich deutscher Nation« blieb daher auch der Bodenseeraum »[d]urch rund 120 Jahre […] hinsichtlich Zeitrechnung und Festkalender zweigeteilt«. 16 Kompliziert war die Situation in den gemischtkonfessionellen Territorien. Hier kam es rund um die Einführung des neuen Kalenders teilweise zu heftigen Konflikten. In der Reichsstadt Ravensburg nahm der katholisch dominierte Rat den neuen Kalender im Dezember 1583 an. Ausschlaggebend dafür waren vor allem wirtschaftliche Motive. Die Stadt war in dieser Frage offenbar unter Druck der benachbarten katholischer Territorien gekommen. So hatte etwa Erzherzog Ferdinand »den Untertanen der unmittelbar von Vorderösterreich abhängigen Herrschaften befohlen, an Feiertagen nach dem neuen Kalender den Ravensburger Wochenmarkt nicht mehr zu beschicken«. 17 Der Rat stieß mit seiner Entscheidung allerdings auf den Widerstand der evangelischen Bürgerschaft. Diese feierte 1583 das Weihnachtsfest noch am alten Termin. Danach scheint sich die Situation relativ rasch beruhigt zu haben. Verantwortlich dafür dürfte gewesen sein, daß den Evangelischen einige Zugeständnisse gemacht wurden. Ihnen wurde in einem Mandat versichert, daß sie nicht mehr Feiertage halten müßten, dann sy biß daher nach außweisung der Augspurgischen Confeßion und vermög ihrer kirchenordnung zu feuren und zu halten in übung und gebrauch gehapt. 18 Mit zu einer Beruhigung der Situation dürfte auch die verhältnismäßig zurückhaltende Politik des Rates beigetragen haben. Dieser verzichtete darauf, die Übernahme des Gregorianischen Kalenders übermäßig zu ideologisieren. Er verwies stets darauf, daß dies nur geschehen sei, um den Frieden und den wirtschaftlichen Austausch mit den benachbarten Territorien nicht zu beeinträchtigen. 19 Auch in den »konfessionelle[n] Mischgebiete[n]« der Eidgenossenschaft kam es zu teilweise heftigen Konflikten. Ihre besondere politische und konfessionelle Struktur brachte es mit sich, daß viele davon »auf kommunaler Ebene abgehandelt wurden«. 20 Eine besondere Färbung erhielten die Konflikte auch noch dadurch, Chronologie (Mitteilungen aus dem Stadt- und Stiftsarchiv Aschaffenburg, Bh. 3), Aschaffenburg 2009, S. 52-56. 16 M. S CHEUTZ , Streitfall (Anm. 15), S. 134. 17 P. W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen in einer Stadt (Anm. 10), S. 382f., Zitat 383 Anm. 129; auch: M. S CHEUTZ , Streitfall (Anm. 15), S. 131. 18 P. W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen in einer Stadt (Anm. 10), S. 383. 19 P. W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen in einer Stadt (Anm. 10), S. 383. 20 F RAUKE V OLKLAND , Mehrheiten und Minderheiten in gemischtkonfessionellen Gemeinden des Thurgaus, in: A NDRÉ H OLENSTEIN / S ABINE U LLMANN (Hg.), Nachbarn, Gemeindegenossen und die anderen. Minderheiten und Sondergruppen im Südwesten des Reiches während der Frühen Neuzeit (Oberschwaben - Geschichte und Kultur 12), Epfendorf 2004, S. 255-263, hier 255. <?page no="209"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 208 daß die Reformierten in der Zeit zwischen dem zweiten und vierten Landfrieden, also zwischen 1531 und 1712, sich »in einer benachteiligten Position« befanden. In den meisten der etwa dreißig Simultangemeinden des Thurgaus, in denen jeweils eine Kirche von beiden Konfessionen gemeinsam genutzt wurde, kam es zu »der paradoxen Situation, daß sie den Katholiken bis ins 18. Jahrhundert hinein an Zahl überlegen, im Gebrauch des Kirchengebäudes jedoch meistens benachteiligt waren« und daß sie so »eine Position ein[nahmen], die in der Regel einer (konfessionellen) Minderheit zufällt«. 21 Die Auseinandersetzungen nahmen dabei häufig den Charakter eines »Kampf[es] um Symbole« an. 22 Kalender und Zeit spielten dabei keine geringe Rolle. 1584 vollzogen die katholischen Orte der Eidgenossenschaft den Übergang zum neuen Kalender. Der Kalendersprung erfolgte vom 12. auf den 22. Januar. In den gemischtkonfessionellen Landvogteien Thurgau und Rheintal gab es bei den Reformierten jedoch erhebliche Widerstände. Im Rheintal weigerte sich der (evangelische) eidgenössische Landvogt sogar, den entsprechenden Auftrag durchzuführen. Nachdem er zunächst die Absicht gehabt hatte, alles beim alten zu lassen, ordnete er schließlich eigenmächtig an, daß sich lediglich die Katholiken fortan nach dem neuen Kalender richten, die Reformierten aber den alten behalten sollten. Auch die Veröffentlichung dieses Befehls bereitete ernste Schwierigkeiten. Der katholische Landschreiber weigerte sich nämlich, ihn zu publizieren. Er mußte schließlich durch einen »Landläufer« in die einzelnen Gerichte und Höfe getragen werden. Die eidgenössische Tagsatzung, die als Schiedsinstanz angerufen wurde, präsentierte nach langwierigen Verhandlungen einen Kompromiß. Danach sollte der Gregorianische Kalender in beiden Landvogteien gelten. Den Reformierten wurde allerdings gestattet, eine Reihe von Feiertagen nach dem Julianischen Kalender zu begehen, nämlich Weihnachten, den Stephanstag, den Festtag des Evangelisten Johannes (27.12.), Neujahr, Ostern, Pfingsten sowie Christi Himmelfahrt. Auch die Katholiken sollten an diesen Tagen nicht arbeiten. Im Gegenzug mußte am Fronleichnamstag auch bei den Reformierten wenigstens am Vormittag die Arbeit ruhen. 23 Letztlich war also in beiden Landvogteien jeweils »eidgenössische Hilfe notwendig«, 24 um den neuen Kalender durchzusetzen. 21 F. V OLKLAND , Mehrheiten und Minderheiten (Anm. 20), S. 256. 22 F. V OLKLAND , Mehrheiten und Minderheiten (Anm. 20), S. 256. Zu den Auseinandersetzungen vgl. außerdem D IES ., Konfession und Selbstverständnis. Reformierte Rituale in der gemischtkonfessionellen Kleinstadt Bischofszell im 17. Jahrhundert (Veröff. des Max- Planck-Instituts für Geschichte 210), Göttingen 2005; D IES ., Katholiken und Reformierte (Anm. 8). 23 B EAT B ÜHLER , Gegenreformation und katholische Reform in den stift-st. gallischen Pfarreien der Diözese Konstanz unter den Äbten Otmar Kunz (1564-1577) und Joachim Opser (1577-1594), in: St. Galler Kultur und Geschichte 18 (1988), S. 5-197, hier 140 (Zitat); H ELLMUT G UTZWILLER , Die Einführung des gregorianischen Kalenders in der Eidgenos- <?page no="210"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 209 Die Umstellung auf den neuen Kalender bzw. das Vorhandensein zweier Kalenderzeiten in der Region scheint die Menschen zunächst ziemlich verunsichert zu haben. Vielfach ist belegt, daß man im ländlichen Raum daran zweifelte, daß die Bauernregeln einfach auf den neuen Kalender übertragen werden könnten. Viele berechneten die Lostage nach wie vor nach dem alten System. 25 Ähnlich groß war die Unsicherheit, wenn es darum ging, sich gegen magische Einwirkungen zu schützen. In Bludenz war es üblich, während der ganzen Walpurgisnacht die Kirchenglocken zu läuten, um die Stadt gegen die Hexen zu schützen. Während der intensiven Hexenverfolgungen im benachbarten Graubünden (Mitte des 17. Jahrhunderts) läutete man zweimal, in der Nacht auf den 1. und jener auf den 11. Mai, also einmal nach dem Gregorianischen und einmal nach dem Julianischen Kalender, am newen und alten mays abent. 26 Hier zeigt sich, daß »[d]ie Geschichte der Zeiten« auch im Bodenseeraum in dem Sinne »eher kumulativen Charakter« hatte, daß »alte Zeitmodelle« nicht einfach durch neue ersetzt werden, sondern neben diesen »weiterbestehen« oder sich mit ihnen vermischen. 27 Die »konfessionelle Gemengelage« im Bodenseeraum führte gelegentlich auch zu der »paradoxen Situation«, daß es »sogar innerhalb eines Ortes […] verschiedene Tageszählungen« gab. Das war bis 1700 beispielsweise in Lindau der Fall, wo sich die evangelische Reichsstadt nach dem Julianischen, das katholische Damenstift dagegen nach dem Gregorianischen Kalender richtete. Die beiden Reichsstände datierten auch ihren Schriftverkehr unterschiedlich. So konnte es vorkommen, daß beim Schriftwechsel zwischen diesen beiden Reichsständen das Antwortschreiben früher datiert war als die Anfrage. 28 senschaft in konfessioneller, volkskundlicher, staatsrechtlicher und wirtschaftspolitischer Schau, in: Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte 72 (1978), S. 54-73, hier 56-59. 24 H. G UTZWILLER , Einführung (Anm. 23), S. 58. 25 M. S CHEUTZ , Streitfall (Anm. 15), S. 132; H. G UTZWILLER , Einführung (Anm. 23), S. 64-68. 26 M ANFRED T SCHAIKNER , Bludenz im Barockzeitalter (1550-1730), in: D ERS . (Hg.), Geschichte der Stadt Bludenz. Von der Urzeit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Sigmaringen 1996, S. 161-280, hier 208. 27 A CHIM L ANDWEHR , Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: D ERS . (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution (Mainzer Historische Kulturwissenschaften 11), S. 9-40, hier 28. 28 M. S CHEUTZ , Streitfall (Anm. 15), S. 133. <?page no="211"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 210 2. Feiertage In den gemischtkonfessionellen Territorien des Bodenseeraumes wurden die unterschiedlichen Feiertagsregelungen, die sich aus der Verwendung verschiedener Kalender ergaben, zu wichtigen Unterscheidungsmerkmalen. Sie ermöglichten es, »die eigene Konfession durch Befolgung des zugehörigen Kalenders sichtbar zu leben« und damit den »öffentlichen Raum des eigenen Territoriums konfessionell eindeutig« wahrnehmbar zu machen. 29 So entwickelten sich regelmäßig ernste Konflikte, wenn etwa Angehörige einer anderen Konfession einen Feiertag oder Angehörige einer anderen Religionsgruppe wie die Juden einen Sonn- oder Feiertag nicht achteten oder nicht berücksichtigten. 1589 handelten sich die evangelischen zuogewnadten kilchgnossen uß dem hoff Lustnouw in den hoff Bernang gehörig eine Bestrafung durch den Landvogt im Rheintal ein, weil sie einer Gemeindeversammlung im Rheintal ferngeblieben waren, auf der ein eidgenössisches Mandat verlesen wurde, welches das Reislaufen betraf. Sie brachten zu ihrer Entschuldigung vor, daß sie durch eine Teilnahme die Osterfeiertage entweiht hätten, da sie sich als Evangelische noch nach dem Julianischen Kalender richteten und der Termin für die Gemeindeversammlung nach diesem auf Ostern fiel. 30 Besonders konfliktanfällig war die Situation wiederum in den Simultangemeinden des St. Galler Rheintals und des Toggenburg. Entsprechend der vertraglichen Vereinbarungen von 1584 mußten die Reformierten an den katholischen Feiertagen ihre Arbeit ruhen lassen. 31 Dies war an sich schon nicht unproblematisch. Wirklich konfliktträchtig wurde es jedoch dann, wenn besondere Umstände einen »intensiveren Umgang mit der Zeit erzwangen«. 32 Dies war etwa im Sommer und Herbst der Fall, wenn beispielsweise ein drohendes Gewitter das rasche Einbringen der Ernte erzwang. Als Ende Juni 1658 zwei katholische Feiertage in eine Woche fielen, erschien es den Reformierten in Altstätten aufgrund der herrschenden Witterungsverhältnisse dringend ratsam, das Heu unverzüglich einzubringen. Sie entschieden sich daher dafür, am Peter-und-Pauls-Tag (29. Juni) auf ihren Feldern zu arbeiten, und brachen damit die Feiertagsruhe. Obwohl sie damit aber erst begannen, nachdem die katholische Messe angefangen hatte, und obwohl sie nur 29 E DITH K OLLER , Kalenderreform, in: F RIEDRICH J AEGER (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit 6, Stuttgart 2007, Sp. 286-290, hier 288. 30 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Die Hofammänner von Lustenau. Ein Beitrag zur Verfassungs- und Sozialgeschichte des Reichhofes, phil. Diss. [masch.], Innsbruck 1988, S. 30f. 31 F. V OLKLAND , Katholiken und Reformierte (Anm. 8), S. 138f.; B. B ÜHLER , Gegenreformation (Anm. 23), S. 140. 32 J AN P ETERS , »… dahingeflossen ins Meer der Zeiten«. Über frühmodernes Zeitverständnis der Bauern, in: R UDOLF V IERHAUS u. a. (Hg.), Frühe Neuzeit - Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 104), Göttingen 1992, S. 180-205, hier 183. <?page no="212"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 211 die dringendsten Feldarbeiten verrichteten, auf alle anderen Tätigkeiten dagegen verzichteten, lösten sie einen heftigen Konflikt aus. Sie hatten nämlich versäumt, beim Fürstabt eine Dispens einzuholen. Damit erhielt der Bruch der Feiertagsregelung gewissermaßen grundsätzlichen Charakter. Die ›Deutungshoheit‹ der Katholiken wurde in Frage gestellt - und zwar von einer konfessionellen Gruppe, die, wie schon gezeigt, mit ihnen eben nicht auf Augenhöhe agieren konnte. Wenn reformierte Pastoren im St. Galler Rheintal ihre Pfarrmitglieder aufforderten, an katholischen Feiertagen zu arbeiten - was fallweise auch zu Amtsenthebungen bei den Pastoren führte - ging es vor allem darum, den Anspruch der Katholiken in Frage zu stellen, die Öffentlichkeit zu dominieren. So ist es auch zu verstehen, daß die Katholiken wiederholt versuchten, die Reformierten an deren Feiertagen aus der Öffentlichkeit zu verdrängen. So forderte der Landvogt im Rheintal 1596, daß sich die Reformierten entweder nach dem Gregorianischen Kalender richten oder ihre Feste nur innerhalb der Kirche feiern sollten. Den Anlaß hatten die reformierten Bewohner von Thal gegeben, die am Neujahrsabend nach dem Julianischen Kalender auf der Straße gesungen und gefeiert hatten. 33 Aus demselben Grund war das Läuten konfliktträchtig. Von den Katholiken wurde es als »mächtiges Symbol des Katholizismus« eingesetzt. Wollten die Reformierten dagegen an ihren Sonn- und Feiertagen läuten, mußten sie um Erlaubnis ansuchen, was im 17. Jahrhundert vom Fürstbischof oft genug abschlägig beschieden wurde. 34 Das Verbot konnte mitunter dadurch umgangen werden, daß Gottesdienste, Beerdigungen etc. so angesetzt wurden, daß sie zeitlich mit dem Englischen Gruß zusammenfielen. 35 Das Nebeneinander zweier Kalendersysteme endete im Bodenseeraum erst im Laufe des 18. Jahrhunderts. 1700 kam es - nach mehreren gescheiterten Versuchen - zunächst in den evangelischen Territorien des Reiches zu einer Angleichung an den Gregorianischen Kalender. Der ›Kalendersprung‹ erfolgte vom 18. Februar auf den 1. März. 36 Mit einem Jahr Verzögerung führten auch die reformierten Orte der Eidgenossenschaft den neuen Kalender ein. Die evangelischen Reichsstände hatten 33 F. V OLKLAND , Katholiken und Reformierte (Anm. 8), S. 138f. 34 F. V OLKLAND , Katholiken und Reformierte (Anm. 8), S. 140f. 35 F. V OLKLAND , Katholiken und Reformierte (Anm. 8), S. 140f. 36 Das Corpus Evangelicorum, das die Angleichung am 23. September 1699 auf dem Reichstag zu Regensburg beschlossen hatte, legte Wert darauf zu betonen, daß nicht einfach der Gregorianische Kalender übernommen werde, sondern ein »Verbesserter Calender«, der sich »sowohl vom gregorianischen wie auch vom julianischen Kalender unterschied«. Die Unterschiede ergaben sich »in der Berechnung des Mondlaufes, im Kirchenkalender, in den Sonntagsevangelien und bei den Heiligentagen«. Dies führte dazu, daß fallweise der Ostertermin in evangelischen und katholischen Territorien nicht übereinstimmte. Dies war 1724 und 1744 der Fall; M. S CHEUTZ , Streitfall (Anm. 15), S. 134-136, Zitate 135; E. K OL - LER , Kalenderreform (Anm. 29), Sp. 289. <?page no="213"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 212 sie dazu aufgefordert und dabei vor allem auf die wirtschaftlichen Vorteile verwiesen, die eine Angleichung bringe. Allerdings blieben bedeutende Ausnahmen. Es waren gerade die gemischtkonfessionellen Gebiete der Eidgenossenschaft, die im Bodenseeraum lagen oder wirtschaftlich zumindest in diesen ausstrahlten, die zögerten. So nahm das katholische Appenzell-Innerrhoden - wie die katholischen Gebiete von Glarus - den verbesserten Kalender erst 1724 an. 37 Das reformierte Appenzell-Außerrhoden sowie die evangelischen Teile des Freistaats der drei Bünde blieben dagegen noch weiter beim Julianischen Kalender. In Außerrhoden erfolgte der Übergang erst 1798 während der Helvetik und in Graubünden - seit 1803 ein neu geschaffener Kanton - letztlich erst 1812. 38 Der Widerstand der evangelischen Bevölkerung war erheblich. Ihre Gemeinden mußten politisch teilweise massiv unter Druck gesetzt werden, damit der neue Kalender durchgesetzt werden konnte. 39 Ulrich Bräker, der ›arme Mann aus dem Toggenburg‹, mutmaßte noch 1789, daß die Appenzeller aus dem Innerrhoden bereit wären, trotz dem aufgeklährten jahr 100. mit dem degen in der faust - mit helparten - pündterkneben, mistgabeln, furken u. heümessern die vorzüglichkeit, äch[t]heit der alten zeit [zu] verfechten. 40 Tatsächlich galt es noch ein Jahrzehnt später, erhebliche Widerstände zu überwinden, als die Helvetische Republik die den Kalender betreffende Autonomie der Appenzeller beendete. Auch wenn der Antrag zur flächendeckenden Einführung des Gregorianischen Kalenders aus Außerrhoden kam - der aus Herisau stammende Johann Conrad Enz hatte ihn gestellt und gleichzeitig prophezeit, daß die dortige Bevölkerung keinerlei Schwierigkeiten bereiten werde -, kam es zu ernsten Konflikten. Im Sommer und im Herbst 1798 wurde der neue Kalender in Außerrhoden einfach ignoriert, so daß man von Seiten der Regierung Anfang Dezember befürchtete, es könnte um den Termin des Weihnachtsfestes zu Unordnungen und Missverständnissen kommen. Dem modernen Machtstaat gelang es letztlich, seine Vorstellung durchzusetzen. Erst seine Behörden verfügten »erstmals über Kompetenzen, welche die Durchsetzung einer einheitlichen Zeitrechnung auch gegen den Widerstand der Bevölkerung ermöglichte«. 41 Wie tief aber der alte Kalender in der Bevölkerung 37 J. M ESSERLI , Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 44. 38 J AKOB M ESSERLI , Zeitvereinheitlichung in der Schweiz im 19. Jahrhundert, in: P ETER R USTERHOLZ / R UPERT M OSER (Hg.), Zeit. Zeitverständnis in Wissenschaft und Lebenswelt (Collegium Generale der Universität Bern: Kulturhistorische Vorlesungen 1995/ 96), Bern 1997, S. 47-73, hier 48f.; J. M ESSERLI , Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 44-56. 39 M. S CHEUTZ , Streitfall (Anm. 15), S. 139; dazu auch: J ON M ATHIEU , Bauern und Bären. Eine Geschichte des Unterengadins von 1650 bis 1800, 2. Aufl. Chur 1987, S. 23. 40 Zitiert nach: J. M ESSERLI , Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 44; D ERS ., Zeitvereinheitlichung (Anm. 38), S. 49. 41 J. M ESSERLI , Zeitvereinheitlichung (Anm. 38), S. 50. Es handelte sich um den helvetischen Großen Rat in Aarau, der über entsprechende Exekutivfunktionen verfügte; D ERS ., Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 55. <?page no="214"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 213 noch verankert war, zeigt sich eindrucksvoll darin, daß der traditionsreiche ›Appenzeller-Kalender‹ weiterhin (bis 1958) sowohl ein Gregorianisches als auch ein Julianisches Kalendarium brachte. 42 3. Bäuerliche Zeitkulturen Im folgenden wollen wir uns der Frage zuwenden, wie die frühneuzeitliche Gesellschaft mit der ›Zeit‹ umging. Thema sind also die »alltägliche[n] Zeitpraktiken« oder die »soziale und kulturelle Praxis«, welche die Zeit »macht«. 43 Wie überall in Europa gab auch im Bodenseeraum während der Frühen Neuzeit das Glockengeläut dem Tag eine Struktur. 44 Eine Reihe von polizeilichen Vorschriften waren auch hier »an das Kirchengläut gebunden«. 45 In der Schrunser Feuerordnung von 1746 erscheinen das tagleuten und das Ave Maria leuten als zeitliche Referenzpunkte, wobei beide durch Stundenangaben erläutert oder ergänzt 42 J. M ESSERLI , Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 45. 43 A. L ANDWEHR , Alte Zeiten, Neue Zeiten (Anm. 27), S. 29f. Achim Landwehr hat in diesem Zusammenhang völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß »die Idee von der Zeit als einer vorgegebenen und dem Menschen äußerlichen Realität […] in und für die Moderne sehr wirkmächtig [war] und […] ihre Auswirkungen bis heute« hat. Oft wird dabei verkannt, daß »[d]ie astronomische Zeit […] mit Anbruch des naturwissenschaftlichen Paradigmas in mathematischen und physikalischen Begriffen definiert« und auf diese Weise »ihres historischen und soziokulturellen Charakters entkleidet und zu einer Natursache stilisiert« wurde; ebd., S. 29. Durch Studien wie die von Nicolas Disch zu Engelberg konnte hinlänglich gezeigt werden, daß »Zeitfragen« auch im bäuerlichen Milieu »in bestimmte Lebenszusammenhänge eingebettet« waren und daß »die gesellschaftliche Zeit« auch hier »nicht einfach gegeben, sondern oft unstet und umstritten« war; N ICOLAS D ISCH , Hausen im wilden Tal. Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600-1800) (Norm und Struktur 41), Wien 2012, S. 490. Für die Entwicklung der bäuerlichen Zeitpraxis waren u. a. »die Hofdienstanforderungen« wichtig. Die Frage, wie lange auf den herrschaftlichen Feldern gearbeitet werden mußte, zwang die Bauern dazu, »mit der Stundenzeit umgehen [zu] können«. Wenn in Zusammenhang mit der bäuerlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit von »natürliche[r] Zeitlichkeit« die Rede ist, gilt es zu bedenken, daß es sich dabei um einen »Gegenbegriff zur Ewigkeit« handelt; J. P ETERS , Frühmodernes Zeitverständnis der Bauern (Anm. 32), S. 183-186, Zitate 184, 186, Hervorhebung im Original. Auf die Ursachen und die Entstehung der Zeitpraxis im frühneuzeitlichen Bodenseeraum kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. 44 Gerhard Dohrn-van-Rossum spricht in diesem Zusammenhang mit Bezug auf Friedrich Heer vom »Glockeneuropa«, das dieser mit der lateinischen Christenheit gleichsetzte. Vgl. dazu seinen Beitrag in diesem Band. 45 G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM , Die Geschichte der Stunde. Uhren und moderne Zeitordnung, München-Wien 1992, S. 191. <?page no="215"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 214 werden. Die Backöfen und andere Feuerstellen dürfen nicht vor dem tagleuten, das um 3 Uhr erfolgt, angeheizt werden und sie müssen spätestens zwei Stunden vor dem Ave Maria leuten gelöscht sein. Ab diesem Zeitpunkt durften die inwohner im dorf auch keine wasch mehr anrichten und dessentwegen anfeuren. 46 In der Montafoner Wirteordnung von 1656 heißt es, daß die Wirte keinem (außerhalb die in oberkeit und herrschaft gescheft beladen oder durchreisende leut und sonst ehehafte ursachen wegen) nach 9 uhren abents nichts mer auftragen sollen. Was aber ledige und dergleichen personen weren, die unfridsame händl hetten oder anzufangen müetlich erscheinen wollte, denselben solle der würt nach Ave Maria gar nichts mer geben, sondern ab- und zu hauß verschaffen. 47 In Hohenems erließ Reichsgraf Franz Karl zwischen 1650 und 1673 mehrere Mandate, durch die unter anderem verboten wurde, daß sich unverheiratete Männer und Frauen nach dem Ave-Maria-Läuten »in und außerhalb der Behausungen und Wirtshäuser« trafen. 48 Hier wurde das abendliche Ave-Maria-Läuten zum ›Ankerpunkt‹ der zeitlichen Gliederung. Die Nachtwächter mußten im Sommer ab 21 Uhr und im Winter ab 20 Uhr die Stunden ausrufen. Sie hatten sich dabei nach dem Schlagen der Kirchturmglocken zu richten. So heißt es in ihrer Instruktion, daß sie sich in ihrem wachthaus einzufinden hätten, damit sie nach dem gloggenschlag die stund ausrufen können. Der erste Ruf lautete: Höret, was will ich euch sagen, die gloggen hat neune geschlagen, versorget wohl feur und licht, daß uns Gott und Maria behüet. Für die weiteren Stunden lautete die Formel: Höret, was will ich euch sagen, die gloggen hat zehen geschlagen, zehen zehlt zehen usw. Im Sommer mußten sie umb 2, im winter aber umb 4 uhr 46 […] sollen alle und jede gemeindsleute im dorf, besonders aber die beck und andere im feur arbeitende oder feurstätt gebrauchende handtierer ohne ausnamb oder entschuldigung sommer und wünders einmalen vor dem tagleuten oder 3 uhren in ihren back- und anderen öfen, auch feurstätten, ainiches feur nicht anzünden, nachmittag aber oder gegen abend solle einjeder zum backen einhaizen oder einfeuren, sich solchermassen verhalten, damit das feur zwei stund vor dem Ave Maria leuten wirklich ausgelöschet seie; K ARL H EINZ B URMEISTER (Bearb.), Vorarlberger Weistümer, Teil 1 (Bludenz - Blumenegg - St. Gerold) (Österreichische Weistümer 18), Wien 1973, S. 152. 47 K. H. B URMEISTER (Bearb.), Vorarlberger Weistümer (Anm. 46), S. 120. Dazu: A LOIS N IEDERSTÄTTER , Notizen zu einer Rechts- und Kulturgeschichte der Nacht, in: B ERND M ARQUARDT / A LOIS N IEDERSTÄTTER (Hg.), Das Recht im kulturgeschichtlichen Wandel. FS für Karl Heinz Burmeister zur Emeritierung, Konstanz 2002, S. 173-190, hier 184. 48 L UDWIG W ELTI , Die Entwicklung von Hohenems zum reichsfreien Residenzort, in: Hohenems Geschichte, Bd. 1, Hohenems 1975, S. 17-170, hier 87-90; D ERS ., Vom karolingischen Königshof zur größten österreichischen Marktgemeinde, in: Lustenauer Heimatbuch, Bd. 1, Lustenau 1965, S. 82-537, hier 270-273; W OLFGANG S CHEFFKNECHT , In einem von ›Häretikern‹ umgebenen Land. Aspekte der katholischen Konfessionalisierung in der Reichsgrafschaft Hohenems und im Reichshof Lustenau im 17. Jahrhundert, in: D. S CHIERSNER u. a. (Hg.), Augsburg, Schwaben und der Rest der Welt (Anm. 7), S. 221-255. <?page no="216"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 215 den Tag ausrufen. 49 Im Kirchspiel Nüziders wurde 1592 der Beginn des Gemeinwerks durch das Läuten angezeigt 50 . Die Beispiele zeigen, daß es gerade im dörflichen Milieu und in kleineren Städten nicht zu einer »Emanzipation« des weltlichen Glockengeläuts »vom Geläut der Kirchen« gekommen ist. Die »kirchlichen Glocken [übernahmen] vielfach zusätzliche Polizeifunktionen«. 51 In den Simultangemeinden des St. Galler Rheintals und des Toggenburgs konnte dies zu einem Problem werden. Hier wurde im 17. Jahrhundert auf Anweisung des Fürstabts von St. Gallen dreimal am Tag der Englische Gruß geläutet. Da es sich beim »Englischgrußläuten« im Grunde um eine Art der Marienverehrung handelte - besonders das abendliche Läuten galt noch im 17. Jahrhundert als »Erinnerung an die Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria« -, 52 stieß es bei den reformierten Pfarrern auf Ablehnung. Den einfachen Gemeindemitgliedern unter den Reformierten galt es dagegen in ähnlicher Weise wie den Katholiken als »wichtige[r] Bestandteil des Alltags« und wurde jenseits seiner religiösen Bedeutung durchaus »als nützlich empfunden«. 53 Es lassen sich auch Bemühungen der Fürstäbte nachweisen, diese Funktion des Betläutens zu verstärken. So versuchten sie, es »durch Läutordnungen mehrmals einheitlich zu regeln«. 54 Der Zwiespalt zwischen praktischer Gliederungsfunktion und konfessioneller Symbolik wurde zeitweise durch religiöse Verordnungen noch verstärkt. Im Toggenburg mußten beispielsweise im 17. Jahrhundert während des Betzeitläutens sowohl die Katholiken als auch die Reformierten ihre Kopfbedeckung abnehmen. Dies führte nicht nur »ständig zu Reibereien«, sondern auch zu regelrechten Sabotageakten. So 49 VLA, HoA 51,28: Instruktion für die Nachtwächter und Tagaufseher (Concept), 2.6.1719. 50 wan man anschlecht auf das gemaine werck ze gon und am selbigen tag zue sant Viner zum driten mal geleut würt, solle aus jedem haus ein gueter verfangner mann daselbst zue sant Viner erscheinen und also bei der gemaind bleiben, bis ihme die dorfvögt urlaub geben, und vor nit heim gehen, weder gehen essen noch anders ohne erlaubnus der geschwornen oder dorfvögten; K. H. B URMEISTER (Bearb.), Vorarlberger Weistümer (Anm. 46), S. 234. 51 G. D OHRN - VAN R OSSUM , Geschichte der Stunde (Anm. 45), S. 191. 52 Um 1600 wurde das »Englischgrußläuten« nach Johannes Duft »folgendermaßen interpretiert: Am Morgen und Abend zu Ehren und Dankbarkeit der Auferstehung des Herrn, am Mittag zum Gedächtnis an sein bitteres Leiden und Sterben, am Abend zur Erinnerung an die Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria«; J OHANNES D UFT , Die Glaubenssorge der Fürstäbte von St. Gallen im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Seelsorgegeschichte der katholischen Restauration als Vorgeschichte des Bistums St. Gallen, Luzern 1944, S. 194 Anm. 47. Das mittägliche Ave-Maria-Läuten war seit 1456 durch päpstliche Verordnung »als Gebet gegen die Türkengefahr für die ganze Kirche verbindlich«. Es wurde deswegen auch häufig als »Pacem-Läuten« bezeichnet; G. D OHRN - VAN R OSSUM , Geschichte der Stunde (Anm. 45), S. 191. 53 F. V OLKLAND , Katholiken und Reformierte (Anm. 8), S. 140. 54 J. D UFT , Glaubenssorge (Anm. 52), S. 194. <?page no="217"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 216 verstellten »[m]anche reformierte Meßmer [! ] an den Simultankirchen […] die Turmuhren, damit die Zeiten fürs Läuten mit denen für die Gottesdienste durcheinander gerieten«. 55 Durch die ideologische ›Überfrachtung‹ wurde das Läuten in seiner zeitlichen Gliederungswirkung konterkariert. Erst 1712 wurde den Reformierten in den Simultangemeinden volle Gleichberechtigung zugestanden. Nun erhielten sie eigene Mesner und konnten selbständig über die Läutzeiten verfügen. Es zeigte sich, daß die Reformierten nun in den meisten Gemeinden ohne Druck das Englischgrußläuten beibehielten, manche von ihnen bis in die 1940er Jahre. 56 Nachdem der ideologische Aspekt in den Hintergrund getreten war, setzte sich offensichtlich der praktische durch. Praktisch überall im Bodenseeraum wurden während der Frühen Neuzeit Zeitpunkte auch durch die Angabe der Stunde definiert. Im Reichshof Lustenau begannen die Sitzungen des Hofgerichts beispielsweise 1536 ungefahrlich umb die neinte stund und dauerten zue winterzeit bis umb die drei nachmitag und zue somerzeit bis umb die vier ungefahrlich, und nit lenger. 57 Seit 1593 sollten sie schon unngefahrlich um die sübende stundt vor mittag beginnen und im Winter biß um die viere ungefahrlich und nicht lenger dauern. 58 1792 wurde der Beginn der Gerichtszeiten auf spätestens 8 Uhr festgelegt. Dann sollte bis 12 Uhr getagt werden und nach einer zweistündigen Mittagspause, solange es die Zeit gestattet. Im Sommer bedeutete dies nicht länger als bis 8 Uhr abends, im Winter nicht länger als bis 6 Uhr abends. 59 Kläger und Beklagte mußten rechtzeitig vor Gericht erscheinen. Was aber bedeutete ›rechtzeitig‹? In Lustenau heißt es 1536 bzw. 1593, daß sie erscheinen mußten, ehemals dry urtailen ergangen seind 60 bzw. bevor drey partheyen ihre clag in solchem gericht gefüert. 61 Erst 1792 wurde eine genaue Uhrzeit angegeben. Wer pünktlich sein wollte, mußte vor Gericht erscheinen, ehe die Kirchturmuhr 10 Uhr geschlagen hatte. 62 Ihm wurde also 55 F. V OLKLAND , Katholiken und Reformierte (Anm. 8), S. 140 (Zitat); J. D UFT , Glaubenssorge (Anm. 52), S. 194f. 56 Noch in den 1940er-Jahren wurde dieses dreimalige Läuten »von den nichtkatholischen Kirchen« im Kanton St. Gallen gepflegt; J. D UFT , Glaubenssorge (Anm. 52), S. 194. 57 L UDWIG W ELTI , Das älteste Lustenauer Hofrecht von 1536, in: Heimat 11 (1930), S. 82- 85, hier 83. 58 W OLFGANG S CHEFFKNECHT , Das Lustenauer Hofrecht von 1593, in: Montfort 41 (1989), S. 277-288, hier 280. 59 VLA, HoA 50,32: Lustenauer Hofrecht von 1792, S. 23, § 32. 60 L. W ELTI , Hofrecht 1536 (Anm. 57), S. 84. 61 W. S CHEFFKNECHT , Hofrecht 1593 (Anm. 58), S. 279f. Die Modifikation der Formulierung könnte möglicherweise auf eine geänderte Gerichtspraxis zurückzuführen sein, in dem Sinne, daß die Urteile nicht unbedingt gleich nach den Verhören gesprochen wurden, sondern am Ende eines Gerichtstages oder vielleicht auch noch später; D ERS ., Verfassungsgeschichte des Reichshofes Lustenau, phil. Hausarbeit [masch.], Innsbruck 1982, S. 93. 62 VLA, HoA 50,32: Lustenauer Hofrecht von 1792, S. 22, § 29. <?page no="218"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 217 eine zweistündige Frist eingeräumt. Wer diese nicht einhielt, galt als ungehorsam 63 bzw. als ungehorsamlich ausbleibend 64 - außer er konnte erhaffte entschuldigung seines ausbleybens nachfolgenden gericht beybringen und darthuen 65 oder er hatte rechtmäßige und billige Gründe für seine Verspätung. 66 Ähnliche Regelungen finden wir vielerorts im Bodenseeraum. In Sonnenberg drohte im 17. Jahrhundert jedem, der sich bei gast- oder zeitgerichten nicht zu morgens umb acht uhren an der gerichtsstell zu Nützederß einfand, eine Geldstrafe. Wenn er überhaupt nicht erschien, mußte er der anrüfenden ain oder mehr parteien nach gelegenheit der sachen iren costen und schaden erlegen und abstatten. 67 In Tablat, das im Untertanengebiet der Fürstabtei St. Gallen lag, dauerten die Gerichtssitzungen 1471 »von zehn Uhr bis zur Vesper«, in Zuckenriet begann 1543 das »Jahrgericht« am Mittag und die »Muotgerichte« um elf Uhr. 68 Auch in anderem Zusammenhang stoßen wir auf Stundenangaben: In der Reichsgrafschaft Hohenems wurden die Sperrstunden mit der Uhrzeit angegeben. 1626 wurde den Wirten und Weinschenken verboten, daß sie kheinem menschen (ausgenohmben frembdten durchraissenden leutehn) an khainen fest-, Sonn- oder feyrtag einichen wein oder brandten wein geben sollen vor 10 Uhren vormittag. 69 Seit 1660 durften sie ihren Gästen - ebenfalls mit Ausnahme von durchreisenden Fremden - im Winter nach 9 Uhr und im Sommer nach 10 Uhr keinen Wein mehr ausschenken. 70 63 L. W ELTI , Hofrecht 1536 (Anm. 57), S. 84; W. S CHEFFKNECHT , Hofrecht 1593 (Anm. 58), S. 279f. 64 VLA, HoA 50,32: Lustenauer Hofrecht von 1792, S. 22, § 29. 65 W. S CHEFFKNECHT , Hofrecht 1593 (Anm. 58), S. 279f. (Zitate); L. W ELTI , Hofrecht 1536 (Anm. 57), S. 84. 66 VLA, HoA 50,32: Lustenauer Hofrecht von 1792, S. 22, § 20. Die Konsequenzen waren unterschiedlich: 1536 hatte die nicht erschienene Partei den Fall verloren. 1593 wurde der Fall dagegen ohne den nicht anwesenden Kläger/ Beklagten verhandelt. Es konnte also nur die anwesende Partei ihre Argumente und ihre Sichtweise darlegen. 1792 wurde zwischen einer Verspätung des Klägers und des Beklagten unterschieden. Ein nicht oder verspätet erschienener Kläger mußte für die Gerichtskosten aufkommen und nach Ermessen des Richters dem Beklagten eine Entschädigung zahlen. Er erhielt aber die Möglichkeit, das Gericht in dieser Sache noch einmal anzurufen. Erst bei der zweiten unentschuldigten Verspätung oder dem zweiten Nichterscheinen hatte er den Fall endgültig verloren. Falls der Beklagte zu spät oder überhaupt nicht erschien, sollte verhandelt werden, ohne diesem die Möglichkeit der Verteidigung einzuräumen; W. S CHEFFKNECHT , Verfassungsgeschichte (Anm. 61), S. 94. 67 K. H. B URMEISTER (Bearb.), Vorarlberger Weistümer (Anm. 46), S. 214f. 68 W ALTER M ÜLLER , Die Offnungen der Fürstabtei St. Gallen. Ein Beitrag zur Weistumsforschung (Mitteilungen zur vaterländischen Geschichte 43), St. Gallen 1964, S. 78 Anm. 230. 69 VLA, HoA Hs 344: Verhörprotokoll 1620-1638, fol. 196r. 70 VLA, HoA Hs 349: Verhörprotokoll 1660-1664, fol. 75v-76r. <?page no="219"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 218 1616 wurden zwei Lustenauer wegen eines Schlaghandels in Hohenems vor Gericht gestellt und verurteilt. Als Strafe sollten sie jeweils eine Geldstrafe entrichten und Im turn ligen, bis morgens umb 3 uhr nachmittags. 71 Auch die einfachen Leute gaben in Verhören Zeitpunkte auf diese Art an. 1606 beschwerten sich die Lustenauer in Hohenems über ihren Pfarrer Martin Pfleghaar unter anderem, weil dieser an Sant Maria Magdalennatag […] umb halbe 8 uhr in die kirchen gangen und umb 8 uhr wider darus und unterdessen weder prediget noch das evangeli verkündt . 72 Eine 55 Jahre alte Witwe aus Lustenau sagte 1757 aus, an Einem Montag in der Nacht bey Leufig um acht uhr seye der Hans Georg Schoch, Keßler und Hindersaß in Lustenau, zu ihrer Dochter in daß Hauß gekomen und habe vor ein Kreuzer rauch Tuback verlangt. Weillen aber deponentin sich in dero Camer schon schlafen geleget, habe auch die Dochter solche nicht mehr aufweckhen wollen und sofort ihne mit deme abgewiesen, daß er Morgenden Tags wider kommen sollte. Sie wußte weiter zu berichten, daß der genannte Keßler deß anderten Tags darauf in der Frühe gegen 5 Uhr dem Hanß Geörg Algi, Krämer von Lustenau, auf den riedt gegen Lutrach begegnet und einen Hafen an dem steckhen getragen. 73 Der genannte Hans Georg Algi sagte seinerseits aus, daß die geschilderte Begegnung Zwischen 5 und 6 uhr in der frühe, stattgefunden habe, da er von Lutrach kommen. 74 Der Taglöhner Johannes König, genannt Hiesel, aus Lustenau sagte im August 1785 aus, daß er zwischen 2 und 3 Uhr morgens nach Höchst unterwegs gewesen sei und ihm dabei verdächtige Leute begegnet seien. 75 In der Chronik der Ammannfamilie Hollenstein aus dem Reichshof Lustenau 76 wurden um die Mitte des 18. Jahrhunderts etwa ein Dutzend Ereignisse mit Angabe der Uhrzeit beschrieben. Es handelt sich um Naturereignisse, Katastrophen und Todesfälle: Wir lesen etwa, daß am 1. November 1755 Zwischen 9 und 10 uhr in der fruhe […] ein an schönheit, reichthumen und Herrlichkeit welt berühmte haubt- und residenz statt Lisabona in Portugall auß unerforschlichem verhengnus Gottes, da der mehriste theill volk in denen Kirchen waren, durch ein erschröckhliches Erdbeben in zeit 5 Minutten mehristen theils erschüttet und ein gestüzt [! ], zu einem steinhaufen gemacht worden sei; 77 oder daß am 10. Dezember 1755 ein Erdbiden in gantz Teuschlandt, absonderlich in in dem bischtum Costantz zu allgemeiner schreckhen und forcht verspühret worden [sei] nach Mittag Zwischen 71 VLA, HoA Hs 343: Verhörprotokoll 1613-1620, sub dato 9.5.1616. 72 VLA, HoA 111,14: Ammann und Gericht des Reichshofes Lustenau an den Grafen von Hohenems, 1.10.1606. 73 VLA, HoA 153,21: Aussage der Katharina Riedmann, 20.9.1757. 74 VLA, HoA 153,21: Aussage der Hans Georg Alge, 20.9.1757. 75 VLA, HoA 153,14: Aussage des Johannes König, 8.8.1785; dazu auch: Ebd., Bericht des Lustenauer Hofammanns Marx Fidel Hollenstein und des Stabhalters Peter Paul Hollenstein, 3.8.1785. 76 Zur Ammannfamilie Hollenstein und zu ihrer Familienchronik vgl. W. S CHEFFKNECHT , Hofammänner (Anm. 30), S. 269-274. 77 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 46f. <?page no="220"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 219 2 und 3 uhr. Auch in diesem Fall gibt der Verfasser die Dauer der Erschütterung an. Er berichtet, daß sich das Beben in denen hauseren, welche zu braschlen vorhero anfingen, mit einem wiegen oder wanken gleich einem schiflein bemerkbar gemacht habe, daß dieses aber nicht länger dan 2 oder 3 minutten gedauert und niemand einen schaden zu gefüget habe, obschon mann nach der hand vernohmen, daß unterschidliche wässer, flöß und See sich ohne einzigen wind sehr beweget haben. 78 Weiter erfahren wir, daß man Anno 1771 […] in Schwabenland, absonderlich an dem Bodensee, an einem Sontag, allwo sogar die prediger von der kantzel gestiegen, den 11. August ein Erdbedem verspüret, so kaum ein minuten gedauret und allhier in der kirchen um 8 uhr in der frühe in dem tachstuhl einige stös und krachen gemerket worden. 79 Auch andere Naturereignisse und Katastrophen werden auf diese Art genau angegeben: Am 18. Februar 1758 in der Nacht um 10 uhr allhier Ist und fast im gantzen Römischen reich ein so erstaunliche wind entstanden, daß Kein Mensch mehr in hausern sicher zu sein glaubte. Kein haus ware vast zu finden, welches nicht an dächer, Camminen oder anderen orthen beschädiget wurde. Wir erfahren weiter, daß diser wind bis morgens umb 2 uhr gedauert habe, allwo er Suceßive nach gelassen. 80 Der Dorfbrand in Hohenems am 15. November 1777, durch den 27 christliche und 34 jüdische, zusammen 61 ganze Haushaltungen in das erbärmliche Elend versetzet und nicht nur allein ihres bisherigen Obtaches, sondern auch fast alles Haus-Geräths und vornämlichen […] der samentl. den ganzen Sommer und Herbst hindurch eingebrachten Feld- und Narungsfrüchten für Menschen und Vieh auf den bevorstehenden langen Winter hinaus unverschmerzlichst beraubet wurden, brach nach Angabe des hollensteinischen Familienchronisten gegen 5 und 6 Uhr abends aus und dauerte 2 Stunden. 81 Der hollensteinische Familienchronikst berichtet außerdem, daß der französische König Ludwig XV. am 5. Januar 1757 abends um 6 uhr in die caroße einsteigen und nach Trianon einen königl. lust-schloss fahren wollte, dabei aber von einem Attentäter angegriffen und leicht verletzt worden sei und man den Täter am 28. März nach Mittag um 2 uhr auf den grefe Platz brachte, um mit der grausamen Exekution zu beginnen. 82 Auch über Krankheiten und Todesfälle in der eigenen Verwandtschaft berichten uns die Schreiber der Hollensteinischen Familienannalen in der Regel mit Angabe der genauen Uhrzeit: So lesen wir, daß Altammann Joachim Hollenstein infolge einer gesundheitlichen Schwäche am 17. Januar 1762 um 4 uhr in der fruhe den Seelsorger zu sich berufen und zu ieder mäniglichem vergniegen seyn beicht abgelegt 83 und daß er am 16. Februar 1765 früh umb 3 uhr in Gott hofentlich seelig entschlafen und auß disem 78 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 49. 79 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 90. 80 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 49. 81 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 103f. 82 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 52, 54. 83 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 71. <?page no="221"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 220 Zächerthal in das Ewige glückhseelige Paradeis übersezt worden. Auch den Beginn des Todeskampfes weiß der Familienchronist relativ genau zu terminieren. Wir lesen, daß ein knab, der Krankenwache am Bett des Altammanns hielt, diesen am 15. Februar in der fruhe umb 6 uhr Ihne noch schlafend verlassen, über ein kurtze zeit, da er wider zu Ihm kame, sterbend und in Zügen ligend antrafe. Joachim Hollenstein hatte in der Zwischenzeit ein schlagfluß bekommen, so daß er nicht mehr sprechen und folglich auch nicht beichten konnte. Da aber an seinem gottgefälligen Leben kein Zweifel bestand, wurde er dennoch mit den Sterbesakramenten versehen und erhielt die Generalabsolution. Er starb schließlich, nachdem er 21 stund in disem leidigen und mitleydens würdigen Zu stand Zu gebracht. Die Beschreibung des letzten Tages im Leben seines Vaters leitet der Verfasser der Familienchronik mit der Metapher ein, daß für diesen die uhr das leste mahl aufgezogen worden sei. 84 Josef Anton Hollenstein starb nach Angaben des Familienchronisten am 19. Oktober 1782 Morgen[s] um 8 uhr, 85 Maria Rosalia Hollenstein am 21. Januar 1785 um halb 12 Uhr mit vollem Verstand unter 2 stündigem Zusprechen u. Vorlesen ihrer Fr. Schwöster Marianna Spehlerin, gebohrne Hollensteinin, 86 Franz Anton Hollenstein am 27. April 1787 am Morgen fruhe um 4 uhr, 87 Marx Fidel Hollenstein am 7. Mai 1790 frühe zwischen 6 u. 7 Uhr, 88 Marianna Hollenstein am 28. August 1795 frühe Morgens zwischen 1 und 2 Uhr, 89 Maria Viktoria Grabher, die Gattin des Josef Benedikt Hollenstein, am 23. Dezember 1803 abends um halb Sechs uhr, 90 Josef Gebhard Hollenstein am 16. November 1804 abends Um 9 uhr, 91 und Gebhard Fidel Hollenstein am 5. Januar 1805 Morgen[s] um ½ 10 uhr. 92 Auf den ersten Blick bestechen die Angaben durch ihre Genauigkeit. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich diese als nur scheinbar. Von den Naturereignissen und Katastrophen werden fünf auf eine volle und drei auf eine halbe Stunde gelegt, von den Todesfällen und Krankheiten sechs auf eine volle und zwei auf eine halbe Stunde datiert. Bei zwei Todesfällen wird die Todeszeit als Zwischenraum zwischen zwei vollen Stunden angegeben und in einem Fall ist von ›ungefähr‹ die Rede. Wenn wir nicht annehmen wollen, daß die Menschen im 18. Jahrhundert grundsätzlich zur vollen oder halben Stunde starben und krank wurden, dürfen wir diese Angaben nicht wörtlich nehmen. Es fällt auf, daß der Verfasser der Hollensteinischen Familienannalen nur in ganz seltenen Fällen eine kleinere Zeiteinheit als die halbe Stunde verwendet. Dies 84 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 80f. 85 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 26. 86 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 133. 87 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 32. 88 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 35. 89 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 115. 90 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 128. 91 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 142. 92 HistA Lustenau, Hollensteinische Familienannalen, Bd. I A, S. 121. <?page no="222"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 221 ist etwa bei der Angabe der Dauer von Erdbeben der Fall. Das Beben, das 1755 Lissabon verwüstete, dauerte seiner Angabe zufolge etwa fünf Minuten. In diesem Falle scheint er die Angabe den Zeitungen entnommen zu haben, die schon bald nach der Katastrophe in Deutschland darüber berichteten. In diesen war von einem schrecklicheren Erdbeben, als jemals in irgendeinem Weltteile gewesen ist, die Rede, dessen Dauer nach Augenzeugenberichten weniger als 10 Minuten betragen habe. 93 Überhaupt scheinen die frühneuzeitlichen Menschen Schwierigkeiten gehabt zu haben, Zeiträume von weniger als einer Stunde zu beschreiben. Dies gilt auch für den amtlichen Sprachgebrauch. So wird die Dauer von Verhören oder des Prangerstehens regelmäßig in Stunden angegeben: Der Hohenemser Jakob Amann, der 1674 ins Gefängnis gekommen war, weil er aufrührerische Reden gegen den Grafen geführt hatte - er soll gesagt haben, man solle gegenüber dem Landesherrn rebellisch werden -, legte ein Geständnis ab, nachdem man ihn eine Stunde lang verhört hatte. 94 Die Lustenauerin Juliana Hämmerle, die 1737 wegen verlaimberische[r] Rede wider Emilia Böschin vor Gericht gekommen war, wurde dazu verurteilt, Einen ofentlichen widerruf ab[zu]legen und mit einer Tafel um den Hals, welche die Aufschrift Ehren Diebin trug, Zue Lustnaw ein Stundt vor und Ein stundt nach dem Gottes Dienst vor dem Khirch Platz gestellt zu werden. 95 In Feldkirch wurde 1733 ein Mann namens Christian Baumann, der zu drei Jahren auf die venezianischen Galeeren verurteilt worden war, eine Stunde lang an den Pranger gestellt, ehe er durch den Amtsboten, einen Musketier und den Waibel nach Innsbruck abgeführt wurde. 96 Ist einmal von einer halben Stunde die Rede, so wird damit wohl ein relativ kurzer Zeitraum bezeichnet. In diesem Sinne ist es wahrscheinlich auch zu verstehen, wenn die 1609 hingerichtete Margretha Stauderin im Verhör angab, daß ihr Hexenflug, der von Wolfurt bis nach Ems führte, eine halbe Stunde gedauert habe. Sie wollte damit offenbar zum Ausdruck bringen, daß sie die knapp 15 km lange Strecke ungewöhnlich schnell zurückgelegt hatte. 97 Für Zeiteinheiten unterhalb der Stunde wurden meist andere, traditionelle Begriffe verwendet. So gab man in Hohenems, Dornbirn oder Weingarten noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Dauer des Staupenschlags mit einem halben oder ganzen Schilling bzw. Stadtschilling an. Die aus Bayern stammende Vagantin Martha Triblerin wurde beispielsweise 1734 in Hohenems eine Stunde lang an den 93 Zitiert nach: H ORST G ÜNTHER , Das Erdbeben von Lissabon und die Erschütterung des aufgeklärten Europa, Frankfurt/ Main 2005, S. 16f. 94 VLA, HoA 161,54: Verhörsprotokoll, 9.8.1674. 95 VLA, HoA 96,7: Urfehde der Juliana Hämmerle, 20.9.1737. 96 VLA, Vogteiamt Feldkirch, Hs 21: Hubamtsraitungen 1733, S. 115f. 97 M ANFRED T SCHAIKNER , »Damit das Böse ausgerottet werde«. Hexenverfolgungen in Vorarlberg im 16. und 17. Jahrhundert (Studien zur Geschichte und Gesellschaft Vorarlbergs 11), Bregenz 1992, S. 186. <?page no="223"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 222 Pranger gestellt, dann gebrandmarkt und schließlich durch einen halben Schilling mit Ruthen ausgehawen sowie auf ewig aus dem Schwäbischen Reichskreis verwiesen. 98 Die Vagantin Maria Anna Schaffmayerin aus Pfullendorf wurde im Juni 1746 vom Oberamt der Landvogtei Schwaben dazu verurteilt, vom Scharfrichter einen Stadtschilling lang mit Ruten ausgestrichen zu werden. Nachdem sie wenig später trotz ewigem Landesverweis aus allen erzherzog. österr. Erbkönigreichen, Fürstentümern und Landen in den österreichischen Herrschaften vor dem Arlberg aufgegriffen worden war, wo sie u. a. mit gestohlenen Waren gehandelt hatte, wurde sie auch in Dornbirn eine Stunde lang an den Pranger gestellt, gebrandmarkt, einen Schilling lang mit Ruten ausgestrichen und erneut des Landes verwiesen. 99 Auch die einfache Landbevölkerung verwendete zur selben Zeit relativ konkrete Begriffe, um kürzere Zeiträume zu beschreiben. 1734 gab die damals 48 Jahre alte Anna Maria Stehelin aus Obersummery im Verhör an, daß verwichenen Sambstag zu nachts zwüschen 2 und 3 Uhr morgens Zeit einige Fremde in ihr Haus eingebrochen seien und von ihr und ihrem Ehemann durch Folterung die Preisgabe eines Geldverstecks erpressen wollten. Ihr sei ein strickh an den Hals gelegt worden, an dem sie über den Camin thrommen aufgezogen und über 2 Vatter unser Lang hängen gelassen worden sei. Ihr Ehemann sagte im selben Verhör aus, daß sich die Eindringlinge noch Ein stund lang im Haus aufgehalten hätten, nachdem sie ihre Beute gemacht hatten. 100 Dieses Nebeneinander von traditionellen, konkreten und moderneren, abstrakten Zeitangaben ist für die Frühe Neuzeit geradezu typisch. Für kürzere Zeiträume griff man vor allem im bäuerlichen Milieu noch lange auf die traditionellen Begriffe zurück. Zeitabschnitte bis zu etwa zwanzig Minuten wurden vielerorts mit Gebeten - beispielsweise ein ›Vater unser‹, ein ›Ave Maria‹, ein ›Rosenkranz‹ - angegeben. 101 4. Uhren Es kann als gesichert gelten, daß spätestens seit dem 16. Jahrhundert Uhren praktisch in allen Städten des Bodenseeraums vorhanden waren. Wenigstens die größeren ländlichen Gemeinden scheinen rasch gefolgt zu sein. Für Hohenems und Lustenau besitzen wir für das 17. und 18. Jahrhundert entsprechende Nachrichten: Am 1. Juni 1671 bezahlte beispielsweise das Hohenemser Rentamt ainem frembden Uhrenmacher, so etwas an Ihro Hoch Gräfl. Gn. Herren Graf Franz Carlß Uhr gemachet, 98 VLA, HoA 103,24: Urfehde der Martha Triblerin, 28.5.1734. 99 StadtA Dornbirn, Malefizgerichtsprotokoll, sub dato 15.12.1746. 100 VLA, HoA 95,9: Abschrift des Verhörprotokoll Obersummery, 22.11.1734. 101 P ETER H ERSCHE , Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Teil 1-2, Freiburg 2006, S. 754. <?page no="224"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 223 […] 20 kr. 102 1722 reparierte der Uhrmacher Josef Zipfer aus Neuravensburg die Turmuhr in Hohenems und hängte die Glocken neu auf. 103 Darüber, wie die vorhandenen Uhren gestellt wurden, besitzen wir kaum konkrete Nachrichten. Wir müssen davon ausgehen, daß der jeweilige Pfarrer, Bürgermeister oder Ammann versuchte, einigermaßen den Mittagszeitpunkt zu eruieren und die Turmuhr darauf auszurichten. Sie zeigte damit die jeweilige Ortszeit an und diese wohl nur sehr ungenau. Inwiefern allerdings solche Uhren über den lokalen Rahmen hinaus aufeinander abgestimmt waren, ist weitgehend unbekannt. Der Vorarlberger Kreishauptmann Ebner notierte noch 1838 in seinem Tagebuch, er sei um ½ 7 Uhr aufgestanden und habe festgestellt, daß die Bregenzeruhr, die gestern noch viel zu früh ging, um eine halbe Stunde zurückgehalten worden sei. 104 Und auch noch etwa zehn Jahre später klagte er darüber, daß die Uhren in Bregenz und Feldkirch beinahe um ¾ Stunden differiren. 105 Nicht einmal innerhalb der Stadt Feldkirch konnte man sich offensichtlich auf eine einheitliche Zeit einigen. 1851 zeigten die beiden öffentlichen Uhren der Stadt - die eine befand sich an der Stadtpfarrkirche, die andere bei St. Johann - um eine halbe Stunde differierende Zeiten an. Dies scheint einzig den Direktor des städtischen Gymnasiums gestört zu haben, weil seinen Schülern offenbar nicht klar war, nach welcher Uhr sie sich zu richten hatten. 106 Abweichungen störten offenbar nicht, wenn sie in einem gewissen Rahmen blieben. Wo überregionales Handeln zeitlich koordiniert werden mußte, konnte man sich meist mit relativ allgemeinen Zeitvorgaben begnügen. Bei Tagungen des Kreiskonvents oder des Schwäbischen Grafenkollegiums, die aus dem gesamten Kreisgebiet beschickt wurden, sollten sich die Gesandten jeweils am Vorabend der Versammlung am Tagungsort einfinden. 107 Dies entsprach den Reiserealitäten der 102 VLA, HoA Hs 218: Raitbücher der Grafschaft Hohenems 1671, sub dato 1.6.1671. 103 VLA, HoA 105,7; 168,48. 104 I LSE W EGSCHEIDER / R UPERT T IEFENTHALER / G ERTRUD T IEFENTHALER (Bearb.), Ebner - Tagebuch 1838, Feldkirch 1995, S. 14. 105 Zitiert nach: H ELMUT S ONDEREGGER , Als die Uhren in Feldkirch noch anders gingen. Zeitenwirrwarr im 19. Jahrhundert, in: Feldkirch aktuell 2 (2004), S. 42-45, hier 43. 106 H. S ONDEREGGER , Zeitenwirrwarr (Anm. 105), S. 44. 107 Beispiele für den Kreiskonvent: VLA, HoA 116,5: Ausschreibende Fürsten des Schwäbischen Kreises an Graf Kaspar von Hohenems, 3.6.1626; VLA, HoA 117, Ausschreibende Fürsten des Schwäbischen Kreises an Graf Kaspar von Hohenems, 31.10.1638: Der Beginn des Kreistages war auf dem 13. Dezember 1638 festgelegt worden. Die Kreisstände wurden ersucht, ihre Gesandten anzuweisen, sich am Abend des 12. Dezember am Tagungsort einzufinden: Ersuchen solchemnach euch frl. ihr wollen zue solchem ende die eurige mit nothwendiger Instruction unnd genuegsamer Vollmacht dergestalten abferttigen, damit Sie abendts zuevor, also den 12. besagten Monats in deß Heyl. Reichs Statt Ulm gewiß einkhommen unnd volgenden tag nicht allein Ihrer kayl. Mayest. allergdiste Proposition gebürend anhören, sonndern auch dieselbe unnd was sonnsten mehr vorfallen möchte, so disem Creiß, desselben Ständen und Unnderthonen Zue nutz, fürstannd <?page no="225"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 224 Zeit, wie auch die erhaltenen Rechnungen der Hohenemser Gesandten zeigen. Oberamtmann Johann Martin Kien reiste am 6. Mai 1662 von Hohenems zu einem gräflichen Kollegialtag nach Biberach ab. Nach einer Übernachtung in Bad Waldsee traf er am Abend des 7. Mai am Tagungsort ein, wie er in seiner Abrechnung ausdrücklich festhielt. 108 Allerdings scheinen sich nicht immer alle Betroffenen daran gehalten zu haben. Im Dezember 1681 sollten sich die Mitglieder des Schwäbischen Grafenkollegiums auf den 17.ten dises abendts eintweders in persona […] oder ihre deputierte mit genuegsamber instruction und vollmacht in der Reichsstadt Ravensburg einfinden. Wie im Rezeß dieses Grafentags ausdrücklich vermerkt wurde, erschienen ainige von denen gnedigen Herren Principalen sowie etliche gräfliche Gesandte am genannten Abend, andere aber erst am volgenden Vormittag. 109 Auf ähnliche Weise verfuhr man auch, als das Schwäbische Grafenkollegium nach der Eheschließung des Herzogs von Württemberg mit Gräfin Maria Dorothea Sophia von Oettingen eine Abordnung stellen sollte, um das Brautpaar heimzubegleiten. Die Eheschließung fand am 20. Juli 1657 im fränkischen Onolzbach statt. Am 2. August sollte die Heimholung nach Stuttgart geschehen, zu welcher die schwäbischen Reichsgrafen ein Geleit zu stellen hatten. Die gräflichen Familien, die sich daran beteiligten, wurden vom Grafenkollegium angewiesen, jemanden zu solchem ende dergestalt auf annhero abzuordnen, welcher den 1sten Augusti abends allhier einlangen undt folgenden tags mehr erwehnter Heimbführung mitt beywohnen möge. 110 Zusammenkünfte im regionalen Kontext mußten außerdem im Rahmen des Wehrwesens organisiert werden. Bekanntlich verfügte der Schwäbische Kreis über eine »kontingentintegrierte Armee«, 111 zu der jeder Stand im Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl ausgerüstete Soldaten stellen mußte. Diese wurden nach regionalen und konfessionellen Gesichtspunkten zu Kompanien und Regimentern zusammengefaßt. Alle ›Konkurrenten‹ - so nannte man die Stände, die gemeinsam eine Kompanie bildeten - versammelten sich gelegentlich zu Kompaniekonferenzen, um gemeinsame Fragen oder Probleme zu besprechen. Ähnlich verhielt es sich mit der Kreismiliz. Da die betroffenen Stände in der Regel nicht über das ganze unnd Wolfahrt immer diennlich sein, unnd die notturfft ins gemein oder sonnderheit erfordern wurde, berathenlich erwegen, unnd mit gesambten Zuethun abhandlen, schliessen und verabschiden helfen mögen. - Beispiele für den Grafentag: VLA, HoA 118,6: Ausschreibende schwäbische Grafen und Herren an Graf Karl Friedrich von Hohenems, 6.7.1657. Der Graf wurde aufgefordert, am 22.7.1657 abends entweder persönlich in Meßkirch zu erscheinen oder einen mit einer Vollmacht ausgestatteten Vertreter zu schicken. 108 VLA, HoA 118,11: Reiserechnung des Johann Martin Kien, Mai 1662. 109 VLA, HoA 121,4: Rezess des schwäbischen Grafentags, 22.12.1681. 110 VLA, HoA 118,5: Ausschreibende Grafen und Herren an Graf Karl Friedrich von Hohenems, 1.8.1658. Das Schreiben wurde bezeichnenderweise erst am 31. August in Hohenems präsentiert. 111 P.-C H . S TORM , Der Schwäbische Kreis als Feldherr (Anm. 2), S. 238. <?page no="226"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 225 Kreisterritorium verstreut, sondern benachbart waren, konnten die Versammlungen enger terminiert werden. Als im Mai 1675 unter der Führung des Bischofs von Konstanz eine Kompanie formiert werden sollte, hielt es dieser für notwendig, daß wür undt andere Stännde, so hievor zue Formierung einer Compagnie beysammen gestanden, umso ohnverweilt zuesammen thuen, umb miteinander zue underreden undt zue vergleichen, was so thane abtheylung der Companien und folglich anderwehrtige ahnordtnung der primen planen, die khünftige Bezahlung der Miliz, auch dero ieztmahlig newe mundierung und befriedigung umb den praetendierenden ausstandt etc. gemeinsambe undt einmüethige ahnstalten erforderen. Er lud daher die Kompaniekonkurrenten, darunter auch Hohenems, zu einer Konferenz ins Rathaus nach Markdorf ein. Die Abgeordneten sollten dort bis am Abend des 20. Mai oder spätestens bis am 21. Mai vormittags um 7 Uhr erscheinen. 112 Ähnlich verhielt es sich im Februar 1678, als eine Konferenz nach Ravensburg einberufen wurde. Dieses Mal sollten die löbl. Stände auf Freytag abends oder Sambstag morgens 9 uhr in ermeltem Ravenspurg Zu sammen kommen. 113 Die Angabe einer (relativ) genauen Uhrzeit scheint in diesem Falle keine Rolle gespielt zu haben, da die Lokalzeiten der betroffenen Stände schlimmstenfalls um einige wenige Minuten voneinander abwichen. Sie waren nämlich in der Ost-West-Achse nicht weit voneinander entfernt. Für eine Kompaniekonferenz in Buchenberg im Allgäu, welche das Fürststift Kempten einberief, sollten sich die Gesandten am Abend vorher einfinden. Der Beginn der Konferenz war für den folgenden Morgen um 7 Uhr vorgesehen. 114 Ähnlich verhielt es sich im August 1676, als eine Konferenz der 7. katholischen Kreiskompanie zu Fuß nach Ravensburg einberufen wurde. 115 Als für den 8. Dezember 1683 eine Konferenz der Konkurrenten der 7. Kompanie im Goldene[n] Lamm in Ravensburg anberaumt wurde, wurden die Gesandten auf den Abend des 7. Dezember dorthin einbestellt. 116 112 VLA, HoA 120,5: Bischof von Konstanz an Graf Karl Friedrich von Hohenems, 16.5.1675. 113 VLA, HoA 144,4: Dr. Daniel Rhem, Lindau, an Oberamt Hohenems, 17.2.1678. 114 VLA, HoA 121,1: Fürststift kemptische Hofräte an Oberamtmann Hohenems, 15.5.1676. 115 VLA, HoA 121,1: Vaduzische Räte und Oberamtleute an hohenemsische Räte und Oberamtleute, 23.8.1676. Ähnlich: VLA, HoA 144,4: Dr. Rhem, Lindau, an Landammann von Hohenems, 23.1.1678. 116 VLA, HoA 121,6: Geistliche und weltliche Räte und Oberamtleute Weingarten an Graf Franz Karl, 13.12.1683. <?page no="227"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 226 5. Das ›lange‹ 19. Jahrhundert Nach dem Ende des Alten Reiches fielen der Reichskreis und seine Viertel mit ihren Konferenzen als Medium der Zeitabstimmung aus. Wir haben es nun im Bodenseeraum mit mehreren souveränen Staaten zu tun: mit Österreich, der Schweiz, dem Großherzogtum Baden sowie den Königreichen Württemberg und Bayern. Diese modernen Staaten waren, wie gezeigt, in der Lage, einen einheitlichen Kalender durchzusetzen. Wie aber stand es um die Vereinheitlichung der Tageszeit? Wir müssen davon ausgehen, daß es bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus üblich war, sich auch im Bodenseeraum nach der jeweiligen Orts- oder Lokalzeit zu richten. Diese differiert bekanntlich nach der geographischen Lage. Je weiter westlich ein Ort liegt, desto später erreicht die Sonne ihren Höchststand. Für den Bodenseeraum ergibt sich so auf der gesamten Ost-West-Ausdehnung ein Zeitunterschied von etwa sechs Minuten. In Wirklichkeit waren die Abweichungen wohl noch etwas größer, da die mechanischen Räderuhren wenig präzis waren und wohl auch bei der Bestimmung der lokalen Mittagszeit mit Hilfe von Sonnenuhren weitere Ungenauigkeiten entstanden. 117 Alles in allem scheinen die Abweichungen der Ortszeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts angesichts der damaligen Reise- und Kommunikationsgeschwindigkeiten kaum hinderlich gewesen zu sein. Jakob Messerli verweist darauf, daß 1851 eine Reise von Zürich nach Bern im »Post-Eilwagen« normalerweise etwa dreizehneinhalb Stunden dauerte und daß die Differenz der beiden Lokalzeiten lediglich etwa viereinhalb Minuten betrug. So wird auch verständlich, daß in der Schweizer Bundesverfassung von 1848 zwar die Vereinheitlichung von Münz-, Maß- und Gewichtsystemen, nicht aber die der Zeit thematisiert wurde. 118 Mutatis mutandis gilt das auch für den Bodenseeraum. Die Situation änderte sich erst durch die Verkehrs- und Kommunikationsrevolution des 19. Jahrhunderts, als die Dampfschiffahrt, die Eisenbahn und die Telegraphie Einzug hielten. Kommunikation und Verkehr wurden dadurch nicht nur enorm beschleunigt, der Verkehr - insbesondere die Eisenbahn - erforderte 117 Wenn Jürgen Osterhammel in diesem Zusammenhang davon spricht, daß die Uhren regional »nach der jeweiligen Einschätzung des Sonnenhöchststandes« gestellt wurden, so entspricht dies wohl sehr viel mehr der Realität des frühen 19. Jahrhunderts als die Annahme, daß der Sonnenstand durch eine Mittagslinie exakt ermittelt wurde; J ÜRGEN O STER - HAMMEL , Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 119. 118 J. M ESSERLI , Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 69f. Messerli verweist auf den Basler Mathematiker Daniel Huber, der noch 1798 der Meinung gewesen war, »dass im Verkehr, der über die nähere Umgebung der Stadt hinausgehe, Zeitangaben im Genauigkeitsbereich von 1 Stunde kaum nötig seien«. <?page no="228"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 227 auch eine präzise Abstimmung, um Unfälle zu vermeiden. Durch diese Neuerungen wurde »[d]ie Verkehrslandschaft« im Bodenseeraum »grundlegend umgestaltet«. 119 Als 1872 die Vorarlbergbahn mit ihren Strecken von Lindau bis Feldkirch, von Feldkirch bis Bludenz, von Feldkirch bis Buchs und von Bregenz nach St. Margrethen eröffnet wurde, war der gesamte Bodenseeraum verkehrstechnisch vernetzt. 1884 folgte die Eröffnung der Arlbergstrecke und damit die Anbindung an das österreichische Eisenbahnnetz. 120 Dies machte eine zeitliche Koordination der Fahrpläne unumgänglich. Zu diesem Zweck führten die Eisenbahngesellschaften hier »besondere ›Eisenbahn-‹ oder ›Normalzeiten‹« ein. Dabei handelte es sich um die Ortszeiten der jeweiligen Hauptstädte. Aufgrund der staatlichen Gliederung des Bodenseeraumes waren »[u]m den Bodensee […] zeitweise fünf verschiedene Eisenbahnzeiten in Gebrauch«: 121 am Schweizer Ufer die Berner, am badischen die Karlsruher, am württembergischen die Stuttgarter, am bayerischen die Münchner und am österreichischen Ufer - seit 1872 - die Prager Zeit. In der West-Ost-Ausdehnung differierten diese Zeiten um etwa eine halbe Stunde. 122 Plante der Reisende irgendwo am See einen Aufenthalt, so mußte er auch »noch die […] Ortszeit« beachten. 123 Diese wich bis zu zehn und mehr Minuten von der jeweiligen Bahnzeit ab. 124 Bis 1883 wurden nur die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge, nicht aber die der Dampfschiffe nach den ›staatlichen‹ Zeiten angegeben. Letztere richteten sich nach wie vor nach der jeweiligen Ortszeit in den Bodenseehäfen. Erst jetzt entschlossen sich die Schiffahrtsanstalten, sich ebenfalls nach der Eisenbahnzeit zu richten. Da es zu diesem Zeitpunkt noch keine österreichische Dampfschiffahrt auf dem Bodensee gab, mußten sich Schiffsreisende zunächst nur auf vier Zeiten einstellen. In Bregenz gab man die Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Schiffe nach Münchner Zeit an. 125 119 K ARL H EINZ B URMEISTER , Der Bodensee in der Vorarlberger Verkehrspolitik des 19. Jahrhunderts, in: ZWLG 49 (1990), S. 229-235, hier 233. 120 K. H. B URMEISTER , Verkehrspolitik (Anm. 119), S. 231f. 121 W OLFGANG T RAPP / H EINZ W ALLERUS , Handbuch der Maße, Zahlen, Gewichte und der Zeitrechnung, 6. erw. Aufl. Stuttgart 2012, S. 70. 122 D IETER B RITZ , Die Erfindung der Zeitzonen, in: ›Südkurier online‹, 15.9.2012; H. S ON - DEREGGER , Zeitenwirrwarr (Anm. 105), S. 44; D ORIS D EFRANCESCHI , Taktgeber. Von der Turmuhr zur Internet-Swatch, in: H ANS -P ETER M EIER -D ALLACH (Hg.), Augenblicke der Ewigkeit. Zeitschwellen am Bodensee. Sommerausstellung des Landes Vorarlberg im Kloster Mehrerau 4. Juni-31. Oktober 1999, Lindenberg 1999, S. 178-190, hier 189. 123 W. T RAPP / H. W ALLERUS , Handbuch (Anm. 121), S. 70. 124 E MIL K RUMHOLZ , Die Geschichte des Dampfschiffahrtsbetriebes auf dem Bodensee, Innsbruck 1906, S. 331. 125 E. K RUMHOLZ , Geschichte (Anm. 124), S. 331. <?page no="229"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 228 Offenbar wirkte die Verwendung der Eisenbahnzeiten zunehmend auch auf die städtischen Uhren zurück. 1868 klagte die k. k. Postdirektion in Innsbruck jedenfalls darüber, daß durch die Ausrichtung der Bregenzer Uhren an der Münchner Zeit eine Abweichung von fünfzehn bis zwanzig Minuten von der Hohenemser bzw. der Feldkircher Ortszeit entstehe. Sie versuchte daher, den Stadtmagistrat von Bregenz durch eine Eingabe beim zuständigen Bezirksamt zu zwingen, bei der Regulierung der Ortsuhr sich nunmehr ausnahmslos an die Uhr des Telegraphenamtes zu halten. Bregenz lehnte mit dem Hinweis ab, daß sich die Eisenbahn und die Dampfschiffe nach der in Lindau üblichen Zeit richteten, und schlug seinerseits vor, daß man auch in Hohenems und Feldkirch auf Münchner Zeit umstelle. Letztlich änderte sich nichts. 126 Erst 1872 wurde für alle Eisenbahnlinien in Österreich eine einheitliche Zeit eingeführt, bis dahin hatte es fünf verschiedene Regelungen gegeben. Jetzt übermittelten die Wiener Bahnhöfe über die sogenannten Hinterbahnhöfe das Mittagszeichen in alle Teile Zisleithaniens. 127 Als schließlich 1884 auch die österreichische Dampfschiffahrt auf dem Bodensee begann, richtete sich diese ebenfalls nach der Prager Zeit. Damit finden wir in den Fahrplänen des Bodenseeraumes insgesamt fünf Zeitzonen. 128 Die Realität von vier bzw. fünf Zeitzonen in der Bodenseeschiffahrt führte zu teilweise skurrilen und verwirrenden Erscheinungen: So konnte, um nur ein Beispiel zu nennen, ein Fahrgast im Sommer 1883 den ausgehängten Fahrplänen entnehmen, daß ein Dampfschiff um 6.30 Uhr von Wasserburg abfuhr und um 6.35 Uhr in Kreßbronn ankam, daß ein anderes Dampfschiff um 8.25 Uhr Kreßbronn verließ und um 8.50 Uhr Wasserburg erreichte. Weshalb das Schiff für die etwa vier Kilometer lange Strecke im einen Fall fünf, im anderen aber 25 Minuten benötigte, erschloß sich ihm erst, wenn er berücksichtigte, daß in Wasserburg nach Münchner, in Kreßbronn dagegen nach Stuttgarter Zeit gerechnet wurde. 129 Aus 126 H. S ONDEREGGER , Zeitenwirrwarr (Anm. 105), S. 44. 127 ›Das Vaterland‹ berichtete am 15. August unter der Überschrift Neue Zeitrechnung für die Eisenbahnen: Mit Einführung der Winter-Fahrordnungen wird der Wiener Meredian die Grundlage für die Zeitbestimmung des Zugverkehrs bilden. Vom 1. August ab wird schon die Wiener Mittagszeit von der Sternwarte an die Wiener Bahnhöfe telegraphisch signalisiert, wonach die inzwischen noch zulässigen anderweitigen Zeitbestimmungen als Prager-, Münchner-Zeit ec. zu reduciren sind. Das Mittagszeichen ist von der Staats-, Franz-Josephs-, Elisabeth-Westbahn, österreichische Nordwestbahn, Südbahn und Nordbahn an ihre speziell bezeichneten Hinterbahnen telegraphisch weiter zu befördern; ›Das Vaterland. Zeitung für die österreichische Monarchie‹, 15.8.1872, Beiblatt. Bis zum 1. Oktober 1891 galten für die Eisenbahnen in der österreichischen Reichshälfte die Prager, für jene der ungarischen Reichshälfte die Budapester Zeit. Danach wurde für die Bahnen der Doppelmonarchie die Mitteleuropäische Zeit eingeführt; ›Bregenzer Tagblatt‹, 26.9.1891, S. 2. 128 E. K RUMHOLZ , Geschichte (Anm. 124), S. 331. 129 E. K RUMHOLZ , Geschichte (Anm. 124), S. 331. <?page no="230"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 229 diesem Grund wurden den gedruckten Fahrplänen entsprechende Erklärungen beigefügt, wie z. B. im Sommerfahrplan von 1883. Die Bodensee-Dampfer werden aus den schweizerischen Häfen nach Berner Zeit, aus den badischen Häfen nach Karlsruher Zeit, aus den württembergischen Häfen nach Stuttgarter Zeit, und endlich aus bayerischen Häfen und Bregenz nach Münchner Zeit abgefertigt, wie auch die Eisenbahnzüge der betreffenden Verwaltungen nach den genannten Zeiten verkehren Die Münchner Zeit geht gegen die Stuttgarter Zeit um 10 Minuten Die Münchner Zeit geht gegen die Karlsruher Zeit um 13 Minuten Die Münchner Zeit geht gegen die Berner Zeit um 17 Minuten Die Stuttgarter Zeit geht gegen die Karlsruher Zeit um 3 Minuten Die Stuttgarter Zeit geht gegen die Berner Zeit um 7 Minuten Die Karlsruher Zeit geht gegen die Berner Zeit um 4 Minuten voraus. 130 Zu einer grundlegenden Änderung kam es 1891/ 92. Am 1. Oktober 1891 führten die österreichisch-ungarischen Staatseisenbahnen die Mitteleuropäische Zeit als Bahnzeit ein. 131 Die süddeutschen Bahnen folgten am 1. April 1892. 132 Da die Schweizer Bahnen und Dampfschiffe weiter an der Berner Zeit festhielten, mußten sich die Reisenden immer noch auf zwei verschiedene Reisezeiten einstellen. Die Mitteleuropäische ging dabei der Berner Zeit um eine halbe Stunde voraus. Die lokale Presse informierte die Leser darüber, wie die Ankunft- und Abfahrtszeiten umgerechnet werden mußten, 133 und - vor allem die liberalen Blätter - waren bemüht, ihnen die Vorteile des neuen Zeitensystems nahezubringen. 134 Vereine wie der deutsch-österreichische Alpenverein organisierte Vorträge, in denen nicht allein die neue Bahnzeit, sondern auch das Wesen und die Geschichte des Stundenzonensystems erklärt wurden. 135 Auch die Fahrpläne enthielten entsprechende Erläuterungen. Unter der Rubrik Bemerkungen enthielt der Fahrplan von 1894 beispielsweise den Hinweis, daß die Abfahrtszeiten für sämtliche Bodenseeuferorte in mitteleuropäischer 130 E. K RUMHOLZ , Geschichte (Anm. 124), S. 335f. Analog dazu wurde auch in den Eisenbahnfahrplänen auf die verschiedenen Bahnzeiten hingewiesen. Beispielsweise: ›Bludenzer Anzeiger‹, 1.8.1891, 15.8.1891 und 19.9.1891; ›Der Landbote von Vorarlberg‹, 9.10.1891. 131 ›Bregenzer Tagblatt‹, 26.9.1891. 132 H.-B. S PIES , Zeitrechnung und Kalenderstile (Anm. 15), S. 124. 133 ›Vorarlberger Landes-Zeitung‹, 11.4.1892. 134 ›Vorarlberger Landes-Zeitung‹, 7.3.1892. Der Verfasser dieses Artikels betonte, daß die Zeiten-Konfusion in der Umgebung des Bodenseeraumes, in dessen Uferstädten je nach der Staatenangehörigkeit derselben die Karlsruher, Stuttgarter, Münchener, Prager oder Berner Zeit angewendet wird [a]m auffälligsten gewesen sei und daß durch die Neuerung [d]iesem heillosen Wirrwar […] ein Ende bereitet werden solle. 135 ›Feldkircher Anzeiger‹, 3.11.1891. <?page no="231"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 230 Zeit angegeben seien, daß [i]n den Schweizer Häfen […] dagegen die Abfahrt vom 1.-31. Mai noch nach Berner Zeit, also 30 Minuten früher als angegeben, stattfinde. 136 In der Presse wurde die Umstellung der Bahnen auf Mitteleuropäische Zeit allgemein begrüßt. Dies sei wichtig für die Pünktlichkeit und Sicherheit des Betriebs und beseitige zugleich vielfache Unannehmlichkeiten, unter denen das reisende Publikum jetzt leidet, und auch für die Landesverteidigung bringe es Vorteile. 137 Daß die Schweizer Bahnen vorerst an ihrer nationalen Zeit festhielten, wurde zunehmend als lästig empfunden. Die ›Vorarlberger Landes-Zeitung‹ artikulierte schon 1892 die Hoffnung, daß sich die Schweizer Eisenbahnen im Laufe dieses Sommers der Mitteleuropäischen Zeit anschließen würden. Dafür sprächen Gründe praktischer Natur. 138 Tatsächlich sollte es aber noch zwei Jahre dauern. Am 1. Juni 1894 wurde dann aber auch in der Schweiz die Berner durch die Mitteleuropäische Zeit für Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraphie und Post ersetzt. Daß es so lange gedauert hatte, lag vor allem an der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen. 139 Der Bundesrat hatte lediglich die Möglichkeit, die Zeit für die unter Bundesaufsicht stehenden Verkehrs- und Kommunikationsbetriebe zu vereinheitlichen. Er konnte keine einheitliche Landeszeit einführen. Die Angelegenheit wurde, wie Jakob Messerli gezeigt hat, durch eine intensive öffentliche Diskussion begleitet. In Broschüren versuchten die Befürworter, die Vorteile einer gemeinsamen Zeit zu erläutern. In einer von einem Berner Professor 1894 veröffentlichten und breit gestreuten Druckschrift hieß es: Wie war es doch noch vor zwei Jahren, wenn man von Basel über Karlsruhe, Stuttgart, München, Innsbruck nach Bern reiste? In Baden galt Karlsruherzeit; dieselbe geht der Bernerzeit um 4 Minuten vor, also Uhr um so viel vorschieben. In Württemberg galt Stuttgarterzeit, welche der Bernerzeit um 7 Minuten vorgeht, somit noch um weitere 3 Minuten vorschieben, in Bayern - Münchnerzeit, welche der Bernerzeit um 16 Minuten vorgeht, also noch weitere 9 Minuten vorschieben, dann in Innsbruck Pragerzeit, welche der Berner 32 Minuten vorgeht, also weitere 16 Minuten vorschieben! Endlich durch den Vorarlberg in die Schweiz, 32 Minuten zurückdrehen! Auf dem kleinen Fleck des Bodensees treffen wir zu jener Zeit die Karlsruherzeit in Konstanz, die Stuttgarterzeit in Friedrichshaven [! ], die Münchnerzeit in Lindau, die Pragerzeit in Bregenz, die Bernerzeit in Rorschach-Romanshorn. 140 136 http: / / www.bodenseepeter.de/ 2011/ 12/ 23/ historischer-fahrplan-der-bodensee-schiffe -von-1894/ (aufgerufen am 11.11.2013). 137 ›Feldkircher Zeitung‹, 1.6.1892. 138 ›Vorarlberger Landes-Zeitung‹, 11.4.1892. 139 J. M ESSERLI , Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 86. 140 Zitiert nach: J. M ESSERLI , Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 86-88. <?page no="232"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 231 Seit 1894 herrschte verkehrstechnisch rund um den Bodensee eine einheitliche Zeit. Wie sich zeigen sollte, entwickelte sich daraus eine Art normative Kraft des Faktischen. Bereits die Einführung der Mitteleuropäischen Zeit als Bahnzeit für die süddeutschen und die österreichischen Bahnen weckte entsprechende Hoffnungen und ›Begehrlichkeiten‹. Dr. Robert Schramm, der als Referent den Mitgliedern des Alpenvereins das System der Zeitzonen erläuterte, sagte schon Ende Oktober 1891 voraus, es werde bei uns genau so gehen wie in Amerika und es werde, sobald für Post und Eisenbahn Zonenzeit gilt, eine Stadt nach der anderen, die Ortszeit verlassen und ihre Uhren auf Zonenzeit stellen. 141 Die Vorarlberger Handelskammer empfahl etwa zur selben Zeit in einem Gutachten die allgemeine Einführung der mitteleuropäischen Zeit. 142 Im Sommer 1892 klagte die ›Vorarlberger Landes-Zeitung‹ darüber, daß die Feriengäste am Bodensee mit den Unannehmlichkeiten zu kämpfen [hätten], welche eine fünffache Zeitrechnung mit sich bringt, und führte weiter aus: Wie lange fragt man sich hier, wird dieser Zustand noch dauern? Unwillkürlich erinnert man sich bei dieser Gelegenheit an die letzte Reichstagsrede des Feldmarschalls v. Moltke, in welcher er für die Einführung einer Einheitszeit für Centraleuropa plaidierte. Wenn nur wenigstens im Deutschen Reiche endlich eine Einheitszeit eingeführt werden würde, so entfielen bei uns schon drei Zeiten, und eine Einigung des Reiches mit Oesterreich auf diesem Gebiete würde dann kaum auf Hindernisse stoßen. Außerdem klagt der Verfasser des Artikels auch noch darüber, daß es [a]n den Gestaden des Bodensees nicht nur fünf Zeiten, sondern auch noch drei Geldsorten (Münzen und Papier), einen umfangreichen Zollrevisionsdienst und andere Eigenthümlichkeiten [gebe], da auch die Schweizer Cantone große Unterschiede öffentlicher Natur aufweisen . 143 Das Deutsche Kaiserreich führte 1892/ 93 die Mitteleuropäische als nationale Zeit ein. In der Schweiz war das de facto 1894 der Fall, wobei die Kantone dem Bund folgten, der die Mitteleuropäische Zeit nur für Bahn, Schiffahrt, Post und Telegraphie hatte einführen können. In Österreich-Ungarn kam es nie zu einer gesetzlichen Festlegung auf die Mitteleuropäische Zeit über den Bereich der Staatsbahnen hinaus. Insbesondere die Hauptstadt richtete ihre offiziellen Uhren aus Prestigegründen bis 1910 nach der Ortszeit. Nach Ansicht des Direktors der 141 ›Feldkircher Anzeiger‹, 3.11.1891. 142 ›Feldkircher Anzeiger‹, 22.10.1891; ›Bludenzer Anzeiger‹, 22.10.1892; ›Bregenzer Tagblatt‹, 23.10.1892. 143 ›Vorarlberger Landes-Zeitung‹, 6.8.1892. Auf die Einführung der Mitteleuropäischen Zeit als Bahnzeit folgte vielerorts die Forderung, sie auch im öffentlichen Leben anstatt der Lokalzeit zu verwenden. Für das Beispiel Aschaffenburg vgl. H.-B. S PIES , Zeitrechnung und Kalenderstile (Anm. 15), S. 125f. <?page no="233"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 232 Sternwarte war Wien eine zu bedeutende Stadt, um auf eine eigene Zeit verzichten zu können. 144 Im österreichischen Teil des Bodenseeraumes scheint man im öffentlichen Leben der Bahnzeit wenigstens teilweise gefolgt zu sein. Als die Vorarlberger Handelskammer im Oktober 1892 die allgemeine Einführung der mitteleuropäischen Zeit empfahl, konnte sie darauf verweisen, daß im Bezirke bereits vielfach die Ortszeit mit der Bahnzeit in Uebereinstimmung gebracht wurde. 145 In Bludenz wurden 1894 die Sitzungen des Gemeindeausschusses nach Bahnzeit, also nach Mitteleuropäischer Zeit, angesetzt. 146 In Hohenems wurde 1895 die Kirchturmuhr zweimal pro Woche nach der Bahnzeit gerichtet. Sie ging aber dennoch häufig zehn bis 15 Minuten nach, weshalb Forderungen nach einem neuen Uhrwerk laut wurden. 147 Dasselbe Problem wurde 1900 in Bregenz beklagt. Hier richtete man die öffentlichen Uhren nach der Mitteleuropäischen Zeit, sie liefen aber so ungenau, daß die eine der Bahnzeit um 5 Min. vor, […] die andere aber um 5 Min. zurück war, so daß jede unserer öffentlichen Uhren […] eine andere Zeit anzeigte. 148 In Wolfurt zeigte die Kirchenuhr dagegen noch 1899 die Lokalzeit an. 149 In Feldkirch konnte man nicht einmal innerhalb der Stadt eine einheitliche Lösung finden. Das dortige Staatsgymnasium organisierte das Schulleben seit 1909 nach der Mitteleuropäischen Zeit. Das von den Jesuiten betriebene Privatgymnasium ›Stella Matutina‹ folgte zwei Jahre später. Die städtischen Uhren tickten dagegen nach wie vor nach Ortszeit, und so konnte die groteske Situation entstehen, daß die an der Gymnasialkirche angebrachte Uhr eine andere Zeit anzeigte als die, nach der sich die Schüler - auch beim Besuch der Schulgottesdienste - zu orientieren hatten. 150 Dies wurde von der Bevölkerung offenbar zunehmend als störend und lästig empfunden. So wurde am 19. Dezember 1911 im ›Vorarlberger Volksblatt‹ der Wunsch nach einer Harmonisierung der Zeit artikuliert: Gestern wurde für die Uhr der ›Stella Matutina‹ der elektrische Betrieb installiert. Nach dieser Uhr, welche die mitteleuropäische, bezw. Bahnzeit angibt, richtet sich seit 2 Jahren auch das k. k. Staatsgymnasium. Es ist ein langjähriger Wunsch zahlreicher Bevölkerungskreise, wenn die städtischen Uhren, welche fast durchgehends um 5 und mehr Minuten zurück sind, in Zukunft gleichfalls nach der Bahnzeit reguliert werden möchten, 144 J. M ESSERLI , Zeiteinteilung und Zeitgebrauch (Anm. 15), S. 92f.; H.-B. S PIES , Zeitrechnung und Kalenderstile (Anm. 15), S. 127; J. O STERHAMMEL , Die Verwandlung der Welt (Anm. 117), S. 119-121; H. S ONDEREGGER , Zeitenwirrwarr (Anm. 105), S. 45. 145 ›Feldkircher Anzeiger‹, 22.10.1891; ›Bludenzer Anzeiger‹, 22.10.1892; ›Bregenzer Tagblatt‹, 23.10.1892. 146 ›Bludenzer Anzeiger‹, 15.12.1894. 147 ›Vorarlberger Volksblatt‹, 13.6.1895. 148 ›Bregenzer Tagblatt‹, 24.8.1900; ähnlich: ›Bregenzer Tagblatt‹, 18.3.1900. 149 ›Vorarlberger Volksblatt‹, 3.6.1899. 150 H. S ONDEREGGER , Zeitenwirrwarr (Anm. 105), S. 45. <?page no="234"?> V ON DER L OKALIS IER U NG ZUR G LOBALIS IER U NG 233 zumal der Feldkircher Bahnhof weit entfernt und ein Zuspätkommen dadurch ohnehin leichter möglich ist. Ebenso wäre es für die Besucher der Johannis-(Gymnasial)-Kirche, sowohl für die den Frühgottesdienst dortselbst versehenden P. P. Jesuiten gewiß nur angenehm, wenn die Zeit der Kirche mit derjenigen des Hauses in Einklang käme. Vor allem wäre die Gymnasialjugend, die keine Präzisionsuhr ihr eigen nennt, dankbar, wenn die durch den ›Bläsi‹ vom Giebel der eigenen Gymnasialkirche angegebene Zeit mit derjenigen harmonieren würde, zu deren genauer Einhaltung sie unter Strafandrohung verpflichtet ist. 151 Bei der Angabe von Zeitpunkten von Naturereignissen griff die Presse dagegen stets auf die Bahnzeit zurück. So berichtete das ›Vorarlberger Volksblatt‹ am 25. Januar 1891, daß in Viktorsberg am 23. Januar ein Erdbeben zu spüren gewesen sei. Den ersten Erdstoß habe man um ½ 7 Uhr (Bahnzeit), den zweiten 5 Minuten später und den dritten [f]ünf Minuten nach ½ 10 Uhr gemerkt. 152 In diesem Fall war mit Bahnzeit noch die Prager Zeit gemeint. Als die Vorarlberger Tagespresse für die Nacht vom 10. auf den 11. März 1895 eine totale Mondfinsternis voraussagte und die Leser detailreich über den zeitlichen Verlauf dieses Phänomens informierte, erfolgten die Zeitangaben […] in mitteleuropäischer Zeit. Wie ausdrücklich betont wurde, galten sie mit Ausnahme des Sonnenauf- und Monduntergangs strenge für alle Orte, welche sich dieser Zeitrechnung bedienen. 153 Wie schon in Zusammenhang mit der Einführung des Gregorianischen Kalenders zeigte sich auch bei der Einführung der Mitteleuropäischen Zeit abermals der »eher kumulative Charakter« in der Geschichte der Zeiten, wonach alte und neue Zeitmodelle sich vermischen oder nebeneinander bestehen können. 154 6. Fazit Über weite Teile der Frühen Neuzeit lebten die Menschen im Bodenseeraum nach unterschiedlichen Kalendern mit voneinander abweichenden Feiertagen. Dies erschwerte die Interaktion der Territorien, machte sie aber nicht unmöglich. Der Schwäbische Reichskreis, die vorderösterreichische Regierung und die Eidgenössische Tagsatzung koordinierten überregionale Kooperationen und schlichteten Konflikte. Ihre Möglichkeiten waren jedoch begrenzt. So gelang es der Tagsatzung nicht, die reformierten Orte der Eidgenossenschaft zur Übernahme eines verbesserten Kalenders zu bewegen. Ebenso wenig war die vorderösterreichische Regierung in 151 ›Vorarlberger Volksblatt‹, 19.12.1911, S. 11. 152 ›Vorarlberger Volksblatt‹, 25.1.1891. 153 ›Vorarlberger Volksblatt‹, 28.2.1895; ähnlich: ›Bregenzer Tagblatt‹, 3.3.1895. 154 A. L ANDWEHR , Alte Zeiten, Neue Zeiten (Anm. 27), S. 28. <?page no="235"?> W OLF GANG S C H EF FKNEC HT 234 der Lage, im 18. Jahrhundert die österreichische Feiertagsordnung durchzusetzen. Diese galt beispielsweise in Vorarlberg lediglich ›auf dem Papier‹, in der Realität wurde sie aber vor allem in den ländlichen Gebieten einfach ignoriert. In beiden Fällen konnte erst der moderne Machtstaat eine Herrschaft über die Zeit erlangen. In der Schweiz war es die Helvetische Republik, in Vorarlberg das Königreich Bayern. So konnte der Eindruck entstehen, daß durch die bayerische Regierung die Zahl der Feiertage reduziert wurde, während sie in Wirklichkeit um einen vermehrt wurde. 155 Die Feststellung von Jürgen Osterhammel, daß »[k]eine andere Epoche […] eine ähnliche Vereinheitlichung der Zeitmessung« gesehen habe wie das 19. Jahrhundert, trifft auf den Bodenseeraum vollumfänglich zu: Zu Beginn des Jahrhunderts gab es auch hier »Myriaden unterschiedlicher Zeiten, lokaler und milieugebundener Zeitkulturen«, und an dessen Ende »hatte sich über solche verminderte, aber nicht verschwundene Vielfalt die Ordnung einer Weltzeit gelegt«. 156 Den eigentlichen Impetus zur Vereinheitlichung der Zeit bildete auch hier die Verkehrs- und Kommunikationsrevolution des 19. Jahrhunderts. 155 U LRICH N ACHBAUR , Der Vorarlberger Landespatron. Ein Beitrag zur Verehrung des hl. Josef und zu den Landesfeiertagen in Österreich, in: Montfort 56 (2004), S. 74-91, hier 80. 156 J. O STERHAMMEL , Die Verwandlung der Welt (Anm. 117), S. 119. <?page no="236"?> 235 G ERHARD K LEIN Bürger, Bauern, Arbeiter. Unterschiedliche Lebensrhythmen in einer Allgäuer Kleinstadt 1. Einführung »Wir waren die Neger Immenstadts! « Diese drastische Wortwahl benutzte ein heute 86jähriger Immenstädter Ende 2013 gegenüber dem Autor dieses Aufsatzes, als bei einem zufälligen Treffen am Straßenrand das Gespräch auf die Tagung des ›Memminger Forums für Schwäbische Regionalgeschichte‹ und den Beitrag über Bürger, Bauern und Arbeiter in dieser Allgäuer Kleinstadt kam. Der Zeitzeuge zählt sich selbst zum Arbeitermilieu, er stammt aus einer Fabrikarbeiterfamilie, die mit der ›Mechanischen Bindfadenfabrik Immenstadt‹ beziehungsweise ab 1920 der ›Hanfwerke Füssen-Immenstadt‹ eng verbunden war. Auch er selbst arbeitete über viele Jahre dort. Die eingangs zitierten Worte entsprechen sicherlich nicht der politisch korrekten Ausdrucksweise, artikuliert wurde damit aber von einem unmittelbar Betroffenen ein Gefühl der Diskriminierung und der Ablehnung durch das städtische Bürgertum, das viele Angehörige der (ehemaligen) Immenstädter Arbeiterschicht über Jahrzehnte hinweg empfunden haben. Arbeiter und Bürger bzw. Bauern - dieser Gegensatz verschiedener gesellschaftlicher Schichten oder auch Milieus prägte die Oberallgäuer Kleinstadt Immenstadt in der zweiten Hälfte des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entscheidend, resultierend aus einem umwälzenden sozialen Wandel, der sich in Immenstadt vollzogen hatte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Stadt eine relativ homogene ›Ackerbürgerstadt‹, deren Bewohner ihren bescheidenen Lebensunterhalt in Landwirtschaft und Gewerbe verdienten. Durch die Gründung eines hanfverarbeitenden Industriebetriebs 1855, der ab 1857 unter dem Namen ›Mechanische Bindfadenfabrik‹ firmierte, vervierfachte sich fast innerhalb weniger Jahrzehnte die Bevölkerungszahl, wobei die Zugezogenen oft nicht aus der Region stammten, mitunter als Evangelische in eine bislang rein katholische Stadt kamen und wirtschaftlich in einem Lohn-Abhängigkeitsverhältnis standen, das die einheimische Bevölkerung vielfach so nicht kannte. Die sich hieraus ergebenden Probleme und Konflikte ließen sich sicherlich auch sozial- und mentalitätsgeschichtlich erklären (was im übrigen ebenfalls ein Forschungsdesiderat ist), ein weiterer Ansatz kann jedoch die Analyse unter den Kategorien ›Zeit‹ und ›Raum‹ sein. <?page no="237"?> G E RHAR D K LEIN 236 Dietmar Schiersner schreibt - bezogen auf die Dissertation von Nicolas Disch - in der Einleitung zu diesem Tagungsband, daß die ›Zeit‹ auch als Sonde fungieren könne, »um sich einer vergangenen […] Lebenswelt zu nähern und sie besser zu begreifen. Die Auseinandersetzung mit der Zeit vermag offenbar wichtige Einsichten über die Beschaffenheit eines Bezugsraumes zu vermitteln: In der Zeit lesen wir den Raum, könnte man sagen. […] Zeitordnungen, -begriffe und -gefühle der Menschen […] besitzen raumschaffende Wirkung und tragen zur Genese spezifischer und charakteristischer Räume bei […].« 1 Es wird zu zeigen sein, daß eine Besonderheit Immenstadts im Untersuchungszeitraum, der auf die Phase der Industrialisierung ab 1855 bis ca. 1925 eingegrenzt wird, darin liegt, daß die Stadt als mehrfach rhythmisierter Raum mit ›geteilten Zeiten‹ bezeichnet werden kann, war doch zunächst einmal die Arbeitszeit der Bewohner - je nach gesellschaftlicher Gruppierung - in unterschiedliche Rhythmen gegliedert. Aber auch die durch die Arbeitszeit definierte, jedoch nicht so starr rhythmisierte Freizeit läßt sich im Immenstadt dieser Jahre als schichtspezifisch ›geteilte Zeit‹ beschreiben. Insofern liegt es nahe, daß die Untersuchung von Zeitlichkeitsphänomenen in einem mikrohistorischen Ansatz Möglichkeiten eröffnet, sich dem Gegenbzw. Nebeneinander der verschiedenen Bevölkerungsgruppen einer Kleinstadt von einer neuen Seite zu nähern und der Darstellung der sozialgeschichtlichen Situation bislang nicht gesehene Konturen zu verleihen. Eingestanden werden muß freilich der fragmentarische, vorläufige und unabgeschlossene Charakter der folgenden Ausführungen: Die angedeuteten Zeitlichkeitsphänomene werden zwar von Zeitzeugen der Generation der heute etwa Achtzigbis Neunzigjährigen vielfach beschrieben, sie lebten jedoch selbst in einer Zeit, als die starke Trennung in unterschiedliche Zeitordnungen sich schon allmählich aufzulösen begann. Ihr Wissen bezogen sie auch aus den Erzählungen ihrer Eltern und Familien. Was die schriftlichen Quellen zur Stadtgeschichte Immenstadts zwischen 1850 und 1925 betrifft, so kann die Quellenlage zwar durchaus als gut bezeichnet werden, jedoch ist es nicht gerade leicht, die Quellen im Sinne des Tagungsthemas ›zum Sprechen zu bringen‹. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in zwei Teile: Im ersten Abschnitt wird die Basis beschrieben, auf der die spezifischen Zeitlichkeitsphänomene entstanden sind, zunächst die Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Siedlungsstruktur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also vor der Ansiedlung eines Industriebetriebs, und schließlich die jeweiligen Veränderungen ab 1855. Im zweiten Abschnitt werden dann jene ›geteilten Zeiten‹ untersucht, die vor dem Hintergrund der veränderten Strukturen zu sehen sind. 1 Dietmar Schiersner, Einführung zu diesem Tagungsband. <?page no="238"?> B ÜRGE R , B AUER N , A R B EITER . U NTER S CHIEDLICHE L E BENS R HYTHMEN 237 2. Grundlagen: Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur Immenstadts im 19. Jahrhundert 2.1 Siedlungsstruktur vor 1850 Noch im 19. Jahrhundert war im Stadtbild Immenstadts, das 1360 von Karl IV. das Stadtrecht erhalten hatte, die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Siedlungsstruktur erkennbar. Ein Katasterblatt aus dem Jahre 1823, 2 das nahezu identisch mit der Uraufnahme von 1819 ist, zeigt deutlich den aus dem Spätmittelalter stammenden Stadtkern, der ursprünglich von einer Mauer umgeben war und sich an den Hauptverkehrsachsen orientierte, insbesondere der zentralen, von Tirol und über augsburgisch-fürstbischöfliches Territorium kommenden Reichsstraße Richtung Bodensee, die Teil des weitverzweigten Netzes von Salzstraßen war und Immenstadt durchquerte. Eine weitere Straße führte Richtung Sonthofen, sie verband die Stadt als Herrschaftsmittelpunkt der Grafschaft Königsegg-Rothenfels mit den oberen, sprich südlich gelegenen Pfarreien, und war sicherlich zunächst eher ein Weg als eine Straße. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Expansion über die engen Grenzen der Stadtberings hinaus schon eingesetzt, denn an den Ausfallstraßen fanden sich bereits Siedlungsachsen entlang der Verkehrswege. Anzeichen einer Siedlungsausweitung sind darüber hinaus im Süden in der sogenannten Bachreute erkennbar, die in Spätmittelalter und beginnender Früher Neuzeit durch ein viertes Stadttor erschlossen wurde, das den Ackerbürgern den Weg zu ihren Weideflächen in Richtung Steigbachtal eröffnete. Das Katasterblatt gibt zudem einen Hinweis auf die ländliche Struktur der Stadt mit ihren vielen haus- und hofnahen Gärten, vor allem aber mit den die Stadt einschließenden großen, jedoch stark parzellierten Feldern. Diese Parzellierung änderte sich bis ins 20. Jahrhundert nicht, nachdem Immenstadt die Vereinödung nicht mitgemacht hatte. Bestätigt wird das Bild einer Ackerbürgerstadt aber auch durch die Gestaltung der Gebäude: Sie zeigten einerseits eine ländliche, im Alpenraum traditionell übliche Holzbauweise, die Dächer mit Landern gedeckt und mit Steinen beschwert, andererseits aber doch den Versuch, durch barockisierte Giebel und Gliederungsbemalung der Fassaden einen gewissermaßen urbanen Bürgerstolz zum Ausdruck zu bringen. 3 2 StadtA Imm, Kartensammlung; vgl. T HOMAS D IETMANN , Stadtentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, in: R UDOLF V OGEL (Hg.), Immenstadt im Allgäu. Landschaft, Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, kulturelles und religiöses Leben im Lauf der Jahrhunderte, Immenstadt 1996, S. 273-280, hier 274; S IEGBERT E CKEL , Immenstadt im Wandel. Eine Zeitreise zu Häusern, Gassen und Plätzen im ›Städtle‹, Immenstadt 2007, S. 6-9. 3 Vgl. StadtA Imm, Bildarchiv 03-01-014: Gemälde von Julius Müller um 1800; S. E CKEL , Immenstadt im Wandel (Anm. 2), S. 7, 65. <?page no="239"?> G E RHAR D K LEIN 238 2.2 Bürgerlich-bäuerliches Bevölkerungssegment der Stadt Mit den Befunden zur Siedlungsstruktur korrespondiert die Bevölkerungs- und Berufsstruktur, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts geprägt war durch Landwirtschaft und die bürgerlichen Erwerbszweige des Handels und Handwerks, die alle drei eng miteinander verquickt waren. Auch wenn im Jahre 1830 nach Berechnungen von Katrin Holly auf der Basis einer Agricolstatistik für das Landgericht Immenstadt 77 % der Immenstädter Familien ihren Lebensunterhalt überwiegend durch Gewerbe bestritten, so waren andererseits 68 % auch landwirtschaftlich tätig. 12 % betrieben hauptsächlich und 11 % ausschließlich Landwirtschaft. In absoluten Zahlen heißt dies, daß immerhin 31 von 135 Familien überwiegend von der Landwirtschaft lebten, während weitere 61 Familien neben der Ausübung eines Gewerbes im Nebenerwerb Landwirte waren. Es dominierte die Feld- und Wiesenwirtschaft und dementsprechend die Rindviehhaltung mit 350 Milchkühen und 60 Stück Jungvieh neben 40 Pferden. Setzt man hierzu die in der Landwirtschaft tätigen Familien in Beziehung, so dürfte die Hofgröße nicht sehr groß gewesen sein. 4 Ein traditionell städtisches Wirtschaftssegment war darüber hinaus der Handel, der sich zwar schon auf das mit dem Stadtrecht verbundene Marktrecht zurückführen läßt, in Immenstadt aber sicherlich nur als Kleinhandel vorhanden war. Überregional bedeutsam war zwar in Spätmittelalter und Früher Neuzeit die Lage an der oberen Salzstraße von Telfs am Inn zum Bodensee, wobei man für Immenstadt aber kaum davon sprechen kann, daß hier regelrechter Salzhandel betrieben wurde. Allenfalls profitierten die Bewohner der Stadt von den Erträgen, die mit Niederlagsrecht und Rodfuhr verbunden waren. Und schließlich ist als Wirtschaftssegment noch das Handwerk zu nennen, für das Katrin Holly ermitteln konnte, daß zwischen 1810 und 1812 bezogen auf 100 Einwohner im Schnitt eine Gerechtigkeitendichte von 11,9 % (Mittelwert 1810-1831: 11,7 %) vorherrschte. Berechnet man die Gerechtigkeitendichte auf Grundlage der Familienzahl, so ergibt sich für die Stadt als Mittelwert für die Jahre 1810 bis 1812 gar der Wert von 73,9 %, der deutlich über dem des Umlandes mit nur 17,6 % liegt. Während Berufsgruppen, die zur Deckung des täglichen Bedarfs beitrugen (z. B. Bäcker oder Schneider), auch auf dem Land vertreten waren, konzentrierten sich höher spezialisierte Handwerker wie Kürschner, Zinngießer oder Bortenwirker ausschließlich auf Immenstadt, ohne jedoch an den Differenzierungsgrad ehemaliger Reichs- 4 Vgl. K ATRIN H OLLY , Die Struktur des ländlichen Handwerks während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Oberallgäu am Beispiel des Landgerichtes Immenstadt, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Stadt und Land in der Geschichte Ostschwabens (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 10), Augsburg 2005, S. 131-186, hier 159f., 177; W ILHELM Z ELLER , Land- und Alpwirtschaft, in: R. V OGEL (Hg.), Immenstadt im Allgäu (Anm. 2), S. 385-404, hier 387. <?page no="240"?> B ÜRGE R , B AUER N , A R B EITER . U NTER S CHIEDLICHE L E BENS R HYTHMEN 239 städte wie Kempten oder Memmingen heranzureichen. Zwischen 1810 und 1830 geriet das Handwerk in Immenstadt, vor allem im Bereich der für den gehobenen Bedarf produzierenden Gewerke, in eine Krise, zurückzuführen wohl auf die wirtschaftliche Not der Landgerichtsbewohner sowie die Auflösung der gräflichen Haushaltung und damit den Verlust des Hauptabsatzmarktes. 5 »Insgesamt bestätigt sich«, so Katrin Holly, »der […] generalisierbare Befund, daß mit der Abnahme der Urbanität des Standortes auch das hochspezialisierte Handwerk und Kunsthandwerk zurückging. Das heißt aber auch, daß sich das Berufsartenspektrum in der Stadt Immenstadt bis 1831 zunehmend dem des Landes annähert.« 6 Faßt man Handel und Handwerk zusammen, so waren 1815 in der damals nur ca. 900 Einwohner zählenden Stadt noch 143 Gewerbetreibende tätig. 1867 waren es bei 1.857 Einwohnern lediglich 127 Handwerker und Händler - eine allerdings immer noch stattliche Zahl, und vor allem hatte sich im Vergleich zu 1815 die Angebotspalette etwas ausgeweitet und war durchaus vielfältig: Sie reichte vom Apotheker bis zum Zinngießer, vom Büchsenmacher bis zum Orgelbauer. 7 Für die Zeit um 1900 fehlen exakte statistische Angaben über die genaue Bevölkerungsverteilung, insbesondere auch über die Anzahl der Bauern. 8 Jedoch kann davon ausgegangen werden, daß jene Gesamtsituation, die Katrin Holly auf gesicherter Quellenbasis für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt hat, im großen und ganzen für das beginnende 20. Jahrhundert immer noch anzutreffen war: Es gab wenige Haupterwerbslandwirte, dafür aber um so mehr Bürger, die im Nebenerwerb auch noch eine Landwirtschaft betrieben: Kaufleute und Handwerker, vor allem auch Gastwirte. Insgesamt waren das bürgerliche und das bäuerliche Element in Immenstadt also sehr eng miteinander verbunden, wobei die Landwirtschaft durchaus ein großes Gewicht hatte und geradezu stadtbildprägend war. 9 1939 gab es in Immenstadt immer noch 53 landwirtschaftliche Betriebe. 10 5 Vgl. K. H OLLY , Struktur des ländlichen Handwerks (Anm. 4), S. 140-147, 174; zur Krise des Handwerks vgl. auch R UDOLF V OGEL , Handwerk, Handel, Leinwandschau und Industrie, in: D ERS . (Hg.), Immenstadt im Allgäu (Anm. 2), S. 301-368, hier 302. 6 K. H OLLY , Struktur des ländlichen Handwerks (Anm. 4), S. 145. 7 Vgl. R. V OGEL , Handwerk, Handel, Leinwandschau und Industrie (Anm. 5), S. 303. 8 Ein möglicher Ansatzpunkt, zu gesicherten Ergebnissen zu gelangen, wäre die intensive und methodisch durchdachte, aber sehr zeitaufwendige Auswertung der im Stadtarchiv Immenstadt in großer Zahl vorhandenen Bürger- und Heimatrechtsbögen. 9 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Max Sandholz (Jahrgang 1930) am 31. Oktober 2013. Max Sandholz betreibt in Immenstadt selbst (ohne eingemeindete Ortsteile) die letzte noch verbliebene Landwirtschaft. 10 Vgl. W. Z ELLER , Land- und Alpwirtschaft (Anm. 4), S. 403. <?page no="241"?> G E RHAR D K LEIN 240 2.3 Veränderung der Bevölkerungsstruktur ab 1855 War Immenstadt im Jahre 1806 eine Kleinstadt von 871 Einwohnern, die es in diesem Jahr gerade einmal geschafft hatte, die Bevölkerungsverluste des Dreißigjährigen Kriegs auszugleichen, so stieg die Einwohnerzahl bis 1840 immerhin schon auf 1.257 Personen an. Eine rasante Veränderung der Bevölkerungsstruktur setzte dann jedoch ab dem Jahre 1855 ein, als mit der späteren ›Mechanischen Bindfadenfabrik‹ ein Industriebetrieb begründet wurde, dessen Aufbau schon rasch einen deutlichen Bevölkerungsanstieg verursachte. Die anfänglich gehegte Vorstellung, die auch im Genehmigungsgesuch zum Ausdruck kam, vor allem Arbeitskräfte aus der wirtschaftlich schwach strukturierten Region zu rekrutieren, erwies sich schon bald als Illusion, denn es war nicht möglich, genügend Arbeitssuchende, die auch willig waren, in einer Fabrik zu arbeiten, in dem doch sehr ländlichen Oberallgäu zu finden. Sicherlich spielt hier auch die Reagrarisierung der Region eine Rolle. Über Zeitungsinserate und Werber versuchte man, Arbeiter in der Donaumonarchie, in Italien, Altbayern und Württemberg für die Arbeit in Immenstadt zu gewinnen. Bis ins Jahr 1910 explodierte die Bevölkerung geradezu auf über 5.000 Einwohner, wovon allein rund 1.000 Personen direkt bei der ›Mechanischen Bindfadenfabrik‹ beschäftigt waren. 11 2.4 Auswirkungen der Industrieansiedlung auf die Siedlungsstruktur Die enormen Veränderungen bei den Bevölkerungszahlen und der Zusammensetzung der Bevölkerung hatten in Immenstadt gravierende Auswirkungen auf die Siedlungsstruktur. Wichtig ist vor allem, daß südlich der Bahnlinie ein regelrechtes Fabrikviertel entstand, das in den kommenden Jahrzehnten immer weiter entwickelt wurde. Es bestand aus den eigentlichen Produktionsstätten, Lagerhallen, sozialen Einrichtungen, z. B. einem Heim für ledige Arbeiterinnen, und mehreren feudalen Villen für die Unternehmerfamilie und den technischen Direktor. Hierzu gehörten insbesondere aber auch zahlreiche Häuser mit Arbeiterwohnungen, die einen Anreiz boten, dem Betrieb treu zu bleiben. Schon 1867 hatte man mit dem Bau der sogenannten ›Kolonie‹ begonnen, die aus den beiden Firmensiedlungen ›Unterer Koloniehof‹ und ›Oberer Koloniehof‹ bestand. Es folgte südlich der ›Oberen Kolonie‹ eine weitere Wohnanlage, die im Volksmund noch viele Jahrzehnte später ›Böhmenviertel‹ genannt wurde, waren dort doch vor allem Arbeiter aus dem Gebiet der K.-u.-K.-Monarchie, insbesondere aus dem böhmischen Reichsteil, untergebracht. Schon 1882 umfaßte das Firmengelände zwölf Hektar: 11 Vgl. S IEGBERT E CKEL , Bevölkerungsentwicklung, in: R. Vogel (Hg.), Immenstadt im Allgäu (Anm. 2), S. 285-290, hier 285-287; zur Anwerbung von Arbeitern und zur Entwicklung der Belegschaftsstärke der Mechanischen Bindfadenfabrik vgl. auch R. V OGEL , Handwerk, Handel, Leinwandschau und Industrie (Anm. 5), S. 350f. <?page no="242"?> B ÜRGE R , B AUER N , A R B EITER . U NTER S CHIEDLICHE L E BENS R HYTHMEN 241 die eigentliche Fabrik bestand aus 15 Haupt- und Nebengebäuden, hinzu kamen die Villen der Fabrikantenfamilie Probst und zum damaligen Zeitpunkt bereits 18 Arbeiterwohnhäuser. Zwischen 1897 und 1914 entstand darüber hinaus südlich des Bahnhofs, an der heutigen Edmund-Probst-Straße, eine weitere umfangreiche Arbeitersiedlung. 12 Abb. 1: Katasterblatt 1886: schematische Darstellung der Separierung des Fabrikviertels (umrandete Fläche) vom alten Siedlungskern, verstärkt durch zwei Eisenbahnlinien (Linien). 12 Vgl. R. V OGEL , Handwerk, Handel, Leinwandschau und Industrie (Anm. 5), S. 345, 350f.; S. E CKEL , Immenstadt im Wandel (Anm. 2), S. 37, 39. <?page no="243"?> G E RHAR D K LEIN 242 Zentral ist die Tatsache, daß in den Wohngebäuden dieses neuen Stadtviertels ausschließlich Beschäftigte der Fabrik mit ihren Familien lebten, so daß hier - der Begriff sei mit aller Vorsicht verwendet - eine Art ›Ghettobildung‹ stattfand. Zudem war das neue Stadtviertel durch zwei Bahnlinien klar vom alten Siedlungskern separiert, wo nur wenige Fabrikarbeiter ihre Wohnung hatten. 3. Geteilte Zeiten innerhalb der Immenstädter Bevölkerung der Jahre 1855 bis 1925 Die Ausführungen haben gezeigt, daß Immenstadt um die Jahrhundertwende eine Bevölkerungsstruktur aufwies, bei der der alteingesessenen, bürgerlich-bäuerlichen Bevölkerung eine große Zahl an Zugezogenen aus vielen Regionen gegenüberstand, im lokalen Jargon ›Städtler‹ bzw. ›Fabrikler‹ genannt, die in mehreren Bereichen voneinander abgegrenzt lebten. Aufgrund dieser Konstellation soll nun der Frage nachgegangen werden, inwiefern innerhalb des Mikrokosmos Immenstadt das Leben auch zeitlich unterschiedlich strukturiert war bzw. sich die gesellschaftlichen Unterschiede auch in unterschiedlichen zeitlichen Rhythmen oder Zeitordnungen widerspiegeln. 3.1 A rbeit sz ei t Der tägliche Arbeitsrhythmus der bäuerlichen Bevölkerung war geprägt von den Erfordernissen eines Milch produzierenden Betriebs mit fixen Melkzeiten am Morgen und am Abend, während im Jahreslauf insbesondere klimatisch-jahreszeitliche Voraussetzungen bestimmend waren für die jeweiligen Arbeiten. Über den Arbeitsalltag und -rhythmus eines Oberallgäuer Landwirts in den 1920er und 1930er Jahren berichtet der spätere Diepolzer Bürgermeister Max Weh in seinen Memoiren: Für den Heibat, den 1. Schnitt der Heuernte, brauchten wir je nach Wetter den ganzen Juni und halben Juli. Der Tag begann schon um 4 Uhr früh, denn für die Heumahd, d. h. um das Feld […] hinter dem Haus mit der Sense zu mähen, brauchten zwei Mann 14 Tage. Wir hatten damals ja keine Maschinen, vor Mist- oder Heuwagen spannten wir zwei Milchkühe und nur die größeren Bauern hatten ein Pferd. Ein paar Tagwerke Heumahd ist eine schwere Arbeit. Gemäht wurde bis zur Melkzeit gegen 6 Uhr früh, dann wurden die Kühe, die damals nachts auf der Weide und tagsüber im Stall blieben, nach Hause getrieben und von Hand gemolken. […] Nach dem Frühstück ging’s wieder aufs Feld, dann am Mittag heim, am Nachmittag wieder aufs Feld. Am Abend heim, abendmelken, Kühe austreiben, Stall misten, waschen, Abendessen, und müde ins Bett. So ging das beim Heibat Tag für Tag. Die Feldarbeit hing sehr stark vom Wetter ab. […] Und so werkelte man Ende Juni bis Mitte Juli so manchen Tag (oft bis zu drei Wochen), bis der Heibat vorbei war. Wenn wir zwischen Heibat (erster Schnitt) und Oomaad (zweiter Schnitt) etwas Zeit hatten, ging es zum Torfmoor. Das für uns so <?page no="244"?> B ÜRGE R , B AUER N , A R B EITER . U NTER S CHIEDLICHE L E BENS R HYTHMEN 243 wertvolle Heizmaterial mußte gestochen, getrocknet und nach dem Oomaad in die Tenne gefahren werden, um für den kalten Winter genügend Vorrat zu haben. Das Oomaad, der zweite Schnitt, begann Anfang bis Mitte August und lief ab wie der Heibat, nur die Futtermenge war geringer. Mehr als zwei Schnitte hatten wir nie. Im Herbst wurden die Kartoffeln geerntet, die wir Ende Mai oder Anfang Juni gesteckt hatten. […] Dann mußte im Wald Holz gemacht (natürlich von Hand), Streu eingefahren und das Haus auf den Winter vorbereitet werden. Im Winter war die Arbeit kaum geringer. Das Vieh mußte versorgt, die Kühe gemolken, Holz gehackt werden und was an Feldarbeit gespart war, wurde durch Schneeräumen ersetzt, […]. Kam dann der Frühling, er kam bei uns oft spät genug erst Ende Mai, hieß es Zäune aufrichten oder ausbessern, Mist und Bschidde [Anm.: Jauche] auf die Wiesen bringen, die Winterschäden im Wald bearbeiten und tausend andere Dinge erledigen. Meist waren wir damit noch gar nicht fertig, da fing schon das erste Heuen an und nun wiederholte sich alles, Jahr für Jahr, fast Jahrhunderte unverändert. 13 Im ganzen kann man festhalten, daß die Arbeitszeit eines Immenstädter Landwirts zwar gewisse Fixpunkte aufwies, die Einteilung der Zeit aber von einer Reihe von Unsicherheitsfaktoren abhängig und aufgrund dessen auch ein hohes Maß an Flexibilität und Entscheidungskompetenz gefordert war. Dies galt natürlich auch für jene Immenstädter, die als Selbständige einen Gewerbebetrieb führten, wobei sehr ausgedehnte Öffnungszeiten mitunter üblich waren: Im September 1918 schalteten beispielsweise die Friseure gemeinschaftlich eine Anzeige in der Lokalzeitung, in der die Einschränkung der Ladenöffnungszeiten aufgrund des kriegsbedingten Gehilfenmangels bekanntgegeben wurde. Im Umkehrschluß läßt sich daraus ableiten, daß es in normalen Zeiten keine Mittagspause und keinen Ruhetag gab. In der Annonce wurde explizit darauf hingewiesen, Kinder nicht an Samstagen oder Sonntagen zum Friseur zu schicken, da an diesen Tagen die weibliche Kundschaft bevorzugt bedient werden sollte. Der tägliche Ladenschluß wurde neu auf 19 Uhr, an Samstagen auf 21 Uhr festgelegt, das heißt, die Friseurbetriebe scheinen zu normalen Zeiten noch später geschlossen zu haben. 14 Flexibilität mußten auch jene Gewerbetreibenden aufbringen, die im Nebenerwerb noch eine Landwirtschaft betrieben. Sie leisteten einen Spagat zwischen Handwerksbetrieb oder Ladengeschäft auf der einen und Landwirtschaft auf der anderen Seite. Zu gewissen Zeiten dominierte eher die Landwirtschaft, zu anderen Zeiten wieder das Gewerbe. 13 M AX W EH , Fast ein Jahrhundert in der Bergstätt. Allgäuer Lebenserinnerungen, o. O. 1992, S. 48-51. Für Immenstadt direkt liegt eine derartige schriftliche Quelle zum bäuerlichen Arbeitsrhythmus nicht vor. Nachdem sich aber das Leben eines Landwirts in Immenstadt wohl kaum vom Umland unterschied, soll dieser Bericht aus dem nur wenige Kilometer entfernten Reute (bei Diepolz) als adäquater Ersatz dienen. Unabhängig davon wurde das Arbeitsjahr eines Immenstädter Landwirts von Max Sandholz im Gespräch mit dem Autor am 31. Oktober 2013 nahezu identisch dargestellt. 14 Vgl. ›Allgäuer Anzeigeblatt‹ Nr. 205 vom 5.9.1918. <?page no="245"?> G E RHAR D K LEIN 244 Die Arbeitszeit der Fabrikarbeiterschaft war im Gegensatz dazu stark durch die Arbeitsordnung und das Abhängigkeitsverhältnis der Beschäftigten reglementiert. In der Fabrikordnung vom 15. Dezember 1856 wurde der Arbeitsbeginn auf 6 Uhr und das Arbeitsende auf 19 Uhr festgelegt, angezeigt durch akustische Signale: Die Fabrikglocke wird eine viertel Stunde vor dem Anfange der Arbeit die Oeffnung der Fabrik ankündigen; das zweite Läuten zeigt das Beginnen der Arbeit und zugleich die Schließung der Fabrik an. - Von diesem Augenblicke an sollen alle Arbeiter sich an ihrer Arbeit befinden […] Beim Ablaufe der Arbeitszeit wird mit den Saalglocken ein Zeichen gegeben; vor dieser Zeit darf kein Arbeiter seinen Posten verlassen […] oder sich ankleiden […]. 15 Gearbeitet wurde in der Anfangsphase also zwölf Stunden am Tag, mit einer einstündigen Mittagspause, die nicht zur Arbeitszeit zählte. Als die Arbeiterschaft 1871 an den Firmenchef und Mitbegründer der Fabrik Adolph Probst mit der Bitte herantrat, die Arbeitszeit um eine Stunde auf elf Stunden zu reduzieren, wurde dies abgelehnt. Es ist aber anzunehmen, daß um 1890 der Elfstundentag eingeführt war. Als 1906 im Reichstag der Zehnstundentag beschlossen wurde, stieß dies bei der Geschäftsleitung wiederum auf größtes Mißfallen. Die gleichen Arbeitszeiten galten für die zahlreichen Arbeiterinnen und - entgegen herrschender Schutzbestimmungen - zum Teil auch für Kinder. Bei der ›Mechanischen Bindfadenfabrik‹ war Kinderarbeit im allgemeinen zwar nicht üblich, sie war aber auch kein absolutes Tabu. Allerdings benötigte man hierfür die Genehmigung des Stadtpfarrers in seiner Funktion als Lokalschulinspektor, der diese erteilte, wenn es sich um eine sehr bedürftige Familie handelte und der Lohn der Kinder zum Lebensunterhalt beitragen mußte. Angeblich ohne Wissen Adolph Probsts arbeiteten vor 1867 diese nicht neun, sondern wie die Erwachsenen zwölf Stunden. Im Gegensatz zu den Landwirten und einigen Gewerbetreibenden wurde an Sonn- und hohen Feiertagen normalerweise nicht gearbeitet. Ein Gesuch der Direktion im Jahre 1895, die Arbeit an neun Feiertagen zu gestatten, wurde vom Gemeindeausschuß abgelehnt. 16 Insgesamt ist ersichtlich, daß die Arbeitszeit der Immenstädter Bevölkerung, je nach gesellschaftlicher Gruppierung, der man angehörte, räumlich getrennt voneinander verbracht wurde: Während die Landwirte auf dem eigenen Hof - dabei insbesondere außerhalb des Hauses in der freien Natur - wirtschafteten und Gewerbetreibende wie Handwerker, Kaufleute und Gastwirte den eigenen Betrieb und damit - in ähnlicher Weise wie die Bauern - einen privaten Raum als Wirkungsstätte hatten, spielte für die Fabrikarbeiterschaft die Privatsphäre während der Arbeitszeit keine Rolle. Sie arbeiteten mit vielen anderen im quasi-öffentlichen Raum des Produktionssaales. Kaum Berührungspunkte gab es darüber hinaus bei den jeweiligen ›Zeitordnungen‹, die die Arbeitszeiten der jeweiligen Schichten 15 StadtA Imm, A I 56-19. Im 20. Jahrhundert ist von einer Fabriksirene die Rede. 16 Vgl. R. V OGEL , Handwerk, Handel, Leinwandschau und Industrie (Anm. 5), S. 351f. <?page no="246"?> B ÜRGE R , B AUER N , A R B EITER . U NTER S CHIEDLICHE L E BENS R HYTHMEN 245 strukturierten bzw. rhythmisierten. Je nach Schicht bestand im Bereich der Arbeit ein eigener Raum-Zeit-Zusammenhang, womit die sozialen Gegensätze verfestigt wurden. 3.2 Freizeit Ganz deutliche Unterschiede zwischen der ›einheimischen‹ Bevölkerung und der zumeist zugewanderten Fabrikarbeiterschaft zeigten sich aber auch darin, wie und mit wem außerhalb des Arbeitsalltags die freie Zeit, die Freizeit, verbracht wurde. Für die bäuerlich-bürgerliche Schicht ist aufgrund der beschriebenen Arbeitszeiten die freie Zeit oft nicht leicht definierbar, da bei den Landwirten und vielen Gewerbetreibenden die Arbeit aus dem allgemeinen Alltagsleben nicht ausgeblendet werden konnte, während die Fabrikarbeiter nach einer sehr langen Schicht immerhin tatsächlich Freizeit hatten, was offensichtlich durchaus Neidgefühle auslöste, wurde doch das Freizeitverhalten der Arbeiterschaft von konservativ-kirchlicher Seite kritisch beäugt: Wiederholt prangerte die Geistlichkeit eine angebliche Genuß- und Vergnügungssucht der Zugezogenen an. Das Geld gehe an den, den Zahltagen folgenden Sonntagen mit Saus und Braus hinaus. 17 Nicht nur aus diesem Grund verwundert es nicht, daß bei der Freizeitgestaltung die biedere Bürgerschicht unter sich bleiben wollte, so daß den Arbeitern nichts anderes übrig blieb, als sich vereinsmäßig völlig unabhängig zu organisieren. Insofern gab es im geselligen, musikalischen und sportlichen Bereich für fast jede Sparte eine Doppelung der Vereine bzw. einen weitgehenden Ausschluß der Arbeiterschaft aus dem bürgerlichen Vereinswesen. Nur drei Beispiele sollen dies verdeutlichen, die Liste ließe sich jedoch mühelos fortsetzen: - Dem bürgerlichen Gesangsverein ›Liedertafel‹, der schon in der Vormärzzeit entstanden war, folgten auf der Arbeiterseite der Männergesangsverein ›Eintracht‹ und die Sängergesellschaft ›Frohsinn‹, die sich 1901 zur ›Harmonie‹ zusammenschlossen, sowie der Arbeiter-Gesangsverein ›Liederhort‹. 18 - Kaum ein Arbeiter war Mitglied beim Turner-Feuerwehr-Verein. Eine eigene Feuerwehreinheit bildete die sogenannte Fabrikfeuerwehr, während die sportliche Betätigung der Arbeiterschaft ab 1909 im Turnerbund erfolgte. Diesem verweigerten die Bürger jahrelang die Benutzung der städtischen Turnhalle. 19 - Unter sich blieben die Bürger auch beim Verein ›Oberallgäuer Heimatmuseum Immenstadt‹, während die Heimatfreunde der Arbeiterseite sich in den diversen Gebirgstrachtenvereinen sammelten. 20 17 Aussage des evangelischen Vikars (1887), zitiert nach R. V OGEL , Handwerk, Handel, Leinwandschau und Industrie (Anm. 5), S. 351 Anm. 51. 18 Vgl. StadtA Imm, V 08-005, V 08-007, V 08-008, V 08-009, V 08-011. 19 Vgl. StadtA Imm, V 03-057, V 03-081. 20 Vgl. StadtA Imm, V 14-002, V 14-005, V 14-006, V 14-007. <?page no="247"?> G E RHAR D K LEIN 246 Belegen läßt sich die Trennung von Bürgertum und Arbeiterschaft im Vereinswesen anhand von Mitgliederlisten, wobei hier exemplarisch auf zwei Gesangsvereine und den Bereich der Heimatpflege eingegangen wird: 21 Unter den Mitgliedern der ›Liedertafel‹, die um die Jahrhundertwende im Erwachsenenalter waren, finden sich beispielsweise reihenweise Kaufleute, Lehrer und Juristen oder auch die beiden Fabrikdirektoren Alfred Probst und Paul Probst, aber kein einziger Arbeiter. 22 Vom Arbeitergesangsverein ›Frohsinn‹ konnten bislang 24 Namen von Mitgliedern ermittelt werden, darunter zwölf Fabrikarbeiter, ein Fabrikaufseher, ein Magaziner, ein Bahnwärter, ein Stadtarbeiter und der Gastwirt des Gasthauses ›Krone‹, das am Rande des Fabrikviertels lag und vor allem von der Fabrikarbeiterschaft frequentiert wurde. 23 Besonders interessant ist das Heimatvereinswesen, wobei die drei bereits erwähnten Immenstädter Gebirgstrachtenvereine von der Arbeiterschaft dominiert wurden. Beim Verein ›D’ Illertaler‹ (gegründet 1898) war es möglich, 39 Namen von Gründungsmitgliedern und bei 25 dieser Gründungsmitglieder auch den Beruf zu erschließen: Darunter befanden sich 18 Angehörige der Fabrik, überwiegend Arbeiter, ein Färber, eine Goldarbeiterin, eine Dienstmagd, eine Köchin, ein Trödler und ein Kistenmacher, aber lediglich ein Handwerker, der als Meister bezeichnet wird, der jedoch nicht gebürtig aus Immenstadt war - wie im übrigen die meisten Gründungsmitglieder. 24 Beim Gebirgstrachtenverein ›D’ Stoinebergler‹ sind derzeit 25 Namen von Mitgliedern bekannt, die im Gründungsjahr 1905 beitraten, darunter achtzehn Fabrikarbeiter, zwei anderweitig beschäftigte Arbeiter und ein Gastwirt. Bei vier Mitgliedern war der Berufsstand nicht zu ermitteln. 25 Das am Heimatgedanken interessierte Bürgertum hielt sich hingegen von den Trachtenvereinen fern, es organisierte sich stattdessen im Verein ›Oberallgäuer Heimatmuseum Immenstadt‹, der sich 1929 in ›Oberallgäuer Heimatverein‹ umbenannte. Für den Untersuchungszeitraum liegen zwar momentan noch keine Mitgliederlisten vor, jedoch kann das gesellschaftliche Umfeld des Vereins durchaus verdeutlicht werden durch die Einladungsliste für die Eröffnungsfeier des Oberallgäuer Heimatmuseums am 23. Juli 1919, die bezeichnenderweise im Rathaussaal stattfand. Aus Immenstadt waren geladen: der Bürgermeister Dr. Stenger, die Käsegroßhändlerfamilie Herz, Finanzrat Grähl, Bankdirektor Schmuck, Kaufleute (in einem Fall mit Familie), der Stadtbaumeister, Chordirektor Schwaiger, zwei 21 Wichtige Vorarbeiten für die folgenden Ausführungen leistete Helmut Ott, Stadtarchiv Immenstadt, der für zahlreiche Immenstädter Vereine Mitgliederlisten zusammenstellt. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, so daß die Angaben auf dem Stand vom 15.1.2015 beruhen. 22 Vgl. StadtA Imm, V 08-009. 23 Vgl. StadtA Imm, V 08-007. 24 Vgl. StadtA Imm, V 14-005. 25 Vgl. StadtA Imm, V 14-006. <?page no="248"?> B ÜRGE R , B AUER N , A R B EITER . U NTER S CHIEDLICHE L E BENS R HYTHMEN 247 Lehrer und zwei Damen, deren gesellschaftlich-berufliche Zuordnung nicht näher definiert wird, v. a. jedoch keine einzige Person, die dem Umfeld der ›Mechanischen Bindfadenfabrik‹, geschweige denn der Arbeiterschaft, angehörte. 26 Und interessanterweise fand sich in all den Mitgliederlisten der Immenstädter Vereine kaum einmal ein Vollerwerbslandwirt - diese hatten anscheinend für Freizeit im Verein, aber auch für die individuelle Freizeitgestaltung, schlichtweg keine oder nur sehr wenig Zeit. 27 Reizvoll ist es, die Aktivitäten der ›Bürgervereine‹ und ›Arbeitervereine‹ zu vergleichen, entsprechende Protokollbücher sind durchaus vorhanden. Exemplarisch soll dies am Beispiel von Vereinen geschehen, die im Bereich der Heimatpflege tätig waren, wobei es in methodischer Hinsicht wichtig erschien, ein Jahr herauszugreifen, aus dem sowohl Unterlagen eines bürgerlich geprägten als auch eines von Fabrikarbeitern dominierten Vereins vorhanden sind. Leider ist dies nur für das schon ganz am Rande des Untersuchungszeitraums gelegene Jahr 1928 gelungen, für das Aufzeichnungen über die Freizeitaktivitäten der Mitglieder des Vereins ›Oberallgäuer Heimatmuseum Immenstadt‹ und des Gebirgstrachtenvereins ›D’ Stoinebergler‹ vorliegen. Der Befund ist ausgesprochen klischeehaft, bestätigt jedoch die Annahme, daß die Art der Freizeitgestaltung sehr stark abhängig war von der Schichtbzw. Milieuzugehörigkeit - was freilich auch nicht verwundert. In den Protokollen der bürgerlichen Museumsfreunde finden sich für 1928 folgende Aktivitäten: 28 - Ein Heimatabend, bei dem z. B. historische Photographien, Kupferstiche, Schülerverzeichnisse aus dem 19. Jahrhundert oder eine alte Uhr herumgereicht und bewundert wurden. - Ein Heimatabend, bei dem über die Geschichte des Immenstädter Faschings diskutiert wurde. - Ein Vortragsabend mit einem Referenten aus Ulm zum Thema ›Sinn und Bedeutung von Heimatmuseen‹. - Ein Vortrag eines Lokalchronisten über die Pestzeit in Immenstadt. - Ein Vortrag des Bürgermeisters über das Thema ›Recht, Richter und Gericht im Mittelalter‹. - Ein Ausflug nach Weiler mit Besichtigung des dortigen Heimatmuseums, der Pfarrkirche und der Kriegergedächtniskapelle. 26 Vgl. StadtA Imm, V 14-002. 27 Vgl. M. W EH , Fast ein Jahrhundert in der Bergstätt (Anm. 13), S. 51. 28 Vgl. StadtA Imm, V 14-002. <?page no="249"?> G E RHAR D K LEIN 248 Im Gegensatz dazu stehen die Aktivitäten des Trachtenvereins ›D’ Stoinebergler‹. Dessen Mitglieder vergnügten sich: 29 - Bei einer Faschingsunterhaltung im Gasthof ›Krone‹, der schon erwähnten Arbeiterwirtschaft, einschließlich der Aufführung des Theaterstücks ›Das Jagdgigerl‹. - Bei mehreren Ausflügen nach Leutkirch, nach Ulm oder nach Kaufbeuren, bei denen stets die Einkehr in diversen Wirtschaften eine zentrale Rolle spielte. - Bei einer Bergpartie, die mit einem gemütlichen Abend in der Berggaststätte ›Almagmach‹ begann und mit einer Nacht-Bergtour auf den Steineberg fortgesetzt wurde. Am Vormittag wurden auf dem Berg lustige Spiele veranstaltet, die im Protokoll bezeichnet sind als ›Holzschuh suchen‹, ›Fuchs aus dem Loch‹, ›Bockspringen‹ oder ›Bajazzo hoch‹. - Beim 30jährigen Gründungsfest des Trachtenvereins ›D’ Illertaler‹ traf man sich in der Früh (wieder einmal) am Gasthof ›Krone‹ in der damaligen Fabrikstraße und in der Mittagspause zog man sich dorthin wieder zurück, ebenso nach dem Festzug. Begleiten ließ sich der Verein von der Fabrikfeuerwehrkapelle. - Bei diversen Kirchweihtänzen, so z. B. beim von Arbeitern dominierten Gebirgstrachtenverein ›D’ Älpler‹ in deren Stammlokal, dem Gasthof ›Engel‹, einer ebenfalls vor allem von der Arbeiterschaft frequentierten Gaststätte. - Bei einer Silvesterfeier mit Freibier. 4. Schlußüberlegungen und Ausblick In Immenstadt war aufgrund der Industrialisierung für die Zeit um die Jahrhundertwende eine signifikante Struktur entstanden: Die Menschen lebten auf kleinstem Raum zusammen, aber doch politisch voneinander abgegrenzt. Im Jahre 1905 - als das alte bayerische Einwohnerrecht noch gültig war - konnten von 4.465 Einwohnern gerade einmal 216 Einwohner den Status eines Bürgers im Rechtssinn für sich beanspruchen. 30 Die alteingesessenen Familien besaßen ein ausgeprägtes städtisches Selbstbewußtsein, das es den Zugezogenen nicht leicht machte, integriert zu werden, so daß die Separierung sich auch sozial auswirkte. Innerhalb des Raums verliefen des weiteren diverse räumliche Abgrenzungslinien, etwa im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Arbeitsstätten oder den Lokalitäten, wo die Freizeit verbracht wurde - man denke nur an die mehrfach erwähnten ›Arbeitergaststätten‹. Vor allem hatte aber die Entstehung eines eigenständigen Fabrikviertels mit der zusätzlichen ›Eisenbahnbarriere‹ hin zur Altstadt eine im besonderen Maße trennende Wirkung, nicht nur faktisch, sondern auch im subjektiven 29 Vgl. StadtA Imm, V 14-006. 30 Vgl. S. E CKEL , Bevölkerungsentwicklung (Anm. 11), S. 286. <?page no="250"?> B ÜRGE R , B AUER N , A R B EITER . U NTER S CHIEDLICHE L E BENS R HYTHMEN 249 Empfinden der Bevölkerung. Und schließlich vollzog sich der Arbeitsalltag der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in völlig unterschiedlichen zeitlichen Rhythmen, und zwar sowohl für die tägliche Arbeit als auch für die Arbeit im Jahreslauf. Darüber hinaus zeigt sich für den Untersuchungszeitraum, daß die Freizeit schichtintern verbracht wurde. Was die Inhalte der Freizeitgestaltung angeht, so wird man - wenn Gesangs- oder Turnvereine verglichen würden - wohl kaum Unterschiede feststellen. Im Bereich der Heimatpflege driften, wie gezeigt, diese Inhalte sehr stark auseinander, was freilich in gewissem Sinne auch logisch und nachvollziehbar ist. Daß - überspitzt gesagt - ein Bankdirektor der Jahrhundertwendezeit keine Lust zum ›Bockspringen‹ hat und ein Arbeiter nach über zehn Stunden in der Fabrik nicht unbedingt einen Vortrag über ›Sinn und Bedeutung von Heimatmuseen‹ anhören möchte, dürfte klar sein. Der Vergleich der Freizeitaktivitäten des bürgerlichen Museums- und des von der Arbeiterschaft geprägten Gebirgstrachtenvereins macht jedoch deutlich, wie extrem weit voneinander entfernt die Lebenswelten der verschiedenen Schichten lagen. Als Fazit der Analyse der gesellschaftlichen Situation Immenstadts in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende ist vor allem bemerkenswert, daß das Trennende zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen durch mehrere, jedoch zusammenhängende Kategorien definiert werden kann - etwa den politischrechtlichen Status, die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht bzw. einem sozialen Milieu oder die Räume, in denen das Leben der Menschen verortet war, insbesondere aber durch diverse Zeitkonzepte, die nicht zu synchronisieren waren. Die je nach Bevölkerungsschicht unterschiedlichen zeitlichen Rhythmen und Ordnungen verringerten deutlich die Berührungspunkte der Menschen am selben Ort, indem sowohl die Zeit der Arbeit als auch die Freizeit getrennt voneinander verbracht wurden. Zusammenfassend kann die Schlußfolgerung gezogen werden, daß divergierende oder gar kontroverse Zeitkonzepte soziale Unterschiede mitbedingten und zusätzlich verstärkten. Die Analyse von Zeitlichkeitsphänomenen leistet somit auch einen Beitrag zur Untersuchung der historischen Sozialstruktur eines Raums, indem neue Facetten sozialer Ungleichheit ans Licht gebracht, neue Perspektiven eröffnet und weitere Bausteine zum Verständnis sozialer Strukturen bereitgestellt werden. Erste Anzeichen für eine Auflösung der beschriebenen Separierung der gesellschaftlichen Gruppen in Immenstadt zeigten sich ab Ende der 1920er Jahre, als die in der Heimatpflege tätigen Vereine sich anzunähern begannen. Beim Trachtenverein ›D’ Illertaler‹ wurden am 7. September 1929 beispielsweise Bürgermeister Dr. Hermann Stenger und Käsegroßkaufmann Rudolf Herz (Stadtrat und 1. Vorsitzender des Museumsbzw. Heimatvereins) als Ehrenmitglieder aufgenommen. Bei einem Familienabend des Vereins am 21. Dezember 1929 nahmen die beiden die Ehrung an, und Rudolf Herz bedankte sich bei den ›Illertalern‹, daß der Verein im Gegenzug dem Heimatverein beigetreten sei und damit auch den Heimatgedanken <?page no="251"?> G E RHAR D K LEIN 250 erfasst 31 habe. Bis die gesellschaftlichen Unterschiede und auch Konflikte zwischen ›Städtlern‹ und ›Fabriklern‹ endgültig Geschichte waren, vergingen allerdings noch Jahrzehnte. Noch in den 1950er Jahren saßen die Schüler in der Schule strikt getrennt - drei Bankreihen ›Fabrikler‹ und eine Bankreihe ›Städtler‹ - und es gab heftige Auseinandersetzungen der Jugendlichen am sogenannten ›Kampffelsen‹. 32 Als in den 1980er Jahren die bürgerliche ›Liedertafel‹ immer weniger Sängernachwuchs hatte, beschloß man, gemeinsam mit dem Gesangsverein ›Harmonie‹ zu proben. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt war die Trennung in ›Arbeiter‹ und ›Bürger‹ noch ersichtlich, als man nach der Probe wieder an getrennten Tischen saß. Eine aus Arbeiterfamilien stammende Immenstädterin und ein Immenstädter, beide im Rentenalter, erzählten dem Autor dieses Aufsatzes erst kürzlich, daß sie die Ablehnung aus der Bürgerschaft zum Teil immer noch verspüren, so daß die sozialen Verhältnisse der Immenstädter Industrialisierungsphase offensichtlich bis in die Gegenwart nachwirken. Auch aus diesem Grund macht die Beschäftigung mit der angerissenen Thematik Sinn, um gefestigte Strukturen kleiner Räume nicht nur historisch, sondern auch aktuell zu verstehen. Die zeitlichen Rhythmen und Zeitordnungen sind dabei eines von vielen Mosaiksteinchen, die deutlich machen, wie der Mikrokosmos Immenstadt ›tickt‹. 31 StadtA Imm, V 14-005. 32 Vgl. S IEGBERT E CKEL , Immenstädter Miniaturen. Geschichte und Geschichtle aus dem Städtle, Immenstadt 2009, S. 78f.; D ERS ., Der Kampffelsen. Erinnerung an eine Immenstädter Besonderheit, in: Oberallgäuer Erzähler 97 (1997), S. 8. <?page no="252"?> III. Kontroverse Zeiten <?page no="254"?> 253 W OLFGANG P ETZ Doppelt Calender halten. Kalenderreform und Konfessionalisierung der Zeit im ländlichen Raum 1. Der Kampf um den rechten Kalender Der neue Kalender begann im oberschwäbischen Laimnau mit Verwirrung und Aufruhr. Das kleine Dorf, unweit der Argen bei Tettnang gelegen, unterstand der Oberherrschaft der Grafen von Montfort, während die niedere Gerichtsbarkeit und das Patronatsrecht beim Lindauer Spital lagen. Am 20. November 1583, einem Mittwoch, drang etwa ein Dutzend bewaffneter Bauern und Bürger aus Tettnang in den Ort ein, angeführt vom Tettnanger Pfarrer Hans Braun und von Montforter Amtspersonen, darunter der Landschreiber Jacob Seydenmayer und der Landwaibel Conrad Widmar. Ihre Absicht war es, die Laimnauer, die noch immer dem alten julianischen Kalender anhingen, mit allem Nachdruck von den Vorzügen des neuen gregorianischen Kalenders zu überzeugen. Den Tag für dieses Unternehmen hatten sie geschickt gewählt. Dem 20. November 1583 alten Stils entsprach nämlich der 30. November nach dem reformierten Kalender; dieser Tag war nach der hergebrachten Zählung ein gewöhnlicher Werktag, nach der neuen aber ein Feiertag, der dem Hl. Andreas gewidmet war. Da der Ortsgeistliche nicht zu Hause war, wandte sich der Trupp dem Mesmerhaus zu. Den Kirchendiener forderte man in barschem Ton auf, zu erklären, […] wie es khomme, daz er heutt trösche, er solle flugs absteen, vnnd die Kirch öffnen, sy wölle[n] im wol ain Feyertag machen, wenn er von khain Feyrtag wißse. Werde er nhun die Kirch öffnen, wol vnnd gutt, wo nicht, so haben sy Strick genug ims zulernen vnnd in mit sich zu füehren. 1 Der ainfaltig Meßmer öffnete widerstandslos das Gotteshaus, und die Männer gingen daran, die überraschten Dorfbewohner von der Arbeit weg und zur Kirche zu treiben. Dort zelebrierten der Tettnanger Pfarrer und ein Mönch den Festgottesdienst. Vor dem Kirchgang habe der Pfarrer der Köchin befohlen, das Essen zu richten. Nach dem Gottesdienst fragte der Landschreiber Seydenmayer seine Leute, wie sich die Dorfbewohner verhalten hätten und bekam zur Antwort, daß einige arbeiten und andere feiern. Darauf hab er zornig geredet, man müeße alle die jenigen, die werken, gen Tettnang füehren vnd sy daz Feyren dermaßen lernen. Soweit kam es nun doch 1 StadtA Lindau, A III 26,5: Bericht über die Vorfälle wegen der Verkündung des neuen Kalenders in Laimnau, datiert 21.11.1583, erstellt durch die Reichsstadt Lindau; daraus auch die folgenden Zitate. <?page no="255"?> W OLF GANG P ETZ 254 nicht. Aber als der Laimnauer Pfarrer endlich erschien, wurde er sogleich gezwungen, den Trupp nach Tettnang zu begleiten. Dort nötigte ihn am folgenden Tag der Oberamtmann zu geloben, daß er hinfort den neuen Kalender observieren werde. Auf den Streit um Laimnau wird an anderer Stelle noch zurückzukommen sein. Die komplexe Gemengelage von kalendarischen, konfessionellen und politischrechtlichen Fragen, die der sogenannte Kalenderstreit des 16. und 17. Jahrhunderts aufwirft, macht es erforderlich, sich zunächst den Grundlagen dieser Auseinandersetzung zuzuwenden, die bis in die Antike zurückreichen. Julius Caesar hatte mit der von ihm verfügten Reform des Kalenders die Länge der Monate neu geordnet und mit der Einfügung von Schaltjahren eine weitgehende Annäherung an das Sonnenjahr ermöglicht. Dennoch blieb eine Diskrepanz von durchschnittlich über elf Minuten pro Jahr, die im 16. Jahrhundert zu einer merklichen und zunehmend kritisierten Abweichung des Kalenderjahrs vom Sonnenstand geführt hatte. Ein weiteres wesentliches Motiv für die Neuordnung war die Absicht, den Ostertermin wieder näher mit der astronomischen Frühlingssonnenwende zu verbinden. Auf Initiative des Konzils von Trient erarbeitete eine päpstliche Kommission einen Vorschlag, den Papst Gregor XIII. 1582 billigte und in der Bulle Inter gravissimas verkündete. Um die aufgelaufene Differenz zwischen dem Sonnenjahr und dem Kalenderdatum auszugleichen, wurden einmalig zehn Tage aus dem Kalender gestrichen. Auf den 4. Oktober 1582 folgte deshalb sogleich der 15. Oktober. Nicht betroffen von der Neuordnung war jedoch der Zyklus der Wochentage, der in gewohnter Weise fortgesetzt wurde. 2 Die Zweckmäßigkeit der kalendarischen Neuordnung steht heute außer Frage. Freilich waren und sind die komplizierten Überlegungen, die der Ausgestaltung der Reform zugrundelagen, von Laien kaum nachvollziehbar. Daß fast alle protestantischen Reichsstände sich gegenüber der gregorianischen Reform, die 1583 von Kaiser Rudolf II. reichsweit für verbindlich erklärt worden war, verweigerten, hat jedoch vielfältige Ursachen, die letztlich nicht in sachlich begründeten Zweifeln am wissenschaftlichen Kern der Umstellung wurzelten, sondern mit konfessionell begründetem Mißtrauen gegenüber dem einseitigen und überstürzten Vorgehen des katholischen Lagers und mit schweren Mängeln in der Kommunikation der Reform zusammenhingen. 2 D IRK S TEINMETZ , Die Gregorianische Kalenderreform von 1583. Korrektur der christlichen Zeitrechnung in der Frühen Neuzeit, Oftersheim 2011, S. 26-130; E DITH K OLLER , Kalenderreform, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, hg. von F RIEDRICH J ÄGER , Stuttgart 2007, Sp. 286-290. <?page no="256"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 255 Abb. 1: Der Kalender des Memminger Stadtarztes und Polyhistors Christoph Schorer auf das Jahr 1663 weist die gebräuchliche Dreiteilung auf: links das an die gregorianische Reform angepaßte Kalendarium, rechts die Datierung nach dem alten Kalender, in den mittleren Spalten Angaben zu astronomischen Konstellationen, zu Lostagen und Aderlaßterminen. <?page no="257"?> W OLF GANG P ETZ 256 Festzuhalten bleibt hier nur die Tatsache, daß von nun an für mehr als ein Jahrhundert im Reich zwei unterschiedliche Systeme Verwendung fanden und für die Protestanten das Festhalten am alten julianischen Kalender ein wesentlicher Bestandteil konfessioneller Identität wurde. 3 Um die praktischen Folgen dieser Spaltung für das Alltagsleben einzuschätzen, ist es erforderlich, sich mit den wichtigsten Änderungen zu befassen. Diese betreffen vor allem zwei Bereiche. Die erste Korrektur galt dem kalendarischen Tagesdatum. So verschoben sich durch die Reform sämtliche nicht beweglichen Festtage des Jahres, die Gedenktage der Heiligen genauso wie das Weihnachtsfest. Die zweite Änderung betraf den Ostertermin. Dieser war abhängig vom kalendarischen Frühlingsbeginn, der kirchlicherseits auf den 21. März fixiert war, ein Datum, das nun in der Christenheit mit zehn Tagen Unterschied begangen wurde. Ostern wurde - und wird - traditionell auf den ersten Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond gelegt. Von der Osterberechnung abhängig waren fast alle beweglichen Festtage, so etwa Christi Himmelfahrt oder Pfingsten. Die Reform konnte eine Differenz von bis zu fünf Wochen zwischen dem julianischen und dem gregorianischen Ostertermin nach sich ziehen. Es waren aber auch übereinstimmende Termine möglich, wie das beispielsweise zwischen 1584 und 1599 insgesamt fünf Mal der Fall war. Für das Zusammenleben der Konfessionen zogen die Unterschiede in der Ordnung des Kirchenjahres gravierende Folgen nach sich. Die dadurch entstandenen Divergenzen waren zudem unterlegt von Veränderungen, die sich bereits vor 1582/ 83 durch die Ausbildung konfessionsspezifischer Festkalender ergaben. Vor allem hatten die Protestanten eine ganze Reihe von etablierten Feiertagen aufgegeben, weil, wie es beispielsweise in der Memminger Kirchenordnung von 1569 zu lesen ist, vile der feirtägen im babstum zu schweren, gefarlichen mißbrauch geraten in dem, das sie zu viler abgötterei und aberglauben ursach und anlas geben und von dem maisten tail zu fressen, saufen und anderer üppigkait seind angewendet worden. 4 Sieht man von den stets am Sonntag begangenen Festen Ostern und Pfingsten ab, so wurden in der Reichstadt Memmingen im letzten Drittel des 16. Jahrhunderts nur noch 18 Feiertage gehalten, die nicht an einen Sonntag gebunden waren. 5 Zur selben Zeit gab es in der 3 D. S TEINMETZ , Kalenderreform (Anm. 2), S. 148-214; E DITH K OLLER , Die Suche nach der richtigen Zeit - Die Auseinandersetzung um die Autorisierung der Gregorianischen Kalenderreform im Alten Reich, in: A RNDT B RENDECKE / R ALF -P ETER F UCHS / E DITH K OLLER (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung und Autorität 10), Münster-Berlin 2007, S. 233-255, hier 238-242. 4 Zitiert nach E MIL S EHLING (Hg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 12: Bayern, Teil II: Schwaben, Tübingen 1963, S. 262. 5 Nach der Kirchenordnung von 1569: Geburt Christi (25.12.), Stephanus (26.12.), Beschneidung Christi (1.1.), Epiphanias (6.1.), Reinigung Mariae (2.2.), Matthias (24.2.), Mariae Verkündigung (15.3.), Philippus und Jakobus (3.5.), Johannes der Täufer (24.6.), <?page no="258"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 257 Diözese Augsburg doppelt so viele verpflichtende Feiertage. 6 Obrigkeiten beider Konfession gemeinsam war die Tendenz zur Differenzierung und Verschriftlichung von Vorschriften bezüglich der Feiertage im Sinne von guter Policey, die ihren Niederschlag in zahlreichen, häufig auch gedruckten Mandaten fand. Sie ist im größeren Zusammenhang einer verstärkten Tendenz zur »temporalen Normierung« zu sehen, die ein überregionales Phänomen war, örtlich aber auch im Kontext einer Bekämpfung von Kryptoprotestanten und religiösen Abweichlern wie etwa von Schwenkfeldianern und Täufern erfolgte. 7 Konfliktpotential war hier also bereits vor der Kalenderreform gegeben, allerdings mußte sich dieses erheblich vergrößern, wenn die Festlegung auch bei den verbliebenen gemeinsamen Feiertagen unterschiedlich gehandhabt wurde. Betroffen von den daraus resultierenden Auseinandersetzungen um die kalendarische Ordnung waren in erster Linie die bikonfessionellen Städte. In Augsburg hatte der mehrheitlich katholische Rat sich bereits im Januar 1583 für die Annahme des neuen Kalenders entschieden. Nach schweren Kämpfen innerhalb der Bürgerschaft gelang es erst 1591, zu einem mehrheitlich tragbaren Kompromiß zu gelan- Petrus und Paulus (29.6.), Jakobus d. Ä. (25.7.), Bartholomäus (24.8.), Matthäus (21.9.), Michaelis (29.9.), Simon und Juda (28.10.), Andreas (30.11.), Thomas (21.12.) sowie als beweglicher Feiertag Christi Himmelfahrt. Hinzu kamen die Sonntagsfeste Ostern und Pfingsten. Die Unterschiede in den Feiertagsregelungen der evangelischen Gemeinden waren im 16. Jahrhundert beträchtlich; E. S EHLING (Hg.), Kirchenordnungen (Anm. 4), S. 262f. 6 Nach der Diözesanordnung von 1567 zusätzlich (ohne Sonntagsfeste): Georg (24.3.), Ulrich (4.7.), Maria Magdalena (22.7.), Afra (7.8.), Laurentius (10.8.), Mariae Himmelfahrt (15.8.), Mariae Geburt (8.9.), Allerheiligen (1.11.), Martin (11.11.), Katharina (25.11.), Nikolaus (6.12.), Johannes Evangelist (27.12.), Fest der Unschuldigen Kinder (28.12.) sowie die Montage und Dienstage nach Ostern und Pfingsten, außerdem Fronleichnam; J OHANN F RIEDRICH S CHANNAT / J OSEPH H ARTZHEIM / H ERMANN S CHOLL (Hg.), Concilia Germaniae, Bd. 7: Ab Anno MDLXIV ad MDLXXXIX, Straßburg 1767, S. 157. 7 Vgl. dazu K ARL H ÄRTER , Zeitordnungen und »Zeitverbrechen«: Reglementierung, Disziplinierung und Fragmentierung von Zeit in der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung, in: A. B RENDECKE / R.-P. F UCHS / E. K OLLER (Hg.), Autorität der Zeit (Anm. 3), S. 187-232, hier 188, 201. Die Normierungsintensität hatte in Bezug auf Sonn- und Feiertage bereits in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt erreicht. Beispiele aus dem oberschwäbischen Raum bringt u. a. W OLFGANG W ÜST (Hg.), Die »gute« Policey im Schwäbischen Reichskreis, unter besonderer Berücksichtigung Bayerisch-Schwabens (Die »gute« Policey im Reichskreis 1), Berlin 2001, S. 79 (Reichsstadt Augsburg 1537), 278f. (Hochstift Augsburg 1606), 342f. (Fürststift Kempten 1562), 418f. (Markgrafschaft Burgau 1597). Zu konfessionellen Unterströmungen im Allgäu in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vgl. F RANZ L UDWIG B AUMANN , Geschichte des Allgäus, Bd. 3, Kempten 1895, S. 404-410. <?page no="259"?> W OLF GANG P ETZ 258 gen. 8 Weitaus weniger spektakulär verlief der Kalenderstreit in anderen Reichsstädten ohne eindeutige konfessionelle Ausrichtung. Ravensburg, Kaufbeuren, Biberach und Leutkirch schwenkten mit mehr oder weniger großer Verzögerung bis 1604 auf den neuen Kalender ein. 9 Unter den oberschwäbischen Reichsstädten waren es letztlich nur diejenigen, die den Konfessionalisierungsprozeß am weitesten im Sinne der Reformation vorangetrieben hatten, die dem julianischen Kalender auf Dauer die Treue hielten. Lindau, Isny, Memmingen, Kempten und Ulm verweigerten sich standhaft der Umstellung, die nicht nur Ulm als ain päbstisch Werckh betrachtete. 10 Der Verlauf des Kalenderstreits in den bikonfessionellen Reichsstädten kann als vergleichsweise gut erforscht gelten. Die folgenden Ausführungen wenden sich 8 Augsburg gilt der Forschung als ›locus classicus‹ des Kalenderstreits; an dieser Stelle sei nur auf einige neuere Publikationen hingewiesen: R EGINA D AUSER , Teglich neue lermen und uffrhur. Korrespondenz zum Augsburger Kalenderstreit zwischen Agitation und Befriedung, in: Jahrbuch des Historischen Vereins für Dillingen 108 (2007), S. 89-108; S ILVIA S ERENA T SCHOPP , Konfessionelle Konflikte im Spiegel publizistischer Medien - der Augsburger Kalenderstreit, in: C ARL A. H OFFMANN u. a. (Hg.), Als Frieden möglich war. 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden (Begleitband zur Ausstellung im Maximilianmuseum Augsburg), Regensburg 2005, S. 243-252; H ORST J ESSE , Die Gregorianische Kalenderreform von 1582 in Augsburg, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte e. V. 34 (2005), S. 81-108; W OLFGANG W ALLENTA , Der Augsburger Kalenderstreit von 1583/ 84. Ökonomische, politische und konfessionelle Gründe, in: M ARKWART H ERZOG (Hg.), Der Streit um die Zeit. Zeitmessung - Kalenderreform - Gegenzeit - Endzeit (Irseer Dialoge 5), Stuttgart 2002, S. 125-138; B ERND R OECK , Eine Stadt in Krieg und Frieden. Studien zur Geschichte der Reichsstadt Augsburg zwischen Kalenderstreit und Parität (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 37), Bd. 1, Göttingen 1989, S. 125-188; P AUL W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648 (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte 111), Wiesbaden 1983, S. 360-375. 9 Ravensburg im Dezember 1583, Leutkirch im Dezember 1603, Biberach im Februar 1603 (katholischer Bevölkerungsteil) bzw. November 1604 (evangelischer Bevölkerungsteil) und Kaufbeuren im April 1604; D. S TEINMETZ , Kalenderreform (Anm. 2), S. 210-214; S TEFAN E HRENPREIS , Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionspolitik. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576-1612 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 72), Göttingen 2006, S. 213f. (zu Kaufbeuren); E MIL H ÖSCH , Der Leutkircher Kalenderstreit 1583 bis 1603. Ein frühes Beispiel für erfolgreichen Wirtschaftsboykott, in: Im Oberland 4 (1993) Heft 1, S. 22-29; P. W ARMBRUNN , Zwei Konfessionen (Anm. 8), S. 380-383; Karl A LT , Reformation und Gegenreformation in der freien Reichsstadt Kaufbeuren (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 15), München 1932, S. 100-110. 10 StadtA Ulm, Reichsstadt Ulm A 1203, Nr. 35: Schreiben Ulms vom 11.1.1584 an den Pfalzgrafen Johann. <?page no="260"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 259 deshalb einem weniger bekannten Thema zu, nämlich jenen Konflikten, die aus dem Zusammenleben unterschiedlicher Kalenderkulturen im ländlichen Raum und an der Schnittstelle zwischen Stadt und Land entstanden. Dabei sollen vor allem drei Themenfelder ausgeleuchtet werden: zum ersten Streitigkeiten um die Feldarbeit an Feiertagen, zum zweiten Auseinandersetzungen um die Terminierung von Wochenmärkten und zum dritten Konsequenzen der kalendarischen Reform für das bäuerliche Jahr, exemplifiziert an einem bemerkenswerten Prozeß, ausgetragen zwischen zwei katholischen Herrschaften. 2. Konflikte über die Arbeit an Feiertagen Das Thema der Feiertagsstreitigkeiten führt zurück zu den Geschehnissen in Laimnau. Welche Ursachen waren maßgeblich, daß gerade hier die Auseinandersetzung um den ›richtigen‹ Kalender so erbittert ausgetragen wurde? Die Hintergründe verweisen auf einen herrschaftsgeschichtlichen und einen konfessionellen Aspekt, die letztlich beide miteinander verwoben waren. Die evangelische Reichsstadt hatte seit den Dreißigerjahren des 16. Jahrhunderts versucht, über den Hebel des Patronatsrechts in Laimnau die Lehre Luthers einzuführen. Dabei stieß sie aber auf den entschiedenen Widerstand der katholischen Montforter, die sich auf ihre hohe Obrigkeit beriefen. Die Pfleger des Spitals hatten noch 1580 einen Vorstoß unternommen, den neu ernannten Pfarrer Jakob Weiß auf die Reformation zu verpflichten. 11 Auch die Sympathien der Dorfbevölkerung scheinen in den Achtzigerjahren mehrheitlich der Sache der Reformation gegolten zu haben; jedenfalls wurde von Montforter Seite unterstellt, man spüre wohl, daz wann es ahn den Laymnauischen Pauren stünde, daz sy die Priester vil lieber zu tod schliegen. 12 Die Zuspitzung des Konflikts am 20./ 30. November 1583 erfolgte für keine der beiden Seiten überraschend. Die Stadt forderte bereits in einem Schreiben vom 9. November (alten Stils), das vermutlich an Amtspersonen und Geistliche im Umland gerichtet war, diese auf, nicht allein die Vnderthonn, zu gehorsamer Observanz deß alten Calenders zubeschayden, sondern auch vff ohnverhofftes des Gräflichen Oberamts oder anderer Leut Newen Calenders Eintringen denselben newen Calender weder vff den Canzlen zupublicieren noch auch anderswo anhefften zulassen. Fünf Tage später erging von der Stadt ein ausdrücklicher Befehl an den Pfarrer von Laimnau, den neuen Kalender weder zu publizieren noch einzuführen. Die gegnerische Partei hatte zu dieser Zeit offenbar bereits eigene Vorkehrungen getroffen. Am 10./ 20. November verkündeten die Oberamtleute 11 B ERNHARD Z ELLER , Das Heilig-Geist-Spital zu Lindau im Bodensee von seinen Anfängen bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts (Schwäbische Geschichtsquellen und Forschungen 4), Lindau 1952, S. 205f. 12 StadtA Lindau, A III 26,5: Bericht vom 21.11.1583. <?page no="261"?> W OLF GANG P ETZ 260 der Herrschaften Tettnang und Argen die Einführung des neuen Kalenders. Lindau reagierte mit Empörung und drohte, Aktionen, die auf eine Beeinträchtigung ihrer niedergerichtlichen Obrigkeit abzielten, nicht zu dulden. Es sei nämlich so, daß diß Calender reformieren khain sollich actus [sei], welcher der Hohenobrigkhytt anhhengig. 13 In der Antwort verband Montfort jedoch die Entscheidung über den Kalender mit der Konfessionsfrage. Was den Kalender betraf, so handele es sich um ain Religionssachen, worüber die Lindauer Herren weeder zueschaffen, noch zugepieten Fueg noch Macht haben. Es würde überdies zu grosser Confusion politischen Weesens raichen, wan ains thails Vnderthonen in der monndtfordtischen Oberkhait auf ainen Tag feiren, der ander Thail arbaiten sollte. 14 Es scheint der Reichsstadt bald klar geworden zu sein, daß eine Klage vor dem Reichsgericht wenig Aussicht auf Erfolg haben würde. Zwei Jahre nach dem Vorfall des Andreastages 1583 mußte sie auch den evangelisch ausgerichteten Pfarrer abziehen. Bis zum Ende des Reiches blieb Laimnau zwar unter spitalischer Niedergerichtsbarkeit, mußte sich aber konfessionell und kalendarisch nach Montfort bzw. Österreich hin ausrichten. 15 Die Auseinandersetzungen um Laimnau waren kein Einzelfall. Konflikte um das feiertägliche Arbeiten an der Konfessionsgrenze lassen sich auch für das evangelische Isny nachweisen. Die kleine Reichsstadt besaß keine Herrschaftsrechte im Umland, was das Festhalten am julianischen Kalender merklich erschwerte; zudem befand sich innerhalb der Friedsäulen das Kloster St. Georg. 1620 beschwerte sich der Verwalter der die Reichsstadt fast vollständig einschließenden Herrschaft Trauchburg beim Stadtammann, weil Bürger an den Feyrtagen nach dem newen Calender außerhalb der Stadt mit Klebruten auf die Vogeljagd gingen und Bleicher ihre Arbeit verrichteten. 16 In unmittelbarem Umfeld der Bleiche war die reichsstädtische Gerberwalke ein neuralgischer Punkt, der wiederholt zu Streitigkeiten Anlaß gab. Im Kern ging es dabei freilich weniger um Angelegenheiten des Kalenders, sondern um einen Dissens in Territorialfragen, denn offenbar war die Grenzziehung in diesem Bereich nicht eindeutig. 1741 kam es deshalb zu einem Vergleichsrezeß. Zu Auseinandersetzungen führte immer wieder auch die Feldarbeit von Bürgern außerhalb des reichsstädtischen Gebiets an katholischen Feiertagen. 13 StadtA Lindau, A III 26,5: Schreiben der Stadt Lindau vom 9.11.1583 an das Oberamt Tettnang. 14 StadtA Lindau, A III 26,5: Schreiben der Montforter Oberamtleute vom 13./ 23.11.1583. 15 Die Pfleger des Spitals mußten 1585 endgültig nachgeben und anerkennen, daß Religionsangelegenheiten in die Befugnisse der hohen Obrigkeit fielen. Pfarrer Weiß wurde versetzt; B. Z ELLER , Heilig-Geist-Spital (Anm. 11), S. 205f. 16 StadtA Isny, Fasz. 571. <?page no="262"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 261 Abb. 2: Ausschnitt aus einem 1596 im Zusammenhang mit einem Prozeß vor dem Reichskammergericht entstandenen Plan, gezeichnet von Michael Mayer. Zu erkennen ist in der oberen Hälfte die an der Iller gelegene Reichsstadt Kempten, deren Territorium mit numerierten Friedsäulen markiert ist, in der unteren Hälfte der Bezirk des Fürststifts. Der Ort, an dem der Bürger Martin Mayrock am gebannten Feiertag gearbeitet hat, ist auf dem Plan rechts oben mit dem Buchstaben ›A‹ gekennzeichnet. <?page no="263"?> W OLF GANG P ETZ 262 Konfessionelle Animositäten werden spürbar, wenn die trauchburgische Seite 1670 unterstellte, daß die Bürger mit allem Fleiß vor katholischen Feiertagen mähten, um dann an den folgenden Festtagen heuen zu können, uns darmit gleichsamb zu illudieren [verspotten]. 17 Einem grundsätzlich ähnlich gelagerten Muster folgten Kontroversen, mit denen sich Memmingen befassen mußte. Der Kontrahent, die Landvogtei Oberschwaben, nutzte seine Position erfolgreich, um der Ausbreitung der Augsburger Konfession im Umland der Reichsstadt entgegenzutreten, und ging mit großer Vehemenz gegen Feiertagsfrevler vor. 18 Noch 1654 legte die Landvogtei der Stadt eine Liste mit 16 Einzelpositionen vor und forderte den Magistrat zur Stellung der Übertreter auf. Die meisten Fälle betrafen Untertanen der Stadt oder des Spitals in den Dörfern des Umlandes, die an katholischen Feiertagen bzw. an allgemeinen Feiertagen nach dem neuen Kalender außerhalb des Dorfetters gearbeitet hatten. Häufig handelte es sich um Erntearbeiten, deren Verschiebung mit erheblichen Risiken behaftet gewesen wäre; gelegentlich erfahren wir, daß eine erforderliche Genehmigung dazu von der Kartause Buxheim verweigert worden war. 19 1652 klagte die Reichsstadt darüber, daß diese Untertanen gezwungen seien, deshalb doppelt Calender zu halten, und bot der Landvogtei die Ablösung ihrer Rechte im Umland gegen eine einmalige Zahlung an. 20 Dazu kam es jedoch erst 1749, wobei in dieser Übereinkunft der Erhalt der katholischen Religion und die ausschließlich für evangelische Untertanen geltende Berechtigung, an katholischen Feiertagen zu arbeiten, festgeschrieben wurden. 21 Während die Auseinandersetzungen im Umland von Isny und Memmingen sich letztlich im Austausch von diplomatischen Noten erschöpften, wurde ein Konflikt zwischen der evangelischen Reichsstadt Kempten und dem die Stadt umgebenden Fürststift Kempten bis vor dem Reichskammergericht in Speyer ausgetragen. Eigentlicher Gegenstand waren bürgerliche Besitzungen, die als sogenannte Kauf- 17 StadtA Isny, Fasz. 1008: Schreiben des Grafen Ernst an die Reichsstadt Isny vom 7.7.1670. 18 Einzelne Beispiele aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bei P ETER B LICKLE , Memmingen (HAB S 4), München 1967, S. 271f. 19 StaatsA Augsburg, Reichsstadt Memmingen Akten 16: Schreiben der Landvogtei Schwaben an die Reichsstadt Memmingen vom 19.9.1654. Zur Rechtsposition der Landvogtei vgl. auch StaatsA Augsburg, Reichsstadt Memmingen Akten 15. 20 StaatsA Augsburg, Reichsstadt Memmingen Akten 64: Schreiben der Reichsstadt Memmingen an die Landvogtei vom 18.12.1652. Die Klagen mit ähnlicher Begründung bereits in StaatsA Augsburg, Reichsstadt Memmingen Akten 126: Schreiben vom 21.5.1649. 21 P. B LICKLE , Memmingen (Anm. 18), S. 273. <?page no="264"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 263 rechtsgüter außerhalb der städtischen Friedsäulen im Stiftsland lagen. 22 In ihrer Klage verwies die Reichsstadt unter anderem auf die in ihren Augen unrechtmäßige Gefangennahme zweier reichsstädtischer Bürger durch das Stift. Martin Mayrock und Daniel Neidegg waren am 29. Juni 1585 (neuen Kalenders), dem Tag, auf welchen das Fest Petrus und Paulus fällt, auf ihren Wiesen vor der Stadt der Heuarbeit nachgegangen - wieder alten Brauch vnnd Herkommen, andern zum ärgerlichen vnd nachredlichen Exempel, wie es die stiftische Seite sah. Auf eine Abmahnung hin ließen Mayrock und Neidegg allerhandt vnbescheidener grober Lästerreden verlauten; insbesondere habe Neidegg gesagt: Es thue khain guett, man heuethe dann Abbt und München zum Laden hinauß. 23 Der klagenden Partei ging es freilich nicht um den Einzelfall - denen andere, ähnlich gelagerte, in den nächsten Jahren folgen sollten -, sondern um Grundsätzliches. 24 Den Standpunkt der Reichsstadt formulierte dabei recht treffend ein reichsstädtischer Zeuge. Vor dem Kalenderstreit, so glaubte er zu wissen, habe sich niemals ain Prelath des Stifts Kempten […] des Gerichtszwangs, Gebott, vnnd Verbott auf den kemptischen Burgers Güettern, außerhalb den Friedtsäulen gelegen, jemahln angemasst. 25 Konträr war die Auffassung des Fürststifts, wonach alle Kaufrechtsgüter der fürstlichen hohen und niederen Gerichtsbarkeit und damit auch der entsprechenden Ordnung der Feiertage unterworfen seien. 26 Nur in einem Punkt waren sich fast alle Zeugen einig: Die verschärfte Überwachung der Feiertagsgebote stand in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Kalenderstreit. Denn, wie sich ein stiftischer Zeuge erinnerte: Wie man den alten Calender noch gehalten, seye bißweilen wol vergonnet gewäsen, […] an den gebanten Feyrtägen, wann es die Notturft erfordert, Hew vnd andere Frücht einzuheimbsen, vnd dergleich Fäldt Arbait zuverrichtten, nach dem aber der newe Calender 22 Zu den Kaufrechtsgütern vgl. W OLFGANG P ETZ , Zweimal Kempten - Geschichte einer Doppelstadt (1694-1836) (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 54), München 1998, S. 314f.; G ERHARD I MMLER , Gerichtsbarkeit und Ämterbesetzung in Stadt und Stift Kempten zwischen 1460 und 1525. Eine Auseinandersetzung um Territorialisierung, Landeshoheit und Einflußsphären in Schwaben, in: ZBLG 58 (1995), 509-552, hier 541f.; P ETER B LICKLE , Kempten (HAB S 6), München 1968, S. 160-163. 23 Zitate nach BayHStA, Reichskammergericht 7567, fol. 30vf. 24 Vgl. dazu auch die ähnlich gelagerten Streitfälle in einem weiteren Prozeß der Reichsstadt gegen das Fürststift Kempten, der 1599 eingeleitet wurde; BayHStA, Reichskammergericht 7570. 25 BayHStA, Reichskammergericht 7567, fol. 169vf. 26 Bereits kurz nach Ausbruch des Kalenderstreits hatte der stiftische Hofrat festgestellt, daß die Verfolgung von Feiertagsfrevlern nach dem alten Kalender durch die Reichsstadt das Fürststift ermächtige, in ihrer hohen vnd nideren Oberkheit die Einhaltung des neuen Kalenders einzufordern; StaatsA Augsburg, Fürststift Kempten Regierung B 12: Hofratsprotokoll vom 3.2.1584, fol. 48r. <?page no="265"?> W OLF GANG P ETZ 264 angefangen, haben es Ihro fürstliche Gnaden nit mehr gestatten wöllen, sundern an die von Kempten begerdt, das Jedthail seine Feurtäg, wie sich gebüre, halten vndt feyren solle. 27 Die Eskalation der Streitigkeiten fällt aber auch in eine Phase, in der sich die Beziehungen zwischen Reichsstadt und Fürststift ganz allgemein deutlich verschlechterten, wobei die Ursachen ein komplexes Bündel bildeten und konfessionelle Aspekte wohl eher eine untergeordnete Rolle spielten. 28 In einem Vertrag von 1601 gelang es, einen Teil dieser Konfliktfelder durch die Vermittlung des Reichskammergerichts einstweilen zu regulieren, ohne sie damit grundsätzlich aus dem Weg zu schaffen. 29 Es würde freilich die Tatsachen verzerren, wenn nach diesem Blick auf Feiertagsstreitigkeiten der Eindruck entstünde, daß dabei stets die protestantische Seite das Opfer katholischer Repressionen war. Im Gegenteil: Wo immer sich die Gelegenheit bot, drang diese darauf, daß sich die Gegenseite wechelseitig der Ordnung des alten Kalenders zu unterwerfen habe. Nicht viel anders als die Grafschaft Montfort gegenüber den Lindauer Spitalbauern verhielt sich die Reichsstadt Lindau selbst, wenn sie unter Berufung auf ihre Hoch- und Niedergerichtsbarkeit im 16. und 17. Jahrhundert wiederholt und mit allem Nachdruck gegen Arbeiten an protestantischen Feiertagen auf Besitzungen des Damenstifts einschritt. 30 Dabei nützte es der Äbtissin des Stifts Lindau offenbar wenig, daß sie 1593/ 94 sogar vor dem Reichshofrat beantragt hatte, die Verwendung des gregorianischen Kalenders auf den Stiftsgütern nicht weiter zu behindern, und es ihr auch gelungen war, ein kaiserliches Mandat gegen die Reichsstadt Lindau in diesem Sinne zu erwirken. 31 27 Zitat nach BayHStA, Reichskammergericht 7567, fol. 112r. 28 Eine erhebliche Mitverantwortung wird dem Fürstabt Albrecht von Hohenegg (reg. 1584-1587) anzulasten sein; über ihn G ERHARD I MMLER , Renaissancehof und Benediktinerabtei. Eine kleine Geschichte des Fürststift Kemptens zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, Kempten 1993, S. 29-33. Vgl. dazu auch den Streit um das Papiererhandwerk zwischen Stift und Stadt, der gleichfalls vor dem Reichskammergericht ausgetragen wurde, sowie die Proteste der Stadt gegen die wirtschaftlichen Aktivitäten des Stifts innerhalb der städtischen Bannmeile; W OLFGANG P ETZ , Ein Handwerk zwischen Stadt und Land: Das Kemptener Papierergewerbe vor dem Dreißigjährigen Krieg, in: B IRGIT K ATA u. a. (Hg.), »Mehr als 1000 Jahre …«. Das Stift Kempten zwischen Gründung und Auflassung 752 bis 1802 (Allgäuer Forschungen zur Geschichte und Archäologie 1), Friedberg 2006, S. 237-300, hier 282-286; W. P ETZ , Zweimal Kempten (Anm. 22), S. 26-29. 29 P. B LICKLE , Kempten (Anm. 22), S. 162f. 30 Zu derartigen Vorfällen kam es beispielsweise 1593, 1610 und 1658; StadtA Lindau, A III 64,13. Zu den vier Kellhöfen des Damenstifts vgl. M ANFRED O TT , Lindau (HAB S 4), München 1968, S. 132-146. 31 W OLFGANG S ELLERT (Hg.)/ E VA O RTLIEB (Bearb.), Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats. Serie I: Alte Prager Akten, Bd. 3, Berlin 2012, S. 284, Nr. 2694; zu den Vorfällen des Jahres 1593, die dazu Anlaß gaben, vgl. auch: Extorquierte Apologia Eines Gefürsten [! ] <?page no="266"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 265 Daß es Lindauer Bürger, die über Besitzungen in benachbarten katholischen Herrschaften verfügten, schwer falle, solcher Güether halben zweifache Feürtag mit der Handarbeit, zuhalten, räumte die Stadt Lindau 1640 in einem Schreiben an die Äbtissin des Damenstifts durchaus ein. Doch entspreche dies eben dem Religionsfrieden vnd allgemeiner praxi im Reich - weshalb man ein reziprokes Verhalten auch von stiftischen Bediensteten einfordern könne und müsse. 32 Ähnlich wie Lindau gegenüber dem Damenstift bemühte sich auch die Reichsstadt Ulm, die Deutschordenskommende und die Klöster Elchingen und Söflingen mit ihrem Streubesitz auf die Einhaltung des alten Kalenders zu verpflichten. 33 Die Reichsstadt Isny forderte im 17. Jahrhundert vom Kloster, daß es sich an den als Feiertag eingehaltenen Montagen nach Ostern und Pfingsten der Durchfahrt von Heu, Holz und Dung durch die Stadttore zu enthalten habe. 34 Auch der Inhaber der protestantischen Herrschaft Burtenbach pochte auf seine Rechte, wenn Untertanen des Klosters Wettenhausen an einem evangelischen Feiertag auf Burtenbacher Gebiet Arbeiten ausführten. 35 Und als sich die Memminger Obrigkeit unterworfenen Katholiken zu Woringen 1583 beim Rat vorsichtig erkundigten, was der von ihrem katholischen Pfarrer verkündete neue Kalender in Bezug auf die Feiertage bedeute, wurde ihnen kühl geantwortet: […] weyl Ir Pfarrer sollichs in seiner Kirchen, als ain Kirchensach verkhündt, well man inen nitt Ordung geben, ob sy nach dem newen Calender feyren oder nitt, aber wann zu Woringen nach dem alt Calender von Vnderthonen gefeyret, werde man inen zu arbaytten nitt gestatten, vnd sich versehen, daz sy sich wie ander Gemeindts Leutt halten sollen. 36 In Woringen wie andernorts in Oberschwaben war die Entscheidung über den Kalender letztlich eng mit den Besonderheiten einer unabgeschlossenen Territorialisierung verbunden. Überall dort, wo Ortsherrschaft und Hochgerichtsbarkeit bei konfessionsverschiedenen Obrigkeiten lagen, wurde die Kalenderfrage zum Prüfstein für die Ausbildung von Landeshoheit. Wie im Falle Woringens blieb den Untertanen in konfessioneller Grenzlage häufig nichts anderes übrig, als doppelt Frey-Weltlich-Adelichen, IX. hundert Jahre allbereith in der Insul Lindau stehenden Reichs-Stifft gleichen Namens […], o. O. 1723, S. 36-38. 32 StadtA Lindau, A III 64,13: Schreiben Lindaus an die Äbtissin des Damenstifts vom 26.6.1640. 33 StadtA Ulm, Reichsstadt Ulm A 1203, A 1205. 34 StadtA Isny, Fasz. 482. Auch Leutkirch verbot bis zur Aufgabe des julianischen Kalenders den Transport von Sägeblöcken und Ackersteinen durch die Stadt an evangelischen Festtagen; E. H ÖSCH , Kalenderstreit (Anm. 9), S. 23. 35 D IETMAR S CHIERSNER , Politik, Konfession und Kommunikation. Studien zur katholischen Konfessionalisierung der Markgrafschaft Burgau (Colloquia Augustana 19), Berlin 2005, S. 222. 36 StadtA Memmingen, Ratsprotokoll vom 9.12.1583, fol. 57vf. <?page no="267"?> W OLF GANG P ETZ 266 Calender zu halten, und Bürger evangelischer Reichsstädte, wie etwa Isnys, Leutkirchs oder Kemptens, die ihre Felder außerhalb der städtischen Friedsäulen bestellen wollten, mußten genauso beederlay Fest vnnd Feirtag, newen vnnd alten Calenders beachten. 37 Daß darüber hinaus gelegentlich versucht wurde, die Feiertagsfrage im Sinne von Rekatholisierungsbestrebungen zu instrumentalisieren, zeigt nicht nur der Fall Laimnau, sondern kann auch für die Herrschaft Burtenbach nachgewiesen werden, der als evangelische Exklave innerhalb der Markgrafschaft Burgau eine besondere Bedeutung zukam. 38 3. Die städtischen Märkte Mit der durch den Kalenderstreit forcierten Feiertagsfrage eng verbunden war das Problem des Besuchs der städtischen Wochenmärkte durch die Bevölkerung des katholischen Umlands. Für die Annahme des gregorianischen Kalenders schon zu Jahresbeginn 1583 durch den Augsburger Rat war dieser Gesichtspunkt sogar eines der zentralen Argumente. Die Angleichung an die bayerische bzw. hochstiftische Nachbarschaft sollte eine Schwächung der zentralörtlichen Funktionen der Stadt verhindern. Grundsätzlich stellte sich dieses Problem auch für andere oberschwäbische Reichsstädte, die sich in dieser Frage abzustimmen suchten. Über ihre Haltung sind wir durch eine Umfrage Biberachs relativ gut informiert, die 1588 erfolgte, mithin zu einem Zeitpunkt, als diese Reichsstadt genauso wie Leutkirch und Kaufbeuren noch am alten Kalender festhielt. Ausführliche Antworten haben sich aus Memmingen, Isny, Lindau, Kempten und Kaufbeuren erhalten. 39 Die Reichsstadt Memmingen verfocht eine pragmatische Linie, wenn evangelische Feiertage mit den traditionellen Marktterminen am Dienstag und Samstag kollidierten. Die Kirchenordnung von 1569 erlaubte zumindest an Aposteltagen eine Verkürzung der Feiertagsruhe auf die Zeit bis zum Ende der vormittäglichen Predigt. 40 Was die katholischen Feste betraf, so hatten zwar die Ortsherren rund um Memmingen, so berichtet der Stadtschreiber Lucas Vöst, ihren Untertanen verboten, an solchen Tagen den Memminger Markt zu besuchen. Der Stadtschreiber 37 Das zweite Zitat aus einem Schreiben Leutkirchs vom 13./ 23.12.1603, in dem die Stadt ihren Schwenk in der Kalenderfrage gegenüber Lindau begründet; StadtA Lindau, A III 64,13. 38 D. S CHIERSNER , Politik (Anm. 35), S. 218f., 450. 39 Kreisarchiv Biberach, D 59. Erhalten sind die eingegangenen Originalschreiben von Memmingen, Kempten und Kempten, außerdem die Zusammenfassung aller Antworten, vermutlich durch den Biberacher Stadtschreiber, die außer den genannten Orten auch eine knappe Darlegung des Standpunkts von Giengen berücksichtigt. Ebenfalls erfragt wurde die Behandlung von Ehestreitigkeiten. 40 E. S EHLING (Hg.), Kirchenordnungen (Anm. 4), S. 263. <?page no="268"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 267 stellt allerdings den Erfolg dieser Maßnahme in Frage: Sy sind doch aber, nach vnd nach zu guttem Thayl darvon gefallen, dieweil inen[,] den päpstischen Vnderthonen, selber ettwan gantz beschwerlich fallen wellen vnsern Marckth nit zubesuchen. Memmingen sah sich also in der glücklichen Lage, auf entsprechende Rücksichten verzichten zu können, weil das Umland - so jedenfalls die Einschätzung der Stadt - zu sehr auf den Markt angewiesen war: So hatt es auch vmb vnser Statt ain solliche große Landschafft, so hiesig Marckth besuchen, daz es nitt so gar zuachten, ob schon ettwan ettliche auff den andern Marckttag außbleiben, so khommen sy den nechsten Marckhtag darnach, wie auch vergangenen Zinßtag (da die Papstischen Sant Johannstag gehabtt) von vilen päpstischen Ortten die Vnderthonen alher vff dem Marckthttag khommen vnd man dan nitt vil Abgang gespürt. Die Darstellung des Memminger Stadtschreibers erfährt Unterstützung durch die Überlieferung der angrenzenden Klosterherrschaft Ottobeuren. 41 Hier haben sich in den Straf- und Frevelregistern Aufzeichnungen über die von Untertanen zu begleichenden Bußen erhalten, von denen viele in Beziehung zum unerlaubten Besuch von Wochenmärkten stehen. So wurden beispielsweise in Benningen am 16. März 1620 vier Untertanen abgestraft, weil sie zu Memmingen an St. Simon und Judae Kraut geladen und am anderen Tag nach Kempten geführt hatten, sowie zwei Untertanen, weil sie am Allerheiligentag nach Kempten gefahren waren. In Niederrieden wurden am 17. März desselben Jahres gleich 20 Untertanen, Männer und Frauen, mit Bußgeldern belegt, die alle in Memmingen an Mariae Himmelfahrt und am St. Thomastag, teils vor, teils nach der Kirche, den Markt besucht hatten. 42 Die Auflistung dieser und ähnlicher Beispiele, die sich bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts fortsetzen ließe, macht auch deutlich, daß die Ottobeurer Behörden nicht nur von konfessionellen Motiven getrieben waren, wenn sie gegen den Besuch von fremden Märkten vorgingen. Vielmehr standen diese Bemühungen im Kontext einer Wirtschaftspolitik, die sich hartnäckig darum bemühte, die Untertanen zum Besuch des Ottobeurer Marktes anzuhalten und vor allem gegen zentralörtliche Funktionen von Memmingen, Mindelheim und Babenhausen gerichtet war. 43 Anders als in Memmingen, so fügt der dortige Stadtschreiber seiner Darstellung an, sei es freilich dem Vernehmen nach in Leutkirch, das fast gänzlich von der 41 StaatsA Augsburg, Reichsstift Ottobeuren Lit. 587 I-III. 42 StaatsA Augsburg, Reichsstift Ottobeuren Lit. 587 III, Nr. 29, fol. 26vf., 65r. 43 Vgl. zu den Streitigkeiten zwischen Memmingen und Ottobeuren um neue Märkte auf Ottobeurer Gebiet auch StadtA Memmingen, 040/ 01. Wie wenig erfolgreich das Vorgehen der Ottobeurer Obrigkeit war, wird aus manchen Einträgen in den Frevelregistern ersichtlich. Vgl. dazu beispielsweise die Berichte der Amtsknechte in StaatsA Augsburg, Reichsstift Ottobeuren Lit. 587 III, Nr. 39. <?page no="269"?> W OLF GANG P ETZ 268 Landvogtei umgeben war. Dort würde man in der Terminierung des Marktes (der in Leutkirch normalerweise auf den Montag fiel) auf diesen besonderen Umstand Rücksicht nehmen. 44 Die Leutkircher Verhältnisse ähnelten denen von Isny, wo der Donnerstag der reguläre Markttag war. Hier wie dort pflegte man den Genachpaurten zue Gefallen vnnd der Burgerschafft zue Guetem, wie man in Isny betonte, die Geschäfte auf den vorangegangenen Werktag zu verlegen, wenn auf den eigentlichen Markttag ein evangelischer oder katholischer Feiertag fiel. Auch gegenüber Lindau betrieb Erzherzog Ferdinand II. einige Zeit seine offenkundig konfessionell motivierte Politik und gebot den Vnderthanen, so im Allgäw whonen vnd wochenlich Garn in die Statt zum Wochenmarckht zu fhüren pflägen, bei Strafandrohung, den Lindauer Samstagsmarkt ganz vnd gar zu meiden und ihre Waren stattdessen zum Verkauf nach Bregenz zu tragen. Der Lindauer Stadtschreiber kommentierte dies allerdings mit den Worten: Wölches aber bald nachgelaßen, also daz es widerumb in vorigem Wösen. Ähnlich wie Lindau sah man in Kaufbeuren möglichen Konflikten mit dem Umland mit großer Gelassenheit entgegen. Fiel der Markttag nach dem neuen Kalender auf einen katholischen Feiertag, so galt der Grundsatz […] wers besuechen wöllen, hats mögen thun, wems nit gefallen, der ist aus beliben […]. Es seind auch unßere genachparte Catholischen ihres Verbietens bald müed worden, dann sy der Statt vnd vnserer Märckht nit entperen khunden, laßen jetzt ire Vnderthonen alle Märckht vngescheueht besuechen. Nur an Christi Himmelfahrt und am katholischen Fronleichnamsfest, die beide auf den traditionellen Kaufbeurer Markttag, den Donnerstag, fielen, nahm man insofern auf beide Konfessionen Rücksicht, als in diesen zwei Wochen der Markt auf den Mittwoch gelegt wurde; ansonsten hielt man es ähnlich wie in Memmingen und gestattete alle Handelsgeschäfte nach erfolgter Predigt. Unter territorialen Gesichtspunkten war Kempten von allen Städten, die am alten Kalender festzuhalten beabsichtigten, in einer besonders ungünstigen Position, denn von allen Seiten war es vom Gebiet der Fürstabtei umgeben, mit der man sich seit langer Zeit und aus vielerlei Gründen in einem spannungsreichen Verhältnis befand. Der Bericht des Kemptener Stadtschreibers Bartholomäus Holdenried fiel dennoch recht selbstbewußt aus. Die Untertanen des Fürstabts dürften, wenn ein Feiertag auf den Mittwoch, den gewöhnlichen Markttag, fällt, diesen zwar nicht besuchen, aber trotzdem ändere die Reichsstadt den Termin nicht. Der Markt falle dann zwar geringfueg aus, doch denke man dabei an die Interessen anderer Besucher, vor allem aus dem Rotenfelsischen und dem Hochstiftisch- Augsburgischen. Am folgenden Donnerstag sei es dann so, daß die Untertanen des 44 E. H ÖSCH , Kalenderstreit (Anm. 9), S. 23-25. Ende der Achtzigerjahre scheint es zu einer vorübergehenden Entspannung zwischen der Stadt und der Landvogtei gekommen zu sein. <?page no="270"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 269 Fürstabts das Versäumte nachholten und mit Garn, Schmalz, Eiern usw. in die Stadt kämen, wobei seitens der Stadt bei diesem, der Marktordung eigentlich widersprechenden Treiben, durch die Finger gesehen werde. Der Getreidemarkt bleibe allerdings geschlossen. Umgekehrt achte auch die Reichsstadt auf die Einhaltung ihrer Feiertage, denn als 1588 Weihnachten und Neujahr auf einen Mittwoch fielen, sei öffentlich auf dem Rathaus verkündet worden, daß niemand an diesen beiden Tagen mit Korn, Saltz, Holtz vnnd dergleichen Sachen in die Stadt fahren dürfe, und der Marktbetrieb sei auf den vorangehenden Dienstag gelegt worden. Auch hier läßt sich die Darstellung der Stadt durch einen Perspektivenwechsel ergänzen. 1542 hatte man im Fürststift Kempten den Besuch von Märkten an Feiertagen erlaubt, zwanzig Jahre später war diese Erlaubnis aber wieder zurückgezogen worden. 45 Die Rettenberger Artikel im Hochstift Augsburg sprachen ein ähnliches Verbot aus. 46 Verstöße scheinen auch hier aber häufig vorgekommen zu sein, denn die Rettenberger klagten über unangemessene Bestrafungen von Fuhrleuten, die, wie es der Bischof formulierte, das ganze Jahr über an Sonn- und Feiertagen, selbst an hohen Festtagen unter Versäumung des Gottesdienstes zum Kemptener Markt fahren würden. 47 Die Untertanen rechtfertigten ihr Verhalten damit, daß sie auf den Besuch eben dieses Marktes angewiesen seien, weil es ein armes vhnfruchtbares lanndt sei, vnnd ein jeeder mit hinvnd heerfahren sein nahrung vonn einer wochen zur anndern suechen muesß. Deshalb sei es ihnen unmöglich, den Wochenmarkt zu versäumen, selbst wenn dieser auf einen Feiertag falle oder sogar auf den Tag zuvor, da man die Hin- und Rückfahrt einkalkulieren müsse. 48 Daß es sich dabei nicht um eine bloße Schutzbehauptung handelt, ergibt sich aus der Rolle Kemptens als wirtschaftlicher Zentralort für das obere Illertal. Die Reichsstadt fungierte nicht nur als wichtiger Umschlagplatz für Getreideimporte aus dem Unterland, sondern versorgte über gewerbsmäßige Kemptenführer viele ländliche Haushaltungen bis hinauf nach Oberstdorf mit Brot. 49 45 M ONICA DI M ATTIA , Die Religionsbestimmungen (Artikel 1-5), in: P ETER B LICKLE (Hg.), Gute Policey als Politik im 16. Jahrhundert. Die Entstehung des öffentlichen Raumes in Oberdeutschland, Frankfurt/ Main 2003, S. 162-167, hier 164. 46 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA A 7673: Undatierte Gebotsartikel (wohl um 1600). 47 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA A 2921, fol. 270vf.: Kommentar des Bischofs Heinrich zu den Klagen der Untertanen für den Erzherzog Maximilian von Österreich vom 19.7.1606. 48 Zitat nach P HILIPP D UBACH , Gesetz und Verfassung. Die Anfänge der territorialen Gesetzgebung im Allgäu und im Appenzell im 15. und 16. Jahrhundert, Tübingen 2002, S. 242. 49 W OLFGANG P ETZ , Märkte und Handel im oberen Allgäu, in: O TTO K ETTEMANN (Hg.), »Droben im Allgäu, wo das Brot ein End’ hat«. Zur Kulturgeschichte einer Region (Druck- <?page no="271"?> W OLF GANG P ETZ 270 Die Antworten auf die Biberacher Umfrage machen deutlich, daß die protestantischen Städte ihren Spielraum unterschiedlich einschätzten. Kleinere Märkte mit geringer Reichweite mußten größere Rücksichten nehmen als Orte mit ausgeprägter Zentralität, die Anpassungen an den neuen Kalender verweigerten. Pragmatische Aspekte traten mit der Zeit in den Vordergrund und erleichterten (diesen Schluß läßt das weitgehende Verstummen entsprechender Klagen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu) einen Modus vivendi. In der Regel trafen sich die Kontrahenten im gemeinsamen Interesse an einem funktionierenden wirtschaftlichen Austausch. Speziell für katholische Marktbesucher barg diese Situation freilich auch Risiken, weil die Gefahr von Sanktionen nicht immer leicht einzuschätzen war. 4. Alpabzug und Magnusmarkt im oberen Illertal Zu einem Aspekt des Kalenderstreits, der sich den bisherigen Mustern entzieht, führt der letzte Schwerpunkt. Der Streitfall erscheint auf den ersten Blick eher als lokale Kuriosität. Er hatte aber nicht nur einen langwierigen Prozeß vor dem Reichskammergericht zur Folge, sondern verweist auf Konsequenzen der kalendarischen Umstellung, die gewöhnlich im Schatten der konfessionell geprägten Kontroversen stehen. Daß im Zusammenhang mit der gregorianischen Reform auch in katholischen Regionen die Menschen die Sorge um die Bewahrung der guten Ordnung und die Angst vor einer Verkehrung der Zeit umtrieb, darf als gesichert gelten; 50 daß darüber hinaus auch ganz rationale Gesichtspunkte Vorbehalte gegenüber der Reform schürten, belegen Vorfälle im Oberallgäu. Die Konflikte setzten bereits bald nach der Annahme des neuen Kalenders im Jahr 1583 ein, als die hochstiftischen Untertanen des Tigens Rettenberg ihren Herrn, den Bischof von Augsburg, um die Erlaubnis baten, Vich vnd Roß biß Sant Mangen Tag, dem allten Calender nach, inn Alben zugeen vnd dann den Jarmarckht demselben nach zu Sunthoven zuhallten. 51 Der Hintergrund dieser Bitte erschließt sich erst nach einem Blick auf die landwirtschaftlichen Gepflogenheiten des oberen Illertales. Der genannte Magnustag, begangen am 6. September, hatte für die Bauern nämlich eine besondere Bedeutung: Mit diesem Datum verbunden war der wichtigste Viehmarkt der Region in Sonthofen. Spätestens einen Tag vorher mußten gewöhnlich die Alpen erzeugnisse des Schwäbischen Bauernhofmuseums Illerbeuren 14), Kronburg-Illerbeuren 2000, S. 299-314, 481-485, hier 299f. 50 Vgl. dazu allgemein E. K OLLER , Suche (Anm. 3), S. 237f. 51 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA Akten 6736: Supplik des Tigens Rettenberg an den Bischof vom 3.8.1583. <?page no="272"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 271 geräumt sein. 52 Erst wenn das Vieh wieder im Tal stand und seinen Besitzern zurückgegeben war, konnte der Handel beginnen, der schon im 16. Jahrhundert von großer Bedeutung war. Aufgrund der Kalenderreform kam dieser Termin 1583 um zehn Tage früher als gewohnt zu liegen. Da man in diesem Sommer aufgrund der ungünstigen Witterung die Alpen ohnehin spät bezogen hatte, wäre die Periode der Alpung besonders kurz ausgefallen. 53 Für diesmal gab der Bischof den Wünschen des Tigenausschusses nach. Zwei Jahre später bestand die Obrigkeit aber auf der Einhaltung des Termins nach dem neuen Kalender. Die Folge war, daß nicht nur viele Alphirten gegen diese Anweisung verstießen, sondern beim ausnehmend schlecht besuchten Sonthofener Markt des Jahres 1586 etwa 660 Stück Vieh keine Käufer fanden - und zur größten Verärgerung Augsburgs zum konkurrierenden Immenstädter Jahrmarkt getrieben wurden. 54 Zum besonderen Streitfall wurden jedoch Vorkommnisse um die Alpe Taufersberg. Sie liegt auf etwa 1.700 m im Rappenalptal, einem der Quelltäler der Iller, und ist heute die bedeutendste Hochweide auf Oberstdorfer Gemeindegebiet. Im 16. Jahrhundert waren die Nutzungsrechte geteilt: Ein knappes Viertel stand den hochstiftischen Untertanen zu, der größere Teil hingegen den Rothenfelser Bauern, entweder als Lehen ihrer Herrschaft oder als Eigenbesitz. Die Herrschaftsrechte über die Alpweiden lagen unstrittig beim Augsburger Bischof; weniger eindeutig war, welche Befugnisse daraus abgeleitet werden konnten. Während die bischöfliche Seite sich auf den Standpunkt stellte, es sei rechtens, auch algewischen Herkommens, daß der Oberkhait zustee, auf den Alben […] guete Ordnungen, Gebott vnd Verpott aufzustellen, beanspruchten die Herren von Königsegg-Rothenfels gleichfalls das Recht, den bestellten Hirten Anweisungen zu erteilen. Diesem Anspruch stand allerdings entgegen, daß alles Alppersonal rechts der Iller gewöhnlich von rettenbergischen Amtsleuten auf seine Pflichten vereidigt wurde. 55 Im Konfliktjahr 1586 schickten unter anderem auch rothenfelsische Hirten das Vieh erst am St. Mangentag alten Kalenders, also zehn Tage später, ins Tal. Sie taten dies bey Nacht vnnd Tag, auch zum Thail über die Gebürg vnnd nit die gewonlichen Albsteig. Der Darstellung der Gegenseite zufolge hatten die Herren von Königsegg 52 Unzutreffend dürfte die Annahme Baumanns sein, der den Sonthofener Magnusmarkt nicht mit dem Hl. Magnus von Füssen, sondern mit einem nicht näher identifizierbaren Märtyrer Magnus in Verbindung bringen will; F. L. B AUMANN , Geschichte (Anm. 7), S. 580. 53 Zum Sonthofener Magnusmarkt und seinem Einzugsbereich in der frühen Neuzeit vgl. allgemein W. P ETZ , Märkte (Anm. 49), S. 304, 311-313. 54 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA Akten 7272. 55 BayHStA, Reichskammergericht 5955, daraus auch die grundlegenden Informationen zum Taufersberger Alpwesen. Beide Parteien hatten erst 1564 ihre Herrschaftsrechte zu beiden Seiten der Iller vertraglich geordnet und bereinigt; F. L. B AUMANN , Geschichte (Anm. 7), S. 249-251, 489. <?page no="273"?> W OLF GANG P ETZ 272 dafür junge, unerfahrene und vor allem nicht vereidigte Hirten auf die Weiden geschickt, als die vereidigten Älpler nicht länger bleiben wollten. Die Vorsichtsmaßnahmen halfen freilich nicht in jedem Fall. Einen Hirten aus Immenstadt setzte man für einige Zeit in Burg Fluhenstein gefangen. Vor allem aber wurden acht Stück Vieh Rothenfelser Bauern beschlagnahmt. Wegen dieses Vorfalls reichte im folgenden Jahr Berchtold zu Königsegg als einer der Inhaber der Grafschaft Rothenfels Klage ein gegen Bischof Marquard von Augsburg. Nach Rothenfelser Auffassung hatten sich die Alphirten nur verhalten, wie von uhr alten Zeitten her preichlich gewesen, als sie erst am 16. September neuen Kalenders abgezogen waren. Schließlich könne man in diesen zehn Tagen, wie die Erfahrung mit bringt […], ain jedes Rindvieh wol vmb ainen Guldin erbössern. Bedenkt man, daß die Alpe Taufersberg insgesamt über 300 Rinderweiden umfaßte, wird nachvollziehbar, warum Königsegg-Rothenfels den teuren und langwierigen Klageweg beschritt. Eine ähnliche Argumentation hatte 1583 bereits der Tigen Rettenberg bemüht. 56 Die Auseinandersetzungen um Alpabtrieb und Viehmärkte im oberen Allgäu lassen keinen eindeutigen Frontverlauf erkennen. Die Untertanen zu beiden Seiten der Iller versuchten aus nachvollziehbaren Gründen, die Verschiebung des Alpabzugs gegenüber dem astronomischen Jahreslauf zu verhindern. Zur Verschärfung des Konflikts scheint das Eingreifen der Herren von Königsegg maßgeblich beigetragen zu haben. Deren Interesse stand vermutlich im Zusammenhang mit weiteren Streitpunkten, bei denen es um die neuen Wochenmärkte in Oberstdorf und Sonthofen, um weitere Alpweiden rothenfelsischer Untertanen rechts der Iller und um den Viehscheid in Fischen ging. Der Prozeß vor dem Reichskammergericht wurde 1594 durch einen Vergleich beigelegt, und im darauf folgenden Jahr gestattete der Bischof von Augsburg endgültig seinen Rettenberger Untertanen, Alpabzug und Viehmarkt zehn Tage später zu halten als dies nach dem alten Kalender der Fall war. Damit war ein Kompromiß zwischen der Kalenderreform und den Erfordernissen des bäuerlichen Jahres gefunden worden, der für die Zukunft Bestand hatte. 57 56 Zitat nach BayHStA, Reichskammergericht 5955. 57 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA Akten 6735, 6736; BayHStA, Reichskammergericht 5955. Rothenfelser Vieh wurde auch auf der (Oberen) Mädelealpe im Trettachtal, im Bärgundtal bei Hinterstein und auf der Gutenalpe im Oytal gealpt. <?page no="274"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 273 5. Vom geteilten zum gemeinsamen Kalender Der Stadtarzt, Kalendermacher und Historiograph Christoph Schorer (1618-1671) kommt in seiner ›Memminger Chronick‹ nur an einer Stelle auf den Kalenderstreit zu sprechen, und zwar zum Jahre 1582 [! ]: Ob wol in diesem Jahr viel Städt den Newen Calender angenommen/ blibe doch diese Stadt beständig bey dem Alten/ vnd noch biß auff diesen Tag. Wovon viel zu Disputiren were/ will es aber hier anstehen vnd auff ein andere Gelegenheit verschoben lassen. Were gut wir hetten alle einen Calender/ wurde sonderlich im Politischen vil nutzen/ wo beederley Religionen beysamen wohnen/ vnd grosse Vngelegenheiten an diesen Orten verhindern. 58 Diesen Worten ist zu entnehmen, daß der Verfasser die Kalenderfrage nicht nur unter religiösem Vorzeichen betrachtet haben wollte, sondern nach dem politischen Nutzen fragte. Seine eigenen Erfahrungen im konfessionell und kalendarisch gespaltenen Umfeld der Reichsstadt Memmingen mögen ihn in dieser Ansicht bestärkt haben. Soviel Pragmatismus war damals freilich der Zeit voraus. Christoph Schorer hat es denn auch nicht mehr erlebt, daß sich Protestanten und Katholiken im Reich wieder auf einen gemeinsamen Kalender einigten. Erst 1699 war das Corpus Evangelicorum zu einer protestantischen Reform der Datierung bereit, wobei dieser ›Verbesserte Kalender‹ in der Praxis die weitgehende Gleichheit mit der Zeitrechnung der katholischen Stände herstellte. Er trat im Jahre 1700 in Kraft, indem auf den 18. Februar alten Stils sogleich der 1. März folgte. Zu den Befürwortern dieser Angleichung gehörte der Lindauer Pfarrer und Astronom Johannes Gaupp (1667-1738), der dazu mehrere Schriften veröffentlichte. Die immer noch mögliche Differenz der Ostertermine wurde schließlich 1776 im Sinne des gregorianischen Kalenders beseitigt. 59 Für Christoph Schorer und viele andere Zeitgenossen erzeugte der Kalenderstreit vor allem grosse Vngelegenheiten, Disparitäten und Unordnung. Auf den zweiten Blick bedeutete er jedoch für den frühmodernen Staat auch einen Gewinn an Ordnungskompetenz. 60 Form und Heftigkeit der Kontroversen über die Ordnung der Zeit wurden in der Region vor allem dadurch beeinflußt, daß die Herausbildung politisch wie konfessionell geschlossener Räume Ende des 16. Jahrhunderts erst im 58 C HRISTOPH S CHORER , Memminger Chronick […], Ulm 1660 (Reprint Kempten 1664), S. 108. Zum Autor vgl. O TTO H ARTIG , Christoph Schorer von Memmingen und sein »Sprachverderber« (1643) (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-philologische und historische Klasse 1921/ 2), München 1922, S. 15-43. 59 D. S TEINMETZ , Kalenderreform (Anm. 2), S. 370-391; C HRISTIAN H AFFNER , Lindauer Kalender, in: Neujahrsblätter des Museumsvereins Lindau i. B. 6 (1920), S. 3-16. 60 K. H ÄRTER , Zeitordnungen (Anm. 7), S. 194. <?page no="275"?> W OLF GANG P ETZ 274 Werden begriffen war. Damit gilt für den Kalenderstreit in Oberschwaben, was Rolf Kießling schon im Zusammenhang mit der Implementierung des Augsburger Religionsfriedens festgestellt hat, nämlich daß hier »die Normensetzung auf eine Vielzahl von komplexen herrschaftlichen Situationen und damit ungeklärter Rechtsprobleme traf, nicht zuletzt weil die Verdichtung von Herrschaft auf dem Weg zum modernen Staat erst in Anfängen realisiert war.« 61 Erst allmählich bildete sich ein Konsens darüber heraus, daß das Recht zur Entscheidung über den Kalender in der Regel demjenigen zustand, der zugleich über die religiöse Ausrichtung der Untertanen entschied - in der Regel dem Inhaber der Hochgerichtsbarkeit. Das Beispiel Rothenfels versus Hochstift Augsburg zeigt ein konfessionsunabhängiges Konfliktpotential, das in der Reform steckte. Es verdeutlicht darüber hinaus, daß Zeitordnungen unter Umständen auch zwischen der Herrschaft und den Untertanen ausgehandelt werden mußten. Regulierungen, die nicht angepaßt wurden, Verstöße, die nicht geahndet werden konnten, führten zur Aufweichung von Herrschaftsautorität - diese Erfahrung mußten auch katholische Obrigkeiten machen, wenn sie unter Mißachtung wirtschaftlicher Gegebenheiten die Untertanen vom Besuch städtischer Märkte an Feiertagen abhalten wollten. Für die Untertanen jedweder Glaubensrichtung galt, daß durch den Kalenderstreit der Umgang mit Zeit an Bedeutung gewann, weil er zu einer Selbstaussage im konfessionellen und obrigkeitlichen Sinne wurde. Der Feilhalten von Waren oder die Feldarbeit an einem bestimmten Tag konnten als Befolgung oder Mißachtung einer bestimmten Zeitordnung gedeutet werden. Vermuten läßt sich, daß damit Zeitunterschiede einen bewußteren Umgang mit Zeitphänomenen generieren konnten, und dies besonders in jenen Gebieten, in denen der Landbevölkerung das ›doppelte Kalenderhalten‹ auferlegt war. 61 R OLF K IESSLING , Vom Ausnahmefall zur Alternative - Bikonfessionalität in Oberschwaben, in: C. A. H OFFMANN u. a. (Hg.), Frieden (Anm. 8), S. 119-130, hier 121. <?page no="276"?> K ALENDE R R EF O RM U ND K ONF E S S IONALI S IER U NG DER Z EIT 275 Abb. 3: Das Titelblatt des von Christoph Schorer auf das Jahr 1663 verfaßten Kalenders zeigt unter der Darstellung des regierenden Kaisers Leopold I. in der Mitte die ›Heroen‹ des alten Kalenders. Links steht Julius Caesar, auf den der julianische Kalender mit seinen wesentlichen Verbesserungen zurückgeht, und der auf das Sonnenjahr als natürlicher Zyklus verweist. Rechts deutet Kaiser Konstantin der Große, in dessen Regierungszeit das (erste) Konzil von Nicäa (325) einen wesentlichen Schritt auf dem Weg zu einem einheitlichen Ostertermin für die gesamte Christenheit unternahm, auf eine Darstellung des heilsgeschichtlichen Osterzyklus. <?page no="278"?> 277 R ALF -P ETER F UCHS Ein Termin als Rechtsgrundlage für die Konfession. Das Normaljahr 1624 in der Region 1. ›Juristenzeit‹ Der Termin, nach dem die Rückführung des Besitzes in kirchlichen Sachen und den politischen Sachen, die im Hinblick darauf verändert worden sind, erfolgen soll, soll der 1. Januar 1624 sein. 1 Mit dieser zentralen Bestimmung des Westfälischen Friedensschlusses in Osnabrück erhoffte man sich 1648, ein während eines dreißigjährigen Krieges im Chaos versunkenes Heiliges Reich Deutscher Nation wieder in eine stabile Ordnung überführen zu können. Die Gesandten des Friedenskongresses versuchten auf diese Weise, jenes Problem zu lösen, das die Zeitgenossen den »Streit wegen der Religion« 2 nannten. Nähere Ausführungen und Ergänzungen zu dieser Bestimmung zeigen: Auch künftig 3 sollten Terminsetzungen auf eine rein rechtliche Ebene verlagert werden, um eine erneute gewaltsame oder gar kriegerische Konfliktaustragung zu vermeiden. Im Kern kam dies somit einer Konfliktlösungsstrategie gleich, die wir auf anderen sozialen Feldern der frühneuzeitlichen Gesellschaft ebenfalls beobachten und mit dem Begriff der Verrechtlichung umschreiben können. 4 1 Terminus, a quo restitutionis in ecclesiasticis et quae intuitu eorum in politicis mutata sunt, sit dies prima Januarii anni millesimi sexcentesimi vicesimi quarti. Siehe Instrumentum Pacis Osnabrugensis, Artikel V, 1: A NTJE O SCHMANN (Bearb.), Acta Pacis Westphalicae. Serie III Abteilung B: Verhandlungsakten, Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. 1: Urkunden, Münster 1998. 2 Auch im Frieden von Osnabrück hieß es: […] de religionis dissidiis […]; siehe Instrumentum Pacis Osnabrugensis (Anm. 1), Artikel V, 1, Art. V, 14. 3 Siehe z. B. im Hinblick auf Kanoniker in mischkonfessionellen kirchlichen Einrichtungen: Quot capitulares aut canonici die prima Januarii anno millesimo sexcentesimo vicesimo quarto uspiam vel Augustanae confessionis vel catholici fuerunt, totidem illic ex utraque religione erunt semper, nec decedentibus nisi eiusdem religionis consortes surrogentur; Instrumentum Pacis Osnabrugensis (Anm. 1), Artikel V, 1, Art V, 23. 4 Siehe im Hinblick auf die Konflikte zwischen Bauern und ihren Landes- und Grundherren: W INFRIED S CHULZE , Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1980, S. 76. <?page no="279"?> R ALF -P E TER F U CHS 278 Nun hat der Begriff der Verrechtlichung, wie sämtliche Begriffe, die mit modernisierungstheoretischen Konzepten verbunden sind, durchaus Widerspruch provoziert. 5 Daß die Regionen des Reiches bereits seit dem Spätmittelalter von einer Entwicklung erfaßt wurden, die wir mit diesem Begriff umschreiben mögen, scheint mir dennoch unbestreitbar zu sein. Aber es kommt darauf an, was man unter Verrechtlichung versteht: Ich würde Vorgänge der Rechtsvereinheitlichung auf der Basis des ›Ius Commune‹, d. h. des antiken römischen Rechts, des darauf aufbauenden mittelalterlichen kanonischen Rechts und des Rechts der italienischen Stadtstaaten im Spätmittelalter damit umschreiben. Damit war verbunden, daß man ›die Rechte‹ studieren mußte, um als Urteiler oder Anwalt vor den gerichtlichen Foren aufzutreten, und sich so ein professioneller Juristenstand etablierte, der Professionalität im Verfahren und in der Rechtsprechung garantieren sollte. 6 Daß es Juristen nicht immer leicht hatten, ihre Kompetenzen mit Autorität in den Regionen und Lokalitäten zur Geltung zu bringen und Verrechtlichung auf diese Weise voranzutreiben, soll hier eingangs erwähnt werden. In meinen Untersuchungen über Injurienprozesse in Westfalen habe ich mehrere Hinweise darauf gefunden, daß sie nicht einmal selten Prügel oder Ohrfeigen einzustecken hatten, insbesondere wenn sich Adelige von ihnen ungerecht behandelt fühlten. 7 Daß durchaus ein tieferer Sinn hinter der Eigenart des Rechts steckte, Streitigkeiten nicht direkt auszutragen, sondern Anwälte als Stellvertreter von Konfliktparteien auf den Plan zu rufen, scheint demnach zuweilen von den Zeitgenossen des 16. und 17. Jahrhunderts ebenso wenig gewürdigt worden zu sein wie die Tatsache, daß eine örtliche Verlagerung von Konflikten hin zu den Foren des Rechts die Chance mit sich brachte, deeskalierend auf diese einzuwirken und die Entstehung von Gewalt zu verhindern. Aber diesen Sinn einer solchen örtlichen Verlagerung vermag man offensichtlich ohnehin eher aus dem Blickwinkel des Unbeteiligten 5 M ARTIN D INGES , Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994, S. 26-28. Siehe ebenso: D ERS ., Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: A NDREAS B LAUERT / G ERD S CHWERHOFF (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 503-544, hier 540, 543f. Siehe meine ausführliche Stellungnahme zu dieser Kritik am Verrechtlichungsbegriff: R ALF -P ETER F UCHS , Der lange Kampf der Catharina von Dahlhausen um ihre Ehre. Eine Fallstudie zur Justiznutzung von Frauen im 16. Jahrhundert, in: S IEGRID W ESTPHAL (Hg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches, Köln 2005, S. 43-60. 6 Hierzu B ERNHARD D IESTELKAMP , Verwissenschaftlichung, Bürokratisierung, Professionalisierung und Verfahrensintensivierung als Merkmale frühneuzeitlicher Rechtssprechung, in: I NGRID S CHEURMANN (Hg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806, Mainz 1994, S. 110-117. 7 R ALF -P ETER F UCHS , Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht (1525-1805), Paderborn 1999, hier insbes. S. 219-220, 224. <?page no="280"?> E IN T ERMIN AL S R ECHTS GR U NDLAGE FÜR DIE K ONF E S S ION 279 nachvollziehen, und dies umso mehr, wenn eine Rückschau auf vergangene Jahrhunderte vorliegt, wie beim Historiker. Insgesamt ist es jedoch wohl unbestreitbar, daß das Recht den Frieden beförderte, indem die Menschen sich den manchmal rigide erscheinenden Regularien des Rechts unterwerfen mußten, andererseits aber auch vom Schutz des Rechtes, der über den Ausbau der Reichsgerichtsbarkeit und des Instanzenzuges aufgebaut wurde, profitieren konnten. 8 Der rechtliche Austrag von Konflikten, im 16. und 17. Jahrhundert auch der ›rechtliche Krieg‹ genannt, beruhte aber im wesentlichen nicht nur auf dem spezifischen Know-how von Vertretern der Rechtswissenschaft und der Verlagerung an gehörige Orte, sondern auch auf der Durchsetzung einer neuen Zeitordnung. Jeder, der einen regulären Prozeß anstrengte bzw. anstrengen mußte, hatte sich gemeinsam mit seinem Anwalt auf ein Terminsystem einzulassen, in dem vorgegeben wurde, wann und in welcher Reihenfolge bestimmte Handlungen zu erfolgen hatten: von der Erklärung, das Verfahren zu suchen (Kriegsbefestigung) über die Einreichung der Argumentationsschriften (Klaglibelle etc.) bis hin zu den anwaltlichen Plädoyers für die eine oder die andere Partei. In dieses Terminsystem waren - und damit bin ich fast an meinem zentralen Punkt angelangt - Fristen integriert. 9 Was es für die Akteure emotional bedeutete, in einer Streitigkeit zu unterliegen, weil eine Frist versäumt worden war, kann man von Fall zu Fall erahnen. Andererseits ließen die rechtlichen Regeln des ›Ius Commune‹ es durchaus in bestimmten Fällen zu, daß eine Partei, die davon betroffen war, in den vorherigen Stand gesetzt wurde, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Juristen sprachen hier von einer ›Restitutio in Integrum‹. 10 Wir können somit gut beobachten, daß diejenigen, die als Juristen den ›rechtlichen Krieg‹ gestalteten, über die Macht verfügten, handfeste und komplexe Auseinandersetzungen auf eine neue Zeitschiene zu verlagern. Mehr noch: Sie konnten, 8 Mit Blick auf das Reichskammergericht und andere Hochgerichte: »Die so modern klingende Vorstellung, einem Rechtsstaat anzugehören, hat eine lange, Europa über Ländergrenzen hinweg verbindende Tradition, die nicht zuletzt auch durch die Tätigkeit der Speyerer und später der Wetzlarer Richterschaft gesichert und geprägt worden ist«; I NGRID S CHEURMANN / B ERNHARD D IESTELKAMP , Vorwort: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte, in: D IES . (Hg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn-Wetzlar 1997, S. 7-12, hier 9. 9 Hierzu C HRISTIANE B IRR , Verschwiegen und verjährt. Verflossene Zeit als Argument vor Gericht, in: A RNDT B RENDECKE / R ALF -P ETER F UCHS / E DITH K OLLER (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, Berlin 2007, S. 307-331; D IES ., Verjährung und Verwirkung. Fristen - Beginn - Hemmung - Wirkung, 2. Aufl. Berlin 2006. 10 Siehe hierzu den Artikel ›Setzung in den vorigen Stand‹, in: Grosses Vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste […] Verlag Johann Heinrich Zedler, Graz 1961 (Nachdr. der Ausgabe Halle-Leipzig 1732ff.), hier Bd. 37, Sp. 620-647. <?page no="281"?> R ALF -P E TER F U CHS 280 sofern dies mit den rechtlichen Prinzipien konform ging, sogar die Uhren zurückdrehen, um den Prozessparteien neue Anläufe, ihren Kampf zu suchen, zuzugestehen. Daß sie darüber hinaus über das professionelle Wissen verfügten, Spielern gleich, das Geschehen zu verlangsamen, soll hier nur am Rande erwähnt werden, weil Prozeßverschleppungen eigentlich verboten waren. Aber auch dies geschah wohl nicht selten, ungeachtet des Malitieneides, 11 der den Juristen auferlegt wurde, um sie von derartigen Praktiken abzuhalten. Viele Menschen in den Regionen des Reiches wurden somit immer wieder mit etwas konfrontiert, was ich in Ermangelung eines besseren Begriffs zunächst einmal ›Juristenzeit‹ nenne, und wenn ich im folgenden auf die Normaljahrsregel des Westfälischen Friedens und ihre Bedeutung in den Regionen eingehe, ist es wohl sinnvoll, sich zu vergegenwärtigen, daß sie dort keine völlig Fremden waren, jene Juristen mit ihren so bedeutenden Terminen, die gelegentlich von Adligen und Untertanen mit wütenden Blicken und Gesten bedacht wurden. Im Gegenteil, eine beträchtliche Anzahl der von der Normaljahrsregel Betroffenen - denken wir an die Ratspersonen etwa in Augsburg, auf die ich hier eingehen werde - waren selbst Juristen. Darüber hinaus ist festzuhalten, daß die Macht dieser Spezies von Menschen, ob man sie nun grundsätzlich mochte oder nicht, zumeist von höherer Obrigkeit gestützt wurde. In den Regionen des Reiches war es nicht unbedingt etwas völlig Neuartiges, wie dies Karl Härter einmal sehr plastisch veranschaulicht hat, 12 wenn Juristen im Dienste der Obrigkeit Zeiten und Fristen mit dem Anspruch, daß man sich gefälligst daran zu halten habe, festsetzten. Damit möchte ich meine allgemeinen Überlegungen zu Zeit und Recht aber auch schon beenden. Ich denke, daß sie dazu beigetragen haben könnten, die Ausgangslage für das Eindringen der Normaljahrsregel in die Regionen zu skizzieren. 2. Religionsparteien im Reich und der ›Streit wegen der Religion‹ Woher kommt sie nun, die Normaljahrsregel? Sie entstammt dem ›Ius Commune‹ und resultierte zugleich aus politischen Bedürfnissen. Nachweislich waren bereits bevor der große Dreißigjährige Krieg begonnen hatte, Diskussionen darüber entstanden, wie der die Reichsverfassung zeitweise lähmende ›Streit wegen der Religion‹, konkret: die Auseinandersetzungen der katholischen und der protestantischen 11 G EORG W ILHELM W ETZELL , System des ordentlichen Zivilprozesses, Aalen 1969 (Neudr. der 3. Aufl. Leipzig 1878), S. 315. 12 K ARL H ÄRTER , Zeitordnungen und ›Zeitverbrechen‹: Reglementierung, Disziplinierung und Fragmentierung von Zeit in der frühneuzeitlichen Policeygesetzgebung, in: A RNDT B RENDECKE / R ALF -P ETER F UCHS / E DITH K OLLER (Hg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit, Berlin 2007, S. 187-232. <?page no="282"?> E IN T ERMIN AL S R ECHTS GR U NDLAGE FÜR DIE K ONF E S S ION 281 Religionspartei 13 im Reich über die Auslegung des Augsburger Religionsfriedens, 14 entschärft werden könnte. Das politische Problem bestand eher nicht in der mangelnden Fähigkeit der Zeitgenossen, Religionspluralität grundsätzlich auszuhalten. 15 Vielmehr ging es darum, daß Katholiken und Protestanten im Reich sich gegenseitig nicht zugestanden, die 1555 prinzipiell verbriefte Koexistenz zweier Bekenntnisse langfristig zu sichern. Die Katholiken sollten den Protestanten die Zusicherung eines unbefristeten Existenzrechtes im Reich nicht geben. Es sollte sich zeigen, daß viele unter ihnen allenfalls bereit waren, den Augsburger Religionsfrieden als einen befristeten Vertrag zu betrachten. Zwar entsprach die provisorische Einigung in der frühneuzeitlichen politischen Kultur einem verbreiteten Muster des Konfliktmanagements. 16 Sie konnte jedoch dem Bedürfnis der protestantischen Reichsstände nach einer definitiven Anerkennung nicht gerecht werden. Die Verweigerung eines unbefristeten Existenzrechtes ließ nun, begleitet von Konfessionspolemik katholischer Theologen, die immer wieder über Kampfschriften publiziert wurde, 17 existentielle Ängste bei der protestantischen Religionspartei hervortreten. Auf der anderen Seite bestanden jedoch ebenfalls existentielle Ängste angesichts der Wucht der reformatorischen Bewegung im Reich, die den Katholiken großes Terrain entrissen hatte. Kein Zweifel: Die Protestanten waren die großen Gewinner der Reichsgeschichte bis 1555 und auch noch darüber hinaus, wenn man sich die Entwicklung der konfessionellen Landkarte des 16. Jahrhunderts ansieht, auch wenn bedeutende Anhänger des Protestantismus im von 1583 bis 1588 13 Siehe etwa M ORITZ R ITTER , Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreissigjährigen Krieges (1555-1648), Bd. 2: 1555-1618, Darmstadt 1962 [Nachdr. 1895], unter anderem S. 209, 227, 379. Ebenso: F RIEDRICH D ICKMANN , Das Problem der Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich im 16. und 17. Jahrhundert, in: D ERS ., Friedensrecht und Friedenssicherung. Studien zum Friedensproblem in der neueren Geschichte, Göttingen, S. 7-35, hier 9. 14 Hierzu immer noch grundlegend: M ARTIN H ECKEL , Autonomia und Pacis Compositio. Der Augsburger Religionsfriede in der Deutung der Gegenreformation, in: D ERS ., Gesammelte Schriften. Staat - Kirche - Recht - Geschichte, Bd. 1, hg. von K LAUS S CHLAICH , Tübingen 1989, S. 1-82, hier 33-38. Die Konflikte, die sich aus dem Religionsfrieden ergaben, stehen im Blickpunkt von A XEL G OTTHARD , Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004. 15 Siehe hierzu auch meine Ausführungen: R ALF -P ETER F UCHS , Ein ›Medium‹ zum Frieden. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges, München 2010, S. 18-26. 16 Martin Heckel spricht in diesem Kontext von einem »Verzicht auf Entscheidung«: Siehe M. H ECKEL , Autonomia (Anm. 14), S. 33. 17 Hierzu etwa: K AI B REMER , Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert, Tübingen 2005. <?page no="283"?> R ALF -P E TER F U CHS 282 währenden Kölnischen Krieg eine empfindliche Niederlage erfahren sollten. 18 Die Katholiken, selbst in Sorge um den zukünftigen Bestand ihrer eigenen Religion, forderten einen Stillstand der protestantischen Bewegung und setzten beim Begriff der Kirchengüter an, mit dem insbesondere die Gebiete der mittelalterlichen Reichskirche, geistliche Fürstentümer, Reichsabteien etc., geschützt werden sollten. Die Protestanten rechtfertigten sich dagegen mit dem Recht auf Gewissensfreiheit. Die zeitgenössischen Begriffe dafür waren ›autonomia‹ und ›Freistellung‹. 19 Sie hielten den Katholiken und deren Forderung, mit der Expansion einzuhalten und kein weiteres römisch-katholisches, päpstliches Kirchengut mehr in ihren Besitz zu bringen, entgegen, daß sie ein Recht auf Konversion und auf einen friedlichen Gütererwerb im Reich besäßen. Dieser Gegensatz zwischen den Religionsparteien war der Grund, warum der Augsburger Religionsfrieden Passagen enthielt, die nicht von beiden Religionsparteien im Reich getragen wurden. Im Text ist vermerkt, daß sich König Ferdinand veranlaßt sah, mangels Einigung einen Passus zu inserieren. Dabei handelt es sich um den berühmten Geistlichen Vorbehalt, 20 in dem zwar die Forderung der Protestanten nach Gewissensfreiheit aufscheint, über den vor allem aber die Forderung der Katholiken nach einer Sicherung ihres Besitzes im Reich durchgesetzt werden sollte. Falls ein reichsunmittelbarer geistlicher Fürst oder Reichsabt zur Augsburgischen Konfession konvertieren sollte, sollte er künftig sein Amt und seine Herrschaftsgebiete an einen Katholiken abtreten. Die darauffolgende Bestimmung sollte ebenfalls zum Mittelpunkt des Zanks werden. Darin wurde den Protestanten jener ehemalige reichsmittelbare Kirchenbesitz zugesprochen, den sie bis 1552 innegehabt hatten. 21 Die Katholiken interpretierten diesen Passus als an die Protestanten gerichtetes Verbot, weitere reichsmittelbare katholische Reichsgüter nach diesem Datum einzubehalten oder einzuziehen. Die Protestanten erkannten darin lediglich die Zusicherung von Gebieten, nicht aber ein Verbot, noch weitere dieser Kirchengüter in ihren Besitz zu bringen. 18 Zur medialen Aufarbeitung dieses Konflikts siehe: E VA -M ARIA S CHNURR , Religionskonflikt und Öffentlichkeit. Eine Mediengeschichte des Kölner Kriegs (1582 bis 1590), Köln 2009. 19 Hierzu auch: W INFRIED S CHULZE , Pluralisierung als Bedrohung: Toleranz als Lösung, in: H EINZ D UCHHARDT (Hg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie - politische Zäsur - kulturelles Umfeld - Rezeptionsgeschichte (HZ Bh. 26), München 1998, S. 115-140. 20 Abschied der Römisch königlichen Majestät und gemeiner Stände auff dem Reichs-Tag zu Augsburg auffgericht, im Jahr 1555, in: A RNO B USCHMANN (Hg.), Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806, München 1984, S. 215-283, hier 225 (§ 18). 21 Abschied der Römisch königlichen Majestät und gemeiner Stände auff dem Reichs-Tag zu Augsburg auffgericht, im Jahr 1555 (Anm. 20), S. 226 (§ 19). <?page no="284"?> E IN T ERMIN AL S R ECHTS GR U NDLAGE FÜR DIE K ONF E S S ION 283 Gegen Ende des 16. Jahrhunderts verschärfte sich der Konflikt um die rechte Auslegung des Augsburger Religionsfriedens. Die Protestanten erwarben weiteren Besitz durch Konversionen im Reich; die Katholiken brandmarkten dies als Diebstahl und Bruch des Religionsfriedens und forderten die Rückgabe (Restitution). Auch entbrannte eine erbitterte Diskussion darüber, ob die katholische Zusicherung des Existenzrechtes von 1555 nur eine vorläufige Zusicherung war oder nicht. Katholische Akteure betonten die Vorläufigkeit des Religionsfriedens und drohten damit zugleich mit einer Aufkündigung. An einem Vorschlag, diesen ›Streit wegen der Religion‹ zu Ende zu bringen, mangelte es nicht. Seit etwa 1608 erörterten protestantische Reichsstände die Möglichkeit, den katholischen Reichsständen zuzugestehen, ihren Besitz an Kirchengut auf der Basis der ›Uti-Possidetis‹-Regel zu sichern und damit bei Konversionen von geistlichen Reichsständen zum evangelischen Glauben davor geschützt zu sein, weitere Gebiete im Reich zu verlieren. Im Februar 1613 begegneten sich die Vertreter der beiden protestantischen Reichsstädte Nürnberg und Ulm in Nördlingen. Es waren die Ulmer, die den Vorschlag machten, das ›Uti-Possidetis‹-Prinzip zur Geltung zu bringen und Katholiken und Protestanten das gegenseitige Versprechen aufzuerlegen, »nicht weiter zu greifen«. 22 Die Gesandten aus Ulm wollten den protestantischen Besitz an Kirchengut sichern, indem sie die Sicherung des Besitzes der Katholiken in Aussicht stellten. Beide Seiten sollten sich ihre Besitzstände gegenseitig für die Zukunft zubilligen. ›Uti possidetis, ita possideatis‹ ist eine Regel, die im antiken römischen Privatrecht zur Vermeidung von gewaltsamer Inbesitznahme strittigen Eigentums während eines Rechtsstreites angewandt wurde. 23 Die Besitzfrage wurde vorläufig nach der Formel ›So wie ihr nun besitzt, sollt ihr weiterhin besitzen‹ geregelt. 24 Diese im Prozeßrecht sehr sinnvolle Regel wurde aber auch bereits, wie die italienische Rechtshistorikerin Alessandra Bignardi herausgearbeitet hat, in der griechischen Antike zur Regelung von Grenzkonflikten unter Stadtstaaten angewandt. 25 Gerade im internationalen Recht stellte sich gemeinhin die Frage, ob Friedensschlüsse nach dem ›Uti-Possidetis‹-Prinzip gestaltet wurden, ob also eroberte Gebiete nach 22 Bericht der nürnbergischen Abgesandten Ernst Haller, Wolf Löffelholz und Dr. Wolf Burckhard über ihre Unterredung mit den Vertretern der Stadt Ulm in Nördlingen, in: A NTON C HROUST (Bearb.), Der Reichstag von 1613, München 1909 (Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges 11), S. 158-165, hier 161. 23 C HRISTIANE S IMMLER , Das uti possidetis Prinzip. Zur Grenzziehung zwischen neu entstandenen Staaten, Berlin 1999, S. 34. 24 M ICHAEL W EBER , »Uti possidetis iuris« als allgemeines Rechtsprinzip im Völkerrecht. Überlegungen zum Verhältnis von »uti possidetis«, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Effektivitätsprinzip, Göttingen 1999, S. 3. 25 A LESSANDRA B IGNARDI , »Controversiae agrorum« e arbitrari internationali. Alle origini dell’ interdetto ›uti possidetis‹, Milano 1984. <?page no="285"?> R ALF -P E TER F U CHS 284 einem Krieg denjenigen verblieben, die sie eingenommen hatten, oder ob alles wieder auf den Status-Quo-Ante-Bellum zurückgeführt wurde und damit Restitutionen dieser Gebiete zu erfolgen hatten. ›Uti-possidetis‹ und ›Restitutio‹ waren somit alternative Vorgehensweisen im Übergang von Kriegszu Friedenszuständen. Obwohl sich das Reich 1613 nicht im Kriegszustand befand, wollten die Ulmer Gesandten mit ihrem Vorschlag zu einem friedlichen Neuanfang aufrufen, in der strittigen Frage des Kirchengüterbesitzes Kompromißbereitschaft signalisieren und damit Kriegsvermeidungspolitik betreiben. Der Vorschlag fand jedoch keine ausreichende Unterstützung bei den Protestanten. Auf seiten der Katholiken verfestigte sich wiederum das Programm, von den Protestanten die Rückgabe der von ihnen nach 1555 eingezogenen Kirchengüter einzufordern. 26 3. Politische Diskussionen über Zeitpunkte im Krieg Der 1618 beginnende Krieg, den man später Dreißigjähriger Krieg nennen sollte, hatte zunächst mit diesem ›Streit wegen der Religion‹ nichts zu tun. Daß die rechtlich-politischen Erörterungen über Restitutionen seit dem Jahr 1630, nachdem der Krieg längst weite Teile des Reiches erfaßt hatte, wieder aktuell wurden, verwundert jedoch kaum. Neuerliche Diskussionen der Protestanten über die ›Uti- Possidetis‹-Regel hängen insbesondere damit zusammen, daß sie zuvor, nachdem der Krieg äußerst günstig für den Kaiser und die katholische Liga verlaufen war, die Durchführung von Restitutionen in ganzer Härte zu spüren bekommen hatten. Kaiser Ferdinand II. hatte bekanntlich im März 1629 das Restitutionsedikt erlassen, 27 das darauf ausgerichtet war, den Katholiken jene Kirchengüter zu überlassen, die sich die Protestanten nach dem Augsburger Religionsfrieden angeeignet hatten. Nun begaben sich protestantische Reichsstände, allen voran der sächsische Kurfürst Johann Georg, daran, eine ›Uti-Possidetis‹-Formel zu entwickeln. Sie sicherte sowohl den Katholiken als auch den Protestanten jenen Besitz zu, den sie unmittelbar vor dem Krieg innegehabt hatten. Einzelheiten der komplexen Diskussionen können hier nicht erörtert werden. 28 Hinweisen sollte man aber - erstens - darauf, daß die Frage, wann der große Krieg 26 Siehe F ELIX S TIEVE (Bearb.), Die Politik Baierns 1591-1607. Erste Hälfte (Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges 4), München 1878, S. 149-155. 27 H EIKE S TRÖLE -B ÜHLER , Das Restitutionsedikt von 1629 im Spannungsfeld zwischen Augsburger Religionsfrieden 1555 und dem Westfälischen Frieden, Regensburg 1991; M ICHAEL F RISCH , Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, Tübingen 1993. 28 Ich verweise in diesem Zusammenhang auf meine intensiven Überlegungen hierzu: R.- P. F UCHS , Medium (Anm. 15), S. 99-113. <?page no="286"?> E IN T ERMIN AL S R ECHTS GR U NDLAGE FÜR DIE K ONF E S S ION 285 eigentlich angefangen hatte, für die Akteure nicht eindeutig zu beantworten war. Zunächst wurde vom Jahr 1620 ausgegangen. Damit wird zugleich - zweitens - deutlich, daß mit der sich seit 1630 verstärkenden Diskussion um ein kirchliches Normaljahr eine Verbindung des Restitutionsprinzips und des ›Uti-Possidetis‹- Prinzips angesteuert wurde. Nun forderten nämlich die Protestanten ihrerseits Restitutionen des ihnen im Krieg verlorengegangenen Besitzes, um darauf aufbauend zu einer gegenseitigen Zusicherung zu kommen, es künftig bei einer Besitzverteilung zu belassen, die dem Vorkriegszustand entsprach. Beides, Restitutionen und eine abschließende Absicherung des zurückgegebenen Besitzes, wurde mittlerweile von vielen protestantischen Ständen als eine existentielle Frage betrachtet. Dies war auch auf dem Westfälischen Friedenskongreß die Ausgangslage, wobei die Frage, welcher Zeitpunkt bestimmend für die gegenseitigen Restitutionen sein sollte, von der Frage, wann der Krieg angefangen hatte, gelöst wurde und sich stattdessen eine Praxis des Feilschens durchsetzte. Der günstigste Restitutionszeitpunkt für die Katholiken im Reich wurde durch das Jahr 1630, dem Zeitpunkt vor dem Einfall König Gustav II. Adolfs von Schweden, markiert, während die Protestanten sich nun auf 1618 als günstigsten Zeitpunkt festgelegt hatten. Ihrer Argumentation, der Krieg habe in diesem Jahr begonnen, wurde von kaiserlicher Seite entgegnet, die Schweden hätten 1630 ein friedliches Reich überfallen, wobei der 1629 geschlossene Friede von Lübeck diese Argumentation zu stützen schien. 29 Letztlich fanden sich die Vertreter der Religionsparteien, die jeweils von kaiserlicher und schwedischer Seite beraten und unterstützt wurden, in der Mitte zwischen 1618 und 1630 und legten den 1. Januar 1624 als zentralen Restitutionstermin fest. 30 Diese Normaltagsregel sollte in der Friedensurkunde noch durch die für die Regionen und die einzelnen Ortschaften nicht unbedeutende Regel ergänzt werden, daß einer Gemeinde, sofern sie für irgendeinen Zeitpunkt innerhalb des Jahres 1624 nachweisen konnte, ihre Religion - es ging immer um die Augsburgische Konfession oder die katholische Religion - ausgeübt zu haben, auch künftig das Recht auf ihr Religionsexerzitium zugesprochen werden sollte. 31 Diese Regel, eine Normaljahrsregel im eigentlichen Sinne, macht deutlich, daß es nicht mehr 29 Diese Position war von kaiserlicher Seite, damals noch unter Ferdinand II., bereits bei den Gesprächen zum Prager Frieden 1634/ 35 vertreten worden. Siehe die Erklärung der kaiserlichen Gesandten auf die von Kursachsen proponierten Friedensbedingungen: K ATHRIN B IERTHER (Bearb.), Die Politik Maximilians von Bayern und seiner Verbündeten 1618-1651, 2. Teil, Bd. 10: Der Prager Frieden von 1635, 4 Teilbde. (Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges NF 2,10) München-Wien 1997, hier Teilbd. 2, S. 1040-1042, insbes. 1042. 30 R.-P. F UCHS , Medium (Anm. 15), S. 170-175. 31 Instrumentum Pacis Osnabrugensis (Anm. 1), Art V, 31 und 32. <?page no="287"?> R ALF -P E TER F U CHS 286 nur um die Frage des Besitzes der Kirchengüter im engeren Sinne gegangen war, sondern um das Recht zur Ausübung einer der beiden anerkannten Konfessionen im Reich, 32 wobei unter der ›Confessio Augustana‹ nun definitiv auch die reformierte Konfession verstanden wurde. Martin Heckel hat auf die Bedeutung des ›Possessio‹-Begriffes für religionspolitische Belange und insbesondere auf die anschließende Verankerung religiöser Pluralität in der Reichsverfassung hingewiesen. 33 Daß die Normaljahrsregel - ich vereinige hier die beiden von mir genannten Regeln unter einem Begriff - mit zahlreichen Ausnahmen durchsetzt war, deutet darauf hin, daß all diese Fragen, die mit einer künftigen Religionsverfassung im Reich zusammenhingen, noch einmal mit Fragen nach Macht, aber auch mit Fragen nach Gerechtigkeit verbunden waren. Daß nun das Reich so wiederhergestellt werden sollte, wie es einmal zu einem Zeitpunkt der Vergangenheit ausgesehen hatte, zeugt von recht optimistischen Ansichten in Münster und Osnabrück, insbesondere der kaiserlichen und der schwedischen Gesandten, dies auch durchsetzen zu können. Wir müssen uns dabei vergegenwärtigen, daß 1648, im Jahr des Westfälischen Friedens, niemand so recht wußte, wie das Reich im Jahr 1624 ausgesehen hatte. 34 Insbesondere die schwedischen Gesandten pochten jedoch darauf, daß nun die Restitutionen, von denen sie erwarteten, daß in den allermeisten Fällen die protestantischen Reichsstände davon profitieren würden, vorangetrieben wurden. Sie machten sogar den Abzug ihrer Truppen davon abhängig, daß dem Tod ihres Königs Gustav Adolf ein ruhmreicher Sinn verliehen werde, indem nicht nur eine ansehnliche Summe Geldes an Entschädigung an das Königreich Schweden bezahlt, sondern auch das Reich über die Restitutionen reorganisiert werden sollte. 4. Die Normaljahrsregel in der Region: Einige Beispiele Nun standen sie also wieder einmal bereit, die Juristen mit ihren Terminen bzw. ihrer ›Juristenzeit‹. Und nun war das Allerheiligste davon betroffen. Die Autorisierung dieses Projekts erfolgte über das ›Instrumentum Pacis Osnabrugensis‹, das erst 1654 zum Reichsgesetz erklärt werden sollte. Aber es waren die Kriegsmächte, 32 Hierzu auch: G EORG M AY , Die Entstehung der hauptsächlichen Bestimmungen über das ius emigrandi (Art. V §§ 30-43 IPO) auf dem Westfälischen Friedenskongreß, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte/ Kanonistische Abteilung 74 (1988), S. 436- 494. 33 M ARTIN H ECKEL , Parität (I), in: D ERS ., Gesammelte Schriften (Anm. 14), Bd. 1, S. 106- 226, hier 200. 34 Zum Unwissen bzw. Nichtwissen in diesem Zusammenhang siehe: R ALF -P ETER F UCHS , Vertrauensbildung durch Unwissen? Friedensverhandlungen über Normaljahre und die Black Box im Dreißigjährigen Krieg, in: M ARTIN E SPENHORST (Hg.), Unwissen und Missverständnisse im vormodernen Friedensprozess, Göttingen 2013, S. 71-88. <?page no="288"?> E IN T ERMIN AL S R ECHTS GR U NDLAGE FÜR DIE K ONF E S S ION 287 die sich noch im Reich befanden und die über den Nürnberger Exekutionstag 35 versuchten, Einfluß auf die Dinge zu nehmen. In Nürnberg wurde zudem eine Restitutionsdeputation errichtet, die Kommissionen vor Ort einsetzen und unterstützen sollte. Daneben wirkte der Reichshofrat als eine weitere Restitutionsagentur, die mit kaiserlicher Autorität ausgestattet war. Für Schwaben ist zudem der Reichskreis als eine dritte Agentur nachweisbar. 36 Von diesen drei Agenturen ergingen nun Aufträge an ausgewählte Reichsstände, Restitutionen als Kommissare zu vollziehen. Die Kommissionen wurden nach konfessionell paritätischen Prinzipien gebildet, d. h. mindestens je ein katholischer und ein protestantischer Reichsstand hatten gemeinsam zu agieren. Ich gebe hier einen Überblick über die ersten in den Jahren 1648 und 1649 vom Reichshofrat eingerichteten Kommissionen. Tabelle: Beschlüsse zur Einrichtung von Kommissionen durch den Reichshofrat 1648/ 49 Antragsteller Datum Kommissare Graf Friedrich Ludwig zu Löwenstein (kath.) 7.12.1648 Kurmainz; Landgraf zu Hessen- Darmstadt Hieronymus Fridonicus (? ) 17.12.1648 Kommentur zu Alschhausen; Stadt Ulm Rat zu Regensburg (prot.) - - Reichsstadt Lindau (prot.) 14.1.1649 Bischof von Konstanz; Herzog von Württemberg Prior und Konvent zu Frenswegen in Bentheim (kath.) 22.2.1649 Bischof zu Osnabrück; Graf zu Oldenburg Jesuiten zu Paderborn wg. des Klosters Falkenhagen (kath.) 26.3.1649 Bischof von Münster; Herzog von Braunschweig Domdechant und Domkapitel zu Straßburg (kath.) 26.3.1649 Kurfürst von Mainz und Pfalz- Zweibrücken Ganerben des Hauses und der Herrschaft Rothenberg (prot.) 15.4.1649 Bischof von Würzburg; Markgraf zu Brandenburg-Kulmbach Pfalz-Neuburg (kath.) wg. Jülich-Berg und Kleve-Mark-Ravensberg 16.4.1649 Kurköln; Herzog von Braunschweig 35 Siehe hierzu A NTJE O SCHMANN , Der Nürnberger Exekutionstag 1649-1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Münster 1991. 36 Zum Prozedere bei den Normaljahrsrestitutionen siehe R.-P. F UCHS , Medium (Anm. 15), S. 226-254. <?page no="289"?> R ALF -P E TER F U CHS 288 Antragsteller Datum Kommissare Dompropstei Halberstadt (kath.) - - Protestantische Stände zu Münster wg. dem Markgrafen von Brandenburg- Ansbach (prot.) 14.5.1649 Kursachsen; Fürstbischof von Bamberg Pfalz-Veldenz (prot.) wg. Restitution gegen Kurtrier 31.5.1649 Kurmainz/ Hessen-Darmstadt Kurmainz wg. Erfurt (kath.) 14.6.1649 Fürstbischof von Bamberg und Herzog von Württemberg Abt von Corvey (kath.) 24.7.1649 Kurköln; Graf zu Leiningen oder Graf von Tecklenburg und Bentheim Graf zu Nassau-Saarbrücken (prot.) 2.9.1649 (Kommissare im Protokoll nicht genannt) Melchior Kammerlink, Pfarrer zu Mengede in der Grafschaft Mark (kath.) 4.10.1649 (Kommissare im Protokoll nicht genannt) Die Reichsfürsten, die als Restitutionskommissare eingesetzt waren, delegierten wiederum die Tätigkeit vor Ort an hochrangige Juristen. Für die anstehenden Restitutionen in Augsburg setzte der Bischof von Konstanz als katholischer Kommissar seinen Kanzler Dr. Georg Köberlin und seinen Kämmerer Wolff Christoph von Bernhausen ein, während der Herzog von Württemberg als protestantischer Kommissar seinen Kanzler Dr. Andreas Burckardt und Hans Albrecht von Wöllwart damit beauftragte. 37 Der katholische Rat von Augsburg setzte zunächst alles daran, sogar zu verhindern, daß die subdelegierten Kommissare das Stadtgebiet überhaupt nur betraten. Die sich zunächst auf dem Kreistag in Ulm aufhaltenden Bevollmächtigten wurden nicht nur mit rechtlichen Einreden zum Abwarten ver- 37 Zu den Restitutionen in Augsburg siehe H ERMANN V OGEL , Die Exekution der die Reichsstadt Augsburg betreffenden Bestimmungen des westfälischen Friedens, Augsburg 1890. Zudem habe ich mich gestützt auf: Außführlicher Bericht uber die im Jahr 1649 durch die Kayserliche Subdelegirte Herren Commissarios bey deß H. Reichs-Stadt Augspurg vorgenommene Execution in Geist- und Weltlichen Sachen nach Anleitung des Oßnabrüggischen Friedenschluß, in: P HILIPPUS K NIPSCHILDT , De Iuribus et privilegiis civitatum imperialium tam generalibus quam specialibus et de earundem magistratuum officio […], Bd. 3, Straßburg 1740 [Neudr. der Ausgabe 1657], S. 19-26; und die Überlieferungen hierzu im Bestand des Reichshofrats in Wien (Protocolla rerum resolutarum). <?page no="290"?> E IN T ERMIN AL S R ECHTS GR U NDLAGE FÜR DIE K ONF E S S ION 289 anlaßt. Der Rat teilte ihnen auch mit, daß man in Augsburg nicht für ihre Sicherheit garantieren könne. 38 Das zähe Ringen um die Durchsetzung der Restitutionen in Augsburg ist schon 1890 von Hermann Vogel anschaulich geschildert, darüber hinaus jüngst auch von Rolf Kießling, vor allem im Zusammenhang mit der Gemeinde St. Anna, dargestellt worden. 39 Hervorzuheben ist dabei, daß der katholische Rat das Zentrum des Widerstandes bildete und daß dabei weniger die Normaljahrsregel als die künftige konfessionell paritätische Besetzung der Ratsstellen den Stein des Anstoßes bildete. Am 20. November 1648 äußerten die Katholiken in einem Schreiben an den Reichshofrat ihre Enttäuschung über die schweren Neuerungen durch den Westfälischen Frieden und beklagten Mängel bei der Kommunikation mit den kaiserlichen Gesandten während der Verhandlungen. 40 Stattdessen hatten die Augsburger Protestanten dem Kaiser einen Tag zuvor zum Friedensschluß gratuliert und bereits darauf hingewiesen, daß die Katholiken ihn ablehnten. 41 Am 3. Dezember formierten sich, wie ein weiteres Resolutionsprotokoll des Reichshofrats erkennen läßt, Ausschüsse aus der evangelischen Bürgerschaft, um Restitutionen gegen den Rat, das Domkapitel, das Kollegialstift bei St. Moritz, die Prälaten zu St. Ulrich, St. Afra, zum Hl. Kreuz und die Augustiner zu St. Georg durchzusetzen. Die Kontrahenten wurden nun seitens des Reichshofrates wie Prozeßparteien in den Protokollen aufgeführt. Die Restitution in Augsburg seit 1648/ 49 läßt sich als Erfolg der Normaljahrsregel beschreiben, wenn wir ihre Durchsetzung zum Maßstab nehmen. Den Protestanten wurden gemäß dem Normaljahr 1624 unter anderem 14 Pfarr- und Predigerstellen und der Gottesdienst an neun unterschiedlichen Orten zugestanden: zu St. Anna, St. Ulrich, in der Barfüßerkirche, der Spitalkirche, zu St. Jacob und an den Stätten, auf denen sich die niedergerissenen Kirchen Hl. Kreuz, St. Georg, St. Servatius und St. Wolfgang 42 befunden hatten. Der Klerus in Augsburg, angeführt vom Administrator des Hochstifts Johann Rudolf von Rechberg, leistete, im Gegensatz zum Rat, keinen Widerstand, wenn wir einmal davon absehen, daß einige Geistliche die Schlüssel, die an Protestanten zu übergeben 38 Es handelte sich hierbei um »Warnungen«, daß man nicht für die Sicherheit der Kommissare sorgen könne; H. V OGEL , Exekution (Anm. 37), S. 19f. 39 H. V OGEL , Exekution (Anm. 37); R OLF K IESSLING , St. Anna im Dreißigjährigen Krieg. Die Geburt eines Traumas, in: D ERS . (Hg.), St. Anna in Augsburg - eine Kirche und ihre Gemeinde, Augsburg 2013, S. 239-269, insbes. 254-256. 40 HHStA, RHR, Protocolla rerum resolutarum XVII, Nr. 11 (20.11.1648). 41 HHStA, RHR, Protocolla rerum resolutarum XVII, Nr. 11 (19.11.1648). 42 St. Wolfgang und St. Servatius hatten sich außerhalb der Stadtmauern befunden und waren aus verteidigungstechnischen Gründen abgerissen worden. <?page no="291"?> R ALF -P E TER F U CHS 290 waren, offenbar absichtlich verlegten und ansonsten akribisch darauf achteten, nicht die geringste Art von Hilfestellung bei der Besitzübernahme zu leisten. 43 Der Rat knickte etwas später ein, nachdem der Kurfürst von Bayern deutlich gemacht hatte, daß von seiner Seite keinerlei Unterstützung bei einer Blockade der Bestimmungen des Westfälischen Friedens zu erwarten sei. Letztlich konnten so die Protestanten sehr weitgehend ihre Interessen durchsetzen. Dies geschah nun auf der Basis von Verhandlungen mit den Katholiken, die auf der Grundlage einer Rhetorik der ›Gütlichen Einigung‹ geführt wurden. In diesem Rahmen wurde den Protestanten etwa auch von den Katholiken zugesichert, die Feiertage so wie im Jahr 1624 weiterhin halten zu dürfen. Im Gegenzug stimmten die Protestanten immerhin einer Ausnahme vom Normaljahr zu, indem den Karmelitern, obwohl sie 1624 noch nicht in der Stadt gewesen waren, deren künftiger Aufenthalt zugestanden wurde, dies allerdings, ohne daß ein formales Recht daraus abgeleitet werden durfte. 44 Daß durch die Normaljahrsregel und die Restitutionskommissionen wie im Fall Augsburgs Verhandlungen zwischen Katholiken und Protestanten angeschoben bzw. erzwungen wurden, die zu einem beachtlich umfassenden Erfolg führten, war allerdings keinesfalls der Regelfall in den Regionen des Reiches. Halten wir zunächst fest, daß in jenen Reichsstädten, für die im ›Instrumentum Pacis Osnabrugensis‹ ebenfalls eine konfessionell paritätische Verfassung festgelegt worden war, namentlich in Dinkelsbühl, Biberach und Ravensburg, 45 ähnliche Probleme auftraten wie in Augsburg. Auch für Kaufbeuren, das in den Reichshofratsprotokollen zuweilen ebenfalls in einer Reihe mit diesen Städten genannt wird, sollte das ›Instrumentum Pacis‹ eine umfassende Restitution garantieren. 46 Auch dort traten Konflikte unter den Ratsleuten beider Konfessionen auf. So erhielt der Reichshofrat ein am 7. September 1649 formuliertes Schreiben von Johann Waller, ehemaligem Bürgermeister in Kaufbeuren, mit Klagen, daß der Haß auf Katholiken in der Stadt zugenommen habe und er selbst nun von den Protestanten mit ungebräuchlichen Auflagen und Dienstbarkeiten injuriert werde. Waller berief sich auf das bei der Restitutionskommission ergangene Versprechen, daß er wie andere ehemalige katholische Bürgermeister an seinen Würden keine Verkleinerung erleiden solle und bat um Inschutznahme, um ihn vor Einquartierungen, ungebräuchlichen Steuern etc. zu verschonen. 47 43 Hierzu auch R. K IESSLING (Anm. 39), St. Anna, S. 255f. 44 H. V OGEL , Exekution (Anm. 37), S. 24. 45 Instrumentum Pacis Osnabrugensis (Anm. 1), Art. V, 11. 46 Instrumentum Pacis Osnabrugensis (Anm. 1), Art. V, 29. 47 HHStA, RHR, Protocolla rerum resolutarum XVII, Nr. 11 (23.9.1649). <?page no="292"?> E IN T ERMIN AL S R ECHTS GR U NDLAGE FÜR DIE K ONF E S S ION 291 Der Reichshofrat formulierte daraufhin ein Schreiben an den Schwäbischen Reichskreis mit der Aufforderung, darauf zu achten, daß den Katholiken im Kreisgebiet keineswegs Belastungen entgegen dem ›Instrumentum Pacis‹ auferlegt würden. 48 Dies mag von den Protestanten vielleicht als eine religionspolitisch einseitige Parteinahme interpretiert worden sein, die das Mißtrauen gegen den katholisch dominierten kaiserlichen Reichshofrat verstärkte. Wir haben andererseits zu konstatieren, daß gerade die Katholiken in Augsburg, die sich als Verbündete von Kaiser und Reichshofrat sahen, die Erfahrung machen mußten, daß die Umsetzung der Normaljahrsregel am Kaiserhof als ein vordringliches Ziel betrachtet wurde. Die kaiserliche Ehre sah man in Wien als untrennbar verknüpft mit dem Friedensschluß. Dementsprechend versuchte man, zumindest in der frühen Phase der Restitutionen, die kaiserliche Autorität bei der Durchsetzung des Friedens zu stärken, indem auf ein striktes Einhalten der Normaljahrsregel gepocht wurde. Daß sich dann mit der Zeit, etwa seit 1650, die Tendenz verstärkte, von der formalistischen Konfliktregulierung abzuweichen, sich den Verhältnissen vor Ort genauer zuzuwenden und die widerstreitenden Konfessionsparteien genauer zu hören, deutet sich im Beispiel der Stadt Kaufbeuren bereits an. In diesem Kontext tat sich auf dem Nürnberger Exekutionstag ein Gegensatz zwischen der schwedischen Heeresführung, die die sofortige Restitution im ganzen Reich einforderte, und den Reichsständen auf. Mittlerweile waren sogar viele protestantische Reichsstände bereit, auf eine sofortige Restituierung zu verzichten und stattdessen auf einen schnellen Abzug der Schweden hinzuwirken. Mittlerweile versuchten schwedische Truppeneinheiten offensichtlich, vor Ort einzugreifen, wie etwa in Ravensburg, wo sich die Kapuziner im Oktober 1650 darüber beschwerten, daß der schwedische General Douglas ihr Kloster von Grund auf hatte demolieren lassen. Dies sei auf Betreiben der Evangelischen im Ort und auf Befehl des schwedischen Generalissimus geschehen. 49 Die Reaktion des Reichshofrats bestand darin, beide Konfessionsparteien im Ort zu Verhandlungen mit dem Ziel Gütlicher Vereinigung zu bewegen. Den kreisausschreibenden Fürsten des Schwäbischen Kreises wurde aufgetragen sich zu informieren, inwieweit tatsächlich ein schwedischer Befehl zur Zerstörung des Klosters, dessen Wiederaufbau die Ravensburger Katholiken vehement forderten, vorgelegen hatte. 50 Ziel war es, eine geordnete Restitution zustande zu bringen, die der Gewalt vor Ort einen Riegel vorschob. Die Restitution in Ravensburg ist sicherlich auch deshalb von besonderem Interesse, als hier der Reichsstadt Memmingen im September 1652 die Kommission zum Vollzug übertragen wurde. Damit stellte sie den protestantischen Gegenpart zu einer zunächst geplanten gemeinsamen Kommission mit dem Erzherzog von 48 HHStA, RHR, Protocolla rerum resolutarum XVII, Nr. 11 (23.9.1649). 49 HHStA, RHR, Protocolla rerum resolutarum XVII, Nr. 149a (25.10.1650). 50 HHStA, RHR, Protocolla rerum resolutarum XVII, Nr. 149a (11.6.1651). <?page no="293"?> R ALF -P E TER F U CHS 292 Österreich (Innsbruck), nachdem die vorherige paritätische Kommission des Herzogs von Württemberg und des Bischofs von Konstanz darin gescheitert war, eine Einigung zustande zu bringen. 51 Ein Jahr später stellte sich jedoch heraus, daß Memmingen sich weigerte, die Kommission zu übernehmen, deren katholische Vertretung nun wiederum durch den Bischof von Konstanz wahrgenommen werden sollte. 52 All dies kann als ein Indiz dafür gewertet werden, daß dem Projekt der Normaljahrsrestitutionen nach dem Ende des Nürnberger Exekutionstages und dem Abzug der schwedischen Truppen aus dem Reich im Herbst 1650 nicht mehr in jener Intensität nachgegangen wurde wie noch direkt nach dem Friedensschluß. 5. Überblick und Ausblick Diese Bemerkung bringt mich zugleich zu einem abschließenden groben Überblick über den Vollzug der Normaljahrsregel im Reich unmittelbar nach dem Dreißigjährigen Krieg. Ich sehe dabei vier Umgangsweisen mit dem Normaljahr in den Regionen. Erstens: Die Normaljahrsregel wurde an mehreren Orten durchaus umfassend zum Vollzug gebracht. Nicht nur Augsburg ist dafür ein Beispiel, auch wenn der Reichshofrat noch lange nach 1649 mit evangelischen und katholischen Beschwerden aus der Stadt konfrontiert wurde. Auch mögen weite Bereiche in Württemberg 53 und in Orten anderer Regionen genannt werden. Der Stichjahrsregelung wurde hier eine Autorität zugesprochen, die nicht zuletzt von der starken kaiserlichen Beteiligung an den Restitutionsvorgängen abgeleitet wurde, darüber hinaus sicherlich auch von der Autorität des Friedens selbst, der in vielen Regionen, wie Konrad Repgen gezeigt hat, 54 als bedeutendes Ereignis gefeiert wurde. Zweitens: Die Normaljahrsregel wurde aber vielerorts an die eigenen Rechtsvorstellungen und die damit verbundenen Ansprüche angepaßt. 55 Da die Reichsverfassung und vielfach auch das ›Instrumentum Pacis Osnabrugensis‹ darauf hinausliefen, Parteien zu ›Gütlichen Verhandlungen‹ zu bewegen, flossen Gerech- 51 HHStA, RHR, Protocolla rerum resolutarum XVII, Nr. 154 (10.9.1652). 52 HHStA, RHR, Protocolla rerum resolutarum XVII, Nr. 159 (16.9.1653). 53 Hierzu R OSWITHA P HILIPPE , Württemberg und der Westfälische Friede, Münster 1976. 54 Siehe z. B. K ONRAD R EPGEN , Die Feier des Westfälischen Friedens in Kulmbach (2. Januar 1649), in: ZBLG 58 (1995), S. 261-275. 55 Johann Jacob Moser sah dies nicht als Verstoß gegen den Westfälischen Frieden an. Seiner Meinung zufolge war eine Abänderung der Normaljahrsbestimmung durch die Friedensverträge durchaus nicht ausgeschlossen. Siehe J OHANN J AKOB M OSER , Von der Landeshoheit im Geistlichen, nach denen Reichs-Gesetzen und dem Reichs-Herkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrern und eigener Erfahrung […]. Frankfurt/ Main-Leipzig 1773, S. 572f. <?page no="294"?> E IN T ERMIN AL S R ECHTS GR U NDLAGE FÜR DIE K ONF E S S ION 293 tigkeits- und Rechtstraditionsaspekte aus den Orten und Regionen in die Restitutionsvorgänge ein. ›Gütliche Einigungen‹ liefen wiederum oft darauf hinaus, daß das Normaljahr stark in den Hintergrund treten konnte. In einigen Gebieten, nennen möchte ich hier das Fürstbistum Osnabrück und das Herzogtum Kleve wie auch die Grafschaft Mark, erscheint das Normaljahr in sehr untergeordneter Position, als eine Rechtsgrundlage unter vielen. Drittens: Das Normaljahr wurde auch ignoriert. Hierfür läßt sich etwa das Beispiel Kurpfalz anführen, wo eine der Konfessionspluralität offen gegenüberstehende landesfürstliche Politik, die auf Bevölkerungswachstum ausgerichtet war, offensichtlich lange Zeit verhinderte, daß Untertanenbegehren auf der Basis eines im Westfälischen Frieden festgelegten Normaljahrs 1624 geäußert wurden 56 In anderen Gebieten stand der Normaljahrsregel eine starke Landesherrschaft entgegen, wie in der Herrschaft Rothenberg bei Nürnberg, wo es den Kurfürsten von Bayern auf längere Sicht gelang, rechtliche Ansprüche der Protestanten unter den Tisch fallen zu lassen. 57 Viertens: Die Normaljahrsregel führte zwischenzeitlich zum kriegerischen Protest in den niederrheinischen und westfälischen Provinzen Brandenburgs, wo Kurfürst Friedrich Wilhelm gegen pfalz-neuburgische Versuche, das Jahr 1624 zum Ansatzpunkt für Rekatholisierung zu machen, einen Normaljahrskrieg einleitete. 58 Auch ist auf die beharrliche Weigerung des adeligen Johann Arnold von Sickingen hinzuweisen, sich einer protestantischen Restitution nach dem Normaljahr in seiner Herrschaft, insbesondere im Flecken Ebernburg, zu beugen. Nachdem von Sickingen 1656 in damit mittelbar zusammenhängenden bewaffneten Auseinandersetzungen den Tod finden sollte, wurde die Normaljahrsregel erst im Jahr 1663 von einer Kommission durchgesetzt. 59 56 Für die Kurpfalz wurden die kirchlichen Restitutionen der reformierten Gemeinden mit der Restitution des wittelsbachischen Fürstenhauses verbunden. Für die Restitution der pfälzischen Kurfürsten war wiederum der Zeitpunkt vor Ausbruch der »böhmischen Wirren« maßgeblich gewesen. 57 Hierzu R.-P. F UCHS , Medium (Anm. 15), S. 366. 58 R.-P. F UCHS , Medium (Anm. 15), S. 317-332. 59 Siehe C HRISTOPH F LEGEL , Die lutherische Kirche in der Kurpfalz von 1648 bis 1716, Mainz 1999, S. 104-110. Allerdings sollten die protestantischen Untertanen zu Ebernburg noch 1711 die Unterstützung des Corpus Evangelicorum gegen die Einschränkung der Religionsfreiheit erbitten: E BERHARD C HRISTIAN W ILHELM VON S CHAUROTH , Vollständige Sammlung Aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des Hochpreißlichen Corporis Evangelicorum vom Jahr 1663, biß 1752. Nach Ordnung der Materien zusammen getragen und heraus gegeben. Dritter und letzter Tomus. Nebst einer Chronologischen Verzeichniß und vollständigen Register über sämtliche drey Theile, Regensburg 1751/ 52, S. 587-591. <?page no="295"?> R ALF -P E TER F U CHS 294 Ich möchte betonen, daß dieser Überblick eine genauere Untersuchung der Restitutionen vor Ort nicht ersetzen kann und soll. Vielmehr soll er dazu anregen, den Dingen mit Quellen aus den Regionen, also aus den Staats- und Stadtarchiven, genauer auf den Grund zu gehen. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, daß die Normaljahrsregel zum Teil von Kirchengemeinden im 18. Jahrhundert wiederentdeckt und nun als Chance betrachtet wurde, die Verhältnisse in den Ortschaften umzugestalten. 60 Im Hinblick auf unsere grundlegende Fragestellung nach der Autorität eines in komplexen politischen Gesprächen ausgehandelten Stichtermins, der den Menschen in den Regionen des Reiches von juristischer Seite als Gesetz nahegebracht werden sollte, sind also differenzierte Antworten zu geben, wobei ich die Grundlinien soeben zu beschreiben versucht habe. Konkret für den schwäbischen Raum sehe ich größeren Forschungsbedarf, was etwa die Restitutionen in Reichsstädten wie Kaufbeuren, Ravensburg und Lindau betrifft. Aus der Reichsperspektive, die ich in meinen Forschungen hauptsächlich eingenommen habe, wird deutlich, daß hier ein großer Bedarf an Klärung von Streitfragen während der Restitutionen bestand. Dies weisen die ›Protocolla Rerum Resolutarum‹ 61 des Reichshofrats deutlich aus. Sie zeigen ebenfalls, daß in Augsburg immer wieder zähe Konflikte auch nach den ›Gütlichen Einigungen‹ der Jahre 1648/ 49 auftraten. Schließlich wurde in einzelnen Flecken des Herzogtums Württemberg, wie etwa in Salach, erbittert um die Normaljahrsregel gerungen. 62 Kurz: Umfangreichere Archivstudien vor Ort sind vonnöten, um allen diesen Auseinandersetzungen in den Regionen mit gebührender Sorgfalt nachzugehen. 60 Siehe z. B.: Anzeige und Vorstellung, betreffend der Evangelischen Gemeinde zu Hüttenheim gegen das Hochstifft Würtzburg und das Fürstliche Hauß Schwartzenberg habende Religions-Beschwerden, [s. l.] [ca. 1725]. 61 Zahlreiche dieser Quellen sind auch zu finden bei J OHANN J ACOB M OSER , Erläuterung des Westphälischen Friedens aus reichshofräthlichen Handlungen, 2 Bde., Erlangen 1775/ 76. 62 R.-P. F UCHS , Medium (Anm. 15), S. 346-347. <?page no="296"?> 295 S ABINE H OLTZ Lob der Muße? Barocke Konfessionskulturen im deutschen Südwesten Wer in seinen Schul = und akademischen Jahren nichts Gründliches gelernt hat, […] der wird im [Pfarr]Amte noch weniger studieren, und die größte Muße mit Müßiggang, Spielwerken, Tobakrauchen, Gesellschaften, Kartenspiel u. d. gl. verderben. Wer aber Neigung zum Studieren hat, den wird die ausgedehnteste Pfarr = Wirthschaft kaum ein Viertel = Jahr vom Lesen abhalten, im Herbste und Winter aber ihm Zeit genug übrig lassen. 1 Daß in der Ökonomischen Enzyklopädie von Johann Georg Krünitz (1728-1796) das Studium in Opposition zu Muße, Müßiggang, Spiel, Tabakrauchen und Gesellschaft gebraucht wurde, überrascht nicht. Krünitz unterstrich hier, was bereits Johann Heinrich Zedler (1706- 1751) im Artikel ›Muße‹ in seinem ›Großen vollständigen Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste‹ (1731-1754) festgehalten hatte: Muße, Otium, heisset die Freyheit von ordentlichen Verrichtungen. Daher kommen müßige Stunden, die Zedler einen eigenen Eintrag wert waren: Aus denen Gedancken bey müssigen Stunden kann ein jeder seine eigene Neigungen abnehmen. […] Ein Liebhaber des Frauenzimmers wird bey müssigen Stunden am meisten an das Frauenzimmer; einer, der gerne reiset, an das Reisen gedenken ec.ec. 2 Bei Krünitz wurde aber auch betont, daß Zeit und Muße niemanden zum Studieren bringen, hingegen Zerstreuung, Amt und Wirthschaft niemanden davon abhalten werden. 3 Mit den genannten Begriffen: Studium (Lernen, Arbeit), Muße und Müßiggang läßt sich das Themenfeld umschreiben, das es bei der Frage nach dem ›Lob der Muße? ‹ zu untersuchen gilt. Der Untersuchungszeitraum ist durch den Hinweis auf die barocken Konfessionskulturen benannt. Da Barock in erster Linie mit Katholizismus konnotiert ist, muß, um den konfessionellen Aspekt berücksichtigen zu können, auf den Plural Konfessionskulturen aufmerksam gemacht werden, der Begriff also in erster Linie als zeitliche Größe verstanden werden. Er verweist dann auf die Zeit zwischen dem Westfälischen Frieden und der zweiten Hälfte des 1 Art. Muße, in: J OHANN G EORG K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft, 99. Teil, Brünn 1814, S. 67 sowie http: / / www.kruenitz1.uni-trier.de/ (25.9.2014). 2 Art. Muße, in: J OHANN H EINRICH Z EDLER , Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste, Halle-Leipzig 1739, Bd. 22, S. 1537 (http: / / www.zedler-lexi kon.de/ - 25.9.2014) und Art. Müssige Stunden, in: Ebd., S. 663. 3 Art. Land-Pfarrer, in: J. G. K RÜNITZ , Oekonomische Encyklopädie (Anm. 1), 61. Teil, S. 169. <?page no="297"?> S ABINE H OLTZ 296 18. Jahrhunderts. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist, daß die Vielfalt der Kulturen ganz wesentlich auf Religion, hier genauer Konfession, gegründet ist. Religion war, um es in Anlehnung an Bob Scribners Beobachtung für das späte Mittelalter zu sagen und gleichzeitig die Linie bis in die Zeit des Barock auszuziehen, »gleichzeitig soteriologisch, funktional, pastoral, leitete zur Frömmigkeit (pietas) hin, zum Bemühen um ein gottgefälliges Leben. Und hatte zudem unvermeidlich soziale, politische und ökonomische Dimensionen.« 4 Aktuell gibt es zum Thema ›Muße‹ an der Freiburger Universität den jüngst (2013) eingerichteten Sonderforschungsbereich (SFB 1015) ›Muße. Konzepte, Räume, Figuren‹, der das Phänomen der Muße aus unterschiedlichen Fachperspektiven beleuchtet. Als Ausgangspunkt des Forschungsprogramms wurde folgende Definition gewählt: Muße habe, heißt es dort, »ihre eigene, offene Zeit, die zum Freiraum simultaner Möglichkeiten in Kreativität, Denken und Erfahrung wird. Dieses Potential der Muße macht sie so begehrenswert wie ambivalent; einerseits verheißt sie in besonderer Weise Erfüllung, andererseits führt sie aus alltäglichen Lebenszusammenhängen hinaus und kann insofern soziale Ordnungen destabilisieren.« 5 Um Muße zu haben, bedurfte es also freier Zeit, es bedurfte, um es mit dem Wissenschaftsjournalisten Ulrich Schnabel zu sagen, »das Glück des Nichtstuns«, und das hatten die meisten Menschen, die in der Frühen Neuzeit lebten, nicht oder nur selten - mit Ausnahme des Adels, der prompt bei der sich nach der Mitte des 18. Jahrhunderts ausprägenden ständischen Funktionselite des Neuen Bürgertums in die Kritik geriet. 6 Diese neue Funktionselite bestimmte sich nicht mehr durch Geburt, sondern durch Bildung und Leistung. In diese neue kulturelle Praxis paßte das traditionale Bild des Adels, der sich durch Muße und standesgemäßen Luxuskonsum einerseits sowie durch den Verzicht auf Handarbeit, Handel und Gewerbe andererseits auszeichnete, nicht mehr. Wer konnte sich Muße jenseits des Adelsstandes leisten? Die Forschung geht davon aus, daß die Konfessionen ganz unterschiedliche Konzepte für den Umgang mit Muße entwickelt haben. Der barocke Katholizismus habe, schon bedingt durch die Vielzahl an Feiertagen, seinen Gläubigen mehr Muße gegönnt als beispielsweise das Luthertum und das Reformiertentum; letzteres habe gar eine rigide Ablehnung von Muße vertreten. Um Muße zu haben, bedurfte es zunächst einmal freier Zeit. Am Ende des Mittelalters wurden, einer Studie von Franz-Kuno Ingelfinger zufolge, in der Diözese Konstanz neben vier hochzeitlichen Festen (Ostern, Pfingsten, Mariae Himmel- 4 R OBERT S CRIBNER , Reformation, Volksmagie und die »Entzauberung der Welt«, in: L YN - DAL R OPER (Hg.), Bob Scribner. Religion und Kultur in Deutschland 1500-1800 (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 175), Göttingen 2002, S. 378-398, hier 380. 5 http: / / www.sfb1015.uni-freiburg.de/ forschungsprogramm (25.9.2014). 6 U LRICH S CHNABEL , Vom Glück des Nichtstuns, München 2010. <?page no="298"?> L O B DER M U S S E ? B AR OCKE K ONFE S S IONS KU LTU R EN 297 fahrt, Weihnachten) rund 50 weitere Feiertage begangen. Mit den Sonntagen zusammengenommen, ergaben sich insgesamt rund 100 Feiertage pro Jahr. 7 Dies war eine Zahl, die schon von Zeitgenossen als übergroß empfunden wurde, die sich aber über die frühneuzeitlichen Jahrhunderte kaum verringerte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, 1773, hielt der evangelische Pfarrer Johann Friedrich Mayer aus Hohenlohe (Kupferzell) folgenden Sachverhalt fest: Der Catholicke hat jährlich 120 Ruhetäge: der Protestant hat ihrer nur 60; dergestalt, dass der erste den dritten Theil des Jahres, der andere nur den sechsten Theil desselben müßig ist. Der catholische Ackersmann vermisset also den Gewinn aus 60 Tagen, den der protestantische machte, da der catholische an den Feyertägen von 60 Tägen in den Wirthshäusern schmauset, oder festlicher zu Hause isset, trinkt, und sich kleidet, Besuche annimmt oder gibt und dergleichen, so ist unterdessen der Protestante mit seinem Alltagsbrod zu frieden und arbeitet sich weniger schadhaft in seinem alltäglichen Kittel. Der Catholicke also gewinnt 60 Täge nichts, und verzehret vorzüglich 60 Täge hindurch; da der Protestante 60 Täge gewinnt, und durch keine feyerliche Ausschweifung etwas verliert. 8 Vermutlich war es ein Katholik, Johann Adam Freiherr von Ickstatt, der bereits ein Jahr zuvor, 1772, eine Schrift mit dem Titel ›Christian Menschenfreunds Untersuchung der Frage: Warum ist der Wohlstand der protestantischen Länder so gar viel größer als der katholischen? ‹ 9 (anonym) publiziert hatte. Ickstatt verwies in seinen Ausführungen detailliert auf die ungeheure Geld- und Zeitverschwendung, die ein kirchentreues katholisches Leben mit sich bringe: Kosten für Kirchen, Bilder, Kreuze, Reliquien und geistliche Handlungen, sogar über den Tod hinaus, Kosten für den Unterhalt der Klöster, den Aufwand bei Wallfahrten, Prozessionen etc., schließlich die Zeitversäumnisse, angefangen vom täglichen Kirchgang bis zu den vielen Feiertagen und den damit zusammenhängenden ›Liederlichkeiten‹, die allesamt einen enormen volkswirtschaftlichen Schaden verursachen würden. 10 Auch wenn man bei Mayer noch konfessionelle Polemik unterstellen könnte, so zeigt doch Ickstatts Schrift, daß der ökonomische Modernisierungsvorsprung der protestantischen Länder unbestritten war. Läßt sich also die These, die Konfessionen hätten unterschiedliche Konzeptionen im Umgang mit Muße entwickelt, verifizieren? Hierzu muß zunächst ein Blick auf das Verhältnis der Konfessionen zur Arbeit geworfen werden. 7 F RANZ -K UNO I NGELFINGER , Die religiös-kirchlichen Verhältnisse im heutigen Württemberg am Vorabend der Reformation, Diss., Stuttgart [1939], S. 124; P ETER H ERSCHE , Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter, Bd. 1, Freiburg 2006, S. 618-624. 8 Zitiert bei: P AUL M ÜNCH , Lebensformen in der frühen Neuzeit (1500-1800), Frankfurt/ Main 1992, S. 428f. 9 Abgedruckt in: P AUL M ÜNCH , Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung »bürgerlichen Tugenden«, München 1984, Nr. 31, S. 178-181. 10 P. M ÜNCH , Lebensformen (Anm. 8), S. 428. <?page no="299"?> S ABINE H OLTZ 298 Es ist Common Sense in der Geschichtswissenschaft, daß die Arbeit durch die Reformation eine moralisch-soziale Aufwertung erfuhr; dies schloß körperliche Arbeit ein. Martin Luther betonte die Gleichwertigkeit aller Arbeit vor Gott. Die Vita contemplativa der Mönche und Nonnen wurde nicht länger als ›höherwertig‹ denn die Vita activa des gemeinen Mannes eingestuft. Arbeit wurde nachreformatorisch geradewegs zum weltlichen Kennzeichen des christlichen Menschen. Müßiggang und Bettelei wurden dagegen - selbst oder gerade aus religiösen Gründen - als unmoralisch und unchristlich gewertet. Arbeit und Berufsausübung wurden Teil des christlichen Handelns und Lebens in der Welt, sie dienten zur Ehre Gottes. 11 Als Maßstab für den Wert einer Arbeit galt nicht, was sie vor Menschen galt oder welchen Gewinn sie einbrachte, sie galt auch nicht im Sinne eines guten Werkes als Verdienst vor Gott. So mußte selbst der Reiche arbeiten, auch ohne wegen seines Lebensunterhaltes dazu gezwungen zu sein. Denn die Arbeit war Gottes Gebot für alle, ohne Unterschied des Standes. Der Verurteilung des Nichtstuns ›oben‹ entsprach der Kampf gegen die Arbeitsscheu ›unten‹, d. h. vor allem gegen das Betteln, ausgehend von Schriften wie ›Arbeit und Bettel‹ (1523) von Wenzel Linck oder von Luthers Schrift ›Ordnung eines gemeinen Kastens‹ (1523): Keine betteler unnd Bettleryn sollen ynn unnserem kirchspiell ynn der stadt noch dorffern, gelidden werden, dann welche mit alder oder kranckheitt nicht beladen, sollen arbeiten oder aus unnserem kirchspiell […] hynwegk getrieben werden. 12 Zudem fiel in den protestantischen Territorien das Almosengeben als Inbegriff eines guten Werkes weg. In der mittelalterlichen Tradition lag hier zwischen Bettler und Almosengeber das Do-ut-des-Prinzip zugrunde. Der fromme Spender gab dem Bettler ein Almosen, und der Bettler wiederum betete für das Seelenheil des Spenders: So taten beide Seiten ein gutes Werk. Aber die reformatorische Ablehnung des Almosengebens bezog sich nicht nur auf die Bettler. Die Ablehnung galt auch gegenüber den Menschen, die ein Leben im geistlichen Stand führten, die ›freiwillig Armen‹, vor allem die Bettelmönche. Luther griff hier ein Argument auf, das die soziale Erfahrung lehrte: Mönche und Geistliche arbeiteten nicht, sie seien faul und unnütz. Mit Luther wurde die kirchliche Hochschätzung des Bettels für die Almosen nehmenden ›freiwilligen‹ Armen und für die Almosen gebenden gottwohlgefällig verdienstvollen Reichen obsolet. 11 Ein modernes Berufsethos und eine profitorientierte - kapitalistische - Gesinnung waren damit aber selbst im asketischen Protestantismus noch nicht gegeben. Weltliche Tätigkeit um ihrer selbst willen, die also weder der Bekämpfung von Lastern noch dem Aufbau einer christlichen Ordnung diente, sanktionierte die protestantische Moral damit nicht. 12 M ARTIN L UTHER , D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), Abt. 1: Werke, Bd. 12, Weimar 1891, S. 23. <?page no="300"?> L O B DER M U S S E ? B AR OCKE K ONFE S S IONS KU LTU R EN 299 Wurde die christliche Armut, verstanden als Leben von Spenden anderer, abgetan und der Bettler als eine unsittliche Erscheinung angesehen, die abgeschafft werden mußte, so ergab sich daraus der Gedanke, daß Arbeit sowohl Strafe wie Zucht und Erziehung sein könne und daher von der Obrigkeit erzwungen werden konnte. Dem entsprachen Arbeits- und Zuchthäuser, die seit dem 16. Jahrhundert von calvinistischen Ländern, besonders Holland, ausgingen. 1725 wurde in Ravensburg ein Zucht- und Arbeitshaus eingerichtet. 13 Elf Jahre später erfolgte die Einrichtung des herzoglichen Zucht- und Arbeitshauses in Ludwigsburg. 14 Der christliche Arbeitsbegriff in seiner lutherischen Ausprägung erlaubte wohl Erbeiten, daß man Güter kriegt, das ist recht. 15 Er gestattete aber nicht, darin den Inhalt des Lebens oder gar das Streben zu Akkumulation und Expansion von Kapital und Wirtschaft zu sehen. Arbeit im Beruf war nicht auf Leistungssteigerung oder gar auf Veränderung angelegt, sondern auf die dienende Pflichterfüllung im Gegebenen. Für die Lutheraner galt, daß jeder durch göttliche Fügung in seinen Beruf gestellt war, dort hatte er seine Pflicht zu tun, er sollte in seinem Stande bleiben, soziale Mobilität war ausdrücklich nicht Ziel des Arbeitens. 16 Bleib in deinem Stande und sei zufriden, du sitzest oben oder unten an und hüte dich für dem Übersteigen, daß du nicht denkest: Weil ich ein Fürst, Edel, Gelehrt, gewaltig bin, so muß man mich allein ansehen und hochheben, sondern also sagest: behüte mich, himmlischer Vater, für der Hoffart. Denn ich weiß, daß der geringste Ackerknecht kann für dir besser sein denn ich etc. 17 Mit eigener Kraft konnte der Mensch kaum etwas erreichen, Gottes Segen mußte seine Arbeit begleiten. Predigt und Gebet behinderten den Menschen in Arbeit und Beruf nicht. Das Gegenteil war vielmehr der Fall: nach dem Hören der Predigt war gut schaffen und arbeiten. 18 Die so verrichtete Arbeit wurde von Gott gesegnet: Es kommt zwar der Seegen GOttes denen Frommen im Schlaff; aber nicht durch den Schlaff. Hie heisset es: Hand an, und arbeite; dann erst Hand auf, und nimm den Seegen vom 13 K ARL B RAUNS , Das Zucht- und Arbeitshaus in Ravensburg 1725-1808, in: ZWLG 10 (1951), S. 158-165. 14 A. B ERTSCH , Das herzogliche Zucht- und Arbeitshaus in Ludwigsburg 1736-1806. Ein Bild ehemaliger Finanzwirtschaft, in: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde 1909, S. 112-126. 15 WA 29 (Anm. 12), S. 551; W ERNER C ONZE , Art. Arbeit, in: Geschichtliche Grundbegriffe 1 (1972), S. 154-215, hier 163-174. 16 C ONRAD D IETERICH , Ecclesiastes. Das ist: Der Prediger Salomo: Jn verschiedenen Predigen erklärt vnd außgelegt […]. Erster Theil, Ulm 1642, S. 862; M ONIKA H AGENMAIER , Predigt und Policey. Der gesellschaftspolitische Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614-1639 (Nomos Universitätsschriften, Geschichte 1), Baden-Baden 1989, S. 166- 169. 17 WA 49 (Anm. 12), S. 609. 18 Summarien Oder gründliche Auslegung Uber die gantze Heil. Schrifft […], Bd. 1-6, 2. Aufl. Leipzig 1709, hier Bd. 6, S. 373. <?page no="301"?> S ABINE H OLTZ 300 HErrn. 19 Gott versprach, alle Hausgeschäfte und Arbeiten, wenn sie von Herzen und mit gutem Willen ungezwungen getan würden, zeitlich und ewig zu belohnen. 20 Arbeit erhielt die menschliche Gesundheit und bewahrte vor dem Abgleiten in Armut. 21 Die Lutheraner predigten, daß zur Arbeit auch Zufriedenheit im Hinblick auf irdischen Besitz, an dem das Herz nicht hängen sollte, gehöre. Der Mensch solle zwar fleißig in seinem Beruf arbeiten, aber auch mit fröhlichem Herzen genießen, was ihm Gott gegeben hat: Darum in diesem Leben nichts bessers sey, als in seinem Beruff fleißig dahin gehen, arbeiten, und, was Gott bescheret, in seiner Furcht geniessen, dabey ein froliches Hertz haben, und das eitele Wesen sich nicht anfechten lassen. Das sey eine Gabe Gottes, wo man solche thue, und sein Hertz sey also erfreuet. 22 Dem, der seinen Berufsgeschäften mit Gottvertrauen, fleißig, treu, wahrhaftig und redlich nachkomme, sei die Arbeit keine Last, sondern reine Lust. Die irdischen, zeitlichen Güter könnten mit Freuden und gutem Gewissen genossen werden. Dazu bedurfte es Muße. Die lutherischen Prediger verwarfen die Nahrungssorge, weil sie Streben nach Frömmigkeit behindere, aber auch zu Geiz führe: Denn der Geitzige könne nimmer ersättiget werden, dürffe darzu seines Guts nicht geniessen, und habe nichts davon, als Sorge, Angst, und grosse Mühe […]. 23 Die erwirtschafteten Güter dienten zur notwendigen Nahrung, konnten aber auch die Armut anderer lindern. Keineswegs sollte der Gläubige sein Herz an diese Güter hängen und sich auf irdisches Gut verlassen. Reichtum per se war keineswegs verwerflich, er wurde sogar benötigt, um Kirchen und Schulen zu unterhalten, der Obrigkeit Steuern zu zahlen, sich und die seinen ehrlich zu ernähren und die Armen nicht zu vergessen. Die gegenseitige Hilfe erhielt Liebe und Einigkeit unter den Menschen. Die schwachen Bettler eines Ortes konnten mit Recht auf die Hilfe ihrer Kommune zählen. 24 Die starken, also arbeitsfähigen Bettler hingegen bedrohten die ohnehin knappe Ernährungsgrundlage der dörflichen und städtischen Bevölkerung. Sie konnten keine Hilfe erwarten. Wer durch eigene Schuld, sei es Trunkenheit, Verschwendung oder Verschuldung, verarmte, konnte nicht auf Unterstützung seitens der Gemeinschaft zählen. Wer dagegen durch Krankheit oder Todesfall bedroht war, durfte mit Solidarität rechnen, wenn auch die zumeist dürftigen Überschüsse nur wenig hergaben. Alle Arbeit, auch die geringste, war deshalb Arbeit gegenüber Gott: Denn GOTT siehet nicht an, wie groß und wichtig die Arbeit sey, sondern aus was für Glauben und 19 Summarien (Anm. 18), Bd. 6, S. 512f. 20 Summarien (Anm. 18), Bd. 6, S. 1038. 21 Zum Folgenden: Summarien (Anm. 18), Bd. 5, S. 539; Bd. 3, S. 1814. 22 Summarien (Anm. 18), Bd. 3, S. 1961f. 23 Summarien (Anm. 18), Bd. 3, S. 1961f. 24 R ICHARD VAN D ÜLMEN , Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Dorf und Stadt (16.- 18. Jahrhundert), Bd. 2, München 1992, S. 239f. <?page no="302"?> L O B DER M U S S E ? B AR OCKE K ONFE S S IONS KU LTU R EN 301 Hertzen sie geschehe […]. 25 Galt alle Arbeit als gleichwertig, konnten die lutherischen Theologen problemlos für die Einhaltung der hierarchischen Ordnung innerhalb der Stände eintreten. 26 Die soziale Ungleichheit war also durchaus von Gott gewollt. Jeder sollte in seinem Stand bleiben und dort sein Amt ausüben, 27 ja mit seinem bescheidenen Teil zufrieden sein. 28 In dieser Tradition stand auch der lutherische Liederdichter Paul Gerhard (1607-1676): 29 Gib dich zufrieden und sei stille in dem Gotte deines Lebens. In ihm ruht aller Freuden Fülle, ohn ihn mühst du dich vergebens. Er ist dein Quell und deine Sonne, scheint täglich hell zu deiner Wonne. Gib dich zufrieden! Jede Veränderung von Stand und Amt blieb ein allein der Fügung Gottes vorbehaltenes Recht. Das Arbeitsgebot bewirkte dennoch eine ungeheure »Verfleißigungskampagne«. 30 Allerdings mag erstaunen, daß das Luthertum dazu aufrief, nicht ohne Unterlaß zu arbeiten, sondern das Erarbeitete auch zu genießen. Ausgehend von den Kirchen der Reformation erreichte die neue Lust zur Arbeit auch die katholischen Territorien. Dies zeigen Bettelordnungen ebenso wie katholische Predigten aus dem süddeutschen Raum. 31 Eine große Zahl katholischer Barockpredigten rief ausdrücklich zu Fleiß und Leistung im Alltag auf und mahnte vor den Gefahren des Nichtstuns. Der Vilgertshofener Wallfahrtspriester Christoph Selhamer 32 kam der lutherischen Auffassung von Arbeit sehr nahe, wenn er 25 Summarien (Anm. 18), Bd. 6, S. 1039. 26 T OBIAS W AGNER , Epistel = Postill Das ist: Schrifftmässige Auslegung der ganzen Sonn = Fest = und Feyertäglichen Episteln deß Jahrs […] Der Ander nämblich Sommer = und Herbst = Theil […], Tübingen 1668, S. 466; G EORG H EINRICH H ÄBERLIN , Postilla epistolica versicularis, Oder Christliche Predigten über die Sonn = Fest = und Feyrtägliche Episteln […], Stuttgart 1685, S. 302a. 27 T. W AGNER , Epistel = Postill (Anm. 26), S. 625. 28 T. W AGNER , Epistel = Postill (Anm. 26), Bd. 2, S. 232; Bd. 1, S. 880. 29 EKG 295,1. 30 P. M ÜNCH , Lebensformen (Anm. 8), S. 359. 31 Die Hinweise auf die im folgenden konsultierten süddeutschen Barockprediger und ihre Predigten stammen aus E LFRIEDE M OSER -R ATH , Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddeutscher Barockpredigten, Stuttgart 1991. 32 http: / / www.literaturportal-bayern.de/ autorenlexikon? task = lpbauthor.default&pnd = 118 897322 (25.9.2014). <?page no="303"?> S ABINE H OLTZ 302 an seine Hörer appellierte: Braff gearbeitet ist auch gebettet! 33 Johannes Prambhofer formulierte sehr konkret, was es heißt, zu arbeiten: Es muß der Mann nicht den gantzen Tag in der Kirchen hocken/ unter dessen zu Hauß alle Arbeit vernachlässigen/ sein Weib und Kinder Gott dem Herrn allein überlassen und warten/ bis ihme das Brodt miraculoser Weis in das Maul komme/ oder die gebrattene Vögel ins Maul fliegen. Es muß das Weib nicht den gantzen Vormittag in dem Gotts-Hauß verharren/ und allen Weyhbrunn außschlecken/ unterdessen glauben, daß die Engel werden die Stuben außkehren/ und das Kraut einbrennen; das ist weder gut noch rathsam; sondern Gott will/ daß wir zwar in die Kirchen gehen und unser Gebett verrichten/ nicht aber die Händ in Sack schieben/ sondern dem Göttlichen Beystand unsern eigenen Fleiß und Arbeit zugesellen. 34 Man müsse hinter dem Ofen hervor, müsse sich Mühe und Arbeit kosten lassen/ - so Athanasius von Dillingen - wenn man etwas erwerben will/ guten Lohn gibt man nicht vor der Arbeit […]. 35 Ignatius Ertl verwies auf Hiob: der Mensch wird zur arbeit geboren/ und der Vogel zum fliegen, ohne Arbeit kan der Mensch nicht leben/ er muß zuthun und zuschaffen haben/ sonsten ist ihm nicht wol, […] zur Arbeit muß er sein Händ außstrecken/ und sich so lang bemühen/ strapezieren und abfretten/ biß man ihme endlichen in den Tod das Requiem aeternam zusinget/ und die ewige Ruhe anwünschet […]. 36 Arbeit sollte mit Freude verrichtet werden, darauf machte Leo Wolff in Form eines Sprichwortes aufmerksam: Lust und Lieb zu einem Ding/ macht alle Müh und Arbeit ring. 37 Wer so motiviert seine Arbeit verrichtete, der mußte auch von ihr leben können: Wann der Baursmann seine Felder umackert/ anbauet/ die schuldige Mühe seiner seits daran verwendet/ darff er nicht Hunger leyden/ die Erdt bringt ihm das Brod ins Hauß. Wann der Handwercker sein Werckstadt liebt/ die Arbeit geschwind verfertiget/ sein Fleiß bringt ihm das Brod ins Haus. 38 Das gilt selbstverständlich auch vice versa: Wann der Haußmagd der Kehrbesen/ dem Schreiber die Feder/ dem Kellner die Schlüssel/ dem Mahler der Pemsel/ 33 C HRISTOPH S ELHAMER , Tuba Rustica. Das ist: Neue Gei-Predigen/ Worinn auf alle Sonntäg (Festtäg) deß Jahrs Wundersame Lieb- und Lebensdaten-Thaten/ Deren/ so vor disem fromb und heilig auf dem lieben Gej gelebt […], Augsburg 1701, S. 172. 34 J OHANNES P RAMBHOFER , Ungesaltzenes und ungeschmaltzenes Doch wolgeschmackes Kirchtag-Süppel […], Das ist: Vier und dreyßig einfältige/ aber mit Biblischen Concepten/ sittlichen Lehren […] reich gespickte Kirchweyh-Predigten, Augsburg 1710, S. 645. 35 A THANASIUS VON D ILLINGEN , Argonatica Spiritu-Moralis […] Geistliche und Sittliche Schiffart […] das ist: Einfältige doch nützliche Predigen auff alle Sonn- und Feyrtäg […] eingerichtet […], Dillingen 1698, S. 716. 36 I GNATIUS E RTL , Promontorium Bonae Spei, Oder: Himmlisches Vorgebürg der guten Hoffnung […] das ist: Neue geist- und lehrreiche Predigen auf alle Sonntag deß gantzen Jahrs […], Augsburg 1711, S. 557. 37 L EO W OLFF , Rugitus Leonis, Geistliches Löwenbrüllen. Das ist: Lob-schuldigste Ehrenpredigen/ Auf alle Fest-Täg […] Erster- oder Winter-Theil […], Augsburg 1705, S. 492. 38 C ONRAD VON S ALZBURG , Fidus Salitus Monitor […] Das ist: Treuer Heyls-Ermahner/ […] Oder Sehr nutzliche/ geistreiche und zumahlen mit beliebiger Kürze gemachte Predigen […] Erster Jahrgang auff die Sonntäg […], Salzburg 1683, S. 102. <?page no="304"?> L O B DER M U S S E ? B AR OCKE K ONFE S S IONS KU LTU R EN 303 dem Schmidt sein Hammer/ dem Baur sein Pflug will zu schwehr seyn/ gleich in die Hand brennen/ […] sein lebtag muß er in der Noth sich behelffen. 39 Verwerflich sei es, daß manche Menschen die Zeit einfach vertrödeln, wie jene, die schon umb zwölff Uhr nach Mittag Feyer-Abend machen: hernach die gantze zeit mit eitlem unnützen Geschwätz/ mit Galanisiren/ Leut-Vexiren/ Spielen/ Tanzen/ Gläser-wechseln/ oder noch schlimmeren Händeln zu bringen […] mit dem Hund schertzen/ die Zeit bey den Rossen im Stoll zubringen/ unter den Gwölbern stehn/ an dem Crammer-Laden lainen/ und allerhand Mährlein aufklauben. 40 Der Werktagsarbeit folgte die Sonntagsruhe, die die Kirche geboten hatte. Wider dieses Gebot, so Abraham a Sancta Clara, sündigen alle diejenige welche erstlich ohne sonderbare Nothwendigkeit und Erlaubnuß der Obern an diesem Tag knechtliche Arbeit verrichten, die knechtliche Arbeit ist aber alle Arbeit, womit man das Brot gewinnt, […]. In Summa alle Hand-Arbeit ist verbotten. 41 Hier wiederum mag überraschen, daß der Katholizismus so nachdrücklich zu Arbeit, Fleiß und Leistung aufrief. Im Spiegel süddeutscher Barockpredigten ging es ganz eindeutig um die Einprägung einer tätigen Arbeitsmoral. Wüßte man nicht um die Konfession der Prediger, es wäre schwierig, deren Ansprachen dem jeweiligen Bekenntnis korrekt zuzuweisen. Belegen die aus Predigten zusammengestellten Beispiele, daß es hinsichtlich der Einstellung zur Arbeit keine Unterschiede zwischen den Konfessionen gab? Wie erklärt sich dann der Vorwurf Adam von Ickstatts an die eigenen Glaubensgenossen? Genügt es, darauf zu verweisen, daß die Predigt in der katholischen Kirche nicht den gleichen Stellenwert besaß wie in den protestantischen Kirchen? Daß deshalb der Einprägearbeit qua Predigt nicht der gleiche Erfolg beschieden war wie auf protestantischer Seite? Ebenso ließe sich ins Feld führen, daß bei aller Betonung der Arbeitsmoral in den Predigten und, das wäre hier zu ergänzen, in Policeyordnungen, doch am theologisch begründeten Usus des Almosengebens festgehalten wurde - man denke hier beispielsweise an die klösterlichen Armenspeisungen zu bestimmten Festtagen noch zu Ende des 18. Jahrhunderts - und daß schließlich Wallfahrten als »religiöses Freizeitvergnügen«, um es mit Peter Hersche zu sagen, das Angenehme mit dem Nützlichen kombinierten. 42 Der Blick in sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studien zu paritätischen Reichsstädten belegt das, was Mayer und Ickstatt über den ökonomischen Vorsprung der Protestanten konstatiert hatten. Beispielsweise belegen mikrohistorische 39 C ONRAD , Fidus Salitus Monitor (Anm. 38), S. 103. 40 W OLFGANG R AUSCHER , Oel und Wein Deß Mitleidigen Samaritans Für die Wunder der Sünder. Das ist: catholische […] Predigen […] (Dominicale), Teil 1, Dillingen 1689, S. 101f. 41 A BRAHAM A S ANCTA C LARA , Abrahamisches Gehab dich wohl! Oder Urlaube/ In diesem End_wercke seiner Schriften […], Nürnberg 1729, S. 57. 42 P. H ERSCHE , Muße und Verschwendung (Anm. 7), Bd. 2, S. 794 (vgl. Kapitel 4.3: »religiöses Freizeitverhalten: Die Wallfahrt«). <?page no="305"?> S ABINE H OLTZ 304 Untersuchungen zur Augsburger Wirtschaftsstruktur zwischen 1684/ 86 und 1784/ 85, daß der Prozentsatz der Katholiken am unteren Ende der sozialen Stufenleiter am höchsten und an deren Spitze am geringsten war: »Dieses erste Resultat läßt also«, so Etienne François, »vermuten, daß zwischen der Zugehörigkeit zur katholischen ›Glaubensverwandtschaft‹ und dem sozialen Niveau insgesamt eine spiegelbildliche Entsprechung besteht.« 43 Zwar verringerten sich die prozentualen Abstände zwischen den Konfessionen, aber Katholiken waren auch noch am Ende des 18. Jahrhunderts, wie auch schon ein Jahrhundert zuvor, in den Bereichen mit der höchsten gesellschaftlichen Reputation unterrepräsentiert (Oberschicht; Nahrungs-, Metall- und Kunstgewerbe). Auch wenn die Lutheraner demographisch in der Minderheit waren, konnten sie ihre soziale Führungsrolle sichern. Die lutherischen Steuerzahler entrichteten in Augsburg 1.108 fl., die katholischen 467 fl. Zwischen beiden Gruppen bestand ein Verhältnis von 70,3 % zu 29,7 %, und das, wiewohl die lutherischen Steuerzahler nur 52,8 % des herangezogenen Samples ausmachten. 44 In den Armenstatistiken, die Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Augsburger Armenanstalt geführt wurden, waren Katholiken stark überrepräsentiert. Diese Beobachtungen aus Augsburg decken sich mit Erhebungen in Kaufbeuren. 45 Nimmt man die wirtschaftliche Situation Oppenheims in den Blick (eine Stadt, in der alle drei Konfessionen vertreten waren), 46 so fällt auf, daß der Anteil katholischer Haushalte an der Gesamtzahl der Stadtarmen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ständig zunahm - von knapp der Hälfte aller Armen im Jahr 1765 auf fast zwei Drittel im Jahr 1799. Da sich die Mehrheit der katholischen Familien mit einem geringeren Vermögensniveau und einem entsprechend geringen Lebensstandard begnügte und nicht mehr anstrebte, als zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung nötig war, gerieten sie in Krisenzeiten auch eher in Armut als protestantische Familien. Bei gleichem Vermögens- und Wohlstandsniveau lagerten in Oppenheim die Haushalte von Lutheranern und Reformierten beispielsweise jeweils einen größeren Vorrat an Getreide für die Nahrungsversorgung und die Aussaat als katholische 43 E TIENNE F RANÇOIS , Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg (1648-1806) (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg 33), Sigmaringen 1991, S. 91. 44 E. F RANÇOIS , Die unsichtbare Grenze (Anm. 43), S. 103. 45 F RITZ J UNGINGER , Geschichte der Reichsstadt Kaufbeuren im 17. und 18. Jahrhundert, Neustadt/ Aisch 1965, S. 160. 46 P ETER Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim. Beiträge zur Geschichte von Bevölkerung und Gesellschaft einer gemischtkonfessionellen Kleinstadt in der frühen Neuzeit (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für Abendländische Religionsgeschichte, 115), Wiesbaden 1984, S. 114. <?page no="306"?> L O B DER M U S S E ? B AR OCKE K ONFE S S IONS KU LTU R EN 305 Haushalte. 47 Lutherische und reformierte Familien trugen damit für einen längeren Zeitraum Vorsorge als Katholiken. Allerdings muß die Vorratssicherung auch in Relation zu den Bedürfnissen der unterschiedlichen Berufsgruppen gesetzt werden. Bierbrauer mußten selbstverständlich mehr Gerste einlagern als Metzger, auch konnte der Anteil des Ackerlandbesitzes unterschiedlich sein. Neben der Konfession sind deshalb sozioökonomische Strukturen zu berücksichtigen. In Oppenheim stammten fast alle Katholiken aus Zuwandererfamilien, wohingegen die alteingesessenen Familien reformierten Glaubens waren. Die zugewanderten Katholiken brauchten Zeit, um sich zu etablieren und ihren Platz in den gewachsenen Sozialstrukturen zu finden. Das war ein Prozeß, der sich über Generationen hinziehen konnte. Zschunke hat herausgearbeitet, daß beispielsweise »restriktive Aufnahmepraktiken und konfessionelle Vorbehalte in den Zünften einfacher Handwerker weniger deutlich ausgeprägt waren als in den Zünften mit höherem Vermögensniveau und Traditionsbewußtsein.« 48 Auch waren reformierte Familien weitaus häufiger auf der Oppenheimer Gemarkung begütert als katholische und lutherische Familien, und wiederum war der Anteil katholischer Familien unter den Stadtarmen auffällig hoch, mit steigender Tendenz in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 49 Und auch in der Unterschicht dominierten katholische Haushalte. Andererseits stellten katholische Haushalte in den wohlhabenden Handwerkerzünften die Mehrheit; auffällig geringer vertreten waren sie hingegen im mittleren Handwerk. 50 Waren es Probleme bei der wirtschaftlichen Konsolidierung, oder war es die Bereitschaft, sich gegebenenfalls mit einem niedrigeren Lebensstandard zu begnügen, was die Katholiken in Krisenzeiten eher unter das Existenzminimum abrutschen ließ als Familien der beiden anderen Konfessionen? Etienne François’ Untersuchung zu Augsburg hat zunächst die »konfessionelle Bipolarität« bestätigt. 51 Wie Oppenheim, so war auch Augsburg auf Zuzug angewiesen. Die meisten katholischen Zuwanderer stammten aus dünn besiedelten ländlichen Regionen. 52 Sie waren mit den politischen und sozialen Bedingungen des reichsstädtischen Lebens nicht vertraut, lediglich eine kleine Minderheit stammte aus städtischem Umfeld. Nur ganz wenige Zuwanderer stammten aus Städten, deren Strukturen einigermaßen denjenigen Augsburgs vergleichbar waren; Reichsstädte waren allerdings nicht darunter. Ganz anders die lutherische Zuwanderung. Die Zuwanderer stammten aus Städten, die häufig enge wechselseitige Beziehungen mit Augsburg 47 P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 124f. mit Figur 9. 48 P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 118. 49 P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 120-127. 50 P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 112-117 mit Tabelle 9. 51 E. F RANÇOIS , Die unsichtbare Grenze (Anm. 43), S. 101f. 52 Zum Folgenden E. F RANÇOIS , Die unsichtbare Grenze (Anm. 43), S. 52-64. <?page no="307"?> S ABINE H OLTZ 306 unterhielten. Der geographische Einzugsbereich war groß. Erst im 18. Jahrhundert änderte sich die Lage: Hier nahm die Zuwanderung aus dem ländlichen Raum stark zu, wohingegen der Anteil aus Reichsstädten stetig sank. Dies führte zu einer Verringerung der Abstände der Konfessionen, jedoch blieb der soziale Vorsprung der Lutheraner erhalten. Mit Blick auf die prozentualen Anteile der Konfessionen an den städtischen Gewerben arbeitete François heraus, daß die Lutheraner an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie standen, wohingegen die Katholiken am unteren Ende dominierten, ja sogar in der Armenstatistik überrepräsentiert waren. Dies scheint die Oppenheimer Ergebnisse zu bestätigen: Besitz und Vermögensverhältnisse trennten die Konfessionen. Untersucht man hingegen, wie sich die Steuerzahler beider Konfessionen auf die Steuerklassen verteilen, zeigen sich überraschenderweise keine signifikanten Unterschiede in der Vermögenslage in Augsburg. Zwar dominierten auch hier die Lutheraner in der obersten Steuerklasse, jedoch waren sie auch in der Steuerklasse der ›Habnits‹ überrepräsentiert. Dies ist, nach François, kein Widerspruch zur den Ergebnissen der Gewerbestatistik, macht aber darauf aufmerksam, daß sich hinter den allgemeinen Differenzen »äußerst vielfältige konkrete Situationen« verbergen. 53 Im ganzen gesehen, blieb aber der soziale Vorsprung lutherischer Familien in Augsburg gewahrt. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts waren Lutheraner in den Bereichen mit der höchsten gesellschaftlichen Reputation überrepräsentiert. 54 Auch wenn sich die Abstände zwischen den Konfessionen verringerten und die Lutheraner demographisch in der Minderheit waren, gaben sie ihre soziale Führungsrolle nicht ab. Wie läßt sich dies begründen? Die beobachteten Unterschiede in Oppenheim und Augsburg müssen in den Mentalitätsstrukturen liegen, in denen sich reformierte und lutherische Auffassungen ähnelten und darin von der katholischen Haltung deutlich abwichen. Die Unterschiede lassen sich offensichtlich nicht allein aus dem Verhältnis zwischen Arbeit und Müßiggang ableiten. Die Konfessionsunterschiede sind wohl, darauf hat schon Peter Zschunke aufmerksam gemacht, in einer dritten Größe begründet, die bislang noch nicht berücksichtigt wurde: in der Zeit, genauer im Umgang mit der Zeit. Die Konfessionsunterschiede im Zeitbewußtsein der Menschen waren von großer Bedeutung für die Sinnorientierung im Alltagsleben. Der Katholizismus hat die zeitliche Orientierung des Alltagslebens zwischen Gestern, Heute und Morgen in weit stärkerem Maße auf die Gegenwart bezogen als der Protestantismus. Der Katholik konnte gleichsam in den Tag hinein leben, der Reformierte hingegen mußte das Heute mit dem Gestern abgleichen und für Morgen und Übermorgen vorausschauend Vorsorge treffen. Wie positionierte sich das Luthertum? Anders als bei Calvin findet sich in Luthers Auffassungen kaum ein Unterschied zum mittelalter- 53 E. F RANÇOIS , Die unsichtbare Grenze (Anm. 43), S. 107. 54 E. F RANÇOIS , Die unsichtbare Grenze (Anm. 43), S. 91. <?page no="308"?> L O B DER M U S S E ? B AR OCKE K ONFE S S IONS KU LTU R EN 307 lichen Zeitempfinden: »Man soll sich nicht den Kopf zerbrechen über die Zukunft, sondern in der Stunde leben, die da ist.« 55 Für ein solches gegenwartsbezogenes Zeitgefühl stand noch Andreas Gryphius (1616-1664) in seiner ›Betrachtung der Zeit‹: 56 Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen, Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen: Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht, So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht. Oder, wie es in der Leichenpredigt auf den Augsburger Senior Caspar Sauter heißt: 57 Dann meine Zeit/ auf Tag vnd Stund/ Seind Truebsal/ Angst und Leiden/ Auch Mueh vnd Arbeit/ (sag ich rund)/ Drumb will ich mich stets waiden In Gottes Wort/ da wuerdt mein Zeit verwandelt in die Ewigkeit/ In all Himmlische frewden. Weil Gott allein Herr der Zeit war, konnte und durfte der Mensch nicht selbst über die Zeit verfügen. 58 Diese Zeitauffassung Luthers aber wurde in der lutherischen Kirche nach und nach relativiert. Unter dem Einfluß der Bußlehre und ganz besonders unter pietistischem Vorzeichen, wurde eine ständige Kontrolle und Besserung des Lebenswandels gefordert. Die verbesserte Lebensweise mußte augenfällig werden, die Früchte göttlicher Gnade sollten sichtbar sein. Die Dankbarkeit für die 55 G USTAV W INGREN , Luthers Lehre vom Beruf, München 1952, S. 136. 56 Bei P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 88, zitiert nach R UDOLF W ENDORFF , Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980, S. 213. 57 C ASPAR S AUTER , Psalm. 31. v. 15. In Manibus Domini Tempora Mea: Meine Zeit stehet in deinen Händen. Symbolum: Weilund des Ehrwürdigen Hochgelehrten M. Caspari Sauteri, Pfarrherrs vnd Senioris bey der Evangelischen Kirchen in Augspurg bey S. Anna: Seines […] Herrn Patrui […] Zu Ehrn, Danckbarkeit, vnd an statt gebürender Klagvnd Trawrschrifft in ein Christliche Predigt verfasset; Gehalten zu Seeburg in Würtenberg […] / Durch […], Tübingen 1604. Vgl. H ANS -C HRISTOPH R UBLACK , Augsburger Predigt im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie, in: R EINHARD S CHWARZ (Hg.), Die Augsburger Kirchenordnung von 1537 und ihr Umfeld, Gütersloh 1988, S. 123-158, hier 132. 58 P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 87f. <?page no="309"?> S ABINE H OLTZ 308 Vergebung der Sünden sollte in einem verbesserten Lebenswandel Ausdruck finden. Sie durfte aber auch nicht bei einer äußerlichen bürgerlichen Ehrbarkeit stehen bleiben, es galt, auch aus innerer Überzeugung zu handeln: Dencket stets daran/ iht köennet GOtt nicht lieben/ wo ihr euch nicht ändert/ und von euren muth willigen Suenden abstehet. […] Alle Abend erinnert euch ins künfftige dieses Fürbildes [Jesu Christi]/ und untersuche ein jedes sein Gewissen. 59 Es soll Pietisten (und Calvinisten) gegeben haben, die den Tagesablauf in Form eines Stundenplanes planten und am Ende des Tages die selbstgesetzten Aufgaben per Strichliste überprüften. 60 Verzicht, Planung und Frömmigkeit bestimmten das Leben der Protestanten. Dies bewirkte eine Veränderung des bisherigen Zeitempfindens. Das Luthertum entwickelte nun ein an der nahen Zukunft orientiertes Zeitgefühl. Die Folgen und Entwicklungen seines Handelns vor Augen übertrug der Lutheraner »sein Ordnungsdenken auf den zeitlichen Gestaltungsrahmen des Alltags«: »Im Doktor Faustus des Lutheraners Goethe war die neue Zeitmentalität bereits so verinnerlicht, daß die Sinnorientierung eines in der Natur verhafteten Lebens, jeden Augenblick intensiv zu erleben und mit dem ganzen Bewußtsein restlos in der Gegenwart aufzugehen, für ihn eine unerfüllte Utopie blieb.« 61 Unverzichtbar für ein solchermaßen zukunftsorientiertes Handeln wurde der Kalender. Ein Oppenheimer Handwerker gab zu Protokoll, es lehre die tägliche erfahrung […], daß mann kaum eine woche, ich will nicht sagen ein viertel Jahr und noch länger ohne Kalender seyn könne. 62 Katholizismus und Luthertum trennten also nicht grundsätzlich unterschiedliche Wirtschaftsweisen, wie das Beispiel Oppenheims zeigt. Entscheidend war, welche Akzente in der Wirtschaftsweise gesetzt wurden. Für die katholische Bevölkerung waren Handwerk und landwirtschaftliche Arbeit Mittel zur Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse des Haushaltens gewesen. War dieses Ziel erreicht, wurden diese Arbeiten erst dann wieder aufgenommen, wenn die zuvor erarbeiteten Güter aufgebraucht waren. Die folgende Beobachtung zur katholischen bäuerlichen Bevölkerung Oberbayerns aus dem späten 18. Jahrhundert veranschaulicht diese Wirtschaftsmentalität: »Die Einwohner zeigen sich nicht als große Liebhaber der Arbeit […]. Ein Bauer, dem es zum Bierkrug zu gehen, entweder an Lust, oder am Gelde fehlt, liegt, die Kirchen- und Mittagsstunden abgerechnet, ganze 3, 4 und wohl auch 5 Feiertage hinter einander unverrückt auf seiner Lotterbank, ohne über 59 A NDREAS A DAM H OCHSTETTER , […] Der H. Schrifft Doctoris und Profess. Ordinarii, Christliche Antritts-Predigt […], Stuttgart 1711, S. 39f. 60 P. H ERSCHE , Muße und Verschwendung (Anm. 7), Bd. 2, S. 748. 61 P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 89. 62 Brief des Stadtrats an das Oberamt Oppenheim vom 14.10.1778, zitiert bei P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 124. <?page no="310"?> L O B DER M U S S E ? B AR OCKE K ONFE S S IONS KU LTU R EN 309 Langeweile zu klagen. Diese nennt er seine guten Tage.« 63 Oder anders formuliert: hier genießt der oberbayerische Bauer guten Gewissens seine Mußestunden! Eine vorausschauende Planung widersprach auf katholischer Seite dem am gegenwärtigen Hier und Jetzt konkreter Lebenswirklichkeit ausgerichteten Zeitempfinden. Letztlich arbeiteten die Protestanten mehr als für den unmittelbaren Zweck der Existenzsicherung hinaus im wahrsten Wortsinn not-wendig gewesen wäre. Das auf die Zukunft gerichtete Zeitempfinden begünstigte die Loslösung der Sinnorientierung des Arbeitens von seinem ursprünglichen Zweck der ausschließlichen Existenzsicherung. In der Arbeit verlagerte sich - unter konfessionellem Vorzeichen - die Korrelation zwischen Mangel und Bedürfnissen von einer kurzfristigen Perspektive zu einer mittelbis langfristigen Perspektive. Eine Weiterentwicklung der ökonomischen Bedingungen hin zu einer kapitalintensiveren und stärker arbeitsteiligen Produktionsweise läßt sich allerdings nicht beobachten. 64 Der sorglosere Umgang mit Zeitplanung und ein geringer ausgeprägtes Sicherheitsdenken sind auch jene Größen, mit denen Peter Hersche im Kapitel ›Leben ohne Plan‹ in seiner Monographie ›Muße und Verschwendung. Europäische Gesellschaft und Kultur im Barockzeitalter‹ die Mentalität des Barockkatholizismus beschrieb. 65 Der katholische Zeithorizont war nicht von der irdischen Zeit geprägt, sondern von der Ewigkeit her gedacht. 66 Mehr Gelassenheit im Umgang mit den Risiken des Lebens verschaffte den Katholiken im Barock ein größeres Maß an Muße als es die Lutheraner je später desto weniger genießen durften. Die große Ernüchterung für den Katholizismus brachte die katholische Aufklärung. Die Freiräume, die der barocke Katholizismus, trotz aller geforderten Arbeitsmoral, gefördert hatte, gehörten der Vergangenheit an. Arbeit wurde, nun auch im Katholizismus, entgrenzt, Muße als Müßiggang und Verschwendung tituliert und damit negativ konnotiert. Auch im Katholizismus wurde die Zeit, Muße zu leben, knapp. 63 Bei P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 126f., zitiert nach F INTAN M. P HAYER , Religion und das gewöhnliche Volk in Bayern in der Zeit 1750-1850 (Miscellanea Bavarica Monacensia 21 / Neue Schriftenreihe des Stadtarchivs München 38), München 1970, S. 71. 64 P. Z SCHUNKE , Konfession und Alltag in Oppenheim (Anm. 46), S. 127. 65 P. H ERSCHE , Muße und Verschwendung (Anm. 7), Bd. 2, S. 748-793 (Kapitel 4.2: »Leben ohne Plan«). 66 P. H ERSCHE , Muße und Verschwendung (Anm. 7), Bd. 2, S. 753-759. <?page no="312"?> 311 G EORG S EIDERER Aufgeklärte Zeiten. Von der Feiertagsreduktion zur ›Verbürgerlichung‹ der Zeit 1. Die eigene Zeit In seiner Autobiographie schilderte der Hallenser Professor Johann Salomo Semler (1725-1791), einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen Aufklärungstheologie, er habe freilich auch viele alchimistische Bücher gelesen, aber nie irgend eine sonst nüzliche Stunde damit verdorben; sondern, ohne einigen Zeitverlust mir zuzuziehen. Alle Monat oder alle 14 Tage suchte ich eine Anzal leichter oder geringhaltiger Schriften zusammen, die ich doch auch durchblättern, wo nicht durchlesen wolte; und stellte 6, 10 bis 12 davon auf den Abtrit; wo ich denn ohne Zeitverderb auch diese Lectüre endigen konte. Das Verfahren war ursprünglich Teil eines diätetischen Plans, um durch Gewöhnung an eine geduldig erwartete regelmäßige Leibesöfnung […] aller Unordnung des Unterleibes ohne viele Arzeneien vorzubeugen; seine Beibehaltung ermöglichte es Semler, in vielen Jahren einige hundert Bücher gelesen oder durchgeblättert zu haben, ohne daß es ihn jene Zeit kostete, die meinen ernsthaften Arbeiten freilich gehörete. Und es fand den Beifall seines akademischen Lehrers und Kollegen Siegmund Jacob Baumgarten (1706-1757), der es mit herzlichem Lachen kommentierte: Ich dachte, daß ich die Zeit sehr gut eintheilen könte; aber da habe ich noch etwas neues abgesehen. 1 Die Selbstschilderung mag wie ein zur Karikatur verzerrtes Abbild eines Gelehrten wirken, der versuchte, jede verfügbare Minute nützlich zu verwenden und davon selbst jene Viertelstunden nicht ausnahm, die er auf dem Abtritt verbringen mußte. Tatsächlich folgte er lediglich einer Maxime, die im 18. Jahrhundert zum ›bürgerlichen‹ Maßstab zahlreicher ›Gelehrter‹ im engeren und weiteren Sinne geworden war: der Maxime, die eigene Zeit möglichst nutzbringend anzuwenden und soweit möglich mit Arbeit zu erfüllen. Unausgesetzte Tätigkeit wurde zum Ideal der »neuen Bürgerlichen«, wie diese sozialen Gruppen auch bezeichnet werden, 2 1 J OHANN S ALOMO S EMLER , Lebensbeschreibung. Erster Theil, Halle 1781, S. 329-331; als Beispiel für eine »Sorgfältige Anwendung der Zeit« auch in: K ARL P HILIPP M ORITZ (Hg.), oder Magazin für Erfahrungs-Seelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte II (1784), ND Nördlingen 1986, S. 88-90. 2 Vgl. etwa H ANS -U LRICH W EHLER , Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. I: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987, S. 203. <?page no="313"?> G E OR G S EIDER E R 312 das aufgeklärte Leitmotiv der ›Nützlichkeit‹ zum Maßstab der persönlichen Lebensführung. Aus dem 18. Jahrhundert ist eine große Zahl von Biographien oder biographischen Nachrichten bekannt, deren Helden als Muster eines daran ausgerichteten Lebens geschildert wurden. Michael Maurer hat in seiner auf der systematischen Auswertung von mehr als 1.200 Biographien vornehmlich von Gelehrten und Schriftstellern beruhenden mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung über ›Die Biographie des Bürgers‹ gezeigt, daß sich in diesen Lebensläufen breit verankerte Muster zeigen, an denen sich die Konturen idealer ›bürgerlicher‹ Lebensführung ablesen lassen. 3 In deren Zentrum stand die ›Arbeit‹. ›Arbeit‹ schloß unterschiedlichste Formen der Tätigkeit ein: die Verrichtung der Amtsgeschäfte etwa, die Vorbereitung und das Memorieren von Predigten, die Abfassung wissenschaftlicher Abhandlungen, das Führen von Handelsbüchern und geschäftlichen Korrespondenzen, überhaupt die Korrespondenz, und schließlich nicht zuletzt die Lektüre. Ob in der Erfüllung der Berufsobliegenheiten, im Erwerb von Kenntnissen oder in den eigenen Beiträgen zum Fortschritt der Wissenschaften und des Menschengeschlechts: Gemeinsam war all dem - nicht so sehr der Lektüre von Büchern, die nicht den ›ernsthaften Arbeiten‹ dienten und eben deswegen auf den Abtritt verbannt werden konnten -, daß es sich dem Anspruch nach um ›nützliche‹ Tätigkeiten handelte. ›Nützlichkeit‹ war ein zentrales Leitmotiv der Aufklärung, das sich im Sinne eines Verantwortungsbewußtseins für das Ganze, die Gesellschaft, den Staat, die Menschheit deuten läßt, dem der einzelne durch seine Tätigkeit, seine Haltung und seine Ziele gerecht werden sollte; wenigstens tendenziell handelt es sich um ein säkulares, innerweltliches und anthropozentrisches Prinzip, das einen anderen Fluchtpunkt menschlichen Strebens bezeichnete als denjenigen, der auf Gott, Sünde und Erlösung, also auf das Transzendente verwies. 4 ›Arbeit‹ war damit nicht mehr nur notwendig zum Erwerb des Lebensunterhalts, sie gewann ihren Stellenwert vielmehr als Erfüllung der Pflichten sich selbst wie anderen gegenüber; sie wurde ein Beitrag zur ›Veredelung der Menschheit‹ in sich selbst wie in der Gesellschaft als dem Schauplatz des eigenen Wirkens und stand mit anderen aufgeklärten Idealen in einem engen Zusammenhang, was aber zugleich auf eine rigorose Nutzung der Zeit wie anderer Ressourcen hinauslief: »Zum Ideal einer Veredelung der Menschheit gehören nicht nur Künste und Wissenschaften, Toleranz und Humanität, 3 M ICHAEL M AURER , Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815) (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 127), Göttingen 1996. 4 Vgl. G EORG S EIDERER , Sieg der Vernunft? - Die europäische Aufklärung, in: Brockhaus - Die Bibliothek. Die Weltgeschichte, Bd. 4: Wege in die Moderne (1650-1850), Leipzig- Mannheim 1998, S. 22-31, hier 30. <?page no="314"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 313 sondern auch die vollkommene Unterwerfung der Natur und die größtmögliche Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft.« 5 Unausgesetzte Thätigkeit wird damit als Lebensprinzip begriffen, ja, als Leben selbst. Wenn der Nürnberger Kaufmann Paul Wolfgang Merkel (1756-1820) meinte, daß Thätigkeit für ihn das erste Bedürfniß sey, Unthätigkeit schon Anfang des Todes wäre, 6 dann war er kein Einzelfall. So wünschte sich etwa der Berliner Geograph und Schulleiter Anton Friedrich Büsching (1724-1793), daß mein irdisches Leben bis auf den letzten Augenblik in nützlichen Arbeiten thätig sein könne; denn sonst wäre für mich es kein wünschenswürdiges Leben. Wie er hinzufügte, wäre selbst ein Himmel ohne Geschäfte, wenn er gedacht werden könnte, […] nicht für mich. 7 Für Merkel wie für Büsching - und zahlreiche ihrer Zeitgenossen - konnte Leben nicht anders als thätig gedacht werden. Im Extremfall bedeutete dies nicht weniger, als das Leben in einer Haltung des Märtyrertums der Arbeit im Wortsinne zu opfern. 8 Vor allem aber erscheint Arbeit als Erfüllung und Zweck des Daseins und damit zugleich als Verwirklichung irdischen Glücks: So wurde sie von Johann Andreas Cramer als das Glück des Menschen bezeichnet, von Justus Möser als Quelle alles wahren Vergnügens, von Christian Garve als Hauptzweck des Menschen und Quelle seiner Glückseligkeit, 9 und Johann Heinrich Voß dichtete: Glückselig macht nur Tätigkeit 10 - Beispiele, die sich nach Belieben vermehren ließen. Hier soll nicht versucht werden, ausführlich auf die Herkunft dieses Arbeitsethos einzugehen. Für das deutsche Bürgertum sieht Maurer seine Herkunft nicht im orthodoxen Luthertum, eher schon im Calvinismus, der allerdings auch nicht ohne weiteres im Sinne der »innerweltlichen A[rbeitsa]skese« nach Max Weber für dieses rigorose Arbeitsethos verantwortlich gemacht werden könne. 11 Wurzeln liegen wohl vor allem in dem auf tätiges Wirken in der Welt ausgerichteten Pietismus des 17. Jahrhunderts, für den Arbeit bereits zu einer »Art der bessern Gottes- 5 M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 388. 6 [F RIEDRICH R OTH ], Nachricht von dem Leben Paul Wolfgang Merkel’s weiland Vorstehers des Handelsplatzes Nürnberg, Assessors am k. Handels-Appellationsgerichte, und Abgeordneten der Stadt Nürnberg zur Stände-Versammlung des Königreiches, Nürnberg 1821, S. 27. 7 Zitiert nach M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 396. 8 M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 397-400. 9 Alle Zitate nach M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 382. 10 Zitiert nach P AUL M ÜNCH (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«, München 1984, S. 333. 11 M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 378-382; vgl. M AX W EBER , Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: D ERS ., Religion und Gesellschaft. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Frankfurt/ Main 2006, S. 23-208, hier v. a. S. 147-183. <?page no="315"?> G E OR G S EIDER E R 314 verehrung« wurde. 12 Das Arbeitsethos des 18. Jahrhunderts war vielfach pietistisch grundiert, wurde zunehmend aber in einen säkularen, ›aufgeklärten‹ Begründungskontext gestellt; Arbeit wurde zur Tugend an sich, die auf innerweltliche Ziele bezogen war. Um ein allein deutsches Phänomen handelte es sich nicht; Benjamin Franklin ist eines der bekanntesten Beispiele für das Ideal des unausgesetzt tätigen Lebens. Ebensowenig kann es als ausschließlich im Protestantismus verankertes Prinzip angesehen werden; die französische Aufklärung war kaum weniger vom Ethos der Arbeit erfüllt als die protestantisch geprägte Aufklärung in Großbritannien oder Deutschland. 13 Die zentrale »Ressource« 14 der unausgesetzten nützlichen Arbeit war die Zeit. Das Arbeitsethos forderte zum einen ihre effektive Nutzung: Zeit mußte eingeteilt und planvoll verwendet werden, nicht nur jeder Tag und jede Stunde, sondern jede Minute und jeder Augenblick mußten weislich genützt werden, 15 wozu die systematische Abwechslung verschiedenartiger Geschäfte ebenso beitragen konnte wie eine gewisse Geschwindigkeit. Mit anderen Worten: ›Zeitgewinn‹ war durch eine Intensivierung der Nutzung der Zeit zu erreichen. Zum anderen war Zeitgewinn durch Extensivierung der Arbeitszeit zu erhalten, also durch deren Ausweitung und Ausdehnung: Auf Kosten der Zeit, die den Notwendigkeiten des Lebens wie Nahrungsaufnahme und Schlaf zugestanden wurde, ja, selbst auf Kosten der Geselligkeit oder des Umgangs mit Gattin und Kindern. 16 Nicht weniger symbolhaft als die Uhr steht das Licht - das Talglicht, die Kerze - für die beiden einander ergänzenden Tendenzen zur Intensivierung und Extensivierung der Arbeitszeit. Ziel des Umgangs mit der Zeit im Sinne des pietistischen oder aufgeklärten Arbeitsethos war die Nutzbarmachung und Ausnutzung der eigenen Zeit, war die bewußte und effiziente Verfügbarmachung von Tageslauf und Lebenszeit unter dem Anspruch von Nützlichkeit und Arbeitsamkeit. Der in zahlreichen jüngeren Arbeiten zur Geschichte des Zeitbewußtseins betonte Aspekt einer Beschleunigung von Zeitwahrnehmung und Zeitnutzung 17 war im Sinne der Intensivierung 12 M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 382-387, Zitat S. 382; vgl. zu Philipp Jakob Spener V OLKER L ENHART , Protestantische Pädagogik und der »Geist« des Kapitalismus (Heidelberger Studien zur Erziehungswissenschaft 52), Frankfurt/ Main 1998, S. 76f.; zum Begründer der Herrnhuter Brüdergemeinde Nikolaus Ludwig von Zinzendorf R UDOLF W ENDORFF , Zeit und Kultur. Geschichte des Zeitbewußtseins in Europa, Opladen 1980, S. 278. 13 Vgl. R. W ENDORFF , Zeit und Kultur (Anm. 12), S. 284. 14 M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 407. 15 Zitiert nach M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 402. 16 M. M AURER , Die Biographie des Bürgers (Anm. 3), S. 391f., 403-411. 17 Siehe etwa P ETER B ORSCHEID , Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Darmstadt 2004; K ARLHEINZ A. G EISSLER , Vom Tempo der Welt. Am Ende der Uhrzeit, Freiburg 1999, S. 88-95; oder M ANFRED G ARHAMMER , Wie Europäer ihre Zeit <?page no="316"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 315 der Zeitnutzung Teil des Programms, das darin jedoch nicht aufging. Wohl aber handelte es sich um das Ideal einer Ordnung der Zeit, die auf eine Unterordnung der Lebenszeit unter das bestimmende Motiv der Arbeit hinauslief. Dieses Ziel war Teil eines Erziehungsprogramms, dem selbstverständlich auch die heranwachsende ›bürgerliche‹ (männliche wie weibliche) Jugend unterworfen wurde. 18 Die Ordnung der Zeit im Dienste der Pflicht mußte durch Selbsterziehung und Selbstdisziplinierung der Neigung immer wieder erst abgerungen werden, und den Helden der Arbeit haftete als exemplarischen Mustern doch auch stets etwas Außergewöhnliches an: So sehr Arbeit allein wahres Glück bedeuten mochte, so floß unausgesetzte Tätigkeit doch keineswegs zwanglos aus der natürlichen Grundausstattung des Menschen. 2. Die Zeit der anderen Im Unterschied zu dem der städtisch-bürgerlich geprägten gebildeten Stände scheint das Zeitverständnis der Bauern, der ländlichen Bevölkerung vielfach als gleichsam naturwüchsig. Nicht die Uhr, sondern der Sonnenstand und die Jahreszeiten, die natürlichen Zeitordnungen mithin, scheinen deren Umgang mit der Zeit bestimmt zu haben - ein Urteil, das sich bis in die jüngere Forschungsliteratur hinein tradiert findet, so etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, in einer 2004 erschienenen Darstellung über ›Das Tempo-Virus‹: »Der agrarischen Welt war die Hetze fremd. […] Die agrarische Welt des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit lebt mit der Natur und sie richtet sich nach der Natur. Sie läßt sich von der Natur den Rhythmus diktieren, da diese Natur die eigentliche Ernährerin des Menschen ist. Sie allein gibt Mensch und Tier das Notwendigste, und das können weder Arbeit noch Fleiß noch größte Eilfertigkeit garantieren. Bodenständigkeit und Langsamkeit sind älter als Mobilität und Hast.« 19 Obgleich der Autor darauf nutzen. Zeitstrukturen und Zeitkulturen im Zeichen der Globalisierung, Berlin 1999, S. 466: »Beschleunigung ist das elementare Prinzip moderner Zeitkultur.« 18 Siehe beispielhaft etwa die von R. W ENDORFF , Zeit und Kultur (Anm. 12), S. 276, angeführten Briefe Lord Chesterfields an seinen Sohn (1741-1754) oder die Auszüge aus Christian Felix Weißes ›Der Kinderfreund‹ (1778), Johann Georg Sulzers ›Anweisung zu Erziehung seiner Töchter‹ (1781), Carl Friedrich Riemanns ›Versuch einer Beschreibung der Reckanschen Schuleinrichtung‹ (1781), Johann Bernhard Basedows ›Elementarwerk‹ (1785), in: P. M ÜNCH (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit (Anm. 10), S. 196-201, 212-214, 220-227, 228-232 - die Beispiele aus dem 18. Jahrhundert ließen sich nach Belieben vermehren, stehen allerdings in einer deutlich längeren Tradition der Vermittlung der Tugend des Fleißes und der Warnung vor dem Müßiggang. 19 P. B ORSCHEID , Das Tempo-Virus (Anm. 17), S. 17; vgl. auch K. A. G EISSLER , Vom Tempo der Welt (Anm. 17), S. 51f. <?page no="317"?> G E OR G S EIDER E R 316 hinweist, daß die Natur auch »feindlich und nicht verfügbar« war, ist das Bild, das er evoziert, das einer scheinbar im harmonischen Einklang mit der Natur stehenden Gesellschaft, deren Zeitordnung weniger kulturell als vielmehr ›natürlich‹ bedingt gewesen sei. Der Bauer des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit erscheint damit als eine Art Naturwesen, das sich nicht allzu weit von seinen vor- und frühgeschichtlichen Ahnen entfernt zu haben scheint und aus idyllisierender Perspektive eine Kontrastfolie zum ›modernen‹ Umgang mit der Zeit bietet. 20 Eine solche Perspektive kann auf eine lange Tradition zurückblicken, und es sind keineswegs nur die pietistischen oder aufgeklärten Angehörigen der gebildeten Stände, die diese Perspektive einnahmen. Erhard Chvojka berichtet über ein Ereignis im Wien des Jahres 1724, das ein Schlaglicht auf die postulierte Zeitwahrnehmung von Bauern aus der Perspektive von Städtern wirft. Am 10. November 1724 hatten Angehörige der Häringer-Zunft, also der Wiener Markthändler, Bauern Gänse abgenommen, die diese noch nach elf Uhr vormittags feilhielten. Sie beriefen sich dabei auf eine Verordnung aus dem Jahre 1709, nach der den Bauern der Verkauf auf den Wiener Wochenmärkten sommers nur bis zehn und winters nur bis elf Uhr vormittags erlaubt war. Tatsächlich war diese Verordnung allerdings 1713 durch ein neuerliches Edikt teilweise aufgehoben worden, das den Bauersleuten erlaubte, eigenes Vieh auf den drei Wochenmärkten der Stadt bis ein Uhr mittags zu verkaufen. Beruhte die geplante Übervorteilung auf der Annahme, daß es möglich sei, die Bauern durch ein plumpes Verwirrspiel mit der Zeit- und Marktordnung einzuschüchtern, so waren sich diese ihrer Rechte wohl bewußt und bekamen vor dem Hofgericht schließlich Recht. 21 Nach Chvojka scheiterten die Wiener Häringer nicht zuletzt an ihrem »fest verankerten Vorurteil vom rückständigen, tölpelhaften Bauern, der sein Leben keinesfalls nach der Uhr richtet«, was für ihn bedeutet, daß die These, »das ländlich-agrarische Zeitbewußtsein wäre die gesamte Frühneuzeit über (oder gar noch länger) der statisch-traditionale Gegenpol zur uhrzeitlichen Ordnung der Stadt gewesen, zumindest relativiert werden« müsse. 22 Zwar läßt sich auch die Deutung vertreten, die städtischen Häringer hätten weniger mit der Annahme einer andersartigen bäuerlichen Zeitordnung operiert als vielmehr mit einem Vertrauen in deren ungenügende Kenntnis der Rechtslage, 20 Auch hierfür ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen; siehe etwa W ERNER S ULZGRUBER , Zeiterfahrung und Zeitordnung vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert, Hamburg 1995, S. 12-15. 21 E RHARD C HVOJKA , Zeit der Städter, Zeit der Bauern. Ein Fallbeispiel für die gegenseitige Wahrnehmung der Zeitordnungen und Zeitmentalitäten von Städtern und Landbewohnern im Wien des frühen 18. Jahrhunderts, in: D ERS ./ A NDREAS S CHWARCZ / K LAUS T HIEN (Hg.), Zeit und Geschichte. Kulturgeschichtliche Perspektiven (Veröff. des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 36), Wien-München 2002, S. 192-202. 22 E. C HVOJKA , Zeit der Städter, Zeit der Bauern (Anm. 21), S. 200f. <?page no="318"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 317 doch ist festzuhalten, daß beide Annahmen gleichermaßen unzutreffend waren: Ebenso, wie die Bauern mit der Rechtslage vertraut waren, waren sie es mit der Uhr. Und damit verweist das Beispiel grundsätzlich auf den bäuerlichen Umgang mit der Zeit. Bäuerliche Zeitordnung war zwangsläufig durch ›natürliche‹ Faktoren mitbestimmt. Dazu zählten der Wechsel der Jahreszeiten, die Dauer der Vegetationsperiode und die Reifungszeit der Feldfrüchte, die die Termine des Pflügens, des Eggens, der Aussaat und der Ernte mitbestimmten; dazu zählten die Notwendigkeit der Fütterung oder Weidung und des Melkens, dazu zählten die Tragezeit von Ferkeln und Kälbern und die Bestimmung des rechten Zeitpunkts der Belegung von Säuen und Kühen. Zugleich war die bäuerliche Zeitordnung durch ökonomische und soziale Faktoren bestimmt, zu denen man Markttage und Marktstunden ebenso rechnen kann wie die Lostage des Gesindes und die Tage, an denen Dienste zu leisten waren, schließlich durch die Kirche, die den Jahreslauf mitbestimmte. Mit anderen Worten: Die Vorstellung einer ›natürlichen‹ Zeitordnung der bäuerlichen Gesellschaft führt in die Irre. Es handelte sich, wie Nicolas Disch betont, vielmehr um eine »künstliche« Zeitordnung, die sozial und rechtlich, mithin kulturell geformt war und die ›uhrzeitliche‹ Zeitordnung selbstverständlich einschloß. 23 Genau genommen handelte es sich um ein komplexes System verschiedener ländlicher Zeitordnungen, die miteinander in Übereinstimmung gebracht werden mußten und zugleich jene Flexibilität verlangten, die die Unsicherheiten von Witterung und Ernteertrag, Krankheit und Tod von Mensch und Vieh, Teuerungen und Kriegsläufte, kurz: die fundamentale Fragilität menschlichen Lebens in der Frühen Neuzeit mit sich brachten. Mit Sicherheit waren die Zeitordnungen des Bauern oder auch des Handwerkers nicht weniger komplex als die Zeitordnung eines Gelehrten, dessen Tageslauf sich im wesentlichen am Pult vollzog und idealiter lediglich durch den Gang zu Bett oder zu Tisch unterbrochen war - oder auf den Abtritt, auf dem man sich dann der Alchimie, der Belletristik oder anderen ephemeren Dingen widmen konnte. Vielleicht war sie komplexer. Und sicherlich war sie nicht weniger davon bestimmt, jede Minute zu nutzen - auch wenn diese nicht von der Taschenuhr angezeigt wurde. Innerhalb dieser kulturell und sozial geformten Zeitordnungen besaß das Kirchenjahr mit seinen kirchlichen Festen eine besondere Bedeutung. Es handelte sich dabei um eine normative Ordnung mit einem hohen Grad an Verbindlichkeit; sie war nicht nur notwendig, sondern im Wortsinne geheiligt. Dies bedeutet nicht, daß sie unwandelbar, statisch gewesen wäre. Durch Reformation und Gegenreformation wurde gerade sie im 16. und 17. Jahrhundert umgeschaffen, womit die konfessio- 23 N ICOLAS D ISCH , Hausen im wilden Tal. Alpine Lebenswelt am Beispiel der Herrschaft Engelberg (1600-1800) (Norm und Struktur 41), Wien 2012, zusammenfassend S. 500, 516-518. <?page no="319"?> G E OR G S EIDER E R 318 nell gebundene Lebens- und Zeitordnung neu festgeschrieben wurde - und zwar von oben herab. 24 Es braucht nicht weiter betont zu werden, daß dies zugleich einer konfessionellen Abgrenzung diente, die zur Identitätsbildung beitrug und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wirksam blieb. 25 Dies galt nicht zuletzt dort, wo die Konfessionen auf engstem Raum aufeinandertrafen, also etwa für die bikonfessionellen Reichsstädte des Schwäbischen Reichskreises: So kam es etwa in Kaufbeuren im 17. und 18. Jahrhundert über Feldarbeiten reichsstädtischer Bürger an katholischen Feiertagen immer wieder zu Konflikten zwischen dem Fürststift Kempten und der Reichsstadt Kaufbeuren, in denen es zugleich um die Behauptung der jeweils beanspruchten Jurisdiktionsrechte über bestimmte Flurstücke ging. 26 Im Laufe des 18. Jahrhunderts traten aufgeklärte - und damit zugleich ökonomisch definierte - Zeitordnungsmuster zunehmend in Konkurrenz zu den kirchlichen. Dabei geriet insbesondere die nach beinahe unisono vertretener Meinung viel zu hohe Zahl katholischer Feiertage in das Visier von aufgeklärten Publizisten, Kameralisten und Reformern: Die Zahl katholischer Feiertage wurde ebenso berechnet wie der in etwas fragwürdigen Summen Geldes bezifferte Verlust, den sie infolge der entgangenen Arbeitszeit für die ›Volkswirtschaften‹ der betroffenen Staaten bedeuteten, und schließlich wurde sie als einer der Hauptgründe betrachtet, warum der Wohlstand in katholischen Staaten um vieles geringer sei als in prote- 24 So verweist S TEFAN S CHIMA , Feiertage: Zankäpfel zwischen Kirche und Staat? , in: W OLF - GANG H AMETER / M ETA N IEDERKORN -B RUCK / M ARTIN S CHEUTZ (Hg.), Ideologisierte Zeit. Kalender und Zeitvorstellungen von der Antike bis zur Neuzeit (Querschnitte 17), Innsbruck 2005, S. 185-204, hier 284, darauf, daß in den Landesordnungen der Gefürsteten Grafschaft Tirol von 1532 und 1573 »umfassende Listen gebotener Feiertage« durch staatliche Feiertagsbestimmungen abgesichert wurden. Zu den Feiertagsordnungen im 16. und 17. Jahrhundert knapp zusammenfassend P AUL M ÜNCH , Lebensformen in der Frühen Neuzeit. 1500-1800, Berlin 1992, S. 356-362; A NDREAS G RUBE , Der Sonntag und die kirchlichen Feiertage zwischen Gefährdung und Bewährung. Aspekte der feiertagsrechtlichen Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert (Schriften zum Staatskirchenrecht 16), Frankfurt/ Main 2003, S. 40-48. 25 Vgl. zu den konfliktträchtigen konfessionellen Abgrenzungen im frühen 20. Jahrhundert am Beispiel Westmittelfrankens M ANFRED K ITTEL , Provinz zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich 1918-1933/ 36 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 47), München 2000, S. 228; zur Bedeutung der Gregorianischen Kalenderreform im Widerstreit der Konfessionen A CHIM L ANDWEHR , Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt/ Main 2014, S. 268-270. 26 StaatsA Augsburg, Fürststift Kempten Archiv B 562. E TIENNE F RANÇOIS behandelt in seinem Buch über ›Die unsichtbare Grenze‹ in der Reichsstadt Augsburg an einer Reihe von Aspekten die Formen der Abgrenzung im bikonfessionellen, paritätischen Augsburg, die im frühen 18. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichten, geht aber auf diesen Aspekt nicht näher ein - hier ließen sich zweifellos weitere Erkenntnisse gewinnen. <?page no="320"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 319 stantischen. 27 Die in der Publizistik um 1770 intensivierte und vor allem von katholischen Autoren geäußerte aufgeklärte Kritik an der mit den katholischen Feiertagen verbundenen Zeitverschwendung ist im Kontext der gemeinnützigökonomischen Aufklärung zu sehen, als deren übergreifendes Ziel die Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt betrachtet werden kann. 28 Sie fügt sich damit zugleich in das Erziehungsprogramm der ›Volksaufklärung‹ ein, das mit dem Ziel einer Veränderung der Mentalität des ›Volkes‹, der Steigerung von Wohlfahrt und Produktivität, der Beglückung von oben herab und der eingehegten Emanzipation zum Selbstdenken als höchst ambivalentes Phänomen zu betrachten ist. 29 Dieses schloß 27 Exemplarisch steht für diese Diagnose die Johann Adam Freiherr von Ickstatt zugeschriebene Schrift ›Christian Friedrich Menschenfreunds Untersuchung der Frage: Warum ist der Wohlstand der protestantischen Länder so gar viel größer als der katholischen? ‹ (1772); siehe K ARL W ALCKER (Hg.), Des Reichsfreiherrn Wirkl. Geh. Rats Prof. Dr. jur. J. A. v. Ickstatt katholische Lobschrift auf den Protestantismus. Verfaßt 1772 in München (Flugschriften des Evangelischen Bundes 181/ 83), Leipzig 1900, S. 29-36; auszugsweise auch in: P. M ÜNCH (Hg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit (Anm. 10), S. 178-182; vgl. zur ungesicherten Verfasserschaft Ickstatts F RITZ K REH , Leben und Werk des Reichsfreiherrn Johann Adam von Ickstatt (1702-1776). Ein Beitrag zur Staatsrechtslehre der Aufklärungszeit (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröff. der Görres-Gesellschaft NF 12), Paderborn 1974, S. 120f. 28 Vgl. grundlegend H OLGER B ÖNING , Gemeinnützig-ökonomische Aufklärung und Volksaufklärung. Bemerkungen zum Selbstverständnis und zur Wirkung der praktischpopulären Aufklärung im deutschsprachigen Raum, in: S IEGFRIED J ÜTTNER / J ÜRGEN S CHLOBA ch (Hg.), Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt (Studien zum 18. Jahrhundert 14), Hamburg 1992, S. 218-248; zur Feiertagsdebatte in der aufgeklärten Publizistik B EATE H EIDRICH , Fest und Aufklärung. Der Diskurs über die Volksvergnügungen in bayerischen Zeitschriften (1765-1815) (Münchner Beiträge zur Volkskunde 2), München 1984, S. 108-121. 29 Die Volksaufklärung im deutschen Sprachraum stellt mittlerweile ein intensiv bearbeitetes Untersuchungsfeld in der Aufklärungsforschung dar. Nach der wegweisenden Untersuchung von R EINHART S IEGERT , Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem ›Noth- und Hülfsbüchlein‹. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 565- 1348, sind die Bände des großangelegten Projekts zur Erfassung des volksaufklärerischen Schrifttums im deutschen Sprachraum von H OLGER B ÖNING / R EINHART S IEGERT , Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Bd. I: H OLGER B ÖNING , Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Bd. 2: Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781-1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution. Einführung von R EINHART S IEGERT , 2 Teilbde., Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, grundlegend; an wichtigen neueren Publikationen sei nur auf die Sammelbände von H OLGER B ÖNING / H ANNO S CHMITT / R EINHART S IEGERT (Hg.), Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts (Presse und Geschichte - Neue <?page no="321"?> G E OR G S EIDER E R 320 die Übertragung der ›bürgerlichen‹ Ordnung der Zeit auf die arbeitende (Land-)Bevölkerung ein und erweiterte damit das auf sich selbst und die eigenen Kinder gerichtete Erziehungsprogramm auch auf die anderen: das ›Volk‹. Und schließlich war die aufgeklärte Kritik an kirchlichen Feiertagen auch Teil einer innerweltlich orientierten aufgeklärten Kirchenkritik, die sich gegen die Regierung geistlicher und katholischer Staaten und die Mentalität ihrer Bevölkerung richtete. 30 Gleichwohl waren es gerade katholische und geistliche Staaten, die mit dem Programm ernst machten - und dies bereits zu einem frühen Zeitpunkt. 3. Die gestörte Ordnung der Zeit In Frankreich wurden Verminderungen der Zahl der Feiertage bereits seit 1660 unter dem Einfluß des Merkantilismus Colbertscher Prägung vorgenommen. 31 Zu Beiträge 27), Bremen 2007; H ANNO S CHMITT u. a. (Hg.), Die Entdeckung von Volk, Ökonomie im europäischem Netzwerk der Aufklärung (Philanthropismus und populäre Aufklärung. Studien und Dokumente 1 - Presse und Geschichte - Neue Beiträge 58), Bremen 2011, verwiesen; zur Volksaufklärung in Franken G EORG S EIDERER , Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 114), München 1997, S. 363-431. 30 Siehe zur Debatte um die Reform(un)fähigkeit geistlicher Wahlstaaten die 1786 von dem Fuldischen Kammer- und Regierungspräsidenten Philipp Anton von Bibra (1750-1803) im ›Journal von und für Deutschland‹ gestellte Preisfrage nach den Mängeln der Regierungsverfassung geistlicher Wahlstaaten und die preisgekrönte Schrift des Ellwangischen Hof- und Regierungsrates Joseph Edler von Sartori, Gekrönte statistische Abhandlung über die Mängel in der Regierungsverfassung der geistlichen Wahlstaaten, und von den Mitteln, solchen abzuhelfen, in: Journal von und für Deutschland 1787 I, S. 121-163, 297-324, 489-526; 1787 II, S. 21-91; siehe dazu P ETER W ENDE , Die geistlichen Staaten und ihre Auflösung im Urteil der zeitgenössischen Publizistik (Historische Studien 396), Lübeck-Hamburg 1966, S. 9-47; G. S EIDERER , Formen der Aufklärung (Anm. 29), S. 307-310; H EINRICH L ANG , Das Fürstbistum Bamberg zwischen Katholischer Aufklärung und aufgeklärten Reformen, in: M ARK H ÄBERLEIN (Hg.), Bamberg im Zeitalter der Aufklärung und der Koalitionskriege (Bamberger Historische Studien 12 / Veröff. des Stadtarchivs 19), Bamberg 2014, S. 11-70, hier 14-16; zur antibayerischen Kritik um 1780 M ICHAEL S CHAICH , Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 136), München 2001, S. 101-140. 31 Siehe zu den Feiertagsreduktionen im 18. Jahrhundert v. a. P ETER H ERSCHE , Wider »Müßiggang« und »Ausschweifung«. Feiertage und ihre Reduktion im katholischen Europa, namentlich im deutschsprachigen Raum zwischen 1750 und 1800, in: Innsbrucker Historische Studien 12/ 13 (1990), S. 97-122, hier 107; M ANFRED J AKUBOWSKI -T IESSEN , Feiertagsreduktionen. Aufklärung und religiöse Praxis in Deutschland und Dänemark, in: H ANS E RICH B ÖDEKER / M ARTIN G IERL (Hg.), Jenseits der Diskurse. Aufklärungspraxis und <?page no="322"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 321 weiteren Feiertagsreduktionen kam es unter der Mitwirkung der Kurie während der Pontifikate von Benedikt XIII. (1724-1730) und Benedikt XIV. (1740-1758). Der Ausgangspunkt war die Bitte des Provinzialkonzils von Tarragona im Jahre 1727, die Feiertage zu vermindern oder wenigstens an einigen von ihnen von der Arbeitsruhe zu dispensieren, um die Gewissensnot jener Teile der Bevölkerung zu lindern, die sich gezwungen sahen, aufgrund der herrschenden Armut auch an Feiertagen zu arbeiten. 32 Da als Zwang hier die Heiligung der Feiertage betrachtet wurde, handelte es sich um einen etwas anderen Ansatzpunkt als denjenigen der kameralistisch motivierten aufgeklärten Reformer, die die Bevölkerung ihrem Arbeitszwang unterwerfen wollten, doch war das Motiv erkennbar, die Feiertagsheiligung ökonomischen Notwendigkeiten weichen zu lassen. Die Kurie zeigte Bereitschaft, die Feiertage zu vermindern oder in Halbfeiertage umzuwandeln, und genehmigte die Reduktionsgesuche von Bischöfen oder Provinzialkonzilien, ohne eine einheitliche Neuregelung für die katholische Kirche zu erlassen; zu Feiertagsverminderungen kam es in der Folge in einer Reihe spanischer Diözesen, in Nizza, Wilna und Posen sowie in Diözesen des Kirchenstaates, schließlich 1748/ 49 für das gesamte Königreich beider Sizilien und das Großherzogtum Toskana. 33 In den 1750er Jahren folgten die beiden größten deutschen Staaten: 1754 wurde ein Edikt zur Abschaffung von 24 Feiertagen in Österreich erlassen, wobei es sich um die Umwandlung in Halbfeiertage handelte, an denen vormittags die Messe gehört werden sollte, danach aber die Arbeit gestattet war. 34 Ebenfalls 1754 erhielt Friedrich II. von Preußen ein päpstliches Breve zur Feiertagsreduktion für seine katholischen Untertanen im eben erworbenen Schlesien; noch im selben Jahr wurde in Brandenburg-Preußen auch die Zahl der evangelischen Feiertage vermindert. 35 Auf breiter Front kam es zu einer Reduktion der Feiertage in Deutschland allerdings erst nach dem Siebenjährigen Krieg. In der katholischen Reichskirche wurde eine grundlegende Reform der kirchlichen Feiertage seit den 1760er Jahren in Angriff genommen. Zu ihren Vorreitern zählte Kurfürst Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim (1763-1774), der nicht nur in seinem Kurerzstift Mainz seit 1765 mit der Vorbereitung einer Reduktion der Feiertage begann, sondern zugleich Institutionenwelt in europäisch komparativer Perspektive (Veröff. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 224), Göttingen 2007, S. 395-415; vgl. auch P. M ÜNCH , Lebensformen in der Frühen Neuzeit (Anm. 24), S. 362-371. 32 E NGELHARD E ISENTRAUT , Die Feier der Sonn- und Festtage seit dem letzten Jahrhundert des Mittelalters, Diss. theol. Würzburg 1914, S. 187f.; A. G RUBE , Der Sonntag und die kirchlichen Feiertage (Anm. 24), S. 50f. 33 P. H ERSCHE , Wider »Müßiggang« und »Ausschweifung« (Anm. 31), S. 104f. 34 E. E ISENTRAUT , Die Feier der Sonn- und Festtage (Anm. 32), S. 193f.; J OHANN M ÖSS - NER , Sonn- und Feiertage in Oesterreich, Preußen und Bayern im Zeitalter der Aufklärung (Eine wirtschaftshistorische Studie) (I. Teil), Diss. München 1915, S. 19f. 35 A. G RUBE , Der Sonntag und die kirchlichen Feiertage (Anm. 24), S. 57. <?page no="323"?> G E OR G S EIDER E R 322 eine umfassende gemeinsame Neuregelung in der Reichskirche anstrebte. 36 1768/ 69 verständigten sich die Erzbischöfe und Bischöfe von Mainz und Worms, Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim, von Trier und Augsburg, Clemens Wenzeslaus von Sachsen, von Köln und Münster, Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels, von Speyer, Franz Christoph von Hutten, und von Bamberg und Würzburg, Adam Friedrich von Seinsheim, darauf, in ihren Bistümern zum 1. Januar 1770 eine Reduktion um 16 bis 20 Feiertage in Kraft treten zu lassen. Noch 1769 wurden entsprechende Verordnungen in Kurmainz, Worms und Kurtrier in Kraft gesetzt. 37 Bereits im März 1770 folgten Kurköln sowie Würzburg und Bamberg; in Würzburg fielen der Feiertagsreduktion 18 von 36, also die Hälfte der kirchlichen Feste zum Opfer, die nunmehr in der äußerlichen Feyer auf den nächst vorgehenden Sonntägen begangen werden sollten. 38 In den Jahren zwischen 1770 und 1774 wurden Feiertagsreduktionen auch in Fulda, Münster, Speyer, Straßburg, Salzburg und Passau verordnet; in Augsburg erfolgte eine entsprechende Verordnung 1773, nachdem Clemens Wenzeslaus von Sachsen die Feiertagsreduktion in Trier bereits 1769 durchgesetzt hatte. 39 Zur selben Zeit wurden die Feiertagsreduktionen in Österreich und Preußen fortgesetzt. In den habsburgischen Erblanden hob ein auf Betreiben Wiens erlangtes zweites Reduktionsbreve vom 22. Juni 1771 die Verbindlichkeit des Meßbesuchs an den Halbfeiertagen auf, nachdem sich gezeigt hatte, daß das Edikt von 1754 weitgehend ohne Wirkung geblieben war. 40 Auch in Kurbayern wurde 1772 eine Feiertagsreduktion durchgeführt. Im zeitlichen Kontext der seit 1770/ 71 vorbereiteten ersten polnischen Teilung erhielt Friedrich II. von Preußen 1772 ein päpstliches Breve, das 17 katholische Festtage vollständig aufhob; am 28. Januar 1773 folgte ein königliches Edikt, mit dem weitere evangelische Festtage beseitigt 36 S ASCHA W EBER , Katholische Aufklärung? Reformpolitik in Kurmainz unter Kurfürst- Erzbischof Emmerich Joseph von Breidbach-Bürresheim 1763-1774 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 132), Mainz 2013, S. 165-169. 37 S. W EBER , Katholische Aufklärung? (Anm. 36), S. 168. 38 B ARBARA G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit in den Bistümern Würzburg und Bamberg (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg XXI), Würzburg 1969, S. 57-59, Zitat S. 58. 39 Zu den Feiertagsreduktionen im Hochstift Augsburg im Kontext der Entwicklung in anderen geistlichen Staaten W OLFGANG W ÜST , Geistlicher Staat und Altes Reich: Frühneuzeitliche Herrschaftsformen, Administration und Hofhaltung im Augsburger Fürstbistum (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte XIX/ 1), München 2001, S. 485-489. 40 E. E ISENTRAUT , Die Feier der Sonn- und Festtage (Anm. 32), S. 198-200; J. M ÖSSNER , Sonn- und Feiertage (Anm. 34), S. 26-33; H ANS H OLLERWEGER , Die Reform des Gottesdienstes zur Zeit des Josephinismus in Österreich (Studien zur Pastoralliturgie 1), Regensburg 1976, S. 69-77. <?page no="324"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 323 wurden. 41 Obgleich die Zahl der evangelischen Feiertage deutlich unter der der katholischen lag, kam es um 1770 in weiteren protestantischen Territorien zu Reduktionen: Bereits 1769 waren die protestantischen Feiertage in Kurbraunschweig-Lüneburg und Mecklenburg-Schwerin vermindert worden; 1770 wurden die dritten Feiertage des Weihnachts-, Oster- und Pfingstfestes sowie acht weitere Feiertage in Dänemark und den Herzogtümern Schleswig und Holstein abgeschafft; im selben Jahr erfolgten auch Feiertagsreduktionen in den Grafschaften Wertheim und Erbach. 42 1772 folgten Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt; 43 in anderen protestantischen Territorien wie Württemberg, Baden und Oettingen wurde die Zahl der kirchlichen Feste allerdings erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts vermindert. 44 Die Welle der Feiertagsreduktion erfaßte nicht nur größere katholische und evangelische Territorien, sondern auch kleine reichsritterschaftliche Herrschaften: So wurde in den benachbarten fränkischen evangelischen ritterschaftlichen Orten Obbach, Euerbach und Niederwerrn 1771 nach einer Übereinkunft der zum Teil katholischen Gutsherren und ihrer evangelischen Pfarrer die Anzahl der Feyertage bis auf die Feyer Mariä-Verkündigung, Himmelfahrt Christi und der zweyten Fest-Ferien eingeschränkt. 45 Zugleich fand zwischen geistlichen und weltlichen Staaten eine Verständigung über die Feiertagsreduktionen statt; so kam es 1770 zu Vereinbarungen zwischen Kurmainz und der Kurpfalz, in der eine teils katholische Bevölkerung lebte. 46 41 A. G RUBE , Der Sonntag und die kirchlichen Feiertage (Anm. 24), S. 56-59. Betroffen waren die dritten Feiertage an Weihnachten, Ostern und Pfingsten, Christi Himmelfahrt, drei von vier Bußtagen sowie die Erntefeste, welche auf den Sonntag nach Michaelis verlegt wurden. 42 M. J AKUBOWSKI -T IESSEN , Feiertagsreduktionen (Anm. 31), S. 402-404; siehe hierzu und zum folgenden auch die Übersicht bei P AUL G RAFF , Geschichte der Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche Deutschlands, II. Bd.: Die Zeit der Aufklärung und des Rationalismus, Göttingen 1939, S. 89f. 43 M. J AKUBOWSKI -T IESSEN , Feiertagsreduktionen (Anm. 31), S. 398. 44 P. G RAFF , Geschichte der Auflösung (Anm. 42), S. 90. 45 Geschichte der abgesetzten Feyertage in den ritterschaftlichen evangelisch-lutherischen Gemeinden Obbach, Euerbach, Niederwehrn, in: Journal von und für Franken VI (1793), S. 55-64, hier 55. 46 H ELGA S CHNABEL -S CHÜLE , Der Prozess der Aufklärung: Indizien im Raum des heutigen Rheinland-Pfalz, in: Kreuz - Rad - Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte, Bd. 1: Von den Anfängen der Erdgeschichte bis zum Ende des Alten Reiches, hg. von L UKAS C LEMENS / F RANZ J. F ELTEN / M ATTHIAS S CHNETTGER , Mainz 2012, S. 755-766, hier 757; S. W EBER , Katholische Aufklärung? (Anm. 36), S. 166. <?page no="325"?> G E OR G S EIDER E R 324 Die Parallelität der um 1770 getroffenen Maßnahmen in den geistlichen Staaten wurde immer wieder betont. 47 Ihre in jüngerer Zeit stärker beachtete reichskirchliche Fundierung in einer Initiative, die von Kurmainz unter Emmerich Joseph ausging, 48 war auch Ausdruck febronianistischer Tendenzen: Erst nach Publikation ihres Erlasses baten Emmerich Joseph und Clemens Wenzeslaus um die Zustimmung des Papstes. Die anderen Bischöfe warteten allerdings mit der Publikation bis nach dem Vorliegen der päpstlichen Genehmigung; 49 1771 erschien schließlich ein päpstliches Breve zur Feiertagsreduktion. Zugleich standen die Feiertagsreduktionen um 1770 im Kontext eines ersten, im Vergleich zu den 1780er Jahren freilich vielfach noch begrenzteren Reformschubs, der im Zeichen der katholischen Aufklärung eine Reihe von Kurerz-, Erz- und Hochstiften erfaßte. 50 Noch bemerkenswerter scheint indes die Parallelität der um 1770 in geistlichen und weltlichen, in katholischen und protestantischen Staaten vollzogenen Feiertagsreduktionen, zwischen denen ganz offenbar ein Zusammenhang wechselseitiger Beeinflussung bestand, obgleich die Voraussetzungen höchst unterschiedlich waren: In den katholischen Territorien lag die Zahl der begangenen Feiertage vor und nach der Reduktion deutlich höher als in den protestantischen, bei denen im Gegensatz zu den katholischen Staaten das zeitgenössische Argument des ökonomischen Entwicklungsrückstands katholischer Staaten nicht verfing. 47 Vgl. P. H ERSCHE , Wider »Müßiggang« und »Ausschweifung« (Anm. 31), S. 105f.; W. W ÜST , Geistlicher Staat (Anm. 39), S. 486. 48 S. W EBER , Katholische Aufklärung? (Anm. 36), S. 167f. 49 S. W EBER , Katholische Aufklärung? (Anm. 36), S. 169. 50 Siehe allgemein H ARM K LUETING , »Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht«. Zum Thema Katholische Aufklärung - Oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung, in: D ERS . (Hg.), Katholische Aufklärung - Aufklärung im katholischen Deutschland (Studien zum Achtzehnten Jahrhundert 15), Hamburg 1993, S. 1-35, hier v. a. S. 29-33; zu Kurmainz F RIEDHELM J ÜRGENSMEIER , Kurmainzer Reformpolitik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Ebd., S. 302-318, hier 309-314; S. W EBER , Katholische Aufklärung? (Anm. 36), S. 71-240; zu Bamberg und Würzburg H ARALD S SYMANK , Fürstbischof Adam Friedrich von Seinsheims Regierung in Würzburg und Bamberg (1755-1779), Diss. phil., Würzburg 1939, S. 88-129; B. G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit (Anm. 38), S. 55-64; A NTON S CHINDLING , Friderizianische Bischöfe in Franken? Aufklärung und Reform im geistlichen Franken zwischen Habsburg und Preußen, in: H EINZ D UCHHARDT (Hg.), Friedrich der Große, Franken und das Reich, Köln-Wien 1986, S. 157-171; H. L ANG , Das Fürstbistum Bamberg (Anm. 30), S. 34-48; zu Salzburg L UDWIG H AMMERMAYER , Die Aufklärung in Salzburg (ca. 1715-1803), in: H EINZ D OPSCH / H ANS S PATZENEGGER (Hg.), Geschichte Salzburgs. Stadt und Land, Bd. II: Neuzeit und Zeitgeschichte, 1. Teil, Salzburg 1988, S. 375-535, hier 395-406; zu Augsburg W. W ÜST , Geistlicher Staat (Anm. 39), S. 467f. <?page no="326"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 325 Die um 1770 in katholischen wie protestantischen Territorien vorangetriebenen Bemühungen um eine Reduktion der Feiertage dürften im Kontext der Überwindung jener Nachkriegskrise nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges zu sehen sein, die auch auf anderen Ebenen in protestantischen wie katholischen Territorien zu einer Steigerung der wirtschaftspolitischen Aktivitäten des Staates wie zu einer Intensivierung der öffentlich geführten ökonomischen Reformdiskussion führte; die erste Gründungswelle ökonomischer Gesellschaften um 1765/ 70 ist hierfür ein wichtiger Indikator. 51 Die Hungerkrise von 1770/ 73 - die nach Manfred Jakubowski-Tiessen dazu beigetragen hatte, daß sich die Feiertagsreduktionen schwer durchsetzen ließen - 52 dürfte auf Seiten der aufgeklärten Reformer eher einen zusätzlichen Anstoß zur Bekämpfung des Müßiggangs gegeben haben, doch sind die zum Teil seit den späten 1760er Jahren geplanten Reduktionen kaum ursächlich mit ihr in Verbindung zu bringen. In den Begründungen der Feiertagsreduktionen lassen sich verschiedene Motive unterscheiden, mit denen die Reformer auch an traditionell-religiöse Motive der Feiertagsheiligung anknüpften. So wurde die Abschaffung oder ›Verlegung‹ von Feiertagen auch damit motiviert, daß sie lediglich den Anlaß zu Müßiggang und Ausschweifungen gäben. Im Bamberger Erlaß zur Feiertagsreduktion vom 16. März 1770 hieß es etw a, daß die Fes ttägig e A ndacht mit eilfertig er Anh örung e in er heili gen Messe, und dieser oft entweder nur aus Zwang oder dem äusserlichen Wohlstand nach, kurz abgefertiget, die übrige ganze Tages-Zeit aber von denen Mehriste mit sündhaften Müßiggang, von Vielen nur mit Zechen, Spielen, und allen Gattungen der Ausgelassenheit, zugebracht werde und damit die Heiligentage in Tage der Unehre, ja der Beleidigung Gottes, und Beschimpfung derer Heiligen, umgekehret worden seien. 53 Von Kurerzbischof Clemens Wenzeslaus 54 wurde die Reduktion der Feiertage im Hochstift Augsburg mit einer rigiden Beschränkung der Vergnügungen an den Sonntagen und den nicht aufgehobenen Feiertagen verbunden. Das Aufspielen zum Tanz wurde als deren ›Entheiligung‹ 1773 gänzlich untersagt, wovon auch die Kirchweihsonntage nicht ausgenommen wurden. Gegenüber den moderaten Bestimmungen unter dem Augsburger Bischof Joseph von Hessen, der 1750 ausdrücklich gestattete, daß, ausser Advent- und Fastenzeit, bey Hochzeiten, Handwercks-Tägen, Versprechen, wie auch an Sonn- und Feyrtägen nach dem Mit- 51 Siehe die Liste ökonomischer Sozietäten bei R ICHARD VAN D ÜLMEN , Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt/ Main 1986, S. 152-155. 52 M. J AKUBOWSKI -T IESSEN , Feiertagsreduktionen (Anm. 31), S. 408. 53 Zitiert nach B. G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit (Anm. 38), S. 59. 54 Zu Clemens Wenzeslaus von Sachsen, Kurerzbischof von Trier und Bischof von Augsburg, s. jetzt M ICHAEL E MBACH / R EINHOLD B OHLEN (Hg.), Der Trierer Erzbischof und Kurfürst Clemens Wenzeslaus (1739-1812) - Eine historische Bilanz nach 200 Jahren. Vorträge einer Tagung in der Stadtbibliothek Trier im November 2012 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 133), Mainz 2014. <?page no="327"?> G E OR G S EIDER E R 326 tägigen GOttes-Dienst aufgespihlet, und getanzet werden möge, 55 bedeuteten die Ambitionen Clemens Wenzeslaus’ einen erheblichen Eingriff in die Lebensgewohnheiten des ›Volkes‹. Vor allem das Tanzverbot an den Kirchweihsonntagen führte zu nicht abreißenden Klagen der Gastwirte, die ihren gänzlichen Untergang; und Verderben befürchteten. 56 Nachdem in den domkapitelischen und in einigen unmittelbar an auswärtige Herrschaften grenzenden Ortschaften bereits vorher Ausnahmen erlaubt worden waren, grundsätzlich aber noch 1784 an dem Verbot des Aufspielens zum Tanz an Sonn-, Feier- und Kirchweihsonntagen festgehalten wurde, ruderte Clemens Wenzeslaus schließlich 1785 zurück: Da in denen dem Hochstift Ausburg [! ] angränzenden Herrschaften das Tanzen an Sonn- und gebottenen Feyrtägen durchaus erlaubet Seyn, sofort die Hochstift. Junge Leuthe an solchen Tägen dahin auslaufen, und denen inländischen Wirthen auch andern Gewerbschaft das Geld entzohen, dieße somit durch das in dem Hochstift bestehende Verbott des Tanzens in nicht geringen schaden versezet worden, und mit dißem Verbott das zu Heiligung der Sonn- und Feyrtägen Verabsichtigte Ziel und Ende wegen oben erwehnten Auslauf der Jungen Leuthe jedennoch nicht bewürket, sondern im gegentheil mehrere Ausschweifungen begangen werden, wurde die Abhaltung von Musik und Tanz wieder erlaubt, jedoch nicht eher, als nach dem Gottesdienst, und zur Nachtzeit nur so lang, als es der guten Ordnung und Polizey gemäß ist. 57 Die Abschaffung oder Verlegung der Feiertage ging mit der theologisch wie moralisch begründeten Sorge um ein gottgefälliges Leben einher, die auch in der aufgeklärten Diskussion um Kirchweihen, Wallfahrten oder andere Formen des ›Volksbrauchtums‹ von Bedeutung war. Auch theologische Gesichtspunkte spielten damit bei der Durchführung der Feiertagsreduktion eine Rolle und sorgten dafür, daß in katholischen Territorien die wichtigeren Feiertage erhalten blieben, so etwa im Hochstift Würzburg neben dem Weihnachtsfest, Epiphanias, dem Oster- und dem Pfingstmontag, Christi Himmelfahrt und Fronleichnam auch die wichtigsten Marienfeiertage - Mariae Geburt, Verkündigung, Empfängnis und Himmelfahrt - sowie immerhin fünf ausgewählte Heiligentage, darunter das Fest des Diözesanpatrons Kilian. 58 Obgleich die theologische Fundierung der Feiertagsreduktionen nicht ohne weiteres als nur vorgeschoben betrachtet werden kann, standen in ihrem Zentrum jedoch in erster Linie jene kameralistisch-ökonomischen Gesichtspunkte, die darauf abzielten, dem Commerce, der Landescultur und den fabriquen der katholischen Staaten jenen Schwung [zu] 55 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA A 675: Hoch-Fürstlich-Augspurgische Verordnung/ Die Heiligung Der Sonn- und Feyrtägen/ Dann anderes betreffend, 5. August 1750, Dillingen 1750, S. 8. 56 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA A 700: Eingabe der Wirte in Göggingen, undat.; Begleitschreiben vom 19.10.1782. 57 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA A 700: Mandat vom 12.2.1785. 58 B. G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit (Anm. 38), S. 58; vgl. S. W EBER , Katholische Aufklärung? (Anm. 36), S. 167. <?page no="328"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 327 geben […], welcher den Protestantischen Ländern […] zu statten kommt, und damit die volkswirtschaftliche Produktivität zu erhöhen. 59 Eben jene protestantischen Staaten, in denen bereits eine deutlich geringere Zahl von Feiertagen gehalten wurde, drehten indes nicht minder am Schwungrad: Bei der Orientierung an den von der ökonomisch-gemeinnützigen Aufklärung propagierten Zielen der Produktivitätssteigerung und der wirtschaftlichen ›Aufnahme‹ eines Landes handelte es sich um konfessionsübergreifende Muster, hinter denen sich auch der Versuch erblicken läßt, die eigenen, ›bürgerlichen‹ Vorstellungen von einer rechten Ordnung der Zeit und ihrer arbeitsintensiven Nutzung als allgemeingültige und notfalls mit staatlichen Zwangsmitteln durchzusetzende Norm zu betrachten. In der Durchführung stießen die Maßnahmen auf erhebliche Widerstände seitens der betroffenen Bevölkerung. 60 Diese Widerstände gleichen denjenigen, auf die evangelische wie katholische Reformer in Schreib- und Studierstuben, in Pfarrhäusern und Residenzen allenthalben stießen, wenn sie wohlgemeinte Reformen durchzusetzen suchten, ob es sich dabei um die Einführung neuer Gesangbücher, 61 um die Reduktion von Wallfahrten in katholischen Territorien 62 oder um die Einführung eines einheitlichen Kirchweihtermins handelte. 63 Zumal in der bäuerlichen Bevölkerung stießen sie auf Unwillen, Murren und Proteste, die sich mitunter zu massiven Konflikten ausweiten konnten. 64 59 So in einer prägnanten Formulierung der Salzburger Domdekan Ferdinand Christoph Graf von Waldburg-Zeil 1770; zitiert nach P. H ERSCHE , Wider »Müßiggang« und »Ausschweifung« (Anm. 31), S. 103. So schrieb etwa der österreichische Kanzler Chotek am 11.1.1766 an Kardinal Migazzi, der Vorteil der Verlegung von Feiertagen auf die Sonntage »leuchte jedermann in die Augen, wenn erwogen werde, was bei drei Millionen arbeitsfähige Menschen in dreißig Tagen sich zu erwerben vermöchten«; zitiert nach E. E ISENTRAUT , Die Feier der Sonn- und Festtage (Anm. 32), S. 198. 60 Siehe etwa B. G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit (Anm. 38), S. 76f. 61 Siehe H ELMUT B AIER , Der Sausenhofener Gesangbuchstreit 1783/ 84. Zum Wirken des Rationalismus in einer Landgemeinde, in: ZbKG 60 (1991), S. 99-113; D IETER W ÖLFEL , Nürnberger Gesangbuchgeschichte (1524-1791) (Nürnberger Werkstücke 5), Nürnberg 1971, S. 271-297. 62 R EBEKKA H ABERMAS , Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in der frühen Neuzeit (Historische Studien 5), Frankfurt/ Main-New York 1991, S. 139-172. 63 K ARIN W AGNER , Kirchweih in Franken. Studien zu den Terminen und deren Motivationen, Diss. phil., Erlangen-Nürnberg 1971, S. 193-195; I SOLDE B RUNNER -S CHUBERT , Die »Allerweltskirchweih« in Altbayern. Ein Beispiel für die Beeinflussung des Festwesens durch die katholische Erneuerungsbewegung im 19. Jahrhundert, in: H ELGE G ERNDT / K LAUS R OTH / G EORG R. S CHROUBEK (Hg.), Dona Ethnologica Monacensia. Leopold Kretzenbacher zum 70. Geburtstag (Münchner Beiträge zur Volkskunde 1), München 1983, S. 33-44. 64 Zu den teils gewaltsamen Widerständen gegen kirchliche und andere Neuerungen unter Joseph II. in Vorarlberg um 1790 E VA K IMMINICH , Religiöse Volksbräuche im Räderwerk <?page no="329"?> G E OR G S EIDER E R 328 Die Mittel des Widerstands waren einfach. Sie bestanden, kurz gesagt, schlicht und einfach darin, die abgeschafften oder verlegten Feiertage dennoch zu begehen: Die Arbeit zu verweigern, das Feld nicht zu bebauen, wenn schon nicht die Kirche, so doch wenigstens das Wirtshaus aufzusuchen und sich im für die Arbeit ungeeigneten Sonntagsstaat zu präsentieren statt in der Werktagstracht. 65 Es gibt dazu zahlreiche Belege, ebenso für die Versuche der Obrigkeiten, diesen Widerstand zu brechen: so etwa, indem Frontage auf die abgeschafften Feiertage gelegt wurden, so auch, indem - der Würzburger Aufklärer Franz Oberthür berichtet es von Adam Friedrich von Seinsheim - eine herrschaftliche Jagd auf einen abgeschafften Feiertag gelegt wurde, an der die Bauern als Treiber teilnehmen mußten, anstatt ihre Felder bestellen zu können, was ihnen wenigstens eigenen Gewinn gebracht hätte. 66 Unter den Formen des ›Widerstands‹ in der Frühen Neuzeit war diese verhältnismäßig einfach durchzuführen: Bauern und Handwerker waren keine Sklaven; zur Arbeit zwingen konnte man sie so einfach nicht. Dies sei nicht durch zahlreiche Zitate illustriert, lediglich zwei Punkte seien festgehalten. Zum einen betraf der lange Widerstand gegen die Feiertagsreduktionen protestantische Gebiete und Orte ebenso wie katholische. 67 Zum zweiten ist die Langwierigkeit des Ganzen auffällig: Bis in die 1790er Jahre war das Thema ein Dauerbrenner in fürstlichen Vermahnungen und Aufklärungszeitschriften, was auf das begrenzte Vermögen der Obrigkeiten verwies, die Feiertagsreduktionen tatsächlich durchzusetzen. Auch zu Beginn des 19. Jahrhunderts mußte ein Mandat Maximilians IV. Joseph vom 4. Dezember 1801 feststellen, daß an jenen ehemaligen Feyertagen, welche durch das Breve Pabst Klemens des XIV. vom 16ten May 1772, und die von Unserm Regierungs-Vorfahrer Churfürst Maximilian Joseph dem Dritten unterm 14ten Christmonats erlassene Verordnung abgewürdigt worden, von dem größten Theil unserer Unterthanen nicht gearbeitet werde, und daß überdieß viele derselben allerley neue Feyertäge, Bittgänge, und so weiter selbst einzuführen suchen, überhaupt aber die nützliche Wirkungen jener päbstlichen Bewilligung nicht erzielet worden seyen. 68 Die strenge Erneuerung der Feiertagsreduktion, die bald darauf auch die bayerischen Neuerwerbungen in Schwaben und Franken betraf, änderte nichts daran, daß die ›abgewürdigten‹ Feiertage auch in den folgenden Jahrzehnten vielfach gefeiert wurden, wie der Erzbischof von München-Freising und der Obrigkeiten. Ein Beitrag zur Auswirkung aufklärerischer Reformprogramme am Oberrhein und in Vorarlberg (Menschen und Strukturen 4), Frankfurt/ Main 1989, S. 78-88. 65 Vgl. etwa B. G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit (Anm. 38), S. 74-80; F INTAN M ICHAEL P HAYER , Religion und das Gewöhnliche Volk in Bayern in der Zeit von 1750 - 1850 (Miscellanea Bavarica Monacensia 21), München 1970, S. 71-75. 66 B. G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit (Anm. 38), S. 74. 67 Vgl. zu Norwegen und Schweden M. J AKUBOWSKI -T IESSEN , Feiertagsreduktionen (Anm. 31), S. 414f. 68 StaatsA Augsburg, Hochstift Augsburg NA A 735: Mandat Maximilian Joseph von Pfalzbayern, München, 4.12.1801. <?page no="330"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 329 die bayerische Regierung 1825 feststellen mußten; aus der Umgebung von Bamberg wurde ebenso wie aus Westfalen, von der Eifel und aus »den meisten Gegenden Oesterreichs« noch nach der Mitte des 19. Jahrhunderts berichtet, daß »an den abgebrachten Feiertagen nichts gearbeitet« werde. 69 Blicken wir auf die Gründe der Verweigerung. Eine Rolle dürfte gespielt haben, daß die wohlgemeinten Reformen von oben herab stattfanden und dabei dem Verdacht ausgesetzt waren, daß sich die Obrigkeit nur Mittel zur zusätzlichen Abschöpfung der Arbeitskraft der Untertanen erschloß - ein Verdacht, dem man seine Berechtigung kaum absprechen kann. Hinzu kam, zweitens, daß die benevolent-fürsorgliche, sozialdisziplinierende Einhegung des Hangs zu Spiel und Tanz und Trunk und Ausschweifung einen gravierenden Eingriff in die Lebensgewohnheiten des ›Volkes‹ bedeutete. Drittens handelte es sich um einen Verstoß gegen die tradierte Ordnung. Zeitordnungen sind ›künstlich‹, ein Produkt der Kultur, und damit wandelbar, gleichwohl gewinnen sie aus ihrer Dauer Verbindlichkeit und Festigkeit. Viertens waren die Feiertagsreduktionen ein Verstoß gegen die geheiligte Ordnung. 70 Tatsächlich finden sich in den überlieferten Reaktionen der Betroffenen zahlreiche Hinweise, daß sie die Abschaffung der Feiertage als Ungehorsam gegen Gott betrachteten und es sich zur Sünde anrechneten, wenn sie an einem derley verlegten Feyertägen keine Heilige Messe hören, wie der Pfarrer von Frensdorf an die Bamberger Regierung 1793 berichtete; 71 in ähnlicher Weise klagten evangelische Untertanen Preußens im Bayreuther Umland, daß nach den abgeschafften Feyertagen in unserer protestantischen Kirche kein Christenthum mehr sey, 72 und drohten, katholisch zu werden, oder liefen in katholische Gottesdienste. Hinzu kommt, daß die Feiertagsreduktionen nicht isoliert zu betrachten sind. Vielmehr fügten sie sich in eine umfassende Offensive von Reformern und Volksaufklärern, von weltlichen und geistlichen Obrigkeiten ein, die nicht nur die Ordnung der Zeit betraf, sondern mit zahlreichen Maßnahmen weitreichende Eingriffe in die bisherigen Formen des Lebens und Wirtschaftens der agrarischen Gesellschaft bedeuteten, ob es sich nun um kirchliche Reformen handelte, um Gemeinheitsteilungen oder die Einführung von Stallfütterung und verbesserter Fruchtwechselwirtschaft - oder überhaupt um das von der Volksaufklärung verfolgte Programm der gezielten Mentalitätsänderung des ›Volkes‹. 69 E. E ISENTRAUT , Die Feier der Sonn- und Festtage (Anm. 32), S. 195; vgl. P. H ERSCHE , Wider »Müßiggang« und »Ausschweifung« (Anm. 31), S. 117. 70 Auf diesen Aspekt verweist besonders M. J AKUBOWSKI -T IESSEN , Feiertagsreduktionen (Anm. 31), S. 406f.; vgl. auch H. H OLLERWEGER , Die Reform des Gottesdienstes (Anm. 40), S. 75, 458. 71 Zitiert nach B. G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit (Anm. 38), S. 78. 72 So aus dem Bayreuthischen, Fränkischer Merkur IV (1797), S. 273-286, zitiert nach B. G OY , Aufklärung und Volksfrömmigkeit (Anm. 38), S. 76. <?page no="331"?> G E OR G S EIDER E R 330 Und schließlich handelte es sich um einen Verstoß gegen eine ausgewogene Ordnung, die Arbeit einschloß und in hohem Maße von Arbeit bestimmt war, aber zugleich die Abwechslung mit der Muße, dem Feiertag und der Geselligkeit zuließ. 73 Die ›bürgerliche‹ Zeitordnung im eingangs skizzierten pietistisch-aufgeklärten Sinne war eine gestörte Ordnung, da ihr das Maß abging. Die ›bürgerliche‹ Unterwerfung der Zeit unter die Arbeit war ein Ideal, das stupende Lebensleistungen ermöglichen mochte, aber auch in den ›gebildeten Ständen‹ nur bis zu einem gewissen Grad realisiert wurde. Wenn das 18. Jahrhundert zu Recht als das »gesellige Jahrhundert« apostrophiert wurde, 74 dann bedeutete dies auch, daß - wenn es sich nicht gerade um Heroen oder Märtyrer der Arbeit handelte - der Geselligkeit im Leben des einzelnen breiter Raum gewährt wurde. Tagebücher wie dasjenige des Nürnberger Kaufmanns Paul Wolfgang Merkel zeigen, in welchem Maße das Leben aufgeklärter Angehöriger der ›gebildeten Stände‹ - bei aller Beanspruchung durch die Berufsgeschäfte und die Obliegenheiten, die politische Ehrenämter mit sich brachten - gesellige Entspannung einschloß, ob es sich um nahezu tägliche gemeinsame Spaziergänge handelte oder das ebenso beinahe täglich mit Freunden eingenommene Mahl, um Vergnügungsfahrten zu nahegelegenen Erholungsorten, den Besuch von Gesellschaften oder anderes mehr. 75 Es braucht kaum betont zu werden, daß das Gegenstück dieser ›bürgerlichen‹ Formen der Geselligkeit und der Erholung von den Tagesgeschäften mit ihren sozialen Funktionen - denen bei den Adeligen andere standesspezifische Arten des geselligen Kontakts entsprachen 76 - in der ländlichen Gesellschaft eben jene ›Ausschweifungen‹ waren, die als Verschwendung von Geld und Arbeitszeit in das Visier aufgeklärter Reformer und 73 Vgl. die konzise Darstellung von W ERNER K. B LESSING , Fest und Vergnügen der »kleinen Leute«. Wandlungen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: R ICHARD VAN D ÜL - MEN / N ORBERT S CHINDLER (Hg.), Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.-20. Jahrhundert), Frankfurt/ Main 1984, S. 352-379, hier 352-360. 74 U LRICH I M H OF , Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. 75 StadtA Nürnberg, E 18 Nr. 108-133. Eine kommentierte vollständige Edition dieser sozial-, alltags- und mentalitätsgeschichtlich außerordentlich aufschlußreichen Quelle ist in Vorbereitung; siehe bislang v. a. R EBEKKA H ABERMAS , Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750-1850) (Bürgertum 14), Göttingen 2000, S. 137-198; G EORG S EIDERER , Aufgeklärter Bürger in einer Zeit des Umbruchs. Paul Wolfgang Merkel (1756-1820), in: M ICHAEL D IEFENBACHER / R UTH B ACH -D AMASKINOS / G EORG S EIDE - RER (Hg.), Paul Wolfgang Merkel (1756-1820). Kaufmann. Reformer. Patriot. (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg 16), Nürnberg 2006, S. 12-37. 76 Siehe hierzu exemplarisch die ausgezeichnete Studie von B ARBARA K INK , Adelige Lebenswelt in Bayern im 18. Jahrhundert. Die Tage- und Ausgabenbücher des Freiherrn Sebastian von Pemler von Hurlach und Leutstetten (1718-1772) (Studien zur bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte XXVI), München 2007, S. 319-355. <?page no="332"?> V ON DER F EIER TAG S R EDUKTION ZUR › V ER BÜR GERLICHUNG ‹ DE R Z EIT 331 Tugendwächter gerieten, wenngleich sich - eher vereinzelt - auch zeitgenössische Stimmen vernehmen ließen, die darauf verwiesen, daß auch der ›Landmann‹ der Erholung bedürfe: Und diese zwey oder drey Tage, die man Kirchweihe nennet, will man ihm mißgönnen? Ihm, dem die unausgesetzten sauern Arbeiten des ganzen Jahres nicht verstatten, das süsse Vergnügen zu genießen, seine Kinder und Enkel zu umarmen, als an einem solchen Tage, den, nicht mürrische und menschenfeindliche Theologen, sondern weise Gesetzgeber bestimmt haben, damit der geplagte Landmann doch auch einmal von seiner Arbeit ausruhen, und im Zirkel der Familie sich seines Gottes erfreuen, und dabey sein hartes Schicksal auf einige Augenblicke vergessen möge, hieß es 1791 im ›Journal von und für Franken‹, wo zuvor von einem anderen Korrespondenten heftige Kritik an der Kirchweih geübt worden war. 77 Der Versuch, die Rigidität - weniger wohl die Praxis - des Ideals bürgerlicher Zeitnutzung auf die Zeit der anderen zu übertragen, bedeutete die Störung von deren Zeitordnung. Zugespitzt ließe sich formulieren: Die Betroffenen kannten die Uhr. Ihre Zeitordnung aber war zu komplex, um sie dem ›bürgerlichen‹ Ideal unausgesetzter Tätigkeit unterzuordnen. Zwar wurden im Zuge der Industrialisierung während des 19. Jahrhunderts unter gewandelten Produktionsbedingungen zumal für die Fabrikarbeiterschaft neue, nicht weniger rigide Zeit- und Disziplinierungszwänge wirksam, doch dürfte Werner K. Blessing darin zuzustimmen sein, daß die aufgeklärt-obrigkeitliche Offensive einer verhaltens- und mentalitätsbildenden Erziehung zur ›Industrie‹ im Sinne des 18. Jahrhunderts 78 »im Vormärz versandet« war. 79 Im langfristigen Ergebnis kam es zu einem Strukturwandel der seit dem 19. Jahrhundert quantitativ zunehmenden Freizeit, deren Formen sich in der ›populären‹ Kultur nicht zuletzt an ›bürgerlichen‹ Vorbildern orientierten. 80 ›Unausgesetzte Tätigkeit‹ dürfte sich dagegen in den Jahrzehnten an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert mit am ausgeprägtesten bei denen finden lassen, deren Vorfahren im 18. Jahrhundert an erster Stelle zur Zielgruppe von Reformern und Volksaufklärern geworden waren: Der zahlenmäßig stark geschrumpften Gruppe der Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebes im Haupt- oder Nebenerwerb, deren Arbeitszeit weder durch eine Festlegung der täglichen Arbeitsstunden noch durch Urlaubsregelungen begrenzt werden kann. 77 Journal von und für Franken II (1791), S. 255-270, hier 258; der Artikel, auf den sich das Schreiben bezog, ebd. I (1790), S. 547-561. 78 Vgl. L UCIAN H ÖLSCHER , Art. Industrie, Gewerbe, in: O TTO B RUNNER / W ERNER C ONZE / R EINHART K OSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 237-304, hier 259-267. 79 W. K. B LESSING , Fest und Vergnügen der »kleinen Leute« (Anm. 73), S. 364. 80 W. K. B LESSING , Fest und Vergnügen der »kleinen Leute« (Anm. 73), S. 364-379. <?page no="334"?> 333 A NDREAS L INK Die ›chiliastischen Träumereien‹ des Ignaz Lindl. Radikalisierung am Rande der Allgäuer Erweckungsbewegung im Elendsjahr achtzehnhundertunderfroren Im letzten Anhang zu seinen geschichtsphilosophischen Thesen formulierte Walter Benjamin, marxistischer Philosoph jüdischer Herkunft, eine bemerkenswerte Einsicht über die komplexe Zeitauffassung des Judentums: »Bekanntlich war es den Juden untersagt, der Zukunft nachzuforschen. Die Thora und das Gebet unterweisen sie dagegen im Eingedenken. Dieses entzauberte ihnen die Zukunft, der die verfallen sind, die sich bei den Wahrsagern Auskunft holen. Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte.« 1 Bereits in der antiken jüdischen Apokalyptik war jedoch die von Benjamin benannte Balance von ungeduldiger messianischer Endzeiterwartung und der frommen Haltung des Eingedenkens in Schieflage geraten. Es entstand die Lehre, die Weltgeschichte ende in einem irdischen Gottesreich von tausendjähriger Dauer, dem Goldenen Zeitalter ähnlich, für das nur die Gerechten auferweckt würden, eine Lehre, die auch in die Johannesapokalypse Eingang fand. In vielfach modifizierten Interpretationen zieht sich der Chiliasmus durch die Kirchengeschichte. »Die Weltuntergangserwartung bestand daneben weiter und wirkte in erster Linie auf die religiösen Bewegungen, während der eigentliche Chiliasmus mit seiner Hoffnung auf ein Goldenes Zeitalter (bis in die Neuzeit) mehr die sozialrevolutionären Ideen beeinflußt hat.« 2 Für die katholische wie lutherische Theologie, besonders die Lehre von der Kirche, inakzeptabel, fanden chiliastische Denkfiguren schließlich Heimat im tendenziell stets latent kirchenkritischen Pietismus, bis dahin, daß phantastische Rechnungen über das Eintreffen des Tausendjährigen Reiches vorgenommen wurden. Folgenreich im 19. Jahrhundert war der von dem führenden Württemberger pietistischen Theologen Johann Albrecht Bengel (1687- 1752) spitzfindig errechnete Beginn des Millenniums für den 18. Juni 1836. 3 Schon 1 W ALTER B ENJAMIN , Über den Begriff der Geschichte, in: D ERS ., Gesammelte Schriften, Bd. I, 2, Frankfurt/ Main 1974, S. 691-704, hier Anhang B, S. 704. 2 H EINRICH K RAFT , Art. Chiliasmus, in: RGG 3 , Bd. 1, Tübingen 1957, Sp. 1651-1653, hier 1652. 3 J OHANN A LBRECHT B ENGEL , Erklärte Offenbarung Johannis oder viel mehr Jesu Christi, Stuttgart 1740. <?page no="335"?> A NDR EA S L INK 334 »während der ganzen Kirchengeschichte waren mit dem Chiliasmus Auswanderungsbewegungen (in die Wüste, auf Berge, ins gelobte Land) verknüpft, in denen die Menschen dem herabkommenden Christus oder Jerusalem entgegenzugehen dachten.« 4 Die mit dem Näherrücken dieses Datums einsetzende Zeitverkürzung und Beschleunigung der Endzeit 5 brachte eine erneute Konjunktur chiliastischen Denkens mit sich. Die geistesgeschichtliche Erschütterung durch die Aufklärung und die umwälzenden Ereignisse der Französischen Revolution, der Aufstieg Napoleons in den Koalitionskriegen, die Säkularisation und das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ließen sich anscheinend mühelos stimmig mit den Endzeitprophezeiungen der Johannesapokalypse zur Deckung bringen. Die ›Stillen im Lande‹ waren offen für die Schriften nicht nur Bengels oder Jung- Stillings, allerlei Traktätlein kursierten in den Konventikeln, deren Führungsfiguren durch Korrespondenzen und wechselseitige Besuche vielfach vernetzt waren. So formierte sich eine regelrechte chiliastische Bewegung in Süddeutschland, speziell auch in Schwaben und Württemberg, die in einer Auswanderungswelle gipfelte, vornehmlich nach Rußland, die 1803 einsetzte, sich im ›Elendsjahr achtzehnhundertunderfroren‹ (1817) zuspitzte und bis in die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts anhielt. Zu einem ihrer Protagonisten und Hauptakteure wurde Pfarrer Ignaz Lindl aus Baindlkirch (1774-1834). Die Rekonstruktion der Entwicklung seines Denkens zu den »chiliastischen Träumereien«, die ihm Valentin Thalhofer 1857 in einer parteilichen Kampfschrift bescheinigt, 6 kann sich zwar auf Schriften Lindls selbst, vermeintlich auch auf seinen Kirchbau und dessen Ausstattung in Baindlkirch und verstreute Akten zu seinen Lebzeiten stützen, muß aber die fast vollständigen Kriegsverluste im Hauptstaatsarchiv München, im Archiv des Bistums Augsburg 4 H. K RAFT , Chiliasmus (Anm. 2), Sp. 1653. 5 Vgl. R EINHART K OSELLEK , Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation [1985], in: D ERS ., Studien zur Historik, Frankfurt/ Main 2000, S. 150-176. 6 V ALENTIN T HALHOFER , Beiträge zu einer Geschichte des Aftermysticismus und insbesondere des Irvingianismus im Bisthum Augsburg, Regensburg 1857 [SuStBA Th 2037], S. 78. Die Schrift ist veranlaßt durch die Auseinandersetzungen mit Johann Evangelist Georg Lutz (1801-1882), der 1823 zum Priester geweiht und 1826 Pfarrvikar in Karlshuld wurde, wo er sich für die Verbesserung der Lebensverhältnisse seiner Pfarrkinder erfolgreich engagierte. Nach seiner Erweckung 1828 hielt er Andachtsstunden in der Gemeinde, von der er 1831 versetzt werden sollte. Im Februar 1832 erklärte er mit 300 Gemeindegliedern den Übertritt zur evangelischen Kirche, den er bald als Übereilung bereute: Im Dezember kehrte er zur katholischen Kirche zurück. Seine publizistische Tätigkeit führte in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zu Kontroversen mit dem Augsburger »Sion«, 1854 zu einer bischöflichen Untersuchung gegen ihn. 1856 wurde er des Irvingianismus verdächtigt, 1859 exkommuniziert. Darauf war er bis 1869 an der irvingianischen Gemeinde in Zürich und Bern tätig. Später wirkte er in Württemberg und Bayern, zuletzt in Nürnberg. <?page no="336"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 335 und den Archiven in Wuppertal durch mehr oder minder tendenziöse Sekundärliteratur und deren Verwendung von ehemals verfügbarem Aktenmaterial auszugleichen versuchen. Fast zeitgleich mit dem Katholiken Thalhofer veröffentlichte der Protestant Friedrich Wilhelm Krug 1851 Vorlesungen über »Schwärmerei« und »Sectierei«, 7 auch er in Auseinandersetzung mit zu seiner Zeit noch aktiven ›Lindlianern‹. Selbst das ausführliche und quellengesättigte Manuskript von Joseph Sedlmayer über Ignaz Lindl aus dem Jahr 1918 ist noch von vereinzelten Begegnungen mit dem so genannten »Gläuble« motiviert. 8 Daß kirchengeschichtliche Gesamtdarstellungen, die Ignaz Lindl meist im Kontext der Allgäuer Erweckungsbewegung erwähnen, bis weit über die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine konfessionell voreingenommene Betrachtungsweise - nicht zuletzt auf deren Einflüsse auf die Erlanger Erweckungsbewegung, »auch in den Kreis um Löhe hinein« 9 - pflegen, verwundert kaum. Die jüngste ausführliche historische Arbeit über Ignaz Lindl, von Ralph Andersson im Aichacher Heimatblatt im Jahr 2000 veröffentlicht, 10 konzentriert sich auf die chiliastisch motivierte Auswanderung nach Rußland aus dem altbayerischen Raum und bietet ein differenziertes Bild des Lebensweges Lindls und seiner inneren Entwicklung unter den obrigkeitlichen Repressalien bis 1824. Die vorliegende Studie legt den Schwerpunkt ebenfalls auf die Gedankenwelt Lindls, seine Beziehungen zur Allgäuer Erweckungsbewegung und zum chiliastischen Denken. Ihre Rekonstruktion fußt vornehmlich auf Veröffentlichungen Lindls selbst und schließt eine sorgfältige Analyse der Bildausstattung von St. Martin in Baindlkirch ein. 7 F RIEDRICH W ILHELM K RUG , Kritische Geschichte der protestantisch-religiösen Schwärmerei, Sectierei und der gesammten un- und widerkirchlichen Neuerung im Großherzogthum Berg, besonders im Wupperthale, Elberfeld 1851, bes. S. 287-304. 8 J OSEPH S EDLMAYER , »Pfarrer Ignaz Lindl« - Ein Baustein zur Geschichte des Pseudomystizismus der katholischen Kirche in Bayern im 19. Jahrhundert […] 1918, Manuskript, AdBA, HS-Nr. 211. Das Manuskript besteht aus mittig gefalteten Bogen. Diese (zu je vier Seiten) sind rot numeriert. Sie werden im folgenden zitiert als z. B. 1a bis 1d, 2a bis 2d usw. Stets beschrieben sind die a- und d-Seiten. Zitat: Bogen 1a. 9 R UDOLF K ELLER , Von der Spätaufklärung und der Erweckungsbewegung zum Neuluthertum, in: G ERHARD M ÜLLER u. a. (Hg.), Handbuch der Geschichte der evangelischen Kirche in Bayern, Bd. 2, St. Ottilien 2000, S. 31-68, hier Zitat 35f.; C LAUS -J ÜRGEN R OEPKE , Die Protestanten in Bayern, München 1972, S. 342. Guter Forschungsüberblick bei H ORST W EIGELT , Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung, in: M ARTIN B RECHT u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 3, Göttingen 2000, S. 85-111, hier 86f. 10 R ALPH A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung. Ignaz Lindl und die Auswanderung von Altbayern nach Neurußland (19. Jahrhundert), in: Aichacher Heimatblatt 48 (2000) Nr. 2, S. 5-8, Nr. 3, S. 9-12, Nr. 4, S. 13-15, Nr. 4, S. 17-20. <?page no="337"?> A NDR EA S L INK 336 1. Pfarrer zwischen Rationalismus und Romantik in Baindlkirch 1797-1812 Genau in der Mitte zwischen Augsburg und Fürstenfeldbruck liegt das 700-Seelen- Dorf Baindlkirch, heute ein Ort, »wo alles Wurst ist«, wie die ›Süddeutsche Zeitung‹ 2014 einen fünfspaltigen Bericht betitelte: »Jeden Donnerstag kommen 2.000 Menschen nach Baindlkirch bei Augsburg, um das vermutlich größte Weißwurstfrühstück der Welt zu zelebrieren«. 11 Solchen Ansturm von Menschenmassen hatte das Dörfchen schon vor zweihundert Jahren erlebt, damals jedoch keineswegs aus kulinarischen Antrieben, sondern angezogen vom Charisma des wortgewaltigen und »erfolgreichsten Predigers innerhalb der katholischen Allgäuer Erweckungsbewegung«, 12 des aus dem Dorf selbst (Haus Nr. 1) 13 stammenden Wirtssohnes Ignaz Lindl. Seine anfangs unauffällige Wirksamkeit vollzog sich zunächst innerhalb der engen Grenzen seiner Heimat. Nach dem Besuch des ehemaligen Jesuitenkollegs St. Salvator in Augsburg 14 und dem üblichen Studium in Dillingen wurde Lindl am 18. Mai 1797 zum Priester geweiht und anfangs als Kaplan, am 13. Juli 1802 durch bischöfliche Inventur mit der Pfarrei Baindlkirch als Nachfolger des in den Ruhestand getretenen Pfarrers Fritz betraut. 15 Aufklärerische Bildungsinitiativen und religiös-romantisches Volkstheater Der ungemein rührige und arbeitseifrige Dorfpfarrer kümmerte sich erfolgreich um den Bau eines Schulhauses samt integriertem Theatersaal 1803/ 04 und den Neubau der Dorfkirche St. Martin 1809/ 10. Die von Lindl selbst verfaßten Theaterstücke, die in Baindlkirch zur Aufführung kamen, tragen Titel wie ›Der Sieg der Religion. Ein Drama in drey Akten mit Gesang‹, ›Gumal und Lina‹ und ›Genovefa 11 S ARAH K ANNING , Wo alles Wurst ist, in: ›Süddeutsche Zeitung‹ vom 17.10.2014, S. 50. 12 E RICH B EYREUTHER , Art. Lindl, Ignaz, in: RGG 3 , Bd. 4, Tübingen 1960, Sp. 381. 13 Heute Gasthof Giggenbach, Hofname ›beim Lindl‹, damals ›Poltlwirt‹. Grundherr war wie bei der Hälfte der Höfe das Domkapitel Augsburg. Ignaz war das sechste von elf Kindern des Urban Lindl und seiner zweiten Frau Monika Friedl, die 1782 verstarb, worauf der Vater (nach dem Trauerjahr) 1783 erneut heiratete. 14 H ILDEBRAND D USSLER , Johann Michael Feneberg und die Allgäuer Erweckungsbewegung, Kempten 1959, S. 212. 15 A NTON S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg, historisch und statistisch beschrieben, Bd. 2, Augsburg 1864, S. 437. Vgl. BayHStA, MK 23785, Geheime Raths-Acten, Staats Ministerium des Innern, S. 4: Schreiben vom 17. Aug. 1802 wegen des Pfarr-Resignations-Contracts [zwischen Pfarrer Fritz und Lindl]. <?page no="338"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 337 oder die Leiden der Unschuld‹. 16 Es geht, ob in mittelalterlicher, bulgarischer oder »morgenländischer« Szenerie, stets um den Kampf zwischen Gut und Böse, das unter dem Einfluß finsterer heidnischer »Götzenpriester« 17 den dramatischen Knoten schürzt, bis die von diesen Verführten tränenreich ihren Irrtum erkennen und von den christlichen Siegern edelmütigste Vergebung empfangen, die Götzenpriester aber ihren gerechten Lohn. Wahrheit und Tugend 18 sind gut rationalistisch die Helden auf der »religiös-moralische[n] Schaubühne zur Erbauung und Erheiterung« des Pfarrers Ignaz Lindl, dessen Schul- und Volksbildungsinitiativen somit im sowohl rationalistischen wie romantischen Trend der Zeit liegen. Erweckliche, chiliastische oder separatistische Tendenzen sucht man in den erbaulichen Dramen Lindls vergebens. Die zusammengenommen 158 Druckseiten der Stücke bieten nur vereinzelt Allgemeinplätze wie: »Die Lebensart vieler Menschen, die sich Christen nennen, stimmt freylich nicht mit den Lehren des Christenthumes überein«, 19 »Daß du aber die Christen mit dem Namen Sekte belegest, da hast du sehr unrecht« 20 - allerdings in Bezug auf das Frühchristentum gemeint und keineswegs in Verbindung zu bringen mit dem viel späteren Vorwurf, Lindl sei das »Haupt eines schwärmerisch-mystischen Sektenwesens« 21 - oder die Bezeichnung der Religion als Nahrung des Geistes. 22 Daß Lindl für seinen Schulhausbau Finanzmittel auszuheben verstand, die ursprünglich zum Stiftungsvermögen einer Lorettokapelle in der nahen Einöde Burgstall gehörten, dürfte der aufklärerischen Kirchenpolitik unter Maximilian Graf von Montgelas (1759-1838, Minister 1799-1817) entgegen gekommen sein. 1803 nahm Lindl 200 fl. von den Zinsen dieser Stiftung als Darlehen auf. »Durch täuschende Vorspiegelungen und mittels einflußreicher Unterstützung gelang es auch, ein Dekret des obersten Schul- und Studiendirektoriums zu München vom 10. Dec. 1804 zu erwirken, wodurch das Rentamt Friedberg angewiesen wurde, die Kapitalien der Loretto-Kapelle zu 1.900 fl. zum (angeblichen) Schulhausbaue in Baidelkirch [! ] abzugeben. Weitere 72 fl. 30 kr., der letzte Rest des Vermögens, wurden an Lindl zu demselben Zwecke ausbezahlt«. 23 Während das Ministerium des Innern 1812 betonte, daß […] seine Verdienste um die Herstellung der Kirchen und Schulgebäude seiner Gemeinde in dem bei dem Ministerium anliegenden Akten allerdings anerkannt 16 I GNAZ L INDL , Religiös-moralische Schaubühne zur Erbauung und Erheiterung, München 1812. 17 I GNAZ L INDL , Der Sieg der Religion, in: D ERS ., Schaubühne (Anm. 16); D ERS ., Gumal und Lina, in: Ebd. (Anm. 16). 18 I. L INDL , Der Sieg der Religion (Anm. 17), Schlußchor, S. 62. 19 I. L INDL , Der Sieg der Religion (Anm. 17), S. 38. 20 I. L INDL , Der Sieg der Religion (Anm. 17), S. 36f. 21 A. S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg (Anm. 15), S. 437. 22 I. L INDL , Gumal und Lina (Anm. 17), S. 10: »meinem Geiste mangelte es an Nahrung.« 23 A. S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg (Anm. 15), S. 512. <?page no="339"?> A NDR EA S L INK 338 sind, 24 sah der Augsburger Bistumshistoriker und spätere Erzbischof von München und Freising Anton Steichele 25 ein halbes Jahrhundert später nur »die Ränke des Pfarrers Lindl«. 26 Rationalistische Konzentration der Mittel für den Kirchenneubau Auch für den Erweiterungsbau der Pfarrkirche St. Martin in Baindlkirch agierte Pfarrer Ignaz Lindl gut rationalistisch so, daß er auf ›entbehrliche‹ Sach- und Geldwerte zugriff und Verwaltungsvereinfachungen anregte. »Wie die Kapelle St. Wolfgang bei Ried zerstört werden mußte, damit Bausteine gewonnen werden würden zum Kirchenbaue von Baidelkirch [! ], und wie dasselbe Schicksal der Kirche zu Maria-Zell drohte, so wurde auch die Loretto-Kapelle zu Burgstall als entbehrlich erklärt.« Die Ortsbauern verhinderten den Abbruch jedoch durch eine Barauslösung in Höhe von 150 fl., wie ein Rescript vom 19. Dezember 1808 ausweist. 27 Zur Finanzierung wurde auch in dem Berichte des Rentamtes Friedberg vom 7 ten Maÿ g. J. S. 41.r. […] die Vereinigung der Pfarreÿ Mittelstetten, welche aus einem einzigen - von Baindlkirchen [! ] nur eine halbe Stunde entlegenen Dorfe bestehe, vorgeschlagen. 28 Jedenfalls gelang dem rührigen Ortspfarrer von Baindlkirch in einer Zeit, in der zahlreiche Kirchen und Klöster der Säkularisation zum Opfer fielen, einer der seltenen Kirchenbauten. Mit sichtbarem Stolz kündet davon die Inschrift an der Brüstung der unteren Westempore: NE V GEBA V T / V ON M A X I OSEPH / I. BA I ERNS KOEN I G ,/ WI E A VC H / V ON I GNATZ LI N DL/ SEE L EN H I RTEN / V ON H I ER . (Abb. 1) 29 Das Chronogramm ergibt die Jahreszahl 1808. 24 BayHStA, MK 23785, Geheime Raths-Acten, Staats Ministerium des Innern, Die Pfarrey zu Baindlkirchen […] betr: , Konzept des Ministeriums vom 12.8.1812 Nr. 2473 An das K. G[eheim]e Ko[mmissari]at in München. 25 P AUL B ERTHOLD R UPP , Art. Steichele, Antonius von, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 846. 26 A. S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg (Anm. 15), S. 512. 27 A. S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg (Anm. 15), S. 512. 28 BayHStA, MK 23785, Nr. 7: Auszug aus dem Schreiben des Innenministeriums an das königl. Generallandes-Commissariat in Baiern vom 20 ten Juny 1807. Die Originalakten dürften spätestens beim Brand des Kultusministeriums in München am 28. Jan. 1947 vernichtet worden sein (freundliche Auskunft von Dr. Gerhard Hetzer, Direktor des Hauptstaatsarchivs München, am 31.7.2014); BayHStA, MF 80901, Staatsministerium der Finanzen, Act Pfarrei Baindlkirchen 1807-1821: Schreiben vom 14.8.1807 N. ro 7198. Nach dem Gutachten der königlichen Landesdirection können Zehenden zu Baindlkirchen, Glon, Oberndorf und Pendlbach sowie die von Eismannsberg und Burgstall obwohlen beyde Dorfschaften bisher noch nie zur Pfarr Baindlkirchen gehört haben, für den Bau herangezogen werden. 29 Den Großbuchstaben der Umschrift entsprechen im Original goldgelbe Buchstaben, die sich vom Grau der übrigen Buchstaben abheben. <?page no="340"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 339 Abb. 1: Baindlkirch, St. Martin: Bauinschrift an der unteren Westempore St. Martin in Baindlkirch ist nun ein »geräumiger, klassizistischer Saalbau mit flachem Tonnengewölbe über Doppelpilastern. Der eingezogene, flachgedeckte Chor ist halbrund geschlossen.« 30 Die einheitliche Ausstattung der Erbauungszeit wird selbst von Anton Steichele, der die »falschmystische Richtung an Lindl« 31 entschieden ablehnt und ihm alles andere als wohlgesonnen ist, 1864 »erstaunlich« 32 bewundernd beurteilt: »Edle Einfachheit waltet im Baue dieser Kirche, wie in ihrer Einrichtung, deren ganzer Reichthum in den herrlichen Bildern besteht, mit welchen J. Huber aus Augsburg im J. 1810 die Wandflächen und Wölbungen schmückte. […] [Im Langhaus] das himmlische Jerusalem nach Johannes Offenbarung 21, 9- 27. Alle diese Bilder machen einen erhebenden Eindruck; besonders ergreifend wirkt das letztere, aus welchem eine ungemeine Zartheit und Milde des Gefühls neben Großartigkeit und Tiefe der Auffassung spricht. Es bleibt jedenfalls ein Verdienst Ign. Lindls, welcher als Pfarrer den Bau und die Ausschmückung veranlaßte 30 G EORG D EHIO , Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Bayern III, bearb. von B RUNO B USHART / G EORG P AULA , 2. Aufl. München-Berlin 2008, S. 177. 31 A. S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg (Anm. 15), S. 437. 32 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 9f. <?page no="341"?> A NDR EA S L INK 340 und leitete, seiner Heimat ein Gotteshaus von solcher Schönheit und Würde hinterlassen zu haben.« 33 Auch die Kunsthistoriker teilen das positive Urteil: Schon Gustav von Bezold beurteilt 1895 »die Malereien […] als ganz späte, aber zu den besten Arbeiten der Umgegend zählende Roccocomalereien. […] An der Decke des Chors das Abendmahl in reicher Architektur, das gelungenste von allen Bildern, besonders anziehend durch das reiche und harmonische Colorit; hier auch die Bez. J. Huber, Director Academicus Augustae invenit et pinxit 1810.« 34 (Abb. 2) Im Dehio 2008 zählen »die Deckenfresken und die an die Wände gemalten Altäre von Johann Joseph Anton Huber […] zu den letzten bedeutenden Leistungen der Augsburger Freskomalerei in der Tradition des 18. Jhs.« 35 Die Altarausstattung und der zweckmäßige ›Bund der Liebe‹ Das Bildausstattungsprogramm ist sicher von Ignaz Lindl als dem Parochus loci verantwortet. Der Hauptaltar zeigt die Mantelspende des Hl. Martin als klaren Hinweis auf das Patrozinium. Der Seitenaltar links trägt eine Darstellung von Christi Geburt, der rechte Seitenaltar »Christi Jugend« bzw. die »Hl. Familie«, 36 was etwas überraschend ist. Nach traditioneller christlicher Ikonographie wäre eine ›Verkündigung‹ oder ein dem Hochfest Weihnachten entsprechendes Hochfest wie Ostern zu erwarten. Abwegig wäre, die gedankliche Klammer in romantischer Kindheitsverklärung zu suchen. Tatsächlich gibt es dafür ja einen bisher übersehenen Zusammenhang mit dem Wirken Ignaz Lindls: »Ehemals stand hier [in Holzburg] eine der hl. Jungfrau Maria geweihte Kapelle […] Auch bestand in ihr seit 1700 eine Bruderschaft ›Jesus, Maria und Joseph‹, welche Pf. Lindl im J. 1807 nach Baidelkirch [! ] verlegte«, 37 für Anton Steichele Teil der »Ränke« Lindls. »Diese Bruderschaft«, so mutmaßt Joseph Sedlmayer, »war L. wegen der Namen Maria Josef ein Dorn im Auge seit seiner aftermystischen Neigung; als daher die Pfarrkirche neugebaut wurde, transferierte L. die Bruderschaft von der Filialkirche in die Pfarrkirche«. 38 33 A. S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg (Anm. 15), S. 438. 34 G USTAV VON B EZOLD / B ERTHOLD R IEHL (Bearb.), Die Kunstdenkmale von Oberbayern, 1. Theil. Stadt und Bezirksamt Ingolstadt, Bezirksämter Pfaffenhofen, Schrobenhausen, Aichach, Friedberg, Dachau, ND der Ausgabe München 1895, München-Wien 1982, S. 242. 35 G. D EHIO , Handbuch (Anm. 30), S. 177. 36 G. VON B EZOLD / B. R IEHL (Bearb.), Kunstdenkmale (Anm. 34), S. 242; G. D EHIO , Handbuch (Anm. 30), S. 177. 37 A. S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg (Anm. 15), S. 441. 38 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 6c. <?page no="342"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 341 Abb. 2: Baindlkirch, St. Martin: Chordecken-Fresko mit Signatur von Johann Joseph Anton Huber (Detail) Lindl wäre nicht der clevere Organisator des Kirchbaus gewesen, wenn er die Möglichkeiten ungenutzt gelassen hätte, die sich durch die Einbindung der Bruderschaft auch finanziell für das Vorhaben ergaben. Die Unterstellungen Steicheles und besonders Sedlmayers projizieren jedoch aus der späteren Entwicklung - in unkritischer Übernahme von bischöflichen Verhörprotokollen - Motive ins Jahr 1807 hinein, für die sich zeitnah keine Belege finden. 1811 veröffentlicht Ignaz Lindl die einschlägige Schrift ›Bund der Liebe. Das ist: Wahre Bruderschaft zum Besten der Dürftigen, besonders der Kranken, unter dem Familien-Vorbilde Jesu, Maria und Joseph‹. 39 Der Vorbericht erläutert: »Schon lange war es meine Absicht, der in meiner Pfarrgemeinde existierenden Bruderschaft unter dem Titel Jesu, Maria und Joseph eine andere zweckmäßigere Einrichtung zu geben, ohne deßwegen den Titel zu ändern.« Seine »reine Absicht« sei, »thätige Religion unter die Pfarrgemeinde zu verbreiten.« 40 Im Fokus der aufgeklärt »thätige[n] Bruderschaft«, also »Liebe in der That - Liebe in der Wahrheit« stehen die Alten, Kranken, »im 39 I GNAZ L INDL , Bund der Liebe. Das ist: Wahre Bruderschaft zum Besten der Dürftigen, besonders der Kranken, unter dem Familien-Vorbilde Jesu, Maria und Joseph, München 1811. 40 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), Vorbericht. <?page no="343"?> A NDR EA S L INK 342 voraus die kranken Dienstbothen, die Vater und Mutter los sind und keine Heimat haben«, 41 weiter »Presthafte«, »Waisen und Wittwen«, »Eltern, die mehrere Kinder besitzen, ohne im Stande zu seyn, sie zu nähren«, Jugendliche ohne Ausbildungschancen und ähnliche Sozialfälle. 42 Von den unterstellten ›aftermystischen Neigungen‹ findet sich in Lindls Schrift keine Spur; sie steht in Übereinstimmung mit »unsrer Religions-Anstalt« und ihren Sakramenten und Ablässen 43 und auch im ausführlichen Anhang der »geistlichen Uebungen für Brüder und Schwestern« (73 von 91 Seiten) ist die Orientierung an der Messe, dem Hochamt und der Kommunion durchwegs traditionell. Selbst die oberflächlich ›mystisch‹ klingende »Vereinigung mit Jesu« 44 gehört hier zu der Sakramenten-Frömmigkeit, die man späterhin Lindl abgesprochen hat: 45 »Mit diesem Verlangen, Eins zu seyn mit dir, gehe ich hin zu deinem Tische, den du mir bereitet hast.« 46 Eher fallen aufklärerische Formulierungen ins Auge wie »Litaney zum Andenken Jesu, Maria und Joseph der Lieblinge Gottes, und der edelsten Menschen-Freunde«. 47 Und auch die Aufnahme des Liedes »Wenn jemand spricht, ich liebe Gott, und haßt doch seine Brüder, der treibt mit Christus-Lehre Spott […]« bei Lindl 48 hat nichts mit kirchenkritisch ökumenisierenden Tendenzen zu tun. Christian Fürchtegott Gellert (1715-1769) war einfach d e r klassische fromme Dichter der Aufklärungszeit. Somit erweist sich der rechte Seitenaltar von St. Martin in Baindlkirch als der Bruderschaftsaltar des örtlichen ›Bundes der Liebe‹. Unter einem Puttenreigen im Himmel zeigt das Altarblatt links Maria am Waschzuber, rechts Joseph an der Hobelbank, dazwischen den in tätiger Mithilfe bemühten Jesusknaben als »Familien-Vorbild« 49 aufgeklärt praktischer Lebensführung - jeweils ohne Nimbus. (Abb. 3) Die Ikonographie der Deckenfresken, besonders des Himmlischen Jerusalem Die Deckengemälde haben ihren theologisch-programmatischen Ort: das Abendmahl über dem Chorraum, wo das Meßopfer vollzogen wird (auch hier also ein Hinweis auf Lindls eindeutig kirchliche Position um 1810), das himmlische Jerusalem über dem Hauptraum als dem Ort der Gemeinde. 41 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), S. 6. 42 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), S. 7. 43 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), S. 13f. 44 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), S. 60. 45 V. T HALHOFER , Beiträge (Anm. 6), S. 76, betont die »Lauigkeit und Eilfertigkeit, mit welcher er das heiligste Opfer feierte«. 46 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), S. 60. 47 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), S. 22. 48 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), S. 20f. Die Verse 1, 3, 5 des Liedes Nr. 412 im Evangelischen Gesangbuch für Bayern und Thüringen, München 1994. 49 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39), Titel. <?page no="344"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 343 Abb. 3 Baindlkirch, St. Martin: Gesamtansicht des Innenraums Während in vielen barocken Deckenfresken sich dort ein spiralig höherschraubender Wolkenhimmel öffnet, der die Szenerie für eine gestaffelte Hierarchie der Heiligen bildet, die auf Maria, Christus, Gottvater und die Heilig-Geist-Taube zentriert ist, betreten wir in Baindlkirch ikonographisches Neuland. Zwar findet sich das Thema des himmlischen Jerusalem »als der wohlbefestigten Stadt der Auserwählten […] bereits auf altchristlichen Mosaiken«. 50 Mittelalterliche Buchmalerei und Radleuchter stellen es dar, aber auch der Chorbau und das Kirchenportal. Einen festen ikonographischen Ort in der Deckenmalerei wie beispielsweise die vier Kirchenväter hat das Thema aber nie erreicht. Das Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland verzeichnet gerade mal ein Dutzend Darstellungen. 51 Zum Vergleich: Das Modethema der Himmelfahrt Mariens kommt allein für den Regierungsbezirk Oberbayern auf mehr als 150 Nennungen. 52 Die geographische Verteilung der wenigen Fresken vom Himmlischen Jerusalem hat zwei Schwerpunkte, 50 G ÉZA J ÁSZAI , Art. Jerusalem, Himmlisches, in: E NGELBERT K IRSCHBAUM SJ (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Rom 1970, Sp. 394-399, hier 397. 51 H ERMANN B AUER / F RANK B UTTNER / B ERNHARD R UPPRECHT (Hg.), Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland, Ikononographisches Register, Bd. XV: Gesamtindex, München 2010, S. 132. 52 H. B AUER / F. B UTTNER / B. R UPPRECHT (Hg.), Corpus (Anm. 51), Bd. XV, S. 154. <?page no="345"?> A NDR EA S L INK 344 einmal im Schongauer Land: Die Wieskapelle der ursprünglichen Wallfahrt integriert in den Hintergrund eines Bildes vom guten Hirten die Umrisse einer Stadt, die überstrahlt ist von einer glorienartigen Sonne. 53 1739 hat der Gögginger Maler Johann Heel in einer der sechs Kartuschen von Mariä Himmelfahrt in Hohenfurch die apokalyptische Vision gestaltet, wonach der Engel des Herrn Johannes das himmlische Jerusalem, die Stadtmauer mit den zwölf Toren, zeigt und darin das Lamm auf dem Berg Zion. 54 Die flachperspektivische Sicht läßt an eine Vorlage aus der Bilderbibel des Augsburger Kupferstechers Johann Ulrich Krauß denken. Mit ähnlicher Bildanlage findet sich das Thema auch an der Chorwand der Kapelle St. Joseph in Tannenberg, 1774 von Franz Xaver Bernhardt aus Eggenthal signiert. 55 Der zweite geographische Schwerpunkt liegt jedoch in fußläufiger Entfernung um Baindlkirch: Dießen (45 km), Indersdorf (27 km), Altomünster (18 km), keine dörflichen Kirchen und Kapellen, sondern bedeutende Kloster- und Wallfahrtskirchen. Lindl hat sie sicher gekannt. Die Kirche des ehemaligen Birgittenklosters (Doppelorden von Männern und Frauen) Altomünster zeigt an prominenter Stelle im Herrenchor als erstes der drei Deckenfresken des in Augsburg ansässigen Tirolers Joseph Mages 56 die Vision des Johannes auf Patmos. Vor felsiger Einöde schwebt »ein Engel über Johannes und weist zum Himmel, zu dem auch der Evangelist aufblickt. In den Wolken erscheint, von Strahlen umgeben, ein viereckiger Gegenstand: es handelt sich um das Himmlische Jerusalem, das im Quadrat angelegt war, mit drei Toren auf jeder Seite.« 57 »Im Zusammenhang des Bildprogramms von 1768 ist das Kloster Altomünster mit seiner von Christus selbst gegebenen Ordnung die geschmückte Braut, die mit dem Himmlischen Jerusalem der Apokalypse verglichen wird. […] Mit der Darstellung der Johannes-Vision wird ein zweiter Zweck verfolgt. In einer schon aufgeklärten Zeit beruft man sich […] auf eine Vision, die im katholischen Glauben außer Frage steht.« 58 Das Freskenprogramm des ehemaligen Augustiner-Chorherren-Stifts Indersdorf von Matthäus Günther 1755 behandelt Szenen aus der Vita des Ordensheiligen, darunter an der Hochwand im südlichen Hauptschiff: »Augustinus verfaßt ›de civitate Dei‹. An seinem Studiertisch, auf dem das mit DE / CIV / DEI bezeichnete Werk liegt, hat Augustinus seine Arbeit unterbrochen und scheint - im Sessel zurückgelehnt - zu meditieren. Sein Herz schwebt beflügelt empor zum Himmlischen 53 H. B AUER / F. B UTTNER / B. R UPPRECHT (Hg.), Corpus (Anm. 51), Bd. I, S. 600f. 54 H. B AUER / F. B UTTNER / B. R UPPRECHT (Hg.), Corpus (Anm. 51), Bd. I, S. 408. 55 H. B AUER / F. B UTTNER / B. R UPPRECHT (Hg.), Corpus (Anm. 51), Bd. I, S. 547. 56 G ODE K RÄMER , Art. Mages, Joseph, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 626. 57 A NNE B AUER -W ILD , Altomünster, St. Alto, in: H. B AUER / F. B UTTNER / B. R UPPRECHT (Hg.), Corpus (Anm. 51), Bd. V, S. 34. 58 A. B AUER -W ILD , Altomünster (Anm. 57), S. 44f. <?page no="346"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 345 Jerusalem, das im Hintergrund […] zu erkennen ist. Die Darstellung spielt an auf Augustinus’ zweites Werk […], an dem er zu arbeiten begann, nachdem Rom 410 durch Alarich erobert und zerstört worden war. Im Untergang Roms erblickte er ein Werk der göttlichen Vorsehung und verwies auf die ›Civitas Dei‹ als die Gemeinschaft derer, die Gott lieben und auf ihn ausgerichtet sind.« 59 Vereinfacht gesagt, trat das Himmlische Jerusalem an die nun leer gewordene Stelle der Roma aeterna. Augustinus hatte ursprünglich chiliastisch gedacht. »Er lernte aber den Apk-Kommentar des Donatisten Ticonius kennen, der alle realistischen Erklärungen verwarf und die 1.000 Jahre als Zeit zwischen Erscheinung und Wiederkunft Christi verstand. Augustin übernahm diese Deutung, die dadurch bis weit ins Mittelalter hinein herrschend wurde.« 60 Als nach der ersten Jahrtausendwende diese Meinung obsolet geworden war, hielt sich weiter das Himmlische Jerusalem als Topos der Augustiner-Theologie. Auch Lindl habe, so sein Kaplan Martin Völk, Augustinus gelesen. 61 Wenn auch die Klosterkirche Mariä Himmelfahrt in Dießen keine Einzeldarstellung des Himmlischen Jerusalem darbietet, so ist doch gerade die Bedeutung dieses theologischen Topos für das ikonologische Gesamtprogramm der Freskenausstattung durch Johann Georg Bergmüller 1736 schon aus der Kirchweihpredigt des Pollinger (Augustiner-)Chorherrn Augustinus Fastl mit dem Titel ›Der neue Himmel zu Dießen‹ 62 ersichtlich. Der Prediger beschreibt »die neue Kirche als einen neuen Himmel nach der Apokalypse des Johannes (21,1): ›Vidi caelum novum‹ (Fastl, S. 7), der zu Ehren der göttlichen Mutter erbaut wurde […]. Die Vorstellung von der Kirche als einem Himmel ist in Dießen zweifellos sehr geläufig: ›Dieser neue Himmel aber ist diese neue Stüfft-Kirchen‹ (Fastl, S. 7), ›Diese gegenwärtige Stüfft-Kirchen ist ein unvergleichlich-heilig-neues Himmlisches Jerusalem‹ (Fastl, S. 9).« 63 Die Vorstellung des Himmlischen Jerusalem und ihre Übertragung auf den Kirchenbau im ganzen sind also im Katholizismus, wie speziell auch in der Ordensfrömmigkeit, durchaus geläufig. Insofern ist es verwunderlich, wenn Andersson die Ausmalung in Baindlkirch strikt chiliastisch versteht: »Daß hingegen in ihm [sc. Lindl] das Interesse am Chiliasmus bereits lebendig war, auch wenn er diese Lehre 59 A. B AUER -W ILD , Kloster Indersdorf, Mariä Himmelfahrt, in: H. B AUER / F. B UTTNER / B. R UPPRECHT (Hg.), Corpus (Anm. 51), Bd. V, S. 116. 60 H. K RAFT , Chiliasmus (Anm. 2), Sp. 1652. 61 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 7 (Sp. 2). 62 A UGUSTIN F ASTL , Der Neue Himmel zu Dießen, das ist: Kirchweyh- und Jubel-Predigt […] 1739, München 1740. 63 H. B AUER / F. B UTTNER / B. R UPPRECHT (Hg.), Corpus (Anm. 51), Bd. I, S. 46. Vgl. D AG - MAR D IETRICH , Ehem. Augustiner-Chorherren-Stift Dießen am Ammersee, München- Zürich 1986, S. 30. <?page no="347"?> A NDR EA S L INK 346 nicht lauthals predigen sollte, legt das ikonographische Programm in der Kirche nahe.« 64 Auch seine Datierung der Hinwendung Lindls zu chiliastischen Schwärmereien »vermutlich schon 1804/ 08, als er die Renovierung der Kirche zu planen begann«, 65 findet im Wirken des Baindlkircher Pfarrers und seinen frühen Veröffentlichungen keinen Anhalt. Die ikonographische Einzigartigkeit des Hauptfreskos in Baindlkirch ist ja nicht schon per se als chiliastisch zu werten. Im Gegenteil: die Platzierung am Ort der Gemeinde ist - wie bei den Klosterkirchen gezeigt - der klare Verweis auf das St. Martins-Kirchlein selbst als Ort des Himmlischen Jerusalem, liegt also durchaus innerhalb der Bandbreite üblicher katholischer Theologie. Neu ist die Exklusivität des Bildthemas, dem nur im Chor das Abendmahl zur Seite tritt. Und ebenfalls neu ist der Perspektivwechsel in der Bildanlage. Traditionell erscheint das Himmlische Jerusalem in flachperspektivischer Draufsicht oder Seitenansicht im Bildhintergrund wie in den Bildern im Schongauer Land. In Baindlkirch ist eine perspektivisch kühne Untersicht in den märchenhaft visionär schwebenden Baukomplex gewählt. Johann Joseph Anton Huber 66 gelingt eine geradezu geniale Komposition der schwierigen Bildanlage dadurch, daß er einmal die Darstellung der idyllischen Landschaft, in der der Evangelist seine Vision vom Engel Gottes erhält, auf die Bildzonen im Westen und Osten beschränkt und sie an den Längsseiten hinter die gemalte Rahmenbegrenzung zurückzieht. Dadurch ergibt sich genug Himmelsfläche, um sowohl das Geviert des Himmelsbaus unterzubringen und diesen detailreich auszuschmücken als auch zwölf Engel im Luftraum zwischen der Erdoberfläche und der Basis des Baus schwebend so anzuordnen, daß die Distanz verdeutlicht wird und ein vertikaler Blicksog entsteht. Zum anderen ist dieser untere Engelskranz illusionistisch verbunden mit einem zweiten oberhalb der Mauerkrone des Himmlischen Jerusalem, der sich bis zu dem Lamm auf dem Buch mit den sieben Siegeln im Strahlenkranz in der Bildmitte schwebend emporschraubt. Es ist strahlendes Zentrum der gesamten Komposition, das zudem durch den deutlichen Hell-Dunkel-Kontrast zwischen der irdischen und der himmlischen Bildzone hervorgehoben ist. (Abb. 4) 64 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 9 (Sp. 1), übernimmt anscheinend die Einschätzung von J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 6b, über Lindls Vorliebe für die »Apocalypse, die fortan sein Lieblingsbuch wurde bis er zum vollendeten chiliastischen Schwärmer geworden - das Plafondgemälde der von ihm restaurierten Pfarrkirche in Baindlkirch im Langhause zeugt heute noch davon.« 65 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 6 (Sp. 1). 66 Der Augsburger Freskant (1737-1815), Schüler von Johann Georg Bergmüller und Gottfried Bernhard Götz, wurde 1784 Nachfolger Matthäus Günthers als katholischer Direktor der Akademie; G ODE K RÄMER , Art. Huber, in: Augsburger Stadtlexikon, S. 521. <?page no="348"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 347 Abb. 4: Baindlkirch, St. Martin: Hauptfresko ›Das himmlische Jerusalem‹ von Johann Joseph Anton Huber <?page no="349"?> A NDR EA S L INK 348 Die Darstellung des Offenbarungsempfanges mit dem weißgekleideten Engel, der auf einem Felsblock stehend dem an einer Felsengruppe ruhenden Johannes die himmlische Vision weist, wird bildlich buchstäblich zur abgedunkelten Randerscheinung der Bildzone im Osten, die eine Entsprechung im Westen über der Orgelempore mit einem Harfe spielenden Schäfer (Hinweis auf den Ort der Musik) findet. Die hier aufragenden hohen Bäume, z. B. eine ›morgenländische Palme‹, ermöglichen zudem mit stark verkürzten perspektivischen Fluchtlinien, weitere Himmelshöhe darzustellen. Hier findet sich eine Inschrift: renov. 1893. Bibelgetreu sind die zwölf Tore, je drei in jede Himmelsrichtung, samt den schon erwähnten zwölf Engeln dargestellt. Auf ihren von unten sichtbaren Grundsteinen »die zwölf Namen der zwölf Apostel des Lammes« (Apk 21,14), oben an der Mauerkrone »die Namen der zwölf Geschlechter der Kinder Israels« (Apk 21,12). Renaissanceformen und Perlenschmuck zieren das Bauwerk im Detail (Abb. 5). Im Wolkenband unmittelbar über dieser Mauerkrone sind vier Personen sichtbar, die deutlich (ohne Nimbus) nicht als bekannte Heilige, sondern als einfache Personen aus dem Kreis der Erlösten dargestellt sind. Der Verzicht auf den Heiligenschein - auch auf den Altarbildern - ist Hinweis auf eine rationalistische Kritik an der Heiligenverehrung. Lediglich der Christus des Abendmahls zeigt einen Nimbus. Johann Joseph Anton Huber beweist seine hohe malerische Meisterschaft sowohl durch die kompositorische Bewältigung des Problems, ein zentrales Quadrat einem Rechteck einzubeschreiben und diese Form auf der Flachwölbung räumlich in große Höhe perspektivisch zu verlängern, als auch durch seine romantischen Schäferlandschaften im Geschmack des spätesten Rokoko sowie die Zitate des kirchlichen Barockhimmels. Das theologische Programm, auf dem Hubers Kunst sich entfaltet, kann nicht auf den Chiliasmus eingeengt werden, weder von der biblischen Fundierung her, die über die Apokalypse hinausgreift, noch vom Zeitverständnis her. »Was in der Entrückung geschaut wird, ist das künftige Jerusalem, das als ›das obere‹ schon da ist. […] Der Ort, an dem diese kontrafaktische Imagination ihre Kraft entfaltet, ist der Gottesdienst, in dem die irdische Christengemeinde schon an der Liturgie des himmlischen Jerusalem partizipiert. […] Ähnlich wie für Paulus (Gal 4,26) und den Autor des Hebräerbriefs (Hebr 12,18-24) ist auch für Johannes das himmlische Jerusalem eine jetzt schon den Glauben bestimmende Realität.« 67 Mit der Gleichörtlichkeit korrespondiert eine Gleichzeitigkeit von Jetzt und Einst im Ritual. Von daher bekommt auch die parallele Darstellung des Abendmahls in der Deckenzone in Baindlkirch bildsprachlich einen semantischen Nebenakzent, den der Gleichzeitigkeit des kirchlichen und des himmlischen Mahls. Es spricht für den künstlerischen wie theologischen Sachverstand Anton Steicheles, wenn er für die Kirchenaus- 67 A LEX S TOCK , Poetische Dogmatik, Gotteslehre. 1. Orte, Paderborn 2004, S. 63. <?page no="350"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 349 stattung keine Beanstandungen macht, sondern ihre Schönheit und Würde als besonderes Verdienst Lindls hervorhebt. 68 Abb. 5: Baindlkirch, St. Martin: Hauptfresko ›Das himmlische Jerusalem‹ (Detail) 2. Die Begegnung mit der Allgäuer Erweckungsbewegung: Lindls Erweckung 1812 Noch auf der Linie rationalistischer Argumentation liegt eine Schrift Lindls von 1811 zur Frage: »Kann eine weltliche Regierung auch jetzt noch den katholischen Priestern ihre Forderung der Verehelichung zurückweisen? « Die Infragestellung des Zölibats dürfte jedoch die Aufmerksamkeit der kirchlichen Obrigkeit geweckt haben, wohl auch den von Andersson benannten Verdacht: »Womöglich dürfen dabei bereits Beziehungen zu seiner Haushälterin impliziert werden«. 69 In Pfarramtsführung, Seelsorge und Verkündigung fiel Lindls Tätigkeit bis 1812, »im Stil zeitgemäß bis modern, wenn, so positiv auf«. 70 68 A. S TEICHELE , Das Bisthum Augsburg (Anm. 15), S. 438. 69 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 10 (Sp. 2). 70 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 6 (Sp. 3). <?page no="351"?> A NDR EA S L INK 350 Die entscheidende Wende vollzog sich nach seinem Selbstbekenntnis, »dass er 10-12 Jahr ganz unrichtig pastoriert habe«, 71 im Jahr 1812. Da »ging mir das erstemal durch die Gnade des Herrn ein kleines Licht auf über das Evangelium, das ich vom Gesetze noch nicht zu unterscheiden wußte«. 72 Lindl war in Kontakt mit dezidierten Vertretern der Allgäuer Erweckungsbewegung gekommen. Theologiegeschichtlich ist sie eine notwendige Reaktion auf die dogmatische Erstarrung sowohl des nachtridentinischen Katholizismus als auch der späten Orthodoxie des Luthertums einerseits und die in der akademischen Welt vorherrschende Aufklärungstheologie andererseits. Gegen die objektivierende Fixierung der Lehre schwang das Pendel in Richtung einer subjektiven Frömmigkeit im Anschluß an den Spätpietismus und seit den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts an die Romantik. »Unstrittig ist wohl, daß sie von Anfang an von einer starken, mystischen Grundströmung entscheidend mitbestimmt wurde. […] Dieses mystische Element wurde nicht zuletzt von dem Moraltheologen Johann Michael Sailer bereitgestellt«, 73 bei dem fast alle bedeutenden Gestalten der Erweckungsbewegung - Lindl bildet eine Ausnahme - in Dillingen studiert haben: Martin Boos (1762-1825), Johann Michael Feneberg (1751-1812), Johann Evangelist Goßner (1773-1858). Sie alle hatten schon in der Anfangszeit der Bewegung Untersuchungen und oberhirtliche Maßnahmen ab 1797 über sich ergehen lassen müssen. 74 Feneberg war seit der gemeinsamen Lehrtätigkeit in Dillingen mit Sailer befreundet, Boos wie Goßner waren Kapläne bei Feneberg in Seeg, Goßner Herausgeber des Briefverkehrs von Boos. Mit dem fast gleichaltrigen Goßner, der von der kirchenpolitischen Wende unter Montgelas zur Toleranz gegenüber der Erweckungsbewegung nach 1803 profitierte und ab August 1811 ein Benefiziat an der Münchner Frauenkirche bekleidete, kam Lindl 1812 in Augsburg in Bekanntschaft. »Goßner rühmte sich, den Lindl erweckt zu haben«. 75 Vielleicht gab »der mystische Proselytenmacher« 76 den letzten Anstoß dazu oder - wahrscheinlicher 77 - »die gegenseitige Beeinflussung« 78 durch Lindls Kaplan Martin Völk (1787-1836). Diesen, ein Kind seiner Pfarrei aus 71 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 6b. 72 V. T HALHOFER , Beiträge (Anm. 6), S. 75f. 73 H. W EIGELT , Allgäuer Erweckungsbewegung (Anm. 9), S. 87. 74 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14); vgl. P ETER R UMMEL , Johann Michael Feneberg - eine prägende Gestalt der Allgäuer Erweckungsbewegung, in: ZbKG 64 (1995), S. 70-84; H ORST W EIGELT , Martin Boos. Initiator und wesentlicher Repräsentant der Allgäuer katholischen Erweckungsbewegung, in: ZbKG 64 (1995), S. 85-105; D ERS ., Allgäuer Erweckungsbewegung (Anm. 9). 75 V. T HALHOFER , Beiträge (Anm. 6), S. 76; M ATTHIAS S IMON , Evangelische Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 2, München 1942, S. 593. 76 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 5a. 77 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 7 (Sp. 2). 78 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 136. <?page no="352"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 351 Eismannsberg, ließ Lindl auf seine Kosten studieren. 79 Er war ein »ausgezeichneter Bibelkenner« im Urtext 80 und begeisterter Anhänger von Sailer an der Universität Landshut. Seit 1805 war Völk Kaplan bei Lindl. Wohl um 1811 wurde er »durch Goßner erweckt«. Weihnachten 1812 durfte er seine Primiz in Baindlkirch feiern. Festprediger war kein anderer als Johann Michael Sailer. 81 3. Suchbewegungen: Besuche bei Jung-Stilling und in der Schweiz 1813 Lindls Erweckung, die ja eine Neubestimmung seiner christlichen Identität darstellte, konnte nicht folgenlos für seine pastorale Tätigkeit bleiben. Seine nun dezidiert christozentrischen Predigten zogen die Menschen in Massen an, aber auch den Argwohn der kirchlichen Obrigkeit auf sich. Ob Lindl bereits 1812 im Sinne der späteren Vorwürfe agierte, läßt sich nur vermuten. Entscheidende Impulse empfing er jedoch von einer Reise im Jahr 1813. Im späteren Bericht des Pfarrers Johann Anton Höger an das Ordinariat vom 26. November 1815 heißt es: »Mit Dr. Jung Stilling hat L. näher Verbindung auch in Religionsangelegenheiten; alle benachbarten Pfrr., seine ehemaligen intimsten Freunde wußten es, daß derselbe in Basel vor einer evangelischen Gemeinde gepredigt hat; er gab selbst seine dort gehaltene Predigt Vielen zu lesen; Dr. Jung hatte darüber so große Freude, daß er den L. beim Herabsteigen von der Kanzel umarmte u. einen goldenen Ring, den er noch trägt, an seinen Finger gesteckt hat, was alle wißen, die in seine Geschichte eingeweiht sind […]. Dr. Jung war 2 x in Baindlkirch. Dieser Aufenthalt bei Jung Stilling u. der Verkehr mit ihm u. den Schweizer Mystikern fachte in L. seine schwärmerische Neigung zu heller Lohe an. Nach seiner Rückkehr änderte L. seine Lebensweise total, so daß ihn keiner seiner ehemaligen besten Freunde mehr kannte; er legte das Amt eines Distriktsschulinspektors nieder, verkehrte mit keinem seiner benachbarten Amtsbrüder mehr, zog sich von Wirtshausverkehr total zurück u. errichtete nun sogleich seine halb oder ganz ketzerische Firmleschule.« 82 Auf die Vorwürfe erwiderte Lindl, er habe lediglich »mit geistl. u. weltl. Obrigkeitserlaubnis eine Badekur […] gebraucht. Bei dieser Gelegenheit habe er nicht einen luterischen Pastor sondern den Mediziner Dr. Jung in Karlsruhe wegen seiner Gesundheitsumstände konsultiert, u. so sei er 3 Mal bei ihm gewesen, von Religion sei nie ein Gespräch gewesen. Hierauf habe er nach dessen Rat eine Luftveränderung über Freiburg, Basel, Zürich, Pfaffhausen dann zurück über Konstanz nach 79 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 13a. 80 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 136. 81 M. S IMON , Kirchengeschichte (Anm. 75), S. 593. 82 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 6a. <?page no="353"?> A NDR EA S L INK 352 Hause eine Reise gemacht […]. Auf dieser Reise, die er pur wegen seiner Gesundheit unternommen habe, habe er sich mit Gesprächen über Religion schon gar nicht abgegeben.« 83 Tatsächlich hatte er in Basel erste Kontakte zur pietistischen Christentumsgesellschaft 84 und mit Johann Heinrich Jung-Stilling (1740-1817) einen der führenden pietistischen Erbauungsschriftsteller seiner Zeit - mit auch chiliastischen Anklängen 85 - aufgesucht, dessen weitreichende Kontakte ihm noch hilfreich sein sollten. 4. Erweckungsglaube und obrigkeitliche Maßnahmen 1814-1817 Die wichtigsten Folgen für Lindls pastorale Tätigkeit waren die »Änderung der Kirchenu. Gottesdienstordnung, Bibellesen im Hause, Verteilung der Hl. Schrift an Kinder u. Erwachsene, Einrichtung von Konventikeln mit neuen Gesängen«, inhaltlich bedeutete dies: » ›Das Schibolet des alten Erzaftermystikers Boos‹ Christus für uns (protest. Fiduzialglaube) u. Christus in uns (pietistischer Quietismus) war auch fortan der rote Faden, der sich durch alle Predigten L. hindurchzog«. 86 Sprache und inhaltlicher Duktus einer »Rede« über »die Wiedergeburt des Menschen«, die Lindl am 28. März 1815, dem Osterdienstag, zum 50jährigen Priesterjubiläum des Dominikanerpaters Balthasar Wörle gehalten hatte und sogleich in Druck 87 gab, zeigen unverhohlen den Wandel im Denken und Glauben hin zur Erweckungsfrömmigkeit. 88 Ostern wird zum »Fest der Wiedergeburt«, weshalb Lindl zu diesem Anlaß »von der Nothwendigkeit der wahren Bekehrung« sprechen möchte. Man müsse »von oben herab neu geboren werden« zu einer »geistlichen Auferstehung«. 89 Nach einer biblischen Entfaltung wendet sich der Redner direkt an die Hörer: »Itzt mache nun Jeder die wichtigste Frage an sein Herz: bin ich schon gebohren aus dem heiligen Geiste, und folglich ein Kind Gottes, oder stecke ich noch in der alten Sünden-Geburth? « 90 Im Zuge der Gewissenserforschung, die 83 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 14c; vgl. Bogen 5c. 84 Seit 1808 korrespondierte Goßner mit dem Basler Zentrum; siehe H. W EIGELT , Allgäuer Erweckungsbewegung (Anm. 9), S. 97; und war auch zeitweise dort Sekretär; siehe H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 211. 85 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 10 (Sp. 2). 86 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 14a, 14c. 87 I GNAZ L INDL , Die Wiedergeburt des Menschen, München 1815. 88 H ANS -J ÜRGEN S CHRADER , Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie als Auftrag der Forschung, in: M ARTIN B RECHT u. a. (Hg.), Geschichte des Pietismus, Bd. 4, Göttingen 2004, S. 404-427, warnt zu Recht vor methodischen Kurzschlüssen. Hier kann kaum mehr als eine Skizze geliefert werden. 89 I. L INDL , Wiedergeburt (Anm. 87), S. 4, 6f. 90 I. L INDL , Wiedergeburt (Anm. 87), S. 15. <?page no="354"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 353 Lindl dann anregt, negiert er die Verdienste und guten Werke des Einzelnen. 91 Im zweiten Teil stützt sich Lindl auf das Gleichnis vom Sämann, einerseits um die Bekehrungsbereitschaft seiner Hörer zu steigern, andererseits um die Hemmnisse einer allgemeinen Erweckung zu bestimmen. Seine Zeitdiagnose erscheint dabei auch in Anklängen an eine Endzeitperspektive »in diesen bedenklichen und merkwürdigen Zeiten«, 92 »besonders seit der Zeit, als die falsche Aufklärung die Gelehrten der Welt verblendete«, 93 die aber kaum entfaltet werden. Wenn Lindl resümiert: »Bedenk wohl, o Mensch! das Ende, ehevor du [auf das Angebot Gottes oder des Satans] zugreifest. Mehrers sag’ ich nimmer«, 94 so changiert dieser Begriff des Endes zwischen der traditionellen Auffassung des individuellen Lebensendes und dem Ende der Welt. Falls damit erste chiliastische Anklänge bei Lindl zur Sprache kommen sollten, so stehen sie jedoch ganz im Zeichen der Bußpredigt. 95 Zu seinen Predigten sollen häufig 8.000 bis 10.000 Menschen von weither gekommen sein, 96 zu seinen Bibelstunden am Sonntagnachmittag sieben bis acht Stunden weit. 97 Bei den Zeitgenossen im Volk hieß er »der famose Lindl« 98 . Seinen Anhängern - vor allem im ›Bund der Liebe‹, der sich nun anscheinend zur Keimzelle eines Erweckten-Konventikels wandelte - war er der »Vater Lindl«, der ihnen »Herzsalbe« 99 gab, oder »Gottes Hirte«, den die »Weibsbilder« abküßten. 100 Für die kirchliche Obrigkeit war er ein aftermystischer Schwärmer, der sich nicht an Synodalbeschlüsse hielt und sich der bischöflichen Observanz entzog, lutherische Bibeln und schwärmerische Traktätlein verteilte, Privatbeichten im Pfarrhaus abhielt, einen »Liebesbund« 101 der »Herzgucker und Herzguckerinnen« 102 aufrechterhielt und daher ein Untersuchungsverfahren des Augsburger Generalvikariats auf sich zog. Der Meringer Pfarrer Franz Xaver Osterrieder erhob am 28. Dezember 1814 eine erste Anzeige gegen Lindl, 103 wohl auch veranlaßt durch den starken Auslauf seiner Pfarrkinder nach Baindlkirch. 91 I. L INDL , Wiedergeburt (Anm. 87), S. 18. 92 I. L INDL , Wiedergeburt (Anm. 87), S. 27. 93 I. L INDL , Wiedergeburt (Anm. 87), S. 30. 94 I. L INDL , Wiedergeburt (Anm. 87), S. 36. 95 Zu diesem Resultat gelangt auch R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 11 (Sp. 2). 96 H. W EIGELT , Allgäuer Erweckungsbewegung (Anm. 9), S. 97. 97 M. S IMON , Kirchengeschichte (Anm. 75), S. 593; H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 160. 98 V. T HALHOFER , Beiträge (Anm. 6), S. 75. Vgl. J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 2c. 99 Nach J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 21a. 100 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 157. 101 I. L INDL , Bund der Liebe (Anm. 39). 102 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 10a. 103 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 10a. <?page no="355"?> A NDR EA S L INK 354 Kaplan Völk wurde am 26. Juni 1815 nach Uffing versetzt. 104 Gleichzeitig wurden Lindl wie Völk die neue, nicht erlaubte Versammlung, die Verwendung der Bibel in Basler Edition sowie Treffen im Pfarrhaus untersagt, 105 weiter die Verteilung von Traktätlein, darunter »das famose Herzbüchlein ›das Herz des Menschen ein Tempel Gottes oder Werkstätte des Satans‹, von J. Ev. Goßner mit neuem Text versehen«, 106 für Dussler ein Kennzeichen der Bewegung: »Großzügig dispensierten sich die Erweckten vom kirchlichen Bücherverbot.« 107 Die obrigkeitlichen Untersuchungen hielten an. So war »beim B. G. V. [bischöflichen Generalvikariat] Augsburg am 20. Juli 1815 ein Bericht vom General-Vicariate München-Freising eingelaufen mit dem Ersuchen gegen Pfr. Lindl vorzugehen«, 108 am 9. August 1815 äußerte sich Lindl gegenüber dem »K. Bayr. Poneral-Commissariat des Isarkreises« über »die Einführung der Bibelerklärung«. 109 Landrichter Carron du Val von Friedberg verhörte im Januar 1816 verschiedene Anhänger Lindls, Pfarrer Osterrieder zeigte im März 1816 an, Lindl setze seine Aktivitäten fort. 110 Der Baindlkircher Pfarrer hatte »einen außerordentlichen Anhang u. erstaunliche Popularität beim Volk gewonnen, sein Rieseneifer für seine Sache, […] seine unermüdliche Arbeitskraft, sein frdl. Entgegenkommen gegen alle Hilfesuchenden, seine natürliche Redegabe, dabei sein wenigstens nach außen hin tadelloser sittlicher Wandel […] waren allüberall bekannt«. 111 Zudem erfreute er sich der Gönnerschaft bester Kreise der Gesellschaft, so des Barons Josef von Ruffin auf Schloß Weyhern 112 bei Baindlkirch, bei dem Karl Freiherr von Gumppenberg (Linie Baierbach) oft zu Gast war 113 und der Martin Boos eine Stellung als Hauslehrer anbot, die dieser vom Juni 1816 bis September 1817 auch wahrnehmen konnte. 114 Über den jungen Arzt Johann Nepomuk von Ringseis kam es zur Verbindung zum Kreis um Clemens Brentano in Berlin, von wo aus Bismarcks späterer Freund Adolf von Thadden, Karl von Lancicolle und Moritz von Bethmann-Hollweg Baindlkirch ebenso aufsuchten 115 wie die Schweizer Pietistin Anna Schlatter. 116 104 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 136. 105 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 11c. 106 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 13a. 107 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 70. 108 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 13c. 109 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 15a. 110 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 16a, 16c, 17c. 111 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 9c. 112 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 97. 113 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 150, 160; H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 74), S. 98. 114 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 5c; H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 74), S. 99, 101. 115 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 214f.; E RICH B EYREUTHER , Art. Erweckung, in: RGG 3 , Bd. 2, Tübingen 1958, Sp. 625. Der Gutsherr und Politiker von Thadden (1796- <?page no="356"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 355 Über Jung-Stilling war auch eine der schillerndsten Figuren des Erweckungszeitalters, Juliane von Krüdener (1764-1824), Schriftstellerin und Beraterin des russischen Zaren, auf Lindl aufmerksam geworden, und nahm über ihren Schwiegersohn Kontakt auf. Neben der stupenden Vernetzung mit dem erweckten Adel standen die engen Beziehungen zu Amtskollegen; über Goßner, Völk und Boos hinaus benennt Dussler namentlich ein Dutzend Sympathisanten mit dem »neuen Gläuble« Lindls. 117 Das Faß zum Überlaufen brachte »die famose Patroziniumspredigt«, die Lindl am 29. Juni 1817 in Hochdorf hielt, wobei er »scheinbar den Anwalt für den unglücklichen Pöschl« machte. 118 Dessen Weltuntergangslehren hatten in Apfelwang am Karfreitag 1817 vermeintliche Anhänger zu Blutopfern verführt. Lindls Predigt erregte Aufsehen. Selbst »seine k. Majestät haben mit Mißfallen vernommen, daß der Pfr. Lindl zu Baindelkirch sein auffallendes Benehmen mit Gefährdung d. öffentlichen Ruhe u. Ordnung fortsetze und haben daher seine schleunige Entfernung von seinem gegenwärtigen Aufenthaltsorte durch allerhöchst eigenhändig unterzeichnetes Rescript vom 21. August 1817 beschloßen«. 119 Die Maßnahmen der Obrigkeit mündeten - nach einem milden Hausarrest in Augsburg, der Lindl Gelegenheit bot, mit dortigen Herrnhuter Kreisen um Johann Michael Eppelein und die Postpackerin Ludwina Jehle 120 zu verkehren und dort Baron Franz von Berkheim, den Schwiegersohn der Frau von Krüdener, zu empfangen - schließlich am 15. Mai 1818 vorerst in eine Versetzung nach Gundremmingen ans andere Ende der Diözese. 121 1882) wurde Mittelpunkt der Pommerschen Erweckungsbewegung, von Lancicolle (1796- 1871) übernahm als Jurist - seit 1823 Professor in Berlin - vielfach politische Aufgaben, von Bethmann-Hollweg (1795-1877), ebenfalls 1823 Jura-Professor in Berlin, befreundet mit dem gleichaltrigen Kronprinzen Friedrich Wilhelm IV., betätigte sich als Politiker, begründete 1848 den Deutschen Evangelischen Kirchentag und amtierte als Präsident des Centralausschusses der Inneren Mission. 116 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 84; H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 74), S. 99f. 117 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 109, 118, 125 im Anschluß an J. Sedlmayer. 118 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 18a, 19a. Vgl. zu Pöschl R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 13 (Sp. 1). 119 Mitteilung ans Bischöfliche Generalvikariat Augsburg; J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 19c. 120 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 22c mit den Personennamen. Die in den Befragungen protokollierten sittlich fragwürdigen Tändeleien beim »osculum pacis« in diesem Kreis wie auch beim Liebesbund in Baindlkirch [H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 141, 156f., 175] verraten mehr über das Interesse der Investigatoren als über die tatsächliche Haltung Lindls. Vgl. R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 14 (Sp. 2). 121 Beschluß des Staatsministeriums des Inneren vom 15. Mai 1818, dessen Schreiben N ro 8485 vom 16. Mai; BayHStA, MK 23785, Geheime Raths-Acten, Staats Ministerium <?page no="357"?> A NDR EA S L INK 356 5. Gundremmingen und Lindls ›Radikalisierung‹ 1818-1819 Vorab hatte das Innenministerium von der Regierung des Oberdonaukreises auf Anfrage vom 29. April am 5. Mai die Auskunft erhalten, daß die Pfarrei Gundremmingen ihrer Lage in der Nähe von Dillingen, und ihrer übrigen Verhältnisse wegen ganz dazu geeignet seÿ, um den Pfarrer Lindl dahin zu versetzen, und ihn dort der besonderen, und genauen Aufsicht des k. Landgerichts zu untergeben. 122 Hoffnungen, daß »dieser wilde Schößling der Erweckungsbewegung« 123 sich dadurch zum regelkonformen Dorfpfarrer zurechtstutzen lassen werde, sollten sich nicht erfüllen. Denn einerseits waren Lindls theologische Grundüberzeugungen wie auch sein - modern gesprochen - daraus resultierendes pastoraltheologisches Verständnis und seine Ekklesiologie mit der katholischen Glaubenslehre seiner Zeit nicht mehr vereinbar, andererseits entwickelte sich die Aufsicht des Dillinger Landrichters Schill in der besonderen Weise, daß dieser »ein treuer Schützer ja beinahe wohlwollender Gönner f. Pfr. L. u. seine Sache wurde«. 124 Sedlmayer zitiert aus den im Original verlorenen Akten über das bischöfliche Verhör vom 2. bis 13. September 1817, Lindl gebe deutlich zu erkennen, »daß er die kath. Lehre de justificatione et sanctificatione (Heiligung, Rechtfertigung) durch Christus, dann wie der Mensch zur Rechtfertigung disponieren u. zu beidem beiwirken müsse, teils nicht verstehe, teils unrichtig auffasse«. 125 Er behaupte geradezu eine »der kath. Kirche entgegengesetzte Lehre, da er den Himmel für ein ›pures Geschenk‹ von Gott ausgibt u. die guten Werke […] nicht als notwendiges Mittel annimmt«. 126 Zu dieser alles in allem protestantischen Rechtfertigungslehre 127 gehört konsequent auch die Akzentsetzung auf dem ›Christus für uns‹ und schließlich auf dem ›Christus in uns‹. Die sakramentale Gnadenvermittlung verliert entsprechend zum einen gegenüber der Bibellektüre und -auslegung pastoraltheologisch an Gewicht, zum anderen gegenüber einem betonten innerlichen Christentum: »Caplan Wörnhör in Limpach b Günzburg schrieb an seinen Freund, geistl. Ratsakkzesisten Kasimir König in Augsburg 21.IX.1819: Mir scheint L. das Kind mit dem Bad auszuschütten, weil er immer nur auf das innerliche Christentum drängt (Herzgucker u. Herzguckerinnen), dagegen die äußeren des Innern, 13 (Blatt 2). Für R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 14 (Sp. 3), ein »Fehlgriff der Regierung«. 122 BayHStA, MK 23785, Nr. 12 und 13: Zitat Schreiben des Oberdonaukreises vom 5. Mai 1818. 123 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 212f. 124 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 49a. 125 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 30a. 126 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 30a. 127 Wie M. S IMON , Ev. Kirchengeschichte, Bd. 2, (Anm. 75), S. 593, konfessionell genüßlich vermerkt. <?page no="358"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 357 Heilmittel, Sakramente u. Opfer ganz vernachläßigt.« 128 Lindls Ekklesiologie entwickelte sich - wie schon an der Wandlung seines ›Bundes der Liebe‹ ablesbar ist - mehr und mehr zu einem innerkirchlichen Separatismus im Sinne der ecclesiola in ecclesia. 129 Die Beanstandungen betreffen protestantische Lehrmeinungen, individualistische und separatistische Tendenzen. Fakt sei, meint Andersson: »Die Kirche hat Lindl nie wegen chiliastischer Ansichten zur Rechenschaft gezogen«. 130 Diese sind aber erstens theologisch nachrangig gegenüber den benannten Lehrbeanstandungen und zweitens erst so spät faßbar, daß sie nicht mehr zur kirchlichen Ahndung kamen. Vor der Gundremminger Zeit erscheinen sie öffentlich als nur Motiv der Bußpredigt. Im privaten Kreis wird Lindl jedoch spekulativer, wie ein Brief Martin Boos’ vom 1. Mai 1817 belegt: »L. glaubt mit K., wir jetzt Lebenden werden gar nicht sterben, sondern verwandelt werden augenblicklich, 1. Thes. 4,15-17, und dann flugs hinein ins 1000jährige Reich. Off. 20. Allein ich kann nicht nachkommen in diesem Glauben«. 131 »Den 1. Juni 1818 bezog er diese Pfarrei [Gundremmingen], in welcher er - wiewohl er nur bis zum 19. October 1819 in ihr wirkte - unsächliches Unheil angerichtet hat […]. Ganze Tagereisen machte man, um den ›famosen‹ Prediger zu hören. Er ging jetzt noch viel weiter, als er in Baindlkirch gegangen war; nicht nur Sailer, […] auch Völk und Boos […] beklagten sich darüber.« 132 Offensichtlich polarisierte der neue Pfarrer die Gemeinde: begeisterte Gefolgschaft hier, heftige Ablehnung dort. »Das größte Aufsehen u. eine vielfache Unordnung erregen die Luteraner [! ] von Heidenheim, Giengen u. v. den zahlreichen Orten an der Brenz u. besonders von Burtenbach, welche zusammen die Hälfte seiner Zuhörer ausmachen.« 133 Zu diesen ›Lutheranern‹ zählte namentlich der Kaufmann Christian Friedrich Werner aus Giengen, »schon jahrelang Leiter der ›Stunden‹ in seiner Heimatgemeinde«, 134 der zum treuen Freund, Wegbegleiter und Unterstützer Lindls wurde. Die Württemberger Pietisten hatten, durch die Grenzlage begünstigt, 128 Zitiert nach J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 10a. 129 So auch bei Johann Goßner und Martin Boos nach H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 69; vgl. H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 74), S. 85. 130 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 11 (Sp. 3). 131 F RIEDRICH W. B ODEMANN , Gesammelte Briefe von, an und über Martin Boos, Frankfurt/ Main 1854, S. 51. Das kryptische Kürzel ›K.‹ ist wie manche Decknamen in den Korrespondenzen leider nicht zweifelsfrei aufzulösen. Nicht ganz abwegig erscheint die Vermutung, es handle sich um Juliane von Krüdener. 132 V. T HALHOFER , Beiträge (Anm. 6), S. 77. 133 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 49c. 134 F LORIAN M AYR , Gundremmingen und die Lindlianer, in: Gundremmingen, Heimatbuch einer schwäbischen Gemeinde an der Donau, Weißenhorn, S. 127-146, nach http: / / home.arcor.de/ andorama/ LindlGerman.htm (aufgerufen am 28.11.2014). <?page no="359"?> A NDR EA S L INK 358 endlich den famosen Prediger gefunden, der ihnen aus der und in die Seele sprach. Dazu paßte auch »ein stark chiliastischer Einschlag, der sich mit besonderer Betonung u. fortwährendem Hinweiß auf die Apokalypse bei seinen Predigten u. Privatbibelstunden in G. bemerkbar machte« und zu »halb ekstatischen Zuständen« der Hörer führte, berichtet Sedlmayer 135 und zitiert den Bericht des Knechts Josef Wiedemann, gebürtig von Glött: »L. habe immer die sehr nahe Ankunft des Antichrist geprophezeit u. gesprochen: Babylon d. i. die gesammte Welt außer seinen Anhängern sei in der Sinnlichkeit dem Laster der Hurerei ganz versunken u. müsse zugrunde gehen; daher die Mahnung an die Seinigen, […] keine Gemeinschaft mehr zu pflegen; der wirkliche König von Frankreich werde nur 7 Jahre König sein; nach dessen Ende werde sogleich der Antichrist hereinkommen, denn in Babylon sei er schon geboren […] Er selbst[,] L.[,] werde bald das Land verlassen müssen, seine Feinde werden über ihn siegen. Danach werdet auch ihr, meine lb. Kindlein verfolgt werden, aber handelt nur nach 4. V. d. 18. K. d. Apoc. Bei Erklärung dieses Textes forderte er dortmals schon seine Anhänger zur Auswandrung auf.« 136 Die Aufnahme derartiger Berichte in die Untersuchungsakten zeigt, daß man kirchlicherseits nun sehr wohl auch an chiliastischen Irrlehren Lindls interessiert war, allerdings durch die kommende Entwicklung weiterer Maßnahmen sich enthoben sah. Mit dem Sinken von Montgelas’ Stern unter dem Einfluß des Kronprinzen konnte die Kurie wieder an Einfluß gewinnen. »Wegen der seit 1816 immer stärker um sich greifenden politischen Restauration änderte sich […] die Situation der Erweckten grundlegend«. 137 Martin Boos, schon im Dezember 1816 von einem Ausweisungsbefehl bedroht, war Ende 1817 auf Fürsprache Sailers ins Rheinland berufen worden. 138 »Im September 1819 sah sich dann auch Goßner unter dem Druck der kirchlichen Behörden veranlaßt, München zu verlassen. Er übernahm in Düsseldorf die Religionslehrerstelle, die bislang Boos innegehabt hatte«. 139 Zuvor besuchte er am 12. September 1819 Lindl in Gundremmingen, wo er vor einigen tausend Hörern eine Predigt im Freien hielt. 140 Spätestens jetzt wußte Lindl, daß seine Lage unhaltbar geworden war. Hatte er sich noch 1812 [! ] Hoffnungen gemacht auf eine Raths Stelle bei dem geistlichen G[ene]ral Vikariate in Augsburg [Randglosse: mit Beibehaltung seiner Pfarrei], die wegen der Verbindung zwei so 135 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 50c. 136 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 56a. 137 H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 74), S. 100; D ERS ., Allgäuer Erweckungsbewegung (Anm. 9), S. 98. 138 H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 74), S. 100f. 139 H. W EIGELT , Martin Boos (Anm. 74), S. 99. Boos wechselte ins katholische Pfarramt nach Sayn bei Neuwied. 140 F. M AYR , Gundremmingen und die Lindlianer (Anm. 134). <?page no="360"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 359 verschiedener in oberaufsichtlicher und untergeordneter Beziehung einander entgegengesetzten Stellen nach angenohmenen Grundsätzen künftig nicht mehr zugegeben werden könn[e] 141 und daher abschlägig beschieden wurde, so wandte er sich jetzt an die russische Vertretung nach München, um seine schon länger für den Fall der Fälle geplante 142 Auswanderung definitiv festzumachen. So kam es zur Allerhöchste[n] Entscheidung über Pfr. Lindl in Gundremmingen vom 6. October 1819 infirmiert am 12. Oct 1819: 1. dem Pfr. Lindl wurde erbetene Reiselizenz nach München auf 14 Tage bewilligt. 2. Rücksichtlich seiner angeblichen Auswanderung nach St. Petersburg, welche k. Majestät […] genehmigt hat, hat die K. Regierung das Geringste zu verfügen. 3. Sollte aber die Auswanderung […] nicht zustande kommen, so gehe […] der Allerhöchst bestimmte Wille dahin, daß der gedachte Pfr. […] von der Seelsorge überhaupt entfernt werde. 143 Zar Alexander I., »dieser pietistisch veranlagte Monarch war nämlich durch Madame von Krüdener und den Fürsten Gallitzin für die Allgäuer Erweckungsbewegung interessiert worden und hatte dem Pfarrer Lindl wiederholt einen Ruf nach Petersburg angetragen, den dieser nun annahm.« 144 Als nun russischer Untertan konnte Lindl den Abschied von seinen Anhängern in Augsburg und Baindlkirch gestalten, seine »philadelphische Gemeinde« in Gundremmingen an »s’ Herrele vom Baumgarten«, den Benfiziaten Johann Baptist Nerlinger, übergeben 145 und sich mit einer, auch flugs gedruckten Predigt von »seinen geliebten Freunden und Pfarrkindern« 146 verabschieden. Dieses geistliche Vermächtnis Lindls, die »Rede über 1 Johann 2,28 als Abschieds- und Aufmunterungsstimme für die Gläubigen in unseren Tagen«, richtet sich unverhohlen nur an die Erweckten und setzt nun auch ein mit einem »Blick auf die gegenwärtige Lage der Dinge«, die »ein Räthsel nach dem andern vor unsern Augen so wunderbar enthüllen«, nämlich die »Greuel- und Mord-Szenen vom Beginn der Revolution in Frankreich«, 147 die Revolutionskriege und »jene unerklärbare Theurung und Hungers-Noth«, 148 gemeint ist die Klimakatastrophe durch den Ausbruch des 141 BayHStA, MK 23785, Schreiben d. M[inisteriums] d. I[nneren] Nr. 2473 vom 12.8.1812 an das G[eheim]e Ko[mmissari]at in München. 142 BayHStA, MK 23785, Schreiben d. M[inisteriums] d. I[nneren] Nr. 16217 vom 6.10.1818 an d. Regierung des Oberdonaukreises: dem Pfarrer Lindl zu Gundremmingen kann die Auswanderungs-Erlaubniß ohne Anstand ertheilt werden. Von den gegen denselben gefaßten Beschlüßen kann nicht abgegangen werden, - vielmehr ist die Aufsicht auf ihn schärfen zu lassen, und es ist das bischofl. G[ene]ralvicariat zu vermahnen, in welcher Art es die anbefohlene Spezialaufsicht über ihn ausüben lasse, und welche Instruktion es deshalb den Vorständen des Kuralkapitels ertheilt habe. 143 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 60c, 66a: Schreiben der Regierung des Oberdonaukreises. 144 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 212. 145 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 212; zu Nerlinger siehe ebd. S. 109. 146 I GNAZ L INDL , Zwey Predigten, Dillingen 1819. 147 I GNAZ L INDL , Rede über 1 Johann 2,28, in: Zwey Predigten (Anm. 146), S. 7. 148 I. L INDL , Rede über 1 Johann 2,28 (Anm. 147), S. 8. <?page no="361"?> A NDR EA S L INK 360 Vulkans Tambora in Indonesien im Jahr achtzehnhundertunderforen 1817, dazu »das dumpfe - mißgestimmte - gährende Wesen der tief versunkenen Menschheit (von andern eben so auffallenden und merkwürdigen Zeichen der Zeit nicht zu reden).« 149 Auch die weltweite Bibelverbreitung, »gewieß das merkwürdigste Zeichen« zeige klar: Wir sind »in unsern Tagen vor der zweyten Ankunft Christi in seiner Herrlichkeit, zu stiften auf Erden ein Reich der Liebe, des Friedens, und der Gerechtigkeit.« 150 Insofern kann Lindls Rede »nur wahre Jünger Jesu - eigentliche Christen - angehen«. 151 Den Aufruf aus dem 1. Johannesbrief, beim Herrn zu bleiben, entfaltet Lindl wieder im Sinne einer Bußpredigt und betont besonders Demut, Gebet und Wachsamkeit »in diesen Angsttagen«. Angesichts der realen obrigkeitlichen Maßnahmen tröstet er seinen Getreuen: »Sollten sie euch auch als irregeführte Schwärmer, - als Ketzer verbannen, […] so treibt euch dieß alles nur noch n ä h e r zu Christus«. 152 »Nur das innere - verborgene Leben in - Christo, - das Gepflanztseyn auf den rechten Weinstock, - das Bleiben beim Herrn ist das Wesen der christlichen Religion, - das Einsseyn mit dem Vater durch den Heiland. Darin laßt uns wachsen, und ausharren bis ans Ende«. 153 Der Rückzug in eine innerliche Frömmigkeit, ähnlich der von Benjamin benannten Haltung des Eingedenkens, ohne auch nur irgendeine Silbe vom Aufbruch an einen Bergungsort, kann nicht verwundern, stand doch die Aufforderung zur Auswanderung unter Strafandrohung. So ließ es Lindl diesbezüglich bei der beiläufigen, dem Kundigen aber ›merkwürdigen‹ Bemerkung: »des Herrn Wille und Plan ist, daß ich mich von euch trenne«. 154 6. »Bergungsort« ohne Dauer: Rußland 1819-1823 Im Auftrag des russischen Kultusministers Fürst Galitzin mit 500 Golddukaten als Reisegeld versehen, traf Lindl am 15. November 1819 mit seinen Reisebegleitern (Lorenz Steinmann aus St. Gallen, seiner Haushälterin Elisabetha Völk, der Schwester von Martin Völk, und einer Magd) in Petersburg ein. 155 »In der Zarenhauptstadt wurde Lindl mit Freuden aufgenommen. Fürst Galitzin erbat von Lindl vor aller weiteren Unterredung den priesterlichen Segen und der Kaiser kniete bei 149 I. L INDL , Rede über 1 Johann 2,28 (Anm. 147), S. 8. 150 I. L INDL , Rede über 1 Johann 2,28 (Anm. 147), S. 9. 151 I. L INDL , Rede über 1 Johann 2,28 (Anm. 147), S. 12. 152 I. L INDL , Rede über 1 Johann 2,28 (Anm. 147), S. 36. 153 I. L INDL , Rede über 1 Johann 2,28 (Anm. 147), S. 39. 154 I. L INDL , Rede über 1 Johann 2,28 (Anm. 147), S. 5. 155 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 69b. <?page no="362"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 361 der ersten Audienz vor dem Bauernpfarrer nieder, küßte dessen Hände und bat: ›Vater, segnen Sie mich! ‹ Zu Lindls Gottesdiensten in der prachtvollen Malteserkirche versammelten sich ›Fürsten, Grafen, Barone, Edelleute und Regierungsräte aus der katholischen, griechisch-russischen und protestantischen Kirche unter einem Obdach wie Brüder und eins in Christo ohne Störung, um Gottes Wort zu hören‹.« 156 Allerdings kam trotz der Predigt-Resonanz des ›famosen Lindl‹ der ursprüngliche Plan zur Ausführung, ihn »zum geistlichen Haupt der im Süden Rußlands sich ansiedelnden Bayern und Württemberger zu machen«. Lindl trat seine Petersburger Stelle an Goßner ab, der sie vier Jahre bekleiden sollte, während er selbst zum Propst der Katholiken in und um Odessa ernannt wurde. 157 Deutlich meinte er zu verspüren, »daß Rußland der Ort in der Wüste sei, von welchem Apoc. 12,6 die Rede ist« und forderte seine Anhänger in der Heimat mit chiliastischer Emphase zur Übersiedlung auf, »damit wir alle am Tage des bösen Stündleins das Feld behaupten«. 158 Freilich mußte er wegen seiner inzwischen publik gewordenen Verheiratung mit Elisabeth Völk, die zu großen Widerständen gegen seine Person führte, Odessa verlassen. Im 30 Stunden entfernten Sarata organisierte er eine Kolonie mit 70 Familien. »Als Lindl aber dem Fürsten Galitzin gegenüber die Absicht äußerte, aus der katholischen Kirche auszutreten und nach Zinzendorfs Vorbild […] eine apostolische Brüdergemeinde auf gütergemeinschaftlicher Grundlage zu bilden, ordnete Alexander I. 1823 Lindls Ausweisung aus Rußland an und finanzierte großzügig dessen Rückreise.« 159 Die Auswanderung aus Bayern und Württemberg, inzwischen Gegenstand einschlägiger Publikationen, 160 kann hier nur gestreift werden. Sie führte zu umfangreichen behördlichen Untersuchungen und Korrespondenzen der Regierungen. Schon im Mai 1817 [! ] wandte sich das Staats Ministerium des königl. en Hauses und des Aeussern an die Kgl. baierische Gesandtschaft zu Stuttgardt wegen der Inconvenierungen durch mittellose württembergische Emigranten, 161 zu einer Zeit also, als Lindl noch nicht aktiv in die Emigrationsbewegung involviert war und wohl noch auf eine Rückkehr nach Baindlkirch hoffte. Die K. K. Polizei Direktion Linz meldete den 2. Jäner [! ] 1818, daß die fernere Einwanderung elender, mittelloser, und zu irgend einer religionsschwärmerischen Sekte zugehörigen Menschen aus Süddeutschland streng verhindert 156 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 212. 157 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 213. 158 Nach Briefen Lindls siehe R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 18 (Sp. 1). 159 H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 213f. Zum Programm Lindls für die Kolonie vgl. J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 82c. 160 Vgl. R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10); F. M AYR , Gundremmingen und die Lindlianer (Anm. 134). Dort weitere Literaturangaben. 161 BayHStA, MK 23785, Bayer. Gesandtschaft Stuttgart 361 B. III n. 25. <?page no="363"?> A NDR EA S L INK 362 werde. 162 Erst in einem Schreiben Maximilian Joseph von Gottes Gnaden König von Baiern ec. ec. An den königl. baierischen Gesandten Freiherrn von Tautphoeus zu Stuttgardt vom 10. Juli 1820 aus Baden werden die Handelsleute Christian Friedrich Werner und Feigel von Giengen, Brugget von Heidenheim, dann der Zollstationist Stille in Brenz, deren letzterer vorzüglich als Verbreiter angeblicher Briefe des Lindl aus Petersburg thätig ist, aktenkundig. 163 Ein 30seitiges Aktenbüschel der württembergischen Regierung belegt die enge Kooperation bei den Maßnahmen gegen die chiliastisch motivierte Emigration. 164 Auch weiterhin verfolgten beide Regierungen mit Besorgnis die Verführung zur Auswanderung diesseitiger oder K. Baierischer Unterthanen durch Lindls Anhänger. 165 Ausgewandert sind 146 Württemberger, 166 56 Personen aus Gundremmingen und 29 aus den Landgerichten Lauingen, Burgau und Günzburg, von denen sieben zurückkehrten, 167 sowie 22 aus dem Gebiet um Baindlkirch. 168 Die Kolonie Sarata hielt sich bis zur Revolution 1918. Ihre Bezeichnung nach dem nahegelegenen Flüßchen Sarata ist ideologisch völlig neutral im Unterschied zu mennonitischen Siedlungsnamen in Rußland wie Gnadental, Hoffnungsfeld oder Friedenheim oder nostalgischen Bezeichnungen wie Neustuttgart, München oder Luxemburg, auch ohne dankbare Reverenz an den Herrscher wie bei Alexandertal. 169 Auch spielt kein alttestamentlich typologisches Vorbild eine Rolle wie bei Ebenezer, das sowohl Mennoniten in Rußland als auch die Salzburger Exulanten in Georgia schon 1734 in Anspruch nahmen. 170 Die Neutralität dieser Bezeichnung der Kolonie Sarata zeigt vielmehr, daß der Raumbezug der Lindlianer religiös keineswegs positiv aufgeladen war. Unter Verzicht auf die Erzväter- und Exodustraditionen des Alten Testaments und die Vorstellung des wandernden Gottesvolks aus dem Hebräerbrief findet sich nur die Schwarz- Weiß-Schablone nach der Offenbarung: hie Babylon (Apok. 18,4), dort der von Gott der Himmelskönigin als »Gleichnis für die Gemeinde« bereitete »Zufluchts- 162 BayHStA, MK 23785, Bayer. Gesandtschaft Stuttgart 361 B. III n. 25. Anlage. 163 BayHStA, MK 23785, Bayer. Gesandtschaft Stuttgart 361 B. III n. 25. 164 HStAS, Aktenbüschel E 146 1631: Generalia Auswanderung betreffend, ein Verzeichniß derjenigen diesseitigen Unterthanen, welchen auf Ansuchen des katholischen Pfarrers Lindl in Petersburg die Niederlassung in Rußland gestattet worden ist, auch die Umtriebe der Anhänger des Pfarrers Lindl wegen Werbung von Auswanderern nach Rußland 1820- 1821. 165 HStAS, Aktenbüschel E 146 1631, S. 25 vom 5. Okt. 1820. 166 HStAS, Aktenbüschel E 146 1631, Liste von 1820. 167 F. M AYR , Gundremmingen und die Lindlianer (Anm. 134). 168 R. A NDERSSON , Das wilde Feld der Erweckung (Anm. 10), S. 18 (Sp. 3). 169 www.chort.square7.ch (aufgerufen am 31.3.2015). 170 G EORGE F ENWICK J ONES , Urlsperger und Eben-Ezer, in: R EINHARD S CHWARZ (Hg.), Samuel Urlsperger (1685-1772). Augsburger Pietismus zwischen Außenwirkungen und Binnenwelt (Colloquia Augustana 4), Berlin 1996, S. 191-199, hier 193. <?page no="364"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 363 ort« in der Wüste für ihren letzten Kampf auf der Erde, »bis die Vollendung kommt« 171 (Apok. 12,6). Die Raumvorstellung der Lindlianer erscheint so als eine marginale Nebenfunktion ihrer dominanten endzeitlichen Erwartungen. Nahrung bekamen diese vornehmlich aus zwei Quellen, zum einen aus der allgemeinen Erfahrung, in einer Zeit der Krise zu leben, zum anderen aus ihrer spezifischen Bibelfrömmigkeit, die diese religiös überhöhte und ideologisierte. Das Krisenbewußtsein wiederum speiste sich einerseits aus dem Abbruch historischer Kontinuitäten, wie sie im großen mit der Französischen Revolution und ihrem kulturgeschichtlichen Symbol, dem Revolutionskalender (vom 22. September 1792 bis Ende 1805) samt seinem Versuch einer dezimalen Zeiteinteilung, mit dem Ende des Ancien Régime und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation einhergingen, regional im kleinen mit den Herrschaftswechseln im Gefolge der Mediatisierung: So war etwa Gundremmingen als Teil des Hochstifts Augsburg erst 1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluß an Bayern gefallen, die althergebrachte historische Identifikation schlagartig zerbrochen. Andererseits trugen die Wirren der Koalitions- und Befreiungskriege zum Krisenbewußtsein bei, nicht zuletzt das Hungerjahr 1817, das viele Menschen in eine unbeschreibliche Subsistenzkrise führte: »Der Hunger wüthet aufs Gräßlichste. Tausende schweifen in Wäldern und Feldern umher, um sich Kräuter zu suchen«, 172 wie ein Biograph der Juliane von Krüdener formuliert, um deren in der Tat beachtliches Hilfsengagement hervorzuheben. Genau diese ›Zeichen der Zeit‹ hatte Ignaz Lindl in seiner Gundremminger Abschiedspredigt über 1 Joh 2,28 explizit benannt, die »Greuel- und Mord-Szenen vom Beginn der Revolution in Frankreich«, die Revolutionskriege und »jene unerklärbare Theurung und Hungersnoth«, 173 dazu als das »gewieß merkwürdigste Zeichen« die weltweite Bibelverbreitung. Sie galt nach der Matthäusapokalypse 174 als notwendige Vorbedingung des Weltendes aus dem Mund Jesu selbst und war unter anderem durchaus Motivationsimpuls für Bibel- und Missionsgesellschaften einschließlich der Judenmission. 171 A DOLF S CHLATTER , Erläuterungen zum Neuen Testament, Bd. 3, Stuttgart 1923, Die Offenbarung des Johannes, S. 83. Die Interpretation des Professors für systematische Theologie und Neues Testament wird hier deshalb herangezogen, weil er als Enkel der St. Gallener Pietistin Anna Schlatter bei aller wissenschaftlichen Eigenständigkeit für eine Kontinuität der Traditionslinien zur Erweckungsbewegung steht; vgl. W ERNER N EUER , Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, Stuttgart 1996. 172 W ILHELM B AUR , Juliane von Krüdener, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 17, Leipzig 1883, S. 196-212, hier 208. 173 Siehe oben Anm. 147 und 148. 174 Matth 24,14: Es wird gepredigt werden dies Evangelium vom Reich in der ganzen Welt zum Zeugnis für alle Völker, und dann wird das Ende kommen. <?page no="365"?> A NDR EA S L INK 364 Das Krisenbewußtsein betraf jedoch die Zeitgenossen anfangs des 19. Jahrhunderts insgesamt, und selbst das Hungerjahr achtzehnhundertunderfroren traf die chiliastischen Auswanderungswilligen unter Lindls Anhängern nicht in besonderem Maße. Die frühesten bayerischen Aktenbelege vom 5. Mai 1817 sprechen von mittellosen »von Auswanderern nach Rußland, vorzügl. aus dem Königreiche Württemberg und aus den Gebieten des Niederrheins […] zu einer Zeit […], wo der inländische Arme dem Hunger Preiß gegeben ist«, 175 also von anderen Auswanderergruppen, ein württembergisches Namensverzeichnis einer Gruppe von 31 Lindl-Anhängern bescheinigt diesen 1820 ein Durchschnittsvermögen von immerhin 650 fl. 176 Insofern ist das Charakteristikum ihrer Auswanderungsmotivation nicht Wirtschaftsnot, sondern die chiliastische Orientierung an der in nahester Zukunft erwarteten Wiederkunft Christi. Sie resultierte vornehmlich aus einer Bibelfrömmigkeit, welche gerade die prophetischen Texte des Neuen Testaments - im Zuge der persönlichen Christusfrömmigkeit - als unmittelbar 177 den Gläubigen forderndes Wort Gottes verstand, zumal wenn sie wie die Matthäusapokalypse als authentisches Wort Jesu galten oder wie die Offenbarung des Johannes als - mit Johann Albrecht Bengels Formulierung - »Offenbarung viel mehr Jesu Christi«. Und hatte nicht dieser den Beginn des Millenniums für den 18. Juni 1836 errechnet? 7. Vom evangelischen Prediger in Barmen zum »Nazarener« 1824-1843 Eine Rückkehr nach Bayern war Lindl verwehrt. So hielt er sich zunächst an verschiedenen Orten auf. Vermutlich in Leipzig trat er 1824 zum Protestantismus über. Lindls damals dort publizierte »Kurze Abhandlung über die Sünde wider den Heiligen Geist«, ein »ernstes Wort an unsere Zeit«, 178 stellt dem »Ceremonien- und 175 BayHStA, MK 23785, Abschrift eines Berichts d. Kgl. Regierung des Rezatkreises vom 5. Mai 1817. 176 HStAS, Aktenbüschel E 146 Bü 1631: Verzeichnis derjenigen christlichen Seelen, welche damalen aus Würtemberg auszuwandern wünschen. Es handelt sich um zehn Weber, drei Schuster, zwei Säckler und je einen Nagelschmied, Gärtner, Ziegler, Sattler, Maurer, Zimmermann, Küfer, Metzger, Lodweber, weiter einen Schullehrer, aber nur einen Bauern und zwei Taglöhner, dazu drei Witwen. 177 Die geschichtliche Entstehung des Neuen Testamentes wurde als These des Rationalismus abgelehnt. Allerdings zeigt schon die typologische Interpretation des Alten Testaments das Wissen um die historische Distanz zur Bibel. 178 I GNAZ L INDL , Kurze Abhandlung über die Sünde wider den Heiligen Geist, Leipzig 1824. <?page no="366"?> D IE › C HILIAS TI S C HEN T R ÄUMER EIEN ‹ DE S I GNAZ L INDL 365 Formendienst« der »Pharisäer« 179 die »frommen Zirkel« 180 gegenüber und weist aus eigener Erfahrung auf deren Verfolgung und Lästerung hin. 181 Dahin habe »der freche Rationalismus ohne Christum« geführt. 182 Seine Bußpredigt steht im Zeichen »jener grauenvollen Stunde der Mitternacht […] und so eine Stunde kommt gewiß über uns, - sie ist nicht mehr ferne«. 183 Wieder steht die Erwartung der Endzeit ganz (unverdächtig) im Zeichen der Umkehr. Im selben Jahr fand Lindl in Barmen »eine Zufluchtsstätte, wo man ihn mit der größten Liebe aufnahm. […] Er ward an der 1826 gegründeten Missionsvorschule als Inspektor angestellt. […] [Schließlich wurde ihm] mit einer gewissen jährlichen Privatbesoldung die Stellung eines Hülfspredigers angewiesen« für Predigtvertretungen in der reformierten Gemeinde zu Gemarke und allen lutherischen Gemeinden des Wuppertals. 184 »Häufige Polemik gegen Pastor Krummacher, 185 als den Prediger der freien Gnade«, zunehmende chiliastische Orientierung und die Hinwendung zur »Nazarener-Gemeinde« des Basler Seidenfabrikanten Johann Jakob Wirtz 186 isolierten ihn - der schon durch den Verlust seiner drei Kinder Johannes, Viktoria und Samuel und den Tod seiner Ehefrau Elisabeth am 2. April 1841 familiär vereinsamt war - jedoch zusehends. »So sahen sich die Prediger Barmens 1843 veranlaßt, Lindl eine Anzahl Fragen vorzulegen, um über seinen Standpunkt Gewißheit zu erlangen«. 187 Seine ausführliche Antwort vom 31. August, kurz vor seinem Tode, belegt, er glaube an eine nicht konfessionelle, bisher verborgene »letzte apostol. Kirche, die man mit vollem Recht die neue apostolische nennen kann, weil sie nun wieder aufersteht […]. Von dieser Kirche glauben wir, daß sie allein in der Krisis der großen Versuchungsstunde bestehen werde, während alle anderen Kirchen […] der Gewalt des Antichrist anheimfallen«. 188 179 I. L INDL , Kurze Abhandlung (Anm. 178), S. 13. 180 I. L INDL , Kurze Abhandlung (Anm. 178), S. 5. 181 I. L INDL , Kurze Abhandlung (Anm. 178), S. 36-44, 47. 182 I. L INDL , Kurze Abhandlung (Anm. 178), S. 53. 183 I. L INDL , Kurze Abhandlung (Anm. 178), S. 65. 184 F. W. K RUG , Kritische Geschichte (Anm. 7), S. 293. 185 F. W. Krummacher (1796-1868), reformierter Prediger in Gemarke und Elberfeld, 1853 Hofprediger in Potsdam; siehe D IETRICH R ÖSSLER , Art. Krummacher, Friedrich Wilhelm, in: RGG 3 , Bd. 4, Tübingen 1960, Sp. 83. 186 F. W. K RUG , Kritische Geschichte (Anm. 7), S. 293f. Vgl. H ANS H OHLWEIN , Art. Nazarener, Württembergische Pietisten, in: RGG 3 , Bd. 4, Tübingen 1960, Sp. 1386. 187 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 90d. 188 J. S EDLMAYER , Lindl (Anm. 8), Bogen 91d, 92a. <?page no="367"?> A NDR EA S L INK 366 8. Nachwirkungen Lindls und der Erweckungsbewegung Lindls persönlichem Scheitern steht der Erfolg des ebenfalls konvertierten Johann Goßner als Gründer der ersten »Kinder-Warte-Anstalt« 1834, der »Goßner- Mission« 1836 und des »Elisabeth-Krankenhauses« in Berlin gegenüber. 189 Während die Allgäuer Bewegung in Bayern behördlich ›ausgerottet‹ wurde, hat sie »großen Einfluß auf mehrere deutsche Territorien und auch auf das russische Reich gehabt. Wahrscheinlich war ihre Bedeutung für diese Länder aufs Ganze gesehen sogar größer als für das Allgäuer Gebiet«. 190 Hatte die Siedlung Sarata bis zur Oktoberrevolution Bestand und befruchtete die Allgäuer Bewegung insgesamt die protestantischen Erweckungsbewegungen, sind die separatistischen Gruppen, mit denen sich noch Thalhofer und Krug auseinandersetzten, bis auf letzte Spuren vor hundert Jahren vergangen. Auch die ›chiliastischen Träumereien‹ des Ignaz Lindl hatten keine direkten theologischen Nachwirkungen. Freilich hat im Zuge exegetischer Forschungen, angeregt durch Rudolf Bultmann, 191 Eschatologie heute wieder eine reichere Bedeutung bekommen. »Sie verweist auf das Abbrechen relativ kontinuierlich erfahrener Geschichte, auf Zeiterfahrung aus der Vorherrschaft der Zukunft«, 192 wie sie nicht ganz zufällig in den bewegten 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts von Jürgen Moltmann im Anschluß an den marxistischen Philosophen Ernst Bloch theologisch markant thematisiert wurde. 193 Wo man heute vornehmlich Weißwürste zuzelt, legt die kleine, schmucke Dorfkirche St. Martin aber bis in unsere Tage Zeugnis ab von einer eigenwilligen starken Frömmigkeit. 189 H ANS L OKIES , Art. Goßner, Johann Evangelista, in: RGG 3 , Bd. 2, Tübingen 1958, Sp. 1696f. 190 H. W EIGELT , Allgäuer Erweckungsbewegung (Anm. 9), S. 103. Vgl. ausführlich H. D USSLER , Feneberg (Anm. 14), S. 210-217. 191 R UDOLF B ULTMANN , Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1980; D ERS . Geschichte und Eschatologie im Neuen Testament, in: D ERS ., Glauben und Verstehen. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Tübingen 1965, S. 91-106. 192 C HRISTOPHER F REY , Dogmatik (Studienbücher Theologie), Gütersloh 1977, S. 70. 193 J ÜRGEN M OLTMANN , Theologie der Hoffnung, München 1964; E RNST B LOCH , Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/ Main 1959. <?page no="368"?> 367 K LAUS W OLF Die fünf tausent iaur wurden verloren. Zeitordnungen, Zeitbegriffe und Zeitgefühle in schwäbischer Literatur des Mittelalters - ein Votum regionaler Literaturgeschichtsschreibung Beim Motiv der Zeit in der Literatur ergeben sich rasch viele Assoziationen: À la recherche du temps perdu 1 oder ›Der Zauberberg‹ von Thomas Mann als Zeitroman. 2 Mit Thomas Mann in seiner Münchner Zeit gut bekannt war der aus Bayerisch- Schwaben stammende Schriftsteller Joseph Bernhart mit seinen etwa auf Augustinus fundierenden oder in der deutschen Mystik eines Meister Eckhart gründenden philosophischen Betrachtungen über Zeit und Ewigkeit. 3 Überhaupt scheinen die bayerischen Schwaben, zu denen ich in diesem Kontext auch Albertus Magnus 4 rechnen würde, eher eine Neigung zu Mystik und Spekulation sowie Zeitphilosophie zu haben als etwa die Altbayern. Damit ich hier die literarischen Beispiele aus Bayerisch-Schwaben zum Thema Zeit mengenmäßig nicht ausufern lasse, scheint mir eine Beschränkung wie Systematisierung unerläßlich. Deshalb wähle ich jetzt meine Fallbeispiele nur aus dem 15. Jahrhundert. Konkret bringe ich Vertreter der Gattungen Lyrik, Fachprosa und Drama, die in Bayerisch-Schwaben lokalisierbar sind. Ich beginne mit der Lyrik, genauer zunächst mit dem lateinischen Gedicht Salve festa dies, 5 welches auf Venantius Fortunatus zurückgeht, der bekanntlich auch einmal die Augsburger Gegend bereiste. 6 1 Vgl. M ARCEL P ROUST , À la recherche du temps perdu, Paris 2010. 2 Vgl. H ELMUT K OOPMANN (Hg.), Thomas-Mann-Handbuch, Stuttgart 2001, passim. 3 Vgl. J OSEPH B ERNHART , Zeit-Deutungen. Schriften, Beiträge und bislang unveröffentlichte Vorträge zu Problemen der Politik und Kultur aus den Jahren 1918-1962, hg. von M ANFRED W EITLAUFF , Weißenhorn 2007; D ERS ., Die philosophische Mystik des Mittelalters von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance. Mit Schriften und Beiträgen zum Thema aus den Jahren 1912-1969, hg. von M ANFRED W EITLAUFF , Weißenhorn 2000; A URELIUS A UGUSTINUS , Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch, hg. von J OSEPH B ERN - HART , Frankfurt/ Main 1987. 4 Vgl. A LBERT F RIES / K URT I LLING , Albertus Magnus (de Lauging), in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, hg. von K URT R UH u. a., 14 Bde., 2., völlig neu bearb. Aufl. Berlin-New York 1978-2008, hier Bd. 1, Sp. 124-139. 5 Vgl. J OHANNES J ANOTA , ›Salve festa dies‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Bd. 8 (Anm. 4), Sp. 549f. <?page no="369"?> K LAU S W OL F 368 Salve festa dies (nach Venantius Fortunatus; clm 19695, clm 7678, cgm 5249)66) 7 Strophe 1: 4 Salue id est sis salutata 1 festa id est festiua uel dignifica dies supple o 1 dies 3 toto eternaliter uel omni tempore 2 venerabilis laudabilis 3 euo 1 Qua in qua supple die 2 deus christus 4 infernum baratrum uel tartarum 3 uicit superauit uel debellauit 5 et 7 astra celum 6 tenet habet uel possidet Gar loblich ist die oster zeit, Die aller welt frewden geit. So got zerstört haut hellisch macht Vnd uerdampte welt zuo gnaden braucht. Der Textabdruck zeigt in Strophe 1 ein Distichon, das für die Lateinschule des 15. Jahrhunderts aufbereitet wurde. Dabei hat man schon im Spätmittelalter den Text mit Erschließungshilfen versehen. Folgt man der Wortfolgebezifferung, kann man sich die lateinische Syntax aufschließen. Der stellenweise schwierige Wortschatz ist durch einfachere Synonyme erklärt. Die folgenden vier Reimpaarverse dienen der Memorierung des Inhalts. Wir nehmen hier einen Blick in die mittelalterliche Schulstube etwa in Tegernsee oder Indersdorf oder auch Augsburg. Denn nach Schwaben weist die Schreibsprache aller drei Textzeugen bei den frühneuhochdeutschen und gut memorierbaren Reimpaarversen. 8 Beachten wir dazu die Schreibart der ersten der deutschen Strophen, welche Salve festa dies verdeutscht: 6 Vgl. K LAUS W OLF , Augsburg, in: Schreiborte des deutschen Mittelalters. Skriptorien - Werke - Mäzene, hg. von M ARTIN S CHUBERT , Berlin-Boston 2013, S. 41-56, hier 41. 7 Der lateinisch-deutsche Hymnus ist im folgenden nach der Tegernseer Leithandschrift clm 19695, fol. 67r-75v, ediert. 8 Vgl. hier und zum folgenden K LAUS W OLF , Hof - Universität - Laien. Literatur- und sprachgeschichtliche Untersuchungen zum deutschen Schrifttum der Wiener Schule des Spätmittelalters, Wiesbaden 2006 (Wissensliteratur im Mittelalter 45), S. 38f. <?page no="370"?> Z EITOR DNU NGEN , Z EIT BE GR IF F E UND Z EITGEFÜHL E IN S C HWÄBIS C HER L ITER ATU R 369 Gar loblich ist die oster zeit, Die aller welt frewden geit. So got zerstört haut hellisch macht Vnd uerdampte welt zuo gnaden braucht. Hier sind haut statt mittelhochdeutsch hât und frühneuhochdeutsch braucht statt mittelhochdeutsch brâcht als Beispiele für die sogenannte schwäbische Diphthongierung anzusehen. 9 Die Reimgrammatik in sämtlichen Strophen (analysiert nach der Methode von Peter Wiesinger) 10 dagegen zeigt, daß die Reimpaarübersetzung ursprünglich in Wien oder von einem Wiener angefertigt, später jedoch von einem Schwaben weiter distribuiert wurde. Überlieferungsgeschichtlich läßt sich konstatieren, daß die Wiener Übersetzung wohl aus universitärem Milieu stammt und über die Distributionswege der Wiener Schule, etwa Melker und Raudnitzer Reform, nach Tegernsee, Indersdorf und Augsburg gelangte. Zu unserem Thema Zeit ließe sich für diese Strophe festhalten, daß hier eine liturgische Zeitordnung angesprochen ist, die positive Zeitgefühle evoziert: frewden geit. Die nächste Strophe (2) zeigt dann die Koinzidenz von Jahreszeit und liturgischer Zeitordnung sowie Frühlingsfreude als Zeitgefühl: Die welt, die in dem winter kalt Vnfruchtper waz vnd vngestalt, Wider gront vnd wnnen geit Zuo dieser lieben oster zeit. Mein nächstes Beispiel, Strophe 5, bringt mit dem Blick nach oben in den Himmel einen mehr astronomischen Zeitbegriff, wie man ihn im 15. Jahrhundert etwa in der Rezeption des handschriftlich weit verbreiteten Johannes von Sacro Bosco, 11 nicht zuletzt in der auch in Bayerisch-Schwaben verbreiteten Übersetzung des Konrad von Megenberg 12 nachlesen konnte: 9 Vgl. V IRGIL M OSER , Frühneuhochdeutsche Grammatik, I. Bd., 1. Hälfte, Heidelberg 1929 (Germanische Bibliothek I.I.1.), § 75,3., S. 145f. 10 P ETER W IESINGER , Zur Reimgrammatik des Mittelhochdeutschen. Methodik - Anwendung - Perspektiven, in: Mittelhochdeutsche Grammatik als Aufgabe (Zeitschrift für deutsche Philologie, Sonderheft 110), hg. von K LAUS -P ETER W EGERA , Berlin 1991, S. 56-93. 11 Vgl. F RANCIS B. B RÉVART / M ENSO F OLKERTS , Johannes de Sacrobosco, John of Holywood, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Bd. 4 (Anm. 4), Sp. 731-736. 12 Vgl. K LAUS W OLF , Astronomie für Laien? Neue Überlegungen zu den Primärrezipienten der Deutschen Sphaera Konrads von Megenberg, in: E DITH F EISTNER (Hg.), Konrad von Megenberg (1309-1374): ein spätmittelalterlicher ›Enzyklopädist‹ im europäischen Kontext (Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 18), Wiesbaden 2011, S. 313-325. <?page no="371"?> K LAU S W OL F 370 Waz in dem winter waz gefangen, Daz sicht man nun gar zierlich brangen. Der himel ee waz dunkel var: Der ist nun erleuchtet gar. Die frühneuhochdeutsche Reimpaarübersetzung des 23. Distichons zeigt einen heilsgeschichtlichen Zeitbegriff, der hier die etwa im apokryphen Nikodemusevangelium geschilderten Vorgänge der Höllenfahrt Christi paraphrasiert, die den Triumph des Teufels seit dem Sündenfall in eine Niederlage verkehren. 13 Durch Christi Befreiung der Altväter aus der Hölle ist die lange Herrschaft des hier als Drache gezeichneten Teufels beendet, wogegen dieser vergebens tobt. Die Zeitgefühle hängen also von der heilsgeschichtlichen Perspektive ab: Dem teuflischen Toben steht liturgisch der risus paschalis gegenüber: Der grimmig track der hellen grund Muost entöffen seinen schlund Vnd wider geben mit tobendem zoren. Die fünf tausent iaur wurden verloren. Der neben dem theologischen schon angesprochene astronomische Zeitbegriff bricht sich im 15. Jahrhundert endgültig und zunehmend auch das Alltagsleben prägend die Bahn. Fortschritte in der Astronomie, neue astronomische Instrumente und nicht zuletzt der verbesserte Uhrenbau führen zu einem exakteren Verständnis der Zeit und - nebenbei bemerkt - auch der Geographie und des Navigierens, weil ohne die in Wien und an anderen Universitäten gemachten astronomischen Fortschritte die großen überseeischen Entdeckungsfahrten kaum möglich gewesen wären. 14 Die bessere Zeitmessung im 15. Jahrhundert erfährt Rezeption in breiteren Schichten durch die Drucke von Almanachen, Kalendern und weiterem astronomischen Schrifttum in lateinischer und deutscher Sprache, wobei gerade in Augsburg viele derartige Texte gedruckt wurden. Mit der Iatromathetik etwa ist sogar ein Konnex von Zeit und Medizin gegeben, wenn es etwa um die Laßtage als Termine für den Aderlaß geht. Als Beispiel verweise ich auf astronomische Augsburger Drucke, die Johannes Engel oder Johannes Angelus als Autor ausweisen. Dieser an den Universitäten Wien und Ingolstadt wirkende Gelehrte stammte aus Aichach, das wenigstens seit der Gebietsreform zu Bayerisch-Schwaben gehört. 15 13 Vgl. A CHIM M ASSER , Das Evangelium Nicodemi in spätmittelalterlicher deutscher Prosa. Texte, Heidelberg 1987. 14 Vgl. E RNST Z INNER , Deutsche und niederländische astronomische Instrumente des 11. bis 18. Jahrhunderts, 2. Aufl. München 1967. 15 Vgl. F RANZ J OSEF W ORSTBROCK , Engel (Angelus), Johannes, in: Deutscher Humanismus 1480-1520. Verfasserlexikon, Bd. 1, hg. von F RANZ J OSEF W ORSTBROCK , Berlin-New York 2008, Sp. 630-639. <?page no="372"?> Z EITOR DNU NGEN , Z EIT BE GR IF F E UND Z EITGEFÜHL E IN S C HWÄBIS C HER L ITER ATU R 371 Daß der Astronom Johannes Engel gerade Augsburg als Publikationsort wählte, hängt mit der großen Bedeutung dieser Stadt in der Inkunabelzeit für frühneuhochdeutsche Fachprosa zusammen. 16 Weder in Wien noch in Ingolstadt hätte Johannes Engel die passenden Druckerverleger für sein Schrifttum gefunden. Zumindest im 15. Jahrhundert war das schwäbische Augsburg im Druck volkssprachigen astronomischen Schrifttums reichsweit führend. Als dritte Gattung wähle ich das Drama, welches besonders interessante Zeitphänomene aufweist. So werden im Augsburger Passionsspiel, welches übrigens Grundlage des ältesten Oberammergauer Passionsspiels war, verschiedene Zeitebenen auf die Bühne gebracht. Das einmalige heilsgeschichtliche Ereignis von Christi Passion geschieht für das Publikum des 15. Jahrhunderts im Augsburg der Gegenwart. Denn die Namen einiger Juden beispielsweise im Augsburger Passionsspiel lassen sich urkundlich für das 15. Jahrhundert in Augsburg belegen. Die Passion Christi gerinnt so zum präsentischen Ereignis, durchaus im Sinne des Bultmannschen Kerygmas. 17 Daneben schlägt die Figur des Proclamators Brücken zur Gegenwart des Publikums. Die folgende Rede des Proclamators erinnert an den Augsburger Bert Brecht, denn in seinen theoretischen Schriften zum Theater bekennt Brecht direkt, daß sein episches Theater nicht zuletzt auf dem Drama des Mittelalters gründe. 18 Proclamator zu dem volk: Nun hört, ir herren groß und clain! ewer yedes mag wol gan hain; Passions figur hat nun ain end. got uns sein hailgen segen send, Das uns sein bitterlicher schmertz nymmer komm auß unserm herz! Die figur sich erhöbet hat zu lob und er, wer hie da stat, Auch loblicher stat, raut und gmain. nun helf uns maria die rain, Das wir ir mitleiden und schmertzen 16 Vgl. H ANS -J ÖRG K ÜNAST , »Getruckt zu Augspurg«. Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555 (Studia Augustana 8), Tübingen 1997. 17 Vgl. R UDOLF B ULTMANN , Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl. Tübingen 1984. 18 »In stilistischer Hinsicht ist das epische Theater nichts besonders Neues. Mit seinem Ausstellungscharakter und seiner Betonung des Artistischen ist es dem uralten asiatischen Theater verwandt. Lehrhafte Tendenzen zeigte sowohl das mittelalterliche Mysterienspiel als auch das klassische spanische und das Jesuitentheater; « zitiert aus: B ERTOLT B RECHT , Schriften zum Theater 3, 1933-1947, Frankfurt/ Main 1963, S. 64. Der Begriff »Mysterienspiel« deckt nicht zuletzt die Gattung Passionsspiel ab. <?page no="373"?> K LAU S W OL F 372 all zeit tragen in unserm hertzen, Das uns darumb werde gar schon das fron himelreich ze lon! Sprechend: amen! Wir gand da hin. Das ewig reich sey unser gwin! Und singend auch alle sambden gar frölich »Christ ist erstanden«! Bei aller epischen Distanzierung schaffen im zitierten Text das Gebet zur Gottesmutter Maria und ebenso der gemeinsame Schlußgesang des ältesten deutschen Osterlieds wieder innige passionsfromme Identifikation mit Christi Passion und Auferstehung, wie sie für das Spätmittelalter typisch ist. 19 Das nächste Beispiel führt in die Augsburger Pfarrei Sankt Georg, genauer in das diesem Heiligen geweihte Augustinerchorherrenstift des 15. Jahrhunderts. Die Augsburger Provenienz des Georgsspiels hat jedenfalls schon Elke Ukena-Best gesichert. 20 Beim Augustinerchorherrenstift und etwa vor dem Frauentor kann man sich in Analogie zu Furth im Wald den Augsburger Drachenstich vorstellen, mit dem der heilige Georgsritter in der Spielhandlung die Stadt und ihre heidnischen Bewohner von dem feuerspeienden Drachen befreit, der hier wurm genannt wird. Bevor der heilige Georg jedoch die Stadt und die vom Drachen in Geiselhaft genommene heidnische Prinzessin befreien und taufen kann, muß er in Erfahrung bringen, mit wem er es zu tun hat. Die Prinzessin klärt ihn auf: Iunckfraw zu Sankt Georg: Ritter ich will dir sagen schier Wir haben starker Götter vier Den hochgelopten Machmet Der wol gewalt über den wurm hett Apollo und her Figant Sint die andern zwen genant Der gott Iuppiter künsten reich Wöllent all nit sicherleich Dem unrainen wurm gesigen an 19 Vgl. zum Augsburger Passionsspiel: K LAUS W OLF , Theater im mittelalterlichen Augsburg. Ein Beitrag zur schwäbischen Literaturgeschichtsschreibung, in: ZHVS 101 (2007), S. 35-45; zur Identifizierung der Judennamen künftig U LRIKE S CHWARZ , Edition und Kommentar des Augsburger Passionsspiels (die von mir betreute Dissertation steht kurz vor dem Abschluß). 20 Vgl. E LKE U KENA -B EST , Die deutschen Mirakelspiele des Spätmittelalters. Studien und Texte, Frankfurt/ Main 1975. <?page no="374"?> Z EITOR DNU NGEN , Z EIT BE GR IF F E UND Z EITGEFÜHL E IN S C HWÄBIS C HER L ITER ATU R 373 Die jungfräuliche Prinzessin beklagt die Tatenlosigkeit ihrer Götter gegenüber dem Drachen. Auffällig ist am heidnischen Götterpantheon besonders Machmet oder Mohammed, wobei Machmet oder Mechmet der türkischen Lautung entspricht, wie sie um dieselbe Zeit auch die in Augsburg gedruckte Orientreise oder der Türkenfeldzug des Hans Schiltberger zeigt. 21 Jedenfalls ist das uns vorliegende Augsburger Georgsspiel erst nach der Eroberung Konstantinopels handschriftlich aufgezeichnet worden. Auch die einzige deutsche Übersetzung der ebenfalls nach 1453 entstandenen Epistola ad Mahometem des Enea Silvio Piccolomini, als Papst Pius II., hätte nach Ausweis des Übersetzers Michael Christan in Augsburg gedruckt werden sollen. 22 Dies hängt damit zusammen, daß in Augsburg gehäuft Orientalia in frühneuhochdeutscher Sprache als Inkunabeln publiziert wurden, was für Augsburg mit seinen Verbindungen zum venezianischen Orienthandel wie mit seinen engen habsburgischen Kontakten doppelt Sinn ergibt. Denn vielleicht ist auch die habsburgische Georgsbruderschaft, welcher Friedrich III. und Maximilian I., der als ›Bürgermeister von Augsburg‹ vom französischen König verspottet wurde, angehörten, mit einem gewissen antitürkischen Impetus ausgestattet. Dies ist jedoch nicht der einzige Anachronismus im Augsburger Georgsspiel, dessen Protagonist ja historisch eher in der Spätantike zu verorten wäre. Nimmt man die wohl ursprüngliche Provenienz bei den Augsburger Augustinerchorherren interpretatorisch ernst, dann ergibt sich noch ein ganz anderer, aus heutiger Warte ebenso anachronistischer Bezug, der aber der Gattung des geistlichen Spiels insgesamt eignet. Wenn man nämlich den feuerspeienden Drachen des Augsburger Georgsspiels allegorisch deutet, dann zeigt sich eine interessante religionspolitische Lesart: Das über Indersdorf letztlich von Raudnitz reformierte Augsburger Georgsstift bewahrte im gleichnamigen Spiel den Kampf der Rechtgläubigen gegen den hussitischen Feuerdrachen. Gerade die Stifte der Raudnitzer Reform wurden Opfer des hussitischen Furors mit seinen tatsächlich feuerspeienden kanonenbewehrten Wagenburgen und der Verbrennung von Augustinerchorherren auf dem Scheiterhaufen. 23 Jedenfalls verdienten die hier nur angedeuteten zeitgeschichtlichen Anspielungen im Augsburger Georgsspiel eine systematische Untersuchung. Mein letztes Beispiel ebenfalls Augsburger Provenienz führt an das Ende aller Zeiten, das hier mit dem Zeitbegriff Jüngster Tag bezeichnet wird. Konkret handelt 21 Vgl. H ANS -J OCHEN S CHIEWER , Schiltberger, Hans, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Bd. 8 (Anm. 4), Sp. 675-679. 22 Vgl. F RANZ J OSEF W ORSTBROCK , Christan, Michael, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Bd. 1 (Anm. 4), Sp. 1209f. 23 Nachweise bei K LAUS W OLF , Kruzitürken! Das Türkenthema in der vormodernen schwäbischen Literatur nebst methodischen Überlegungen zur schwäbischen Literaturgeschichtsschreibung, in: ZHVS 107 (2015). Mit einer Festgabe für Georg Kreuzer zum 75. Geburtstag, S. 109-121. <?page no="375"?> K LAU S W OL F 374 es sich um das Augsburger Weltgerichtsspiel, welches der aus Oettingen im Ries stammende Augsburger Berufsschreiber Konrad Bollstatter aufgezeichnet hat. Dieses Weltgerichtsspiel dürfte allerdings (anders als das Augsburger Passionsspiel) kaum aufgeführt worden sein, zumindest der von Bollstatter geschaffene Überlieferungsträger ist als Lesedrama zu klassifizieren, wohl für die private Lektüre. 24 Bild und Text nennen etwa die 15 Zeichen, welche das Ende aller Zeiten, den Jüngsten Tag, ankündigen. 25 Dieser bildet den Zielpunkt der christlichen Zeitordnung, zugleich evozierte er bei den meisten spätmittelalterlichen Menschen vor dem Hintergrund steter Sündenkatechese wohl eher bange Zeitgefühle. Abschließend läßt sich meine Überschau spätmittelalterlicher schwäbischer Texte aus den Gattungen Drama, Fachprosa und Lyrik folgendermaßen zusammenfassen: In der Summe zeigt sich eine vielgestaltige Gemengelage aus Zeitordnungen, Zeitbegriffen und Zeitgefühlen, welche an Differenziertheit die Behandlung des Themas Zeit im ›Zauberberg‹ Thomas Manns etwa kaum hinter sich lassen. Bayerisch-Schwaben erweist sich so zumindest im 15. Jahrhundert durchaus nicht als literarische Provinz. 24 Vgl. Zur Problematik von Spiel- und Lesetext W ERNER W ILLIAMS , Überlieferung und Gattung. Zur Gattung »Spiel« im Mittelalter. Mit einer Edition von »Sündenfall und Erlösung« aus der Berliner Handschrift mgq 496, Tübingen 1980. 25 Vgl. H ELLMUT R OSENFELD , ›Berliner Weltgerichtsspiel‹, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters, Bd. 1 (Anm. 4), Sp. 735-737. Die Bezeichung rührt vom heutigen Bibliotheksort her. <?page no="376"?> Z EITOR DNU NGEN , Z EIT BE GR IF F E UND Z EITGEFÜHL E IN S C HWÄBIS C HER L ITER ATU R 375 Abb. 1: Beginn des Augsburger Georgsspiels <?page no="378"?> 377 Autorenverzeichnis Prof. Dr. Dr. Gerhard Ammerer Historiker, Universität Salzburg Dr. Nicolas Disch Historiker, Birsfelden Prof. em. Dr. Gerhard Dohrn-van Rossum ehem. Professur für Geschichte des Mittelalters, Technische Universität Chemnitz Prof. Dr. Ralf-Peter Fuchs Lehrstuhl für Landesgeschichte der Rhein-Maas-Region, Universität Duisburg-Essen Prof. Dr. Sabine Holtz Lehrstuhl für Landesgeschichte, Historisches Institut, Universität Stuttgart Prof. i. R. Dr. Rolf Kießling ehem. Lehrstuhl für Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, Universität Augsburg Gerhard Klein Historiker, Lehrer am Gymnasium Immenstadt, ehrenamtliche Tätigkeit am Stadtarchiv Immenstadt Dr. Andreas Link Pfarrer, Augsburg Dr. Wolfgang Petz Historiker, Studiendirektor am Allgäu- Gymnasium Kempten Dr. Barbara Rajkay Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europäische Regionalgeschichte sowie Bayerische und Schwäbische Landesgeschichte, Universität Augsburg Prof. i. R. Dr. Werner Rösener ehem. Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Universität Gießen Dr. Wolfgang Scheffknecht Historiker, Lehrtätigkeit am Bundesgymnasium Bregenz, an der Pädagogischen Hochschule Feldkirch und an der Universität Innsbruck, Gemeindearchivar Lustenau <?page no="379"?> 378 Prof. Dr. Dietmar Schiersner Professur für Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Pädagogische Hochschule Weingarten Dr. Anke Sczesny Historikerin, Augsburg Prof. Dr. Georg Seiderer Professur für Neuere Bayerische und Fränkische Landesgeschichte und Volkskunde, Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Klaus Wolf Professur für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern, Universität Augsburg <?page no="380"?> 379 Nachweis der Abbildungen Beitrag von A NKE S CZESNY Abb. 1 R OLF K IESSLING / A NKE S CZESNY , Ostschwabens Gewerbe um 1800: Die Montgelas-Statistik, in: H ANS F REI / P ANKRAZ F RIED / R OLF K IESSLING (Hg.), Historischer Atlas von Bayerisch-Schwaben, 5. Lieferung, 2. Aufl. Augsburg 2010, Karte XI,8. Abb. 2 A NKE S CZESNY ; Kartengrundlage: S ABINE S CHUSTER , Die Zunftordnungen der Landweber im östlichen Mittelschwaben des 17. Jahrhunderts, Zulassungsarbeit [masch.], Augsburg 1994; erweitert um Daten von J OHANNES M ORDSTEIN , Die ländlichen Zunftordnungen in Ostschwaben während der Frühen Neuzeit - Dokumentation, in: R OLF K IESSLING (Hg.), Stadt und Land in der Geschichte Ostschwabens (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens 10), Augsburg 2005, S. 351-412. Beitrag von G ERHARD D OHRN - VAN R OSSUM Abb. 1 Archivio Storico della Città di Torino Abb. 2 Holzschnitt aus Thomas Murners ›Die Mühle von Schwindelsheim und Gredt Müllerin Jahrzeit‹, 1515; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel Abb. 3 Zeichnung G. Oestmann Abb. 4 aus: K LAUS M AURICE , Die deutsche Räderuhr, Bd. II, München 1976, Nr. 34, S. 16. Abb. 5 Gerhard Dohrn-van Rossum Abb. 6 Gerhard Dohrn-van Rossum Abb. 7 Paris Archives Nationales, KK 532 n°2ter Abb. 8 Stadtarchiv Memmingen Abb. 9 Universitätsbibliothek Heidelberg Beitrag von D IETMAR S CHIERSNER alle Abb. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/ Siegfried Wameser, München Beitrag von G ERHARD K LEIN Abb. 1 T HOMAS D IETMANN , Stadtentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, in: R UDOLF V OGEL (Hg.), Immenstadt im Allgäu. Landschaft, Geschichte, Gesellschaft, Wirtschaft, kulturelles und religiöses Leben im Lauf der Jahrhunderte, Immenstadt 1996, S. 275 (Bearbeitung durch Gerhard Klein) - Geobasisdaten © Bayerische Vermessungsverwaltung <?page no="381"?> 380 Beitrag von W OLFGANG P ETZ Abb. 1 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Ne Kapsel 7 (16) Abb. 2 BayHStA, PlS 21612 Abb. 3 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Ne Kapsel 7 (16) Beitrag von A NDREAS L INK alle Abb. Foto: Andreas Link Beitrag von K LAUS W OLF Abb. 1 SuStB Augsburg 4 Cod H 27 <?page no="382"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Band 3 Peer Frieß, Rolf Kießling (Hg.) Konfessionalisierung und Region 1999, 320 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-89669-929-9 Band 4 Carl A. Hoffmann, Rolf Kießling (Hg.) Kommunikation und Region 2001, 442 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-89669-989-3 Band 5 Paul Hoser, Reinhard Baumann (Hg.) Kriegsende und Neubeginn Die Besatzungszeit im schwäbisch-alemannischen Raum 2003, 538 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-89669-731-8 Band 6 Rolf Kießling, Sabine Ullmann (Hg.) Das Reich in der Region während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit 2005, 368 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-89669-719-6 Band 7 Carl A. Hoffmann, Rolf Kießling (Hg.) Die Integration in den modernen Staat Ostschwaben, Oberschwaben und Vorarlberg im 19. Jahrhundert 2007, 358 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-89669-627-4 Band 8 Rolf Kießling, Dietmar Schiersner (Hg.) Erinnerungsorte in Oberschwaben Regionale Identität im kulturellen Gedächtnis 2009, 400 Seiten mit zahlr. s/ w und farb. Abb., Hardcover ISBN 978-3-86764-183-8 Band 9 Rolf Kießling, Wolfgang Scheffknecht (Hg.) Umweltgeschichte in der Region 16.11.2011, 382 Seiten mit zahlr. s/ w und farb. Abb., Hardcover ISBN 978-3-86764-321-4 Band 10 Reinhard Baumann, Rolf Kießling (Hg.) Mobilität und Migration in der Region 2013, 326 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-443-3 : Weiterlesen Weitere Bände in der Reihe »Forum Suevicum« - Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Regionen <?page no="383"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de : Weiterlesen Lieferbare Bände: Band 5 Manfred Tschaikner Hexenverfolgungen in Hohenems einschließlich des Reichshofs Lustenau sowie der österreichischen Herrschaften Feldkirch und Neuburg unter hohenemsischen Pfandherren und Vögten 2004, 334 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-690-8 Band 7 Peter Niederhäuser, Alois Niederstätter (Hg.) Die Appenzellerkriege - eine Krisenzeit am Bodensee? 2006, 184 Seiten, 18 s/ w Abb., Broschur ISBN 978-3-89669-610-6 Band 8 Ulrich Nachbaur Vorarlberger Territorialfragen Ein Beitrag zur Geschichte der Vorarlberger Landesgrenzen seit 1805 2007, 380 Seiten, Broschur ISBN 978-3-89669-629-8 Band 9 Mathias Moosbrugger Der Hintere Bregenzerwald - eine Bauernrepublik? Neue Untersuchungen zu seiner Verfassungs- und Strukturgeschichte im Spätmittelalter 2009, 390 Seiten, Broschur ISBN 978-3-86764-161-6 Band 10 Christine Ertel, Verena Hasenbach, Sabine Deschler-Erb Kaiserkultbezirk und Hafenkastell in Brigantium Ein Gebäudekomplex der frühen und mittleren Kaiserzeit 2011, 326 Seiten 200 s/ w und 20 farb. Abb., Broschur ISBN 978-3-86764-182-1 Band 11 Karl Heinz Burmeister Magister Rheticus und seine Schulgesellen Das Ringen um Kenntnis und Durchsetzung des heliozentrischen Weltsystems des Kopernikus um 1540/ 50 2015, 700 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-86764-554-6 Forschungen zur Geschichte Vorarlbergs (N.F.) Herausgegeben von Alois Niederstätter vom Vorarlberger Landesarchiv in Bregenz <?page no="384"?> Klicken + Blättern Leseprobe und Inhaltsverzeichnis unter Erhältlich auch in Ihrer Buchhandlung. www.uvk.de Band 1 Stefan Feucht (Hg.) 1810 - Die vergessene Zäsur Neue Grenzen in der Region Bodensee-Oberschwaben 2013, 172 Seiten, Hardcover mit zahlr. s/ w und farb. Abb. ISBN 978-3-86764-357-3 Band 2 Kurt Badt »Mir bleibt die Stelle lieb, wo ich gelebt« Erinnerungen an den Bodensee herausgegeben von Manfred Bosch 342 Seiten, Hardcover mit zahlr. s/ w und farb. Abb. ISBN 978-3-86764-358-0 »zweifellos […] eine[r] der wichtigsten Beiträge zur Bodenseeliteratur der letzten Jahre.« Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung Band 3 Manfred Bosch, Oswald Burger »Es war noch einmal ein Traum von einem Leben« Schicksale jüdischer Landwirte am Bodensee 1930-1960 Mit einem Beitrag von Christoph Knüppel 2015, 240 Seiten, Hardcover mit zahlr. s/ w und farb. Abb. ISBN 978-3-86764-630-7 In neun Kapiteln stellen die Autoren jüdische Landwirte und Hofbesitzer am Bodensee vor. Die meisten Porträtierten kamen aus großen Städten an den Bodensee. Ihrer müde oder überdrüssig, waren sie auf der Suche nach einer anderen Lebensweise oder sie wurden durch die politische Entwicklung der frühen 30er Jahre aus ihrer Lebensbahn geworfen und erwarteten sich von der Abgeschiedenheit dieser Landschaft den relativen Schutz grenznaher Regionen. : Weiterlesen Südseite. Kultur und Geschichte des Bodenseekreises. Herausgegeben von Stefan Feucht <?page no="385"?>