Die Führer der Provinz
NS-Biographien aus Baden und Württemberg
1209
2015
978-3-8649-6996-6
978-3-8676-4655-0
UVK Verlag
Michael Kißener
Joachim Scholtyseck
Der Nationalsozialismus präsentierte sich nach außen als eine streng zentralistisch auf den obersten Führer Adolf Hitler ausgerichtete Herrschaftsform. In den Parteigauen und Reichsländern jedoch dominierten regionale NS-Funktionsträger, die das Bild des Nationalsozialismus im Land prägten.
Der Band stellt auf der Grundlage bislang unbekannten Archivmaterials die Biografien dieser NS-Parteielite in Baden und Württemberg, die Gauleiter, Ministerpräsidenten, Fachressortleiter, Gestapochefs, Sondergerichtsvorsitzenden u.a. vor. Damit wird nicht nur ein zuverlässiges biografisches Nachschlagewerk vorgelegt, es werden zugleich auch Einblicke in die spezifischen Strukturen regionaler NS-Herrschaft im deutschen Südwesten möglich. Da die Lebensbeschreibungen über das Jahr 1945 hinaus fortgeführt sind, wird zudem schlaglichtartig die Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit dem »personellen Erbe« der NS-Zeit beleuchtet.
<?page no="2"?> Michael Kißener, Joachim Scholtyseck (Hg.) Die Führer der Provinz <?page no="4"?> Die Führer der Provinz NS-Biographien aus Baden und Württemberg Herausgegeben von Michael Kißener Joachim Scholtyseck 3., unveränderte Auflage UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abruf bar. 978-3-86764-655-0 (Print) 978-3-86496-995-9 (EPUB) 978-3-86496-996-6 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 1997, unv. Nachdruck 2016 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Rudolf Lill Nationalsozialismus in der Provinz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Zur Einführung Michael Kißener, Joachim Scholtyseck Von Idealisten, Aufsteigern, Vollstreckern und Verbrechern . . . . . . . . . . . 31 Karl Berckmüller, Alexander Landgraf, Walter Schick, Josef Gmeiner, Leiter der Geheimen Staatspolizeileitstelle Karlsruhe Michael Stolle Der »Schwabenherzog« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer Joachim Scholtyseck Rechtsprechung im nationalsozialistischen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Hermann Albert Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart Stefan Baur »Was sich in den Weg stellt, mit Vernichtung schlagen« . . . . . . . . . . . . . 143 Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn Susanne Schlösser Der »Rassepapst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde Elvira Weisenburger Richter der »alten Schule« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Alfred Hanemann, Edmund Mickel, Landgerichtspräsidenten und Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim Michael Kißener 5 <?page no="7"?> »Alte Kämpferinnen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Dora Horn-Zippelius und Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen der NS-Frauenschaft in Baden Anette Michel Der »Degen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer Barbara Hachmann Ein »anständiger« und »moralisch integrer« Nationalsozialist? . . . . . . . . . 289 Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister Ernst Otto Bräunche »Ein gebildet sein wollender Mensch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags Alexander Mohr Wirtschaftspolitiker zwischen Selbstüberschätzung und Resignation . . . . . 333 Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister Frank Raberg Vom Hilfsarbeiter zum Kreisleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm Sabine Schmidt Die Exekutoren des Terrors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Geheimen Staatspolizeileitstelle Stuttgart Jürgen Schuhladen-Krämer Der schwäbische Schulmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident Justiz- und Kultminister Michael Stolle »Der Mann aus dem Volk« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern Joachim Scholtyseck Inhaltsverzeichnis 6 <?page no="8"?> Das Aushängeschild der Hitler-Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) Frank Raberg Zwischen Partei, Amt und persönlichen Interessen . . . . . . . . . . . . . . . 539 Karl Pflaumer, Badischer Innenminister Norma Pralle »Deutscher Student, es ist nicht nötig, daß Du lebst, wohl aber, daß Du Deine Pflicht gegenüber Deinem Volk erfüllst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg Birgit Arnold Im Zweifelsfall auch mit harter Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister Angela Borgstedt Ein badischer »Preuße« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister Ulrike Lennartz Parteistatthalter in Badens NS-Kaderschmiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg Hubert Roser Vom Dorfschultheiß zum hohen Ministerialbeamten . . . . . . . . . . . . . . 683 Georg Stümpfig, Kanzleidirektor im Württembergischen Innenministerium und Gauamtsleiter für Kommunalpolitik Hubert Roser Zwischen Heimaterde und Reichsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz Katja Schrecke Der Führer vom Oberrhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß Ludger Syré Inhaltsverzeichnis 7 <?page no="9"?> »Beamter aus Berufung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatsekretär Anette Roser »Überzeugter Nationalsozialist eigener Prägung« . . . . . . . . . . . . . . . . 805 Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe Manfred Koch Die Entdeckung der Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 Baden und Württemberg im »Dritten Reich« - ein Forschungsüberblick Lothar Belz Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 850 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875 Inhaltsverzeichnis 8 <?page no="10"?> Vorwort Rudolf Lill Seit nunmehr fünf Jahren widmet sich unsere »Forschungsstelle« dem Widerstand gegen das NS-Regime im deutschen Südwesten und verweist auch auf demokratische Kontinuitäten, die aus diesem Widerstand und dessen Umfeld erwachsen sind. Dabei hat sich aber vielfach herausgestellt, daß trotz der seit der Mitte der 60er Jahre immer umfangreicher gewordenen Literatur über das »Dritte Reich« die regionale Realität des Regimes, gegen welches sich Widerstand, Widerständigkeit und Selbstbehauptung richteten, ebenfalls weiterer Erforschung bedarf. Diese Einsicht stand am Anfang der Überlegungen, die zu diesem Band geführt haben. Sie entspricht auch einem neuen Trend der NS-Forschung, welcher generell auf die unterschiedliche Ausprägung des Regimes in den Regionen des »Dritten Reiches« ausgerichtet ist und bereits beachtliche Ergebnisse hervorgebracht hat. 1 Die oft diskutierte Frage, ob das NS-Regime mehr monokratisch oder mehr polykratisch gewesen sei, wird darüber neuen Antworten zugeführt, die frühere Kontroversen vielleicht auflösen oder doch entschärfen werden. Offenbar war das Regime das eine wie das andere: Die mit weltanschaulicher Verbindlichkeit begründeten zentralen Direktiven kamen vom Führer Adolf Hitler und aus seiner direkten Umgebung. Doch darunter bestand ein vielschichtiges, durchaus als polykratisch zu begreifendes Neben-, auch Gegeneinander von Kompetenzen und Funktionsträgern, mit vielfachen Interessen- und Ressort-Rivalitäten, dazu mit unterschiedlichen Handlungsräumen. In diesem Band geht es darum, für die damaligen Länder Baden und Württemberg die »NS-Elite«, d.h. die Inhaber der wichtigeren Machtpositionen in Partei und Staat, anhand aller inzwischen erreichbaren Quellen vorzustellen: Gauleiter, Kreisleiter und Gestapochefs, Minister und hohe Richter oder Beamte; in 26 Beiträgen werden insgesamt 33 solcher NS-Führer behandelt. So treten neben die Profile und die Perspektiven der Opfer die der Täter, und der Herrschafts- und Verfolgungsapparat des NS-Staates wird konkret erfaßt. Dabei ermöglicht der biographische Ansatz, viele lokale Gegebenheiten und Entwicklungen mit einzubeziehen, oft bewußt ausführlich, um die mentalitätswie die alltagsgeschichtliche Dimension aufzuweisen. Es ergab sich, daß diese Unterführer im wesentlichen zwei Typen entsprechen: auf der Seite der Parteikarrieristen mehr die Aufsteiger aus Arbeiterschaft und 9 1 Möller, Horst, Wirsching, Andreas, Ziegler, Walter, Nationalsozialismus in der Region (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996. <?page no="11"?> unterem Mittelstand, auf der Seite der staatlichen Funktionträger bürgerliche Vertreter eines im Kaiserreich vorgeprägten autoritären Staates. Beide Typen verband eine lange vor 1933 herausgebildete biographisch-ideologische Gemeinsamkeit. Die meisten waren Frontkämpfer gewesen, hatten Kampfverbänden der ersten Nachkriegszeit angehört und sich dann mehr oder minder direkt der völkisch-antisemitischen Bewegung angeschlossen. Da sie in dieser ihre neue Weltanschauung fanden, hatten sie sich von früheren konfessionellen, meist evangelischen Bindungen gelöst. In der einen oder anderen Weise hatten sie schon während der Weimarer Jahre für einen angeblich genuin deutschen, antiparlamentarischen, im Inneren und nach außen machtbewußten Staat plädiert oder gekämpft, den sie dann im »Dritten Reich« verwirklicht sahen. Ihm dienten sie daher überzeugt und mit äußerster Konsequenz; seine inneren Feinde, vor allem Kommunisten, Sozialisten und Juden, aber auch Anhänger des »politischen Katholizismus« suchten sie zu isolieren oder zu unterdrücken. Mit dem Untergang des Regimes verloren sie 1945 sämtliche öffentliche Funktionen. Ein Nebenergebnis der hier vorgelegten Forschungen ist, daß die Entnazifizierung keineswegs durchweg scheiterte, sondern auch Erfolge zeitigte, die heute gerne übersehen werden. Drei der in diesem Band vorgestellten NS-Führer wurden von alliierten Gerichten (wegen Delikten, die nicht in direktem Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit in Baden und Württemberg standen) zum Tode verurteilt und hingerichtet, drei begingen Selbstmord und weitere zwei sind während ihrer Internierungszeit verstorben. In diesen Biographien der Täter war also weit zurückzugreifen; und es werden konkrete Kontinuitäten sichtbar, die aus dem Nationalismus der Wilhelminischen Zeit in den Nationalsozialismus geführt haben. Wie in unseren früheren Bänden mit den Biographien von Opfern war ebenso über 1945 hinauszuschauen, und so wollen wir es weiter halten: Eine Forschungsstelle wie die unsere muß das ganze nun zu Ende gehende Jahrhundert deutscher Geschichte unter den Aspekten antidemokratischer und demokratischer Traditionsbildung betrachten; mit der hoffentlich richtigen Einschätzung, daß letztere in der Bundesrepublik endlich eingewurzelt wurde. Dieser Band ist erwachsen aus dem Engagement vieler, vor allem jüngerer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Institut für Geschichte der Universität Karlsruhe. Ich danke ihnen und ebenso den beiden Herausgebern und den Kolleginnen und Kollegen aus den insgesamt 47 konsultierten Archiven und Forschungseinrichtungen sowie der Karlsruher Hochschulvereinigung, die wieder einen erheblichen Beitrag zu den Druckkosten gewährt hat. 10 <?page no="12"?> Nationalsozialismus in der Provinz Zur Einführung Michael Kißener, Joachim Scholtyseck Es hat in der deutschen Geschichte wohl kaum jemals so viele »Führer« mit konkurrierenden, z.T. widersprüchlichen Befugnissen und Aufgaben in nahezu allen Bereichen von Staat und Gesellschaft gegeben 1 wie gerade in jener Zeit der vermeintlich strengsten Zentralisierung und staatlichen Ordnung zwischen 1933 und 1945. 2 Zwar waren diese »Führer«, die den Alltag und das Geschehen vor Ort entscheidend prägten, der schon in Hitlers »Mein Kampf« festgelegten Doktrin zufolge dem »oberstem Führer« »restlos« verantwortlich. Doch schon die Kriterien ihrer Auswahl lassen erkennen, wie wenig es im NS-Staat tatsächlich auf eine geordnete Administration mit fachlich und charakterlich qualifizierten »Unterführern« ankam. »Führereigenschaften« und eine ganz im sozialdarwinistischen Sinn verstandene »Durchsetzungsfähigkeit« nämlich sollten sie allem anderen voran für die ihnen zugedachte Funktion befähigen. 3 Die bisher betriebene biographische Forschung zu diesem Personenkreis, die großenteils ausländischen Forschern verdankt wird, konzentrierte sich von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bislang auf Hitlers Helfer auf Reichsebene, die im zentralistisch organisierten NS-Staat an den Schaltstellen der Macht saßen. Die nachfolgenden Darstellungen wollen diesen Ansatz - soweit wir sehen erstmals - systematisch auch auf die regionale Ebene am Beispiel des deutschen Südwestens übertragen. Für die »Volksgenossen« im Lande waren die »Führer« der südwestdeutschen »Provinz« die ersten und weitaus wichtigsten Repräsentanten des NS-Staates, näher und faßbarer als der »Führer« und sein Gefolge in Berlin. 4 Über 11 1 Siehe hierzu zusammenfassend Ruck, Michael, Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge - Verfassungsstrukturen des NS-Staates, in: Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hrsg. v. K. D. Bracher, M. Funke, H.-A. Jacobsen (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 23), Düsseldorf 1992, S. 32 - 56 und weiter differenziert im Hinblick auf die hier behandelte Problematik Ruck, Michael, Herrschaftsstrukturen des NS- Staates, in: Nationalsozialistische Herrschaftsorganisationen in Schleswig-Holstein, hrsg. v. der Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Gegenwartsfragen 79), Kiel 1996, S. 9 - 22. 2 Hierzu im Überblick Auerbach, Hellmuth, Führungspersonen und Weltanschauungen des Nationalsozialismus, in: Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, hrsg. v. M. Broszat, H. Möller, 2. Aufl. München 1986, S. 127 - 151; Kershaw, Ian, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Hamburg 1989, S. 125 - 164. 3 Hitler, Adolf, Mein Kampf, 54. Aufl. München 1933, S. 650 f., 661. 4 Düwell, Kurt, Gauleiter und Kreisleiter als regionale Gewalten des NS-Staates, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für <?page no="13"?> ihre Biographien, ihre Handlungsmotivationen und ihre Amtsführung sind wichtige Einblicke in Strukturen und Mechanismen regionaler nationalsozialistischer Machtausübung zu leisten, vor allem aber auch Eindrücke vom Herrschaftsalltag und der Regierungsform jener neuen politischen »Klasse« zu vermitteln. Zu diesem Personenkreis gehörten an erster Stelle Hitlers direkte Stellvertreter vor Ort, die Gauleiter Robert Wagner in Baden und Wilhelm Murr in Württemberg, die beide zugleich Reichsstatthalter waren und damit neben der Parteifunktion staatliche Dienststellungen innehatten. Daneben existierten bis zum Ende des »Dritten Reiches« allen Verreichlichungstendenzen zum Trotz die Länderregierungen mit nationalsozialistischen Ministerpräsidenten und Fachministern fort, deren überlieferte Ressorteinteilung auch vom Nationalsozialismus nicht gänzlich geändert wurde. Lediglich einzelne Ministerien wurden zusammenfassend in Personalunion verwaltet und von zumeist »alten Kämpfern« der Partei geführt. Sie beeinflußten, wie begrenzt auch immer ihre Kompetenzen im zentralistischen Staat sein mochten, die administrativen Maßnahmen in ihrem Ressort in mehr oder minder großem Umfang und gehörten schon deshalb zur Führungsriege der regionalen Partei- und Staatsorganisation. Wichtige Schlüsselstellungen im totalitären Staat hatten auch die schon bald aus der Länderhoheit herausgenommenen Institutionen der Verfolgung und Aburteilung aller regimekritischen oder »artfremden« Kräfte: die Geheime Staatspolizei und die Sondergerichte. Deshalb sind auch die Leiter dieser »Dienststellen« in unsere Sammlung von NS-Biographien aus Baden und Württemberg aufgenommen worden. Mit den Gauleitern, Ministerpräsidenten, Ministern, Gestapochefs und Sondergerichtsvorsitzenden ist zweifellos nur die Spitze der NS-Hierarchie in der Provinz erfaßt. Erhebliche Bedeutung besaßen darüber hinaus natürlich auch die »kleinen Könige«, die Kreisleiter und Ortsgruppenleiter im Land, deren Amtsführung vor Ort nicht selten den verbrecherischen und ganz und gar willkürlichen Charakter der NS-Herrschaft verdeutlichte. SA-Führer und die Mitglieder der sog. »Gauclique« im Dunstkreis des Gauleiters sind ebenso zu berücksichtigen. Nicht übersehen werden dürfen schließlich, gerade bei einer regionalgeschichtlichen Untersuchung, auch badische und württembergische Nationalsozialisten, die in hohen Stellungen des Reichsdienstes, der Partei oder einer ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände tätig waren, verweisen sie doch gleichsam reflexiv auf die Ausstrahlung und Außenwirkung der Region und ihrer Menschen ins Zentrum der Macht. Hier sind unserer Studie allerdings organisatorische Grenzen gesetzt, bedenkt man, daß beispielsweise in Baden (1938) alleine 27 Kreisleiter der NSDAP ihren Dienst versahen 5 und in Württemberg (1936) 58 Städte und Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern bestanden. 6 Die in unseren Band aufgenommenen Biographien aus diesem Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 12 Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 161 - 174, hier S. 161. 5 Badischer Geschäfts- und Adreßkalender für 1938, Karlsruhe 1938, S. 122 f. 6 Württembergisches Statistisches Landesamt (Hrsg.), Staatshandbuch für Württemberg. Ortschafts- <?page no="14"?> Personenkreis können daher nur Beispiele sein, die den Blick für die Besonderheiten dieser Personengruppe öffnen, keineswegs aber den Anspruch erheben, »typische« Biographien vorzustellen. Sie runden jedoch unsere »tour d’horizon« der regionalen NS-Größen ab und mögen Anstoß zu weiteren Forschungen geben. Über diese »Führer der Provinz« des deutschen Südwestens ist bislang, abgesehen von verdienstvollen enzyklopädischen Beiträgen in den von Bernd Ottnad herausgegebenen Badischen Biographien 7 und vereinzelten Spezialstudien 8 nur wenig bekannt. Erstes und wichtigstes Ziel der nachfolgenden 26 Studien ist es daher, den Wissensstand auf der Grundlage einschlägigen Literatur- und Aktenstudiums, aber auch mit Hilfe von Zeitzeugenbefragungen und schriftlicher Überlieferung aus Privatarchiven zusammenzufassen und ein »Nachschlagewerk« zu wichtigen Repräsentanten der »NS-Elite« in Baden und Württemberg vorzulegen, das deren Biographien - auch über das Jahr 1945 hinaus - erschließt, manche mündlich tradierte Mythen überprüft und zu einem nützlichen Hilfsmittel weiterer landesgeschichtlicher NS-Forschung werden kann. Alle Beiträge sind dabei bemüht, den Anforderungen einer modernen Biographik Rechnung zu tragen. Nachdem in den 1970er Jahren die historische Biographie als »überalterte Form der Geschichtsschreibung« galt, erfahren biographische Darstellungen seit einem guten Jahrzehnt wieder ein, wie uns scheint, wohlbegründetes Interesse. Mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus ist hier nicht nur auf die ertragreichen Forschungen zur »NS-Elite« hinzuweisen 9 , sondern auch festzustellen, daß der biographische Zugriff sich themen- und methodenübergreifend auf alle Bereiche des nationalsozialistischen Zeitraums erstreckt 10 und selbst Forscher an einem biographischen Ansatz Gefallen finden läßt, die eher dem marxistischen Geschichtsbild verhaftet waren. 11 Nationalsozialismus in der Provinz 13 verzeichnis, Stuttgart 1936, S. 374 f. 7 Ottnad, Bernd (Hrsg.), Badische Biographien N.F. Bd. 1 - 3, Stuttgart 1982 - 1990; Ottnad, Bernd (Hrsg.), Baden-Württembergische Biographien Bd. 1, Stuttgart 1994. 8 So etwa die wegweisende Studie von Ferdinand, Horst, Die Misere der totalen Dienstbarkeit. Robert Wagner (1895 - 1946), NSDAP-Gauleiter, Reichsstatthalter von Baden, Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, in: Eberbacher Geschichtsblatt 91 (1992), S. 97 - 209; 92 (1993), S. 208 - 222; Ferdinand, Horst, Rezension zu »Johnpeter H. Grill, Robert Wagner - Der ›Herrenmensch‹ im Elsaß«, in: Eberbacher Geschichtsblatt 93 (1994), S. 166 - 170; Kieß, Rudolf, Christian Mergenthaler. Württembergischer Kultminister 1933 - 1945, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 54 (1995), S. 281 - 332. 9 Vgl. etwa Smelser, Ronald; Syring, Enrico; Zitelmann, Rainer (Hrsg.), Die braune Elite. 22 biographische Skizzen, Darmstadt 1989; Smelser, Ronald; Syring, Enrico; Zitelmann, Rainer (Hrsg.), Die braune Elite. 21 weitere biographische Skizzen, Darmstadt 1993. 10 Zur Widerstandsforschung vgl. etwa Lill, Rudolf; Oberreuter, Heinrich (Hrsg.), 20. Juli. Portraits des Widerstands, Düsseldorf, Wien 1984, 3. Aufl. 1994; zur Militärgeschichte Smelser, Ronald; Syring, Enrico (Hrsg.), Die Militärelite des Dritten Reiches, Berlin 1995. 11 Vgl. Engelberg, Ernst; Schleier, Hans, Zur Theorie und Geschichte der historischen Biographie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38 (1990), S. 195 - 217, hier S. 208. <?page no="15"?> Eine solche Renaissance des biographischen Genres hängt, wie Christoph Gradmann jüngst dargelegt hat, gewiß nicht nur mit den Defiziten einer rein sozial- und strukturgeschichtlichen Historiographie zusammen, die in den 70er und frühen 80er Jahren die deutsche Geschichtswissenschaft in einem Maß zu dominieren schien, daß einem polemischen Wort Lawrence Sternes zufolge plötzlich der »Wilhelminismus ohne Wilhelm, das Kaiserreich ohne Kaiser« erklärt wurde. 12 Sie hängt vor allem wohl mit der keineswegs neuen Erkenntnis zusammen, daß biographische Geschichtsschreibung und Sozial-, Struktur- und Alltagsgeschichte sich nicht widersprechen, sondern sich ergänzen können, ja müssen. Von einer modernen Biographik wird daher zurecht gefordert, daß sie nicht einseitig in den individualistischen Ansatz des Historismus zurückfällt (»Männer machen Geschichte«), wohl aber »dem subjektiven Element wieder zu seinem wissenschaftlichen Recht« verhilft. 13 Dies gilt für die Zeit des Nationalsozialismus vielleicht in besonderem Maße, zwang doch die totalitäre »Weltanschauung« ihre Anhänger wie ihre Gegner in einer zuvor nie gekannten Form zum individuellen Bekenntnis für oder gegen den »Führer« Adolf Hitler. Für die hier vorzustellenden Biographien bedeutet dies konkret, daß das Einzelschicksal soweit möglich in Beziehung zu den Erträgen der politischen Historiographie, der Landesgeschichtsschreibung, der Sozial-, Struktur- und Alltagsgeschichte zu setzen ist, um es historisch einzuordnen, Motivationen und Handlungsräume unterschiedlichster Art verständlich zu machen. Dies ist in dem einen Fall aufgrund der thematischen Zusammenhänge oder der Quellen- und Literaturlage besser, in manch anderem Fall nur unvollständig erreichbar. Immer jedoch wird der Versuch unternommen, den Datenbestand auch im Detail zu sichern und den Lebenslauf unter Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Kontextes und des jeweiligen Erfahrungshorizontes der Person zu betrachten. Dies schließt nach unserer Überzeugung die gerade im Falle von NS-Biographien notwendige Einordnung der Person in das Gefüge des totalitären Verbrechensstaates und die Bestimmung der individuellen Verantwortlichkeit nicht aus, es impliziert sie vielmehr. Die vorliegenden Biographien summieren sich unter diesen Voraussetzungen einerseits zu einer Art kleinen »Kollektivbiographie«, die einige generalisierende Aussagen über die NS-Elite im deutschen Südwesten zuläßt, sie verzichten zugleich Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 14 12 Gradmann, Christoph, Geschichte, Fiktion und Erfahrung - kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17 (1992), S. 1 - 16, hier S. 1 - 3. Vgl. auch die einschlägigen Hinweise bei Lenger, Friedrich, Werner Sombart 1863 - 1941. Eine Biographie, München 1994, S. 13 - 16. 13 Berlepsch, Hans Jörg von, Die Wiederentdeckung des »wirklichen Menschen« in der Geschichte. Neue biographische Literatur, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 488 - 510, hier S. 491 f. S. auch Gestrich, Andreas, Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: Biographie - sozialgeschichtlich, hrsg. v. A. Gestrich, P. Knoch, H. Merkel, Göttingen 1988, S. 5 - 28, hier S. 11 f., dessen hohen Anspruch eine im Umfang beschränkte historische Biographie schon allein wegen der zumeist defizitären Quellenlage nicht gerecht werden wird. Zu berücksichtigen auch die nunmehr wieder aktuell wirkenden Definitionsversuche von Romein, Jan, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik, Bern 1948, S. 11 f. <?page no="16"?> aber durch ihre Ausführlichkeit nicht auf jene größere Tiefenschärfe, die der Einzelbiographie eigen ist. Gerade dadurch, so hoffen wir, eröffnet sich auch die Möglichkeit, einen Beitrag zur Lösung übergreifender geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen aus dem biographischen Blickwinkel zu leisten. So lassen sich etwa auf der Grundlage des vorliegenden Datenmaterials eine Reihe von Beobachtungen zur Personalstruktur des südwestdeutschen Nationalsozialismus formulieren, die im Rahmen der NS-Eliteforschung von Bedeutung sind. Die badische NS-Führungsriege setzte sich, abgesehen von dem rund zehn Jahre älteren Kultusminister Paul Schmitthenner, aus 30 - 40jährigen zusammen, die ausnahmslos in Baden geboren waren und ganz überwiegend bürgerlichen Elternhäusern entstammten. Eine Ausnahme bildete lediglich der Gauleiter selbst, dessen Vater Landwirt war. Dennoch gelang ihm wie den anderen auch der gesellschaftliche Aufstieg: er erhielt eine gehobene schulische Ausbildung (Lehrerseminar) und strebte eine ebenso gehobene Berufsstellung zunächst als Lehrer, dann als Reichswehroffizier an. Alle diese NS-Führer waren schon Mitte der 20er Jahre der NSDAP beigetreten oder sympathisierten doch mit der Partei, der sie dann spätestens 1930 als Mitglieder angehörten. Wenn auch soziale Deklassierung und Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik für manch einen ein wichtiges Motiv der Annäherung an den Nationalsozialismus gewesen sein mag, für die »Führer« Badens und auch Württembergs traf dies meist nicht zu. So führten etwa die Entlassungen Wagners aus der Reichswehr wie auch Pflaumers aus der Polizei in keinem Fall zu bedrohlichen finanziellen Problemen und fanden auf der Grundlage einer mindestens gesinnungsmäßigen Verbindung mit der NSDAP statt. Gemeinsam war hingegen fast allen die bodenlose Enttäuschung über den Kriegsausgang und ein fanatischer Haß auf den Friedensvertrag von Versailles. Die Hinwendung zur Partei Hitlers aber hatte darüber hinaus oft zusätzliche, bisweilen sehr private Gründe. 14 Bemerkenswert sind Unterschiede zwischen Baden und Württemberg. In Württemberg nämlich war die vollständig dem Lande entstammende NS-Führungsriege durchschnittlich ca. zehn Jahre älter als in Baden und stammte aus einfacheren familiären Verhältnissen: Gauleiter Murrs Vater war Schlosser, der Vater des Ministerpräsidenten Bäckermeister, der des Innenministers Landwirt etc. Gleichwohl erlebten die Söhne, abgesehen von Murr, einen gesellschaftlichen Aufstieg in der Weimarer Republik und wurden Lehrer, Rechtsanwalt oder Beamter. Der Eintritt in Hitlers Partei erfolgte unter den württembergischen Führern etwas früher als in Baden. Die badischen und württembergischen NS-Regionalführer kamen zumeist aus evangelischen Familien, empfanden aber nie eine engere religiöse Bindung. Großenteils traten sie denn auch aus der Kirche aus. Sie waren, entsprechend ihrer Nationalsozialismus in der Provinz 15 14 Kater, Michael H., The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders 1919 - 1945, Cambridge 1983, S. 194, 203, 231 f., Schmidt, Christoph, Zu den Motiven »alter Kämpfer« in der NSDAP, in: Die Reihe fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, hrsg. v. D. Peukert, J. Reulecke, Wuppertal 1981, S. 21 - 43, hier S. 27. <?page no="17"?> völkischen Weltanschauung, eigentlich alle antikirchlich, besonders antikatholisch gesinnt und schürten oder verschärften darum die Kirchenkämpfe. Innenminister Jonathan Schmid bildete insofern eine der wenigen Ausnahmen, als er seinen Kirchenaustritt bis ins Jahr 1942 hinausschob. Auch bei den Leitern der wichtigen Reichsdienststellen, der Gestapo und der Sondergerichte, lassen sich auffällige Besonderheiten feststellen. Anders als bei dem von Gerhard Paul erst jüngst charakterisierten Durchschnitt der regionalen Gestapoleiter 15 gehörten die badischen und württembergischen Gestapochefs, soweit sich ihre Lebensläufe rekonstruieren lassen, zumeist nicht zur »undoktrinäre[n] Elite karrierebewußter neusachlicher Jungakademiker«. »Undoktrinär« war hier lediglich der altgediente Polizeikommissar Mußgay in Württemberg, der erst 1933 in die NSDAP eintrat, um seine weitere berufliche Entwicklung nicht zu gefährden. Alle übrigen gehörten seit langem der »Bewegung« an: der Badener Berckmüller z.B. war ein enger Freund des Gauleiters, seine eher jugendlichen Nachfolger Landgraf und Schick waren schon 1928 bzw. 1931 als 22jährige der Partei beigetreten, und auch der Württemberger Stahlecker, geb. 1900, gehörte zu den frühen Aktivisten der völkischen Bewegung. Nur seiner Karriere lag jenes von Gerhard Paul beschriebene besitz- und bildungsbürgerliche familiäre Umfeld des »Durchschnittsgestapoleiters« zugrunde. Landgraf und Schick stammten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, Berckmüller, Mattheiß und Mußgay waren in ihren Dienststellungen weder ausgesprochen jung noch standen ihre Väter in herausgehobenen beruflichen Positionen. Daß schließlich die Gestapoleiter ganz überwiegend nicht ihrem Einsatzgebiet entstammten, trifft für die Verhältnisse unseres Raumes ebenfalls nicht zu: in Württemberg entstammten alle Gestapochefs dem Lande, in Baden war ein ganz ähnlicher regionaler Bezug feststellbar, wenn auch mit Landgraf ein Hesse aus dem nahgelegenen Lorsch und mit Schick ein Württemberger die Karlsruher Dienststelle bekleidete. Noch disparater liegen die Verhältnisse bei den Vorsitzenden der Sondergerichte. Amtierte in Stuttgart der jugendlich-agile Schwabe Hermann Cuhorst, der als fanatischer Nationalsozialist dem Bild des Volksgerichtshofspräsidenten Roland Freisler erschreckend nahe kam, so saßen in Mannheim zwei über sechzig Jahre alte, »bewährte« badische Richter, Alfred Hanemann und Edmund Mickel, den Sondergerichten vor, die trotzdem den justitiellen Beitrag zur Durchsetzung des NS-Totalitarismus leisteten. Sie stellen im übrigen anschauliche Beispiele für die weitgehende Kontinuität vom nationalen zum nationalsozialistischen Denken dar. Solche Mentalitäts- und Auffassungsunterschiede waren jedoch für den nationalsozialistischen Alltag offenbar relativ unbedeutend. In dem von Ernst Fraenkel schon 1941 beschriebenen Nebeneinander von Maßnahmen- und Normen-Staat 16 führten Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 16 15 Paul, Gerhard, Ganz normale Akademiker. Eine Fallstudie zur regionalen staatspolizeilichen Funktionselite, in: Die Gestapo - Mythos und Realität, hrsg. v. G. Paul, K.-M. Mallmann, Darmstadt 1995, S. 236 - 254, hier S. 239 - 241. 16 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt/ Main, Köln 1974. <?page no="18"?> beide personellen Varianten zu dem gewünschten Ziel. So waren es im deutschen Südwesten also weniger soziologisch klar zu definierende Personengruppen, die den Unrechtsstaat Hitlers aufzubauen und zu exekutieren halfen, es war vielmehr eine sehr heterogene Gruppe von (z.T. daher auch miteinander verfeindeten) Menschen mit einem ganzen Bündel von Motiven, die trotz oder gerade wegen ihrer Unterschiede zur Durchsetzung des ja ebenso widersprüchlichen NS-Systems beitrugen. Hinsichtlich des weiteren Schicksals der südwestdeutschen NS-Elite nach dem Zusammenbruch »ihres Reiches« mahnen die vorliegenden Biographien, wie auch schon Barbara Fait in ihrer Studie über bayrische Kreisleiter nach 1945 17 , zu einem vorsichtigen und differenzierenden Urteil. Soweit die hier porträtierten Personen das Kriegsende überlebten, gelang kaum einem von ihnen ein irgendwie bedeutsamer Wiederaufstieg in der Bundesrepublik. Der Badische Ministerpräsident Köhler, der es als Versicherungsagent schließlich zu Wohlstand brachte oder der ehem. Reichsstudentenführer Scheel, der in Hamburg als Arzt praktizierte, gehören noch zu den »herausragenden« Ausnahmen. Vielmehr prägten überwiegend langjährige Internierungshaft, Vermögenskonfiskationen und gerichtliche Auseinandersetzungen im Rahmen der Entnazifizierung um die zu leistende Sühne und die Zuerkennung einer Rente die Situation der meisten. Daß neben einigen bemerkenswert harten, in vielen Fällen dann (allerdings zumeist erst Anfang der 50er Jahre) äußerst milde Entscheidungen von den zuständigen Kommissionen gefällt wurden, hängt zweifelsohne mit dem oft schon geschilderten Dilemma der Entnazifizierung zusammen, bei der die »Hauptschuldigen« erst sehr spät vor ihre Richter gestellt wurden. Bedeutsam dafür war sicher auch das veränderte politische Interesse der Alliierten in der sich nunmehr abzeichnenden Veränderung der weltpolitischen Lage. 18 Nicht zuletzt muß eine angemessene Beurteilung vor dem Hintergrund der in der Internierungshaft und durch Vermögenskonfiskation geleisteten Sühne wie auch dem schon bald nach Kriegsende erlahmenden Interesse der breiten Öffentlichkeit an einer Aburteilung der ehemals führenden Nationalsozialisten erfolgen. Oft war es für die Spruchkammervorsitzenden nämlich schon drei oder vier Jahre nach Kriegsende schwer, valide Belastungszeugen selbst gegen ehemals prominente Nationalsozialisten zu finden! Daß gleichwohl skandalöse »Reinwaschungen« erfolgten, belegt das Beispiel des Sondergerichtsvorsitzenden Edmund Mickel, dem die Zentralspruchkammer Karls- Nationalsozialismus in der Provinz 17 17 Fait, Barbara, Die Kreisleiter der NSDAP - nach 1945, in: Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 26), hrsg. v. M. Broszat, K.-D. Henke, H. Woller, München 1988, S. 213 - 299. Vgl. im Gegensatz dazu die methodisch fragwürdige Darstellung von Rinklake, Hubert, »Ich habe weiter nichts getan, als was von jedem anständigen Staatsbürger verlangt werden muß.« NSDAP-Ortsgruppenleiter und ihre Entnazifizierung im katholischen Emsland, in: Norddeutschland im Nationalsozialismus, hrsg. v. F. Bajohr (Forum Zeitgeschichte 1), Hamburg 1993, S. 166 - 184. 18 Siehe hierzu im Überblick Vollnhals, Clemens (Hrsg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945 - 1949, München 1991 und Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. <?page no="19"?> ruhe eine korrekte und menschenfreundliche Amtsführung bescheinigte, ja seinen Entlastungsbeweis gar als vollständig gelungen ansah. Die Betroffenen selbst sahen sich, freilich ungerechtfertigt, meist als Opfer falscher Anschuldigungen und gehässiger Nachstellungen. Sie litten, wie das Beispiel des Mannheimer Juristen Hanemann exemplarisch zeigt, unter ihrer »politischen Deklassierung« und der Ablehnung, auf die sie und ihre Familien stießen. 19 Einsicht in ihre Mitverantwortung in der zwölfjährigen Diktatur ist bei nahezu keiner der hier behandelten Personen feststellbar. Vielmehr überwogen Larmoyanz, abstruse Versuche der Selbstrechtfertigung, in einzelnen Fällen sogar die Beteiligung in neonationalsozialistischen Gruppierungen und Verbänden. Die (ein)gängige, aber eben auch einseitige Schlußfolgerung, die »Entnazifizierung« sei abgebrochen worden und gescheitert 20 , erscheint angesichts der vorliegenden Fallbeispiele in ihrer Eindimensionalität daher irreführend: denn beurteilt man die Entnazifzierung unter dem Gesichtspunkt der Zurückdrängung und Ausschaltung der führenden Exekutoren des NS-Unrechtes vor Ort, so wird man der Entnazifizierungstätigkeit auch Erfolge nicht absprechen können. Die jämmerliche Weinerlichkeit vieler der hier porträtierten ehemaligen NS-Größen, die in den Jahren nach 1945 eben keine Chance mehr zu effektiver politischer Wiederbetätigung bekamen, zeigte einmal mehr, daß die junge Bundesrepublik der ihr gestellten Aufgabe, einen demokratischen Staat zu schaffen, immerhin in wesentlichen Bereichen gerecht wurde. Ein solchermaßen charakterisierter und gegenüber allgemeineren Forschungserträgen differenzierter Kreis von NS-Führern evoziert geradezu die Frage nach einer spezifischen regionalen Prägung des Nationalsozialismus in der hier dargestellten »Provinz«. Die Anfänge des in der historischen Forschung seit Jahren diskutierten Problems »Nationalsozialismus und Region« gehen letztlich auch auf die Einsicht in die oben geschilderte polykratische Führungszersplitterung des »Dritten Reiches« zurück. So verwundert es nicht, daß sich Historiker schon in den 60er, verstärkt dann in den 70er Jahren ans Werk machten, um die Region im Nationalsozialismus nicht nur als Fallstudie, sondern mit dem Anspruch auf überregional relevante Forschungserträge genauer zu untersuchen. William Sheridan Allens Pionierstudie über die niedersächsische Kleinstadt Northeim aus dem Jahr 1965/ 66 machte den Anfang 21 , Projekte wie das des Instituts für Zeitgeschichte »Bayern in Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 18 19 Hanemann an den Präsidenten des Oberlandesgerichts Karlsruhe, 11. Februar 1946, GLA 466, 8416. 20 So zuletzt Rauh-Kühne, Cornelia, Die Entnazifizierung und die deutsche Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 35 - 70, hier S. 30 - 47, die dann aber am Ende ihres Beitrages auch auf den Teilerfolg einer Ausschaltung der führenden NS-Elite hinweist (S. 69). Deutlicher die These des »Scheiterns« der Entnazifizierung in Frage stellend Schlemmer, Thomas, Die Amerikaner in Bayern. Militärregierung und Demokratisierung nach 1945, in: Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, hrsg. v. H. Oberreuter, J. Weber (Akademiebeiträge zur politischen Bildung 29), München, Landsberg 1996, S. 67 - 99, hier S. 94 - 98. 21 Allen, William Sheridan, »Das haben wir nicht gewollt! « Die nationalsozialistische Machtergreifung <?page no="20"?> der NS-Zeit« 22 folgten und verfestigten die Erkenntnis, daß »die Gründe für den Aufstieg und schließlichen Sieg der Nationalsozialisten nicht zuletzt in den je örtlichen/ regionalen (und konfessionellen) Gegebenheiten gesucht werden müssen: ›Hitler, Goebbels und die anderen nationalsozialistischen Führer lieferten die politischen Entscheidungen, die Ideologie, die Propaganda [...]. Doch in den Tausenden von Orten [...] in ganz Deutschland wurde die Revolution verwirklicht. Diese Orte bildeten das Fundament des Dritten Reiches‹« 23 . In Fortführung solcher Erkenntnisse erweitert sich in jüngster Zeit das Forschungsgebiet »Nationalsozialismus und Region« um die Frage nach der Bedeutung und Wirkmächtigkeit der Region auch für die Herrschaftsausübung des an sich streng zentralistisch orientierten Nationalsozialismus, mutiert sozusagen zur Frage nach dem »Nationalsozialismus in der Region«. 24 Berücksichtigt man, daß zentralistische Tendenzen in Deutschland von jeher weniger einflußreich als anderswo waren 25 , daß für die politische Kultur Deutschlands »mannigfaltige regionale Verwerfungen« und »eine ausgeprägte Fragmentierung« noch heute kennzeichnend sind 26 , gewinnt die Frage an Brisanz. Auch einschlägige Aussagen führender Nationalsozialisten weisen in diese Richtung. So hielt etwa der ehemalige Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk die »Gaufürsten« für »viel hartnäckigere Föderalisten als vor ihnen die Länderministerpräsidenten«. 27 Alfred Rosenberg beschrieb in seinen »Letzten Aufzeichnungen« die Herr- Nationalsozialismus in der Provinz 19 in einer Kleinstadt 1930 - 1935, Gütersloh 1966. 22 Broszat, Martin u.a. (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 6 Bde., München 1977 - 1983. 23 Hehl, Ulrich von, Nationalsozialismus und Region. Bedeutung und Probleme einer regionalen und lokalen Erforschung des Dritten Reiches, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 56 (1993), S. 111 - 129, hier insbes. S. 119 f. 24 So der in dieser Hinsicht aufschlußreiche Titel des 1993 niedergelegten, die Forschung zusammenfassenden Aufsatzes von Ulrich von Hehl (wie Anm. 23) und der nun jüngst von Horst Möller, Andreas Wirsching und Walter Ziegler herausgegebene Band über »Nationalsozialismus in der Region«. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996 (wie Anm. 4). Vgl. hier insbesondere die Beiträge von Werner K. Blessing, Diskussionsbeitrag: Nationalsozialismus unter »regionalem Blick«, S. 47 - 56, hier S. 48: »Für die regionale Perspektive spricht auch das Verhalten der politischen Akteure selbst. Mehr oder weniger deutlich paßten sich alle, welche nicht durch eine herausragende Rolle auf dem nationalen Forum überregional populär waren, den Gegebenheiten des Raumes an, in dem sie agierten. Sie bezogen sich auf dessen Traditionen und spezielle Interessen, die auch der politischen Kultur raumtypische Akzente setzten und im Parteikampf wesentliche Erfolgsbedingungen stellten.« und Walter Ziegler, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, S. 139 - 159, hier S. 141. 25 Möller, Horst, Regionalismus und Zentralismus in der neueren Geschichte. Bemerkungen zur historischen Dimension einer aktuellen Diskussion, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996 (wie Anm. 4), S. 9 - 22, hier S. 11. 26 Wehling, Hans-Georg, Regionale politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, in: Regionale politische Kultur, hrsg. v. der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart u.a. 1985, S. 7 - 14, hier S. 10. 27 Zit. nach Broszat, Martin, Der Staat Hitlers, 13. Aufl. München 1992, S. 154. <?page no="21"?> schaft im nationalsozialistischen Staat als »gesetzmäßigen Zentralismus« und »praktischen Partikularismus«. 28 Und auch von einigen Gauleitern selbst sind ähnliche Äußerungen überliefert: der Gauleiter Süd-Hannover-Braunschweig, Lauterbacher, z.B. resümiert in seinen Memoiren, es sei die Pflicht des Gauleiters gewesen, seine Arbeit nach »den besonderen Eigenarten der Länder und der Bevölkerung auszurichten«, denen er vorstand. So habe »Auftreten, Methoden und Taktik« der Gauleiter je nach Landschaft variiert. Dem Gauleiter des Gaues Halle-Merseburg Rudolf Jordan soll Hitler selbst 1931 gesagt haben, er lasse den Gauleitern in den Gauen alle Freiheit, solange es nicht um grundsätzliche Fragen ginge. In den Gauen liege die »eigentliche Frontarbeit der Partei«. Er, Hitler, hasse die Gleichheit, jeder Gau solle nach der Persönlichkeit seines Führers und den besonderen Problemen der Bevölkerung geführt werden. 29 Für die Untersuchung solcher regionalspezifischen Ausprägung nationalsozialistischer Herrschaft erscheint der deutsche Südwesten, in dem die staatliche Verwaltungsstruktur mit der NSDAP-Gaueinteilung und dem landschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühl weitgehend identisch war, als besonders interessant. Zwar waren die Reichsländer Baden und Württemberg das Produkt einer erst rund 120 Jahre alten Geschichte des Zusammenwachsens unterschiedlichster Territorien des Alten Reiches nach der Napoleonischen Neuordnung der deutschen Landkarte. Doch hatten es die Könige von Württemberg nicht anders als die Großherzöge von Baden und deren Minister verstanden, die heterogenen Teile ihrer Neuerwerbungen an sich zu binden und mit einem weitgehend einheitlichen Staatsbewußtsein zu versehen. Schule, Kirche, Militär, die Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus und die liberalen Staatsgedanken führender südwestdeutscher Politiker hatten dabei eine wichtige Rolle gespielt, nicht zuletzt aber auch eine im 19. Jahrhundert umfänglich geförderte badische und württembergische Geschichtsschreibung, die Identität zu stiften bemüht gewesen war. 30 Warum jedoch gerade der Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 20 28 Rosenberg, Alfred, Letzte Aufzeichnungen. Ideale und Idole der nationalsozialistischen Revolution, Göttingen 1955, S. 260, siehe auch Ruck, Michael, Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Staates, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 99 - 122, hier S. 99. 29 Lauterbacher, Hartmann, Erlebt und mitgestaltet. Kronzeuge einer Epoche 1923 - 45. Zu neuen Ufern nach Kriegsende, Preußisch Oldendorf 1984, S. 169, Jordan, Rudolf, Erlebt und erlitten. Weg eines Gauleiters von München bis Moskau, Leoni 1971, S. 13. Siehe auch Ziegler, Walter, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 139 - 159, hier S. 139. 30 Berding, Helmut, Staatliche Identität, nationale Integration und politischer Regionalismus, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 121 (1985), S. 371 - 393; Schwarzmeier, Hansmartin, Politische Grenzziehung und historische Bewußtseinsbildung im deutschen Südwesten, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 121 (1985), S. 83 - 114. Daß gleichwohl innerhalb der neuen Staaten <?page no="22"?> Südwesten Deutschlands eine »erste Hochburg des Liberalismus« geworden war, ist noch keineswegs hinreichend geklärt und hat berechtigterweise noch kürzlich den Ruf nach weiteren »vergleichende[n] Regionalstudien« laut werden lassen. 31 Fraglos existierte jedenfalls noch in der Weimarer Republik ein ausgeprägter südwestdeutscher Eigenstaatsgedanke, eine besondere Wertschätzung föderalistischer Strukturen, nicht selten gepaart mit antipreußischen Affekten und Abgrenzungsbestrebungen untereinander. Die schon in dieser Zeit diskutierte Reichsreform scheiterte nicht zuletzt an dem hinhaltenden Widerstand der südwestdeutschen Länder und ihrer Auseinandersetzungen untereinander über die Bildung eines einheitlichen Südweststaates. 32 Dies mag nicht zuletzt auch durch die unterschiedliche wirtschaftliche und sozialpolitische Lage Badens und Württembergs bedingt gewesen sein, hatte Baden als Grenzland und mit einer krisenanfälligeren nordbadischen Produktionsgüterindustrie gegenüber Württemberg mit seiner dominierenden hochspezialisierten Verarbeitungsindustrie, krisenfesteren Wirtschaftsstruktur und Nebenerwerbslandwirtschaft vieler Industriearbeiter einen schwereren Stand. 33 Gleichwohl überstanden beide Regionen die wirtschaftlichen Krisenjahre der Weimarer Republik im Vergleich zum Reichsdurchschnitt relativ gut. Baden hatte 1933 eine Arbeitslosenquote von 16%, Württemberg nur 9% im Gegensatz zum Reichsdurchschnitt von 27% zu tragen. 34 Unter solchen Voraussetzungen fiel es den Nationalsozialisten zunächst durchaus schwer, im deutschen Südwesten Fuß zu fassen. Zwar existierten schon 1921 in Württemberg und Baden NSDAP-Ortsgruppen, doch blieb ihr Einfluß lange Zeit äußerst gering. Dies hing im Falle Württembergs nicht zuletzt mit der andauernden desolaten Verfassung der Parteiorganisation zusammen, die sich deutlich von der mustergültig straffen badischen unterschied. Erst 1929 eroberte die Nationalsozialismus in der Provinz 21 wiederum einzelne Regionalismen wie etwa der des katholischen Oberschwaben in Abgrenzung vom vorwiegend protestantischen Altwürttemberg erhalten blieben, soll damit nicht bestritten werden. Siehe Gollwitzer, Heinz, Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19./ 20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 27 (1964), S. 523 - 552, hier S. 531 - 534. 31 Langewiesche, Dieter, Liberalismus und Region, in: Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, hrsg. v. L. Gall, München 1995, S. 1 - 18, hier S. 9. 32 Heimers, Manfred Peter, Unitarismus und süddeutsches Selbstbewußtsein. Weimarer Koalition und SPD in Baden in der Reichsreformdiskussion 1918 - 1933 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 98), Düsseldorf 1992, S. 18, 30 f., 33, 108 - 126. 33 Allgeier, Rudi, Grenzland in der Krise. Die badische Wirtschaft 1928 - 1933 und Schnabel, Thomas, »Warum geht es in Schwaben besser? « Württemberg in der Weltwirtschaftskrise 1928 - 1933, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982, S. 150 - 183 bzw. S. 184 - 218. Siehe auch Boelcke, Willi A., Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800 - 1989. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 16), Stuttgart, Berlin, Köln 1989, S. 395 ff. 34 Falter, Jürgen W.; Bömermann, Hartmut, Die unterschiedlichen Wahlerfolge der NSDAP in Baden und Württemberg: Ergebnis differierender Sozialstruktur oder regionalspezifischer Faktoren? , in: Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. D. Oberndörfer, K. Schmitt (Ordo Politicus 28), Berlin 1991, S. 283 - 298, hier S. 288. <?page no="23"?> Hitlerpartei im Stuttgarter Halbmondsaal einen Parlamentssitz, in Baden errang man im gleichen Jahr sechs von insgesamt 88 Landtagsmandaten, aber auch dort regierte die »Weimarer Koalition« immerhin bis November 1932 relativ stabil. 35 Nicht übersehen sollte man bei der Wahlanalyse allerdings, daß es gerade in Baden und Württemberg denkwürdige Entwicklungen gab, die dem allgemeinen Trend entgegenstehen, der die konfessionelle Verteilung zum zentralen Erklärungsgrund für die Wahlerfolge macht. Obwohl in Baden der Anteil von Katholiken mit 58% höher war als in Württemberg, wo er bei 33% lag, waren die Wahlergebnisse der Nationalsozialisten in Baden durchgängig besser als in Württemberg. Jürgen W. Falter weiß hierauf trotz eingehender wahlsoziologischer und statistischer Untersuchungen nur eine Antwort: die Wirkung nicht genauer definierbarer regionaler Faktoren. 36 Es ist daher kaum verwunderlich, daß die nachfolgenden Biographien eine Reihe regionbezogener Äußerungen oder staatlich-administrativer Handlungen der Provinzführer nachweisen. Auffällig sind zunächst etwa besondere regionale Gesten, wie die Darstellung schwäbischer Sparsamkeit, der sich die neue württembergische NS-Regierung unter Gauleiter Murr in geradezu grotesker Weise befleißigt haben soll, als von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die Begleichung der Unkosten für ein in Stuttgart anläßlich eines Besuches eingenommenes Mittagessen gefordert wurde. 37 In dem 1938 herausgegebenen Buch der deutschen Gaue, einer Propagandaschrift, die dem Geleitwort des Reichspressechefs der NSDAP Dr. Otto Dietrich zufolge das »Wirken und Schaffen der Bewegung« in den deutschen Gauen herausstellen sollte, wurde der Gau Württemberg-Hohenzollern durchaus auffällig vom zuständigen Gaupresseamt nicht etwa als »NS-Mustergau« oder als Raum, in dem die nationalsozialistische Führung besondere Leistungen vollbracht habe, dargestellt. Vielmehr ist in dieser Publikation ganz überwiegend von dem schwäbischen Menschen die Rede, dessen Verdienst allein die derzeitige, natürlich glückliche, Situation Württembergs sei: »Der schwäbische Mensch mit seiner Sparsamkeit, Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 22 35 Bräunche, Ernst Otto, Die NSDAP in Baden 1928 - 1933. Der Weg zur Macht und Schnabel, Thomas, Die NSDAP in Württemberg 1928 - 1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982, S. 15 - 48 und 49 - 81. Schon 1924 - 28 hatten drei Angehörige des Völkisch-sozialen Blocks dem württembergischen Landtag angehört, doch blieb ihre parlamentarische Tätigkeit weitgehend bedeutungslos. Zur Entwicklung der NSDAP in der Frühzeit siehe insbesondere Auerbach, Hellmuth, Regionale Wurzeln und Differenzen der NSDAP 1919 - 1923, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 65 - 85, hier S. 72. 36 Falter/ Bömermann (wie Anm. 34), S. 297. 37 Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 49. Der Vorfall wird bei Ströle, Karl, Aus meinem bunten Leben [Masch.], Stuttgart 1967, S. 66 erwähnt, wobei fragwürdig bleibt, ob Ströle auf eigene oder, was angesichts der Situation wahrscheinlicher erscheint, fremde Veranlassung gehandelt hat. <?page no="24"?> Zähigkeit, Erfindergabe, Ausdauer und Bescheidenheit. Hätte der Schwabe diese Eigenschaften nicht besessen, so wäre nie und nimmer seine Wirtschaft zu der glücklichen Struktur gekommen, die sie heute besitzt.« Nur in den letzten zwei Sätzen des Beitrages wird in einer allerdings ebenso bezeichnenden Weise dem Nationalsozialismus Reverenz erwiesen: »So wurden wir im Gau Württemberg-Hohenzollern als gute Schwaben zu besseren Deutschen. Und das ist das Werk unseres Schwabenführers Wilhelm Murr.« 38 Mögen solche (Selbst-)darstellungen noch unschwer als durchsichtige Versuche, freundliche landsmannschaftliche Verbundenheiten der NS-Führer mit ihrer Region zu beweisen, gewertet werden, so wird in der Ansprache des Badischen Kultusministers Otto Wacker vor dem Landesverein Badische Heimat 1934 bereits die politische Brisanz einer regionalen Orientierung der NS-Führer deutlich. Wacker wehrte sich in seiner Rede nämlich gegen Gleichschaltungsversuche der Reichsleitung gegenüber den Heimatvereinen und sicherte dem badischen seinen ministeriellen Schutz zu: »Der Kurs, den der Landesverein Badische Heimat eingeschlagen hat, braucht nicht verändert zu werden, denn die ›Badische Heimat‹ steht ja schon dort, wo viele andere Leute erst hin wollen. (Äußerung lebhafter Zustimmung) Er steht nämlich auf dem Boden des deutschen Volkstums. Man kann nicht von Berlin aus die am Oberrhein notwendige Volkstumsarbeit leisten. (Rufe: Sehr richtig, stürmischer Beifall)«. 39 Ganz ähnlich weigerte sich in Württemberg Innenminister Jonathan Schmid, Erlasse aus Berlin auszuführen, die den württembergischen Verhältnissen nicht entsprachen 40 , und Staatssekretär Karl Waldmann stritt nicht nur für eine Gemeindeordnung, die die württembergischen Traditionen respektiere, sondern setzte sich ähnlich wie seine badischen NS-Amtskollegen 1934/ 35 in der Reichsreformdiskussion vehement für den ungeschmälerten Fortbestand seines Heimatlandes Württemberg ein. 41 Nicht selten wurde wegen solchen Verhaltens auch von seiten der Reichsführung der Partei Klage geführt, daß die südwestdeutschen Länderminister die Belange Nationalsozialismus in der Provinz 23 38 Dähn-Rösch, Der Gau Württemberg-Hohenzollern, in: Das Buch der deutschen Gaue. Fünf Jahre nationalsozialistische Aufbauleistung, Bayreuth 1938, S. 272-279, hier S. 275 f., 279. Ganz anders präsentierte sich in dem ebd. S. 261-271 veröffentlichten Beitrag von Richard Volderauer »Gau Baden baut auf« der von Robert Wagner geführte Gau. In Volderauers Darstellung wird das Wirken des Reichsstatthalters als regionale Umsetzung der wegweisenden, von Hitler inspirierten Reichsdirektiven beschrieben. Zur Förderung des Fremdenverkehrs etwa wird (S. 264) ausgeführt: »Dabei verstand es sich von selbst, daß die Gestaltung der Dinge in Baden nur in restloser Anpassung an die Umformungen im Reich sich vollziehen konnte.« 39 Ansprache von Dr. Otto Wacker, in: Mein Heimatland 21 (1934), S. 376 - 379, hier S. 378. 40 Ruck (wie Anm. 28), S. 114 f. 41 Sauer (wie Anm. 37), S. 44 - 48. In Baden machte sich Ministerpräsident Köhler durch Eingaben und Denkschriften zum Anwalt badischer Selbständigkeit. Auch der Leiter der badischen Staatskanzlei Müller-Trefzer verfaßte 1935 eine einschlägige Schrift unter dem Titel »Baden im Rahmen der Reichsreform«. GLA 240 Zug. 1987/ 53 Nr. 403. Belegt sind u.a. auch ständige Beschwerden Gauleiter Wagners über wirtschaftliche Benachteiligungen seines Landes durch die Reichsbehörden. Siehe Boelcke, Willi A., Wirtschaft und Sozialsituation, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttgarter Symposion 1), Stuttgart 1988, S. 29 - 45, hier S. 35. <?page no="25"?> des Reiches zugunsten ihrer Sonderinteressen vernachlässigten. 42 Welche Schärfe solche Probleme annehmen konnten, zeigt etwa auch der nachfolgend beschriebene Fall des württembergischen Gestapobeamten Dr. Hermann Mattheiß. Weil Mattheiß einerseits mit seiner scharfen Verfolgung politischer Gegner und seinen sozialrevolutionären Parolen den gemäßigten politischen Kurs der württembergischen Landesregierung störte und andererseits sich auch dem aufsteigenden Reichsführer- SS Heinrich Himmler nicht unterordnen wollte, wurde er im Zuge der Röhmliquidierungen 1934 erschossen. Wenngleich der »Fall Mattheiß« in seiner radikalen Konsequenz singulär blieb, so ließen sich doch die angeführten Beispiele spezifisch regionalpolitischen Handelns der hiesigen NS-Elite um ein vielfaches vermehren. Dies hat schon bei Zeitgenossen, aber auch bei zeitgeschichtlich orientierten Landeshistorikern nach 1945 nicht selten zu der Feststellung geführt, im deutschen Südwesten sei in der NS-Zeit vieles moderater, erträglicher als in den übrigen Teilen des Reiches gewesen, hätten keineswegs die »schlimmsten Scharfmacher« die politische Situation bestimmt. 43 Diese Schlußfolgerung wird aber durch die Biographien unseres Bandes relativiert! Denn so oft auch in zeitgenössischen Dokumenten von Gesten regionaler Verbundenheit die Rede ist, so oft steht dem das entschiedene und ebenso häufig geäußerte persönliche Bekenntnis zum zentralistischen Einheitsstaat Adolf Hitlers gegenüber. Derselbe Badische Kultusminister Otto Wacker z.B., der sich so vehement für die Selbständigkeit der badischen Heimatvereine einsetzte, nahm zugleich energisch die Einführung des Führerprinzips in den badischen Hochschulen in Angriff und führte einen scharfen Kampf gegen den Einfluß der katholischen Kirche im schulischen Unterricht, der Vorreiterfunktion für eine reichseinheitliche Regelung haben sollte. Die Biographien von Badenern und Württembergern, die es im Reichsdienst zu bedeutenden Ämtern brachten und sich viel auf ihre regionale Herkunft zugute hielten, machen deutlich, wie regionale Verbundenheiten nicht selten auch zu einer vordergründigen, teils romantisierenden klischeehaft-kitschigen Heimattümelei oder Landsmannschaftlichkeit ohne tiefere politische Bedeutung verkommen konnten. Viele Beispiele aktiven politischen Einsatzes für die Besonderheiten der Region waren ganz vordergründig durch das übertragene regionale Amt bedingt. Ganz selbstverständlich hatten ja die Ministerpräsidenten und Fachressortleiter etwa die Interessen des ihnen anvertrauten Verwaltungsbezirkes in den Vordergrund zu stellen - und das schon im eigenen Interesse, wollte man doch auch persönlich mit einer positiven Leistungsbilanz vor dem »Führer« aufwarten können. Dabei mag der zunehmende Entzug von Kompetenzen durch Reichsinstitutionen eher noch verstärkend gewirkt haben. Mit dem Neuaufbaugesetz vom 30. Januar 1934 etwa war die gesamte Innenverwaltung der Länder den Weisungen des Reichsin- Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 24 42 Sauer, Paul, Staat, Politik, Akteure, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttarter Symposion 1), Stuttgart 1988 (wie Anm. 41), S. 14 - 28, hier S. 24. 43 Sauer (wie Anm. 42), S. 28. <?page no="26"?> nenministers unterstellt worden. Um weitgehende Einwirkungsmöglichkeiten in die Kultur- und Bildungspolitik, die traditionelle Domäne der Länder, waren gleich mehrere Reichsinstitutionen erfolgreich bemüht: das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, die Reichskulturkammer, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und das Reichsministerium für kirchliche Angelegenheiten. Die Bereiche Justiz und Polizei wurden 1935/ 36 sogar vollkommen »verreichlicht«, und nicht einmal die regionale Strukturpolitik blieb vollständig in den Händen der regionalen politischen Führung. 44 Die Betonung regionaler Interessen und Verbundenheiten mag so, wie u.a. das Beispiel des württembergischen Innenministers Jonathan Schmid zeigt, ein Element eigener Herrschaftslegitimation und -sicherung gegenüber der Bevölkerung gewesen sein, wie sie gegenüber den Reichsinstitutionen ein Mittel im Ringen um Einfluß und Macht war, das z.B. auch Gauleiter Wagner immer wieder einsetzte. Daß es gerade ihm dabei weniger um die Traditionen des Landes und die Gewohnheiten seiner Einwohner ging, beweist seine Tätigkeit als Chef der Zivilverwaltung im Elsaß. Sein »imperialistisches« Verhalten dort sollte nach Beendigung des Krieges Vorbild für eine auch dem Land Baden dann aufzuerlegende nationalsozialistische Herrschaft werden, die seine zweifellos angestrebte regionale »Hausmachtstellung« hätte befestigen können. 45 Unter solchen Voraussetzungen erscheint seine Zusicherung, solange er lebe, werde niemals ein Bürger seiner Heimatgemeinde Eberbach in einem Konzentrationslager inhaftiert werden, mehr als Zurschaustellung gaufürstlicher Allmacht, denn als wohlmeinender Schutz für das Leben der anvertrauten Landsleute. Wie wenig ihn solche Fürsorge bewegte, belegen seine wie auch die Befehle des »Schwabenführers« Murr am Ende des Krieges, alle noch verbliebenen Versorgungseinrichtungen zu zerstören. Wenn Gustav Adolf Scheel, der gegen Ende des Krieges Gauleiter von Salzburg wurde, die verbliebene Infrastruktur zu erhalten versuchte, muß dies auch nicht als Zeichen besonderer Heimatverbundenheit gewertet werden, denn solches lediglich auf gesundem Menschenverstand beruhende Verhalten sollte auch dazu dienen, seine Tätigkeit nach dem sich abzeichnenden Untergang des NS-Regimes in einem günstigeren Licht darzustellen. In nicht wenigen Fällen stellt sich auch regionalpolitisch ausgerichtetes Handeln der NS-Führer bei näherem Hinsehen nicht als aktives, sondern vielmehr als reaktives Verhalten dar. Die »Beharrungskräfte der Region«, die z.B. in der Beamtenschaft ihren Ausdruck fanden, zwangen die Führer der Provinz bisweilen zur Mäßigung, sei es, weil sich ein Interessenbündnis zwischen ihnen und der NS-Führung ergab, sei es, weil die regionalen Führer Nationalsozialismus in der Provinz 25 44 Ruck (wie Anm. 28), S. 111 f. 45 Siehe hierzu auch Kettenacker, Lothar, Die Chefs der Zivilverwaltung im Zweiten Weltkrieg, in: Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, hrsg. v. D. Rebentisch, K. Teppe, Göttingen 1986, S. 396 - 417, hier S. 404 ff., 417 Anm. 92. Für den von Wagner angestrebten neuen Großgau Baden-Elsaß spielten denn auch die alten Landesnamen keine Rolle mehr. Er sollte Gau »Oberrhein« heißen. <?page no="27"?> zumindest vorerst auf die vorhandenen Landesbeamten als Fachkräfte angewiesen waren. Die Biographien zu Jonathan Schmid oder Karl Pflaumer etwa weisen unter Rückgriff auf einschlägige Studien 46 deutlich in diese Richtung. Und nicht zuletzt erweist sich auch mancher Regionalismus als nachträgliches Konstrukt wie im Falle Edmund Mickels, der sich in seinem Spruchkammerverfahren zugute hielt, den liberalen badischen Richter in der NS-Zeit verkörpert zu haben. Tatsächlich jedoch zeigte das Sondergericht Mannheim in seinen Urteilen keine Abweichung vom allgemeinen Bild der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz. Der Regionalismus der nationalsozialistischen Führer unseres Raumes erweist sich also bei näherem Hinsehen als sehr unterschiedlich motiviert, und sein Handlungsspielraum war in den wenigen Fällen, in denen er ernsthaft praktiziert wurde, zumeist sehr beschränkt. Welch geringer Stellenwert ihm letztlich zukam, macht die »Aktivbilanz« nationalsozialistisch-zentralistischer Herrschaft in unserem Raum deutlich. Gerade hierzu liefern die nachfolgenden Biographien eine Reihe einschlägiger Hinweise. So sehr z.B. Karl Waldmann für eine württembergischen Traditionen angeblich angepaßte Gemeindeverwaltung warb, so wenig war damit echte Bürgerbeteiligung oder gar eine liberalere Herrschaftsauffassung gemeint. Letztlich galt das Führerprinzip. So wie in diesem Fall wurden die für die Verwirklichung nationalsozialistischer Herrschaft bedeutsamen Reichsdirektiven auch in unserem Raum von den Führern der Provinz in vollem Ausmaß und, von letztlich belanglosen Einzelfällen abgesehen, ohne eine irgendwie erkennbare Milderung exekutiert. Dietrich von Jagow und Dr. Hermann Mattheiß sorgten z.B. für die schonungslose Verfolgung der politischen Gegner in Württemberg. Noch unter Landeshoheit baute Mattheiß dazu einen für die Landesfinanzen ruinösen, großen geheimen staatspolizeilichen Apparat auf. Damit wurde für viele bittere Wirklichkeit, was Gauleiter Murr vollmundig den württembergischen Gegnern des Nationalsozialismus schon am 15. März 1933 bei einer Großkundgebung angedroht hatte: »Wir sagen nicht Aug’ um Auge, Zahn um Zahn, nein, wer uns ein Auge einschlägt, dem werden wir den Kopf abschlagen, wer uns einen Zahn ausschlägt, dem werden wir den Kiefer einschlagen«. 47 In Baden inszenierte man am 15. Mai 1933 gar eine Schaufahrt verhafteter »Systempolitiker« der SPD, darunter der ehemalige Minister Remmele und Staatsrat Marum, die auf einem Lastwagen durch Karlsruhe gefahren und den Beschimpfungen des organisierten Pöbels ausgesetzt wurden. Die Fahrt endete im neu errichteten Konzentrationslager Kislau, wo Ludwig Marum einige Zeit später ermordet wurde. Das menschenverachtende »Euthanasieprogramm« wurde in Baden und Württem- Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 26 46 Roser, Hubert, Nationalsozialistische Personalpolitik und regionales Verwaltungshandeln im Widerstreit. Zur Sozialgeschichte der südwestdeutschen Beamtenschaft 1933 - 1939, Diss. [masch.], Mannheim 1996; Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 4), München 1996. 47 Zit. nach Sauer (wie Anm. 37), S. 30. <?page no="28"?> berg in der Verantwortung der beiden Innenminister durchgeführt. Schon im April 1934 ließ das Badische Innenministerium u.a. in Rastatt in einem völlig heruntergekommenen Gebäude eine sog. »Pflegeanstalt« einrichten, in der geistig kranke Menschen zusammengepfercht und nur notdürftig versorgt werden sollten. Minister Karl Pflaumer besichtigte die Anstalt persönlich und drängte ihren Leiter Dr. Schreck zu einem möglichst sparsamen Umgang mit den ohnehin geringen für die Anstalt zur Verfügung gestellten Finanzmitteln. 1940 wurden die Anstaltsinsassen über Zwischenaufenthalte in das württembergische Grafeneck verbracht, wo auf Betreiben des Ministerialdirigenten im Reichsinnenministerium Dr. Herbert Linden, einem besonders heimatverbundenen Badener, die erste große Tötungsanstalt, die als Vorbild für alle späteren Vernichtungsanstalten diente, eingerichtet worden war. Dort fanden innerhalb eines Jahres über 10.000 Menschen den hier in großem Umfang praktizierten Gastod. 48 Auch hinsichtlich der Diskriminierung und Vernichtung jüdischen Lebens bemühten sich die südwestdeutschen Führer der Provinz um eine fleißige und akkurate Umsetzung der Reichsdirektiven. Gauleiter Wagner etwa konnte hierbei sogar eine »Vorreiterrolle« für sich in Anspruch nehmen, hatte er doch die Entlassung jüdischer Hochschullehrer schon im Mai 1933 angeordnet und zusammen mit seinem Pfälzer Amtskollegen Josef Bürckel bereits im Oktober 1940 als erster im Reich die Deportation der badischen Juden eingeleitet und seinen Gau »judenrein« gemeldet. 49 Auch im Umgang mit anderen, von den Nationalsozialisten als »rassisch minderwertig« Eingestuften wie den »Zigeunern« zeigten sich in Baden und Württemberg keine mäßigenden Einflüsse wie der Abtransport von 54 Sinti und Roma aus Mosbach 1943, die im Konzentrationslager Auschwitz umkamen, belegt. 50 Regionalismus bei den südwestdeutschen Führern der Provinz - dies bestätigen schon diese wenigen Hinweise nachdrücklich - konnte nur einen ganz eng umgrenzten Spielraum haben. Allen Beteuerungen zum Trotz verstanden sich die »Führer der Provinz« letztlich, wenn sie ihrem eigenen System nicht zum Opfer fallen wollten, als Sachwalter ihrer zentralistischen Führung, und so handelten sie auch. Wenn Nationalsozialismus in der Provinz 27 48 Peschke, Franz, Schrecks Anstalt. Eine Dokumentation zur Psychiatrie und »Euthanasie« im Nationalsozialismus am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt, Rastatt 1992, bes. S. 90 - 93; Rückleben, Hermann, Deportation und Tötung von Geisteskranken aus den badischen Anstalten der Inneren Mission Kork und Mosbach (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evangelischen Landeskirche in Baden 33), Karlsruhe 1981, S. 46 - 53, 70 ff., Stöckle, Thomas, Die »Aktion T4« in Grafeneck, in: Die alte Stadt 20 (1993), S. 381 - 384. 49 Hug, Wolfgang, Geschichte Badens, Stuttgart 1992, S. 352 f.; Sauer, Württemberg (wie Anm. 37), S. 412 - 416. 50 Zimmermann, Michael, Eine Deportation nach Auschwitz. Zur Rolle des Banalen bei der Durchsetzung des Monströsen, in: Normalität oder Normalisierung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse, hrsg. v. H. Gerstenberger, D. Schmidt, Münster 1987, S. 84 - 96. Zur ersten familienweisen Deportation von Sinti und Roma im Mai 1940, an der ebenfalls badische und württembergische Dienststellen beteiligt waren, siehe Krausnick, Michail, Abfahrt Karlsruhe. Die Deportation in den Völkermord, 2. Aufl. Neckargemünd 1991. <?page no="29"?> dennoch der deutsche Südwesten während der nationalsozialistischen Jahre manchem Zeitgenossen als weniger fanatisch, ja freier erschien, so lag dies gewiß nicht an den regionalen Repräsentanten des Regimes. Es lag an den freiheitlichen, rechtsstaatlichen und humanen Traditionen der Region, die in dem zivilcouragierten, resistenten Alltags- und Berufsverhalten manch eines Badeners oder Württembergers und dem leider auch hier eher selten anzutreffenden Widerstand im engeren Sinne fortlebte. Die Menschen, die dazu den Mut aufbrachten, aber standen auf der Seite der Gegner Hitlers und seiner Provinzführer 51 und knüpften 1945, nach dem Zusammenbruch des Regimes, dort an, wo sie nach der »Machtergreifung« in Karlsruhe und Stuttgart, ihr politisches Wirken hatten beenden müssen. Am Ende eines langjährigen Forschungsprojektes und zum Anfang einer Publikation seiner Erträge haben wir all jenen zu danken, die die Entstehung dieses Bandes unterstützt, ja z.T. erst möglich gemacht haben. An erster Stelle sind natürlich die Autorinnen und Autoren zu nennen, die sich der mühevollen Recherchearbeit unterzogen haben und sich der von den Herausgebern geforderten Diskussion um die Formulierung der jeweiligen Biographie größtenteils mit Geduld und Verständnis gestellt haben. Dies gilt insbesondere für jene Beiträger, die als Magistranden oder Dissertanten hier erstmals eigene Forschungsarbeiten veröffentlichen, denen sie sich mit außerordentlichem Engagement und unter Aufopferung von Zeit und Geld gewidmet haben. Ihre Aufsätze belegen eindrucksvoll, daß die pauschale Kritik an der Leistungs- und Einsatzbereitschaft der heutigen Studentengeneration ungerechtfertigt ist. Wir werten sie darüber hinaus als erfolgreichen Versuch der so oft geforderten engeren Verbindung zwischen wissenschaftlicher Lehre und Forschung einerseits und berufsqualifizierender Anwendung andererseits. Aber auch den Kolleginnen und Kollegen aus den Stadtarchiven und Bibliotheken, aus anderen Forschungseinrichtungen und aus der Presse gebührt unser besonderer Dank, stellt doch die Abfassung solcher umfänglichen Studien eine Zusatzbelastung in der ohnehin überladenen Tagesarbeit dar. Sie alle haben, ohne Honorar und Entgelt für Sachaufwendungen zu erwarten, die vorliegende Publikation ermöglicht - ein Beitrag, dessen Wiederholung angesichts schrumpfender Etats und Arbeitsüberlastung fraglich erscheinen muß. Dies sollte in der Diskussion um die öffentlichen Haushalte im besonderen und den öffentlichen Dienst im allgemeinen auch angemessene Beachtung finden. Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 28 51 Siehe hierzu auch Kißener, Michael, Nationalsozialismus und Widerstand - Beobachtungen zum Heimatbegriff bei Alfred Delp, Hanns Haberer und Leo Wohleb, in: Heimat. Konstanten und Wandel im 19./ 20. Jahrhundert. Vorstellungen und Wirklichkeiten, hrsg. v. H.-M. Körner, K. Weigand (erscheint 1997). <?page no="30"?> Besondere Verdienste um diese Publikation haben sich neben den Beiträgern auch Dr. Horst Ferdinand (St. Augustin) und Prof. Dr. Wolfgang Altgeld (Universität Mainz) erworben, die die Manuskripte z.T. mehrfach gelesen haben und unser aller Arbeit mit konstruktiver Kritik, nützlichen Anregungen und vielen Sachhinweisen ganz entscheidend gefördert haben. Der Leiter der Forschungsstelle »Widerstand«, Herr Prof. Dr. Rudolf Lill, hat nicht nur ein Vorwort beigefügt, sondern die Entstehung dieses Bandes mit Interesse und hilfreichen Vorschlägen begleitet. Das umfangreiche Register haben vor allem Klaus Eisele M.A. und Nicole Zerrath erarbeitet, Ulrike Lennartz M.A. ist für mehrfaches Korrekturlesen zu danken. Schließlich ist auch an die finanzielle Unterstützung für die Drucklegung zu erinnern, die uns die Karlsruher Hochschulvereinigung hat zukommen lassen. Ohne diese wäre das vorliegende Buch schon gar nicht möglich gewesen. Und abschließend sei auch dem Universitätsverlag Konstanz, insbesondere Frau U. Preimesser, gedankt, die seit Jahren unsere Publikationen in hervorragender Weise und mit viel Verständnis betreut. Nationalsozialismus in der Provinz 29 <?page no="32"?> Karl Berckmüller * 10. Oktober 1895 Karlsruhe, kath., 1921 ev., Kirchenaustritt, Vater: Karl Joseph Anton Berckmüller, Fabrikant, Mutter: Maria Karolina Josephina, geb. Völker, verheiratet seit 2. Dezember 1920 mit Gertrude Elisabeth, geb. Röhnich, vier eheliche, zwei außereheliche Kinder. Volksschulbesuch, Realgymnasium, 2. August 1914 Kriegsfreiwilliger in einem badischen Infanterieregiment, Dezember 1914 nachträgliche Zuerkennung des Abiturs, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer zuletzt im Range eines Oberleutnants, 1919 Leitung der elterlichen Metallwarenfabrik, 1929 - 1931 Angestellter im »Führer«-Verlag, 1931 - 1933 Kreispressewart und Verlagsleiter des »Alemannen«, 1. Oktober 1933 Leiter der Geheimen Staatspolizei in Karlsruhe (Regierungsrat), 11. März 1937 Leiter des staatlichen Hafenamtes Mannheim, Oktober 1937 - Mai 1945 Bürgermeister von Villingen, 1. April 1940 - 1. Mai 1945 Kriegsteilnehmer als Hauptmann und Kompaniechef auf mehreren Fliegerhorsten beim Luftgaustab Südwest. 26. Januar 1926 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 29.365), 1926 - 1933 Mitglied der SA, vermutlich Mitte 1934 Mitglied der SS, zuletzt SS-Obersturmführer, Februar 1937 erzwungener Austritt aus der SS nach einem Ehrengerichtsverfahren. 9. November 1945 Gefangennahme, mehrfache Flucht aus verschiedenen Internierungslagern, 2. April 1949 Entscheidung der Zentralspruchkammer Nordbaden: »Hauptschuldiger«, 13. Juni 1950 erneute Verhaftung, 5. September 1950 Untersuchungshaft, 19. Dezember 1950 Entscheidung der Zentralberufungskammer Württemberg-Baden: »Belasteter«, 24. November 1950 Urteil des Landgerichts Freiburg in einem Strafprozeß: 1 Jahr, 3 Monate Gefängnis, 1951 Vertreter für Preßstoffe, gest. 27. Juli 1961. Von Idealisten, Aufsteigern, Vollstreckern und Verbrechern Karl Berckmüller, Alexander Landgraf, Walter Schick, Josef Gmeiner, Leiter der Geheimen Staatspolizeileitstelle Karlsruhe Michael Stolle Karl Berckmüller 31 <?page no="33"?> Alexander Landgraf *20. Mai 1906 Lorsch/ Hessen, ev. (? ), Kirchenaustritt, Vater: Johannes Landgraf, Landwirt und Bäkkermeister, Mutter: Anna Marie, geb. Eichhorn , verheiratet seit 10. Februar 1940 mit Elfriede, geb. Honje, drei Kinder. Volks- und Oberrealschule, Gymnasium Heppenheim, Abitur, Amtsgericht Lorsch, 1926 - 1929/ 30 Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und Gießen, 23. Mai 1930 I. juristisches Staatsexamen, 1930 - 1933 Referendar bei einem Rechtsanwalt und bei verschiedenen Justizbehörden, 22. Dezember 1933 II. juristisches Staatsexamen, 23. Mai 1934 - 31. Januar 1936 Gerichtsassessor bei der Polizeidirektion Darmstadt, 1. Februar 1936 im Dienst der preußischen Geheimen Staatspolizei, informelle Tätigkeit in Münster, März 1936 kommissarischer Leiter der Staatspolizeileitstelle Osnabrück, April 1936 Leiter der Staatspolizeileitstelle Wesermünde, 1. Juli 1937 Regierungsrat, 1. September 1937 Leiter der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe, 1. Februar 1942 Oberregierungsrat, 1. April 1941 Versetzung zum BdS nach Straßburg, Februar 1942 - Herbst 1942 Abkommandierung mit Sonderauftrag zum Stab Höhere SS und Polizeiführer (BdS) in Riga, Oktober 1942 - März 1945 Leiter der Staatspolizeileitstelle Münster, Herbst 1944 - März 1945 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Westfalen/ Nord. 1. Februar 1928 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 75.943), 1928 - 1936 Kulturwart und Schulungsleiter der NSDAP, 20. April 1937 Mitglied der SS, SS-Untersturmführer und SS-Führer im SD-Hauptamt, 1. August 1938 SS-Hauptsturmführer, 1. November 1940 SS-Sturmbannführer, 1. September 1942 SS-Obersturmbannführer, Inhaber des Ehrendolches der SA, des Totenkopfrings der SS, des Julleuchters, des EK I, des Goldenen Parteiabzeichens, Träger des Winkels der alten Garde. Mai 1945 - September 1952 Gelegenheitsarbeiten in Deutschland und anderen Ländern, 21. November 1952 Entscheidung der Zentralspruchkammer Hessen, Frankfurt/ Main: Einstellung des Verfahrens, Ermittlungen wegen des Verdachts auf Tötungsverbrechen eingestellt, 1953 Mitarbeiter der Bezirkssparkasse Seligenstadt, gest. 16. August 1972 Frankfurt/ Main. Alexander Landgraf mit Ehefrau Elfriede Michael Stolle 32 <?page no="34"?> Walter Schick *22. Juni 1909 Schramberg/ Württemberg, ev., Kirchenaustritt, Vater: Christian Friedrich Schick, Volksschulrektor, Mutter: Emilie, geb. Fuchs, verheiratet seit 7. August 1937 mit Irma, geb. Fastenau, drei Kinder. Volks- und Realschule in Schramberg, Frühjahr 1928 Abitur in Stuttgart, 1928 - 1933 Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen, Berlin und München, Frühjahr 1933 I. juristische Staatsprüfung, Sommer 1934 II. juristische Staatsprüfung, 1937 Assessor bei der Geheimen Staatspolizei in Berlin, 1. Juli 1939 Leiter des Sachgebiets II B 1 (wirtschaftspolitische Angelegenheiten) des Gestapa, 23. Dezember 1939 Regierungsrat, 15. April 1940 Vertreter des Leiters der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe, gleichzeitig Referent im RSHA Berlin, Gruppe VII B5, Herbst 1942 Leiter der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe, 1. Oktober 1943 Oberregierungsrat, 1. April 1944 Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Königsberg. 1. März 1931 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 474.543), 8. September 1931 Mitglied der SS, 1937 SS-Obersturmführer, 30. Januar 1944 SS-Obersturmbannführer. Gest. 21. Juli 1944 Königsberg. Josef Gmeiner * 22. Dezember 1904 Amberg/ Oberpfalz, kath., Vater: Albert Gmeiner, Kriminaloberwachtmeister, Mutter: Franziska, geb. Graf, verheiratet seit 14. Oktober 1931 mit Margareta, geb. Knarr, drei Kinder. Volksschule, humanistisches Gymnasium Amberg, 1923 - 1930 Studium der Rechtswissenschaften in München und Erlangen, selbständiger Rechtsanwalt in Amberg, August 1938 Regierungsassessor bei der Staatspolizeileitstelle Neustadt a. d. W., Versetzung nach Karlsbad (Sudetenland), 18. Dezember 1939 Leiter der Staatspolizeileitstelle Dessau, Mitte Juni 1939 Abordnung zur Einsatzgruppe C, »Verbindungsoffizier« der Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des SD zur 11. Armee bis Oktober 1941, danach Leiter der Staatspolizeileitstelle Karlsbad, Februar 1944 Leiter der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe im Rang eines Oberregierungsrats, 10. November 1944 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Baden/ Elsaß. Walter Schick Josef Gmeiner K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 33 <?page no="35"?> Mai 1923 Mitglied des Bundes »Oberland«, 9. November 1923 Teilnehmer am Hitlerputsch, 19. Februar 1934 Mitglied der SS, 1. Mai 1935 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 3.656.472), 9. November 1937 SS-Untersturmführer, 1. Januar 1940 SS-Sturmbannführer, 21. Juni 1943 SS-Obersturmbannführer, Inhaber des Julleuchters, Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern 1. Klasse. Gefangennahme, Kriegsgefangenenlager Depot Nr. 205 Baccarat, 3. September 1947 Urteil des Britischen Militärgerichtshofs in Hamburg: Tod, hingerichtet 26. Februar 1948 Hameln. Der »Idealist«: Karl Berckmüller Karl Friedrich Berckmüller stammte aus einer alten katholischen Bürgerfamilie, die seit mehreren Generationen in der badischen Residenzstadt ansässig war. 1 Sein Vater, Karl Joseph Anton Berckmüller, war Besitzer einer Metallwarenfabrik in Berghausen bei Karlsruhe. Der junge Karl, erstes von insgesamt drei Kindern, ging seit 1902 vier Jahre lang in die Volksschule, um anschließend (zwischen 1905 und 1914) das Gymnasium in Durlach, das Humboldtgymnasium in Karlsruhe und zuletzt das Realgymnasium in Ettenheim zu besuchen. Das abschließende Abiturzeugnis konnte der Fabrikantensohn erst Ende 1914 in Händen halten, weil er sich noch im Sommer kriegsbegeistert freiwillig zum Dienst in einem badischen Infanterieregiment gemeldet hatte. So nahm der Oberprimaner, zunächst als Fahnenjunker, dann als Leutnant, an dem deutschen Vorstoß nach Lothringen teil und erlebte, nach dessen Scheitern, den Stellungskrieg im Oberelsaß. 2 Sein aktiver Dienst wurde immer wieder durch mehrwöchige Lazarettaufenthalte wegen diverser Kriegsverwundungen unterbrochen. Am 13. April 1916 wurde er zur Flieger-Ersatz-Abteilung abkommandiert, wo er eine Ausbildung zum Flugzeugführer absolvieren sollte, so daß er zunächst in Darmstadt, später in Freiburg stationiert wurde. Den Absturz seiner Maschine am 10. Mai 1917 überlebte Berckmüller mit mehrfachem Rückenwirbelbruch schwerverletzt. Als er sich am 22. April 1918 wieder bei der Fliegerschule in Fürstenwalde meldete, war er »d.a.v. Heimat« geschrieben und 40% kriegsbeschädigt. Ein aktiver Militärdienst war also unmöglich geworden. Berckmüller blieb bis zum 28. Januar 1920 beurlaubt, ehe er nach einiger Verzögerung offiziell aus der Reichswehr entlassen wurde. 3 Der junge Oberleutnant war jedoch vermutlich schon früher nach Karlsruhe zurückgekehrt. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Generation mußte sich Karl Berckmüller keine Sorgen um seine Zukunft machen. Er übernahm, nachdem sein Vater bereits Anfang 1919 verstorben war, die Leitung des elterlichen Betriebs. Am 2. Dezember 1920 heiratete er Gertrude Röhnich, die Tochter eines aus Preußen Michael Stolle 34 1 Hirsch, Fritz, 100 Jahre Bauen und Schauen Bd. 2, Karlsruhe 1932, S. 352 f. 2 Auskunft über seine Militärdienstzeit im Ersten Weltkrieg gibt seine Offiziersstammrolle: GLA 456 Nr. 865. 3 GLA 456 Nr. 865. <?page no="36"?> stammenden ehemaligen Generalleutnants, eineinhalb Jahre später wurde das erste von vier (ehelichen) Kindern des Ehepaars Berckmüller geboren. Berckmüller war ein rechtsnational denkender Fabrikant, der nun allmählich begann, sich für die Politik zu interessieren. Emil Henk, ein Vetter Karl Berckmüllers und späterer Aktivist im sozialistischen Widerstand 4 , hatte in dieser Zeit, Anfang der 20er Jahre, noch Kontakt zu Berckmüller, ehe sich die beiden politisch und privat entzweiten. Henk erinnerte sich später an Berckmüllers »ausgesprochen romantische Neigungen«. Auch an die Politik sei er wohl »voll [von] romantischem Idealismus« herangetreten. 5 Wenngleich Henk damit Berckmüllers Selbstverständnis zweifellos zutreffend beschrieb, ist kaum zu übersehen, daß sich seine politischen »Ideale« in der Kombination widersprüchlichster politischer Vorurteile und völkisch-radikaler Kampfparolen erschöpften. So glaubte Berckmüller etwa, »dass die Revolution in Deutschland von Juden gemacht wurde, weil in Russland an der Spitze des Bolschewismus Leute wie Trotzki und andere Juden stehen.« 6 Bezeugt diese Äußerung ein höheres Maß an politischem Unverstand denn Sachverstand, so ist sie ebenso Beweis für Berckmüllers unverhohlenen Antisemitismus. Tatsächlich wurde er in den 30er Jahren auch nie müde, seine tiefe Judenfeindschaft zu betonen. 7 Daß seine Fabrik, in der etwa 150 Arbeiter Metalltuben für Parfums herstellten, nur mäßig florierte, führte er dementsprechend auf seine vorwiegend jüdische Kundschaft zurück, die sein kaufmännisches Engagement boykottiert hätte. Dies um so mehr, nachdem er 1920 aus eigenen Stücken, seinem »Instinkt« und seinen »Erbanlagen« folgend 8 , die Karlsruher Hebelloge verließ, der er ein halbes Jahr lang angehört hatte. Der Freimaurervereinigung war er auf eine Anregung aus dem Freundeskreis hin im Frühjahr 1920 beigetreten, weil er sie »als eine bürgerliche Vereinigung namhafter Geschäftsleute, zu geselligen Zwecken gegründet, ansah.« 9 Als er jedoch erfuhr, daß in der Loge auch Juden zugelassen waren, trat er im Herbst desselben Jahres aus. Ob dieser K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 35 4 Emil Henk leitete von 1933 - 1934 im Raum Heidelberg/ Mannheim die nach seinem Decknamen benannte Widerstandsgruppe »Rechberg«. Siehe hierzu: Berghahn, Volker R. u.a., Arbeiterwiderstand, in: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Mannheim, hrsg. v. E. Matthias, H. Weber, Mannheim 1984, S. 89 - 356, hier S. 170 - 174. Henk wurde bei seinen Widerstandsaktionen mehrfach von der badischen Gestapo unter der Führung seines Vetters verhaftet und inhaftiert. Dabei sei er erstaunlich korrekt behandelt worden. Auch, daß er nie wegen Hochverrats verurteilt worden sei, führte Henk auf die Intervention Berckmüllers zurück, der sogar Akten beseitigt haben soll: Aussage Emil Henks, 28. März 1949 im Rahmen der Ermittlungen im Spruchkammerverfahren von Karl Berckmüller, GLA 465a 51/ 68/ 839. Henk wurde entgegen der Anklage auf »Vorbereitung zum Hochverrat« aus Mangel an Beweisen vom Oberlandesgericht Karlsruhe nur zu 20 Monaten Haft verurteilt. 5 Aussage Emil Henks, 28. März 1949, GLA 465a 51/ 68/ 839. 6 Verteidigung Berckmüllers, 7. Mai 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 7 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 8 Berckmüller an den Vorsitzenden des Gau-Untersuchungsausschusses Riedner, 25. Februar 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 9 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. <?page no="37"?> Schritt nun tatsächlich geschäftliche Konsequenzen nach sich zog, muß offen bleiben. Sicher ist, daß Berckmüller keine Fortüne als Fabrikant hatte, auch dann nicht, als er sich in einem anderen Betrieb in Frankfurt am Main versuchte. 10 Gleichwohl sollte seine Mitgliedschaft in der Freimaurerloge später berufliche Konsequenzen haben. Denn im Jahr 1936 wurde sie verwertet, um seine Unbrauchbarkeit als Gestapochef zu beweisen. In den 20er Jahren waren dem jungen Fabrikanten solche Auseinandersetzungen noch fremd. Im Gegenteil, in dieser Zeit begann er, sich für den Nationalsozialismus und die »Bewegung« zu begeistern. In einem undatierten Bericht, den Karl Berckmüller vermutlich 1946 im Interniertenlager verfaßt hat 11 , bemühte er sich, die Gründe seines Beitritts zur NSDAP zu reflektieren. Dem gängigen Nachkriegsverständnis der NS-Zeit entsprechend sah er den Erfolg der NSDAP und sein eigenes Interesse für diese Partei als Folge der wirtschaftlichen Notlage der Weimarer Republik: »Die Folgen der Inflation, der Arbeitslosigkeit vieler Millionen, völlige militärische Ohnmacht unseres Volkes, der Raub unserer Kolonien verursachten ein Massenelend nach Beendigung des Ersten Weltkrieges.« 12 Für Berckmüller mögen diese innenpolitischen Nöte des deutschen Volkes wichtig gewesen sein, entscheidend für seinen Eintritt in die NSDAP waren sie indes nicht. Vielmehr interessierte ihn die politische Gesamtsituation in Europa nach dem verlorenen Weltkrieg. Er bedauerte, daß dem deutschen Volk von den Siegermächten »kein Platz an der Sonne« eingeräumt worden sei. Er sei enttäuscht gewesen, daß keine »einzige Kolonie als Ventil gewissermaßen dem auf engstem Raum zusammengepressten Volk belassen« und daß Deutschland nicht die »gleichen Lebensrechte« gegeben wurden, »wie sie weit unbedeutendere Völker wie Portugal und Holland usw. hatten.« 13 Auch die Ausbreitung des Bolschewismus in Europa, den er ja mit antisemitischen Vorstellungen verknüpfte, und »die Haltung Polens und der Tschechei gegen das Deutschtum« 14 hätten ihm Sorgen bereitet. Mit diesen völkisch-nationalistischen außenpolitischen Vorstellungen fand er geradezu zwangsläufig seine politische Heimat im Umfeld der NSDAP. Im »Führer« Adolf Hitler entdeckte er den »Retter unseres Volkes«. 15 Folglich las er auch das frühe Parteipro- Michael Stolle 36 10 Schadt, Jörg (Bearb.), Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933 - 1940, Stuttgart u.a. 1976, S. 34. 11 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 12 GLA 465a 51/ 68/ 839. 13 GLA 465a 51/ 68/ 839. Berckmüller könnte bei diesen Äußerungen von der in der Weimarer Republik von unterschiedlichen Gesellschaftskreisen geführten Debatte über den Rückerwerb deutscher Kolonien beeinflußt gewesen sein. Siehe dazu allgemein Herbst, Ludolf, Das nationalsozialistische Deutschland 1933 - 1945. Die Entfesselung der Gewalt. Rassismus als Krieg, Frankfurt/ Main 1996, S. 29 f. Zum Verhältnis der NSDAP zur Kolonialfrage v.a. Hildebrand, Klaus, Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und Koloniale Frage 1919 - 1945, München 1969. 14 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 15 Entlassungsantrag von Karl Berckmüller an den Kommandanten des Interniertenlagers Darmstadt, 4. November 1946, GLA 456a 51/ 68/ 839. <?page no="38"?> gramm der NSDAP. Nach der Lektüre trat er entschlossen der nationalsozialistischen Bewegung bei, weil er mit ihren Zielen völlig übereinstimmte: Seit 1922 war Karl Berckmüller nach eigenen Angaben ein überzeugter Nationalsozialist auf Hitlers Kurs. Am 10. November 1923 will er sich sogar auf den Weg zur »Revolution« nach München gemacht haben. Als er aber in Lindau von dem Zusammenbruch des Hitlerputsches hörte, mußte er unverrichteter Dinge wieder umkehren. 16 Trotz der darauf folgenden Inhaftierung des »Führers« und des Parteiverbots (in Baden war die NSDAP bereits nach der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau durch das am 21. Juli 1921 erlassene Gesetz zum Schutz der Republik verboten worden) blieb er der nationalsozialistischen Bewegung in den kommenden Monaten treu. Da nach dem 9. November 1923 die NSDAP von den Polizeibehörden verschärft überwacht wurde 17 , beteiligte sich Berckmüller 1924 zusammen mit anderen badischen NS-Sympathisanten an dem sog. »Schlageterbund« 18 , dessen stellvertretender Führer er zeitweise war. In diese Zeit muß der Beginn der Freundschaft mit Robert Wagner gefallen sein. Der etwa gleich alte Wagner hatte sich selbst aktiv für die NSDAP in München eingesetzt und war nach dem Scheitern des Putsches zu 15monatiger Haft auf Bewährung verurteilt worden. Nachdem Wagner über Umwege nach Karlsruhe gekommen war, fand der »badische Führer« fast drei Jahre in Karl Berckmüllers Haus in Durlach Unterschlupf. 19 Diese Hilfe kam Berckmüller später mehrmals zugute, als Wagner Gauleiter und Reichskommissar bzw. Reichsstatthalter in Baden wurde. In den nächsten Jahren brachte Berckmüller von sich aus viel Engagement für die nationalsozialistische Bewegung auf. Er besuchte beispielsweise die am 20. Juli 1924 stattfindende nationalsozialistische Vertretertagung in Weimar, wo eine Einigung zwischen den zu dieser Zeit konkurrierenden Nationalsozialisten und völkischen Gruppen erzielt werden sollte. 20 Als Robert Wagner schließlich am 25. März 1925 K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 37 16 Berckmüller an den Vorsitzenden des Gau-Untersuchungsausschusses Riedner, 25. Februar 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 17 Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), S. 331 - 375, hier: S. 332 f.; außerdem: ders.: Die NSDAP in Baden 1928 - 1933. Der Weg zur Macht, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982, S. 15 - 48, hier: S. 15 f. 18 Der »Schlageterbund« war eine Vereinigung, die auf Initiative Robert Wagners am 17. Oktober 1924 gegründet wurde und die die Reste der verbotenen nationalsozialistischen Partei sammeln sollte, siehe: Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP (wie Anm. 17), S. 335. 19 Karl Berckmüller sprach rückblickend davon, er habe Wagner wie seinen Bruder aufgenommen, »damit er für die Bewegung ohne Not und Sorge kämpfen konnte.« Berckmüller an den Hauptschriftleiter des »Stürmer«, Hiemer, 1. März 1937, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 20 Berckmüller trat aber nicht besonders in Erscheinung. Als Vertreter Badens war in erster Linie Oberleutnant a.D. Helmuth Klotz anwesend. Siehe Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP (wie Anm. 17), S. 335. Zu Helmuth Klotz vgl.: Linder, Herbert, Von der NSDAP zur SPD: Der politische <?page no="39"?> die NSDAP in Baden wieder gründete 21 , etwa einen Monat nachdem Hitler dies in München getan hatte, trat Berckmüller sofort bei. Durch angeblich fehlerhafte Kassenführung der NSDAP-Ortsgruppe in Durlach wurde die Mitgliedskarte aber erst am 26. Januar 1926 (Mitgliedsnummer: 26.365) ausgestellt. 22 Berckmüller nahm nun an allen Aufmärschen und größeren Versammlungen in Karlsruhe teil und besuchte die bedeutenden Kundgebungen im Land wie auch die Parteitage der NSDAP in Nürnberg 23 , fiel dabei aber nicht besonders auf, da er sich nicht durch Redebeiträge bekannt machte. 24 Inwieweit der Fabrikbesitzer auch als Geldgeber für die sich zögernd entwickelnde badische NSDAP auftrat, kann aus den vorliegenden Quellen nicht beantwortet werden. Nicht klar ist auch, inwieweit er sich den Aktivitäten der SA anschloß, deren Mitglied er seit 1926 (bis 1933) war. Während er in einem Bericht des badischen NS-Propagandablatts »Der Führer« als »SA-Führer« bezeichnet wird 25 , gab Berckmüller in seinem späteren Spruchkammerverfahren an, er habe bei der SA nie aktiv mitgewirkt, sei also auch nicht an Schlägereien beteiligt gewesen. Als »wirklicher Idealist«, als der er sich fühlte, distanzierte er sich sogar von dem »menschlichen Ausschuß und radaulustigen Elementen« der Bewegung. Er wollte um »mehr Lebensrechte und ein besseres Los« 26 kämpfen. Die Gelegenheit, dieses Anliegen in polemischer Weise einer breiteren Öffentlichkeit zu unterbreiten, bot sich ihm, nachdem er von Robert Wagner zum Verlagsleiter des »Alemannen« 27 bestimmt worden war und dieses Amt seit 1. Januar 1931 in Freiburg ausübte. Chef seiner Fabrik in Berghausen war Karl Berckmüller schon seit Frühjahr 1929 nicht mehr, als er die Leitung seinem Bruder übergeben hatte, da er als Leiter der Anzeigenwerbung des »Führerverlages« in Karlsruhe arbeiten wollte. Die Gründe für diesen freiwilligen beruflichen Abstieg sind nur indirekt zu ermitteln. Durchaus wahrscheinlich ist, daß sich der ohnehin nicht besonders erfolgreiche Unternehmer in diesen Monaten entschloß, sich fortan noch aktiver als zuvor in der nationalsozia- Michael Stolle 38 Lebensweg des Dr. Helmuth Klotz 1894 - 1943, Diss. phil. Karlsruhe 1995 (erscheint 1997). Zur Tagung in Weimar vgl. v. a.: Horn, Wolfgang, Führerideologie und Parteiorganisation in der NSDAP (1919 - 1933), Düsseldorf 1972, S. 189 ff. 21 Siehe hierzu: Kettenacker, Lothar, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß (Studien zur Zeitgeschichte 4), Stuttgart 1973, S. 69; Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP (wie Anm. 17), S. 337. 22 BA, Abt. III (BDC), Karteikarte. 23 GLA 233/ 27894. 24 In den vom badischen Landespolizeiamt Ende der 20er Jahre angefertigten Berichten über die NSDAP und ihre Sympathisanten in Baden taucht Berckmüller nicht auf: GLA 233/ 27915. 25 »Der Führer« Nr. 258, 18. September 1933, S. 2. 26 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 27 Im Herbst 1931 wurde in Freiburg der »Alemanne«, das »Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens« gegründet. Die erste Ausgabe erschien am 1. November 1931. Berckmüller löste als Verlagsleiter den späteren Oberbürgermeister von Freiburg Dr. Franz Kerber ab. Vgl.: Haumann, Heiko u.a., Hakenkreuz über dem Rathaus. Von der Auflösung der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (1930 - 1945), in: Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau Bd. 3, hrsg. v. H. Haumann, H. Schadek, Stuttgart 1992, S. 297 - 370, hier: S. 301. <?page no="40"?> listischen Bewegung zu engagieren. Sein Freund Gauleiter Robert Wagner könnte ihn zu diesem Schritt ermutigt haben, da das nationalsozialistische Kampfblatt auf Anzeigen aus der Wirtschaft hoffte und Berckmüller einige Kontakte besessen haben dürfte. So erwies sich der ehemalige Fabrikant »als eifriger Pionier im NS-Verlagswesen«. 28 Einen größeren Wirkungskreis konnte Berckmüller dann als Verlagsleiter des »Alemannen« entfalten, denn hier redigierte er nicht nur die von kämpferischer Agitation geprägten Artikel des Kampfblatts, sondern verfaßte unter dem Pseudonym »Conte« auch eigene Beiträge, die er unter der Rubrik »Aus der Mischpoke« veröffentlichte. 29 Berckmüller kämpfte seinen eigenen Beteuerungen entgegen aber nicht nur mit publizistischen Mitteln gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner, bisweilen legte er sogar höchst persönlich »Hand« an - und da wurde aus dem angeblichen »Idealisten« ein gewöhnlicher »SA-Schläger«. Denn in jene Freiburger Zeit fällt auch seine aktive Beteiligung an einem Anschlag auf einen jüdischen Zahnarzt, den er im März 1933, sechs Wochen nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten, zusammen mit anderen SA-Angehörigen und Parteifunktionären ausführte. Wegen angeblicher sittlicher Vergehen zwangen sie ihr Opfer auf ein Feld, um es zu dort zu mißhandeln. Berckmüller mußte sich wegen dieser Tat noch 1950 vor dem Landgericht Freiburg verantworten, wo er zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte Karl Berckmüller, als er auf Befehl von Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner zum Leiter der neu eingerichteten Gestapostelle in Karlsruhe im Range eines Regierungsrats ernannt wurde. Berckmüller will sich nach eigenen Angaben anfangs gegen diese Aufgabe gesträubt haben, denn in dieser Position habe er nicht so viel verdienen können wie zuvor als Verlagsleiter. 30 Nachdem sein Gehalt dann außerplanmäßig angehoben worden war 31 , trat der »Idealist« sein Amt dann doch am 1. Oktober 1933 »aus unwandelbarer Treue und Liebe zur NSDAP« 32 an, und drei Jahre später konnte er befriedigt feststellen, daß ihm sein Beruf als Gestapochef ans Herz gewachsen sei, weil er fühle, »an dieser Stelle Volk und Bewegung segens- und erfolgreich dienen zu können.« 33 Die Fülle der Kompetenzen und die Praxis der geheimpolizeilichen Tätigkeit beherrschte Berckmüller bald, den »Kampf« gegen die von ihm erkannten »Todfeinde« führte er mit aller Schärfe. 34 Auch Gauleiter Robert Wagner schien zufrieden zu sein, K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 39 28 »Der Führer« Nr. 258, 18. September 1933, S. 2. 29 Ermittlungen der Badischen Staatsanwaltschaft in Freiburg, 11. Oktober 1950, GLA 465a 51/ 68/ 839, siehe auch: »Der Alemanne« Nr. 156, 22. Juni 1932 und Nr. 158, 24. Juni 1932. 30 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 31 Berckmüller wurden acht Jahre auf sein Besoldungsdienstalter angerechnet. Doch auch damit war der »Idealist« noch nicht zufrieden. Er beantragte fortwährend eine Gehaltsaufbesserung, die ihm nur teilweise gewährt wurde, GLA 233/ 27894. 32 Karl Berckmüller an Heinrich Himmler, 12. November 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 33 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 34 Berckmüller in einem rückblickenden Brief an den Schriftleiter des »Stürmers« Hiemer, 30. Dezemhatte <?page no="41"?> er doch die einflußreiche Stelle des Gestapochefs mit einem Mann besetzt, der ihm vertraut und dem er gewogen war. Nachdem im März 1933 die SA als »Hilfspolizei« zu staatlichen Aufgaben verpflichtet worden war, wurde am 22. August 1933 auf Wagners Initiative hin das Gesetz über die Landeskriminalpolizei (Landeskriminalpolizeigesetz) verkündet 35 , das durch die Ausführungsverordnung des badischen Ministers des Innern vom 26. August 1933 ergänzt wurde. 36 Das Landeskriminalpolizeigesetz regelte zunächst den organisatorischen Aufbau der Landespolizei. Die Ausführungsverordnung des Badischen Innenministers bestimmte darüber hinaus den Zuständigkeitsbereich des Landeskriminalpolizeiamts als Geheimes Staatspolizeiamt, das am 1. Oktober 1933 offiziell seinen Dienst aufnahm. Während Karl Berckmüller zum ersten Leiter des Geheimen Staatspolizeiamts in Karlsruhe bestimmt wurde, stand der frühere Staatsanwalt und Amtsgerichtsrat Paul Werner dem Landeskriminalpolizeiamt vor. Berckmüller war dem Badischen Innenminister direkt unterstellt, das badische Staatspolizeiamt löste sich erst allmählich und nur teilweise aus dem Dienstbereich des Landeskriminalpolizeiamts. 37 Welche Tätigkeiten entfaltete nun der neue Chef der badischen Geheimen Staatspolizei, welche Aufgaben stellte er sich und wie wirkte er auf seine Mitarbeiter und auf die zahlreichen Menschen, die der Verfolgung seiner Behörde ausgesetzt waren? Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Berckmüller in einem Ludwigsburger Lager interniert war, äußerte ein Mithäftling, daß allein Berckmüllers Name zur damaligen Zeit Schrecken bei den Betroffenen erregt habe. 38 Dieser Michael Stolle 40 ber 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. Die Aussage Emil Henks in Berckmüllers Spruchkammerverfahren, Berckmüller sei als Gestapochef zwar »heftig«, aber nicht »brutal« gewesen, muß angesichts der faktischen Tätigkeit der Karlsruher Gestapostelle unter Berckmüllers Leitung als beschönigende Darstellung zugunsten des Verwandten gewertet werden. GLA 465a 51/ 68/ 839. 35 Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1933, S. 167 - 169. Zur Entwicklung der politischen Polizei in Baden bis zur Etablierung der Gestapo vgl.: Schadt (wie Anm. 10), S. 28 - 33. Wilhelm, Friedrich, Der Wandel von der politischen Polizei zur Gestapo, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 222 - 236. Vgl.: Bräunche, Ernst Otto, Das Badische Landespolizeiamt. Die Überwachung der links- und rechtsextremen Parteien in der Weimarer Republik, in: Geschichte als Verantwortung. Festschrift für Hans Fenske zum 60. Geburtstag, hrsg. v. E. O. Bräunche, H. Hiery, Karlsruhe 1996, S. 85 - 111. 36 Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1933, S. 169 - 173. 37 Inwieweit und wie schnell diese Trennung der Dienstbereiche faktisch in die Tat umgesetzt werden konnte, ist bisher in der Literatur nicht befriedigend geklärt worden. Beispielsweise scheint nicht klar zu sein, wie die Zweigstellen im Land diese Aufteilung vollzogen, vgl.: Schadt (wie Anm. 10), S. 32; Buchheim, Hans, Die SS - Das Herrschaftsinstrument, in: Anatomie des SS-Staates Bd. 1, hrsg. v. H. Buchheim u.a., Olten 1965, S. 13 - 255, hier: S. 42 f. Auch über die dienstliche und personelle Aufgliederung der Behörde gibt es noch keine umfassenden Untersuchungen. Auffallend ist jedoch der allmählich sich abzeichnende Wandel in der Bezeichnung der Behörde. War anfangs noch der Titel »Landeskriminalpolizeiamt - Geheimes Staatspolizeiamt« vorgeschrieben, so wurde er zunehmend durch »Geheimes Staatspolizeiamt« ersetzt, vgl.: Schadt (wie Anm. 10), S. 32. 38 Aussage eines Mithäftlings im Interniertenlager Ludwigsburg, 28. November 1937 im Zuge der Ermittlungen zu Berckmüllers Entnazifizierung, GLA 465a 51/ 68/ 839. <?page no="42"?> Eindruck mag in erster Linie an der besonderen Machtstellung gelegen haben, die Berckmüller als Gestapoleiter innehatte. Zwar war sein Amt einerseits institutionell in den badischen Staat eingegliedert: Berckmüller unterstand eigentlich dem Badischen Innenminister und war außerdem von den politischen Richtlinien des Reichsstatthalters und Gauleiters abhängig. Andererseits jedoch konnte der Gestapochef die ihm übertragene exekutive Polizeigewalt in großer Unabhängigkeit ausüben. Wichtigstes Instrument hierzu war die sog. »Schutzhaft« 39 , die Berckmüller eigenmächtig für die Dauer von acht Tagen verhängen konnte, bevor eine Entscheidung vom Innenministerium über den Gefangenen getroffen werden mußte. Die Justiz wurde in das Verfahren überhaupt nicht eingeschaltet, so daß der politischen Willkür keine Grenzen gesetzt waren. Berckmüller konzentrierte sich in seiner Arbeit zunächst auf die politische Verfolgung Andersdenkender und die Verbrechensbekämpfung, wobei unter »Verbrechen« jegliches vom Nationalsozialismus abweichendes Verhalten verstanden werden konnte. In einem lancierten Interview 40 mit dem badischen NS-Kampfblatt »Der Führer« faßte er den Aufgabenbereich der Geheimen Staatspolizei folgendermaßen zusammen: »1. Abwehr und Beobachtung der kommunistischen Umsturzbewegungen, Aufspüren der geheimen illegalen KPD-Organisationen [...]. 2. Überprüfung und Unterdrückung aller Versuche neuer Parteibildungen oder Zusammenschlüsse in Bünden oder Vereinen zum Zwecke staatsfeindlicher Umtriebe. 3. Kontrolle der Öffentlichkeit in Bezug auf die Unterbindung staatsfeindlicher Äußerungen. 4. Verhinderung landesverräterischer Tätigkeit im Dienste fremder Mächte.« 41 Außerdem wollte er die Grenzkontrollen verstärken und gegen »Miesmacher«, »Kritikasterei und Nörgelsucht« vorgehen, deren Vertretern er eine »längere Unterbringung« im Konzentrationslager Kislau androhte. 42 Zur Unterstützung seiner Vorhaben wurde ihm nicht nur ein Jurist beigeordnet, der ihm die von den Nationalsozialisten erlassenen Gesetze erklären sollte, sondern es wurde auch der Personalbestand der badischen Gestapo nicht unerheblich erhöht. Karl Berckmüller erwartete von seinen Mitarbeitern »Zuverlässigkeit, äußeres Pflichtgefühl, unbedingte Unbestechlichkeit [und] absolute Verankerung in der nationalsoziali- K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 41 39 Zum Begriff der »Schutzhaft« vgl. Broszat, Martin, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933 - 1945, in: Anatomie des SS-Staates Bd. 2, hrsg. v. H. Buchheim u.a., Olten 1965, S. 9 - 160, hier: S. 13 ff. 40 Über die Lancierung von Zeitungsartikeln in der NS-Presse vgl. Gellately, Robert, Allwissend und allgegenwärtig? Entstehung, Funktion und Wandel des Gestapo-Mythos, in: Die Gestapo. Mythos und Realität, hrsg. v. G. Paul, K.-M. Mallmann, Darmstadt 1995, S. 47 - 70. 41 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. 42 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. Im April 1933 wurde in dem Schloß Kislau bei Mingolsheim neben dem bereits dort bestehenden Arbeitshaus und organisatorisch von diesem getrennt ein Konzentrationslager errichtet. Es diente vor allem zum Vollzug der »Schutzhaft«. Das Lager war dem Badischen Ministerium des Innern unterstellt und bestand bis zum 1. April 1939. Lagerleiter war der ehemalige Major der Schutzpolizei Franz Mohr. Vgl. Schadt (wie Anm. 10), S. 67 f. <?page no="43"?> stischen Weltanschauung«. 43 Die genaue Anzahl der bei der Gestapoleitstelle Karlsruhe tätigen Beamten und Mitarbeiter läßt sich nur schwer sicher angeben. Zu Beginn der Dienstzeit Berckmüllers dürften vermutlich um 100 Beamte und Angestellte in ganz Baden tätig gewesen sein. 80% davon waren Beamte, die schon vor der »Machtergreifung« ihren Dienst bei der Polizei versehen hatten und zur Gestapo versetzt wurden, was, nach Berckmüllers Angaben, vor allem für die Leiter der einzelnen Außenstellen der Gestapoleitstelle Karlsruhe zugetroffen haben soll. 44 Dank der Erfahrung jener älteren Mitarbeiter konnte es der Gestapo in Baden gelingen, diverse Erfolge in der Bekämpfung der politischen Gegner zu erzielen. Die neu hinzugekommenen Staatspolizeianwärter, Berckmüller will neben jungen Einsteigern auch insgesamt 60 ältere PGs eingestellt haben 45 , waren hingegen ziemlich unerfahren und konnten bei geheimpolizeilichen Ermittlungen höchstens durch rohe Gewaltanwendung auffallen. Die Personalstärke der badischen Gestapo schien den Verantwortlichen, allen voran Karl Berckmüller, dennoch nie ausreichend zu sein. Bei jeder Gelegenheit klagte er über Personalmangel, der es unmöglich mache, die wachsenden Aufgaben zu bewältigen. So bestätigt das badische Beispiel die von der neueren Gestapoforschung 46 hervorgehobene Beobachtung, daß die Gestapo schon allein aufgrund des fehlenden Personals längst nicht jenen Wirkungsgrad erreichte, der ihr allgemein zugeschrieben wurde. Und auch die von Robert Gellately 47 neuerdings betonte Bedeutung der Denunziationen für die Verfolgungstätigkeit der Gestapo läßt sich am hiesigen regionalen Beispiel bestätigen: Karl Berckmüller selbst sah sich veranlaßt, in aller Öffentlichkeit klarzustellen, daß die Gestapo »keinesfalls die Beschwerdestelle persönlicher Gehässigkeiten oder gar niedrigen Denunziantentums sein kann.« 48 Gleichwohl darf trotz solcher Einschränkungen die rücksichtslose Härte der politischen Polizei im nationalsozialistischen Staat nicht verkannt werden, wenn sie so oder so auf den Plan gerufen, einschritt und sich dabei der Mitarbeit anderer (Verfolgungs-) Institutionen und Organisationen im NS-Staat versichern konn- Michael Stolle 42 43 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. 44 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 45 Karl Berckmüller an Heinrich Himmler, 9. März 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 46 Mallmann, Klaus-Michael; Paul, Gerhard, Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991; dies., Allwissend, allmächtig, allgegenwärtig? Gestapo, Gesellschaft und Widerstand, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 41 (1993), S. 984 - 999; dies. (Hrsg.), Die Gestapo. Mythos und Realität (wie Anm. 40). 47 Gellately, Robert, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933 - 1945, Paderborn u.a. 1990; Derselbe, »In den Klauen der Gestapo«. Die Bedeutung von Denunziationen für das nationalsozialistische Terrorsystem, in: Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933 - 1945, hrsg. v. A. Faust, Köln 1992, S. 40 - 49. Mit regionalgeschichtlichem Horizont außerdem: Arbogast, Christine, Von Spitzeln, »Greifern« und Verrätern. Denunziantentum im Dritten Reich, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 205 - 221. Zur Geschichte der Gestapoleitstelle Karlsruhe ist diese Darstellung aber nur wenig ergiebig. 48 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. <?page no="44"?> te. 49 Und dafür trug in Baden allen voran der badische Gestapoleiter Karl Berckmüller in den ersten Jahren die volle Verantwortung. Auf seine Kollegen wirkte Karl Berckmüller als vorbildlicher Chef. Er sei Vorgesetzter und Freund gewesen, den man geliebt habe, sein Name habe im ganzen Land »Klang«, unter dem man zu wirken stolz sein dürfte. »Was der Führer dem deutschen Volke ist, waren Sie der Geh. Staatspolizei in Baden« 50 , bekannte der Leiter der Außenstelle Offenburg Berckmüller noch 1937. Auch in der Wehrmacht war man mit ihm zufrieden: Durch seine grundlegenden organisatorischen Maßnahmen sei es gelungen, »die Spionageabwehr in Baden zu einer vorbildlichen für den ganzen Wehrkreisbereich zu gestalten.« 51 Nicht eben bescheiden sah Berckmüller auch selbst seine Verdienste. In einem Brief an den Reichsführer SS Himmler rühmte er sich, die badische Gestapo erfolgreich aufgebaut zu haben, »sei es in der Spionageabwehr, oder in der Niederringung unserer inneren Feinde wie KPD, Juden und Polit. Katholizismus.« 52 Und in der Tat: Ganz Unrecht hatte er damit nicht. Die von Berckmüller seit Ende 1933 verfaßten Lageberichte, die zur Unterrichtung der Badischen Regierung, des Politischen Polizeikommandeurs in München Heinrich Himmler und des Reichsinnenministeriums angefertigt wurden, geben davon beredtes Zeugnis. 53 Auch wenn sie natürlich kein »erschöpfendes Bild der wirklichen politischen Lage« 54 bieten, lassen sie doch Berckmüllers Wirken recht deutlich erkennen. So ging der Gestapoleiter zum Beispiel mit seinem wichtigsten polizeilichen Instrument, der »Schutzhaft«, nicht gerade sparsam um. Die von ihm zu verantwortende hohe Zahl von Schutzhäftlingen beunruhigte schließlich das Reichsinnenministerium 55 , das die »Schutzhaft« gerne institutionell und juristisch reglementiert gesehen hätte. 56 Bei der Bestrafung von Spionen hielt Berckmüller im K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 43 49 Vgl. Röhr, Werner, Über die Initiative zur terroristischen Gewalt der Gestapo - Fragen und Einwände zu Gerhard Paul, in: Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, hrsg. v. B. Berlekamp, W. Röhr, Münster 1995, S. 211 - 224. Außerdem ist die Frage, was das verbreitete Denunziantenwesen über die deutsche Gesellschaft aussagen kann, bisher nicht beantwortet worden. Vgl. Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903 - 1989, Bonn 1996, S. 567. 50 Der Leiter der Außenstelle Offenburg an Karl Berckmüller im März 1937, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 51 Der Leiter der Abwehrstelle beim Stabe der 5. Division an Karl Berckmüller, 3. April 1934, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 52 Karl Berckmüller an Heinrich Himmler, 12. November 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 53 Abdruck bei Schadt (wie Anm. 10). 54 Schadt (wie Anm. 10), S. 37. 55 Schadt (wie Anm. 10), S. 74. 56 Zu der reichsweit geführten Auseinandersetzung um die Praxis der »Schutzhaft« vgl. Herbert (wie Anm. 49), S. 150 ff. Der Karlsruher Gestapoleiter sah sich dadurch aber nicht veranlaßt, seine eingeschlagene Praxis zu ändern, obwohl er sich, wie er später behauptete, gegenüber politischen Gegnern eher gemäßigt verhalten habe. Daß er sich tatsächlich in einigen Fällen für eine milde Bestrafung von politisch Andersdenkenden eingesetzt hatte, wie im Spruchkammerverfahren am Beispiel Emil Henks eingewendet wurde (vgl. Anm. 4), ändert an der Beurteilung der insgesamt <?page no="45"?> Februar 1934 sogar eine »sofortige praktische Anwendung der Todesstrafe für geboten.« 57 Daß in den badischen Dienststellen der Gestapo gefoltert und gemordet wurde, wie etwa im Fall Ludwig Marums hinreichend angedeutet 58 , muß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, auch wenn Berckmüller selbst später nichts davon gewußt haben will. Die judenfeindliche Politik des NS-Regimes unterstützte der bekennende Antisemit Berckmüller bedingungslos. Die unter seiner Führung stehende Staatspolizeistelle in Karlsruhe wurde z.B. zum Exekutivorgan der in Nürnberg am 15. September 1935 erlassenen Rassegesetze, in denen Juden nicht nur das Bürgerrecht entzogen, sondern auch verboten wurde, in sog. »Mischehen« mit Nichtjuden zu leben. Berckmüller hatte derartige Maßnahmen sogar schon einen Monat vor Erlaß des Gesetzes, am 13. August 1935, vorbereitet, als er eine Rundweisung an die Außenstellen der Gestapo in Baden verschicken ließ, in der er aufforderte, gegen »jüdische Überheblichkeiten, insbesondere der offensichtlichen Mißachtung der Rassengesetze [sic! ] und Ehre deutscher Frauen durch jüdische Sadisten« entschieden vorzugehen und die »Täter« »nach telefonisch einzuholender Genehmigung beim Geheimen Staatspolizeiamt in Schutzhaft zu nehmen.« 59 Da diese Anordnung offensichtlich sehr fleißig befolgt wurde, mußte Berckmüller Einhalt gebieten. Er befahl, nur noch bei »besonders brutale[n] Verführungen und Schändungen« Schutzhaft zu beantragen, weil sonst die Gefahr bestünde, daß Denunzianten dieses Treiben »für ihre eigensüchtigen Ziele [...] mißbrauchen.« 60 Gleichwohl wurde weiterhin in zahlreichen Fällen von der Gestapo »hart durchgegriffen«, wobei nicht selten auch gemeinster Vulgärantisemitismus bei Berckmüller zum Durchbruch kam. So zeigte er etwa Julius Streicher den Fall eines »Schweine-Juden« für sein Hetzblatt »Der Stürmer« an, das »derartig Entsetzen erregend« gewesen sei, daß er »diesen Gegenmenschen sofort in Schutzhaft« habe nehmen lassen. 61 Die übliche nationalsozialistische Repressionspolitik gegen die Juden unterstützte Berckmüller ohnehin mit Fleiß. So verbot er zum Beispiel jüdischen Händlern, deutsche Ordensschnallen und -schlei- Michael Stolle 44 brutalen Bekämpfung von Andersdenkenden eigentlich nichts, sondern beweist nur, mit welcher Willkür der Gestapochef entscheiden konnte. 57 Schadt (wie Anm. 10), S. 64. 58 Zu dem von Gestapomitarbeitern im Konzentrationslager Kislau ermordeten früheren Landtags- und Reichstagsabgeordneten der SPD Ludwig Marum vgl. Schumacher, Martin (Hrsg.), M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus, 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 309 - 312. 59 Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Nr. 15831 vom 13. August 1935, Abdruck in Sauer, Paul (Bearb.), Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 - 1945, 2 Bde., Stuttgart 1966, hier: Bd. 1, S. 22. 60 Erlaß der Geheimen Staatspolizei Karlsruhe an die Bezirksämter, Polizeidirektionen, Polizeipräsidien und Geh. Staatspolizeistellen in Baden vom 26. September 1935, Nr. 19989/ 35 JR/ L, Abdruck in: Sauer (wie Anm. 59), S. 24. 61 Karl Berckmüller an den Hauptschriftleiter des »Stürmers« Hiemer, 15. April 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1715. <?page no="46"?> fen zu verkaufen 62 , so behinderte und überwachte er Treffen und Zusammenkünfte von jüdischen Vereinigungen 63 und verweigerte die Ausstellung von Auslandspässen an Juden, um zu verhindern, daß jüdisches Vermögen ins Ausland verschoben werde. 64 Letztere Maßnahme wirkte allerdings der Auswanderungsbereitschaft der Juden entgegen, wie Berckmüller in einem Lagebericht vom Januar 1936 bedauernd feststellte. 65 Eine wesentliche Voraussetzung für das weitere verschärfte und ausgedehnte Vorgehen gegen die Juden war die von der SD-Führung und der preußischen Gestapo in Berlin betriebene Politik, sämtliche Juden zu erfassen und die Angaben in »Judenkarteien« zu sammeln. Die entsprechende Anweisung von Werner Best 66 wurde auch in Karlsruhe ausgeführt: Am 6. September 1935 gab Karl Berckmüller einen Erlaß heraus, nach dem die einzelnen Polizeibehörden in Baden von jüdischen Organisationen Mitgliederlisten in vierfacher Ausfertigung verlangen sollten, um eine »Judenkartei« anzulegen. 67 Bei diesen Arbeiten stellte sich heraus, daß manche emigrierte Juden noch Ruhegehälter bezogen 68 - ein willkommener Anlaß für Berckmüller, um in der gewohnten Manier beim »Stürmer« gegen »jüdische Giftmischer«, »jüdische Elemente« und »Todfeinde und Vernichter des deutschen Volkes« zu hetzen. 69 Überhaupt unterhielt der »Idealist« Berckmüller beste Kontakte zu dem primitiven Nürnberger Kampfblatt. Regelmäßig schrieb er an den Hauptschriftleiter Hiemer, um ihm die Ergebnisse der von der badischen Gestapo angestrengten Ermittlungen zu überspielen, damit diese dann propagandistisch in der Zeitung ausgeschlachtet werden konnten. Er besuchte die Redaktion in Nürnberg, allen voran den Herausgeber und Gauleiter von Franken, Julius Streicher, den er sehr verehrte 70 , und K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 45 62 Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Karlsruhe an die Bezirksämter, Polizeidirektionen und Polizeipräsidien sowie die Geheimen Staatspolizeistellen in Baden vom 4. Juli 1935 Nr. 12014/ Jp, Abdruck in: Sauer Bd. 1 (wie Anm. 59), S. 190. 63 Beispielsweise die »Zionistische Vereinigung«, Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Karlsruhe an die Staatspolizeistellen vom 27. August 1934, Sauer Bd. 1 (wie Anm. 59), S. 271. Siehe auch den Lagebericht vom 31. August 1934, Abdruck in Schadt (wie Anm. 10), S. 105. 64 Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Karlsruhe an die Bezirksämter, Polizeidirektionen und Polizeipräsidien sowie Geheime Staatspolizeistellen in Baden vom 11. September 1935 Nr. 18729/ 35 JP/ L, in: Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 108. 65 Schadt (wie Anm. 10), S. 179. 66 Herbert (wie Anm. 49), S. 211. 67 Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Karlsruhe an die Bezirksämter, Polizeidirektionen und Polizeipräsidien sowie Geheime Staatspolizeistellen in Baden vom 6. September 1935 Nr. 17/ 993/ 35 JP/ II, Abdruck in Sauer Bd. 1(wie Anm. 59), S. 274. 68 Erlaß des Badischen Ministers des Innern an die Bezirksämter, Polizeipräsidien und Polizeidirektionen vom 13. August 1936, Abdruck in: Sauer Bd. 1(wie Anm. 59), S. 80. 69 Karl Berckmüller an den Hauptschriftleiter des »Stürmers« Hiemer, 15. April 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1715. 70 Berckmüller stellte Streicher unmittelbar neben Hitler. Er habe die Überzeugung, »daß außer dem Führer z. Zt. kein Kämpfer der NS-Bewegung mehr in Deutschland lebt, der in dieser tiefen und echten Leidenschaft den Kampf gegen die Feinde des deutschen Volkes und der Menschheit predigen kann.« StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. <?page no="47"?> machte Vorschläge, wie in einzelnen Fällen agitiert werden sollte. Der Ursprung dieser freundschaftlichen Verbindung ist ungewiß, doch liegt die Vermutung nahe, daß der Beginn der Zusammenarbeit vor der »Machtergreifung« lag, als Berckmüller noch Schriftleiter des »Alemannen« war. Dort bestand die Möglichkeit eines »journalistischen« Austauschs und seitdem sah Berckmüller wie der »Stürmer« auch in den katholischen Geistlichen, die er gerne als »gewissenlose Schurken«, »judenhörige Priester« oder »fanatische Hetzgeistliche« bezeichnete 71 , die Hauptfeinde des NS- Staats, die er bekämpfen wollte. 72 Dabei war Berckmüller ursprünglich selbst katholisch getauft, dann aber zum evangelischen Glauben konvertiert, um schließlich ganz aus der Kirche auszutreten. 73 Daß dies nicht aus einer »rein persönlichen Gottesauffassung« heraus geschah, wie er später behauptete 74 , belegen einschlägige Hetzartikel gegen die Kirche, die er bereits im »Alemannen« veröffentlicht hatte. 75 Im Verhalten der katholischen Kirche vermutete er einen »hinterhältigen Kampf gegen den Nationalsozialismus« und glaubte zurecht, daß sich der politische Katholizismus am wenigsten in die Weltanschauung des Nationalsozialismus einzuleben vermocht hatte. 76 Für ihn gab es daher nur eine Konsequenz: »Der nationalsozialistische Staat kann es meines Erachtens auf die Dauer nicht dulden, daß mit voller Sicherheit immer wieder eine Kulturkampfstimmung erzeugt wird, die bezweckt, das Volk erneut zu entzweien und die die nationalsozialistische Weltanschauung vor den Augen eines Teiles der Katholiken dadurch in Mißkredit zu bringen [versucht], daß man der NSDAP die Einführung eines Neuheidentums unterschiebt.« 77 In seinem Kirchenhaß übertrieb und dramatisierte er das Resistenzverhalten der katholischen Geistlichen 78 , machte Stimmung gegen die katholische Kirche und regte gegen den von der Reichsführung zunächst propagierten gemäßigten Kurs weitreichende Verfolgungsmaßnahmen an. Er selbst demonstrierte, wie dies auszusehen hätte. Da wurden Gottesdienste von der Gestapo besucht oder besser belauscht, Predigten und Hirtenbriefe verboten 79 , und Geistlichen wurde nachspioniert, um ihnen »Sittlichkeitsverbrechen« nachzuweisen. Be- Michael Stolle 46 71 Karl Berckmüller an den »sehr geehrten Parteigenossen Streicher«, 16. Oktober 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017. 72 Berckmüller berichtet an Hiemer, 4. Dezember 1936, Erzbischof Gröber hätte ihn als den »Hauptfeind Nr. 1« erkannt. StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. 73 Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 4), München 1996, S. 146. 74 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 75 Leitartikel Berckmüllers »Entpolitisierung der katholischen Geistlichen«, Der Alemanne Nr. 175, 27. Juni 1933, S. 1. 76 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. 77 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. 78 Er glaubte, daß »die Wühlarbeit« der katholischen Geistlichkeit »weit gefährlicher als die Neuorganisation der KPD« sei. Schadt (wie Anm. 10), S. 82 und S. 87. 79 Vgl. beispielsweise: Schadt (wie Anm. 10), S. 153, Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die nationalsozialistische Diktatur. Eine Studie zum Episkopat des Metropoliten der Oberrheinischen Kirchenprovinz während des Dritten Reiches, Karlsruhe 1985, S. 82. <?page no="48"?> sonders seit 1936 folgte er diesem reichsweiten Propagandatrend und verstärkte entsprechende Bemühungen. 80 Die von Berckmüller im Einvernehmen mit dem Badischen Innenminister und dem Reichsstatthalter angewandte Taktik war dabei nicht besonders kompliziert: Durch einzelne Denunziationen wurde er auf das vermeintlich sittliche Vergehen einzelner Kleriker aufmerksam gemacht. Er versuchte alsbald, allen Hinweisen nachgehend, durch Verhöre, die er zum Teil selbst »mit zivilen Umgangsformen« 81 führte, durch Hausdurchsuchungen und durch Postkontrollen, die Tat zu ermitteln. Schließlich verlangte er von den kirchlichen Stellen entsprechende Konsequenzen: »Sollte G. bis zum 1.3.36 nicht aus der Seelsorge zurückgezogen sein, so werden Maßnahmen getroffen werden, die zweifellos für G. wie das Ansehen der kath. Kirche von nachhaltigen Folgen sein dürften.« 82 Das prominenteste Opfer von Berckmüllers Treiben war dabei Erzbischof Conrad Gröber selbst. Der Gestapoleiter hatte aus Kreisen des Klerus, die dem Erzbischof feindlich gegenüberstanden, schon früh erfahren, daß eine junge Jüdin vorgab, mit Gröber ein Verhältnis gehabt zu haben 83 - für Berckmüller ein nachgerade gefundenes »Fressen«. Die angebliche »Affäre« wurde gewaltig aufgebauscht, zumal der Erzbischof, der 1933 dafür plädierte hatte, sich mit Hitler zu arrangieren, um Schlimmeres zu verhüten, 1935 seine Meinung geändert hatte und begann, gegen die antichristliche Propaganda des NS-Regimes zu protestieren. Gröber wurde auf dem üblichen Weg bei Streicher denunziert und als »moralisch haltloser Mensch« bezeichnet, »der das Recht verwirkt hat, als Kirchenfürst in seinem Amt zu bleiben.« 84 Obwohl Berckmüller alles tat, um Gröber zu stürzen, gelang es ihm nicht, den Bischof zu Fall zu bringen, da seine Agitation nicht in das Konzept der Reichsführung paßte. 85 Conrad Gröber verblieb in seinem Amt, während der Karlsruher Gestapoleiter im Frühjahr 1937, allerdings aus anderen Gründen, seine Stellung aufgeben mußte. Zu Beginn des Jahres 1935 wurden von verschiedenen Stellen gegen Berckmüller ernsthafte Bedenken geltend gemacht, ob er als ehemaliges Mitglied einer Karlsruher Loge wirklich für das Amt des Gestapoleiters geeignet sei. 86 Solche Vorstöße beruh- K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 47 80 Vgl. zu den 1936/ 37 geführten Sittlichkeitsprozessen des NS-Regimes, die durch ihre Propaganda- und Kampffunktion Ressentiments gegen katholische Geistliche erzeugen sollten: Hockerts, Hans Günter, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/ 37. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 6), Mainz 1971. 81 Schwalbach (wie Anm. 79), S. 97 f. 82 Karl Berckmüller an das Erzbischöfliche Ordinariat, 20. Februar 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017. 83 Die Schriften, die Gröber belasten sollten, wurden zunächst dem »Alemannen« zugespielt, bevor sie von dort in die Hände von Berckmüller kamen, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. Zu den Einzelheiten und den Beteiligten dieser Beschuldigung siehe: Schwalbach (wie Anm. 79), S. 90 ff. 84 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. Auch gegenüber Robert Wagner setzte er sich offen für den Rücktritt Gröbers ein, vgl. Schwalbach (wie Anm. 79), S. 101. 85 Schwalbach (wie Anm. 79), S. 102. 86 Die Auseinandersetzungen zwischen Karl Berckmüller und der SDbzw. SS-Führung sind durch die vom Gestapoleiter nach Nürnberg zum »Stürmer« geschickten Briefe und Maschinenabschriften <?page no="49"?> ten mit großer Wahrscheinlichkeit auf geheimen Erkundigungen, die der Sicherheitsdienst der SS anstellen ließ, denn das Verhältnis von Karl Berckmüller zu der innerparteilichen Überwachungsinstitution war seit geraumer Zeit überaus gespannt. Der Gestapoleiter beobachtete die Aufbauarbeit des SD-Südwest mit großen Bedenken. Für ihn wie für andere regionale Gestapoleiter war der SD eine unbekannte Größe und dessen Mitarbeiter allenfalls lästige Konkurrenten. 87 Als er erfuhr, daß die Arbeit der Gestapo-Außenstelle in Kehl wie auch in anderen Grenzstädten durch das stümperhafte Vorgehen von SD-Angehörigen behindert wurde, reagierte Berckmüller aggressiv. Bei aller gebotenen guten Zusammenarbeit, zu der er durchaus gewillt sei, verlangte er kategorisch, daß die Gestapo die Zentrale aller Ermittlungen bleiben müsse. Damit setzte er sich in einen scharfen Gegensatz zu der selbstbewußten SS-Gliederung, deren Vertreter alles unternahmen, um ihn auszuschalten. Zweifellos spielten in diesem Streit auch Prestigefragen eine Rolle, konnte der »Idealist« Berckmüller doch kaum ertragen, daß ihm als »altem Kämpfer« von jungen Parteimitgliedern, die zum Teil erst nach der »Machtergreifung« der NSDAP bzw. dem SD beigetreten waren, Vorwürfe gemacht wurden. 88 Karl Berckmüller saß längerfristig am kürzeren Hebel, da er im Zuge der Zentralisierung und »Verreichlichung« der gesamten Polizei zunehmend in die Abhängigkeit der Berliner Zentrale geriet. Zunächst war das Karlsruher Gestapoamt noch dem Badischen Innenminister und dem Reichsstatthalter unterstellt. Doch schon Ende 1933 wurde Himmler zum Politischen Polizeikommandeur Badens ernannt. 89 Zwar hielt sich Himmler zunächst mit größeren Einmischungen zurück, doch war mit seiner Ernennung das erste Bein in der badischen Gestapotür. 90 Als Karl Berckmüller dann auf Wunsch Himmlers vermutlich Mitte 1934 in die SS im Range eines Obersturmführers eintrat 91 , war er fortan an den Berliner Chef gebunden und auch der Elitetruppe der Partei verpflichtet. Michael Stolle 48 gut dokumentiert, so daß sich daraus die Etappen dieser Zwistigkeiten verfolgen lassen. StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 87 Vgl. Herbert (wie Anm. 49), S. 138. Herbert weist außerdem darauf hin, daß solche Rivalitäten zu einem fortwährenden Radikalisierungsdruck führten, ebd. S. 190. 88 Er vermutete, daß die jungen Leute ihm »den Dolchstoß in den Rücken versetzen woll[t]en.« Berckmüller an Hiemer, 27. Oktober 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 89 Am 18. Dezember 1933 wurde der Reichsführer SS Heinrich Himmler zum »Kommandeur der Politischen Polizei Badens« ernannt. Robert Wagner verfügte die Ernennung, nachdem der damalige Leiter des SD-Oberabschnitts Süd-West, Werner Best, darauf gedrängt hatte. Vgl.: Herbert (wie Anm. 49), S. 138. Für die Ernennung Himmlers scheint sich außerdem auch der Badische Innenminister Karl Pflaumer eingesetzt zu haben, vgl.: Schadt (wie Anm. 10), S. 32. 90 Als Zentralinstanz wurde im preußischen Gestapa in Berlin am 2. Mai 1934 das »Zentralbüro des Politischen Polizeikommandeurs der Länder« geschaffen, das Himmlers Herrschaft über die Länderpolizeien vereinheitlichen sollte. Buchheim (wie Anm. 37), S. 44 ff.; Tuchel, Johannes; Schattenfroh, Reinold, Zentrale des Todes. Prinz-Albrecht-Straße 8, Hauptquartier der Gestapo, Berlin 1987, S. 83. 91 Berckmüllers genaues Eintrittsdatum läßt sich nicht mehr ermitteln. Er erhielt die SS-Mitgliedsnummer 139.455, BA, Abt. III (BDC), ORPO A 405. Die gleichzeitige Beförderung zum SS-Obersturmführer erfolgte wie allgemein üblich in Angleichung an seine polizeiliche Dienststellung. Vgl. Buchheim (wie Anm. 37), S. 101 ff. <?page no="50"?> Den Vorwürfen suchte Berckmüller zu begegnen, indem er ein Untersuchungsverfahren gegen sich selbst bei der zuständigen Unterbehörde des Münchner Parteigerichts beantragte. 92 Obwohl Berckmüller in Einzelfällen ehemaligen Logenmitgliedern half, konnte er zu seiner Entlastung eine sichtlich aggressive Verfolgungstätigkeit seiner Behörde gegen badische Logen nachweisen. Ganze zwei Waggonladungen Akten, die über die Ermittlungen der badischen Gestapo gegen Logenangehörige Auskunft gaben, ließ er an das SD-Archiv nach München überstellen. Sogar gegen seinen früheren Logenmeister ging Berckmüller vor und nahm ihn für mehrere Monate in »Schutzhaft«. Das oberste Parteigericht in München ließ sich offenbar von der »gewaltigen« Beweismenge überzeugen und schlug das Verfahren nieder. 93 Die SD-Führung in Berlin jedoch war damit naturgemäß nicht zufrieden. Man kritisierte nun, daß sich Berckmüller bei Besprechungen mit Wehrmachtsdienststellen nicht loyal gegenüber dem SD verhalten habe. Außerdem nahm ihm die SS-Führung offensichtlich übel, daß er am 2. April 1936 eine Art Amnestie für einige politische Schutzhäftlinge im Konzentrationslager Kislau verkündet hatte. 94 Berckmüller hatte die Entlassungen beim Badischen Innenminister und beim Reichsstatthalter erreicht, weil der selbsternannte »Idealist« ehemalige politische Gegner, die während der Inhaftierung ihre Auffassung geändert hatten, an »Führer« und Staat binden wollte. 95 Berckmüllers Nachsicht gegenüber den politischen Gefangenen paßte nicht in die politische Linie des Reichsführers SS, und Himmler soll Berckmüller deswegen auch einige Tage später auf dem Flugplatz in Karlsruhe »zusammengestaucht« haben. 96 Der Karlsruher Gestapoleiter war ob solcher offensichtlich persönlichen Antipathien tief getroffen: »Leider werden durch diese niederträchtigen Selbstbekämpfungen die besten Nerven und Arbeitskräfte zum Vorteil unserer Feinde verbraucht, so daß man am Schlusse seelisch zermürbt und körperlich gebrochen voll Ekel und Abscheu sich zurückziehen möchte.« 97 Dies geschah schneller, als er selbst vermutet haben mag. Während er schon nicht mehr zu den Gestapoleitertagungen nach Berlin eingeladen wurde, begann auf Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich und unter der Regie der SD-Oberabschnittsführung Südwest am 5. Mai 1936 ein SS-Disziplinarverfahren gegen ihn. Am 9. Januar 1937 war das Urteil endgültig gefällt. Berckmüller sollte »freiwillig« aus der SS ausscheiden, denn er sei »als SS-Führer K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 49 92 Berckmüller an den Vorsitzenden des Gau-Uschla Riedner, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 93 Erklärung des Obersten Parteigerichts der NSDAP, 23. August 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 94 Ein Bericht darüber erschien im »Führer«: »Der Führer« Nr. 94, 3. April 1936, S.2. 95 Berckmüller: »Das deutsche Volk in seiner Treue zum Führer hat Ihnen die Freiheit wiedergegeben. Handeln Sie ebenso anständig.« »Der Führer« Nr. 94, 3. April 1936, S. 2. 96 Aussage eines ehemaligen Gestapomitarbeiters in Berckmüllers Spruchkammerverfahren, GLA 465a 51/ 68/ 839. 97 Berckmüller an den Hauptschriftleiter des »Stürmers« Hiemer, 27. Oktober 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. <?page no="51"?> untragbar.« 98 Auch wenn seine Absetzung damit nicht direkt veranlaßt wurde, so war es doch nur noch eine Frage der Zeit, bis Berckmüller auch sein geheimpolizeiliches Amt aufgeben mußte. In einem letzten »Aufbäumen« versuchte der angeschlagene Gestapoleiter wenigstens seine angegriffene Ehre zu retten, indem er seinen Fall noch einmal vor das Parteigericht zu bringen versuchte. Berckmüller war sogar gewillt, bis vor den »Führer« zu gehen. 99 Resigniert mußte er jedoch schon bald die Überlegenheit seines Widerparts anerkennen: »Mein Gegner ist Heydrich, der mich nicht leiden kann.« 100 Schließlich legte er am 24. Februar sein Amt schweren Herzens nieder, seine Entlassung wurde am 11. März 1937 offiziell vollzogen. Berckmüller war am vorläufigen Tiefpunkt seiner Karriere angelangt. Er war nun darauf angewiesen, im NS-Staat einen neuen Wirkungskreis zu erhalten. Einmal mehr trat nun sein alter Freund Robert Wagner auf den Plan, der ihm beim Staatlichen Hafenamt Mannheim eine Stelle verschaffte. Hier sollte er ab April 1937 tätig werden 101 , doch schon im Oktober 1937 quittierte er den Dienst wieder. Während Berckmüller gesundheitliche Gründe vorschob, ist es wahrscheinlicher, daß der ehemalige Gestapoleiter schlicht ungeeignet und mit der Aufgabe überfordert war. Kurz darauf wurde er deshalb zum Bürgermeister der Schwarzwaldgemeinde Villingen ernannt. 102 Nachdem der Landeskommissär in Konstanz zugestimmt hatte, wurde Karl Berckmüller schon am 4. Oktober 1937 in sein neues Amt eingeführt. 103 In einem Interview mit den örtlichen Tageszeitungen versprach der neue Bürgermeister einen Tag später, er werde seine ganze Kraft für die Stadt Villingen einsetzen, obwohl er sich der Schwere der Aufgabe vollauf bewußt sei. »Doch sei er gewohnt, da, wo ihn die Partei hinstelle, ganze Arbeit zu leisten.« 104 »Ganze Arbeit« war jedoch nur mit der tatkräftigen Unterstützung des alten Ersten Beigeordneten der Stadt, Hermann Riedel, möglich. Mit seiner Hilfe kümmerte er sich in der Folgezeit um die Etablierung eines Wohnungsbauprogrammes (es sollte auch ein HJ-Heim gegründet werden), errichtete zwölf Erbhöfe und sorgte sich um die Krankenversor- Michael Stolle 50 98 RFSS, Oberabschnitt Südwest an Karl Berckmüller, 6. Februar 1937, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 99 Berckmüller an Hiemer, 24. Februar 1937, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 100 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 101 GLA 233/ 27894. 102 Wieder einmal half Robert Wagner. Schreiben der Stadt Villingen, 29. September 1937, GLA 465a 51/ 68/ 839. Die Stelle in Villingen wurde frei, da der ehemalige Bürgermeister Hermann Schneider zum Kreisleiter in Mannheim ernannt worden war. 103 In den nächsten Jahren schied er folglich endgültig und offiziell aus dem Staatsdienst aus, die Entlassungsurkunde vom Januar 1939 gestatte ihm lediglich, die Bezeichnung »Regierungsrat außer Dienst« zu führen. Verfügung des Badischen Ministers des Innern, 29. Januar 1939. Berckmüller verlor dabei alle Ansprüche auf Gehalt, Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung. StAVS 1.17. Berckmüller. 104 Schwarzwälder Tagblatt Nr. 231 I, 5. Oktober 1937; Der Schwarzwälder Nr. 230, 5. Oktober 1937, vgl. StAVS 1.17. Berckmüller. <?page no="52"?> gung im städtischen Krankenhaus. Daß er dabei gegen den offensichtlich unfähigen SS-Chefarzt vorging und sich um die Belange der katholischen Schwesternschaft kümmerte, wollte er nach dem »Zusammenbruch« als Verdienst für sich verbuchen, zumal ihm dies erneut die Gegnerschaft von SD und SS eintrug. Berckmüller mutmaßte in geheimpolizeilicher Paranoia, daß der SD einen Spitzel nach Villingen entsandt habe, um ihn zu überwachen. Als der Streit um den SS-Arzt kulminierte, soll Himmler, der sich angeblich persönlich für den Fall interessierte, sogar seinen Rechtsberater nach Villingen geschickt haben. 105 Doch diesmal konnte sich Berckmüller durchsetzen: Der betreffende Arzt mußte sich zurückziehen. So hatte Berckmüller nicht nur die alten Feindschaften und Animositäten seiner Gestapotätigkeit im Gepäck. Auch einige Verhaltensweisen des ehemaligen Gestapochefs traten wieder zum Vorschein. 106 Einem Villinger Bürger, der sich mit einer Amtsentscheidung des Bürgermeisters nicht abfinden wollte, schrieb der sich selbst ja so gerne als »Idealist« darstellende Berckmüller: »[...] Falls Sie wagen sollten, die Massnahmen der Stadtverwaltung zu verhindern oder zu stören, [werden] Sie Gefahr laufen, durch die zuständigen Behörden in Schutzhaft genommen zu werden.« 107 Einen anonymen Brief ließ er mit geheimpolizeilichen Mitteln »streng vertraulich« prüfen. 108 Und an den Oberreichsanwalt beim Reichsgericht in Leipzig schrieb er nach der Besichtigung der Heil- und Pflegeanstalt Reichenau, daß er es untragbar finde, »dass körperlich gesunde, wenn auch moralisch defekte bzw. verkommene Menschen wie Kranke und Hilfsbedürftige durchgepäppelt werden, ohne einer strengeren Arbeit unterworfen zu werden.« 109 Selbst das Interesse an der »Affäre Gröber« flaute nicht ab. Noch immer wurde er von seinen Mittelsleuten mit Material gegen katholische Geistliche und die Kirche versorgt. 110 Es verwundert daher nicht, daß er von einigen Villinger Bürgern nach 1945 als »besonderer Naziaktivist« angesehen wurde. 111 Seine offenkundige Streitlust entfachte sich auch an den kommunalpolitischen Richtlinien der Villinger Kreisleitung, mit der er sich ständig überworfen haben soll. Schließlich veranlaßte Kreisleiter Haller im April 1940 seine Einberufung, die Berckmüller auch entgegenkam, hatte er doch, wie er später bekannte, keine Lust mehr, sich »noch während des Krieges mit kleinlichem Beamtenkram herumzuschlagen.« Enttäuscht über den Ausgang der zahlreichen politischen Streitigkeiten soll deshalb auch sein »letztes politisches Werturteil« gelautet haben: »Berckmüller steht außer- K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 51 105 Berckmüllers Entlassungsantrag an den Lagerkommandanten in Darmstadt, 4. November 1946, GLA 465a 51/ 68/ 839. 106 Berckmüller stand offensichtlich noch immer als V-Mann in Kontakt mit der badischen Gestapo, GLA 465d. 107 Undatierter Brief Berckmüllers, StAVS 1.17. Berckmüller. 108 StAVS 1.17. Berckmüller. 109 Berckmüller an den Oberreichsanwalt Dr. B., 8. Juni 1938, BA, Abt. III (BDC), ORPO A 405. 110 Schwalbach (wie Anm. 79), S. 92. 111 GLA 465a 51/ 68/ 839. <?page no="53"?> halb der Partei.« 112 Tatsächlich ließ er das Bürgermeisteramt Villingen immer wieder wissen, »dass er unter keinen Umständen während des Krieges auf längere Zeit von der Truppe, sei es durch Uk-Stellung oder durch mehrmonatigen Arbeitsurlaub entfernt bleiben möchte« 113 , und weilte nur auf Drängen des Ersten Beigeordneten gelegentlich für einige Wochen in Villingen, um den wichtigsten Amtsgeschäften, die sein Stellvertreter nicht erledigen konnte, nachzugehen. Nach Kriegsende gelang es Berckmüller zunächst, sich dem Zugriff der alliierten Truppen zu entziehen. Während seine Familie in Villingen von französischen Einheiten aus ihrem Haus vertrieben und in einem Lager bis Ende des Jahres inhaftiert wurde, schaffte es Berckmüller, nach Neuhausen a.d. Fildern durchzukommen. Dort wollte er für vier Wochen ein Zimmer anmieten, bekam aber vom ortsansässigen Bürgermeister keine Aufenthaltsgenehmigung. So wurde er (erst) am 9. November 1945 von der Polizei verhaftet und noch am gleichen Tag in das Interniertenlager in Darmstadt überführt. 114 Daß sich der ehemalige Gestapochef, der Hunderte der Freiheit beraubt hatte, in der nun beginnenden Gefangenschaft nicht wohl fühlte, bezeugen vor allem seine drei erfolgreichen Fluchtversuche. Am 23. November 1946 konnte er sich unbemerkt von einem Arbeitseinsatz der Lagerinternierten im Wald davon stehlen. Sein Weg führte ihn in Richtung Süden, wo er im Juni 1947 an der schweizerisch-italienischen Grenze wieder aufgegriffen wurde. Auch aus den Lagern in Lahr und in Ludwigsburg bzw. Kornwestheim, in denen er danach interniert war, konnte er ausbrechen. Vom April 1948 bis zum 13. Juni 1950 lebte er unter falschem Namen, ehe man ihn wieder entdeckte und ihn in das Landesgefängnis Freiburg brachte, wo er wegen der Mißhandlung des jüdischen Zahnarztes im Jahr 1933 in Untersuchungshaft saß. Von seinen Mithäftlingen als Einzelgänger beschrieben, bemühte sich Berckmüller regelmäßig, die Lagerverwaltungen dazu zu bewegen, ihn vorzeitig aus der Haft zu entlassen. Er müsse, schrieb er an die Lagerleitung in Darmstadt, »bei weiterer Internierung verzweifeln und jeden Glauben an die Gerechtigkeit und Menschheit verlieren.« 115 Besorgt zeigte er sich über den Zustand seiner Frau, die gesundheitlich Michael Stolle 52 112 Aussage Berckmüllers im Protokoll der Öffentlichen Sitzung der Zentralberufungskammer, 13. Dezember 1950, GLA 465a 51/ 68/ 839. Berckmüller diente als Kompaniechef auf mehreren Fliegerhorsten, meistens in Bayern. 1941 meldete er sich freiwillig nach Griechenland, wo er als Hauptmann beim Luftgaustab Südwest, Luftgaupostamt Wien am Athener Flughafen Verwendung fand. StAVS 1.17. Berckmüller. Später war er noch bei Lannion in der Bretagne im Einsatz, bevor er im Mai 1944 zur 1. Fallschirmjägerdivision beim Stab des Kommandeurs der Nachschubtruppen nach Italien versetzt wurde. Nach eigenen Angaben will Berckmüller ein gerechter Soldat und Vorgesetzter gewesen sein, der eine humane soldatische Gesinnung in mehreren Fällen bewiesen haben soll. So will er sich als Beisitzer eines Feldgerichtes gegen die Verhängung der Todesstrafe gegen einen griechischen Soldaten ausgesprochen haben, GLA 465a 51/ 68/ 839. 113 Bericht von Hermann Riedel, vermutlich Mitte 1941, StAVS 1.17. Berckmüller. 114 GLA 465a 51/ 68/ 839. 115 Berckmüller an den Lagerkommandanten von Darmstadt, 4. November 1946, GLA 465a 51/ 68/ 839. <?page no="54"?> angeschlagen getrennt von ihm leben und in einer Fabrik arbeiten müsse, um die Familie zu ernähren. Er sei außerordentlich erregt und »mit den Nerven stark herunter.« 116 Um die vorzeitige Entlassung zu erreichen, war Berckmüller zu allem bereit. Er sei durch die inzwischen gemachten Erfahrungen viel zu enttäuscht, »um nochmals die Wiederkehr einer Diktatur in irgendwelcher Form auch nur mit einem Wort zu propagieren.« 117 Außerdem versicherte er, daß er in seiner Lage »die Sicherheit des demokratischen Aufbaus und der Militärbehörden« gar nicht gefährden könne. 118 Aus diesen Beteuerungen den Schluß zu ziehen, Berckmüller sei sich seiner Mitschuld im NS-Regime bewußt geworden, wäre allerdings verfehlt. In seinem Entnazifizierungsverfahren vor der Zentralberufungskammer in Karlsruhe wie auch im Strafprozeß vor dem Landgericht in Freiburg versuchte er vielmehr, seine Tätigkeit zu verharmlosen und seine Verantwortung zu leugnen. 119 In seinem Entnazifizierungsverfahren wurden daher auch keine mildernden Umstände anerkannt. Noch in Berckmüllers Abwesenheit, verfügte die Zentralspruchkammer Nordbaden, daß der erste Karlsruher Gestapochef aufgrund seiner Tätigkeit in die Kategorie der »Hauptschuldigen« einzustufen sei. Nachdem Berckmüller entdeckt worden war, legte er Berufung gegen diesen Spruch ein. Am 13. Dezember 1950 wurde vor der Zentralberufungskammer Württemberg-Baden erneut verhandelt und diesmal wurde er, im Rahmen der gemäßigteren Entnazifizierungspraxis, der Gruppe der »Belasteten« zugeteilt. 120 Die daraus resultierende zweijährige Einweisung in ein Arbeitslager war durch seine Internierungshaft verbüßt. 20% seines Vermögens, mindestens 500,- DM, sollten als Wiedergutmachung eingezogen werden. Prinzipiell verlor er auch Ansprüche auf eine aus öffentlichen Mitteln zu leistende Pension oder Rente, doch wurde eine Teilrente oder Unterhaltsbeihilfe in den nächsten Jahren in Aussicht gestellt. Bereits am 27. November desselben Jahres war Karl Berckmüller vom Landgericht Freiburg wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt worden, die ab dem 1. Juni 1951 zur Bewährung ausgesetzt wurden. So konnte der ehemalige Leiter der Gestapo Karlsruhe seit Mitte des Jahres 1951 wieder in Freiheit leben und einem zivilen Beruf nachgehen. Als Vertreter arbeitete er für eine Reutlinger Baufachfirma und lebte in Karlsruhe in einer Gartenhütte in K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 53 116 Bericht der Strafverhandlung vor dem Lagergericht Darmstadt wegen Briefschmuggels, 13. September 1946, GLA 465a 51/ 68/ 839. Nach seiner späteren Haftentlassung ließ das Verantwortungsgefühl für seine Familie nach. Berckmüller wollte nach Esslingen, zu einer Lebensgefährtin, mit der der »Idealist« zwei außereheliche Kinder hatte. StAVS 1.17. Berckmüller. 117 Entlastungsgesuch Karl Berckmüllers, 15. August 1946, GLA 465a 51/ 68/ 839. 118 Undatiertes Entlastungsschreiben Karl Berckmüllers (vermutlich 1947/ 48) an die Lagerverwaltung Kornwestheim, GLA 465a 51/ 68/ 839 119 So rechtfertigte er z.B. auch sein früheres Verhalten gegen den jüdischen Zahnarzt. Antrag Karl Berckmüllers zur Wiederaufnahme seines Spruchkammerverfahrens, 25. März 1952, GLA 465a 51/ 68/ 839. 120 Spruch der Zentralberufungskammer Württemberg-Baden, 13. Dezember 1950, ebd. <?page no="55"?> sehr bescheidenen Verhältnissen. Mehrere Gnadengesuche richtete er noch an die Landesverwaltung, jedoch ohne Erfolg. Erst 1958 wurde ihm eine (Renten-) Nachversicherung für die Zeit seiner Tätigkeit als Villinger Bürgermeister zugestanden. 121 Die von Berckmüller angestrengte Umstufung in die Kategorie der »Minderbelasteten« wurde stets abgelehnt. Am 27. Juli 1961 starb der vermeintlich verführte »Idealist«, der ehemalige Gestapochef, als 65jähriger Rentner in Karlsruhe. Der Aufsteiger: Alexander Landgraf Am 20. Mai 1906 wurde Alexander Landgraf als Sohn des Landwirts und Bäkkermeisters Johannes Landgraf und seiner Frau Anna Maria in Lorsch/ Hessen geboren. Er wuchs im Elternhaus auf, besuchte bis zur 5. Klasse die Volksschule und wechselte dann auf das Realgymnasium in Heppenheim, wo er 1925 mit dem Abitur abschloß. Einer etwas mehr als einjährigen Tätigkeit beim Amtsgericht Lorsch ließ er zwischen 1926 und 1930 das Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und Gießen folgen. Gleichzeitig arbeitete er als Justizanwärter bis 1928 bei einer örtlichen Firma. Sein Studium dauerte dreieinhalb Jahre, ehe er am 23. Mai 1930 das I. juristische Staatsexamen mit der Note »genügend« ablegte. Danach durchschritt er die übliche Laufbahn eines jungen Juristen. Zwischen Juli 1930 und Juni 1933 arbeitete er als Referendar bei seiner alten Firma, beim Landgericht Darmstadt und beim Amtsgericht in Bensheim. Zwei Tage vor Weihnachten 1933 bestand der Sohn aus einfachen und bescheidenen Verhältnissen sein II. Staatsexamen wiederum mit der Note »genügend«. Am 5. Januar des nächsten Jahres folgte seine Ernennung zum Gerichtsassessor. 122 Fortan war er bei einem Rechtsanwalt und Notar in Bensheim als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter und Vertreter angestellt. 123 Seine Karriere, die ihn bis an die Spitze der Gestapoleitstellen in Wesermünde, Karlsruhe und Münster führen sollte, begann, als er am 23. Mai 1934 in den Staatsdienst bei der Polizeidirektion in Darmstadt berufen wurde. Mit seinen neuen Berufskollegen teilte Landgraf, wie die jüngere Gestapoforschung zeigen konnte 124 , nicht nur zahlreiche biographische Merkmale, sondern auch einige historische Erfahrungen. Die meisten leitenden Mitarbeiter der Gestapo waren nämlich nicht, wie früher vermutet, »gestrandete« oder »gescheiterte« Exi- Michael Stolle 54 121 Gnadenentscheidung des Ministerpräsidenten, 22. Januar 1958, ebd. 122 BA, Dahlwitz-Hoppegarten V 233. 123 Handgeschriebener Lebenslauf Alexander Landgrafs, vermutlich Mitte 1936, BA, Abt. III (BDC), Personalakte. 124 Siehe z.B. die sich mit den Mitarbeitern der Gestapo beschäftigenden Beiträge in Paul/ Mallmann (wie Anm. 40). Vgl. auch: Kohlhaas, Elisabeth, Die Mitarbeiter der Gestapo - Quantitative und Qualitative Befunde, in: Archiv für Polizeigeschichte 2 (1995), S. 2 - 6. Die beste Zusammenfassung bei: Herbert (wie Anm. 49), S. 187 ff. <?page no="56"?> stenzen 125 , die in ihrem geheimpolizeilichen Dienst die einzig mögliche berufliche Option sahen. Im Gegensatz zu den SA-Führern standen sie auch nicht »zwischen den Klassen« 126 , noch verloren sie die Orientierung in der modernen Gesellschaft. Im Gegenteil, die Führungselite des nationalsozialistischen Polizeistaates besaß schon früh ein generationelles Selbstbewußtsein, das nicht zuletzt auch auf politischen und weltanschaulichen Überzeugungen basierte 127 , und eine gute akademische Ausbildung. Ihrer Herkunft nach unterschiedlich 128 , waren sie vor allem etwa gleichen Alters. Auch wenn eine genaue soziographische Analyse noch fehlt, kann man davon ausgehen, daß etwa drei Viertel aller Gestapostellenleiter im Reich den Jahrgängen zwischen 1902 und 1910 angehörten. 129 Diese Alterskohorte war die »Kriegsjugendgeneration«, die, ohne jemals in der Armee zu dienen, ihre entscheidenden politischen Erfahrungen in der durch viele politische Wirren gekennzeichneten Frühphase der Weimarer Republik gemacht hatte. Die Bemühungen um eine Revision des Versailler Friedens und die Abwehrkämpfe um das Rheinland waren jedenfalls prägende Eindrücke für junge Menschen wie Landgraf. Schon in seinen letzen Schuljahren schloß er sich vorübergehend dem Jungdeutschen Orden an, einem nationalen Kampfbund, der unter der Führung von Arthur Mahraun sozial-romantische Ziele verfolgte, die vom Kriegserlebnis und der Jugendbewegung geprägt waren. 130 Viele seiner Generationsangehörigen waren in den zahlreichen kleinen, »oft sehr elitären rechtsradikalen Bünden und Organisationen der völkischen Jugendbewegung« 131 aktiv. Hier wurden ihre politischen und weltanschaulichen Denkstrukturen vorgebildet, hier wurde das Ideen-Konglomerat aus radikal-völkischen Überzeugungen, einer elitären, idealistischen Ablehnung der modernen Massengesellschaft und einem tiefsitzenden Mißtrauen gegen die älteren Politiker gebildet, die das spätere politisch-polizeiliche Engagement prägten. Seinen Eintritt in die NSDAP (1. Februar 1928) 132 stellte Landgraf fast 25 Jahre später lapidar als jugendlichen Idealismus dar, er sei der Auffassung gewesen, »das Richtige« zu tun. 133 Diese schlichte und nachgerade emotionslose Begründung ist K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 55 125 Höhne, Heinz, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1987, S. 196ff. 126 Jamin, Mathilde, Zur Rolle der SA im nationalsozialistischen Herschaftssystem, in: Der »Führerstaat«: Mythos und Realität, hrsg. v. G. Hirschfeld, L. Kettenacker, Stuttgart 1981, S. 329 - 360. 127 Herbert (wie Anm. 49), S. 188 ff. 128 Alexander Landgraf kam jedenfalls nicht aus einem gutsituierten, großbürgerlichen Elternhaus. Dagegen: Paul, Gerhard, Ganz normale Akademiker. Eine Fallstudie zur regionalen polizeilichen Funktionselite, in: Die Gestapo, Mythos und Realität, hrsg. v. G. Paul, K.-M. Mallmann, Darmstadt 1995, S. 236 - 254, hier S. 239. 129 Herbert (wie Anm. 49), S. 194. 130 Zum Jungdeutschen Orden, der im Gegensatz zu den meisten anderen Bünden eine Kooperation mit Frankreich anstrebte: Hornung, Klaus, Der Jungdeutsche Orden (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 14), Düsseldorf 1958. 131 Herbert (wie Anm. 49), S. 187. 132 Landgraf bekam die Mitgliedsnummer 75.943 und gehörte zunächst der Ortsgruppe Lorsch an, BA, Abt. III (BDC), Karteikarte Landgraf. 133 Politischer Lebenslauf Alexander Landgrafs, Herbst 1952, HSTAWI 520/ FZ 4290. <?page no="57"?> typisch für alle erhalten gebliebenen Selbstäußerungen Landgrafs und dürfte an der Realität des Jahres 1928 vorbeigehen, denn tatsächlich bezog Landgraf von Beginn an für die nationalsozialistische »Bewegung« fleißig Stellung, betätigte er sich doch in der Ortsgruppe Lorsch von 1928 bis 1936 als Kulturwart und politischer Schulungsleiter. Der pöbelnden Schlägertruppe der SA gehörte er hingegen nie an. Auf eigenen Antrag wurde er am 1. Februar 1936 in die Preußische Geheime Staatspolizei als Regierungsassessor aufgenommen. 134 Zunächst wurde er zu einer »kurzen informatorischen Tätigkeit« an die Stapostelle nach Münster versetzt. Danach wurde ihm die kommissarische Leitung der Stapostelle Osnabrück übertragen, ehe er schon am 1. April 1936 zum Leiter der Außenstelle der Geheimen Staatspolizei in Wesermünde ernannt wurde. Einen solch raschen Aufstieg verdankte Landgraf nicht nur eigener Leistung, er war auch strukturell bedingt. Die ständige Erweiterung der Aufgaben der Gestapo eröffnete ihren Bediensteten glänzende Aufstiegsmöglichkeiten. Mit dem Dritten Gesetz über die Geheime Staatspolizei vom 10. Februar 1936 135 wurden die Kompetenzen der Gestapo im Verhältnis zur Innenverwaltung geklärt; durch einzelne Zusatzbestimmungen erhielt sie alle Rechte einer autonomen Sonderbehörde. Unter der intellektuellen Führung von Werner Best mutierte die Geheime Staatspolizei zum »Arzt am deutschen Volkskörper«, wobei als Bedrohung der Volksgesundheit nunmehr alles galt, was von ihr als bedrohlich empfunden wurde. 136 Neben die politischen rückten schließlich auch die »rassischen« Gegner in das Blickfeld der Verfolger, die es mit hohem Personalaufwand aufzuspüren und zu »bekämpfen« galt. Landgrafs beruflicher Erfolg kam nicht zuletzt auch seinen privaten Plänen entgegen. Wahrscheinlich in Wesermünde lernte er Elfriede Monje kennen, die er am 10. Februar 1940 heiratete. Dem ging allerdings eine eingehende erbbiologische Prüfung und Genehmigung durch das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt voraus. 137 Seine Regimetreue suchte er dabei auch durch Verzicht auf eine kirchliche Trauung unter Beweis zu stellen. Er selbst war bereits aus der Kirche ausgetreten. Seine Frau, beteuerte er, sei zwar noch evangelisch, doch trage auch sie sich mit dem Gedanken, die Kirche zu verlassen. Im Juli 1941 kam das erste von zwei gemeinsamen Kindern zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie Landgraf bereits in Karlsruhe. Denn als die Stelle des Leiters der Karlsruher Gestapoleitstelle im Frühjahr 1937 nach dem erzwungenen Rücktritt von Karl Berckmüller frei geworden war, wurde der mittlerweile 31 Jahre alte Jurist durch Erlaß der Berliner Zentrale zu dessen Nach- Michael Stolle 56 134 Handgeschriebener Lebenslauf Alexander Landgrafs, vermutlich Mitte 1936, BA, Abt. III (BDC), Personalakte. 135 Gesetz über die Geheime Staatspolizei, 10. Februar 1936, Abdruck in Buchheim (wie Anm. 37), S. 46 f. 136 Herbert (wie Anm. 49), S. 163 ff. 137 Alexander Landgraf an das SS-Rasse- und Siedlungshaupthamt, 14. Dezember 1937, BA, Abt. III (BDC), SSO. <?page no="58"?> folger bestimmt. 138 Im Gepäck hatte er ein Dienstleistungszeugnis, in dem seine Fähigkeiten als Dienststellenleiter in Wesermünde zusammengefaßt waren: »Landgraf zeichnet sich in seinem Handeln durch seine Ruhe, Entschlossenheit und kompromißlose Haltung aus. Durch sein rücksichtsloses Einsetzen für die nationale Bewegung, verbunden mit politischem Fingerspitzengefühl steht Landgraf unbedingt auf dem richtigen Posten. Seinen Untergebenen ist Landgraf in jeder Weise gerecht [sic! ] und ein guter Kamerad. Das Benehmen in und außer Dienst ist vorbildlich.« 139 Am 1. September 1937 übernahm Alexander Landgraf als Regierungsrat offiziell die Leitung der zwischenzeitlich kommissarisch geleiteten Gestapostelle in Karlsruhe. 140 Für die Karlsruher Mitarbeiter wie auch für die Dienststelle insgesamt begann nun eine neue Ära, denn anders als sein Vorgänger soll Landgraf nicht mehr auf Kooperation im Hause gesetzt haben, sondern vielmehr übereifrige Kollegen beargwöhnt haben. 141 Überaus korrekt war er eindeutig auf die Berliner Zentrale ausgerichtet. In einem Schreiben an den Oberlandesgerichtspräsidenten drückte er diesen Sachverhalt deutlich aus: »Die Wahrnehmung aller Aufgaben der Geheimen Staatspolizei für das Land Baden obliegt ausschliesslich der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe, die unmittelbar dem Geheimen Staatspolizeiamt Berlin untersteht, von dort unmittelbar ihre Weisungen erhält und diesem unmittelbar zu berichten hat.« 142 Etwaige Einwirkungsmöglichkeiten der badischen Landesregierung existierten als Ergebnis der Zentralisierungs- und Verreichlichungsprozesse kaum mehr. Landgraf selbst nahm als Leiter der Stapostelle das Amt des Sachbearbeiters für die Angelegenheiten der Politischen Polizei beim Badischen Minister des Innern wahr. Zwar war er verpflichtet, Weisungen der Badischen Landesregierung zu entsprechen, allerdings nur »soweit nicht Anordnungen des Geheimen Staatspolizeiamts [Berlin] entgegenstehen.« 143 Der SS war Alexander Landgraf bereits am 30. April 1936 beigetreten. Knapp ein Jahr später, am 20. April 1937, wurde der nur 1,65 m große Gestapoleiter in K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 57 138 Reinhard Heydrich an Reichsstatthalter Robert Wagner, 11. Juni 1937, GLA 233/ 27894. 139 Dienstleitungszeugnis von 1937, ausgestellt vom Leiter der Zentralabteilung I/ 2 beim Chef des Sicherheitshauptamts, BA, Abt III (BDC). 140 BA, Dahlwitz-Hoppegarten ZA V 67, S. 11. 141 Aussage eines ehemaligen Karlsruher Gestapobeamten in seinem eigenen Spruchkammerverfahren, GLA 465a Ztr. Spr. K. / B/ Sk/ 1452. 142 Alexander Landgraf an den Oberlandesgerichtspräsidenten Karlsruhe, 11. April 1938, GLA 240, Zug. 1987/ 53 Nr. 727; auch Abdruck in: Schadt (wie Anm. 10), S. 315 ff. 143 Ebd. Die Berliner Zentralbehörde war zur direkt vorgesetzten Behörde geworden, nachdem am 17. Juni 1936 Himmler zum »Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern« ernannt wurde (RGBl. 1936 I, S. 487). Im Zuge der Vereinheitlichung der Dienststellenbezeichnungen im gesamten Reich nannte sich das Badische Geheime Staatspolizeiamt daher seit dem 1. Oktober 1936 Staatspolizeileitstelle Karlsruhe. Zum 1. April 1937 wurde die politische Polizei Badens schließlich auf den Reichsetat übernommen. Die ehemals badischen (Gestapo)-Beamten waren damit zu Reichsbeamten geworden. <?page no="59"?> Angleichung an seine dienstliche Stellung zum SS-Untersturmführer und zum SS- Führer im SD-Hauptamt befördert. 144 Wieder ein Jahr später, am 1. August 1938, wurde er SS-Obersturmführer. Er muß sich als SS-Mann bewährt und die ihm gestellten Aufgaben zur Zufriedenheit der SS-Führung in Berlin erledigt haben. Denn im Laufe der Jahre wurde er nicht nur SS-Sturmbannführer, bzw. (1. September 1942) SS-Obersturmbannführer, er erhielt sogar zahlreiche Auszeichnungen, wie den Ehrendolch, den Winkel der alten Garde, den Totenkopfring der SS und den Julleuchter. 145 Die wenigen erhalten gebliebenen Dokumente, die von Landgrafs Karlsruher (und später von seiner Münsteraner) Dienstzeit Zeugnis ablegen können, zeigen, daß sich der Gestapoleiter in seinen Berichten und Anordnungen, was seine Person betrifft, außerordentlich zurückgehalten hat. Die unter seiner Regie entstandenen Lageberichte sind in keinem einzigen Fall mit seinem Namen gekennzeichnet. Und die verschiedenen Anweisungen und Erlasse der Berliner Zentrale gab er gleicherart wortwörtlich an die einzelnen Polizeidienststellen in Baden weiter. 146 Landgraf war ein sachlicher und korrekter Beamter, der versuchte, peinlich genau seine »Pflicht« zu erfüllen und den Anweisungen seiner Vorgesetzten zu genügen. 147 Feststellen läßt sich, daß die Zahl der wegen »kommunistischer und marxistischer Betätigungen« in Haft genommener Personen im ersten Dienstjahr von Landgraf zurückging. 148 Das lag weniger an der uncouragierten und eher unsicheren Haltung des kleinen Stapostellenleiters als an der Tatsache, daß der Widerstand aus diesem politischen Kreis in der Mitte der 30er Jahre deutlich nachließ. Erst Ende 1938 geriet die aktive Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) wieder ins Visier der Gestapo. Landgraf ließ mehrere Personen aufgrund des Heimtückegesetzes verhaften, auch solche, die dem Zentrum angehörten. 149 Die von Berckmüller begonnene Hetzkampagne gegen katholische Geistliche, insbesondere gegen den Erzbischof von Freiburg Conrad Gröber, betrieb sein Nachfolger nicht weiter, sondern mäßigte in Konformität mit den Berliner Direktiven den Umgangston. 150 Michael Stolle 58 144 Landgraf erhielt die SS-Mitgliedsnummer 280 440, SS-Stammrolle Landgraf, BA, Abt. III (BDC). 145 BA, Abt. III (BDC). Am 11. November 1944 wurde Landgraf auch militärisch (EK I) dekoriert. Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Nr. 46/ 44, 11. November 1944, ZStLB 505 AR-Z 24/ 82. 146 Siehe die entsprechenden Dokumente in: Sauer (wie Anm. 59). 147 Landgraf war nach eigenen Angaben ein persönlicher Freund von Dr. Werner Best, dem Organisator der Berliner Gestapo und des RSHA. An seinem Kurs mag er sich orientiert haben. Aussage eines Referatsleiters der Stapostelle Münster, 16. Januar 1962, STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 4. 148 1936 waren es 323 verhaftete, 1937 »nur« noch 105 Personen, Schadt (wie Anm. 10), S. 195. 149 Im Januar 1938 waren dies insgesamt 55, im März desselben Jahres schon 68, im April 1938 wieder 49 Personen (Nicht-Zentrumsangehörige miteingerechnet). Von linken politischen Gruppen wurde im selben Zeitraum niemand verhaftet., Schadt (wie Anm. 10), S. 198, 200, 203. 150 Landgraf bescheinigte der von Gröber verfaßten Denkschrift »Die Erzdiozöse Freiburg seit dem politischen Umbruch am 30. Januar 1933« (GLA 235/ 12987), daß die dort gemachten Aussagen auch hinsichtlich der Gestapo richtig seien. Schwalbach (wie Anm. 79), S. 142 f. <?page no="60"?> Dennoch wuchs die Zahl der von der Gestapo verfolgten Personen beständig. Allein die am 17. Juni 1936 verfügte Zusammenlegung von Politischer Polizei und Kriminalpolizei zur sog. »Sicherheitspolizei« macht deutlich, daß aus Sicht der Verfolger politische und kriminelle Handlungen kaum mehr zu unterscheiden waren, mithin der Aufgabenkreis der Gestapo ins Unendliche wuchs. Den außerpolizeilichen Behörden in Karlsruhe wurde das deutlich, als Alexander Landgraf auf Weisung des Reichsführers SS verfügte, daß sämtlicher Schriftverkehr der polizeilichen und justiziellen Verfolgungsinstanzen, also auch der Gerichte und Staatsanwaltschaften, grundsätzlich über die Staatspolizeileitstelle Karlsruhe zu erfolgen habe. 151 Die Befürchtung des Generalstaatsanwalts war daher gewiß nicht übertrieben, als er am 27. Juli 1938 darlegte, daß durch diese Bestimmung die erhöhte Gefahr bestünde, daß die Staatsanwaltschaft bei entsprechenden Ermittlungen übergangen würde. Außerdem könnte die Gestapo in die Behandlung der laufenden Verfahren eingreifen und den Außenstellen den Absichten des Staatsanwalts widersprechende eigenmächtige Weisungen erteilen. 152 Ein Beispiel für diese erweiterte »Aufgabenstellung« der nationalsozialistischen Verfolgungsinstanzen wurde der Öffentlichkeit im Frühjahr 1938 gegeben, als die Gestapo im ganzen Reich eine Aktion gegen »Arbeitsscheue« durchführte, die wenig später von der Aktion gegen »Asoziale«, worunter Landstreicher, Bettler, Zigeuner, Zuhälter und vorbestrafte Personen fielen, grausam komplettiert wurde. Auch die Verfolgung der Juden wurde allmählich ausgeweitet. Nachdem zunehmend alle Versammlungen von jüdischen Gruppen verboten und überwacht wurden und die Zahl der verfolgten »Rasseschändungen« immer größer wurde, ordnete die Stapoleitstelle Karlsruhe am 26. August 1938 an, die unter Karl Berckmüller begonnene, systematische Erfassung der Juden zu verbessern. Nunmehr sollten alle strafbaren Handlungen von Juden, »mögen sie politischer oder allgemein krimineller Natur (z.B. Rassenschande, Devisenvergehen usw.) sein«, auf festgelegten Vordrucken gemeldet werden. 153 Der Henkersstrick um die jüdischen Bürger wurde immer enger gezogen. Den vorläufigen Höhepunkt bildete dabei, nachdem zwei Wochen zuvor schon Ostjuden auf unmenschliche Art und Weise nach Polen abgeschoben worden waren, das reichsweite Pogrom vom 9. November 1938. Wurde die Führung von SS, SD und Gestapo von dem Beginn der Ereignisse auch überrascht, so war sie gleichwohl nicht unvorbereitet für derartige »Aktionen«. Während der Mob aus SA-Kämpfern und fanatisierten Antisemiten über die jüdischen Bürger und ihre Kulturgüter herfiel, wurde die Geheime Staatspolizei zum »Schutz« der Maßnahmen sekundierend herangezogen. Sie sollte »im Benehmen mit der Ordnungspolizei [sicherstellen], daß Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen« unterblieben. 154 K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 59 151 GLA 240, Zug. 1987/ 53, Nr. 727. 152 Schadt (wie Anm. 10), S. 273. 153 Sauer Bd. 1 (wie Anm. 59), S. 110 f. 154 Geschichte und Schicksal des Karlsruher Judentums, bearb. v. Stat. Amt der Stadt Karlsruhe, <?page no="61"?> Außerdem sollte eine bestimmte Anzahl männlicher Juden von der Gestapo herausgegriffen und in Konzentrationslager eingewiesen werden. Die Karlsruher Gestapobeamten verbrachten demgemäß 400 - 500 Juden in das Konzentrationslager Dachau. Am 9. Dezember 1938 wurden die Leiter der regionalen Stapostellen nach Berlin gerufen, wo ihnen die geplanten Maßnahmen der Judenpolitik von Sipo und SD erläutert wurden. Die Auswanderung der Juden sollte zunächst noch verstärkt gefördert werden, wie Landgraf den Polizeibehörden in Baden noch am 3. Mai 1940 meldete. 155 Doch mit Fortschreiten des Kriegs wurden die Verfolgungsmaßnahmen beständig intensiviert und radikalisiert. Nunmehr gab auch Landgraf, das war selten genug, nicht mehr nur den Wortlaut der Berliner Direktiven weiter. In einem Erlaß vom 12. September 1939 ließ er beispielsweise den Juden eigene Geschäfte zuweisen. »Die Juden wirken allein durch ihre Anwesenheit provozierend. Keinem Deutschen kann daher zugemutet werden, sich zusammen mit einem Juden vor einem Geschäft aufzustellen.« 156 Einzelaktionen sollten allerdings »aus naheliegenden Gründen«, d.h. aus ordnungspolitischen Erwägungen, unterbleiben. Den Kriegsbeginn erlebte Alexander Landgraf in Karlsruhe. Daß er damals schon im Gestapodienst unglücklich gewesen sein soll, wie von ehemaligen Mitarbeitern des Badischen Innenministeriums in seinem späteren Entnazifizierungsverfahren ausgesagt wurde, und daß er deswegen versucht habe, seine Versetzung in die badische innere Verwaltung durchzusetzen 157 , scheint eher unwahrscheinlich, da in den vorliegenden Quellen nicht der geringste Anhalt für derartige Bestrebungen zu finden ist. So wurde Landgraf nicht wie angeblich beabsichtigt (und vom RSHA angeblich verboten) in die Zivilverwaltung im besetzen Elsaß übernommen, sondern zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Straßburg (BdS Straßburg) Dr. Hans Fischer versetzt. Der genaue Zeitpunkt dieser Abordnung und die Aufgaben, die er dort erfüllen sollte, sind nicht eindeutig nachvollziehbar. Vermutlich trat er seinen Dienst bereits im Frühsommer 1940 an, also unmittelbar nach dem erfolgreichen Feldzug gegen Frankreich. 158 Während Landgraf gut 25 Jahre später angab, mit der Einrichtung der kriminalpolizeilichen Abteilung in Straßburg betraut worden zu sein 159 , belegen andere Dokumente eine Verwendung als Kommandeur Michael Stolle 60 unveröff. Manuskript, Karlsruhe 1965, S. 164; Werner, Josef, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 9), Karlsruhe 1988, S. 183. 155 Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 125. 156 Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 178. 157 Aussagen im Entnazifizierungsverfahren, HSTAWI 520/ FZ 4290. 158 Dieser frühe Termin geht aus den Ermittlungen der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg hervor: ZStLB Personalblatt Alexander Landgraf. Bestätigt wird dies auch in BA, Dahlwitz -Hoppegarten ZA V 67, S. 11. Die offizielle Versetzung hingegen soll erst zum 1. April 1941 erfolgt sein (GLA 465e Nr. 999). Vermutlich war diese Berufung aber an die Besetzung einer Oberregierungsratstelle gebunden, die für Landgraf 1940 noch nicht zur Verfügung stand. 159 ZStLB 414 AR 3059/ 1965, S. 187. <?page no="62"?> der Sicherheitspolizei und des SD in Straßburg (KdS Straßburg). 160 Welche Position er schließlich auch eingenommen haben mag, sicher ist, daß er in höherer Stellung zum Aufbau des vom RSHA dirigierten und von den Höheren SS-Polizeiführern gelenkten Verfolgungs- und Terrorapparats im besetzen Elsaß maßgeblich beigetragen hat. 161 Davon zeugen nicht nur seine allmählich erworbenen SS-Ehrungen, sondern auch seine Beförderung zum Oberregierungsrat am 1. Februar 1942. 162 Zeitgleich mit seiner beruflichen Beförderung wurde Alexander Landgraf am 5. Januar 1942 zum Stab des Höheren SS- und Polizeiführers für das Reichskommissariat Ostland nach Riga abgeordnet. Er folgte damit dem Verfolgungsapparat in die nach dem Rußlandfeldzug besetzten Gebiete, um dort die geheimpolizeiliche Verfolgungs- und Vernichtungsbürokratie zu unterstützen. Am 25. Januar 1941 begann sein Dienst als »Sachbearbeiter« in der Abteilung IV und V (Geheime Staatspolizei und Kriminalpolizei) beim BdS Ostland in Riga. 163 Dort versah er seinen »Dienst« in auffallender und häufig nur schwer zu unterscheidender Nähe zu den Mordkommandos der Einsatzgruppe A. 164 Inwieweit sich Landgraf selbst an den Aktionen beteiligte, bleibt im dunkeln. Er gab nach dem Ende des Kriegs in einem Verhör an, er sei dort zur Beobachtung von Differenzen in den einzelnen Sparten der Polizei eingesetzt worden. 165 Ohne diese eher rechtfertigende Aussage im einzelnen nachprüfen zu können, darf angenommen werden, daß er den Vernichtungskrieg der »Weltanschauungstruppe« in vielen Einzelheiten kannte. Seine Beteiligung daran, in welcher Form auch immer, macht ihn zum Mitschuldigen an den grausamen Verbrechen. Wie viele seiner Kollegen blieb Alexander Landgraf nur vorübergehend in der Außenstelle. Im Versetzungskarussell der Kriegsjahre kehrte er im September 1942 vorübergehend nach Straßburg zurück, ehe er wenige Tage später zum Personalreferenten des RSHA nach Berlin bestellt wurde, wo man ihm eröffnete, daß er fortan die Leitung der Stapoleitstelle in Münster zu übernehmen habe. 166 Nach eigenen K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 61 160 BA, Dahlwitz-Hoppegarten V 67, S. 11. Zum Aufbau der Polizei- und Verfolgungsbehörden in den besetzten Gebieten vgl: Buchheim (wie Anm. 37), S. 80 ff. 161 Landgraf sprach nach dem Krieg beschönigend davon, daß man versucht habe, die Elsässer durch milde Maßnahmen umzustimmen. »Sie wurden wirklich mit Glacéhandschuhen angefaßt«. STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 508. 162 BA, Abt. III (BDC), SSO. 163 Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/ 42 - Eine exemplarische Studie, in: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938 - 1942, hrsg. v. H. Krausnick, H.-H. Wilhelm, Stuttgart 1981, S. 281 - 617, hier: S. 291, 641. 164 Krausnick, Helmut, Die Einsatzgruppen vom Anschluß Österreichs bis zum Feldzug gegen die Sowjetunion. Entwicklung und Verhältnis zur Wehrmacht, in: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938 - 1942, hrsg. v. H. Krausnick, H.-H. Wilhelm, Stuttgart 1981, S. 13 - 278, hier S. 173 ff. 165 STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 507. 166 Hier war auch schon sein Vorgesetzter in Straßburg Dr. Hans Fischer zwischen 1935 und 1941 als Gestapoleiter tätig gewesen, siehe: Hey, Bernd, Zur Geschichte der westfälischen Staatspolizeistellen und der Gestapo, in: Westfälische Forschungen 37(1987), S. 58 - 90, hier S. 89. <?page no="63"?> Angaben sollte er dabei nicht nur dafür sorgen, den nördlichen Teil der deutschen Westgrenze gegen das Eindringen feindlicher Agenten besser abzuschirmen, sondern auch den Auseinandersetzungen zwischen den Parteidienststellen und dem katholischen Bischof Clemens August Graf von Galen ein Ende bereiten. 167 Bischof Galen hatte bereits im Sommer 1941 mehrfach gegen die Mordaktionen an Geisteskranken, die sogenannte »Euthanasie«, in der Öffentlichkeit protestiert und sich dabei den Haß des Gauleiters Dr. Alfred Meyer und anderer Parteibehörden zugezogen. 168 Da der katholische Geistliche jedoch an exponierter Stellung stand, mußten die geplanten persönlichen Repressalien gegen den Kirchenführer aufgeschoben werden. Vor diesem Hintergrund trat der ehemalige Karlsruher Gestapoleiter im Herbst 1942 seinen Dienst in Münster an. 169 Inwieweit er nun die allgemeine Überwachungs- und Verfolgungspraxis gegenüber Bischof Galen und vielen anderen katholischen Geistlichen in Westfalen veränderte, bleibt wiederum im dunkeln. 170 An dem prinzipiellen Vorgehen der Geheimen Staatspolizei gegen Galen jedenfalls änderte sich nichts. Dazu hätte es wohl auch eines ganz anderen Charakters als Landgraf bedurft. Von seinen Untergebenen wurde Landgraf als eher weich empfunden und als jemand charakterisiert, der nur peinlich genau »seine« Pflicht erfüllt, selbst aber kaum eigene Initiative entwickelt habe. Zudem sei er nur ein höchst mittelmäßiger Jurist gewesen. 171 Ein ehemaliger Kriminaldirektor bezweifelte in den Untersuchungen der Nachkriegszeit sogar, daß Landgraf den Anforderungen an einen Behördenleiter überhaupt habe entsprechen können. 172 Menschen, die ihn näher kannten, bemerkten Hemmungen und Unsicherheiten, die sie auf seine Körpergröße zurückführten. So verwundert es nicht, daß er sich vornehmlich darauf beschränkte, die Anordnungen seiner Vorgesetzten zu exekutieren. Neben den kirchlichen Fragen mußte sich der neue Münsteraner Gestapoleiter Michael Stolle 62 167 Vernehmung von Alexander Landgraf vor der Sonderkommission des Landeskriminalpolizeiamts Niedersachsen, 14. April 1967, ZStLB 414 AR 3059/ 1965, S. 187. 168 Vgl. Hürten, Heinz, Deutsche Katholiken 1919 - 1945, Paderborn u.a. 1992, S. 494 ff.; Conway, John, Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933 - 1945. Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge, München 1969, S. 290 ff.; Portmann, Heinz, Kardinal von Galen, Münster 1974. 169 Am 9. Oktober 1942 war Landgraf beim Münsteraner Ordnungsamt offiziell gemeldet, STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 3. 170 Die bisher zur Staatspolizeileitstelle Münster erschienene Literatur beschränkt sich aufgrund der Quellenlage im wesentlichen auf die Tätigkeiten bis 1936: Hey, Zur Geschichte (wie Anm. 166), ders., Die westfälischen Staatspolizeistellen und ihre Lageberichte 1933 - 1936, in: Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933 - 1945, hrsg. v. A. Faust (Schriften zur politischen Landeskunde Nordrhein-Westfalens 7), Köln 1992, S. 30 - 39. In den »Meldungen aus Münster« tritt Landgraf nicht in Erscheinung: Kuropka, Jürgen (Bearb.), Meldungen aus Münster: 1924 - 1944; geheime und vertrauliche Berichte von Polizei, Gestapo, NSDAP und ihren Gliederungen, staatlicher Verwaltung, Gerichtsbarkeit und Wehrmacht über die politische und gesellschaftliche Situation in Münster, Münster 1992. 171 STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 508, S. 192 ff. 172 STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 1, S. 118. <?page no="64"?> auch den immer bedrohlicher werdenden Folgen des andauernden Krieges stellen. Etwa bei seinem Amtsantritt wurde die Gestapozentrale in der Gutenbergstraße durch Fliegerbomben getroffen, so daß die Akten der Dienststelle verbrannten. 173 In dem Maße wie sich die Kriegsgeschehnisse der deutschen Heimat näherten, radikalisierte sich der Gestapo-Terror ein weiteres Mal. Während im Osten, in den von den Deutschen besetzten Gebieten, die Judenvernichtung auf einen grausamen Höhepunkt getrieben wurde, stieg im Deutschen Reich die Zahl der ermordeten Fremdarbeiter, die von den Vollstreckern der SS, Sicherheitspolizei und Gestapo einer sogenannten »Sonderbehandlung« zugeführt wurden. Alexander Landgraf war in den letzten Kriegsmonaten in seiner Eigenschaft als Gestapochef für solche Aktionen mitverantwortlich. Er besaß mittlerweile erheblich erweiterte Befehlsgewalt 174 und trug so, ob aktiv daran beteiligt oder nicht, die Verantwortung für zahlreiche Morde im nördlichen Westfalen. 175 Von der ihm nach dem mißglückten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 übertragenen Befugnis, Exekutionen selbständig anordnen zu können, will er keinen Gebrauch gemacht haben. 176 Dies ist aus zwei Gründen nicht unwahrscheinlich. Zum einen scheute Landgraf eigenverantwortliches Handeln solchen Ausmaßes. 177 Zum anderen wurde er in der Leitung der Gestapostelle im März 1945 - für ihn völlig überraschend - von dem ehemaligen Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Warschau Dr. Ludwig Hahn abgelöst. Landgraf wähnte schon Unterlassungen seinerseits, die ihm möglicherweise die Gunst seiner Vorgesetzten gekostet haben könnten 178 , doch blieb er unter Beibehaltung seines Dienstrangs im Amt und setzte sich fortan im Außendienst ein, ohne die Verantwortung für das nun zunehmend chaotische Geschehen übernehmen zu müssen. 179 K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 63 173 Löffler, Peter (Bearb.), Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten Briefe und Predigten Bd. 1 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 42) Mainz 1988, S. XXXIX. 174 Die Gestapoleitstelle Münster umfaßte die Regierungsbezirke Münster, Minden und Osnabrück sowie die früheren Länder Schaumburg-Lippe und Lippe-Detmold unter der Leitung des IdS in Düsseldorf. Im Spätherbst 1944 erhielt die Dienststelle die Bezeichnung »Kommandeur der Sicherheitspolizei Westfalen/ Nord«. Landgraf stand damit auch der Stapostelle in Osnabrück vor, in der ein ehemaliger Karlsruher Gestapobeamter als Dienststellenleiter tätig war, ZStLB 414 AR 3059/ 1965, S.147 f., S. 188 f. 175 Zu den Exekutionen, die im April 1943, Anfang 1944 und im März 1945 von den Gestapoleitstellen im Ruhrgebiet durchgeführt wurden, siehe die Zusammenstellung in: STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 343. Vgl. Herbert, Ulrich, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, 2. Aufl. Berlin, Bonn 1986, S. 336 f. 176 ZStLB 414 Ar 1331/ 67. 177 Seine Münsteraner Gestapo-Kollegen beschuldigten ihn allerdings im Rahmen der Nachkriegsprozesse, doch als Beteiligter mitgewirkt zu haben. STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 508. 178 Der Leiter der Abt. IV der Münsteraner Gestapo erinnerte sich im Jahr 1962, »dass er [Dr. Hahn] in voller Uniform bei uns auftauchte. Ich sehe ihn noch heute neben dem körperlich kleinen ORR Landgraf stehen. [...] Landgraf war an diesem Tag körperlich offensichtlich mitgenommen. Sein Gesicht hatte eine gelbe Farbe. Man konnte ihm seine innere Erregung äußerlich anmerken.« STAMS Staatsanwaltschaft Münster, Nr. 282, Bd. 4. 179 Später gab er zu, froh gewesen zu sein, »die Verantwortung in der damals turbulenten Zeit los zu <?page no="65"?> Im auswärtigen Einsatz verliert sich denn auch die Spur des Gestapoleiters. Es ist völlig unklar, wie der SS-Obersturmbannführer das Kriegsende erlebt, wohin es ihn verschlagen und inwieweit er es geschafft hat, mit seiner noch in Straßburg lebenden Familie Kontakt aufzunehmen. In den Nachkriegsprozessen verweigerte er darüber beharrlich jede Auskunft. 180 Offensichtlich gelang es ihm, in den Wirren des Kriegsendes unterzutauchen. Erst am 17. September 1952, siebeneinhalb Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft, wurde er wieder identifiziert. Er wohnte in Seligenstadt, wo er am 16. Januar 1953 eine Tätigkeit als Sparkassenangestellter annahm und sich fünf Jahre später ein Haus baute. Landgraf hatte zwar noch ein Entnazifizierungsverfahren vor der Zentralspruchkammer Hessen in Frankfurt/ Main zu bestehen, doch wurde das Verfahren schon am 22. November 1952 eingestellt, weil zu diesem Zeitpunkt keine Hinweise aufgefunden werden konnten, die eine Einreihung in die Gruppe der »Hauptschuldigen« oder der »Belasteten« gerechtfertigt hätten. 181 Mit zahlreichen »Persilscheinen« 182 , in denen ihm bescheinigt wurde, ausgleichend und gerecht gewirkt zu haben, konnte er sich vor der ohnehin nicht mehr mit großem Bemühen untersuchenden Spruchkammer aus seiner Verantwortung stehlen. Seine »soziale und tolerante Einstellung« seien allgemein bekannt gewesen. Selbst in Strafprozessen, die wegen diverser, von Gestapostellen begangener Tötungsverbrechen Anfang der 60er Jahre angestrengt wurden, kam Landgraf ungeschoren davon 183 , nicht zuletzt deshalb, weil er sich völlig ahnungslos gab und an der Rechtmäßigkeit des aus seiner Sicht untergeordneten Handelns festhielt. Zwar habe er sich beispielsweise mit seinem Münsteraner Stellvertreter unterhalten und bemerkt, daß die Verfolgung der Ernsten Bibelforscher nicht rechtmäßig sei, doch habe er auf die »massgebenden Leute im Innenministerium und beim RSHA [, die] einen ganz anderen Überblick« gehabt hätten, vertraut - so Landgrafs ebenso banale wie erfolgreiche Verteidigungsstrategie. 184 Seinen Lebensunterhalt verdiente Landgraf im Nachkriegsdeutschland als Sparkassenangestellter. Ohne eine erkennbare moralische Reflexion über seine Tätigkei- Michael Stolle 64 sein«, Aussage Alexander Landgrafs, 25. Januar 1962, STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 5, S. 137 ff. 180 Landgraf gab lediglich an, Gelegenheitsarbeiten in Deutschland und in anderen europäischen Ländern ausgeführt zu haben. ZStLB 414 AR 3059/ 1965. 181 HSTAWI 520/ FZ 4290. 182 U.a. auch vom ehemaligen öffentlichen Kläger der Zentralspruchkammer Nordbadens Helmut Zinnecke, HSTAWI 520/ FZ 4290. 183 Die gegen Landgraf angestrengten drei Verfahren mußten aus Mangel an Beweisen (für Mord oder Beihilfe zum Mord) eingestellt werden. (STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, 507 - 510 und 343.) Er wäre höchstens wegen Totschlags anzuklagen gewesen, wenn zu Beginn der 60er Jahre die Verjährungsfrist nicht schon abgelaufen gewesen wäre. Zur Verjährung vgl. Lichtenstein, Heiner, NS-Prozesse. Zum Ende eines Kapitels deutscher Justizgeschichte, in: Täter-Opfer-Folgen. Der Holocaust in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. H. Lichtenstein, O. R. Romberg (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 335), Bonn 1995, S. 114 - 124. 184 Aussage von Alexander Landgraf, 25. Januar 1962, STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 5, S. 137 ff. <?page no="66"?> ten bei der Gestapo und von Polizei bzw. Justiz weitgehend unbehelligt, lebte er im Großraum Frankfurt/ Main, wo er am 16. August 1972 im Alter von 66 Jahren verstarb. Der sachliche Vollstrecker: Dr. Walter Schick Walter Schick wurde am 22. Juni 1909 als erster Sohn des damals 44jährigen Christian Friedrich Schick und seiner 39 Jahre alten Ehefrau Emilie in Schramberg/ Württemberg geboren. Waren die Großeltern noch einfache Bauern oder Handwerker, so hatte es Schicks Vater geschafft, in eine gehobene Stellung zu gelangen: er war Volksschulrektor. In des Vaters Schule verbrachte der Junge denn auch seine ersten Schuljahre, bevor er die örtliche Realschule bzw. die Oberrealschule in Stuttgart besuchte. Dort legte er im Frühjahr 1928 die Reifeprüfung ab. Ähnlich wie der drei Jahre ältere Landgraf mußte Schick nie in der Armee dienen. Und genauso wie sein zukünftiger Amtsvorgänger absolvierte er ein Studium der Rechtswissenschaften. Schick schrieb sich zum Sommersemester 1928 an der Universität Tübingen zunächst für Germanistik ein, wechselte dann aber im nächsten Jahr zu den Juristen. 1930/ 31 studierte er vorübergehend in Berlin, ein halbes Jahr später in München, ehe er wieder im Sommer 1932 nach Tübingen zurückkehrte, wo er schließlich im Frühjahr 1933 das Referendarexamen ablegte. 185 Das sich anschließende Assessorexamen absolvierte der angehende Jurist im Sommer 1934 in Stuttgart. 186 Während dieser Studienzeit stellte er nicht nur die Weichen für seine spätere Karriere, sondern hier muß er auch seine entscheidenden politischen Prägungen erfahren haben. Schon der Beitritt zur Studentenverbindung »Stuttgardia« gleich zu Beginn seines Studiums wies ihn als konservativ-nationalen Geist aus. In der Verbindung lernte der sehr auf ordentliche Kleidung bedachte Student den elitären Corpsgeist kennen, hier kam er in »männlicher« Kameradschaft in Kontakt mit der Vision eines vom Versailler »Schmachfriedens« befreiten Deutschlands. Ob er bereits zu dieser Zeit auf den Nationalsozialismus aufmerksam wurde, läßt sich nur vermuten. Sicher ist, daß er sich der nationalsozialistischen Partei nicht in Tübingen, sondern in Berlin während seines dortigen Studienaufenthalts anschloß. Am 1. März 1931 trat der noch nicht ganz 22jährige als Mitglied Nr. 474.543 der NSDAP bei. 187 Über die Hintergründe dieses Parteibeitritts ist nichts bekannt. Jugendlicher Leichtsinn kann es kaum gewesen sein, denn schon ein halbes Jahr später trat er, als ob er seine Entscheidung noch einmal bekräftigen wollte, auch der SS bei. 188 In der späteren »Elitetruppe« der K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 65 185 Studentenakte Walter Schicks UATÜ 364/ 23944. 186 Handschriftlicher Lebenslauf Walter Schicks, 10. April 1937, BA, Abt. III (BDC), R.u.S.-Fragebogen. 187 BA, Abt. III (BDC), PK. 188 Er erhielt die Mitgliedsnummer 13.241, BA, Abt. III (BDC), SSO. <?page no="67"?> Partei setzte er sich nun begeistert ein, führte verschiedene Stürme der 13. Standarte und stieg rasch auf. Daneben engagierte er sich (1934 - 1937) als Corpsführer der Tübinger Stuttgardia, obwohl er mittlerweile in Würzburg promovierte. 189 Nachdem die Aktivitas im Oktober 1935 aufgelöst wurde, blieb er bis Frühjahr 1937 Führer der Altherrenschaft. 190 Walter Schick war unter seinen Bundesbrüdern als engagierter Nationalsozialist bekannt, wurde aber wegen der ihm eigenen sachlichen und freundlichen Art in seiner Amtsführung und im Umgang mit anderen geschätzt. 191 Seit April 1935 wohnte und arbeitete er in seiner Heimat Schramberg, deren Dialekt Schick stets bewahrt haben soll. Nahezu zeitgleich mit seinem Eintritt in die Gestapo 1937 heiratete er die evangelische, aus einer gutsituierten Kaufmannsfamilie stammende Irma Fastenau, mit der er zusammen seit mehr als einem halben Jahr einen Sohn hatte. Das junge Ehepaar hatte beschlossen, sich kirchlich trauen zu lassen - für einen SS-Offizier, der in jedem Bereich Vorbild des neuen deutschen Mannes sein wollte, war das eher ungewöhnlich. Für den engagierten Aufsteiger und damaligen SS-Obersturmführer erwuchsen aus dieser Haltung aber keine Nachteile. Erst einige Jahre später verließ er gemeinsam mit seiner Frau die Kirche. Schicks Eintritt in die höhere Beamtenlaufbahn bei der Gestapo im Frühjahr 1937 erfolgte auf eigenen Wunsch. Spätestens Mitte des Jahres zog er mit seiner Familie nach Berlin. Als einfacher Assessor beginnend, wurde er am 23. Dezember 1939 zum Regierungsrat ernannt. 192 In seiner Amtsführung erwies sich Walter Schick als kompromißloser, sachlicher Vollstrecker der von der Zentrale der Sicherheitspolizei vorgegebenen Handlungsrichtlinien. Dabei machte er in seiner korrekten Art anscheinend auch nicht vor altgedienten NSDAP-Mitgliedern halt, wie ein überlieferter Fall dokumentiert. 193 Auf diese Weise konnte der junge Gestapoführer in der Berliner Zentrale rasch Tritt fassen und nebenbei auch die Annehmlichkeiten seines Berufs, zu denen auch Ausritte im Grunewald gehörten, genießen. Im Geschäftsverteilungsplan des Gestapa vom 1. Juli 1939 wurde er als Leiter des Sachgebietes II B1 (wirtschaftspolitische Angelegenheiten) im Hauptamt Sicherheitspolizei geführt. 194 Dort überwachte er Wirtschaftsbereiche, die für die Gestapo von besonderem Interesse waren: Makler, Vermittlergewerbe, Hausierer- und Wandergewerbe, Reisebüros, Kapitalkonzentrationen, Konzernpolitik, Wirtschaftssabotage und Korruption. Außerdem sollten unter seiner Regie die Juden aus der Wirtschaft gedrängt Michael Stolle 66 189 Schick, Walter, Die Tierquälerei in der Strafgesetzgebung. Eine geschichtliche und systematische Darstellung, Diss. jur. Würzburg 1936. Hierin spricht sich Schick gegen die Mißhandlung von Tieren aus. Vergleicht man diese akademische Stellungnahme mit Schicks späterem menschenverachtenden Verhalten als hochrangiger SS- und Gestapoführer, tritt die Gewissenlosigkeit der Gestapoführer und deren Verdrehung aller humanen Werte besonders deutlich hervor. 190 Arnold, Jörg, Stuttgardia Tübingen 1869 - 1994. Geschichte der Akademischen Gesellschaft Stuttgardia, Stuttgart 1994, S. 161 f. 191 Arnold (wie Anm. 190), S. 163; freundliche Mitteilung von Dr. Jörg Arnold an den Verfasser. 192 GLA 465e Nr. 1568. 193 BA, Abt. III (BDC), SL 62, S. 347. 194 BA, Abt. III (BDC), SL 47, S. 235. <?page no="68"?> werden. Dazu »arisierte« er Betriebe, enteignete jüdisches Kapital, lenkte den Boykott einzelner Firmen und steuerte einige »Einzelaktionen«. Schick scheint ein zuverlässiger Mann gewesen zu sein, denn er blieb auch die nächsten Jahre in der Position eines Referatsleiters im RSHA. 1941 überwachte er in der Gruppe VII B 5 wissenschaftliche Einzeluntersuchungen zu »Auslandsproblemen« 195 , 1943 war er als Referent derselben Gruppe dafür zuständig, daß alle Bestrebungen, die von den Verfolgern unter »Liberalismus« gefaßt wurden, von Gestapoaugen beobachtet wurden. 196 Diese Aufgaben kann er allerdings nur aus der »Entfernung« wahrgenommen haben, da er einem Erlaß des RSHA vom 27. April 1940 zufolge rückwirkend zum 15. April nach Karlsruhe versetzt worden war, um den Leiter dieser Staatspolizeileitstelle, Alexander Landgraf, in Behinderungsfällen zu vertreten. 197 Da Landgraf kaum noch dienstlich in Karlsruhe verkehrte, war Schick faktisch Leiter der badischen Gestapostelle. Das für ihn ertragreiche Amt 198 bekleidete er in einem vergleichsweise hohen SS-Rang: Schick war zuletzt SS-Obersturmbannführer. 199 Schicks Tätigkeit als Karlsruher Stapostellenleiter nachzuvollziehen, gestaltet sich noch schwieriger als bei seinen Vorgängern, da die Quellenlage zur Karlsruher Gestapo mit zunehmender Dauer der NS-Herrschaft immer dünner wird. Er scheint, ähnlich wie Landgraf, der Karlsruher Dienststelle keine eigene Prägung gegeben zu haben. Sein Führungsstil dürfte analog zu seiner Persönlichkeit eher autoritär gewesen sein. Den Erinnerungen seines Sohnes zufolge scheute er sich, selbstbewußt wie er war, nicht vor offenen Aussprachen. Seine Kontrahenten, so nochmals der Sohn, seien ihm oft als »Würstchen« erschienen. 200 Am 22. Oktober 1940 wurde, früher als im übrigen Reichsgebiet, die Deportation der badischen und pfälzischen Juden in das südfranzösische Lager Gurs in der Nähe der Pyrenäen durchgeführt. Vermutlich auf Antrag der Gauleiter Robert Wagner und Josef Bürckel erließ der Reichsführer SS den Befehl an die Staatspolizeileitstellen in Karlsruhe, Neustadt a.d.H. und Saarbrücken, die Aktion im Geheimen vorzubereiten und durchzuführen. 201 Schicks Behörde ging also daran, mit Unterstützung der Gendarmerie Juden anhand der angelegten Kartei zu verhaften, in Züge zu zwingen und nach Frankreich zu verschicken. Die zurückgelassenen Vermögenswerte wurden dabei von der Gestapo »sichergestellt«. Dem Badischen Innenminister ließ K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 67 195 Vgl. Rürup, Reinhard (Hrsg.), Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem »Prinz-Albrecht-Gelände«. Eine Dokumentation, 10. Aufl. Berlin 1995, S. 80. 196 Geschäftsverteilungsplan RSHA 1941, S. 21 bzw. Geschäftsverteilungsplan RSHA 1943, S. 16, BA, Abt. III (BDC) O 457. 197 Erlaß des RSHA, 27. April 1940 IC (a) 1a Nr. 1179/ 40, GLA 465e Nr. 1568. 198 Sein früher aktiver Dienst in der SS sorgte für einen Zuschlag zu seiner Besoldung. GLA 465e Nr. 1568. 199 ZStLB, Personalblatt Dr. Walter Schick. 200 Aufzeichnungen zu einem Interview mit Herrn Peter Schick am 17. Juli 1996. Privatbesitz des Verfassers. Herrn Peter Schick sei an dieser Stelle für seine bereitwilligen und informativen Auskünfte über seinen Vater ausdrücklich gedankt. 201 Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 242 f. <?page no="69"?> Schick melden, daß nach Abschluß der »Evakuierung« »ein erneutes Anwachsen der jüdischen Bevölkerung in Baden zu verhindern« sei. 202 Die noch in Baden lebenden »Volljuden« wurden schließlich in den Jahren 1941 - 1945 nach Osten verschleppt und dort zum großen Teil in den Vernichtungslagern ermordet. Daß der Gestapostellenleiter auch persönlich hinter der antisemitischen Linie der Reichs- und SS-Führung stand und sich in jeder Hinsicht der SS verpflichtet fühlte, läßt ein Überlieferungssplitter zur jüdischen Lungenheilstätte im badischen Nordrach, die er an die SS bzw. an den Lebensborn zu überführen suchte, erkennen. Er selbst erklärte sich bereit, mit dem Oberrat der Israeliten zu telefonieren und diesen anzuweisen, die Anstalt der SS zu unterstellen. Damit beförderte er auf ganzer Linie die Bestrebungen der höheren SS-Führung und konterkarierte Absichten des badischen und elsässischen Gauleiters Robert Wagner, der in dem Anwesen Fliegergeschädigte unterbringen wollte. 203 Ob solcher »Verdienste« wurde Walter Schick schließlich am 1. Oktober 1943 zum Oberregierungsrat befördert. 204 Doch lange sollte er sein Amt nicht mehr ausüben. Am 1. Februar 1944 wurde er nach Königsberg abgeordnet, wo er zum Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD ernannt wurde. 205 Seinen dortigen Dienst nachzuzeichnen ist aufgrund der mehr als dürftigen Quellenlage (die Königsberger Akten sind bei einem Angriff am 30. August 1944 restlos vernichtet worden) nahezu unmöglich. Sicher ist, daß er im Königsberger Schloß Metgithen die letzten Tage seines Lebens alleine, ohne seine mittlerweile am Bodensee lebende Familie verbrachte. Seine dortigen SS-Kameraden schätzten seine »fröhliche, süddeutsche Art« und bedauerten es anscheinend sehr, als er am 21. Juli 1944 ums Leben kam. 206 Die Umstände seines Todes sind mysteriös. Am Vorabend seines Sterbetags, dem Tag des mißglückten Attentats auf Adolf Hitler, machte sich Schick auf den Weg nach Südostpreußen. Nachdem er von dem Attentatsversuch gehört hatte, ließ er wenden, um »unbedingt und eilig« nach Königsberg zurückzukehren. An einer übersichtlichen Stelle »ohne nennenswerte Kurve« fuhr sein Dienstwagen dann plötzlich mit großer Geschwindigkeit »als ob mit Absicht« gegen den einzigen schweren Baum an der Straße. Die ganze Besatzung des Kraftwagens, Walter Schick, sein Fahrer und sein Adjutant kamen ums Leben. 207 Die Vermutung liegt nahe - und tatsächlich wurde dies auch nach dem Krieg von einem Bundesbruder der Stuttgardia erzählt 208 -, daß Schicks Tod in einem gewissen Zusammenhang mit dem Attentats- Michael Stolle 68 202 Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 262. 203 Bericht eines SS-Gruppenführers an den vorgesetzten SS-Obergruppenführer, 30. September 1942, BA, Abt. III (BDC), SS - 3092. 204 GLA 465e Nr. 1568. 205 Erlaß der Sicherheitspolizei und des SD IA 2a Nr. 1217/ 44, 1. April 1944, GLA 465e Nr. 1568. 206 Brief eines Königsberger Kameraden an Schicks Witwe, 27. Juli 1944 im Besitz von Herrn Peter Schick. 207 Wie Anm. 206. 208 Arnold (wie Anm. 190), S. 174; freundliche Mitteilung von Dr. Jörg Arnold. <?page no="70"?> versuch Stauffenbergs steht: Es wird kolportiert, der Fahrer habe seinen Chef in einer Art Selbstmordaktion umbringen wollen. 209 Letzte Klarheit über den Hergang läßt sich jedoch nicht mehr gewinnen. Nach einer mit SS-Ritualen gestalteten Totenfeier in Königsberg wurde Dr. Walter Schick in seiner württembergischen Heimat beigesetzt. Mit harter Hand: Josef Gmeiner 210 Nachdem Schick von Karlsruhe nach Königsberg versetzt worden war, fand die Berliner Polizeizentrale in dem Rechtsanwalt und bisherigen stellvertretenden Leiter der Gestapoleitstelle Karlsbad (Sudetenland) Josef Gmeiner einen Nachfolger für den Karlsruher Dienststellenleiter. Josef Albert Andreas Gmeiner war als viertes Kind des Kriminalwachtmeisters Albert Gmeiner und seiner Ehefrau Franziska am 22. Dezember 1904 im oberpfälzischen Amberg geboren worden. Als Sproß einer katholischen, traditionell überwiegend bäuerlichen Familie 211 , kam der heranwachsende Junge wie die anderen Gestapochefs auch in den Genuß einer soliden Ausbildung. Nach vierjähriger Volksschulzeit besuchte er zwischen 1914 und 1923 das Amberger humanistische Gymnasium, das er mit dem Abitur verließ. Noch vor Beginn seines Jurastudiums schloß er sich im Mai 1923 in München dem »Bund Oberland« 212 an. Bedauerlicherweise sind die Motive für Gmeiners Entschluß, dem Kampfverband beizutreten, weitgehend unbekannt. Wie schon (zum Teil) bei Karl Berckmüller, vor allem jedoch bei Alexander Landgraf und Dr. Walter Schick fällt es aufgrund mangelnder Quellen überhaupt schwer, die Ursachen der frühen Affinität dieser Personen zum Nationalsozialismus wie ihre Einsatzbereitschaft für den NS-Verfolgungsapparat genau zu erfassen. Trotzdem kann dank einzelner erhaltener Mosaikstükke Ulrich Herberts Bewertung, der zufolge eine »Kombination aus Radikalismus, K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 69 209 Schicks Ehefrau gegenüber hatte der Fahrer Wochen zuvor Andeutungen gemacht, daß er dafür sorgen werde, daß ihr Mann »das Ende« nicht überleben werde. Auskunft von Peter Schick. 210 In Jörg Schadts Darstellung (wie Anm. 10), S. 35, liegt hinsichtlich Gmeiners Vornamen offensichtlich eine Verwechslung vor. 211 SS-Ahnentafel, BA, Abt. III (BDC), RS. 212 Das »Freikorps Oberland« wurde im April 1919 von Rudolf von Sebottendorff gegründet, um gegen die Münchener Räterepublik vorzugehen. Mehrere paramilitärische Einsätze folgten, ehe im Sommer 1921 auf Druck der Alliierten alle Wehrverbände aufgelöst werden mußten. Das Corps bestand aber als »Bund Oberland« mit Sitz in München weiter und geriet bald in die politische Nähe der NSDAP. Nach der Beteiligung am Hitlerputsch am 8./ 9. November 1923 wurde der Bund verboten, unter Decknamen jedoch fortgeführt, ehe sich 1925 ein Teil in den Bund »Stahlhelm« integrierte, bzw. 1926 der NSDAP beitrat. Vgl.: München - »Hauptstadt der Bewegung«, Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 22. Oktober 1993 bis 27. März 1994, München 1993, S. 55 f.; Gordon, Harold J., Hitlerputsch 1923. Machtkampf in Bayern 1923 - 1934, Frankfurt/ Main 1971, S. 93 - 97. <?page no="71"?> weltanschaulichem Antrieb und einer spezifischen Form der Vernunft« Beweggrund für den Einsatz dieser Menschen zugunsten des Nationalsozialismus war, im Hinblick auf die Karlsruher Gestapoleiter beigepflichtet werden. 213 Dabei sollten allerdings auch individuelle Unterschiede nicht übersehen werden. Bei Berckmüller, dem ältesten der Karlsruher Gestapoleiter, war diese Mischung noch mit einem eigenbrötlerischen »Idealismus« der NSDAP-Kampfjahre verbunden und führte zu einer sehr eigenwilligen Führung der ihm anvertrauten Dienststelle. Die von Herbert konstatierte »Vernunft« dürfte bei ihm eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Mit seinen jüngeren Nachfolgern setzte eine deutliche Zäsur in der Leitung der Karlsruher Gestapodienststelle ein. Sie waren als ausgebildete Juristen mit mehr (ideologischer) Rationalität ausgestattet und erfüllten deshalb in erster Linie die ihnen in dem zentralisierten Polizeiapparat zugedachte Funktion. Bei genauem Hinsehen lassen jedoch auch sie Spezifika in der Amtsführung erkennen, die der generalisierenden Interpretation Herberts jedoch nicht entgegenstehen. Landgraf etwa mag persönliche Unsicherheiten durch Unterordnung und strikte Gefügigkeit in diesem System kompensiert, Schick hingegen seine starke, ehrgeizige Persönlichkeit entfaltet haben. Und Gmeiner schließlich knüpfte an seine radikale, »kämpferische« Tradition an, die er im Bund Oberland begründet hatte. Die rechtsextreme, ursprünglich als »Freikorps Oberland« agierende Vereinigung war durch zahlreiche »Aktionen« schon in den Anfangsjahren der Weimarer Republik bekannt geworden. »Oberland« war bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik (1919) und der Unterdrückung von kommunistischen Aufständen im Ruhrgebiet (1920) im Einsatz und war an der sehr publikumswirksamen Erstürmung des Annabergs in Schlesien im Jahr 1921 maßgeblich beteiligt. Die Satzung des Bundes richtete sich ausdrücklich gegen die Republik und propagierte einen Kampf »gegen den inneren Feind«. 214 Seit Mitte 1923 kam es zu einer Kooperation mit der noch jungen NSDAP in München. Am 8. bzw. 9. November 1923 beteiligten sich sogar mehrere Kompanien des Bundes Oberland an dem sog. »Hitlerputsch« und dem Marsch vom Bürgerbräukeller zur Feldherrenhalle. Josef Gmeiner marschierte mit. 215 Durch das letztliche Eingreifen der bayrischen Polizei scheiterten jedoch die Pläne der Putschisten. Josef Gmeiner wurde verhaftet und zwei Tage arretiert. In der Folgezeit scheint sich Gmeiner politisch eher zurückgehalten zu haben 216 , war doch auch die Partei zunächst verboten. Das berufliche Fortkommen stand für ihn wieder im Vordergrund. Im Wintersemester 1925/ 26 wechselte Gmeiner den Studienort 217 und durchlief nun in Erlangen die übliche Ausbildung bis zur II. Michael Stolle 70 213 Herbert (wie Anm. 49), S. 12. 214 Vgl. Gordon (wie Anm. 212), S. 96. 215 Handschriftlicher Lebenslauf Josef Gmeiners, BA, Abt. III (BDC), RS. 216 Dabei gehörte er vom WS 1923/ 24 bis mindestens zum SS 1925 der Studentenverbindung Hercynia an. Meldebestätigung des Amtsrats Amberg, 4. Juli 1927, StAAM und UAM, Studentenkartei Gmeiner. 217 UAER, Personalstandsverzeichnis. <?page no="72"?> Staatsprüfung. Danach ließ er sich in Amberg als freier Rechtsanwalt nieder und teilte mit einem älteren Kollegen eine Anwaltskanzlei. In seinem Geburtsort heiratete er am 14. Oktober 1931 Margareta Knarr, drei Kinder folgten in den nächsten Jahren. Erst einige Zeit nach der »Machtergreifung« trat Gmeiner wieder aus seinem Lebensumfeld heraus, indem er sich am 19. Februar 1934 der SS anschloß. 218 Hier war er sofort willkommen, wurde doch sein »kräftiger Körperbau«, sein »zuverlässiger, offener Charakter« und seine »sehr gute Allgemeinbildung« lobend bei einzelnen Personalberichten erwähnt. 219 Es scheint, als sei Gmeiner nun nach langer politischer Abstinenz und in Erinnerung an alte »Oberlandzeiten« wieder auf den »Geschmack« von radikalen Kampforganisationen gekommen. In die Partei wurde er allerdings erst am 1. Mai 1935 aufgenommen 220 und hier hat er wohl auch kein sonderlich großes Engagement entfaltetet. Belegt ist lediglich seine Funktion als Beisitzer des Gauehrengerichts des NSRB, Bezirk Ostmark. Ergänzend zum SS-Dienst nahm er nun auch regelmäßig an Übungen der Wehrmacht teil, in der er es Ende Juni 1938 zum Unteroffizier der Reserve und Offiziersanwärter im Range eines Feldwebels brachte. Eine »entschlossene und gefestigte NS-Weltanschauung« hatte er sich mittlerweile nach Ansicht der SS-Personalabteilung angeeignet. 221 Dies belegt auch die Tatsache, daß sich Gmeiner zunehmend als Rechtsberater der SS empfahl und schließlich Führer der Rechtsberatung im 68. SS-Stab wurde. Der Einsatz wurde durch rasche Beförderung bis hin zum SS-Obersturmbannführer belohnt. Mit dem 16. August 1938 nahm Gmeiners Berufsleben eine entscheidende Wendung: er trat den Dienst bei der Gestapo in Neustadt an der Weinstraße an. Als er später wegen Kriegsverbrechen angeklagt war, reklamierte er, diesen Schritt vor allem aus finanziellen Gründen getan zu haben, um seiner Familie »wenigstens ein Existenzminimum« garantieren zu können. 222 Inwieweit diese Aussage zutrifft, muß offenbleiben; sie darf aber aufgrund ihrer apologetischen Tendenz bezweifelt werden. Jedenfalls wurde er wenige Wochen später zur Gestapo nach Karlsbad versetzt und am 1. Februar 1939 zum Regierungsassessor ernannt. 223 Nun begann die Karriere des Gestapobeamten Gmeiner, der als weltanschaulich geschulter Jurist und militärischen Einsätzen nicht abgeneigter SS-Mann alle Voraussetzungen mitbrachte, um die ausgedehnten Verfolgungsmaßnahmen des NS-Staates zuverlässig zu exekutieren. Nur wenige Monate später, am 18. Dezember 1939, wurde er zum Leiter der Stapostelle in Dessau berufen. Im Juni 1941 wurde er dann zum Sipo-Einsatz in der für den Rußlandfeldzug gebildeten Einsatzgruppe C abgeordnet 224 , muß also mit K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 71 218 Gmeiner erhielt die Mitgliednummer 186.633, BA, Abt. III (BDC), OSS. 219 Ebd. 220 Ebd. Aus der Kirche trat er hingegen (vermutlich Ende der 30er Jahre) aus. 221 Personalbericht, 25. August 1937, BA, Abt. III (BDC), OSS. 222 BA All Proz 8, JAG 288. 223 BA, Abt. III (BDC), OSS. 224 BA, Abt. III (BDC), OSS. <?page no="73"?> großer Wahrscheinlichkeit - nicht anders als Alexander Landgraf auch - die grausame Vernichtungspraxis der Einsatzgruppen im Osten aus eigener Anschauung kennengelernt haben. 225 Über seine dortigen Aufgaben ist nichts überliefert. Wahrscheinlich wurde Gmeiner schon nach einigen Wochen Tätigkeit zur Einsatzgruppe D als »Verbindungsoffizier« zur Wehrmacht versetzt. 226 Am 29. September war jedenfalls sein sicherheitspolizeilicher Einsatz beendet, so daß er erst nach Dessau, dann nach Karlsbad zurückkehrte. In Karlsbad brachte er es im Laufe der nächsten Monate zum Leiter der Behörde im Rang eines Regierungsrats. 227 In einer Beurteilung von 1943 hieß es, Gmeiner »besitzt die Eignung, Menschen zu führen und ist seinen Untergebenen ein gerechter Vorgesetzter. Charakterlich wird er als einwandfrei geschildert. In weltanschaulicher Hinsicht ist er gefestigt.« 228 Der »weltanschaulich Gefestigte« hatte denn auch keine Skrupel, die im Sudetenland lebenden Regimegegner mit aller Härte zu verfolgen und sich an Liquidierungen von kommunistischen Widerstandskämpfern und sowjetischen Kriegsgefangenen zu beteiligen. 229 Am 26. Februar 1944 wurde er schließlich vom Chef der Sipo und des SD zum Leiter der Gestapoleitstelle Karlsruhe ernannt. Dort trat er, seine Familie in Karlsbad zurücklassend, am 1. April 1944 seinen Dienst an. 230 Leider finden sich nur noch wenige Zeugnisse, die Gmeiners Amtszeit in der Fächerstadt beleuchten. 231 Immerhin sind Einzelheiten überliefert, die der Einstellung und dem Verhalten des neuen badischen Gestapochefs Konturen verleihen. So muß zum Beispiel auf Josef Gmeiners rasches und konsequentes Handeln die unverzügliche Verhaftung des Karlsruher Widerstandskämpfers Reinhold Frank zurückgeführt werden, der, verstrickt in das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, noch in der Nacht auf den 21. Juli in seiner Karlsruher Wohnung verhaftet wurde. Frank wurde am 23. Januar 1945 hingerichtet. 232 Besonderer Verfolgungswille Gmei- Michael Stolle 72 225 Zur Einsatzgruppe C: Krausnick (wie Anm. 164), S. 186 - 195. 226 In den Beständen des Militärarchivs Potsdam/ Freiburg taucht Gmeiner in den Unterlagen auf: BAMAFR RH 20 - 11/ 488, vgl.: Krausnick, Die Einsatzgruppen (wie Anm. 164), S. 327 f. Außer den von Gmeiner vorgelegten Mitteilungen an den Einsatzgruppenleiter Otto Ohlendorf bzw. den Befehlshaber des Wehrmachtsteils sind allerdings keine näheren Angaben zu Gmeiners Person oder seiner Amtsführung erhalten. 227 ZStLB 505 AR-Z 24/ 82. 228 Personalbeurteilung bei dem Beförderungsvorschlag zum SS-Obersturmbannführer, 8. Juni 1943, BA, Abt. III (BDC), OSS. 229 Bei den Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft wurde viel von dem Material zusammengetragen, das in vorherigen Prozessen wegen Tötungsverbrechen gegen einzelne Mitglieder der Stapostelle Karlsbad entstanden war. Da Gmeiner bereits 1948 hingerichtet wurde, finden sich über ihn nur marginale Informationen darin, da außerdem die meisten ermittelten Tötungsverbrechen in die Zeit fielen, als Gmeiner schon nach Karlsruhe abgeordnet war. Über den Aufbau der Gestapostelle Karlsbad sind hingegen umfängliche Zusammenstellungen erthalten. ZStLB 505 AR-Z 24/ 82. 230 BA, Abt. III (BDC), OSS. 231 Die zu seiner Person vorhandene Akte enthält nur Zeugnisse über Dienstreisen nach Konstanz und Straßburg, GLA 465e Nr. 515. 232 Zu Reinhold Frank vgl. Kißener, Michael, Für das Recht. Die Karlsruher Widerstandsgruppe um <?page no="74"?> ners war auch bei seinem Einschreiten gegen den »BSW« zu beobachten. 233 Der organisierte Zusammenschluß sowjetischer Kriegsgefangener und Fremdarbeiter zur Fortführung des Kampfes gegen Hitler-Deutschland wurde im Frühjahr 1944 von der Gestapoleitstelle Karlsruhe entdeckt. 234 Gmeiner wünschte von seinen Mitarbeitern, daß »gegen die Angehörigen der BSW ganz energisch vorgegangen werde, da die Bewegung bis zum Beginn der Invasion zerschlagen sein müsse.« 235 Seine Beamten befolgten diese Anweisung mit Nachdruck. Bis Mitte 1944 wurden schließlich über 300 Fremdarbeiter verhaftet 236 und zum Teil grausam mißhandelt. Auch vor dem kriegsrechtswidrigen Zugriff auf feindliche gefangene Soldaten schreckte Gmeiner nicht zurück. Als nach einer reichsweiten Großfahndung badische Polizeibeamte im Frühjahr 1944 einen aus Schlesien geflohenen RAF-Offizier an der Schweizer Grenze aufgriffen, ordnete er im Auftrag des RSHA eine »Nachtund-Nebel-Aktion« an und ließ den Kriegsgefangenen von drei Mitarbeitern seiner Dienststelle in der Nähe des Konzentrationslagers Natzweiler 237 erschießen. Solch vorbehaltloses Eingreifen dürfte ihm schließlich auch das Amt des »Kommandeurs der Sicherheitspolizei für Baden und Elsaß« eingebracht haben, das er noch im Untergang des »Dritten Reichs« übernahm. 238 Der Dienstsitz sollte Straßburg sein, doch mußte Gmeiner die Behörde bald, vermutlich am 23. November 1944, vor den heranrückenden alliierten Truppen nach Hornberg bzw. Wilferdingen bei Karlsruhe verlegen, wo er bis mindestens Mitte März residierte. 239 Unterdessen erhielt er »für seine Verdienste« das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse mit Schwertern von Adolf Hitler verliehen. 240 Während Karlsruhe von Einheiten der Ordnungspolizei unter Polizeipräsident K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 73 Reinhold Frank, in: 20. Juli 1944 in Baden und Württemberg, hrsg. v. R. Lill, M. Kißener (Portraits des Widerstands 3), Konstanz 1994, S. 19 - 59. 233 Zur BSW (russ.: Bratskoje Sotrudnitschestwo Wojennoplennych) v.a.: Brodski, Joseph A., Die Lebenden kämpfen. Die illegale Organisation Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen (BSW), Berlin (Ost) 1975. Vgl. v.a.: Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 175), S. 314 - 340. 234 Zu dem Aufbau, den Aktivitäten und der Verfolgung der Gruppe in Süddeutschland, vgl.: Schuhladen-Krämer, Jürgen, Ausländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Karlsruhe 1939 bis 1945. Ein unbekanntes Kapitel Stadtgeschichte, unveröffentlichte Magisterarbeit, Karlsruhe 1995, S. 90 - 101. 235 Strafsache gegen Adolf Gerst und T., in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945 - 1966 Bd. 9, bearb v. A. L. Rüter Ehlermann u.a., Amsterdam 1972, S. 235 - 265, hier S. 250. 236 RSHA, Amt IV, Meldung wichtiger staatspolizeilicher Ereignisse Nr. 4, 18. Juli 1944, Blatt 11, ZStLB 505 AR-Z 24/ 82. 237 Das Konzentrationslager Natzweiler war im übrigen auf die »Sonderbehandlung« von Nacht-und- Nebel-Häftlingen spezialisiert, vgl. Kirstein, Wolfgang, Das Konzentrationslager als Institution totalen Terrors. Das Beispiel des KL Natzweiler (Freiburger Arbeiten zur Soziologie der Diktatur 2), Pfaffenweiler 1992, S. 4 - 7. 238 Erlaß des Chefs der Sipo und des SD, 10. November 1944, BA, Abt. III (BDC), OSS. 239 Diese Daten gehen aus Reisekostenabrechnungen von Angehörigen der Gestapo hervor, GLA 465e Nr. 535, Nr. 740, Nr. 897, Nr. 971, Nr. 982, Nr. 1033. 240 BA, Abt. III (BDC), OSS. <?page no="75"?> Günter Claaßen noch verteidigt werden sollte 241 , suchte Josef Gmeiner sich durch Flucht (vermutlich) an den Bodensee der drohenden Verhaftung zu entziehen - vergeblich. Gmeiner wurde im Juli 1945 gefaßt und im Gefangenenlager Baccarat inhaftiert. 242 Zwei Jahre später war er vor dem Britischen Militärgerichtshof in Hamburg wegen Mordes an dem RAF-Offizier angeklagt und versuchte, sich so gut es ging aus der »Affäre« zu ziehen. So leugnete er jegliche Mitverantwortung, schmälerte seine Stellung in der Karlsruher Stapostelle und schob innerpolizeiliche Befehlsketten vor, denen er sich unbedingt hätte unterwerfen müssen. 243 Der britische Staatsanwalt kommentierte dies: »[...] he seems to treat himself as a sort of conduit pipe through which go the Führer’s orders leaving him completely out of the picture.« 244 Von seinen mitangeklagten Gestapobeamten entscheidend belastet 245 , entging er nicht seiner Bestrafung: Das gegen Josef Gmeiner verhängte Todesurteil wurde am 26. Februar 1948 in Hameln vollstreckt. Bibliographie Quellen Wesentliche Quellen über Karl Berckmüller befinden sich im Generallandesarchiv Karlsruhe: An erster Stelle sei die relativ umfangreiche Spruchkammerakte genannt (GLA 465a 51/ 68/ 839), dann die über die frühen Jahre informierende Offiziersstammrolle (GLA 465/ 865) und schließlich eine zu seiner Anstellung im neugegründeten Geheimen Staatspolizeiamt einigen Aufschluß gebende Akte aus dem Badischen Staatsministerium (GLA 233/ 27894). Für die Auswertung seiner geheimpolizeilichen Tätigkeit unverzichtbar sind die erhaltenen Briefe, die Berckmüller an die Redaktion des »Stürmer« nach Nürnberg geschickt hat (StAN/ Stürmerarchiv 9 NW 33 STA; in Kopie in Karlsruhe vorhanden: StAKA 8/ Sts 17, z.T. GLA Abt. 69p.) Zu seiner Tätigkeit als Bürgermeister in Villingen maßgebend ist die im dortigen Archiv sich befindende Personalakte (StAVS 1.17. Berckmüller). Eine ähnlich breite Quellengrundlage wäre für die anderen Gestapoleiter nur zu wünschen. Doch leider nimmt die Überlieferungsdichte mit Fortdauer der nationalsozialistischen Herrschaft beständig ab. Michael Stolle 74 241 Vgl.: Werner, Josef, Karlsruhe 1945. Unter Hakenkreuz, Trikolore und Sternenbanner, Karlsruhe 1985, S. 68, 75, 80, 82. 242 GLA 465c, Karteikarte Josef Gmeiner. Aufgrund des sehr restriktiven Archivrechts in Frankreich konnten leider die Unterlagen im Bureau des Archives de l´occupation in Colmar hierzu nicht eingesehen werden. 243 »Ich habe weder den [Exekutions-] Befehl überhaupt gegeben, noch habe ich ihn weitergegeben; der Befehl stammt von Müller und dieser trägt einzig und allein die Verantwortung.« Aussage Gmeiners während seiner Internierung, vermutlich in Minden, 25. September 1946, BA All Proz 8/ JAG 288. 244 ZStLB 451d/ 288, Anklagerede des Staatsanwalts. 245 »Schuld an der Erschießung trägt allein Gmeiner«, Aussage des ehemaligen Karlsruher Gestapomitarbeiters H.B., 14. Mai 1947, BA All Proz 8/ JAG 288. <?page no="76"?> Zu Alexander Landgraf gibt es einige Prozeßakten aus der Nachkriegszeit. Davon ist die Spruchkammerakte sehr schmal (HSTAWI 520/ FZ 4290). Aufschlußreicher sind die z.T. umfänglichen Ermittlungen anläßlich der Anklagen wegen Tötungsverbrechens (ZStLB 11 Ar 55/ 62, ZStLB 414 AR 3059/ 1965, ZStLB 414 AR 1331/ 67, ZStLB 414 AR 1646/ 68, ZStLB 414 AR 1178/ 68; STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, 507 - 510 und 343). Außerdem existiert eine dünne Besoldungsakte aus dem Bestand der von der Karlsruher Gestapo erhalten gebliebenen Unterlagen (GLA 465e/ 999). Eine solche ist auch zu Dr. Walter Schick auffindbar (GLA 465e/ 1568). Ansonsten gibt es über Schick kaum Dokumente. Beachtenswert allein, wie auch bei seinen beiden Vorgängern, die Personalunterlagen aus dem früheren Berliner Document Center (jetzt Bundesarchiv) und der BA-Außenstelle in Dahlwitz. Nützliche Hinweise zu seiner Person konnten Peter Schick und Dr. Jörg Arnold geben. Josef Gmeiner ist bislang weitgehend unbekannt. Im Generallandesarchiv existiert nur eine sehr schmale Informationsspur (GLA 465c und 465e/ 515). Einigen Aufschluß gibt die Personalakte im ehemaligen Berliner Document Center. In der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg (ZStLB 451d/ 288) und im Bundesarchiv Koblenz (BA AllProz 8/ 288) liegen Auszüge des Prozesses vor dem Britischen Militärgerichtshof in Hamburg vor. Über seine Zeit als Karlsbader Gestapochef bietet ein zusammenfassendes und breit angelegtes Verfahren der Staatsanwaltschaft München wichtige Informationen (ZStLB 505 AR-Z 24/ 82). Über einige Hinweise verfügt auch das Stadtarchiv in Amberg. An gedruckten Quellen sind im besonderen die von Jörg Schadt veröffentlichten Gestapoberichte von Bedeutung. Außerdem sei auf die materialreiche Sammlung von Paul Sauer hingewiesen. Literatur Bislang gibt es noch keine zusammenfassende Darstellung über den Aufbau und die Funktionsweise der Karlsruher Gestapo. Auch zu den Leitern der Dienstbehörde wird man vergeblich nach biographischen Studien suchen. K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 75 <?page no="78"?> Der »Schwabenherzog« Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer Joachim Scholtyseck * 16. Juli 1896 Gerstetten/ Schwäbische Alb, ev., Vater: Johannes Berger, Sägewerksbesitzer, verheiratet seit 1921 mit Maria Berger, vier Kinder. Volks- und Realschulbesuch, Lehrerseminar, 1914 - 1918 Kriegsteilnahme als Leutnant, nach 1918 Volksschullehrer, Realschulrektor, 1935 Oberregierungsrat im württembergischen Kultministerium. März 1929 Mitglied der NSDAP, 1. Januar 1931 Mitglied der SA, 1. Januar 1936 Mitglied der SS, 1. Juni 1938 Chef des »Ergänzungsamtes« im SS-Hauptamt, 1. April 1940 Chef des »SS-Hauptamtes«, 20. April 1941 SS-Gruppenführer, Juni 1943 SS-Obergruppenführer, September 1944 Stabsführer des Deutschen Volkssturms, 1. Oktober 1944 Beauftragter für das Kriegsgefangenenwesen. 8. Mai 1945 Gefangennahme, 13. April 1949 Urteil im Nürnberger »Wilhelmstraßenprozeß«: Gottlob Berger vor dem amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg 77 <?page no="79"?> 25 Jahre Haft, 31. Januar 1951 Haftminderung auf zehn Jahre, 15. Dezember 1951 Haftentlassung, danach Verwaltungsarbeit in untergeordneten Positionen in Stuttgart und Musberg/ Böblingen, Rentner in Gerstetten, gest. 5. Januar 1975 Stuttgart. Über Gottlob Berger, den ebenso einflußreichen wie gefürchteten Chef des SS- Hauptamtes im »Dritten Reich«, ist bis heute wenig bekannt. Berger erscheint zwar als intrigante und äußerst schillernde Persönlichkeit in einer Vielzahl von Veröffentlichungen über den Nationalsozialismus, aber er selbst ist bislang nicht einer Biographie würdig erachtet worden. Dabei verdient Berger durchaus das Interesse des Historikers. Er war in entscheidendem Maß am Aufbau der Waffen-SS beteiligt und kann als »the unsung and despised creator of the SS recruiting system« 1 und der »eigentliche Begründer der Waffen-SS« 2 gelten. Zudem gehörte er zu den engsten Mitarbeitern des »Reichsführers-SS« und firmierte als einer der »Zwölf Apostel Himmlers« und als der »Allmächtige Gottlob«. 3 War Berger als mächtiger SS-Offizier am Terror des Nationalsozialismus unmittelbar beteiligt, so zeigt sich auf der anderen Seite der Facettenreichtum seines Charakters: Der strenge Nationalsozialist Berger verwandte sich nach dem Attentat des 20. Juli 1944 persönlich für mehrere angeklagte Verschwörer und trug dazu bei, diese vor der beinahe sicher erscheinenden Todesstrafe zu bewahren. Berger wurde am 16. Juli 1896 im ostschwäbischen Gerstetten geboren. Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sein Vater, der Zimmermann Johannes Berger, in der Ulmerstraße dieses kleinen Ortes auf der Alb ein Sägewerk mit Motorenhaus und einem Sägeraum errichtet. 4 In Bergers Werdegang verwies zunächst nichts auf eine spätere militärische Karriere. Dem väterlichen Beruf strebte er nicht nach: Vor dem Weltkrieg besuchte er nach Volks- und Realschule von 1910 bis 1914 das Lehrerseminar in Nürtingen. Alles deutete darauf hin, daß Berger das Leben eines Pädagogen führen würde. Doch der Erste Weltkrieg änderte alles: Berger war Kriegsfreiwilliger der ersten Stunde. Im Herbst 1914 kämpfte er mit dem neu aufgestellten württembergischen Reserve-Infanterieregiment 247 in Flandern. Während der Ypernschlacht im Oktober 1914 wurde er schwer verwundet, kehrte aber nach Lazarett- und Genesungsaufenthalt in Württemberg noch vor Weihnachten zu seiner Einheit zurück. Das Kriegsende erlebte er als hochdekorierter Leutnant. Körperliche Schäden blieben nicht zurück, ganz im Gegenteil, er erfreute sich auch Joachim Scholtyseck 78 1 Rempel, Gerhard, Gottlob Berger and Waffen-SS Recruitment: 1933 - 1945, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 27 (1980), S. 107-122, hier S. 107. 2 Höhne, Heinz, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Hamburg 1966, S. 420. 3 Vgl. die Aussagen im Kreuzverhör des »Wilhelmstraßenprozesses«: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Washington D.C. 1952, Bd. 13, 1, S. 480 (im folgenden abgekürzt TWC). 4 Guther, Ernst, Gerstetten und seine Nachbarn II, Gerstetten 1988, S. 478. <?page no="80"?> später guter Gesundheit. Ein medizinischer Betreuer beschrieb in den 40er Jahren Bergers Behandlung als »prophylaktisch«, da dieser »eine festgefügte Gesundheit und unerschütterliche Nerven« besessen habe. 5 Der Krieg und das Kriegsende, das Berger als Ordonnanzoffizier in einem württembergischen Infanterieregiment erlebte, prägten ihn dennoch tief. Soldatische Disziplin, Ehre und Treue wurden für ihn Begriffe von höchstem Wert. Mit dem »Schmachfrieden« von Versailles wollte er sich, wie viele seiner Generation, nicht abfinden. Er war ein typischer Vertreter der Schützengrabengeneration, die durch die »Urkatastrophe« (George F. Kennan) des Ersten Weltkrieges geistig entwurzelt und für die Radikalität des Nationalsozialismus empfänglich war. Die soldatischen Traditionen blieben für Berger zeitlebens bestimmend und konnten ihm während des Zweiten Weltkrieges die gefährliche und verhängnisvolle Lebenslüge ermöglichen, er als »Soldat« habe mit den Greueln der Vernichtungskommandos und der »Einsatzgruppen« nichts zu tun. Sein kämpferisch-sportliches Naturell und eine betont konservative politische Ausrichtung führten ihn bald den nationalsozialistischen Kräften zu, die eine radikale Neuordnung Deutschlands anstrebten. Die Angst vor dem drohenden »Bolschewismus« und eine kämpferische Abwehrbereitschaft trugen dazu bei, daß er kampflustig schon in der Revolutionszeit 1918/ 19 an der Spitze der nordwürttembergischen Einwohnerwehr zu finden war. Mitte September 1920 stellte er sich beispielsweise den Heilbronner Einwohnerwehren zur Verfügung, um das dortige Elektrizitätswerk gegen eine Besetzung durch streikende Arbeiter zu bewachen. Nur nach außen bedeutete die Rückkehr in die schwäbische Bürgerlichkeit den Weg zur Normalität. Vordergründig blieb Berger in den unsicheren Jahren der jungen Republik dem zivilen Leben verpflichtet. Im Jahr 1921 heiratete er seine Frau Maria, wurde Sportlehrer, Grundschullehrer, Realschulrektor und schließlich höherer Beamter im württembergischen Kultministerium: Doch dies war lediglich eine Seite Bergers. Er war, wie er selbst bekannte, Nationalsozialist und SA-Führer der ersten Stunde. 6 Schon im Jahr 1922 trat er in die NSDAP ein und gründete den Wehrverband Ulm/ Land. Im Rahmen der Aktivitäten dieses Wehrverbandes wurde er wegen Waffenbesitzes, der Bildung bewaffneter Haufen und Amtsanmaßung im Oktober 1923 in seinem Heimatort Gerstetten vorübergehend verhaftet. Die Auflösung der Wehrverbände und der Hitlerputsch bewegten Berger innerlich stark und steigerten den Willen, zur Abwehr des Kommunismus beizutragen. 7 Dies geschah durch die Mitarbeit in den Verbänden der sogenannten »schwarzen« Reichswehr, die versteckt das durch den Versailler Vertrag zahlenmäßig begrenzte »100.000 Mann-Heer« Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 79 5 Kersten, Felix, Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform. Aus den Tagebuchblättern des finnischen Medizinalrats Felix Kersten, Hamburg o. J. (1952), S. 300. 6 Vgl. seinen von ihm verfaßten undatierten Lebenslauf, zit. nach Höhne (wie Anm. 2), S. 420. 7 Vgl. TWC, Bd. 13, 1, S. 457; BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. <?page no="81"?> ergänzte. Berger arbeitete innerhalb dieser paramilitärischen Gliederungen im »Grenzschutz West« und in der »Organisation F« mit. In den Jahren, in denen sich die NSDAP nach der Wiederzulassung 1925 in schweren inneren Kämpfen etablierte, trat er kaum in Erscheinung. Seit 1928 unterrichtete er als Lehrer an einer Versuchsvolksschule in Wankheim bei Tübingen. Parteipolitisch trat er im März 1929 wieder in den Vordergrund, als in seinem Geburtsort Gerstetten auf sein Betreiben hin ein Stützpunkt der NSDAP gegründet wurde. Berger sprach bei dieser Gelegenheit vor etwa 100 Anwesenden. Von einer »braunen Flut« konnte allerdings in diesem kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb kaum die Rede sein. Mit sieben Mitgliedern wurde Gerstetten jedoch der »erste Stützpunkt« im Oberamt Heidenheim. 8 Die Früchte dieser frühen Agitation erntete die NSDAP bei den Reichstagswahlen im März 1933: Hier entfielen von 1394 Stimmen 808 auf die Nationalsozialisten. 9 Berger, der die Grundlagen dieses lokalen Siegeszuges geliefert hatte, war an dieser Entwicklung nur am Rande beteiligt. Sein Interesse hatte sich seit Beginn der 30er Jahre zunehmend auf die Politik außerhalb seiner Heimatgemeinde konzentriert. Im Zuge des schier unaufhaltsamen Aufstiegs der NSDAP machte Berger in der SA Karriere. Der »Sturmabteilung« trat er im Januar 1931 bei und führte den Sturmbann 10 in Tübingen. Im Sommer des gleichen Jahres nahm er an einer SA-Führerschulung in München teil. Bald darauf wurde er als »Oberführer« Leiter einer SA-Kompanie in Württemberg. In dieser Atmosphäre einer militärischen Kampfgemeinschaft 10 fühlte er sich ganz in seinem Element. Seine sportlichen Ambitionen und seine joviale Art, Menschen zu begeistern, kamen ihm schnell zugute. Allerdings gab es bereits früh Beschwerden über sein soldatisches und banales Verständnis von Politik und Menschenführung. Die Kritik eines seiner innerparteilichen Gegner, der Berger sicherlich einseitig charakterisierte, hatte einen wahren Kern: »Berger ist auf den ersten Eindruck eine außerordentlich gewinnende Persönlichkeit, das Herz liegt ihm auf der Zunge. Er versteht es, Kameraden und Untergebene zu fesseln, allerdings oft mit Methoden, die ich nicht gutheiße. Wenn Berger z.B. sagte ›gebt mir 10 entschlossene Männer und ich mache die Revolution in Württemberg‹, so klingt das kolossal und macht auf primitive Männer einen starken Eindruck. Es steckt aber nichts dahinter.« 11 In diesen frühen Jahren politischen Einsatzes zeigte sich bereits Bergers Manie, jede politische Entwicklung auf individuelle Interessen zurückzuführen. In späteren Jahren wuchs sich diese Eigenschaft zu einem geradezu grotesken Drang aus, hinter Joachim Scholtyseck 80 8 Guther (wie Anm. 4), S. 518. 9 Kleinschmidt, Heiner; Bohnert, Jürgen (Hrsg.), Heidenheim zwischen Hakenkreuz und Heidenkopf, Heidenheim 1983, S. 36. 10 Vgl. Longerich, Peter, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989. 11 Kuhn an die SA-Führung Sondergericht-München, 7. Dezember 1934, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. <?page no="82"?> jedem Gegensatz persönliche Feindschaft zu vermuten. Zeit seines Lebens fand er Gefallen an Beschwerden, Klagen und Einsprüchen, die er an höhere Dienststellen weiterleitete. Schon früh setzte er sich immer wieder vor dem Parteigericht für »Anstand und Ordnung« und ein hartes Durchgreifen gegen den angeblichen »Sittenverfall« in der »Bewegung« ein: »Darf ein § 175, der seine schmutzigen Anträge in SA u[nd] Hitlerjugend stellt, in der Partei sein? [...] Betrachten Sie diesen Brief als einen Notschrei eines alten Soldaten, der einfach nicht mehr so mitmachen kann. Entweder, wir sind die Partei der Sauberkeit, oder wir sind nicht weiter dort, wie die andern, u[nd] unser Führer kann die hohen Ziele nicht verwirklichen.« 12 Die »Machtergreifung« in Württemberg erhöhte zunächst seine Chancen für eine Parteikarriere. Berger wurde am 31. März 1933 zum ehrenamtlichen Sonderkommissar der Obersten SA-Führung im Württembergischen Innenministerium ernannt und mit der Aufstellung der Hilfspolizei betraut. Als SA-Trainingsleiter wurde er schließlich der Protegé Friedrich Wilhelm Krügers, des späteren SS-Polizeichefs im besetzten Polen. Da er ein versierter Lehrer war, entfaltete Berger eine rege Vortragstätigkeit über vormilitärische Jugenderziehung; dabei knüpfte er problemlos an seine Tätigkeit als Experte für »Geländesport« und »körperliche Ertüchtigung« an. In den chaotischen Tagen des Frühjahrs 1933 konnte Berger gar in Fragen der Verhängung der sogenannten »Schutzhaft« Kompetenzen an sich reißen, die eigentlich dem württembergischen Innenminister zustanden. 13 Seine kometenhafte Karriere erfuhr indessen bald einen Knick, als er aufgrund von Querelen mit jüngeren SA-Führern sein Amt im April 1933 nach einem Schiedsverfahren aufgeben mußte. Er sei, schrieb Berger, »auf gemeinste Art aus der SA hinausgedrückt worden«. Politische Hintergründe gab es für diese innerparteilichen Reibereien nicht. Es waren persönliche Intrigen und nicht - wie Berger später angab 14 - politische Gründe, die das Ende seiner SA-Zeit einläuteten. Der Austritt aus der SA bedeutete eine tiefe Zäsur. In dieser beruflichen Krise wandte sich Berger in einem weinerlichen Schreiben im Oktober 1933 persönlich an den württembergischen Gauleiter und soeben zum Staatspräsidenten und Reichstatthalter ernannten Wilhelm Murr und bat um Protektion. Möglicherweise ist der spätere Haß auf seinen Rivalen Murr darauf zurückzuführen, daß er diesen »Provinzfürsten«, den er als unfähig und ungebildet verachtete, im Jahr der »Machtergreifung« Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 81 12 Berger an Oberstes Parteigericht, 18. Oktober 1931, BA, Abt. III (BDC), OPG. 13 Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 148 f. Daneben Wilhelm, Friedrich, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Stuttgart 1989, S. 88-90. 14 In einem Verhör berichtete er nach Ende des Krieges über die angeblichen Gründe für seinen Karriereknick im Jahr 1933: Er habe viele Gefangene des Konzentrationslagers Heuberg in seiner Funktion als württembergischer Polizeichef freigegeben: »Then I went to Stuttgart and raised hell. [...] A report was sent to the ›Stabschef‹ Röhm at Munich saying that I had become too mild. That was the reason they wanted to get rid of me at all costs. Besides which the Württemberg ›Gauleiter‹ was a particular enemy of mine, Gauleiter Murr; I hated the man, that is to say I despised him. He made a mental note of it«. NA, RG 319, IRR, NND 846030. <?page no="83"?> in erniedrigender Weise um Beistand hatte bitten müssen. An eine parteipolitische Karriere glaubte er nicht mehr und drängte energisch darauf, ein Volksschulrektorat in Esslingen zu erhalten. Die ins Auge gefaßte Stelle war frei, denn der bisherige Amtsinhaber war als Mitglied des Reichsbanners politisch »untragbar« geworden. Offenbar auf Betreiben seiner Frau hatte Berger seine Stelle an der Wankheimer Schule aufgegeben. Lediglich eine Übergangslösung bedeutete die Wahrnehmung eines Landtagsmandats eines »ausgeschiedenen« KPD-Abgeordneten. Mit der Auflösung des Landtages im Herbst 1933 versiegte allerdings auch diese Geldquelle. So bat Berger Murr nun, »dafür zu sorgen, daß ich auf dieses erste Rektorat in Esslingen an der Knabenschule möglichst bald ernannt werde. Solange ich lebe möchte ich arbeiten und gerade im Volksschulwesen wäre soviel zu tun. [...] Es ist das erste Mal, daß ich für mich selbst spreche. Wenn es nicht so notwendig wäre, würde ich es bestimmt nicht tun.« 15 Berger erhielt das angestrebte Rektorat. Die später von ihm gerne behauptete einflußreiche Stellung bekleidete er in diesen Monaten nicht. Ohne eine abgesicherte Position in der württembergischen NSDAP machte sich Berger Sorgen um seine weitere Zukunft. Die SA erschien ihm als Sackgasse: »Eine Verwendung in der SA ist ja bei dem heutigen Überangebot an höheren SA Führern nicht möglich, obwohl ich es mir zutrauen würde, die SA in Württemberg in kurzer Zeit wieder zu dem zu machen, was sie einmal war.« 16 Wie eifrig Berger eine »Parteikarriere« anstrebte, zeigte sich freilich, als er nach dem sogenannten »Röhmputsch« doch noch eine Chance sah, in der SA aufzusteigen. 17 Wenige Monate nach der blutigen Zerschlagung der alten SA-Führung, am 13. November 1934, beteuerte er, daß er »die SA immer als das Primäre ansehe und [...] ich mich nie mit Leuten, die die SA zusammenschlagen wollten, auf eine Stufe stelle«. 18 Diese Hoffnungen erwiesen sich aber schnell als trügerisch. In Württemberg gab es für ihn keinen angemessenen Platz. Die fortwährenden »Zwistigkeiten« mit Murr hatten ihre Ursache in der Machtrivalität, die Bergers politischen Ambitionen im Weg standen. 19 Joachim Scholtyseck 82 15 Berger an Murr, 30. Oktober 1933, HSTAS, E 140, Bü. 76. 16 Berger an einen unbekannten Adressaten, 4. November 1934, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 17 Höhne (wie Anm. 2), S. 420. 18 Berger an Ludin,13. November 1934, zit. nach Höhne (wie Anm. 2), S. 421. Anerkennung fanden diese Beteuerungen nicht. Die Beurteilung des SA-Gruppenführers Ludin gegenüber dem Sondergericht der SA-Führung war vernichtend: Berger leide an »einer nicht unerheblichen Selbstüberschätzung«, nehme »den Mund reichlich voll« und verrate »einen bedauerlichen Mangel an Selbstkritik und soldatischer Bescheidenheit.« 19 Seine ständigen Attacken auf Murrs Großmannssucht waren zweifellos berechtigt, verdeckten aber den eigentlichen Grund ihres Streits. Eine typische Attacke lautete: »Ich hatte ihn angegriffen wegen seiner eigenartigen nationalsozialistischen Tour, die er antrat, Häuser bauen, Geldverdienen usw.« Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 3. Dezember 1946. <?page no="84"?> Nachdem Berger endlich eingesehen hatte, daß die SA ihm keine Zukunft mehr bot, suchte er nach neuen politischen Einsatz- und Karrierechancen. Im Jahr 1934 arbeitete er in der wiederum unter Leitung von Krüger stehenden »AW-Organisation« mit. Dies blieb jedoch ein Intermezzo, da diese mit dem »Ausbildungswesen« befaßte Reichswehrinstitution aufgrund einer Anordnung Hitlers aufgelöst wurde. Schließlich warteten auf Berger aber andere Aufgaben. Im Laufe der 30er Jahre stellte sich die Notwendigkeit eines Rekrutierungsamtes der nun immer schneller wachsenden SS als dringlich heraus. Obwohl er als ein »Großmaul« verschrien war, gelang es Berger, der wenige Monate zuvor noch die Treue zur SA geschworen hatte, einen Kontakt zu Heinrich Himmler herzustellen. 20 Anfang 1936 trat er mit der Mitgliedsnummer 275.991 der SS bei und übernahm verschiedene Positionen innerhalb der Organisation, die von nun an bis zum Ende des Krieges seine geistige Heimat war. Immer häufiger war er in Berlin, obwohl er sich nach wie vor seinen schwäbischen Ursprüngen verbunden fühlte. Berger hatte mit dem Übertritt in die SS und Waffen-SS seine Bestimmung gefunden: Himmler, so berichtete er später über seine neue Aufgabe, habe nach der Machtergreifung in München höhere Weltkriegsoffiziere, Gutsbesitzer und Industrielle zusammengerufen und dort das Zukunftsbild einer soldatischen Elite gezeichnet: Der größte Teil der Anwesenden habe sich unter dem Eindruck der Rede Himmlers zum Übertritt in die SS entschlossen. Er selbst sei als alter Offizier in die allgemeine SS eingetreten und sei kurz danach seinem militärischen Rang entsprechend SS-Obersturmbannführer geworden. Da ihm das »rein soldatische Element« gelegen habe, habe er sich für die Aufstellung der SS-Verfügungstruppe entschieden. 21 Bergers neue politische Heimat schützte ihn vor weiteren Intrigen seiner württembergischen Widersacher. Auf den Reichsparteitag 1936 freute er sich jetzt »wie ein kleines Kind auf Weihnachten.« 22 Sein weiterer Lebensweg war von nun an untrennbar mit der Institution verbunden, die sich im Zeichen der nationalsozialistischen Dynamik zu einer »führerunmittelbaren, außernormativen Sonderexekutive« 23 entwickeln sollte. Berger kappte in den folgenden Jahren fast alle Wurzeln, die ihn noch mit dem Leben eines Zivilisten verbanden. Formell war er inzwischen zum Oberregierungsrat avanciert und seit Oktober 1935 als Berichterstatter für die körperliche Erziehung der Jugend im württembergischen Kultministerium tätig. Im August 1937 wurde er gar zum »Studiendirektor im württembergischen Landesdienst« ernannt. 24 Seinen schulischen und erzieherischen Verpflichtungen konnte er jedoch kaum nachkommen und war die meiste Zeit für seine SS-Dienste beurlaubt. Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 83 20 Vgl. seine Aussagen während des »Wilhelmstraßenprozesses«: TWC, Bd. 13, 1, S. 461. 21 Kersten (wie Anm. 5), S. 304-306. 22 Berger an Brigadeführer Schmitt, 27. August 1936, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 23 Thamer, Hans-Ulrich, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 - 1945, Berlin 1986, S. 371. 24 BA Dahlwitz-Hoppegarten, ZA V 122, S. 348. <?page no="85"?> Der entscheidende und endgültige Schritt in den Bannkreis Himmlers vollzog sich noch vor Kriegsausbruch. Am 1. Juli 1938 ernannte Himmler Berger zum Chef des neugeschaffenen »Ergänzungsamtes« im SS-Hauptamt, einer Organisation, die unter seiner Leitung innerhalb kürzester Zeit zu einer schlagkräftigen Rekrutierungsbehörde heranwuchs. 25 Hier ging es hauptsächlich um die Herauslösung der sogenannten »Verfügungstruppe« aus dem Verantwortungsbereich der Wehrmacht. Himmlers »Treuestem der Treuen« (Heinz Höhne) gelang dieses Vorhaben, obwohl er weder bei den SS-Generälen noch bei den Wehrmachtsoffizieren ein hohes Ansehen besaß: »Ein Angeber. Ein Gschaftlhuber«, so charakterisierte ihn später der SS-Obergruppenführer Bittrich. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr spielte die außenpolitische Entwicklung in Bergers Leben eine immer wichtigere Rolle. Schon beim »Anschluß« Österreichs war er mit Himmler als Vorauskommando am 12. März 1938 in Wien eingetroffen. 26 Die Zuspitzung der Lage verstand er, wie er später zu Protokoll gab, als eine Generalprobe für spätere Zeiten. Wenige Monate danach gab die Krise um die Tschechoslowakei einen weiteren Anlaß, selbst ins Spiel der Politik einzugreifen: Im September 1938 wurde er Himmlers Verbindungsoffizier zum Führer der Sudetendeutschen, Konrad Henlein. Hauptaufgabe Bergers war es, »Sudetendeutsche auszuwählen, die für die Mitgliedschaft der SS oder VT (Verfügungstruppe) in Betracht kamen.« 27 Für Berger, der sich in seinem neuen Metier zu Recht als absoluter Außenseiter betrachtete 28 , war die weitere SS-Karriere vorgezeichnet. Den bewunderten Himmler beriet er fortan in einer »Mischung aus Byzantinismus, Bauernschläue und Offenheit« 29 und schuf sich so eine wichtige Vertrauensstellung. Er galt als leidenschaftlicher Naturfreund und Landschaftsmaler und experimentierte bisweilen mit Filmaufnahmen von Raubvögeln im Flug 30 - Eigenschaften, die Himmlers romantische Seite offenbar ansprachen. Den Weg zurück ins bürgerliche Leben wollte Berger nicht mehr antreten. Im Frühjahr 1939 stellte sich letztmals die Frage einer Weiterarbeit im Württembergischen Kultministerium, da eine nochmalige Freistellung nicht möglich war. Er entschied sich gegen seine gut dotierte Stellung in Stuttgart. Beim SS-Hauptamt war man zufrieden. Berger kostete es keine große Überwindung, auf seinem Berliner Posten zu bleiben. 31 Joachim Scholtyseck 84 25 Vgl. Rempel (wie Anm. 1), S. 108-112. 26 Reitlinger, Gerald, Die SS. Tragödie einer deutschen Epoche, München, Wien, Basel 1957, S. 112. 27 IMT, Bd. IV, S. 177. Daneben Stein, George H., Geschichte der Waffen-SS, Düsseldorf 1967, S. 33 und Reitlinger (wie Anm. 26), S. 121. 28 Vgl. die Aussagen während des »Wilhelmstraßenprozesses«, TWC, Bd. 13, 1, S. 463. 29 Höhne (wie Anm. 2), S. 420. 30 Reitlinger (wie Anm. 26), S. 155. 31 Vgl. Berger an den Chef des SS-Hauptamtes, 14. April 1939, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger; Dr. Drück (Württembergisches Kultministerium) an Berger, 5. April 1939, ebd.; Heißmeyer an Himmler, 21. April 1939, ebd. <?page no="86"?> Obwohl sich sein Lebensschwerpunkt zunehmend in die Reichshauptstadt verlagerte, hielt Berger Kontakt zu seiner süddeutschen Heimat. Sein Hauptbestreben war dabei, die Macht württembergischer Parteigrößen zu beschneiden. Dies richtete sich nicht nur gegen alte Feinde aus der SA wie Hans Ludin oder Dietrich von Jagow. Auch mögliche territoriale Gelüste Murrs und des Stuttgarter Oberbürgermeisters Strölin wollte er schon im Keim ersticken. Stets fürchtete er mögliche Ansprüche seiner Stuttgarter Konkurrenten. Beide, klagte er bei einer Gelegenheit, seien darauf bedacht, Gauleiter in der noch zu erobernden Schweiz zu werden, obwohl sie ungeeignet seien. 32 Der Krieg brachte für Berger einen weiteren Fortschritt auf der Karriereleiter. Am 1. Dezember 1939 wurde er zum Chef des nun reorganisierten »SS-Hauptamtes« befördert. Eineinhalb Jahre später, am 20. April 1941, wurde er in dieser Funktion SS-Gruppenführer. In diesem Amt erwies er sich gegen alle Widerstände der Wehrmacht (die Berger schon mal als »die uns nicht wohlgesinnten Herren« titulierte 33 ) als effektiver Organisator der Anwerbung neuer Rekruten für Himmlers Waffen-SS. Es ist an dieser Stelle keine Gelegenheit, die »verworrene Geschichte« 34 der Waffen- SS detailgenau zu schildern: Berger gelang es jedenfalls gegen alle Widersacher und über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg, sich zu behaupten und seine Stellung als »treuer Ekkehard« Himmlers 35 zu bewahren. Die weltanschauliche Schulung betrachtete Berger als eine ständige Herausforderung für die Erziehung im nationalsozialistischen Sinn. Im Februar 1943 plädierte er bei Himmler für eine stärkere ideologische Schulung der SS, um besser gegen die Rote Armee vorgehen zu können. 36 Die Nürnberger Richter beanstandeten später seine Verantwortung für die antisemitischen Pamphlete, die sein Amt zu »Führungszwecken« der SS herausgab. Eine dieser millionenfach verbreiteten Broschüren mit dem Titel »Der Untermensch« zeigt die menschenverachtende Brutalisierung, die mit der Ideologisierung des Rassegedankens einherging. Der »Untermensch«, so verkündete Bergers »SS- Hauptamt«, »jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen - geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier«. 37 Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 85 32 Berger an Himmler, 8. September 1940, BA, Abt. III (BDC), PK Strölin. Auch möglichen elsässischen Ambitionen der süddeutschen Gauleiter versuchte er beständig entgegenzuarbeiten. Ihm selbst waren die Gebiete westlich des Rheins gleichgültig. Ein Jahr vor Kriegsende befand er, die Elsässer seien ein »Sauvolk«, von denen die Hälfte abgeschoben werden müsse. Stalin würde diese sicherlich akzeptieren (Berger an Himmler, 21. Juni 1944, zit. nach: Grill, Johnpeter Horst, The Nazi Movement in Baden, 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 517). 33 Berger an Himmler, 30. März 1940, zit. nach Stein (wie Anm. 27) S. 47. 34 Stein (wie Anm. 27), S. 34. 35 Höhne (wie Anm. 2), S. 421. 36 Berger an Himmler, 10. Februar 1943, TWC, Bd. 13, 1, S. 281-282. Wenig später wurde ihm für seine »Verdienste« auf diesem Gebiet auf Vorschlag Himmlers von Hitler das Deutsche Kreuz in Silber verliehen (Himmler an Berger, 5. Juli 1943, ebd., S. 313). 37 Reichsführer SS - SS-Hauptamt (Hrsg.), Der Untermensch, Berlin 1942. <?page no="87"?> Im Intrigieren erfolgreich, nutzte Berger seine Machtstellung für selbstherrliche Entscheidungen, die seinem kurzsichtigen Verständnis von Kameradschaft entsprachen. So setzte er etwa die Aufnahme des berüchtigten Oskar Dirlewanger 38 , den er noch aus gemeinsamer Zeit im Ersten Weltkrieg kannte, in die SS durch, nachdem dieser sich infolge eines Sittlichkeitsprozesses, anschließender Haftstrafe und Sicherheitsverwahrung im spanischen Bürgerkrieg »bewährt« hatte. Bergers schwäbischer Duzfreund wurde durch dessen Deckung »Vasall und Landsknecht, den man zu allem gebrauchen konnte.« 39 Dirlewangers Tun führte über die Schulung verurteilter Wilderer für die Waffen-SS auf direktem Weg ins Verbrechen. 40 Während des Ostfeldzuges deckte Berger zahlreiche Greueltaten seines Schützlings Dirlewanger. Proteste des Reichskommissars Kube in Minsk gegen die »Sonderbehandlung« von Juden wurden von ihm abgeschmettert. Verharmlosend erklärte er das Verhalten der Männer Dirlewangers damit, es handle sich um ehemalige Wilderer, die sich bewähren müßten und selbst hohe Verluste zu beklagen hätten. 41 Die von Dirlewangers marodierender Truppe begangenen Grausamkeiten überschritten schließlich selbst das Maß der SS, so daß gegen Bergers Freund Ermittlungen eingeleitet, infolge des Kriegsendes aber nicht zu Ende geführt wurden. Solche Protektion entsprach ganz dem Stil des »Schwabenherzogs«, der betont für sein Heimatland eintrat und auch sonst bemüht war, schwäbische Freunde in geeignete Positionen zu lancieren. 42 Moralische Skrupel angesichts des Wütens in den eroberten Gebieten des Ostens zeigte er nicht. Im Gegenteil: Im Juni 1942 dachte Berger aufgrund des aufflackernden Widerstands im Distrikt Lublin über ein verstärktes Vorgehen des Sonderkommandos Dirlewanger nach und stellte die Frage, ob die Devise Dirlewangers, lieber zwei Polen zuviel als einen Polen zu wenig zu erschießen, nicht seine Berechtigung habe. 43 Die soldatische Prägung, die Berger im Ersten Weltkrieg erhalten hatte, ging somit fast nahtlos in die Bestialität über, die den Gegner nicht als Menschen anerkannte. Intellektuelle Schärfe war Berger fremd; sein simples Menschenbild erleichterte seine blinde Verehrung der Waffen-SS, die er als eine rein soldatische Truppe ansah und deren Mißbrauch er nicht wahrnehmen wollte. Er sei ein »altes Frontschwein und kein Seiltänzer«, erklärte er einem Vertrauten. 44 In dieser verengten militärischen Sicht verachtete er die »Theoretiker der Diplomatie«. 45 Joachim Scholtyseck 86 38 Zu Dirlewanger Auerbach, Hellmuth, Die Einheit Dirlewanger, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10 (1962), S. 250-263. 39 Auerbach (wie Anm. 38), S. 263. 40 Globocnik an Berger, 4. Juni 1940 und Berger an Schmitt, 15. Juni 1940, TWC, Bd. 13,1, S. 508-510. 41 Vgl. die Dokumente und Aussagen Bergers während des »Wilhelmstraßenprozesses« (wie Anm. 20), S. 516-551. 42 Kersten (wie Anm. 5), S. 301; vgl. Döscher, Hans-Jürgen, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung, Berlin 1987, S. 287 f. 43 Briefentwurf Bergers an Himmler, 17. Juni 1942, TWC, Bd. 13, 1, S. 514 f. 44 Kersten (wie Anm. 5), S. 318. 45 Kersten (wie Anm. 5), S. 319. <?page no="88"?> Die deutschen Siege brachten neue Aufgaben: Im Rahmen der Eroberung Europas durch deutsche Truppen während des Krieges und der Rekrutierung »volksdeutscher« Soldaten beschäftigte sich Berger zunehmend mit »Europaideen«. Auf diesem Betätigungsfeld verstand er sich als maßgeblicher Förderer einer nationalsozialistischen Europapolitik: Bergers Familie war - bedingt durch die Hochzeit einer Tochter - in ganz Südeuropa verstreut. So mag ihm schon früh der Gedanke gekommen sein, unter deutscher militärischer Ägide eine Machtstellung in Europa aufzubauen, der es schließlich gelingen werde, die getrennt lebenden Volksdeutschen in einem »Großgermanischen Reich« zusammenzuschließen. Ein auch für künftige Friedenszeiten gültiges Konzept konnte er nicht vorweisen: Seine Europakonzeption bedingte die militärische Ausschaltung jeglicher Opposition in einem ganz auf das arische Ideal zurückgeführten Europa unter deutscher Führung. Die schlichte Maxime umriß er im Krieg folgendermaßen: »Nie ist Europa etwas geschenkt worden. Alle großen Entwicklungen konnten sich nur unter ungeheuren Blutopfern durchsetzen, oft bedurfte es mehrmaliger Ansätze. Blut ist immer der festeste Kitt gewesen. Das neue Europa wird auf den Schlachtfeldern des Ostens geschaffen.« 46 Als Chef der »Ergänzungsstellen«, die für die Rekrutierung der Waffen-SS im Krieg verantwortlich waren, bot sich ihm eine ideale Basis für die Umsetzung seiner Ideen. Von den 900.000 Mitgliedern der Waffen-SS, die im Zweiten Weltkrieg für Hitler kämpften, kamen über die Hälfte aus Gebieten außerhalb der Reichsgrenzen. Gerade im Ausland arbeiteten Bergers Rekrutierungsstellen gründlich und mit besonderem Eifer. 47 Es verwunderte nicht, daß der selbsternannte »Europapolitiker« Berger, der als »Apostel der ausländischen Freiwilligenbewegung« bezeichnet worden ist 48 , persönlich den Vorsitz so unterschiedlicher Organisationen wie der Deutsch-Kroatischen Gesellschaft und der Deutsch-Flämischen Studiengruppe innehatte. Die Stellung der von ihm geleiteten »DEFLAG«, einer flämischen Separatistenorganisation, die mit den deutschen Besatzern zusammenarbeitete, um den Anschluß Flanderns an das Reich zu ermöglichen, beruhte auf rein militärischer Übermacht. 49 Auf dem ganzen Kontinent sollte eine verbindende und verbindliche Struktur volksdeutscher Organisationen geschaffen werden. Es war bei Bergers Vorliebe fürs Militärische vorhersehbar, daß er der Waffen-SS hier die Vorreiterrolle zudachte. In diesem Punkt war seiner fanatischen Begeisterung kaum eine Grenze gesetzt. Um etwa in Finnland für seine übernationale Waffen-SS Getreue zu werben, legte er sich 1941 sogar gleichzeitig mit dem Auswärtigen Amt, Außenminister Ribbentrop und der finnischen Regierung an. 50 Auch in Dänemark wirkte er unermüdlich und versuchte, Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 87 46 Kersten (wie Anm. 5), S. 322 f. 47 Rempel (wie Anm. 1), S. 116. 48 Stein (wie Anm. 27), S. 144. 49 De Wever, Bruno, »Rebellen« an der Ostfront. Die flämischen Freiwilligen der Legion »Flandern« und der Waffen-SS, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 39 (1991), S. 589-610. 50 Stein George H.; Krosby, H. Peter, Das finnische Freiwilligen-Bataillon der Waffen-SS. Eine Studie zur SS-Diplomatie und zur ausländischen Freiwilligen-Bewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgedurch <?page no="89"?> das Schüren von Intrigen zwischen dänischen Nationalsozialisten und der deutschen Führung des dänischen SS-Freikorps »Danmark« Einfluß zu gewinnen. 51 Nicht durch Zwang, sondern nur durch eine »freiwillige europäische Bewegung«, so erklärte er, könne »das neue Europa« geschaffen werden. Ziel sei die »Verteidigung Europas gegen europafeindliche Ideen, Einflüsse, Angriffe.« Berger forderte den Widerstand »gegen den Bolschewismus, gegen diese Ausprägung altasiatischen Geistes«, die schon seit 1917 Europa bedrohe. Dieser Gefahr müsse durch eine nationenübergreifende Waffen-SS begegnet werden. Aus einer solchen Grundhaltung erklärte Berger die von Hitler genehmigte Bildung einer europäischen Freiwilligenstandarte der Waffen-SS, die er aber trotz des übernationalen Charakters nicht als eine Art Fremdenlegion verstanden wissen wollte: In einer Fremdenlegion gehe »der europäische Gedanke vor die Hunde«. Immer wieder betonte er, die «europäische Aufgabe« erfordere die Respektierung der nationalen Eigenarten: Es müsse garantiert sein, »daß bei der Vereinigung Europas Sprache, Religion, Kultur, Herkommen der betreffenden Länder nicht angetastet werden, daß Europa nicht in einen Einheitsstaat eingeschmolzen werde, daß vielmehr eine europäische Verfassung geschaffen werde, noch loser als die von Bismarck 1871 den deutschen Ländern gegebene Verfassung. Einheitlich sollten sein die Verteidigung Europas und die Polizei.« 52 Nach 1945 hielt Berger standhaft an der Fiktion fest, das Ziel des Nationalsozialismus sei nicht eine Eroberungsidee, sondern die Gründung eines »europäischen Staatenbundes« gewesen: 53 »Ich war einer von den wenigen, der sich mit dem Bolschewismus auseinandergesetzt hat. Dinge, die man bis auf den heutigen Tag nicht glaubt. Das ist das, was mich so schwer mitnimmt. Nicht wegen meiner Person, sondern wegen meinem Volk.« 54 Bergers Europapolitik, eine Karikatur wohlverstandener »Völkerverständigung«, war mit Geburtsfehlern behaftet, die er bewußt nicht wahrnehmen wollte. Die ständig beschworene vermeintliche »Freiwilligkeit« scheiterte schon daran, daß dieses Europa von deutschen Gnaden verordnet wurde. Bergers »Vision« war ein Mythos, der nur in den euphorischen Tagen der deutschen Siege aufrechterhalten werden konnte. Er selbst mußte gestehen, daß sich etwa Letten und Finnen bei der Aufstellung der Divisionen nur »teilweise freiwillig« werben ließen, wenn er dafür auch die jeweils landeseigenen Stellen verantwortlich machte. 55 Zudem war Berger nicht in der Lage, seine gemäßigten Vorstellungen einer europäischen Neuordnung kritisch mit den Raubplänen Hitlers und Himmlers in Bezug zu setzen. Er erkannte Joachim Scholtyseck 88 schichte 14 (1966), S. 413-453. 51 Höhne (wie Anm. 2), S. 399. 52 Kersten (wie Anm. 5), S. 317-319. 53 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6: Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 30. September 1947. 54 Ebd.,Vernehmung Bergers, 17. Mai 1947. 55 Ebd., Vernehmung Bergers, 4. März 1947. <?page no="90"?> nicht, daß diese Eroberungskonzeptionen den Ideen eines gemeinschaftlichen Europa diametral zuwiderliefen. Es reichte nicht aus, die rauhen Vorstellungen Himmlers über bis an den Ural reichende deutsche Ostgebiete als »Ural-Fantasie« abzuqualifizieren. 56 Wie sich nach einem »Endsieg« ein neues deutsches Reich konkret gestalten sollte, blieb diffus, obwohl im SS-Hauptamt Pläne ventiliert wurden, eine »europäische Programmatik« zu entwickeln und die Waffen-SS zur »Keimzelle einer europäischen Wehrmacht« zu machen. 57 Politische Entwürfe einer auf völkischen Prinzipien beruhenden europäischen Großraumordnung kamen bei Berger jedenfalls nicht zum Zuge. Deshalb ist es verfehlt, Berger apologetisch als einen »Reformer« innerhalb des nationalsozialistischen Systems zu charakterisieren. 58 Bedenklich ist es auch, ihn als einen Zeugen für »stärkste Vorbehalte« gegen Hitlers Politik anzuführen: Selbst wenn er die Ostpolitik von ihrer »antislawischen Tendenz« zu befreien versuchte 59 , stellte er sich doch bis ans Kriegsende Himmler und Hitler bedingungslos zur Verfügung. Bergers Europapläne wurden bald durch neue Aufgaben ergänzt. Seit November 1942 kam es zu Überlegungen, Berger von seinem »SS-Hauptamt« als Verbindungsmann Himmlers zu Alfred Rosenbergs »Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete« abzustellen. Berger, der sich in seinem Amt eine fast unangreifbare Machtposition erkämpft hatte, scheute vor der Abordnung in eine fremde Behörde verständlicherweise zurück. Sein Widerstand und der energische Protest seiner Frau bei Himmler schienen zunächst Wirkung zu zeigen. Himmler versuchte, einen Ersatz für Berger zu finden: »Ich kann Berger als Chef des SS-Hauptamtes, der noch mitten im aufbauen [sic] ist und der die für die SS so lebenswichtige Aufgabe der Ergänzung und der weltanschaulichen Schulung gerade jetzt im Kriege hat, schwerlich entbehren.« 60 Himmler fiel die Trennung von Berger als einem seiner »engsten Mitarbeiter« 61 zwar schwer, aber der Reichsführer-SS stellte schließlich den eigenen Wunsch nach Beendigung der fortwährenden Querelen mit Rosenberg höher als die Privatinteressen Bergers. »Bleiben Sie mir gesund, mein Lieber, ich brauche Sie noch sehr lange«, schrieb er im Januar 1943 an seinen zu Rosenberg wechselnden treuen Diener. 62 Wenige Wochen später trafen sich Himmler und Rosenberg in Posen, um letzte Unstimmigkeiten zu bereinigen. Die Heranziehung Bergers als Mittelsmann war ihr Versuch, sich vor den Intrigen des Reichskommissars der Ukraine, Erich Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 89 56 Kersten (wie Anm. 5), S. 322. 57 Zu den Europavorstellungen der SS vgl. Neulen, Hans Werner, Europa und das 3. Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939 - 1945, München 1987, S. 61 - 68, Zitat S. 62. 58 Beispielhaft für entsprechende mißglückte Versuche: Taege, Herbert, NS-Perestroika? Reformziele nationalsozialistischer Führungskräfte. 1. Teilband: Beiträge zu Personen, Lindhorst 1988, S. 71-90. 59 Nolte, Ernst, Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus, Berlin, Frankfurt/ Main 1992, S. 195 f. 60 Himmler an Rosenberg, 10. Dezember 1942, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 61 Himmler an Rosenberg, 17. August 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 62 Himmler an Berger, 18. Januar 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger.Vgl. Himmler an Rosenberg, 16. Januar 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. <?page no="91"?> Koch, zu schützen: 63 »Koch verstand es glänzend, wenn Maßnahmen, die vom Ostministerium nicht durchgeführt werden konnten, diese in seinen Gau nach Ostpreußen zu bringen und sich diese nachträglich von Hitler genehmigen zu lassen, um einen Einfluß des Ostministeriums auszuschalten.« 64 Die Überstellung ins Ostministerium erfolgte am 1. April 1943. Bergers Verhältnis zu Rosenberg war von Beginn an gespannt. Er fürchtete, seinen wichtigen Einfluß bei Himmler zu verlieren: »Es war mir auch nicht möglich, 2 Herren zu dienen. Noch dazu wußte ich, daß Heinrich Himmler leicht umfällt.« 65 Der »Reichsführer-SS« selbst konnte allerdings zufrieden sein. Er hatte nun einen Späher bei seinem Rivalen installiert und gleichzeitig eine Verbindung gegen andere Konkurrenten geschaffen. Berger wurde, wie er selbst seine Aufgabe umschrieb, immer dann gerufen, »wenn es irgendwie im Osten zu Spannungen kam.« 66 Meist jedoch war Berger in der Lage, die anfallenden Aufgaben reibungslos zu erledigen. Im Konflikt zwischen Himmler und dem Generalgouverneur in Polen, Hans Frank, spielte Berger eine vergleichbare Rolle. Auch hier ging es um die Stellung Himmlers, die Berger zu sichern verstand. 67 Ähnlich blieb Berger in der Auseinandersetzung um SA-Stabschef Viktor Lutze, der immer wieder versuchte, die Wehrmacht gegen die SS zu mobilisieren, ein getreuer Gefolgsmann Himmlers. 68 Wie weit die Vasallentreue Bergers ging, zeigte exemplarisch ein Brief Bergers an Himmlers persönlichen Referenten Rudolf Brandt, dem er in einer Arbeitsdienst-Angelegenheit eröffnete: »Lieber Doktor, vielleicht bin ich einseitig, aber eine dem Reichsführer-SS gegebene Zusage wird erfüllt, und wenn darüber die Welt in Trümmer geht. Jedenfalls muß das der Grundsatz für jeden SS-Mann sein.« 69 Bergers Interesse für das deutsche Volkstum bescherte ihm in diesen Monaten einige Sondereinsätze: Die ursprünglich aus Angst vor polnischen Joachim Scholtyseck 90 63 Vgl. Höhne (wie Anm. 2), S. 16 und TWC, Bd. 13, 1, S. 479. 64 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 17. Mai 1947. 65 Ebd. 66 Ebd.,Vernehmung Bergers, 6. Dezember 1946. 67 Bergers langjähriger Beschützer Krüger war von Himmler als »Statthalter« ins »Generalgouvernement« geschickt worden, um diese Zone nicht gänzlich zur Domäne Franks werden zu lassen. Berger umschrieb diese Mission nachträglich wenig diplomatisch: Krüger sei »mit dem klaren Auftrag nach Krakau geschickt worden, Frank fertig zu machen.« Mündliche Mitteilung von Berger an Höhne, 1. Februar 1966, zit. nach Höhne (wie Anm. 2), S. 293. 68 Höhne (wie Anm. 2), S. 382-384. 69 Berger an Brandt, 25. Februar 1943, BA, Abt. III (BDC), Sammelakte 67, S. 243 f. Ein weiteres Beispiel für seinen Kadavergehorsam lieferte Berger, als Himmler ihn instruierte, einen unbotmäßigen Hausmeister wegen einer Lappalie zur Rechenschaft zu ziehen: »Verständigen Sie dann die Gestapo, daß diese den frechen Hausmeister, der ohne Zweifel Deutscher ist [...] einmal ganz scharf unter die Lupe nimmt und dafür sorgt, daß dieser entweder eingezogen oder dienstverpflichtet wird oder ins KL kommt«. Berger übergab die Angelegenheit pflichttreu an den Chef der Gestapo, Müller, »mit der Bitte, befehlsgemäß zu verfahren«. Himmler an Berger, 24. Oktober 1942; Berger an Himmler, 21. November 1942, BA, Abt. III (BDC), LO Sepp Dietrich, S. 141 und S. 146. <?page no="92"?> Rollkommandos gegründeten deutschen »Selbstschutzorganisationen« wurden schnell zum Mittel nationalsozialistischer Eroberungspolitik umfunktioniert. Hier spielten wiederum die Machtstreitigkeiten unterhalb der Führerebene eine Rolle. Himmler befürchtete eine Machtstärkung seines Rivalen Albert Forster in Polen und beauftragte Berger, aus den Selbstschutzstaffeln eine Himmler hörige volksdeutsche SS zu schaffen. Berger und sein Stab gingen mit der gewohnten Präzision vor und übernahmen im besetzten Polen die Kommandostellen des Selbstschutzes. Die Aufgaben wurden auf vier Ämter mit eigenen Verwaltungsbereichen aufgeteilt, in denen wiederum »Inspektionen« unter SS-Führung die Aufgaben der Hilfspolizei übernahmen. Während dieser reorganisierte »Selbstschutz« noch als relativ kontrolliert gelten konnte, kam es in Westpreußen und wenig später im Gebiet um Lublin bereits zu Liquidationen. 70 Im Sommer 1944 war Berger einer der Verantwortlichen der sogenannten »Heu- Aktion«, einer brutalen Verschleppung von 10 - 15jährigen Kindern aus Osteuropa zu Zwecken des Arbeitseinsatzes in Deutschland. In ähnlicher Weise wurden »Luftwaffenhelfer« aus dem Osten rekrutiert. Bergers »Lohn« für den Wechsel zu Rosenberg hätte seine Bestellung zum Staatssekretär im Ministerium sein sollen. Sogar Goebbels sprach im Februar 1943 vom »kommenden Staatssekretär Berger«. 71 Die erhoffte Beförderung wurde jedoch nie vollzogen. Obwohl er in recht devoten Briefen an den »Reichsführer-SS« an seiner Loyalität keinen Zweifel ließ 72 , kühlte sich nach der ausgebliebenen Ernennung zum Staatssekretär das Verhältnis zwischen Berger und Himmler merklich ab, wie Berger nach Kriegsende zu Protokoll gab: »Ich merkte, daß er nicht mehr ehrlich zu mir war oder vielleicht überhaupt nie ganz ehrlich gewesen ist. Vielleicht konnte ein Mann wie Himmler überhaupt nicht ganz ehrlich sein von Haus aus und nichts nehme ich einem Menschen in meinem Leben mehr übel, als wenn er mich betrog.« 73 Im Ostministerium zeigte sich, daß Bergers Macht auf der Nähe zu Himmler beruhte. Politisch war Berger, zwischen zwei Stühlen sitzend, faktisch kaltgestellt, obwohl ihn Rosenberg im August 1943 mit der Leitung des neugebildeten »Führungsstabes Politik« betraute. 74 Kein Trost konnte es sein, im gleichen Jahr als Vertreter des Wahlkreises Düsseldorf-Ost in den jeglicher parlamentarischer Bedeutung entkleideten Reichstag »gewählt« zu werden: Das Mandat als Reichstagsabgeordneter nahm er niemals wahr. 75 Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 91 70 Zit. nach Höhne (wie Anm. 2), S. 277. 71 Vgl. Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II. Diktate 1941 - 1945, Bd. 7, Januar - März 1943, München u.a. 1993, S. 285, Eintrag vom 8. Februar 1943. 72 Vgl. Berger an Himmler, 9. März 1943, in: TWC, Bd. 13,1, S. 283-287. 73 Zeugenaussage Bergers, NA Microfilm Publication M-897, Ministries Case, frame 1072. 74 Rosenberg an Berger, 10. August 1943, TWC, Bd. 13,1, S. 317. 75 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 29. Oktober 1947. <?page no="93"?> Im bizarren Netzwerk der SS blieb Berger, der in der Kunst des Intrigierens seit langem geübt war, von Angriffen auf die eigene Person nicht verschont. 76 Trotzdem verstand er es, sich in der nationalsozialistischen Bürokratie zu behaupten. Berger war, so beschrieb es einmal Albert Speer, trotz seiner »zähen rücksichtslosen Verhandlungsweise [...] von einer mittelmäßigen Gutmütigkeit« und zeigte »jene Banalität, die auf den ersten Blick gut zu leiden ist.« 77 Die offensichtliche Einfachheit seiner Gedankengänge und die von ihm immer wieder betonte soldatische Loyalität verdeckten eine gewisse Raffinesse, die nur schwer zu durchschauen war. So konnte sein Einfluß groß sein: »Wenn Berger sagte, das und das muß gemacht werden, wurde es gemacht [...] Berger hat es sehr gut verstanden, als geschickter Taktiker nett zu sein.« Nach dem Zusammenbruch vermochte Berger selbst alliierte Beobachter mit dieser jovialen Art, die das diabolische Element täuschend überlagerte, zu beeindrukken. 78 Intelligentere Nationalsozialisten wie Gestapo-Abwehrchef Schellenberg konnte Berger nicht überzeugen. Dieser bezeichnete ihn als »politisch ungeschickte[n] Mann«. 79 Schon Bergers fast ungehinderte Deckung der Verbrechen Dirlewangers hatte gezeigt, daß moralische Schranken längst durchbrochen waren. Über das Ausmaß des Vernichtungskrieges im Osten konnte sich Berger ohnehin keinen Illusionen hingeben. Ein Schlüsseldokument dieser Zeit stellte in diesem Zusammenhang die Anweisung Himmlers an Berger dar, wie mit dem Begriff »Jude« umzugehen sei. Es konnte danach für den »Schwabenherzog« keinen Zweifel mehr geben, in welche Richtung sich die »Verfolgung« der Juden entwickeln würde. Himmler schrieb ihm am 28. Juli 1942: »Lieber Berger! Zu Ihren Aktennotizen: 1. Ich lasse dringend bitten, daß keine Verordnung über den Begriff ›Jude‹ herauskommt. Mit all diesen törichten Festlegungen binden wir uns ja selbst nur die Hände. Die besetzten Ostgebiete werden judenfrei. Die Durchführung dieses sehr schweren Befehls hat der Führer auf meine Schultern gelegt. Die Verantwortung kann mir ohnedies niemand abnehmen. Also verbiete ich mir alles mitreden.« 80 Wenn diese Aussagen noch irgendeinen Zweifel am absoluten Vernichtungswillen und Bergers Wissen um das Ausmaß des Holocaust lassen konnten, dann wurden diese durch Himmlers berüchtigte Posener Joachim Scholtyseck 92 76 Höhne (wie Anm. 2), S. 18. 77 Speer, Albert, Erinnerungen, Frankfurt/ Main, Berlin 1969, S. 383. 78 Vgl. etwa die Charakterisierung durch Hugh Trevor-Roper, der Berger im Zusammenhang mit seinen Recherchen über Hitlers letzte Tage im Berliner Führerbunker befragte: »Berger was [...] a simple, elementary character, full of honest good nature, indefinite garrulity and unsophisticated emotion. The political subtleties, the psychological refinements [...] meant nothing to him. He had no sympathy with a soul in doubt, no understanding of the conflicting pressures, the divergent loyalties, to which Himmler had so long been subjected.« Trevor-Roper, Hugh, The Last Days of Hitler, 7. Aufl. London 1995, S. 110. 79 Zit. nach Das Dritte Reich im Kreuzverhör. Aus den unveröffentlichten Vernehmungsprotokollen des Robert W. Kempner, München, Esslingen 1969, S. 275. 80 Himmler an Berger, 28. Juli 1942, in: TWC, Bd. 14, 2, S. 1011. <?page no="94"?> Rede vor den zusammengerufenen SS-Gruppenführern vom 4. Oktober 1943 ausgeräumt, in der dieser die »Ausrottung des jüdischen Volkes« durch die SS als ein »niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt« ihrer Geschichte bezeichnete. Berger war unter den Zuhörern. 81 Seine Prozeßaussage, er habe erst in Dachau und Nürnberg von den Judenvernichtungen gehört 82 , war eine kraftlose Schutzbehauptung. Als Prozeßzeuge in Verfahren gegen ehemalige Kameraden mußte er später zugestehen, seit 1943 von den Vernichtungsaktionen gegen Juden gewußt zu haben. 83 Himmlers deutliche Worte können Berger kaum überrascht haben. Über das Treiben der »Einsatzgruppen« der SS im Osten war er weitestgehend informiert. Einer der Verantwortlichen, der SS-Obergruppenführer von dem Bach-Zelewski, teilte anläßlich einer Besprechung über die »Bandenbekämpfung« im April 1943 mit, es solle versucht werden, durch Berger eine ausreichende Bewaffnung mit Maschinenpistolen zu erreichen. Auch sonst hoffte er auf enge Kooperation: »Hinsichtlich der allgemeinen ostpolitischen Probleme teilte v. d. Bach mit, daß er soeben von einer Besprechung mit SS-Gruppenführer Berger komme und hoffe, daß dieser seinen Einfluß in der Richtung einer geschmeidigeren deutschen Ostpolitik geltend machen würde.« 84 Wenige Monate später konnte der im Juni 1943 zum SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS beförderte Berger auf einer Konferenz in Rosenbergs Ostministerium stolz von den »Erfolgen« der »Totenkopfdivision« im Kampf gegen die Partisanen berichten. Nach großangelegten Operationen im Generalgouvernement werde man sich nun, versprach Berger, in der Ukraine betätigen. 85 Das sich wandelnde Kriegsglück ließ ihn allerdings nachdenklich werden. Zu Beginn des Jahres 1943 wurde er vom medizinischen Berater des RFSS darauf angesprochen, ob Himmlers Aussagen der Wahrheit entsprächen, dieser sei eigentlich für eine Aussiedlung der Juden, etwa nach Madagaskar, gewesen. Berger antwortete zustimmend. Er empfand die Gefahr, die dem NS-Staat durch die Judenvernichtungen drohte, und deutete an, man werde »für das Verfahren gegen die Juden einmal mit unseren Knochen [..] bezahlen müssen.« Ansonsten aber hatte er eine Privatmeinung, die angeblich den Gesetzen der Menschlichkeit entsprach: »Ich bin nach wie vor dafür, daß die Juden ihren eigenen Staat irgendwo in der Welt errichten. In diesem Punkt wollte ich Himmler helfen. Leider hat er sich von Goebbels und Bormann, anstatt sie zu erledigen, umwerfen lassen; ebenso von Heydrich.« 86 Das bürokratische Zuständigkeitschaos erleichterte es, eigene Verantwortung zu verdecken und hinter Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 93 81 Himmlers Rede: IMT, Bd. 29, S. 110-173, hier S. 145. Vgl. Bergers Aussage während des »Wilhelmstraßenprozesses«: TWC, Bd. 13, 1, S. 475. 82 Aussage während des »Wilhelmstraßenprozesses«: TWC, Bd. 13, 1, S. 474. 83 Vgl. »Der Telegraf« (Berlin), 11. August 1964. 84 Aktenvermerk des RSHA, 14. April 1943, BA, Dahlwitz Hoppegarten, ZR 920, Akte 49. 85 Konferenzprotokoll über die Sitzung am 13. Juli 1943 vom 20. August 1943, in: TWC, Bd. 13, 2, S. 1016-1022, hier S. 1019. 86 Kersten (wie Anm. 5), S. 202. <?page no="95"?> vermeintlicher Machtlosigkeit eine tiefe Menschenverachtung und mangelnde Zivilcourage zu verstecken. Hinzu kam, daß Berger sich einzureden verstand, die »soldatische« Waffen-SS habe mit der Judenvernichtung nichts zu tun. Erregt schilderte er einem Vertrauten, die Waffen-SS sei eine Fronttruppe, die nicht einmal zur Bewachung von Konzentrationslagern eingesetzt werden dürfe: »Ich bin Soldat mitsamt der Waffen-SS. Wer von uns etwas anderes will als soldatische Handlungen, begeht ein Verbrechen an der Waffen-SS.« 87 Die SS unterstützte seit Kriegsbeginn immer offener die rumänische »Eiserne Garde«, die den faschistischen Idealen eher entsprach als die konservative Militärherrschaft des vom Auswärtigen Amt favorisierten Generals Ion Antonescu. Nach einem gescheiterten Putschversuch der »Eisernen Garde« gelang es dem »Sicherheitsdienst« (SD) der SS, wichtige der von ihnen protegierten Putschisten vor der Verfolgung zu schützen, sehr zum Unwillen Ribbentrops und Hitlers, der eine Verschwörung des SD hinter dem Putsch vermutete. Berger wurde in dieses »imbroglio« hineingezogen: Der Chef der »Eisernen Garde«, Horia Sima, war im Haus des deutschen »Volksgruppenführers« Andreas Schmitt versteckt worden: Schmitt, der »Volksgruppenführer« in Siebenbürgen, hatte kurz zuvor Bergers Tochter Krista geheiratet. In diesen Monaten hatte Berger schwere persönliche Schicksalsschläge zu verkraften. Innerhalb kurzer Zeit starben zwei seiner vier Kinder. Einer seiner Söhne kam im Februar 1943 als Untersturmführer der Leibstandarte Adolf Hitler ums Leben. Wenige Monate zuvor, im November 1942, war seine 20jährige Tochter Krista an den Folgen eines Attentats gestorben, das auf ihren Mann verübt worden war. 88 Das plötzlich hereingebrochene Unheil schärfte seinen Blick jedoch kaum. Als er im Sommer 1944 auf die immer schwieriger werdende innenpolitische Lage, die Korruption des Regimes und die kaum noch zu verheimlichenden Greueltaten im Osten angesprochen wurde, flüchtete sich Berger in die Hoffnung einer späteren Sühne: »Wir decken nicht üble Handlungen und Korruption, auch nicht von hohen Würdenträgern, auch nicht gewisse sogenannte Polizeimaßnahmen. Lassen Sie die Waffen-SS nach dem Kriege erst einmal nach Hause kommen, dann wird einiges vor sich gehen. Das habe ich dem Führer vorgetragen und er hat nicht nein gesagt. Leider muß es bis dahin dauern, so wie der Karren jetzt verfahren ist.« 89 Mit Sorge betrachtete er inzwischen die innenpolitische Situation: Goebbels etwa glaube, »er habe das Volk in der Hand. Er hält sich für den Fakir, auf dessen Pfeifen und Rufen die Viper Joachim Scholtyseck 94 87 Kersten (wie Anm. 5), S. 202. 88 Auch Schmitt fand ein gewaltsames Ende: Er starb bei einem Flugzeugabsturz im September 1944. NA, RG 319, IRR, NND 846030; Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 3. Dezember 1946. Vgl. auch ebd., Vernehmung Bergers, 30. September 1947 und Höhne (wie Anm. 2), S. 267 f. 89 Ebd., S. 327. <?page no="96"?> und die Brillenschlange tanzt. Nun ist das deutsche Volk keine Brillenschlange, dazu ist es viel zu schwerfällig, hat auch zu wenig Gift und Dr. Goebbels ist kein Fakir.« 90 Bergers Einfluß und seine Allgegenwärtigkeit wurden im Ausland aufmerksam registriert. Nach dem Attentat des 20. Juli 1944 nahm die in London erscheinende deutsche Exil-Zeitschrift »Die Zeitung« an, angesichts der Säuberungen in der Wehrmacht nach dem Hitlerattentat sei voraussehbar, daß Berger, dem »alle Fragen des Verkehrs und Nachschubs für die Waffen-SS« unterstünden, zu den SS-Führern gehören werde, die »in naher Zukunft wichtige Stellungen erhalten« würden. 91 Solche Vermutungen stellten sich schnell als zutreffend heraus. Im August 1944 kam es in der Slowakei zu Unruhen. Die sich abzeichnende deutsche Niederlage und der unaufhaltsam scheinende Vorstoß der Roten Armee hatten eine Lage geschaffen, in der die uneingeschränkte und unüberwindliche Machtstellung der Vasallenregierung ins Wanken geriet. Wiederum diente Berger als Retter in höchster Not. Als Vertreter Himmlers in Rosenbergs Ostministerium wurde er nach Preßburg geschickt, um, versehen mit einer Generalvollmacht, die Unruhen zu unterdrücken. Berger benötigte nur wenige Wochen, um in der Slowakei die »Front der Friedhofsruhe großdeutscher Herschaft« 92 noch einmal zu sichern. In seinem Gefolge fanden sich nicht nur Dirlewanger mit seinem berüchtigten SS-Sonderkommando, sondern auch die »Judenjäger« Josef Witiska und Adolf Eichmann. Bereits am 19. September wurde Bergers slowakische Aufgabe von SS-Obergruppenführer Hermann Höfle übernommen. 93 Hierfür waren weder Kompetenzenwirrwarr noch ein Versagen Bergers ausschlaggebend: Himmler hatte für Berger, der diesen »soldatischen« Posten nur widerwillig räumte, einen anderen Auftrag. Mitte September 1944 wurde er zum Stabsführer des Deutschen Volkssturms ernannt. 94 Weitere Aufgabenbereiche kamen in den folgenden Wochen hinzu: In der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober 1944 war Berger von Hitler persönlich mit der Beaufsichtigung der Kriegsgefangenen und Internierten beauftragt worden. 95 In dieser Eigenschaft mußte er, wie er später in einem Verhör zugab, die ungenügende Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 95 90 Berger an Himmler, 10. Oktober 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 91 »Marschall Himmler und sein Generalstab«, in: Die Zeitung (London), 28. Juli 1944, abgedruckt in: Adam, Ursula (Hrsg.), »Die Generalsrevolte«. Deutsche Emigranten und der 20. Juli 1944, Berlin 1994, S. 40-45, hier S. 44. 92 Höhne (wie Anm. 2), S. 504. 93 Am 8. November 1944 gab das OKW bekannt, die »organisierte Aufstandsbewegung« in der Slowakei sei nach zweimonatigem Kampf zusammengebrochen. Höfle wurde 1948 in einem Preßburger Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet. 94 Aufzeichnung Bergers, 19. September 1944, in: TWC, Bd. 13,1, S. 369. Gleichzeitig erhielt er über Himmler für seine »slowakische Arbeit« das Eiserne Kreuz II. Klasse. 95 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946-1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6: Office of U.S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 1. Mai 1947. Vgl. IMT, Bd. 4, S. 222 und den Bestand in BA, NS 6: Partei-Kanzlei der NSDAP, Nr. 2836: Neuordnung des Kriegsgefangenenwesens (30. September 1944) und Nr. 2897: Stabsführer des Deutschen Volkssturms beim Reichsführer-SS und beim Reichsleiter Bormann. <?page no="97"?> Versorgung der Gefangenen erkennen: »Ich besuchte ein Lager im Süden von Berlin [...] Es war mir damals klar, daß die Ernährungsverhältnisse völlig unzureichend waren, was eine heftige Auseinandersetzung zwischen Himmler und mir zur Folge hatte. Himmler war sehr dagegen, die Pakete des Roten Kreuzes in den Kriegsgefangenenlagern in gleichem Maße wie bisher weiter zu verteilen. Was mich anbetrifft, so war ich der Ansicht, daß wir in diesem Falle mit einem sehr ernsten Problem wegen des Gesundheitszustandes der Leute zu rechnen hatten.« 96 Organisatorische Meisterleistungen waren im letzten Kriegsjahr kaum noch möglich. Trotzdem ventilierte Berger in der zweiten Jahreshälfte 1944 umfangreiche Pläne, die Rekrutierung von Soldaten für den Kriegseinsatz zu vereinheitlichen. Seine Konzeption sah vor, die gesamten Reserven deutscher »Volkskraft« in einer neu zu schaffenden Behörde zu zentralisieren. Wehrmacht, Waffen-SS, Polizei, Reichsarbeitsdienst, Organisation Todt und der zivile Arbeitssektor hätten nach diesem Vorhaben einer neuen Berliner Behörde Himmlers unterstanden, die möglicherweise von Berger selbst hätte verwaltet werden sollen. Solch hochfliegende Pläne konnten aber angesichts der Lage nicht mehr verwirklicht werden und wären sicherlich auf mannigfachen Widerstand gestoßen. Die sich abzeichnenden Verselbständigungstendenzen im auseinanderbrechenden Hitlerstaat gaben auch Berger zu denken. Die Hoffnung auf einen mit dem »Führer« noch zu gewinnenden Krieg hatte er zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben. Trotz aller antisowjetischen Vorbehalte hing er zeitweilig dem Wunschtraum nach, der SS könne es gelingen, über die offiziellen Stellen in Berlin hinweg einen Separatfrieden im Osten zu erreichen. 97 Der Zufall brachte aber noch eine andere Möglichkeit, sich für die Nachkriegszeit in einem positiveren Licht zu zeigen. Der Chef des SS-Hauptamtes wurde in dieser Phase zum Retter einiger Verschwörer des 20. Juli 1944. Gegen die Interessen der Gauleitung in Württemberg hatte sich Berger, dessen Vater zusammen mit Robert Bosch Soldat gewesen war, stets als Beschützer der Stuttgarter Firma gesehen. Das Verhältnis des Demokraten Bosch zu den Machthabern war seit langer Zeit gestört. Gauleiter Murr hatte gedroht, er werde »die Nebenregierung Bosch nicht länger dulden«. 98 Das Unternehmen sah keinen Anlaß, die auf parteiinternen Querelen und Rivalitäten beruhende Beschützermentalität Bergers nicht für seine Zwecke zu nutzen. Zunächst hatte man sich der Vermittlungstätigkeit Bergers vornehmlich in Jagd- und Pachtangelegenheiten bedient. Berger, der Robert Bosch trotz aller weltanschaulichen Unterschiede beinahe bedingungslos verehrte, hatte sich seinerseits auf diese Weise eine nicht unerhebliche Vertrauensstellung geschaffen, die im Krieg eine ungeahnte politische Dimension erhielt. Der Tod des Unternehmensgründers und Hitlergegners Bosch im Jahr 1942 bedeutete keine Zäsur in der politischen Ausrichtung der Stuttgarter Firma, die als Joachim Scholtyseck 96 96 Verhörprotokoll Berger, IMT, Bd. 6, S. 379. 97 Vgl. Berger an Himmler, 26. September 1944, BA, NS 19/ 184. 98 Zit. nach Miller, Max, Eugen Bolz. Staatsmann und Bekenner, Stuttgart 1951, S. 481. <?page no="98"?> Zentrum der Nonkonformität und des Widerstands gar zu einer Art Anlaufstelle der Verschwörer wurde, die Berger unbewußt schützte. Bereits 1942 hatte Berger nach der Verhaftung eines Mitarbeiters dessen Freilassung ermöglicht. 99 Im folgenden Jahr war es ihm gelungen, die gegen den »Betriebsführer« Walz eingeleiteten Untersuchungen der Gestapo und des SD zu beenden. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, in das führende Mitarbeiter Boschs involviert waren 100 , bestand für diese akute Gefahr. Berger griff erneut ein. Die beinahe groteske Rivalität Bergers mit dem Gauleiter Murr erwies sich in diesem Fall als lebensrettend. Sie wirft darüberhinaus ein Schlaglicht auf die byzantinisch anmutenden Strukturen des Terrorregimes, die solche Möglichkeiten offenhielten. Über die Beteiligung führender Mitarbeiter am Umsturzversuch war Berger nicht informiert: Dies hatte man ihm gegenüber wohlweislich verschwiegen. Nach der Verhaftung des an den Planungen der Verschwörer beteiligten Bosch-Mitarbeiters Albrecht Fischer und seiner Überstellung an die berüchtigte Gestapo-Zentrale in Berlin fuhr »Betriebsführer« Walz »gegen Ende 1944« in die Hauptstadt, um angesichts der bevorstehenden Verhandlung vor dem Volksgerichtshof Hilfsmöglichkeiten zu erkunden. Hier fiel der Name »Berger«, der als wichtige »Parteiverbindung« eingesetzt werden konnte. Fischer wurde vom Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland Freisler in seinem Prozeß am 12. Januar 1945 tatsächlich im Vergleich zu seinen Mitangeklagten recht milde behandelt. Nicht nur Fischer selbst fiel diese günstige Behandlung auf. 101 Welchen Anteil hatte Berger an der Rettung Fischers vor dem Tod? Diese Frage ist angesichts der widersprüchlichen Überlieferung und der ungünstigen Quellenlage nur schwer zu beantworten. Berger erfuhr erst Wochen nach dem Attentat durch Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 97 99 Vgl. RBA 13/ 77; 13/ 84. 100 Vgl. Scholtyseck, Joachim, Der »Stuttgarter Kreis« - Bolz, Bosch, Strölin. Ein Mikrokosmos des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, in: 20. Juli 1944 in Baden und Württemberg, hrsg. v. R. Lill, M. Kißener (Portraits des Widerstands 3), Konstanz 1994, S. 61-123, hier S. 109-115. 101 Vgl. Fischer, Albrecht, Erlebnisse vom 20. Juli 1944 bis 8. April 1945, in: Widerstand und Erneuerung. Neue Berichte und Dokumente vom inneren Kampf gegen das Hitler-Regime, hrsg. von O. Kopp, Stuttgart 1966, S. 122-166, hier S. 151 f. Auch der offizielle Prozeßbericht notierte den offensichtlich guten Stand Fischers bei Freisler, der dem Boschmitarbeiter »manchen Rettungsanker« zuwarf. Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.), »Spiegelbild einer Verschwörung«. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt Bd. 1, Stuttgart 1984, S. 709. Fischer wurde trotz Freispruchs und Protegierung durch Berger von der Gestapo ins KZ eingeliefert, das er erst kurz vor Kriegsende, am 3. April 1945, durch die Fürsprache von Hans Walz und wiederum unter Mithilfe Gottlob Bergers verlassen konnte. Anläßlich der Entlassung Fischers spielten sich groteske Szenen ab: Nachdem Fischer auf dem Weg vom KZ in die Heimat nach Stuttgart noch seinem »Beschützer« Berger in Berlin vorgestellt wurde, entspann sich zwischen ihnen folgender mitternächtlicher Dialog: »Er redete mich an: ›So, Baurat, da bist Du ja. Ihr Schwaben habt eben immer besondere Dickköpfe und dann macht ihr hin und wieder eine Dummheit.‹ Ich antwortete ihm, er als Schwabe müsse das ja gut wissen. Er sagte noch: ›Wenn der alte Bosch Dich nicht so geschätzt hätte, so hätte ich auch nichts für Dich tun können. Also auf später! ‹« (Fischer, S. 162.) <?page no="99"?> Walz über die Gefährdung des Stuttgarter Unternehmens durch die Sicherheitsbehörden. Walz bat ihn, »geeignete Schritte zur Befreiung« Fischers einzuleiten. Berger entgegnete, nichts tun zu können, da Hitler verboten habe, für Angeklagte des 20. Juli ein begütigendes Wort einzulegen. Er erklärte sich jedoch bereit, die Vernehmungsprotokolle zu besorgen, obwohl er sich aufgrund der Beweislage wenig optimistisch über Fischers Chancen äußerte. 102 Die tiefe Verstrickung der Führungsriege in die Verschwörung durchschaute er zeitlebens nicht. Diese Naivität mag zum durchschlagenden Erfolg des Unternehmens beigetragen haben, mehrere Angeklagte »aus höchster Gefahr herauszupauken«. 103 Berger war die sagenumwobene »Parteistelle«, die die Protektion der Boschmitarbeiter erklärte. Einer der Verschwörer bei Bosch, der frühere Privatsekretär des Firmengründers, Willy Schloßstein, der im Zuge der Attentatsermittlungen in Stuttgart verhört und nach Berlin zum Reichssicherheitshauptamt zitiert worden war, bewertete später Bergers Einsatz: 104 »Ohne diese Hilfe wäre die gesamte Geschäftsleitung von Bosch gleich der vielen anderen Opfer des 20. Juli 1944 auch ums Leben gekommen.« 105 In Berlin traf Berger Schloßstein als »einen völlig zusammengebrochenen Mann«, den er als Chef des »SS-Hauptamtes« zumindest vorübergehend vor der Gestapo schützen konnte. Berger hielt sein gegenüber Walz gegebenes Wort und informierte sich zunächst über die von der Gestapo vermuteten süddeutschen Verbindungen. 106 Nach eigenen Angaben entschloß sich Berger schließlich, bei Hitler ein Gnadengesuch einzureichen. Diese an und für sich phantastisch anmutende Behauptung wird glaubhafter, wenn man sich die personalistischen Entscheidungsprozesse des Führerstaats vor Augen hält: Berger stand bei Hitler wegen seines militärischen Erfolgs Joachim Scholtyseck 98 102 Berger an Walz, 4. Oktober 1944, RBA 13/ 84: »Oberbürgermeister Goerdeler hat sich ja bekanntlich über 10 Tage der Verhaftung entziehen können. Diese Tage genügten aber, ihn derart weich zu machen, daß er nicht nur ohne Aufforderung alles aussagt, sondern auch an Hand von geführten Notizbuchaufzeichnungen alle möglichen Leute, auch alle jene mit denen er irgendwie geschäftlich zu tun hatte, belastet. Es würde mich gar nicht wundern, wenn eines Tages Ihr Name irgendwie auftaucht. Ich möchte nochmals betonen, daß er freiwillig aussagt, viel mehr als man von ihm eigentlich verlangt. Über Baurat Fischer sinngemäß folgendes: ›Die Ernennung des Baurat Fischer zum Beauftragten für den Gau Württemberg ist von mir veranlasst [...]‹. Mit diesen und ähnlichen Aussagen hat er meiner Ansicht nach für Fischer das Todesurteil gesprochen, zumindest wird das Urteil für eine lebenslängliche Haft ergehen. Vielleicht kann ich mich aber auch täuschen«. Vgl. die Tonbandaufzeichnung Bergers: RBA (zit. nach der Mitschrift), S. 18. 103 RBA, 13/ 127. 104 RBA, 13/ 229; Tonbandaufzeichnung Bergers (wie Anm. 102), S. 20 f. 105 RBA, 13/ 39. Goerdeler hatte in seinen Aufzeichnungen neben Fischer auch Schloßstein erwähnt und als Wirtschaftsminister für Württemberg-Baden in Vorschlag gebracht. Für das folgende der Bericht Bergers in: RBA, 13/ 84 und Tonbandaufzeichnung Bergers (wie Anm. 102), S. 20-25. Quellenkritische Zweifel am Wert dieser Stellungnahmen aus den Jahren 1953 (Bericht) bzw. 1962 (Tonbandaufzeichnung) sind trotz der Übereinstimmungen mancher Stellungnahmen der Beteiligten und der Konkordanz des Schriftverkehrs Bergers aus der Zeit des Nationalsozialismus angebracht. 106 RBA, 13/ 84, Bericht; vgl. Tonbandaufzeichnung Bergers (wie Anm. 102), S. 22. <?page no="100"?> in der Slowakei in hoher Gunst. 107 Wenngleich irgendeine Gefälligkeit des »Führers« für Berger insofern vorstellbar sein mochte, sind Zweifel über ein angebliches Treffen Bergers mit Hitler angebracht. Obwohl die persönlichen Begegnungen zwischen Berger und Hitler im letzten Kriegsjahr an Häufigkeit zunahmen 108 , erscheinen die Angaben Bergers über das Zusammentreffen aus mehreren Gründen letztlich als unglaubwürdig. 1. Berger entpuppte sich nach 1945 in vielen anderen Fragen der nationalsozialistischen Vergangenheit als unsicherer Kantonist, der irreführende oder ganz falsche Aussagen machte. Seine eigenen Angaben bedürfen daher einer sehr genauen Überprüfung. 109 2. Folgt man Bergers Angaben, dann fand die Besprechung mit Hitler im thüringischen Ohrdruf statt. 110 Der angebliche Ort des Treffens, der als vorübergehendes Quartier des OKW vorgesehen war, ist von Hitler jedoch nie besucht worden. 111 3. Wenn sich Berger im Ort geirrt hatte, wie stand es dann um den vermeintlichen Zeitpunkt? Ein Gespräch mit Hitler am 18./ 19. September 1944 in der »Wolfsschanze« hatte vornehmlich Fragen des Kriegsgefangenenwesens behandelt. Da Walz in Berlin erst im Dezember 1944 vorsprach, muß es sich um ein späteres Gespräch gehandelt haben. Mitte November 1944 war Berger durch einen Bombenangriff verletzt worden 112 und auf ärztliche Anordnung für mehrere Tage in Erholung gefahren. Hitler kehrte am 20. November 1944 endgültig aus Ostpreußen nach Berlin zurück. Im Dezember 1944 richtete er im Rahmen der »Westoffensive« sein Hauptquartier »Adlerhorst« in der Nähe von Bad Nauheim ein, wo er am 10. Dezember eintraf. Er besprach dort die Angriffspläne und kehrte am 15. Januar in die Reichshauptstadt zurück. Für diese Wochen zwischen dem 20. November 1944 und dem 15. Januar 1945, in der die entscheidende Fürsprache hätte erfolgen müssen, Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 99 107 RBA, 13/ 84, Bericht: »Bei der Rückkehr [von der Ostfront, J.S.] überhäufte mich Hitler mit Gunstbeweisen. Die angebotene Dotation, wie es damals üblich war, lehnte ich ab. Ich meldete mich zum Vortrag, wurde sofort angenommen und bat ihn anstelle der Dotation mir diese Männer freizugeben.« 108 In seinen Verhören äußerte sich Berger über die Gründe: »In know more about the whole show than you suspect because I visited Hitler so frequently. It was only in September that I came into close contact with him, when he was already in the soup because of that revolte in Slovakia. […] Then I had to see the Führer in January, February and March concerning PW organization; there was a clash every time.« Vernehmung Bergers, 13. Juni 1945, NA, RG 319, IRR, NND 846030. 109 Vgl. zu Bergers Fabulierkunst und Unzuverlässigkeit Fleming, Gerald, Die Herkunft des »Bernadotte-Briefs« an Himmler, 10. März 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 26 (1978), S. 571-600, bes. S. 578 und 597. 110 RBA 13/ 84, Bericht. Vgl. Scholtyseck (wie Anm. 100), S. 114. 111 Trevor-Roper (wie Anm. 78), S. 83, Anm. 1. 112 Diese Angaben schwanken. In einem Vernehmungsbericht gab Berger an, am 5. oder 8. Oktober 1944 verschüttet und danach 16 Tage dienstunfähig gewesen zu sein. Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 30. Oktober 1947. <?page no="101"?> finden sich trotz recht guter quellenmäßiger Überlieferung keine Hinweise auf ein Zusammentreffen Hitlers mit Berger. Nach der Rückkehr des »Führers« in die Reichshauptstadt wäre es für eine Intervention schon zu spät gewesen, da die Prozesse bereits verhandelt worden waren. 4. Berger gehörte keineswegs zu Hitlers Entourage. Er hatte zwar nach seinem slowakischen Erfolg beim »Führer« einen guten Stand, aber es ist doch höchst unwahrscheinlich, daß er in einer derart sensiblen Angelegenheit wie der Verschwörung gewagt hätte, einen Vorstoß vorzunehmen, wie er ihn später ausführlich beschrieben hat. Berger war ein Meister der Intrige; für eine Vorsprache beim »Führer« wäre dagegen Zivilcourage notwendig gewesen, an der es Berger ermangelte. Bedenkt man die durch kalte Wut geprägte Haltung Hitlers gegen die Verschwörer, so erscheint die Intervention noch unplausibler. 5. In seinen frühen Verhören und bei seiner Verhandlung vor dem Nürnberger Gericht verwies Berger zwar mitunter auf seine Hilfe für die Angeklagten, von einer direkten Fürsprache bei Hitler selbst war jedoch nicht die Rede. Im Laufe der Jahre wurden seine Aussagen über seine Hilfeleistung freilich immer elaborierter. Sein angebliches Gespräch mit Hitler bildete die Krone der Ausschmückungen. Da eine direkte Intervention Bergers bei Hitler nicht nachweisbar und nach dem zuvor Gesagten auch wenig wahrscheinlich ist, wirken andere Szenarien plausibler: Berger konnte durchaus seine weitreichenden Verbindungen in Berlin nutzen, um die Behandlung und das Urteil Fischers zu beeinflussen. Möglicherweise erfolgte die Fürsprache über Himmler, von dem er glaubte, dieser sei schon im Vorfeld des 20. Juli 1944 über die Attentatsplanungen »orientiert gewesen«. 113 In einem ganz ähnlich gelagerten Fall gelang es dem finnischen Leibarzt Himmlers, für den im Zuge der Vergeltung für den 20. Juli vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Theodor Steltzer vermittelnd einzugreifen. 114 Wenn Himmler nicht eingeschaltet wurde, könnten andere Mittelsmänner herangezogen worden sein. Unter Umständen begab sich Berger direkt zu Freisler, um sich für Fischer zu verwenden. 115 Joachim Scholtyseck 100 113 Zeugenaussage Bergers, National Archives Microfilm Publication M-897, Ministries Case, frame 1073. Vgl. hierzu auch Hoffmann, Peter, Widerstand - Staatsstreich - Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler. 4. Aufl. München, Zürich 1985, S. 466 f. 114 Ende Januar 1945, wenige Tage vor der geplanten Hinrichtung, erwirkte Himmler tatsächlich die Aufhebung des Todesurteils. Ein wenig später erfolgendes Drängen des finnischen Medizinalrats Kersten, eines Vertrauten Himmlers, auf Freilassung Steltzers akzeptierte Himmler mit der Bemerkung, »einer mehr oder weniger spiele schließlich keine so große Rolle.« Kersten (wie Anm. 5), S. 288. Vgl. Steltzer, Theodor, Sechzig Jahre Zeitgenosse, München 1966, S. 172 f. 115 »Als der Name Gottlob Berger fiel, meinte der Offizialverteidiger, der könne zweifellos helfen. Er brauche gar nicht selbst zu Freisler gehen, es genüge, wenn er nur jemanden aus seinem Büro zu Freisler schicke mit dem Bemerken, Baurat Fischer sei bei der SS gut empfohlen. Damit sei bei Freisler die Glaubwürdigkeit Albrecht Fischers besiegelt und infolgedessen ein Freispruch gesichert. Walz begab sich daraufhin sofort zu Berger. Dieser habe denn auch dem dringend ausgesprochenen Wunsch von Hans Walz nachgegeben und sich für Albrecht Fischer bei Freisler verwendet« Fischer (wie Anm. 101), S. 151 f. Vgl. das umfangreiche Manuskript von Hans Walz »20. Juli 1944«, das sich mit dieser Version deckt: RBA 13/ 127. <?page no="102"?> Licht ins Dunkel dieser Vorgänge wird sich wohl nicht mehr bringen lassen. Nach quellenkritischer Abwägung kann man jedoch feststellen: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit intervenierte Berger für Angeklagte des »20. Juli«. Möglicherweise erfolgte diese Fürsprache über Himmler, eventuell auch über den Präsidenten des Volksgerichtshofs Freisler selbst. Unplausibel dagegen ist die von Berger später vertretene Behauptung, er habe den Gnadenerweis bei Hitler persönlich erbeten und durchgesetzt. Über die Motive Bergers läßt sich nur spekulieren. Als Schwabe in Preußen verband ihn ein besonderes Verhältnis zu seinen angeklagten Landsleuten. Darüber hinaus glaubte er sich, seinem Treueverständnis entsprechend, den Mitarbeitern Robert Boschs verpflichtet. Und nicht zuletzt wird man in Rechnung stellen müssen, daß Berger an »die Zeit danach« dachte und sich spätere Fürsprecher in den kommenden schwierigen Zeiten sichern wollte. Wie wichtig ihm diese Vorsorge war, zeigen seine Aktionen in der Weihnachtszeit des Jahres 1944. Himmlers Leibarzt Kersten, nicht nur während der Jahre des »Dritten Reiches« eine ausgesprochen schillernde Persönlichkeit, stand in finanziellen Verhandlungen über den Plan, Juden gegen Beträge zwischen 50.- und 500.- Schweizer Franken in die Schweiz ausreisen zu lassen. 116 Himmler versuchte inzwischen verzweifelt, durch derartige Freigiebigkeiten und Manöver seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Berger, der in diesen Wochen in die Versuche der SS involviert war, im Untergrundkrieg der Geheimdienste eine vorteilhafte Position zu erlangen, 117 zeigte sich auch über diese zwielichtigen Transaktionen informiert. Zur gleichen Zeit wurde Berger in einen Vorgang verwickelt, der für ihn schwerwiegende Folgen haben sollte. In Frankreich war ein kriegsgefangener deutscher General an Partisanen ausgeliefert und ermordet worden. Hitler, der davon erfahren hatte, forderte umgehend eine Racheaktion mit gleichen Mitteln: Ein französischer General, so lautete der Befehl, sollte das gleiche Schicksal erleiden. Die Befehlskette zur Planung und Ausführung dieses Führerbefehls läßt sich nicht mehr exakt rekonstruieren, der französische General Mesny wurde jedoch am 19. Januar 1945 »auftragsgemäß« liquidiert. Die betroffenen Behörden - Auswärtiges Amt, Bergers Amt als Aufsicht des Kriegsgefangenenwesens, Wehrmacht und RSHA - hatten versucht, sich gegenseitig mit Blick auf die Durchführung des schrecklichen Plans den »schwarzen Peter« zuzuschieben. Berger hörte Anfang November 1944 von Hitlers Befehl und versuchte Mitte Dezember Himmler auf den »Fall Mesny« anzusprechen. Dieser war ausgesprochen nervös. Er fürchtete, von Hitler aufs süddeutsche Abstellgleis geschoben zu sein, und hoffte, durch Berger, der das Kriegsgefangenenwesen beaufsichtigte, »gute Taten« für eine Zeit nach Hitler vorweisen zu können. Ein Gespräch mit Himmler am 12. Dezember verlief entspre- Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 101 116 Kersten (wie Anm. 5), S. 245 und 277 (Faksimile eines Briefes Kerstens an Himmler, 21. Dezember 1944). 117 Vgl. Vernehmung Bergers, 13. Juni 1945, NA, RG 319, IRR, NND 846030. <?page no="103"?> chend unerfreulich: Himmler war bemüht, seine »Friedensfühler« nach Schweden weiter auszustrecken. Berger ging es vornehmlich darum, sich durch möglichst gute Taten im Kriegsgefangenenwesen den zukünftigen alliierten Siegern als gewissenhafter Offizier zu präsentieren. Er kehrte nach Berlin zurück und erfuhr kurz vor Weihnachten von Himmler, der »Fall« werde sich friedlich regeln. Als Berger nach seinem Weihnachtsurlaub Anfang Januar 1945 zurückkam, schien die Strafaktion im Sande verlaufen zu sein. Wenige Tage später ließ Hitler jedoch auf Umsetzung des Führerbefehls drängen. Berger konnte nach eigenen Angaben nicht mehr eingreifen, weil er in diesen ersten Tagen des Jahres für die Organisation des Volkssturms in Thüringen umherreiste und erst Ende Januar wieder in Kontakt mit Berlin kam. Bergers Versuch, sich hinter den gegenläufigen Befehlsstrukturen des sich langsam auflösenden Reiches zu verstecken, war wohlkalkuliert und effektiv: Der Beauftragte für das Kriegsgefangenenwesen, der dafür verantwortlich war, daß ein französischer Offizier kaltblütig gegen jegliche völkerrechtliche Bestimmung ermordet wurde, entzog sich im entscheidenden Augenblick durch Abwesenheit der Verantwortung. Angesichts der immer bedrohlicheren Lage versuchte sich Berger zu Beginn des Jahres 1945 erneut zu profilieren: Am 8. Januar legte er Himmler einen ebenso detaillierten wie umfangreichen Plan zur Reorganisation seines »Hauptamtes« vor. 118 Es ist kaum anzunehmen, daß Berger angesichts des Vormarsches der Alliierten zu diesem Zeitpunkt seinen Maßnahmen noch irgendeinen praktischen Wert beimaß. Die drohende Niederlage vor Augen, ging es ihm darum, den eigenen Kopf zu retten und nebenher einen sowjetischen Sieg zu verhindern. Ausführlich erläuterte er später den amerikanischen Offizieren seine Aktivitäten während der letzten Monate des Dritten Reiches: »When I saw that everything was lost, I supported all attempts to swing a deal in the West.« 119 Im Januar 1945 beendete Berger auf eigenen Wunsch seine Arbeit als Leiter des Führungsstabes Politik in Rosenbergs Ostministerium und arbeitete von da an nur noch als Verbindungsmann zwischen Himmler und Rosenberg. Die scharfen Vorwürfe Rosenbergs gegen die SS waren ihm seit jeher ein Dorn im Auge gewesen. 120 Goebbels stellte noch am 8. Februar 1945 nach einem Gespräch mit Berger fest, dieser sei »ein kluger und energischer Kopf«, der sich »immer für meine Gedanken und Thesen der Kriegsführung wärmstens eingesetzt« habe. Im Gespräch mit Goebbels war Berger nun allerdings der Ansicht, man habe »in vielen Dingen zu lange zugewartet« und müsse »jetzt dafür die Zeche zahlen«. 121 Joachim Scholtyseck 102 118 Berger an Himmler, 8. Januar 1945, TWC, Bd. 13, 1, S. 379 f. 119 Vernehmung Bergers, 5. Juni 1945, NA, RG 319, IRR, NND 846030. 120 Rosenberg an Berger, 20. Januar 1945, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger; vgl. TWC, Bd. 13,1, S. 382 f. 121 Vgl. Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II. Diktate 1941 - 1945, Bd. 15, Januar - April 1945, München u.a. 1995, S. 334. Eintrag vom 8. Februar 1945. <?page no="104"?> Im März und April 1945 erfüllte Berger, der inzwischen engen Kontakt zum Führerbunker in Berlin hielt, noch zwei Spezialaufgaben. Er mußte Kriegsgefangene aus Pommern Richtung Westen zurückführen und die französische SS-Division Charlemagne aus Kolberg entsetzen. 122 In Berlin kam es in dieser Zeit zu zwei dramatisch verlaufenden persönlichen Zusammentreffen Hitlers mit Berger. 123 Über den Hergang dieser Gespräche lassen sich kaum genaue Angaben machen; Bergers ohnehin nur mit großem Vorbehalt zu benutzende Angaben sind in sich widersprüchlich; aber ohne jeden Zweifel machten Goebbels und Hitler Berger im ersten Gespräch Vorwürfe, daß dieser die »Kriegsgefangenenfrage« nicht »energisch« betreibe. Im zweiten Gespräch - Ende März oder Anfang April 1945 - , das sich im Kern auf einen Vortrag im Führerbunker während einer Lagebesprechung beschränkte, blieb es bei kurzen Bemerkungen Hitlers zu Fragen der Kriegsgefangenenüberführung Richtung Westen. 124 Trotz aller gegen ihn erhobenen Vorwürfe blieb Berger bis weit in den April hinein in der engeren Umgebung des »Führers«. Noch am 19. April 1945 wurde er mit einer weiteren Sondermission betraut: Er erhielt die militärische Vollmacht für den Bereich Bayern. 125 Vor Antritt dieses Amtes kam es am Abend des 22. April zu einem gespenstischen letzten Zusammentreffen mit Hitler im »Führerbunker«. Er wollte Berlin nicht ohne ausdrücklichen Führerbefehl verlassen, um nicht den Anschein zu erwecken, die Flucht angetreten zu haben. Recht glaubwürdig schilderte er später die letzte »Konferenz« mit dem körperlich und geistig am Ende seiner Kräfte angelangten »Führer«, der dem Eindruck Bergers nach ein »gebrochener Mann« war. 126 Berger bestärkte Hitler in dessen Entschlossenheit, in Berlin auszuharren. Noch in der Nacht verließ er selbst die dem russischen Kanonenfeuer ausgesetzte Hauptstadt und flog Richtung Süddeutschland. 127 Bergers bayerischer Phantomposten in der Nähe von Bad Tölz nützte ihm allerdings nichts mehr. Ihm unterstanden nun jedoch die prominenten Kriegsgefangenen, die als Geiseln im schrumpfenden Reich in den Vorwochen in Bayern zusammengezogen worden waren. Ob Hitler tatsächlich seinem Chef des Kriegsgefangenenwesens bei ihrem letzten Zusammentreffen befohlen hatte, diese erschießen zu lassen 128 oder ob Berger diese Version lediglich lancierte, um sich mit der späteren Nichtausführung dieses Plans einen weiteren Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 103 122 Vgl. TWC, Bd. 13,1, S. 473. 123 Vgl. Kübler, Robert (Hrsg.), Chef KGW. Das Kriegsgefangenenwesen unter Gottlob Berger, Lindhorst 1984, S. 25. 124 Vgl. »Autobiographischer Bericht«, in: Kübler (wie Anm. 123), S. 41- 43. 125 Vgl. IMT, Bd. 11, S. 331 f. 126 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 2. Mai 1947. 127 Vernehmung Bergers, 5. Juni 1945, NA, RG 319, IRR, NND 846030. Vgl. auch Trevor-Roper (wie Anm. 78), S. 113. 128 Trevor-Roper (wie Anm. 78), S. 112 f. <?page no="105"?> Nachweis seiner moralischen Integrität zu liefern, muß ungewiß bleiben. Berger hätte einen entsprechenden Befehl wohl nicht mehr ausgeführt. Die Befehle, ständig weitere Kriegsgefangene in das schrumpfende Restreich zu führen, erschienen ihm als unsinnig. Berger empfand sie, wie er rückblickend bemerkte, als »durch nichts mehr zu überbietender, vollendeter Wahnsinn«. 129 Ihm ging es nun darum, seine eigene Haut im untergehenden Reich zu retten. Das Kriegsende und die drohende Bestrafung öffneten ihm zumindest in dieser Hinsicht die Augen. Obwohl Kritiker argwöhnten, Berger wolle sich noch zum Chef der SS aufspielen, war dieser tatsächlich resigniert. 130 Schon während des Krieges hatte er in intimer Runde geäußert: »Genießet den Krieg. Der Friede wird furchtbar.« 131 Die Agonie des Reiches erlebte er auf der Flucht. Sein Versuch, sich auf einer der Jagden Robert Boschs im Tannheimer Tal der Gefangennahme zu entziehen, scheiterte. Er wurde bald entdeckt und am 8. Mai 1945 von einem französischen Kommando verhaftet. 132 Von den amerikanischen Militärbehörden wurde er bereits gesucht: Er stand auf der »List of Potential War Criminals under Proposed US Policy Directives«. 133 Seine Verhaftung war der entscheidende Schnitt- und Wendepunkt in Bergers Leben. Nach dem Aufstieg im Dickicht der Kompetenzrangeleien des NS-Staates folgte der unaufhaltsame Abstieg. Berger, der sich im Ambiente der Militärbürokratie zu Hause gefühlt hatte 134 , sah sich in einem demokratischen Umfeld ganz auf sich allein gestellt. Es mußte ihm klar sein, daß er als hoher General der Waffen-SS sich den alliierten Behörden gegenüber zu rechtfertigen hatte. Nach seiner Gefangennahme folgte zunächst eine Odyssee durch verschiedene Gefängnisse. Einen Monat lang war er in Augsburg inhaftiert. Von Anfang Juni 1945 bis Anfang September 1945 war er in verschiedenen englischen Gefangenen- und Vernehmungslagern untergebracht. Hier fanden die meisten Vernehmungen durch den britischen »Secret Service« statt. Die weiteren Aufenthaltsorte waren lediglich Durchgangsstationen auf dem Weg ins Nürnberger Militärgefängnis: Lager Dachau, Landesstrafanstalt Stadelheim, Vernehmungslager Oberursel, Generalslager Allendorf und wieder Lager Dachau. Von Ende November 1946 bis Mai 1951 war Berger im Nürnberger Gerichtsgefängnis in Einzelhaft untergebracht und wurde dort in Joachim Scholtyseck 104 129 »Autobiographischer Bericht«, in: Kübler (wie Anm. 123), S. 45. 130 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 1. November 1947. Vgl. NA, RG 319, IRR, NND 846030. 131 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 5. 132 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 5. Vgl. den Bericht Bergers über seine eigene Kriegsgefangenschaft: Kübler (wie Anm. 123), S. 196-198. Hiernach wurde er in Berchtesgaden festgenommen. 133 Berger fand sich in der Kategorie »responsibility of central policy-making organs« (»List of Potential War Criminals under Proposed US Policy Directives«, 30. September 1944, NA Microfilm Publication M-1221: R&A 2577.2). 134 Rempel (wie Anm. 1), S. 117. <?page no="106"?> zahlreichen Verhören vernommen, in denen er sich als ebenso unbelehrbar wie mißverstanden zeigte. 135 Recht schnell waren sich die amerikanischen Behörden angesichts des zusammengetragenen Aktenmaterials einig, daß Berger zur Nazi-Elite gehört hatte und vor einem der unter amerikanischer Regie geplanten sogenannten »Nachfolgetribunale« angeklagt werden sollte. Berger war einer der zwölf Angeklagten im »Wilhelmstraßenprozeß«, des elften von zwölf Prozessen unter amerikanischer Federführung. Er befand sich in illustrer Gesellschaft: Hier hatten sich vornehmlich Beamte des Auswärtigen Amtes und hohe Parteifunktionäre zu verantworten. In Nürnberg wurde Berger im November 1947 mit einer Anklageschrift konfrontiert, die die Todesstrafe oder zumindest lebenslängliche Haft erwarten ließ. Berger tat sich während des eineinhalbjährigen Prozesses schwer. Nun rächte es sich, daß er sich in der Zeit des Hitlerregimes mehr Feinde als Freunde gemacht hatte. Von einem ehemaligen Mitarbeiter im Ostministerium, Dr. Georg Leibbrandt, wurde er besonders schwer belastet. Berger sei als Verbindungsmann Himmlers mit den Angelegenheiten der SS und Polizei betraut gewesen und sei deshalb auch mit »Judenangelegenheiten« befaßt gewesen: »Wenn ich mal etwas in der Judenfrage gesagt habe und darauf hingewiesen habe, daß die Methoden unmöglich sind, sagte er: ›Das geht Sie nichts an‹.« 136 Berger wurde durch den Chefankläger Robert Kempner persönlich scharf vernommen. Dieser machte sogleich klar, daß er keine Unterhaltungen im Plauderton zu führen bereit war: » Ich bin Herr Kempner. Mir kann niemand etwas erzählen. Ich weiß das alles ganz genau.« Im Rahmen dieses Verhörs, das sicherlich zu einem der schärfsten unter den unzähligen Vernehmungen Bergers zählte, kam es bisweilen zu grotesken Diskussionen. 137 Reue zeigte Berger kaum. Die SS war für ihn immer noch die »Elite der deutschen Nation«. Der vom Rechtsanwalt Dr. Georg Froeschmann verteidigte Angeklagte wich nicht von seiner soldatischen Auffassung ab, daß man der Waffen-SS keine Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 105 135 Vgl. etwa seine Beschwerde: »Ich bin 15 Monate in Einzelhaft, ich gehöre zu den kriminellen Fällen. [...] Ich habe in jeder Form mein Leben eingesetzt und ich glaubte nicht an einen verlorenen Krieg, denn ich konnte es nicht glauben, daß die höheren und höchsten Führer mit einem Schindluder trieben. Es verdanken mir zehntausende von Menschen, ich will nicht sagen das Leben, so doch die Gesundheit. [...] Aber es gibt keinen SS-Offizier, der so schamlos wie ich behandelt wurde, auch körperlich. Ich sage das nicht nur, um Eindruck zu schinden, aber ich möchte dies nur einmal erwähnen.« Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 2. Mai 1947. 136 Ebd., Roll 41. Vernehmung von Dr. Georg Leibbrandt, 23. September 1947. 137 Ebd., Roll 6: »Fr.[Kempner]: Was würden Sie zu folgender Feststellung von mir sagen: Äußern Sie sich darüber ganz offen. Der Adolf Hitler hat ebenso viele Deutsche getötet wie Juden. A. [Berger]: Mehr. Fr.: Es waren 6 Millionen Juden. A.: Glaube ich nicht. Fr.: Vielleicht 5 Millionen. A.: Drei bis dreieinhalb Millionen werden es sein.« (Vernehmung Bergers, 30. September 1947). <?page no="107"?> Greueltaten zur Last legen könne; im Grunde genommen, so sagte er vor Gericht aus, seien die Verbrechen ein Werk Weniger gewesen - Ausnahmen im notwendigen Kampf gegen den Bolschewismus. Die Waffen-SS habe die Freiheit Europas im Osten verteidigt und durch die germanischen Legionen den Gedanken der »Einheit Europas« verwirklichen wollen; Aussagen, die er in seinem Schlußwort im November 1948 nochmals betonte. 138 Berger nahm die komplizierte Kompetenzenverteilung als Vorwand, um auf die eigene vermeintliche Unschuld und Tugendhaftigkeit zu verweisen. Stets waren es andere, die Schuld auf sich geladen hatten. Berger, der in seiner Uneinsichtigkeit als ein typischer Exponent des Verdrängens gelten darf, hatte schon während seiner Gefangenschaft beharrlich die eigene makellose Vergangenheit in der Zeit nach 1933 behauptet. Zwar gab er an, von den Plänen zur Liquidierung von Juden nichts gewußt zu haben, ließ aber zumindest im Kreuzverhör kurz die Deckung fallen: »Es ist ja beinahe unmöglich, ich halte es für ausgeschlossen, daß man jemanden überzeugen kann, daß man von diesen Dingen nichts gewußt hat. Man muß das, wie viele andere Dinge in der Geschichte, einfach einer späteren Zeit überlassen. Dagegen wehre ich mich aber, daß Leute, die selbst an diesen Dingen beteiligt waren, die wirklich etwas davon wußten, nun aus ihrer Angst, an Polen ausgeliefert zu werden, als Kronzeugen auftreten und daß man nun eben diesen Leuten glaubt, wie das hier gemacht wird.« 139 Die Unfähigkeit, die selbst angeordneten Untaten als solche zu erkennen und ein Schuldeingeständnis abzugeben, trug dazu bei, daß die amerikanischen Richter ihn für schuldig befanden. Am 13. April 1949 wurde er zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt. Berger akzeptierte diesen Schuldspruch nicht. Im Mai 1949 - er war inzwischen ins sogenannte Kriegsverbrecher-Gefängnis nach Landsberg gebracht worden - wies er auf angeblich nicht genügend beachtetes Beweismaterial hin; nach eingehender Prüfung wies das Gericht diese Eingabe am 12. Dezember 1949 als unbegründet zurück. 140 Seine Haftstrafe mußte er freilich nicht lange verbüßen.Wie viele andere deutsche Kriegsverbrecher legte er schon bald ein Gnadengesuch vor. Im sogenannten »Clemency«-Verfahren sprach der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy am 31. Januar 1951 eine Haftminderung auf zehn Jahre aus. 141 Die Beschuldigungen in Zusammenhang mit der »Heu-Aktion« und Dirlewanger wurden aufrecht erhalten, Joachim Scholtyseck 106 138 Aussagen während des »Wilhelmstraßenprozesses«: TWC, Bd. 13,1, S. 467 f. und während seines Schlußwortes, ebd., Bd. 14,1, S. 286-291. 139 Zeugenaussage Bergers, NA Microfilm Publication M-897, Ministries Case, frame 1074. Später, als Zeuge in Kriegsverbrecherprozessen, zeigte er sich weniger offen. Beharrlich stritt er alle Kenntnisse über Greueltaten ab oder bezeichnete sie als »Einzelfälle«. ZSt LB, 208 AR-Z 28/ 62, Vernehmung Bergers, 15. Oktober 1964. 140 TWC, Bd. 14,2, S. 984-988. 141 TWC, Bd. 14,2, S. 1002-1004. Vgl. Schwartz, Thomas Alan, Die Begnadigung deutscher Kriegsverbrecher. John J. McCloy und die Häftlinge von Landsberg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 38 (1990), S. 375 - 414, hier S. 413. <?page no="108"?> aber hinsichtlich der Ermordung Mesnys und des Schutzes der Kriegsgefangenen sah McCloy Grund für eine Strafverkürzung. 142 Von der amerikanischen Politik der »Gnadenerweise« profitierte Berger ein weiteres Mal: Am 15. Dezember 1951 wurde er aus der Landsberger Haft entlassen. Die amerikanischen Sicherheitsbehörden verfolgten diese fragwürdige politische Entscheidung mit gemischten Gefühlen: Berger wurde in einer Anweisung vom 27. Dezember 1951 zu denjenigen gezählt, die »potential security risks upon their release from prison« aufwarfen und deshalb eine weitere Beobachtung erforderlich machten: »I[ntelligence] D[ivision] requires periodic coverage of their activities.« 143 Bergers Leben nach seiner Entlassung entsprach in vielfacher Hinsicht der Feststellung von Karl Marx, daß sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen wiederholen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. 144 Die Existenz des ehemaligen SS-Offiziers, der so hochfliegende Pläne eines Großgermanischen Reiches im »Dritten Reich« gehabt hatte, war in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit ein ebenso mühsamer wie nüchterner Abklatsch seiner Zeit als »Großkopferter« im Deutschland Hitlers. Die Firma Bosch wollte sich für den Schutz, den Berger gewährt hatte, erkenntlich zeigen. Für die nun mit der »Betreuung« Bergers beauftragten Mitarbeiter stellte sich die Frage: »Was tun wir mit dem angeschlagenen, mittellosen Mann, dessen Vermögen beschlagnahmt war und der selbst nicht weiterwußte? « 145 Seine Entlassung aus der Landsberger Haft bedeutete zunächst noch keine endgültige Freiheit: Auch Berger brauchte für die deutsche Entnazifizierung »Persilscheine«, um die sich sein Verteidiger schon vor dem bevorstehenden Haftende bemühte. Recht typisch war daher das Schreiben, das die Berger viel zu verdankende Firma Bosch über ihr Privatsekretariat an einen möglichen Fürsprecher sandte: »Auch Herr Berger muß natürlich entnazifiziert werden. Das Verfahren haben wir für ihn in der französischen Zone Württembergs vorbereitet, wo es bedeutend einfacher sei als in der US-Zone. Herr Berger muß ebenfalls eine größere Zahl von Entlastungserklärungen beibringen. Wären Sie bereit, für ihn ein solches Zeugnis auszustellen? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie im Wilhelmstraßenprozeß auch schon ein Affidavit für ihn abgegeben. Es würde genügen, wenn Sie die Erklärung für die Entnazifizierung in ähnlichem Sinn formulieren.« 146 . Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 107 142 »The judgement shows without contradiction that this prisoner is culpably responsible for much that was illegal and inhumane in the Nazi program and his close association with Himmler is a serious indictment in itself. However, I feel compelled to eliminate entirely from the consideration of the weight of his sentence any participation in the Mesny murder and to give perhaps somewhat greater weight than did the Court to certain humane manifestations towards prisoners which at least in one period of his career he displayed.« TWC, Bd. 14,2, S. 1004. 143 NA, RG 319, IRR, NND 846030. 144 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Leipzig 1982, S. 15. 145 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 6. 146 Olpp an Mauk, 27. November 1951, RBA 14/ 91. Der angeschriebene Mauk antwortete schon wenig später in gewünschtem Sinn: Er könne Bergers »Eintreten für die Belange der Familie Bosch« <?page no="109"?> Die Rückkehr in seinen Geburtsort Gerstetten war ein Spießrutenlaufen, denn dort wurde er »gemieden wie die Pest.« 147 Zunächst versuchten Bergers Betreuer, diesen im eigenen Unternehmen zu beschäftigen. Dies gelang nicht, weil Berger sich nicht in die untergeordnete Rolle im Nachkriegsdeutschland einordnen wollte. Zu sehr fühlte er sich als ein »Herrenmensch« des vergangenen »Dritten Reiches«. Bei Bosch verfiel man auf die Idee, Berger als Gebäude- und Maschinenverwalter bei den Stuttgarter Zeitungen einzusetzen, an denen man nach dem Krieg wieder beteiligt war. Berger fand sich auch hier nicht zurecht, weil er, nach seiner Karriere bei der Waffen-SS durchaus nachvollziehbar, »den Herrn Direktor« spielte und versuchte, das Personal mit nationalsozialistischer Propaganda zu gewinnen. Berger war im Stuttgarter »Zeitungsturm« unhaltbar: Seine Betreuer von Bosch mußten sich eingestehen, daß der schwierige Schützling »unverbesserlich« war. 148 Danach gelang es Berger, in Musberg im Kreis Böblingen in untergeordneter Funktion in der Vorhangschienenfabrik MHZ zu arbeiten. Offensichtlich hatte sich ein Mitarbeiter, den er in Berlin vor »Parteistellen« protegiert hatte, für seine Einstellung bei MHZ stark gemacht. 149 Seit Juli 1953 arbeitete er so in ungewohnt niedriger Position, was ihm offensichtlich nicht behagte. Sarkastisch schrieb er einem Kriegskameraden: »Wir haben es herrlich weit gebracht und es ist eine Lust zu leben! « 150 Seine Kontakte zu den Freunden aus besseren Tagen mochte er nicht aufgeben. So schrieb er rückblickend über den »Ausbau der Waffen-SS« in einer Veröffentlichung aus dem rechtsradikalen Dunstkreis. 151 Es war deshalb wenig verwunderlich, daß die amerikanischen Militärbehörden Berger weiter sorgsam beobachteten. Eine Ägyptenreise im Juni 1954 gab zu der Spekulation Anlaß, Berger sei auf dem afrikanischen Kontinent mit seinem Freund Dirlewanger zusammengetroffen - sicherlich eine Falschinformation, da Dirlewanger mit großer Wahrscheinlichkeit bereits 1945 umgekommen war. 152 Joachim Scholtyseck 108 bestätigen. Er werde gerne entsprechende Erklärungen für die Entnazifizierung bereitstellen (Mauk an Olpp, 2. Dezember 1951). 147 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 7. 148 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 10 f. Durch die vom amerikanischen Militär durchgeführte Observierung gerieten die US-Behörden in den Besitz eines Briefes, den Berger an einen seiner Kriegskameraden geschickt hatte, der ihn - vergeblich - um die Vermittlung einer Arbeitsstelle gebeten hatte. Bitter teilte Berger mit, »daß ich seit Mai bei Bosch ausgeschieden bin, sofern man von ausscheiden sprechen kann bei einem, der noch gar nicht richtig angestellt war.« Berger an Teich, 2. September 1953, NA, RG 319, IRR, NND 846030. 149 Die Informationen über Bergers Jahre bei MHZ verdanke ich der freundlichen Mitteilung von Herrn Walter Felbinger (MHZ Hachtel GmbH & Co.), 29. März 1995. 150 Berger an Teich, 2. September 1953, NA, RG 319, IRR, NND 846030. 151 »Zum Ausbau der Waffen-SS«, in: Nation Europa 3 (1953), H. 4, S. 55 f. 152 »It is alleged that Berger and Dirlewanger have always been good friends. Close friends of Berger class Berger as an opportunist.« NA, RG 319, IRR, NND 846030; Bericht, 3. Januar 1956. Bereits vor diesem Zeitpunkt muß sich Berger - wahrscheinlich 1953 - einmal im Nahen Osten aufgehalten haben. Vgl. den bei Taege (wie Anm. 58), S. 144 im Faksimile abgedruckten Brief: Kersten an Berger, 23. Januar 1945. <?page no="110"?> Mitte der 50er Jahre nahm ein US-Agent persönlichen Kontakt mit Berger in seiner Heimat auf und befragte diesen - offenbar ohne Mißtrauen zu wecken - über seine politischen Ansichten. Berger zeigte sich unverbesserlich: »Berger is an ardent German nationalist [...] Berger feels that the present Federal Republic is similar to the Weimar Republic, in that the Communists are handled in a lax manner and allowed to circulate freely. He believes that the KPD [...] should be immediately eliminated.« 153 Da Bergers Vermögen eingezogen worden war, bemühte er sich in den 50er Jahren, zur Sicherung seines Lebensabends eine Pension als Rektor zu erhalten. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch, da die Nachforschungen ergaben, daß er freiwillig den Schuldienst verlassen hatte, um der SS beizutreten. Wiederum griff die Firma Bosch helfend ein, gewährte juristischen Beistand, mit deren Hilfe Berger die Pension eines Hauptlehrers, der er im Jahr 1933 gewesen war, einklagte. Daneben zahlte das Unternehmen eine eigene Beihilfe. Zum Jahresende 1964 schied Berger aus Altersgründen bei MHZ aus. Kurz zuvor hatte er von Walz den Auftrag erhalten, gegen eine angemessene Bezahlung seine Lebenserinnerungen 154 niederzuschreiben. Diese zu Beginn der 60er Jahre auf Tonband diktierten »Memoiren« sind ein weiteres beredtes Zeugnis für die Rückwärtsgekehrtheit und Verbitterung eines Nationalsozialisten, der zum Nachdenken über die eigene Verstrickung in das System des Terrors nicht in der Lage war. Die »Unfähigkeit zu trauern« erschien im Gewand wortreichen Lamentierens: »Ich war der festen Überzeugung, daß der Herrgott so viel Einsatz, so viel Tapferkeit, so viel gläubiges Gottvertrauen, so viel Treu belohnen würde und daß wir, wie der Chronist von Friedrich dem Großen schrieb, das behalten durften, was wir hatten. Da ich alle Zeit dem Staat treu gedient, mit Leib und Leben, nie persönliche Vorteile im Auge gehabt, durfte ich annehmen, im Alter keine Sorgen zu haben. Daß es anders gekommen ist, daß dieser Staat 13 Jahre alles versucht hat, um mich zu erledigen und nicht nur mich, sondern auch meine Familie zugrunde zu richten, das ist etwas, was ich nicht verstehen kann. Ein Staat auf solchen Grundlagen kann nicht bestehen.« 155 Es konnte in der Konsequenz für Berger, der sicherlich nicht die Kaltblütigkeit eines Himmler oder Heydrich besaß, sondern eher in einer verblendeten Naivität zum Handlanger eines verbrecherischen Systems geworden war, nach 1945 keine Erlösung geben. So wie er unfähig gewesen war, das Menschenunwürdige des »Dritten Reiches« zu erfassen, so unfähig war er nach dem Krieg, seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Berger in Gerstetten: Dies war nur noch ein Schatten des ehemaligen »Schwabenherzogs«. Nach dem Tod seiner Frau führte Berger als Rent- Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 109 153 NA, RG 319, IRR, NND 846030; Bericht, 31. Januar 1956. 154 Als Ergebnis dieser Gelegenheitsarbeit sind im Firmenarchiv der Robert Bosch GmbH sechs bisher unbearbeitete Tonbandspulen mit zehn Stunden Laufzeit der »Lebenserinnerungen« Bergers archiviert. 155 Tonbandaufzeichnung Bergers (wie Anm. 102), S. 25. <?page no="111"?> ner, nun gesundheitlich angeschlagen, bis zu seinem Tod die Existenz eines grollenden Ewiggestrigen. Lediglich »alte Kameraden« hielten weiter zu ihm. 156 Ende 1974 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand erheblich. Am Silvestertag wurde er ins Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus gebracht, war aber kaum noch ansprechbar. 157 Dort starb der 78jährige am 5. Januar 1975. Bibliographie Quellen Quellenmaterial über Gottlob Berger und Überlieferungen seines bisweilen ausufernden internen Schriftwechsels während seiner Tätigkeit als Chef des »SS-Hauptamtes« finden sich in fast allen deutschen Archiven. Die wichtigsten Bestände sind im Koblenzer Bundesarchiv, im ehemaligen Berlin Document Center, im Zwischenarchiv des Bundesarchivs in Dahlwitz-Hoppegarten und in den amerikanischen National Archives in Washington, D.C. und College Park (Maryland) einzusehen. Von großem Wert sind die veröffentlichten Protokolle der Verhandlungen vor dem Militärtribunal des Nürnberger »Wilhelmstraßenprozesses«, die einen guten Einblick in Bergers Leben vermitteln: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Washington D.C. 1952. Im Robert Bosch Archiv (Stuttgart) befindet sich eine mehrstündige Tonbandaufzeichnung Bergers mit »Lebenserinnerungen« aus den frühen 60er Jahren, die bislang nur bruchstückhaft ausgewertet wurde. Wenig ergiebig ist Bergers aus dem Jahr 1944 stammende Skizze »Auf dem Wege zum Germanischen Reich. Drei Aufsätze von Gottlob Berger« (Berlin 1944), die lediglich über seinen ideologischen Fanatismus hinreichend Auskunft geben kann. In vielerlei Hinsicht aufschlußreich ist dagegen die Darstellung aus der Feder Felix Kerstens, Totenkopf und Treue. Kersten traf als enger Vertrauter Himmlers des öfteren mit Berger zusammen und hat einige charakteristische Gespräche mit dem Leiter des »SS-Hauptamtes« aus den Kriegsjahren überliefert. Literatur Erstaunlicherweise ist über Gottlob Berger bislang keine Biographie erschienen. Über seine Tätigkeit als Chef des Rekrutierungsamtes informiert Gerhard Rempel, Gottlob Berger and Waffen-SS Recruitment: 1933 - 1945, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 27 (1980), S. 107-122. Wichtiges Material findet sich auch in Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Hamburg 1966, George H. Stein, Geschichte der Waffen- SS, Düsseldorf 1967 und Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933 - 1945. 3. Aufl. Paderborn 1988. Daneben findet Berger immer wieder in Darstellungen über das Herrschaftsgefüge des nationalsozialistischen Staates Erwähnung. Nur zum Quellenstudium geeignet ist die ganz im nationalsozialistischen Sinn argumentierende Darstellung bei Robert Kübler (Hrsg.), Chef KGW: Das Kriegsgefangenenwesen unter Gottlob Berger, Lindhorst 1984. Joachim Scholtyseck 110 156 Vgl. den Nachruf in: Nation Europa 25 (1975), H. 2, S. 47. 157 Vgl. den Bericht in: Kübler (wie Anm. 123), S. 206. <?page no="112"?> * 22. Juli 1899 Ellwangen/ Jagst, ev., Vater: Hermann Cuhorst, Oberstaatsanwalt, Mutter: Maria Henrietta, geb. Schiele, verheiratet seit 10. März 1933 mit Hildegard, geb. Frank, geschieden 20. Dezember 1951, eine Tochter. Vorschule, Mittelschule, Gymnasium in Stuttgart, 1917 - 1919 Kriegsteilnehmer als Leutnant, danach Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen, 1926 - 1930 in diversen Stellungen des württembergischen Justizdienstes, bis 1933 Amtsrichter in Stuttgart, 29. März 1933 Oberregierungsrat, Ende 1934 Senatspräsident am OLG Stuttgart, Stellvertretender Leiter des Justizprüfungsamtes, 1. Oktober 1937 Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart, 19. Januar 1945 Kriegsteilnehmer als Oberleutnant in Norwegen. Während des Studiums in Studentenbataillonen und Freikorps, 1. Dezember 1930 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 376.214), seit 1931 Kreisredner, 1933 Gauredner und Mitglied des BNSdJ, 1. Januar 1934 förderndes Mitglied der SS. Oktober 1945 Kriegsgefangenschaft, 23. November 1946 - 3. Dezember 1947 Haft und Anklage im Nürnberger »Juristenprozeß«, 4. Dezember 1947 Freispruch »aus Mangel an Beweisen«, 9. Dezember 1947 erneute Verhaftung, 24. November 1948 Entscheidung der Spruchkammer Ludwigsburg: »Hauptschuldiger«, 14. Juli 1949 zweite Entscheidung der Spruchkammer Ludwigsburg: »Hauptschuldiger«, sechs Jahre Arbeitslager, 20. Dezember 1950 vorzeitige Entlassung, ohne dauernde Beschäftigung in Stuttgart und Kressbronn, 1951 - 1968 erfolglose Gnadengesuche um Rehabilitierung als Beamter, 1957 - 1965 verlorene Prozesse um Pensionsbezüge, bis 1988 Anzeigen wegen seiner Urteile als Sondergerichtsvorsitzender, gest. 5. August 1991 Stuttgart. Rechtsprechung im nationalsozialistischen Geist Hermann Albert Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart Stefan Baur Hermann Albert Cuhorst 111 <?page no="113"?> Daß die Justiz des »Dritten Reiches« von 1933 an schnell und, trotz der justizfeindlichen Tendenzen im Nationalsozialismus, im wesentlichen reibungslos zu einem willfährigen Machtinstrument des Regimes umgestaltet wurde, wird in der jüngeren rechtsgeschichtlichen Literatur immer wieder betont. 1 Nicht zuletzt die republikfeindliche Haltung eines Großteils des Weimarer Justizwesens ermöglichte diesen wenig auffälligen, bis zu einem gewissen Grad den formalen Rahmen wahrenden Umbau; und doch ist es schwierig, die Rolle des Einzelnen im Gesamtsystem der NS-Justiz zu bestimmen. Wenngleich nur wenige Beispiele justitiellen Widerstands im engeren Sinn bekannt sind 2 , bot sich doch eine breite Palette möglicher Verhaltensmuster, vom berüchtigten »Blutrichter« bis hin zum unauffälligen Versuch, Reste von Anstand zu bewahren. 3 Einzeluntersuchungen zeigen, daß etwa das persönliche Gebaren Freislers keineswegs typisch war, und viele Juristen trotz ihrer staatstragenden Haltung nicht als Missionare des Nationalsozialismus aufzutreten wünschten, dennoch aber das NS-Unrecht im Ganzen zuverlässig exekutiert wurde. Ein Beispiel besonderer Art ist in diesem Zusammenhang Hermann Cuhorst. Seine Herkunft und sein Lebenslauf bis zum Ende der 20er Jahre glichen noch der idealtypischen Richterkarriere der Kaiserzeit. Nach 1930 und besonders nach 1933 kam er dann allerdings, sowohl was das äußere Fortkommen als auch seine persönliche Art, insbesondere seine Verhandlungsführung, betrifft, dem Bild des »furchtbaren Juristen« nahe. 4 Er sprach als überzeugter Nationalsozialist Recht, stets und bis zuletzt getragen von politischem Fanatismus. Dennoch spielte dies, wie sich besonders nach 1945 zeigte, in der regimeerhaltenden Funktion seines Richteramtes keine entscheidende Rolle, trotz der im konkreten Einzelfall schlimmen Konsequenzen. Nicht die persönliche Art der Amtsführung war in der Schreckensbilanz des Stuttgarter Sondergerichts letztlich ausschlaggebend, sondern das nationalsozialistische Justizwesen selbst, das rechtsstaatliche Grundsätze rigoros beseitigt hatte und zum durch und durch an der Ideologie orientierten Machtinstrument degeneriert war. Sowohl die Richter der »alten Schule« als auch fanatische Nationalsozialisten wie Cuhorst spielten bezüglich der praktischen Konsequenzen, wie etwa der Strafmaße, keine grundlegend verschiedene Rolle; beide konnten sich später sogar manche Pressionen »von oben« als entlastendes Moment anrechnen. Es bleibt folglich schwierig, den Grad der individuellen Verantwortung zu bestimmen. Selbst Cuhorst, Stefan Baur 112 1 Vgl. z.B. Angermund, Ralph, Deutsche Richterschaft 1919 - 1945, Frankfurt/ Main 1990; Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung des Bundesminsiters der Justiz, Köln 1989; Müller, Ingo, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987; Reifner, Udo, Juristen im Nationalsozialismus. Kritische Anmerkungen zum Stand der Vergangenheitsbewältigung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 16 (1983), S. 13 - 19. 2 Vgl. z.B. Im Namen des Deutschen Reiches (wie Anm. 1), S. 300 f. 3 Vgl. z.B. Kißener, Michael, Widerstand und Verfolgung in der Justiz. Richter am Amts- und Landgericht Karlsruhe 1933 - 1945, in: Geschichte in Verantwortung. Festschrift für Hugo Ott zum 65. Geburtstag, hrsg. v. H. Schäfer, Frankfurt/ Main, New York 1996, S. 213 - 237. 4 Zu diesem Terminus vgl. Müller (wie Anm. 1). <?page no="114"?> der die »Bewegung« immer mit ganzer Kraft unterstützt hatte, kam in seiner Funktion und seinem Selbstverständnis als Richter in mancherlei Hinsicht in Konflikt mit dem Regime und konnte sich später manche nichtkonforme Urteile zugute halten. Am Ende war es seine brutale Art und sein allzu deutlich nach außen getragener Fanatismus, die nach 1945 eine relativ harte Bestrafung nach sich zogen, welche trotz intensiver Bemühungen seinerseits nie entscheidend erleichtert wurde. Ist die »Aufarbeitung« der NS-Justizverbrechen in vielerlei Hinsicht kein Ruhmesblatt für die deutsche Nachkriegsdemokratie 5 , bleibt Cuhorst einer der wenigen Fälle, in dem einigermaßen konsequent an der einmal für Recht befundenen Bestrafung festgehalten wurde. Die langwierige Entscheidungsfindung selbst, die sich vom Beginn des Nürnberger Verfahrens bis zum Ende des Gnadenverfahrens über 22 Jahre hinzog, spiegelt in diversen Facetten auch die Schwierigkeiten, manchmal Ungeheuerlichkeiten, der juristischen Beurteilung der NS-Justiz nach 1945 wider. So steht Cuhorsts Lebenslauf exemplarisch dafür, wie ein überzeugter Nationalsozialist sowohl im System selbst aneckte, als auch danach bestraft wurde, und sich dabei zunehmend unschuldig verfolgt wähnte - unberührt von der Einsicht, daß sich die immanente Ungerechtigkeit des Regimes auch gegen Akteure richten konnte, welche es selbst vorangetrieben hatten. Hermann Albert Cuhorst wurde am 22. Juli 1899 als erster von zwei Söhnen des Juristen Hermann Cuhorst und seiner Frau Henriette in Ellwangen (Jagst) geboren. 1903, als der Vater zum Staatsanwalt ernannt wurde, zog die Familie in das prosperierende und rasch wachsende Stuttgart. Dort besuchte Cuhorst, wie sein 1902 geborener Bruder Fritz, Mittelschule und Gymnasium. Sowohl die juristische Ausrichtung als auch die Vorliebe für eine jovial nach außen präsentierte, auf Schwaben gerichtete Heimatverbundenheit, die Cuhorst später nachgesagt wurden, waren traditionell in der alten Familie verwurzelt. 6 Großvater, Onkel und Vater waren im höheren Justizdienst tätig 7 , und auch Cuhorsts große private Passion, der Alpenverein, war bereits das Steckenpferd von Vater und Großvater gewesen. Noch lange nach dem Krieg berief sich Cuhorsts Tochter auf solche bewußt gepflegten Familientraditionen. 8 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 113 5 Vgl. etwa Lichtenstein, Heiner, Viele Chancen wurden vertan: Zur Geschichte der NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, in: Justiz und Nationalsozialismus, hrsg. v. J. H. Schoeps, H. Hillermann, Stuttgart, Bonn 1987, S. 55 - 70. 6 Zu Cuhorst senior: Nachrufe im »Schwäbischen Merkur«, 20. Februar 1937, »Stuttgarter Neues Tagblatt«, 19. Februar 1937, »NS-Kurier«, 18. Februar 1937, »Schwäbischer Merkur«, 19. Februar 1937; zu Cuhorst junior ferner auch die Charakterisierung in der Beurteilung der Sondergerichts (SG)-Vorsitzendentagung in Cochem 1943, Justizministerium Baden Württemberg (im folgenden JM) RJM-Personalakte Bl. 29. Sein Nürnberger Verteidiger hob in seinem Schlußplädoyer mehrfach auf »württembergisches Traditionsgut« und »schwäbisches Volkstum« seines Mandanten ab (STAN KV-Prozesse Fall 3, G 1, S. 1, 2 und 9a), ähnlich wie Cuhorst vor der Spruchkammer (Schlußwort vom 22. Oktober 1948, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 2). 7 Nach Angabe seines Nürnberger Verteidigers waren die Cuhorsts seit fünf Generationen als Juristen, Richter und Staatsanwälte tätig, STAN KV-Prozesse Fall 3, G 1 S. 1. 8 Brief Reinhild Cuhorsts, 12. November 1988, Privatarchiv Klickermann. <?page no="115"?> Als 1914 der »Große Krieg« ausbrach, ging Cuhorst noch zur Schule und konnte sich nicht sofort freiwillig melden, wie es sein Vater, der als Hauptmann a.D. Etappendienst in Stuttgart versah, getan hatte. 9 Erst im Juli 1917, unmittelbar nach der Reifeprüfung, wurde er Soldat im Jägerregiment 125, wo er den Verlauf des letzten Kriegsjahres an der Westfront erlebte und bis Sommer 1918 zum Fähnrich aufstieg. Auch nach Kriegsende blieb er zunächst beim Heer, ausgezeichnet mit militärischen Orden, u.a. dem EK II. Erst Ende Juli 1919, etwas später als sein Vater, kehrte er als Leutnant im Zuge der Demobilisierung schließlich ins Zivilleben zurück. Der Familientradition entsprechend, nahm Cuhorst im Zwischensemester 1919 in Tübingen, wie der Vater als Mitglied der Verbindung »Igel« 10 , sein Jurastudium auf. Dem Militärischen hing er weiterhin durch sein Engagement im Studentenbataillon Tübingen und damit zeitweise im Freikorps Haas 11 an, wofür er während der unruhigen Jahre 1919 und 1920 in München und im Ruhrgebiet unterwegs war und das Zwischensemester 1920 ausfallen ließ. 12 Es liegt daher nahe anzunehmen, daß Cuhorst bereits zu dieser Zeit zur äußersten politischen Rechten zählte, was seine frühe und fanatische Hinwendung zum Nationalsozialismus miterklärte. Stuttgart selbst, wo 1920 die Reichsregierung während des Kapp-Putsches Aufnahme fand, blieb für ein derartiges rechts-militantes Engagement zu ruhig, und diese Zeit blieb für Cuhorst einer der ganz wenigen Aufenthalte außerhalb des süddeutschen und österreichischen Raumes. Auch in seiner politisch rechtsstehenden, die neue Republik ablehnenden Haltung könnte er sich ein Vorbild am Vater genommen haben. Seit 1920 als Erster Staatsanwalt in Stuttgart, war dieser in politischen Prozessen der 20er Jahre berüchtigt genug, um vom NS-Kurier anläßlich seiner Pensionierung 1932 als Kämpfer gegen »Schmutz und Schund«, der sich den »Haß der liberalistisch-marxistischen Meute« zugezogen habe, gefeiert zu werden. 13 Zwar trat er danach nicht mehr öffentlich in Erscheinung, lebte aber doch bis 1937 mit den nationalsozialistisch aktiven Söhnen Stefan Baur 114 9 Wie Anm. 6. 10 Die nichtschlagende und nichtfarbentragende, süddeutsch geprägte Verbindung »Igel« war 1871 gegründet worden und gehörte vor dem Krieg keinem Dachverband an, galt aber als »Kaderschmiede« für süddeutsche »Honoratioren«, vgl. Schmid, Manfred, Die Tübinger Studentenschaft nach dem ersten Weltkrieg. 1918 - 1923 (Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen 1, 13), Tübingen 1987, ferner Kratsch, Werner, Das Verbindungswesen in Tübingen, Tübingen 1977 sowie Weynand, Hansbernd, Geschichte des Igels, Tübingen 1931. 11 Das Studentenbataillon Tübingen bestand von 1919 bis 1921, ging danach aber teilweise in rechtsradikalen Verbänden wie der »Organisation Consul« und dem »Wiking-Bund« auf. Zu seiner Rolle bei den Einsätzen in Stuttgart, München und im Ruhrgebiet sowie der zeitweisen Unterstellung zum Freikorps Haas und dem (zweifelhaften) Verhalten beim Kapp-Putsch vgl. Schmid (wie Anm. 10), zu Freikorps im allgemeinen Schulze, Hagen, Freikorps und Republik 1918 - 1920, Boppard 1969. 12 UATÜ 258/ 2842. 13 »NS-Kurier«, 1./ 2. Oktober 1932; zu Cuhorsts Beteiligung an den »Simplicissimus«-Prozessen »Schwäbischer Merkur«, 19. Februar 1937 sowie Leipner, Kurt (Hrsg.), Stuttgarter Chronik 1933 - 1945, Stuttgart 1982, S. 358. <?page no="116"?> zusammen, und in den Nachrufen auf ihn wurde der Eindruck einer NS-Musterfamilie vermittelt. Im Frühjahr 1923 beendete Cuhorst mit der ersten Staatsprüfung (»befriedigend«) sein Studium und trat, nach seiner Vereidigung im Juli, den Referendardienst an (vorwiegend in Stuttgart und Böblingen). 1926 schloß er mit der großen Staatsprüfung in Stuttgart seine Ausbildung ab, nunmehr mit der überdurchschnittlichen Bewertung »gut« 14 , so daß für ihn keine schlechte Aussicht auf eine erfolgreiche juristische Karriere bestand. Nach einigen Monaten am Amtsgericht in Stuttgart, wo er im Haus des Vaters wohnte, verzeichnen die Akten die anfangs übliche »unständige Verwendung« bis Ende 1926, danach ein knappes Jahr der Anstellung in der württembergischen Innenverwaltung im Oberamt Esslingen. Nach weiterer »unständiger Verwendung«, besonders in Stuttgart und Ulm, wurde Cuhorst am 1. Oktober 1929 Amtsrichter wieder in Stuttgart, wo er nunmehr sein restliches Berufsleben verbringen sollte. Trotz eines Dienststrafverfahrens, das 1935 ungewöhnlicherweise wieder »gelöscht« wurde und dessen Gründe anhand der Akten nicht mehr aufzuklären sind 15 , rückte er im März 1930 zum planmäßigen Amtsrichter auf. Während dieser Zeit der beruflichen Etablierung fand Cuhorst, der später stets unter die »alten Kämpfer« gerechnet wurde und sich selbst rühmte, in politischen Dingen »völlig kompromisslos« 16 zu sein, den Weg zur NSDAP. Formell aufgenommen wurde er am 1. Dezember 1930, »als einer der ersten Angehörigen der Justizverwaltung in Stuttgart« 17 , der Kontakt bestand aber schon länger. 18 Zu diesem Zeitpunkt, als sich die württembergische NSDAP zwar nicht mehr in dem katastrophalen Zustand der Vorjahre befand, in absoluten Zahlen und gemessen am Reichsdurchschnitt aber immer noch den Charakter einer Splitterpartei trug 19 , muß dieser Neuzugang aus alter Beamtenfamilie willkommen gewesen sein. Wieder im Haus des Vaters, wo sich inzwischen auch sein ebenfalls überzeugt nationalsozialistischer Bruder Fritz 20 aufhielt, erlebte Cuhorst die Schlußphase der Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 115 14 Vgl. Lokationsliste für die Staatsprüfung vom Frühjahr 1926, STAN KV-Prozesse Fall 3, G 5 S. 9. 15 Cuhorst selbst sprach von einer Dienstaufsichtsbeschwerde eines »Lederwarenfabrikanten«, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 4 (Protokoll Spruchkammer). 16 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945, Brief Cuhorsts, 8. September 1942. (Die Akten sind bisher nur teilweise sortiert oder paginiert.) 17 Gaugerichtsurteil, 26. November 1943, IfZ NG 2169. 18 STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 4 (Protokoll Spruchkammer). 19 Erreichte die NSDAP bei der Gemeinderatswahl im Dezember 1928 gerade 1,1% der Stimmen, ging es nach einer schweren inneren Krise Anfang 1930 langsam aufwärts. Noch bei den Reichstagswahlen am 14. August 1930 lag sie in Stuttgart mit 9,8% weit unter dem Reichsdurchschnitt (18,3%). Die Ortsgruppe Stuttgart hatte Ende April 1930 erst 460 Mitglieder, landesweit Anfang 1930 rund 1500. Vgl. Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 17 - 33; Schnabel, Thomas, Die NSDAP in Württemberg 1928 - 1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland, hrsg. v. T. Schnabel, Stuttgart 1982, S. 49 - 81. 20 Fritz Cuhorst war Ende der 20er Jahre Studienassessor und promovierte kurz vor der »Machtervon <?page no="117"?> der späteren Propaganda so genannten »Kampfzeit«. Unmittelbar nach seinem Parteieintritt war er Kreisredner geworden und ging seiner Parteitätigkeit eifrig und begeistert »über alle Wahlkämpfe« 21 nach. Wie Cuhorst selbst 1939 in seinem Antrag auf die »Dienstauszeichnung der NSDAP in Bronze« schrieb, wurde er im November 1931 »wegen politischer Betätigung« sogar vom Strafzum Zivilfach versetzt. 22 Noch vor der »Machtergreifung« wurde er am 1. Januar 1933 zum Gauredner in der Uniform eines »politischen Leiters« 23 befördert, nachdem er, eigenen Angaben zufolge, bereits seit 1932 Mitglied des Gaustabes 24 war. Spätere Aussagen sowie die sporadischen zeitgenössischen Zeitungsberichte vermitteln keinen besonderen Eindruck von Cuhorsts Rednertätigkeit, weder was seine Themen noch sein propagandistisches Talent anbelangt. Die Versammlungen liefen nach dem üblichen Schema der NS-Propaganda ab, werden aber von dem Cuhorst eigenen, schwer zu überbietenden Fanatismus geprägt gewesen sein, der sich später auf vielfältige Weise auswirkte. 25 Wahrscheinlich gewöhnte er sich dabei an das charakteristische, haßerfüllte Vokabular, das nicht an letzter Stelle seinen späteren Gerichtsverhandlungen ihren gefürchteten Charakter verlieh. Mit der »Machtergreifung« im Januar 1933 änderte sich Cuhorsts Position innerhalb kürzester Zeit grundlegend. Als aktiver Nationalsozialist erlebte er einen beispiellosen Karriereschub, der ihn innerhalb weniger Jahre, nach einem kurzen Intermezzo beim Justizministerium, auf den Stuhl eines Senatspräsidenten brachte. Niemand hatte Zweifel daran, daß dieser ungewöhnliche Aufstieg »ausgesprochenerweise« 26 und ausschließlich den politischen Gegebenheiten entsprang; die Sachlage war so eindeutig, daß nicht einmal Cuhorst selbst einen anderen Erklärungsversuch unternahm. 27 So hieß es etwa in einer dienstlichen Beurteilung von 1935, Cuhorst sei »als alter Pg. nach dem Umsturz in das württembergische Justizministerium berufen« 28 worden, und nach dem Krieg faßte das Justizministerium zusammen: Stefan Baur 116 greifung« zum Dr. phil. Nach 1933 wurde er Kulturberichterstatter, dann Stadtschulrat (1934) und Kulturreferent (1935). In Bildungsangelegenheiten der Stadt Stuttgart spielte er eine wichtige Rolle, vgl. Leipner (wie Anm. 13), sowie StAS, u.a. als Reichsredner der NSDAP (Anklageerwiderung im Spruchkammerverfahren Hermann Cuhorsts, STALB EL 902/ 20 IX S. 8 f). Er starb am 1. August 1945 in Lindau. 21 IfZ NG 2343. 22 IfZ NG 2343. 23 Eidesstattliche Erklärung Cuhorsts, 16. Januar 1947, IfZ NG 644, auch STAN KV-Prozesse Fall 3 Interrogations C-19 S. 1. 24 Cuhorst an Ministerialrat Köhler, 15. April 1943, IfZ NG 582 S. 21f. Vor der Spruchkammer nannte Cuhorst diese Bezeichnung eine bloß »formelle« STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 6 (Protokoll Spruchkammer). 25 Z.B. »NS-Kurier«, 21. Oktober 1933, S. 5 und 21. November 1935, S. 3, »Der Teckbote«, 3. November 1943, S. 3. Er selbst schätze, bis 1943 ca. 100 Reden gehalten zu haben, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 5 (Protokoll Spruchkammer). 26 Aussage Dr. Klett, IfZ NG 491. 27 STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 6 f. (Protokoll Spruchkammer). 28 BA Abt. III (BDC), DH-ZD7638 S. 99. <?page no="118"?> »Seine rasche Beförderung verdankte Cuhorst der Mitgliedschaft bei der Partei.« 29 Er selbst hielt dies rückblickend allerdings für normal 30 und reagierte empfindlich, wenn ihm, was nach 1945 öfters geschah 31 , eine seiner Stellung angemessene juristische Befähigung abgesprochen wurde. Zunächst jedoch rückte Cuhorst als Regierungsrat am 1. April 1933 ins württembergische Justizministerium auf. Wenige Wochen zuvor, am 10. März, hatte er Hildegard Frank, Tochter eines Sanitätsrats, geheiratet 32 und war aus der väterlichen Wohnung ausgezogen, so daß er nun beruflich wie privat fest etabliert war. 33 Auch im »Deutschen und Österreichischen Alpenverein«, ab 1938 »Deutscher Alpenverein« (DAV), dem er seit 1918 angehörte, und in dem er schon während der 20er Jahre stark engagiert war 34 , wirkte sich der Machtwechsel sofort aus. 1933 wurde er erst Vorsitzender, dann »Vereinsführer« und wirkte bei der sehr rasch durchgeführten (Selbst-)Gleichschaltung des Gesamtvereins mit. 1934 wurden »Nichtarier« per Satzungsänderung ausgeschlossen und das »Führerprinzip« eingeführt; die neue Satzung von 1938 enthielt dann alle typisch nationalsozialistischen Bestimmungen, wobei schon der Vereinszweck »im Geiste des nationalsozialistischen Staates« stand. 35 Die Jahre bis 1945 widmete Cuhorst auch stets seiner Vereinsarbeit, von der Gründung des »Harpprechtshauses« 1935 über den »Kampf um die Erhaltung der Großglocknerlandschaft« 1936 - 38 bis zur Eingliederung »slovenischen Hüttenbesitzes« 1941; doch sollte diese Tätigkeit 1945 ein unrühmliches Ende finden. 36 Cuhorsts damalige Hauptaufgabe in der Justizverwaltung bestand nach Auskunft des Justizministeriums vom 17. Januar 1947 darin, die »Gleichschaltung der Justiz zu betreiben«, nebenbei war er aber auch als Gnadenreferent des Gauleiters Murr tätig. 37 Nach kurzer Zeit, am 1. Juli 1933, erfolgte seine Beförderung zum Oberre- Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 117 29 Auskunft an die Spruchkammer vom 16. Dezember 1947, STALB EL 902/ 20 I Bl. 11. 30 STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 5 und Schlußwort Bl. 2 (Protokoll Spruchkammer). 31 Z.B. durch RA Dr. Schöck, der von Cuhorst sagte, daß »die geistigen und juristischen Voraussetzungen hierfür [den Senatsvorsitz] in weitem Maße fehlten.« STALB EL 902/ 20 VII/ Heft III Bl. 677. Eine ähnliche Aussage Schöcks (»[Cuhorsts] juristische Kenntnisse allgemein als sehr bescheiden beurteilt wurden [...]«) kommentierte Cuhorst »von wem? «, IfZ NG 489. 32 JM RJM-Personalakten. 33 STALB EL 902/ 20 I Bl. 13 Personalbogen RJM sowie Adreßbuch der Stadt Stuttgart 1933 und 1934, StAS. 34 1925 saß er bereits im Vorstand der traditionsreichen Sektion Schwaben und war zu Beginn der 30er Jahre Hüttenwart der »Stuttgarter Hütte«. MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 Dok. Nr. 33 S. 5. 35 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945 Bü S I, sowie »Nachrichten aus der Sektion Schwaben« 5 (1938), S. 7. 36 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. Brief Cuhorsts an das RJM, 15. April 1943, JM RJM-Personalakte Bl. 25, »Nachrichten der Sektion Schwaben des De. und Oe. Alpen-Vereines« aus den Jahren 1933 - 1941 (darin finden sich auch zahlreiche Propagandaaufrufe Cuhorsts), sowie Erklärung Cuhorsts, 11. April 1947, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S. 7 f. 37 Aktenvermerk in STALB EL 902/ 20 VII Bl. 299 - 302. Es wurde später mehrfach ausgesagt, daß sich Cuhorst mit Murr bald überworfen hatte, z.B. STALB EL 902/ 20 VIII E 38. <?page no="119"?> gierungsrat; nach späteren Angaben des Justizministeriums, um ihn trotz seiner »geringen sachlichen Fähigkeiten« in eine unabsetzbare »Schlüsselstellung« zu bringen, bevor das »objektiver denkende Reichsjustizministerium« ihn nach der »Verreichlichung« der Justiz wieder degradiert hätte. 38 Worin Cuhorsts »Gleichschaltungsarbeit« bestand, ist schwer rekonstruierbar, da im wesentlichen nur spätere Aussagen, kaum Dokumente vorliegen. Cuhorst hat sich zweifellos mit Personalfragen befaßt, zwar nur »zur Hilfe« 39 und nicht als Personalreferent, hatte aber doch »als Beauftragter der NSDAP im Justizministerium und in der Präsidialabteilung des OLG zweifellos die Möglichkeit, auch in Personalsachen, für die er nicht Berichterstatter war, ein maßgebendes Wort mitzusprechen«. 40 Manche Zeugen sagten später aus, daß Cuhorst vor allem deshalb aus dem Justizministerium versetzt wurde, weil er persönliche Probleme mit dem damaligen Gaugerichtsvorsitzenden Hill und Justizminister Schmid gehabt haben soll. 41 Dies scheint im Hinblick auf Cuhorsts spätere Laufbahn nicht ausgeschlossen, gelang es ihm doch stets, sich innerhalb kurzer Zeit besonders unbeliebt zu machen 42 : »Äußerlich fiel er durch sein großtuerisches, hysterisches Wesen auf und war allgemein unbeliebt. Zeitweise geriet er geradezu in einen Machtrausch; einmal hörte man ihn z.B. im Hausgang schreien: Jawohl, ich habe die Macht, und ich werde sie auszunutzen wissen.« 43 Der selbst belastete Staatsrechtsprofessor Carl Schmitt, der Cuhorst bereits aus Studientagen kannte, mochte seine Eindrücke von ihm 1947 »dahingehend zusammenfassen, dass er mir immer als ein schlechthin amoralisches Subjekt erschienen ist«. 44 1934 wurde Cuhorst zum Senatspräsidenten des neuen 5. Zivilsenats am Oberlandesgericht Stuttgart berufen, eine Beförderung, die nach Beurteilung eines Ministerialrats im Reichsjustizministerium »für die württembergischen Verhältnisse eine ganz ausnahmsweise war«, bei der außerdem »mehrere bewährte Anwärter für Senatspräsidenten oder gleichwertige Stellen [...] übergangen wurden«. 45 Daß hier ebenfalls politische Überlegungen den Ausschlag gegeben hatten - Cuhorst war seit Jahresbeginn auch förderndes Mitglied der SS -, ist höchst wahrscheinlich, wenngleich nicht, wie bei seiner Berufung ins Justizministerium, zweifelsfrei belegt. Umgekehrt deutet nichts auf Cuhorsts besondere juristische Fähigkeiten: So heißt Stefan Baur 118 38 JM Personalakte Bd. 1 Bl. 10 (Einschreiben an die Spruchkammer, gez. Kü[stner]). 39 STALB EL 902/ 20 VIII E 37. 40 JM Personalakte Bd. 1 Bl. 7. Cuhorst selbst gab an, er sei »Hilfsberichterstatter in Personal-, Gnaden- und Prüfungssachen« gewesen, STAN KV-Prozesse Fall 3 Interrogations C-19 S. 3. 41 So etwa Dill und Waldmann vor der Spruchkammer, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 30. 42 Hinweise darauf, daß dies auch innerhalb der NSDAP so gewesen ist, gibt IfZ NG 425 S. 5. Ähnliches trug die Verteidigung im Spruchkammerverfahren vor, STALB EL 902/ 20 VIII E 49 und E 50. 43 JM Personalakte Bd. 1 Bl. 10 (Einschreiben an Spruchkammer, gez. Kü[stner]). 44 »Bestätigung«, 3. Februar 1947, IfZ NG 803. Die darin geschilderte, beispielhafte »Episode« beruht jedoch wahrscheinlich auf einer Verwechslung, vgl. STALB EL 902/ 20 VIII E 39. 45 JM RJM-Personalakten Bl. 7. <?page no="120"?> es in einer seiner dienstlichen Beurteilungen als Senatspräsident, er sei »ein gut befähigter Richter mit praktischem Geschick«, sein Senat sei »durchaus in Ordnung«; kein rauschendes Lob, das mit der Bemerkung schließt: »Seine politische Zuverlässigkeit steht fest.« 46 Über diese Tätigkeit als Zivilsenatsvorsitzender ist, neben dem allgemeinen dienstlichen Verhalten, kaum Nennenswertes überliefert, die spätere Berufung zum Sondergericht überschattete diese vergleichsweise normale Arbeit. Nicht nur bei den »Übergangenen« erregte Cuhorst durch diesen Karrieresprung Anstoß, vielmehr wiesen spätere Zeugen aus dem Justizapparat darauf hin, daß sich Cuhorst allgemein »keine Freunde« gemacht habe 47 ; der damalige OLG-Präsident Heß trat sogar wegen Cuhorsts Beförderung von seinem Amt zurück. 48 Das Entnazifizierungsverfahren sollte zeigen, daß Cuhorsts Unbeliebtheit möglicherweise weiterreichende Folgen hatte als seine eigentliche Funktion im NS-Justizwesen. 1933 wurde, ausdrücklich zur Bestrafung politischer Vergehen, die Institution des Sondergerichtes, basierend auf gesetzlichen Möglichkeiten aus der Weimarer Zeit, ins Leben gerufen. 49 Mit der Zeit, und besonders seit Kriegsbeginn, erfuhren diese Gerichte einen ständigen Kompetenzzuwachs, der sich auch in ihrer steigenden Anzahl niederschlug. Die Grundidee war eine Verkürzung des Rechtsweges, besonders zu Lasten des Angeklagten, um politische, später auch kriminelle Vergehen rasch aburteilen zu können. 50 Von 1933 an war Landgerichtsdirektor Flaxland SG-Vorsitzender gewesen. Von ihm und seinen Urteilen war in späteren Zeugenaussagen kaum die Rede, vielmehr scheint er nicht im Sinne der Nationalsozialisten, mindestens aber unauffällig geurteilt zu haben. Im Gegenteil fiel Flaxland so unangenehm auf, daß er, wie OLG-Präsident Dr. Küstner 1947 zu Protokoll gab und auch Cuhorst selbst später bestätigte 51 , »aus politischen Gründen« 52 ersetzt werden mußte. Flaxlands damaliger Stellvertreter, Landgerichtsrat Dr. Bohn, der die allererste Stuttgarter SG-Sitzung geleitet hatte, nannte als Grund für diese Ersetzung die »Weigerung, gegen einen jüdischen Kaufmann aus Köln zu verhandeln.« 53 Man einigte sich innerhalb des OLG schließlich Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 119 46 In diesem Sinne auch ein damaliger Zivilsenatsvorsitzender, der sonst für Cuhorst eher entlastend aussagte, STALB EL 902/ 20 VIII E 26. 47 Landgerichtsdirektor Payer IfZ NG 575, Landgerichtsdirektor Eckert STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 Bl. 24, ähnliche Aussagen in STALB EL 902/ 20 VIII E 40 und 48. 48 STALB EL 902/ 20 VIII E 40, auch erstinstanzliches Urteil der Spruchkammer (HSTAS EA 11/ 101 Bü 89) sowie Aussage Dr. Otto Schlechts, 24. Juli 1947 (STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S. 91 - 103). Cuhorst selbst wollte hierzu nicht aussagen, STALB 902/ 20 XVIII Bl. 7 (Protokoll Spruchkammer). 49 Einzelheiten und Literatur vgl. den Beitrag »Richter der alten Schule« von Michael Kißener in diesem Band. 50 Vgl. Gruchmann, Lothar, Justiz im Dritten Reich 1940 - 1944, München 1988, hier S. 944 - 979. 51 Vgl. Anm. 57. 52 IfZ NG 565. 53 IfZ NG 493, vgl. auch Aussagen Dr. Otto Schlechts, 24. Juli 1947 und Eckerts, 25. Juni 1947, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S. 91 - 103 bzw. S. 19 - 40. <?page no="121"?> dahingehend, daß Flaxland von sich aus am 13. September 1937 um seine Amtsenthebung bat, Küstner daraufhin Cuhorst als Nachfolger vorschlug, welcher vom Präsidium des Landgerichts dann acht Tage später auch berufen wurde. 54 Der Vorgang war ungewöhnlich, da durch die Berufung Cuhorsts von der vorgeschriebenen Praxis, das Sondergericht aus Angehörigen des Landgerichtes zu bilden, abgewichen wurde. Ein damaliger Assessor bei der Staatsanwaltschaft erklärte hierzu, Cuhorst habe sich zum SG-Vorsitz »gedrängt«. 55 Während sich Küstner nach eigener Aussage von der Besetzung des SG-Vorsitzes mit einem hundertprozentig linientreuen »Nazi«, der zudem über gute Verbindungen verfügen sollte, einen gewissen Schutz des OLG gegen die dauernden Beschwerden und Einmischungen aus Berlin versprach, gab Cuhorst dem Ablauf später eine ganz andere Bedeutung. Er wäre nur aus Pflichtbewußtsein und weil Küstner ihn »dringend gebeten« 56 hätte, um Schlimmeres zu verhindern, auf die Ernennung eingegangen. Besonders seltsam erscheint Cuhorsts dunkler Hinweis, es wären »Scharfmacher« 57 aus Berlin geschickt worden, hätte er sich der Berufung widersetzt. Plausibler scheint das Umgekehrte, denn Flaxland war durch einen - mindestens verbalen - Scharfmacher ersetzt worden, dem seine Stellung offenbar zunächst kein Mißvergnügen bereitete: Cuhorsts nun einsetzende Tätigkeit als Sonderrichter, die seine Funktion als Senatspräsident (seit Oktober 1937 am 1. Strafsenat) zunehmend in den Hintergrund treten ließ, verschaffte ihm und dem Sondergericht in den folgenden sieben Jahren seinen berüchtigten Ruf. Innerhalb des Justizapparates machte er sich durch diese weitere Ausnahmebeförderung natürlich wieder »keine Freunde«, sondern erregte im Gegenteil mißbilligendes Aufsehen. 58 Cuhorsts eigenwilliger Charakter, der bisher nur in seiner NS-Propaganda öffentlich geworden war, prägte von Beginn an sein »unwürdiges Benehmen« 59 als Richter. Die Zeugenaussagen, die hierzu buchstäblich zu Hunderten, von beisitzenden Richtern, Staats- und Rechtsanwälten, Assessoren, Zeugen und Angeklagten vorliegen, ergeben trotz der Verschiedenheit der Aussagenden ein erstaunlich einheitliches Bild. 60 Wenngleich manche Widersprüche und Ungereimtheiten darin auftauchen Stefan Baur 120 54 Küstner an das Reichsjustizministerium, 25. September 1937, IfZ NG 583. 55 STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 224, auch IfZ NG 571. 56 STALB EL 902/ 20 VI Bl. 233, handschriftliche Randbemerkung Cuhorsts. 57 In einem seiner Gnadengesuche aus dem Jahr 1961 schrieb Cuhorst: »Meine Bestallung zum Vorsitzenden des Sondergerichts ist ausschließlich aus Sachgründen erfolgt. Ich hätte keinen anderen Grund gehabt, in die Bresche zu treten, wenn nicht der Chefpräsident Dr. Küstner mich im Hinblick auf die Berliner Scharfmacher flehentlich gebeten hätte, die Nachfolge des zum Protest gegen Berlin zurückgetretenen Landgerichtsdirektor Flaxland anzutreten.« (JM Personalakte Bd. 2 Bl. 177) Tatsächlich sagte Küstner zu Cuhorsts Verteidigung vor der Spruchkammer aus, es habe einmal eine solche mündliche Äußerung gegeben; doch bleibt dies, nicht zuletzt wegen Küstners verschiedenen Darstellungen, zweifelhaft. 58 Oberstaatsanwalt Bäuchlein IfZ NG 569, STALB EL 902/ 20 II/ 2 Bl. 609. 59 Gerichtsassessor Dr. Loduchowski STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 526, sinngemäß RA Dr. Krüger STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 73 (Protokoll Spruchkammer). 60 Die folgenden Beschreibungen stammen aus Vernehmungsprotokollen der Spruchkammer (STALB EL 902/ 20, besonders die Teile VI und VII) und des Nürnberger Tribunals (diverse NG-Signaturen <?page no="122"?> und einiges von der Verteidigung, insbesondere während des Nürnberger Prozesses, abgeschwächt wurde 61 , so verblüfft doch das Maß an Übereinstimmung, insbesondere was einzelne Kernwörter als auch die Schilderung bestimmter Gewohnheiten Cuhorsts betrifft. Auch die bezeichnende Tatsache, daß einige belastende Aussagen aus Kollegenkreisen in den Jahren nach dem Nürnberger Prozeß, beginnend mit dem Spruchkammerverfahren, mit manchmal haarsträubenden Begründungen abgeschwächt und relativiert wurden, vermag diesen Eindruck nicht wesentlich zu ändern. 62 Es ist daher angebracht, dem Urteil der Spruchkammer von 1947 so weit zu folgen, daß aus den Aussagen sein Verhalten ungefähr rekonstruiert werden kann. Cuhorsts Eigenwilligkeiten begannen bereits vor der Hauptverhandlung durch seine ungewöhnliche Terminplanung, in die er sich niemals hereinreden ließ, im Gegenteil äußerst ungehalten wurde, wenn jemand solches versuchte. 63 So pflegte er den Verteidigern die Anklageschrift oft erst unmittelbar vor dem Verhandlungstermin zukommen zu lassen; die Angaben schwanken zwischen einigen Tagen und wenigen Stunden, betonen aber den absichtsvollen Charakter dieser Schikane. Waren an sich schon fast keine Rechtsmittel für Angeklagte vor dem Sondergericht vorgesehen, machte sich Cuhorst zusätzlich eine Gewohnheit daraus, die Verteidigung, die er als »notwendiges Übel« 64 betrachtete, zusätzlich in Verlegenheit zu bringen. Dabei schreckte er vor wirkungsvollen schriftlichen Beschwerden nicht zurück, die unter anderem dazu führten, daß der besonders couragierte Verteidiger Diesem 1943 von der Rechtsanwaltskammer abgemahnt und zeitweilig von Verteidigungen vor dem Sondergericht ausgeschlossen wurde. 65 Beweisanträge, manchmal auch Zeugenvernahmen während der Verhandlung, lehnte Cuhorst in der Regel ab, so daß bei den Verteidigern ein Gefühl aufkommen mußte, das einer von ihnen 1946 treffend zusammenfaßte: »Man ging fast stets mit dem bitteren Gefühl aus dem Gerichtssaal, solcher Brutalität nicht gewachsen zu sein.« 66 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 121 der Anklage). Sofern nicht gesondert ausgewiesen, sind alle Beschreibungen dort mehrfach zu finden. Die meisten Sondergerichtsakten wurden bei einem schweren Luftangriff Mitte September 1944 vernichtet, worüber ein Bericht des OLG an das RJM Auskunft gibt. (Vgl. Anm. 95). 61 In den Verteidigungsakten finden sich einige ehemalige Kollegen, die z.T. im Widerspruch zu ihren ersten Nürnberger Aussagen beschwichtigende Angaben machten. Zentralen Vorwürfen (Behinderung der Verteidigung, »unwürdiges« Benehmen) wurde darin bemerkenswerter Weise nicht direkt widersprochen: STALB EL 902/ 20 VIII, E-Signaturen, STAN KV-Prozesse Fall 3, bes. G 4. Die dort bestätigten Verhandlungsfälle, bei denen Cuhorst sich formal korrekt verhielt, dürften im Ganzen gesehen Ausnahmen gewesen sein. 62 Nicht zuletzt wegen Vorkommnissen offensichtlicher Widersprüche zwischen den Spruchkammeraussagen und den Nürnberger Protokollen sprach der öffentliche Kläger davon, »dass die [Entlastungs-] Zeugen in dringendem Verdacht stehen, falsche eidesstattliche Erklärungen abgegeben zu haben.« STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 220. 63 Vgl. z.B. Bohn IfZ NG 493. 64 Schlecht IfZ NG 489. 65 Präsident der Anwaltskammer an RA Diesem, 6. März 1943, IfZ NG 945. 66 RA Krüger an OB Klett, 5. November 1946, IfZ NG 492. <?page no="123"?> Unterwegs zum Gericht, sowohl in der Nachbarschaft als auch im Justizgebäude, soll er mit Kraftsprüchen der Art »Voilà meine Herrn, auf zur Schlachtbank! « 67 aufgefallen sein; ein Ermittler der Spruchkammer bekam von Nachbarn unabhängig voneinander viermal Cuhorsts Ausspruch, er sei »zur Kopfjagd« unterwegs, bestätigt. 68 Zu Verhandlungsbeginn erschien Cuhorst mit strammem »Deutschem Gruß« und »hörbarem Hackenzusammenklappen« 69 und leitete die Verhandlung dann anhand der Anklageschrift des Staatsanwaltes, bei nur geringer Kenntnis der Akten. Dabei ging es ihm primär um Schnelligkeit, eine Eigenheit, derer er sich besonders rühmte, und die von fast allen Zeugen bestätigt wurde. Hierin folgte Cuhorst zum Teil freilich den Vorgaben für Sondergerichte, die ausdrücklich »kurzen Prozeß« machen sollten. Manche Angeklagten belegte er, je nach den Umständen oder auch der persönlichen Laune, mit wüstem Gebrüll, manchmal mit den NS-typischen Schimpfwörtern (»Lump«, »Schweinehund«, »Vaterlandsverräter« etc.), »teilweise in schwäbischer Mundart«. 70 Wie auch gelegentlich den Verteidigern und Staatsanwälten, fiel er den Angeklagten ins Wort, unterbrach oder kommentierte deren Auslassungen mit zynischen und sarkastischen Bemerkungen. Diese gingen häufig über bloße Einschüchterung hinaus, insbesondere wenn er in nahezu sadistischer Weise an das drohende Todesurteil erinnerte: »Sie scheinen nicht zu wissen, daß ihr Kopf wackelt.« 71 Es ist erstaunlich, wie häufig in den Zeugenaussagen (und keineswegs nur denen von ehemaligen Angeklagten und deren Angehörigen) von »Sadismus« und Cuhorsts vollständiger »Unzugänglichkeit« bezüglich »menschlicher Erwägungen« 72 gesprochen wird. Einen Angeklagten, der nach Hungerstreik, Selbstmordversuch und Krankheit zum Prozeßtermin so geschwächt war, daß er auf einer Bahre getragen werden mußte und dabei mehrmals ohnmächtig wurde, verurteilte Cuhorst 1942 zum Tod, woran sich viele Zeugen später erinnerten. In der Urteilsbegründung wurde das Verhalten des Angeklagten als mit dem eines Flüchtigen gleichgesetzt. 73 Eine weitere seiner »Spezialitäten«, insbesondere vor großem Publikum, scheint die ausführliche, weit über das Gebotene hinausgehende Ausbreitung intimer privater Details der Angeklagten gewesen zu sein, vor allem bei »Sittlichkeitsverbrechen« oder angeklagten Frauen. 74 Prozesse mit größerer Publikumswirksamkeit, Stefan Baur 122 67 Aussage Assessor Schwarz STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 228. Handschriftliche Randbemerkung Cuhorsts: »Wird bestritten! « Einige solcher Sprüche sind, z.T. in Varianten, bezeugt worden. 68 STALB El 902/ 20 VI/ 1 Bl. 209a (Aktenvermerk, 17. Juni 1948), ähnlich Dr. Schwarz NG 855. 69 Hegele IfZ NG 488, auch RA Krüger IfZ NG 492. 70 Gerichtsassessor Dr. Loduchowski vor Spruchkammerermittlern, STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 525. 71 RA Kalkoff, IfZ NG 679. 72 StA a.D. Harfer, IfZ NG 564. 73 Urteil des SG Stuttgart, IfZ NG 437, Aussage des Beisitzers Dr. Azesdorfer IfZ NG 495 S. 2. 74 Eine im Alter von 19 Jahren wegen »Umgangs mit Kriegsgefangenen« verurteilte Frau erklärte 1948: »Die Fragestellung des Cuhorst zeugte von einer sittlichen Verkommenheit, von der ich in meinem jugendlichen Alter keinerlei Ahnung hatte.« STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 168. Ein anderes Beispiel in IfZ NG 855 S. 7. <?page no="124"?> wie etwa den »Punkteschieberprozeß« gegen drei Stuttgarter Kaufleute 75 , führte Cuhorst gerne selbst. Nach manchen Aussagen waren Ausländer, besonders Polen, sowie Zigeuner, denen gegenüber Cuhorst den bekannten, typisch nationalsozialistischen Haß hegte, von solchen Quälereien besonders betroffen. So verurteilte er 1944 eine italienische »Fremdarbeiterin« trotz entgegengesetzter »Rechtsanschauung des Reichsgerichts« wegen Plünderung zum Tod, weil dies dem »gesunden Volksempfinden« entspreche. Der Fall zog weite Kreise, bis hin zu Notenwechseln zwischen dem Auswärtigen Amt und der italienischen Botschaft, worauf das Urteil nicht vollstreckt wurde. 76 In seinem rassisch geprägten Nationalismus sowie in seinem Antisemitismus 77 störte ihn offensichtlich auch das Wissen um die furchtbaren Konsequenzen nicht, von denen er spätestens 1940 detailliert Kenntnis erhielt. 78 Obwohl ihm im Nürnberger Prozeß nicht formal nachgewiesen werden konnte, daß er Ausländer oder »Fremdrassige« als solche härter bestrafte (das wäre angesichts der weiten Spanne des möglichen Strafmaßes auch kaum möglich), geht doch aus Urteilsbegründungen und Zeugenaussagen Einschlägiges hervor, ganz besonders im Fall zweier Zigeuner von 1943. Diese waren von Cuhorst wegen fortgesetzter kleinerer Diebstähle als »Gewohnheitsverbrecher« zum Tod verurteilt worden, wogegen die Verteidigung, nachdem neue Aussagen vorlagen, die Verfahrenswiederaufnahme beantragte. Cuhorst wies den Antrag ab, unter anderem mit der Begründung, der Widerruf eines »typische[n] gemeingefährliche[n] Zigeuner[s]« sei »offensichtlich unwahr«, gesundes Volksempfinden (für Cuhorst gleich »gesundem Menschenverstand« 79 ) und die Umstände »verlangen nach wie vor seine völlige Ausmerzung aus der Volksgemeinschaft«. 80 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 123 75 Es ging um umfangreiche Wiederverwertung von (Berechtigungs-)»Punkten« für Spinnstoffe, die beim Kriegswirtschaftsamt unterschlagen anstatt vernichtet worden waren. Zwei der vier Angeklagten wurden in einem aufsehenerregenden Prozeß nach »den neuen nationalsozialistischen Grundsätzen« (»Stuttgarter Nachrichten«, 6. Oktober 1943) wegen »Kriegswirtschaftsverbrechen« zum Tode verurteilt. Komplettes Urteil in BA, Abt. III (BDC), dazu auch IfZ NG 575 S. 2 f. Ähnlich spektakulär verlief der Prozeß gegen das Kloster Untermarchtal, dem Cuhorst vorsaß (STALB EL 902/ 20 XVII), sowie ein weitgehend vom Volksgerichtshof in Mannheim durchgeführter »Kommunistenprozeß«, in dem auch Cuhorst mehrere Todesurteile verhängte. 76 STALB EL 902/ 20 IX, »Fall T[.]«. 77 Zur Kündigung eines schweizerischen Alpenvereinsmitglied schrieb Cuhorst 1938: »[D.] scheint sich hiernach dem internationalen Judentum verschrieben zu haben.« »So weit kann ein Deutscher mit einer Jüdin kommen! «. MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945 (Die Schweiz erschien ihm ohnehin als »europäischer Schandfleck«). 78 Cuhorsts Bruder Fritz war Ende November 1939 für fast ein Jahr als Stadtpräsident nach Lublin gegangen. Von dort berichtete er wiederholt über Mordaktionen an polnischen Juden, die er von Amts wegen mit vorbereitete, an das Stuttgarter Rathaus, wovon auch Hermann Cuhorst gewußt haben muß. Vgl. Müller (wie Anm. 19), S. 346, 609. Ferner erhielt Cuhorst am 17. Juli 1940 einen Brief des Oberkirchenrats Sautter, wodurch er (spätestens) über die Euthanasie-Aktionen im Raum Stuttgart erfuhr (ebd. S. 391). Dies bestätigt auch die Aussage seines Schwagers in STALB EL 902/ 20 VIII E63. 79 Eidesstattliche Aussage Cuhorsts, 16. Januar 1948, IfZ NG 644 S.4. 80 Wiederaufnahmeantrag, Ablehnung, sowie die Aufzeichnungen des damaligen Verteidigers in <?page no="125"?> Auch die NS-typische biologistische Tätertypenlehre wurde von Cuhorsts Sondergericht mustergültig umgesetzt, etwa in Todesurteilen gegen Homosexuelle wie den der mehrfachen »Unzucht« für schuldig befundenen W., der seinen Willen zur »Besserung« umsonst beteuerte: »Veranlagung, Hang, Trieb, Rückfall und Intensität [...] stempeln ihn auch zum gefährlichen Gewohnheitsverbrecher. [...] Die Volksgemeinschaft kann gegen Verbrecher von der Art des W[.] nur durch ihre Ausmerzung sicher geschützt werden.« 81 Waren die »erbbiologischen« Diagnosen ungünstig, konnte auch Minderjährigkeit nicht vor dem Tod retten. Einer von zwei gescheiterten Ausbrechern, der als »zweifellos erblich belastet« »trotz seiner Jugend [17 Jahre]« zum »gefährliche[n] Gewohnheitsverbrecher« erklärt wurde, mußte ebenfalls sein Leben lassen. 82 Cuhorst sah in der »Abschreckung« und »Ausmerzung« die wesentlichen Aufgaben der Justiz, die »theoretisch zum Ziel führte«, wie er in Nürnberg zu Protokoll gab. 83 Um den Abschreckungseffekt weiter zu steigern, wohl aber auch aus persönlicher Lust am Reisen - »geradezu eine Manie Cuhorsts« 84 - und an Auftritten vor Publikum 85 war er mitsamt dem Gericht regelmäßig unterwegs durch ganz Württemberg, um in quasi feudaler Manier vor Ort zu urteilen. Die rasende Geschwindigkeit seiner Prozeßführung machte es ihm ohne weiteres möglich, bei einem eintägigen Gastaufenthalt mehrere Fälle zu verhandeln, um sich dann in einem guten Hotel 86 oder auf seinem geliebten Harpprechtshaus 87 absetzen zu lassen. War diese Art Verhandlung, je nach Aktenlage nach 20 Minuten und wenigen Stunden Dauer vorüber 88 , besprach sich Cuhorst mit der Anklagevertretung über das zu erwartende Urteil und das zu beantragende Strafmaß, vor allem, um nach außen ungünstig wirkende Diskrepanzen zu vermeiden. Wie verschiedentlich berich- Stefan Baur 124 STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 142 - 167. Nach Angaben des mit dem Fall befaßten Staatsanwaltes lehnte Cuhorst, nachdem die Zuständigkeit dafür während des laufenden Verfahrens durch eine Gesetzesänderung auf ihn übergegangen war, die Wiederaufnahme ohne nähere Prüfung ab, IfZ NG 564. 81 Urteil des SG Stuttgart IfZ NG 712. 82 Urteil des SG Stuttgart IfZ NG 719. Nach Aussage des damaligen Sachbearbeiters der Staatsanwaltschaft war es vor allem seine »asoziale Familie«, die ihm den Tod brachte, während der ältere Mitangeklagte, für den »die Partei« gesprochen hatte, als der Besserung fähig mit einigen Jahren Zuchthaus davon kam, IfZ NG 855 S. 4. 83 Eidesstattliche Erklärung Cuhorsts, 16. Januar 1947, IfZ NG 644. Darin auch: »Es ist richtig, dass ein Volksschädling aus der Volksgemeinschaft ausgemerzt werden musste.« (S. 5), ebenso STALB EL 902/ 20 Teil 6, Nürnberger Protokoll, S. 7667. 84 RA Schöck, STALB EL 902/ 20 VII/ 3 Bl. 676, auch IfZ NG 425. 85 Etwa Hegele IfZ NG 488, Bäuchlein IfZ NG 569, Stuber IfZ NG 464 (alle auch STALB EL 902/ 20). 86 OB Klett, IfZ NG 491. 87 RA Schöck an OB Klett, November 1946, STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 67. Die Verteidigung betonte demgegenüber, daß insbesondere Cuhorst auf diesen Reisen stets sparsam und korrekt gewesen sei. 88 Cuhorst selbst beharrte penibel darauf, daß er, entgegen verschiedener Zeugenaussagen, nie unter 50 Minuten für ein Todesurteil gebraucht habe, Eidesstattliche Aussage, 16. Januar 1947, IfZ NG 644 S. 3. <?page no="126"?> tet wird, war er auch hierin kaum von seiner bereits gefaßten Meinung abzubringen. Von der Urteilsverkündung selbst wird gelegentlich Makabres berichtet (»süffisantes Lächeln«), was nicht unbedingt glaubhaft wäre, hätte nicht Cuhorst selbst einen erstaunlichen Hinweis hinterlassen: Die Aussage des Assessors Schwarz, Cuhorsts »Achtung vor dem Menschenleben« sei so gering gewesen, daß ihm »keines seiner zahlreichen Todesurteile innerlich irgendwie nahe gegangen [sei]«, unterstrich Cuhorst und kommentierte mit »richtig«. 89 Diese an den berüchtigten Roland Freisler erinnernde Verhandlungsführung war wahrscheinlich besonders außerhalb des Justizapparates der Grund für den Haß und die Furcht, die Cuhorst bald verbreitete und die sich nach dem Krieg in verschiedenen Formen ausdrückte, Cuhorst sogar einen überregionalen Ruf verschaffte. Die Frau seines späteren Verteidigers in Nürnberg warb für ihren Mann bei anderen Angeklagten damit, daß diesem selbst die Freisprechung Cuhorsts gelungen sei, »der in ganz Württemberg als Blutrichter schlimmster Sorte verrufen ist«. 90 In den 60er Jahren vermerkte ein mit dem Gnadenverfahren beschäftigter Referent im Landesjustizministerium, es sei »verblüffend [...] wie groß noch heute die Antipathie weiter Kreise gegen Cuhorst ist«. 91 Auch die Tatsache, daß Cuhorst als einer von nur drei Sonderrichtern in Nürnberg angeklagt wurde, samt der heftigen öffentlichen Reaktionen nach seinem Freispruch 1947, sind nicht ohne diesen außergewöhnlichen Ruf Cuhorsts zu erklären. Insofern stand er nach außen tatsächlich prototypisch für einen »furchtbaren Juristen«, was sogar einer seiner Entlastungszeugen einräumte. 92 Allerdings darf die außergewöhnliche Verhandlungspraxis Cuhorsts und seine persönliche Brutalität keinesfalls darüber hinwegtäuschen, daß sowohl die Voraussetzungen für solches Verhalten als auch die konkreten Folgen für die Betroffenen fest in der Institution der Sondergerichte, der NS-Gesetzgebung und der allgemeinen Aushöhlung des juristischen Apparates hin zu völliger Willkürjustiz verankert waren. Cuhorst mochte wohl diese Intention augenscheinlich verkörpern, doch wäre sie auch unter gemäßigteren Umgangsformen in ihrer eigentlichen Grausamkeit und Ungerechtigkeit nicht gemildert worden. 93 Wenn er später verbittert feststellen mußte, daß ihn im Vergleich zu anderen Sonderrichtern eine relativ harte Strafe getroffen hatte, so waren die Gründe hierfür mit einiger Sicherheit in seinem persönlichen Verhalten 94 und seiner Verhaßtheit und nicht in den konkreten Urtei- Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 125 89 STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 234. Die handschriftliche Randbemerkung ist nicht abgezeichnet. Sowohl das sehr charakteristische Schriftbild, als auch Intention und Detailwissen dieser wie anderer Kommentare zur Aussage Schwarz lassen allerdings keinen vernünftigen Zweifel daran, daß diese von Cuhorst selbst stammt. 90 STALB EL 902/ 20 VIII/ 3 Bl. 761, auch im Haftbefehl der Spruchkammer HSTAS EA 11/ 101 Bü. 364. 91 JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 316. 92 STALB EL 902/ 20 IX E 49. 93 Vgl. hierzu etwa die Biographien der Mannheimer Sonderrichter von Michael Kißener in diesem Band. 94 Dieses Verhalten erklärte auch ein Cuhorst eher gewogener Oberstaatsanwalt zu dessen »Fehler als Richter« STALB EL 902/ 20 IX E 49. <?page no="127"?> len zu suchen, was der Aufarbeitung der NS-Justiz nach 1945 freilich kein gutes Zeugnis ausstellt. Denn es bestand eine offenbare Asymmetrie zwischen seiner häufig brutalen und zynischen Art zu verhandeln einerseits und den im Durchschnitt und Vergleich zu anderen Sondergerichten aber keineswegs exorbitanten, im Gegenteil sogar mäßigen Strafzumessungen andererseits. Es sind nur wenige Stuttgarter SG-Akten erhalten 95 , und doch lassen sie, zusammen mit den Aussagen der Nachkriegsprozesse, diesen Schluß zu. Bei aller Gnadenlosigkeit im Einzelfall urteilte Cuhorst im Schnitt nicht härter, als es andernorts üblich war. Es kamen durchaus Fälle »relativer Milde« unter seinem Vorsitz vor, und ein damaliger Verteidiger erklärte sogar: »Es war für den Kenner der Verhältnisse kein Geheimnis, daß das SG Stuttgart relativ als das mildeste galt.« 96 Das beste Beispiel hierfür sind die beiden Verhandlungen Cuhorsts gegen Angehörige der Familie Scholl (1938 und 1944), in denen er sich den Umständen entsprechend so fair verhielt, daß Magdalene Scholl 1947 eine für die Verteidigung zentrale Entlastungsaussage abgab. 97 Natürlich lag es zum guten Teil an der überaus schwammigen Formulierungsweise nationalsozialistischer Gesetze, daß Prozeßbeobachter, aber auch Verteidiger und Angeklagte kaum abschätzen konnten, wie das Urteil ausfallen würde; oft waren Strafrahmen von wenigen Monaten Gefängnis bis zur Todesstrafe möglich. Das Ermessen des Richters, insbesondere seine Entscheidung, ob die verhängnisvollen Etiketten »Gewalt-« oder »Gewohnheitsverbrecher«, »Volksschädling« usw. Anwendung finden sollten, war hier ausschlaggebend. Daß unter solchen Umständen Cuhorsts Launenhaftigkeit 98 , seine Starrköpfigkeit und Geltungssucht im Gerichtssaal entscheidenden Einfluß auf die Urteilsfindung haben mußten und den Fällen brutaler Aburteilung solche relativer Großzügigkeit entgegenstanden, war daher in gewissem Maße unvermeidlich. Im ganzen aber müssen Cuhorsts Strafmaße im Vergleich als mäßig angesehen werden. Stefan Baur 126 95 Im September 1944 wurden die wichtigsten Justizgebäude durch Bomben zerstört, wodurch fast alle Akten des Sondergerichts verloren gingen. Bericht Küstners an das Reichsjustizministerium, 27. September 1944, BA R22 2328. 96 Verteidiger Schöck an OB Klett, November 1946, STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Heft 3 Bl. 678. Ähnlich auch Dr. Wacker STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 20, sowie mehrere Aussagen der Verteidigung in STALB EL 902/ 20 IX E. 97 1938 verhandelte Cuhorst gegen die wegen Fortführung verbotener bündischer Jugendaktivitäten verhafteten Brüder Hans und Werner Scholl, 1943 gegen die Eheleute Scholl und eine ihrer Töchter. Im ersten Prozeß wurden die Kinder freigesprochen, wie auch Frau und Tochter Scholl im zweiten, was sie selbst als mild empfanden, während freilich Robert Scholl wegen »Rundfunkverbrechen« zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Eidesstattliche Erklärung Magdalene Scholl, 3. Mai 1947, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S. 106 (Dok. Nr. 59), Robert Scholl STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 60 f. (Protokoll Spruchkammer); ferner Aicher-Scholl, Inge (Hrsg.), Sippenhaft. Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl, Frankfurt/ Main 1993, S. 98 f. 98 Vgl. z.B. Steinle IfZ NG 572, auch STALB EL 902/ 20 II/ 2 Bl. 612, ferner Oberstaatsanwalt Wagner in STALB EL 902/ 20 XI E 48 f., ebenso RS Engelhorn, STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 45. <?page no="128"?> Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit war nicht nur im Fall des SG Stuttgart selbst für staatstreue Juristen ein unangenehmes Problem, welches durch Cuhorsts Eigenarten höchstens an Schärfe gewann. OLG-Präsident Küstner beschwerte sich einmal vorsichtig beim RJM über diese Schwierigkeit, und dort war die Klage wohlbekannt. 99 Daß der Grund in der politischen Gesetzgebung und ihrer vagen, von dehnbaren Allgemeinbegriffen durchsetzten Formulierungen lag, war offensichtlich, ebenso aber, daß daran nichts geändert werden sollte. So wählte man einen besonders perfiden Weg, die Schwierigkeit anzugehen: Der Begriff der Rechtssicherheit wurde umgedeutet in dem Sinn, daß das »Recht« des Einzelnen darin bestehe, jedes Verbrechen gesühnt zu wissen - und zwar im Zweifel unabhängig von den gesetzlichen Grundlagen. Denn der alte Rechtsgrundsatz des nulla poena sine lege war bereits dem Spruch nulla crimen sine poena gewichen, der im Zweifel immer die juristische Berufung auf Phrasen wie das »gesunde Volksempfinden« erlaubte, um zu irgendwelchen Verurteilungen zu kommen. 100 Neben solchen theoretischen Verrenkungen wurden regelmäßig auch die besonderen Lenkungsinstrumente, die von 1933 an zur direkten Beeinflussung der Rechtspraxis geschaffen wurden, eingesetzt, um das Strafmaß zu korrigieren. Tatsächlich war, wie Cuhorst später in seinen Verteidigungen stets betonte, auch das SG Stuttgart solchen Lenkungsversuchen auf vielfältige Weise ausgesetzt 101 , und die in diesem Zusammenhang entstandenen Schriftstücke werfen heute, wie unmittelbar nach dem Krieg, gewisse Probleme bei der Beurteilung von Cuhorsts Richtertätigkeit auf. Wie bei allen Sondergerichten wurde der Tenor der in Berlin erlassenen Richtlinien und »Richterbriefe«, ebenso der Beanstandungen mit jedem Kriegsjahr härter, und in zunehmendem Maße wurden einzelne Urteile kassiert, sei es, weil sie »ungünstige stimmungsmäßige Auswirkungen« hatten, dem Ansehen der Partei zuwiderliefen oder ein Exempel statuieren sollten. Bei aller Entschlossenheit im Kampf für die »Bewegung« reagierte Cuhorst nun aber außerordentlich stur, was Kritik an seinen Urteilen anbetraf. Nicht nur er selbst betonte, daß er »niemals« irgendwelchem »Druck von oben nachgegeben« 102 hätte, sondern ebenso eine Reihe von Zeugen aus dem Oberlandesgericht. Selbstverständlich konnte er damit keines- Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 127 99 Lagebericht Küstners an das RJM, 4. Dezember 1943, STALB EL 902/ 20 IX, »Lageberichte«, auch STALB K 601/ 2 (Lagebericht vom 2. März 1940). 100 Grundsatzvortrag Heydrichs an alle SD-Stellen, aus den SD-Berichten des BA, JM »Material BAK« Bl. 83 - 300. 101 So z.B. in einem Brief des RJM an den OLG-Präsidenten und den Oberstaatsanwalt, 5. Juli 1944, worin allerdings die Stuttgarter Rechtsprechung allgemein, nicht ausdrücklich Cuhorst kritisiert (JM Gnadenverfahren Bd. I Bl. 11) und der Staatsanwaltschaft ausdrücklich mitgeteilt wird, daß sie künftig ihre Strafanträge »mitzuteilen habe« (ebd. Bl. 15). Auch die von Cuhorst selbst gern erwähnte Aussage Dr. Schlechts weist darauf hin, daß die Berliner Kritik sich stets an die Stuttgarter Rechtsprechung im Ganzen wandte, nicht an Cuhorst als Vorsitzenden (JM Gnadenverfahren Bd. 1 Bl. 127), während er vor der Spruchkammer sagte: »Meine Herren, den Kopf mußte ich hinhalten! «, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 228 (Schlußwort Cuhorsts). 102 Eidesstattliche Erklärung Cuhorsts, 16. Januar 1947, IfZ NG 644 S. 2. <?page no="129"?> wegs verhindern, daß eine Reihe von Urteilen sowohl zu Gunsten als auch zu Ungunsten der Angeklagten aufgehoben wurden, aber es gab ihm doch die Rechtfertigung zu behaupten, seine spätere Abordnung zur Wehrmacht sei eine politische Strafmaßnahme gewesen, ein Ergebnis der fortgesetzten Rügen. Während diese Behauptung angesichts der Aktenlage unglaubwürdig ist, darf die Sturheit Cuhorsts auch dem Reichsjustizministerium gegenüber angesichts der verschiedenen Beschwerden als gesichert gelten. Im späteren Gnadenverfahren trug das baden-württembergische Justizministerium mittels einer Anfrage bei allen Länderjustizverwaltungen Materialien zusammen, die einen bruchstückhaften, dennoch erhellenden Vergleich dieser Maßregelungen mit denen anderer Sondergerichte zulassen. Daraus ging hervor, daß eine Reihe anderer Gerichte in gleichem Ton gerügt wurden, und ferner, daß andere Sonderrichter oder Staatsanwälte (wie Cuhorsts Vorgänger Flaxland) ersetzt wurden, wenn die Konflikte überhand nahmen 103 , also weder Cuhorsts Rechtsprechung noch die Beanstandungen daran ganz aus dem Rahmen des Üblichen fielen. 104 Eine »Widerstandshaltung« aus den Rügen des Reichsjustizministeriums ableiten zu wollen, wie es Cuhorst in den 60er Jahren einmal versuchte, bleibt somit zweifelsfrei grotesk, gleichwohl kann das SG Stuttgart nicht allein wegen seines schlimmen Rufes als außergewöhnlich hart bezeichnet werden. Cuhorst selbst legte später Wert auf die Feststellung, er habe auch niemals vor der Verurteilung von Parteigenossen zurückgeschreckt und hätte demnach nicht politisch geurteilt. Das Belegmaterial für dieses Argument ist allerdings dünn, und es bleibt erstaunlich, wie ernst diese Behauptung in späteren Prozessen genommen wurde, um so mehr, als auch gegenteilige Aussagen existieren. 105 Daß Cuhorst zwar Stefan Baur 128 103 Beispiele: In Hamburg wurden 40 Rügen des RJM gefunden, sowie ein Schreiben des Reichjustizministers, worin die Urteile »als bedenklich milde [...] und unter dem Reichsdurchschnitt liegend« bezeichnet werden (JM Gnadenakten Bd. I Bl. 136). Aus Rheinland-Pfalz ging eine Liste mit 13 beanstandeten Urteilen und ein Blatt allgemeiner Rügen ein, sowie eine recht mutige Rechtfertigung des Zweibrückener Landgerichtspräsidenten (ebd. Bl. 141 - 143), ähnliches aus Nordrhein-Westfalen (ebd. Bl. 145). Besonders gemaßregelt wurde das SG Köln, das auf Betreiben des RJM personell umbesetzt wurde, ebenso wie das SG Hamm, wo »einer der Hauptbeteiligten [am gerügten Urteil] Soldat geworden, ein anderer nicht mehr Mitglied unseres Sondergerichts [ist].« (ebd. Bl. 146 - 156) Auch das SG Düsseldorf fiel »seit geraumer Zeit [...] durch eine allzu milde Rechtsprechung bei Kriegsstraftaten auf«, ebd. Bl. 184. 104 Der Gnadenreferent faßte zusammen: »Demgegenüber kann die Rechtsprechung der von Cuhorst geleiteten Spruchgremien im Verhältnis zur Judikatur anderer Sondergerichte und Strafsenate nicht als einmalige Sondererscheinung bezeichnet werden. [...] Endlich ist zu konstatieren, daß teilweise auch anderwärts unliebsam gewordene SG-Vorsitzende erheblichen persönlichen Angriffen und Nachteilen ausgesetzt waren.« (JM Gnadenakten Bd. II Schlußbericht Bl. 384 ff.) Die Spruchkammer sah auch Cuhorsts außergewöhnlich lange Amtszeit als SG-Vorsitzender als Zeichen für hinreichende Konformität, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89. Entsprechende historische Untersuchungen (mit durchaus ähnlichem Ergebnis) gibt es nur wenige, vgl. etwa Schwarz, Alfons, Rechtsprechung durch Sondergerichte. Zur Theorie und Praxis im Nationalsozialismus am Beispiel des Sondergerichts Berlin, Augsburg 1992. 105 Im wesentlichen Zeugenaussagen der Verteidigung im Nürnberger Prozeß bestätigen dies, belegt <?page no="130"?> auch »Parteigenossen« - mindestens gelegentlich - äußerst hart bestrafte 106 , ändert ohnehin wenig am ausdrücklich politischen Zweck, dem er sein Richteramt in voller Überzeugung unterordnete. Ein beispielhafter Beleg für seine Art politischer Rechtsprechung, der den Gesamteindruck eines politischen Richters unterstützt, ist das Nachspiel eines SG-Prozesses gegen einen katholischen Geistlichen im April 1940: Cuhorst machte dabei über den Freiburger Erzbischof Gröber die Bemerkung, dieser habe »den geringsten Anlaß, sich über sittliche Entgleisungen von Mädchen auszulassen«, worüber sich Gröber postwendend beim RJM beschwerte. 107 Auf dessen Vorhaltungen erklärte Cuhorst: »Ich bin seit 10 Jahren im aktiven Kampf der Bewegung. Gerade im Kreis Sigmaringen habe ich wiederholt als Gauredner gesprochen. Meine Haltung ist heute noch so, daß ich die spontane Bemerkung nicht unterdrücken konnte. [...] sie entsprach lediglich meiner politischen Überzeugung.« 108 Als Entschuldigung wurde dies im Übrigen nicht anerkannt, da »nicht Ihre Tätigkeit als Gauredner, sondern ausschließlich Ihre Verhandlungsleitung« zur Erörterung stünde, und ihm deshalb das »Mißfallen« ausgesprochen werden müsse. 109 Ein für Cuhorst sonst auffallend günstig aussagender Staatsanwalt sah sogar allgemein »eine persönliche Schuld Cuhorsts [...] darin, daß er als Richter den Wünschen und Richtlinien des RJM nachgegeben hat.« 110 Mit dem Beginn des Krieges, der auch in Stuttgart nicht mehr wie 1914 mit Jubel begrüßt wurde, verschärfte sich die Gangart der Sondergerichte, und insbesondere vergrößerte sich ihr Zuständigkeitsbereich um zahlreiche kriegsbedingte Delikte. Die meisten der mindestens 120 Todesurteile des Sondergerichts und auch die für Cuhorst später verhängnisvollen Prozesse fallen in die Zeit ab 1942, seit der er auch, vor allem wegen der hohen Arbeitsbelastung, zunehmend die Lust am Sondergerichtsvorsitz verlor. Während Cuhorst in dieser Zeit erst zu seiner Bekanntheit gelangte, bahnte sich ab 1943 bereits das Ende seines SG-Vorsitzes an. Trotz des Eifers, den er als Sonderrichter an den Tag legte, strebte er offenbar schon früh nach »höheren Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 129 durch eine Anzahl entsprechender Urteile; »offizielle« Kritik daran konnte aber nicht nachgewiesen werden. Generell wurde ausgesagt, daß Cuhorst in harmlosen politischen Fällen (Anklagen wegen des »Heimtückegesetzes«) milde urteilte, nicht aber bei Kriegswirtschafts- oder gar Kapitalverbrechen, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 1 - 12, diverse Stellen. 106 Z.B. »Fall S[.]«, IfZ NG 718. 107 JM RJM-Personalakte Bl. 10. Zu den Anschuldigungen gegenüber dem Freiburger Erzbischof siehe Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die nationalsozialistische Diktatur, Karlsruhe 1986, S. 96 ff. 108 STALB 902/ 20 VI/ 1 Bl. 219. 109 JM RJM-Personalakte Bl. 14. Cuhorst sagte später, er habe nicht öffentlich sagen dürfen, daß Gröber selbst förderndes SS-Mitlied gewesen war, und dies sei der Hintergrund der Anspielung gewesen, womit nicht erklärt ist, weswegen er sich im internen Schriftverkehr nicht darauf berief, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 8 (Protokoll Spruchkammer). 110 STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 22. <?page no="131"?> Posten« 111 , aber auch nach der Möglichkeit, »zum Heer zu kommen«. 112 Letzeres hatte er nach eigenen Angaben schon wiederholt, »zuletzt 1940« 113 versucht, während er sich nach dem Krieg in zunehmendem Maße auf seine Einberufung bezog, um seine angebliche Maßregelung seitens des Ministeriums zu belegen. Daß sich in seinem politischen Fanatismus etwas geändert hätte und er ähnlich wie sein Vorgänger Flaxland Skrupel bekam, ist praktisch ausgeschlossen: Die Zeugnisse seiner ungebrochenen Überzeugung reißen bis 1945 nicht ab. 114 So brach er im September 1942 einen beinahe grotesken Streit im Alpenverein vom Zaun, der einiges Licht auf seinen Fanatismus wie auf seine Art, mit anderen Menschen umzugehen, wirft. Cuhorst nahm Anstoß daran, daß einige der Vereinssektionen gelegentlich als »Zweig« firmierten, und verfaßte eine »geharnischte Anregung«, in der sein übersteigerter nationalsozialistischer Führerfanatismus zum Ausdruck kommt: »Lieber Herr Doktor! [...] Mit dem Zweig muss jedoch aufgeräumt werden. [...] Ich bitte Sie, Herrn [...] dringendst zu sagen, daß es für einen Nationalsozialisten unerträglich sei, etwas zu tun, was dem Willen des Führers straks zuwiderläuft. [...] Wenn dies in der nächsten Zeit nicht aufhört, so werde ich dafür sorgen, daß den Teutschen eine Belehrung zuteil wird« usw. 115 Auch sein Verweis vor dem Parteigaugericht, den er später immer wieder als Beleg für sein nichtkonformes Verhalten anführte, spricht dem nicht entgegen. Cuhorst hatte in einem Prozeß ein »Parteimitglied bloßgestellt« und dabei von einem Herrn mit »Lametta« gesprochen, was ihm als »schwere Entgleisung« angerechnet wurde. Unter Berücksichtigung seiner langen Parteimitgliedschaft und weil ihm eine bewußte »Schädigung des Ansehens der Partei« als altem Nationalsozialisten ferngelegen habe, erhielt er auf Antrag des Gauleiters einen Verweis, die niedrigste mögliche Strafe. 116 Auch das von Zeugen häufig bestätigte Bemühen Cuhorsts, zu einer Stefan Baur 130 111 IfZ NG 1983 S. 3, auch OStA Wendling in STALB EL 902/ 20 VIII E 48. 112 So Cuhorst selbst in einer im April 1943 in Stuttgart verfaßten Notiz über seine Unterredung mit Ministerialrat Köhler, RJM am 12. April 1943, IfZ NG 983 S. 13. Gleiches bezeugte seine ehemalige Haushälterin, STALB EL 902/ 20 IX E 78. 113 Wie Anm. 112. 114 Ähnliche Radikalität bezeugt seine vielleicht letzte Rede von 1943, in der er den Endsieg beschwor, die Propaganda-Analogie zu Friedrich dem Großen und seiner »Rettung« im siebenjährigen Krieg zog und schließlich noch »nachdrücklich vor Schwätzereien im Sinne der feindlichen Agitation« warnte (»Der Teckbote«, 3. November 1943, S. 3). Unbeugsames Durchhalten, um einen neuen »November 1918« zu verhindern, schien ihm noch 1948 »selbstverständlich«, STALB EL 902/ 20 Teil 6, Nürnberger Protokoll, S. 7799. 115 Brief Cuhorsts, 8. September 1942, MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. 116 Urteil des Gaugerichts Württemberg-Hohenzollern, 26. November 1943, IfZ NG 2169. Die Angelegenheit wurde insbesondere von Cuhorsts Verteidigung vor der Spruchkammer zu einer für ihn geradezu gefährlichen Anklage stilisiert, die zum Zweck seines Parteiausschlusses betrieben worden sei. Weder das Gerichtsprotokoll noch die detaillierte Aussage eines von der Spruchkammer ausfindig gemachten Zeugen bestätigen diese Version, so daß es angemessen scheint, den Vorgang als von geringer Bedeutung anzusehen. Einer der damaligen Gaugerichts-Beisitzer sprach von einer »minimalen Angelegenheit«, STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 350. <?page no="132"?> objektiven Aufklärung des Sachverhalts zu gelangen, sowie seine Neigung, »leichte« politische Vergehen (nach dem »Heimtückegesetz«) im Gegensatz zu »Kriegswirtschaftsverbrechen« nachsichtsvoll zu beurteilen, ändern am Eindruck einer nationalsozialistischen Rechtsprechung wenig. 117 Die von Entlastungszeugen mehrfach bezeugte Tendenz Cuhorsts, korrupte NS-Funktionäre besonders hart zu bestrafen, belegt im Gegenteil den Vorwurf politisch motivierter Rechtsprechung. Eine echte Gelegenheit zur beruflichen Veränderung ergab sich 1943, als nach der Berufung des Generalstaatsanwaltes Vollmer ins RJM der Posten des Amtsleiters für Recht beim Reichskommissariat Ukraine frei wurde. Nach Erinnerung des stellvertretenden Leiters der Justiz im Ostministerium, Dr. Quint, wurde Cuhorst von Ministerialrat Köhler vorgeschlagen, der ihn als »etwas eigenwilligen Mann« bezeichnete, »der sich aber um die Partei sehr verdient gemacht habe und deshalb [...] mit Vorsicht behandelt werden müsse« 118 : »Die Reichsjustizverwaltung, jedenfalls die Personalabteilung, sei nicht geneigt, diesen Wünschen, besonders nicht in dem von Cuhorst begehrten Umfange, zu entsprechen, befinde sich aber mit Rücksicht auf die politischen Beziehungen von Cuhorst in einer schwierigen Lage, würde deshalb eine dem Ehrgeiz Cuhorsts befriedigende Verwendung im Bereich des Ostministeriums begrüssen.« 119 Quints Vorgesetzter Wilhelmi griff diesen Vorschlag wegen der politischen Zuverlässigkeit Cuhorsts sofort auf, weswegen es nicht nur Quint im übrigen für »ganz ausgeschlossen« hielt, daß man im RJM mit Cuhorsts Rechtsprechung als zu milde nicht zufrieden gewesen wäre. 120 So erfolgte Mitte März die Abstellung Cuhorsts zum Reichskommissar für die Ukraine in Rowno, zunächst für zwei Wochen. 121 Cuhorst, der in »völlig ungewöhnlicher» Weise bereits ein »Volksdeutsches Mädchen zur Bedienung! « und »Im Dienstzimmer Führerbild« angeordnet hatte 122 , kehrte jedoch bereits Mitte April nach Stuttgart zurück, zur »großen Bestürzung« 123 mancher Stuttgarter. Seine Rückreise aus Rowno nutzte er zu einer Besprechung im Reichsjustizministerium in Berlin, worin er unverhohlen seine Enttäuschung über die Stelle in Rowno darlegte, sowie seinen »lange gehegten Wunsch« nach Versetzung bekräftigte. Wie auch in einem nachgereichten Schreiben bat er um Zuteilung eines »entsprechenden Landgerichtes in den Reichsgauen der Alpen und Donauländer«, da er durch seine Alpenvereinstätigkeit mit dem Raum und seinen Rechtsfragen besonders vertraut sei Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 131 117 Beispielhaft Eckert, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S.19 - 40. 118 Aussage Quint, 19. Juli 1947, IfZ NG 1983 S. 3. 119 Wie Anm. 118. 120 Vgl. auch Aussage OLGRat Dr. Gramm, 3. Juli 1947, IfZ NG 1883. 121 Zu einer unterrichtenden Tätigkeit bei der »Hauptabteilung Rechtswesen«, Marschbefehl, IfZ NG 983 und JM RJM-Personalakten Bl. 20. Verteidiger Dr. Brieger gab in Nürnberg an, Cuhorst hätte das OLG Rowno übernehmen sollen, aber letztlich aus Heimatverbundenheit abgelehnt, was jedoch nicht nachprüfbar ist, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 12 S. 57. 122 IfZ NG 983 Bl. 6 Rückseite und IfZ NG 1983. 123 Aussage Hüttenwirtschafterin Frieda Renz, IfZ NG 795 S. 2. <?page no="133"?> und eine solche Stelle, etwa in Klagenfurt, »eine ideale Verbindung politischer, dienstlicher und persönlicher Betätigung« wäre. 124 Als weiteren Grund nannte er den Wunsch nach beruflicher Abwechslung; möglicherweise spielten aber auch die Anforderungen seiner Position eine gewisse Rolle. Immerhin war Cuhorst Mitte des Jahres für über drei Monate an einem »nervösen Erschöpfungszustand« erkrankt, »infolge beruflicher und politischer Überanstrengung«. 125 Schon der Selbstvorschlag war ungewöhnlich und machte die Angelegenheit zu einem Ärgernis für die zuständigen Stellen im RJM 126 , verstärkt noch durch die unbescheidenen Wünsche Cuhorsts (»zum Vizepräsident eigne ich mich nicht« 127 ) und seine ausdrückliche Klage, daß das Landgericht Ravensburg bereits vergeben wurde. Es gibt keine Dokumente darüber, ob in den folgenden Monaten irgendwelche Schritte unternommen worden sind, Cuhorsts Wünschen nachzukommen, oder sich dieser selbst weiter darum bemühte. Weiterhin versah er, ohne daß das SG Stuttgart wie andernorts durch weitere Sondergerichte entlastet wurde, den Senats- und SG-Vorsitz. In diesem Jahr setzte er sich auch zum Hüttenwart des Harpprechtshauses ein, um trotz wohlmeinender Warnungen seine Familie aus dem schwer bombardierten Stuttgart auszuquartieren. 128 Fast ein Jahr später, auf einer Tagung der SG-Vorsitzenden im Juni 1944 in Cochem, erhielt Cuhorst eine geradezu verheerende Beurteilung, ausdrücklich von jemandem, der ihn seit langem kannte. Darin hieß es, er sei für »seine z.T. unerträglich milden, weit unter dem Reichsmaßstab liegenden Urteile« bekannt, »Hinweise und Nichtigkeitsbeschwerden machen auf ihn keinen Eindruck. Er gilt auch in Stuttgart als starr und rechthaberisch [...] Mit seiner Linie wird - so oder so - zu brechen sein.« 129 Nähere Einzelheiten, wer diese Beurteilung aufgrund welchen Materials verfaßte, sind leider nicht erhalten; es bleibt Spekulation zu sagen, daß auch hier Cuhorsts wenig entgegenkommender Charakter eine große Rolle gespielt haben dürfte und die Vorwürfe wegen Milde möglicherweise nur vorgeschoben waren. Diese Beurteilung, zusammen mit Cuhorsts Verweis durch das Parteigericht und seinen wiederholten Versetzungswünschen, wurde von Ministerialrat Köhler in nicht gerade wohlwollender Weise zusammengefaßt. Nach einer Besprechung und einem »Vortrag vor Herrn Minister« im RJM, in der keine passende Landgerichtsstelle gefunden werden konnte, wurde dann Cuhorsts Einberufung zur Wehrmacht angeordnet 130 , deren Vollzug sich allerdings noch um gut zweieinhalb Monate verzögern sollte. Es liegt anhand dieses Ablaufs nahe, in der scheinbar plötzlich vom Minister selbst Stefan Baur 132 124 Cuhorst an Köhler, 15. April 1943, IfZ NG 583. 125 Personalbogen RJM, STALB EL 902/ 20 I Bl. 15, »Stammliste« und Bl. 27. 126 Wie Anm. 118. 127 Wie Anm. 124. 128 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. 129 Beurteilung, 14. Juni 1944, JM RJM-Personalakte Bl. 29. 130 JM RJM-Personalakte Bl. 30. <?page no="134"?> angeordneten Einberufung eine Art Abstrafung zu sehen, und dieser Sicht schlossen sich manche spätere Beurteilungen an. Auch Zeugenaussagen nach 1945 ließen diese Vermutung zu; zwar wurde verschiedentlich gesagt, Cuhorst habe sich zur Wehrmacht »geflüchtet« 131 , um seiner Verantwortung zu entgehen, doch blieb dies eine unüberprüfbare Behauptung. Bedenkt man aber Cuhorsts eigene Aktennotiz vom Vorjahr 132 und berücksichtigt die Dokumente des Alpenvereins 133 , so bleiben kaum Zweifel daran, daß er sich tatsächlich um die Einberufung bemüht hatte, und zwar als Alternative zu einer Landgerichtspräsidentschaft. Kurz bevor Cuhorst zu einem Wachbataillon in Norwegen abkommandiert wurde, zeigte er seinen Alpenvereinskameraden Bieger, der durch wiederholte »defaitistische Reden« sowie Abhören englischer Sender aufgefallen war, bei der Gestapo an. 134 Ausschlaggebend waren wohl die damals schon schweren Querelen zwischen den diversen Bewohnern des Harpprechtshauses 135 , wo die angezeigten Vorfälle stattgefunden hatten. Auch wenn Cuhorst den Betroffenen von seiner Anzeige in Kenntnis setzte, läßt die ausführliche Verhandlung des Falles vor der Spruchkammer den Schluß zu, daß Cuhorsts ungebrochener Fanatismus zu der faktisch überflüssigen und glücklicherweise folgenlosen Denunziation führte. 136 In diesen letzten Wochen vor seiner Einberufung überwarf er sich schließlich noch mit anderen langjährigen Vereinsfreunden, die er selbst noch aus Norwegen mit wüsten Briefen bedachte. 137 Vom Krieg erlebte Cuhorst nur noch ein knappes halbes Jahr ruhigen Etappendienstes. Einige Monate nach der Kapitulation wurde er als Gefangener nach Mulsanne (bei Le Mans) verbracht und dort am 17. November verhaftet, um im Nürnberger Juristenprozeß angeklagt zu werden. 138 Etwas über ein Jahr nahmen Vorbereitung und Durchführung dieses Prozesses in Anspruch, der in Fortsetzung des Hauptkriegsverbrecherprozesses durchgeführt wurde und, zu Cuhorsts Gunsten, wesentliche Intentionen der dortigen Anklagepunkte übernahm. Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 133 131 Amtsgerichtsrat Frey sagte aus, es seien bei Cuhorsts überraschender Einberufung entsprechende Gerüchte umgegangen. STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 622 und IfZ NG 570. 132 Wie Anm. 112. 133 In einem Brief seines langjährig befreundeten - und letztlich ebenfalls vergraulten - Vereinskameraden und Beisitzer am SG Hegele, 18. Januar 1945, heißt es: »Wenn Du [Cuhorst] seit dem Entstehen Deines Planes, Soldat zu werden, [...]« MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. Auch Ministerialdirektor Dr. Dill, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 30 (Protokoll Spruchkammer). 134 STALB EL 902/ 20 XV, darin auch zahlreiche NG-Signaturen, insbesondere NG 808. 135 So wurde das Haus neben den Bewirtschaftern zusätzlich von HJ-Angehörigen samt Betreuern und weiteren Angehörigen von Alpenvereinsmitgliedern bewohnt, unter denen einige Spannungen bestanden, wie Anm. 134 und MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. 136 Vgl. Anm. 134 sowie STALB EL 902/ 20 XVIII (Protokoll Spruchkammer). 137 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. Cuhorst war unmittelbar vor seinem Abmarsch nach Norwegen in Tübingen auch an Militärgerichtsverfahren beteiligt, zu denen aber keine Unterlagen mehr vorliegen (vgl. Stellungnahme seines Anwalts, 12. April 1948, STALB EL 902/ 20 XV/ »Fall Brieger«). 138 ZStLB, Personalblatt Hermann Cuhorst. <?page no="135"?> Die Verteidigung hatte, anders als im späteren Spruchkammerverfahren, deutlich mehr Material zusammengetragen als die Anklage 139 , insbesondere auch zu den (scheinbaren) Entlastungsmomenten der RJM-Rügen, des Parteigerichtsverfahrens und der Einberufung von 1944. Schon die genaue Formulierung der Anklagepunkte 140 muß Cuhorst hoffnungsfroh gestimmt haben, denn weder die begeisterte Beteiligung an der NS-Justiz noch die brutale Art der Verhandlungsführung bzw. die willkürliche Strafzumessung waren entscheidende Anklagepunkte, obwohl sich der Gerichtshof mit der Verdammung des NS-Rechtssystems nicht zurückhielt. 141 Trotz zahlreicher allgemein belastender Dokumente, die freilich in manchen Fällen »im Kreuzverhör abgeschwächt« 142 wurden, konnte Cuhorst im Sinne von drei der vier Punkte der Anklage demnach nicht belangt werden 143 , da er nie entscheidenden Einfluß in den wichtigsten nationalsozialistischen Organisationen hatte und Details seiner Urteilsfindung wegen des Verlustes der Sondergerichtsakten nicht rekonstruierbar waren. Nur »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« kamen im Fall Cuhorst in Frage, welche allerdings dahingehend spezifiziert wurden, daß nur noch die systematische Anwendungen völkerrechtswidriger rassistischer Gesetze sowie Verschleppungen strafwürdig waren. 144 Da kaum Akten zu Urteilen gegen Polen oder Juden vorhanden waren, eine Verurteilung wegen der »willkürliche[n], unfaire[n] und unrichterliche[n] Art« Cuhorsts jedoch von vorneherein ausschied, hieß es im Urteil: »Nach dem vorhandenen Beweismaterial erachtet sich der Gerichtshof nicht in der Lage, in einer über jeden vernünftigen Zweifel erhabenen Weise erklären zu können, daß der Angeklagte schuldig sei, Strafen aus rassistischen Gründen verhängt zu haben, oder [...] sagen zu können, daß er die diskriminatorischen Bestimmungen der Polen- und Judenstrafrechtsverordnung zum Nachteil der Polen anwandte, die er aburteilte.« 145 Stefan Baur 134 139 V.a. STAN KV-Prozesse Fall 3 G1 - 12. 140 1. Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 2. Kriegsverbrechen, 3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 4. Zugehörigkeit zu verbrecherischen Organisationen, vgl. Protokoll/ Urteilsbegründung des IMT vom 3. Dezember 1947, JM Beiheft zu B IIIc Bl. 2 - 57 sowie STALB EL 902/ 20 Teil 5. 141 »Der Dolch des Mörders war unter Robe des Juristen verborgen.«, JM IMT-Protokoll, S. 10402. 142 JM IMT-Protokoll, S. 10637. 143 Wegen Punkt eins war Cuhorst nicht angeklagt, bzgl. Punkt zwei wurde er mangels Beweisen, bzgl. Punkt vier wegen geringer formaler Belastung freigesprochen: »Es liegt [...] kein Beweis vor, der anzeigen würde, daß das Amt eines Gaustellenleiters das eines Amtsleiters im Stabe der Gauleitung war.« (JM IMT-Protokoll, S. 10635). 144 Die Anwendung der Bestimmungen gegen »Gewohnheitsverbrecher«, Plünderer, »Kriegswirtschaftsverbrecher«, teilweise auch »Wehrkraftzersetzer« sowie »Hoch- und Landesverräter« reichten nach Ansicht des Gerichtes »allein« nicht aus, vgl. JM IMT-Protokoll, S. 10455. 145 JM IMT-Protokoll S. 10637. Angesichts der heute wenig glaubwürdigen Entlastungsmomente und der im späteren Spruchkammerverfahren zusätzlich belegten Verhaltensweisen Cuhorsts kann dieser Spruch, besonders im Vergleich mit dem für schuldig befundenen Nürnberger Sonderrichter Öschey, als für Cuhorst durchaus glücklich angesehen werden. In dessen Urteilsbegründungen wurden Zitate angeführt, die sich ähnlich auch bei Cuhorst finden. <?page no="136"?> So erfolgte am 3. Dezember Cuhorsts Freispruch, verbunden mit sofortiger Haftentlassung und freiem Geleit. Mit diesem Ende des »Juristenprozesses« war Cuhorst fortan von seiner Unschuld im vollen Wortsinn überzeugt 146 , und die nächsten 20 Jahre widmete er in erster Linie seinen Rehabilitierungsversuchen, wobei er es fertig brachte, sich im Laufe der Jahre immer mehr als unschuldig politisch Verfolgter darzustellen, während auch nur eine Andeutung von Selbstkritik niemals von ihm zu hören war. In Stuttgart erhob sich indessen ein ungewöhnlicher Sturm der Entrüstung. Trotz der schwierigen Lebensumstände des Jahres 1947 fanden sich bei öffentlichen Versammlungen Hunderte von Teilnehmern ein, und zahlreiche Aussagen und Hinweise erreichten den öffentlichen Kläger wie auch die Stuttgarter Stelle der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« (VVN). 147 Doch der Freispruch war nicht für jeden gänzlich unerwartet gewesen, denn die Entnazifizierungsbehörden in Stuttgart hatten bereits sehr konkrete Vorbereitungen für diesen Fall getroffen: Der wachhabende amerikanische Offizier der Nürnberger Haftanstalt machte bereits vor der Urteilsverkündung Polizisten in Zivil aus, die Cuhorst offenbar erwarteten, aber aus unklaren Gründen wegbefohlen wurden. 148 So konnte Cuhorst nach seiner Entlassung nach Kressbronn zum Haus seiner Mutter aufbrechen, wo er jedoch bereits am 9. Dezember 1947 aufgrund des Befreiungsgesetzes 104 verhaftet und nach Überstellung durch die französische Militärpolizei 149 erneut interniert wurde. Diese Schwierigkeiten bei der erneuten Verhaftung sorgten nochmals für große Empörung, insbesondere unter den Bediensteten der Spruchkammern, die sogar vielerorts in Streik traten. Befreiungsminister Gottlob Kamm (SPD) berief sich in einem Brief über seine Rücktrittsabsichten vom 8. Dezember 1947 ebenfalls ausdrücklich auf diesen Fall. 150 Die Vorbereitung des Spruchkammerverfahrens erwies sich als schwierig, da kaum unbelastete, qualifizierte Vorsitzende und Kläger gefunden werden konnten. 151 Umgekehrt war die Bereitschaft zahlreicher Zeugen, gegen Cuhorst auszusagen, Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 135 146 STAN KV-Prozesse Fall 3 G 12 S. 12. Im Schlußplädoyer hieß es ferner: »Ein Richter, der in diesem Sinne gewirkt hat und der jederzeit an das Gesetz gebunden war, kann kein Verbrecher sein.«, STAN KV-Prozesse Fall 3 G1 S. 12a. 147 Vgl. z.B. Akten der VVN Stuttgart: Protokolle der Kundgebungen, 14. Dezember 1947 im Sitzungssaal des Landtags und 26. Januar 1947 im Zirkus Schulte, Anzeige der VVN gegen Cuhorst, 14. Januar 1948; ferner »Stuttgarter Zeitung«, 17. Dezember 1947, 22. Januar 1947 (StAS) und 20. Dezember 1947, »Schwäbische Zeitung«, 27. Dezember 1947, Resolution des »Gesamtverbandes des Personals der öffentlichen Dienste und des Verkehrs«, 5. Dezember 1947, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89. 148 HSTAS EA 11/ 101 Bü. 364. Sowohl die Spruchkammer in Stuttgart als auch die in Nürnberg hatten Haftbefehle ausgestellt. 149 Aktenvermerk, 10. Dezember 1947, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 364. 150 HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89. Der offizielle Rücktritt Kamms erfolgte am 3. Februar 1948. 151 Die Justizbehörden weigerten sich, entsprechende Mitarbeiter zu verpflichten, so daß die Suche bis nach Baden weitergeführt werden mußte, JM Personalakten Bd. 1 Bl. 10 - 23. <?page no="137"?> enorm. Nach Aufrufen sowohl der Spruchkammer als auch der VVN in Presse, Rundfunk und auf öffentlichen Veranstaltungen trafen Aussagen und Hinweise aus ganz Württemberg ein. Auch die Ermittler der Spruchkammer arbeiteten gründlich und vermochten einige der zu Cuhorsts Verteidigung in Nürnberg angeführten Punkte zu entkräften. Cuhorst selbst, vertreten durch Dr. Mandry 152 , nutzte während seiner Internierung alle juristischen Möglichkeiten, um seine Situation zu verbessern: ständige Haftbeschwerden, Befangenheitsanträge, Dienstbeschwerden, eine Anfechtungsklage und sogar eine Anzeige gegen Befreiungsminister Kamm wegen Bemerkungen, die dieser über Cuhorst öffentlich geäußert hatte. 153 Das Verfahren wurde am 11. Oktober 1948 eröffnet, angesetzt auf zwei Wochen und mit 60 geplanten Zeugenvernehmungen. Im Vordergrund standen, wie im Entnazifizierungsgesetz vorgeschrieben, die Fragen nach formaler Belastung, Unterstützung der NS-Gewaltherrschaft und Nutznießerschaft. Wie im späteren Urteil ausdrücklich festgehalten 154 , kamen damit gerade auch solche Gesichtspunkte zur Sprache, die in Nürnberg nicht justitiabel gewesen waren: sowohl Cuhorsts Parteiengagement als auch seine fanatische, bis zuletzt öffentlich kundgetane NS-Haltung 155 , seine politisch begünstigte Karriere und, in besonderem Maß, Cuhorsts gefürchtete Verhandlungsführung und der Denunziationsfall Bieger vom Frühjahr 1945. Während seine Rednertätigkeit als wenig bedeutsam beurteilt wurde und die Spruchkammer Cuhorsts tatsächliche Funktion in der Partei ebenso als sekundär wertete, wurde ihm die - mindestens gelegentliche - Verquickung dieses Engagements mit seiner Richtertätigkeit als belastend angerechnet. Zur Wertung des Gaugerichtsverfahrens durch die Verteidigung hieß es: »Das Verhältnis zur Parteiführung war keineswegs so getrübt, wie es der Betr[offene] jetzt aus durchsichtigen Gründen darstellen möchte.« Dennoch wurde ihm zugute gehalten, sich im allgemeinen nicht korrumpiert zu haben, mit Ausnahme seiner beruflichen Karriere. Schwere Belastungen blieben dagegen die Denunziation Biegers und Cuhorsts Verhandlungsführung samt ihrer Folgen für die Öffentlichkeit 156 , wenngleich diese sich Stefan Baur 136 152 Mandrys Art der Verteidigung erregte schon damals heftigen Widerspruch; so teilte die Militärregierung der Spruchkammer im August 1948 mit, dessen Berufung auf den gegen »begründete Zweifel« erfolgten Freispruch in Nürnberg sei als »Beleidigung der Würde des Gerichtes« und »Unverschämtheit« aufzufassen, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89, Brief, 10. August 1948. 153 HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89 und STALB EL 902/ 20 I, III, und IV. Keiner dieser Versuche hatte den von Cuhorst gewünschten Erfolg, nicht zuletzt da wegen seiner Prominenz genau auf alle Vorgänge geachtet wurde. So verhinderte das Ministerium für politische Befreiung eine zeitweilige Haftentlassung (nicht einen kurzen Urlaub zur schwerkranken Mutter), und entzog ihm seine Funktion als »Lagerjurist« des Internierungslagers (ebd.). 154 Auch für das Folgende: Urteilsbegründung der Spruchkammer, 24. November 1948, STALB EL 902/ 20 XIII, auch HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89. 155 Diese konnte ihm nicht verwerflich erscheinen, weil »ich nicht Nationalsozialist wurde, um einer Gewaltherrschaft zu dienen.« STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 229 (Protokoll Spruchkammer, Schlußwort Cuhorsts). 156 »[...] für das Rechtsgefühl der Zeitgenossen und für ihr Vertrauen in die Objektivität der Rechtsprechung«, STALB EL 902/ 20, XIII, Urteilsbegründung Spruchkammer S. 34. <?page no="138"?> nicht nachweislich in übermäßig harten oder systematisch zweifelhaften Urteilen niederschlug, wie die Spruchkammer ausdrücklich betonte. Daraus und aus den Einmischungen des RJM jedoch eine Art Widerstandshaltung zu machen, verwarf die Kammer angesichts Cuhorsts überzeugter Propagandatätigkeit: »Wenn der Betr[offene] schließlich selbst das Opfer [! ] dieser Entwicklung [der Instrumentalisierung und Lenkung der Justiz] geworden ist, als sie ein Ausmass angenommen hatte, das selbst er [...] als nicht mehr tragbar ansah, so kann das [...] das Mass seiner menschlichen und politischen Verantwortung nicht nennenswert herabsetzen [...].« Am Ende kam die Kammer zur Auffassung, daß »[...] der Betr[offene] der NS-Gewaltherrschaft ausserordentliche politische und propagandistische Unterstützung gewährt und aus ihr auch für seine Person nicht unerheblichen Nutzen gezogen hat.« 157 Der Urteilsspruch, der folglich Cuhorst am 24. November 1948 als »Hauptschuldigen« einstufte und mit viereinhalb Jahren Haft nebst empfindlicher Sühnemaßnahmen 158 belegte, war angesichts des Beweismaterials nicht unerwartet, dennoch in seiner Schärfe bemerkenswert. Unter den Stuttgarter Juristen, wahrscheinlich aber auch unter den zahlreichen Sonderrichtern, war diese Bestrafung einzigartig. In anderen Fällen begnügte man sich häufig mit vorzeitigen Pensionierungen oder einer Versetzung in untergeordnete Dienste, gelegentlich wurden Pensionsbezüge aberkannt. 159 Cuhorst hat die Rechtmäßigkeit wie das Urteil dieses Verfahrens stets bestritten; anfangs mit dem Hinweis auf den Rechtsgrundsatz ne bis in idem (niemand darf wegen desselben Vergehens zweimal verurteilt werden) 160 , mit der Zeit auch heftiger, durch Ablehnung der Spruchkammern (von ihm »Ausnahmegericht« genannt und mit den Sondergerichten verglichen 161 ) als Rechtsinstitution im allgemeinen. Er, der sich schon in Nürnberg »keiner Verbrechen bewußt« war, führte dieses Urteil nicht zuletzt auf »jahrelange Propaganda« und eine »einzigartige Hetzkampagne« gegen seine Person zurück. 162 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 137 157 STALB EL 902/ 20, XIII, S. 44 f. 158 U.a. Einzug allen Vermögens über 3000.- DM und aller Einkünfte über 300.- DM bis fünf Jahre nach Entlassung. 159 Vgl. auch hierzu die Anfrage des württembergischen Justizministeriums an die Länderjustizverwaltungen (wie Anm. 103) sowie JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 317. 160 Der in der nationalsozialistischen Praxis freilich ebenfalls abgeschafft war. Auch Cuhorst selbst hat mindestens einmal ein bereits rechtskräftiges Urteil (vier Jahre Zuchthaus wegen fortgesetzten Diebstahls) nach Bekanntwerden weiterer Diebstähle neu verhandelt und dabei auf Todesstrafe erkannt, obwohl es sich, so die Urteilsbegründung, »rein rechtlich gesehen [,] um dieselbe Tat« handelte, was Cuhorst im Kreuzverhör in Nürnberg erheblich in Schwierigkeiten gebracht hatte, IfZ NG 567 und STALB EL 902/ 20 Teil 4, Nürnberger Verhandlungsprotokoll, S. 7714 f. 161 Brief Cuhorsts vom 2. Januar 1951, JM Personalakten Bd. 1 Bl. 38. Verteidiger Mandry hatte im Spruchkammerverfahren sogar formuliert, Cuhorst werde »einer einzigartigen Sonderbehandlung unterworfen«, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 364. 162 STAN KV-Prozesse Fall 3 G 12 (Schlußplädoyer) Bl. 12 bzw. STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 225 (Protokoll Spruchkammer, Schlußwort Cuhorst), STALB EL 902/ 20 Teil 6 (Berufung Cuhorsts gegen das Spruchkammerurteil). <?page no="139"?> Seit seiner Internierung juristisch auf Konfrontationskurs, verfaßte Cuhorst sofort eine umfängliche Darstellung seiner Sicht der Dinge und beantragte Revision. Im zweiten Spruchkammerverfahren wurden sachlich jedoch nur Details hinzugefügt, die Einstufung als Hauptschuldiger bestätigt und zudem das Strafmaß auf sechs Jahre Lagerhaft erhöht (der Kläger hatte zehn Jahre gefordet). 163 Mit diesem rechtsgültigen Spruch begann für Cuhorst eine schwierige Zeit, obwohl er bereits Ende 1950 entlassen wurde 164 und im Hause seiner gut versorgten Mutter leben konnte. Ohne Beschäftigung und Unterhaltszahlungen 165 sah er sich Ende 1951 zum ersten von sieben Gnadenanträgen veranlaßt 166 , und seine in diesem Zusammenhang in den nächsten Jahren verfaßten Briefe und Eingaben sind von bezeichnender Unfähigkeit, die eigene Rolle realistisch einzuschätzen. Insbesondere seine Äußerungen aus den 60er Jahren offenbaren eine völlige Verkennung der Realität und das Unvermögen, mit seiner Tätigkeit aus der Sicht rechtsstaatlicher Prinzipien - welche er für sich lautstark reklamierte - selbst ins Gericht zu gehen. 167 Die ersten Gesuche, noch verbunden mit der Bitte um Herabstufung zum »Belasteten«, schilderten seine »wirtschaftliche Notlage« 168 , die durch Krankheit, Vermögensverlust und Berufsverbot eingetreten sei, und führten offenbar ungerechtfertigterweise an, er sei der »einzige Strafgerichtsvorsitzende, der wegen seiner Haltung [bereits vor 1945] disqualifiziert worden ist. Welch eine Widerstandshandlung hätte man daraus herleiten können«. 169 Die ersten internen Beurteilungen waren durchaus wohlwollend; ihr Schwerpunkt lag auf der Überprüfung einiger Sondergerichtsurteile auf Rechtsbeugung. Diese angesichts der NS-Gesetzgebung zweifelhafte Herangehensweise war typisch für die Selbstbeurteilung der Justiz unmittelbar nach dem Krieg und hätte für sich allein genommen wohl auch zu einer teilweisen Rehabilitierung Cuhorsts geführt. Die bereits konkreten Überlegungen für eine Unterhaltsbeihilfe wurden jedoch im Stefan Baur 138 163 STALB EL 902/ 20 IV, Spruch der Berufungskammer, 14. Juli 1949. 164 Amtsärztliches Gutachten und Entlassungsverfügung STALB EL 902/ 20 Teil 4. 165 Auch die spätere großzügige Änderung des Befreiungsgesetzes, die den meisten Beamten ihre Pensionen wieder zusprach, galt ausdrücklich nicht für die (wenigen) »Hauptschuldigen«, so daß Cuhorst, wie ihm Mitte 1951 mitgeteilt wurde, keinerlei Pensionsansprüche mehr hatte, JM Personalakte Bd. 1 Bl. 34. 166 Übersicht in JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 302. Cuhorst strebte im folgenden Jahr auch eine Wiederaufnahme des Spruchkammerverfahrens an, was aber letztinstanzlich am 13. März 1953 abgelehnt wurde, STALB EL 902/ 20, Teil 4. 167 Als ein Beispiel von vielen Cuhorsts Sicht seiner Spruchkammerverurteilung: »Unter Missachtung grundlegender Rechtsbegriffe und durch bedenkliche Kunstgriffe wurde trotzdem gegen mich das erreicht, was ich den unter meinem Vorsitz Freigesprochenen stets erspart habe.«, Brief, 7. September 1964, JM Gnadenverfahren Bd. 1 Bl. 37 f. 168 Cuhorst an das Justizministerium, 3. Januar 1952, JM Personalakte Bd. 1 Bl. 39. In den Spruchkammerakten finden sich zahlreiche Unterlagen über die von Cuhorst über Jahre (bis zur gnadenweisen Erlassung) verschleppte Abwicklung der Sühnezahlungen, sogar über einen erfolglosen Pfändungsversuch des Amtsgerichts Tübingen, der daran scheiterte, daß alle pfändbaren Gegenstände angeblich im Besitz von Cuhorsts Mutter waren, STALB EL 902/ 20 Teil 4. 169 Brief Cuhorsts an das Justizministerium, 2. Januar 1952, JM Personalakte Bd. 1 Bl. 38. <?page no="140"?> Ministerrat als »zur Zeit noch verfrüht« abgelehnt 170 , worauf Cuhorst wieder von seinem »erwarteten Freispruch« im Nürnberger Verfahren, in das er »hineingezogen« worden sei, schrieb, und auch, daß ihm »nun gerade das Los bereitet« werde, »das [ihm] 1943 und 1944 von anderer Seite zugedacht war.« Im Lauf der Zeit fügte er, in einem erstaunlich fordernden und selbstsicheren Ton, immer mehr Elemente einer »Verschwörungstheorie« an, die aber vernünftigerweise keinen Glauben finden konnte. 171 Erst Ende der 50er Jahre, im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Versorgungsprozeß, begannen im Justizministerium die genaueren, zeitraubenden Ermittlungen zum Fall Cuhorst. Neun Urteile des Sondergerichts wurden von der »Kommission zur Überprüfung von Vorwürfen gegen Richter und Staatsanwälte« wegen ihrer früheren Tätigkeiten mit dem Ergebnis überprüft, daß Rechtsbeugung nicht nachweisbar, zwei allerdings »ernstlich zu beanstanden« seien. Nach einigen solcher formaljuristischen Überlegungen, und insbesondere hinsichtlich der Besserstellung anderer ehemaliger Sonderrichter, empfahl das Justizministerium schließlich eine gnadenweise Unterhaltsbewilligung, was dem Ministerrat Ende Juli 1964 vorgelegt wurde. Dieser verlangte nach eingehender Debatte jedoch eine genauere Prüfung, insbesondere einen Vergleich zu anderen Sondergerichten und die Berücksichtigung einer größeren Anzahl von SG-Urteilen, was zu den bereits erwähnten, sehr umfangreichen 172 Recherchen führte. Diese Ermittlungen, die nun nicht mehr ausschließlich an der Rechtsbeugungsproblematik orientiert waren, führten zu einem allmählichen Meinungsumschwung im Justizministerium. Anhand des zusätzlichen Materials faßte der Berichtsentwurf des Jahres 1967 die Einschätzung schließlich in der Empfehlung zusammen, den Gnadenerweis nicht auszusprechen: »Es mag bedacht werden, daß derjenige, der für viele Menschen zur Schlüsselfigur ihres unabänderlichen Schicksals wurde, durch einen Gnadenerweis sein eigenes Geschick ändern möchte; ob dazu der Weg der Gnade geeignet ist, muß bezweifelt werden.« 173 Das eher für Cuhorst gestimmte, formal zuständige Staatsministerium schließlich war von den Ermittlungen wenig, von der Tatsache, daß Cuhorst finanziell inzwischen gut versorgt war, um so mehr beeindruckt. 174 In der Ministerratssitzung vom 21. Mai 1968 wurde dann, »nach eingehender Beratung«, ein Gnadenerweis endgültig verworfen. 175 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 139 170 Mitteilung des Ministerpräsidenten an das JM, 29. Februar 1952, JM Personalakte Bd. 1 Bl. 44. Später wurden Cuhorst allerdings nicht unbeträchtliche Restschulden, auch aus den Sühnezahlungen, erlassen. Ablehnung des Gnadengesuches vom 2. Dezember 1958, JM Personalakte Bd. 2 Bl. 119. 171 Insbesondere in Briefen an das Justizministerium, 7. September 1964 JM Gnadenverfahren Bd. 1 Bl. 37 und 26. November 1964, ebd. Bl. 211. 172 Ein Aktenvermerk von Ende 1965 stellt fest, die gesamten Unterlagen zu Cuhorsts Gnadenverfahren umfaßten 53 Bände (worin freilich viel nur in Spuren relevantes Material, wie umfangreiche Kopien der SD-Berichte, enthalten waren), JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 229. 173 Abschlußbericht JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 318. 174 Aktenvermerk JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 389. 175 Mitteilung des Staatsministeriums, 25. Juli 1968 sowie Auszug aus der Niederschrift der Ministerratssitzung, 21. Mai 1968, JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 432 f. <?page no="141"?> In den Versorgungsprozessen 176 , die Cuhorst noch während des laufenden Gnadenverfahrens anstrengte, wurde nochmals um seine Pensionsbezüge, die er mit seiner Einstufung als Hauptschuldiger verloren hatte, gestritten. Nachdem ihm klargeworden war, daß nicht mit einer gnadenweisen Herabstufung zum »Belasteten« zu rechnen war (allenfalls mit einer gnadenweisen Unterstützung), hatte Cuhorst diese Verwaltungsklage angestrengt. Sein Ziel war die Revidierung des Spruchkammerurteils, mindestens soweit es für die Wiedererlangung der Versorgungsrechte notwendig gewesen wäre. Wichtigstes Argument blieb stets das ne bis in idem, von Cuhorst so ausgelegt, daß nach seinem Nürnberger Freispruch kein Spruchkammerverfahren in gleicher Sache mehr zulässig gewesen wäre. Doch befand er sich damit angesichts der Tatsache, daß die IMT-Verfahren von den Entnazifizierungsverfahren auch juristisch klar getrennt waren, auf verlorenem Posten. 177 Ein »Obsiegen Cuhorsts« wurde im Ministerium von vornherein für »unwahrscheinlich« gehalten 178 ; erst recht nach dem erstinstanzlichen Urteil, und tatsächlich änderte sich an der Rechtsauffassung der Gerichte wie des Ministeriums während der Revisionsprozesse kaum etwas. Die Verhandlungen zeigten auch das noch immer rege Interesse der Öffentlichkeit, da bei allen Urteilsverkündungen auch eine Reihe von Pressevertretern anwesend war. Die wenigen allgemeinen Ausführungen seines Anwalts, die gewiß nicht ohne Mitarbeit oder doch gute Kenntnis Cuhorsts formuliert wurden, enthielten auch eine nicht bloß juristische Zurückweisung des Sühnegedankens der Spruchkammerverfahren, da »auf diese Weise die Entnazifizierten mit Landstreichern, Dirnen, Trinkern und schweren Verkehrssündern« verglichen würden, wo doch, ganz im Geiste der Tätertypenlehre, gelten sollte: »Bei jenen ist der minderwertige Charakter die Grundlage für das Eingreifen des Staates, hier ist es die fehlgeleitete politische Gesinnung«. 179 Jahre später hieß es ferner: »Vielleicht scheute man sich auch, die Betroffenen [nach Gesetz 104] alle mit Kriminellen auf eine Stufe zu stellen, weil man sie damit zu ewigen Gegnern des gegenwärtigen Systems hätte stempeln müssen.« 180 Demgegenüber findet sich in den längeren juristischen Schriftwechseln eine interessante allgemein-politische Passage des Landesvertreters, Regierungsdirektor Dr. Klickermann, worin dieser in eindeutiger Weise die Rehabilitierung ehemaliger Stefan Baur 140 176 Cuhorst gegen das Land Baden-Württemberg, erstmals Klageabweisung am 19. Oktober 1961, Abweisung im Revisionsverfahren 23. Dezember 1961 (Verwaltungsgerichtshof Mannheim), endgültig am 13. Mai 1965 (Bunderverwaltungsgerichtshof Berlin), STALB EL 33/ 1 II. 177 Cuhorst vertrat die Ansicht, in Nürnberg von den Vorwürfen freigesprochen worden zu sein, die die Spruchkammer zur Grundlage ihres Urteils gemacht hatte. Die Entnazifizierungsverfahren galten aber nicht als Strafprozesse wie die Nürnberger, sondern als unabhängig davon durchzuführende Sühneprozesse. Entsprechendes galt für den Vorrang internationalen vor nationalem Recht. Vgl. die Schriftwechsel in den Verfahrensakten, STALB EL 33/ 1 II. 178 JM Personalakte Bd. 1 Bl. 64. 179 Schriftsatz RA Pantle, 27. August 1959, STALB EL 33/ 1 II Bl. 18. 180 Schriftsatz RA Pantle, 10. April 1965, STALB EL 33/ 1 II Bl. 175. <?page no="142"?> NS-Würdenträger, gerade im Justizdienst, kritisiert, und ihr den Wunsch nach echter Aufarbeitung (»Kein Gras darüber wachsen lassen«) entgegenstellt, die die grundsätzliche Mitwirkung am NS-System den Einzelfall-Ausreden vorziehen sollte. 181 Diese an die Spruchkammer erinnernden Sätze wies Cuhorst über seinen Anwalt wütend zurück, da es sich dabei um die Politisierung eines Rechtsstreites handle, gerade also das sei, was NS-Richtern vorgeworfen werde und dies zudem nicht rechtsstaatlich wäre. Ein »stummer Protest« sei damals im übrigen so falsch gewesen wie heute (1961), angesichts »der uns drohende[n] Diktatur des Kommunismus«. 182 Acht Jahre dauerte der Weg durch die rechtsstaatlichen Instanzen, die Cuhorst, der immer so stolz auf seine rasche Verhandlungsführung selbst bei Todesurteilen gewesen war, beschritt, ohne daß sich an der juristischen Bewertung noch etwas änderte. Als seine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht endgültig abgewiesen wurde, war er materiell ohnehin längst wieder gut gestellt 183 , was auch wesentlich zur letztendlichen Ablehnung seines Gnadenantrages beitrug. Wie schon während früherer Jahre kam es noch zu vereinzelten Anzeigen (die letzte 1988), denen nicht mehr Folge geleistet wurde und von denen Cuhorst wahrscheinlich keine Kenntnis mehr erhielt. 184 Seinen 90. Geburtstag konnte er standesgemäß feiern, und nur einmal holte ihn seine Vergangenheit noch ein, als er zu seinem größten Zorn in letzter Minute von einer Alpenvereinsehrung für langjährige Mitgliedschaft ausgeladen wurde. 185 Nachdem Cuhorst am 5. August 1991 gestorben war, verwies seine Todesanzeige 186 auf Matthäus V,10: »Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich«. Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 141 181 Schriftsatz Dr. Klickermann, 5. Juli 1961, STALB EL 33/ 1 II Bl. 41. 182 RA Pantle, 13. Juli 1961, STALB EL 33/ 1 II Bl. 47 - 56, Zitat Bl. 53. Innerhalb des Ministeriums wurde Klickermann ebenfalls abgemahnt, da jenes seine Auffassung nicht teilte und die Ausführungen zudem für juristisch ungeschickt hielt. Im weiteren Verfahren vertrat eine Stuttgarter Kanzlei die Interessen des Landes. 183 1961 war Cuhorst rückversichert worden und erhielt wenige Jahre später auch eine Berufsunfähigkeitsrente, die etwa einem Viertel des theoretischen Ruhegehaltes entsprach, JM Personalakte Bd. 2 Bl. 277 - 281, Brief Cuhorsts, 7. Juni 1967, JM Gnadenverfahren Bd. 1 Bl. 227. Außerdem besaß er seit dem Tod seiner Mutter nicht unbeträchtlichen Immobilienbesitz in Stuttgart und Kressbronn (ebd.). 1957 erhielt er einmal eine 20.- DM Geldstrafe wegen »KFZ-Übertretung« (JM Personalakte Bd. II Bl. 163); sollte er damals bereits ein Auto besessen haben, wäre dies ebenfalls ein Hinweis auf relativ gute wirtschaftliche Verhältnisse. Im genannten Brief schrieb Cuhorst auch, sein Gesuch habe »in erster Linie zum Ziel [...] einen kaum erträglichen Zustand zu beenden«, nämlich den der formellen Schuldzuweisung. 184 STALB EL 317 III, ZSL, Privatarchiv Ohlendorf. 185 Telegramm des Vorstandes, 11. November 1988 und Brief Reinhild Cuhorsts, 12. November 1988, Privatarchiv Klickermann. 186 »Stuttgarter Zeitung«, 10. August 1991. <?page no="143"?> Bibliographie Quellen 187 Die Quellenlage zum Fall Cuhorst ist vorsichtig zu beurteilen. Einerseits existieren umfangreiche Prozeßakten und Ermittlungen des Nürnberger Tribunals (v.a. IfZ, STAN), der Spruchkammer Ludwigsburg (v.a. STALB) und des Justizministeriums Baden-Württemberg (JM). Darin sind zahlreiche Dokumente und Aussagen (oft mehrfach) zusammengetragen und ausgewertet. Andererseits beziehen sich diese fast ausschließlich auf die Zeit von 1933 - 1945, im Fall des Justizministeriums bis 1968. Die sonstige Aktenlage, besonders bezüglich der 20er Jahre und der Zeit nach 1968, sowie hinsichtlich mehr privater Zeugnisse, ist dagegen sehr schlecht. Etwas Material findet sich in den Unterlagen des Alpenvereins, des Hauptstaatsarchivs Stuttgart und bei der VVN Stuttgart, sehr wenig im Universitätsarchiv Tübingen, dem Bundesarchiv Koblenz, dem Stadtarchiv Stuttgart, der Zentralstelle Ludwigsburg und dem Berlin Document Center. Einsicht in den umfangreichen Privatnachlaß Cuhorsts, der die großen Lücken eventuell schließen könnte, wurde nicht gewährt. Literatur Um so erstaunlicher angesichts der partiellen Materialfülle und Cuhorsts ehemaliger Prominenz bleibt die Tatsache, daß über ihn bisher fast keine Veröffentlichungen existieren. Außer einem kurzen Beitrag im Katalog einer Stuttgarter Ausstellung von 1989 188 , der sich vorwiegend mit der Rechtsprechung des Sondergerichts befaßt, und einem Fernsehfilm von 1990 189 gibt es keine Veröffentlichung über Cuhorst. In allgemeinen Beiträgen zur NS-Justiz spielt das Stuttgarter Sondergericht wegen des Verlustes fast aller Akten eine geringe Rolle, ebenso wie Hermann Cuhorst in wichtigen Werken zur Stuttgarter Geschichte. Stefan Baur 142 187 Mein Dank für freundliche Unterstützung und wertvolle Hinweise für die Quellenrecherche gilt insbesondere Herrn Peter Ohlendorf (Freiburg), Herrn Dr. Klickermann (Stuttgart) sowie Frau Trentin-Meyer (München). 188 Schönhagen, Benigna, »Auf meine Herren, zur Schlachtbank! « Das Stuttgarter Sondergericht unter Hermann Cuhorst, in: Stuttgart im Zweiten Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung vom 1.9.1989 bis zum 22.7.1990, hrsg. v. M. P. Hiller, 2. Aufl. Gerlingen 1990, S. 223 - 228. 189 »Zu Gast: Im Namen des gesunden Volksempfindens«, gesendet am 23. Mai 1990, (Südwestfunk- Produktionsnummer 303277, Redaktion Peter Ohlendorf unter Mitarbeit von Holger Reile). <?page no="144"?> »Was sich in den Weg stellt, mit Vernichtung schlagen« 1 Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn Susanne Schlösser *2. April 1894 Heilbronn, ev., 1937 Kirchenaustritt, Vater: Christian Heinrich Drauz, Postunterbeamter, Mutter: Friederike Johanna, geb. Dederer, verheiratet in erster Ehe seit 1923 mit Emma Frieda, geb. Sohn, (Scheidung 1937), in zweiter Ehe seit 1937 mit Klara, geb. Schoch, sieben Kinder, davon vier aus zweiter Ehe. Besuch der Volks-, Mittel- und Oberrealschule in Heilbronn, Lehre als Mechaniker, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, als Vizefeldwebel, 1919 - 1921 Studium an der Höheren Maschinenbauschule in Esslingen, 1921 - 1928 Ingenieur im Kältemaschinenbau bei der Maschinenfabrik Esslingen, 1928 - 1932 nicht näher bestimmte Berufstätigkeit in Dortmund und in Essen, 1932 - 1938 Verlagsleiter des Heilbronner Tagblatts. 1. April 1928 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnummer 80.730), 1932 ehrenamtlicher, ab 1938 hauptamtlicher NSDAP- Kreisleiter in Heilbronn, 1933 MdR (NSDAP), 1933 SA-Sturmbannführer ehrenhalber, November 1940 Einsatzführer der Volksdeutschen Mittelstelle des Gaues Württemberg-Hohenzollern, 1943 Oberbereichsleiter der NSDAP und Kreisleiter von Vaihingen/ Enz und Ludwigsburg. Nach Kriegsende Flucht nach Kloster Dernbach bei Montabaur, Juni 1945 Verhaftung durch den CIC, 11. Dezember 1945 Verurteilung zum Tode durch ein amerikanisches Militärgericht, gest. 4. Dezember 1946 Landsberg (Hinrichtung). Noch heute steht der ehemalige Heilbronner NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz in seiner Heimatstadt in einem überaus schlechten Ruf. Kommt das Gespräch auf ihn, ist bei Zeitzeugen von Brutalität, Rücksichts- und Skrupellosigkeit die Rede und von Richard Drauz 143 1 Leicht abgewandeltes Zitat aus einer Rede von Richard Drauz vom Oktober 1933, Heilbronner Tagblatt (künftig: HT), 16. Oktober 1933, S. 4. <?page no="145"?> Angstgefühlen vermischt mit Verachtung, die man ihm gegenüber empfunden habe. Am liebsten habe man nichts mit ihm zu tun haben wollen, sagten nach dem Krieg übereinstimmend sowohl Gegner wie Mitläufer des nationalsozialistischen Regimes und sogar ehemalige Mitstreiter 2 , die sich damit - zumindest nachträglich - von dem 1946 durch die Amerikaner in Landsberg Hingerichteten distanzierten. Es scheint niemanden (mehr) zu geben, der an ihm - wenigstens zeitweise - positive oder schätzenswerte Eigenschaften wahrgenommen hat, wie sie im Gegensatz dazu z.B. im Fall des Heilbronner NS-Oberbürgermeisters Heinrich Gültig immer wieder geltend gemacht werden. Das ist zunächst einmal ein festzuhaltender Befund, der zugleich aber auch Fragen aufwirft: War Richard Drauz tatsächlich die »Inkarnation des Bösen«, der hundertfünfzigprozentige Nationalsozialist, dessen Macht und Willkür allseits gefürchtet waren, und auf dessen Konto nahezu alle in Heilbronn und Umgebung geschehenen Verbrechen während des »Dritten Reiches« zu verbuchen sind? Welche historischen und persönlichen Bedingungen mußten überhaupt zusammentreffen, um aus einem Menschen, der bis Ende 1932 ein durchschnittliches, weitgehend unauffälliges bürgerliches Leben geführt hatte, plötzlich einen einflußreichen, machtbewußten und angsteinflößenden Kreisleiter zu machen, der sich zwölf Jahre lang offensichtlich mühelos über etliche Angriffe hinweg an der Spitze der Heilbronner NSDAP halten konnte? Über Kindheit und Jugend von Richard Drauz ist wenig bekannt. Nach eigenen Angaben besuchte er die Oberrealschule in Heilbronn, in die traditionell Angestellte und mittlere Beamte, selbständige Handwerker und Kaufleute sowie viele Heilbronner Juden ihre Kinder schickten. 3 Da er unter den Abiturienten 4 dieser Anstalt nicht zu finden ist, später aber an der Maschinenbauschule in Esslingen studiert hat, wird er die Schule wohl mit dem Zeugnis der Primareife verlassen haben, die als Zulassung für die Ingenieurausbildung ausreichte. An die Schulzeit schloß sich eine Mechanikerlehre an. 5 1914 meldete sich der 20jährige als Kriegsfreiwilliger, und vermutlich waren das Fronterlebnis und die Niederlage von 1918 - wie für zahlreiche »alte Kämpfer« der NSDAP - auch für ihn die auslösenden Momente für seine politische Hinwendung zum Nationalsozialismus. Das zeigen spätere Äußerungen, wie z.B. die Auffassung, daß die Grundlagen dieser Ideologie »im Schützengraben [...], wo es [angeblich] keinen Klassenunterschied gab,« 6 gelegt wurden. In engen Kontakt mit Susanne Schlösser 144 2 So z.B. der ehemalige Reutlinger Kreisleiter Spohner in einem Interview vom 14. März 1981, zit. nach Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46, Stuttgart u.a. 1986, S. 389, Anm. 29, oder der ehemalige nationalsozialistische Heilbronner Bürgermeister Hugo Kölle in einem vom StAHN geführten Zeitzeugengespräch vom 20. April 1982, S. 38. 3 Vgl. 100 Jahre Robert-Mayer-Gymnasium Heilbronn 1889 - 1989, Heilbronn 1989, S. 56/ 57. 4 Vgl. Jahresberichte der Oberrealschule und des Realgymnasiums in Heilbronn am Neckar, 1905 - 1915. 5 StAHN, Zeitzeugengespräch mit Klara Drauz (künftig ZSG K.D.), 22. Februar 1985, S. 33. 6 HT, 17. September 1934, S. 5 (Begrüßungsrede von Drauz zum Treffen des ehemaligen Landwehr- Infanterie-Regiments 121). <?page no="146"?> der völkischen Bewegung kam er spätestens, als er nach Beendigung seines Studiums 1921 eine Beschäftigung bei der Maschinenfabrik Esslingen aufnahm. Denn unter den dort tätigen Ingenieuren und kaufmännischen Angestellten befanden sich schon zu diesem Zeitpunkt auffällig viele NS-Anhänger, die sich um den späteren württembergischen Gauleiter und Reichsstatthalter Wilhelm Murr scharten. Richard Drauz, der in dem sechs Jahre älteren Murr einen lebenslangen Freund und Förderer fand, war sehr bald als Mitglied dieser Gruppe bekannt. 7 Im Raum Esslingen lassen sich auch die ersten nationalsozialistischen Aktivitäten von Drauz nachweisen. Laut einem von ihm selbstverfaßten Lebenslauf 8 war er bereits 1923 Ortsgruppenleiter in Mettingen (heute ein Stadtteil von Esslingen). Wie groß diese Ortsgruppe war, ob sie öffentlich in Erscheinung trat und welche Rolle er dabei spielte, läßt sich nicht mehr genau rekonstruieren. 9 Jedenfalls wagte er es im November 1924, also während des in Reaktion auf den gescheiterten Putsch von 1923 ausgesprochenen Verbots der ersten nationalsozialistischen Partei, bei einer SPD-Versammlung in Esslingen öffentlich den »nationalsozialistischen Standpunkt« zu vertreten, und stieß dort naturgemäß auf stürmischen Widerspruch. 10 Der 1925 von Adolf Hitler neugegründeten NSDAP trat Drauz als Mitglied Nr. 80.730 allerdings erst am 1. April 1928 11 bei. Kurz darauf, nämlich am 24. April, zog er mit seiner Familie nach Dortmund und von dort am 10. April 1930 weiter nach Essen. 12 Es ist nicht klar, was ihn zu diesem Ortswechsel bewogen hat und welcher Beschäftigung er in dieser Zeit nachging. 13 Zweifelhaft ist auch, ob er in diesen beiden Städten aktiv und öffentlich für seine politische Überzeugung eingetreten ist. Die wenigen Hinweise 14 auf seine Lebensumstände im Ruhrgebiet sprechen eher dagegen: So meldete ihn die NSDAP, Gau Essen, zu der er von der Ortsgruppe Esslingen überwiesen worden war, im November 1930 »wegen unbekannten Aufenthalts« als Mitglied ab, was bei einem Aktivisten wohl nicht geschehen wäre. Später wurde dies allerdings als Irrtum wieder rückgängig Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 145 7 Köhle-Hezinger, Christel, Von der »Roten ME« zur »Braunen ME«, in: Von Weimar bis Bonn. Esslingen 1919 - 1949, Esslingen 1991, S. 44. 8 Der deutsche Reichstag 1936. III. Wahlperiode nach dem 30. Januar 1933, Berlin 1936, S. 133 und HT, 1. April 1944, S. 3. 9 Auskunft des StAES vom 13. Juli 1995. 10 Esslinger Zeitung, 11. November 1924. 11 BA, Abt. III (BDC), PK Richard Drauz, Parteikanzlei (München) an die Gauleitung Württemberg, 4. Juli 1932. 12 StADO, Hausstandsbücher. 13 Seine zweite Ehefrau, die ihn zu dieser Zeit noch nicht kannte, gibt an, daß er dort in technischen Büros der Maschinenfabrik Esslingen tätig war. Vgl. StAHN, ZSG K.D., S. 33. Eine andere Quelle läßt vermuten, daß er als Vertreter arbeitete. Vgl. BA, Abt. III (BDC), Richard Drauz, NSDAP Gau Württemberg an die Parteikanzlei (München), 14. Juli 1932. 14 Nach Auskünften des StADO vom 27. Juli 1995, des StAE vom 9. August 1995 und des HSTADÜ vom 17. August 1995 gibt es in den dortigen Beständen keine Unterlagen, die ein öffentliches Engagement von Drauz belegen. <?page no="147"?> gemacht, der dadurch entstanden sei, daß »er in seinem Beruf als Vertreter sehr oft seinen Wohnsitz ändern mußte.« 15 Die eigentliche politische Karriere von Richard Drauz begann wohl erst im September 1932, als ihn der inzwischen zum Gauleiter von Württemberg aufgestiegene Wilhelm Murr aufforderte, Kreisleiter der NSDAP in Heilbronn zu werden. 16 Diese Stadt, in der sowohl die SPD wie die DDP jeweils über ein stabiles Wählerpotential verfügten, war für die Nationalsozialisten ein schwieriges Terrain. Zwar bestand seit 1923 eine Ortsgruppe der NSDAP, doch war sie zahlenmäßig klein und unbedeutend geblieben und hatte auch immer wieder Probleme, die oft wechselnden Amtsträger zu ersetzen. Ein neuer, nach einer längeren Vakanz 17 Ende 1929 eingesetzter Ortsgruppenleiter schrieb damals an Murr: »Nach eingehendem Studium der O.G. Akten habe ich den Eindruck, daß Heilbronn ein schwer zu bearbeitendes Gebiet ist, d.h. die Einwohner sind mehr oder weniger Pflegmatiker [! ] und durchweg demokratisch eingestellt.« 18 Erst bei der Gemeinderatswahl am 6. Dezember 1931 gelangten drei NSDAP-Vertreter in dieses Gremium. 19 Und noch bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 unterlag die NSDAP in Heilbronn knapp der SPD mit 9598 zu 9625 Stimmen. 20 Diese Ausgangssituation stellte an den neuen NSDAP- Kreisleiter, der zugleich auch Verlagsleiter der seit Anfang 1932 erscheinenden NS-Zeitung »Heilbronner Tagblatt« wurde, spezifische Anforderungen. Es spricht vieles dafür, daß Murr und die württembergische Parteileitung Richard Drauz für diese Stellung auswählten, weil sie ihm das zutrauten, was er selbst 1933 in einer Rede zur Handwerkerwoche als nationalsozialistische »Tugend« pries: »Unsere führenden Männer sind rücksichtslos genug, alles, was sich ihnen in den Weg stellt, mit Vernichtung zu schlagen.« 21 Von Drauz erhoffte man sich in Stuttgart offenbar, daß er die »jüdisch-marxistisch-liberalistische« Hochburg Heilbronn notfalls mit Gewalt auf nationalsozialistischen Kurs bringen würde. Darin erfolgreich gewesen zu sein, wird in den Propagandaverlautbarungen der späteren Jahre der NS-Herrschaft auch immer wieder als sein besonderes Verdienst hervorgehoben: »Wenn unsere gute Stadt Heilbronn [...] gegenüber den Jahren vor 1933 geistig ein völlig neues Gesicht bekommen hat und heute wirklich nationalsozialistisch handelt, denkt und arbeitet, so ist das das hervorragendste Werk unseres Kreisleiters, das ihn mit stolzer Genugtuung erfüllen darf.« 22 Susanne Schlösser 146 15 BA, Abt. III (BDC), PK Richard Drauz, Parteikanzlei (München) an die Gauleitung Württemberg, 4. Juli 1932 und NSDAP Gau Württemberg an die Parteikanzlei (München), 14. Juni 1932. 16 StAHN, ZSG K.D., S. 8. - Er kam am 5. September 1932 nach Heilbronn zurück (vgl. Chronik der Stadt Heilbronn, Bd. 3, Heilbronn 1986, S. 631) und nahm am 1. Oktober seine beiden Tätigkeiten als Verlags- und Kreisleiter auf (vgl. HT, 16. November 1942, S. 4). 17 Noch im Heilbronner Stadtbuch von 1929 wird unter dem Stichwort Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei, Ortsgruppe Heilbronn, vermerkt: »V[orsitzender]: war nicht festzustellen.« 18 STALB, PL 501 I, Bü 2. 19 Vgl. Chronik, Bd. 3 (wie Anm. 16), S. 574. 20 Vgl. Chronik der Stadt Heilbronn, Bd. 4, bisher unveröffentlichtes Manuskript im StAHN. 21 HT, 16. Oktober 1933, S. 4. <?page no="148"?> Tatsächlich steht außer Zweifel 23 , daß Richard Drauz der führende Nationalsozialist in der Stadt und im Oberamt bzw. dem späteren Landkreis Heilbronn gewesen ist, bei dem die Fäden zusammenliefen und der das Geschehen in allen Bereichen wesentlich mitbestimmte. Er war nicht nur Kreisleiter, sondern wurde am 6. April 1933 auch zum Politischen Kommissar für das Oberamt Heilbronn ernannt. Bereits im März hatte er bei der Gauleitung darauf gedrungen, daß der bisherige Heilbronner Landrat Ehemann, der seiner Meinung nach den schwierigen Verhältnissen nicht gewachsen war, zunächst in einen Krankenurlaub geschickt und - nach einer kurzen Rückkehr in sein Amt - schließlich ab November 1933 in den frühzeitigen Ruhestand versetzt wurde. 24 Von August 1933 bis Oktober 1935 war Drauz Mitglied des Heilbronner Gemeinderats, als solcher wurde er am 12. Oktober 1933 zu einem von zwei Stellvertretern von OB Heinrich Gültig berufen. Im November 1933 zog er als einer von 18 württembergischen Abgeordneten in den mittlerweile politisch einfluß- Richard Drauz (rechts) in Heilbronn Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 147 22 HT, 1. April 1944, S. 3 (Artikel zum 50. Geburtstag von Richard Drauz). 23 Auch wenn die Quellenlage für Heilbronn wegen der großen Kriegsverluste nicht besonders gut ist, läßt doch die vorhandene schriftliche Überlieferung, die sehr unterschiedlicher Herkunft ist, diesen Schluß zu. 24 Vgl. Schnabel (wie Anm. 2), S. 330 f. <?page no="149"?> losen, gleichwohl prestigeträchtig und für seine Mitglieder lukrativen Reichstag ein, dem er bis zum Ende des »Dritten Reiches« angehörte. Aber nicht nur im engeren politischen Bereich übte Drauz viele Funktionen aus. In einigen wichtigen Betrieben und Unternehmen in Heilbronn und Umgebung gelangte er in den Jahren vor dem Krieg in den Aufsichtsrat, so z.B. bei der Maschinenbaugesellschaft Heilbronn, der Glashütte Heilbronn AG, der Kreissiedlung Heilbronn sowie dem Portland-Zementwerk in Lauffen. Ebenso spielte er bei der »Gleichschaltung« von Vereinen und Verbänden eine zentrale Rolle. Er war nicht allein bei allen wesentlichen Sitzungen anwesend, sondern übernahm oft zumindest so lange den kommissarischen Vorsitz, bis ein neuer, nationalsozialistischer Vorstand gefunden war. Die Ortsgruppe des Reichsausschusses für Leibesübungen und den Verein für Rasenspiele leitete er schließlich über Jahre hinweg selbst. 25 Als Verlagsleiter des »Heilbronner Tagblatts« war Richard Drauz auch wesentlich an der gewaltsamen Ausschaltung der sozialdemokratischen und bürgerlichen Heilbronner Presse beteiligt. Bis 1934 gelang es durch Überfälle, Beschlagnahmungen und Verbote sowie durch massive Abwerbemethoden, Einschüchterungen und »Inschutzhaftnahme« von Anzeigenkunden, Redakteuren und Verlegern sämtliche Heilbronner Zeitungen und ihre Infrastruktur (Druckmaschinen usw.) in die Hand des »Heilbronner Tagblatts« zu bringen. 26 »Der ehemals kümmerliche, von Stuttgart in jeder Weise abhängige Verlag ist unter der seit Oktober 1932 tatumsichtigen Leitung zu hohem Ansehen gelangt. Auch konnte der früher bürgerliche Krämer'sche Verlag - wohl der größte und bedeutendste im württ. Unterland - käuflich deshalb erworben werden, weil die Abonnentenzahl dieses Verlages bei sämtlichen vier Zeitungen [...] durch die intensive und planmäßige Arbeit der Verlagsleitung des ›Heilbronner Tagblatts‹ ständig stark zurückging.« 27 So lautet die nationalsozialistische Darstellung dieser Ereignisse, ein indirektes Lob für den Verlagsleiter Drauz, der auch in dieser Position die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte. Trotz seiner - im nationalsozialistischen Sinne - erfolgreichen Arbeit als Kreis- und Verlagsleiter war Richard Drauz keineswegs unumstritten. Auf besonders starke Ablehnung stieß er interessanterweise in den eigenen NSDAP-Reihen. Nicht wenige der »alten Kämpfer« Heilbronns waren mit seiner Person und seinem Gebaren überhaupt nicht einverstanden und beschwerten sich immer wieder bei übergeordneten Parteistellen über ihn. Diese innerparteilichen Auseinandersetzungen fanden 1934/ 35 ihren Höhepunkt und Niederschlag in mehreren Verfahren vor dem NSDAP-Gaugericht Württemberg-Hohenzollern. 28 Es ist anhand der überlieferten Susanne Schlösser 148 25 Chronik, Bd. 4 (wie Anm. 20) und Bd. 5, bisher unveröffentlichtes Manuskript im StAHN und BA, Abt. III (BDC), Richard Drauz, Antrag auf Besoldungsfestsetzung [vom 16. April 1941]. 26 Die genauen Vorgänge schildern Dietrich, Markus, Es kann uns den Kopf kosten. Antifaschismus und Widerstand in Heilbronn 1930 - 1939, Heilbronn 1992, S. 57-59 und Schnabel (wie Anm. 2), S. 353 f., 361-363. 27 Zit. nach Schnabel (wie Anm. 2), S. 361 f. 28 Im Nachlaß (künftig NL Wilhelm) von Josef Georg Wilhelm (1931-1935 Polizeidirektor in <?page no="150"?> Aktenfragmente nicht leicht zu entscheiden, welche der einzelnen Vorwürfe gegen den Kreisleiter der Wahrheit entsprachen und welche davon - offenbar von Enttäuschung, verletzter Eitelkeit, Neid oder Rachsucht diktiert - übertrieben oder gar falsch sein mochten. Dennoch muß auf diese Auseinandersetzungen näher eingegangen werden, da durch sie sehr interessante Erkenntnisse über strukturelle Mechanismen innerhalb der NSDAP zu gewinnen sind. So wird beispielweise deutlich, auf welche Weise NSDAP-Mitglieder, denen bekanntlich »nörgelnde Kritik« verboten war, ihre Streitigkeiten miteinander austrugen, wie weit Anspruch und Wirklichkeit der nationalsozialistischen Ideologie oft auseinanderklafften, wie willkürlich NS- Amtsträger handeln konnten und welch zentrale Rolle Denunziation und Einschüchterung in diesem System spielten. Die Hauptkontrahenten des Kreisleiters waren zunächst der Hauptschriftleiter des Heilbronner Tagblatts, Hans Hauptmann, der somit auch beruflich eng mit Drauz zu tun hatte, und der Ortsgruppen- und stellvertretende Kreisleiter, Paul Reppmann. Sie legten gemeinsam am 10. Mai 1934 beim Personalreferenten des Gaues Beschwerde über Drauz ein. Die Reaktion des Kreisleiters, der umgehend von dieser Eingabe informiert wurde, ließ nicht lange auf sich warten: Er bezichtigte Hauptmann nicht nur öffentlich der politischen Unzuverlässigkeit und beschimpfte ihn als »Sexualschwein« sowie »Kulturbolschewisten«, sondern sprach seinem Hauptschriftleiter »unter Mißachtung aller Bestimmungen des Schriftleitergesetzes und des unter Zeugen mündlich mit mir geschlossenen dreijährigen Anstellungsvertrags« 29 die sofortige Kündigung aus. Auch Reppmann verlor in den nächsten Wochen sämtliche Parteifunktionen. Doch ließen sich die beiden davon nicht beirren und nahmen jetzt erst recht den Kampf auf. »Weil vorherige Erfahrungen gelehrt haben, daß Pg. Drauz in der Gauleitung Stuttgart einen einflußreichen Gönner hat, von dem er bisher in allen Fällen gestützt worden ist,« wandte sich Hauptmann zugleich an höhere Stellen und richtete sein offizielles Anklageschreiben, in dem er die Entbindung des Kreisleiters von allen seinen Ämtern forderte, nicht nur an Wilhelm Murr - den »einflußreichen Gönner« 30 - sondern auch direkt an Josef Goebbels, Hermann Göring und Rudolf Hess 31 . Er bezog sich dabei ausdrücklich Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 149 Heilbronn) sind davon Aktenteile (Gaugericht Württemberg-Hohenzollern A.Z. 454/ 34 und 2100/ 35) überliefert. Die Familie Wilhelm hat dem StAHN 1994 dankenswerterweise Kopien davon zur Verfügung gestellt, die für diesen Beitrag benutzt werden konnten. Vgl. dazu Schnabel (wie Anm. 2), S. 389-392. 29 Dieses und alle folgenden, nicht mehr einzeln nachgewiesenen, wörtlichen Zitate aus NL Wilhelm, A.Z. 454/ 34. 30 Schnabel (wie Anm. 2), S. 389, wirft als bisher ungeklärte Frage auf, ob Wilhelm Murr oder Martin Bormann die schützende Hand über Drauz gehalten hat. In den hier zugrundegelegten Quellen gibt es keinerlei Hinweise darauf, ob Richard Drauz Bormann überhaupt persönlich kannte, während die engen, ja freundschaftlichen Beziehungen zu Wilhelm Murr ganz offensichtlich sind, so daß m. E. nur dieser der »einflußreiche Gönner« sein kann. 31 Ob er von diesen je eine Anwort erhalten hat, ist fraglich. In den Akten sind solche jedenfalls nicht überliefert. <?page no="151"?> auf den »Befehl des Führers an den Chef des Stabes Lutze« vom 30. Juni 1934, der im Zusammenhang mit dem sogenannten »Röhmputsch« erlassen worden war. In zwölf Punkten wurden darin Richtlinien für das Verhalten von SA- und politischen Führern in der Öffentlichkeit festgelegt. Hauptmann stellte fest, daß vor allem die Punkte zwei, drei und sechs 32 des angeführten Befehls keinerlei Zweifel darüber zuließen, wie mit Richard Drauz zu verfahren sei, denn: »In Heilbronn ist es stadtbekannt, daß Pg. Kreisleiter Drauz, trotzdem er verheiratet und Vater [...] ist, zahlreiche Liebesverhältnisse unterhält [...]. Eidesstattlich wird bezeugt, daß Pg. Drauz sehr häufig durch schwere Trunkenheit im Ehrenkleide seines Amtes Ärgernis in der Öffentlichkeit erregt hat. Das war z.B. der Fall am Tage der letzten Anwesenheit des Ernst Röhm in Heilbronn. Nach einem wüsten Gelage im Ratskeller, dessen Verlauf und Folgen Tage lang das Stadtgespräch bildeten, hielt Drauz auf dem Marktplatz in Gegenwart einer großen Menge eine Ansprache an soeben [...] eingetroffene schweizerische Turner. Dabei beging er in seinem Rausch die peinliche Taktlosigkeit zu sagen, die Gäste möchten nach ihrer Heimkehr ihre Landsleute versichern, daß Adolf Hitler nicht daran dächte, die Schweiz zu annektieren! « Zu diesen sehr massiven konkreten Angriffen, die von mehreren, zumeist langjährigen Parteigenossen schriftlich bezeugt und unterstützt wurden, gesellten sich noch allgemeinere Vorwürfe über die nicht ordnungsgemäße Verwendung von Winterhilfswerkgeldern und anderen Spenden sowie über die zu weit gehende Protektion von eigenen Anhängern und das rücksichtslose Kaltstellen all derer, die dem Kreisleiter nicht genehm waren. Das Fazit der Ankläger: »Abgesehen von einer rein willkürlichen, lediglich auf Gewalt abgestellten Politik, ohne jeden Begriff der Treue führt Pg. Drauz in sittlicher Hinsicht ein Leben, das jeder Beschreibung spottet und dazu angetan ist, der Bewegung in weitestem Maße zu schaden.« Richard Drauz reagierte auf diese Angriffe am 7. Juli 1934 mit einer Selbstanzeige beim Gaugericht, »um endlich die gegen mich hetzenden bekannten und nichtbekannten Pgs. fassen zu können«. Er tat dies in Absprache mit dem Beauftragten der Parteileitung, der zur Klärung der Vorfälle nach Heilbronn gekommen war, und hatte Erfolg damit. Nicht nur in der Klagesache des ehemaligen Hauptschriftleiters Hans Hauptmann 33 wurde er am 31. August 1934 vom Gaugericht freigesprochen, Susanne Schlösser 150 32 Wörtlich lauten diese: »Ich verlange, daß jeder SA-Führer wie jeder politische Führer sich dessen bewußt ist, daß sein Benehmen und seine Aufführung vorbildlich zu sein hat für seinen Verband, ja für unsere gesamte Gefolgschaft.« (Punkt 2) - »Ich verlange, daß SA-Führer - genau so wie politische Führer - die sich in ihrem Benehmen in der Öffentlichkeit etwas zuschulden kommen lassen, unnachsichtlich aus der Partei und der SA entfernt werden.« (Punkt 3) - »SA-Führer oder politische Leiter, die sich vor aller Öffentlichkeit betrinken, sind unwürdig, Führer ihres Volkes zu sein. Das Verbot nörgelnder Kritik verpflichtet zu vorbildlicher eigener Haltung. Fehler können jederzeit verziehen werden, schlechte Aufführung nicht. [...] Der nationalsozialistische Führer und insbesondere der SA-Führer soll im Volke eine gehobene Stellung haben. Er hat dadurch auch erhöhte Pflichten.« (Punkt 6) - Zit. nach Gehl, Walther, Die Jahre I-IV des nationalsozialistischen Staates. Grundlagen und Gestaltung. Urkunden des Aufbaus - Reden und Vorträge, Breslau 1937, S. 51-53. 33 HT, 1. September 1934, S. 5. In den Akten ist dieses Urteil nicht überliefert. <?page no="152"?> sondern im Lauf des Jahres 1935 auch in allen anderen, diesem noch folgenden Verfahren. Dazu gehörte auch die Anklage eines weiteren alten Heilbronner Parteigenossen, der sich 1933 bei der körperlichen Mißhandlung des Zeitungsverlegers Viktor Krämer hervorgetan hatte und dabei von Drauz gedeckt worden war 34 , jetzt aber Hauptmann und Reppmann unterstützte. Ihn, einen Autohändler, hatte Drauz wissen lassen, daß er ihn »wirtschaftlich und moralisch restlos ruinieren« werde, wenn er weiterhin gegen ihn zeuge. Und tatsächlich ist zum einen ein Schreiben überliefert, in dem der Kreisleiter der Autofirma, deren Vertretung dieser Händler bisher innegehabt hatte, ein anderes Heilbronner Autohaus, »das besonders in moralischer Hinsicht einwandfrei« sei, als künftigen Geschäftspartner dringend empfahl. Zum anderen ließ der Kreisleiter durch den Bruder des Autohändlers ausrichten, daß er diesen wegen seines Meineides in der Sache Krämer anzeigen werde, wenn er sich nicht zurückhalte, »er habe es lediglich seiner [d.i. Drauz] Rücksichtnahme zu verdanken, daß er noch nicht in Schutzhaft sei.« Es wurde also mit massiven Drohungen und ehrenrührigen Vorwürfen gearbeitet, um die höheren Parteistellen von der Richtigkeit des jeweiligen Standpunkts zu überzeugen. Der Kreisleiter hatte allerdings in dieser Auseinandersetzung die weitaus bessere Ausgangsposition durch den größeren Handlungsspielraum, den seine verschiedenen Funktionen ihm boten, und durch die Rückendeckung aus Stuttgart. Wie aus dem Quellenmaterial eindeutig hervorgeht, zögerte er nicht, diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Drauz beließ es nicht bei Drohungen und Einschüchterungsversuchen, sondern ging weiter und leitete konkrete Schritte ein, um die wirtschaftliche Existenz seiner Gegner zumindest zu gefährden, wenn nicht gar zu zerstören. Offenbar fühlte er sich ziemlich sicher und befürchtete nicht, daß sich solche Vorgehensweisen eines Tages vielleicht rächen und gegen ihn selbst wenden könnten. Wie die Begründung seines Freispruchs durch das NSDAP-Gaugericht vom 26. Juli 1935 35 zeigt, hatte er durchaus berechtigte Gründe für seinen Optimismus: »Die Kammer vermag unter Berücksichtigung aller mitwirkenden Umstände nicht, über Kreisleiter Drauz wegen Einzelheiten seines Vorgehens den Stab zu brechen und ihn schuldig zu sprechen, nachdem sie sein Vorgehen im Ganzen nicht zu beanstanden vermochte, wie sie auch bestimmt annimmt, daß kein nationalsozialistischer Strafrichter es verantworten könnte, ohne Berücksichtigung und entsprechende Würdigung des Gesamt-Komplexes des Tatbestandes und der mitspielenden politischen Notwendigkeiten rein formaljuristisch einen Verstoß gegen einzelne Paragraphen des Strafgesetzes festzustellen und diesen zur Freude der Staatsfeinde zu ahnden.« Die Zuständigkeit des NSDAP-Gaugerichts war auf innerparteiliche Konflikte beschränkt. Doch formulierte es in diesem Urteil eine deutliche Erwartungshaltung gegenüber der staatlichen Gerichtsbarkeit. So interpretierte dies da- Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 151 34 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). 35 NL Wilhelm, A.Z. 2100/ 35. Dieser Freispruch bezog sich auf das Verfahren wegen des weiter unten dargestellten Vorfalls in der Adlerbrauerei. <?page no="153"?> mals auch der Erste Staatsanwalt bei der Oberstaatsanwaltschaft: »Eine ernste Gefahr für die Unabhängigkeit der Rechstpflege aber bildet das Bestreben, in den parteigerichtlichen Urteilen eine etwaige abweichende Stellungnahme des ordentlichen Gerichts von vorneherein als formaljuristische Paragraphenreiterei abzutun und zugleich mit dem Makel staatfeindlicher Gesinnung zu brandmarken.« Das war eine mutige Stellungnahme, zumal sie gerade in die Zeit fiel, als ein Strafverfahren gegen Richard Drauz wegen Untreue und Körperverletzung einzuleiten war. Für beide Delikte hatte das Gaugericht den Kreisleiter bereits freigesprochen. Das strafrechtliche Verfahren gedieh allerdings nicht über die gerichtliche Voruntersuchung hinaus, offenbar weil die Immunität des Reichstagsabgeordneten Drauz nicht aufgehoben wurde. 36 In Heilbronn gelang es der NSDAP übrigens immer wieder, ihre Erwartungen an die staatliche Rechtsprechung durchzusetzen. Das zeigen mehrere Fälle von Ausschreitungen gegenüber Juden und Andersdenkenden in der Stadt und im Landkreis Heilbronn, die von dem damaligen Heilbronner Polizeidirektor Josef Georg Wilhelm zwar untersucht und zur Anzeige gebracht, dann aber in der Regel durch Intervention von Murr oder Drauz niedergeschlagen wurden. Eine wesentliche Rolle spielte offenbar ein Amts- und Landgerichtsrat, der 1934 zum Oberstaatsanwalt befördert wurde. Von ihm heißt es, daß er »in völlige Hörigkeit gegenüber dem Kreisleiter Drauz geraten war und das Recht in zahlreichen Fällen zugunsten der führenden Parteileute vorsätzlich beugte.« 37 Einige Beispiele 38 : In der Nähe von Dörzbach in Landkreis Heilbronn wurden im Frühjahr 1933 »zwei ältere jüdische Handelsleute von dem SA-Standartenführer 39 [...] - Heilbronn - buchstäblich zu Tode getrampelt.« Nach dem Eingreifen von Gauleiter und Reichsstatthalter Murr wurde die an die zuständige Staatsanwaltschaft eingereichte Strafanzeige nicht weiter verfolgt. Im Juli 1933 überfielen eine größere Anzahl SA-Leute das Haus des früheren Heilbronner OB Emil Beutinger und beschädigten das Gebäude sowie die Einrichtungen schwer. Beutinger selbst konnte sich durch unbemerkte Flucht aus dem Fenster retten. Das eingeleitete Verfahren gegen etwa 40 Verdächtige wurde ebenfalls niedergeschlagen. 40 Ende September 1933 stellte Polizeidirektor Wilhelm Strafantrag gegen einen Heilbronner SA-Truppführer, einen »alten Kämpfer«, wegen Susanne Schlösser 152 36 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz) und NL Wilhelm, A.Z. 2100/ 35. 37 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). Dem Generalstaatsanwalt in Stuttgart ging diese Haltung offenbar zu weit. 1935 wurde ein Dienststrafverfahren gegen den Heilbronner Oberstaatsanwalt eingeleitet und er 1936 zum Reichsamt für Sippenforschung nach Berlin versetzt. 38 Alle in STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). 39 Er wurde am 17. Oktober 1952 für diese und andere Straftaten zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Vgl. Heilbronner Stimme, 18. Oktober 1952, S. 3. 40 Im Juli 1949 wurden neun dieser Tat Verdächtigte vor Gericht gestellt, davon fünf zu Gefängnisstrafen bis zu drei Monaten verurteilt und vier freigesprochen. Vgl. Chronik der Stadt Heilbronn, Bd. 6, Heilbronn 1995, S. 327. <?page no="154"?> Widerstand, Körperverletzung und Beleidigung von Polizeibeamten. Er wurde von der Strafkammer Heilbronn am 29. Juni 1934 zwar zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, später aber auf Veranlassung des Kreisleiters begnadigt. Im letzteren Fall hatte Richard Drauz bereits bei der Gerichtsverhandlung zugunsten des Angeklagten einzugreifen versucht, indem er zu Protokoll gab: »Wenn nun im Herbst vergangenen Jahres [der Angeklagte] einen Zusammenstoß mit der Polizei hatte, so ist dies nicht besonders verwunderlich, denn ein alter Kämpfer [...] vertritt mit vollem Recht den Standpunkt, daß er sich im heutigen Staat von Beamten, die ihn während des Kampfes gedrückt und gequält haben, nicht mehr in einer derart taktlosen und unflätigen Art behandeln läßt.« 41 Daß das Verhältnis zwischen der Heilbronner Polizei und der örtlichen Parteispitze äußerst gespannt war, geht nicht nur aus diesem Zitat hervor, sondern auch aus einem weiteren Gaugerichtsverfahren 42 gegen Richard Drauz, das im Anschluß an einen Vorfall in der Adlerbrauerei am 11. Mai 1935 durchgeführt wurde und ebenfalls mit einem Freispruch endete. Diese Gastwirtschaft wurde von einem Juden betrieben und war Treffpunkt für Kommunisten, Juden und andere, die dem nationalsozialistischen Regime nicht genehm waren. Sie war somit natürlich ein Dorn im Auge der Kreisleitung, bei der auch zahlreiche Beschwerden von »empörten Volksgenossen« eingingen. Als am Abend des 11. Mai wieder einmal jemand Drauz über das »staatsfeindliche Treiben« in der Adlerbrauerei berichtet hatte, hatte dieser sich zusammen mit einigen zufällig anwesenden Parteifreunden dorthin begeben und veranlaßte, nachdem er unerkannt eine Weile den Gesprächen zugehört hatte, die Räumung des Lokals, wobei es zu heftigen Schlägereien und Verletzungen kam. Was weiter geschah, schildert Drauz selbst in seiner Aussage folgendermaßen: »Als das Lokal leer war, ging ich zu dem Juden [...], der [,] um nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, fliehen wollte. Ich stellte ihn sofort zur Rede und bemerkte, daß an der Wand ein Gummiknüppel hing, den ich an mich nahm. [...] Ich erklärte [...], daß es ein Skandal sei, daß in seinem Lokal das kommunistische Gesindel verkehren würde [...]. Ebenso sagte ich [...], daß die unverantwortliche Hetze gegen den Führer, die Partei und den Staat unbeschreiblich sei, was er mit frecher Geste sofort bestritt. Dieses herausfordernde Verhalten des Juden, das mich ungemein empörte, veranlaßte mich, ihm mit dem Gummiknüppel eine runterzuhauen. Dabei sprang seine Frau dazwischen, weshalb versehentlich diese getroffen wurde. Nachdem die Jüdin weggegangen war, erhielt der Jude eine runtergehauen, weil er allein für diese Zustände verantwortlich war.« Drauz äußerte zugleich auch sehr deutlich, wo seiner Meinung nach die eigentlich Schuldigen für diesen Vorfall zu finden waren: »Daß es zu dieser Sache kommen konnte, ist allein dem Versagen des hiesigen Polizeidirektors Wilhelm zuzuschreiben. [...] wir [mußten] immer wieder die Erfahrung machen, daß die Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 153 41 Zit. nach Wilhelm, Friedrich, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil. [Masch.] Stuttgart 1989, S. 138. 42 NL Wilhelm, A.Z. 2100/ 35, daraus auch die folgenden wörtlichen Zitate. <?page no="155"?> Heilbronner Polizei sehr rasch bei der Hand ist, wenn es gilt, gegen Pg. vorzugehen, dagegen äußerst langsam arbeitet, wenn sie gegen Gegner der Partei vorgehen soll.« Deshalb habe er sich als Hoheitsträger der Partei verpflichtet gefühlt, selbst einzugreifen. Aufgrund der ständigen und massiven Beschwerdeführung über den Polizeidirektor, der offensichtlich ein korrekter Beamter war und es für seine Pflicht hielt, alle Straftäter ohne Berücksichtigung ihrer politischen Herkunft zu verfolgen, erreichte es die Heilbronner Kreisleitung schließlich, daß dieser im Oktober 1935 von seinem Posten in Heilbronn abgelöst und zum Polizeipräsidium nach Stuttgart versetzt wurde. 43 Die bisher geschilderten Fälle zeigen deutlich, daß Richard Drauz sich nicht scheute, die Grenze zu Unrecht und Gewalt zu überschreiten, wenn es für seine Ziele dienlich zu sein schien. Das hing sicher auch damit zusammen, daß er offenbar von der Notwendigkeit des »ewigen politischen und weltanschaulichen Kampfes« völlig überzeugt war, wie seine zahlreichen im Heilbronner Tagblatt im Wortlaut abgedruckten Reden zu den verschiedensten Anlässen zeigen. Zwar muß man dabei berücksichtigen, daß auch der Kreisleiter in seinen öffentlichen Verlautbarungen einer gewissen Zensur - und sei es der im eigenen Kopf - unterlag, doch lassen diese Reden in ihrer Gesamtheit einige Gewichtungen erkennen, Lieblingsthemen, auf die er regelmäßig zurückkam, während anderes von ihm kaum oder nie angesprochen wurde. So fällt z.B. auf, daß er die sogenannte »Judenfrage« nur ganz selten einmal thematisierte. Das soll allerdings nicht heißen, daß er die nationalsozialistische Judenpolitik nicht mitgetragen hätte. 44 Dagegen beschwor er aber immer wieder und mit Vehemenz die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und an die »Kampfzeit« der 20er Jahre, »in der alles aussichtslos schien« 45 , sozusagen als Verpflichtung, auch nach der geglückten »nationalsozialistischen Revolution« nicht mit dem »politischen und weltanschaulichen Kampf« aufzuhören. Er postulierte auch gern den Totalitätsanspruch der NSDAP: »Weil es nun immer schwerer ist, eine eroberte Stellung zu halten, nahm die Partei in jedem Dörfchen und in jeder Straße die politische Führung so fest in ihre Hand, daß sie heute und künftig nicht mehr abgelöst werden kann. Sie bildet die eiserne Klammer, die den deutschen Staat zusammenhält [...]. Ihr Wille wird im eisernen Kampf solange durchgesetzt werden, bis sie überall, in allen Winkeln und Gäßchen gesiegt hat. [...] Wir wollen nichts anderes sein als die Gesellschaft, die in Deutschland für alle Zukunft den Ton Susanne Schlösser 154 43 Vgl. Wilhelm (wie Anm 41), S. 276 - 278. 44 So spielte er z.B. nachweislich bei der »Arisierung« von Schloß Stettenfels bei Untergruppenbach eine zentrale Rolle (Heimatbuch der Gemeinde Untergruppenbach, bearbeitet von Wilfried Sehm, Stuttgart 1992, S. 471 - 475), ebenso bei der »Arisierung« des Gebäudes Bruckmannstraße 28 in Heilbronn, das später der Kreisleitung als Büro und dem Kreisleiter als Wohnung diente (StAHN, Liegenschaftsamt Nr. 448). Zu seiner Beteiligung an dem Judenpogrom im November 1938 vgl. Schrenk, Christhard, Die Chronologie der sogenannten »Reichskristallnacht« in Heilbronn, in: Jahrbuch des Historischen Vereins Heilbronn 32 (1992), S. 293 - 314, hier: S. 308 ff. 45 HT, 31. Januar 1938, S. 5 (Rede zum Kameradschaftsabend der alten Kämpfer im Kreis Heilbronn). <?page no="156"?> bestimmt.« 46 Der Zweite Weltkrieg war für ihn die unvermeidbare und logische Fortsetzung des Ersten: »Denn der Krieg [...] war ja noch nie zu Ende. Er ging seit 1918, seit die Waffen ruhten, mit anderen Mitteln weiter.« 47 Nach der Niederlage von Stalingrad entfaltete er einen regelrechten Aktivismus, indem er bis Anfang März 1943 nahezu täglich vor mehreren NSDAP-Ortsgruppen sowohl im Stadtwie im Landkreis Heilbronn Durchhaltereden 48 folgender Art hielt: »Am Beispiel des Ersten Weltkriegs machte er [d.i. Drauz] deutlich, wieviel von der Heimat, ihrer Weltanschauung und Haltung abhänge für den Sieg. Der Krieg wird heute nicht nur militärisch geführt. Nein, er muß bis in die feinsten Verästelungen unser Hirn und Herz erfüllen. [...] Wir wollen vor der Geschichte bestehen können und beweisen, daß wir den Ruf des Schicksals verstanden haben. Unsere Soldaten sollen wissen, daß sich das ganze Volk in einem gewaltigen Aufbruch zur Tat befindet. [...] Wer heute die Stunde nicht versteht, der wird seine Zeit und das Schicksal unseres Volkes nie verstehen. [...] Wir haben die Kraft zu siegen. Darum müssen wir unsere Herzen stark machen und an uns selbst, den Führer und seine Wehrmacht glauben.« 49 Nach außen hin zumindest ließen sich nie irgendwelche Zweifel 50 an der Richtigkeit der nationalsozialistischen Ideologie und der daraus resultierenden Politik und Kriegsführung erkennen. Unklar bleibt in diesen Reden aber auch, ob und welche politischen Ziele oder Visionen er - über die nationalsozialistische Durchdringung aller Lebensbereiche hinaus - für »seinen« Kreis Heilbronn verfolgte. In den letzten Kriegswochen und -tagen lud Richard Drauz - nach allem bereits durch ihn begangenen Unrecht - auch noch die Verantwortung für Schwerverbrechen auf sich. Für einen Menschen wie ihn, der seit vielen Jahren eng in ein politisches System eingebunden war, in dem Rücksichtslosigkeit, Brutalität und Gewaltbereitschaft - unter welchen Bezeichnungen auch immer - gefordert, gefördert und belohnt wurden, und der offensichtlich keinerlei kritische Distanz zu diesem hatte, scheint das eine konsequente Handlungsweise gewesen zu sein, so unverständlich und unentschuldbar es auch war. Er folgte offenbar noch dem absurdesten Befehl seines »Führers«. So wollte er, laut der Aussage eines Mitarbeiters bei dem Rüstungsbevollmächtigten Südwest 51 , beispielsweise, daß Ende März 1945 die gesamten Anlagen der Fahrzeugwerke Neckarsulm gesprengt werden sollten, was schließlich am Widerstand verschiedener Stellen scheiterte, ebenso wie einige weitere, von ihm Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 155 46 HT, 31. Januar 1938, S. 5. 47 HT, 2. Oktober 1939, S. 5 (Rede bei einer Morgenfeier der Soldatenfrauen). 48 Vgl. HT, 8., 10., 12., 15., 16., 18., 19., 20., 24. Februar sowie 1. und 4. März 1943. 49 HT, 10. Februar 1943, S. 3. 50 Auch die Aussagen seiner Witwe, die angab, ihn nie zweifelnd erlebt zu haben, bestätigen diesen Eindruck: »Ich habe immer zu ihm gesagt, ›was Du hast, das ist Kadavergehorsam, das ist keine Überzeugung.‹[...] Dann konnte er sagen, ›wenn für mich der Adolf Hitler sagt, das Wasser geht bergauf, dann gehts für mich bergauf.‹« Vgl. StAHN, ZSG K.D., S. 28. 51 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). <?page no="157"?> vorgeschlagene Maßnahmen von »verbrannter Erde« in der ohnehin seit dem 4. Dezember 1944 schon völlig zerstörten Stadt Heilbronn. Auch scheint er sich zu derselben Zeit noch ernsthaft mit Evakuierungsplänen für die Bevölkerung des Stadt- und Landkreises Heilbronn beschäftigt zu haben. 52 Die NSDAP-Ortsgruppenleiter in den Gemeinden des Landkreises wies er an, jedes Dorf in eine Festung zu verwandeln und zu verteidigen, wozu die meisten aber nicht mehr bereit waren. 53 Je mehr sich abzeichnete, daß der »Kampf um Heilbronn« verloren gehen würde, desto willkürlicher wurden die Handlungen von Richard Drauz. Sie hinterlassen den Eindruck von dem sinnlosen Wüten eines Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat, aber bis zum letzten Augenblick mit Gewalt versucht, seinen bisherigen Machtanspruch zu behaupten, und sie scheinen auch nicht ganz frei von persönlichen Animositäten gewesen zu sein. So ließ er am 3. April 1945 den stellvertretenden Ortsgruppenleiter von Sontheim, Karl Taubenberger, standrechtlich erschießen, weil dieser nicht verhindert hatte, daß eine Panzersperre abgebaut wurde. 54 Am 6. April 1945 löste Drauz die Heilbronner Geschäftsstelle der Kreisleitung auf, ließ Akten und Parteifahne verbrennen, und machte sich mit zwei zusammengekoppelten Fahrzeugen und einer größeren Begleitmannschaft auf den Weg, die Stadt zu verlassen. Einige Stunden vorher hatten abrückende Wehrmachtssoldaten denselben Weg genommen und den Anwohnern einer Straße am Stadtrand auf deren Nachfrage hin geraten, weiße Tücher herauszuhängen, da gegen die Übermacht der Amerikaner nichts mehr auszurichten sei. Dort waren nun, als der Kreisleiter mit seinem Troß vorbeikam, fünf oder sechs Häuser auf diese Weise »beflaggt«. Nachdem er dies bemerkt hatte, ließ er anhalten und gab - ohne eine weitere Untersuchung der Umstände - mehrfach den Befehl »Raus, erschießen, alles erschießen! « 55 Drei seiner Begleiter 56 kamen dem nach, stürmten nacheinander die verschiedenen Häuser und schossen wahllos auf diejenigen Personen, welche die Türen öffneten. Vier Menschen fielen dieser unsinnigen Bluttat zum Opfer, weitere vier entrannen ihr nur knapp dadurch, daß sie sich tot stellten. Einer der Ermordeten war Stadtrat Karl Kübler, seit 1941 hauptamtlicher Beigeordneter für Verwaltungsangelegenheiten der Stadt Heilbronn und seit dem 1. April 1945 offizieller Amtsverweser für den zum Volkssturm eingezogenen OB Heinrich Gültig. In einer der letzten Zeitungsausgaben, die vor Kriegsende noch in Württemberg erschienen, wurde unter dem Titel »Tod den Susanne Schlösser 156 52 Dieses geht auch aus einer kurz nach dem Krieg verfaßten Denkschrift der Kampfgruppe des Reichsfreiheitsbundes, Sektion Heilbronn, hervor (Salzwerk Heilbronn, Korrespondenz Dr. Bauer, Juni 1945 - Dezember 1947). 53 Henke, Klaus-Dietmar, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 835. 54 Die drei Schützen wurden im Mai 1947 zu vier bzw. zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Vgl. Chronik, Bd. 6 (wie Anm. 40), S. 176. 55 Zit. nach Henke (wie Anm. 53), S. 848. 56 Sie wurden am 2. Juli 1947 deshalb zu 15, sieben bzw. fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Vgl. Chronik, Bd. 6 (wie Anm. 40), S. 183. <?page no="158"?> Verrätern! « 57 behauptet, Kübler und die anderen seien von einem Standgericht verurteilt und dann erschossen worden. Ob die Umstände nicht genau bekannt waren oder man bewußt die falsche Darstellung der Vorgänge wählte, um solch willkürlichen Ermordungen wenigstens in der Öffentlichkeit den Anschein von »Rechtmäßigkeit« zu geben, muß dahingestellt bleiben. Richard Drauz gelang es bei Kriegsende zunächst, durch Flucht einer Gefangenschaft zu entgehen. Er fand in Kloster Dernbach bei Montabaur im Westerwald unter falschem Namen Unterschlupf, wurde dort aber im Juni 1945 vom CIC, dem amerikanischen Abwehrdienst, aufgespürt und verhaftet. Die Amerikaner suchten ihn wegen seiner Beteiligung an der Erschießung eines abgestürzten US-Piloten 58 , der sich als Kriegsgefangener ergeben hatte. Dafür mußte er sich vor einem amerikanischen Militärgericht in Dachau verantworten, wurde am 11. Dezember 1945 als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und am 4. Dezember 1946 in Landsberg durch Erhängen hingerichtet. 59 Daß seinem Leben gerade am zweiten Jahrestag 60 der Heilbronner Stadtzerstörung ein strafendes Ende gesetzt wurde, war sicher keine bewußte Entscheidung der Amerikaner, wurde in Heilbronn aber voller Bedeutung interpretiert: »Es ist wie ein Symbol, daß dieser skrupellose Mörder, der bei Fliegergefahr abend um abend mit seinem Auto die Stadt verließ, gerade am 4. Dezember erhängt wurde, an dem Jahrestag der Katastrophe, an welchem er ebenfalls die Stadt ihrem Schicksal überließ.« 61 Seine anderen Untaten standen in dem postumen Entnazifizierungsverfahren 62 , das 1949/ 50 vor der Zentralspruchkammer in Ludwigsburg stattfand, im Mittelpunkt der Verhandlung. Denn bei der Festsetzung der Sühneleistung, die in seinem Fall aus dem Nachlaß zu bestreiten war, spielte neben der formalen Belastung als NSDAP- Kreisleiter auch die individuelle eine Rolle. Richard Drauz wurde als Hauptschuldiger eingestuft, der sonst übliche Nachlaßeinzug allerdings durch einen Gnadenerweis in einen festen Betrag von 1.000 DM umgewandelt. Einige andere, damals noch Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 157 57 Kocher- und Nationalzeitung Aalen, 17. April 1945. 58 Soweit bekannt, schoß er am 24. März 1945 zusammen mit anderen auf den amerikanischen Kriegsgefangenen, traf ihn aber nicht; der tödliche Schuß wurde von einem seiner Begleiter abgegeben. STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). 59 Die Urteilsbegründung, vermutlich in den National Archives, Washington, archiviert, ist derzeit nicht zugänglich. Auch die im BAP vorhandenen, diesbezüglichen Verfügungen geben den Wortlaut nicht wieder(Auskunft BAP vom 21. November 1995). Die Spruchkammerakte von Richard Drauz enthält nur Kopien des sehr knapp gehaltenen Urteilsspruchs und des Hinrichtungszertifikats. STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11. 60 Am 4. Dezember 1944 wurde die Altstadt von Heilbronn während eines halbstündigen Bombenangriffs vollständig zerstört. Vgl. Bläsi, Hubert; Schrenk, Christhard, Heilbronn 1944/ 45. Leben und Sterben einer Stadt. (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 6), Heilbronn 1995. 61 Heilbronner Stimme, 7. Dezember 1946, S. 3. Die Richtigkeit der Behauptung, daß Drauz jeden Abend die Stadt verlassen hat, ist durch andere Quellen nicht gesichert. Viele Zeitzeugen erzählen allerdings, daß er zumindest am 4. Dezember 1944 nicht in der Stadt gewesen sei. 62 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). <?page no="159"?> lebende Heilbronner Hauptschuldige 63 wurden z.B. mit folgenden Sühneleistungen belegt: zwischen drei und fünf Jahren Arbeitslager, wobei die bereits abgesessene Internierungshaft in der Regel angerechnet wurde, Einzug des Vermögens - manchmal wurde ein kleiner Betrag zur Bestreitung des Lebensunterhalts belassen -, Berufsbeschränkung auf die Dauer zwischen fünf und zehn Jahren sowie eine Sonderabgabe von fünf bis zehn Prozent des laufenden Einkommens an den Wiedergutmachungsfonds. Konnte diesen über die formale Belastung hinaus beispielsweise die Beteiligung an Gewaltakten gegen Juden oder Andersdenkende nachgewiesen werden, wurde das, wie oben schon angedeutet, in eigenen Strafverfahren verhandelt und abgeurteilt. Man kann wohl davon ausgehen, daß Richard Drauz, wäre er von den Amerikanern nicht hingerichtet worden, als Hauptschuldiger mit ähnlichen Sühneleistungen hätten rechnen müssen sowie mit einigen weiteren Strafverfahren, z.B. bezüglich der oben erwähnten Erschießungen. Trotz aller bis hierher gewonnenen Erkenntnisse über den ehemaligen Heilbronner NSDAP-Kreisleiter müssen am Ende doch einige Fragen offen bleiben: So ist nicht bekannt, wie Richard Drauz im Angesicht des Todes über sich und seine Rolle im »Dritten Reich« dachte. Starb er als noch immer überzeugter Nationalsozialist, oder kamen die vorher nie gehabten Zweifel am Ende doch? Und: Wäre er vielleicht anders im Gedächtnis geblieben, wenn er noch länger gelebt und Gelegenheit gehabt hätte, sich selbst zu seiner NS-Vergangenheit zu äußern? Zwar ist durch das Vorausgegangene klar, daß er einer der Hauptverantwortlichen für die Heilbronner Geschehnisse dieser Zeit war, und daß er seinen schlechten Ruf in vieler Hinsicht auch verdiente. Doch hätte auch Kreisleiter Drauz, bei aller Willkür, die ihm eigen war, sowie bei aller Unterstützung aus Stuttgart, nicht so viel erreichen können, wenn es nicht auch in Heilbronn Parteigänger und Mitläufer gegeben hätte, die ihn aus Überzeugung oder anderen Gründen unterstützten oder mit ihm paktierten. Da aber fast nur von Drauz als »dem Heilbronner Nationalsozialisten« die Rede ist, drängt sich der Gedanke auf, ob in ihm nicht der gesuchte und durch Hinrichtung bereits abgeurteilte »Sündenbock« für alle Verbrechen des »Dritten Reiches« in Heilbronn gefunden wurde, der die anderen von einer Auseinandersetzung mit den eigenen Anteilen am Funktionieren des NS-Systems entlasten konnte. Es wäre sicher in Hinblick auf die Entwicklungen der Nachkriegszeit sehr interessant, dieser Frage einmal gesondert nachzugehen. Susanne Schlösser 158 63 Vgl. Amtliche Mitteilungen für den Stadt- und Landkreis Heilbronn, Jahrgänge 1946, 1947, 1948, 1949. <?page no="160"?> Bibliographie Quellen Durch die schwere Zerstörung Heilbronns am 4. Dezember 1944 sind nahezu alle in der Stadt vorhanden gewesenen schriftlichen Unterlagen aus der Zeit des »Dritten Reiches« verbrannt. Im Stadtarchiv Heilbronn ist lediglich das Heilbronner Tagblatt - mit einigen Lücken - überliefert, das auch für die Person von Richard Drauz eine wichtige, wenn auch schwierige Quelle darstellt. Weitere Hinweise auf ihn geben verschiedene Zeitzeugengespräche sowie einige Wiedergutmachungsakten aus der Nachkriegszeit. In den Gemeindearchiven der zum Landkreis Heilbronn zählenden Ortschaften sind vereinzelt ebenfalls Informationen über ihn zu finden. Im Staatsarchiv Ludwigsburg werden neben seiner Spruchkammerakte auch Akten der Kreisleitung Heilbronn aufbewahrt, die allerdings bisher noch nicht verzeichnet und deshalb auch nicht zu benutzen sind. Das ehemalige Berlin Document Center (jetzt: Bundesarchiv, Abteilung III, Außenstelle Berlin-Zehlendorf) kann nur mit wenigen Hinweisen, vorwiegend Korrespondenz mit der Parteikanzlei über organisatorische Fragen, wie seine Besoldung als Kreisleiter und ähnliches, dienen. Von besonderem Interesse für die Person von Richard Drauz sind dagegen die im Nachlaß von Josef Georg Wilhelm befindlichen originalen Gaugerichtsakten (Gaugericht Württemberg-Hohenzollern A.Z. 454/ 34 und 2100/ 35), die zusammen mit dem gesamten Nachlaß künftig an das Hauptstaatsarchiv Stuttgart abgegeben werden sollen. Literatur Eine zusammenhängende biographische Darstellung über Richard Drauz gab es bislang nicht. Allerdings werden er und sein Wirken in einigen lokalen wie überregionalen Abhandlungen unter verschiedenen Gesichtspunkten berücksichtigt. Das Buch von Uwe Jacobi »Die vermißten Ratsprotokolle. Aufzeichnung der Suche nach der unbewältigten Vergangenheit«, Heilbronn 1981, dessen Autor mit dazu beigetragen hat, das lokale Geschichtsinteresse bezüglich des »Dritten Reiches« in Heilbronn zu wecken, basiert fast ausschließlich auf Zeitzeugenberichten und erhebt daher - auch bezüglich der Person von Richard Drauz - keine wissenschaftlichen Ansprüche. Markus Dietrich, Es kann uns den Kopf kosten. Antifaschismus und Widerstand in Heilbronn 1930 - 1939, Heilbronn 1992, geht nur ganz am Rande und auf Jacobi basierend auf Richard Drauz ein. Heilbronn und sein Kreisleiter werden dagegen bei Thomas Schnabel, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46, Stuttgart 1986, an vielen Stellen vergleichend als Beispiele für bestimmte Entwicklungen herangezogen. Daraus ein präzises Bild von Drauz zu gewinnen, fällt trotz der jeweils fundierten und korrekten Darstellung, schwer, weil die einzelnen Hinweise naturgemäß über das gesamte Buch verstreut sind. Die Konflikte zwischen Kreisleiter und Polizeidirektor werden bei Friedrich Wilhelm, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil. [Masch.] Stuttgart 1989, ausführlich gewürdigt. Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, beschreibt die Drauzschen Gewaltakte der letzten Kriegstage beispielhaft, ohne sich jedoch mit der Person des Kreisleiters eingehender beschäftigt haben zu können, so daß einige seiner Urteile zu pauschal und klischeehaft ausgefallen sind. Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 159 <?page no="162"?> * 16. Februar 1891 Freiburg/ Breisgau, ev., 1919 Kirchenaustritt, Vater: Karl Günther, Musiker, Mutter: Mathilde, geb. Kropff, verheiratet in erster Ehe mit Hedda Lembach, seit 1923 in zweiter Ehe mit Maggen, geb. Blom, zwei Kinder. Volks- und Oberrealschulbesuch, 1910 Abitur, Studium der Sprachwissenschaften und Germanistik in Freiburg und Paris, 1914 Promotion zum Dr. phil., August 1914 Kriegsfreiwilliger, 1915 Dienst in der freiwilligen Krankenpflege, 1919 Kriegsteilnehmerprüfung für das höhere Lehramt, Probedienst an Schulen in Freiburg und Dresden, 1920 freier Schriftsteller, erste Buchveröffentlichung: »Ritter, Tod und Teufel. Der heldische Gedanke«, 1922 Herausgabe des Hauptwerkes »Rassenkunde des deutschen Volkes«, 1923 Übersiedlung nach Norwegen, 1925 Umzug nach Schweden, Gastvorlesungen an der Universität Uppsala, 1929 Rückkehr nach Deutschland, 1930 Aushilfslehrer in Dresden, 1930 ordentlicher Professor für Sozialanthropologie an der Universität Jena, 1935 Direktor der Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und Ländliche Soziologie an der Universität Berlin; 1939 Ruf an die Universität Freiburg. 1932 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 1.185.931), 1933 Mitglied im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Reichsministers des Innern, 1935 Staatspreis der NSDAP für Wissenschaft, Ehrenmitglied im Sachverständigenbeirat des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, 1936/ 37 Rudolf-Virchow-Plakette der Berliner Gesellschaft für Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte, Vorstandsmitglied der deutschen Philosophischen Gesellschaft, 1941 Goldenes Parteiabzeichen der NSDAP, Goethemedaille für Kunst und Wissenschaft. 1945-1948 Internierungshaft, September 1945 Entlassung aus dem Universitätsdienst durch die Militärregierung, 1949 Entscheidung der Spruchkammer Freiburg: »Minderbelasteter», Der »Rassepapst« Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde Elvira Weisenburger Hans Friedrich Karl Günther 161 <?page no="163"?> 1951 Entscheidung im Berufungsverfahren: »Mitläufer«, Dezember 1951 in den Ruhestand versetzt, seit 1951 erneut als Schriftsteller tätig, 1953 korrespondierendes Mitglied der American Society of Human Genetics, gest. 25. September 1968 Freiburg. Als der Münchner Verlag »J.F. Lehmanns« Ende 1951 ein Buch mit dem Titel »Gattenwahl« 1 neu auflegte, löste er damit eine Welle der Empörung aus. Nicht nur die Presse übte scharfe Kritik: Im Frühjahr 1952 schlossen sich entrüstete Prominente, Wissenschaftler und Publizisten zusammen. Sie forderten die Beschlagnahme des 176 Seiten starken Bändchens, das laut Untertitel »zu ehelichem Glück und erblicher Ertüchtigung« verhelfen sollte und seit der Erstauflage während des »Dritten Reiches« nur unwesentlich verändert worden war. Erich Kästner und Luise Rinser gehörten zu den Unterzeichnern des Protestbriefes an den bayerischen Landtag und an den Börsenverein der Verleger und Buchhändler. 2 Unbekannte bemalten in der selben Woche nachts mehrere Münchener Buchhandlungen mit der Aufschrift »Nazi«. Nur wenige Tage später gab der Verlag dem öffentlichen Druck nach: Er zog die »Gattenwahl« aus dem Handel. 3 Der Inhalt des Buches allein hätte vermutlich weniger Beachtung gefunden. 4 Was die Kritiker in erster Linie alarmiert hatte, war der Name des Autors: Hans Friedrich Karl Günther. Heute ist dieser Name weitgehend in Vergessenheit geraten, in Gesamtdarstellungen über das »Dritte Reich« taucht er häufig höchstens als Fußnote auf. In der Nachkriegszeit allerdings war er einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Günther galt als »Rassepapst« 5 des »Dritten Reiches«, als »geistiger Urheber des nationalsozialistischen Rassegedankens« 6 . In den Augen seiner Gegner hatte er »die Kristallnacht seelisch vorbereitet und gewissermaßen die Krematorien von Auschwitz vorgeheizt« 7 . Und in der Tat hatte er wichtige Grundlagen gelegt, auf denen die Nationalsozia- Elvira Weisenburger 162 1 Günther, Hans F.K., Gattenwahl zu ehelichem Glück und erblicher Ertüchtigung, München 1951 (1. und 2. Aufl. 1941 und 1942 erschienen). Diese wie mehrere andere Publikationen Günthers sind nach wie vor im Buchhandel erhältlich. 2 Die Neue Zeitung, 22./ 23. März 1952. 3 Süddeutsche Zeitung, 28. März 1952. 4 Die meisten Kapitel enthalten Ratschläge, die in den 50er Jahren durchaus konsensfähig waren. Da wird vor der Heirat mit Zuckerkranken, Frauenrechtlerinnen und Gewohnheitstrinkern gewarnt, der ideale Altersunterschied zwischen Mann und Frau in Tabellen aufgelistet oder die Liebe auf den ersten Blick als gefährliche Illusion dargestellt. Erst der Schlußteil, in dem die Zwangssterilisationen der NS-Zeit in einen verharmlosenden Zusammenhang gestellt und die gesetzlich vorgeschriebenen NS-Ehegesundheitszeugnisse als richtungweisend dargestellt werden, entlarvt den Autor eindeutig als Vertreter radikaler Ideen, die mit der menschenverachtenden Politik des Nationalsozialismus übereinstimmen. 5 Der Spiegel, 2. Januar 1952, S. 32 f. Dieser journalistische Beitrag bemühte sich bereits um ein ausgewogenes Urteil über Günther, stellte Negativurteilen auch entlastende Momente gegenüber und zeigte vom Nationalsozialismus unabhängige Traditionslinien zu Günthers Lehre auf. 6 Die Neue Zeitung, 22./ 23. März 1952. 7 Der Spiegel (wie Anm. 5). <?page no="164"?> listen ihre Propaganda von »Herrenmenschen« und »Untermenschen« aufbauen konnten. Das Ideal vom »nordischen« Menschen, von der erblich höherwertigen blonden Führerrasse - Günther hatte es den Deutschen in hunderttausendfacher Auflage verkündet. Daß seine Bücher erst nach Hitlers Machtergreifung, auf staatlichen Druck hin, bekannt geworden seien, wie ein Rezensent der »Neuen Zeitung« 8 1952 behauptete, stimmt allerdings nicht. Schon Anfang der 20er Jahre war Hans F.K. Günther durch seine »Rassenkunde des deutschen Volkes« 9 bekannt - und heftig umstritten. War er ein »Scharlatan« 10 , der unter pseudowissenschaftlichem Deckmantel den Rassenhaß predigte? War er einfach nur ein »weltfremder Theoretiker« oder gar ein »in internationalen Fachkreisen anerkannter Wissenschaftler« 11 ? Darüber gingen die Auffassungen in der deutschen Öffentlichkeit schon Jahrzehnte vor der »Gattenwahl«-Kontroverse weit auseinander. Günthers Verhältnis zum Nationalsozialismus und zur Partei war diffus, was die Einordnung seiner Rolle im »Dritten Reich« erschwert. Einerseits war er der erste Professor, den die Nationalsozialisten einer deutschen Universität aufzwangen; Heinrich Himmler gehörte zu seinen glühenden Anhängern. 12 Noch 1941 würdigte die Partei Hans F. K. Günther offiziell als »Vorkämpfer des Rassegedankens«. 13 Andererseits war dem Rasseforscher parteipolitische Agitation fremd. Seine Weltanschauung paßte auch in vielen Komponenten nicht mit jener maßgebender Nationalsozialisten zusammen - eine Kluft, die in ähnlichem Maß wuchs wie der Einfluß der Blut-und Boden-Ideologen schwand. Denn jenem Kreis der nationalsozialistischen Bauerntumsromantiker und Züchtungsfanatiker um Reichsbauernführer Richard Walter Darré stand Günther nahe. 14 Seit den 30er Jahren wandte sich der »Rassepapst« selbst zunehmend »Forschungsfragen« auf dem Gebiet der »ländlichen Soziologie« zu. Zur Rassenforschung war Hans F.K. Günther ohnehin auf Umwegen gelangt, denn von Haus aus war er Philologe. In Freiburg hatte er Sprachwissenschaften und Germanistik studiert. Freiburg im Breisgau war auch Günthers Heimatstadt. Am 16. Februar 1891 wurde er hier geboren. Sein Vater Karl war Berufsmusiker, er »strich im Freiburger städtischen Orchester die Geige«. 15 Günther, der eine Schwester hatte, Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 163 8 Deich, Friedrich, Die Auferstehung des berüchtigten Rasse-Günthers, in: Neue Zeitung, 23./ 24. Februar 1952. 9 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, 1. Aufl. München 1920. 10 Schoenbaum, David, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln 1968, S. 308 f. 11 Der Spiegel (wie Anm. 5). 12 Vgl. Ackermann, Josef, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970. 13 Der Alemanne, 17. Februar 1941. 14 Vgl. Corni, Gustavo; Gies, Horst, Blut und Boden. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers, Idstein 1994, S. 18 f. 15 Fischer, Eugen, Hans. F.K. Günther. Der Rassen-Günther, in: Mein Heimatland, Badische Blätter für Volkskunde, Heimat- und Naturschutz, Denkmalpflege, Familienforschung und Kunst, Heft 5/ 6 1935, S. 219 - 221, hier S. 219. <?page no="165"?> war der einzige Sohn der Familie. Seine Kindheit in der Stadt am Fuße des Schwarzwaldes, am Rande des Kaiserstuhles schilderte der naturverbundene Günther später als unbeschwert: Wie in »dauernder Sommerfrische« habe es sich damals im idyllischen Freiburg leben lassen - zumal im Freien genügend Platz war für Vergnügen wie »Buren-und Engländerspielen«, eine der »erregendsten« Beschäftigungen für den jungen Schüler. 16 Früh ausgeprägt war Günthers »unbegrenzte philologische Wißbegier«. 17 Als Primaner lernte er nebenher Ungarisch, während des Studiums beschäftigte er sich mit den altaischen und finnisch-ugrischen Sprachen und der Völkerkunde der betreffenden Volksstämme. Das Sommersemester 1911 verbrachte er in Paris, um französische Literatur und Sprache zu studieren. Der Germanistikstudent Günther besuchte auch Veranstaltungen naturwissenschaftlicher Fakultäten. Er hörte Vorlesungen in Geologie und Zoologie, und bei Eugen Fischer, einem der führenden Anthropologen vor und während der nationalsozialistischen Ära, erwarb er Grundkenntnisse auf seinem späteren Spezialgebiet, der Rassenkunde. Als junger Mann schrieb der »Rassepapst« Gedichte. Unter dem bezeichnenden Titel »Lieder vom Verhängnis« 18 veröffentlichte er später eine Auswahl dieser frühen literarischen Arbeiten, die sicherlich zu Recht »künstlerisch bedeutungslos« 19 genannt worden sind. Die Inspiration zu seiner dichterischen Betätigung schöpfte Günther nach eigener Aussage meist »unmittelbar aus landschaftlichen Eindrücken der Freiburger Umgebung« 20 , obwohl er keineswegs Naturlyrik verfaßte. Die Gedichte verraten deutlich Günthers pathetische Neigungen, seine Sehnsucht nach einer großen Aufgabe, einem heldenhaften Schicksal - und seine realitätsferne, pubertär-fanatische Sichtweise auf alles Kriegerische. Das Gedicht »Der Feldherr« 21 ist ein vielsagendes Beispiel hierfür: »Und bleib ich im Feld, ihr kennt mein Gebot, Nie habt ihr das Wort mir gebrochen. So haltet ihr’s auch, wenn ich steif bin und tot: Ihr zieht mir die Haut von den Knochen. Und spannt auf die Trommel das schallende Fell Und lasset den Schlägel drauf tanzen Und glaubt: ich ruf euch als Kampfgesell Zum Sturm auf die feindlichen Schanzen! Elvira Weisenburger 164 16 Der Rasseforscher Günther über sich selbst, in: »Der Führer«, 8. Mai 1932. 17 Ferdinand, Horst, Günther, Hans F.K., in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad (erscheint 1997). 18 Günther, Hans F.K., Lieder vom Verhängnis, Cassel 1925. 19 Lutzhöft, Hans-Jürgen, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920 - 1940, Stuttgart 1971, S. 28. 20 Günther (wie. Anm. 16). 21 Günther, Lieder (wie Anm. 18), S. 31. <?page no="166"?> Euch lieb ich und will euch noch lieben im Tod Und will eure Fahnen nicht lassen. Ihr aber färbt mir die Waffen rot In dem Blut, das wir alle hassen! « Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Günther 23 Jahre alt. Er wollte diese erste Gelegenheit nutzen, um sich selbst im Kampf zu bewähren. Seine literaturwissenschaftliche Doktorarbeit über die »Herkunft des Volksbuches von Fortunatus und seinen Söhnen« hatte er bereits abgeschlossen. Am 2. August 1914 beantragte er die Zulassung zur Promotionsprüfung, und am gleichen Tag meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. »Heute durfte ich mich in die Stammrolle eintragen lassen, um in wenigen Tagen meiner Pflicht für das Vaterland zu genügen«, vermerkte der »cand. phil.« Hans Günther in seinem Antrag an die philosophische Fakultät - und fügte als Schlußsatz hinzu: »Ich hoffe, meiner Heimatuniversität Ehre machen zu können im Feld«. 22 Doch aus dem Traum vom ehrenhaften Soldatenleben wurde nichts. Günther erkrankte bereits im Herbst 1914, noch während der Ausbildung beim Freiburger Infanterie-Regiment 113, an Gelenkrheumatismus. Mehrere Monate verbrachte er deshalb im Krankenhaus. Die Therapie linderte zwar seine Gelenkschmerzen, doch »dafür traten erhebliche Herzstörungen auf, die [...] nicht behoben werden konnten und sich erst im Laufe der nächsten zehn Jahre allmählich verloren«. 23 Statt Frontsoldat wurde Günther schließlich Heeresuntauglicher. 24 Seinem Vaterland diente er fortan beim Roten Kreuz: Im Frühjahr 1915 meldete er sich zum Dienst in der freiwilligen Krankenpflege, wo er bis nach Kriegsende blieb. Da er in der Freiburger Ausbildungsleitstelle eingesetzt wurde, nutzte Günther die Gelegenheit und besuchte während der Kriegsjahre weiterhin Vorlesungen, um sich »in Sprachen außerhalb des indogermanischen Sprachkreises« 25 fortzubilden. Nach dem Zusammenbruch der alten politischen Ordnung und dem »Schmachfrieden von Versailles« 26 mußte sich auch der junge Doktor der Philologie neu orientieren. Zunächst steuerte Günther eine bürgerliche Laufbahn als Lehrer an. In Karlsruhe legte er 1919 die Kriegsteilnehmerprüfung für das höhere Lehramt in den Fächern Englisch, Deutsch, Französisch ab - laut eigener Angabe mit der Gesamtnote »gut«. 27 An Freiburger und Dresdner Schulen absolvierte er anschließend seinen Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 165 22 Antrag Günthers auf Zulassung zur Doktorprüfung, 2. August 1914, UAFR, B 42/ 55. 23 So berichtet Günther in einem selbstverfaßten Lebenslauf in den Freiburger Universitätsakten, UAFR, B 24/ 1116; bemerkenswerterweise erwähnt er das unrühmliche Kapitel seiner kurzen Soldatenlaufbahn in einem Zeitungsaufsatz über sein Leben (s. Anm. 16) nicht. 24 Vgl. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 29. 25 Günther, Lebenslauf (wie Anm. 23). 26 So empfand auch Günther. Die Zeitschrift »Deutschlands Erneuerung« - erschienen im Lehmanns- Verlag - bei der er zur Weimarer Zeit als Mitherausgeber auftrat, »kämpfte« erklärtermaßen gegen den »Schmachfrieden von Versailles«. 27 Günther, Lebenslauf (wie Anm. 23). <?page no="167"?> Probedienst. Doch eigentlich zog es Günther zur Schriftstellerei. Schon während der Ausbildung entstand sein erstes Buch »Ritter, Tod und Teufel« 28 , eine »Art weltanschaulicher Bekenntnisschrift« 29 . Es wurde eine kulturpessimistische 30 Schrift, die von einer tiefen Verunsicherung und Verbitterung zeugt. Ein Werk, das mit allem zugleich abrechnete: mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts, dieser »unheldischste[n] Gesinnung« 31 , mit dem »herzlose[n] Kapitalismus« 32 und der »Humanität«, dieser »Entschuldigung für jede Unentschlossenheit« 33 ebenso wie mit den »zu Marx hin entartete[n]« 34 Sozialisten und dem »blöden Gedanken an einen Fortschritt der Menschheit« 35 . Günther haßte das Zeitalter, in dem er leben mußte und dessen Zeitgeist in seinen Augen verweichlicht, »weibisch« war: »Schicksalsgefühl ist ein Ausdruck heldischer Zeit, ein kennzeichnender Ausdruck unserer Zeit ist die Lebensversicherung«. 36 Ein Schreckensbild war für den 29jährigen Autor die »Emanzipierte«, die »Losgelassene«, wie er diesen Frauentyp nannte: »Der Mann läßt sie toben, in Versammlungen schwätzen, im Reichstag zetern und sich in Hochschulen spreizen - es ist ekelerregend! «. 37 Privat war Günther damals selbst mit einer emanzipierten Frau, einer Schauspielerin, verheiratet. 38 Doch er träumte von einer festgefügten Gesellschafts- und Sittenordnung, die jeder Gruppe ihren Platz zuweisen sollte, er träumte von einer Welt, in der dem Mann die Rolle des starken, mutigen Gestalters vorbehalten sein sollte. Während Gleichaltrige die Jazzmusik entdeckten und im Dadaismus ihre Ausdrucksform fanden, in einer Zeit, in der Kämpfe in neugegründeten Parlamenten ausgetragen wurden 39 , wollte Günther »den Helden künden« 40 - einen Helden, »der in denWald des Lindwurms dringt«. 41 Siegfried war sein strahlendes Elvira Weisenburger 166 28 Günther, Hans F.K., Ritter Tod und Teufel. Der heldische Gedanke, 1. Aufl. München 1920. 29 Günther (wie Anm. 16). 30 Zu den weltanschaulichen Grundlagen Günthers s. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 69 ff., zu Kulturpessimismus und Antiliberalismus ferner Stern, Fritz, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern, Stuttgart, Wien 1963. 31 Günther, Hans F.K., Ritter, Tod und Teufel, 4. Aufl. München 1935, S. 33. 32 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 26. 33 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 26. 34 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 38. 35 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 33. 36 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 55. 37 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 99. 38 Laut mündlicher Auskunft von Günthers Tochter Ingrid Guzzoni hatte er einige Jahre zuvor eine Wiener Schauspielerin mit Künstlernamen Hedda Lembach geheiratet, die eine starke Persönlichkeit und eine »intellektuelle« Frau gewesen sein soll. 39 »Das Buch wurzelt im Konservatismus, und es war 1920 eigentlich altmodisch, denn es ist vom Geiste der Vorkriegszeit. Auch das Pathos war nicht mehr zeitgemäß«, so urteilt Peter Emil Becker, Hans Friedrich Karl Günther. Der nordische Gedanke, in: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich Teil 2, hrsg. v. P. E. Becker, Stuttgart, New York 1990, S. 230 - 307, hier: S. 233, über »Ritter, Tod und Teufel«. 40 Günther, Ritter (wie Anm. 31), Vorwort. 41 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 8. <?page no="168"?> Leitbild, an dem sich die Deutschen der Weimarer Republik aufrichten sollten: »Siegfried tritt stets in den Morgen einer Welt. Das gegenwärtige Zeitalter aber mit seiner beklemmenden Bewußtheit steht an allen Enden der Entwicklung«. 42 Seitenweise schwärmte Günther in diesem Erstlingswerk von Männlichkeit, wie er sie verstand: »Ein Mann taugt so viel wie sein Haß« 43 - das war sein Maßstab. Manneswerk vollbringen, das bedeutete »Grenzen zu setzen zwischen Gott und Teufel, Gut und Bös, Haß und Gehässigkeit, Liebe und Schlaffheit, zwischen Geist und Stoff, zwischen Mann und Weib, zwischen Held und Wicht«. 44 Der wahre Mann in Güntherschem Sinne bewährt sich in Todesgefahr und erträgt die heldische Einsamkeit, und er weiß: »Glück und Männlichkeit decken sich nicht« 45 . Sein Schicksal liebt er »am stolzesten dann, wenn es ihn zermalmen will«. 46 Günther trug sein heldisches Männlichkeitsideal geradezu penetrant vor. Es liegt auf der Hand, dahinter eine »Überkompensation des jungen Autors, der darunter gelitten hat, daß er während des Krieges nicht an der Front sein konnte« 47 , zu vermuten. Günther hat später selbst eingeräumt, daß seine frühe Bekenntnisschrift in einigem »allzu jugendlich überlaut« 48 geraten war. Dennoch ist sie ein wichtiges Dokument, das Zeugnis ablegt von Günthers Ideen und seinen charakteristischen Persönlichkeitsmerkmalen. Sein »fast eigenbrötlerisches Wesen«, 49 seine »unreflektierte Vorliebe für alles Heroische« 50 kommen darin deutlich zum Ausdruck. Darüber hinaus legte der »Rassen-Günther«, der Wegbereiter des Nordischen Gedankens 51 bereits sein Grundsatzprogramm vor: Volk und Staat der Deutschen sollten an der nordischen Rasse genesen. Daß gerade dieser Rasse die Erlöserfunktion zukommen mußte, stand für Günther außer Frage. Der nordische Mensch war für ihn unbestritten der schönste, begabteste, edelste, tüchtigste und heldischste Mensch. Die nordische Rasse galt ihm als die schöpferische, kulturschaffende Rasse des Abendlandes. Ob Platon oder Petrarca, ob Leonardo da Vinci, Columbus, Voltaire, Pascal oder Corneille - alle großen Denker und Künstler, ja alle großen Männer der Weltgeschichte, die Günther seinen Lesern vorhielt, waren »aus nordi- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 167 42 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 16. 43 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 70. 44 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 86. 45 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 9. 46 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 55. 47 Becker (wie Anm. 39), S. 233. 48 1928 im Nachwort zur dritten Auflage, abgedruckt in Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 195. 49 Becker (wie Anm. 39), S. 233. 50 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 28. 51 Zu den verschiedenen Ausprägungen des Nordischen Gedankens, der teils als nationaler, teils als allnordischer Gedanke gemeint war, zu den Organisationen der Nordischgesinnten s. Lutzhöfts umfassende Studie (wie Anm. 19); den Begriff hat Günther geprägt, er definierte den Nordischen Gedanken als »Gedanken der Vorbildlichkeit des nordischen Menschen für die Auslese der nordisch-bedingten Völker«, s. seine Schrift: Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, 2. Aufl. München 1927, S. 4. <?page no="169"?> schem Blut«. 52 Die Rassenfrage wurde folglich zum »Schlüssel zur Weltgeschichte«. 53 Aus ihr ließ sich jeder bedeutende historische Prozeß erklären, so auch der Niedergang des Römischen Reiches: Das »nordische Blut versickerte und verunreinigte sich in Mischehen - so brach auch hier die Dämmerung ein ... und schließlich haben die entarteten Mischlinge der spätrömischen Großstadtmassen die heldische Sendung Roms nicht mehr begriffen und aufgelöst und zersetzt und nach Brot und Spielen geschrieen, bis rings um das Mittelmeer ein Völkersumpf war«. 54 Vermischung war für den jungen Autor gleichbedeutend mit Unheil, Chaos, Zerfall. Die Idee eines rein »nordischen« Staates hingegen verhieß ihm ein goldenes Zeitalter. Die Germanen, wie Tacitus sie beschrieben hat, waren seine Idealbilder; sie verkörperten in seiner Vorstellung Reinheit und lebten die ursprüngliche »germanische Freiheit«. 55 Von diesen vermeintlichen Wurzeln des deutschen Volkes ausgehend, forderte er eine Neuorientierung des Staates am Rasseprinzip: »Das Amt des Staates, sofern er ein heldischer Staat werden will, ist es nun, daß er ein neues Bestreben wecke, das Bestreben nach vorbildlich deutscher Art, nach der Artung der nordischen Rasse«. 56 Dabei räumte Günther durchaus ein, daß das deutsche Volk ein Mischvolk mit starken »dunklen« Anteilen sei. Im Grunde wußte er, daß sein Traum vom nordischen Volk und Staat einer Utopie gleichkam. Doch die Sehnsucht nach einer Vision, nach einem Leitbild in den unsicheren Nachkriegsjahren wog bei ihm stärker als die Einsicht in Realitäten. Menschen, die nur sahen, »wie es ist, aber nie wie es sein soll«, erklärte er schlicht zu unschöpferischen Menschen, zu Spießern. Und er klammerte sich an die paradoxe Hoffnung, dank eines nordischen Sitten- und Staatsgesetzes werde den Deutschen »das Unmögliche gelingen«: »So müßte wieder Volk werden aus Masse, Staatsbürger aus Spießbürgern, Wurzelfeste aus Entwurzelten, Gestaltung aus Auflösung und Freudigkeit aus Verzweiflung«. 57 Auf der Grundlage eines neuen Blutsbewußtseins sollte es den Deutschen auch »endlich« glücken, ein Reich zu gründen, das von Dauer wäre. 58 Günther betonte das deutsch-nationale Moment in dieser frühen Schaffensphase als Schriftsteller noch wesentlich stärker als in seinen späteren Veröffentlichungen. Seine Hoffnung auf eine neue nationale Identität, auf ein erneuertes mächtiges deutsches Reich unter starker Führung hat er auch dramaturgisch verarbeitet. Im Jahre 1921 erschien ein mystisch-romantisches Bühnenstück aus seiner Feder. »Hans Baldenwegs Aufbruch. Ein deutsches Spiel in vier Auftritten« 59 , so lautet der Titel. Im Mittelpunkt steht ein jugendlicher Held, dem Günther offensichtlich nicht nur den eigenen Vornamen, Elvira Weisenburger 168 52 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 171 ff. 53 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 177. 54 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 172. 55 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 190. 56 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 183. 57 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 189 - 192. 58 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 192. 59 Günther, Hans. F.K., Hans Baldenwegs Aufbruch. Ein deutsches Spiel in vier Auftritten, München 1921. <?page no="170"?> sondern auch eigene Wesenszüge angedichtet hatte. Dieser Hans Baldenweg macht sich auf, um den alten Kaiser zurückzugewinnen, der sich - in Anlehnung an die Kyffhäusersage - in einem Berg verborgen hält. Der Herrscher soll auf Wunsch des Theaterhelden sein Reich wiederbegründen - allerdings nicht auf religiöser Grundlage wie einst im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Günther, der 1919 aus der evangelischen Kirche ausgetreten war, erteilte der christlichen Kirche und Religion in seiner Theaterdichtung eine deutliche Absage. Hans Baldenwegs Kaiser sollte ein völkisch-deutsches Reich schaffen, anstatt sich mit der Kirche zu verbünden: »Ihm gehts bei allem ums deutsche Land [...] Ihm gilt nur heilig das Verjüngend-Eigne, das uralt-neue, reine Blut«. 60 Die Ideenwelt des jungen Schriftstellers war keineswegs originell. Sie war im wesentlichen aus Versatzstücken der gängigen rassentheoretischen und kulturphilosophischen Schriften des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts komponiert. Günthers rassische Geschichtsauffassung wurde zweifelsohne von den Standardwerken des französischen Grafen Arthur Gobineau und des Engländers Houston Stewart Chamberlain geprägt, aus deren Weltanschauung unter anderen auch Adolf Hitler und der nationalsozialistische Chefideologe Alfred Rosenberg schöpften. 61 Die von Gobineau konstruierte arische Urrasse und Chamberlains Germane, der die Menschheit aus den »Krallen des Ewig-Bestialischen« 62 errettete, gaben für Günthers nordischen Menschen ein vergröbertes Vorbild ab. Nietzsches Angst vor der »Verwesung« im Abendland, seine Sehnsucht nach dem »Übermenschen« und nach der »großen Gesundheit« 63 haben ebenso Eindruck bei Günther hinterlassen wie die Schriften des Karlsruher Anthropologen Otto Ammon und des Grafen Georges Vacher de Lapouge. 64 Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 169 60 Günther, Baldenweg (wie Anm. 59), S. 15. Ähnliche Glaubensvorstellungen vertrat die »Deutsche Glaubensbewegung«, für die Günther in den 1930er Jahren gelegentlich als Redner unterwegs war, vgl. Stengel-von Rutkowski, Lothar, Hans F.K. Günther, der Programmatiker des nordischen Gedankens, in: NS-Monatshefte 6 (1935), S. 962 - 997 und 1099 - 1114, hier S. 988. 61 Gobineaus Hauptwerk, Essai sur l’inégalité des races humaines, erschien in Paris 1853 - 55, ab 1898 in der deutschen Übersetzung von Ludwig Schemann; Chamberlains Hauptwerk, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, erschien erstmals 1899. Zur Rezeption Gobineaus, zum Einfluß seiner Theorie bis hin zur nationalsozialistischen Rassenlehre und Günthers Werk siehe z.B. Young, E. J., Gobineau und der Rassismus. Eine Kritik der anthropologischen Geschichtstheorie, Meisenheim am Glan 1968; Altner, Günter, Weltanschauliche Hintergründe der Rassenlehre des Dritten Reiches. Zum Problem einer umfassenden Anthropologie, Zürich 1968. Teils beruft sich Günther jedoch zu Unrecht auf seine Vorbilder. Sein Anspruch, in Gobineaus Nachfolge zu stehen, wird von Young, S. 326 ff., angezweifelt: Günther habe Gobineaus Ideen zum Teil nicht weitergedacht, sondern »eher in ihr Gegenteil verkehrt«. Altner, S. 35, stellt fest, daß Günther die Werke Gobineaus und Chamberlains »erstaunlich pauschal und undifferenziert referiert«. 62 Chamberlain, Houston Stewart, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 28. Aufl. München 1942, S. 550. Zu den Ursprüngen der Arierverherrlichung siehe Poliakov, Léon, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993. 63 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 16 f. In dieser Schrift zeichnet Günther aus seiner Sicht die Wurzeln der nordischen Bewegung nach und listetAutoren und Werke auf, die Vorbildcharakter hatten. 64 Georges, Vacher de Lapouge, L’Aryen, son role social, Paris 1899; Ammon, Otto, Die natürliche <?page no="171"?> Doch, auch wenn er in seinem Erstlingswerk wenig grundlegend Neues zu bieten hatte, ist es »nicht zu bezweifeln, daß Günther vielen völkisch-national Gesinnten aus der Seele gesprochen hat«. 65 Seine harte Abrechnung mit der Gegenwart, die sich mit dem hoffnungsvollen Aufruf zu einem ruhmreichen Neubeginn verband, imponierte auch dem jungen Heinrich Himmler. Er hatte »Ritter, Tod und Teufel« als 23jähriger zum ersten Mal gelesen und notierte 1924 in seiner Leseliste: »Ein Buch, das mir das ausdrückt in weise überlegten Worten und Sätzen, was ich fühle und denke, seit ich denke«. 66 Als Reichsführer SS und Begründer des »Lebensborn« 67 sollte Himmler später die Forderung Günthers nach Höherzüchtung des Menschen anders auslegen, als es dem von ihm verehrten Autor lieb war. Für Günther wurde sein Erstlingswerk über den »heldischen Gedanken« zum Grundstein einer aufsehenerregenden Karriere. Sein Münchener Verleger Julius Friedrich Lehmann beauftragte den Junglehrer damit, eine »Rassenkunde des deutschen Volkes« zu schreiben - eine Aufgabe, die »nur mit dem Mut des Dilettanten zu bewältigen« 68 war. Führende Wissenschaftler rieten Lehmann von dem Projekt ab, da es an gesicherten fachlichen Erkenntnissen fehlte. 69 Doch der Verleger, ein leidenschaftlicher Verfechter rassistischer und alldeutscher Ideen 70 , ging das Risiko ein. Ehe er Günther 1920 den Auftrag erteilte, hatte er den Germanisten zu einer zweitägigen Alpenwanderung eingeladen, um ihn zu prüfen - und er soll »tief beeindruckt« gewesen sein von Günthers Beobachtungsgabe und dessen »Blick für Rassenunterschiede«. 71 Als Fachfremder mußte sich Günther zuerst einmal das nötige Spezialwissen aneignen. Da Lehmann ihm das Honorar als Vorschuß auszahlte, konnte sich der Junglehrer vom Schuldienst beurlauben lassen und auf Studienreisen gehen. Am anthropologischen Institut der Universität Wien, am Naturhistorischen Museum Wien und am Museum für Tier- und Völkerkunde in Dresden sammelte er Fachkenntnisse und Material für sein Buch - und er tat dies mit außergewöhnlichem Fleiß: Elvira Weisenburger 170 Auslese beim Menschen, Jena 1893; ders., Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1895. 65 Becker (wie Anm. 39), S. 234. 66 Ackermann (wie Anm. 12), S. 111. 67 Zu dieser SS-Organisation siehe Lilienthal, Georg, Der »Lebensborn e.V«. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik, Stuttgart 1985. 68 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 31. 69 Vgl. die Darstellungen bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 31 und Saller, Karl, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda, Darmstadt 1961, S. 26 f. 70 Lehmann hatte schon während des Ersten Weltkrieges Schriften für den Alldeutschen Verband herausgegeben; er war Mitglied der Gesellschaft für Rassenhygiene; in seinem Verlag erschienen reihenweise nationalistische und rassistische Schriften (darunter Titel wie »Im Felde unbesiegt«, »Volk in Gefahr! « und dgl.). Während des »Dritten Reiches« publizierten bekannte nationalsozialistische Wissenschaftler und Politiker, u.a. Darré, bei Lehmann. Der Münchner Verlag brachte beispielsweise eine kommentierte Ausgabe des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses »nebst Ausführungsverordnungen« und »medizinischen Beiträgen« heraus. 71 Darstellung bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 30, in Anlehnung an Günthers eigenen Bericht. <?page no="172"?> Nicht einmal zwei Jahre benötigte Günther für Recherchen und Schreibarbeit. Bereits im Juli 1922 lag die »Rassenkunde des deutschen Volkes« gedruckt vor. Der Verfassersold war zu diesem Zeitpunkt bereits aufgebraucht. Günther zog nach Breslau, weil man dort »in diesen Jahren im Vergleich zu anderen Städten billiger leben konnte«. 72 Doch sein Buch wurde zu einem für damalige Verhältnisse sensationellen Erfolg. Es war die erste Monographie über die Rassenverteilung im deutschen Sprachraum, und es kam einem »echten populärwissenschaftlichen Bedürfnis« 73 entgegen. Bereits im Dezember 1922 erschien die zweite Auflage. Bis zum Ende des »Dritten Reiches« wurden mehr als 400.000 Exemplare verschiedener Ausgaben der Rassenkunde verkauft. Wenn der Verlag später damit warb, von Günthers Werk sei »Der Siegeslauf des Rassegedankens« 74 ausgegangen, so steckt darin - bei allem geschäftlichen Kalkül - wohl ein wahrer Kern. Die »Rassenkunde« war übersichtlich gegliedert und reich bebildert. 75 Zahlreiche Portraitfotografien vermittelten dem Leser einen eingängigen Eindruck von den verschiedenen »Menschenschlägen«, aus denen sich das deutsche Volk angeblich zusammensetzte. Günthers Rassenkunde war keine trockene wissenschaftliche Abhandlung, sie hatte teilweise Bilderbuchcharakter und dadurch sozusagen Unterhaltungswert für die ganze Familie. Der Erfolgsautor unterschied - im Gegensatz zu maßgeblichen Forschern - zunächst vier europäische Rassen: die nordische, dinarische, westische und ostische. 76 Auf seiner Wertskala rangierte die nordische Rasse ganz oben - nicht nur aufgrund ihrer vermeintlichen körperlichen Schönheit und Kraft. Günther verband seine Rassenkunde mit einer eigenen Rassenpsychologie. Jedem Menschentypus schrieb er bestimmte seelische Eigenschaften zu, die gemeinsam mit den äußerlichen Rassemerkmalen vererbt würden - eine Verknüpfung, durch die seine Lehre »ganz besonders verheerend« 77 wirkte. So zeichneten sich Günthers nordische Menschen nicht nur durch Blondheit und schönen Wuchs aus, sondern auch durch die »Kerneigenschaften« Urteilsfähigkeit, Wahrhaftigkeit und Tatkraft. Das nordische Wesen sei geprägt durch Gerechtigkeitssinn und unbestechliche Sachlichkeit. Deshalb bringe diese Rasse auch die großen Staatsmänner hervor. Seine Gedankenklarheit verdankt der langschädelige nordische Mensch laut Günther unter anderem seiner »Leidenschaftslosigkeit«: »Es scheint, daß sich die Geschlechtlichkeit bei der Nord- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 171 72 Günther (wie Anm. 16). 73 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 32. 74 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 36. 75 Die fünfte Auflage aus dem Jahr 1924 enthielt auf 501 Seiten 537 Abbildungen und 14 Karten. 76 In späteren Ausgaben sah sich Günther dann gezwungen, noch drei weitere Rassen in sein Werk aufzunehmen: die ostbaltische, die sudetische und die fälische. Zu den Übereinstimmungen und Abweichungen von Günthers Rasseneinteilung im Vergleich zu früheren und späteren wissenschaftlichen Arbeiten, zu Günthers Korrekturen s. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 88 ff., Saller (wie Anm. 69), S. 54 ff. 77 Zu dieser Einschätzung kommt Young (wie Anm. 61), S. 329 f. <?page no="173"?> rasse sogar entschieden zurückhaltender und wählerischer zeigt als bei den dunklen europäischen Rassen«. 78 Die zweitwertvollste Rasse war für den »Rassepapst« die dinarische - obgleich er in ihr eine »Schwesterrasse« des vorderasiatischen Menschentypus sah. 79 Die dinarischen Menschen lebten laut Günther vorwiegend im Südosten des deutschen Sprachraums. Er skizzierte sie als kurzschädelig, mit dunklen Augen, dunkler Haar- und Hautfarbe, jedoch auch als sehr hochgewachsen, schmalgesichtig - und durchaus tüchtig und begabt, wenn auch nicht in gleichem Maße wie die schöpferische Nordrasse: »So scheint die dinarische Rasse gegenüber der nordischen seelisch einfacher [...] Der Geist scheint karger, die Seßhaftigkeit größer, der geistige Ausblick enger zu sein als bei der Nordrasse, der Wille aber ebenso tüchtig, die Redlichkeit ebenso entwickelt und gleichgroß der Sinn für heldentümliches Wesen. Als Wesenskern möchte man rauhe Kraft und Geradheit nennen.« Zu wissenschaftlicher Arbeit fühlen sich die Dinarischen laut Günther nicht sonderlich hingezogen, dafür besäßen sie aber eine ausgesprochene musikalische Begabung. »Es ist sicherlich kein Zufall, daß Tonkünstler verhältnismäßig häufig dinarische Züge rein oder beigemischt zeigen«, meinte der Rasseforscher und nannte bekannte Beispiele: Paganini, Tartini, Berlioz, Mozart, Haydn, Weber, Liszt, Wagner, Chopin, Cornelius, Bruckner, Verdi, Cherubini. 80 Wenn es zu Rassenkreuzungen komme, brächten nordischdinarische Verbindungen die herausragendsten Begabungen hervor. Günther, der durchaus eingestand, daß er selbst keiner europäischen Rasse »reinrassig« angehöre, machte bemerkenswerterweise auch in seinen eigenen Ahnenreihen vorwiegend nordische und dinarische Anteile aus. 81 Bezüglich der westischen oder mediterranen Rasse ließ Günther gönnerhafte Nachsicht walten, da sie in Deutschland ohnehin schwach vertreten war: »Es ist eine bewegliche und leidenschaftliche Rasse, leicht erregbar, leicht versöhnlich [...] gewandt in Auftreten und Worten, beredt und zu schlauer Berechnung geneigt. Der westische Mensch möchte das Leben genießen, wenig arbeiten«. Günther machte bei diesem Menschentyp nicht nur normale Leidenschaftlichkeit aus, sondern eine »Neigung zu Grausamkeit, zu Tierquälerei und Sadismus« - die Sizilianer seien ein typisches Beispiel dafür. Die zierliche Gestalt der dunkelhaarigen Westischen und ihre »warm-geschmeidige« bräunliche Haut jedoch gefielen dem »Rassepapst« durchaus. 82 Am schlechtesten urteilte Günther über die ostische Rasse. Seine Antipathien gegen diese Menschen waren allzu deutlich. Der von ihm geprägte Begriff »ostisch« wirkte übrigens verwirrend, da das Hauptverbreitungsgebiet der »ostischen« Men- Elvira Weisenburger 172 78 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, 5. Aufl. München 1924, S.148 ff. 79 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 124. 80 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 179 f. 81 Vgl. Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 173, Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 981. 82 Günther, Hans F.K., Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1933, S. 25 f., 61 f. <?page no="174"?> schen - früher auch als alpine Rasse bezeichnet - keineswegs in Osteuropa, sondern vor allem im Südwesten des deutschen Sprachraums lag. Der Rassepapst beschrieb den ostischen Menschen als kurzgewachsen, gedrungen, schwerfällig, plattgesichtig. »Der Ausdruck ›ein Brett vor der Stirn‹ paßt seinem Bildgehalt nach nur auf diese Schädel- und Gesichtsformen«, meinte Günther über die ungeliebte Rasse. 83 Um die seelischen Eigenschaften des ostischen Menschen war es angeblich nicht besser bestellt: Er war für Günther der Inbegriff des Spießbürgers, des unschöpferischen Untertanen - langsam im Geist, geldgierig, aber auch fleißig. Die Vaterlandsliebe war bei den Ostischen laut »Rassenkunde« gering ausgeprägt und ihr Triebleben »dumpfer und zäher« als das anderer Rassen. 84 Zu seinen »wissenschaftlichen« Befunden kam Günther vor allem über drei Wege: Intuition, Beobachtung und Zusammenfassung fremder Fachliteratur. Daß er gezielte, langangelegte Reihenforschung betrieben hätte, davon ist nichts bekannt. Über den wissenschaftlichen Wert und die Wirkung der Rassenkunde hat sich der führende Fachanthropologe Eugen Fischer sicher treffend geäußert. Er erklärte - durchaus wohlmeinend - über den Rassekundler Günther: »Der Dichter schwingt in ihm immer mit«. Gleichzeitig betonte er, daß Günther mit seinem Rassedenken ein »Vorbild für unser gepeinigtes Volk geschaffen« habe. 85 Zweifellos zogen viele deutsche Durchschnittsbürger ihr rassenkundliches »Wissen« jahrzehntelang vorwiegend aus Günthers Werk. Als populärer Verfechter des Rassegedankens ist Günther später pauschal als »Wegbereiter des Holocaust« tituliert worden. 86 Mit diesem Schlagwort ist sein Wirken jedoch nicht treffend, zumindest nicht umfassend gekennzeichnet. Im Gegensatz zu vielen rassistischen Schriften der nationalsozialistischen Zeit behandelte der »Rassen-Günther« das Thema Judentum untergeordnet, eher beiläufig - in einem Anhangkapitel. 87 Seine Ideologie baute nicht auf dem Gegenbegriffspaar »Arier - Jude« auf, wie das etwa bei Hitler der Fall war. Die Bezeichnung »arisch« stufte er bereits in den 1920er Jahren als veraltet ein. 88 Günther sprach sich zwar klar gegen eine Assimilation der jüdischen Bürger aus, da sie einem »artfremden« Volkstum angehörten, doch in seiner Rassenkunde standen die europäischen Rassen und ihr Verhältnis zueinander im Mittelpunkt. Seine Rassenlehre, verknüpft mit dem »nordischen Gedanken« und den Ideen der Erbgesundheitslehre, zielte auf den »Geburtensieg« der nordischen und erbgesunden Menschen innerhalb der europäi- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 173 83 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 80 ff. 84 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 171 ff. 85 Fischer (wie Anm. 15), S. 220. 86 Siehe z.B. Badische Zeitung, 28. Mai 1996. 87 In den Ausgaben seiner Rassenkunde ab 1928 fehlt es ganz. 88 In seiner Schrift über den Nordischen Gedanken (wie Anm. 51), S. 38 f., erläutert Günther, daß es keine »arische Rasse« gebe, sondern die Bezeichnung »arisch« lediglich eine Sprachgruppe bezeichnet und irrtümlich auf rassische Kategorien angewandt werde. Als veraltet galten ihm in der Rassenkunde auch die Begriffe »germanisch« und »semitisch«. <?page no="175"?> schen Rassen. Nur noch 45 bis 50% der Deutschen waren nach Günthers Schätzung nordisch, nur noch 6 bis 8% rein nordisch. 89 Er klagte ausschweifend darüber, daß der nordische Bevölkerungsanteil durch Auswanderung, geringe Kinderzahl der Begabten, Industrialisierung, Verstädterung und Krieg ausgedünnt werde. Der Einfluß »jüdischen Blutes« war für ihn keineswegs das Kernproblem. Allerdings war Hans F.K. Günther durchaus antisemitisch eingestellt. 90 Seine »Rassenkunde des jüdischen Volkes«, die aus dem Anhang zur deutschen Rassenkunde entstand, wimmelt von Vorurteilen - obwohl sie für die damalige Zeit eine verhältnismäßig sachliche Terminologie pflegte und einen gemäßigten Gesamteindruck hinterließ. Günther referierte über »schwache Waden«, »runde Rücken« und die »Neigung zum Fettansatz« bei den Juden. Er behauptete im Ton des Wissenschaftlers, daß die Juden durch zu üppige Lebensweise nicht selten zeugungsunfähig würden. Er erläuterte die »geruchliche Eigenart« der Juden und unterschied zwischen dem erblich bedingten »Judengeruch«, der nicht verwechselt werden dürfe mit dem Geruchsgemisch, das vom Knoblauchkonsum und von der »Unreinlichkeit« vieler Ostjuden herrühre. 91 Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ohne Zweifel: Der »Rassen-Günther« hielt die Juden für schädliche Eindringlinge. Sie waren ihm unerwünscht, da fremd. Doch er war in dieser Ablehnung nicht radikaler als der durchschnittliche völkisch gesinnte Bürger seiner Zeit. Günther befürwortete außerdem die Idee einer jüdischen Eigenstaatlichkeit. Er faßte den »Zionismus« als »jüdisch-völkisches« Pendant zur Nordischen Bewegung auf: »Wie der seines Blutes bewußte jüdisch-völkische Jude in seinem Bereich keinen Artfremden dulden darf, wenn er Gesittung wirken will, so darf die Nordische Bewegung keinen Juden in ihrem Bereiche dulden«. 92 Folglich wollte Günther die Judenfrage mit einer »würdigen Lösung« für Juden und Nichtjuden beantworten: mit der klaren Trennung. Die Juden sollten möglichst auswandern und einen eigenen Staat gründen - in »Palästina oder einem anderen, ihren Erbanlagen angemessenen Gebiete«. 93 Dabei schwebte Günther keine rasche Trennung, sondern eine allmähliche Ablösung vor, die einen beiderseitigen Gesinnungswandel voraussetzte. Daß der »Rassenforscher« zu irgendeinem Zeitpunkt eine mörderische Lösung gutgeheißen hätte, wie sie im »Dritten Reich« verwirklicht wurde, dafür gibt es keine Belege. Doch hat wahrscheinlich gerade seine vergleichsweise harmlose Verpackung antijüdischer Elvira Weisenburger 174 89 Günther, Kleine Rassenkunde (wie Anm. 82), S. 92. 90 Wobei Günther sich eher als »asemitisch« bezeichnet hätte, da die »antisemitische Richtung« die Rassenfrage auf die Judenfrage reduziere, vgl. Der Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 80. 91 Günther, Hans F.K., Rassenkunde des jüdischen Volkes, 2. Aufl. München 1931, S. 215, S. 266 f. In dieser »Rassenkunde« stellt Günther klar, daß die Juden gar keine einheitliche Rasse seien, sondern ein Volk, das sich aus einem vorwiegend vorderasiatisch-orientalischen Rassengemisch zusammensetze. 92 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 79. Vgl. im Gegensatz hierzu das Feindbild, das Alfred Rosenberg in seiner bereits 1921 verfaßten Schrift »Der staatsfeindliche Zionismus«, München 1938, entwirft. 93 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (wie Anm. 91), S. 345. <?page no="176"?> Vorurteile die Leser dafür empfänglich gemacht. Allerdings fällt auf, daß Günthers jüdische Rassenkunde als eigenständige Veröffentlichung kaum Breitenwirkung hatte. Sie war mangels Nachfrage lediglich in drei kleinen Auflagen von insgesamt 12.000 Exemplaren auf den Markt gekommen. 94 Günthers Stellung zur Judenfrage spielte auch in der zeitgenössisschen Kritik seiner Bücher keineswegs die vorrangige Rolle. Die Kontroverse um seine Rassenkunde, die sich über Jahrzehnte hinzog, kreiste um andere Kernfragen. Wissenschaftler vom Fach warfen Günther mangelndes Wissen vor, stritten mit ihm um Rassekategorien und mitunter auch um Detailfragen wie die, ob Goethe, Wagner und Luther Langköpfe waren. 95 Der Hauptvorwurf an Günther aber lautete ganz klar, er riskiere die Spaltung des deutschen Volkes - und zwar durch seine Verklärung der nordischen und seine Verächtlichmachung der ostischen Rasse. Günthers erbittertster Gegner war der Biologe Friedrich Merkenschlager. Er brachte 1927 eine Streitschrift mit dem Titel »Götter, Helden und Günther« heraus. Darin verspottete er den »Dilettanten« Günther und dessen verworrene Vorstellungen von Erblehre und Umwelttheorien - ohne jedoch Günthers Rasseneinteilung grundsätzlich zu verdammen. Merkenschlager setzte sich vehement - teils auch schon wieder verklärend - für die ostische Rasse und für den deutschen »Dreiklang nordisch-ostisch-dinarisch« ein. 96 Seine Kernkritik an Günthers Rassenkunde: »Ich klage das Buch an wegen eines Verbrechens am Seelenleben des deutschen Volkes [...], da [...] es Millionen guter und bester Deutscher in den Kerker des Niederrassentums zu bringen und vom Lichte abzusperren trachtet«. 97 Günther wolle »Deutschland zur Plantage machen«, indem er es »in die geborenen Herren und die geborenen Sklaven« einteile. 98 Allerdings mußte auch Merkenschlager einräumen, daß Günthers Rassenkunde »ins Volk gedrungen« war und etliche dinarische und ostische Menschen es geradezu »verschlangen«, ohne die »Schändung« zu erkennen. 99 Die Dauerfehde mit dem nordisch gesinnten Günther bezahlte Fritz Merkenschlager später mit mehreren Jahren Haft. Er kam auf Veranlassung von Darré in ein Konzentrationslager. 100 Ob Günther diesen harten Schritt billigte, ist nicht bekannt. Im Jahr der Machtergreifung schlug er dem Reichsbauernführer zwar vor, Merkenschlagers Versetzung in die abgelegenste Provinz - am besten nach Emden oder Insterburg - zu betreiben. Gleichzeitig sprach er sich aber dafür aus, Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 175 94 Von diesen 12.000 Exemplaren waren 1939 noch nicht alle verkauft, wie die Verlagswerbung belegt. 95 Überblick über die Fachkritik an Günther, siehe z.B. Becker (wie Anm. 39), S. 248 ff. 96 Merkenschlager, Fritz, Götter, Helden und Günther. Eine Abwehr der Güntherschen Rassenkunde, Kiel 1927, S. 17. 97 Merkenschlager (wie Anm. 96), S. 5. 98 Merkenschlager (wie Anm. 96), S. 24. 99 Merkenschlager (wie Anm. 96), S. 15, 51. 100 Vgl. Saller (wie Anm. 69), S. 43; Tröger, Jörg (Hrsg.), Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt, New York 1984, S. 87. <?page no="177"?> Gegner durch Überzeugungsarbeit ins eigene Lager zu ziehen, anstatt ihre Bücher zu verbieten. 101 Als Merkenschlagers Schrift 1927 herauskam, lebte Hans F.K. Günther schon lange nicht mehr in Deutschland. Er verfolgte bzw. führte die Auseinandersetzung von Skandinavien aus. Bereits im Sommer 1923 102 hatte er in Norwegen ein zweites Mal geheiratet. Seine Ehefrau war studierte Pianistin 103 , sie hieß mit Mädchennamen Maggen Blom, und stammte »aus altem südostnorwegischen Geschlecht«, wie der Rasseforscher später einmal betonte. 104 Das Paar hatte sich in Dresden kennengelernt. Nach der Begegnung mit der zwei Jahre jüngeren skandinavischen Musikstudentin hatte Günther die Scheidung von seiner ersten Frau in die Wege geleitet. Die Trennung bedeutete jedoch keineswegs den radikalen Bruch: Die ehemaligen Eheleute pflegten weiterhin freundschaftliche Kontakte. Günther korrespondierte mit seiner geschiedenen Frau und besuchte sie später auch gemeinsam mit seiner Familie. 105 Allerdings klammerte Günther seine erste Ehe in diversen Lebensberichten 106 aus - obwohl er sich schon in jungen Jahren dagegen ausgesprochen hatte, Scheidungen pauschal zu verdammen. »Es liegt aber im Wesen der Ehe, daß die beiden Menschen, die sie schließen, zuweilen nicht die Kräfte des anderen alle zur Lebendigkeit rufen können,« schrieb Günther in seinem Erstlingswerk »Ritter, Tod und Teufel«, und in solchen Fällen könne auch ein Abbruch der Ehe »heldisch« sein. 107 In seinem Buch »Gattenwahl« vertrat er die Ansicht, nur eine Minderheit der Geschiedenen sei grundsätzlich »eheuntauglich«. Vielmehr liege es meistens an der falschen Partnerwahl, wenn Ehen scheiterten. 108 Für die Idee der Monogamie, der Einehe machte sich Günther lebenslang stark - das brachte ihn gegen Ende des »Dritten Reiches« in Konflikt zu anderen Nationalsozialisten. Mit seiner zweiten Hochzeit begann für den »Rassepapst« einer der glücklichsten Lebensabschnitte, wenn nicht sogar der glücklichste überhaupt. Mehr als sechs Jahre blieb er in Skandinavien. Die ersten beiden Ehejahre verbrachte er im norwegischen Skien, der Heimatstadt seiner Frau. Im Herbst 1925 zog das Paar nach Schweden - zunächst in die Universitätsstadt Uppsala, wo der Rassekundler aus Deutschland gelegentlich am Schwedischen Staatsinstitut für Rassenbiologie wissenschaftliche Aufträge erhielt, später auf die Insel Lidingö vor Stockholm. Der einzelgängerische Elvira Weisenburger 176 101 Günther an Darré, 17. Oktober 1933, BA, Abt.III (BDC), A 489. 102 Die Ehe wurde am 18. Juli 1923 geschlossen, BA, R 21/ 10006/ 3347. 103 Auskunft von Günthers Tochter Ingrid Guzzoni. 104 Günther (wie Anm. 16). 105 Mündliche Auskunft von Günthers Tochter Ingrid Guzzoni. 106 Weder in seinem Lebenslauf in den Universitätsakten (wie Anm. 23), noch in seinem für die Zeitung »Der Führer« verfaßten Lebenslauf (wie Anm.16) oder seinem 1969 erschienenen autobiographischem Bericht »Mein Eindruck von Adolf Hitler«, erwähnt Günther die Scheidung. 107 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 83. 108 Günther, Hans F.K., Gattenwahl zu ehelichem Glück und erblicher Ertüchtigung, 1. Aufl. München 1941, S. 16 ff. <?page no="178"?> Günther genoß dort das ungebundene Leben als freier Autor. Er mochte die Landschaften und die Menschen Skandinaviens. Dem »nordischen« Ausland fühlte er sich mehr verbunden als dem »befremdenden« Deutschland der Weimarer Republik. In seinen Erinnerungen schrieb Günther später, er habe sich in Norwegen und Schweden »zu Hause« gefühlt - »so [...] wie vor 1919 in Deutschland«. 109 Unter rassischen Gesichtspunkten erachtete er die beiden skandinavischen Länder ohnehin als die »nordischsten« Länder überhaupt. 110 Vor allem aber waren sie in seinen Augen »damals noch Länder, in denen die Lebensluft germanischer Freiheit wehte, einer Freiheit für Einzelmenschen«. 111 Über seine Ehefrau Maggen, mit der er zwei Töchter hatte 112 , berichtete Günther in respektvollen und liebevollen Tönen. Daß sie »durchaus unpolitisch« 113 war, schätzte er besonders. Er behauptete offen von sich: »Die Ehe mit einer politisierenden Frau hätte ich nicht ertragen«. 114 Einige seiner Anekdoten vermitteln das Bild einer sanftmütigen Frau, die er von unangenehmen Wahrheiten abschirmte, die aber auch ausgleichend, beschwichtigend auf ihn wirkte. 115 Sich selbst stellte Günther wie einen väterlichen Erzieher dar: Ein Lehrer, der seiner Lebensgefährtin seine »innere Heimat« nahebrachte - die Künste und die Philosophie der Deutschen, denen sich der Schöngeist Günther auch im Ausland weiterhin eng verbunden fühlte. 116 Durch seine Ehefrau bekam der Rassenforscher auch Kontakt zu völkischen Zirkeln um den norwegischen Politiker Vidkun Quisling. Noch im Alter schwärmte Günther von dem Mann, der während der deutschen Besatzung Regierungschef war und nach dem Zweiten Weltkrieg als Kollaborateur hingerichtet wurde. 117 Er rühmte Quisling, dessen Name damals ein Synonym für »Verräter« ist, als »hervorragenden Norweger«, als »würdigen und untadeligen« Menschen und konnte nicht verstehen, daß Hitler diesen Mann nicht ernst genommen hatte. 118 Mit Menschen wie Quisling hätte Günther gerne seine Vision von der friedlichen Einigung der »nordisch bedingten« Länder verwirklicht gesehen. Auch in deutschen nationalsozialistischen Kreisen verkehrte Günther damals schon. Seine wichtigste Bezugsperson war der völkische Architekt und Schriftsteller Paul Schultze-Naumburg. Dieser väterliche Freund stieg später zum Direktor der Weimarer Kunsthochschule auf und war der erste, der ein deutsches Museum von Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 177 109 Günther, Hans F.K., Mein Eindruck von Adolf Hitler, Pähl 1969, S. 14. 110 Günther, Hans F.K., Rassenkunde Europas, 3. Aufl. München 1929, S. 124. 111 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 14. 112 Tochter Ingrid wurde 1926, Tochter Sigrun 1933 geboren. 113 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 59. 114 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 56. 115 Vgl. Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 52, 55 ff. 116 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 15. 117 Zu Quisling vgl. Loock, Hans-Dietrich, Quisling, Rosenberg und Terboven. Zur Vorgeschichte und Geschichte der nationalsozialistischen Revolution in Norwegen, Stuttgart 1970. 118 Günther, Mein Eindruck (wie Anm.109), S. 3, 135. <?page no="179"?> »entarteter Kunst« säuberte. 119 Wenn Günther von Skandinavien aus zu seinem Verleger reiste, machte er jedesmal Station in der Villa Schultze-Naumburgs - hier lernte er »flüchtig« Baldur von Schirach, das »Schoßkind Hitlers« kennen, hier schloß er Freundschaft mit Darré. 120 Für den Schriftsteller Günther wurde der Skandinavienaufenthalt zu einer sehr produktiven Phase. Die »Rassenkunde Europas« (1925) und die »Rassenkunde des jüdischen Volkes« (1929) entstanden während dieser Zeit, ebenso die Bücher »Rasse und Stil«, »Adel und Rasse« (1926), »Platon als Hüter des Lebens« und die »Rassengeschichte des hellenischen und des römischen Volkes« (1929). 121 In seinem Schaffensdrang bewegte sich der »Rassepapst« auf zahlreichen fremden Wissensgebieten, ob es nun um Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte, Theologie, Soziologie oder Medizin ging. Günther war ein »Vielwisser von einem fast barocken Ausmaß« 122 und konstruierte zu zahllosen Themen seine eigenen, teils widersprüchlichen Theorien. Er referierte in Zeitschriftenartikeln ebenso selbstbewußt über »Die Herkunft des Kolumbus« und »Unheldische Kunstrichtungen« wie über »De[n] rasseneigene[n] Geruch der Hautausdünstungen«. 123 Alle seine Veröffentlichungen kreisten freilich um den gleichen Gedanken: Günther warb für die »Aufnordung«, für eine Höherzüchtung des Menschen in Richtung des Edlen, Schönen und Tüchtigen. In seinem 1925 erstmals erschienen Buch »Der nordische Gedanke unter den Deutschen« 124 versuchte der »Rassepapst« seine Anschauung ausführlich zu erklären und zu verteidigen. Heftig verwahrte er sich darin gegen die »Germanenschwärmerei« von völkischen Bünden und Orden wie der Guido von List- Gesellschaft 125 , obwohl er selbst häufig seine Sehnsüchte in eine mystifizierte goldene germanische Vergangenheit projizierte. Günther wetterte gegen rückwärtsgewandte Romantik, gegen »Felsbilderunfug«, »Ursprachenaberwitz« und »Runendeutung«. Mit dieser Art Germanenkult, den Heinrich Himmlers SS- Orden später weiter kultivierte, hatte er angeblich nichts im Sinne. Denn: »Vorwärts, nicht rückwärts gewandt ist der Nordische Gedanke«. 126 In welche Zukunft dieser »Nordische Gedanke« und der mit ihm verwobene »Wille zur Förderung des gesunden, tüchtigen Blutes« 127 weisen sollte, erschließt sich deutlich aus dem Anhang des Buches. Dort sind die Leitsätze der Deutschen Elvira Weisenburger 178 119 Zu Schultze-Naumburg siehe Literaturhinweise bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 54, Becker (wie Anm. 39), S. 300 f. 120 Vgl. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 54; Becker (wie Anm. 39), S. 300 f.; Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 15. 121 Die in Klammern angegebenen Jahreszahlen nennen das Jahr der Erstausgabe; eine ausführliche Bibliographie von Günthers Schriften bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 414 ff. 122 Lützhöft (wie Anm. 19), S. 27. 123 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 416. 124 Vgl. Anm. 51. 125 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 66. 126 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 66. 127 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 66. <?page no="180"?> Gesellschaft für Rassenhygiene abgedruckt. Diese zielten nicht nur darauf ab, »zur Führung geeignete Volksgenossen« gesetzlich so zu fördern, daß sie kinderreiche Familien gründen würden. Angestrebt wurde darin langfristig auch die Zwangssterilisierung »minderwertiger« Menschen sowie deren schnellstmögliche Isolation in Arbeitslagern. 128 Für Günther war der Richtlinienkatalog der Rassehygieniker »nur eine Mindestforderung«. 129 Interessanterweise wurden solche Programmschriften aus Günthers Feder keine Verkaufserfolge. 130 Die »Rassenkunde des deutschen Volkes« blieb zeitlebens sein meistbeachtetes Werk. In Skandinavien hatte Günther sein Hauptwerk mehrfach überarbeitet. Dabei hatte er immer mehr Details über Schädelmessungen, Blutgruppenforschung und dergleichen angehäuft, die den Laien kaum interessieren konnten. Nach langem Zögern bereitete der Autor schließlich für das Jahr 1929 eine gekürzte Fassung vor: die »Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes«. In knappen Kapiteln erfuhr der Leser da, was die »ostische Seele« kennzeichne, wo die meisten Braunhaarigen in Mitteleuropa leben, was es mit den Indogermanen und mit der Erblehre auf sich habe. Der Verlag Lehmanns zielte auf ein Massenpublikum und pries die »Kleine Rassenkunde« als »Volks-Günther« an. Und die Rechnung ging auf: Von der vereinfachten und preisgünstigen Fassung wurden mehr als doppelt so viele Exemplare verkauft wie von der großen Ausgabe. 131 Ende der 20er Jahre bekam der Erfolgsautor dennoch schmerzlich die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu spüren. Seine Einnahmen aus dem Buchverkauf schrumpften rasch. Günther, der sich in seinem Leben häufiger »halbhungrig in Volksküchen bewegte« 132 , konnte schließlich keine eigene Wohnung mehr finanzieren. In dieser Notsituation verließ er das »geliebte« 133 Schweden. Gemeinsam mit Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 179 128 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 137 ff. Die Leitsätze Nummer 27 bis 29 lauteten: »27. Für zwangsmäßige Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger und sonst Entarteter scheint bei uns die Zeit noch nicht gekommen zu sein. 28. Die Unfruchtbarmachung krankhaft Veranlagter auf ihren eigenen Wunsch oder mit ihrer Zustimmung sollte alsbald gesetzlich geregelt werden. 29. Um die Fortpflanzung unsozialer oder sonst schwer entarteter Personen zu verhüten, sollte deren Absonderung in Arbeitskolonien, die durch die Arbeit der Insassen und Beiträge der Unterhaltspflichtigen sich wirtschaftlich selbst erhalten, schon heute gesetzlich in Angriff genommen werden.« 129 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 137. 130 Von Günthers Grundlagenschrift »Der Nordische Gedanke unter den Deutschen« wurden lediglich 12.000 Exemplare gedruckt; davon waren 1944, also 19 Jahre nach der Erstveröffentlichung, noch nicht alle verkauft. Vgl. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 35. 131 1939 war die »Kleine Rassenkunde« laut Verlagswerbung zu Preisen von zwei und drei Mark erhältlich. Von beiden Fassungen der Rassenkunde wurden etwa 420.000 Exemplare verkauft, davon rund 300.000 Exemplare der »Volksausgabe«. Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung waren von beiden Ausgaben jeweils 66.000 Bücher auf dem Markt. Günthers Gesamtwerk erreichte eine Auflagenzahl von rund einer halben Million - die beiden Versionen der Rassenkunde machten also einen Löwenanteil von über 80% aus. Vgl. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 33 f., Becker (wie Anm. 39), S. 255, Zmarzlik, Hans-Günther, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), S. 246 - 273, hier: S. 265 f. 132 Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 988. 133 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 18. <?page no="181"?> seiner Ehefrau und der dreijährigen Tochter Ingrid kehrte er Ende 1929 nach Deutschland zurück, wo ihm sein Freund Wilhelm Hartnacke, Dresdener Stadtschulrat und ab 1933 sächsischer Volksbildungsminister, eine halbe Lehrerstelle verschafft hatte. In Dresden machte die junge Familie allerdings nur wenige Monate Station. Was sich viele Wähler von der NSDAP erhofften, wurde für den verarmten Günther Wirklichkeit: Eine nationalsozialistisch durchsetzte Regierung »erlöste ihn endlich aus drückender Lage«. 134 In Thüringen stellte die NSDAP ihren ersten Minister - in der Person von Dr. Wilhelm Frick, dem späteren Reichsinnenminister unter Hitler. Gleich in seinem ersten Amtsjahr als thüringischer Innen- und Volksbildungsminister berief Frick den populären Autor Günther als Professor an die Universität Jena. Dieser vermeintliche Glücksfall wuchs sich zunächst allerdings zum Skandal aus. 135 Günther - damals noch nicht Mitglied der NSDAP - fand sich plötzlich im Mittelpunkt einer politischen Affäre. Denn: Rektor und Senat der Hochschule wollten sich den »Schriftsteller« nicht aufdrängen lassen und protestierten heftig. Frick versuchte, den Germanisten Günther mal als Professor für Philosophie, dann wieder für die Fächer Vorgeschichte, Eugenik oder Rassenkunde anzudienen - vergeblich. Nach längeren erfolglosen Verhandlungen setzte sich der Volksbildungsminister einfach über den Widerstand hinweg: Das Thüringische Staatsministerium errichtete am 14. Mai 1930 kurzerhand einen Lehrstuhl für Sozialanthropologie, ignorierte das Vorschlagsrecht der Universität und ernannte Günther zum ordentlichen Professor. 136 Dieser eigenmächtige Vorstoß gegen die Freiheit der Wissenschaft erregte großes Aufsehen. Rektor und Senat der Universität Jena gaben Ende Mai eine Presseerklärung zu den Vorgängen ab. Darin bescheinigten sie Hans F.K. Günther zwar eine »menschlich schätzenswerte Persönlichkeit«, aber mangelnde fachliche Qualifikationen: Die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät bezweifle, daß der Rassekundler »über die wissenschaftliche Schulung verfügt, die man bei einem Universitätslehrer der Anthropologie oder der Rassenkunde oder der Rassenhygiene (Eugenik) als Voraussetzung [...] ansehen muß, und sie konnten sich noch weniger davon überzeugen, daß in seinen bisherigen Schriften wissenschaftliche Originalleistungen enthalten seien«. 137 Auf Anregung der »Deutschen Liga für Menschenrechte« bekundeten auch 31 Professoren aus ganz Deutschland ihren Protest gegen Günthers Elvira Weisenburger 180 134 Fischer (wie Anm. 15), S. 221. 135 Schilderungen der Affäre bei: Lenz, Fritz, Günthers Berufung nach Jena, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 23 (1930/ 31), S. 337 - 339, Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 962 ff. 136 Laut Günther hatte Frick ursprünglich nur eine außerordentliche Professur für ihn vorgesehen; der Widerstand von Universitätsseite habe ihn jedoch dermaßen »gereizt«, daß er Günther sofort zum ordentlichen Professor ernannte. Vgl. Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 18. 137 Presseerklärung erstmals veröffentlicht in: Jenaische Zeitung, 28. Mai 1930, zit. nach Neue preußische Kreuzzeitung, 29. Mai 1930. <?page no="182"?> Berufung. 138 Jenas Studentenschaft hingegen veranstaltete eine Kundgebung für den bekannten Autor 139 , und der Verlag Lehmanns feierte die Einsetzung Günthers als »Erfolg des Rassengedankens«. 140 Im Nachhinein erscheint die Jenaer Affäre wie ein unheilverkündendes Vorspiel für die Gleichschaltung der Universitäten im »Dritten Reich«. Als »erste Bresche in die Wissenschaft des vergehenden Systems [...], in die papierenen Mauern der Universität der Republik von Weimar« 141 wurde der Fall nach der Machtergreifung in der NS-Presse gepriesen. Es deutet jedoch einiges darauf hin, daß dem Fall Günther ursprünglich gar nicht die politische Brisanz zukommen sollte, die ihm letztlich anhaftete. Die Idee, den Rassekundler zum Professor zu machen, entstand wahrscheinlich nicht in Parteizirkeln der NSDAP, sondern in völkischen Gelehrtenkreisen. 142 Daß seine nationalsozialistischen Fürsprecher Günther nicht unbedingt als Lehrenden im Fach Rassenkunde sehen wollten, spricht auch gegen die Annahme, die Berufung sei als wichtige symbolische Aktion gedacht gewesen. 143 Nach der aufsehenerregenden Vorgeschichte verpaßte die Parteispitze der Affäre allerdings einen hochpolitischen Anstrich. Als Günther am 15. November 1930 seine Antrittsvorlesung hielt, waren Adolf Hitler und Hermann Göring anwesend. In der überfüllten Aula saßen zahlreiche Vertreter der thüringischen Koalitionsregierung und ihrer Kampfverbände. Günther referierte über »Die Ursachen des Rassenverfalls des deutschen Volkes seit der Völkerwanderungszeit«. Er schilderte dieses Ereignis später so, als ob er ein innerlich unbeteiligter Schauspieler auf einer fremden Bühne gewesen sei: Es habe ihn »übermäßig« überrascht, als Hitler kurz vor der Vorlesung ins Zimmer kam, um ihm zu gratulieren. Und »unerwartet« sei nach der Antrittsrede Göring zum Essen im kleinen Gästekreis erschienen, wobei er Günther »mit dem heiteren Wohlwollen eines hohen Gönners« behandelt haben soll. 144 Günther stellte sich rückblickend als jemanden dar, der inmitten dieser spannungsgeladenen Atmosphäre über den politischen Dingen stand und keine Angriffsflächen bot: »Von meiner Antrittsrede war Hitler wahrscheinlich ebenso enttäuscht wie die zahlreich erschienene gegnerische Presse [...] Irgendwelche ›Propaganda‹, der ich überhaupt abhold war, wäre in einer solchen Rede eine Entgleisung gewesen. Aber auch ein von der gegnerischen Presse erhoffter Anti- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 181 138 Saller (wie Anm. 69), S. 27. 139 »Der Führer«, 21. Juni 1930. 140 Lenz (wie Anm. 135), S. 339. 141 Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 962. 142 Es existieren mehrere Versionen darüber, wer die Anregung zu Günthers Berufung gab. Günther selbst nennt den bekannten Erbforscher Alfred Ploetz. Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 18. Lenz (wie Anm.135), S. 338, berichtet von Informationen, wonach die Idee von Max Robert Gerstenhauer, dem thüringischen Landesvorsitzenden der an der Regierung beteiligten Wirtschaftspartei, ausging. 143 Hierauf gründet Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 39, im wesentlichen seine Annahme, daß Günthers Einsetzung in Jena »nicht als hochpolitischer Akt gedacht war«. 144 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 21. <?page no="183"?> semitismus war von mir nicht zu erwarten. So fielen die Presseberichte kurz und flau aus«. 145 Ein Propagandist im engen parteipolitischen Sinne wurde Günther tatsächlich nie. Doch sein Werdegang war seit dem Jenaer Skandal enger mit der NSDAP verknüpft, als er es offenbar wahrhaben oder zugeben wollte. Spätestens Mitte der 30er Jahre galt er vielen Deutschen als Repräsentant der nationalsozialistischen Gesinnung. Sein Name hatte jedenfalls durch die Vorfälle an der Universität noch zwielichtigere Popularität erlangt - und dies kostete den »Rassengünther« sogar beinahe das Leben: Knapp ein Jahr nach seiner Berufung, im Mai 1931, wurde ein Mordanschlag gegen ihn verübt. Ein 18jähriger Arbeitsloser aus Wien gab mit einer Pistole mehrere Schüsse auf Günther ab - aber nur eine Kugel traf und verletzte den Professor am Oberarm. Der Vorfall ereignete sich, als Günther mit seiner Frau nachts auf dem Heimweg von einer Veranstaltung mit Rosenberg war. Ob der Attentäter in seinem Opfer vor allem einen Repräsentanten der nationalsozialistischen Doktrin oder einen Vertreter der Etablierten sah, dazu liegen widersprüchliche Hinweise vor. 146 Der Prozeß gegen den jugendlichen Attentäter Karl Dannbauer bot einen neuen Anlaß, die öffentliche Kontroverse um den »Rassepapst« weiterzuführen. Die »Linkspresse« versuchte zum Leidwesen der »Nordischgesinnten« erneut, »den Werken des Prof. Dr. Günther den wissenschaftlichen Wert abzusprechen«. 147 Der umstrittene Rassenforscher selbst konzentrierte sich in den ersten Jenaer Jahren hauptsächlich auf seine Lehrtätigkeit. Zwischen 1930 und 1933 erschienen lediglich einige kürzere Aufsätze von ihm. Durch die Vorbereitungsarbeit für Übungen und Vorlesungen fühlte er sich »übermäßig angestrengt«. 148 Anfangs lockte Sensationslust noch zahlreiche Studenten zu den Veranstaltungen des »Sozialanthropologen«, doch das Interesse soll schon bald abgeflaut sein. 149 Nach der Ernennung zum Professor ließ Hans F.K. Günther noch fast zwei Jahre verstreichen, ehe er sich zu seinen nationalsozialistischen Gönnern und Förderern bekannte. Seine Ehefrau Maggen trat bereits 1931 der NSDAP bei - laut Günther »dazu von begeisterten Kollegenfrauen bewogen und auch in dem Gefühl, wir hätten Elvira Weisenburger 182 145 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 20. 146 Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 988 berichtet, der Attentäter Dannbauer wollte sich an einem »Vertreter des Kapitalismus« rächen, Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 19, bezeichnet den Österreicher als »aus dem Ausland gesandter Kommunist«. Rosenberg behauptet in seinen »Letzten Aufzeichnungen«, der Attentäter wollte eigentlich ihn ermorden, habe ihn aber im Gedränge verfehlt; als er Günther erkannte, sei er diesem gefolgt. Vgl. Rosenberg, Alfred, Letzte Aufzeichnungen, Göttingen 1955, S. 123 f. Die Presse berichtete hingegen, der Attentäter habe den Anschlag auf Günther gezielt vorbereitet - und zwar aus Verbitterung über den Kapitalismus. Siehe Neue preußische Kreuzzeitung, 13. Mai 1931. 147 Die Sonne, Monatschrift für nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung, Hartung (Januar) 1932, S. 94. 148 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 53. 149 Becker (wie Anm. 39), S. 256. <?page no="184"?> uns für die Berufung nach Jena erkenntlich zu zeigen«. 150 Der »Rassepapst« vollzog diesen Schritt im Jahr vor Hitlers Machtergreifung und wurde Parteimitglied Nummer 1.185.931. 151 Merkwürdig erscheint jedoch der Zeitpunkt des Parteibeitritts: Günther meldete sich bei der NSDAP ausgerechnet an jenem Tag an, als die Regierung Brüning das SA-Verbot erließ: am 13. April 1932. 152 Dabei hätten die prügelnden Horden der SA wohl so ziemlich als letzte Sympathie von einem Mann wie Günther erwarten dürfen. Für rohe, rüpelhafte Menschen brachte er gewöhnlich nur herablassende Verachtung auf. Die Pöbeleien des politischen Alltags waren ihm zuwider. Der Akademiker Günther verachtete den »proletarische[n] Sozialismus [...] in nationalsozialistischer Verkleidung«, der »gute Sitten, die Haltung des wohlgearteten Menschen« mißachtete. 153 Seine nachträgliche Rechtfertigung des Parteieintritts klingt vor diesem Hintergrund alles andere als überzeugend. Er schrieb über Brüning: »Ich wurde von Mitgefühl ergriffen, wenn ich ihn in seiner ausweglosen Lage sah, [...] wie die tobenden Abgeordneten ihn in den Sitzungen des Reichstages beschimpft und verhöhnt hatten. Aber ich mußte mir sagen, wenn es einem Bismarck nicht gelungen sei, durch Verbote die Sozialdemokratie aufzuhalten, so werde es einem Brüning noch weniger gelingen, den Nationalsozialismus aufzuhalten. So trat ich damals in die NSDAP ein, obschon ich befürchten mußte, auch diese Partei werde in Deutschland die bedrohte Freiheit des Einzelmenschen zu Gunsten einer zunehmenden Verstaatlichung des Menschen einschränken«. 154 Zweifellos war Günther zu individualistisch und zu elitär gesinnt, um ein begeisterter Parteigänger zu werden. Der Germanist und Rassekundler war jemand, der den Bildungskanon des Bürgertums verinnerlicht hatte, jemand, der nahezu jede Lebenssituation mit einem Goethe-Zitat oder einem griechischen Vers kommentierte. 155 Auf die »Verbildeten« und »Halbgebildeten« sah er verächtlich herab. Kaum eine Erscheinung seiner Zeit war ihm - wie vielen europäischen Intellektuellen - so verhaßt wie der »städtische Massengeist«. 156 Die »Massenscharungen« bei den Parteitagen und den Großkundgebungen der NSDAP entsprachen nicht Günthers Stil. Am janusköpfigen Nationalsozialismus zog ihn vor allem die agrarpatriarchalische Ideologie an. Dabei hegte er schon früh Befürchtungen, daß die Parteipolitik nicht Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 183 150 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 59. 151 BA, R 21/ 10006/ 3348. 152 Eintrittsdatum laut Günthers eigener Aussage, Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 59. 153 Günther, Hans F.K., Die Verstädterung. Ihre Gefahren für Volk und Staat vom Standpunkte der Lebensforschung und der Gesellschaftswissenschaft, 3. Aufl. Leipzig, Berlin 1938, S. 52 f. 154 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 60. 155 Sein Spätwerk »Mein Eindruck von Adolf Hitler« (wie Anm. 109) gibt davon einige vielsagende Beispiele, etwa wenn Günther in naiv-unsensibler Weise die Schrecken des NS-Regimes mit einigen Verszeilen abtut, resignierend Hölderlin zitiert, anstatt sich mit den realen Greueln auseinanderzusetzen. Vgl. insbesondere S. 52 ff. 156 Das dokumentiert anschaulich Günthers Schrift »Die Verstädterung« (wie Anm. 153). Zur zeitgenössischen Diskussion um Stadt-Land-Gegensatz und Heimatbegriff, siehe z.B. Stavenhagen, Kurt, Heimat als Grundlage menschlicher Existenz, Göttingen 1939. <?page no="185"?> konsequent in die von ihm gewünschte Richtung zielen könnte. »Die besten Vertreter des ›Blut und Bodengedankens‹ fürchten die Verschandelung dieses Gedankens, wenn es nicht gelingt, ihn in kleinen Zellen vom Lande her aufzubauen und statt angeordneter Massenscharungen [...] Versammlungen einzuleiten, die das Schöpferische im örtlichen Stile in kleinen Gruppen aufwecken«, so schrieb Günther im Oktober 1933 an Reichsbauernführer Darré. »Mein Vorschlag: den nächsten 1. Mai nicht in Goebbelsscher Weise von Berlin ›bis in das letzte Dorf‹ tragen zu lassen durch Rundfunk, sondern den 1. Mai eines kleinen Erzgebirgdorfes den Berlinern senden«. 157 Noch hoffte der Wegbereiter der nordischen Bewegung aber darauf, daß das NS-Regime dem Bauerntum zu neuer Größe verhelfen und die ersehnte Entstädterung einleiten würde. Auf zwei Eckpfeilern ruhte seine Vision von einem neuen Staat: Aus dem »Stoffe einer herrentümlichen Menschenrasse, der nordischen Rasse« und auf der Grundlage freien bäuerlichen Besitzes sollte die »germanische Volksherrschaft« entstehen. 158 Ein neuer Adel sollte herausgebildet werden, jedoch kein ständischer Adel, sondern ein »Neuadel aus Blut und Boden«. 159 Günther redete sich ein, daß der Staat Hitlers diese »adelstümlich, nicht massentümlich begriffene Freiheit und Gleichheit [...] zielbewußt vorbereitet«. 160 Es ist dem »Rassepapst« später entlastend angerechnet worden, daß er ein »weltfremder Büchermensch« 161 gewesen sei. Seine Schriften wurden als »utopisch und idealistisch verstiegen« 162 charakterisiert. Dies trifft weitgehend zu. Hans F.K. Günther sehnte sich danach, die Entfremdung des modernen Menschen von seinen ursprünglichen Lebensgrundlagen zu überwinden. Er träumte von einer idealen Gesellschaft, von seelisch und körperlich schönen Menschen nach hellenischen Idealbildern. 163 Konkrete politische Entwürfe auszuarbeiten, sah er keineswegs als seine Aufgabe an. 164 Er hat auch betont, daß sich der Prozeß der Aufnordung über Jahrhunderte erstrecken würde. 165 Doch der Ästhet Günther war durchaus bereit, die »Veredelung« des Menschen mit sehr realen und blutigen Mitteln zu beschleunigen. Die Sterilisationspraxis des »Dritten Reiches« hat er ausdrücklich gutgeheißen. Elvira Weisenburger 184 157 Günther an Darré, 17. Oktober 1933, BA, Abt. III (BDC), A 489. 158 Günther, Verstädterung (wie Anm. 153), S. 7. 159 So der Titel des Grundlagenwerkes von Darré, das Günther zitiert. Siehe Verstädterung (wie Anm. 153), S. 25. 160 Günther, Verstädterung (wie Anm. 153), S. 25. 161 Akten des universitätsinternen Entnazifizierungsausschusses, UAFR, B 34/ 72. 162 Mühlmann, Wilhelm E., Geschichte der Anthropologie, 2.Aufl. Bonn 1968, S.198. 163 Vgl. Günther, Hans F.K., Führeradel durch Sippenpflege, München 1936, S. 31. 164 Vgl. Günthers Klage in »Ritter, Tod und Teufel« (wie Anm. 31), S. 58 f, wonach »ein Mensch, der darauf hinweist, daß und wie sich unsere Gesinnung ändern müsse, [...] gleich nach Einzelvorschlägen ausgefragt wird, nach neuen Gesetzesentwürfen oder Wirtschaftsordnungen«. Eine »Wendung des Schicksals« jedoch erhoffte Günther nicht von »konkreten Zielen«, sondern allein von einer neuen »Gesinnung«. 165 Vgl. Günther, Kleine Rassenkunde (wie Anm. 82), S. 148. <?page no="186"?> »Bedenkt man die Zahlen der ungehemmter Fortpflanzung überlassenen Menschen mit sehr minderwertigen Erbanlagen, so wird man es begrüßen, daß das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nunmehr die Möglichkeit gibt, gerade auch die entlassungsfähigen Insassen solcher ›Fürsorge‹-Anstalten unfruchtbar zu machen«, schreibt er in der »Rassenkunde des deutschen Volkes« 166 mit Blick auf Kranke und Schwache. Und die medizinische Indikation war bei weitem nicht die einzige, die Günther für Zwangssterilisationen gelten ließ. An seiner Einstellung zur Politik der Ausmerze 167 lassen sich mehrere zentrale Ideen und Prägungen Günthers aufzeigen. Der Rassekundler zeigte reges Interesse an Wissenschaften wie der Genetik und Eugenik, die international 168 im Aufschwung waren und die Angst vor der Zunahme von Erbkrankheiten und dem Absinken der Menschheit verstärkten. Seine Gesinnung wurde aus den Quellen des Biologismus und Sozialdarwinismus 169 gespeist. Und sowohl sein Rassendenken als auch seine Anschauungen über Erbgesundheitspolitik waren gleichzeitg Klassendenken. Günther befürwortete Zwangssterilisationen als Angehöriger einer elitären Gesellschaftsschicht, die den eigenen Abstieg und ein allgemeines Chaos fürchteten: Er wünschte, daß die kinderreichen Asozialen, die »Minderwertigen« des »städtischen Pöbels« an ihrer Fortpflanzung gehindert würden. Die »soziale Fürsorge« war ihm ein Dorn im Auge, weil sie die Auslese, die »Reinigung des Volkes« behinderte - etwa durch die Senkung der Kindersterblichkeit. 170 Und nicht zuletzt wollte der »Rassen- Günther« mittels Ausmerze das aufzunordende deutsche Volk von »fremdrassigen« Einschlägen freihalten. Für diese Ziele arbeitete er auch mit den Bevölkerungspolitikern des »Dritten Reiches« zusammen - zumindest als Berater: Hans F.K.Günther war Mitglied im 1933 gegründeten »Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Reichsministers des Innern«. 171 In diesem Gremium wurde beispielsweise das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erörtert. Als »Rassespezialist« gehör- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 185 166 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1939, S. 455. 167 Zur Definition des Begriffes Ausmerze als »das natürliche oder künstliche Hemmen oder Unterbinden der weiteren Fortpflanzung der Erbkranken sowie der Erbuntüchtigen«, siehe Berning, Cornelia, Vom Abstammungsnachweis zum Zuchtwart. Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1964, S. 31. 168 Zu Zusammenhang und Wechselwirkung von Genetik und traditionellen Zucht- und Ausgrenzungstheorien, zu Sterilisationsforderungen und Gesetzesvorhaben in Deutschland und dem Ausland siehe Roth, Karl Heinz, Schöner neuer Mensch, in: Der Griff nach der Bevölkerung, Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, hrsg. v. H. Kaupen-Haas, Hamburg 1986, S. 11 - 63. 169 Zu den verschiedenen Ausprägungen sozialdarwinistischer Ideen vgl. Zmarzlik (wie Anm. 131). 170 Günther, Verstädterung (wie Anm. 153), S. 12. 171 Zu Arbeit und Aufgabenverteilung des Beirats vgl. Kaupen-Haas, Heidrun, Die Bevölkerungsplaner im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, in: Der Griff nach der Bevölkerung, Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, hrsg. v. H. Kaupen-Haas, Hamburg 1986, S. 103 - 120; Weingart, Peter; Kroll, Jürgen; Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/ Main 1992, S. 460 ff. <?page no="187"?> te Günther der Arbeitsgemeinschaft II des Sachverständigenbeirats an. Diese Gruppe war im engeren Sinne mit Rassenhygiene und Vererbungslehre befaßt. Sie sollte bei der Gesetzgebung mitwirken und rassenpolitische Interessen in Forschung und Hochschulen fördern. Zu ihren Themen gehörten Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung und die »Herabsetzung der Kosten für Minderwertige, unheilbar Kranke, Asoziale und Verbrecher«. 172 Im März 1935 beriet die Arbeitsgemeinschaft II über »Wege zur Lösung der Bastardfrage«. 173 Dabei ging es um das Schicksal der sogenannten »Negerbastarde« oder »Rheinlandbastarde« 174 , jener Mischlingskinder, die während der Rheinlandbesetzung von farbigen Soldaten der französischen Truppen gezeugt worden waren. Der Zweck der Beratung war von vorneherein klar: Die unerwünschten »Bastarde« sollten auf jeden Fall daran gehindert werden, ihre »fremdrassigen« Erbanlagen unter das deutsche Volk zu mischen. Unklar war hingegen, wie dieses Ziel erreicht werden sollte. Auf das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« konnten sich die eilfertigen Hüter der Rassenreinheit nicht berufen, da ein »negrider« Einschlag nun einmal nicht als Erbkrankheit galt und die 385 registrierten Mischlinge auch nicht pauschal als »schwachsinnig« deklariert werden konnten. 175 Deshalb standen im wesentlichen drei Möglichkeiten zur Diskussion. Erstens: die illegale Sterilisierung der »Rheinlandbastarde« beziehungsweise die »freiwillige« Sterilisierung mittels »geschickte[r] Herbeiführung dieses Einverständnisses«; zweitens: die offizielle Erweiterung des Sterilisationsgesetzes; drittens: die Abschiebung der Kinder und Jugendlichen ins »schuldige Land« Frankreich. Problematisch waren alle »Lösungsvorschläge«, denn es sollte möglichst wenig Aufsehen im In- und Ausland erregt werden. Professor Günther vertrat in der Diskussion über die »Bastarde« die Ansicht, »daß man doch in vielen Fällen auf Minderwertigkeit stoßen werde. Man müsse sich doch einmal überlegen, wer die Mädchen seien, die sich hier mit Fremdrassigen eingelassen hätten«. Er sprach sich laut Protokoll für eine Kombination mehrerer Lösungsversuche aus. 176 »Es müsse doch möglich sein, eine ganz harmlose anthropologische Untersuchung dieser Leute vorzunehmen und dabei gleichzeitig auf die erbliche Beschaffenheit dieser Leute zu achten, um dann gegebenenfalls auf dem Wege über das Sterilisierungsgesetz weiter vorzugehen. Ein anderer Weg sei die Exportierung, die so harmlos vor sich gehen müßte, daß die katholische Kirche nicht auf den Gedanken komme, daß hier besondere Absichten mitspielen [...] Er halte es auch Elvira Weisenburger 186 172 Kaupen-Haas (wie Anm. 171), S. 97. 173 Protokoll der Sitzung vom 11. März 1935, PAAA, Inland I/ Partei 84/ 4/ R 99166. 174 Zum Politikum der sogenannten »Schwarzen Schmach« und zum Schicksal der farbigen »Besatzungskinder« siehe die ausführliche Darstellung: Pommerin, Reiner, Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1919 - 1937, Düsseldorf 1979. 175 Zu Entstehung, Inhalt und Anwendung des Gesetzes s. Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 464 ff; Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Opladen 1986. 176 Die Darstellung bei Kaupen-Haas (wie Anm. 171), S. 113, wonach Günther sich für die Auswanderung der »Bastard-Kinder« ausgesprochen habe, ist eine verkürzte Wiedergabe der Beratung. <?page no="188"?> durchaus für möglich, das Einverständnis der Mütter zur Auswanderung zu erreichen, aber ob diese Stillschweigen darüber bewahren würden, sei eine andere Frage«. 177 Die Einstellung des »Rassepapstes« zu den farbigen Besatzungskindern war im übrigen keineswegs neu. Bereits in den 20er Jahren hatte er in seiner »Rassenkunde« auf die »Schwarze Schmach« hingewiesen, »die Notzuchtfälle, [...] die von den Franzosen als eine Verseuchung des deutschen Blutes mit Geschlechtskrankheiten und mit dem Blut der dunklen Rassenmischungen Afrikas und Asiens gerne gesehen wird«. Er war der Meinung, die deutsche Regierung solle die »überfallenen« Frauen zur Abtreibung verpflichten. Daß sich deutsche Frauen auch freiwillig mit den schwarzhäutigen Soldaten einließen, betrachtete Günther - wie viele andere Deutsche damals - als »Rassenschande«. 178 Über das Schicksal der »Rheinlandbastarde« entschied letztlich nicht der Sachverständigenbeirat. Die Überlegungen Günthers und seiner Kollegen führten zu keiner konkreten Empfehlung. Zwei Jahre später fiel in der Reichskanzlei die Entscheidung, die Mischlinge illegal zu sterilisieren. Die farbigen Kinder wurden von der Gestapo abgeholt und - teils in Nacht- und Nebelaktionen - zur Zwangsoperation in Kliniken gebracht. 179 Der Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik versank zu dieser Zeit schon in Bedeutungslosigkeit. Er war »immer maßloser« geworden und wollte immer größeren Bevölkerungsteilen ihr Recht auf Ehe, Sexualität und Fortpflanzung nehmen - selbst bewährten Parteigenossen. 180 In der zweiten Hälfte der 30er Jahre war seine Meinung bei den Politikern kaum noch gefragt. 181 Günther war zwar keiner der führenden Köpfe im Sachverständigenbeirat. In seiner Arbeitsgemeinschaft dominierten Naturwissenschaflter wie der Mediziner Professor Ernst Rüdin. 182 Was seine harte Einstellung gegenüber »minderwertigen« Mitmenschen anging, stand Günther den anderen Sachverständigen allerdings nicht nach. Betrachtet man Günthers eigene Freiheitsliebe, seine Sensibilität und seine schwärmerischen Neigungen, so erscheint es aus heutiger Sicht widersprüchlich, daß er dermaßen wenig Mitgefühl für die Opfer der Auslese- und Ausmerzepolitik empfand. Der »Rassepapst« aber hätte Mangel an Mitleid vermutlich nicht als Vorwurf akzeptiert. Sobald es um die »große Gesundheit«, um den Erbstrom des Volkes ging, mußten Interessen und Gefühle des Einzelnen zurücktreten. Selbstbe- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 187 177 Sitzungsprotokoll (wie Anm. 173), S. 12. 178 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 136. 179 Vgl. Müller-Hill, Benno, Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933 - 1945, Reinbek 1984, S. 34 f.; Pommerin (wie Anm. 174), S. 77 ff. 180 Bis zu 20% der Bevölkerung sollten durch Eheverbote, Abtreibungen, Sterilisationen, Kastrationen geknebelt werden; schon 1934 erachtete der Sachverständigenbeirat nur noch eine Minderheit von Volksgenossen für uneingeschränkt erblich wertvoll, Kaupen-Haas (wie Anm. 171), S. 111 ff. 181 Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 463 f. 182 Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 462; dies zeigte sich auch bei der Sitzung vom 11. März 1935, in deren Verlauf neben der »Bastardfrage« auch die Unfruchtbarmachung durch Röntgenbestrahlung erörtert wurde. <?page no="189"?> wußt konterte Günther die Kritik von Zeitgenossen, die die Erbgesundheitslehre mit »Gestüten« oder »Hundezuchten« verglichen: »Was ich [...] Auslesevorbild genannt habe, ist das, was die Tierzüchter ein Zuchtziel nennen. [...] Mir hat es nie einleuchten wollen, daß das Tier etwas so Niedriges sein solle, daß man den Menschen in keiner Weise mehr mit ihm vergleichen dürfe.« 183 Es war eine klare Forderung Günthers, die Menschen sollten endlich unterscheiden lernen »zwischen dem Wert eines Menschen als Einzelmenschen und seinem Wert als Erbträger«. 184 Wer diese Wertung - und die Konsequenzen daraus - nicht akzeptieren wollte, für den hatte er nur Spott übrig. Für jene Menschen z.B., die »Forderungen wie die Unfruchtbarmachung der erblich Minderwertigen als etwas Unerhört-Reaktionäres, als Eingriff in irgendwelche Menschenrechte« 185 ansahen. Sie waren in Günthers Augen dem irrigen Gedanken von der Gleichheit der Menschen verfallen. Sie hingen einem falschen »liberalistisch-individualistischen« Denken an. 186 Für ihn stand außer Frage: »Ein unbeschränktes Recht auf Fortpflanzung kann es in einem nach wahrer Ertüchtigung strebenden Staate nicht geben«. 187 Mitleid war für Günther völlig fehl am Platz, wenn es um Fremdrassige, Schwache, Kranke, Säufer, Landstreicher, Schwachsinnige, Arbeitsscheue, Dirnen und Verbrecher ging. 188 Vielmehr: Das Mitleid mußte überwunden werden - ganz im Sinne Nietzsches. Ihn zitiert Günther auch mit dem Satz: »Was fällt, das soll man auch noch stoßen«. 189 Zum Zeitpunkt der »Bastard«-Diskussion schienen die Auslesekriterien und die Werteordnung Günthers noch bestens mit jener der NSDAP-Führung übereinzustimmen. Die Partei förderte ihn in jeder Hinsicht. Das Jahr 1935 könnte, rein äußerlich betrachtet, als Höhepunkt seiner Karriere bezeichnet werden. Er erhielt einen Ruf an die Friedrich-Wilhelms-Universität der Reichshauptstadt Berlin 190 , außerdem wurde ihm eine hohe offizielle Ehrung zuteil: Auf dem Reichsparteitag im September 1935 erhielt Hans F.K. Günther als erster den neu gestifteten »Preis der NSDAP für Wissenschaft«. Alfred Rosenberg, der Parteiideologe, soll die Ehrung veranlaßt haben. 191 Er hielt auch die Laudatio und sagte über Günther: »In seinen vielen Schriften und vor allen Dingen in seiner ›Rassenkunde des deutschen Volkes‹ hat er geistige Grundlagen gelegt für das Ringen unserer Bewegung und für die Elvira Weisenburger 188 183 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S. 15. 184 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S. 27. 185 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S. 26. 186 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S.17 ff. 187 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S. 26. 188 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 166), S. 452 f. 189 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 166), S. 454. 190 Laut Heiber, Helmut, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 591, hatte der Ostraum-Planer Konrad Meyer die Berufung Günthers energisch in Gang gebracht. 191 Vgl. Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 100. <?page no="190"?> Gesetzgebung des nationalsozialistischen Reiches«. 192 Vier Tage später wurden auf demselben »Reichsparteitag der Freiheit« die sogenannten »Nürnberger Gesetze« erlassen. Sie verboten unter anderem Eheschließungen und Geschlechtsverkehr zwischen »Juden und Staaatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes«. 193 Günther hat sich zu den »Nürnberger Gesetzen« nirgendwo schriftlich geäußert. 194 Er hat sich vielfach nachdrücklich gegen Mischehen ausgesprochen, die radikale Judenhetze der Parteipropagandisten war jedoch nicht sein Stil. Der bekannte Autor zog sich ab Mitte der 30er Jahre mehr und mehr aus der Rassenkunde zurück - also in einer Phase, in der die mörderische Rassenpolitik des NS-Regimes noch in den Anfängen steckte. Bezeichnend ist eine Rede, die Günther im November 1936 anläßlich der 126- Jahr-Feier der Berliner Universität hielt. 195 Der Begriff »Jude« kommt darin ebensowenig vor wie die »nordische« oder »ostische« Rasse. Der Redner konzentrierte sich ganz auf sein neues Lieblingsthema: »Die Aufgaben einer ländlichen Soziologie im völkischen Staate«, so der Titel des Referats. Günther hielt sein typisches Plädoyer gegen die dekadente Städterwelt und zugunsten einer Volksgesundung vom Lande her. Er zitierte darin wieder einmal seinen Lieblingsausspruch von Adolf Hitler, welchen er ansonsten nicht gerade glühend verehrte 196 : »Das Dritte Reich wird entweder ein Bauernreich sein oder untergehen«. 197 Mitreißend war Günthers Vortrag für die Zuhörer gewiß nicht - er war gespickt mit Hinweisen auf die Forschungsliteratur. Überhaupt war der Professor alles andere als ein begnadeter Rhetoriker. Er galt als schüchterner Mensch, als Mann »ohne rednerische Anziehungskraft« und wäre schon allein deshalb für Propagandaauftritte kaum zu gebrauchen gewesen. 198 An der Berliner Universität war Günther Direktor der »Anstalt 199 für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie«. Über ein Mauerblümchendasein ist das Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 189 192 Zit. nach Becker (wie Anm. 39), S. 281. 193 S. z.B. Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 494 ff. 194 Zu diesem Ergebnis kommt zumindest Becker (wie Anm. 39), S. 282. 195 Friedrich-Wilhelm-Universität (Hrsg.), Rede anläßlich des 126. Jahrestages der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 4. November 1936 gehalten von Prof. Dr. Hans F.K. Günther, Berlin 1936. 196 In Günthers Schriften der NS-Zeit finden sich kaum Erwähnungen Hitlers. Günthers Schilderungen in seiner Spätschrift »Mein Eindruck von Adolf Hitler« (wie Anm. 109), S. 72, wonach er dem »proletarischen« Hitler gegenüber Befremden empfand, sind angesichts von Günthers Charakterzügen durchaus glaubhaft. Den Gruß »Heil Hitler« benutzte Günther in Briefen an Freunde übrigens nicht. 197 Rede Günthers (wie Anm. 195), S. 6. 198 Gutachten des universitätsinternen Freiburger Entnazifizierungsausschusses, UAFR ,B 34/ 72. Als Beleg für Günthers mangelnde Eignung als Propagandaredner wird darin auch ein Vortrag erwähnt, den Günther während des Krieges gehalten hatte und in dem er »die englische Adelsgesellschaft geradezu feierte als Idealgesellschaft«. 199 Günther hegte eine generelle Abneigung gegen Fremdwörter und weigerte sich hartnäckig, den damals schon gängigen Begriff »Institut« zu gebrauchen. <?page no="191"?> Institut offenbar nicht hinausgekommen. Da zunächst ein eigenes Gebäude fehlte, nahm die Anstalt erst eineinhalb Jahre nach Günthers Berufung, zum Wintersemester 1936/ 37, ihre geordnete Arbeit auf. Zur Ausstattung gehörten Haarfarbentafeln und Meßinstrumente wie das »Schädelstativ«. Günther ließ auch einen Mumienkopf, einen menschlichen Schädel und acht Tierschädel erwerben. Ein Pfarrer aus Thüringen hatte »28 menschliche Extremitäten-Knochen« gestiftet. Geforscht wurde über katholische und protestantische Bauernfrömmigkeit, über die rassischen Verhältnisse benachbarter wendischer und deutscher Dörfer und über die »Gattenwahl« oberbayerischer Bauern. Insgesamt besuchten 22 Studenten die Übungen und Kolloquien in jenem Wintersemester. 200 Der »Anstaltsdirektor« spielte zu diesem Zeitpunkt bereits mit Abwanderungsgedanken. Seit 1937 bemühte sich Günther intensiv um eine Berufung an die Universität seiner Heimatstadt Freiburg. In Berlin fühlte er sich unwohl. Er argumentierte damit, er liebe seine süddeutsche Heimat und das Leben in der Großstadt sei ihm »nicht zuträglich«, er machte aber auch Andeutungen über Intrigen in der Reichshauptstadt. 201 Zwischen 1935 und 1937 wurden dem »Rassen-Günther« weitere Ehrungen zuteil: Das »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands« berief ihn als Ehrenmitglied 202 , die Berliner »Gesellschaft für Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte« zeichnete ihn mit der Rudolf-Virchow-Plakette aus, und die »Deutsche Philosophische Gesellschaft« holte ihn in den Vorstand. 203 Wirklich integriert war er allerdings nicht. Im Reichsinsitut für Geschichte glänzte Günther hauptsächlich durch Abwesenheit. Als er einmal an einer Beiratssitzung teilnahm, kritisierte er die »Judenforschung« des Reichsinstituts, da sie die Gefahr berge, die Weltgeschichte nur von der Judenfrage her zu sehen. Das Angebot für ein anderes Ehrenamt lehnte Günther ab - mit der Begründung, er sei »einzig und allein Schreiber und in der Lebensführung Sonderling«. 204 Der »Rassepapst« war zweifelsohne bereits ein »verblassender Stern«. 205 Seine Rasseneinteilung vertrug sich ohnehin schlecht mit der Idee der Volksgemeinschaft. 206 An diesem Punkt offenbaren sich auch die gegenläufigen geistigen Tendenzen in NSDAP-Zirkeln. Während gewisse Parteikreise Günther noch als Vordenker rühmten, galt er bei anderen längst als inakzeptabel. Schon in den ersten Jahren des »Dritten Reiches« wurde unter dem Schlagwort der »Vitalrasse« öffentlich Elvira Weisenburger 190 200 Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1936/ 1937, S. 85 f. 201 Briefwechsel mit dem Rektor der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, UAFR B 24/ 1116. 202 Heiber (wie Anm. 190), S. 267 ff. 203 Becker (wie Anm. 39), S. 281. 204 Heiber (wie Anm. 190), S. 591. 205 Heiber (wie Anm. 190), S. 591. 206 Nach Angaben von Walter Groß, dem Leiter des Rassenpolitischen Amtes, konnten sich intellektuelle NS-Schichten nicht sonderlich mit der »harten Tatsache der Vererbung« bei Günther anfreunden; bei Studenten, BDM und Arbeitsdienst habe seine schematische Dogmatik als unzeitgemäß gegolten. Siehe Poliakov, Leon; Wulf, Josef, Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente, Berlin 1959, S. 414. <?page no="192"?> darüber diskutiert, daß die Leistung eines Menschen und nicht sein erbbiologischer Personalbogen entscheidend sein müsse. Die Einteilung des deutschen Volkes in Systemrassen bedeute eine Überspitzung des Rassegedankens und bedrohe die Volksgemeinschaft. 207 Allerdings war Günthers Rassentypologie dermaßen populär, daß sie aus dem Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken war. Schon zu Weimarer Zeiten wurden selbst Strafgefangenenkarteien nach seinen Rassekategorien ausgewertet. 208 Schulbücher des »Dritten Reiches« lehrten Grundzüge von Günthers Rassenkunde und bildeten Fotografien aus seinem Standardwerk ab. Auch im »Staatshandbuch des Volksgenossen« wurden Günthers Beschreibungen körperlicher Rassenmerkmale übernommen. Gleichzeitig wurde aber darauf hingewiesen, die Rassenlehre solle die Gemeinsamkeiten im Volk betonen und keine neuen »Trennungen« schaffen - und ohnehin sei immer »die Weltanschauung das, worauf es schließlich ankommt«. 209 Ende der 30er Jahre war Hans F.K. Günther an solchen Debatten kaum noch interessiert. Selbst innerhalb der »Nordischen Bewegung« hatte er keinen nennenswerten Einfluß mehr. Bei der Monatszeitschrift »Rasse«, die Günther 1934 zusammen mit seinem Jugendfreund, dem bekannten »Rassenseelenforscher« Ludwig Ferdinand Clauss 210 , als Organ des »Nordischen Ringes« gegründet hatte, wurde er Anfang 1938 als Mitherausgeber abgelöst. Während Clauss seine Mitarbeit an der Zeitschrift ganz aufkündigte, ließ sich der »Rassepapst« zu einem von diversen »Beratern« der Schriftleitung degradieren. 211 1939 erhielt Günther dann den langersehnten Ruf nach Freiburg. Hier lehrte er, bis sein kärglich eingerichtetes Institut im November 1944 durch Bomben zerstört wurde. Der »Rassepapst« widmete sich in den Kriegsjahren vornehmlich der Bauerntumsforschung, der Erbgesundheitslehre und den Themen Ehe und Familie. 212 Illusionen über seine Arbeit machte er sich offenbar nicht mehr: »Es würde nach dem Krieg nur zwei Dinge geben, die zu fördern wären: das sind Familie und Bauerntum. Dies wird aber kaum erkannt werden«, schrieb er 1942 an Darré. 213 Daß Günther zu seinem 50. Geburtstag 1941 noch das Goldene Parteiabzeichen und die Goethemedaille für Kunst und Wissenschaft erhielt, ist wohl als gönnerhafte, im Kern aber bedeutungslose Geste an den populären »Vorkämpfer des rassischen Gedankens« zu verstehen. 214 Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 191 207 Die Sonne, Monatschrift für Rasse, Glauben und Volkstum im Sinne Nordischer Weltanschauung und Lebensgestaltung 11 (1934), S. 450 ff. 208 Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 184. 209 Leininger, Hermann, Erblehre, Rassenpflege und Rassenkunde. Bausteine für den neuzeitlichen Unterricht, Karlsruhe 1934, S. 91; Staatshandbuch des Volksgenossen, Berlin 1936, S. 178. 210 Zu Clauss s. Weingart, Peter, Doppel-Leben. L.F.Clauss: Zwischen Rassenforschung und Widerstand, Frankfurt, New York 1995. 211 Vgl. Weingart (wie Anm. 210), S. 36, 38, Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 67 f. 212 In dieser Zeit entstanden u.a. seine Bücher : Das Bauerntum als Lebens- und Gemeinschaftsform. Leipzig, Berlin 1939, Formen und Urgeschichte der Ehe, München, Berlin 1940 sowie die Erstfassung der »Gattenwahl«(wie Anm. 108). 213 Günther an Darré, 13. September 1942, BA, Abt. III (BDC), A 489. 214 Geburtstagsartikel im Alemannen, 17. Februar 1941. <?page no="193"?> Günther lebte in Freiburg recht zurückgezogen. Er verließ die Stadt möglichst oft und wanderte durch die Schwarzwaldlandschaft. An der Universität pflegte er eigenartige Hobbies. So sammelte er beispielsweise Nachbildungen von Schädeln berühmter Männer - sofern die Originalabgüsse in »bombengefährdeten Gebieten« aufbewahrt wurden. Anfang 1944 bat er das Kultusministerium um einen Sonderzuschuß von 600 Mark. In dem Schreiben verwies Günther darauf, daß er durch seine außerplanmäßige Aktion den Schädelabguß Johann Sebastian Bachs »gerettet« habe. Der »Erstabguß« nämlich sei mittlerweile in Leipzig mitsamt dem Anatomischen Institut vernichtet worden. 215 Obwohl er in der Regel als freundlicher, verträglicher Mensch geschildert wird, führte Günther kleine Privatkriege in dieser Zeit. Seinen Kollegen vom Anatomie-Institut versuchte er Skelettreste streitig zu machen, die bei historischen Ausgrabungen gefunden wurden. 216 Im Zwist lag Günther auch mit der Freiburger Hitlerjugend. Lärmende HJ-Abteilungen hielten im Hof vor seinem Institut ihre Übungsstunden ab - und waren dem Professor äußerst lästig. Er strengte einen pedantischen Briefwechsel an, damit die singenden, trommelnden und trompetenden Störenfriede gemaßregelt wurden. Unzufrieden war Günther auch über die »Bummelei der Studenten«. 217 Günthers Freiburger Professorenzeit bedeutete im großen und ganzen einen Rückzug ins Private. Doch punktuell gab es auch in dieser Phase immer wieder Annäherungen an Parteistellen. Die menschenverachtende Praxis der NS-Politik ist dem eigenbrötlerischen »Stubengelehrten« nicht verborgen geblieben. Im März 1941 war er als Ehrengast zur Eröffnungstagung von Rosenbergs »Institut zur Erforschung der Judenfrage« eingeladen. In den Vorträgen wurde der »Volkstod« der Juden als Ziel formuliert. Es sollte durch »Verelendung der europäischen Juden bei Zwangsarbeit in riesigen Lagern in Polen oder in einer Kolonie« erreicht werden. 218 In der Rückschau nannte Günther die Tagung schlicht »langweilig«. 219 Zu den Inhalten der Frankfurter Diskussionen hat er sich mit keiner Zeile geäußert. Ende 1940 erhielt Günther einen Beuteanteil aus den »Säuberungsaktionen« des NS-Regimes: Der Generalbevollmächtigte für das jüdische Vermögen in Baden wollte die Arbeit des »Rasseforschers Professor Dr. Günther« unterstützen. Er stellte Portraits und Fotografien von Juden zur Verfügung. Auch Landräte und Polizeizentralen wurden angewiesen, solches Bildmaterial für den Rassekundler zu sammeln. Es stammte aus den geräumten Wohnungen der »abtransportierten Ju- Elvira Weisenburger 192 215 Günther an das Ministerium des Kultus und Unterrichts, 14. Januar. 1944, UAFR, B1/ 3363. 216 Beschwerde hierüber führte das Landesamt für Ur- und Frühgeschichte an das Badische Ministerium des Kultus und Unterrichts, 1. Juni 1943, UAFR, B1/ 3363. 217 Briefe Günthers an das Akademische Rektorat, Mai 1943 und 1944, UAFR, B1/ 3363. 218 Müller-Hill (wie Anm. 179), S. 48. 219 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 134 f. <?page no="194"?> den«. 220 Günther benutzte diesen drastischen Begriff nicht. Er erklärte, die Pakete aus Karlsruhe enthielten Lichtbilder »ausgewanderter Juden«. 221 Seinen Assistenten schickte Günther in Lager von Kriegsgefangenen und osteuropäischen Zwangsarbeitern, um »rassenkundliche Untersuchungen« durchzuführen. Er sah darin eine »einzigartige Gelegenheit [...] an sonst nicht leicht erreichbare Völkergruppen« heranzukommen. 222 Der Professor selbst arbeitete vornehmlich in seinem Institut. Angebote für Vortragsreisen lehnte er mehrfach ab. Als ihn 1940 jedoch sein alter Gesinnungsgenosse Darré rief, war Günther zur Stelle. Er reiste nach Danzig-Westpreußen. Der Zweck der Studienfahrt geht aus dem Einladungsschreiben hervor: »Reichsbauernführer Darré und [...] Gauleiter Forster legen als Grundlage für den bluts- und siedlungsmäßigen Neuaufbau des Reichsgaus Danzig- Westpreußen den größten Wert auf Ihr fachmännisches Urteil«. 223 Welches - offenbar »großzügige« Urteil Günther fällte - darauf findet sich ein Hinweis in Hitlers »Tischgesprächen«. Gauleiter Forster soll sich bei einem Abendessen im Führerhauptquartier folgendermaßen geäußert haben: »Wenn Professor Günther als Rassenforscher bei einer zehntägigen Fahrt durch den Gau Danzig-Westpreußen festgestellt habe, daß vier Fünftel des Polentums im Norden des Reichsgaues einzudeutschen seien, so halte auch er das durchaus für möglich«. 224 Daß Günthers Meinung tatsächlich Einfluß auf die Ostraumpolitik hatte, ist jedoch unwahrscheinlich. Sein Gönner Darré war Anfang der 40er Jahre ohnehin bereits auf dem politischen Abstellgleis. Und für die technokratisch geplanten Vertreibungen und Vernichtungen im Osten waren weniger Rassentheorien und »nordische« Bauernromantik Güntherscher Prägung ausschlaggebend als ökonomisch-zweckrationale Kriterien. 225 Diese These wird auch durch eine Äußerung Günthers untermauert: In einem Brief an den zurückgetretenen Darré schrieb er 1942 abfällig über die »maschinisierten und ›wirtschaftlich denkenden‹ mundartlosen Siedlergruppen«. Grundsätzlich jedoch hatte er gegen die Politik der Eroberung und Unterdrückung offenbar nichts einzuwenden. Eine »breite Besiedelung des gewon- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 193 220 Der Minister des Kultus und Unterrichts an den Rektor der Universität Freiburg, 13. November 1940, UAFR, B1/ 3363. 221 Günther an den Verwaltungsdirektor der Universität, 29. Juli 1941, UAFR, B1/ 3363. 222 Briefe Günthers an das Reichsministerium für Wisschenschaft, Erziehung und Volksbildung und an das Akademische Rektorat vom Frühjahr 1943, UAFR, B1/ 3363. 223 Stabsamt des Reichsbauernführers an Günther, 9. September 1940, UAFR, B 24/ 1116. 224 Picker, Henry (Hrsg.), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, 4. Aufl. Stuttgart 1983, S. 286, Äußerung Forsters vom 12. Mai 1942. 225 Vgl. Aly, Götz; Heim, Susanne, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt/ Main 1993. Auf S. 160 werden Planungen von 1941 zitiert, wonach in Danzig-Westpreußen für einen Ansiedler zwei Personen evakuiert werden sollten. Beachte: Alys These von der ökonomisch-zweckrationalen Vernichtungspolitik, die in Bezug auf die »Endlösung«, den Völkermord an den Juden, äußerst fragwürdig und umstritten ist, soll hier nicht pauschal, sondern lediglich bezüglich der damals vorrangigen Interessensgebiete des Bauerntumsschwärmers Günther übernommen werden. <?page no="195"?> nenen Ostens mit einem echten Bauerntum« hätte der »nordischgesinnte« Günther gutgeheißen - besonders, wenn es gelänge, »auch skandinavische Bauernsöhne für den Osten zu gewinnen«. 226 Den meisten maßgebenden Köpfen der NSDAP waren die Ideen des »Rassepapstes« zu dieser Zeit schon gleichgültig - bis sich dies 1944 noch einmal schlagartig änderte. Der einst hochgelobte und hochdekorierte Autor geriet in die Schußlinie Bormanns: Sein Buch »Die Unehelichen« wurde nicht zum Druck zugelassen. Günther stritt in dieser Schrift für Ehe und Familie und lehnte entschieden eine Förderung lediger Mütter und Kinder ab. Er hielt solche unverheirateten Frauen für durchschnittlich »erblich minderwertiger« und fürchtete eine »Entartung« des Volkes, falls die Zahl der unehelichen Geburten nicht drastisch gesenkt würde. Er forderte sogar eine entsprechende Verschärfung des Sterilisationsgesetzes. 227 Solche Ideen liefen den Auffassungen von Bormann, Himmler und Hitler völlig entgegen. Um die Kriegsverluste aufzufangen und zwecks »Blutauffrischung« war ihnen jedes Mittel recht - außereheliche Schwängerungen ebenso wie die Einführung der Mehrehe. 228 In dieser späten Kriegsphase waren sie nicht mehr bereit, Günthers Verteidigung der Familie »gegenüber männerbündischen Ideen und einer mißgeleiteten Lobpreisung der unehelichen Geburt« 229 hinzunehmen. Die Bitten des Autors und einiger Fürsprecher nützten nichts - »Die Unehelichen« blieb unveröffentlicht. Nach 1945 versuchte der Verlag Lehmanns, Günther wegen dieses einmaligen Falles von Zensur als verfolgten Autor darzustellen. Einige höchste nationalsozialistische Gönner waren dem »Rassepapst« trotz des Buchverbotes offenbar geblieben. 230 Interessanterweise erhielt Günther im selben Jahr, in dem er dermaßen in Ungnade gefallen war, einen Forschungsauftrag - angeblich aus der Reichskanzlei, anscheinend auch mit Einvernehmen Rosenbergs, zu dem Günther bis ins letzte Kriegsjahr Kontakte pflegte. 231 Nach der Bombardierung Freiburgs im November 1944 zog Günther mit seiner Familie nach Weimar, zu seinem langjährigen Freund Schultze-Naumburg. Dort arbeitete er nach eigenen Angaben an diesem Forschungsprojekt. Ein Ergebnis hat er nicht mehr vorgelegt. Als im Frühjahr 1945 die Sowjettruppen anrückten, floh er Elvira Weisenburger 194 226 Günther an Darré, 13. September 1942, BA, Abt. III (BDC), A 489. 227 Ausführliche Besprechung des unveröffentlichten Manuskriptes bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 390 ff. 228 Siehe Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 395 ff. Die Einführung der Mehrehe erwogen insbesondere Bormann und Himmler. Zu Hitlers Ansicht über »Vielweiberei«, uneheliche Mutterschaft und bürgerliche Vorurteile siehe Picker (wie Anm. 224), S. 117, 289, zu Kontroversen innerhalb der NSDAP vgl. Lilienthal (wie Anm. 67), S. 24 ff. 229 So Wilhelm Hartnacke in einem Geburtstagsartikel über Günther, in: Das Reich, Deutsche Wochenzeitung, 16. Februar 1941. 230 Dazu zählten Frick, Darré, Rosenberg, die allerdings selbst höchstens noch geringen Einfluß besaßen, sowie der Leiter des Rassenpolitischen Amtes, Walter Groß. 231 Briefe Günthers an den Freiburger Rektor und an seinen Kollegen Konrad Günther, Oktober 1944 und Februar 1945, UAFR, B 1/ 3363, Nachlaß Konrad Günther UBFR, IV B 1/ 2. <?page no="196"?> gemeinsam mit seiner Frau und den Töchtern Ingrid und Sigrun zurück nach Freiburg. 232 Mit Kriegsende begann für den »Rassepapst« eine harte Zeit. Im August 1945 nahmen ihn französische Soldaten fest. Drei Jahre und 20 Tage verbrachte er im Internierungslager. Von allen inhaftierten Freiburger Dozenten war Günther am längsten gefangengesetzt. Seine Entlassung aus dem Universitätsdienst am 26. September 1945 war nur noch Formsache. 233 Die »Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie« hatte nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« ihre Existenzberechtigung verloren. Mit Günthers Entnazifizierungsverfahren taten sich sowohl die Spruchkammer als auch der »Senatsausschuß für die politische Bereinigung der Universität« schwer. Den Menschen Hans F.K. Günther beurteilten sie durchaus milde. »Persönlich ist er ein harmloser, sehr weltfremder, aber menschlich durchaus anständiger in seine Bücher vergrabener Stubengelehrter«, befand der Hochschulausschuß - wobei er einräumte, daß Günther vor den nationalsozialistischen »Gewalttaten geradezu die Augen verschloß«. 234 Als problematisch erwies sich die Einschätzung von Günthers Schriften und deren Wirkung. Vorsitzender des Ausschusses war der Historiker und Widerständler Gerhard Ritter. Er setzte sich sehr für den »Rassepapst« ein und ließ dessen Bücher gründlich studieren. Einen weniger gnädigen Kollegen forderte er dazu auf, seine Position zu überdenken. Doch der Botaniker Oehlkers blieb bei seinem kritischen Urteil: In Günthers »Rassenkunde des jüdischen Volkes« sah er ganz klar einen »bewußten Antisemitismus«. Während Ritter dem »Rassepapst« zugute hielt, daß er keine Hetzschriften verfaßt habe, sondern einen »sachlichen« Schreibstil pflege, sah Oehlkers genau hier das Problem: »Umso schlimmer sind die Unterlassungen, Verzerrungen und Willkürlichkeiten, die sich dem kundigen Leser überall aufdrängen«. Letztlich erklärte sich Oehlkers allerdings als persönlich befangen. 235 Im Frühjahr 1947 sandte der Universitätsausschuß schließlich sein Gutachten an die Militärregierung. Darin heißt es über Günther: »Seine Berufung zum Hochschullehrer war ein gröblicher Mißgriff, aber das Zeugnis menschlicher Anständigkeit [...], fern von ehrgeiziger Streberei, dürfen wir ihm nicht versagen. Bei der Entscheidung über sein künftiges Schicksal sollte nicht übersehen werden, daß er seine literarische Wirkung nicht erst dem Nationalsozialismus verdankte, sondern von diesem noch mehr mißbraucht als gefördert worden ist und er sich durch seine Parteimitglied- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 195 232 Günther, Mein Eindruck (Anm. 109), S. 126 ff. 233 UAFR, B 24/ 1116. 234 UAFR, B34 / 72. 235 Oehlkers an Ritter, 17. Februar 1947, UAFR, B 34 / 72, Oehlkers führt als Grund für seine Enthaltung an, »daß ich mit meinem einzigen Sohn, der ein jüdischer Mischling war, etwas erlebt habe, wovon niemand annehmen wird, daß es in dieser Diskussion bei mir keine Rolle spiele«. <?page no="197"?> schaft nicht zu irgend einer Anpassung seiner romantischen Ideenwelt an das militante Parteiprogramm hat verführen lassen [...] Freilich hat ihn seine menschliche Gutherzigkeit nicht gehindert, ohne Protest mitanzusehen, wie die von ihm vertretene Rassentheorie zu den schändlichsten Zwecken mißbraucht wurde [...] - eine Tatsache, die sich aus völliger politischer Blindheit wohl erklären, aber nicht rechtfertigen läßt«. 236 An anderer Stelle attestierte der Hochschulausschuß, daß sich Günther »in seiner Rassenkunde in Grenzen halte, die auch von Gelehrten dieses Zweiges moderner Wissenschaft in anderen Staaten eingehalten werden«. Dies hat dem Gremium später den Vorwurf einer »unsäglichen Naivität« eingebracht. 237 Der politische Beirat der Freiburger Spruchkammer betonte ebenfalls die »persönlich tadelfreie Haltung des Betroffenen«, andererseits verwies er darauf, daß Günther »im ganzen Volk als einer der ursächlichsten Begründer der nazistischen Lehre bekannt ist [...] Es würde im ganzen Volk nicht verstanden werden, wenn der Mann, der in seiner Wirkung mit Rosenberg zu vergleichen ist, nicht als Schuldiger beurteilt werden würde.« 238 Das erste Spruchkammerurteil vom 18. August 1949 239 stufte Hans F.K. Günther als »Minderbelasteten«, also in die mittlere von fünf Bewertungskategorien, ein. Im Berufungsverfahren wurde er 1951 zum »Mitläufer« befördert. 240 Im November des selben Jahres pensionierte das Kultusministerium den 60jährigen ehemaligen Professor. Sein Ruhegehalt belief sich auf 8215 Mark im Jahr. Bereits 1948 hatte die Militärregierung einen Zuschuß in Höhe der halben regulären Pension bewilligt, da Günthers Familie während der Haftzeit des Vaters wieder einmal in finanzielle Not geraten war. 241 Auf ein Publikationsverbot verzichtete die Spruchkammer im Fall Günther. Bald nach seiner Freilassung macht er sich wieder an die schriftstellerische Arbeit. Nachdem die Neuauflage der »Gattenwahl« 1951 so viel Aufruhr verursacht hatte, brachte der einstige »Rassen-Günther« seine neuen Schriften unter Pseudonymen heraus. Als Ludwig Winter veröffentlichte er 1959 ein Buch mit dem Titel »Der Begabungsschwund in Europa«. Es ist ein beredtes Beispiel dafür, daß Hans F.K. Günthers Weltsicht unerschütterlich dieselbe geblieben war. Besorgt warnte er vor einer zunehmenden »Verdummung« der Bevölkerungen Europas und Nordamerikas, weil sich die sittlich Haltlosen unkontrolliert und die Begabten viel zu selten fortpflanzten. Auch der »nordische« Gedanke schwingt in dieser Schrift mit, wenn auch unaufdringlicher als in Günthers Frühwerken. Die Schlußfolgerungen des Autors Elvira Weisenburger 196 236 UAFR, B 24/ 1116. 237 Ferdinand (wie Anm. 17). 238 STAFR, D 180/ 2, Abt. 6, B 38. 239 Dokument in Besitz von Günthers Tochter Ingrid Guzzoni. 240 Ferdinand (wie Anm. 17). 241 UAFR, B 24 / 1116. <?page no="198"?> waren Ende der 50er Jahre die gleichen wie zu Weimarer Zeiten und im »Dritten Reich«: »Der ›Untergang des Abendlandes‹ kann nur durch eine überlegte ›Familienpolitik‹ aufgehalten werden, die von den Tatsachen der Vererbung, Siebung, Auslese und Ausmerze ausgeht«. 242 Die Vision vom vollkommenen Menschen - sie fesselte den 70jährigen Günther ebenso wie einst den Jungautor von »Ritter, Tod und Teufel«. Der gealterte »Rassepapst« ließ in der Bundesrepublik auch Neuauflagen seiner Rassengeschichten der Hellenen und Römer erscheinen; und er schrieb ein zweiteiliges Werk über die Botschaft Jesu - was aber keineswegs bedeutet, daß er auf seine alten Tage zur christlichen Kirchenlehre gefunden hätte. 243 Eine große Lesergemeinde erreichte Günther in der Nachkriegszeit nicht mehr. Trotzdem erinnerten sich ausländische Kreise offenbar noch gerne an ihn: 1953 ernannte ihn die »American Society of Human Genetics« zu ihrem korrespondierenden Mitglied. 244 Ebensowenig wie der Ideologe hatte sich der Pedant Günther im Alter verändert: Als zu seinem 75. Geburtstag eine kurze Notiz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, wonach der Rasseforscher Günther kein Nationalsozialist gewesen sei, schickte er prompt einen Leserbrief, um den Irrtum zu korrigieren. 245 Zur formalen Mitgliedschaft in der NSDAP bekannte er sich also - doch den Vorwurf der Mitschuld konnte und wollte Günther nie akzeptieren. Er zweifelte auch grundsätzlich an den Informationen über die nationalsozialistischen Verbrechen. Davon zeugt eindrucksvoll seine letzte Schrift »Mein Eindruck von Adolf Hitler«: Günther empörte sich darüber, »wieviele Greuel« über das Konzentrationslager Buchenwald »zusammengelogen worden sind«. 246 Den Nationalsozialismus entschuldigte er damit, daß ohne ihn der Bolschewismus gesiegt hätte. Fast trotzig verteidigte er Hitler, dem er vor allem einen Vorwurf machte: mangelnde Menschenkenntnis. Der »Führer« habe eben die falschen »Unterführer« ausgewählt: »Ich möchte auch annehmen, daß Hitler nicht viel erfahren hat von den Torheiten und dem Unfug der vielen ›kleinen Hitler‹«. 247 Die Schrift ist alles andere als eine Auseinandersetzung mit den Realitäten des »Dritten Reiches«. Der »verstiegene Ästhet« 248 Günther analysierte das »Dritte Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 197 242 Winter, Ludwig, Der Begabungsschwund in Europa, Pähl 1959, insbesondere S. 138. 243 Ackermann, Heinrich, Jesus. Seine Botschaft und deren Aufnahme im Abendland, Göttingen 1952; ders. Entstellung und Klärung der Botschaft Jesu, Pähl 1961. Günther fordert darin anstelle von Jesu außerweltlichem Gott einen innerweltlichen Gott der Völker indogermanischer Sprache. Über den Buddhismus hat Günther in dieser späten Lebensphase auch gearbeitet. Zu Günthers religiösen Vorstellung siehe Becker (wie Anm. 39), S. 278 ff., 289. 244 UAFR, B 24/ 1116. Wohlwollen brachte Günther auch die 1957 in Großbritannien gegründete »Northern League«, ein Sammelbecken für Nordischgesinnte, entgegen, siehe Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 402. Einige Buchtitel Günthers erschienen nach 1945 auch in englischer und französischer Übersetzung. 245 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Februar und 7. März 1966. 246 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 126. 247 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 57. 248 Günther machte sich darüber lustig, daß er von Kritikern so charakterisiert würde, s. Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 78. <?page no="199"?> Reich« auf seine typische Art und Weise. »Hat nun Hitler aus ›Tristan und Isolde‹ die Schopenhauersche ›Metaphysik‹ zu hören vermocht? « - Diese Frage versuchte er seitenlang zu beantworten. 249 Die Schuldfrage aber stellte sich Günther nicht. Kritik an der von ihm befürworteten menschenunwürdigen Politik der Zwangssterilisationen hätte er rundweg abgelehnt. Er empfahl auch der Bundesrepublik die Wiedereinführung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuches«. 250 Einen Zusammenhang zwischen dem Massenmord an »fremdrassigen« und »minderwertigen« Menschen und der eigenen Lehre sah Günther nicht. Er verwies in seiner Spätschrift darauf, Hitler habe - im Gegensatz zu ihm - unter »Rassenfrage« vermutlich nur die »Judenfrage« verstanden. Und er konnte angeblich nicht verstehen, daß im »Dritten Reich« »törichterweise das Wort Herrenrasse auf die Deutschen unserer Zeit angewandt« wurde. 251 Gewiß: Günther hat nicht verschwiegen, daß seine »edlen Menschen« ferne Zielbilder seien. Er hat auf die Rassenmischung im deutschen Volk aufmerksam gemacht. Und zur Tötung hat er nie aufgerufen. Er hat unterschieden zwischen dem »Recht zu leben und dem Recht, Leben zu geben«. 252 Daß er jedoch radikaleren Ideologen vorarbeitete, indem er alles Fremde penetrant ablehnte, Menschen immerzu nach seinen subjektiven Qualitätsnormen klassifizierte und ihnen das Recht auf Kinder absprach - dies beschäftigte den »Rassen-Günther« nicht. Moralische Bedenken solcher Art waren ihm fremd. Ebenso fremd wie der Zeitgeist im Nachkriegsdeutschland. In seinem letzten Buch bekannte der 77jährige Günther, er habe eingesehen, daß »das Zeitalter, zu dem ich nach meiner Veranlagung gehörte und gehöre, schon 1919 abgeschlossen worden war«. 253 Die Veröffentlichung seiner Altersschrift hat er nicht mehr miterlebt. Am 25. September 1968 verstarb Hans F.K. Günther überraschend in Freiburg. Die bundesrepublikanische Öffentlichkeit nahm vom Tod des einstigen »Rassepapstes« kaum Notiz. Bibliographie Quellen Umfangreiches, wenn auch lückenhaftes Quellenmaterial über Günthers Professorendasein während des Krieges und über das universitätsinterne Entnazifizierungsverfahren der Nachkriegszeit befindet sich im Universitätsarchiv Freiburg. Aus dem Spruchkammerverfahren gegen Günther sind lediglich kleine Splitter im Staatsarchiv Freiburg erhalten. Die Bedeutung Elvira Weisenburger 198 249 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 75 f. 250 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 94. 251 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 93. 252 Günther, Führeradel durch Sippenpflege (wie Anm. 163), S. 26. 253 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 139. <?page no="200"?> des Rassekundlers Günther, seine Beurteilung durch die öffentliche Meinung, die Kontroverse um seine Lehre erschließt sich aus rassekundlichen Publikationen und aus zahllosen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften der Weimarer und der nationalsozialistischen Presse, darunter auch der biographische Abriß von Eugen Fischer, Der Rassen-Günther, in: Mein Heimatland, Badische Blätter für Volkskunde, Heimat- und Naturschutz, Denkmalpflege, Familienforschung und Kunst, Heft 5/ 6 (1935), S. 219 ff., sowie der lobpreisende, aber materialreiche biographische Aufsatz von Lothar Stengel-von Rutkowski, Hans F.K. Günther, der Programmatiker des Nordischen Gedankens, in: NS-Monatshefte 6 (1936), S. 962 - 998 und 1099 - 1114. Ergiebige Quellen sind Günthers eigene Schriften. Seine Spätschrift »Mein Eindruck von Adolf Hitler« (1969) bringt keinerlei neuen Erkenntnisse über das »Dritte Reich«, gibt jedoch interessanten Aufschluß über Günthers Persönlichkeit und seinen Starrsinn. Sie ist 1990 unter dem Titel »Ma témoignage sur Adolf Hitler« auch auf Französisch erschienen. Literatur Eine umfassende Biographie über Günther existiert nicht, aber die bis heute grundlegende und mit rund 400 Seiten umfangreichste Studie über den Wegbereiter der Nordischen Bewegung, seine Lehre und seinen ideologischen Hintergrund hat Hans-Jürgen Lutzhöft, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920 - 1940, Stuttgart 1971, vorgelegt. Diese Arbeit enthält auch eine nahezu vollständige Bibliographie. Zur Einführung geeignet ist der thematisch übersichtlich gegliederte, streckenweise allzu sehr auf Günthers eigenen Aussagen basierende Aufsatz von Peter Emil Becker. In Gesamtdarstellungen zum Nationalsozialismus finden sich häufig nur kurze Erwähnungen Günthers. Eine Kurzbiographie von Horst Ferdinand wird demnächst in den Baden-Württembergischen Biographien erscheinen. Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 199 <?page no="202"?> Richter der »alten Schule« Alfred Hanemann, Edmund Mickel, Landgerichtspräsidenten und Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim Michael Kißener Alfred Wilhelm Carl Hanemann * 6. August 1872 Rastatt, ev., Vater: Wilhelm Hanemann, Buchhändler, Mutter: Melanie, geb. Schweitzer, verheiratet seit 1. Oktober 1906 mit Dorothea, geb. Mohr, ev., 2 Kinder. 1878 - 1882 Volksschule Rastatt, 1882 - 1888 Gymnasium Rastatt, 1888 - 1891 Gymnasium Mannheim, 1891 Abitur, 1. Oktober 1891 Einjährig-Freiwilliger bei der 4. fahrenden Batterie Thüringisches Feldartillerie Regiment Nr. 19, 1891 Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und München, 6. August 1895 Promotion zum Dr. jur. (»cum laude«), zugleich I. juristisches Staatsexamen (»befriedigend«), 1895 Rechtspraktikant, 1898 II. juristisches Staatsexamen (»gut«), Juli 1898 Referendar, 1898/ 99 Amtsanwalt in Offenburg und Mannheim, 1899 Leutnant d. Lw., 1. Januar 1900 Amtsrichter in Meßkirch, 1900 - 1903 Richter und Bezirkshauptmann in Deutsch-Südwestafrika, 1903 Amtsrichter in Mannheim, 1905 Oberamtsrichter in Mannheim, 1905 Oberleutnant d. Lw., 1912 Landgerichtsrat in Mannheim, 19. November 1912 Hauptmann d. Lw., 1. August 1914 - 15. Dezember 1918 Kriegsteilnehmer als Hauptmann der Landwehr, EK I und II sowie 10 weitere militärische Auszeichnungen, Entlassung als Major der Landwehr, 1920 Oberlandesgerichtsrat in Karlsruhe, 1920/ 21 Hilfsarbeiter bei der Reichsanwaltschaft in Leipzig, 1921 Landgerichtsdirektor in Mannheim, 1933 Präsident des Landgerichts Mannheim, Vorsitzender des Sondergerichts Mannheim, Vorsitzender der Dienststrafkammer für nichtrichterliche Beamte, 1934 - 1944 Stellv. Vorsitzender des Schiedsgerichts für landwirtschaftliche Marktregelung beim Reichsnährstand und Vorsitzender des Jägerehrengerichts Baden-Nord, 1. Oktober 1937 Ruhestand, 1939 - 1941 (aushilfsweise) Angestellter im höheren Dienst beim Polizeipräsidium Mannheim. Alfred Hanemann 201 <?page no="203"?> 1919/ 1920 »Unterführer« in der Einwohnerwehr Mannheim, 1922 - 1924 MdL Baden (DNVP), 1924 - 1933 MdR (DNVP), Mitglied des »Stahlhelm«, Bund der Frontsoldaten, des Badischen Richterbundes und des Kanoniervereins Mannheim, 1. Oktober 1933 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 2.090.248), 1934 - 1945 Mitglied der NSV, des NSRB, des NS-Reichskriegerbundes, des Reichskolonialbundes, der Deutschen Jägerschaft. 2. Januar 1946 Einstellung der Pensionszahlung auf Anordnung der Militärregierung Nordbaden, 2. November 1946 Entscheidung der Spruchkammer Mannheim: »Mitläufer«, 31. Oktober 1947 Anweisung zur Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Ministerium für politische Befreiung, 3. Mai 1948 Zweite Entscheidung der Spruchkammer Mannheim: Bestätigung des Spruchs vom 2. November 1946, 10. Oktober 1948 Fortzahlung der Versorgungsbezüge, † 2. Februar 1957 Hinterzarten. Edmund Heinrich Mickel *9. August 1875 Epfenbach (Kreis Sinsheim), ev., Vater: Edmund Mickel, ev. Pfarrer, Mutter: Pauline, geb. Spies, ledig. Volksschule, 1887 Gymnasium Heidelberg, 1893 - 1897 Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und München, 1897 I. juristisches Staatsexamen (»hinlänglich«), 1900 II. juristisches Staatsexamen (»hinlänglich«), 18. Juli 1900 Referendar, 1. Oktober 1900 Einjährig-Freiwilliger im 2. Bayr. Fußartillerie- Regiment, 26. November 1903 Leutnant d. Res., 1904 - 1906 Amtsrichter in Buchen, 1906 Amtsrichter in Mannheim, 1907 Hilfsrichter am Landgericht Mannheim, 1908 Landrichter am Landgericht Mannheim, 1909 Landgerichtsrat am Landgericht Mannheim, 1909 - 1920 Staatsanwalt in Mannheim, 1911 Oberleutnant d. Res., 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, 1914 Hauptmann, 1. November 1918 schwere Verwundung am linken Oberschenkel und Kopf, 40% kriegsbeschädigt, EK I und II, Bayrischer Militärorden mit Krone und Schwertern, Ehrenkreuz für Frontkämpfer, 16. August 1919 entlassen, Major d. Lw. d. Res., 1920 - 1923 Staatsanwalt in Heidelberg, 1923 - 1931 Oberstaatsanwalt in Mannheim, 1931 Landgerichtsdirektor am Landgericht Mannheim, Strafkammervorsitzender, Vorsitzender des Schwurgerichts, Stellv. Vorsitzender der Dienststrafkammer für nichtrichterliche Beamte und seit 1933 stellv. Vorsitzender des Sondergerichts sowie Vertreter des Landgerichtspräsidenten, Justitiar der Reichsbankhauptstelle Mannheim, 1. April 1938 Präsident des Landgerichts Mannheim und Vorsitzender des Sondergerichts Mannheim, 1. Juni 1942 Ruhestand, Weiterverwendung auf Widerruf, 24. Februar 1945 Vorsitzender des Standgerichts Mannheim. Edmund Mickel Michael Kißener 202 <?page no="204"?> 1893 Mitglied der Burschenschaft »Frankonia«, später eines »Waffenringes« schlagender Verbindungen, 1909 - 1914 Mitglied der Nationalliberalen Partei, 1925 Mitglied des Mannheimer Altertumsvereins, bis 1933 Mitglied des badischen Richterbundes und des deutschen Richterbundes, 1934 - 1945 Mitglied des NSRB, RDB, NS-Altherrenbund, der NSV und des RLB 5. Mai 1945 Gefangennahme, Inhaftierung im Gefängnis Heidelberg, im Freilager Böhl/ Pfalz, dann Internierungslager Ludwigsburg, schließlich im Hospital 2 in Karlsruhe, Aussetzung der Pensionszahlungen, Einziehung des Vermögens, 24. Juli 1946 Entlassung, 9. Januar 1949 Entscheidung der Zentralspruchkammer Karlsruhe: »nicht belastet«, gest. 10. Februar 1949. Mit der Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 12. Januar 1946 und dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 leiteten die alliierten Besatzungsbehörden nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Untergang des »Dritten Reichs« eine umfassende »Entnazifizierung« der deutschen Bevölkerung ein, der insbesondere auch die deutsche Justiz unterworfen werden sollte. Als mutmaßliche Handlanger und Exekutoren des nationalsozialistischen Unrechtsregimes sollten gerade Richter und Staatsanwälte in leitenden Stellungen für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden. Ihre Schuld an der verhängnisvollen Entwicklung der Jahre 1933 - 1945 schätzten die Besatzer hoch ein. Gleich nach den »Hauptbeteiligten« seien sie als »Belastete« anzusehen und mit erheblichen Sühnemaßnahmen zu belegen: bis zu fünf Jahren Arbeitslager, Vermögenseinzug, Verlust der Pension u.a. war ihnen aufzuerlegen, wenn sich in einem Spruchkammerverfahren herausstellte, daß sie »im Dienste des Nationalsozialismus in die Rechtspflege eingegriffen oder [ihr] Amt als Richter oder Staatsanwalt politisch mißbraucht« hatten. 1 So mußten auch Dr. Alfred Hanemann und Edmund Mickel, zwei schon über 70 Jahre alte »Ruheständler«, die Präsidenten des Landgerichts und als solche auch Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim gewesen waren, zum ersten Mal in ihrem Leben als »Betroffene« vor ihre Richter treten. Hanemann und Mickel schienen buchstäblich die Welt nicht mehr zu verstehen. Treu und pflichteifrig hätten sie doch immer nur dem Staat gedient, über 40 Jahre »ehrenvoll und einwandfrei«, dabei »gerecht, menschenfreundlich und parteilos«, wie Hanemann betonte, judiziert und, so Edmund Mickel, ihre »richterliche Ehre immer reingehalten«. 2 Obwohl sie als Vorstand eines der zunächst 26, später weit über 50 Sondergerichte, die nach einem Ausspruch des berüchtigten Roland Freisler 3 die »Panzertruppe der Rechtspflege« A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 203 1 Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Im Namen des deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, Köln 1989, S. 314-319, Vollnhals, Clemens (Hrsg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945 - 1949, München 1991, S. 107-118, 262-272. 2 Hanemann an OLG-Präsident Martens, 5. April 1946, GLA 466, 8416; Rechtsanwalt K.C. an Spruchkammer Heidelberg, 18. März 1947, GLA 465a, 59/ 1/ 15912 [Spruchkammerakte Mickel]. 3 Roland Freisler (1893 - 1945), 1934 - 1942 Staatssekretär im preußischen und Reichsjusitzministerium, 1942 - 1945 Präsident des Volksgerichtshofes. <?page no="205"?> gewesen waren, amtiert hatten, vermochten sie eine Reihe von »Beweisen« vorzulegen, die ihr Wirken in einem milderen, unspektakulären Licht zeigten. Von »Blutjustiz«, von »verbrecherischer Jurisdiktion« oder einer »beispiellosen justitiellen Todesernte«, die in der einschlägigen Literatur immer wieder als Kennzeichen sondergerichtlicher Tätigkeit angeführt werden, war demnach in Mannheim kaum etwas zu erkennen. 4 Tatsächlich charakterisierten solche Vorstellungen neuen rechtsgeschichtlichen Forschungen zur Mannheimer Sondergerichtsbarkeit zufolge auch den Alltag des Sondergerichts nur in Ausnahmefällen. 5 Und dennoch hatten Hanemann und Mickel, wie zu zeigen sein wird, einen erheblichen Anteil an der Verwirklichung des nationalsozialistischen Totalitarismus im deutschen Südwesten - freilich ohne daß dies von einer Spruchkammer der Nachkriegszeit im Geflecht starrer, formal definierter Schuldvermutungen aburteilbar gewesen wäre. Der Lebenslauf Hanemanns und der seines nur um drei Jahre jüngeren Amtskollegen und Nachfolgers Mickel weisen über weite Strecken hinweg zahlreiche Parallelen auf und entsprechen weitgehend dem idealtypischen Berufsweg eines Richters der Kaiserzeit. 6 Beide stammten aus von protestantischer Gläubigkeit geprägten badischen Elternhäusern, die der bürgerlichen Mittelschicht zuzuordnen waren. Hanemanns Vater war Buchhändler, Mickels Vater evangelischer Pfarrer. Die gesicherten finanziellen Verhältnisse des Elternhauses ermöglichten ihnen nach dem üblichen schulischen Werdegang über Volksschule und Gymnasium das rechtswissenschaftliche Studium an der ehrwürdigen alten Heidelberger Universität und die kostspielige Ausbildung zum Richteramt. Wie viele Söhne aus emporstrebenden bürgerlichen Schichten wählten sie damit einen Beruf, der als prestigeträchtig und Achtung gebietend angesehen wurde. Beiden war auch ein einsemestriger Studienaufenthalt in München vergönnt, Hanemann sogar die Promotion zum Dr. jur., ohne dazu eine schriftliche Dissertation anfertigen zu müssen. 7 Michael Kißener 204 4 Wüllenweber, Hans, Sondergerichte im Dritten Reich. Vergessene Verbrechen der Justiz, Frankfurt/ Main 1990, S. 2, 18, 42. Obwohl der Autor (S. 42/ 43) auf der Grundlage der vorangegangenen Forschung zu einzelnen Sondergerichten des »Dritten Reiches« durchaus die Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtung der sondergerichtlichen Tätigkeit erwähnt, verwendet er an anderen Stellen dennoch die zitierten Epitheta zur allgemeinen Charakterisierung der Sondergerichte. 5 Siehe hierzu grundlegend Oehler, Christiane, Die Rechtsprechung des Sondergerichts Mannheim 1933 - 1945, Diss. jur. [Masch.], Freiburg 1992. Die Drucklegung der Arbeit ist in Vorbereitung. 6 Siehe zusammenfassend: Angermund, Ralph, Deutsche Richterschaft 1919 - 1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung, Frankfurt/ Main 1990, S. 22-24 sowie Majer, Diemut, Richter und Rechtswesen, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 46-73, hier S. 68-70 und speziell zu den badischen Verhältnissen Kißener, Michael, Widerstand und Verfolgung in der Justiz. Richter am Amts- und Landgericht Karlsruhe 1933 - 1945, in: Geschichte in Verantwortung, Festschrift für Hugo Ott, hrsg. v. H. Schäfer, Frankfurt/ Main, New York 1996, S. 213 - 237. 7 UAHD, Studentenakten 1880 - 1900, Alfred Hanemann, Edmund Mickel; UAHD, H II-111/ 110 Promotion Alfred Hanemann, UAM WS 1892/ 93 und SS 1895. <?page no="206"?> Edmund Mickel engagierte sich gleich zu Beginn seiner Heidelberger Studienzeit, dem traditionellen studentischen Komment verpflichtet, in der Burschenschaft »Frankonia«, deren Wurzeln weit zurück in den Beginn des 19. Jahrhunderts reichen. Seit 1858 hatte sich die Frankonia den Wahlspruch »Einig und treu« gegeben und fühlte sich den Prinzipien »Sittlichkeit, Wissenschaft, Vaterlandsliebe« verpflichtet. 8 1860 war die unbedingte Satisfaktionspflicht eingeführt worden, um die Ehre der Verbindung zu schützen. Obwohl die Frankonia ihrer Satzung entsprechend »keinem politischen System huldigen noch weniger für Parteien stimmen« wollte, bemühte man sich doch, die Mitglieder »zu regem Anteil am politischen Leben« zu motivieren. 9 Daraus erwuchs ein überaus starkes nationales Engagement, das auch das badische Kultusministerium der Verbindung anerkennend bescheinigte. 10 Der angestrebten Standesehre ganz entsprechend meldeten sich beide Studenten als Einjährig-Freiwillige zum Militärdienst, mit dem Ziel, den gesellschaftlich hoch angesehenen Rang eines Reserveoffiziers zu erlangen. 11 Hanemann begann seine militärische Laufbahn bei der thüringischen, Mickel nach dem Studium bei der bayrischen Artillerie, einer Waffengattung, die sie zeit ihres Lebens bewunderten und für die sie sich später noch mit Stolz in »Kanoniervereinen« engagierten. Beide erlangten schließlich dann auch das begehrte Offizierspatent und brachten es nach mehreren Wehrübungen und Einsatz im Ersten Weltkrieg zum Dienstgrad eines Majors. In den großen Krieg zogen sie wie so viele ihrer Generation gleich zu Beginn der Kampfhandlungen mit Begeisterung. In den unterschiedlichsten Verwendungen, vornehmlich an der Westfront, und als Teilnehmer an vielen der in die Kriegsgeschichte eingegangenen verlustreichen Schlachten (Somme, Verdun, Champagne, Aisne) zeichneten sie sich durch außerordentliche Tapferkeit und Einsatzbereitschaft aus und erhielten dafür zahlreiche militärische Auszeichnungen. 12 Diese überaus patriotische Einstellung teilte auch Hanemanns Frau Dorothea, die 1918 für ihre Hilfsdienste in der Heimat das Kriegshilfekreuz erhielt. 13 Mickel mußte noch A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 205 8 Locher, Torsten, Burschenschaft Frankonia in der DB, in: »... Weiland Bursch zu Heidelberg ...« Eine Festschrift der Heidelberger Korporationen zur 600-Jahrfeier der Ruperto Carola, bearb. v. G. Berger, D. Aurand, Heidelberg 1986, S. 127-131, hier S. 127. 9 UAHD, A-741, VII 2, Nr. 193, 1860 - 1910, Verfassung und Mitglieder der Burschenschaft Franconia zu Heidelberg 1856-1896, Heidelberg 1896, §§ 5 und 9, S. 6 f. 10 Ministerium des Kultus und Unterrichts an Engeren Senat der Universität Heidelberg, 14. Februar 1919, UAHD, B 8410/ 29 (VII,2 Nr. 276b). Anlaß des Schreibens war die Drohung der Auflösung der Burschenschaft wegen ungebührlichen Verhaltens einiger Mitglieder am Kriegsende. Wegen des »vaterländischen Geistes, der sich vor allem in der grossen Zahl ihrer im Kriege gefallenen und verwundeten Angehörigen zeigt« wurde von einer Auflösung der Buschenschaft jedoch abgesehen. 11 Vgl. John, Hartmut, Das Reserveoffizierskorps im Deutschen Kaiserreich 1890 - 1914. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag zur Untersuchung der gesellschaftlichen Militarisierung im Wilhelminischen Deutschland, Frankfurt/ Main, New York 1981, S. 60, 286-314. 12 Lebenslauf Hanemanns in GLA 466, 8416 [Personalbogen vom 11. Februar 1946], GLA 456, 4242 [Offiziersakte]; Lebenslauf Mickels GLA 465c, 2167, Personalblatt der Fachschaft Justiz in der NSDAP Gauleitung Baden, 16. September 1936 und BayHSTAM Abt. IV Kriegsarchiv, OP 26932 [Offiziersakte]. <?page no="207"?> in den letzten Kriegstagen seinen soldatischen Wagemut mit einer schweren Verwundung bezahlen. Am 1. November 1918 wurde er im Rückzugsgefecht vor der Antwerpen-Maasstellung bei einem Granatwerferüberfall am linken Oberschenkel und Kopf so schwer verletzt, daß seine Gesundheit erst nach einem dreiviertel Jahr wiederhergestellt war. Zurück blieb eine 40% Kriegsversehrtheit. Das Kriegsende eröffnete Hanemann und Mickel zunächst die Möglichkeit, den eingeschlagenen Berufsweg fortzusetzen und sich auf der Grundlage ihrer durchaus überdurchschnittlichen fachlichen Fähigkeiten für verantwortungsvolle Dienststellungen zu qualifizieren. Hanemann hatte sich schon vor dem Krieg auf verschiedenen Richterstellen hervorgetan, war drei Jahre lang als Richter und Bezirkshauptmann in Deutsch-Südwestafrika tätig gewesen, dann aber aus familiären Gründen in den badischen Staatsdienst zurückgekehrt und Landgerichtsrat in Mannheim geworden. Sein Interesse an den Kolonien und ihrem wirtschaftlichen Nutzen für das Deutsche Reich war weiterhin bestehen geblieben. 1905 hatte das badische Justizministerium genehmigt, daß Hanemann Mitglied im Gründungskomitee bzw. im Aufsichtsrat einer zu gründenden Gesellschaft zur Erforschung und Ausbeutung der im Bezirk Swakopmund gelegenen Kupferminen wurde. 14 Jetzt, nach dem Krieg, wurde er in kurzen Abständen zum Oberlandesgerichtsrat, dann zum Hilfsarbeiter bei der Reichsanwaltschaft in Leipzig und schließlich 1921 zum Landgerichtsdirektor befördert. 15 Mickel, der schon 1909 aus dem Richterdienst zur Staatsanwaltschaft gewechselt war, wurde nach kurzer Tätigkeit in Heidelberg Oberstaatsanwalt in Mannheim und 1931 dann ebenfalls Landgerichtsdirektor am Landgericht Mannheim. 16 Wichtiger als dieser erfolgreiche Aufstieg dürften für die berufliche und politische Einstellung der beiden vom Kriegsende und der nationalen Demütigung im Versailler Vertrag tief enttäuschten Juristen aber eine Reihe einschneidender Ereignisse geworden sein, die sie in der jungen badischen und Weimarer Republik miterlebten. Die Ungewißheit der politischen Fortentwicklung, die katastrophale Ernährungslage und die wirtschaftliche Abschneidung der Handelsstadt Mannheim von der französisch besetzten Pfalz führten in Nordbaden zu erheblichen politischen Unruhen. Schon am 9. November 1918 hatte sich unter Führung des USPD-Funktionärs Adolf Schwarz ein Soldatenrat in Mannheim konstituiert, der die Bildung einer sozialistischen Republik in Baden anstrebte. Zwar arbeitete dieser mit der vorläufigen Volksregierung, die den Großherzog schließlich zur Abdankung bewegte, zusammen, doch mischten sich die Soldatenräte mit ihren beanspruchten Kontrollbefugnissen Michael Kißener 206 13 Sonderabdruck des Badischen Staatsanzeigers, Jahrgang 1918, Karlsruhe 1919, Sp. 629. 14 Badisches Justizministerium an Alfred Hanemann, 21. Juni 1905, Oberlandesgericht Karlsruhe, Personalakte Hanemann. 15 Siehe Anm. 12. 16 Siehe Anm. 12. <?page no="208"?> so in die Verwaltung und nicht zuletzt auch in das Mannheimer Gerichtswesen ein, daß der ordentliche Dienstablauf erheblich behindert wurde. Auf den Straßen agitierten Sozialisten und Kommunisten, und als die Nachricht eintraf, daß der bayrische Ministerpräsident, der Sozialist Kurt Eisner, einem Attentat zum Opfer gefallen war, riefen die Gewerkschaften am 22. Februar 1919 zum Generalstreik auf und versammelten rund 10.000 Menschen zu einer Trauerkundgebung. Die Kommunisten nutzten die Gärung aus und riefen eine Räterepublik aus. Mit etwa 1.000 Anhängern zogen sie zum Mannheimer Schloß, wo sich u.a. auch die Justizbehörden befanden. Gefangene wurden befreit, Justizakten verbrannt, und anschließend drängte die Menschenmenge plündernd in die Mannheimer Oststadt. Da die schwachen Polizeikräfte und die regulären Truppen nicht Herr der Lage wurden, zudem Schießereien zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten stattfanden, wurde die Stadt von badischen Truppen und Reichskontingenten zerniert. Mit dem Einmarsch des 2. badischen Freiwilligen-Bataillons am 7. März 1919 hatte der Linksputsch schließlich ein Ende, doch zeigte sich die Notwendigkeit, die entstehenden neuen staatlichen Strukturen vor den Umsturzabsichten der politischen Linken zu schützen. Die erste badische Regierung bemühte sich daher umgehend um den Aufbau kasernierter Polizeieinheiten, die auf Anweisung des Reichsinnenministers durch Einwohnerwehren unterstützt werden sollten. 17 Einer der Führer und Organisatoren dieser Einwohnerwehr in Mannheim wurde Alfred Hanemann. 18 Über die Tätigkeit der Mannheimer Einwohnerwehr ist nur wenig überliefert. Nach Art der freiwilligen Feuerwehren kamen die ehrenamtlichen und nur leicht bewaffneten Mitglieder zu regelmäßigen Übungen zusammen, deren Ziel die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Wohnbezirken Mannheims war. Dem zeitgenössischen Bericht des badischen SPD-Innenministers Adam Remmele ist zu entnehmen, daß die Mannheimer Einwohnerwehr im Gegensatz zu den meisten anderen im Lande eine ansehnliche Stärke erlangte und zu einem geringen Teil sich auch Sozialdemokraten darin betätigten. 19 Das war keineswegs selbstverständlich, denn obwohl sie dem Schutz der jungen Republik dienen sollten, engagierten sich wohl mehrheitlich Gegner des neuen politischen Systems darin, vor allem, um sozialistischen und kommunistischen Umsturzbestrebungen aktiv und legal entgegenwirken zu können. 20 A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 207 17 Remmele, Adam, Staatsumwälzung und Neuaufbau in Baden. Ein Beitrag zur politischen Geschichte Badens 1914/ 24, Karlsruhe 1925, S. 18-63; Steinbach, Lothar, Mannheim - Erinnerungen aus einem halben Jahrhundert. Sozialgeschichte einer Stadt in Lebensbildern, Stuttgart 1984, S. 264-270. 18 StAMA, S 1/ 2281, Mannheimer Tageblatt, 29. September 1937. 19 Remmele (wie Anm. 17), S. 82. StAMA, S 2/ 1221f, General-Anzeiger Nr. 333, 23. Juli 1919 und Nr. 3, 3. Januar 1920 weisen auf einen insgesamt jedoch sehr geringen Anteil von Mitgliedern der politischen Linken hin. Daß die Mannheimer Wehr eine der aktivsten in Baden gewesen sein dürfte, deuten die Spuren ihrer Tätigkeit in einem Dossier des badischen Staatsministeriums an: GLA 233/ 12479. 20 Benz, Wolfgang, Süddeutschland in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1918 - 1923 (Beiträge zu einer kritischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 4), Berlin <?page no="209"?> Dies dürfte mit ziemlicher Sicherheit auch der Grund für Hanemanns Einsatz gewesen sein, denn etwa zur gleichen Zeit trat er der Deutschnationalen Volkspartei bei, einer politischen Vereinigung, die dem Weimarer Parlamentarismus ablehnend gegenüberstand. In den »Grundsätzen« der DNVP aus dem Jahr 1920 wurde die Revolution des Jahres 1919 als »große Verbrecherin, die Sittlichkeit, Staatsordnung und Wirtschaft zertrümmerte« und Deutschland der »Verachtung der Welt« preisgegeben habe, angegriffen. Die DNVP forderte die »nationale Wiedergeburt« unter der Herrschaft des wieder einzuführenden Hohenzollerschen Kaisertums, das Deutschland »auf den Gipfel der staatlichen Macht geführt« habe. Ein starker, nationaler Staat müsse geschaffen werden, der den Schutz deutschen Volkstums garantiere und - für den ehemaligen Kolonialbeamten Hanemann gewiß nicht ohne Bedeutung - die alten Kolonien wiedererwerbe. Auf rechtspolitischem Gebiet verlangte die DNVP: »Der starke Staat, den unser Volk braucht, verlangt zumal bei der jetzigen parlamentarischen Regierungsform eine kraftvolle vollziehende Gewalt und einen festgefügten, planmäßigen Behördenaufbau. Dazu gehört ein den Parteieinflüssen entzogenes Berufsbeamtentum und die Erhaltung seiner bewährten Berufsauffassung. Die richterliche Unabhängigkeit ist zu wahren. Rechtspflege und Verwaltung sind allein nach sachlichen Rücksichten auszuüben. Die Verwaltung ist zu vereinfachen und im sozialen Geiste zu führen; an die Stelle der seit der Revolution eingerissenen Verschwendung öffentlicher Gelder muß wieder strenge Sparsamkeit treten. [...]«. 21 Mit diesen programmatischen Forderungen waren Hanemanns politische Vorstellungen und sein politischer Aktionsrahmen für die kommenden Weimarer Jahre präzise umschrieben. Zunächst als Abgeordneter der DNVP im Badischen Landtag setzte er sich mit auffallendem Eifer für die richterliche Standesehre, für eine nur »langsame und organische« Weiterentwicklung der seiner Auffassung nach so bewährten Rechtspflege der Kaiserzeit, gegen die Lockerung der Strafbarkeit von Abtreibung und Homosexualität und rundweg gegen alle Reformvorstellungen der politischen Linken ein. Vor allem aber war ihm der Kampf gegen jede politische Michael Kißener 208 1970, S. 273, 283. Remmele setzte der Auflösungsverfügung dieser Verbände, die von der Interalliierten Militärischen Kontrollkommission im April 1920 ausgesprochen wurde, denn auch keinen Widerstand entgegen, hatten sich einige Verbände im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch doch deutlich republikfeindlich gezeigt. Den Erinnerungen des Württembergers Paul Hahn zufolge führten die Verbände zu der »Groteske, daß eine Regierung, in der die Sozialisten die Mehrheit hatten, von ihren Gegnern geschützt wurde«. Siehe Hahn, Paul, Erinnerungen aus der Revolution in Württemberg, Stuttgart 1922, S. 112 f. 21 Abdruck der »Grundsätze« in: Liebe, Werner, Die Deutschnationale Volkspartei 1918 - 1924 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 8), Düsseldorf 1956, S. 112-119, hier S. 114 f. <?page no="210"?> Beeinflussung der Justiz und jede Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit ein Hauptanliegen. Schon die Forderung nach Loyalität des Richters gegenüber der herrschenden Staatsform, die der Amtseid verlangte, stellte er als Zumutung und parteipolitische Beeinflussung dar: »Man soll auch nicht vergessen, daß die Richter auch Männer sein sollen, die nicht von heute auf morgen ihre Gesinnung umkrempeln, sondern Personen, denen bei der Rechtssuche die Staatsform etwas absolut gleichgültiges [sic] sein muß, sonst verletzen sie eben das Gesetz, und sie verwirken das Recht, als Hüter des Gesetzes und als Hüter des Rechts gelten zu können.« 22 Daß diese Auffassung selbst schon ein Politikum war, das letztlich den Richter auf die reaktionären Ziele seiner Partei zu verpflichten suchte, wollte oder konnte Hanemann nicht einsehen. Die Forderung des berühmten Heidelberger Rechtswissenschaftlers (ab 1926) und SPD-Reichsjustizministers Gustav Radbruch (1921 - 1922, 1923), die überwiegend noch obrigkeitsstaatliche Haltung des Justizpersonals aufzubrechen und neueinzustellenden Richtern ein lebendiges Bekenntnis zur Demokratie abzuverlangen, griff er daher mit Nachdruck an. Demokratisches Denken blieb Hanemann völlig fremd. Die Kaiserzeit war sein politisches Vorbild und deshalb wandte er sich mit Empörung in einer Anfrage an die Regierung, als 1923 bei dem Gautag der südbadischen Kriegervereine in Kandern von der Polizei zwei alte Schwarz-Weiß-Rote Fahnen mit der Begründung eingeholt wurden, daß nur eine Beflaggung mit badischen oder Schwarz-Rot-Goldenen Reichsfahnen zulässig sei. 23 In diesem Bestreben, zu den alten, vermeintlich guten Verhältnissen der Kaiserzeit zurückzufinden, einen starken vom Meinungs- und Parteienstreit freien Staat herzustellen, ebnete er den noch radikaleren nationalsozialistischen Agitatoren, die schließlich jene von Hanemann so beschworene richterliche Unabhängigkeit gänzlich auslöschen sollten, den Boden. Ohne Wertschätzung für die durch die Republik gewährten bürgerlichen Rechte, die ja auch seine Meinungsfreiheit schützten, setzte er sich in den Jahren schwerer innenpolitischer Auseinandersetzungen für die Zulassung einer Ersatzorganisation der verbotenen NSDAP in Baden ein. Als der SPD- Minister Adam Remmele ihn in einer stürmisch verlaufenen Landtagssitzung einmal darauf aufmerksam machte, daß er den schlimmsten Republikfeinden dadurch erst Bedeutung verleihe und wohl Interesse an dieser Partei habe, antworteten Hanemann und sein Parteifreund Schmidt-Bretten in völliger Verkennung der Lage: »An allem, was national ist, haben wir Interesse«. 24 Vermutlich aufgrund seines auffallenden Einsatzes, der ihm den Ruf eines uner- A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 209 22 Verhandlungen des Badischen Landtags, II. Landtagsperiode (9. November 1921 bis 15. Oktober 1925), Protokollheft Bd. 1, Karlsruhe o.J., Sp. 1837. 23 Verhandlungen des Badischen Landtags, II. Landtagsperiode (9. November 1921 bis 15. Oktober 1925), 2. Sitzungsperiode, Protokollheft Bd. 2, Karlsruhe 1924, Sp. 2040. 24 Verhandlungen des Badischen Landtags (wie Anm. 22), Sp. 411. Siehe auch Schwarzmaier, Hansmartin, Der badische Landtag, in: Von der Ständevesammlung zum demokratischen Parlament. Die Geschichte der Volksvertretungen in Baden-Württemberg, hrsg. v. der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 1982, hier S. 231 f. <?page no="211"?> müdlichen Arbeiters für die badische DNVP einbrachte 25 , übernahm Hanemann 1924 ein Reichstagsmandat, das er bis 1933 (1930 - 1933 Reichswahlvorschlag) innehatte. 26 Im Reichstag betätigte er sich zunächst im Verkehrsausschuß, wo er beständig staatliche Sparsamkeit, insbesondere bei dem kostspieligen südwestdeutschen Neckarkanalprojekt, einforderte 27 , und dann vor allem im Rechtspflegeausschuß. In größeren Redebeiträgen wie am 16. Februar 1926 wiederholte er seine schon aus Baden bekannten Positionen. 28 Auf dieser Grundlage wirkte er auch intensiv in der vom Reichstag eingesetzten Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzbuches mit, in der er gelegentlich dadurch auffiel, daß er die juristisch nicht vorgebildeten Ausschußmitglieder in umfänglichen Redebeiträgen über rechtswissenschaftliche Zusammenhänge belehrte. Hanemann vertrat dezidiert antiliberale Positionen in der Strafrechtspolitik, die etwa eine Zurückdrängung des »liberalistischen« Individualismus zugunsten einer gemeinschaftsbezogenen Verantwortung des einzelnen für das »Volksganze« postulierten, was die Forderung nach schärferen Strafmaßnahmen bei »gemeinschaftsschädigendem« Verhalten zur Folge hatte. Sein autoritär-nationalistisches Denken stand bisweilen in direkter geistiger Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus und rückte Hanemann argumentativ nicht selten in die unmittelbare Nähe nationalsozialistischer Auffassungen. 29 Den- Michael Kißener 210 25 Rechtsanwalt H. K. an Spruchkammer Heidelberg, 1. April 1946, GLA 465a, 56/ S/ 1 [Spruchkammerakte Hanemann]. Daß Hanemann als Abgeordneter nie auf Popularität aus gewesen sein soll, wie K. in seinem Schreiben behauptet, läßt sich zumindest für die Zeit 1921 - 24 angesichts seiner häufigen Redebeiträge im Badischen Landtag kaum bestätigen. 26 Schumacher, Martin (Hrsg.), M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn), 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 533. 27 Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode 1924 Bd. 388, Stenographische Berichte, Berlin 1926, S. 5516-5518. 28 Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode 1924 Bd. 389, Stenographische Berichte, Berlin 1926, S. 5594-5602. 29 StAMA, S1/ 2281 Neue Mannheimer Zeitung Nr. 452, 30. September 1937, S. 3. Zu den antiliberalen Positionen in der Strafrechtswissenschaft siehe Marxen, Klaus, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht. Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre (Schriften zum Strafrecht 22), Berlin 1975, S. 60 - 67. Zu Hanemanns Tätigkeit in der Strafrechtskommission des Reichstages siehe Schubert, Werner; Regge, Jürgen; Rieß, Peter; Schmid, Werner (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts I. Abteilung Bd. 3 Teil 1 Protokolle der Strafrechtsausschüsse des Reichstags, Berlin, New York 1995. Zur Bearbeitung des §23 StGB (Ausschluß der Rechtswidrigkeit) führte Hanemann beispielsweise aus: »Da aber in der Gemeinschaft und in ihrem Leben sich der höchste Zweck des Staates und der Rechtsordnung konzentriere, könne die Rechtsordnung die Interessen der Gemeinschaft derart voranstellen, daß sie die Verletzung von Einzelgütern trotz ihres prinzipiellen Schutzes unter Umständen in den Kauf nehme und den an sich materiell und absolut rechtswidrigen Angriff für trotzdem rechtmäßig erkläre, ihn erlaube, die Schuld in diesem Sinne aufhebe.« Ebd. S. 96. S.a. S. 215. Weitere rechtspolitische Aktivitäten Hanemanns dokumentiert Schubert, Werner, Die Projekte der Weimarer Republik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 43), Paderborn u.a. 1986. <?page no="212"?> noch wurde seine politische Tätigkeit von nationalsozialistischer Seite, vor allem wegen seines Hanges zur monarchischen Staatsform, durchaus kritisch bewertet. In einem Artikel des badischen NS-Blattes »Der Führer« vom 11. Oktober 1932 griffen die Nationalsozialisten Hanemann wegen einer Rede an, die er als Spitzenkandidat der badischen DNVP für die Reichstagswahl gehalten hatte. Darin habe er nicht nur Hitler »in gehässigen Ausfällen« beschimpft, sondern auch angekündigt, daß dies die letzte Reichstagswahl sein werde, da die DNVP alles daransetzen werde, über Art. 48 der Reichsverfassung die republikanische Staatsform zugunsten einer, wie der Redakteur mutmaßte, wieder einzuführenden Monarchie abzuschaffen. 30 Obwohl zu Hanemanns Nachfolger Edmund Mickel Zeugnisse über seine politische Einstellung von vergleichbarer Deutlichkeit nicht vorliegen, ist davon auszugehen, daß dessen Haltung nicht sehr verschieden von der Hanemanns gewesen sein dürfte. Dafür sprechen eine Reihe von Indizien. Von 1909 bis 1914 hatte Mickel der Nationalliberalen Partei angehört, aus der er wegen des Kriegsbeginns austrat. 31 Nach dem Ersten Weltkrieg weigerte er sich beharrlich, irgendeiner Partei beizutreten, und zwar mit der gleichen Begründung wie Alfred Hanemann: die Unabhängigkeit des Richters verbiete ein parteipolitisches Engagement, jeder parteipolitische Einfluß auf die Justiz sei unbedingt abzuwehren. In diesem Punkt war Mickel sogar noch wesentlich konsequenter als sein Kollege. Auch nach 1933 beharrte er nämlich auf dieser Ansicht und lehnte es beständig und allen Aufforderungen entgegen, von welcher Seite sie auch kamen, ab, der NSDAP beizutreten. 32 Der Aussage seines jüdischen Richterkollegen Max Silberstein zufolge war Mickel auch einer der wenigen Richter, die in der Weimarer Republik eine parteipolitische Unabhängigkeit bei politischen Strafprozessen bewahrten. Mickel soll sowohl Kommunisten wie auch Nationalsozialisten vor 1933 im Gerichtssaal gleich behandelt haben. 33 Eine »politische Haltung« unter »nationalem Vorzeichen«, wie sie später der NS-Oberlandesgerichtspräsident Reinle an Mickel lobte, erschien ihm dagegen selbstverständlich. 34 Während der französischen Besetzung der Pfalz und zeitweilig auch des Mannheimer Schlosses, 1923/ 24, organisierte er demonstrativ zwei große Kameradschaftstreffen der »Schweren Artilleristen« in Mannheim, um dem nationalen Ehrverlangen Aus- A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 211 30 »Der Führer« Jg. 6, Folge 260, 11. Oktober 1932, S. 1 »Badischer deutschnationaler Spitzenkandidat kündigt Staatsstreich an«. Im Wahlkampf des Herbst 1932 konkurrierten DNVP und NSDAP scharf um die Gunst der rechtsextremen Wählerschaft. Es kam daher häufig zu Auseinandersetzungen der beiden Parteien. Siehe hierzu Gaertringen, Friedrich Frhr. Hiller von, Die deutschnationale Volkspartei, in: Das Ende der Parteien 1933, hrsg. v. E. Matthias, R. Morsey, Düsseldorf 1960, S. 543-652, hier S. 562. 31 GLA, 465c, 982 [Personalbogen]. 32 Rechtsanwalt C. an Spruchkammer Mannheim, 18. März 1947, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. 33 Max Silberstein an Spruchkammer Mannheim, 16. Mai 1948, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. Silberstein selbst wurde 1933 nach §3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Dienst entlassen. 34 StAMA, S1/ 2924, Neue Mannheimer Zeitung Nr. 157, 4. April 1938, S. 3. <?page no="213"?> druck zu verleihen. 35 Separatistischen Bestrebungen, wie sie sich während dieser Besatzungszeit in der Pfalz zeigten, muß er mit Nachdruck entgegengetreten sein. 1924 organisierten pfälzische Separatistenführer einen Bombenanschlag auf ihn, da er sich als Oberstaatsanwalt den Separatisten besonders »verhaßt« gemacht hatte. Die Attentäter trafen Mickel jedoch nicht in seinem Dienstzimmer an und zogen es vor, sich möglichst rasch wieder nach Ludwigshafen zu begeben. Da die Pfälzer Separatisten einen der beiden Attentäter nun »sehr ungnädig« behandelten und ihn wegen des mißlungenen Anschlagversuchs aus ihren Reihen verstießen, flüchtete er nach Mannheim, stellte sich der Polizei und gestand den gescheiterten Mordversuch. 36 Mit Hitlers »Machtergreifung« im Januar 1933 änderten sich die Verhältnisse auch in Hanemanns und Mickels Dienststelle grundlegend, und es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß diese Änderung von beiden freudig begrüßt wurde. Der bisherige jüdische Landgerichtspräsident Heinrich Wetzlar, der sich mit seinen Bemühungen um die Wiedereingliederung von Strafgefangenen in die bürgerliche Gesellschaft in Baden einen Namen gemacht hatte, wurde am 29. März beurlaubt und zum 1. August 1933 in den Ruhestand versetzt. Er starb 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt. 37 Sein Nachfolger wurde Alfred Hanemann, der sich am 31. März 1933 in einem Brief an den badischen Staatskommissar für Justiz für ein scharfes Vorgehen gegen die »Beschäftigung von Juden als Beamte und Richter« in öffentlichen Dienststellungen aussprach und baldmöglichste Maßnahmen zu deren Entfernung - unter Auflagen - dringlich forderte. 38 Auch das Präsidium des Landgerichts Mannheim sprach sich am 13. April, bereits unter Hanemanns Vorsitz, für ein schnelles Ausscheiden der jüdischen Kollegen aus und beratschlagte Maßnahmen, wie beamtete Juden, die nicht unter die einschlägigen diskriminierenden Maßregeln des »Berufsbeamtengesetzes« vom 7. April 1933 (RGBL I, S. 175 f.) fielen, trotzdem aus dem Dienst entfernt werden konnten. Die ansonsten »drohende« Weiterbeschäftigung von einem Drittel der jüdischen Richter des Landgerichtes hielt man für einen »nach Sachlage unter den gegebenen Verhältnissen untragbare[n ] Zustand«. 39 Michael Kißener 212 35 GLA 465c, 982, Hakenkreuzbanner, 4. April 1938. Zur französischen Besetzung Mannheims siehe Walter, Friedrich, Schicksal einer deutschen Stadt. Geschichte Mannheims 1907 - 1945 Bd. 1, Frankfurt/ Main 1949, S. 392-397. 36 StAMA, S1/ 2924, Mannheimer General Anzeiger Nr. 196, 28. April 1924 und Neue Mannheimer Zeitung Nr. 583, 15. Dezember 1924. 37 Watzinger, Karl Otto, Geschichte der Juden in Mannheim 1650 - 1945 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 12), 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1987, S. 144 f. 38 Fliedner, Hans-Joachim, Die Judenverfolgung in Mannheim 1933 - 1945 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 1/ 2), 2. Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln 1991, S. 494 f. Hanemanns Vorstellungen zufolge sollten Juden zu bestimmten Berufen nur entsprechend ihrer Bevölkerungsquote zugelassen werden. Kurze Übergangsfristen wären zu gewähren, die Teilnahme am Ersten Weltkrieg positiv zu berücksichtigen. Die seit 1. August 1914 zugewanderten Juden sollten ausgewiesen, evtl. Namensänderungen rückgängig gemacht werden und nur bei erheblichen Verdiensten im Kriege Ausnahmen zulässig sein. 39 Fliedner (wie Anm. 38), S. 495. Diese gut dokumentierten Ereignisse dürften zuverlässiger Hanemanns und Mickels Haltung Juden gegenüber charakterisieren als einige Zeugenaussagen in den <?page no="214"?> Hanemann hatte sich für die Position des Landgerichtspräsidenten seit langem durch seine rechtspolitische Tätigkeit und seine Forderung nach einer harten und auf das Wohl der Volksgemeinschaft ausgerichteten Strafrechtsprechung empfohlen. Mit ihm kehrte, wie Mickel anläßlich Hanemanns Verabschiedung vier Jahre später lobend hervorhob, eine geradlinige politische Schulung, ein wahres Treueverhältnis zwischen ihm als Führer und seiner Gefolgschaft und nicht zuletzt echte Kameradschaft ein, die unter Wetzlar überhaupt nicht bestanden habe. 40 Die NSDAP-Parteidienststellen allerdings betrachteten Hanemanns Haltung mit Skepsis und beurteilten sie als nicht hinreichend an das neue nationalsozialistische Denken angepaßt. Zwar wurde er, eigenen Angaben zufolge, am 1. Oktober 1933 ohne weiter gefragt zu werden, in die NSDAP aufgenommen, doch schaute man zeit seines Dienstes argwöhnisch auf seine frühere politische Tätigkeit als DNVP-Abgeordneter. Noch in einer politischen Beurteilung aus dem Jahre 1937, die vom SD des Reichsführers SS erstellt wurde, hieß es »Vor 1933 fand die NSDAP bei H. keine Anerkennung. Wohl war er durch und durch national eingestellt, konnte jedoch die Idee des Nationalsozialismus nicht verstehen. [...] Aus seiner vorherigen Gegensätzlichkeit zum Nationalsozialismus heraus fiel es ihm anfänglich schwer, sich den Forderungen der Bewegung anzupassen. Er bemühte sich in dieser Richtung auch nicht allzusehr. Es sind sogar Fälle bekannt, die an einen Verstoss gegen die Parteidisziplin angrenzen. Scheinbar war ihm die Notwendigkeit seiner Unterordnung noch nicht recht zum Bewusstsein gekommen. « 41 Erst gegen Ende seiner Amtszeit sei der Wille erkennbar geworden, mit den Parteidienststellen in ein gutes Verhältnis zu kommen und die richterlichen Entscheidungen im nationalsozialistischen Sinne zu treffen. So sei er nunmehr als »politisch einwandfrei« zu bezeichnen, wenn auch weiterhin, so die Kreisleitung Mannheim, bezweifelt werden müsse, daß »er innerlich restlos nat. soz. gefestigt« sei. 42 A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 213 späteren Spruchkammerverfahren. Dort wurde Hanemann z.B. attestiert, er habe am Grab eines verstorbenen jüdischen Rechtsanwaltes einen Kranz für das Landgericht Mannheim niederlegen lassen. Siehe GLA 465a, 56/ S/ 1. Dementgegen ist belegt, daß Hanemann sich trotz anders lautender gesetzlicher Regelungen weigerte, jüdische Rechtsanwälte am Sondergericht zuzulassen. Siehe Oehler (wie Anm. 5), S. 85. 40 StAMA, S1/ 2281, Hakenkreuzbanner, 1. Oktober 1937. 41 SD des RFSS, SD-Oberabschnitt Südwest, Unterabschnitt Baden an Gaupersonalamt, 15. Juli 1937, GLA 465c, 1871. 42 SD des RFSS, SD-Oberabschnitt Südwest, Unterabschnitt Baden an Gaupersonalamt, 15. Juli 1937 und NSDAP Kreisleitung Mannheim, Personalbogen, 21. Juni 1937, GLA 465c, 1871. Vermutlich waren es solche politischen Vorbehalte auch, die dazu führten, daß Hanemann während des Krieges nicht reaktiviert wurde. In nationalem Pflichteifer bemühte er sich als 67jähriger 1939 um eine Aushilfstätigkeit im Staatsdienst und wurde beim Polizeipräsidium Mannheim angestellt. Obwohl Hanemann darauf drängte, die ihm dort anvertrauten Tätigkeiten weiter ausüben zu dürfen, wurde <?page no="215"?> Eine der ersten Aufgaben Hanemanns als neuer Landgerichtspräsident war die Einrichtung und Führung eines jener Sondergerichte, die aufgrund der Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933 (RGBL I, S. 136) in jedem Oberlandesgerichtsbezirk zu bilden waren. Nach einem Erlaß des kommissarischen badischen Justizministers vom 27. März wurde Mannheim als Sitz des badischen Sondergerichts bestimmt, und schon am 30. März konnte Hanemann die Gründung der neuen Dienststelle, die de facto als Sonderkammer des Landgerichts arbeitete, melden. Mit Bedacht war Mannheim zum Sitz dieses außerordentlichen Gerichtes gewählt worden, erwartete man in der Industriestadt doch den größten Arbeitsanfall bei der Bekämpfung der politischen Gegner. 43 Die Zuständigkeit der Sondergerichte erstreckte sich zunächst auf die Aburteilung von Straftaten nach der sog. »Reichstagsbrandverordnung« vom 28. Februar 1933 (RGBL I, S. 83) und der »Heimtückeverordnung« vom 21. März 1933 (RGBL I, S. 135), wobei durch einschneidende Einschränkungen der Rechte der Angeklagten und fehlende Berufungsmöglichkeiten von Anfang an der gewünschte »kurze Prozeß« erreicht werden sollte. Mit solchen Maßnahmen wurden z.T. auch alte rechtspolitische Forderungen nationalkonservativer Kreise aufgegriffen. 44 Verbotene kommunistische Propaganda, nationalsozialismusfeindliche Äußerungen über den Reichstagsbrand oder die Fortführung mittlerweile verbotener politischer Parteien waren zunächst die vornehmlichsten Verhandlungsgegenstände. Das Sondergericht fungierte mithin als politisches Gericht zur Durchsetzung des nationalsozialistischen Totalitätsanspruchs. Hanemann bewährte sich bei dieser Aufgabe, die seinen politschen Anschauungen ja auch entgegenkam. Von Ende März 1933 bis Ende März 1934 wurden insgesamt 114 Monate Zuchthaus und 2979 Monate Gefängnis gegen die politischen Gegner in Mannheim verhängt. 45 Dabei waren die im einzelnen ausgesprochenen Strafen als solche auf den ersten Blick nie erschreckend hoch, angesichts der Harmlosigkeit der »Vergehen« jedoch müssen sie in vielen Fällen als drakonisch bezeichnet werden. Gleich das erste überlieferte Verfahren unter persönlichem Vorsitz Hanemanns vom 6. Mai 1933 macht diese Tendenz deutlich. Angeklagt war ein Mann, der behauptet hatte, nicht die Kommunisten, sondern die Nationalsozialisten selbst hätten den Reichstag angezündet. Dieses Vergehen bestrafte Hanemann mit einem Jahr Gefängnis, wobei er es als besonders belastend ansah, daß der Angeklagte (wohl arglos) diese »ausländische Greuelpropaganda« überzeugten Na- Michael Kißener 214 er Ende August 1941 entlassen. Der Polizeipräsident vermerkte in einer Aktennotiz, daß »im Hinblick auf sein Alter und seine frühere hervorgehobene Dienststellung keine ersprießliche Zusammenarbeit erwartet« werden könne. Im übrigen sei er nicht »beweglich genug«. Siehe GLA 236, 29329. 43 GLA 240 Zug. 1987/ 53, Nr. 427 Bl. 5 und 15. 44 Müller, Ingo, Nationalsozialistische Sondergerichte. Ihre Stellung im System des deutschen Strafverfahrens, in: Spuren des Unrechts. Recht und Nationalsozialismus. Beiträge zur historischen Kontinuität, hrsg. v. M. Bennhold, Köln 1989, S. 17-34, hier S. 17. 45 Oehler (wie Anm. 5), S. 61. <?page no="216"?> tionalsozialisten berichtet hatte, die ein großes Hitlerbild in ihrem Wohnzimmer aufgehängt hatten. 46 Neueren Forschungen zur Geschichte der Sondergerichte des »Dritten Reiches« zufolge, lassen sich bei der Tätigkeit dieser politischen Gerichte gemeinhin drei Phasen unterscheiden. In einer ersten Phase dienten die Gerichte zur Ausschaltung der politischen Gegner, vor allem der Kommunisten und Sozialdemokraten. Diese in die Jahre 1933 - 35 fallende Haupttätigkeit wurde von dem Vorgehen gegen Unzufriedene und »Artfremde« beständig überlagert, dann in einer zweiten Phase zum vorrangigen Betätigungsfeld der Gerichte. 47 Hanemann trug genau in dieser Zeit die Verantwortung für die Arbeit des Mannheimer Sondergerichts und ließ bis zu seiner Pensionierung 1937 in jährlich ca. 150 bis 250 Strafverfahren solche »Straftaten« aburteilen. 48 In etwa der Hälfte aller Fälle saß er, wie später auch sein Nachfolger, persönlich der Verhandlung vor, trug also für die Urteile auch direkte Verantwortung. 49 Das Strafmaß insgesamt entsprach überwiegend den Gepflogenheiten anderer Gerichte, Todesurteile wurden bis 1938 nicht gefällt, mithin dürften die Mannheimer Urteile insgesamt nach dem derzeitigen Stand der Forschung weder in positiver noch negativer Hinsicht besonders aufgefallen sein. 50 Daß Gauleiter A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 215 46 GLA 507/ 11630. 47 Streim, Alfred, Zur Bildung und Tätigkeit der Sondergerichte, in: Formen des Widerstands im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 237-258, hier S. 255. 48 GLA 507, Protokollhefte des Sondergerichts. 49 Oehler (wie Anm. 5), S. 219. Diese Zahl ergibt sich zumindest aus der von Oehler gewählten, aussagekräftigen Stichprobe. 50 Siehe Blumberg-Ebel, Anna, Sondergerichtsbarkeit und »politischer Katholizismus« im Dritten Reich (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 55), Mainz 1990, S. 144; Mager, Harald, Gewerbetreibende als Angeklagte vor dem Sondergericht Mannheim, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 263 - 282; Sikinger, Jürgen; Ruck, Michael, »Vorbild treuer Pflichterfüllung«? Badische Beamte vor dem Sondergericht Mannheim 1933 bis 1945, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 103 - 124. In Heimtückefällen konnte Oehler (wie Anm. 5), S. 268 beim Sondergericht Mannheim generell ein härteres Strafmaß als beim Sondergericht München feststellen. Zu einem, wie Oehler sehr zurecht bemerkt, methodisch problematischen Vergleich der Spruchpraxis siehe etwa Ball, Wolfgang, »Panzertruppe der Rechtspflege«. Die Tätigkeit der Sondergerichte in der Pfalz während der Herrschaft des Nationalsozialismus, in: Die Pfalz unterm Hakenkreuz, hrsg. v. G. Nestler, H. Ziegler, Landau 1993, S. 141- 160; Hüttenberger, Peter, Heimtückefälle vor dem Sondergericht München 1933 - 1939, in: Bayern in der NS-Zeit Bd. 4, hrsg. v. M. Broszat u.a., München, Wien 1981, S. 435 - 526; Justiz im Dritten Reich. NS-Sondergerichtsverfahren in Rheinland-Pfalz. Eine Dokumentation. 3 Teile (Schriftenreihe des Ministeriums der Justiz 1), Frankfurt/ Main 1994; Schimmler, Bernd, Recht ohne Gerechtigkeit. Zur Tätigkeit der Berliner Sondergerichte im Nationalsozialismus, Berlin 1984; Staudinger, Roland, Politische Justiz. Die Tiroler Sondergerichtsbarkeit im Dritten Reich am Beispiel des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat, Innsbruck 1994; Waller, Helmut, Das Wirken der Sondergerichte, in: Recht im Nationalsozialismus. Bericht über die Tagung vom 5. bis 8. November 1990 in St. <?page no="217"?> Wagner die seiner Ansicht nach übertriebene Härte des Gerichts gelegentlich tadelte, mag, wie schon der Generalstaatsanwalt vermutete, zeitbedingten politischen Rücksichten oder der Protektion für einzelne nationalsozialistische Angeklagte zuzuschreiben sein, drängte er später als Chef der Zivilverwaltung im Elsaß doch beim Sondergericht Straßburg auf immer drakonischere Strafen. Dem Reichsjustizministerium jedenfalls war zur gleichen Zeit unter dem als »gemäßigt« geltenden Justizminister Gürtner ganz im Gegensatz zu Wagner die Mannheimer Sondergerichtsrechtsprechung speziell in Fällen kommunistischer Mundpropaganda wieder zu milde. 51 Für die von den Verfolgungsmaßnahmen Betroffenen wog das ihnen angetane Unrecht in jedem Falle schwer. Nicht wenige an sich unbescholtene Bürger wurden durch Hanemanns Gericht kriminalisiert, ihre bürgerliche Existenz vernichtet oder gefährdet. Das Gericht wirkte somit als »Repressionsinstrument«, das die Uniformierung der Gesellschaft beförderte und dessen bloße Existenz bald »schon dafür bürgte, daß [...] die Sanktionsschwelle des NS-Regimes nur in Ausnahmefällen überschritten wurde.« 52 Dabei handelte Hanemann zwar formal nach Recht und Gesetz, wahrte in den von ihm geführten Verhandlungen einen sachlichen Ton und trachtete die strafprozessualen Gepflogenheiten mehr oder weniger zu respektieren. 53 Dennoch arbeitete er in der vom Regime gewünschten Weise, ohne den erkennbaren Versuch zu unternehmen, das täglich begangene, offensichtliche Unrecht abzuwenden oder sich der Verantwortung dafür zu entziehen. 54 Schon im Sommer 1933 scheint er zwar Zweifel an dem geübten strengen Verfahren bekommen zu haben und schlug dem Justizministerium vor, die richterliche Voruntersuchung, die gerade mit der Einrichtung der Sondergerichte abgeschafft worden war, doch wieder einzuführen, da das oft zu erwartende hohe Strafmaß eine gründliche Prüfung des Sachverhaltes verlange. Die Staatsanwaltschaft und mit ihr das Justizministerium lehnten den Vorschlag jedoch rundweg ab. 55 Als dann 1936 wieder Klagen des Reichsjustizministeriums laut wurden, in Mannheim werde nicht Michael Kißener 216 Johann-Lonsingen, hrsg. v. Justizministerium Baden-Württemberg und der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 1993, S. 115 - 154. 51 Schadt, Jörg (Bearb.), Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933 - 1940 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 3), Stuttgart u.a.1976, S. 227, 230; Schiffmann, Dieter, »Volksopposition«, in: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Mannheim, hrsg. v. E. Matthias, H. Weber, Mannheim 1984, S. 435 - 462, hier S. 448 f. Zu Wagners Haltung dem Sondergericht Straßburg gegenüber siehe den Beitrag von Ludger Syré in diesem Band. 52 Sikinger/ Ruck (wie Anm. 50), S. 122. 53 Siehe die hierin übereinstimmenden Zeugnisse in der Spruchkammerakte Hanemanns, die z.T. von der Spruchkammer selbst bei Rechtsanwälten und Berufskollegen angefordert wurden. GLA 465a, 56/ S/ 1. 54 Was andere Richter wagten, um sich an dem staatlichen Unrecht möglichst wenig beteiligen zu müssen, belegen die Beispiele bei Kißener (wie Anm. 6). 55 GLA 240 Zug. 1987/ 53, Nr. 427 Bl. 45, 49, 55. <?page no="218"?> abschreckend genug gestraft, bemühte sich Hanemann um den Beweis des Gegenteils mit Mitteln, die als unwürdig für einen Juristen angesehen werden müssen. Stolz präsentierte er dem Oberlandesgerichtspräsidenten den Brief einer völlig verzweifelten Ehefrau eines Angeklagten, in dem von den »furchtbaren Strafen« die Rede war, die das Mannheimer Sondergericht, »der Schrecken von ganz Baden«, verhänge. Damit, so meinte er, sei am besten bewiesen, daß die von ihm geführte Dienststelle ihren Auftrag in vollem Umfang erfülle. 56 Als Richter »der alten Schule« 57 war Hanemann in der Weimarer Republik für die Rückkehr autoritärer, vermeintlich besserer Verhältnisse der Kaiserzeit eingetreten. Als Politiker hatte er dabei die Nationalsozialisten, deren politische Ziele mit den seinen zumindest teilidentisch waren, gestärkt. Als Landgerichtspräsident wurde er zum Mithelfer im nationalsozialistischen Unrechtsstaat und verstieß gegen jene moralischen Prinzipien, die er selbst immer wieder beschworen hatte. Denn erst wenige Jahre zuvor noch hatte er im Reichstag verkündet, daß das Recht »stets eine Sache der Ethik, nie der Politik« sei 58 und daß der Satz »die Staatsräson gehe vor der Unabhängigkeit der Rechtspflege [...], das verderblichste und verhängnisvollste Wort [sei], das jemals gesprochen worden ist«. 59 Eine noch gesteigerte Bedeutung erlangten die Sondergerichte, deren Zuständigkeit bereits Mitte der 30er Jahre langsam ausgedehnt worden war, mit der Verordnung über die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte vom 20. November 1938 (RGBL I, S. 1632), die es erlaubte, jede Straftat vor einem Sondergericht anzuklagen, wenn »mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten ist«. Mit der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. Februar 1940 (RGBL I, S. 405) wurde den Sondergerichten zudem die Aburteilung von »Verbrechen« nach den seit Kriegsbeginn geltenden besonderen Verordnungen wie der »Rundfunkverordnung« vom 1. September 1939 (RGBL I, S. 1683), der Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 (RGBL I, S. 1609), der »Volksschädlingsverordnung« vom 5. September 1939 (RGBL I, S. 1679) oder der »Gewaltverbrecherverordnung« vom 5. Dezember 1939 (RGBL I, S. 2378) auferlegt. In dieser dritten Phase sondergerichtlicher Tätigkeit weitete sich mithin das Aufga- A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 217 56 Hanemann an Oberlandesgerichtspräsident und Generalstaatsanwalt, Mannheim 1936, GLA 240 Zug. 1987/ 53, Nr. 428. 57 Diese Charakterisierung Hanemanns benutzte ein Entlastungszeuge in Hanemanns späterem Spruchkammerverfahren. Siehe GLA, 465a, 56/ S/ 1. 58 Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode 1924, Bd. 389, Stenographische Berichte, Berlin 1926, S. 5599. 59 Verhandlungen des Reichstags, IV. Wahlperiode 1928, Bd. 425, Berlin 1929, S. 2395. Siehe auch Verhandlungen des Badischen Landtags, II. Landtagsperiode, Protokollheft Bd. 1, Karlsruhe o.J., Sp. 2395. <?page no="219"?> benfeld dieser Gerichte enorm aus: die Zahl der Prozesse nahm zu, das ausgesprochene Strafmaß erhöhte sich den gesetzlichen Verordnungen entsprechend drastisch. 1940 mußte im Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe neben dem Mannheimer ein eigenes Sondergericht in Freiburg für die südlichen Gerichtsbezirke gebildet werden, um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden. 60 Für diese Phase sondergerichtlicher Tätigkeit in Mannheim zeichnete Edmund Mickel, Hanemanns Nachfolger, verantwortlich. Auch er war den Machthabern z.T. suspekt, weil er zum einen nicht der NSDAP beigetreten war, zum anderen vor 1914 der Nationalliberalen Partei angehört hatte und auch »heute noch in gewissen liberalen Anschauungen befangen« sei 61 . Doch hatte Mickel sich in den vergangenen fünf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft dem Regime durch bereitwillige Zusammenarbeit mit den Parteidienststellen empfohlen und galt daher als »politisch zuverlässig«. Da er ähnlich wie Hanemann zudem stets durch und durch national eingestellt gewesen war, sei er »für den Nat. soz. Staat brauchbar« 62 . Die steigende Prozeßflut bewältigten Mickel und die ihm untergeordneten Richter des Sondergerichts trotz der kriegsbedingten Abgänge von Mitarbeitern mit großem Fleiß und Diensteifer. Die zunehmende Schärfe der Strafen trug das Sondergericht ebenso mit wie es selbst harte Maßstäbe von überregionaler Bedeutung bei der Auslegung des Gesetzes gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22. Juni 1938 (RGBl I, S. 651) setzte. 63 Mickel persönlich verkündete das erste der dann insgesamt ca. 80 Todesurteile des Sondergerichts Mannheim 1938 gegen zwei Straftäter, die einen Autofahrer lebensgefährlich verletzt hatten. 64 Je länger der Krieg dauerte, desto häufiger richtete sich die Todesstrafe aber auch gegen vergleichsweise harmlose Straftäter, die sich der sehr eng ausgelegten »Plünderung« in der vom Bombenkrieg besonders heimgesuchten Industriestadt Mannheim schuldig gemacht hatten. So verurteilte Mickel 1944 z.B. ein Ehepaar zum Tode, das sich eine Küche angeeignet hatte, die im Hinterhof eines zerbombten Hauses drei Wochen herumstand, ohne daß sich der Besitzer darum kümmerte. 65 Auch sog. »Postmarder«, die Michael Kißener 218 60 GLA 240 Zug. 1987/ 53, Nr. 427 Bl. 187. Das Sondergericht Freiburg wurde zuständig für die Landgerichtsbezirke Freiburg, Waldshut, Konstanz und Offenburg. Vgl. hierzu Hensle, Michael P., Die Todesurteile des Sondergerichts Freiburg 1940 - 1945, München 1996. 61 Gaupersonalamtsleiter an den Stellvertreter des Führers, 19. Februar 1938, GLA 465c, 2167. 62 Personalblatt der Fachschaft Justiz in der NSDAP Gauleitung Baden, 16. September 1936, GLA 465c, 2167. 63 Das sog. »Autofallengesetz« bestrafte das Stellen von »Autofallen« in räuberischer Absicht mit dem Tode. Der Begriff der »Autofalle« selbst war allerdings nicht genau definiert. Mickels Sondergerichtsurteil vom 28./ 29. November 1938 suchte neben anderen diese Definitionslücke zu schließen und wurde daher auch in der Juristischen Wochenschrift 68 (1939), S. 35-37 besprochen. Vgl. Gruchmann, Lothar, Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 28), München 1988, S. 897 ff. 64 GLA 507, 12099. Beim Sondergericht Freiburg wurden im Vergleich dazu von 1940 - 1945 insgesamt 27 Todesurteile (mit 29 Verurteilten) ausgesprochen. Vgl. Hensle (wie Anm. 60), S. 41. 65 GLA 507, 12365. <?page no="220"?> in Feldpostpaketen befindliche Nahrungs- und Genußmittel entwendet hatten, wurden von dem Sondergericht nicht selten zum Tode verurteilt. 66 Bei den sog. »Rundfunkverbrechen« wurde mit der immer schlechter werdenden militärischen Lage ein immer schärferes Strafmaß angewandt. Im Mai 1943 etwa verurteilte Mickel einen Mannheimer Hilfsarbeiter zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus, weil er mehrfach den englischen Sender BBC gehört und einem Berufskollegen dessen Meldungen über die Lage an der Ostfront weitererzählt hatte. Bei der Strafzumessung spielte eine erhebliche Rolle, daß der Angeklagte vor 1933 in kommunistischen und sozialdemokratischen Kreisen verkehrt hatte. 67 Wenngleich Mickel nicht immer persönlich den Vorsitz der Verhandlungen übernahm, nahm er doch großen Einfluß auf den Ausgang der Verfahren durch die Auswahl der vorsitzenden Richter und die Besprechung der zu erwartenden Urteile. 68 Auch Mickels Verhandlungsführung zeichnete sich - ähnlich wie bei Hanemann - nach dem übereinstimmenden Zeugnis aller Rechtsanwälte, die nach dem Krieg von der Spruchkammer Heidelberg dazu befragt wurden, durch Sachlichkeit, formale Korrektheit, ja scheinbare Freundlichkeit aus. Manch einer verstand dies allerdings als hinterhältigen Trick, um den Angeklagten, die während der Verhandlung Vertrauen zu ihrem Richter faßten, Geständnisse über ihre Straftaten zu entlocken, die dann gleichwohl im Urteil mit aller Härte des Gesetzes bestraft wurden. Die Urteile selbst wurden rein äußerlich sach- und fachgerecht abgefaßt, von einer spezifisch nationalsozialistischen Diktion konnte in den allermeisten Fällen nicht die Rede sein. 69 Gleichwohl sind auch sie in von den in der rechtsgeschichtlichen Forschung herausgearbeiteten Charakteristika nationalsozialistischer »Rechtsanwendung« geprägt. So wurde z.B. in Mannheim häufig die Tätertyplehre, die es den Richtern erlauben sollte, nicht nur eine konkrete Straftat, sondern auch das Gesamtverhalten und die Persönlichkeit des Täters bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, angewandt. Nach einem Diktum Roland Freislers sollte der Richter den Täter »ansehen und sagen [...]: das Subjekt verdient den Strang«. 70 In sehr vielen der Mannheimer Urteile wurden auch die »elastischen Tatbestände der Kriegsgesetze ohne sichtbare A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 219 66 Einzelfälle bei Wüllenweber (wie Anm. 4), S. 90, 102. 67 GLA 507, 4921. 68 Oberlandesgerichtspräsident Karlsruhe an Reichsjustizministerium, 26. Juli 1943, GLA 240 Zug. 1987/ 53 Nr. 427. In diesem Brief berichtete der Oberlandesgerichtspräsident über den Geschäftsablauf an den beiden badischen und dem elsässischen Sondergericht: »Der Hauptvorsitzer behält den Überblick über sämtliche beim Sondergericht einkommenden Anklagen und verteilt die Fälle je nach Art und Schwierigkeit unter die Vorsitzer und nimmt auch Bedacht auf die Auswahl der Beisitzer. Er schaltet sich, wo es nötig erscheint, auch in die Besprechung über das voraussichtlich zu treffende Strafmaß ein.« 69 GLA, 465a, 59/ 1/ 15912 Zeugenaussagen diverser Anwälte. Die Aussage des unter Mickels Vorsitz vom Sondergericht verurteilten Grafen v. A., der Mickel ein überaus positives Zeugnis ausstellte, ist allerdings völlig unglaubhaft, zieht man seine Verfahrensakten in GLA 507, 3684-3689 in Betracht. 70 Zit. nach Gruchmann (wie Anm. 63), S. 907. <?page no="221"?> Notwendigkeit extensiv ausgelegt und so der Zugriff auf einen Strafrahmen eröffnet, der fast immer als Höchststrafe die Todesstrafe vorsah.« 71 So wirkte das Gericht ganz im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung, auch ohne daß an seiner Spitze ein fanatischer Parteianhänger präsidierte. Mickel bemühte sich vielmehr als pflichtbewußter Staatsdiener, den Anforderungen der vorgesetzten Dienststellen zu entsprechen und die höchstmögliche Effizienz des ihm anvertrauten Gerichts sicherzustellen, wobei manche harte Maßnahmen gewiß auch seinen eigenen Anschauungen entgegenkamen, ohne daß sie identisch damit sein mußten. Gegenüber seinen Vorgesetzten lehnte er jedenfalls noch 1944, ganz im Gegensatz zu seinem Freiburger Amtskollegen, die Abgabe von Strafsachen an die ordentlichen Gerichte ab, weil gegen die Urteile des Sondergerichts kein Rechtsmittel möglich sei und daher die Verfahren hier beschleunigt werden könnten. 72 Schon bei seinem Amtsantritt 1938 hatte er seine »Gefolgschaft« zu »treuester Pflichterfüllung« aufgerufen. »Sie sei oberstes Gebot für ihn wie für alle«. 73 Wer dieser Anforderung nicht entsprach, wie etwa ein Richter, der wegen seiner zu milden Urteile vom Reichsjustizministerium gerügt worden war, wurde versetzt, und Rechtsanwälte, die den schnellen Verfahrensablauf kritisierten, wurden von der Liste der Offizialverteidiger gestrichen. 74 Obwohl er 1942 das Pensionsalter erreichte, blieb er auf Wunsch des Ministeriums pflichtbewußt auf seinem Posten. Noch gegen Ende des Krieges rühmte Oberlandesgerichtspräsident Reinle in einem Brief an Reichsverteidigungskommissar Robert Wagner ihn als »vorzüglichen Sondergerichtsvorsitzende[n]«. Daher wurde er am 24. Februar 1945 an erster Stelle zum Vorsitzenden des Mannheimer Standgerichts ernannt, das für alle Straftaten zuständig sein sollte, »durch die die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet sind«. Die Urteile dieser Standgerichte sollten nur auf »Tod«, »Freispruch« oder »Verweis an die ordentlichen Gerichte« lauten. 75 Ob Mickel diese Funktion ausgeübt hat, läßt sich in den erhaltenen Akten nicht mehr feststellen. Als amtierender Sondergerichtsvorsitzender wurde Mickel am 5. Mai 1945 von den alliierten Truppen festgenommen und zunächst in Heidelberg, später im Internierungslager Ludwigsburg inhaftiert. Nach 15 Monaten entlassen, mußte er noch weitere zweieinhalb Jahre nahezu mittellos und »ausgebombt« auf den Entscheid der Spruchkammer in seinem Fall warten. Eine Pension wurde vorerst nicht festgesetzt, das Vermögen beschlagnahmt. Die zunächst zuständige Spruchkammer Heidelberg Michael Kißener 220 71 Oehler (wie Anm. 5), S. 259. 72 Oehler (wie Anm. 5), S. 119. Mickel an Oberlandesgerichtspräsident Reinle, 11. Januar 1944, GLA 240 Zug. 1987/ 53 Nr. 429. 73 StAMA, S.1/ 2924, Neue Mannheimer Zeitung Nr. 157, 4. April 1938, S. 3. 74 GLA465a, 59/ 1/ 15912, Zeugnisse diverser Rechtsanwälte. 75 GLA, 240 Zug. 1987/ 53 Nr. 431, darin Oberlandesgerichtspräsident Reinle an Reichsverteidigungskommissar Wagner, 18. Februar 1945 und Reichsverteidigungskommissar Wagner an Oberlandesgerichtspräsident Reinle, Befehlsstand 24. Februar 1945. <?page no="222"?> führte umfängliche Ermittlungen durch und bemühte sich um zahlreiche Zeugenaussagen von Rechtsanwälten, die Mickel als Richter im Sondergericht erlebt hatten. Die daraufhin einlaufenden rund 20 Aussagen fielen außerordentlich widersprüchlich aus: manche betonten Mickels Milde und korrekte Verhandlungsführung, andere bezeichneten ihn als »williges Werkzeug des nationalsozialistischen Ideengutes«. 76 Die Betreuungsstelle für politisch Verfolgte in Mannheim hielt ihn gar für »ein Schulbeispiel für die Demonstration von Justizverbrechen« und war der Ansicht, sein Name sei »fluchbeladen«. 77 Das machte neue Ermittlungen notwendig. Mickel selbst verstand die Anschuldigungen nicht. Er habe, so brachte sein Anwalt vor, »einzig und allein das Gesetz als Richtschnur [angesehen], das für ihn als Richter unabänderlich war und zu dessen Anwendung er verpflichtet war«. Daß seine richterliche »Amtspflicht« durch die nationalsozialistische Ideologie politisiert worden war, wollte er nicht einsehen. Im Gegenteil habe er nur unpolitische Straftaten abgeurteilt und pflichtgemäß den »Kampf gegen das Verbrechtertum, der in Kriegszeiten besonders ernst zu nehmen war«, geführt. 78 Ohne Bedenken bezeichnete ihn sein Anwalt denn auch als »Richter alter badischer Tradition«, als Wahrer des auch im Nationalsozialismus noch lebendigen liberalen Kerns der badischen Richterschaft. Diesen habe er auch durch die Fortführung seiner Arbeit über die Pensionsgrenze hinaus vor dem Eindringen auswärtiger Richter zu schützen gesucht. 79 Wie wenig dies den Realitäten entsprach, belegt das Schicksal derjenigen Richter, die sich tatsächlich solchen Traditionen verpflichtet fühlten und dafür in der NS-Zeit ausgegrenzt und drangsaliert wurden. 80 Ganz ähnlich wie Edmund Mickel erging es Alfred Hanemann, der auf Anordnung der Militärregierung Nordbaden seit 2. Januar 1946 keine Ruhegehaltsbezüge mehr erhielt. Da sein Mannheimer Immobilienbesitz ein Opfer des Bombenkrieges geworden war und auch sein bewegliches Vermögen beschlagnahmt wurde, suchte er mit seiner Frau in durchaus schwieriger wirtschaftlicher Lage Unterkunft bei einem Freund in Baden-Baden. Eine erste überaus milde Entscheidung wurde in seinem Fall von der Mannheimer Spruchkammer allerdings schon im November 1946 gefällt, die dann aber vom Ministerium für politische Befreiung knapp ein Jahr später wieder aufgehoben wurde. Dort leitete nämlich Walter Koransky, der selbst vor 1933 A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 221 76 Rechtsanwalt Dr. J.W.S. an Spruchkammer Heidelberg, 21. Februar 1947, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. 77 Ausschuß der politischen Parteien, 3. Revier Mannheim an Spruchkammer Heidelberg, 27. Januar 1947, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. 78 Rechtsanwalt K.C. an Spruchkammer Heidelberg, 18. März 1947 und 9. Juni 1948, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. Zur politisierten Strafrechtspflege im Nationalsozialismus siehe auch Niermann, Hans- Eckhard, Die Durchsetzung politischer und politisierter Strafjustiz im Dritten Reich. Ihre Entwicklung aufgezeigt am Beispiel des OLG-Bezirks Hamm (Strafjustiz im Dritten Reich 3), Düsseldorf 1995. 79 Rechtsanwalt K.C. an Zentralspruchkammer Karlsruhe, 4. Januar 1949, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. 80 Siehe dazu Kißener (wie Anm. 6). <?page no="223"?> Richter im badischen Justizdienst gewesen war und wegen seiner jüdischen Abstammung 1933 entlassen worden war, die Kassationsabteilung. Er stellte zutreffend fest, daß Hanemanns sondergerichtliche Tätigkeit und seine Nebenämter in der Entscheidung nicht hinlänglich berücksichtigt worden waren und verwies das Verfahren zur Neuverhandlung an die Spruchkammer zurück. So dauerte es nochmals sieben Monate, die ohne Bezüge von dem mittlerweile 75jährigen Pensionär überbrückt werden mußten. 81 Auch Hanemann wehrte sich gegen die Anschuldigungen unter Hinweis auf sein gesetzeskonformes und richterlich einwandfreies Verhalten. Eine glatte Lüge stellte jedoch seine Behauptung dar, das Sondergericht habe sich zu seiner Zeit »kaum mit politischen Prozessen zu befassen« gehabt. Seine Tätigkeit habe sich auf »die schnelle und unanfechtbare Ahndung von Delikten wie Volksverrat (Verschiebung und Nichtanmeldung von Vermögen ins und im Ausland), Devisenvergehen, Wirtschaftsverbrechen usw.« erstreckt. 82 Über die Zurückweisung der Vorwürfe hinaus belegt seine Verteidigung - gewiß ungewollt - allerdings auch, daß ihm der Unrechtscharakter des Regimes und der Mißbrauch der Justiz durch die Nationalsozialisten sehr klar vor Augen stand. Hanemann gestand nämlich ein, daß er selbst sich schon sehr bald innerlich von der Partei losgesagt habe, als sie »jene unmögliche und verbrecherische Parteipolitik und Entwicklung eingeschlagen hat« und stets große Mühe gehabt habe, seine »richterliche Unabhängigkeit gegenüber den Totalitäts- und Herrschaftsansprüchen der verschiedenen Stellen und Organisationen der Partei zu wahren«. In dieser bemerkenswert richtigen Analyse der justizpolitischen Entwicklung der gerade eben erst vergangenen zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft fehlte allerdings die Einsicht in persönliche Mitverantwortung. Hanemann sah sich im Gegenteil als Opfer und klagte über die ungerechte »politische Deklassierung«, die ihm widerfahre und daß er »überall auf Ablehnung« stoße. Nicht ihm, sondern den anderen, »denen man mit Recht den Vorwurf machen kann, durch ihren Einsatz für die Partei dieser die Möglichkeit verschafft zu haben in unerhörter und auch verbrecherischer Betätigung die unsagbare Zerstörung mitverschuldet zu haben«, solle man den Prozeß machen. 83 Für den heutigen Betrachter nur schwer nachvollziehbar, hatten Hanemann und Mickel mit ihrer uneinsichtigen und z.T. lügenhaften Verteidigung tatsächlich Erfolg. Am 3. Mai 1948 stufte die Spruchkammer Mannheim Hanemann in ihrem zweiten Spruch wiederum als »Mitläufer« ein, auferlegte ihm eine Sühne von 1.200 RM, stellte ansonsten aber fest, daß er auch in der NS-Zeit stets »der gerechte, humane und menschenfreundliche Richter geblieben« sei, der er zuvor schon gewesen war. 84 Mickel, dessen Weigerung, in die NSDAP einzutreten, sich jetzt besonders Michael Kißener 222 81 GLA 465a, 56/ S/ 1. Zu Koransky siehe Kißener (wie Anm. 6), S. 219. 82 GLA 466/ 8416, Beilage zum Personalbogen. 83 GLA 466/ 8416, Beilage zum Personalbogen und Hanemann an Dr. Martens, 11. Februar 1946, GLA 466/ 8416. <?page no="224"?> positiv auswirkte, wurde am 9. Januar 1949 von der Zentralspruchkammer Karlsruhe sogar gänzlich freigesprochen. Die Urteilsbegründung ging auf die zahlreichen belastenden Aussagen Mannheimer und Heidelberger Rechtsanwälte überhaupt nicht mehr ein. Vielmehr wurde die Verteidigungsschrift seines Anwaltes z.T. wörtlich übernommen und schlußendlich festgestellt, ihm sei »der Entlastungsbeweis voll gelungen«. 85 Für diese Entscheidungen mag zum einen der Umstand von Bedeutung gewesen sein, daß Mickel zu diesem Zeitpunkt bereits schwerkrank war und einen Monat später, am 10. Februar 1949, verstarb. Zum anderen muß in Rechnung gestellt werden, daß beide Pensionäre über Jahre hinweg durch die Vorenthaltung ihrer Ruhegehälter in hohem Alter empfindliche wirtschaftliche Einschränkungen erfuhren. Auch die sich ändernde weltpolitische Lage ließ eine Aufklärung des justitiellen Unrechts im NS-Unrechtsstaat nicht mehr als vorrangiges politisches Ziel erscheinen. Vor allem aber waren wohl die Spruchkammern der Nachkriegszeit damit überfordert, die verhängnisvolle Verstrickung einer autoritär-nationalistisch ausgerichteten Richterschaft zu erkennen und deren Funktion für die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaft angemessen zu beurteilen. Bibliographie Quellen Die wichtigsten Quellen zur Biographie Hanemanns und Mickels stellen die von zahlreichen Stellen geführten Personalakten der beiden Richter dar. Im einzelnen sind Personalakten Hanemanns im Universitätsarchiv Heidelberg, im Bundesarchiv Koblenz (Reichsjustizministerium, Bestand R 22/ 058876), im Oberlandesgericht Karlsruhe und im Generallandesarchiv Karlsruhe (Offiziersakte, Bestand 456, 4242; Personalakte Innenministerium Bestand 236, 29329; Spruchkammerakte Bestand 465a, 56/ S/ 1; Versorgungsakte, Bestand 466, 8416) überliefert. Über Edmund Mickel liegen Studentenakten im Universitätsarchiv Heidelberg, eine Offiziersakte im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Abt. IV Bestand OP 26932) und eine Spruchkammerakte (Generallandesarchiv Bestand 465a, 59/ 1/ 15912) vor. Von besonderer Bedeutung sind in beiden Fällen die von zahlreichen Dienststellen des NS-Staates angelegten politischen Beurteilungen der beiden Mannheimer Juristen, die im Bestand 465c des Generallandesarchivs Karlsruhe (Hanemann: 465c, 1871; Mickel: 465c, 2167 und 982) verwahrt werden. Von Bedeutung ist zweifellos auch die aussagekräftige Zeitungsausschnittsammlung des Stadtarchivs Mannheim zu beiden Personen. Hanemanns politische Tätigkeit hat ihren Niederschlag in den Protokollbänden des Badischen Landtags und des Reichstags gefunden. Seine Arbeit in der Strafrechtskommission des Reichstages wird seit 1995 durch die von Werner Schubert vorgenommene Edition der diesbezüglichen Akten dokumentiert. Über A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 223 84 GLA 465a, 56/ S/ 1 Spruch der Spruchkammer Mannheim, 3. Mai 1948. 85 GLA 465a, 59/ 1/ 15912 Spruch der Zentralspruchkammer Karlsruhe, 9. Januar 1949. <?page no="225"?> Hanemanns und Mickels sondergerichtliche Tätigkeit gibt die fast vollständig erhaltene Überlieferung der Dienststelle im Bestand 507 des Generallandesrachivs Auskunft. Literatur Weder Alfred Hanemann noch Edmund Mickel standen bislang im Zentrum einer eigenständigen biographischen Untersuchung. Allein die instruktive Arbeit Christane Oehlers über das Sondergericht Mannheim beleuchtet den Niederschlag ihrer richterlichen Tätigkeit in den vor dem Sondergericht geführten Verhandlungen. Zum weiteren Verständnis der Verhältnisse im Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe ist auf die Heidelberger juristische Dissertation [masch.] Christof Schillers über das Oberlandesgericht Karlsruhe in der NS-Zeit zu verweisen. 224 <?page no="226"?> Dora Horn-Zippelius *28. August 1876 Karlsruhe, ev., Vater: Dr. Arnold Horn, Rechtsanwalt, Mutter: Emma, geb. Sexauer, verheiratet seit 1909 mit Hans Zippelius, Architekt, zwei Kinder. Privatunterricht, Viktoria-Schule (Höhere Mädchenschule), 1895 Lehrerinnenseminar, 1897 Studium an der Malerinnenschule, 1901 im Vorstand des »Vereins zur Verbesserung der Frauenkleidung«, 1904 Mitglied im »Karlsruher Künstlerbund«, 1906 - 1908 Engagements als Schauspielerin, 1912 Mitbegründerin des »Bundes Badischer Künstlerinnen«, März 1923 - 1933 Delegierte im »Reichswirtschaftsverband Bildender Künstler Südwest«, Mitglied und im Vorstand der »Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnenvereine«. 1. Juni 1931 Mitglied des Deutschen Frauenordens, 1. Oktober 1931 Mitglied der NS-Frauenschaft, Frühjahr 1932 Parteirednerin und Kreispropagandaleiterin der NS- Frauenschaft, 9. September 1932 Referentin für Presse und Propaganda in der Hauptabteilung III der Gauleitung Baden, Dezember 1932 Gaupropagandaleiterin der NS-Frauenschaft Baden, 1. Januar 1933 Mitglied der NSDAP, 1934 kommissarische Kreisfrauenschaftsleiterin in Ettlingen, Oktober 1934 Gauschulungsleiterin der NS-Frauenschaft Baden, 1934 - 1945 Mitglied der Reichskammer der Bildenden Künste, 1936 Entlassung als Gauschulungsleiterin. 1945 kein Spruchkammerverfahren, Künstlerin in Karlsruhe, gest. 17. Februar 1967 Karlsruhe. »Alte Kämpferinnen« Dora Horn-Zippelius und Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen der NS-Frauenschaft in Baden Anette Michel Dora Horn-Zippelius 225 <?page no="227"?> Gertrud Gilg * 12. Februar 1901 Bruchsal, ev., 1943 Kirchenaustritt, Vater: Joh. Georg Schmid, Seifensieder, Mutter: Wilhelmine, verheiratet seit 1921 mit Rudolf Gilg, Regierungsobersekretär, zwei Kinder. Volksschulbesuch, Höhere Mädchenschule, Handelsschulkurs, Angestellte in einem Büro, seit 1921 Hausfrau. 20. Dezember 1930 Mitglied des Deutschen Frauenordens, 1. März 1931 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 473.046), 1. Oktober 1931 Mitglied in der NS-Frauenschaft, 1. Juli 1932 Kreispropagandaleiterin der NS-Frauenschaft Bruchsal, 1933 - 1945 Mitglied des Deutschen Roten Kreuzes, 1933 - 1935 Ortsfrauenschaftsleiterin von Bruchsal, 1934 Kreisabteilungsleiterin für Bäuerinnen, 1. September 1935 - 1. Mai 1937 Kreisfrauenschaftsleiterin in Bruchsal, 1. Februar 1937 - April 1945 Gauunterabteilungsleiterin und Gauschulungsleiterin der NS- Frauenschaft Baden, März - April 1945 Kreisfrauenschaftsleiterin in Bruchsal. Oktober 1945 Inhaftierung, 21. Mai 1947 Entscheidung der Zentralspruchkammer Karlsruhe: »Belastete«, 21 Monate Arbeitslager, 19. Juni 1947 Aufhebung des Spruchkammerentscheids, 14. Juli 1947 zweite Entscheidung der Zentralspruchkammer Karlsruhe: »Belastete«, Verurteilung zu zusätzlich 90 Tagen Sonderarbeit, 30. September 1950 Strafmilderung, danach Fabrikarbeiterin, Eröffnung eines Geschäfts in Bruchsal, gest. 28. Juli 1972 Bruchsal. Sechs Millionen Frauen gehörten 1938 der NS-Frauenschaft und dem Deutschen Frauenwerk an. 1 Über ihren Einsatz im »Dritten Reich« ist bisher wenig bekannt. Das mag daran liegen, daß lange Zeit in der historischen Forschung mehr die frauenfeindlichen Aspekte der nationalsozialistischen Frauen- und Bevölkerungspolitik beachtet wurden, die Frauen im von Männern dominierten NS-Staat benachteiligte und zu Opfern machte. 2 Erst seit Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre setzte Gertrud Gilg Anette Michel 226 1 Vgl. Stephenson, Jill, Nationalsozialistischer Dienstgedanke, bürgerliche Frauen und Frauenorganisationen im Dritten Reich, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 555 - 571, hier S. 565 f. 2 Vgl. Bock, Gisela, Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986. <?page no="228"?> in der historischen Frauenforschung eine intensive Diskussion über einen notwendigen Paradigmenwechsel ein, bei dem neben der Unterdrückungsthematik auch die »Beteiligung« und »Mittäterinnenschaft« von Frauen im Nationalsozialismus in den Vordergrund rücken sollte. 3 Obwohl mittlerweile bereits einschlägige Veröffentlichungen erschienen sind, wurde bisher weder über die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink noch über eine der zahlreichen Gaufrauenschaftsleiterinnen eine monographisch angelegte Biographie veröffentlicht. 4 Ebenso wenig erforscht sind die regionalen und lokalen Auswirkungen der Arbeit von Frauen auf den unteren Ebenen der nationalsozialistischen Frauenorganisationen. Dies stellt ein besonderes Forschungsdefizit dar, weil gerade diese Frauen eine ausdrückliche Nähe zu den politisch zu »bearbeitenden Frauen« hatten. Zwei außergewöhnlich engagierte Mitglieder und interessante Charaktere in der NS-Frauenschaft im nordbadischen Raum waren die Malerin Dora Horn- Zippelius aus Karlsruhe und die Bruchsalerin Gertrud Gilg. Diese beiden frühen Mitstreiterinnen der späteren Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink gehörten zum kleinen, aber nicht unbedeutenden Kreis weiblicher NSDAP-Mitglieder, die sich bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik aktiv der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen hatten. Als Parteirednerinnen der NSDAP, Kreis- und Gaupropagandaleiterinnen der NS-Frauenschaft gewannen sie zahlreiche weibliche Wählerstimmen und halfen mit, den Grundstein für den Aufbau der NS-Frauenschaft in Baden zu legen. Sie trugen durch ihre öffentlichen Auftritte nicht nur zum Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung bei, sondern unterstützten auch die Etablierung des NS-Staates in Baden, indem sie als Leiterinnen der Gauschulen der NS-Frauenschaft die Indoktrination der eigenen Mitglieder und die der gleichgeschalteten Frauenorganisationen übernahmen. Die Mitarbeit in der NS-Frauenschaft, als Elite- und Führerinnenorganisation konzipiert, ermöglichte ihnen, weibliche Parteikarrieren zu machen. Im Einsatz für den Nationalsozialismus stiegen sie von einfachen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen bis in gut bezahlte Stellungen in der Gaufrauenschaftsleitung auf. Dora Horn-Zippelius, Vorgängerin Gertrud Gilgs als Gauschulungsleiterin der NS- Frauenschaft Baden, wuchs im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf. Ihr Beruf und ihr öffentliches Engagement in Frauenorganisationen des Kaiserreichs zeichneten sie als eine selbständige und ungewöhnliche Frau aus. In einer Zeit, in der Frauen des Bürgertums weder das Recht auf eine gute, fundierte Schulausbildung noch auf einen Beruf hatten, setzte sie sich früh für die Interessenvertretungen von Künstlerinnen Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 227 3 Vgl. zum Forschungsstand: Gravenhorst, Lerke; Tatschmurat, Carmen (Hrsg.), Töchter-Fragen, NS-Frauen-Geschichte, Freiburg 1990. 4 Eine Ausnahme stellt die Magisterarbeit von Andrea Böltken über Gertrud Scholtz-Klink und Frauen aus dem BDM dar. Vgl. Böltken, Andrea, Führerinnen im »Führerstaat«. Gertrud Scholtz- Klink, Trude Mohr, Jutta Rüdiger und Inge Viermetz, Pfaffenweiler 1995. <?page no="229"?> ein. 5 Als sie selbst längst in ihrem Beruf als Malerin etabliert war, trat sie im Alter von fast 60 Jahren in die NSDAP ein. Wie kam es zu diesem scheinbaren Bruch in ihrer Biographie, der dazu führte, daß sie Mitglied einer Partei wurde, die Frauen wesentliche Rechte in der Politik und im Berufsleben nehmen wollte? 6 Geboren wurde Dora Horn-Zippelius 1876 in Karlsruhe. Sie verlebte ihre Kindheit im Wilhelminischen Kaiserreich als wohlbehütetes Einzelkind in einer protestantischen Akademikerfamilie des gehobenen Bürgertums. Ihr Vater, Dr. Arnold Horn, ein bekannter Karlsruher Rechtsanwalt und Strafverteidiger, und ihre Mutter, Emma Horn, eine Malerin, förderten früh die künstlerischen Begabungen ihrer Tochter. In den 1880er und 1890er Jahren besuchte Dora Horn in Karlsruhe die Viktoria-Schule, eine der ersten Höheren Mädchenschulen in Deutschland. Von 1892 bis 1895 lebte sie mit ihren Eltern in Freiburg, wo sie 1895 ein Lehrerinnenexamen ablegte. 7 Zwei Jahre später begann sie ein Studium an der Karlsruher Malerinnenschule, einer Art Privatakademie für angehende Künstlerinnen, weil Frauen an staatlichen Kunstakademien ebenso wie an den Universitäten Ende des 19. Jahrhunderts der Zugang noch verwehrt war. Nach ihrem Studium beschäftigte sich Dora Horn hauptsächlich mit Ölmalerei. Außer Porträts fertigte sie Stilleben, Genre- und Landschaftsdarstellungen an. Inspirationen und Eindrücke für ihre künstlerischen Werke, die sich stilistisch an Karlsruher lokalen Landschafterschulen, Impressionismus und Jugendstil orientierten, holte sie sich auf zahlreichen Studienfahrten nach Tirol, der Schweiz und Italien. 8 Künstlerisch setzte sie sich mit den aktuellen Problemen oder Themen ihrer Zeit nicht auseinander und schloß sich später keiner der ausgeprägt avantgardistischen Kunstrichtungen an. Dennoch zeigte sie fortschrittlichere Ansichten als viele ihrer Studienkollegen, da sie sich als junge Frau von der pathetischen und farbigen Salon- Anette Michel 228 5 Zu Dora Horn-Zippelius’ Leben und Wirken als Malerin und Künstlerin bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Brandenburger, Gerlinde, Die Malerinnenschule Karlsruhe 1885 bis 1923. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Karlsruhe 1980. Dies., Dora Horn-Zippelius, in: Badische Biographien, N.F. Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1987, S. 144 f. Brandenburger-Eisele, Gerlinde, Malerinnen in Karlsruhe 1712 - 1918, in: Karlsruher Frauen 1715 - 1945. Eine Stadtgeschichte, hrsg. v. S. Asche u.a. (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 15), Karlsruhe 1992, S. 257 - 267. 6 Frauen waren von der Mitgliedschaft im Parteivorstand der NSDAP ausgeschlossen. Die NSDAP gestand Frauen kein passives Wahlrecht zu. Zudem sollten unverheiratete Frauen nicht als Staatsbürgerinnen, sondern nur als Staatsangehörige gelten. Nach 1933 konnten Frauen keine Richterin werden oder bleiben. Eine qualifizierte Ausbildung für Frauen in allen beruflichen Sparten wurde erschwert oder verhindert. Frauen sollten sich vorrangig der Mutterrolle zuwenden. Aufgrund dieser Aspekte wird die NS-Frauenideologie von einigen Forscherinnen, die von der Perspektive der Emanzipation ausgehen, als »frauenfeindlich« eingestuft. Vgl. Matzen-Stöckert, Sigrid, Frauen im Faschismus - Frauen im Widerstand 1933 bis 1945, in: Geschichte der deutschen Frauenbewegung, hrsg. v. F. Hervé, 3. Aufl. Köln 1987, S. 160; Einleitung, in: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, hrsg. v. der Frauengruppe Faschismusforschung, Frankfurt/ Main 1981, S. 10 ff. 7 Vgl. BA, Abt. III (BDC), PK Zippelius, Dora. 8 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 21. Mai 1969. <?page no="230"?> und Historienmalerei des 19. Jahrhunderts sowie »billigen Massenproduktionen« distanzierte, die sie als »bürgerlichen Edelkitsch« empfand. 9 Dora Horn fühlte sich jenen künstlerischen Bewegungen nahe, deren Vertreter um die Jahrhundertwende in die freie Natur zogen, um dort Malerkolonien zu gründen, wo sie Menschen in ihrer heimatlichen Umgebung auffinden und darstellen konnten. 10 Diese neuen kulturellen und künstlerischen Strömungen, denen sie sich 1904 institutionell anschloß, als sie in den Karlsruher Künstlerbund eintrat 11 , hatten neben einer kulturpolitischen Dimension wahrscheinlich Auswirkungen auf ihre späteren Lebenseinstellungen. Viele Jugendstilkünstler verbanden mit ihrer Kunst eine Kritik an der modernen Zivilisation, der Industrialisierung und dem Großstadtleben. Von der Rückkehr zu einem vorindustriellen und bäuerlichen Leben versprachen sie sich nicht nur neue künstlerische Ausdrucksformen, sondern auch eine gesellschaftliche Erneuerung und Reform. 12 Auf künstlerischem Gebiet bewunderte Dora Horn den Maler Hans Thoma, seit 1899 Professor an der Karlsruher Kunstakademie, der für seine Bilder aus dem bäuerlichen Lebensbereich berühmt war. Obwohl Dora Horn niemals seine Schülerin wurde, machte sie seine Bekanntschaft und verehrte ihn bis ins hohe Alter als »größten Revolutionär« in der Kunst. 13 Im Zuge des Aufkommens völkischer Ideologien und der Wiederbelebung eines mystischen Deutschtums inszenierten einige Kunstkritiker um Thoma einen wahren Kult, indem sie ihn zum »deutschesten aller lebenden Künstler« deklarierten, dessen Kunststil »der Tiefe des germanischen Rassegenies« entsprossen sei. 14 1905 entzündete sich zwischen Thoma-Bewunderern und Vertretern anderer Kunstrichtungen und Überzeugungen eine hitzige Debatte, an der auf regionaler Ebene auch Dora Horn teilnahm, als sie im »Badischen Landesboten« unter Pseudonym einen Artikel veröffentlichte, in dem sie die Kunstwerke Thomas verteidigte. 15 In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg war Dora Horn selbst künstlerisch äußerst produktiv und erfolgreich. Sie nahm an überregionalen Kunstausstellungen in ver- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 229 9 Badische Neueste Nachrichten, 21. Mai 1969 und Badische Neueste Nachrichten, 24. September 1962. 10 Badische Neueste Nachrichten, 24. September 1962. 11 Badische Neueste Nachrichten, 24. September 1962 und Bieber, Sylvia, Karlsruher Farblithographien um 1900. Der Karlsruher Künstlerbund und seine weiblichen Mitglieder, in: Frauen im Aufbruch? , Künstlerinnen im deutschen Südwesten 1800 - 1945, Städtische Galerie im Prinz-Max-Palais, Ausstellungskatalog, Karlsruhe 1995, S. 177, Anm. 39. 12 Vgl. Krabbe, Wolfgang R., Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974, S. 107 f. 13 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957. 14 Vgl. Zimmermann, Margret, Heimat und Welt, in: Hans Thoma. Lebensbilder. Gemäldeausstellung zum 150. Geburtstag, Augustinermuseum in Freiburg im Breisgau, Ausstellungskatalog, Königstein im Taunus 1989, S. 11 ff. 15 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957 und vgl. Zimmermann (wie Anm. 14), S. 9. <?page no="231"?> schiedenen deutschen Großstädten teil. Zudem arbeitete sie in den Jahren 1906 bis 1908 als Schauspielerin. Als sie 1909 den aus Franken stammenden Architekten Hans Zippelius heiratete, beendete sie ihre Bühnenlaufbahn und widmete sich auf künstlerischem Gebiet nur noch der Malerei. Obgleich 1912 und 1916 ihre beiden Söhne geboren wurden, engagierte sie sich auch weiterhin in der Öffentlichkeit. 16 Bestimmendes Element in ihrem Leben war ihr Interesse für Frauenfragen, denen sie sich vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die NS-Zeit widmete. Seit 1901 gehörte sie der Karlsruher Ortsgruppe des »Vereins zur Verbesserung der Frauenkleidung« an. Für diesen Verein arbeitete sie im Vorstand und in der Presseabteilung. Zusätzlich hielt sie Vorträge über die Beziehungen zwischen Frauenkleidung und Kulturgeschichte. Den korsett-tragenden Frauen mit eingeschnürter Wespentaille, die zu Gesundheitsschäden führen konnte, empfahlen die Vereinsmitglieder eine bequemere Kleidung. Nur scheinbar handelte es sich bei den Vereinszielen um unpolitische Frauenthemen ohne größere gesellschaftliche Bezüge. Denn die reformerischen Bestrebungen wurden nicht nur von den emanzipatorischen Absichten der Frauenbewegung und ästhetischen Vorstellungen von Jugendstilkünstlern getragen, sondern auch von Medizinern, Rasse- und Sozialhygienikern, denen es aus sozial- und gesundheitspolitischen Gründen um die »Erhaltung eines gesunden Volkskörpers« ging. 17 Die Vorträge von Dora Horn für den »Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung« machen deutlich, daß sie darüber hinaus von den Gedanken der Lebensreformbewegung beeinflußt war. Die Ideen dieser geistigen Strömung im akademisch gebildeten deutschen Bürgertum um 1900 tauchen bis in die Reden von Horn-Zippelius als NSDAP-Mitglied in den 30er Jahren immer wieder auf. Technischer Fortschritt und industrielle Arbeitsweise wurden abgelehnt. Die Zivilisationskritik war verbunden mit einem kulturpessimistischen Haß auf die kulturellen Erscheinungen und Einflüsse, die aus Westeuropa kamen. Propagiert wurde ein Leben im Einklang mit der Natur und dem wahren deutschen Wesen. 18 Dora Horns Vorträge für den Verein klagten seit 1905 die »Luxus-, Verschwendungs- und Vergnügungssucht« im Gefolge des technischen Fortschritts und Wirtschaftsaufschwungs an, die sie als Zeichen des »Verfalls« interpretierte. Den Frauen erteilte sie die Aufgabe, sich Anette Michel 230 16 Vgl. Brandenburger, Malerinnenschule (wie Anm. 5), S. 34 und Brandenburger, Horn-Zippelius (wie Anm. 5), S. 145. 17 Zu den Aktivitäten des Vereins in Karlsruhe vgl. Asche, Susanne, Fürsorge, Partizipation und Gleichberechtigung - die Leistungen der Karlsruherinnen für die Entwicklung der Großstadt (1859 - 1914), in: Karlsruher Frauen 1715 - 1945, Eine Stadtgeschichte, hrsg. v. S. Asche u.a. (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 15), Karlsruhe 1992, S. 171 - 256, hier S. 236 - 240. 18 Zur Lebensreformbewegung vgl. Krabbe (wie Anm. 12). Die Verbindungen zwischen der Lebensreformbewegung und der Reformierung der Frauenkleidung beleuchten ebenfalls: Stamm, Brigitte, Das Reformkleid in Deutschland, Berlin 1976 und Kühl, Susanne, Durch Gesundheit zur Schönheit. Reformversuche in der Frauenkleidung um 1900, in: Der neuen Welt ein neuer Rock: Studien zu Kleidung, Körper und Mode an Beispielen aus Württemberg, hrsg. v. C. Köhle-Hezinger, G. Mentges, Stuttgart 1993, S. 102 - 111. <?page no="232"?> von den Einflüssen des westlichen Auslands freizumachen und durch ihre Kleidung und Lebensweise zur »Gesundung und Veredlung des Volkes« beizutragen. 19 Der »Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung« vertrat die Ideen einiger Rasse- und Sozialhygieniker, die den Körper der Frau und ihre Gebärfähigkeit in den Dienst der Nation und ihrer Bevölkerungspolitik stellen wollten. Zum Teil griffen die Nationalsozialisten im »Dritten Reich« auf Anregungen dieser Forscher zurück, obwohl die Sozialhygieniker des 19. Jahrhunderts keineswegs als reine Vorläufer der Rassepolitiker des Nationalsozialismus betrachtet werden können. 20 Unüberhörbar klangen in den Reden Dora Horn-Zippelius’ vor dem Ersten Weltkrieg nationale und antifranzösische Untertöne an 21 , ebenso wie Schlagwörter, die später in den Artikeln zur nationalsozialistischen Frauen- und Bevölkerungspolitik ständig wiederholt wurden: Deutsche Frauen sollten nicht mehr die »grobsinnliche [...] Pariser Mode« nachahmen, sondern sich auf ihre »Würde« besinnen und »deutsche Mode« tragen. 22 Die Reformen für eine bequemere Frauenkleidung bezeichnete sie als einen »Kampf um Volkswohlfahrt«, durch den »das Volk gesunde und nicht durch das Korsett verkrüppelte Mütter« bekommen sollte. Zudem appellierte sie an die Verantwortung der Mütter, ihren Töchtern eine ungehemmte körperliche Entwicklung durch Sportübungen zu erlauben. 23 Diese positiven Ansätze zur Befreiung des Körpers der Frau wurden später im Nationalsozialismus für nationale Zwecke instrumentalisiert. Sportlichkeit diente der Inszenierung des NS- Körperkultes, und die Mehrheit der Frauen wurde auf ihre Gebärfunktion und ihre Rolle als »Erhalterin der Rasse« reduziert. 24 Dora Horn-Zippelius griff in ihren Vorträgen seit der Jahrhundertwende auf die Schriften und Anregungen von Paul Schultze-Naumburg zurück, den sie persönlich kannte und dessen Werke sie öfters zitierte. 25 Er hatte 1901 das Buch »Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung« geschrieben, das die Frage der Frauenkleidung erst einem größeren Publikum bekannt machte. 26 Der Maler, Architekt, Schriftsteller und Modegestalter Schultze-Naumburg, der einer Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 231 19 StAKA 8/ StS 13, 495. 20 Vgl. Asche (wie Anm. 17), S. 236 u. 238. 21 Dora Horn griff fast bei jedem ihrer Vorträge, die auch die »nationale Seite der Bestrebungen« des Vereins betonten, die kulturellen Einflüsse aus Frankreich an. Sie verdammte die Pariser Mode, die das Korsett propagierte. Darüber hinaus wandte sie sich grundsätzlich gegen die »französische Kunst« und Kultur, die sich das »deutsche Volk« nicht zum Vorbild nehmen sollte. Vgl. ihre Vorträge am 23. Februar 1905, 8. November 1905, 13. Dezember 1905, StAKA 8/ StS13, 495, und Karlsruher Tagblatt, 19. Juni 1915 (StAKA 8/ StS 13, 495). 22 Badische Landeszeitung, 23. Februar 1905 (StAKA 8/ StS 13, 495). 23 Badische Landeszeitung, 23. Februar 1905 und Badische Presse, 13. Dezember 1905 (StAKA 8/ StS 13, 495). 24 Vgl. Zühlke, Anna, Frauenaufgabe - Frauenarbeit im Dritten Reich, Leipzig 1934, S. 59. 25 Vgl. Dora Horns Vortrag, abgedruckt in der Badischen Landeszeitung, 23. Februar 1905, und Paul Schultze-Naumburg, Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung, Leipzig 1903, S. 17 ff. 26 Schultze-Naumburg (wie Anm. 25). <?page no="233"?> der Träger der nationalsozialistischen Kulturpolitik wurde 27 , beeinflußte möglicherweise auch die politischen Überzeugungen Dora Horn-Zippelius’ in den 20er und 30er Jahren. Als ehemaliger Student der Kunstakademie in Karlsruhe war er häufig Gast im Elternhaus von Dora Horn-Zippelius gewesen. 28 Nachdem sich Mitte der 20er Jahre seine konservativ-bürgerlichen Reformvorstellungen durch die Lektüre völkischer und rassistischer Schriften radikalisiert hatten, trat er in die NSDAP ein, knüpfte enge Kontakte zu Hitler und wurde 1928 Mitglied des von Alfred Rosenberg gegründeten »Kampfbundes für deutsche Kultur«. 29 Die Vermutung, daß Dora Horn-Zippelius ebenfalls wie Schultze-Naumburg Mitglied des Kampfbundes für deutsche Kultur war, dessen Karlsruher Ortsgruppe 1930 entstand, läßt sich nicht verifizieren. 30 Sicher ist jedoch, daß sie die demagogischen und herabsetzenden Parolen dieses völkisch-radikalen Vereins seit 1932 in ihren Reden für die NS-Frauenschaft wiederholte. Marxismus und Judentum waren ihrer Meinung nach - wie sie auf einer großen Kundgebung der NS-Frauenschaft in Karlsruhe im Juli 1932 referierte - die Verursacher eines angeblichen kulturellen Niedergangs in der Weimarer Republik: »Der Marxismus und sein Führer, der Jude, wußten genau wo sie mit ihrer Wühlarbeit zu beginnen hatten. Nach und nach eroberte er Theater, Kino, Literatur und Kunst und übte von hier aus seinen zersetzenden Einfluß auf unsere Jugend aus.« 31 Dora Horn-Zippelius zeigte zeitlebens kunst- und kulturpolitisches Interesse, vor dem Ersten Weltkrieg zunächst aber auf einem gänzlich anderen Gebiet. Jahrelang hatte sie sich für die Gleichstellung von Künstlerinnen in dem von Männern regierten Kunstbetrieb eingesetzt, der Frauen keine Mitspracherechte zugestehen wollte. Deshalb arbeitete sie seit 1912 im Vorstand des Karlsruher Malerinnenvereins mit. Als im Herbst des gleichen Jahres der Bund Badischer Künstlerinnen gegründet wurde, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, Künstlerinnen zu fördern, ihnen Ausstellungsforen zu schaffen und eigene Jurys zu bilden, nahm sie auch dort einen Sitz im Vorstand ein. Seit 1923 vertrat sie den Bund Badischer Künstlerinnen als Delegierte im Reichswirtschaftsverband Bildender Künstler Südwest. 32 Dieser Künstlerverband, der von politisch rechts stehenden Kräften dominiert Anette Michel 232 27 Paul Schultze-Naumburg (1869 - 1949) veröffentlichte 1928 das Buch »Kunst und Rasse«, in dem er die moderne Kunst verdammte und als »rassische Entartung« diffamierte. 1930 avancierte er zum kulturpolitischen Berater des ersten nationalsozialistischen Ministers Wilhelm Frick in Thüringen. Vgl. Voigt, Wolfgang, Die Stuttgarter Bauschule, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 250 - 271, hier S. 260. 28 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957. 29 Vgl. Durth, Werner, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900 - 1970, Braunschweig, Wiesbaden 1986, S. 55 f. u. 82 f. sowie Voigt (wie Anm. 27), S. 260. 30 Vgl. Koch, Michael, Kunstpolitik, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 236 - 249, hier S. 238. 31 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 32 Vgl. Brandenburger-Eisele, Gerlinde, Dora-Horn Zippelius (1876 - 1967), in: Blick in die Geschichte, Karlsruher stadthistorische Beiträge, Nr. 14, 20. März 1992, S. 1. <?page no="234"?> wurde, spielte eine unrühmliche Rolle in den Auseinandersetzungen der Karlsruher Kulturpolitik der 20er Jahre, die ein Vorspiel der rigiden Kunstpolitik der Nationalsozialisten in Karlsruhe im »Dritten Reich« darstellte. Inwieweit Dora Horn-Zippelius in die kunstpolitischen Kontroversen zwischen konservativen Thoma-Verehrern, zu denen sie auch zählte, und avantgardistischen Künstlern verwickelt war, läßt sich im einzelnen nicht mehr feststellen, da die meisten Kontrahenten ihre Artikel unter Pseudonym veröffentlichten. Die Thoma-Epigonen kritisierten mit Unterstützung der Rechtspresse und der NSDAP-Landtagsfraktion die An- und Verkäufe der Karlsruher Kunsthalle und versuchten auf verleumderische und gehässige Weise, die Bevorzugung expressionistischer und kritisch-realistischer Kunst zugunsten traditionalistischer Kunstwerke zurückzudrängen. 33 Dora Horn-Zippelius schrieb während der Weimarer Republik offensichtlich zahlreiche Artikel für Zeitungen. Sie selbst betonte später, sie sei »vielfach schriftstellerisch im völkischen Sinne tätig« gewesen. Der genaue Inhalt dieser Texte ist jedoch unbekannt. 34 Politisch orientierte sie sich lange an der DNVP, der sie bei den Wahlen in den 20er Jahren, bevor sie sich für die NSDAP entschied, regelmäßig ihre Stimme gab. 35 Daß auch die badischen Künstlerinnenvereinigungen keine antinationalsozialistischen Wege beschritten, scheint ihr Verhalten nach 1933, aber auch bereits eine 1931 geplante Ausstellung des Bundes Badischer Künstlerinnen zusammen mit der »Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnenvereine« (Gedok), deren Karlsruher Vorsitzende sie war, zu belegen. Der Titel »Mutterschaft und Frauenschaffen« mutet wie ein Hinweis auf den späteren Schwerpunkt der NS-Frauenpolitik an. 36 Ein badisches Gedok-Mitglied umschrieb diese Tendenz später damit, daß ihr Verein im Dritten Reich »Auswege in Mutterkult und Muttermythen« gesucht habe. 37 1933 wurde die Gedok nicht wie andere Frauenorganisationen verboten, löste sich auch nicht selbst auf, sondern ließ sich 1934 gleichschalten. Dieser Schritt bedeutete: Ausrichtung an der nationalsozialistischen »Ideologie«, die Aufnahme in das Deutsche Frauenwerk, das unter Leitung der Funktionärinnen der NS-Frauenschaft stand, »Arierinnen als Vorsitzende« und den Ausschluß der jüdischen Mitglieder. 38 Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 233 33 Zum folgenden vgl. Koch, Michael, Kulturkampf in Karlsruhe. Zur Ausstellung Regierungskunst 1919 - 1933, in: Kunst in Karlsruhe 1900 - 1950, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe im Badischen Kunstverein, Ausstellungskatalog, Karlsruhe 1981, S. 102 - 128. Und Rößling, Wilfried, Künstlergruppen, in: Stilstreit und Führerprinzip. Künstler und Werk in Baden 1930 - 1945, Badischer Kunstverein Karlsruhe, Ausstellungskatalog, Karlsruhe 1981, S. 41 ff. 34 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 17. August 1968; BA, Abt. III (BDC), PK Zippelius, Dora. 35 Vgl. Gespräch mit Dr. Adelhard Zippelius, 17. Januar 1996. Privatbesitz der Verfasserin. 36 Vgl. Brandenburger-Eisele (wie Anm. 32), S. 1. Nachrichtendienst der NS-Frauenschaft und des Deutschen Frauenwerks, 4. Jg, 1. Juli 1935, S. 250. 37 Spatz, Christa, Unterwegs ohne feste Reiseroute. Die Gedok zwischen alter und neuer Frauenbewegung, in: 25 Jahre Gedok Freiburg 1962 - 1987, hrsg. v. Gedok Freiburg, Freiburg 1987, o.S. 38 Amtswalterinnenblatt, Folge 6, April 1934, S. 97. Zur Gleichschaltung vgl. Arendt, Hans Jürgen, <?page no="235"?> Gegen die Absetzung der jüdischen Vorsitzenden der Gedok, Ida Dehmel, protestierte Horn-Zippelius nicht, obwohl sie die nach eigener Aussage »zielbewußte und ideenreiche« Arbeit von Dehmel geschätzt und häufig mit ihr korrespondiert hatte. Horn-Zippelius wünschte, daß die Gleichschaltung fast unsichtbar vonstatten ging. Daher riet sie Ida Dehmel ab, ihren Rücktritt öffentlich vor einer Mitgliederversammlung bekannt zu geben. Horn-Zippelius bat Dehmel, ein »letztes Opfer« für die Erhaltung des Vereins zu bringen und »stillschweigend den Vorsitz weiterzugeben«. Ida Dehmel dagegen bestand auf einer Versammlung, die schließlich von der SA aufgelöst wurde. 39 Dora Horn-Zippelius hatte sich schon Jahre zuvor, im Juni 1931, der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen, indem sie in den Deutschen Frauenorden, die Vorläuferorganisation der NS-Frauenschaft, eingetreten war. Eineinhalb Jahre später, am 1. Januar 1933, - noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten - wurde sie Mitglied der NSDAP. 40 Ihr Ehemann Hans Zippelius gehörte der NSDAP bereits seit 1931 an. Im Herbst 1932, als sie zur Referentin für Presse und Propaganda in der Abteilung für Frauenarbeit von der Gauleitung ernannt wurde, übernahm Hans Zippelius, von Beruf Architekt, das Referat Freie Berufe in der Hauptabteilung IV der Gauleitung Baden. 41 Ob für Dora Horn-Zippelius’ Eintritt in die NSDAP sozialreformerische Motive ausschlaggebend waren wie für ihren Mann, ist unwahrscheinlich, obgleich auch sie in ihren Reden verlauten ließ, daß die NSDAP »keine Standesunterschiede« 42 mehr kenne. Hans Zippelius gab in seinem Spruchkammerverfahren 1948 an, daß er als »gläubiger Idealist und absolut unpolitischer Mensch auf den Nationalsozialismus« seine Hoffnungen gesetzt habe. Von der NSDAP habe er sich versprochen, daß sie den »politisch-gesellschaftlichen Ausgleich zwischen denen, die alles und denjenigen, die nichts haben«, finden würde. Am »ehrlichen, sozialistischen Willen« des Nationalsozialismus habe er damals noch nicht gezweifelt. Erst nach der Machtergreifung erkannte er den Unterschied zwischen den Phrasen der NSDAP und ihren Taten, was ihn veranlaßte, sich bald im Gegensatz zu seiner Frau von der NSDAP zurückzuziehen. 43 An ihren Reden und den Äußerungen gegenüber einer guten Freundin lassen sich Anette Michel 234 Die »Gleichschaltung« der bürgerlichen Frauenorganisationen in Deutschland 1933/ 1934, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 27 (1979), S. 615 - 627, hier S. 619 ff. 39 Horn-Zippelius, Dora, Erinnerungen an: Bund Badischer Künstlerinnen, Frauenkunstverband, Gedok (1912 - 1938), unveröffentlichtes Maschinenskript, Privatbesitz. Für die Bereitstellung danke ich Herrn Dr. Adelhard Zippelius. 40 BA, Abt. III (BDC), PK Dora Zippelius. 41 »Der Führer«, 9. September 1932. 42 »Der Führer«, 9. Juli 1932. Einer Freundin gegenüber sagte sie, daß sie sich von »der Betonung des Sozialismus in dem damaligen Programm der Partei eine neue Einigung des deutschen Volkes aus der bisherigen Zerissenheit in Klassen und Parteien« versprochen habe. Vgl. Brief von Anna Engelhorn, 1. September 1947 (Privatbesitz von Dr. Adelhard Zippelius). 43 Vgl. die Spruchkammerakte von Hans Zippelius GLA 465a 51/ 5/ 11114. <?page no="236"?> die Motive für ihren Anschluß an die nationalsozialistische Bewegung und ihre distanzierte Haltung zur Frauenbewegung der Weimarer Republik ablesen. Einige ihrer Zeitgenossinnen wie die Landtagsabgeordnete Amalie Lauer oder die Juristin und spätere CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Elisabeth Schwarzhaupt hatten vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf die Frauen benachteiligenden Aspekte in der NSDAP hingewiesen. 44 Horn-Zippelius’ Entschluß für die NSDAP zu arbeiten, scheint in dieser Hinsicht widersprüchlich, da sie sich zuvor jahrzehntelang für die berufliche und persönliche Besserstellung von Frauen engagiert hatte und zwei Verbänden angehörte, die zur Frauenbewegung zu zählen sind. Trotzdem griff sie die Frauenbewegung der Weimarer Republik an. Ihr warf sie 1932 vor, versagt zu haben, weil ihre Angehörigen in den Parlamenten säßen und »einzig auf die Emanzipation ihrer Eigenrechte bedacht« seien, anstatt den »Dienst am Volksganzen« zu suchen. Die Anschuldigungen gipfelten in dem Vorwurf, daß die deutsche Frauenbewegung »fremde jüdische Wege« gegangen sei. 45 Erklären lassen sich diese Widersprüche am ehesten dadurch, daß die Frauenbewegung keine politisch einheitliche Bewegung war und Dora Horn-Zippelius stärker der konservativen Seite der bürgerlichen Frauenbewegung zuneigte, deren Frauenbild einige Berührungspunkte mit der späteren nationalsozialistischen Frauenpolitik aufwies. 46 Zudem verkörperte Dora Horn-Zippelius die Ambivalenz vieler engagierter Nationalsozialistinnen. In der Öffentlichkeit proklamierten sie das opferbereite Mutter- und Ehefraudasein, aber sie selbst waren im krassen Gegensatz zu ihrer Ideologie privat und beruflich emanzipiert. Daß eine Frau wie Dora Horn-Zippelius von der nationalsozialistischen Frauenpolitik fasziniert war, läßt sich darüber hinaus auch dadurch erklären, daß das NS-Frauenbild wesentlich vielschichtiger und facettenreicher war, als es im vereinfachenden Rückblick erscheint, so daß es auch engagierten Frauen Identifizierungsmöglichkeiten mit dem Nationalsozialismus bieten konnte. Es beschränkte sich nicht nur auf die Rollen der Mutter, Ehe- und Hausfrau, sondern bot Frauen zumindest in den ihnen als »wesensgemäß« angesehenen Berufen wie Fürsorgerin, Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 235 44 Vgl. Lauer, Amalie, Die Frau in der Auffassung des Nationalsozialismus, Köln 1932. Und Schwarzhaupt, Elisabeth, Was hat die deutsche Frau vom Nationalsozialismus zu erwarten? , Berlin 1932. 45 »Der Führer«, 9. Juli 1932 und »Der Führer«, 25. März 1934. 46 Vgl. Frevert, Ute, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt/ M. 1986, S. 201. Das traditionelle bürgerliche Rollenverständnis von Mann und Frau, im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt, ging von einer Polarität der Geschlechtscharaktere aus. Frauen unterschieden sich danach durch angeblich naturgegebene, weibliche Wesenszüge wie Passivität, Emotionalität und Fürsorge von den aktiven, rational denkenden und handelnden Männern. Die Frau sollte für das Private und die Familie, der Mann für die Öffentlichkeit zuständig sein. Die bürgerliche Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts forderte dann darüber hinaus mit Hilfe des Begriffs der »geistigen Mütterlichkeit« den Einsatz von Frauen in Berufen (z.B. Lehrerin, Ärztin, Fürsorgerin etc.), die ihren »weiblichen« Eigenschaften entsprachen. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes vgl. Hausen, Karin, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, hrsg. v. W. Conze, Stuttgart 1976, S. 367 - 393. <?page no="237"?> Kindergärtnerin, Erzieherin, Mütterschulleiterin oder Hauswirtschaftslehrerin zahlreiche Betätigungsmöglichkeiten. 47 Für eine Elite von ausgewählten, überzeugten Nationalsozialistinnen waren zusätzlich Aufgaben als politische »Mitkämpferin« des Mannes, »Volkserzieherin«, »soldatische Frau«, »autarke Bäuerin« und Führerin anderer Frauen vorgesehen. 48 Vermutlich bestimmten Dora Horn-Zippelius - wie sich aus ihren Reden ablesen läßt - jedoch auch noch andere Motive. Sie war wie viele Männer enttäuscht über den Ausgang des Ersten Weltkrieges und über die Weimarer Republik, die nach ihrer Meinung »Deutschland für alle Zukunft der Knechtschaft« überantwortet und ihre patriotischen Gefühle verletzt habe. Sie wähnte sich in einer Zeit des »Zusammenbruchs«, in der es um »Sein oder Nichtsein« des deutschen Volkes ging. 49 Von der NSDAP versprach sie sich den Wiederaufbau des »deutschen Hauses«. 50 Die kulturellen und politischen Entwicklungen der Weimarer Republik akzeptierte sie nicht, da sie Marxismus und Judentum beschuldigte, unter das Volk »fremdes, zersetzendes Geistesgut« gebracht zu haben. 51 Aber nicht nur nationale, judenfeindliche und antimarxistische Beweggründe ließen sie der nationalsozialistischen Bewegung folgen, sondern vor allem wohl antiurbane, agrarromantische Gefühle und eine Begeisterung für die Vergangenheit, der die Versprechungen der NSDAP, traditionelle Lebensformen vergangener Jahrhunderte wiederzubeleben, entgegenkamen. Ihre starke Naturverbundenheit und ihr Heimatgefühl 52 stimmten mit der Verherrlichung des Bauerntums durch die Nationalsozialisten überein. Die »deutsche Bauernschaft« war ihrer Meinung nach die »Trägerin unseres Wollens und die Keimzelle unseres Volkstums«. 53 In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls ihr Interesse für die Geschichte der Germanen. Die Mystifizierung der germanischen Frau im Nationalsozialismus begrüßte sie und propagierte das germanische Frauenbild in der Öffentlichkeit: »Wir wissen heute, daß kein anderes Volk seine Frauen so hoch gestellt hat wie unsere Vorfahren. Gefährtin und Kameradin ist die germanische Frau dem Manne im Frieden und erst recht im Kampf.« 54 Anette Michel 236 47 Zum NS-Frauenbild vgl. Wittrock, Christine, Weiblichkeitsmythen. Das Frauenbild im Faschismus und seine Vorläufer in der Frauenbewegung der 20er Jahre, Frankfurt/ Main 1983, S. 317 ff. Lehker, Marianne, Frauen im Nationalsozialismus. Wie aus Opfern Handlanger der Täter wurden - eine nötige Trauerarbeit, Frankfurt/ Main 1984, S. 40 ff. 48 Vgl. Wittrock (wie Anm. 47), S. 293 f. und Decken, Godele von der, Emanzipation auf Abwegen. Frauenkultur und Frauenliteratur im Umkreis des Nationalsozialismus, Frankfurt/ Main 1988. 49 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 50 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 51 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 52 In einem Interview mit den Badischen Neuesten Nachrichten 1957 verwies sie auf ihre Naturliebe und darauf, daß sie »niemals Großstädterin gewesen« sei. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957. 53 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 54 »Der Führer«, 25. März 1934. <?page no="238"?> Ihre Positionen speisten sich unter anderem aus den Werken des Schriftstellers Joseph Arthur Comte de Gobineau, der in seinem Text »Essai sur l’inégalité des races« 55 Theorien über die körperliche und geistige Verschiedenheit der Rassen entwickelt hatte. 56 Dora Horn-Zippelius war weder von ihrem Beruf, ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit noch ihrem Alter her eine typische Vertreterin des Deutschen Frauenordens, der NS-Frauenschaft oder der weiblichen Mitglieder der NSDAP. Das Durchschnittsalter der Frauen, die zwischen 1925 und 1933 NSDAP-Mitglied wurden, lag bei 35 Jahren. 57 In beiden Organisationen stellten Hausfrauen, die aus Familien der kleinbürgerlichen Mittelschicht stammten, die Mehrheit der Mitglieder. Unter den berufstätigen Mitgliedern der NS-Frauenschaft gab es besonders viele Büroangestellte und Lehrerinnen. 58 Nur in den führenden Funktionen der Kreis- und Gaufrauenschaftsleitungen fanden sich Frauen der Oberschicht, Angehörige des Adels und Frauen aus dem Bildungsbürgertum. 59 Die weiblichen Mitglieder der NSDAP waren zumeist Ehefrauen oder Töchter von Beamten, Handwerkern, Büroangestellten, kleinen Geschäftsleuten und Bauern. 60 Dora Horn-Zippelius trat im ersten halben Jahr ihrer offiziellen Zugehörigkeit zum Deutschen Frauenorden noch nicht öffentlich in Erscheinung. Der Deutsche Frauenorden, zunächst eine unabhängige völkische Frauenorganisation, seit 1928 als NS-Frauenorganisation anerkannt, verstand sich eher als unpolitischer Hilfsdienst der Partei. Die im September 1928 gegründete Karlsruher Ortsgruppe hatte nach ihrer Entstehung angekündigt, daß sie durch »bildende Vorträge, Sprechabende, Leihbücherei, Nähstube, durch gegenseitige Hilfe, Haus- und Wochenpflege und Kinder-Fürsorge« zum endgültigen Sieg der NSDAP beitragen wolle. 61 Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 237 55 Vgl. die deutsche Ausgabe: Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, vom Grafen Gobineau, hrsg. u. übersetzt v. Ludwig Schemann Bd. 1, 2. Aufl. Stuttgart 1902. 56 Vgl. See, Klaus von, Deutsche Germanenideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt/ Main 1970, S. 56 - 59. Den Hinweis auf die Schriften von Gobineau verdanke ich Herrn Dr. Adelhard Zippelius. 57 Vgl. Kater, Michael, Generationskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS-Bewegung vor 1933, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1985), S. 217 - 243, hier S. 235. 58 Vgl. Stephenson (wie Anm. 1), S. 563. 59 Vgl. Kater, Michael, Frauen in der NS-Bewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 202 - 241, hier S. 238. 60 Zu diesen Ergebnissen kommt Koonz, Claudia, Mütter im Vaterland, Freiburg im Br. 1991, S. 74. Die Untersuchung der Sozial- und Berufsstruktur einer Karlsruher Ortsgruppe der NS-Frauenschaft bestätigt die Ergebnisse von Koonz. 1939 hatte die Ortsgruppe Südwest IV 132 Mitglieder. Darunter waren 105 Hausfrauen, 14 Beamtinnen, zumeist Haupt- und Handarbeitslehrerinnen sowie 8 Büroangestellte. Vgl. Sterr, Lisa, Aufbrüche, Einschnitte und Kontinuitäten - Karlsruher Frauen in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«, in: Karlsruher Frauen 1715 - 1945. Eine Stadtgeschichte, hrsg. v. S. Asche u.a. (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 15), Karlsruhe 1992, S. 293 - 390, hier S. 341 und Michel, Anette, Nationalsozialistische Frauenorganisationen: Aufbau, Führung, Struktur und Funktion. Der Deutsche Frauenorden, die NS-Frauenschaft und das Deutsche Frauenwerk in Karlsruhe. Unveröffentlichte Magisterarbeit an der Universität Karlsruhe 1995, S. 83 - 85. <?page no="239"?> Im Oktober 1931 wurde der Deutsche Frauenorden nach internen Führungsquerelen reichsweit aufgelöst und die NS-Frauenschaft als alleinige, parteiamtliche NS-Frauenorganisation gegründet. Dora Horn-Zippelius und andere ehemalige Mitglieder des Deutschen Frauenordens wurden automatisch in die NS-Frauenschaft aufgenommen. 62 Die Aufgaben der NS-Frauenschaft gliederte der Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Gregor Strasser, 1931 offiziell in drei Bereiche auf: »1. Geistig-kulturelle Erziehung; 2. national-volkswirtschaftlich-hauswirtschaftliche Erziehung; 3. soziale Arbeit.« 63 Nach 1933, und als die NS-Frauenschaft 1935 zu einer Gliederung der NSDAP ernannt wurde, verschoben sich die Aufgabenschwerpunkte und sie erhielt den Status einer Eliteorganisation für Frauen, die »dem Führer politisch und weltanschaulich zuverlässige Führerinnen erziehen« sollte. 64 Der Hauptakzent ihrer Tätigkeit lag jedoch bis 1933 eindeutig auf sozialen Arbeiten. In Karlsruhe richtete die NS-Frauenschaft in diesen Jahren bis zur Machtergreifung Speise- und Wärmehallen ein, stellte Kräfte für den NS-Wohlfahrtsdienst zur Verfügung, der sich um die Familien bedürftiger NSDAP-Mitglieder kümmerte, organisierte Wohltätigkeitsfeste und verpflegte heimatlose und bei Schlägereien verletzte SA-Männer. 65 Die Mitglieder der NS-Frauenschaft leisteten damit ihren Beitrag zur Entstehung einer NS-Subkultur, unterstützten die NS-Propaganda und besserten das durch die Saalschlachten der SA angeschlagene, negative Ansehen der NSDAP auf. 66 Einige Vertreterinnen der NS-Frauenschaft erhielten schon vor 1933 zusätzlich weltanschaulich-agitatorische Aufgaben zugewiesen: so für den Kreis Karlsruhe unter anderen Dora Horn-Zippelius. 67 Bis Anfang der 30er Jahre stand die männerbündisch geprägte NSDAP-Parteileitung den weiblichen Mitgliedern und der Frauenfrage gleichgültig gegenüber. Erst als die nationalsozialistische Massenbewegung sich - wie Martin Broszat es formulierte - in eine Phase der »Verbürgerlichung« und »Salonfähigmachung« 68 fortentwickelte, gerieten Frauen als Wählerinnen und die Anette Michel 238 61 »Der Führer«, 29. September 1928. Zu den weiteren Aktivitäten des Deutschen Frauenordens in Karlsruhe vgl. Michel (wie Anm. 60 ) S. 46 - 50. 62 Vgl. Schmidt-Waldherr, Hiltraud, Emanzipation durch Professionalisierung? Politische Strategien und Konflikte innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung während der Weimarer Republik und die Reaktion des bürgerlichen Antifeminismus und des Nationalsozialismus, Frankfurt/ Main 1987, S. 14 f. 63 Nationalsozialistische Frauenschaft. Bearbeitet von der Presseabteilung der Reichsfrauenführung (Schriften der Deutschen Hochschule für Politik 15), Berlin 1937, S. 13. 64 Reichsorganisationsleiter der NSDAP (Hrsg.), Organisationsbuch der NSDAP, 4. Aufl. München 1937, S. 267. 65 Zu den Tätigkeiten der NS-Frauenschaft in Karlsruhe vgl. auch: Sterr (wie Anm.60), S. 293 - 390. 66 Vgl. Michel (wie Anm. 60), S. 55 f. 67 Außer Dora Horn-Zippelius waren im größeren Umkreis von Karlsruhe als Parteirednerinnen tätig: Gertrud Gilg, ihre spätere Nachfolgerin als Gauschulungsleiterin, die badische Gaufrauenschaftsleiterin Gertrud Scholtz-Klink, die stellvertretende Kreisfrauenschaftsleiterin von Karlsruhe Klein, eine Frau Stickel aus Karlsruhe und eine Arbeiterin aus Mannheim mit dem Namen Weidner. Vgl. Michel (wie Anm. 60), S. 57. <?page no="240"?> Mitglieder der NS-Frauenschaft als agitatorische Hilfen in das Blickfeld der Parteistrategen. 69 Schon aus wahltaktischen Gründen schien der propagandistische Einsatz der NS-Frauenschaft für die NSDAP unerläßlich. 1932, als die Reichspräsidentenwahl und zwei Reichstagswahlen anstanden, sollte die NS-Frauenschaft gegnerische Argumente über die »Frauenfeindlichkeit« der NSDAP widerlegen und gleichzeitig neue Wählerinnen gewinnen. 70 Obwohl die NSDAP keine Frauen als Ortsgruppenleiterinnen oder Reichstagsabgeordnete duldete, machte sich der badische Gauleiter Robert Wagner die rhetorischen Fähigkeiten einzelner lokal bekannter Nationalsozialistinnen wie Dora Horn-Zippelius zunutze. Aus diesen Gründen war sie im Frühjahr 1932 kurz vor der Reichspräsidentenwahl zur Parteirednerin berufen worden. Die Karlsruher Kreisleitung schickte sie daraufhin fast jeden Abend zusammen mit einer weiteren Rednerin in die verschiedenen Dörfer im Landkreis, um Wahlreden zu halten. Gleichzeitig hatte sie als Kreispropagandaleiterin der NS-Frauenschaft Karlsruhe die Aufgabe, neue Mitglieder zu werben und weitere Ortsgruppen zu gründen. Durch unermüdlichen Einsatz konnte Dora Horn-Zippelius zwischen 1932 und 1934 die Zahl der Ortsgruppen von acht auf 33 erhöhen, so daß im Mai 1934 der Kreis Karlsruhe für die NS-Frauenschaft organisatorisch vollständig erfaßt war. Damit leistete sie einen nicht unerheblichen Beitrag zur fortgesetzten regelmäßigen Indoktrination der weiblichen Bevölkerung im Karlsruher Land. 71 Andere badische Gebiete waren nicht so gut für die NS-Frauenschaft erschlossen, gab es doch 1936 in 35% aller Ortschaften in Baden noch keine NS-Frauenschaft. 72 Unmittelbar nach der sogenannten »Kampfzeit« der NSDAP schilderte Dora Horn-Zippelius in der NS-Frauenwarte begeistert ihre rege und erfolgreiche Propagandatätigkeit vor dem Hintergrund der vielfältigen Schwierigkeiten, die sie zu bewältigen hatte 73 : In rauchigen Wirtsstuben habe sie oft nur vor Männern gesprochen, und wenn Frauen ihr zugehört hätten, habe sie häufig nur wenige Interessen- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 239 68 Broszat, Martin, Zur Struktur der NS-Massenbewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 52 - 76, hier S. 61. 69 Vgl. Klinksiek, Dorothee, Die Frau im NS-Staat, Stuttgart 1982, S. 21 f., 116. 70 Vgl. Paul, Gerhard, Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990, S. 98. Im Rückblick faßte die Zeitung der NS-Frauenschaft, die NS-Frauenwarte, 1935 stolz den Beitrag ihrer Mitglieder zum Aufstieg und Erfolg der NSDAP zusammen: »Solange die Partei in den Wahlkämpfen stand, wurden geeignete Rednerinnen vielfach mit den Rednern zusammen eingesetzt, auch Frauenversammlungen veranstaltet. Eine Hochflut von Wahlpropaganda brachte das Jahr 1932. Dort war in der Werbung von Mund zu Mund die Frau unersetzlich. Als Hilfskraft beim Zettelkleben, Flugblätter verteilen, Klebemarken, Broschüren, Lose und Eintrittskarten vertreiben, hat sie oft bis an den Rand ihrer Kräfte gearbeitet.« NS-Frauenwarte, Jg. 1934/ 35, H. 2, S. 35. 71 Vgl. Horn-Zippelius, Dora, Die Eroberung einer Kreisfrauenschaft in den Kampfjahren 1932 auf ‘33, in: NS-Frauenwarte, Jg. 1934/ 35, Heft 2, S. 37. 72 Vgl. Grill, Johnpeter H., The Nazi Party in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 312. 73 Vgl. Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. <?page no="241"?> tinnen für eine Gründungsversammlung gewinnen können. Horn Zippelius: »Jedesmal, wenn ich draußen spreche, muß eine neue Frauenschaft aufgestellt oder wenigstens vorbereitet werden. Es geht nicht so leicht wie später. Manchmal schreiben sich gleich an die 20 Frauen ein, und eine tapfere Leiterin übernimmt die Führung. Oft aber gewinne ich mit aller Überredung nur 5 oder 6 Frauen, die sich nur ganz schüchtern auf das neue Arbeitsfeld wagen, und mehr als einmal fehlt es an der richtigen Führerin. Da muß ich immer und immer wieder hinaus, bis so eine Frauenschaft ›steht‹.« 74 Vor allem die KPD wählenden Arbeiter, die Bevölkerung katholischer Gebiete, die mehrheitlich für das Zentrum stimmte, sowie die Mitglieder nationalkonservativer Verbände sah sie als ihre »Gegner« an, die sie bekehren wollte. Stolz erzählte sie, daß sie in einem überfüllten Saal vor Männern und Frauen so überzeugend ihr Anliegen vorgetragen habe, daß sogar ein »paar junge Kommunisten still wurden«. 75 Über den Wahlkampf zur Reichstagswahl im Herbst 1932 berichtete sie: »Der September gehört den marxistischen Arbeiterdörfern im nächsten Umkreis der Großstadt. Das ist eine Arbeit, die Freude macht! Da ist ein Ort, verrufen als rote Hochburg, Straßenkämpfe und Überfälle sind an der Tagesordnung [...].« 76 Gemeint war der heutige Karlsruher Stadtteil Hagsfeld, in dem es ihr gelang, eine Ortsgruppe der NS-Frauenschaft mit einem Dutzend Frauen zu gründen, während die Parteiorganisation der NSDAP in diesem Dorf erst aus einem einzigen Mann, dem späteren Ortsgruppenleiter Ernst Erb, bestand. 77 Ihr Ziel war klar: »Eine Frauenschaft muß arbeiten, schaffen für die Volksgemeinschaft, sonst wird sie zum Kaffeeklübchen, zum schön- oder ungeistigen, seelenlosen Diskutier- und Tratschkränzchen.« 78 Bei Wahlkundgebungen und Werbeabenden, an denen sie manchmal auch zusammen mit der Gaufrauenschaftsleiterin Gertrud Scholtz-Klink auftrat, sprach sie oft über das Thema: »Die Frau im nationalsozialistischen Staat« oder »Die Aufgabe der Frau im Dritten Reich«. Dabei äußerte sie sich zum einen über die zukünftige Rolle der Frauen, verbreitete aber auch antisemitische Parolen, wie sie beispielsweise in Julius Streichers Hetzblatt »Der Stürmer« verkündet wurden. 79 So behauptete sie etwa vor einer großen Versammlung Karlsruher Frauen 1932, daß, »wenn wir Deutsche vom Schutz der Frau reden, so gelten für uns alle Frauen. Für den Juden gilt aber nur die jüdische Frau, für ihn ist die arische Frau nur Vieh! « 80 Widersprüchliches verbreitete sie über die Aufgaben der Frau im NS-Staat. Mäd- Anette Michel 240 74 Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. 75 Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. 76 Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. 77 Vgl. Linder, Gerhard Friedrich, Eintausend Jahre Hagsfeld: Die Geschichte eines Dorfes (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 12), Karlsruhe 1991, S. 118 f. 78 Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. 79 Vgl. Arendt, Hans-Jürgen; Hering, Sabine; Wagner, Leonie (Hrsg.), Nationalsozialistische Frauenpolitik vor 1933. Dokumentation, Frankfurt/ Main 1995, S. 25. 80 »Der Führer«, 9. Juli 1932. <?page no="242"?> chen sollten studieren und einen Beruf ergreifen. Zugleich plädierte sie aber auch dafür, Frauen in »erster Linie« als Mütter zu sehen, die bereits als junge Mädchen durch ein Pflichtjahr das Dienen lernen sollten. 81 Zustimmung erheischend, wertete sie die Rolle der Frau auf, indem sie betonte, daß die Frau »Hüterin deutschen Charakters und deutscher Sitte« sei. 82 Mit solchen Reden war einerseits dem offiziellen NS-Mutterkult die notwendige Reverenz erwiesen, andererseits selbständigen, durchsetzungsfähigen und ausbildungswilligen Frauen, die sich gleichzeitig opferbereit und gehorsam in den Dienst des Volkes und der NS-Ideologie stellten, die Tür geöffnet. Auf sie konnten die Nationalsozialisten gerade in Kriegszeiten nicht verzichten. 83 So erwies sich hier wie in anderen Fällen die Dehnbarkeit nationalsozialistischer Gesellschaftsvorstellungen, die sich aktuellen politischen Bedürfnissen anpaßten. Nicht zuletzt aber verstand es Horn-Zippelius, die sozialen Aufstiegsträume ihrer Zuhörerinnen für ihre politischen Ziele zu nutzen. Der Nationalsozialismus, so verkündete sie, würde die Frauen aus der »Sklaverei der Fabrik« befreien. 84 Damit gewann sie sicherlich die Stimmen vieler berufsmüder Karlsruher Arbeiterinnen und Angestellten, die sich in den wirtschaftlichen Krisenzeiten der Weimarer Republik durch Mehrfachbelastung, niedrige Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen ausgebeutet fühlten. 85 Über die Rechte, die der zukünftige NS-Staat den Frauen nehmen wollte, sprach sie nicht. Dagegen propagierte sie die vermeintliche Besserstellung der deutschen Frau, die gesandt sei, ein mächtiges Deutschland wiederaufzubauen. Am Ende stand der enthusiastische Aufruf: »Kämpfen Sie für Adolf Hitler«. 86 Die geschickte Wahlpropaganda der NSDAP führte dazu, daß die NSDAP mit 40,3% 87 bei der Reichstagswahl im Juli 1932 die stärkste Partei wurde. Reichsweit wählten seit Beginn der 30er Jahre fast genauso viele Frauen wie Männer die NSDAP, obwohl Frauen lange Zeit gegenüber der NSDAP reserviert gewesen waren und christliche sowie konservativ-nationalistische Parteien bevorzugt hatten. 88 Robert Wagner belohnte entsprechend den Elan und Einsatz von Dora Horn- Zippelius. Im Dezember 1932 durfte sie auf einer Führertagung der NSDAP Baden als Gaupropagandaleiterin - und einzige Frau unter ansonsten männlichen Amts- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 241 81 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 82 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 83 Zur Berufstätigkeit von Frauen im Dritten Reich vgl. Winkler, Dörte, Frauenarbeit im »Dritten Reich«, Hamburg 1977. 84 Siehe Winkler (wie Anm. 83). 85 Vgl. Lauer (wie Anm. 44), S. 26ff; Schwarzhaupt (wie Anm. 44), S. 15 und Hervé, Florence, Brot und Frieden - Kinder, Küche, Kirche. Frauenbewegung in der Weimarer Republik, in: Geschichte der deutschen Frauenbewegung, hrsg. v. F. Hervé, 3. Aufl. Köln 1987, S. 119 - 153, hier S. 148. 86 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 87 Vgl. Bräunche, Ernst Otto, Es fing so »harmlos« an: Aufstieg und Machtergreifung der NSDAP in Karlsruhe, in: Aufstieg der NSDAP und Widerstand. Vorträge zur Stadtgeschichte, Stadtarchiv Karlsruhe 1993, S. 1 - 33, hier S. 13. 88 Vgl. Falter, Jürgen W., Hitlers Wähler, München 1991, S. 140 ff. <?page no="243"?> waltern - über die Stellung der Frau in der nationalsozialistischen Bewegung referieren. 89 Die badische Gauleitung stellte ihr zudem seit Ende 1932 in Karlsruhe ein Büro zur Verfügung, wo sie in Sprechstunden der weiblichen Bevölkerung zur Verfügung stand. 90 Von dort aus koordinierte sie zwei Monate nach der Machtergreifung den Beitrag der NS-Frauenschaft zum Boykott jüdischer Geschäfte. Sie formulierte als Kreispropagandaleiterin und ausführendes Organ der NSDAP-Anweisungen am 30. März einen Aufruf an alle »Ortsgruppenleiterinnen«: »Ostern steht vor der Tür. [...], sorgt durch den Einfluß euerer Frauenschaften dafür, daß die Konfirmations- und Kommuniongeschenke, Kleider, Kränze, Gesangbücher, ebenso wie die Ostergaben und Zuckerwaren für unsere Kinder unter keinen Umständen mehr im Warenhaus oder in jüdischen Geschäften eingekauft werden, die mit unseren christlichen und deutschen Festen eine unser Empfinden geradezu verhöhnende Geschäftsreklame machen.« 91 Mit solchen Appellen machte sich Dora Horn-Zippelius selbst zum kleinen Rädchen im Prozeß der ständigen Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung. Denn der sogenannte »Judenboykott«, bei dem sich SA- und SS-Männer vor jüdischen Geschäften postierten, war ein Signal, daß die Nationalsozialisten es nicht bei verbalen Angriffen auf die Juden belassen würden. 92 Der Boykott »jüdischer Warenhäuser« und das Zurückdrängen ausländischer Einflüsse in der Modebranche waren auch das eigentliche politische Anliegen einiger Ausstellungen und Kleiderschauen, die von der NS-Frauenschaft Baden unter Leitung von Dora Horn-Zippelius von 1934 bis 1936 organisiert wurden. 93 Offiziell und vordergründig ging es bei den sogenannten Volkstums-Austellungen der NS-Frauenschaft um das Wiederbeleben deutscher Sitten und das Werben für deutsche Waren. Mit der Präsentation ländlicher Erzeugnisse des Kunsthandwerks - unter anderem wurden Trachten, Bauernmöbel, Webearbeiten und Goldstickereien präsentiert - sollte die darniederliegende Heimarbeit in abgelegenen badischen Landbezirken aufgewertet und gefördert werden. 94 Die Gründung des »Badischen Heimatwerks« durch die NS-Frauenschaft sollte die bäuerliche Kunst und das »bodenständige Handwerk« wieder zur Ehre kommen lassen und zugleich neue Arbeitsplätze für Frauen beispielsweise im Textilgewerbe schaffen. 95 Tatsächlich aber ging es Dora Horn-Zippelius und ihrer Mitstreiterin Emmy Anette Michel 242 89 »Der Führer«, 12. Dezember 1932. 90 Vgl. »Der Führer«, 6. Dezember 1932. 91 »Der Führer«, 30. März 1933. 92 Vgl. Benz, Wolfgang, Realität und Illusion. Die deutschen Juden und der Nationalsozialismus, in: Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat. Studien zur Struktur- und Mentalitätsgeschichte, hrsg. v. W. Benz, Frankfurt/ Main. 1990, S. 112 - 144, hier S. 129. 93 Vgl. »Der Führer«, 8. September 1933; »Der Führer«, 17. September 1933; »Der Führer«, 29. September 1933; »Der Führer«, 17. Juni 1934; »Der Führer«, 27. Oktober 1936. 94 Vgl. »Der Führer«, 17. September 1933. 95 Vgl. »Der Führer«, 1. Juli 1934; »Der Führer«, 14. November 1934 . <?page no="244"?> Schoch-Leimbach, einer Karlsruher Modedirektrice, um die ideologische Instrumentalisierung der Mode im Sinne nationaler Autarkieerlangung. Nur Kleidung »deutscher Prägung« sollte produziert werden; »artfremde Mode« wurde abgelehnt. 96 Laut Dora Horn-Zippelius werde die »Erscheinung der Modefratze, die das Bild der deutschen Frau nur verzerrt wiedergebe«, gänzlich verschwinden, »sobald die deutsche Frauenwelt sich völlig aus den Fesseln der fremden Mode gelöst und den hohen Wert des deutschen Kleidstils erkannt habe«. 97 Emmy Schoch-Leimbach ergänzte auf einer anderen Veranstaltung, daß so der »jüdischen Vergewaltigung unseres Modewesens« entgegengetreten werden könnte. 98 Den Höhepunkt ihrer Parteilaufbahn erreichte Dora Horn-Zippelius, als der badische Gauleiter sie im Herbst 1934 zur Gauschulungsleiterin der neuen Gauschule der NS-Frauenschaft in Bruchsal ernannte. 99 Das Haus - idyllisch im Garten des Bruchsaler Schlosses gelegen - eröffnete die badische Gaufrauenschaftsleiterin Helene Bögli am 4. Oktober als »eine Pflegstätte nationalsozialistischer Gesinnung«. 100 In einer anschließenden kurzen Rede bedankte sich Dora Horn-Zippelius für die »große Aufgabe«, die ihr übertragen worden sei. Sie versprach, die »deutsche Seele« wieder wach zu machen, »damit Liebe und Freude an allem Guten und Schönen und Großen, deutsche Treue, Glauben, deutsche Sitte, Ehrfurcht vor Altüberkommenen hinausgetragen werde in unser Volk«. 101 Andere - wie der Bruchsaler Kreisleiter der NSDAP, Emil Epp, der Gauschulungsleiter Kramer und die Gaufrauenschaftsleiterin drückten deutlicher die Ziele der Gauschule aus. Die Leiterinnen der NS-Frauenschaft sollten zu »Führerinnen« und »Kämpferinnen« ausgebildet werden, um die »deutschen Menschen« im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie umzuformen. Die Mehrheit der deutschen Frauen sollten wieder »dienen, opfern« und ihre »Pflicht erfüllen« lernen. 102 Die Gauschulen der NS-Frauenschaft dienten an erster Stelle der »weltanschaulichen Schulung« oder in den Worten der englischen Historikerin Jill Stephenson der »Manipulation des Verstandes durch Indoktrination«. 103 Seit der Machtergreifung der NSDAP 1933 widmete sich die NS-Frauenschaft verstärkt der Aus- und Weiterbildung der eigenen Mitglieder, die sich vor 1933 »weltanschaulich« höchstens mit komprimierten Auszügen aus Hitlers »Mein Kampf« beschäftigt hatten. 104 Mit der Etablierung des NS-Staates sollten die Lehrkräfte im Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 243 96 »Der Führer«, 29. September 1933; »Der Führer«, 17. Juni 1934. 97 »Der Führer«, 29. September 1933. 98 »Der Führer«, 17. Juni 1934. 99 Wenige Monate zuvor war Horn-Zippelius zur kommissarischen Kreisfrauenschaftsleiterin in Ettlingen ernannt worden. Vgl. BA, Abt. III (BDC), PK Zippelius, Dora. 100 »Der Führer«, 4. Oktober 1934. 101 »Der Führer«, 4. Oktober 1934. 102 »Der Führer«, 4. Oktober 1934. 103 Stephenson, Jill, »Verantwortungsbewußtsein«: Politische Schulung durch die Frauenorganisationen im Dritten Reich, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich Teil 2, hrsg. v. Manfred Heinemann, Stuttgart 1980, S. 194. <?page no="245"?> Deutschen Frauenwerk, die Frauen in führenden Positionen der Deutschen Arbeitsfront, des Reichsnährstandes, des Luftschutzbundes, des weiblichen Arbeitsdienstes und des Deutschen Roten Kreuzes ideologisch geschult werden. 105 Bis 1938 wurden zwei Reichsschulen der NS-Frauenschaft und 32 Gauschulen ähnlich der Bruchsaler Schule eingerichtet. Dort erhielten aktive und zukünftige Leiterinnen der nationalsozialistischen Frauenorganisationen außer Einführungen in fachbezogene Inhalte, Hilfen für die Anfertigung von Vorträgen, rhetorische Unterweisungen und Instruktionen zur richtigen Wiedergabe von Anordnungen der Reichsleitung der NSDAP. Die besonders fähigen Mitarbeiterinnen der NS-Frauenschaft hatten dann die Aufgabe, die erlernten Inhalte beispielsweise als Block- und Zellenfrauenschaftsleiterinnen, Lehrerinnen an den Mütterschulen oder Hauswirtschaftsberaterinnen an die breite Masse der deutschen Frauen weiterzugeben. 106 Am ersten Lehrgang der Bruchsaler Gauschule nahmen unter Aufsicht von Dora Horn-Zippelius 16 Kultur- und Pressereferentinnen der NS-Frauenschaft teil. Sie hörten Vorträge über den »Nationalsozialismus als Weltanschauung«, das Thema »Festgestaltung« und über »Rassen- und Familienforschung«. Und Dora Horn-Zippelius brachte den Teilnehmerinnen die »Urgründe der Mutterschaft« näher. Am letzten Tag erläuterte Regierungsrat Goll den Zuhörerinnen die ersten rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Staates. Lapidar und ohne jede menschliche Regung führte er aus, daß in der Zukunft mit der Sterilisation von 400.000 Menschen gerechnet werden müsse, darunter seien 15.000 Badener, von denen man bis August 1934 bereits 1.400 operiert hätte. 107 Die Mitglieder der NS-Frauenschaft über die beabsichtigten eugenischen, rassenpolitischen und antisemitischen Maßnahmen der NS-Regierung zu informieren, damit diese wiederum in der breiten Masse der weiblichen Bevölkerung dafür Verständnis weckten, blieb in den nächsten Jahren eine der wichtigen Aufgaben der Leiterinnen der NS-Frauenschaft. 108 Daher übernahm Dora Horn-Zippelius seit 1933 auch die Aufgabe, das Veranstaltungs- und Vortragsprogramm der verschiedenen Ortsgruppen der NS-Frauenschaft zu überwachen. Es mußte ihr zur Genehmigung vorgelegt werden, und sie vermittelte dann Redner und Rednerinnen sowie Vorträge »politischer, kultureller, wirtschaftlicher und hausfraulicher Art«. 109 So nahmen Referate über »Die Judenfrage«, »Rasse und Weltanschauung«, »Rasse ist Anette Michel 244 104 Vgl. Scholtz-Klink, Gertrud (Hrsg.), Was will die NS-Frauenschaft? Kurze Anweisungen für die Arbeit in der NS-Frauenschaft, o.O. o.J., GLA 465d/ 1460. 105 Vgl. »Der Führer«, 1. Januar 1936. 106 Vgl. Dammer, Susanna, Kinder, Küche, Kriegsarbeit - Die Schulung der Frauen durch die NS-Frauenschaft, in: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, hrsg. v. der Frauengruppe Faschismusforschung, Frankfurt/ Main 1981, S. 215 - 245, hier S. 228 f. 107 Vgl. »Der Führer», 13. Oktober 1934. 108 Vgl. Stephenson (wie Anm. 103), S. 200. 109 »Der Führer», 13. Oktober 1933. <?page no="246"?> Schicksal« und »Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, »Das Versailler Diktat«, »Die zionistischen Protokolle« neben Vorträgen wie »Grenzlandkampf und auslandsdeutsches Schicksal«, »Die Hausfrau als Hüterin der Volksgesundheit«, »Die Nationalsozialistin und ihre Kleidung«, »Wie verwerten wir unsere Seefische? « und »Erziehungsfrage im Kleinkinderalter« einen festen Platz im Vortragskanon der NS-Frauenschaft ein. 110 Dora Horn-Zippelius selbst hatte sich - wie es sich aus den Titeln ihrer Schulungsvorträge erkennen läßt - auf das Thema »Frau und Mutter« spezialisiert, sie sprach aber auch über »Nationalsozialistische Weltanschauung«. 111 Als Gauschulungsleiterin und Gaupropagandaleiterin der NS-Frauenschaft reiste sie in Baden umher, besuchte Tagungen, sprach vor Kreisfrauenschaftsleiterinnen und auf den monatlich stattfindenden Pflichtabenden der NS-Frauenschaft und des Deutschen Frauenwerks, an denen alle Mitglieder unter Androhung von Ausschluß teilnehmen mußten. 112 1936 endete abrupt die Tätigkeit von Dora Horn-Zippelius für die NS-Frauenschaft in Baden. Anscheinend ohne ihre Zustimmung entließ die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink sie im September 1936 als Gauschulungsleiterin und Leiterin der Frauenschaftsschule in Bruchsal. 113 Seit Februar 1937 nahm dann die wesentlich jüngere Frauenschaftsleiterin des Kreises Bruchsal, Gertrud Gilg, den Posten der Gauschulungsleiterin ein. 114 Scholtz-Klink hielt die Karlsruherin für »moralinsauer«. Sie tauge für diese Stellung nicht mehr. Die Quellen lassen nicht erkennen, was im einzelnen hinter der Entscheidung Scholtz-Klinks stand 115 , doch deutet ihre Charakterisierung als »moralinsauer« darauf hin, daß Horn-Zippelius die Radikalisierung in der NS-Rassen-, Frauen- und Bevölkerungspolitik nicht mittragen wollte, die seit 1935 offensichtlich wurde. 116 So ließ der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, 1935 die sogenannten Lebensbornheime einrichten, die für die Freundinnen, Geliebten und Ehefrauen von SS- Männern und Wehrmachtsangehörigen konzipiert waren. Sie sollten den Kinder- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 245 110 Vgl. »Der Führer», 15. Oktober 1933, »Der Führer», 14. November 1933, »Der Führer», 5. Dezember 1933, »Der Führer», 11. April 1934, »Der Führer», 16. Mai 1934, »Der Führer», 13. Juni 1934, »Der Führer», 27. Juni 1934, »Der Führer», 15. Juni 1935, »Der Führer», 17. März 1936, »Der Führer», 25. März 1936. 111 Ihre Vorträge lauteten beispielsweise: »Die Pflicht der deutschen Frau am 12. November« (»Der Führer», 29. Oktober 1933), »Nationalsozialismus und deutsches Frauentum« (»Der Führer», 15. März 1934), »Die Frau und der Nationalsozialismus« (»Der Führer», 17. März 1934), »Die Mutteraufgabe der deutschen Frau« (»Der Führer», 25. März 1934), »Nationalsozialistische Weltanschauung« (»Der Führer», 1. Februar 1935), »Weltanschauung und Lebenshaltung der deutschen Frau« (»Der Führer», 21. Januar 1936) etc. 112 Vgl. »Der Führer», 1. Februar 1935 und 17. Juni 1936. 113 Vgl. GLA 51/ 6/ 8925. 114 Vgl. GLA 465 a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 115 Vgl. Brief von Anna Engelhorn, 1. September 1947 (Privatbesitz von Dr. Adelhard Zippelius). 116 Vgl. Gespräch mit Dr. Adelhard Zippelius (wie Anm. 35). <?page no="247"?> reichtum und nach ihren Statuten die »Auslese« eines »nordisch-arischen« Geschlechts fördern 117 und waren wegen ihrer Tendenz zur Aufwertung der unehelichen Mutterschaft und Tolerierung sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe unter den Mitarbeiterinnen der Reichsfrauenführung nicht unumstritten. 118 Selbstbewußte, emanzipierte und auf die Würde der Frau bedachte Mitglieder der NS-Frauenschaft wie Dora Horn-Zippelius, denen es bei ihrer Arbeit um die »moralische und sittliche Hebung der Frau und Mutter« ging 119 , konnten sich kaum mit Institutionen wie den Lebensbornheimen oder gar den weiterführenden Plänen Hitlers und Himmlers, die polygame Ehe einzuführen, einverstanden erklären. 120 Parolen wie: »Ihr könnt nicht alle einen Mann kriegen, aber Mutter könnt ihr alle werden« 121 dürften Dora Horn-Zippelius entsetzt haben. Den engen Zugriff der nationalsozialistischen Parteiorganisationen auf Mädchen und Jungen hatte sie beständig abgelehnt, da ihrer Auffassung nach für deren persönliche Entwicklung »letzten Endes die Mutter allein« verantwortlich sein sollte. 122 Zu Horn-Zippelius’ Entlassung dürfte außer ihrer oppositionellen Haltung in moralischen Fragen ihr hohes Alter von 61 Jahren beigetragen haben. Bereits 1934 hatte ein Schulungsleiter der Reichsfrauenschule in Coburg, wo sie an einer Fortbildung teilnahm, die Empfehlung ausgesprochen, Horn-Zippelius »trotz ihrer Gaben« nicht den Posten der Gauschulungsleiterin zu übertragen, da sie »über ihre Jahre hinaus alt« sei. 123 Ihre Absetzung fiel in eine Zeit, in der auch andere Nationalsozialisten, die im Grunde konservative Persönlichkeiten waren, gleichzeitig kämpferisch-völkischen Ideen und schwärmerischen Vorstellungen über eine idyllisch-germanische oder mittelalterliche Vergangenheit anhingen, ihre Bedeutung und ihren Einfluß verloren. Auch der alte Bekannte Paul Schultze-Naumburg, der »als Galionsfigur eines vaterländischen Bürgertums den Nationalsozialismus [...] in besseren Kreisen salonfähig gemacht« hatte, aber nach der Etablierung des NS-Staates nicht mehr gebraucht wurde, wurde abgeschoben. 124 Horn-Zippelius selbst äußerte sich denn auch enttäuscht über die Entwicklung, die die NSDAP in den Jahres ihres Engagements genommen hatte, und prangerte in ihrem Bekanntenkreis die Mißstände und Übergriffe einzelner Parteiführer an. 125 Ihr Anette Michel 246 117 Zu den Lebensbornheimen vgl. die grundlegende Studien von Lilienthal, Georg, Der »Lebensborn e.V.«. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik, überarb. u. erweit. Ausgabe Frankfurt/ Main 1993, S. 42. 118 Vgl. Vorwerck, Else, Gedanken über die Ehe im nationalsozialistischen Staat, in: N.S. Frauenbuch, hrsg. v. der N.S. Frauenschaft, zusammengest. u. bearb. v. E. Semmelroth, R. v. Stieda, München 1934, S. 143 - 148, hier S. 147. 119 Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 120 Vgl. Frevert (wie Anm. 46), S. 230. 121 Vgl. Matzen-Stöckert (wie Anm. 6), S. 165. 122 Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 123 BA, Abt. III (BDC), PK Zippelius, Dora. 124 Vgl. Durth (wie Anm. 29), S. 121. <?page no="248"?> unerschütterlicher Glaube an den Nationalsozialismus und die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände jedoch waren so groß, daß sie sich 1937 intensiv um eine Audienz bei Hitler bemühte, um ihm über Korruptionsfälle zu berichten. 126 Nachdem Hitler aber eine Unterredung abgelehnt hatte, zog sie sich entmutigt ins Privatleben zurück. Sie verblieb in der Reichskammer der Bildenden Künste und widmete sich wieder verstärkt der Malerei. 127 Ihren fast naiv zu nennenden Glauben an eine Regeneration der nationalsozialistischen Ideen scheint sie bis zum Kriegsende nicht verloren zu haben. 1940 vertraute sie einer Freundin an, daß sie auf ein für Deutschland siegreiches Kriegsende hoffe. Sie war überzeugt, daß die jungen Soldaten in der Wehrmacht nach einem endgültigen militärischen Erfolg »Partei und Staat von Mißständen reinigen« und wieder »gesunde und saubere Verhältnisse« herstellen würden. 128 Nach Aussagen ihres Sohnes und einer guten Bekannten »mißbilligte« sie die Verfolgung und Ermordung der Juden. Physische Gewalt und radikaler Fanatismus stießen sie ab. 129 Die Niederlage 1945 und der Einmarsch der Alliierten müssen den Zusammenbruch ihres Weltbildes ausgelöst haben. 1947 wurde sie vor der Spruchkammer Karlsruhe angeklagt. Die Befragungen des öffentlichen Anklägers ergaben anscheinend keine Anhaltspunkte für ein weiteres Verfahren. 130 Zeugen, die Negatives oder Belastendes über sie aussagen wollten, fanden sich nicht. Im Februar 1948 beantragte der öffentliche Ankläger daher, das Verfahren gegen Dora Horn-Zippelius aufgrund der Weihnachtsamnestie einzustellen. Sein Antrag wurde von der Militärregierung genehmigt. 131 Dora Horn-Zippelius lebte bis zu ihrem Tod in Karlsruhe. In den 50er Jahren präsentierte der Badische Kunstverein ihr malerisches Lebenswerk in einer großen Ausstellung. 132 Die Badischen Neuesten Nachrichten würdigten sie als Künstlerin mit mehreren Artikeln. 133 Über die Zeit des Nationalsozialismus äußerte sie sich in der Öffentlichkeit niemals. Bis in ihre letzten Lebensjahre malte sie, schrieb Gedichte und Erzählungen. 134 Am 17. Februar 1967 starb sie im Alter von 91 Jahren in Karlsruhe. 135 Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 247 125 Vgl. Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 126 Vgl. Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 127 Dr. Adelhard Zippelius (wie Anm. 35). 128 Vgl. Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 129 Dr. Adelhard Zippelius (wie Anm. 35). 130 Vgl. GLA 51/ 6/ 8925. Nicht geklärt werden konnte, warum in der Akte die sonst üblichen Dokumente über ihren Lebenslauf und einschlägige Zeugnisse fehlen. 131 Vgl. GLA 51/ 6/ 8925. 132 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957. 133 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 24. September 1962, 22. Februar 1967, 17. August 1968, 21. Mai 1969. 134 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 22. Februar 1967. 135 Vgl. Dora Horn-Zippelius, in: Zeitungsausschnittsammlung des Stadtarchivs Karlsruhe, Ordner Bildende Künstler und Architekten, Weio-Z. <?page no="249"?> Gertrud Gilg Gertrud Gilg wurde 1901 als Tochter des Joh. Georg Schmid und seiner Ehefrau Wilhelmine in Bruchsal geboren. In der nordbadischen, katholisch geprägten Barockstadt besaßen ihre Eltern eine kleine Seifenfabrik, direkt neben dem Schlachthof am Stadtrand gelegen. Dort wuchs Gertrud Schmid mit zwei Schwestern in einer protestantischen Familie auf. Nachdem sie die Volksschule besucht hatte, absolvierte sie die Höhere Mädchenschule in Bruchsal und nahm anschließend an einem Handelsschulkurs teil. In ihrer Freizeit fand die Wandervogelbewegung ihr Interesse, und sie zog bald darauf an den Wochenenden mit Freundinnen und Verwandten in die nahe Umgebung. Nichts wies bei dem jungen Mädchen auf ein späteres Interesse an Politik hin. Einzig der Wunsch Lehrerin zu werden, deutete auf eine unerfüllte Wißbegier und die Freude am Unterrichten. Ihre Eltern unterstützten dieses Ansinnen nicht, weil sie als wohlhabende Geschäftsleute meinten, daß ihre Tochter es nicht »nötig« hätte, eine lange Ausbildung zu machen und einen Beruf zu ergreifen. 136 Wie viele andere junge Frauen in der Weimarer Republik arbeitete Gertrud Schmid vor ihrer Heirat kurze Zeit in einem Büro und half dann ein Jahr lang ihren Eltern in Geschäft und Haushalt. 137 Eine bedeutende Zäsur in ihrem Leben war vermutlich 1921 die Heirat mit dem fast 20 Jahre älteren Rudolf Gilg. Mit ihrem Ehemann verließ sie zum erstenmal Bruchsal und zog nach Kehl. Kurz hintereinander, 1922 und 1923, gebar sie einen Sohn und eine Tochter. Gertrud Gilgs Ehemann, Sohn eines evangelischen Oberkirchenrats aus Karlsruhe, der im Kaiserreich aufgewachsen war und am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, dürfte mit seiner politischen Einstellung einen nicht unerheblichen Einfluß auf die spätere weltanschauliche Überzeugung seiner Ehefrau ausgeübt haben. 138 1882 geboren, repräsentierte er jene Generation, die in den Jahren nach der verheerenden Niederlage des Deutschen Reiches enttäuscht, ja traumatisiert wurde. Gilg war im Ersten Weltkrieg als Offizier der Handelsmarine bei der Sprengung deutscher Schiffe in einem chilenischen Hafen 1917 so schwer verunglückt, daß er mit einem Wirbelbruch zum Invaliden wurde. Nach dem Krieg verlor er seine Stellung als Schiffsoffizier, war zeitweise arbeitslos und mußte mehrmals seinen Beruf wechseln. Daher schien ihm Mitte der 20er Jahre die NSDAP, die »Arbeit und Brot« für alle versprach, der letzte Rettungsanker zu sein. Er trat im August 1926 in die Partei ein, wurde später Kreisrichter der NSDAP, Stadtverordneter für die NSDAP in Bruchsal, Mitglied der SS und Ortsgruppenleiter der NS-Volkswohlfahrt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten ermöglichte ihm, beruflich wieder Fuß Anette Michel 248 136 Vgl. Gespräch mit Dr. Hans Gilg und seiner Ehefrau, 31. Juli 1996. Privatbesitz der Verfasserin; GLA 465a Ztr. Spr. K/ B / Sv/ 442. 137 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 138 Die nachfolgenden Aussagen und Zitate über Rudolf Gilg sind seiner Spruchkammerakte entnommen. Vgl. GLA 54/ 1/ 10752. <?page no="250"?> zu fassen und aufzusteigen. Zwar hatte er 1926 einen Posten als Angestellter beim Finanzamt in Bruchsal erlangt, aber erst 1935 unter der NS-Regierung wurde er vom badischen Staat fest angestellt, erhielt eine Stelle als Verwaltungsassistent und wurde 1942 zum Regierungsobersekretär befördert. Für Rudolf Gilg und seine Frau dürften nicht nur wirtschaftliche und soziale Motive - wie sie später angaben - ausschlaggebend gewesen sein, sich mit der nationalsozialistischen Bewegung einzulassen. Rudolf Gilg gestand später, daß ihm außer der Losung »Arbeit und Brot« auch andere Parolen der NSDAP gefallen hatten. Auf ihn wirkten vor allem die nationalistischen und expansionistischen Versprechungen: »23 Jahre war ich in der ganzen Welt - ich fuhr zur See - und sah immer, dass Deutschland gross, stark und mächtig, sowie auch gefürchtet war. Als ich im Dezember 1913 zum letzten Mal hinausfuhr und 1919 zurückkam, war in Deutschland alles zerschlagen. Wir waren ein Spott und Hohn für alle Negerstaaten. In Hitlers Programm stand, dass Deutschland wieder Auslandsgeltung verschafft werden sollte.« So wurde Gilg das »älteste Mitglied der NSDAP« und »eine der ersten Stützen des Naziregimes« in Bruchsal. 139 Wie ihr Ehemann sympathisierte Gertrud Gilg seit der Mitte der 20er Jahre mit der NSDAP. Ihr ganzes persönliches Umfeld, Freunde, Bekannte und Verwandte traten bald in die NSDAP ein. 140 So begleitete auch sie ihren Mann auf Parteiversammlungen und war fasziniert von den Aussagen Hitlers über die Rolle der Frau und Mutter im zukünftigen NS-Staat. Besonders beeindruckt hatte sie der Satz: »Ich sehe in jeder Frau die Mutter unseres ewigen Volkes«. 141 Nachhaltig wirkte diese Aussage vor allem, weil einige Jugendliche Gertrud Gilg, als sie ihr erstes Kind erwartete, auf der Straße verhöhnt und verspottet hatten. 142 Offiziell schloß sie sich den Nationalsozialisten jedoch erst an, als in Bruchsal eine Ortsgruppe des Deutschen Frauenordens gegründet wurde. Einige Frauen aus Bruchsal, darunter vermutlich auch Gertrud Gilg, hatten Ende 1930 die badische Gauleiterin des Deutschen Frauenordens Gertrud Scholtz-Klink gebeten, in ihre Stadt zu kommen, um dort eine neue Ortsgruppe zu etablieren. Gertrud Gilg gehörte der neuen Gruppierung mit zwölf Mitgliedern seit dem 20. Dezember 1930 an und übernahm zugleich einen Posten als Kassiererin. Nur drei Monate später, am 1. März 1931, trat sie auch der NSDAP bei. 143 Zu diesem Zeitpunkt betrug der Frauenanteil in der NSDAP 7,8%. 144 Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 249 139 GLA 54/ 1/ 10752. 140 Vgl. Gespräch mit Dr. Hans Gilg (wie Anm. 136). 141 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 142 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 143 Vgl. Bruchsaler Neue Zeitung, 23. Februar 1944; GLA 465a Ztr.Spr. K/ B/ Sv/ 442. Nach den Mitgliederkarteikarten des Deutschen Frauenwerks und der NSDAP gehörte Gertrud Gilg dem Deutschen Frauenorden bereits seit dem 1. Juli 1930 an. Der Mitgliederkartei zufolge trat sie am 1. Dezember 1931 aus der NSDAP aus und neun Monate später wieder ein. Diese Angaben erwähnte sie in ihren Lebenslaufschilderungen nicht. Vgl. BAP, ZA I 11030 Bl. 34 und BA, Abt. III (BDC), NSDAP-Mitgliederkarteikarte. 144 Vgl. Kater (wie Anm. 59), S. 206. <?page no="251"?> Nach 1945 nannte Gertrud Gilg als einen der wichtigsten Beweggründe für ihren Beitritt das Ziel des Deutschen Frauenordens, die »Frauen aller Schichten und Stände zusammenzufassen, um gemeinsam der andrängenden Not zu steuern.« 145 Sie verschwieg jedoch andere programmatische Schwerpunkte dieser völkischen Frauenorganisation, die über jene von ihr angegebenen sozialrevolutionären Forderungen hinausgingen. Junge Mädchen sollten zu »rassebewußten, deutschen Frauen« erzogen werden. Und nur »deutschblütige« Frauen durften sich den karitativen Arbeiten in der Organisation widmen, die ausschließlich »deutschen« Personen, vor allem Angehörigen der NSDAP, zugute kommen sollten. 146 Allein von der NSDAP versprach sich Gertrud Gilg, wie sie formulierte, eine »tatkräftige Hilfe«, um den »wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands«, die »allgemeine Unsicherheit der Existenz« und die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. 147 Die Mitglieder des Deutschen Frauenordens und später der NS-Frauenschaft konzentrierten sich in Bruchsal zu Anfang der 30er Jahre auf die gleichen sozialen Aufgaben wie die Anhängerinnen des Nationalsozialismus in Karlsruhe. Gertrud Gilg half in einer Volksküche mit und beteiligte sich an Kleider- und Schuhsammlungen. Für arbeitslose Mädchen und Frauen richteten die Bruchsalerinnen in der NS-Frauenschaft Näh-, Flick- und Hauswirtschaftskurse ein. Darüber hinaus gründeten sie Nähstuben und Kinderkrippen auch im Bruchsaler Umland, in Kronau und Rheinhausen. Gertrud Gilg beschränkte ihren emsigen Einsatz für die NSDAP nicht auf die NS-Wohlfahrtsarbeit, auf deren Leistungen sie sehr stolz war. 148 Rechtzeitig vor der Reichstagswahl im Juli 1932 wurde sie wie Dora Horn-Zippelius in Karlsruhe vom badischen Gauleiter Robert Wagner zur Kreispropagandaleiterin der NS-Frauenschaft und zur Wahlrednerin der NSDAP im Kreis Bruchsal ernannt. Ihre rastlosen Bemühungen im Dienst der nationalsozialistischen Propaganda würdigte im Oktober 1932, einen Monat vor der zweiten Reichstagswahl, die Karlsruher NS-Tageszeitung »Der Führer« in einem Artikel: »Unermüdlich arbeitet in der Frauenschaft, alle Widerstände mißachtend, Frau Gilg, Bruchsal. Der Erfolg konnte nicht ausbleiben. Ihr gelang es am 21. September in Neudorf eine NS-Frauenschaft zu gründen, in Kronau entstand am 28. September eine Frauenschaft, die beide eine erfreulich große Mitgliederzahl aufweisen.« 149 Der »Führer« hob den Erfolg der Mitglieder der NS-Frauenschaft besonders hervor, da in dem stark katholisch geprägten Bruchsaler Wahlkreis die NSDAP mit heftigen Ressentiments der Bevölkerung zu rechnen hatte. Sich der Anstrengungen und Erfolge der nationalsozialistisch gesinnten Frauen bewußt, lobte die NS-Zeitung ihren Einsatz: »All den mutigen Frauen, die hier auf vorgeschobenen Posten die Ideale Adolf Hitlers verfechten, ein dreifaches Heil! Anette Michel 250 145 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 146 Nationalsozialistische Frauenschaft (wie Anm. 63), S. 10 f. 147 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 148 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B / Sv/ 442. 149 »Der Führer», 16. Oktober 1932. <?page no="252"?> In Bruchsal sind wir Nationalsozialisten heute die zweitstärkste Partei! Stadt und Land beginnen aufzuwachen.« 150 Tatsächlich war es der NSDAP bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 gelungen, sich sogar in Bruchsal, wo jahrzehntelang immer das Zentrum mit großem Abstand die meisten Wählerstimmen erreicht hatte, mit 30,5% Stimmen dem Ergebnis des Zentrums, das 36,4% erhalten hatte, anzunähern. 151 Welchen Anteil Gertrud Gilg daran hatte, wußte auch der spätere Bürgermeister von Bruchsal, Professor Franz Bläsi. Im Januar 1947 stellte er fest: »Gilg war eine der Hauptstützen des Naziregimes in Bruchsal. Die Frau trieb einen förmlichen Hitlerkult. Als gute Rednerin hat sie an hunderten von Abenden vor Frauen landauf - landab gesprochen.« 152 Sie verausgabte sich so für die nationalsozialistische Propaganda- und Wohlfahrtstätigkeit, daß sie kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im April 1933 wegen Überarbeitung für ein paar Monate aus ihrer Arbeit ausscheiden mußte. 153 Nachdem sie sich von den Strapazen des Wahlkampfes erholt hatte, wurde ihr im Herbst 1933 das Amt der Ortsfrauenschaftsleiterin übertragen. Damit begann Gertrud Gilgs Karriere in der NS-Frauenschaft, die sie schließlich in den hauptamtlichen Dienst für die NSDAP führte. Vom September 1935 bis Mai 1937 war sie Kreisfrauenschaftsleiterin der NS-Frauenschaft in Bruchsal. Seit Februar 1937 arbeitete sie zudem als Gauschulungsrednerin in der Nachfolge Dora Horn-Zippelius’, später als Gauunterabteilungsleiterin und Gauschulungsleiterin für den Gau Baden der NS- Frauenschaft. 1941 wurde sie mit der zehnjährigen Dienstauszeichnung der NSDAP in Bronze geehrt. 154 Bis 1945 konnte sie durch ein zwar nicht hoch dotiertes, aber dennoch angemessenes Gehalt zum Lebensunterhalt ihrer Familie beitragen. 155 Den Aussagen ihres Sohnes zufolge war jedoch der finanzielle Aspekt kein ausschlaggebender Grund für ihre Arbeit, da ihr Ehemann die Versorgung der Familie sicherstellen konnte. 156 Gertrud Gilgs Aufgaben als Ortsfrauenschaftsleiterin wurden von der Reichsfrauenführung genau definiert. Ortsfrauenschaftsleiterinnen sollten Kontakt zu denjenigen Frauen herstellen, die weder in den reinen NS-Frauenorganisationen noch in anderen Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 251 150 »Der Führer», 16. Oktober 1932. 151 Vgl. Heuchemer, Anton, Zeit der Drangsal. Die katholischen Pfarreien Bruchsals im Dritten Reich, Bruchsal 1990, S. 68. 152 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 153 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 154 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 155 Eine Angestellte der Gaufrauenschaftsleitung im Rang einer Gausachbearbeiterin verdiente ca. 150 Reichsmark im Monat. Vgl. GLA 51/ 56/ 26676. Gilg hatte bei Kriegsende ein monatliches Einkommen von 280 Reichsmark. Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. Im Vergleich dazu betrug der Bruttoverdienst einer Volksschullehrerin 1933 etwa 250 RM und der eines Arbeiters 200 RM. Vgl. Rossmeissl, Dieter, »Ganz Deutschland wird zum Führer halten ...«. Zur politischen Erziehung in den Schulen des Dritten Reiches, Frankfurt/ Main 1985, S. 186, Anm. 26. 156 Vgl. Gespräch mit Dr. Hans Gilg (wie Anm. 136). <?page no="253"?> nationalsozialistischen Verbänden erfaßt waren. Die große, unorganisierte Masse der deutschen Frauen sollten sie für die Verordnungen und Gesetze des NS-Staates aufgeschlossen machen, einzelne Punkte ausführlich erklären und für die Durchführung bestimmter Maßnahmen wie beispielsweise der »Erbgesundheitsgesetze« oder der »Nürnberger Rassengesetze« Verständnis wecken. Einen möglichen Protest durften sie gar nicht erst aufkommen lassen. 157 Da sich Gertrud Gilgs Wirkungskreis in einer ländlich strukturierten Gegend befand, erhielt sie 1934 zusätzlich noch das Amt der »Kreisbäuerin«. In dieser Funktion referierte sie unter anderem auch in der Gauschule der NS-Frauenschaft in Bruchsal über »Die Frau in der Volksgemeinschaft«, »Vom Lebensgesetz der Frau«, »Die Frau im Beruf«, »Die Aufgaben und Ziele der NS-Frauenschaft«. 158 Um für die Mitarbeit im NS-Staat zu werben und die propagierte Volksgemeinschaft zu demonstrieren, halfen Gertrud Gilg und ihre Mitarbeiterinnen den Bäuerinnen bei der Bewältigung ihrer mühseligen Alltagsaufgaben. Bei der Ernte, der Kinderbetreuung und im Haushalt standen sie den überlasteten Frauen auf dem Land zur Seite. Daß diese praktische, direkte Unterstützung in den Dörfern nicht ohne ideologischtaktische Hintergedanken geleistet wurde, belegt eine Anordnung aus dem Amtswalterinnenblatt der NS-Frauenschaft von 1934: »Die NS-Frauenschaft hat das Primat, die Lehre Adolf Hitlers in das letzte Bauern-, Arbeiter- oder Handwerkerhaus des Dorfes zu tragen. [...] Die NS-Frauenschaft ist das scharf geschliffene Instrument der Partei zur Eroberung der Familie.« 159 Damit Gertrud Gilg die an sie gestellten Forderungen erfüllen konnte, wurde sie selbst regelmäßig geschult. Im Herbst 1936 nahm sie an einer Schulungstagung für Kreisfrauenschaftsleiterinnen auf der »Ordensburg Crössinsee« teil. 160 In den sogenannten »Erziehungsburgen« der NSDAP wurde der hauptberufliche Parteinachwuchs, dem außer Fachwissen der entsprechende Kämpfergeist und ein elitäres Bewußtsein vermittelt werden sollten, für Amtsleiterposten ausgebildet. 161 Zur Bewältigung ihrer alltäglichen Pflichten als Kreisfrauenschaftsleiterin stand Gertrud Gilg ein Mitarbeiterinnenstab zur Seite. Obwohl sie dem Kreisleiter der NSDAP disziplinarisch untergeordnet war, hatte sie als Frauenschaftsleiterin eigene Handlungsspielräume. Den Frauen, die ihr direkt unterstanden, konnte sie Anweisungen erteilen, denen jene strikt Folge leisten mußten. 162 Im Kreis Bruchsal gab es Anette Michel 252 157 Vgl. Nachrichtendienst der Reichsfrauenführung, Folge 6, August 1940, S. 236. 158 Weitere Titel ihrer Vorträge waren: »Die Aufgabe der Ortsfrauenschaftsleiterin«, »Der mütterliche Auftrag der Frau in Familie und Volk«, »Grundfragen der Erziehung«, »Betreuung der heranwachsenden Jugend« Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 159 Amtswalterinnenblatt, Folge 5, 1934, S. 85. 160 Vgl. »Der Führer», 28. November 1936. 161 Vgl. Scholtz, Harald, Die »NS-Ordensburgen«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), S. 269 - 298. 162 Vgl. Kater (wie Anm. 59), S. 225 und Klinksiek (wie Anm. 69), S. 21. Im Spruchkammerprozeß von Else Paul, der Stellvertreterin der Reichsfrauenführerin Scholtz-Klink, erläuterte die Stuttgarter Anwältin Dr. Emmy Diemer die Befugnisse von Abteilungsleiterinnen in der Gauführung: »Diese <?page no="254"?> Anfang 1937 jeweils Sach- und Abteilungsleiterinnen für das »Hauswirtschaftsjahr«, für »Mütterschulung«, »volkswirtschaftliche Hauswirtschaft«, »Grenz- und Ausland«, »Kultur/ Erziehung/ Schulung« und »Rassenpolitik«, die gleichzeitig den verschiedenen Abteilungen des Deutschen Frauenwerks vorstanden. Zu Gilgs Aufgaben gehörte es seit 1934 im Zuge der Gleichschaltungsmaßnahmen, die noch bestehenden Frauenvereine und -verbände in die jeweiligen Abteilungen des Deutschen Frauenwerks aufzunehmen und dort zu zentralisieren. 163 Reichsweit und dann auch auf regionaler und lokaler Ebene wurde zuerst die Abteilung »Reichsmütterdienst« aufgebaut, der sich Gilg besonders annahm. Die politische Aufgabe dieser Abteilung bestand darin, Frauen für die Ziele der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik zu vereinnahmen. Sie sollten möglichst viele, nach den Rassegesichtspunkten wertvolle »arische und erbgesunde« Kinder gebären und diese dann im Sinne des Nationalsozialismus erziehen. Die von der Kreisfrauenschaftsleiterin unter anderem angebotenen Säuglingspflegekurse durften nach den Richtlinien der Reichsfrauenführung nur die an »Leib und Seele« gesunden Frauen besuchen. 164 Von allen geburtenfördernden Maßnahmen und Vergünstigungen wie den Mütterschulungen, Ehestandsdarlehen und Mutterkreuzverleihungen ausgeschlossen waren Jüdinnen, Frauen der Sinti und Roma, Mütter, die behinderte Kinder geboren hatten und zahlreiche andere Frauen, die nicht den nationalsozialistischen Anforderungen an Rasseeigenschaften, Gesundheit oder Tugend entsprachen. 165 Diese Diskriminierungen und Ausgrenzungen erwähnte Gertrud Gilg nicht in ihren Reden über »Die Frau in der Volksgemeinschaft« oder »Der mütterliche Auftrag der Frau in Familie und Volk«. Ebenso waren die radikal durchgeführten Zwangssterilisationen und der forcierte Ausschluß von Frauen aus bestimmten Berufsgruppen keine Themen ihrer Vorträge. 166 Gilgs Anliegen war die Glorifizierung der »deutschen Mutter«. Bei Abschlußabenden von Mütterschulungskursen half sie mit, den sakrale Züge annehmenden NS-Mutterkult zu inszenieren. Am Ende einer pompös arrangierten Mütterveranstaltung im Mai 1937 mit feierlich vorgetragenen Liedern und einem Gedicht, das Hitler gewidmet war, sprach sie z.B. über die Frau, die »die ewige Hüterin des Volkes« sei. Als Mutter sei die Frau die »Seele der Familie« und stehe in ihrem »Mittelpunkt«. Gertrud Gilgs Ansprache kulminierte in der Verherrlichung Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 253 Frauen hatten für ihre Abteilungen selbständige Weisungsbefugnis, sie konnten Anleitungen für die Ausrichtung der gesamten Arbeit für die unteren Instanzen geben, sie hatten ein Zeichnungsrecht und vertraten ihre Aufgabengebiete bei den Gaufrauenschaftstagungen.« GLA 51/ 68/ 12 / 25. 163 Vgl. »Der Führer», 23. Februar 1937. 164 Die Richtlinien des Reichsmütterdienstes sind abgedruckt in: Lampert, Luise, Mütterschulung, Leipzig 1934, S. 186 und »Der Führer», 17. Januar 1937; »Der Führer», 12. April 1937. 165 Vgl. Weyrather, Irmgard, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die »deutsche Mutter« im Nationalsozialismus, Frankfurt/ Main 1993, S. 55ff, 83, 162 ff. 166 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442 und zur antinatalistischen Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten vgl. Bock (wie Anm. 2). <?page no="255"?> des »stillen Heldentums der deutschen Frau«. 167 In ihren Reden betonte sie aber auch, daß sich die Frauen nicht auf das »enge Leben zwischen vier Wänden beschränken, sondern am Leben des Volkes teilnehmen« sollten. Sie forderte die Frauen auf, die »echten Lebens- und Kampfgefährten« der Männer zu werden. 168 Auf den Müttern laste die immense Verantwortung für einen großen Teil des Volksvermögens und die Erziehung der Kinder. Eine Frau sei gleichermaßen zum Dienst am Staat verpflichtet wie der Mann. Und die Frauen müßten »die Idee des Führers im Herzen erfassen und sie ganz in sich aufnehmen.« 169 Diese Bemerkungen verdeutlichen, daß das nationalsozialistische weibliche Idealbild sich nicht nur aufgrund der rassistischen Vorgaben vom männlichen Konstrukt der bürgerlichen Frau des 18. und 19. Jahrhunderts abhob, die als emotionales, vorwiegend passives Wesen gesehen wurde, deren Wirkungskreis auf den häuslichen Binnenraum eingegrenzt und in der Öffentlichkeit fast unsichtbar bleiben sollte. 170 Distanzieren wollte sich Gertrud Gilg jedoch auch von dem Typus der berufstätigen, ledigen, eleganten und sexuell emanzipierten Frau, der sogenannten »neuen Frau« der Weimarer Republik, die »arm an Müttern« gewesen sei. Die Ursachen für die Entwicklung dieser Frauenrolle suchte sie antisemitisch argumentierend in der »jüdisch verseuchten Weltanschauung [...], deren erstrebenswertes Ideal die ›käufliche‹ Frau« gewesen sei. 171 Gertrud Gilg sprach in ihren Reden bis 1937 mehrmals über das Verhältnis des Nationalsozialismus zur Religion. 172 Seitdem 1935 der Kirchenkampf entbrannt war, dessen Ziel es war, den konfessionellen Einfluß im NS-Staat auszuschalten 173 , waren auch die nationalsozialistischen Rednerinnen verpflichtet, die Öffentlichkeit zu beruhigen und über die wahren Absichten des Nationalsozialismus zu täuschen. Gilgs Auftrag, die kirchlich gebundenen Frauen in den nationalsozialistischen Frauenorganisationen in Sicherheit zu wiegen, war nicht unbedeutend. Vermehrt waren katholische und evangelische Frauen aus der NS-Frauenschaft und dem Deutschen Frauenwerk ausgetreten, weil sie nicht mit der antikirchlichen Schulpolitik, den Verhaftungen von Priestern sowie den monatelangen diffamierenden Devisen- und Sittlichkeitsprozessen gegen Ordensmitglieder einverstanden gewesen waren. 174 Gertrud Gilg verschwieg in ihren Ausführungen die Verfolgungsmaßnahmen der Anette Michel 254 167 »Der Führer», 11. Mai 1937 und »Der Führer», 3. Oktober 1936. 168 »Der Führer», 12. April 1937. 169 »Der Führer», 11. Mai 1937. 170 Vgl. Stiehr, Karin, Auf der Suche nach Weiblichkeitsbildern im Nationalsozialismus, in: Verdeckte Überlieferungen: Weiblichkeitsbilder zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Fünfziger Jahren, hrsg. v. B. Determann u.a., Frankfurt/ Main, S. 27 - 39, hier S. 31 ff. 171 »Der Führer», 11. Mai 1937. 172 Vgl. »Der Führer», 11. Mai 1937; »Der Führer», 18. November 1937. 173 Vgl. Hehl, Ulrich von, Die Kirchen in der NS-Dikatatur. Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand, in: Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hrsg. v. K. D. Bracher u.a. (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 23), Düsseldorf 1992, S. 153 - 181, hier S. 163 - 173. 174 Kater (wie Anm. 59), S. 220; Koonz (wie Anm. 60), S. 221; Klinksiek (wie Anm. 69), S. 125. <?page no="256"?> Gestapo und der SS. Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Propagandaanweisungen verwies sie auf das sogenannte »positive Christentum« des Nationalsozialismus und den ihrer Meinung nach »tiefen Glauben« des Führers »an das göttliche Gesetz der Gerechtigkeit und des Sieges des Guten«. 175 Die letzten »Gewissenszweifel« von Frauen versuchte sie zu zerstreuen, indem sie in völliger Verdrehung der Tatsachen behauptete, daß der Nationalsozialismus sich nie »gegen den Glauben gewendet« habe und riet den Frauen »eine reinliche Scheidung zwischen einem politisch-konfessionellen Klüngel und dem Glauben« zu treffen. 176 Ob Gertrud Gilg selbst naiv den Propagandaparolen des »positiven Christentums« vertraute, ist schwer zu beurteilen. Im Gegensatz zu anderen fanatischen Nationalsozialisten hielt sie den Kontakt zu einer Bruchsaler Familie aufrecht, deren Sohn wegen illegaler Weiterführung der katholischen Jugendgruppe »Neudeutschland« von der Gestapo überwacht wurde. 177 Von ihrer Vorgesetzten wurde Gilg nach 1945 »ein tiefes religiöses Empfinden« bescheinigt. 178 Es hinderte sie dennoch nicht, Anfang 1940 eine Broschüre des Freiburger Erzbischofs Gröber an das Gauschulungsamt der NSDAP zu schicken, damit jenes »einen wertvollen Einblick in eine der vielfachen Betätigungsmöglichkeiten dieser Kreise« nehmen konnte. 179 1943 trat Gilg aus der Kirche aus. Nach 1945 erklärte sie, dieser Schritt habe nichts mit der Partei zu tun gehabt und sei das Ergebnis einer jahrzehntelangen inneren Entwicklung gewesen. 180 Wie auch immer Gilgs private religiöse Einstellung gewesen sein mag, durch ihr öffentliches Eintreten trug sie zur Irreführung der Bevölkerung bei und leugnete die Diskriminierung und Verfolgung von Kirchenangehörigen. Bereits während ihrer Amtszeit als Ortsfrauenschaftsleiterin in Bruchsal wurde bei einem Schulungsabend der NS-Frauenschaft die katholische Kirche lächerlich gemacht. Diese antikirchliche Pr opag and a d er Natio nals oz ial is ten führt e n icht bei allen K irch enmi tglied ern - w ie zu erwarten gewesen wäre - zu einer Distanzierung vom Nationalsozialismus. Im Gegenteil, bereits Anfang 1934 hatten die katholischen Jugend- und Erwachsenenverbände in Bruchsal etwa 40% ihrer Mitglieder an NS-Organisationen verloren. 181 Gertrud Gilg konnte ihre rhetorischen Talente und ihre Fähigkeit, Menschen zu überzeugen, noch besser entfalten, als sie am 1. Februar 1937 die Nachfolgerin von Dora Horn-Zippelius wurde. Mit der ideologischen Betreuung der Leiterinnen der NS-Frauenschaft in Baden beauftragt, war Gilg nun als Gauabteilungsleiterin für Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 255 175 »Der Führer», 11. Mai 1937 und »Der Führer», 18. November 1937. 176 »Der Führer», 18. November 1937. 177 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442 und zur Gruppe »Neudeutschland« in Bruchsal, die später »Christopher« genannt wurde, vgl. Roegele, Otto B., Gestapo gegen Schüler. Die Gruppe »Christopher« in Bruchsal (Portraits des Widerstands 4), Konstanz 1994. 178 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 179 GLA 465d/ 1273. 180 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 181 Vgl. Heuchemer (wie Anm. 151), S. 104, 130. <?page no="257"?> weltanschauliche Schulung hauptamtlich für die NS-Frauenschaft tätig und leitete zudem seit Januar 1938 die neue Gauschule in Oberkirch. 182 Die Krönung ihrer Parteilaufbahn hatte Gilg nach den Worten der badischen Gaufrauenschaftsleiterin Elsa von Baltz ihrer aufopferungsvollen Arbeit »als alte Kämpferin der Bewegung« zu verdanken, die die »Frauen des Kreises Bruchsal im nationalsozialistischen Sinne« erfolgreich »ausgerichtet« hatte. 183 Anders als Dora Horn-Zippelius war Gertrud Gilg nicht nur wesentlich jünger, sondern anscheinend anpassungsfähiger, was die neuen Direktiven des NS-Staates in der Rassen- und Bevölkerungspolitik betraf. Dennoch beharrte auch Gilg wie Horn-Zippelius auf einem »streng moralischen Standpunkt«, »wenn von oben Richtlinien kamen, die sie nicht gutheissen konnte.« 184 So lehnte sie zum Beispiel ab, den »Stürmer« zu lesen, der für seine pornographischen Anspielungen bekannt war, und hielt auch nichts von jenen »Zweideutigkeiten, die in Punkto Bevölkerungspolitik das ›Schwarze Korps‹« veröffentlichte. 185 Ebenso verurteilte sie die Bestrebungen Hitlers, das uneheliche Kind dem ehelichen gleichzusetzen. 186 Bemerkenswert ist, daß ihr der ungeschminkte Antisemitismus der nationalsozialistischen Hetzblätter anscheinend nicht auffiel, aber eine der wenigen »progressiven«, wenngleich im Sinne der »Ideologie» instrumentalisierten, Maßnahmen der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Sozialpolitik, die Besserstellung des unehelichen Kindes, war für sie untragbar. Gilg wie ihre Vorgängerin griffen Aspekte der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik an, die ihren konventionellen Moralvorstellungen widersprachen oder die ihr eigenes Ansehen als »arische« deutsche Frau verletzten. So sehr ihre Bedenken gerechtfertigt waren, wenn sie die Gefahren erkannten, daß Frauen von einigen Nationalsozialisten als Sexualobjekte und »Gebärmaschinen« betrachtet wurden - Gilg beanstandete die Forderung, daß jede »deutsche Frau dem Führer ein Kind schenken sollte« -, um so mehr fällt auf, daß sie die Integrität und Würde »nichtarischer« Frauen kaum interessierte und berührte. Gilg verband mit ihrer in Teilen abweichenden Meinung keine grundsätzliche Kritik am NS-System, seiner »Ideologie» oder gar eine völlige Abkehr vom Nationalsozialismus. Sie zog aus ihrer differenzierenden Einstellung keine Konsequenzen für ihre weitere berufliche Arbeit. Und ihre kritischen Äußerungen hatten keine disziplinarischen Folgen. 187 Bis kurz vor Ende des »Dritten Reiches» hatte Gertrud Gilg keine prinzipiellen Zweifel am NS-Staat. 188 Während ihres Spruchkammerverfahrens sagte sie aus: »Es schien mir doch in diesem Staat alles in Ordnung zu sein, die Bau- und Siedlungs- Anette Michel 256 182 Vgl. »Der Führer», 18. Januar 1938. 183 »Der Führer», 27. Mai 1937. 184 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 185 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 186 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 187 Vgl. Tätigkeitsberichte an die Reichsfrauenführung vom März 1940 bis zum September 1943 in: GLA 465d/ 1273. 188 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. <?page no="258"?> häuser, die Arbeitsbeschaffung u.s.w.« Brutale Gewaltmaßnahmen der Nationalsozialisten wie die zahlreichen Erschießungen nach der sogenannten »Röhmaffäre« hielt sie für gerechtfertigt, da es sich um »Hochverrat« gehandelt habe. 189 Ob ihre dargelegte Arglosigkeit und Naivität der Wahrheit entsprachen, kann nicht überprüft werden; auf jeden Fall nahm sie ohne Zögern die Ernennung zur Gauschulungsleiterin an. Diese Tätigkeit umfaßte viele verschiedene Aufgaben. Sie hielt nicht nur selbst Referate in den zahlreichen Gauschulen der NSDAP und der NS-Frauenschaft, sondern organisierte auch Lehrgänge, Kreistagungen und Großveranstaltungen für die NS-Frauenschaft. 190 Sie lud Referentinnen und Redner ein, die über viefältige Inhalte sprachen: »Der deutsche Lebensraum«, »Die Kräfteverhältnisse im politischen Kampf der Mächte«, »Unser Wille zum Sieg«, »Neuordnung im Osten und Fremdvolkpolitik« 191 , »Totaler Krieg und die wehrpolitische Bedeutung der Frau«, »Plutokratie und Judentum«. 192 Eng arbeitete sie vor allem während des Zweiten Weltkrieges mit dem Rassenpolitischen Amt und intern mit der Abteilung »Grenz- und Ausland« zusammen. An erster Stelle der Schulung stand die Unterrichtung und Belehrung der Mitarbeiterinnen der NS-Frauenschaft. Zusätzlich geschult wurden Frauen, die im BDM, in der NS-Volkswohlfahrt, in der Deutschen Arbeitsfront oder im Reichsnährstand wichtige Aufgaben übernommen hatten. Ein dringendes Anliegen war Gilg Anfang der 40er Jahre die Schulung der Krankenschwestern und Helferinnen des Deutschen Roten Kreuzes. Bis zum Sommer 1941 gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem DRK schwierig. 193 In Baden war das Rote Kreuz aus dem Badischen Frauenverein - einer konservativen und vorwiegend protestantisch bestimmten Frauenorganisation - entstanden, deren Mitglieder teilweise Vorbehalte bei der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialistinnen hatten. 194 Gilg, die selbst Mitglied des Roten Kreuzes war, hielt es für unerläßlich, daß die Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes während des Zweiten Weltkrieges von der NS-Frauenschaft intensiv betreut wurden: »Bedenkt man den Einsatz so vieler Kräfte des DRK außerhalb Deutschlands, so erkennt man die Notwendigkeit einer gründlichen politisch-weltanschaulichen Ausrichtung gerade dieser Organisation.« Als Gilg schließlich mit den Oberinnen der Krankenhäuser direkt verhandelte, war sie erfolgreich. 195 Der Arbeitseinsatz von zunehmend mehr Frauen in ehemals rein männlich besetzten Berufsdomänen erweiterte im Laufe des Krieges den Kreis der zu schulenden Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 257 189 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 190 Gertrud Gilg hielt sich regelmäßig in den Gauschulen Oberkirch, Frauenalb, Grafenstaden und Illkirch auf. Vgl. GLA 465d/ 1273. 191 GLA 465d/ 1273. 192 »Der Führer», 18. März 1939; »Der Führer», 22. Februar 1940. 193 GLA 465d/ 1273. 194 Vgl. Die Rede der badischen Gaufrauenschaftsleiterin Helene Bögli vor Mitgliedern des Badischen Frauenvereins, in: Blätter des Badischen Frauenvereins, Dezember 1934, Nr. 12, S. 102 ff. 195 GLA 465d/ 1273. <?page no="259"?> Frauen beträchtlich. Gertrud Gilg arbeitete im März 1942 mit den Dienststellen des Wehrkreiskommandos zusammen, um Wehrmachtshelferinnen vor ihrem Einsatz in Kriegsgebieten »weltanschauliche, rassenkundliche und volkspolitische« Themen zu vermitteln. Im gleichen Monat beantragte die Dienststelle für weibliche Kriminalpolizei eine Schulung ihres Berufsnachwuchses durch die NS-Frauenschaft. 196 Die größten persönlichen Herausforderungen für Gilg waren zum einen die Schulung oder besser gesagt die Umerziehung der Elsässerinnen zu nationalsozialistisch gesinnten deutschen Frauen und die Vorbereitung der volksdeutschen Frauen auf ihre Umsiedlung in den Osten. 197 Im August 1940, kurze Zeit nach der Besetzung Frankreichs, ordnete Gauleiter Robert Wagner, der zum Chef der Zivilverwaltung im Elsaß ernannt worden war, die Mitarbeit der badischen NS-Frauenschaft bei der beabsichtigten »Germanisierungspolitik« im Elsaß an. Da die elsässischen Gebiete de facto annektiert waren, wurden von Baden aus die »Eindeutschungsmaßnahmen« betrieben. 198 Zu Gilgs Auftrag zählte nun, den neuen elsässischen Amtsleiterinnen die nationalsozialistische Ideologie näherzubringen und bei der NS-Frauenschaft und der weiblichen Bevölkerung in Baden Aufmerksamkeit und Interesse für die »geschichtliche, politische und kulturelle Entwicklung im Elsaß« zu wecken. 199 In Baden berichteten bald Referentinnen begeistert über Elsässerinnen, die sich »willig in den Dienst der großen Sache stellen« würden, - eine Aussage, die in keiner Weise der Wirklichkeit entsprach, wie die zur gleichen Zeit verfaßten vertraulichen Tätigkeitsberichte Gertrud Gilgs an die Reichsfrauenführung in Berlin aufdecken. 200 Darin schilderte sie wahrheitsgetreu die gedämpfte Stimmung unter den Elsässerinnen. Gilg sah sich vor schwerwiegenden Problemen beim Aufbau von Ortsgruppen und der Schulung der elsässischen NS-Frauenschaft. Aufgrund ihrer »unzureichenden politischen Bildung« würden die Elsässerinnen Begriffe wie »Volk«, »Volksgemeinschaft« und »Freiheit« ganz anders sehen. Zudem stünden die berufstätigen Elsässerinnen den Nationalsozialistinnen »abwartend« bis »kühl« gegenüber. Gilg gelang es in den nächsten Monaten nicht, die wahren Motive für die Skepsis zu entdecken oder Verständnis für das reservierte Verhalten der Elsässerinnen zu entwickeln. Ihr kamen keine Zweifel oder generelle Bedenken an den unsensiblen und zum Teil brutalen politischen Methoden der Nationalsozialisten im Elsaß. Die Anette Michel 258 196 GLA 465d/ 1273. Über den Einsatz von Frauen in der Wehrmacht sind bisher nur wenige Forschungsarbeiten erschienen. Vgl. Seidler, Franz W., Frauen zu den Waffen? Marketenderinnen, Helferinnen, Soldatinnen, Koblenz, Bonn 1978; Zipfel, Gabi, Wie führen Frauen Krieg? in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944, hrsg. v. H. Heer; K. Naumann, Hamburg 1995, S. 460 - 474. 197 Vgl. GLA 465d/ 1273. 198 Vgl. Hug, Wolfgang, Geschichte Badens, Stuttgart 1992, S. 364. Wagner bestimmte, daß im Elsaß Dienststellen der NS-Frauenschaft bis einschließlich zu den Kreisleitungen zu errichten seien. Die Badenerinnen sollten die bestehenden elsässischen Frauenverbände erfassen, ihre Vermögenswerte sicherstellen und übernehmen. Vgl. GLA 465d/ 1007. 199 Vgl. GLA 465d/ 1273. 200 Die Zitate der folgenden Abschnitte stammen aus der Akte: GLA 465d/ 1273. <?page no="260"?> Ursache für den Attentismus der Elässerinnen und ihr Sträuben, deutsche Lebensweisen sowie die nationalsozialistische Ideologie anzunehmen, suchte sie, starr den Vorurteilen des Antisemitismus verhaftet, der für alle Schwierigkeiten die Juden zum Sündenbock stempelte, in der »französisch-jüdischen Propaganda« und dem »politischen Denken der jüdisch-demokratischen Welt«, das bei einigen Elsässerinnen noch nachwirke. Obwohl Gilgs Arbeit im Elsaß im Laufe des Jahres 1942 eher »schwieriger als leichter« wurde und sie feststellen mußte, daß viel »Idealismus« dazugehörte, durchzuhalten, stellte sie die nationalsozialistischen »Entwelschungsmaßnahmen« und ihre eigene Arbeit nie in Frage. Unbeirrbar betrachtete sie als ihr Hauptziel eine noch intensivere Schulung der Elsässerinnen. Um diesen Plan zu verwirklichen, wurde Gilg von der Gauleitung sogar mit der Unterweisung männlicher Ortsgruppenleiter im Elsaß beauftragt. 201 Letztendlich war dem Projekt kein Erfolg beschieden. Ein grundlegender Gesinnungswandel trat nur bei wenigen Elsässern ein, da sie den französischen Lebensstil bevorzugten und politisch-demokratische Ideen überzeugender fanden. 202 Erfolgreicher als die weltanschauliche Schulung der Elsässerinnen verlief die Betreuung der volksdeutschen Frauen in den badischen Umsiedlerlagern. Im März 1942 notierte sie erfreut, daß sich die Umsiedlerfrauen »ihres Deutschtums immer bewußt geblieben« seien. 203 Alle Abteilungen der NS-Frauenschaft in Baden hatten im September 1941 den offiziellen Auftrag der Reichsfrauenführung erhalten, in den Umsiedlerlagern »weltanschauliche und kulturelle Erziehungsarbeit« zu leisten. 204 Durch diese Anweisung war die NS-Frauenschaft seit 1941 an der Organisation der gigantischen Umsiedlungsaktionen von über 300.000 Volksdeutschen aus der Sowjetunion und Rumänien beteiligt. 205 Volksdeutsche beispielsweise aus Bessarabien, Wolhynien, Slowenien und anderen ost- und südosteuropäischen Ländern erhielten im Zuge der expansiven Lebensraumpolitik Hitlers Land, das zuvor polnischen Staatsbürgern rücksichtslos weggenommen worden war. Darüber hinaus ließ der NS-Staat vor der Ansiedlung der Volksdeutschen Hunderttausende polnischer und jüdischer Familien gewaltsam vertreiben, in Vernichtungslager deportieren oder sofort töten. 206 Weit von diesem Geschehen entfernt, erfuhren in den badischen Umsiedlerlagern, den Zwischenstationen auf dem Weg nach Osten, die zukünftigen Bewohnerinnen der eroberten polnischen Gebiete, wie Gilg schrieb »die grundsätz- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 259 201 Vgl. GLA 465d/ 139. 202 Vgl. zur Elsaßpolitik der Nationalsozialisten: Kettenacker, Lothar, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß, Stuttgart 1973, S. 269 ff. 203 GLA 465d/ 1273. 204 GLA 465d/ 1273. 205 Zwei Frauen aus Karlsruhe waren 1940 als Transport- und Lagerführerinnen tätig. Vgl. »Der Führer», 19. Dezember 1940. 206 Vgl. Madajcyzk, Czeslaw, Deutsche Besatzungspolitik in Polen, in der UDSSR und in den Ländern Südosteuropas, in: Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hrsg. v. K.D. Bracher u.a. (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 23), Düsseldorf 1992, S. 426 - 439, hier S. 428 ff. <?page no="261"?> liche politische Anschauung des Nationalsozialismus und seine Forderungen an die Frau«. »Wir glauben«, versicherte Gilg, den Umsiedlerfrauen »ein gutes Rüstzeug für ihren späteren Einsatz im Osten mitgegeben zu haben.« 207 Die Umsiedlungsaktionen standen gleichzeitig im Zusammenhang mit den sogenannten »Euthanasie«-Morden an Kranken und Behinderten. 208 Vermutlich waren Gilg diese Vorgänge nicht unbekannt, da sie sich in ihrem Spruchkammerverfahren auf die Frage, ob sie in den Heilanstalten Verbrechen gesehen habe, in Widersprüche verfing. 209 In Baden wurden nämlich Heilanstalten beschlagnahmt und die dort lebenden geistig Behinderten und Kranken wurden getötet, um Platz und Räumlichkeiten für die Volksdeutschen zu schaffen, die in überfüllten Lagern festsaßen. 210 1947 gab Gilg zu, daß sie mit den »Heilanstalten [..] ständig in Verbindung war«, leugnete aber strikt jegliche Kenntnis von »Verbrechen« in diesen Häusern. Dagegen lag dem Vorsitzenden der Spruchkammer, vor der sich Gilg Ende der 40er Jahre verantworten mußte, die Aussage einer Bruchsaler Katholikin vor, die Gilg während des Zweiten Weltkrieges empört von den »an den Insassen der Heilanstalt begangenen Verbrechen« berichtet hatte. 211 Gertrud Gilg dagegen behauptete beharrlich, von den Tötungen erst im Internierungslager in Ludwigsburg erfahren zu haben. In den höheren Rängen der NS-Frauenschaft waren vermutlich einige Frauen über die »Euthanasie-Aktionen« unterrichtet worden. So hatte im September 1940 die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink z.B. bei der NSDAP-Leitung nachgefragt, wie sie die fragenden Menschen, deren Angehörige getötet worden waren, beruhigen konnte, »ohne Gefahr zu laufen, der Partei irgendwie zu schaden.« 212 Beruhigung, Täuschung und Irreführung der Öffentlichkeit im Alltag waren wichtige Aufgaben der NS-Frauenschaft während des Zweiten Weltkrieges. Die weltanschauliche Propaganda sowie das Aufrechthalten der nationalen Solidarität bis zum Ende des »Dritten Reiches» blieben praktisch die Hauptaufgaben der NS-Frauenschaft. 213 Daher verlor Gilgs Arbeit als Gauschulungsleiterin und Rednerin während des Krieges nicht an Bedeutung. Sie war seit 1939 ständig in Baden unterwegs, um bei Schulungsabenden in kleinem Rahmen oder bei großen Kundgebungen mit vielen Zuhörerinnen aufzutreten. 214 Bis Anfang 1945 trug sie dazu bei, die Stimmung in der weiblichen Bevölkerung zu lenken. In den vertraulichen Berichten an die Anette Michel 260 207 GLA 465d/ 1273. Gilg wies zudem auch badische Frauen in ländlichen Frauenschaften auf »die Notwendigkeit des bäuerlichen Einsatzes im Osten« hin. Vgl. ebd. 208 Vgl. Aly, Götz, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/ Main 1995, S. 192 ff. 209 GLA 465d/ 1273. 210 Vgl. Aly (wie Anm. 208), S. 192 ff. 211 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 212 Steinert, Marlies Gertrud, Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf, Wien 1970, S. 154f. 213 Vgl. Stephenson (wie Anm. 103) S, 203f. 214 Allein 1940 sind 13 öffentlich bekannt gemachte Vorträge Gilgs nachweisbar. Vgl. »Der Führer», Jahrgang 1940. <?page no="262"?> Reichsfrauenführung faßte sie das generelle Ziel der NS-Frauenschaft im Krieg zusammen: »Als wesentlich sehen wir es an, die uns anvertrauten Menschen zu einer klaren, bewußten Haltung und zur nötigen Festigkeit und Härte zu erziehen, damit wir diesen Krieg bis zum Siege durchhalten.« Beispiele »deutschen Schicksals aus Vergangenheit und Gegenwart« und die Erinnerung an die »Auswirkungen des Versailler Diktats« sollten die »Widerstandskraft« erhöhen. 215 Der Karlsruher »Führer« faßte Gilgs öffentliche Reden, die in Auszügen abgedruckt wurden, als Berichte über die »politische, wirtschaftliche und militärische Lage Deutschlands« auf. 216 Ganz anders als bei ihrer exkulpierenden Selbstdarstellung 1947 wurde bei ihren Reden offensichtlich, daß sie politisch dachte. Monate bevor die Luftschlacht um England begann, hetzte sie gegen den Feind, der »weder wirtschaftlich noch rüstungsmäßig« und vor allem »wegen seiner liberalistischen Lebensordnung« niemals den deutschen Vorsprung einholen könne. 217 Kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion ließ sie im August 1941 bei Schulungsabenden Briefe deutscher Soldaten an der Ostfront vorlesen, damit die Zuhörerinnen ein »furchtbares Bild vom Wirken des Bolschewismus« bekamen. 218 Gertrud Gilg setzte im Laufe des Zweiten Weltkrieges alle verfügbaren Mittel ein, um die »innere Front« der Frauen aufrecht zu halten. So lobte sie beispielsweise im Januar 1940 die bisherige Haltung der deutschen Frauen und forderte für die Zukunft: »Unsere Männer an der Front, sie müssen wissen, daß die Heimat in den Händen und Herzen der Frauen gesichert liegt! « 219 Ein wichtiges Anliegen Gilgs war es, die rassenpolitischen Prinzipien des NS-Staates angesichts »der Berührung mit vielen fremdvölkischen Menschen« ständig den Frauen vor Augen zu halten: »So wollen wir vor allem dafür sorgen, daß das Blut in den Kindern rein bleibt und damit der Bestand unseres Volkes nicht bloß der Zahl, sondern auch dem Werte nach gewährleistet wird.« 220 Mit der allgemeinen Stimmung der deutschen Frauen während des Zweiten Weltkrieges war Gilg zufrieden und sah sie als Erfolg ihrer Propagandatätigkeit. 221 Nur die Bereitschaft der weiblichen Bevölkerung, an freiwilligen Arbeitseinsätzen beispielsweise in der Rüstungsindustrie teilzunehmen, ließ in Baden zu wünschen übrig. In ihren Arbeitsberichten klagte sie, daß gerade die »Frauen politischer Leiter oder Staatsbeamter« sich vor dem Einsatz in Fabriken oder bei der Ernte drücken würden. 222 Obwohl Gilg ein Gespür für die Ungerechtigkeiten und Mißstände im Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 261 215 GLA 465d/ 1273. 216 »Der Führer», 25. Januar 1940. 217 »Der Führer», 25. Januar 1940. Gilg erhielt Büchersendungen vom Gauschulungsamt, um sich fachlich gut auf ihre Vorträge vorbereiten zu können. Vgl. GLA 465d/ 1273. 218 GLA 465d/ 1273. 219 »Der Führer», 25. Januar 1940. 220 »Der Führer«, 25. Januar 1940. Die Gausachbearbeiterin für Rassenpolitik wurde mehrmals von Gilg zu Vorträgen eingeladen, bei denen sie über »Vererbungslehre, Rassenkunde und Bevölkerungspolitik« referierte. Vgl. »Der Führer», 21. April 1940. 221 Im November 1941 gewann Gilg den Eindruck, daß »die Frauen sich ihrer Aufgabe im Krieg bewußt sind«.Vgl. GLA 465d/ 1273. <?page no="263"?> NS-Staat besaß und sie intern in ihren Tätigkeitsberichten an die Reichsfrauenführung kritisierte, zog sie keine Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen und hielt an ihrem schrankenlosen Idealismus fest. In der Öffentlichkeit wollte und konnte sie diese Probleme nicht ansprechen. Kein Tabuthema stellte für Gilg die ständige Verleumdung der jüdischen Bevölkerung und des Judentums dar. Die Juden, die ihrer Meinung nach »Deutschland zerstückeln und alles Deutschtum ausrotten« wollten, würden, wenn die »Einkreisung« nicht gesprengt werde, letztendlich den »Untergang des deutschen Volkes« herbeiführen. 223 Im März 1941 erhielten alle Gauschulungsämter eine Kopie des Films: »Der ewige Jude«, der »bei allen Lehrgängen in den Gau- und Kreisschulungsburgen und bei sonstigen schulischen Veranstaltungen« verwandt werden sollte. 224 Regelmäßig sandte das Gauschulungsamt Gilg Rednermaterial über das »Judentum«, das sie als Hauptthema im November 1941 behandeln mußte. 225 Gertrud Gilg leistete damit ihren Beitrag zur Verunglimpfung der jüdischen Bevölkerung. Ideologisch half sie mit hetzerischen Reden und ohne sich vermutlich der vollen Tragweite ihrer Äußerungen bewußt zu sein, schon im Vorfeld den »Holocaust« vorzubereiten. Angesichts der Millionen von Ermordeten ist es keine Entschuldigung, daß Gilg 1947 zu ihrer Entlastung anführte, daß sie sich für eine Halbjüdin eingesetzt habe, die ins Deutsche Rote Kreuz habe eintreten wollen, und einer befreundeten jüdischen Familie noch 1940 Obst geschickt habe. 226 Gertrud Gilg organisierte bis September 1944 Lehrgänge für die NS-Frauenschaft. Einer der letzten Kurse für Kreisjugendgruppenführerinnen aus ganz Süddeutschland beschäftigte sich mit der »Haltung und Lebensgestaltung als Ausdruck unserer Weltanschauung«. 227 Bis zum letzten Kriegsmonat war sie ein Vorbild an unerschütterlichem Durchhaltewillen. Ihre Selbsteinschätzung 1947 entsprach wohl tatsächlich ihrer Lebenshaltung: »Ich habe mich immer leidenschaftlich eingesetzt, meine Person dabei immer zurückgestellt.« 228 Als im März 1945 bei der verheerenden Zerstörung Bruchsals durch einen gewaltigen Bombenangriff fast 1.000 Menschen ums Leben kamen und sich darunter die Kreisfrauenschaftsleiterin von Bruchsal und fünf ihrer Mitarbeiterinnen befanden, zögerte sie nicht, dieses Amt nochmals zu übernehmen. In der fast völlig zerstörten Stadt kümmerte sie sich einen Monat lang Tag und Nacht um Obdachlose und Flüchtlinge. 229 Ende März verließ sie wieder Bruchsal, um an ihre alte Dienststelle zurückzukeh- Anette Michel 262 222 GLA 465d/ 1273. 223 »Der Führer«, 25. Januar 1940; »Der Führer«, 31. Mai 1940. 224 GLA 465d/ 138. 225 Vgl. GLA 465d/ 1273. 226 GLA 465d/ 1273. 227 GLA 465d/ 1273. 228 GLA 465d/ 1273. 229 GLA 465d/ 1273. Zur Zerstörung Bruchsals vgl. Bläsi, Hubert, Stadt im Inferno. Bruchsal im Luftkrieg 1939 -1945, 3. Aufl. Bruchsal 1985. <?page no="264"?> ren. Dort wurde sie Mitte April entlassen. Wenige Monate darauf erfolgte ihre Verhaftung. Seit dem 11. Oktober 1945 war sie in dem Internierungslager Camp 77 in Ludwigsburg untergebracht. Gertrud Gilg, die als Nähstubenhelferin arbeitete, paßte sich schnell den neuen Gegebenheiten an. Ihre Vorgesetzten urteilten über sie: »Sie war stets arbeitsfreudig und hat ihre Arbeiten ordentlich, fleissig und zur Zufriedenheit [...] ausgeführt.« 230 Nach einem Jahr Lageraufenthalt begann das Spruchkammerverfahren. Gilg wurde im Mai 1947 als »Belastete« eingestuft, da sie dem Nationalsozialismus »wesentliche Dienste geleistet und im Bereich ihrer Wirksamkeit zur Ausbreitung und Festigung des Systems Sorge getragen hatte.« Zu ihren Ungunsten sprach ihre »lange und eifrige Tätigkeit für die NS-Frauenschaft, ferner die Übernahme des Sachreferats für weltanschauliche Schulung, also eine rein politische Tätigkeit.« Die Spruchkammer auferlegte Gilg als Sühnemaßnahme ein Jahr und neun Monate Arbeitslager und zog ein Zehntel ihres Vermögens ein. Bald darauf hob das Ministerium für politische Befreiung den ersten Spruch wegen zu geringer Sühnemaßnahmen auf. Ein neues Verfahren fand einen Monat später statt. Gilg, die nochmals verhört wurde, versuchte nun ihren Einsatz für die NSDAP und die NS-Frauenschaft mit weiblicher Unwissenheit und Naivität zu entschuldigen: »Ich glaubte, was Adolf Hitler sagte, auf allen Gebieten war die wirtschaftliche Besserung ersichtlich und da glaubte ich, dass alles gut sei. Ich habe die Dinge, die vor sich gegangen sind, nicht durchschaut. Bedenken Sie bitte, das Denken einer Frau geht nicht in den Bahnen eines Mannes.« Wahrheitswidrig und entsprechend der bis heute weiterreichenden Legende von der unpolitischen Frau im Nationalsozialismus beteuerte sie: »In den Frauenschaftsversammlungen habe ich öfters Reden gehalten, aber über Politik sprach ich nie. Das war Sache der Männer.« 231 Gerade diesem Argument folgten die männlichen Vorsitzenden der neu zusammengesetzten Spruchkammer offenbar bereitwillig. Gilgs Ausflüchte entsprachen dem typischen Klischee der unpolitischen Frau. So urteilte die Spruchkammer, daß Gilg der »Gewaltherrschaft der NSDAP« keine »ausserordentlich politische, wirtschaftliche, propagandistische oder sonstige Unterstützung gewährt hat.« Gilg blieb in der Gruppe der Belasteten und mußte 90 Tage Sonderarbeit ableisten. 232 Nicht unbeachtet bleiben sollte, daß die ehemalige Frauenschaftsleiterin im zweiten Spruchkammerverfahren Anzeichen von Enttäuschung und Verbitterung zeigte: »Ich kann nur sagen, dass dies alles hier die bitterste Enttäuschung meines Lebens ist, ich habe vieles geopfert und mich eingesetzt, wo ich konnte; und nun muss ich erkennen, dass alles umsonst war. Das ist eine bittere Erkenntnis.« 233 Den Aussagen ihres Sohnes zufolge überstiegen nach dem Kriegsende die Nachrichten über das Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 263 230 Die Zitate der folgenden Abschnitte stammen aus der Spruchkammerakte von Gertrud Gilg . GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 231 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 232 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 233 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. <?page no="265"?> Ausmaß der nationalsozialistischen Massenverbrechen ihr Vorstellungsvermögen. Ein grenzenloser Idealismus hatte ihr die Augen vor dem wahren Wesen des NS- Staats verschlossen. Die Erkenntnis über den kriminellen Charakter des Nationalsozialismus führte bei ihr zu einem großen »Schock«. 234 Verstärkt wurden diese Einsichten noch durch die finanzielle Notlage, in die sie nach dem Krieg geriet. Ihr kranker Ehemann konnte zum Lebensunterhalt der Familie bis zu seinem Tod 1952 kaum etwas beitragen. Deshalb arbeitete Gertrud Gilg zeitweise als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik. Da sie hierdurch kein ausreichendes Auskommen fand und vielleicht auch weil sie sich schuldig fühlte, daß ihre Familie durch ihre »politische Belastung fast alles verloren« hatte, stellte sie Gesuche an das Ministerium für politische Befreiung, um die Erlaubnis für die Eröffnung eines Seifen- und Waschmittelgeschäftes zu erhalten. 1951 waren ihre Bemühungen schließlich erfolgreich. 235 So begann sie voller Energie einen neuen Lebensabschnitt. Sie eröffnete eine »Seifen-Kerzen-Parfümerie« in Bruchsal und führte die Tradition ihres elterlichen Betriebes weiter. Ihr Geschäft in der Innenstadt florierte, sie hatte einen großen Kundenkreis und Kontakt zu vielen Bewohnern Bruchsals. Bis zu ihrem Tod - sie starb im Juli 1972 - arbeitete sie in ihrem Laden und versorgte sich alleine. Politisch engagierte sie sich in ihren letzten Lebensjahrzehnten nicht mehr, und nur im engen Familienkreis sprach sie gelegentlich über die NS-Zeit. 236 Bibliographie Quellen Quellenmaterial über die Aktivitäten Dora Horn-Zippelius’ vor 1933 besitzt das Stadtarchiv Karlsruhe (StAKA 8/ StS 13, 495). Mehrere Artikel aus den Badischen Neuesten Nachrichten, die sich mit ihrer Rolle als Künstlerin befassen, sind in der Zeitungsausschnittsammlung des Stadtarchivs Karlsruhe zusammengefaßt. Wenig ergiebig für die Zeit des Nationalsozialismus sind die von Dora Horn-Zippelius verfaßten Erinnerungen: Bund Badischer Künstlerinnen, Frauenkunstverband, Gedok (1912 - 1938), unveröffentlichtes Maschinenskript, Privatbesitz Dr. Adelhard Zippelius. Die wichtigste Quelle stellt die Karlsruher NS-Tageszeitung »Der Führer« dar. Regelmäßig wird über Versammlungen der NS-Frauenschaft und Vorträge Dora Horn-Zippelius’ berichtet. Besonders aufschlußreich hinsichtlich ihrer Aufgaben als Wahlrednerin und Propagandaleiterin der NS-Frauenschaft ist ein Artikel in der NS-Frauenwarte, Jg. 1934/ 35, Heft 2, S. 37. In der Spruchkammerakte befindet sich nur der Meldebogen. Mehr Information bietet die NSDAP-Mitgliederkartei im ehemaligen Berlin Document Center und ein Brief ihrer Freundin Anna Engelhorn, der sich im Privatbesitz von Dr. Adelhard Zippelius befindet. Anette Michel 264 234 Gespräch mit Dr. Hans Gilg (wie Anm. 136). 235 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 236 Vgl. Einwohner-Adreßbuch der Kreisstadt Bruchsal 1955 und Gespräch mit Dr. Hans Gilg (wie Anm. 136). <?page no="266"?> Das meiste Quellenmaterial über Gertrud Gilg bewahrt das Generallandesarchiv in Karlsruhe auf. Ihre Spruchkammerakte ist sehr materialreich, und eine Akte des Bestands GLA 465d enthält ihre ausführlichen monatlichen Tätigkeitsberichte an die Reichsfrauenführung in Berlin vom März 1940 bis September 1943. Die gleiche Akte umfaßt darüber hinaus Berichte über Tagungen, Bücherlisten und die Korrespondenz mit dem Gauschulungsamt und anderen Dienststellen der NSDAP. Am ergiebigsten ist die Auswertung des »Führer«. Kontinuierlich und ausführlich wird über jede kleine Versammlung, Rede, Tagung oder Feier der NS-Frauenschaft in Bruchsal und in anderen Orten berichtet. Generelle Informationen über den Deutschen Frauenorden und die NS-Frauenschaft bieten in reicher Fülle die Quellen: Amtswalterinnenblatt der N.S. Frauenschaft (Deutscher Frauenorden), München 1933 - 1934 und später der Nachrichtendienst der Reichsfrauenführung sowie die N.S.Frauen-Warte, 1. Jahrgang 1932/ 33 - 13. Jahrgang 1944/ 45. Literatur Nur über Dora Horn-Zippelius sind bisher autobiographische Aufsätze erschienen. Ausführlich hat sich mit ihrem Leben und Wirken als Künstlerin bis zum Ersten Weltkrieg Gerlinde Brandenburger-Eisele befaßt. Dora Horn-Zippelius’ Einsatz für den »Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung« erläutert der Beitrag von Susanne Asche, Fürsorge, Partizipation und Gleichberechtigung - die Leistungen der Karlsruherinnen für die Entwicklung der Großstadt (1859 - 1914). Gertrud Gilgs Leben und ihre Arbeit für die NS-Frauenschaft sind bisher noch nicht erforscht worden. Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 265 <?page no="268"?> *29. Februar 1892 Frankfurt a.O., ev., Kirchenaustritt 1937, Vater: Eduard von Jagow, Königlich preußischer Oberst, Mutter: Elisabeth, geb. von Kleist, verheiratet seit 1926 mit Hedwig, geb. Sinner, sieben Kinder. Primareife, Marineschule Mürwik, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, zuletzt im Rang eines Oberleutnants z. S., 1919 Mitglied der 2. Marinebrigade Ehrhardt, Beteiligung an den Grenzlandkämpfen und am Kapp-Putsch. Herbst 1920 Mitglied der NSDAP, 1922 - 1927 Landesführer der Organisation Consul in Württemberg, 1927/ 1928 Mitglied des Stahlhelm, Winter 1920/ 21 Mitglied der SA, Januar 1922 - Herbst 1923 Inspekteur der württembergischen SA, 1. Januar 1929 erneuter Parteieintritt (Mitgliedsnr. 110.538), 1929 SA-Brigadeführer, 1929 - 1931 NS-Geschäftsführer des Gaues Württemberg, Ortsgruppenleiter in Esslingen am Neckar, Parteiredner, 10. September 1931 SA-Gruppenführer, 9. Mai 1932 MdR (NSDAP), März 1933 Reichskommissar und Polizeikommissar in Württemberg, 21. März 1933 SA-Obergruppenführer, September 1933 Preußischer Staatsrat, Juli 1934 Mitglied des Volksgerichtshofs, 1939 - 1941 Kriegsteilnehmer, 29. Juni 1941 Gesandter I. Klasse in Budapest, 31. März 1944 Entlassung, 1944/ 45 Bataillonsführer eines Volkssturmbataillons, 20. Januar 1945 schwere Verletzung, nach Genesung Reise als NS-Kurier nach Meran. Gest. 26. April 1945 Meran, Freitod. Der »Degen« Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer Barbara Hachmann Dietrich von Jagow 267 <?page no="269"?> Dietrich Wilhelm Bernhardt 1 von Jagow galt wegen seines energischen und frühen Eintretens für die Belange der »Bewegung« als ein »Pionier« des Nationalsozialismus. Schon Anfang 1920 nannten ihn seine politischen Freunde in der rechtsextremistischen Organisation Consul 2 »Degen«. 3 Damit brachten sie zum Ausdruck, daß von Jagows politischer Einsatz von einer außerordentlichen Vehemenz geprägt war, zugleich aber auch, daß er ein williges und kampfbereites Werkzeug im Dienste seines »Führers« war. Dietrich von Jagow wurde als drittes Kind von Elisabeth und Eduard von Jagow am 29. Februar 1892 in Frankfurt an der Oder geboren. Die Familie von Jagow blickte im Geburtsjahr ihres jüngsten Sohnes auf eine lange Tradition zurück: Das Geschlecht wurde im Jahre 1268 erstmals urkundlich erwähnt und zählt zu den ältesten der Mark Brandenburg. 4 Über Jahrhunderte hatten sich die männlichen Mitglieder der Familie aktiv am politischen Geschehen und vor allem im Militär beteiligt. Der Vater Dietrich von Jagows war Oberst in der Königlich preußischen Armee, die politische Einstellung des familiären Umfelds war konservativ und dürfte die demokratiefeindliche Haltung Dietrich von Jagows vorgeprägt haben. Elisabeth von Jagow versuchte, ihrem Sohn moralische Werte zu vermitteln, die mit den Begriffen der Nächstenliebe, Bescheidenheit und Geradlinigkeit beschrieben werden können. Während er die beiden erstgenannten Eigenschaften insbesondere als Ehemann, Vater und Privatmann nach der Erinnerung seines Sohnes praktizierte, zog sich seine Geradlinigkeit wie ein roter Faden durch sein politisch-ideologisches Engagement, das sich im wesentlichen gegen die Weimarer Demokratie wandte. Dietrich von Jagows Schulzeit ist nur unvollkommen dokumentiert. Aus einem Jahresbericht des Gymnasiums Blankenburg im Harz geht hervor, daß er die Untersekunda im Schuljahr 1909/ 10 besucht hat. 5 Wann er die Schule verlassen hat, läßt sich nicht mehr genau feststellen, vermutlich jedoch nach der Absolvierung der Primareife. 6 Da er an Allergien, insbesondere an Heuschnupfen, litt, entschied sich von Jagow dafür, die angestrebte militärische Laufbahn bei der kaiserlichen Marine zu beginnen. Am 1. April 1912 fing er seine Ausbildung an der Marineschule Mürwik als Seekadett an. Drei Jahre später wurde der Soldat von Jagow, der Deutschland über Barbara Hachmann 268 1 Der Name Bernhardt wird in genealogischen Nachschlagewerken und in manchen Personalakten ohne t geschrieben. Hier wurde die Orthographie des Personalbogens des Auswärtigen Amtes übernommen. Vgl. PAAA, Personalbogen, Bl. E. 309205. 2 Zur Geschichte der O. C. vgl. Krüger, Gabriele, Die Brigade Ehrhardt (Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte 7), Hamburg 1971. 3 Vgl. Schmid, Manfred, Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918 - 1923 (Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen, I 13), Tübingen 1988, S. 136. 4 Vgl. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser, Zugleich Adelsmatrikel der deutschen Adelsgenossenschaft, Teil A, 38. Jg., Gotha 1939, S. 200. 5 Vgl. Sozial- und Schulamt der Stadt Blankenburg im Harz, Schreiben an die Verfasserin, 1. November 1995. 6 Vgl. WASt, Schreiben an die Verfasserin, 3. Januar 1996. <?page no="270"?> alles geliebt haben soll 7 , kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Leutnant zur See und im Jahre 1917 zum Oberleutnant zur See befördert. 8 Im Ersten Weltkrieg war er als Wach- und Torpedooffizier auf mehreren Unterseebooten eingesetzt, 1919 übernahm er das Kommando auf einem Minensuchboot. 9 Mit der deutschen Niederlage endete auch von Jagows Soldatenzeit, jedoch nicht, wie in so vielen Fällen wegen der im Friedensvertrag vorgesehenen Abrüstungsbestimmungen. Von Jagow quittierte am 1. Oktober 1920 selbst den Dienst bei der Marine 10 , weil er nicht bereit war, einen Diensteid auf die Weimarer Verfassung zu leisten. Er sei dem Kaiser noch durch einen Eid verbunden, so argumentierte der Offizier, und diesen dürfe er nicht brechen. 11 Tatsächlich verbarg sich hinter dieser durchsichtigen moralischen Argumentation eine offene Feindschaft gegenüber der jungen Republik, für die er nur Verachtung und Geringschätzung übrig hatte. Denn schon ein Jahr später bereitete ihm seine Verpflichtung gegenüber dem ehemaligen Monarchen keine Probleme mehr. Am 16. Oktober 1921 ließ sich Dietrich von Jagow auf Adolf Hitler vereidigen. 12 Von Jagows militärische Laufbahn war durch den Austritt aus der Reichswehr nicht beendet. Schon im September 1919 hatte er sich der Marinebrigade Ehrhardt angeschlossen 13 , die sich maßgeblich am Kampf gegen die Weimarer Republik beteiligte. Wie die Gründung aller Freikorps erfolgte auch die der Brigade Ehrhardt mit Billigung der Reichsregierung, um kommunistischen Umsturzversuchen entgegenzuwirken. 14 Diese Wehrverbände waren insofern ein willkommenes Instrument für die Regierung, da sie mit Aufgaben betraut werden konnten, die der Reichswehr aufgrund der Abrüstungs- und Entmilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrags untersagt waren. In den Nachkriegsjahren wurden sie sowohl gegen die in Osteuropa ausbrechenden Unruhen als auch gegen die linken Kräfte in der Weimarer Republik eingesetzt. Obwohl es durchaus republikanische Tendenzen innerhalb der Freikorps gab, standen die meisten dem »Weimarer System« feindlich gegenüber. 15 Zu diesen Republikfeinden zählte die Brigade Ehrhardt, deren 4.000 Mann starke Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 269 7 Der Sohn Dietrich von Jagows beschrieb seinen Vater wie folgt: Abgesehen von seiner Familie habe er Deutschland über alles geliebt. Er sei überzeugt gewesen von Deutschland, vielleicht sei er ein Nationalist gewesen. Und er sei in dem Sinne religiös gewesen, daß er an ein höheres Wesen glaubte. Vgl. Interview mit der Tochter und dem Sohn Dietrich von Jagows am 12. Januar 1996, Aufzeichnungen im Privatbesitz der Verfasserin. 8 Vgl. PAAA, Person H, Bd. 1. Rep. IV Personalia, 269, Bl. 4; WASt (wie Anm. 6). 9 Vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52; WASt (wie Anm. 6). 10 Vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52; PAAA, Person H, Bd. 1, Rep IV Personalia, 269, Bl. 1. 11 Interview (wie Anm. 7). 12 Vgl. PAAA, Personalbogen, Bl. E 309210. 13 Vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52; BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210. (= Mikrofilm S 3653). 14 Zur Geschichte der Brigade Ehrhardt Krüger (wie Anm. 2), insbesondere S. 11 - 73. 15 Wohlfeil, Rainer, Reichswehr und Republik 1918 - 1933, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte Bd. 3, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1979, S. 1 - 303, hier S. 72 f. <?page no="271"?> Truppe maßgeblich am letztendlich gescheiterten Versuch beteiligt war, den rechtsextremistischen Kräften zur Macht zu verhelfen. Die Beteiligung am Kapp-Lüttwitz- Putsch im März 1920 war Dietrich von Jagows erster dokumentierter Einsatz in der Brigade Ehrhardt. 16 Welche Aufgaben er im einzelnen dabei wahrzunehmen hatte, ist nicht überliefert. Da keine Prozeßakten über Dietrich von Jagow im Zusammenhang mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch existieren, ist davon auszugehen, daß er zu jenen gehörte, die unter den am 4. August 1920 von der Reichsregierung verfügten Amnestieerlaß fielen. Lediglich die »Urheber oder Führer« 17 mußten sich vor Gericht verantworten. Dazu zählten die Männer, die während der fünftägigen Regierung Kapps ein Regierungsamt innehatten. Zu ihnen war auch der als Innenminister fungierende, entfernte Verwandte Dietrich von Jagows, Traugott von Jagow, zu rechnen. 18 Die Brigade Ehrhardt wurde im September 1920 aufgelöst. 19 Viele der ehemaligen Mitglieder verließen Berlin direkt nach dem gescheiterten Putschversuch, um sich in München erneut zu einem rechtsmilitanten Verband, der Organisation Consul (O. C.), zusammenzufinden. Auch von Jagow schloß sich dieser Gruppierung an und arbeitete in den Jahren 1920/ 21 als Forst- und Landarbeiter bei der Bayrischen Holzverarbeitungsgesellschaft - einer Tarnfirma der O. C. 20 Diese Nachfolgeorganisation der Brigade Ehrhardt mit ihren etwa 5.000 Anhängern war als radikaler Geheimbund unter anderem für die Morde an Matthias Erzberger und Walther Rathenau verantwortlich. 21 Für kurze Zeit verließ von Jagow 1921 München, um im polnischen Aufstand als Führer des 1. Sturmzuges der Sturmkompanie von Killinger in Oberschlesien zu kämpfen. Kaum zurück von diesem militärischen Einsatz, stellte er seine Arbeitskraft der O. C. wieder zur Verfügung. Die O. C. unterhielt neben ihren vielfältigen Kontakten zur Reichswehr 22 enge Verbindungen zur NSDAP. Dietrich von Jagow, der schon bald zum Führungsgremium der Organisation Consul gehörte 23 , war seit Herbst 1920 Mitglied der NSDAP. 24 Eine solche Überschneidung war nicht verwunderlich. Die O. C. und die Barbara Hachmann 270 16 Vgl. PAAA, Person H, Bd. 1, Rep IV Personalia, 269, Bl. 4; BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52. 17 Zit. nach Könnemann, Erwin; Krusch, Hans-Joachim, Aktionseinheit contra Kapp-Putsch. Der Kapp-Putsch im März 1920 und der Kampf der deutschen Arbeiterklasse sowie anderer Werktätiger gegen die Errichtung der Militärdiktatur und für demokratische Verhältnisse, Berlin 1972, S. 481. 18 Zum Prozeß Traugott von Jagows vgl. IfZ, Archiv, Akz. 3552/ 65, Bl. 1463108 ff., sowie Pressestimmen, IfZ, Archiv, Akz. 3552/ 65, Bl. 1463174 ff. (= Mikrofilm 616/ 10). 19 Vgl. Ferdinand, Horst, Georg Hellmuth Hermann Ehrhardt, in: Badische Biographien N.F. Bd. 3, hrsg. von B. Ottnad, Stuttgart 1990, S. 72 - 75, hier S 74. 20 Vgl. BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210; ZStLB, Personalblatt. 21 Vgl. Jasper, Gotthard, Dokumentation. Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10 (1962), S. 430 - 453, hier S. 430 ff. 22 Jasper (wie Anm. 21), S. 433. 23 Vgl. Schmid (wie Anm. 3), S. 135. 24 Vgl. BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047211; PAAA, Person H, Bd. 1, Rep IV Personalia, 269, Bl. 4 Rückseite. <?page no="272"?> NSDAP verbanden völkisch-nationale und antirepublikanische Gesinnung und ein ausgeprägter Antisemitismus. 25 Letzteren vertrat von Jagow wohl schon damals. In einem Lagebericht der Stuttgarter Polizei aus dem Jahre 1930 jedenfalls wurde festgehalten, daß er sich anläßlich einer NSDAP-Versammlung in Cannstatt stark ausfällig über Juden geäußert habe. 26 Sein frühes Engagement für die junge Partei entsprang aber vor allem der Hoffnung, mit der NSDAP die Weimarer Republik und ihre Demokraten bekämpfen zu können. Den ersten Auftrag von Adolf Hitler erhielt Dietrich von Jagow im Januar 1922. Er sandte ihn »als Inspekteur der SA nach Württemberg« 27 , wo er auch die O. C. im Auftrag Hitlers aufbauen sollte. Da in der Universitätsstadt Tübingen zahlreiche Ehrhardt-Anhänger unter den Studenten waren, ließ sich Dietrich von Jagow am 24. Januar 1922 hier nieder. 28 Um seinen Auftrag zu tarnen, arbeitete er als Volontär bei zwei Freunden, denen die Osiandersche Buchhandlung gehörte: dem Kapitänleutnant a. D. Gustav Pezold und dem ehemaligen Marineoffizier Richard Jordan. Auch sie waren 1919/ 1920 aus der Reichsmarine ausgeschieden und begeisterte Ehrhardt- Anhänger geworden, so daß er mit deren Unterstützung und Verschwiegenheit bei seiner Arbeit rechnen konnte. Pezold verfügte darüber hinaus über beste Verbindungen zu studentischen Kreisen, hatte er doch für kurze Zeit das Tübinger Studentenbataillon angeführt, das schließlich auf Drängen der Entente aufgelöst wurde. Dennoch konnte es einsatzbereit gehalten werden, da es nahtlos in die O. C. überführt wurde. Diese Verbindungen wollte von Jagow wohl noch ausbauen: Um einen möglichst engen Kontakt zu den Tübinger Studenten herzustellen, immatrikulierte er sich im Sommersemester 1922 als außerordentlicher Hörer der Staatswissenschaftlichen Fakultät. 29 Da er sich zudem auf der zweiten Karteikarte des Melderegisters der Stadt Tübingen als »Reisender« 30 ausgab, ist anzunehmen, daß sein Einsatz für die Hitler-Bewegung und sein Gehalt als Volontär an der Osianderschen Buchhandlung 31 nicht ausreichte, seine Existenz zu sichern. Sein Sohn berichtete später, der Vater habe sich durch den Verkauf von Seife, Waschpulver und anderer Hygiene- Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 271 25 Zum Untergang der Weimarer Republik und zum Aufstieg der NSDAP vgl. Broszat, Martin, Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), 4. Aufl. München 1993; Sontheimer, Kurt, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 3. Aufl. München 1992. 26 Wilhelm, Friedrich, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil. [Masch.] Stuttgart 1989, S. 50. 27 Schmid (wie Anm. 3), S. 135. 28 Vgl. StATÜ, Melderegister der Stadt Tübingen aus der Zeit 1920 - 1975, Bestand A 573. 29 Vgl. StATÜ, Melderegister der Stadt Tübingen (wie Anm. 28). Schmid (wie Anm. 3), S. 135; Zur Geschichte des Nationalsozialismus in Tübingen vgl. Schönhagen, Benigna, Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Tübinger Geschichte 4), Stuttgart 1991; Schönhagen, Benigna (Hrsg.), Nationalsozialismus in Tübingen. Vorbei und vergessen, Katalog der Ausstellung, Tübingen 1992. 30 StATÜ (wie Anm. 28). 31 Wie Anm. 30. <?page no="273"?> artikel finanziell abgesichert. 32 Wahrscheinlich nutzte von Jagow auch als Handelsreisender seine vielfältigen Kontakte für seinen politischen Auftrag: Es gelang ihm, »mehrere Ortsgruppen« der NSDAP 33 zu gründen und zwischen den verschiedenen völkischen Organisationen in Württemberg zu vermitteln. Als Geschäftsführer des Nationalverbandes deutscher Offiziere, einer Vereinigung, die fest auf »monarchischem, völkischem und nationalem Boden« stand 34 , unterhielt er auch enge Verbindung zur Reichswehr. General Reinhardt, der Kommandeur der württembergischen Reichswehr, hatte mit den Hochschulgruppen Tübingen, Stuttgart und Hohenheim vereinbart, den Hochschulring Deutscher Art militärisch zu schulen 35 , um ihn für einen Einmarsch in das besetzte Ruhrgebiet vorzubereiten. Die Führungskräfte der O. C. - unter ihnen der Bezirksleiter von Jagow - spekulierten darauf, im Bund mit der Reichswehr bei etwaigen Linksunruhen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf »legalem oder pseudolegalem Wege« 36 die Umbildung der Regierung in national-autoritärer Richtung zu erreichen. Die O. C. sollte in diesem Falle Reichswehr und Regierung unterstützen und Ehrhardts politischen Einfluß festigen. Nachdem der Reichstag im Zuge der Ermittlungen über die Hintergründe der Ermordung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger und des Reichsaußenministers Walther Rathenau am 21. Juli 1922 ein Gesetz zum Schutze der Republik verabschiedet hatte, geriet die O. C. aufgrund ihrer Verstrickung in die Mordangelegenheiten in die Schußlinie. Doch das Gesetz bot nicht genügend Handhabe, um der Entfaltung von rechtsextremistischen Organisationen entgegenzutreten. Im Gegenteil: Dietrich von Jagow konnte es sogar wagen, in der Tübinger Öffentlichkeit seine rechtsradikale Gesinnung zu demonstrieren, indem er durch das Tragen von Trauerflor die Rathenaumörder ehrte. 37 Diese öffentliche Loyalitätsbekundung veranlaßte zwar die Polizei, die Tübinger Verbindungshäuser und die Wohnungen von Jagows und Pezolds zu durchsuchen, doch die Aktion lieferte keinen Anhaltspunkt für weitere polizeiliche Ermittlungen. Um ihre Aktivitäten zu schützen, änderte die O. C., gegen die mittlerweile auch wegen Geheimbündelei ermittelt wurde 38 , schließlich ihren Namen und firmierte von 1923 bis 1928 als Wiking Bund. Im Mai 1923 hielt von Jagow unter seinem Pseudonym (Degen) eine geheime nächtliche Versammlung in einem Steinbruch ab und gab die Parole aus: »Die Brigade Ehrhardt ist tot, es lebe der Wikingbund! « 39 Barbara Hachmann 272 32 Vgl. Interview (wie Anm. 7). 33 Schmid (wie Anm. 3), S. 135. 34 Zit. nach Schmid (wie Anm. 3), S. 135. Vgl. HSTAS, E 151c II/ Bü 219. 35 Vgl. Schönhagen (wie Anm. 29), S. 40 f. 36 Jasper (wie Anm. 21), S. 434. 37 Schmid (wie Anm. 3), S. 136. 38 Dietrich von Jagow vermittelte während dieses Prozesses zwischen den Angeklagten und ihrem Rechtsanwalt. Vgl. BA Nachlaß Luetgebrune, NL 150/ 112. 39 Zit. nach Schmid (wie Anm. 3), S. 136. Vgl. auch Curator, Carsten, Putsche, Staat und wir! , <?page no="274"?> Die Ziele blieben die gleichen: Improvisierte Kriegsübungen und lange Märsche sollten die Mitglieder militärisch auf einen möglichen Einsatz gegen die verhaßte Republik vorbereiten. In den Städten Stuttgart, Ravensburg und Ulm etablierten sich weitere Ortsgruppen des Wiking Bundes, die ebenfalls von Jagow unterstanden. 40 Da er neben seiner Funktion als Oberbezirksleiter des Wiking Bundes auch die SA des Landes inspizierte, ist es wenig verwunderlich, daß die Verbindungen zwischen Wiking Bund, SA und NSDAP immer enger wurden: Allen drei Organisationen war schließlich gemeinsam, daß ihre Mitglieder für das nationalsozialistische Gedankengut begeistert und auf einen militärischen Einsatz vorbereitet werden sollten. Sichtbarer Ausdruck dieser Verflechtung war die Teilnahme Tübinger Wiking-Bund-Studenten am Aufmarsch auf dem Oberwiesenfeld bei München. Unter Führung Adolf Hitlers versammelten sich dort am 1. Mai 1923 rechtsradikale Kampfverbände. Adolf Hitler wies darauf hin, »daß sich zwischen den Nationalsozialisten und den vaterländischen Vereinigungen Blücherbund, Oberland, Reichsflagge und Wiking ein Schutz- und Trutzbündnis gebildet habe.« 41 Ein halbes Jahr später, im November 1923, versammelte Dietrich von Jagow eine kleine Wehrtruppe um sich, die sich aus Angehörigen des Tübinger Wiking Bundes rekrutierte. Mit ihnen wollte er nach München marschieren, um am Sturz der bayrischen Regierung mitzuwirken. Seit dem Scheitern des Kapp-Putsches hatten die Mitglieder der Brigade Ehrhardt alias O. C. alias Wiking Bund auf einen Befehl gewartet, um das parlamentarische System von Weimar zu stürzen und eine nationale Diktatur zu errichten. München sollte das Fanal für den Marsch auf Berlin bilden. Mit etwa 50 Tübinger Gesinnungsgenossen begann von Jagow seinen Marsch auf die bayrische Hauptstadt. Der Putschversuch endete nicht nur für Hitler mit einem Fiasko. Die Truppe von Jagows setzte schon während ihres Anmarsches ihr Reisegeld in Alkohol um und kehrte unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurück. 42 Aus der NSDAP trat von Jagow im Jahre 1923 vorläufig aus. 43 Nach dem Verbot der Partei mußte er damit rechnen, daß eine offizielle Zugehörigkeit gerichtliche Schritte gegen ihn zur Folge haben konnte. Zudem drohte den Mitgliedern der O. C. weiterhin der Prozeß wegen »Geheimbündelei«. 44 Wahrscheinlich verließ Dietrich von Jagow aus diesen Gründen im Jahre 1924 vorübergehend Württemberg. Laut Polizeimeldebogen hielt er sich zwischen dem 2. September 1924 und dem 2. Mai 1925 vorwiegend in München auf. 45 Hier bemühte er sich, in Absprache mit dem Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 273 Karlsruhe 1931, S. 167. 40 Vgl. Schmid (wie Anm. 3), S. 136; BAP RKO, Nr. 388, Bl. 52. 41 Zit. nach Franz-Willing, Georg, Krisenjahre der Hitlerbewegung, 1923 Bd. 1, Preußisch Oldendorf 1975, S. 83. 42 Vgl. Schmid (wie Anm. 3), S. 142. 43 PAAA, Personalbogen, Bl. E 309209. 44 IfZ, Archiv, Aktenzeichen 3552/ 65, Bl. 1463163 (= Mikrofilm 616/ 10). 45 StAM an die Verfasserin mit Kopie des Polizeimeldebogens, PMP, J 6. <?page no="275"?> Göttinger Rechtsanwalt Dr. Luetgebrune, der die wegen Geheimbündelei angeklagten ehemaligen O. C.-Mitglieder vor Gericht vertrat, die Prozeßteilnehmer auf eine einheitliche Linie einzuschwören. Dies gelang weitgehend, denn am 10. Oktober 1924 wurde das Verfahren gegen ihn und 43 weitere Mitstreiter vom Staatsgerichtshof eingestellt. 46 Damit waren allerdings noch längst nicht alle Mitglieder der O. C. dem strafrechtlichen Zugriff entzogen. Von Jagow bemühte sich nun darum, alle Angeklagten von Luetgebrune vertreten zu lassen und auf eine Aussagestrategie einzuschwören, um das Ausscheren auch nur eines O. C.-Mitgliedes zu verhindern. 47 Zudem war er um das öffentliche Ansehen der O. C. besorgt und unterstützte den Druck des Verteidigungsplädoyers. Als einige O. C.-Mitglieder schließlich doch verurteilt wurden, setzte er sich für Strafmilderung und Amnestierung ein. Er war der Ansicht, diese hätten »nur aus politischen und zwar vaterländischen Motiven gehandelt« 48 , und empfahl dem Rechtsbeistand, bei der Einreichung eines Umwandlungsgesuchs von Gefängnisin Festungshaft den Staatsgerichtshof ausdrücklich auf diese Motive hinzuweisen, damit »nun auch für eine ehrenvolle Handlung nicht eine unehrenvolle Strafe verbüsst werden muss.« 49 Die Reichsregierung wurde mit dem Hinweis unter Druck gesetzt, sie sei es doch gewesen, die ursprünglich die Wehrverbände gefordert habe, um gegen vermeintliche Feinde der Republik vorzugehen. Da das ein offener Verstoß gegen die Entmilitarisierungsauflagen gewesen war, erhoffte man sich ein gewisses Entgegenkommen und setzte darauf, der Regierung müsse daran gelegen sein, die offensichtliche Mißachtung eines entscheidenden Punktes des Versailler Vertrags nicht durch eine öffentliche Diskussion im Ausland publik zu machen. 50 Für die Jahre 1925 bis 1929 bleibt Dietrich von Jagows Tätigkeit im dunkeln. Lediglich wenige schlagwortartige Angaben im Personalblatt des Auswärtigen Amtes und in den Personalkarten des BDC, der Zentralen Stelle in Ludwigsburg sowie der WASt deuten darauf hin, daß er sich nach der Abwicklung des O. C.-Prozesses weiterhin für die SA und als Bezirksleiter des Wiking Bunds in Württemberg betätigte. 51 In dieser Zeit lernte er seine zukünftige Frau Hedwig Sinner 52 kennen und heiratete sie am 21. September 1926 in Esslingen am Neckar. Zwischen 1928 und 1945 wurden sieben Kinder geboren. 53 Wenn von Jagow mit einer neuen Aufgabe Barbara Hachmann 274 46 Vgl. BA Nachlaß Luetgebrune, NL 150/ 112, ohne Blattnummer. 47 Vgl. BA Nachlaß Luetgebrune, NL 150/ 112, ohne Blattnummer. 48 BA NL 150/ 112, Jagow an Dr. Luetgebrunne, 21. November 1924, ohne Blattnummer. 49 BA NL 150/ 112, Jagow an Dr. Luetgebrunne, 21. November 1924, ohne Blattnummer. 50 IfZ, Archiv, Aktenzeichen 3552/ 65, Bl. 1463168. (= Mikrofilm 616/ 10). 51 PAAA, Lebens- und Laufbahndaten, Schreiben an die Verfasserin: 1922 - 1923 SA-Führer in Württemberg und Bezirksleiter der Organisation Consul. WASt, Schreiben an die Verfasserin: Januar 1922 - Herbst 1923 Inspekteur der Württembergischen SA. 1922 bis 1927 Landesführer der Organisation Consul, später Wiking Bund. 1927 Stahlhelm. Ab 1. Mai 1928 Württembergischer Heimatschutz. 52 Hedwig Sinner wurde am 28. Oktober 1903 in Schwäbisch Hall geboren. 53 Vgl. PAAA, Personalbogen, Bl. E 309206: Ursula (1928), Mechthild (1930), Henning (1934), Ilse <?page no="276"?> für die »Bewegung« betraut wurde, die einen Ortswechsel notwendig machte, zog die Familie stets mit um. Im Privaten scheint er ein geradezu mustergültiges Leben geführt zu haben. Seine Kinder beschrieben die Ehe ihrer Eltern später als harmonisch, ihren Vater als liebevoll, aber durchaus auch als eine Persönlichkeit, die aus pädagogischen Gründen durch Strenge Grenzen absteckte. Briefe, die Dietrich von Jagow während seiner militärischen Verwendung im Zweiten Weltkrieg nach Hause sandte, belegen dies. 54 Besonderes Augenmerk schenkte er seinem ältesten Sohn Henning, den er für seine Pflichten gegenüber seinen Geschwistern und seiner Mutter zu sensibilisieren suchte. »Ehre, Treue, Tapferkeit weiter zu erhalten«, Schützer des Guten und Gegner des Bösen zu werden, müsse sein vornehmstes Ziel sein. Genau dafür glaubte auch der Vater sich durch bedingungslose Hingabe an das NS-Regime einzusetzen, ohne dabei jedoch den Gewalt- und Verbrechenscharakter von Hitlers Politik auch nur zu reflektieren. Ob Religiosität und Bescheidenheit neben den soldatischen Tugenden die markantesten Charaktereigenschaften von Jagows gewesen sind, wie seine Kinder später berichteten, läßt sich anhand der Quellen kaum zuverlässig überprüfen. 55 Das bescheidene wöchentliche Eintopfessen im Haushalt der von Jagows, an das sich die Kinder noch heute erinnern, mag zwar als konsquente solidarische Haltung in Kriegszeiten erscheinen, muß jedoch angesichts des Wirkens von Jagows eher als bedeutungslos gewertet werden, verstellt es doch leicht den Blick auf die eigentliche Haltung und Verantwortlichkeit des politischen Extremisten. Dem pflichtbewußten und treusorgenden Ehemann und Familienvater stand denn auch der ebenso pflichtbewußte, ja kompromißlose Nationalsozialist gegenüber. Einmal mehr erweist sich so in der Person von Jagows die Führungsschicht des Nationalsozialismus als Kreis außerordentlich doppelgesichtiger Normalbürger. Mit dem Durchbruch der NSDAP zur Massenpartei im Jahre 1929 gelang es Dietrich von Jagow, seine Position in Partei und SA zu festigen und konsequent zu erweitern. Da Adolf Hitler die NSDAP nach seiner Haftentlassung Schritt für Schritt zu seinem willigen Instrument geformt hatte und nur diejenigen duldete, die sich seiner autoritären Führung widerspruchslos unterwarfen, kann von Jagows Aufstieg nur als das Ergebnis einschränkungsloser Hingabe an seinen »Führer« verstanden werden. Zudem besaß er das Geschick, in den Wirren des innerparteilichen Machtgerangels stets auf der richtigen Seite zu stehen. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung zwischen der Ortsgruppen- und Gauleitung von Stuttgart bzw. Württemberg in den Jahren 1929/ 30. Tatkräftig unterstützte Dietrich von Jagow den Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 275 (1936), Wolffdietrich (1942), Anneliese (1944) sowie Hans-Peter, der 1945 geboren wurde und verstarb. Das letzte Kind ist nicht im Personalbogen des AA registriert. 54 Briefe im Privatbesitz Henning von Jagows. 55 Das Zitat findet sich in einem Brief Dietrich von Jagows an seine Frau (im Privatbesitz Henning von Jagows). Von Jagow trat am 7. Dezember 1937 aus der Kirche aus. Vgl. STAFR, Spruchkammerakte, Archivnummer 228, 775, Bl.40. <?page no="277"?> Gauleiter, als SA-Führer Kuhn und Ortsgruppenführer Weinmayer, Murrs Willen entgegen, durch ein Rundschreiben eine Mitgliederversammlung für den 18. Februar 1930 anberaumten. Murr und von Jagow versuchten, das Treffen »von unberufener Seite« 56 kurzerhand aufzulösen. Doch nur ein Teil der anwesenden SA-Leute und Parteigenossen befolgte ihre Anweisung, den Saal augenblicklich zu räumen. Die Versammlung wählte Kuhn zum Ortsgruppenleiter und den SS-Mann Maurer zum SA-Führer. Daraufhin machte Dietrich von Jagow die Anwesenden nachdrücklich darauf aufmerksam, »dass innerhalb der Partei die Ortsgruppenleitung nicht mehr wie früher gewählt werden, sondern nur vom Gauleiter bestimmt werden kann.« 57 Sein Einwand blieb zwar im Augenblick erfolglos, aber Murr gewann offenkundig den Eindruck, in von Jagow einen Weggefährten gefunden zu haben. Im Schatten des Aufstiegs von Murr stand der weiteren Karriere des vorbildlichen Parteigenossen, der sich zwischen 1929 und 1931 als Geschäftsführer des Gaues Württemberg 58 , als Parteiredner und als Ortsgruppenleiter der NSDAP in Esslingen am Neckar engagierte 59 , nichts im Wege. Neben seiner Tätigkeit für die Partei arbeitete Dietrich von Jagow weiterhin aktiv in der SA. Im April 1930 wurde er zum Brigadeführer ernannt. In dieser Funktion übernahm er die SA-Brigade 3 der Untergruppe Württemberg. 60 Noch im selben Jahr, 1930, wurde er erneut mit einem höheren Amt betraut: Er wurde zum Führer der Untergruppe Württemberg ernannt. 61 Hauptamtlicher SA-Führer wurde er am 1. April 1931. 62 Im Zuge der Vergrößerung der einzelnen SA-Einheiten entstand die Gruppe Südwest, mit deren Führung er am 10. September 1931 beauftragt wurde. 63 Sie hatte ihren Sitz in Stuttgart und zählte im Herbst 1931 immerhin 17.113 Mitglieder, eine gewaltige Steigerung gegenüber dem Frühjahr, als lediglich12.139 Mitglieder registriert waren. 64 Der enorme Aufschwung war das Ergebnis einer Werbekam- Barbara Hachmann 276 56 Vgl. Murr an Reichsleitung, 19. Februar 1930, zit. nach Nachtmann, Walter, Von der Splitterpartei zur Staatspartei. Zur Entwicklung des Nationalsozialismus in Stuttgart von 1925 bis 1933, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 128 - 156, hier S. 145. 57 Nachtmann (wie Anm. 56), S. 145. 58 WASt (wie Anm. 6). Vgl. BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210. 59 WASt (wie Anm. 6). 60 Vgl. WASt (wie Anm. 6): Führer der SA-Brigade 3 vom 1. April 1930 - 31. Oktober 1930. BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210: Datiert mit »May 1930«. Württemberg gehörte zur SA-Gruppe Süd, die sich aus den Untergruppen Baden, Bayern, Franken und Württemberg zusammensetzte. 61 WASt (wie Anm. 6). 62 WASt (wie Anm. 6). 63 WASt (wie Anm. 6). 64 Zit. nach Werner, Andreas, SA und NSDAP, SA: »Wehrverband«, »Parteitruppe« oder »Revolutionsarmee«? Studien zur Geschichte der SA und der NSDAP 1920 - 1933, Diss. phil. Erlangen- Nürnberg 1964, S. 545, S. 548. Vgl. Der Oberste SA-Führer, Ib/ Nr. 80/ 32, München 11. Januar 1932, Gez.: i.V. Hörauf, in: Lag. Ber. Nr. 109, Pol. Direk. München vom 22. Februar 1932. BayHSTAM Abt. I, Sonderabgabe I/ 1549. <?page no="278"?> pagne, an der von Jagow regen Anteil hatte. So war z.B. am 24. Juni 1931 im Führer ein von ihm unterzeichneter Aufruf erschienen: »Ihr, die ihr keine Feiglinge seid, die ihr deutsche Männer sein wollt, an euch wendet sich die SA. Kommt zu uns! Verstärkt unsere Reihen zum Kampf, damit unser ehrliches Volk leben kann, während die Verräter und Nutznießer unseres Unglücks zugrunde gehen mögen. SA- Männer! Sorgt mit dafür, daß Eure Reihen gestärkt werden durch ganze Männer, die würdig sind, zu uns zu stoßen. Ihr aber, die Ihr noch nicht bei uns seid, die Ihr unseren Ruf hört, prüft Euch, ob Ihr dem entsprecht, was wir brauchen, und zögert dann nicht: Herein in die SA! Es lebe der deutsche Freiheitskampf! Es lebe die Mannestat! Es lebe das deutsche Volk! Es lebe Adolf Hitler.« 65 Wie ein Hohepriester umwarb von Jagow potentielle SA-Mitglieder: Nur Bestimmte seien auserwählt, jene, die mutige Deutsche seien, die bereit seien, im Kampf für Deutschland und Adolf Hitler ihr Leben zu lassen. Männer, die zur SA stoßen wollten oder ihr bereits angehörten, sollten sich rühmen, dazugehören zu dürfen, denn sie würden die Erlöser sein, die Deutschland vor dem Untergang bewahrten und »durch deutsche Manneskraft die Zukunft des schaffenden, ehrlichen deutschen Menschen erringen.« 66 Auch auf SA-Werbeabenden oder -kundgebungen in den Städten Badens und Württembergs setzte Dietrich von Jagow gezielt seine demagogischen Fähigkeiten ein. So trug er dazu bei, wie es das Parteiblatt Der Führer im Jahre 1931 beschrieb, ein »Heer politischer Soldaten« zu schaffen, »die in heiliger Begeisterung nicht nur die Mühen und Lasten des politischen Kampfes freudig auf ihre Schultern nehmen, sondern die auch bereit sind, […] Blut und Leben einzusetzen für ihre Idee, für ihre Bewegung, für ihr deutsches Volk und Vaterland.« 67 Die große Stunde der württembergischen SA kam, als im März 1933 auch Württemberg in die Hände der Nationalsozialisten fiel. 68 Der braune Kampfverband bewies seine Schlagkraft, indem er potentielle Feinde diffamierte, verhaftete und in das neugegründete Konzentrationslager auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt verschleppte. Verantwortlich für dieses Vorgehen war nicht zuletzt von Jagow. Er setzte durch, daß bereits am Nachmittag des 6. März 1933 in Stuttgart auf den öffentlichen Gebäuden die Hakenkreuzfahnen wehten. 69 Wer es dennoch wagte, Widerstand zu leisten, wurde gewaltsam zum Schweigen gebracht, wie etwa der Stuttgarter Bürgermeister Dr. Gottfried Klein. Persönlich erzwang von Jagow in Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 277 65 »Der Führer«, Jg. 5, Nr. 140, 24. Juni 1931, S. 5. 66 »Der Führer«, Jg. 5, Nr. 140, 24. Juni 1931, S. 5. 67 »Der Führer«, Jg. 5, Nr. 211, 1. Oktober 1931, S. 5. 68 Zur Machtergreifung in Württemberg vgl. Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975; Schnabel, Thomas (Hrsg.), Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982; Besson, Waldemar, Württemberg und die deutsche Staatskrise. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1959. 69 Sauer (wie Anm. 68), S. 26. <?page no="279"?> einer hitzigen Auseinandersetzung mit ihm die NS-Beflaggung des Rathauses und stellte SA-Wachen ab, um Klein von einer nachträglichen Einholung der Flagge abzuhalten. 70 Die württembergische Polizei schaute dem willkürlichen Treiben der Nationalsozialisten tatenlos zu; beim Hissen der Hitlerfahne auf der Polizeiunterkunft Moltke-Kaserne wurde gar ein »Hoch! « auf den Reichspräsidenten und den neuen Reichskanzler Hitler ausgebracht. 71 Diese Willfährigkeit von Teilen der Polizei war ganz im Sinne des neuen Kommandeurs Dietrich von Jagow, der am 8. März durch Reichsinnenminister Frick zum Reichskommissar für die württembergische Polizei ernannt wurde. 72 Für von Jagows Parteifreunde war sein Amtsantritt ein Glücksfall, denn es kam in der Behörde schnell zu einem parteipolitischen Revirement: Die wegen ihrer NS-Sympathien entlassenen Beamten wurden unverzüglich wieder eingestellt, soweit möglich wurde seine getreue Gefolgschaft mit Dienstposten oder Unterkommissariaten bei den Polizeidienststellen belohnt. 73 Für die Gegner des Regimes bedeutete von Jagows Amtsantritt den Beginn einer Leidenszeit. In nur vier Tagen, vom 8. bis zum 11. März 1933, zerschlug er eine Vielzahl potentiell oppositioneller Verbände. Waren zuvor politisch Andersdenkende, Oppositionelle und die jüdische Bevölkerung eher sporadisch und unkoordiniert Repressalien ausgesetzt worden, so wurde nun der Terror systematisiert und intensiviert. Reichskommissar von Jagow suchte sich zu diesem Zweck Hilfe bei den nationalen Wehrverbänden, deren Mitglieder er in großer Zahl als Hilfspolizei einsetzte. Sie unterstützten neben der regulären Polizei den Terror gegen mißliebige Personen. 74 Unter von Jagows Verantwortung wurde auch die Stuttgarter Bevölkerung zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Darüber hinaus ließ er in nur einer Nacht 200 Mitglieder der kommunistischen Partei verhaften. 75 Von Jagows Schergen hinderten die sozialdemokratische und kommunistische Presse an ihrer Arbeit: Redaktionen und Verlagsgebäude wurden besetzt, Gelder beschlagnahmt, Vermögen eingezogen und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold ebenso wie die Eiserne Front verboten. Besonders Barbara Hachmann 278 70 Vgl. Müller, Roland, Ein geräuschloser Umbau. Die Machtergreifung im Stuttgarter Rathaus, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 331 - 358, hier S. 331. 71 Sauer (wie Anm. 68), S. 26. 72 Dietrich von Jagows Ernennung zum Reichskommissar wurde sehr ungenau festgehalten. Meist wird lediglich März 1933 als Amtszeit als Reichskommissar genannt, wohl aber mit dem Zusatz »während der Machtergreifung«. Vgl. BAP German war documents project, Serial No. 3381 H, Bl. 047210; BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A.4, Bl. 52. Vgl. auch Sauer (wie Anm. 68), S. 27; Nachtmann, Walter, NSDAP-Erfolge auch in der Hanglage. So wählten die Stuttgarter, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 310 - 319, hier S. 318. 73 Vgl. Wilhelm (wie Anm. 26). 74 Vgl. Zeugnisse zur Schutzhaft, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 399 - 406, hier S. 400. 75 Vgl. Sauer (wie Anm. 68), S. 28. Vgl. auch Staatsanzeiger, 11. März 1933. <?page no="280"?> scharf gingen von Jagows Hilfstruppen gegen die KPD und ihre Organisationen vor: Sogar die Waldheime und Sportplatzanlagen wurden geschlossen. 76 Nachdem sich am 15. März 1933 Wilhelm Murr als neuer württembergischer Staatspräsident durchgesetzt hatte, schien das Amt eines Reichskommissars überflüssig geworden zu sein. Murr mochte jedoch auf seinen bewährten und mit polizeilichen Befugnissen ausgestatteten Sonderkommissar »für eine gewisse Übergangszeit« 77 nicht verzichten. Daher ernannte er Dietrich von Jagow zum Landespolizeikommissar von Württemberg und unterstellte ihn dem württembergischen Innenministerium. Damit war die Fortsetzung seiner Verfolgungs- und Verhaftungstätigkeit vorerst gesichert. Bis zum 15. März 1933 wurden nach bewährter Manier 500 Kommunisten verhaftet. 78 Für die Unterbringung der politischen Häftlinge, die zunächst im Landesgefängnis Rottenburg inhaftiert wurden, sah sich von Jagow bald »nach einem anderen ›geeigneten Aufenthalt‹« 79 um. Dieser Ort war bald gefunden: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am Kalten Markt. Da von Jagow auf bereits existierende Pläne zurückgreifen konnte, reichten wenige Tage aus, um das Gelände am Heuberg mit Hilfe der SA für die Inhaftierung zu präparieren. Im April fristeten bereits 1.902 sogenannte Schutzhäftlinge ein kärgliches Dasein in dem Lager. 80 Inzwischen war der Kreis der Verhafteten ausgeweitet worden, denn die Verhaftungswelle richtete sich bald auch gegen Sozialdemokraten und Gegner des Hitlerregimes jeder Couleur. Folterungen wurden zur Regel, als Ostern 1933 der SA-Führer Karl Buck das Lager übernahm. 81 Die Zahl der Inhaftierten, von denen 40 starben, stieg innerhalb von neun Monaten auf etwa 15.000. 82 Zumindest in den ersten Wochen war von Jagow für diese Verbrechen verantwortlich. Innerhalb kürzester Zeit erreichte er sein politisches Ziel, das er sich am Tage seiner Amtseinführung präzise wie zynisch gesetzt hatte: »Meine Aufgabe besteht darin, den nationalen Teil des Volks zu schützen und zu stärken und dem der deutschen Erhebung feindlichen Volksteil sein Handwerk zu legen.« 83 Von Jagows Aufstieg fand jedoch bald eine jähe Unterbrechung. Ende März 1933 verließ er Stuttgart. Nicht näher definierte »parteiinterne Querelen« 84 sollen der Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 279 76 Sauer (wie Anm. 68), S. 28. Vgl. Staatsanzeiger, 14. März 1933; Zeugnisse zur Schutzhaft (wie Anm. 74), S 401. 77 Sauer (wie Anm. 68), S. 30. 78 Vgl. Feuerbacher Zeitung, 15. März 1933. 79 Zeugnisse zur Schutzhaft (wie Anm. 74), S. 400. 80 Vgl. Schätzle, Julius, Stationen zur Hölle. Konzentrationslager in Baden und Württemberg 1933 - 1945, Frankfurt/ Main 1974, S. 15. 81 Vgl. Tote waren »unerwünscht«, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 408 - 409, hier S. 408; Schätzle (wie Anm. 80). 82 Das KZ Heuberg wurde im November 1933 geräumt, da die Reichswehr das Gelände benötigte. 83 Zit. nach Nachtmann (wie Anm. 72), S. 318. Nach einem von Jagow veröffentlichten Appell an die SA und SS in der Tagespresse vom 10. März 1933. 84 Wilhelm (wie Anm. 26), S. 307. <?page no="281"?> Grund für seine unerwartete plötzliche Versetzung nach Frankfurt am Main gewesen sein, wo er wiederum mit der Führung der SA-Gruppe betraut wurde. Vermutlich war es zwischen ihm und Murr trotz aller äußeren Harmonie zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten gekommen. Von Jagow hatte 1929/ 30 auf Murrs Seite gestanden, weil er eher zufällig mit dessen politischen Kurs übereingestimmt hatte. In der Machtergreifungsphase hatte er einschlägigen Hinweisen zufolge Murrs Kontrahenten Christian Mergenthaler unterstützt und gleich diesem das Machtspiel verloren. Das Zerwürfnis zwischen Murr und von Jagow mag darüber hinaus auch an dem unterschiedlichen Bildungsstand gelegen haben: Mit dem gleichermaßen machtbewußten wie ungebildeten Murr kam nicht jeder der württembergischen Nationalsozialisten zurecht. Nachdem Dietrich von Jagow Württemberg verlassen hatte, leitete seit dem 1. April 1933 Hanns Elard Ludin die SA-Gruppe Südwest, der auch das württembergische Polizeikommissariat übernahm, das allerdings schon am 19. April 1933 aufgelöst wurde und dessen Aufgaben vom württembergischen Innenministerium übernommen wurden. Nach seinem Weggang aus Württemberg faßte von Jagow allerdings schnell wieder Fuß. Noch in der ersten Hälfte des Jahres 1933 stieg er zum SA-Obergruppenführer auf, dem höchsten Amt des SA-Führerkorps. 85 Über seine Tätigkeit bei den SA-Obergruppen III und V, die die Bezirke Mittel- und Unterfranken bzw. Frankfurt am Main/ Hessen umfaßte, liegen allerdings kaum verwertbare Unterlagen vor. Klarer ist dagegen von Jagows Wirken nach dem sogenannten Röhm-Putsch dokumentiert. Denn Ende Juli 1934 wurde er von Adolf Hitler mit der Führung der neugegründeten SA-Gruppe Berlin-Brandenburg beauftragt. Er kann mithin kaum zu den Kritikern im Lager Röhms gezählt haben und scheint in der Folgezeit die von Hitler verlangte Entpolitisierung und Machtbeschränkung der SA mitgetragen zu haben. Seine Rede zum Dienstantritt am 26. Juli 1934 läßt jedenfalls diese Haltung erkennen 86 , wenngleich damit nicht geklärt ist, ob Jagow von Beginn an den Kurs Hitlers bejahte oder ob er sich eher zwangsweise mit der neuen Situation arrangierte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß Reichspropagandaminister Joseph Goebbels Jagow schätzte. Er bezeichnete ihn als einen „prima Offizier« und charakterisierte ihn als »alte[n], echte[n] Nazi« 87 . 1935 stellte von Jagow dann anläßlich eines Appells im Berliner Lustgarten die Umorganisation der SA sogar als notwendig hin. Sie sei ein Neubeginn und nicht das Ende der SA, denn der Führer »wird [sich nie] trennen von seiner SA.« 88 Die Männer der SA-Gruppe ermahnte er Barbara Hachmann 280 85 Unstimmigkeiten bestehen hinsichtlich der genauen Verwendungszeiträume bei den SA-Obergruppen III und V. Vgl. BAP 61 Re, Reichslandbund, Pressearchiv, 217, Bl. 93; WASt (wie Anm. 6); BA, Abt. III (BDC), Personalkarte; BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210; BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52. 86 Vgl. BAP 61 Re, Reichslandbund, Pressearchiv, 217, Bl. 93. 87 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, Teil I, Bd. 4, München u.a. 1987, S. 473. 88 BAP 61 Re 1, Reichslandbund, Pressearchiv, 217, Bl. 94. <?page no="282"?> SA-Appell auf dem Tempelhofer Feld. Obergruppenführer von Jagow reitet die Front ab. Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 281 <?page no="283"?> zu striktem Gehorsam: Er erwarte von jedem SA-Mann, daß er alles daransetze, »das Ansehen der SA zu fördern und bedingungslos seine Pflicht« zu erfüllen. 89 Ganz im Sinne Hitlers sorgte er nun dafür, daß in seiner SA-Gruppe Disziplin und Gehorsam gegenüber dem Diktator gewahrt blieben. Das hieß zunächst und vor allem, mögliche Intriganten abzuwehren - nicht zuletzt auch zum eigenen Nutzen. 90 Selbst Prügeleien von SA-Angehörigen waren nun keine Kavaliersdelikte mehr, über die der Vorgesetzte geflissentlich hinwegsah. Dietrich von Jagow wurde dafür bekannt, daß er als »Dienstherr« hart durchgriff. In einem Dienststrafverfahren machte er beispielsweise nur deshalb von einer Amnestieverfügung Hitlers Gebrauch, weil die Beschuldigten »alte Kämpfer« waren. Ansonsten wolle er jedoch hart durchgreifen, so seine Begründung, die auch seine Einschätzung des »Röhmputsches« erhellt. Denn schon einmal hätten „unbeherrschte Elemente der SA einen schwarzen Tag bereitet, unter dessen Folgen zahllose anständige und pflichttreue Männer lange Zeit seelisch gelitten haben.« 91 Obwohl die SA im Jahre 1934 einen entscheidenden Machtverlust hinnehmen mußte 92 , darf ihr Anteil an der Festigung der Diktatur nicht unterschätzt werden. Sie beteiligte sich weiterhin an der Demütigung der jüdischen Bevölkerung. Zudem schuf sich das NS-Regime durch die SA eine stille Reserve für den bevorstehenden Krieg. Insgesamt rückten 60% der Mannschaften der Stamm-SA zur Wehrmacht ein, von den SA-Führern sogar 80%. 93 Einer von ihnen sollte auch Dietrich von Jagow sein. Seinen Kontakt zur Marine hatte der SA-Führer auch in der Zeit seiner Parteitätigkeit nicht verloren. Zwischen 1935 und 1938 absolvierte er mehrere militärische Fortbildungslehrgänge. Auf dem Panzerschiff Admiral Graf Spee wurde er zum Wach- und später zum Nachrichtenoffizier ausgebildet. 94 Während einer Ausbildungsfahrt lief sein Schiff auch den Hafen von San Sebastian in dem vom Bürgerkrieg erschütterten Spanien an. Dort erlebte Dietrich von Jagow seinen Tagebuchaufzeichnungen zufolge den Krieg aus nächster Nähe: »Leider ist die Zeit zu kurz, um zur Angriffsfront zu fahren, die im Süden von Bilbao ist. Unter Vorsichtsmassnahmen Barbara Hachmann 282 89 BAP 61 Re, Reichslandbund, Pressearchiv, 217, Bl. 93. 90 So warf er z.B. einem SA-Mann vor, daß er in der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg die Wirren, die am Tag des sogenannten Röhm-Putsches entstanden waren, dazu mißbraucht habe, um gegen die neue SA-Führung zu opponieren. Letztendlich ließen sich die Anschuldigungen jedoch nicht aufrechterhalten. Vgl. IfZ, FA 74/ Kellermann, Hans. 91 BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZA I 11980 A. 2, Bl. 60. 92 Vgl. z.B.: Kater, Michael H., Zum gegenseitigen Verhältnis von SA und SS in der Sozialgeschichte des Nationalsozialismus von 1925 bis 1939, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 62 (1975), S. 339 - 379; Petter, Wolfgang, SA und SS als Instrumente nationalsozialistischer Herrschaft, in: Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hrsg. v. K. D. Bracher, M. Funke, H.-A. Jacobsen (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 23), Düsseldorf 1992, S. 76 - 94. 93 Vgl. Petter (wie Anm. 92), hier S. 84. 94 Vgl. WASt (wie Anm. 6). <?page no="284"?> erstiegen wir den Hinterhang der Höhe, auf dem wir schon zuvor einen Einschlag gesehen hatten, wie er die Erde aufwarf. Frische und alte Einschläge waren ca. 1 Dutzend an diesem kurzen Wege zu sehen. Wir nahmen uns zum Andenken Granatsplitter mit.« 95 Scheint in dieser Episode die Begeisterung für alles Militärische selbst nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs durch, so wird man andererseits von Jagow nicht als blinden Militaristen bezeichnen können. Die Gefahren eines Weltkrieges waren ihm wohl bewußt, wenn man der Überlieferung Glauben schenken darf, er habe seinen kleinen Sohn, der sich über den Kriegsausbruch 1939 kindlich freute (»Toll Krieg! «), mit den Worten in die Schranken gewiesen: »Das ist kein Grund zur Freude! «. 96 Pflichtbewußt meldete sich von Jagow dann allerdings zur Truppe. Vom 1. September 1939 bis Ende Mai 1940 war er auf dem Minenschiff Tannenberg als Kommandant eingesetzt, mit dem er »gegen England« 97 fuhr. Anfang 1940 war er auf Heimaturlaub in Berlin und besuchte mehrfach Joseph Goebbels, mit dem er auch weiterhin regen Kontakt pflegte. 98 Von Mai bis Oktober 1940 tat er auf einer Marinestation in der Ostsee Dienst. Danach folgte von Ende Oktober 1940 bis Ende April 1941 ein Einsatz als Flottillenchef der 18. Vorpostenflottille, dann eine Verwendung beim Oberkommando der Kriegsmarine. 99 Im Juli 1941 wurde von Jagow recht unerwartet in den diplomatischen Dienst übernommen. Vergeblich wehrte er sich gegen seine Ernennung zum Botschafter, vermutlich weniger, weil er sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte, sondern weil er die Verwendung im diplomatischen Dienst als eine schlechte Alternative zu einer Tätigkeit bei einem Oberkommando empfand. Schließlich fügte er sich jedoch dem Befehl Hitlers, »dem er blind mit Leib und Seele ergeben war« 100 , wie Unterstaatssekretär Andor Hencke festhielt. Am 3. Juli 1941 erhielt er die von Adolf Hitler persönlich unterzeichnete Anstellungsurkunde »zum Gesandten I. Klasse in Budapest« 101 mit konsularischen Befugnissen für Ungarn. Mit dieser Bestallung geriet der alte SA-Führer wieder in das Ränkespiel der NS-Elite. Denn für die Kriegsführung Adolf Hitlers hatte in den Jahren 1940/ 41 der südosteuropäische Raum an Bedeutung gewonnen. Da Hitler Berufsdiplomaten grundsätzlich mit Skepsis und Mißtrauen begegnete und sie für »in der Mentalitaet des Gastlandes befangen« hielt 102 , trachtete er danach, die diplomatischen Vertretungen, insbesondere im südosteuropäischen Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 283 95 BAP Miscellaneous German Records Collection, T 84 R 7 (= Mikrofilm, Nr. 375 P, Bl. 6311 - 6312). 96 Interview (wie Anm. 7). 97 Fröhlich (wie Anm. 87), S. 10. 98 Fröhlich (wie Anm. 87), S. 10, S. 40, S. 108, S. 473, S. 657. 99 Vgl. WASt (wie Anm. 6). 100 IfZ, Mikrofilm 1300/ 2, Bl. 96. 101 PAAA, Person H, Akten betreffend Dietrich von Jagow, Bd. 1, Rep IV Personalia, Nr 269 G, Bl. 1. 102 IfZ, Mikrofilm 1300/ 2, Bl. 93 [Andor Hencke]. Zur politischen Gesinnung der Beamten des Auswärtigen Amtes vgl. Jong, Louis de, Die deutsche fünfte Kolonne im Zweiten Weltkrieg (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 4), Stuttgart 1959. <?page no="285"?> Gebiet, mit langjährigen und treuen Parteigenossen zu besetzen. Hitler beauftragte mit dieser Aufgabe Joachim von Ribbentrop, der sich wie bei allen wichtigen Entscheidungen auch bei der Neubesetzung der Botschaften mit seinem Unterstaatssekretär Martin Luther beraten haben dürfte. Luther, der als SA-Angehöriger bestrebt war, die Ernennung von SS-Leuten zu Botschaftern zu verhindern, da er in der SS eine große Gefahr für seine eigenen ehrgeizigen Machtbestrebungen sah, protegierte Leute aus seinen Reihen. Auf seine Initiative ist wohl die Berufung der höheren SA-Führer zu Gesandten in den vom »Dritten Reich« abhängigen Staaten Südosteuropas zurückzuführen, mit der er »den Einfluß der SS auf dem Balkan zu neutralisieren suchte.« 103 Von Jagow übernahm Ende Juli 1941 seine Geschäfte in der Gesandtschaft in Budapest. 104 Im Zentrum seiner Tätigkeit stand offensichtlich die Umsiedlung Volksdeutscher aus Ungarn und die Werbung volksdeutscher Freiwilliger für die Waffen-SS. 105 Daneben war er für die Übersendung einschlägiger Informationen aus dem ungarischen Raum über alliierte Invasionsabsichten verantwortlich. Diesem Auftrag kam der begeisterte Soldat besonders geflissentlich nach. 106 Ein weiterer Schwerpunkt war die Registrierung der in Ungarn lebenden Juden. Von Jagow sollte die ungarische Regierung davon überzeugen, daß Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung für den Fortbestand des Landes unabdingbar seien. Die Vorstellungen, die die deutschen Dienststellen den Ungarn für die Ausarbeitung einer »fortschreitenden Gesetzgebung« nahelegten, ließen den wahren Charakter dieser Maßnahmen unschwer erkennen: Erarbeitung einer Judenkartei »mit dem Ziel der Ausschaltung aller Juden aus dem kulturellen und dem Wirtschaftsleben, Kennzeichnung der Juden, Aussiedlung nach dem Osten im Benehmen mit uns mit dem Endziel einer restlosen Erledigung der Judenfrage in Ungarn, Absprachen mit uns hinsichtlich der Vermögensregelung der ehemals reichsdeutschen und ungarischen Juden mit dem Ziel, daß dieses Vermögen jeweils von dem Staat vereinnahmt wird, in dessen Arbeitsgebiet es sich befindet (Territorialprinzip).« 107 Barbara Hachmann 284 103 Döscher, Hans-Jürgen, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der ›Endlösung‹, Berlin 1987, S. 205. 104 Vgl. PAAA, Person H, Akten betreffend Dietrich von Jagow, Bd. 1, Rep IV Personalia, Nr 269 G, Bl. 11. 105 Vgl. BAP German Foreign Ministry: Inland II g, Geheime Reichssachen (D II, D III, D VIII, D IX), 1943, Vol. 9, (Box 3), Bl. 267200 - Bl. 267443. (= Mikrofilm, 09.01, FC, Auswärtiges Amt, S, Nr.1187); IfZ, Mikrofilm 304, Bl. 2590613 - Bl. 2590663. 106 Z.B. berichtete er über die Absicht der Briten, Kreta zu besetzen, um von dort aus eine Balkanfront zu errichten. Vgl. BAP Mikrofilm, 09.01, FC, Auswärtiges Amt, S, Nr. 541, Bl. 79242. Von Ribbentrop wies im Juni 1942 alle Auslandsmissionen an, Hinweise auf Invasionspläne der Amerikaner und Briten sofort zu melden. Vgl. Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das deutsche Reich und der zweite Weltkrieg Bd. 6 (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte), Stuttgart 1990. 107 Zit. nach United Restitution Organization (Bearb.), Judenverfolgung in Ungarn. Dokumentensammlung, Frankfurt / Main 1959, S. 96. <?page no="286"?> Von Jagow fiel es u.a. zu, über solche Vorschläge mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Kállay, der dem deutschen Ansinnen widerstrebend gegenüberstand, zu verhandeln. Kállay zog sich vor allem auf die Position zurück, »daß die Lösung dieser Frage [sogenannte Judenfrage] eine rein innerungarische Angelegenheit sei.« 108 Auch von Jagows Einwendungen, »die Beseitigung des jüdischen Gefahrenherdes« sei von internationalem Interesse 109 , wollte er sich nicht beugen. Kállay und Horthy, dem ungarischen Reichsverweser, zu dem von Jagow ein gutes Verhältnis entwickelte 110 , gelang es so, die deutschen Forderungen hinhaltend zu bearbeiten. Bis zur Besetzung Ungarns durch die Deutschen am 19. März 1944 vermochten sie, einerseits den Schein der Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland zu wahren, andererseits die jüdische Bevölkerung zu schützen. Selbst jüdische Flüchtlinge aus Polen, Jugoslawien und der Slowakei fanden bis März 1944 Zuflucht in Ungarn. 111 Von Jagows Rolle und seine eigenen Auffassungen in dieser Sache sind nicht überliefert. Immerhin läßt eine Notiz in den Akten des Auswärtigen Amtes darauf schließen, daß er erst nach einigem Zögern die deutschen Anliegen in bezug auf die ungarische Judenfrage im vollen Umfang vortrug. Staatssekretär von Weizsäcker bat nämlich am 14. Oktober 1942, dafür zu sorgen, »daß Jagow gemäß den Instruktionen beim Außenminister in Budapest« 112 vorsprechen solle, um die Ungarn anzuweisen, was mit den dort lebenden Juden geschehen soll. Dem Tenor des Schreibens zufolge hatte von Jagow also nicht sofort die Instruktionen aus dem Reich an die ungarische Regierung weitergegeben. Von Jagows Tätigkeit in Budapest endete am 31. März 1944 113 mit der deutschen Besetzung des Landes. Die SS begann mit der systematischen Verhaftung und Deportierung der dort lebenden jüdischen Bevölkerung, während von Jagow zur kommissarischen Beschäftigung ins Auswärtige Amt einberufen wurde. 114 Am 31. Mai verließ er die ungarische Hauptstadt und meldete sich am 1. Juni zum Dienstantritt in Berlin, während seine Familie vorübergehend in den Warthegau zog. 115 Danach verlieren sich die Spuren von Jagows. Über seine Tätigkeit in der Reichshauptstadt ist nichts bekannt. Seit Ende 1944 oder Anfang 1945 kämpfte der mitt- Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 285 108 United Restitution Organization (wie Anm. 107), S. 110. 109 United Restitution Organization (wie Anm. 107), S. 110. 110 Vgl. Horthy an Hedwig von Jagow, 3. August 1953, Kopie im Besitz der Verfasserin. 111 Zur ungarischen Politik vgl. Macartney, Carlile A., October Fifteenth. A history of modern Ungary 1929 - 1945 (History, Philosophy and Economics 6), Edinburgh o.J.; Szöllösi-Janze, Margit, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext. Entwicklung und Herrschaft (Studien zur Zeitgeschichte 35), München 1989. 112 United Restitution Organization (wie Anm. 107), S. 102. 113 Vgl. PAAA, Akten des Auswärtigen Amtes, Person H Bd. 1, Rep. IV Personalia, 269, Bl. 35. 114 Vgl. PAAA, Akten des Auswärtigen Amtes, Person H Bd. 1, Rep. IV Personalia, 269, Bl. 41. 115 Nach den Erzählungen seines Sohns Henning hatte sich die Familie unmittelbar nach der Abberufung des Vaters als Gesandter in Foldevar am Plattensee aufgehalten. Sie seien dort großer Gefahr durch Partisanen ausgeliefert gewesen, so daß es dringend erforderlich gewesen sei, einen sicheren Platz für die Familie zu finden. <?page no="287"?> lerweile 52jährige noch als Bataillonsführer des Volkssturm-Bataillons 35 in Schlesien. Am 20. Januar 1945 erlitt er schwerste Kopfverletzungen und verlor ein Auge. In einem Lazarett in Leipzig verlieh man ihm am 21. Februar 1945 das Verwundetenabzeichen in Schwarz. 116 Als seine Familie im März 1945 in Berlin eintraf, erfuhr sie, daß er immer noch im Lazarett in Leipzig liege. Da jedoch die sowjetischen Streitkräfte immer näher gegen Berlin vorrückten, floh die Familie über Konstanz nach Dingelsdorf am Bodensee. Noch im gleichen Monat traf auch Dietrich von Jagow in Konstanz ein. Im dortigen Lazarett wurde seine medizinische Behandlung fortgesetzt. Kaum genesen, schickte man ihn als Kurier nach Meran. Physisch und psychisch war von Jagow in jenen Tagen völlig ausgezehrt, dennoch erfüllte er diesen nicht mehr näher zu bezeichnenden Auftrag. Vier Tage bevor Adolf Hitler Selbstmord beging, erschoß sich Dietrich von Jagow in Meran. Ein Bekannter soll ihn kurze Zeit vor seinem Tod erschöpft und nervlich vollkommen am Ende angetroffen haben. 117 Von Jagow konnte nach seinem Freitod für sein Tun nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Von der Spruchkammer Freiburg, die gleichwohl von Jagows Verantwortung in der Zeit des »Dritten Reiches« zu überprüfen suchte, wurde er am 13. Februar 1950 lediglich als »Minderbelasteter« eingestuft. 118 Fragwürdig wie das Urteil selbst blieb insbesondere die Feststellung der Spruchkammer, daß von Jagow, der völkische Aktivist der 20er Jahre, der unermüdliche Werber und Organisator der SA, der pflichteifrige Verfolger der politischen Opposition und gehorsame Diener Adolf Hitlers »propagandistisch [...] nicht hervorgetreten« sei. 119 Bibliographie Quellen Angaben zu von Jagows Lebens- und Laufbahndaten finden sich in der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht. Das Bundesarchiv (Dahlwitz-Hoppegarten, Potsdam und Koblenz), das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn und das IfZ in München sind im Besitz zahlreicher Dokumente, die von Jagows Wirken in der Zeit der Weimarer Republik und zwischen 1933 und 1945 belegen. Besonders erwähnenswert mit Blick auf von Jagows Stellung zur O. C. ist der Nachlaß Dr. Luetgebrune, der im Bundesarchiv Koblenz verwahrt wird. Dort befindet sich auch eine große Anzahl von Fotografien, die von Jagows Wirken insbesondere ab 1934 im Bild wiedergeben. Unverzichtbar ist das im Hauptstaatsarchiv Stuttgart verwahrte Material über das Württem- Barbara Hachmann 286 116 Verleihung des Verwundetenabzeichens, Privatbesitz Henning von Jagow. 117 Interview (wie Anm. 7). 118 STAFR (wie Anm. 55), Bl. 21. 119 STAFR (wie Anm. 55), Bl. 21. <?page no="288"?> bergische Staatsministerium und Innenministerium (Polizeiwesen), das von Jagows Wirken als Reichs- und Polizeikommissar widerspiegelt. Schriftliche Aufzeichnungen über ein Interview vom 12. Januar 1996 mit den Kindern Dietrich von Jagows, Frau Ilse Claar und Herrn Henning von Jagow, sind im Privatbesitz der Autorin. Literatur Über Dietrich von Jagow ist bisher noch keine zusammenhängende biographische Darstellung erschienen. Allerdings umreißen einige Autoren, die sich mit dem Nationalsozialismus in Württemberg beschäftigten, sein Leben in groben Zügen. So findet sich z.B. im Band »Stuttgart im Dritten Reich, Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt«, Stuttgart 1983 unter dem Titel »Der Büttel« eine kurze Abhandlung über von Jagows Leben. Das von Benigna Schönhagen herausgegebene Werk »Nationalsozialismus in Tübingen. Vorbei und vergessen«, Tübingen 1992 sowie ihr Werk »Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus«, Stuttgart 1991 beleuchten von Jagows Wirken in den frühen 20er Jahren. In diesem Zusammenhang ist auch Manfred Schmid erwähnenswert, der in »Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918 - 1923«, Tübingen 1988 von Jagows Rolle bei der O. C. aufgearbeitet hat. Die Zeit als Reichs- und Polizeikommissar erörtert ausführlich Friedrich Wilhelm in seiner Dissertation »Die württembergische Polizei im Dritten Reich«, Stuttgart 1989. Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 287 <?page no="290"?> Ein »anständiger« 1 und »moralisch integrer« 2 Nationalsozialist? Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister Ernst Otto Bräunche *30. September 1897 Weinheim, ev., Vater: Philipp Julius Köhler, Kaufmann, Mutter: Anna Köhler, geb. Maier, verheiratet seit 1925 mit Emilie Köhler, geb. Reinhard, fünf Kinder. 1904 - 1912 Volksschule und Realgymnasium Weinheim, Mittlere Reife, 1912 - 1914 Banklehre beim Vorschußverein Ladenburg, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, 1. Juli 1916 Verwundung, britische Kriegsgefangenschaft, EK II, 1918 - 1933 Tätigkeit im elterlichen Kolonialwarengroß- und -kleinhandel, 1929 - 1933 MdL (NSDAP), 11. März 1933 kommissarischer Finanz- und Wirtschaftsminister, 6. Mai 1933 Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister, 12. Dezember 1933 - 1945 MdR, 1936 - 1937 Leiter der Rohstoffabteilung innerhalb des Vierjahresplans, 1936 - 1945 Leiter der Wirtschaftskammer Baden, 1939 - 1945 Vorsitzender des Rüstungskommandos Baden, 1940 - 1944 Leiter der Finanz- und Wirtschaftsabteilung beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, vor 1942 Wehrwirtschaftsführer, 1943 Präsident der Gauwirtschaftskammer Oberrhein. 20. Juni 1925 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 8.246), 1925 Mitbegründer der NSDAP-Ortsgruppe Weinheim, 1925 - 1932 Ortsgruppenleiter Weinheim, 1926 Stadtverordneter Weinheim, 1925 - 1927 Kreisleiter Weinheim und SA-Führer, 1929 Stellvertretender Gauleiter, Fraktionsvorsitzender der NSDAP-Landtagsfraktion, Januar - März 1933 »Gauleiter«, 1. Mai 1937 SA-Führer z.V. der Gruppe Südwest, SA-Brigadeführer, 9. November 1938 SA-Gruppenführer, 20. April 1939 Stellvertretender Gauleiter ehrenhalber, 9. November 1943 SA-Obergruppenführer. 4. April 1945 Verhaftung durch französische Truppen in Karlsruhe, Internierungslager, 4. Mai 1948 Entlassung, 20. Oktober 1948 Entscheidung der Spruchkammer Karlsruhe: »Minderbe- Walter Köhler 289 1 Der ehemalige Badische Gesandte in Berlin und (süd-)badische Minister der Justiz, Hermann Fecht, bezeichnete Walter Köhler als eine »anständige Persönlichkeit«, GLA 466, Zug. 1979/ 2, 4141. 2 Badische Neueste Nachrichten, 4. Oktober 1948. <?page no="291"?> lasteter«, 18. April 1950 2. Entscheidung der Spruchkammer Karlsruhe im Berufungsverfahren: »Belasteter«, 1948 - 1989 nach kurzer Tätigkeit als Handelsvertreter Leiter eines Versicherungsbüros in Karlsruhe, gest. 9. Januar 1989 Weinheim. »Ich muß mich nun auf die Entnazifizierung vorbereiten. Wenn ich raus will, muß ich auf dem Paragraphen 39 herumreiten und beweisen, daß ich nie Nationalsozialist war. Ich tue das nicht gern, aber ich muß es tun für meine Familie.« 3 So äußerte sich der zweite Mann im Gau Baden nach Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner, Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident von 1933 bis 1945, während seiner Haft im Internierungslager Ludwigsburg gegenüber einem Mithäftling. Sein Vorhaben schien ihm wenig später auch gelungen zu sein, denn am 4. Oktober 1948 berichteten die Badischen Neuesten Nachrichten: »Unter den prominenten Persönlichkeiten des 3. Reiches, die ihren Einfluß nicht zur Terrorisierung Andersdenkender und zur Selbstbereicherung mißbrauchten, war der badische Finanzminister und Ministerpräsident Walter Köhler einer der am meisten genannten.« 4 Aufgrund zahlreicher entlastender schriftlicher und persönlicher Zeugenaussagen, der nur eine einzige belastende Stimme gegenübergestanden habe, sei während der Verhandlung der folgende Gesamteindruck zustandegekommen: »Köhler hat die Juden und insbesondere die jüdischen Beamten seines Ministeriums geschützt und ihnen geholfen, so weit es überhaupt möglich war; er stand den christlichen Bekenntnissen wohlwollend gegenüber, lehnte den ihm vom Gauleiter abgeforderten Kirchenaustritt ab und ließ seine Kinder taufen und konfirmieren; er behandelte auch die Nicht-Pgs. unter seinen Beamten gerecht und wohlwollend, und es durfte in seiner Gegenwart an der Partei offen Kritik geübt werden; er lehnte es ab, Untergebene durch Druck in den großen Pferch zu zwingen (ein hübscher Rat übrigens: ›Bleiben Sie ruhig draußen, es laufen sowieso Lumpen genug in der Partei herum [...]‹)«. 5 Obwohl der Rat Köhlers für den Empfänger ja alles andere als schmeichelhaft war und durchaus auf die Geringschätzung der Personen schließen läßt, die es ablehnten, in die Partei einzutreten, resümierte der Journalist, daß sich »das Bild einer moralisch integren Persönlichkeit« ergeben habe, »die [...] trotz einer ungewöhnlichen Karriere keinerlei anstößigen Aufwand trieb und das einfache Leben von früher fortführte.« Folgerichtig erschien ihm auch das Urteil angemessen, das Köhler als Minderbelasteten zu einer Sühnezahlung von 1500 DM und einer dreijährigen Berufsbeschränkung verurteilte. Dies sahen schon damals offenbar nicht alle so: Am 20. November 1948 legte der Ernst Otto Bräunche 290 3 GLA 466 Zug. 1979/ 2, Nr. 4141 und GLA 465a 51/ 68/ 902, Aussage von Eric Kaufmann. 4 Badische Neueste Nachrichten, 4. Oktober 1948. 5 Siehe auch den Bericht von Hermann Winter »Schuld und Sühne«, Süd-West-Echo, 17. April 1946, der von einem Zentrumsmann berichtet, der sich bei Köhler beklagt habe, daß man ihn in die Partei nötigen wolle, und dann diese Antwort bekommen habe. Diese Geschichte wurde also ganz offensichtlich in Variationen erzählt und weitergegeben. <?page no="292"?> öffentliche Kläger Berufung ein. Vier Tage später ging der Anwalt Köhlers - offensichtlich durch den Einspruch des öffentlichen Klägers dazu veranlaßt - ebenfalls in die Berufung. Eineinhalb Jahre später berichtete nun die Allgemeine Zeitung über das Berufungsverfahren in dem Artikel »Walter Köhler wurde Belasteter. Berufungskammer hob erstes Urteil auf.« 6 Das erste Urteil habe in weiten Bevölkerungskreisen Mißfallen erregt, denn: »Alle Gegner des Nazismus kannten ihn schon lange vor 1933 als einen der lautesten und fanatischsten Redner und Verfechter des Nazismus im badischen Landtag sowie in politischen Versammlungen.« Zwei unterschiedliche Einschätzungen, die aber der Bandbreite der Meinungen über einen der einflußreichsten NS-Funktionäre in Baden entsprach. Im folgenden soll deshalb versucht werden, die Person Walter Köhler als Weinheimer, als NSDAP-Funktionär und -Propagandisten, als NSDAP-Landtagsabgeordneten und Fraktionsvorsitzenden, als Badischen Ministerpräsidenten und als Finanz- und Wirtschaftsminister, als Angeklagten sowie schließlich als Kaufmann vorzustellen. Der Weinheimer Am 30. September 1897 wurde Walter Köhler in dem kleinen nordbadischen Städtchen Weinheim geboren als jüngster Sohn 7 des Kaufmanns Philipp Julius Köhler und dessen zweiter Ehefrau Anna, geb. Maier. 8 Die Eltern besaßen dort einen Kolonialwarengroß- und -kleinhandel, der die Familie gut ernährte. Während sein Vater ebenfalls ein gebürtiger Weinheimer war, also aus der ehemaligen Kurpfalz stammte, kam seine Mutter Anna Maier aus Bonndorf in Südbaden. In den Jahren 1904 bis 1912 besuchte er zunächst die Volksschule, dann das Realgymnasium Weinheim, das er mit der Mittleren Reife verließ. Als Schüler war Köhler wohl eher mittelmäßig, seiner eigenen Einschätzung nach »glänzte« er nur beim Aufsatz. 9 Von 1912 bis 1914 absolvierte er eine Banklehre beim Vorschußverein Ladenburg. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 meldete sich der Achtzehnjährige als Kriegsfreiwilliger und kam in das Reserveregiment des Leibgrenadierregiments 109, das in Nordfrankreich zum Einsatz kam. Am 1. Juli 1916 geriet er während der Schlacht an der Somme als Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 291 6 Allgemeine Zeitung, 20. April 1950. 7 Für diese Auskunft danke ich Frau Rößler vom Stadtarchiv Weinheim. Aus der ersten Ehe des Vaters stammten vier Halbgeschwister. In der zweiten Ehe wurden Walter und sein älterer Bruder Hans geboren. 8 Vgl. Lebenserinnerungen Walter Köhler, Familienbesitz, S. 4 f. Im folgenden werden sie als Lebenserinnerungen, die kleineren Kapitel mit der Kapitelüberschrift zitiert, vgl. dazu die Hinweise zur Quellenlage am Schluß dieses Beitrags. Ich danke an dieser Stelle der Familie Köhler, daß Sie mir diese Lebenserinnerungen zugänglich gemacht hat. Meine Kolleginnen Claudia Buggle und Andrea Rößler vom Stadtarchiv Weinheim haben die Kontakte zur Familie Köhler hergestellt und letztlich ermöglicht, daß ich die Lebenserinnerungen einsehen konnte, wofür ich ihnen ebenfalls herzlich danke. 9 Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 5. <?page no="293"?> Unteroffizier mit einer Oberarmverwundung in britische Gefangenschaft. Wenig später, am 1. September 1916, starb der Vater. Anfang 1918 kam Köhler mit zum Arbeitseinsatz nach Rotterdam, wo er als Internierter größere Bewegungsfreiheit besaß und z.B. Amsterdam und Den Haag besuchen konnte. 10 Von Holland aus kehrte er nach Kriegsende über Bremen nach Weinheim zurück. Es war folgerichtig, daß der mit dem EK II ausgezeichnete Walter Köhler 1918 im elterlichen Geschäft tätig wurde und es auch später übernahm. Erst 1933, wohl nach seiner Ernennung zum Badischen Ministerpräsidenten und Minister, verpachtete er es. Zu diesem Zeitpunkt war Köhler bereits acht Jahre mit Emilie Köhler, geb. Reinhard, verheiratet. Der Hauptwohnsitz der Familie war und blieb auch während des »Dritten Reiches« Weinheim. 11 Diese Verbundenheit mit Weinheim rechnete man dem prominenten Nationalsozialisten schon im »Dritten Reich« hoch an, und sie wurde noch nach dem Kriege von vielen Weinheimer Entlastungszeugen positiv bewertet: Der neue Weinheimer Nachkriegsoberbürgermeister betonte z.B., daß Köhler sich von seinen NS-Kollegen durch die erhalten gebliebene »Einfachheit« unterschieden habe, seine Familie, Frau und fünf Kinder, sei in ihrer bürgerlichen Umgebung geblieben und habe nie erkennen lassen, daß sie die Angehörigen eines ranghohen Vertreters des Staates waren. 12 Der Leiter der Weinheimer Polizei bestätigte ebenfalls, daß Köhler »in seinem Wesen stets der Gleiche geblieben« sei und daß er über Köhler nur Lob, nie Tadel gehört habe. Auch der Weinheimer Fabrikant Richard Freudenberg sagte in dem Spruchkammerverfahren gegen Köhler zu dessen Gunsten aus und betonte, daß in Weinheim allgemein bekannt sei, daß Köhler trotz seiner hohen Würde ein »grundanständiger Mensch geblieben ist«. Bereits am 21. März 1933 erhielt er wie viele andere nationalsozialistische »Würdenträger« in dieser Zeit die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt. Aber auch die Landeshauptstadt Karlsruhe ehrte ihn am 9. Mai gemeinsam mit Gauleiter Robert Wagner und Adolf Hitler auf diese Weise. 13 Ingeborg Wiemann-Stöhr, die für ihre Arbeit über die Stadt Weinheim 1925 bis 1933 mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen hat, stellt fest, daß sie niemanden - Sozialdemokraten eingeschlossen - getroffen habe, der sich negativ über Köhler geäußert habe. 14 Dazu beigetragen hat sicher nicht zuletzt, daß Köhler im kleinstädtischen Sozialmilieu Weinheims fest verankert und »eine mitteilsame pfälzische Frohnatur« war, die andere Menschen gewinnen Ernst Otto Bräunche 292 10 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 38. 11 Vgl. GLA 466 Zug. 1979/ 2, Nr. 4141 und GLA 465a 51/ 68/ 902, wo ein maschinengeschriebener Lebenslauf Köhlers enthalten ist. Zur Familie vgl. Federle, Siegfried, Die Ahnentafel unseres Ministerpräsidenten, in: Die Badische Chronik 1935, S. 48 - 50. 12 Vgl. GLA 466 Zug. 1979/ 2, 4141 und GLA 465a 51/ 68/ 902, dort auch die folgenden Zitate. 13 Vgl. Verwaltungsbericht der Landeshauptstadt Karlsruhe für das Wirtschaftsjahr 1933 (1. April 1933 bis 31. März 1934), Karlsruhe 1934, S. 10. 14 Wiemann-Stöhr, Ingeborg, Die Stadt Weinheim 1925 - 1933. Untersuchungen zu ihrem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Profil (Weinheimer Geschichtsblatt 37/ 1991), Weinheim 1991, S. 139, Anm. 27. <?page no="294"?> konnte. 15 Er selbst hielt auch fest, daß er in seinem »Leben nie von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt war« 16 , was sich in seinem selbstsicheren und selbstbewußten Auftreten noch im hohen Alter niederschlug. Diese Aussagen lassen den Schluß zu, daß Köhler ein angesehener Weinheimer war und auch blieb, als alle im »Dritten Reich« begangenen Schandtaten der Nationalsozialisten bekannt wurden. Ihm lastete man sie in Weinheim nicht an, obwohl natürlich auch hier bekannt war, daß er ein führender Repräsentant des nationalsozialistischen Regimes war und bereits früh zur NSDAP gefunden hatte. Der NSDAP-Funktionär und -Propagandist Köhler selbst gab an, daß er aus dem Krieg »national eingestellt« heimgekehrt sei. Bereits vor dem Krieg, am Ende der Schulzeit und während seiner Lehre hatte Köhler Versammlungen verschiedener Parteien besucht und sich für die Politik zu interessieren begonnen. 17 Politisch schloß er sich nach 1918 zunächst der Deutschnationalen Volkspartei und dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund an. Eine Zeitlang war er Leiter der Deutschnationalen Jugend in Weinheim. 18 Dem Deutschen Führerlexikon aus dem Jahre 1935 ist zu entnehmen, daß er sich 1924/ 25 für den Völkischen Block betätigte, der auch in Baden versuchte, die Anhänger der verbotenen NSDAP zu binden. 19 Köhler selbst gab nach 1945 an, daß er das Gefühl gehabt habe, daß die Deutschnationale Volkspartei die seiner Meinung nach vordringliche soziale Problematik nicht werde lösen können und »einfach zu schwunglos und leisetreterisch« 20 gewesen sei und er sich deshalb der NSDAP zugewandt habe. Adolf Hitler sah Köhler erstmals im Jahr 1921, als er am Parteitag der DNVP in München teilnahm. 21 Bereits während der Festungshaft Hitlers versuchte Köhler mit Gleich- Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 293 15 Wiemann-Stöhr (wie Anm. 14), S. 81. Der Verfasser kann dies bestätigen, da er am 25. Mai 1976 mit Walter Köhler ein Zeitzeugeninterview (im Folgenden zitiert als Gespräch) führen konnte, in dem sich Köhler auch im Alter von 79 Jahren noch als ein vitaler, mitteilsamer und beredter Mann zeigte, so daß man noch ahnen konnte, mit welcher Überzeugungskraft er früher in politischen Versammlungen aufgetreten war. 16 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 131. 17 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 7. 18 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 57 und Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 19 Vgl. Deutsches Führerlexikon 1934/ 35, Berlin 1934, S. 243 f., BA, Abt. III (BDC), PA Walter Köhler; Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125, NF 86 (1977), S. 331 - 375, hier S. 332 ff. 20 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 56, vgl. auch Vernehmung Köhlers vor der Spruchkammer am 2. Oktober 1948, GLA 466, Zug. 1979/ 2 Nr. 4141. 21 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 56 und Kap. »Weinheim nach 1918«, S. 11. Köhler nennt kein Datum, doch muß es sich um den Parteitag vom 1. bis 3. September 1921 handeln, vgl. Fricke, Dieter, Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 1918 - 1933, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland, hrsg. v. D. Fricke u.a. Bd. 2, Leipzig 1984, S. 476 - 561, hier S. 477. <?page no="295"?> gesinnten in Weinheim eine »Ersatzpartei« für die verbotene NSDAP zu gründen. 22 Eine größere Weinheimer Gruppe nahm auch an dem sogenannten Deutschen Tag in Bruchsal am 12. Oktober 1924 teil, wo er den Teilnehmer am Hitlerputsch und späteren Gauleiter Robert Wagner erstmals traf. Nach der Gründung des NSDAP- Gaus Baden am 25. März 1925 durch Wagner trat Köhler am 20. Juni 1925 in die NSDAP ein und erhielt die Mitgliedsnummer 8.246. In Weinheim war er die treibende Kraft der NSDAP, die zu diesem Zeitpunkt hier wie in ganz Baden allerdings erst eine unbedeutende Splitterpartei war. Noch im Juni 1925 wurde die dortige NSDAP-Ortsgruppe gegründet. Köhler übernahm nach kurzer Zeit deren Leitung und wurde Kreisleiter von 1925 bis 1927 und SA-Führer in Weinheim. 23 Die SA-Führerschaft verschwieg er im übrigen später im Spruchkammerverfahren, indem er angab, erst 1935 in die SA eingetreten zu sein. In Weinheim war er auch seit der Wahl am 14. November 1926 Stadtverordneter, wobei ihm der Weinheimer Oberbürgermeister bescheinigte, selten an den Sitzungen teilgenommen zu haben. 24 Bereits in den ersten Jahren seiner Parteizugehörigkeit fiel Köhler durch sein Redetalent auf, so daß er sich bis 1929 die Stellung eines »Kronprinzen« im Gau Baden hinter Robert Wagner erarbeiten konnte, wie Köhler selbst es bezeichnete. 25 Zum ersten Mal wird er im November 1926 in einem Bericht des Landespolizeiamtes erwähnt, als er am 24. September in einem Sprechabend der NSDAP-Ortsgruppe Weinheim über den bevorstehenden Landesparteitag der NSDAP berichtete und eine Hitlerrede im Wortlaut verlas. 26 Seit diesem Zeitpunkt erschien Köhler immer häufiger in den Meldungen, im Mai 1927 erstmals auch mit einem Auftritt außerhalb von Weinheim, als er in Lohrbach vor ca. 60 Personen sprach. 27 Auch für die 1927 gegründete Gauzeitung »Der Führer« schrieb Köhler regelmäßig Artikel, so schon gleich in der ersten Ausgabe des Jahres 1928 unter der Schlagzeile »Nationalsozialismus und Landbund«, als er sich gegen die gleichzeitige Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen nicht zur Partei gehörenden Organisationen wie dem Badischen Landbund wandte, denn: »Unsere Stärke liegt in der unbedingten Geschlossenheit.« 28 In den folgenden Jahren erschienen viele weitere Artikel von Walter Köhler, dem Ernst Otto Bräunche 294 22 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 59. 23 Vgl. Wiemann-Stöhr (wie Anm. 14), S. 81 f. Den Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. Weinheim nach 1918, S. 22 zufolge, war zunächst ein Herr Ebert Ortsgruppenleiter, den Köhler ablöste, als sich abzeichnete, daß jener mit der Ortsgruppenleitung überfordert war. 24 In seinen Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. Weinheim nach 1918, geht Köhler auf seine Tätigkeit als Stadtverordneter ein und betont, daß er 1933 trotz seiner anderen Ämter aus Verbundenheit mit Weinheim dort Stadtverordneter geblieben sei, vgl. S. 75. 25 Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). Zu Köhlers Aktivitäten als Parteipropagandist vor 1929 vgl. auch Grill, Johnpeter H., The Nazi Movement in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 115. 26 STAFR, Bestand A 961, Nr. 1671, Bericht des Landespolizeiamts, 5. November 1926. Die Berichte sind ab 1926 auch enthalten in GLA 309/ Zug. 1994 - 53, 6160. 27 Vgl. STAFR, Bericht 1. Mai 1927. 28 »Der Führer«, 7. Januar 1928. <?page no="296"?> »Führer« vom 11. Oktober 1931 zufolge war er zu dieser Zeit auch der erfolgreichste Abonnentenwerber der Parteipresse. Sicherlich nicht zuletzt Köhlers Einsatz war es zu verdanken, daß die NSDAP bei der Reichstagswahl 1928 ihre Stimmen im Vergleich mit der im Dezember 1924 angetretenen Deutschvölkischen Freiheitspartei in Weinheim mit 936 Stimmen knapp verdreifachte. Die Ortsgruppe Weinheim war Anfang 1928 nach Mannheim und Karlsruhe mit 250 Mitgliedern auch nicht zufällig die drittgrößte Ortsgruppe in Baden. 29 Das Landespolizeiamt zählte Köhler inzwischen schon zu den »bekannteren Rednern des Gaues Baden.« 30 Beharrlich warb er um neue Anhänger und holte die Parteiprominenz, darunter mehrmals Joseph Goebbels, nach Weinheim. 31 Auf einer Führertagung des Bezirkes Weinheim am 10. Juni 1928 führte er aus, daß die Weinheimer SA auf mindestens 100 Mann anwachsen und wenigstens einmal im Monat einen Propagandamarsch durchführen müsse. 32 Entsprechend groß war der Erfolg in Weinheim, wo die NSDAP mit 26,7 % der Stimmen einen weit über dem Landesdurchschnitt von 7 % liegenden Erfolg erzielte. Weinheim war damit schon früh eine Hochburg der NSDAP. Das badische Landespolizeiamt bescheinigte Köhler Ende 1929, daß er in seiner Heimatstadt gute Parteiarbeit geleistet habe: »Ausgebaut wurde insbesondere die Ortsgruppe Weinheim, die unter Führung des Walter Köhler einen starken Aufschwung genommen hat.« 33 Auch nach seiner Wahl in den Landtag gehörte Köhler zu den aktivsten badischen Propagandisten; seine Versammlungen waren stets gut besucht, da er durchaus demagogisches Talent besaß und seine Zuhörer in Bann ziehen konnte. Dabei scheute er auch nicht vor scharfen Attacken gegen die politischen Gegner zurück, schaffte es allerdings fast immer, sich an eine vom ihm selbst formulierte Maxime zu halten: »Wir verstehen es trotz Republikschutzgesetz immer an der Grenze des Erlaubten entlang zu gehen. Wenn wir einen Minister einen Lumpen nennen wollen, so sagen wir es ihm schon durch die Blume.« 34 Dennoch bedrohte auch Köhler die Weimarer Demokratie bei seinen Auftritten in eindeutiger Weise: »Die Demokratie muß durch einen Diktator abgelöst werden; einen Saustall kann man nicht mit Sammetpfoten säubern.« 35 In Pforzheim wurde er am 5. Juni 1930 ebenfalls sehr Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 295 29 Vgl. STAFR A 961, Nr. 1671, Bericht 15. März 1929. 30 Vgl. STAFR A 961, Nr. 1671, Bericht 15. Juni 1928. 31 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Weinheim nach 1918«, S. 30 ff. In dem Kap. »Beim Vierjahresplan«, S. 11, betont Köhler, daß er zu Goebbels freundschaftliche Beziehungen hatte. 32 STAFR A 961, Nr. 1671, Bericht 15. August 1928. Vgl. auch Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Weinheim nach 1918«, wo Köhler ausführlich auf die Entwicklung der NSDAP in Weinheim und die Wahlkampfveranstaltungen eingeht. Ganz offensichtlich hat er für dieses Kapitel die Lokalpresse ausgewertet. 33 STAFR A 961, Nr. 1671, Bericht 29. November 1929. 34 Walter Köhler am 20. Mai 1930 in Bühl, zit. nach: Denkschrift des Reichsministers des Innern über das hochverräterische Unternehmen der NSDAP, in: Verhandlungen des Badischen Landtages, IV. Landtagsperiode 1929 bis 1933, 3. Sitzungsperiode, Spalte 1068. 35 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), Sp. 1076. <?page no="297"?> deutlich: »Wir Nationalsozialisten stehen im Geruch etwas roh zu sein. Ich stelle fest, daß derjenige, der in einem Saustall Ordnung schaffen will, nicht mit einem Palmwedel kommen kann, sondern er wird durchfahren müssen; er muß dafür sorgen, daß gewisse eiternde Wunden aus dem Volkskörper herausgeschnitten werden.« 36 Als überzeugter Antidemokrat, der den Umsturz wollte, zeigte sich Köhler immer wieder in seinen öffentlichen Auftritten. Am 2. März 1930 kündigte er an: »Eine Änderung [der demokratischen Verhältnisse] sei nur möglich durch einen baldigen Umsturz und die Auferstehung eines Diktators, der das Volk rette, ehe es zu spät ist. Die Nationalsozialisten würden versuchen, diesen Umsturz schnell herbeizuführen.« 37 Welche Organisationen man dazu benötigte, war Köhler ebenfalls klar: »Der Vorwurf, wir wollten die Reichswehr zersetzen, trifft uns nicht; Zersetzung der Reichswehr kommt für uns nicht in Frage; wir wollen die ganze Reichswehr.« 38 Daß diese Ausführungen Köhlers in der Denkschrift des Reichsministeriums des Inneren über das hochverräterische Unternehmen der NSDAP zitiert sind, überrascht nicht. Zum einen war Köhler tatsächlich einer der badischen Redner, die am deutlichsten die Demokratie bekämpften, zum anderen überwachte das badische Landespolizeiamt die Auftritte der NSDAP genauestens und gab die Ergebnisse in Form von Vierteljahresberichten u.a. an andere Landespolizeiämter und die Reichsbehörden weiter. 39 Selbst handgreiflich scheint Köhler im Gegensatz zu Robert Wagner und anderen badischen NS-Größen allerdings nicht geworden zu sein, »denn er vertraute mehr der Kraft seiner Worte als physischer Gewalt«. 40 Bekannt ist nur, daß unter seiner Führung eine Versammlung des SPD-Politikers und - Ministers Adam Remmele am 5. August 1930 in Offenburg gesprengt wurde. Köhler rief in den Saal: »Wer hat uns verraten? «, woraufhin der nationalsozialistische Sprechchor antwortete: »Die Sozialdemokraten! « - »Wer wird ausmisten? « - »Die Nationalsozialisten! « - »Wer macht uns frei? « - »Die Hitlerpartei! « Anschließend wurde zur Verhöhnung des gelernten Müllers Remmele »Das Wandern ist des Müllers Lust« gesungen, wodurch die Versammlung endgültig gesprengt war. 41 Dieser Stil kam an, Köhler galt als populärer Redner, dessen Auftritte gut besucht waren. Er selbst hielt später fest, daß er lieber in Südbaden gesprochen habe, während Ernst Otto Bräunche 296 36 Bericht des Badischen Landespolizeiamts: »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Entwicklung und Tätigkeit des Gaues Baden seit der Landtagswahl vom 15. Oktober 1929«, GLA 233/ 27915 und 309/ 5987. 37 Zit. nach: Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), 27. April 1932, Sp. 1074. 38 Köhler am 5. Juni 1930 in Pforzheim, zit. nach: Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), Sp. 1092. 39 Vgl. Bräunche, Ernst Otto, Das Badische Landespolizeiamt: Die Überwachung der links- und rechtsextremen Parteien in der Weimarer Republik, in: Geschichte als Verantwortung. Festschrift für Hans Fenske zum 60. Geburtstag, hrsg. v. E. O. Bräunche, H. Hiery, Karlsruhe 1996, S. 85 - 111, hier S. 86. 40 Wiemann-Stöhr (wie Anm. 14), S. 81. 41 GLA 465d/ 1458. <?page no="298"?> er in Nordbaden weniger gut angekommen sei, ohne dafür eine Erklärung zu haben. 42 Die badische Gauzeitung »Der Führer« charakterisierte einmal Köhlers Auftreten in einer Großveranstaltung in der Karlsruher Festhalle im Juli 1932: »Von tausendstimmigem Heilruf der Volksgenossen begrüßt, betrat unser Pg. Köhler das Rednerpult und begann in seiner bekannten Art seine, oft von beißendem Spott gewürzten Ausführungen«. 43 Am 9. Februar 1933 schrieb dieselbe Zeitung: »Von Walter Köhler, dessen Ausführungen im Unterschied zu dem öden Gewäsch schwarzer und roter Dauerschwätzer im badischen Landtag auch vom Gegner mit Interesse angehört werden, erwartet man stets etwas Besonderes. Sie atmen jenen Geist, der die nationalsozialistische Idee in einem ungeheuren Siegeslauf in alle Schichten des Volkes hineingetragen hat.« 44 Im Umgang mit den »Massen« besaß Köhler also großes Geschick. Er konnte seine Auftritte regelrecht inszenieren und ließ »keine Fahnenweihe und andere Gelegenheiten zur emotionalen Neuverpflichtung verstreichen«. 45 Auf den Reichsparteitagen der NSDAP war Köhler stets vertreten, für seine Verdienste um die Partei erhielt er auch das Goldene Parteiabzeichen und das Goldene Ehrenzeichen des Gaus Baden. 46 Seinen zweiten Platz innerhalb der badischen NS-Hierarchie festigte Köhler nach dem Weggang seines Fraktionskollegen Karl Lenz, der im September 1931 die Gauleitung im benachbarten Hessen-Darmstadt übernahm. Köhler vertrat bereits im Oktober des Jahres kurzfristig den erkrankten Gauleiter Wagner. Als dieser im Dezember 1932 von dem Stabschef der Reichsorganisationsleitung Robert Ley zu seinem Stellvertreter berufen wurde, übernahm Walter Köhler die Gauleitung. Gleich zu Beginn des Jahres 1933 wies er in dieser Funktion das Angebot der Deutschen Volkspartei schroff zurück, die NSDAP an einer Koalitionsregierung in Baden zu beteiligen. 47 In den folgenden Wochen wurde er immer häufiger als Gauleiter angekündigt. So war z.B. der Gaubefehl vom 1. Februar 1933 unterzeichnet »Der Gauleiter: Walter Köhler«. Nach der Reichstagswahl am 5. März forderte Walter Köhler als amtierender Gauleiter am 6. März 1933 ultimativ den Rücktritt der Badischen Regierung. 48 Eine Entscheidung, ob er nun definitiv Gauleiter war, erübrigte sich, da am 9. März Robert Wagner aufgrund der »Reichstagsbrandverordnung« als Reichskommissar mit der Wahrnehmung der Geschäfte der Badischen Regierung beauftragt wurde. Köhler muß mit dieser Entwicklung nicht gerechnet haben, da er auf dem Weg nach Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 297 42 Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 87. 43 »Der Führer«, 7. Juli 1932. 44 »Der Führer«, 9. Februar 1933. 45 Wiemann-Stöhr (wie Anm. 14), S. 82. 46 Vgl. BA, Abt. III (BDC), PA Walter Köhler. 47 Vgl. »Der Führer«, 3. Januar 1933. 48 Veröffentlicht in den badischen NS-Zeitungen am 7. März 1933 und gez. mit »Walter Köhler, Gauleiter und M.d.L.«, vgl. z.B. »Der Führer«, 7. März 1933. <?page no="299"?> Frankfurt, wo er sich Instruktionen von Reichsinnenminister Frick holen wollte, von der Rückkehr Wagners als Reichskommissar überrascht wurde. 49 Wenig später, am 9. Mai 1933, gelobte er allerdings öffentlich die Treue zu Wagner 50 , die er letztlich erst kurz vor Kriegsende brach, als er gegen Wagners Befehl in Karlsruhe blieb und sich von französischen Truppen verhaften ließ. Später stellte Köhler es sowohl in seinem Spruchkammerverfahren als auch in Zeitzeugeninterviews und in seinen Lebenserinnerungen immer so dar, als sei er stets nur Stellvertretender Gauleiter gewesen. Genaue Belege, daß er 1932/ 33 tatsächlich als Gauleiter auch von der Reichsparteileitung anerkannt wurde, fehlen. Die Tatsache, daß er in der Öffentlichkeit als Gauleiter auftrat, spricht aber dafür, daß er sich berechtigte Hoffnungen machen durfte, diese Position auf längere Zeit zu besetzen. 51 Die Ernennung Hitlers und die folgenden Ereignisse im Zuge der sogenannten Machtergreifung machten diese Überlegungen hinfällig: Wagner kam rechtzeitig zurück, um wieder die erste Stelle im Gau einzunehmen. Wagner dominierte auch ganz offensichtlich die weitere Entwicklung in Baden, Köhler unternahm keinerlei Versuche, sich gegen ihn aufzulehnen. 52 Daß Köhler immer wieder betonte, daß er als Stellvertretender Gauleiter sowieso kaum Einfluß gehabt habe, überrascht nicht, da er sich offenbar rasch mit den geschaffenen Fakten abfand und außerdem nach 1945 keinerlei Interesse haben konnte, seine Rolle in der Partei noch zusätzlich aufzuwerten. 53 Ebenso wies er in seinem Spruchkammerverfahren darauf hin, daß er nach 1933 keine leitende Position in der Partei mehr innehatte. Dies trifft auch zu, wenn man davon absieht, daß er 1939 den merkwürdigen Titel »Stellvertretender Gauleiter ehrenhalber« bekam. 54 Der Landtagsabgeordnete Nachdem die NSDAP am 20. Oktober 1929 bei der Landtagswahl 7% der Wählerstimmen bekommen hatte, zogen sechs nationalsozialistische Abgeordnete in das Karlsruher Ständehaus, in dem sie bis dahin nicht erlebte Szenen aufführen sollten. Vorsitzender der Radau-Fraktion wurde Walter Köhler, was das Landespolizeiamt veranlaßte, darüber zu spekulieren, ob die Stellung des Gauleiters Robert Wagner Ernst Otto Bräunche 298 49 Rehberger, Horst, Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/ 33 (Heidelberger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen NF 19), Heidelberg 1966, S. 99. 50 Vgl. »Der Führer«, 9. Mai 1933. 51 In seinen Lebenserinnerungen (wie Anm. 8) geht Köhler darauf überhaupt nicht ein. Dies hätte auch dem Bild der absolut vertrauensvollen und loyalen Zusammenarbeit mit Wagner widersprochen, die Köhler immer wieder in den Vordergrund stellte. Hier drängt sich der Verdacht auf, daß es sich um ein Geschichtsbild handelt, das Köhler schließlich selbst glaubte, weshalb er alle Bereiche ausklammerte, die dem widersprochen hätten. 52 Vgl. Rehberger (wie Anm. 49), S. 99 ff. 53 Vgl. auch Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 144. 54 Vgl. BA, Abt. III (BDC) PA Walter Köhler. <?page no="300"?> schwächer geworden sei und man in der Parteileitung über einen Wechsel in der Gauleitung nachdenke. Walter Köhler selbst stellte dies so dar, daß Wagner sich eher auf die Parteiarbeit habe konzentrieren wollen und ihm deshalb die Fraktionsführung überlassen habe. Eine Rolle dürfte aber auch gespielt haben, daß Wagner in politischen Debatten nicht wendig genug war, um eine solche Funktion auszuüben. 55 Es handelte sich also nicht um eine Einengung der Macht des Gauleiters, sondern um eine Absprache und Aufgabenteilung zwischen den beiden führenden badischen Nationalsozialisten. In den Landtagsdebatten hielt sich Wagner in der Regel tatsächlich auch zurück und überließ meist Köhler die größeren Redebeiträge. In der 2. Sitzungsperiode 1930/ 31 lag Köhler z.B. mit 50 Wortmeldungen weit vor Wagner, der sich nur siebenmal meldete, aber auch weit vor den anderen Fraktionsmitgliedern. Im Landtag führte Köhler sich gleich entsprechend ein. Als der Landtagspräsident einen Nachruf auf den verstorbenen Prinz Max von Baden hielt, verließen die Nationalsozialisten demonstrativ den Saal. Dem SPD-Vorsitzenden Emil Maier, der dies anschließend rügte, antwortete Köhler in einer Art, die für ihn typisch war: »Ich möchte für die Nationalsozialisten erklären, daß wir es ablehnen, uns mit dem Herrn Abg. Maier und mit der sozialdemokratischen Partei über Takt und Anstand auseinanderzusetzen.« 56 Die Regierungsbildung von Zentrum und SPD am 21. November 1929 kommentierte er ebenfalls in bester Propagandistenmanier: »Wir erleben tatsächlich, daß die badische Regierung wieder das Gesicht eines Bauernschinken hat, außen schwarz und innen rot.« 57 An seiner Einschätzung der Tätigkeit des Landtags ließ er keinen Zweifel: »Wir sind in den Landtag eingezogen, obwohl wir wußten, daß er faul ist und keinen Sinn hat. Der Landtag hat nur den Sinn, daß die Diäten und die Freifahrkarten ausgegeben werden.« 58 In einer Versammlung in Eberbach erklärte er, »er habe seinen Fraktionskollegen gesagt, wenn sie bei einer Sitzung im Landtag fehlen würden, so sei ihm das piepe; wenn sie aber eine Versammlung versäumen würden, so sei daß viel schlimmer«. 59 Auch im Landtag selbst betonte er immer wieder, daß man sich nicht an parlamentarische Spielregeln halte und einen Antrag nur begründe, wenn man es für geboten halte: »[...] wir verachten den Parlamentarismus und tun das, was uns gefällt [...]«. 60 Offen griff er 1931 anläßlich der Regierungsumbildung einmal mehr die Demokratie an: »Wir sind diktatorischen Maßnahmen nicht abhold. Aber wir sind so ehrlich, zu erklären, daß Demokratie Mist ist.« 61 Auch vor Drohungen schreckte Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 299 55 Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 56 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), 6. November 1929, Sp. 28. 57 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), Sp. 95. 58 Köhler in einer Versammlung am 25. Mai 1930, GLA 233/ 27915. 59 STAFR A 961, Nr. 1617, »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Entwicklung und Tätigkeit des Gaues Baden seit der Landtagswahl vom 29. Oktober 1929«, S. 5. 60 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), 14. März 1930, Sp. 2182. 61 »Der Führer«, 10. September 1931. <?page no="301"?> Köhler nicht zurück: Dem sozialdemokratischen Abgeordneten Emil Maier rief er z.B. zu: »[...] mit Ihnen einmal Fraktur zu reden an anderer Stelle, wird mir ein Frühstück sein. Seien Sie davon überzeugt! « 62 Als sein Fraktionskollege Merk wegen verbaler Entgleisungen von dem Landtagsvizepräsidenten Reinbold des Saales verwiesen wurde, drohte er diesem unmißverständlich: »Am erfreulichsten aber scheint uns die Tatsache zu sein, daß die Zeit nicht mehr fern sein dürfte, wo derartige Elemente wie Reinbold nicht mehr auf dem Präsidentenstuhl des Bad. Landtags, sondern auf der Anklagebank eines deutschen Gerichts sitzen werden.« 63 In der sogenannten »Ohrfeigenaffäre«, als der Zentrumsabgeordnete Hilbert Hitler einen Deserteur nannte und der als »enfant terrible« des Badischen Landtags bekannte NSDAP-Abgeordnete Herbert Kraft daraufhin Ohrfeigen austeilte, ließ Köhler sich trotz eines Ordnungsrufes nicht abhalten zu wiederholen: »Wer Hitler einen Deserteur nennt, der ist für uns ein Schwein.« 64 Der sozialdemokratischen Freiburger Parteizeitung galt Köhler wegen solcher Auftritte und seiner scharfen Zunge als »unsympathischster und gehässigster Redner des Hauses.« 65 Als sich Köhler am 10. Februar 1931 über den Versailler Vertrag ausließ, kommentierte die Volkswacht: »Die Debatte hatte nur den Erfolg, daß der Abg. Köhler (NSDAP) Gelegenheit hatte, mit wüstem Geschrei eine Schlußhetzrede zu halten. Der Herr erhielt einen Ordnungsruf. Das Geschwätz und die Überheblichkeit dieses Herren sind die abstoßendsten Erscheinungen im Landtag.« 66 Der Badische Ministerpräsident und Minister Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 erreichte die NSDAP in Baden 45,4% der Stimmen. Obwohl auch hier das Ziel der absoluten Mehrheit verfehlt wurde, forderte Walter Köhler als amtierender Gauleiter am 6. März ultimativ den Rücktritt der badischen Regierung. 67 Durch die Rückkehr Wagners als Reichskommissar für Baden ging die Initiative des Handelns sofort an diesen über (s.o.). Köhler wurde aber schon am 11. März durch die Ernennung zum kommissarischen Leiter des Finanzministeriums bzw. am 6. Mai zum Badischen Ministerpräsidenten sowie zum Finanz- und Wirtschaftsminister durchaus entschädigt. Daß Wagner Köhler mit Ernst Otto Bräunche 300 62 Verhandlungen des Badischen Landtages, 25. März 1930, Sp. 2368. 63 Zit. nach: »Der Führer«, 27. April 1932. 64 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), 17. Februar 1932, Sp. 192. In seinen Lebenserinnerungen bestreitet Köhler, daß die Provokationen im Landtag zur Strategie der NSDAP gehörten, gibt aber zu, daß der Partei dadurch entsprechende Aufmerksamkeit zuteil wurde, vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 94. 65 Volkswacht, 6. Februar 1931. 66 Volkswacht, 12. Februar 1931. 67 Veröffentlicht in den NS-Zeitungen am 7. März 1933 und gez. mit »Walter Köhler, Gauleiter und M.d.L.«, z.B. »Der Führer«, 7. März 1933. <?page no="302"?> diesen Ämtern betraute, lag nahe. Zum einen hatte sich der NSDAP-Fraktionsvorsitzende bislang als derjenige erwiesen, der sich in Wirtschaftsfragen noch am besten auskannte. Zum anderen war Wagner selbst nicht in der Lage, in diesen Aufgabenbereichen erfolgreich tätig zu sein. So wie er Köhler schon den Fraktionsvorsitz überlassen hatte, überließ er ihm auch die Regierungsposten und bei deren Ausübung relativ freie Hand. Die Vermutung von Roland Peter, daß dies die Gegenleistung Wagners dafür war, daß Köhler keine Ambitionen auf die Gauleitung hatte, klingt plausibel. 68 Köhler selbst sah seine Ernennung zum Ministerpräsidenten als zwangsläufig an, da er keinen Konkurrenten gehabt habe, was zutreffen dürfte. 69 Er hatte als Pragmatiker und Realist erkannt, daß er kaum an Wagner vorbeikommen konnte, so daß er einen Machtkampf zwischen Gauleiter und Ministerpräsident als aussichtslos ansah und dieser in Baden unterblieb. 1976 erwähnte Köhler, daß er im Gegensatz zu Wagner nicht die unbedingte Konsequenz des Gauleiters gehabt und diesen deshalb auch immer bewundert habe. 70 Dafür, daß er den Machtkampf scheute, spricht auch seine Selbsteinschätzung, kein Freund harter Entscheidungen gewesen zu sein, besonders wenn er diese habe selbst treffen müssen. 71 In seinen Lebenserinnerungen hielt Köhler auch fest, daß er die Übernahme des Finanzministeriums zunächst abgelehnt habe, da er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlte. Dies ist angesichts der Persönlichkeitsstruktur Köhlers durchaus überraschend und wird auch in anderen Quellen nicht bestätigt. 72 Die Kabinettssitzungen dominierte im übrigen der Reichsstatthalter. Walter Köhler leitete nur die Sitzung am 13. Mai 1933, als Wagner abwesend war. Daß Köhler Wagner aber offensichtlich doch zu selbständig wurde, belegen die wiederholten Versuche des Gauleiters, ihn als Ministerpräsidenten zu entmachten, wodurch Köhlers Verhältnis zu Wagner, das er selbst als »stets loyal« bezeichnete, sicher abkühlte. Vermutlich dachte Köhler u.a. hieran, als er in seinen Lebenserinnerungen festhielt, daß seine Beziehungen zu Wagner »immer korrekt und kameradschaftlich« blieben, auch wenn es »durch die verschiedenen Aufgabenbereiche Belastungen« gab. 73 Im Mai des Jahres 1935 wähnte Wagner sich am Ziel. Über Reichsinnenminister Frick schien es ihm gelungen zu sein, die Ämter des Reichsstatthalters und des Ministerpräsidenten zu vereinigen. Obwohl Hitler den entsprechenden Erlaß schon unterzeichnet hatte, versandete die Angelegenheit allerdings, da Hitler es im letzten Moment doch bei der alten Regelung belassen Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 301 68 Vgl. Peter, Roland, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer Grenzregion im Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Militärgeschichte 44), München 1995, S. 16. 69 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 137. 70 Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 71 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 136. 72 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 127. In der Spruchkammerakte ist diese Ablehnung nicht vermerkt. 73 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 61. Bezeichnenderweise geht Köhler an keiner Stelle auf Wagners Versuche ein, ihn als Ministerpräsident abzusetzen. <?page no="303"?> wollte. 74 Auch drei weitere Versuche Wagners 1941 und 1942 scheiterten letztlich, obwohl Hitler 1942 einer Ablösung Köhlers bereits zugestimmt hatte. Da Wagner aber eine generelle Unterstellung der Länderregierungen unter den Reichsstatthalter nicht nur in Baden anstrebte, blieb es bei der bisherigen Lösung. 75 Wagners Versuche, Köhler zu entmachten, entsprechen durchaus der »soldatischen Natur« und dem absoluten Führungsanspruch Wagners. Köhlers weitgehender Verzicht auf eine Parteiangehörigkeit auch führender Beamter in seinen Ministerien dürften dem Fanatiker Wagner ebenso suspekt gewesen sein wie seine »weitgehend ideologiefreie Wirtschaftspolitik«. 76 Der (süd-)badische Justizminister Hermann Fecht bestätigte im Juni 1948, daß Köhler sich wegen seiner Haltung, seine Beamten nicht nach Parteizugehörigkeit auszusuchen und zu beurteilen, die Mißbilligung des Reichsstatthalters zugezogen habe. 77 In seiner Kritik an Parteimaßnahmen sei Köhler sehr offen gewesen, obwohl ihm bekannt war, daß Fecht nicht mit der NSDAP sympathisierte. »Ich habe auch nach dem Zusammenbruch Gelegenheit gehabt, mit zahlreichen Beamten und Angestellten des früheren Finanzministeriums zu sprechen. Ich habe nicht einen darunter gefunden, der nicht die guten Charaktereigenschaften Köhlers anerkannt hätte.« 78 Ein wichtiger Faktor für dieses Verhalten Köhlers war wohl, daß ein Großteil der führenden Beamten dem Zentrum nahestand, mit dessen Parteiführer, dem Prälat Föhr, Köhler am 7. März 1933 über die Möglichkeit einer Koalition sprach und den er durchaus schätzte. 79 Außerdem war Köhler als Minister ohne besondere Vorkenntnisse in seinem Ressort ja auf die Mitarbeit seiner Fachbeamten angewiesen, wie er selbst auch zugestand. 80 SPD- Mitglieder wären aber sicher auch im Finanzministerium aus ihren Ämtern entlassen worden. Diese vermeintlich liberale Haltung hinderte Köhler dann auch nicht, im Juni 1934 die badische Beamtenschaft aufzurufen, sich aktiv in der NSDAP und ihren Gliederungen zu betätigen. 81 Gelegentlich setzte sich Köhler auch gegen Anordnungen der Partei durch: So Ernst Otto Bräunche 302 74 Vgl. Hüttenberger, Peter, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 19), Stuttgart 1969, S. 90 und Peter (wie Anm. 68), S. 13. 75 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 14. Peter bezieht sich auf BA, R 43 II/ 1310. 76 Peter (wie Anm. 68), S. 17. 77 Dies bestätigte auch der spätere Präsident der Landesforstverwaltung Hubert Zircher, der der DDP angehört hatte und während des »Dritten Reiches« in der Köhler unterstellten Landesforstverwaltung tätig war, vgl. GLA 465a 51/ 68/ 902. 78 GLA 465a 51/ 68/ 902. 79 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 95, 121 und 133. 80 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 158. 81 Vgl. Roser, Hubert; Spear, Peter, »Der Beamte gehört dem Staat und der Partei.« Die Gauämter für Beamte und für Kommunalpolitik in Baden und Württemberg im polykratischen Herrschaftsgefüge des NS-Regimes, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 71 - 102, hier S. 97. <?page no="304"?> erreichte er, daß Beamte nicht gegen den Willen der Behörde für Schulungen der Partei freigestellt werden durften. 82 Unterschwellig bestanden somit sicher immer Konfliktpunkte zwischen Gauleiter und Ministerpräsident, die allerdings nie offen zum Bruch zwischen beiden führten. 83 So wie Köhler die Vormachtstellung des Gauleiters und Reichsstatthalters akzeptierte, akzeptierte dieser die Fachkompetenz Köhlers in Wirtschafts- und Finanzfragen und überließ ihm den gesamten wirtschaftlichen Bereich. Köhler führte diese relativ unproblematische Zusammenarbeit auf das vertrauensvolle und kameradschaftliche Verhältnis zurück, das zwischen ihm und Wagner geherrscht habe. 84 Dies muß tatsächlich auch bestanden haben, da Köhler sonst sicher nicht alle »ökonomischen Spitzenpositionen in Baden« hätte einnehmen können, womit er »über eine Machtfülle« verfügte, »die unter den Mitarbeitern der Gauleiter ihresgleichen suchte und selbst von Rüstungsminister Albert Speer anerkannt wurde.« 85 Seit 1936 war Köhler Leiter der Wirtschaftskammer Baden, seit 1943 Präsident der Gauwirtschaftskammer Oberrhein. 1939 bis 1945 leitete er das Rüstungskommando Baden, 1942 erhielt er den Status eines Wehrwirtschaftsführers. Folgerichtig übernahm Köhler auch in den Jahren 1940 bis 1944 die Leitung der Finanz- und Wirtschaftsabteilung beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß. Hier zeigte Köhler sich durchaus machtbewußt, als er sich energisch gegen eine Verselbständigung des Reichsnährstands wandte, der ihm in Baden unterstellt war. 86 Insgesamt verhielt er sich im Elsaß aber ganz offensichtlich so, daß er 1945 bei seiner Verhaftung durch französische Truppen keine Sorge haben mußte, als Kriegsverbrecher behandelt zu werden. Bereits am 25. Juni 1940 bemühte sich Köhler in Berlin um einen günstigen Umrechnungskurs für die anstehende Währungsumrechnung im Elsaß. 87 Er ließ allerdings auch keinen Zweifel, daß er beabsichtigte, »das elsässische Wirtschaftspotential raschestens in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft zu stellen, um auf diesem Weg zum deutschen Endsieg beizutragen.« 88 Der Gedanke, Widerstand zu leisten, war ihm fremd. Als er 1941 während eines Aufenthalts in Paris von Graf Schulenburg angesprochen wurde, ob er daran mitwirken wolle, auf Hitler Druck auszuüben, um einen Vergleich mit den Westmächten zu ermöglichen, lehnte er dies ab mit der Begründung, daß er mit Hitler und seiner Sache zu sehr verbunden sei und »es mit seinem Ehrbegriff nicht vereinbaren könne, das sinkende Schiff zu verlassen.« 89 Dabei blieb es bis wenige Tage vor Kriegsende. Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 303 82 Vgl. Roser/ Spear (wie Anm. 81), S. 100 sowie GLA 233/ 26306 und 26282. 83 Grill (wie Anm. 25), S. 248, sieht diesen Konflikt ebenfalls, wertet ihn allerdings zu stark. 84 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 138. 85 Peter (wie Anm. 68), S. 366. 86 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), »Im Elsaß 1940 - 1945«, S. 9. 87 Vgl. Kettenacker, Lothar, Nationalsozialistische Volkstumpolitik im Elsaß (Studien zur Zeitgeschichte 5) , Stuttgart 1973, S. 54 und Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Im Elsaß 1940 bis 1945«, S. 6 f. 88 Zit. nach Kettenacker (wie Anm. 87), S. 329. <?page no="305"?> Bei der Räumung des Elsaß wurde die elsässische Wirtschaft auf Anweisung Köhlers weitgehend verschont und nur »Engpassmaschinen, die seinerzeit ins Elsass gekommen waren, von dort wieder abtransportiert.« 90 Elsässische Wirtschaftsvertreter bestätigten Köhler, daß er sich in seinen Positionen stets korrekt verhalten habe. Köhler sprach sich gegen die Politik der verbrannten Erde aus und verhinderte im wirtschaftlichen Bereich Zerstörungen. 91 Wegen seiner Weigerung, Karlsruhe vor der Besetzung durch französische Truppen zu verlassen, enthob Gauleiter Wagner Köhler aller seiner Funktionen und schloß ihn aus der Partei aus. Ein von Wagner angestrebtes Standgerichtsverfahren wegen Hoch- und Landesverrats kam wegen der näherrückenden Front nicht mehr zustande. 92 Auch in diesem Fall unterschied Köhler sich also deutlich von dem Fanatiker Wagner, der den Nero-Befehl Hitlers ausnahmslos durchgeführt sehen wollte. 93 Köhler selbst betonte später, daß für Wagner mit der Niederlage die Welt untergegangen sei, während es für ihn selbstverständlich gewesen sei, daß das Leben weitergehe. 94 Auch in badischen Wirtschaftskreisen hatte Köhler sich bald Anerkennung verschafft. Mehrere führende Wirtschaftsvertreter, darunter der Vorstandsvorsitzende der Schnellpressenfabrik AG Heidelberg und der Vorstandsvorsitzende der Brown, Boveri & Cie AG Mannheim bestätigten Köhler nach dem Ende des Krieges seine Kompetenz und seine unparteiische Haltung. Auch in diesem Bereich legte Köhler nicht in erster Linie auf die Parteizugehörigkeit Wert. In der konstituierenden Sitzung der badischen Industrie- und Handelskammer im Juli 1933 hatte er betont, daß es ihm nicht auf das Parteibuch ankomme: »Uns ist jeder willkommen, der etwas leistet und seinen Mann steht.« 95 Ganz auf dieser Linie lag es auch, daß Köhler 1935/ 36 den Einfluß der Partei auf die Wirtschaft zurückzudrängen versuchte. Der der NSDAP nahestehende IHK-Präsident Kentrup mußte zurücktreten und wurde durch einen Köhler genehmen Industriellen ersetzt. Als überzeugter Badener hatte Köhler stets die badischen Interessen im Auge, wobei er sich hier offensichtlich mit Wagner traf. 96 Am 21. Juni 1933 berichtete Robert Wagner in der Kabinettssitzung über seinen und Köhlers Besuch in Berlin, der durchaus erfreulich verlaufen sei, da man die Notlage Badens anerkannt habe. Die Notwendigkeit des Autobahnbaus werde unterstützt, die Einrichtung einer Ernst Otto Bräunche 304 89 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Im Elsaß 1940 - 1945«, S. 26. 90 Aussage Ernst Streicher, Diplom-Landwirt, GLA 465a 51/ 68/ 902. 91 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 194, der sich auf das Spruchkammerverfahren bezieht und die Aussagen Köhlers zurecht für glaubhaft und durch Zeugenaussagen bestätigt sieht. Köhler betonte auch immer wieder, daß er politisch im Elsaß kaum Einfluß hatte: »Mein Rat wurde nicht verlangt, und an den Entscheidungen war ich nicht beteiligt.« Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Im Elsaß 1940 - 1945«, S. 14. 92 Aussage Friedhelm Kemper und Karl Pflaumer, GLA 465a 51/ 68/ 902. 93 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 193 f. 94 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 2. 95 Zit. nach Peter (wie Anm. 68), S. 49 f., vgl. dort auch zum Folgenden. 96 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 366. <?page no="306"?> Spielbank in Baden-Baden bestätigt. 97 Zur Überraschung Köhlers, der sich durch Baden-Badener Persönlichkeiten zu einem Eintreten für die Spielbank hatte überreden lassen, hatte Hitler zugestimmt, allerdings mit der Auflage, daß dies die einzige in Deutschland bleiben solle. Als Ende 1933 die »badischen Rechte«, d.h. die Eigenständigkeit Badens durch die Reichsreform bedroht schienen, schlug Köhler am 17. November eine Denkschrift zur Wahrung badischer Rechte vor. 98 Wenige Wochen später berichtete Köhler über die Presse, daß das Reichinnenministerium die Zusicherung gegeben habe, die »badischen Rechte«, soweit möglich, zu wahren, so daß man »auf jeden Fall mit Zuversicht und Vertrauen dem Fortgang des Vollzugs der Reichsreform entgegensehen« könne. 99 Am 6. Januar 1934 stellte Köhler im Kabinett »die Frage der Vertretung badischer Wirtschaftsinteressen in Berlin« zur Erörterung. Es bestand Übereinstimmung mit seinem Vorschlag, daß eine Weisung des Reichskanzlers an die Reichsressorts erwirkt werden solle, daß Baden »wegen seiner besonderen Grenzlage ein allgemeines Entgegenkommen verdient und bei seinen wirtschaftlichen Wünschen bevorzugt zu behandeln sei.« 100 Wenig später, am 24. April 1934, berichtete Köhler im Kabinett über seine Bemühungen, Baden stärker an den Heereslieferungen zu beteiligen. Ein Bericht im »Führer« vom 25. April 1934 hob unter der Schlagzeile »Die Arbeitsbeschaffung in Baden« hervor, daß »Baden [...] aufgrund seiner besonderen Notlage auch eine spezielle Behandlung des Reichs erfahren« müsse. Gegenüber dem Nachbarland Württemberg sah Köhler Baden im Nachteil und mahnte gleich 1933 gemeinsam mit Wagner eine stärkere Förderung der badischen Wirtschaft an. Erfolgreich setzte sich Köhler 1935 gegen einen wirtschaftlichen Zusammenschluß mit Württemberg zur Wehr und erreichte die Beibehaltung einer eigenen badischen Wirtschaftskammer. Als nach Kriegsbeginn 1939 zahlreiche kriegswichtige Firmen nach Württemberg verlagert werden sollten, verhinderte Köhler dies in vielen Fällen, wie er in einem Pressebericht betonte. 101 Dem Abzug von Facharbeitern widersetzte Köhler sich ebenfalls, z.T. auch öffentlich. 102 Die Einschätzung, daß »sich gerade die badische Regierung mit Köhler an der Spitze seit ihrem Antritt zum Sachwalter der regionalen Interessen entwickelt und sie nach außen hin vertreten« 103 hatte, trifft also durchaus zu. Ebenso trifft aber zu, daß Köhler als Vorsitzender der oberrheinischen Rüstungskommission »das Seine zum Gelingen der badischen Kriegsproduktion« 104 beitrug. Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 305 97 Vgl. GLA 233/ 24318 und Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 187 f., vgl. dort auch zum Folgenden. 98 Vgl. Grill (wie Anm. 25), S. 259 und GLA 233/ 24318. 99 »Der Führer«, 2. Februar 1934, zit. nach Rehberger (wie Anm. 49), S. 158. 100 Vgl. GLA 233/ 24318. 101 Vgl. Peter (wie Anm. 68), der sich auf Berichte im Alemannen vom 31. Dezember 1939 und 1. Januar 1940 beruft. 102 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 210 f. 103 Peter (wie Anm. 68), S. 218. <?page no="307"?> Auch in seiner Funktion als Leiter der Rohstoffabteilung innerhalb des Vierjahresplans erwies Köhler sich nicht unbedingt als Funktionär, der bedingungslos auf der von oben angeordneten Linie lag. In diese Position war Köhler aufgrund seiner unangefochtenen führenden Position in der badischen Wirtschaft gekommen. Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht bestätigte, daß Köhler sich gegen überhöhte Anforderungen von Eisen durch die Wehrmacht gewandt habe und von seinem Posten zurückgetreten sei, nachdem ihm auf Veranlassung Görings, der sich damit dem Druck der Wehrmacht gebeugt habe, die Eisenbewirtschaftung entzogen worden war. 105 Köhlers Stellung zu den Maßnahmen gegen politische Gegner und zur Judenverfolgung und -vernichtung im »Dritten Reich« bleibt unscharf. In der Weimarer Republik ließ er gelegentlich anklingen, daß er den Antisemitismus seiner Partei durchaus teilte, so im Mai 1932 im Landtag, als er ausführte, daß das Zentrum in Preußen vom Judentum gewählt worden sei: »Das Judentum sieht nämlich in ihnen noch die einzig zuverlässige Schutztruppe.« 106 In seinen Lebenserinnerungen betont Köhler zwar, daß er den Antisemitismus nie als alleiniges politisches Programm betrachtet habe, läßt aber auch durchblicken, daß er den seiner Meinung nach zu großen Einfluß des jüdischen Bevölkerungsteils zurückgedrängt sehen wollte. 107 Ebenso eindeutig bestätigt er, daß er eine Lösung der »Judenfrage« für erforderlich hielt, wobei er allerdings zur Madagaskar-Lösung tendierte. 108 Die Schaufahrt mit sieben führenden Sozialdemokraten durch die Straßen von Karlsruhe und den umliegenden Dörfern auf dem Weg in das KZ Kislau bezeichnete er als »politische Eselei«. 109 Als er im Kabinett über die Umorganisation der Wirtschaft und die Umstellung von Vorstand und Aufsichtsrat der Firma Haid & Neu berichtete, hob er hervor, daß das Kapital weiter in jüdischer Hand sei, da dies »einfach nicht ausschaltbar« sei. 110 Demgegenüber soll Köhler 1944 zunächst verhindert haben, daß »Juden, Halbjuden und jüdisch Verheiratete zu besonderem Einsatz eingezogen wurden.« 111 Der Weinheimer Schulleiter Matthes Siehl bestätigte, daß Köhler sich für ihn verwendet und seine Wiedereinstellung erreicht habe, als er 1939 wegen seiner Ehe mit einer Jüdin von der Firma Robert Gerling auf Druck von NSDAP-Parteistellen entlassen worden war. 112 Den Inhabern der Firma Gütermann & Co in Gutach half Ernst Otto Bräunche 306 104 Peter (wie Anm. 68), S. 366 f. 105 Vgl. GLA 465a 51/ 68/ 902 und Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Beim Vierjahresplan«, S. 4. 106 »Der Führer«, 7. Mai 1932. 107 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 45 f. 108 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 177 ff. und Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 109 Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 110 GLA 233/ 24318 111 Aussage Ernst Streicher, Diplom-Landwirt, GLA 465a 51/ 68/ 902. 112 Vgl. GLA 465a 51/ 68/ 902. <?page no="308"?> Köhler wiederholt, indem er die Schließung des Betriebes als sogenannter »Mischlingsbetrieb« und 1944 die Einziehung der Inhaber in eine für »Mischlinge« zusammengestellte Sondereinheit der Organisation Todt verhinderte. 113 In seinem Berufungsverfahren gab Köhler auch an, daß er die Ereignisse in der »Reichskristallnacht« mißbilligt habe und sie mit seinem Empfinden nicht habe vereinbaren können. Eine direkte Beteiligung an den Verfolgungsmaßnahmen konnte Köhler in der Tat nicht nachgewiesen werden. Daß er tatsächlich das Ausmaß des Terrors in Deutschland trotz seiner Position nicht gekannt habe, muß aber durchaus bezweifelt werden. 114 Unzweifelhaft bleibt aber, daß Walter Köhler im »Dritten Reich« trotz mancher Widerspenstigkeiten in seinen Aufgabenbereichen funktionierte und somit letztlich dazu beitrug, daß die Verfolgunsgmaßnahmen möglich wurden. Gerade populäre und umgängliche Funktionäre wie Köhler, die nicht dem Schreckensbild des brutalen und fanatischen Nazis entsprachen, trugen ihren maßgeblichen Teil dazu bei, die Macht der Nationalsozialisten zu stützen und zu festigen. Der »Meister der Tarnung« 115 Mit diesem Tatbestand hatte sich auch die Spruchkammer im Jahr 1948 auseinanderzusetzen. Walter Köhler war nach der Besetzung Karlsruhes durch französische Truppen verhaftet und zunächst ins Karlsruher Gefängnis in der Riefstahlstraße gekommen. Nach etwa zwei Wochen wurde er in das Internierungslager Knielingen verlegt, von wo aus er nach Seckenheim, dann auf den Hohenasperg und schließlich nach Ludwigsburg kam. Im ersten Spruchkammerverfahren führten die zahlreichen entlastenden Aussagen zugunsten Köhlers zu einer Einstufung als Minderbelasteter. Köhler sah zurückblickend die schwierige Situation der Kammer, »einen Mann zu be- und verurteilen, der einerseits als engagierter Nationalsozialist dieser Bewegung vor 1933 in führender Stellung den Weg mitgeebnet zu haben, der von 1933 - 45 die Spitzenstellung in der Badischen Regierung einnahm und nach Angaben von Prominenten aus Staat und Wirtschaft als der gute Mensch von Weinheim hochgejubelt wurde.« 116 Der Aussage des einzigen Belastungszeugen August Furrer maß man dagegen weniger Bedeutung bei. Furrer, der in der Weimarer Republik in seiner Funktion als Polizeibeamter energisch gegen die NSDAP vorgegangen war und so zu einem der Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 307 113 Vgl. GLA 465a 51/ 68/ 902. 114 In seinen Lebenserinnerungen (wie Anm. 8) geht Köhler auf diese Frage bezeichnenderweise nicht ein. 115 Ferdinand, Horst, Manuskript für die Baden-Württembergischen Biographien Bd. 2. Für die Überlassung des Manuskriptes danke ich Herrn Ferdinand. Staatspräsident Schmitt hatte Köhler am 8. April 1932 im Landtag zugerufen: »Herr Abgeordneter Köhler, im Tarnen von Absichten sind Sie unerreicht.« 116 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 29. <?page no="309"?> von den Nationalsozialisten bestgehaßten Männer geworden war, hatte ausgesagt, daß er am 10. März 1933 verhaftet und von SA-Leuten schwer mißhandelt worden sei. Im Innenministerium habe Walter Köhler zwar eingegriffen, den SA-Leuten aber ironisch gesagt: »Daß mir ja Furrer nichts passiert.« Furrer ging auch davon aus, daß Köhler die Fortsetzung der Mißhandlungen nicht verborgen geblieben war, da er sich in einem Nebenzimmer aufgehalten habe. Dem schenkte die Kammer keinen Glauben, sondern sah als erwiesen an, daß Köhler sich in diesem Fall einwandfrei verhalten und die Fortsetzung der Mißhandlungen verboten habe. Somit kam man zu dem Schluß, daß im Falle Köhlers eine »Vielzahl besonderer Umstände (Art. 39) vorliege, wegen derer er einer milderen Beurteilung würdig erscheint.« 117 Walter Köhler hatte also seinen eingangs zitierten Vorsatz umsetzen können. Horst Ferdinand bezeichnet Köhler deshalb auch unter Berufung auf eine Charakterisierung Köhlers durch den letzten badischen Staatspräsidenten Schmitt nicht zu Unrecht als einen »Meister der Tarnung«. Nach der Berufung des öffentlichen Klägers kam es aber 1950 zu einem erneuten Verfahren, in dem Köhler diesmal zwar wiederum nicht als Hauptbelasteter, wie von der Anklage gefordert, aber als Belasteter eingestuft wurde. »Der Betroffene übersieht, daß er auch ohne sich selbst an Gewalttätigkeiten zu beteiligen, durch Übernahme einer führenden Funktion die nat.soz. Gewaltherrschaft gefördert hat. Ohne das Gerippe der politischen, dem sogenannten Führer ergebenen Funktionäre wäre die Errichtung der nat.soz. Diktatur nicht möglich gewesen« 118 , betonte die Kammer in ihrer Urteilsbegründung. Köhler kam mit einer Geldstrafe und einer dreijährigen Haft davon, die er allerdings schon mit seiner Internierungshaft abgebüßt hatte. Der Kaufmann und Zeitzeuge Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Köhler bereits wieder. Nach seiner Entlassung aus der Internierungshaft war er zunächst für kurze Zeit als Vertreter für Tuche der Firma Marx tätig. Als sich deren Geschäftsaufgabe abzeichnete, übernahm er auf eine Empfehlung eines früheren HJ-Führers mit diesem eine Versicherungsagentur in Karlsruhe. 119 Seine Gabe, »aus jeder Situation das Beste zu machen« 120 , kam ihm hier sicher zugute. Seine unbestrittene Eloquenz und sein Talent, Menschen zu überreden, halfen ihm beim Aufbau dieses Geschäfts sicher ebenso wie seine nach wie vor vorhandenen Kontakte. Hinzu trat die erforderliche Portion Geschäftstüchtigkeit, so daß es kein Zufall war, daß gerade Köhler es nach dem Krieg zu Wohlstand brachte. Ernst Otto Bräunche 308 117 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 29. 118 GLA 465a 51/ 68/ 902. 119 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 39 f. 120 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 3. <?page no="310"?> Belegt sind seine Äußerungen »In zehn Jahren bin ich wieder oben.« und »[...] ‘s is ganz gut, daß es so komme is, sonscht wär’ ich nie so reich worde.« 121 Bis 1987 war Köhler in seinem Geschäft in Karlsruhe tätig, in den letzten Jahren allerdings nur noch zeitweise. Dort stand er auch seit den 60er Jahren immer wieder als Zeitzeuge zur Verfügung und schilderte bereitwillig seine Sicht der Dinge. So konnte er kontinuierlich an dem Bild seiner Person arbeiten, das er seit seinen Entnazifizierungsverfahren aufgebaut hatte. Distanz zu den Verbrechen im »Dritten Reich« deutete er zwar an, betonte aber stets, daß er persönlich noch einmal so handeln würde, wie er es getan habe. 122 Bis zuletzt hing er also dem Irrglauben an, trotz seiner nationalsozialistischen Grundüberzeugung und einer hohen Führungsposition im »Dritten Reich« nicht für die Verbrechen der Nationalsozialisten mitverantwortlich gewesen zu sein. Die Biographie Köhlers widerlegt diese Selbsteinschätzung eindeutig: Köhler gehörte zu den entscheidenden Wegbereitern der NSDAP in Baden und damit zu den aktiven »Totengräbern der Weimarer Republik« und der Demokratie in Baden. Im »Dritten Reich« »funktionierte« Köhler in seinem Aufgabenbereich letztlich problemlos und trug so maßgeblich dazu bei, die NS-Herrschaft zu stützen und zu festigen. Auch als die Bundesrepublik sich lange etabliert und gefestigt hatte, war er noch davon überzeugt, daß die Demokratie keine Zukunft habe. 123 Am 9. Januar 1989 verstarb Walter Köhler im Alter von 91 Jahren in seiner Heimatstadt Weinheim. Bibliographie Quellen Die wesentlichen Quellen werden im Generallandesarchiv Karlsruhe aufbewahrt, wobei vor allem die Spruchkammerakte (GLA 465a 51/ 68/ 902) und die Personalakte (GLA 466 Zug. 1979/ 2, Nr. 4141) zu nennen sind. Letztere enthält allerdings im wesentlichen nur Duplikate aus der Spruchkammerakte. Wichtige Informationen über Köhlers Aktivitäten liefern die Berichte des Badischen Landespolizeiamtes im Generallandesarchiv und im Staatsarchiv Freiburg (GLA 309/ Zug. 1994 - 53, 6160 und STAFR, Bestand A 961, Nr. 1671), die Akten des Badischen Innenministeriums (GLA 233), die gedruckten Landtagsprotokolle und vor allem auch die Zeitungen. Die im Document Center Berlin verwahrten Personalunterlagen Walter Köhlers bieten ergänzende Informationen. Die von Walter Köhler verfaßten und im Familienbesitz befindlichen Lebenserinnerungen wurden von der Familie Köhler erstmals für eine Publikation zur Verfügung gestellt, wofür auch an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt sei. Walter Köhler schrieb sie seit Mitte Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 309 121 Zit. nach: Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 3. 122 So gegenüber dem Verfasser am 25. Mai 1976 und gegenüber Johnpeter Grill. 123 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 59. <?page no="311"?> 1976 auf für seine Familie, aber auch »für diejenigen, die sich mit dem Phänomen Hitler als Historiker oder politischer Schriftsteller herumzuschlagen haben.«. 124 Köhler arbeitete über mehrere Jahre, mindestens aber bis 1981 an diesen Lebenserinnerungen, die in ein großes mit »Erinnerungen« überschriebenes Hauptkapitel (208 Maschinenseiten) und mehrere kleinere Kapitel, »Im Elsaß 1940 - 1945« (38 Seiten), Weinheim nach 1918 (80 S.), »Beim Vierjahresplan« (11 S.), »Der Untergang des Abendlandes« (48 S.) und »National-Sozialismus«? (24 S.) unterteilt sind. Köhler war stets daran interessiert, Arbeiten über die NSDAP und das Land Baden in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich« zugänglich gemacht zu bekommen, da er sie offensichtlich als Datengerüst benutzte, sich aber auch z.B. mit Lothar Kettenacker oder Horst Rehberger in seinen Lebenserinnerungen auseinandersetzte. Außerdem recherchierte er wohl auch in Zeitungen, vgl. z.B. Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Weinheim nach 1918«, S. 32. Die Lebenserinnerungen bestätigen im wesentlichen die Aussagen, die Köh ler als Zeit zeug e b ei vers ch iede nen Ge lege nhe ite n ge mac ht hat . S ie sind also ein weit ere r Versuch, seine Sichtweise der Dinge zu verbreiten. Auch seine weltanschaulichen Äußerungen untermauern im wesentlichen das bisherige Bild. Zusätzliche Detailinformationen bieten sie vor allem die Passagen über seine Jugend, die Familie und die Kriegserlebnisse. Literatur Biographische Beiträge über Walter Köhler fehlen bislang. Hinzuweisen ist aber darauf, daß in den nächsten Baden-Württembergischen Biographien der Beitrag von Horst Ferdinand »Köhler, Walter Friedrich Julius, NS-Politiker, Kaufmann« erscheint, der dem Verfasser freundlicherweise überlassen wurde, wofür auch an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Ingeborg Wiemann-Stöhr hat sich in ihrer Magisterarbeit »Die Stadt Weinheim 1925 - 1933. Untersuchungen zu ihrem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Profil« (Weinheimer Geschichtsblatt 37/ 1991), Weinheim 1991 auch mit dem gebürtigen Weinheimer befaßt und wird dies erneut in der demnächst erscheinenden Weinheimer Stadtgeschichte tun. Zu Köhlers Rolle als Finanz- und Wirtschaftsminister ist Roland Peter, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer Grenzregion im Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Militärgeschichte 44), München 1995 heranzuziehen. Von der älteren Literatur sind zu erwähnen Ernst Otto Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125, NF 86 (1977), S. 331 - 375 und Johnpeter H. Grill, The Nazi Movement in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, die beide in den siebziger Jahren noch mit Walter Köhler Zeitzeugeninterviews geführt haben. Horst Rehberger, Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/ 33 (Heidelberger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen NF 19), Heidelberg 1966 geht auf Köhlers Rolle in der Übergangsphase von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich« ein. Ernst Otto Bräunche 310 124 Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 1. <?page no="312"?> *30. Mai 1886 Heidelberg, ev., kath., 1942 Kirchenaustritt, Vater: Dr. Johann Stephan Kraft, Realschulprofessor, Mutter: Karoline, geb. Scheufele, verheiratet seit 1920 mit Auguste, geb. Wiedel, eine Tochter. 1904 Abitur, 1904 - 1913 Studium der Germanistik und Romanistik in Marburg, Paris, München, Heidelberg, 1913 Staatsexamen, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, ab 1917 bei einer Fliegerstaffel, 1919 Freikorpsangehöriger, 1920 Gymnasiallehrer. 2. März 1923 (? ) Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 23.447), 1928 - 1933 Ortsgruppenleiter in Pforzheim, Bereichsführer der NSRL, 1929 - 1933 MdL (NSDAP), 1930 Mitglied im NSLB, 1933 - 1934 Präsident des Badischen Landtags, 1933 Ministerialrat und Kommissar zur besonderen Verwendung im Badischen Kultusministerium, 1934 MdR (NSDAP), 1940 Ministerialrat beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, Abt. Erziehung, Unterricht und Volksbildung, 1941 Mitglied der SS, Obersturmbannführer. Gest. 15. Januar 1946 Freiburg. Herbert Kraft wurde am 30. Mai 1886 in Heidelberg geboren und ist dort aufgewachsen. Der später wegen handgreiflicher Argumentationsweise als »enfant terrible« des Badischen Landtags berüchtigte 1 Mandatsträger der NSDAP entstammte nicht etwa den Unterschichten, er kam aus einer bildungsbürgerlichen Familie. Sein Vater, Dr. Johann Stephan Kraft, war Professor an der Heidelberger Oberrealschule und zumindest berufliches Vorbild. Denn auch Herbert Kraft selbst schlug die Schullaufbahn ein. »Ein gebildet sein wollender Mensch« Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags Alexander Mohr Herbert Kraft 311 1 Erstmals wurde Kraft so von dem Zentrumsabgeordneten Anton Hilbert bezeichnet. Protokolle des Badischen Landtags, 4. Sitzung, 17. Februar 1932, Sp. 190. <?page no="313"?> 1904 machte er in Heidelberg das Abitur und schrieb sich danach in Marburg für das Studium der Fächer Germanistik und Romanistik (Französisch) ein, leistete zunächst allerdings seinen Militärdienst beim Jägerbataillon 11 ab. Den ersten Semestern in Marburg folgten jeweils zweijährige Studienaufenthalte in Paris (1906 - 1908) und München (1909 - 1911) 2 , bevor er an der heimischen Universität in Heidelberg sein Staatsexamen vorbereitete, das er 1913 in Karlsruhe erfolgreich ablegte. Von Februar bis Juli des folgenden Jahres arbeitete er als Privatlehrer in England. Ob Kraft einen längeren Aufenthalt auf der Insel beabsichtigt hatte, bevor er, wohl veranlaßt durch den Kriegsbeginn, nach Baden zurückkehrte, bleibt offen. Statt des Einstiegs ins pädagogische Berufsleben brachte dem 28jährigen das Jahr 1914 die Einberufung. Aus dem angehenden Lehrer wurde der Soldat; Kraft, nebenbei auch sport- und technikbegeistert, blieb nicht auf Dauer bei der Infanterie, sondern kam 1917 zu einem besonders exklusiven Truppenteil, einer der damals völlig neuartigen Fliegerstaffeln. 3 Ob und in welcher Form sich die luftige Perspektive des Fliegeroffiziers möglicherweise auf Krafts spätere politische Positionen auswirkte, geht aus den Quellen nicht hervor. Deutlich erkennbar prägte aber das uns heute nur schwer nachvollziehbare Bewußtsein des »Frontoffiziers« in all seinen Facetten vom überspitzten Ehrgefühl bis zur »Teutonentreue« 4 Krafts späteres Auftreten. Wie die meisten Angehörigen des national gesinnten deutschen Bürgertums konnte auch er die Niederlage und den Vertrag von Versailles als deren Folge nicht akzeptieren. In der revolutionären Phase nach dem Waffenstillstand stand Kraft bereits auf der äußersten Rechten des politischen Spektrums. Er hatte sich dem sogenannten Grenzschutz Ost, einem Freikorps, als Flieger zur Verfügung gestellt und gehörte ihm von Februar bis Ende August 1919 an. Erst im Herbst des Jahres 1919 kehrte er nach Baden zurück, wo er als Lehrer in den Staatsdienst eintrat. Im folgenden Jahr heiratete er Auguste Wiedel und bekam eine Stelle an der Pforzheimer Oberrealschule, schon 1920 erhielt er die Ernennung zum Gymnasialprofessor. So scheint er tatsächlich in den ersten Jahren bei seinem Arbeitgeber »gut angeschrieben« gewesen zu sein, wie er später in einem Rückblick auf diese Zeit bemerkte. 5 Wann und wie seine Kontakte zu nationalsozialistischen Kreisen entstanden, konnte bisher nicht genau festgestellt werden. Erste Aktivitäten der NSDAP waren in Baden 1921 zu verzeichnen; bereits im Februar dieses Jahres schickte eine Mannheimer Ortsgruppe einen Versammlungsbericht an die Münchner Parteizentrale. 6 Aller- Alexander Mohr 312 2 GLA 231/ 10956, fol. 268, Personalbogen des Badischen Landtags. 3 GLA 231/ 10956, nach Krafts Aussage im Personalbogen des Landtags kam er 1918 zur Fliegerabt. 234. 4 Protokolle des Badischen Landtags, 19. Sitzung, 27. April 1932, Sp. 1048 (ganz unten). 5 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalakte Herbert Kraft, Kraft an Hitler, 11. März 1940. <?page no="314"?> dings kam die Partei zunächst nicht über bescheidene Anfänge hinaus, da sie u.a. auch in Baden im Gefolge des Rathenaumords bereits im folgenden Jahr verboten wurde und nur noch in der Illegalität unter verschiedenen Decknamen weiterexistieren konnte. 7 Es ist jedoch anzunehmen, daß Herbert Kraft ähnlich wie Robert Wagner, der spätere badische Gauleiter, als Offizier schon frühzeitig mit rechten Kreisen der Reichswehr in Kontakt stand und von dieser Seite zur braunen Bewegung stieß. In diese Richtung weist auch der Anlaß seiner ersten Begegnung mit Hitler, die im November 1923 während der Vorbereitungen zu dessen erstem Putschversuch in München stattfand. »Kurz vor dem 9. November 1923 - ich glaube es war am 6. November - ließ mir der General Reinhardt, Stuttgart, folgendes mitteilen: Wenn Bayern losschlägt, werde ich ihm ein zweites 1866 bereiten! Eine Stunde später saß ich im Schnellzug nach München und teilte Kapitän Ehrhardt mit, was ich von General Reinhardt gehört hatte. Dann ließ ich mich bei Ihnen in der Schellingstraße melden und berichtete Ihnen, mein Führer, ausführlich über den Vorgang.« Die Botschaft des Generals dürfte also nicht nur in diesem einen Satz bestanden haben. Bezeichnend ist außerdem, daß Krafts Weg in München erst zu einem ehemaligen Offizier - Korvettenkapitän Ehrhardt - führte, den er nach eigener Aussage damals als den »militärischen Führer« der Nationalsozialisten betrachtete. Krafts politische Aktivitäten reichten zum Zeitpunkt seiner Reise nach München allerdings schon über konspirative militärische Zirkel hinaus in den Bereich der paramilitärischen Kampfverbände und der politischen Agitation. Auf Anregung von Ehrhardt hatte Kraft 1922 in Pforzheim eine »Bund Wiking« genannte Vorform der Sturmabteilung gegründet, »da außerhalb Bayerns eine SA noch nicht existierte.« Schon zu diesem Zeitpunkt will er Vertrauensmann der Partei für Pforzheim und Umgebung gewesen sein und in dieser Eigenschaft fast alle Mitglieder des Wiking für die Partei gewonnen haben. So bezeichnete er sich selbst 1940 in dem bereits zitierten, an Hitler gerichteten Brief nicht ohne Stolz als »einen der ältesten Parteigenossen - wenn nicht der älteste - in Baden«. Dem Gespräch mit Hitler folgte noch ein weiteres mit Göring, dem Kraft bei dieser Gelegenheit erklärte, daß sich der Pforzheimer »Bund Wiking« ihm mit sofortiger Wirkung unterstelle. Göring soll ihm daraufhin zugesichert haben, ihm in den nächsten Tagen telegraphisch Bescheid über dessen Einsatz im Rahmen des geplanten Putsches zu geben. Nachdem er noch einen ihn sehr beeindruckenden Aufmarsch der SA in München verfolgt hatte, reiste Kraft nach Pforzheim zurück. Geradezu archetypisch für einen Nationalsozialisten mit bürgerlichem Hintergrund erscheint seine »idealistische« Motivation für das Engagement in der Partei: Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 313 6 Maser, Werner, Die Frühgeschichte der NSDAP. Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt/ Main, Bonn 1964, S. 316. 7 Vgl. hierzu: Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), S. 331 - 375, hier S. 331 ff. <?page no="315"?> »Ich selbst bin nur aus reiner Überzeugung zu der Bewegung gekommen, denn ich hatte keinen persönlichen Grund, gegen den damaligen Staat eingestellt zu sein, bei dem ich in beruflicher Hinsicht gut angeschrieben war«, schrieb Kraft später über diese entscheidende Phase seiner politischen Entwicklung in den Jahren 1922/ 23. Der Angelpunkt, von dem ab es kein Zurück mehr gab, war für Kraft der 9. November 1923. Ganz bewußt habe er sich damals zugunsten seiner politischen Überzeugung entschieden: »An jenem Tage habe ich aber meine ganze Existenz und die meiner Familie aufs Spiel gesetzt. Ich habe nur die Bewegung im Auge gehabt und an Sie, mein Führer, geglaubt. [...] Nicht einen Augenblick aber habe ich an die Folgen gedacht, die mir als Staatsdiener entstehen könnten.« 8 Jenseits aller Lobhudelei und Heroisierung des eigenen Tuns, die in diesen Worten zum Ausdruck kommt - und natürlich einen bestimmten Zweck (seine offizielle Aufnahme in die Reihe der Kämpfer des 9. November) - verfolgte, bleibt die Tatsache, daß Herbert Kraft als nach damaligen Maßstäben sozial abgesicherter Mann mit Familie diese bürgerliche Existenz zugunsten seiner extremen politischen Überzeugung aufs Spiel zu setzen bereit war, und das mit allen Konsequenzen. Obwohl laut Mitgliederkartei der NSDAP 9 sein erster Parteieintritt offiziell vom 2. März 1923 datierte, behauptete Kraft ausdrücklich, schon 1922 für die nationalsozialistische Bewegung gearbeitet zu haben. 10 Auch in verschiedenen anderen Zusammenhängen gibt Kraft das Jahr 1922 als Beginn seines politischen Einsatzes für die Partei an. 11 Der Widerspruch zum offiziellen Eintrag in der Mitgliederkartei, die seinen Beitritt am 2. März 1923, also mitten in der Zeit des Parteiverbots, unter der Mitgliedsnummer 23.447 dokumentiert 12 , mag ein Ergebnis organisatorischer Unzulänglichkeiten der damals illegalen Splitterpartei oder ungenauer Erinnerung sein, auf jeden Fall ist Kraft zum Kern der badischen NSDAP zu zählen. Nach seiner Rückkehr aus München entfaltete Herbert Kraft hektische Aktivität: »Ich ordnete höchste Alarmbereitschaft an. Lastwagen zur Fahrt nach München wurden bereitgestellt und das Gepäck und die Waffen in einem Wäldchen in der Nähe Pforzheims verstaut. Fieberhaft warteten wir auf eine Nachricht von München, die aber nicht kam. Am 9. November 1923 mittags zwölf Uhr, als ich im Begriffe war, die Möglichkeit eines Durchschlagens nach München auch ohne Befehl mit meinen Unterführern zu besprechen, wurde ich auf der Straße von zwei Kriminalbeamten verhaftet und zur Polizeidirektion gebracht, wo ich bis abends festgehalten wurde. In der Zwischenzeit war meine Wohnung von oben bis unten durchsucht worden.« Alexander Mohr 314 8 Dieses wie alle vorangegangenen Zitate aus dem Brief Krafts an Hitler (wie Anm. 5). 9 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalbogen Herbert Kraft. 10 Wie Anm. 5. 11 GLA 235/ 38160, fol. 38. 12 GLA 465c, Karteikarte aus der Mitgliederkartei des NSLB. <?page no="316"?> Krafts Dienstherr, der badische Staat, hatte zu diesem Zeitpunkt offensichtlich bereits ein wachsames Auge auf seinen rechtsradikalen Pädagogen. »In Baden war ich am 9. November 1923 der einzige Nationalsozialist, der verhaftet wurde, weil man mich als Führer der NSDAP ansah und mich im Verdacht hatte, aktiv an dem Aufstand des 9. November beteiligt zu sein.« So viel Aufmerksamkeit schmeichelte Kraft, obwohl sie ihn an seinem eigentlichen Vorhaben, beim Putsch in München mitzuwirken, hinderte. Die Aktivitäten vom November 1923 trugen Kraft und einigen seiner Helfer ein Verfahren wegen Vergehens gegen das Reichsgesetz zum Schutz der Republik ein, das jedoch aus Mangel an Beweisen eingestellt werden mußte. Weil er bei seiner Verhaftung eine Armeepistole in der Manteltasche stecken hatte, erhielt Kraft selbst allerdings einen Strafbefehl - über 200 Millionen Mark: auf dem Höhepunkt der Inflation Ende 1923 eine nicht sonderlich beeindruckende Summe. Hitlers Scheitern in München hätte er sicher nicht verhindern können. Dennoch schmerzte es ihn später, daß sein damaliger persönlicher Einsatz für die Sache im »Dritten Reich« nicht ins rechte Licht gerückt wurde. Natürlich besaß er das Goldene Parteiabzeichen der ersten 100.000 unter den Parteigenossen, doch zum weitaus exklusiveren Kreis der Kämpfer des 9. November zu gehören und den »Blutorden« der Putschteilnehmer zu besitzen, diesen Wunsch verweigerte ihm die Parteibürokratie hartnäckig. Das veranlaßte ihn schließlich 1940, zunächst Göring, den er ja bei seiner Münchner Mission ebenfalls kennengelernt hatte, und dann Hitler selbst anzuschreiben. 13 Die Zähigkeit, mit der die Verleihung solcher Titel und Ehrenzeichen während des »Dritten Reiches« - nicht nur von Kraft - verfolgt wurde, erinnert stark an Verhaltensweisen barocker Hofgesellschaften. Über Herbert Krafts politische Aktivitäten während der nächsten Jahre erfahren wir nichts Genaues. Das Scheitern des Münchner Putsches, die Verbannung in den politischen Untergrund und innere Richtungsstreitigkeiten sorgten dafür, daß die NSDAP in Baden eine bedeutungslose Splitterpartei blieb. Er selbst schwieg sich über seine Tätigkeit in dieser Zeit aus und erwähnte später lediglich, daß er »in den nächsten Jahren noch mindestens ein halbes Dutzend mal verhaftet« und seine Wohnung noch häufiger durchsucht worden sei. 14 Aus anderen Quellen ergaben sich bisher keine Hinweise auf eindeutig nationalsozialistische Aktivitäten im Pforzheimer Raum. In den Wahlen, bei denen die NS-Bewegung ab 1924 zunächst noch unter der Bezeichnung Völkisch-Sozialer Block auftrat, bleibt auch ihr Stimmenanteil in Pforzheim unauffällig. Auch von Kraft selbst gibt es keine Äußerungen über seine politischen Aktivitäten während der Verbotsjahre. Lediglich eine 1938 von ihm ausgestellte Spendenbestätigung für die Knopffabrik Soellner in Pforzheim, die »in den Kampfjahren 1924 - 1926 die nationale Bewegung durch eine regelmäßige Lei- Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 315 13 Zitate wiederum aus dem Schreiben Krafts an Hitler (wie Anm. 5). Ob Krafts Bemühungen daraufhin erfolgreicher waren, geht aus den Quellen nicht hervor. 14 Wie Anm. 5. <?page no="317"?> stung von Monatsspenden in Höhe von RM 30.unterstützt« hatte 15 , läßt annehmen, daß er auch in dieser Zeit nicht untätig war. Nach der Aufhebung des Verbots und der Neugründung der NSDAP am 27. Februar 1925 wurde Kraft erst am 1. Juni 1928 erneut Mitglied der Partei, diesmal unter Mitgliedsnummer 90.659. Wieder ergeben sich Widersprüche zu seiner privaten Chronologie, denn in dem bereits zitierten Brief an Hitler schreibt er: »Im Jahre 1927(! ) fuhren Sie auf meine Veranlassung nach Pforzheim und hielten dort die erste Versammlung ab; an diesem Tage meldete ich mich auch bei Ihnen wieder als Mitglied an, was für einen Staatsbeamten, der zudem noch so unter politischer Aufsicht stand wie ich, nicht ungefährlich war.« 16 Ob hier die erste Versammlung einer neugegründeten Ortsgruppe oder die erste in Hitlers Gegenwart gemeint ist, wird leider nicht klar. Durch Quellen belegt ist hingegen, daß Kraft ab 1928 Ortsgruppenleiter in Pforzheim war 17 und Hitler dort am 26. April 1928 (! ) sprach. 18 Nach Angaben der »Volkswacht« soll Kraft außerdem am 5. Dezember 1928 wegen seiner Auftritte als nationalsozialistischer Versammlungsredner erstmals aus dem Staatsdienst entlassen worden sein. 19 Da keine Personalakte auffindbar war, ist eine chronologisch genaue Darstellung der gegen Kraft ergriffenen Disziplinarmaßnahmen nicht möglich. Je stärker die NS-Bewegung wurde, desto heftiger sah sich der Staat zum Eingreifen und Gegensteuern aufgerufen. Die badische Regierung und ihre Minister, vor allem der Sozialdemokrat und langjährige Innenminister Adam Remmele, zeigten sich besonders bemüht, dieser Bedrohung entgegenzuwirken. Das Hauptaugenmerk galt natürlich der Funktionstüchtigkeit des Staatsapparats und somit der Beamtenschaft, die die Nationalsozialisten gezielt zu unterwandern versuchten. Als Remmele 1928 Kultusminister und somit direkter Vorgesetzter Herbert Krafts wurde, führte dessen Tätigkeit als Ortsgruppenleiter denn auch zu einschneidenderen beruflichen Konsequenzen. Remmele setzte die ganze Härte des Disziplinarrechts gegen ihn ein. Der ersten »Entlassung« vom Dezember 1928 20 , die offenbar nicht von langer Dauer war, folgten Gehaltskürzungen und 1929 im Zusammenhang mit seinen Wahlkampfaktivitäten die Strafversetzung nach Mannheim. Doch Kraft ließ sich auch von dem erzwungenen Ortswechsel nicht abschrecken und setzte seine politischen Aktivitäten dort unbeirrt fort. Er wurde sogar als Kandidat der NSDAP im 18.Wahlkreis, Mannheim Stadt, aufgestellt. Die folgende Wahl brachte den Nationalsozialisten den Alexander Mohr 316 15 GLA 235/ 38160, fol. 230. Bestätigung vom 19. Juli 1938. 16 Wie Anm. 5. 17 Wie Anm. 9. 18 »Der Führer«, 2. Jg. (1928), Nr.17, 28. April 1928, S. 1. 19 So Bräunche (wie Anm. 7). Quellenmäßig belegen lassen sich hingegen nur seine Strafversetzung nach Mannheim und die Entlassung durch Remmele 1930. Beides deckt sich mit Krafts eigener Darstellung, zweimal aus dem Staatsdienst entlassen worden zu sein. Da Krafts Personalakte bisher nicht aufgefunden werden konnte, bleibt allerdings offen, wieso er offenbar 1929 wieder beschäftigt wurde. 20 Vgl.: »Der Führer«, 15. Dezember 1928: »Stimmen aus dem Volke zum Fall Professor Kraft«. <?page no="318"?> gewünschten Erfolg. Kraft war einer der sechs Abgeordneten der NSDAP, die unter Robert Wagners Führung in den letzten frei gewählten Landtag einzogen. Die im Staatsanzeiger vom 5. Juli 1930 veröffentlichte Dienstenthebungsanordnung »gegen einige Lehrer, die sich als Organisatoren der NSDAP betätigen«, richtete sich indirekt auch gegen den NSDAP-Abgeordneten. 21 Bereits am Tage zuvor verfügte Remmele seine Suspendierung. 22 Der Gymnasialprofessor legte gegen diese Entscheidung Widerspruch ein, da die politische Betätigung Beamten von der Verfassung garantiert wurde. Remmele argumentierte demgegenüber: »Die NSDAP ist als eine staatsfeindliche Partei einzustufen. Wer für diese Partei öffentlich wirbt und Parteiämter übernimmt, verletzt sein dem Staat gegenüber eingegangenes Treueverhältnis« 23 ; und an anderer Stelle: »Mit Rücksicht auf den Sinn und Inhalt der §§ 41 und 42 der bad. Verfassung und der §§ 36 bis 39 der Reichsverfassung bin ich der Auffassung, daß eine disziplinäre Verfolgung des betr. Beamten wegen seiner Stellung als Landtagsabgeordneter und seiner Tätigkeit als solcher nicht angängig ist. Falls er sich aber außerhalb des Landtags über den Rahmen einer wahrheitsgetreuen Berichterstattung über die Landtagsverhandlungen hinaus agitatorisch im Sinne der NSDAP in einer Weise betätigen sollte, die mit dem Treueverhältnis eines Beamten [...] nicht vereinbarlich ist, besteht m.E. die Möglichkeit eines disziplinären Einschreitens.« 24 Und diese, dem Treueverhältnis widersprechende, agitatorische Tätigkeit sah der Kultusminister im vorliegenden Fall gegeben. In seinem Rekurs gegen Remmeles Verfügung ging Kraft auf das Verhältnis seiner Partei zur Weimarer Republik ein, eine Replik, die viel über sein schillerndes Selbstverständnis als Staatsdiener aussagt: »Wir sind nicht staatsfeindlich, sondern in höchstem Grade staatsbejahend. Für einen Nationalsozialisten ist der Begriff Staat heilig; allerdings muß ein solcher Staat auf nationaler Grundlage aufgebaut sein, wie es fast alle Kulturstaaten der Erde sind. Wir halten ein marxistisch gefärbtes Staatswesen für die Vorstufe zum Bolschewismus. Staatsfeindlich sind wir also nur gegen die nach unserer Ansicht staatszersetzenden marxistischen Parteien, niemals aber gegen den Staat selbst oder die Republik.« 25 Er nahm für sich in Anspruch, dem »Staat an sich«, dem »heiligen Begriff Staat« zu dienen, einem willkürlichen, von der eigenen Vorstellungskraft geformten Abstraktum, während er in der Realität das Staatswesen der Weimarer Republik bekämpfte, weil es seinen Vorstellungen nicht entsprach - und erwartete gleichzeitig von diesem Staatswesen, ihm die Ausübung seines Berufes bei voller Bezahlung zu gewährleisten und seine subversive politische Tätigkeit zu dulden. Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 317 21 Der Erlaß betraf einige Grundschullehrer; aufgrund der mit seinem Landtagsmandat verbundenen Immunität war eine Dienstenthebung Herbert Krafts problematischer. 22 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an die Direktion des Gymnasiums in Mannheim, 4. Juli 1930. 23 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an die Direktion des Gymnasiums in Mannheim, 4. Juli 1930. 24 GLA 233/ 27915, an das Staatsministerium gerichtete Stellungnahme Remmeles vom 19. Juli 1930. 25 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Brief vom 11. Juli 1930. <?page no="319"?> Entsprechend betrachtete Kraft die Suspendierung als Quasi-Bestätigung seiner politischen Aktivitäten. Seine weiteren Pläne konkretisierte er in einem Brief an die Privatkanzlei Hitlers in München: »Ich habe mir inzwischen die Angelegenheit nochmals genauer durch den Kopf gehen lassen und bin zu der Überzeugung gekommen, daß es trotz des Verbotes Remmeles meine Pflicht ist, für die Partei mich einzusetzen. Seit zehn Tagen bin ich nun wieder als Agitationsredner in Baden tätig, bemühe mich aber, sachlich zu reden und weniger zu hetzen, als zu überzeugen [...] Anbei übersende ich Ihnen das Material der Angelegenheit. Bitte legen Sie es Herrn Hitler vor und erkundigen Sie sich bitte bei Herrn Dr. Frank, ob noch irgendwelche anderen Schritte in dieser Angelegenheit zu unternehmen sind.« 26 Der spätere »Reichsrechtsführer« Frank machte ihm jedoch keine Hoffnungen, mit rechtlichen Schritten eine Rücknahme von Remmeles Anordnung erzwingen zu können. 27 Möglicherweise als Konsequenz aus dieser Entwicklung und zur Erlangung größeren Schutzes trat er am 1.Oktober dieses Jahres der NS-Standesorganisation, dem nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) bei. 28 Herbert Kraft konzentrierte sich nun ganz auf die Parteipolitik und seine parlamentarische Rolle, die dem streitbaren Pädagogen schließlich zu zweifelhafter Berühmtheit verhalf. Bei genauerer Betrachtung war er jedoch keineswegs der grobe Klotz, als den man ihn üblicherweise darstellt. Dieses Bild scheint vielmehr das Ergebnis eines zumindest in Teilen geschickt geführten und im Ergebnis erfolgreichen parlamentarischen Streites der Parteien zu sein, bei dem es darum ging, die Kraft von seiner Fraktion zugedachte Funktion zu entlarven und der Öffentlichkeit das wahre Gesicht des Nationalsozialismus vorzuführen. Eigentlich, so scheint es bei genauerem Studium der Quellen, sollte Kraft der Öffentlichkeit den kultivierten und gebildeten Nationalsozialisten vorstellen - eine für die demokratischen Parteien propagandistisch gefährliche Rolle, gegen die man sich in Baden mit einer bemerkenswerten Energie zur Wehr setzte. Es entlastet Kraft daher in keiner Weise und entbindet ihn nicht von seiner Mitverantwortung für die Zerstörung des parlamentarischen Systems in Baden, wenn im folgenden versucht werden soll, hinter und neben dem faktischen Auftreten als »NS-Randalierer« die ihm eigentlich zugedachte und wohl auch wesensgemäßere Rolle des akademisch gebildeten Parteigängers Hitlers herauszuarbeiten. Menschen, die Kraft etwa als Schüler kannten, berichten von ihm als fähigem und korrekt auftretendem Pädagogen. 29 Beim Studium der Landtagsprotokolle fällt auf, daß er es verstand, seine nicht geringen rednerischen Fähigkeiten ganz im Dienste seiner Partei zu nutzen. Beißende Ironie, Schlagfertigkeit und wortgewandte Rededuelle, die seine rhetorisch weniger versierten politi- Alexander Mohr 318 26 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an Privatkanzlei Hitler, 29. August 1930. 27 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Frank an Kraft. 28 GLA 465c, Karteikarte aus der Mitgliedskartei des NSLB. 29 Siehe z.B. Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die deutsche Katastrophe, Karlsruhe 1994, S. 29. <?page no="320"?> schen Gegner häufig der Lächerlichkeit preisgaben, kennzeichneten seine Debattenbeiträge. 30 Diese Lust am Wortgefecht war allerdings mit einer Rücksichtslosigkeit verbunden, die die Grenzen des guten Geschmacks mühelos überwand. Kraft war im Parlament daher auch kein Außenseiter, wie es das ihm heute anhaftende Image vermuten ließe. Er arbeitete 1929 in drei Ausschüssen, dem Vertrauensmänner- und dem Geschäftsordnungsauschuß sowie dem interfraktionellen Ausschuß für Leibesübungen und Jugendpflege, schließlich seit 16. Februar 1932 in dem Petitionsausschuß. 31 Die immer heftigeren politischen Kämpfe in der ausgehenden Weimarer Republik spiegelten sich zunehmend auch in den badischen Landtagsdebatten. Der Umgangston wurde allgemein rüder, alle politischen Lager beteiligten sich am Reigen gegenseitiger Schmähungen und Bezichtigungen, selbst das Landtagspräsidium wurde gelegentlich parteipolitisch instrumentalisiert, um einen unliebsamen Abgeordneten mundtot zu machen. 32 Der Einzug der Nationalsozialisten beschleunigte diesen Prozeß der Polarisierung. Besonders zwei Fälle handgreiflicher Auseinandersetzung sind dabei in die badische Parlamentsgeschichte eingegangen. In beider Mittelpunkt stand Herbert Kraft, der aufgrund dieser Vorfälle gern als Rabauke hingestellt und als Beispiel für die Verrohung der parlamentarischen Sitten in der ausgehenden Weimarer Republik zitiert wird. Diese Darstellungsweise steht jedoch in auffälligem Widerspruch zur durchweg bürgerlich konditionierten Persönlichkeit des Gymnasialprofessors. Konsequenter wäre die Vermutung, daß der Reserveoffizier überempfindlich auf Verletzungen seiner »Ehre« reagierte - das Ohrfeigen eines Beleidigers war ja die klassische Eröffnung der Duellforderung - oder noch wahrscheinlicher, daß der Pädagoge die ihm vom Schuldienst geläufigen Strafmaßnahmen - Prügelstrafen waren hier noch alltäglich - auf den Plenarsaal übertrug und die »Frechheiten« anderer Parlamentarier mit den gewohnten Ohrfeigen quittierte. Auf den aus seiner Sicht »polizeilich genehmigten Unfug« dieses »Gesindels, das sich in deutschen Parlamenten herumtreibt« 33 , reagierte er dann im Grunde nicht anders als auf die Flegelhaftigkeiten einer renitenten Schulklasse. Außerhalb des Klassenzimmers war der pädagogische Impetus sicher deplaziert und anmaßend, was aber nicht weiter auffiel, weil die Auswirkungen nur zu gut in die Strategie (und ins Bild) der NSDAP paßten, die Parlamente und damit die von ihnen verachtete Weimarer Demokratie lächerlich zu machen. Zum ersten Eklat kam es am 19. November 1930 anläßlich einer Interpellation der Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 319 30 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 10. Sitzung, 14. Januar 1930, Sp. 498, die Auseinandersetzung zwischen Kraft, Landtagspräsident Baumgartner und dem Zentrumsabgeordneten Heurich. 31 Wie Anm. 2. 32 Vgl. z.B. die Auseinandersetzung zwischen Landtagspräsident Baumgartner (Zentrum) und dem KPD-Abgeordneten Bock, die zu Bocks Ausschluß führte. Protokolle des Badischen Landtags, 8. Sitzung, 6. Dezember 1927. 33 Vgl. »Der Führer«, 10. Januar 1931. <?page no="321"?> NSDAP-Fraktion zu den Vorgängen um das Richtfest des neuen Heidelberger Universitätsgebäudes. Dort hatte die bereits mehrheitlich von rechten Gruppen und den Nationalsozialisten bestimmte Studentenschaft ein gemeinsames Richtfest mit den Bauarbeitern feiern wollen. Eine in eindeutig propagandistischer Absicht geplante Veranstaltung, die das vom Sozialdemokraten Remmele geleitete Kultusministerium nicht zuletzt auf Drängen der Gewerkschaften mit allen Mitteln zu verhindern versuchte, damit jedoch erst recht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Heidelberger Vorgänge und das Ministerium lenkte. Die erstmalige Besetzung des Kultusministeriums mit einem SPD-Mann war in Baden bis hinein in die Regierungsparteien umstritten, ein erneutes Aufflammen dieser Debatte hätte daher zu einer ernsten Koalitionskrise führen können. Wie meist in schul- oder hochschulpolitischen Debatten vertrat Herbert Kraft die NSDAP am Rednerpult und schloß mit den Worten: »Wir haben diesen Antrag ganz sachlich vorgebracht und sind gespannt, welche Antwort uns das Ministerium geben wird.« 34 Nichts deutete in diesem Augenblick darauf hin, daß nur wenig später handgreifliche Auseinandersetzungen die Szene bestimmen sollten, in deren Mittelpunkt Herbert Kraft stand. Über den Ablauf gibt es allerdings - je nach politischem Standort des Berichterstatters - die unterschiedlichsten und mit zunehmendem zeitlichem Abstand immer widersprüchlicher werdenden Darstellungen. 35 Nach den Stellungnahmen des zuständigen Ministers Adam Remmele (SPD) und des in der Affäre eine etwas unklare Rolle spielenden Ministerialrats Thoma versuchten Remmele und der Abgeordnete Rückert von der SPD-Fraktion unter Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit in einem ziemlich durchsichtigen Manöver eine Abweichung von der Geschäftsordnung zu erreichen, um eine sofortige Besprechung der NSDAP-Anfrage in der Öffentlichkeit des Plenarsaals zu verhindern, obwohl sie bereits von einer ausreichenden Zahl von Abgeordneten verlangt worden war. 36 Der kommunistische Abgeordnete Bock entrüstete sich daraufhin: »Ich halte es für außerordentlich notwendig, das Haus zu warnen, die öffentliche Interpellation, die vielleicht in diesem Falle der Regierung sogar erwünscht war [...] auf die hier vorgeschlagene Weise abzuwürgen. Mir ist aus den zehn Jahren, die ich hier bin, kein Fall bekannt, wo man es tat - und es gab Situationen, wo diejenigen, die interpelliert haben, schlechter gestanden haben. - Ich bitte dringend, es beim alten Usus zu belassen, daß, wenn mindestens sieben Mitglieder für die Besprechung sind, diese dann stattfindet.« 37 Rückert und der Abgeordnete Wolfhard vom Koalitionspartner DDP versuchten daraufhin die Taktik zu ändern. Sie erklärten nun die Interpellation Alexander Mohr 320 34 Protokolle des Badischen Landtags, 8. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 362. 35 Vgl hierzu GLA 231/ 3374, Berichte über die Tätlichkeiten in der 8. Sitzung am 19. Dezember 1930 und nach der 4. Sitzung am 17. Februar 1932, Zeitungsausschnitte aus dem SPD-Organ »Der Volksfreund«, der Zentrumszeitung »Badischer Beobachter«, dem NS-Blatt »Der Führer« und der nationalliberalen »Badischen Presse«. 36 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 8. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 387. 37 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 8. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 387. <?page no="322"?> der Nationalsozialisten aufgrund der Regierungserklärung für nahezu gegenstandslos, um doch noch zu ihrem Ziel zu gelangen. Als Kraft darauf mit dem Einwurf: »Wer garantiert, daß alles wahr ist, was von dieser Seite herkommt! « reagierte, brach der Tumult los. Im Wortlaut des Protokolls: »(Zwischenruf des Abg. Herbert Kraft - Lärm - Verstärktes Glockenzeichen des Präsidenten - Präsident Duffner: Herr Abg. Kraft, ich rufe Sie zur Ordnung! - Rufe von links: Frecher Bursche! Raus! Raus! - Andauernder Lärm - Mehrfaches starkes Glockenzeichen) [...] Präsident Duffner: Ich fordere den Herrn Abg. Kraft auf, jetzt noch einmal den Ruf zu widerholen, ich habe ihn nicht gehört (Abg. Herbert Kraft: Ich verstehe nicht - Andauernder Lärm - Mehrfaches, starkes Glockenzeichen). Ich fordere den Herrn Abg. Kraft auf, den Zwischenruf, der jetzt zu dieser stürmischen Auseinandersetzung geführt hat, noch einmal zu widerholen, damit ich imstande bin, Stellung dazu zu nehmen. Abg. Kraft: Ich habe gesagt: Wer garantiert, daß alles wahr ist, was von dieser Seite herkommt (Lärm - Zuruf: Schauderhaft! ) ? Präsident Duffner: Ich bin nicht in der Lage, den Herrn Abgeordneten hier im Saale zu dulden und muß ihn daraus verweisen; es ist nicht angängig [...] (Zurufe: Hinaus! - Tätlicher Zusammenstoß zwischen den Abg. Heurich und H. Kraft - Glocke des Präsidenten - große Unruhe - Abg. Kraft: Ich stelle fest, daß ich angegriffen worden bin, ich rufe die Tribüne zum Zeugen auf - Lärm auf der Tribüne - Präsident: Tribüne räumen! - Wiederholt verstärktes Glokkenzeichen des Präsidenten - Abg. Kraft: Herr Präsident, ich stelle fest, daß ich zuerst angegriffen worden bin - Erregte Zwischenrufe: Lügner! - der Präsident bittet wiederholt um Ruhe - Minister Dr. Remmele: Sie haben angefangen! - Abg. Kraft: Sie haben es nicht gesehen, ich habe nicht angefangen! ). Präsident Duffner: Die Sitzung ist auf zehn Minuten vertagt! « Zu Beginn der Nachmittagssitzung nahm Präsident Duffner nochmals zu den Vorgängen Stellung : »Der Vertrauensmännerausschuß ist einmütig zu der Meinung gekommen, daß wir die Angelegenheit als erledigt ansehen wollen und daß wir nicht eine weitere genaue Untersuchung einleiten wollen, weil die Auffassungen über den Vorgang selbst zu weit auseinandergehen, als daß anzunehmen wäre, daß hier etwas Ersprießliches herauskommen könnte. [...] Ich darf aber bemerken, daß der Herr Abg. Amann für seine Person zugegeben hat, daß er einen Ausdruck gegenüber dem Herrn Abg. Kraft gebraucht hat, der den Herrn Abg. Kraft verletzen mußte [...]«. 38 Der Wortlaut des amtlichen Protokolls wird deshalb so ausführlich zitiert, weil er das spektakulärste Ereignis in der Biographie Krafts dokumentiert, das zudem die heutige Vorstellung von seiner Persönlichkeit maßgeblich prägt. Außerdem müssen sich an diesem Protokoll des Stenografen die später entstandenen Schilderungen der Presse messen lassen. Denn im Unterschied zum Landtag, der eine Untersuchung wegen der Unübersichtlichkeit des Geschehens bewußt vermied, schossen in der weitgehend von den Parteizeitungen beherrschten Presselandschaft gegenseitige Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 321 38 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 9. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 394. <?page no="323"?> Unterstellungen und Schuldzuweisungen derart ins Kraut, daß der Blick auf das tatsächliche Geschehen weitgehend verstellt wurde. Auffällig ist hierbei, daß der Zentrums-Abgeordnete Amann, dessen beleidigendes Verhalten nach Darlegung von Landtagspräsident Duffner den Auftakt zu den Tätlichkeiten bildete - er erhielt deshalb nachträglich einen Ordnungsruf 39 -, in den meisten Presseberichten gar nicht erwähnt wird. Am realistischsten scheint noch die in der Badischen Presse bereits am 19. Februar im Rahmen ihrer Landtagsberichterstattung erschienene Darstellung: »Die Empörung, die sich nach diesen Worten [ Krafts Einwurf, d.V.] des ganzen Hauses bemächtigte, war verständlich, nicht verständlich und entschuldbar war aber das, was sich dann abspielte. Die Sitznachbarn der Nationalsozialisten, das Zentrum, drängte lebhaft gestikulierend auf den Abg. Kraft ein, der Zentrumsabgeordnete Kühn packte den Nationalsozialisten an der Brust, und der Schlag, zu dem der Abgeordnete Amann ausholte [! ], war das Signal zur allgemeinen Keilerei. Der Zentrumsabgeordnete Heurich erhielt von Kraft eine Ohrfeige und quittierte mit Zinsen.« 40 Die Betrachtung des Sitzungsablaufs anhand dieser frühen Quellen läßt das Geschehen an diesem denkwürdigen 19. Februar also in etwas anderem Licht erscheinen. Da bemühte sich die Regierung zunächst auffällig, einen prekären Tagesordnungspunkt möglichst schnell vom Tisch zu wischen: die Vorgänge um das Heidelberger Richtfest und das eher ungeschickte Verhalten des Kultusministeriums in dieser Sache hatten der Regierung in der Öffentlichkeit sehr geschadet und bedrohten ihre Stabilität. Die Schützenhilfe, die Rückert von Seiten des DDP-Abgeordneten Wolfhard erhielt, zeigt weiterhin, daß die Koalition insgesamt der SPD-Linie folgte, eine Fortsetzung der Debatte unter den Augen der Öffentlichkeit zu vermeiden. Diese Taktik stieß jedoch auf den Widerstand der Opposition. Krafts laut geäußerter Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Regierungserklärung Remmeles traf schließlich zielsicher den wunden Punkt. Nach übereinstimmender Wahrnehmung der Protokolle wie der Badischen Presse ging die Aggression vom dritten Koalitionspartner, dem links der NSDAP im Plenum sitzenden Zentrum aus, eröffnet durch die Beleidigungen Amanns und dann fortgesetzt im Ohrfeigenduell mit Fridolin Heurich, den Kraft pikanterweise gerade zwei Tage vorher in einem Wortwechsel schachmatt gesetzt hatte. 41 Es ist angesichts dieses Szenarios noch nicht einmal auszuschließen, daß Kraft, der am Schluß seiner Rede ja gerade die Sachlichkeit seines Verhaltens betont hatte, zu hitzigen Reaktionen provoziert werden sollte. Obwohl es durch die Quellen nicht zu belegen ist, spricht vieles dafür, hinter dem Vorgehen der beteiligten Parlamentarier aus den Reihen der Koalition eine gezielte Alexander Mohr 322 39 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 9. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 394. 40 »Badische Presse«, Nr. 530, 19. Februar 1930. 41 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 10. Sitzung, 14. Januar 1930, Sp. 498. <?page no="324"?> Provokation zu vermuten. Denn Herbert Kraft, der seinen braunen Kameraden im Grunde in nichts nachstand, wurde der Öffentlichkeit ja gezielt als seriöse Variante des Nationalsozialisten verkauft. Im »Führer«, dem Zentralorgan der badischen NSDAP, stets mit dem schmückenden Titel Professor versehen, führte er für seine Partei meist nur in bildungspolitischen und schöngeistigen Fragen das Wort 42 , vertrat publikumswirksam die Interessen von Studenten oder bildenden Künstlern, verhalf so seiner radikalen Partei zu einem ungerechtfertigt bürgerlich-reputierlichen Anstrich und erschloß ihr auf diese Weise zusätzliche Wählerschichten. Diesen Wolf im Schafspelz dazu zu bringen, die Maske der Seriosität fallen zu lassen, könnten sich die Beteiligten, die später alle mit dem nationalsozialistischen Regime in Konflikt gerieten 43 , durchaus zur Aufgabe gemacht haben. Ähnlich Dramatisches wiederholte sich am 17. Februar 1932 44 , Opfer war diesmal der Zentrumsabgeordnete Anton Hilbert, der bereits einen Tag zuvor Hitler als »österreichischen Deserteur« bezeichnet hatte. Er war daraufhin von Robert Wagner mit den schmähenden Zurufen »Schwein« und »Lump« bedacht worden, Kraft fügte dem noch die Bezeichnung »Charakterlump« an. In einer persönlichen Bemerkung am Schluß der Vormittagssitzung des 17. Februar versuchte Hilbert seinen Vorwurf vom Vortag nochmals mit Fakten zu untermauern und beleidigte dabei Kraft, bezüglich dessen Äußerung er »§ 51«, d.h. Unzurechnungsfähigkeit, angewandt wissen wollte. 45 Für diese am Rednerpult geäußerte Entgleisung erhielt Hilbert einen Ordnungsruf. Doch der Landwirt polterte weiter: »Der Herr Abg. H. Kraft gilt nicht nur bei seiner Fraktion, sondern im ganzen badischen Landtag als »enfant terrible« (Zurufe von verschiedenen Seiten, besonders aus der nationalsozialistischen Fraktion - Zwischenruf gegenüber den Nationalsozialisten: Sie sind im ganzen Land bekannt). Ich lasse mir derartige Beleidigungen von einem gebildet sein wollenden Menschen nicht gefallen.« 46 Bemerkenswerterweise nach Schluß der Sitzung, nicht während Hilberts Rede, (NS-Fraktionskollege Walter Köhler hatte nochmals kategorisch wiederholt: »Wer Hitler einen Deserteur nennt, der ist für uns ein Schwein«), trat Französischlehrer Kraft an Hilbert heran und ohrfeigte den Beleidiger seines Idols und seiner selbst nach einem kurzen Wortwechsel. Er wurde daraufhin - obwohl die Geschäftsordnung Handlungen außerhalb der regulären Sitzungen eigentlich nicht erfaßte - für 60 Tage von der Teilnahme an den Landtagssitzungen ausgeschlossen. Da die gegen Kraft persönlich gerichteten Angriffe des Abgeordneten Hilbert Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 323 42 Vgl. dazu: GLA 231/ 4857, 4865, 4868, 4870. 43 Stellvertretend sei hier auf den Artikel zu Leopold Rückert in Schumacher, Martin (Hrsg.), M.d.R., 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 1278 bzw. dessen Landtagsrede vom 3. Februar 1933 (! ) hingewiesen, in der er mit den Ankündigungen der Nationalsozialisten abrechnete: Protokolle des Badischen Landtags, 17. Sitzung, 3. Februar 1933, Sp. 894 ff. 44 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 4. Sitzung, 17. Februar 1932, Sp. 195. 45 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 4. Sitzung, 17. Februar 1932, Sp. 190 ff. 46 Protokolle des Badischen Landtags, 4. Sitzung, 17. Februar 1932, Sp. 190. <?page no="325"?> ebenso drastisch waren 47 wie Krafts eigene Beleidigungen, vermag auch die gelegentlich vorgebrachte These nicht zu überzeugen, die Anwesenheit des mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Hohenzollern August Wilhelm während der Sitzung, von der sozialdemokratischen Presse gern als »Prinz AuWi« verspottet, hätte bei ihm besondere Gefühlswallungen ausgelöst oder die NS-Fraktion zu einer »Extrabeigabe« 48 veranlaßt. Das war jedoch noch nicht das Ende der gegen ihn ergriffenen Disziplinarmaßnahmen. Nach einer Rede im großen Saal der Festhalle in Karlsruhe im Januar 1932, bei der Kraft den Landtag als »gesetzlich genehmigten Unfug« beleidigt hatte, beantragte Justizminister Dr. Schmitt zwecks Strafverfolgung die Aufhebung seiner Immunität. 49 Und wieder trat der kommunistische Abgeordnete Bock als Kritiker des Verfahrens auf: »Ich wage es natürlich nicht zu kritisieren, ich wage nur darauf hinzuweisen, daß anscheinend die Beurteilung der Ausdrücke unter anderen Personen anders ausfällt. [...] Die Immunität ist zur Farce geworden. Warum eilen Sie so? Können Sie nicht abwarten, bis in ein paar Wochen die Bude zugeschlossen wird? ! [Bock bezieht sich auf das baldige Ende der Landtagssession, d.V.] Muß denn immer eine große Geschichte hier gemacht werden, daß sie sogar überhastete Eile haben - ganz abgesehen davon, daß Sie sonst doch gewohnt sind, Beleidigungen hier per Faust zu quittieren. Daß Ihnen das Gefühl dafür abgeht, wie die Dinge draußen wirken, das ist etwas, was man Ihnen ja nicht beibringen kann! Wir lehnen diese Komödie ab! « 50 Noch am gleichen Tag wurde Kraft erneut für 60 Tage ausgeschlossen. Ein nur zwei Worte umfassender Zwischenruf während der großen programmatischen Rede, in der der Staatspräsident und in seiner Eigenschaft als Justizminister bereits erwähnte Dr. Schmitt die Hintergründe und den Umfang der Maßnahmen gegen nationalsozialistisch gesinnte Beamte erläuterte, war der Auslöser: »Staatspräsident Dr. Schmitt (fortfahrend): Ich habe dann noch aus dem »Führer« Nr. 69 folgende Aufforderung vorzulesen - das Charakterloseste, was ich je in meinem Leben gesehen habe! (Abg. H. Kraft: sind Sie! - Lebhafte Zwischenrufe - Große Unruhe). 1.Vizepräsident Reinbold (unterbrechend): Ich schließe sie aus der Verhandlung aus! Verlassen Sie den Saal, Herr Abg. Kraft! « 51 Im Gegensatz zu bisherigen Darstellungen 52 äußerte er also auch in diesem Fall keineswegs diese plumpe Beleidigung selbst, sondern nahm wieder einmal die von der Formulierung seines Opfers gebotene Gelegenheit wahr, den Spieß umzudrehen. Alexander Mohr 324 47 Vgl. hierzu auch: Zeugenaussage Herbert Krafts, 12. März 1932, GLA 243/ 1359. 48 Aus: »Naziradau im Landtag«, Volksfreund Nr. 41, 18. Februar 1932. In den zeitgenössischen Presseberichten blieb die Anwesenheit des Prinzen sonst weithin unberücksichtigt. 49 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 19. Sitzung, 27. April 1932, Sp. 1034 ff. 50 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 19. Sitzung, 27. April 1932, Sp. 1035. 51 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 19. Sitzung, 27. April 1932, Sp. 1050. 52 Sowohl Merz, Hans-Georg, Kraft, Herbert Karl Oskar, in: Badische Biographien N. F. Bd. 3, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1990, S. 157 - 159, hier S. 158 wie auch Bräunche (wie Anm. 7) stellen die Sache so dar, als habe Kraft selbst die Worte »das Charakterloseste« ausgesprochen. Das macht zwar inhaltlich keinen Unterschied, verfälscht aber den Eindruck von Krafts Debattierstil im Landtag außerordentlich. <?page no="326"?> In Anwendung des § 6 des »Gesetzes über die Aufhebung der im Kampf für die nationale Erhebung erlittenen Dienststrafen und sonstigen Maßregelungen« vom 23. Juni 1933 beschloß die NSDAP-Fraktion des gleichgeschalteten Landtags, Kraft ein Jahr später die wegen der Ausschlüsse einbehaltenen Beträge der Aufwandsentschädigung für das Jahr 1932 nachzuzahlen: insgesamt 1350.- Mark. 53 »Herr Landtagspräsident Kraft hält sich in der Sache - als selbst beteiligt - für nicht zuständig und möchte dazu nicht tätig werden«, notierte offenbar der Direktor des Landtags auf dem Schreiben und leitete die delikate Angelegenheit an den Vizepräsidenten zur Erledigung weiter. Selbst in der Stunde des Triumphs der Nationalsozialisten kultivierte der Gymnasialprofessor noch Rituale bürgerlicher Schicklichkeit. Seine Verwicklung in die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Landtag, die vor dem Hintergrund einer Zeit fast harmlos wirken, in der Straßenkämpfe und Saalschlachten zwischen den verfeindeten politischen Lagern an der Tagesordnung waren, prägt bis heute das von dem NSDAP-Abgeordneten entworfene Bild. Die Tatsache, daß Herbert Kraft dank seiner rhetorischen Begabung neben dem eher spröde wirkenden Robert Wagner mit der wichtigste Debattenredner der sechsköpfigen Landtagsfraktion und einer der gefragtesten Fest- und Wahlkampfredner im Lande war, tritt demgegenüber viel zu sehr in den Hintergrund. 54 Seine Schlagfertigkeit und die Strategie, die nationalsozialistischen Ziele mit scheinbar vernünftigen Argumenten zu bemänteln, »weniger zu hetzen als zu überzeugen« 55 , dürften jedoch wesentlich mehr zum Erfolg der Nationalsozialisten in Baden beigetragen haben als die spektakulären Ohrfeigen. Diese Gaben ganz bewußt in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt zu haben, hierin liegt ein entscheidender Teil der Verantwortung und des Versagens des Bildungsbürgers Herbert Kraft. 56 Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 brachte die Nationalsozialisten ihrem Ziel, der Zerschlagung der Weimarer Republik, ein entscheidendes Stück näher. Die Auflösung des Reichstags, die Verfolgung der KPD nach dem Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 325 53 GLA 231/ 3374, NSDAP-Landtagsfraktion an das Präsidium, 28. und 29. Juli 1933. 54 Vgl. dazu u.a. Polizeiprotokoll einer Rede Krafts bei einer Pforzheimer Parteiversammlung am 21. Januar 1930: GLA 233/ 27915. 55 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an Privatkanzlei Hitlers, 29. August 1930. 56 Nur am Rande ist ein bisher unbekanntes Tätigkeitsfeld Krafts in den frühen 30er Jahren zu nennen: er arbeitete für die Auslandsabteilung der NSDAP in Hamburg als Dezernent für die Schweiz. Erwähnt wird er in dieser Eigenschaft in einer Programmschrift des in Zürich (? ) lebenden Architekten Theodor Fischer, der im NS-Schweizerbund eine nicht unwichtige Rolle spielte. Nach Fischers Darlegungen zu urteilen, bemühte sich die Auslandsabteilung damals, ihren Führungsanspruch über den Kreis der in der Schweiz lebenden Deutschen auf die einheimischen NS-Organisationen auszudehnen, was offenbar schon zu heftigen Auseinandersetzungen mit den eigenwilligen Eidgenossen geführt hatte. Vgl. BA, Abt. III (BDC), O 311 NSDAP und NS-Schweizerbund, Theodor Fischer, »Richtunggebender Rat zur Erfassung der deutschen Kulturfaktoren in den ehemals ›oberduitschen Landen‹ der heutigen Schweiz unter Berücksichtigung der nationalsozialistischen Weltanschauung«, 21. Nebelung 1931. <?page no="327"?> Reichstagsbrand wie der von nationalsozialistischem Terror überschattete Wahlkampf für die auf den 5. März angesetzte Neuwahl waren die nächsten, bereits von ihnen maßgeblich inszenierten Schritte auf diesem Wege. Das Wahlergebnis hatte die fast schon erwarteten Folgen für Baden. Gauleiter Robert Wagner forderte eine maßgebliche Beteiligung der Nationalsozialisten an der Regierung, ein Schritt, dem die bürgerlichen Parteien aufgeschlossen gegenüberstanden. Von seiten der Zentrumspartei wurden Gespräche über die Bildung einer Koalition angeregt. Die Ernennung Robert Wagners zum Reichskommissar für Baden, der dadurch erzwungene Rücktritt der Regierung und die Gleichschaltung des Landtags machten Überlegungen dieser Art jedoch binnen weniger Tage überflüssig. Am 6. März »feierten« die Nationalsozialisten ihren Wahlerfolg in ganz Deutschland, indem sie die Hissung der Parteifahne auf öffentlichen Gebäuden erzwangen. Im Falle des Badischen Landtags war es Herbert Kraft, dem künftigen Hausherrn, vorbehalten, diese Aktion zu leiten. Der Direktor des Landtags (? ) berichtete hierüber: »Gegen zwölf Uhr teilte mir Herr Abg. Prof. Herbert Kraft mit, daß von der Gauleitung angeordnet sei, die Hakenkreuzfahne auch im Landtag zu hissen, nachdem sie bereits auf dem Schloß, Polizeipräsidium etc. wehe. Ich versuchte zuerst den Herrn Abg. H. Kraft von diesem Gedanken abzubringen, da das Landtagsgebäude das ›Haus des Volkes‹ sei, in welchem alle vom Volk gewählten Abgeordneten das Hausrecht hätten. [...] Ich sagte zu ihm, daß ich im Namen und Auftrag des Herrn Präsidenten Duffner Protest einlege. [...] Um ein Uhr teilte mir Herr Prof. Kraft mit, daß er die Hakenkreuzfahne am Thron im Sitzungssaal habe anbringen lassen.« 57 In seiner Ansprache kritisierte Kraft die Gleichbehandlung der Nationalsozialisten mit den Kommunisten durch die bisherige Regierung und forderte die Anwesenden dazu auf, dafür zu sorgen, daß die im Sitzungssaal und an der Fassade des Landtags angebrachten Fahnen nicht wieder entfernt würden. Reichlich pathetisch bat er die Zuhörer, »ihrem Treuegelöbnis Ausdruck zu geben durch ein dreifaches Sieg-Heil auf Hitler«. 58 Die Fahnen wurden im Laufe des Tages wieder eingeholt, jedoch bereits am 10. März erneut aufgezogen, was ebenfalls Kraft dem Landtagspräsidenten mitteilte. Bemerkenswerterweise wollte Kraft »von einer Anbringung der Hakenkreuzfahne hinter dem Sitz des Präsidenten im Sitzungssaal [...] mit Rücksicht auf die Person des Herrn Landtagspräsidenten absehen, wozu auch Herr Reichskommissar Wagner seine Zustimmung erteilt habe.« Wieder hißte Kraft selbst die Fahnen. 59 Am gleichen Tag trat die letzte demokratische Regierung Badens zurück. Die deshalb von Landtagspräsident Duffner für den 14. März anberaumte Landtagssitzung fand nach Rücksprache mit Reichskommissar Wagner nicht statt - »im Interesse der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«. 60 Alexander Mohr 326 57 GLA 231/ 3397, 1 ff. 58 Zit. nach einem Bericht der Karlsruher Zeitung, 7. März 1933. 59 GLA 231/ 3397, fol. 11. 60 GLA 231/ 3397, fol. 16. <?page no="328"?> Erst am 16. Mai 1933 trat der inzwischen gleichgeschaltete Landtag in seiner neuen Besetzung wieder zusammen. Während draußen sieben führende badische Politiker der Weimarer Republik auf einen Lastwagen verladen und der johlenden Karlsruher Menge auf der Kaiserstraße präsentiert wurden, bevor man sie ins Konzentrationslager Kislau brachte, wurde drinnen im Ständehaus Herbert Kraft, mittlerweile zum Ministerialrat im Kultusministerium und Kommissar zur besonderen Verfügung aufgestiegen, mit den Stimmen der Nationalsozialisten, der DNVP und des Zentrums zum Landtagspräsidenten gewählt. Nur die Sozialdemokraten stimmten gegen ihn. In seiner Antrittsrede betonte der in vollem Uniformschmuck erschienene Pädagoge, er wolle »entsprechend des Führerprinzips« in der neuen Geschäftsordnung »eine größere Straffheit im Verhältnis [...] des Präsidenten zum Landtag.« Die größere Machtfülle, die jetzt in den Händen des Präsidenten liege, wolle er dazu benutzen, »das geistige Niveau des Badischen Landtags, das in den letzten Jahren erschreckend tief war und in dauernden persönlichen Angriffen und gehässigen Heruntersetzungen und in end- und zwecklosen Reden zum Ausdruck kam, zu heben. Ich bürge dafür, daß solche unwürdigen Szenen, wie sie sich hier in diesem Rondell in den letzten Jahren abgespielt haben - hervorgerufen infolge der Vergewaltigung einer kleinen Minderheit durch eine erdrückende Mehrheit - in Zukunft sich in diesem schönen Saale nicht mehr abspielen werden.« 61 Es sollte allerdings nicht mehr viel Gelegenheit geben, sich als landtagspädagogischer Zuchtmeister aufzuführen. Das hohe Haus trat nur noch zwei Mal zusammen, am Vor- und am Nachmittag des 9. Juni 1933, bevor es sich mit dem Beschluß der badischen Variante des Ermächtigungsgesetzes selbst aus der badischen Geschichte verabschiedete. Kraft schloß diese letzte Sitzung im Ständehaus mit einer zusätzlichen »Ermächtigung« für sich selbst: »Ich setzte ihr Einverständnis voraus, wenn ich den Landtag bis auf weiteres vertage und bitte Sie, mir die Ermächtigung zu geben, den Landtag einzuberufen, wenn das nötige Material zu einer Debatte vorhanden ist, oder wenn ich es für notwendig halte. Ist jemand gegen meinen Vorschlag, so möge er sich erheben. Ich stelle fest, daß mein Vorschlag angenommen ist.« 62 Seinen Landtag brauchte der ermächtigte Präsident so wenig wie die badische Regierung. Das »Dritte Reich« gab zu Debatten keine Gelegenheit, die Auflösungsverfügung vom 14. Oktober 1933 war nurmehr ein formeller Akt. Kraft selbst hatte diese Entwicklung bereits in der Vormittagssitzung des 9. Juni innerhalb seiner Ansprache an Robert Wagner »begründet«: »Die Tatsache, daß die Mehrheit der Volksvertreter mit der Regierung eines Willens ist, enthebt die Regierung von der Verpflichtung, den badischen Landtag in dem gleichen Maße wie früher einzuberufen. Der Führergedanke [...] gibt der Regierung ferner das Recht, ihre Entschlüsse zu fassen, ohne sich vorher in allen Einzelheiten mit dem Landtag auseinanderzusetzen [...]«. 63 Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 327 61 GLA 231/ 778, Stenografisches Landtagsprotokoll vom 16. Mai 1933, S. 30. 62 GLA 231/ 778, Stenografisches Landtagsprotokoll vom 9. Juni 1933, S. 56. 63 GLA 231/ 778, Stenografisches Landtagsprotokoll vom 9. Juni 1933, S. 4. <?page no="329"?> Daß man Kraft 1933 nicht mit einem Regierungs-, sondern einem rein repräsentativen Amt - noch dazu auf Abruf - bedachte und er als leitender Ministerialrat der Abteilung Höhere Schulen nur innerhalb der Kultusbürokratie eine Schlüsselstellung innehatte 64 , fällt auf. Krafts Ambitionen waren jedoch im Unterschied zu seinem Offizierskollegen Wagner oder dem nunmehrigen Ministerpräsidenten Walter Köhler auch nicht eindeutig machtpolitischer Natur. Eine Funktion als »graue Eminenz«, die man in den Titel »Kommissar zur besonderen Verwendung beim Reichsstatthalter« hineininterpretieren könnte, ist anhand des Quellenmaterials nicht belegbar, wenn auch Krafts Angewohnheit, seine nicht-amtlichen Schreiben an den Gauleiter mit »Lieber Wagner« einzuleiten ebenso wie das vertrauliche »Du« auf ein enges persönliches Vertrauensverhältnis zwischen den langjährigen Weggenossen hinweist. Die Briefe Krafts vermitteln jedoch immer die Atmosphäre unbedingter Anerkennung der Autorität Robert Wagners. Eine gewisse persönliche Eitelkeit, die sich in einer Vorliebe für respektheischende Titel und einer auffallenden Empfindlichkeit in Rangfragen 65 äußerte, ist in Krafts Korrespondenz hingegen unverkennbar. Anders das Verhältnis zu seinem vorgesetzten Minister: hier kam es offenbar zu Eigenmächtigkeiten Krafts. 66 Ahnungsloses Opfer wurde der in die Vorgänge nicht eingeweihte spätere badische Staatspräsident Leo Wohleb, der als Oberregierungsrat in Krafts Abteilung arbeitete und einen in dessen Abwesenheit zu ihm umgeleiteten Telefonanruf Wagners entgegennahm - ohne ihn zu erkennen und entsprechend respektvoll zu behandeln oder gar die gewünschten Auskünfte zu geben. Daß die Folgen mit einer Rückversetzung als Direktor an das Baden-Badener Gymnasium für Wohleb vergleichsweise glimpflich blieben, war hauptsächlich Krafts Einfluß zu danken. Der »Fall Wohleb« führte deshalb auch zur Bildung der Legende, als habe sich Kraft als leitender Beamter schützend vor fähige, aber nicht systemkonforme Mitarbeiter gestellt. Der Ablauf des Geschehens legt jedoch - ganz abgesehen von der hier zu weit führenden Frage, in welchem Verhältnis Wohleb damals zum bestehenden politischen System stand - eher die Einschätzung nahe, daß lediglich die ihm eigentümliche Korrektheit Kraft verbat, andere für sein Handeln büßen zu lassen. 67 1934 wurde Herbert Kraft in den funktionslosen, für seine Mitglieder gleichwohl Alexander Mohr 328 64 Wie Anm. 2. 65 1934 entspann sich beispielsweise zwischen Kraft und dem Reichsschatzmeister der NSDAP ein Briefwechsel über die Frage seiner internen (! ) organisatorischen Zugehörigkeit als Parteimitglied zur Sektion »Reichsleitung«, da er die Neueingruppierung unter »Gauleitung« offensichtlich als Zurücksetzung empfand. Kraft benutzte hierbei außerdem offizielles Briefpapier des Landtagspräsidenten. (! ) Vgl. BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an Reichsschatzmeister der NSDAP, 16. Januar 1934. 66 Vgl. hierzu Dr. Otto Wacker an Reichsstatthalter Wagner, 28. Februar 1934, abgedr. in: Merz, Hans-Georg, Beamtentum im nationalsozialistischen Staat - Der »Fall« Leo Wohleb, Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins (»Schau-ins-Land«) 103 (1984), S. 131 - 148, hier S. 143. 67 Merz (wie Anm. 66), S.143. <?page no="330"?> finanziell ertragreichen Reichstag »gewählt« und blieb auch über 1938 hinaus Reichstagsmitglied. 68 Neben seiner Schulverwaltungstätigkeit im Minsterium und auf Reichsebene - Kraft gehörte als ständiges Mitglied dem Reichsbeirat für das deutsche Schulwesen im Ausland an 69 und unternahm in dieser Funktion mehrere Auslandsreisen 70 - trat der Sport in den Vordergrund seiner Arbeit. Kraft wurde zum Gaubeauftragten des Reichssportführers berufen und war Sturmführer im Fliegersturm Karlsruhe des Deutschen Luftsportverbandes. Diese Nebentätigkeiten wirkten wiederum auf seine Arbeit im Kultusministerium zurück. Kraft nahm an Einweihungen von Hallenbädern und anderen Sportstätten teil 71 , war aber auch nach der Aufhebung der entmilitarisierten 50-Kilometerzone 1935 maßgeblich an der Einführung und Organisation der (militärisch verwertbaren) Luftsportausbildung an den badischen Schulen beteiligt. 72 Als Referent der badischen Kultusverwaltung führte er die Verhandlungen über die entsprechende Lehrerausbildung durch den Luftsport-Verband. 73 1940 wurde Herbert Kraft schließlich Sportgauführer von Baden und dem Elsaß. 74 Größere Veränderungen in Krafts Leben brachte erst wieder der Zweite Weltkrieg. Am 26. August 1939 wurde er zur Luftwaffe eingezogen, allerdings bereits am 15. Januar 1940 entlassen, befördert zum Hauptmann d. Res. Nach dem erfolgreichen Feldzug gegen Frankreich nahm ihn Robert Wagner in seinem Stab mit in seine neue Residenz Straßburg. Eine Änderung seines Ranges war damit nicht verbunden, auch weiterhin blieb Herbert Kraft Ministerialrat, nun allerdings beim »Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, Abt. Erziehung, Unterricht u.Volksbildung«, wie die Zentralbehörde für das Elsaß hieß, dessen territorialer Status bis Kriegsende nicht geklärt wurde. Damit besaß er potentiell wesentlichen Einfluß auf die Schulpolitik im besetzten Gebiet, weshalb sich auch der Führer des SS-Oberabschnitts Südwest, Kaul, besonders an seiner Aufnahme in die SS interessiert zeigte. Kraft sei »für die Weiterentwicklung der Aufbauarbeiten im Elsaß für die SS von besonderer Bedeutung«. 75 Da bei der SS seit Kriegsbeginn ein offizieller Aufnahmestopp bestand, bedurfte es trotz Kauls Fürsprache eines längeren Schriftwechsels, bevor Kraft am 1. Januar 1942 - und somit relativ spät - in die SS als Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 329 68 Vgl. hierzu: GLA 235/ 38160, privater Schriftwechsel Herbert Krafts a.d. J. 1938, fol. 297. 69 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalakte Herbert Kraft, Personalbogen. Wahrscheinlich steht in diesem Zusammenhang auch die Verleihung des Komturkreuzes des bulgarischen St. Alexander- Ordens an Herbert Kraft, den in seiner Eigenschaft als Reichsbeirat mehrere Reisen u.a. auch nach Bulgarien führten. Vgl. hierzu: GLA 235/ 38160, privater Schriftwechsel Herbert Krafts a.d. J. 1938, fol. 167. 70 Im Sommer 1938 bereiste Kraft die Balkanländer GLA 235/ 38160, fol.196, Brief, 20. Mai 1938. 71 GLA 235/ 38160 fol. 196, Brief, 20. Mai 1938. 72 GLA 235/ 19694, Förderung der Luftfahrt in den Schulen. 73 GLA 235/ 19694, Förderung der Luftfahrt in den Schulen, Gruppe IX Württemberg des Deutschen Luftsport-Verbandes an Kraft, 3. Mai 1935. 74 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalbogen Herbert Kraft. 75 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalakte Herbert Kraft, Kaul an den Reichsführer SS, 1941. <?page no="331"?> Obersturmbannführer, SS-Abt. 45, Mitglieds-Nr. 422.526 aufgenommen wurde. 76 Wohl im Zusammenhang mit der Aufnahme in die SS erfolgte auch Krafts Kirchenaustritt im November 1942. Ob sich Kauls Hoffnungen erfüllten, bleibt offen. Die bruchstückhafte Überlieferung läßt keine fundierten Rückschlüsse auf Herbert Krafts Rolle bei der Durchsetzung nationalsozialistischer Prinzipien im Erziehungssektor zu. Da er von Robert Wagner außerdem zum »Beauftragten für Rückführungsangelegenheiten« ernannt worden war und in dieser Eigenschaft zeitraubende Ermittlungen zur Wiederauffindung und Rückführung von französischer Seite aus dem evakuierten Elsaß abtransportierter Inventare öffentlicher Gebäude und Archivalien zu führen hatte 77 , die mitunter wochenlange Abwesenheit von Straßburg bedingten, stellt sich unter Berücksichtigung seiner sonstigen Nebentätigkeiten für den Reichsausschuß sowie als Gausportführer und Beauftragter für Leibesübungen beim Chef der Zivilverwaltung 78 eher die Frage, wieviel von seiner Arbeitszeit Kraft tatsächlich der Arbeit in der Straßburger Behörde widmete. Die vorhandenen Quellen aus diesem Zeitraum vermitteln jedenfalls den Eindruck, als hätten die ihm größtenteils von Wagner erteilten Sonderaufgaben und -kompetenzen den Schwerpunkt von Herbert Krafts Tätigkeit in den Jahren 1940 bis 1944 gebildet. Nach Kriegsende wurde Herbert Kraft wie die anderen führenden Nationalsozialisten, deren man habhaft werden konnte, zunächst von den französischen Militärbehörden interniert. Für seine Freilassung setzte sich Ende 1945 der wegen seiner anfangs wohlwollenden Haltung gegenüber den Nationalsozialisten umstrittene Freiburger Erzbischof Conrad Gröber bei der Militärregierung ein. 79 Obwohl Gröber, wie er in dem Entwurf selbst betonte, Kraft »von Angesicht nie kennengelernt« hatte, stellte er ihm einen geradezu klassischen ›Persilschein‹ aus, in dem er Kraft als Menschen darstellte, »der sich von allen extremen Seiten der Partei freigehalten hat, sie ablehnte und selbst schwer darunter litt«. Vom selben Mann, der noch 1940 stolz zu verstehen gab, seinen fanatischen Einsatz für die Partei bereits 1923 über familiäre Rücksichten gestellt zu haben, wurde nun behauptet, er wäre »durch sein Amt nicht mehr von der Partei los[gekommen], ohne seine Familie und sich selbst zu ruinieren«. Die in bemerkenswertem Kontrast zu den von Kraft selbst stammenden Quellen stehende biographische Skizze ergänzte Gröber durch eine Stellungnahme zu dessen dienstlich bedingter Tätigkeit als Prüfungskommissar an den [konfessionellen] Privatschulen, die mehr Wahrscheinlichkeit besitzen dürfte. Allerdings wirft die Tatsache, daß Sekundärtugenden eines Ministerialvertreters wie »korrekte Hal- Alexander Mohr 330 76 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalakte Herbert Kraft, insbesondere Brief des Reichsführers SS, 28. November 1941. 77 Ausführliche Berichte zu seiner Tätigkeit in: PAAA, Deutsche Botschaft Paris, Kult. 3a. 78 Vgl. hierzu: BA R 83 Els./ Vorl. 2. 79 EAFR, Nachlaß Gröber Nb 8/ 42, von Gröber paraphierter Entwurf vom 13. Dezember 1945. Siehe auch Schwalbach (wie Anm. 29), S. 28 f. <?page no="332"?> tung«, »Unparteilichkeit«, »Gerechtigkeit« und »Anerkennung guter Leistungen« als »auffallend« bezeichnet wurden, ein deutliches Licht auf Zeitumstände und das zunehmend problematische Verhältnis zwischen nationalsozialistischem Staat und katholischer Kirche. Hans-Georg Merz führt im tabellarischen Teil seiner Biographie Herbert Krafts lediglich an, daß er in Freiburg gestorben sei. Ebenfalls Erzbischof Gröber verdanken wir genaueren Aufschluß. In einem kurzen Kondolenzschreiben an die zu dieser Zeit in Konstanz lebenden Witwe Krafts, dessen Entwurf ebenfalls erhalten ist, schrieb Gröber am 1. Februar 1946: »Eben erfahre ich, daß Ihr Gatte, Herr Ministerialrat Kraft, hier im Lager gestorben ist. Auf mein Gesuch, das ich am 13. Dezember der Militärregierung vorlegen ließ, hatte ich gehofft, daß ihr Gatte entlassen werde.« 80 Herbert Kraft starb am 15. Januar 1946 als Gefangener im Freiburger Internierungslager. Bibliographie Quellen Da sich Herbert Krafts Funktion und Bedeutung weitgehend auf den regionalen Bereich beschränkten, liegt auswertbares archivalisches Quellenmaterial vorrangig im Badischen Generallandesarchiv (GLA) in Karlsruhe. In den Beständen des Bundesarchivs (Außenstelle Zehlendorf) befinden sich hingegen nur relativ wenige, jedoch für seine Biographie sehr wichtige, zum Teil autographische Quellen. Aus dem Bereich des GLA sind vor allem die Bestände zu seinen Tätigkeitsfeldern, 231 / Badischer Landtag und 235 / Kultusministerium ergiebig. In letzterem ist u.a. ein Jahrgang (1938) der Privatkorrespondenz des Ministerialrats überliefert (235 / 38160). Weiteres zeitgenössisches Material liefern in größerem Umfang die Zeitungen der 20er und 30er Jahre. Die Jahre ab der Übersiedelung des Ministeriums nach Straßburg 1940 sind in den deutschen Archiven erwartungsgemäß schlecht dokumentiert. Bedauerlicherweise gilt dies auch für die Entnazifizierungsunterlagen. Unter der im Bestandsverzeichnis der Denazifizierungsakten im Staatsarchiv Freiburg vergebenen Nummer 226.643 findet sich lediglich ein Hinweis, der ihr Fehlen mit der Internierung Krafts begründet. Eine Anfrage in Frankreich zeitigte keine Ergebnisse. Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 331 80 EAFR, Nachlaß Gröber Nb 8/ 42, nicht abgezeichneter Entwurf vom 1. Februar 1946. Für die Zugänglichmachung dieser beiden Dokumente möchte ich mich an dieser Stelle nochmals bei Herrn Schmider bedanken. <?page no="333"?> Schriften Vom badischen Konkordat, in: Der Alemanne 2/ 25, 16. Januar 1932. Die Wertung der Höheren Schule als deutscher Kultur- und Machtfaktor durch das Ausland, in: Die badische Schule 2 (1935), S. 61 - 63. Die Richtlinien für die Leibeserziehung in Jungenschulen und ihre Anwendung in den deutschen Auslandsschulen, in: Der deutsche Erzieher, Ausgabe Gau Baden, Die badische Schule 5 (1938), S. 61 - 63. Ansprache anläßlich der 500-Jahrfeier der Höheren Schule in Schlettstadt, in: Mitteilungsblatt des NSLB, Gauverwaltung Baden H. 2 (1942), S. 9 - 10. Literatur Abgesehen von der in den Badischen Biographien (Neue Folge), Band 3 (1990) veröffentlichten Kurzbiographie von Hans Georg Merz erscheint Krafts Name fast nur in Veröffentlichungen, die auf die Ereignisse von 1930 und 1932 im Landtag eingehen. Erhellendes für seine übrige Vita ergibt sich daraus nicht. Bezeichnenderweise wird er in dem von Otto Borst herausgegebenen Sammelband »Das 3. Reich in Baden und Württemberg«, Stuttgart 1988, nicht einmal erwähnt. Alexander Mohr 332 <?page no="334"?> Wirtschaftspolitiker zwischen Selbstüberschätzung und Resignation Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister Frank Raberg *20. Juni 1895 Rosenberg (Oberschlesien), ev., Vater: Karl Lehnich, selbständiger Flaschnermeister, Mutter: Rosalie, geb. Klimek, verheiratet in erster Ehe seit 1925 mit Hildegard Lehnich, geb. Schlegel (Scheidung 1929), in zweiter Ehe seit 1930 mit Irmgard Elisabeth Maria, geb. Gerstenberg, drei Kinder, davon zwei aus zweiter Ehe. Volks- und Knabenschule, Humanistisches Gymnasium, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer als Leutnant d. Res., EK I und II, 1919/ 20 Zeitfreiwilliger, 1914/ 18 - 1920 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Berlin und Breslau, 1920 Promotion zum Dr. rer. pol., 1920 - 1921 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Berlin, 1922 - 1927 im Reichswirtschafts- Professor Oswald Lehnich (Mitte) mit Reichspropagandaminister Joseph Goebbels und dem Schauspieler Emil Jannings (re.) 333 <?page no="335"?> ministerium, zuletzt (ab 1926) als Regierungsrat, 1927 Privatdozent und Habilitation bei der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, 1932 Lehrauftrag an der Technischen Hochschule Stuttgart und außerordentlicher Professor in Tübingen, 18. März 1933 Leiter des württembergischen Wirtschaftsministeriums im Range eines Staatsrates, 13. Juli 1933 - Dezember 1935 Staatsminister, 1935 - 1939 Präsident der Reichsfilmkammer, Juni 1939 Rücktritt, nach schwerem Unfall im August 1939 nicht mehr berufstätig. November 1931 Förderndes Mitglied der SS, Dezember 1931 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 855.209), 1932 Mitglied des Gauwirtschaftsrates Württemberg Hohenzollern, 1933 Gauwirtschaftsberater Württemberg-Hohenzollern, Beauftragter der Obersten Leitung der PO für den Ständischen Aufbau Südwest, 1935 SS-Standartenführer und SS-Oberführer (Führer beim Stab Reichsführer-SS). 23. Mai 1945 Internierung in Balingen, Mai 1947 Universitäts-Nervenklinik Tübingen, 23. November 1948 erste, 23. März 1949 zweite Entscheidung der Lager-Spruchkammer Balingen: »Minderbelasteter«, Ruhestand in Tübingen, Stuttgart und zuletzt Bad Ditzenbach, gest. 23. Mai 1961 Bad Ditzenbach. Wenn von den württembergischen Ministern der NS-Zeit die Rede ist, fällt auf, daß der kurzfristig amtierende Wirtschaftsminister Staatsrat Professor Dr. Oswald Lehnich nur selten genannt wird 1 und die Erinnerung an ihn heute weithin ausgelöscht scheint. Das mag damit zu tun haben, daß Lehnich »nicht zu den radikalen Exponenten der NSDAP zählte« 2 und politisch wenig hervorgetreten ist. Ein bisher unbeachtetes Detail ist die Tatsache, daß Lehnich im Gegensatz zu allen anderen Kabinettsmitgliedern oder Ressortleitern und Staatssekretären im nationalsozialistischen Württemberg (Murr, Mergenthaler, Schmid, Dehlinger, Hirzel und Waldmann) der einzige Nichtwürttemberger war, als einziger nicht dem Württembergischen Landtag angehört hatte und als einziger neben Finanzminister Dehlinger - der aber nicht der NSDAP angehörte - als Fachmann an die Spitze »seines« Ressorts gelangt war. Der eher verschlossene »Kopfmensch« Lehnich, der auch innerhalb der NSDAP keiner Clique angehörte und persönliche Beziehungen zu führenden Funktionsträgern der Partei nicht aufzubauen vermochte - es vielleicht auch nicht wollte -, scheint auch als Exponent der Partei, als Minister und als Präsident der Reichsfilmkammer geradezu isoliert gewesen zu sein, was in erster Linie an seiner unzugänglichen Persönlichkeit gelegen hat. Er war alles andere als ein programmatischer Vordenker Frank Raberg 334 1 In dem von Thomas Schnabel herausgegebenen Sammelband »Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982«, ist Lehnich als einziger ranghoher württembergischer NS-Amtsträger nicht einmal im Personenregister erwähnt. 2 Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 13), Stuttgart u.a. 1986, S. 258. Was Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 54, veranlaßt, Lehnich als »überzeugten Nationalsozialisten« zu bezeichnen, bleibt unergründlich, da er keine Quellenbelege angibt. <?page no="336"?> der Partei und auch keineswegs Exponent einer genuin »nationalsozialistischen« Wirtschaftspolitik. Ein anderer Grund könnte die Tatsache sein, daß der ruhige, fast verhaltene Lehnich als Präsident der Reichsfilmkammer in Berlin länger tätig war, jedoch auch in diesem Amt, das eher repräsentative Aufgaben beinhaltete, schon damals von der breiten Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen wurde. Als anerkannter Fachmann in Wirtschaftsfragen, vor allem im Bereich der Industrie- und Kartellpolitik, betätigte er sich, schon seit Ende seiner Studienzeit, als fleißiger Publizist. An der Universität Tübingen hielt er vor seiner Berufung in die nationalsozialistische württembergische Staatsregierung Vorlesungen in Volkswirtschaftslehre. Nach Kriegsende wurde es um Lehnich, der schon während des Krieges nicht mehr öffentlic