Die Führer der Provinz
NS-Biographien aus Baden und Württemberg
1209
2015
978-3-8649-6996-6
978-3-8676-4655-0
UVK Verlag
Michael Kißener
Joachim Scholtyseck
Der Nationalsozialismus präsentierte sich nach außen als eine streng zentralistisch auf den obersten Führer Adolf Hitler ausgerichtete Herrschaftsform. In den Parteigauen und Reichsländern jedoch dominierten regionale NS-Funktionsträger, die das Bild des Nationalsozialismus im Land prägten.
Der Band stellt auf der Grundlage bislang unbekannten Archivmaterials die Biografien dieser NS-Parteielite in Baden und Württemberg, die Gauleiter, Ministerpräsidenten, Fachressortleiter, Gestapochefs, Sondergerichtsvorsitzenden u.a. vor. Damit wird nicht nur ein zuverlässiges biografisches Nachschlagewerk vorgelegt, es werden zugleich auch Einblicke in die spezifischen Strukturen regionaler NS-Herrschaft im deutschen Südwesten möglich. Da die Lebensbeschreibungen über das Jahr 1945 hinaus fortgeführt sind, wird zudem schlaglichtartig die Auseinandersetzung der Bundesrepublik mit dem »personellen Erbe« der NS-Zeit beleuchtet.
<?page no="2"?> Michael Kißener, Joachim Scholtyseck (Hg.) Die Führer der Provinz <?page no="4"?> Die Führer der Provinz NS-Biographien aus Baden und Württemberg Herausgegeben von Michael Kißener Joachim Scholtyseck 3., unveränderte Auflage UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz und München <?page no="5"?> Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abruf bar. 978-3-86764-655-0 (Print) 978-3-86496-995-9 (EPUB) 978-3-86496-996-6 (EPDF) Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 1997, unv. Nachdruck 2016 Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas Printed in Germany UVK Verlagsgesellschaft mbH Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98 www.uvk.de <?page no="6"?> Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Rudolf Lill Nationalsozialismus in der Provinz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Zur Einführung Michael Kißener, Joachim Scholtyseck Von Idealisten, Aufsteigern, Vollstreckern und Verbrechern . . . . . . . . . . . 31 Karl Berckmüller, Alexander Landgraf, Walter Schick, Josef Gmeiner, Leiter der Geheimen Staatspolizeileitstelle Karlsruhe Michael Stolle Der »Schwabenherzog« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer Joachim Scholtyseck Rechtsprechung im nationalsozialistischen Geist . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Hermann Albert Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart Stefan Baur »Was sich in den Weg stellt, mit Vernichtung schlagen« . . . . . . . . . . . . . 143 Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn Susanne Schlösser Der »Rassepapst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde Elvira Weisenburger Richter der »alten Schule« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Alfred Hanemann, Edmund Mickel, Landgerichtspräsidenten und Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim Michael Kißener 5 <?page no="7"?> »Alte Kämpferinnen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Dora Horn-Zippelius und Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen der NS-Frauenschaft in Baden Anette Michel Der »Degen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer Barbara Hachmann Ein »anständiger« und »moralisch integrer« Nationalsozialist? . . . . . . . . . 289 Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister Ernst Otto Bräunche »Ein gebildet sein wollender Mensch« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags Alexander Mohr Wirtschaftspolitiker zwischen Selbstüberschätzung und Resignation . . . . . 333 Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister Frank Raberg Vom Hilfsarbeiter zum Kreisleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm Sabine Schmidt Die Exekutoren des Terrors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Geheimen Staatspolizeileitstelle Stuttgart Jürgen Schuhladen-Krämer Der schwäbische Schulmeister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident Justiz- und Kultminister Michael Stolle »Der Mann aus dem Volk« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern Joachim Scholtyseck Inhaltsverzeichnis 6 <?page no="8"?> Das Aushängeschild der Hitler-Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503 Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) Frank Raberg Zwischen Partei, Amt und persönlichen Interessen . . . . . . . . . . . . . . . 539 Karl Pflaumer, Badischer Innenminister Norma Pralle »Deutscher Student, es ist nicht nötig, daß Du lebst, wohl aber, daß Du Deine Pflicht gegenüber Deinem Volk erfüllst« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg Birgit Arnold Im Zweifelsfall auch mit harter Hand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 595 Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister Angela Borgstedt Ein badischer »Preuße« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister Ulrike Lennartz Parteistatthalter in Badens NS-Kaderschmiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655 Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg Hubert Roser Vom Dorfschultheiß zum hohen Ministerialbeamten . . . . . . . . . . . . . . 683 Georg Stümpfig, Kanzleidirektor im Württembergischen Innenministerium und Gauamtsleiter für Kommunalpolitik Hubert Roser Zwischen Heimaterde und Reichsdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz Katja Schrecke Der Führer vom Oberrhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 733 Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß Ludger Syré Inhaltsverzeichnis 7 <?page no="9"?> »Beamter aus Berufung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatsekretär Anette Roser »Überzeugter Nationalsozialist eigener Prägung« . . . . . . . . . . . . . . . . 805 Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe Manfred Koch Die Entdeckung der Provinz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 827 Baden und Württemberg im »Dritten Reich« - ein Forschungsüberblick Lothar Belz Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 846 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 849 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 850 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875 Inhaltsverzeichnis 8 <?page no="10"?> Vorwort Rudolf Lill Seit nunmehr fünf Jahren widmet sich unsere »Forschungsstelle« dem Widerstand gegen das NS-Regime im deutschen Südwesten und verweist auch auf demokratische Kontinuitäten, die aus diesem Widerstand und dessen Umfeld erwachsen sind. Dabei hat sich aber vielfach herausgestellt, daß trotz der seit der Mitte der 60er Jahre immer umfangreicher gewordenen Literatur über das »Dritte Reich« die regionale Realität des Regimes, gegen welches sich Widerstand, Widerständigkeit und Selbstbehauptung richteten, ebenfalls weiterer Erforschung bedarf. Diese Einsicht stand am Anfang der Überlegungen, die zu diesem Band geführt haben. Sie entspricht auch einem neuen Trend der NS-Forschung, welcher generell auf die unterschiedliche Ausprägung des Regimes in den Regionen des »Dritten Reiches« ausgerichtet ist und bereits beachtliche Ergebnisse hervorgebracht hat. 1 Die oft diskutierte Frage, ob das NS-Regime mehr monokratisch oder mehr polykratisch gewesen sei, wird darüber neuen Antworten zugeführt, die frühere Kontroversen vielleicht auflösen oder doch entschärfen werden. Offenbar war das Regime das eine wie das andere: Die mit weltanschaulicher Verbindlichkeit begründeten zentralen Direktiven kamen vom Führer Adolf Hitler und aus seiner direkten Umgebung. Doch darunter bestand ein vielschichtiges, durchaus als polykratisch zu begreifendes Neben-, auch Gegeneinander von Kompetenzen und Funktionsträgern, mit vielfachen Interessen- und Ressort-Rivalitäten, dazu mit unterschiedlichen Handlungsräumen. In diesem Band geht es darum, für die damaligen Länder Baden und Württemberg die »NS-Elite«, d.h. die Inhaber der wichtigeren Machtpositionen in Partei und Staat, anhand aller inzwischen erreichbaren Quellen vorzustellen: Gauleiter, Kreisleiter und Gestapochefs, Minister und hohe Richter oder Beamte; in 26 Beiträgen werden insgesamt 33 solcher NS-Führer behandelt. So treten neben die Profile und die Perspektiven der Opfer die der Täter, und der Herrschafts- und Verfolgungsapparat des NS-Staates wird konkret erfaßt. Dabei ermöglicht der biographische Ansatz, viele lokale Gegebenheiten und Entwicklungen mit einzubeziehen, oft bewußt ausführlich, um die mentalitätswie die alltagsgeschichtliche Dimension aufzuweisen. Es ergab sich, daß diese Unterführer im wesentlichen zwei Typen entsprechen: auf der Seite der Parteikarrieristen mehr die Aufsteiger aus Arbeiterschaft und 9 1 Möller, Horst, Wirsching, Andreas, Ziegler, Walter, Nationalsozialismus in der Region (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996. <?page no="11"?> unterem Mittelstand, auf der Seite der staatlichen Funktionträger bürgerliche Vertreter eines im Kaiserreich vorgeprägten autoritären Staates. Beide Typen verband eine lange vor 1933 herausgebildete biographisch-ideologische Gemeinsamkeit. Die meisten waren Frontkämpfer gewesen, hatten Kampfverbänden der ersten Nachkriegszeit angehört und sich dann mehr oder minder direkt der völkisch-antisemitischen Bewegung angeschlossen. Da sie in dieser ihre neue Weltanschauung fanden, hatten sie sich von früheren konfessionellen, meist evangelischen Bindungen gelöst. In der einen oder anderen Weise hatten sie schon während der Weimarer Jahre für einen angeblich genuin deutschen, antiparlamentarischen, im Inneren und nach außen machtbewußten Staat plädiert oder gekämpft, den sie dann im »Dritten Reich« verwirklicht sahen. Ihm dienten sie daher überzeugt und mit äußerster Konsequenz; seine inneren Feinde, vor allem Kommunisten, Sozialisten und Juden, aber auch Anhänger des »politischen Katholizismus« suchten sie zu isolieren oder zu unterdrücken. Mit dem Untergang des Regimes verloren sie 1945 sämtliche öffentliche Funktionen. Ein Nebenergebnis der hier vorgelegten Forschungen ist, daß die Entnazifizierung keineswegs durchweg scheiterte, sondern auch Erfolge zeitigte, die heute gerne übersehen werden. Drei der in diesem Band vorgestellten NS-Führer wurden von alliierten Gerichten (wegen Delikten, die nicht in direktem Zusammenhang mit ihrer amtlichen Tätigkeit in Baden und Württemberg standen) zum Tode verurteilt und hingerichtet, drei begingen Selbstmord und weitere zwei sind während ihrer Internierungszeit verstorben. In diesen Biographien der Täter war also weit zurückzugreifen; und es werden konkrete Kontinuitäten sichtbar, die aus dem Nationalismus der Wilhelminischen Zeit in den Nationalsozialismus geführt haben. Wie in unseren früheren Bänden mit den Biographien von Opfern war ebenso über 1945 hinauszuschauen, und so wollen wir es weiter halten: Eine Forschungsstelle wie die unsere muß das ganze nun zu Ende gehende Jahrhundert deutscher Geschichte unter den Aspekten antidemokratischer und demokratischer Traditionsbildung betrachten; mit der hoffentlich richtigen Einschätzung, daß letztere in der Bundesrepublik endlich eingewurzelt wurde. Dieser Band ist erwachsen aus dem Engagement vieler, vor allem jüngerer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus dem Institut für Geschichte der Universität Karlsruhe. Ich danke ihnen und ebenso den beiden Herausgebern und den Kolleginnen und Kollegen aus den insgesamt 47 konsultierten Archiven und Forschungseinrichtungen sowie der Karlsruher Hochschulvereinigung, die wieder einen erheblichen Beitrag zu den Druckkosten gewährt hat. 10 <?page no="12"?> Nationalsozialismus in der Provinz Zur Einführung Michael Kißener, Joachim Scholtyseck Es hat in der deutschen Geschichte wohl kaum jemals so viele »Führer« mit konkurrierenden, z.T. widersprüchlichen Befugnissen und Aufgaben in nahezu allen Bereichen von Staat und Gesellschaft gegeben 1 wie gerade in jener Zeit der vermeintlich strengsten Zentralisierung und staatlichen Ordnung zwischen 1933 und 1945. 2 Zwar waren diese »Führer«, die den Alltag und das Geschehen vor Ort entscheidend prägten, der schon in Hitlers »Mein Kampf« festgelegten Doktrin zufolge dem »oberstem Führer« »restlos« verantwortlich. Doch schon die Kriterien ihrer Auswahl lassen erkennen, wie wenig es im NS-Staat tatsächlich auf eine geordnete Administration mit fachlich und charakterlich qualifizierten »Unterführern« ankam. »Führereigenschaften« und eine ganz im sozialdarwinistischen Sinn verstandene »Durchsetzungsfähigkeit« nämlich sollten sie allem anderen voran für die ihnen zugedachte Funktion befähigen. 3 Die bisher betriebene biographische Forschung zu diesem Personenkreis, die großenteils ausländischen Forschern verdankt wird, konzentrierte sich von einzelnen Ausnahmen abgesehen, bislang auf Hitlers Helfer auf Reichsebene, die im zentralistisch organisierten NS-Staat an den Schaltstellen der Macht saßen. Die nachfolgenden Darstellungen wollen diesen Ansatz - soweit wir sehen erstmals - systematisch auch auf die regionale Ebene am Beispiel des deutschen Südwestens übertragen. Für die »Volksgenossen« im Lande waren die »Führer« der südwestdeutschen »Provinz« die ersten und weitaus wichtigsten Repräsentanten des NS-Staates, näher und faßbarer als der »Führer« und sein Gefolge in Berlin. 4 Über 11 1 Siehe hierzu zusammenfassend Ruck, Michael, Führerabsolutismus und polykratisches Herrschaftsgefüge - Verfassungsstrukturen des NS-Staates, in: Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hrsg. v. K. D. Bracher, M. Funke, H.-A. Jacobsen (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 23), Düsseldorf 1992, S. 32 - 56 und weiter differenziert im Hinblick auf die hier behandelte Problematik Ruck, Michael, Herrschaftsstrukturen des NS- Staates, in: Nationalsozialistische Herrschaftsorganisationen in Schleswig-Holstein, hrsg. v. der Landeszentrale für politische Bildung Schleswig-Holstein (Gegenwartsfragen 79), Kiel 1996, S. 9 - 22. 2 Hierzu im Überblick Auerbach, Hellmuth, Führungspersonen und Weltanschauungen des Nationalsozialismus, in: Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, hrsg. v. M. Broszat, H. Möller, 2. Aufl. München 1986, S. 127 - 151; Kershaw, Ian, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Hamburg 1989, S. 125 - 164. 3 Hitler, Adolf, Mein Kampf, 54. Aufl. München 1933, S. 650 f., 661. 4 Düwell, Kurt, Gauleiter und Kreisleiter als regionale Gewalten des NS-Staates, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für <?page no="13"?> ihre Biographien, ihre Handlungsmotivationen und ihre Amtsführung sind wichtige Einblicke in Strukturen und Mechanismen regionaler nationalsozialistischer Machtausübung zu leisten, vor allem aber auch Eindrücke vom Herrschaftsalltag und der Regierungsform jener neuen politischen »Klasse« zu vermitteln. Zu diesem Personenkreis gehörten an erster Stelle Hitlers direkte Stellvertreter vor Ort, die Gauleiter Robert Wagner in Baden und Wilhelm Murr in Württemberg, die beide zugleich Reichsstatthalter waren und damit neben der Parteifunktion staatliche Dienststellungen innehatten. Daneben existierten bis zum Ende des »Dritten Reiches« allen Verreichlichungstendenzen zum Trotz die Länderregierungen mit nationalsozialistischen Ministerpräsidenten und Fachministern fort, deren überlieferte Ressorteinteilung auch vom Nationalsozialismus nicht gänzlich geändert wurde. Lediglich einzelne Ministerien wurden zusammenfassend in Personalunion verwaltet und von zumeist »alten Kämpfern« der Partei geführt. Sie beeinflußten, wie begrenzt auch immer ihre Kompetenzen im zentralistischen Staat sein mochten, die administrativen Maßnahmen in ihrem Ressort in mehr oder minder großem Umfang und gehörten schon deshalb zur Führungsriege der regionalen Partei- und Staatsorganisation. Wichtige Schlüsselstellungen im totalitären Staat hatten auch die schon bald aus der Länderhoheit herausgenommenen Institutionen der Verfolgung und Aburteilung aller regimekritischen oder »artfremden« Kräfte: die Geheime Staatspolizei und die Sondergerichte. Deshalb sind auch die Leiter dieser »Dienststellen« in unsere Sammlung von NS-Biographien aus Baden und Württemberg aufgenommen worden. Mit den Gauleitern, Ministerpräsidenten, Ministern, Gestapochefs und Sondergerichtsvorsitzenden ist zweifellos nur die Spitze der NS-Hierarchie in der Provinz erfaßt. Erhebliche Bedeutung besaßen darüber hinaus natürlich auch die »kleinen Könige«, die Kreisleiter und Ortsgruppenleiter im Land, deren Amtsführung vor Ort nicht selten den verbrecherischen und ganz und gar willkürlichen Charakter der NS-Herrschaft verdeutlichte. SA-Führer und die Mitglieder der sog. »Gauclique« im Dunstkreis des Gauleiters sind ebenso zu berücksichtigen. Nicht übersehen werden dürfen schließlich, gerade bei einer regionalgeschichtlichen Untersuchung, auch badische und württembergische Nationalsozialisten, die in hohen Stellungen des Reichsdienstes, der Partei oder einer ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände tätig waren, verweisen sie doch gleichsam reflexiv auf die Ausstrahlung und Außenwirkung der Region und ihrer Menschen ins Zentrum der Macht. Hier sind unserer Studie allerdings organisatorische Grenzen gesetzt, bedenkt man, daß beispielsweise in Baden (1938) alleine 27 Kreisleiter der NSDAP ihren Dienst versahen 5 und in Württemberg (1936) 58 Städte und Gemeinden mit mehr als 5.000 Einwohnern bestanden. 6 Die in unseren Band aufgenommenen Biographien aus diesem Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 12 Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 161 - 174, hier S. 161. 5 Badischer Geschäfts- und Adreßkalender für 1938, Karlsruhe 1938, S. 122 f. 6 Württembergisches Statistisches Landesamt (Hrsg.), Staatshandbuch für Württemberg. Ortschafts- <?page no="14"?> Personenkreis können daher nur Beispiele sein, die den Blick für die Besonderheiten dieser Personengruppe öffnen, keineswegs aber den Anspruch erheben, »typische« Biographien vorzustellen. Sie runden jedoch unsere »tour d’horizon« der regionalen NS-Größen ab und mögen Anstoß zu weiteren Forschungen geben. Über diese »Führer der Provinz« des deutschen Südwestens ist bislang, abgesehen von verdienstvollen enzyklopädischen Beiträgen in den von Bernd Ottnad herausgegebenen Badischen Biographien 7 und vereinzelten Spezialstudien 8 nur wenig bekannt. Erstes und wichtigstes Ziel der nachfolgenden 26 Studien ist es daher, den Wissensstand auf der Grundlage einschlägigen Literatur- und Aktenstudiums, aber auch mit Hilfe von Zeitzeugenbefragungen und schriftlicher Überlieferung aus Privatarchiven zusammenzufassen und ein »Nachschlagewerk« zu wichtigen Repräsentanten der »NS-Elite« in Baden und Württemberg vorzulegen, das deren Biographien - auch über das Jahr 1945 hinaus - erschließt, manche mündlich tradierte Mythen überprüft und zu einem nützlichen Hilfsmittel weiterer landesgeschichtlicher NS-Forschung werden kann. Alle Beiträge sind dabei bemüht, den Anforderungen einer modernen Biographik Rechnung zu tragen. Nachdem in den 1970er Jahren die historische Biographie als »überalterte Form der Geschichtsschreibung« galt, erfahren biographische Darstellungen seit einem guten Jahrzehnt wieder ein, wie uns scheint, wohlbegründetes Interesse. Mit Blick auf die Zeit des Nationalsozialismus ist hier nicht nur auf die ertragreichen Forschungen zur »NS-Elite« hinzuweisen 9 , sondern auch festzustellen, daß der biographische Zugriff sich themen- und methodenübergreifend auf alle Bereiche des nationalsozialistischen Zeitraums erstreckt 10 und selbst Forscher an einem biographischen Ansatz Gefallen finden läßt, die eher dem marxistischen Geschichtsbild verhaftet waren. 11 Nationalsozialismus in der Provinz 13 verzeichnis, Stuttgart 1936, S. 374 f. 7 Ottnad, Bernd (Hrsg.), Badische Biographien N.F. Bd. 1 - 3, Stuttgart 1982 - 1990; Ottnad, Bernd (Hrsg.), Baden-Württembergische Biographien Bd. 1, Stuttgart 1994. 8 So etwa die wegweisende Studie von Ferdinand, Horst, Die Misere der totalen Dienstbarkeit. Robert Wagner (1895 - 1946), NSDAP-Gauleiter, Reichsstatthalter von Baden, Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, in: Eberbacher Geschichtsblatt 91 (1992), S. 97 - 209; 92 (1993), S. 208 - 222; Ferdinand, Horst, Rezension zu »Johnpeter H. Grill, Robert Wagner - Der ›Herrenmensch‹ im Elsaß«, in: Eberbacher Geschichtsblatt 93 (1994), S. 166 - 170; Kieß, Rudolf, Christian Mergenthaler. Württembergischer Kultminister 1933 - 1945, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 54 (1995), S. 281 - 332. 9 Vgl. etwa Smelser, Ronald; Syring, Enrico; Zitelmann, Rainer (Hrsg.), Die braune Elite. 22 biographische Skizzen, Darmstadt 1989; Smelser, Ronald; Syring, Enrico; Zitelmann, Rainer (Hrsg.), Die braune Elite. 21 weitere biographische Skizzen, Darmstadt 1993. 10 Zur Widerstandsforschung vgl. etwa Lill, Rudolf; Oberreuter, Heinrich (Hrsg.), 20. Juli. Portraits des Widerstands, Düsseldorf, Wien 1984, 3. Aufl. 1994; zur Militärgeschichte Smelser, Ronald; Syring, Enrico (Hrsg.), Die Militärelite des Dritten Reiches, Berlin 1995. 11 Vgl. Engelberg, Ernst; Schleier, Hans, Zur Theorie und Geschichte der historischen Biographie, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 38 (1990), S. 195 - 217, hier S. 208. <?page no="15"?> Eine solche Renaissance des biographischen Genres hängt, wie Christoph Gradmann jüngst dargelegt hat, gewiß nicht nur mit den Defiziten einer rein sozial- und strukturgeschichtlichen Historiographie zusammen, die in den 70er und frühen 80er Jahren die deutsche Geschichtswissenschaft in einem Maß zu dominieren schien, daß einem polemischen Wort Lawrence Sternes zufolge plötzlich der »Wilhelminismus ohne Wilhelm, das Kaiserreich ohne Kaiser« erklärt wurde. 12 Sie hängt vor allem wohl mit der keineswegs neuen Erkenntnis zusammen, daß biographische Geschichtsschreibung und Sozial-, Struktur- und Alltagsgeschichte sich nicht widersprechen, sondern sich ergänzen können, ja müssen. Von einer modernen Biographik wird daher zurecht gefordert, daß sie nicht einseitig in den individualistischen Ansatz des Historismus zurückfällt (»Männer machen Geschichte«), wohl aber »dem subjektiven Element wieder zu seinem wissenschaftlichen Recht« verhilft. 13 Dies gilt für die Zeit des Nationalsozialismus vielleicht in besonderem Maße, zwang doch die totalitäre »Weltanschauung« ihre Anhänger wie ihre Gegner in einer zuvor nie gekannten Form zum individuellen Bekenntnis für oder gegen den »Führer« Adolf Hitler. Für die hier vorzustellenden Biographien bedeutet dies konkret, daß das Einzelschicksal soweit möglich in Beziehung zu den Erträgen der politischen Historiographie, der Landesgeschichtsschreibung, der Sozial-, Struktur- und Alltagsgeschichte zu setzen ist, um es historisch einzuordnen, Motivationen und Handlungsräume unterschiedlichster Art verständlich zu machen. Dies ist in dem einen Fall aufgrund der thematischen Zusammenhänge oder der Quellen- und Literaturlage besser, in manch anderem Fall nur unvollständig erreichbar. Immer jedoch wird der Versuch unternommen, den Datenbestand auch im Detail zu sichern und den Lebenslauf unter Berücksichtigung des zeitgeschichtlichen Kontextes und des jeweiligen Erfahrungshorizontes der Person zu betrachten. Dies schließt nach unserer Überzeugung die gerade im Falle von NS-Biographien notwendige Einordnung der Person in das Gefüge des totalitären Verbrechensstaates und die Bestimmung der individuellen Verantwortlichkeit nicht aus, es impliziert sie vielmehr. Die vorliegenden Biographien summieren sich unter diesen Voraussetzungen einerseits zu einer Art kleinen »Kollektivbiographie«, die einige generalisierende Aussagen über die NS-Elite im deutschen Südwesten zuläßt, sie verzichten zugleich Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 14 12 Gradmann, Christoph, Geschichte, Fiktion und Erfahrung - kritische Anmerkungen zur neuerlichen Aktualität der historischen Biographie, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 17 (1992), S. 1 - 16, hier S. 1 - 3. Vgl. auch die einschlägigen Hinweise bei Lenger, Friedrich, Werner Sombart 1863 - 1941. Eine Biographie, München 1994, S. 13 - 16. 13 Berlepsch, Hans Jörg von, Die Wiederentdeckung des »wirklichen Menschen« in der Geschichte. Neue biographische Literatur, in: Archiv für Sozialgeschichte 29 (1989), S. 488 - 510, hier S. 491 f. S. auch Gestrich, Andreas, Einleitung: Sozialhistorische Biographieforschung, in: Biographie - sozialgeschichtlich, hrsg. v. A. Gestrich, P. Knoch, H. Merkel, Göttingen 1988, S. 5 - 28, hier S. 11 f., dessen hohen Anspruch eine im Umfang beschränkte historische Biographie schon allein wegen der zumeist defizitären Quellenlage nicht gerecht werden wird. Zu berücksichtigen auch die nunmehr wieder aktuell wirkenden Definitionsversuche von Romein, Jan, Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik, Bern 1948, S. 11 f. <?page no="16"?> aber durch ihre Ausführlichkeit nicht auf jene größere Tiefenschärfe, die der Einzelbiographie eigen ist. Gerade dadurch, so hoffen wir, eröffnet sich auch die Möglichkeit, einen Beitrag zur Lösung übergreifender geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen aus dem biographischen Blickwinkel zu leisten. So lassen sich etwa auf der Grundlage des vorliegenden Datenmaterials eine Reihe von Beobachtungen zur Personalstruktur des südwestdeutschen Nationalsozialismus formulieren, die im Rahmen der NS-Eliteforschung von Bedeutung sind. Die badische NS-Führungsriege setzte sich, abgesehen von dem rund zehn Jahre älteren Kultusminister Paul Schmitthenner, aus 30 - 40jährigen zusammen, die ausnahmslos in Baden geboren waren und ganz überwiegend bürgerlichen Elternhäusern entstammten. Eine Ausnahme bildete lediglich der Gauleiter selbst, dessen Vater Landwirt war. Dennoch gelang ihm wie den anderen auch der gesellschaftliche Aufstieg: er erhielt eine gehobene schulische Ausbildung (Lehrerseminar) und strebte eine ebenso gehobene Berufsstellung zunächst als Lehrer, dann als Reichswehroffizier an. Alle diese NS-Führer waren schon Mitte der 20er Jahre der NSDAP beigetreten oder sympathisierten doch mit der Partei, der sie dann spätestens 1930 als Mitglieder angehörten. Wenn auch soziale Deklassierung und Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik für manch einen ein wichtiges Motiv der Annäherung an den Nationalsozialismus gewesen sein mag, für die »Führer« Badens und auch Württembergs traf dies meist nicht zu. So führten etwa die Entlassungen Wagners aus der Reichswehr wie auch Pflaumers aus der Polizei in keinem Fall zu bedrohlichen finanziellen Problemen und fanden auf der Grundlage einer mindestens gesinnungsmäßigen Verbindung mit der NSDAP statt. Gemeinsam war hingegen fast allen die bodenlose Enttäuschung über den Kriegsausgang und ein fanatischer Haß auf den Friedensvertrag von Versailles. Die Hinwendung zur Partei Hitlers aber hatte darüber hinaus oft zusätzliche, bisweilen sehr private Gründe. 14 Bemerkenswert sind Unterschiede zwischen Baden und Württemberg. In Württemberg nämlich war die vollständig dem Lande entstammende NS-Führungsriege durchschnittlich ca. zehn Jahre älter als in Baden und stammte aus einfacheren familiären Verhältnissen: Gauleiter Murrs Vater war Schlosser, der Vater des Ministerpräsidenten Bäckermeister, der des Innenministers Landwirt etc. Gleichwohl erlebten die Söhne, abgesehen von Murr, einen gesellschaftlichen Aufstieg in der Weimarer Republik und wurden Lehrer, Rechtsanwalt oder Beamter. Der Eintritt in Hitlers Partei erfolgte unter den württembergischen Führern etwas früher als in Baden. Die badischen und württembergischen NS-Regionalführer kamen zumeist aus evangelischen Familien, empfanden aber nie eine engere religiöse Bindung. Großenteils traten sie denn auch aus der Kirche aus. Sie waren, entsprechend ihrer Nationalsozialismus in der Provinz 15 14 Kater, Michael H., The Nazi Party. A Social Profile of Members and Leaders 1919 - 1945, Cambridge 1983, S. 194, 203, 231 f., Schmidt, Christoph, Zu den Motiven »alter Kämpfer« in der NSDAP, in: Die Reihe fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus, hrsg. v. D. Peukert, J. Reulecke, Wuppertal 1981, S. 21 - 43, hier S. 27. <?page no="17"?> völkischen Weltanschauung, eigentlich alle antikirchlich, besonders antikatholisch gesinnt und schürten oder verschärften darum die Kirchenkämpfe. Innenminister Jonathan Schmid bildete insofern eine der wenigen Ausnahmen, als er seinen Kirchenaustritt bis ins Jahr 1942 hinausschob. Auch bei den Leitern der wichtigen Reichsdienststellen, der Gestapo und der Sondergerichte, lassen sich auffällige Besonderheiten feststellen. Anders als bei dem von Gerhard Paul erst jüngst charakterisierten Durchschnitt der regionalen Gestapoleiter 15 gehörten die badischen und württembergischen Gestapochefs, soweit sich ihre Lebensläufe rekonstruieren lassen, zumeist nicht zur »undoktrinäre[n] Elite karrierebewußter neusachlicher Jungakademiker«. »Undoktrinär« war hier lediglich der altgediente Polizeikommissar Mußgay in Württemberg, der erst 1933 in die NSDAP eintrat, um seine weitere berufliche Entwicklung nicht zu gefährden. Alle übrigen gehörten seit langem der »Bewegung« an: der Badener Berckmüller z.B. war ein enger Freund des Gauleiters, seine eher jugendlichen Nachfolger Landgraf und Schick waren schon 1928 bzw. 1931 als 22jährige der Partei beigetreten, und auch der Württemberger Stahlecker, geb. 1900, gehörte zu den frühen Aktivisten der völkischen Bewegung. Nur seiner Karriere lag jenes von Gerhard Paul beschriebene besitz- und bildungsbürgerliche familiäre Umfeld des »Durchschnittsgestapoleiters« zugrunde. Landgraf und Schick stammten aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, Berckmüller, Mattheiß und Mußgay waren in ihren Dienststellungen weder ausgesprochen jung noch standen ihre Väter in herausgehobenen beruflichen Positionen. Daß schließlich die Gestapoleiter ganz überwiegend nicht ihrem Einsatzgebiet entstammten, trifft für die Verhältnisse unseres Raumes ebenfalls nicht zu: in Württemberg entstammten alle Gestapochefs dem Lande, in Baden war ein ganz ähnlicher regionaler Bezug feststellbar, wenn auch mit Landgraf ein Hesse aus dem nahgelegenen Lorsch und mit Schick ein Württemberger die Karlsruher Dienststelle bekleidete. Noch disparater liegen die Verhältnisse bei den Vorsitzenden der Sondergerichte. Amtierte in Stuttgart der jugendlich-agile Schwabe Hermann Cuhorst, der als fanatischer Nationalsozialist dem Bild des Volksgerichtshofspräsidenten Roland Freisler erschreckend nahe kam, so saßen in Mannheim zwei über sechzig Jahre alte, »bewährte« badische Richter, Alfred Hanemann und Edmund Mickel, den Sondergerichten vor, die trotzdem den justitiellen Beitrag zur Durchsetzung des NS-Totalitarismus leisteten. Sie stellen im übrigen anschauliche Beispiele für die weitgehende Kontinuität vom nationalen zum nationalsozialistischen Denken dar. Solche Mentalitäts- und Auffassungsunterschiede waren jedoch für den nationalsozialistischen Alltag offenbar relativ unbedeutend. In dem von Ernst Fraenkel schon 1941 beschriebenen Nebeneinander von Maßnahmen- und Normen-Staat 16 führten Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 16 15 Paul, Gerhard, Ganz normale Akademiker. Eine Fallstudie zur regionalen staatspolizeilichen Funktionselite, in: Die Gestapo - Mythos und Realität, hrsg. v. G. Paul, K.-M. Mallmann, Darmstadt 1995, S. 236 - 254, hier S. 239 - 241. 16 Ernst Fraenkel, Der Doppelstaat, Frankfurt/ Main, Köln 1974. <?page no="18"?> beide personellen Varianten zu dem gewünschten Ziel. So waren es im deutschen Südwesten also weniger soziologisch klar zu definierende Personengruppen, die den Unrechtsstaat Hitlers aufzubauen und zu exekutieren halfen, es war vielmehr eine sehr heterogene Gruppe von (z.T. daher auch miteinander verfeindeten) Menschen mit einem ganzen Bündel von Motiven, die trotz oder gerade wegen ihrer Unterschiede zur Durchsetzung des ja ebenso widersprüchlichen NS-Systems beitrugen. Hinsichtlich des weiteren Schicksals der südwestdeutschen NS-Elite nach dem Zusammenbruch »ihres Reiches« mahnen die vorliegenden Biographien, wie auch schon Barbara Fait in ihrer Studie über bayrische Kreisleiter nach 1945 17 , zu einem vorsichtigen und differenzierenden Urteil. Soweit die hier porträtierten Personen das Kriegsende überlebten, gelang kaum einem von ihnen ein irgendwie bedeutsamer Wiederaufstieg in der Bundesrepublik. Der Badische Ministerpräsident Köhler, der es als Versicherungsagent schließlich zu Wohlstand brachte oder der ehem. Reichsstudentenführer Scheel, der in Hamburg als Arzt praktizierte, gehören noch zu den »herausragenden« Ausnahmen. Vielmehr prägten überwiegend langjährige Internierungshaft, Vermögenskonfiskationen und gerichtliche Auseinandersetzungen im Rahmen der Entnazifizierung um die zu leistende Sühne und die Zuerkennung einer Rente die Situation der meisten. Daß neben einigen bemerkenswert harten, in vielen Fällen dann (allerdings zumeist erst Anfang der 50er Jahre) äußerst milde Entscheidungen von den zuständigen Kommissionen gefällt wurden, hängt zweifelsohne mit dem oft schon geschilderten Dilemma der Entnazifizierung zusammen, bei der die »Hauptschuldigen« erst sehr spät vor ihre Richter gestellt wurden. Bedeutsam dafür war sicher auch das veränderte politische Interesse der Alliierten in der sich nunmehr abzeichnenden Veränderung der weltpolitischen Lage. 18 Nicht zuletzt muß eine angemessene Beurteilung vor dem Hintergrund der in der Internierungshaft und durch Vermögenskonfiskation geleisteten Sühne wie auch dem schon bald nach Kriegsende erlahmenden Interesse der breiten Öffentlichkeit an einer Aburteilung der ehemals führenden Nationalsozialisten erfolgen. Oft war es für die Spruchkammervorsitzenden nämlich schon drei oder vier Jahre nach Kriegsende schwer, valide Belastungszeugen selbst gegen ehemals prominente Nationalsozialisten zu finden! Daß gleichwohl skandalöse »Reinwaschungen« erfolgten, belegt das Beispiel des Sondergerichtsvorsitzenden Edmund Mickel, dem die Zentralspruchkammer Karls- Nationalsozialismus in der Provinz 17 17 Fait, Barbara, Die Kreisleiter der NSDAP - nach 1945, in: Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 26), hrsg. v. M. Broszat, K.-D. Henke, H. Woller, München 1988, S. 213 - 299. Vgl. im Gegensatz dazu die methodisch fragwürdige Darstellung von Rinklake, Hubert, »Ich habe weiter nichts getan, als was von jedem anständigen Staatsbürger verlangt werden muß.« NSDAP-Ortsgruppenleiter und ihre Entnazifizierung im katholischen Emsland, in: Norddeutschland im Nationalsozialismus, hrsg. v. F. Bajohr (Forum Zeitgeschichte 1), Hamburg 1993, S. 166 - 184. 18 Siehe hierzu im Überblick Vollnhals, Clemens (Hrsg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945 - 1949, München 1991 und Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996. <?page no="19"?> ruhe eine korrekte und menschenfreundliche Amtsführung bescheinigte, ja seinen Entlastungsbeweis gar als vollständig gelungen ansah. Die Betroffenen selbst sahen sich, freilich ungerechtfertigt, meist als Opfer falscher Anschuldigungen und gehässiger Nachstellungen. Sie litten, wie das Beispiel des Mannheimer Juristen Hanemann exemplarisch zeigt, unter ihrer »politischen Deklassierung« und der Ablehnung, auf die sie und ihre Familien stießen. 19 Einsicht in ihre Mitverantwortung in der zwölfjährigen Diktatur ist bei nahezu keiner der hier behandelten Personen feststellbar. Vielmehr überwogen Larmoyanz, abstruse Versuche der Selbstrechtfertigung, in einzelnen Fällen sogar die Beteiligung in neonationalsozialistischen Gruppierungen und Verbänden. Die (ein)gängige, aber eben auch einseitige Schlußfolgerung, die »Entnazifizierung« sei abgebrochen worden und gescheitert 20 , erscheint angesichts der vorliegenden Fallbeispiele in ihrer Eindimensionalität daher irreführend: denn beurteilt man die Entnazifzierung unter dem Gesichtspunkt der Zurückdrängung und Ausschaltung der führenden Exekutoren des NS-Unrechtes vor Ort, so wird man der Entnazifizierungstätigkeit auch Erfolge nicht absprechen können. Die jämmerliche Weinerlichkeit vieler der hier porträtierten ehemaligen NS-Größen, die in den Jahren nach 1945 eben keine Chance mehr zu effektiver politischer Wiederbetätigung bekamen, zeigte einmal mehr, daß die junge Bundesrepublik der ihr gestellten Aufgabe, einen demokratischen Staat zu schaffen, immerhin in wesentlichen Bereichen gerecht wurde. Ein solchermaßen charakterisierter und gegenüber allgemeineren Forschungserträgen differenzierter Kreis von NS-Führern evoziert geradezu die Frage nach einer spezifischen regionalen Prägung des Nationalsozialismus in der hier dargestellten »Provinz«. Die Anfänge des in der historischen Forschung seit Jahren diskutierten Problems »Nationalsozialismus und Region« gehen letztlich auch auf die Einsicht in die oben geschilderte polykratische Führungszersplitterung des »Dritten Reiches« zurück. So verwundert es nicht, daß sich Historiker schon in den 60er, verstärkt dann in den 70er Jahren ans Werk machten, um die Region im Nationalsozialismus nicht nur als Fallstudie, sondern mit dem Anspruch auf überregional relevante Forschungserträge genauer zu untersuchen. William Sheridan Allens Pionierstudie über die niedersächsische Kleinstadt Northeim aus dem Jahr 1965/ 66 machte den Anfang 21 , Projekte wie das des Instituts für Zeitgeschichte »Bayern in Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 18 19 Hanemann an den Präsidenten des Oberlandesgerichts Karlsruhe, 11. Februar 1946, GLA 466, 8416. 20 So zuletzt Rauh-Kühne, Cornelia, Die Entnazifizierung und die deutsche Gesellschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 35 (1995), S. 35 - 70, hier S. 30 - 47, die dann aber am Ende ihres Beitrages auch auf den Teilerfolg einer Ausschaltung der führenden NS-Elite hinweist (S. 69). Deutlicher die These des »Scheiterns« der Entnazifizierung in Frage stellend Schlemmer, Thomas, Die Amerikaner in Bayern. Militärregierung und Demokratisierung nach 1945, in: Freundliche Feinde? Die Alliierten und die Demokratiegründung in Deutschland, hrsg. v. H. Oberreuter, J. Weber (Akademiebeiträge zur politischen Bildung 29), München, Landsberg 1996, S. 67 - 99, hier S. 94 - 98. 21 Allen, William Sheridan, »Das haben wir nicht gewollt! « Die nationalsozialistische Machtergreifung <?page no="20"?> der NS-Zeit« 22 folgten und verfestigten die Erkenntnis, daß »die Gründe für den Aufstieg und schließlichen Sieg der Nationalsozialisten nicht zuletzt in den je örtlichen/ regionalen (und konfessionellen) Gegebenheiten gesucht werden müssen: ›Hitler, Goebbels und die anderen nationalsozialistischen Führer lieferten die politischen Entscheidungen, die Ideologie, die Propaganda [...]. Doch in den Tausenden von Orten [...] in ganz Deutschland wurde die Revolution verwirklicht. Diese Orte bildeten das Fundament des Dritten Reiches‹« 23 . In Fortführung solcher Erkenntnisse erweitert sich in jüngster Zeit das Forschungsgebiet »Nationalsozialismus und Region« um die Frage nach der Bedeutung und Wirkmächtigkeit der Region auch für die Herrschaftsausübung des an sich streng zentralistisch orientierten Nationalsozialismus, mutiert sozusagen zur Frage nach dem »Nationalsozialismus in der Region«. 24 Berücksichtigt man, daß zentralistische Tendenzen in Deutschland von jeher weniger einflußreich als anderswo waren 25 , daß für die politische Kultur Deutschlands »mannigfaltige regionale Verwerfungen« und »eine ausgeprägte Fragmentierung« noch heute kennzeichnend sind 26 , gewinnt die Frage an Brisanz. Auch einschlägige Aussagen führender Nationalsozialisten weisen in diese Richtung. So hielt etwa der ehemalige Reichsfinanzminister Schwerin von Krosigk die »Gaufürsten« für »viel hartnäckigere Föderalisten als vor ihnen die Länderministerpräsidenten«. 27 Alfred Rosenberg beschrieb in seinen »Letzten Aufzeichnungen« die Herr- Nationalsozialismus in der Provinz 19 in einer Kleinstadt 1930 - 1935, Gütersloh 1966. 22 Broszat, Martin u.a. (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit, 6 Bde., München 1977 - 1983. 23 Hehl, Ulrich von, Nationalsozialismus und Region. Bedeutung und Probleme einer regionalen und lokalen Erforschung des Dritten Reiches, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 56 (1993), S. 111 - 129, hier insbes. S. 119 f. 24 So der in dieser Hinsicht aufschlußreiche Titel des 1993 niedergelegten, die Forschung zusammenfassenden Aufsatzes von Ulrich von Hehl (wie Anm. 23) und der nun jüngst von Horst Möller, Andreas Wirsching und Walter Ziegler herausgegebene Band über »Nationalsozialismus in der Region«. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996 (wie Anm. 4). Vgl. hier insbesondere die Beiträge von Werner K. Blessing, Diskussionsbeitrag: Nationalsozialismus unter »regionalem Blick«, S. 47 - 56, hier S. 48: »Für die regionale Perspektive spricht auch das Verhalten der politischen Akteure selbst. Mehr oder weniger deutlich paßten sich alle, welche nicht durch eine herausragende Rolle auf dem nationalen Forum überregional populär waren, den Gegebenheiten des Raumes an, in dem sie agierten. Sie bezogen sich auf dessen Traditionen und spezielle Interessen, die auch der politischen Kultur raumtypische Akzente setzten und im Parteikampf wesentliche Erfolgsbedingungen stellten.« und Walter Ziegler, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, S. 139 - 159, hier S. 141. 25 Möller, Horst, Regionalismus und Zentralismus in der neueren Geschichte. Bemerkungen zur historischen Dimension einer aktuellen Diskussion, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996 (wie Anm. 4), S. 9 - 22, hier S. 11. 26 Wehling, Hans-Georg, Regionale politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, in: Regionale politische Kultur, hrsg. v. der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart u.a. 1985, S. 7 - 14, hier S. 10. 27 Zit. nach Broszat, Martin, Der Staat Hitlers, 13. Aufl. München 1992, S. 154. <?page no="21"?> schaft im nationalsozialistischen Staat als »gesetzmäßigen Zentralismus« und »praktischen Partikularismus«. 28 Und auch von einigen Gauleitern selbst sind ähnliche Äußerungen überliefert: der Gauleiter Süd-Hannover-Braunschweig, Lauterbacher, z.B. resümiert in seinen Memoiren, es sei die Pflicht des Gauleiters gewesen, seine Arbeit nach »den besonderen Eigenarten der Länder und der Bevölkerung auszurichten«, denen er vorstand. So habe »Auftreten, Methoden und Taktik« der Gauleiter je nach Landschaft variiert. Dem Gauleiter des Gaues Halle-Merseburg Rudolf Jordan soll Hitler selbst 1931 gesagt haben, er lasse den Gauleitern in den Gauen alle Freiheit, solange es nicht um grundsätzliche Fragen ginge. In den Gauen liege die »eigentliche Frontarbeit der Partei«. Er, Hitler, hasse die Gleichheit, jeder Gau solle nach der Persönlichkeit seines Führers und den besonderen Problemen der Bevölkerung geführt werden. 29 Für die Untersuchung solcher regionalspezifischen Ausprägung nationalsozialistischer Herrschaft erscheint der deutsche Südwesten, in dem die staatliche Verwaltungsstruktur mit der NSDAP-Gaueinteilung und dem landschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühl weitgehend identisch war, als besonders interessant. Zwar waren die Reichsländer Baden und Württemberg das Produkt einer erst rund 120 Jahre alten Geschichte des Zusammenwachsens unterschiedlichster Territorien des Alten Reiches nach der Napoleonischen Neuordnung der deutschen Landkarte. Doch hatten es die Könige von Württemberg nicht anders als die Großherzöge von Baden und deren Minister verstanden, die heterogenen Teile ihrer Neuerwerbungen an sich zu binden und mit einem weitgehend einheitlichen Staatsbewußtsein zu versehen. Schule, Kirche, Militär, die Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus und die liberalen Staatsgedanken führender südwestdeutscher Politiker hatten dabei eine wichtige Rolle gespielt, nicht zuletzt aber auch eine im 19. Jahrhundert umfänglich geförderte badische und württembergische Geschichtsschreibung, die Identität zu stiften bemüht gewesen war. 30 Warum jedoch gerade der Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 20 28 Rosenberg, Alfred, Letzte Aufzeichnungen. Ideale und Idole der nationalsozialistischen Revolution, Göttingen 1955, S. 260, siehe auch Ruck, Michael, Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Staates, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 99 - 122, hier S. 99. 29 Lauterbacher, Hartmann, Erlebt und mitgestaltet. Kronzeuge einer Epoche 1923 - 45. Zu neuen Ufern nach Kriegsende, Preußisch Oldendorf 1984, S. 169, Jordan, Rudolf, Erlebt und erlitten. Weg eines Gauleiters von München bis Moskau, Leoni 1971, S. 13. Siehe auch Ziegler, Walter, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 139 - 159, hier S. 139. 30 Berding, Helmut, Staatliche Identität, nationale Integration und politischer Regionalismus, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 121 (1985), S. 371 - 393; Schwarzmeier, Hansmartin, Politische Grenzziehung und historische Bewußtseinsbildung im deutschen Südwesten, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 121 (1985), S. 83 - 114. Daß gleichwohl innerhalb der neuen Staaten <?page no="22"?> Südwesten Deutschlands eine »erste Hochburg des Liberalismus« geworden war, ist noch keineswegs hinreichend geklärt und hat berechtigterweise noch kürzlich den Ruf nach weiteren »vergleichende[n] Regionalstudien« laut werden lassen. 31 Fraglos existierte jedenfalls noch in der Weimarer Republik ein ausgeprägter südwestdeutscher Eigenstaatsgedanke, eine besondere Wertschätzung föderalistischer Strukturen, nicht selten gepaart mit antipreußischen Affekten und Abgrenzungsbestrebungen untereinander. Die schon in dieser Zeit diskutierte Reichsreform scheiterte nicht zuletzt an dem hinhaltenden Widerstand der südwestdeutschen Länder und ihrer Auseinandersetzungen untereinander über die Bildung eines einheitlichen Südweststaates. 32 Dies mag nicht zuletzt auch durch die unterschiedliche wirtschaftliche und sozialpolitische Lage Badens und Württembergs bedingt gewesen sein, hatte Baden als Grenzland und mit einer krisenanfälligeren nordbadischen Produktionsgüterindustrie gegenüber Württemberg mit seiner dominierenden hochspezialisierten Verarbeitungsindustrie, krisenfesteren Wirtschaftsstruktur und Nebenerwerbslandwirtschaft vieler Industriearbeiter einen schwereren Stand. 33 Gleichwohl überstanden beide Regionen die wirtschaftlichen Krisenjahre der Weimarer Republik im Vergleich zum Reichsdurchschnitt relativ gut. Baden hatte 1933 eine Arbeitslosenquote von 16%, Württemberg nur 9% im Gegensatz zum Reichsdurchschnitt von 27% zu tragen. 34 Unter solchen Voraussetzungen fiel es den Nationalsozialisten zunächst durchaus schwer, im deutschen Südwesten Fuß zu fassen. Zwar existierten schon 1921 in Württemberg und Baden NSDAP-Ortsgruppen, doch blieb ihr Einfluß lange Zeit äußerst gering. Dies hing im Falle Württembergs nicht zuletzt mit der andauernden desolaten Verfassung der Parteiorganisation zusammen, die sich deutlich von der mustergültig straffen badischen unterschied. Erst 1929 eroberte die Nationalsozialismus in der Provinz 21 wiederum einzelne Regionalismen wie etwa der des katholischen Oberschwaben in Abgrenzung vom vorwiegend protestantischen Altwürttemberg erhalten blieben, soll damit nicht bestritten werden. Siehe Gollwitzer, Heinz, Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19./ 20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 27 (1964), S. 523 - 552, hier S. 531 - 534. 31 Langewiesche, Dieter, Liberalismus und Region, in: Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, hrsg. v. L. Gall, München 1995, S. 1 - 18, hier S. 9. 32 Heimers, Manfred Peter, Unitarismus und süddeutsches Selbstbewußtsein. Weimarer Koalition und SPD in Baden in der Reichsreformdiskussion 1918 - 1933 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 98), Düsseldorf 1992, S. 18, 30 f., 33, 108 - 126. 33 Allgeier, Rudi, Grenzland in der Krise. Die badische Wirtschaft 1928 - 1933 und Schnabel, Thomas, »Warum geht es in Schwaben besser? « Württemberg in der Weltwirtschaftskrise 1928 - 1933, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982, S. 150 - 183 bzw. S. 184 - 218. Siehe auch Boelcke, Willi A., Sozialgeschichte Baden-Württembergs 1800 - 1989. Politik, Gesellschaft, Wirtschaft (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 16), Stuttgart, Berlin, Köln 1989, S. 395 ff. 34 Falter, Jürgen W.; Bömermann, Hartmut, Die unterschiedlichen Wahlerfolge der NSDAP in Baden und Württemberg: Ergebnis differierender Sozialstruktur oder regionalspezifischer Faktoren? , in: Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. D. Oberndörfer, K. Schmitt (Ordo Politicus 28), Berlin 1991, S. 283 - 298, hier S. 288. <?page no="23"?> Hitlerpartei im Stuttgarter Halbmondsaal einen Parlamentssitz, in Baden errang man im gleichen Jahr sechs von insgesamt 88 Landtagsmandaten, aber auch dort regierte die »Weimarer Koalition« immerhin bis November 1932 relativ stabil. 35 Nicht übersehen sollte man bei der Wahlanalyse allerdings, daß es gerade in Baden und Württemberg denkwürdige Entwicklungen gab, die dem allgemeinen Trend entgegenstehen, der die konfessionelle Verteilung zum zentralen Erklärungsgrund für die Wahlerfolge macht. Obwohl in Baden der Anteil von Katholiken mit 58% höher war als in Württemberg, wo er bei 33% lag, waren die Wahlergebnisse der Nationalsozialisten in Baden durchgängig besser als in Württemberg. Jürgen W. Falter weiß hierauf trotz eingehender wahlsoziologischer und statistischer Untersuchungen nur eine Antwort: die Wirkung nicht genauer definierbarer regionaler Faktoren. 36 Es ist daher kaum verwunderlich, daß die nachfolgenden Biographien eine Reihe regionbezogener Äußerungen oder staatlich-administrativer Handlungen der Provinzführer nachweisen. Auffällig sind zunächst etwa besondere regionale Gesten, wie die Darstellung schwäbischer Sparsamkeit, der sich die neue württembergische NS-Regierung unter Gauleiter Murr in geradezu grotesker Weise befleißigt haben soll, als von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels die Begleichung der Unkosten für ein in Stuttgart anläßlich eines Besuches eingenommenes Mittagessen gefordert wurde. 37 In dem 1938 herausgegebenen Buch der deutschen Gaue, einer Propagandaschrift, die dem Geleitwort des Reichspressechefs der NSDAP Dr. Otto Dietrich zufolge das »Wirken und Schaffen der Bewegung« in den deutschen Gauen herausstellen sollte, wurde der Gau Württemberg-Hohenzollern durchaus auffällig vom zuständigen Gaupresseamt nicht etwa als »NS-Mustergau« oder als Raum, in dem die nationalsozialistische Führung besondere Leistungen vollbracht habe, dargestellt. Vielmehr ist in dieser Publikation ganz überwiegend von dem schwäbischen Menschen die Rede, dessen Verdienst allein die derzeitige, natürlich glückliche, Situation Württembergs sei: »Der schwäbische Mensch mit seiner Sparsamkeit, Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 22 35 Bräunche, Ernst Otto, Die NSDAP in Baden 1928 - 1933. Der Weg zur Macht und Schnabel, Thomas, Die NSDAP in Württemberg 1928 - 1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982, S. 15 - 48 und 49 - 81. Schon 1924 - 28 hatten drei Angehörige des Völkisch-sozialen Blocks dem württembergischen Landtag angehört, doch blieb ihre parlamentarische Tätigkeit weitgehend bedeutungslos. Zur Entwicklung der NSDAP in der Frühzeit siehe insbesondere Auerbach, Hellmuth, Regionale Wurzeln und Differenzen der NSDAP 1919 - 1923, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 65 - 85, hier S. 72. 36 Falter/ Bömermann (wie Anm. 34), S. 297. 37 Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 49. Der Vorfall wird bei Ströle, Karl, Aus meinem bunten Leben [Masch.], Stuttgart 1967, S. 66 erwähnt, wobei fragwürdig bleibt, ob Ströle auf eigene oder, was angesichts der Situation wahrscheinlicher erscheint, fremde Veranlassung gehandelt hat. <?page no="24"?> Zähigkeit, Erfindergabe, Ausdauer und Bescheidenheit. Hätte der Schwabe diese Eigenschaften nicht besessen, so wäre nie und nimmer seine Wirtschaft zu der glücklichen Struktur gekommen, die sie heute besitzt.« Nur in den letzten zwei Sätzen des Beitrages wird in einer allerdings ebenso bezeichnenden Weise dem Nationalsozialismus Reverenz erwiesen: »So wurden wir im Gau Württemberg-Hohenzollern als gute Schwaben zu besseren Deutschen. Und das ist das Werk unseres Schwabenführers Wilhelm Murr.« 38 Mögen solche (Selbst-)darstellungen noch unschwer als durchsichtige Versuche, freundliche landsmannschaftliche Verbundenheiten der NS-Führer mit ihrer Region zu beweisen, gewertet werden, so wird in der Ansprache des Badischen Kultusministers Otto Wacker vor dem Landesverein Badische Heimat 1934 bereits die politische Brisanz einer regionalen Orientierung der NS-Führer deutlich. Wacker wehrte sich in seiner Rede nämlich gegen Gleichschaltungsversuche der Reichsleitung gegenüber den Heimatvereinen und sicherte dem badischen seinen ministeriellen Schutz zu: »Der Kurs, den der Landesverein Badische Heimat eingeschlagen hat, braucht nicht verändert zu werden, denn die ›Badische Heimat‹ steht ja schon dort, wo viele andere Leute erst hin wollen. (Äußerung lebhafter Zustimmung) Er steht nämlich auf dem Boden des deutschen Volkstums. Man kann nicht von Berlin aus die am Oberrhein notwendige Volkstumsarbeit leisten. (Rufe: Sehr richtig, stürmischer Beifall)«. 39 Ganz ähnlich weigerte sich in Württemberg Innenminister Jonathan Schmid, Erlasse aus Berlin auszuführen, die den württembergischen Verhältnissen nicht entsprachen 40 , und Staatssekretär Karl Waldmann stritt nicht nur für eine Gemeindeordnung, die die württembergischen Traditionen respektiere, sondern setzte sich ähnlich wie seine badischen NS-Amtskollegen 1934/ 35 in der Reichsreformdiskussion vehement für den ungeschmälerten Fortbestand seines Heimatlandes Württemberg ein. 41 Nicht selten wurde wegen solchen Verhaltens auch von seiten der Reichsführung der Partei Klage geführt, daß die südwestdeutschen Länderminister die Belange Nationalsozialismus in der Provinz 23 38 Dähn-Rösch, Der Gau Württemberg-Hohenzollern, in: Das Buch der deutschen Gaue. Fünf Jahre nationalsozialistische Aufbauleistung, Bayreuth 1938, S. 272-279, hier S. 275 f., 279. Ganz anders präsentierte sich in dem ebd. S. 261-271 veröffentlichten Beitrag von Richard Volderauer »Gau Baden baut auf« der von Robert Wagner geführte Gau. In Volderauers Darstellung wird das Wirken des Reichsstatthalters als regionale Umsetzung der wegweisenden, von Hitler inspirierten Reichsdirektiven beschrieben. Zur Förderung des Fremdenverkehrs etwa wird (S. 264) ausgeführt: »Dabei verstand es sich von selbst, daß die Gestaltung der Dinge in Baden nur in restloser Anpassung an die Umformungen im Reich sich vollziehen konnte.« 39 Ansprache von Dr. Otto Wacker, in: Mein Heimatland 21 (1934), S. 376 - 379, hier S. 378. 40 Ruck (wie Anm. 28), S. 114 f. 41 Sauer (wie Anm. 37), S. 44 - 48. In Baden machte sich Ministerpräsident Köhler durch Eingaben und Denkschriften zum Anwalt badischer Selbständigkeit. Auch der Leiter der badischen Staatskanzlei Müller-Trefzer verfaßte 1935 eine einschlägige Schrift unter dem Titel »Baden im Rahmen der Reichsreform«. GLA 240 Zug. 1987/ 53 Nr. 403. Belegt sind u.a. auch ständige Beschwerden Gauleiter Wagners über wirtschaftliche Benachteiligungen seines Landes durch die Reichsbehörden. Siehe Boelcke, Willi A., Wirtschaft und Sozialsituation, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttgarter Symposion 1), Stuttgart 1988, S. 29 - 45, hier S. 35. <?page no="25"?> des Reiches zugunsten ihrer Sonderinteressen vernachlässigten. 42 Welche Schärfe solche Probleme annehmen konnten, zeigt etwa auch der nachfolgend beschriebene Fall des württembergischen Gestapobeamten Dr. Hermann Mattheiß. Weil Mattheiß einerseits mit seiner scharfen Verfolgung politischer Gegner und seinen sozialrevolutionären Parolen den gemäßigten politischen Kurs der württembergischen Landesregierung störte und andererseits sich auch dem aufsteigenden Reichsführer- SS Heinrich Himmler nicht unterordnen wollte, wurde er im Zuge der Röhmliquidierungen 1934 erschossen. Wenngleich der »Fall Mattheiß« in seiner radikalen Konsequenz singulär blieb, so ließen sich doch die angeführten Beispiele spezifisch regionalpolitischen Handelns der hiesigen NS-Elite um ein vielfaches vermehren. Dies hat schon bei Zeitgenossen, aber auch bei zeitgeschichtlich orientierten Landeshistorikern nach 1945 nicht selten zu der Feststellung geführt, im deutschen Südwesten sei in der NS-Zeit vieles moderater, erträglicher als in den übrigen Teilen des Reiches gewesen, hätten keineswegs die »schlimmsten Scharfmacher« die politische Situation bestimmt. 43 Diese Schlußfolgerung wird aber durch die Biographien unseres Bandes relativiert! Denn so oft auch in zeitgenössischen Dokumenten von Gesten regionaler Verbundenheit die Rede ist, so oft steht dem das entschiedene und ebenso häufig geäußerte persönliche Bekenntnis zum zentralistischen Einheitsstaat Adolf Hitlers gegenüber. Derselbe Badische Kultusminister Otto Wacker z.B., der sich so vehement für die Selbständigkeit der badischen Heimatvereine einsetzte, nahm zugleich energisch die Einführung des Führerprinzips in den badischen Hochschulen in Angriff und führte einen scharfen Kampf gegen den Einfluß der katholischen Kirche im schulischen Unterricht, der Vorreiterfunktion für eine reichseinheitliche Regelung haben sollte. Die Biographien von Badenern und Württembergern, die es im Reichsdienst zu bedeutenden Ämtern brachten und sich viel auf ihre regionale Herkunft zugute hielten, machen deutlich, wie regionale Verbundenheiten nicht selten auch zu einer vordergründigen, teils romantisierenden klischeehaft-kitschigen Heimattümelei oder Landsmannschaftlichkeit ohne tiefere politische Bedeutung verkommen konnten. Viele Beispiele aktiven politischen Einsatzes für die Besonderheiten der Region waren ganz vordergründig durch das übertragene regionale Amt bedingt. Ganz selbstverständlich hatten ja die Ministerpräsidenten und Fachressortleiter etwa die Interessen des ihnen anvertrauten Verwaltungsbezirkes in den Vordergrund zu stellen - und das schon im eigenen Interesse, wollte man doch auch persönlich mit einer positiven Leistungsbilanz vor dem »Führer« aufwarten können. Dabei mag der zunehmende Entzug von Kompetenzen durch Reichsinstitutionen eher noch verstärkend gewirkt haben. Mit dem Neuaufbaugesetz vom 30. Januar 1934 etwa war die gesamte Innenverwaltung der Länder den Weisungen des Reichsin- Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 24 42 Sauer, Paul, Staat, Politik, Akteure, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttarter Symposion 1), Stuttgart 1988 (wie Anm. 41), S. 14 - 28, hier S. 24. 43 Sauer (wie Anm. 42), S. 28. <?page no="26"?> nenministers unterstellt worden. Um weitgehende Einwirkungsmöglichkeiten in die Kultur- und Bildungspolitik, die traditionelle Domäne der Länder, waren gleich mehrere Reichsinstitutionen erfolgreich bemüht: das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, die Reichskulturkammer, das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung und das Reichsministerium für kirchliche Angelegenheiten. Die Bereiche Justiz und Polizei wurden 1935/ 36 sogar vollkommen »verreichlicht«, und nicht einmal die regionale Strukturpolitik blieb vollständig in den Händen der regionalen politischen Führung. 44 Die Betonung regionaler Interessen und Verbundenheiten mag so, wie u.a. das Beispiel des württembergischen Innenministers Jonathan Schmid zeigt, ein Element eigener Herrschaftslegitimation und -sicherung gegenüber der Bevölkerung gewesen sein, wie sie gegenüber den Reichsinstitutionen ein Mittel im Ringen um Einfluß und Macht war, das z.B. auch Gauleiter Wagner immer wieder einsetzte. Daß es gerade ihm dabei weniger um die Traditionen des Landes und die Gewohnheiten seiner Einwohner ging, beweist seine Tätigkeit als Chef der Zivilverwaltung im Elsaß. Sein »imperialistisches« Verhalten dort sollte nach Beendigung des Krieges Vorbild für eine auch dem Land Baden dann aufzuerlegende nationalsozialistische Herrschaft werden, die seine zweifellos angestrebte regionale »Hausmachtstellung« hätte befestigen können. 45 Unter solchen Voraussetzungen erscheint seine Zusicherung, solange er lebe, werde niemals ein Bürger seiner Heimatgemeinde Eberbach in einem Konzentrationslager inhaftiert werden, mehr als Zurschaustellung gaufürstlicher Allmacht, denn als wohlmeinender Schutz für das Leben der anvertrauten Landsleute. Wie wenig ihn solche Fürsorge bewegte, belegen seine wie auch die Befehle des »Schwabenführers« Murr am Ende des Krieges, alle noch verbliebenen Versorgungseinrichtungen zu zerstören. Wenn Gustav Adolf Scheel, der gegen Ende des Krieges Gauleiter von Salzburg wurde, die verbliebene Infrastruktur zu erhalten versuchte, muß dies auch nicht als Zeichen besonderer Heimatverbundenheit gewertet werden, denn solches lediglich auf gesundem Menschenverstand beruhende Verhalten sollte auch dazu dienen, seine Tätigkeit nach dem sich abzeichnenden Untergang des NS-Regimes in einem günstigeren Licht darzustellen. In nicht wenigen Fällen stellt sich auch regionalpolitisch ausgerichtetes Handeln der NS-Führer bei näherem Hinsehen nicht als aktives, sondern vielmehr als reaktives Verhalten dar. Die »Beharrungskräfte der Region«, die z.B. in der Beamtenschaft ihren Ausdruck fanden, zwangen die Führer der Provinz bisweilen zur Mäßigung, sei es, weil sich ein Interessenbündnis zwischen ihnen und der NS-Führung ergab, sei es, weil die regionalen Führer Nationalsozialismus in der Provinz 25 44 Ruck (wie Anm. 28), S. 111 f. 45 Siehe hierzu auch Kettenacker, Lothar, Die Chefs der Zivilverwaltung im Zweiten Weltkrieg, in: Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, hrsg. v. D. Rebentisch, K. Teppe, Göttingen 1986, S. 396 - 417, hier S. 404 ff., 417 Anm. 92. Für den von Wagner angestrebten neuen Großgau Baden-Elsaß spielten denn auch die alten Landesnamen keine Rolle mehr. Er sollte Gau »Oberrhein« heißen. <?page no="27"?> zumindest vorerst auf die vorhandenen Landesbeamten als Fachkräfte angewiesen waren. Die Biographien zu Jonathan Schmid oder Karl Pflaumer etwa weisen unter Rückgriff auf einschlägige Studien 46 deutlich in diese Richtung. Und nicht zuletzt erweist sich auch mancher Regionalismus als nachträgliches Konstrukt wie im Falle Edmund Mickels, der sich in seinem Spruchkammerverfahren zugute hielt, den liberalen badischen Richter in der NS-Zeit verkörpert zu haben. Tatsächlich jedoch zeigte das Sondergericht Mannheim in seinen Urteilen keine Abweichung vom allgemeinen Bild der nationalsozialistischen Unrechtsjustiz. Der Regionalismus der nationalsozialistischen Führer unseres Raumes erweist sich also bei näherem Hinsehen als sehr unterschiedlich motiviert, und sein Handlungsspielraum war in den wenigen Fällen, in denen er ernsthaft praktiziert wurde, zumeist sehr beschränkt. Welch geringer Stellenwert ihm letztlich zukam, macht die »Aktivbilanz« nationalsozialistisch-zentralistischer Herrschaft in unserem Raum deutlich. Gerade hierzu liefern die nachfolgenden Biographien eine Reihe einschlägiger Hinweise. So sehr z.B. Karl Waldmann für eine württembergischen Traditionen angeblich angepaßte Gemeindeverwaltung warb, so wenig war damit echte Bürgerbeteiligung oder gar eine liberalere Herrschaftsauffassung gemeint. Letztlich galt das Führerprinzip. So wie in diesem Fall wurden die für die Verwirklichung nationalsozialistischer Herrschaft bedeutsamen Reichsdirektiven auch in unserem Raum von den Führern der Provinz in vollem Ausmaß und, von letztlich belanglosen Einzelfällen abgesehen, ohne eine irgendwie erkennbare Milderung exekutiert. Dietrich von Jagow und Dr. Hermann Mattheiß sorgten z.B. für die schonungslose Verfolgung der politischen Gegner in Württemberg. Noch unter Landeshoheit baute Mattheiß dazu einen für die Landesfinanzen ruinösen, großen geheimen staatspolizeilichen Apparat auf. Damit wurde für viele bittere Wirklichkeit, was Gauleiter Murr vollmundig den württembergischen Gegnern des Nationalsozialismus schon am 15. März 1933 bei einer Großkundgebung angedroht hatte: »Wir sagen nicht Aug’ um Auge, Zahn um Zahn, nein, wer uns ein Auge einschlägt, dem werden wir den Kopf abschlagen, wer uns einen Zahn ausschlägt, dem werden wir den Kiefer einschlagen«. 47 In Baden inszenierte man am 15. Mai 1933 gar eine Schaufahrt verhafteter »Systempolitiker« der SPD, darunter der ehemalige Minister Remmele und Staatsrat Marum, die auf einem Lastwagen durch Karlsruhe gefahren und den Beschimpfungen des organisierten Pöbels ausgesetzt wurden. Die Fahrt endete im neu errichteten Konzentrationslager Kislau, wo Ludwig Marum einige Zeit später ermordet wurde. Das menschenverachtende »Euthanasieprogramm« wurde in Baden und Württem- Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 26 46 Roser, Hubert, Nationalsozialistische Personalpolitik und regionales Verwaltungshandeln im Widerstreit. Zur Sozialgeschichte der südwestdeutschen Beamtenschaft 1933 - 1939, Diss. [masch.], Mannheim 1996; Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 4), München 1996. 47 Zit. nach Sauer (wie Anm. 37), S. 30. <?page no="28"?> berg in der Verantwortung der beiden Innenminister durchgeführt. Schon im April 1934 ließ das Badische Innenministerium u.a. in Rastatt in einem völlig heruntergekommenen Gebäude eine sog. »Pflegeanstalt« einrichten, in der geistig kranke Menschen zusammengepfercht und nur notdürftig versorgt werden sollten. Minister Karl Pflaumer besichtigte die Anstalt persönlich und drängte ihren Leiter Dr. Schreck zu einem möglichst sparsamen Umgang mit den ohnehin geringen für die Anstalt zur Verfügung gestellten Finanzmitteln. 1940 wurden die Anstaltsinsassen über Zwischenaufenthalte in das württembergische Grafeneck verbracht, wo auf Betreiben des Ministerialdirigenten im Reichsinnenministerium Dr. Herbert Linden, einem besonders heimatverbundenen Badener, die erste große Tötungsanstalt, die als Vorbild für alle späteren Vernichtungsanstalten diente, eingerichtet worden war. Dort fanden innerhalb eines Jahres über 10.000 Menschen den hier in großem Umfang praktizierten Gastod. 48 Auch hinsichtlich der Diskriminierung und Vernichtung jüdischen Lebens bemühten sich die südwestdeutschen Führer der Provinz um eine fleißige und akkurate Umsetzung der Reichsdirektiven. Gauleiter Wagner etwa konnte hierbei sogar eine »Vorreiterrolle« für sich in Anspruch nehmen, hatte er doch die Entlassung jüdischer Hochschullehrer schon im Mai 1933 angeordnet und zusammen mit seinem Pfälzer Amtskollegen Josef Bürckel bereits im Oktober 1940 als erster im Reich die Deportation der badischen Juden eingeleitet und seinen Gau »judenrein« gemeldet. 49 Auch im Umgang mit anderen, von den Nationalsozialisten als »rassisch minderwertig« Eingestuften wie den »Zigeunern« zeigten sich in Baden und Württemberg keine mäßigenden Einflüsse wie der Abtransport von 54 Sinti und Roma aus Mosbach 1943, die im Konzentrationslager Auschwitz umkamen, belegt. 50 Regionalismus bei den südwestdeutschen Führern der Provinz - dies bestätigen schon diese wenigen Hinweise nachdrücklich - konnte nur einen ganz eng umgrenzten Spielraum haben. Allen Beteuerungen zum Trotz verstanden sich die »Führer der Provinz« letztlich, wenn sie ihrem eigenen System nicht zum Opfer fallen wollten, als Sachwalter ihrer zentralistischen Führung, und so handelten sie auch. Wenn Nationalsozialismus in der Provinz 27 48 Peschke, Franz, Schrecks Anstalt. Eine Dokumentation zur Psychiatrie und »Euthanasie« im Nationalsozialismus am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt, Rastatt 1992, bes. S. 90 - 93; Rückleben, Hermann, Deportation und Tötung von Geisteskranken aus den badischen Anstalten der Inneren Mission Kork und Mosbach (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der evangelischen Landeskirche in Baden 33), Karlsruhe 1981, S. 46 - 53, 70 ff., Stöckle, Thomas, Die »Aktion T4« in Grafeneck, in: Die alte Stadt 20 (1993), S. 381 - 384. 49 Hug, Wolfgang, Geschichte Badens, Stuttgart 1992, S. 352 f.; Sauer, Württemberg (wie Anm. 37), S. 412 - 416. 50 Zimmermann, Michael, Eine Deportation nach Auschwitz. Zur Rolle des Banalen bei der Durchsetzung des Monströsen, in: Normalität oder Normalisierung? Geschichtswerkstätten und Faschismusanalyse, hrsg. v. H. Gerstenberger, D. Schmidt, Münster 1987, S. 84 - 96. Zur ersten familienweisen Deportation von Sinti und Roma im Mai 1940, an der ebenfalls badische und württembergische Dienststellen beteiligt waren, siehe Krausnick, Michail, Abfahrt Karlsruhe. Die Deportation in den Völkermord, 2. Aufl. Neckargemünd 1991. <?page no="29"?> dennoch der deutsche Südwesten während der nationalsozialistischen Jahre manchem Zeitgenossen als weniger fanatisch, ja freier erschien, so lag dies gewiß nicht an den regionalen Repräsentanten des Regimes. Es lag an den freiheitlichen, rechtsstaatlichen und humanen Traditionen der Region, die in dem zivilcouragierten, resistenten Alltags- und Berufsverhalten manch eines Badeners oder Württembergers und dem leider auch hier eher selten anzutreffenden Widerstand im engeren Sinne fortlebte. Die Menschen, die dazu den Mut aufbrachten, aber standen auf der Seite der Gegner Hitlers und seiner Provinzführer 51 und knüpften 1945, nach dem Zusammenbruch des Regimes, dort an, wo sie nach der »Machtergreifung« in Karlsruhe und Stuttgart, ihr politisches Wirken hatten beenden müssen. Am Ende eines langjährigen Forschungsprojektes und zum Anfang einer Publikation seiner Erträge haben wir all jenen zu danken, die die Entstehung dieses Bandes unterstützt, ja z.T. erst möglich gemacht haben. An erster Stelle sind natürlich die Autorinnen und Autoren zu nennen, die sich der mühevollen Recherchearbeit unterzogen haben und sich der von den Herausgebern geforderten Diskussion um die Formulierung der jeweiligen Biographie größtenteils mit Geduld und Verständnis gestellt haben. Dies gilt insbesondere für jene Beiträger, die als Magistranden oder Dissertanten hier erstmals eigene Forschungsarbeiten veröffentlichen, denen sie sich mit außerordentlichem Engagement und unter Aufopferung von Zeit und Geld gewidmet haben. Ihre Aufsätze belegen eindrucksvoll, daß die pauschale Kritik an der Leistungs- und Einsatzbereitschaft der heutigen Studentengeneration ungerechtfertigt ist. Wir werten sie darüber hinaus als erfolgreichen Versuch der so oft geforderten engeren Verbindung zwischen wissenschaftlicher Lehre und Forschung einerseits und berufsqualifizierender Anwendung andererseits. Aber auch den Kolleginnen und Kollegen aus den Stadtarchiven und Bibliotheken, aus anderen Forschungseinrichtungen und aus der Presse gebührt unser besonderer Dank, stellt doch die Abfassung solcher umfänglichen Studien eine Zusatzbelastung in der ohnehin überladenen Tagesarbeit dar. Sie alle haben, ohne Honorar und Entgelt für Sachaufwendungen zu erwarten, die vorliegende Publikation ermöglicht - ein Beitrag, dessen Wiederholung angesichts schrumpfender Etats und Arbeitsüberlastung fraglich erscheinen muß. Dies sollte in der Diskussion um die öffentlichen Haushalte im besonderen und den öffentlichen Dienst im allgemeinen auch angemessene Beachtung finden. Michael Kißener, Joachim Scholtyseck 28 51 Siehe hierzu auch Kißener, Michael, Nationalsozialismus und Widerstand - Beobachtungen zum Heimatbegriff bei Alfred Delp, Hanns Haberer und Leo Wohleb, in: Heimat. Konstanten und Wandel im 19./ 20. Jahrhundert. Vorstellungen und Wirklichkeiten, hrsg. v. H.-M. Körner, K. Weigand (erscheint 1997). <?page no="30"?> Besondere Verdienste um diese Publikation haben sich neben den Beiträgern auch Dr. Horst Ferdinand (St. Augustin) und Prof. Dr. Wolfgang Altgeld (Universität Mainz) erworben, die die Manuskripte z.T. mehrfach gelesen haben und unser aller Arbeit mit konstruktiver Kritik, nützlichen Anregungen und vielen Sachhinweisen ganz entscheidend gefördert haben. Der Leiter der Forschungsstelle »Widerstand«, Herr Prof. Dr. Rudolf Lill, hat nicht nur ein Vorwort beigefügt, sondern die Entstehung dieses Bandes mit Interesse und hilfreichen Vorschlägen begleitet. Das umfangreiche Register haben vor allem Klaus Eisele M.A. und Nicole Zerrath erarbeitet, Ulrike Lennartz M.A. ist für mehrfaches Korrekturlesen zu danken. Schließlich ist auch an die finanzielle Unterstützung für die Drucklegung zu erinnern, die uns die Karlsruher Hochschulvereinigung hat zukommen lassen. Ohne diese wäre das vorliegende Buch schon gar nicht möglich gewesen. Und abschließend sei auch dem Universitätsverlag Konstanz, insbesondere Frau U. Preimesser, gedankt, die seit Jahren unsere Publikationen in hervorragender Weise und mit viel Verständnis betreut. Nationalsozialismus in der Provinz 29 <?page no="32"?> Karl Berckmüller * 10. Oktober 1895 Karlsruhe, kath., 1921 ev., Kirchenaustritt, Vater: Karl Joseph Anton Berckmüller, Fabrikant, Mutter: Maria Karolina Josephina, geb. Völker, verheiratet seit 2. Dezember 1920 mit Gertrude Elisabeth, geb. Röhnich, vier eheliche, zwei außereheliche Kinder. Volksschulbesuch, Realgymnasium, 2. August 1914 Kriegsfreiwilliger in einem badischen Infanterieregiment, Dezember 1914 nachträgliche Zuerkennung des Abiturs, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer zuletzt im Range eines Oberleutnants, 1919 Leitung der elterlichen Metallwarenfabrik, 1929 - 1931 Angestellter im »Führer«-Verlag, 1931 - 1933 Kreispressewart und Verlagsleiter des »Alemannen«, 1. Oktober 1933 Leiter der Geheimen Staatspolizei in Karlsruhe (Regierungsrat), 11. März 1937 Leiter des staatlichen Hafenamtes Mannheim, Oktober 1937 - Mai 1945 Bürgermeister von Villingen, 1. April 1940 - 1. Mai 1945 Kriegsteilnehmer als Hauptmann und Kompaniechef auf mehreren Fliegerhorsten beim Luftgaustab Südwest. 26. Januar 1926 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 29.365), 1926 - 1933 Mitglied der SA, vermutlich Mitte 1934 Mitglied der SS, zuletzt SS-Obersturmführer, Februar 1937 erzwungener Austritt aus der SS nach einem Ehrengerichtsverfahren. 9. November 1945 Gefangennahme, mehrfache Flucht aus verschiedenen Internierungslagern, 2. April 1949 Entscheidung der Zentralspruchkammer Nordbaden: »Hauptschuldiger«, 13. Juni 1950 erneute Verhaftung, 5. September 1950 Untersuchungshaft, 19. Dezember 1950 Entscheidung der Zentralberufungskammer Württemberg-Baden: »Belasteter«, 24. November 1950 Urteil des Landgerichts Freiburg in einem Strafprozeß: 1 Jahr, 3 Monate Gefängnis, 1951 Vertreter für Preßstoffe, gest. 27. Juli 1961. Von Idealisten, Aufsteigern, Vollstreckern und Verbrechern Karl Berckmüller, Alexander Landgraf, Walter Schick, Josef Gmeiner, Leiter der Geheimen Staatspolizeileitstelle Karlsruhe Michael Stolle Karl Berckmüller 31 <?page no="33"?> Alexander Landgraf *20. Mai 1906 Lorsch/ Hessen, ev. (? ), Kirchenaustritt, Vater: Johannes Landgraf, Landwirt und Bäkkermeister, Mutter: Anna Marie, geb. Eichhorn , verheiratet seit 10. Februar 1940 mit Elfriede, geb. Honje, drei Kinder. Volks- und Oberrealschule, Gymnasium Heppenheim, Abitur, Amtsgericht Lorsch, 1926 - 1929/ 30 Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und Gießen, 23. Mai 1930 I. juristisches Staatsexamen, 1930 - 1933 Referendar bei einem Rechtsanwalt und bei verschiedenen Justizbehörden, 22. Dezember 1933 II. juristisches Staatsexamen, 23. Mai 1934 - 31. Januar 1936 Gerichtsassessor bei der Polizeidirektion Darmstadt, 1. Februar 1936 im Dienst der preußischen Geheimen Staatspolizei, informelle Tätigkeit in Münster, März 1936 kommissarischer Leiter der Staatspolizeileitstelle Osnabrück, April 1936 Leiter der Staatspolizeileitstelle Wesermünde, 1. Juli 1937 Regierungsrat, 1. September 1937 Leiter der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe, 1. Februar 1942 Oberregierungsrat, 1. April 1941 Versetzung zum BdS nach Straßburg, Februar 1942 - Herbst 1942 Abkommandierung mit Sonderauftrag zum Stab Höhere SS und Polizeiführer (BdS) in Riga, Oktober 1942 - März 1945 Leiter der Staatspolizeileitstelle Münster, Herbst 1944 - März 1945 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Westfalen/ Nord. 1. Februar 1928 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 75.943), 1928 - 1936 Kulturwart und Schulungsleiter der NSDAP, 20. April 1937 Mitglied der SS, SS-Untersturmführer und SS-Führer im SD-Hauptamt, 1. August 1938 SS-Hauptsturmführer, 1. November 1940 SS-Sturmbannführer, 1. September 1942 SS-Obersturmbannführer, Inhaber des Ehrendolches der SA, des Totenkopfrings der SS, des Julleuchters, des EK I, des Goldenen Parteiabzeichens, Träger des Winkels der alten Garde. Mai 1945 - September 1952 Gelegenheitsarbeiten in Deutschland und anderen Ländern, 21. November 1952 Entscheidung der Zentralspruchkammer Hessen, Frankfurt/ Main: Einstellung des Verfahrens, Ermittlungen wegen des Verdachts auf Tötungsverbrechen eingestellt, 1953 Mitarbeiter der Bezirkssparkasse Seligenstadt, gest. 16. August 1972 Frankfurt/ Main. Alexander Landgraf mit Ehefrau Elfriede Michael Stolle 32 <?page no="34"?> Walter Schick *22. Juni 1909 Schramberg/ Württemberg, ev., Kirchenaustritt, Vater: Christian Friedrich Schick, Volksschulrektor, Mutter: Emilie, geb. Fuchs, verheiratet seit 7. August 1937 mit Irma, geb. Fastenau, drei Kinder. Volks- und Realschule in Schramberg, Frühjahr 1928 Abitur in Stuttgart, 1928 - 1933 Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen, Berlin und München, Frühjahr 1933 I. juristische Staatsprüfung, Sommer 1934 II. juristische Staatsprüfung, 1937 Assessor bei der Geheimen Staatspolizei in Berlin, 1. Juli 1939 Leiter des Sachgebiets II B 1 (wirtschaftspolitische Angelegenheiten) des Gestapa, 23. Dezember 1939 Regierungsrat, 15. April 1940 Vertreter des Leiters der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe, gleichzeitig Referent im RSHA Berlin, Gruppe VII B5, Herbst 1942 Leiter der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe, 1. Oktober 1943 Oberregierungsrat, 1. April 1944 Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Königsberg. 1. März 1931 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 474.543), 8. September 1931 Mitglied der SS, 1937 SS-Obersturmführer, 30. Januar 1944 SS-Obersturmbannführer. Gest. 21. Juli 1944 Königsberg. Josef Gmeiner * 22. Dezember 1904 Amberg/ Oberpfalz, kath., Vater: Albert Gmeiner, Kriminaloberwachtmeister, Mutter: Franziska, geb. Graf, verheiratet seit 14. Oktober 1931 mit Margareta, geb. Knarr, drei Kinder. Volksschule, humanistisches Gymnasium Amberg, 1923 - 1930 Studium der Rechtswissenschaften in München und Erlangen, selbständiger Rechtsanwalt in Amberg, August 1938 Regierungsassessor bei der Staatspolizeileitstelle Neustadt a. d. W., Versetzung nach Karlsbad (Sudetenland), 18. Dezember 1939 Leiter der Staatspolizeileitstelle Dessau, Mitte Juni 1939 Abordnung zur Einsatzgruppe C, »Verbindungsoffizier« der Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des SD zur 11. Armee bis Oktober 1941, danach Leiter der Staatspolizeileitstelle Karlsbad, Februar 1944 Leiter der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe im Rang eines Oberregierungsrats, 10. November 1944 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Baden/ Elsaß. Walter Schick Josef Gmeiner K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 33 <?page no="35"?> Mai 1923 Mitglied des Bundes »Oberland«, 9. November 1923 Teilnehmer am Hitlerputsch, 19. Februar 1934 Mitglied der SS, 1. Mai 1935 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 3.656.472), 9. November 1937 SS-Untersturmführer, 1. Januar 1940 SS-Sturmbannführer, 21. Juni 1943 SS-Obersturmbannführer, Inhaber des Julleuchters, Kriegsverdienstkreuz mit Schwertern 1. Klasse. Gefangennahme, Kriegsgefangenenlager Depot Nr. 205 Baccarat, 3. September 1947 Urteil des Britischen Militärgerichtshofs in Hamburg: Tod, hingerichtet 26. Februar 1948 Hameln. Der »Idealist«: Karl Berckmüller Karl Friedrich Berckmüller stammte aus einer alten katholischen Bürgerfamilie, die seit mehreren Generationen in der badischen Residenzstadt ansässig war. 1 Sein Vater, Karl Joseph Anton Berckmüller, war Besitzer einer Metallwarenfabrik in Berghausen bei Karlsruhe. Der junge Karl, erstes von insgesamt drei Kindern, ging seit 1902 vier Jahre lang in die Volksschule, um anschließend (zwischen 1905 und 1914) das Gymnasium in Durlach, das Humboldtgymnasium in Karlsruhe und zuletzt das Realgymnasium in Ettenheim zu besuchen. Das abschließende Abiturzeugnis konnte der Fabrikantensohn erst Ende 1914 in Händen halten, weil er sich noch im Sommer kriegsbegeistert freiwillig zum Dienst in einem badischen Infanterieregiment gemeldet hatte. So nahm der Oberprimaner, zunächst als Fahnenjunker, dann als Leutnant, an dem deutschen Vorstoß nach Lothringen teil und erlebte, nach dessen Scheitern, den Stellungskrieg im Oberelsaß. 2 Sein aktiver Dienst wurde immer wieder durch mehrwöchige Lazarettaufenthalte wegen diverser Kriegsverwundungen unterbrochen. Am 13. April 1916 wurde er zur Flieger-Ersatz-Abteilung abkommandiert, wo er eine Ausbildung zum Flugzeugführer absolvieren sollte, so daß er zunächst in Darmstadt, später in Freiburg stationiert wurde. Den Absturz seiner Maschine am 10. Mai 1917 überlebte Berckmüller mit mehrfachem Rückenwirbelbruch schwerverletzt. Als er sich am 22. April 1918 wieder bei der Fliegerschule in Fürstenwalde meldete, war er »d.a.v. Heimat« geschrieben und 40% kriegsbeschädigt. Ein aktiver Militärdienst war also unmöglich geworden. Berckmüller blieb bis zum 28. Januar 1920 beurlaubt, ehe er nach einiger Verzögerung offiziell aus der Reichswehr entlassen wurde. 3 Der junge Oberleutnant war jedoch vermutlich schon früher nach Karlsruhe zurückgekehrt. Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Generation mußte sich Karl Berckmüller keine Sorgen um seine Zukunft machen. Er übernahm, nachdem sein Vater bereits Anfang 1919 verstorben war, die Leitung des elterlichen Betriebs. Am 2. Dezember 1920 heiratete er Gertrude Röhnich, die Tochter eines aus Preußen Michael Stolle 34 1 Hirsch, Fritz, 100 Jahre Bauen und Schauen Bd. 2, Karlsruhe 1932, S. 352 f. 2 Auskunft über seine Militärdienstzeit im Ersten Weltkrieg gibt seine Offiziersstammrolle: GLA 456 Nr. 865. 3 GLA 456 Nr. 865. <?page no="36"?> stammenden ehemaligen Generalleutnants, eineinhalb Jahre später wurde das erste von vier (ehelichen) Kindern des Ehepaars Berckmüller geboren. Berckmüller war ein rechtsnational denkender Fabrikant, der nun allmählich begann, sich für die Politik zu interessieren. Emil Henk, ein Vetter Karl Berckmüllers und späterer Aktivist im sozialistischen Widerstand 4 , hatte in dieser Zeit, Anfang der 20er Jahre, noch Kontakt zu Berckmüller, ehe sich die beiden politisch und privat entzweiten. Henk erinnerte sich später an Berckmüllers »ausgesprochen romantische Neigungen«. Auch an die Politik sei er wohl »voll [von] romantischem Idealismus« herangetreten. 5 Wenngleich Henk damit Berckmüllers Selbstverständnis zweifellos zutreffend beschrieb, ist kaum zu übersehen, daß sich seine politischen »Ideale« in der Kombination widersprüchlichster politischer Vorurteile und völkisch-radikaler Kampfparolen erschöpften. So glaubte Berckmüller etwa, »dass die Revolution in Deutschland von Juden gemacht wurde, weil in Russland an der Spitze des Bolschewismus Leute wie Trotzki und andere Juden stehen.« 6 Bezeugt diese Äußerung ein höheres Maß an politischem Unverstand denn Sachverstand, so ist sie ebenso Beweis für Berckmüllers unverhohlenen Antisemitismus. Tatsächlich wurde er in den 30er Jahren auch nie müde, seine tiefe Judenfeindschaft zu betonen. 7 Daß seine Fabrik, in der etwa 150 Arbeiter Metalltuben für Parfums herstellten, nur mäßig florierte, führte er dementsprechend auf seine vorwiegend jüdische Kundschaft zurück, die sein kaufmännisches Engagement boykottiert hätte. Dies um so mehr, nachdem er 1920 aus eigenen Stücken, seinem »Instinkt« und seinen »Erbanlagen« folgend 8 , die Karlsruher Hebelloge verließ, der er ein halbes Jahr lang angehört hatte. Der Freimaurervereinigung war er auf eine Anregung aus dem Freundeskreis hin im Frühjahr 1920 beigetreten, weil er sie »als eine bürgerliche Vereinigung namhafter Geschäftsleute, zu geselligen Zwecken gegründet, ansah.« 9 Als er jedoch erfuhr, daß in der Loge auch Juden zugelassen waren, trat er im Herbst desselben Jahres aus. Ob dieser K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 35 4 Emil Henk leitete von 1933 - 1934 im Raum Heidelberg/ Mannheim die nach seinem Decknamen benannte Widerstandsgruppe »Rechberg«. Siehe hierzu: Berghahn, Volker R. u.a., Arbeiterwiderstand, in: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Mannheim, hrsg. v. E. Matthias, H. Weber, Mannheim 1984, S. 89 - 356, hier S. 170 - 174. Henk wurde bei seinen Widerstandsaktionen mehrfach von der badischen Gestapo unter der Führung seines Vetters verhaftet und inhaftiert. Dabei sei er erstaunlich korrekt behandelt worden. Auch, daß er nie wegen Hochverrats verurteilt worden sei, führte Henk auf die Intervention Berckmüllers zurück, der sogar Akten beseitigt haben soll: Aussage Emil Henks, 28. März 1949 im Rahmen der Ermittlungen im Spruchkammerverfahren von Karl Berckmüller, GLA 465a 51/ 68/ 839. Henk wurde entgegen der Anklage auf »Vorbereitung zum Hochverrat« aus Mangel an Beweisen vom Oberlandesgericht Karlsruhe nur zu 20 Monaten Haft verurteilt. 5 Aussage Emil Henks, 28. März 1949, GLA 465a 51/ 68/ 839. 6 Verteidigung Berckmüllers, 7. Mai 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 7 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 8 Berckmüller an den Vorsitzenden des Gau-Untersuchungsausschusses Riedner, 25. Februar 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 9 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. <?page no="37"?> Schritt nun tatsächlich geschäftliche Konsequenzen nach sich zog, muß offen bleiben. Sicher ist, daß Berckmüller keine Fortüne als Fabrikant hatte, auch dann nicht, als er sich in einem anderen Betrieb in Frankfurt am Main versuchte. 10 Gleichwohl sollte seine Mitgliedschaft in der Freimaurerloge später berufliche Konsequenzen haben. Denn im Jahr 1936 wurde sie verwertet, um seine Unbrauchbarkeit als Gestapochef zu beweisen. In den 20er Jahren waren dem jungen Fabrikanten solche Auseinandersetzungen noch fremd. Im Gegenteil, in dieser Zeit begann er, sich für den Nationalsozialismus und die »Bewegung« zu begeistern. In einem undatierten Bericht, den Karl Berckmüller vermutlich 1946 im Interniertenlager verfaßt hat 11 , bemühte er sich, die Gründe seines Beitritts zur NSDAP zu reflektieren. Dem gängigen Nachkriegsverständnis der NS-Zeit entsprechend sah er den Erfolg der NSDAP und sein eigenes Interesse für diese Partei als Folge der wirtschaftlichen Notlage der Weimarer Republik: »Die Folgen der Inflation, der Arbeitslosigkeit vieler Millionen, völlige militärische Ohnmacht unseres Volkes, der Raub unserer Kolonien verursachten ein Massenelend nach Beendigung des Ersten Weltkrieges.« 12 Für Berckmüller mögen diese innenpolitischen Nöte des deutschen Volkes wichtig gewesen sein, entscheidend für seinen Eintritt in die NSDAP waren sie indes nicht. Vielmehr interessierte ihn die politische Gesamtsituation in Europa nach dem verlorenen Weltkrieg. Er bedauerte, daß dem deutschen Volk von den Siegermächten »kein Platz an der Sonne« eingeräumt worden sei. Er sei enttäuscht gewesen, daß keine »einzige Kolonie als Ventil gewissermaßen dem auf engstem Raum zusammengepressten Volk belassen« und daß Deutschland nicht die »gleichen Lebensrechte« gegeben wurden, »wie sie weit unbedeutendere Völker wie Portugal und Holland usw. hatten.« 13 Auch die Ausbreitung des Bolschewismus in Europa, den er ja mit antisemitischen Vorstellungen verknüpfte, und »die Haltung Polens und der Tschechei gegen das Deutschtum« 14 hätten ihm Sorgen bereitet. Mit diesen völkisch-nationalistischen außenpolitischen Vorstellungen fand er geradezu zwangsläufig seine politische Heimat im Umfeld der NSDAP. Im »Führer« Adolf Hitler entdeckte er den »Retter unseres Volkes«. 15 Folglich las er auch das frühe Parteipro- Michael Stolle 36 10 Schadt, Jörg (Bearb.), Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933 - 1940, Stuttgart u.a. 1976, S. 34. 11 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 12 GLA 465a 51/ 68/ 839. 13 GLA 465a 51/ 68/ 839. Berckmüller könnte bei diesen Äußerungen von der in der Weimarer Republik von unterschiedlichen Gesellschaftskreisen geführten Debatte über den Rückerwerb deutscher Kolonien beeinflußt gewesen sein. Siehe dazu allgemein Herbst, Ludolf, Das nationalsozialistische Deutschland 1933 - 1945. Die Entfesselung der Gewalt. Rassismus als Krieg, Frankfurt/ Main 1996, S. 29 f. Zum Verhältnis der NSDAP zur Kolonialfrage v.a. Hildebrand, Klaus, Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und Koloniale Frage 1919 - 1945, München 1969. 14 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 15 Entlassungsantrag von Karl Berckmüller an den Kommandanten des Interniertenlagers Darmstadt, 4. November 1946, GLA 456a 51/ 68/ 839. <?page no="38"?> gramm der NSDAP. Nach der Lektüre trat er entschlossen der nationalsozialistischen Bewegung bei, weil er mit ihren Zielen völlig übereinstimmte: Seit 1922 war Karl Berckmüller nach eigenen Angaben ein überzeugter Nationalsozialist auf Hitlers Kurs. Am 10. November 1923 will er sich sogar auf den Weg zur »Revolution« nach München gemacht haben. Als er aber in Lindau von dem Zusammenbruch des Hitlerputsches hörte, mußte er unverrichteter Dinge wieder umkehren. 16 Trotz der darauf folgenden Inhaftierung des »Führers« und des Parteiverbots (in Baden war die NSDAP bereits nach der Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau durch das am 21. Juli 1921 erlassene Gesetz zum Schutz der Republik verboten worden) blieb er der nationalsozialistischen Bewegung in den kommenden Monaten treu. Da nach dem 9. November 1923 die NSDAP von den Polizeibehörden verschärft überwacht wurde 17 , beteiligte sich Berckmüller 1924 zusammen mit anderen badischen NS-Sympathisanten an dem sog. »Schlageterbund« 18 , dessen stellvertretender Führer er zeitweise war. In diese Zeit muß der Beginn der Freundschaft mit Robert Wagner gefallen sein. Der etwa gleich alte Wagner hatte sich selbst aktiv für die NSDAP in München eingesetzt und war nach dem Scheitern des Putsches zu 15monatiger Haft auf Bewährung verurteilt worden. Nachdem Wagner über Umwege nach Karlsruhe gekommen war, fand der »badische Führer« fast drei Jahre in Karl Berckmüllers Haus in Durlach Unterschlupf. 19 Diese Hilfe kam Berckmüller später mehrmals zugute, als Wagner Gauleiter und Reichskommissar bzw. Reichsstatthalter in Baden wurde. In den nächsten Jahren brachte Berckmüller von sich aus viel Engagement für die nationalsozialistische Bewegung auf. Er besuchte beispielsweise die am 20. Juli 1924 stattfindende nationalsozialistische Vertretertagung in Weimar, wo eine Einigung zwischen den zu dieser Zeit konkurrierenden Nationalsozialisten und völkischen Gruppen erzielt werden sollte. 20 Als Robert Wagner schließlich am 25. März 1925 K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 37 16 Berckmüller an den Vorsitzenden des Gau-Untersuchungsausschusses Riedner, 25. Februar 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 17 Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), S. 331 - 375, hier: S. 332 f.; außerdem: ders.: Die NSDAP in Baden 1928 - 1933. Der Weg zur Macht, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982, S. 15 - 48, hier: S. 15 f. 18 Der »Schlageterbund« war eine Vereinigung, die auf Initiative Robert Wagners am 17. Oktober 1924 gegründet wurde und die die Reste der verbotenen nationalsozialistischen Partei sammeln sollte, siehe: Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP (wie Anm. 17), S. 335. 19 Karl Berckmüller sprach rückblickend davon, er habe Wagner wie seinen Bruder aufgenommen, »damit er für die Bewegung ohne Not und Sorge kämpfen konnte.« Berckmüller an den Hauptschriftleiter des »Stürmer«, Hiemer, 1. März 1937, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 20 Berckmüller trat aber nicht besonders in Erscheinung. Als Vertreter Badens war in erster Linie Oberleutnant a.D. Helmuth Klotz anwesend. Siehe Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP (wie Anm. 17), S. 335. Zu Helmuth Klotz vgl.: Linder, Herbert, Von der NSDAP zur SPD: Der politische <?page no="39"?> die NSDAP in Baden wieder gründete 21 , etwa einen Monat nachdem Hitler dies in München getan hatte, trat Berckmüller sofort bei. Durch angeblich fehlerhafte Kassenführung der NSDAP-Ortsgruppe in Durlach wurde die Mitgliedskarte aber erst am 26. Januar 1926 (Mitgliedsnummer: 26.365) ausgestellt. 22 Berckmüller nahm nun an allen Aufmärschen und größeren Versammlungen in Karlsruhe teil und besuchte die bedeutenden Kundgebungen im Land wie auch die Parteitage der NSDAP in Nürnberg 23 , fiel dabei aber nicht besonders auf, da er sich nicht durch Redebeiträge bekannt machte. 24 Inwieweit der Fabrikbesitzer auch als Geldgeber für die sich zögernd entwickelnde badische NSDAP auftrat, kann aus den vorliegenden Quellen nicht beantwortet werden. Nicht klar ist auch, inwieweit er sich den Aktivitäten der SA anschloß, deren Mitglied er seit 1926 (bis 1933) war. Während er in einem Bericht des badischen NS-Propagandablatts »Der Führer« als »SA-Führer« bezeichnet wird 25 , gab Berckmüller in seinem späteren Spruchkammerverfahren an, er habe bei der SA nie aktiv mitgewirkt, sei also auch nicht an Schlägereien beteiligt gewesen. Als »wirklicher Idealist«, als der er sich fühlte, distanzierte er sich sogar von dem »menschlichen Ausschuß und radaulustigen Elementen« der Bewegung. Er wollte um »mehr Lebensrechte und ein besseres Los« 26 kämpfen. Die Gelegenheit, dieses Anliegen in polemischer Weise einer breiteren Öffentlichkeit zu unterbreiten, bot sich ihm, nachdem er von Robert Wagner zum Verlagsleiter des »Alemannen« 27 bestimmt worden war und dieses Amt seit 1. Januar 1931 in Freiburg ausübte. Chef seiner Fabrik in Berghausen war Karl Berckmüller schon seit Frühjahr 1929 nicht mehr, als er die Leitung seinem Bruder übergeben hatte, da er als Leiter der Anzeigenwerbung des »Führerverlages« in Karlsruhe arbeiten wollte. Die Gründe für diesen freiwilligen beruflichen Abstieg sind nur indirekt zu ermitteln. Durchaus wahrscheinlich ist, daß sich der ohnehin nicht besonders erfolgreiche Unternehmer in diesen Monaten entschloß, sich fortan noch aktiver als zuvor in der nationalsozia- Michael Stolle 38 Lebensweg des Dr. Helmuth Klotz 1894 - 1943, Diss. phil. Karlsruhe 1995 (erscheint 1997). Zur Tagung in Weimar vgl. v. a.: Horn, Wolfgang, Führerideologie und Parteiorganisation in der NSDAP (1919 - 1933), Düsseldorf 1972, S. 189 ff. 21 Siehe hierzu: Kettenacker, Lothar, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß (Studien zur Zeitgeschichte 4), Stuttgart 1973, S. 69; Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP (wie Anm. 17), S. 337. 22 BA, Abt. III (BDC), Karteikarte. 23 GLA 233/ 27894. 24 In den vom badischen Landespolizeiamt Ende der 20er Jahre angefertigten Berichten über die NSDAP und ihre Sympathisanten in Baden taucht Berckmüller nicht auf: GLA 233/ 27915. 25 »Der Führer« Nr. 258, 18. September 1933, S. 2. 26 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 27 Im Herbst 1931 wurde in Freiburg der »Alemanne«, das »Kampfblatt der Nationalsozialisten Oberbadens« gegründet. Die erste Ausgabe erschien am 1. November 1931. Berckmüller löste als Verlagsleiter den späteren Oberbürgermeister von Freiburg Dr. Franz Kerber ab. Vgl.: Haumann, Heiko u.a., Hakenkreuz über dem Rathaus. Von der Auflösung der Weimarer Republik bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (1930 - 1945), in: Geschichte der Stadt Freiburg im Breisgau Bd. 3, hrsg. v. H. Haumann, H. Schadek, Stuttgart 1992, S. 297 - 370, hier: S. 301. <?page no="40"?> listischen Bewegung zu engagieren. Sein Freund Gauleiter Robert Wagner könnte ihn zu diesem Schritt ermutigt haben, da das nationalsozialistische Kampfblatt auf Anzeigen aus der Wirtschaft hoffte und Berckmüller einige Kontakte besessen haben dürfte. So erwies sich der ehemalige Fabrikant »als eifriger Pionier im NS-Verlagswesen«. 28 Einen größeren Wirkungskreis konnte Berckmüller dann als Verlagsleiter des »Alemannen« entfalten, denn hier redigierte er nicht nur die von kämpferischer Agitation geprägten Artikel des Kampfblatts, sondern verfaßte unter dem Pseudonym »Conte« auch eigene Beiträge, die er unter der Rubrik »Aus der Mischpoke« veröffentlichte. 29 Berckmüller kämpfte seinen eigenen Beteuerungen entgegen aber nicht nur mit publizistischen Mitteln gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner, bisweilen legte er sogar höchst persönlich »Hand« an - und da wurde aus dem angeblichen »Idealisten« ein gewöhnlicher »SA-Schläger«. Denn in jene Freiburger Zeit fällt auch seine aktive Beteiligung an einem Anschlag auf einen jüdischen Zahnarzt, den er im März 1933, sechs Wochen nach der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten, zusammen mit anderen SA-Angehörigen und Parteifunktionären ausführte. Wegen angeblicher sittlicher Vergehen zwangen sie ihr Opfer auf ein Feld, um es zu dort zu mißhandeln. Berckmüller mußte sich wegen dieser Tat noch 1950 vor dem Landgericht Freiburg verantworten, wo er zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Den Höhepunkt seiner Karriere erreichte Karl Berckmüller, als er auf Befehl von Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner zum Leiter der neu eingerichteten Gestapostelle in Karlsruhe im Range eines Regierungsrats ernannt wurde. Berckmüller will sich nach eigenen Angaben anfangs gegen diese Aufgabe gesträubt haben, denn in dieser Position habe er nicht so viel verdienen können wie zuvor als Verlagsleiter. 30 Nachdem sein Gehalt dann außerplanmäßig angehoben worden war 31 , trat der »Idealist« sein Amt dann doch am 1. Oktober 1933 »aus unwandelbarer Treue und Liebe zur NSDAP« 32 an, und drei Jahre später konnte er befriedigt feststellen, daß ihm sein Beruf als Gestapochef ans Herz gewachsen sei, weil er fühle, »an dieser Stelle Volk und Bewegung segens- und erfolgreich dienen zu können.« 33 Die Fülle der Kompetenzen und die Praxis der geheimpolizeilichen Tätigkeit beherrschte Berckmüller bald, den »Kampf« gegen die von ihm erkannten »Todfeinde« führte er mit aller Schärfe. 34 Auch Gauleiter Robert Wagner schien zufrieden zu sein, K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 39 28 »Der Führer« Nr. 258, 18. September 1933, S. 2. 29 Ermittlungen der Badischen Staatsanwaltschaft in Freiburg, 11. Oktober 1950, GLA 465a 51/ 68/ 839, siehe auch: »Der Alemanne« Nr. 156, 22. Juni 1932 und Nr. 158, 24. Juni 1932. 30 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 31 Berckmüller wurden acht Jahre auf sein Besoldungsdienstalter angerechnet. Doch auch damit war der »Idealist« noch nicht zufrieden. Er beantragte fortwährend eine Gehaltsaufbesserung, die ihm nur teilweise gewährt wurde, GLA 233/ 27894. 32 Karl Berckmüller an Heinrich Himmler, 12. November 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 33 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 34 Berckmüller in einem rückblickenden Brief an den Schriftleiter des »Stürmers« Hiemer, 30. Dezemhatte <?page no="41"?> er doch die einflußreiche Stelle des Gestapochefs mit einem Mann besetzt, der ihm vertraut und dem er gewogen war. Nachdem im März 1933 die SA als »Hilfspolizei« zu staatlichen Aufgaben verpflichtet worden war, wurde am 22. August 1933 auf Wagners Initiative hin das Gesetz über die Landeskriminalpolizei (Landeskriminalpolizeigesetz) verkündet 35 , das durch die Ausführungsverordnung des badischen Ministers des Innern vom 26. August 1933 ergänzt wurde. 36 Das Landeskriminalpolizeigesetz regelte zunächst den organisatorischen Aufbau der Landespolizei. Die Ausführungsverordnung des Badischen Innenministers bestimmte darüber hinaus den Zuständigkeitsbereich des Landeskriminalpolizeiamts als Geheimes Staatspolizeiamt, das am 1. Oktober 1933 offiziell seinen Dienst aufnahm. Während Karl Berckmüller zum ersten Leiter des Geheimen Staatspolizeiamts in Karlsruhe bestimmt wurde, stand der frühere Staatsanwalt und Amtsgerichtsrat Paul Werner dem Landeskriminalpolizeiamt vor. Berckmüller war dem Badischen Innenminister direkt unterstellt, das badische Staatspolizeiamt löste sich erst allmählich und nur teilweise aus dem Dienstbereich des Landeskriminalpolizeiamts. 37 Welche Tätigkeiten entfaltete nun der neue Chef der badischen Geheimen Staatspolizei, welche Aufgaben stellte er sich und wie wirkte er auf seine Mitarbeiter und auf die zahlreichen Menschen, die der Verfolgung seiner Behörde ausgesetzt waren? Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als Berckmüller in einem Ludwigsburger Lager interniert war, äußerte ein Mithäftling, daß allein Berckmüllers Name zur damaligen Zeit Schrecken bei den Betroffenen erregt habe. 38 Dieser Michael Stolle 40 ber 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. Die Aussage Emil Henks in Berckmüllers Spruchkammerverfahren, Berckmüller sei als Gestapochef zwar »heftig«, aber nicht »brutal« gewesen, muß angesichts der faktischen Tätigkeit der Karlsruher Gestapostelle unter Berckmüllers Leitung als beschönigende Darstellung zugunsten des Verwandten gewertet werden. GLA 465a 51/ 68/ 839. 35 Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1933, S. 167 - 169. Zur Entwicklung der politischen Polizei in Baden bis zur Etablierung der Gestapo vgl.: Schadt (wie Anm. 10), S. 28 - 33. Wilhelm, Friedrich, Der Wandel von der politischen Polizei zur Gestapo, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 222 - 236. Vgl.: Bräunche, Ernst Otto, Das Badische Landespolizeiamt. Die Überwachung der links- und rechtsextremen Parteien in der Weimarer Republik, in: Geschichte als Verantwortung. Festschrift für Hans Fenske zum 60. Geburtstag, hrsg. v. E. O. Bräunche, H. Hiery, Karlsruhe 1996, S. 85 - 111. 36 Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1933, S. 169 - 173. 37 Inwieweit und wie schnell diese Trennung der Dienstbereiche faktisch in die Tat umgesetzt werden konnte, ist bisher in der Literatur nicht befriedigend geklärt worden. Beispielsweise scheint nicht klar zu sein, wie die Zweigstellen im Land diese Aufteilung vollzogen, vgl.: Schadt (wie Anm. 10), S. 32; Buchheim, Hans, Die SS - Das Herrschaftsinstrument, in: Anatomie des SS-Staates Bd. 1, hrsg. v. H. Buchheim u.a., Olten 1965, S. 13 - 255, hier: S. 42 f. Auch über die dienstliche und personelle Aufgliederung der Behörde gibt es noch keine umfassenden Untersuchungen. Auffallend ist jedoch der allmählich sich abzeichnende Wandel in der Bezeichnung der Behörde. War anfangs noch der Titel »Landeskriminalpolizeiamt - Geheimes Staatspolizeiamt« vorgeschrieben, so wurde er zunehmend durch »Geheimes Staatspolizeiamt« ersetzt, vgl.: Schadt (wie Anm. 10), S. 32. 38 Aussage eines Mithäftlings im Interniertenlager Ludwigsburg, 28. November 1937 im Zuge der Ermittlungen zu Berckmüllers Entnazifizierung, GLA 465a 51/ 68/ 839. <?page no="42"?> Eindruck mag in erster Linie an der besonderen Machtstellung gelegen haben, die Berckmüller als Gestapoleiter innehatte. Zwar war sein Amt einerseits institutionell in den badischen Staat eingegliedert: Berckmüller unterstand eigentlich dem Badischen Innenminister und war außerdem von den politischen Richtlinien des Reichsstatthalters und Gauleiters abhängig. Andererseits jedoch konnte der Gestapochef die ihm übertragene exekutive Polizeigewalt in großer Unabhängigkeit ausüben. Wichtigstes Instrument hierzu war die sog. »Schutzhaft« 39 , die Berckmüller eigenmächtig für die Dauer von acht Tagen verhängen konnte, bevor eine Entscheidung vom Innenministerium über den Gefangenen getroffen werden mußte. Die Justiz wurde in das Verfahren überhaupt nicht eingeschaltet, so daß der politischen Willkür keine Grenzen gesetzt waren. Berckmüller konzentrierte sich in seiner Arbeit zunächst auf die politische Verfolgung Andersdenkender und die Verbrechensbekämpfung, wobei unter »Verbrechen« jegliches vom Nationalsozialismus abweichendes Verhalten verstanden werden konnte. In einem lancierten Interview 40 mit dem badischen NS-Kampfblatt »Der Führer« faßte er den Aufgabenbereich der Geheimen Staatspolizei folgendermaßen zusammen: »1. Abwehr und Beobachtung der kommunistischen Umsturzbewegungen, Aufspüren der geheimen illegalen KPD-Organisationen [...]. 2. Überprüfung und Unterdrückung aller Versuche neuer Parteibildungen oder Zusammenschlüsse in Bünden oder Vereinen zum Zwecke staatsfeindlicher Umtriebe. 3. Kontrolle der Öffentlichkeit in Bezug auf die Unterbindung staatsfeindlicher Äußerungen. 4. Verhinderung landesverräterischer Tätigkeit im Dienste fremder Mächte.« 41 Außerdem wollte er die Grenzkontrollen verstärken und gegen »Miesmacher«, »Kritikasterei und Nörgelsucht« vorgehen, deren Vertretern er eine »längere Unterbringung« im Konzentrationslager Kislau androhte. 42 Zur Unterstützung seiner Vorhaben wurde ihm nicht nur ein Jurist beigeordnet, der ihm die von den Nationalsozialisten erlassenen Gesetze erklären sollte, sondern es wurde auch der Personalbestand der badischen Gestapo nicht unerheblich erhöht. Karl Berckmüller erwartete von seinen Mitarbeitern »Zuverlässigkeit, äußeres Pflichtgefühl, unbedingte Unbestechlichkeit [und] absolute Verankerung in der nationalsoziali- K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 41 39 Zum Begriff der »Schutzhaft« vgl. Broszat, Martin, Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933 - 1945, in: Anatomie des SS-Staates Bd. 2, hrsg. v. H. Buchheim u.a., Olten 1965, S. 9 - 160, hier: S. 13 ff. 40 Über die Lancierung von Zeitungsartikeln in der NS-Presse vgl. Gellately, Robert, Allwissend und allgegenwärtig? Entstehung, Funktion und Wandel des Gestapo-Mythos, in: Die Gestapo. Mythos und Realität, hrsg. v. G. Paul, K.-M. Mallmann, Darmstadt 1995, S. 47 - 70. 41 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. 42 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. Im April 1933 wurde in dem Schloß Kislau bei Mingolsheim neben dem bereits dort bestehenden Arbeitshaus und organisatorisch von diesem getrennt ein Konzentrationslager errichtet. Es diente vor allem zum Vollzug der »Schutzhaft«. Das Lager war dem Badischen Ministerium des Innern unterstellt und bestand bis zum 1. April 1939. Lagerleiter war der ehemalige Major der Schutzpolizei Franz Mohr. Vgl. Schadt (wie Anm. 10), S. 67 f. <?page no="43"?> stischen Weltanschauung«. 43 Die genaue Anzahl der bei der Gestapoleitstelle Karlsruhe tätigen Beamten und Mitarbeiter läßt sich nur schwer sicher angeben. Zu Beginn der Dienstzeit Berckmüllers dürften vermutlich um 100 Beamte und Angestellte in ganz Baden tätig gewesen sein. 80% davon waren Beamte, die schon vor der »Machtergreifung« ihren Dienst bei der Polizei versehen hatten und zur Gestapo versetzt wurden, was, nach Berckmüllers Angaben, vor allem für die Leiter der einzelnen Außenstellen der Gestapoleitstelle Karlsruhe zugetroffen haben soll. 44 Dank der Erfahrung jener älteren Mitarbeiter konnte es der Gestapo in Baden gelingen, diverse Erfolge in der Bekämpfung der politischen Gegner zu erzielen. Die neu hinzugekommenen Staatspolizeianwärter, Berckmüller will neben jungen Einsteigern auch insgesamt 60 ältere PGs eingestellt haben 45 , waren hingegen ziemlich unerfahren und konnten bei geheimpolizeilichen Ermittlungen höchstens durch rohe Gewaltanwendung auffallen. Die Personalstärke der badischen Gestapo schien den Verantwortlichen, allen voran Karl Berckmüller, dennoch nie ausreichend zu sein. Bei jeder Gelegenheit klagte er über Personalmangel, der es unmöglich mache, die wachsenden Aufgaben zu bewältigen. So bestätigt das badische Beispiel die von der neueren Gestapoforschung 46 hervorgehobene Beobachtung, daß die Gestapo schon allein aufgrund des fehlenden Personals längst nicht jenen Wirkungsgrad erreichte, der ihr allgemein zugeschrieben wurde. Und auch die von Robert Gellately 47 neuerdings betonte Bedeutung der Denunziationen für die Verfolgungstätigkeit der Gestapo läßt sich am hiesigen regionalen Beispiel bestätigen: Karl Berckmüller selbst sah sich veranlaßt, in aller Öffentlichkeit klarzustellen, daß die Gestapo »keinesfalls die Beschwerdestelle persönlicher Gehässigkeiten oder gar niedrigen Denunziantentums sein kann.« 48 Gleichwohl darf trotz solcher Einschränkungen die rücksichtslose Härte der politischen Polizei im nationalsozialistischen Staat nicht verkannt werden, wenn sie so oder so auf den Plan gerufen, einschritt und sich dabei der Mitarbeit anderer (Verfolgungs-) Institutionen und Organisationen im NS-Staat versichern konn- Michael Stolle 42 43 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. 44 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 45 Karl Berckmüller an Heinrich Himmler, 9. März 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 46 Mallmann, Klaus-Michael; Paul, Gerhard, Herrschaft und Alltag. Ein Industrierevier im Dritten Reich, Bonn 1991; dies., Allwissend, allmächtig, allgegenwärtig? Gestapo, Gesellschaft und Widerstand, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 41 (1993), S. 984 - 999; dies. (Hrsg.), Die Gestapo. Mythos und Realität (wie Anm. 40). 47 Gellately, Robert, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933 - 1945, Paderborn u.a. 1990; Derselbe, »In den Klauen der Gestapo«. Die Bedeutung von Denunziationen für das nationalsozialistische Terrorsystem, in: Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933 - 1945, hrsg. v. A. Faust, Köln 1992, S. 40 - 49. Mit regionalgeschichtlichem Horizont außerdem: Arbogast, Christine, Von Spitzeln, »Greifern« und Verrätern. Denunziantentum im Dritten Reich, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 205 - 221. Zur Geschichte der Gestapoleitstelle Karlsruhe ist diese Darstellung aber nur wenig ergiebig. 48 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. <?page no="44"?> te. 49 Und dafür trug in Baden allen voran der badische Gestapoleiter Karl Berckmüller in den ersten Jahren die volle Verantwortung. Auf seine Kollegen wirkte Karl Berckmüller als vorbildlicher Chef. Er sei Vorgesetzter und Freund gewesen, den man geliebt habe, sein Name habe im ganzen Land »Klang«, unter dem man zu wirken stolz sein dürfte. »Was der Führer dem deutschen Volke ist, waren Sie der Geh. Staatspolizei in Baden« 50 , bekannte der Leiter der Außenstelle Offenburg Berckmüller noch 1937. Auch in der Wehrmacht war man mit ihm zufrieden: Durch seine grundlegenden organisatorischen Maßnahmen sei es gelungen, »die Spionageabwehr in Baden zu einer vorbildlichen für den ganzen Wehrkreisbereich zu gestalten.« 51 Nicht eben bescheiden sah Berckmüller auch selbst seine Verdienste. In einem Brief an den Reichsführer SS Himmler rühmte er sich, die badische Gestapo erfolgreich aufgebaut zu haben, »sei es in der Spionageabwehr, oder in der Niederringung unserer inneren Feinde wie KPD, Juden und Polit. Katholizismus.« 52 Und in der Tat: Ganz Unrecht hatte er damit nicht. Die von Berckmüller seit Ende 1933 verfaßten Lageberichte, die zur Unterrichtung der Badischen Regierung, des Politischen Polizeikommandeurs in München Heinrich Himmler und des Reichsinnenministeriums angefertigt wurden, geben davon beredtes Zeugnis. 53 Auch wenn sie natürlich kein »erschöpfendes Bild der wirklichen politischen Lage« 54 bieten, lassen sie doch Berckmüllers Wirken recht deutlich erkennen. So ging der Gestapoleiter zum Beispiel mit seinem wichtigsten polizeilichen Instrument, der »Schutzhaft«, nicht gerade sparsam um. Die von ihm zu verantwortende hohe Zahl von Schutzhäftlingen beunruhigte schließlich das Reichsinnenministerium 55 , das die »Schutzhaft« gerne institutionell und juristisch reglementiert gesehen hätte. 56 Bei der Bestrafung von Spionen hielt Berckmüller im K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 43 49 Vgl. Röhr, Werner, Über die Initiative zur terroristischen Gewalt der Gestapo - Fragen und Einwände zu Gerhard Paul, in: Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, hrsg. v. B. Berlekamp, W. Röhr, Münster 1995, S. 211 - 224. Außerdem ist die Frage, was das verbreitete Denunziantenwesen über die deutsche Gesellschaft aussagen kann, bisher nicht beantwortet worden. Vgl. Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903 - 1989, Bonn 1996, S. 567. 50 Der Leiter der Außenstelle Offenburg an Karl Berckmüller im März 1937, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 51 Der Leiter der Abwehrstelle beim Stabe der 5. Division an Karl Berckmüller, 3. April 1934, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 52 Karl Berckmüller an Heinrich Himmler, 12. November 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 53 Abdruck bei Schadt (wie Anm. 10). 54 Schadt (wie Anm. 10), S. 37. 55 Schadt (wie Anm. 10), S. 74. 56 Zu der reichsweit geführten Auseinandersetzung um die Praxis der »Schutzhaft« vgl. Herbert (wie Anm. 49), S. 150 ff. Der Karlsruher Gestapoleiter sah sich dadurch aber nicht veranlaßt, seine eingeschlagene Praxis zu ändern, obwohl er sich, wie er später behauptete, gegenüber politischen Gegnern eher gemäßigt verhalten habe. Daß er sich tatsächlich in einigen Fällen für eine milde Bestrafung von politisch Andersdenkenden eingesetzt hatte, wie im Spruchkammerverfahren am Beispiel Emil Henks eingewendet wurde (vgl. Anm. 4), ändert an der Beurteilung der insgesamt <?page no="45"?> Februar 1934 sogar eine »sofortige praktische Anwendung der Todesstrafe für geboten.« 57 Daß in den badischen Dienststellen der Gestapo gefoltert und gemordet wurde, wie etwa im Fall Ludwig Marums hinreichend angedeutet 58 , muß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit angenommen werden, auch wenn Berckmüller selbst später nichts davon gewußt haben will. Die judenfeindliche Politik des NS-Regimes unterstützte der bekennende Antisemit Berckmüller bedingungslos. Die unter seiner Führung stehende Staatspolizeistelle in Karlsruhe wurde z.B. zum Exekutivorgan der in Nürnberg am 15. September 1935 erlassenen Rassegesetze, in denen Juden nicht nur das Bürgerrecht entzogen, sondern auch verboten wurde, in sog. »Mischehen« mit Nichtjuden zu leben. Berckmüller hatte derartige Maßnahmen sogar schon einen Monat vor Erlaß des Gesetzes, am 13. August 1935, vorbereitet, als er eine Rundweisung an die Außenstellen der Gestapo in Baden verschicken ließ, in der er aufforderte, gegen »jüdische Überheblichkeiten, insbesondere der offensichtlichen Mißachtung der Rassengesetze [sic! ] und Ehre deutscher Frauen durch jüdische Sadisten« entschieden vorzugehen und die »Täter« »nach telefonisch einzuholender Genehmigung beim Geheimen Staatspolizeiamt in Schutzhaft zu nehmen.« 59 Da diese Anordnung offensichtlich sehr fleißig befolgt wurde, mußte Berckmüller Einhalt gebieten. Er befahl, nur noch bei »besonders brutale[n] Verführungen und Schändungen« Schutzhaft zu beantragen, weil sonst die Gefahr bestünde, daß Denunzianten dieses Treiben »für ihre eigensüchtigen Ziele [...] mißbrauchen.« 60 Gleichwohl wurde weiterhin in zahlreichen Fällen von der Gestapo »hart durchgegriffen«, wobei nicht selten auch gemeinster Vulgärantisemitismus bei Berckmüller zum Durchbruch kam. So zeigte er etwa Julius Streicher den Fall eines »Schweine-Juden« für sein Hetzblatt »Der Stürmer« an, das »derartig Entsetzen erregend« gewesen sei, daß er »diesen Gegenmenschen sofort in Schutzhaft« habe nehmen lassen. 61 Die übliche nationalsozialistische Repressionspolitik gegen die Juden unterstützte Berckmüller ohnehin mit Fleiß. So verbot er zum Beispiel jüdischen Händlern, deutsche Ordensschnallen und -schlei- Michael Stolle 44 brutalen Bekämpfung von Andersdenkenden eigentlich nichts, sondern beweist nur, mit welcher Willkür der Gestapochef entscheiden konnte. 57 Schadt (wie Anm. 10), S. 64. 58 Zu dem von Gestapomitarbeitern im Konzentrationslager Kislau ermordeten früheren Landtags- und Reichstagsabgeordneten der SPD Ludwig Marum vgl. Schumacher, Martin (Hrsg.), M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus, 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 309 - 312. 59 Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Nr. 15831 vom 13. August 1935, Abdruck in Sauer, Paul (Bearb.), Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 - 1945, 2 Bde., Stuttgart 1966, hier: Bd. 1, S. 22. 60 Erlaß der Geheimen Staatspolizei Karlsruhe an die Bezirksämter, Polizeidirektionen, Polizeipräsidien und Geh. Staatspolizeistellen in Baden vom 26. September 1935, Nr. 19989/ 35 JR/ L, Abdruck in: Sauer (wie Anm. 59), S. 24. 61 Karl Berckmüller an den Hauptschriftleiter des »Stürmers« Hiemer, 15. April 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1715. <?page no="46"?> fen zu verkaufen 62 , so behinderte und überwachte er Treffen und Zusammenkünfte von jüdischen Vereinigungen 63 und verweigerte die Ausstellung von Auslandspässen an Juden, um zu verhindern, daß jüdisches Vermögen ins Ausland verschoben werde. 64 Letztere Maßnahme wirkte allerdings der Auswanderungsbereitschaft der Juden entgegen, wie Berckmüller in einem Lagebericht vom Januar 1936 bedauernd feststellte. 65 Eine wesentliche Voraussetzung für das weitere verschärfte und ausgedehnte Vorgehen gegen die Juden war die von der SD-Führung und der preußischen Gestapo in Berlin betriebene Politik, sämtliche Juden zu erfassen und die Angaben in »Judenkarteien« zu sammeln. Die entsprechende Anweisung von Werner Best 66 wurde auch in Karlsruhe ausgeführt: Am 6. September 1935 gab Karl Berckmüller einen Erlaß heraus, nach dem die einzelnen Polizeibehörden in Baden von jüdischen Organisationen Mitgliederlisten in vierfacher Ausfertigung verlangen sollten, um eine »Judenkartei« anzulegen. 67 Bei diesen Arbeiten stellte sich heraus, daß manche emigrierte Juden noch Ruhegehälter bezogen 68 - ein willkommener Anlaß für Berckmüller, um in der gewohnten Manier beim »Stürmer« gegen »jüdische Giftmischer«, »jüdische Elemente« und »Todfeinde und Vernichter des deutschen Volkes« zu hetzen. 69 Überhaupt unterhielt der »Idealist« Berckmüller beste Kontakte zu dem primitiven Nürnberger Kampfblatt. Regelmäßig schrieb er an den Hauptschriftleiter Hiemer, um ihm die Ergebnisse der von der badischen Gestapo angestrengten Ermittlungen zu überspielen, damit diese dann propagandistisch in der Zeitung ausgeschlachtet werden konnten. Er besuchte die Redaktion in Nürnberg, allen voran den Herausgeber und Gauleiter von Franken, Julius Streicher, den er sehr verehrte 70 , und K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 45 62 Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Karlsruhe an die Bezirksämter, Polizeidirektionen und Polizeipräsidien sowie die Geheimen Staatspolizeistellen in Baden vom 4. Juli 1935 Nr. 12014/ Jp, Abdruck in: Sauer Bd. 1 (wie Anm. 59), S. 190. 63 Beispielsweise die »Zionistische Vereinigung«, Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Karlsruhe an die Staatspolizeistellen vom 27. August 1934, Sauer Bd. 1 (wie Anm. 59), S. 271. Siehe auch den Lagebericht vom 31. August 1934, Abdruck in Schadt (wie Anm. 10), S. 105. 64 Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Karlsruhe an die Bezirksämter, Polizeidirektionen und Polizeipräsidien sowie Geheime Staatspolizeistellen in Baden vom 11. September 1935 Nr. 18729/ 35 JP/ L, in: Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 108. 65 Schadt (wie Anm. 10), S. 179. 66 Herbert (wie Anm. 49), S. 211. 67 Erlaß des Geheimen Staatspolizeiamts Karlsruhe an die Bezirksämter, Polizeidirektionen und Polizeipräsidien sowie Geheime Staatspolizeistellen in Baden vom 6. September 1935 Nr. 17/ 993/ 35 JP/ II, Abdruck in Sauer Bd. 1(wie Anm. 59), S. 274. 68 Erlaß des Badischen Ministers des Innern an die Bezirksämter, Polizeipräsidien und Polizeidirektionen vom 13. August 1936, Abdruck in: Sauer Bd. 1(wie Anm. 59), S. 80. 69 Karl Berckmüller an den Hauptschriftleiter des »Stürmers« Hiemer, 15. April 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1715. 70 Berckmüller stellte Streicher unmittelbar neben Hitler. Er habe die Überzeugung, »daß außer dem Führer z. Zt. kein Kämpfer der NS-Bewegung mehr in Deutschland lebt, der in dieser tiefen und echten Leidenschaft den Kampf gegen die Feinde des deutschen Volkes und der Menschheit predigen kann.« StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. <?page no="47"?> machte Vorschläge, wie in einzelnen Fällen agitiert werden sollte. Der Ursprung dieser freundschaftlichen Verbindung ist ungewiß, doch liegt die Vermutung nahe, daß der Beginn der Zusammenarbeit vor der »Machtergreifung« lag, als Berckmüller noch Schriftleiter des »Alemannen« war. Dort bestand die Möglichkeit eines »journalistischen« Austauschs und seitdem sah Berckmüller wie der »Stürmer« auch in den katholischen Geistlichen, die er gerne als »gewissenlose Schurken«, »judenhörige Priester« oder »fanatische Hetzgeistliche« bezeichnete 71 , die Hauptfeinde des NS- Staats, die er bekämpfen wollte. 72 Dabei war Berckmüller ursprünglich selbst katholisch getauft, dann aber zum evangelischen Glauben konvertiert, um schließlich ganz aus der Kirche auszutreten. 73 Daß dies nicht aus einer »rein persönlichen Gottesauffassung« heraus geschah, wie er später behauptete 74 , belegen einschlägige Hetzartikel gegen die Kirche, die er bereits im »Alemannen« veröffentlicht hatte. 75 Im Verhalten der katholischen Kirche vermutete er einen »hinterhältigen Kampf gegen den Nationalsozialismus« und glaubte zurecht, daß sich der politische Katholizismus am wenigsten in die Weltanschauung des Nationalsozialismus einzuleben vermocht hatte. 76 Für ihn gab es daher nur eine Konsequenz: »Der nationalsozialistische Staat kann es meines Erachtens auf die Dauer nicht dulden, daß mit voller Sicherheit immer wieder eine Kulturkampfstimmung erzeugt wird, die bezweckt, das Volk erneut zu entzweien und die die nationalsozialistische Weltanschauung vor den Augen eines Teiles der Katholiken dadurch in Mißkredit zu bringen [versucht], daß man der NSDAP die Einführung eines Neuheidentums unterschiebt.« 77 In seinem Kirchenhaß übertrieb und dramatisierte er das Resistenzverhalten der katholischen Geistlichen 78 , machte Stimmung gegen die katholische Kirche und regte gegen den von der Reichsführung zunächst propagierten gemäßigten Kurs weitreichende Verfolgungsmaßnahmen an. Er selbst demonstrierte, wie dies auszusehen hätte. Da wurden Gottesdienste von der Gestapo besucht oder besser belauscht, Predigten und Hirtenbriefe verboten 79 , und Geistlichen wurde nachspioniert, um ihnen »Sittlichkeitsverbrechen« nachzuweisen. Be- Michael Stolle 46 71 Karl Berckmüller an den »sehr geehrten Parteigenossen Streicher«, 16. Oktober 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017. 72 Berckmüller berichtet an Hiemer, 4. Dezember 1936, Erzbischof Gröber hätte ihn als den »Hauptfeind Nr. 1« erkannt. StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. 73 Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 4), München 1996, S. 146. 74 »Der politische Werdegang des Internierten Karl Berckmüller«, GLA 465a 51/ 68/ 839. 75 Leitartikel Berckmüllers »Entpolitisierung der katholischen Geistlichen«, Der Alemanne Nr. 175, 27. Juni 1933, S. 1. 76 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. 77 »Der Führer« Nr. 170, 23. Juni 1934, S. 4. 78 Er glaubte, daß »die Wühlarbeit« der katholischen Geistlichkeit »weit gefährlicher als die Neuorganisation der KPD« sei. Schadt (wie Anm. 10), S. 82 und S. 87. 79 Vgl. beispielsweise: Schadt (wie Anm. 10), S. 153, Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die nationalsozialistische Diktatur. Eine Studie zum Episkopat des Metropoliten der Oberrheinischen Kirchenprovinz während des Dritten Reiches, Karlsruhe 1985, S. 82. <?page no="48"?> sonders seit 1936 folgte er diesem reichsweiten Propagandatrend und verstärkte entsprechende Bemühungen. 80 Die von Berckmüller im Einvernehmen mit dem Badischen Innenminister und dem Reichsstatthalter angewandte Taktik war dabei nicht besonders kompliziert: Durch einzelne Denunziationen wurde er auf das vermeintlich sittliche Vergehen einzelner Kleriker aufmerksam gemacht. Er versuchte alsbald, allen Hinweisen nachgehend, durch Verhöre, die er zum Teil selbst »mit zivilen Umgangsformen« 81 führte, durch Hausdurchsuchungen und durch Postkontrollen, die Tat zu ermitteln. Schließlich verlangte er von den kirchlichen Stellen entsprechende Konsequenzen: »Sollte G. bis zum 1.3.36 nicht aus der Seelsorge zurückgezogen sein, so werden Maßnahmen getroffen werden, die zweifellos für G. wie das Ansehen der kath. Kirche von nachhaltigen Folgen sein dürften.« 82 Das prominenteste Opfer von Berckmüllers Treiben war dabei Erzbischof Conrad Gröber selbst. Der Gestapoleiter hatte aus Kreisen des Klerus, die dem Erzbischof feindlich gegenüberstanden, schon früh erfahren, daß eine junge Jüdin vorgab, mit Gröber ein Verhältnis gehabt zu haben 83 - für Berckmüller ein nachgerade gefundenes »Fressen«. Die angebliche »Affäre« wurde gewaltig aufgebauscht, zumal der Erzbischof, der 1933 dafür plädierte hatte, sich mit Hitler zu arrangieren, um Schlimmeres zu verhüten, 1935 seine Meinung geändert hatte und begann, gegen die antichristliche Propaganda des NS-Regimes zu protestieren. Gröber wurde auf dem üblichen Weg bei Streicher denunziert und als »moralisch haltloser Mensch« bezeichnet, »der das Recht verwirkt hat, als Kirchenfürst in seinem Amt zu bleiben.« 84 Obwohl Berckmüller alles tat, um Gröber zu stürzen, gelang es ihm nicht, den Bischof zu Fall zu bringen, da seine Agitation nicht in das Konzept der Reichsführung paßte. 85 Conrad Gröber verblieb in seinem Amt, während der Karlsruher Gestapoleiter im Frühjahr 1937, allerdings aus anderen Gründen, seine Stellung aufgeben mußte. Zu Beginn des Jahres 1935 wurden von verschiedenen Stellen gegen Berckmüller ernsthafte Bedenken geltend gemacht, ob er als ehemaliges Mitglied einer Karlsruher Loge wirklich für das Amt des Gestapoleiters geeignet sei. 86 Solche Vorstöße beruh- K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 47 80 Vgl. zu den 1936/ 37 geführten Sittlichkeitsprozessen des NS-Regimes, die durch ihre Propaganda- und Kampffunktion Ressentiments gegen katholische Geistliche erzeugen sollten: Hockerts, Hans Günter, Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/ 37. Eine Studie zur nationalsozialistischen Herrschaftstechnik und zum Kirchenkampf (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 6), Mainz 1971. 81 Schwalbach (wie Anm. 79), S. 97 f. 82 Karl Berckmüller an das Erzbischöfliche Ordinariat, 20. Februar 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017. 83 Die Schriften, die Gröber belasten sollten, wurden zunächst dem »Alemannen« zugespielt, bevor sie von dort in die Hände von Berckmüller kamen, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. Zu den Einzelheiten und den Beteiligten dieser Beschuldigung siehe: Schwalbach (wie Anm. 79), S. 90 ff. 84 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1017a. Auch gegenüber Robert Wagner setzte er sich offen für den Rücktritt Gröbers ein, vgl. Schwalbach (wie Anm. 79), S. 101. 85 Schwalbach (wie Anm. 79), S. 102. 86 Die Auseinandersetzungen zwischen Karl Berckmüller und der SDbzw. SS-Führung sind durch die vom Gestapoleiter nach Nürnberg zum »Stürmer« geschickten Briefe und Maschinenabschriften <?page no="49"?> ten mit großer Wahrscheinlichkeit auf geheimen Erkundigungen, die der Sicherheitsdienst der SS anstellen ließ, denn das Verhältnis von Karl Berckmüller zu der innerparteilichen Überwachungsinstitution war seit geraumer Zeit überaus gespannt. Der Gestapoleiter beobachtete die Aufbauarbeit des SD-Südwest mit großen Bedenken. Für ihn wie für andere regionale Gestapoleiter war der SD eine unbekannte Größe und dessen Mitarbeiter allenfalls lästige Konkurrenten. 87 Als er erfuhr, daß die Arbeit der Gestapo-Außenstelle in Kehl wie auch in anderen Grenzstädten durch das stümperhafte Vorgehen von SD-Angehörigen behindert wurde, reagierte Berckmüller aggressiv. Bei aller gebotenen guten Zusammenarbeit, zu der er durchaus gewillt sei, verlangte er kategorisch, daß die Gestapo die Zentrale aller Ermittlungen bleiben müsse. Damit setzte er sich in einen scharfen Gegensatz zu der selbstbewußten SS-Gliederung, deren Vertreter alles unternahmen, um ihn auszuschalten. Zweifellos spielten in diesem Streit auch Prestigefragen eine Rolle, konnte der »Idealist« Berckmüller doch kaum ertragen, daß ihm als »altem Kämpfer« von jungen Parteimitgliedern, die zum Teil erst nach der »Machtergreifung« der NSDAP bzw. dem SD beigetreten waren, Vorwürfe gemacht wurden. 88 Karl Berckmüller saß längerfristig am kürzeren Hebel, da er im Zuge der Zentralisierung und »Verreichlichung« der gesamten Polizei zunehmend in die Abhängigkeit der Berliner Zentrale geriet. Zunächst war das Karlsruher Gestapoamt noch dem Badischen Innenminister und dem Reichsstatthalter unterstellt. Doch schon Ende 1933 wurde Himmler zum Politischen Polizeikommandeur Badens ernannt. 89 Zwar hielt sich Himmler zunächst mit größeren Einmischungen zurück, doch war mit seiner Ernennung das erste Bein in der badischen Gestapotür. 90 Als Karl Berckmüller dann auf Wunsch Himmlers vermutlich Mitte 1934 in die SS im Range eines Obersturmführers eintrat 91 , war er fortan an den Berliner Chef gebunden und auch der Elitetruppe der Partei verpflichtet. Michael Stolle 48 gut dokumentiert, so daß sich daraus die Etappen dieser Zwistigkeiten verfolgen lassen. StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 87 Vgl. Herbert (wie Anm. 49), S. 138. Herbert weist außerdem darauf hin, daß solche Rivalitäten zu einem fortwährenden Radikalisierungsdruck führten, ebd. S. 190. 88 Er vermutete, daß die jungen Leute ihm »den Dolchstoß in den Rücken versetzen woll[t]en.« Berckmüller an Hiemer, 27. Oktober 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 89 Am 18. Dezember 1933 wurde der Reichsführer SS Heinrich Himmler zum »Kommandeur der Politischen Polizei Badens« ernannt. Robert Wagner verfügte die Ernennung, nachdem der damalige Leiter des SD-Oberabschnitts Süd-West, Werner Best, darauf gedrängt hatte. Vgl.: Herbert (wie Anm. 49), S. 138. Für die Ernennung Himmlers scheint sich außerdem auch der Badische Innenminister Karl Pflaumer eingesetzt zu haben, vgl.: Schadt (wie Anm. 10), S. 32. 90 Als Zentralinstanz wurde im preußischen Gestapa in Berlin am 2. Mai 1934 das »Zentralbüro des Politischen Polizeikommandeurs der Länder« geschaffen, das Himmlers Herrschaft über die Länderpolizeien vereinheitlichen sollte. Buchheim (wie Anm. 37), S. 44 ff.; Tuchel, Johannes; Schattenfroh, Reinold, Zentrale des Todes. Prinz-Albrecht-Straße 8, Hauptquartier der Gestapo, Berlin 1987, S. 83. 91 Berckmüllers genaues Eintrittsdatum läßt sich nicht mehr ermitteln. Er erhielt die SS-Mitgliedsnummer 139.455, BA, Abt. III (BDC), ORPO A 405. Die gleichzeitige Beförderung zum SS-Obersturmführer erfolgte wie allgemein üblich in Angleichung an seine polizeiliche Dienststellung. Vgl. Buchheim (wie Anm. 37), S. 101 ff. <?page no="50"?> Den Vorwürfen suchte Berckmüller zu begegnen, indem er ein Untersuchungsverfahren gegen sich selbst bei der zuständigen Unterbehörde des Münchner Parteigerichts beantragte. 92 Obwohl Berckmüller in Einzelfällen ehemaligen Logenmitgliedern half, konnte er zu seiner Entlastung eine sichtlich aggressive Verfolgungstätigkeit seiner Behörde gegen badische Logen nachweisen. Ganze zwei Waggonladungen Akten, die über die Ermittlungen der badischen Gestapo gegen Logenangehörige Auskunft gaben, ließ er an das SD-Archiv nach München überstellen. Sogar gegen seinen früheren Logenmeister ging Berckmüller vor und nahm ihn für mehrere Monate in »Schutzhaft«. Das oberste Parteigericht in München ließ sich offenbar von der »gewaltigen« Beweismenge überzeugen und schlug das Verfahren nieder. 93 Die SD-Führung in Berlin jedoch war damit naturgemäß nicht zufrieden. Man kritisierte nun, daß sich Berckmüller bei Besprechungen mit Wehrmachtsdienststellen nicht loyal gegenüber dem SD verhalten habe. Außerdem nahm ihm die SS-Führung offensichtlich übel, daß er am 2. April 1936 eine Art Amnestie für einige politische Schutzhäftlinge im Konzentrationslager Kislau verkündet hatte. 94 Berckmüller hatte die Entlassungen beim Badischen Innenminister und beim Reichsstatthalter erreicht, weil der selbsternannte »Idealist« ehemalige politische Gegner, die während der Inhaftierung ihre Auffassung geändert hatten, an »Führer« und Staat binden wollte. 95 Berckmüllers Nachsicht gegenüber den politischen Gefangenen paßte nicht in die politische Linie des Reichsführers SS, und Himmler soll Berckmüller deswegen auch einige Tage später auf dem Flugplatz in Karlsruhe »zusammengestaucht« haben. 96 Der Karlsruher Gestapoleiter war ob solcher offensichtlich persönlichen Antipathien tief getroffen: »Leider werden durch diese niederträchtigen Selbstbekämpfungen die besten Nerven und Arbeitskräfte zum Vorteil unserer Feinde verbraucht, so daß man am Schlusse seelisch zermürbt und körperlich gebrochen voll Ekel und Abscheu sich zurückziehen möchte.« 97 Dies geschah schneller, als er selbst vermutet haben mag. Während er schon nicht mehr zu den Gestapoleitertagungen nach Berlin eingeladen wurde, begann auf Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Reinhard Heydrich und unter der Regie der SD-Oberabschnittsführung Südwest am 5. Mai 1936 ein SS-Disziplinarverfahren gegen ihn. Am 9. Januar 1937 war das Urteil endgültig gefällt. Berckmüller sollte »freiwillig« aus der SS ausscheiden, denn er sei »als SS-Führer K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 49 92 Berckmüller an den Vorsitzenden des Gau-Uschla Riedner, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 93 Erklärung des Obersten Parteigerichts der NSDAP, 23. August 1935, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 94 Ein Bericht darüber erschien im »Führer«: »Der Führer« Nr. 94, 3. April 1936, S.2. 95 Berckmüller: »Das deutsche Volk in seiner Treue zum Führer hat Ihnen die Freiheit wiedergegeben. Handeln Sie ebenso anständig.« »Der Führer« Nr. 94, 3. April 1936, S. 2. 96 Aussage eines ehemaligen Gestapomitarbeiters in Berckmüllers Spruchkammerverfahren, GLA 465a 51/ 68/ 839. 97 Berckmüller an den Hauptschriftleiter des »Stürmers« Hiemer, 27. Oktober 1936, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. <?page no="51"?> untragbar.« 98 Auch wenn seine Absetzung damit nicht direkt veranlaßt wurde, so war es doch nur noch eine Frage der Zeit, bis Berckmüller auch sein geheimpolizeiliches Amt aufgeben mußte. In einem letzten »Aufbäumen« versuchte der angeschlagene Gestapoleiter wenigstens seine angegriffene Ehre zu retten, indem er seinen Fall noch einmal vor das Parteigericht zu bringen versuchte. Berckmüller war sogar gewillt, bis vor den »Führer« zu gehen. 99 Resigniert mußte er jedoch schon bald die Überlegenheit seines Widerparts anerkennen: »Mein Gegner ist Heydrich, der mich nicht leiden kann.« 100 Schließlich legte er am 24. Februar sein Amt schweren Herzens nieder, seine Entlassung wurde am 11. März 1937 offiziell vollzogen. Berckmüller war am vorläufigen Tiefpunkt seiner Karriere angelangt. Er war nun darauf angewiesen, im NS-Staat einen neuen Wirkungskreis zu erhalten. Einmal mehr trat nun sein alter Freund Robert Wagner auf den Plan, der ihm beim Staatlichen Hafenamt Mannheim eine Stelle verschaffte. Hier sollte er ab April 1937 tätig werden 101 , doch schon im Oktober 1937 quittierte er den Dienst wieder. Während Berckmüller gesundheitliche Gründe vorschob, ist es wahrscheinlicher, daß der ehemalige Gestapoleiter schlicht ungeeignet und mit der Aufgabe überfordert war. Kurz darauf wurde er deshalb zum Bürgermeister der Schwarzwaldgemeinde Villingen ernannt. 102 Nachdem der Landeskommissär in Konstanz zugestimmt hatte, wurde Karl Berckmüller schon am 4. Oktober 1937 in sein neues Amt eingeführt. 103 In einem Interview mit den örtlichen Tageszeitungen versprach der neue Bürgermeister einen Tag später, er werde seine ganze Kraft für die Stadt Villingen einsetzen, obwohl er sich der Schwere der Aufgabe vollauf bewußt sei. »Doch sei er gewohnt, da, wo ihn die Partei hinstelle, ganze Arbeit zu leisten.« 104 »Ganze Arbeit« war jedoch nur mit der tatkräftigen Unterstützung des alten Ersten Beigeordneten der Stadt, Hermann Riedel, möglich. Mit seiner Hilfe kümmerte er sich in der Folgezeit um die Etablierung eines Wohnungsbauprogrammes (es sollte auch ein HJ-Heim gegründet werden), errichtete zwölf Erbhöfe und sorgte sich um die Krankenversor- Michael Stolle 50 98 RFSS, Oberabschnitt Südwest an Karl Berckmüller, 6. Februar 1937, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 99 Berckmüller an Hiemer, 24. Februar 1937, StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 100 StAN (Stürmerarchiv) 9 NW 33 STA 1022. 101 GLA 233/ 27894. 102 Wieder einmal half Robert Wagner. Schreiben der Stadt Villingen, 29. September 1937, GLA 465a 51/ 68/ 839. Die Stelle in Villingen wurde frei, da der ehemalige Bürgermeister Hermann Schneider zum Kreisleiter in Mannheim ernannt worden war. 103 In den nächsten Jahren schied er folglich endgültig und offiziell aus dem Staatsdienst aus, die Entlassungsurkunde vom Januar 1939 gestatte ihm lediglich, die Bezeichnung »Regierungsrat außer Dienst« zu führen. Verfügung des Badischen Ministers des Innern, 29. Januar 1939. Berckmüller verlor dabei alle Ansprüche auf Gehalt, Ruhegehalt und Hinterbliebenenversorgung. StAVS 1.17. Berckmüller. 104 Schwarzwälder Tagblatt Nr. 231 I, 5. Oktober 1937; Der Schwarzwälder Nr. 230, 5. Oktober 1937, vgl. StAVS 1.17. Berckmüller. <?page no="52"?> gung im städtischen Krankenhaus. Daß er dabei gegen den offensichtlich unfähigen SS-Chefarzt vorging und sich um die Belange der katholischen Schwesternschaft kümmerte, wollte er nach dem »Zusammenbruch« als Verdienst für sich verbuchen, zumal ihm dies erneut die Gegnerschaft von SD und SS eintrug. Berckmüller mutmaßte in geheimpolizeilicher Paranoia, daß der SD einen Spitzel nach Villingen entsandt habe, um ihn zu überwachen. Als der Streit um den SS-Arzt kulminierte, soll Himmler, der sich angeblich persönlich für den Fall interessierte, sogar seinen Rechtsberater nach Villingen geschickt haben. 105 Doch diesmal konnte sich Berckmüller durchsetzen: Der betreffende Arzt mußte sich zurückziehen. So hatte Berckmüller nicht nur die alten Feindschaften und Animositäten seiner Gestapotätigkeit im Gepäck. Auch einige Verhaltensweisen des ehemaligen Gestapochefs traten wieder zum Vorschein. 106 Einem Villinger Bürger, der sich mit einer Amtsentscheidung des Bürgermeisters nicht abfinden wollte, schrieb der sich selbst ja so gerne als »Idealist« darstellende Berckmüller: »[...] Falls Sie wagen sollten, die Massnahmen der Stadtverwaltung zu verhindern oder zu stören, [werden] Sie Gefahr laufen, durch die zuständigen Behörden in Schutzhaft genommen zu werden.« 107 Einen anonymen Brief ließ er mit geheimpolizeilichen Mitteln »streng vertraulich« prüfen. 108 Und an den Oberreichsanwalt beim Reichsgericht in Leipzig schrieb er nach der Besichtigung der Heil- und Pflegeanstalt Reichenau, daß er es untragbar finde, »dass körperlich gesunde, wenn auch moralisch defekte bzw. verkommene Menschen wie Kranke und Hilfsbedürftige durchgepäppelt werden, ohne einer strengeren Arbeit unterworfen zu werden.« 109 Selbst das Interesse an der »Affäre Gröber« flaute nicht ab. Noch immer wurde er von seinen Mittelsleuten mit Material gegen katholische Geistliche und die Kirche versorgt. 110 Es verwundert daher nicht, daß er von einigen Villinger Bürgern nach 1945 als »besonderer Naziaktivist« angesehen wurde. 111 Seine offenkundige Streitlust entfachte sich auch an den kommunalpolitischen Richtlinien der Villinger Kreisleitung, mit der er sich ständig überworfen haben soll. Schließlich veranlaßte Kreisleiter Haller im April 1940 seine Einberufung, die Berckmüller auch entgegenkam, hatte er doch, wie er später bekannte, keine Lust mehr, sich »noch während des Krieges mit kleinlichem Beamtenkram herumzuschlagen.« Enttäuscht über den Ausgang der zahlreichen politischen Streitigkeiten soll deshalb auch sein »letztes politisches Werturteil« gelautet haben: »Berckmüller steht außer- K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 51 105 Berckmüllers Entlassungsantrag an den Lagerkommandanten in Darmstadt, 4. November 1946, GLA 465a 51/ 68/ 839. 106 Berckmüller stand offensichtlich noch immer als V-Mann in Kontakt mit der badischen Gestapo, GLA 465d. 107 Undatierter Brief Berckmüllers, StAVS 1.17. Berckmüller. 108 StAVS 1.17. Berckmüller. 109 Berckmüller an den Oberreichsanwalt Dr. B., 8. Juni 1938, BA, Abt. III (BDC), ORPO A 405. 110 Schwalbach (wie Anm. 79), S. 92. 111 GLA 465a 51/ 68/ 839. <?page no="53"?> halb der Partei.« 112 Tatsächlich ließ er das Bürgermeisteramt Villingen immer wieder wissen, »dass er unter keinen Umständen während des Krieges auf längere Zeit von der Truppe, sei es durch Uk-Stellung oder durch mehrmonatigen Arbeitsurlaub entfernt bleiben möchte« 113 , und weilte nur auf Drängen des Ersten Beigeordneten gelegentlich für einige Wochen in Villingen, um den wichtigsten Amtsgeschäften, die sein Stellvertreter nicht erledigen konnte, nachzugehen. Nach Kriegsende gelang es Berckmüller zunächst, sich dem Zugriff der alliierten Truppen zu entziehen. Während seine Familie in Villingen von französischen Einheiten aus ihrem Haus vertrieben und in einem Lager bis Ende des Jahres inhaftiert wurde, schaffte es Berckmüller, nach Neuhausen a.d. Fildern durchzukommen. Dort wollte er für vier Wochen ein Zimmer anmieten, bekam aber vom ortsansässigen Bürgermeister keine Aufenthaltsgenehmigung. So wurde er (erst) am 9. November 1945 von der Polizei verhaftet und noch am gleichen Tag in das Interniertenlager in Darmstadt überführt. 114 Daß sich der ehemalige Gestapochef, der Hunderte der Freiheit beraubt hatte, in der nun beginnenden Gefangenschaft nicht wohl fühlte, bezeugen vor allem seine drei erfolgreichen Fluchtversuche. Am 23. November 1946 konnte er sich unbemerkt von einem Arbeitseinsatz der Lagerinternierten im Wald davon stehlen. Sein Weg führte ihn in Richtung Süden, wo er im Juni 1947 an der schweizerisch-italienischen Grenze wieder aufgegriffen wurde. Auch aus den Lagern in Lahr und in Ludwigsburg bzw. Kornwestheim, in denen er danach interniert war, konnte er ausbrechen. Vom April 1948 bis zum 13. Juni 1950 lebte er unter falschem Namen, ehe man ihn wieder entdeckte und ihn in das Landesgefängnis Freiburg brachte, wo er wegen der Mißhandlung des jüdischen Zahnarztes im Jahr 1933 in Untersuchungshaft saß. Von seinen Mithäftlingen als Einzelgänger beschrieben, bemühte sich Berckmüller regelmäßig, die Lagerverwaltungen dazu zu bewegen, ihn vorzeitig aus der Haft zu entlassen. Er müsse, schrieb er an die Lagerleitung in Darmstadt, »bei weiterer Internierung verzweifeln und jeden Glauben an die Gerechtigkeit und Menschheit verlieren.« 115 Besorgt zeigte er sich über den Zustand seiner Frau, die gesundheitlich Michael Stolle 52 112 Aussage Berckmüllers im Protokoll der Öffentlichen Sitzung der Zentralberufungskammer, 13. Dezember 1950, GLA 465a 51/ 68/ 839. Berckmüller diente als Kompaniechef auf mehreren Fliegerhorsten, meistens in Bayern. 1941 meldete er sich freiwillig nach Griechenland, wo er als Hauptmann beim Luftgaustab Südwest, Luftgaupostamt Wien am Athener Flughafen Verwendung fand. StAVS 1.17. Berckmüller. Später war er noch bei Lannion in der Bretagne im Einsatz, bevor er im Mai 1944 zur 1. Fallschirmjägerdivision beim Stab des Kommandeurs der Nachschubtruppen nach Italien versetzt wurde. Nach eigenen Angaben will Berckmüller ein gerechter Soldat und Vorgesetzter gewesen sein, der eine humane soldatische Gesinnung in mehreren Fällen bewiesen haben soll. So will er sich als Beisitzer eines Feldgerichtes gegen die Verhängung der Todesstrafe gegen einen griechischen Soldaten ausgesprochen haben, GLA 465a 51/ 68/ 839. 113 Bericht von Hermann Riedel, vermutlich Mitte 1941, StAVS 1.17. Berckmüller. 114 GLA 465a 51/ 68/ 839. 115 Berckmüller an den Lagerkommandanten von Darmstadt, 4. November 1946, GLA 465a 51/ 68/ 839. <?page no="54"?> angeschlagen getrennt von ihm leben und in einer Fabrik arbeiten müsse, um die Familie zu ernähren. Er sei außerordentlich erregt und »mit den Nerven stark herunter.« 116 Um die vorzeitige Entlassung zu erreichen, war Berckmüller zu allem bereit. Er sei durch die inzwischen gemachten Erfahrungen viel zu enttäuscht, »um nochmals die Wiederkehr einer Diktatur in irgendwelcher Form auch nur mit einem Wort zu propagieren.« 117 Außerdem versicherte er, daß er in seiner Lage »die Sicherheit des demokratischen Aufbaus und der Militärbehörden« gar nicht gefährden könne. 118 Aus diesen Beteuerungen den Schluß zu ziehen, Berckmüller sei sich seiner Mitschuld im NS-Regime bewußt geworden, wäre allerdings verfehlt. In seinem Entnazifizierungsverfahren vor der Zentralberufungskammer in Karlsruhe wie auch im Strafprozeß vor dem Landgericht in Freiburg versuchte er vielmehr, seine Tätigkeit zu verharmlosen und seine Verantwortung zu leugnen. 119 In seinem Entnazifizierungsverfahren wurden daher auch keine mildernden Umstände anerkannt. Noch in Berckmüllers Abwesenheit, verfügte die Zentralspruchkammer Nordbaden, daß der erste Karlsruher Gestapochef aufgrund seiner Tätigkeit in die Kategorie der »Hauptschuldigen« einzustufen sei. Nachdem Berckmüller entdeckt worden war, legte er Berufung gegen diesen Spruch ein. Am 13. Dezember 1950 wurde vor der Zentralberufungskammer Württemberg-Baden erneut verhandelt und diesmal wurde er, im Rahmen der gemäßigteren Entnazifizierungspraxis, der Gruppe der »Belasteten« zugeteilt. 120 Die daraus resultierende zweijährige Einweisung in ein Arbeitslager war durch seine Internierungshaft verbüßt. 20% seines Vermögens, mindestens 500,- DM, sollten als Wiedergutmachung eingezogen werden. Prinzipiell verlor er auch Ansprüche auf eine aus öffentlichen Mitteln zu leistende Pension oder Rente, doch wurde eine Teilrente oder Unterhaltsbeihilfe in den nächsten Jahren in Aussicht gestellt. Bereits am 27. November desselben Jahres war Karl Berckmüller vom Landgericht Freiburg wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt worden, die ab dem 1. Juni 1951 zur Bewährung ausgesetzt wurden. So konnte der ehemalige Leiter der Gestapo Karlsruhe seit Mitte des Jahres 1951 wieder in Freiheit leben und einem zivilen Beruf nachgehen. Als Vertreter arbeitete er für eine Reutlinger Baufachfirma und lebte in Karlsruhe in einer Gartenhütte in K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 53 116 Bericht der Strafverhandlung vor dem Lagergericht Darmstadt wegen Briefschmuggels, 13. September 1946, GLA 465a 51/ 68/ 839. Nach seiner späteren Haftentlassung ließ das Verantwortungsgefühl für seine Familie nach. Berckmüller wollte nach Esslingen, zu einer Lebensgefährtin, mit der der »Idealist« zwei außereheliche Kinder hatte. StAVS 1.17. Berckmüller. 117 Entlastungsgesuch Karl Berckmüllers, 15. August 1946, GLA 465a 51/ 68/ 839. 118 Undatiertes Entlastungsschreiben Karl Berckmüllers (vermutlich 1947/ 48) an die Lagerverwaltung Kornwestheim, GLA 465a 51/ 68/ 839 119 So rechtfertigte er z.B. auch sein früheres Verhalten gegen den jüdischen Zahnarzt. Antrag Karl Berckmüllers zur Wiederaufnahme seines Spruchkammerverfahrens, 25. März 1952, GLA 465a 51/ 68/ 839. 120 Spruch der Zentralberufungskammer Württemberg-Baden, 13. Dezember 1950, ebd. <?page no="55"?> sehr bescheidenen Verhältnissen. Mehrere Gnadengesuche richtete er noch an die Landesverwaltung, jedoch ohne Erfolg. Erst 1958 wurde ihm eine (Renten-) Nachversicherung für die Zeit seiner Tätigkeit als Villinger Bürgermeister zugestanden. 121 Die von Berckmüller angestrengte Umstufung in die Kategorie der »Minderbelasteten« wurde stets abgelehnt. Am 27. Juli 1961 starb der vermeintlich verführte »Idealist«, der ehemalige Gestapochef, als 65jähriger Rentner in Karlsruhe. Der Aufsteiger: Alexander Landgraf Am 20. Mai 1906 wurde Alexander Landgraf als Sohn des Landwirts und Bäkkermeisters Johannes Landgraf und seiner Frau Anna Maria in Lorsch/ Hessen geboren. Er wuchs im Elternhaus auf, besuchte bis zur 5. Klasse die Volksschule und wechselte dann auf das Realgymnasium in Heppenheim, wo er 1925 mit dem Abitur abschloß. Einer etwas mehr als einjährigen Tätigkeit beim Amtsgericht Lorsch ließ er zwischen 1926 und 1930 das Studium der Rechtswissenschaften in Heidelberg und Gießen folgen. Gleichzeitig arbeitete er als Justizanwärter bis 1928 bei einer örtlichen Firma. Sein Studium dauerte dreieinhalb Jahre, ehe er am 23. Mai 1930 das I. juristische Staatsexamen mit der Note »genügend« ablegte. Danach durchschritt er die übliche Laufbahn eines jungen Juristen. Zwischen Juli 1930 und Juni 1933 arbeitete er als Referendar bei seiner alten Firma, beim Landgericht Darmstadt und beim Amtsgericht in Bensheim. Zwei Tage vor Weihnachten 1933 bestand der Sohn aus einfachen und bescheidenen Verhältnissen sein II. Staatsexamen wiederum mit der Note »genügend«. Am 5. Januar des nächsten Jahres folgte seine Ernennung zum Gerichtsassessor. 122 Fortan war er bei einem Rechtsanwalt und Notar in Bensheim als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter und Vertreter angestellt. 123 Seine Karriere, die ihn bis an die Spitze der Gestapoleitstellen in Wesermünde, Karlsruhe und Münster führen sollte, begann, als er am 23. Mai 1934 in den Staatsdienst bei der Polizeidirektion in Darmstadt berufen wurde. Mit seinen neuen Berufskollegen teilte Landgraf, wie die jüngere Gestapoforschung zeigen konnte 124 , nicht nur zahlreiche biographische Merkmale, sondern auch einige historische Erfahrungen. Die meisten leitenden Mitarbeiter der Gestapo waren nämlich nicht, wie früher vermutet, »gestrandete« oder »gescheiterte« Exi- Michael Stolle 54 121 Gnadenentscheidung des Ministerpräsidenten, 22. Januar 1958, ebd. 122 BA, Dahlwitz-Hoppegarten V 233. 123 Handgeschriebener Lebenslauf Alexander Landgrafs, vermutlich Mitte 1936, BA, Abt. III (BDC), Personalakte. 124 Siehe z.B. die sich mit den Mitarbeitern der Gestapo beschäftigenden Beiträge in Paul/ Mallmann (wie Anm. 40). Vgl. auch: Kohlhaas, Elisabeth, Die Mitarbeiter der Gestapo - Quantitative und Qualitative Befunde, in: Archiv für Polizeigeschichte 2 (1995), S. 2 - 6. Die beste Zusammenfassung bei: Herbert (wie Anm. 49), S. 187 ff. <?page no="56"?> stenzen 125 , die in ihrem geheimpolizeilichen Dienst die einzig mögliche berufliche Option sahen. Im Gegensatz zu den SA-Führern standen sie auch nicht »zwischen den Klassen« 126 , noch verloren sie die Orientierung in der modernen Gesellschaft. Im Gegenteil, die Führungselite des nationalsozialistischen Polizeistaates besaß schon früh ein generationelles Selbstbewußtsein, das nicht zuletzt auch auf politischen und weltanschaulichen Überzeugungen basierte 127 , und eine gute akademische Ausbildung. Ihrer Herkunft nach unterschiedlich 128 , waren sie vor allem etwa gleichen Alters. Auch wenn eine genaue soziographische Analyse noch fehlt, kann man davon ausgehen, daß etwa drei Viertel aller Gestapostellenleiter im Reich den Jahrgängen zwischen 1902 und 1910 angehörten. 129 Diese Alterskohorte war die »Kriegsjugendgeneration«, die, ohne jemals in der Armee zu dienen, ihre entscheidenden politischen Erfahrungen in der durch viele politische Wirren gekennzeichneten Frühphase der Weimarer Republik gemacht hatte. Die Bemühungen um eine Revision des Versailler Friedens und die Abwehrkämpfe um das Rheinland waren jedenfalls prägende Eindrücke für junge Menschen wie Landgraf. Schon in seinen letzen Schuljahren schloß er sich vorübergehend dem Jungdeutschen Orden an, einem nationalen Kampfbund, der unter der Führung von Arthur Mahraun sozial-romantische Ziele verfolgte, die vom Kriegserlebnis und der Jugendbewegung geprägt waren. 130 Viele seiner Generationsangehörigen waren in den zahlreichen kleinen, »oft sehr elitären rechtsradikalen Bünden und Organisationen der völkischen Jugendbewegung« 131 aktiv. Hier wurden ihre politischen und weltanschaulichen Denkstrukturen vorgebildet, hier wurde das Ideen-Konglomerat aus radikal-völkischen Überzeugungen, einer elitären, idealistischen Ablehnung der modernen Massengesellschaft und einem tiefsitzenden Mißtrauen gegen die älteren Politiker gebildet, die das spätere politisch-polizeiliche Engagement prägten. Seinen Eintritt in die NSDAP (1. Februar 1928) 132 stellte Landgraf fast 25 Jahre später lapidar als jugendlichen Idealismus dar, er sei der Auffassung gewesen, »das Richtige« zu tun. 133 Diese schlichte und nachgerade emotionslose Begründung ist K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 55 125 Höhne, Heinz, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1987, S. 196ff. 126 Jamin, Mathilde, Zur Rolle der SA im nationalsozialistischen Herschaftssystem, in: Der »Führerstaat«: Mythos und Realität, hrsg. v. G. Hirschfeld, L. Kettenacker, Stuttgart 1981, S. 329 - 360. 127 Herbert (wie Anm. 49), S. 188 ff. 128 Alexander Landgraf kam jedenfalls nicht aus einem gutsituierten, großbürgerlichen Elternhaus. Dagegen: Paul, Gerhard, Ganz normale Akademiker. Eine Fallstudie zur regionalen polizeilichen Funktionselite, in: Die Gestapo, Mythos und Realität, hrsg. v. G. Paul, K.-M. Mallmann, Darmstadt 1995, S. 236 - 254, hier S. 239. 129 Herbert (wie Anm. 49), S. 194. 130 Zum Jungdeutschen Orden, der im Gegensatz zu den meisten anderen Bünden eine Kooperation mit Frankreich anstrebte: Hornung, Klaus, Der Jungdeutsche Orden (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 14), Düsseldorf 1958. 131 Herbert (wie Anm. 49), S. 187. 132 Landgraf bekam die Mitgliedsnummer 75.943 und gehörte zunächst der Ortsgruppe Lorsch an, BA, Abt. III (BDC), Karteikarte Landgraf. 133 Politischer Lebenslauf Alexander Landgrafs, Herbst 1952, HSTAWI 520/ FZ 4290. <?page no="57"?> typisch für alle erhalten gebliebenen Selbstäußerungen Landgrafs und dürfte an der Realität des Jahres 1928 vorbeigehen, denn tatsächlich bezog Landgraf von Beginn an für die nationalsozialistische »Bewegung« fleißig Stellung, betätigte er sich doch in der Ortsgruppe Lorsch von 1928 bis 1936 als Kulturwart und politischer Schulungsleiter. Der pöbelnden Schlägertruppe der SA gehörte er hingegen nie an. Auf eigenen Antrag wurde er am 1. Februar 1936 in die Preußische Geheime Staatspolizei als Regierungsassessor aufgenommen. 134 Zunächst wurde er zu einer »kurzen informatorischen Tätigkeit« an die Stapostelle nach Münster versetzt. Danach wurde ihm die kommissarische Leitung der Stapostelle Osnabrück übertragen, ehe er schon am 1. April 1936 zum Leiter der Außenstelle der Geheimen Staatspolizei in Wesermünde ernannt wurde. Einen solch raschen Aufstieg verdankte Landgraf nicht nur eigener Leistung, er war auch strukturell bedingt. Die ständige Erweiterung der Aufgaben der Gestapo eröffnete ihren Bediensteten glänzende Aufstiegsmöglichkeiten. Mit dem Dritten Gesetz über die Geheime Staatspolizei vom 10. Februar 1936 135 wurden die Kompetenzen der Gestapo im Verhältnis zur Innenverwaltung geklärt; durch einzelne Zusatzbestimmungen erhielt sie alle Rechte einer autonomen Sonderbehörde. Unter der intellektuellen Führung von Werner Best mutierte die Geheime Staatspolizei zum »Arzt am deutschen Volkskörper«, wobei als Bedrohung der Volksgesundheit nunmehr alles galt, was von ihr als bedrohlich empfunden wurde. 136 Neben die politischen rückten schließlich auch die »rassischen« Gegner in das Blickfeld der Verfolger, die es mit hohem Personalaufwand aufzuspüren und zu »bekämpfen« galt. Landgrafs beruflicher Erfolg kam nicht zuletzt auch seinen privaten Plänen entgegen. Wahrscheinlich in Wesermünde lernte er Elfriede Monje kennen, die er am 10. Februar 1940 heiratete. Dem ging allerdings eine eingehende erbbiologische Prüfung und Genehmigung durch das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt voraus. 137 Seine Regimetreue suchte er dabei auch durch Verzicht auf eine kirchliche Trauung unter Beweis zu stellen. Er selbst war bereits aus der Kirche ausgetreten. Seine Frau, beteuerte er, sei zwar noch evangelisch, doch trage auch sie sich mit dem Gedanken, die Kirche zu verlassen. Im Juli 1941 kam das erste von zwei gemeinsamen Kindern zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt wohnte die Familie Landgraf bereits in Karlsruhe. Denn als die Stelle des Leiters der Karlsruher Gestapoleitstelle im Frühjahr 1937 nach dem erzwungenen Rücktritt von Karl Berckmüller frei geworden war, wurde der mittlerweile 31 Jahre alte Jurist durch Erlaß der Berliner Zentrale zu dessen Nach- Michael Stolle 56 134 Handgeschriebener Lebenslauf Alexander Landgrafs, vermutlich Mitte 1936, BA, Abt. III (BDC), Personalakte. 135 Gesetz über die Geheime Staatspolizei, 10. Februar 1936, Abdruck in Buchheim (wie Anm. 37), S. 46 f. 136 Herbert (wie Anm. 49), S. 163 ff. 137 Alexander Landgraf an das SS-Rasse- und Siedlungshaupthamt, 14. Dezember 1937, BA, Abt. III (BDC), SSO. <?page no="58"?> folger bestimmt. 138 Im Gepäck hatte er ein Dienstleistungszeugnis, in dem seine Fähigkeiten als Dienststellenleiter in Wesermünde zusammengefaßt waren: »Landgraf zeichnet sich in seinem Handeln durch seine Ruhe, Entschlossenheit und kompromißlose Haltung aus. Durch sein rücksichtsloses Einsetzen für die nationale Bewegung, verbunden mit politischem Fingerspitzengefühl steht Landgraf unbedingt auf dem richtigen Posten. Seinen Untergebenen ist Landgraf in jeder Weise gerecht [sic! ] und ein guter Kamerad. Das Benehmen in und außer Dienst ist vorbildlich.« 139 Am 1. September 1937 übernahm Alexander Landgraf als Regierungsrat offiziell die Leitung der zwischenzeitlich kommissarisch geleiteten Gestapostelle in Karlsruhe. 140 Für die Karlsruher Mitarbeiter wie auch für die Dienststelle insgesamt begann nun eine neue Ära, denn anders als sein Vorgänger soll Landgraf nicht mehr auf Kooperation im Hause gesetzt haben, sondern vielmehr übereifrige Kollegen beargwöhnt haben. 141 Überaus korrekt war er eindeutig auf die Berliner Zentrale ausgerichtet. In einem Schreiben an den Oberlandesgerichtspräsidenten drückte er diesen Sachverhalt deutlich aus: »Die Wahrnehmung aller Aufgaben der Geheimen Staatspolizei für das Land Baden obliegt ausschliesslich der Staatspolizeileitstelle Karlsruhe, die unmittelbar dem Geheimen Staatspolizeiamt Berlin untersteht, von dort unmittelbar ihre Weisungen erhält und diesem unmittelbar zu berichten hat.« 142 Etwaige Einwirkungsmöglichkeiten der badischen Landesregierung existierten als Ergebnis der Zentralisierungs- und Verreichlichungsprozesse kaum mehr. Landgraf selbst nahm als Leiter der Stapostelle das Amt des Sachbearbeiters für die Angelegenheiten der Politischen Polizei beim Badischen Minister des Innern wahr. Zwar war er verpflichtet, Weisungen der Badischen Landesregierung zu entsprechen, allerdings nur »soweit nicht Anordnungen des Geheimen Staatspolizeiamts [Berlin] entgegenstehen.« 143 Der SS war Alexander Landgraf bereits am 30. April 1936 beigetreten. Knapp ein Jahr später, am 20. April 1937, wurde der nur 1,65 m große Gestapoleiter in K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 57 138 Reinhard Heydrich an Reichsstatthalter Robert Wagner, 11. Juni 1937, GLA 233/ 27894. 139 Dienstleitungszeugnis von 1937, ausgestellt vom Leiter der Zentralabteilung I/ 2 beim Chef des Sicherheitshauptamts, BA, Abt III (BDC). 140 BA, Dahlwitz-Hoppegarten ZA V 67, S. 11. 141 Aussage eines ehemaligen Karlsruher Gestapobeamten in seinem eigenen Spruchkammerverfahren, GLA 465a Ztr. Spr. K. / B/ Sk/ 1452. 142 Alexander Landgraf an den Oberlandesgerichtspräsidenten Karlsruhe, 11. April 1938, GLA 240, Zug. 1987/ 53 Nr. 727; auch Abdruck in: Schadt (wie Anm. 10), S. 315 ff. 143 Ebd. Die Berliner Zentralbehörde war zur direkt vorgesetzten Behörde geworden, nachdem am 17. Juni 1936 Himmler zum »Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern« ernannt wurde (RGBl. 1936 I, S. 487). Im Zuge der Vereinheitlichung der Dienststellenbezeichnungen im gesamten Reich nannte sich das Badische Geheime Staatspolizeiamt daher seit dem 1. Oktober 1936 Staatspolizeileitstelle Karlsruhe. Zum 1. April 1937 wurde die politische Polizei Badens schließlich auf den Reichsetat übernommen. Die ehemals badischen (Gestapo)-Beamten waren damit zu Reichsbeamten geworden. <?page no="59"?> Angleichung an seine dienstliche Stellung zum SS-Untersturmführer und zum SS- Führer im SD-Hauptamt befördert. 144 Wieder ein Jahr später, am 1. August 1938, wurde er SS-Obersturmführer. Er muß sich als SS-Mann bewährt und die ihm gestellten Aufgaben zur Zufriedenheit der SS-Führung in Berlin erledigt haben. Denn im Laufe der Jahre wurde er nicht nur SS-Sturmbannführer, bzw. (1. September 1942) SS-Obersturmbannführer, er erhielt sogar zahlreiche Auszeichnungen, wie den Ehrendolch, den Winkel der alten Garde, den Totenkopfring der SS und den Julleuchter. 145 Die wenigen erhalten gebliebenen Dokumente, die von Landgrafs Karlsruher (und später von seiner Münsteraner) Dienstzeit Zeugnis ablegen können, zeigen, daß sich der Gestapoleiter in seinen Berichten und Anordnungen, was seine Person betrifft, außerordentlich zurückgehalten hat. Die unter seiner Regie entstandenen Lageberichte sind in keinem einzigen Fall mit seinem Namen gekennzeichnet. Und die verschiedenen Anweisungen und Erlasse der Berliner Zentrale gab er gleicherart wortwörtlich an die einzelnen Polizeidienststellen in Baden weiter. 146 Landgraf war ein sachlicher und korrekter Beamter, der versuchte, peinlich genau seine »Pflicht« zu erfüllen und den Anweisungen seiner Vorgesetzten zu genügen. 147 Feststellen läßt sich, daß die Zahl der wegen »kommunistischer und marxistischer Betätigungen« in Haft genommener Personen im ersten Dienstjahr von Landgraf zurückging. 148 Das lag weniger an der uncouragierten und eher unsicheren Haltung des kleinen Stapostellenleiters als an der Tatsache, daß der Widerstand aus diesem politischen Kreis in der Mitte der 30er Jahre deutlich nachließ. Erst Ende 1938 geriet die aktive Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) wieder ins Visier der Gestapo. Landgraf ließ mehrere Personen aufgrund des Heimtückegesetzes verhaften, auch solche, die dem Zentrum angehörten. 149 Die von Berckmüller begonnene Hetzkampagne gegen katholische Geistliche, insbesondere gegen den Erzbischof von Freiburg Conrad Gröber, betrieb sein Nachfolger nicht weiter, sondern mäßigte in Konformität mit den Berliner Direktiven den Umgangston. 150 Michael Stolle 58 144 Landgraf erhielt die SS-Mitgliedsnummer 280 440, SS-Stammrolle Landgraf, BA, Abt. III (BDC). 145 BA, Abt. III (BDC). Am 11. November 1944 wurde Landgraf auch militärisch (EK I) dekoriert. Befehlsblatt des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD Nr. 46/ 44, 11. November 1944, ZStLB 505 AR-Z 24/ 82. 146 Siehe die entsprechenden Dokumente in: Sauer (wie Anm. 59). 147 Landgraf war nach eigenen Angaben ein persönlicher Freund von Dr. Werner Best, dem Organisator der Berliner Gestapo und des RSHA. An seinem Kurs mag er sich orientiert haben. Aussage eines Referatsleiters der Stapostelle Münster, 16. Januar 1962, STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 4. 148 1936 waren es 323 verhaftete, 1937 »nur« noch 105 Personen, Schadt (wie Anm. 10), S. 195. 149 Im Januar 1938 waren dies insgesamt 55, im März desselben Jahres schon 68, im April 1938 wieder 49 Personen (Nicht-Zentrumsangehörige miteingerechnet). Von linken politischen Gruppen wurde im selben Zeitraum niemand verhaftet., Schadt (wie Anm. 10), S. 198, 200, 203. 150 Landgraf bescheinigte der von Gröber verfaßten Denkschrift »Die Erzdiozöse Freiburg seit dem politischen Umbruch am 30. Januar 1933« (GLA 235/ 12987), daß die dort gemachten Aussagen auch hinsichtlich der Gestapo richtig seien. Schwalbach (wie Anm. 79), S. 142 f. <?page no="60"?> Dennoch wuchs die Zahl der von der Gestapo verfolgten Personen beständig. Allein die am 17. Juni 1936 verfügte Zusammenlegung von Politischer Polizei und Kriminalpolizei zur sog. »Sicherheitspolizei« macht deutlich, daß aus Sicht der Verfolger politische und kriminelle Handlungen kaum mehr zu unterscheiden waren, mithin der Aufgabenkreis der Gestapo ins Unendliche wuchs. Den außerpolizeilichen Behörden in Karlsruhe wurde das deutlich, als Alexander Landgraf auf Weisung des Reichsführers SS verfügte, daß sämtlicher Schriftverkehr der polizeilichen und justiziellen Verfolgungsinstanzen, also auch der Gerichte und Staatsanwaltschaften, grundsätzlich über die Staatspolizeileitstelle Karlsruhe zu erfolgen habe. 151 Die Befürchtung des Generalstaatsanwalts war daher gewiß nicht übertrieben, als er am 27. Juli 1938 darlegte, daß durch diese Bestimmung die erhöhte Gefahr bestünde, daß die Staatsanwaltschaft bei entsprechenden Ermittlungen übergangen würde. Außerdem könnte die Gestapo in die Behandlung der laufenden Verfahren eingreifen und den Außenstellen den Absichten des Staatsanwalts widersprechende eigenmächtige Weisungen erteilen. 152 Ein Beispiel für diese erweiterte »Aufgabenstellung« der nationalsozialistischen Verfolgungsinstanzen wurde der Öffentlichkeit im Frühjahr 1938 gegeben, als die Gestapo im ganzen Reich eine Aktion gegen »Arbeitsscheue« durchführte, die wenig später von der Aktion gegen »Asoziale«, worunter Landstreicher, Bettler, Zigeuner, Zuhälter und vorbestrafte Personen fielen, grausam komplettiert wurde. Auch die Verfolgung der Juden wurde allmählich ausgeweitet. Nachdem zunehmend alle Versammlungen von jüdischen Gruppen verboten und überwacht wurden und die Zahl der verfolgten »Rasseschändungen« immer größer wurde, ordnete die Stapoleitstelle Karlsruhe am 26. August 1938 an, die unter Karl Berckmüller begonnene, systematische Erfassung der Juden zu verbessern. Nunmehr sollten alle strafbaren Handlungen von Juden, »mögen sie politischer oder allgemein krimineller Natur (z.B. Rassenschande, Devisenvergehen usw.) sein«, auf festgelegten Vordrucken gemeldet werden. 153 Der Henkersstrick um die jüdischen Bürger wurde immer enger gezogen. Den vorläufigen Höhepunkt bildete dabei, nachdem zwei Wochen zuvor schon Ostjuden auf unmenschliche Art und Weise nach Polen abgeschoben worden waren, das reichsweite Pogrom vom 9. November 1938. Wurde die Führung von SS, SD und Gestapo von dem Beginn der Ereignisse auch überrascht, so war sie gleichwohl nicht unvorbereitet für derartige »Aktionen«. Während der Mob aus SA-Kämpfern und fanatisierten Antisemiten über die jüdischen Bürger und ihre Kulturgüter herfiel, wurde die Geheime Staatspolizei zum »Schutz« der Maßnahmen sekundierend herangezogen. Sie sollte »im Benehmen mit der Ordnungspolizei [sicherstellen], daß Plünderungen und sonstige besondere Ausschreitungen« unterblieben. 154 K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 59 151 GLA 240, Zug. 1987/ 53, Nr. 727. 152 Schadt (wie Anm. 10), S. 273. 153 Sauer Bd. 1 (wie Anm. 59), S. 110 f. 154 Geschichte und Schicksal des Karlsruher Judentums, bearb. v. Stat. Amt der Stadt Karlsruhe, <?page no="61"?> Außerdem sollte eine bestimmte Anzahl männlicher Juden von der Gestapo herausgegriffen und in Konzentrationslager eingewiesen werden. Die Karlsruher Gestapobeamten verbrachten demgemäß 400 - 500 Juden in das Konzentrationslager Dachau. Am 9. Dezember 1938 wurden die Leiter der regionalen Stapostellen nach Berlin gerufen, wo ihnen die geplanten Maßnahmen der Judenpolitik von Sipo und SD erläutert wurden. Die Auswanderung der Juden sollte zunächst noch verstärkt gefördert werden, wie Landgraf den Polizeibehörden in Baden noch am 3. Mai 1940 meldete. 155 Doch mit Fortschreiten des Kriegs wurden die Verfolgungsmaßnahmen beständig intensiviert und radikalisiert. Nunmehr gab auch Landgraf, das war selten genug, nicht mehr nur den Wortlaut der Berliner Direktiven weiter. In einem Erlaß vom 12. September 1939 ließ er beispielsweise den Juden eigene Geschäfte zuweisen. »Die Juden wirken allein durch ihre Anwesenheit provozierend. Keinem Deutschen kann daher zugemutet werden, sich zusammen mit einem Juden vor einem Geschäft aufzustellen.« 156 Einzelaktionen sollten allerdings »aus naheliegenden Gründen«, d.h. aus ordnungspolitischen Erwägungen, unterbleiben. Den Kriegsbeginn erlebte Alexander Landgraf in Karlsruhe. Daß er damals schon im Gestapodienst unglücklich gewesen sein soll, wie von ehemaligen Mitarbeitern des Badischen Innenministeriums in seinem späteren Entnazifizierungsverfahren ausgesagt wurde, und daß er deswegen versucht habe, seine Versetzung in die badische innere Verwaltung durchzusetzen 157 , scheint eher unwahrscheinlich, da in den vorliegenden Quellen nicht der geringste Anhalt für derartige Bestrebungen zu finden ist. So wurde Landgraf nicht wie angeblich beabsichtigt (und vom RSHA angeblich verboten) in die Zivilverwaltung im besetzen Elsaß übernommen, sondern zum Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Straßburg (BdS Straßburg) Dr. Hans Fischer versetzt. Der genaue Zeitpunkt dieser Abordnung und die Aufgaben, die er dort erfüllen sollte, sind nicht eindeutig nachvollziehbar. Vermutlich trat er seinen Dienst bereits im Frühsommer 1940 an, also unmittelbar nach dem erfolgreichen Feldzug gegen Frankreich. 158 Während Landgraf gut 25 Jahre später angab, mit der Einrichtung der kriminalpolizeilichen Abteilung in Straßburg betraut worden zu sein 159 , belegen andere Dokumente eine Verwendung als Kommandeur Michael Stolle 60 unveröff. Manuskript, Karlsruhe 1965, S. 164; Werner, Josef, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 9), Karlsruhe 1988, S. 183. 155 Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 125. 156 Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 178. 157 Aussagen im Entnazifizierungsverfahren, HSTAWI 520/ FZ 4290. 158 Dieser frühe Termin geht aus den Ermittlungen der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg hervor: ZStLB Personalblatt Alexander Landgraf. Bestätigt wird dies auch in BA, Dahlwitz -Hoppegarten ZA V 67, S. 11. Die offizielle Versetzung hingegen soll erst zum 1. April 1941 erfolgt sein (GLA 465e Nr. 999). Vermutlich war diese Berufung aber an die Besetzung einer Oberregierungsratstelle gebunden, die für Landgraf 1940 noch nicht zur Verfügung stand. 159 ZStLB 414 AR 3059/ 1965, S. 187. <?page no="62"?> der Sicherheitspolizei und des SD in Straßburg (KdS Straßburg). 160 Welche Position er schließlich auch eingenommen haben mag, sicher ist, daß er in höherer Stellung zum Aufbau des vom RSHA dirigierten und von den Höheren SS-Polizeiführern gelenkten Verfolgungs- und Terrorapparats im besetzen Elsaß maßgeblich beigetragen hat. 161 Davon zeugen nicht nur seine allmählich erworbenen SS-Ehrungen, sondern auch seine Beförderung zum Oberregierungsrat am 1. Februar 1942. 162 Zeitgleich mit seiner beruflichen Beförderung wurde Alexander Landgraf am 5. Januar 1942 zum Stab des Höheren SS- und Polizeiführers für das Reichskommissariat Ostland nach Riga abgeordnet. Er folgte damit dem Verfolgungsapparat in die nach dem Rußlandfeldzug besetzten Gebiete, um dort die geheimpolizeiliche Verfolgungs- und Vernichtungsbürokratie zu unterstützen. Am 25. Januar 1941 begann sein Dienst als »Sachbearbeiter« in der Abteilung IV und V (Geheime Staatspolizei und Kriminalpolizei) beim BdS Ostland in Riga. 163 Dort versah er seinen »Dienst« in auffallender und häufig nur schwer zu unterscheidender Nähe zu den Mordkommandos der Einsatzgruppe A. 164 Inwieweit sich Landgraf selbst an den Aktionen beteiligte, bleibt im dunkeln. Er gab nach dem Ende des Kriegs in einem Verhör an, er sei dort zur Beobachtung von Differenzen in den einzelnen Sparten der Polizei eingesetzt worden. 165 Ohne diese eher rechtfertigende Aussage im einzelnen nachprüfen zu können, darf angenommen werden, daß er den Vernichtungskrieg der »Weltanschauungstruppe« in vielen Einzelheiten kannte. Seine Beteiligung daran, in welcher Form auch immer, macht ihn zum Mitschuldigen an den grausamen Verbrechen. Wie viele seiner Kollegen blieb Alexander Landgraf nur vorübergehend in der Außenstelle. Im Versetzungskarussell der Kriegsjahre kehrte er im September 1942 vorübergehend nach Straßburg zurück, ehe er wenige Tage später zum Personalreferenten des RSHA nach Berlin bestellt wurde, wo man ihm eröffnete, daß er fortan die Leitung der Stapoleitstelle in Münster zu übernehmen habe. 166 Nach eigenen K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 61 160 BA, Dahlwitz-Hoppegarten V 67, S. 11. Zum Aufbau der Polizei- und Verfolgungsbehörden in den besetzten Gebieten vgl: Buchheim (wie Anm. 37), S. 80 ff. 161 Landgraf sprach nach dem Krieg beschönigend davon, daß man versucht habe, die Elsässer durch milde Maßnahmen umzustimmen. »Sie wurden wirklich mit Glacéhandschuhen angefaßt«. STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 508. 162 BA, Abt. III (BDC), SSO. 163 Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941/ 42 - Eine exemplarische Studie, in: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938 - 1942, hrsg. v. H. Krausnick, H.-H. Wilhelm, Stuttgart 1981, S. 281 - 617, hier: S. 291, 641. 164 Krausnick, Helmut, Die Einsatzgruppen vom Anschluß Österreichs bis zum Feldzug gegen die Sowjetunion. Entwicklung und Verhältnis zur Wehrmacht, in: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938 - 1942, hrsg. v. H. Krausnick, H.-H. Wilhelm, Stuttgart 1981, S. 13 - 278, hier S. 173 ff. 165 STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 507. 166 Hier war auch schon sein Vorgesetzter in Straßburg Dr. Hans Fischer zwischen 1935 und 1941 als Gestapoleiter tätig gewesen, siehe: Hey, Bernd, Zur Geschichte der westfälischen Staatspolizeistellen und der Gestapo, in: Westfälische Forschungen 37(1987), S. 58 - 90, hier S. 89. <?page no="63"?> Angaben sollte er dabei nicht nur dafür sorgen, den nördlichen Teil der deutschen Westgrenze gegen das Eindringen feindlicher Agenten besser abzuschirmen, sondern auch den Auseinandersetzungen zwischen den Parteidienststellen und dem katholischen Bischof Clemens August Graf von Galen ein Ende bereiten. 167 Bischof Galen hatte bereits im Sommer 1941 mehrfach gegen die Mordaktionen an Geisteskranken, die sogenannte »Euthanasie«, in der Öffentlichkeit protestiert und sich dabei den Haß des Gauleiters Dr. Alfred Meyer und anderer Parteibehörden zugezogen. 168 Da der katholische Geistliche jedoch an exponierter Stellung stand, mußten die geplanten persönlichen Repressalien gegen den Kirchenführer aufgeschoben werden. Vor diesem Hintergrund trat der ehemalige Karlsruher Gestapoleiter im Herbst 1942 seinen Dienst in Münster an. 169 Inwieweit er nun die allgemeine Überwachungs- und Verfolgungspraxis gegenüber Bischof Galen und vielen anderen katholischen Geistlichen in Westfalen veränderte, bleibt wiederum im dunkeln. 170 An dem prinzipiellen Vorgehen der Geheimen Staatspolizei gegen Galen jedenfalls änderte sich nichts. Dazu hätte es wohl auch eines ganz anderen Charakters als Landgraf bedurft. Von seinen Untergebenen wurde Landgraf als eher weich empfunden und als jemand charakterisiert, der nur peinlich genau »seine« Pflicht erfüllt, selbst aber kaum eigene Initiative entwickelt habe. Zudem sei er nur ein höchst mittelmäßiger Jurist gewesen. 171 Ein ehemaliger Kriminaldirektor bezweifelte in den Untersuchungen der Nachkriegszeit sogar, daß Landgraf den Anforderungen an einen Behördenleiter überhaupt habe entsprechen können. 172 Menschen, die ihn näher kannten, bemerkten Hemmungen und Unsicherheiten, die sie auf seine Körpergröße zurückführten. So verwundert es nicht, daß er sich vornehmlich darauf beschränkte, die Anordnungen seiner Vorgesetzten zu exekutieren. Neben den kirchlichen Fragen mußte sich der neue Münsteraner Gestapoleiter Michael Stolle 62 167 Vernehmung von Alexander Landgraf vor der Sonderkommission des Landeskriminalpolizeiamts Niedersachsen, 14. April 1967, ZStLB 414 AR 3059/ 1965, S. 187. 168 Vgl. Hürten, Heinz, Deutsche Katholiken 1919 - 1945, Paderborn u.a. 1992, S. 494 ff.; Conway, John, Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933 - 1945. Ihre Ziele, Widersprüche und Fehlschläge, München 1969, S. 290 ff.; Portmann, Heinz, Kardinal von Galen, Münster 1974. 169 Am 9. Oktober 1942 war Landgraf beim Münsteraner Ordnungsamt offiziell gemeldet, STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 3. 170 Die bisher zur Staatspolizeileitstelle Münster erschienene Literatur beschränkt sich aufgrund der Quellenlage im wesentlichen auf die Tätigkeiten bis 1936: Hey, Zur Geschichte (wie Anm. 166), ders., Die westfälischen Staatspolizeistellen und ihre Lageberichte 1933 - 1936, in: Verfolgung und Widerstand im Rheinland und in Westfalen 1933 - 1945, hrsg. v. A. Faust (Schriften zur politischen Landeskunde Nordrhein-Westfalens 7), Köln 1992, S. 30 - 39. In den »Meldungen aus Münster« tritt Landgraf nicht in Erscheinung: Kuropka, Jürgen (Bearb.), Meldungen aus Münster: 1924 - 1944; geheime und vertrauliche Berichte von Polizei, Gestapo, NSDAP und ihren Gliederungen, staatlicher Verwaltung, Gerichtsbarkeit und Wehrmacht über die politische und gesellschaftliche Situation in Münster, Münster 1992. 171 STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 508, S. 192 ff. 172 STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 1, S. 118. <?page no="64"?> auch den immer bedrohlicher werdenden Folgen des andauernden Krieges stellen. Etwa bei seinem Amtsantritt wurde die Gestapozentrale in der Gutenbergstraße durch Fliegerbomben getroffen, so daß die Akten der Dienststelle verbrannten. 173 In dem Maße wie sich die Kriegsgeschehnisse der deutschen Heimat näherten, radikalisierte sich der Gestapo-Terror ein weiteres Mal. Während im Osten, in den von den Deutschen besetzten Gebieten, die Judenvernichtung auf einen grausamen Höhepunkt getrieben wurde, stieg im Deutschen Reich die Zahl der ermordeten Fremdarbeiter, die von den Vollstreckern der SS, Sicherheitspolizei und Gestapo einer sogenannten »Sonderbehandlung« zugeführt wurden. Alexander Landgraf war in den letzten Kriegsmonaten in seiner Eigenschaft als Gestapochef für solche Aktionen mitverantwortlich. Er besaß mittlerweile erheblich erweiterte Befehlsgewalt 174 und trug so, ob aktiv daran beteiligt oder nicht, die Verantwortung für zahlreiche Morde im nördlichen Westfalen. 175 Von der ihm nach dem mißglückten Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 übertragenen Befugnis, Exekutionen selbständig anordnen zu können, will er keinen Gebrauch gemacht haben. 176 Dies ist aus zwei Gründen nicht unwahrscheinlich. Zum einen scheute Landgraf eigenverantwortliches Handeln solchen Ausmaßes. 177 Zum anderen wurde er in der Leitung der Gestapostelle im März 1945 - für ihn völlig überraschend - von dem ehemaligen Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD in Warschau Dr. Ludwig Hahn abgelöst. Landgraf wähnte schon Unterlassungen seinerseits, die ihm möglicherweise die Gunst seiner Vorgesetzten gekostet haben könnten 178 , doch blieb er unter Beibehaltung seines Dienstrangs im Amt und setzte sich fortan im Außendienst ein, ohne die Verantwortung für das nun zunehmend chaotische Geschehen übernehmen zu müssen. 179 K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 63 173 Löffler, Peter (Bearb.), Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten Briefe und Predigten Bd. 1 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 42) Mainz 1988, S. XXXIX. 174 Die Gestapoleitstelle Münster umfaßte die Regierungsbezirke Münster, Minden und Osnabrück sowie die früheren Länder Schaumburg-Lippe und Lippe-Detmold unter der Leitung des IdS in Düsseldorf. Im Spätherbst 1944 erhielt die Dienststelle die Bezeichnung »Kommandeur der Sicherheitspolizei Westfalen/ Nord«. Landgraf stand damit auch der Stapostelle in Osnabrück vor, in der ein ehemaliger Karlsruher Gestapobeamter als Dienststellenleiter tätig war, ZStLB 414 AR 3059/ 1965, S.147 f., S. 188 f. 175 Zu den Exekutionen, die im April 1943, Anfang 1944 und im März 1945 von den Gestapoleitstellen im Ruhrgebiet durchgeführt wurden, siehe die Zusammenstellung in: STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 343. Vgl. Herbert, Ulrich, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, 2. Aufl. Berlin, Bonn 1986, S. 336 f. 176 ZStLB 414 Ar 1331/ 67. 177 Seine Münsteraner Gestapo-Kollegen beschuldigten ihn allerdings im Rahmen der Nachkriegsprozesse, doch als Beteiligter mitgewirkt zu haben. STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 508. 178 Der Leiter der Abt. IV der Münsteraner Gestapo erinnerte sich im Jahr 1962, »dass er [Dr. Hahn] in voller Uniform bei uns auftauchte. Ich sehe ihn noch heute neben dem körperlich kleinen ORR Landgraf stehen. [...] Landgraf war an diesem Tag körperlich offensichtlich mitgenommen. Sein Gesicht hatte eine gelbe Farbe. Man konnte ihm seine innere Erregung äußerlich anmerken.« STAMS Staatsanwaltschaft Münster, Nr. 282, Bd. 4. 179 Später gab er zu, froh gewesen zu sein, »die Verantwortung in der damals turbulenten Zeit los zu <?page no="65"?> Im auswärtigen Einsatz verliert sich denn auch die Spur des Gestapoleiters. Es ist völlig unklar, wie der SS-Obersturmbannführer das Kriegsende erlebt, wohin es ihn verschlagen und inwieweit er es geschafft hat, mit seiner noch in Straßburg lebenden Familie Kontakt aufzunehmen. In den Nachkriegsprozessen verweigerte er darüber beharrlich jede Auskunft. 180 Offensichtlich gelang es ihm, in den Wirren des Kriegsendes unterzutauchen. Erst am 17. September 1952, siebeneinhalb Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft, wurde er wieder identifiziert. Er wohnte in Seligenstadt, wo er am 16. Januar 1953 eine Tätigkeit als Sparkassenangestellter annahm und sich fünf Jahre später ein Haus baute. Landgraf hatte zwar noch ein Entnazifizierungsverfahren vor der Zentralspruchkammer Hessen in Frankfurt/ Main zu bestehen, doch wurde das Verfahren schon am 22. November 1952 eingestellt, weil zu diesem Zeitpunkt keine Hinweise aufgefunden werden konnten, die eine Einreihung in die Gruppe der »Hauptschuldigen« oder der »Belasteten« gerechtfertigt hätten. 181 Mit zahlreichen »Persilscheinen« 182 , in denen ihm bescheinigt wurde, ausgleichend und gerecht gewirkt zu haben, konnte er sich vor der ohnehin nicht mehr mit großem Bemühen untersuchenden Spruchkammer aus seiner Verantwortung stehlen. Seine »soziale und tolerante Einstellung« seien allgemein bekannt gewesen. Selbst in Strafprozessen, die wegen diverser, von Gestapostellen begangener Tötungsverbrechen Anfang der 60er Jahre angestrengt wurden, kam Landgraf ungeschoren davon 183 , nicht zuletzt deshalb, weil er sich völlig ahnungslos gab und an der Rechtmäßigkeit des aus seiner Sicht untergeordneten Handelns festhielt. Zwar habe er sich beispielsweise mit seinem Münsteraner Stellvertreter unterhalten und bemerkt, daß die Verfolgung der Ernsten Bibelforscher nicht rechtmäßig sei, doch habe er auf die »massgebenden Leute im Innenministerium und beim RSHA [, die] einen ganz anderen Überblick« gehabt hätten, vertraut - so Landgrafs ebenso banale wie erfolgreiche Verteidigungsstrategie. 184 Seinen Lebensunterhalt verdiente Landgraf im Nachkriegsdeutschland als Sparkassenangestellter. Ohne eine erkennbare moralische Reflexion über seine Tätigkei- Michael Stolle 64 sein«, Aussage Alexander Landgrafs, 25. Januar 1962, STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 5, S. 137 ff. 180 Landgraf gab lediglich an, Gelegenheitsarbeiten in Deutschland und in anderen europäischen Ländern ausgeführt zu haben. ZStLB 414 AR 3059/ 1965. 181 HSTAWI 520/ FZ 4290. 182 U.a. auch vom ehemaligen öffentlichen Kläger der Zentralspruchkammer Nordbadens Helmut Zinnecke, HSTAWI 520/ FZ 4290. 183 Die gegen Landgraf angestrengten drei Verfahren mußten aus Mangel an Beweisen (für Mord oder Beihilfe zum Mord) eingestellt werden. (STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, 507 - 510 und 343.) Er wäre höchstens wegen Totschlags anzuklagen gewesen, wenn zu Beginn der 60er Jahre die Verjährungsfrist nicht schon abgelaufen gewesen wäre. Zur Verjährung vgl. Lichtenstein, Heiner, NS-Prozesse. Zum Ende eines Kapitels deutscher Justizgeschichte, in: Täter-Opfer-Folgen. Der Holocaust in Geschichte und Gegenwart, hrsg. v. H. Lichtenstein, O. R. Romberg (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung 335), Bonn 1995, S. 114 - 124. 184 Aussage von Alexander Landgraf, 25. Januar 1962, STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, Bd. 5, S. 137 ff. <?page no="66"?> ten bei der Gestapo und von Polizei bzw. Justiz weitgehend unbehelligt, lebte er im Großraum Frankfurt/ Main, wo er am 16. August 1972 im Alter von 66 Jahren verstarb. Der sachliche Vollstrecker: Dr. Walter Schick Walter Schick wurde am 22. Juni 1909 als erster Sohn des damals 44jährigen Christian Friedrich Schick und seiner 39 Jahre alten Ehefrau Emilie in Schramberg/ Württemberg geboren. Waren die Großeltern noch einfache Bauern oder Handwerker, so hatte es Schicks Vater geschafft, in eine gehobene Stellung zu gelangen: er war Volksschulrektor. In des Vaters Schule verbrachte der Junge denn auch seine ersten Schuljahre, bevor er die örtliche Realschule bzw. die Oberrealschule in Stuttgart besuchte. Dort legte er im Frühjahr 1928 die Reifeprüfung ab. Ähnlich wie der drei Jahre ältere Landgraf mußte Schick nie in der Armee dienen. Und genauso wie sein zukünftiger Amtsvorgänger absolvierte er ein Studium der Rechtswissenschaften. Schick schrieb sich zum Sommersemester 1928 an der Universität Tübingen zunächst für Germanistik ein, wechselte dann aber im nächsten Jahr zu den Juristen. 1930/ 31 studierte er vorübergehend in Berlin, ein halbes Jahr später in München, ehe er wieder im Sommer 1932 nach Tübingen zurückkehrte, wo er schließlich im Frühjahr 1933 das Referendarexamen ablegte. 185 Das sich anschließende Assessorexamen absolvierte der angehende Jurist im Sommer 1934 in Stuttgart. 186 Während dieser Studienzeit stellte er nicht nur die Weichen für seine spätere Karriere, sondern hier muß er auch seine entscheidenden politischen Prägungen erfahren haben. Schon der Beitritt zur Studentenverbindung »Stuttgardia« gleich zu Beginn seines Studiums wies ihn als konservativ-nationalen Geist aus. In der Verbindung lernte der sehr auf ordentliche Kleidung bedachte Student den elitären Corpsgeist kennen, hier kam er in »männlicher« Kameradschaft in Kontakt mit der Vision eines vom Versailler »Schmachfriedens« befreiten Deutschlands. Ob er bereits zu dieser Zeit auf den Nationalsozialismus aufmerksam wurde, läßt sich nur vermuten. Sicher ist, daß er sich der nationalsozialistischen Partei nicht in Tübingen, sondern in Berlin während seines dortigen Studienaufenthalts anschloß. Am 1. März 1931 trat der noch nicht ganz 22jährige als Mitglied Nr. 474.543 der NSDAP bei. 187 Über die Hintergründe dieses Parteibeitritts ist nichts bekannt. Jugendlicher Leichtsinn kann es kaum gewesen sein, denn schon ein halbes Jahr später trat er, als ob er seine Entscheidung noch einmal bekräftigen wollte, auch der SS bei. 188 In der späteren »Elitetruppe« der K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 65 185 Studentenakte Walter Schicks UATÜ 364/ 23944. 186 Handschriftlicher Lebenslauf Walter Schicks, 10. April 1937, BA, Abt. III (BDC), R.u.S.-Fragebogen. 187 BA, Abt. III (BDC), PK. 188 Er erhielt die Mitgliedsnummer 13.241, BA, Abt. III (BDC), SSO. <?page no="67"?> Partei setzte er sich nun begeistert ein, führte verschiedene Stürme der 13. Standarte und stieg rasch auf. Daneben engagierte er sich (1934 - 1937) als Corpsführer der Tübinger Stuttgardia, obwohl er mittlerweile in Würzburg promovierte. 189 Nachdem die Aktivitas im Oktober 1935 aufgelöst wurde, blieb er bis Frühjahr 1937 Führer der Altherrenschaft. 190 Walter Schick war unter seinen Bundesbrüdern als engagierter Nationalsozialist bekannt, wurde aber wegen der ihm eigenen sachlichen und freundlichen Art in seiner Amtsführung und im Umgang mit anderen geschätzt. 191 Seit April 1935 wohnte und arbeitete er in seiner Heimat Schramberg, deren Dialekt Schick stets bewahrt haben soll. Nahezu zeitgleich mit seinem Eintritt in die Gestapo 1937 heiratete er die evangelische, aus einer gutsituierten Kaufmannsfamilie stammende Irma Fastenau, mit der er zusammen seit mehr als einem halben Jahr einen Sohn hatte. Das junge Ehepaar hatte beschlossen, sich kirchlich trauen zu lassen - für einen SS-Offizier, der in jedem Bereich Vorbild des neuen deutschen Mannes sein wollte, war das eher ungewöhnlich. Für den engagierten Aufsteiger und damaligen SS-Obersturmführer erwuchsen aus dieser Haltung aber keine Nachteile. Erst einige Jahre später verließ er gemeinsam mit seiner Frau die Kirche. Schicks Eintritt in die höhere Beamtenlaufbahn bei der Gestapo im Frühjahr 1937 erfolgte auf eigenen Wunsch. Spätestens Mitte des Jahres zog er mit seiner Familie nach Berlin. Als einfacher Assessor beginnend, wurde er am 23. Dezember 1939 zum Regierungsrat ernannt. 192 In seiner Amtsführung erwies sich Walter Schick als kompromißloser, sachlicher Vollstrecker der von der Zentrale der Sicherheitspolizei vorgegebenen Handlungsrichtlinien. Dabei machte er in seiner korrekten Art anscheinend auch nicht vor altgedienten NSDAP-Mitgliedern halt, wie ein überlieferter Fall dokumentiert. 193 Auf diese Weise konnte der junge Gestapoführer in der Berliner Zentrale rasch Tritt fassen und nebenbei auch die Annehmlichkeiten seines Berufs, zu denen auch Ausritte im Grunewald gehörten, genießen. Im Geschäftsverteilungsplan des Gestapa vom 1. Juli 1939 wurde er als Leiter des Sachgebietes II B1 (wirtschaftspolitische Angelegenheiten) im Hauptamt Sicherheitspolizei geführt. 194 Dort überwachte er Wirtschaftsbereiche, die für die Gestapo von besonderem Interesse waren: Makler, Vermittlergewerbe, Hausierer- und Wandergewerbe, Reisebüros, Kapitalkonzentrationen, Konzernpolitik, Wirtschaftssabotage und Korruption. Außerdem sollten unter seiner Regie die Juden aus der Wirtschaft gedrängt Michael Stolle 66 189 Schick, Walter, Die Tierquälerei in der Strafgesetzgebung. Eine geschichtliche und systematische Darstellung, Diss. jur. Würzburg 1936. Hierin spricht sich Schick gegen die Mißhandlung von Tieren aus. Vergleicht man diese akademische Stellungnahme mit Schicks späterem menschenverachtenden Verhalten als hochrangiger SS- und Gestapoführer, tritt die Gewissenlosigkeit der Gestapoführer und deren Verdrehung aller humanen Werte besonders deutlich hervor. 190 Arnold, Jörg, Stuttgardia Tübingen 1869 - 1994. Geschichte der Akademischen Gesellschaft Stuttgardia, Stuttgart 1994, S. 161 f. 191 Arnold (wie Anm. 190), S. 163; freundliche Mitteilung von Dr. Jörg Arnold an den Verfasser. 192 GLA 465e Nr. 1568. 193 BA, Abt. III (BDC), SL 62, S. 347. 194 BA, Abt. III (BDC), SL 47, S. 235. <?page no="68"?> werden. Dazu »arisierte« er Betriebe, enteignete jüdisches Kapital, lenkte den Boykott einzelner Firmen und steuerte einige »Einzelaktionen«. Schick scheint ein zuverlässiger Mann gewesen zu sein, denn er blieb auch die nächsten Jahre in der Position eines Referatsleiters im RSHA. 1941 überwachte er in der Gruppe VII B 5 wissenschaftliche Einzeluntersuchungen zu »Auslandsproblemen« 195 , 1943 war er als Referent derselben Gruppe dafür zuständig, daß alle Bestrebungen, die von den Verfolgern unter »Liberalismus« gefaßt wurden, von Gestapoaugen beobachtet wurden. 196 Diese Aufgaben kann er allerdings nur aus der »Entfernung« wahrgenommen haben, da er einem Erlaß des RSHA vom 27. April 1940 zufolge rückwirkend zum 15. April nach Karlsruhe versetzt worden war, um den Leiter dieser Staatspolizeileitstelle, Alexander Landgraf, in Behinderungsfällen zu vertreten. 197 Da Landgraf kaum noch dienstlich in Karlsruhe verkehrte, war Schick faktisch Leiter der badischen Gestapostelle. Das für ihn ertragreiche Amt 198 bekleidete er in einem vergleichsweise hohen SS-Rang: Schick war zuletzt SS-Obersturmbannführer. 199 Schicks Tätigkeit als Karlsruher Stapostellenleiter nachzuvollziehen, gestaltet sich noch schwieriger als bei seinen Vorgängern, da die Quellenlage zur Karlsruher Gestapo mit zunehmender Dauer der NS-Herrschaft immer dünner wird. Er scheint, ähnlich wie Landgraf, der Karlsruher Dienststelle keine eigene Prägung gegeben zu haben. Sein Führungsstil dürfte analog zu seiner Persönlichkeit eher autoritär gewesen sein. Den Erinnerungen seines Sohnes zufolge scheute er sich, selbstbewußt wie er war, nicht vor offenen Aussprachen. Seine Kontrahenten, so nochmals der Sohn, seien ihm oft als »Würstchen« erschienen. 200 Am 22. Oktober 1940 wurde, früher als im übrigen Reichsgebiet, die Deportation der badischen und pfälzischen Juden in das südfranzösische Lager Gurs in der Nähe der Pyrenäen durchgeführt. Vermutlich auf Antrag der Gauleiter Robert Wagner und Josef Bürckel erließ der Reichsführer SS den Befehl an die Staatspolizeileitstellen in Karlsruhe, Neustadt a.d.H. und Saarbrücken, die Aktion im Geheimen vorzubereiten und durchzuführen. 201 Schicks Behörde ging also daran, mit Unterstützung der Gendarmerie Juden anhand der angelegten Kartei zu verhaften, in Züge zu zwingen und nach Frankreich zu verschicken. Die zurückgelassenen Vermögenswerte wurden dabei von der Gestapo »sichergestellt«. Dem Badischen Innenminister ließ K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 67 195 Vgl. Rürup, Reinhard (Hrsg.), Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem »Prinz-Albrecht-Gelände«. Eine Dokumentation, 10. Aufl. Berlin 1995, S. 80. 196 Geschäftsverteilungsplan RSHA 1941, S. 21 bzw. Geschäftsverteilungsplan RSHA 1943, S. 16, BA, Abt. III (BDC) O 457. 197 Erlaß des RSHA, 27. April 1940 IC (a) 1a Nr. 1179/ 40, GLA 465e Nr. 1568. 198 Sein früher aktiver Dienst in der SS sorgte für einen Zuschlag zu seiner Besoldung. GLA 465e Nr. 1568. 199 ZStLB, Personalblatt Dr. Walter Schick. 200 Aufzeichnungen zu einem Interview mit Herrn Peter Schick am 17. Juli 1996. Privatbesitz des Verfassers. Herrn Peter Schick sei an dieser Stelle für seine bereitwilligen und informativen Auskünfte über seinen Vater ausdrücklich gedankt. 201 Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 242 f. <?page no="69"?> Schick melden, daß nach Abschluß der »Evakuierung« »ein erneutes Anwachsen der jüdischen Bevölkerung in Baden zu verhindern« sei. 202 Die noch in Baden lebenden »Volljuden« wurden schließlich in den Jahren 1941 - 1945 nach Osten verschleppt und dort zum großen Teil in den Vernichtungslagern ermordet. Daß der Gestapostellenleiter auch persönlich hinter der antisemitischen Linie der Reichs- und SS-Führung stand und sich in jeder Hinsicht der SS verpflichtet fühlte, läßt ein Überlieferungssplitter zur jüdischen Lungenheilstätte im badischen Nordrach, die er an die SS bzw. an den Lebensborn zu überführen suchte, erkennen. Er selbst erklärte sich bereit, mit dem Oberrat der Israeliten zu telefonieren und diesen anzuweisen, die Anstalt der SS zu unterstellen. Damit beförderte er auf ganzer Linie die Bestrebungen der höheren SS-Führung und konterkarierte Absichten des badischen und elsässischen Gauleiters Robert Wagner, der in dem Anwesen Fliegergeschädigte unterbringen wollte. 203 Ob solcher »Verdienste« wurde Walter Schick schließlich am 1. Oktober 1943 zum Oberregierungsrat befördert. 204 Doch lange sollte er sein Amt nicht mehr ausüben. Am 1. Februar 1944 wurde er nach Königsberg abgeordnet, wo er zum Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD ernannt wurde. 205 Seinen dortigen Dienst nachzuzeichnen ist aufgrund der mehr als dürftigen Quellenlage (die Königsberger Akten sind bei einem Angriff am 30. August 1944 restlos vernichtet worden) nahezu unmöglich. Sicher ist, daß er im Königsberger Schloß Metgithen die letzten Tage seines Lebens alleine, ohne seine mittlerweile am Bodensee lebende Familie verbrachte. Seine dortigen SS-Kameraden schätzten seine »fröhliche, süddeutsche Art« und bedauerten es anscheinend sehr, als er am 21. Juli 1944 ums Leben kam. 206 Die Umstände seines Todes sind mysteriös. Am Vorabend seines Sterbetags, dem Tag des mißglückten Attentats auf Adolf Hitler, machte sich Schick auf den Weg nach Südostpreußen. Nachdem er von dem Attentatsversuch gehört hatte, ließ er wenden, um »unbedingt und eilig« nach Königsberg zurückzukehren. An einer übersichtlichen Stelle »ohne nennenswerte Kurve« fuhr sein Dienstwagen dann plötzlich mit großer Geschwindigkeit »als ob mit Absicht« gegen den einzigen schweren Baum an der Straße. Die ganze Besatzung des Kraftwagens, Walter Schick, sein Fahrer und sein Adjutant kamen ums Leben. 207 Die Vermutung liegt nahe - und tatsächlich wurde dies auch nach dem Krieg von einem Bundesbruder der Stuttgardia erzählt 208 -, daß Schicks Tod in einem gewissen Zusammenhang mit dem Attentats- Michael Stolle 68 202 Sauer Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 262. 203 Bericht eines SS-Gruppenführers an den vorgesetzten SS-Obergruppenführer, 30. September 1942, BA, Abt. III (BDC), SS - 3092. 204 GLA 465e Nr. 1568. 205 Erlaß der Sicherheitspolizei und des SD IA 2a Nr. 1217/ 44, 1. April 1944, GLA 465e Nr. 1568. 206 Brief eines Königsberger Kameraden an Schicks Witwe, 27. Juli 1944 im Besitz von Herrn Peter Schick. 207 Wie Anm. 206. 208 Arnold (wie Anm. 190), S. 174; freundliche Mitteilung von Dr. Jörg Arnold. <?page no="70"?> versuch Stauffenbergs steht: Es wird kolportiert, der Fahrer habe seinen Chef in einer Art Selbstmordaktion umbringen wollen. 209 Letzte Klarheit über den Hergang läßt sich jedoch nicht mehr gewinnen. Nach einer mit SS-Ritualen gestalteten Totenfeier in Königsberg wurde Dr. Walter Schick in seiner württembergischen Heimat beigesetzt. Mit harter Hand: Josef Gmeiner 210 Nachdem Schick von Karlsruhe nach Königsberg versetzt worden war, fand die Berliner Polizeizentrale in dem Rechtsanwalt und bisherigen stellvertretenden Leiter der Gestapoleitstelle Karlsbad (Sudetenland) Josef Gmeiner einen Nachfolger für den Karlsruher Dienststellenleiter. Josef Albert Andreas Gmeiner war als viertes Kind des Kriminalwachtmeisters Albert Gmeiner und seiner Ehefrau Franziska am 22. Dezember 1904 im oberpfälzischen Amberg geboren worden. Als Sproß einer katholischen, traditionell überwiegend bäuerlichen Familie 211 , kam der heranwachsende Junge wie die anderen Gestapochefs auch in den Genuß einer soliden Ausbildung. Nach vierjähriger Volksschulzeit besuchte er zwischen 1914 und 1923 das Amberger humanistische Gymnasium, das er mit dem Abitur verließ. Noch vor Beginn seines Jurastudiums schloß er sich im Mai 1923 in München dem »Bund Oberland« 212 an. Bedauerlicherweise sind die Motive für Gmeiners Entschluß, dem Kampfverband beizutreten, weitgehend unbekannt. Wie schon (zum Teil) bei Karl Berckmüller, vor allem jedoch bei Alexander Landgraf und Dr. Walter Schick fällt es aufgrund mangelnder Quellen überhaupt schwer, die Ursachen der frühen Affinität dieser Personen zum Nationalsozialismus wie ihre Einsatzbereitschaft für den NS-Verfolgungsapparat genau zu erfassen. Trotzdem kann dank einzelner erhaltener Mosaikstükke Ulrich Herberts Bewertung, der zufolge eine »Kombination aus Radikalismus, K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 69 209 Schicks Ehefrau gegenüber hatte der Fahrer Wochen zuvor Andeutungen gemacht, daß er dafür sorgen werde, daß ihr Mann »das Ende« nicht überleben werde. Auskunft von Peter Schick. 210 In Jörg Schadts Darstellung (wie Anm. 10), S. 35, liegt hinsichtlich Gmeiners Vornamen offensichtlich eine Verwechslung vor. 211 SS-Ahnentafel, BA, Abt. III (BDC), RS. 212 Das »Freikorps Oberland« wurde im April 1919 von Rudolf von Sebottendorff gegründet, um gegen die Münchener Räterepublik vorzugehen. Mehrere paramilitärische Einsätze folgten, ehe im Sommer 1921 auf Druck der Alliierten alle Wehrverbände aufgelöst werden mußten. Das Corps bestand aber als »Bund Oberland« mit Sitz in München weiter und geriet bald in die politische Nähe der NSDAP. Nach der Beteiligung am Hitlerputsch am 8./ 9. November 1923 wurde der Bund verboten, unter Decknamen jedoch fortgeführt, ehe sich 1925 ein Teil in den Bund »Stahlhelm« integrierte, bzw. 1926 der NSDAP beitrat. Vgl.: München - »Hauptstadt der Bewegung«, Ausstellungskatalog zur Ausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 22. Oktober 1993 bis 27. März 1994, München 1993, S. 55 f.; Gordon, Harold J., Hitlerputsch 1923. Machtkampf in Bayern 1923 - 1934, Frankfurt/ Main 1971, S. 93 - 97. <?page no="71"?> weltanschaulichem Antrieb und einer spezifischen Form der Vernunft« Beweggrund für den Einsatz dieser Menschen zugunsten des Nationalsozialismus war, im Hinblick auf die Karlsruher Gestapoleiter beigepflichtet werden. 213 Dabei sollten allerdings auch individuelle Unterschiede nicht übersehen werden. Bei Berckmüller, dem ältesten der Karlsruher Gestapoleiter, war diese Mischung noch mit einem eigenbrötlerischen »Idealismus« der NSDAP-Kampfjahre verbunden und führte zu einer sehr eigenwilligen Führung der ihm anvertrauten Dienststelle. Die von Herbert konstatierte »Vernunft« dürfte bei ihm eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Mit seinen jüngeren Nachfolgern setzte eine deutliche Zäsur in der Leitung der Karlsruher Gestapodienststelle ein. Sie waren als ausgebildete Juristen mit mehr (ideologischer) Rationalität ausgestattet und erfüllten deshalb in erster Linie die ihnen in dem zentralisierten Polizeiapparat zugedachte Funktion. Bei genauem Hinsehen lassen jedoch auch sie Spezifika in der Amtsführung erkennen, die der generalisierenden Interpretation Herberts jedoch nicht entgegenstehen. Landgraf etwa mag persönliche Unsicherheiten durch Unterordnung und strikte Gefügigkeit in diesem System kompensiert, Schick hingegen seine starke, ehrgeizige Persönlichkeit entfaltet haben. Und Gmeiner schließlich knüpfte an seine radikale, »kämpferische« Tradition an, die er im Bund Oberland begründet hatte. Die rechtsextreme, ursprünglich als »Freikorps Oberland« agierende Vereinigung war durch zahlreiche »Aktionen« schon in den Anfangsjahren der Weimarer Republik bekannt geworden. »Oberland« war bei der Niederschlagung der Münchner Räterepublik (1919) und der Unterdrückung von kommunistischen Aufständen im Ruhrgebiet (1920) im Einsatz und war an der sehr publikumswirksamen Erstürmung des Annabergs in Schlesien im Jahr 1921 maßgeblich beteiligt. Die Satzung des Bundes richtete sich ausdrücklich gegen die Republik und propagierte einen Kampf »gegen den inneren Feind«. 214 Seit Mitte 1923 kam es zu einer Kooperation mit der noch jungen NSDAP in München. Am 8. bzw. 9. November 1923 beteiligten sich sogar mehrere Kompanien des Bundes Oberland an dem sog. »Hitlerputsch« und dem Marsch vom Bürgerbräukeller zur Feldherrenhalle. Josef Gmeiner marschierte mit. 215 Durch das letztliche Eingreifen der bayrischen Polizei scheiterten jedoch die Pläne der Putschisten. Josef Gmeiner wurde verhaftet und zwei Tage arretiert. In der Folgezeit scheint sich Gmeiner politisch eher zurückgehalten zu haben 216 , war doch auch die Partei zunächst verboten. Das berufliche Fortkommen stand für ihn wieder im Vordergrund. Im Wintersemester 1925/ 26 wechselte Gmeiner den Studienort 217 und durchlief nun in Erlangen die übliche Ausbildung bis zur II. Michael Stolle 70 213 Herbert (wie Anm. 49), S. 12. 214 Vgl. Gordon (wie Anm. 212), S. 96. 215 Handschriftlicher Lebenslauf Josef Gmeiners, BA, Abt. III (BDC), RS. 216 Dabei gehörte er vom WS 1923/ 24 bis mindestens zum SS 1925 der Studentenverbindung Hercynia an. Meldebestätigung des Amtsrats Amberg, 4. Juli 1927, StAAM und UAM, Studentenkartei Gmeiner. 217 UAER, Personalstandsverzeichnis. <?page no="72"?> Staatsprüfung. Danach ließ er sich in Amberg als freier Rechtsanwalt nieder und teilte mit einem älteren Kollegen eine Anwaltskanzlei. In seinem Geburtsort heiratete er am 14. Oktober 1931 Margareta Knarr, drei Kinder folgten in den nächsten Jahren. Erst einige Zeit nach der »Machtergreifung« trat Gmeiner wieder aus seinem Lebensumfeld heraus, indem er sich am 19. Februar 1934 der SS anschloß. 218 Hier war er sofort willkommen, wurde doch sein »kräftiger Körperbau«, sein »zuverlässiger, offener Charakter« und seine »sehr gute Allgemeinbildung« lobend bei einzelnen Personalberichten erwähnt. 219 Es scheint, als sei Gmeiner nun nach langer politischer Abstinenz und in Erinnerung an alte »Oberlandzeiten« wieder auf den »Geschmack« von radikalen Kampforganisationen gekommen. In die Partei wurde er allerdings erst am 1. Mai 1935 aufgenommen 220 und hier hat er wohl auch kein sonderlich großes Engagement entfaltetet. Belegt ist lediglich seine Funktion als Beisitzer des Gauehrengerichts des NSRB, Bezirk Ostmark. Ergänzend zum SS-Dienst nahm er nun auch regelmäßig an Übungen der Wehrmacht teil, in der er es Ende Juni 1938 zum Unteroffizier der Reserve und Offiziersanwärter im Range eines Feldwebels brachte. Eine »entschlossene und gefestigte NS-Weltanschauung« hatte er sich mittlerweile nach Ansicht der SS-Personalabteilung angeeignet. 221 Dies belegt auch die Tatsache, daß sich Gmeiner zunehmend als Rechtsberater der SS empfahl und schließlich Führer der Rechtsberatung im 68. SS-Stab wurde. Der Einsatz wurde durch rasche Beförderung bis hin zum SS-Obersturmbannführer belohnt. Mit dem 16. August 1938 nahm Gmeiners Berufsleben eine entscheidende Wendung: er trat den Dienst bei der Gestapo in Neustadt an der Weinstraße an. Als er später wegen Kriegsverbrechen angeklagt war, reklamierte er, diesen Schritt vor allem aus finanziellen Gründen getan zu haben, um seiner Familie »wenigstens ein Existenzminimum« garantieren zu können. 222 Inwieweit diese Aussage zutrifft, muß offenbleiben; sie darf aber aufgrund ihrer apologetischen Tendenz bezweifelt werden. Jedenfalls wurde er wenige Wochen später zur Gestapo nach Karlsbad versetzt und am 1. Februar 1939 zum Regierungsassessor ernannt. 223 Nun begann die Karriere des Gestapobeamten Gmeiner, der als weltanschaulich geschulter Jurist und militärischen Einsätzen nicht abgeneigter SS-Mann alle Voraussetzungen mitbrachte, um die ausgedehnten Verfolgungsmaßnahmen des NS-Staates zuverlässig zu exekutieren. Nur wenige Monate später, am 18. Dezember 1939, wurde er zum Leiter der Stapostelle in Dessau berufen. Im Juni 1941 wurde er dann zum Sipo-Einsatz in der für den Rußlandfeldzug gebildeten Einsatzgruppe C abgeordnet 224 , muß also mit K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 71 218 Gmeiner erhielt die Mitgliednummer 186.633, BA, Abt. III (BDC), OSS. 219 Ebd. 220 Ebd. Aus der Kirche trat er hingegen (vermutlich Ende der 30er Jahre) aus. 221 Personalbericht, 25. August 1937, BA, Abt. III (BDC), OSS. 222 BA All Proz 8, JAG 288. 223 BA, Abt. III (BDC), OSS. 224 BA, Abt. III (BDC), OSS. <?page no="73"?> großer Wahrscheinlichkeit - nicht anders als Alexander Landgraf auch - die grausame Vernichtungspraxis der Einsatzgruppen im Osten aus eigener Anschauung kennengelernt haben. 225 Über seine dortigen Aufgaben ist nichts überliefert. Wahrscheinlich wurde Gmeiner schon nach einigen Wochen Tätigkeit zur Einsatzgruppe D als »Verbindungsoffizier« zur Wehrmacht versetzt. 226 Am 29. September war jedenfalls sein sicherheitspolizeilicher Einsatz beendet, so daß er erst nach Dessau, dann nach Karlsbad zurückkehrte. In Karlsbad brachte er es im Laufe der nächsten Monate zum Leiter der Behörde im Rang eines Regierungsrats. 227 In einer Beurteilung von 1943 hieß es, Gmeiner »besitzt die Eignung, Menschen zu führen und ist seinen Untergebenen ein gerechter Vorgesetzter. Charakterlich wird er als einwandfrei geschildert. In weltanschaulicher Hinsicht ist er gefestigt.« 228 Der »weltanschaulich Gefestigte« hatte denn auch keine Skrupel, die im Sudetenland lebenden Regimegegner mit aller Härte zu verfolgen und sich an Liquidierungen von kommunistischen Widerstandskämpfern und sowjetischen Kriegsgefangenen zu beteiligen. 229 Am 26. Februar 1944 wurde er schließlich vom Chef der Sipo und des SD zum Leiter der Gestapoleitstelle Karlsruhe ernannt. Dort trat er, seine Familie in Karlsbad zurücklassend, am 1. April 1944 seinen Dienst an. 230 Leider finden sich nur noch wenige Zeugnisse, die Gmeiners Amtszeit in der Fächerstadt beleuchten. 231 Immerhin sind Einzelheiten überliefert, die der Einstellung und dem Verhalten des neuen badischen Gestapochefs Konturen verleihen. So muß zum Beispiel auf Josef Gmeiners rasches und konsequentes Handeln die unverzügliche Verhaftung des Karlsruher Widerstandskämpfers Reinhold Frank zurückgeführt werden, der, verstrickt in das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, noch in der Nacht auf den 21. Juli in seiner Karlsruher Wohnung verhaftet wurde. Frank wurde am 23. Januar 1945 hingerichtet. 232 Besonderer Verfolgungswille Gmei- Michael Stolle 72 225 Zur Einsatzgruppe C: Krausnick (wie Anm. 164), S. 186 - 195. 226 In den Beständen des Militärarchivs Potsdam/ Freiburg taucht Gmeiner in den Unterlagen auf: BAMAFR RH 20 - 11/ 488, vgl.: Krausnick, Die Einsatzgruppen (wie Anm. 164), S. 327 f. Außer den von Gmeiner vorgelegten Mitteilungen an den Einsatzgruppenleiter Otto Ohlendorf bzw. den Befehlshaber des Wehrmachtsteils sind allerdings keine näheren Angaben zu Gmeiners Person oder seiner Amtsführung erhalten. 227 ZStLB 505 AR-Z 24/ 82. 228 Personalbeurteilung bei dem Beförderungsvorschlag zum SS-Obersturmbannführer, 8. Juni 1943, BA, Abt. III (BDC), OSS. 229 Bei den Ermittlungen der Münchner Staatsanwaltschaft wurde viel von dem Material zusammengetragen, das in vorherigen Prozessen wegen Tötungsverbrechen gegen einzelne Mitglieder der Stapostelle Karlsbad entstanden war. Da Gmeiner bereits 1948 hingerichtet wurde, finden sich über ihn nur marginale Informationen darin, da außerdem die meisten ermittelten Tötungsverbrechen in die Zeit fielen, als Gmeiner schon nach Karlsruhe abgeordnet war. Über den Aufbau der Gestapostelle Karlsbad sind hingegen umfängliche Zusammenstellungen erthalten. ZStLB 505 AR-Z 24/ 82. 230 BA, Abt. III (BDC), OSS. 231 Die zu seiner Person vorhandene Akte enthält nur Zeugnisse über Dienstreisen nach Konstanz und Straßburg, GLA 465e Nr. 515. 232 Zu Reinhold Frank vgl. Kißener, Michael, Für das Recht. Die Karlsruher Widerstandsgruppe um <?page no="74"?> ners war auch bei seinem Einschreiten gegen den »BSW« zu beobachten. 233 Der organisierte Zusammenschluß sowjetischer Kriegsgefangener und Fremdarbeiter zur Fortführung des Kampfes gegen Hitler-Deutschland wurde im Frühjahr 1944 von der Gestapoleitstelle Karlsruhe entdeckt. 234 Gmeiner wünschte von seinen Mitarbeitern, daß »gegen die Angehörigen der BSW ganz energisch vorgegangen werde, da die Bewegung bis zum Beginn der Invasion zerschlagen sein müsse.« 235 Seine Beamten befolgten diese Anweisung mit Nachdruck. Bis Mitte 1944 wurden schließlich über 300 Fremdarbeiter verhaftet 236 und zum Teil grausam mißhandelt. Auch vor dem kriegsrechtswidrigen Zugriff auf feindliche gefangene Soldaten schreckte Gmeiner nicht zurück. Als nach einer reichsweiten Großfahndung badische Polizeibeamte im Frühjahr 1944 einen aus Schlesien geflohenen RAF-Offizier an der Schweizer Grenze aufgriffen, ordnete er im Auftrag des RSHA eine »Nachtund-Nebel-Aktion« an und ließ den Kriegsgefangenen von drei Mitarbeitern seiner Dienststelle in der Nähe des Konzentrationslagers Natzweiler 237 erschießen. Solch vorbehaltloses Eingreifen dürfte ihm schließlich auch das Amt des »Kommandeurs der Sicherheitspolizei für Baden und Elsaß« eingebracht haben, das er noch im Untergang des »Dritten Reichs« übernahm. 238 Der Dienstsitz sollte Straßburg sein, doch mußte Gmeiner die Behörde bald, vermutlich am 23. November 1944, vor den heranrückenden alliierten Truppen nach Hornberg bzw. Wilferdingen bei Karlsruhe verlegen, wo er bis mindestens Mitte März residierte. 239 Unterdessen erhielt er »für seine Verdienste« das Kriegsverdienstkreuz I. Klasse mit Schwertern von Adolf Hitler verliehen. 240 Während Karlsruhe von Einheiten der Ordnungspolizei unter Polizeipräsident K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 73 Reinhold Frank, in: 20. Juli 1944 in Baden und Württemberg, hrsg. v. R. Lill, M. Kißener (Portraits des Widerstands 3), Konstanz 1994, S. 19 - 59. 233 Zur BSW (russ.: Bratskoje Sotrudnitschestwo Wojennoplennych) v.a.: Brodski, Joseph A., Die Lebenden kämpfen. Die illegale Organisation Brüderliche Zusammenarbeit der Kriegsgefangenen (BSW), Berlin (Ost) 1975. Vgl. v.a.: Herbert, Fremdarbeiter (wie Anm. 175), S. 314 - 340. 234 Zu dem Aufbau, den Aktivitäten und der Verfolgung der Gruppe in Süddeutschland, vgl.: Schuhladen-Krämer, Jürgen, Ausländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Karlsruhe 1939 bis 1945. Ein unbekanntes Kapitel Stadtgeschichte, unveröffentlichte Magisterarbeit, Karlsruhe 1995, S. 90 - 101. 235 Strafsache gegen Adolf Gerst und T., in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945 - 1966 Bd. 9, bearb v. A. L. Rüter Ehlermann u.a., Amsterdam 1972, S. 235 - 265, hier S. 250. 236 RSHA, Amt IV, Meldung wichtiger staatspolizeilicher Ereignisse Nr. 4, 18. Juli 1944, Blatt 11, ZStLB 505 AR-Z 24/ 82. 237 Das Konzentrationslager Natzweiler war im übrigen auf die »Sonderbehandlung« von Nacht-und- Nebel-Häftlingen spezialisiert, vgl. Kirstein, Wolfgang, Das Konzentrationslager als Institution totalen Terrors. Das Beispiel des KL Natzweiler (Freiburger Arbeiten zur Soziologie der Diktatur 2), Pfaffenweiler 1992, S. 4 - 7. 238 Erlaß des Chefs der Sipo und des SD, 10. November 1944, BA, Abt. III (BDC), OSS. 239 Diese Daten gehen aus Reisekostenabrechnungen von Angehörigen der Gestapo hervor, GLA 465e Nr. 535, Nr. 740, Nr. 897, Nr. 971, Nr. 982, Nr. 1033. 240 BA, Abt. III (BDC), OSS. <?page no="75"?> Günter Claaßen noch verteidigt werden sollte 241 , suchte Josef Gmeiner sich durch Flucht (vermutlich) an den Bodensee der drohenden Verhaftung zu entziehen - vergeblich. Gmeiner wurde im Juli 1945 gefaßt und im Gefangenenlager Baccarat inhaftiert. 242 Zwei Jahre später war er vor dem Britischen Militärgerichtshof in Hamburg wegen Mordes an dem RAF-Offizier angeklagt und versuchte, sich so gut es ging aus der »Affäre« zu ziehen. So leugnete er jegliche Mitverantwortung, schmälerte seine Stellung in der Karlsruher Stapostelle und schob innerpolizeiliche Befehlsketten vor, denen er sich unbedingt hätte unterwerfen müssen. 243 Der britische Staatsanwalt kommentierte dies: »[...] he seems to treat himself as a sort of conduit pipe through which go the Führer’s orders leaving him completely out of the picture.« 244 Von seinen mitangeklagten Gestapobeamten entscheidend belastet 245 , entging er nicht seiner Bestrafung: Das gegen Josef Gmeiner verhängte Todesurteil wurde am 26. Februar 1948 in Hameln vollstreckt. Bibliographie Quellen Wesentliche Quellen über Karl Berckmüller befinden sich im Generallandesarchiv Karlsruhe: An erster Stelle sei die relativ umfangreiche Spruchkammerakte genannt (GLA 465a 51/ 68/ 839), dann die über die frühen Jahre informierende Offiziersstammrolle (GLA 465/ 865) und schließlich eine zu seiner Anstellung im neugegründeten Geheimen Staatspolizeiamt einigen Aufschluß gebende Akte aus dem Badischen Staatsministerium (GLA 233/ 27894). Für die Auswertung seiner geheimpolizeilichen Tätigkeit unverzichtbar sind die erhaltenen Briefe, die Berckmüller an die Redaktion des »Stürmer« nach Nürnberg geschickt hat (StAN/ Stürmerarchiv 9 NW 33 STA; in Kopie in Karlsruhe vorhanden: StAKA 8/ Sts 17, z.T. GLA Abt. 69p.) Zu seiner Tätigkeit als Bürgermeister in Villingen maßgebend ist die im dortigen Archiv sich befindende Personalakte (StAVS 1.17. Berckmüller). Eine ähnlich breite Quellengrundlage wäre für die anderen Gestapoleiter nur zu wünschen. Doch leider nimmt die Überlieferungsdichte mit Fortdauer der nationalsozialistischen Herrschaft beständig ab. Michael Stolle 74 241 Vgl.: Werner, Josef, Karlsruhe 1945. Unter Hakenkreuz, Trikolore und Sternenbanner, Karlsruhe 1985, S. 68, 75, 80, 82. 242 GLA 465c, Karteikarte Josef Gmeiner. Aufgrund des sehr restriktiven Archivrechts in Frankreich konnten leider die Unterlagen im Bureau des Archives de l´occupation in Colmar hierzu nicht eingesehen werden. 243 »Ich habe weder den [Exekutions-] Befehl überhaupt gegeben, noch habe ich ihn weitergegeben; der Befehl stammt von Müller und dieser trägt einzig und allein die Verantwortung.« Aussage Gmeiners während seiner Internierung, vermutlich in Minden, 25. September 1946, BA All Proz 8/ JAG 288. 244 ZStLB 451d/ 288, Anklagerede des Staatsanwalts. 245 »Schuld an der Erschießung trägt allein Gmeiner«, Aussage des ehemaligen Karlsruher Gestapomitarbeiters H.B., 14. Mai 1947, BA All Proz 8/ JAG 288. <?page no="76"?> Zu Alexander Landgraf gibt es einige Prozeßakten aus der Nachkriegszeit. Davon ist die Spruchkammerakte sehr schmal (HSTAWI 520/ FZ 4290). Aufschlußreicher sind die z.T. umfänglichen Ermittlungen anläßlich der Anklagen wegen Tötungsverbrechens (ZStLB 11 Ar 55/ 62, ZStLB 414 AR 3059/ 1965, ZStLB 414 AR 1331/ 67, ZStLB 414 AR 1646/ 68, ZStLB 414 AR 1178/ 68; STAMS Staatsanwaltschaft Münster Nr. 282, 507 - 510 und 343). Außerdem existiert eine dünne Besoldungsakte aus dem Bestand der von der Karlsruher Gestapo erhalten gebliebenen Unterlagen (GLA 465e/ 999). Eine solche ist auch zu Dr. Walter Schick auffindbar (GLA 465e/ 1568). Ansonsten gibt es über Schick kaum Dokumente. Beachtenswert allein, wie auch bei seinen beiden Vorgängern, die Personalunterlagen aus dem früheren Berliner Document Center (jetzt Bundesarchiv) und der BA-Außenstelle in Dahlwitz. Nützliche Hinweise zu seiner Person konnten Peter Schick und Dr. Jörg Arnold geben. Josef Gmeiner ist bislang weitgehend unbekannt. Im Generallandesarchiv existiert nur eine sehr schmale Informationsspur (GLA 465c und 465e/ 515). Einigen Aufschluß gibt die Personalakte im ehemaligen Berliner Document Center. In der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg (ZStLB 451d/ 288) und im Bundesarchiv Koblenz (BA AllProz 8/ 288) liegen Auszüge des Prozesses vor dem Britischen Militärgerichtshof in Hamburg vor. Über seine Zeit als Karlsbader Gestapochef bietet ein zusammenfassendes und breit angelegtes Verfahren der Staatsanwaltschaft München wichtige Informationen (ZStLB 505 AR-Z 24/ 82). Über einige Hinweise verfügt auch das Stadtarchiv in Amberg. An gedruckten Quellen sind im besonderen die von Jörg Schadt veröffentlichten Gestapoberichte von Bedeutung. Außerdem sei auf die materialreiche Sammlung von Paul Sauer hingewiesen. Literatur Bislang gibt es noch keine zusammenfassende Darstellung über den Aufbau und die Funktionsweise der Karlsruher Gestapo. Auch zu den Leitern der Dienstbehörde wird man vergeblich nach biographischen Studien suchen. K. Berckmüller, A. Landgraf, W. Schick, J. Gmeiner, Leiter der Gestapo Karlsruhe 75 <?page no="78"?> Der »Schwabenherzog« Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer Joachim Scholtyseck * 16. Juli 1896 Gerstetten/ Schwäbische Alb, ev., Vater: Johannes Berger, Sägewerksbesitzer, verheiratet seit 1921 mit Maria Berger, vier Kinder. Volks- und Realschulbesuch, Lehrerseminar, 1914 - 1918 Kriegsteilnahme als Leutnant, nach 1918 Volksschullehrer, Realschulrektor, 1935 Oberregierungsrat im württembergischen Kultministerium. März 1929 Mitglied der NSDAP, 1. Januar 1931 Mitglied der SA, 1. Januar 1936 Mitglied der SS, 1. Juni 1938 Chef des »Ergänzungsamtes« im SS-Hauptamt, 1. April 1940 Chef des »SS-Hauptamtes«, 20. April 1941 SS-Gruppenführer, Juni 1943 SS-Obergruppenführer, September 1944 Stabsführer des Deutschen Volkssturms, 1. Oktober 1944 Beauftragter für das Kriegsgefangenenwesen. 8. Mai 1945 Gefangennahme, 13. April 1949 Urteil im Nürnberger »Wilhelmstraßenprozeß«: Gottlob Berger vor dem amerikanischen Militärtribunal in Nürnberg 77 <?page no="79"?> 25 Jahre Haft, 31. Januar 1951 Haftminderung auf zehn Jahre, 15. Dezember 1951 Haftentlassung, danach Verwaltungsarbeit in untergeordneten Positionen in Stuttgart und Musberg/ Böblingen, Rentner in Gerstetten, gest. 5. Januar 1975 Stuttgart. Über Gottlob Berger, den ebenso einflußreichen wie gefürchteten Chef des SS- Hauptamtes im »Dritten Reich«, ist bis heute wenig bekannt. Berger erscheint zwar als intrigante und äußerst schillernde Persönlichkeit in einer Vielzahl von Veröffentlichungen über den Nationalsozialismus, aber er selbst ist bislang nicht einer Biographie würdig erachtet worden. Dabei verdient Berger durchaus das Interesse des Historikers. Er war in entscheidendem Maß am Aufbau der Waffen-SS beteiligt und kann als »the unsung and despised creator of the SS recruiting system« 1 und der »eigentliche Begründer der Waffen-SS« 2 gelten. Zudem gehörte er zu den engsten Mitarbeitern des »Reichsführers-SS« und firmierte als einer der »Zwölf Apostel Himmlers« und als der »Allmächtige Gottlob«. 3 War Berger als mächtiger SS-Offizier am Terror des Nationalsozialismus unmittelbar beteiligt, so zeigt sich auf der anderen Seite der Facettenreichtum seines Charakters: Der strenge Nationalsozialist Berger verwandte sich nach dem Attentat des 20. Juli 1944 persönlich für mehrere angeklagte Verschwörer und trug dazu bei, diese vor der beinahe sicher erscheinenden Todesstrafe zu bewahren. Berger wurde am 16. Juli 1896 im ostschwäbischen Gerstetten geboren. Ein Jahr vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte sein Vater, der Zimmermann Johannes Berger, in der Ulmerstraße dieses kleinen Ortes auf der Alb ein Sägewerk mit Motorenhaus und einem Sägeraum errichtet. 4 In Bergers Werdegang verwies zunächst nichts auf eine spätere militärische Karriere. Dem väterlichen Beruf strebte er nicht nach: Vor dem Weltkrieg besuchte er nach Volks- und Realschule von 1910 bis 1914 das Lehrerseminar in Nürtingen. Alles deutete darauf hin, daß Berger das Leben eines Pädagogen führen würde. Doch der Erste Weltkrieg änderte alles: Berger war Kriegsfreiwilliger der ersten Stunde. Im Herbst 1914 kämpfte er mit dem neu aufgestellten württembergischen Reserve-Infanterieregiment 247 in Flandern. Während der Ypernschlacht im Oktober 1914 wurde er schwer verwundet, kehrte aber nach Lazarett- und Genesungsaufenthalt in Württemberg noch vor Weihnachten zu seiner Einheit zurück. Das Kriegsende erlebte er als hochdekorierter Leutnant. Körperliche Schäden blieben nicht zurück, ganz im Gegenteil, er erfreute sich auch Joachim Scholtyseck 78 1 Rempel, Gerhard, Gottlob Berger and Waffen-SS Recruitment: 1933 - 1945, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 27 (1980), S. 107-122, hier S. 107. 2 Höhne, Heinz, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Hamburg 1966, S. 420. 3 Vgl. die Aussagen im Kreuzverhör des »Wilhelmstraßenprozesses«: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Washington D.C. 1952, Bd. 13, 1, S. 480 (im folgenden abgekürzt TWC). 4 Guther, Ernst, Gerstetten und seine Nachbarn II, Gerstetten 1988, S. 478. <?page no="80"?> später guter Gesundheit. Ein medizinischer Betreuer beschrieb in den 40er Jahren Bergers Behandlung als »prophylaktisch«, da dieser »eine festgefügte Gesundheit und unerschütterliche Nerven« besessen habe. 5 Der Krieg und das Kriegsende, das Berger als Ordonnanzoffizier in einem württembergischen Infanterieregiment erlebte, prägten ihn dennoch tief. Soldatische Disziplin, Ehre und Treue wurden für ihn Begriffe von höchstem Wert. Mit dem »Schmachfrieden« von Versailles wollte er sich, wie viele seiner Generation, nicht abfinden. Er war ein typischer Vertreter der Schützengrabengeneration, die durch die »Urkatastrophe« (George F. Kennan) des Ersten Weltkrieges geistig entwurzelt und für die Radikalität des Nationalsozialismus empfänglich war. Die soldatischen Traditionen blieben für Berger zeitlebens bestimmend und konnten ihm während des Zweiten Weltkrieges die gefährliche und verhängnisvolle Lebenslüge ermöglichen, er als »Soldat« habe mit den Greueln der Vernichtungskommandos und der »Einsatzgruppen« nichts zu tun. Sein kämpferisch-sportliches Naturell und eine betont konservative politische Ausrichtung führten ihn bald den nationalsozialistischen Kräften zu, die eine radikale Neuordnung Deutschlands anstrebten. Die Angst vor dem drohenden »Bolschewismus« und eine kämpferische Abwehrbereitschaft trugen dazu bei, daß er kampflustig schon in der Revolutionszeit 1918/ 19 an der Spitze der nordwürttembergischen Einwohnerwehr zu finden war. Mitte September 1920 stellte er sich beispielsweise den Heilbronner Einwohnerwehren zur Verfügung, um das dortige Elektrizitätswerk gegen eine Besetzung durch streikende Arbeiter zu bewachen. Nur nach außen bedeutete die Rückkehr in die schwäbische Bürgerlichkeit den Weg zur Normalität. Vordergründig blieb Berger in den unsicheren Jahren der jungen Republik dem zivilen Leben verpflichtet. Im Jahr 1921 heiratete er seine Frau Maria, wurde Sportlehrer, Grundschullehrer, Realschulrektor und schließlich höherer Beamter im württembergischen Kultministerium: Doch dies war lediglich eine Seite Bergers. Er war, wie er selbst bekannte, Nationalsozialist und SA-Führer der ersten Stunde. 6 Schon im Jahr 1922 trat er in die NSDAP ein und gründete den Wehrverband Ulm/ Land. Im Rahmen der Aktivitäten dieses Wehrverbandes wurde er wegen Waffenbesitzes, der Bildung bewaffneter Haufen und Amtsanmaßung im Oktober 1923 in seinem Heimatort Gerstetten vorübergehend verhaftet. Die Auflösung der Wehrverbände und der Hitlerputsch bewegten Berger innerlich stark und steigerten den Willen, zur Abwehr des Kommunismus beizutragen. 7 Dies geschah durch die Mitarbeit in den Verbänden der sogenannten »schwarzen« Reichswehr, die versteckt das durch den Versailler Vertrag zahlenmäßig begrenzte »100.000 Mann-Heer« Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 79 5 Kersten, Felix, Totenkopf und Treue. Heinrich Himmler ohne Uniform. Aus den Tagebuchblättern des finnischen Medizinalrats Felix Kersten, Hamburg o. J. (1952), S. 300. 6 Vgl. seinen von ihm verfaßten undatierten Lebenslauf, zit. nach Höhne (wie Anm. 2), S. 420. 7 Vgl. TWC, Bd. 13, 1, S. 457; BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. <?page no="81"?> ergänzte. Berger arbeitete innerhalb dieser paramilitärischen Gliederungen im »Grenzschutz West« und in der »Organisation F« mit. In den Jahren, in denen sich die NSDAP nach der Wiederzulassung 1925 in schweren inneren Kämpfen etablierte, trat er kaum in Erscheinung. Seit 1928 unterrichtete er als Lehrer an einer Versuchsvolksschule in Wankheim bei Tübingen. Parteipolitisch trat er im März 1929 wieder in den Vordergrund, als in seinem Geburtsort Gerstetten auf sein Betreiben hin ein Stützpunkt der NSDAP gegründet wurde. Berger sprach bei dieser Gelegenheit vor etwa 100 Anwesenden. Von einer »braunen Flut« konnte allerdings in diesem kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb kaum die Rede sein. Mit sieben Mitgliedern wurde Gerstetten jedoch der »erste Stützpunkt« im Oberamt Heidenheim. 8 Die Früchte dieser frühen Agitation erntete die NSDAP bei den Reichstagswahlen im März 1933: Hier entfielen von 1394 Stimmen 808 auf die Nationalsozialisten. 9 Berger, der die Grundlagen dieses lokalen Siegeszuges geliefert hatte, war an dieser Entwicklung nur am Rande beteiligt. Sein Interesse hatte sich seit Beginn der 30er Jahre zunehmend auf die Politik außerhalb seiner Heimatgemeinde konzentriert. Im Zuge des schier unaufhaltsamen Aufstiegs der NSDAP machte Berger in der SA Karriere. Der »Sturmabteilung« trat er im Januar 1931 bei und führte den Sturmbann 10 in Tübingen. Im Sommer des gleichen Jahres nahm er an einer SA-Führerschulung in München teil. Bald darauf wurde er als »Oberführer« Leiter einer SA-Kompanie in Württemberg. In dieser Atmosphäre einer militärischen Kampfgemeinschaft 10 fühlte er sich ganz in seinem Element. Seine sportlichen Ambitionen und seine joviale Art, Menschen zu begeistern, kamen ihm schnell zugute. Allerdings gab es bereits früh Beschwerden über sein soldatisches und banales Verständnis von Politik und Menschenführung. Die Kritik eines seiner innerparteilichen Gegner, der Berger sicherlich einseitig charakterisierte, hatte einen wahren Kern: »Berger ist auf den ersten Eindruck eine außerordentlich gewinnende Persönlichkeit, das Herz liegt ihm auf der Zunge. Er versteht es, Kameraden und Untergebene zu fesseln, allerdings oft mit Methoden, die ich nicht gutheiße. Wenn Berger z.B. sagte ›gebt mir 10 entschlossene Männer und ich mache die Revolution in Württemberg‹, so klingt das kolossal und macht auf primitive Männer einen starken Eindruck. Es steckt aber nichts dahinter.« 11 In diesen frühen Jahren politischen Einsatzes zeigte sich bereits Bergers Manie, jede politische Entwicklung auf individuelle Interessen zurückzuführen. In späteren Jahren wuchs sich diese Eigenschaft zu einem geradezu grotesken Drang aus, hinter Joachim Scholtyseck 80 8 Guther (wie Anm. 4), S. 518. 9 Kleinschmidt, Heiner; Bohnert, Jürgen (Hrsg.), Heidenheim zwischen Hakenkreuz und Heidenkopf, Heidenheim 1983, S. 36. 10 Vgl. Longerich, Peter, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989. 11 Kuhn an die SA-Führung Sondergericht-München, 7. Dezember 1934, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. <?page no="82"?> jedem Gegensatz persönliche Feindschaft zu vermuten. Zeit seines Lebens fand er Gefallen an Beschwerden, Klagen und Einsprüchen, die er an höhere Dienststellen weiterleitete. Schon früh setzte er sich immer wieder vor dem Parteigericht für »Anstand und Ordnung« und ein hartes Durchgreifen gegen den angeblichen »Sittenverfall« in der »Bewegung« ein: »Darf ein § 175, der seine schmutzigen Anträge in SA u[nd] Hitlerjugend stellt, in der Partei sein? [...] Betrachten Sie diesen Brief als einen Notschrei eines alten Soldaten, der einfach nicht mehr so mitmachen kann. Entweder, wir sind die Partei der Sauberkeit, oder wir sind nicht weiter dort, wie die andern, u[nd] unser Führer kann die hohen Ziele nicht verwirklichen.« 12 Die »Machtergreifung« in Württemberg erhöhte zunächst seine Chancen für eine Parteikarriere. Berger wurde am 31. März 1933 zum ehrenamtlichen Sonderkommissar der Obersten SA-Führung im Württembergischen Innenministerium ernannt und mit der Aufstellung der Hilfspolizei betraut. Als SA-Trainingsleiter wurde er schließlich der Protegé Friedrich Wilhelm Krügers, des späteren SS-Polizeichefs im besetzten Polen. Da er ein versierter Lehrer war, entfaltete Berger eine rege Vortragstätigkeit über vormilitärische Jugenderziehung; dabei knüpfte er problemlos an seine Tätigkeit als Experte für »Geländesport« und »körperliche Ertüchtigung« an. In den chaotischen Tagen des Frühjahrs 1933 konnte Berger gar in Fragen der Verhängung der sogenannten »Schutzhaft« Kompetenzen an sich reißen, die eigentlich dem württembergischen Innenminister zustanden. 13 Seine kometenhafte Karriere erfuhr indessen bald einen Knick, als er aufgrund von Querelen mit jüngeren SA-Führern sein Amt im April 1933 nach einem Schiedsverfahren aufgeben mußte. Er sei, schrieb Berger, »auf gemeinste Art aus der SA hinausgedrückt worden«. Politische Hintergründe gab es für diese innerparteilichen Reibereien nicht. Es waren persönliche Intrigen und nicht - wie Berger später angab 14 - politische Gründe, die das Ende seiner SA-Zeit einläuteten. Der Austritt aus der SA bedeutete eine tiefe Zäsur. In dieser beruflichen Krise wandte sich Berger in einem weinerlichen Schreiben im Oktober 1933 persönlich an den württembergischen Gauleiter und soeben zum Staatspräsidenten und Reichstatthalter ernannten Wilhelm Murr und bat um Protektion. Möglicherweise ist der spätere Haß auf seinen Rivalen Murr darauf zurückzuführen, daß er diesen »Provinzfürsten«, den er als unfähig und ungebildet verachtete, im Jahr der »Machtergreifung« Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 81 12 Berger an Oberstes Parteigericht, 18. Oktober 1931, BA, Abt. III (BDC), OPG. 13 Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 148 f. Daneben Wilhelm, Friedrich, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Stuttgart 1989, S. 88-90. 14 In einem Verhör berichtete er nach Ende des Krieges über die angeblichen Gründe für seinen Karriereknick im Jahr 1933: Er habe viele Gefangene des Konzentrationslagers Heuberg in seiner Funktion als württembergischer Polizeichef freigegeben: »Then I went to Stuttgart and raised hell. [...] A report was sent to the ›Stabschef‹ Röhm at Munich saying that I had become too mild. That was the reason they wanted to get rid of me at all costs. Besides which the Württemberg ›Gauleiter‹ was a particular enemy of mine, Gauleiter Murr; I hated the man, that is to say I despised him. He made a mental note of it«. NA, RG 319, IRR, NND 846030. <?page no="83"?> in erniedrigender Weise um Beistand hatte bitten müssen. An eine parteipolitische Karriere glaubte er nicht mehr und drängte energisch darauf, ein Volksschulrektorat in Esslingen zu erhalten. Die ins Auge gefaßte Stelle war frei, denn der bisherige Amtsinhaber war als Mitglied des Reichsbanners politisch »untragbar« geworden. Offenbar auf Betreiben seiner Frau hatte Berger seine Stelle an der Wankheimer Schule aufgegeben. Lediglich eine Übergangslösung bedeutete die Wahrnehmung eines Landtagsmandats eines »ausgeschiedenen« KPD-Abgeordneten. Mit der Auflösung des Landtages im Herbst 1933 versiegte allerdings auch diese Geldquelle. So bat Berger Murr nun, »dafür zu sorgen, daß ich auf dieses erste Rektorat in Esslingen an der Knabenschule möglichst bald ernannt werde. Solange ich lebe möchte ich arbeiten und gerade im Volksschulwesen wäre soviel zu tun. [...] Es ist das erste Mal, daß ich für mich selbst spreche. Wenn es nicht so notwendig wäre, würde ich es bestimmt nicht tun.« 15 Berger erhielt das angestrebte Rektorat. Die später von ihm gerne behauptete einflußreiche Stellung bekleidete er in diesen Monaten nicht. Ohne eine abgesicherte Position in der württembergischen NSDAP machte sich Berger Sorgen um seine weitere Zukunft. Die SA erschien ihm als Sackgasse: »Eine Verwendung in der SA ist ja bei dem heutigen Überangebot an höheren SA Führern nicht möglich, obwohl ich es mir zutrauen würde, die SA in Württemberg in kurzer Zeit wieder zu dem zu machen, was sie einmal war.« 16 Wie eifrig Berger eine »Parteikarriere« anstrebte, zeigte sich freilich, als er nach dem sogenannten »Röhmputsch« doch noch eine Chance sah, in der SA aufzusteigen. 17 Wenige Monate nach der blutigen Zerschlagung der alten SA-Führung, am 13. November 1934, beteuerte er, daß er »die SA immer als das Primäre ansehe und [...] ich mich nie mit Leuten, die die SA zusammenschlagen wollten, auf eine Stufe stelle«. 18 Diese Hoffnungen erwiesen sich aber schnell als trügerisch. In Württemberg gab es für ihn keinen angemessenen Platz. Die fortwährenden »Zwistigkeiten« mit Murr hatten ihre Ursache in der Machtrivalität, die Bergers politischen Ambitionen im Weg standen. 19 Joachim Scholtyseck 82 15 Berger an Murr, 30. Oktober 1933, HSTAS, E 140, Bü. 76. 16 Berger an einen unbekannten Adressaten, 4. November 1934, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 17 Höhne (wie Anm. 2), S. 420. 18 Berger an Ludin,13. November 1934, zit. nach Höhne (wie Anm. 2), S. 421. Anerkennung fanden diese Beteuerungen nicht. Die Beurteilung des SA-Gruppenführers Ludin gegenüber dem Sondergericht der SA-Führung war vernichtend: Berger leide an »einer nicht unerheblichen Selbstüberschätzung«, nehme »den Mund reichlich voll« und verrate »einen bedauerlichen Mangel an Selbstkritik und soldatischer Bescheidenheit.« 19 Seine ständigen Attacken auf Murrs Großmannssucht waren zweifellos berechtigt, verdeckten aber den eigentlichen Grund ihres Streits. Eine typische Attacke lautete: »Ich hatte ihn angegriffen wegen seiner eigenartigen nationalsozialistischen Tour, die er antrat, Häuser bauen, Geldverdienen usw.« Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 3. Dezember 1946. <?page no="84"?> Nachdem Berger endlich eingesehen hatte, daß die SA ihm keine Zukunft mehr bot, suchte er nach neuen politischen Einsatz- und Karrierechancen. Im Jahr 1934 arbeitete er in der wiederum unter Leitung von Krüger stehenden »AW-Organisation« mit. Dies blieb jedoch ein Intermezzo, da diese mit dem »Ausbildungswesen« befaßte Reichswehrinstitution aufgrund einer Anordnung Hitlers aufgelöst wurde. Schließlich warteten auf Berger aber andere Aufgaben. Im Laufe der 30er Jahre stellte sich die Notwendigkeit eines Rekrutierungsamtes der nun immer schneller wachsenden SS als dringlich heraus. Obwohl er als ein »Großmaul« verschrien war, gelang es Berger, der wenige Monate zuvor noch die Treue zur SA geschworen hatte, einen Kontakt zu Heinrich Himmler herzustellen. 20 Anfang 1936 trat er mit der Mitgliedsnummer 275.991 der SS bei und übernahm verschiedene Positionen innerhalb der Organisation, die von nun an bis zum Ende des Krieges seine geistige Heimat war. Immer häufiger war er in Berlin, obwohl er sich nach wie vor seinen schwäbischen Ursprüngen verbunden fühlte. Berger hatte mit dem Übertritt in die SS und Waffen-SS seine Bestimmung gefunden: Himmler, so berichtete er später über seine neue Aufgabe, habe nach der Machtergreifung in München höhere Weltkriegsoffiziere, Gutsbesitzer und Industrielle zusammengerufen und dort das Zukunftsbild einer soldatischen Elite gezeichnet: Der größte Teil der Anwesenden habe sich unter dem Eindruck der Rede Himmlers zum Übertritt in die SS entschlossen. Er selbst sei als alter Offizier in die allgemeine SS eingetreten und sei kurz danach seinem militärischen Rang entsprechend SS-Obersturmbannführer geworden. Da ihm das »rein soldatische Element« gelegen habe, habe er sich für die Aufstellung der SS-Verfügungstruppe entschieden. 21 Bergers neue politische Heimat schützte ihn vor weiteren Intrigen seiner württembergischen Widersacher. Auf den Reichsparteitag 1936 freute er sich jetzt »wie ein kleines Kind auf Weihnachten.« 22 Sein weiterer Lebensweg war von nun an untrennbar mit der Institution verbunden, die sich im Zeichen der nationalsozialistischen Dynamik zu einer »führerunmittelbaren, außernormativen Sonderexekutive« 23 entwickeln sollte. Berger kappte in den folgenden Jahren fast alle Wurzeln, die ihn noch mit dem Leben eines Zivilisten verbanden. Formell war er inzwischen zum Oberregierungsrat avanciert und seit Oktober 1935 als Berichterstatter für die körperliche Erziehung der Jugend im württembergischen Kultministerium tätig. Im August 1937 wurde er gar zum »Studiendirektor im württembergischen Landesdienst« ernannt. 24 Seinen schulischen und erzieherischen Verpflichtungen konnte er jedoch kaum nachkommen und war die meiste Zeit für seine SS-Dienste beurlaubt. Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 83 20 Vgl. seine Aussagen während des »Wilhelmstraßenprozesses«: TWC, Bd. 13, 1, S. 461. 21 Kersten (wie Anm. 5), S. 304-306. 22 Berger an Brigadeführer Schmitt, 27. August 1936, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 23 Thamer, Hans-Ulrich, Verführung und Gewalt. Deutschland 1933 - 1945, Berlin 1986, S. 371. 24 BA Dahlwitz-Hoppegarten, ZA V 122, S. 348. <?page no="85"?> Der entscheidende und endgültige Schritt in den Bannkreis Himmlers vollzog sich noch vor Kriegsausbruch. Am 1. Juli 1938 ernannte Himmler Berger zum Chef des neugeschaffenen »Ergänzungsamtes« im SS-Hauptamt, einer Organisation, die unter seiner Leitung innerhalb kürzester Zeit zu einer schlagkräftigen Rekrutierungsbehörde heranwuchs. 25 Hier ging es hauptsächlich um die Herauslösung der sogenannten »Verfügungstruppe« aus dem Verantwortungsbereich der Wehrmacht. Himmlers »Treuestem der Treuen« (Heinz Höhne) gelang dieses Vorhaben, obwohl er weder bei den SS-Generälen noch bei den Wehrmachtsoffizieren ein hohes Ansehen besaß: »Ein Angeber. Ein Gschaftlhuber«, so charakterisierte ihn später der SS-Obergruppenführer Bittrich. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr spielte die außenpolitische Entwicklung in Bergers Leben eine immer wichtigere Rolle. Schon beim »Anschluß« Österreichs war er mit Himmler als Vorauskommando am 12. März 1938 in Wien eingetroffen. 26 Die Zuspitzung der Lage verstand er, wie er später zu Protokoll gab, als eine Generalprobe für spätere Zeiten. Wenige Monate danach gab die Krise um die Tschechoslowakei einen weiteren Anlaß, selbst ins Spiel der Politik einzugreifen: Im September 1938 wurde er Himmlers Verbindungsoffizier zum Führer der Sudetendeutschen, Konrad Henlein. Hauptaufgabe Bergers war es, »Sudetendeutsche auszuwählen, die für die Mitgliedschaft der SS oder VT (Verfügungstruppe) in Betracht kamen.« 27 Für Berger, der sich in seinem neuen Metier zu Recht als absoluter Außenseiter betrachtete 28 , war die weitere SS-Karriere vorgezeichnet. Den bewunderten Himmler beriet er fortan in einer »Mischung aus Byzantinismus, Bauernschläue und Offenheit« 29 und schuf sich so eine wichtige Vertrauensstellung. Er galt als leidenschaftlicher Naturfreund und Landschaftsmaler und experimentierte bisweilen mit Filmaufnahmen von Raubvögeln im Flug 30 - Eigenschaften, die Himmlers romantische Seite offenbar ansprachen. Den Weg zurück ins bürgerliche Leben wollte Berger nicht mehr antreten. Im Frühjahr 1939 stellte sich letztmals die Frage einer Weiterarbeit im Württembergischen Kultministerium, da eine nochmalige Freistellung nicht möglich war. Er entschied sich gegen seine gut dotierte Stellung in Stuttgart. Beim SS-Hauptamt war man zufrieden. Berger kostete es keine große Überwindung, auf seinem Berliner Posten zu bleiben. 31 Joachim Scholtyseck 84 25 Vgl. Rempel (wie Anm. 1), S. 108-112. 26 Reitlinger, Gerald, Die SS. Tragödie einer deutschen Epoche, München, Wien, Basel 1957, S. 112. 27 IMT, Bd. IV, S. 177. Daneben Stein, George H., Geschichte der Waffen-SS, Düsseldorf 1967, S. 33 und Reitlinger (wie Anm. 26), S. 121. 28 Vgl. die Aussagen während des »Wilhelmstraßenprozesses«, TWC, Bd. 13, 1, S. 463. 29 Höhne (wie Anm. 2), S. 420. 30 Reitlinger (wie Anm. 26), S. 155. 31 Vgl. Berger an den Chef des SS-Hauptamtes, 14. April 1939, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger; Dr. Drück (Württembergisches Kultministerium) an Berger, 5. April 1939, ebd.; Heißmeyer an Himmler, 21. April 1939, ebd. <?page no="86"?> Obwohl sich sein Lebensschwerpunkt zunehmend in die Reichshauptstadt verlagerte, hielt Berger Kontakt zu seiner süddeutschen Heimat. Sein Hauptbestreben war dabei, die Macht württembergischer Parteigrößen zu beschneiden. Dies richtete sich nicht nur gegen alte Feinde aus der SA wie Hans Ludin oder Dietrich von Jagow. Auch mögliche territoriale Gelüste Murrs und des Stuttgarter Oberbürgermeisters Strölin wollte er schon im Keim ersticken. Stets fürchtete er mögliche Ansprüche seiner Stuttgarter Konkurrenten. Beide, klagte er bei einer Gelegenheit, seien darauf bedacht, Gauleiter in der noch zu erobernden Schweiz zu werden, obwohl sie ungeeignet seien. 32 Der Krieg brachte für Berger einen weiteren Fortschritt auf der Karriereleiter. Am 1. Dezember 1939 wurde er zum Chef des nun reorganisierten »SS-Hauptamtes« befördert. Eineinhalb Jahre später, am 20. April 1941, wurde er in dieser Funktion SS-Gruppenführer. In diesem Amt erwies er sich gegen alle Widerstände der Wehrmacht (die Berger schon mal als »die uns nicht wohlgesinnten Herren« titulierte 33 ) als effektiver Organisator der Anwerbung neuer Rekruten für Himmlers Waffen-SS. Es ist an dieser Stelle keine Gelegenheit, die »verworrene Geschichte« 34 der Waffen- SS detailgenau zu schildern: Berger gelang es jedenfalls gegen alle Widersacher und über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg, sich zu behaupten und seine Stellung als »treuer Ekkehard« Himmlers 35 zu bewahren. Die weltanschauliche Schulung betrachtete Berger als eine ständige Herausforderung für die Erziehung im nationalsozialistischen Sinn. Im Februar 1943 plädierte er bei Himmler für eine stärkere ideologische Schulung der SS, um besser gegen die Rote Armee vorgehen zu können. 36 Die Nürnberger Richter beanstandeten später seine Verantwortung für die antisemitischen Pamphlete, die sein Amt zu »Führungszwecken« der SS herausgab. Eine dieser millionenfach verbreiteten Broschüren mit dem Titel »Der Untermensch« zeigt die menschenverachtende Brutalisierung, die mit der Ideologisierung des Rassegedankens einherging. Der »Untermensch«, so verkündete Bergers »SS- Hauptamt«, »jene biologisch scheinbar völlig gleichgeartete Naturschöpfung mit Händen, Füßen und einer Art Gehirn, mit Augen und Mund, ist doch eine ganz andere, eine furchtbare Kreatur, ist nur ein Wurf zum Menschen hin, mit menschenähnlichen Gesichtszügen - geistig, seelisch jedoch tiefer stehend als jedes Tier«. 37 Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 85 32 Berger an Himmler, 8. September 1940, BA, Abt. III (BDC), PK Strölin. Auch möglichen elsässischen Ambitionen der süddeutschen Gauleiter versuchte er beständig entgegenzuarbeiten. Ihm selbst waren die Gebiete westlich des Rheins gleichgültig. Ein Jahr vor Kriegsende befand er, die Elsässer seien ein »Sauvolk«, von denen die Hälfte abgeschoben werden müsse. Stalin würde diese sicherlich akzeptieren (Berger an Himmler, 21. Juni 1944, zit. nach: Grill, Johnpeter Horst, The Nazi Movement in Baden, 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 517). 33 Berger an Himmler, 30. März 1940, zit. nach Stein (wie Anm. 27) S. 47. 34 Stein (wie Anm. 27), S. 34. 35 Höhne (wie Anm. 2), S. 421. 36 Berger an Himmler, 10. Februar 1943, TWC, Bd. 13, 1, S. 281-282. Wenig später wurde ihm für seine »Verdienste« auf diesem Gebiet auf Vorschlag Himmlers von Hitler das Deutsche Kreuz in Silber verliehen (Himmler an Berger, 5. Juli 1943, ebd., S. 313). 37 Reichsführer SS - SS-Hauptamt (Hrsg.), Der Untermensch, Berlin 1942. <?page no="87"?> Im Intrigieren erfolgreich, nutzte Berger seine Machtstellung für selbstherrliche Entscheidungen, die seinem kurzsichtigen Verständnis von Kameradschaft entsprachen. So setzte er etwa die Aufnahme des berüchtigten Oskar Dirlewanger 38 , den er noch aus gemeinsamer Zeit im Ersten Weltkrieg kannte, in die SS durch, nachdem dieser sich infolge eines Sittlichkeitsprozesses, anschließender Haftstrafe und Sicherheitsverwahrung im spanischen Bürgerkrieg »bewährt« hatte. Bergers schwäbischer Duzfreund wurde durch dessen Deckung »Vasall und Landsknecht, den man zu allem gebrauchen konnte.« 39 Dirlewangers Tun führte über die Schulung verurteilter Wilderer für die Waffen-SS auf direktem Weg ins Verbrechen. 40 Während des Ostfeldzuges deckte Berger zahlreiche Greueltaten seines Schützlings Dirlewanger. Proteste des Reichskommissars Kube in Minsk gegen die »Sonderbehandlung« von Juden wurden von ihm abgeschmettert. Verharmlosend erklärte er das Verhalten der Männer Dirlewangers damit, es handle sich um ehemalige Wilderer, die sich bewähren müßten und selbst hohe Verluste zu beklagen hätten. 41 Die von Dirlewangers marodierender Truppe begangenen Grausamkeiten überschritten schließlich selbst das Maß der SS, so daß gegen Bergers Freund Ermittlungen eingeleitet, infolge des Kriegsendes aber nicht zu Ende geführt wurden. Solche Protektion entsprach ganz dem Stil des »Schwabenherzogs«, der betont für sein Heimatland eintrat und auch sonst bemüht war, schwäbische Freunde in geeignete Positionen zu lancieren. 42 Moralische Skrupel angesichts des Wütens in den eroberten Gebieten des Ostens zeigte er nicht. Im Gegenteil: Im Juni 1942 dachte Berger aufgrund des aufflackernden Widerstands im Distrikt Lublin über ein verstärktes Vorgehen des Sonderkommandos Dirlewanger nach und stellte die Frage, ob die Devise Dirlewangers, lieber zwei Polen zuviel als einen Polen zu wenig zu erschießen, nicht seine Berechtigung habe. 43 Die soldatische Prägung, die Berger im Ersten Weltkrieg erhalten hatte, ging somit fast nahtlos in die Bestialität über, die den Gegner nicht als Menschen anerkannte. Intellektuelle Schärfe war Berger fremd; sein simples Menschenbild erleichterte seine blinde Verehrung der Waffen-SS, die er als eine rein soldatische Truppe ansah und deren Mißbrauch er nicht wahrnehmen wollte. Er sei ein »altes Frontschwein und kein Seiltänzer«, erklärte er einem Vertrauten. 44 In dieser verengten militärischen Sicht verachtete er die »Theoretiker der Diplomatie«. 45 Joachim Scholtyseck 86 38 Zu Dirlewanger Auerbach, Hellmuth, Die Einheit Dirlewanger, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10 (1962), S. 250-263. 39 Auerbach (wie Anm. 38), S. 263. 40 Globocnik an Berger, 4. Juni 1940 und Berger an Schmitt, 15. Juni 1940, TWC, Bd. 13,1, S. 508-510. 41 Vgl. die Dokumente und Aussagen Bergers während des »Wilhelmstraßenprozesses« (wie Anm. 20), S. 516-551. 42 Kersten (wie Anm. 5), S. 301; vgl. Döscher, Hans-Jürgen, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung, Berlin 1987, S. 287 f. 43 Briefentwurf Bergers an Himmler, 17. Juni 1942, TWC, Bd. 13, 1, S. 514 f. 44 Kersten (wie Anm. 5), S. 318. 45 Kersten (wie Anm. 5), S. 319. <?page no="88"?> Die deutschen Siege brachten neue Aufgaben: Im Rahmen der Eroberung Europas durch deutsche Truppen während des Krieges und der Rekrutierung »volksdeutscher« Soldaten beschäftigte sich Berger zunehmend mit »Europaideen«. Auf diesem Betätigungsfeld verstand er sich als maßgeblicher Förderer einer nationalsozialistischen Europapolitik: Bergers Familie war - bedingt durch die Hochzeit einer Tochter - in ganz Südeuropa verstreut. So mag ihm schon früh der Gedanke gekommen sein, unter deutscher militärischer Ägide eine Machtstellung in Europa aufzubauen, der es schließlich gelingen werde, die getrennt lebenden Volksdeutschen in einem »Großgermanischen Reich« zusammenzuschließen. Ein auch für künftige Friedenszeiten gültiges Konzept konnte er nicht vorweisen: Seine Europakonzeption bedingte die militärische Ausschaltung jeglicher Opposition in einem ganz auf das arische Ideal zurückgeführten Europa unter deutscher Führung. Die schlichte Maxime umriß er im Krieg folgendermaßen: »Nie ist Europa etwas geschenkt worden. Alle großen Entwicklungen konnten sich nur unter ungeheuren Blutopfern durchsetzen, oft bedurfte es mehrmaliger Ansätze. Blut ist immer der festeste Kitt gewesen. Das neue Europa wird auf den Schlachtfeldern des Ostens geschaffen.« 46 Als Chef der »Ergänzungsstellen«, die für die Rekrutierung der Waffen-SS im Krieg verantwortlich waren, bot sich ihm eine ideale Basis für die Umsetzung seiner Ideen. Von den 900.000 Mitgliedern der Waffen-SS, die im Zweiten Weltkrieg für Hitler kämpften, kamen über die Hälfte aus Gebieten außerhalb der Reichsgrenzen. Gerade im Ausland arbeiteten Bergers Rekrutierungsstellen gründlich und mit besonderem Eifer. 47 Es verwunderte nicht, daß der selbsternannte »Europapolitiker« Berger, der als »Apostel der ausländischen Freiwilligenbewegung« bezeichnet worden ist 48 , persönlich den Vorsitz so unterschiedlicher Organisationen wie der Deutsch-Kroatischen Gesellschaft und der Deutsch-Flämischen Studiengruppe innehatte. Die Stellung der von ihm geleiteten »DEFLAG«, einer flämischen Separatistenorganisation, die mit den deutschen Besatzern zusammenarbeitete, um den Anschluß Flanderns an das Reich zu ermöglichen, beruhte auf rein militärischer Übermacht. 49 Auf dem ganzen Kontinent sollte eine verbindende und verbindliche Struktur volksdeutscher Organisationen geschaffen werden. Es war bei Bergers Vorliebe fürs Militärische vorhersehbar, daß er der Waffen-SS hier die Vorreiterrolle zudachte. In diesem Punkt war seiner fanatischen Begeisterung kaum eine Grenze gesetzt. Um etwa in Finnland für seine übernationale Waffen-SS Getreue zu werben, legte er sich 1941 sogar gleichzeitig mit dem Auswärtigen Amt, Außenminister Ribbentrop und der finnischen Regierung an. 50 Auch in Dänemark wirkte er unermüdlich und versuchte, Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 87 46 Kersten (wie Anm. 5), S. 322 f. 47 Rempel (wie Anm. 1), S. 116. 48 Stein (wie Anm. 27), S. 144. 49 De Wever, Bruno, »Rebellen« an der Ostfront. Die flämischen Freiwilligen der Legion »Flandern« und der Waffen-SS, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 39 (1991), S. 589-610. 50 Stein George H.; Krosby, H. Peter, Das finnische Freiwilligen-Bataillon der Waffen-SS. Eine Studie zur SS-Diplomatie und zur ausländischen Freiwilligen-Bewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgedurch <?page no="89"?> das Schüren von Intrigen zwischen dänischen Nationalsozialisten und der deutschen Führung des dänischen SS-Freikorps »Danmark« Einfluß zu gewinnen. 51 Nicht durch Zwang, sondern nur durch eine »freiwillige europäische Bewegung«, so erklärte er, könne »das neue Europa« geschaffen werden. Ziel sei die »Verteidigung Europas gegen europafeindliche Ideen, Einflüsse, Angriffe.« Berger forderte den Widerstand »gegen den Bolschewismus, gegen diese Ausprägung altasiatischen Geistes«, die schon seit 1917 Europa bedrohe. Dieser Gefahr müsse durch eine nationenübergreifende Waffen-SS begegnet werden. Aus einer solchen Grundhaltung erklärte Berger die von Hitler genehmigte Bildung einer europäischen Freiwilligenstandarte der Waffen-SS, die er aber trotz des übernationalen Charakters nicht als eine Art Fremdenlegion verstanden wissen wollte: In einer Fremdenlegion gehe »der europäische Gedanke vor die Hunde«. Immer wieder betonte er, die «europäische Aufgabe« erfordere die Respektierung der nationalen Eigenarten: Es müsse garantiert sein, »daß bei der Vereinigung Europas Sprache, Religion, Kultur, Herkommen der betreffenden Länder nicht angetastet werden, daß Europa nicht in einen Einheitsstaat eingeschmolzen werde, daß vielmehr eine europäische Verfassung geschaffen werde, noch loser als die von Bismarck 1871 den deutschen Ländern gegebene Verfassung. Einheitlich sollten sein die Verteidigung Europas und die Polizei.« 52 Nach 1945 hielt Berger standhaft an der Fiktion fest, das Ziel des Nationalsozialismus sei nicht eine Eroberungsidee, sondern die Gründung eines »europäischen Staatenbundes« gewesen: 53 »Ich war einer von den wenigen, der sich mit dem Bolschewismus auseinandergesetzt hat. Dinge, die man bis auf den heutigen Tag nicht glaubt. Das ist das, was mich so schwer mitnimmt. Nicht wegen meiner Person, sondern wegen meinem Volk.« 54 Bergers Europapolitik, eine Karikatur wohlverstandener »Völkerverständigung«, war mit Geburtsfehlern behaftet, die er bewußt nicht wahrnehmen wollte. Die ständig beschworene vermeintliche »Freiwilligkeit« scheiterte schon daran, daß dieses Europa von deutschen Gnaden verordnet wurde. Bergers »Vision« war ein Mythos, der nur in den euphorischen Tagen der deutschen Siege aufrechterhalten werden konnte. Er selbst mußte gestehen, daß sich etwa Letten und Finnen bei der Aufstellung der Divisionen nur »teilweise freiwillig« werben ließen, wenn er dafür auch die jeweils landeseigenen Stellen verantwortlich machte. 55 Zudem war Berger nicht in der Lage, seine gemäßigten Vorstellungen einer europäischen Neuordnung kritisch mit den Raubplänen Hitlers und Himmlers in Bezug zu setzen. Er erkannte Joachim Scholtyseck 88 schichte 14 (1966), S. 413-453. 51 Höhne (wie Anm. 2), S. 399. 52 Kersten (wie Anm. 5), S. 317-319. 53 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6: Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 30. September 1947. 54 Ebd.,Vernehmung Bergers, 17. Mai 1947. 55 Ebd., Vernehmung Bergers, 4. März 1947. <?page no="90"?> nicht, daß diese Eroberungskonzeptionen den Ideen eines gemeinschaftlichen Europa diametral zuwiderliefen. Es reichte nicht aus, die rauhen Vorstellungen Himmlers über bis an den Ural reichende deutsche Ostgebiete als »Ural-Fantasie« abzuqualifizieren. 56 Wie sich nach einem »Endsieg« ein neues deutsches Reich konkret gestalten sollte, blieb diffus, obwohl im SS-Hauptamt Pläne ventiliert wurden, eine »europäische Programmatik« zu entwickeln und die Waffen-SS zur »Keimzelle einer europäischen Wehrmacht« zu machen. 57 Politische Entwürfe einer auf völkischen Prinzipien beruhenden europäischen Großraumordnung kamen bei Berger jedenfalls nicht zum Zuge. Deshalb ist es verfehlt, Berger apologetisch als einen »Reformer« innerhalb des nationalsozialistischen Systems zu charakterisieren. 58 Bedenklich ist es auch, ihn als einen Zeugen für »stärkste Vorbehalte« gegen Hitlers Politik anzuführen: Selbst wenn er die Ostpolitik von ihrer »antislawischen Tendenz« zu befreien versuchte 59 , stellte er sich doch bis ans Kriegsende Himmler und Hitler bedingungslos zur Verfügung. Bergers Europapläne wurden bald durch neue Aufgaben ergänzt. Seit November 1942 kam es zu Überlegungen, Berger von seinem »SS-Hauptamt« als Verbindungsmann Himmlers zu Alfred Rosenbergs »Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete« abzustellen. Berger, der sich in seinem Amt eine fast unangreifbare Machtposition erkämpft hatte, scheute vor der Abordnung in eine fremde Behörde verständlicherweise zurück. Sein Widerstand und der energische Protest seiner Frau bei Himmler schienen zunächst Wirkung zu zeigen. Himmler versuchte, einen Ersatz für Berger zu finden: »Ich kann Berger als Chef des SS-Hauptamtes, der noch mitten im aufbauen [sic] ist und der die für die SS so lebenswichtige Aufgabe der Ergänzung und der weltanschaulichen Schulung gerade jetzt im Kriege hat, schwerlich entbehren.« 60 Himmler fiel die Trennung von Berger als einem seiner »engsten Mitarbeiter« 61 zwar schwer, aber der Reichsführer-SS stellte schließlich den eigenen Wunsch nach Beendigung der fortwährenden Querelen mit Rosenberg höher als die Privatinteressen Bergers. »Bleiben Sie mir gesund, mein Lieber, ich brauche Sie noch sehr lange«, schrieb er im Januar 1943 an seinen zu Rosenberg wechselnden treuen Diener. 62 Wenige Wochen später trafen sich Himmler und Rosenberg in Posen, um letzte Unstimmigkeiten zu bereinigen. Die Heranziehung Bergers als Mittelsmann war ihr Versuch, sich vor den Intrigen des Reichskommissars der Ukraine, Erich Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 89 56 Kersten (wie Anm. 5), S. 322. 57 Zu den Europavorstellungen der SS vgl. Neulen, Hans Werner, Europa und das 3. Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939 - 1945, München 1987, S. 61 - 68, Zitat S. 62. 58 Beispielhaft für entsprechende mißglückte Versuche: Taege, Herbert, NS-Perestroika? Reformziele nationalsozialistischer Führungskräfte. 1. Teilband: Beiträge zu Personen, Lindhorst 1988, S. 71-90. 59 Nolte, Ernst, Streitpunkte. Heutige und künftige Kontroversen um den Nationalsozialismus, Berlin, Frankfurt/ Main 1992, S. 195 f. 60 Himmler an Rosenberg, 10. Dezember 1942, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 61 Himmler an Rosenberg, 17. August 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 62 Himmler an Berger, 18. Januar 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger.Vgl. Himmler an Rosenberg, 16. Januar 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. <?page no="91"?> Koch, zu schützen: 63 »Koch verstand es glänzend, wenn Maßnahmen, die vom Ostministerium nicht durchgeführt werden konnten, diese in seinen Gau nach Ostpreußen zu bringen und sich diese nachträglich von Hitler genehmigen zu lassen, um einen Einfluß des Ostministeriums auszuschalten.« 64 Die Überstellung ins Ostministerium erfolgte am 1. April 1943. Bergers Verhältnis zu Rosenberg war von Beginn an gespannt. Er fürchtete, seinen wichtigen Einfluß bei Himmler zu verlieren: »Es war mir auch nicht möglich, 2 Herren zu dienen. Noch dazu wußte ich, daß Heinrich Himmler leicht umfällt.« 65 Der »Reichsführer-SS« selbst konnte allerdings zufrieden sein. Er hatte nun einen Späher bei seinem Rivalen installiert und gleichzeitig eine Verbindung gegen andere Konkurrenten geschaffen. Berger wurde, wie er selbst seine Aufgabe umschrieb, immer dann gerufen, »wenn es irgendwie im Osten zu Spannungen kam.« 66 Meist jedoch war Berger in der Lage, die anfallenden Aufgaben reibungslos zu erledigen. Im Konflikt zwischen Himmler und dem Generalgouverneur in Polen, Hans Frank, spielte Berger eine vergleichbare Rolle. Auch hier ging es um die Stellung Himmlers, die Berger zu sichern verstand. 67 Ähnlich blieb Berger in der Auseinandersetzung um SA-Stabschef Viktor Lutze, der immer wieder versuchte, die Wehrmacht gegen die SS zu mobilisieren, ein getreuer Gefolgsmann Himmlers. 68 Wie weit die Vasallentreue Bergers ging, zeigte exemplarisch ein Brief Bergers an Himmlers persönlichen Referenten Rudolf Brandt, dem er in einer Arbeitsdienst-Angelegenheit eröffnete: »Lieber Doktor, vielleicht bin ich einseitig, aber eine dem Reichsführer-SS gegebene Zusage wird erfüllt, und wenn darüber die Welt in Trümmer geht. Jedenfalls muß das der Grundsatz für jeden SS-Mann sein.« 69 Bergers Interesse für das deutsche Volkstum bescherte ihm in diesen Monaten einige Sondereinsätze: Die ursprünglich aus Angst vor polnischen Joachim Scholtyseck 90 63 Vgl. Höhne (wie Anm. 2), S. 16 und TWC, Bd. 13, 1, S. 479. 64 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 17. Mai 1947. 65 Ebd. 66 Ebd.,Vernehmung Bergers, 6. Dezember 1946. 67 Bergers langjähriger Beschützer Krüger war von Himmler als »Statthalter« ins »Generalgouvernement« geschickt worden, um diese Zone nicht gänzlich zur Domäne Franks werden zu lassen. Berger umschrieb diese Mission nachträglich wenig diplomatisch: Krüger sei »mit dem klaren Auftrag nach Krakau geschickt worden, Frank fertig zu machen.« Mündliche Mitteilung von Berger an Höhne, 1. Februar 1966, zit. nach Höhne (wie Anm. 2), S. 293. 68 Höhne (wie Anm. 2), S. 382-384. 69 Berger an Brandt, 25. Februar 1943, BA, Abt. III (BDC), Sammelakte 67, S. 243 f. Ein weiteres Beispiel für seinen Kadavergehorsam lieferte Berger, als Himmler ihn instruierte, einen unbotmäßigen Hausmeister wegen einer Lappalie zur Rechenschaft zu ziehen: »Verständigen Sie dann die Gestapo, daß diese den frechen Hausmeister, der ohne Zweifel Deutscher ist [...] einmal ganz scharf unter die Lupe nimmt und dafür sorgt, daß dieser entweder eingezogen oder dienstverpflichtet wird oder ins KL kommt«. Berger übergab die Angelegenheit pflichttreu an den Chef der Gestapo, Müller, »mit der Bitte, befehlsgemäß zu verfahren«. Himmler an Berger, 24. Oktober 1942; Berger an Himmler, 21. November 1942, BA, Abt. III (BDC), LO Sepp Dietrich, S. 141 und S. 146. <?page no="92"?> Rollkommandos gegründeten deutschen »Selbstschutzorganisationen« wurden schnell zum Mittel nationalsozialistischer Eroberungspolitik umfunktioniert. Hier spielten wiederum die Machtstreitigkeiten unterhalb der Führerebene eine Rolle. Himmler befürchtete eine Machtstärkung seines Rivalen Albert Forster in Polen und beauftragte Berger, aus den Selbstschutzstaffeln eine Himmler hörige volksdeutsche SS zu schaffen. Berger und sein Stab gingen mit der gewohnten Präzision vor und übernahmen im besetzten Polen die Kommandostellen des Selbstschutzes. Die Aufgaben wurden auf vier Ämter mit eigenen Verwaltungsbereichen aufgeteilt, in denen wiederum »Inspektionen« unter SS-Führung die Aufgaben der Hilfspolizei übernahmen. Während dieser reorganisierte »Selbstschutz« noch als relativ kontrolliert gelten konnte, kam es in Westpreußen und wenig später im Gebiet um Lublin bereits zu Liquidationen. 70 Im Sommer 1944 war Berger einer der Verantwortlichen der sogenannten »Heu- Aktion«, einer brutalen Verschleppung von 10 - 15jährigen Kindern aus Osteuropa zu Zwecken des Arbeitseinsatzes in Deutschland. In ähnlicher Weise wurden »Luftwaffenhelfer« aus dem Osten rekrutiert. Bergers »Lohn« für den Wechsel zu Rosenberg hätte seine Bestellung zum Staatssekretär im Ministerium sein sollen. Sogar Goebbels sprach im Februar 1943 vom »kommenden Staatssekretär Berger«. 71 Die erhoffte Beförderung wurde jedoch nie vollzogen. Obwohl er in recht devoten Briefen an den »Reichsführer-SS« an seiner Loyalität keinen Zweifel ließ 72 , kühlte sich nach der ausgebliebenen Ernennung zum Staatssekretär das Verhältnis zwischen Berger und Himmler merklich ab, wie Berger nach Kriegsende zu Protokoll gab: »Ich merkte, daß er nicht mehr ehrlich zu mir war oder vielleicht überhaupt nie ganz ehrlich gewesen ist. Vielleicht konnte ein Mann wie Himmler überhaupt nicht ganz ehrlich sein von Haus aus und nichts nehme ich einem Menschen in meinem Leben mehr übel, als wenn er mich betrog.« 73 Im Ostministerium zeigte sich, daß Bergers Macht auf der Nähe zu Himmler beruhte. Politisch war Berger, zwischen zwei Stühlen sitzend, faktisch kaltgestellt, obwohl ihn Rosenberg im August 1943 mit der Leitung des neugebildeten »Führungsstabes Politik« betraute. 74 Kein Trost konnte es sein, im gleichen Jahr als Vertreter des Wahlkreises Düsseldorf-Ost in den jeglicher parlamentarischer Bedeutung entkleideten Reichstag »gewählt« zu werden: Das Mandat als Reichstagsabgeordneter nahm er niemals wahr. 75 Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 91 70 Zit. nach Höhne (wie Anm. 2), S. 277. 71 Vgl. Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II. Diktate 1941 - 1945, Bd. 7, Januar - März 1943, München u.a. 1993, S. 285, Eintrag vom 8. Februar 1943. 72 Vgl. Berger an Himmler, 9. März 1943, in: TWC, Bd. 13,1, S. 283-287. 73 Zeugenaussage Bergers, NA Microfilm Publication M-897, Ministries Case, frame 1072. 74 Rosenberg an Berger, 10. August 1943, TWC, Bd. 13,1, S. 317. 75 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 29. Oktober 1947. <?page no="93"?> Im bizarren Netzwerk der SS blieb Berger, der in der Kunst des Intrigierens seit langem geübt war, von Angriffen auf die eigene Person nicht verschont. 76 Trotzdem verstand er es, sich in der nationalsozialistischen Bürokratie zu behaupten. Berger war, so beschrieb es einmal Albert Speer, trotz seiner »zähen rücksichtslosen Verhandlungsweise [...] von einer mittelmäßigen Gutmütigkeit« und zeigte »jene Banalität, die auf den ersten Blick gut zu leiden ist.« 77 Die offensichtliche Einfachheit seiner Gedankengänge und die von ihm immer wieder betonte soldatische Loyalität verdeckten eine gewisse Raffinesse, die nur schwer zu durchschauen war. So konnte sein Einfluß groß sein: »Wenn Berger sagte, das und das muß gemacht werden, wurde es gemacht [...] Berger hat es sehr gut verstanden, als geschickter Taktiker nett zu sein.« Nach dem Zusammenbruch vermochte Berger selbst alliierte Beobachter mit dieser jovialen Art, die das diabolische Element täuschend überlagerte, zu beeindrukken. 78 Intelligentere Nationalsozialisten wie Gestapo-Abwehrchef Schellenberg konnte Berger nicht überzeugen. Dieser bezeichnete ihn als »politisch ungeschickte[n] Mann«. 79 Schon Bergers fast ungehinderte Deckung der Verbrechen Dirlewangers hatte gezeigt, daß moralische Schranken längst durchbrochen waren. Über das Ausmaß des Vernichtungskrieges im Osten konnte sich Berger ohnehin keinen Illusionen hingeben. Ein Schlüsseldokument dieser Zeit stellte in diesem Zusammenhang die Anweisung Himmlers an Berger dar, wie mit dem Begriff »Jude« umzugehen sei. Es konnte danach für den »Schwabenherzog« keinen Zweifel mehr geben, in welche Richtung sich die »Verfolgung« der Juden entwickeln würde. Himmler schrieb ihm am 28. Juli 1942: »Lieber Berger! Zu Ihren Aktennotizen: 1. Ich lasse dringend bitten, daß keine Verordnung über den Begriff ›Jude‹ herauskommt. Mit all diesen törichten Festlegungen binden wir uns ja selbst nur die Hände. Die besetzten Ostgebiete werden judenfrei. Die Durchführung dieses sehr schweren Befehls hat der Führer auf meine Schultern gelegt. Die Verantwortung kann mir ohnedies niemand abnehmen. Also verbiete ich mir alles mitreden.« 80 Wenn diese Aussagen noch irgendeinen Zweifel am absoluten Vernichtungswillen und Bergers Wissen um das Ausmaß des Holocaust lassen konnten, dann wurden diese durch Himmlers berüchtigte Posener Joachim Scholtyseck 92 76 Höhne (wie Anm. 2), S. 18. 77 Speer, Albert, Erinnerungen, Frankfurt/ Main, Berlin 1969, S. 383. 78 Vgl. etwa die Charakterisierung durch Hugh Trevor-Roper, der Berger im Zusammenhang mit seinen Recherchen über Hitlers letzte Tage im Berliner Führerbunker befragte: »Berger was [...] a simple, elementary character, full of honest good nature, indefinite garrulity and unsophisticated emotion. The political subtleties, the psychological refinements [...] meant nothing to him. He had no sympathy with a soul in doubt, no understanding of the conflicting pressures, the divergent loyalties, to which Himmler had so long been subjected.« Trevor-Roper, Hugh, The Last Days of Hitler, 7. Aufl. London 1995, S. 110. 79 Zit. nach Das Dritte Reich im Kreuzverhör. Aus den unveröffentlichten Vernehmungsprotokollen des Robert W. Kempner, München, Esslingen 1969, S. 275. 80 Himmler an Berger, 28. Juli 1942, in: TWC, Bd. 14, 2, S. 1011. <?page no="94"?> Rede vor den zusammengerufenen SS-Gruppenführern vom 4. Oktober 1943 ausgeräumt, in der dieser die »Ausrottung des jüdischen Volkes« durch die SS als ein »niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt« ihrer Geschichte bezeichnete. Berger war unter den Zuhörern. 81 Seine Prozeßaussage, er habe erst in Dachau und Nürnberg von den Judenvernichtungen gehört 82 , war eine kraftlose Schutzbehauptung. Als Prozeßzeuge in Verfahren gegen ehemalige Kameraden mußte er später zugestehen, seit 1943 von den Vernichtungsaktionen gegen Juden gewußt zu haben. 83 Himmlers deutliche Worte können Berger kaum überrascht haben. Über das Treiben der »Einsatzgruppen« der SS im Osten war er weitestgehend informiert. Einer der Verantwortlichen, der SS-Obergruppenführer von dem Bach-Zelewski, teilte anläßlich einer Besprechung über die »Bandenbekämpfung« im April 1943 mit, es solle versucht werden, durch Berger eine ausreichende Bewaffnung mit Maschinenpistolen zu erreichen. Auch sonst hoffte er auf enge Kooperation: »Hinsichtlich der allgemeinen ostpolitischen Probleme teilte v. d. Bach mit, daß er soeben von einer Besprechung mit SS-Gruppenführer Berger komme und hoffe, daß dieser seinen Einfluß in der Richtung einer geschmeidigeren deutschen Ostpolitik geltend machen würde.« 84 Wenige Monate später konnte der im Juni 1943 zum SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS beförderte Berger auf einer Konferenz in Rosenbergs Ostministerium stolz von den »Erfolgen« der »Totenkopfdivision« im Kampf gegen die Partisanen berichten. Nach großangelegten Operationen im Generalgouvernement werde man sich nun, versprach Berger, in der Ukraine betätigen. 85 Das sich wandelnde Kriegsglück ließ ihn allerdings nachdenklich werden. Zu Beginn des Jahres 1943 wurde er vom medizinischen Berater des RFSS darauf angesprochen, ob Himmlers Aussagen der Wahrheit entsprächen, dieser sei eigentlich für eine Aussiedlung der Juden, etwa nach Madagaskar, gewesen. Berger antwortete zustimmend. Er empfand die Gefahr, die dem NS-Staat durch die Judenvernichtungen drohte, und deutete an, man werde »für das Verfahren gegen die Juden einmal mit unseren Knochen [..] bezahlen müssen.« Ansonsten aber hatte er eine Privatmeinung, die angeblich den Gesetzen der Menschlichkeit entsprach: »Ich bin nach wie vor dafür, daß die Juden ihren eigenen Staat irgendwo in der Welt errichten. In diesem Punkt wollte ich Himmler helfen. Leider hat er sich von Goebbels und Bormann, anstatt sie zu erledigen, umwerfen lassen; ebenso von Heydrich.« 86 Das bürokratische Zuständigkeitschaos erleichterte es, eigene Verantwortung zu verdecken und hinter Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 93 81 Himmlers Rede: IMT, Bd. 29, S. 110-173, hier S. 145. Vgl. Bergers Aussage während des »Wilhelmstraßenprozesses«: TWC, Bd. 13, 1, S. 475. 82 Aussage während des »Wilhelmstraßenprozesses«: TWC, Bd. 13, 1, S. 474. 83 Vgl. »Der Telegraf« (Berlin), 11. August 1964. 84 Aktenvermerk des RSHA, 14. April 1943, BA, Dahlwitz Hoppegarten, ZR 920, Akte 49. 85 Konferenzprotokoll über die Sitzung am 13. Juli 1943 vom 20. August 1943, in: TWC, Bd. 13, 2, S. 1016-1022, hier S. 1019. 86 Kersten (wie Anm. 5), S. 202. <?page no="95"?> vermeintlicher Machtlosigkeit eine tiefe Menschenverachtung und mangelnde Zivilcourage zu verstecken. Hinzu kam, daß Berger sich einzureden verstand, die »soldatische« Waffen-SS habe mit der Judenvernichtung nichts zu tun. Erregt schilderte er einem Vertrauten, die Waffen-SS sei eine Fronttruppe, die nicht einmal zur Bewachung von Konzentrationslagern eingesetzt werden dürfe: »Ich bin Soldat mitsamt der Waffen-SS. Wer von uns etwas anderes will als soldatische Handlungen, begeht ein Verbrechen an der Waffen-SS.« 87 Die SS unterstützte seit Kriegsbeginn immer offener die rumänische »Eiserne Garde«, die den faschistischen Idealen eher entsprach als die konservative Militärherrschaft des vom Auswärtigen Amt favorisierten Generals Ion Antonescu. Nach einem gescheiterten Putschversuch der »Eisernen Garde« gelang es dem »Sicherheitsdienst« (SD) der SS, wichtige der von ihnen protegierten Putschisten vor der Verfolgung zu schützen, sehr zum Unwillen Ribbentrops und Hitlers, der eine Verschwörung des SD hinter dem Putsch vermutete. Berger wurde in dieses »imbroglio« hineingezogen: Der Chef der »Eisernen Garde«, Horia Sima, war im Haus des deutschen »Volksgruppenführers« Andreas Schmitt versteckt worden: Schmitt, der »Volksgruppenführer« in Siebenbürgen, hatte kurz zuvor Bergers Tochter Krista geheiratet. In diesen Monaten hatte Berger schwere persönliche Schicksalsschläge zu verkraften. Innerhalb kurzer Zeit starben zwei seiner vier Kinder. Einer seiner Söhne kam im Februar 1943 als Untersturmführer der Leibstandarte Adolf Hitler ums Leben. Wenige Monate zuvor, im November 1942, war seine 20jährige Tochter Krista an den Folgen eines Attentats gestorben, das auf ihren Mann verübt worden war. 88 Das plötzlich hereingebrochene Unheil schärfte seinen Blick jedoch kaum. Als er im Sommer 1944 auf die immer schwieriger werdende innenpolitische Lage, die Korruption des Regimes und die kaum noch zu verheimlichenden Greueltaten im Osten angesprochen wurde, flüchtete sich Berger in die Hoffnung einer späteren Sühne: »Wir decken nicht üble Handlungen und Korruption, auch nicht von hohen Würdenträgern, auch nicht gewisse sogenannte Polizeimaßnahmen. Lassen Sie die Waffen-SS nach dem Kriege erst einmal nach Hause kommen, dann wird einiges vor sich gehen. Das habe ich dem Führer vorgetragen und er hat nicht nein gesagt. Leider muß es bis dahin dauern, so wie der Karren jetzt verfahren ist.« 89 Mit Sorge betrachtete er inzwischen die innenpolitische Situation: Goebbels etwa glaube, »er habe das Volk in der Hand. Er hält sich für den Fakir, auf dessen Pfeifen und Rufen die Viper Joachim Scholtyseck 94 87 Kersten (wie Anm. 5), S. 202. 88 Auch Schmitt fand ein gewaltsames Ende: Er starb bei einem Flugzeugabsturz im September 1944. NA, RG 319, IRR, NND 846030; Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 3. Dezember 1946. Vgl. auch ebd., Vernehmung Bergers, 30. September 1947 und Höhne (wie Anm. 2), S. 267 f. 89 Ebd., S. 327. <?page no="96"?> und die Brillenschlange tanzt. Nun ist das deutsche Volk keine Brillenschlange, dazu ist es viel zu schwerfällig, hat auch zu wenig Gift und Dr. Goebbels ist kein Fakir.« 90 Bergers Einfluß und seine Allgegenwärtigkeit wurden im Ausland aufmerksam registriert. Nach dem Attentat des 20. Juli 1944 nahm die in London erscheinende deutsche Exil-Zeitschrift »Die Zeitung« an, angesichts der Säuberungen in der Wehrmacht nach dem Hitlerattentat sei voraussehbar, daß Berger, dem »alle Fragen des Verkehrs und Nachschubs für die Waffen-SS« unterstünden, zu den SS-Führern gehören werde, die »in naher Zukunft wichtige Stellungen erhalten« würden. 91 Solche Vermutungen stellten sich schnell als zutreffend heraus. Im August 1944 kam es in der Slowakei zu Unruhen. Die sich abzeichnende deutsche Niederlage und der unaufhaltsam scheinende Vorstoß der Roten Armee hatten eine Lage geschaffen, in der die uneingeschränkte und unüberwindliche Machtstellung der Vasallenregierung ins Wanken geriet. Wiederum diente Berger als Retter in höchster Not. Als Vertreter Himmlers in Rosenbergs Ostministerium wurde er nach Preßburg geschickt, um, versehen mit einer Generalvollmacht, die Unruhen zu unterdrücken. Berger benötigte nur wenige Wochen, um in der Slowakei die »Front der Friedhofsruhe großdeutscher Herschaft« 92 noch einmal zu sichern. In seinem Gefolge fanden sich nicht nur Dirlewanger mit seinem berüchtigten SS-Sonderkommando, sondern auch die »Judenjäger« Josef Witiska und Adolf Eichmann. Bereits am 19. September wurde Bergers slowakische Aufgabe von SS-Obergruppenführer Hermann Höfle übernommen. 93 Hierfür waren weder Kompetenzenwirrwarr noch ein Versagen Bergers ausschlaggebend: Himmler hatte für Berger, der diesen »soldatischen« Posten nur widerwillig räumte, einen anderen Auftrag. Mitte September 1944 wurde er zum Stabsführer des Deutschen Volkssturms ernannt. 94 Weitere Aufgabenbereiche kamen in den folgenden Wochen hinzu: In der Nacht vom 30. September zum 1. Oktober 1944 war Berger von Hitler persönlich mit der Beaufsichtigung der Kriegsgefangenen und Internierten beauftragt worden. 95 In dieser Eigenschaft mußte er, wie er später in einem Verhör zugab, die ungenügende Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 95 90 Berger an Himmler, 10. Oktober 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger. 91 »Marschall Himmler und sein Generalstab«, in: Die Zeitung (London), 28. Juli 1944, abgedruckt in: Adam, Ursula (Hrsg.), »Die Generalsrevolte«. Deutsche Emigranten und der 20. Juli 1944, Berlin 1994, S. 40-45, hier S. 44. 92 Höhne (wie Anm. 2), S. 504. 93 Am 8. November 1944 gab das OKW bekannt, die »organisierte Aufstandsbewegung« in der Slowakei sei nach zweimonatigem Kampf zusammengebrochen. Höfle wurde 1948 in einem Preßburger Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet. 94 Aufzeichnung Bergers, 19. September 1944, in: TWC, Bd. 13,1, S. 369. Gleichzeitig erhielt er über Himmler für seine »slowakische Arbeit« das Eiserne Kreuz II. Klasse. 95 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946-1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6: Office of U.S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 1. Mai 1947. Vgl. IMT, Bd. 4, S. 222 und den Bestand in BA, NS 6: Partei-Kanzlei der NSDAP, Nr. 2836: Neuordnung des Kriegsgefangenenwesens (30. September 1944) und Nr. 2897: Stabsführer des Deutschen Volkssturms beim Reichsführer-SS und beim Reichsleiter Bormann. <?page no="97"?> Versorgung der Gefangenen erkennen: »Ich besuchte ein Lager im Süden von Berlin [...] Es war mir damals klar, daß die Ernährungsverhältnisse völlig unzureichend waren, was eine heftige Auseinandersetzung zwischen Himmler und mir zur Folge hatte. Himmler war sehr dagegen, die Pakete des Roten Kreuzes in den Kriegsgefangenenlagern in gleichem Maße wie bisher weiter zu verteilen. Was mich anbetrifft, so war ich der Ansicht, daß wir in diesem Falle mit einem sehr ernsten Problem wegen des Gesundheitszustandes der Leute zu rechnen hatten.« 96 Organisatorische Meisterleistungen waren im letzten Kriegsjahr kaum noch möglich. Trotzdem ventilierte Berger in der zweiten Jahreshälfte 1944 umfangreiche Pläne, die Rekrutierung von Soldaten für den Kriegseinsatz zu vereinheitlichen. Seine Konzeption sah vor, die gesamten Reserven deutscher »Volkskraft« in einer neu zu schaffenden Behörde zu zentralisieren. Wehrmacht, Waffen-SS, Polizei, Reichsarbeitsdienst, Organisation Todt und der zivile Arbeitssektor hätten nach diesem Vorhaben einer neuen Berliner Behörde Himmlers unterstanden, die möglicherweise von Berger selbst hätte verwaltet werden sollen. Solch hochfliegende Pläne konnten aber angesichts der Lage nicht mehr verwirklicht werden und wären sicherlich auf mannigfachen Widerstand gestoßen. Die sich abzeichnenden Verselbständigungstendenzen im auseinanderbrechenden Hitlerstaat gaben auch Berger zu denken. Die Hoffnung auf einen mit dem »Führer« noch zu gewinnenden Krieg hatte er zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben. Trotz aller antisowjetischen Vorbehalte hing er zeitweilig dem Wunschtraum nach, der SS könne es gelingen, über die offiziellen Stellen in Berlin hinweg einen Separatfrieden im Osten zu erreichen. 97 Der Zufall brachte aber noch eine andere Möglichkeit, sich für die Nachkriegszeit in einem positiveren Licht zu zeigen. Der Chef des SS-Hauptamtes wurde in dieser Phase zum Retter einiger Verschwörer des 20. Juli 1944. Gegen die Interessen der Gauleitung in Württemberg hatte sich Berger, dessen Vater zusammen mit Robert Bosch Soldat gewesen war, stets als Beschützer der Stuttgarter Firma gesehen. Das Verhältnis des Demokraten Bosch zu den Machthabern war seit langer Zeit gestört. Gauleiter Murr hatte gedroht, er werde »die Nebenregierung Bosch nicht länger dulden«. 98 Das Unternehmen sah keinen Anlaß, die auf parteiinternen Querelen und Rivalitäten beruhende Beschützermentalität Bergers nicht für seine Zwecke zu nutzen. Zunächst hatte man sich der Vermittlungstätigkeit Bergers vornehmlich in Jagd- und Pachtangelegenheiten bedient. Berger, der Robert Bosch trotz aller weltanschaulichen Unterschiede beinahe bedingungslos verehrte, hatte sich seinerseits auf diese Weise eine nicht unerhebliche Vertrauensstellung geschaffen, die im Krieg eine ungeahnte politische Dimension erhielt. Der Tod des Unternehmensgründers und Hitlergegners Bosch im Jahr 1942 bedeutete keine Zäsur in der politischen Ausrichtung der Stuttgarter Firma, die als Joachim Scholtyseck 96 96 Verhörprotokoll Berger, IMT, Bd. 6, S. 379. 97 Vgl. Berger an Himmler, 26. September 1944, BA, NS 19/ 184. 98 Zit. nach Miller, Max, Eugen Bolz. Staatsmann und Bekenner, Stuttgart 1951, S. 481. <?page no="98"?> Zentrum der Nonkonformität und des Widerstands gar zu einer Art Anlaufstelle der Verschwörer wurde, die Berger unbewußt schützte. Bereits 1942 hatte Berger nach der Verhaftung eines Mitarbeiters dessen Freilassung ermöglicht. 99 Im folgenden Jahr war es ihm gelungen, die gegen den »Betriebsführer« Walz eingeleiteten Untersuchungen der Gestapo und des SD zu beenden. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944, in das führende Mitarbeiter Boschs involviert waren 100 , bestand für diese akute Gefahr. Berger griff erneut ein. Die beinahe groteske Rivalität Bergers mit dem Gauleiter Murr erwies sich in diesem Fall als lebensrettend. Sie wirft darüberhinaus ein Schlaglicht auf die byzantinisch anmutenden Strukturen des Terrorregimes, die solche Möglichkeiten offenhielten. Über die Beteiligung führender Mitarbeiter am Umsturzversuch war Berger nicht informiert: Dies hatte man ihm gegenüber wohlweislich verschwiegen. Nach der Verhaftung des an den Planungen der Verschwörer beteiligten Bosch-Mitarbeiters Albrecht Fischer und seiner Überstellung an die berüchtigte Gestapo-Zentrale in Berlin fuhr »Betriebsführer« Walz »gegen Ende 1944« in die Hauptstadt, um angesichts der bevorstehenden Verhandlung vor dem Volksgerichtshof Hilfsmöglichkeiten zu erkunden. Hier fiel der Name »Berger«, der als wichtige »Parteiverbindung« eingesetzt werden konnte. Fischer wurde vom Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland Freisler in seinem Prozeß am 12. Januar 1945 tatsächlich im Vergleich zu seinen Mitangeklagten recht milde behandelt. Nicht nur Fischer selbst fiel diese günstige Behandlung auf. 101 Welchen Anteil hatte Berger an der Rettung Fischers vor dem Tod? Diese Frage ist angesichts der widersprüchlichen Überlieferung und der ungünstigen Quellenlage nur schwer zu beantworten. Berger erfuhr erst Wochen nach dem Attentat durch Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 97 99 Vgl. RBA 13/ 77; 13/ 84. 100 Vgl. Scholtyseck, Joachim, Der »Stuttgarter Kreis« - Bolz, Bosch, Strölin. Ein Mikrokosmos des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, in: 20. Juli 1944 in Baden und Württemberg, hrsg. v. R. Lill, M. Kißener (Portraits des Widerstands 3), Konstanz 1994, S. 61-123, hier S. 109-115. 101 Vgl. Fischer, Albrecht, Erlebnisse vom 20. Juli 1944 bis 8. April 1945, in: Widerstand und Erneuerung. Neue Berichte und Dokumente vom inneren Kampf gegen das Hitler-Regime, hrsg. von O. Kopp, Stuttgart 1966, S. 122-166, hier S. 151 f. Auch der offizielle Prozeßbericht notierte den offensichtlich guten Stand Fischers bei Freisler, der dem Boschmitarbeiter »manchen Rettungsanker« zuwarf. Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.), »Spiegelbild einer Verschwörung«. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt Bd. 1, Stuttgart 1984, S. 709. Fischer wurde trotz Freispruchs und Protegierung durch Berger von der Gestapo ins KZ eingeliefert, das er erst kurz vor Kriegsende, am 3. April 1945, durch die Fürsprache von Hans Walz und wiederum unter Mithilfe Gottlob Bergers verlassen konnte. Anläßlich der Entlassung Fischers spielten sich groteske Szenen ab: Nachdem Fischer auf dem Weg vom KZ in die Heimat nach Stuttgart noch seinem »Beschützer« Berger in Berlin vorgestellt wurde, entspann sich zwischen ihnen folgender mitternächtlicher Dialog: »Er redete mich an: ›So, Baurat, da bist Du ja. Ihr Schwaben habt eben immer besondere Dickköpfe und dann macht ihr hin und wieder eine Dummheit.‹ Ich antwortete ihm, er als Schwabe müsse das ja gut wissen. Er sagte noch: ›Wenn der alte Bosch Dich nicht so geschätzt hätte, so hätte ich auch nichts für Dich tun können. Also auf später! ‹« (Fischer, S. 162.) <?page no="99"?> Walz über die Gefährdung des Stuttgarter Unternehmens durch die Sicherheitsbehörden. Walz bat ihn, »geeignete Schritte zur Befreiung« Fischers einzuleiten. Berger entgegnete, nichts tun zu können, da Hitler verboten habe, für Angeklagte des 20. Juli ein begütigendes Wort einzulegen. Er erklärte sich jedoch bereit, die Vernehmungsprotokolle zu besorgen, obwohl er sich aufgrund der Beweislage wenig optimistisch über Fischers Chancen äußerte. 102 Die tiefe Verstrickung der Führungsriege in die Verschwörung durchschaute er zeitlebens nicht. Diese Naivität mag zum durchschlagenden Erfolg des Unternehmens beigetragen haben, mehrere Angeklagte »aus höchster Gefahr herauszupauken«. 103 Berger war die sagenumwobene »Parteistelle«, die die Protektion der Boschmitarbeiter erklärte. Einer der Verschwörer bei Bosch, der frühere Privatsekretär des Firmengründers, Willy Schloßstein, der im Zuge der Attentatsermittlungen in Stuttgart verhört und nach Berlin zum Reichssicherheitshauptamt zitiert worden war, bewertete später Bergers Einsatz: 104 »Ohne diese Hilfe wäre die gesamte Geschäftsleitung von Bosch gleich der vielen anderen Opfer des 20. Juli 1944 auch ums Leben gekommen.« 105 In Berlin traf Berger Schloßstein als »einen völlig zusammengebrochenen Mann«, den er als Chef des »SS-Hauptamtes« zumindest vorübergehend vor der Gestapo schützen konnte. Berger hielt sein gegenüber Walz gegebenes Wort und informierte sich zunächst über die von der Gestapo vermuteten süddeutschen Verbindungen. 106 Nach eigenen Angaben entschloß sich Berger schließlich, bei Hitler ein Gnadengesuch einzureichen. Diese an und für sich phantastisch anmutende Behauptung wird glaubhafter, wenn man sich die personalistischen Entscheidungsprozesse des Führerstaats vor Augen hält: Berger stand bei Hitler wegen seines militärischen Erfolgs Joachim Scholtyseck 98 102 Berger an Walz, 4. Oktober 1944, RBA 13/ 84: »Oberbürgermeister Goerdeler hat sich ja bekanntlich über 10 Tage der Verhaftung entziehen können. Diese Tage genügten aber, ihn derart weich zu machen, daß er nicht nur ohne Aufforderung alles aussagt, sondern auch an Hand von geführten Notizbuchaufzeichnungen alle möglichen Leute, auch alle jene mit denen er irgendwie geschäftlich zu tun hatte, belastet. Es würde mich gar nicht wundern, wenn eines Tages Ihr Name irgendwie auftaucht. Ich möchte nochmals betonen, daß er freiwillig aussagt, viel mehr als man von ihm eigentlich verlangt. Über Baurat Fischer sinngemäß folgendes: ›Die Ernennung des Baurat Fischer zum Beauftragten für den Gau Württemberg ist von mir veranlasst [...]‹. Mit diesen und ähnlichen Aussagen hat er meiner Ansicht nach für Fischer das Todesurteil gesprochen, zumindest wird das Urteil für eine lebenslängliche Haft ergehen. Vielleicht kann ich mich aber auch täuschen«. Vgl. die Tonbandaufzeichnung Bergers: RBA (zit. nach der Mitschrift), S. 18. 103 RBA, 13/ 127. 104 RBA, 13/ 229; Tonbandaufzeichnung Bergers (wie Anm. 102), S. 20 f. 105 RBA, 13/ 39. Goerdeler hatte in seinen Aufzeichnungen neben Fischer auch Schloßstein erwähnt und als Wirtschaftsminister für Württemberg-Baden in Vorschlag gebracht. Für das folgende der Bericht Bergers in: RBA, 13/ 84 und Tonbandaufzeichnung Bergers (wie Anm. 102), S. 20-25. Quellenkritische Zweifel am Wert dieser Stellungnahmen aus den Jahren 1953 (Bericht) bzw. 1962 (Tonbandaufzeichnung) sind trotz der Übereinstimmungen mancher Stellungnahmen der Beteiligten und der Konkordanz des Schriftverkehrs Bergers aus der Zeit des Nationalsozialismus angebracht. 106 RBA, 13/ 84, Bericht; vgl. Tonbandaufzeichnung Bergers (wie Anm. 102), S. 22. <?page no="100"?> in der Slowakei in hoher Gunst. 107 Wenngleich irgendeine Gefälligkeit des »Führers« für Berger insofern vorstellbar sein mochte, sind Zweifel über ein angebliches Treffen Bergers mit Hitler angebracht. Obwohl die persönlichen Begegnungen zwischen Berger und Hitler im letzten Kriegsjahr an Häufigkeit zunahmen 108 , erscheinen die Angaben Bergers über das Zusammentreffen aus mehreren Gründen letztlich als unglaubwürdig. 1. Berger entpuppte sich nach 1945 in vielen anderen Fragen der nationalsozialistischen Vergangenheit als unsicherer Kantonist, der irreführende oder ganz falsche Aussagen machte. Seine eigenen Angaben bedürfen daher einer sehr genauen Überprüfung. 109 2. Folgt man Bergers Angaben, dann fand die Besprechung mit Hitler im thüringischen Ohrdruf statt. 110 Der angebliche Ort des Treffens, der als vorübergehendes Quartier des OKW vorgesehen war, ist von Hitler jedoch nie besucht worden. 111 3. Wenn sich Berger im Ort geirrt hatte, wie stand es dann um den vermeintlichen Zeitpunkt? Ein Gespräch mit Hitler am 18./ 19. September 1944 in der »Wolfsschanze« hatte vornehmlich Fragen des Kriegsgefangenenwesens behandelt. Da Walz in Berlin erst im Dezember 1944 vorsprach, muß es sich um ein späteres Gespräch gehandelt haben. Mitte November 1944 war Berger durch einen Bombenangriff verletzt worden 112 und auf ärztliche Anordnung für mehrere Tage in Erholung gefahren. Hitler kehrte am 20. November 1944 endgültig aus Ostpreußen nach Berlin zurück. Im Dezember 1944 richtete er im Rahmen der »Westoffensive« sein Hauptquartier »Adlerhorst« in der Nähe von Bad Nauheim ein, wo er am 10. Dezember eintraf. Er besprach dort die Angriffspläne und kehrte am 15. Januar in die Reichshauptstadt zurück. Für diese Wochen zwischen dem 20. November 1944 und dem 15. Januar 1945, in der die entscheidende Fürsprache hätte erfolgen müssen, Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 99 107 RBA, 13/ 84, Bericht: »Bei der Rückkehr [von der Ostfront, J.S.] überhäufte mich Hitler mit Gunstbeweisen. Die angebotene Dotation, wie es damals üblich war, lehnte ich ab. Ich meldete mich zum Vortrag, wurde sofort angenommen und bat ihn anstelle der Dotation mir diese Männer freizugeben.« 108 In seinen Verhören äußerte sich Berger über die Gründe: »In know more about the whole show than you suspect because I visited Hitler so frequently. It was only in September that I came into close contact with him, when he was already in the soup because of that revolte in Slovakia. […] Then I had to see the Führer in January, February and March concerning PW organization; there was a clash every time.« Vernehmung Bergers, 13. Juni 1945, NA, RG 319, IRR, NND 846030. 109 Vgl. zu Bergers Fabulierkunst und Unzuverlässigkeit Fleming, Gerald, Die Herkunft des »Bernadotte-Briefs« an Himmler, 10. März 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 26 (1978), S. 571-600, bes. S. 578 und 597. 110 RBA 13/ 84, Bericht. Vgl. Scholtyseck (wie Anm. 100), S. 114. 111 Trevor-Roper (wie Anm. 78), S. 83, Anm. 1. 112 Diese Angaben schwanken. In einem Vernehmungsbericht gab Berger an, am 5. oder 8. Oktober 1944 verschüttet und danach 16 Tage dienstunfähig gewesen zu sein. Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 30. Oktober 1947. <?page no="101"?> finden sich trotz recht guter quellenmäßiger Überlieferung keine Hinweise auf ein Zusammentreffen Hitlers mit Berger. Nach der Rückkehr des »Führers« in die Reichshauptstadt wäre es für eine Intervention schon zu spät gewesen, da die Prozesse bereits verhandelt worden waren. 4. Berger gehörte keineswegs zu Hitlers Entourage. Er hatte zwar nach seinem slowakischen Erfolg beim »Führer« einen guten Stand, aber es ist doch höchst unwahrscheinlich, daß er in einer derart sensiblen Angelegenheit wie der Verschwörung gewagt hätte, einen Vorstoß vorzunehmen, wie er ihn später ausführlich beschrieben hat. Berger war ein Meister der Intrige; für eine Vorsprache beim »Führer« wäre dagegen Zivilcourage notwendig gewesen, an der es Berger ermangelte. Bedenkt man die durch kalte Wut geprägte Haltung Hitlers gegen die Verschwörer, so erscheint die Intervention noch unplausibler. 5. In seinen frühen Verhören und bei seiner Verhandlung vor dem Nürnberger Gericht verwies Berger zwar mitunter auf seine Hilfe für die Angeklagten, von einer direkten Fürsprache bei Hitler selbst war jedoch nicht die Rede. Im Laufe der Jahre wurden seine Aussagen über seine Hilfeleistung freilich immer elaborierter. Sein angebliches Gespräch mit Hitler bildete die Krone der Ausschmückungen. Da eine direkte Intervention Bergers bei Hitler nicht nachweisbar und nach dem zuvor Gesagten auch wenig wahrscheinlich ist, wirken andere Szenarien plausibler: Berger konnte durchaus seine weitreichenden Verbindungen in Berlin nutzen, um die Behandlung und das Urteil Fischers zu beeinflussen. Möglicherweise erfolgte die Fürsprache über Himmler, von dem er glaubte, dieser sei schon im Vorfeld des 20. Juli 1944 über die Attentatsplanungen »orientiert gewesen«. 113 In einem ganz ähnlich gelagerten Fall gelang es dem finnischen Leibarzt Himmlers, für den im Zuge der Vergeltung für den 20. Juli vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Theodor Steltzer vermittelnd einzugreifen. 114 Wenn Himmler nicht eingeschaltet wurde, könnten andere Mittelsmänner herangezogen worden sein. Unter Umständen begab sich Berger direkt zu Freisler, um sich für Fischer zu verwenden. 115 Joachim Scholtyseck 100 113 Zeugenaussage Bergers, National Archives Microfilm Publication M-897, Ministries Case, frame 1073. Vgl. hierzu auch Hoffmann, Peter, Widerstand - Staatsstreich - Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler. 4. Aufl. München, Zürich 1985, S. 466 f. 114 Ende Januar 1945, wenige Tage vor der geplanten Hinrichtung, erwirkte Himmler tatsächlich die Aufhebung des Todesurteils. Ein wenig später erfolgendes Drängen des finnischen Medizinalrats Kersten, eines Vertrauten Himmlers, auf Freilassung Steltzers akzeptierte Himmler mit der Bemerkung, »einer mehr oder weniger spiele schließlich keine so große Rolle.« Kersten (wie Anm. 5), S. 288. Vgl. Steltzer, Theodor, Sechzig Jahre Zeitgenosse, München 1966, S. 172 f. 115 »Als der Name Gottlob Berger fiel, meinte der Offizialverteidiger, der könne zweifellos helfen. Er brauche gar nicht selbst zu Freisler gehen, es genüge, wenn er nur jemanden aus seinem Büro zu Freisler schicke mit dem Bemerken, Baurat Fischer sei bei der SS gut empfohlen. Damit sei bei Freisler die Glaubwürdigkeit Albrecht Fischers besiegelt und infolgedessen ein Freispruch gesichert. Walz begab sich daraufhin sofort zu Berger. Dieser habe denn auch dem dringend ausgesprochenen Wunsch von Hans Walz nachgegeben und sich für Albrecht Fischer bei Freisler verwendet« Fischer (wie Anm. 101), S. 151 f. Vgl. das umfangreiche Manuskript von Hans Walz »20. Juli 1944«, das sich mit dieser Version deckt: RBA 13/ 127. <?page no="102"?> Licht ins Dunkel dieser Vorgänge wird sich wohl nicht mehr bringen lassen. Nach quellenkritischer Abwägung kann man jedoch feststellen: Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit intervenierte Berger für Angeklagte des »20. Juli«. Möglicherweise erfolgte diese Fürsprache über Himmler, eventuell auch über den Präsidenten des Volksgerichtshofs Freisler selbst. Unplausibel dagegen ist die von Berger später vertretene Behauptung, er habe den Gnadenerweis bei Hitler persönlich erbeten und durchgesetzt. Über die Motive Bergers läßt sich nur spekulieren. Als Schwabe in Preußen verband ihn ein besonderes Verhältnis zu seinen angeklagten Landsleuten. Darüber hinaus glaubte er sich, seinem Treueverständnis entsprechend, den Mitarbeitern Robert Boschs verpflichtet. Und nicht zuletzt wird man in Rechnung stellen müssen, daß Berger an »die Zeit danach« dachte und sich spätere Fürsprecher in den kommenden schwierigen Zeiten sichern wollte. Wie wichtig ihm diese Vorsorge war, zeigen seine Aktionen in der Weihnachtszeit des Jahres 1944. Himmlers Leibarzt Kersten, nicht nur während der Jahre des »Dritten Reiches« eine ausgesprochen schillernde Persönlichkeit, stand in finanziellen Verhandlungen über den Plan, Juden gegen Beträge zwischen 50.- und 500.- Schweizer Franken in die Schweiz ausreisen zu lassen. 116 Himmler versuchte inzwischen verzweifelt, durch derartige Freigiebigkeiten und Manöver seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Berger, der in diesen Wochen in die Versuche der SS involviert war, im Untergrundkrieg der Geheimdienste eine vorteilhafte Position zu erlangen, 117 zeigte sich auch über diese zwielichtigen Transaktionen informiert. Zur gleichen Zeit wurde Berger in einen Vorgang verwickelt, der für ihn schwerwiegende Folgen haben sollte. In Frankreich war ein kriegsgefangener deutscher General an Partisanen ausgeliefert und ermordet worden. Hitler, der davon erfahren hatte, forderte umgehend eine Racheaktion mit gleichen Mitteln: Ein französischer General, so lautete der Befehl, sollte das gleiche Schicksal erleiden. Die Befehlskette zur Planung und Ausführung dieses Führerbefehls läßt sich nicht mehr exakt rekonstruieren, der französische General Mesny wurde jedoch am 19. Januar 1945 »auftragsgemäß« liquidiert. Die betroffenen Behörden - Auswärtiges Amt, Bergers Amt als Aufsicht des Kriegsgefangenenwesens, Wehrmacht und RSHA - hatten versucht, sich gegenseitig mit Blick auf die Durchführung des schrecklichen Plans den »schwarzen Peter« zuzuschieben. Berger hörte Anfang November 1944 von Hitlers Befehl und versuchte Mitte Dezember Himmler auf den »Fall Mesny« anzusprechen. Dieser war ausgesprochen nervös. Er fürchtete, von Hitler aufs süddeutsche Abstellgleis geschoben zu sein, und hoffte, durch Berger, der das Kriegsgefangenenwesen beaufsichtigte, »gute Taten« für eine Zeit nach Hitler vorweisen zu können. Ein Gespräch mit Himmler am 12. Dezember verlief entspre- Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 101 116 Kersten (wie Anm. 5), S. 245 und 277 (Faksimile eines Briefes Kerstens an Himmler, 21. Dezember 1944). 117 Vgl. Vernehmung Bergers, 13. Juni 1945, NA, RG 319, IRR, NND 846030. <?page no="103"?> chend unerfreulich: Himmler war bemüht, seine »Friedensfühler« nach Schweden weiter auszustrecken. Berger ging es vornehmlich darum, sich durch möglichst gute Taten im Kriegsgefangenenwesen den zukünftigen alliierten Siegern als gewissenhafter Offizier zu präsentieren. Er kehrte nach Berlin zurück und erfuhr kurz vor Weihnachten von Himmler, der »Fall« werde sich friedlich regeln. Als Berger nach seinem Weihnachtsurlaub Anfang Januar 1945 zurückkam, schien die Strafaktion im Sande verlaufen zu sein. Wenige Tage später ließ Hitler jedoch auf Umsetzung des Führerbefehls drängen. Berger konnte nach eigenen Angaben nicht mehr eingreifen, weil er in diesen ersten Tagen des Jahres für die Organisation des Volkssturms in Thüringen umherreiste und erst Ende Januar wieder in Kontakt mit Berlin kam. Bergers Versuch, sich hinter den gegenläufigen Befehlsstrukturen des sich langsam auflösenden Reiches zu verstecken, war wohlkalkuliert und effektiv: Der Beauftragte für das Kriegsgefangenenwesen, der dafür verantwortlich war, daß ein französischer Offizier kaltblütig gegen jegliche völkerrechtliche Bestimmung ermordet wurde, entzog sich im entscheidenden Augenblick durch Abwesenheit der Verantwortung. Angesichts der immer bedrohlicheren Lage versuchte sich Berger zu Beginn des Jahres 1945 erneut zu profilieren: Am 8. Januar legte er Himmler einen ebenso detaillierten wie umfangreichen Plan zur Reorganisation seines »Hauptamtes« vor. 118 Es ist kaum anzunehmen, daß Berger angesichts des Vormarsches der Alliierten zu diesem Zeitpunkt seinen Maßnahmen noch irgendeinen praktischen Wert beimaß. Die drohende Niederlage vor Augen, ging es ihm darum, den eigenen Kopf zu retten und nebenher einen sowjetischen Sieg zu verhindern. Ausführlich erläuterte er später den amerikanischen Offizieren seine Aktivitäten während der letzten Monate des Dritten Reiches: »When I saw that everything was lost, I supported all attempts to swing a deal in the West.« 119 Im Januar 1945 beendete Berger auf eigenen Wunsch seine Arbeit als Leiter des Führungsstabes Politik in Rosenbergs Ostministerium und arbeitete von da an nur noch als Verbindungsmann zwischen Himmler und Rosenberg. Die scharfen Vorwürfe Rosenbergs gegen die SS waren ihm seit jeher ein Dorn im Auge gewesen. 120 Goebbels stellte noch am 8. Februar 1945 nach einem Gespräch mit Berger fest, dieser sei »ein kluger und energischer Kopf«, der sich »immer für meine Gedanken und Thesen der Kriegsführung wärmstens eingesetzt« habe. Im Gespräch mit Goebbels war Berger nun allerdings der Ansicht, man habe »in vielen Dingen zu lange zugewartet« und müsse »jetzt dafür die Zeche zahlen«. 121 Joachim Scholtyseck 102 118 Berger an Himmler, 8. Januar 1945, TWC, Bd. 13, 1, S. 379 f. 119 Vernehmung Bergers, 5. Juni 1945, NA, RG 319, IRR, NND 846030. 120 Rosenberg an Berger, 20. Januar 1945, BA, Abt. III (BDC), PK Gottlob Berger; vgl. TWC, Bd. 13,1, S. 382 f. 121 Vgl. Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II. Diktate 1941 - 1945, Bd. 15, Januar - April 1945, München u.a. 1995, S. 334. Eintrag vom 8. Februar 1945. <?page no="104"?> Im März und April 1945 erfüllte Berger, der inzwischen engen Kontakt zum Führerbunker in Berlin hielt, noch zwei Spezialaufgaben. Er mußte Kriegsgefangene aus Pommern Richtung Westen zurückführen und die französische SS-Division Charlemagne aus Kolberg entsetzen. 122 In Berlin kam es in dieser Zeit zu zwei dramatisch verlaufenden persönlichen Zusammentreffen Hitlers mit Berger. 123 Über den Hergang dieser Gespräche lassen sich kaum genaue Angaben machen; Bergers ohnehin nur mit großem Vorbehalt zu benutzende Angaben sind in sich widersprüchlich; aber ohne jeden Zweifel machten Goebbels und Hitler Berger im ersten Gespräch Vorwürfe, daß dieser die »Kriegsgefangenenfrage« nicht »energisch« betreibe. Im zweiten Gespräch - Ende März oder Anfang April 1945 - , das sich im Kern auf einen Vortrag im Führerbunker während einer Lagebesprechung beschränkte, blieb es bei kurzen Bemerkungen Hitlers zu Fragen der Kriegsgefangenenüberführung Richtung Westen. 124 Trotz aller gegen ihn erhobenen Vorwürfe blieb Berger bis weit in den April hinein in der engeren Umgebung des »Führers«. Noch am 19. April 1945 wurde er mit einer weiteren Sondermission betraut: Er erhielt die militärische Vollmacht für den Bereich Bayern. 125 Vor Antritt dieses Amtes kam es am Abend des 22. April zu einem gespenstischen letzten Zusammentreffen mit Hitler im »Führerbunker«. Er wollte Berlin nicht ohne ausdrücklichen Führerbefehl verlassen, um nicht den Anschein zu erwecken, die Flucht angetreten zu haben. Recht glaubwürdig schilderte er später die letzte »Konferenz« mit dem körperlich und geistig am Ende seiner Kräfte angelangten »Führer«, der dem Eindruck Bergers nach ein »gebrochener Mann« war. 126 Berger bestärkte Hitler in dessen Entschlossenheit, in Berlin auszuharren. Noch in der Nacht verließ er selbst die dem russischen Kanonenfeuer ausgesetzte Hauptstadt und flog Richtung Süddeutschland. 127 Bergers bayerischer Phantomposten in der Nähe von Bad Tölz nützte ihm allerdings nichts mehr. Ihm unterstanden nun jedoch die prominenten Kriegsgefangenen, die als Geiseln im schrumpfenden Reich in den Vorwochen in Bayern zusammengezogen worden waren. Ob Hitler tatsächlich seinem Chef des Kriegsgefangenenwesens bei ihrem letzten Zusammentreffen befohlen hatte, diese erschießen zu lassen 128 oder ob Berger diese Version lediglich lancierte, um sich mit der späteren Nichtausführung dieses Plans einen weiteren Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 103 122 Vgl. TWC, Bd. 13,1, S. 473. 123 Vgl. Kübler, Robert (Hrsg.), Chef KGW. Das Kriegsgefangenenwesen unter Gottlob Berger, Lindhorst 1984, S. 25. 124 Vgl. »Autobiographischer Bericht«, in: Kübler (wie Anm. 123), S. 41- 43. 125 Vgl. IMT, Bd. 11, S. 331 f. 126 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 2. Mai 1947. 127 Vernehmung Bergers, 5. Juni 1945, NA, RG 319, IRR, NND 846030. Vgl. auch Trevor-Roper (wie Anm. 78), S. 113. 128 Trevor-Roper (wie Anm. 78), S. 112 f. <?page no="105"?> Nachweis seiner moralischen Integrität zu liefern, muß ungewiß bleiben. Berger hätte einen entsprechenden Befehl wohl nicht mehr ausgeführt. Die Befehle, ständig weitere Kriegsgefangene in das schrumpfende Restreich zu führen, erschienen ihm als unsinnig. Berger empfand sie, wie er rückblickend bemerkte, als »durch nichts mehr zu überbietender, vollendeter Wahnsinn«. 129 Ihm ging es nun darum, seine eigene Haut im untergehenden Reich zu retten. Das Kriegsende und die drohende Bestrafung öffneten ihm zumindest in dieser Hinsicht die Augen. Obwohl Kritiker argwöhnten, Berger wolle sich noch zum Chef der SS aufspielen, war dieser tatsächlich resigniert. 130 Schon während des Krieges hatte er in intimer Runde geäußert: »Genießet den Krieg. Der Friede wird furchtbar.« 131 Die Agonie des Reiches erlebte er auf der Flucht. Sein Versuch, sich auf einer der Jagden Robert Boschs im Tannheimer Tal der Gefangennahme zu entziehen, scheiterte. Er wurde bald entdeckt und am 8. Mai 1945 von einem französischen Kommando verhaftet. 132 Von den amerikanischen Militärbehörden wurde er bereits gesucht: Er stand auf der »List of Potential War Criminals under Proposed US Policy Directives«. 133 Seine Verhaftung war der entscheidende Schnitt- und Wendepunkt in Bergers Leben. Nach dem Aufstieg im Dickicht der Kompetenzrangeleien des NS-Staates folgte der unaufhaltsame Abstieg. Berger, der sich im Ambiente der Militärbürokratie zu Hause gefühlt hatte 134 , sah sich in einem demokratischen Umfeld ganz auf sich allein gestellt. Es mußte ihm klar sein, daß er als hoher General der Waffen-SS sich den alliierten Behörden gegenüber zu rechtfertigen hatte. Nach seiner Gefangennahme folgte zunächst eine Odyssee durch verschiedene Gefängnisse. Einen Monat lang war er in Augsburg inhaftiert. Von Anfang Juni 1945 bis Anfang September 1945 war er in verschiedenen englischen Gefangenen- und Vernehmungslagern untergebracht. Hier fanden die meisten Vernehmungen durch den britischen »Secret Service« statt. Die weiteren Aufenthaltsorte waren lediglich Durchgangsstationen auf dem Weg ins Nürnberger Militärgefängnis: Lager Dachau, Landesstrafanstalt Stadelheim, Vernehmungslager Oberursel, Generalslager Allendorf und wieder Lager Dachau. Von Ende November 1946 bis Mai 1951 war Berger im Nürnberger Gerichtsgefängnis in Einzelhaft untergebracht und wurde dort in Joachim Scholtyseck 104 129 »Autobiographischer Bericht«, in: Kübler (wie Anm. 123), S. 45. 130 Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 1. November 1947. Vgl. NA, RG 319, IRR, NND 846030. 131 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 5. 132 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 5. Vgl. den Bericht Bergers über seine eigene Kriegsgefangenschaft: Kübler (wie Anm. 123), S. 196-198. Hiernach wurde er in Berchtesgaden festgenommen. 133 Berger fand sich in der Kategorie »responsibility of central policy-making organs« (»List of Potential War Criminals under Proposed US Policy Directives«, 30. September 1944, NA Microfilm Publication M-1221: R&A 2577.2). 134 Rempel (wie Anm. 1), S. 117. <?page no="106"?> zahlreichen Verhören vernommen, in denen er sich als ebenso unbelehrbar wie mißverstanden zeigte. 135 Recht schnell waren sich die amerikanischen Behörden angesichts des zusammengetragenen Aktenmaterials einig, daß Berger zur Nazi-Elite gehört hatte und vor einem der unter amerikanischer Regie geplanten sogenannten »Nachfolgetribunale« angeklagt werden sollte. Berger war einer der zwölf Angeklagten im »Wilhelmstraßenprozeß«, des elften von zwölf Prozessen unter amerikanischer Federführung. Er befand sich in illustrer Gesellschaft: Hier hatten sich vornehmlich Beamte des Auswärtigen Amtes und hohe Parteifunktionäre zu verantworten. In Nürnberg wurde Berger im November 1947 mit einer Anklageschrift konfrontiert, die die Todesstrafe oder zumindest lebenslängliche Haft erwarten ließ. Berger tat sich während des eineinhalbjährigen Prozesses schwer. Nun rächte es sich, daß er sich in der Zeit des Hitlerregimes mehr Feinde als Freunde gemacht hatte. Von einem ehemaligen Mitarbeiter im Ostministerium, Dr. Georg Leibbrandt, wurde er besonders schwer belastet. Berger sei als Verbindungsmann Himmlers mit den Angelegenheiten der SS und Polizei betraut gewesen und sei deshalb auch mit »Judenangelegenheiten« befaßt gewesen: »Wenn ich mal etwas in der Judenfrage gesagt habe und darauf hingewiesen habe, daß die Methoden unmöglich sind, sagte er: ›Das geht Sie nichts an‹.« 136 Berger wurde durch den Chefankläger Robert Kempner persönlich scharf vernommen. Dieser machte sogleich klar, daß er keine Unterhaltungen im Plauderton zu führen bereit war: » Ich bin Herr Kempner. Mir kann niemand etwas erzählen. Ich weiß das alles ganz genau.« Im Rahmen dieses Verhörs, das sicherlich zu einem der schärfsten unter den unzähligen Vernehmungen Bergers zählte, kam es bisweilen zu grotesken Diskussionen. 137 Reue zeigte Berger kaum. Die SS war für ihn immer noch die »Elite der deutschen Nation«. Der vom Rechtsanwalt Dr. Georg Froeschmann verteidigte Angeklagte wich nicht von seiner soldatischen Auffassung ab, daß man der Waffen-SS keine Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 105 135 Vgl. etwa seine Beschwerde: »Ich bin 15 Monate in Einzelhaft, ich gehöre zu den kriminellen Fällen. [...] Ich habe in jeder Form mein Leben eingesetzt und ich glaubte nicht an einen verlorenen Krieg, denn ich konnte es nicht glauben, daß die höheren und höchsten Führer mit einem Schindluder trieben. Es verdanken mir zehntausende von Menschen, ich will nicht sagen das Leben, so doch die Gesundheit. [...] Aber es gibt keinen SS-Offizier, der so schamlos wie ich behandelt wurde, auch körperlich. Ich sage das nicht nur, um Eindruck zu schinden, aber ich möchte dies nur einmal erwähnen.« Records of the United States Nürnberg War Crimes Trials Interrogations, 1946 - 1949, NA, RG 238, M-1019, Roll 6. Office of U. S. Chief of Counsel for War Crimes; Evidence Division, Interrogation Branch. Vernehmung Bergers, 2. Mai 1947. 136 Ebd., Roll 41. Vernehmung von Dr. Georg Leibbrandt, 23. September 1947. 137 Ebd., Roll 6: »Fr.[Kempner]: Was würden Sie zu folgender Feststellung von mir sagen: Äußern Sie sich darüber ganz offen. Der Adolf Hitler hat ebenso viele Deutsche getötet wie Juden. A. [Berger]: Mehr. Fr.: Es waren 6 Millionen Juden. A.: Glaube ich nicht. Fr.: Vielleicht 5 Millionen. A.: Drei bis dreieinhalb Millionen werden es sein.« (Vernehmung Bergers, 30. September 1947). <?page no="107"?> Greueltaten zur Last legen könne; im Grunde genommen, so sagte er vor Gericht aus, seien die Verbrechen ein Werk Weniger gewesen - Ausnahmen im notwendigen Kampf gegen den Bolschewismus. Die Waffen-SS habe die Freiheit Europas im Osten verteidigt und durch die germanischen Legionen den Gedanken der »Einheit Europas« verwirklichen wollen; Aussagen, die er in seinem Schlußwort im November 1948 nochmals betonte. 138 Berger nahm die komplizierte Kompetenzenverteilung als Vorwand, um auf die eigene vermeintliche Unschuld und Tugendhaftigkeit zu verweisen. Stets waren es andere, die Schuld auf sich geladen hatten. Berger, der in seiner Uneinsichtigkeit als ein typischer Exponent des Verdrängens gelten darf, hatte schon während seiner Gefangenschaft beharrlich die eigene makellose Vergangenheit in der Zeit nach 1933 behauptet. Zwar gab er an, von den Plänen zur Liquidierung von Juden nichts gewußt zu haben, ließ aber zumindest im Kreuzverhör kurz die Deckung fallen: »Es ist ja beinahe unmöglich, ich halte es für ausgeschlossen, daß man jemanden überzeugen kann, daß man von diesen Dingen nichts gewußt hat. Man muß das, wie viele andere Dinge in der Geschichte, einfach einer späteren Zeit überlassen. Dagegen wehre ich mich aber, daß Leute, die selbst an diesen Dingen beteiligt waren, die wirklich etwas davon wußten, nun aus ihrer Angst, an Polen ausgeliefert zu werden, als Kronzeugen auftreten und daß man nun eben diesen Leuten glaubt, wie das hier gemacht wird.« 139 Die Unfähigkeit, die selbst angeordneten Untaten als solche zu erkennen und ein Schuldeingeständnis abzugeben, trug dazu bei, daß die amerikanischen Richter ihn für schuldig befanden. Am 13. April 1949 wurde er zu einer Haftstrafe von 25 Jahren verurteilt. Berger akzeptierte diesen Schuldspruch nicht. Im Mai 1949 - er war inzwischen ins sogenannte Kriegsverbrecher-Gefängnis nach Landsberg gebracht worden - wies er auf angeblich nicht genügend beachtetes Beweismaterial hin; nach eingehender Prüfung wies das Gericht diese Eingabe am 12. Dezember 1949 als unbegründet zurück. 140 Seine Haftstrafe mußte er freilich nicht lange verbüßen.Wie viele andere deutsche Kriegsverbrecher legte er schon bald ein Gnadengesuch vor. Im sogenannten »Clemency«-Verfahren sprach der amerikanische Hohe Kommissar John McCloy am 31. Januar 1951 eine Haftminderung auf zehn Jahre aus. 141 Die Beschuldigungen in Zusammenhang mit der »Heu-Aktion« und Dirlewanger wurden aufrecht erhalten, Joachim Scholtyseck 106 138 Aussagen während des »Wilhelmstraßenprozesses«: TWC, Bd. 13,1, S. 467 f. und während seines Schlußwortes, ebd., Bd. 14,1, S. 286-291. 139 Zeugenaussage Bergers, NA Microfilm Publication M-897, Ministries Case, frame 1074. Später, als Zeuge in Kriegsverbrecherprozessen, zeigte er sich weniger offen. Beharrlich stritt er alle Kenntnisse über Greueltaten ab oder bezeichnete sie als »Einzelfälle«. ZSt LB, 208 AR-Z 28/ 62, Vernehmung Bergers, 15. Oktober 1964. 140 TWC, Bd. 14,2, S. 984-988. 141 TWC, Bd. 14,2, S. 1002-1004. Vgl. Schwartz, Thomas Alan, Die Begnadigung deutscher Kriegsverbrecher. John J. McCloy und die Häftlinge von Landsberg, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 38 (1990), S. 375 - 414, hier S. 413. <?page no="108"?> aber hinsichtlich der Ermordung Mesnys und des Schutzes der Kriegsgefangenen sah McCloy Grund für eine Strafverkürzung. 142 Von der amerikanischen Politik der »Gnadenerweise« profitierte Berger ein weiteres Mal: Am 15. Dezember 1951 wurde er aus der Landsberger Haft entlassen. Die amerikanischen Sicherheitsbehörden verfolgten diese fragwürdige politische Entscheidung mit gemischten Gefühlen: Berger wurde in einer Anweisung vom 27. Dezember 1951 zu denjenigen gezählt, die »potential security risks upon their release from prison« aufwarfen und deshalb eine weitere Beobachtung erforderlich machten: »I[ntelligence] D[ivision] requires periodic coverage of their activities.« 143 Bergers Leben nach seiner Entlassung entsprach in vielfacher Hinsicht der Feststellung von Karl Marx, daß sich alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen wiederholen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. 144 Die Existenz des ehemaligen SS-Offiziers, der so hochfliegende Pläne eines Großgermanischen Reiches im »Dritten Reich« gehabt hatte, war in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit ein ebenso mühsamer wie nüchterner Abklatsch seiner Zeit als »Großkopferter« im Deutschland Hitlers. Die Firma Bosch wollte sich für den Schutz, den Berger gewährt hatte, erkenntlich zeigen. Für die nun mit der »Betreuung« Bergers beauftragten Mitarbeiter stellte sich die Frage: »Was tun wir mit dem angeschlagenen, mittellosen Mann, dessen Vermögen beschlagnahmt war und der selbst nicht weiterwußte? « 145 Seine Entlassung aus der Landsberger Haft bedeutete zunächst noch keine endgültige Freiheit: Auch Berger brauchte für die deutsche Entnazifizierung »Persilscheine«, um die sich sein Verteidiger schon vor dem bevorstehenden Haftende bemühte. Recht typisch war daher das Schreiben, das die Berger viel zu verdankende Firma Bosch über ihr Privatsekretariat an einen möglichen Fürsprecher sandte: »Auch Herr Berger muß natürlich entnazifiziert werden. Das Verfahren haben wir für ihn in der französischen Zone Württembergs vorbereitet, wo es bedeutend einfacher sei als in der US-Zone. Herr Berger muß ebenfalls eine größere Zahl von Entlastungserklärungen beibringen. Wären Sie bereit, für ihn ein solches Zeugnis auszustellen? Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie im Wilhelmstraßenprozeß auch schon ein Affidavit für ihn abgegeben. Es würde genügen, wenn Sie die Erklärung für die Entnazifizierung in ähnlichem Sinn formulieren.« 146 . Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 107 142 »The judgement shows without contradiction that this prisoner is culpably responsible for much that was illegal and inhumane in the Nazi program and his close association with Himmler is a serious indictment in itself. However, I feel compelled to eliminate entirely from the consideration of the weight of his sentence any participation in the Mesny murder and to give perhaps somewhat greater weight than did the Court to certain humane manifestations towards prisoners which at least in one period of his career he displayed.« TWC, Bd. 14,2, S. 1004. 143 NA, RG 319, IRR, NND 846030. 144 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Leipzig 1982, S. 15. 145 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 6. 146 Olpp an Mauk, 27. November 1951, RBA 14/ 91. Der angeschriebene Mauk antwortete schon wenig später in gewünschtem Sinn: Er könne Bergers »Eintreten für die Belange der Familie Bosch« <?page no="109"?> Die Rückkehr in seinen Geburtsort Gerstetten war ein Spießrutenlaufen, denn dort wurde er »gemieden wie die Pest.« 147 Zunächst versuchten Bergers Betreuer, diesen im eigenen Unternehmen zu beschäftigen. Dies gelang nicht, weil Berger sich nicht in die untergeordnete Rolle im Nachkriegsdeutschland einordnen wollte. Zu sehr fühlte er sich als ein »Herrenmensch« des vergangenen »Dritten Reiches«. Bei Bosch verfiel man auf die Idee, Berger als Gebäude- und Maschinenverwalter bei den Stuttgarter Zeitungen einzusetzen, an denen man nach dem Krieg wieder beteiligt war. Berger fand sich auch hier nicht zurecht, weil er, nach seiner Karriere bei der Waffen-SS durchaus nachvollziehbar, »den Herrn Direktor« spielte und versuchte, das Personal mit nationalsozialistischer Propaganda zu gewinnen. Berger war im Stuttgarter »Zeitungsturm« unhaltbar: Seine Betreuer von Bosch mußten sich eingestehen, daß der schwierige Schützling »unverbesserlich« war. 148 Danach gelang es Berger, in Musberg im Kreis Böblingen in untergeordneter Funktion in der Vorhangschienenfabrik MHZ zu arbeiten. Offensichtlich hatte sich ein Mitarbeiter, den er in Berlin vor »Parteistellen« protegiert hatte, für seine Einstellung bei MHZ stark gemacht. 149 Seit Juli 1953 arbeitete er so in ungewohnt niedriger Position, was ihm offensichtlich nicht behagte. Sarkastisch schrieb er einem Kriegskameraden: »Wir haben es herrlich weit gebracht und es ist eine Lust zu leben! « 150 Seine Kontakte zu den Freunden aus besseren Tagen mochte er nicht aufgeben. So schrieb er rückblickend über den »Ausbau der Waffen-SS« in einer Veröffentlichung aus dem rechtsradikalen Dunstkreis. 151 Es war deshalb wenig verwunderlich, daß die amerikanischen Militärbehörden Berger weiter sorgsam beobachteten. Eine Ägyptenreise im Juni 1954 gab zu der Spekulation Anlaß, Berger sei auf dem afrikanischen Kontinent mit seinem Freund Dirlewanger zusammengetroffen - sicherlich eine Falschinformation, da Dirlewanger mit großer Wahrscheinlichkeit bereits 1945 umgekommen war. 152 Joachim Scholtyseck 108 bestätigen. Er werde gerne entsprechende Erklärungen für die Entnazifizierung bereitstellen (Mauk an Olpp, 2. Dezember 1951). 147 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 7. 148 RBA, Manuskript Olpp, 1994, S. 10 f. Durch die vom amerikanischen Militär durchgeführte Observierung gerieten die US-Behörden in den Besitz eines Briefes, den Berger an einen seiner Kriegskameraden geschickt hatte, der ihn - vergeblich - um die Vermittlung einer Arbeitsstelle gebeten hatte. Bitter teilte Berger mit, »daß ich seit Mai bei Bosch ausgeschieden bin, sofern man von ausscheiden sprechen kann bei einem, der noch gar nicht richtig angestellt war.« Berger an Teich, 2. September 1953, NA, RG 319, IRR, NND 846030. 149 Die Informationen über Bergers Jahre bei MHZ verdanke ich der freundlichen Mitteilung von Herrn Walter Felbinger (MHZ Hachtel GmbH & Co.), 29. März 1995. 150 Berger an Teich, 2. September 1953, NA, RG 319, IRR, NND 846030. 151 »Zum Ausbau der Waffen-SS«, in: Nation Europa 3 (1953), H. 4, S. 55 f. 152 »It is alleged that Berger and Dirlewanger have always been good friends. Close friends of Berger class Berger as an opportunist.« NA, RG 319, IRR, NND 846030; Bericht, 3. Januar 1956. Bereits vor diesem Zeitpunkt muß sich Berger - wahrscheinlich 1953 - einmal im Nahen Osten aufgehalten haben. Vgl. den bei Taege (wie Anm. 58), S. 144 im Faksimile abgedruckten Brief: Kersten an Berger, 23. Januar 1945. <?page no="110"?> Mitte der 50er Jahre nahm ein US-Agent persönlichen Kontakt mit Berger in seiner Heimat auf und befragte diesen - offenbar ohne Mißtrauen zu wecken - über seine politischen Ansichten. Berger zeigte sich unverbesserlich: »Berger is an ardent German nationalist [...] Berger feels that the present Federal Republic is similar to the Weimar Republic, in that the Communists are handled in a lax manner and allowed to circulate freely. He believes that the KPD [...] should be immediately eliminated.« 153 Da Bergers Vermögen eingezogen worden war, bemühte er sich in den 50er Jahren, zur Sicherung seines Lebensabends eine Pension als Rektor zu erhalten. Dieses Vorhaben scheiterte jedoch, da die Nachforschungen ergaben, daß er freiwillig den Schuldienst verlassen hatte, um der SS beizutreten. Wiederum griff die Firma Bosch helfend ein, gewährte juristischen Beistand, mit deren Hilfe Berger die Pension eines Hauptlehrers, der er im Jahr 1933 gewesen war, einklagte. Daneben zahlte das Unternehmen eine eigene Beihilfe. Zum Jahresende 1964 schied Berger aus Altersgründen bei MHZ aus. Kurz zuvor hatte er von Walz den Auftrag erhalten, gegen eine angemessene Bezahlung seine Lebenserinnerungen 154 niederzuschreiben. Diese zu Beginn der 60er Jahre auf Tonband diktierten »Memoiren« sind ein weiteres beredtes Zeugnis für die Rückwärtsgekehrtheit und Verbitterung eines Nationalsozialisten, der zum Nachdenken über die eigene Verstrickung in das System des Terrors nicht in der Lage war. Die »Unfähigkeit zu trauern« erschien im Gewand wortreichen Lamentierens: »Ich war der festen Überzeugung, daß der Herrgott so viel Einsatz, so viel Tapferkeit, so viel gläubiges Gottvertrauen, so viel Treu belohnen würde und daß wir, wie der Chronist von Friedrich dem Großen schrieb, das behalten durften, was wir hatten. Da ich alle Zeit dem Staat treu gedient, mit Leib und Leben, nie persönliche Vorteile im Auge gehabt, durfte ich annehmen, im Alter keine Sorgen zu haben. Daß es anders gekommen ist, daß dieser Staat 13 Jahre alles versucht hat, um mich zu erledigen und nicht nur mich, sondern auch meine Familie zugrunde zu richten, das ist etwas, was ich nicht verstehen kann. Ein Staat auf solchen Grundlagen kann nicht bestehen.« 155 Es konnte in der Konsequenz für Berger, der sicherlich nicht die Kaltblütigkeit eines Himmler oder Heydrich besaß, sondern eher in einer verblendeten Naivität zum Handlanger eines verbrecherischen Systems geworden war, nach 1945 keine Erlösung geben. So wie er unfähig gewesen war, das Menschenunwürdige des »Dritten Reiches« zu erfassen, so unfähig war er nach dem Krieg, seinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Berger in Gerstetten: Dies war nur noch ein Schatten des ehemaligen »Schwabenherzogs«. Nach dem Tod seiner Frau führte Berger als Rent- Gottlob Berger, SS-Obergruppenführer 109 153 NA, RG 319, IRR, NND 846030; Bericht, 31. Januar 1956. 154 Als Ergebnis dieser Gelegenheitsarbeit sind im Firmenarchiv der Robert Bosch GmbH sechs bisher unbearbeitete Tonbandspulen mit zehn Stunden Laufzeit der »Lebenserinnerungen« Bergers archiviert. 155 Tonbandaufzeichnung Bergers (wie Anm. 102), S. 25. <?page no="111"?> ner, nun gesundheitlich angeschlagen, bis zu seinem Tod die Existenz eines grollenden Ewiggestrigen. Lediglich »alte Kameraden« hielten weiter zu ihm. 156 Ende 1974 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand erheblich. Am Silvestertag wurde er ins Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhaus gebracht, war aber kaum noch ansprechbar. 157 Dort starb der 78jährige am 5. Januar 1975. Bibliographie Quellen Quellenmaterial über Gottlob Berger und Überlieferungen seines bisweilen ausufernden internen Schriftwechsels während seiner Tätigkeit als Chef des »SS-Hauptamtes« finden sich in fast allen deutschen Archiven. Die wichtigsten Bestände sind im Koblenzer Bundesarchiv, im ehemaligen Berlin Document Center, im Zwischenarchiv des Bundesarchivs in Dahlwitz-Hoppegarten und in den amerikanischen National Archives in Washington, D.C. und College Park (Maryland) einzusehen. Von großem Wert sind die veröffentlichten Protokolle der Verhandlungen vor dem Militärtribunal des Nürnberger »Wilhelmstraßenprozesses«, die einen guten Einblick in Bergers Leben vermitteln: Trials of War Criminals before the Nuernberg Military Tribunals under Control Council Law No. 10, Washington D.C. 1952. Im Robert Bosch Archiv (Stuttgart) befindet sich eine mehrstündige Tonbandaufzeichnung Bergers mit »Lebenserinnerungen« aus den frühen 60er Jahren, die bislang nur bruchstückhaft ausgewertet wurde. Wenig ergiebig ist Bergers aus dem Jahr 1944 stammende Skizze »Auf dem Wege zum Germanischen Reich. Drei Aufsätze von Gottlob Berger« (Berlin 1944), die lediglich über seinen ideologischen Fanatismus hinreichend Auskunft geben kann. In vielerlei Hinsicht aufschlußreich ist dagegen die Darstellung aus der Feder Felix Kerstens, Totenkopf und Treue. Kersten traf als enger Vertrauter Himmlers des öfteren mit Berger zusammen und hat einige charakteristische Gespräche mit dem Leiter des »SS-Hauptamtes« aus den Kriegsjahren überliefert. Literatur Erstaunlicherweise ist über Gottlob Berger bislang keine Biographie erschienen. Über seine Tätigkeit als Chef des Rekrutierungsamtes informiert Gerhard Rempel, Gottlob Berger and Waffen-SS Recruitment: 1933 - 1945, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 27 (1980), S. 107-122. Wichtiges Material findet sich auch in Heinz Höhne, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, Hamburg 1966, George H. Stein, Geschichte der Waffen- SS, Düsseldorf 1967 und Bernd Wegner, Hitlers Politische Soldaten: Die Waffen-SS 1933 - 1945. 3. Aufl. Paderborn 1988. Daneben findet Berger immer wieder in Darstellungen über das Herrschaftsgefüge des nationalsozialistischen Staates Erwähnung. Nur zum Quellenstudium geeignet ist die ganz im nationalsozialistischen Sinn argumentierende Darstellung bei Robert Kübler (Hrsg.), Chef KGW: Das Kriegsgefangenenwesen unter Gottlob Berger, Lindhorst 1984. Joachim Scholtyseck 110 156 Vgl. den Nachruf in: Nation Europa 25 (1975), H. 2, S. 47. 157 Vgl. den Bericht in: Kübler (wie Anm. 123), S. 206. <?page no="112"?> * 22. Juli 1899 Ellwangen/ Jagst, ev., Vater: Hermann Cuhorst, Oberstaatsanwalt, Mutter: Maria Henrietta, geb. Schiele, verheiratet seit 10. März 1933 mit Hildegard, geb. Frank, geschieden 20. Dezember 1951, eine Tochter. Vorschule, Mittelschule, Gymnasium in Stuttgart, 1917 - 1919 Kriegsteilnehmer als Leutnant, danach Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen, 1926 - 1930 in diversen Stellungen des württembergischen Justizdienstes, bis 1933 Amtsrichter in Stuttgart, 29. März 1933 Oberregierungsrat, Ende 1934 Senatspräsident am OLG Stuttgart, Stellvertretender Leiter des Justizprüfungsamtes, 1. Oktober 1937 Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart, 19. Januar 1945 Kriegsteilnehmer als Oberleutnant in Norwegen. Während des Studiums in Studentenbataillonen und Freikorps, 1. Dezember 1930 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 376.214), seit 1931 Kreisredner, 1933 Gauredner und Mitglied des BNSdJ, 1. Januar 1934 förderndes Mitglied der SS. Oktober 1945 Kriegsgefangenschaft, 23. November 1946 - 3. Dezember 1947 Haft und Anklage im Nürnberger »Juristenprozeß«, 4. Dezember 1947 Freispruch »aus Mangel an Beweisen«, 9. Dezember 1947 erneute Verhaftung, 24. November 1948 Entscheidung der Spruchkammer Ludwigsburg: »Hauptschuldiger«, 14. Juli 1949 zweite Entscheidung der Spruchkammer Ludwigsburg: »Hauptschuldiger«, sechs Jahre Arbeitslager, 20. Dezember 1950 vorzeitige Entlassung, ohne dauernde Beschäftigung in Stuttgart und Kressbronn, 1951 - 1968 erfolglose Gnadengesuche um Rehabilitierung als Beamter, 1957 - 1965 verlorene Prozesse um Pensionsbezüge, bis 1988 Anzeigen wegen seiner Urteile als Sondergerichtsvorsitzender, gest. 5. August 1991 Stuttgart. Rechtsprechung im nationalsozialistischen Geist Hermann Albert Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart Stefan Baur Hermann Albert Cuhorst 111 <?page no="113"?> Daß die Justiz des »Dritten Reiches« von 1933 an schnell und, trotz der justizfeindlichen Tendenzen im Nationalsozialismus, im wesentlichen reibungslos zu einem willfährigen Machtinstrument des Regimes umgestaltet wurde, wird in der jüngeren rechtsgeschichtlichen Literatur immer wieder betont. 1 Nicht zuletzt die republikfeindliche Haltung eines Großteils des Weimarer Justizwesens ermöglichte diesen wenig auffälligen, bis zu einem gewissen Grad den formalen Rahmen wahrenden Umbau; und doch ist es schwierig, die Rolle des Einzelnen im Gesamtsystem der NS-Justiz zu bestimmen. Wenngleich nur wenige Beispiele justitiellen Widerstands im engeren Sinn bekannt sind 2 , bot sich doch eine breite Palette möglicher Verhaltensmuster, vom berüchtigten »Blutrichter« bis hin zum unauffälligen Versuch, Reste von Anstand zu bewahren. 3 Einzeluntersuchungen zeigen, daß etwa das persönliche Gebaren Freislers keineswegs typisch war, und viele Juristen trotz ihrer staatstragenden Haltung nicht als Missionare des Nationalsozialismus aufzutreten wünschten, dennoch aber das NS-Unrecht im Ganzen zuverlässig exekutiert wurde. Ein Beispiel besonderer Art ist in diesem Zusammenhang Hermann Cuhorst. Seine Herkunft und sein Lebenslauf bis zum Ende der 20er Jahre glichen noch der idealtypischen Richterkarriere der Kaiserzeit. Nach 1930 und besonders nach 1933 kam er dann allerdings, sowohl was das äußere Fortkommen als auch seine persönliche Art, insbesondere seine Verhandlungsführung, betrifft, dem Bild des »furchtbaren Juristen« nahe. 4 Er sprach als überzeugter Nationalsozialist Recht, stets und bis zuletzt getragen von politischem Fanatismus. Dennoch spielte dies, wie sich besonders nach 1945 zeigte, in der regimeerhaltenden Funktion seines Richteramtes keine entscheidende Rolle, trotz der im konkreten Einzelfall schlimmen Konsequenzen. Nicht die persönliche Art der Amtsführung war in der Schreckensbilanz des Stuttgarter Sondergerichts letztlich ausschlaggebend, sondern das nationalsozialistische Justizwesen selbst, das rechtsstaatliche Grundsätze rigoros beseitigt hatte und zum durch und durch an der Ideologie orientierten Machtinstrument degeneriert war. Sowohl die Richter der »alten Schule« als auch fanatische Nationalsozialisten wie Cuhorst spielten bezüglich der praktischen Konsequenzen, wie etwa der Strafmaße, keine grundlegend verschiedene Rolle; beide konnten sich später sogar manche Pressionen »von oben« als entlastendes Moment anrechnen. Es bleibt folglich schwierig, den Grad der individuellen Verantwortung zu bestimmen. Selbst Cuhorst, Stefan Baur 112 1 Vgl. z.B. Angermund, Ralph, Deutsche Richterschaft 1919 - 1945, Frankfurt/ Main 1990; Im Namen des Deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung des Bundesminsiters der Justiz, Köln 1989; Müller, Ingo, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987; Reifner, Udo, Juristen im Nationalsozialismus. Kritische Anmerkungen zum Stand der Vergangenheitsbewältigung, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 16 (1983), S. 13 - 19. 2 Vgl. z.B. Im Namen des Deutschen Reiches (wie Anm. 1), S. 300 f. 3 Vgl. z.B. Kißener, Michael, Widerstand und Verfolgung in der Justiz. Richter am Amts- und Landgericht Karlsruhe 1933 - 1945, in: Geschichte in Verantwortung. Festschrift für Hugo Ott zum 65. Geburtstag, hrsg. v. H. Schäfer, Frankfurt/ Main, New York 1996, S. 213 - 237. 4 Zu diesem Terminus vgl. Müller (wie Anm. 1). <?page no="114"?> der die »Bewegung« immer mit ganzer Kraft unterstützt hatte, kam in seiner Funktion und seinem Selbstverständnis als Richter in mancherlei Hinsicht in Konflikt mit dem Regime und konnte sich später manche nichtkonforme Urteile zugute halten. Am Ende war es seine brutale Art und sein allzu deutlich nach außen getragener Fanatismus, die nach 1945 eine relativ harte Bestrafung nach sich zogen, welche trotz intensiver Bemühungen seinerseits nie entscheidend erleichtert wurde. Ist die »Aufarbeitung« der NS-Justizverbrechen in vielerlei Hinsicht kein Ruhmesblatt für die deutsche Nachkriegsdemokratie 5 , bleibt Cuhorst einer der wenigen Fälle, in dem einigermaßen konsequent an der einmal für Recht befundenen Bestrafung festgehalten wurde. Die langwierige Entscheidungsfindung selbst, die sich vom Beginn des Nürnberger Verfahrens bis zum Ende des Gnadenverfahrens über 22 Jahre hinzog, spiegelt in diversen Facetten auch die Schwierigkeiten, manchmal Ungeheuerlichkeiten, der juristischen Beurteilung der NS-Justiz nach 1945 wider. So steht Cuhorsts Lebenslauf exemplarisch dafür, wie ein überzeugter Nationalsozialist sowohl im System selbst aneckte, als auch danach bestraft wurde, und sich dabei zunehmend unschuldig verfolgt wähnte - unberührt von der Einsicht, daß sich die immanente Ungerechtigkeit des Regimes auch gegen Akteure richten konnte, welche es selbst vorangetrieben hatten. Hermann Albert Cuhorst wurde am 22. Juli 1899 als erster von zwei Söhnen des Juristen Hermann Cuhorst und seiner Frau Henriette in Ellwangen (Jagst) geboren. 1903, als der Vater zum Staatsanwalt ernannt wurde, zog die Familie in das prosperierende und rasch wachsende Stuttgart. Dort besuchte Cuhorst, wie sein 1902 geborener Bruder Fritz, Mittelschule und Gymnasium. Sowohl die juristische Ausrichtung als auch die Vorliebe für eine jovial nach außen präsentierte, auf Schwaben gerichtete Heimatverbundenheit, die Cuhorst später nachgesagt wurden, waren traditionell in der alten Familie verwurzelt. 6 Großvater, Onkel und Vater waren im höheren Justizdienst tätig 7 , und auch Cuhorsts große private Passion, der Alpenverein, war bereits das Steckenpferd von Vater und Großvater gewesen. Noch lange nach dem Krieg berief sich Cuhorsts Tochter auf solche bewußt gepflegten Familientraditionen. 8 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 113 5 Vgl. etwa Lichtenstein, Heiner, Viele Chancen wurden vertan: Zur Geschichte der NS-Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland, in: Justiz und Nationalsozialismus, hrsg. v. J. H. Schoeps, H. Hillermann, Stuttgart, Bonn 1987, S. 55 - 70. 6 Zu Cuhorst senior: Nachrufe im »Schwäbischen Merkur«, 20. Februar 1937, »Stuttgarter Neues Tagblatt«, 19. Februar 1937, »NS-Kurier«, 18. Februar 1937, »Schwäbischer Merkur«, 19. Februar 1937; zu Cuhorst junior ferner auch die Charakterisierung in der Beurteilung der Sondergerichts (SG)-Vorsitzendentagung in Cochem 1943, Justizministerium Baden Württemberg (im folgenden JM) RJM-Personalakte Bl. 29. Sein Nürnberger Verteidiger hob in seinem Schlußplädoyer mehrfach auf »württembergisches Traditionsgut« und »schwäbisches Volkstum« seines Mandanten ab (STAN KV-Prozesse Fall 3, G 1, S. 1, 2 und 9a), ähnlich wie Cuhorst vor der Spruchkammer (Schlußwort vom 22. Oktober 1948, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 2). 7 Nach Angabe seines Nürnberger Verteidigers waren die Cuhorsts seit fünf Generationen als Juristen, Richter und Staatsanwälte tätig, STAN KV-Prozesse Fall 3, G 1 S. 1. 8 Brief Reinhild Cuhorsts, 12. November 1988, Privatarchiv Klickermann. <?page no="115"?> Als 1914 der »Große Krieg« ausbrach, ging Cuhorst noch zur Schule und konnte sich nicht sofort freiwillig melden, wie es sein Vater, der als Hauptmann a.D. Etappendienst in Stuttgart versah, getan hatte. 9 Erst im Juli 1917, unmittelbar nach der Reifeprüfung, wurde er Soldat im Jägerregiment 125, wo er den Verlauf des letzten Kriegsjahres an der Westfront erlebte und bis Sommer 1918 zum Fähnrich aufstieg. Auch nach Kriegsende blieb er zunächst beim Heer, ausgezeichnet mit militärischen Orden, u.a. dem EK II. Erst Ende Juli 1919, etwas später als sein Vater, kehrte er als Leutnant im Zuge der Demobilisierung schließlich ins Zivilleben zurück. Der Familientradition entsprechend, nahm Cuhorst im Zwischensemester 1919 in Tübingen, wie der Vater als Mitglied der Verbindung »Igel« 10 , sein Jurastudium auf. Dem Militärischen hing er weiterhin durch sein Engagement im Studentenbataillon Tübingen und damit zeitweise im Freikorps Haas 11 an, wofür er während der unruhigen Jahre 1919 und 1920 in München und im Ruhrgebiet unterwegs war und das Zwischensemester 1920 ausfallen ließ. 12 Es liegt daher nahe anzunehmen, daß Cuhorst bereits zu dieser Zeit zur äußersten politischen Rechten zählte, was seine frühe und fanatische Hinwendung zum Nationalsozialismus miterklärte. Stuttgart selbst, wo 1920 die Reichsregierung während des Kapp-Putsches Aufnahme fand, blieb für ein derartiges rechts-militantes Engagement zu ruhig, und diese Zeit blieb für Cuhorst einer der ganz wenigen Aufenthalte außerhalb des süddeutschen und österreichischen Raumes. Auch in seiner politisch rechtsstehenden, die neue Republik ablehnenden Haltung könnte er sich ein Vorbild am Vater genommen haben. Seit 1920 als Erster Staatsanwalt in Stuttgart, war dieser in politischen Prozessen der 20er Jahre berüchtigt genug, um vom NS-Kurier anläßlich seiner Pensionierung 1932 als Kämpfer gegen »Schmutz und Schund«, der sich den »Haß der liberalistisch-marxistischen Meute« zugezogen habe, gefeiert zu werden. 13 Zwar trat er danach nicht mehr öffentlich in Erscheinung, lebte aber doch bis 1937 mit den nationalsozialistisch aktiven Söhnen Stefan Baur 114 9 Wie Anm. 6. 10 Die nichtschlagende und nichtfarbentragende, süddeutsch geprägte Verbindung »Igel« war 1871 gegründet worden und gehörte vor dem Krieg keinem Dachverband an, galt aber als »Kaderschmiede« für süddeutsche »Honoratioren«, vgl. Schmid, Manfred, Die Tübinger Studentenschaft nach dem ersten Weltkrieg. 1918 - 1923 (Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen 1, 13), Tübingen 1987, ferner Kratsch, Werner, Das Verbindungswesen in Tübingen, Tübingen 1977 sowie Weynand, Hansbernd, Geschichte des Igels, Tübingen 1931. 11 Das Studentenbataillon Tübingen bestand von 1919 bis 1921, ging danach aber teilweise in rechtsradikalen Verbänden wie der »Organisation Consul« und dem »Wiking-Bund« auf. Zu seiner Rolle bei den Einsätzen in Stuttgart, München und im Ruhrgebiet sowie der zeitweisen Unterstellung zum Freikorps Haas und dem (zweifelhaften) Verhalten beim Kapp-Putsch vgl. Schmid (wie Anm. 10), zu Freikorps im allgemeinen Schulze, Hagen, Freikorps und Republik 1918 - 1920, Boppard 1969. 12 UATÜ 258/ 2842. 13 »NS-Kurier«, 1./ 2. Oktober 1932; zu Cuhorsts Beteiligung an den »Simplicissimus«-Prozessen »Schwäbischer Merkur«, 19. Februar 1937 sowie Leipner, Kurt (Hrsg.), Stuttgarter Chronik 1933 - 1945, Stuttgart 1982, S. 358. <?page no="116"?> zusammen, und in den Nachrufen auf ihn wurde der Eindruck einer NS-Musterfamilie vermittelt. Im Frühjahr 1923 beendete Cuhorst mit der ersten Staatsprüfung (»befriedigend«) sein Studium und trat, nach seiner Vereidigung im Juli, den Referendardienst an (vorwiegend in Stuttgart und Böblingen). 1926 schloß er mit der großen Staatsprüfung in Stuttgart seine Ausbildung ab, nunmehr mit der überdurchschnittlichen Bewertung »gut« 14 , so daß für ihn keine schlechte Aussicht auf eine erfolgreiche juristische Karriere bestand. Nach einigen Monaten am Amtsgericht in Stuttgart, wo er im Haus des Vaters wohnte, verzeichnen die Akten die anfangs übliche »unständige Verwendung« bis Ende 1926, danach ein knappes Jahr der Anstellung in der württembergischen Innenverwaltung im Oberamt Esslingen. Nach weiterer »unständiger Verwendung«, besonders in Stuttgart und Ulm, wurde Cuhorst am 1. Oktober 1929 Amtsrichter wieder in Stuttgart, wo er nunmehr sein restliches Berufsleben verbringen sollte. Trotz eines Dienststrafverfahrens, das 1935 ungewöhnlicherweise wieder »gelöscht« wurde und dessen Gründe anhand der Akten nicht mehr aufzuklären sind 15 , rückte er im März 1930 zum planmäßigen Amtsrichter auf. Während dieser Zeit der beruflichen Etablierung fand Cuhorst, der später stets unter die »alten Kämpfer« gerechnet wurde und sich selbst rühmte, in politischen Dingen »völlig kompromisslos« 16 zu sein, den Weg zur NSDAP. Formell aufgenommen wurde er am 1. Dezember 1930, »als einer der ersten Angehörigen der Justizverwaltung in Stuttgart« 17 , der Kontakt bestand aber schon länger. 18 Zu diesem Zeitpunkt, als sich die württembergische NSDAP zwar nicht mehr in dem katastrophalen Zustand der Vorjahre befand, in absoluten Zahlen und gemessen am Reichsdurchschnitt aber immer noch den Charakter einer Splitterpartei trug 19 , muß dieser Neuzugang aus alter Beamtenfamilie willkommen gewesen sein. Wieder im Haus des Vaters, wo sich inzwischen auch sein ebenfalls überzeugt nationalsozialistischer Bruder Fritz 20 aufhielt, erlebte Cuhorst die Schlußphase der Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 115 14 Vgl. Lokationsliste für die Staatsprüfung vom Frühjahr 1926, STAN KV-Prozesse Fall 3, G 5 S. 9. 15 Cuhorst selbst sprach von einer Dienstaufsichtsbeschwerde eines »Lederwarenfabrikanten«, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 4 (Protokoll Spruchkammer). 16 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945, Brief Cuhorsts, 8. September 1942. (Die Akten sind bisher nur teilweise sortiert oder paginiert.) 17 Gaugerichtsurteil, 26. November 1943, IfZ NG 2169. 18 STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 4 (Protokoll Spruchkammer). 19 Erreichte die NSDAP bei der Gemeinderatswahl im Dezember 1928 gerade 1,1% der Stimmen, ging es nach einer schweren inneren Krise Anfang 1930 langsam aufwärts. Noch bei den Reichstagswahlen am 14. August 1930 lag sie in Stuttgart mit 9,8% weit unter dem Reichsdurchschnitt (18,3%). Die Ortsgruppe Stuttgart hatte Ende April 1930 erst 460 Mitglieder, landesweit Anfang 1930 rund 1500. Vgl. Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 17 - 33; Schnabel, Thomas, Die NSDAP in Württemberg 1928 - 1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland, hrsg. v. T. Schnabel, Stuttgart 1982, S. 49 - 81. 20 Fritz Cuhorst war Ende der 20er Jahre Studienassessor und promovierte kurz vor der »Machtervon <?page no="117"?> der späteren Propaganda so genannten »Kampfzeit«. Unmittelbar nach seinem Parteieintritt war er Kreisredner geworden und ging seiner Parteitätigkeit eifrig und begeistert »über alle Wahlkämpfe« 21 nach. Wie Cuhorst selbst 1939 in seinem Antrag auf die »Dienstauszeichnung der NSDAP in Bronze« schrieb, wurde er im November 1931 »wegen politischer Betätigung« sogar vom Strafzum Zivilfach versetzt. 22 Noch vor der »Machtergreifung« wurde er am 1. Januar 1933 zum Gauredner in der Uniform eines »politischen Leiters« 23 befördert, nachdem er, eigenen Angaben zufolge, bereits seit 1932 Mitglied des Gaustabes 24 war. Spätere Aussagen sowie die sporadischen zeitgenössischen Zeitungsberichte vermitteln keinen besonderen Eindruck von Cuhorsts Rednertätigkeit, weder was seine Themen noch sein propagandistisches Talent anbelangt. Die Versammlungen liefen nach dem üblichen Schema der NS-Propaganda ab, werden aber von dem Cuhorst eigenen, schwer zu überbietenden Fanatismus geprägt gewesen sein, der sich später auf vielfältige Weise auswirkte. 25 Wahrscheinlich gewöhnte er sich dabei an das charakteristische, haßerfüllte Vokabular, das nicht an letzter Stelle seinen späteren Gerichtsverhandlungen ihren gefürchteten Charakter verlieh. Mit der »Machtergreifung« im Januar 1933 änderte sich Cuhorsts Position innerhalb kürzester Zeit grundlegend. Als aktiver Nationalsozialist erlebte er einen beispiellosen Karriereschub, der ihn innerhalb weniger Jahre, nach einem kurzen Intermezzo beim Justizministerium, auf den Stuhl eines Senatspräsidenten brachte. Niemand hatte Zweifel daran, daß dieser ungewöhnliche Aufstieg »ausgesprochenerweise« 26 und ausschließlich den politischen Gegebenheiten entsprang; die Sachlage war so eindeutig, daß nicht einmal Cuhorst selbst einen anderen Erklärungsversuch unternahm. 27 So hieß es etwa in einer dienstlichen Beurteilung von 1935, Cuhorst sei »als alter Pg. nach dem Umsturz in das württembergische Justizministerium berufen« 28 worden, und nach dem Krieg faßte das Justizministerium zusammen: Stefan Baur 116 greifung« zum Dr. phil. Nach 1933 wurde er Kulturberichterstatter, dann Stadtschulrat (1934) und Kulturreferent (1935). In Bildungsangelegenheiten der Stadt Stuttgart spielte er eine wichtige Rolle, vgl. Leipner (wie Anm. 13), sowie StAS, u.a. als Reichsredner der NSDAP (Anklageerwiderung im Spruchkammerverfahren Hermann Cuhorsts, STALB EL 902/ 20 IX S. 8 f). Er starb am 1. August 1945 in Lindau. 21 IfZ NG 2343. 22 IfZ NG 2343. 23 Eidesstattliche Erklärung Cuhorsts, 16. Januar 1947, IfZ NG 644, auch STAN KV-Prozesse Fall 3 Interrogations C-19 S. 1. 24 Cuhorst an Ministerialrat Köhler, 15. April 1943, IfZ NG 582 S. 21f. Vor der Spruchkammer nannte Cuhorst diese Bezeichnung eine bloß »formelle« STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 6 (Protokoll Spruchkammer). 25 Z.B. »NS-Kurier«, 21. Oktober 1933, S. 5 und 21. November 1935, S. 3, »Der Teckbote«, 3. November 1943, S. 3. Er selbst schätze, bis 1943 ca. 100 Reden gehalten zu haben, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 5 (Protokoll Spruchkammer). 26 Aussage Dr. Klett, IfZ NG 491. 27 STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 6 f. (Protokoll Spruchkammer). 28 BA Abt. III (BDC), DH-ZD7638 S. 99. <?page no="118"?> »Seine rasche Beförderung verdankte Cuhorst der Mitgliedschaft bei der Partei.« 29 Er selbst hielt dies rückblickend allerdings für normal 30 und reagierte empfindlich, wenn ihm, was nach 1945 öfters geschah 31 , eine seiner Stellung angemessene juristische Befähigung abgesprochen wurde. Zunächst jedoch rückte Cuhorst als Regierungsrat am 1. April 1933 ins württembergische Justizministerium auf. Wenige Wochen zuvor, am 10. März, hatte er Hildegard Frank, Tochter eines Sanitätsrats, geheiratet 32 und war aus der väterlichen Wohnung ausgezogen, so daß er nun beruflich wie privat fest etabliert war. 33 Auch im »Deutschen und Österreichischen Alpenverein«, ab 1938 »Deutscher Alpenverein« (DAV), dem er seit 1918 angehörte, und in dem er schon während der 20er Jahre stark engagiert war 34 , wirkte sich der Machtwechsel sofort aus. 1933 wurde er erst Vorsitzender, dann »Vereinsführer« und wirkte bei der sehr rasch durchgeführten (Selbst-)Gleichschaltung des Gesamtvereins mit. 1934 wurden »Nichtarier« per Satzungsänderung ausgeschlossen und das »Führerprinzip« eingeführt; die neue Satzung von 1938 enthielt dann alle typisch nationalsozialistischen Bestimmungen, wobei schon der Vereinszweck »im Geiste des nationalsozialistischen Staates« stand. 35 Die Jahre bis 1945 widmete Cuhorst auch stets seiner Vereinsarbeit, von der Gründung des »Harpprechtshauses« 1935 über den »Kampf um die Erhaltung der Großglocknerlandschaft« 1936 - 38 bis zur Eingliederung »slovenischen Hüttenbesitzes« 1941; doch sollte diese Tätigkeit 1945 ein unrühmliches Ende finden. 36 Cuhorsts damalige Hauptaufgabe in der Justizverwaltung bestand nach Auskunft des Justizministeriums vom 17. Januar 1947 darin, die »Gleichschaltung der Justiz zu betreiben«, nebenbei war er aber auch als Gnadenreferent des Gauleiters Murr tätig. 37 Nach kurzer Zeit, am 1. Juli 1933, erfolgte seine Beförderung zum Oberre- Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 117 29 Auskunft an die Spruchkammer vom 16. Dezember 1947, STALB EL 902/ 20 I Bl. 11. 30 STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 5 und Schlußwort Bl. 2 (Protokoll Spruchkammer). 31 Z.B. durch RA Dr. Schöck, der von Cuhorst sagte, daß »die geistigen und juristischen Voraussetzungen hierfür [den Senatsvorsitz] in weitem Maße fehlten.« STALB EL 902/ 20 VII/ Heft III Bl. 677. Eine ähnliche Aussage Schöcks (»[Cuhorsts] juristische Kenntnisse allgemein als sehr bescheiden beurteilt wurden [...]«) kommentierte Cuhorst »von wem? «, IfZ NG 489. 32 JM RJM-Personalakten. 33 STALB EL 902/ 20 I Bl. 13 Personalbogen RJM sowie Adreßbuch der Stadt Stuttgart 1933 und 1934, StAS. 34 1925 saß er bereits im Vorstand der traditionsreichen Sektion Schwaben und war zu Beginn der 30er Jahre Hüttenwart der »Stuttgarter Hütte«. MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 Dok. Nr. 33 S. 5. 35 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945 Bü S I, sowie »Nachrichten aus der Sektion Schwaben« 5 (1938), S. 7. 36 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. Brief Cuhorsts an das RJM, 15. April 1943, JM RJM-Personalakte Bl. 25, »Nachrichten der Sektion Schwaben des De. und Oe. Alpen-Vereines« aus den Jahren 1933 - 1941 (darin finden sich auch zahlreiche Propagandaaufrufe Cuhorsts), sowie Erklärung Cuhorsts, 11. April 1947, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S. 7 f. 37 Aktenvermerk in STALB EL 902/ 20 VII Bl. 299 - 302. Es wurde später mehrfach ausgesagt, daß sich Cuhorst mit Murr bald überworfen hatte, z.B. STALB EL 902/ 20 VIII E 38. <?page no="119"?> gierungsrat; nach späteren Angaben des Justizministeriums, um ihn trotz seiner »geringen sachlichen Fähigkeiten« in eine unabsetzbare »Schlüsselstellung« zu bringen, bevor das »objektiver denkende Reichsjustizministerium« ihn nach der »Verreichlichung« der Justiz wieder degradiert hätte. 38 Worin Cuhorsts »Gleichschaltungsarbeit« bestand, ist schwer rekonstruierbar, da im wesentlichen nur spätere Aussagen, kaum Dokumente vorliegen. Cuhorst hat sich zweifellos mit Personalfragen befaßt, zwar nur »zur Hilfe« 39 und nicht als Personalreferent, hatte aber doch »als Beauftragter der NSDAP im Justizministerium und in der Präsidialabteilung des OLG zweifellos die Möglichkeit, auch in Personalsachen, für die er nicht Berichterstatter war, ein maßgebendes Wort mitzusprechen«. 40 Manche Zeugen sagten später aus, daß Cuhorst vor allem deshalb aus dem Justizministerium versetzt wurde, weil er persönliche Probleme mit dem damaligen Gaugerichtsvorsitzenden Hill und Justizminister Schmid gehabt haben soll. 41 Dies scheint im Hinblick auf Cuhorsts spätere Laufbahn nicht ausgeschlossen, gelang es ihm doch stets, sich innerhalb kurzer Zeit besonders unbeliebt zu machen 42 : »Äußerlich fiel er durch sein großtuerisches, hysterisches Wesen auf und war allgemein unbeliebt. Zeitweise geriet er geradezu in einen Machtrausch; einmal hörte man ihn z.B. im Hausgang schreien: Jawohl, ich habe die Macht, und ich werde sie auszunutzen wissen.« 43 Der selbst belastete Staatsrechtsprofessor Carl Schmitt, der Cuhorst bereits aus Studientagen kannte, mochte seine Eindrücke von ihm 1947 »dahingehend zusammenfassen, dass er mir immer als ein schlechthin amoralisches Subjekt erschienen ist«. 44 1934 wurde Cuhorst zum Senatspräsidenten des neuen 5. Zivilsenats am Oberlandesgericht Stuttgart berufen, eine Beförderung, die nach Beurteilung eines Ministerialrats im Reichsjustizministerium »für die württembergischen Verhältnisse eine ganz ausnahmsweise war«, bei der außerdem »mehrere bewährte Anwärter für Senatspräsidenten oder gleichwertige Stellen [...] übergangen wurden«. 45 Daß hier ebenfalls politische Überlegungen den Ausschlag gegeben hatten - Cuhorst war seit Jahresbeginn auch förderndes Mitglied der SS -, ist höchst wahrscheinlich, wenngleich nicht, wie bei seiner Berufung ins Justizministerium, zweifelsfrei belegt. Umgekehrt deutet nichts auf Cuhorsts besondere juristische Fähigkeiten: So heißt Stefan Baur 118 38 JM Personalakte Bd. 1 Bl. 10 (Einschreiben an die Spruchkammer, gez. Kü[stner]). 39 STALB EL 902/ 20 VIII E 37. 40 JM Personalakte Bd. 1 Bl. 7. Cuhorst selbst gab an, er sei »Hilfsberichterstatter in Personal-, Gnaden- und Prüfungssachen« gewesen, STAN KV-Prozesse Fall 3 Interrogations C-19 S. 3. 41 So etwa Dill und Waldmann vor der Spruchkammer, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 30. 42 Hinweise darauf, daß dies auch innerhalb der NSDAP so gewesen ist, gibt IfZ NG 425 S. 5. Ähnliches trug die Verteidigung im Spruchkammerverfahren vor, STALB EL 902/ 20 VIII E 49 und E 50. 43 JM Personalakte Bd. 1 Bl. 10 (Einschreiben an Spruchkammer, gez. Kü[stner]). 44 »Bestätigung«, 3. Februar 1947, IfZ NG 803. Die darin geschilderte, beispielhafte »Episode« beruht jedoch wahrscheinlich auf einer Verwechslung, vgl. STALB EL 902/ 20 VIII E 39. 45 JM RJM-Personalakten Bl. 7. <?page no="120"?> es in einer seiner dienstlichen Beurteilungen als Senatspräsident, er sei »ein gut befähigter Richter mit praktischem Geschick«, sein Senat sei »durchaus in Ordnung«; kein rauschendes Lob, das mit der Bemerkung schließt: »Seine politische Zuverlässigkeit steht fest.« 46 Über diese Tätigkeit als Zivilsenatsvorsitzender ist, neben dem allgemeinen dienstlichen Verhalten, kaum Nennenswertes überliefert, die spätere Berufung zum Sondergericht überschattete diese vergleichsweise normale Arbeit. Nicht nur bei den »Übergangenen« erregte Cuhorst durch diesen Karrieresprung Anstoß, vielmehr wiesen spätere Zeugen aus dem Justizapparat darauf hin, daß sich Cuhorst allgemein »keine Freunde« gemacht habe 47 ; der damalige OLG-Präsident Heß trat sogar wegen Cuhorsts Beförderung von seinem Amt zurück. 48 Das Entnazifizierungsverfahren sollte zeigen, daß Cuhorsts Unbeliebtheit möglicherweise weiterreichende Folgen hatte als seine eigentliche Funktion im NS-Justizwesen. 1933 wurde, ausdrücklich zur Bestrafung politischer Vergehen, die Institution des Sondergerichtes, basierend auf gesetzlichen Möglichkeiten aus der Weimarer Zeit, ins Leben gerufen. 49 Mit der Zeit, und besonders seit Kriegsbeginn, erfuhren diese Gerichte einen ständigen Kompetenzzuwachs, der sich auch in ihrer steigenden Anzahl niederschlug. Die Grundidee war eine Verkürzung des Rechtsweges, besonders zu Lasten des Angeklagten, um politische, später auch kriminelle Vergehen rasch aburteilen zu können. 50 Von 1933 an war Landgerichtsdirektor Flaxland SG-Vorsitzender gewesen. Von ihm und seinen Urteilen war in späteren Zeugenaussagen kaum die Rede, vielmehr scheint er nicht im Sinne der Nationalsozialisten, mindestens aber unauffällig geurteilt zu haben. Im Gegenteil fiel Flaxland so unangenehm auf, daß er, wie OLG-Präsident Dr. Küstner 1947 zu Protokoll gab und auch Cuhorst selbst später bestätigte 51 , »aus politischen Gründen« 52 ersetzt werden mußte. Flaxlands damaliger Stellvertreter, Landgerichtsrat Dr. Bohn, der die allererste Stuttgarter SG-Sitzung geleitet hatte, nannte als Grund für diese Ersetzung die »Weigerung, gegen einen jüdischen Kaufmann aus Köln zu verhandeln.« 53 Man einigte sich innerhalb des OLG schließlich Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 119 46 In diesem Sinne auch ein damaliger Zivilsenatsvorsitzender, der sonst für Cuhorst eher entlastend aussagte, STALB EL 902/ 20 VIII E 26. 47 Landgerichtsdirektor Payer IfZ NG 575, Landgerichtsdirektor Eckert STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 Bl. 24, ähnliche Aussagen in STALB EL 902/ 20 VIII E 40 und 48. 48 STALB EL 902/ 20 VIII E 40, auch erstinstanzliches Urteil der Spruchkammer (HSTAS EA 11/ 101 Bü 89) sowie Aussage Dr. Otto Schlechts, 24. Juli 1947 (STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S. 91 - 103). Cuhorst selbst wollte hierzu nicht aussagen, STALB 902/ 20 XVIII Bl. 7 (Protokoll Spruchkammer). 49 Einzelheiten und Literatur vgl. den Beitrag »Richter der alten Schule« von Michael Kißener in diesem Band. 50 Vgl. Gruchmann, Lothar, Justiz im Dritten Reich 1940 - 1944, München 1988, hier S. 944 - 979. 51 Vgl. Anm. 57. 52 IfZ NG 565. 53 IfZ NG 493, vgl. auch Aussagen Dr. Otto Schlechts, 24. Juli 1947 und Eckerts, 25. Juni 1947, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S. 91 - 103 bzw. S. 19 - 40. <?page no="121"?> dahingehend, daß Flaxland von sich aus am 13. September 1937 um seine Amtsenthebung bat, Küstner daraufhin Cuhorst als Nachfolger vorschlug, welcher vom Präsidium des Landgerichts dann acht Tage später auch berufen wurde. 54 Der Vorgang war ungewöhnlich, da durch die Berufung Cuhorsts von der vorgeschriebenen Praxis, das Sondergericht aus Angehörigen des Landgerichtes zu bilden, abgewichen wurde. Ein damaliger Assessor bei der Staatsanwaltschaft erklärte hierzu, Cuhorst habe sich zum SG-Vorsitz »gedrängt«. 55 Während sich Küstner nach eigener Aussage von der Besetzung des SG-Vorsitzes mit einem hundertprozentig linientreuen »Nazi«, der zudem über gute Verbindungen verfügen sollte, einen gewissen Schutz des OLG gegen die dauernden Beschwerden und Einmischungen aus Berlin versprach, gab Cuhorst dem Ablauf später eine ganz andere Bedeutung. Er wäre nur aus Pflichtbewußtsein und weil Küstner ihn »dringend gebeten« 56 hätte, um Schlimmeres zu verhindern, auf die Ernennung eingegangen. Besonders seltsam erscheint Cuhorsts dunkler Hinweis, es wären »Scharfmacher« 57 aus Berlin geschickt worden, hätte er sich der Berufung widersetzt. Plausibler scheint das Umgekehrte, denn Flaxland war durch einen - mindestens verbalen - Scharfmacher ersetzt worden, dem seine Stellung offenbar zunächst kein Mißvergnügen bereitete: Cuhorsts nun einsetzende Tätigkeit als Sonderrichter, die seine Funktion als Senatspräsident (seit Oktober 1937 am 1. Strafsenat) zunehmend in den Hintergrund treten ließ, verschaffte ihm und dem Sondergericht in den folgenden sieben Jahren seinen berüchtigten Ruf. Innerhalb des Justizapparates machte er sich durch diese weitere Ausnahmebeförderung natürlich wieder »keine Freunde«, sondern erregte im Gegenteil mißbilligendes Aufsehen. 58 Cuhorsts eigenwilliger Charakter, der bisher nur in seiner NS-Propaganda öffentlich geworden war, prägte von Beginn an sein »unwürdiges Benehmen« 59 als Richter. Die Zeugenaussagen, die hierzu buchstäblich zu Hunderten, von beisitzenden Richtern, Staats- und Rechtsanwälten, Assessoren, Zeugen und Angeklagten vorliegen, ergeben trotz der Verschiedenheit der Aussagenden ein erstaunlich einheitliches Bild. 60 Wenngleich manche Widersprüche und Ungereimtheiten darin auftauchen Stefan Baur 120 54 Küstner an das Reichsjustizministerium, 25. September 1937, IfZ NG 583. 55 STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 224, auch IfZ NG 571. 56 STALB EL 902/ 20 VI Bl. 233, handschriftliche Randbemerkung Cuhorsts. 57 In einem seiner Gnadengesuche aus dem Jahr 1961 schrieb Cuhorst: »Meine Bestallung zum Vorsitzenden des Sondergerichts ist ausschließlich aus Sachgründen erfolgt. Ich hätte keinen anderen Grund gehabt, in die Bresche zu treten, wenn nicht der Chefpräsident Dr. Küstner mich im Hinblick auf die Berliner Scharfmacher flehentlich gebeten hätte, die Nachfolge des zum Protest gegen Berlin zurückgetretenen Landgerichtsdirektor Flaxland anzutreten.« (JM Personalakte Bd. 2 Bl. 177) Tatsächlich sagte Küstner zu Cuhorsts Verteidigung vor der Spruchkammer aus, es habe einmal eine solche mündliche Äußerung gegeben; doch bleibt dies, nicht zuletzt wegen Küstners verschiedenen Darstellungen, zweifelhaft. 58 Oberstaatsanwalt Bäuchlein IfZ NG 569, STALB EL 902/ 20 II/ 2 Bl. 609. 59 Gerichtsassessor Dr. Loduchowski STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 526, sinngemäß RA Dr. Krüger STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 73 (Protokoll Spruchkammer). 60 Die folgenden Beschreibungen stammen aus Vernehmungsprotokollen der Spruchkammer (STALB EL 902/ 20, besonders die Teile VI und VII) und des Nürnberger Tribunals (diverse NG-Signaturen <?page no="122"?> und einiges von der Verteidigung, insbesondere während des Nürnberger Prozesses, abgeschwächt wurde 61 , so verblüfft doch das Maß an Übereinstimmung, insbesondere was einzelne Kernwörter als auch die Schilderung bestimmter Gewohnheiten Cuhorsts betrifft. Auch die bezeichnende Tatsache, daß einige belastende Aussagen aus Kollegenkreisen in den Jahren nach dem Nürnberger Prozeß, beginnend mit dem Spruchkammerverfahren, mit manchmal haarsträubenden Begründungen abgeschwächt und relativiert wurden, vermag diesen Eindruck nicht wesentlich zu ändern. 62 Es ist daher angebracht, dem Urteil der Spruchkammer von 1947 so weit zu folgen, daß aus den Aussagen sein Verhalten ungefähr rekonstruiert werden kann. Cuhorsts Eigenwilligkeiten begannen bereits vor der Hauptverhandlung durch seine ungewöhnliche Terminplanung, in die er sich niemals hereinreden ließ, im Gegenteil äußerst ungehalten wurde, wenn jemand solches versuchte. 63 So pflegte er den Verteidigern die Anklageschrift oft erst unmittelbar vor dem Verhandlungstermin zukommen zu lassen; die Angaben schwanken zwischen einigen Tagen und wenigen Stunden, betonen aber den absichtsvollen Charakter dieser Schikane. Waren an sich schon fast keine Rechtsmittel für Angeklagte vor dem Sondergericht vorgesehen, machte sich Cuhorst zusätzlich eine Gewohnheit daraus, die Verteidigung, die er als »notwendiges Übel« 64 betrachtete, zusätzlich in Verlegenheit zu bringen. Dabei schreckte er vor wirkungsvollen schriftlichen Beschwerden nicht zurück, die unter anderem dazu führten, daß der besonders couragierte Verteidiger Diesem 1943 von der Rechtsanwaltskammer abgemahnt und zeitweilig von Verteidigungen vor dem Sondergericht ausgeschlossen wurde. 65 Beweisanträge, manchmal auch Zeugenvernahmen während der Verhandlung, lehnte Cuhorst in der Regel ab, so daß bei den Verteidigern ein Gefühl aufkommen mußte, das einer von ihnen 1946 treffend zusammenfaßte: »Man ging fast stets mit dem bitteren Gefühl aus dem Gerichtssaal, solcher Brutalität nicht gewachsen zu sein.« 66 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 121 der Anklage). Sofern nicht gesondert ausgewiesen, sind alle Beschreibungen dort mehrfach zu finden. Die meisten Sondergerichtsakten wurden bei einem schweren Luftangriff Mitte September 1944 vernichtet, worüber ein Bericht des OLG an das RJM Auskunft gibt. (Vgl. Anm. 95). 61 In den Verteidigungsakten finden sich einige ehemalige Kollegen, die z.T. im Widerspruch zu ihren ersten Nürnberger Aussagen beschwichtigende Angaben machten. Zentralen Vorwürfen (Behinderung der Verteidigung, »unwürdiges« Benehmen) wurde darin bemerkenswerter Weise nicht direkt widersprochen: STALB EL 902/ 20 VIII, E-Signaturen, STAN KV-Prozesse Fall 3, bes. G 4. Die dort bestätigten Verhandlungsfälle, bei denen Cuhorst sich formal korrekt verhielt, dürften im Ganzen gesehen Ausnahmen gewesen sein. 62 Nicht zuletzt wegen Vorkommnissen offensichtlicher Widersprüche zwischen den Spruchkammeraussagen und den Nürnberger Protokollen sprach der öffentliche Kläger davon, »dass die [Entlastungs-] Zeugen in dringendem Verdacht stehen, falsche eidesstattliche Erklärungen abgegeben zu haben.« STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 220. 63 Vgl. z.B. Bohn IfZ NG 493. 64 Schlecht IfZ NG 489. 65 Präsident der Anwaltskammer an RA Diesem, 6. März 1943, IfZ NG 945. 66 RA Krüger an OB Klett, 5. November 1946, IfZ NG 492. <?page no="123"?> Unterwegs zum Gericht, sowohl in der Nachbarschaft als auch im Justizgebäude, soll er mit Kraftsprüchen der Art »Voilà meine Herrn, auf zur Schlachtbank! « 67 aufgefallen sein; ein Ermittler der Spruchkammer bekam von Nachbarn unabhängig voneinander viermal Cuhorsts Ausspruch, er sei »zur Kopfjagd« unterwegs, bestätigt. 68 Zu Verhandlungsbeginn erschien Cuhorst mit strammem »Deutschem Gruß« und »hörbarem Hackenzusammenklappen« 69 und leitete die Verhandlung dann anhand der Anklageschrift des Staatsanwaltes, bei nur geringer Kenntnis der Akten. Dabei ging es ihm primär um Schnelligkeit, eine Eigenheit, derer er sich besonders rühmte, und die von fast allen Zeugen bestätigt wurde. Hierin folgte Cuhorst zum Teil freilich den Vorgaben für Sondergerichte, die ausdrücklich »kurzen Prozeß« machen sollten. Manche Angeklagten belegte er, je nach den Umständen oder auch der persönlichen Laune, mit wüstem Gebrüll, manchmal mit den NS-typischen Schimpfwörtern (»Lump«, »Schweinehund«, »Vaterlandsverräter« etc.), »teilweise in schwäbischer Mundart«. 70 Wie auch gelegentlich den Verteidigern und Staatsanwälten, fiel er den Angeklagten ins Wort, unterbrach oder kommentierte deren Auslassungen mit zynischen und sarkastischen Bemerkungen. Diese gingen häufig über bloße Einschüchterung hinaus, insbesondere wenn er in nahezu sadistischer Weise an das drohende Todesurteil erinnerte: »Sie scheinen nicht zu wissen, daß ihr Kopf wackelt.« 71 Es ist erstaunlich, wie häufig in den Zeugenaussagen (und keineswegs nur denen von ehemaligen Angeklagten und deren Angehörigen) von »Sadismus« und Cuhorsts vollständiger »Unzugänglichkeit« bezüglich »menschlicher Erwägungen« 72 gesprochen wird. Einen Angeklagten, der nach Hungerstreik, Selbstmordversuch und Krankheit zum Prozeßtermin so geschwächt war, daß er auf einer Bahre getragen werden mußte und dabei mehrmals ohnmächtig wurde, verurteilte Cuhorst 1942 zum Tod, woran sich viele Zeugen später erinnerten. In der Urteilsbegründung wurde das Verhalten des Angeklagten als mit dem eines Flüchtigen gleichgesetzt. 73 Eine weitere seiner »Spezialitäten«, insbesondere vor großem Publikum, scheint die ausführliche, weit über das Gebotene hinausgehende Ausbreitung intimer privater Details der Angeklagten gewesen zu sein, vor allem bei »Sittlichkeitsverbrechen« oder angeklagten Frauen. 74 Prozesse mit größerer Publikumswirksamkeit, Stefan Baur 122 67 Aussage Assessor Schwarz STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 228. Handschriftliche Randbemerkung Cuhorsts: »Wird bestritten! « Einige solcher Sprüche sind, z.T. in Varianten, bezeugt worden. 68 STALB El 902/ 20 VI/ 1 Bl. 209a (Aktenvermerk, 17. Juni 1948), ähnlich Dr. Schwarz NG 855. 69 Hegele IfZ NG 488, auch RA Krüger IfZ NG 492. 70 Gerichtsassessor Dr. Loduchowski vor Spruchkammerermittlern, STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 525. 71 RA Kalkoff, IfZ NG 679. 72 StA a.D. Harfer, IfZ NG 564. 73 Urteil des SG Stuttgart, IfZ NG 437, Aussage des Beisitzers Dr. Azesdorfer IfZ NG 495 S. 2. 74 Eine im Alter von 19 Jahren wegen »Umgangs mit Kriegsgefangenen« verurteilte Frau erklärte 1948: »Die Fragestellung des Cuhorst zeugte von einer sittlichen Verkommenheit, von der ich in meinem jugendlichen Alter keinerlei Ahnung hatte.« STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 168. Ein anderes Beispiel in IfZ NG 855 S. 7. <?page no="124"?> wie etwa den »Punkteschieberprozeß« gegen drei Stuttgarter Kaufleute 75 , führte Cuhorst gerne selbst. Nach manchen Aussagen waren Ausländer, besonders Polen, sowie Zigeuner, denen gegenüber Cuhorst den bekannten, typisch nationalsozialistischen Haß hegte, von solchen Quälereien besonders betroffen. So verurteilte er 1944 eine italienische »Fremdarbeiterin« trotz entgegengesetzter »Rechtsanschauung des Reichsgerichts« wegen Plünderung zum Tod, weil dies dem »gesunden Volksempfinden« entspreche. Der Fall zog weite Kreise, bis hin zu Notenwechseln zwischen dem Auswärtigen Amt und der italienischen Botschaft, worauf das Urteil nicht vollstreckt wurde. 76 In seinem rassisch geprägten Nationalismus sowie in seinem Antisemitismus 77 störte ihn offensichtlich auch das Wissen um die furchtbaren Konsequenzen nicht, von denen er spätestens 1940 detailliert Kenntnis erhielt. 78 Obwohl ihm im Nürnberger Prozeß nicht formal nachgewiesen werden konnte, daß er Ausländer oder »Fremdrassige« als solche härter bestrafte (das wäre angesichts der weiten Spanne des möglichen Strafmaßes auch kaum möglich), geht doch aus Urteilsbegründungen und Zeugenaussagen Einschlägiges hervor, ganz besonders im Fall zweier Zigeuner von 1943. Diese waren von Cuhorst wegen fortgesetzter kleinerer Diebstähle als »Gewohnheitsverbrecher« zum Tod verurteilt worden, wogegen die Verteidigung, nachdem neue Aussagen vorlagen, die Verfahrenswiederaufnahme beantragte. Cuhorst wies den Antrag ab, unter anderem mit der Begründung, der Widerruf eines »typische[n] gemeingefährliche[n] Zigeuner[s]« sei »offensichtlich unwahr«, gesundes Volksempfinden (für Cuhorst gleich »gesundem Menschenverstand« 79 ) und die Umstände »verlangen nach wie vor seine völlige Ausmerzung aus der Volksgemeinschaft«. 80 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 123 75 Es ging um umfangreiche Wiederverwertung von (Berechtigungs-)»Punkten« für Spinnstoffe, die beim Kriegswirtschaftsamt unterschlagen anstatt vernichtet worden waren. Zwei der vier Angeklagten wurden in einem aufsehenerregenden Prozeß nach »den neuen nationalsozialistischen Grundsätzen« (»Stuttgarter Nachrichten«, 6. Oktober 1943) wegen »Kriegswirtschaftsverbrechen« zum Tode verurteilt. Komplettes Urteil in BA, Abt. III (BDC), dazu auch IfZ NG 575 S. 2 f. Ähnlich spektakulär verlief der Prozeß gegen das Kloster Untermarchtal, dem Cuhorst vorsaß (STALB EL 902/ 20 XVII), sowie ein weitgehend vom Volksgerichtshof in Mannheim durchgeführter »Kommunistenprozeß«, in dem auch Cuhorst mehrere Todesurteile verhängte. 76 STALB EL 902/ 20 IX, »Fall T[.]«. 77 Zur Kündigung eines schweizerischen Alpenvereinsmitglied schrieb Cuhorst 1938: »[D.] scheint sich hiernach dem internationalen Judentum verschrieben zu haben.« »So weit kann ein Deutscher mit einer Jüdin kommen! «. MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945 (Die Schweiz erschien ihm ohnehin als »europäischer Schandfleck«). 78 Cuhorsts Bruder Fritz war Ende November 1939 für fast ein Jahr als Stadtpräsident nach Lublin gegangen. Von dort berichtete er wiederholt über Mordaktionen an polnischen Juden, die er von Amts wegen mit vorbereitete, an das Stuttgarter Rathaus, wovon auch Hermann Cuhorst gewußt haben muß. Vgl. Müller (wie Anm. 19), S. 346, 609. Ferner erhielt Cuhorst am 17. Juli 1940 einen Brief des Oberkirchenrats Sautter, wodurch er (spätestens) über die Euthanasie-Aktionen im Raum Stuttgart erfuhr (ebd. S. 391). Dies bestätigt auch die Aussage seines Schwagers in STALB EL 902/ 20 VIII E63. 79 Eidesstattliche Aussage Cuhorsts, 16. Januar 1948, IfZ NG 644 S.4. 80 Wiederaufnahmeantrag, Ablehnung, sowie die Aufzeichnungen des damaligen Verteidigers in <?page no="125"?> Auch die NS-typische biologistische Tätertypenlehre wurde von Cuhorsts Sondergericht mustergültig umgesetzt, etwa in Todesurteilen gegen Homosexuelle wie den der mehrfachen »Unzucht« für schuldig befundenen W., der seinen Willen zur »Besserung« umsonst beteuerte: »Veranlagung, Hang, Trieb, Rückfall und Intensität [...] stempeln ihn auch zum gefährlichen Gewohnheitsverbrecher. [...] Die Volksgemeinschaft kann gegen Verbrecher von der Art des W[.] nur durch ihre Ausmerzung sicher geschützt werden.« 81 Waren die »erbbiologischen« Diagnosen ungünstig, konnte auch Minderjährigkeit nicht vor dem Tod retten. Einer von zwei gescheiterten Ausbrechern, der als »zweifellos erblich belastet« »trotz seiner Jugend [17 Jahre]« zum »gefährliche[n] Gewohnheitsverbrecher« erklärt wurde, mußte ebenfalls sein Leben lassen. 82 Cuhorst sah in der »Abschreckung« und »Ausmerzung« die wesentlichen Aufgaben der Justiz, die »theoretisch zum Ziel führte«, wie er in Nürnberg zu Protokoll gab. 83 Um den Abschreckungseffekt weiter zu steigern, wohl aber auch aus persönlicher Lust am Reisen - »geradezu eine Manie Cuhorsts« 84 - und an Auftritten vor Publikum 85 war er mitsamt dem Gericht regelmäßig unterwegs durch ganz Württemberg, um in quasi feudaler Manier vor Ort zu urteilen. Die rasende Geschwindigkeit seiner Prozeßführung machte es ihm ohne weiteres möglich, bei einem eintägigen Gastaufenthalt mehrere Fälle zu verhandeln, um sich dann in einem guten Hotel 86 oder auf seinem geliebten Harpprechtshaus 87 absetzen zu lassen. War diese Art Verhandlung, je nach Aktenlage nach 20 Minuten und wenigen Stunden Dauer vorüber 88 , besprach sich Cuhorst mit der Anklagevertretung über das zu erwartende Urteil und das zu beantragende Strafmaß, vor allem, um nach außen ungünstig wirkende Diskrepanzen zu vermeiden. Wie verschiedentlich berich- Stefan Baur 124 STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 142 - 167. Nach Angaben des mit dem Fall befaßten Staatsanwaltes lehnte Cuhorst, nachdem die Zuständigkeit dafür während des laufenden Verfahrens durch eine Gesetzesänderung auf ihn übergegangen war, die Wiederaufnahme ohne nähere Prüfung ab, IfZ NG 564. 81 Urteil des SG Stuttgart IfZ NG 712. 82 Urteil des SG Stuttgart IfZ NG 719. Nach Aussage des damaligen Sachbearbeiters der Staatsanwaltschaft war es vor allem seine »asoziale Familie«, die ihm den Tod brachte, während der ältere Mitangeklagte, für den »die Partei« gesprochen hatte, als der Besserung fähig mit einigen Jahren Zuchthaus davon kam, IfZ NG 855 S. 4. 83 Eidesstattliche Erklärung Cuhorsts, 16. Januar 1947, IfZ NG 644. Darin auch: »Es ist richtig, dass ein Volksschädling aus der Volksgemeinschaft ausgemerzt werden musste.« (S. 5), ebenso STALB EL 902/ 20 Teil 6, Nürnberger Protokoll, S. 7667. 84 RA Schöck, STALB EL 902/ 20 VII/ 3 Bl. 676, auch IfZ NG 425. 85 Etwa Hegele IfZ NG 488, Bäuchlein IfZ NG 569, Stuber IfZ NG 464 (alle auch STALB EL 902/ 20). 86 OB Klett, IfZ NG 491. 87 RA Schöck an OB Klett, November 1946, STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 67. Die Verteidigung betonte demgegenüber, daß insbesondere Cuhorst auf diesen Reisen stets sparsam und korrekt gewesen sei. 88 Cuhorst selbst beharrte penibel darauf, daß er, entgegen verschiedener Zeugenaussagen, nie unter 50 Minuten für ein Todesurteil gebraucht habe, Eidesstattliche Aussage, 16. Januar 1947, IfZ NG 644 S. 3. <?page no="126"?> tet wird, war er auch hierin kaum von seiner bereits gefaßten Meinung abzubringen. Von der Urteilsverkündung selbst wird gelegentlich Makabres berichtet (»süffisantes Lächeln«), was nicht unbedingt glaubhaft wäre, hätte nicht Cuhorst selbst einen erstaunlichen Hinweis hinterlassen: Die Aussage des Assessors Schwarz, Cuhorsts »Achtung vor dem Menschenleben« sei so gering gewesen, daß ihm »keines seiner zahlreichen Todesurteile innerlich irgendwie nahe gegangen [sei]«, unterstrich Cuhorst und kommentierte mit »richtig«. 89 Diese an den berüchtigten Roland Freisler erinnernde Verhandlungsführung war wahrscheinlich besonders außerhalb des Justizapparates der Grund für den Haß und die Furcht, die Cuhorst bald verbreitete und die sich nach dem Krieg in verschiedenen Formen ausdrückte, Cuhorst sogar einen überregionalen Ruf verschaffte. Die Frau seines späteren Verteidigers in Nürnberg warb für ihren Mann bei anderen Angeklagten damit, daß diesem selbst die Freisprechung Cuhorsts gelungen sei, »der in ganz Württemberg als Blutrichter schlimmster Sorte verrufen ist«. 90 In den 60er Jahren vermerkte ein mit dem Gnadenverfahren beschäftigter Referent im Landesjustizministerium, es sei »verblüffend [...] wie groß noch heute die Antipathie weiter Kreise gegen Cuhorst ist«. 91 Auch die Tatsache, daß Cuhorst als einer von nur drei Sonderrichtern in Nürnberg angeklagt wurde, samt der heftigen öffentlichen Reaktionen nach seinem Freispruch 1947, sind nicht ohne diesen außergewöhnlichen Ruf Cuhorsts zu erklären. Insofern stand er nach außen tatsächlich prototypisch für einen »furchtbaren Juristen«, was sogar einer seiner Entlastungszeugen einräumte. 92 Allerdings darf die außergewöhnliche Verhandlungspraxis Cuhorsts und seine persönliche Brutalität keinesfalls darüber hinwegtäuschen, daß sowohl die Voraussetzungen für solches Verhalten als auch die konkreten Folgen für die Betroffenen fest in der Institution der Sondergerichte, der NS-Gesetzgebung und der allgemeinen Aushöhlung des juristischen Apparates hin zu völliger Willkürjustiz verankert waren. Cuhorst mochte wohl diese Intention augenscheinlich verkörpern, doch wäre sie auch unter gemäßigteren Umgangsformen in ihrer eigentlichen Grausamkeit und Ungerechtigkeit nicht gemildert worden. 93 Wenn er später verbittert feststellen mußte, daß ihn im Vergleich zu anderen Sonderrichtern eine relativ harte Strafe getroffen hatte, so waren die Gründe hierfür mit einiger Sicherheit in seinem persönlichen Verhalten 94 und seiner Verhaßtheit und nicht in den konkreten Urtei- Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 125 89 STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 234. Die handschriftliche Randbemerkung ist nicht abgezeichnet. Sowohl das sehr charakteristische Schriftbild, als auch Intention und Detailwissen dieser wie anderer Kommentare zur Aussage Schwarz lassen allerdings keinen vernünftigen Zweifel daran, daß diese von Cuhorst selbst stammt. 90 STALB EL 902/ 20 VIII/ 3 Bl. 761, auch im Haftbefehl der Spruchkammer HSTAS EA 11/ 101 Bü. 364. 91 JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 316. 92 STALB EL 902/ 20 IX E 49. 93 Vgl. hierzu etwa die Biographien der Mannheimer Sonderrichter von Michael Kißener in diesem Band. 94 Dieses Verhalten erklärte auch ein Cuhorst eher gewogener Oberstaatsanwalt zu dessen »Fehler als Richter« STALB EL 902/ 20 IX E 49. <?page no="127"?> len zu suchen, was der Aufarbeitung der NS-Justiz nach 1945 freilich kein gutes Zeugnis ausstellt. Denn es bestand eine offenbare Asymmetrie zwischen seiner häufig brutalen und zynischen Art zu verhandeln einerseits und den im Durchschnitt und Vergleich zu anderen Sondergerichten aber keineswegs exorbitanten, im Gegenteil sogar mäßigen Strafzumessungen andererseits. Es sind nur wenige Stuttgarter SG-Akten erhalten 95 , und doch lassen sie, zusammen mit den Aussagen der Nachkriegsprozesse, diesen Schluß zu. Bei aller Gnadenlosigkeit im Einzelfall urteilte Cuhorst im Schnitt nicht härter, als es andernorts üblich war. Es kamen durchaus Fälle »relativer Milde« unter seinem Vorsitz vor, und ein damaliger Verteidiger erklärte sogar: »Es war für den Kenner der Verhältnisse kein Geheimnis, daß das SG Stuttgart relativ als das mildeste galt.« 96 Das beste Beispiel hierfür sind die beiden Verhandlungen Cuhorsts gegen Angehörige der Familie Scholl (1938 und 1944), in denen er sich den Umständen entsprechend so fair verhielt, daß Magdalene Scholl 1947 eine für die Verteidigung zentrale Entlastungsaussage abgab. 97 Natürlich lag es zum guten Teil an der überaus schwammigen Formulierungsweise nationalsozialistischer Gesetze, daß Prozeßbeobachter, aber auch Verteidiger und Angeklagte kaum abschätzen konnten, wie das Urteil ausfallen würde; oft waren Strafrahmen von wenigen Monaten Gefängnis bis zur Todesstrafe möglich. Das Ermessen des Richters, insbesondere seine Entscheidung, ob die verhängnisvollen Etiketten »Gewalt-« oder »Gewohnheitsverbrecher«, »Volksschädling« usw. Anwendung finden sollten, war hier ausschlaggebend. Daß unter solchen Umständen Cuhorsts Launenhaftigkeit 98 , seine Starrköpfigkeit und Geltungssucht im Gerichtssaal entscheidenden Einfluß auf die Urteilsfindung haben mußten und den Fällen brutaler Aburteilung solche relativer Großzügigkeit entgegenstanden, war daher in gewissem Maße unvermeidlich. Im ganzen aber müssen Cuhorsts Strafmaße im Vergleich als mäßig angesehen werden. Stefan Baur 126 95 Im September 1944 wurden die wichtigsten Justizgebäude durch Bomben zerstört, wodurch fast alle Akten des Sondergerichts verloren gingen. Bericht Küstners an das Reichsjustizministerium, 27. September 1944, BA R22 2328. 96 Verteidiger Schöck an OB Klett, November 1946, STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Heft 3 Bl. 678. Ähnlich auch Dr. Wacker STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 20, sowie mehrere Aussagen der Verteidigung in STALB EL 902/ 20 IX E. 97 1938 verhandelte Cuhorst gegen die wegen Fortführung verbotener bündischer Jugendaktivitäten verhafteten Brüder Hans und Werner Scholl, 1943 gegen die Eheleute Scholl und eine ihrer Töchter. Im ersten Prozeß wurden die Kinder freigesprochen, wie auch Frau und Tochter Scholl im zweiten, was sie selbst als mild empfanden, während freilich Robert Scholl wegen »Rundfunkverbrechen« zu eineinhalb Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Eidesstattliche Erklärung Magdalene Scholl, 3. Mai 1947, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S. 106 (Dok. Nr. 59), Robert Scholl STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 60 f. (Protokoll Spruchkammer); ferner Aicher-Scholl, Inge (Hrsg.), Sippenhaft. Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo-Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl, Frankfurt/ Main 1993, S. 98 f. 98 Vgl. z.B. Steinle IfZ NG 572, auch STALB EL 902/ 20 II/ 2 Bl. 612, ferner Oberstaatsanwalt Wagner in STALB EL 902/ 20 XI E 48 f., ebenso RS Engelhorn, STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 45. <?page no="128"?> Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit war nicht nur im Fall des SG Stuttgart selbst für staatstreue Juristen ein unangenehmes Problem, welches durch Cuhorsts Eigenarten höchstens an Schärfe gewann. OLG-Präsident Küstner beschwerte sich einmal vorsichtig beim RJM über diese Schwierigkeit, und dort war die Klage wohlbekannt. 99 Daß der Grund in der politischen Gesetzgebung und ihrer vagen, von dehnbaren Allgemeinbegriffen durchsetzten Formulierungen lag, war offensichtlich, ebenso aber, daß daran nichts geändert werden sollte. So wählte man einen besonders perfiden Weg, die Schwierigkeit anzugehen: Der Begriff der Rechtssicherheit wurde umgedeutet in dem Sinn, daß das »Recht« des Einzelnen darin bestehe, jedes Verbrechen gesühnt zu wissen - und zwar im Zweifel unabhängig von den gesetzlichen Grundlagen. Denn der alte Rechtsgrundsatz des nulla poena sine lege war bereits dem Spruch nulla crimen sine poena gewichen, der im Zweifel immer die juristische Berufung auf Phrasen wie das »gesunde Volksempfinden« erlaubte, um zu irgendwelchen Verurteilungen zu kommen. 100 Neben solchen theoretischen Verrenkungen wurden regelmäßig auch die besonderen Lenkungsinstrumente, die von 1933 an zur direkten Beeinflussung der Rechtspraxis geschaffen wurden, eingesetzt, um das Strafmaß zu korrigieren. Tatsächlich war, wie Cuhorst später in seinen Verteidigungen stets betonte, auch das SG Stuttgart solchen Lenkungsversuchen auf vielfältige Weise ausgesetzt 101 , und die in diesem Zusammenhang entstandenen Schriftstücke werfen heute, wie unmittelbar nach dem Krieg, gewisse Probleme bei der Beurteilung von Cuhorsts Richtertätigkeit auf. Wie bei allen Sondergerichten wurde der Tenor der in Berlin erlassenen Richtlinien und »Richterbriefe«, ebenso der Beanstandungen mit jedem Kriegsjahr härter, und in zunehmendem Maße wurden einzelne Urteile kassiert, sei es, weil sie »ungünstige stimmungsmäßige Auswirkungen« hatten, dem Ansehen der Partei zuwiderliefen oder ein Exempel statuieren sollten. Bei aller Entschlossenheit im Kampf für die »Bewegung« reagierte Cuhorst nun aber außerordentlich stur, was Kritik an seinen Urteilen anbetraf. Nicht nur er selbst betonte, daß er »niemals« irgendwelchem »Druck von oben nachgegeben« 102 hätte, sondern ebenso eine Reihe von Zeugen aus dem Oberlandesgericht. Selbstverständlich konnte er damit keines- Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 127 99 Lagebericht Küstners an das RJM, 4. Dezember 1943, STALB EL 902/ 20 IX, »Lageberichte«, auch STALB K 601/ 2 (Lagebericht vom 2. März 1940). 100 Grundsatzvortrag Heydrichs an alle SD-Stellen, aus den SD-Berichten des BA, JM »Material BAK« Bl. 83 - 300. 101 So z.B. in einem Brief des RJM an den OLG-Präsidenten und den Oberstaatsanwalt, 5. Juli 1944, worin allerdings die Stuttgarter Rechtsprechung allgemein, nicht ausdrücklich Cuhorst kritisiert (JM Gnadenverfahren Bd. I Bl. 11) und der Staatsanwaltschaft ausdrücklich mitgeteilt wird, daß sie künftig ihre Strafanträge »mitzuteilen habe« (ebd. Bl. 15). Auch die von Cuhorst selbst gern erwähnte Aussage Dr. Schlechts weist darauf hin, daß die Berliner Kritik sich stets an die Stuttgarter Rechtsprechung im Ganzen wandte, nicht an Cuhorst als Vorsitzenden (JM Gnadenverfahren Bd. 1 Bl. 127), während er vor der Spruchkammer sagte: »Meine Herren, den Kopf mußte ich hinhalten! «, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 228 (Schlußwort Cuhorsts). 102 Eidesstattliche Erklärung Cuhorsts, 16. Januar 1947, IfZ NG 644 S. 2. <?page no="129"?> wegs verhindern, daß eine Reihe von Urteilen sowohl zu Gunsten als auch zu Ungunsten der Angeklagten aufgehoben wurden, aber es gab ihm doch die Rechtfertigung zu behaupten, seine spätere Abordnung zur Wehrmacht sei eine politische Strafmaßnahme gewesen, ein Ergebnis der fortgesetzten Rügen. Während diese Behauptung angesichts der Aktenlage unglaubwürdig ist, darf die Sturheit Cuhorsts auch dem Reichsjustizministerium gegenüber angesichts der verschiedenen Beschwerden als gesichert gelten. Im späteren Gnadenverfahren trug das baden-württembergische Justizministerium mittels einer Anfrage bei allen Länderjustizverwaltungen Materialien zusammen, die einen bruchstückhaften, dennoch erhellenden Vergleich dieser Maßregelungen mit denen anderer Sondergerichte zulassen. Daraus ging hervor, daß eine Reihe anderer Gerichte in gleichem Ton gerügt wurden, und ferner, daß andere Sonderrichter oder Staatsanwälte (wie Cuhorsts Vorgänger Flaxland) ersetzt wurden, wenn die Konflikte überhand nahmen 103 , also weder Cuhorsts Rechtsprechung noch die Beanstandungen daran ganz aus dem Rahmen des Üblichen fielen. 104 Eine »Widerstandshaltung« aus den Rügen des Reichsjustizministeriums ableiten zu wollen, wie es Cuhorst in den 60er Jahren einmal versuchte, bleibt somit zweifelsfrei grotesk, gleichwohl kann das SG Stuttgart nicht allein wegen seines schlimmen Rufes als außergewöhnlich hart bezeichnet werden. Cuhorst selbst legte später Wert auf die Feststellung, er habe auch niemals vor der Verurteilung von Parteigenossen zurückgeschreckt und hätte demnach nicht politisch geurteilt. Das Belegmaterial für dieses Argument ist allerdings dünn, und es bleibt erstaunlich, wie ernst diese Behauptung in späteren Prozessen genommen wurde, um so mehr, als auch gegenteilige Aussagen existieren. 105 Daß Cuhorst zwar Stefan Baur 128 103 Beispiele: In Hamburg wurden 40 Rügen des RJM gefunden, sowie ein Schreiben des Reichjustizministers, worin die Urteile »als bedenklich milde [...] und unter dem Reichsdurchschnitt liegend« bezeichnet werden (JM Gnadenakten Bd. I Bl. 136). Aus Rheinland-Pfalz ging eine Liste mit 13 beanstandeten Urteilen und ein Blatt allgemeiner Rügen ein, sowie eine recht mutige Rechtfertigung des Zweibrückener Landgerichtspräsidenten (ebd. Bl. 141 - 143), ähnliches aus Nordrhein-Westfalen (ebd. Bl. 145). Besonders gemaßregelt wurde das SG Köln, das auf Betreiben des RJM personell umbesetzt wurde, ebenso wie das SG Hamm, wo »einer der Hauptbeteiligten [am gerügten Urteil] Soldat geworden, ein anderer nicht mehr Mitglied unseres Sondergerichts [ist].« (ebd. Bl. 146 - 156) Auch das SG Düsseldorf fiel »seit geraumer Zeit [...] durch eine allzu milde Rechtsprechung bei Kriegsstraftaten auf«, ebd. Bl. 184. 104 Der Gnadenreferent faßte zusammen: »Demgegenüber kann die Rechtsprechung der von Cuhorst geleiteten Spruchgremien im Verhältnis zur Judikatur anderer Sondergerichte und Strafsenate nicht als einmalige Sondererscheinung bezeichnet werden. [...] Endlich ist zu konstatieren, daß teilweise auch anderwärts unliebsam gewordene SG-Vorsitzende erheblichen persönlichen Angriffen und Nachteilen ausgesetzt waren.« (JM Gnadenakten Bd. II Schlußbericht Bl. 384 ff.) Die Spruchkammer sah auch Cuhorsts außergewöhnlich lange Amtszeit als SG-Vorsitzender als Zeichen für hinreichende Konformität, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89. Entsprechende historische Untersuchungen (mit durchaus ähnlichem Ergebnis) gibt es nur wenige, vgl. etwa Schwarz, Alfons, Rechtsprechung durch Sondergerichte. Zur Theorie und Praxis im Nationalsozialismus am Beispiel des Sondergerichts Berlin, Augsburg 1992. 105 Im wesentlichen Zeugenaussagen der Verteidigung im Nürnberger Prozeß bestätigen dies, belegt <?page no="130"?> auch »Parteigenossen« - mindestens gelegentlich - äußerst hart bestrafte 106 , ändert ohnehin wenig am ausdrücklich politischen Zweck, dem er sein Richteramt in voller Überzeugung unterordnete. Ein beispielhafter Beleg für seine Art politischer Rechtsprechung, der den Gesamteindruck eines politischen Richters unterstützt, ist das Nachspiel eines SG-Prozesses gegen einen katholischen Geistlichen im April 1940: Cuhorst machte dabei über den Freiburger Erzbischof Gröber die Bemerkung, dieser habe »den geringsten Anlaß, sich über sittliche Entgleisungen von Mädchen auszulassen«, worüber sich Gröber postwendend beim RJM beschwerte. 107 Auf dessen Vorhaltungen erklärte Cuhorst: »Ich bin seit 10 Jahren im aktiven Kampf der Bewegung. Gerade im Kreis Sigmaringen habe ich wiederholt als Gauredner gesprochen. Meine Haltung ist heute noch so, daß ich die spontane Bemerkung nicht unterdrücken konnte. [...] sie entsprach lediglich meiner politischen Überzeugung.« 108 Als Entschuldigung wurde dies im Übrigen nicht anerkannt, da »nicht Ihre Tätigkeit als Gauredner, sondern ausschließlich Ihre Verhandlungsleitung« zur Erörterung stünde, und ihm deshalb das »Mißfallen« ausgesprochen werden müsse. 109 Ein für Cuhorst sonst auffallend günstig aussagender Staatsanwalt sah sogar allgemein »eine persönliche Schuld Cuhorsts [...] darin, daß er als Richter den Wünschen und Richtlinien des RJM nachgegeben hat.« 110 Mit dem Beginn des Krieges, der auch in Stuttgart nicht mehr wie 1914 mit Jubel begrüßt wurde, verschärfte sich die Gangart der Sondergerichte, und insbesondere vergrößerte sich ihr Zuständigkeitsbereich um zahlreiche kriegsbedingte Delikte. Die meisten der mindestens 120 Todesurteile des Sondergerichts und auch die für Cuhorst später verhängnisvollen Prozesse fallen in die Zeit ab 1942, seit der er auch, vor allem wegen der hohen Arbeitsbelastung, zunehmend die Lust am Sondergerichtsvorsitz verlor. Während Cuhorst in dieser Zeit erst zu seiner Bekanntheit gelangte, bahnte sich ab 1943 bereits das Ende seines SG-Vorsitzes an. Trotz des Eifers, den er als Sonderrichter an den Tag legte, strebte er offenbar schon früh nach »höheren Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 129 durch eine Anzahl entsprechender Urteile; »offizielle« Kritik daran konnte aber nicht nachgewiesen werden. Generell wurde ausgesagt, daß Cuhorst in harmlosen politischen Fällen (Anklagen wegen des »Heimtückegesetzes«) milde urteilte, nicht aber bei Kriegswirtschafts- oder gar Kapitalverbrechen, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 1 - 12, diverse Stellen. 106 Z.B. »Fall S[.]«, IfZ NG 718. 107 JM RJM-Personalakte Bl. 10. Zu den Anschuldigungen gegenüber dem Freiburger Erzbischof siehe Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die nationalsozialistische Diktatur, Karlsruhe 1986, S. 96 ff. 108 STALB 902/ 20 VI/ 1 Bl. 219. 109 JM RJM-Personalakte Bl. 14. Cuhorst sagte später, er habe nicht öffentlich sagen dürfen, daß Gröber selbst förderndes SS-Mitlied gewesen war, und dies sei der Hintergrund der Anspielung gewesen, womit nicht erklärt ist, weswegen er sich im internen Schriftverkehr nicht darauf berief, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 8 (Protokoll Spruchkammer). 110 STALB EL 902/ 20 VI/ 1 Bl. 22. <?page no="131"?> Posten« 111 , aber auch nach der Möglichkeit, »zum Heer zu kommen«. 112 Letzeres hatte er nach eigenen Angaben schon wiederholt, »zuletzt 1940« 113 versucht, während er sich nach dem Krieg in zunehmendem Maße auf seine Einberufung bezog, um seine angebliche Maßregelung seitens des Ministeriums zu belegen. Daß sich in seinem politischen Fanatismus etwas geändert hätte und er ähnlich wie sein Vorgänger Flaxland Skrupel bekam, ist praktisch ausgeschlossen: Die Zeugnisse seiner ungebrochenen Überzeugung reißen bis 1945 nicht ab. 114 So brach er im September 1942 einen beinahe grotesken Streit im Alpenverein vom Zaun, der einiges Licht auf seinen Fanatismus wie auf seine Art, mit anderen Menschen umzugehen, wirft. Cuhorst nahm Anstoß daran, daß einige der Vereinssektionen gelegentlich als »Zweig« firmierten, und verfaßte eine »geharnischte Anregung«, in der sein übersteigerter nationalsozialistischer Führerfanatismus zum Ausdruck kommt: »Lieber Herr Doktor! [...] Mit dem Zweig muss jedoch aufgeräumt werden. [...] Ich bitte Sie, Herrn [...] dringendst zu sagen, daß es für einen Nationalsozialisten unerträglich sei, etwas zu tun, was dem Willen des Führers straks zuwiderläuft. [...] Wenn dies in der nächsten Zeit nicht aufhört, so werde ich dafür sorgen, daß den Teutschen eine Belehrung zuteil wird« usw. 115 Auch sein Verweis vor dem Parteigaugericht, den er später immer wieder als Beleg für sein nichtkonformes Verhalten anführte, spricht dem nicht entgegen. Cuhorst hatte in einem Prozeß ein »Parteimitglied bloßgestellt« und dabei von einem Herrn mit »Lametta« gesprochen, was ihm als »schwere Entgleisung« angerechnet wurde. Unter Berücksichtigung seiner langen Parteimitgliedschaft und weil ihm eine bewußte »Schädigung des Ansehens der Partei« als altem Nationalsozialisten ferngelegen habe, erhielt er auf Antrag des Gauleiters einen Verweis, die niedrigste mögliche Strafe. 116 Auch das von Zeugen häufig bestätigte Bemühen Cuhorsts, zu einer Stefan Baur 130 111 IfZ NG 1983 S. 3, auch OStA Wendling in STALB EL 902/ 20 VIII E 48. 112 So Cuhorst selbst in einer im April 1943 in Stuttgart verfaßten Notiz über seine Unterredung mit Ministerialrat Köhler, RJM am 12. April 1943, IfZ NG 983 S. 13. Gleiches bezeugte seine ehemalige Haushälterin, STALB EL 902/ 20 IX E 78. 113 Wie Anm. 112. 114 Ähnliche Radikalität bezeugt seine vielleicht letzte Rede von 1943, in der er den Endsieg beschwor, die Propaganda-Analogie zu Friedrich dem Großen und seiner »Rettung« im siebenjährigen Krieg zog und schließlich noch »nachdrücklich vor Schwätzereien im Sinne der feindlichen Agitation« warnte (»Der Teckbote«, 3. November 1943, S. 3). Unbeugsames Durchhalten, um einen neuen »November 1918« zu verhindern, schien ihm noch 1948 »selbstverständlich«, STALB EL 902/ 20 Teil 6, Nürnberger Protokoll, S. 7799. 115 Brief Cuhorsts, 8. September 1942, MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. 116 Urteil des Gaugerichts Württemberg-Hohenzollern, 26. November 1943, IfZ NG 2169. Die Angelegenheit wurde insbesondere von Cuhorsts Verteidigung vor der Spruchkammer zu einer für ihn geradezu gefährlichen Anklage stilisiert, die zum Zweck seines Parteiausschlusses betrieben worden sei. Weder das Gerichtsprotokoll noch die detaillierte Aussage eines von der Spruchkammer ausfindig gemachten Zeugen bestätigen diese Version, so daß es angemessen scheint, den Vorgang als von geringer Bedeutung anzusehen. Einer der damaligen Gaugerichts-Beisitzer sprach von einer »minimalen Angelegenheit«, STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 350. <?page no="132"?> objektiven Aufklärung des Sachverhalts zu gelangen, sowie seine Neigung, »leichte« politische Vergehen (nach dem »Heimtückegesetz«) im Gegensatz zu »Kriegswirtschaftsverbrechen« nachsichtsvoll zu beurteilen, ändern am Eindruck einer nationalsozialistischen Rechtsprechung wenig. 117 Die von Entlastungszeugen mehrfach bezeugte Tendenz Cuhorsts, korrupte NS-Funktionäre besonders hart zu bestrafen, belegt im Gegenteil den Vorwurf politisch motivierter Rechtsprechung. Eine echte Gelegenheit zur beruflichen Veränderung ergab sich 1943, als nach der Berufung des Generalstaatsanwaltes Vollmer ins RJM der Posten des Amtsleiters für Recht beim Reichskommissariat Ukraine frei wurde. Nach Erinnerung des stellvertretenden Leiters der Justiz im Ostministerium, Dr. Quint, wurde Cuhorst von Ministerialrat Köhler vorgeschlagen, der ihn als »etwas eigenwilligen Mann« bezeichnete, »der sich aber um die Partei sehr verdient gemacht habe und deshalb [...] mit Vorsicht behandelt werden müsse« 118 : »Die Reichsjustizverwaltung, jedenfalls die Personalabteilung, sei nicht geneigt, diesen Wünschen, besonders nicht in dem von Cuhorst begehrten Umfange, zu entsprechen, befinde sich aber mit Rücksicht auf die politischen Beziehungen von Cuhorst in einer schwierigen Lage, würde deshalb eine dem Ehrgeiz Cuhorsts befriedigende Verwendung im Bereich des Ostministeriums begrüssen.« 119 Quints Vorgesetzter Wilhelmi griff diesen Vorschlag wegen der politischen Zuverlässigkeit Cuhorsts sofort auf, weswegen es nicht nur Quint im übrigen für »ganz ausgeschlossen« hielt, daß man im RJM mit Cuhorsts Rechtsprechung als zu milde nicht zufrieden gewesen wäre. 120 So erfolgte Mitte März die Abstellung Cuhorsts zum Reichskommissar für die Ukraine in Rowno, zunächst für zwei Wochen. 121 Cuhorst, der in »völlig ungewöhnlicher» Weise bereits ein »Volksdeutsches Mädchen zur Bedienung! « und »Im Dienstzimmer Führerbild« angeordnet hatte 122 , kehrte jedoch bereits Mitte April nach Stuttgart zurück, zur »großen Bestürzung« 123 mancher Stuttgarter. Seine Rückreise aus Rowno nutzte er zu einer Besprechung im Reichsjustizministerium in Berlin, worin er unverhohlen seine Enttäuschung über die Stelle in Rowno darlegte, sowie seinen »lange gehegten Wunsch« nach Versetzung bekräftigte. Wie auch in einem nachgereichten Schreiben bat er um Zuteilung eines »entsprechenden Landgerichtes in den Reichsgauen der Alpen und Donauländer«, da er durch seine Alpenvereinstätigkeit mit dem Raum und seinen Rechtsfragen besonders vertraut sei Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 131 117 Beispielhaft Eckert, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 4 S.19 - 40. 118 Aussage Quint, 19. Juli 1947, IfZ NG 1983 S. 3. 119 Wie Anm. 118. 120 Vgl. auch Aussage OLGRat Dr. Gramm, 3. Juli 1947, IfZ NG 1883. 121 Zu einer unterrichtenden Tätigkeit bei der »Hauptabteilung Rechtswesen«, Marschbefehl, IfZ NG 983 und JM RJM-Personalakten Bl. 20. Verteidiger Dr. Brieger gab in Nürnberg an, Cuhorst hätte das OLG Rowno übernehmen sollen, aber letztlich aus Heimatverbundenheit abgelehnt, was jedoch nicht nachprüfbar ist, STAN KV-Prozesse Fall 3 G 12 S. 57. 122 IfZ NG 983 Bl. 6 Rückseite und IfZ NG 1983. 123 Aussage Hüttenwirtschafterin Frieda Renz, IfZ NG 795 S. 2. <?page no="133"?> und eine solche Stelle, etwa in Klagenfurt, »eine ideale Verbindung politischer, dienstlicher und persönlicher Betätigung« wäre. 124 Als weiteren Grund nannte er den Wunsch nach beruflicher Abwechslung; möglicherweise spielten aber auch die Anforderungen seiner Position eine gewisse Rolle. Immerhin war Cuhorst Mitte des Jahres für über drei Monate an einem »nervösen Erschöpfungszustand« erkrankt, »infolge beruflicher und politischer Überanstrengung«. 125 Schon der Selbstvorschlag war ungewöhnlich und machte die Angelegenheit zu einem Ärgernis für die zuständigen Stellen im RJM 126 , verstärkt noch durch die unbescheidenen Wünsche Cuhorsts (»zum Vizepräsident eigne ich mich nicht« 127 ) und seine ausdrückliche Klage, daß das Landgericht Ravensburg bereits vergeben wurde. Es gibt keine Dokumente darüber, ob in den folgenden Monaten irgendwelche Schritte unternommen worden sind, Cuhorsts Wünschen nachzukommen, oder sich dieser selbst weiter darum bemühte. Weiterhin versah er, ohne daß das SG Stuttgart wie andernorts durch weitere Sondergerichte entlastet wurde, den Senats- und SG-Vorsitz. In diesem Jahr setzte er sich auch zum Hüttenwart des Harpprechtshauses ein, um trotz wohlmeinender Warnungen seine Familie aus dem schwer bombardierten Stuttgart auszuquartieren. 128 Fast ein Jahr später, auf einer Tagung der SG-Vorsitzenden im Juni 1944 in Cochem, erhielt Cuhorst eine geradezu verheerende Beurteilung, ausdrücklich von jemandem, der ihn seit langem kannte. Darin hieß es, er sei für »seine z.T. unerträglich milden, weit unter dem Reichsmaßstab liegenden Urteile« bekannt, »Hinweise und Nichtigkeitsbeschwerden machen auf ihn keinen Eindruck. Er gilt auch in Stuttgart als starr und rechthaberisch [...] Mit seiner Linie wird - so oder so - zu brechen sein.« 129 Nähere Einzelheiten, wer diese Beurteilung aufgrund welchen Materials verfaßte, sind leider nicht erhalten; es bleibt Spekulation zu sagen, daß auch hier Cuhorsts wenig entgegenkommender Charakter eine große Rolle gespielt haben dürfte und die Vorwürfe wegen Milde möglicherweise nur vorgeschoben waren. Diese Beurteilung, zusammen mit Cuhorsts Verweis durch das Parteigericht und seinen wiederholten Versetzungswünschen, wurde von Ministerialrat Köhler in nicht gerade wohlwollender Weise zusammengefaßt. Nach einer Besprechung und einem »Vortrag vor Herrn Minister« im RJM, in der keine passende Landgerichtsstelle gefunden werden konnte, wurde dann Cuhorsts Einberufung zur Wehrmacht angeordnet 130 , deren Vollzug sich allerdings noch um gut zweieinhalb Monate verzögern sollte. Es liegt anhand dieses Ablaufs nahe, in der scheinbar plötzlich vom Minister selbst Stefan Baur 132 124 Cuhorst an Köhler, 15. April 1943, IfZ NG 583. 125 Personalbogen RJM, STALB EL 902/ 20 I Bl. 15, »Stammliste« und Bl. 27. 126 Wie Anm. 118. 127 Wie Anm. 124. 128 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. 129 Beurteilung, 14. Juni 1944, JM RJM-Personalakte Bl. 29. 130 JM RJM-Personalakte Bl. 30. <?page no="134"?> angeordneten Einberufung eine Art Abstrafung zu sehen, und dieser Sicht schlossen sich manche spätere Beurteilungen an. Auch Zeugenaussagen nach 1945 ließen diese Vermutung zu; zwar wurde verschiedentlich gesagt, Cuhorst habe sich zur Wehrmacht »geflüchtet« 131 , um seiner Verantwortung zu entgehen, doch blieb dies eine unüberprüfbare Behauptung. Bedenkt man aber Cuhorsts eigene Aktennotiz vom Vorjahr 132 und berücksichtigt die Dokumente des Alpenvereins 133 , so bleiben kaum Zweifel daran, daß er sich tatsächlich um die Einberufung bemüht hatte, und zwar als Alternative zu einer Landgerichtspräsidentschaft. Kurz bevor Cuhorst zu einem Wachbataillon in Norwegen abkommandiert wurde, zeigte er seinen Alpenvereinskameraden Bieger, der durch wiederholte »defaitistische Reden« sowie Abhören englischer Sender aufgefallen war, bei der Gestapo an. 134 Ausschlaggebend waren wohl die damals schon schweren Querelen zwischen den diversen Bewohnern des Harpprechtshauses 135 , wo die angezeigten Vorfälle stattgefunden hatten. Auch wenn Cuhorst den Betroffenen von seiner Anzeige in Kenntnis setzte, läßt die ausführliche Verhandlung des Falles vor der Spruchkammer den Schluß zu, daß Cuhorsts ungebrochener Fanatismus zu der faktisch überflüssigen und glücklicherweise folgenlosen Denunziation führte. 136 In diesen letzten Wochen vor seiner Einberufung überwarf er sich schließlich noch mit anderen langjährigen Vereinsfreunden, die er selbst noch aus Norwegen mit wüsten Briefen bedachte. 137 Vom Krieg erlebte Cuhorst nur noch ein knappes halbes Jahr ruhigen Etappendienstes. Einige Monate nach der Kapitulation wurde er als Gefangener nach Mulsanne (bei Le Mans) verbracht und dort am 17. November verhaftet, um im Nürnberger Juristenprozeß angeklagt zu werden. 138 Etwas über ein Jahr nahmen Vorbereitung und Durchführung dieses Prozesses in Anspruch, der in Fortsetzung des Hauptkriegsverbrecherprozesses durchgeführt wurde und, zu Cuhorsts Gunsten, wesentliche Intentionen der dortigen Anklagepunkte übernahm. Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 133 131 Amtsgerichtsrat Frey sagte aus, es seien bei Cuhorsts überraschender Einberufung entsprechende Gerüchte umgegangen. STALB EL 902/ 20 VII/ 2 Bl. 622 und IfZ NG 570. 132 Wie Anm. 112. 133 In einem Brief seines langjährig befreundeten - und letztlich ebenfalls vergraulten - Vereinskameraden und Beisitzer am SG Hegele, 18. Januar 1945, heißt es: »Wenn Du [Cuhorst] seit dem Entstehen Deines Planes, Soldat zu werden, [...]« MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. Auch Ministerialdirektor Dr. Dill, STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 30 (Protokoll Spruchkammer). 134 STALB EL 902/ 20 XV, darin auch zahlreiche NG-Signaturen, insbesondere NG 808. 135 So wurde das Haus neben den Bewirtschaftern zusätzlich von HJ-Angehörigen samt Betreuern und weiteren Angehörigen von Alpenvereinsmitgliedern bewohnt, unter denen einige Spannungen bestanden, wie Anm. 134 und MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. 136 Vgl. Anm. 134 sowie STALB EL 902/ 20 XVIII (Protokoll Spruchkammer). 137 MDAV, Akten der Sektion Schwaben bis 1945. Cuhorst war unmittelbar vor seinem Abmarsch nach Norwegen in Tübingen auch an Militärgerichtsverfahren beteiligt, zu denen aber keine Unterlagen mehr vorliegen (vgl. Stellungnahme seines Anwalts, 12. April 1948, STALB EL 902/ 20 XV/ »Fall Brieger«). 138 ZStLB, Personalblatt Hermann Cuhorst. <?page no="135"?> Die Verteidigung hatte, anders als im späteren Spruchkammerverfahren, deutlich mehr Material zusammengetragen als die Anklage 139 , insbesondere auch zu den (scheinbaren) Entlastungsmomenten der RJM-Rügen, des Parteigerichtsverfahrens und der Einberufung von 1944. Schon die genaue Formulierung der Anklagepunkte 140 muß Cuhorst hoffnungsfroh gestimmt haben, denn weder die begeisterte Beteiligung an der NS-Justiz noch die brutale Art der Verhandlungsführung bzw. die willkürliche Strafzumessung waren entscheidende Anklagepunkte, obwohl sich der Gerichtshof mit der Verdammung des NS-Rechtssystems nicht zurückhielt. 141 Trotz zahlreicher allgemein belastender Dokumente, die freilich in manchen Fällen »im Kreuzverhör abgeschwächt« 142 wurden, konnte Cuhorst im Sinne von drei der vier Punkte der Anklage demnach nicht belangt werden 143 , da er nie entscheidenden Einfluß in den wichtigsten nationalsozialistischen Organisationen hatte und Details seiner Urteilsfindung wegen des Verlustes der Sondergerichtsakten nicht rekonstruierbar waren. Nur »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« kamen im Fall Cuhorst in Frage, welche allerdings dahingehend spezifiziert wurden, daß nur noch die systematische Anwendungen völkerrechtswidriger rassistischer Gesetze sowie Verschleppungen strafwürdig waren. 144 Da kaum Akten zu Urteilen gegen Polen oder Juden vorhanden waren, eine Verurteilung wegen der »willkürliche[n], unfaire[n] und unrichterliche[n] Art« Cuhorsts jedoch von vorneherein ausschied, hieß es im Urteil: »Nach dem vorhandenen Beweismaterial erachtet sich der Gerichtshof nicht in der Lage, in einer über jeden vernünftigen Zweifel erhabenen Weise erklären zu können, daß der Angeklagte schuldig sei, Strafen aus rassistischen Gründen verhängt zu haben, oder [...] sagen zu können, daß er die diskriminatorischen Bestimmungen der Polen- und Judenstrafrechtsverordnung zum Nachteil der Polen anwandte, die er aburteilte.« 145 Stefan Baur 134 139 V.a. STAN KV-Prozesse Fall 3 G1 - 12. 140 1. Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 2. Kriegsverbrechen, 3. Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 4. Zugehörigkeit zu verbrecherischen Organisationen, vgl. Protokoll/ Urteilsbegründung des IMT vom 3. Dezember 1947, JM Beiheft zu B IIIc Bl. 2 - 57 sowie STALB EL 902/ 20 Teil 5. 141 »Der Dolch des Mörders war unter Robe des Juristen verborgen.«, JM IMT-Protokoll, S. 10402. 142 JM IMT-Protokoll, S. 10637. 143 Wegen Punkt eins war Cuhorst nicht angeklagt, bzgl. Punkt zwei wurde er mangels Beweisen, bzgl. Punkt vier wegen geringer formaler Belastung freigesprochen: »Es liegt [...] kein Beweis vor, der anzeigen würde, daß das Amt eines Gaustellenleiters das eines Amtsleiters im Stabe der Gauleitung war.« (JM IMT-Protokoll, S. 10635). 144 Die Anwendung der Bestimmungen gegen »Gewohnheitsverbrecher«, Plünderer, »Kriegswirtschaftsverbrecher«, teilweise auch »Wehrkraftzersetzer« sowie »Hoch- und Landesverräter« reichten nach Ansicht des Gerichtes »allein« nicht aus, vgl. JM IMT-Protokoll, S. 10455. 145 JM IMT-Protokoll S. 10637. Angesichts der heute wenig glaubwürdigen Entlastungsmomente und der im späteren Spruchkammerverfahren zusätzlich belegten Verhaltensweisen Cuhorsts kann dieser Spruch, besonders im Vergleich mit dem für schuldig befundenen Nürnberger Sonderrichter Öschey, als für Cuhorst durchaus glücklich angesehen werden. In dessen Urteilsbegründungen wurden Zitate angeführt, die sich ähnlich auch bei Cuhorst finden. <?page no="136"?> So erfolgte am 3. Dezember Cuhorsts Freispruch, verbunden mit sofortiger Haftentlassung und freiem Geleit. Mit diesem Ende des »Juristenprozesses« war Cuhorst fortan von seiner Unschuld im vollen Wortsinn überzeugt 146 , und die nächsten 20 Jahre widmete er in erster Linie seinen Rehabilitierungsversuchen, wobei er es fertig brachte, sich im Laufe der Jahre immer mehr als unschuldig politisch Verfolgter darzustellen, während auch nur eine Andeutung von Selbstkritik niemals von ihm zu hören war. In Stuttgart erhob sich indessen ein ungewöhnlicher Sturm der Entrüstung. Trotz der schwierigen Lebensumstände des Jahres 1947 fanden sich bei öffentlichen Versammlungen Hunderte von Teilnehmern ein, und zahlreiche Aussagen und Hinweise erreichten den öffentlichen Kläger wie auch die Stuttgarter Stelle der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes« (VVN). 147 Doch der Freispruch war nicht für jeden gänzlich unerwartet gewesen, denn die Entnazifizierungsbehörden in Stuttgart hatten bereits sehr konkrete Vorbereitungen für diesen Fall getroffen: Der wachhabende amerikanische Offizier der Nürnberger Haftanstalt machte bereits vor der Urteilsverkündung Polizisten in Zivil aus, die Cuhorst offenbar erwarteten, aber aus unklaren Gründen wegbefohlen wurden. 148 So konnte Cuhorst nach seiner Entlassung nach Kressbronn zum Haus seiner Mutter aufbrechen, wo er jedoch bereits am 9. Dezember 1947 aufgrund des Befreiungsgesetzes 104 verhaftet und nach Überstellung durch die französische Militärpolizei 149 erneut interniert wurde. Diese Schwierigkeiten bei der erneuten Verhaftung sorgten nochmals für große Empörung, insbesondere unter den Bediensteten der Spruchkammern, die sogar vielerorts in Streik traten. Befreiungsminister Gottlob Kamm (SPD) berief sich in einem Brief über seine Rücktrittsabsichten vom 8. Dezember 1947 ebenfalls ausdrücklich auf diesen Fall. 150 Die Vorbereitung des Spruchkammerverfahrens erwies sich als schwierig, da kaum unbelastete, qualifizierte Vorsitzende und Kläger gefunden werden konnten. 151 Umgekehrt war die Bereitschaft zahlreicher Zeugen, gegen Cuhorst auszusagen, Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 135 146 STAN KV-Prozesse Fall 3 G 12 S. 12. Im Schlußplädoyer hieß es ferner: »Ein Richter, der in diesem Sinne gewirkt hat und der jederzeit an das Gesetz gebunden war, kann kein Verbrecher sein.«, STAN KV-Prozesse Fall 3 G1 S. 12a. 147 Vgl. z.B. Akten der VVN Stuttgart: Protokolle der Kundgebungen, 14. Dezember 1947 im Sitzungssaal des Landtags und 26. Januar 1947 im Zirkus Schulte, Anzeige der VVN gegen Cuhorst, 14. Januar 1948; ferner »Stuttgarter Zeitung«, 17. Dezember 1947, 22. Januar 1947 (StAS) und 20. Dezember 1947, »Schwäbische Zeitung«, 27. Dezember 1947, Resolution des »Gesamtverbandes des Personals der öffentlichen Dienste und des Verkehrs«, 5. Dezember 1947, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89. 148 HSTAS EA 11/ 101 Bü. 364. Sowohl die Spruchkammer in Stuttgart als auch die in Nürnberg hatten Haftbefehle ausgestellt. 149 Aktenvermerk, 10. Dezember 1947, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 364. 150 HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89. Der offizielle Rücktritt Kamms erfolgte am 3. Februar 1948. 151 Die Justizbehörden weigerten sich, entsprechende Mitarbeiter zu verpflichten, so daß die Suche bis nach Baden weitergeführt werden mußte, JM Personalakten Bd. 1 Bl. 10 - 23. <?page no="137"?> enorm. Nach Aufrufen sowohl der Spruchkammer als auch der VVN in Presse, Rundfunk und auf öffentlichen Veranstaltungen trafen Aussagen und Hinweise aus ganz Württemberg ein. Auch die Ermittler der Spruchkammer arbeiteten gründlich und vermochten einige der zu Cuhorsts Verteidigung in Nürnberg angeführten Punkte zu entkräften. Cuhorst selbst, vertreten durch Dr. Mandry 152 , nutzte während seiner Internierung alle juristischen Möglichkeiten, um seine Situation zu verbessern: ständige Haftbeschwerden, Befangenheitsanträge, Dienstbeschwerden, eine Anfechtungsklage und sogar eine Anzeige gegen Befreiungsminister Kamm wegen Bemerkungen, die dieser über Cuhorst öffentlich geäußert hatte. 153 Das Verfahren wurde am 11. Oktober 1948 eröffnet, angesetzt auf zwei Wochen und mit 60 geplanten Zeugenvernehmungen. Im Vordergrund standen, wie im Entnazifizierungsgesetz vorgeschrieben, die Fragen nach formaler Belastung, Unterstützung der NS-Gewaltherrschaft und Nutznießerschaft. Wie im späteren Urteil ausdrücklich festgehalten 154 , kamen damit gerade auch solche Gesichtspunkte zur Sprache, die in Nürnberg nicht justitiabel gewesen waren: sowohl Cuhorsts Parteiengagement als auch seine fanatische, bis zuletzt öffentlich kundgetane NS-Haltung 155 , seine politisch begünstigte Karriere und, in besonderem Maß, Cuhorsts gefürchtete Verhandlungsführung und der Denunziationsfall Bieger vom Frühjahr 1945. Während seine Rednertätigkeit als wenig bedeutsam beurteilt wurde und die Spruchkammer Cuhorsts tatsächliche Funktion in der Partei ebenso als sekundär wertete, wurde ihm die - mindestens gelegentliche - Verquickung dieses Engagements mit seiner Richtertätigkeit als belastend angerechnet. Zur Wertung des Gaugerichtsverfahrens durch die Verteidigung hieß es: »Das Verhältnis zur Parteiführung war keineswegs so getrübt, wie es der Betr[offene] jetzt aus durchsichtigen Gründen darstellen möchte.« Dennoch wurde ihm zugute gehalten, sich im allgemeinen nicht korrumpiert zu haben, mit Ausnahme seiner beruflichen Karriere. Schwere Belastungen blieben dagegen die Denunziation Biegers und Cuhorsts Verhandlungsführung samt ihrer Folgen für die Öffentlichkeit 156 , wenngleich diese sich Stefan Baur 136 152 Mandrys Art der Verteidigung erregte schon damals heftigen Widerspruch; so teilte die Militärregierung der Spruchkammer im August 1948 mit, dessen Berufung auf den gegen »begründete Zweifel« erfolgten Freispruch in Nürnberg sei als »Beleidigung der Würde des Gerichtes« und »Unverschämtheit« aufzufassen, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89, Brief, 10. August 1948. 153 HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89 und STALB EL 902/ 20 I, III, und IV. Keiner dieser Versuche hatte den von Cuhorst gewünschten Erfolg, nicht zuletzt da wegen seiner Prominenz genau auf alle Vorgänge geachtet wurde. So verhinderte das Ministerium für politische Befreiung eine zeitweilige Haftentlassung (nicht einen kurzen Urlaub zur schwerkranken Mutter), und entzog ihm seine Funktion als »Lagerjurist« des Internierungslagers (ebd.). 154 Auch für das Folgende: Urteilsbegründung der Spruchkammer, 24. November 1948, STALB EL 902/ 20 XIII, auch HSTAS EA 11/ 101 Bü. 89. 155 Diese konnte ihm nicht verwerflich erscheinen, weil »ich nicht Nationalsozialist wurde, um einer Gewaltherrschaft zu dienen.« STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 229 (Protokoll Spruchkammer, Schlußwort Cuhorsts). 156 »[...] für das Rechtsgefühl der Zeitgenossen und für ihr Vertrauen in die Objektivität der Rechtsprechung«, STALB EL 902/ 20, XIII, Urteilsbegründung Spruchkammer S. 34. <?page no="138"?> nicht nachweislich in übermäßig harten oder systematisch zweifelhaften Urteilen niederschlug, wie die Spruchkammer ausdrücklich betonte. Daraus und aus den Einmischungen des RJM jedoch eine Art Widerstandshaltung zu machen, verwarf die Kammer angesichts Cuhorsts überzeugter Propagandatätigkeit: »Wenn der Betr[offene] schließlich selbst das Opfer [! ] dieser Entwicklung [der Instrumentalisierung und Lenkung der Justiz] geworden ist, als sie ein Ausmass angenommen hatte, das selbst er [...] als nicht mehr tragbar ansah, so kann das [...] das Mass seiner menschlichen und politischen Verantwortung nicht nennenswert herabsetzen [...].« Am Ende kam die Kammer zur Auffassung, daß »[...] der Betr[offene] der NS-Gewaltherrschaft ausserordentliche politische und propagandistische Unterstützung gewährt und aus ihr auch für seine Person nicht unerheblichen Nutzen gezogen hat.« 157 Der Urteilsspruch, der folglich Cuhorst am 24. November 1948 als »Hauptschuldigen« einstufte und mit viereinhalb Jahren Haft nebst empfindlicher Sühnemaßnahmen 158 belegte, war angesichts des Beweismaterials nicht unerwartet, dennoch in seiner Schärfe bemerkenswert. Unter den Stuttgarter Juristen, wahrscheinlich aber auch unter den zahlreichen Sonderrichtern, war diese Bestrafung einzigartig. In anderen Fällen begnügte man sich häufig mit vorzeitigen Pensionierungen oder einer Versetzung in untergeordnete Dienste, gelegentlich wurden Pensionsbezüge aberkannt. 159 Cuhorst hat die Rechtmäßigkeit wie das Urteil dieses Verfahrens stets bestritten; anfangs mit dem Hinweis auf den Rechtsgrundsatz ne bis in idem (niemand darf wegen desselben Vergehens zweimal verurteilt werden) 160 , mit der Zeit auch heftiger, durch Ablehnung der Spruchkammern (von ihm »Ausnahmegericht« genannt und mit den Sondergerichten verglichen 161 ) als Rechtsinstitution im allgemeinen. Er, der sich schon in Nürnberg »keiner Verbrechen bewußt« war, führte dieses Urteil nicht zuletzt auf »jahrelange Propaganda« und eine »einzigartige Hetzkampagne« gegen seine Person zurück. 162 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 137 157 STALB EL 902/ 20, XIII, S. 44 f. 158 U.a. Einzug allen Vermögens über 3000.- DM und aller Einkünfte über 300.- DM bis fünf Jahre nach Entlassung. 159 Vgl. auch hierzu die Anfrage des württembergischen Justizministeriums an die Länderjustizverwaltungen (wie Anm. 103) sowie JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 317. 160 Der in der nationalsozialistischen Praxis freilich ebenfalls abgeschafft war. Auch Cuhorst selbst hat mindestens einmal ein bereits rechtskräftiges Urteil (vier Jahre Zuchthaus wegen fortgesetzten Diebstahls) nach Bekanntwerden weiterer Diebstähle neu verhandelt und dabei auf Todesstrafe erkannt, obwohl es sich, so die Urteilsbegründung, »rein rechtlich gesehen [,] um dieselbe Tat« handelte, was Cuhorst im Kreuzverhör in Nürnberg erheblich in Schwierigkeiten gebracht hatte, IfZ NG 567 und STALB EL 902/ 20 Teil 4, Nürnberger Verhandlungsprotokoll, S. 7714 f. 161 Brief Cuhorsts vom 2. Januar 1951, JM Personalakten Bd. 1 Bl. 38. Verteidiger Mandry hatte im Spruchkammerverfahren sogar formuliert, Cuhorst werde »einer einzigartigen Sonderbehandlung unterworfen«, HSTAS EA 11/ 101 Bü. 364. 162 STAN KV-Prozesse Fall 3 G 12 (Schlußplädoyer) Bl. 12 bzw. STALB EL 902/ 20 XVIII Bl. 225 (Protokoll Spruchkammer, Schlußwort Cuhorst), STALB EL 902/ 20 Teil 6 (Berufung Cuhorsts gegen das Spruchkammerurteil). <?page no="139"?> Seit seiner Internierung juristisch auf Konfrontationskurs, verfaßte Cuhorst sofort eine umfängliche Darstellung seiner Sicht der Dinge und beantragte Revision. Im zweiten Spruchkammerverfahren wurden sachlich jedoch nur Details hinzugefügt, die Einstufung als Hauptschuldiger bestätigt und zudem das Strafmaß auf sechs Jahre Lagerhaft erhöht (der Kläger hatte zehn Jahre gefordet). 163 Mit diesem rechtsgültigen Spruch begann für Cuhorst eine schwierige Zeit, obwohl er bereits Ende 1950 entlassen wurde 164 und im Hause seiner gut versorgten Mutter leben konnte. Ohne Beschäftigung und Unterhaltszahlungen 165 sah er sich Ende 1951 zum ersten von sieben Gnadenanträgen veranlaßt 166 , und seine in diesem Zusammenhang in den nächsten Jahren verfaßten Briefe und Eingaben sind von bezeichnender Unfähigkeit, die eigene Rolle realistisch einzuschätzen. Insbesondere seine Äußerungen aus den 60er Jahren offenbaren eine völlige Verkennung der Realität und das Unvermögen, mit seiner Tätigkeit aus der Sicht rechtsstaatlicher Prinzipien - welche er für sich lautstark reklamierte - selbst ins Gericht zu gehen. 167 Die ersten Gesuche, noch verbunden mit der Bitte um Herabstufung zum »Belasteten«, schilderten seine »wirtschaftliche Notlage« 168 , die durch Krankheit, Vermögensverlust und Berufsverbot eingetreten sei, und führten offenbar ungerechtfertigterweise an, er sei der »einzige Strafgerichtsvorsitzende, der wegen seiner Haltung [bereits vor 1945] disqualifiziert worden ist. Welch eine Widerstandshandlung hätte man daraus herleiten können«. 169 Die ersten internen Beurteilungen waren durchaus wohlwollend; ihr Schwerpunkt lag auf der Überprüfung einiger Sondergerichtsurteile auf Rechtsbeugung. Diese angesichts der NS-Gesetzgebung zweifelhafte Herangehensweise war typisch für die Selbstbeurteilung der Justiz unmittelbar nach dem Krieg und hätte für sich allein genommen wohl auch zu einer teilweisen Rehabilitierung Cuhorsts geführt. Die bereits konkreten Überlegungen für eine Unterhaltsbeihilfe wurden jedoch im Stefan Baur 138 163 STALB EL 902/ 20 IV, Spruch der Berufungskammer, 14. Juli 1949. 164 Amtsärztliches Gutachten und Entlassungsverfügung STALB EL 902/ 20 Teil 4. 165 Auch die spätere großzügige Änderung des Befreiungsgesetzes, die den meisten Beamten ihre Pensionen wieder zusprach, galt ausdrücklich nicht für die (wenigen) »Hauptschuldigen«, so daß Cuhorst, wie ihm Mitte 1951 mitgeteilt wurde, keinerlei Pensionsansprüche mehr hatte, JM Personalakte Bd. 1 Bl. 34. 166 Übersicht in JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 302. Cuhorst strebte im folgenden Jahr auch eine Wiederaufnahme des Spruchkammerverfahrens an, was aber letztinstanzlich am 13. März 1953 abgelehnt wurde, STALB EL 902/ 20, Teil 4. 167 Als ein Beispiel von vielen Cuhorsts Sicht seiner Spruchkammerverurteilung: »Unter Missachtung grundlegender Rechtsbegriffe und durch bedenkliche Kunstgriffe wurde trotzdem gegen mich das erreicht, was ich den unter meinem Vorsitz Freigesprochenen stets erspart habe.«, Brief, 7. September 1964, JM Gnadenverfahren Bd. 1 Bl. 37 f. 168 Cuhorst an das Justizministerium, 3. Januar 1952, JM Personalakte Bd. 1 Bl. 39. In den Spruchkammerakten finden sich zahlreiche Unterlagen über die von Cuhorst über Jahre (bis zur gnadenweisen Erlassung) verschleppte Abwicklung der Sühnezahlungen, sogar über einen erfolglosen Pfändungsversuch des Amtsgerichts Tübingen, der daran scheiterte, daß alle pfändbaren Gegenstände angeblich im Besitz von Cuhorsts Mutter waren, STALB EL 902/ 20 Teil 4. 169 Brief Cuhorsts an das Justizministerium, 2. Januar 1952, JM Personalakte Bd. 1 Bl. 38. <?page no="140"?> Ministerrat als »zur Zeit noch verfrüht« abgelehnt 170 , worauf Cuhorst wieder von seinem »erwarteten Freispruch« im Nürnberger Verfahren, in das er »hineingezogen« worden sei, schrieb, und auch, daß ihm »nun gerade das Los bereitet« werde, »das [ihm] 1943 und 1944 von anderer Seite zugedacht war.« Im Lauf der Zeit fügte er, in einem erstaunlich fordernden und selbstsicheren Ton, immer mehr Elemente einer »Verschwörungstheorie« an, die aber vernünftigerweise keinen Glauben finden konnte. 171 Erst Ende der 50er Jahre, im Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum Versorgungsprozeß, begannen im Justizministerium die genaueren, zeitraubenden Ermittlungen zum Fall Cuhorst. Neun Urteile des Sondergerichts wurden von der »Kommission zur Überprüfung von Vorwürfen gegen Richter und Staatsanwälte« wegen ihrer früheren Tätigkeiten mit dem Ergebnis überprüft, daß Rechtsbeugung nicht nachweisbar, zwei allerdings »ernstlich zu beanstanden« seien. Nach einigen solcher formaljuristischen Überlegungen, und insbesondere hinsichtlich der Besserstellung anderer ehemaliger Sonderrichter, empfahl das Justizministerium schließlich eine gnadenweise Unterhaltsbewilligung, was dem Ministerrat Ende Juli 1964 vorgelegt wurde. Dieser verlangte nach eingehender Debatte jedoch eine genauere Prüfung, insbesondere einen Vergleich zu anderen Sondergerichten und die Berücksichtigung einer größeren Anzahl von SG-Urteilen, was zu den bereits erwähnten, sehr umfangreichen 172 Recherchen führte. Diese Ermittlungen, die nun nicht mehr ausschließlich an der Rechtsbeugungsproblematik orientiert waren, führten zu einem allmählichen Meinungsumschwung im Justizministerium. Anhand des zusätzlichen Materials faßte der Berichtsentwurf des Jahres 1967 die Einschätzung schließlich in der Empfehlung zusammen, den Gnadenerweis nicht auszusprechen: »Es mag bedacht werden, daß derjenige, der für viele Menschen zur Schlüsselfigur ihres unabänderlichen Schicksals wurde, durch einen Gnadenerweis sein eigenes Geschick ändern möchte; ob dazu der Weg der Gnade geeignet ist, muß bezweifelt werden.« 173 Das eher für Cuhorst gestimmte, formal zuständige Staatsministerium schließlich war von den Ermittlungen wenig, von der Tatsache, daß Cuhorst finanziell inzwischen gut versorgt war, um so mehr beeindruckt. 174 In der Ministerratssitzung vom 21. Mai 1968 wurde dann, »nach eingehender Beratung«, ein Gnadenerweis endgültig verworfen. 175 Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 139 170 Mitteilung des Ministerpräsidenten an das JM, 29. Februar 1952, JM Personalakte Bd. 1 Bl. 44. Später wurden Cuhorst allerdings nicht unbeträchtliche Restschulden, auch aus den Sühnezahlungen, erlassen. Ablehnung des Gnadengesuches vom 2. Dezember 1958, JM Personalakte Bd. 2 Bl. 119. 171 Insbesondere in Briefen an das Justizministerium, 7. September 1964 JM Gnadenverfahren Bd. 1 Bl. 37 und 26. November 1964, ebd. Bl. 211. 172 Ein Aktenvermerk von Ende 1965 stellt fest, die gesamten Unterlagen zu Cuhorsts Gnadenverfahren umfaßten 53 Bände (worin freilich viel nur in Spuren relevantes Material, wie umfangreiche Kopien der SD-Berichte, enthalten waren), JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 229. 173 Abschlußbericht JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 318. 174 Aktenvermerk JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 389. 175 Mitteilung des Staatsministeriums, 25. Juli 1968 sowie Auszug aus der Niederschrift der Ministerratssitzung, 21. Mai 1968, JM Gnadenverfahren Bd. 2 Bl. 432 f. <?page no="141"?> In den Versorgungsprozessen 176 , die Cuhorst noch während des laufenden Gnadenverfahrens anstrengte, wurde nochmals um seine Pensionsbezüge, die er mit seiner Einstufung als Hauptschuldiger verloren hatte, gestritten. Nachdem ihm klargeworden war, daß nicht mit einer gnadenweisen Herabstufung zum »Belasteten« zu rechnen war (allenfalls mit einer gnadenweisen Unterstützung), hatte Cuhorst diese Verwaltungsklage angestrengt. Sein Ziel war die Revidierung des Spruchkammerurteils, mindestens soweit es für die Wiedererlangung der Versorgungsrechte notwendig gewesen wäre. Wichtigstes Argument blieb stets das ne bis in idem, von Cuhorst so ausgelegt, daß nach seinem Nürnberger Freispruch kein Spruchkammerverfahren in gleicher Sache mehr zulässig gewesen wäre. Doch befand er sich damit angesichts der Tatsache, daß die IMT-Verfahren von den Entnazifizierungsverfahren auch juristisch klar getrennt waren, auf verlorenem Posten. 177 Ein »Obsiegen Cuhorsts« wurde im Ministerium von vornherein für »unwahrscheinlich« gehalten 178 ; erst recht nach dem erstinstanzlichen Urteil, und tatsächlich änderte sich an der Rechtsauffassung der Gerichte wie des Ministeriums während der Revisionsprozesse kaum etwas. Die Verhandlungen zeigten auch das noch immer rege Interesse der Öffentlichkeit, da bei allen Urteilsverkündungen auch eine Reihe von Pressevertretern anwesend war. Die wenigen allgemeinen Ausführungen seines Anwalts, die gewiß nicht ohne Mitarbeit oder doch gute Kenntnis Cuhorsts formuliert wurden, enthielten auch eine nicht bloß juristische Zurückweisung des Sühnegedankens der Spruchkammerverfahren, da »auf diese Weise die Entnazifizierten mit Landstreichern, Dirnen, Trinkern und schweren Verkehrssündern« verglichen würden, wo doch, ganz im Geiste der Tätertypenlehre, gelten sollte: »Bei jenen ist der minderwertige Charakter die Grundlage für das Eingreifen des Staates, hier ist es die fehlgeleitete politische Gesinnung«. 179 Jahre später hieß es ferner: »Vielleicht scheute man sich auch, die Betroffenen [nach Gesetz 104] alle mit Kriminellen auf eine Stufe zu stellen, weil man sie damit zu ewigen Gegnern des gegenwärtigen Systems hätte stempeln müssen.« 180 Demgegenüber findet sich in den längeren juristischen Schriftwechseln eine interessante allgemein-politische Passage des Landesvertreters, Regierungsdirektor Dr. Klickermann, worin dieser in eindeutiger Weise die Rehabilitierung ehemaliger Stefan Baur 140 176 Cuhorst gegen das Land Baden-Württemberg, erstmals Klageabweisung am 19. Oktober 1961, Abweisung im Revisionsverfahren 23. Dezember 1961 (Verwaltungsgerichtshof Mannheim), endgültig am 13. Mai 1965 (Bunderverwaltungsgerichtshof Berlin), STALB EL 33/ 1 II. 177 Cuhorst vertrat die Ansicht, in Nürnberg von den Vorwürfen freigesprochen worden zu sein, die die Spruchkammer zur Grundlage ihres Urteils gemacht hatte. Die Entnazifizierungsverfahren galten aber nicht als Strafprozesse wie die Nürnberger, sondern als unabhängig davon durchzuführende Sühneprozesse. Entsprechendes galt für den Vorrang internationalen vor nationalem Recht. Vgl. die Schriftwechsel in den Verfahrensakten, STALB EL 33/ 1 II. 178 JM Personalakte Bd. 1 Bl. 64. 179 Schriftsatz RA Pantle, 27. August 1959, STALB EL 33/ 1 II Bl. 18. 180 Schriftsatz RA Pantle, 10. April 1965, STALB EL 33/ 1 II Bl. 175. <?page no="142"?> NS-Würdenträger, gerade im Justizdienst, kritisiert, und ihr den Wunsch nach echter Aufarbeitung (»Kein Gras darüber wachsen lassen«) entgegenstellt, die die grundsätzliche Mitwirkung am NS-System den Einzelfall-Ausreden vorziehen sollte. 181 Diese an die Spruchkammer erinnernden Sätze wies Cuhorst über seinen Anwalt wütend zurück, da es sich dabei um die Politisierung eines Rechtsstreites handle, gerade also das sei, was NS-Richtern vorgeworfen werde und dies zudem nicht rechtsstaatlich wäre. Ein »stummer Protest« sei damals im übrigen so falsch gewesen wie heute (1961), angesichts »der uns drohende[n] Diktatur des Kommunismus«. 182 Acht Jahre dauerte der Weg durch die rechtsstaatlichen Instanzen, die Cuhorst, der immer so stolz auf seine rasche Verhandlungsführung selbst bei Todesurteilen gewesen war, beschritt, ohne daß sich an der juristischen Bewertung noch etwas änderte. Als seine Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht endgültig abgewiesen wurde, war er materiell ohnehin längst wieder gut gestellt 183 , was auch wesentlich zur letztendlichen Ablehnung seines Gnadenantrages beitrug. Wie schon während früherer Jahre kam es noch zu vereinzelten Anzeigen (die letzte 1988), denen nicht mehr Folge geleistet wurde und von denen Cuhorst wahrscheinlich keine Kenntnis mehr erhielt. 184 Seinen 90. Geburtstag konnte er standesgemäß feiern, und nur einmal holte ihn seine Vergangenheit noch ein, als er zu seinem größten Zorn in letzter Minute von einer Alpenvereinsehrung für langjährige Mitgliedschaft ausgeladen wurde. 185 Nachdem Cuhorst am 5. August 1991 gestorben war, verwies seine Todesanzeige 186 auf Matthäus V,10: »Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihnen gehört das Himmelreich«. Hermann A. Cuhorst, Senatspräsident und Vorsitzender des Sondergerichts Stuttgart 141 181 Schriftsatz Dr. Klickermann, 5. Juli 1961, STALB EL 33/ 1 II Bl. 41. 182 RA Pantle, 13. Juli 1961, STALB EL 33/ 1 II Bl. 47 - 56, Zitat Bl. 53. Innerhalb des Ministeriums wurde Klickermann ebenfalls abgemahnt, da jenes seine Auffassung nicht teilte und die Ausführungen zudem für juristisch ungeschickt hielt. Im weiteren Verfahren vertrat eine Stuttgarter Kanzlei die Interessen des Landes. 183 1961 war Cuhorst rückversichert worden und erhielt wenige Jahre später auch eine Berufsunfähigkeitsrente, die etwa einem Viertel des theoretischen Ruhegehaltes entsprach, JM Personalakte Bd. 2 Bl. 277 - 281, Brief Cuhorsts, 7. Juni 1967, JM Gnadenverfahren Bd. 1 Bl. 227. Außerdem besaß er seit dem Tod seiner Mutter nicht unbeträchtlichen Immobilienbesitz in Stuttgart und Kressbronn (ebd.). 1957 erhielt er einmal eine 20.- DM Geldstrafe wegen »KFZ-Übertretung« (JM Personalakte Bd. II Bl. 163); sollte er damals bereits ein Auto besessen haben, wäre dies ebenfalls ein Hinweis auf relativ gute wirtschaftliche Verhältnisse. Im genannten Brief schrieb Cuhorst auch, sein Gesuch habe »in erster Linie zum Ziel [...] einen kaum erträglichen Zustand zu beenden«, nämlich den der formellen Schuldzuweisung. 184 STALB EL 317 III, ZSL, Privatarchiv Ohlendorf. 185 Telegramm des Vorstandes, 11. November 1988 und Brief Reinhild Cuhorsts, 12. November 1988, Privatarchiv Klickermann. 186 »Stuttgarter Zeitung«, 10. August 1991. <?page no="143"?> Bibliographie Quellen 187 Die Quellenlage zum Fall Cuhorst ist vorsichtig zu beurteilen. Einerseits existieren umfangreiche Prozeßakten und Ermittlungen des Nürnberger Tribunals (v.a. IfZ, STAN), der Spruchkammer Ludwigsburg (v.a. STALB) und des Justizministeriums Baden-Württemberg (JM). Darin sind zahlreiche Dokumente und Aussagen (oft mehrfach) zusammengetragen und ausgewertet. Andererseits beziehen sich diese fast ausschließlich auf die Zeit von 1933 - 1945, im Fall des Justizministeriums bis 1968. Die sonstige Aktenlage, besonders bezüglich der 20er Jahre und der Zeit nach 1968, sowie hinsichtlich mehr privater Zeugnisse, ist dagegen sehr schlecht. Etwas Material findet sich in den Unterlagen des Alpenvereins, des Hauptstaatsarchivs Stuttgart und bei der VVN Stuttgart, sehr wenig im Universitätsarchiv Tübingen, dem Bundesarchiv Koblenz, dem Stadtarchiv Stuttgart, der Zentralstelle Ludwigsburg und dem Berlin Document Center. Einsicht in den umfangreichen Privatnachlaß Cuhorsts, der die großen Lücken eventuell schließen könnte, wurde nicht gewährt. Literatur Um so erstaunlicher angesichts der partiellen Materialfülle und Cuhorsts ehemaliger Prominenz bleibt die Tatsache, daß über ihn bisher fast keine Veröffentlichungen existieren. Außer einem kurzen Beitrag im Katalog einer Stuttgarter Ausstellung von 1989 188 , der sich vorwiegend mit der Rechtsprechung des Sondergerichts befaßt, und einem Fernsehfilm von 1990 189 gibt es keine Veröffentlichung über Cuhorst. In allgemeinen Beiträgen zur NS-Justiz spielt das Stuttgarter Sondergericht wegen des Verlustes fast aller Akten eine geringe Rolle, ebenso wie Hermann Cuhorst in wichtigen Werken zur Stuttgarter Geschichte. Stefan Baur 142 187 Mein Dank für freundliche Unterstützung und wertvolle Hinweise für die Quellenrecherche gilt insbesondere Herrn Peter Ohlendorf (Freiburg), Herrn Dr. Klickermann (Stuttgart) sowie Frau Trentin-Meyer (München). 188 Schönhagen, Benigna, »Auf meine Herren, zur Schlachtbank! « Das Stuttgarter Sondergericht unter Hermann Cuhorst, in: Stuttgart im Zweiten Weltkrieg. Katalog zur Ausstellung vom 1.9.1989 bis zum 22.7.1990, hrsg. v. M. P. Hiller, 2. Aufl. Gerlingen 1990, S. 223 - 228. 189 »Zu Gast: Im Namen des gesunden Volksempfindens«, gesendet am 23. Mai 1990, (Südwestfunk- Produktionsnummer 303277, Redaktion Peter Ohlendorf unter Mitarbeit von Holger Reile). <?page no="144"?> »Was sich in den Weg stellt, mit Vernichtung schlagen« 1 Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn Susanne Schlösser *2. April 1894 Heilbronn, ev., 1937 Kirchenaustritt, Vater: Christian Heinrich Drauz, Postunterbeamter, Mutter: Friederike Johanna, geb. Dederer, verheiratet in erster Ehe seit 1923 mit Emma Frieda, geb. Sohn, (Scheidung 1937), in zweiter Ehe seit 1937 mit Klara, geb. Schoch, sieben Kinder, davon vier aus zweiter Ehe. Besuch der Volks-, Mittel- und Oberrealschule in Heilbronn, Lehre als Mechaniker, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, als Vizefeldwebel, 1919 - 1921 Studium an der Höheren Maschinenbauschule in Esslingen, 1921 - 1928 Ingenieur im Kältemaschinenbau bei der Maschinenfabrik Esslingen, 1928 - 1932 nicht näher bestimmte Berufstätigkeit in Dortmund und in Essen, 1932 - 1938 Verlagsleiter des Heilbronner Tagblatts. 1. April 1928 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnummer 80.730), 1932 ehrenamtlicher, ab 1938 hauptamtlicher NSDAP- Kreisleiter in Heilbronn, 1933 MdR (NSDAP), 1933 SA-Sturmbannführer ehrenhalber, November 1940 Einsatzführer der Volksdeutschen Mittelstelle des Gaues Württemberg-Hohenzollern, 1943 Oberbereichsleiter der NSDAP und Kreisleiter von Vaihingen/ Enz und Ludwigsburg. Nach Kriegsende Flucht nach Kloster Dernbach bei Montabaur, Juni 1945 Verhaftung durch den CIC, 11. Dezember 1945 Verurteilung zum Tode durch ein amerikanisches Militärgericht, gest. 4. Dezember 1946 Landsberg (Hinrichtung). Noch heute steht der ehemalige Heilbronner NSDAP-Kreisleiter Richard Drauz in seiner Heimatstadt in einem überaus schlechten Ruf. Kommt das Gespräch auf ihn, ist bei Zeitzeugen von Brutalität, Rücksichts- und Skrupellosigkeit die Rede und von Richard Drauz 143 1 Leicht abgewandeltes Zitat aus einer Rede von Richard Drauz vom Oktober 1933, Heilbronner Tagblatt (künftig: HT), 16. Oktober 1933, S. 4. <?page no="145"?> Angstgefühlen vermischt mit Verachtung, die man ihm gegenüber empfunden habe. Am liebsten habe man nichts mit ihm zu tun haben wollen, sagten nach dem Krieg übereinstimmend sowohl Gegner wie Mitläufer des nationalsozialistischen Regimes und sogar ehemalige Mitstreiter 2 , die sich damit - zumindest nachträglich - von dem 1946 durch die Amerikaner in Landsberg Hingerichteten distanzierten. Es scheint niemanden (mehr) zu geben, der an ihm - wenigstens zeitweise - positive oder schätzenswerte Eigenschaften wahrgenommen hat, wie sie im Gegensatz dazu z.B. im Fall des Heilbronner NS-Oberbürgermeisters Heinrich Gültig immer wieder geltend gemacht werden. Das ist zunächst einmal ein festzuhaltender Befund, der zugleich aber auch Fragen aufwirft: War Richard Drauz tatsächlich die »Inkarnation des Bösen«, der hundertfünfzigprozentige Nationalsozialist, dessen Macht und Willkür allseits gefürchtet waren, und auf dessen Konto nahezu alle in Heilbronn und Umgebung geschehenen Verbrechen während des »Dritten Reiches« zu verbuchen sind? Welche historischen und persönlichen Bedingungen mußten überhaupt zusammentreffen, um aus einem Menschen, der bis Ende 1932 ein durchschnittliches, weitgehend unauffälliges bürgerliches Leben geführt hatte, plötzlich einen einflußreichen, machtbewußten und angsteinflößenden Kreisleiter zu machen, der sich zwölf Jahre lang offensichtlich mühelos über etliche Angriffe hinweg an der Spitze der Heilbronner NSDAP halten konnte? Über Kindheit und Jugend von Richard Drauz ist wenig bekannt. Nach eigenen Angaben besuchte er die Oberrealschule in Heilbronn, in die traditionell Angestellte und mittlere Beamte, selbständige Handwerker und Kaufleute sowie viele Heilbronner Juden ihre Kinder schickten. 3 Da er unter den Abiturienten 4 dieser Anstalt nicht zu finden ist, später aber an der Maschinenbauschule in Esslingen studiert hat, wird er die Schule wohl mit dem Zeugnis der Primareife verlassen haben, die als Zulassung für die Ingenieurausbildung ausreichte. An die Schulzeit schloß sich eine Mechanikerlehre an. 5 1914 meldete sich der 20jährige als Kriegsfreiwilliger, und vermutlich waren das Fronterlebnis und die Niederlage von 1918 - wie für zahlreiche »alte Kämpfer« der NSDAP - auch für ihn die auslösenden Momente für seine politische Hinwendung zum Nationalsozialismus. Das zeigen spätere Äußerungen, wie z.B. die Auffassung, daß die Grundlagen dieser Ideologie »im Schützengraben [...], wo es [angeblich] keinen Klassenunterschied gab,« 6 gelegt wurden. In engen Kontakt mit Susanne Schlösser 144 2 So z.B. der ehemalige Reutlinger Kreisleiter Spohner in einem Interview vom 14. März 1981, zit. nach Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46, Stuttgart u.a. 1986, S. 389, Anm. 29, oder der ehemalige nationalsozialistische Heilbronner Bürgermeister Hugo Kölle in einem vom StAHN geführten Zeitzeugengespräch vom 20. April 1982, S. 38. 3 Vgl. 100 Jahre Robert-Mayer-Gymnasium Heilbronn 1889 - 1989, Heilbronn 1989, S. 56/ 57. 4 Vgl. Jahresberichte der Oberrealschule und des Realgymnasiums in Heilbronn am Neckar, 1905 - 1915. 5 StAHN, Zeitzeugengespräch mit Klara Drauz (künftig ZSG K.D.), 22. Februar 1985, S. 33. 6 HT, 17. September 1934, S. 5 (Begrüßungsrede von Drauz zum Treffen des ehemaligen Landwehr- Infanterie-Regiments 121). <?page no="146"?> der völkischen Bewegung kam er spätestens, als er nach Beendigung seines Studiums 1921 eine Beschäftigung bei der Maschinenfabrik Esslingen aufnahm. Denn unter den dort tätigen Ingenieuren und kaufmännischen Angestellten befanden sich schon zu diesem Zeitpunkt auffällig viele NS-Anhänger, die sich um den späteren württembergischen Gauleiter und Reichsstatthalter Wilhelm Murr scharten. Richard Drauz, der in dem sechs Jahre älteren Murr einen lebenslangen Freund und Förderer fand, war sehr bald als Mitglied dieser Gruppe bekannt. 7 Im Raum Esslingen lassen sich auch die ersten nationalsozialistischen Aktivitäten von Drauz nachweisen. Laut einem von ihm selbstverfaßten Lebenslauf 8 war er bereits 1923 Ortsgruppenleiter in Mettingen (heute ein Stadtteil von Esslingen). Wie groß diese Ortsgruppe war, ob sie öffentlich in Erscheinung trat und welche Rolle er dabei spielte, läßt sich nicht mehr genau rekonstruieren. 9 Jedenfalls wagte er es im November 1924, also während des in Reaktion auf den gescheiterten Putsch von 1923 ausgesprochenen Verbots der ersten nationalsozialistischen Partei, bei einer SPD-Versammlung in Esslingen öffentlich den »nationalsozialistischen Standpunkt« zu vertreten, und stieß dort naturgemäß auf stürmischen Widerspruch. 10 Der 1925 von Adolf Hitler neugegründeten NSDAP trat Drauz als Mitglied Nr. 80.730 allerdings erst am 1. April 1928 11 bei. Kurz darauf, nämlich am 24. April, zog er mit seiner Familie nach Dortmund und von dort am 10. April 1930 weiter nach Essen. 12 Es ist nicht klar, was ihn zu diesem Ortswechsel bewogen hat und welcher Beschäftigung er in dieser Zeit nachging. 13 Zweifelhaft ist auch, ob er in diesen beiden Städten aktiv und öffentlich für seine politische Überzeugung eingetreten ist. Die wenigen Hinweise 14 auf seine Lebensumstände im Ruhrgebiet sprechen eher dagegen: So meldete ihn die NSDAP, Gau Essen, zu der er von der Ortsgruppe Esslingen überwiesen worden war, im November 1930 »wegen unbekannten Aufenthalts« als Mitglied ab, was bei einem Aktivisten wohl nicht geschehen wäre. Später wurde dies allerdings als Irrtum wieder rückgängig Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 145 7 Köhle-Hezinger, Christel, Von der »Roten ME« zur »Braunen ME«, in: Von Weimar bis Bonn. Esslingen 1919 - 1949, Esslingen 1991, S. 44. 8 Der deutsche Reichstag 1936. III. Wahlperiode nach dem 30. Januar 1933, Berlin 1936, S. 133 und HT, 1. April 1944, S. 3. 9 Auskunft des StAES vom 13. Juli 1995. 10 Esslinger Zeitung, 11. November 1924. 11 BA, Abt. III (BDC), PK Richard Drauz, Parteikanzlei (München) an die Gauleitung Württemberg, 4. Juli 1932. 12 StADO, Hausstandsbücher. 13 Seine zweite Ehefrau, die ihn zu dieser Zeit noch nicht kannte, gibt an, daß er dort in technischen Büros der Maschinenfabrik Esslingen tätig war. Vgl. StAHN, ZSG K.D., S. 33. Eine andere Quelle läßt vermuten, daß er als Vertreter arbeitete. Vgl. BA, Abt. III (BDC), Richard Drauz, NSDAP Gau Württemberg an die Parteikanzlei (München), 14. Juli 1932. 14 Nach Auskünften des StADO vom 27. Juli 1995, des StAE vom 9. August 1995 und des HSTADÜ vom 17. August 1995 gibt es in den dortigen Beständen keine Unterlagen, die ein öffentliches Engagement von Drauz belegen. <?page no="147"?> gemacht, der dadurch entstanden sei, daß »er in seinem Beruf als Vertreter sehr oft seinen Wohnsitz ändern mußte.« 15 Die eigentliche politische Karriere von Richard Drauz begann wohl erst im September 1932, als ihn der inzwischen zum Gauleiter von Württemberg aufgestiegene Wilhelm Murr aufforderte, Kreisleiter der NSDAP in Heilbronn zu werden. 16 Diese Stadt, in der sowohl die SPD wie die DDP jeweils über ein stabiles Wählerpotential verfügten, war für die Nationalsozialisten ein schwieriges Terrain. Zwar bestand seit 1923 eine Ortsgruppe der NSDAP, doch war sie zahlenmäßig klein und unbedeutend geblieben und hatte auch immer wieder Probleme, die oft wechselnden Amtsträger zu ersetzen. Ein neuer, nach einer längeren Vakanz 17 Ende 1929 eingesetzter Ortsgruppenleiter schrieb damals an Murr: »Nach eingehendem Studium der O.G. Akten habe ich den Eindruck, daß Heilbronn ein schwer zu bearbeitendes Gebiet ist, d.h. die Einwohner sind mehr oder weniger Pflegmatiker [! ] und durchweg demokratisch eingestellt.« 18 Erst bei der Gemeinderatswahl am 6. Dezember 1931 gelangten drei NSDAP-Vertreter in dieses Gremium. 19 Und noch bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 unterlag die NSDAP in Heilbronn knapp der SPD mit 9598 zu 9625 Stimmen. 20 Diese Ausgangssituation stellte an den neuen NSDAP- Kreisleiter, der zugleich auch Verlagsleiter der seit Anfang 1932 erscheinenden NS-Zeitung »Heilbronner Tagblatt« wurde, spezifische Anforderungen. Es spricht vieles dafür, daß Murr und die württembergische Parteileitung Richard Drauz für diese Stellung auswählten, weil sie ihm das zutrauten, was er selbst 1933 in einer Rede zur Handwerkerwoche als nationalsozialistische »Tugend« pries: »Unsere führenden Männer sind rücksichtslos genug, alles, was sich ihnen in den Weg stellt, mit Vernichtung zu schlagen.« 21 Von Drauz erhoffte man sich in Stuttgart offenbar, daß er die »jüdisch-marxistisch-liberalistische« Hochburg Heilbronn notfalls mit Gewalt auf nationalsozialistischen Kurs bringen würde. Darin erfolgreich gewesen zu sein, wird in den Propagandaverlautbarungen der späteren Jahre der NS-Herrschaft auch immer wieder als sein besonderes Verdienst hervorgehoben: »Wenn unsere gute Stadt Heilbronn [...] gegenüber den Jahren vor 1933 geistig ein völlig neues Gesicht bekommen hat und heute wirklich nationalsozialistisch handelt, denkt und arbeitet, so ist das das hervorragendste Werk unseres Kreisleiters, das ihn mit stolzer Genugtuung erfüllen darf.« 22 Susanne Schlösser 146 15 BA, Abt. III (BDC), PK Richard Drauz, Parteikanzlei (München) an die Gauleitung Württemberg, 4. Juli 1932 und NSDAP Gau Württemberg an die Parteikanzlei (München), 14. Juni 1932. 16 StAHN, ZSG K.D., S. 8. - Er kam am 5. September 1932 nach Heilbronn zurück (vgl. Chronik der Stadt Heilbronn, Bd. 3, Heilbronn 1986, S. 631) und nahm am 1. Oktober seine beiden Tätigkeiten als Verlags- und Kreisleiter auf (vgl. HT, 16. November 1942, S. 4). 17 Noch im Heilbronner Stadtbuch von 1929 wird unter dem Stichwort Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei, Ortsgruppe Heilbronn, vermerkt: »V[orsitzender]: war nicht festzustellen.« 18 STALB, PL 501 I, Bü 2. 19 Vgl. Chronik, Bd. 3 (wie Anm. 16), S. 574. 20 Vgl. Chronik der Stadt Heilbronn, Bd. 4, bisher unveröffentlichtes Manuskript im StAHN. 21 HT, 16. Oktober 1933, S. 4. <?page no="148"?> Tatsächlich steht außer Zweifel 23 , daß Richard Drauz der führende Nationalsozialist in der Stadt und im Oberamt bzw. dem späteren Landkreis Heilbronn gewesen ist, bei dem die Fäden zusammenliefen und der das Geschehen in allen Bereichen wesentlich mitbestimmte. Er war nicht nur Kreisleiter, sondern wurde am 6. April 1933 auch zum Politischen Kommissar für das Oberamt Heilbronn ernannt. Bereits im März hatte er bei der Gauleitung darauf gedrungen, daß der bisherige Heilbronner Landrat Ehemann, der seiner Meinung nach den schwierigen Verhältnissen nicht gewachsen war, zunächst in einen Krankenurlaub geschickt und - nach einer kurzen Rückkehr in sein Amt - schließlich ab November 1933 in den frühzeitigen Ruhestand versetzt wurde. 24 Von August 1933 bis Oktober 1935 war Drauz Mitglied des Heilbronner Gemeinderats, als solcher wurde er am 12. Oktober 1933 zu einem von zwei Stellvertretern von OB Heinrich Gültig berufen. Im November 1933 zog er als einer von 18 württembergischen Abgeordneten in den mittlerweile politisch einfluß- Richard Drauz (rechts) in Heilbronn Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 147 22 HT, 1. April 1944, S. 3 (Artikel zum 50. Geburtstag von Richard Drauz). 23 Auch wenn die Quellenlage für Heilbronn wegen der großen Kriegsverluste nicht besonders gut ist, läßt doch die vorhandene schriftliche Überlieferung, die sehr unterschiedlicher Herkunft ist, diesen Schluß zu. 24 Vgl. Schnabel (wie Anm. 2), S. 330 f. <?page no="149"?> losen, gleichwohl prestigeträchtig und für seine Mitglieder lukrativen Reichstag ein, dem er bis zum Ende des »Dritten Reiches« angehörte. Aber nicht nur im engeren politischen Bereich übte Drauz viele Funktionen aus. In einigen wichtigen Betrieben und Unternehmen in Heilbronn und Umgebung gelangte er in den Jahren vor dem Krieg in den Aufsichtsrat, so z.B. bei der Maschinenbaugesellschaft Heilbronn, der Glashütte Heilbronn AG, der Kreissiedlung Heilbronn sowie dem Portland-Zementwerk in Lauffen. Ebenso spielte er bei der »Gleichschaltung« von Vereinen und Verbänden eine zentrale Rolle. Er war nicht allein bei allen wesentlichen Sitzungen anwesend, sondern übernahm oft zumindest so lange den kommissarischen Vorsitz, bis ein neuer, nationalsozialistischer Vorstand gefunden war. Die Ortsgruppe des Reichsausschusses für Leibesübungen und den Verein für Rasenspiele leitete er schließlich über Jahre hinweg selbst. 25 Als Verlagsleiter des »Heilbronner Tagblatts« war Richard Drauz auch wesentlich an der gewaltsamen Ausschaltung der sozialdemokratischen und bürgerlichen Heilbronner Presse beteiligt. Bis 1934 gelang es durch Überfälle, Beschlagnahmungen und Verbote sowie durch massive Abwerbemethoden, Einschüchterungen und »Inschutzhaftnahme« von Anzeigenkunden, Redakteuren und Verlegern sämtliche Heilbronner Zeitungen und ihre Infrastruktur (Druckmaschinen usw.) in die Hand des »Heilbronner Tagblatts« zu bringen. 26 »Der ehemals kümmerliche, von Stuttgart in jeder Weise abhängige Verlag ist unter der seit Oktober 1932 tatumsichtigen Leitung zu hohem Ansehen gelangt. Auch konnte der früher bürgerliche Krämer'sche Verlag - wohl der größte und bedeutendste im württ. Unterland - käuflich deshalb erworben werden, weil die Abonnentenzahl dieses Verlages bei sämtlichen vier Zeitungen [...] durch die intensive und planmäßige Arbeit der Verlagsleitung des ›Heilbronner Tagblatts‹ ständig stark zurückging.« 27 So lautet die nationalsozialistische Darstellung dieser Ereignisse, ein indirektes Lob für den Verlagsleiter Drauz, der auch in dieser Position die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte. Trotz seiner - im nationalsozialistischen Sinne - erfolgreichen Arbeit als Kreis- und Verlagsleiter war Richard Drauz keineswegs unumstritten. Auf besonders starke Ablehnung stieß er interessanterweise in den eigenen NSDAP-Reihen. Nicht wenige der »alten Kämpfer« Heilbronns waren mit seiner Person und seinem Gebaren überhaupt nicht einverstanden und beschwerten sich immer wieder bei übergeordneten Parteistellen über ihn. Diese innerparteilichen Auseinandersetzungen fanden 1934/ 35 ihren Höhepunkt und Niederschlag in mehreren Verfahren vor dem NSDAP-Gaugericht Württemberg-Hohenzollern. 28 Es ist anhand der überlieferten Susanne Schlösser 148 25 Chronik, Bd. 4 (wie Anm. 20) und Bd. 5, bisher unveröffentlichtes Manuskript im StAHN und BA, Abt. III (BDC), Richard Drauz, Antrag auf Besoldungsfestsetzung [vom 16. April 1941]. 26 Die genauen Vorgänge schildern Dietrich, Markus, Es kann uns den Kopf kosten. Antifaschismus und Widerstand in Heilbronn 1930 - 1939, Heilbronn 1992, S. 57-59 und Schnabel (wie Anm. 2), S. 353 f., 361-363. 27 Zit. nach Schnabel (wie Anm. 2), S. 361 f. 28 Im Nachlaß (künftig NL Wilhelm) von Josef Georg Wilhelm (1931-1935 Polizeidirektor in <?page no="150"?> Aktenfragmente nicht leicht zu entscheiden, welche der einzelnen Vorwürfe gegen den Kreisleiter der Wahrheit entsprachen und welche davon - offenbar von Enttäuschung, verletzter Eitelkeit, Neid oder Rachsucht diktiert - übertrieben oder gar falsch sein mochten. Dennoch muß auf diese Auseinandersetzungen näher eingegangen werden, da durch sie sehr interessante Erkenntnisse über strukturelle Mechanismen innerhalb der NSDAP zu gewinnen sind. So wird beispielweise deutlich, auf welche Weise NSDAP-Mitglieder, denen bekanntlich »nörgelnde Kritik« verboten war, ihre Streitigkeiten miteinander austrugen, wie weit Anspruch und Wirklichkeit der nationalsozialistischen Ideologie oft auseinanderklafften, wie willkürlich NS- Amtsträger handeln konnten und welch zentrale Rolle Denunziation und Einschüchterung in diesem System spielten. Die Hauptkontrahenten des Kreisleiters waren zunächst der Hauptschriftleiter des Heilbronner Tagblatts, Hans Hauptmann, der somit auch beruflich eng mit Drauz zu tun hatte, und der Ortsgruppen- und stellvertretende Kreisleiter, Paul Reppmann. Sie legten gemeinsam am 10. Mai 1934 beim Personalreferenten des Gaues Beschwerde über Drauz ein. Die Reaktion des Kreisleiters, der umgehend von dieser Eingabe informiert wurde, ließ nicht lange auf sich warten: Er bezichtigte Hauptmann nicht nur öffentlich der politischen Unzuverlässigkeit und beschimpfte ihn als »Sexualschwein« sowie »Kulturbolschewisten«, sondern sprach seinem Hauptschriftleiter »unter Mißachtung aller Bestimmungen des Schriftleitergesetzes und des unter Zeugen mündlich mit mir geschlossenen dreijährigen Anstellungsvertrags« 29 die sofortige Kündigung aus. Auch Reppmann verlor in den nächsten Wochen sämtliche Parteifunktionen. Doch ließen sich die beiden davon nicht beirren und nahmen jetzt erst recht den Kampf auf. »Weil vorherige Erfahrungen gelehrt haben, daß Pg. Drauz in der Gauleitung Stuttgart einen einflußreichen Gönner hat, von dem er bisher in allen Fällen gestützt worden ist,« wandte sich Hauptmann zugleich an höhere Stellen und richtete sein offizielles Anklageschreiben, in dem er die Entbindung des Kreisleiters von allen seinen Ämtern forderte, nicht nur an Wilhelm Murr - den »einflußreichen Gönner« 30 - sondern auch direkt an Josef Goebbels, Hermann Göring und Rudolf Hess 31 . Er bezog sich dabei ausdrücklich Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 149 Heilbronn) sind davon Aktenteile (Gaugericht Württemberg-Hohenzollern A.Z. 454/ 34 und 2100/ 35) überliefert. Die Familie Wilhelm hat dem StAHN 1994 dankenswerterweise Kopien davon zur Verfügung gestellt, die für diesen Beitrag benutzt werden konnten. Vgl. dazu Schnabel (wie Anm. 2), S. 389-392. 29 Dieses und alle folgenden, nicht mehr einzeln nachgewiesenen, wörtlichen Zitate aus NL Wilhelm, A.Z. 454/ 34. 30 Schnabel (wie Anm. 2), S. 389, wirft als bisher ungeklärte Frage auf, ob Wilhelm Murr oder Martin Bormann die schützende Hand über Drauz gehalten hat. In den hier zugrundegelegten Quellen gibt es keinerlei Hinweise darauf, ob Richard Drauz Bormann überhaupt persönlich kannte, während die engen, ja freundschaftlichen Beziehungen zu Wilhelm Murr ganz offensichtlich sind, so daß m. E. nur dieser der »einflußreiche Gönner« sein kann. 31 Ob er von diesen je eine Anwort erhalten hat, ist fraglich. In den Akten sind solche jedenfalls nicht überliefert. <?page no="151"?> auf den »Befehl des Führers an den Chef des Stabes Lutze« vom 30. Juni 1934, der im Zusammenhang mit dem sogenannten »Röhmputsch« erlassen worden war. In zwölf Punkten wurden darin Richtlinien für das Verhalten von SA- und politischen Führern in der Öffentlichkeit festgelegt. Hauptmann stellte fest, daß vor allem die Punkte zwei, drei und sechs 32 des angeführten Befehls keinerlei Zweifel darüber zuließen, wie mit Richard Drauz zu verfahren sei, denn: »In Heilbronn ist es stadtbekannt, daß Pg. Kreisleiter Drauz, trotzdem er verheiratet und Vater [...] ist, zahlreiche Liebesverhältnisse unterhält [...]. Eidesstattlich wird bezeugt, daß Pg. Drauz sehr häufig durch schwere Trunkenheit im Ehrenkleide seines Amtes Ärgernis in der Öffentlichkeit erregt hat. Das war z.B. der Fall am Tage der letzten Anwesenheit des Ernst Röhm in Heilbronn. Nach einem wüsten Gelage im Ratskeller, dessen Verlauf und Folgen Tage lang das Stadtgespräch bildeten, hielt Drauz auf dem Marktplatz in Gegenwart einer großen Menge eine Ansprache an soeben [...] eingetroffene schweizerische Turner. Dabei beging er in seinem Rausch die peinliche Taktlosigkeit zu sagen, die Gäste möchten nach ihrer Heimkehr ihre Landsleute versichern, daß Adolf Hitler nicht daran dächte, die Schweiz zu annektieren! « Zu diesen sehr massiven konkreten Angriffen, die von mehreren, zumeist langjährigen Parteigenossen schriftlich bezeugt und unterstützt wurden, gesellten sich noch allgemeinere Vorwürfe über die nicht ordnungsgemäße Verwendung von Winterhilfswerkgeldern und anderen Spenden sowie über die zu weit gehende Protektion von eigenen Anhängern und das rücksichtslose Kaltstellen all derer, die dem Kreisleiter nicht genehm waren. Das Fazit der Ankläger: »Abgesehen von einer rein willkürlichen, lediglich auf Gewalt abgestellten Politik, ohne jeden Begriff der Treue führt Pg. Drauz in sittlicher Hinsicht ein Leben, das jeder Beschreibung spottet und dazu angetan ist, der Bewegung in weitestem Maße zu schaden.« Richard Drauz reagierte auf diese Angriffe am 7. Juli 1934 mit einer Selbstanzeige beim Gaugericht, »um endlich die gegen mich hetzenden bekannten und nichtbekannten Pgs. fassen zu können«. Er tat dies in Absprache mit dem Beauftragten der Parteileitung, der zur Klärung der Vorfälle nach Heilbronn gekommen war, und hatte Erfolg damit. Nicht nur in der Klagesache des ehemaligen Hauptschriftleiters Hans Hauptmann 33 wurde er am 31. August 1934 vom Gaugericht freigesprochen, Susanne Schlösser 150 32 Wörtlich lauten diese: »Ich verlange, daß jeder SA-Führer wie jeder politische Führer sich dessen bewußt ist, daß sein Benehmen und seine Aufführung vorbildlich zu sein hat für seinen Verband, ja für unsere gesamte Gefolgschaft.« (Punkt 2) - »Ich verlange, daß SA-Führer - genau so wie politische Führer - die sich in ihrem Benehmen in der Öffentlichkeit etwas zuschulden kommen lassen, unnachsichtlich aus der Partei und der SA entfernt werden.« (Punkt 3) - »SA-Führer oder politische Leiter, die sich vor aller Öffentlichkeit betrinken, sind unwürdig, Führer ihres Volkes zu sein. Das Verbot nörgelnder Kritik verpflichtet zu vorbildlicher eigener Haltung. Fehler können jederzeit verziehen werden, schlechte Aufführung nicht. [...] Der nationalsozialistische Führer und insbesondere der SA-Führer soll im Volke eine gehobene Stellung haben. Er hat dadurch auch erhöhte Pflichten.« (Punkt 6) - Zit. nach Gehl, Walther, Die Jahre I-IV des nationalsozialistischen Staates. Grundlagen und Gestaltung. Urkunden des Aufbaus - Reden und Vorträge, Breslau 1937, S. 51-53. 33 HT, 1. September 1934, S. 5. In den Akten ist dieses Urteil nicht überliefert. <?page no="152"?> sondern im Lauf des Jahres 1935 auch in allen anderen, diesem noch folgenden Verfahren. Dazu gehörte auch die Anklage eines weiteren alten Heilbronner Parteigenossen, der sich 1933 bei der körperlichen Mißhandlung des Zeitungsverlegers Viktor Krämer hervorgetan hatte und dabei von Drauz gedeckt worden war 34 , jetzt aber Hauptmann und Reppmann unterstützte. Ihn, einen Autohändler, hatte Drauz wissen lassen, daß er ihn »wirtschaftlich und moralisch restlos ruinieren« werde, wenn er weiterhin gegen ihn zeuge. Und tatsächlich ist zum einen ein Schreiben überliefert, in dem der Kreisleiter der Autofirma, deren Vertretung dieser Händler bisher innegehabt hatte, ein anderes Heilbronner Autohaus, »das besonders in moralischer Hinsicht einwandfrei« sei, als künftigen Geschäftspartner dringend empfahl. Zum anderen ließ der Kreisleiter durch den Bruder des Autohändlers ausrichten, daß er diesen wegen seines Meineides in der Sache Krämer anzeigen werde, wenn er sich nicht zurückhalte, »er habe es lediglich seiner [d.i. Drauz] Rücksichtnahme zu verdanken, daß er noch nicht in Schutzhaft sei.« Es wurde also mit massiven Drohungen und ehrenrührigen Vorwürfen gearbeitet, um die höheren Parteistellen von der Richtigkeit des jeweiligen Standpunkts zu überzeugen. Der Kreisleiter hatte allerdings in dieser Auseinandersetzung die weitaus bessere Ausgangsposition durch den größeren Handlungsspielraum, den seine verschiedenen Funktionen ihm boten, und durch die Rückendeckung aus Stuttgart. Wie aus dem Quellenmaterial eindeutig hervorgeht, zögerte er nicht, diese Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Drauz beließ es nicht bei Drohungen und Einschüchterungsversuchen, sondern ging weiter und leitete konkrete Schritte ein, um die wirtschaftliche Existenz seiner Gegner zumindest zu gefährden, wenn nicht gar zu zerstören. Offenbar fühlte er sich ziemlich sicher und befürchtete nicht, daß sich solche Vorgehensweisen eines Tages vielleicht rächen und gegen ihn selbst wenden könnten. Wie die Begründung seines Freispruchs durch das NSDAP-Gaugericht vom 26. Juli 1935 35 zeigt, hatte er durchaus berechtigte Gründe für seinen Optimismus: »Die Kammer vermag unter Berücksichtigung aller mitwirkenden Umstände nicht, über Kreisleiter Drauz wegen Einzelheiten seines Vorgehens den Stab zu brechen und ihn schuldig zu sprechen, nachdem sie sein Vorgehen im Ganzen nicht zu beanstanden vermochte, wie sie auch bestimmt annimmt, daß kein nationalsozialistischer Strafrichter es verantworten könnte, ohne Berücksichtigung und entsprechende Würdigung des Gesamt-Komplexes des Tatbestandes und der mitspielenden politischen Notwendigkeiten rein formaljuristisch einen Verstoß gegen einzelne Paragraphen des Strafgesetzes festzustellen und diesen zur Freude der Staatsfeinde zu ahnden.« Die Zuständigkeit des NSDAP-Gaugerichts war auf innerparteiliche Konflikte beschränkt. Doch formulierte es in diesem Urteil eine deutliche Erwartungshaltung gegenüber der staatlichen Gerichtsbarkeit. So interpretierte dies da- Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 151 34 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). 35 NL Wilhelm, A.Z. 2100/ 35. Dieser Freispruch bezog sich auf das Verfahren wegen des weiter unten dargestellten Vorfalls in der Adlerbrauerei. <?page no="153"?> mals auch der Erste Staatsanwalt bei der Oberstaatsanwaltschaft: »Eine ernste Gefahr für die Unabhängigkeit der Rechstpflege aber bildet das Bestreben, in den parteigerichtlichen Urteilen eine etwaige abweichende Stellungnahme des ordentlichen Gerichts von vorneherein als formaljuristische Paragraphenreiterei abzutun und zugleich mit dem Makel staatfeindlicher Gesinnung zu brandmarken.« Das war eine mutige Stellungnahme, zumal sie gerade in die Zeit fiel, als ein Strafverfahren gegen Richard Drauz wegen Untreue und Körperverletzung einzuleiten war. Für beide Delikte hatte das Gaugericht den Kreisleiter bereits freigesprochen. Das strafrechtliche Verfahren gedieh allerdings nicht über die gerichtliche Voruntersuchung hinaus, offenbar weil die Immunität des Reichstagsabgeordneten Drauz nicht aufgehoben wurde. 36 In Heilbronn gelang es der NSDAP übrigens immer wieder, ihre Erwartungen an die staatliche Rechtsprechung durchzusetzen. Das zeigen mehrere Fälle von Ausschreitungen gegenüber Juden und Andersdenkenden in der Stadt und im Landkreis Heilbronn, die von dem damaligen Heilbronner Polizeidirektor Josef Georg Wilhelm zwar untersucht und zur Anzeige gebracht, dann aber in der Regel durch Intervention von Murr oder Drauz niedergeschlagen wurden. Eine wesentliche Rolle spielte offenbar ein Amts- und Landgerichtsrat, der 1934 zum Oberstaatsanwalt befördert wurde. Von ihm heißt es, daß er »in völlige Hörigkeit gegenüber dem Kreisleiter Drauz geraten war und das Recht in zahlreichen Fällen zugunsten der führenden Parteileute vorsätzlich beugte.« 37 Einige Beispiele 38 : In der Nähe von Dörzbach in Landkreis Heilbronn wurden im Frühjahr 1933 »zwei ältere jüdische Handelsleute von dem SA-Standartenführer 39 [...] - Heilbronn - buchstäblich zu Tode getrampelt.« Nach dem Eingreifen von Gauleiter und Reichsstatthalter Murr wurde die an die zuständige Staatsanwaltschaft eingereichte Strafanzeige nicht weiter verfolgt. Im Juli 1933 überfielen eine größere Anzahl SA-Leute das Haus des früheren Heilbronner OB Emil Beutinger und beschädigten das Gebäude sowie die Einrichtungen schwer. Beutinger selbst konnte sich durch unbemerkte Flucht aus dem Fenster retten. Das eingeleitete Verfahren gegen etwa 40 Verdächtige wurde ebenfalls niedergeschlagen. 40 Ende September 1933 stellte Polizeidirektor Wilhelm Strafantrag gegen einen Heilbronner SA-Truppführer, einen »alten Kämpfer«, wegen Susanne Schlösser 152 36 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz) und NL Wilhelm, A.Z. 2100/ 35. 37 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). Dem Generalstaatsanwalt in Stuttgart ging diese Haltung offenbar zu weit. 1935 wurde ein Dienststrafverfahren gegen den Heilbronner Oberstaatsanwalt eingeleitet und er 1936 zum Reichsamt für Sippenforschung nach Berlin versetzt. 38 Alle in STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). 39 Er wurde am 17. Oktober 1952 für diese und andere Straftaten zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Vgl. Heilbronner Stimme, 18. Oktober 1952, S. 3. 40 Im Juli 1949 wurden neun dieser Tat Verdächtigte vor Gericht gestellt, davon fünf zu Gefängnisstrafen bis zu drei Monaten verurteilt und vier freigesprochen. Vgl. Chronik der Stadt Heilbronn, Bd. 6, Heilbronn 1995, S. 327. <?page no="154"?> Widerstand, Körperverletzung und Beleidigung von Polizeibeamten. Er wurde von der Strafkammer Heilbronn am 29. Juni 1934 zwar zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, später aber auf Veranlassung des Kreisleiters begnadigt. Im letzteren Fall hatte Richard Drauz bereits bei der Gerichtsverhandlung zugunsten des Angeklagten einzugreifen versucht, indem er zu Protokoll gab: »Wenn nun im Herbst vergangenen Jahres [der Angeklagte] einen Zusammenstoß mit der Polizei hatte, so ist dies nicht besonders verwunderlich, denn ein alter Kämpfer [...] vertritt mit vollem Recht den Standpunkt, daß er sich im heutigen Staat von Beamten, die ihn während des Kampfes gedrückt und gequält haben, nicht mehr in einer derart taktlosen und unflätigen Art behandeln läßt.« 41 Daß das Verhältnis zwischen der Heilbronner Polizei und der örtlichen Parteispitze äußerst gespannt war, geht nicht nur aus diesem Zitat hervor, sondern auch aus einem weiteren Gaugerichtsverfahren 42 gegen Richard Drauz, das im Anschluß an einen Vorfall in der Adlerbrauerei am 11. Mai 1935 durchgeführt wurde und ebenfalls mit einem Freispruch endete. Diese Gastwirtschaft wurde von einem Juden betrieben und war Treffpunkt für Kommunisten, Juden und andere, die dem nationalsozialistischen Regime nicht genehm waren. Sie war somit natürlich ein Dorn im Auge der Kreisleitung, bei der auch zahlreiche Beschwerden von »empörten Volksgenossen« eingingen. Als am Abend des 11. Mai wieder einmal jemand Drauz über das »staatsfeindliche Treiben« in der Adlerbrauerei berichtet hatte, hatte dieser sich zusammen mit einigen zufällig anwesenden Parteifreunden dorthin begeben und veranlaßte, nachdem er unerkannt eine Weile den Gesprächen zugehört hatte, die Räumung des Lokals, wobei es zu heftigen Schlägereien und Verletzungen kam. Was weiter geschah, schildert Drauz selbst in seiner Aussage folgendermaßen: »Als das Lokal leer war, ging ich zu dem Juden [...], der [,] um nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, fliehen wollte. Ich stellte ihn sofort zur Rede und bemerkte, daß an der Wand ein Gummiknüppel hing, den ich an mich nahm. [...] Ich erklärte [...], daß es ein Skandal sei, daß in seinem Lokal das kommunistische Gesindel verkehren würde [...]. Ebenso sagte ich [...], daß die unverantwortliche Hetze gegen den Führer, die Partei und den Staat unbeschreiblich sei, was er mit frecher Geste sofort bestritt. Dieses herausfordernde Verhalten des Juden, das mich ungemein empörte, veranlaßte mich, ihm mit dem Gummiknüppel eine runterzuhauen. Dabei sprang seine Frau dazwischen, weshalb versehentlich diese getroffen wurde. Nachdem die Jüdin weggegangen war, erhielt der Jude eine runtergehauen, weil er allein für diese Zustände verantwortlich war.« Drauz äußerte zugleich auch sehr deutlich, wo seiner Meinung nach die eigentlich Schuldigen für diesen Vorfall zu finden waren: »Daß es zu dieser Sache kommen konnte, ist allein dem Versagen des hiesigen Polizeidirektors Wilhelm zuzuschreiben. [...] wir [mußten] immer wieder die Erfahrung machen, daß die Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 153 41 Zit. nach Wilhelm, Friedrich, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil. [Masch.] Stuttgart 1989, S. 138. 42 NL Wilhelm, A.Z. 2100/ 35, daraus auch die folgenden wörtlichen Zitate. <?page no="155"?> Heilbronner Polizei sehr rasch bei der Hand ist, wenn es gilt, gegen Pg. vorzugehen, dagegen äußerst langsam arbeitet, wenn sie gegen Gegner der Partei vorgehen soll.« Deshalb habe er sich als Hoheitsträger der Partei verpflichtet gefühlt, selbst einzugreifen. Aufgrund der ständigen und massiven Beschwerdeführung über den Polizeidirektor, der offensichtlich ein korrekter Beamter war und es für seine Pflicht hielt, alle Straftäter ohne Berücksichtigung ihrer politischen Herkunft zu verfolgen, erreichte es die Heilbronner Kreisleitung schließlich, daß dieser im Oktober 1935 von seinem Posten in Heilbronn abgelöst und zum Polizeipräsidium nach Stuttgart versetzt wurde. 43 Die bisher geschilderten Fälle zeigen deutlich, daß Richard Drauz sich nicht scheute, die Grenze zu Unrecht und Gewalt zu überschreiten, wenn es für seine Ziele dienlich zu sein schien. Das hing sicher auch damit zusammen, daß er offenbar von der Notwendigkeit des »ewigen politischen und weltanschaulichen Kampfes« völlig überzeugt war, wie seine zahlreichen im Heilbronner Tagblatt im Wortlaut abgedruckten Reden zu den verschiedensten Anlässen zeigen. Zwar muß man dabei berücksichtigen, daß auch der Kreisleiter in seinen öffentlichen Verlautbarungen einer gewissen Zensur - und sei es der im eigenen Kopf - unterlag, doch lassen diese Reden in ihrer Gesamtheit einige Gewichtungen erkennen, Lieblingsthemen, auf die er regelmäßig zurückkam, während anderes von ihm kaum oder nie angesprochen wurde. So fällt z.B. auf, daß er die sogenannte »Judenfrage« nur ganz selten einmal thematisierte. Das soll allerdings nicht heißen, daß er die nationalsozialistische Judenpolitik nicht mitgetragen hätte. 44 Dagegen beschwor er aber immer wieder und mit Vehemenz die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg und an die »Kampfzeit« der 20er Jahre, »in der alles aussichtslos schien« 45 , sozusagen als Verpflichtung, auch nach der geglückten »nationalsozialistischen Revolution« nicht mit dem »politischen und weltanschaulichen Kampf« aufzuhören. Er postulierte auch gern den Totalitätsanspruch der NSDAP: »Weil es nun immer schwerer ist, eine eroberte Stellung zu halten, nahm die Partei in jedem Dörfchen und in jeder Straße die politische Führung so fest in ihre Hand, daß sie heute und künftig nicht mehr abgelöst werden kann. Sie bildet die eiserne Klammer, die den deutschen Staat zusammenhält [...]. Ihr Wille wird im eisernen Kampf solange durchgesetzt werden, bis sie überall, in allen Winkeln und Gäßchen gesiegt hat. [...] Wir wollen nichts anderes sein als die Gesellschaft, die in Deutschland für alle Zukunft den Ton Susanne Schlösser 154 43 Vgl. Wilhelm (wie Anm 41), S. 276 - 278. 44 So spielte er z.B. nachweislich bei der »Arisierung« von Schloß Stettenfels bei Untergruppenbach eine zentrale Rolle (Heimatbuch der Gemeinde Untergruppenbach, bearbeitet von Wilfried Sehm, Stuttgart 1992, S. 471 - 475), ebenso bei der »Arisierung« des Gebäudes Bruckmannstraße 28 in Heilbronn, das später der Kreisleitung als Büro und dem Kreisleiter als Wohnung diente (StAHN, Liegenschaftsamt Nr. 448). Zu seiner Beteiligung an dem Judenpogrom im November 1938 vgl. Schrenk, Christhard, Die Chronologie der sogenannten »Reichskristallnacht« in Heilbronn, in: Jahrbuch des Historischen Vereins Heilbronn 32 (1992), S. 293 - 314, hier: S. 308 ff. 45 HT, 31. Januar 1938, S. 5 (Rede zum Kameradschaftsabend der alten Kämpfer im Kreis Heilbronn). <?page no="156"?> bestimmt.« 46 Der Zweite Weltkrieg war für ihn die unvermeidbare und logische Fortsetzung des Ersten: »Denn der Krieg [...] war ja noch nie zu Ende. Er ging seit 1918, seit die Waffen ruhten, mit anderen Mitteln weiter.« 47 Nach der Niederlage von Stalingrad entfaltete er einen regelrechten Aktivismus, indem er bis Anfang März 1943 nahezu täglich vor mehreren NSDAP-Ortsgruppen sowohl im Stadtwie im Landkreis Heilbronn Durchhaltereden 48 folgender Art hielt: »Am Beispiel des Ersten Weltkriegs machte er [d.i. Drauz] deutlich, wieviel von der Heimat, ihrer Weltanschauung und Haltung abhänge für den Sieg. Der Krieg wird heute nicht nur militärisch geführt. Nein, er muß bis in die feinsten Verästelungen unser Hirn und Herz erfüllen. [...] Wir wollen vor der Geschichte bestehen können und beweisen, daß wir den Ruf des Schicksals verstanden haben. Unsere Soldaten sollen wissen, daß sich das ganze Volk in einem gewaltigen Aufbruch zur Tat befindet. [...] Wer heute die Stunde nicht versteht, der wird seine Zeit und das Schicksal unseres Volkes nie verstehen. [...] Wir haben die Kraft zu siegen. Darum müssen wir unsere Herzen stark machen und an uns selbst, den Führer und seine Wehrmacht glauben.« 49 Nach außen hin zumindest ließen sich nie irgendwelche Zweifel 50 an der Richtigkeit der nationalsozialistischen Ideologie und der daraus resultierenden Politik und Kriegsführung erkennen. Unklar bleibt in diesen Reden aber auch, ob und welche politischen Ziele oder Visionen er - über die nationalsozialistische Durchdringung aller Lebensbereiche hinaus - für »seinen« Kreis Heilbronn verfolgte. In den letzten Kriegswochen und -tagen lud Richard Drauz - nach allem bereits durch ihn begangenen Unrecht - auch noch die Verantwortung für Schwerverbrechen auf sich. Für einen Menschen wie ihn, der seit vielen Jahren eng in ein politisches System eingebunden war, in dem Rücksichtslosigkeit, Brutalität und Gewaltbereitschaft - unter welchen Bezeichnungen auch immer - gefordert, gefördert und belohnt wurden, und der offensichtlich keinerlei kritische Distanz zu diesem hatte, scheint das eine konsequente Handlungsweise gewesen zu sein, so unverständlich und unentschuldbar es auch war. Er folgte offenbar noch dem absurdesten Befehl seines »Führers«. So wollte er, laut der Aussage eines Mitarbeiters bei dem Rüstungsbevollmächtigten Südwest 51 , beispielsweise, daß Ende März 1945 die gesamten Anlagen der Fahrzeugwerke Neckarsulm gesprengt werden sollten, was schließlich am Widerstand verschiedener Stellen scheiterte, ebenso wie einige weitere, von ihm Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 155 46 HT, 31. Januar 1938, S. 5. 47 HT, 2. Oktober 1939, S. 5 (Rede bei einer Morgenfeier der Soldatenfrauen). 48 Vgl. HT, 8., 10., 12., 15., 16., 18., 19., 20., 24. Februar sowie 1. und 4. März 1943. 49 HT, 10. Februar 1943, S. 3. 50 Auch die Aussagen seiner Witwe, die angab, ihn nie zweifelnd erlebt zu haben, bestätigen diesen Eindruck: »Ich habe immer zu ihm gesagt, ›was Du hast, das ist Kadavergehorsam, das ist keine Überzeugung.‹[...] Dann konnte er sagen, ›wenn für mich der Adolf Hitler sagt, das Wasser geht bergauf, dann gehts für mich bergauf.‹« Vgl. StAHN, ZSG K.D., S. 28. 51 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). <?page no="157"?> vorgeschlagene Maßnahmen von »verbrannter Erde« in der ohnehin seit dem 4. Dezember 1944 schon völlig zerstörten Stadt Heilbronn. Auch scheint er sich zu derselben Zeit noch ernsthaft mit Evakuierungsplänen für die Bevölkerung des Stadt- und Landkreises Heilbronn beschäftigt zu haben. 52 Die NSDAP-Ortsgruppenleiter in den Gemeinden des Landkreises wies er an, jedes Dorf in eine Festung zu verwandeln und zu verteidigen, wozu die meisten aber nicht mehr bereit waren. 53 Je mehr sich abzeichnete, daß der »Kampf um Heilbronn« verloren gehen würde, desto willkürlicher wurden die Handlungen von Richard Drauz. Sie hinterlassen den Eindruck von dem sinnlosen Wüten eines Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat, aber bis zum letzten Augenblick mit Gewalt versucht, seinen bisherigen Machtanspruch zu behaupten, und sie scheinen auch nicht ganz frei von persönlichen Animositäten gewesen zu sein. So ließ er am 3. April 1945 den stellvertretenden Ortsgruppenleiter von Sontheim, Karl Taubenberger, standrechtlich erschießen, weil dieser nicht verhindert hatte, daß eine Panzersperre abgebaut wurde. 54 Am 6. April 1945 löste Drauz die Heilbronner Geschäftsstelle der Kreisleitung auf, ließ Akten und Parteifahne verbrennen, und machte sich mit zwei zusammengekoppelten Fahrzeugen und einer größeren Begleitmannschaft auf den Weg, die Stadt zu verlassen. Einige Stunden vorher hatten abrückende Wehrmachtssoldaten denselben Weg genommen und den Anwohnern einer Straße am Stadtrand auf deren Nachfrage hin geraten, weiße Tücher herauszuhängen, da gegen die Übermacht der Amerikaner nichts mehr auszurichten sei. Dort waren nun, als der Kreisleiter mit seinem Troß vorbeikam, fünf oder sechs Häuser auf diese Weise »beflaggt«. Nachdem er dies bemerkt hatte, ließ er anhalten und gab - ohne eine weitere Untersuchung der Umstände - mehrfach den Befehl »Raus, erschießen, alles erschießen! « 55 Drei seiner Begleiter 56 kamen dem nach, stürmten nacheinander die verschiedenen Häuser und schossen wahllos auf diejenigen Personen, welche die Türen öffneten. Vier Menschen fielen dieser unsinnigen Bluttat zum Opfer, weitere vier entrannen ihr nur knapp dadurch, daß sie sich tot stellten. Einer der Ermordeten war Stadtrat Karl Kübler, seit 1941 hauptamtlicher Beigeordneter für Verwaltungsangelegenheiten der Stadt Heilbronn und seit dem 1. April 1945 offizieller Amtsverweser für den zum Volkssturm eingezogenen OB Heinrich Gültig. In einer der letzten Zeitungsausgaben, die vor Kriegsende noch in Württemberg erschienen, wurde unter dem Titel »Tod den Susanne Schlösser 156 52 Dieses geht auch aus einer kurz nach dem Krieg verfaßten Denkschrift der Kampfgruppe des Reichsfreiheitsbundes, Sektion Heilbronn, hervor (Salzwerk Heilbronn, Korrespondenz Dr. Bauer, Juni 1945 - Dezember 1947). 53 Henke, Klaus-Dietmar, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 835. 54 Die drei Schützen wurden im Mai 1947 zu vier bzw. zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Vgl. Chronik, Bd. 6 (wie Anm. 40), S. 176. 55 Zit. nach Henke (wie Anm. 53), S. 848. 56 Sie wurden am 2. Juli 1947 deshalb zu 15, sieben bzw. fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Vgl. Chronik, Bd. 6 (wie Anm. 40), S. 183. <?page no="158"?> Verrätern! « 57 behauptet, Kübler und die anderen seien von einem Standgericht verurteilt und dann erschossen worden. Ob die Umstände nicht genau bekannt waren oder man bewußt die falsche Darstellung der Vorgänge wählte, um solch willkürlichen Ermordungen wenigstens in der Öffentlichkeit den Anschein von »Rechtmäßigkeit« zu geben, muß dahingestellt bleiben. Richard Drauz gelang es bei Kriegsende zunächst, durch Flucht einer Gefangenschaft zu entgehen. Er fand in Kloster Dernbach bei Montabaur im Westerwald unter falschem Namen Unterschlupf, wurde dort aber im Juni 1945 vom CIC, dem amerikanischen Abwehrdienst, aufgespürt und verhaftet. Die Amerikaner suchten ihn wegen seiner Beteiligung an der Erschießung eines abgestürzten US-Piloten 58 , der sich als Kriegsgefangener ergeben hatte. Dafür mußte er sich vor einem amerikanischen Militärgericht in Dachau verantworten, wurde am 11. Dezember 1945 als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und am 4. Dezember 1946 in Landsberg durch Erhängen hingerichtet. 59 Daß seinem Leben gerade am zweiten Jahrestag 60 der Heilbronner Stadtzerstörung ein strafendes Ende gesetzt wurde, war sicher keine bewußte Entscheidung der Amerikaner, wurde in Heilbronn aber voller Bedeutung interpretiert: »Es ist wie ein Symbol, daß dieser skrupellose Mörder, der bei Fliegergefahr abend um abend mit seinem Auto die Stadt verließ, gerade am 4. Dezember erhängt wurde, an dem Jahrestag der Katastrophe, an welchem er ebenfalls die Stadt ihrem Schicksal überließ.« 61 Seine anderen Untaten standen in dem postumen Entnazifizierungsverfahren 62 , das 1949/ 50 vor der Zentralspruchkammer in Ludwigsburg stattfand, im Mittelpunkt der Verhandlung. Denn bei der Festsetzung der Sühneleistung, die in seinem Fall aus dem Nachlaß zu bestreiten war, spielte neben der formalen Belastung als NSDAP- Kreisleiter auch die individuelle eine Rolle. Richard Drauz wurde als Hauptschuldiger eingestuft, der sonst übliche Nachlaßeinzug allerdings durch einen Gnadenerweis in einen festen Betrag von 1.000 DM umgewandelt. Einige andere, damals noch Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 157 57 Kocher- und Nationalzeitung Aalen, 17. April 1945. 58 Soweit bekannt, schoß er am 24. März 1945 zusammen mit anderen auf den amerikanischen Kriegsgefangenen, traf ihn aber nicht; der tödliche Schuß wurde von einem seiner Begleiter abgegeben. STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). 59 Die Urteilsbegründung, vermutlich in den National Archives, Washington, archiviert, ist derzeit nicht zugänglich. Auch die im BAP vorhandenen, diesbezüglichen Verfügungen geben den Wortlaut nicht wieder(Auskunft BAP vom 21. November 1995). Die Spruchkammerakte von Richard Drauz enthält nur Kopien des sehr knapp gehaltenen Urteilsspruchs und des Hinrichtungszertifikats. STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11. 60 Am 4. Dezember 1944 wurde die Altstadt von Heilbronn während eines halbstündigen Bombenangriffs vollständig zerstört. Vgl. Bläsi, Hubert; Schrenk, Christhard, Heilbronn 1944/ 45. Leben und Sterben einer Stadt. (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Heilbronn 6), Heilbronn 1995. 61 Heilbronner Stimme, 7. Dezember 1946, S. 3. Die Richtigkeit der Behauptung, daß Drauz jeden Abend die Stadt verlassen hat, ist durch andere Quellen nicht gesichert. Viele Zeitzeugen erzählen allerdings, daß er zumindest am 4. Dezember 1944 nicht in der Stadt gewesen sei. 62 STALB EL 902/ 11, Az.: 24/ 27/ 11 (Spruchkammerakte Richard Drauz). <?page no="159"?> lebende Heilbronner Hauptschuldige 63 wurden z.B. mit folgenden Sühneleistungen belegt: zwischen drei und fünf Jahren Arbeitslager, wobei die bereits abgesessene Internierungshaft in der Regel angerechnet wurde, Einzug des Vermögens - manchmal wurde ein kleiner Betrag zur Bestreitung des Lebensunterhalts belassen -, Berufsbeschränkung auf die Dauer zwischen fünf und zehn Jahren sowie eine Sonderabgabe von fünf bis zehn Prozent des laufenden Einkommens an den Wiedergutmachungsfonds. Konnte diesen über die formale Belastung hinaus beispielsweise die Beteiligung an Gewaltakten gegen Juden oder Andersdenkende nachgewiesen werden, wurde das, wie oben schon angedeutet, in eigenen Strafverfahren verhandelt und abgeurteilt. Man kann wohl davon ausgehen, daß Richard Drauz, wäre er von den Amerikanern nicht hingerichtet worden, als Hauptschuldiger mit ähnlichen Sühneleistungen hätten rechnen müssen sowie mit einigen weiteren Strafverfahren, z.B. bezüglich der oben erwähnten Erschießungen. Trotz aller bis hierher gewonnenen Erkenntnisse über den ehemaligen Heilbronner NSDAP-Kreisleiter müssen am Ende doch einige Fragen offen bleiben: So ist nicht bekannt, wie Richard Drauz im Angesicht des Todes über sich und seine Rolle im »Dritten Reich« dachte. Starb er als noch immer überzeugter Nationalsozialist, oder kamen die vorher nie gehabten Zweifel am Ende doch? Und: Wäre er vielleicht anders im Gedächtnis geblieben, wenn er noch länger gelebt und Gelegenheit gehabt hätte, sich selbst zu seiner NS-Vergangenheit zu äußern? Zwar ist durch das Vorausgegangene klar, daß er einer der Hauptverantwortlichen für die Heilbronner Geschehnisse dieser Zeit war, und daß er seinen schlechten Ruf in vieler Hinsicht auch verdiente. Doch hätte auch Kreisleiter Drauz, bei aller Willkür, die ihm eigen war, sowie bei aller Unterstützung aus Stuttgart, nicht so viel erreichen können, wenn es nicht auch in Heilbronn Parteigänger und Mitläufer gegeben hätte, die ihn aus Überzeugung oder anderen Gründen unterstützten oder mit ihm paktierten. Da aber fast nur von Drauz als »dem Heilbronner Nationalsozialisten« die Rede ist, drängt sich der Gedanke auf, ob in ihm nicht der gesuchte und durch Hinrichtung bereits abgeurteilte »Sündenbock« für alle Verbrechen des »Dritten Reiches« in Heilbronn gefunden wurde, der die anderen von einer Auseinandersetzung mit den eigenen Anteilen am Funktionieren des NS-Systems entlasten konnte. Es wäre sicher in Hinblick auf die Entwicklungen der Nachkriegszeit sehr interessant, dieser Frage einmal gesondert nachzugehen. Susanne Schlösser 158 63 Vgl. Amtliche Mitteilungen für den Stadt- und Landkreis Heilbronn, Jahrgänge 1946, 1947, 1948, 1949. <?page no="160"?> Bibliographie Quellen Durch die schwere Zerstörung Heilbronns am 4. Dezember 1944 sind nahezu alle in der Stadt vorhanden gewesenen schriftlichen Unterlagen aus der Zeit des »Dritten Reiches« verbrannt. Im Stadtarchiv Heilbronn ist lediglich das Heilbronner Tagblatt - mit einigen Lücken - überliefert, das auch für die Person von Richard Drauz eine wichtige, wenn auch schwierige Quelle darstellt. Weitere Hinweise auf ihn geben verschiedene Zeitzeugengespräche sowie einige Wiedergutmachungsakten aus der Nachkriegszeit. In den Gemeindearchiven der zum Landkreis Heilbronn zählenden Ortschaften sind vereinzelt ebenfalls Informationen über ihn zu finden. Im Staatsarchiv Ludwigsburg werden neben seiner Spruchkammerakte auch Akten der Kreisleitung Heilbronn aufbewahrt, die allerdings bisher noch nicht verzeichnet und deshalb auch nicht zu benutzen sind. Das ehemalige Berlin Document Center (jetzt: Bundesarchiv, Abteilung III, Außenstelle Berlin-Zehlendorf) kann nur mit wenigen Hinweisen, vorwiegend Korrespondenz mit der Parteikanzlei über organisatorische Fragen, wie seine Besoldung als Kreisleiter und ähnliches, dienen. Von besonderem Interesse für die Person von Richard Drauz sind dagegen die im Nachlaß von Josef Georg Wilhelm befindlichen originalen Gaugerichtsakten (Gaugericht Württemberg-Hohenzollern A.Z. 454/ 34 und 2100/ 35), die zusammen mit dem gesamten Nachlaß künftig an das Hauptstaatsarchiv Stuttgart abgegeben werden sollen. Literatur Eine zusammenhängende biographische Darstellung über Richard Drauz gab es bislang nicht. Allerdings werden er und sein Wirken in einigen lokalen wie überregionalen Abhandlungen unter verschiedenen Gesichtspunkten berücksichtigt. Das Buch von Uwe Jacobi »Die vermißten Ratsprotokolle. Aufzeichnung der Suche nach der unbewältigten Vergangenheit«, Heilbronn 1981, dessen Autor mit dazu beigetragen hat, das lokale Geschichtsinteresse bezüglich des »Dritten Reiches« in Heilbronn zu wecken, basiert fast ausschließlich auf Zeitzeugenberichten und erhebt daher - auch bezüglich der Person von Richard Drauz - keine wissenschaftlichen Ansprüche. Markus Dietrich, Es kann uns den Kopf kosten. Antifaschismus und Widerstand in Heilbronn 1930 - 1939, Heilbronn 1992, geht nur ganz am Rande und auf Jacobi basierend auf Richard Drauz ein. Heilbronn und sein Kreisleiter werden dagegen bei Thomas Schnabel, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46, Stuttgart 1986, an vielen Stellen vergleichend als Beispiele für bestimmte Entwicklungen herangezogen. Daraus ein präzises Bild von Drauz zu gewinnen, fällt trotz der jeweils fundierten und korrekten Darstellung, schwer, weil die einzelnen Hinweise naturgemäß über das gesamte Buch verstreut sind. Die Konflikte zwischen Kreisleiter und Polizeidirektor werden bei Friedrich Wilhelm, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil. [Masch.] Stuttgart 1989, ausführlich gewürdigt. Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, beschreibt die Drauzschen Gewaltakte der letzten Kriegstage beispielhaft, ohne sich jedoch mit der Person des Kreisleiters eingehender beschäftigt haben zu können, so daß einige seiner Urteile zu pauschal und klischeehaft ausgefallen sind. Richard Drauz, NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 159 <?page no="162"?> * 16. Februar 1891 Freiburg/ Breisgau, ev., 1919 Kirchenaustritt, Vater: Karl Günther, Musiker, Mutter: Mathilde, geb. Kropff, verheiratet in erster Ehe mit Hedda Lembach, seit 1923 in zweiter Ehe mit Maggen, geb. Blom, zwei Kinder. Volks- und Oberrealschulbesuch, 1910 Abitur, Studium der Sprachwissenschaften und Germanistik in Freiburg und Paris, 1914 Promotion zum Dr. phil., August 1914 Kriegsfreiwilliger, 1915 Dienst in der freiwilligen Krankenpflege, 1919 Kriegsteilnehmerprüfung für das höhere Lehramt, Probedienst an Schulen in Freiburg und Dresden, 1920 freier Schriftsteller, erste Buchveröffentlichung: »Ritter, Tod und Teufel. Der heldische Gedanke«, 1922 Herausgabe des Hauptwerkes »Rassenkunde des deutschen Volkes«, 1923 Übersiedlung nach Norwegen, 1925 Umzug nach Schweden, Gastvorlesungen an der Universität Uppsala, 1929 Rückkehr nach Deutschland, 1930 Aushilfslehrer in Dresden, 1930 ordentlicher Professor für Sozialanthropologie an der Universität Jena, 1935 Direktor der Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und Ländliche Soziologie an der Universität Berlin; 1939 Ruf an die Universität Freiburg. 1932 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 1.185.931), 1933 Mitglied im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Reichsministers des Innern, 1935 Staatspreis der NSDAP für Wissenschaft, Ehrenmitglied im Sachverständigenbeirat des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, 1936/ 37 Rudolf-Virchow-Plakette der Berliner Gesellschaft für Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte, Vorstandsmitglied der deutschen Philosophischen Gesellschaft, 1941 Goldenes Parteiabzeichen der NSDAP, Goethemedaille für Kunst und Wissenschaft. 1945-1948 Internierungshaft, September 1945 Entlassung aus dem Universitätsdienst durch die Militärregierung, 1949 Entscheidung der Spruchkammer Freiburg: »Minderbelasteter», Der »Rassepapst« Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde Elvira Weisenburger Hans Friedrich Karl Günther 161 <?page no="163"?> 1951 Entscheidung im Berufungsverfahren: »Mitläufer«, Dezember 1951 in den Ruhestand versetzt, seit 1951 erneut als Schriftsteller tätig, 1953 korrespondierendes Mitglied der American Society of Human Genetics, gest. 25. September 1968 Freiburg. Als der Münchner Verlag »J.F. Lehmanns« Ende 1951 ein Buch mit dem Titel »Gattenwahl« 1 neu auflegte, löste er damit eine Welle der Empörung aus. Nicht nur die Presse übte scharfe Kritik: Im Frühjahr 1952 schlossen sich entrüstete Prominente, Wissenschaftler und Publizisten zusammen. Sie forderten die Beschlagnahme des 176 Seiten starken Bändchens, das laut Untertitel »zu ehelichem Glück und erblicher Ertüchtigung« verhelfen sollte und seit der Erstauflage während des »Dritten Reiches« nur unwesentlich verändert worden war. Erich Kästner und Luise Rinser gehörten zu den Unterzeichnern des Protestbriefes an den bayerischen Landtag und an den Börsenverein der Verleger und Buchhändler. 2 Unbekannte bemalten in der selben Woche nachts mehrere Münchener Buchhandlungen mit der Aufschrift »Nazi«. Nur wenige Tage später gab der Verlag dem öffentlichen Druck nach: Er zog die »Gattenwahl« aus dem Handel. 3 Der Inhalt des Buches allein hätte vermutlich weniger Beachtung gefunden. 4 Was die Kritiker in erster Linie alarmiert hatte, war der Name des Autors: Hans Friedrich Karl Günther. Heute ist dieser Name weitgehend in Vergessenheit geraten, in Gesamtdarstellungen über das »Dritte Reich« taucht er häufig höchstens als Fußnote auf. In der Nachkriegszeit allerdings war er einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Günther galt als »Rassepapst« 5 des »Dritten Reiches«, als »geistiger Urheber des nationalsozialistischen Rassegedankens« 6 . In den Augen seiner Gegner hatte er »die Kristallnacht seelisch vorbereitet und gewissermaßen die Krematorien von Auschwitz vorgeheizt« 7 . Und in der Tat hatte er wichtige Grundlagen gelegt, auf denen die Nationalsozia- Elvira Weisenburger 162 1 Günther, Hans F.K., Gattenwahl zu ehelichem Glück und erblicher Ertüchtigung, München 1951 (1. und 2. Aufl. 1941 und 1942 erschienen). Diese wie mehrere andere Publikationen Günthers sind nach wie vor im Buchhandel erhältlich. 2 Die Neue Zeitung, 22./ 23. März 1952. 3 Süddeutsche Zeitung, 28. März 1952. 4 Die meisten Kapitel enthalten Ratschläge, die in den 50er Jahren durchaus konsensfähig waren. Da wird vor der Heirat mit Zuckerkranken, Frauenrechtlerinnen und Gewohnheitstrinkern gewarnt, der ideale Altersunterschied zwischen Mann und Frau in Tabellen aufgelistet oder die Liebe auf den ersten Blick als gefährliche Illusion dargestellt. Erst der Schlußteil, in dem die Zwangssterilisationen der NS-Zeit in einen verharmlosenden Zusammenhang gestellt und die gesetzlich vorgeschriebenen NS-Ehegesundheitszeugnisse als richtungweisend dargestellt werden, entlarvt den Autor eindeutig als Vertreter radikaler Ideen, die mit der menschenverachtenden Politik des Nationalsozialismus übereinstimmen. 5 Der Spiegel, 2. Januar 1952, S. 32 f. Dieser journalistische Beitrag bemühte sich bereits um ein ausgewogenes Urteil über Günther, stellte Negativurteilen auch entlastende Momente gegenüber und zeigte vom Nationalsozialismus unabhängige Traditionslinien zu Günthers Lehre auf. 6 Die Neue Zeitung, 22./ 23. März 1952. 7 Der Spiegel (wie Anm. 5). <?page no="164"?> listen ihre Propaganda von »Herrenmenschen« und »Untermenschen« aufbauen konnten. Das Ideal vom »nordischen« Menschen, von der erblich höherwertigen blonden Führerrasse - Günther hatte es den Deutschen in hunderttausendfacher Auflage verkündet. Daß seine Bücher erst nach Hitlers Machtergreifung, auf staatlichen Druck hin, bekannt geworden seien, wie ein Rezensent der »Neuen Zeitung« 8 1952 behauptete, stimmt allerdings nicht. Schon Anfang der 20er Jahre war Hans F.K. Günther durch seine »Rassenkunde des deutschen Volkes« 9 bekannt - und heftig umstritten. War er ein »Scharlatan« 10 , der unter pseudowissenschaftlichem Deckmantel den Rassenhaß predigte? War er einfach nur ein »weltfremder Theoretiker« oder gar ein »in internationalen Fachkreisen anerkannter Wissenschaftler« 11 ? Darüber gingen die Auffassungen in der deutschen Öffentlichkeit schon Jahrzehnte vor der »Gattenwahl«-Kontroverse weit auseinander. Günthers Verhältnis zum Nationalsozialismus und zur Partei war diffus, was die Einordnung seiner Rolle im »Dritten Reich« erschwert. Einerseits war er der erste Professor, den die Nationalsozialisten einer deutschen Universität aufzwangen; Heinrich Himmler gehörte zu seinen glühenden Anhängern. 12 Noch 1941 würdigte die Partei Hans F. K. Günther offiziell als »Vorkämpfer des Rassegedankens«. 13 Andererseits war dem Rasseforscher parteipolitische Agitation fremd. Seine Weltanschauung paßte auch in vielen Komponenten nicht mit jener maßgebender Nationalsozialisten zusammen - eine Kluft, die in ähnlichem Maß wuchs wie der Einfluß der Blut-und Boden-Ideologen schwand. Denn jenem Kreis der nationalsozialistischen Bauerntumsromantiker und Züchtungsfanatiker um Reichsbauernführer Richard Walter Darré stand Günther nahe. 14 Seit den 30er Jahren wandte sich der »Rassepapst« selbst zunehmend »Forschungsfragen« auf dem Gebiet der »ländlichen Soziologie« zu. Zur Rassenforschung war Hans F.K. Günther ohnehin auf Umwegen gelangt, denn von Haus aus war er Philologe. In Freiburg hatte er Sprachwissenschaften und Germanistik studiert. Freiburg im Breisgau war auch Günthers Heimatstadt. Am 16. Februar 1891 wurde er hier geboren. Sein Vater Karl war Berufsmusiker, er »strich im Freiburger städtischen Orchester die Geige«. 15 Günther, der eine Schwester hatte, Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 163 8 Deich, Friedrich, Die Auferstehung des berüchtigten Rasse-Günthers, in: Neue Zeitung, 23./ 24. Februar 1952. 9 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, 1. Aufl. München 1920. 10 Schoenbaum, David, Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches, Köln 1968, S. 308 f. 11 Der Spiegel (wie Anm. 5). 12 Vgl. Ackermann, Josef, Heinrich Himmler als Ideologe, Göttingen 1970. 13 Der Alemanne, 17. Februar 1941. 14 Vgl. Corni, Gustavo; Gies, Horst, Blut und Boden. Rassenideologie und Agrarpolitik im Staat Hitlers, Idstein 1994, S. 18 f. 15 Fischer, Eugen, Hans. F.K. Günther. Der Rassen-Günther, in: Mein Heimatland, Badische Blätter für Volkskunde, Heimat- und Naturschutz, Denkmalpflege, Familienforschung und Kunst, Heft 5/ 6 1935, S. 219 - 221, hier S. 219. <?page no="165"?> war der einzige Sohn der Familie. Seine Kindheit in der Stadt am Fuße des Schwarzwaldes, am Rande des Kaiserstuhles schilderte der naturverbundene Günther später als unbeschwert: Wie in »dauernder Sommerfrische« habe es sich damals im idyllischen Freiburg leben lassen - zumal im Freien genügend Platz war für Vergnügen wie »Buren-und Engländerspielen«, eine der »erregendsten« Beschäftigungen für den jungen Schüler. 16 Früh ausgeprägt war Günthers »unbegrenzte philologische Wißbegier«. 17 Als Primaner lernte er nebenher Ungarisch, während des Studiums beschäftigte er sich mit den altaischen und finnisch-ugrischen Sprachen und der Völkerkunde der betreffenden Volksstämme. Das Sommersemester 1911 verbrachte er in Paris, um französische Literatur und Sprache zu studieren. Der Germanistikstudent Günther besuchte auch Veranstaltungen naturwissenschaftlicher Fakultäten. Er hörte Vorlesungen in Geologie und Zoologie, und bei Eugen Fischer, einem der führenden Anthropologen vor und während der nationalsozialistischen Ära, erwarb er Grundkenntnisse auf seinem späteren Spezialgebiet, der Rassenkunde. Als junger Mann schrieb der »Rassepapst« Gedichte. Unter dem bezeichnenden Titel »Lieder vom Verhängnis« 18 veröffentlichte er später eine Auswahl dieser frühen literarischen Arbeiten, die sicherlich zu Recht »künstlerisch bedeutungslos« 19 genannt worden sind. Die Inspiration zu seiner dichterischen Betätigung schöpfte Günther nach eigener Aussage meist »unmittelbar aus landschaftlichen Eindrücken der Freiburger Umgebung« 20 , obwohl er keineswegs Naturlyrik verfaßte. Die Gedichte verraten deutlich Günthers pathetische Neigungen, seine Sehnsucht nach einer großen Aufgabe, einem heldenhaften Schicksal - und seine realitätsferne, pubertär-fanatische Sichtweise auf alles Kriegerische. Das Gedicht »Der Feldherr« 21 ist ein vielsagendes Beispiel hierfür: »Und bleib ich im Feld, ihr kennt mein Gebot, Nie habt ihr das Wort mir gebrochen. So haltet ihr’s auch, wenn ich steif bin und tot: Ihr zieht mir die Haut von den Knochen. Und spannt auf die Trommel das schallende Fell Und lasset den Schlägel drauf tanzen Und glaubt: ich ruf euch als Kampfgesell Zum Sturm auf die feindlichen Schanzen! Elvira Weisenburger 164 16 Der Rasseforscher Günther über sich selbst, in: »Der Führer«, 8. Mai 1932. 17 Ferdinand, Horst, Günther, Hans F.K., in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad (erscheint 1997). 18 Günther, Hans F.K., Lieder vom Verhängnis, Cassel 1925. 19 Lutzhöft, Hans-Jürgen, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920 - 1940, Stuttgart 1971, S. 28. 20 Günther (wie. Anm. 16). 21 Günther, Lieder (wie Anm. 18), S. 31. <?page no="166"?> Euch lieb ich und will euch noch lieben im Tod Und will eure Fahnen nicht lassen. Ihr aber färbt mir die Waffen rot In dem Blut, das wir alle hassen! « Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Günther 23 Jahre alt. Er wollte diese erste Gelegenheit nutzen, um sich selbst im Kampf zu bewähren. Seine literaturwissenschaftliche Doktorarbeit über die »Herkunft des Volksbuches von Fortunatus und seinen Söhnen« hatte er bereits abgeschlossen. Am 2. August 1914 beantragte er die Zulassung zur Promotionsprüfung, und am gleichen Tag meldete er sich als Kriegsfreiwilliger. »Heute durfte ich mich in die Stammrolle eintragen lassen, um in wenigen Tagen meiner Pflicht für das Vaterland zu genügen«, vermerkte der »cand. phil.« Hans Günther in seinem Antrag an die philosophische Fakultät - und fügte als Schlußsatz hinzu: »Ich hoffe, meiner Heimatuniversität Ehre machen zu können im Feld«. 22 Doch aus dem Traum vom ehrenhaften Soldatenleben wurde nichts. Günther erkrankte bereits im Herbst 1914, noch während der Ausbildung beim Freiburger Infanterie-Regiment 113, an Gelenkrheumatismus. Mehrere Monate verbrachte er deshalb im Krankenhaus. Die Therapie linderte zwar seine Gelenkschmerzen, doch »dafür traten erhebliche Herzstörungen auf, die [...] nicht behoben werden konnten und sich erst im Laufe der nächsten zehn Jahre allmählich verloren«. 23 Statt Frontsoldat wurde Günther schließlich Heeresuntauglicher. 24 Seinem Vaterland diente er fortan beim Roten Kreuz: Im Frühjahr 1915 meldete er sich zum Dienst in der freiwilligen Krankenpflege, wo er bis nach Kriegsende blieb. Da er in der Freiburger Ausbildungsleitstelle eingesetzt wurde, nutzte Günther die Gelegenheit und besuchte während der Kriegsjahre weiterhin Vorlesungen, um sich »in Sprachen außerhalb des indogermanischen Sprachkreises« 25 fortzubilden. Nach dem Zusammenbruch der alten politischen Ordnung und dem »Schmachfrieden von Versailles« 26 mußte sich auch der junge Doktor der Philologie neu orientieren. Zunächst steuerte Günther eine bürgerliche Laufbahn als Lehrer an. In Karlsruhe legte er 1919 die Kriegsteilnehmerprüfung für das höhere Lehramt in den Fächern Englisch, Deutsch, Französisch ab - laut eigener Angabe mit der Gesamtnote »gut«. 27 An Freiburger und Dresdner Schulen absolvierte er anschließend seinen Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 165 22 Antrag Günthers auf Zulassung zur Doktorprüfung, 2. August 1914, UAFR, B 42/ 55. 23 So berichtet Günther in einem selbstverfaßten Lebenslauf in den Freiburger Universitätsakten, UAFR, B 24/ 1116; bemerkenswerterweise erwähnt er das unrühmliche Kapitel seiner kurzen Soldatenlaufbahn in einem Zeitungsaufsatz über sein Leben (s. Anm. 16) nicht. 24 Vgl. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 29. 25 Günther, Lebenslauf (wie Anm. 23). 26 So empfand auch Günther. Die Zeitschrift »Deutschlands Erneuerung« - erschienen im Lehmanns- Verlag - bei der er zur Weimarer Zeit als Mitherausgeber auftrat, »kämpfte« erklärtermaßen gegen den »Schmachfrieden von Versailles«. 27 Günther, Lebenslauf (wie Anm. 23). <?page no="167"?> Probedienst. Doch eigentlich zog es Günther zur Schriftstellerei. Schon während der Ausbildung entstand sein erstes Buch »Ritter, Tod und Teufel« 28 , eine »Art weltanschaulicher Bekenntnisschrift« 29 . Es wurde eine kulturpessimistische 30 Schrift, die von einer tiefen Verunsicherung und Verbitterung zeugt. Ein Werk, das mit allem zugleich abrechnete: mit dem Liberalismus des 19. Jahrhunderts, dieser »unheldischste[n] Gesinnung« 31 , mit dem »herzlose[n] Kapitalismus« 32 und der »Humanität«, dieser »Entschuldigung für jede Unentschlossenheit« 33 ebenso wie mit den »zu Marx hin entartete[n]« 34 Sozialisten und dem »blöden Gedanken an einen Fortschritt der Menschheit« 35 . Günther haßte das Zeitalter, in dem er leben mußte und dessen Zeitgeist in seinen Augen verweichlicht, »weibisch« war: »Schicksalsgefühl ist ein Ausdruck heldischer Zeit, ein kennzeichnender Ausdruck unserer Zeit ist die Lebensversicherung«. 36 Ein Schreckensbild war für den 29jährigen Autor die »Emanzipierte«, die »Losgelassene«, wie er diesen Frauentyp nannte: »Der Mann läßt sie toben, in Versammlungen schwätzen, im Reichstag zetern und sich in Hochschulen spreizen - es ist ekelerregend! «. 37 Privat war Günther damals selbst mit einer emanzipierten Frau, einer Schauspielerin, verheiratet. 38 Doch er träumte von einer festgefügten Gesellschafts- und Sittenordnung, die jeder Gruppe ihren Platz zuweisen sollte, er träumte von einer Welt, in der dem Mann die Rolle des starken, mutigen Gestalters vorbehalten sein sollte. Während Gleichaltrige die Jazzmusik entdeckten und im Dadaismus ihre Ausdrucksform fanden, in einer Zeit, in der Kämpfe in neugegründeten Parlamenten ausgetragen wurden 39 , wollte Günther »den Helden künden« 40 - einen Helden, »der in denWald des Lindwurms dringt«. 41 Siegfried war sein strahlendes Elvira Weisenburger 166 28 Günther, Hans F.K., Ritter Tod und Teufel. Der heldische Gedanke, 1. Aufl. München 1920. 29 Günther (wie Anm. 16). 30 Zu den weltanschaulichen Grundlagen Günthers s. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 69 ff., zu Kulturpessimismus und Antiliberalismus ferner Stern, Fritz, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern, Stuttgart, Wien 1963. 31 Günther, Hans F.K., Ritter, Tod und Teufel, 4. Aufl. München 1935, S. 33. 32 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 26. 33 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 26. 34 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 38. 35 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 33. 36 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 55. 37 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 99. 38 Laut mündlicher Auskunft von Günthers Tochter Ingrid Guzzoni hatte er einige Jahre zuvor eine Wiener Schauspielerin mit Künstlernamen Hedda Lembach geheiratet, die eine starke Persönlichkeit und eine »intellektuelle« Frau gewesen sein soll. 39 »Das Buch wurzelt im Konservatismus, und es war 1920 eigentlich altmodisch, denn es ist vom Geiste der Vorkriegszeit. Auch das Pathos war nicht mehr zeitgemäß«, so urteilt Peter Emil Becker, Hans Friedrich Karl Günther. Der nordische Gedanke, in: Sozialdarwinismus, Rassismus, Antisemitismus und Völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich Teil 2, hrsg. v. P. E. Becker, Stuttgart, New York 1990, S. 230 - 307, hier: S. 233, über »Ritter, Tod und Teufel«. 40 Günther, Ritter (wie Anm. 31), Vorwort. 41 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 8. <?page no="168"?> Leitbild, an dem sich die Deutschen der Weimarer Republik aufrichten sollten: »Siegfried tritt stets in den Morgen einer Welt. Das gegenwärtige Zeitalter aber mit seiner beklemmenden Bewußtheit steht an allen Enden der Entwicklung«. 42 Seitenweise schwärmte Günther in diesem Erstlingswerk von Männlichkeit, wie er sie verstand: »Ein Mann taugt so viel wie sein Haß« 43 - das war sein Maßstab. Manneswerk vollbringen, das bedeutete »Grenzen zu setzen zwischen Gott und Teufel, Gut und Bös, Haß und Gehässigkeit, Liebe und Schlaffheit, zwischen Geist und Stoff, zwischen Mann und Weib, zwischen Held und Wicht«. 44 Der wahre Mann in Güntherschem Sinne bewährt sich in Todesgefahr und erträgt die heldische Einsamkeit, und er weiß: »Glück und Männlichkeit decken sich nicht« 45 . Sein Schicksal liebt er »am stolzesten dann, wenn es ihn zermalmen will«. 46 Günther trug sein heldisches Männlichkeitsideal geradezu penetrant vor. Es liegt auf der Hand, dahinter eine »Überkompensation des jungen Autors, der darunter gelitten hat, daß er während des Krieges nicht an der Front sein konnte« 47 , zu vermuten. Günther hat später selbst eingeräumt, daß seine frühe Bekenntnisschrift in einigem »allzu jugendlich überlaut« 48 geraten war. Dennoch ist sie ein wichtiges Dokument, das Zeugnis ablegt von Günthers Ideen und seinen charakteristischen Persönlichkeitsmerkmalen. Sein »fast eigenbrötlerisches Wesen«, 49 seine »unreflektierte Vorliebe für alles Heroische« 50 kommen darin deutlich zum Ausdruck. Darüber hinaus legte der »Rassen-Günther«, der Wegbereiter des Nordischen Gedankens 51 bereits sein Grundsatzprogramm vor: Volk und Staat der Deutschen sollten an der nordischen Rasse genesen. Daß gerade dieser Rasse die Erlöserfunktion zukommen mußte, stand für Günther außer Frage. Der nordische Mensch war für ihn unbestritten der schönste, begabteste, edelste, tüchtigste und heldischste Mensch. Die nordische Rasse galt ihm als die schöpferische, kulturschaffende Rasse des Abendlandes. Ob Platon oder Petrarca, ob Leonardo da Vinci, Columbus, Voltaire, Pascal oder Corneille - alle großen Denker und Künstler, ja alle großen Männer der Weltgeschichte, die Günther seinen Lesern vorhielt, waren »aus nordi- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 167 42 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 16. 43 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 70. 44 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 86. 45 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 9. 46 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 55. 47 Becker (wie Anm. 39), S. 233. 48 1928 im Nachwort zur dritten Auflage, abgedruckt in Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 195. 49 Becker (wie Anm. 39), S. 233. 50 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 28. 51 Zu den verschiedenen Ausprägungen des Nordischen Gedankens, der teils als nationaler, teils als allnordischer Gedanke gemeint war, zu den Organisationen der Nordischgesinnten s. Lutzhöfts umfassende Studie (wie Anm. 19); den Begriff hat Günther geprägt, er definierte den Nordischen Gedanken als »Gedanken der Vorbildlichkeit des nordischen Menschen für die Auslese der nordisch-bedingten Völker«, s. seine Schrift: Der Nordische Gedanke unter den Deutschen, 2. Aufl. München 1927, S. 4. <?page no="169"?> schem Blut«. 52 Die Rassenfrage wurde folglich zum »Schlüssel zur Weltgeschichte«. 53 Aus ihr ließ sich jeder bedeutende historische Prozeß erklären, so auch der Niedergang des Römischen Reiches: Das »nordische Blut versickerte und verunreinigte sich in Mischehen - so brach auch hier die Dämmerung ein ... und schließlich haben die entarteten Mischlinge der spätrömischen Großstadtmassen die heldische Sendung Roms nicht mehr begriffen und aufgelöst und zersetzt und nach Brot und Spielen geschrieen, bis rings um das Mittelmeer ein Völkersumpf war«. 54 Vermischung war für den jungen Autor gleichbedeutend mit Unheil, Chaos, Zerfall. Die Idee eines rein »nordischen« Staates hingegen verhieß ihm ein goldenes Zeitalter. Die Germanen, wie Tacitus sie beschrieben hat, waren seine Idealbilder; sie verkörperten in seiner Vorstellung Reinheit und lebten die ursprüngliche »germanische Freiheit«. 55 Von diesen vermeintlichen Wurzeln des deutschen Volkes ausgehend, forderte er eine Neuorientierung des Staates am Rasseprinzip: »Das Amt des Staates, sofern er ein heldischer Staat werden will, ist es nun, daß er ein neues Bestreben wecke, das Bestreben nach vorbildlich deutscher Art, nach der Artung der nordischen Rasse«. 56 Dabei räumte Günther durchaus ein, daß das deutsche Volk ein Mischvolk mit starken »dunklen« Anteilen sei. Im Grunde wußte er, daß sein Traum vom nordischen Volk und Staat einer Utopie gleichkam. Doch die Sehnsucht nach einer Vision, nach einem Leitbild in den unsicheren Nachkriegsjahren wog bei ihm stärker als die Einsicht in Realitäten. Menschen, die nur sahen, »wie es ist, aber nie wie es sein soll«, erklärte er schlicht zu unschöpferischen Menschen, zu Spießern. Und er klammerte sich an die paradoxe Hoffnung, dank eines nordischen Sitten- und Staatsgesetzes werde den Deutschen »das Unmögliche gelingen«: »So müßte wieder Volk werden aus Masse, Staatsbürger aus Spießbürgern, Wurzelfeste aus Entwurzelten, Gestaltung aus Auflösung und Freudigkeit aus Verzweiflung«. 57 Auf der Grundlage eines neuen Blutsbewußtseins sollte es den Deutschen auch »endlich« glücken, ein Reich zu gründen, das von Dauer wäre. 58 Günther betonte das deutsch-nationale Moment in dieser frühen Schaffensphase als Schriftsteller noch wesentlich stärker als in seinen späteren Veröffentlichungen. Seine Hoffnung auf eine neue nationale Identität, auf ein erneuertes mächtiges deutsches Reich unter starker Führung hat er auch dramaturgisch verarbeitet. Im Jahre 1921 erschien ein mystisch-romantisches Bühnenstück aus seiner Feder. »Hans Baldenwegs Aufbruch. Ein deutsches Spiel in vier Auftritten« 59 , so lautet der Titel. Im Mittelpunkt steht ein jugendlicher Held, dem Günther offensichtlich nicht nur den eigenen Vornamen, Elvira Weisenburger 168 52 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 171 ff. 53 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 177. 54 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 172. 55 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 190. 56 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 183. 57 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 189 - 192. 58 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 192. 59 Günther, Hans. F.K., Hans Baldenwegs Aufbruch. Ein deutsches Spiel in vier Auftritten, München 1921. <?page no="170"?> sondern auch eigene Wesenszüge angedichtet hatte. Dieser Hans Baldenweg macht sich auf, um den alten Kaiser zurückzugewinnen, der sich - in Anlehnung an die Kyffhäusersage - in einem Berg verborgen hält. Der Herrscher soll auf Wunsch des Theaterhelden sein Reich wiederbegründen - allerdings nicht auf religiöser Grundlage wie einst im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Günther, der 1919 aus der evangelischen Kirche ausgetreten war, erteilte der christlichen Kirche und Religion in seiner Theaterdichtung eine deutliche Absage. Hans Baldenwegs Kaiser sollte ein völkisch-deutsches Reich schaffen, anstatt sich mit der Kirche zu verbünden: »Ihm gehts bei allem ums deutsche Land [...] Ihm gilt nur heilig das Verjüngend-Eigne, das uralt-neue, reine Blut«. 60 Die Ideenwelt des jungen Schriftstellers war keineswegs originell. Sie war im wesentlichen aus Versatzstücken der gängigen rassentheoretischen und kulturphilosophischen Schriften des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts komponiert. Günthers rassische Geschichtsauffassung wurde zweifelsohne von den Standardwerken des französischen Grafen Arthur Gobineau und des Engländers Houston Stewart Chamberlain geprägt, aus deren Weltanschauung unter anderen auch Adolf Hitler und der nationalsozialistische Chefideologe Alfred Rosenberg schöpften. 61 Die von Gobineau konstruierte arische Urrasse und Chamberlains Germane, der die Menschheit aus den »Krallen des Ewig-Bestialischen« 62 errettete, gaben für Günthers nordischen Menschen ein vergröbertes Vorbild ab. Nietzsches Angst vor der »Verwesung« im Abendland, seine Sehnsucht nach dem »Übermenschen« und nach der »großen Gesundheit« 63 haben ebenso Eindruck bei Günther hinterlassen wie die Schriften des Karlsruher Anthropologen Otto Ammon und des Grafen Georges Vacher de Lapouge. 64 Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 169 60 Günther, Baldenweg (wie Anm. 59), S. 15. Ähnliche Glaubensvorstellungen vertrat die »Deutsche Glaubensbewegung«, für die Günther in den 1930er Jahren gelegentlich als Redner unterwegs war, vgl. Stengel-von Rutkowski, Lothar, Hans F.K. Günther, der Programmatiker des nordischen Gedankens, in: NS-Monatshefte 6 (1935), S. 962 - 997 und 1099 - 1114, hier S. 988. 61 Gobineaus Hauptwerk, Essai sur l’inégalité des races humaines, erschien in Paris 1853 - 55, ab 1898 in der deutschen Übersetzung von Ludwig Schemann; Chamberlains Hauptwerk, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, erschien erstmals 1899. Zur Rezeption Gobineaus, zum Einfluß seiner Theorie bis hin zur nationalsozialistischen Rassenlehre und Günthers Werk siehe z.B. Young, E. J., Gobineau und der Rassismus. Eine Kritik der anthropologischen Geschichtstheorie, Meisenheim am Glan 1968; Altner, Günter, Weltanschauliche Hintergründe der Rassenlehre des Dritten Reiches. Zum Problem einer umfassenden Anthropologie, Zürich 1968. Teils beruft sich Günther jedoch zu Unrecht auf seine Vorbilder. Sein Anspruch, in Gobineaus Nachfolge zu stehen, wird von Young, S. 326 ff., angezweifelt: Günther habe Gobineaus Ideen zum Teil nicht weitergedacht, sondern »eher in ihr Gegenteil verkehrt«. Altner, S. 35, stellt fest, daß Günther die Werke Gobineaus und Chamberlains »erstaunlich pauschal und undifferenziert referiert«. 62 Chamberlain, Houston Stewart, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 28. Aufl. München 1942, S. 550. Zu den Ursprüngen der Arierverherrlichung siehe Poliakov, Léon, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993. 63 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 16 f. In dieser Schrift zeichnet Günther aus seiner Sicht die Wurzeln der nordischen Bewegung nach und listetAutoren und Werke auf, die Vorbildcharakter hatten. 64 Georges, Vacher de Lapouge, L’Aryen, son role social, Paris 1899; Ammon, Otto, Die natürliche <?page no="171"?> Doch, auch wenn er in seinem Erstlingswerk wenig grundlegend Neues zu bieten hatte, ist es »nicht zu bezweifeln, daß Günther vielen völkisch-national Gesinnten aus der Seele gesprochen hat«. 65 Seine harte Abrechnung mit der Gegenwart, die sich mit dem hoffnungsvollen Aufruf zu einem ruhmreichen Neubeginn verband, imponierte auch dem jungen Heinrich Himmler. Er hatte »Ritter, Tod und Teufel« als 23jähriger zum ersten Mal gelesen und notierte 1924 in seiner Leseliste: »Ein Buch, das mir das ausdrückt in weise überlegten Worten und Sätzen, was ich fühle und denke, seit ich denke«. 66 Als Reichsführer SS und Begründer des »Lebensborn« 67 sollte Himmler später die Forderung Günthers nach Höherzüchtung des Menschen anders auslegen, als es dem von ihm verehrten Autor lieb war. Für Günther wurde sein Erstlingswerk über den »heldischen Gedanken« zum Grundstein einer aufsehenerregenden Karriere. Sein Münchener Verleger Julius Friedrich Lehmann beauftragte den Junglehrer damit, eine »Rassenkunde des deutschen Volkes« zu schreiben - eine Aufgabe, die »nur mit dem Mut des Dilettanten zu bewältigen« 68 war. Führende Wissenschaftler rieten Lehmann von dem Projekt ab, da es an gesicherten fachlichen Erkenntnissen fehlte. 69 Doch der Verleger, ein leidenschaftlicher Verfechter rassistischer und alldeutscher Ideen 70 , ging das Risiko ein. Ehe er Günther 1920 den Auftrag erteilte, hatte er den Germanisten zu einer zweitägigen Alpenwanderung eingeladen, um ihn zu prüfen - und er soll »tief beeindruckt« gewesen sein von Günthers Beobachtungsgabe und dessen »Blick für Rassenunterschiede«. 71 Als Fachfremder mußte sich Günther zuerst einmal das nötige Spezialwissen aneignen. Da Lehmann ihm das Honorar als Vorschuß auszahlte, konnte sich der Junglehrer vom Schuldienst beurlauben lassen und auf Studienreisen gehen. Am anthropologischen Institut der Universität Wien, am Naturhistorischen Museum Wien und am Museum für Tier- und Völkerkunde in Dresden sammelte er Fachkenntnisse und Material für sein Buch - und er tat dies mit außergewöhnlichem Fleiß: Elvira Weisenburger 170 Auslese beim Menschen, Jena 1893; ders., Die Gesellschaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, Jena 1895. 65 Becker (wie Anm. 39), S. 234. 66 Ackermann (wie Anm. 12), S. 111. 67 Zu dieser SS-Organisation siehe Lilienthal, Georg, Der »Lebensborn e.V«. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik, Stuttgart 1985. 68 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 31. 69 Vgl. die Darstellungen bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 31 und Saller, Karl, Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda, Darmstadt 1961, S. 26 f. 70 Lehmann hatte schon während des Ersten Weltkrieges Schriften für den Alldeutschen Verband herausgegeben; er war Mitglied der Gesellschaft für Rassenhygiene; in seinem Verlag erschienen reihenweise nationalistische und rassistische Schriften (darunter Titel wie »Im Felde unbesiegt«, »Volk in Gefahr! « und dgl.). Während des »Dritten Reiches« publizierten bekannte nationalsozialistische Wissenschaftler und Politiker, u.a. Darré, bei Lehmann. Der Münchner Verlag brachte beispielsweise eine kommentierte Ausgabe des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses »nebst Ausführungsverordnungen« und »medizinischen Beiträgen« heraus. 71 Darstellung bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 30, in Anlehnung an Günthers eigenen Bericht. <?page no="172"?> Nicht einmal zwei Jahre benötigte Günther für Recherchen und Schreibarbeit. Bereits im Juli 1922 lag die »Rassenkunde des deutschen Volkes« gedruckt vor. Der Verfassersold war zu diesem Zeitpunkt bereits aufgebraucht. Günther zog nach Breslau, weil man dort »in diesen Jahren im Vergleich zu anderen Städten billiger leben konnte«. 72 Doch sein Buch wurde zu einem für damalige Verhältnisse sensationellen Erfolg. Es war die erste Monographie über die Rassenverteilung im deutschen Sprachraum, und es kam einem »echten populärwissenschaftlichen Bedürfnis« 73 entgegen. Bereits im Dezember 1922 erschien die zweite Auflage. Bis zum Ende des »Dritten Reiches« wurden mehr als 400.000 Exemplare verschiedener Ausgaben der Rassenkunde verkauft. Wenn der Verlag später damit warb, von Günthers Werk sei »Der Siegeslauf des Rassegedankens« 74 ausgegangen, so steckt darin - bei allem geschäftlichen Kalkül - wohl ein wahrer Kern. Die »Rassenkunde« war übersichtlich gegliedert und reich bebildert. 75 Zahlreiche Portraitfotografien vermittelten dem Leser einen eingängigen Eindruck von den verschiedenen »Menschenschlägen«, aus denen sich das deutsche Volk angeblich zusammensetzte. Günthers Rassenkunde war keine trockene wissenschaftliche Abhandlung, sie hatte teilweise Bilderbuchcharakter und dadurch sozusagen Unterhaltungswert für die ganze Familie. Der Erfolgsautor unterschied - im Gegensatz zu maßgeblichen Forschern - zunächst vier europäische Rassen: die nordische, dinarische, westische und ostische. 76 Auf seiner Wertskala rangierte die nordische Rasse ganz oben - nicht nur aufgrund ihrer vermeintlichen körperlichen Schönheit und Kraft. Günther verband seine Rassenkunde mit einer eigenen Rassenpsychologie. Jedem Menschentypus schrieb er bestimmte seelische Eigenschaften zu, die gemeinsam mit den äußerlichen Rassemerkmalen vererbt würden - eine Verknüpfung, durch die seine Lehre »ganz besonders verheerend« 77 wirkte. So zeichneten sich Günthers nordische Menschen nicht nur durch Blondheit und schönen Wuchs aus, sondern auch durch die »Kerneigenschaften« Urteilsfähigkeit, Wahrhaftigkeit und Tatkraft. Das nordische Wesen sei geprägt durch Gerechtigkeitssinn und unbestechliche Sachlichkeit. Deshalb bringe diese Rasse auch die großen Staatsmänner hervor. Seine Gedankenklarheit verdankt der langschädelige nordische Mensch laut Günther unter anderem seiner »Leidenschaftslosigkeit«: »Es scheint, daß sich die Geschlechtlichkeit bei der Nord- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 171 72 Günther (wie Anm. 16). 73 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 32. 74 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 36. 75 Die fünfte Auflage aus dem Jahr 1924 enthielt auf 501 Seiten 537 Abbildungen und 14 Karten. 76 In späteren Ausgaben sah sich Günther dann gezwungen, noch drei weitere Rassen in sein Werk aufzunehmen: die ostbaltische, die sudetische und die fälische. Zu den Übereinstimmungen und Abweichungen von Günthers Rasseneinteilung im Vergleich zu früheren und späteren wissenschaftlichen Arbeiten, zu Günthers Korrekturen s. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 88 ff., Saller (wie Anm. 69), S. 54 ff. 77 Zu dieser Einschätzung kommt Young (wie Anm. 61), S. 329 f. <?page no="173"?> rasse sogar entschieden zurückhaltender und wählerischer zeigt als bei den dunklen europäischen Rassen«. 78 Die zweitwertvollste Rasse war für den »Rassepapst« die dinarische - obgleich er in ihr eine »Schwesterrasse« des vorderasiatischen Menschentypus sah. 79 Die dinarischen Menschen lebten laut Günther vorwiegend im Südosten des deutschen Sprachraums. Er skizzierte sie als kurzschädelig, mit dunklen Augen, dunkler Haar- und Hautfarbe, jedoch auch als sehr hochgewachsen, schmalgesichtig - und durchaus tüchtig und begabt, wenn auch nicht in gleichem Maße wie die schöpferische Nordrasse: »So scheint die dinarische Rasse gegenüber der nordischen seelisch einfacher [...] Der Geist scheint karger, die Seßhaftigkeit größer, der geistige Ausblick enger zu sein als bei der Nordrasse, der Wille aber ebenso tüchtig, die Redlichkeit ebenso entwickelt und gleichgroß der Sinn für heldentümliches Wesen. Als Wesenskern möchte man rauhe Kraft und Geradheit nennen.« Zu wissenschaftlicher Arbeit fühlen sich die Dinarischen laut Günther nicht sonderlich hingezogen, dafür besäßen sie aber eine ausgesprochene musikalische Begabung. »Es ist sicherlich kein Zufall, daß Tonkünstler verhältnismäßig häufig dinarische Züge rein oder beigemischt zeigen«, meinte der Rasseforscher und nannte bekannte Beispiele: Paganini, Tartini, Berlioz, Mozart, Haydn, Weber, Liszt, Wagner, Chopin, Cornelius, Bruckner, Verdi, Cherubini. 80 Wenn es zu Rassenkreuzungen komme, brächten nordischdinarische Verbindungen die herausragendsten Begabungen hervor. Günther, der durchaus eingestand, daß er selbst keiner europäischen Rasse »reinrassig« angehöre, machte bemerkenswerterweise auch in seinen eigenen Ahnenreihen vorwiegend nordische und dinarische Anteile aus. 81 Bezüglich der westischen oder mediterranen Rasse ließ Günther gönnerhafte Nachsicht walten, da sie in Deutschland ohnehin schwach vertreten war: »Es ist eine bewegliche und leidenschaftliche Rasse, leicht erregbar, leicht versöhnlich [...] gewandt in Auftreten und Worten, beredt und zu schlauer Berechnung geneigt. Der westische Mensch möchte das Leben genießen, wenig arbeiten«. Günther machte bei diesem Menschentyp nicht nur normale Leidenschaftlichkeit aus, sondern eine »Neigung zu Grausamkeit, zu Tierquälerei und Sadismus« - die Sizilianer seien ein typisches Beispiel dafür. Die zierliche Gestalt der dunkelhaarigen Westischen und ihre »warm-geschmeidige« bräunliche Haut jedoch gefielen dem »Rassepapst« durchaus. 82 Am schlechtesten urteilte Günther über die ostische Rasse. Seine Antipathien gegen diese Menschen waren allzu deutlich. Der von ihm geprägte Begriff »ostisch« wirkte übrigens verwirrend, da das Hauptverbreitungsgebiet der »ostischen« Men- Elvira Weisenburger 172 78 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, 5. Aufl. München 1924, S.148 ff. 79 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 124. 80 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 179 f. 81 Vgl. Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 173, Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 981. 82 Günther, Hans F.K., Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1933, S. 25 f., 61 f. <?page no="174"?> schen - früher auch als alpine Rasse bezeichnet - keineswegs in Osteuropa, sondern vor allem im Südwesten des deutschen Sprachraums lag. Der Rassepapst beschrieb den ostischen Menschen als kurzgewachsen, gedrungen, schwerfällig, plattgesichtig. »Der Ausdruck ›ein Brett vor der Stirn‹ paßt seinem Bildgehalt nach nur auf diese Schädel- und Gesichtsformen«, meinte Günther über die ungeliebte Rasse. 83 Um die seelischen Eigenschaften des ostischen Menschen war es angeblich nicht besser bestellt: Er war für Günther der Inbegriff des Spießbürgers, des unschöpferischen Untertanen - langsam im Geist, geldgierig, aber auch fleißig. Die Vaterlandsliebe war bei den Ostischen laut »Rassenkunde« gering ausgeprägt und ihr Triebleben »dumpfer und zäher« als das anderer Rassen. 84 Zu seinen »wissenschaftlichen« Befunden kam Günther vor allem über drei Wege: Intuition, Beobachtung und Zusammenfassung fremder Fachliteratur. Daß er gezielte, langangelegte Reihenforschung betrieben hätte, davon ist nichts bekannt. Über den wissenschaftlichen Wert und die Wirkung der Rassenkunde hat sich der führende Fachanthropologe Eugen Fischer sicher treffend geäußert. Er erklärte - durchaus wohlmeinend - über den Rassekundler Günther: »Der Dichter schwingt in ihm immer mit«. Gleichzeitig betonte er, daß Günther mit seinem Rassedenken ein »Vorbild für unser gepeinigtes Volk geschaffen« habe. 85 Zweifellos zogen viele deutsche Durchschnittsbürger ihr rassenkundliches »Wissen« jahrzehntelang vorwiegend aus Günthers Werk. Als populärer Verfechter des Rassegedankens ist Günther später pauschal als »Wegbereiter des Holocaust« tituliert worden. 86 Mit diesem Schlagwort ist sein Wirken jedoch nicht treffend, zumindest nicht umfassend gekennzeichnet. Im Gegensatz zu vielen rassistischen Schriften der nationalsozialistischen Zeit behandelte der »Rassen-Günther« das Thema Judentum untergeordnet, eher beiläufig - in einem Anhangkapitel. 87 Seine Ideologie baute nicht auf dem Gegenbegriffspaar »Arier - Jude« auf, wie das etwa bei Hitler der Fall war. Die Bezeichnung »arisch« stufte er bereits in den 1920er Jahren als veraltet ein. 88 Günther sprach sich zwar klar gegen eine Assimilation der jüdischen Bürger aus, da sie einem »artfremden« Volkstum angehörten, doch in seiner Rassenkunde standen die europäischen Rassen und ihr Verhältnis zueinander im Mittelpunkt. Seine Rassenlehre, verknüpft mit dem »nordischen Gedanken« und den Ideen der Erbgesundheitslehre, zielte auf den »Geburtensieg« der nordischen und erbgesunden Menschen innerhalb der europäi- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 173 83 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 80 ff. 84 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 171 ff. 85 Fischer (wie Anm. 15), S. 220. 86 Siehe z.B. Badische Zeitung, 28. Mai 1996. 87 In den Ausgaben seiner Rassenkunde ab 1928 fehlt es ganz. 88 In seiner Schrift über den Nordischen Gedanken (wie Anm. 51), S. 38 f., erläutert Günther, daß es keine »arische Rasse« gebe, sondern die Bezeichnung »arisch« lediglich eine Sprachgruppe bezeichnet und irrtümlich auf rassische Kategorien angewandt werde. Als veraltet galten ihm in der Rassenkunde auch die Begriffe »germanisch« und »semitisch«. <?page no="175"?> schen Rassen. Nur noch 45 bis 50% der Deutschen waren nach Günthers Schätzung nordisch, nur noch 6 bis 8% rein nordisch. 89 Er klagte ausschweifend darüber, daß der nordische Bevölkerungsanteil durch Auswanderung, geringe Kinderzahl der Begabten, Industrialisierung, Verstädterung und Krieg ausgedünnt werde. Der Einfluß »jüdischen Blutes« war für ihn keineswegs das Kernproblem. Allerdings war Hans F.K. Günther durchaus antisemitisch eingestellt. 90 Seine »Rassenkunde des jüdischen Volkes«, die aus dem Anhang zur deutschen Rassenkunde entstand, wimmelt von Vorurteilen - obwohl sie für die damalige Zeit eine verhältnismäßig sachliche Terminologie pflegte und einen gemäßigten Gesamteindruck hinterließ. Günther referierte über »schwache Waden«, »runde Rücken« und die »Neigung zum Fettansatz« bei den Juden. Er behauptete im Ton des Wissenschaftlers, daß die Juden durch zu üppige Lebensweise nicht selten zeugungsunfähig würden. Er erläuterte die »geruchliche Eigenart« der Juden und unterschied zwischen dem erblich bedingten »Judengeruch«, der nicht verwechselt werden dürfe mit dem Geruchsgemisch, das vom Knoblauchkonsum und von der »Unreinlichkeit« vieler Ostjuden herrühre. 91 Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Ohne Zweifel: Der »Rassen-Günther« hielt die Juden für schädliche Eindringlinge. Sie waren ihm unerwünscht, da fremd. Doch er war in dieser Ablehnung nicht radikaler als der durchschnittliche völkisch gesinnte Bürger seiner Zeit. Günther befürwortete außerdem die Idee einer jüdischen Eigenstaatlichkeit. Er faßte den »Zionismus« als »jüdisch-völkisches« Pendant zur Nordischen Bewegung auf: »Wie der seines Blutes bewußte jüdisch-völkische Jude in seinem Bereich keinen Artfremden dulden darf, wenn er Gesittung wirken will, so darf die Nordische Bewegung keinen Juden in ihrem Bereiche dulden«. 92 Folglich wollte Günther die Judenfrage mit einer »würdigen Lösung« für Juden und Nichtjuden beantworten: mit der klaren Trennung. Die Juden sollten möglichst auswandern und einen eigenen Staat gründen - in »Palästina oder einem anderen, ihren Erbanlagen angemessenen Gebiete«. 93 Dabei schwebte Günther keine rasche Trennung, sondern eine allmähliche Ablösung vor, die einen beiderseitigen Gesinnungswandel voraussetzte. Daß der »Rassenforscher« zu irgendeinem Zeitpunkt eine mörderische Lösung gutgeheißen hätte, wie sie im »Dritten Reich« verwirklicht wurde, dafür gibt es keine Belege. Doch hat wahrscheinlich gerade seine vergleichsweise harmlose Verpackung antijüdischer Elvira Weisenburger 174 89 Günther, Kleine Rassenkunde (wie Anm. 82), S. 92. 90 Wobei Günther sich eher als »asemitisch« bezeichnet hätte, da die »antisemitische Richtung« die Rassenfrage auf die Judenfrage reduziere, vgl. Der Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 80. 91 Günther, Hans F.K., Rassenkunde des jüdischen Volkes, 2. Aufl. München 1931, S. 215, S. 266 f. In dieser »Rassenkunde« stellt Günther klar, daß die Juden gar keine einheitliche Rasse seien, sondern ein Volk, das sich aus einem vorwiegend vorderasiatisch-orientalischen Rassengemisch zusammensetze. 92 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 79. Vgl. im Gegensatz hierzu das Feindbild, das Alfred Rosenberg in seiner bereits 1921 verfaßten Schrift »Der staatsfeindliche Zionismus«, München 1938, entwirft. 93 Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes (wie Anm. 91), S. 345. <?page no="176"?> Vorurteile die Leser dafür empfänglich gemacht. Allerdings fällt auf, daß Günthers jüdische Rassenkunde als eigenständige Veröffentlichung kaum Breitenwirkung hatte. Sie war mangels Nachfrage lediglich in drei kleinen Auflagen von insgesamt 12.000 Exemplaren auf den Markt gekommen. 94 Günthers Stellung zur Judenfrage spielte auch in der zeitgenössisschen Kritik seiner Bücher keineswegs die vorrangige Rolle. Die Kontroverse um seine Rassenkunde, die sich über Jahrzehnte hinzog, kreiste um andere Kernfragen. Wissenschaftler vom Fach warfen Günther mangelndes Wissen vor, stritten mit ihm um Rassekategorien und mitunter auch um Detailfragen wie die, ob Goethe, Wagner und Luther Langköpfe waren. 95 Der Hauptvorwurf an Günther aber lautete ganz klar, er riskiere die Spaltung des deutschen Volkes - und zwar durch seine Verklärung der nordischen und seine Verächtlichmachung der ostischen Rasse. Günthers erbittertster Gegner war der Biologe Friedrich Merkenschlager. Er brachte 1927 eine Streitschrift mit dem Titel »Götter, Helden und Günther« heraus. Darin verspottete er den »Dilettanten« Günther und dessen verworrene Vorstellungen von Erblehre und Umwelttheorien - ohne jedoch Günthers Rasseneinteilung grundsätzlich zu verdammen. Merkenschlager setzte sich vehement - teils auch schon wieder verklärend - für die ostische Rasse und für den deutschen »Dreiklang nordisch-ostisch-dinarisch« ein. 96 Seine Kernkritik an Günthers Rassenkunde: »Ich klage das Buch an wegen eines Verbrechens am Seelenleben des deutschen Volkes [...], da [...] es Millionen guter und bester Deutscher in den Kerker des Niederrassentums zu bringen und vom Lichte abzusperren trachtet«. 97 Günther wolle »Deutschland zur Plantage machen«, indem er es »in die geborenen Herren und die geborenen Sklaven« einteile. 98 Allerdings mußte auch Merkenschlager einräumen, daß Günthers Rassenkunde »ins Volk gedrungen« war und etliche dinarische und ostische Menschen es geradezu »verschlangen«, ohne die »Schändung« zu erkennen. 99 Die Dauerfehde mit dem nordisch gesinnten Günther bezahlte Fritz Merkenschlager später mit mehreren Jahren Haft. Er kam auf Veranlassung von Darré in ein Konzentrationslager. 100 Ob Günther diesen harten Schritt billigte, ist nicht bekannt. Im Jahr der Machtergreifung schlug er dem Reichsbauernführer zwar vor, Merkenschlagers Versetzung in die abgelegenste Provinz - am besten nach Emden oder Insterburg - zu betreiben. Gleichzeitig sprach er sich aber dafür aus, Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 175 94 Von diesen 12.000 Exemplaren waren 1939 noch nicht alle verkauft, wie die Verlagswerbung belegt. 95 Überblick über die Fachkritik an Günther, siehe z.B. Becker (wie Anm. 39), S. 248 ff. 96 Merkenschlager, Fritz, Götter, Helden und Günther. Eine Abwehr der Güntherschen Rassenkunde, Kiel 1927, S. 17. 97 Merkenschlager (wie Anm. 96), S. 5. 98 Merkenschlager (wie Anm. 96), S. 24. 99 Merkenschlager (wie Anm. 96), S. 15, 51. 100 Vgl. Saller (wie Anm. 69), S. 43; Tröger, Jörg (Hrsg.), Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt, New York 1984, S. 87. <?page no="177"?> Gegner durch Überzeugungsarbeit ins eigene Lager zu ziehen, anstatt ihre Bücher zu verbieten. 101 Als Merkenschlagers Schrift 1927 herauskam, lebte Hans F.K. Günther schon lange nicht mehr in Deutschland. Er verfolgte bzw. führte die Auseinandersetzung von Skandinavien aus. Bereits im Sommer 1923 102 hatte er in Norwegen ein zweites Mal geheiratet. Seine Ehefrau war studierte Pianistin 103 , sie hieß mit Mädchennamen Maggen Blom, und stammte »aus altem südostnorwegischen Geschlecht«, wie der Rasseforscher später einmal betonte. 104 Das Paar hatte sich in Dresden kennengelernt. Nach der Begegnung mit der zwei Jahre jüngeren skandinavischen Musikstudentin hatte Günther die Scheidung von seiner ersten Frau in die Wege geleitet. Die Trennung bedeutete jedoch keineswegs den radikalen Bruch: Die ehemaligen Eheleute pflegten weiterhin freundschaftliche Kontakte. Günther korrespondierte mit seiner geschiedenen Frau und besuchte sie später auch gemeinsam mit seiner Familie. 105 Allerdings klammerte Günther seine erste Ehe in diversen Lebensberichten 106 aus - obwohl er sich schon in jungen Jahren dagegen ausgesprochen hatte, Scheidungen pauschal zu verdammen. »Es liegt aber im Wesen der Ehe, daß die beiden Menschen, die sie schließen, zuweilen nicht die Kräfte des anderen alle zur Lebendigkeit rufen können,« schrieb Günther in seinem Erstlingswerk »Ritter, Tod und Teufel«, und in solchen Fällen könne auch ein Abbruch der Ehe »heldisch« sein. 107 In seinem Buch »Gattenwahl« vertrat er die Ansicht, nur eine Minderheit der Geschiedenen sei grundsätzlich »eheuntauglich«. Vielmehr liege es meistens an der falschen Partnerwahl, wenn Ehen scheiterten. 108 Für die Idee der Monogamie, der Einehe machte sich Günther lebenslang stark - das brachte ihn gegen Ende des »Dritten Reiches« in Konflikt zu anderen Nationalsozialisten. Mit seiner zweiten Hochzeit begann für den »Rassepapst« einer der glücklichsten Lebensabschnitte, wenn nicht sogar der glücklichste überhaupt. Mehr als sechs Jahre blieb er in Skandinavien. Die ersten beiden Ehejahre verbrachte er im norwegischen Skien, der Heimatstadt seiner Frau. Im Herbst 1925 zog das Paar nach Schweden - zunächst in die Universitätsstadt Uppsala, wo der Rassekundler aus Deutschland gelegentlich am Schwedischen Staatsinstitut für Rassenbiologie wissenschaftliche Aufträge erhielt, später auf die Insel Lidingö vor Stockholm. Der einzelgängerische Elvira Weisenburger 176 101 Günther an Darré, 17. Oktober 1933, BA, Abt.III (BDC), A 489. 102 Die Ehe wurde am 18. Juli 1923 geschlossen, BA, R 21/ 10006/ 3347. 103 Auskunft von Günthers Tochter Ingrid Guzzoni. 104 Günther (wie Anm. 16). 105 Mündliche Auskunft von Günthers Tochter Ingrid Guzzoni. 106 Weder in seinem Lebenslauf in den Universitätsakten (wie Anm. 23), noch in seinem für die Zeitung »Der Führer« verfaßten Lebenslauf (wie Anm.16) oder seinem 1969 erschienenen autobiographischem Bericht »Mein Eindruck von Adolf Hitler«, erwähnt Günther die Scheidung. 107 Günther, Ritter (wie Anm. 31), S. 83. 108 Günther, Hans F.K., Gattenwahl zu ehelichem Glück und erblicher Ertüchtigung, 1. Aufl. München 1941, S. 16 ff. <?page no="178"?> Günther genoß dort das ungebundene Leben als freier Autor. Er mochte die Landschaften und die Menschen Skandinaviens. Dem »nordischen« Ausland fühlte er sich mehr verbunden als dem »befremdenden« Deutschland der Weimarer Republik. In seinen Erinnerungen schrieb Günther später, er habe sich in Norwegen und Schweden »zu Hause« gefühlt - »so [...] wie vor 1919 in Deutschland«. 109 Unter rassischen Gesichtspunkten erachtete er die beiden skandinavischen Länder ohnehin als die »nordischsten« Länder überhaupt. 110 Vor allem aber waren sie in seinen Augen »damals noch Länder, in denen die Lebensluft germanischer Freiheit wehte, einer Freiheit für Einzelmenschen«. 111 Über seine Ehefrau Maggen, mit der er zwei Töchter hatte 112 , berichtete Günther in respektvollen und liebevollen Tönen. Daß sie »durchaus unpolitisch« 113 war, schätzte er besonders. Er behauptete offen von sich: »Die Ehe mit einer politisierenden Frau hätte ich nicht ertragen«. 114 Einige seiner Anekdoten vermitteln das Bild einer sanftmütigen Frau, die er von unangenehmen Wahrheiten abschirmte, die aber auch ausgleichend, beschwichtigend auf ihn wirkte. 115 Sich selbst stellte Günther wie einen väterlichen Erzieher dar: Ein Lehrer, der seiner Lebensgefährtin seine »innere Heimat« nahebrachte - die Künste und die Philosophie der Deutschen, denen sich der Schöngeist Günther auch im Ausland weiterhin eng verbunden fühlte. 116 Durch seine Ehefrau bekam der Rassenforscher auch Kontakt zu völkischen Zirkeln um den norwegischen Politiker Vidkun Quisling. Noch im Alter schwärmte Günther von dem Mann, der während der deutschen Besatzung Regierungschef war und nach dem Zweiten Weltkrieg als Kollaborateur hingerichtet wurde. 117 Er rühmte Quisling, dessen Name damals ein Synonym für »Verräter« ist, als »hervorragenden Norweger«, als »würdigen und untadeligen« Menschen und konnte nicht verstehen, daß Hitler diesen Mann nicht ernst genommen hatte. 118 Mit Menschen wie Quisling hätte Günther gerne seine Vision von der friedlichen Einigung der »nordisch bedingten« Länder verwirklicht gesehen. Auch in deutschen nationalsozialistischen Kreisen verkehrte Günther damals schon. Seine wichtigste Bezugsperson war der völkische Architekt und Schriftsteller Paul Schultze-Naumburg. Dieser väterliche Freund stieg später zum Direktor der Weimarer Kunsthochschule auf und war der erste, der ein deutsches Museum von Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 177 109 Günther, Hans F.K., Mein Eindruck von Adolf Hitler, Pähl 1969, S. 14. 110 Günther, Hans F.K., Rassenkunde Europas, 3. Aufl. München 1929, S. 124. 111 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 14. 112 Tochter Ingrid wurde 1926, Tochter Sigrun 1933 geboren. 113 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 59. 114 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 56. 115 Vgl. Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 52, 55 ff. 116 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 15. 117 Zu Quisling vgl. Loock, Hans-Dietrich, Quisling, Rosenberg und Terboven. Zur Vorgeschichte und Geschichte der nationalsozialistischen Revolution in Norwegen, Stuttgart 1970. 118 Günther, Mein Eindruck (wie Anm.109), S. 3, 135. <?page no="179"?> »entarteter Kunst« säuberte. 119 Wenn Günther von Skandinavien aus zu seinem Verleger reiste, machte er jedesmal Station in der Villa Schultze-Naumburgs - hier lernte er »flüchtig« Baldur von Schirach, das »Schoßkind Hitlers« kennen, hier schloß er Freundschaft mit Darré. 120 Für den Schriftsteller Günther wurde der Skandinavienaufenthalt zu einer sehr produktiven Phase. Die »Rassenkunde Europas« (1925) und die »Rassenkunde des jüdischen Volkes« (1929) entstanden während dieser Zeit, ebenso die Bücher »Rasse und Stil«, »Adel und Rasse« (1926), »Platon als Hüter des Lebens« und die »Rassengeschichte des hellenischen und des römischen Volkes« (1929). 121 In seinem Schaffensdrang bewegte sich der »Rassepapst« auf zahlreichen fremden Wissensgebieten, ob es nun um Philosophie, Geschichte, Kunstgeschichte, Theologie, Soziologie oder Medizin ging. Günther war ein »Vielwisser von einem fast barocken Ausmaß« 122 und konstruierte zu zahllosen Themen seine eigenen, teils widersprüchlichen Theorien. Er referierte in Zeitschriftenartikeln ebenso selbstbewußt über »Die Herkunft des Kolumbus« und »Unheldische Kunstrichtungen« wie über »De[n] rasseneigene[n] Geruch der Hautausdünstungen«. 123 Alle seine Veröffentlichungen kreisten freilich um den gleichen Gedanken: Günther warb für die »Aufnordung«, für eine Höherzüchtung des Menschen in Richtung des Edlen, Schönen und Tüchtigen. In seinem 1925 erstmals erschienen Buch »Der nordische Gedanke unter den Deutschen« 124 versuchte der »Rassepapst« seine Anschauung ausführlich zu erklären und zu verteidigen. Heftig verwahrte er sich darin gegen die »Germanenschwärmerei« von völkischen Bünden und Orden wie der Guido von List- Gesellschaft 125 , obwohl er selbst häufig seine Sehnsüchte in eine mystifizierte goldene germanische Vergangenheit projizierte. Günther wetterte gegen rückwärtsgewandte Romantik, gegen »Felsbilderunfug«, »Ursprachenaberwitz« und »Runendeutung«. Mit dieser Art Germanenkult, den Heinrich Himmlers SS- Orden später weiter kultivierte, hatte er angeblich nichts im Sinne. Denn: »Vorwärts, nicht rückwärts gewandt ist der Nordische Gedanke«. 126 In welche Zukunft dieser »Nordische Gedanke« und der mit ihm verwobene »Wille zur Förderung des gesunden, tüchtigen Blutes« 127 weisen sollte, erschließt sich deutlich aus dem Anhang des Buches. Dort sind die Leitsätze der Deutschen Elvira Weisenburger 178 119 Zu Schultze-Naumburg siehe Literaturhinweise bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 54, Becker (wie Anm. 39), S. 300 f. 120 Vgl. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 54; Becker (wie Anm. 39), S. 300 f.; Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 15. 121 Die in Klammern angegebenen Jahreszahlen nennen das Jahr der Erstausgabe; eine ausführliche Bibliographie von Günthers Schriften bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 414 ff. 122 Lützhöft (wie Anm. 19), S. 27. 123 Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 416. 124 Vgl. Anm. 51. 125 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 66. 126 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 66. 127 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 66. <?page no="180"?> Gesellschaft für Rassenhygiene abgedruckt. Diese zielten nicht nur darauf ab, »zur Führung geeignete Volksgenossen« gesetzlich so zu fördern, daß sie kinderreiche Familien gründen würden. Angestrebt wurde darin langfristig auch die Zwangssterilisierung »minderwertiger« Menschen sowie deren schnellstmögliche Isolation in Arbeitslagern. 128 Für Günther war der Richtlinienkatalog der Rassehygieniker »nur eine Mindestforderung«. 129 Interessanterweise wurden solche Programmschriften aus Günthers Feder keine Verkaufserfolge. 130 Die »Rassenkunde des deutschen Volkes« blieb zeitlebens sein meistbeachtetes Werk. In Skandinavien hatte Günther sein Hauptwerk mehrfach überarbeitet. Dabei hatte er immer mehr Details über Schädelmessungen, Blutgruppenforschung und dergleichen angehäuft, die den Laien kaum interessieren konnten. Nach langem Zögern bereitete der Autor schließlich für das Jahr 1929 eine gekürzte Fassung vor: die »Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes«. In knappen Kapiteln erfuhr der Leser da, was die »ostische Seele« kennzeichne, wo die meisten Braunhaarigen in Mitteleuropa leben, was es mit den Indogermanen und mit der Erblehre auf sich habe. Der Verlag Lehmanns zielte auf ein Massenpublikum und pries die »Kleine Rassenkunde« als »Volks-Günther« an. Und die Rechnung ging auf: Von der vereinfachten und preisgünstigen Fassung wurden mehr als doppelt so viele Exemplare verkauft wie von der großen Ausgabe. 131 Ende der 20er Jahre bekam der Erfolgsautor dennoch schmerzlich die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu spüren. Seine Einnahmen aus dem Buchverkauf schrumpften rasch. Günther, der sich in seinem Leben häufiger »halbhungrig in Volksküchen bewegte« 132 , konnte schließlich keine eigene Wohnung mehr finanzieren. In dieser Notsituation verließ er das »geliebte« 133 Schweden. Gemeinsam mit Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 179 128 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 137 ff. Die Leitsätze Nummer 27 bis 29 lauteten: »27. Für zwangsmäßige Unfruchtbarmachung geistig Minderwertiger und sonst Entarteter scheint bei uns die Zeit noch nicht gekommen zu sein. 28. Die Unfruchtbarmachung krankhaft Veranlagter auf ihren eigenen Wunsch oder mit ihrer Zustimmung sollte alsbald gesetzlich geregelt werden. 29. Um die Fortpflanzung unsozialer oder sonst schwer entarteter Personen zu verhüten, sollte deren Absonderung in Arbeitskolonien, die durch die Arbeit der Insassen und Beiträge der Unterhaltspflichtigen sich wirtschaftlich selbst erhalten, schon heute gesetzlich in Angriff genommen werden.« 129 Günther, Nordische Gedanke (wie Anm. 51), S. 137. 130 Von Günthers Grundlagenschrift »Der Nordische Gedanke unter den Deutschen« wurden lediglich 12.000 Exemplare gedruckt; davon waren 1944, also 19 Jahre nach der Erstveröffentlichung, noch nicht alle verkauft. Vgl. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 35. 131 1939 war die »Kleine Rassenkunde« laut Verlagswerbung zu Preisen von zwei und drei Mark erhältlich. Von beiden Fassungen der Rassenkunde wurden etwa 420.000 Exemplare verkauft, davon rund 300.000 Exemplare der »Volksausgabe«. Im Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung waren von beiden Ausgaben jeweils 66.000 Bücher auf dem Markt. Günthers Gesamtwerk erreichte eine Auflagenzahl von rund einer halben Million - die beiden Versionen der Rassenkunde machten also einen Löwenanteil von über 80% aus. Vgl. Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 33 f., Becker (wie Anm. 39), S. 255, Zmarzlik, Hans-Günther, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 11 (1963), S. 246 - 273, hier: S. 265 f. 132 Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 988. 133 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 18. <?page no="181"?> seiner Ehefrau und der dreijährigen Tochter Ingrid kehrte er Ende 1929 nach Deutschland zurück, wo ihm sein Freund Wilhelm Hartnacke, Dresdener Stadtschulrat und ab 1933 sächsischer Volksbildungsminister, eine halbe Lehrerstelle verschafft hatte. In Dresden machte die junge Familie allerdings nur wenige Monate Station. Was sich viele Wähler von der NSDAP erhofften, wurde für den verarmten Günther Wirklichkeit: Eine nationalsozialistisch durchsetzte Regierung »erlöste ihn endlich aus drückender Lage«. 134 In Thüringen stellte die NSDAP ihren ersten Minister - in der Person von Dr. Wilhelm Frick, dem späteren Reichsinnenminister unter Hitler. Gleich in seinem ersten Amtsjahr als thüringischer Innen- und Volksbildungsminister berief Frick den populären Autor Günther als Professor an die Universität Jena. Dieser vermeintliche Glücksfall wuchs sich zunächst allerdings zum Skandal aus. 135 Günther - damals noch nicht Mitglied der NSDAP - fand sich plötzlich im Mittelpunkt einer politischen Affäre. Denn: Rektor und Senat der Hochschule wollten sich den »Schriftsteller« nicht aufdrängen lassen und protestierten heftig. Frick versuchte, den Germanisten Günther mal als Professor für Philosophie, dann wieder für die Fächer Vorgeschichte, Eugenik oder Rassenkunde anzudienen - vergeblich. Nach längeren erfolglosen Verhandlungen setzte sich der Volksbildungsminister einfach über den Widerstand hinweg: Das Thüringische Staatsministerium errichtete am 14. Mai 1930 kurzerhand einen Lehrstuhl für Sozialanthropologie, ignorierte das Vorschlagsrecht der Universität und ernannte Günther zum ordentlichen Professor. 136 Dieser eigenmächtige Vorstoß gegen die Freiheit der Wissenschaft erregte großes Aufsehen. Rektor und Senat der Universität Jena gaben Ende Mai eine Presseerklärung zu den Vorgängen ab. Darin bescheinigten sie Hans F.K. Günther zwar eine »menschlich schätzenswerte Persönlichkeit«, aber mangelnde fachliche Qualifikationen: Die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät bezweifle, daß der Rassekundler »über die wissenschaftliche Schulung verfügt, die man bei einem Universitätslehrer der Anthropologie oder der Rassenkunde oder der Rassenhygiene (Eugenik) als Voraussetzung [...] ansehen muß, und sie konnten sich noch weniger davon überzeugen, daß in seinen bisherigen Schriften wissenschaftliche Originalleistungen enthalten seien«. 137 Auf Anregung der »Deutschen Liga für Menschenrechte« bekundeten auch 31 Professoren aus ganz Deutschland ihren Protest gegen Günthers Elvira Weisenburger 180 134 Fischer (wie Anm. 15), S. 221. 135 Schilderungen der Affäre bei: Lenz, Fritz, Günthers Berufung nach Jena, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie 23 (1930/ 31), S. 337 - 339, Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 962 ff. 136 Laut Günther hatte Frick ursprünglich nur eine außerordentliche Professur für ihn vorgesehen; der Widerstand von Universitätsseite habe ihn jedoch dermaßen »gereizt«, daß er Günther sofort zum ordentlichen Professor ernannte. Vgl. Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 18. 137 Presseerklärung erstmals veröffentlicht in: Jenaische Zeitung, 28. Mai 1930, zit. nach Neue preußische Kreuzzeitung, 29. Mai 1930. <?page no="182"?> Berufung. 138 Jenas Studentenschaft hingegen veranstaltete eine Kundgebung für den bekannten Autor 139 , und der Verlag Lehmanns feierte die Einsetzung Günthers als »Erfolg des Rassengedankens«. 140 Im Nachhinein erscheint die Jenaer Affäre wie ein unheilverkündendes Vorspiel für die Gleichschaltung der Universitäten im »Dritten Reich«. Als »erste Bresche in die Wissenschaft des vergehenden Systems [...], in die papierenen Mauern der Universität der Republik von Weimar« 141 wurde der Fall nach der Machtergreifung in der NS-Presse gepriesen. Es deutet jedoch einiges darauf hin, daß dem Fall Günther ursprünglich gar nicht die politische Brisanz zukommen sollte, die ihm letztlich anhaftete. Die Idee, den Rassekundler zum Professor zu machen, entstand wahrscheinlich nicht in Parteizirkeln der NSDAP, sondern in völkischen Gelehrtenkreisen. 142 Daß seine nationalsozialistischen Fürsprecher Günther nicht unbedingt als Lehrenden im Fach Rassenkunde sehen wollten, spricht auch gegen die Annahme, die Berufung sei als wichtige symbolische Aktion gedacht gewesen. 143 Nach der aufsehenerregenden Vorgeschichte verpaßte die Parteispitze der Affäre allerdings einen hochpolitischen Anstrich. Als Günther am 15. November 1930 seine Antrittsvorlesung hielt, waren Adolf Hitler und Hermann Göring anwesend. In der überfüllten Aula saßen zahlreiche Vertreter der thüringischen Koalitionsregierung und ihrer Kampfverbände. Günther referierte über »Die Ursachen des Rassenverfalls des deutschen Volkes seit der Völkerwanderungszeit«. Er schilderte dieses Ereignis später so, als ob er ein innerlich unbeteiligter Schauspieler auf einer fremden Bühne gewesen sei: Es habe ihn »übermäßig« überrascht, als Hitler kurz vor der Vorlesung ins Zimmer kam, um ihm zu gratulieren. Und »unerwartet« sei nach der Antrittsrede Göring zum Essen im kleinen Gästekreis erschienen, wobei er Günther »mit dem heiteren Wohlwollen eines hohen Gönners« behandelt haben soll. 144 Günther stellte sich rückblickend als jemanden dar, der inmitten dieser spannungsgeladenen Atmosphäre über den politischen Dingen stand und keine Angriffsflächen bot: »Von meiner Antrittsrede war Hitler wahrscheinlich ebenso enttäuscht wie die zahlreich erschienene gegnerische Presse [...] Irgendwelche ›Propaganda‹, der ich überhaupt abhold war, wäre in einer solchen Rede eine Entgleisung gewesen. Aber auch ein von der gegnerischen Presse erhoffter Anti- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 181 138 Saller (wie Anm. 69), S. 27. 139 »Der Führer«, 21. Juni 1930. 140 Lenz (wie Anm. 135), S. 339. 141 Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 962. 142 Es existieren mehrere Versionen darüber, wer die Anregung zu Günthers Berufung gab. Günther selbst nennt den bekannten Erbforscher Alfred Ploetz. Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 18. Lenz (wie Anm.135), S. 338, berichtet von Informationen, wonach die Idee von Max Robert Gerstenhauer, dem thüringischen Landesvorsitzenden der an der Regierung beteiligten Wirtschaftspartei, ausging. 143 Hierauf gründet Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 39, im wesentlichen seine Annahme, daß Günthers Einsetzung in Jena »nicht als hochpolitischer Akt gedacht war«. 144 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 21. <?page no="183"?> semitismus war von mir nicht zu erwarten. So fielen die Presseberichte kurz und flau aus«. 145 Ein Propagandist im engen parteipolitischen Sinne wurde Günther tatsächlich nie. Doch sein Werdegang war seit dem Jenaer Skandal enger mit der NSDAP verknüpft, als er es offenbar wahrhaben oder zugeben wollte. Spätestens Mitte der 30er Jahre galt er vielen Deutschen als Repräsentant der nationalsozialistischen Gesinnung. Sein Name hatte jedenfalls durch die Vorfälle an der Universität noch zwielichtigere Popularität erlangt - und dies kostete den »Rassengünther« sogar beinahe das Leben: Knapp ein Jahr nach seiner Berufung, im Mai 1931, wurde ein Mordanschlag gegen ihn verübt. Ein 18jähriger Arbeitsloser aus Wien gab mit einer Pistole mehrere Schüsse auf Günther ab - aber nur eine Kugel traf und verletzte den Professor am Oberarm. Der Vorfall ereignete sich, als Günther mit seiner Frau nachts auf dem Heimweg von einer Veranstaltung mit Rosenberg war. Ob der Attentäter in seinem Opfer vor allem einen Repräsentanten der nationalsozialistischen Doktrin oder einen Vertreter der Etablierten sah, dazu liegen widersprüchliche Hinweise vor. 146 Der Prozeß gegen den jugendlichen Attentäter Karl Dannbauer bot einen neuen Anlaß, die öffentliche Kontroverse um den »Rassepapst« weiterzuführen. Die »Linkspresse« versuchte zum Leidwesen der »Nordischgesinnten« erneut, »den Werken des Prof. Dr. Günther den wissenschaftlichen Wert abzusprechen«. 147 Der umstrittene Rassenforscher selbst konzentrierte sich in den ersten Jenaer Jahren hauptsächlich auf seine Lehrtätigkeit. Zwischen 1930 und 1933 erschienen lediglich einige kürzere Aufsätze von ihm. Durch die Vorbereitungsarbeit für Übungen und Vorlesungen fühlte er sich »übermäßig angestrengt«. 148 Anfangs lockte Sensationslust noch zahlreiche Studenten zu den Veranstaltungen des »Sozialanthropologen«, doch das Interesse soll schon bald abgeflaut sein. 149 Nach der Ernennung zum Professor ließ Hans F.K. Günther noch fast zwei Jahre verstreichen, ehe er sich zu seinen nationalsozialistischen Gönnern und Förderern bekannte. Seine Ehefrau Maggen trat bereits 1931 der NSDAP bei - laut Günther »dazu von begeisterten Kollegenfrauen bewogen und auch in dem Gefühl, wir hätten Elvira Weisenburger 182 145 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 20. 146 Stengel-von Rutkowski (wie Anm. 60), S. 988 berichtet, der Attentäter Dannbauer wollte sich an einem »Vertreter des Kapitalismus« rächen, Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 19, bezeichnet den Österreicher als »aus dem Ausland gesandter Kommunist«. Rosenberg behauptet in seinen »Letzten Aufzeichnungen«, der Attentäter wollte eigentlich ihn ermorden, habe ihn aber im Gedränge verfehlt; als er Günther erkannte, sei er diesem gefolgt. Vgl. Rosenberg, Alfred, Letzte Aufzeichnungen, Göttingen 1955, S. 123 f. Die Presse berichtete hingegen, der Attentäter habe den Anschlag auf Günther gezielt vorbereitet - und zwar aus Verbitterung über den Kapitalismus. Siehe Neue preußische Kreuzzeitung, 13. Mai 1931. 147 Die Sonne, Monatschrift für nordische Weltanschauung und Lebensgestaltung, Hartung (Januar) 1932, S. 94. 148 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 53. 149 Becker (wie Anm. 39), S. 256. <?page no="184"?> uns für die Berufung nach Jena erkenntlich zu zeigen«. 150 Der »Rassepapst« vollzog diesen Schritt im Jahr vor Hitlers Machtergreifung und wurde Parteimitglied Nummer 1.185.931. 151 Merkwürdig erscheint jedoch der Zeitpunkt des Parteibeitritts: Günther meldete sich bei der NSDAP ausgerechnet an jenem Tag an, als die Regierung Brüning das SA-Verbot erließ: am 13. April 1932. 152 Dabei hätten die prügelnden Horden der SA wohl so ziemlich als letzte Sympathie von einem Mann wie Günther erwarten dürfen. Für rohe, rüpelhafte Menschen brachte er gewöhnlich nur herablassende Verachtung auf. Die Pöbeleien des politischen Alltags waren ihm zuwider. Der Akademiker Günther verachtete den »proletarische[n] Sozialismus [...] in nationalsozialistischer Verkleidung«, der »gute Sitten, die Haltung des wohlgearteten Menschen« mißachtete. 153 Seine nachträgliche Rechtfertigung des Parteieintritts klingt vor diesem Hintergrund alles andere als überzeugend. Er schrieb über Brüning: »Ich wurde von Mitgefühl ergriffen, wenn ich ihn in seiner ausweglosen Lage sah, [...] wie die tobenden Abgeordneten ihn in den Sitzungen des Reichstages beschimpft und verhöhnt hatten. Aber ich mußte mir sagen, wenn es einem Bismarck nicht gelungen sei, durch Verbote die Sozialdemokratie aufzuhalten, so werde es einem Brüning noch weniger gelingen, den Nationalsozialismus aufzuhalten. So trat ich damals in die NSDAP ein, obschon ich befürchten mußte, auch diese Partei werde in Deutschland die bedrohte Freiheit des Einzelmenschen zu Gunsten einer zunehmenden Verstaatlichung des Menschen einschränken«. 154 Zweifellos war Günther zu individualistisch und zu elitär gesinnt, um ein begeisterter Parteigänger zu werden. Der Germanist und Rassekundler war jemand, der den Bildungskanon des Bürgertums verinnerlicht hatte, jemand, der nahezu jede Lebenssituation mit einem Goethe-Zitat oder einem griechischen Vers kommentierte. 155 Auf die »Verbildeten« und »Halbgebildeten« sah er verächtlich herab. Kaum eine Erscheinung seiner Zeit war ihm - wie vielen europäischen Intellektuellen - so verhaßt wie der »städtische Massengeist«. 156 Die »Massenscharungen« bei den Parteitagen und den Großkundgebungen der NSDAP entsprachen nicht Günthers Stil. Am janusköpfigen Nationalsozialismus zog ihn vor allem die agrarpatriarchalische Ideologie an. Dabei hegte er schon früh Befürchtungen, daß die Parteipolitik nicht Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 183 150 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 59. 151 BA, R 21/ 10006/ 3348. 152 Eintrittsdatum laut Günthers eigener Aussage, Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 59. 153 Günther, Hans F.K., Die Verstädterung. Ihre Gefahren für Volk und Staat vom Standpunkte der Lebensforschung und der Gesellschaftswissenschaft, 3. Aufl. Leipzig, Berlin 1938, S. 52 f. 154 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 60. 155 Sein Spätwerk »Mein Eindruck von Adolf Hitler« (wie Anm. 109) gibt davon einige vielsagende Beispiele, etwa wenn Günther in naiv-unsensibler Weise die Schrecken des NS-Regimes mit einigen Verszeilen abtut, resignierend Hölderlin zitiert, anstatt sich mit den realen Greueln auseinanderzusetzen. Vgl. insbesondere S. 52 ff. 156 Das dokumentiert anschaulich Günthers Schrift »Die Verstädterung« (wie Anm. 153). Zur zeitgenössischen Diskussion um Stadt-Land-Gegensatz und Heimatbegriff, siehe z.B. Stavenhagen, Kurt, Heimat als Grundlage menschlicher Existenz, Göttingen 1939. <?page no="185"?> konsequent in die von ihm gewünschte Richtung zielen könnte. »Die besten Vertreter des ›Blut und Bodengedankens‹ fürchten die Verschandelung dieses Gedankens, wenn es nicht gelingt, ihn in kleinen Zellen vom Lande her aufzubauen und statt angeordneter Massenscharungen [...] Versammlungen einzuleiten, die das Schöpferische im örtlichen Stile in kleinen Gruppen aufwecken«, so schrieb Günther im Oktober 1933 an Reichsbauernführer Darré. »Mein Vorschlag: den nächsten 1. Mai nicht in Goebbelsscher Weise von Berlin ›bis in das letzte Dorf‹ tragen zu lassen durch Rundfunk, sondern den 1. Mai eines kleinen Erzgebirgdorfes den Berlinern senden«. 157 Noch hoffte der Wegbereiter der nordischen Bewegung aber darauf, daß das NS-Regime dem Bauerntum zu neuer Größe verhelfen und die ersehnte Entstädterung einleiten würde. Auf zwei Eckpfeilern ruhte seine Vision von einem neuen Staat: Aus dem »Stoffe einer herrentümlichen Menschenrasse, der nordischen Rasse« und auf der Grundlage freien bäuerlichen Besitzes sollte die »germanische Volksherrschaft« entstehen. 158 Ein neuer Adel sollte herausgebildet werden, jedoch kein ständischer Adel, sondern ein »Neuadel aus Blut und Boden«. 159 Günther redete sich ein, daß der Staat Hitlers diese »adelstümlich, nicht massentümlich begriffene Freiheit und Gleichheit [...] zielbewußt vorbereitet«. 160 Es ist dem »Rassepapst« später entlastend angerechnet worden, daß er ein »weltfremder Büchermensch« 161 gewesen sei. Seine Schriften wurden als »utopisch und idealistisch verstiegen« 162 charakterisiert. Dies trifft weitgehend zu. Hans F.K. Günther sehnte sich danach, die Entfremdung des modernen Menschen von seinen ursprünglichen Lebensgrundlagen zu überwinden. Er träumte von einer idealen Gesellschaft, von seelisch und körperlich schönen Menschen nach hellenischen Idealbildern. 163 Konkrete politische Entwürfe auszuarbeiten, sah er keineswegs als seine Aufgabe an. 164 Er hat auch betont, daß sich der Prozeß der Aufnordung über Jahrhunderte erstrecken würde. 165 Doch der Ästhet Günther war durchaus bereit, die »Veredelung« des Menschen mit sehr realen und blutigen Mitteln zu beschleunigen. Die Sterilisationspraxis des »Dritten Reiches« hat er ausdrücklich gutgeheißen. Elvira Weisenburger 184 157 Günther an Darré, 17. Oktober 1933, BA, Abt. III (BDC), A 489. 158 Günther, Verstädterung (wie Anm. 153), S. 7. 159 So der Titel des Grundlagenwerkes von Darré, das Günther zitiert. Siehe Verstädterung (wie Anm. 153), S. 25. 160 Günther, Verstädterung (wie Anm. 153), S. 25. 161 Akten des universitätsinternen Entnazifizierungsausschusses, UAFR, B 34/ 72. 162 Mühlmann, Wilhelm E., Geschichte der Anthropologie, 2.Aufl. Bonn 1968, S.198. 163 Vgl. Günther, Hans F.K., Führeradel durch Sippenpflege, München 1936, S. 31. 164 Vgl. Günthers Klage in »Ritter, Tod und Teufel« (wie Anm. 31), S. 58 f, wonach »ein Mensch, der darauf hinweist, daß und wie sich unsere Gesinnung ändern müsse, [...] gleich nach Einzelvorschlägen ausgefragt wird, nach neuen Gesetzesentwürfen oder Wirtschaftsordnungen«. Eine »Wendung des Schicksals« jedoch erhoffte Günther nicht von »konkreten Zielen«, sondern allein von einer neuen »Gesinnung«. 165 Vgl. Günther, Kleine Rassenkunde (wie Anm. 82), S. 148. <?page no="186"?> »Bedenkt man die Zahlen der ungehemmter Fortpflanzung überlassenen Menschen mit sehr minderwertigen Erbanlagen, so wird man es begrüßen, daß das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nunmehr die Möglichkeit gibt, gerade auch die entlassungsfähigen Insassen solcher ›Fürsorge‹-Anstalten unfruchtbar zu machen«, schreibt er in der »Rassenkunde des deutschen Volkes« 166 mit Blick auf Kranke und Schwache. Und die medizinische Indikation war bei weitem nicht die einzige, die Günther für Zwangssterilisationen gelten ließ. An seiner Einstellung zur Politik der Ausmerze 167 lassen sich mehrere zentrale Ideen und Prägungen Günthers aufzeigen. Der Rassekundler zeigte reges Interesse an Wissenschaften wie der Genetik und Eugenik, die international 168 im Aufschwung waren und die Angst vor der Zunahme von Erbkrankheiten und dem Absinken der Menschheit verstärkten. Seine Gesinnung wurde aus den Quellen des Biologismus und Sozialdarwinismus 169 gespeist. Und sowohl sein Rassendenken als auch seine Anschauungen über Erbgesundheitspolitik waren gleichzeitg Klassendenken. Günther befürwortete Zwangssterilisationen als Angehöriger einer elitären Gesellschaftsschicht, die den eigenen Abstieg und ein allgemeines Chaos fürchteten: Er wünschte, daß die kinderreichen Asozialen, die »Minderwertigen« des »städtischen Pöbels« an ihrer Fortpflanzung gehindert würden. Die »soziale Fürsorge« war ihm ein Dorn im Auge, weil sie die Auslese, die »Reinigung des Volkes« behinderte - etwa durch die Senkung der Kindersterblichkeit. 170 Und nicht zuletzt wollte der »Rassen- Günther« mittels Ausmerze das aufzunordende deutsche Volk von »fremdrassigen« Einschlägen freihalten. Für diese Ziele arbeitete er auch mit den Bevölkerungspolitikern des »Dritten Reiches« zusammen - zumindest als Berater: Hans F.K.Günther war Mitglied im 1933 gegründeten »Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik des Reichsministers des Innern«. 171 In diesem Gremium wurde beispielsweise das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« erörtert. Als »Rassespezialist« gehör- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 185 166 Günther, Rassenkunde des deutschen Volkes, München 1939, S. 455. 167 Zur Definition des Begriffes Ausmerze als »das natürliche oder künstliche Hemmen oder Unterbinden der weiteren Fortpflanzung der Erbkranken sowie der Erbuntüchtigen«, siehe Berning, Cornelia, Vom Abstammungsnachweis zum Zuchtwart. Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 1964, S. 31. 168 Zu Zusammenhang und Wechselwirkung von Genetik und traditionellen Zucht- und Ausgrenzungstheorien, zu Sterilisationsforderungen und Gesetzesvorhaben in Deutschland und dem Ausland siehe Roth, Karl Heinz, Schöner neuer Mensch, in: Der Griff nach der Bevölkerung, Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, hrsg. v. H. Kaupen-Haas, Hamburg 1986, S. 11 - 63. 169 Zu den verschiedenen Ausprägungen sozialdarwinistischer Ideen vgl. Zmarzlik (wie Anm. 131). 170 Günther, Verstädterung (wie Anm. 153), S. 12. 171 Zu Arbeit und Aufgabenverteilung des Beirats vgl. Kaupen-Haas, Heidrun, Die Bevölkerungsplaner im Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik, in: Der Griff nach der Bevölkerung, Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik, hrsg. v. H. Kaupen-Haas, Hamburg 1986, S. 103 - 120; Weingart, Peter; Kroll, Jürgen; Bayertz, Kurt, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt/ Main 1992, S. 460 ff. <?page no="187"?> te Günther der Arbeitsgemeinschaft II des Sachverständigenbeirats an. Diese Gruppe war im engeren Sinne mit Rassenhygiene und Vererbungslehre befaßt. Sie sollte bei der Gesetzgebung mitwirken und rassenpolitische Interessen in Forschung und Hochschulen fördern. Zu ihren Themen gehörten Zwangssterilisation, Zwangsabtreibung und die »Herabsetzung der Kosten für Minderwertige, unheilbar Kranke, Asoziale und Verbrecher«. 172 Im März 1935 beriet die Arbeitsgemeinschaft II über »Wege zur Lösung der Bastardfrage«. 173 Dabei ging es um das Schicksal der sogenannten »Negerbastarde« oder »Rheinlandbastarde« 174 , jener Mischlingskinder, die während der Rheinlandbesetzung von farbigen Soldaten der französischen Truppen gezeugt worden waren. Der Zweck der Beratung war von vorneherein klar: Die unerwünschten »Bastarde« sollten auf jeden Fall daran gehindert werden, ihre »fremdrassigen« Erbanlagen unter das deutsche Volk zu mischen. Unklar war hingegen, wie dieses Ziel erreicht werden sollte. Auf das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« konnten sich die eilfertigen Hüter der Rassenreinheit nicht berufen, da ein »negrider« Einschlag nun einmal nicht als Erbkrankheit galt und die 385 registrierten Mischlinge auch nicht pauschal als »schwachsinnig« deklariert werden konnten. 175 Deshalb standen im wesentlichen drei Möglichkeiten zur Diskussion. Erstens: die illegale Sterilisierung der »Rheinlandbastarde« beziehungsweise die »freiwillige« Sterilisierung mittels »geschickte[r] Herbeiführung dieses Einverständnisses«; zweitens: die offizielle Erweiterung des Sterilisationsgesetzes; drittens: die Abschiebung der Kinder und Jugendlichen ins »schuldige Land« Frankreich. Problematisch waren alle »Lösungsvorschläge«, denn es sollte möglichst wenig Aufsehen im In- und Ausland erregt werden. Professor Günther vertrat in der Diskussion über die »Bastarde« die Ansicht, »daß man doch in vielen Fällen auf Minderwertigkeit stoßen werde. Man müsse sich doch einmal überlegen, wer die Mädchen seien, die sich hier mit Fremdrassigen eingelassen hätten«. Er sprach sich laut Protokoll für eine Kombination mehrerer Lösungsversuche aus. 176 »Es müsse doch möglich sein, eine ganz harmlose anthropologische Untersuchung dieser Leute vorzunehmen und dabei gleichzeitig auf die erbliche Beschaffenheit dieser Leute zu achten, um dann gegebenenfalls auf dem Wege über das Sterilisierungsgesetz weiter vorzugehen. Ein anderer Weg sei die Exportierung, die so harmlos vor sich gehen müßte, daß die katholische Kirche nicht auf den Gedanken komme, daß hier besondere Absichten mitspielen [...] Er halte es auch Elvira Weisenburger 186 172 Kaupen-Haas (wie Anm. 171), S. 97. 173 Protokoll der Sitzung vom 11. März 1935, PAAA, Inland I/ Partei 84/ 4/ R 99166. 174 Zum Politikum der sogenannten »Schwarzen Schmach« und zum Schicksal der farbigen »Besatzungskinder« siehe die ausführliche Darstellung: Pommerin, Reiner, Sterilisierung der Rheinlandbastarde. Das Schicksal einer farbigen deutschen Minderheit 1919 - 1937, Düsseldorf 1979. 175 Zu Entstehung, Inhalt und Anwendung des Gesetzes s. Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 464 ff; Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Opladen 1986. 176 Die Darstellung bei Kaupen-Haas (wie Anm. 171), S. 113, wonach Günther sich für die Auswanderung der »Bastard-Kinder« ausgesprochen habe, ist eine verkürzte Wiedergabe der Beratung. <?page no="188"?> durchaus für möglich, das Einverständnis der Mütter zur Auswanderung zu erreichen, aber ob diese Stillschweigen darüber bewahren würden, sei eine andere Frage«. 177 Die Einstellung des »Rassepapstes« zu den farbigen Besatzungskindern war im übrigen keineswegs neu. Bereits in den 20er Jahren hatte er in seiner »Rassenkunde« auf die »Schwarze Schmach« hingewiesen, »die Notzuchtfälle, [...] die von den Franzosen als eine Verseuchung des deutschen Blutes mit Geschlechtskrankheiten und mit dem Blut der dunklen Rassenmischungen Afrikas und Asiens gerne gesehen wird«. Er war der Meinung, die deutsche Regierung solle die »überfallenen« Frauen zur Abtreibung verpflichten. Daß sich deutsche Frauen auch freiwillig mit den schwarzhäutigen Soldaten einließen, betrachtete Günther - wie viele andere Deutsche damals - als »Rassenschande«. 178 Über das Schicksal der »Rheinlandbastarde« entschied letztlich nicht der Sachverständigenbeirat. Die Überlegungen Günthers und seiner Kollegen führten zu keiner konkreten Empfehlung. Zwei Jahre später fiel in der Reichskanzlei die Entscheidung, die Mischlinge illegal zu sterilisieren. Die farbigen Kinder wurden von der Gestapo abgeholt und - teils in Nacht- und Nebelaktionen - zur Zwangsoperation in Kliniken gebracht. 179 Der Sachverständigenbeirat für Bevölkerungs- und Rassenpolitik versank zu dieser Zeit schon in Bedeutungslosigkeit. Er war »immer maßloser« geworden und wollte immer größeren Bevölkerungsteilen ihr Recht auf Ehe, Sexualität und Fortpflanzung nehmen - selbst bewährten Parteigenossen. 180 In der zweiten Hälfte der 30er Jahre war seine Meinung bei den Politikern kaum noch gefragt. 181 Günther war zwar keiner der führenden Köpfe im Sachverständigenbeirat. In seiner Arbeitsgemeinschaft dominierten Naturwissenschaflter wie der Mediziner Professor Ernst Rüdin. 182 Was seine harte Einstellung gegenüber »minderwertigen« Mitmenschen anging, stand Günther den anderen Sachverständigen allerdings nicht nach. Betrachtet man Günthers eigene Freiheitsliebe, seine Sensibilität und seine schwärmerischen Neigungen, so erscheint es aus heutiger Sicht widersprüchlich, daß er dermaßen wenig Mitgefühl für die Opfer der Auslese- und Ausmerzepolitik empfand. Der »Rassepapst« aber hätte Mangel an Mitleid vermutlich nicht als Vorwurf akzeptiert. Sobald es um die »große Gesundheit«, um den Erbstrom des Volkes ging, mußten Interessen und Gefühle des Einzelnen zurücktreten. Selbstbe- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 187 177 Sitzungsprotokoll (wie Anm. 173), S. 12. 178 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 78), S. 136. 179 Vgl. Müller-Hill, Benno, Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933 - 1945, Reinbek 1984, S. 34 f.; Pommerin (wie Anm. 174), S. 77 ff. 180 Bis zu 20% der Bevölkerung sollten durch Eheverbote, Abtreibungen, Sterilisationen, Kastrationen geknebelt werden; schon 1934 erachtete der Sachverständigenbeirat nur noch eine Minderheit von Volksgenossen für uneingeschränkt erblich wertvoll, Kaupen-Haas (wie Anm. 171), S. 111 ff. 181 Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 463 f. 182 Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 462; dies zeigte sich auch bei der Sitzung vom 11. März 1935, in deren Verlauf neben der »Bastardfrage« auch die Unfruchtbarmachung durch Röntgenbestrahlung erörtert wurde. <?page no="189"?> wußt konterte Günther die Kritik von Zeitgenossen, die die Erbgesundheitslehre mit »Gestüten« oder »Hundezuchten« verglichen: »Was ich [...] Auslesevorbild genannt habe, ist das, was die Tierzüchter ein Zuchtziel nennen. [...] Mir hat es nie einleuchten wollen, daß das Tier etwas so Niedriges sein solle, daß man den Menschen in keiner Weise mehr mit ihm vergleichen dürfe.« 183 Es war eine klare Forderung Günthers, die Menschen sollten endlich unterscheiden lernen »zwischen dem Wert eines Menschen als Einzelmenschen und seinem Wert als Erbträger«. 184 Wer diese Wertung - und die Konsequenzen daraus - nicht akzeptieren wollte, für den hatte er nur Spott übrig. Für jene Menschen z.B., die »Forderungen wie die Unfruchtbarmachung der erblich Minderwertigen als etwas Unerhört-Reaktionäres, als Eingriff in irgendwelche Menschenrechte« 185 ansahen. Sie waren in Günthers Augen dem irrigen Gedanken von der Gleichheit der Menschen verfallen. Sie hingen einem falschen »liberalistisch-individualistischen« Denken an. 186 Für ihn stand außer Frage: »Ein unbeschränktes Recht auf Fortpflanzung kann es in einem nach wahrer Ertüchtigung strebenden Staate nicht geben«. 187 Mitleid war für Günther völlig fehl am Platz, wenn es um Fremdrassige, Schwache, Kranke, Säufer, Landstreicher, Schwachsinnige, Arbeitsscheue, Dirnen und Verbrecher ging. 188 Vielmehr: Das Mitleid mußte überwunden werden - ganz im Sinne Nietzsches. Ihn zitiert Günther auch mit dem Satz: »Was fällt, das soll man auch noch stoßen«. 189 Zum Zeitpunkt der »Bastard«-Diskussion schienen die Auslesekriterien und die Werteordnung Günthers noch bestens mit jener der NSDAP-Führung übereinzustimmen. Die Partei förderte ihn in jeder Hinsicht. Das Jahr 1935 könnte, rein äußerlich betrachtet, als Höhepunkt seiner Karriere bezeichnet werden. Er erhielt einen Ruf an die Friedrich-Wilhelms-Universität der Reichshauptstadt Berlin 190 , außerdem wurde ihm eine hohe offizielle Ehrung zuteil: Auf dem Reichsparteitag im September 1935 erhielt Hans F.K. Günther als erster den neu gestifteten »Preis der NSDAP für Wissenschaft«. Alfred Rosenberg, der Parteiideologe, soll die Ehrung veranlaßt haben. 191 Er hielt auch die Laudatio und sagte über Günther: »In seinen vielen Schriften und vor allen Dingen in seiner ›Rassenkunde des deutschen Volkes‹ hat er geistige Grundlagen gelegt für das Ringen unserer Bewegung und für die Elvira Weisenburger 188 183 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S. 15. 184 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S. 27. 185 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S. 26. 186 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S.17 ff. 187 Günther, Führeradel (wie Anm. 163), S. 26. 188 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 166), S. 452 f. 189 Günther, Rassenkunde (wie Anm. 166), S. 454. 190 Laut Heiber, Helmut, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands, Stuttgart 1966, S. 591, hatte der Ostraum-Planer Konrad Meyer die Berufung Günthers energisch in Gang gebracht. 191 Vgl. Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 100. <?page no="190"?> Gesetzgebung des nationalsozialistischen Reiches«. 192 Vier Tage später wurden auf demselben »Reichsparteitag der Freiheit« die sogenannten »Nürnberger Gesetze« erlassen. Sie verboten unter anderem Eheschließungen und Geschlechtsverkehr zwischen »Juden und Staaatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes«. 193 Günther hat sich zu den »Nürnberger Gesetzen« nirgendwo schriftlich geäußert. 194 Er hat sich vielfach nachdrücklich gegen Mischehen ausgesprochen, die radikale Judenhetze der Parteipropagandisten war jedoch nicht sein Stil. Der bekannte Autor zog sich ab Mitte der 30er Jahre mehr und mehr aus der Rassenkunde zurück - also in einer Phase, in der die mörderische Rassenpolitik des NS-Regimes noch in den Anfängen steckte. Bezeichnend ist eine Rede, die Günther im November 1936 anläßlich der 126- Jahr-Feier der Berliner Universität hielt. 195 Der Begriff »Jude« kommt darin ebensowenig vor wie die »nordische« oder »ostische« Rasse. Der Redner konzentrierte sich ganz auf sein neues Lieblingsthema: »Die Aufgaben einer ländlichen Soziologie im völkischen Staate«, so der Titel des Referats. Günther hielt sein typisches Plädoyer gegen die dekadente Städterwelt und zugunsten einer Volksgesundung vom Lande her. Er zitierte darin wieder einmal seinen Lieblingsausspruch von Adolf Hitler, welchen er ansonsten nicht gerade glühend verehrte 196 : »Das Dritte Reich wird entweder ein Bauernreich sein oder untergehen«. 197 Mitreißend war Günthers Vortrag für die Zuhörer gewiß nicht - er war gespickt mit Hinweisen auf die Forschungsliteratur. Überhaupt war der Professor alles andere als ein begnadeter Rhetoriker. Er galt als schüchterner Mensch, als Mann »ohne rednerische Anziehungskraft« und wäre schon allein deshalb für Propagandaauftritte kaum zu gebrauchen gewesen. 198 An der Berliner Universität war Günther Direktor der »Anstalt 199 für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie«. Über ein Mauerblümchendasein ist das Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 189 192 Zit. nach Becker (wie Anm. 39), S. 281. 193 S. z.B. Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 494 ff. 194 Zu diesem Ergebnis kommt zumindest Becker (wie Anm. 39), S. 282. 195 Friedrich-Wilhelm-Universität (Hrsg.), Rede anläßlich des 126. Jahrestages der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 4. November 1936 gehalten von Prof. Dr. Hans F.K. Günther, Berlin 1936. 196 In Günthers Schriften der NS-Zeit finden sich kaum Erwähnungen Hitlers. Günthers Schilderungen in seiner Spätschrift »Mein Eindruck von Adolf Hitler« (wie Anm. 109), S. 72, wonach er dem »proletarischen« Hitler gegenüber Befremden empfand, sind angesichts von Günthers Charakterzügen durchaus glaubhaft. Den Gruß »Heil Hitler« benutzte Günther in Briefen an Freunde übrigens nicht. 197 Rede Günthers (wie Anm. 195), S. 6. 198 Gutachten des universitätsinternen Freiburger Entnazifizierungsausschusses, UAFR ,B 34/ 72. Als Beleg für Günthers mangelnde Eignung als Propagandaredner wird darin auch ein Vortrag erwähnt, den Günther während des Krieges gehalten hatte und in dem er »die englische Adelsgesellschaft geradezu feierte als Idealgesellschaft«. 199 Günther hegte eine generelle Abneigung gegen Fremdwörter und weigerte sich hartnäckig, den damals schon gängigen Begriff »Institut« zu gebrauchen. <?page no="191"?> Institut offenbar nicht hinausgekommen. Da zunächst ein eigenes Gebäude fehlte, nahm die Anstalt erst eineinhalb Jahre nach Günthers Berufung, zum Wintersemester 1936/ 37, ihre geordnete Arbeit auf. Zur Ausstattung gehörten Haarfarbentafeln und Meßinstrumente wie das »Schädelstativ«. Günther ließ auch einen Mumienkopf, einen menschlichen Schädel und acht Tierschädel erwerben. Ein Pfarrer aus Thüringen hatte »28 menschliche Extremitäten-Knochen« gestiftet. Geforscht wurde über katholische und protestantische Bauernfrömmigkeit, über die rassischen Verhältnisse benachbarter wendischer und deutscher Dörfer und über die »Gattenwahl« oberbayerischer Bauern. Insgesamt besuchten 22 Studenten die Übungen und Kolloquien in jenem Wintersemester. 200 Der »Anstaltsdirektor« spielte zu diesem Zeitpunkt bereits mit Abwanderungsgedanken. Seit 1937 bemühte sich Günther intensiv um eine Berufung an die Universität seiner Heimatstadt Freiburg. In Berlin fühlte er sich unwohl. Er argumentierte damit, er liebe seine süddeutsche Heimat und das Leben in der Großstadt sei ihm »nicht zuträglich«, er machte aber auch Andeutungen über Intrigen in der Reichshauptstadt. 201 Zwischen 1935 und 1937 wurden dem »Rassen-Günther« weitere Ehrungen zuteil: Das »Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands« berief ihn als Ehrenmitglied 202 , die Berliner »Gesellschaft für Ethnologie, Anthropologie und Urgeschichte« zeichnete ihn mit der Rudolf-Virchow-Plakette aus, und die »Deutsche Philosophische Gesellschaft« holte ihn in den Vorstand. 203 Wirklich integriert war er allerdings nicht. Im Reichsinsitut für Geschichte glänzte Günther hauptsächlich durch Abwesenheit. Als er einmal an einer Beiratssitzung teilnahm, kritisierte er die »Judenforschung« des Reichsinstituts, da sie die Gefahr berge, die Weltgeschichte nur von der Judenfrage her zu sehen. Das Angebot für ein anderes Ehrenamt lehnte Günther ab - mit der Begründung, er sei »einzig und allein Schreiber und in der Lebensführung Sonderling«. 204 Der »Rassepapst« war zweifelsohne bereits ein »verblassender Stern«. 205 Seine Rasseneinteilung vertrug sich ohnehin schlecht mit der Idee der Volksgemeinschaft. 206 An diesem Punkt offenbaren sich auch die gegenläufigen geistigen Tendenzen in NSDAP-Zirkeln. Während gewisse Parteikreise Günther noch als Vordenker rühmten, galt er bei anderen längst als inakzeptabel. Schon in den ersten Jahren des »Dritten Reiches« wurde unter dem Schlagwort der »Vitalrasse« öffentlich Elvira Weisenburger 190 200 Chronik der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1936/ 1937, S. 85 f. 201 Briefwechsel mit dem Rektor der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, UAFR B 24/ 1116. 202 Heiber (wie Anm. 190), S. 267 ff. 203 Becker (wie Anm. 39), S. 281. 204 Heiber (wie Anm. 190), S. 591. 205 Heiber (wie Anm. 190), S. 591. 206 Nach Angaben von Walter Groß, dem Leiter des Rassenpolitischen Amtes, konnten sich intellektuelle NS-Schichten nicht sonderlich mit der »harten Tatsache der Vererbung« bei Günther anfreunden; bei Studenten, BDM und Arbeitsdienst habe seine schematische Dogmatik als unzeitgemäß gegolten. Siehe Poliakov, Leon; Wulf, Josef, Das Dritte Reich und seine Denker. Dokumente, Berlin 1959, S. 414. <?page no="192"?> darüber diskutiert, daß die Leistung eines Menschen und nicht sein erbbiologischer Personalbogen entscheidend sein müsse. Die Einteilung des deutschen Volkes in Systemrassen bedeute eine Überspitzung des Rassegedankens und bedrohe die Volksgemeinschaft. 207 Allerdings war Günthers Rassentypologie dermaßen populär, daß sie aus dem Sprachgebrauch nicht mehr wegzudenken war. Schon zu Weimarer Zeiten wurden selbst Strafgefangenenkarteien nach seinen Rassekategorien ausgewertet. 208 Schulbücher des »Dritten Reiches« lehrten Grundzüge von Günthers Rassenkunde und bildeten Fotografien aus seinem Standardwerk ab. Auch im »Staatshandbuch des Volksgenossen« wurden Günthers Beschreibungen körperlicher Rassenmerkmale übernommen. Gleichzeitig wurde aber darauf hingewiesen, die Rassenlehre solle die Gemeinsamkeiten im Volk betonen und keine neuen »Trennungen« schaffen - und ohnehin sei immer »die Weltanschauung das, worauf es schließlich ankommt«. 209 Ende der 30er Jahre war Hans F.K. Günther an solchen Debatten kaum noch interessiert. Selbst innerhalb der »Nordischen Bewegung« hatte er keinen nennenswerten Einfluß mehr. Bei der Monatszeitschrift »Rasse«, die Günther 1934 zusammen mit seinem Jugendfreund, dem bekannten »Rassenseelenforscher« Ludwig Ferdinand Clauss 210 , als Organ des »Nordischen Ringes« gegründet hatte, wurde er Anfang 1938 als Mitherausgeber abgelöst. Während Clauss seine Mitarbeit an der Zeitschrift ganz aufkündigte, ließ sich der »Rassepapst« zu einem von diversen »Beratern« der Schriftleitung degradieren. 211 1939 erhielt Günther dann den langersehnten Ruf nach Freiburg. Hier lehrte er, bis sein kärglich eingerichtetes Institut im November 1944 durch Bomben zerstört wurde. Der »Rassepapst« widmete sich in den Kriegsjahren vornehmlich der Bauerntumsforschung, der Erbgesundheitslehre und den Themen Ehe und Familie. 212 Illusionen über seine Arbeit machte er sich offenbar nicht mehr: »Es würde nach dem Krieg nur zwei Dinge geben, die zu fördern wären: das sind Familie und Bauerntum. Dies wird aber kaum erkannt werden«, schrieb er 1942 an Darré. 213 Daß Günther zu seinem 50. Geburtstag 1941 noch das Goldene Parteiabzeichen und die Goethemedaille für Kunst und Wissenschaft erhielt, ist wohl als gönnerhafte, im Kern aber bedeutungslose Geste an den populären »Vorkämpfer des rassischen Gedankens« zu verstehen. 214 Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 191 207 Die Sonne, Monatschrift für Rasse, Glauben und Volkstum im Sinne Nordischer Weltanschauung und Lebensgestaltung 11 (1934), S. 450 ff. 208 Weingart / Kroll / Bayertz (wie Anm. 171), S. 184. 209 Leininger, Hermann, Erblehre, Rassenpflege und Rassenkunde. Bausteine für den neuzeitlichen Unterricht, Karlsruhe 1934, S. 91; Staatshandbuch des Volksgenossen, Berlin 1936, S. 178. 210 Zu Clauss s. Weingart, Peter, Doppel-Leben. L.F.Clauss: Zwischen Rassenforschung und Widerstand, Frankfurt, New York 1995. 211 Vgl. Weingart (wie Anm. 210), S. 36, 38, Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 67 f. 212 In dieser Zeit entstanden u.a. seine Bücher : Das Bauerntum als Lebens- und Gemeinschaftsform. Leipzig, Berlin 1939, Formen und Urgeschichte der Ehe, München, Berlin 1940 sowie die Erstfassung der »Gattenwahl«(wie Anm. 108). 213 Günther an Darré, 13. September 1942, BA, Abt. III (BDC), A 489. 214 Geburtstagsartikel im Alemannen, 17. Februar 1941. <?page no="193"?> Günther lebte in Freiburg recht zurückgezogen. Er verließ die Stadt möglichst oft und wanderte durch die Schwarzwaldlandschaft. An der Universität pflegte er eigenartige Hobbies. So sammelte er beispielsweise Nachbildungen von Schädeln berühmter Männer - sofern die Originalabgüsse in »bombengefährdeten Gebieten« aufbewahrt wurden. Anfang 1944 bat er das Kultusministerium um einen Sonderzuschuß von 600 Mark. In dem Schreiben verwies Günther darauf, daß er durch seine außerplanmäßige Aktion den Schädelabguß Johann Sebastian Bachs »gerettet« habe. Der »Erstabguß« nämlich sei mittlerweile in Leipzig mitsamt dem Anatomischen Institut vernichtet worden. 215 Obwohl er in der Regel als freundlicher, verträglicher Mensch geschildert wird, führte Günther kleine Privatkriege in dieser Zeit. Seinen Kollegen vom Anatomie-Institut versuchte er Skelettreste streitig zu machen, die bei historischen Ausgrabungen gefunden wurden. 216 Im Zwist lag Günther auch mit der Freiburger Hitlerjugend. Lärmende HJ-Abteilungen hielten im Hof vor seinem Institut ihre Übungsstunden ab - und waren dem Professor äußerst lästig. Er strengte einen pedantischen Briefwechsel an, damit die singenden, trommelnden und trompetenden Störenfriede gemaßregelt wurden. Unzufrieden war Günther auch über die »Bummelei der Studenten«. 217 Günthers Freiburger Professorenzeit bedeutete im großen und ganzen einen Rückzug ins Private. Doch punktuell gab es auch in dieser Phase immer wieder Annäherungen an Parteistellen. Die menschenverachtende Praxis der NS-Politik ist dem eigenbrötlerischen »Stubengelehrten« nicht verborgen geblieben. Im März 1941 war er als Ehrengast zur Eröffnungstagung von Rosenbergs »Institut zur Erforschung der Judenfrage« eingeladen. In den Vorträgen wurde der »Volkstod« der Juden als Ziel formuliert. Es sollte durch »Verelendung der europäischen Juden bei Zwangsarbeit in riesigen Lagern in Polen oder in einer Kolonie« erreicht werden. 218 In der Rückschau nannte Günther die Tagung schlicht »langweilig«. 219 Zu den Inhalten der Frankfurter Diskussionen hat er sich mit keiner Zeile geäußert. Ende 1940 erhielt Günther einen Beuteanteil aus den »Säuberungsaktionen« des NS-Regimes: Der Generalbevollmächtigte für das jüdische Vermögen in Baden wollte die Arbeit des »Rasseforschers Professor Dr. Günther« unterstützen. Er stellte Portraits und Fotografien von Juden zur Verfügung. Auch Landräte und Polizeizentralen wurden angewiesen, solches Bildmaterial für den Rassekundler zu sammeln. Es stammte aus den geräumten Wohnungen der »abtransportierten Ju- Elvira Weisenburger 192 215 Günther an das Ministerium des Kultus und Unterrichts, 14. Januar. 1944, UAFR, B1/ 3363. 216 Beschwerde hierüber führte das Landesamt für Ur- und Frühgeschichte an das Badische Ministerium des Kultus und Unterrichts, 1. Juni 1943, UAFR, B1/ 3363. 217 Briefe Günthers an das Akademische Rektorat, Mai 1943 und 1944, UAFR, B1/ 3363. 218 Müller-Hill (wie Anm. 179), S. 48. 219 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 134 f. <?page no="194"?> den«. 220 Günther benutzte diesen drastischen Begriff nicht. Er erklärte, die Pakete aus Karlsruhe enthielten Lichtbilder »ausgewanderter Juden«. 221 Seinen Assistenten schickte Günther in Lager von Kriegsgefangenen und osteuropäischen Zwangsarbeitern, um »rassenkundliche Untersuchungen« durchzuführen. Er sah darin eine »einzigartige Gelegenheit [...] an sonst nicht leicht erreichbare Völkergruppen« heranzukommen. 222 Der Professor selbst arbeitete vornehmlich in seinem Institut. Angebote für Vortragsreisen lehnte er mehrfach ab. Als ihn 1940 jedoch sein alter Gesinnungsgenosse Darré rief, war Günther zur Stelle. Er reiste nach Danzig-Westpreußen. Der Zweck der Studienfahrt geht aus dem Einladungsschreiben hervor: »Reichsbauernführer Darré und [...] Gauleiter Forster legen als Grundlage für den bluts- und siedlungsmäßigen Neuaufbau des Reichsgaus Danzig- Westpreußen den größten Wert auf Ihr fachmännisches Urteil«. 223 Welches - offenbar »großzügige« Urteil Günther fällte - darauf findet sich ein Hinweis in Hitlers »Tischgesprächen«. Gauleiter Forster soll sich bei einem Abendessen im Führerhauptquartier folgendermaßen geäußert haben: »Wenn Professor Günther als Rassenforscher bei einer zehntägigen Fahrt durch den Gau Danzig-Westpreußen festgestellt habe, daß vier Fünftel des Polentums im Norden des Reichsgaues einzudeutschen seien, so halte auch er das durchaus für möglich«. 224 Daß Günthers Meinung tatsächlich Einfluß auf die Ostraumpolitik hatte, ist jedoch unwahrscheinlich. Sein Gönner Darré war Anfang der 40er Jahre ohnehin bereits auf dem politischen Abstellgleis. Und für die technokratisch geplanten Vertreibungen und Vernichtungen im Osten waren weniger Rassentheorien und »nordische« Bauernromantik Güntherscher Prägung ausschlaggebend als ökonomisch-zweckrationale Kriterien. 225 Diese These wird auch durch eine Äußerung Günthers untermauert: In einem Brief an den zurückgetretenen Darré schrieb er 1942 abfällig über die »maschinisierten und ›wirtschaftlich denkenden‹ mundartlosen Siedlergruppen«. Grundsätzlich jedoch hatte er gegen die Politik der Eroberung und Unterdrückung offenbar nichts einzuwenden. Eine »breite Besiedelung des gewon- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 193 220 Der Minister des Kultus und Unterrichts an den Rektor der Universität Freiburg, 13. November 1940, UAFR, B1/ 3363. 221 Günther an den Verwaltungsdirektor der Universität, 29. Juli 1941, UAFR, B1/ 3363. 222 Briefe Günthers an das Reichsministerium für Wisschenschaft, Erziehung und Volksbildung und an das Akademische Rektorat vom Frühjahr 1943, UAFR, B1/ 3363. 223 Stabsamt des Reichsbauernführers an Günther, 9. September 1940, UAFR, B 24/ 1116. 224 Picker, Henry (Hrsg.), Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, 4. Aufl. Stuttgart 1983, S. 286, Äußerung Forsters vom 12. Mai 1942. 225 Vgl. Aly, Götz; Heim, Susanne, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt/ Main 1993. Auf S. 160 werden Planungen von 1941 zitiert, wonach in Danzig-Westpreußen für einen Ansiedler zwei Personen evakuiert werden sollten. Beachte: Alys These von der ökonomisch-zweckrationalen Vernichtungspolitik, die in Bezug auf die »Endlösung«, den Völkermord an den Juden, äußerst fragwürdig und umstritten ist, soll hier nicht pauschal, sondern lediglich bezüglich der damals vorrangigen Interessensgebiete des Bauerntumsschwärmers Günther übernommen werden. <?page no="195"?> nenen Ostens mit einem echten Bauerntum« hätte der »nordischgesinnte« Günther gutgeheißen - besonders, wenn es gelänge, »auch skandinavische Bauernsöhne für den Osten zu gewinnen«. 226 Den meisten maßgebenden Köpfen der NSDAP waren die Ideen des »Rassepapstes« zu dieser Zeit schon gleichgültig - bis sich dies 1944 noch einmal schlagartig änderte. Der einst hochgelobte und hochdekorierte Autor geriet in die Schußlinie Bormanns: Sein Buch »Die Unehelichen« wurde nicht zum Druck zugelassen. Günther stritt in dieser Schrift für Ehe und Familie und lehnte entschieden eine Förderung lediger Mütter und Kinder ab. Er hielt solche unverheirateten Frauen für durchschnittlich »erblich minderwertiger« und fürchtete eine »Entartung« des Volkes, falls die Zahl der unehelichen Geburten nicht drastisch gesenkt würde. Er forderte sogar eine entsprechende Verschärfung des Sterilisationsgesetzes. 227 Solche Ideen liefen den Auffassungen von Bormann, Himmler und Hitler völlig entgegen. Um die Kriegsverluste aufzufangen und zwecks »Blutauffrischung« war ihnen jedes Mittel recht - außereheliche Schwängerungen ebenso wie die Einführung der Mehrehe. 228 In dieser späten Kriegsphase waren sie nicht mehr bereit, Günthers Verteidigung der Familie »gegenüber männerbündischen Ideen und einer mißgeleiteten Lobpreisung der unehelichen Geburt« 229 hinzunehmen. Die Bitten des Autors und einiger Fürsprecher nützten nichts - »Die Unehelichen« blieb unveröffentlicht. Nach 1945 versuchte der Verlag Lehmanns, Günther wegen dieses einmaligen Falles von Zensur als verfolgten Autor darzustellen. Einige höchste nationalsozialistische Gönner waren dem »Rassepapst« trotz des Buchverbotes offenbar geblieben. 230 Interessanterweise erhielt Günther im selben Jahr, in dem er dermaßen in Ungnade gefallen war, einen Forschungsauftrag - angeblich aus der Reichskanzlei, anscheinend auch mit Einvernehmen Rosenbergs, zu dem Günther bis ins letzte Kriegsjahr Kontakte pflegte. 231 Nach der Bombardierung Freiburgs im November 1944 zog Günther mit seiner Familie nach Weimar, zu seinem langjährigen Freund Schultze-Naumburg. Dort arbeitete er nach eigenen Angaben an diesem Forschungsprojekt. Ein Ergebnis hat er nicht mehr vorgelegt. Als im Frühjahr 1945 die Sowjettruppen anrückten, floh er Elvira Weisenburger 194 226 Günther an Darré, 13. September 1942, BA, Abt. III (BDC), A 489. 227 Ausführliche Besprechung des unveröffentlichten Manuskriptes bei Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 390 ff. 228 Siehe Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 395 ff. Die Einführung der Mehrehe erwogen insbesondere Bormann und Himmler. Zu Hitlers Ansicht über »Vielweiberei«, uneheliche Mutterschaft und bürgerliche Vorurteile siehe Picker (wie Anm. 224), S. 117, 289, zu Kontroversen innerhalb der NSDAP vgl. Lilienthal (wie Anm. 67), S. 24 ff. 229 So Wilhelm Hartnacke in einem Geburtstagsartikel über Günther, in: Das Reich, Deutsche Wochenzeitung, 16. Februar 1941. 230 Dazu zählten Frick, Darré, Rosenberg, die allerdings selbst höchstens noch geringen Einfluß besaßen, sowie der Leiter des Rassenpolitischen Amtes, Walter Groß. 231 Briefe Günthers an den Freiburger Rektor und an seinen Kollegen Konrad Günther, Oktober 1944 und Februar 1945, UAFR, B 1/ 3363, Nachlaß Konrad Günther UBFR, IV B 1/ 2. <?page no="196"?> gemeinsam mit seiner Frau und den Töchtern Ingrid und Sigrun zurück nach Freiburg. 232 Mit Kriegsende begann für den »Rassepapst« eine harte Zeit. Im August 1945 nahmen ihn französische Soldaten fest. Drei Jahre und 20 Tage verbrachte er im Internierungslager. Von allen inhaftierten Freiburger Dozenten war Günther am längsten gefangengesetzt. Seine Entlassung aus dem Universitätsdienst am 26. September 1945 war nur noch Formsache. 233 Die »Anstalt für Rassenkunde, Völkerbiologie und ländliche Soziologie« hatte nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« ihre Existenzberechtigung verloren. Mit Günthers Entnazifizierungsverfahren taten sich sowohl die Spruchkammer als auch der »Senatsausschuß für die politische Bereinigung der Universität« schwer. Den Menschen Hans F.K. Günther beurteilten sie durchaus milde. »Persönlich ist er ein harmloser, sehr weltfremder, aber menschlich durchaus anständiger in seine Bücher vergrabener Stubengelehrter«, befand der Hochschulausschuß - wobei er einräumte, daß Günther vor den nationalsozialistischen »Gewalttaten geradezu die Augen verschloß«. 234 Als problematisch erwies sich die Einschätzung von Günthers Schriften und deren Wirkung. Vorsitzender des Ausschusses war der Historiker und Widerständler Gerhard Ritter. Er setzte sich sehr für den »Rassepapst« ein und ließ dessen Bücher gründlich studieren. Einen weniger gnädigen Kollegen forderte er dazu auf, seine Position zu überdenken. Doch der Botaniker Oehlkers blieb bei seinem kritischen Urteil: In Günthers »Rassenkunde des jüdischen Volkes« sah er ganz klar einen »bewußten Antisemitismus«. Während Ritter dem »Rassepapst« zugute hielt, daß er keine Hetzschriften verfaßt habe, sondern einen »sachlichen« Schreibstil pflege, sah Oehlkers genau hier das Problem: »Umso schlimmer sind die Unterlassungen, Verzerrungen und Willkürlichkeiten, die sich dem kundigen Leser überall aufdrängen«. Letztlich erklärte sich Oehlkers allerdings als persönlich befangen. 235 Im Frühjahr 1947 sandte der Universitätsausschuß schließlich sein Gutachten an die Militärregierung. Darin heißt es über Günther: »Seine Berufung zum Hochschullehrer war ein gröblicher Mißgriff, aber das Zeugnis menschlicher Anständigkeit [...], fern von ehrgeiziger Streberei, dürfen wir ihm nicht versagen. Bei der Entscheidung über sein künftiges Schicksal sollte nicht übersehen werden, daß er seine literarische Wirkung nicht erst dem Nationalsozialismus verdankte, sondern von diesem noch mehr mißbraucht als gefördert worden ist und er sich durch seine Parteimitglied- Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 195 232 Günther, Mein Eindruck (Anm. 109), S. 126 ff. 233 UAFR, B 24/ 1116. 234 UAFR, B34 / 72. 235 Oehlkers an Ritter, 17. Februar 1947, UAFR, B 34 / 72, Oehlkers führt als Grund für seine Enthaltung an, »daß ich mit meinem einzigen Sohn, der ein jüdischer Mischling war, etwas erlebt habe, wovon niemand annehmen wird, daß es in dieser Diskussion bei mir keine Rolle spiele«. <?page no="197"?> schaft nicht zu irgend einer Anpassung seiner romantischen Ideenwelt an das militante Parteiprogramm hat verführen lassen [...] Freilich hat ihn seine menschliche Gutherzigkeit nicht gehindert, ohne Protest mitanzusehen, wie die von ihm vertretene Rassentheorie zu den schändlichsten Zwecken mißbraucht wurde [...] - eine Tatsache, die sich aus völliger politischer Blindheit wohl erklären, aber nicht rechtfertigen läßt«. 236 An anderer Stelle attestierte der Hochschulausschuß, daß sich Günther »in seiner Rassenkunde in Grenzen halte, die auch von Gelehrten dieses Zweiges moderner Wissenschaft in anderen Staaten eingehalten werden«. Dies hat dem Gremium später den Vorwurf einer »unsäglichen Naivität« eingebracht. 237 Der politische Beirat der Freiburger Spruchkammer betonte ebenfalls die »persönlich tadelfreie Haltung des Betroffenen«, andererseits verwies er darauf, daß Günther »im ganzen Volk als einer der ursächlichsten Begründer der nazistischen Lehre bekannt ist [...] Es würde im ganzen Volk nicht verstanden werden, wenn der Mann, der in seiner Wirkung mit Rosenberg zu vergleichen ist, nicht als Schuldiger beurteilt werden würde.« 238 Das erste Spruchkammerurteil vom 18. August 1949 239 stufte Hans F.K. Günther als »Minderbelasteten«, also in die mittlere von fünf Bewertungskategorien, ein. Im Berufungsverfahren wurde er 1951 zum »Mitläufer« befördert. 240 Im November des selben Jahres pensionierte das Kultusministerium den 60jährigen ehemaligen Professor. Sein Ruhegehalt belief sich auf 8215 Mark im Jahr. Bereits 1948 hatte die Militärregierung einen Zuschuß in Höhe der halben regulären Pension bewilligt, da Günthers Familie während der Haftzeit des Vaters wieder einmal in finanzielle Not geraten war. 241 Auf ein Publikationsverbot verzichtete die Spruchkammer im Fall Günther. Bald nach seiner Freilassung macht er sich wieder an die schriftstellerische Arbeit. Nachdem die Neuauflage der »Gattenwahl« 1951 so viel Aufruhr verursacht hatte, brachte der einstige »Rassen-Günther« seine neuen Schriften unter Pseudonymen heraus. Als Ludwig Winter veröffentlichte er 1959 ein Buch mit dem Titel »Der Begabungsschwund in Europa«. Es ist ein beredtes Beispiel dafür, daß Hans F.K. Günthers Weltsicht unerschütterlich dieselbe geblieben war. Besorgt warnte er vor einer zunehmenden »Verdummung« der Bevölkerungen Europas und Nordamerikas, weil sich die sittlich Haltlosen unkontrolliert und die Begabten viel zu selten fortpflanzten. Auch der »nordische« Gedanke schwingt in dieser Schrift mit, wenn auch unaufdringlicher als in Günthers Frühwerken. Die Schlußfolgerungen des Autors Elvira Weisenburger 196 236 UAFR, B 24/ 1116. 237 Ferdinand (wie Anm. 17). 238 STAFR, D 180/ 2, Abt. 6, B 38. 239 Dokument in Besitz von Günthers Tochter Ingrid Guzzoni. 240 Ferdinand (wie Anm. 17). 241 UAFR, B 24 / 1116. <?page no="198"?> waren Ende der 50er Jahre die gleichen wie zu Weimarer Zeiten und im »Dritten Reich«: »Der ›Untergang des Abendlandes‹ kann nur durch eine überlegte ›Familienpolitik‹ aufgehalten werden, die von den Tatsachen der Vererbung, Siebung, Auslese und Ausmerze ausgeht«. 242 Die Vision vom vollkommenen Menschen - sie fesselte den 70jährigen Günther ebenso wie einst den Jungautor von »Ritter, Tod und Teufel«. Der gealterte »Rassepapst« ließ in der Bundesrepublik auch Neuauflagen seiner Rassengeschichten der Hellenen und Römer erscheinen; und er schrieb ein zweiteiliges Werk über die Botschaft Jesu - was aber keineswegs bedeutet, daß er auf seine alten Tage zur christlichen Kirchenlehre gefunden hätte. 243 Eine große Lesergemeinde erreichte Günther in der Nachkriegszeit nicht mehr. Trotzdem erinnerten sich ausländische Kreise offenbar noch gerne an ihn: 1953 ernannte ihn die »American Society of Human Genetics« zu ihrem korrespondierenden Mitglied. 244 Ebensowenig wie der Ideologe hatte sich der Pedant Günther im Alter verändert: Als zu seinem 75. Geburtstag eine kurze Notiz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, wonach der Rasseforscher Günther kein Nationalsozialist gewesen sei, schickte er prompt einen Leserbrief, um den Irrtum zu korrigieren. 245 Zur formalen Mitgliedschaft in der NSDAP bekannte er sich also - doch den Vorwurf der Mitschuld konnte und wollte Günther nie akzeptieren. Er zweifelte auch grundsätzlich an den Informationen über die nationalsozialistischen Verbrechen. Davon zeugt eindrucksvoll seine letzte Schrift »Mein Eindruck von Adolf Hitler«: Günther empörte sich darüber, »wieviele Greuel« über das Konzentrationslager Buchenwald »zusammengelogen worden sind«. 246 Den Nationalsozialismus entschuldigte er damit, daß ohne ihn der Bolschewismus gesiegt hätte. Fast trotzig verteidigte er Hitler, dem er vor allem einen Vorwurf machte: mangelnde Menschenkenntnis. Der »Führer« habe eben die falschen »Unterführer« ausgewählt: »Ich möchte auch annehmen, daß Hitler nicht viel erfahren hat von den Torheiten und dem Unfug der vielen ›kleinen Hitler‹«. 247 Die Schrift ist alles andere als eine Auseinandersetzung mit den Realitäten des »Dritten Reiches«. Der »verstiegene Ästhet« 248 Günther analysierte das »Dritte Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 197 242 Winter, Ludwig, Der Begabungsschwund in Europa, Pähl 1959, insbesondere S. 138. 243 Ackermann, Heinrich, Jesus. Seine Botschaft und deren Aufnahme im Abendland, Göttingen 1952; ders. Entstellung und Klärung der Botschaft Jesu, Pähl 1961. Günther fordert darin anstelle von Jesu außerweltlichem Gott einen innerweltlichen Gott der Völker indogermanischer Sprache. Über den Buddhismus hat Günther in dieser späten Lebensphase auch gearbeitet. Zu Günthers religiösen Vorstellung siehe Becker (wie Anm. 39), S. 278 ff., 289. 244 UAFR, B 24/ 1116. Wohlwollen brachte Günther auch die 1957 in Großbritannien gegründete »Northern League«, ein Sammelbecken für Nordischgesinnte, entgegen, siehe Lutzhöft (wie Anm. 19), S. 402. Einige Buchtitel Günthers erschienen nach 1945 auch in englischer und französischer Übersetzung. 245 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Februar und 7. März 1966. 246 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 126. 247 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 57. 248 Günther machte sich darüber lustig, daß er von Kritikern so charakterisiert würde, s. Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 78. <?page no="199"?> Reich« auf seine typische Art und Weise. »Hat nun Hitler aus ›Tristan und Isolde‹ die Schopenhauersche ›Metaphysik‹ zu hören vermocht? « - Diese Frage versuchte er seitenlang zu beantworten. 249 Die Schuldfrage aber stellte sich Günther nicht. Kritik an der von ihm befürworteten menschenunwürdigen Politik der Zwangssterilisationen hätte er rundweg abgelehnt. Er empfahl auch der Bundesrepublik die Wiedereinführung des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuches«. 250 Einen Zusammenhang zwischen dem Massenmord an »fremdrassigen« und »minderwertigen« Menschen und der eigenen Lehre sah Günther nicht. Er verwies in seiner Spätschrift darauf, Hitler habe - im Gegensatz zu ihm - unter »Rassenfrage« vermutlich nur die »Judenfrage« verstanden. Und er konnte angeblich nicht verstehen, daß im »Dritten Reich« »törichterweise das Wort Herrenrasse auf die Deutschen unserer Zeit angewandt« wurde. 251 Gewiß: Günther hat nicht verschwiegen, daß seine »edlen Menschen« ferne Zielbilder seien. Er hat auf die Rassenmischung im deutschen Volk aufmerksam gemacht. Und zur Tötung hat er nie aufgerufen. Er hat unterschieden zwischen dem »Recht zu leben und dem Recht, Leben zu geben«. 252 Daß er jedoch radikaleren Ideologen vorarbeitete, indem er alles Fremde penetrant ablehnte, Menschen immerzu nach seinen subjektiven Qualitätsnormen klassifizierte und ihnen das Recht auf Kinder absprach - dies beschäftigte den »Rassen-Günther« nicht. Moralische Bedenken solcher Art waren ihm fremd. Ebenso fremd wie der Zeitgeist im Nachkriegsdeutschland. In seinem letzten Buch bekannte der 77jährige Günther, er habe eingesehen, daß »das Zeitalter, zu dem ich nach meiner Veranlagung gehörte und gehöre, schon 1919 abgeschlossen worden war«. 253 Die Veröffentlichung seiner Altersschrift hat er nicht mehr miterlebt. Am 25. September 1968 verstarb Hans F.K. Günther überraschend in Freiburg. Die bundesrepublikanische Öffentlichkeit nahm vom Tod des einstigen »Rassepapstes« kaum Notiz. Bibliographie Quellen Umfangreiches, wenn auch lückenhaftes Quellenmaterial über Günthers Professorendasein während des Krieges und über das universitätsinterne Entnazifizierungsverfahren der Nachkriegszeit befindet sich im Universitätsarchiv Freiburg. Aus dem Spruchkammerverfahren gegen Günther sind lediglich kleine Splitter im Staatsarchiv Freiburg erhalten. Die Bedeutung Elvira Weisenburger 198 249 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 75 f. 250 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 94. 251 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 93. 252 Günther, Führeradel durch Sippenpflege (wie Anm. 163), S. 26. 253 Günther, Mein Eindruck (wie Anm. 109), S. 139. <?page no="200"?> des Rassekundlers Günther, seine Beurteilung durch die öffentliche Meinung, die Kontroverse um seine Lehre erschließt sich aus rassekundlichen Publikationen und aus zahllosen Beiträgen in Zeitungen und Zeitschriften der Weimarer und der nationalsozialistischen Presse, darunter auch der biographische Abriß von Eugen Fischer, Der Rassen-Günther, in: Mein Heimatland, Badische Blätter für Volkskunde, Heimat- und Naturschutz, Denkmalpflege, Familienforschung und Kunst, Heft 5/ 6 (1935), S. 219 ff., sowie der lobpreisende, aber materialreiche biographische Aufsatz von Lothar Stengel-von Rutkowski, Hans F.K. Günther, der Programmatiker des Nordischen Gedankens, in: NS-Monatshefte 6 (1936), S. 962 - 998 und 1099 - 1114. Ergiebige Quellen sind Günthers eigene Schriften. Seine Spätschrift »Mein Eindruck von Adolf Hitler« (1969) bringt keinerlei neuen Erkenntnisse über das »Dritte Reich«, gibt jedoch interessanten Aufschluß über Günthers Persönlichkeit und seinen Starrsinn. Sie ist 1990 unter dem Titel »Ma témoignage sur Adolf Hitler« auch auf Französisch erschienen. Literatur Eine umfassende Biographie über Günther existiert nicht, aber die bis heute grundlegende und mit rund 400 Seiten umfangreichste Studie über den Wegbereiter der Nordischen Bewegung, seine Lehre und seinen ideologischen Hintergrund hat Hans-Jürgen Lutzhöft, Der Nordische Gedanke in Deutschland 1920 - 1940, Stuttgart 1971, vorgelegt. Diese Arbeit enthält auch eine nahezu vollständige Bibliographie. Zur Einführung geeignet ist der thematisch übersichtlich gegliederte, streckenweise allzu sehr auf Günthers eigenen Aussagen basierende Aufsatz von Peter Emil Becker. In Gesamtdarstellungen zum Nationalsozialismus finden sich häufig nur kurze Erwähnungen Günthers. Eine Kurzbiographie von Horst Ferdinand wird demnächst in den Baden-Württembergischen Biographien erscheinen. Hans Friedrich Karl Günther, Professor für Rassenkunde 199 <?page no="202"?> Richter der »alten Schule« Alfred Hanemann, Edmund Mickel, Landgerichtspräsidenten und Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim Michael Kißener Alfred Wilhelm Carl Hanemann * 6. August 1872 Rastatt, ev., Vater: Wilhelm Hanemann, Buchhändler, Mutter: Melanie, geb. Schweitzer, verheiratet seit 1. Oktober 1906 mit Dorothea, geb. Mohr, ev., 2 Kinder. 1878 - 1882 Volksschule Rastatt, 1882 - 1888 Gymnasium Rastatt, 1888 - 1891 Gymnasium Mannheim, 1891 Abitur, 1. Oktober 1891 Einjährig-Freiwilliger bei der 4. fahrenden Batterie Thüringisches Feldartillerie Regiment Nr. 19, 1891 Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und München, 6. August 1895 Promotion zum Dr. jur. (»cum laude«), zugleich I. juristisches Staatsexamen (»befriedigend«), 1895 Rechtspraktikant, 1898 II. juristisches Staatsexamen (»gut«), Juli 1898 Referendar, 1898/ 99 Amtsanwalt in Offenburg und Mannheim, 1899 Leutnant d. Lw., 1. Januar 1900 Amtsrichter in Meßkirch, 1900 - 1903 Richter und Bezirkshauptmann in Deutsch-Südwestafrika, 1903 Amtsrichter in Mannheim, 1905 Oberamtsrichter in Mannheim, 1905 Oberleutnant d. Lw., 1912 Landgerichtsrat in Mannheim, 19. November 1912 Hauptmann d. Lw., 1. August 1914 - 15. Dezember 1918 Kriegsteilnehmer als Hauptmann der Landwehr, EK I und II sowie 10 weitere militärische Auszeichnungen, Entlassung als Major der Landwehr, 1920 Oberlandesgerichtsrat in Karlsruhe, 1920/ 21 Hilfsarbeiter bei der Reichsanwaltschaft in Leipzig, 1921 Landgerichtsdirektor in Mannheim, 1933 Präsident des Landgerichts Mannheim, Vorsitzender des Sondergerichts Mannheim, Vorsitzender der Dienststrafkammer für nichtrichterliche Beamte, 1934 - 1944 Stellv. Vorsitzender des Schiedsgerichts für landwirtschaftliche Marktregelung beim Reichsnährstand und Vorsitzender des Jägerehrengerichts Baden-Nord, 1. Oktober 1937 Ruhestand, 1939 - 1941 (aushilfsweise) Angestellter im höheren Dienst beim Polizeipräsidium Mannheim. Alfred Hanemann 201 <?page no="203"?> 1919/ 1920 »Unterführer« in der Einwohnerwehr Mannheim, 1922 - 1924 MdL Baden (DNVP), 1924 - 1933 MdR (DNVP), Mitglied des »Stahlhelm«, Bund der Frontsoldaten, des Badischen Richterbundes und des Kanoniervereins Mannheim, 1. Oktober 1933 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 2.090.248), 1934 - 1945 Mitglied der NSV, des NSRB, des NS-Reichskriegerbundes, des Reichskolonialbundes, der Deutschen Jägerschaft. 2. Januar 1946 Einstellung der Pensionszahlung auf Anordnung der Militärregierung Nordbaden, 2. November 1946 Entscheidung der Spruchkammer Mannheim: »Mitläufer«, 31. Oktober 1947 Anweisung zur Wiederaufnahme des Verfahrens durch das Ministerium für politische Befreiung, 3. Mai 1948 Zweite Entscheidung der Spruchkammer Mannheim: Bestätigung des Spruchs vom 2. November 1946, 10. Oktober 1948 Fortzahlung der Versorgungsbezüge, † 2. Februar 1957 Hinterzarten. Edmund Heinrich Mickel *9. August 1875 Epfenbach (Kreis Sinsheim), ev., Vater: Edmund Mickel, ev. Pfarrer, Mutter: Pauline, geb. Spies, ledig. Volksschule, 1887 Gymnasium Heidelberg, 1893 - 1897 Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und München, 1897 I. juristisches Staatsexamen (»hinlänglich«), 1900 II. juristisches Staatsexamen (»hinlänglich«), 18. Juli 1900 Referendar, 1. Oktober 1900 Einjährig-Freiwilliger im 2. Bayr. Fußartillerie- Regiment, 26. November 1903 Leutnant d. Res., 1904 - 1906 Amtsrichter in Buchen, 1906 Amtsrichter in Mannheim, 1907 Hilfsrichter am Landgericht Mannheim, 1908 Landrichter am Landgericht Mannheim, 1909 Landgerichtsrat am Landgericht Mannheim, 1909 - 1920 Staatsanwalt in Mannheim, 1911 Oberleutnant d. Res., 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, 1914 Hauptmann, 1. November 1918 schwere Verwundung am linken Oberschenkel und Kopf, 40% kriegsbeschädigt, EK I und II, Bayrischer Militärorden mit Krone und Schwertern, Ehrenkreuz für Frontkämpfer, 16. August 1919 entlassen, Major d. Lw. d. Res., 1920 - 1923 Staatsanwalt in Heidelberg, 1923 - 1931 Oberstaatsanwalt in Mannheim, 1931 Landgerichtsdirektor am Landgericht Mannheim, Strafkammervorsitzender, Vorsitzender des Schwurgerichts, Stellv. Vorsitzender der Dienststrafkammer für nichtrichterliche Beamte und seit 1933 stellv. Vorsitzender des Sondergerichts sowie Vertreter des Landgerichtspräsidenten, Justitiar der Reichsbankhauptstelle Mannheim, 1. April 1938 Präsident des Landgerichts Mannheim und Vorsitzender des Sondergerichts Mannheim, 1. Juni 1942 Ruhestand, Weiterverwendung auf Widerruf, 24. Februar 1945 Vorsitzender des Standgerichts Mannheim. Edmund Mickel Michael Kißener 202 <?page no="204"?> 1893 Mitglied der Burschenschaft »Frankonia«, später eines »Waffenringes« schlagender Verbindungen, 1909 - 1914 Mitglied der Nationalliberalen Partei, 1925 Mitglied des Mannheimer Altertumsvereins, bis 1933 Mitglied des badischen Richterbundes und des deutschen Richterbundes, 1934 - 1945 Mitglied des NSRB, RDB, NS-Altherrenbund, der NSV und des RLB 5. Mai 1945 Gefangennahme, Inhaftierung im Gefängnis Heidelberg, im Freilager Böhl/ Pfalz, dann Internierungslager Ludwigsburg, schließlich im Hospital 2 in Karlsruhe, Aussetzung der Pensionszahlungen, Einziehung des Vermögens, 24. Juli 1946 Entlassung, 9. Januar 1949 Entscheidung der Zentralspruchkammer Karlsruhe: »nicht belastet«, gest. 10. Februar 1949. Mit der Kontrollratsdirektive Nr. 24 vom 12. Januar 1946 und dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 leiteten die alliierten Besatzungsbehörden nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Untergang des »Dritten Reichs« eine umfassende »Entnazifizierung« der deutschen Bevölkerung ein, der insbesondere auch die deutsche Justiz unterworfen werden sollte. Als mutmaßliche Handlanger und Exekutoren des nationalsozialistischen Unrechtsregimes sollten gerade Richter und Staatsanwälte in leitenden Stellungen für ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden. Ihre Schuld an der verhängnisvollen Entwicklung der Jahre 1933 - 1945 schätzten die Besatzer hoch ein. Gleich nach den »Hauptbeteiligten« seien sie als »Belastete« anzusehen und mit erheblichen Sühnemaßnahmen zu belegen: bis zu fünf Jahren Arbeitslager, Vermögenseinzug, Verlust der Pension u.a. war ihnen aufzuerlegen, wenn sich in einem Spruchkammerverfahren herausstellte, daß sie »im Dienste des Nationalsozialismus in die Rechtspflege eingegriffen oder [ihr] Amt als Richter oder Staatsanwalt politisch mißbraucht« hatten. 1 So mußten auch Dr. Alfred Hanemann und Edmund Mickel, zwei schon über 70 Jahre alte »Ruheständler«, die Präsidenten des Landgerichts und als solche auch Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim gewesen waren, zum ersten Mal in ihrem Leben als »Betroffene« vor ihre Richter treten. Hanemann und Mickel schienen buchstäblich die Welt nicht mehr zu verstehen. Treu und pflichteifrig hätten sie doch immer nur dem Staat gedient, über 40 Jahre »ehrenvoll und einwandfrei«, dabei »gerecht, menschenfreundlich und parteilos«, wie Hanemann betonte, judiziert und, so Edmund Mickel, ihre »richterliche Ehre immer reingehalten«. 2 Obwohl sie als Vorstand eines der zunächst 26, später weit über 50 Sondergerichte, die nach einem Ausspruch des berüchtigten Roland Freisler 3 die »Panzertruppe der Rechtspflege« A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 203 1 Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Im Namen des deutschen Volkes. Justiz und Nationalsozialismus. Katalog zur Ausstellung des Bundesministers der Justiz, Köln 1989, S. 314-319, Vollnhals, Clemens (Hrsg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945 - 1949, München 1991, S. 107-118, 262-272. 2 Hanemann an OLG-Präsident Martens, 5. April 1946, GLA 466, 8416; Rechtsanwalt K.C. an Spruchkammer Heidelberg, 18. März 1947, GLA 465a, 59/ 1/ 15912 [Spruchkammerakte Mickel]. 3 Roland Freisler (1893 - 1945), 1934 - 1942 Staatssekretär im preußischen und Reichsjusitzministerium, 1942 - 1945 Präsident des Volksgerichtshofes. <?page no="205"?> gewesen waren, amtiert hatten, vermochten sie eine Reihe von »Beweisen« vorzulegen, die ihr Wirken in einem milderen, unspektakulären Licht zeigten. Von »Blutjustiz«, von »verbrecherischer Jurisdiktion« oder einer »beispiellosen justitiellen Todesernte«, die in der einschlägigen Literatur immer wieder als Kennzeichen sondergerichtlicher Tätigkeit angeführt werden, war demnach in Mannheim kaum etwas zu erkennen. 4 Tatsächlich charakterisierten solche Vorstellungen neuen rechtsgeschichtlichen Forschungen zur Mannheimer Sondergerichtsbarkeit zufolge auch den Alltag des Sondergerichts nur in Ausnahmefällen. 5 Und dennoch hatten Hanemann und Mickel, wie zu zeigen sein wird, einen erheblichen Anteil an der Verwirklichung des nationalsozialistischen Totalitarismus im deutschen Südwesten - freilich ohne daß dies von einer Spruchkammer der Nachkriegszeit im Geflecht starrer, formal definierter Schuldvermutungen aburteilbar gewesen wäre. Der Lebenslauf Hanemanns und der seines nur um drei Jahre jüngeren Amtskollegen und Nachfolgers Mickel weisen über weite Strecken hinweg zahlreiche Parallelen auf und entsprechen weitgehend dem idealtypischen Berufsweg eines Richters der Kaiserzeit. 6 Beide stammten aus von protestantischer Gläubigkeit geprägten badischen Elternhäusern, die der bürgerlichen Mittelschicht zuzuordnen waren. Hanemanns Vater war Buchhändler, Mickels Vater evangelischer Pfarrer. Die gesicherten finanziellen Verhältnisse des Elternhauses ermöglichten ihnen nach dem üblichen schulischen Werdegang über Volksschule und Gymnasium das rechtswissenschaftliche Studium an der ehrwürdigen alten Heidelberger Universität und die kostspielige Ausbildung zum Richteramt. Wie viele Söhne aus emporstrebenden bürgerlichen Schichten wählten sie damit einen Beruf, der als prestigeträchtig und Achtung gebietend angesehen wurde. Beiden war auch ein einsemestriger Studienaufenthalt in München vergönnt, Hanemann sogar die Promotion zum Dr. jur., ohne dazu eine schriftliche Dissertation anfertigen zu müssen. 7 Michael Kißener 204 4 Wüllenweber, Hans, Sondergerichte im Dritten Reich. Vergessene Verbrechen der Justiz, Frankfurt/ Main 1990, S. 2, 18, 42. Obwohl der Autor (S. 42/ 43) auf der Grundlage der vorangegangenen Forschung zu einzelnen Sondergerichten des »Dritten Reiches« durchaus die Notwendigkeit einer differenzierenden Betrachtung der sondergerichtlichen Tätigkeit erwähnt, verwendet er an anderen Stellen dennoch die zitierten Epitheta zur allgemeinen Charakterisierung der Sondergerichte. 5 Siehe hierzu grundlegend Oehler, Christiane, Die Rechtsprechung des Sondergerichts Mannheim 1933 - 1945, Diss. jur. [Masch.], Freiburg 1992. Die Drucklegung der Arbeit ist in Vorbereitung. 6 Siehe zusammenfassend: Angermund, Ralph, Deutsche Richterschaft 1919 - 1945. Krisenerfahrung, Illusion, politische Rechtsprechung, Frankfurt/ Main 1990, S. 22-24 sowie Majer, Diemut, Richter und Rechtswesen, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 46-73, hier S. 68-70 und speziell zu den badischen Verhältnissen Kißener, Michael, Widerstand und Verfolgung in der Justiz. Richter am Amts- und Landgericht Karlsruhe 1933 - 1945, in: Geschichte in Verantwortung, Festschrift für Hugo Ott, hrsg. v. H. Schäfer, Frankfurt/ Main, New York 1996, S. 213 - 237. 7 UAHD, Studentenakten 1880 - 1900, Alfred Hanemann, Edmund Mickel; UAHD, H II-111/ 110 Promotion Alfred Hanemann, UAM WS 1892/ 93 und SS 1895. <?page no="206"?> Edmund Mickel engagierte sich gleich zu Beginn seiner Heidelberger Studienzeit, dem traditionellen studentischen Komment verpflichtet, in der Burschenschaft »Frankonia«, deren Wurzeln weit zurück in den Beginn des 19. Jahrhunderts reichen. Seit 1858 hatte sich die Frankonia den Wahlspruch »Einig und treu« gegeben und fühlte sich den Prinzipien »Sittlichkeit, Wissenschaft, Vaterlandsliebe« verpflichtet. 8 1860 war die unbedingte Satisfaktionspflicht eingeführt worden, um die Ehre der Verbindung zu schützen. Obwohl die Frankonia ihrer Satzung entsprechend »keinem politischen System huldigen noch weniger für Parteien stimmen« wollte, bemühte man sich doch, die Mitglieder »zu regem Anteil am politischen Leben« zu motivieren. 9 Daraus erwuchs ein überaus starkes nationales Engagement, das auch das badische Kultusministerium der Verbindung anerkennend bescheinigte. 10 Der angestrebten Standesehre ganz entsprechend meldeten sich beide Studenten als Einjährig-Freiwillige zum Militärdienst, mit dem Ziel, den gesellschaftlich hoch angesehenen Rang eines Reserveoffiziers zu erlangen. 11 Hanemann begann seine militärische Laufbahn bei der thüringischen, Mickel nach dem Studium bei der bayrischen Artillerie, einer Waffengattung, die sie zeit ihres Lebens bewunderten und für die sie sich später noch mit Stolz in »Kanoniervereinen« engagierten. Beide erlangten schließlich dann auch das begehrte Offizierspatent und brachten es nach mehreren Wehrübungen und Einsatz im Ersten Weltkrieg zum Dienstgrad eines Majors. In den großen Krieg zogen sie wie so viele ihrer Generation gleich zu Beginn der Kampfhandlungen mit Begeisterung. In den unterschiedlichsten Verwendungen, vornehmlich an der Westfront, und als Teilnehmer an vielen der in die Kriegsgeschichte eingegangenen verlustreichen Schlachten (Somme, Verdun, Champagne, Aisne) zeichneten sie sich durch außerordentliche Tapferkeit und Einsatzbereitschaft aus und erhielten dafür zahlreiche militärische Auszeichnungen. 12 Diese überaus patriotische Einstellung teilte auch Hanemanns Frau Dorothea, die 1918 für ihre Hilfsdienste in der Heimat das Kriegshilfekreuz erhielt. 13 Mickel mußte noch A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 205 8 Locher, Torsten, Burschenschaft Frankonia in der DB, in: »... Weiland Bursch zu Heidelberg ...« Eine Festschrift der Heidelberger Korporationen zur 600-Jahrfeier der Ruperto Carola, bearb. v. G. Berger, D. Aurand, Heidelberg 1986, S. 127-131, hier S. 127. 9 UAHD, A-741, VII 2, Nr. 193, 1860 - 1910, Verfassung und Mitglieder der Burschenschaft Franconia zu Heidelberg 1856-1896, Heidelberg 1896, §§ 5 und 9, S. 6 f. 10 Ministerium des Kultus und Unterrichts an Engeren Senat der Universität Heidelberg, 14. Februar 1919, UAHD, B 8410/ 29 (VII,2 Nr. 276b). Anlaß des Schreibens war die Drohung der Auflösung der Burschenschaft wegen ungebührlichen Verhaltens einiger Mitglieder am Kriegsende. Wegen des »vaterländischen Geistes, der sich vor allem in der grossen Zahl ihrer im Kriege gefallenen und verwundeten Angehörigen zeigt« wurde von einer Auflösung der Buschenschaft jedoch abgesehen. 11 Vgl. John, Hartmut, Das Reserveoffizierskorps im Deutschen Kaiserreich 1890 - 1914. Ein sozialgeschichtlicher Beitrag zur Untersuchung der gesellschaftlichen Militarisierung im Wilhelminischen Deutschland, Frankfurt/ Main, New York 1981, S. 60, 286-314. 12 Lebenslauf Hanemanns in GLA 466, 8416 [Personalbogen vom 11. Februar 1946], GLA 456, 4242 [Offiziersakte]; Lebenslauf Mickels GLA 465c, 2167, Personalblatt der Fachschaft Justiz in der NSDAP Gauleitung Baden, 16. September 1936 und BayHSTAM Abt. IV Kriegsarchiv, OP 26932 [Offiziersakte]. <?page no="207"?> in den letzten Kriegstagen seinen soldatischen Wagemut mit einer schweren Verwundung bezahlen. Am 1. November 1918 wurde er im Rückzugsgefecht vor der Antwerpen-Maasstellung bei einem Granatwerferüberfall am linken Oberschenkel und Kopf so schwer verletzt, daß seine Gesundheit erst nach einem dreiviertel Jahr wiederhergestellt war. Zurück blieb eine 40% Kriegsversehrtheit. Das Kriegsende eröffnete Hanemann und Mickel zunächst die Möglichkeit, den eingeschlagenen Berufsweg fortzusetzen und sich auf der Grundlage ihrer durchaus überdurchschnittlichen fachlichen Fähigkeiten für verantwortungsvolle Dienststellungen zu qualifizieren. Hanemann hatte sich schon vor dem Krieg auf verschiedenen Richterstellen hervorgetan, war drei Jahre lang als Richter und Bezirkshauptmann in Deutsch-Südwestafrika tätig gewesen, dann aber aus familiären Gründen in den badischen Staatsdienst zurückgekehrt und Landgerichtsrat in Mannheim geworden. Sein Interesse an den Kolonien und ihrem wirtschaftlichen Nutzen für das Deutsche Reich war weiterhin bestehen geblieben. 1905 hatte das badische Justizministerium genehmigt, daß Hanemann Mitglied im Gründungskomitee bzw. im Aufsichtsrat einer zu gründenden Gesellschaft zur Erforschung und Ausbeutung der im Bezirk Swakopmund gelegenen Kupferminen wurde. 14 Jetzt, nach dem Krieg, wurde er in kurzen Abständen zum Oberlandesgerichtsrat, dann zum Hilfsarbeiter bei der Reichsanwaltschaft in Leipzig und schließlich 1921 zum Landgerichtsdirektor befördert. 15 Mickel, der schon 1909 aus dem Richterdienst zur Staatsanwaltschaft gewechselt war, wurde nach kurzer Tätigkeit in Heidelberg Oberstaatsanwalt in Mannheim und 1931 dann ebenfalls Landgerichtsdirektor am Landgericht Mannheim. 16 Wichtiger als dieser erfolgreiche Aufstieg dürften für die berufliche und politische Einstellung der beiden vom Kriegsende und der nationalen Demütigung im Versailler Vertrag tief enttäuschten Juristen aber eine Reihe einschneidender Ereignisse geworden sein, die sie in der jungen badischen und Weimarer Republik miterlebten. Die Ungewißheit der politischen Fortentwicklung, die katastrophale Ernährungslage und die wirtschaftliche Abschneidung der Handelsstadt Mannheim von der französisch besetzten Pfalz führten in Nordbaden zu erheblichen politischen Unruhen. Schon am 9. November 1918 hatte sich unter Führung des USPD-Funktionärs Adolf Schwarz ein Soldatenrat in Mannheim konstituiert, der die Bildung einer sozialistischen Republik in Baden anstrebte. Zwar arbeitete dieser mit der vorläufigen Volksregierung, die den Großherzog schließlich zur Abdankung bewegte, zusammen, doch mischten sich die Soldatenräte mit ihren beanspruchten Kontrollbefugnissen Michael Kißener 206 13 Sonderabdruck des Badischen Staatsanzeigers, Jahrgang 1918, Karlsruhe 1919, Sp. 629. 14 Badisches Justizministerium an Alfred Hanemann, 21. Juni 1905, Oberlandesgericht Karlsruhe, Personalakte Hanemann. 15 Siehe Anm. 12. 16 Siehe Anm. 12. <?page no="208"?> so in die Verwaltung und nicht zuletzt auch in das Mannheimer Gerichtswesen ein, daß der ordentliche Dienstablauf erheblich behindert wurde. Auf den Straßen agitierten Sozialisten und Kommunisten, und als die Nachricht eintraf, daß der bayrische Ministerpräsident, der Sozialist Kurt Eisner, einem Attentat zum Opfer gefallen war, riefen die Gewerkschaften am 22. Februar 1919 zum Generalstreik auf und versammelten rund 10.000 Menschen zu einer Trauerkundgebung. Die Kommunisten nutzten die Gärung aus und riefen eine Räterepublik aus. Mit etwa 1.000 Anhängern zogen sie zum Mannheimer Schloß, wo sich u.a. auch die Justizbehörden befanden. Gefangene wurden befreit, Justizakten verbrannt, und anschließend drängte die Menschenmenge plündernd in die Mannheimer Oststadt. Da die schwachen Polizeikräfte und die regulären Truppen nicht Herr der Lage wurden, zudem Schießereien zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten stattfanden, wurde die Stadt von badischen Truppen und Reichskontingenten zerniert. Mit dem Einmarsch des 2. badischen Freiwilligen-Bataillons am 7. März 1919 hatte der Linksputsch schließlich ein Ende, doch zeigte sich die Notwendigkeit, die entstehenden neuen staatlichen Strukturen vor den Umsturzabsichten der politischen Linken zu schützen. Die erste badische Regierung bemühte sich daher umgehend um den Aufbau kasernierter Polizeieinheiten, die auf Anweisung des Reichsinnenministers durch Einwohnerwehren unterstützt werden sollten. 17 Einer der Führer und Organisatoren dieser Einwohnerwehr in Mannheim wurde Alfred Hanemann. 18 Über die Tätigkeit der Mannheimer Einwohnerwehr ist nur wenig überliefert. Nach Art der freiwilligen Feuerwehren kamen die ehrenamtlichen und nur leicht bewaffneten Mitglieder zu regelmäßigen Übungen zusammen, deren Ziel die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in den Wohnbezirken Mannheims war. Dem zeitgenössischen Bericht des badischen SPD-Innenministers Adam Remmele ist zu entnehmen, daß die Mannheimer Einwohnerwehr im Gegensatz zu den meisten anderen im Lande eine ansehnliche Stärke erlangte und zu einem geringen Teil sich auch Sozialdemokraten darin betätigten. 19 Das war keineswegs selbstverständlich, denn obwohl sie dem Schutz der jungen Republik dienen sollten, engagierten sich wohl mehrheitlich Gegner des neuen politischen Systems darin, vor allem, um sozialistischen und kommunistischen Umsturzbestrebungen aktiv und legal entgegenwirken zu können. 20 A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 207 17 Remmele, Adam, Staatsumwälzung und Neuaufbau in Baden. Ein Beitrag zur politischen Geschichte Badens 1914/ 24, Karlsruhe 1925, S. 18-63; Steinbach, Lothar, Mannheim - Erinnerungen aus einem halben Jahrhundert. Sozialgeschichte einer Stadt in Lebensbildern, Stuttgart 1984, S. 264-270. 18 StAMA, S 1/ 2281, Mannheimer Tageblatt, 29. September 1937. 19 Remmele (wie Anm. 17), S. 82. StAMA, S 2/ 1221f, General-Anzeiger Nr. 333, 23. Juli 1919 und Nr. 3, 3. Januar 1920 weisen auf einen insgesamt jedoch sehr geringen Anteil von Mitgliedern der politischen Linken hin. Daß die Mannheimer Wehr eine der aktivsten in Baden gewesen sein dürfte, deuten die Spuren ihrer Tätigkeit in einem Dossier des badischen Staatsministeriums an: GLA 233/ 12479. 20 Benz, Wolfgang, Süddeutschland in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1918 - 1923 (Beiträge zu einer kritischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 4), Berlin <?page no="209"?> Dies dürfte mit ziemlicher Sicherheit auch der Grund für Hanemanns Einsatz gewesen sein, denn etwa zur gleichen Zeit trat er der Deutschnationalen Volkspartei bei, einer politischen Vereinigung, die dem Weimarer Parlamentarismus ablehnend gegenüberstand. In den »Grundsätzen« der DNVP aus dem Jahr 1920 wurde die Revolution des Jahres 1919 als »große Verbrecherin, die Sittlichkeit, Staatsordnung und Wirtschaft zertrümmerte« und Deutschland der »Verachtung der Welt« preisgegeben habe, angegriffen. Die DNVP forderte die »nationale Wiedergeburt« unter der Herrschaft des wieder einzuführenden Hohenzollerschen Kaisertums, das Deutschland »auf den Gipfel der staatlichen Macht geführt« habe. Ein starker, nationaler Staat müsse geschaffen werden, der den Schutz deutschen Volkstums garantiere und - für den ehemaligen Kolonialbeamten Hanemann gewiß nicht ohne Bedeutung - die alten Kolonien wiedererwerbe. Auf rechtspolitischem Gebiet verlangte die DNVP: »Der starke Staat, den unser Volk braucht, verlangt zumal bei der jetzigen parlamentarischen Regierungsform eine kraftvolle vollziehende Gewalt und einen festgefügten, planmäßigen Behördenaufbau. Dazu gehört ein den Parteieinflüssen entzogenes Berufsbeamtentum und die Erhaltung seiner bewährten Berufsauffassung. Die richterliche Unabhängigkeit ist zu wahren. Rechtspflege und Verwaltung sind allein nach sachlichen Rücksichten auszuüben. Die Verwaltung ist zu vereinfachen und im sozialen Geiste zu führen; an die Stelle der seit der Revolution eingerissenen Verschwendung öffentlicher Gelder muß wieder strenge Sparsamkeit treten. [...]«. 21 Mit diesen programmatischen Forderungen waren Hanemanns politische Vorstellungen und sein politischer Aktionsrahmen für die kommenden Weimarer Jahre präzise umschrieben. Zunächst als Abgeordneter der DNVP im Badischen Landtag setzte er sich mit auffallendem Eifer für die richterliche Standesehre, für eine nur »langsame und organische« Weiterentwicklung der seiner Auffassung nach so bewährten Rechtspflege der Kaiserzeit, gegen die Lockerung der Strafbarkeit von Abtreibung und Homosexualität und rundweg gegen alle Reformvorstellungen der politischen Linken ein. Vor allem aber war ihm der Kampf gegen jede politische Michael Kißener 208 1970, S. 273, 283. Remmele setzte der Auflösungsverfügung dieser Verbände, die von der Interalliierten Militärischen Kontrollkommission im April 1920 ausgesprochen wurde, denn auch keinen Widerstand entgegen, hatten sich einige Verbände im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch doch deutlich republikfeindlich gezeigt. Den Erinnerungen des Württembergers Paul Hahn zufolge führten die Verbände zu der »Groteske, daß eine Regierung, in der die Sozialisten die Mehrheit hatten, von ihren Gegnern geschützt wurde«. Siehe Hahn, Paul, Erinnerungen aus der Revolution in Württemberg, Stuttgart 1922, S. 112 f. 21 Abdruck der »Grundsätze« in: Liebe, Werner, Die Deutschnationale Volkspartei 1918 - 1924 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 8), Düsseldorf 1956, S. 112-119, hier S. 114 f. <?page no="210"?> Beeinflussung der Justiz und jede Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit ein Hauptanliegen. Schon die Forderung nach Loyalität des Richters gegenüber der herrschenden Staatsform, die der Amtseid verlangte, stellte er als Zumutung und parteipolitische Beeinflussung dar: »Man soll auch nicht vergessen, daß die Richter auch Männer sein sollen, die nicht von heute auf morgen ihre Gesinnung umkrempeln, sondern Personen, denen bei der Rechtssuche die Staatsform etwas absolut gleichgültiges [sic] sein muß, sonst verletzen sie eben das Gesetz, und sie verwirken das Recht, als Hüter des Gesetzes und als Hüter des Rechts gelten zu können.« 22 Daß diese Auffassung selbst schon ein Politikum war, das letztlich den Richter auf die reaktionären Ziele seiner Partei zu verpflichten suchte, wollte oder konnte Hanemann nicht einsehen. Die Forderung des berühmten Heidelberger Rechtswissenschaftlers (ab 1926) und SPD-Reichsjustizministers Gustav Radbruch (1921 - 1922, 1923), die überwiegend noch obrigkeitsstaatliche Haltung des Justizpersonals aufzubrechen und neueinzustellenden Richtern ein lebendiges Bekenntnis zur Demokratie abzuverlangen, griff er daher mit Nachdruck an. Demokratisches Denken blieb Hanemann völlig fremd. Die Kaiserzeit war sein politisches Vorbild und deshalb wandte er sich mit Empörung in einer Anfrage an die Regierung, als 1923 bei dem Gautag der südbadischen Kriegervereine in Kandern von der Polizei zwei alte Schwarz-Weiß-Rote Fahnen mit der Begründung eingeholt wurden, daß nur eine Beflaggung mit badischen oder Schwarz-Rot-Goldenen Reichsfahnen zulässig sei. 23 In diesem Bestreben, zu den alten, vermeintlich guten Verhältnissen der Kaiserzeit zurückzufinden, einen starken vom Meinungs- und Parteienstreit freien Staat herzustellen, ebnete er den noch radikaleren nationalsozialistischen Agitatoren, die schließlich jene von Hanemann so beschworene richterliche Unabhängigkeit gänzlich auslöschen sollten, den Boden. Ohne Wertschätzung für die durch die Republik gewährten bürgerlichen Rechte, die ja auch seine Meinungsfreiheit schützten, setzte er sich in den Jahren schwerer innenpolitischer Auseinandersetzungen für die Zulassung einer Ersatzorganisation der verbotenen NSDAP in Baden ein. Als der SPD- Minister Adam Remmele ihn in einer stürmisch verlaufenen Landtagssitzung einmal darauf aufmerksam machte, daß er den schlimmsten Republikfeinden dadurch erst Bedeutung verleihe und wohl Interesse an dieser Partei habe, antworteten Hanemann und sein Parteifreund Schmidt-Bretten in völliger Verkennung der Lage: »An allem, was national ist, haben wir Interesse«. 24 Vermutlich aufgrund seines auffallenden Einsatzes, der ihm den Ruf eines uner- A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 209 22 Verhandlungen des Badischen Landtags, II. Landtagsperiode (9. November 1921 bis 15. Oktober 1925), Protokollheft Bd. 1, Karlsruhe o.J., Sp. 1837. 23 Verhandlungen des Badischen Landtags, II. Landtagsperiode (9. November 1921 bis 15. Oktober 1925), 2. Sitzungsperiode, Protokollheft Bd. 2, Karlsruhe 1924, Sp. 2040. 24 Verhandlungen des Badischen Landtags (wie Anm. 22), Sp. 411. Siehe auch Schwarzmaier, Hansmartin, Der badische Landtag, in: Von der Ständevesammlung zum demokratischen Parlament. Die Geschichte der Volksvertretungen in Baden-Württemberg, hrsg. v. der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 1982, hier S. 231 f. <?page no="211"?> müdlichen Arbeiters für die badische DNVP einbrachte 25 , übernahm Hanemann 1924 ein Reichstagsmandat, das er bis 1933 (1930 - 1933 Reichswahlvorschlag) innehatte. 26 Im Reichstag betätigte er sich zunächst im Verkehrsausschuß, wo er beständig staatliche Sparsamkeit, insbesondere bei dem kostspieligen südwestdeutschen Neckarkanalprojekt, einforderte 27 , und dann vor allem im Rechtspflegeausschuß. In größeren Redebeiträgen wie am 16. Februar 1926 wiederholte er seine schon aus Baden bekannten Positionen. 28 Auf dieser Grundlage wirkte er auch intensiv in der vom Reichstag eingesetzten Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Strafgesetzbuches mit, in der er gelegentlich dadurch auffiel, daß er die juristisch nicht vorgebildeten Ausschußmitglieder in umfänglichen Redebeiträgen über rechtswissenschaftliche Zusammenhänge belehrte. Hanemann vertrat dezidiert antiliberale Positionen in der Strafrechtspolitik, die etwa eine Zurückdrängung des »liberalistischen« Individualismus zugunsten einer gemeinschaftsbezogenen Verantwortung des einzelnen für das »Volksganze« postulierten, was die Forderung nach schärferen Strafmaßnahmen bei »gemeinschaftsschädigendem« Verhalten zur Folge hatte. Sein autoritär-nationalistisches Denken stand bisweilen in direkter geistiger Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus und rückte Hanemann argumentativ nicht selten in die unmittelbare Nähe nationalsozialistischer Auffassungen. 29 Den- Michael Kißener 210 25 Rechtsanwalt H. K. an Spruchkammer Heidelberg, 1. April 1946, GLA 465a, 56/ S/ 1 [Spruchkammerakte Hanemann]. Daß Hanemann als Abgeordneter nie auf Popularität aus gewesen sein soll, wie K. in seinem Schreiben behauptet, läßt sich zumindest für die Zeit 1921 - 24 angesichts seiner häufigen Redebeiträge im Badischen Landtag kaum bestätigen. 26 Schumacher, Martin (Hrsg.), M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn), 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 533. 27 Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode 1924 Bd. 388, Stenographische Berichte, Berlin 1926, S. 5516-5518. 28 Verhandlungen des Reichstages, III. Wahlperiode 1924 Bd. 389, Stenographische Berichte, Berlin 1926, S. 5594-5602. 29 StAMA, S1/ 2281 Neue Mannheimer Zeitung Nr. 452, 30. September 1937, S. 3. Zu den antiliberalen Positionen in der Strafrechtswissenschaft siehe Marxen, Klaus, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht. Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre (Schriften zum Strafrecht 22), Berlin 1975, S. 60 - 67. Zu Hanemanns Tätigkeit in der Strafrechtskommission des Reichstages siehe Schubert, Werner; Regge, Jürgen; Rieß, Peter; Schmid, Werner (Hrsg.), Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozeßrechts I. Abteilung Bd. 3 Teil 1 Protokolle der Strafrechtsausschüsse des Reichstags, Berlin, New York 1995. Zur Bearbeitung des §23 StGB (Ausschluß der Rechtswidrigkeit) führte Hanemann beispielsweise aus: »Da aber in der Gemeinschaft und in ihrem Leben sich der höchste Zweck des Staates und der Rechtsordnung konzentriere, könne die Rechtsordnung die Interessen der Gemeinschaft derart voranstellen, daß sie die Verletzung von Einzelgütern trotz ihres prinzipiellen Schutzes unter Umständen in den Kauf nehme und den an sich materiell und absolut rechtswidrigen Angriff für trotzdem rechtmäßig erkläre, ihn erlaube, die Schuld in diesem Sinne aufhebe.« Ebd. S. 96. S.a. S. 215. Weitere rechtspolitische Aktivitäten Hanemanns dokumentiert Schubert, Werner, Die Projekte der Weimarer Republik zur Reform des Nichtehelichen-, des Adoptions- und des Ehescheidungsrechts (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft N.F. 43), Paderborn u.a. 1986. <?page no="212"?> noch wurde seine politische Tätigkeit von nationalsozialistischer Seite, vor allem wegen seines Hanges zur monarchischen Staatsform, durchaus kritisch bewertet. In einem Artikel des badischen NS-Blattes »Der Führer« vom 11. Oktober 1932 griffen die Nationalsozialisten Hanemann wegen einer Rede an, die er als Spitzenkandidat der badischen DNVP für die Reichstagswahl gehalten hatte. Darin habe er nicht nur Hitler »in gehässigen Ausfällen« beschimpft, sondern auch angekündigt, daß dies die letzte Reichstagswahl sein werde, da die DNVP alles daransetzen werde, über Art. 48 der Reichsverfassung die republikanische Staatsform zugunsten einer, wie der Redakteur mutmaßte, wieder einzuführenden Monarchie abzuschaffen. 30 Obwohl zu Hanemanns Nachfolger Edmund Mickel Zeugnisse über seine politische Einstellung von vergleichbarer Deutlichkeit nicht vorliegen, ist davon auszugehen, daß dessen Haltung nicht sehr verschieden von der Hanemanns gewesen sein dürfte. Dafür sprechen eine Reihe von Indizien. Von 1909 bis 1914 hatte Mickel der Nationalliberalen Partei angehört, aus der er wegen des Kriegsbeginns austrat. 31 Nach dem Ersten Weltkrieg weigerte er sich beharrlich, irgendeiner Partei beizutreten, und zwar mit der gleichen Begründung wie Alfred Hanemann: die Unabhängigkeit des Richters verbiete ein parteipolitisches Engagement, jeder parteipolitische Einfluß auf die Justiz sei unbedingt abzuwehren. In diesem Punkt war Mickel sogar noch wesentlich konsequenter als sein Kollege. Auch nach 1933 beharrte er nämlich auf dieser Ansicht und lehnte es beständig und allen Aufforderungen entgegen, von welcher Seite sie auch kamen, ab, der NSDAP beizutreten. 32 Der Aussage seines jüdischen Richterkollegen Max Silberstein zufolge war Mickel auch einer der wenigen Richter, die in der Weimarer Republik eine parteipolitische Unabhängigkeit bei politischen Strafprozessen bewahrten. Mickel soll sowohl Kommunisten wie auch Nationalsozialisten vor 1933 im Gerichtssaal gleich behandelt haben. 33 Eine »politische Haltung« unter »nationalem Vorzeichen«, wie sie später der NS-Oberlandesgerichtspräsident Reinle an Mickel lobte, erschien ihm dagegen selbstverständlich. 34 Während der französischen Besetzung der Pfalz und zeitweilig auch des Mannheimer Schlosses, 1923/ 24, organisierte er demonstrativ zwei große Kameradschaftstreffen der »Schweren Artilleristen« in Mannheim, um dem nationalen Ehrverlangen Aus- A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 211 30 »Der Führer« Jg. 6, Folge 260, 11. Oktober 1932, S. 1 »Badischer deutschnationaler Spitzenkandidat kündigt Staatsstreich an«. Im Wahlkampf des Herbst 1932 konkurrierten DNVP und NSDAP scharf um die Gunst der rechtsextremen Wählerschaft. Es kam daher häufig zu Auseinandersetzungen der beiden Parteien. Siehe hierzu Gaertringen, Friedrich Frhr. Hiller von, Die deutschnationale Volkspartei, in: Das Ende der Parteien 1933, hrsg. v. E. Matthias, R. Morsey, Düsseldorf 1960, S. 543-652, hier S. 562. 31 GLA, 465c, 982 [Personalbogen]. 32 Rechtsanwalt C. an Spruchkammer Mannheim, 18. März 1947, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. 33 Max Silberstein an Spruchkammer Mannheim, 16. Mai 1948, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. Silberstein selbst wurde 1933 nach §3 des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums aus dem Dienst entlassen. 34 StAMA, S1/ 2924, Neue Mannheimer Zeitung Nr. 157, 4. April 1938, S. 3. <?page no="213"?> druck zu verleihen. 35 Separatistischen Bestrebungen, wie sie sich während dieser Besatzungszeit in der Pfalz zeigten, muß er mit Nachdruck entgegengetreten sein. 1924 organisierten pfälzische Separatistenführer einen Bombenanschlag auf ihn, da er sich als Oberstaatsanwalt den Separatisten besonders »verhaßt« gemacht hatte. Die Attentäter trafen Mickel jedoch nicht in seinem Dienstzimmer an und zogen es vor, sich möglichst rasch wieder nach Ludwigshafen zu begeben. Da die Pfälzer Separatisten einen der beiden Attentäter nun »sehr ungnädig« behandelten und ihn wegen des mißlungenen Anschlagversuchs aus ihren Reihen verstießen, flüchtete er nach Mannheim, stellte sich der Polizei und gestand den gescheiterten Mordversuch. 36 Mit Hitlers »Machtergreifung« im Januar 1933 änderten sich die Verhältnisse auch in Hanemanns und Mickels Dienststelle grundlegend, und es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß diese Änderung von beiden freudig begrüßt wurde. Der bisherige jüdische Landgerichtspräsident Heinrich Wetzlar, der sich mit seinen Bemühungen um die Wiedereingliederung von Strafgefangenen in die bürgerliche Gesellschaft in Baden einen Namen gemacht hatte, wurde am 29. März beurlaubt und zum 1. August 1933 in den Ruhestand versetzt. Er starb 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt. 37 Sein Nachfolger wurde Alfred Hanemann, der sich am 31. März 1933 in einem Brief an den badischen Staatskommissar für Justiz für ein scharfes Vorgehen gegen die »Beschäftigung von Juden als Beamte und Richter« in öffentlichen Dienststellungen aussprach und baldmöglichste Maßnahmen zu deren Entfernung - unter Auflagen - dringlich forderte. 38 Auch das Präsidium des Landgerichts Mannheim sprach sich am 13. April, bereits unter Hanemanns Vorsitz, für ein schnelles Ausscheiden der jüdischen Kollegen aus und beratschlagte Maßnahmen, wie beamtete Juden, die nicht unter die einschlägigen diskriminierenden Maßregeln des »Berufsbeamtengesetzes« vom 7. April 1933 (RGBL I, S. 175 f.) fielen, trotzdem aus dem Dienst entfernt werden konnten. Die ansonsten »drohende« Weiterbeschäftigung von einem Drittel der jüdischen Richter des Landgerichtes hielt man für einen »nach Sachlage unter den gegebenen Verhältnissen untragbare[n ] Zustand«. 39 Michael Kißener 212 35 GLA 465c, 982, Hakenkreuzbanner, 4. April 1938. Zur französischen Besetzung Mannheims siehe Walter, Friedrich, Schicksal einer deutschen Stadt. Geschichte Mannheims 1907 - 1945 Bd. 1, Frankfurt/ Main 1949, S. 392-397. 36 StAMA, S1/ 2924, Mannheimer General Anzeiger Nr. 196, 28. April 1924 und Neue Mannheimer Zeitung Nr. 583, 15. Dezember 1924. 37 Watzinger, Karl Otto, Geschichte der Juden in Mannheim 1650 - 1945 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 12), 2. Aufl. Stuttgart u.a. 1987, S. 144 f. 38 Fliedner, Hans-Joachim, Die Judenverfolgung in Mannheim 1933 - 1945 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 1/ 2), 2. Aufl. Stuttgart, Berlin, Köln 1991, S. 494 f. Hanemanns Vorstellungen zufolge sollten Juden zu bestimmten Berufen nur entsprechend ihrer Bevölkerungsquote zugelassen werden. Kurze Übergangsfristen wären zu gewähren, die Teilnahme am Ersten Weltkrieg positiv zu berücksichtigen. Die seit 1. August 1914 zugewanderten Juden sollten ausgewiesen, evtl. Namensänderungen rückgängig gemacht werden und nur bei erheblichen Verdiensten im Kriege Ausnahmen zulässig sein. 39 Fliedner (wie Anm. 38), S. 495. Diese gut dokumentierten Ereignisse dürften zuverlässiger Hanemanns und Mickels Haltung Juden gegenüber charakterisieren als einige Zeugenaussagen in den <?page no="214"?> Hanemann hatte sich für die Position des Landgerichtspräsidenten seit langem durch seine rechtspolitische Tätigkeit und seine Forderung nach einer harten und auf das Wohl der Volksgemeinschaft ausgerichteten Strafrechtsprechung empfohlen. Mit ihm kehrte, wie Mickel anläßlich Hanemanns Verabschiedung vier Jahre später lobend hervorhob, eine geradlinige politische Schulung, ein wahres Treueverhältnis zwischen ihm als Führer und seiner Gefolgschaft und nicht zuletzt echte Kameradschaft ein, die unter Wetzlar überhaupt nicht bestanden habe. 40 Die NSDAP-Parteidienststellen allerdings betrachteten Hanemanns Haltung mit Skepsis und beurteilten sie als nicht hinreichend an das neue nationalsozialistische Denken angepaßt. Zwar wurde er, eigenen Angaben zufolge, am 1. Oktober 1933 ohne weiter gefragt zu werden, in die NSDAP aufgenommen, doch schaute man zeit seines Dienstes argwöhnisch auf seine frühere politische Tätigkeit als DNVP-Abgeordneter. Noch in einer politischen Beurteilung aus dem Jahre 1937, die vom SD des Reichsführers SS erstellt wurde, hieß es »Vor 1933 fand die NSDAP bei H. keine Anerkennung. Wohl war er durch und durch national eingestellt, konnte jedoch die Idee des Nationalsozialismus nicht verstehen. [...] Aus seiner vorherigen Gegensätzlichkeit zum Nationalsozialismus heraus fiel es ihm anfänglich schwer, sich den Forderungen der Bewegung anzupassen. Er bemühte sich in dieser Richtung auch nicht allzusehr. Es sind sogar Fälle bekannt, die an einen Verstoss gegen die Parteidisziplin angrenzen. Scheinbar war ihm die Notwendigkeit seiner Unterordnung noch nicht recht zum Bewusstsein gekommen. « 41 Erst gegen Ende seiner Amtszeit sei der Wille erkennbar geworden, mit den Parteidienststellen in ein gutes Verhältnis zu kommen und die richterlichen Entscheidungen im nationalsozialistischen Sinne zu treffen. So sei er nunmehr als »politisch einwandfrei« zu bezeichnen, wenn auch weiterhin, so die Kreisleitung Mannheim, bezweifelt werden müsse, daß »er innerlich restlos nat. soz. gefestigt« sei. 42 A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 213 späteren Spruchkammerverfahren. Dort wurde Hanemann z.B. attestiert, er habe am Grab eines verstorbenen jüdischen Rechtsanwaltes einen Kranz für das Landgericht Mannheim niederlegen lassen. Siehe GLA 465a, 56/ S/ 1. Dementgegen ist belegt, daß Hanemann sich trotz anders lautender gesetzlicher Regelungen weigerte, jüdische Rechtsanwälte am Sondergericht zuzulassen. Siehe Oehler (wie Anm. 5), S. 85. 40 StAMA, S1/ 2281, Hakenkreuzbanner, 1. Oktober 1937. 41 SD des RFSS, SD-Oberabschnitt Südwest, Unterabschnitt Baden an Gaupersonalamt, 15. Juli 1937, GLA 465c, 1871. 42 SD des RFSS, SD-Oberabschnitt Südwest, Unterabschnitt Baden an Gaupersonalamt, 15. Juli 1937 und NSDAP Kreisleitung Mannheim, Personalbogen, 21. Juni 1937, GLA 465c, 1871. Vermutlich waren es solche politischen Vorbehalte auch, die dazu führten, daß Hanemann während des Krieges nicht reaktiviert wurde. In nationalem Pflichteifer bemühte er sich als 67jähriger 1939 um eine Aushilfstätigkeit im Staatsdienst und wurde beim Polizeipräsidium Mannheim angestellt. Obwohl Hanemann darauf drängte, die ihm dort anvertrauten Tätigkeiten weiter ausüben zu dürfen, wurde <?page no="215"?> Eine der ersten Aufgaben Hanemanns als neuer Landgerichtspräsident war die Einrichtung und Führung eines jener Sondergerichte, die aufgrund der Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten vom 21. März 1933 (RGBL I, S. 136) in jedem Oberlandesgerichtsbezirk zu bilden waren. Nach einem Erlaß des kommissarischen badischen Justizministers vom 27. März wurde Mannheim als Sitz des badischen Sondergerichts bestimmt, und schon am 30. März konnte Hanemann die Gründung der neuen Dienststelle, die de facto als Sonderkammer des Landgerichts arbeitete, melden. Mit Bedacht war Mannheim zum Sitz dieses außerordentlichen Gerichtes gewählt worden, erwartete man in der Industriestadt doch den größten Arbeitsanfall bei der Bekämpfung der politischen Gegner. 43 Die Zuständigkeit der Sondergerichte erstreckte sich zunächst auf die Aburteilung von Straftaten nach der sog. »Reichstagsbrandverordnung« vom 28. Februar 1933 (RGBL I, S. 83) und der »Heimtückeverordnung« vom 21. März 1933 (RGBL I, S. 135), wobei durch einschneidende Einschränkungen der Rechte der Angeklagten und fehlende Berufungsmöglichkeiten von Anfang an der gewünschte »kurze Prozeß« erreicht werden sollte. Mit solchen Maßnahmen wurden z.T. auch alte rechtspolitische Forderungen nationalkonservativer Kreise aufgegriffen. 44 Verbotene kommunistische Propaganda, nationalsozialismusfeindliche Äußerungen über den Reichstagsbrand oder die Fortführung mittlerweile verbotener politischer Parteien waren zunächst die vornehmlichsten Verhandlungsgegenstände. Das Sondergericht fungierte mithin als politisches Gericht zur Durchsetzung des nationalsozialistischen Totalitätsanspruchs. Hanemann bewährte sich bei dieser Aufgabe, die seinen politschen Anschauungen ja auch entgegenkam. Von Ende März 1933 bis Ende März 1934 wurden insgesamt 114 Monate Zuchthaus und 2979 Monate Gefängnis gegen die politischen Gegner in Mannheim verhängt. 45 Dabei waren die im einzelnen ausgesprochenen Strafen als solche auf den ersten Blick nie erschreckend hoch, angesichts der Harmlosigkeit der »Vergehen« jedoch müssen sie in vielen Fällen als drakonisch bezeichnet werden. Gleich das erste überlieferte Verfahren unter persönlichem Vorsitz Hanemanns vom 6. Mai 1933 macht diese Tendenz deutlich. Angeklagt war ein Mann, der behauptet hatte, nicht die Kommunisten, sondern die Nationalsozialisten selbst hätten den Reichstag angezündet. Dieses Vergehen bestrafte Hanemann mit einem Jahr Gefängnis, wobei er es als besonders belastend ansah, daß der Angeklagte (wohl arglos) diese »ausländische Greuelpropaganda« überzeugten Na- Michael Kißener 214 er Ende August 1941 entlassen. Der Polizeipräsident vermerkte in einer Aktennotiz, daß »im Hinblick auf sein Alter und seine frühere hervorgehobene Dienststellung keine ersprießliche Zusammenarbeit erwartet« werden könne. Im übrigen sei er nicht »beweglich genug«. Siehe GLA 236, 29329. 43 GLA 240 Zug. 1987/ 53, Nr. 427 Bl. 5 und 15. 44 Müller, Ingo, Nationalsozialistische Sondergerichte. Ihre Stellung im System des deutschen Strafverfahrens, in: Spuren des Unrechts. Recht und Nationalsozialismus. Beiträge zur historischen Kontinuität, hrsg. v. M. Bennhold, Köln 1989, S. 17-34, hier S. 17. 45 Oehler (wie Anm. 5), S. 61. <?page no="216"?> tionalsozialisten berichtet hatte, die ein großes Hitlerbild in ihrem Wohnzimmer aufgehängt hatten. 46 Neueren Forschungen zur Geschichte der Sondergerichte des »Dritten Reiches« zufolge, lassen sich bei der Tätigkeit dieser politischen Gerichte gemeinhin drei Phasen unterscheiden. In einer ersten Phase dienten die Gerichte zur Ausschaltung der politischen Gegner, vor allem der Kommunisten und Sozialdemokraten. Diese in die Jahre 1933 - 35 fallende Haupttätigkeit wurde von dem Vorgehen gegen Unzufriedene und »Artfremde« beständig überlagert, dann in einer zweiten Phase zum vorrangigen Betätigungsfeld der Gerichte. 47 Hanemann trug genau in dieser Zeit die Verantwortung für die Arbeit des Mannheimer Sondergerichts und ließ bis zu seiner Pensionierung 1937 in jährlich ca. 150 bis 250 Strafverfahren solche »Straftaten« aburteilen. 48 In etwa der Hälfte aller Fälle saß er, wie später auch sein Nachfolger, persönlich der Verhandlung vor, trug also für die Urteile auch direkte Verantwortung. 49 Das Strafmaß insgesamt entsprach überwiegend den Gepflogenheiten anderer Gerichte, Todesurteile wurden bis 1938 nicht gefällt, mithin dürften die Mannheimer Urteile insgesamt nach dem derzeitigen Stand der Forschung weder in positiver noch negativer Hinsicht besonders aufgefallen sein. 50 Daß Gauleiter A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 215 46 GLA 507/ 11630. 47 Streim, Alfred, Zur Bildung und Tätigkeit der Sondergerichte, in: Formen des Widerstands im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 237-258, hier S. 255. 48 GLA 507, Protokollhefte des Sondergerichts. 49 Oehler (wie Anm. 5), S. 219. Diese Zahl ergibt sich zumindest aus der von Oehler gewählten, aussagekräftigen Stichprobe. 50 Siehe Blumberg-Ebel, Anna, Sondergerichtsbarkeit und »politischer Katholizismus« im Dritten Reich (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 55), Mainz 1990, S. 144; Mager, Harald, Gewerbetreibende als Angeklagte vor dem Sondergericht Mannheim, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 263 - 282; Sikinger, Jürgen; Ruck, Michael, »Vorbild treuer Pflichterfüllung«? Badische Beamte vor dem Sondergericht Mannheim 1933 bis 1945, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 103 - 124. In Heimtückefällen konnte Oehler (wie Anm. 5), S. 268 beim Sondergericht Mannheim generell ein härteres Strafmaß als beim Sondergericht München feststellen. Zu einem, wie Oehler sehr zurecht bemerkt, methodisch problematischen Vergleich der Spruchpraxis siehe etwa Ball, Wolfgang, »Panzertruppe der Rechtspflege«. Die Tätigkeit der Sondergerichte in der Pfalz während der Herrschaft des Nationalsozialismus, in: Die Pfalz unterm Hakenkreuz, hrsg. v. G. Nestler, H. Ziegler, Landau 1993, S. 141- 160; Hüttenberger, Peter, Heimtückefälle vor dem Sondergericht München 1933 - 1939, in: Bayern in der NS-Zeit Bd. 4, hrsg. v. M. Broszat u.a., München, Wien 1981, S. 435 - 526; Justiz im Dritten Reich. NS-Sondergerichtsverfahren in Rheinland-Pfalz. Eine Dokumentation. 3 Teile (Schriftenreihe des Ministeriums der Justiz 1), Frankfurt/ Main 1994; Schimmler, Bernd, Recht ohne Gerechtigkeit. Zur Tätigkeit der Berliner Sondergerichte im Nationalsozialismus, Berlin 1984; Staudinger, Roland, Politische Justiz. Die Tiroler Sondergerichtsbarkeit im Dritten Reich am Beispiel des Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Partei und Staat, Innsbruck 1994; Waller, Helmut, Das Wirken der Sondergerichte, in: Recht im Nationalsozialismus. Bericht über die Tagung vom 5. bis 8. November 1990 in St. <?page no="217"?> Wagner die seiner Ansicht nach übertriebene Härte des Gerichts gelegentlich tadelte, mag, wie schon der Generalstaatsanwalt vermutete, zeitbedingten politischen Rücksichten oder der Protektion für einzelne nationalsozialistische Angeklagte zuzuschreiben sein, drängte er später als Chef der Zivilverwaltung im Elsaß doch beim Sondergericht Straßburg auf immer drakonischere Strafen. Dem Reichsjustizministerium jedenfalls war zur gleichen Zeit unter dem als »gemäßigt« geltenden Justizminister Gürtner ganz im Gegensatz zu Wagner die Mannheimer Sondergerichtsrechtsprechung speziell in Fällen kommunistischer Mundpropaganda wieder zu milde. 51 Für die von den Verfolgungsmaßnahmen Betroffenen wog das ihnen angetane Unrecht in jedem Falle schwer. Nicht wenige an sich unbescholtene Bürger wurden durch Hanemanns Gericht kriminalisiert, ihre bürgerliche Existenz vernichtet oder gefährdet. Das Gericht wirkte somit als »Repressionsinstrument«, das die Uniformierung der Gesellschaft beförderte und dessen bloße Existenz bald »schon dafür bürgte, daß [...] die Sanktionsschwelle des NS-Regimes nur in Ausnahmefällen überschritten wurde.« 52 Dabei handelte Hanemann zwar formal nach Recht und Gesetz, wahrte in den von ihm geführten Verhandlungen einen sachlichen Ton und trachtete die strafprozessualen Gepflogenheiten mehr oder weniger zu respektieren. 53 Dennoch arbeitete er in der vom Regime gewünschten Weise, ohne den erkennbaren Versuch zu unternehmen, das täglich begangene, offensichtliche Unrecht abzuwenden oder sich der Verantwortung dafür zu entziehen. 54 Schon im Sommer 1933 scheint er zwar Zweifel an dem geübten strengen Verfahren bekommen zu haben und schlug dem Justizministerium vor, die richterliche Voruntersuchung, die gerade mit der Einrichtung der Sondergerichte abgeschafft worden war, doch wieder einzuführen, da das oft zu erwartende hohe Strafmaß eine gründliche Prüfung des Sachverhaltes verlange. Die Staatsanwaltschaft und mit ihr das Justizministerium lehnten den Vorschlag jedoch rundweg ab. 55 Als dann 1936 wieder Klagen des Reichsjustizministeriums laut wurden, in Mannheim werde nicht Michael Kißener 216 Johann-Lonsingen, hrsg. v. Justizministerium Baden-Württemberg und der Landeszentrale für Politische Bildung Baden-Württemberg, Stuttgart 1993, S. 115 - 154. 51 Schadt, Jörg (Bearb.), Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933 - 1940 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 3), Stuttgart u.a.1976, S. 227, 230; Schiffmann, Dieter, »Volksopposition«, in: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Mannheim, hrsg. v. E. Matthias, H. Weber, Mannheim 1984, S. 435 - 462, hier S. 448 f. Zu Wagners Haltung dem Sondergericht Straßburg gegenüber siehe den Beitrag von Ludger Syré in diesem Band. 52 Sikinger/ Ruck (wie Anm. 50), S. 122. 53 Siehe die hierin übereinstimmenden Zeugnisse in der Spruchkammerakte Hanemanns, die z.T. von der Spruchkammer selbst bei Rechtsanwälten und Berufskollegen angefordert wurden. GLA 465a, 56/ S/ 1. 54 Was andere Richter wagten, um sich an dem staatlichen Unrecht möglichst wenig beteiligen zu müssen, belegen die Beispiele bei Kißener (wie Anm. 6). 55 GLA 240 Zug. 1987/ 53, Nr. 427 Bl. 45, 49, 55. <?page no="218"?> abschreckend genug gestraft, bemühte sich Hanemann um den Beweis des Gegenteils mit Mitteln, die als unwürdig für einen Juristen angesehen werden müssen. Stolz präsentierte er dem Oberlandesgerichtspräsidenten den Brief einer völlig verzweifelten Ehefrau eines Angeklagten, in dem von den »furchtbaren Strafen« die Rede war, die das Mannheimer Sondergericht, »der Schrecken von ganz Baden«, verhänge. Damit, so meinte er, sei am besten bewiesen, daß die von ihm geführte Dienststelle ihren Auftrag in vollem Umfang erfülle. 56 Als Richter »der alten Schule« 57 war Hanemann in der Weimarer Republik für die Rückkehr autoritärer, vermeintlich besserer Verhältnisse der Kaiserzeit eingetreten. Als Politiker hatte er dabei die Nationalsozialisten, deren politische Ziele mit den seinen zumindest teilidentisch waren, gestärkt. Als Landgerichtspräsident wurde er zum Mithelfer im nationalsozialistischen Unrechtsstaat und verstieß gegen jene moralischen Prinzipien, die er selbst immer wieder beschworen hatte. Denn erst wenige Jahre zuvor noch hatte er im Reichstag verkündet, daß das Recht »stets eine Sache der Ethik, nie der Politik« sei 58 und daß der Satz »die Staatsräson gehe vor der Unabhängigkeit der Rechtspflege [...], das verderblichste und verhängnisvollste Wort [sei], das jemals gesprochen worden ist«. 59 Eine noch gesteigerte Bedeutung erlangten die Sondergerichte, deren Zuständigkeit bereits Mitte der 30er Jahre langsam ausgedehnt worden war, mit der Verordnung über die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte vom 20. November 1938 (RGBL I, S. 1632), die es erlaubte, jede Straftat vor einem Sondergericht anzuklagen, wenn »mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oder die in der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilung durch das Sondergericht geboten ist«. Mit der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. Februar 1940 (RGBL I, S. 405) wurde den Sondergerichten zudem die Aburteilung von »Verbrechen« nach den seit Kriegsbeginn geltenden besonderen Verordnungen wie der »Rundfunkverordnung« vom 1. September 1939 (RGBL I, S. 1683), der Kriegswirtschaftsverordnung vom 4. September 1939 (RGBL I, S. 1609), der »Volksschädlingsverordnung« vom 5. September 1939 (RGBL I, S. 1679) oder der »Gewaltverbrecherverordnung« vom 5. Dezember 1939 (RGBL I, S. 2378) auferlegt. In dieser dritten Phase sondergerichtlicher Tätigkeit weitete sich mithin das Aufga- A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 217 56 Hanemann an Oberlandesgerichtspräsident und Generalstaatsanwalt, Mannheim 1936, GLA 240 Zug. 1987/ 53, Nr. 428. 57 Diese Charakterisierung Hanemanns benutzte ein Entlastungszeuge in Hanemanns späterem Spruchkammerverfahren. Siehe GLA, 465a, 56/ S/ 1. 58 Verhandlungen des Reichstags, III. Wahlperiode 1924, Bd. 389, Stenographische Berichte, Berlin 1926, S. 5599. 59 Verhandlungen des Reichstags, IV. Wahlperiode 1928, Bd. 425, Berlin 1929, S. 2395. Siehe auch Verhandlungen des Badischen Landtags, II. Landtagsperiode, Protokollheft Bd. 1, Karlsruhe o.J., Sp. 2395. <?page no="219"?> benfeld dieser Gerichte enorm aus: die Zahl der Prozesse nahm zu, das ausgesprochene Strafmaß erhöhte sich den gesetzlichen Verordnungen entsprechend drastisch. 1940 mußte im Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe neben dem Mannheimer ein eigenes Sondergericht in Freiburg für die südlichen Gerichtsbezirke gebildet werden, um den gestiegenen Anforderungen gerecht zu werden. 60 Für diese Phase sondergerichtlicher Tätigkeit in Mannheim zeichnete Edmund Mickel, Hanemanns Nachfolger, verantwortlich. Auch er war den Machthabern z.T. suspekt, weil er zum einen nicht der NSDAP beigetreten war, zum anderen vor 1914 der Nationalliberalen Partei angehört hatte und auch »heute noch in gewissen liberalen Anschauungen befangen« sei 61 . Doch hatte Mickel sich in den vergangenen fünf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft dem Regime durch bereitwillige Zusammenarbeit mit den Parteidienststellen empfohlen und galt daher als »politisch zuverlässig«. Da er ähnlich wie Hanemann zudem stets durch und durch national eingestellt gewesen war, sei er »für den Nat. soz. Staat brauchbar« 62 . Die steigende Prozeßflut bewältigten Mickel und die ihm untergeordneten Richter des Sondergerichts trotz der kriegsbedingten Abgänge von Mitarbeitern mit großem Fleiß und Diensteifer. Die zunehmende Schärfe der Strafen trug das Sondergericht ebenso mit wie es selbst harte Maßstäbe von überregionaler Bedeutung bei der Auslegung des Gesetzes gegen Straßenraub mittels Autofallen vom 22. Juni 1938 (RGBl I, S. 651) setzte. 63 Mickel persönlich verkündete das erste der dann insgesamt ca. 80 Todesurteile des Sondergerichts Mannheim 1938 gegen zwei Straftäter, die einen Autofahrer lebensgefährlich verletzt hatten. 64 Je länger der Krieg dauerte, desto häufiger richtete sich die Todesstrafe aber auch gegen vergleichsweise harmlose Straftäter, die sich der sehr eng ausgelegten »Plünderung« in der vom Bombenkrieg besonders heimgesuchten Industriestadt Mannheim schuldig gemacht hatten. So verurteilte Mickel 1944 z.B. ein Ehepaar zum Tode, das sich eine Küche angeeignet hatte, die im Hinterhof eines zerbombten Hauses drei Wochen herumstand, ohne daß sich der Besitzer darum kümmerte. 65 Auch sog. »Postmarder«, die Michael Kißener 218 60 GLA 240 Zug. 1987/ 53, Nr. 427 Bl. 187. Das Sondergericht Freiburg wurde zuständig für die Landgerichtsbezirke Freiburg, Waldshut, Konstanz und Offenburg. Vgl. hierzu Hensle, Michael P., Die Todesurteile des Sondergerichts Freiburg 1940 - 1945, München 1996. 61 Gaupersonalamtsleiter an den Stellvertreter des Führers, 19. Februar 1938, GLA 465c, 2167. 62 Personalblatt der Fachschaft Justiz in der NSDAP Gauleitung Baden, 16. September 1936, GLA 465c, 2167. 63 Das sog. »Autofallengesetz« bestrafte das Stellen von »Autofallen« in räuberischer Absicht mit dem Tode. Der Begriff der »Autofalle« selbst war allerdings nicht genau definiert. Mickels Sondergerichtsurteil vom 28./ 29. November 1938 suchte neben anderen diese Definitionslücke zu schließen und wurde daher auch in der Juristischen Wochenschrift 68 (1939), S. 35-37 besprochen. Vgl. Gruchmann, Lothar, Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 28), München 1988, S. 897 ff. 64 GLA 507, 12099. Beim Sondergericht Freiburg wurden im Vergleich dazu von 1940 - 1945 insgesamt 27 Todesurteile (mit 29 Verurteilten) ausgesprochen. Vgl. Hensle (wie Anm. 60), S. 41. 65 GLA 507, 12365. <?page no="220"?> in Feldpostpaketen befindliche Nahrungs- und Genußmittel entwendet hatten, wurden von dem Sondergericht nicht selten zum Tode verurteilt. 66 Bei den sog. »Rundfunkverbrechen« wurde mit der immer schlechter werdenden militärischen Lage ein immer schärferes Strafmaß angewandt. Im Mai 1943 etwa verurteilte Mickel einen Mannheimer Hilfsarbeiter zu zwei Jahren und sechs Monaten Zuchthaus, weil er mehrfach den englischen Sender BBC gehört und einem Berufskollegen dessen Meldungen über die Lage an der Ostfront weitererzählt hatte. Bei der Strafzumessung spielte eine erhebliche Rolle, daß der Angeklagte vor 1933 in kommunistischen und sozialdemokratischen Kreisen verkehrt hatte. 67 Wenngleich Mickel nicht immer persönlich den Vorsitz der Verhandlungen übernahm, nahm er doch großen Einfluß auf den Ausgang der Verfahren durch die Auswahl der vorsitzenden Richter und die Besprechung der zu erwartenden Urteile. 68 Auch Mickels Verhandlungsführung zeichnete sich - ähnlich wie bei Hanemann - nach dem übereinstimmenden Zeugnis aller Rechtsanwälte, die nach dem Krieg von der Spruchkammer Heidelberg dazu befragt wurden, durch Sachlichkeit, formale Korrektheit, ja scheinbare Freundlichkeit aus. Manch einer verstand dies allerdings als hinterhältigen Trick, um den Angeklagten, die während der Verhandlung Vertrauen zu ihrem Richter faßten, Geständnisse über ihre Straftaten zu entlocken, die dann gleichwohl im Urteil mit aller Härte des Gesetzes bestraft wurden. Die Urteile selbst wurden rein äußerlich sach- und fachgerecht abgefaßt, von einer spezifisch nationalsozialistischen Diktion konnte in den allermeisten Fällen nicht die Rede sein. 69 Gleichwohl sind auch sie in von den in der rechtsgeschichtlichen Forschung herausgearbeiteten Charakteristika nationalsozialistischer »Rechtsanwendung« geprägt. So wurde z.B. in Mannheim häufig die Tätertyplehre, die es den Richtern erlauben sollte, nicht nur eine konkrete Straftat, sondern auch das Gesamtverhalten und die Persönlichkeit des Täters bei der Strafzumessung zu berücksichtigen, angewandt. Nach einem Diktum Roland Freislers sollte der Richter den Täter »ansehen und sagen [...]: das Subjekt verdient den Strang«. 70 In sehr vielen der Mannheimer Urteile wurden auch die »elastischen Tatbestände der Kriegsgesetze ohne sichtbare A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 219 66 Einzelfälle bei Wüllenweber (wie Anm. 4), S. 90, 102. 67 GLA 507, 4921. 68 Oberlandesgerichtspräsident Karlsruhe an Reichsjustizministerium, 26. Juli 1943, GLA 240 Zug. 1987/ 53 Nr. 427. In diesem Brief berichtete der Oberlandesgerichtspräsident über den Geschäftsablauf an den beiden badischen und dem elsässischen Sondergericht: »Der Hauptvorsitzer behält den Überblick über sämtliche beim Sondergericht einkommenden Anklagen und verteilt die Fälle je nach Art und Schwierigkeit unter die Vorsitzer und nimmt auch Bedacht auf die Auswahl der Beisitzer. Er schaltet sich, wo es nötig erscheint, auch in die Besprechung über das voraussichtlich zu treffende Strafmaß ein.« 69 GLA, 465a, 59/ 1/ 15912 Zeugenaussagen diverser Anwälte. Die Aussage des unter Mickels Vorsitz vom Sondergericht verurteilten Grafen v. A., der Mickel ein überaus positives Zeugnis ausstellte, ist allerdings völlig unglaubhaft, zieht man seine Verfahrensakten in GLA 507, 3684-3689 in Betracht. 70 Zit. nach Gruchmann (wie Anm. 63), S. 907. <?page no="221"?> Notwendigkeit extensiv ausgelegt und so der Zugriff auf einen Strafrahmen eröffnet, der fast immer als Höchststrafe die Todesstrafe vorsah.« 71 So wirkte das Gericht ganz im Sinne der nationalsozialistischen Staatsführung, auch ohne daß an seiner Spitze ein fanatischer Parteianhänger präsidierte. Mickel bemühte sich vielmehr als pflichtbewußter Staatsdiener, den Anforderungen der vorgesetzten Dienststellen zu entsprechen und die höchstmögliche Effizienz des ihm anvertrauten Gerichts sicherzustellen, wobei manche harte Maßnahmen gewiß auch seinen eigenen Anschauungen entgegenkamen, ohne daß sie identisch damit sein mußten. Gegenüber seinen Vorgesetzten lehnte er jedenfalls noch 1944, ganz im Gegensatz zu seinem Freiburger Amtskollegen, die Abgabe von Strafsachen an die ordentlichen Gerichte ab, weil gegen die Urteile des Sondergerichts kein Rechtsmittel möglich sei und daher die Verfahren hier beschleunigt werden könnten. 72 Schon bei seinem Amtsantritt 1938 hatte er seine »Gefolgschaft« zu »treuester Pflichterfüllung« aufgerufen. »Sie sei oberstes Gebot für ihn wie für alle«. 73 Wer dieser Anforderung nicht entsprach, wie etwa ein Richter, der wegen seiner zu milden Urteile vom Reichsjustizministerium gerügt worden war, wurde versetzt, und Rechtsanwälte, die den schnellen Verfahrensablauf kritisierten, wurden von der Liste der Offizialverteidiger gestrichen. 74 Obwohl er 1942 das Pensionsalter erreichte, blieb er auf Wunsch des Ministeriums pflichtbewußt auf seinem Posten. Noch gegen Ende des Krieges rühmte Oberlandesgerichtspräsident Reinle in einem Brief an Reichsverteidigungskommissar Robert Wagner ihn als »vorzüglichen Sondergerichtsvorsitzende[n]«. Daher wurde er am 24. Februar 1945 an erster Stelle zum Vorsitzenden des Mannheimer Standgerichts ernannt, das für alle Straftaten zuständig sein sollte, »durch die die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet sind«. Die Urteile dieser Standgerichte sollten nur auf »Tod«, »Freispruch« oder »Verweis an die ordentlichen Gerichte« lauten. 75 Ob Mickel diese Funktion ausgeübt hat, läßt sich in den erhaltenen Akten nicht mehr feststellen. Als amtierender Sondergerichtsvorsitzender wurde Mickel am 5. Mai 1945 von den alliierten Truppen festgenommen und zunächst in Heidelberg, später im Internierungslager Ludwigsburg inhaftiert. Nach 15 Monaten entlassen, mußte er noch weitere zweieinhalb Jahre nahezu mittellos und »ausgebombt« auf den Entscheid der Spruchkammer in seinem Fall warten. Eine Pension wurde vorerst nicht festgesetzt, das Vermögen beschlagnahmt. Die zunächst zuständige Spruchkammer Heidelberg Michael Kißener 220 71 Oehler (wie Anm. 5), S. 259. 72 Oehler (wie Anm. 5), S. 119. Mickel an Oberlandesgerichtspräsident Reinle, 11. Januar 1944, GLA 240 Zug. 1987/ 53 Nr. 429. 73 StAMA, S.1/ 2924, Neue Mannheimer Zeitung Nr. 157, 4. April 1938, S. 3. 74 GLA465a, 59/ 1/ 15912, Zeugnisse diverser Rechtsanwälte. 75 GLA, 240 Zug. 1987/ 53 Nr. 431, darin Oberlandesgerichtspräsident Reinle an Reichsverteidigungskommissar Wagner, 18. Februar 1945 und Reichsverteidigungskommissar Wagner an Oberlandesgerichtspräsident Reinle, Befehlsstand 24. Februar 1945. <?page no="222"?> führte umfängliche Ermittlungen durch und bemühte sich um zahlreiche Zeugenaussagen von Rechtsanwälten, die Mickel als Richter im Sondergericht erlebt hatten. Die daraufhin einlaufenden rund 20 Aussagen fielen außerordentlich widersprüchlich aus: manche betonten Mickels Milde und korrekte Verhandlungsführung, andere bezeichneten ihn als »williges Werkzeug des nationalsozialistischen Ideengutes«. 76 Die Betreuungsstelle für politisch Verfolgte in Mannheim hielt ihn gar für »ein Schulbeispiel für die Demonstration von Justizverbrechen« und war der Ansicht, sein Name sei »fluchbeladen«. 77 Das machte neue Ermittlungen notwendig. Mickel selbst verstand die Anschuldigungen nicht. Er habe, so brachte sein Anwalt vor, »einzig und allein das Gesetz als Richtschnur [angesehen], das für ihn als Richter unabänderlich war und zu dessen Anwendung er verpflichtet war«. Daß seine richterliche »Amtspflicht« durch die nationalsozialistische Ideologie politisiert worden war, wollte er nicht einsehen. Im Gegenteil habe er nur unpolitische Straftaten abgeurteilt und pflichtgemäß den »Kampf gegen das Verbrechtertum, der in Kriegszeiten besonders ernst zu nehmen war«, geführt. 78 Ohne Bedenken bezeichnete ihn sein Anwalt denn auch als »Richter alter badischer Tradition«, als Wahrer des auch im Nationalsozialismus noch lebendigen liberalen Kerns der badischen Richterschaft. Diesen habe er auch durch die Fortführung seiner Arbeit über die Pensionsgrenze hinaus vor dem Eindringen auswärtiger Richter zu schützen gesucht. 79 Wie wenig dies den Realitäten entsprach, belegt das Schicksal derjenigen Richter, die sich tatsächlich solchen Traditionen verpflichtet fühlten und dafür in der NS-Zeit ausgegrenzt und drangsaliert wurden. 80 Ganz ähnlich wie Edmund Mickel erging es Alfred Hanemann, der auf Anordnung der Militärregierung Nordbaden seit 2. Januar 1946 keine Ruhegehaltsbezüge mehr erhielt. Da sein Mannheimer Immobilienbesitz ein Opfer des Bombenkrieges geworden war und auch sein bewegliches Vermögen beschlagnahmt wurde, suchte er mit seiner Frau in durchaus schwieriger wirtschaftlicher Lage Unterkunft bei einem Freund in Baden-Baden. Eine erste überaus milde Entscheidung wurde in seinem Fall von der Mannheimer Spruchkammer allerdings schon im November 1946 gefällt, die dann aber vom Ministerium für politische Befreiung knapp ein Jahr später wieder aufgehoben wurde. Dort leitete nämlich Walter Koransky, der selbst vor 1933 A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 221 76 Rechtsanwalt Dr. J.W.S. an Spruchkammer Heidelberg, 21. Februar 1947, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. 77 Ausschuß der politischen Parteien, 3. Revier Mannheim an Spruchkammer Heidelberg, 27. Januar 1947, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. 78 Rechtsanwalt K.C. an Spruchkammer Heidelberg, 18. März 1947 und 9. Juni 1948, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. Zur politisierten Strafrechtspflege im Nationalsozialismus siehe auch Niermann, Hans- Eckhard, Die Durchsetzung politischer und politisierter Strafjustiz im Dritten Reich. Ihre Entwicklung aufgezeigt am Beispiel des OLG-Bezirks Hamm (Strafjustiz im Dritten Reich 3), Düsseldorf 1995. 79 Rechtsanwalt K.C. an Zentralspruchkammer Karlsruhe, 4. Januar 1949, GLA 465a, 59/ 1/ 15912. 80 Siehe dazu Kißener (wie Anm. 6). <?page no="223"?> Richter im badischen Justizdienst gewesen war und wegen seiner jüdischen Abstammung 1933 entlassen worden war, die Kassationsabteilung. Er stellte zutreffend fest, daß Hanemanns sondergerichtliche Tätigkeit und seine Nebenämter in der Entscheidung nicht hinlänglich berücksichtigt worden waren und verwies das Verfahren zur Neuverhandlung an die Spruchkammer zurück. So dauerte es nochmals sieben Monate, die ohne Bezüge von dem mittlerweile 75jährigen Pensionär überbrückt werden mußten. 81 Auch Hanemann wehrte sich gegen die Anschuldigungen unter Hinweis auf sein gesetzeskonformes und richterlich einwandfreies Verhalten. Eine glatte Lüge stellte jedoch seine Behauptung dar, das Sondergericht habe sich zu seiner Zeit »kaum mit politischen Prozessen zu befassen« gehabt. Seine Tätigkeit habe sich auf »die schnelle und unanfechtbare Ahndung von Delikten wie Volksverrat (Verschiebung und Nichtanmeldung von Vermögen ins und im Ausland), Devisenvergehen, Wirtschaftsverbrechen usw.« erstreckt. 82 Über die Zurückweisung der Vorwürfe hinaus belegt seine Verteidigung - gewiß ungewollt - allerdings auch, daß ihm der Unrechtscharakter des Regimes und der Mißbrauch der Justiz durch die Nationalsozialisten sehr klar vor Augen stand. Hanemann gestand nämlich ein, daß er selbst sich schon sehr bald innerlich von der Partei losgesagt habe, als sie »jene unmögliche und verbrecherische Parteipolitik und Entwicklung eingeschlagen hat« und stets große Mühe gehabt habe, seine »richterliche Unabhängigkeit gegenüber den Totalitäts- und Herrschaftsansprüchen der verschiedenen Stellen und Organisationen der Partei zu wahren«. In dieser bemerkenswert richtigen Analyse der justizpolitischen Entwicklung der gerade eben erst vergangenen zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft fehlte allerdings die Einsicht in persönliche Mitverantwortung. Hanemann sah sich im Gegenteil als Opfer und klagte über die ungerechte »politische Deklassierung«, die ihm widerfahre und daß er »überall auf Ablehnung« stoße. Nicht ihm, sondern den anderen, »denen man mit Recht den Vorwurf machen kann, durch ihren Einsatz für die Partei dieser die Möglichkeit verschafft zu haben in unerhörter und auch verbrecherischer Betätigung die unsagbare Zerstörung mitverschuldet zu haben«, solle man den Prozeß machen. 83 Für den heutigen Betrachter nur schwer nachvollziehbar, hatten Hanemann und Mickel mit ihrer uneinsichtigen und z.T. lügenhaften Verteidigung tatsächlich Erfolg. Am 3. Mai 1948 stufte die Spruchkammer Mannheim Hanemann in ihrem zweiten Spruch wiederum als »Mitläufer« ein, auferlegte ihm eine Sühne von 1.200 RM, stellte ansonsten aber fest, daß er auch in der NS-Zeit stets »der gerechte, humane und menschenfreundliche Richter geblieben« sei, der er zuvor schon gewesen war. 84 Mickel, dessen Weigerung, in die NSDAP einzutreten, sich jetzt besonders Michael Kißener 222 81 GLA 465a, 56/ S/ 1. Zu Koransky siehe Kißener (wie Anm. 6), S. 219. 82 GLA 466/ 8416, Beilage zum Personalbogen. 83 GLA 466/ 8416, Beilage zum Personalbogen und Hanemann an Dr. Martens, 11. Februar 1946, GLA 466/ 8416. <?page no="224"?> positiv auswirkte, wurde am 9. Januar 1949 von der Zentralspruchkammer Karlsruhe sogar gänzlich freigesprochen. Die Urteilsbegründung ging auf die zahlreichen belastenden Aussagen Mannheimer und Heidelberger Rechtsanwälte überhaupt nicht mehr ein. Vielmehr wurde die Verteidigungsschrift seines Anwaltes z.T. wörtlich übernommen und schlußendlich festgestellt, ihm sei »der Entlastungsbeweis voll gelungen«. 85 Für diese Entscheidungen mag zum einen der Umstand von Bedeutung gewesen sein, daß Mickel zu diesem Zeitpunkt bereits schwerkrank war und einen Monat später, am 10. Februar 1949, verstarb. Zum anderen muß in Rechnung gestellt werden, daß beide Pensionäre über Jahre hinweg durch die Vorenthaltung ihrer Ruhegehälter in hohem Alter empfindliche wirtschaftliche Einschränkungen erfuhren. Auch die sich ändernde weltpolitische Lage ließ eine Aufklärung des justitiellen Unrechts im NS-Unrechtsstaat nicht mehr als vorrangiges politisches Ziel erscheinen. Vor allem aber waren wohl die Spruchkammern der Nachkriegszeit damit überfordert, die verhängnisvolle Verstrickung einer autoritär-nationalistisch ausgerichteten Richterschaft zu erkennen und deren Funktion für die Durchsetzung nationalsozialistischer Herrschaft angemessen zu beurteilen. Bibliographie Quellen Die wichtigsten Quellen zur Biographie Hanemanns und Mickels stellen die von zahlreichen Stellen geführten Personalakten der beiden Richter dar. Im einzelnen sind Personalakten Hanemanns im Universitätsarchiv Heidelberg, im Bundesarchiv Koblenz (Reichsjustizministerium, Bestand R 22/ 058876), im Oberlandesgericht Karlsruhe und im Generallandesarchiv Karlsruhe (Offiziersakte, Bestand 456, 4242; Personalakte Innenministerium Bestand 236, 29329; Spruchkammerakte Bestand 465a, 56/ S/ 1; Versorgungsakte, Bestand 466, 8416) überliefert. Über Edmund Mickel liegen Studentenakten im Universitätsarchiv Heidelberg, eine Offiziersakte im Bayerischen Hauptstaatsarchiv (Abt. IV Bestand OP 26932) und eine Spruchkammerakte (Generallandesarchiv Bestand 465a, 59/ 1/ 15912) vor. Von besonderer Bedeutung sind in beiden Fällen die von zahlreichen Dienststellen des NS-Staates angelegten politischen Beurteilungen der beiden Mannheimer Juristen, die im Bestand 465c des Generallandesarchivs Karlsruhe (Hanemann: 465c, 1871; Mickel: 465c, 2167 und 982) verwahrt werden. Von Bedeutung ist zweifellos auch die aussagekräftige Zeitungsausschnittsammlung des Stadtarchivs Mannheim zu beiden Personen. Hanemanns politische Tätigkeit hat ihren Niederschlag in den Protokollbänden des Badischen Landtags und des Reichstags gefunden. Seine Arbeit in der Strafrechtskommission des Reichstages wird seit 1995 durch die von Werner Schubert vorgenommene Edition der diesbezüglichen Akten dokumentiert. Über A. Hanemann, E. Mickel, Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim 223 84 GLA 465a, 56/ S/ 1 Spruch der Spruchkammer Mannheim, 3. Mai 1948. 85 GLA 465a, 59/ 1/ 15912 Spruch der Zentralspruchkammer Karlsruhe, 9. Januar 1949. <?page no="225"?> Hanemanns und Mickels sondergerichtliche Tätigkeit gibt die fast vollständig erhaltene Überlieferung der Dienststelle im Bestand 507 des Generallandesrachivs Auskunft. Literatur Weder Alfred Hanemann noch Edmund Mickel standen bislang im Zentrum einer eigenständigen biographischen Untersuchung. Allein die instruktive Arbeit Christane Oehlers über das Sondergericht Mannheim beleuchtet den Niederschlag ihrer richterlichen Tätigkeit in den vor dem Sondergericht geführten Verhandlungen. Zum weiteren Verständnis der Verhältnisse im Oberlandesgerichtsbezirk Karlsruhe ist auf die Heidelberger juristische Dissertation [masch.] Christof Schillers über das Oberlandesgericht Karlsruhe in der NS-Zeit zu verweisen. 224 <?page no="226"?> Dora Horn-Zippelius *28. August 1876 Karlsruhe, ev., Vater: Dr. Arnold Horn, Rechtsanwalt, Mutter: Emma, geb. Sexauer, verheiratet seit 1909 mit Hans Zippelius, Architekt, zwei Kinder. Privatunterricht, Viktoria-Schule (Höhere Mädchenschule), 1895 Lehrerinnenseminar, 1897 Studium an der Malerinnenschule, 1901 im Vorstand des »Vereins zur Verbesserung der Frauenkleidung«, 1904 Mitglied im »Karlsruher Künstlerbund«, 1906 - 1908 Engagements als Schauspielerin, 1912 Mitbegründerin des »Bundes Badischer Künstlerinnen«, März 1923 - 1933 Delegierte im »Reichswirtschaftsverband Bildender Künstler Südwest«, Mitglied und im Vorstand der »Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnenvereine«. 1. Juni 1931 Mitglied des Deutschen Frauenordens, 1. Oktober 1931 Mitglied der NS-Frauenschaft, Frühjahr 1932 Parteirednerin und Kreispropagandaleiterin der NS- Frauenschaft, 9. September 1932 Referentin für Presse und Propaganda in der Hauptabteilung III der Gauleitung Baden, Dezember 1932 Gaupropagandaleiterin der NS-Frauenschaft Baden, 1. Januar 1933 Mitglied der NSDAP, 1934 kommissarische Kreisfrauenschaftsleiterin in Ettlingen, Oktober 1934 Gauschulungsleiterin der NS-Frauenschaft Baden, 1934 - 1945 Mitglied der Reichskammer der Bildenden Künste, 1936 Entlassung als Gauschulungsleiterin. 1945 kein Spruchkammerverfahren, Künstlerin in Karlsruhe, gest. 17. Februar 1967 Karlsruhe. »Alte Kämpferinnen« Dora Horn-Zippelius und Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen der NS-Frauenschaft in Baden Anette Michel Dora Horn-Zippelius 225 <?page no="227"?> Gertrud Gilg * 12. Februar 1901 Bruchsal, ev., 1943 Kirchenaustritt, Vater: Joh. Georg Schmid, Seifensieder, Mutter: Wilhelmine, verheiratet seit 1921 mit Rudolf Gilg, Regierungsobersekretär, zwei Kinder. Volksschulbesuch, Höhere Mädchenschule, Handelsschulkurs, Angestellte in einem Büro, seit 1921 Hausfrau. 20. Dezember 1930 Mitglied des Deutschen Frauenordens, 1. März 1931 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 473.046), 1. Oktober 1931 Mitglied in der NS-Frauenschaft, 1. Juli 1932 Kreispropagandaleiterin der NS-Frauenschaft Bruchsal, 1933 - 1945 Mitglied des Deutschen Roten Kreuzes, 1933 - 1935 Ortsfrauenschaftsleiterin von Bruchsal, 1934 Kreisabteilungsleiterin für Bäuerinnen, 1. September 1935 - 1. Mai 1937 Kreisfrauenschaftsleiterin in Bruchsal, 1. Februar 1937 - April 1945 Gauunterabteilungsleiterin und Gauschulungsleiterin der NS- Frauenschaft Baden, März - April 1945 Kreisfrauenschaftsleiterin in Bruchsal. Oktober 1945 Inhaftierung, 21. Mai 1947 Entscheidung der Zentralspruchkammer Karlsruhe: »Belastete«, 21 Monate Arbeitslager, 19. Juni 1947 Aufhebung des Spruchkammerentscheids, 14. Juli 1947 zweite Entscheidung der Zentralspruchkammer Karlsruhe: »Belastete«, Verurteilung zu zusätzlich 90 Tagen Sonderarbeit, 30. September 1950 Strafmilderung, danach Fabrikarbeiterin, Eröffnung eines Geschäfts in Bruchsal, gest. 28. Juli 1972 Bruchsal. Sechs Millionen Frauen gehörten 1938 der NS-Frauenschaft und dem Deutschen Frauenwerk an. 1 Über ihren Einsatz im »Dritten Reich« ist bisher wenig bekannt. Das mag daran liegen, daß lange Zeit in der historischen Forschung mehr die frauenfeindlichen Aspekte der nationalsozialistischen Frauen- und Bevölkerungspolitik beachtet wurden, die Frauen im von Männern dominierten NS-Staat benachteiligte und zu Opfern machte. 2 Erst seit Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre setzte Gertrud Gilg Anette Michel 226 1 Vgl. Stephenson, Jill, Nationalsozialistischer Dienstgedanke, bürgerliche Frauen und Frauenorganisationen im Dritten Reich, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 555 - 571, hier S. 565 f. 2 Vgl. Bock, Gisela, Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986. <?page no="228"?> in der historischen Frauenforschung eine intensive Diskussion über einen notwendigen Paradigmenwechsel ein, bei dem neben der Unterdrückungsthematik auch die »Beteiligung« und »Mittäterinnenschaft« von Frauen im Nationalsozialismus in den Vordergrund rücken sollte. 3 Obwohl mittlerweile bereits einschlägige Veröffentlichungen erschienen sind, wurde bisher weder über die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink noch über eine der zahlreichen Gaufrauenschaftsleiterinnen eine monographisch angelegte Biographie veröffentlicht. 4 Ebenso wenig erforscht sind die regionalen und lokalen Auswirkungen der Arbeit von Frauen auf den unteren Ebenen der nationalsozialistischen Frauenorganisationen. Dies stellt ein besonderes Forschungsdefizit dar, weil gerade diese Frauen eine ausdrückliche Nähe zu den politisch zu »bearbeitenden Frauen« hatten. Zwei außergewöhnlich engagierte Mitglieder und interessante Charaktere in der NS-Frauenschaft im nordbadischen Raum waren die Malerin Dora Horn- Zippelius aus Karlsruhe und die Bruchsalerin Gertrud Gilg. Diese beiden frühen Mitstreiterinnen der späteren Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink gehörten zum kleinen, aber nicht unbedeutenden Kreis weiblicher NSDAP-Mitglieder, die sich bereits in den letzten Jahren der Weimarer Republik aktiv der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen hatten. Als Parteirednerinnen der NSDAP, Kreis- und Gaupropagandaleiterinnen der NS-Frauenschaft gewannen sie zahlreiche weibliche Wählerstimmen und halfen mit, den Grundstein für den Aufbau der NS-Frauenschaft in Baden zu legen. Sie trugen durch ihre öffentlichen Auftritte nicht nur zum Aufstieg der nationalsozialistischen Bewegung bei, sondern unterstützten auch die Etablierung des NS-Staates in Baden, indem sie als Leiterinnen der Gauschulen der NS-Frauenschaft die Indoktrination der eigenen Mitglieder und die der gleichgeschalteten Frauenorganisationen übernahmen. Die Mitarbeit in der NS-Frauenschaft, als Elite- und Führerinnenorganisation konzipiert, ermöglichte ihnen, weibliche Parteikarrieren zu machen. Im Einsatz für den Nationalsozialismus stiegen sie von einfachen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen bis in gut bezahlte Stellungen in der Gaufrauenschaftsleitung auf. Dora Horn-Zippelius, Vorgängerin Gertrud Gilgs als Gauschulungsleiterin der NS- Frauenschaft Baden, wuchs im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auf. Ihr Beruf und ihr öffentliches Engagement in Frauenorganisationen des Kaiserreichs zeichneten sie als eine selbständige und ungewöhnliche Frau aus. In einer Zeit, in der Frauen des Bürgertums weder das Recht auf eine gute, fundierte Schulausbildung noch auf einen Beruf hatten, setzte sie sich früh für die Interessenvertretungen von Künstlerinnen Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 227 3 Vgl. zum Forschungsstand: Gravenhorst, Lerke; Tatschmurat, Carmen (Hrsg.), Töchter-Fragen, NS-Frauen-Geschichte, Freiburg 1990. 4 Eine Ausnahme stellt die Magisterarbeit von Andrea Böltken über Gertrud Scholtz-Klink und Frauen aus dem BDM dar. Vgl. Böltken, Andrea, Führerinnen im »Führerstaat«. Gertrud Scholtz- Klink, Trude Mohr, Jutta Rüdiger und Inge Viermetz, Pfaffenweiler 1995. <?page no="229"?> ein. 5 Als sie selbst längst in ihrem Beruf als Malerin etabliert war, trat sie im Alter von fast 60 Jahren in die NSDAP ein. Wie kam es zu diesem scheinbaren Bruch in ihrer Biographie, der dazu führte, daß sie Mitglied einer Partei wurde, die Frauen wesentliche Rechte in der Politik und im Berufsleben nehmen wollte? 6 Geboren wurde Dora Horn-Zippelius 1876 in Karlsruhe. Sie verlebte ihre Kindheit im Wilhelminischen Kaiserreich als wohlbehütetes Einzelkind in einer protestantischen Akademikerfamilie des gehobenen Bürgertums. Ihr Vater, Dr. Arnold Horn, ein bekannter Karlsruher Rechtsanwalt und Strafverteidiger, und ihre Mutter, Emma Horn, eine Malerin, förderten früh die künstlerischen Begabungen ihrer Tochter. In den 1880er und 1890er Jahren besuchte Dora Horn in Karlsruhe die Viktoria-Schule, eine der ersten Höheren Mädchenschulen in Deutschland. Von 1892 bis 1895 lebte sie mit ihren Eltern in Freiburg, wo sie 1895 ein Lehrerinnenexamen ablegte. 7 Zwei Jahre später begann sie ein Studium an der Karlsruher Malerinnenschule, einer Art Privatakademie für angehende Künstlerinnen, weil Frauen an staatlichen Kunstakademien ebenso wie an den Universitäten Ende des 19. Jahrhunderts der Zugang noch verwehrt war. Nach ihrem Studium beschäftigte sich Dora Horn hauptsächlich mit Ölmalerei. Außer Porträts fertigte sie Stilleben, Genre- und Landschaftsdarstellungen an. Inspirationen und Eindrücke für ihre künstlerischen Werke, die sich stilistisch an Karlsruher lokalen Landschafterschulen, Impressionismus und Jugendstil orientierten, holte sie sich auf zahlreichen Studienfahrten nach Tirol, der Schweiz und Italien. 8 Künstlerisch setzte sie sich mit den aktuellen Problemen oder Themen ihrer Zeit nicht auseinander und schloß sich später keiner der ausgeprägt avantgardistischen Kunstrichtungen an. Dennoch zeigte sie fortschrittlichere Ansichten als viele ihrer Studienkollegen, da sie sich als junge Frau von der pathetischen und farbigen Salon- Anette Michel 228 5 Zu Dora Horn-Zippelius’ Leben und Wirken als Malerin und Künstlerin bis zum Ersten Weltkrieg vgl. Brandenburger, Gerlinde, Die Malerinnenschule Karlsruhe 1885 bis 1923. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Karlsruhe 1980. Dies., Dora Horn-Zippelius, in: Badische Biographien, N.F. Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1987, S. 144 f. Brandenburger-Eisele, Gerlinde, Malerinnen in Karlsruhe 1712 - 1918, in: Karlsruher Frauen 1715 - 1945. Eine Stadtgeschichte, hrsg. v. S. Asche u.a. (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 15), Karlsruhe 1992, S. 257 - 267. 6 Frauen waren von der Mitgliedschaft im Parteivorstand der NSDAP ausgeschlossen. Die NSDAP gestand Frauen kein passives Wahlrecht zu. Zudem sollten unverheiratete Frauen nicht als Staatsbürgerinnen, sondern nur als Staatsangehörige gelten. Nach 1933 konnten Frauen keine Richterin werden oder bleiben. Eine qualifizierte Ausbildung für Frauen in allen beruflichen Sparten wurde erschwert oder verhindert. Frauen sollten sich vorrangig der Mutterrolle zuwenden. Aufgrund dieser Aspekte wird die NS-Frauenideologie von einigen Forscherinnen, die von der Perspektive der Emanzipation ausgehen, als »frauenfeindlich« eingestuft. Vgl. Matzen-Stöckert, Sigrid, Frauen im Faschismus - Frauen im Widerstand 1933 bis 1945, in: Geschichte der deutschen Frauenbewegung, hrsg. v. F. Hervé, 3. Aufl. Köln 1987, S. 160; Einleitung, in: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, hrsg. v. der Frauengruppe Faschismusforschung, Frankfurt/ Main 1981, S. 10 ff. 7 Vgl. BA, Abt. III (BDC), PK Zippelius, Dora. 8 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 21. Mai 1969. <?page no="230"?> und Historienmalerei des 19. Jahrhunderts sowie »billigen Massenproduktionen« distanzierte, die sie als »bürgerlichen Edelkitsch« empfand. 9 Dora Horn fühlte sich jenen künstlerischen Bewegungen nahe, deren Vertreter um die Jahrhundertwende in die freie Natur zogen, um dort Malerkolonien zu gründen, wo sie Menschen in ihrer heimatlichen Umgebung auffinden und darstellen konnten. 10 Diese neuen kulturellen und künstlerischen Strömungen, denen sie sich 1904 institutionell anschloß, als sie in den Karlsruher Künstlerbund eintrat 11 , hatten neben einer kulturpolitischen Dimension wahrscheinlich Auswirkungen auf ihre späteren Lebenseinstellungen. Viele Jugendstilkünstler verbanden mit ihrer Kunst eine Kritik an der modernen Zivilisation, der Industrialisierung und dem Großstadtleben. Von der Rückkehr zu einem vorindustriellen und bäuerlichen Leben versprachen sie sich nicht nur neue künstlerische Ausdrucksformen, sondern auch eine gesellschaftliche Erneuerung und Reform. 12 Auf künstlerischem Gebiet bewunderte Dora Horn den Maler Hans Thoma, seit 1899 Professor an der Karlsruher Kunstakademie, der für seine Bilder aus dem bäuerlichen Lebensbereich berühmt war. Obwohl Dora Horn niemals seine Schülerin wurde, machte sie seine Bekanntschaft und verehrte ihn bis ins hohe Alter als »größten Revolutionär« in der Kunst. 13 Im Zuge des Aufkommens völkischer Ideologien und der Wiederbelebung eines mystischen Deutschtums inszenierten einige Kunstkritiker um Thoma einen wahren Kult, indem sie ihn zum »deutschesten aller lebenden Künstler« deklarierten, dessen Kunststil »der Tiefe des germanischen Rassegenies« entsprossen sei. 14 1905 entzündete sich zwischen Thoma-Bewunderern und Vertretern anderer Kunstrichtungen und Überzeugungen eine hitzige Debatte, an der auf regionaler Ebene auch Dora Horn teilnahm, als sie im »Badischen Landesboten« unter Pseudonym einen Artikel veröffentlichte, in dem sie die Kunstwerke Thomas verteidigte. 15 In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg war Dora Horn selbst künstlerisch äußerst produktiv und erfolgreich. Sie nahm an überregionalen Kunstausstellungen in ver- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 229 9 Badische Neueste Nachrichten, 21. Mai 1969 und Badische Neueste Nachrichten, 24. September 1962. 10 Badische Neueste Nachrichten, 24. September 1962. 11 Badische Neueste Nachrichten, 24. September 1962 und Bieber, Sylvia, Karlsruher Farblithographien um 1900. Der Karlsruher Künstlerbund und seine weiblichen Mitglieder, in: Frauen im Aufbruch? , Künstlerinnen im deutschen Südwesten 1800 - 1945, Städtische Galerie im Prinz-Max-Palais, Ausstellungskatalog, Karlsruhe 1995, S. 177, Anm. 39. 12 Vgl. Krabbe, Wolfgang R., Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974, S. 107 f. 13 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957. 14 Vgl. Zimmermann, Margret, Heimat und Welt, in: Hans Thoma. Lebensbilder. Gemäldeausstellung zum 150. Geburtstag, Augustinermuseum in Freiburg im Breisgau, Ausstellungskatalog, Königstein im Taunus 1989, S. 11 ff. 15 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957 und vgl. Zimmermann (wie Anm. 14), S. 9. <?page no="231"?> schiedenen deutschen Großstädten teil. Zudem arbeitete sie in den Jahren 1906 bis 1908 als Schauspielerin. Als sie 1909 den aus Franken stammenden Architekten Hans Zippelius heiratete, beendete sie ihre Bühnenlaufbahn und widmete sich auf künstlerischem Gebiet nur noch der Malerei. Obgleich 1912 und 1916 ihre beiden Söhne geboren wurden, engagierte sie sich auch weiterhin in der Öffentlichkeit. 16 Bestimmendes Element in ihrem Leben war ihr Interesse für Frauenfragen, denen sie sich vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis in die NS-Zeit widmete. Seit 1901 gehörte sie der Karlsruher Ortsgruppe des »Vereins zur Verbesserung der Frauenkleidung« an. Für diesen Verein arbeitete sie im Vorstand und in der Presseabteilung. Zusätzlich hielt sie Vorträge über die Beziehungen zwischen Frauenkleidung und Kulturgeschichte. Den korsett-tragenden Frauen mit eingeschnürter Wespentaille, die zu Gesundheitsschäden führen konnte, empfahlen die Vereinsmitglieder eine bequemere Kleidung. Nur scheinbar handelte es sich bei den Vereinszielen um unpolitische Frauenthemen ohne größere gesellschaftliche Bezüge. Denn die reformerischen Bestrebungen wurden nicht nur von den emanzipatorischen Absichten der Frauenbewegung und ästhetischen Vorstellungen von Jugendstilkünstlern getragen, sondern auch von Medizinern, Rasse- und Sozialhygienikern, denen es aus sozial- und gesundheitspolitischen Gründen um die »Erhaltung eines gesunden Volkskörpers« ging. 17 Die Vorträge von Dora Horn für den »Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung« machen deutlich, daß sie darüber hinaus von den Gedanken der Lebensreformbewegung beeinflußt war. Die Ideen dieser geistigen Strömung im akademisch gebildeten deutschen Bürgertum um 1900 tauchen bis in die Reden von Horn-Zippelius als NSDAP-Mitglied in den 30er Jahren immer wieder auf. Technischer Fortschritt und industrielle Arbeitsweise wurden abgelehnt. Die Zivilisationskritik war verbunden mit einem kulturpessimistischen Haß auf die kulturellen Erscheinungen und Einflüsse, die aus Westeuropa kamen. Propagiert wurde ein Leben im Einklang mit der Natur und dem wahren deutschen Wesen. 18 Dora Horns Vorträge für den Verein klagten seit 1905 die »Luxus-, Verschwendungs- und Vergnügungssucht« im Gefolge des technischen Fortschritts und Wirtschaftsaufschwungs an, die sie als Zeichen des »Verfalls« interpretierte. Den Frauen erteilte sie die Aufgabe, sich Anette Michel 230 16 Vgl. Brandenburger, Malerinnenschule (wie Anm. 5), S. 34 und Brandenburger, Horn-Zippelius (wie Anm. 5), S. 145. 17 Zu den Aktivitäten des Vereins in Karlsruhe vgl. Asche, Susanne, Fürsorge, Partizipation und Gleichberechtigung - die Leistungen der Karlsruherinnen für die Entwicklung der Großstadt (1859 - 1914), in: Karlsruher Frauen 1715 - 1945, Eine Stadtgeschichte, hrsg. v. S. Asche u.a. (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 15), Karlsruhe 1992, S. 171 - 256, hier S. 236 - 240. 18 Zur Lebensreformbewegung vgl. Krabbe (wie Anm. 12). Die Verbindungen zwischen der Lebensreformbewegung und der Reformierung der Frauenkleidung beleuchten ebenfalls: Stamm, Brigitte, Das Reformkleid in Deutschland, Berlin 1976 und Kühl, Susanne, Durch Gesundheit zur Schönheit. Reformversuche in der Frauenkleidung um 1900, in: Der neuen Welt ein neuer Rock: Studien zu Kleidung, Körper und Mode an Beispielen aus Württemberg, hrsg. v. C. Köhle-Hezinger, G. Mentges, Stuttgart 1993, S. 102 - 111. <?page no="232"?> von den Einflüssen des westlichen Auslands freizumachen und durch ihre Kleidung und Lebensweise zur »Gesundung und Veredlung des Volkes« beizutragen. 19 Der »Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung« vertrat die Ideen einiger Rasse- und Sozialhygieniker, die den Körper der Frau und ihre Gebärfähigkeit in den Dienst der Nation und ihrer Bevölkerungspolitik stellen wollten. Zum Teil griffen die Nationalsozialisten im »Dritten Reich« auf Anregungen dieser Forscher zurück, obwohl die Sozialhygieniker des 19. Jahrhunderts keineswegs als reine Vorläufer der Rassepolitiker des Nationalsozialismus betrachtet werden können. 20 Unüberhörbar klangen in den Reden Dora Horn-Zippelius’ vor dem Ersten Weltkrieg nationale und antifranzösische Untertöne an 21 , ebenso wie Schlagwörter, die später in den Artikeln zur nationalsozialistischen Frauen- und Bevölkerungspolitik ständig wiederholt wurden: Deutsche Frauen sollten nicht mehr die »grobsinnliche [...] Pariser Mode« nachahmen, sondern sich auf ihre »Würde« besinnen und »deutsche Mode« tragen. 22 Die Reformen für eine bequemere Frauenkleidung bezeichnete sie als einen »Kampf um Volkswohlfahrt«, durch den »das Volk gesunde und nicht durch das Korsett verkrüppelte Mütter« bekommen sollte. Zudem appellierte sie an die Verantwortung der Mütter, ihren Töchtern eine ungehemmte körperliche Entwicklung durch Sportübungen zu erlauben. 23 Diese positiven Ansätze zur Befreiung des Körpers der Frau wurden später im Nationalsozialismus für nationale Zwecke instrumentalisiert. Sportlichkeit diente der Inszenierung des NS- Körperkultes, und die Mehrheit der Frauen wurde auf ihre Gebärfunktion und ihre Rolle als »Erhalterin der Rasse« reduziert. 24 Dora Horn-Zippelius griff in ihren Vorträgen seit der Jahrhundertwende auf die Schriften und Anregungen von Paul Schultze-Naumburg zurück, den sie persönlich kannte und dessen Werke sie öfters zitierte. 25 Er hatte 1901 das Buch »Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung« geschrieben, das die Frage der Frauenkleidung erst einem größeren Publikum bekannt machte. 26 Der Maler, Architekt, Schriftsteller und Modegestalter Schultze-Naumburg, der einer Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 231 19 StAKA 8/ StS 13, 495. 20 Vgl. Asche (wie Anm. 17), S. 236 u. 238. 21 Dora Horn griff fast bei jedem ihrer Vorträge, die auch die »nationale Seite der Bestrebungen« des Vereins betonten, die kulturellen Einflüsse aus Frankreich an. Sie verdammte die Pariser Mode, die das Korsett propagierte. Darüber hinaus wandte sie sich grundsätzlich gegen die »französische Kunst« und Kultur, die sich das »deutsche Volk« nicht zum Vorbild nehmen sollte. Vgl. ihre Vorträge am 23. Februar 1905, 8. November 1905, 13. Dezember 1905, StAKA 8/ StS13, 495, und Karlsruher Tagblatt, 19. Juni 1915 (StAKA 8/ StS 13, 495). 22 Badische Landeszeitung, 23. Februar 1905 (StAKA 8/ StS 13, 495). 23 Badische Landeszeitung, 23. Februar 1905 und Badische Presse, 13. Dezember 1905 (StAKA 8/ StS 13, 495). 24 Vgl. Zühlke, Anna, Frauenaufgabe - Frauenarbeit im Dritten Reich, Leipzig 1934, S. 59. 25 Vgl. Dora Horns Vortrag, abgedruckt in der Badischen Landeszeitung, 23. Februar 1905, und Paul Schultze-Naumburg, Die Kultur des weiblichen Körpers als Grundlage der Frauenkleidung, Leipzig 1903, S. 17 ff. 26 Schultze-Naumburg (wie Anm. 25). <?page no="233"?> der Träger der nationalsozialistischen Kulturpolitik wurde 27 , beeinflußte möglicherweise auch die politischen Überzeugungen Dora Horn-Zippelius’ in den 20er und 30er Jahren. Als ehemaliger Student der Kunstakademie in Karlsruhe war er häufig Gast im Elternhaus von Dora Horn-Zippelius gewesen. 28 Nachdem sich Mitte der 20er Jahre seine konservativ-bürgerlichen Reformvorstellungen durch die Lektüre völkischer und rassistischer Schriften radikalisiert hatten, trat er in die NSDAP ein, knüpfte enge Kontakte zu Hitler und wurde 1928 Mitglied des von Alfred Rosenberg gegründeten »Kampfbundes für deutsche Kultur«. 29 Die Vermutung, daß Dora Horn-Zippelius ebenfalls wie Schultze-Naumburg Mitglied des Kampfbundes für deutsche Kultur war, dessen Karlsruher Ortsgruppe 1930 entstand, läßt sich nicht verifizieren. 30 Sicher ist jedoch, daß sie die demagogischen und herabsetzenden Parolen dieses völkisch-radikalen Vereins seit 1932 in ihren Reden für die NS-Frauenschaft wiederholte. Marxismus und Judentum waren ihrer Meinung nach - wie sie auf einer großen Kundgebung der NS-Frauenschaft in Karlsruhe im Juli 1932 referierte - die Verursacher eines angeblichen kulturellen Niedergangs in der Weimarer Republik: »Der Marxismus und sein Führer, der Jude, wußten genau wo sie mit ihrer Wühlarbeit zu beginnen hatten. Nach und nach eroberte er Theater, Kino, Literatur und Kunst und übte von hier aus seinen zersetzenden Einfluß auf unsere Jugend aus.« 31 Dora Horn-Zippelius zeigte zeitlebens kunst- und kulturpolitisches Interesse, vor dem Ersten Weltkrieg zunächst aber auf einem gänzlich anderen Gebiet. Jahrelang hatte sie sich für die Gleichstellung von Künstlerinnen in dem von Männern regierten Kunstbetrieb eingesetzt, der Frauen keine Mitspracherechte zugestehen wollte. Deshalb arbeitete sie seit 1912 im Vorstand des Karlsruher Malerinnenvereins mit. Als im Herbst des gleichen Jahres der Bund Badischer Künstlerinnen gegründet wurde, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, Künstlerinnen zu fördern, ihnen Ausstellungsforen zu schaffen und eigene Jurys zu bilden, nahm sie auch dort einen Sitz im Vorstand ein. Seit 1923 vertrat sie den Bund Badischer Künstlerinnen als Delegierte im Reichswirtschaftsverband Bildender Künstler Südwest. 32 Dieser Künstlerverband, der von politisch rechts stehenden Kräften dominiert Anette Michel 232 27 Paul Schultze-Naumburg (1869 - 1949) veröffentlichte 1928 das Buch »Kunst und Rasse«, in dem er die moderne Kunst verdammte und als »rassische Entartung« diffamierte. 1930 avancierte er zum kulturpolitischen Berater des ersten nationalsozialistischen Ministers Wilhelm Frick in Thüringen. Vgl. Voigt, Wolfgang, Die Stuttgarter Bauschule, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 250 - 271, hier S. 260. 28 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957. 29 Vgl. Durth, Werner, Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900 - 1970, Braunschweig, Wiesbaden 1986, S. 55 f. u. 82 f. sowie Voigt (wie Anm. 27), S. 260. 30 Vgl. Koch, Michael, Kunstpolitik, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 236 - 249, hier S. 238. 31 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 32 Vgl. Brandenburger-Eisele, Gerlinde, Dora-Horn Zippelius (1876 - 1967), in: Blick in die Geschichte, Karlsruher stadthistorische Beiträge, Nr. 14, 20. März 1992, S. 1. <?page no="234"?> wurde, spielte eine unrühmliche Rolle in den Auseinandersetzungen der Karlsruher Kulturpolitik der 20er Jahre, die ein Vorspiel der rigiden Kunstpolitik der Nationalsozialisten in Karlsruhe im »Dritten Reich« darstellte. Inwieweit Dora Horn-Zippelius in die kunstpolitischen Kontroversen zwischen konservativen Thoma-Verehrern, zu denen sie auch zählte, und avantgardistischen Künstlern verwickelt war, läßt sich im einzelnen nicht mehr feststellen, da die meisten Kontrahenten ihre Artikel unter Pseudonym veröffentlichten. Die Thoma-Epigonen kritisierten mit Unterstützung der Rechtspresse und der NSDAP-Landtagsfraktion die An- und Verkäufe der Karlsruher Kunsthalle und versuchten auf verleumderische und gehässige Weise, die Bevorzugung expressionistischer und kritisch-realistischer Kunst zugunsten traditionalistischer Kunstwerke zurückzudrängen. 33 Dora Horn-Zippelius schrieb während der Weimarer Republik offensichtlich zahlreiche Artikel für Zeitungen. Sie selbst betonte später, sie sei »vielfach schriftstellerisch im völkischen Sinne tätig« gewesen. Der genaue Inhalt dieser Texte ist jedoch unbekannt. 34 Politisch orientierte sie sich lange an der DNVP, der sie bei den Wahlen in den 20er Jahren, bevor sie sich für die NSDAP entschied, regelmäßig ihre Stimme gab. 35 Daß auch die badischen Künstlerinnenvereinigungen keine antinationalsozialistischen Wege beschritten, scheint ihr Verhalten nach 1933, aber auch bereits eine 1931 geplante Ausstellung des Bundes Badischer Künstlerinnen zusammen mit der »Gemeinschaft deutscher und österreichischer Künstlerinnenvereine« (Gedok), deren Karlsruher Vorsitzende sie war, zu belegen. Der Titel »Mutterschaft und Frauenschaffen« mutet wie ein Hinweis auf den späteren Schwerpunkt der NS-Frauenpolitik an. 36 Ein badisches Gedok-Mitglied umschrieb diese Tendenz später damit, daß ihr Verein im Dritten Reich »Auswege in Mutterkult und Muttermythen« gesucht habe. 37 1933 wurde die Gedok nicht wie andere Frauenorganisationen verboten, löste sich auch nicht selbst auf, sondern ließ sich 1934 gleichschalten. Dieser Schritt bedeutete: Ausrichtung an der nationalsozialistischen »Ideologie«, die Aufnahme in das Deutsche Frauenwerk, das unter Leitung der Funktionärinnen der NS-Frauenschaft stand, »Arierinnen als Vorsitzende« und den Ausschluß der jüdischen Mitglieder. 38 Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 233 33 Zum folgenden vgl. Koch, Michael, Kulturkampf in Karlsruhe. Zur Ausstellung Regierungskunst 1919 - 1933, in: Kunst in Karlsruhe 1900 - 1950, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe im Badischen Kunstverein, Ausstellungskatalog, Karlsruhe 1981, S. 102 - 128. Und Rößling, Wilfried, Künstlergruppen, in: Stilstreit und Führerprinzip. Künstler und Werk in Baden 1930 - 1945, Badischer Kunstverein Karlsruhe, Ausstellungskatalog, Karlsruhe 1981, S. 41 ff. 34 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 17. August 1968; BA, Abt. III (BDC), PK Zippelius, Dora. 35 Vgl. Gespräch mit Dr. Adelhard Zippelius, 17. Januar 1996. Privatbesitz der Verfasserin. 36 Vgl. Brandenburger-Eisele (wie Anm. 32), S. 1. Nachrichtendienst der NS-Frauenschaft und des Deutschen Frauenwerks, 4. Jg, 1. Juli 1935, S. 250. 37 Spatz, Christa, Unterwegs ohne feste Reiseroute. Die Gedok zwischen alter und neuer Frauenbewegung, in: 25 Jahre Gedok Freiburg 1962 - 1987, hrsg. v. Gedok Freiburg, Freiburg 1987, o.S. 38 Amtswalterinnenblatt, Folge 6, April 1934, S. 97. Zur Gleichschaltung vgl. Arendt, Hans Jürgen, <?page no="235"?> Gegen die Absetzung der jüdischen Vorsitzenden der Gedok, Ida Dehmel, protestierte Horn-Zippelius nicht, obwohl sie die nach eigener Aussage »zielbewußte und ideenreiche« Arbeit von Dehmel geschätzt und häufig mit ihr korrespondiert hatte. Horn-Zippelius wünschte, daß die Gleichschaltung fast unsichtbar vonstatten ging. Daher riet sie Ida Dehmel ab, ihren Rücktritt öffentlich vor einer Mitgliederversammlung bekannt zu geben. Horn-Zippelius bat Dehmel, ein »letztes Opfer« für die Erhaltung des Vereins zu bringen und »stillschweigend den Vorsitz weiterzugeben«. Ida Dehmel dagegen bestand auf einer Versammlung, die schließlich von der SA aufgelöst wurde. 39 Dora Horn-Zippelius hatte sich schon Jahre zuvor, im Juni 1931, der nationalsozialistischen Bewegung angeschlossen, indem sie in den Deutschen Frauenorden, die Vorläuferorganisation der NS-Frauenschaft, eingetreten war. Eineinhalb Jahre später, am 1. Januar 1933, - noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten - wurde sie Mitglied der NSDAP. 40 Ihr Ehemann Hans Zippelius gehörte der NSDAP bereits seit 1931 an. Im Herbst 1932, als sie zur Referentin für Presse und Propaganda in der Abteilung für Frauenarbeit von der Gauleitung ernannt wurde, übernahm Hans Zippelius, von Beruf Architekt, das Referat Freie Berufe in der Hauptabteilung IV der Gauleitung Baden. 41 Ob für Dora Horn-Zippelius’ Eintritt in die NSDAP sozialreformerische Motive ausschlaggebend waren wie für ihren Mann, ist unwahrscheinlich, obgleich auch sie in ihren Reden verlauten ließ, daß die NSDAP »keine Standesunterschiede« 42 mehr kenne. Hans Zippelius gab in seinem Spruchkammerverfahren 1948 an, daß er als »gläubiger Idealist und absolut unpolitischer Mensch auf den Nationalsozialismus« seine Hoffnungen gesetzt habe. Von der NSDAP habe er sich versprochen, daß sie den »politisch-gesellschaftlichen Ausgleich zwischen denen, die alles und denjenigen, die nichts haben«, finden würde. Am »ehrlichen, sozialistischen Willen« des Nationalsozialismus habe er damals noch nicht gezweifelt. Erst nach der Machtergreifung erkannte er den Unterschied zwischen den Phrasen der NSDAP und ihren Taten, was ihn veranlaßte, sich bald im Gegensatz zu seiner Frau von der NSDAP zurückzuziehen. 43 An ihren Reden und den Äußerungen gegenüber einer guten Freundin lassen sich Anette Michel 234 Die »Gleichschaltung« der bürgerlichen Frauenorganisationen in Deutschland 1933/ 1934, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 27 (1979), S. 615 - 627, hier S. 619 ff. 39 Horn-Zippelius, Dora, Erinnerungen an: Bund Badischer Künstlerinnen, Frauenkunstverband, Gedok (1912 - 1938), unveröffentlichtes Maschinenskript, Privatbesitz. Für die Bereitstellung danke ich Herrn Dr. Adelhard Zippelius. 40 BA, Abt. III (BDC), PK Dora Zippelius. 41 »Der Führer«, 9. September 1932. 42 »Der Führer«, 9. Juli 1932. Einer Freundin gegenüber sagte sie, daß sie sich von »der Betonung des Sozialismus in dem damaligen Programm der Partei eine neue Einigung des deutschen Volkes aus der bisherigen Zerissenheit in Klassen und Parteien« versprochen habe. Vgl. Brief von Anna Engelhorn, 1. September 1947 (Privatbesitz von Dr. Adelhard Zippelius). 43 Vgl. die Spruchkammerakte von Hans Zippelius GLA 465a 51/ 5/ 11114. <?page no="236"?> die Motive für ihren Anschluß an die nationalsozialistische Bewegung und ihre distanzierte Haltung zur Frauenbewegung der Weimarer Republik ablesen. Einige ihrer Zeitgenossinnen wie die Landtagsabgeordnete Amalie Lauer oder die Juristin und spätere CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Elisabeth Schwarzhaupt hatten vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten auf die Frauen benachteiligenden Aspekte in der NSDAP hingewiesen. 44 Horn-Zippelius’ Entschluß für die NSDAP zu arbeiten, scheint in dieser Hinsicht widersprüchlich, da sie sich zuvor jahrzehntelang für die berufliche und persönliche Besserstellung von Frauen engagiert hatte und zwei Verbänden angehörte, die zur Frauenbewegung zu zählen sind. Trotzdem griff sie die Frauenbewegung der Weimarer Republik an. Ihr warf sie 1932 vor, versagt zu haben, weil ihre Angehörigen in den Parlamenten säßen und »einzig auf die Emanzipation ihrer Eigenrechte bedacht« seien, anstatt den »Dienst am Volksganzen« zu suchen. Die Anschuldigungen gipfelten in dem Vorwurf, daß die deutsche Frauenbewegung »fremde jüdische Wege« gegangen sei. 45 Erklären lassen sich diese Widersprüche am ehesten dadurch, daß die Frauenbewegung keine politisch einheitliche Bewegung war und Dora Horn-Zippelius stärker der konservativen Seite der bürgerlichen Frauenbewegung zuneigte, deren Frauenbild einige Berührungspunkte mit der späteren nationalsozialistischen Frauenpolitik aufwies. 46 Zudem verkörperte Dora Horn-Zippelius die Ambivalenz vieler engagierter Nationalsozialistinnen. In der Öffentlichkeit proklamierten sie das opferbereite Mutter- und Ehefraudasein, aber sie selbst waren im krassen Gegensatz zu ihrer Ideologie privat und beruflich emanzipiert. Daß eine Frau wie Dora Horn-Zippelius von der nationalsozialistischen Frauenpolitik fasziniert war, läßt sich darüber hinaus auch dadurch erklären, daß das NS-Frauenbild wesentlich vielschichtiger und facettenreicher war, als es im vereinfachenden Rückblick erscheint, so daß es auch engagierten Frauen Identifizierungsmöglichkeiten mit dem Nationalsozialismus bieten konnte. Es beschränkte sich nicht nur auf die Rollen der Mutter, Ehe- und Hausfrau, sondern bot Frauen zumindest in den ihnen als »wesensgemäß« angesehenen Berufen wie Fürsorgerin, Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 235 44 Vgl. Lauer, Amalie, Die Frau in der Auffassung des Nationalsozialismus, Köln 1932. Und Schwarzhaupt, Elisabeth, Was hat die deutsche Frau vom Nationalsozialismus zu erwarten? , Berlin 1932. 45 »Der Führer«, 9. Juli 1932 und »Der Führer«, 25. März 1934. 46 Vgl. Frevert, Ute, Frauen-Geschichte. Zwischen bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt/ M. 1986, S. 201. Das traditionelle bürgerliche Rollenverständnis von Mann und Frau, im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt, ging von einer Polarität der Geschlechtscharaktere aus. Frauen unterschieden sich danach durch angeblich naturgegebene, weibliche Wesenszüge wie Passivität, Emotionalität und Fürsorge von den aktiven, rational denkenden und handelnden Männern. Die Frau sollte für das Private und die Familie, der Mann für die Öffentlichkeit zuständig sein. Die bürgerliche Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts forderte dann darüber hinaus mit Hilfe des Begriffs der »geistigen Mütterlichkeit« den Einsatz von Frauen in Berufen (z.B. Lehrerin, Ärztin, Fürsorgerin etc.), die ihren »weiblichen« Eigenschaften entsprachen. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes vgl. Hausen, Karin, Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere«. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, hrsg. v. W. Conze, Stuttgart 1976, S. 367 - 393. <?page no="237"?> Kindergärtnerin, Erzieherin, Mütterschulleiterin oder Hauswirtschaftslehrerin zahlreiche Betätigungsmöglichkeiten. 47 Für eine Elite von ausgewählten, überzeugten Nationalsozialistinnen waren zusätzlich Aufgaben als politische »Mitkämpferin« des Mannes, »Volkserzieherin«, »soldatische Frau«, »autarke Bäuerin« und Führerin anderer Frauen vorgesehen. 48 Vermutlich bestimmten Dora Horn-Zippelius - wie sich aus ihren Reden ablesen läßt - jedoch auch noch andere Motive. Sie war wie viele Männer enttäuscht über den Ausgang des Ersten Weltkrieges und über die Weimarer Republik, die nach ihrer Meinung »Deutschland für alle Zukunft der Knechtschaft« überantwortet und ihre patriotischen Gefühle verletzt habe. Sie wähnte sich in einer Zeit des »Zusammenbruchs«, in der es um »Sein oder Nichtsein« des deutschen Volkes ging. 49 Von der NSDAP versprach sie sich den Wiederaufbau des »deutschen Hauses«. 50 Die kulturellen und politischen Entwicklungen der Weimarer Republik akzeptierte sie nicht, da sie Marxismus und Judentum beschuldigte, unter das Volk »fremdes, zersetzendes Geistesgut« gebracht zu haben. 51 Aber nicht nur nationale, judenfeindliche und antimarxistische Beweggründe ließen sie der nationalsozialistischen Bewegung folgen, sondern vor allem wohl antiurbane, agrarromantische Gefühle und eine Begeisterung für die Vergangenheit, der die Versprechungen der NSDAP, traditionelle Lebensformen vergangener Jahrhunderte wiederzubeleben, entgegenkamen. Ihre starke Naturverbundenheit und ihr Heimatgefühl 52 stimmten mit der Verherrlichung des Bauerntums durch die Nationalsozialisten überein. Die »deutsche Bauernschaft« war ihrer Meinung nach die »Trägerin unseres Wollens und die Keimzelle unseres Volkstums«. 53 In diesen Zusammenhang gehört ebenfalls ihr Interesse für die Geschichte der Germanen. Die Mystifizierung der germanischen Frau im Nationalsozialismus begrüßte sie und propagierte das germanische Frauenbild in der Öffentlichkeit: »Wir wissen heute, daß kein anderes Volk seine Frauen so hoch gestellt hat wie unsere Vorfahren. Gefährtin und Kameradin ist die germanische Frau dem Manne im Frieden und erst recht im Kampf.« 54 Anette Michel 236 47 Zum NS-Frauenbild vgl. Wittrock, Christine, Weiblichkeitsmythen. Das Frauenbild im Faschismus und seine Vorläufer in der Frauenbewegung der 20er Jahre, Frankfurt/ Main 1983, S. 317 ff. Lehker, Marianne, Frauen im Nationalsozialismus. Wie aus Opfern Handlanger der Täter wurden - eine nötige Trauerarbeit, Frankfurt/ Main 1984, S. 40 ff. 48 Vgl. Wittrock (wie Anm. 47), S. 293 f. und Decken, Godele von der, Emanzipation auf Abwegen. Frauenkultur und Frauenliteratur im Umkreis des Nationalsozialismus, Frankfurt/ Main 1988. 49 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 50 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 51 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 52 In einem Interview mit den Badischen Neuesten Nachrichten 1957 verwies sie auf ihre Naturliebe und darauf, daß sie »niemals Großstädterin gewesen« sei. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957. 53 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 54 »Der Führer«, 25. März 1934. <?page no="238"?> Ihre Positionen speisten sich unter anderem aus den Werken des Schriftstellers Joseph Arthur Comte de Gobineau, der in seinem Text »Essai sur l’inégalité des races« 55 Theorien über die körperliche und geistige Verschiedenheit der Rassen entwickelt hatte. 56 Dora Horn-Zippelius war weder von ihrem Beruf, ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit noch ihrem Alter her eine typische Vertreterin des Deutschen Frauenordens, der NS-Frauenschaft oder der weiblichen Mitglieder der NSDAP. Das Durchschnittsalter der Frauen, die zwischen 1925 und 1933 NSDAP-Mitglied wurden, lag bei 35 Jahren. 57 In beiden Organisationen stellten Hausfrauen, die aus Familien der kleinbürgerlichen Mittelschicht stammten, die Mehrheit der Mitglieder. Unter den berufstätigen Mitgliedern der NS-Frauenschaft gab es besonders viele Büroangestellte und Lehrerinnen. 58 Nur in den führenden Funktionen der Kreis- und Gaufrauenschaftsleitungen fanden sich Frauen der Oberschicht, Angehörige des Adels und Frauen aus dem Bildungsbürgertum. 59 Die weiblichen Mitglieder der NSDAP waren zumeist Ehefrauen oder Töchter von Beamten, Handwerkern, Büroangestellten, kleinen Geschäftsleuten und Bauern. 60 Dora Horn-Zippelius trat im ersten halben Jahr ihrer offiziellen Zugehörigkeit zum Deutschen Frauenorden noch nicht öffentlich in Erscheinung. Der Deutsche Frauenorden, zunächst eine unabhängige völkische Frauenorganisation, seit 1928 als NS-Frauenorganisation anerkannt, verstand sich eher als unpolitischer Hilfsdienst der Partei. Die im September 1928 gegründete Karlsruher Ortsgruppe hatte nach ihrer Entstehung angekündigt, daß sie durch »bildende Vorträge, Sprechabende, Leihbücherei, Nähstube, durch gegenseitige Hilfe, Haus- und Wochenpflege und Kinder-Fürsorge« zum endgültigen Sieg der NSDAP beitragen wolle. 61 Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 237 55 Vgl. die deutsche Ausgabe: Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, vom Grafen Gobineau, hrsg. u. übersetzt v. Ludwig Schemann Bd. 1, 2. Aufl. Stuttgart 1902. 56 Vgl. See, Klaus von, Deutsche Germanenideologie vom Humanismus bis zur Gegenwart, Frankfurt/ Main 1970, S. 56 - 59. Den Hinweis auf die Schriften von Gobineau verdanke ich Herrn Dr. Adelhard Zippelius. 57 Vgl. Kater, Michael, Generationskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS-Bewegung vor 1933, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1985), S. 217 - 243, hier S. 235. 58 Vgl. Stephenson (wie Anm. 1), S. 563. 59 Vgl. Kater, Michael, Frauen in der NS-Bewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 202 - 241, hier S. 238. 60 Zu diesen Ergebnissen kommt Koonz, Claudia, Mütter im Vaterland, Freiburg im Br. 1991, S. 74. Die Untersuchung der Sozial- und Berufsstruktur einer Karlsruher Ortsgruppe der NS-Frauenschaft bestätigt die Ergebnisse von Koonz. 1939 hatte die Ortsgruppe Südwest IV 132 Mitglieder. Darunter waren 105 Hausfrauen, 14 Beamtinnen, zumeist Haupt- und Handarbeitslehrerinnen sowie 8 Büroangestellte. Vgl. Sterr, Lisa, Aufbrüche, Einschnitte und Kontinuitäten - Karlsruher Frauen in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«, in: Karlsruher Frauen 1715 - 1945. Eine Stadtgeschichte, hrsg. v. S. Asche u.a. (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 15), Karlsruhe 1992, S. 293 - 390, hier S. 341 und Michel, Anette, Nationalsozialistische Frauenorganisationen: Aufbau, Führung, Struktur und Funktion. Der Deutsche Frauenorden, die NS-Frauenschaft und das Deutsche Frauenwerk in Karlsruhe. Unveröffentlichte Magisterarbeit an der Universität Karlsruhe 1995, S. 83 - 85. <?page no="239"?> Im Oktober 1931 wurde der Deutsche Frauenorden nach internen Führungsquerelen reichsweit aufgelöst und die NS-Frauenschaft als alleinige, parteiamtliche NS-Frauenorganisation gegründet. Dora Horn-Zippelius und andere ehemalige Mitglieder des Deutschen Frauenordens wurden automatisch in die NS-Frauenschaft aufgenommen. 62 Die Aufgaben der NS-Frauenschaft gliederte der Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Gregor Strasser, 1931 offiziell in drei Bereiche auf: »1. Geistig-kulturelle Erziehung; 2. national-volkswirtschaftlich-hauswirtschaftliche Erziehung; 3. soziale Arbeit.« 63 Nach 1933, und als die NS-Frauenschaft 1935 zu einer Gliederung der NSDAP ernannt wurde, verschoben sich die Aufgabenschwerpunkte und sie erhielt den Status einer Eliteorganisation für Frauen, die »dem Führer politisch und weltanschaulich zuverlässige Führerinnen erziehen« sollte. 64 Der Hauptakzent ihrer Tätigkeit lag jedoch bis 1933 eindeutig auf sozialen Arbeiten. In Karlsruhe richtete die NS-Frauenschaft in diesen Jahren bis zur Machtergreifung Speise- und Wärmehallen ein, stellte Kräfte für den NS-Wohlfahrtsdienst zur Verfügung, der sich um die Familien bedürftiger NSDAP-Mitglieder kümmerte, organisierte Wohltätigkeitsfeste und verpflegte heimatlose und bei Schlägereien verletzte SA-Männer. 65 Die Mitglieder der NS-Frauenschaft leisteten damit ihren Beitrag zur Entstehung einer NS-Subkultur, unterstützten die NS-Propaganda und besserten das durch die Saalschlachten der SA angeschlagene, negative Ansehen der NSDAP auf. 66 Einige Vertreterinnen der NS-Frauenschaft erhielten schon vor 1933 zusätzlich weltanschaulich-agitatorische Aufgaben zugewiesen: so für den Kreis Karlsruhe unter anderen Dora Horn-Zippelius. 67 Bis Anfang der 30er Jahre stand die männerbündisch geprägte NSDAP-Parteileitung den weiblichen Mitgliedern und der Frauenfrage gleichgültig gegenüber. Erst als die nationalsozialistische Massenbewegung sich - wie Martin Broszat es formulierte - in eine Phase der »Verbürgerlichung« und »Salonfähigmachung« 68 fortentwickelte, gerieten Frauen als Wählerinnen und die Anette Michel 238 61 »Der Führer«, 29. September 1928. Zu den weiteren Aktivitäten des Deutschen Frauenordens in Karlsruhe vgl. Michel (wie Anm. 60 ) S. 46 - 50. 62 Vgl. Schmidt-Waldherr, Hiltraud, Emanzipation durch Professionalisierung? Politische Strategien und Konflikte innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung während der Weimarer Republik und die Reaktion des bürgerlichen Antifeminismus und des Nationalsozialismus, Frankfurt/ Main 1987, S. 14 f. 63 Nationalsozialistische Frauenschaft. Bearbeitet von der Presseabteilung der Reichsfrauenführung (Schriften der Deutschen Hochschule für Politik 15), Berlin 1937, S. 13. 64 Reichsorganisationsleiter der NSDAP (Hrsg.), Organisationsbuch der NSDAP, 4. Aufl. München 1937, S. 267. 65 Zu den Tätigkeiten der NS-Frauenschaft in Karlsruhe vgl. auch: Sterr (wie Anm.60), S. 293 - 390. 66 Vgl. Michel (wie Anm. 60), S. 55 f. 67 Außer Dora Horn-Zippelius waren im größeren Umkreis von Karlsruhe als Parteirednerinnen tätig: Gertrud Gilg, ihre spätere Nachfolgerin als Gauschulungsleiterin, die badische Gaufrauenschaftsleiterin Gertrud Scholtz-Klink, die stellvertretende Kreisfrauenschaftsleiterin von Karlsruhe Klein, eine Frau Stickel aus Karlsruhe und eine Arbeiterin aus Mannheim mit dem Namen Weidner. Vgl. Michel (wie Anm. 60), S. 57. <?page no="240"?> Mitglieder der NS-Frauenschaft als agitatorische Hilfen in das Blickfeld der Parteistrategen. 69 Schon aus wahltaktischen Gründen schien der propagandistische Einsatz der NS-Frauenschaft für die NSDAP unerläßlich. 1932, als die Reichspräsidentenwahl und zwei Reichstagswahlen anstanden, sollte die NS-Frauenschaft gegnerische Argumente über die »Frauenfeindlichkeit« der NSDAP widerlegen und gleichzeitig neue Wählerinnen gewinnen. 70 Obwohl die NSDAP keine Frauen als Ortsgruppenleiterinnen oder Reichstagsabgeordnete duldete, machte sich der badische Gauleiter Robert Wagner die rhetorischen Fähigkeiten einzelner lokal bekannter Nationalsozialistinnen wie Dora Horn-Zippelius zunutze. Aus diesen Gründen war sie im Frühjahr 1932 kurz vor der Reichspräsidentenwahl zur Parteirednerin berufen worden. Die Karlsruher Kreisleitung schickte sie daraufhin fast jeden Abend zusammen mit einer weiteren Rednerin in die verschiedenen Dörfer im Landkreis, um Wahlreden zu halten. Gleichzeitig hatte sie als Kreispropagandaleiterin der NS-Frauenschaft Karlsruhe die Aufgabe, neue Mitglieder zu werben und weitere Ortsgruppen zu gründen. Durch unermüdlichen Einsatz konnte Dora Horn-Zippelius zwischen 1932 und 1934 die Zahl der Ortsgruppen von acht auf 33 erhöhen, so daß im Mai 1934 der Kreis Karlsruhe für die NS-Frauenschaft organisatorisch vollständig erfaßt war. Damit leistete sie einen nicht unerheblichen Beitrag zur fortgesetzten regelmäßigen Indoktrination der weiblichen Bevölkerung im Karlsruher Land. 71 Andere badische Gebiete waren nicht so gut für die NS-Frauenschaft erschlossen, gab es doch 1936 in 35% aller Ortschaften in Baden noch keine NS-Frauenschaft. 72 Unmittelbar nach der sogenannten »Kampfzeit« der NSDAP schilderte Dora Horn-Zippelius in der NS-Frauenwarte begeistert ihre rege und erfolgreiche Propagandatätigkeit vor dem Hintergrund der vielfältigen Schwierigkeiten, die sie zu bewältigen hatte 73 : In rauchigen Wirtsstuben habe sie oft nur vor Männern gesprochen, und wenn Frauen ihr zugehört hätten, habe sie häufig nur wenige Interessen- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 239 68 Broszat, Martin, Zur Struktur der NS-Massenbewegung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 31 (1983), S. 52 - 76, hier S. 61. 69 Vgl. Klinksiek, Dorothee, Die Frau im NS-Staat, Stuttgart 1982, S. 21 f., 116. 70 Vgl. Paul, Gerhard, Aufstand der Bilder. Die NS-Propaganda vor 1933, Bonn 1990, S. 98. Im Rückblick faßte die Zeitung der NS-Frauenschaft, die NS-Frauenwarte, 1935 stolz den Beitrag ihrer Mitglieder zum Aufstieg und Erfolg der NSDAP zusammen: »Solange die Partei in den Wahlkämpfen stand, wurden geeignete Rednerinnen vielfach mit den Rednern zusammen eingesetzt, auch Frauenversammlungen veranstaltet. Eine Hochflut von Wahlpropaganda brachte das Jahr 1932. Dort war in der Werbung von Mund zu Mund die Frau unersetzlich. Als Hilfskraft beim Zettelkleben, Flugblätter verteilen, Klebemarken, Broschüren, Lose und Eintrittskarten vertreiben, hat sie oft bis an den Rand ihrer Kräfte gearbeitet.« NS-Frauenwarte, Jg. 1934/ 35, H. 2, S. 35. 71 Vgl. Horn-Zippelius, Dora, Die Eroberung einer Kreisfrauenschaft in den Kampfjahren 1932 auf ‘33, in: NS-Frauenwarte, Jg. 1934/ 35, Heft 2, S. 37. 72 Vgl. Grill, Johnpeter H., The Nazi Party in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 312. 73 Vgl. Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. <?page no="241"?> tinnen für eine Gründungsversammlung gewinnen können. Horn Zippelius: »Jedesmal, wenn ich draußen spreche, muß eine neue Frauenschaft aufgestellt oder wenigstens vorbereitet werden. Es geht nicht so leicht wie später. Manchmal schreiben sich gleich an die 20 Frauen ein, und eine tapfere Leiterin übernimmt die Führung. Oft aber gewinne ich mit aller Überredung nur 5 oder 6 Frauen, die sich nur ganz schüchtern auf das neue Arbeitsfeld wagen, und mehr als einmal fehlt es an der richtigen Führerin. Da muß ich immer und immer wieder hinaus, bis so eine Frauenschaft ›steht‹.« 74 Vor allem die KPD wählenden Arbeiter, die Bevölkerung katholischer Gebiete, die mehrheitlich für das Zentrum stimmte, sowie die Mitglieder nationalkonservativer Verbände sah sie als ihre »Gegner« an, die sie bekehren wollte. Stolz erzählte sie, daß sie in einem überfüllten Saal vor Männern und Frauen so überzeugend ihr Anliegen vorgetragen habe, daß sogar ein »paar junge Kommunisten still wurden«. 75 Über den Wahlkampf zur Reichstagswahl im Herbst 1932 berichtete sie: »Der September gehört den marxistischen Arbeiterdörfern im nächsten Umkreis der Großstadt. Das ist eine Arbeit, die Freude macht! Da ist ein Ort, verrufen als rote Hochburg, Straßenkämpfe und Überfälle sind an der Tagesordnung [...].« 76 Gemeint war der heutige Karlsruher Stadtteil Hagsfeld, in dem es ihr gelang, eine Ortsgruppe der NS-Frauenschaft mit einem Dutzend Frauen zu gründen, während die Parteiorganisation der NSDAP in diesem Dorf erst aus einem einzigen Mann, dem späteren Ortsgruppenleiter Ernst Erb, bestand. 77 Ihr Ziel war klar: »Eine Frauenschaft muß arbeiten, schaffen für die Volksgemeinschaft, sonst wird sie zum Kaffeeklübchen, zum schön- oder ungeistigen, seelenlosen Diskutier- und Tratschkränzchen.« 78 Bei Wahlkundgebungen und Werbeabenden, an denen sie manchmal auch zusammen mit der Gaufrauenschaftsleiterin Gertrud Scholtz-Klink auftrat, sprach sie oft über das Thema: »Die Frau im nationalsozialistischen Staat« oder »Die Aufgabe der Frau im Dritten Reich«. Dabei äußerte sie sich zum einen über die zukünftige Rolle der Frauen, verbreitete aber auch antisemitische Parolen, wie sie beispielsweise in Julius Streichers Hetzblatt »Der Stürmer« verkündet wurden. 79 So behauptete sie etwa vor einer großen Versammlung Karlsruher Frauen 1932, daß, »wenn wir Deutsche vom Schutz der Frau reden, so gelten für uns alle Frauen. Für den Juden gilt aber nur die jüdische Frau, für ihn ist die arische Frau nur Vieh! « 80 Widersprüchliches verbreitete sie über die Aufgaben der Frau im NS-Staat. Mäd- Anette Michel 240 74 Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. 75 Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. 76 Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. 77 Vgl. Linder, Gerhard Friedrich, Eintausend Jahre Hagsfeld: Die Geschichte eines Dorfes (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 12), Karlsruhe 1991, S. 118 f. 78 Horn-Zippelius (wie Anm. 71), S. 37. 79 Vgl. Arendt, Hans-Jürgen; Hering, Sabine; Wagner, Leonie (Hrsg.), Nationalsozialistische Frauenpolitik vor 1933. Dokumentation, Frankfurt/ Main 1995, S. 25. 80 »Der Führer«, 9. Juli 1932. <?page no="242"?> chen sollten studieren und einen Beruf ergreifen. Zugleich plädierte sie aber auch dafür, Frauen in »erster Linie« als Mütter zu sehen, die bereits als junge Mädchen durch ein Pflichtjahr das Dienen lernen sollten. 81 Zustimmung erheischend, wertete sie die Rolle der Frau auf, indem sie betonte, daß die Frau »Hüterin deutschen Charakters und deutscher Sitte« sei. 82 Mit solchen Reden war einerseits dem offiziellen NS-Mutterkult die notwendige Reverenz erwiesen, andererseits selbständigen, durchsetzungsfähigen und ausbildungswilligen Frauen, die sich gleichzeitig opferbereit und gehorsam in den Dienst des Volkes und der NS-Ideologie stellten, die Tür geöffnet. Auf sie konnten die Nationalsozialisten gerade in Kriegszeiten nicht verzichten. 83 So erwies sich hier wie in anderen Fällen die Dehnbarkeit nationalsozialistischer Gesellschaftsvorstellungen, die sich aktuellen politischen Bedürfnissen anpaßten. Nicht zuletzt aber verstand es Horn-Zippelius, die sozialen Aufstiegsträume ihrer Zuhörerinnen für ihre politischen Ziele zu nutzen. Der Nationalsozialismus, so verkündete sie, würde die Frauen aus der »Sklaverei der Fabrik« befreien. 84 Damit gewann sie sicherlich die Stimmen vieler berufsmüder Karlsruher Arbeiterinnen und Angestellten, die sich in den wirtschaftlichen Krisenzeiten der Weimarer Republik durch Mehrfachbelastung, niedrige Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen ausgebeutet fühlten. 85 Über die Rechte, die der zukünftige NS-Staat den Frauen nehmen wollte, sprach sie nicht. Dagegen propagierte sie die vermeintliche Besserstellung der deutschen Frau, die gesandt sei, ein mächtiges Deutschland wiederaufzubauen. Am Ende stand der enthusiastische Aufruf: »Kämpfen Sie für Adolf Hitler«. 86 Die geschickte Wahlpropaganda der NSDAP führte dazu, daß die NSDAP mit 40,3% 87 bei der Reichstagswahl im Juli 1932 die stärkste Partei wurde. Reichsweit wählten seit Beginn der 30er Jahre fast genauso viele Frauen wie Männer die NSDAP, obwohl Frauen lange Zeit gegenüber der NSDAP reserviert gewesen waren und christliche sowie konservativ-nationalistische Parteien bevorzugt hatten. 88 Robert Wagner belohnte entsprechend den Elan und Einsatz von Dora Horn- Zippelius. Im Dezember 1932 durfte sie auf einer Führertagung der NSDAP Baden als Gaupropagandaleiterin - und einzige Frau unter ansonsten männlichen Amts- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 241 81 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 82 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 83 Zur Berufstätigkeit von Frauen im Dritten Reich vgl. Winkler, Dörte, Frauenarbeit im »Dritten Reich«, Hamburg 1977. 84 Siehe Winkler (wie Anm. 83). 85 Vgl. Lauer (wie Anm. 44), S. 26ff; Schwarzhaupt (wie Anm. 44), S. 15 und Hervé, Florence, Brot und Frieden - Kinder, Küche, Kirche. Frauenbewegung in der Weimarer Republik, in: Geschichte der deutschen Frauenbewegung, hrsg. v. F. Hervé, 3. Aufl. Köln 1987, S. 119 - 153, hier S. 148. 86 »Der Führer«, 9. Juli 1932. 87 Vgl. Bräunche, Ernst Otto, Es fing so »harmlos« an: Aufstieg und Machtergreifung der NSDAP in Karlsruhe, in: Aufstieg der NSDAP und Widerstand. Vorträge zur Stadtgeschichte, Stadtarchiv Karlsruhe 1993, S. 1 - 33, hier S. 13. 88 Vgl. Falter, Jürgen W., Hitlers Wähler, München 1991, S. 140 ff. <?page no="243"?> waltern - über die Stellung der Frau in der nationalsozialistischen Bewegung referieren. 89 Die badische Gauleitung stellte ihr zudem seit Ende 1932 in Karlsruhe ein Büro zur Verfügung, wo sie in Sprechstunden der weiblichen Bevölkerung zur Verfügung stand. 90 Von dort aus koordinierte sie zwei Monate nach der Machtergreifung den Beitrag der NS-Frauenschaft zum Boykott jüdischer Geschäfte. Sie formulierte als Kreispropagandaleiterin und ausführendes Organ der NSDAP-Anweisungen am 30. März einen Aufruf an alle »Ortsgruppenleiterinnen«: »Ostern steht vor der Tür. [...], sorgt durch den Einfluß euerer Frauenschaften dafür, daß die Konfirmations- und Kommuniongeschenke, Kleider, Kränze, Gesangbücher, ebenso wie die Ostergaben und Zuckerwaren für unsere Kinder unter keinen Umständen mehr im Warenhaus oder in jüdischen Geschäften eingekauft werden, die mit unseren christlichen und deutschen Festen eine unser Empfinden geradezu verhöhnende Geschäftsreklame machen.« 91 Mit solchen Appellen machte sich Dora Horn-Zippelius selbst zum kleinen Rädchen im Prozeß der ständigen Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung. Denn der sogenannte »Judenboykott«, bei dem sich SA- und SS-Männer vor jüdischen Geschäften postierten, war ein Signal, daß die Nationalsozialisten es nicht bei verbalen Angriffen auf die Juden belassen würden. 92 Der Boykott »jüdischer Warenhäuser« und das Zurückdrängen ausländischer Einflüsse in der Modebranche waren auch das eigentliche politische Anliegen einiger Ausstellungen und Kleiderschauen, die von der NS-Frauenschaft Baden unter Leitung von Dora Horn-Zippelius von 1934 bis 1936 organisiert wurden. 93 Offiziell und vordergründig ging es bei den sogenannten Volkstums-Austellungen der NS-Frauenschaft um das Wiederbeleben deutscher Sitten und das Werben für deutsche Waren. Mit der Präsentation ländlicher Erzeugnisse des Kunsthandwerks - unter anderem wurden Trachten, Bauernmöbel, Webearbeiten und Goldstickereien präsentiert - sollte die darniederliegende Heimarbeit in abgelegenen badischen Landbezirken aufgewertet und gefördert werden. 94 Die Gründung des »Badischen Heimatwerks« durch die NS-Frauenschaft sollte die bäuerliche Kunst und das »bodenständige Handwerk« wieder zur Ehre kommen lassen und zugleich neue Arbeitsplätze für Frauen beispielsweise im Textilgewerbe schaffen. 95 Tatsächlich aber ging es Dora Horn-Zippelius und ihrer Mitstreiterin Emmy Anette Michel 242 89 »Der Führer«, 12. Dezember 1932. 90 Vgl. »Der Führer«, 6. Dezember 1932. 91 »Der Führer«, 30. März 1933. 92 Vgl. Benz, Wolfgang, Realität und Illusion. Die deutschen Juden und der Nationalsozialismus, in: Herrschaft und Gesellschaft im nationalsozialistischen Staat. Studien zur Struktur- und Mentalitätsgeschichte, hrsg. v. W. Benz, Frankfurt/ Main. 1990, S. 112 - 144, hier S. 129. 93 Vgl. »Der Führer«, 8. September 1933; »Der Führer«, 17. September 1933; »Der Führer«, 29. September 1933; »Der Führer«, 17. Juni 1934; »Der Führer«, 27. Oktober 1936. 94 Vgl. »Der Führer«, 17. September 1933. 95 Vgl. »Der Führer«, 1. Juli 1934; »Der Führer«, 14. November 1934 . <?page no="244"?> Schoch-Leimbach, einer Karlsruher Modedirektrice, um die ideologische Instrumentalisierung der Mode im Sinne nationaler Autarkieerlangung. Nur Kleidung »deutscher Prägung« sollte produziert werden; »artfremde Mode« wurde abgelehnt. 96 Laut Dora Horn-Zippelius werde die »Erscheinung der Modefratze, die das Bild der deutschen Frau nur verzerrt wiedergebe«, gänzlich verschwinden, »sobald die deutsche Frauenwelt sich völlig aus den Fesseln der fremden Mode gelöst und den hohen Wert des deutschen Kleidstils erkannt habe«. 97 Emmy Schoch-Leimbach ergänzte auf einer anderen Veranstaltung, daß so der »jüdischen Vergewaltigung unseres Modewesens« entgegengetreten werden könnte. 98 Den Höhepunkt ihrer Parteilaufbahn erreichte Dora Horn-Zippelius, als der badische Gauleiter sie im Herbst 1934 zur Gauschulungsleiterin der neuen Gauschule der NS-Frauenschaft in Bruchsal ernannte. 99 Das Haus - idyllisch im Garten des Bruchsaler Schlosses gelegen - eröffnete die badische Gaufrauenschaftsleiterin Helene Bögli am 4. Oktober als »eine Pflegstätte nationalsozialistischer Gesinnung«. 100 In einer anschließenden kurzen Rede bedankte sich Dora Horn-Zippelius für die »große Aufgabe«, die ihr übertragen worden sei. Sie versprach, die »deutsche Seele« wieder wach zu machen, »damit Liebe und Freude an allem Guten und Schönen und Großen, deutsche Treue, Glauben, deutsche Sitte, Ehrfurcht vor Altüberkommenen hinausgetragen werde in unser Volk«. 101 Andere - wie der Bruchsaler Kreisleiter der NSDAP, Emil Epp, der Gauschulungsleiter Kramer und die Gaufrauenschaftsleiterin drückten deutlicher die Ziele der Gauschule aus. Die Leiterinnen der NS-Frauenschaft sollten zu »Führerinnen« und »Kämpferinnen« ausgebildet werden, um die »deutschen Menschen« im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie umzuformen. Die Mehrheit der deutschen Frauen sollten wieder »dienen, opfern« und ihre »Pflicht erfüllen« lernen. 102 Die Gauschulen der NS-Frauenschaft dienten an erster Stelle der »weltanschaulichen Schulung« oder in den Worten der englischen Historikerin Jill Stephenson der »Manipulation des Verstandes durch Indoktrination«. 103 Seit der Machtergreifung der NSDAP 1933 widmete sich die NS-Frauenschaft verstärkt der Aus- und Weiterbildung der eigenen Mitglieder, die sich vor 1933 »weltanschaulich« höchstens mit komprimierten Auszügen aus Hitlers »Mein Kampf« beschäftigt hatten. 104 Mit der Etablierung des NS-Staates sollten die Lehrkräfte im Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 243 96 »Der Führer«, 29. September 1933; »Der Führer«, 17. Juni 1934. 97 »Der Führer«, 29. September 1933. 98 »Der Führer«, 17. Juni 1934. 99 Wenige Monate zuvor war Horn-Zippelius zur kommissarischen Kreisfrauenschaftsleiterin in Ettlingen ernannt worden. Vgl. BA, Abt. III (BDC), PK Zippelius, Dora. 100 »Der Führer«, 4. Oktober 1934. 101 »Der Führer«, 4. Oktober 1934. 102 »Der Führer«, 4. Oktober 1934. 103 Stephenson, Jill, »Verantwortungsbewußtsein«: Politische Schulung durch die Frauenorganisationen im Dritten Reich, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich Teil 2, hrsg. v. Manfred Heinemann, Stuttgart 1980, S. 194. <?page no="245"?> Deutschen Frauenwerk, die Frauen in führenden Positionen der Deutschen Arbeitsfront, des Reichsnährstandes, des Luftschutzbundes, des weiblichen Arbeitsdienstes und des Deutschen Roten Kreuzes ideologisch geschult werden. 105 Bis 1938 wurden zwei Reichsschulen der NS-Frauenschaft und 32 Gauschulen ähnlich der Bruchsaler Schule eingerichtet. Dort erhielten aktive und zukünftige Leiterinnen der nationalsozialistischen Frauenorganisationen außer Einführungen in fachbezogene Inhalte, Hilfen für die Anfertigung von Vorträgen, rhetorische Unterweisungen und Instruktionen zur richtigen Wiedergabe von Anordnungen der Reichsleitung der NSDAP. Die besonders fähigen Mitarbeiterinnen der NS-Frauenschaft hatten dann die Aufgabe, die erlernten Inhalte beispielsweise als Block- und Zellenfrauenschaftsleiterinnen, Lehrerinnen an den Mütterschulen oder Hauswirtschaftsberaterinnen an die breite Masse der deutschen Frauen weiterzugeben. 106 Am ersten Lehrgang der Bruchsaler Gauschule nahmen unter Aufsicht von Dora Horn-Zippelius 16 Kultur- und Pressereferentinnen der NS-Frauenschaft teil. Sie hörten Vorträge über den »Nationalsozialismus als Weltanschauung«, das Thema »Festgestaltung« und über »Rassen- und Familienforschung«. Und Dora Horn-Zippelius brachte den Teilnehmerinnen die »Urgründe der Mutterschaft« näher. Am letzten Tag erläuterte Regierungsrat Goll den Zuhörerinnen die ersten rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Staates. Lapidar und ohne jede menschliche Regung führte er aus, daß in der Zukunft mit der Sterilisation von 400.000 Menschen gerechnet werden müsse, darunter seien 15.000 Badener, von denen man bis August 1934 bereits 1.400 operiert hätte. 107 Die Mitglieder der NS-Frauenschaft über die beabsichtigten eugenischen, rassenpolitischen und antisemitischen Maßnahmen der NS-Regierung zu informieren, damit diese wiederum in der breiten Masse der weiblichen Bevölkerung dafür Verständnis weckten, blieb in den nächsten Jahren eine der wichtigen Aufgaben der Leiterinnen der NS-Frauenschaft. 108 Daher übernahm Dora Horn-Zippelius seit 1933 auch die Aufgabe, das Veranstaltungs- und Vortragsprogramm der verschiedenen Ortsgruppen der NS-Frauenschaft zu überwachen. Es mußte ihr zur Genehmigung vorgelegt werden, und sie vermittelte dann Redner und Rednerinnen sowie Vorträge »politischer, kultureller, wirtschaftlicher und hausfraulicher Art«. 109 So nahmen Referate über »Die Judenfrage«, »Rasse und Weltanschauung«, »Rasse ist Anette Michel 244 104 Vgl. Scholtz-Klink, Gertrud (Hrsg.), Was will die NS-Frauenschaft? Kurze Anweisungen für die Arbeit in der NS-Frauenschaft, o.O. o.J., GLA 465d/ 1460. 105 Vgl. »Der Führer«, 1. Januar 1936. 106 Vgl. Dammer, Susanna, Kinder, Küche, Kriegsarbeit - Die Schulung der Frauen durch die NS-Frauenschaft, in: Mutterkreuz und Arbeitsbuch. Zur Geschichte der Frauen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, hrsg. v. der Frauengruppe Faschismusforschung, Frankfurt/ Main 1981, S. 215 - 245, hier S. 228 f. 107 Vgl. »Der Führer», 13. Oktober 1934. 108 Vgl. Stephenson (wie Anm. 103), S. 200. 109 »Der Führer», 13. Oktober 1933. <?page no="246"?> Schicksal« und »Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«, »Das Versailler Diktat«, »Die zionistischen Protokolle« neben Vorträgen wie »Grenzlandkampf und auslandsdeutsches Schicksal«, »Die Hausfrau als Hüterin der Volksgesundheit«, »Die Nationalsozialistin und ihre Kleidung«, »Wie verwerten wir unsere Seefische? « und »Erziehungsfrage im Kleinkinderalter« einen festen Platz im Vortragskanon der NS-Frauenschaft ein. 110 Dora Horn-Zippelius selbst hatte sich - wie es sich aus den Titeln ihrer Schulungsvorträge erkennen läßt - auf das Thema »Frau und Mutter« spezialisiert, sie sprach aber auch über »Nationalsozialistische Weltanschauung«. 111 Als Gauschulungsleiterin und Gaupropagandaleiterin der NS-Frauenschaft reiste sie in Baden umher, besuchte Tagungen, sprach vor Kreisfrauenschaftsleiterinnen und auf den monatlich stattfindenden Pflichtabenden der NS-Frauenschaft und des Deutschen Frauenwerks, an denen alle Mitglieder unter Androhung von Ausschluß teilnehmen mußten. 112 1936 endete abrupt die Tätigkeit von Dora Horn-Zippelius für die NS-Frauenschaft in Baden. Anscheinend ohne ihre Zustimmung entließ die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink sie im September 1936 als Gauschulungsleiterin und Leiterin der Frauenschaftsschule in Bruchsal. 113 Seit Februar 1937 nahm dann die wesentlich jüngere Frauenschaftsleiterin des Kreises Bruchsal, Gertrud Gilg, den Posten der Gauschulungsleiterin ein. 114 Scholtz-Klink hielt die Karlsruherin für »moralinsauer«. Sie tauge für diese Stellung nicht mehr. Die Quellen lassen nicht erkennen, was im einzelnen hinter der Entscheidung Scholtz-Klinks stand 115 , doch deutet ihre Charakterisierung als »moralinsauer« darauf hin, daß Horn-Zippelius die Radikalisierung in der NS-Rassen-, Frauen- und Bevölkerungspolitik nicht mittragen wollte, die seit 1935 offensichtlich wurde. 116 So ließ der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, 1935 die sogenannten Lebensbornheime einrichten, die für die Freundinnen, Geliebten und Ehefrauen von SS- Männern und Wehrmachtsangehörigen konzipiert waren. Sie sollten den Kinder- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 245 110 Vgl. »Der Führer», 15. Oktober 1933, »Der Führer», 14. November 1933, »Der Führer», 5. Dezember 1933, »Der Führer», 11. April 1934, »Der Führer», 16. Mai 1934, »Der Führer», 13. Juni 1934, »Der Führer», 27. Juni 1934, »Der Führer», 15. Juni 1935, »Der Führer», 17. März 1936, »Der Führer», 25. März 1936. 111 Ihre Vorträge lauteten beispielsweise: »Die Pflicht der deutschen Frau am 12. November« (»Der Führer», 29. Oktober 1933), »Nationalsozialismus und deutsches Frauentum« (»Der Führer», 15. März 1934), »Die Frau und der Nationalsozialismus« (»Der Führer», 17. März 1934), »Die Mutteraufgabe der deutschen Frau« (»Der Führer», 25. März 1934), »Nationalsozialistische Weltanschauung« (»Der Führer», 1. Februar 1935), »Weltanschauung und Lebenshaltung der deutschen Frau« (»Der Führer», 21. Januar 1936) etc. 112 Vgl. »Der Führer», 1. Februar 1935 und 17. Juni 1936. 113 Vgl. GLA 51/ 6/ 8925. 114 Vgl. GLA 465 a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 115 Vgl. Brief von Anna Engelhorn, 1. September 1947 (Privatbesitz von Dr. Adelhard Zippelius). 116 Vgl. Gespräch mit Dr. Adelhard Zippelius (wie Anm. 35). <?page no="247"?> reichtum und nach ihren Statuten die »Auslese« eines »nordisch-arischen« Geschlechts fördern 117 und waren wegen ihrer Tendenz zur Aufwertung der unehelichen Mutterschaft und Tolerierung sexueller Beziehungen außerhalb der Ehe unter den Mitarbeiterinnen der Reichsfrauenführung nicht unumstritten. 118 Selbstbewußte, emanzipierte und auf die Würde der Frau bedachte Mitglieder der NS-Frauenschaft wie Dora Horn-Zippelius, denen es bei ihrer Arbeit um die »moralische und sittliche Hebung der Frau und Mutter« ging 119 , konnten sich kaum mit Institutionen wie den Lebensbornheimen oder gar den weiterführenden Plänen Hitlers und Himmlers, die polygame Ehe einzuführen, einverstanden erklären. 120 Parolen wie: »Ihr könnt nicht alle einen Mann kriegen, aber Mutter könnt ihr alle werden« 121 dürften Dora Horn-Zippelius entsetzt haben. Den engen Zugriff der nationalsozialistischen Parteiorganisationen auf Mädchen und Jungen hatte sie beständig abgelehnt, da ihrer Auffassung nach für deren persönliche Entwicklung »letzten Endes die Mutter allein« verantwortlich sein sollte. 122 Zu Horn-Zippelius’ Entlassung dürfte außer ihrer oppositionellen Haltung in moralischen Fragen ihr hohes Alter von 61 Jahren beigetragen haben. Bereits 1934 hatte ein Schulungsleiter der Reichsfrauenschule in Coburg, wo sie an einer Fortbildung teilnahm, die Empfehlung ausgesprochen, Horn-Zippelius »trotz ihrer Gaben« nicht den Posten der Gauschulungsleiterin zu übertragen, da sie »über ihre Jahre hinaus alt« sei. 123 Ihre Absetzung fiel in eine Zeit, in der auch andere Nationalsozialisten, die im Grunde konservative Persönlichkeiten waren, gleichzeitig kämpferisch-völkischen Ideen und schwärmerischen Vorstellungen über eine idyllisch-germanische oder mittelalterliche Vergangenheit anhingen, ihre Bedeutung und ihren Einfluß verloren. Auch der alte Bekannte Paul Schultze-Naumburg, der »als Galionsfigur eines vaterländischen Bürgertums den Nationalsozialismus [...] in besseren Kreisen salonfähig gemacht« hatte, aber nach der Etablierung des NS-Staates nicht mehr gebraucht wurde, wurde abgeschoben. 124 Horn-Zippelius selbst äußerte sich denn auch enttäuscht über die Entwicklung, die die NSDAP in den Jahres ihres Engagements genommen hatte, und prangerte in ihrem Bekanntenkreis die Mißstände und Übergriffe einzelner Parteiführer an. 125 Ihr Anette Michel 246 117 Zu den Lebensbornheimen vgl. die grundlegende Studien von Lilienthal, Georg, Der »Lebensborn e.V.«. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik, überarb. u. erweit. Ausgabe Frankfurt/ Main 1993, S. 42. 118 Vgl. Vorwerck, Else, Gedanken über die Ehe im nationalsozialistischen Staat, in: N.S. Frauenbuch, hrsg. v. der N.S. Frauenschaft, zusammengest. u. bearb. v. E. Semmelroth, R. v. Stieda, München 1934, S. 143 - 148, hier S. 147. 119 Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 120 Vgl. Frevert (wie Anm. 46), S. 230. 121 Vgl. Matzen-Stöckert (wie Anm. 6), S. 165. 122 Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 123 BA, Abt. III (BDC), PK Zippelius, Dora. 124 Vgl. Durth (wie Anm. 29), S. 121. <?page no="248"?> unerschütterlicher Glaube an den Nationalsozialismus und die Hoffnung auf eine Besserung der Zustände jedoch waren so groß, daß sie sich 1937 intensiv um eine Audienz bei Hitler bemühte, um ihm über Korruptionsfälle zu berichten. 126 Nachdem Hitler aber eine Unterredung abgelehnt hatte, zog sie sich entmutigt ins Privatleben zurück. Sie verblieb in der Reichskammer der Bildenden Künste und widmete sich wieder verstärkt der Malerei. 127 Ihren fast naiv zu nennenden Glauben an eine Regeneration der nationalsozialistischen Ideen scheint sie bis zum Kriegsende nicht verloren zu haben. 1940 vertraute sie einer Freundin an, daß sie auf ein für Deutschland siegreiches Kriegsende hoffe. Sie war überzeugt, daß die jungen Soldaten in der Wehrmacht nach einem endgültigen militärischen Erfolg »Partei und Staat von Mißständen reinigen« und wieder »gesunde und saubere Verhältnisse« herstellen würden. 128 Nach Aussagen ihres Sohnes und einer guten Bekannten »mißbilligte« sie die Verfolgung und Ermordung der Juden. Physische Gewalt und radikaler Fanatismus stießen sie ab. 129 Die Niederlage 1945 und der Einmarsch der Alliierten müssen den Zusammenbruch ihres Weltbildes ausgelöst haben. 1947 wurde sie vor der Spruchkammer Karlsruhe angeklagt. Die Befragungen des öffentlichen Anklägers ergaben anscheinend keine Anhaltspunkte für ein weiteres Verfahren. 130 Zeugen, die Negatives oder Belastendes über sie aussagen wollten, fanden sich nicht. Im Februar 1948 beantragte der öffentliche Ankläger daher, das Verfahren gegen Dora Horn-Zippelius aufgrund der Weihnachtsamnestie einzustellen. Sein Antrag wurde von der Militärregierung genehmigt. 131 Dora Horn-Zippelius lebte bis zu ihrem Tod in Karlsruhe. In den 50er Jahren präsentierte der Badische Kunstverein ihr malerisches Lebenswerk in einer großen Ausstellung. 132 Die Badischen Neuesten Nachrichten würdigten sie als Künstlerin mit mehreren Artikeln. 133 Über die Zeit des Nationalsozialismus äußerte sie sich in der Öffentlichkeit niemals. Bis in ihre letzten Lebensjahre malte sie, schrieb Gedichte und Erzählungen. 134 Am 17. Februar 1967 starb sie im Alter von 91 Jahren in Karlsruhe. 135 Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 247 125 Vgl. Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 126 Vgl. Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 127 Dr. Adelhard Zippelius (wie Anm. 35). 128 Vgl. Brief von Anna Engelhorn (wie Anm. 42). 129 Dr. Adelhard Zippelius (wie Anm. 35). 130 Vgl. GLA 51/ 6/ 8925. Nicht geklärt werden konnte, warum in der Akte die sonst üblichen Dokumente über ihren Lebenslauf und einschlägige Zeugnisse fehlen. 131 Vgl. GLA 51/ 6/ 8925. 132 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 13. Februar 1957. 133 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 24. September 1962, 22. Februar 1967, 17. August 1968, 21. Mai 1969. 134 Vgl. Badische Neueste Nachrichten, 22. Februar 1967. 135 Vgl. Dora Horn-Zippelius, in: Zeitungsausschnittsammlung des Stadtarchivs Karlsruhe, Ordner Bildende Künstler und Architekten, Weio-Z. <?page no="249"?> Gertrud Gilg Gertrud Gilg wurde 1901 als Tochter des Joh. Georg Schmid und seiner Ehefrau Wilhelmine in Bruchsal geboren. In der nordbadischen, katholisch geprägten Barockstadt besaßen ihre Eltern eine kleine Seifenfabrik, direkt neben dem Schlachthof am Stadtrand gelegen. Dort wuchs Gertrud Schmid mit zwei Schwestern in einer protestantischen Familie auf. Nachdem sie die Volksschule besucht hatte, absolvierte sie die Höhere Mädchenschule in Bruchsal und nahm anschließend an einem Handelsschulkurs teil. In ihrer Freizeit fand die Wandervogelbewegung ihr Interesse, und sie zog bald darauf an den Wochenenden mit Freundinnen und Verwandten in die nahe Umgebung. Nichts wies bei dem jungen Mädchen auf ein späteres Interesse an Politik hin. Einzig der Wunsch Lehrerin zu werden, deutete auf eine unerfüllte Wißbegier und die Freude am Unterrichten. Ihre Eltern unterstützten dieses Ansinnen nicht, weil sie als wohlhabende Geschäftsleute meinten, daß ihre Tochter es nicht »nötig« hätte, eine lange Ausbildung zu machen und einen Beruf zu ergreifen. 136 Wie viele andere junge Frauen in der Weimarer Republik arbeitete Gertrud Schmid vor ihrer Heirat kurze Zeit in einem Büro und half dann ein Jahr lang ihren Eltern in Geschäft und Haushalt. 137 Eine bedeutende Zäsur in ihrem Leben war vermutlich 1921 die Heirat mit dem fast 20 Jahre älteren Rudolf Gilg. Mit ihrem Ehemann verließ sie zum erstenmal Bruchsal und zog nach Kehl. Kurz hintereinander, 1922 und 1923, gebar sie einen Sohn und eine Tochter. Gertrud Gilgs Ehemann, Sohn eines evangelischen Oberkirchenrats aus Karlsruhe, der im Kaiserreich aufgewachsen war und am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte, dürfte mit seiner politischen Einstellung einen nicht unerheblichen Einfluß auf die spätere weltanschauliche Überzeugung seiner Ehefrau ausgeübt haben. 138 1882 geboren, repräsentierte er jene Generation, die in den Jahren nach der verheerenden Niederlage des Deutschen Reiches enttäuscht, ja traumatisiert wurde. Gilg war im Ersten Weltkrieg als Offizier der Handelsmarine bei der Sprengung deutscher Schiffe in einem chilenischen Hafen 1917 so schwer verunglückt, daß er mit einem Wirbelbruch zum Invaliden wurde. Nach dem Krieg verlor er seine Stellung als Schiffsoffizier, war zeitweise arbeitslos und mußte mehrmals seinen Beruf wechseln. Daher schien ihm Mitte der 20er Jahre die NSDAP, die »Arbeit und Brot« für alle versprach, der letzte Rettungsanker zu sein. Er trat im August 1926 in die Partei ein, wurde später Kreisrichter der NSDAP, Stadtverordneter für die NSDAP in Bruchsal, Mitglied der SS und Ortsgruppenleiter der NS-Volkswohlfahrt. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten ermöglichte ihm, beruflich wieder Fuß Anette Michel 248 136 Vgl. Gespräch mit Dr. Hans Gilg und seiner Ehefrau, 31. Juli 1996. Privatbesitz der Verfasserin; GLA 465a Ztr. Spr. K/ B / Sv/ 442. 137 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 138 Die nachfolgenden Aussagen und Zitate über Rudolf Gilg sind seiner Spruchkammerakte entnommen. Vgl. GLA 54/ 1/ 10752. <?page no="250"?> zu fassen und aufzusteigen. Zwar hatte er 1926 einen Posten als Angestellter beim Finanzamt in Bruchsal erlangt, aber erst 1935 unter der NS-Regierung wurde er vom badischen Staat fest angestellt, erhielt eine Stelle als Verwaltungsassistent und wurde 1942 zum Regierungsobersekretär befördert. Für Rudolf Gilg und seine Frau dürften nicht nur wirtschaftliche und soziale Motive - wie sie später angaben - ausschlaggebend gewesen sein, sich mit der nationalsozialistischen Bewegung einzulassen. Rudolf Gilg gestand später, daß ihm außer der Losung »Arbeit und Brot« auch andere Parolen der NSDAP gefallen hatten. Auf ihn wirkten vor allem die nationalistischen und expansionistischen Versprechungen: »23 Jahre war ich in der ganzen Welt - ich fuhr zur See - und sah immer, dass Deutschland gross, stark und mächtig, sowie auch gefürchtet war. Als ich im Dezember 1913 zum letzten Mal hinausfuhr und 1919 zurückkam, war in Deutschland alles zerschlagen. Wir waren ein Spott und Hohn für alle Negerstaaten. In Hitlers Programm stand, dass Deutschland wieder Auslandsgeltung verschafft werden sollte.« So wurde Gilg das »älteste Mitglied der NSDAP« und »eine der ersten Stützen des Naziregimes« in Bruchsal. 139 Wie ihr Ehemann sympathisierte Gertrud Gilg seit der Mitte der 20er Jahre mit der NSDAP. Ihr ganzes persönliches Umfeld, Freunde, Bekannte und Verwandte traten bald in die NSDAP ein. 140 So begleitete auch sie ihren Mann auf Parteiversammlungen und war fasziniert von den Aussagen Hitlers über die Rolle der Frau und Mutter im zukünftigen NS-Staat. Besonders beeindruckt hatte sie der Satz: »Ich sehe in jeder Frau die Mutter unseres ewigen Volkes«. 141 Nachhaltig wirkte diese Aussage vor allem, weil einige Jugendliche Gertrud Gilg, als sie ihr erstes Kind erwartete, auf der Straße verhöhnt und verspottet hatten. 142 Offiziell schloß sie sich den Nationalsozialisten jedoch erst an, als in Bruchsal eine Ortsgruppe des Deutschen Frauenordens gegründet wurde. Einige Frauen aus Bruchsal, darunter vermutlich auch Gertrud Gilg, hatten Ende 1930 die badische Gauleiterin des Deutschen Frauenordens Gertrud Scholtz-Klink gebeten, in ihre Stadt zu kommen, um dort eine neue Ortsgruppe zu etablieren. Gertrud Gilg gehörte der neuen Gruppierung mit zwölf Mitgliedern seit dem 20. Dezember 1930 an und übernahm zugleich einen Posten als Kassiererin. Nur drei Monate später, am 1. März 1931, trat sie auch der NSDAP bei. 143 Zu diesem Zeitpunkt betrug der Frauenanteil in der NSDAP 7,8%. 144 Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 249 139 GLA 54/ 1/ 10752. 140 Vgl. Gespräch mit Dr. Hans Gilg (wie Anm. 136). 141 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 142 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 143 Vgl. Bruchsaler Neue Zeitung, 23. Februar 1944; GLA 465a Ztr.Spr. K/ B/ Sv/ 442. Nach den Mitgliederkarteikarten des Deutschen Frauenwerks und der NSDAP gehörte Gertrud Gilg dem Deutschen Frauenorden bereits seit dem 1. Juli 1930 an. Der Mitgliederkartei zufolge trat sie am 1. Dezember 1931 aus der NSDAP aus und neun Monate später wieder ein. Diese Angaben erwähnte sie in ihren Lebenslaufschilderungen nicht. Vgl. BAP, ZA I 11030 Bl. 34 und BA, Abt. III (BDC), NSDAP-Mitgliederkarteikarte. 144 Vgl. Kater (wie Anm. 59), S. 206. <?page no="251"?> Nach 1945 nannte Gertrud Gilg als einen der wichtigsten Beweggründe für ihren Beitritt das Ziel des Deutschen Frauenordens, die »Frauen aller Schichten und Stände zusammenzufassen, um gemeinsam der andrängenden Not zu steuern.« 145 Sie verschwieg jedoch andere programmatische Schwerpunkte dieser völkischen Frauenorganisation, die über jene von ihr angegebenen sozialrevolutionären Forderungen hinausgingen. Junge Mädchen sollten zu »rassebewußten, deutschen Frauen« erzogen werden. Und nur »deutschblütige« Frauen durften sich den karitativen Arbeiten in der Organisation widmen, die ausschließlich »deutschen« Personen, vor allem Angehörigen der NSDAP, zugute kommen sollten. 146 Allein von der NSDAP versprach sich Gertrud Gilg, wie sie formulierte, eine »tatkräftige Hilfe«, um den »wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands«, die »allgemeine Unsicherheit der Existenz« und die Arbeitslosigkeit zu beseitigen. 147 Die Mitglieder des Deutschen Frauenordens und später der NS-Frauenschaft konzentrierten sich in Bruchsal zu Anfang der 30er Jahre auf die gleichen sozialen Aufgaben wie die Anhängerinnen des Nationalsozialismus in Karlsruhe. Gertrud Gilg half in einer Volksküche mit und beteiligte sich an Kleider- und Schuhsammlungen. Für arbeitslose Mädchen und Frauen richteten die Bruchsalerinnen in der NS-Frauenschaft Näh-, Flick- und Hauswirtschaftskurse ein. Darüber hinaus gründeten sie Nähstuben und Kinderkrippen auch im Bruchsaler Umland, in Kronau und Rheinhausen. Gertrud Gilg beschränkte ihren emsigen Einsatz für die NSDAP nicht auf die NS-Wohlfahrtsarbeit, auf deren Leistungen sie sehr stolz war. 148 Rechtzeitig vor der Reichstagswahl im Juli 1932 wurde sie wie Dora Horn-Zippelius in Karlsruhe vom badischen Gauleiter Robert Wagner zur Kreispropagandaleiterin der NS-Frauenschaft und zur Wahlrednerin der NSDAP im Kreis Bruchsal ernannt. Ihre rastlosen Bemühungen im Dienst der nationalsozialistischen Propaganda würdigte im Oktober 1932, einen Monat vor der zweiten Reichstagswahl, die Karlsruher NS-Tageszeitung »Der Führer« in einem Artikel: »Unermüdlich arbeitet in der Frauenschaft, alle Widerstände mißachtend, Frau Gilg, Bruchsal. Der Erfolg konnte nicht ausbleiben. Ihr gelang es am 21. September in Neudorf eine NS-Frauenschaft zu gründen, in Kronau entstand am 28. September eine Frauenschaft, die beide eine erfreulich große Mitgliederzahl aufweisen.« 149 Der »Führer« hob den Erfolg der Mitglieder der NS-Frauenschaft besonders hervor, da in dem stark katholisch geprägten Bruchsaler Wahlkreis die NSDAP mit heftigen Ressentiments der Bevölkerung zu rechnen hatte. Sich der Anstrengungen und Erfolge der nationalsozialistisch gesinnten Frauen bewußt, lobte die NS-Zeitung ihren Einsatz: »All den mutigen Frauen, die hier auf vorgeschobenen Posten die Ideale Adolf Hitlers verfechten, ein dreifaches Heil! Anette Michel 250 145 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 146 Nationalsozialistische Frauenschaft (wie Anm. 63), S. 10 f. 147 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 148 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B / Sv/ 442. 149 »Der Führer», 16. Oktober 1932. <?page no="252"?> In Bruchsal sind wir Nationalsozialisten heute die zweitstärkste Partei! Stadt und Land beginnen aufzuwachen.« 150 Tatsächlich war es der NSDAP bei der Reichstagswahl am 6. November 1932 gelungen, sich sogar in Bruchsal, wo jahrzehntelang immer das Zentrum mit großem Abstand die meisten Wählerstimmen erreicht hatte, mit 30,5% Stimmen dem Ergebnis des Zentrums, das 36,4% erhalten hatte, anzunähern. 151 Welchen Anteil Gertrud Gilg daran hatte, wußte auch der spätere Bürgermeister von Bruchsal, Professor Franz Bläsi. Im Januar 1947 stellte er fest: »Gilg war eine der Hauptstützen des Naziregimes in Bruchsal. Die Frau trieb einen förmlichen Hitlerkult. Als gute Rednerin hat sie an hunderten von Abenden vor Frauen landauf - landab gesprochen.« 152 Sie verausgabte sich so für die nationalsozialistische Propaganda- und Wohlfahrtstätigkeit, daß sie kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten im April 1933 wegen Überarbeitung für ein paar Monate aus ihrer Arbeit ausscheiden mußte. 153 Nachdem sie sich von den Strapazen des Wahlkampfes erholt hatte, wurde ihr im Herbst 1933 das Amt der Ortsfrauenschaftsleiterin übertragen. Damit begann Gertrud Gilgs Karriere in der NS-Frauenschaft, die sie schließlich in den hauptamtlichen Dienst für die NSDAP führte. Vom September 1935 bis Mai 1937 war sie Kreisfrauenschaftsleiterin der NS-Frauenschaft in Bruchsal. Seit Februar 1937 arbeitete sie zudem als Gauschulungsrednerin in der Nachfolge Dora Horn-Zippelius’, später als Gauunterabteilungsleiterin und Gauschulungsleiterin für den Gau Baden der NS- Frauenschaft. 1941 wurde sie mit der zehnjährigen Dienstauszeichnung der NSDAP in Bronze geehrt. 154 Bis 1945 konnte sie durch ein zwar nicht hoch dotiertes, aber dennoch angemessenes Gehalt zum Lebensunterhalt ihrer Familie beitragen. 155 Den Aussagen ihres Sohnes zufolge war jedoch der finanzielle Aspekt kein ausschlaggebender Grund für ihre Arbeit, da ihr Ehemann die Versorgung der Familie sicherstellen konnte. 156 Gertrud Gilgs Aufgaben als Ortsfrauenschaftsleiterin wurden von der Reichsfrauenführung genau definiert. Ortsfrauenschaftsleiterinnen sollten Kontakt zu denjenigen Frauen herstellen, die weder in den reinen NS-Frauenorganisationen noch in anderen Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 251 150 »Der Führer», 16. Oktober 1932. 151 Vgl. Heuchemer, Anton, Zeit der Drangsal. Die katholischen Pfarreien Bruchsals im Dritten Reich, Bruchsal 1990, S. 68. 152 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 153 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 154 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 155 Eine Angestellte der Gaufrauenschaftsleitung im Rang einer Gausachbearbeiterin verdiente ca. 150 Reichsmark im Monat. Vgl. GLA 51/ 56/ 26676. Gilg hatte bei Kriegsende ein monatliches Einkommen von 280 Reichsmark. Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. Im Vergleich dazu betrug der Bruttoverdienst einer Volksschullehrerin 1933 etwa 250 RM und der eines Arbeiters 200 RM. Vgl. Rossmeissl, Dieter, »Ganz Deutschland wird zum Führer halten ...«. Zur politischen Erziehung in den Schulen des Dritten Reiches, Frankfurt/ Main 1985, S. 186, Anm. 26. 156 Vgl. Gespräch mit Dr. Hans Gilg (wie Anm. 136). <?page no="253"?> nationalsozialistischen Verbänden erfaßt waren. Die große, unorganisierte Masse der deutschen Frauen sollten sie für die Verordnungen und Gesetze des NS-Staates aufgeschlossen machen, einzelne Punkte ausführlich erklären und für die Durchführung bestimmter Maßnahmen wie beispielsweise der »Erbgesundheitsgesetze« oder der »Nürnberger Rassengesetze« Verständnis wecken. Einen möglichen Protest durften sie gar nicht erst aufkommen lassen. 157 Da sich Gertrud Gilgs Wirkungskreis in einer ländlich strukturierten Gegend befand, erhielt sie 1934 zusätzlich noch das Amt der »Kreisbäuerin«. In dieser Funktion referierte sie unter anderem auch in der Gauschule der NS-Frauenschaft in Bruchsal über »Die Frau in der Volksgemeinschaft«, »Vom Lebensgesetz der Frau«, »Die Frau im Beruf«, »Die Aufgaben und Ziele der NS-Frauenschaft«. 158 Um für die Mitarbeit im NS-Staat zu werben und die propagierte Volksgemeinschaft zu demonstrieren, halfen Gertrud Gilg und ihre Mitarbeiterinnen den Bäuerinnen bei der Bewältigung ihrer mühseligen Alltagsaufgaben. Bei der Ernte, der Kinderbetreuung und im Haushalt standen sie den überlasteten Frauen auf dem Land zur Seite. Daß diese praktische, direkte Unterstützung in den Dörfern nicht ohne ideologischtaktische Hintergedanken geleistet wurde, belegt eine Anordnung aus dem Amtswalterinnenblatt der NS-Frauenschaft von 1934: »Die NS-Frauenschaft hat das Primat, die Lehre Adolf Hitlers in das letzte Bauern-, Arbeiter- oder Handwerkerhaus des Dorfes zu tragen. [...] Die NS-Frauenschaft ist das scharf geschliffene Instrument der Partei zur Eroberung der Familie.« 159 Damit Gertrud Gilg die an sie gestellten Forderungen erfüllen konnte, wurde sie selbst regelmäßig geschult. Im Herbst 1936 nahm sie an einer Schulungstagung für Kreisfrauenschaftsleiterinnen auf der »Ordensburg Crössinsee« teil. 160 In den sogenannten »Erziehungsburgen« der NSDAP wurde der hauptberufliche Parteinachwuchs, dem außer Fachwissen der entsprechende Kämpfergeist und ein elitäres Bewußtsein vermittelt werden sollten, für Amtsleiterposten ausgebildet. 161 Zur Bewältigung ihrer alltäglichen Pflichten als Kreisfrauenschaftsleiterin stand Gertrud Gilg ein Mitarbeiterinnenstab zur Seite. Obwohl sie dem Kreisleiter der NSDAP disziplinarisch untergeordnet war, hatte sie als Frauenschaftsleiterin eigene Handlungsspielräume. Den Frauen, die ihr direkt unterstanden, konnte sie Anweisungen erteilen, denen jene strikt Folge leisten mußten. 162 Im Kreis Bruchsal gab es Anette Michel 252 157 Vgl. Nachrichtendienst der Reichsfrauenführung, Folge 6, August 1940, S. 236. 158 Weitere Titel ihrer Vorträge waren: »Die Aufgabe der Ortsfrauenschaftsleiterin«, »Der mütterliche Auftrag der Frau in Familie und Volk«, »Grundfragen der Erziehung«, »Betreuung der heranwachsenden Jugend« Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 159 Amtswalterinnenblatt, Folge 5, 1934, S. 85. 160 Vgl. »Der Führer», 28. November 1936. 161 Vgl. Scholtz, Harald, Die »NS-Ordensburgen«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), S. 269 - 298. 162 Vgl. Kater (wie Anm. 59), S. 225 und Klinksiek (wie Anm. 69), S. 21. Im Spruchkammerprozeß von Else Paul, der Stellvertreterin der Reichsfrauenführerin Scholtz-Klink, erläuterte die Stuttgarter Anwältin Dr. Emmy Diemer die Befugnisse von Abteilungsleiterinnen in der Gauführung: »Diese <?page no="254"?> Anfang 1937 jeweils Sach- und Abteilungsleiterinnen für das »Hauswirtschaftsjahr«, für »Mütterschulung«, »volkswirtschaftliche Hauswirtschaft«, »Grenz- und Ausland«, »Kultur/ Erziehung/ Schulung« und »Rassenpolitik«, die gleichzeitig den verschiedenen Abteilungen des Deutschen Frauenwerks vorstanden. Zu Gilgs Aufgaben gehörte es seit 1934 im Zuge der Gleichschaltungsmaßnahmen, die noch bestehenden Frauenvereine und -verbände in die jeweiligen Abteilungen des Deutschen Frauenwerks aufzunehmen und dort zu zentralisieren. 163 Reichsweit und dann auch auf regionaler und lokaler Ebene wurde zuerst die Abteilung »Reichsmütterdienst« aufgebaut, der sich Gilg besonders annahm. Die politische Aufgabe dieser Abteilung bestand darin, Frauen für die Ziele der nationalsozialistischen Rassen- und Bevölkerungspolitik zu vereinnahmen. Sie sollten möglichst viele, nach den Rassegesichtspunkten wertvolle »arische und erbgesunde« Kinder gebären und diese dann im Sinne des Nationalsozialismus erziehen. Die von der Kreisfrauenschaftsleiterin unter anderem angebotenen Säuglingspflegekurse durften nach den Richtlinien der Reichsfrauenführung nur die an »Leib und Seele« gesunden Frauen besuchen. 164 Von allen geburtenfördernden Maßnahmen und Vergünstigungen wie den Mütterschulungen, Ehestandsdarlehen und Mutterkreuzverleihungen ausgeschlossen waren Jüdinnen, Frauen der Sinti und Roma, Mütter, die behinderte Kinder geboren hatten und zahlreiche andere Frauen, die nicht den nationalsozialistischen Anforderungen an Rasseeigenschaften, Gesundheit oder Tugend entsprachen. 165 Diese Diskriminierungen und Ausgrenzungen erwähnte Gertrud Gilg nicht in ihren Reden über »Die Frau in der Volksgemeinschaft« oder »Der mütterliche Auftrag der Frau in Familie und Volk«. Ebenso waren die radikal durchgeführten Zwangssterilisationen und der forcierte Ausschluß von Frauen aus bestimmten Berufsgruppen keine Themen ihrer Vorträge. 166 Gilgs Anliegen war die Glorifizierung der »deutschen Mutter«. Bei Abschlußabenden von Mütterschulungskursen half sie mit, den sakrale Züge annehmenden NS-Mutterkult zu inszenieren. Am Ende einer pompös arrangierten Mütterveranstaltung im Mai 1937 mit feierlich vorgetragenen Liedern und einem Gedicht, das Hitler gewidmet war, sprach sie z.B. über die Frau, die »die ewige Hüterin des Volkes« sei. Als Mutter sei die Frau die »Seele der Familie« und stehe in ihrem »Mittelpunkt«. Gertrud Gilgs Ansprache kulminierte in der Verherrlichung Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 253 Frauen hatten für ihre Abteilungen selbständige Weisungsbefugnis, sie konnten Anleitungen für die Ausrichtung der gesamten Arbeit für die unteren Instanzen geben, sie hatten ein Zeichnungsrecht und vertraten ihre Aufgabengebiete bei den Gaufrauenschaftstagungen.« GLA 51/ 68/ 12 / 25. 163 Vgl. »Der Führer», 23. Februar 1937. 164 Die Richtlinien des Reichsmütterdienstes sind abgedruckt in: Lampert, Luise, Mütterschulung, Leipzig 1934, S. 186 und »Der Führer», 17. Januar 1937; »Der Führer», 12. April 1937. 165 Vgl. Weyrather, Irmgard, Muttertag und Mutterkreuz. Der Kult um die »deutsche Mutter« im Nationalsozialismus, Frankfurt/ Main 1993, S. 55ff, 83, 162 ff. 166 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442 und zur antinatalistischen Bevölkerungspolitik der Nationalsozialisten vgl. Bock (wie Anm. 2). <?page no="255"?> des »stillen Heldentums der deutschen Frau«. 167 In ihren Reden betonte sie aber auch, daß sich die Frauen nicht auf das »enge Leben zwischen vier Wänden beschränken, sondern am Leben des Volkes teilnehmen« sollten. Sie forderte die Frauen auf, die »echten Lebens- und Kampfgefährten« der Männer zu werden. 168 Auf den Müttern laste die immense Verantwortung für einen großen Teil des Volksvermögens und die Erziehung der Kinder. Eine Frau sei gleichermaßen zum Dienst am Staat verpflichtet wie der Mann. Und die Frauen müßten »die Idee des Führers im Herzen erfassen und sie ganz in sich aufnehmen.« 169 Diese Bemerkungen verdeutlichen, daß das nationalsozialistische weibliche Idealbild sich nicht nur aufgrund der rassistischen Vorgaben vom männlichen Konstrukt der bürgerlichen Frau des 18. und 19. Jahrhunderts abhob, die als emotionales, vorwiegend passives Wesen gesehen wurde, deren Wirkungskreis auf den häuslichen Binnenraum eingegrenzt und in der Öffentlichkeit fast unsichtbar bleiben sollte. 170 Distanzieren wollte sich Gertrud Gilg jedoch auch von dem Typus der berufstätigen, ledigen, eleganten und sexuell emanzipierten Frau, der sogenannten »neuen Frau« der Weimarer Republik, die »arm an Müttern« gewesen sei. Die Ursachen für die Entwicklung dieser Frauenrolle suchte sie antisemitisch argumentierend in der »jüdisch verseuchten Weltanschauung [...], deren erstrebenswertes Ideal die ›käufliche‹ Frau« gewesen sei. 171 Gertrud Gilg sprach in ihren Reden bis 1937 mehrmals über das Verhältnis des Nationalsozialismus zur Religion. 172 Seitdem 1935 der Kirchenkampf entbrannt war, dessen Ziel es war, den konfessionellen Einfluß im NS-Staat auszuschalten 173 , waren auch die nationalsozialistischen Rednerinnen verpflichtet, die Öffentlichkeit zu beruhigen und über die wahren Absichten des Nationalsozialismus zu täuschen. Gilgs Auftrag, die kirchlich gebundenen Frauen in den nationalsozialistischen Frauenorganisationen in Sicherheit zu wiegen, war nicht unbedeutend. Vermehrt waren katholische und evangelische Frauen aus der NS-Frauenschaft und dem Deutschen Frauenwerk ausgetreten, weil sie nicht mit der antikirchlichen Schulpolitik, den Verhaftungen von Priestern sowie den monatelangen diffamierenden Devisen- und Sittlichkeitsprozessen gegen Ordensmitglieder einverstanden gewesen waren. 174 Gertrud Gilg verschwieg in ihren Ausführungen die Verfolgungsmaßnahmen der Anette Michel 254 167 »Der Führer», 11. Mai 1937 und »Der Führer», 3. Oktober 1936. 168 »Der Führer», 12. April 1937. 169 »Der Führer», 11. Mai 1937. 170 Vgl. Stiehr, Karin, Auf der Suche nach Weiblichkeitsbildern im Nationalsozialismus, in: Verdeckte Überlieferungen: Weiblichkeitsbilder zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Fünfziger Jahren, hrsg. v. B. Determann u.a., Frankfurt/ Main, S. 27 - 39, hier S. 31 ff. 171 »Der Führer», 11. Mai 1937. 172 Vgl. »Der Führer», 11. Mai 1937; »Der Führer», 18. November 1937. 173 Vgl. Hehl, Ulrich von, Die Kirchen in der NS-Dikatatur. Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand, in: Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hrsg. v. K. D. Bracher u.a. (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 23), Düsseldorf 1992, S. 153 - 181, hier S. 163 - 173. 174 Kater (wie Anm. 59), S. 220; Koonz (wie Anm. 60), S. 221; Klinksiek (wie Anm. 69), S. 125. <?page no="256"?> Gestapo und der SS. Ganz im Sinne der nationalsozialistischen Propagandaanweisungen verwies sie auf das sogenannte »positive Christentum« des Nationalsozialismus und den ihrer Meinung nach »tiefen Glauben« des Führers »an das göttliche Gesetz der Gerechtigkeit und des Sieges des Guten«. 175 Die letzten »Gewissenszweifel« von Frauen versuchte sie zu zerstreuen, indem sie in völliger Verdrehung der Tatsachen behauptete, daß der Nationalsozialismus sich nie »gegen den Glauben gewendet« habe und riet den Frauen »eine reinliche Scheidung zwischen einem politisch-konfessionellen Klüngel und dem Glauben« zu treffen. 176 Ob Gertrud Gilg selbst naiv den Propagandaparolen des »positiven Christentums« vertraute, ist schwer zu beurteilen. Im Gegensatz zu anderen fanatischen Nationalsozialisten hielt sie den Kontakt zu einer Bruchsaler Familie aufrecht, deren Sohn wegen illegaler Weiterführung der katholischen Jugendgruppe »Neudeutschland« von der Gestapo überwacht wurde. 177 Von ihrer Vorgesetzten wurde Gilg nach 1945 »ein tiefes religiöses Empfinden« bescheinigt. 178 Es hinderte sie dennoch nicht, Anfang 1940 eine Broschüre des Freiburger Erzbischofs Gröber an das Gauschulungsamt der NSDAP zu schicken, damit jenes »einen wertvollen Einblick in eine der vielfachen Betätigungsmöglichkeiten dieser Kreise« nehmen konnte. 179 1943 trat Gilg aus der Kirche aus. Nach 1945 erklärte sie, dieser Schritt habe nichts mit der Partei zu tun gehabt und sei das Ergebnis einer jahrzehntelangen inneren Entwicklung gewesen. 180 Wie auch immer Gilgs private religiöse Einstellung gewesen sein mag, durch ihr öffentliches Eintreten trug sie zur Irreführung der Bevölkerung bei und leugnete die Diskriminierung und Verfolgung von Kirchenangehörigen. Bereits während ihrer Amtszeit als Ortsfrauenschaftsleiterin in Bruchsal wurde bei einem Schulungsabend der NS-Frauenschaft die katholische Kirche lächerlich gemacht. Diese antikirchliche Pr opag and a d er Natio nals oz ial is ten führt e n icht bei allen K irch enmi tglied ern - w ie zu erwarten gewesen wäre - zu einer Distanzierung vom Nationalsozialismus. Im Gegenteil, bereits Anfang 1934 hatten die katholischen Jugend- und Erwachsenenverbände in Bruchsal etwa 40% ihrer Mitglieder an NS-Organisationen verloren. 181 Gertrud Gilg konnte ihre rhetorischen Talente und ihre Fähigkeit, Menschen zu überzeugen, noch besser entfalten, als sie am 1. Februar 1937 die Nachfolgerin von Dora Horn-Zippelius wurde. Mit der ideologischen Betreuung der Leiterinnen der NS-Frauenschaft in Baden beauftragt, war Gilg nun als Gauabteilungsleiterin für Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 255 175 »Der Führer», 11. Mai 1937 und »Der Führer», 18. November 1937. 176 »Der Führer», 18. November 1937. 177 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442 und zur Gruppe »Neudeutschland« in Bruchsal, die später »Christopher« genannt wurde, vgl. Roegele, Otto B., Gestapo gegen Schüler. Die Gruppe »Christopher« in Bruchsal (Portraits des Widerstands 4), Konstanz 1994. 178 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 179 GLA 465d/ 1273. 180 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 181 Vgl. Heuchemer (wie Anm. 151), S. 104, 130. <?page no="257"?> weltanschauliche Schulung hauptamtlich für die NS-Frauenschaft tätig und leitete zudem seit Januar 1938 die neue Gauschule in Oberkirch. 182 Die Krönung ihrer Parteilaufbahn hatte Gilg nach den Worten der badischen Gaufrauenschaftsleiterin Elsa von Baltz ihrer aufopferungsvollen Arbeit »als alte Kämpferin der Bewegung« zu verdanken, die die »Frauen des Kreises Bruchsal im nationalsozialistischen Sinne« erfolgreich »ausgerichtet« hatte. 183 Anders als Dora Horn-Zippelius war Gertrud Gilg nicht nur wesentlich jünger, sondern anscheinend anpassungsfähiger, was die neuen Direktiven des NS-Staates in der Rassen- und Bevölkerungspolitik betraf. Dennoch beharrte auch Gilg wie Horn-Zippelius auf einem »streng moralischen Standpunkt«, »wenn von oben Richtlinien kamen, die sie nicht gutheissen konnte.« 184 So lehnte sie zum Beispiel ab, den »Stürmer« zu lesen, der für seine pornographischen Anspielungen bekannt war, und hielt auch nichts von jenen »Zweideutigkeiten, die in Punkto Bevölkerungspolitik das ›Schwarze Korps‹« veröffentlichte. 185 Ebenso verurteilte sie die Bestrebungen Hitlers, das uneheliche Kind dem ehelichen gleichzusetzen. 186 Bemerkenswert ist, daß ihr der ungeschminkte Antisemitismus der nationalsozialistischen Hetzblätter anscheinend nicht auffiel, aber eine der wenigen »progressiven«, wenngleich im Sinne der »Ideologie» instrumentalisierten, Maßnahmen der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Sozialpolitik, die Besserstellung des unehelichen Kindes, war für sie untragbar. Gilg wie ihre Vorgängerin griffen Aspekte der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik an, die ihren konventionellen Moralvorstellungen widersprachen oder die ihr eigenes Ansehen als »arische« deutsche Frau verletzten. So sehr ihre Bedenken gerechtfertigt waren, wenn sie die Gefahren erkannten, daß Frauen von einigen Nationalsozialisten als Sexualobjekte und »Gebärmaschinen« betrachtet wurden - Gilg beanstandete die Forderung, daß jede »deutsche Frau dem Führer ein Kind schenken sollte« -, um so mehr fällt auf, daß sie die Integrität und Würde »nichtarischer« Frauen kaum interessierte und berührte. Gilg verband mit ihrer in Teilen abweichenden Meinung keine grundsätzliche Kritik am NS-System, seiner »Ideologie» oder gar eine völlige Abkehr vom Nationalsozialismus. Sie zog aus ihrer differenzierenden Einstellung keine Konsequenzen für ihre weitere berufliche Arbeit. Und ihre kritischen Äußerungen hatten keine disziplinarischen Folgen. 187 Bis kurz vor Ende des »Dritten Reiches» hatte Gertrud Gilg keine prinzipiellen Zweifel am NS-Staat. 188 Während ihres Spruchkammerverfahrens sagte sie aus: »Es schien mir doch in diesem Staat alles in Ordnung zu sein, die Bau- und Siedlungs- Anette Michel 256 182 Vgl. »Der Führer», 18. Januar 1938. 183 »Der Führer», 27. Mai 1937. 184 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 185 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 186 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 187 Vgl. Tätigkeitsberichte an die Reichsfrauenführung vom März 1940 bis zum September 1943 in: GLA 465d/ 1273. 188 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. <?page no="258"?> häuser, die Arbeitsbeschaffung u.s.w.« Brutale Gewaltmaßnahmen der Nationalsozialisten wie die zahlreichen Erschießungen nach der sogenannten »Röhmaffäre« hielt sie für gerechtfertigt, da es sich um »Hochverrat« gehandelt habe. 189 Ob ihre dargelegte Arglosigkeit und Naivität der Wahrheit entsprachen, kann nicht überprüft werden; auf jeden Fall nahm sie ohne Zögern die Ernennung zur Gauschulungsleiterin an. Diese Tätigkeit umfaßte viele verschiedene Aufgaben. Sie hielt nicht nur selbst Referate in den zahlreichen Gauschulen der NSDAP und der NS-Frauenschaft, sondern organisierte auch Lehrgänge, Kreistagungen und Großveranstaltungen für die NS-Frauenschaft. 190 Sie lud Referentinnen und Redner ein, die über viefältige Inhalte sprachen: »Der deutsche Lebensraum«, »Die Kräfteverhältnisse im politischen Kampf der Mächte«, »Unser Wille zum Sieg«, »Neuordnung im Osten und Fremdvolkpolitik« 191 , »Totaler Krieg und die wehrpolitische Bedeutung der Frau«, »Plutokratie und Judentum«. 192 Eng arbeitete sie vor allem während des Zweiten Weltkrieges mit dem Rassenpolitischen Amt und intern mit der Abteilung »Grenz- und Ausland« zusammen. An erster Stelle der Schulung stand die Unterrichtung und Belehrung der Mitarbeiterinnen der NS-Frauenschaft. Zusätzlich geschult wurden Frauen, die im BDM, in der NS-Volkswohlfahrt, in der Deutschen Arbeitsfront oder im Reichsnährstand wichtige Aufgaben übernommen hatten. Ein dringendes Anliegen war Gilg Anfang der 40er Jahre die Schulung der Krankenschwestern und Helferinnen des Deutschen Roten Kreuzes. Bis zum Sommer 1941 gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem DRK schwierig. 193 In Baden war das Rote Kreuz aus dem Badischen Frauenverein - einer konservativen und vorwiegend protestantisch bestimmten Frauenorganisation - entstanden, deren Mitglieder teilweise Vorbehalte bei der Zusammenarbeit mit den Nationalsozialistinnen hatten. 194 Gilg, die selbst Mitglied des Roten Kreuzes war, hielt es für unerläßlich, daß die Mitarbeiterinnen des Roten Kreuzes während des Zweiten Weltkrieges von der NS-Frauenschaft intensiv betreut wurden: »Bedenkt man den Einsatz so vieler Kräfte des DRK außerhalb Deutschlands, so erkennt man die Notwendigkeit einer gründlichen politisch-weltanschaulichen Ausrichtung gerade dieser Organisation.« Als Gilg schließlich mit den Oberinnen der Krankenhäuser direkt verhandelte, war sie erfolgreich. 195 Der Arbeitseinsatz von zunehmend mehr Frauen in ehemals rein männlich besetzten Berufsdomänen erweiterte im Laufe des Krieges den Kreis der zu schulenden Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 257 189 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 190 Gertrud Gilg hielt sich regelmäßig in den Gauschulen Oberkirch, Frauenalb, Grafenstaden und Illkirch auf. Vgl. GLA 465d/ 1273. 191 GLA 465d/ 1273. 192 »Der Führer», 18. März 1939; »Der Führer», 22. Februar 1940. 193 GLA 465d/ 1273. 194 Vgl. Die Rede der badischen Gaufrauenschaftsleiterin Helene Bögli vor Mitgliedern des Badischen Frauenvereins, in: Blätter des Badischen Frauenvereins, Dezember 1934, Nr. 12, S. 102 ff. 195 GLA 465d/ 1273. <?page no="259"?> Frauen beträchtlich. Gertrud Gilg arbeitete im März 1942 mit den Dienststellen des Wehrkreiskommandos zusammen, um Wehrmachtshelferinnen vor ihrem Einsatz in Kriegsgebieten »weltanschauliche, rassenkundliche und volkspolitische« Themen zu vermitteln. Im gleichen Monat beantragte die Dienststelle für weibliche Kriminalpolizei eine Schulung ihres Berufsnachwuchses durch die NS-Frauenschaft. 196 Die größten persönlichen Herausforderungen für Gilg waren zum einen die Schulung oder besser gesagt die Umerziehung der Elsässerinnen zu nationalsozialistisch gesinnten deutschen Frauen und die Vorbereitung der volksdeutschen Frauen auf ihre Umsiedlung in den Osten. 197 Im August 1940, kurze Zeit nach der Besetzung Frankreichs, ordnete Gauleiter Robert Wagner, der zum Chef der Zivilverwaltung im Elsaß ernannt worden war, die Mitarbeit der badischen NS-Frauenschaft bei der beabsichtigten »Germanisierungspolitik« im Elsaß an. Da die elsässischen Gebiete de facto annektiert waren, wurden von Baden aus die »Eindeutschungsmaßnahmen« betrieben. 198 Zu Gilgs Auftrag zählte nun, den neuen elsässischen Amtsleiterinnen die nationalsozialistische Ideologie näherzubringen und bei der NS-Frauenschaft und der weiblichen Bevölkerung in Baden Aufmerksamkeit und Interesse für die »geschichtliche, politische und kulturelle Entwicklung im Elsaß« zu wecken. 199 In Baden berichteten bald Referentinnen begeistert über Elsässerinnen, die sich »willig in den Dienst der großen Sache stellen« würden, - eine Aussage, die in keiner Weise der Wirklichkeit entsprach, wie die zur gleichen Zeit verfaßten vertraulichen Tätigkeitsberichte Gertrud Gilgs an die Reichsfrauenführung in Berlin aufdecken. 200 Darin schilderte sie wahrheitsgetreu die gedämpfte Stimmung unter den Elsässerinnen. Gilg sah sich vor schwerwiegenden Problemen beim Aufbau von Ortsgruppen und der Schulung der elsässischen NS-Frauenschaft. Aufgrund ihrer »unzureichenden politischen Bildung« würden die Elsässerinnen Begriffe wie »Volk«, »Volksgemeinschaft« und »Freiheit« ganz anders sehen. Zudem stünden die berufstätigen Elsässerinnen den Nationalsozialistinnen »abwartend« bis »kühl« gegenüber. Gilg gelang es in den nächsten Monaten nicht, die wahren Motive für die Skepsis zu entdecken oder Verständnis für das reservierte Verhalten der Elsässerinnen zu entwickeln. Ihr kamen keine Zweifel oder generelle Bedenken an den unsensiblen und zum Teil brutalen politischen Methoden der Nationalsozialisten im Elsaß. Die Anette Michel 258 196 GLA 465d/ 1273. Über den Einsatz von Frauen in der Wehrmacht sind bisher nur wenige Forschungsarbeiten erschienen. Vgl. Seidler, Franz W., Frauen zu den Waffen? Marketenderinnen, Helferinnen, Soldatinnen, Koblenz, Bonn 1978; Zipfel, Gabi, Wie führen Frauen Krieg? in: Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 - 1944, hrsg. v. H. Heer; K. Naumann, Hamburg 1995, S. 460 - 474. 197 Vgl. GLA 465d/ 1273. 198 Vgl. Hug, Wolfgang, Geschichte Badens, Stuttgart 1992, S. 364. Wagner bestimmte, daß im Elsaß Dienststellen der NS-Frauenschaft bis einschließlich zu den Kreisleitungen zu errichten seien. Die Badenerinnen sollten die bestehenden elsässischen Frauenverbände erfassen, ihre Vermögenswerte sicherstellen und übernehmen. Vgl. GLA 465d/ 1007. 199 Vgl. GLA 465d/ 1273. 200 Die Zitate der folgenden Abschnitte stammen aus der Akte: GLA 465d/ 1273. <?page no="260"?> Ursache für den Attentismus der Elässerinnen und ihr Sträuben, deutsche Lebensweisen sowie die nationalsozialistische Ideologie anzunehmen, suchte sie, starr den Vorurteilen des Antisemitismus verhaftet, der für alle Schwierigkeiten die Juden zum Sündenbock stempelte, in der »französisch-jüdischen Propaganda« und dem »politischen Denken der jüdisch-demokratischen Welt«, das bei einigen Elsässerinnen noch nachwirke. Obwohl Gilgs Arbeit im Elsaß im Laufe des Jahres 1942 eher »schwieriger als leichter« wurde und sie feststellen mußte, daß viel »Idealismus« dazugehörte, durchzuhalten, stellte sie die nationalsozialistischen »Entwelschungsmaßnahmen« und ihre eigene Arbeit nie in Frage. Unbeirrbar betrachtete sie als ihr Hauptziel eine noch intensivere Schulung der Elsässerinnen. Um diesen Plan zu verwirklichen, wurde Gilg von der Gauleitung sogar mit der Unterweisung männlicher Ortsgruppenleiter im Elsaß beauftragt. 201 Letztendlich war dem Projekt kein Erfolg beschieden. Ein grundlegender Gesinnungswandel trat nur bei wenigen Elsässern ein, da sie den französischen Lebensstil bevorzugten und politisch-demokratische Ideen überzeugender fanden. 202 Erfolgreicher als die weltanschauliche Schulung der Elsässerinnen verlief die Betreuung der volksdeutschen Frauen in den badischen Umsiedlerlagern. Im März 1942 notierte sie erfreut, daß sich die Umsiedlerfrauen »ihres Deutschtums immer bewußt geblieben« seien. 203 Alle Abteilungen der NS-Frauenschaft in Baden hatten im September 1941 den offiziellen Auftrag der Reichsfrauenführung erhalten, in den Umsiedlerlagern »weltanschauliche und kulturelle Erziehungsarbeit« zu leisten. 204 Durch diese Anweisung war die NS-Frauenschaft seit 1941 an der Organisation der gigantischen Umsiedlungsaktionen von über 300.000 Volksdeutschen aus der Sowjetunion und Rumänien beteiligt. 205 Volksdeutsche beispielsweise aus Bessarabien, Wolhynien, Slowenien und anderen ost- und südosteuropäischen Ländern erhielten im Zuge der expansiven Lebensraumpolitik Hitlers Land, das zuvor polnischen Staatsbürgern rücksichtslos weggenommen worden war. Darüber hinaus ließ der NS-Staat vor der Ansiedlung der Volksdeutschen Hunderttausende polnischer und jüdischer Familien gewaltsam vertreiben, in Vernichtungslager deportieren oder sofort töten. 206 Weit von diesem Geschehen entfernt, erfuhren in den badischen Umsiedlerlagern, den Zwischenstationen auf dem Weg nach Osten, die zukünftigen Bewohnerinnen der eroberten polnischen Gebiete, wie Gilg schrieb »die grundsätz- Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 259 201 Vgl. GLA 465d/ 139. 202 Vgl. zur Elsaßpolitik der Nationalsozialisten: Kettenacker, Lothar, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß, Stuttgart 1973, S. 269 ff. 203 GLA 465d/ 1273. 204 GLA 465d/ 1273. 205 Zwei Frauen aus Karlsruhe waren 1940 als Transport- und Lagerführerinnen tätig. Vgl. »Der Führer», 19. Dezember 1940. 206 Vgl. Madajcyzk, Czeslaw, Deutsche Besatzungspolitik in Polen, in der UDSSR und in den Ländern Südosteuropas, in: Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hrsg. v. K.D. Bracher u.a. (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 23), Düsseldorf 1992, S. 426 - 439, hier S. 428 ff. <?page no="261"?> liche politische Anschauung des Nationalsozialismus und seine Forderungen an die Frau«. »Wir glauben«, versicherte Gilg, den Umsiedlerfrauen »ein gutes Rüstzeug für ihren späteren Einsatz im Osten mitgegeben zu haben.« 207 Die Umsiedlungsaktionen standen gleichzeitig im Zusammenhang mit den sogenannten »Euthanasie«-Morden an Kranken und Behinderten. 208 Vermutlich waren Gilg diese Vorgänge nicht unbekannt, da sie sich in ihrem Spruchkammerverfahren auf die Frage, ob sie in den Heilanstalten Verbrechen gesehen habe, in Widersprüche verfing. 209 In Baden wurden nämlich Heilanstalten beschlagnahmt und die dort lebenden geistig Behinderten und Kranken wurden getötet, um Platz und Räumlichkeiten für die Volksdeutschen zu schaffen, die in überfüllten Lagern festsaßen. 210 1947 gab Gilg zu, daß sie mit den »Heilanstalten [..] ständig in Verbindung war«, leugnete aber strikt jegliche Kenntnis von »Verbrechen« in diesen Häusern. Dagegen lag dem Vorsitzenden der Spruchkammer, vor der sich Gilg Ende der 40er Jahre verantworten mußte, die Aussage einer Bruchsaler Katholikin vor, die Gilg während des Zweiten Weltkrieges empört von den »an den Insassen der Heilanstalt begangenen Verbrechen« berichtet hatte. 211 Gertrud Gilg dagegen behauptete beharrlich, von den Tötungen erst im Internierungslager in Ludwigsburg erfahren zu haben. In den höheren Rängen der NS-Frauenschaft waren vermutlich einige Frauen über die »Euthanasie-Aktionen« unterrichtet worden. So hatte im September 1940 die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink z.B. bei der NSDAP-Leitung nachgefragt, wie sie die fragenden Menschen, deren Angehörige getötet worden waren, beruhigen konnte, »ohne Gefahr zu laufen, der Partei irgendwie zu schaden.« 212 Beruhigung, Täuschung und Irreführung der Öffentlichkeit im Alltag waren wichtige Aufgaben der NS-Frauenschaft während des Zweiten Weltkrieges. Die weltanschauliche Propaganda sowie das Aufrechthalten der nationalen Solidarität bis zum Ende des »Dritten Reiches» blieben praktisch die Hauptaufgaben der NS-Frauenschaft. 213 Daher verlor Gilgs Arbeit als Gauschulungsleiterin und Rednerin während des Krieges nicht an Bedeutung. Sie war seit 1939 ständig in Baden unterwegs, um bei Schulungsabenden in kleinem Rahmen oder bei großen Kundgebungen mit vielen Zuhörerinnen aufzutreten. 214 Bis Anfang 1945 trug sie dazu bei, die Stimmung in der weiblichen Bevölkerung zu lenken. In den vertraulichen Berichten an die Anette Michel 260 207 GLA 465d/ 1273. Gilg wies zudem auch badische Frauen in ländlichen Frauenschaften auf »die Notwendigkeit des bäuerlichen Einsatzes im Osten« hin. Vgl. ebd. 208 Vgl. Aly, Götz, »Endlösung«. Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden, Frankfurt/ Main 1995, S. 192 ff. 209 GLA 465d/ 1273. 210 Vgl. Aly (wie Anm. 208), S. 192 ff. 211 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 212 Steinert, Marlies Gertrud, Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf, Wien 1970, S. 154f. 213 Vgl. Stephenson (wie Anm. 103) S, 203f. 214 Allein 1940 sind 13 öffentlich bekannt gemachte Vorträge Gilgs nachweisbar. Vgl. »Der Führer», Jahrgang 1940. <?page no="262"?> Reichsfrauenführung faßte sie das generelle Ziel der NS-Frauenschaft im Krieg zusammen: »Als wesentlich sehen wir es an, die uns anvertrauten Menschen zu einer klaren, bewußten Haltung und zur nötigen Festigkeit und Härte zu erziehen, damit wir diesen Krieg bis zum Siege durchhalten.« Beispiele »deutschen Schicksals aus Vergangenheit und Gegenwart« und die Erinnerung an die »Auswirkungen des Versailler Diktats« sollten die »Widerstandskraft« erhöhen. 215 Der Karlsruher »Führer« faßte Gilgs öffentliche Reden, die in Auszügen abgedruckt wurden, als Berichte über die »politische, wirtschaftliche und militärische Lage Deutschlands« auf. 216 Ganz anders als bei ihrer exkulpierenden Selbstdarstellung 1947 wurde bei ihren Reden offensichtlich, daß sie politisch dachte. Monate bevor die Luftschlacht um England begann, hetzte sie gegen den Feind, der »weder wirtschaftlich noch rüstungsmäßig« und vor allem »wegen seiner liberalistischen Lebensordnung« niemals den deutschen Vorsprung einholen könne. 217 Kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion ließ sie im August 1941 bei Schulungsabenden Briefe deutscher Soldaten an der Ostfront vorlesen, damit die Zuhörerinnen ein »furchtbares Bild vom Wirken des Bolschewismus« bekamen. 218 Gertrud Gilg setzte im Laufe des Zweiten Weltkrieges alle verfügbaren Mittel ein, um die »innere Front« der Frauen aufrecht zu halten. So lobte sie beispielsweise im Januar 1940 die bisherige Haltung der deutschen Frauen und forderte für die Zukunft: »Unsere Männer an der Front, sie müssen wissen, daß die Heimat in den Händen und Herzen der Frauen gesichert liegt! « 219 Ein wichtiges Anliegen Gilgs war es, die rassenpolitischen Prinzipien des NS-Staates angesichts »der Berührung mit vielen fremdvölkischen Menschen« ständig den Frauen vor Augen zu halten: »So wollen wir vor allem dafür sorgen, daß das Blut in den Kindern rein bleibt und damit der Bestand unseres Volkes nicht bloß der Zahl, sondern auch dem Werte nach gewährleistet wird.« 220 Mit der allgemeinen Stimmung der deutschen Frauen während des Zweiten Weltkrieges war Gilg zufrieden und sah sie als Erfolg ihrer Propagandatätigkeit. 221 Nur die Bereitschaft der weiblichen Bevölkerung, an freiwilligen Arbeitseinsätzen beispielsweise in der Rüstungsindustrie teilzunehmen, ließ in Baden zu wünschen übrig. In ihren Arbeitsberichten klagte sie, daß gerade die »Frauen politischer Leiter oder Staatsbeamter« sich vor dem Einsatz in Fabriken oder bei der Ernte drücken würden. 222 Obwohl Gilg ein Gespür für die Ungerechtigkeiten und Mißstände im Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 261 215 GLA 465d/ 1273. 216 »Der Führer», 25. Januar 1940. 217 »Der Führer», 25. Januar 1940. Gilg erhielt Büchersendungen vom Gauschulungsamt, um sich fachlich gut auf ihre Vorträge vorbereiten zu können. Vgl. GLA 465d/ 1273. 218 GLA 465d/ 1273. 219 »Der Führer», 25. Januar 1940. 220 »Der Führer«, 25. Januar 1940. Die Gausachbearbeiterin für Rassenpolitik wurde mehrmals von Gilg zu Vorträgen eingeladen, bei denen sie über »Vererbungslehre, Rassenkunde und Bevölkerungspolitik« referierte. Vgl. »Der Führer», 21. April 1940. 221 Im November 1941 gewann Gilg den Eindruck, daß »die Frauen sich ihrer Aufgabe im Krieg bewußt sind«.Vgl. GLA 465d/ 1273. <?page no="263"?> NS-Staat besaß und sie intern in ihren Tätigkeitsberichten an die Reichsfrauenführung kritisierte, zog sie keine Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen und hielt an ihrem schrankenlosen Idealismus fest. In der Öffentlichkeit wollte und konnte sie diese Probleme nicht ansprechen. Kein Tabuthema stellte für Gilg die ständige Verleumdung der jüdischen Bevölkerung und des Judentums dar. Die Juden, die ihrer Meinung nach »Deutschland zerstückeln und alles Deutschtum ausrotten« wollten, würden, wenn die »Einkreisung« nicht gesprengt werde, letztendlich den »Untergang des deutschen Volkes« herbeiführen. 223 Im März 1941 erhielten alle Gauschulungsämter eine Kopie des Films: »Der ewige Jude«, der »bei allen Lehrgängen in den Gau- und Kreisschulungsburgen und bei sonstigen schulischen Veranstaltungen« verwandt werden sollte. 224 Regelmäßig sandte das Gauschulungsamt Gilg Rednermaterial über das »Judentum«, das sie als Hauptthema im November 1941 behandeln mußte. 225 Gertrud Gilg leistete damit ihren Beitrag zur Verunglimpfung der jüdischen Bevölkerung. Ideologisch half sie mit hetzerischen Reden und ohne sich vermutlich der vollen Tragweite ihrer Äußerungen bewußt zu sein, schon im Vorfeld den »Holocaust« vorzubereiten. Angesichts der Millionen von Ermordeten ist es keine Entschuldigung, daß Gilg 1947 zu ihrer Entlastung anführte, daß sie sich für eine Halbjüdin eingesetzt habe, die ins Deutsche Rote Kreuz habe eintreten wollen, und einer befreundeten jüdischen Familie noch 1940 Obst geschickt habe. 226 Gertrud Gilg organisierte bis September 1944 Lehrgänge für die NS-Frauenschaft. Einer der letzten Kurse für Kreisjugendgruppenführerinnen aus ganz Süddeutschland beschäftigte sich mit der »Haltung und Lebensgestaltung als Ausdruck unserer Weltanschauung«. 227 Bis zum letzten Kriegsmonat war sie ein Vorbild an unerschütterlichem Durchhaltewillen. Ihre Selbsteinschätzung 1947 entsprach wohl tatsächlich ihrer Lebenshaltung: »Ich habe mich immer leidenschaftlich eingesetzt, meine Person dabei immer zurückgestellt.« 228 Als im März 1945 bei der verheerenden Zerstörung Bruchsals durch einen gewaltigen Bombenangriff fast 1.000 Menschen ums Leben kamen und sich darunter die Kreisfrauenschaftsleiterin von Bruchsal und fünf ihrer Mitarbeiterinnen befanden, zögerte sie nicht, dieses Amt nochmals zu übernehmen. In der fast völlig zerstörten Stadt kümmerte sie sich einen Monat lang Tag und Nacht um Obdachlose und Flüchtlinge. 229 Ende März verließ sie wieder Bruchsal, um an ihre alte Dienststelle zurückzukeh- Anette Michel 262 222 GLA 465d/ 1273. 223 »Der Führer«, 25. Januar 1940; »Der Führer«, 31. Mai 1940. 224 GLA 465d/ 138. 225 Vgl. GLA 465d/ 1273. 226 GLA 465d/ 1273. 227 GLA 465d/ 1273. 228 GLA 465d/ 1273. 229 GLA 465d/ 1273. Zur Zerstörung Bruchsals vgl. Bläsi, Hubert, Stadt im Inferno. Bruchsal im Luftkrieg 1939 -1945, 3. Aufl. Bruchsal 1985. <?page no="264"?> ren. Dort wurde sie Mitte April entlassen. Wenige Monate darauf erfolgte ihre Verhaftung. Seit dem 11. Oktober 1945 war sie in dem Internierungslager Camp 77 in Ludwigsburg untergebracht. Gertrud Gilg, die als Nähstubenhelferin arbeitete, paßte sich schnell den neuen Gegebenheiten an. Ihre Vorgesetzten urteilten über sie: »Sie war stets arbeitsfreudig und hat ihre Arbeiten ordentlich, fleissig und zur Zufriedenheit [...] ausgeführt.« 230 Nach einem Jahr Lageraufenthalt begann das Spruchkammerverfahren. Gilg wurde im Mai 1947 als »Belastete« eingestuft, da sie dem Nationalsozialismus »wesentliche Dienste geleistet und im Bereich ihrer Wirksamkeit zur Ausbreitung und Festigung des Systems Sorge getragen hatte.« Zu ihren Ungunsten sprach ihre »lange und eifrige Tätigkeit für die NS-Frauenschaft, ferner die Übernahme des Sachreferats für weltanschauliche Schulung, also eine rein politische Tätigkeit.« Die Spruchkammer auferlegte Gilg als Sühnemaßnahme ein Jahr und neun Monate Arbeitslager und zog ein Zehntel ihres Vermögens ein. Bald darauf hob das Ministerium für politische Befreiung den ersten Spruch wegen zu geringer Sühnemaßnahmen auf. Ein neues Verfahren fand einen Monat später statt. Gilg, die nochmals verhört wurde, versuchte nun ihren Einsatz für die NSDAP und die NS-Frauenschaft mit weiblicher Unwissenheit und Naivität zu entschuldigen: »Ich glaubte, was Adolf Hitler sagte, auf allen Gebieten war die wirtschaftliche Besserung ersichtlich und da glaubte ich, dass alles gut sei. Ich habe die Dinge, die vor sich gegangen sind, nicht durchschaut. Bedenken Sie bitte, das Denken einer Frau geht nicht in den Bahnen eines Mannes.« Wahrheitswidrig und entsprechend der bis heute weiterreichenden Legende von der unpolitischen Frau im Nationalsozialismus beteuerte sie: »In den Frauenschaftsversammlungen habe ich öfters Reden gehalten, aber über Politik sprach ich nie. Das war Sache der Männer.« 231 Gerade diesem Argument folgten die männlichen Vorsitzenden der neu zusammengesetzten Spruchkammer offenbar bereitwillig. Gilgs Ausflüchte entsprachen dem typischen Klischee der unpolitischen Frau. So urteilte die Spruchkammer, daß Gilg der »Gewaltherrschaft der NSDAP« keine »ausserordentlich politische, wirtschaftliche, propagandistische oder sonstige Unterstützung gewährt hat.« Gilg blieb in der Gruppe der Belasteten und mußte 90 Tage Sonderarbeit ableisten. 232 Nicht unbeachtet bleiben sollte, daß die ehemalige Frauenschaftsleiterin im zweiten Spruchkammerverfahren Anzeichen von Enttäuschung und Verbitterung zeigte: »Ich kann nur sagen, dass dies alles hier die bitterste Enttäuschung meines Lebens ist, ich habe vieles geopfert und mich eingesetzt, wo ich konnte; und nun muss ich erkennen, dass alles umsonst war. Das ist eine bittere Erkenntnis.« 233 Den Aussagen ihres Sohnes zufolge überstiegen nach dem Kriegsende die Nachrichten über das Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 263 230 Die Zitate der folgenden Abschnitte stammen aus der Spruchkammerakte von Gertrud Gilg . GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 231 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 232 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 233 GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. <?page no="265"?> Ausmaß der nationalsozialistischen Massenverbrechen ihr Vorstellungsvermögen. Ein grenzenloser Idealismus hatte ihr die Augen vor dem wahren Wesen des NS- Staats verschlossen. Die Erkenntnis über den kriminellen Charakter des Nationalsozialismus führte bei ihr zu einem großen »Schock«. 234 Verstärkt wurden diese Einsichten noch durch die finanzielle Notlage, in die sie nach dem Krieg geriet. Ihr kranker Ehemann konnte zum Lebensunterhalt der Familie bis zu seinem Tod 1952 kaum etwas beitragen. Deshalb arbeitete Gertrud Gilg zeitweise als Hilfsarbeiterin in einer Fabrik. Da sie hierdurch kein ausreichendes Auskommen fand und vielleicht auch weil sie sich schuldig fühlte, daß ihre Familie durch ihre »politische Belastung fast alles verloren« hatte, stellte sie Gesuche an das Ministerium für politische Befreiung, um die Erlaubnis für die Eröffnung eines Seifen- und Waschmittelgeschäftes zu erhalten. 1951 waren ihre Bemühungen schließlich erfolgreich. 235 So begann sie voller Energie einen neuen Lebensabschnitt. Sie eröffnete eine »Seifen-Kerzen-Parfümerie« in Bruchsal und führte die Tradition ihres elterlichen Betriebes weiter. Ihr Geschäft in der Innenstadt florierte, sie hatte einen großen Kundenkreis und Kontakt zu vielen Bewohnern Bruchsals. Bis zu ihrem Tod - sie starb im Juli 1972 - arbeitete sie in ihrem Laden und versorgte sich alleine. Politisch engagierte sie sich in ihren letzten Lebensjahrzehnten nicht mehr, und nur im engen Familienkreis sprach sie gelegentlich über die NS-Zeit. 236 Bibliographie Quellen Quellenmaterial über die Aktivitäten Dora Horn-Zippelius’ vor 1933 besitzt das Stadtarchiv Karlsruhe (StAKA 8/ StS 13, 495). Mehrere Artikel aus den Badischen Neuesten Nachrichten, die sich mit ihrer Rolle als Künstlerin befassen, sind in der Zeitungsausschnittsammlung des Stadtarchivs Karlsruhe zusammengefaßt. Wenig ergiebig für die Zeit des Nationalsozialismus sind die von Dora Horn-Zippelius verfaßten Erinnerungen: Bund Badischer Künstlerinnen, Frauenkunstverband, Gedok (1912 - 1938), unveröffentlichtes Maschinenskript, Privatbesitz Dr. Adelhard Zippelius. Die wichtigste Quelle stellt die Karlsruher NS-Tageszeitung »Der Führer« dar. Regelmäßig wird über Versammlungen der NS-Frauenschaft und Vorträge Dora Horn-Zippelius’ berichtet. Besonders aufschlußreich hinsichtlich ihrer Aufgaben als Wahlrednerin und Propagandaleiterin der NS-Frauenschaft ist ein Artikel in der NS-Frauenwarte, Jg. 1934/ 35, Heft 2, S. 37. In der Spruchkammerakte befindet sich nur der Meldebogen. Mehr Information bietet die NSDAP-Mitgliederkartei im ehemaligen Berlin Document Center und ein Brief ihrer Freundin Anna Engelhorn, der sich im Privatbesitz von Dr. Adelhard Zippelius befindet. Anette Michel 264 234 Gespräch mit Dr. Hans Gilg (wie Anm. 136). 235 Vgl. GLA 465a Ztr. Spr. K/ B/ Sv/ 442. 236 Vgl. Einwohner-Adreßbuch der Kreisstadt Bruchsal 1955 und Gespräch mit Dr. Hans Gilg (wie Anm. 136). <?page no="266"?> Das meiste Quellenmaterial über Gertrud Gilg bewahrt das Generallandesarchiv in Karlsruhe auf. Ihre Spruchkammerakte ist sehr materialreich, und eine Akte des Bestands GLA 465d enthält ihre ausführlichen monatlichen Tätigkeitsberichte an die Reichsfrauenführung in Berlin vom März 1940 bis September 1943. Die gleiche Akte umfaßt darüber hinaus Berichte über Tagungen, Bücherlisten und die Korrespondenz mit dem Gauschulungsamt und anderen Dienststellen der NSDAP. Am ergiebigsten ist die Auswertung des »Führer«. Kontinuierlich und ausführlich wird über jede kleine Versammlung, Rede, Tagung oder Feier der NS-Frauenschaft in Bruchsal und in anderen Orten berichtet. Generelle Informationen über den Deutschen Frauenorden und die NS-Frauenschaft bieten in reicher Fülle die Quellen: Amtswalterinnenblatt der N.S. Frauenschaft (Deutscher Frauenorden), München 1933 - 1934 und später der Nachrichtendienst der Reichsfrauenführung sowie die N.S.Frauen-Warte, 1. Jahrgang 1932/ 33 - 13. Jahrgang 1944/ 45. Literatur Nur über Dora Horn-Zippelius sind bisher autobiographische Aufsätze erschienen. Ausführlich hat sich mit ihrem Leben und Wirken als Künstlerin bis zum Ersten Weltkrieg Gerlinde Brandenburger-Eisele befaßt. Dora Horn-Zippelius’ Einsatz für den »Verein zur Verbesserung der Frauenkleidung« erläutert der Beitrag von Susanne Asche, Fürsorge, Partizipation und Gleichberechtigung - die Leistungen der Karlsruherinnen für die Entwicklung der Großstadt (1859 - 1914). Gertrud Gilgs Leben und ihre Arbeit für die NS-Frauenschaft sind bisher noch nicht erforscht worden. Dora Horn-Zippelius, Gertrud Gilg, Propaganda- und Gauschulungsleiterinnen 265 <?page no="268"?> *29. Februar 1892 Frankfurt a.O., ev., Kirchenaustritt 1937, Vater: Eduard von Jagow, Königlich preußischer Oberst, Mutter: Elisabeth, geb. von Kleist, verheiratet seit 1926 mit Hedwig, geb. Sinner, sieben Kinder. Primareife, Marineschule Mürwik, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, zuletzt im Rang eines Oberleutnants z. S., 1919 Mitglied der 2. Marinebrigade Ehrhardt, Beteiligung an den Grenzlandkämpfen und am Kapp-Putsch. Herbst 1920 Mitglied der NSDAP, 1922 - 1927 Landesführer der Organisation Consul in Württemberg, 1927/ 1928 Mitglied des Stahlhelm, Winter 1920/ 21 Mitglied der SA, Januar 1922 - Herbst 1923 Inspekteur der württembergischen SA, 1. Januar 1929 erneuter Parteieintritt (Mitgliedsnr. 110.538), 1929 SA-Brigadeführer, 1929 - 1931 NS-Geschäftsführer des Gaues Württemberg, Ortsgruppenleiter in Esslingen am Neckar, Parteiredner, 10. September 1931 SA-Gruppenführer, 9. Mai 1932 MdR (NSDAP), März 1933 Reichskommissar und Polizeikommissar in Württemberg, 21. März 1933 SA-Obergruppenführer, September 1933 Preußischer Staatsrat, Juli 1934 Mitglied des Volksgerichtshofs, 1939 - 1941 Kriegsteilnehmer, 29. Juni 1941 Gesandter I. Klasse in Budapest, 31. März 1944 Entlassung, 1944/ 45 Bataillonsführer eines Volkssturmbataillons, 20. Januar 1945 schwere Verletzung, nach Genesung Reise als NS-Kurier nach Meran. Gest. 26. April 1945 Meran, Freitod. Der »Degen« Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer Barbara Hachmann Dietrich von Jagow 267 <?page no="269"?> Dietrich Wilhelm Bernhardt 1 von Jagow galt wegen seines energischen und frühen Eintretens für die Belange der »Bewegung« als ein »Pionier« des Nationalsozialismus. Schon Anfang 1920 nannten ihn seine politischen Freunde in der rechtsextremistischen Organisation Consul 2 »Degen«. 3 Damit brachten sie zum Ausdruck, daß von Jagows politischer Einsatz von einer außerordentlichen Vehemenz geprägt war, zugleich aber auch, daß er ein williges und kampfbereites Werkzeug im Dienste seines »Führers« war. Dietrich von Jagow wurde als drittes Kind von Elisabeth und Eduard von Jagow am 29. Februar 1892 in Frankfurt an der Oder geboren. Die Familie von Jagow blickte im Geburtsjahr ihres jüngsten Sohnes auf eine lange Tradition zurück: Das Geschlecht wurde im Jahre 1268 erstmals urkundlich erwähnt und zählt zu den ältesten der Mark Brandenburg. 4 Über Jahrhunderte hatten sich die männlichen Mitglieder der Familie aktiv am politischen Geschehen und vor allem im Militär beteiligt. Der Vater Dietrich von Jagows war Oberst in der Königlich preußischen Armee, die politische Einstellung des familiären Umfelds war konservativ und dürfte die demokratiefeindliche Haltung Dietrich von Jagows vorgeprägt haben. Elisabeth von Jagow versuchte, ihrem Sohn moralische Werte zu vermitteln, die mit den Begriffen der Nächstenliebe, Bescheidenheit und Geradlinigkeit beschrieben werden können. Während er die beiden erstgenannten Eigenschaften insbesondere als Ehemann, Vater und Privatmann nach der Erinnerung seines Sohnes praktizierte, zog sich seine Geradlinigkeit wie ein roter Faden durch sein politisch-ideologisches Engagement, das sich im wesentlichen gegen die Weimarer Demokratie wandte. Dietrich von Jagows Schulzeit ist nur unvollkommen dokumentiert. Aus einem Jahresbericht des Gymnasiums Blankenburg im Harz geht hervor, daß er die Untersekunda im Schuljahr 1909/ 10 besucht hat. 5 Wann er die Schule verlassen hat, läßt sich nicht mehr genau feststellen, vermutlich jedoch nach der Absolvierung der Primareife. 6 Da er an Allergien, insbesondere an Heuschnupfen, litt, entschied sich von Jagow dafür, die angestrebte militärische Laufbahn bei der kaiserlichen Marine zu beginnen. Am 1. April 1912 fing er seine Ausbildung an der Marineschule Mürwik als Seekadett an. Drei Jahre später wurde der Soldat von Jagow, der Deutschland über Barbara Hachmann 268 1 Der Name Bernhardt wird in genealogischen Nachschlagewerken und in manchen Personalakten ohne t geschrieben. Hier wurde die Orthographie des Personalbogens des Auswärtigen Amtes übernommen. Vgl. PAAA, Personalbogen, Bl. E. 309205. 2 Zur Geschichte der O. C. vgl. Krüger, Gabriele, Die Brigade Ehrhardt (Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte 7), Hamburg 1971. 3 Vgl. Schmid, Manfred, Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918 - 1923 (Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen, I 13), Tübingen 1988, S. 136. 4 Vgl. Gothaisches Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser, Zugleich Adelsmatrikel der deutschen Adelsgenossenschaft, Teil A, 38. Jg., Gotha 1939, S. 200. 5 Vgl. Sozial- und Schulamt der Stadt Blankenburg im Harz, Schreiben an die Verfasserin, 1. November 1995. 6 Vgl. WASt, Schreiben an die Verfasserin, 3. Januar 1996. <?page no="270"?> alles geliebt haben soll 7 , kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zum Leutnant zur See und im Jahre 1917 zum Oberleutnant zur See befördert. 8 Im Ersten Weltkrieg war er als Wach- und Torpedooffizier auf mehreren Unterseebooten eingesetzt, 1919 übernahm er das Kommando auf einem Minensuchboot. 9 Mit der deutschen Niederlage endete auch von Jagows Soldatenzeit, jedoch nicht, wie in so vielen Fällen wegen der im Friedensvertrag vorgesehenen Abrüstungsbestimmungen. Von Jagow quittierte am 1. Oktober 1920 selbst den Dienst bei der Marine 10 , weil er nicht bereit war, einen Diensteid auf die Weimarer Verfassung zu leisten. Er sei dem Kaiser noch durch einen Eid verbunden, so argumentierte der Offizier, und diesen dürfe er nicht brechen. 11 Tatsächlich verbarg sich hinter dieser durchsichtigen moralischen Argumentation eine offene Feindschaft gegenüber der jungen Republik, für die er nur Verachtung und Geringschätzung übrig hatte. Denn schon ein Jahr später bereitete ihm seine Verpflichtung gegenüber dem ehemaligen Monarchen keine Probleme mehr. Am 16. Oktober 1921 ließ sich Dietrich von Jagow auf Adolf Hitler vereidigen. 12 Von Jagows militärische Laufbahn war durch den Austritt aus der Reichswehr nicht beendet. Schon im September 1919 hatte er sich der Marinebrigade Ehrhardt angeschlossen 13 , die sich maßgeblich am Kampf gegen die Weimarer Republik beteiligte. Wie die Gründung aller Freikorps erfolgte auch die der Brigade Ehrhardt mit Billigung der Reichsregierung, um kommunistischen Umsturzversuchen entgegenzuwirken. 14 Diese Wehrverbände waren insofern ein willkommenes Instrument für die Regierung, da sie mit Aufgaben betraut werden konnten, die der Reichswehr aufgrund der Abrüstungs- und Entmilitarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrags untersagt waren. In den Nachkriegsjahren wurden sie sowohl gegen die in Osteuropa ausbrechenden Unruhen als auch gegen die linken Kräfte in der Weimarer Republik eingesetzt. Obwohl es durchaus republikanische Tendenzen innerhalb der Freikorps gab, standen die meisten dem »Weimarer System« feindlich gegenüber. 15 Zu diesen Republikfeinden zählte die Brigade Ehrhardt, deren 4.000 Mann starke Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 269 7 Der Sohn Dietrich von Jagows beschrieb seinen Vater wie folgt: Abgesehen von seiner Familie habe er Deutschland über alles geliebt. Er sei überzeugt gewesen von Deutschland, vielleicht sei er ein Nationalist gewesen. Und er sei in dem Sinne religiös gewesen, daß er an ein höheres Wesen glaubte. Vgl. Interview mit der Tochter und dem Sohn Dietrich von Jagows am 12. Januar 1996, Aufzeichnungen im Privatbesitz der Verfasserin. 8 Vgl. PAAA, Person H, Bd. 1. Rep. IV Personalia, 269, Bl. 4; WASt (wie Anm. 6). 9 Vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52; WASt (wie Anm. 6). 10 Vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52; PAAA, Person H, Bd. 1, Rep IV Personalia, 269, Bl. 1. 11 Interview (wie Anm. 7). 12 Vgl. PAAA, Personalbogen, Bl. E 309210. 13 Vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52; BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210. (= Mikrofilm S 3653). 14 Zur Geschichte der Brigade Ehrhardt Krüger (wie Anm. 2), insbesondere S. 11 - 73. 15 Wohlfeil, Rainer, Reichswehr und Republik 1918 - 1933, in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte Bd. 3, hrsg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, München 1979, S. 1 - 303, hier S. 72 f. <?page no="271"?> Truppe maßgeblich am letztendlich gescheiterten Versuch beteiligt war, den rechtsextremistischen Kräften zur Macht zu verhelfen. Die Beteiligung am Kapp-Lüttwitz- Putsch im März 1920 war Dietrich von Jagows erster dokumentierter Einsatz in der Brigade Ehrhardt. 16 Welche Aufgaben er im einzelnen dabei wahrzunehmen hatte, ist nicht überliefert. Da keine Prozeßakten über Dietrich von Jagow im Zusammenhang mit dem Kapp-Lüttwitz-Putsch existieren, ist davon auszugehen, daß er zu jenen gehörte, die unter den am 4. August 1920 von der Reichsregierung verfügten Amnestieerlaß fielen. Lediglich die »Urheber oder Führer« 17 mußten sich vor Gericht verantworten. Dazu zählten die Männer, die während der fünftägigen Regierung Kapps ein Regierungsamt innehatten. Zu ihnen war auch der als Innenminister fungierende, entfernte Verwandte Dietrich von Jagows, Traugott von Jagow, zu rechnen. 18 Die Brigade Ehrhardt wurde im September 1920 aufgelöst. 19 Viele der ehemaligen Mitglieder verließen Berlin direkt nach dem gescheiterten Putschversuch, um sich in München erneut zu einem rechtsmilitanten Verband, der Organisation Consul (O. C.), zusammenzufinden. Auch von Jagow schloß sich dieser Gruppierung an und arbeitete in den Jahren 1920/ 21 als Forst- und Landarbeiter bei der Bayrischen Holzverarbeitungsgesellschaft - einer Tarnfirma der O. C. 20 Diese Nachfolgeorganisation der Brigade Ehrhardt mit ihren etwa 5.000 Anhängern war als radikaler Geheimbund unter anderem für die Morde an Matthias Erzberger und Walther Rathenau verantwortlich. 21 Für kurze Zeit verließ von Jagow 1921 München, um im polnischen Aufstand als Führer des 1. Sturmzuges der Sturmkompanie von Killinger in Oberschlesien zu kämpfen. Kaum zurück von diesem militärischen Einsatz, stellte er seine Arbeitskraft der O. C. wieder zur Verfügung. Die O. C. unterhielt neben ihren vielfältigen Kontakten zur Reichswehr 22 enge Verbindungen zur NSDAP. Dietrich von Jagow, der schon bald zum Führungsgremium der Organisation Consul gehörte 23 , war seit Herbst 1920 Mitglied der NSDAP. 24 Eine solche Überschneidung war nicht verwunderlich. Die O. C. und die Barbara Hachmann 270 16 Vgl. PAAA, Person H, Bd. 1, Rep IV Personalia, 269, Bl. 4; BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52. 17 Zit. nach Könnemann, Erwin; Krusch, Hans-Joachim, Aktionseinheit contra Kapp-Putsch. Der Kapp-Putsch im März 1920 und der Kampf der deutschen Arbeiterklasse sowie anderer Werktätiger gegen die Errichtung der Militärdiktatur und für demokratische Verhältnisse, Berlin 1972, S. 481. 18 Zum Prozeß Traugott von Jagows vgl. IfZ, Archiv, Akz. 3552/ 65, Bl. 1463108 ff., sowie Pressestimmen, IfZ, Archiv, Akz. 3552/ 65, Bl. 1463174 ff. (= Mikrofilm 616/ 10). 19 Vgl. Ferdinand, Horst, Georg Hellmuth Hermann Ehrhardt, in: Badische Biographien N.F. Bd. 3, hrsg. von B. Ottnad, Stuttgart 1990, S. 72 - 75, hier S 74. 20 Vgl. BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210; ZStLB, Personalblatt. 21 Vgl. Jasper, Gotthard, Dokumentation. Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10 (1962), S. 430 - 453, hier S. 430 ff. 22 Jasper (wie Anm. 21), S. 433. 23 Vgl. Schmid (wie Anm. 3), S. 135. 24 Vgl. BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047211; PAAA, Person H, Bd. 1, Rep IV Personalia, 269, Bl. 4 Rückseite. <?page no="272"?> NSDAP verbanden völkisch-nationale und antirepublikanische Gesinnung und ein ausgeprägter Antisemitismus. 25 Letzteren vertrat von Jagow wohl schon damals. In einem Lagebericht der Stuttgarter Polizei aus dem Jahre 1930 jedenfalls wurde festgehalten, daß er sich anläßlich einer NSDAP-Versammlung in Cannstatt stark ausfällig über Juden geäußert habe. 26 Sein frühes Engagement für die junge Partei entsprang aber vor allem der Hoffnung, mit der NSDAP die Weimarer Republik und ihre Demokraten bekämpfen zu können. Den ersten Auftrag von Adolf Hitler erhielt Dietrich von Jagow im Januar 1922. Er sandte ihn »als Inspekteur der SA nach Württemberg« 27 , wo er auch die O. C. im Auftrag Hitlers aufbauen sollte. Da in der Universitätsstadt Tübingen zahlreiche Ehrhardt-Anhänger unter den Studenten waren, ließ sich Dietrich von Jagow am 24. Januar 1922 hier nieder. 28 Um seinen Auftrag zu tarnen, arbeitete er als Volontär bei zwei Freunden, denen die Osiandersche Buchhandlung gehörte: dem Kapitänleutnant a. D. Gustav Pezold und dem ehemaligen Marineoffizier Richard Jordan. Auch sie waren 1919/ 1920 aus der Reichsmarine ausgeschieden und begeisterte Ehrhardt- Anhänger geworden, so daß er mit deren Unterstützung und Verschwiegenheit bei seiner Arbeit rechnen konnte. Pezold verfügte darüber hinaus über beste Verbindungen zu studentischen Kreisen, hatte er doch für kurze Zeit das Tübinger Studentenbataillon angeführt, das schließlich auf Drängen der Entente aufgelöst wurde. Dennoch konnte es einsatzbereit gehalten werden, da es nahtlos in die O. C. überführt wurde. Diese Verbindungen wollte von Jagow wohl noch ausbauen: Um einen möglichst engen Kontakt zu den Tübinger Studenten herzustellen, immatrikulierte er sich im Sommersemester 1922 als außerordentlicher Hörer der Staatswissenschaftlichen Fakultät. 29 Da er sich zudem auf der zweiten Karteikarte des Melderegisters der Stadt Tübingen als »Reisender« 30 ausgab, ist anzunehmen, daß sein Einsatz für die Hitler-Bewegung und sein Gehalt als Volontär an der Osianderschen Buchhandlung 31 nicht ausreichte, seine Existenz zu sichern. Sein Sohn berichtete später, der Vater habe sich durch den Verkauf von Seife, Waschpulver und anderer Hygiene- Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 271 25 Zum Untergang der Weimarer Republik und zum Aufstieg der NSDAP vgl. Broszat, Martin, Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), 4. Aufl. München 1993; Sontheimer, Kurt, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, 3. Aufl. München 1992. 26 Wilhelm, Friedrich, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil. [Masch.] Stuttgart 1989, S. 50. 27 Schmid (wie Anm. 3), S. 135. 28 Vgl. StATÜ, Melderegister der Stadt Tübingen aus der Zeit 1920 - 1975, Bestand A 573. 29 Vgl. StATÜ, Melderegister der Stadt Tübingen (wie Anm. 28). Schmid (wie Anm. 3), S. 135; Zur Geschichte des Nationalsozialismus in Tübingen vgl. Schönhagen, Benigna, Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Tübinger Geschichte 4), Stuttgart 1991; Schönhagen, Benigna (Hrsg.), Nationalsozialismus in Tübingen. Vorbei und vergessen, Katalog der Ausstellung, Tübingen 1992. 30 StATÜ (wie Anm. 28). 31 Wie Anm. 30. <?page no="273"?> artikel finanziell abgesichert. 32 Wahrscheinlich nutzte von Jagow auch als Handelsreisender seine vielfältigen Kontakte für seinen politischen Auftrag: Es gelang ihm, »mehrere Ortsgruppen« der NSDAP 33 zu gründen und zwischen den verschiedenen völkischen Organisationen in Württemberg zu vermitteln. Als Geschäftsführer des Nationalverbandes deutscher Offiziere, einer Vereinigung, die fest auf »monarchischem, völkischem und nationalem Boden« stand 34 , unterhielt er auch enge Verbindung zur Reichswehr. General Reinhardt, der Kommandeur der württembergischen Reichswehr, hatte mit den Hochschulgruppen Tübingen, Stuttgart und Hohenheim vereinbart, den Hochschulring Deutscher Art militärisch zu schulen 35 , um ihn für einen Einmarsch in das besetzte Ruhrgebiet vorzubereiten. Die Führungskräfte der O. C. - unter ihnen der Bezirksleiter von Jagow - spekulierten darauf, im Bund mit der Reichswehr bei etwaigen Linksunruhen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten auf »legalem oder pseudolegalem Wege« 36 die Umbildung der Regierung in national-autoritärer Richtung zu erreichen. Die O. C. sollte in diesem Falle Reichswehr und Regierung unterstützen und Ehrhardts politischen Einfluß festigen. Nachdem der Reichstag im Zuge der Ermittlungen über die Hintergründe der Ermordung des Zentrumspolitikers Matthias Erzberger und des Reichsaußenministers Walther Rathenau am 21. Juli 1922 ein Gesetz zum Schutze der Republik verabschiedet hatte, geriet die O. C. aufgrund ihrer Verstrickung in die Mordangelegenheiten in die Schußlinie. Doch das Gesetz bot nicht genügend Handhabe, um der Entfaltung von rechtsextremistischen Organisationen entgegenzutreten. Im Gegenteil: Dietrich von Jagow konnte es sogar wagen, in der Tübinger Öffentlichkeit seine rechtsradikale Gesinnung zu demonstrieren, indem er durch das Tragen von Trauerflor die Rathenaumörder ehrte. 37 Diese öffentliche Loyalitätsbekundung veranlaßte zwar die Polizei, die Tübinger Verbindungshäuser und die Wohnungen von Jagows und Pezolds zu durchsuchen, doch die Aktion lieferte keinen Anhaltspunkt für weitere polizeiliche Ermittlungen. Um ihre Aktivitäten zu schützen, änderte die O. C., gegen die mittlerweile auch wegen Geheimbündelei ermittelt wurde 38 , schließlich ihren Namen und firmierte von 1923 bis 1928 als Wiking Bund. Im Mai 1923 hielt von Jagow unter seinem Pseudonym (Degen) eine geheime nächtliche Versammlung in einem Steinbruch ab und gab die Parole aus: »Die Brigade Ehrhardt ist tot, es lebe der Wikingbund! « 39 Barbara Hachmann 272 32 Vgl. Interview (wie Anm. 7). 33 Schmid (wie Anm. 3), S. 135. 34 Zit. nach Schmid (wie Anm. 3), S. 135. Vgl. HSTAS, E 151c II/ Bü 219. 35 Vgl. Schönhagen (wie Anm. 29), S. 40 f. 36 Jasper (wie Anm. 21), S. 434. 37 Schmid (wie Anm. 3), S. 136. 38 Dietrich von Jagow vermittelte während dieses Prozesses zwischen den Angeklagten und ihrem Rechtsanwalt. Vgl. BA Nachlaß Luetgebrune, NL 150/ 112. 39 Zit. nach Schmid (wie Anm. 3), S. 136. Vgl. auch Curator, Carsten, Putsche, Staat und wir! , <?page no="274"?> Die Ziele blieben die gleichen: Improvisierte Kriegsübungen und lange Märsche sollten die Mitglieder militärisch auf einen möglichen Einsatz gegen die verhaßte Republik vorbereiten. In den Städten Stuttgart, Ravensburg und Ulm etablierten sich weitere Ortsgruppen des Wiking Bundes, die ebenfalls von Jagow unterstanden. 40 Da er neben seiner Funktion als Oberbezirksleiter des Wiking Bundes auch die SA des Landes inspizierte, ist es wenig verwunderlich, daß die Verbindungen zwischen Wiking Bund, SA und NSDAP immer enger wurden: Allen drei Organisationen war schließlich gemeinsam, daß ihre Mitglieder für das nationalsozialistische Gedankengut begeistert und auf einen militärischen Einsatz vorbereitet werden sollten. Sichtbarer Ausdruck dieser Verflechtung war die Teilnahme Tübinger Wiking-Bund-Studenten am Aufmarsch auf dem Oberwiesenfeld bei München. Unter Führung Adolf Hitlers versammelten sich dort am 1. Mai 1923 rechtsradikale Kampfverbände. Adolf Hitler wies darauf hin, »daß sich zwischen den Nationalsozialisten und den vaterländischen Vereinigungen Blücherbund, Oberland, Reichsflagge und Wiking ein Schutz- und Trutzbündnis gebildet habe.« 41 Ein halbes Jahr später, im November 1923, versammelte Dietrich von Jagow eine kleine Wehrtruppe um sich, die sich aus Angehörigen des Tübinger Wiking Bundes rekrutierte. Mit ihnen wollte er nach München marschieren, um am Sturz der bayrischen Regierung mitzuwirken. Seit dem Scheitern des Kapp-Putsches hatten die Mitglieder der Brigade Ehrhardt alias O. C. alias Wiking Bund auf einen Befehl gewartet, um das parlamentarische System von Weimar zu stürzen und eine nationale Diktatur zu errichten. München sollte das Fanal für den Marsch auf Berlin bilden. Mit etwa 50 Tübinger Gesinnungsgenossen begann von Jagow seinen Marsch auf die bayrische Hauptstadt. Der Putschversuch endete nicht nur für Hitler mit einem Fiasko. Die Truppe von Jagows setzte schon während ihres Anmarsches ihr Reisegeld in Alkohol um und kehrte unverrichteter Dinge wieder nach Hause zurück. 42 Aus der NSDAP trat von Jagow im Jahre 1923 vorläufig aus. 43 Nach dem Verbot der Partei mußte er damit rechnen, daß eine offizielle Zugehörigkeit gerichtliche Schritte gegen ihn zur Folge haben konnte. Zudem drohte den Mitgliedern der O. C. weiterhin der Prozeß wegen »Geheimbündelei«. 44 Wahrscheinlich verließ Dietrich von Jagow aus diesen Gründen im Jahre 1924 vorübergehend Württemberg. Laut Polizeimeldebogen hielt er sich zwischen dem 2. September 1924 und dem 2. Mai 1925 vorwiegend in München auf. 45 Hier bemühte er sich, in Absprache mit dem Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 273 Karlsruhe 1931, S. 167. 40 Vgl. Schmid (wie Anm. 3), S. 136; BAP RKO, Nr. 388, Bl. 52. 41 Zit. nach Franz-Willing, Georg, Krisenjahre der Hitlerbewegung, 1923 Bd. 1, Preußisch Oldendorf 1975, S. 83. 42 Vgl. Schmid (wie Anm. 3), S. 142. 43 PAAA, Personalbogen, Bl. E 309209. 44 IfZ, Archiv, Aktenzeichen 3552/ 65, Bl. 1463163 (= Mikrofilm 616/ 10). 45 StAM an die Verfasserin mit Kopie des Polizeimeldebogens, PMP, J 6. <?page no="275"?> Göttinger Rechtsanwalt Dr. Luetgebrune, der die wegen Geheimbündelei angeklagten ehemaligen O. C.-Mitglieder vor Gericht vertrat, die Prozeßteilnehmer auf eine einheitliche Linie einzuschwören. Dies gelang weitgehend, denn am 10. Oktober 1924 wurde das Verfahren gegen ihn und 43 weitere Mitstreiter vom Staatsgerichtshof eingestellt. 46 Damit waren allerdings noch längst nicht alle Mitglieder der O. C. dem strafrechtlichen Zugriff entzogen. Von Jagow bemühte sich nun darum, alle Angeklagten von Luetgebrune vertreten zu lassen und auf eine Aussagestrategie einzuschwören, um das Ausscheren auch nur eines O. C.-Mitgliedes zu verhindern. 47 Zudem war er um das öffentliche Ansehen der O. C. besorgt und unterstützte den Druck des Verteidigungsplädoyers. Als einige O. C.-Mitglieder schließlich doch verurteilt wurden, setzte er sich für Strafmilderung und Amnestierung ein. Er war der Ansicht, diese hätten »nur aus politischen und zwar vaterländischen Motiven gehandelt« 48 , und empfahl dem Rechtsbeistand, bei der Einreichung eines Umwandlungsgesuchs von Gefängnisin Festungshaft den Staatsgerichtshof ausdrücklich auf diese Motive hinzuweisen, damit »nun auch für eine ehrenvolle Handlung nicht eine unehrenvolle Strafe verbüsst werden muss.« 49 Die Reichsregierung wurde mit dem Hinweis unter Druck gesetzt, sie sei es doch gewesen, die ursprünglich die Wehrverbände gefordert habe, um gegen vermeintliche Feinde der Republik vorzugehen. Da das ein offener Verstoß gegen die Entmilitarisierungsauflagen gewesen war, erhoffte man sich ein gewisses Entgegenkommen und setzte darauf, der Regierung müsse daran gelegen sein, die offensichtliche Mißachtung eines entscheidenden Punktes des Versailler Vertrags nicht durch eine öffentliche Diskussion im Ausland publik zu machen. 50 Für die Jahre 1925 bis 1929 bleibt Dietrich von Jagows Tätigkeit im dunkeln. Lediglich wenige schlagwortartige Angaben im Personalblatt des Auswärtigen Amtes und in den Personalkarten des BDC, der Zentralen Stelle in Ludwigsburg sowie der WASt deuten darauf hin, daß er sich nach der Abwicklung des O. C.-Prozesses weiterhin für die SA und als Bezirksleiter des Wiking Bunds in Württemberg betätigte. 51 In dieser Zeit lernte er seine zukünftige Frau Hedwig Sinner 52 kennen und heiratete sie am 21. September 1926 in Esslingen am Neckar. Zwischen 1928 und 1945 wurden sieben Kinder geboren. 53 Wenn von Jagow mit einer neuen Aufgabe Barbara Hachmann 274 46 Vgl. BA Nachlaß Luetgebrune, NL 150/ 112, ohne Blattnummer. 47 Vgl. BA Nachlaß Luetgebrune, NL 150/ 112, ohne Blattnummer. 48 BA NL 150/ 112, Jagow an Dr. Luetgebrunne, 21. November 1924, ohne Blattnummer. 49 BA NL 150/ 112, Jagow an Dr. Luetgebrunne, 21. November 1924, ohne Blattnummer. 50 IfZ, Archiv, Aktenzeichen 3552/ 65, Bl. 1463168. (= Mikrofilm 616/ 10). 51 PAAA, Lebens- und Laufbahndaten, Schreiben an die Verfasserin: 1922 - 1923 SA-Führer in Württemberg und Bezirksleiter der Organisation Consul. WASt, Schreiben an die Verfasserin: Januar 1922 - Herbst 1923 Inspekteur der Württembergischen SA. 1922 bis 1927 Landesführer der Organisation Consul, später Wiking Bund. 1927 Stahlhelm. Ab 1. Mai 1928 Württembergischer Heimatschutz. 52 Hedwig Sinner wurde am 28. Oktober 1903 in Schwäbisch Hall geboren. 53 Vgl. PAAA, Personalbogen, Bl. E 309206: Ursula (1928), Mechthild (1930), Henning (1934), Ilse <?page no="276"?> für die »Bewegung« betraut wurde, die einen Ortswechsel notwendig machte, zog die Familie stets mit um. Im Privaten scheint er ein geradezu mustergültiges Leben geführt zu haben. Seine Kinder beschrieben die Ehe ihrer Eltern später als harmonisch, ihren Vater als liebevoll, aber durchaus auch als eine Persönlichkeit, die aus pädagogischen Gründen durch Strenge Grenzen absteckte. Briefe, die Dietrich von Jagow während seiner militärischen Verwendung im Zweiten Weltkrieg nach Hause sandte, belegen dies. 54 Besonderes Augenmerk schenkte er seinem ältesten Sohn Henning, den er für seine Pflichten gegenüber seinen Geschwistern und seiner Mutter zu sensibilisieren suchte. »Ehre, Treue, Tapferkeit weiter zu erhalten«, Schützer des Guten und Gegner des Bösen zu werden, müsse sein vornehmstes Ziel sein. Genau dafür glaubte auch der Vater sich durch bedingungslose Hingabe an das NS-Regime einzusetzen, ohne dabei jedoch den Gewalt- und Verbrechenscharakter von Hitlers Politik auch nur zu reflektieren. Ob Religiosität und Bescheidenheit neben den soldatischen Tugenden die markantesten Charaktereigenschaften von Jagows gewesen sind, wie seine Kinder später berichteten, läßt sich anhand der Quellen kaum zuverlässig überprüfen. 55 Das bescheidene wöchentliche Eintopfessen im Haushalt der von Jagows, an das sich die Kinder noch heute erinnern, mag zwar als konsquente solidarische Haltung in Kriegszeiten erscheinen, muß jedoch angesichts des Wirkens von Jagows eher als bedeutungslos gewertet werden, verstellt es doch leicht den Blick auf die eigentliche Haltung und Verantwortlichkeit des politischen Extremisten. Dem pflichtbewußten und treusorgenden Ehemann und Familienvater stand denn auch der ebenso pflichtbewußte, ja kompromißlose Nationalsozialist gegenüber. Einmal mehr erweist sich so in der Person von Jagows die Führungsschicht des Nationalsozialismus als Kreis außerordentlich doppelgesichtiger Normalbürger. Mit dem Durchbruch der NSDAP zur Massenpartei im Jahre 1929 gelang es Dietrich von Jagow, seine Position in Partei und SA zu festigen und konsequent zu erweitern. Da Adolf Hitler die NSDAP nach seiner Haftentlassung Schritt für Schritt zu seinem willigen Instrument geformt hatte und nur diejenigen duldete, die sich seiner autoritären Führung widerspruchslos unterwarfen, kann von Jagows Aufstieg nur als das Ergebnis einschränkungsloser Hingabe an seinen »Führer« verstanden werden. Zudem besaß er das Geschick, in den Wirren des innerparteilichen Machtgerangels stets auf der richtigen Seite zu stehen. Ein Beispiel dafür ist die Auseinandersetzung zwischen der Ortsgruppen- und Gauleitung von Stuttgart bzw. Württemberg in den Jahren 1929/ 30. Tatkräftig unterstützte Dietrich von Jagow den Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 275 (1936), Wolffdietrich (1942), Anneliese (1944) sowie Hans-Peter, der 1945 geboren wurde und verstarb. Das letzte Kind ist nicht im Personalbogen des AA registriert. 54 Briefe im Privatbesitz Henning von Jagows. 55 Das Zitat findet sich in einem Brief Dietrich von Jagows an seine Frau (im Privatbesitz Henning von Jagows). Von Jagow trat am 7. Dezember 1937 aus der Kirche aus. Vgl. STAFR, Spruchkammerakte, Archivnummer 228, 775, Bl.40. <?page no="277"?> Gauleiter, als SA-Führer Kuhn und Ortsgruppenführer Weinmayer, Murrs Willen entgegen, durch ein Rundschreiben eine Mitgliederversammlung für den 18. Februar 1930 anberaumten. Murr und von Jagow versuchten, das Treffen »von unberufener Seite« 56 kurzerhand aufzulösen. Doch nur ein Teil der anwesenden SA-Leute und Parteigenossen befolgte ihre Anweisung, den Saal augenblicklich zu räumen. Die Versammlung wählte Kuhn zum Ortsgruppenleiter und den SS-Mann Maurer zum SA-Führer. Daraufhin machte Dietrich von Jagow die Anwesenden nachdrücklich darauf aufmerksam, »dass innerhalb der Partei die Ortsgruppenleitung nicht mehr wie früher gewählt werden, sondern nur vom Gauleiter bestimmt werden kann.« 57 Sein Einwand blieb zwar im Augenblick erfolglos, aber Murr gewann offenkundig den Eindruck, in von Jagow einen Weggefährten gefunden zu haben. Im Schatten des Aufstiegs von Murr stand der weiteren Karriere des vorbildlichen Parteigenossen, der sich zwischen 1929 und 1931 als Geschäftsführer des Gaues Württemberg 58 , als Parteiredner und als Ortsgruppenleiter der NSDAP in Esslingen am Neckar engagierte 59 , nichts im Wege. Neben seiner Tätigkeit für die Partei arbeitete Dietrich von Jagow weiterhin aktiv in der SA. Im April 1930 wurde er zum Brigadeführer ernannt. In dieser Funktion übernahm er die SA-Brigade 3 der Untergruppe Württemberg. 60 Noch im selben Jahr, 1930, wurde er erneut mit einem höheren Amt betraut: Er wurde zum Führer der Untergruppe Württemberg ernannt. 61 Hauptamtlicher SA-Führer wurde er am 1. April 1931. 62 Im Zuge der Vergrößerung der einzelnen SA-Einheiten entstand die Gruppe Südwest, mit deren Führung er am 10. September 1931 beauftragt wurde. 63 Sie hatte ihren Sitz in Stuttgart und zählte im Herbst 1931 immerhin 17.113 Mitglieder, eine gewaltige Steigerung gegenüber dem Frühjahr, als lediglich12.139 Mitglieder registriert waren. 64 Der enorme Aufschwung war das Ergebnis einer Werbekam- Barbara Hachmann 276 56 Vgl. Murr an Reichsleitung, 19. Februar 1930, zit. nach Nachtmann, Walter, Von der Splitterpartei zur Staatspartei. Zur Entwicklung des Nationalsozialismus in Stuttgart von 1925 bis 1933, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 128 - 156, hier S. 145. 57 Nachtmann (wie Anm. 56), S. 145. 58 WASt (wie Anm. 6). Vgl. BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210. 59 WASt (wie Anm. 6). 60 Vgl. WASt (wie Anm. 6): Führer der SA-Brigade 3 vom 1. April 1930 - 31. Oktober 1930. BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210: Datiert mit »May 1930«. Württemberg gehörte zur SA-Gruppe Süd, die sich aus den Untergruppen Baden, Bayern, Franken und Württemberg zusammensetzte. 61 WASt (wie Anm. 6). 62 WASt (wie Anm. 6). 63 WASt (wie Anm. 6). 64 Zit. nach Werner, Andreas, SA und NSDAP, SA: »Wehrverband«, »Parteitruppe« oder »Revolutionsarmee«? Studien zur Geschichte der SA und der NSDAP 1920 - 1933, Diss. phil. Erlangen- Nürnberg 1964, S. 545, S. 548. Vgl. Der Oberste SA-Führer, Ib/ Nr. 80/ 32, München 11. Januar 1932, Gez.: i.V. Hörauf, in: Lag. Ber. Nr. 109, Pol. Direk. München vom 22. Februar 1932. BayHSTAM Abt. I, Sonderabgabe I/ 1549. <?page no="278"?> pagne, an der von Jagow regen Anteil hatte. So war z.B. am 24. Juni 1931 im Führer ein von ihm unterzeichneter Aufruf erschienen: »Ihr, die ihr keine Feiglinge seid, die ihr deutsche Männer sein wollt, an euch wendet sich die SA. Kommt zu uns! Verstärkt unsere Reihen zum Kampf, damit unser ehrliches Volk leben kann, während die Verräter und Nutznießer unseres Unglücks zugrunde gehen mögen. SA- Männer! Sorgt mit dafür, daß Eure Reihen gestärkt werden durch ganze Männer, die würdig sind, zu uns zu stoßen. Ihr aber, die Ihr noch nicht bei uns seid, die Ihr unseren Ruf hört, prüft Euch, ob Ihr dem entsprecht, was wir brauchen, und zögert dann nicht: Herein in die SA! Es lebe der deutsche Freiheitskampf! Es lebe die Mannestat! Es lebe das deutsche Volk! Es lebe Adolf Hitler.« 65 Wie ein Hohepriester umwarb von Jagow potentielle SA-Mitglieder: Nur Bestimmte seien auserwählt, jene, die mutige Deutsche seien, die bereit seien, im Kampf für Deutschland und Adolf Hitler ihr Leben zu lassen. Männer, die zur SA stoßen wollten oder ihr bereits angehörten, sollten sich rühmen, dazugehören zu dürfen, denn sie würden die Erlöser sein, die Deutschland vor dem Untergang bewahrten und »durch deutsche Manneskraft die Zukunft des schaffenden, ehrlichen deutschen Menschen erringen.« 66 Auch auf SA-Werbeabenden oder -kundgebungen in den Städten Badens und Württembergs setzte Dietrich von Jagow gezielt seine demagogischen Fähigkeiten ein. So trug er dazu bei, wie es das Parteiblatt Der Führer im Jahre 1931 beschrieb, ein »Heer politischer Soldaten« zu schaffen, »die in heiliger Begeisterung nicht nur die Mühen und Lasten des politischen Kampfes freudig auf ihre Schultern nehmen, sondern die auch bereit sind, […] Blut und Leben einzusetzen für ihre Idee, für ihre Bewegung, für ihr deutsches Volk und Vaterland.« 67 Die große Stunde der württembergischen SA kam, als im März 1933 auch Württemberg in die Hände der Nationalsozialisten fiel. 68 Der braune Kampfverband bewies seine Schlagkraft, indem er potentielle Feinde diffamierte, verhaftete und in das neugegründete Konzentrationslager auf dem Heuberg bei Stetten am Kalten Markt verschleppte. Verantwortlich für dieses Vorgehen war nicht zuletzt von Jagow. Er setzte durch, daß bereits am Nachmittag des 6. März 1933 in Stuttgart auf den öffentlichen Gebäuden die Hakenkreuzfahnen wehten. 69 Wer es dennoch wagte, Widerstand zu leisten, wurde gewaltsam zum Schweigen gebracht, wie etwa der Stuttgarter Bürgermeister Dr. Gottfried Klein. Persönlich erzwang von Jagow in Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 277 65 »Der Führer«, Jg. 5, Nr. 140, 24. Juni 1931, S. 5. 66 »Der Führer«, Jg. 5, Nr. 140, 24. Juni 1931, S. 5. 67 »Der Führer«, Jg. 5, Nr. 211, 1. Oktober 1931, S. 5. 68 Zur Machtergreifung in Württemberg vgl. Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975; Schnabel, Thomas (Hrsg.), Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982; Besson, Waldemar, Württemberg und die deutsche Staatskrise. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1959. 69 Sauer (wie Anm. 68), S. 26. <?page no="279"?> einer hitzigen Auseinandersetzung mit ihm die NS-Beflaggung des Rathauses und stellte SA-Wachen ab, um Klein von einer nachträglichen Einholung der Flagge abzuhalten. 70 Die württembergische Polizei schaute dem willkürlichen Treiben der Nationalsozialisten tatenlos zu; beim Hissen der Hitlerfahne auf der Polizeiunterkunft Moltke-Kaserne wurde gar ein »Hoch! « auf den Reichspräsidenten und den neuen Reichskanzler Hitler ausgebracht. 71 Diese Willfährigkeit von Teilen der Polizei war ganz im Sinne des neuen Kommandeurs Dietrich von Jagow, der am 8. März durch Reichsinnenminister Frick zum Reichskommissar für die württembergische Polizei ernannt wurde. 72 Für von Jagows Parteifreunde war sein Amtsantritt ein Glücksfall, denn es kam in der Behörde schnell zu einem parteipolitischen Revirement: Die wegen ihrer NS-Sympathien entlassenen Beamten wurden unverzüglich wieder eingestellt, soweit möglich wurde seine getreue Gefolgschaft mit Dienstposten oder Unterkommissariaten bei den Polizeidienststellen belohnt. 73 Für die Gegner des Regimes bedeutete von Jagows Amtsantritt den Beginn einer Leidenszeit. In nur vier Tagen, vom 8. bis zum 11. März 1933, zerschlug er eine Vielzahl potentiell oppositioneller Verbände. Waren zuvor politisch Andersdenkende, Oppositionelle und die jüdische Bevölkerung eher sporadisch und unkoordiniert Repressalien ausgesetzt worden, so wurde nun der Terror systematisiert und intensiviert. Reichskommissar von Jagow suchte sich zu diesem Zweck Hilfe bei den nationalen Wehrverbänden, deren Mitglieder er in großer Zahl als Hilfspolizei einsetzte. Sie unterstützten neben der regulären Polizei den Terror gegen mißliebige Personen. 74 Unter von Jagows Verantwortung wurde auch die Stuttgarter Bevölkerung zum Boykott jüdischer Geschäfte aufgerufen. Darüber hinaus ließ er in nur einer Nacht 200 Mitglieder der kommunistischen Partei verhaften. 75 Von Jagows Schergen hinderten die sozialdemokratische und kommunistische Presse an ihrer Arbeit: Redaktionen und Verlagsgebäude wurden besetzt, Gelder beschlagnahmt, Vermögen eingezogen und das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold ebenso wie die Eiserne Front verboten. Besonders Barbara Hachmann 278 70 Vgl. Müller, Roland, Ein geräuschloser Umbau. Die Machtergreifung im Stuttgarter Rathaus, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 331 - 358, hier S. 331. 71 Sauer (wie Anm. 68), S. 26. 72 Dietrich von Jagows Ernennung zum Reichskommissar wurde sehr ungenau festgehalten. Meist wird lediglich März 1933 als Amtszeit als Reichskommissar genannt, wohl aber mit dem Zusatz »während der Machtergreifung«. Vgl. BAP German war documents project, Serial No. 3381 H, Bl. 047210; BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A.4, Bl. 52. Vgl. auch Sauer (wie Anm. 68), S. 27; Nachtmann, Walter, NSDAP-Erfolge auch in der Hanglage. So wählten die Stuttgarter, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 310 - 319, hier S. 318. 73 Vgl. Wilhelm (wie Anm. 26). 74 Vgl. Zeugnisse zur Schutzhaft, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 399 - 406, hier S. 400. 75 Vgl. Sauer (wie Anm. 68), S. 28. Vgl. auch Staatsanzeiger, 11. März 1933. <?page no="280"?> scharf gingen von Jagows Hilfstruppen gegen die KPD und ihre Organisationen vor: Sogar die Waldheime und Sportplatzanlagen wurden geschlossen. 76 Nachdem sich am 15. März 1933 Wilhelm Murr als neuer württembergischer Staatspräsident durchgesetzt hatte, schien das Amt eines Reichskommissars überflüssig geworden zu sein. Murr mochte jedoch auf seinen bewährten und mit polizeilichen Befugnissen ausgestatteten Sonderkommissar »für eine gewisse Übergangszeit« 77 nicht verzichten. Daher ernannte er Dietrich von Jagow zum Landespolizeikommissar von Württemberg und unterstellte ihn dem württembergischen Innenministerium. Damit war die Fortsetzung seiner Verfolgungs- und Verhaftungstätigkeit vorerst gesichert. Bis zum 15. März 1933 wurden nach bewährter Manier 500 Kommunisten verhaftet. 78 Für die Unterbringung der politischen Häftlinge, die zunächst im Landesgefängnis Rottenburg inhaftiert wurden, sah sich von Jagow bald »nach einem anderen ›geeigneten Aufenthalt‹« 79 um. Dieser Ort war bald gefunden: Das Konzentrationslager Heuberg bei Stetten am Kalten Markt. Da von Jagow auf bereits existierende Pläne zurückgreifen konnte, reichten wenige Tage aus, um das Gelände am Heuberg mit Hilfe der SA für die Inhaftierung zu präparieren. Im April fristeten bereits 1.902 sogenannte Schutzhäftlinge ein kärgliches Dasein in dem Lager. 80 Inzwischen war der Kreis der Verhafteten ausgeweitet worden, denn die Verhaftungswelle richtete sich bald auch gegen Sozialdemokraten und Gegner des Hitlerregimes jeder Couleur. Folterungen wurden zur Regel, als Ostern 1933 der SA-Führer Karl Buck das Lager übernahm. 81 Die Zahl der Inhaftierten, von denen 40 starben, stieg innerhalb von neun Monaten auf etwa 15.000. 82 Zumindest in den ersten Wochen war von Jagow für diese Verbrechen verantwortlich. Innerhalb kürzester Zeit erreichte er sein politisches Ziel, das er sich am Tage seiner Amtseinführung präzise wie zynisch gesetzt hatte: »Meine Aufgabe besteht darin, den nationalen Teil des Volks zu schützen und zu stärken und dem der deutschen Erhebung feindlichen Volksteil sein Handwerk zu legen.« 83 Von Jagows Aufstieg fand jedoch bald eine jähe Unterbrechung. Ende März 1933 verließ er Stuttgart. Nicht näher definierte »parteiinterne Querelen« 84 sollen der Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 279 76 Sauer (wie Anm. 68), S. 28. Vgl. Staatsanzeiger, 14. März 1933; Zeugnisse zur Schutzhaft (wie Anm. 74), S 401. 77 Sauer (wie Anm. 68), S. 30. 78 Vgl. Feuerbacher Zeitung, 15. März 1933. 79 Zeugnisse zur Schutzhaft (wie Anm. 74), S. 400. 80 Vgl. Schätzle, Julius, Stationen zur Hölle. Konzentrationslager in Baden und Württemberg 1933 - 1945, Frankfurt/ Main 1974, S. 15. 81 Vgl. Tote waren »unerwünscht«, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 408 - 409, hier S. 408; Schätzle (wie Anm. 80). 82 Das KZ Heuberg wurde im November 1933 geräumt, da die Reichswehr das Gelände benötigte. 83 Zit. nach Nachtmann (wie Anm. 72), S. 318. Nach einem von Jagow veröffentlichten Appell an die SA und SS in der Tagespresse vom 10. März 1933. 84 Wilhelm (wie Anm. 26), S. 307. <?page no="281"?> Grund für seine unerwartete plötzliche Versetzung nach Frankfurt am Main gewesen sein, wo er wiederum mit der Führung der SA-Gruppe betraut wurde. Vermutlich war es zwischen ihm und Murr trotz aller äußeren Harmonie zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten gekommen. Von Jagow hatte 1929/ 30 auf Murrs Seite gestanden, weil er eher zufällig mit dessen politischen Kurs übereingestimmt hatte. In der Machtergreifungsphase hatte er einschlägigen Hinweisen zufolge Murrs Kontrahenten Christian Mergenthaler unterstützt und gleich diesem das Machtspiel verloren. Das Zerwürfnis zwischen Murr und von Jagow mag darüber hinaus auch an dem unterschiedlichen Bildungsstand gelegen haben: Mit dem gleichermaßen machtbewußten wie ungebildeten Murr kam nicht jeder der württembergischen Nationalsozialisten zurecht. Nachdem Dietrich von Jagow Württemberg verlassen hatte, leitete seit dem 1. April 1933 Hanns Elard Ludin die SA-Gruppe Südwest, der auch das württembergische Polizeikommissariat übernahm, das allerdings schon am 19. April 1933 aufgelöst wurde und dessen Aufgaben vom württembergischen Innenministerium übernommen wurden. Nach seinem Weggang aus Württemberg faßte von Jagow allerdings schnell wieder Fuß. Noch in der ersten Hälfte des Jahres 1933 stieg er zum SA-Obergruppenführer auf, dem höchsten Amt des SA-Führerkorps. 85 Über seine Tätigkeit bei den SA-Obergruppen III und V, die die Bezirke Mittel- und Unterfranken bzw. Frankfurt am Main/ Hessen umfaßte, liegen allerdings kaum verwertbare Unterlagen vor. Klarer ist dagegen von Jagows Wirken nach dem sogenannten Röhm-Putsch dokumentiert. Denn Ende Juli 1934 wurde er von Adolf Hitler mit der Führung der neugegründeten SA-Gruppe Berlin-Brandenburg beauftragt. Er kann mithin kaum zu den Kritikern im Lager Röhms gezählt haben und scheint in der Folgezeit die von Hitler verlangte Entpolitisierung und Machtbeschränkung der SA mitgetragen zu haben. Seine Rede zum Dienstantritt am 26. Juli 1934 läßt jedenfalls diese Haltung erkennen 86 , wenngleich damit nicht geklärt ist, ob Jagow von Beginn an den Kurs Hitlers bejahte oder ob er sich eher zwangsweise mit der neuen Situation arrangierte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß Reichspropagandaminister Joseph Goebbels Jagow schätzte. Er bezeichnete ihn als einen „prima Offizier« und charakterisierte ihn als »alte[n], echte[n] Nazi« 87 . 1935 stellte von Jagow dann anläßlich eines Appells im Berliner Lustgarten die Umorganisation der SA sogar als notwendig hin. Sie sei ein Neubeginn und nicht das Ende der SA, denn der Führer »wird [sich nie] trennen von seiner SA.« 88 Die Männer der SA-Gruppe ermahnte er Barbara Hachmann 280 85 Unstimmigkeiten bestehen hinsichtlich der genauen Verwendungszeiträume bei den SA-Obergruppen III und V. Vgl. BAP 61 Re, Reichslandbund, Pressearchiv, 217, Bl. 93; WASt (wie Anm. 6); BA, Abt. III (BDC), Personalkarte; BAP German war documents project, Serial No. 3881 H, Bl. E 047210; BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZE 53285, A. 4, Bl. 52. 86 Vgl. BAP 61 Re, Reichslandbund, Pressearchiv, 217, Bl. 93. 87 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, Teil I, Bd. 4, München u.a. 1987, S. 473. 88 BAP 61 Re 1, Reichslandbund, Pressearchiv, 217, Bl. 94. <?page no="282"?> SA-Appell auf dem Tempelhofer Feld. Obergruppenführer von Jagow reitet die Front ab. Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 281 <?page no="283"?> zu striktem Gehorsam: Er erwarte von jedem SA-Mann, daß er alles daransetze, »das Ansehen der SA zu fördern und bedingungslos seine Pflicht« zu erfüllen. 89 Ganz im Sinne Hitlers sorgte er nun dafür, daß in seiner SA-Gruppe Disziplin und Gehorsam gegenüber dem Diktator gewahrt blieben. Das hieß zunächst und vor allem, mögliche Intriganten abzuwehren - nicht zuletzt auch zum eigenen Nutzen. 90 Selbst Prügeleien von SA-Angehörigen waren nun keine Kavaliersdelikte mehr, über die der Vorgesetzte geflissentlich hinwegsah. Dietrich von Jagow wurde dafür bekannt, daß er als »Dienstherr« hart durchgriff. In einem Dienststrafverfahren machte er beispielsweise nur deshalb von einer Amnestieverfügung Hitlers Gebrauch, weil die Beschuldigten »alte Kämpfer« waren. Ansonsten wolle er jedoch hart durchgreifen, so seine Begründung, die auch seine Einschätzung des »Röhmputsches« erhellt. Denn schon einmal hätten „unbeherrschte Elemente der SA einen schwarzen Tag bereitet, unter dessen Folgen zahllose anständige und pflichttreue Männer lange Zeit seelisch gelitten haben.« 91 Obwohl die SA im Jahre 1934 einen entscheidenden Machtverlust hinnehmen mußte 92 , darf ihr Anteil an der Festigung der Diktatur nicht unterschätzt werden. Sie beteiligte sich weiterhin an der Demütigung der jüdischen Bevölkerung. Zudem schuf sich das NS-Regime durch die SA eine stille Reserve für den bevorstehenden Krieg. Insgesamt rückten 60% der Mannschaften der Stamm-SA zur Wehrmacht ein, von den SA-Führern sogar 80%. 93 Einer von ihnen sollte auch Dietrich von Jagow sein. Seinen Kontakt zur Marine hatte der SA-Führer auch in der Zeit seiner Parteitätigkeit nicht verloren. Zwischen 1935 und 1938 absolvierte er mehrere militärische Fortbildungslehrgänge. Auf dem Panzerschiff Admiral Graf Spee wurde er zum Wach- und später zum Nachrichtenoffizier ausgebildet. 94 Während einer Ausbildungsfahrt lief sein Schiff auch den Hafen von San Sebastian in dem vom Bürgerkrieg erschütterten Spanien an. Dort erlebte Dietrich von Jagow seinen Tagebuchaufzeichnungen zufolge den Krieg aus nächster Nähe: »Leider ist die Zeit zu kurz, um zur Angriffsfront zu fahren, die im Süden von Bilbao ist. Unter Vorsichtsmassnahmen Barbara Hachmann 282 89 BAP 61 Re, Reichslandbund, Pressearchiv, 217, Bl. 93. 90 So warf er z.B. einem SA-Mann vor, daß er in der SA-Gruppe Berlin-Brandenburg die Wirren, die am Tag des sogenannten Röhm-Putsches entstanden waren, dazu mißbraucht habe, um gegen die neue SA-Führung zu opponieren. Letztendlich ließen sich die Anschuldigungen jedoch nicht aufrechterhalten. Vgl. IfZ, FA 74/ Kellermann, Hans. 91 BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZA I 11980 A. 2, Bl. 60. 92 Vgl. z.B.: Kater, Michael H., Zum gegenseitigen Verhältnis von SA und SS in der Sozialgeschichte des Nationalsozialismus von 1925 bis 1939, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 62 (1975), S. 339 - 379; Petter, Wolfgang, SA und SS als Instrumente nationalsozialistischer Herrschaft, in: Deutschland 1933 - 1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, hrsg. v. K. D. Bracher, M. Funke, H.-A. Jacobsen (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 23), Düsseldorf 1992, S. 76 - 94. 93 Vgl. Petter (wie Anm. 92), hier S. 84. 94 Vgl. WASt (wie Anm. 6). <?page no="284"?> erstiegen wir den Hinterhang der Höhe, auf dem wir schon zuvor einen Einschlag gesehen hatten, wie er die Erde aufwarf. Frische und alte Einschläge waren ca. 1 Dutzend an diesem kurzen Wege zu sehen. Wir nahmen uns zum Andenken Granatsplitter mit.« 95 Scheint in dieser Episode die Begeisterung für alles Militärische selbst nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs durch, so wird man andererseits von Jagow nicht als blinden Militaristen bezeichnen können. Die Gefahren eines Weltkrieges waren ihm wohl bewußt, wenn man der Überlieferung Glauben schenken darf, er habe seinen kleinen Sohn, der sich über den Kriegsausbruch 1939 kindlich freute (»Toll Krieg! «), mit den Worten in die Schranken gewiesen: »Das ist kein Grund zur Freude! «. 96 Pflichtbewußt meldete sich von Jagow dann allerdings zur Truppe. Vom 1. September 1939 bis Ende Mai 1940 war er auf dem Minenschiff Tannenberg als Kommandant eingesetzt, mit dem er »gegen England« 97 fuhr. Anfang 1940 war er auf Heimaturlaub in Berlin und besuchte mehrfach Joseph Goebbels, mit dem er auch weiterhin regen Kontakt pflegte. 98 Von Mai bis Oktober 1940 tat er auf einer Marinestation in der Ostsee Dienst. Danach folgte von Ende Oktober 1940 bis Ende April 1941 ein Einsatz als Flottillenchef der 18. Vorpostenflottille, dann eine Verwendung beim Oberkommando der Kriegsmarine. 99 Im Juli 1941 wurde von Jagow recht unerwartet in den diplomatischen Dienst übernommen. Vergeblich wehrte er sich gegen seine Ernennung zum Botschafter, vermutlich weniger, weil er sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte, sondern weil er die Verwendung im diplomatischen Dienst als eine schlechte Alternative zu einer Tätigkeit bei einem Oberkommando empfand. Schließlich fügte er sich jedoch dem Befehl Hitlers, »dem er blind mit Leib und Seele ergeben war« 100 , wie Unterstaatssekretär Andor Hencke festhielt. Am 3. Juli 1941 erhielt er die von Adolf Hitler persönlich unterzeichnete Anstellungsurkunde »zum Gesandten I. Klasse in Budapest« 101 mit konsularischen Befugnissen für Ungarn. Mit dieser Bestallung geriet der alte SA-Führer wieder in das Ränkespiel der NS-Elite. Denn für die Kriegsführung Adolf Hitlers hatte in den Jahren 1940/ 41 der südosteuropäische Raum an Bedeutung gewonnen. Da Hitler Berufsdiplomaten grundsätzlich mit Skepsis und Mißtrauen begegnete und sie für »in der Mentalitaet des Gastlandes befangen« hielt 102 , trachtete er danach, die diplomatischen Vertretungen, insbesondere im südosteuropäischen Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 283 95 BAP Miscellaneous German Records Collection, T 84 R 7 (= Mikrofilm, Nr. 375 P, Bl. 6311 - 6312). 96 Interview (wie Anm. 7). 97 Fröhlich (wie Anm. 87), S. 10. 98 Fröhlich (wie Anm. 87), S. 10, S. 40, S. 108, S. 473, S. 657. 99 Vgl. WASt (wie Anm. 6). 100 IfZ, Mikrofilm 1300/ 2, Bl. 96. 101 PAAA, Person H, Akten betreffend Dietrich von Jagow, Bd. 1, Rep IV Personalia, Nr 269 G, Bl. 1. 102 IfZ, Mikrofilm 1300/ 2, Bl. 93 [Andor Hencke]. Zur politischen Gesinnung der Beamten des Auswärtigen Amtes vgl. Jong, Louis de, Die deutsche fünfte Kolonne im Zweiten Weltkrieg (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 4), Stuttgart 1959. <?page no="285"?> Gebiet, mit langjährigen und treuen Parteigenossen zu besetzen. Hitler beauftragte mit dieser Aufgabe Joachim von Ribbentrop, der sich wie bei allen wichtigen Entscheidungen auch bei der Neubesetzung der Botschaften mit seinem Unterstaatssekretär Martin Luther beraten haben dürfte. Luther, der als SA-Angehöriger bestrebt war, die Ernennung von SS-Leuten zu Botschaftern zu verhindern, da er in der SS eine große Gefahr für seine eigenen ehrgeizigen Machtbestrebungen sah, protegierte Leute aus seinen Reihen. Auf seine Initiative ist wohl die Berufung der höheren SA-Führer zu Gesandten in den vom »Dritten Reich« abhängigen Staaten Südosteuropas zurückzuführen, mit der er »den Einfluß der SS auf dem Balkan zu neutralisieren suchte.« 103 Von Jagow übernahm Ende Juli 1941 seine Geschäfte in der Gesandtschaft in Budapest. 104 Im Zentrum seiner Tätigkeit stand offensichtlich die Umsiedlung Volksdeutscher aus Ungarn und die Werbung volksdeutscher Freiwilliger für die Waffen-SS. 105 Daneben war er für die Übersendung einschlägiger Informationen aus dem ungarischen Raum über alliierte Invasionsabsichten verantwortlich. Diesem Auftrag kam der begeisterte Soldat besonders geflissentlich nach. 106 Ein weiterer Schwerpunkt war die Registrierung der in Ungarn lebenden Juden. Von Jagow sollte die ungarische Regierung davon überzeugen, daß Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung für den Fortbestand des Landes unabdingbar seien. Die Vorstellungen, die die deutschen Dienststellen den Ungarn für die Ausarbeitung einer »fortschreitenden Gesetzgebung« nahelegten, ließen den wahren Charakter dieser Maßnahmen unschwer erkennen: Erarbeitung einer Judenkartei »mit dem Ziel der Ausschaltung aller Juden aus dem kulturellen und dem Wirtschaftsleben, Kennzeichnung der Juden, Aussiedlung nach dem Osten im Benehmen mit uns mit dem Endziel einer restlosen Erledigung der Judenfrage in Ungarn, Absprachen mit uns hinsichtlich der Vermögensregelung der ehemals reichsdeutschen und ungarischen Juden mit dem Ziel, daß dieses Vermögen jeweils von dem Staat vereinnahmt wird, in dessen Arbeitsgebiet es sich befindet (Territorialprinzip).« 107 Barbara Hachmann 284 103 Döscher, Hans-Jürgen, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der ›Endlösung‹, Berlin 1987, S. 205. 104 Vgl. PAAA, Person H, Akten betreffend Dietrich von Jagow, Bd. 1, Rep IV Personalia, Nr 269 G, Bl. 11. 105 Vgl. BAP German Foreign Ministry: Inland II g, Geheime Reichssachen (D II, D III, D VIII, D IX), 1943, Vol. 9, (Box 3), Bl. 267200 - Bl. 267443. (= Mikrofilm, 09.01, FC, Auswärtiges Amt, S, Nr.1187); IfZ, Mikrofilm 304, Bl. 2590613 - Bl. 2590663. 106 Z.B. berichtete er über die Absicht der Briten, Kreta zu besetzen, um von dort aus eine Balkanfront zu errichten. Vgl. BAP Mikrofilm, 09.01, FC, Auswärtiges Amt, S, Nr. 541, Bl. 79242. Von Ribbentrop wies im Juni 1942 alle Auslandsmissionen an, Hinweise auf Invasionspläne der Amerikaner und Briten sofort zu melden. Vgl. Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.), Das deutsche Reich und der zweite Weltkrieg Bd. 6 (Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte), Stuttgart 1990. 107 Zit. nach United Restitution Organization (Bearb.), Judenverfolgung in Ungarn. Dokumentensammlung, Frankfurt / Main 1959, S. 96. <?page no="286"?> Von Jagow fiel es u.a. zu, über solche Vorschläge mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Kállay, der dem deutschen Ansinnen widerstrebend gegenüberstand, zu verhandeln. Kállay zog sich vor allem auf die Position zurück, »daß die Lösung dieser Frage [sogenannte Judenfrage] eine rein innerungarische Angelegenheit sei.« 108 Auch von Jagows Einwendungen, »die Beseitigung des jüdischen Gefahrenherdes« sei von internationalem Interesse 109 , wollte er sich nicht beugen. Kállay und Horthy, dem ungarischen Reichsverweser, zu dem von Jagow ein gutes Verhältnis entwickelte 110 , gelang es so, die deutschen Forderungen hinhaltend zu bearbeiten. Bis zur Besetzung Ungarns durch die Deutschen am 19. März 1944 vermochten sie, einerseits den Schein der Zusammenarbeit mit Hitler-Deutschland zu wahren, andererseits die jüdische Bevölkerung zu schützen. Selbst jüdische Flüchtlinge aus Polen, Jugoslawien und der Slowakei fanden bis März 1944 Zuflucht in Ungarn. 111 Von Jagows Rolle und seine eigenen Auffassungen in dieser Sache sind nicht überliefert. Immerhin läßt eine Notiz in den Akten des Auswärtigen Amtes darauf schließen, daß er erst nach einigem Zögern die deutschen Anliegen in bezug auf die ungarische Judenfrage im vollen Umfang vortrug. Staatssekretär von Weizsäcker bat nämlich am 14. Oktober 1942, dafür zu sorgen, »daß Jagow gemäß den Instruktionen beim Außenminister in Budapest« 112 vorsprechen solle, um die Ungarn anzuweisen, was mit den dort lebenden Juden geschehen soll. Dem Tenor des Schreibens zufolge hatte von Jagow also nicht sofort die Instruktionen aus dem Reich an die ungarische Regierung weitergegeben. Von Jagows Tätigkeit in Budapest endete am 31. März 1944 113 mit der deutschen Besetzung des Landes. Die SS begann mit der systematischen Verhaftung und Deportierung der dort lebenden jüdischen Bevölkerung, während von Jagow zur kommissarischen Beschäftigung ins Auswärtige Amt einberufen wurde. 114 Am 31. Mai verließ er die ungarische Hauptstadt und meldete sich am 1. Juni zum Dienstantritt in Berlin, während seine Familie vorübergehend in den Warthegau zog. 115 Danach verlieren sich die Spuren von Jagows. Über seine Tätigkeit in der Reichshauptstadt ist nichts bekannt. Seit Ende 1944 oder Anfang 1945 kämpfte der mitt- Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 285 108 United Restitution Organization (wie Anm. 107), S. 110. 109 United Restitution Organization (wie Anm. 107), S. 110. 110 Vgl. Horthy an Hedwig von Jagow, 3. August 1953, Kopie im Besitz der Verfasserin. 111 Zur ungarischen Politik vgl. Macartney, Carlile A., October Fifteenth. A history of modern Ungary 1929 - 1945 (History, Philosophy and Economics 6), Edinburgh o.J.; Szöllösi-Janze, Margit, Die Pfeilkreuzlerbewegung in Ungarn. Historischer Kontext. Entwicklung und Herrschaft (Studien zur Zeitgeschichte 35), München 1989. 112 United Restitution Organization (wie Anm. 107), S. 102. 113 Vgl. PAAA, Akten des Auswärtigen Amtes, Person H Bd. 1, Rep. IV Personalia, 269, Bl. 35. 114 Vgl. PAAA, Akten des Auswärtigen Amtes, Person H Bd. 1, Rep. IV Personalia, 269, Bl. 41. 115 Nach den Erzählungen seines Sohns Henning hatte sich die Familie unmittelbar nach der Abberufung des Vaters als Gesandter in Foldevar am Plattensee aufgehalten. Sie seien dort großer Gefahr durch Partisanen ausgeliefert gewesen, so daß es dringend erforderlich gewesen sei, einen sicheren Platz für die Familie zu finden. <?page no="287"?> lerweile 52jährige noch als Bataillonsführer des Volkssturm-Bataillons 35 in Schlesien. Am 20. Januar 1945 erlitt er schwerste Kopfverletzungen und verlor ein Auge. In einem Lazarett in Leipzig verlieh man ihm am 21. Februar 1945 das Verwundetenabzeichen in Schwarz. 116 Als seine Familie im März 1945 in Berlin eintraf, erfuhr sie, daß er immer noch im Lazarett in Leipzig liege. Da jedoch die sowjetischen Streitkräfte immer näher gegen Berlin vorrückten, floh die Familie über Konstanz nach Dingelsdorf am Bodensee. Noch im gleichen Monat traf auch Dietrich von Jagow in Konstanz ein. Im dortigen Lazarett wurde seine medizinische Behandlung fortgesetzt. Kaum genesen, schickte man ihn als Kurier nach Meran. Physisch und psychisch war von Jagow in jenen Tagen völlig ausgezehrt, dennoch erfüllte er diesen nicht mehr näher zu bezeichnenden Auftrag. Vier Tage bevor Adolf Hitler Selbstmord beging, erschoß sich Dietrich von Jagow in Meran. Ein Bekannter soll ihn kurze Zeit vor seinem Tod erschöpft und nervlich vollkommen am Ende angetroffen haben. 117 Von Jagow konnte nach seinem Freitod für sein Tun nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden. Von der Spruchkammer Freiburg, die gleichwohl von Jagows Verantwortung in der Zeit des »Dritten Reiches« zu überprüfen suchte, wurde er am 13. Februar 1950 lediglich als »Minderbelasteter« eingestuft. 118 Fragwürdig wie das Urteil selbst blieb insbesondere die Feststellung der Spruchkammer, daß von Jagow, der völkische Aktivist der 20er Jahre, der unermüdliche Werber und Organisator der SA, der pflichteifrige Verfolger der politischen Opposition und gehorsame Diener Adolf Hitlers »propagandistisch [...] nicht hervorgetreten« sei. 119 Bibliographie Quellen Angaben zu von Jagows Lebens- und Laufbahndaten finden sich in der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht. Das Bundesarchiv (Dahlwitz-Hoppegarten, Potsdam und Koblenz), das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn und das IfZ in München sind im Besitz zahlreicher Dokumente, die von Jagows Wirken in der Zeit der Weimarer Republik und zwischen 1933 und 1945 belegen. Besonders erwähnenswert mit Blick auf von Jagows Stellung zur O. C. ist der Nachlaß Dr. Luetgebrune, der im Bundesarchiv Koblenz verwahrt wird. Dort befindet sich auch eine große Anzahl von Fotografien, die von Jagows Wirken insbesondere ab 1934 im Bild wiedergeben. Unverzichtbar ist das im Hauptstaatsarchiv Stuttgart verwahrte Material über das Württem- Barbara Hachmann 286 116 Verleihung des Verwundetenabzeichens, Privatbesitz Henning von Jagow. 117 Interview (wie Anm. 7). 118 STAFR (wie Anm. 55), Bl. 21. 119 STAFR (wie Anm. 55), Bl. 21. <?page no="288"?> bergische Staatsministerium und Innenministerium (Polizeiwesen), das von Jagows Wirken als Reichs- und Polizeikommissar widerspiegelt. Schriftliche Aufzeichnungen über ein Interview vom 12. Januar 1996 mit den Kindern Dietrich von Jagows, Frau Ilse Claar und Herrn Henning von Jagow, sind im Privatbesitz der Autorin. Literatur Über Dietrich von Jagow ist bisher noch keine zusammenhängende biographische Darstellung erschienen. Allerdings umreißen einige Autoren, die sich mit dem Nationalsozialismus in Württemberg beschäftigten, sein Leben in groben Zügen. So findet sich z.B. im Band »Stuttgart im Dritten Reich, Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt«, Stuttgart 1983 unter dem Titel »Der Büttel« eine kurze Abhandlung über von Jagows Leben. Das von Benigna Schönhagen herausgegebene Werk »Nationalsozialismus in Tübingen. Vorbei und vergessen«, Tübingen 1992 sowie ihr Werk »Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus«, Stuttgart 1991 beleuchten von Jagows Wirken in den frühen 20er Jahren. In diesem Zusammenhang ist auch Manfred Schmid erwähnenswert, der in »Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918 - 1923«, Tübingen 1988 von Jagows Rolle bei der O. C. aufgearbeitet hat. Die Zeit als Reichs- und Polizeikommissar erörtert ausführlich Friedrich Wilhelm in seiner Dissertation »Die württembergische Polizei im Dritten Reich«, Stuttgart 1989. Dietrich von Jagow, SA-Obergruppenführer 287 <?page no="290"?> Ein »anständiger« 1 und »moralisch integrer« 2 Nationalsozialist? Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister Ernst Otto Bräunche *30. September 1897 Weinheim, ev., Vater: Philipp Julius Köhler, Kaufmann, Mutter: Anna Köhler, geb. Maier, verheiratet seit 1925 mit Emilie Köhler, geb. Reinhard, fünf Kinder. 1904 - 1912 Volksschule und Realgymnasium Weinheim, Mittlere Reife, 1912 - 1914 Banklehre beim Vorschußverein Ladenburg, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, 1. Juli 1916 Verwundung, britische Kriegsgefangenschaft, EK II, 1918 - 1933 Tätigkeit im elterlichen Kolonialwarengroß- und -kleinhandel, 1929 - 1933 MdL (NSDAP), 11. März 1933 kommissarischer Finanz- und Wirtschaftsminister, 6. Mai 1933 Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister, 12. Dezember 1933 - 1945 MdR, 1936 - 1937 Leiter der Rohstoffabteilung innerhalb des Vierjahresplans, 1936 - 1945 Leiter der Wirtschaftskammer Baden, 1939 - 1945 Vorsitzender des Rüstungskommandos Baden, 1940 - 1944 Leiter der Finanz- und Wirtschaftsabteilung beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, vor 1942 Wehrwirtschaftsführer, 1943 Präsident der Gauwirtschaftskammer Oberrhein. 20. Juni 1925 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 8.246), 1925 Mitbegründer der NSDAP-Ortsgruppe Weinheim, 1925 - 1932 Ortsgruppenleiter Weinheim, 1926 Stadtverordneter Weinheim, 1925 - 1927 Kreisleiter Weinheim und SA-Führer, 1929 Stellvertretender Gauleiter, Fraktionsvorsitzender der NSDAP-Landtagsfraktion, Januar - März 1933 »Gauleiter«, 1. Mai 1937 SA-Führer z.V. der Gruppe Südwest, SA-Brigadeführer, 9. November 1938 SA-Gruppenführer, 20. April 1939 Stellvertretender Gauleiter ehrenhalber, 9. November 1943 SA-Obergruppenführer. 4. April 1945 Verhaftung durch französische Truppen in Karlsruhe, Internierungslager, 4. Mai 1948 Entlassung, 20. Oktober 1948 Entscheidung der Spruchkammer Karlsruhe: »Minderbe- Walter Köhler 289 1 Der ehemalige Badische Gesandte in Berlin und (süd-)badische Minister der Justiz, Hermann Fecht, bezeichnete Walter Köhler als eine »anständige Persönlichkeit«, GLA 466, Zug. 1979/ 2, 4141. 2 Badische Neueste Nachrichten, 4. Oktober 1948. <?page no="291"?> lasteter«, 18. April 1950 2. Entscheidung der Spruchkammer Karlsruhe im Berufungsverfahren: »Belasteter«, 1948 - 1989 nach kurzer Tätigkeit als Handelsvertreter Leiter eines Versicherungsbüros in Karlsruhe, gest. 9. Januar 1989 Weinheim. »Ich muß mich nun auf die Entnazifizierung vorbereiten. Wenn ich raus will, muß ich auf dem Paragraphen 39 herumreiten und beweisen, daß ich nie Nationalsozialist war. Ich tue das nicht gern, aber ich muß es tun für meine Familie.« 3 So äußerte sich der zweite Mann im Gau Baden nach Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner, Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident von 1933 bis 1945, während seiner Haft im Internierungslager Ludwigsburg gegenüber einem Mithäftling. Sein Vorhaben schien ihm wenig später auch gelungen zu sein, denn am 4. Oktober 1948 berichteten die Badischen Neuesten Nachrichten: »Unter den prominenten Persönlichkeiten des 3. Reiches, die ihren Einfluß nicht zur Terrorisierung Andersdenkender und zur Selbstbereicherung mißbrauchten, war der badische Finanzminister und Ministerpräsident Walter Köhler einer der am meisten genannten.« 4 Aufgrund zahlreicher entlastender schriftlicher und persönlicher Zeugenaussagen, der nur eine einzige belastende Stimme gegenübergestanden habe, sei während der Verhandlung der folgende Gesamteindruck zustandegekommen: »Köhler hat die Juden und insbesondere die jüdischen Beamten seines Ministeriums geschützt und ihnen geholfen, so weit es überhaupt möglich war; er stand den christlichen Bekenntnissen wohlwollend gegenüber, lehnte den ihm vom Gauleiter abgeforderten Kirchenaustritt ab und ließ seine Kinder taufen und konfirmieren; er behandelte auch die Nicht-Pgs. unter seinen Beamten gerecht und wohlwollend, und es durfte in seiner Gegenwart an der Partei offen Kritik geübt werden; er lehnte es ab, Untergebene durch Druck in den großen Pferch zu zwingen (ein hübscher Rat übrigens: ›Bleiben Sie ruhig draußen, es laufen sowieso Lumpen genug in der Partei herum [...]‹)«. 5 Obwohl der Rat Köhlers für den Empfänger ja alles andere als schmeichelhaft war und durchaus auf die Geringschätzung der Personen schließen läßt, die es ablehnten, in die Partei einzutreten, resümierte der Journalist, daß sich »das Bild einer moralisch integren Persönlichkeit« ergeben habe, »die [...] trotz einer ungewöhnlichen Karriere keinerlei anstößigen Aufwand trieb und das einfache Leben von früher fortführte.« Folgerichtig erschien ihm auch das Urteil angemessen, das Köhler als Minderbelasteten zu einer Sühnezahlung von 1500 DM und einer dreijährigen Berufsbeschränkung verurteilte. Dies sahen schon damals offenbar nicht alle so: Am 20. November 1948 legte der Ernst Otto Bräunche 290 3 GLA 466 Zug. 1979/ 2, Nr. 4141 und GLA 465a 51/ 68/ 902, Aussage von Eric Kaufmann. 4 Badische Neueste Nachrichten, 4. Oktober 1948. 5 Siehe auch den Bericht von Hermann Winter »Schuld und Sühne«, Süd-West-Echo, 17. April 1946, der von einem Zentrumsmann berichtet, der sich bei Köhler beklagt habe, daß man ihn in die Partei nötigen wolle, und dann diese Antwort bekommen habe. Diese Geschichte wurde also ganz offensichtlich in Variationen erzählt und weitergegeben. <?page no="292"?> öffentliche Kläger Berufung ein. Vier Tage später ging der Anwalt Köhlers - offensichtlich durch den Einspruch des öffentlichen Klägers dazu veranlaßt - ebenfalls in die Berufung. Eineinhalb Jahre später berichtete nun die Allgemeine Zeitung über das Berufungsverfahren in dem Artikel »Walter Köhler wurde Belasteter. Berufungskammer hob erstes Urteil auf.« 6 Das erste Urteil habe in weiten Bevölkerungskreisen Mißfallen erregt, denn: »Alle Gegner des Nazismus kannten ihn schon lange vor 1933 als einen der lautesten und fanatischsten Redner und Verfechter des Nazismus im badischen Landtag sowie in politischen Versammlungen.« Zwei unterschiedliche Einschätzungen, die aber der Bandbreite der Meinungen über einen der einflußreichsten NS-Funktionäre in Baden entsprach. Im folgenden soll deshalb versucht werden, die Person Walter Köhler als Weinheimer, als NSDAP-Funktionär und -Propagandisten, als NSDAP-Landtagsabgeordneten und Fraktionsvorsitzenden, als Badischen Ministerpräsidenten und als Finanz- und Wirtschaftsminister, als Angeklagten sowie schließlich als Kaufmann vorzustellen. Der Weinheimer Am 30. September 1897 wurde Walter Köhler in dem kleinen nordbadischen Städtchen Weinheim geboren als jüngster Sohn 7 des Kaufmanns Philipp Julius Köhler und dessen zweiter Ehefrau Anna, geb. Maier. 8 Die Eltern besaßen dort einen Kolonialwarengroß- und -kleinhandel, der die Familie gut ernährte. Während sein Vater ebenfalls ein gebürtiger Weinheimer war, also aus der ehemaligen Kurpfalz stammte, kam seine Mutter Anna Maier aus Bonndorf in Südbaden. In den Jahren 1904 bis 1912 besuchte er zunächst die Volksschule, dann das Realgymnasium Weinheim, das er mit der Mittleren Reife verließ. Als Schüler war Köhler wohl eher mittelmäßig, seiner eigenen Einschätzung nach »glänzte« er nur beim Aufsatz. 9 Von 1912 bis 1914 absolvierte er eine Banklehre beim Vorschußverein Ladenburg. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 meldete sich der Achtzehnjährige als Kriegsfreiwilliger und kam in das Reserveregiment des Leibgrenadierregiments 109, das in Nordfrankreich zum Einsatz kam. Am 1. Juli 1916 geriet er während der Schlacht an der Somme als Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 291 6 Allgemeine Zeitung, 20. April 1950. 7 Für diese Auskunft danke ich Frau Rößler vom Stadtarchiv Weinheim. Aus der ersten Ehe des Vaters stammten vier Halbgeschwister. In der zweiten Ehe wurden Walter und sein älterer Bruder Hans geboren. 8 Vgl. Lebenserinnerungen Walter Köhler, Familienbesitz, S. 4 f. Im folgenden werden sie als Lebenserinnerungen, die kleineren Kapitel mit der Kapitelüberschrift zitiert, vgl. dazu die Hinweise zur Quellenlage am Schluß dieses Beitrags. Ich danke an dieser Stelle der Familie Köhler, daß Sie mir diese Lebenserinnerungen zugänglich gemacht hat. Meine Kolleginnen Claudia Buggle und Andrea Rößler vom Stadtarchiv Weinheim haben die Kontakte zur Familie Köhler hergestellt und letztlich ermöglicht, daß ich die Lebenserinnerungen einsehen konnte, wofür ich ihnen ebenfalls herzlich danke. 9 Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 5. <?page no="293"?> Unteroffizier mit einer Oberarmverwundung in britische Gefangenschaft. Wenig später, am 1. September 1916, starb der Vater. Anfang 1918 kam Köhler mit zum Arbeitseinsatz nach Rotterdam, wo er als Internierter größere Bewegungsfreiheit besaß und z.B. Amsterdam und Den Haag besuchen konnte. 10 Von Holland aus kehrte er nach Kriegsende über Bremen nach Weinheim zurück. Es war folgerichtig, daß der mit dem EK II ausgezeichnete Walter Köhler 1918 im elterlichen Geschäft tätig wurde und es auch später übernahm. Erst 1933, wohl nach seiner Ernennung zum Badischen Ministerpräsidenten und Minister, verpachtete er es. Zu diesem Zeitpunkt war Köhler bereits acht Jahre mit Emilie Köhler, geb. Reinhard, verheiratet. Der Hauptwohnsitz der Familie war und blieb auch während des »Dritten Reiches« Weinheim. 11 Diese Verbundenheit mit Weinheim rechnete man dem prominenten Nationalsozialisten schon im »Dritten Reich« hoch an, und sie wurde noch nach dem Kriege von vielen Weinheimer Entlastungszeugen positiv bewertet: Der neue Weinheimer Nachkriegsoberbürgermeister betonte z.B., daß Köhler sich von seinen NS-Kollegen durch die erhalten gebliebene »Einfachheit« unterschieden habe, seine Familie, Frau und fünf Kinder, sei in ihrer bürgerlichen Umgebung geblieben und habe nie erkennen lassen, daß sie die Angehörigen eines ranghohen Vertreters des Staates waren. 12 Der Leiter der Weinheimer Polizei bestätigte ebenfalls, daß Köhler »in seinem Wesen stets der Gleiche geblieben« sei und daß er über Köhler nur Lob, nie Tadel gehört habe. Auch der Weinheimer Fabrikant Richard Freudenberg sagte in dem Spruchkammerverfahren gegen Köhler zu dessen Gunsten aus und betonte, daß in Weinheim allgemein bekannt sei, daß Köhler trotz seiner hohen Würde ein »grundanständiger Mensch geblieben ist«. Bereits am 21. März 1933 erhielt er wie viele andere nationalsozialistische »Würdenträger« in dieser Zeit die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt. Aber auch die Landeshauptstadt Karlsruhe ehrte ihn am 9. Mai gemeinsam mit Gauleiter Robert Wagner und Adolf Hitler auf diese Weise. 13 Ingeborg Wiemann-Stöhr, die für ihre Arbeit über die Stadt Weinheim 1925 bis 1933 mit zahlreichen Zeitzeugen gesprochen hat, stellt fest, daß sie niemanden - Sozialdemokraten eingeschlossen - getroffen habe, der sich negativ über Köhler geäußert habe. 14 Dazu beigetragen hat sicher nicht zuletzt, daß Köhler im kleinstädtischen Sozialmilieu Weinheims fest verankert und »eine mitteilsame pfälzische Frohnatur« war, die andere Menschen gewinnen Ernst Otto Bräunche 292 10 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 38. 11 Vgl. GLA 466 Zug. 1979/ 2, Nr. 4141 und GLA 465a 51/ 68/ 902, wo ein maschinengeschriebener Lebenslauf Köhlers enthalten ist. Zur Familie vgl. Federle, Siegfried, Die Ahnentafel unseres Ministerpräsidenten, in: Die Badische Chronik 1935, S. 48 - 50. 12 Vgl. GLA 466 Zug. 1979/ 2, 4141 und GLA 465a 51/ 68/ 902, dort auch die folgenden Zitate. 13 Vgl. Verwaltungsbericht der Landeshauptstadt Karlsruhe für das Wirtschaftsjahr 1933 (1. April 1933 bis 31. März 1934), Karlsruhe 1934, S. 10. 14 Wiemann-Stöhr, Ingeborg, Die Stadt Weinheim 1925 - 1933. Untersuchungen zu ihrem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Profil (Weinheimer Geschichtsblatt 37/ 1991), Weinheim 1991, S. 139, Anm. 27. <?page no="294"?> konnte. 15 Er selbst hielt auch fest, daß er in seinem »Leben nie von Minderwertigkeitsgefühlen geplagt war« 16 , was sich in seinem selbstsicheren und selbstbewußten Auftreten noch im hohen Alter niederschlug. Diese Aussagen lassen den Schluß zu, daß Köhler ein angesehener Weinheimer war und auch blieb, als alle im »Dritten Reich« begangenen Schandtaten der Nationalsozialisten bekannt wurden. Ihm lastete man sie in Weinheim nicht an, obwohl natürlich auch hier bekannt war, daß er ein führender Repräsentant des nationalsozialistischen Regimes war und bereits früh zur NSDAP gefunden hatte. Der NSDAP-Funktionär und -Propagandist Köhler selbst gab an, daß er aus dem Krieg »national eingestellt« heimgekehrt sei. Bereits vor dem Krieg, am Ende der Schulzeit und während seiner Lehre hatte Köhler Versammlungen verschiedener Parteien besucht und sich für die Politik zu interessieren begonnen. 17 Politisch schloß er sich nach 1918 zunächst der Deutschnationalen Volkspartei und dem Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund an. Eine Zeitlang war er Leiter der Deutschnationalen Jugend in Weinheim. 18 Dem Deutschen Führerlexikon aus dem Jahre 1935 ist zu entnehmen, daß er sich 1924/ 25 für den Völkischen Block betätigte, der auch in Baden versuchte, die Anhänger der verbotenen NSDAP zu binden. 19 Köhler selbst gab nach 1945 an, daß er das Gefühl gehabt habe, daß die Deutschnationale Volkspartei die seiner Meinung nach vordringliche soziale Problematik nicht werde lösen können und »einfach zu schwunglos und leisetreterisch« 20 gewesen sei und er sich deshalb der NSDAP zugewandt habe. Adolf Hitler sah Köhler erstmals im Jahr 1921, als er am Parteitag der DNVP in München teilnahm. 21 Bereits während der Festungshaft Hitlers versuchte Köhler mit Gleich- Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 293 15 Wiemann-Stöhr (wie Anm. 14), S. 81. Der Verfasser kann dies bestätigen, da er am 25. Mai 1976 mit Walter Köhler ein Zeitzeugeninterview (im Folgenden zitiert als Gespräch) führen konnte, in dem sich Köhler auch im Alter von 79 Jahren noch als ein vitaler, mitteilsamer und beredter Mann zeigte, so daß man noch ahnen konnte, mit welcher Überzeugungskraft er früher in politischen Versammlungen aufgetreten war. 16 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 131. 17 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 7. 18 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 57 und Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 19 Vgl. Deutsches Führerlexikon 1934/ 35, Berlin 1934, S. 243 f., BA, Abt. III (BDC), PA Walter Köhler; Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125, NF 86 (1977), S. 331 - 375, hier S. 332 ff. 20 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 56, vgl. auch Vernehmung Köhlers vor der Spruchkammer am 2. Oktober 1948, GLA 466, Zug. 1979/ 2 Nr. 4141. 21 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 56 und Kap. »Weinheim nach 1918«, S. 11. Köhler nennt kein Datum, doch muß es sich um den Parteitag vom 1. bis 3. September 1921 handeln, vgl. Fricke, Dieter, Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 1918 - 1933, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland, hrsg. v. D. Fricke u.a. Bd. 2, Leipzig 1984, S. 476 - 561, hier S. 477. <?page no="295"?> gesinnten in Weinheim eine »Ersatzpartei« für die verbotene NSDAP zu gründen. 22 Eine größere Weinheimer Gruppe nahm auch an dem sogenannten Deutschen Tag in Bruchsal am 12. Oktober 1924 teil, wo er den Teilnehmer am Hitlerputsch und späteren Gauleiter Robert Wagner erstmals traf. Nach der Gründung des NSDAP- Gaus Baden am 25. März 1925 durch Wagner trat Köhler am 20. Juni 1925 in die NSDAP ein und erhielt die Mitgliedsnummer 8.246. In Weinheim war er die treibende Kraft der NSDAP, die zu diesem Zeitpunkt hier wie in ganz Baden allerdings erst eine unbedeutende Splitterpartei war. Noch im Juni 1925 wurde die dortige NSDAP-Ortsgruppe gegründet. Köhler übernahm nach kurzer Zeit deren Leitung und wurde Kreisleiter von 1925 bis 1927 und SA-Führer in Weinheim. 23 Die SA-Führerschaft verschwieg er im übrigen später im Spruchkammerverfahren, indem er angab, erst 1935 in die SA eingetreten zu sein. In Weinheim war er auch seit der Wahl am 14. November 1926 Stadtverordneter, wobei ihm der Weinheimer Oberbürgermeister bescheinigte, selten an den Sitzungen teilgenommen zu haben. 24 Bereits in den ersten Jahren seiner Parteizugehörigkeit fiel Köhler durch sein Redetalent auf, so daß er sich bis 1929 die Stellung eines »Kronprinzen« im Gau Baden hinter Robert Wagner erarbeiten konnte, wie Köhler selbst es bezeichnete. 25 Zum ersten Mal wird er im November 1926 in einem Bericht des Landespolizeiamtes erwähnt, als er am 24. September in einem Sprechabend der NSDAP-Ortsgruppe Weinheim über den bevorstehenden Landesparteitag der NSDAP berichtete und eine Hitlerrede im Wortlaut verlas. 26 Seit diesem Zeitpunkt erschien Köhler immer häufiger in den Meldungen, im Mai 1927 erstmals auch mit einem Auftritt außerhalb von Weinheim, als er in Lohrbach vor ca. 60 Personen sprach. 27 Auch für die 1927 gegründete Gauzeitung »Der Führer« schrieb Köhler regelmäßig Artikel, so schon gleich in der ersten Ausgabe des Jahres 1928 unter der Schlagzeile »Nationalsozialismus und Landbund«, als er sich gegen die gleichzeitige Mitgliedschaft in der NSDAP und anderen nicht zur Partei gehörenden Organisationen wie dem Badischen Landbund wandte, denn: »Unsere Stärke liegt in der unbedingten Geschlossenheit.« 28 In den folgenden Jahren erschienen viele weitere Artikel von Walter Köhler, dem Ernst Otto Bräunche 294 22 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 59. 23 Vgl. Wiemann-Stöhr (wie Anm. 14), S. 81 f. Den Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. Weinheim nach 1918, S. 22 zufolge, war zunächst ein Herr Ebert Ortsgruppenleiter, den Köhler ablöste, als sich abzeichnete, daß jener mit der Ortsgruppenleitung überfordert war. 24 In seinen Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. Weinheim nach 1918, geht Köhler auf seine Tätigkeit als Stadtverordneter ein und betont, daß er 1933 trotz seiner anderen Ämter aus Verbundenheit mit Weinheim dort Stadtverordneter geblieben sei, vgl. S. 75. 25 Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). Zu Köhlers Aktivitäten als Parteipropagandist vor 1929 vgl. auch Grill, Johnpeter H., The Nazi Movement in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 115. 26 STAFR, Bestand A 961, Nr. 1671, Bericht des Landespolizeiamts, 5. November 1926. Die Berichte sind ab 1926 auch enthalten in GLA 309/ Zug. 1994 - 53, 6160. 27 Vgl. STAFR, Bericht 1. Mai 1927. 28 »Der Führer«, 7. Januar 1928. <?page no="296"?> »Führer« vom 11. Oktober 1931 zufolge war er zu dieser Zeit auch der erfolgreichste Abonnentenwerber der Parteipresse. Sicherlich nicht zuletzt Köhlers Einsatz war es zu verdanken, daß die NSDAP bei der Reichstagswahl 1928 ihre Stimmen im Vergleich mit der im Dezember 1924 angetretenen Deutschvölkischen Freiheitspartei in Weinheim mit 936 Stimmen knapp verdreifachte. Die Ortsgruppe Weinheim war Anfang 1928 nach Mannheim und Karlsruhe mit 250 Mitgliedern auch nicht zufällig die drittgrößte Ortsgruppe in Baden. 29 Das Landespolizeiamt zählte Köhler inzwischen schon zu den »bekannteren Rednern des Gaues Baden.« 30 Beharrlich warb er um neue Anhänger und holte die Parteiprominenz, darunter mehrmals Joseph Goebbels, nach Weinheim. 31 Auf einer Führertagung des Bezirkes Weinheim am 10. Juni 1928 führte er aus, daß die Weinheimer SA auf mindestens 100 Mann anwachsen und wenigstens einmal im Monat einen Propagandamarsch durchführen müsse. 32 Entsprechend groß war der Erfolg in Weinheim, wo die NSDAP mit 26,7 % der Stimmen einen weit über dem Landesdurchschnitt von 7 % liegenden Erfolg erzielte. Weinheim war damit schon früh eine Hochburg der NSDAP. Das badische Landespolizeiamt bescheinigte Köhler Ende 1929, daß er in seiner Heimatstadt gute Parteiarbeit geleistet habe: »Ausgebaut wurde insbesondere die Ortsgruppe Weinheim, die unter Führung des Walter Köhler einen starken Aufschwung genommen hat.« 33 Auch nach seiner Wahl in den Landtag gehörte Köhler zu den aktivsten badischen Propagandisten; seine Versammlungen waren stets gut besucht, da er durchaus demagogisches Talent besaß und seine Zuhörer in Bann ziehen konnte. Dabei scheute er auch nicht vor scharfen Attacken gegen die politischen Gegner zurück, schaffte es allerdings fast immer, sich an eine vom ihm selbst formulierte Maxime zu halten: »Wir verstehen es trotz Republikschutzgesetz immer an der Grenze des Erlaubten entlang zu gehen. Wenn wir einen Minister einen Lumpen nennen wollen, so sagen wir es ihm schon durch die Blume.« 34 Dennoch bedrohte auch Köhler die Weimarer Demokratie bei seinen Auftritten in eindeutiger Weise: »Die Demokratie muß durch einen Diktator abgelöst werden; einen Saustall kann man nicht mit Sammetpfoten säubern.« 35 In Pforzheim wurde er am 5. Juni 1930 ebenfalls sehr Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 295 29 Vgl. STAFR A 961, Nr. 1671, Bericht 15. März 1929. 30 Vgl. STAFR A 961, Nr. 1671, Bericht 15. Juni 1928. 31 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Weinheim nach 1918«, S. 30 ff. In dem Kap. »Beim Vierjahresplan«, S. 11, betont Köhler, daß er zu Goebbels freundschaftliche Beziehungen hatte. 32 STAFR A 961, Nr. 1671, Bericht 15. August 1928. Vgl. auch Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Weinheim nach 1918«, wo Köhler ausführlich auf die Entwicklung der NSDAP in Weinheim und die Wahlkampfveranstaltungen eingeht. Ganz offensichtlich hat er für dieses Kapitel die Lokalpresse ausgewertet. 33 STAFR A 961, Nr. 1671, Bericht 29. November 1929. 34 Walter Köhler am 20. Mai 1930 in Bühl, zit. nach: Denkschrift des Reichsministers des Innern über das hochverräterische Unternehmen der NSDAP, in: Verhandlungen des Badischen Landtages, IV. Landtagsperiode 1929 bis 1933, 3. Sitzungsperiode, Spalte 1068. 35 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), Sp. 1076. <?page no="297"?> deutlich: »Wir Nationalsozialisten stehen im Geruch etwas roh zu sein. Ich stelle fest, daß derjenige, der in einem Saustall Ordnung schaffen will, nicht mit einem Palmwedel kommen kann, sondern er wird durchfahren müssen; er muß dafür sorgen, daß gewisse eiternde Wunden aus dem Volkskörper herausgeschnitten werden.« 36 Als überzeugter Antidemokrat, der den Umsturz wollte, zeigte sich Köhler immer wieder in seinen öffentlichen Auftritten. Am 2. März 1930 kündigte er an: »Eine Änderung [der demokratischen Verhältnisse] sei nur möglich durch einen baldigen Umsturz und die Auferstehung eines Diktators, der das Volk rette, ehe es zu spät ist. Die Nationalsozialisten würden versuchen, diesen Umsturz schnell herbeizuführen.« 37 Welche Organisationen man dazu benötigte, war Köhler ebenfalls klar: »Der Vorwurf, wir wollten die Reichswehr zersetzen, trifft uns nicht; Zersetzung der Reichswehr kommt für uns nicht in Frage; wir wollen die ganze Reichswehr.« 38 Daß diese Ausführungen Köhlers in der Denkschrift des Reichsministeriums des Inneren über das hochverräterische Unternehmen der NSDAP zitiert sind, überrascht nicht. Zum einen war Köhler tatsächlich einer der badischen Redner, die am deutlichsten die Demokratie bekämpften, zum anderen überwachte das badische Landespolizeiamt die Auftritte der NSDAP genauestens und gab die Ergebnisse in Form von Vierteljahresberichten u.a. an andere Landespolizeiämter und die Reichsbehörden weiter. 39 Selbst handgreiflich scheint Köhler im Gegensatz zu Robert Wagner und anderen badischen NS-Größen allerdings nicht geworden zu sein, »denn er vertraute mehr der Kraft seiner Worte als physischer Gewalt«. 40 Bekannt ist nur, daß unter seiner Führung eine Versammlung des SPD-Politikers und - Ministers Adam Remmele am 5. August 1930 in Offenburg gesprengt wurde. Köhler rief in den Saal: »Wer hat uns verraten? «, woraufhin der nationalsozialistische Sprechchor antwortete: »Die Sozialdemokraten! « - »Wer wird ausmisten? « - »Die Nationalsozialisten! « - »Wer macht uns frei? « - »Die Hitlerpartei! « Anschließend wurde zur Verhöhnung des gelernten Müllers Remmele »Das Wandern ist des Müllers Lust« gesungen, wodurch die Versammlung endgültig gesprengt war. 41 Dieser Stil kam an, Köhler galt als populärer Redner, dessen Auftritte gut besucht waren. Er selbst hielt später fest, daß er lieber in Südbaden gesprochen habe, während Ernst Otto Bräunche 296 36 Bericht des Badischen Landespolizeiamts: »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Entwicklung und Tätigkeit des Gaues Baden seit der Landtagswahl vom 15. Oktober 1929«, GLA 233/ 27915 und 309/ 5987. 37 Zit. nach: Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), 27. April 1932, Sp. 1074. 38 Köhler am 5. Juni 1930 in Pforzheim, zit. nach: Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), Sp. 1092. 39 Vgl. Bräunche, Ernst Otto, Das Badische Landespolizeiamt: Die Überwachung der links- und rechtsextremen Parteien in der Weimarer Republik, in: Geschichte als Verantwortung. Festschrift für Hans Fenske zum 60. Geburtstag, hrsg. v. E. O. Bräunche, H. Hiery, Karlsruhe 1996, S. 85 - 111, hier S. 86. 40 Wiemann-Stöhr (wie Anm. 14), S. 81. 41 GLA 465d/ 1458. <?page no="298"?> er in Nordbaden weniger gut angekommen sei, ohne dafür eine Erklärung zu haben. 42 Die badische Gauzeitung »Der Führer« charakterisierte einmal Köhlers Auftreten in einer Großveranstaltung in der Karlsruher Festhalle im Juli 1932: »Von tausendstimmigem Heilruf der Volksgenossen begrüßt, betrat unser Pg. Köhler das Rednerpult und begann in seiner bekannten Art seine, oft von beißendem Spott gewürzten Ausführungen«. 43 Am 9. Februar 1933 schrieb dieselbe Zeitung: »Von Walter Köhler, dessen Ausführungen im Unterschied zu dem öden Gewäsch schwarzer und roter Dauerschwätzer im badischen Landtag auch vom Gegner mit Interesse angehört werden, erwartet man stets etwas Besonderes. Sie atmen jenen Geist, der die nationalsozialistische Idee in einem ungeheuren Siegeslauf in alle Schichten des Volkes hineingetragen hat.« 44 Im Umgang mit den »Massen« besaß Köhler also großes Geschick. Er konnte seine Auftritte regelrecht inszenieren und ließ »keine Fahnenweihe und andere Gelegenheiten zur emotionalen Neuverpflichtung verstreichen«. 45 Auf den Reichsparteitagen der NSDAP war Köhler stets vertreten, für seine Verdienste um die Partei erhielt er auch das Goldene Parteiabzeichen und das Goldene Ehrenzeichen des Gaus Baden. 46 Seinen zweiten Platz innerhalb der badischen NS-Hierarchie festigte Köhler nach dem Weggang seines Fraktionskollegen Karl Lenz, der im September 1931 die Gauleitung im benachbarten Hessen-Darmstadt übernahm. Köhler vertrat bereits im Oktober des Jahres kurzfristig den erkrankten Gauleiter Wagner. Als dieser im Dezember 1932 von dem Stabschef der Reichsorganisationsleitung Robert Ley zu seinem Stellvertreter berufen wurde, übernahm Walter Köhler die Gauleitung. Gleich zu Beginn des Jahres 1933 wies er in dieser Funktion das Angebot der Deutschen Volkspartei schroff zurück, die NSDAP an einer Koalitionsregierung in Baden zu beteiligen. 47 In den folgenden Wochen wurde er immer häufiger als Gauleiter angekündigt. So war z.B. der Gaubefehl vom 1. Februar 1933 unterzeichnet »Der Gauleiter: Walter Köhler«. Nach der Reichstagswahl am 5. März forderte Walter Köhler als amtierender Gauleiter am 6. März 1933 ultimativ den Rücktritt der Badischen Regierung. 48 Eine Entscheidung, ob er nun definitiv Gauleiter war, erübrigte sich, da am 9. März Robert Wagner aufgrund der »Reichstagsbrandverordnung« als Reichskommissar mit der Wahrnehmung der Geschäfte der Badischen Regierung beauftragt wurde. Köhler muß mit dieser Entwicklung nicht gerechnet haben, da er auf dem Weg nach Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 297 42 Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 87. 43 »Der Führer«, 7. Juli 1932. 44 »Der Führer«, 9. Februar 1933. 45 Wiemann-Stöhr (wie Anm. 14), S. 82. 46 Vgl. BA, Abt. III (BDC), PA Walter Köhler. 47 Vgl. »Der Führer«, 3. Januar 1933. 48 Veröffentlicht in den badischen NS-Zeitungen am 7. März 1933 und gez. mit »Walter Köhler, Gauleiter und M.d.L.«, vgl. z.B. »Der Führer«, 7. März 1933. <?page no="299"?> Frankfurt, wo er sich Instruktionen von Reichsinnenminister Frick holen wollte, von der Rückkehr Wagners als Reichskommissar überrascht wurde. 49 Wenig später, am 9. Mai 1933, gelobte er allerdings öffentlich die Treue zu Wagner 50 , die er letztlich erst kurz vor Kriegsende brach, als er gegen Wagners Befehl in Karlsruhe blieb und sich von französischen Truppen verhaften ließ. Später stellte Köhler es sowohl in seinem Spruchkammerverfahren als auch in Zeitzeugeninterviews und in seinen Lebenserinnerungen immer so dar, als sei er stets nur Stellvertretender Gauleiter gewesen. Genaue Belege, daß er 1932/ 33 tatsächlich als Gauleiter auch von der Reichsparteileitung anerkannt wurde, fehlen. Die Tatsache, daß er in der Öffentlichkeit als Gauleiter auftrat, spricht aber dafür, daß er sich berechtigte Hoffnungen machen durfte, diese Position auf längere Zeit zu besetzen. 51 Die Ernennung Hitlers und die folgenden Ereignisse im Zuge der sogenannten Machtergreifung machten diese Überlegungen hinfällig: Wagner kam rechtzeitig zurück, um wieder die erste Stelle im Gau einzunehmen. Wagner dominierte auch ganz offensichtlich die weitere Entwicklung in Baden, Köhler unternahm keinerlei Versuche, sich gegen ihn aufzulehnen. 52 Daß Köhler immer wieder betonte, daß er als Stellvertretender Gauleiter sowieso kaum Einfluß gehabt habe, überrascht nicht, da er sich offenbar rasch mit den geschaffenen Fakten abfand und außerdem nach 1945 keinerlei Interesse haben konnte, seine Rolle in der Partei noch zusätzlich aufzuwerten. 53 Ebenso wies er in seinem Spruchkammerverfahren darauf hin, daß er nach 1933 keine leitende Position in der Partei mehr innehatte. Dies trifft auch zu, wenn man davon absieht, daß er 1939 den merkwürdigen Titel »Stellvertretender Gauleiter ehrenhalber« bekam. 54 Der Landtagsabgeordnete Nachdem die NSDAP am 20. Oktober 1929 bei der Landtagswahl 7% der Wählerstimmen bekommen hatte, zogen sechs nationalsozialistische Abgeordnete in das Karlsruher Ständehaus, in dem sie bis dahin nicht erlebte Szenen aufführen sollten. Vorsitzender der Radau-Fraktion wurde Walter Köhler, was das Landespolizeiamt veranlaßte, darüber zu spekulieren, ob die Stellung des Gauleiters Robert Wagner Ernst Otto Bräunche 298 49 Rehberger, Horst, Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/ 33 (Heidelberger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen NF 19), Heidelberg 1966, S. 99. 50 Vgl. »Der Führer«, 9. Mai 1933. 51 In seinen Lebenserinnerungen (wie Anm. 8) geht Köhler darauf überhaupt nicht ein. Dies hätte auch dem Bild der absolut vertrauensvollen und loyalen Zusammenarbeit mit Wagner widersprochen, die Köhler immer wieder in den Vordergrund stellte. Hier drängt sich der Verdacht auf, daß es sich um ein Geschichtsbild handelt, das Köhler schließlich selbst glaubte, weshalb er alle Bereiche ausklammerte, die dem widersprochen hätten. 52 Vgl. Rehberger (wie Anm. 49), S. 99 ff. 53 Vgl. auch Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 144. 54 Vgl. BA, Abt. III (BDC) PA Walter Köhler. <?page no="300"?> schwächer geworden sei und man in der Parteileitung über einen Wechsel in der Gauleitung nachdenke. Walter Köhler selbst stellte dies so dar, daß Wagner sich eher auf die Parteiarbeit habe konzentrieren wollen und ihm deshalb die Fraktionsführung überlassen habe. Eine Rolle dürfte aber auch gespielt haben, daß Wagner in politischen Debatten nicht wendig genug war, um eine solche Funktion auszuüben. 55 Es handelte sich also nicht um eine Einengung der Macht des Gauleiters, sondern um eine Absprache und Aufgabenteilung zwischen den beiden führenden badischen Nationalsozialisten. In den Landtagsdebatten hielt sich Wagner in der Regel tatsächlich auch zurück und überließ meist Köhler die größeren Redebeiträge. In der 2. Sitzungsperiode 1930/ 31 lag Köhler z.B. mit 50 Wortmeldungen weit vor Wagner, der sich nur siebenmal meldete, aber auch weit vor den anderen Fraktionsmitgliedern. Im Landtag führte Köhler sich gleich entsprechend ein. Als der Landtagspräsident einen Nachruf auf den verstorbenen Prinz Max von Baden hielt, verließen die Nationalsozialisten demonstrativ den Saal. Dem SPD-Vorsitzenden Emil Maier, der dies anschließend rügte, antwortete Köhler in einer Art, die für ihn typisch war: »Ich möchte für die Nationalsozialisten erklären, daß wir es ablehnen, uns mit dem Herrn Abg. Maier und mit der sozialdemokratischen Partei über Takt und Anstand auseinanderzusetzen.« 56 Die Regierungsbildung von Zentrum und SPD am 21. November 1929 kommentierte er ebenfalls in bester Propagandistenmanier: »Wir erleben tatsächlich, daß die badische Regierung wieder das Gesicht eines Bauernschinken hat, außen schwarz und innen rot.« 57 An seiner Einschätzung der Tätigkeit des Landtags ließ er keinen Zweifel: »Wir sind in den Landtag eingezogen, obwohl wir wußten, daß er faul ist und keinen Sinn hat. Der Landtag hat nur den Sinn, daß die Diäten und die Freifahrkarten ausgegeben werden.« 58 In einer Versammlung in Eberbach erklärte er, »er habe seinen Fraktionskollegen gesagt, wenn sie bei einer Sitzung im Landtag fehlen würden, so sei ihm das piepe; wenn sie aber eine Versammlung versäumen würden, so sei daß viel schlimmer«. 59 Auch im Landtag selbst betonte er immer wieder, daß man sich nicht an parlamentarische Spielregeln halte und einen Antrag nur begründe, wenn man es für geboten halte: »[...] wir verachten den Parlamentarismus und tun das, was uns gefällt [...]«. 60 Offen griff er 1931 anläßlich der Regierungsumbildung einmal mehr die Demokratie an: »Wir sind diktatorischen Maßnahmen nicht abhold. Aber wir sind so ehrlich, zu erklären, daß Demokratie Mist ist.« 61 Auch vor Drohungen schreckte Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 299 55 Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 56 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), 6. November 1929, Sp. 28. 57 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), Sp. 95. 58 Köhler in einer Versammlung am 25. Mai 1930, GLA 233/ 27915. 59 STAFR A 961, Nr. 1617, »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Entwicklung und Tätigkeit des Gaues Baden seit der Landtagswahl vom 29. Oktober 1929«, S. 5. 60 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), 14. März 1930, Sp. 2182. 61 »Der Führer«, 10. September 1931. <?page no="301"?> Köhler nicht zurück: Dem sozialdemokratischen Abgeordneten Emil Maier rief er z.B. zu: »[...] mit Ihnen einmal Fraktur zu reden an anderer Stelle, wird mir ein Frühstück sein. Seien Sie davon überzeugt! « 62 Als sein Fraktionskollege Merk wegen verbaler Entgleisungen von dem Landtagsvizepräsidenten Reinbold des Saales verwiesen wurde, drohte er diesem unmißverständlich: »Am erfreulichsten aber scheint uns die Tatsache zu sein, daß die Zeit nicht mehr fern sein dürfte, wo derartige Elemente wie Reinbold nicht mehr auf dem Präsidentenstuhl des Bad. Landtags, sondern auf der Anklagebank eines deutschen Gerichts sitzen werden.« 63 In der sogenannten »Ohrfeigenaffäre«, als der Zentrumsabgeordnete Hilbert Hitler einen Deserteur nannte und der als »enfant terrible« des Badischen Landtags bekannte NSDAP-Abgeordnete Herbert Kraft daraufhin Ohrfeigen austeilte, ließ Köhler sich trotz eines Ordnungsrufes nicht abhalten zu wiederholen: »Wer Hitler einen Deserteur nennt, der ist für uns ein Schwein.« 64 Der sozialdemokratischen Freiburger Parteizeitung galt Köhler wegen solcher Auftritte und seiner scharfen Zunge als »unsympathischster und gehässigster Redner des Hauses.« 65 Als sich Köhler am 10. Februar 1931 über den Versailler Vertrag ausließ, kommentierte die Volkswacht: »Die Debatte hatte nur den Erfolg, daß der Abg. Köhler (NSDAP) Gelegenheit hatte, mit wüstem Geschrei eine Schlußhetzrede zu halten. Der Herr erhielt einen Ordnungsruf. Das Geschwätz und die Überheblichkeit dieses Herren sind die abstoßendsten Erscheinungen im Landtag.« 66 Der Badische Ministerpräsident und Minister Bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 erreichte die NSDAP in Baden 45,4% der Stimmen. Obwohl auch hier das Ziel der absoluten Mehrheit verfehlt wurde, forderte Walter Köhler als amtierender Gauleiter am 6. März ultimativ den Rücktritt der badischen Regierung. 67 Durch die Rückkehr Wagners als Reichskommissar für Baden ging die Initiative des Handelns sofort an diesen über (s.o.). Köhler wurde aber schon am 11. März durch die Ernennung zum kommissarischen Leiter des Finanzministeriums bzw. am 6. Mai zum Badischen Ministerpräsidenten sowie zum Finanz- und Wirtschaftsminister durchaus entschädigt. Daß Wagner Köhler mit Ernst Otto Bräunche 300 62 Verhandlungen des Badischen Landtages, 25. März 1930, Sp. 2368. 63 Zit. nach: »Der Führer«, 27. April 1932. 64 Verhandlungen des Badischen Landtages (wie Anm. 34), 17. Februar 1932, Sp. 192. In seinen Lebenserinnerungen bestreitet Köhler, daß die Provokationen im Landtag zur Strategie der NSDAP gehörten, gibt aber zu, daß der Partei dadurch entsprechende Aufmerksamkeit zuteil wurde, vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 94. 65 Volkswacht, 6. Februar 1931. 66 Volkswacht, 12. Februar 1931. 67 Veröffentlicht in den NS-Zeitungen am 7. März 1933 und gez. mit »Walter Köhler, Gauleiter und M.d.L.«, z.B. »Der Führer«, 7. März 1933. <?page no="302"?> diesen Ämtern betraute, lag nahe. Zum einen hatte sich der NSDAP-Fraktionsvorsitzende bislang als derjenige erwiesen, der sich in Wirtschaftsfragen noch am besten auskannte. Zum anderen war Wagner selbst nicht in der Lage, in diesen Aufgabenbereichen erfolgreich tätig zu sein. So wie er Köhler schon den Fraktionsvorsitz überlassen hatte, überließ er ihm auch die Regierungsposten und bei deren Ausübung relativ freie Hand. Die Vermutung von Roland Peter, daß dies die Gegenleistung Wagners dafür war, daß Köhler keine Ambitionen auf die Gauleitung hatte, klingt plausibel. 68 Köhler selbst sah seine Ernennung zum Ministerpräsidenten als zwangsläufig an, da er keinen Konkurrenten gehabt habe, was zutreffen dürfte. 69 Er hatte als Pragmatiker und Realist erkannt, daß er kaum an Wagner vorbeikommen konnte, so daß er einen Machtkampf zwischen Gauleiter und Ministerpräsident als aussichtslos ansah und dieser in Baden unterblieb. 1976 erwähnte Köhler, daß er im Gegensatz zu Wagner nicht die unbedingte Konsequenz des Gauleiters gehabt und diesen deshalb auch immer bewundert habe. 70 Dafür, daß er den Machtkampf scheute, spricht auch seine Selbsteinschätzung, kein Freund harter Entscheidungen gewesen zu sein, besonders wenn er diese habe selbst treffen müssen. 71 In seinen Lebenserinnerungen hielt Köhler auch fest, daß er die Übernahme des Finanzministeriums zunächst abgelehnt habe, da er sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlte. Dies ist angesichts der Persönlichkeitsstruktur Köhlers durchaus überraschend und wird auch in anderen Quellen nicht bestätigt. 72 Die Kabinettssitzungen dominierte im übrigen der Reichsstatthalter. Walter Köhler leitete nur die Sitzung am 13. Mai 1933, als Wagner abwesend war. Daß Köhler Wagner aber offensichtlich doch zu selbständig wurde, belegen die wiederholten Versuche des Gauleiters, ihn als Ministerpräsidenten zu entmachten, wodurch Köhlers Verhältnis zu Wagner, das er selbst als »stets loyal« bezeichnete, sicher abkühlte. Vermutlich dachte Köhler u.a. hieran, als er in seinen Lebenserinnerungen festhielt, daß seine Beziehungen zu Wagner »immer korrekt und kameradschaftlich« blieben, auch wenn es »durch die verschiedenen Aufgabenbereiche Belastungen« gab. 73 Im Mai des Jahres 1935 wähnte Wagner sich am Ziel. Über Reichsinnenminister Frick schien es ihm gelungen zu sein, die Ämter des Reichsstatthalters und des Ministerpräsidenten zu vereinigen. Obwohl Hitler den entsprechenden Erlaß schon unterzeichnet hatte, versandete die Angelegenheit allerdings, da Hitler es im letzten Moment doch bei der alten Regelung belassen Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 301 68 Vgl. Peter, Roland, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer Grenzregion im Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Militärgeschichte 44), München 1995, S. 16. 69 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 137. 70 Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 71 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 136. 72 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 127. In der Spruchkammerakte ist diese Ablehnung nicht vermerkt. 73 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 61. Bezeichnenderweise geht Köhler an keiner Stelle auf Wagners Versuche ein, ihn als Ministerpräsident abzusetzen. <?page no="303"?> wollte. 74 Auch drei weitere Versuche Wagners 1941 und 1942 scheiterten letztlich, obwohl Hitler 1942 einer Ablösung Köhlers bereits zugestimmt hatte. Da Wagner aber eine generelle Unterstellung der Länderregierungen unter den Reichsstatthalter nicht nur in Baden anstrebte, blieb es bei der bisherigen Lösung. 75 Wagners Versuche, Köhler zu entmachten, entsprechen durchaus der »soldatischen Natur« und dem absoluten Führungsanspruch Wagners. Köhlers weitgehender Verzicht auf eine Parteiangehörigkeit auch führender Beamter in seinen Ministerien dürften dem Fanatiker Wagner ebenso suspekt gewesen sein wie seine »weitgehend ideologiefreie Wirtschaftspolitik«. 76 Der (süd-)badische Justizminister Hermann Fecht bestätigte im Juni 1948, daß Köhler sich wegen seiner Haltung, seine Beamten nicht nach Parteizugehörigkeit auszusuchen und zu beurteilen, die Mißbilligung des Reichsstatthalters zugezogen habe. 77 In seiner Kritik an Parteimaßnahmen sei Köhler sehr offen gewesen, obwohl ihm bekannt war, daß Fecht nicht mit der NSDAP sympathisierte. »Ich habe auch nach dem Zusammenbruch Gelegenheit gehabt, mit zahlreichen Beamten und Angestellten des früheren Finanzministeriums zu sprechen. Ich habe nicht einen darunter gefunden, der nicht die guten Charaktereigenschaften Köhlers anerkannt hätte.« 78 Ein wichtiger Faktor für dieses Verhalten Köhlers war wohl, daß ein Großteil der führenden Beamten dem Zentrum nahestand, mit dessen Parteiführer, dem Prälat Föhr, Köhler am 7. März 1933 über die Möglichkeit einer Koalition sprach und den er durchaus schätzte. 79 Außerdem war Köhler als Minister ohne besondere Vorkenntnisse in seinem Ressort ja auf die Mitarbeit seiner Fachbeamten angewiesen, wie er selbst auch zugestand. 80 SPD- Mitglieder wären aber sicher auch im Finanzministerium aus ihren Ämtern entlassen worden. Diese vermeintlich liberale Haltung hinderte Köhler dann auch nicht, im Juni 1934 die badische Beamtenschaft aufzurufen, sich aktiv in der NSDAP und ihren Gliederungen zu betätigen. 81 Gelegentlich setzte sich Köhler auch gegen Anordnungen der Partei durch: So Ernst Otto Bräunche 302 74 Vgl. Hüttenberger, Peter, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 19), Stuttgart 1969, S. 90 und Peter (wie Anm. 68), S. 13. 75 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 14. Peter bezieht sich auf BA, R 43 II/ 1310. 76 Peter (wie Anm. 68), S. 17. 77 Dies bestätigte auch der spätere Präsident der Landesforstverwaltung Hubert Zircher, der der DDP angehört hatte und während des »Dritten Reiches« in der Köhler unterstellten Landesforstverwaltung tätig war, vgl. GLA 465a 51/ 68/ 902. 78 GLA 465a 51/ 68/ 902. 79 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 95, 121 und 133. 80 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 158. 81 Vgl. Roser, Hubert; Spear, Peter, »Der Beamte gehört dem Staat und der Partei.« Die Gauämter für Beamte und für Kommunalpolitik in Baden und Württemberg im polykratischen Herrschaftsgefüge des NS-Regimes, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 71 - 102, hier S. 97. <?page no="304"?> erreichte er, daß Beamte nicht gegen den Willen der Behörde für Schulungen der Partei freigestellt werden durften. 82 Unterschwellig bestanden somit sicher immer Konfliktpunkte zwischen Gauleiter und Ministerpräsident, die allerdings nie offen zum Bruch zwischen beiden führten. 83 So wie Köhler die Vormachtstellung des Gauleiters und Reichsstatthalters akzeptierte, akzeptierte dieser die Fachkompetenz Köhlers in Wirtschafts- und Finanzfragen und überließ ihm den gesamten wirtschaftlichen Bereich. Köhler führte diese relativ unproblematische Zusammenarbeit auf das vertrauensvolle und kameradschaftliche Verhältnis zurück, das zwischen ihm und Wagner geherrscht habe. 84 Dies muß tatsächlich auch bestanden haben, da Köhler sonst sicher nicht alle »ökonomischen Spitzenpositionen in Baden« hätte einnehmen können, womit er »über eine Machtfülle« verfügte, »die unter den Mitarbeitern der Gauleiter ihresgleichen suchte und selbst von Rüstungsminister Albert Speer anerkannt wurde.« 85 Seit 1936 war Köhler Leiter der Wirtschaftskammer Baden, seit 1943 Präsident der Gauwirtschaftskammer Oberrhein. 1939 bis 1945 leitete er das Rüstungskommando Baden, 1942 erhielt er den Status eines Wehrwirtschaftsführers. Folgerichtig übernahm Köhler auch in den Jahren 1940 bis 1944 die Leitung der Finanz- und Wirtschaftsabteilung beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß. Hier zeigte Köhler sich durchaus machtbewußt, als er sich energisch gegen eine Verselbständigung des Reichsnährstands wandte, der ihm in Baden unterstellt war. 86 Insgesamt verhielt er sich im Elsaß aber ganz offensichtlich so, daß er 1945 bei seiner Verhaftung durch französische Truppen keine Sorge haben mußte, als Kriegsverbrecher behandelt zu werden. Bereits am 25. Juni 1940 bemühte sich Köhler in Berlin um einen günstigen Umrechnungskurs für die anstehende Währungsumrechnung im Elsaß. 87 Er ließ allerdings auch keinen Zweifel, daß er beabsichtigte, »das elsässische Wirtschaftspotential raschestens in den Dienst der deutschen Kriegswirtschaft zu stellen, um auf diesem Weg zum deutschen Endsieg beizutragen.« 88 Der Gedanke, Widerstand zu leisten, war ihm fremd. Als er 1941 während eines Aufenthalts in Paris von Graf Schulenburg angesprochen wurde, ob er daran mitwirken wolle, auf Hitler Druck auszuüben, um einen Vergleich mit den Westmächten zu ermöglichen, lehnte er dies ab mit der Begründung, daß er mit Hitler und seiner Sache zu sehr verbunden sei und »es mit seinem Ehrbegriff nicht vereinbaren könne, das sinkende Schiff zu verlassen.« 89 Dabei blieb es bis wenige Tage vor Kriegsende. Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 303 82 Vgl. Roser/ Spear (wie Anm. 81), S. 100 sowie GLA 233/ 26306 und 26282. 83 Grill (wie Anm. 25), S. 248, sieht diesen Konflikt ebenfalls, wertet ihn allerdings zu stark. 84 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 138. 85 Peter (wie Anm. 68), S. 366. 86 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), »Im Elsaß 1940 - 1945«, S. 9. 87 Vgl. Kettenacker, Lothar, Nationalsozialistische Volkstumpolitik im Elsaß (Studien zur Zeitgeschichte 5) , Stuttgart 1973, S. 54 und Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Im Elsaß 1940 bis 1945«, S. 6 f. 88 Zit. nach Kettenacker (wie Anm. 87), S. 329. <?page no="305"?> Bei der Räumung des Elsaß wurde die elsässische Wirtschaft auf Anweisung Köhlers weitgehend verschont und nur »Engpassmaschinen, die seinerzeit ins Elsass gekommen waren, von dort wieder abtransportiert.« 90 Elsässische Wirtschaftsvertreter bestätigten Köhler, daß er sich in seinen Positionen stets korrekt verhalten habe. Köhler sprach sich gegen die Politik der verbrannten Erde aus und verhinderte im wirtschaftlichen Bereich Zerstörungen. 91 Wegen seiner Weigerung, Karlsruhe vor der Besetzung durch französische Truppen zu verlassen, enthob Gauleiter Wagner Köhler aller seiner Funktionen und schloß ihn aus der Partei aus. Ein von Wagner angestrebtes Standgerichtsverfahren wegen Hoch- und Landesverrats kam wegen der näherrückenden Front nicht mehr zustande. 92 Auch in diesem Fall unterschied Köhler sich also deutlich von dem Fanatiker Wagner, der den Nero-Befehl Hitlers ausnahmslos durchgeführt sehen wollte. 93 Köhler selbst betonte später, daß für Wagner mit der Niederlage die Welt untergegangen sei, während es für ihn selbstverständlich gewesen sei, daß das Leben weitergehe. 94 Auch in badischen Wirtschaftskreisen hatte Köhler sich bald Anerkennung verschafft. Mehrere führende Wirtschaftsvertreter, darunter der Vorstandsvorsitzende der Schnellpressenfabrik AG Heidelberg und der Vorstandsvorsitzende der Brown, Boveri & Cie AG Mannheim bestätigten Köhler nach dem Ende des Krieges seine Kompetenz und seine unparteiische Haltung. Auch in diesem Bereich legte Köhler nicht in erster Linie auf die Parteizugehörigkeit Wert. In der konstituierenden Sitzung der badischen Industrie- und Handelskammer im Juli 1933 hatte er betont, daß es ihm nicht auf das Parteibuch ankomme: »Uns ist jeder willkommen, der etwas leistet und seinen Mann steht.« 95 Ganz auf dieser Linie lag es auch, daß Köhler 1935/ 36 den Einfluß der Partei auf die Wirtschaft zurückzudrängen versuchte. Der der NSDAP nahestehende IHK-Präsident Kentrup mußte zurücktreten und wurde durch einen Köhler genehmen Industriellen ersetzt. Als überzeugter Badener hatte Köhler stets die badischen Interessen im Auge, wobei er sich hier offensichtlich mit Wagner traf. 96 Am 21. Juni 1933 berichtete Robert Wagner in der Kabinettssitzung über seinen und Köhlers Besuch in Berlin, der durchaus erfreulich verlaufen sei, da man die Notlage Badens anerkannt habe. Die Notwendigkeit des Autobahnbaus werde unterstützt, die Einrichtung einer Ernst Otto Bräunche 304 89 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Im Elsaß 1940 - 1945«, S. 26. 90 Aussage Ernst Streicher, Diplom-Landwirt, GLA 465a 51/ 68/ 902. 91 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 194, der sich auf das Spruchkammerverfahren bezieht und die Aussagen Köhlers zurecht für glaubhaft und durch Zeugenaussagen bestätigt sieht. Köhler betonte auch immer wieder, daß er politisch im Elsaß kaum Einfluß hatte: »Mein Rat wurde nicht verlangt, und an den Entscheidungen war ich nicht beteiligt.« Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Im Elsaß 1940 - 1945«, S. 14. 92 Aussage Friedhelm Kemper und Karl Pflaumer, GLA 465a 51/ 68/ 902. 93 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 193 f. 94 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 2. 95 Zit. nach Peter (wie Anm. 68), S. 49 f., vgl. dort auch zum Folgenden. 96 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 366. <?page no="306"?> Spielbank in Baden-Baden bestätigt. 97 Zur Überraschung Köhlers, der sich durch Baden-Badener Persönlichkeiten zu einem Eintreten für die Spielbank hatte überreden lassen, hatte Hitler zugestimmt, allerdings mit der Auflage, daß dies die einzige in Deutschland bleiben solle. Als Ende 1933 die »badischen Rechte«, d.h. die Eigenständigkeit Badens durch die Reichsreform bedroht schienen, schlug Köhler am 17. November eine Denkschrift zur Wahrung badischer Rechte vor. 98 Wenige Wochen später berichtete Köhler über die Presse, daß das Reichinnenministerium die Zusicherung gegeben habe, die »badischen Rechte«, soweit möglich, zu wahren, so daß man »auf jeden Fall mit Zuversicht und Vertrauen dem Fortgang des Vollzugs der Reichsreform entgegensehen« könne. 99 Am 6. Januar 1934 stellte Köhler im Kabinett »die Frage der Vertretung badischer Wirtschaftsinteressen in Berlin« zur Erörterung. Es bestand Übereinstimmung mit seinem Vorschlag, daß eine Weisung des Reichskanzlers an die Reichsressorts erwirkt werden solle, daß Baden »wegen seiner besonderen Grenzlage ein allgemeines Entgegenkommen verdient und bei seinen wirtschaftlichen Wünschen bevorzugt zu behandeln sei.« 100 Wenig später, am 24. April 1934, berichtete Köhler im Kabinett über seine Bemühungen, Baden stärker an den Heereslieferungen zu beteiligen. Ein Bericht im »Führer« vom 25. April 1934 hob unter der Schlagzeile »Die Arbeitsbeschaffung in Baden« hervor, daß »Baden [...] aufgrund seiner besonderen Notlage auch eine spezielle Behandlung des Reichs erfahren« müsse. Gegenüber dem Nachbarland Württemberg sah Köhler Baden im Nachteil und mahnte gleich 1933 gemeinsam mit Wagner eine stärkere Förderung der badischen Wirtschaft an. Erfolgreich setzte sich Köhler 1935 gegen einen wirtschaftlichen Zusammenschluß mit Württemberg zur Wehr und erreichte die Beibehaltung einer eigenen badischen Wirtschaftskammer. Als nach Kriegsbeginn 1939 zahlreiche kriegswichtige Firmen nach Württemberg verlagert werden sollten, verhinderte Köhler dies in vielen Fällen, wie er in einem Pressebericht betonte. 101 Dem Abzug von Facharbeitern widersetzte Köhler sich ebenfalls, z.T. auch öffentlich. 102 Die Einschätzung, daß »sich gerade die badische Regierung mit Köhler an der Spitze seit ihrem Antritt zum Sachwalter der regionalen Interessen entwickelt und sie nach außen hin vertreten« 103 hatte, trifft also durchaus zu. Ebenso trifft aber zu, daß Köhler als Vorsitzender der oberrheinischen Rüstungskommission »das Seine zum Gelingen der badischen Kriegsproduktion« 104 beitrug. Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 305 97 Vgl. GLA 233/ 24318 und Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 187 f., vgl. dort auch zum Folgenden. 98 Vgl. Grill (wie Anm. 25), S. 259 und GLA 233/ 24318. 99 »Der Führer«, 2. Februar 1934, zit. nach Rehberger (wie Anm. 49), S. 158. 100 Vgl. GLA 233/ 24318. 101 Vgl. Peter (wie Anm. 68), der sich auf Berichte im Alemannen vom 31. Dezember 1939 und 1. Januar 1940 beruft. 102 Vgl. Peter (wie Anm. 68), S. 210 f. 103 Peter (wie Anm. 68), S. 218. <?page no="307"?> Auch in seiner Funktion als Leiter der Rohstoffabteilung innerhalb des Vierjahresplans erwies Köhler sich nicht unbedingt als Funktionär, der bedingungslos auf der von oben angeordneten Linie lag. In diese Position war Köhler aufgrund seiner unangefochtenen führenden Position in der badischen Wirtschaft gekommen. Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht bestätigte, daß Köhler sich gegen überhöhte Anforderungen von Eisen durch die Wehrmacht gewandt habe und von seinem Posten zurückgetreten sei, nachdem ihm auf Veranlassung Görings, der sich damit dem Druck der Wehrmacht gebeugt habe, die Eisenbewirtschaftung entzogen worden war. 105 Köhlers Stellung zu den Maßnahmen gegen politische Gegner und zur Judenverfolgung und -vernichtung im »Dritten Reich« bleibt unscharf. In der Weimarer Republik ließ er gelegentlich anklingen, daß er den Antisemitismus seiner Partei durchaus teilte, so im Mai 1932 im Landtag, als er ausführte, daß das Zentrum in Preußen vom Judentum gewählt worden sei: »Das Judentum sieht nämlich in ihnen noch die einzig zuverlässige Schutztruppe.« 106 In seinen Lebenserinnerungen betont Köhler zwar, daß er den Antisemitismus nie als alleiniges politisches Programm betrachtet habe, läßt aber auch durchblicken, daß er den seiner Meinung nach zu großen Einfluß des jüdischen Bevölkerungsteils zurückgedrängt sehen wollte. 107 Ebenso eindeutig bestätigt er, daß er eine Lösung der »Judenfrage« für erforderlich hielt, wobei er allerdings zur Madagaskar-Lösung tendierte. 108 Die Schaufahrt mit sieben führenden Sozialdemokraten durch die Straßen von Karlsruhe und den umliegenden Dörfern auf dem Weg in das KZ Kislau bezeichnete er als »politische Eselei«. 109 Als er im Kabinett über die Umorganisation der Wirtschaft und die Umstellung von Vorstand und Aufsichtsrat der Firma Haid & Neu berichtete, hob er hervor, daß das Kapital weiter in jüdischer Hand sei, da dies »einfach nicht ausschaltbar« sei. 110 Demgegenüber soll Köhler 1944 zunächst verhindert haben, daß »Juden, Halbjuden und jüdisch Verheiratete zu besonderem Einsatz eingezogen wurden.« 111 Der Weinheimer Schulleiter Matthes Siehl bestätigte, daß Köhler sich für ihn verwendet und seine Wiedereinstellung erreicht habe, als er 1939 wegen seiner Ehe mit einer Jüdin von der Firma Robert Gerling auf Druck von NSDAP-Parteistellen entlassen worden war. 112 Den Inhabern der Firma Gütermann & Co in Gutach half Ernst Otto Bräunche 306 104 Peter (wie Anm. 68), S. 366 f. 105 Vgl. GLA 465a 51/ 68/ 902 und Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Beim Vierjahresplan«, S. 4. 106 »Der Führer«, 7. Mai 1932. 107 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 45 f. 108 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 177 ff. und Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 109 Köhler, Gespräch (wie Anm. 15). 110 GLA 233/ 24318 111 Aussage Ernst Streicher, Diplom-Landwirt, GLA 465a 51/ 68/ 902. 112 Vgl. GLA 465a 51/ 68/ 902. <?page no="308"?> Köhler wiederholt, indem er die Schließung des Betriebes als sogenannter »Mischlingsbetrieb« und 1944 die Einziehung der Inhaber in eine für »Mischlinge« zusammengestellte Sondereinheit der Organisation Todt verhinderte. 113 In seinem Berufungsverfahren gab Köhler auch an, daß er die Ereignisse in der »Reichskristallnacht« mißbilligt habe und sie mit seinem Empfinden nicht habe vereinbaren können. Eine direkte Beteiligung an den Verfolgungsmaßnahmen konnte Köhler in der Tat nicht nachgewiesen werden. Daß er tatsächlich das Ausmaß des Terrors in Deutschland trotz seiner Position nicht gekannt habe, muß aber durchaus bezweifelt werden. 114 Unzweifelhaft bleibt aber, daß Walter Köhler im »Dritten Reich« trotz mancher Widerspenstigkeiten in seinen Aufgabenbereichen funktionierte und somit letztlich dazu beitrug, daß die Verfolgunsgmaßnahmen möglich wurden. Gerade populäre und umgängliche Funktionäre wie Köhler, die nicht dem Schreckensbild des brutalen und fanatischen Nazis entsprachen, trugen ihren maßgeblichen Teil dazu bei, die Macht der Nationalsozialisten zu stützen und zu festigen. Der »Meister der Tarnung« 115 Mit diesem Tatbestand hatte sich auch die Spruchkammer im Jahr 1948 auseinanderzusetzen. Walter Köhler war nach der Besetzung Karlsruhes durch französische Truppen verhaftet und zunächst ins Karlsruher Gefängnis in der Riefstahlstraße gekommen. Nach etwa zwei Wochen wurde er in das Internierungslager Knielingen verlegt, von wo aus er nach Seckenheim, dann auf den Hohenasperg und schließlich nach Ludwigsburg kam. Im ersten Spruchkammerverfahren führten die zahlreichen entlastenden Aussagen zugunsten Köhlers zu einer Einstufung als Minderbelasteter. Köhler sah zurückblickend die schwierige Situation der Kammer, »einen Mann zu be- und verurteilen, der einerseits als engagierter Nationalsozialist dieser Bewegung vor 1933 in führender Stellung den Weg mitgeebnet zu haben, der von 1933 - 45 die Spitzenstellung in der Badischen Regierung einnahm und nach Angaben von Prominenten aus Staat und Wirtschaft als der gute Mensch von Weinheim hochgejubelt wurde.« 116 Der Aussage des einzigen Belastungszeugen August Furrer maß man dagegen weniger Bedeutung bei. Furrer, der in der Weimarer Republik in seiner Funktion als Polizeibeamter energisch gegen die NSDAP vorgegangen war und so zu einem der Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 307 113 Vgl. GLA 465a 51/ 68/ 902. 114 In seinen Lebenserinnerungen (wie Anm. 8) geht Köhler auf diese Frage bezeichnenderweise nicht ein. 115 Ferdinand, Horst, Manuskript für die Baden-Württembergischen Biographien Bd. 2. Für die Überlassung des Manuskriptes danke ich Herrn Ferdinand. Staatspräsident Schmitt hatte Köhler am 8. April 1932 im Landtag zugerufen: »Herr Abgeordneter Köhler, im Tarnen von Absichten sind Sie unerreicht.« 116 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 29. <?page no="309"?> von den Nationalsozialisten bestgehaßten Männer geworden war, hatte ausgesagt, daß er am 10. März 1933 verhaftet und von SA-Leuten schwer mißhandelt worden sei. Im Innenministerium habe Walter Köhler zwar eingegriffen, den SA-Leuten aber ironisch gesagt: »Daß mir ja Furrer nichts passiert.« Furrer ging auch davon aus, daß Köhler die Fortsetzung der Mißhandlungen nicht verborgen geblieben war, da er sich in einem Nebenzimmer aufgehalten habe. Dem schenkte die Kammer keinen Glauben, sondern sah als erwiesen an, daß Köhler sich in diesem Fall einwandfrei verhalten und die Fortsetzung der Mißhandlungen verboten habe. Somit kam man zu dem Schluß, daß im Falle Köhlers eine »Vielzahl besonderer Umstände (Art. 39) vorliege, wegen derer er einer milderen Beurteilung würdig erscheint.« 117 Walter Köhler hatte also seinen eingangs zitierten Vorsatz umsetzen können. Horst Ferdinand bezeichnet Köhler deshalb auch unter Berufung auf eine Charakterisierung Köhlers durch den letzten badischen Staatspräsidenten Schmitt nicht zu Unrecht als einen »Meister der Tarnung«. Nach der Berufung des öffentlichen Klägers kam es aber 1950 zu einem erneuten Verfahren, in dem Köhler diesmal zwar wiederum nicht als Hauptbelasteter, wie von der Anklage gefordert, aber als Belasteter eingestuft wurde. »Der Betroffene übersieht, daß er auch ohne sich selbst an Gewalttätigkeiten zu beteiligen, durch Übernahme einer führenden Funktion die nat.soz. Gewaltherrschaft gefördert hat. Ohne das Gerippe der politischen, dem sogenannten Führer ergebenen Funktionäre wäre die Errichtung der nat.soz. Diktatur nicht möglich gewesen« 118 , betonte die Kammer in ihrer Urteilsbegründung. Köhler kam mit einer Geldstrafe und einer dreijährigen Haft davon, die er allerdings schon mit seiner Internierungshaft abgebüßt hatte. Der Kaufmann und Zeitzeuge Zu diesem Zeitpunkt arbeitete Köhler bereits wieder. Nach seiner Entlassung aus der Internierungshaft war er zunächst für kurze Zeit als Vertreter für Tuche der Firma Marx tätig. Als sich deren Geschäftsaufgabe abzeichnete, übernahm er auf eine Empfehlung eines früheren HJ-Führers mit diesem eine Versicherungsagentur in Karlsruhe. 119 Seine Gabe, »aus jeder Situation das Beste zu machen« 120 , kam ihm hier sicher zugute. Seine unbestrittene Eloquenz und sein Talent, Menschen zu überreden, halfen ihm beim Aufbau dieses Geschäfts sicher ebenso wie seine nach wie vor vorhandenen Kontakte. Hinzu trat die erforderliche Portion Geschäftstüchtigkeit, so daß es kein Zufall war, daß gerade Köhler es nach dem Krieg zu Wohlstand brachte. Ernst Otto Bräunche 308 117 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 29. 118 GLA 465a 51/ 68/ 902. 119 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 39 f. 120 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 3. <?page no="310"?> Belegt sind seine Äußerungen »In zehn Jahren bin ich wieder oben.« und »[...] ‘s is ganz gut, daß es so komme is, sonscht wär’ ich nie so reich worde.« 121 Bis 1987 war Köhler in seinem Geschäft in Karlsruhe tätig, in den letzten Jahren allerdings nur noch zeitweise. Dort stand er auch seit den 60er Jahren immer wieder als Zeitzeuge zur Verfügung und schilderte bereitwillig seine Sicht der Dinge. So konnte er kontinuierlich an dem Bild seiner Person arbeiten, das er seit seinen Entnazifizierungsverfahren aufgebaut hatte. Distanz zu den Verbrechen im »Dritten Reich« deutete er zwar an, betonte aber stets, daß er persönlich noch einmal so handeln würde, wie er es getan habe. 122 Bis zuletzt hing er also dem Irrglauben an, trotz seiner nationalsozialistischen Grundüberzeugung und einer hohen Führungsposition im »Dritten Reich« nicht für die Verbrechen der Nationalsozialisten mitverantwortlich gewesen zu sein. Die Biographie Köhlers widerlegt diese Selbsteinschätzung eindeutig: Köhler gehörte zu den entscheidenden Wegbereitern der NSDAP in Baden und damit zu den aktiven »Totengräbern der Weimarer Republik« und der Demokratie in Baden. Im »Dritten Reich« »funktionierte« Köhler in seinem Aufgabenbereich letztlich problemlos und trug so maßgeblich dazu bei, die NS-Herrschaft zu stützen und zu festigen. Auch als die Bundesrepublik sich lange etabliert und gefestigt hatte, war er noch davon überzeugt, daß die Demokratie keine Zukunft habe. 123 Am 9. Januar 1989 verstarb Walter Köhler im Alter von 91 Jahren in seiner Heimatstadt Weinheim. Bibliographie Quellen Die wesentlichen Quellen werden im Generallandesarchiv Karlsruhe aufbewahrt, wobei vor allem die Spruchkammerakte (GLA 465a 51/ 68/ 902) und die Personalakte (GLA 466 Zug. 1979/ 2, Nr. 4141) zu nennen sind. Letztere enthält allerdings im wesentlichen nur Duplikate aus der Spruchkammerakte. Wichtige Informationen über Köhlers Aktivitäten liefern die Berichte des Badischen Landespolizeiamtes im Generallandesarchiv und im Staatsarchiv Freiburg (GLA 309/ Zug. 1994 - 53, 6160 und STAFR, Bestand A 961, Nr. 1671), die Akten des Badischen Innenministeriums (GLA 233), die gedruckten Landtagsprotokolle und vor allem auch die Zeitungen. Die im Document Center Berlin verwahrten Personalunterlagen Walter Köhlers bieten ergänzende Informationen. Die von Walter Köhler verfaßten und im Familienbesitz befindlichen Lebenserinnerungen wurden von der Familie Köhler erstmals für eine Publikation zur Verfügung gestellt, wofür auch an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt sei. Walter Köhler schrieb sie seit Mitte Walter Köhler, Badischer Ministerpräsident, Finanz- und Wirtschaftsminister 309 121 Zit. nach: Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Der Untergang des Abendlandes? «, S. 3. 122 So gegenüber dem Verfasser am 25. Mai 1976 und gegenüber Johnpeter Grill. 123 Vgl. Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 59. <?page no="311"?> 1976 auf für seine Familie, aber auch »für diejenigen, die sich mit dem Phänomen Hitler als Historiker oder politischer Schriftsteller herumzuschlagen haben.«. 124 Köhler arbeitete über mehrere Jahre, mindestens aber bis 1981 an diesen Lebenserinnerungen, die in ein großes mit »Erinnerungen« überschriebenes Hauptkapitel (208 Maschinenseiten) und mehrere kleinere Kapitel, »Im Elsaß 1940 - 1945« (38 Seiten), Weinheim nach 1918 (80 S.), »Beim Vierjahresplan« (11 S.), »Der Untergang des Abendlandes« (48 S.) und »National-Sozialismus«? (24 S.) unterteilt sind. Köhler war stets daran interessiert, Arbeiten über die NSDAP und das Land Baden in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich« zugänglich gemacht zu bekommen, da er sie offensichtlich als Datengerüst benutzte, sich aber auch z.B. mit Lothar Kettenacker oder Horst Rehberger in seinen Lebenserinnerungen auseinandersetzte. Außerdem recherchierte er wohl auch in Zeitungen, vgl. z.B. Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), Kap. »Weinheim nach 1918«, S. 32. Die Lebenserinnerungen bestätigen im wesentlichen die Aussagen, die Köh ler als Zeit zeug e b ei vers ch iede nen Ge lege nhe ite n ge mac ht hat . S ie sind also ein weit ere r Versuch, seine Sichtweise der Dinge zu verbreiten. Auch seine weltanschaulichen Äußerungen untermauern im wesentlichen das bisherige Bild. Zusätzliche Detailinformationen bieten sie vor allem die Passagen über seine Jugend, die Familie und die Kriegserlebnisse. Literatur Biographische Beiträge über Walter Köhler fehlen bislang. Hinzuweisen ist aber darauf, daß in den nächsten Baden-Württembergischen Biographien der Beitrag von Horst Ferdinand »Köhler, Walter Friedrich Julius, NS-Politiker, Kaufmann« erscheint, der dem Verfasser freundlicherweise überlassen wurde, wofür auch an dieser Stelle herzlich gedankt sei. Ingeborg Wiemann-Stöhr hat sich in ihrer Magisterarbeit »Die Stadt Weinheim 1925 - 1933. Untersuchungen zu ihrem wirtschaftlichen, sozialen und politischen Profil« (Weinheimer Geschichtsblatt 37/ 1991), Weinheim 1991 auch mit dem gebürtigen Weinheimer befaßt und wird dies erneut in der demnächst erscheinenden Weinheimer Stadtgeschichte tun. Zu Köhlers Rolle als Finanz- und Wirtschaftsminister ist Roland Peter, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer Grenzregion im Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Militärgeschichte 44), München 1995 heranzuziehen. Von der älteren Literatur sind zu erwähnen Ernst Otto Bräunche, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125, NF 86 (1977), S. 331 - 375 und Johnpeter H. Grill, The Nazi Movement in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, die beide in den siebziger Jahren noch mit Walter Köhler Zeitzeugeninterviews geführt haben. Horst Rehberger, Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/ 33 (Heidelberger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen NF 19), Heidelberg 1966 geht auf Köhlers Rolle in der Übergangsphase von der Weimarer Republik zum »Dritten Reich« ein. Ernst Otto Bräunche 310 124 Köhler, Lebenserinnerungen (wie Anm. 8), S. 1. <?page no="312"?> *30. Mai 1886 Heidelberg, ev., kath., 1942 Kirchenaustritt, Vater: Dr. Johann Stephan Kraft, Realschulprofessor, Mutter: Karoline, geb. Scheufele, verheiratet seit 1920 mit Auguste, geb. Wiedel, eine Tochter. 1904 Abitur, 1904 - 1913 Studium der Germanistik und Romanistik in Marburg, Paris, München, Heidelberg, 1913 Staatsexamen, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, ab 1917 bei einer Fliegerstaffel, 1919 Freikorpsangehöriger, 1920 Gymnasiallehrer. 2. März 1923 (? ) Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 23.447), 1928 - 1933 Ortsgruppenleiter in Pforzheim, Bereichsführer der NSRL, 1929 - 1933 MdL (NSDAP), 1930 Mitglied im NSLB, 1933 - 1934 Präsident des Badischen Landtags, 1933 Ministerialrat und Kommissar zur besonderen Verwendung im Badischen Kultusministerium, 1934 MdR (NSDAP), 1940 Ministerialrat beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, Abt. Erziehung, Unterricht und Volksbildung, 1941 Mitglied der SS, Obersturmbannführer. Gest. 15. Januar 1946 Freiburg. Herbert Kraft wurde am 30. Mai 1886 in Heidelberg geboren und ist dort aufgewachsen. Der später wegen handgreiflicher Argumentationsweise als »enfant terrible« des Badischen Landtags berüchtigte 1 Mandatsträger der NSDAP entstammte nicht etwa den Unterschichten, er kam aus einer bildungsbürgerlichen Familie. Sein Vater, Dr. Johann Stephan Kraft, war Professor an der Heidelberger Oberrealschule und zumindest berufliches Vorbild. Denn auch Herbert Kraft selbst schlug die Schullaufbahn ein. »Ein gebildet sein wollender Mensch« Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags Alexander Mohr Herbert Kraft 311 1 Erstmals wurde Kraft so von dem Zentrumsabgeordneten Anton Hilbert bezeichnet. Protokolle des Badischen Landtags, 4. Sitzung, 17. Februar 1932, Sp. 190. <?page no="313"?> 1904 machte er in Heidelberg das Abitur und schrieb sich danach in Marburg für das Studium der Fächer Germanistik und Romanistik (Französisch) ein, leistete zunächst allerdings seinen Militärdienst beim Jägerbataillon 11 ab. Den ersten Semestern in Marburg folgten jeweils zweijährige Studienaufenthalte in Paris (1906 - 1908) und München (1909 - 1911) 2 , bevor er an der heimischen Universität in Heidelberg sein Staatsexamen vorbereitete, das er 1913 in Karlsruhe erfolgreich ablegte. Von Februar bis Juli des folgenden Jahres arbeitete er als Privatlehrer in England. Ob Kraft einen längeren Aufenthalt auf der Insel beabsichtigt hatte, bevor er, wohl veranlaßt durch den Kriegsbeginn, nach Baden zurückkehrte, bleibt offen. Statt des Einstiegs ins pädagogische Berufsleben brachte dem 28jährigen das Jahr 1914 die Einberufung. Aus dem angehenden Lehrer wurde der Soldat; Kraft, nebenbei auch sport- und technikbegeistert, blieb nicht auf Dauer bei der Infanterie, sondern kam 1917 zu einem besonders exklusiven Truppenteil, einer der damals völlig neuartigen Fliegerstaffeln. 3 Ob und in welcher Form sich die luftige Perspektive des Fliegeroffiziers möglicherweise auf Krafts spätere politische Positionen auswirkte, geht aus den Quellen nicht hervor. Deutlich erkennbar prägte aber das uns heute nur schwer nachvollziehbare Bewußtsein des »Frontoffiziers« in all seinen Facetten vom überspitzten Ehrgefühl bis zur »Teutonentreue« 4 Krafts späteres Auftreten. Wie die meisten Angehörigen des national gesinnten deutschen Bürgertums konnte auch er die Niederlage und den Vertrag von Versailles als deren Folge nicht akzeptieren. In der revolutionären Phase nach dem Waffenstillstand stand Kraft bereits auf der äußersten Rechten des politischen Spektrums. Er hatte sich dem sogenannten Grenzschutz Ost, einem Freikorps, als Flieger zur Verfügung gestellt und gehörte ihm von Februar bis Ende August 1919 an. Erst im Herbst des Jahres 1919 kehrte er nach Baden zurück, wo er als Lehrer in den Staatsdienst eintrat. Im folgenden Jahr heiratete er Auguste Wiedel und bekam eine Stelle an der Pforzheimer Oberrealschule, schon 1920 erhielt er die Ernennung zum Gymnasialprofessor. So scheint er tatsächlich in den ersten Jahren bei seinem Arbeitgeber »gut angeschrieben« gewesen zu sein, wie er später in einem Rückblick auf diese Zeit bemerkte. 5 Wann und wie seine Kontakte zu nationalsozialistischen Kreisen entstanden, konnte bisher nicht genau festgestellt werden. Erste Aktivitäten der NSDAP waren in Baden 1921 zu verzeichnen; bereits im Februar dieses Jahres schickte eine Mannheimer Ortsgruppe einen Versammlungsbericht an die Münchner Parteizentrale. 6 Aller- Alexander Mohr 312 2 GLA 231/ 10956, fol. 268, Personalbogen des Badischen Landtags. 3 GLA 231/ 10956, nach Krafts Aussage im Personalbogen des Landtags kam er 1918 zur Fliegerabt. 234. 4 Protokolle des Badischen Landtags, 19. Sitzung, 27. April 1932, Sp. 1048 (ganz unten). 5 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalakte Herbert Kraft, Kraft an Hitler, 11. März 1940. <?page no="314"?> dings kam die Partei zunächst nicht über bescheidene Anfänge hinaus, da sie u.a. auch in Baden im Gefolge des Rathenaumords bereits im folgenden Jahr verboten wurde und nur noch in der Illegalität unter verschiedenen Decknamen weiterexistieren konnte. 7 Es ist jedoch anzunehmen, daß Herbert Kraft ähnlich wie Robert Wagner, der spätere badische Gauleiter, als Offizier schon frühzeitig mit rechten Kreisen der Reichswehr in Kontakt stand und von dieser Seite zur braunen Bewegung stieß. In diese Richtung weist auch der Anlaß seiner ersten Begegnung mit Hitler, die im November 1923 während der Vorbereitungen zu dessen erstem Putschversuch in München stattfand. »Kurz vor dem 9. November 1923 - ich glaube es war am 6. November - ließ mir der General Reinhardt, Stuttgart, folgendes mitteilen: Wenn Bayern losschlägt, werde ich ihm ein zweites 1866 bereiten! Eine Stunde später saß ich im Schnellzug nach München und teilte Kapitän Ehrhardt mit, was ich von General Reinhardt gehört hatte. Dann ließ ich mich bei Ihnen in der Schellingstraße melden und berichtete Ihnen, mein Führer, ausführlich über den Vorgang.« Die Botschaft des Generals dürfte also nicht nur in diesem einen Satz bestanden haben. Bezeichnend ist außerdem, daß Krafts Weg in München erst zu einem ehemaligen Offizier - Korvettenkapitän Ehrhardt - führte, den er nach eigener Aussage damals als den »militärischen Führer« der Nationalsozialisten betrachtete. Krafts politische Aktivitäten reichten zum Zeitpunkt seiner Reise nach München allerdings schon über konspirative militärische Zirkel hinaus in den Bereich der paramilitärischen Kampfverbände und der politischen Agitation. Auf Anregung von Ehrhardt hatte Kraft 1922 in Pforzheim eine »Bund Wiking« genannte Vorform der Sturmabteilung gegründet, »da außerhalb Bayerns eine SA noch nicht existierte.« Schon zu diesem Zeitpunkt will er Vertrauensmann der Partei für Pforzheim und Umgebung gewesen sein und in dieser Eigenschaft fast alle Mitglieder des Wiking für die Partei gewonnen haben. So bezeichnete er sich selbst 1940 in dem bereits zitierten, an Hitler gerichteten Brief nicht ohne Stolz als »einen der ältesten Parteigenossen - wenn nicht der älteste - in Baden«. Dem Gespräch mit Hitler folgte noch ein weiteres mit Göring, dem Kraft bei dieser Gelegenheit erklärte, daß sich der Pforzheimer »Bund Wiking« ihm mit sofortiger Wirkung unterstelle. Göring soll ihm daraufhin zugesichert haben, ihm in den nächsten Tagen telegraphisch Bescheid über dessen Einsatz im Rahmen des geplanten Putsches zu geben. Nachdem er noch einen ihn sehr beeindruckenden Aufmarsch der SA in München verfolgt hatte, reiste Kraft nach Pforzheim zurück. Geradezu archetypisch für einen Nationalsozialisten mit bürgerlichem Hintergrund erscheint seine »idealistische« Motivation für das Engagement in der Partei: Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 313 6 Maser, Werner, Die Frühgeschichte der NSDAP. Hitlers Weg bis 1924, Frankfurt/ Main, Bonn 1964, S. 316. 7 Vgl. hierzu: Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), S. 331 - 375, hier S. 331 ff. <?page no="315"?> »Ich selbst bin nur aus reiner Überzeugung zu der Bewegung gekommen, denn ich hatte keinen persönlichen Grund, gegen den damaligen Staat eingestellt zu sein, bei dem ich in beruflicher Hinsicht gut angeschrieben war«, schrieb Kraft später über diese entscheidende Phase seiner politischen Entwicklung in den Jahren 1922/ 23. Der Angelpunkt, von dem ab es kein Zurück mehr gab, war für Kraft der 9. November 1923. Ganz bewußt habe er sich damals zugunsten seiner politischen Überzeugung entschieden: »An jenem Tage habe ich aber meine ganze Existenz und die meiner Familie aufs Spiel gesetzt. Ich habe nur die Bewegung im Auge gehabt und an Sie, mein Führer, geglaubt. [...] Nicht einen Augenblick aber habe ich an die Folgen gedacht, die mir als Staatsdiener entstehen könnten.« 8 Jenseits aller Lobhudelei und Heroisierung des eigenen Tuns, die in diesen Worten zum Ausdruck kommt - und natürlich einen bestimmten Zweck (seine offizielle Aufnahme in die Reihe der Kämpfer des 9. November) - verfolgte, bleibt die Tatsache, daß Herbert Kraft als nach damaligen Maßstäben sozial abgesicherter Mann mit Familie diese bürgerliche Existenz zugunsten seiner extremen politischen Überzeugung aufs Spiel zu setzen bereit war, und das mit allen Konsequenzen. Obwohl laut Mitgliederkartei der NSDAP 9 sein erster Parteieintritt offiziell vom 2. März 1923 datierte, behauptete Kraft ausdrücklich, schon 1922 für die nationalsozialistische Bewegung gearbeitet zu haben. 10 Auch in verschiedenen anderen Zusammenhängen gibt Kraft das Jahr 1922 als Beginn seines politischen Einsatzes für die Partei an. 11 Der Widerspruch zum offiziellen Eintrag in der Mitgliederkartei, die seinen Beitritt am 2. März 1923, also mitten in der Zeit des Parteiverbots, unter der Mitgliedsnummer 23.447 dokumentiert 12 , mag ein Ergebnis organisatorischer Unzulänglichkeiten der damals illegalen Splitterpartei oder ungenauer Erinnerung sein, auf jeden Fall ist Kraft zum Kern der badischen NSDAP zu zählen. Nach seiner Rückkehr aus München entfaltete Herbert Kraft hektische Aktivität: »Ich ordnete höchste Alarmbereitschaft an. Lastwagen zur Fahrt nach München wurden bereitgestellt und das Gepäck und die Waffen in einem Wäldchen in der Nähe Pforzheims verstaut. Fieberhaft warteten wir auf eine Nachricht von München, die aber nicht kam. Am 9. November 1923 mittags zwölf Uhr, als ich im Begriffe war, die Möglichkeit eines Durchschlagens nach München auch ohne Befehl mit meinen Unterführern zu besprechen, wurde ich auf der Straße von zwei Kriminalbeamten verhaftet und zur Polizeidirektion gebracht, wo ich bis abends festgehalten wurde. In der Zwischenzeit war meine Wohnung von oben bis unten durchsucht worden.« Alexander Mohr 314 8 Dieses wie alle vorangegangenen Zitate aus dem Brief Krafts an Hitler (wie Anm. 5). 9 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalbogen Herbert Kraft. 10 Wie Anm. 5. 11 GLA 235/ 38160, fol. 38. 12 GLA 465c, Karteikarte aus der Mitgliederkartei des NSLB. <?page no="316"?> Krafts Dienstherr, der badische Staat, hatte zu diesem Zeitpunkt offensichtlich bereits ein wachsames Auge auf seinen rechtsradikalen Pädagogen. »In Baden war ich am 9. November 1923 der einzige Nationalsozialist, der verhaftet wurde, weil man mich als Führer der NSDAP ansah und mich im Verdacht hatte, aktiv an dem Aufstand des 9. November beteiligt zu sein.« So viel Aufmerksamkeit schmeichelte Kraft, obwohl sie ihn an seinem eigentlichen Vorhaben, beim Putsch in München mitzuwirken, hinderte. Die Aktivitäten vom November 1923 trugen Kraft und einigen seiner Helfer ein Verfahren wegen Vergehens gegen das Reichsgesetz zum Schutz der Republik ein, das jedoch aus Mangel an Beweisen eingestellt werden mußte. Weil er bei seiner Verhaftung eine Armeepistole in der Manteltasche stecken hatte, erhielt Kraft selbst allerdings einen Strafbefehl - über 200 Millionen Mark: auf dem Höhepunkt der Inflation Ende 1923 eine nicht sonderlich beeindruckende Summe. Hitlers Scheitern in München hätte er sicher nicht verhindern können. Dennoch schmerzte es ihn später, daß sein damaliger persönlicher Einsatz für die Sache im »Dritten Reich« nicht ins rechte Licht gerückt wurde. Natürlich besaß er das Goldene Parteiabzeichen der ersten 100.000 unter den Parteigenossen, doch zum weitaus exklusiveren Kreis der Kämpfer des 9. November zu gehören und den »Blutorden« der Putschteilnehmer zu besitzen, diesen Wunsch verweigerte ihm die Parteibürokratie hartnäckig. Das veranlaßte ihn schließlich 1940, zunächst Göring, den er ja bei seiner Münchner Mission ebenfalls kennengelernt hatte, und dann Hitler selbst anzuschreiben. 13 Die Zähigkeit, mit der die Verleihung solcher Titel und Ehrenzeichen während des »Dritten Reiches« - nicht nur von Kraft - verfolgt wurde, erinnert stark an Verhaltensweisen barocker Hofgesellschaften. Über Herbert Krafts politische Aktivitäten während der nächsten Jahre erfahren wir nichts Genaues. Das Scheitern des Münchner Putsches, die Verbannung in den politischen Untergrund und innere Richtungsstreitigkeiten sorgten dafür, daß die NSDAP in Baden eine bedeutungslose Splitterpartei blieb. Er selbst schwieg sich über seine Tätigkeit in dieser Zeit aus und erwähnte später lediglich, daß er »in den nächsten Jahren noch mindestens ein halbes Dutzend mal verhaftet« und seine Wohnung noch häufiger durchsucht worden sei. 14 Aus anderen Quellen ergaben sich bisher keine Hinweise auf eindeutig nationalsozialistische Aktivitäten im Pforzheimer Raum. In den Wahlen, bei denen die NS-Bewegung ab 1924 zunächst noch unter der Bezeichnung Völkisch-Sozialer Block auftrat, bleibt auch ihr Stimmenanteil in Pforzheim unauffällig. Auch von Kraft selbst gibt es keine Äußerungen über seine politischen Aktivitäten während der Verbotsjahre. Lediglich eine 1938 von ihm ausgestellte Spendenbestätigung für die Knopffabrik Soellner in Pforzheim, die »in den Kampfjahren 1924 - 1926 die nationale Bewegung durch eine regelmäßige Lei- Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 315 13 Zitate wiederum aus dem Schreiben Krafts an Hitler (wie Anm. 5). Ob Krafts Bemühungen daraufhin erfolgreicher waren, geht aus den Quellen nicht hervor. 14 Wie Anm. 5. <?page no="317"?> stung von Monatsspenden in Höhe von RM 30.unterstützt« hatte 15 , läßt annehmen, daß er auch in dieser Zeit nicht untätig war. Nach der Aufhebung des Verbots und der Neugründung der NSDAP am 27. Februar 1925 wurde Kraft erst am 1. Juni 1928 erneut Mitglied der Partei, diesmal unter Mitgliedsnummer 90.659. Wieder ergeben sich Widersprüche zu seiner privaten Chronologie, denn in dem bereits zitierten Brief an Hitler schreibt er: »Im Jahre 1927(! ) fuhren Sie auf meine Veranlassung nach Pforzheim und hielten dort die erste Versammlung ab; an diesem Tage meldete ich mich auch bei Ihnen wieder als Mitglied an, was für einen Staatsbeamten, der zudem noch so unter politischer Aufsicht stand wie ich, nicht ungefährlich war.« 16 Ob hier die erste Versammlung einer neugegründeten Ortsgruppe oder die erste in Hitlers Gegenwart gemeint ist, wird leider nicht klar. Durch Quellen belegt ist hingegen, daß Kraft ab 1928 Ortsgruppenleiter in Pforzheim war 17 und Hitler dort am 26. April 1928 (! ) sprach. 18 Nach Angaben der »Volkswacht« soll Kraft außerdem am 5. Dezember 1928 wegen seiner Auftritte als nationalsozialistischer Versammlungsredner erstmals aus dem Staatsdienst entlassen worden sein. 19 Da keine Personalakte auffindbar war, ist eine chronologisch genaue Darstellung der gegen Kraft ergriffenen Disziplinarmaßnahmen nicht möglich. Je stärker die NS-Bewegung wurde, desto heftiger sah sich der Staat zum Eingreifen und Gegensteuern aufgerufen. Die badische Regierung und ihre Minister, vor allem der Sozialdemokrat und langjährige Innenminister Adam Remmele, zeigten sich besonders bemüht, dieser Bedrohung entgegenzuwirken. Das Hauptaugenmerk galt natürlich der Funktionstüchtigkeit des Staatsapparats und somit der Beamtenschaft, die die Nationalsozialisten gezielt zu unterwandern versuchten. Als Remmele 1928 Kultusminister und somit direkter Vorgesetzter Herbert Krafts wurde, führte dessen Tätigkeit als Ortsgruppenleiter denn auch zu einschneidenderen beruflichen Konsequenzen. Remmele setzte die ganze Härte des Disziplinarrechts gegen ihn ein. Der ersten »Entlassung« vom Dezember 1928 20 , die offenbar nicht von langer Dauer war, folgten Gehaltskürzungen und 1929 im Zusammenhang mit seinen Wahlkampfaktivitäten die Strafversetzung nach Mannheim. Doch Kraft ließ sich auch von dem erzwungenen Ortswechsel nicht abschrecken und setzte seine politischen Aktivitäten dort unbeirrt fort. Er wurde sogar als Kandidat der NSDAP im 18.Wahlkreis, Mannheim Stadt, aufgestellt. Die folgende Wahl brachte den Nationalsozialisten den Alexander Mohr 316 15 GLA 235/ 38160, fol. 230. Bestätigung vom 19. Juli 1938. 16 Wie Anm. 5. 17 Wie Anm. 9. 18 »Der Führer«, 2. Jg. (1928), Nr.17, 28. April 1928, S. 1. 19 So Bräunche (wie Anm. 7). Quellenmäßig belegen lassen sich hingegen nur seine Strafversetzung nach Mannheim und die Entlassung durch Remmele 1930. Beides deckt sich mit Krafts eigener Darstellung, zweimal aus dem Staatsdienst entlassen worden zu sein. Da Krafts Personalakte bisher nicht aufgefunden werden konnte, bleibt allerdings offen, wieso er offenbar 1929 wieder beschäftigt wurde. 20 Vgl.: »Der Führer«, 15. Dezember 1928: »Stimmen aus dem Volke zum Fall Professor Kraft«. <?page no="318"?> gewünschten Erfolg. Kraft war einer der sechs Abgeordneten der NSDAP, die unter Robert Wagners Führung in den letzten frei gewählten Landtag einzogen. Die im Staatsanzeiger vom 5. Juli 1930 veröffentlichte Dienstenthebungsanordnung »gegen einige Lehrer, die sich als Organisatoren der NSDAP betätigen«, richtete sich indirekt auch gegen den NSDAP-Abgeordneten. 21 Bereits am Tage zuvor verfügte Remmele seine Suspendierung. 22 Der Gymnasialprofessor legte gegen diese Entscheidung Widerspruch ein, da die politische Betätigung Beamten von der Verfassung garantiert wurde. Remmele argumentierte demgegenüber: »Die NSDAP ist als eine staatsfeindliche Partei einzustufen. Wer für diese Partei öffentlich wirbt und Parteiämter übernimmt, verletzt sein dem Staat gegenüber eingegangenes Treueverhältnis« 23 ; und an anderer Stelle: »Mit Rücksicht auf den Sinn und Inhalt der §§ 41 und 42 der bad. Verfassung und der §§ 36 bis 39 der Reichsverfassung bin ich der Auffassung, daß eine disziplinäre Verfolgung des betr. Beamten wegen seiner Stellung als Landtagsabgeordneter und seiner Tätigkeit als solcher nicht angängig ist. Falls er sich aber außerhalb des Landtags über den Rahmen einer wahrheitsgetreuen Berichterstattung über die Landtagsverhandlungen hinaus agitatorisch im Sinne der NSDAP in einer Weise betätigen sollte, die mit dem Treueverhältnis eines Beamten [...] nicht vereinbarlich ist, besteht m.E. die Möglichkeit eines disziplinären Einschreitens.« 24 Und diese, dem Treueverhältnis widersprechende, agitatorische Tätigkeit sah der Kultusminister im vorliegenden Fall gegeben. In seinem Rekurs gegen Remmeles Verfügung ging Kraft auf das Verhältnis seiner Partei zur Weimarer Republik ein, eine Replik, die viel über sein schillerndes Selbstverständnis als Staatsdiener aussagt: »Wir sind nicht staatsfeindlich, sondern in höchstem Grade staatsbejahend. Für einen Nationalsozialisten ist der Begriff Staat heilig; allerdings muß ein solcher Staat auf nationaler Grundlage aufgebaut sein, wie es fast alle Kulturstaaten der Erde sind. Wir halten ein marxistisch gefärbtes Staatswesen für die Vorstufe zum Bolschewismus. Staatsfeindlich sind wir also nur gegen die nach unserer Ansicht staatszersetzenden marxistischen Parteien, niemals aber gegen den Staat selbst oder die Republik.« 25 Er nahm für sich in Anspruch, dem »Staat an sich«, dem »heiligen Begriff Staat« zu dienen, einem willkürlichen, von der eigenen Vorstellungskraft geformten Abstraktum, während er in der Realität das Staatswesen der Weimarer Republik bekämpfte, weil es seinen Vorstellungen nicht entsprach - und erwartete gleichzeitig von diesem Staatswesen, ihm die Ausübung seines Berufes bei voller Bezahlung zu gewährleisten und seine subversive politische Tätigkeit zu dulden. Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 317 21 Der Erlaß betraf einige Grundschullehrer; aufgrund der mit seinem Landtagsmandat verbundenen Immunität war eine Dienstenthebung Herbert Krafts problematischer. 22 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an die Direktion des Gymnasiums in Mannheim, 4. Juli 1930. 23 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an die Direktion des Gymnasiums in Mannheim, 4. Juli 1930. 24 GLA 233/ 27915, an das Staatsministerium gerichtete Stellungnahme Remmeles vom 19. Juli 1930. 25 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Brief vom 11. Juli 1930. <?page no="319"?> Entsprechend betrachtete Kraft die Suspendierung als Quasi-Bestätigung seiner politischen Aktivitäten. Seine weiteren Pläne konkretisierte er in einem Brief an die Privatkanzlei Hitlers in München: »Ich habe mir inzwischen die Angelegenheit nochmals genauer durch den Kopf gehen lassen und bin zu der Überzeugung gekommen, daß es trotz des Verbotes Remmeles meine Pflicht ist, für die Partei mich einzusetzen. Seit zehn Tagen bin ich nun wieder als Agitationsredner in Baden tätig, bemühe mich aber, sachlich zu reden und weniger zu hetzen, als zu überzeugen [...] Anbei übersende ich Ihnen das Material der Angelegenheit. Bitte legen Sie es Herrn Hitler vor und erkundigen Sie sich bitte bei Herrn Dr. Frank, ob noch irgendwelche anderen Schritte in dieser Angelegenheit zu unternehmen sind.« 26 Der spätere »Reichsrechtsführer« Frank machte ihm jedoch keine Hoffnungen, mit rechtlichen Schritten eine Rücknahme von Remmeles Anordnung erzwingen zu können. 27 Möglicherweise als Konsequenz aus dieser Entwicklung und zur Erlangung größeren Schutzes trat er am 1.Oktober dieses Jahres der NS-Standesorganisation, dem nationalsozialistischen Lehrerbund (NSLB) bei. 28 Herbert Kraft konzentrierte sich nun ganz auf die Parteipolitik und seine parlamentarische Rolle, die dem streitbaren Pädagogen schließlich zu zweifelhafter Berühmtheit verhalf. Bei genauerer Betrachtung war er jedoch keineswegs der grobe Klotz, als den man ihn üblicherweise darstellt. Dieses Bild scheint vielmehr das Ergebnis eines zumindest in Teilen geschickt geführten und im Ergebnis erfolgreichen parlamentarischen Streites der Parteien zu sein, bei dem es darum ging, die Kraft von seiner Fraktion zugedachte Funktion zu entlarven und der Öffentlichkeit das wahre Gesicht des Nationalsozialismus vorzuführen. Eigentlich, so scheint es bei genauerem Studium der Quellen, sollte Kraft der Öffentlichkeit den kultivierten und gebildeten Nationalsozialisten vorstellen - eine für die demokratischen Parteien propagandistisch gefährliche Rolle, gegen die man sich in Baden mit einer bemerkenswerten Energie zur Wehr setzte. Es entlastet Kraft daher in keiner Weise und entbindet ihn nicht von seiner Mitverantwortung für die Zerstörung des parlamentarischen Systems in Baden, wenn im folgenden versucht werden soll, hinter und neben dem faktischen Auftreten als »NS-Randalierer« die ihm eigentlich zugedachte und wohl auch wesensgemäßere Rolle des akademisch gebildeten Parteigängers Hitlers herauszuarbeiten. Menschen, die Kraft etwa als Schüler kannten, berichten von ihm als fähigem und korrekt auftretendem Pädagogen. 29 Beim Studium der Landtagsprotokolle fällt auf, daß er es verstand, seine nicht geringen rednerischen Fähigkeiten ganz im Dienste seiner Partei zu nutzen. Beißende Ironie, Schlagfertigkeit und wortgewandte Rededuelle, die seine rhetorisch weniger versierten politi- Alexander Mohr 318 26 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an Privatkanzlei Hitler, 29. August 1930. 27 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Frank an Kraft. 28 GLA 465c, Karteikarte aus der Mitgliedskartei des NSLB. 29 Siehe z.B. Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die deutsche Katastrophe, Karlsruhe 1994, S. 29. <?page no="320"?> schen Gegner häufig der Lächerlichkeit preisgaben, kennzeichneten seine Debattenbeiträge. 30 Diese Lust am Wortgefecht war allerdings mit einer Rücksichtslosigkeit verbunden, die die Grenzen des guten Geschmacks mühelos überwand. Kraft war im Parlament daher auch kein Außenseiter, wie es das ihm heute anhaftende Image vermuten ließe. Er arbeitete 1929 in drei Ausschüssen, dem Vertrauensmänner- und dem Geschäftsordnungsauschuß sowie dem interfraktionellen Ausschuß für Leibesübungen und Jugendpflege, schließlich seit 16. Februar 1932 in dem Petitionsausschuß. 31 Die immer heftigeren politischen Kämpfe in der ausgehenden Weimarer Republik spiegelten sich zunehmend auch in den badischen Landtagsdebatten. Der Umgangston wurde allgemein rüder, alle politischen Lager beteiligten sich am Reigen gegenseitiger Schmähungen und Bezichtigungen, selbst das Landtagspräsidium wurde gelegentlich parteipolitisch instrumentalisiert, um einen unliebsamen Abgeordneten mundtot zu machen. 32 Der Einzug der Nationalsozialisten beschleunigte diesen Prozeß der Polarisierung. Besonders zwei Fälle handgreiflicher Auseinandersetzung sind dabei in die badische Parlamentsgeschichte eingegangen. In beider Mittelpunkt stand Herbert Kraft, der aufgrund dieser Vorfälle gern als Rabauke hingestellt und als Beispiel für die Verrohung der parlamentarischen Sitten in der ausgehenden Weimarer Republik zitiert wird. Diese Darstellungsweise steht jedoch in auffälligem Widerspruch zur durchweg bürgerlich konditionierten Persönlichkeit des Gymnasialprofessors. Konsequenter wäre die Vermutung, daß der Reserveoffizier überempfindlich auf Verletzungen seiner »Ehre« reagierte - das Ohrfeigen eines Beleidigers war ja die klassische Eröffnung der Duellforderung - oder noch wahrscheinlicher, daß der Pädagoge die ihm vom Schuldienst geläufigen Strafmaßnahmen - Prügelstrafen waren hier noch alltäglich - auf den Plenarsaal übertrug und die »Frechheiten« anderer Parlamentarier mit den gewohnten Ohrfeigen quittierte. Auf den aus seiner Sicht »polizeilich genehmigten Unfug« dieses »Gesindels, das sich in deutschen Parlamenten herumtreibt« 33 , reagierte er dann im Grunde nicht anders als auf die Flegelhaftigkeiten einer renitenten Schulklasse. Außerhalb des Klassenzimmers war der pädagogische Impetus sicher deplaziert und anmaßend, was aber nicht weiter auffiel, weil die Auswirkungen nur zu gut in die Strategie (und ins Bild) der NSDAP paßten, die Parlamente und damit die von ihnen verachtete Weimarer Demokratie lächerlich zu machen. Zum ersten Eklat kam es am 19. November 1930 anläßlich einer Interpellation der Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 319 30 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 10. Sitzung, 14. Januar 1930, Sp. 498, die Auseinandersetzung zwischen Kraft, Landtagspräsident Baumgartner und dem Zentrumsabgeordneten Heurich. 31 Wie Anm. 2. 32 Vgl. z.B. die Auseinandersetzung zwischen Landtagspräsident Baumgartner (Zentrum) und dem KPD-Abgeordneten Bock, die zu Bocks Ausschluß führte. Protokolle des Badischen Landtags, 8. Sitzung, 6. Dezember 1927. 33 Vgl. »Der Führer«, 10. Januar 1931. <?page no="321"?> NSDAP-Fraktion zu den Vorgängen um das Richtfest des neuen Heidelberger Universitätsgebäudes. Dort hatte die bereits mehrheitlich von rechten Gruppen und den Nationalsozialisten bestimmte Studentenschaft ein gemeinsames Richtfest mit den Bauarbeitern feiern wollen. Eine in eindeutig propagandistischer Absicht geplante Veranstaltung, die das vom Sozialdemokraten Remmele geleitete Kultusministerium nicht zuletzt auf Drängen der Gewerkschaften mit allen Mitteln zu verhindern versuchte, damit jedoch erst recht die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Heidelberger Vorgänge und das Ministerium lenkte. Die erstmalige Besetzung des Kultusministeriums mit einem SPD-Mann war in Baden bis hinein in die Regierungsparteien umstritten, ein erneutes Aufflammen dieser Debatte hätte daher zu einer ernsten Koalitionskrise führen können. Wie meist in schul- oder hochschulpolitischen Debatten vertrat Herbert Kraft die NSDAP am Rednerpult und schloß mit den Worten: »Wir haben diesen Antrag ganz sachlich vorgebracht und sind gespannt, welche Antwort uns das Ministerium geben wird.« 34 Nichts deutete in diesem Augenblick darauf hin, daß nur wenig später handgreifliche Auseinandersetzungen die Szene bestimmen sollten, in deren Mittelpunkt Herbert Kraft stand. Über den Ablauf gibt es allerdings - je nach politischem Standort des Berichterstatters - die unterschiedlichsten und mit zunehmendem zeitlichem Abstand immer widersprüchlicher werdenden Darstellungen. 35 Nach den Stellungnahmen des zuständigen Ministers Adam Remmele (SPD) und des in der Affäre eine etwas unklare Rolle spielenden Ministerialrats Thoma versuchten Remmele und der Abgeordnete Rückert von der SPD-Fraktion unter Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit in einem ziemlich durchsichtigen Manöver eine Abweichung von der Geschäftsordnung zu erreichen, um eine sofortige Besprechung der NSDAP-Anfrage in der Öffentlichkeit des Plenarsaals zu verhindern, obwohl sie bereits von einer ausreichenden Zahl von Abgeordneten verlangt worden war. 36 Der kommunistische Abgeordnete Bock entrüstete sich daraufhin: »Ich halte es für außerordentlich notwendig, das Haus zu warnen, die öffentliche Interpellation, die vielleicht in diesem Falle der Regierung sogar erwünscht war [...] auf die hier vorgeschlagene Weise abzuwürgen. Mir ist aus den zehn Jahren, die ich hier bin, kein Fall bekannt, wo man es tat - und es gab Situationen, wo diejenigen, die interpelliert haben, schlechter gestanden haben. - Ich bitte dringend, es beim alten Usus zu belassen, daß, wenn mindestens sieben Mitglieder für die Besprechung sind, diese dann stattfindet.« 37 Rückert und der Abgeordnete Wolfhard vom Koalitionspartner DDP versuchten daraufhin die Taktik zu ändern. Sie erklärten nun die Interpellation Alexander Mohr 320 34 Protokolle des Badischen Landtags, 8. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 362. 35 Vgl hierzu GLA 231/ 3374, Berichte über die Tätlichkeiten in der 8. Sitzung am 19. Dezember 1930 und nach der 4. Sitzung am 17. Februar 1932, Zeitungsausschnitte aus dem SPD-Organ »Der Volksfreund«, der Zentrumszeitung »Badischer Beobachter«, dem NS-Blatt »Der Führer« und der nationalliberalen »Badischen Presse«. 36 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 8. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 387. 37 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 8. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 387. <?page no="322"?> der Nationalsozialisten aufgrund der Regierungserklärung für nahezu gegenstandslos, um doch noch zu ihrem Ziel zu gelangen. Als Kraft darauf mit dem Einwurf: »Wer garantiert, daß alles wahr ist, was von dieser Seite herkommt! « reagierte, brach der Tumult los. Im Wortlaut des Protokolls: »(Zwischenruf des Abg. Herbert Kraft - Lärm - Verstärktes Glockenzeichen des Präsidenten - Präsident Duffner: Herr Abg. Kraft, ich rufe Sie zur Ordnung! - Rufe von links: Frecher Bursche! Raus! Raus! - Andauernder Lärm - Mehrfaches starkes Glockenzeichen) [...] Präsident Duffner: Ich fordere den Herrn Abg. Kraft auf, jetzt noch einmal den Ruf zu widerholen, ich habe ihn nicht gehört (Abg. Herbert Kraft: Ich verstehe nicht - Andauernder Lärm - Mehrfaches, starkes Glockenzeichen). Ich fordere den Herrn Abg. Kraft auf, den Zwischenruf, der jetzt zu dieser stürmischen Auseinandersetzung geführt hat, noch einmal zu widerholen, damit ich imstande bin, Stellung dazu zu nehmen. Abg. Kraft: Ich habe gesagt: Wer garantiert, daß alles wahr ist, was von dieser Seite herkommt (Lärm - Zuruf: Schauderhaft! ) ? Präsident Duffner: Ich bin nicht in der Lage, den Herrn Abgeordneten hier im Saale zu dulden und muß ihn daraus verweisen; es ist nicht angängig [...] (Zurufe: Hinaus! - Tätlicher Zusammenstoß zwischen den Abg. Heurich und H. Kraft - Glocke des Präsidenten - große Unruhe - Abg. Kraft: Ich stelle fest, daß ich angegriffen worden bin, ich rufe die Tribüne zum Zeugen auf - Lärm auf der Tribüne - Präsident: Tribüne räumen! - Wiederholt verstärktes Glokkenzeichen des Präsidenten - Abg. Kraft: Herr Präsident, ich stelle fest, daß ich zuerst angegriffen worden bin - Erregte Zwischenrufe: Lügner! - der Präsident bittet wiederholt um Ruhe - Minister Dr. Remmele: Sie haben angefangen! - Abg. Kraft: Sie haben es nicht gesehen, ich habe nicht angefangen! ). Präsident Duffner: Die Sitzung ist auf zehn Minuten vertagt! « Zu Beginn der Nachmittagssitzung nahm Präsident Duffner nochmals zu den Vorgängen Stellung : »Der Vertrauensmännerausschuß ist einmütig zu der Meinung gekommen, daß wir die Angelegenheit als erledigt ansehen wollen und daß wir nicht eine weitere genaue Untersuchung einleiten wollen, weil die Auffassungen über den Vorgang selbst zu weit auseinandergehen, als daß anzunehmen wäre, daß hier etwas Ersprießliches herauskommen könnte. [...] Ich darf aber bemerken, daß der Herr Abg. Amann für seine Person zugegeben hat, daß er einen Ausdruck gegenüber dem Herrn Abg. Kraft gebraucht hat, der den Herrn Abg. Kraft verletzen mußte [...]«. 38 Der Wortlaut des amtlichen Protokolls wird deshalb so ausführlich zitiert, weil er das spektakulärste Ereignis in der Biographie Krafts dokumentiert, das zudem die heutige Vorstellung von seiner Persönlichkeit maßgeblich prägt. Außerdem müssen sich an diesem Protokoll des Stenografen die später entstandenen Schilderungen der Presse messen lassen. Denn im Unterschied zum Landtag, der eine Untersuchung wegen der Unübersichtlichkeit des Geschehens bewußt vermied, schossen in der weitgehend von den Parteizeitungen beherrschten Presselandschaft gegenseitige Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 321 38 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 9. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 394. <?page no="323"?> Unterstellungen und Schuldzuweisungen derart ins Kraut, daß der Blick auf das tatsächliche Geschehen weitgehend verstellt wurde. Auffällig ist hierbei, daß der Zentrums-Abgeordnete Amann, dessen beleidigendes Verhalten nach Darlegung von Landtagspräsident Duffner den Auftakt zu den Tätlichkeiten bildete - er erhielt deshalb nachträglich einen Ordnungsruf 39 -, in den meisten Presseberichten gar nicht erwähnt wird. Am realistischsten scheint noch die in der Badischen Presse bereits am 19. Februar im Rahmen ihrer Landtagsberichterstattung erschienene Darstellung: »Die Empörung, die sich nach diesen Worten [ Krafts Einwurf, d.V.] des ganzen Hauses bemächtigte, war verständlich, nicht verständlich und entschuldbar war aber das, was sich dann abspielte. Die Sitznachbarn der Nationalsozialisten, das Zentrum, drängte lebhaft gestikulierend auf den Abg. Kraft ein, der Zentrumsabgeordnete Kühn packte den Nationalsozialisten an der Brust, und der Schlag, zu dem der Abgeordnete Amann ausholte [! ], war das Signal zur allgemeinen Keilerei. Der Zentrumsabgeordnete Heurich erhielt von Kraft eine Ohrfeige und quittierte mit Zinsen.« 40 Die Betrachtung des Sitzungsablaufs anhand dieser frühen Quellen läßt das Geschehen an diesem denkwürdigen 19. Februar also in etwas anderem Licht erscheinen. Da bemühte sich die Regierung zunächst auffällig, einen prekären Tagesordnungspunkt möglichst schnell vom Tisch zu wischen: die Vorgänge um das Heidelberger Richtfest und das eher ungeschickte Verhalten des Kultusministeriums in dieser Sache hatten der Regierung in der Öffentlichkeit sehr geschadet und bedrohten ihre Stabilität. Die Schützenhilfe, die Rückert von Seiten des DDP-Abgeordneten Wolfhard erhielt, zeigt weiterhin, daß die Koalition insgesamt der SPD-Linie folgte, eine Fortsetzung der Debatte unter den Augen der Öffentlichkeit zu vermeiden. Diese Taktik stieß jedoch auf den Widerstand der Opposition. Krafts laut geäußerter Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Regierungserklärung Remmeles traf schließlich zielsicher den wunden Punkt. Nach übereinstimmender Wahrnehmung der Protokolle wie der Badischen Presse ging die Aggression vom dritten Koalitionspartner, dem links der NSDAP im Plenum sitzenden Zentrum aus, eröffnet durch die Beleidigungen Amanns und dann fortgesetzt im Ohrfeigenduell mit Fridolin Heurich, den Kraft pikanterweise gerade zwei Tage vorher in einem Wortwechsel schachmatt gesetzt hatte. 41 Es ist angesichts dieses Szenarios noch nicht einmal auszuschließen, daß Kraft, der am Schluß seiner Rede ja gerade die Sachlichkeit seines Verhaltens betont hatte, zu hitzigen Reaktionen provoziert werden sollte. Obwohl es durch die Quellen nicht zu belegen ist, spricht vieles dafür, hinter dem Vorgehen der beteiligten Parlamentarier aus den Reihen der Koalition eine gezielte Alexander Mohr 322 39 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 9. Sitzung, 19. Dezember 1930, Sp. 394. 40 »Badische Presse«, Nr. 530, 19. Februar 1930. 41 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 10. Sitzung, 14. Januar 1930, Sp. 498. <?page no="324"?> Provokation zu vermuten. Denn Herbert Kraft, der seinen braunen Kameraden im Grunde in nichts nachstand, wurde der Öffentlichkeit ja gezielt als seriöse Variante des Nationalsozialisten verkauft. Im »Führer«, dem Zentralorgan der badischen NSDAP, stets mit dem schmückenden Titel Professor versehen, führte er für seine Partei meist nur in bildungspolitischen und schöngeistigen Fragen das Wort 42 , vertrat publikumswirksam die Interessen von Studenten oder bildenden Künstlern, verhalf so seiner radikalen Partei zu einem ungerechtfertigt bürgerlich-reputierlichen Anstrich und erschloß ihr auf diese Weise zusätzliche Wählerschichten. Diesen Wolf im Schafspelz dazu zu bringen, die Maske der Seriosität fallen zu lassen, könnten sich die Beteiligten, die später alle mit dem nationalsozialistischen Regime in Konflikt gerieten 43 , durchaus zur Aufgabe gemacht haben. Ähnlich Dramatisches wiederholte sich am 17. Februar 1932 44 , Opfer war diesmal der Zentrumsabgeordnete Anton Hilbert, der bereits einen Tag zuvor Hitler als »österreichischen Deserteur« bezeichnet hatte. Er war daraufhin von Robert Wagner mit den schmähenden Zurufen »Schwein« und »Lump« bedacht worden, Kraft fügte dem noch die Bezeichnung »Charakterlump« an. In einer persönlichen Bemerkung am Schluß der Vormittagssitzung des 17. Februar versuchte Hilbert seinen Vorwurf vom Vortag nochmals mit Fakten zu untermauern und beleidigte dabei Kraft, bezüglich dessen Äußerung er »§ 51«, d.h. Unzurechnungsfähigkeit, angewandt wissen wollte. 45 Für diese am Rednerpult geäußerte Entgleisung erhielt Hilbert einen Ordnungsruf. Doch der Landwirt polterte weiter: »Der Herr Abg. H. Kraft gilt nicht nur bei seiner Fraktion, sondern im ganzen badischen Landtag als »enfant terrible« (Zurufe von verschiedenen Seiten, besonders aus der nationalsozialistischen Fraktion - Zwischenruf gegenüber den Nationalsozialisten: Sie sind im ganzen Land bekannt). Ich lasse mir derartige Beleidigungen von einem gebildet sein wollenden Menschen nicht gefallen.« 46 Bemerkenswerterweise nach Schluß der Sitzung, nicht während Hilberts Rede, (NS-Fraktionskollege Walter Köhler hatte nochmals kategorisch wiederholt: »Wer Hitler einen Deserteur nennt, der ist für uns ein Schwein«), trat Französischlehrer Kraft an Hilbert heran und ohrfeigte den Beleidiger seines Idols und seiner selbst nach einem kurzen Wortwechsel. Er wurde daraufhin - obwohl die Geschäftsordnung Handlungen außerhalb der regulären Sitzungen eigentlich nicht erfaßte - für 60 Tage von der Teilnahme an den Landtagssitzungen ausgeschlossen. Da die gegen Kraft persönlich gerichteten Angriffe des Abgeordneten Hilbert Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 323 42 Vgl. dazu: GLA 231/ 4857, 4865, 4868, 4870. 43 Stellvertretend sei hier auf den Artikel zu Leopold Rückert in Schumacher, Martin (Hrsg.), M.d.R., 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 1278 bzw. dessen Landtagsrede vom 3. Februar 1933 (! ) hingewiesen, in der er mit den Ankündigungen der Nationalsozialisten abrechnete: Protokolle des Badischen Landtags, 17. Sitzung, 3. Februar 1933, Sp. 894 ff. 44 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 4. Sitzung, 17. Februar 1932, Sp. 195. 45 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 4. Sitzung, 17. Februar 1932, Sp. 190 ff. 46 Protokolle des Badischen Landtags, 4. Sitzung, 17. Februar 1932, Sp. 190. <?page no="325"?> ebenso drastisch waren 47 wie Krafts eigene Beleidigungen, vermag auch die gelegentlich vorgebrachte These nicht zu überzeugen, die Anwesenheit des mit den Nationalsozialisten sympathisierenden Hohenzollern August Wilhelm während der Sitzung, von der sozialdemokratischen Presse gern als »Prinz AuWi« verspottet, hätte bei ihm besondere Gefühlswallungen ausgelöst oder die NS-Fraktion zu einer »Extrabeigabe« 48 veranlaßt. Das war jedoch noch nicht das Ende der gegen ihn ergriffenen Disziplinarmaßnahmen. Nach einer Rede im großen Saal der Festhalle in Karlsruhe im Januar 1932, bei der Kraft den Landtag als »gesetzlich genehmigten Unfug« beleidigt hatte, beantragte Justizminister Dr. Schmitt zwecks Strafverfolgung die Aufhebung seiner Immunität. 49 Und wieder trat der kommunistische Abgeordnete Bock als Kritiker des Verfahrens auf: »Ich wage es natürlich nicht zu kritisieren, ich wage nur darauf hinzuweisen, daß anscheinend die Beurteilung der Ausdrücke unter anderen Personen anders ausfällt. [...] Die Immunität ist zur Farce geworden. Warum eilen Sie so? Können Sie nicht abwarten, bis in ein paar Wochen die Bude zugeschlossen wird? ! [Bock bezieht sich auf das baldige Ende der Landtagssession, d.V.] Muß denn immer eine große Geschichte hier gemacht werden, daß sie sogar überhastete Eile haben - ganz abgesehen davon, daß Sie sonst doch gewohnt sind, Beleidigungen hier per Faust zu quittieren. Daß Ihnen das Gefühl dafür abgeht, wie die Dinge draußen wirken, das ist etwas, was man Ihnen ja nicht beibringen kann! Wir lehnen diese Komödie ab! « 50 Noch am gleichen Tag wurde Kraft erneut für 60 Tage ausgeschlossen. Ein nur zwei Worte umfassender Zwischenruf während der großen programmatischen Rede, in der der Staatspräsident und in seiner Eigenschaft als Justizminister bereits erwähnte Dr. Schmitt die Hintergründe und den Umfang der Maßnahmen gegen nationalsozialistisch gesinnte Beamte erläuterte, war der Auslöser: »Staatspräsident Dr. Schmitt (fortfahrend): Ich habe dann noch aus dem »Führer« Nr. 69 folgende Aufforderung vorzulesen - das Charakterloseste, was ich je in meinem Leben gesehen habe! (Abg. H. Kraft: sind Sie! - Lebhafte Zwischenrufe - Große Unruhe). 1.Vizepräsident Reinbold (unterbrechend): Ich schließe sie aus der Verhandlung aus! Verlassen Sie den Saal, Herr Abg. Kraft! « 51 Im Gegensatz zu bisherigen Darstellungen 52 äußerte er also auch in diesem Fall keineswegs diese plumpe Beleidigung selbst, sondern nahm wieder einmal die von der Formulierung seines Opfers gebotene Gelegenheit wahr, den Spieß umzudrehen. Alexander Mohr 324 47 Vgl. hierzu auch: Zeugenaussage Herbert Krafts, 12. März 1932, GLA 243/ 1359. 48 Aus: »Naziradau im Landtag«, Volksfreund Nr. 41, 18. Februar 1932. In den zeitgenössischen Presseberichten blieb die Anwesenheit des Prinzen sonst weithin unberücksichtigt. 49 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 19. Sitzung, 27. April 1932, Sp. 1034 ff. 50 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 19. Sitzung, 27. April 1932, Sp. 1035. 51 Vgl. hierzu: Protokolle des Badischen Landtags, 19. Sitzung, 27. April 1932, Sp. 1050. 52 Sowohl Merz, Hans-Georg, Kraft, Herbert Karl Oskar, in: Badische Biographien N. F. Bd. 3, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1990, S. 157 - 159, hier S. 158 wie auch Bräunche (wie Anm. 7) stellen die Sache so dar, als habe Kraft selbst die Worte »das Charakterloseste« ausgesprochen. Das macht zwar inhaltlich keinen Unterschied, verfälscht aber den Eindruck von Krafts Debattierstil im Landtag außerordentlich. <?page no="326"?> In Anwendung des § 6 des »Gesetzes über die Aufhebung der im Kampf für die nationale Erhebung erlittenen Dienststrafen und sonstigen Maßregelungen« vom 23. Juni 1933 beschloß die NSDAP-Fraktion des gleichgeschalteten Landtags, Kraft ein Jahr später die wegen der Ausschlüsse einbehaltenen Beträge der Aufwandsentschädigung für das Jahr 1932 nachzuzahlen: insgesamt 1350.- Mark. 53 »Herr Landtagspräsident Kraft hält sich in der Sache - als selbst beteiligt - für nicht zuständig und möchte dazu nicht tätig werden«, notierte offenbar der Direktor des Landtags auf dem Schreiben und leitete die delikate Angelegenheit an den Vizepräsidenten zur Erledigung weiter. Selbst in der Stunde des Triumphs der Nationalsozialisten kultivierte der Gymnasialprofessor noch Rituale bürgerlicher Schicklichkeit. Seine Verwicklung in die gewaltsamen Auseinandersetzungen im Landtag, die vor dem Hintergrund einer Zeit fast harmlos wirken, in der Straßenkämpfe und Saalschlachten zwischen den verfeindeten politischen Lagern an der Tagesordnung waren, prägt bis heute das von dem NSDAP-Abgeordneten entworfene Bild. Die Tatsache, daß Herbert Kraft dank seiner rhetorischen Begabung neben dem eher spröde wirkenden Robert Wagner mit der wichtigste Debattenredner der sechsköpfigen Landtagsfraktion und einer der gefragtesten Fest- und Wahlkampfredner im Lande war, tritt demgegenüber viel zu sehr in den Hintergrund. 54 Seine Schlagfertigkeit und die Strategie, die nationalsozialistischen Ziele mit scheinbar vernünftigen Argumenten zu bemänteln, »weniger zu hetzen als zu überzeugen« 55 , dürften jedoch wesentlich mehr zum Erfolg der Nationalsozialisten in Baden beigetragen haben als die spektakulären Ohrfeigen. Diese Gaben ganz bewußt in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie gestellt zu haben, hierin liegt ein entscheidender Teil der Verantwortung und des Versagens des Bildungsbürgers Herbert Kraft. 56 Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 brachte die Nationalsozialisten ihrem Ziel, der Zerschlagung der Weimarer Republik, ein entscheidendes Stück näher. Die Auflösung des Reichstags, die Verfolgung der KPD nach dem Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 325 53 GLA 231/ 3374, NSDAP-Landtagsfraktion an das Präsidium, 28. und 29. Juli 1933. 54 Vgl. dazu u.a. Polizeiprotokoll einer Rede Krafts bei einer Pforzheimer Parteiversammlung am 21. Januar 1930: GLA 233/ 27915. 55 BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an Privatkanzlei Hitlers, 29. August 1930. 56 Nur am Rande ist ein bisher unbekanntes Tätigkeitsfeld Krafts in den frühen 30er Jahren zu nennen: er arbeitete für die Auslandsabteilung der NSDAP in Hamburg als Dezernent für die Schweiz. Erwähnt wird er in dieser Eigenschaft in einer Programmschrift des in Zürich (? ) lebenden Architekten Theodor Fischer, der im NS-Schweizerbund eine nicht unwichtige Rolle spielte. Nach Fischers Darlegungen zu urteilen, bemühte sich die Auslandsabteilung damals, ihren Führungsanspruch über den Kreis der in der Schweiz lebenden Deutschen auf die einheimischen NS-Organisationen auszudehnen, was offenbar schon zu heftigen Auseinandersetzungen mit den eigenwilligen Eidgenossen geführt hatte. Vgl. BA, Abt. III (BDC), O 311 NSDAP und NS-Schweizerbund, Theodor Fischer, »Richtunggebender Rat zur Erfassung der deutschen Kulturfaktoren in den ehemals ›oberduitschen Landen‹ der heutigen Schweiz unter Berücksichtigung der nationalsozialistischen Weltanschauung«, 21. Nebelung 1931. <?page no="327"?> Reichstagsbrand wie der von nationalsozialistischem Terror überschattete Wahlkampf für die auf den 5. März angesetzte Neuwahl waren die nächsten, bereits von ihnen maßgeblich inszenierten Schritte auf diesem Wege. Das Wahlergebnis hatte die fast schon erwarteten Folgen für Baden. Gauleiter Robert Wagner forderte eine maßgebliche Beteiligung der Nationalsozialisten an der Regierung, ein Schritt, dem die bürgerlichen Parteien aufgeschlossen gegenüberstanden. Von seiten der Zentrumspartei wurden Gespräche über die Bildung einer Koalition angeregt. Die Ernennung Robert Wagners zum Reichskommissar für Baden, der dadurch erzwungene Rücktritt der Regierung und die Gleichschaltung des Landtags machten Überlegungen dieser Art jedoch binnen weniger Tage überflüssig. Am 6. März »feierten« die Nationalsozialisten ihren Wahlerfolg in ganz Deutschland, indem sie die Hissung der Parteifahne auf öffentlichen Gebäuden erzwangen. Im Falle des Badischen Landtags war es Herbert Kraft, dem künftigen Hausherrn, vorbehalten, diese Aktion zu leiten. Der Direktor des Landtags (? ) berichtete hierüber: »Gegen zwölf Uhr teilte mir Herr Abg. Prof. Herbert Kraft mit, daß von der Gauleitung angeordnet sei, die Hakenkreuzfahne auch im Landtag zu hissen, nachdem sie bereits auf dem Schloß, Polizeipräsidium etc. wehe. Ich versuchte zuerst den Herrn Abg. H. Kraft von diesem Gedanken abzubringen, da das Landtagsgebäude das ›Haus des Volkes‹ sei, in welchem alle vom Volk gewählten Abgeordneten das Hausrecht hätten. [...] Ich sagte zu ihm, daß ich im Namen und Auftrag des Herrn Präsidenten Duffner Protest einlege. [...] Um ein Uhr teilte mir Herr Prof. Kraft mit, daß er die Hakenkreuzfahne am Thron im Sitzungssaal habe anbringen lassen.« 57 In seiner Ansprache kritisierte Kraft die Gleichbehandlung der Nationalsozialisten mit den Kommunisten durch die bisherige Regierung und forderte die Anwesenden dazu auf, dafür zu sorgen, daß die im Sitzungssaal und an der Fassade des Landtags angebrachten Fahnen nicht wieder entfernt würden. Reichlich pathetisch bat er die Zuhörer, »ihrem Treuegelöbnis Ausdruck zu geben durch ein dreifaches Sieg-Heil auf Hitler«. 58 Die Fahnen wurden im Laufe des Tages wieder eingeholt, jedoch bereits am 10. März erneut aufgezogen, was ebenfalls Kraft dem Landtagspräsidenten mitteilte. Bemerkenswerterweise wollte Kraft »von einer Anbringung der Hakenkreuzfahne hinter dem Sitz des Präsidenten im Sitzungssaal [...] mit Rücksicht auf die Person des Herrn Landtagspräsidenten absehen, wozu auch Herr Reichskommissar Wagner seine Zustimmung erteilt habe.« Wieder hißte Kraft selbst die Fahnen. 59 Am gleichen Tag trat die letzte demokratische Regierung Badens zurück. Die deshalb von Landtagspräsident Duffner für den 14. März anberaumte Landtagssitzung fand nach Rücksprache mit Reichskommissar Wagner nicht statt - »im Interesse der Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung«. 60 Alexander Mohr 326 57 GLA 231/ 3397, 1 ff. 58 Zit. nach einem Bericht der Karlsruher Zeitung, 7. März 1933. 59 GLA 231/ 3397, fol. 11. 60 GLA 231/ 3397, fol. 16. <?page no="328"?> Erst am 16. Mai 1933 trat der inzwischen gleichgeschaltete Landtag in seiner neuen Besetzung wieder zusammen. Während draußen sieben führende badische Politiker der Weimarer Republik auf einen Lastwagen verladen und der johlenden Karlsruher Menge auf der Kaiserstraße präsentiert wurden, bevor man sie ins Konzentrationslager Kislau brachte, wurde drinnen im Ständehaus Herbert Kraft, mittlerweile zum Ministerialrat im Kultusministerium und Kommissar zur besonderen Verfügung aufgestiegen, mit den Stimmen der Nationalsozialisten, der DNVP und des Zentrums zum Landtagspräsidenten gewählt. Nur die Sozialdemokraten stimmten gegen ihn. In seiner Antrittsrede betonte der in vollem Uniformschmuck erschienene Pädagoge, er wolle »entsprechend des Führerprinzips« in der neuen Geschäftsordnung »eine größere Straffheit im Verhältnis [...] des Präsidenten zum Landtag.« Die größere Machtfülle, die jetzt in den Händen des Präsidenten liege, wolle er dazu benutzen, »das geistige Niveau des Badischen Landtags, das in den letzten Jahren erschreckend tief war und in dauernden persönlichen Angriffen und gehässigen Heruntersetzungen und in end- und zwecklosen Reden zum Ausdruck kam, zu heben. Ich bürge dafür, daß solche unwürdigen Szenen, wie sie sich hier in diesem Rondell in den letzten Jahren abgespielt haben - hervorgerufen infolge der Vergewaltigung einer kleinen Minderheit durch eine erdrückende Mehrheit - in Zukunft sich in diesem schönen Saale nicht mehr abspielen werden.« 61 Es sollte allerdings nicht mehr viel Gelegenheit geben, sich als landtagspädagogischer Zuchtmeister aufzuführen. Das hohe Haus trat nur noch zwei Mal zusammen, am Vor- und am Nachmittag des 9. Juni 1933, bevor es sich mit dem Beschluß der badischen Variante des Ermächtigungsgesetzes selbst aus der badischen Geschichte verabschiedete. Kraft schloß diese letzte Sitzung im Ständehaus mit einer zusätzlichen »Ermächtigung« für sich selbst: »Ich setzte ihr Einverständnis voraus, wenn ich den Landtag bis auf weiteres vertage und bitte Sie, mir die Ermächtigung zu geben, den Landtag einzuberufen, wenn das nötige Material zu einer Debatte vorhanden ist, oder wenn ich es für notwendig halte. Ist jemand gegen meinen Vorschlag, so möge er sich erheben. Ich stelle fest, daß mein Vorschlag angenommen ist.« 62 Seinen Landtag brauchte der ermächtigte Präsident so wenig wie die badische Regierung. Das »Dritte Reich« gab zu Debatten keine Gelegenheit, die Auflösungsverfügung vom 14. Oktober 1933 war nurmehr ein formeller Akt. Kraft selbst hatte diese Entwicklung bereits in der Vormittagssitzung des 9. Juni innerhalb seiner Ansprache an Robert Wagner »begründet«: »Die Tatsache, daß die Mehrheit der Volksvertreter mit der Regierung eines Willens ist, enthebt die Regierung von der Verpflichtung, den badischen Landtag in dem gleichen Maße wie früher einzuberufen. Der Führergedanke [...] gibt der Regierung ferner das Recht, ihre Entschlüsse zu fassen, ohne sich vorher in allen Einzelheiten mit dem Landtag auseinanderzusetzen [...]«. 63 Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 327 61 GLA 231/ 778, Stenografisches Landtagsprotokoll vom 16. Mai 1933, S. 30. 62 GLA 231/ 778, Stenografisches Landtagsprotokoll vom 9. Juni 1933, S. 56. 63 GLA 231/ 778, Stenografisches Landtagsprotokoll vom 9. Juni 1933, S. 4. <?page no="329"?> Daß man Kraft 1933 nicht mit einem Regierungs-, sondern einem rein repräsentativen Amt - noch dazu auf Abruf - bedachte und er als leitender Ministerialrat der Abteilung Höhere Schulen nur innerhalb der Kultusbürokratie eine Schlüsselstellung innehatte 64 , fällt auf. Krafts Ambitionen waren jedoch im Unterschied zu seinem Offizierskollegen Wagner oder dem nunmehrigen Ministerpräsidenten Walter Köhler auch nicht eindeutig machtpolitischer Natur. Eine Funktion als »graue Eminenz«, die man in den Titel »Kommissar zur besonderen Verwendung beim Reichsstatthalter« hineininterpretieren könnte, ist anhand des Quellenmaterials nicht belegbar, wenn auch Krafts Angewohnheit, seine nicht-amtlichen Schreiben an den Gauleiter mit »Lieber Wagner« einzuleiten ebenso wie das vertrauliche »Du« auf ein enges persönliches Vertrauensverhältnis zwischen den langjährigen Weggenossen hinweist. Die Briefe Krafts vermitteln jedoch immer die Atmosphäre unbedingter Anerkennung der Autorität Robert Wagners. Eine gewisse persönliche Eitelkeit, die sich in einer Vorliebe für respektheischende Titel und einer auffallenden Empfindlichkeit in Rangfragen 65 äußerte, ist in Krafts Korrespondenz hingegen unverkennbar. Anders das Verhältnis zu seinem vorgesetzten Minister: hier kam es offenbar zu Eigenmächtigkeiten Krafts. 66 Ahnungsloses Opfer wurde der in die Vorgänge nicht eingeweihte spätere badische Staatspräsident Leo Wohleb, der als Oberregierungsrat in Krafts Abteilung arbeitete und einen in dessen Abwesenheit zu ihm umgeleiteten Telefonanruf Wagners entgegennahm - ohne ihn zu erkennen und entsprechend respektvoll zu behandeln oder gar die gewünschten Auskünfte zu geben. Daß die Folgen mit einer Rückversetzung als Direktor an das Baden-Badener Gymnasium für Wohleb vergleichsweise glimpflich blieben, war hauptsächlich Krafts Einfluß zu danken. Der »Fall Wohleb« führte deshalb auch zur Bildung der Legende, als habe sich Kraft als leitender Beamter schützend vor fähige, aber nicht systemkonforme Mitarbeiter gestellt. Der Ablauf des Geschehens legt jedoch - ganz abgesehen von der hier zu weit führenden Frage, in welchem Verhältnis Wohleb damals zum bestehenden politischen System stand - eher die Einschätzung nahe, daß lediglich die ihm eigentümliche Korrektheit Kraft verbat, andere für sein Handeln büßen zu lassen. 67 1934 wurde Herbert Kraft in den funktionslosen, für seine Mitglieder gleichwohl Alexander Mohr 328 64 Wie Anm. 2. 65 1934 entspann sich beispielsweise zwischen Kraft und dem Reichsschatzmeister der NSDAP ein Briefwechsel über die Frage seiner internen (! ) organisatorischen Zugehörigkeit als Parteimitglied zur Sektion »Reichsleitung«, da er die Neueingruppierung unter »Gauleitung« offensichtlich als Zurücksetzung empfand. Kraft benutzte hierbei außerdem offizielles Briefpapier des Landtagspräsidenten. (! ) Vgl. BA, Abt. III (BDC), PK Herbert Kraft, Kraft an Reichsschatzmeister der NSDAP, 16. Januar 1934. 66 Vgl. hierzu Dr. Otto Wacker an Reichsstatthalter Wagner, 28. Februar 1934, abgedr. in: Merz, Hans-Georg, Beamtentum im nationalsozialistischen Staat - Der »Fall« Leo Wohleb, Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins (»Schau-ins-Land«) 103 (1984), S. 131 - 148, hier S. 143. 67 Merz (wie Anm. 66), S.143. <?page no="330"?> finanziell ertragreichen Reichstag »gewählt« und blieb auch über 1938 hinaus Reichstagsmitglied. 68 Neben seiner Schulverwaltungstätigkeit im Minsterium und auf Reichsebene - Kraft gehörte als ständiges Mitglied dem Reichsbeirat für das deutsche Schulwesen im Ausland an 69 und unternahm in dieser Funktion mehrere Auslandsreisen 70 - trat der Sport in den Vordergrund seiner Arbeit. Kraft wurde zum Gaubeauftragten des Reichssportführers berufen und war Sturmführer im Fliegersturm Karlsruhe des Deutschen Luftsportverbandes. Diese Nebentätigkeiten wirkten wiederum auf seine Arbeit im Kultusministerium zurück. Kraft nahm an Einweihungen von Hallenbädern und anderen Sportstätten teil 71 , war aber auch nach der Aufhebung der entmilitarisierten 50-Kilometerzone 1935 maßgeblich an der Einführung und Organisation der (militärisch verwertbaren) Luftsportausbildung an den badischen Schulen beteiligt. 72 Als Referent der badischen Kultusverwaltung führte er die Verhandlungen über die entsprechende Lehrerausbildung durch den Luftsport-Verband. 73 1940 wurde Herbert Kraft schließlich Sportgauführer von Baden und dem Elsaß. 74 Größere Veränderungen in Krafts Leben brachte erst wieder der Zweite Weltkrieg. Am 26. August 1939 wurde er zur Luftwaffe eingezogen, allerdings bereits am 15. Januar 1940 entlassen, befördert zum Hauptmann d. Res. Nach dem erfolgreichen Feldzug gegen Frankreich nahm ihn Robert Wagner in seinem Stab mit in seine neue Residenz Straßburg. Eine Änderung seines Ranges war damit nicht verbunden, auch weiterhin blieb Herbert Kraft Ministerialrat, nun allerdings beim »Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, Abt. Erziehung, Unterricht u.Volksbildung«, wie die Zentralbehörde für das Elsaß hieß, dessen territorialer Status bis Kriegsende nicht geklärt wurde. Damit besaß er potentiell wesentlichen Einfluß auf die Schulpolitik im besetzten Gebiet, weshalb sich auch der Führer des SS-Oberabschnitts Südwest, Kaul, besonders an seiner Aufnahme in die SS interessiert zeigte. Kraft sei »für die Weiterentwicklung der Aufbauarbeiten im Elsaß für die SS von besonderer Bedeutung«. 75 Da bei der SS seit Kriegsbeginn ein offizieller Aufnahmestopp bestand, bedurfte es trotz Kauls Fürsprache eines längeren Schriftwechsels, bevor Kraft am 1. Januar 1942 - und somit relativ spät - in die SS als Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 329 68 Vgl. hierzu: GLA 235/ 38160, privater Schriftwechsel Herbert Krafts a.d. J. 1938, fol. 297. 69 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalakte Herbert Kraft, Personalbogen. Wahrscheinlich steht in diesem Zusammenhang auch die Verleihung des Komturkreuzes des bulgarischen St. Alexander- Ordens an Herbert Kraft, den in seiner Eigenschaft als Reichsbeirat mehrere Reisen u.a. auch nach Bulgarien führten. Vgl. hierzu: GLA 235/ 38160, privater Schriftwechsel Herbert Krafts a.d. J. 1938, fol. 167. 70 Im Sommer 1938 bereiste Kraft die Balkanländer GLA 235/ 38160, fol.196, Brief, 20. Mai 1938. 71 GLA 235/ 38160 fol. 196, Brief, 20. Mai 1938. 72 GLA 235/ 19694, Förderung der Luftfahrt in den Schulen. 73 GLA 235/ 19694, Förderung der Luftfahrt in den Schulen, Gruppe IX Württemberg des Deutschen Luftsport-Verbandes an Kraft, 3. Mai 1935. 74 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalbogen Herbert Kraft. 75 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalakte Herbert Kraft, Kaul an den Reichsführer SS, 1941. <?page no="331"?> Obersturmbannführer, SS-Abt. 45, Mitglieds-Nr. 422.526 aufgenommen wurde. 76 Wohl im Zusammenhang mit der Aufnahme in die SS erfolgte auch Krafts Kirchenaustritt im November 1942. Ob sich Kauls Hoffnungen erfüllten, bleibt offen. Die bruchstückhafte Überlieferung läßt keine fundierten Rückschlüsse auf Herbert Krafts Rolle bei der Durchsetzung nationalsozialistischer Prinzipien im Erziehungssektor zu. Da er von Robert Wagner außerdem zum »Beauftragten für Rückführungsangelegenheiten« ernannt worden war und in dieser Eigenschaft zeitraubende Ermittlungen zur Wiederauffindung und Rückführung von französischer Seite aus dem evakuierten Elsaß abtransportierter Inventare öffentlicher Gebäude und Archivalien zu führen hatte 77 , die mitunter wochenlange Abwesenheit von Straßburg bedingten, stellt sich unter Berücksichtigung seiner sonstigen Nebentätigkeiten für den Reichsausschuß sowie als Gausportführer und Beauftragter für Leibesübungen beim Chef der Zivilverwaltung 78 eher die Frage, wieviel von seiner Arbeitszeit Kraft tatsächlich der Arbeit in der Straßburger Behörde widmete. Die vorhandenen Quellen aus diesem Zeitraum vermitteln jedenfalls den Eindruck, als hätten die ihm größtenteils von Wagner erteilten Sonderaufgaben und -kompetenzen den Schwerpunkt von Herbert Krafts Tätigkeit in den Jahren 1940 bis 1944 gebildet. Nach Kriegsende wurde Herbert Kraft wie die anderen führenden Nationalsozialisten, deren man habhaft werden konnte, zunächst von den französischen Militärbehörden interniert. Für seine Freilassung setzte sich Ende 1945 der wegen seiner anfangs wohlwollenden Haltung gegenüber den Nationalsozialisten umstrittene Freiburger Erzbischof Conrad Gröber bei der Militärregierung ein. 79 Obwohl Gröber, wie er in dem Entwurf selbst betonte, Kraft »von Angesicht nie kennengelernt« hatte, stellte er ihm einen geradezu klassischen ›Persilschein‹ aus, in dem er Kraft als Menschen darstellte, »der sich von allen extremen Seiten der Partei freigehalten hat, sie ablehnte und selbst schwer darunter litt«. Vom selben Mann, der noch 1940 stolz zu verstehen gab, seinen fanatischen Einsatz für die Partei bereits 1923 über familiäre Rücksichten gestellt zu haben, wurde nun behauptet, er wäre »durch sein Amt nicht mehr von der Partei los[gekommen], ohne seine Familie und sich selbst zu ruinieren«. Die in bemerkenswertem Kontrast zu den von Kraft selbst stammenden Quellen stehende biographische Skizze ergänzte Gröber durch eine Stellungnahme zu dessen dienstlich bedingter Tätigkeit als Prüfungskommissar an den [konfessionellen] Privatschulen, die mehr Wahrscheinlichkeit besitzen dürfte. Allerdings wirft die Tatsache, daß Sekundärtugenden eines Ministerialvertreters wie »korrekte Hal- Alexander Mohr 330 76 BA, Abt. III (BDC), OSS Personalakte Herbert Kraft, insbesondere Brief des Reichsführers SS, 28. November 1941. 77 Ausführliche Berichte zu seiner Tätigkeit in: PAAA, Deutsche Botschaft Paris, Kult. 3a. 78 Vgl. hierzu: BA R 83 Els./ Vorl. 2. 79 EAFR, Nachlaß Gröber Nb 8/ 42, von Gröber paraphierter Entwurf vom 13. Dezember 1945. Siehe auch Schwalbach (wie Anm. 29), S. 28 f. <?page no="332"?> tung«, »Unparteilichkeit«, »Gerechtigkeit« und »Anerkennung guter Leistungen« als »auffallend« bezeichnet wurden, ein deutliches Licht auf Zeitumstände und das zunehmend problematische Verhältnis zwischen nationalsozialistischem Staat und katholischer Kirche. Hans-Georg Merz führt im tabellarischen Teil seiner Biographie Herbert Krafts lediglich an, daß er in Freiburg gestorben sei. Ebenfalls Erzbischof Gröber verdanken wir genaueren Aufschluß. In einem kurzen Kondolenzschreiben an die zu dieser Zeit in Konstanz lebenden Witwe Krafts, dessen Entwurf ebenfalls erhalten ist, schrieb Gröber am 1. Februar 1946: »Eben erfahre ich, daß Ihr Gatte, Herr Ministerialrat Kraft, hier im Lager gestorben ist. Auf mein Gesuch, das ich am 13. Dezember der Militärregierung vorlegen ließ, hatte ich gehofft, daß ihr Gatte entlassen werde.« 80 Herbert Kraft starb am 15. Januar 1946 als Gefangener im Freiburger Internierungslager. Bibliographie Quellen Da sich Herbert Krafts Funktion und Bedeutung weitgehend auf den regionalen Bereich beschränkten, liegt auswertbares archivalisches Quellenmaterial vorrangig im Badischen Generallandesarchiv (GLA) in Karlsruhe. In den Beständen des Bundesarchivs (Außenstelle Zehlendorf) befinden sich hingegen nur relativ wenige, jedoch für seine Biographie sehr wichtige, zum Teil autographische Quellen. Aus dem Bereich des GLA sind vor allem die Bestände zu seinen Tätigkeitsfeldern, 231 / Badischer Landtag und 235 / Kultusministerium ergiebig. In letzterem ist u.a. ein Jahrgang (1938) der Privatkorrespondenz des Ministerialrats überliefert (235 / 38160). Weiteres zeitgenössisches Material liefern in größerem Umfang die Zeitungen der 20er und 30er Jahre. Die Jahre ab der Übersiedelung des Ministeriums nach Straßburg 1940 sind in den deutschen Archiven erwartungsgemäß schlecht dokumentiert. Bedauerlicherweise gilt dies auch für die Entnazifizierungsunterlagen. Unter der im Bestandsverzeichnis der Denazifizierungsakten im Staatsarchiv Freiburg vergebenen Nummer 226.643 findet sich lediglich ein Hinweis, der ihr Fehlen mit der Internierung Krafts begründet. Eine Anfrage in Frankreich zeitigte keine Ergebnisse. Herbert Kraft, Präsident des Badischen Landtags 331 80 EAFR, Nachlaß Gröber Nb 8/ 42, nicht abgezeichneter Entwurf vom 1. Februar 1946. Für die Zugänglichmachung dieser beiden Dokumente möchte ich mich an dieser Stelle nochmals bei Herrn Schmider bedanken. <?page no="333"?> Schriften Vom badischen Konkordat, in: Der Alemanne 2/ 25, 16. Januar 1932. Die Wertung der Höheren Schule als deutscher Kultur- und Machtfaktor durch das Ausland, in: Die badische Schule 2 (1935), S. 61 - 63. Die Richtlinien für die Leibeserziehung in Jungenschulen und ihre Anwendung in den deutschen Auslandsschulen, in: Der deutsche Erzieher, Ausgabe Gau Baden, Die badische Schule 5 (1938), S. 61 - 63. Ansprache anläßlich der 500-Jahrfeier der Höheren Schule in Schlettstadt, in: Mitteilungsblatt des NSLB, Gauverwaltung Baden H. 2 (1942), S. 9 - 10. Literatur Abgesehen von der in den Badischen Biographien (Neue Folge), Band 3 (1990) veröffentlichten Kurzbiographie von Hans Georg Merz erscheint Krafts Name fast nur in Veröffentlichungen, die auf die Ereignisse von 1930 und 1932 im Landtag eingehen. Erhellendes für seine übrige Vita ergibt sich daraus nicht. Bezeichnenderweise wird er in dem von Otto Borst herausgegebenen Sammelband »Das 3. Reich in Baden und Württemberg«, Stuttgart 1988, nicht einmal erwähnt. Alexander Mohr 332 <?page no="334"?> Wirtschaftspolitiker zwischen Selbstüberschätzung und Resignation Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister Frank Raberg *20. Juni 1895 Rosenberg (Oberschlesien), ev., Vater: Karl Lehnich, selbständiger Flaschnermeister, Mutter: Rosalie, geb. Klimek, verheiratet in erster Ehe seit 1925 mit Hildegard Lehnich, geb. Schlegel (Scheidung 1929), in zweiter Ehe seit 1930 mit Irmgard Elisabeth Maria, geb. Gerstenberg, drei Kinder, davon zwei aus zweiter Ehe. Volks- und Knabenschule, Humanistisches Gymnasium, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer als Leutnant d. Res., EK I und II, 1919/ 20 Zeitfreiwilliger, 1914/ 18 - 1920 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Berlin und Breslau, 1920 Promotion zum Dr. rer. pol., 1920 - 1921 wissenschaftlicher Assistent an der Universität Berlin, 1922 - 1927 im Reichswirtschafts- Professor Oswald Lehnich (Mitte) mit Reichspropagandaminister Joseph Goebbels und dem Schauspieler Emil Jannings (re.) 333 <?page no="335"?> ministerium, zuletzt (ab 1926) als Regierungsrat, 1927 Privatdozent und Habilitation bei der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, 1932 Lehrauftrag an der Technischen Hochschule Stuttgart und außerordentlicher Professor in Tübingen, 18. März 1933 Leiter des württembergischen Wirtschaftsministeriums im Range eines Staatsrates, 13. Juli 1933 - Dezember 1935 Staatsminister, 1935 - 1939 Präsident der Reichsfilmkammer, Juni 1939 Rücktritt, nach schwerem Unfall im August 1939 nicht mehr berufstätig. November 1931 Förderndes Mitglied der SS, Dezember 1931 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 855.209), 1932 Mitglied des Gauwirtschaftsrates Württemberg Hohenzollern, 1933 Gauwirtschaftsberater Württemberg-Hohenzollern, Beauftragter der Obersten Leitung der PO für den Ständischen Aufbau Südwest, 1935 SS-Standartenführer und SS-Oberführer (Führer beim Stab Reichsführer-SS). 23. Mai 1945 Internierung in Balingen, Mai 1947 Universitäts-Nervenklinik Tübingen, 23. November 1948 erste, 23. März 1949 zweite Entscheidung der Lager-Spruchkammer Balingen: »Minderbelasteter«, Ruhestand in Tübingen, Stuttgart und zuletzt Bad Ditzenbach, gest. 23. Mai 1961 Bad Ditzenbach. Wenn von den württembergischen Ministern der NS-Zeit die Rede ist, fällt auf, daß der kurzfristig amtierende Wirtschaftsminister Staatsrat Professor Dr. Oswald Lehnich nur selten genannt wird 1 und die Erinnerung an ihn heute weithin ausgelöscht scheint. Das mag damit zu tun haben, daß Lehnich »nicht zu den radikalen Exponenten der NSDAP zählte« 2 und politisch wenig hervorgetreten ist. Ein bisher unbeachtetes Detail ist die Tatsache, daß Lehnich im Gegensatz zu allen anderen Kabinettsmitgliedern oder Ressortleitern und Staatssekretären im nationalsozialistischen Württemberg (Murr, Mergenthaler, Schmid, Dehlinger, Hirzel und Waldmann) der einzige Nichtwürttemberger war, als einziger nicht dem Württembergischen Landtag angehört hatte und als einziger neben Finanzminister Dehlinger - der aber nicht der NSDAP angehörte - als Fachmann an die Spitze »seines« Ressorts gelangt war. Der eher verschlossene »Kopfmensch« Lehnich, der auch innerhalb der NSDAP keiner Clique angehörte und persönliche Beziehungen zu führenden Funktionsträgern der Partei nicht aufzubauen vermochte - es vielleicht auch nicht wollte -, scheint auch als Exponent der Partei, als Minister und als Präsident der Reichsfilmkammer geradezu isoliert gewesen zu sein, was in erster Linie an seiner unzugänglichen Persönlichkeit gelegen hat. Er war alles andere als ein programmatischer Vordenker Frank Raberg 334 1 In dem von Thomas Schnabel herausgegebenen Sammelband »Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982«, ist Lehnich als einziger ranghoher württembergischer NS-Amtsträger nicht einmal im Personenregister erwähnt. 2 Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 13), Stuttgart u.a. 1986, S. 258. Was Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 54, veranlaßt, Lehnich als »überzeugten Nationalsozialisten« zu bezeichnen, bleibt unergründlich, da er keine Quellenbelege angibt. <?page no="336"?> der Partei und auch keineswegs Exponent einer genuin »nationalsozialistischen« Wirtschaftspolitik. Ein anderer Grund könnte die Tatsache sein, daß der ruhige, fast verhaltene Lehnich als Präsident der Reichsfilmkammer in Berlin länger tätig war, jedoch auch in diesem Amt, das eher repräsentative Aufgaben beinhaltete, schon damals von der breiten Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen wurde. Als anerkannter Fachmann in Wirtschaftsfragen, vor allem im Bereich der Industrie- und Kartellpolitik, betätigte er sich, schon seit Ende seiner Studienzeit, als fleißiger Publizist. An der Universität Tübingen hielt er vor seiner Berufung in die nationalsozialistische württembergische Staatsregierung Vorlesungen in Volkswirtschaftslehre. Nach Kriegsende wurde es um Lehnich, der schon während des Krieges nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten war, vollends still: er starb 1961 kurz vor Vollendung seines 66. Lebensjahres. Oswald Otto Lehnich wurde am 20. Juni 1895 im oberschlesischen Rosenberg als Sohn der Eheleute Karl und Rosalie Lehnich, geb. Klimek geboren und wuchs mit zwei Geschwistern in einem gläubigen evangelischen Elternhaus auf. Im Heimatort besuchte er auch die Volksschule und die »höhere Knabenschule«. 3 1909 wechselte er auf das Humanistische Gymnasium im unweit gelegenen Kreuzburg, wo er 1914 mit Erfolg die Abiturprüfung ablegte. Nachdem der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, meldete sich der 19jährige freiwillig zum Militär und tat Dienst im Fußartillerie-Regiment von Dieskau (l. Schlesisches) Nr. 6, seit 1916 im Range eines Leutnants der Reserve und zuletzt als stellvertretender Batterieführer der 3. Batterie. Zunächst in Polen, war Lehnich während des gesamten Krieges im Fronteinsatz. Im Felde muß er schwer verwundet worden sein, worauf nicht nur ein Lazarettaufenthalt in Hannover und Breslau (12. Oktober bis 14. Dezember 1917) hindeutet, sondern auch der Vermerk in seiner Stammliste aus den 30er Jahren: dort ist - mit dem Vorbehalt, daß die »genaue Feststellung noch im Gang« sei - festgehalten, er sei infolge Kriegsverletzung zu 25 Prozent dienstbeschädigt. 4 Am 3. Dezember 1918 wurde er, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz II. und I. Klasse sowie später mit dem Ehrenkreuz für Frontkämpfer, aus der Armee entlassen, war aber ausweislich der Stammliste 1919/ 20 Zeitfreiwilliger, ohne daß dort genauer ausgeführt wird, in welcher Weise und wo er in dieser Zeit eingesetzt war. Daß er einer der damals zahlreichen Studentenkompanien zur Niederschlagung von Unruhen bzw. Revolten Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 335 3 Informationen von Frau Irmgard Lehnich (Leonberg, 8. März 1996). HSTAS, E 130 c, Bü 77, Stammliste, sowie die beiden ausführlichsten tabellarischen Lebensläufe in Wer ist’s? , Bd. 10, Berlin 1935, S. 948, und bei Eberl, Immo; Marcon, Helmut (Bearb.), 150 Jahre Promotion an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Biographien der Doktoren, Ehrendoktoren und Habilitierten 1830 - 1980 (1984), Stuttgart 1984, S. 615. 4 HSTAS, E 130 c, Bü. 77, Stammliste, und UATÜ 126/ 374 (Kopien aus den Unterlagen Lehnich vom Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg), Antrag Lehnichs an das Versicherungsamt in Stuttgart vom 12. Februar 1957. <?page no="337"?> in verschiedenen Teilen des Reiches - u.a. in Bayern, im Ruhrgebiet und auch in Schlesien - angehörte, ist eine Vermutung. Jedenfalls konnte er nach Kriegsende das bereits 1914 begonnene Studium der Rechts- und Staatswissenschaften sowie der Nationalökonomie konzentriert angehen und rasch beenden. Am 15. Dezember 1920 wurde er von der Universität Breslau bei Professor Dr. Otto Edler von Zwiedineck-Südenhorst mit einer Arbeit zum Thema »Das Problem der polnischen Währung« mit cum laude zum Dr. rer. pol. promoviert. 5 Wenig später trat er eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent des an der Universität Berlin lehrenden Volkswirtschaftlers und Statistikers Prof. Dr. Ernst Wagemann an und erarbeitete im Auftrag des Osteuropa-Instituts in Breslau die Währungsverhältnisse in Polen, Litauen, Lettland und Estland. 6 Aufgrund seines konstruktiven Denkens, »das ihn befähigte, die schwierigsten und undurchsichtigsten Wirtschaftsprobleme in Kürze und mit Schärfe zu durchdringen«, wurde man auch im Reichswirtschaftsministerium auf ihn aufmerksam, wo er am 23. Mai 1921 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Kartellreferat eine Stelle antrat. 7 Das Ministerium wurde damals von dem SPD-Reichstagsabgeordneten Robert Schmidt geleitet, der 1919/ 20 und 1921/ 22 Reichswirtschaftsminister war. Eigentlicher Dienstvorgesetzter Lehnichs war aber der Staatssekretär des Ministeriums, Dr. Julius Hirsch, mit dem er eng zusammenarbeitete. Unter Hirschs Leitung fanden Ende 1921 - in einer Art Enquête-Kommission - die Verhandlungen über das Kartellproblem statt, deren Protokolle Lehnich verfaßte. Lehnich stieg zum Leiter des Kartellreferats auf und verfaßte 1924 zusammen mit Norbert Fischer den ersten Kommentar (»Das deutsche Kartellgesetz«, Carl Heymanns Verlag, Berlin) zur »Verordnung über den Mißbrauch wirtschaftlicher Machtstellungen vom 23. 11. 1923«. Nach Hirschs Weggang aus dem Ministerium im Jahre 1923 verstand es Lehnich, sich auch bei dessen Nachfolger, Staatssekretär Dr. Ernst Trendelenburg, eine Vertrauensposition zu erwerben. Im Laufe seiner fünfjährigen Tätigkeit im Ministerium erhielt er die Aufsicht über verschiedene Wirtschaftszweige, wodurch Lehnich tiefe Einblicke in das »Innenleben« der deutschen Wirtschaft gewann. Außerdem oblag ihm die Aufsicht über die Zementpreise und die Regelung von Interessenkonflikten zwischen Industrie, Handel und Genossenschaften durch die »Genossenschaftliche Einigungsstelle«, die von ihm mitinitiiert war und auf dem Verwaltungswege Interessenausgleiche herzustellen suchte. Zweifellos legte Lehnich in seiner Zeit im Reichswirtschaftsministerium die Grundlagen für seine spätere wissenschaftliche Reputation. Er publizierte sehr viel und sah zunehmend seine eigentliche Berufung in einer akademischen Laufbahn. Frank Raberg 336 5 Ebd. und Lebenslauf Lehnichs vom 15. September 1927, UATÜ 126/ 374. 6 Ebd. Seine Arbeitsergebnisse konnte Lehnich 1923 publizieren (vgl. das Schriftenverzeichnis am Ende dieses Beitrags). 7 »Tatsachenbericht«, S. 1, Privatarchiv Hermann Gögler (im folgenden PAHG). <?page no="338"?> Seine Fähigkeiten wurden im Ministerium ebenso wie in weiten Kreisen der Wirtschaft sehr geschätzt, so daß er wiederholt als Gutachter und Schiedsrichter dienen sollte, was ihm aber aufgrund seiner Ministerialtätigkeit nicht erlaubt war. Am 15. März 1926 wurde er zum Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium sowie zum Mitglied des Statistischen Reichsamtes 8 ernannt. Als Vertreter des Ministeriums hatte er aufgrund seiner guten Kenntnisse der Verhältnisse im Osten des Reiches und Europas zuvor schon bei einer Chefbesprechung der Reichsministerien über die Frage der Ostsiedlung unter Vorsitz von Reichskanzler Luther teilgenommen. 9 Aufgrund »wirtschaftspolitischer Gegensätze« und um sich »ausschließlich der Wissenschaft widmen zu können« betrieb Lehnich 1927 seinen Abschied aus dem seit Januar 1926 von dem DVP-Politiker Julius Curtius geführten Reichswirtschaftsministerium, den er zum 30. Juni 1927 erhielt. 10 Später wurde in offiziellen Verlautbarungen gern einseitig der Aspekt hervorgehoben, Lehnich sei seinerzeit »in erster Linie deswegen« ausgeschieden, »weil er im Widerspruch zu der wirtschaftspolitischen Grundhaltung stand.« 11 Für ihn war es aber tatsächlich wohl eher eine Frage »persönlicher und wissenschaftlicher Freiheit«, diesen Weg zu gehen, und sicherlich trug zu seinem Entschluß die ihm gebotene Möglichkeit bei, sich an der Universität Tübingen habilitieren zu können. Damit rückte für den 32jährigen nunmehrigen Regierungsrat a. D. nicht nur der ersehnte akademische Lorbeer in greifbare Nähe, sondern auch eine spürbare finanzielle Besserstellung des mittlerweile verheirateten Familienvaters. Lehnich war zweimal verheiratet, zunächst (seit dem 18. April 1925) mit Hildegard Schlegel (* 1906) - Tochter eines Kaufmanns in Berlin -, von der er sich bereits 1928 wieder scheiden ließ 12 , und mit Irmgard Gerstenberg (1903 -1993) - Tochter eines Oberregierungsrates -, die er am 10. März 1930 heiratete. Aus der ersten Ehe stammte der Sohn Helmut (*1926), aus der zweiten Ehe die Töchter Waltraut (*1931) und Sigrid (*1934). Am 17. September 1927 erbat Lehnich schriftlich bei der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 337 8 HSTAS, E 130 c, Bü. 77, Stammliste, und UATÜ 126/ 134, Stammliste. 9 Diese Besprechung fand am 26. Februar 1926 statt. Lehnich (im Protokoll fälschlich Lehnig) und Norbert Fischer nahmen als Vertreter des Wirtschaftsministeriums teil. Vgl. Minuth, Karl-Heinz (Bearb.), Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Die Kabinette Luther I und II, Boppard am Rhein 1977, S. 1146. 10 Lebenslauf vom 15. September 1927, UATÜ 126/ 374; Lebenslauf von Lehnich, ohne Datum (1935), BA, Abt. III (BDC); »Tatsachenbericht«, S. 3, PAHG. 11 So in dem Artikel »Die Neuernennungen im Wirtschafts- und im Staatsministerium«, in: Tübinger Chronik Nr. 165 vom 19. Juli 1933. Lehnich selbst hat nur in seinem Lebenslauf von 1935 (BA, Abt. III, BDC) davon gesprochen, er habe »infolge wirtschaftspolitischer Gegensätze« seinen Abschied aus dem Reichsdienst genommen. 12 Lehnich an das Akademische Rektoramt, 18. Juni 1928, UATÜ 126/ 374: »Hierdurch beehre ich mich mitzuteilen, daß meine Ehe mit Hildegard geb. Schlegel mit Wirkung vom 13. Juni dieses Jahres rechtskräftig geschieden ist. Die Frau ist für alleinschuldig erklärt. Infolgedessen ist mein Sohn Helmut mir zugesprochen.« <?page no="339"?> Tübingen die Erteilung der Lehrberechtigung für das Fach Volkswirtschaftslehre. Als Habilitationsschrift war eine Arbeit mit dem Titel »Kartelle und Staat unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzgebung des In- und Auslandes« beigelegt. Professor Dr. Carl Johannes Fuchs, Leiter der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung, verfügte in einer Randnotiz die Erstellung eines Gutachtens über Lehnichs Eignung durch Professor Dr. Walter Eucken, den berühmten Nationalökonom, der noch 1927 an die Universität Freiburg wechselte. 13 Fuchs selbst und Professor Dr. Philipp von Heck, Dekan der Fakultät, übernahmen als Gutachter der Habilitationsschrift letztlich die Verantwortung dafür, Lehnich den Weg in die Hochschullaufbahn zu ebnen, was nicht von vornherein eindeutig feststand, da er keine entsprechenden staatlichen Examina abgelegt hatte. Die Gutachten waren aber so positiv, daß weder die Fakultät noch der Kleine Senat diesen Umstand als Hinderungsgrund betrachteten, sondern im Gegenteil Lehnichs Praxis als Beamter im Reichswirtschaftsministerium stark zu seinen Gunsten gewichteten. 14 Heck wies in seinem Schreiben an den Kleinen Senat darauf hin, daß zu der Zeit, als Lehnich seine Studien beendet habe, »das Diplomexamen für Volkswirte noch nicht bestand.« Er könne aufgrund seiner sechsjährigen Tätigkeit im Reichswirtschaftsministerium »jederzeit in die Praxis zurückkehren [...] wenn er Ursache haben sollte, auf die akademische Laufbahn zu verzichten. Die Vermögensverhältnisse sollen sehr gut sein.« Das Kolloquium Lehnichs sei »zur Befriedigung ausgefallen«, und die Habilitationsschrift geeignet, »eine fühlbare Lücke in dem Lehrgebiet unserer wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung auszufüllen.« 15 Professor Dr. Adalbert Wahl, Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte, richtete daraufhin in seiner Eigenschaft als Berichterstatter des Kleinen Senats ein Schreiben an das Kultministerium, in dem er bat, Lehnich die Venia legendi zu erteilen. Das Ministerium sprach die Lehrberechtigung »für das Gebiet der Volkswirtschaftslehre« für Lehnich am 12. Dezember 1927 ohne Einschränkung aus. 16 Der neue Privatdozent war nach Tübingen umgezogen und hielt im Januar 1928 seine Antrittsvorlesung zum Thema »Internationale Kartelle«; im SS 1928 hielt er seine erste Vorlesung. Da sich sein Ruf mittlerweile weiter herumgesprochen und gefestigt hatte, war Lehnich mit wissenschaftlichen Publikationen sowie der Abfassung von Gutachten, Frank Raberg 338 13 Ob das Gutachten erstellt wurde, ist unklar, da es sich weder bei den PA Lehnich im UATÜ noch an anderen Orten auffinden ließ. Der relativ schnelle Gang von Lehnichs Habilitation und Euckens Wechsel nach Freiburg sprechen eher dafür, daß ein solches Gutachten nicht gefertigt worden ist. 14 Das Gutachten Fuchs’ vom 21. Oktober 1927, das Gutachten Hecks vom 22. Oktober 1927. Unter Fuchs’ Bericht hat auch der Tübinger Nationalökonom Robert Wilbrandt, der im Gegensatz zu Fuchs und Heck politisch weit links stand, seinen »günstigen Eindruck« von Lehnichs Arbeit festgehalten, UATÜ 126/ 374. 15 UATÜ 126/ 374, Heck an den Kleinen Senat, 5. Dezember 1927. 16 UATÜ 126/ 374, Schreiben Nr. 5857 des Kleinen Senats an das Württ. Kultministerium, 7. Dezember 1927, und Schreiben Nr. 17515 des Württ. Kultministeriums an das Akademische Rektoramt in Tübingen, 12. Dezember 1927. Die erteilte Lehrberechtigung erstreckte sich aber nicht auf die Finanzwissenschaften. <?page no="340"?> u.a. für den 35. Deutschen Juristentag und die Interparlamentarische Union 17 , so beschäftigt, daß er öfters Vorlesungen und Seminare ausfallen lassen mußte, was für einen Privatdozenten recht ungewöhnlich war und in der Kollegenschaft an der Universität ebenso mißtrauisch beobachtet wurde wie sein großer Erfolg in der Fachwelt. 1928 zum ehrenamtlichen wissenschaftlichen Mitglied des Geschäftsführenden sowie des Großen Ausschusses der Kartellstelle des Reichsverbandes der Deutschen Industrie berufen, erhielt Lehnich 1930 einen Ruf der japanischen Regierung an die Universität in Tokio, den er jedoch ablehnte. 18 Lehnich ging in seiner wissenschaftlichen Arbeit ganz auf und versuchte, die von ihm als richtig erkannten wirtschaftspolitischen Grundüberzeugungen möglichst weit zu verbreiten und auch den Regierungen im Reich und im Land mitzuteilen. So ließ er im Herbst 1931 nicht nur Staatssekretär Trendelenburg im Reichswirtschaftsministerium seine schriftlichen Aufzeichnungen über die Bindungen auf dem Waren- und Arbeitsmarkt sowie Vorschläge für die Gesundung der deutschen Wirtschaft bei Aufrechterhaltung der Goldwährung zukommen, sondern auch dem württembergischen Staatspräsidenten Dr. h. c. Eugen Bolz. 19 Dieser bekundete in seinem Antwortschreiben »lebhaftes Interesse« an Lehnichs Ausarbeitungen, während das Ministerium in Berlin ihn sogar zur Erstellung eines Gutachtens aufforderte. Bolz scheint von den Qualitäten Lehnichs überzeugt gewesen zu sein; er stimmte am 29. Oktober 1932 der Ernennung von Lehnich und Regierungsrat a.D. Dr. Wilhelm Merk (Staatsrechtler) zu außerordentlichen Professoren zu, obwohl beide das Kriterium, mindestens schon sechs Jahre lang gelehrt zu haben, nicht erfüllten. Ihnen wurde aber ihre Kriegsdienstzeit ebenso zugute gehalten wie ihre Beamtentätigkeit. 20 Schon zuvor hatte Lehnich seinen akademischen Wirkungskreis ausdehnen können, als er auf Vorschlag des erkrankten früheren württembergischen Staatsministers der Finanzen, Professor Theodor von Pistorius, dessen Lehrauftrag für Gewerbepolitik und Sozialpolitik an der Technischen Hochschule Stuttgart übernommen hatte. 21 Nach seiner Berufung zum Leiter des württembergischen Wirtschaftsministeriums versuchte Lehnich, seine Position als Professor in Tübingen zu halten. Er drückte die Absicht aus, »im kommenden Sommer nur einen Teil meiner Ankündigungen zu lesen, hoffe aber, daß ich im Wintersemester wieder mehr Zeit für meine Lehrtätigkeit zur Verfügung habe.« 22 Der Dekan befürwortete Lehnichs Antrag auf Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 339 17 1888 gegründete internationale Organisation von Parlamentariern, die sich für Völkerverständigung und Konfliktlösung durch Schiedsgerichtsbarkeit einsetzte und seit 1920 ein eigenes Büro in Genf unterhielt. 18 »Tätigkeitsbericht«, S. 3 - 4, PAHG, sowie die Auflistung von Publikationen und Lebensstationen in HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 2. 19 Lehnich an Bolz, 9. Oktober 1931, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 1. 20 Genehmigung der Ernennung durch Bolz, Stuttgart, 29. Oktober 1932, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 2. 21 »Tätigkeitsbericht«, S. 4, PAHG. 22 Lehnich an Professor Dr. Stoll, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen, 13. April 1933, UATÜ 126/ 374. <?page no="341"?> Aufrechterhaltung der Lehrberechtigung, doch schon wenig später mußte Lehnich beantragen, ihn für das Sommersemester 1933 zu beurlauben. »Wenn möglich, werde ich meine Vorlesungen im Wintersemester 1933/ 34 wieder aufnehmen.« 23 Dies war aber nicht möglich, da Lehnich wegen seiner wachsenden Arbeitsbelastung als Minister und wegen seiner Berufung zum Mitglied der Akademie für Deutsches Recht seine angekündigten Veranstaltungen im Wintersemester 1933/ 34 absagen mußte. 24 Lehnich sollte nie wieder an der Universität Tübingen lehren. Am ehesten in die Abteilung »Kurioses« ist wohl der Versuch der Wirtschaftswissenschaftlichen Abteilung der Fakultät einzuordnen, Lehnich 1934 die Ernennung zum Honorarprofessor zu verschaffen. In seinem Antrag an den Dekan strich der Leiter der Abteilung, Professor Dr. Hans Teschemacher, besonders heraus, daß nach dem Ausscheiden von Professor Fuchs zu Beginn des WS 1933/ 34 ein »ausgesprochener Wirtschaftspolitiker« fehle und man Lehnich insbesondere im Zusammenhang mit Promotionsprüfungen heranziehen wolle. 25 Obwohl sich Widerstand gegen die beabsichtigte Ernennung formierte 26 , der vor allem darauf basierte, daß der Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, ein Verbot ausgesprochen habe, daß in führenden Stellen tätige Parteigenossen der NSDAP akademische Ehrentitel annehmen dürften, befürwortete der Rektor diese Ernennung. Lehnich holte die Zustimmung von Heß ein, daß in seinem Falle nicht von einem Ehrentitel, sondern von einer Klarstellung der beruflichen Tätigkeit die Rede sein müsse. Der Rektor richtete nun den Antrag an das Kultministerium in Stuttgart, wo die ganze Sache im Sande verlaufen ist. Lehnich ist niemals zum Honorarprofessor der Universität Tübingen ernannt worden. 27 Dabei kann sein Wechsel von Stuttgart nach Berlin keine Rolle gespielt haben, da dieser erst über ein Jahr später stattfand. Ob die württembergische NS-Führung Lehnich die Ernennung versagte, weil bereits zu dieser Zeit nachweislich Spannungen bestanden und man ihm die Rückkehr an die Universität nicht zusätzlich erleichtern wollte, ist zu vermuten, läßt sich aber quellenmäßig nicht belegen. Frank Raberg 340 23 Lehnich an Stoll, 25. April 1933, UATÜ 126/ 374. 24 Stoll an das Akademische Rektoramt, 22. November 1933, UATÜ 126/ 374. 25 Teschemacher an den Dekan der Fakultät, 23. Februar 1934, UATÜ 126/ 374. 26 Professor Dr. Dannenbauer an den Rektor, 13. Juli 1934, UATÜ 126/ 374. Demnach stellten sich der Chirurg Willy Usadel und der Historiker Heinrich Dannenbauer gegen die Ernennung, weil ihrer Meinung nach nicht zu erwarten war, daß angesichts der Beanspruchung Lehnichs durch seine amtlichen Geschäfte »eine erheblich gesteigerte Beteiligung des also Geehrten an der Lehrtätigkeit erreicht werden könnte.« Dannenbauer vergaß nicht, seinem Schreiben den »richtigen Stempel« aufzudrücken: »Da wir gerade nach den jüngsten Ereignissen alle Ursache haben, über die Reinhaltung der nationalsozialistischen Grundsätze zu wachen und der Führer selbst sie vor kurzem in schicksalsschwerer Stunde wieder eingeschärft hat, fühle ich mich als Nationalsozialist verpflichtet, Ew. Magnifizenz diese Auffassung ausdrücklich vorzutragen.« 27 Die Korrespondenz zur beabsichtigten Ernennung Lehnichs im UATÜ 126/ 374. Lehnich wurde auf seinen Antrag vom 18. Dezember 1936 mit Wirkung vom 7. April 1937 Professor an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin. Reichs- und Preußischer Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an Lehnich, 7. April 1937. <?page no="342"?> Wie fand ein arrivierter Akademiker ohne finanzielle Sorgen 28 zur NSDAP? Die Beantwortung dieser Frage kann infolge der schlechten Quellenlage leider nur aus der Perspektive von Lehnich versucht werden, wobei in Kenntnis seiner Persönlichkeit und seines Selbstverständnisses als Wissenschaftler - seine Sicht der Dinge in die Politik einbringen zu müssen - einiges dafür spricht, daß er diesbezüglich im wesentlichen zutreffend berichtet. 29 Den Anstoß dafür, sich mit den Vorstellungen der Nationalsozialisten überhaupt auseinanderzusetzen, bot demnach das von Gottfried Feder verfaßte Wirtschaftsprogramm der NSDAP, das Lehnich vor allem im Hinblick auf die Währungsstabilität als »äußerst gefährlich« betrachtete. Nach einem von Feder in Stuttgart gehaltenen Vortrag schaltete sich Lehnich in die anschließende Diskussion ein und stritt dem Redner im wesentlichen die Kompetenz ab, sich zu Wirtschaftsfragen zu äußern. Allerdings vermochte er durch derartige Auftritte nichts zu ändern, da man sich innerparteilich mit Kritik von außen gar nicht erst auseinandersetzte. »Deshalb wurde Lehnich von Wirtschaftskreisen nahegelegt, in die Partei einzutreten, um dann gegen den Wirtschaftsdilettantismus vorgehen zu können.« Er ist dann zwar schon vor der Machtübernahme Hitlers, aber keineswegs auffallend frühzeitig der Partei beigetreten: Am 1. Dezember 1931 war er Mitglied der NSDAP geworden. 30 Damit war er alles andere als ein »alter Kämpfer« der »Bewegung«, und nach seiner eigenen Schilderung war der Parteieintritt nur deshalb erfolgt, »um die Entwicklung des Nationalsozialismus in gesunde Bahnen zu leiten« und mit seiner Kritik bei den Parteioberen »Gehör und auch Verständnis« zu finden. Zuvor hatte er keiner Partei angehört, wenn auch später in offiziellen Verlautbarungen hervorgehoben wurde, Lehnich habe sich seit 1918 in der »völkischen Bewegung« 31 betätigt - eine oft verwandte, weil nebulöse Formulierung, hinter der sich alles Mögliche verbergen konnte. In bezug auf Lehnich sagt sie nichts aus, weil sich - abgesehen von seinem Interesse für die Oststaaten - keinerlei Aktivitäten in dieser Hinsicht feststellen lassen. Ob Lehnichs nach 1945 angegebene Beweggründe, der NSDAP beizutreten, glaubwürdig sind, ist in Frage zu stellen. Weshalb war er schon vor seinem Parteiein- Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 341 28 Im Jahre 1932 besaß Lehnich zwei Häuser (Breuningstraße 24 und Eberhardshöhe 11) in Tübingen. Vgl. »Richtigstellungen gegenüber Anschuldigungen gegen Professor Dr. Oswald Lehnich, Staatsminister a. D., Tübingen«, S. 2, ein Schriftsatz, den Irmgard Lehnich am 26. Februar 1946 an Universitätsrat Dr. Theodor Knapp übersandte, UATÜ 126/ 374. 29 »Tätigkeitsbericht«, S. 5 - 6, PAHG. 30 Übereinstimmende Angaben in HSTAS, E 130 c, Bü. 77 und BA, Abt. III (BDC). Mitgliedsnr. 855.209. Schönhagen, Benigna, Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus (Beiträge zur Tübinger Geschichte 4), Stuttgart 1991, S. 388. Anm. 181, gibt das Eintrittsdatum 1. Dezember 1932 an, was allerdings, da sie sich auf die Unterlagen im BDC beruft, ein Druck- oder Schreibfehler sein dürfte. In PAHG, »Tatsachenbericht«, S. 5, ist der 1. Januar 1932 angegeben. Auf diese von Lehnich selbst gemachte Angabe stützten sich auch die späteren Spruchkammerverfahren. 31 »Die Neuernennungen im Wirtschafts- und im Staatsministerium«, in: Tübinger Chronik (wie Anm. 11). <?page no="343"?> tritt förderndes Mitglied der SS? 32 Aus welchem Grund erstrebte der Mann, der als Württembergischer Wirtschaftsminister großen Einfluß besaß, wenn er wirklich innerlich gegen die Partei und das System eingestellt war, von sich aus die Mitgliedschaft in der SS, in der er zunächst Standartenführer und dann Oberführer in ihrer Reichsleitung war? 33 Warum betätigte sich ein Mann, der innerlich dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstand, ohne Not und aus eigenem Antrieb als nationalsozialistischer Aktivist, der es sich z.B. nicht nehmen ließ, die »Parteifreunde« und Sympathisanten an der Universität »zusammenzufassen« und in stetig wachsender Runde Parteiveranstaltungen vorzubereiten? 34 Aus allem läßt sich eher ableiten, daß Lehnich ein überzeugter Nationalsozialist war und nicht ein verkappter Gegner der Partei. Hinzu kommt, daß er zur Reichstagswahl am 6. November 1932 als einer von sieben Tübinger Professoren die »Öffentliche Erklärung deutscher Universitäts- und Hochschullehrer« unterzeichnete, die stark von rassistischem und antisemitischem Gedankengut durchsetzt war und in der etwa vom »kranken Volkskörper«, von der »Gesundung unseres ganzen öffentlichen Volkskörpers«, von der »Bekämpfung fremdrassiger Einflüsse« und der »Rettung deutschen Volkstums« die Rede war. 35 Zweifellos hatte sich der Unterzeichner eines solchen Aufrufes schon in weitreichendem Maße der Ideologie der NSDAP angeschlossen. Ein tatsächlicher Gegner dieser Ideologie hätte spätestens an diesem Punkt erkennen müssen, daß man die Unterstützung solcher Aufrufe auch mit dem »Zwang der Umstände« nicht mehr Frank Raberg 342 32 Seit dem 1. November 1931, SS-Kartei, BA, Abt. III (BDC). 33 Württembergisches SS-Amt an den Leiter des SS-Hauptamtes, Gustav Wittje, 19. Dezember 1934, BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZA 1 5701, Blatt 23. Darin spricht der Absender davon, er habe »in Nürnberg sowie im Sommer dieses Jahres mit dem Reichsführer-SS darüber gesprochen, daß der Württ. Wirtschaftsminister, Prof. Dr. Lehnich, den dringenden Wunsch habe, der SS anzugehören. Reichsführer-SS hatte mir gesagt, daß Lehnich als Ehrenführer mit dem Range eines Standartenführers eingesetzt werden sollte. [...] Lehnich spurt gut, kann etwas und ich halte ihn für einen kommenden Mann.« Dazu steht in krassem Gegensatz die Erklärung Lehnichs im »Tatsachenbericht«, S. 13, wo davon die Rede ist, er sei vom Leiter der Politischen Polizei, Dr. Walter Stahlecker, im Januar 1935 aufgesucht worden. Dieser habe ihm den SS-Beitritt nahegelegt und ihm den Rang eines Ehrenführers zugesagt, was Lehnich aber unter Hinweis auf seine verschlechterten Beziehungen zur Partei als wenig sinnvoll ablehnte. »Daraufhin erklärte ihm Stahlecker überraschenderweise, die SS wolle ihm ja gerade in seinem Kampf gegen die Partei helfen, damit er sich besser durchsetzen könne. Unter diesen Umständen erklärte Lehnich seine Bereitschaft.« Selbst unter In-Rechnung- Stellung von Rivalitäten zwischen NSDAP und SS spricht wenig für die Glaubwürdigkeit dieser Erklärung. Lehnich wurde am 8. Februar 1935 (Mitgliedsnr. 265.884) zum SS-Standartenführer, am 20. April 1935 zum SS-Oberführer ernannt, SS-Kartei (wie Anm. 32). 34 Adam,Uwe Dietrich, Hochschule und Nationalsozialismus. Die Universität Tübingen im Dritten Reich (Contubernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen 23), Tübingen 1972, S. 31. Auch Schönhagen (wie Anm. 30), S. 72 bzw. S. 389, führt wie Adam, S. 31, Anm. 71, einen Brief Lehnichs an die NSDAP-Gauleitung vom 6. Oktober 1933 an, in dem er sich »gerühmt« habe, einen solchen Zusammenschluß betrieben zu haben (vgl. HSTAS, Akten des Reichsstatthalters in Württemberg, E 140, Bü 79). 35 Vgl. Schönhagen (wie Anm. 30), S. 84. Die anderen unterzeichnenden Tübinger Professoren waren Heinrich Dannenbauer, Eduard Haber, Rupprecht Matthaei, Hans Reinerth, Ernst Stracke und Willy Usadel. Vgl. dazu auch »NS-Kurier«, 5./ 6. November 1932. <?page no="344"?> rechtfertigen konnte, zumal Lehnich gewiß keine negativen Folgen zu gewärtigen gehabt hätte, wenn er hier seine Unterschrift verweigert hätte. Am 15. März 1933 wurde der NS-Gauleiter Wilhelm Murr vom Landtag - dessen Zusammensetzung auf der Grundlage der Ergebnisse der letzten Reichstagswahl (vom 5. März 1933) zustandegekommen war - zum Staatspräsidenten von Württemberg gewählt. Zugleich übernahm der neue Regierungschef das Innen- und das Wirtschaftsressort. Allerdings scheint ihm rasch klar geworden zu sein, daß er selbst von der Wirtschaft zu wenig verstand, und suchte deshalb nach einer fachlich geeigneten Persönlichkeit, die ihn in der Leitung des Wirtschaftsministeriums vertreten, er aber formell Minister bleiben könnte. Zu keiner Zeit dachte Murr offenbar an jemand anderen als Oswald Lehnich. In Berlin erfuhr dieser, der gerade (Anfang März 1933) vor der Entscheidung stand, einem Ruf der Universität Breslau zu folgen und führend am Osteuropa-Institut tätig zu werden, daß Wilhelm Murr ihn zu sprechen wünschte. In dem Gespräch scheint Murr ihm weitgehend entgegengekommen zu sein: Lehnich sollte zwar nicht Minister, sondern zunächst Leiter mit der Amtsbezeichnung »Staatsrat« werden, es durfte ihm aber niemand in die Leitung der Geschäfte hineinreden. Wenn eine Parteistelle für Wirtschaft in Zukunft geschaffen werden sollte, mußte sie mit dem Ministerium in Personalunion verbunden sein. Murr gestand Lehnich auch zu, selbst keinerlei Einfluß nehmen zu wollen - eine Aussage, die zu diesem Zeitpunkt nur daher erklärt werden kann, daß er händeringend einen Ressortleiter suchte, nachdem Pläne, einen Parteipolitiker zum Minister zu ernennen, offenbar gescheitert waren. 36 Lehnich entschied sich für die Annahme des Postens, obwohl er mit weniger als der Hälfte seines bisherigen Verdienstes vorliebzunehmen hatte. Am 18. März 1933 wurde Lehnich offiziell mit der Leitung des Wirtschaftsministeriums betraut. Daß diese Ernennung von Murr im Alleingang beschlossen worden ist, ergibt sich aus dem Schreiben von Dehlinger 37 an ihn, in dem der Finanzminister festhielt: »Diese Ernennung hat mich nach dem Verlauf der Verhandlungen über die Regierungsbildung überrascht. Ich möchte dringend bitten, daß solche grundsätzlichen Fragen vorher unter uns besprochen werden.« Murr hatte zuvor in einem Rundschreiben 38 seine Überzeugung ausgedrückt, mit der Berufung Lehnichs »eine glückliche Lösung gefunden zu haben, die eine tatkräftige Vertretung der württembergischen Wirtschaftsbelange im Rahmen der deutschen Gesamtwirtschaft gewährleisten wird.« Für den Pressetext, der die Ernennung bekanntgab, wurden Formulierungen Lehnichs zum größten Teil unverändert übernommen: »Der Herr Staatspräsident betrachtet die Förderung der württembergischen Wirtschaft als eine seiner vornehmsten Aufgaben. Er hat deshalb auch bei der Regierungsbildung das Wirtschaftsministerium selbst übernommen. Darüber hinaus hielt er es für geboten, in Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 343 36 »Tatsachenbericht«, S. 7, PAHG. 37 Dehlinger an Murr, Stuttgart, 20. März 1933,HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 11. 38 Murr an Dehlinger, Hirzel u. a., Stuttgart, 18. März 1933, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 10. <?page no="345"?> der Person des Universitätsprofessors Dr. Lehnich einen anerkannten Fachmann ins Wirtschaftsministerium zu berufen und ihn als seinen ständigen Stellvertreter mit der Leitung dieses Ministeriums zu betrauen. Den Absichten der Regierung wegen Angliederung des Wirtschaftsministeriums etwa in Gestalt einer selbständigen Abteilung an das Innenministerium zur Verwaltungsvereinfachung wird dadurch nicht vorgegriffen.« 39 Damit gab es nun drei Staatsräte in der neuen württembergischen Regierung, neben Lehnich die ehrenamtlichen Beiräte im Staatsministerium mit der Amtsbezeichnung »Staatsrat« Karl Waldmann und der deutschnationale Landtagsabgeordnete Walter Hirzel. Nach Murrs Ernennung zum Reichsstatthalter in Württemberg am 5. Mai 1933 vollzogen sich bereits die ersten personellen Veränderungen im Kabinett. Am 11. Mai gab Murr dessen neue Zusammensetzung unter Führung von Ministerpräsident Mergenthaler bekannt. Lehnich blieb Leiter des Wirtschaftsressorts und wurde nun ebenfalls als Beirat in das Staatsministerium 40 berufen, aber noch immer nicht zum Minister ernannt. Dies geschah erst am 13. Juli 1933. Der neue Minister gehörte zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreichen Parteigremien und -untergliederungen (BNSDJ, NSD-Studentenbund, NSD-Dozentenbund, NS- Volkswohlfahrt, NS-Rechtswahrerbund, Förderndes Mitglied der SS, seit Herbst 1932 Mitglied der Hauptabteilung IV des Gaues Württemberg-Hohenzollern, seit März 1933 Gauwirtschaftsberater und Fachberater für den Ständischen Aufbau, seit Juli 1933 Landesleiter für den Ständischen Aufbau) an und konnte sich in der Folge der ihm angetragenen Mitgliedschaften kaum noch erwehren: Mitglied im Aufsichtsrat der Württembergischen Notenbank sowie im Aufsichtsrat der Handels- und Gewerbebank Heilbronn A.G., Mitglied im Verwaltungsrat der Illwerke A.G. Bregenz, Verwaltungsratsvorsitzender der Württembergischen Sammelschienen-A.G. und der Nordsiedlung GmbH Berlin, Aufsichtsratsvorsitzender der Württembergischen Landeselektrizitäts-A.G. 41 Mit Ausnahme der Nordsiedlung GmbH hatten früher die zuständigen württembergischen Minister diese Posten ebenfalls ausgefüllt. Außerdem trat man seitens des Reichsstandes der Deutschen Industrie an ihn heran, um ihn für die Mitwirkung in einem Sonderausschuß für Kartellfragen und in Gesetzgebungskommissionen zu gewinnen. Er habe am 20. und 21. Juni bereits an diesbezüglichen Besprechungen teilgenommen, ließ Lehnich das Staatsministerium wissen. 42 Deren Verlauf habe gezeigt, »daß meine Teilnahme von besonderer Bedeutung ist insofern, als die Persönlichkeiten mit besonderer Sachkunde auf dem Gebiet des Kartellwesens als Mitarbeiter im Rahmen des Reichsstandes der deutschen Industrie so gut wie verschwunden sind (die großen Kartelljuristen sind Juden! ) [...] Frank Raberg 344 39 Lehnich an einen namentlich nicht genannten Regierungsrat, 18. März 1933, HSTAS E 130 c, Bü. 77, 3; Pressenotiz für Tagespresse und Staatsanzeiger E 130 c, Bü. 77, 8. 40 Sauer (wie Anm. 2), S. 34; HSTAS, Akten des Innenministeriums, Abtlg. I: Kanzleidirektion, E 151 a, Bü. 1612. 41 Lehnich an Staatsministerium, 12. Februar 1934, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 32. 42 Lehnich an Staatsministerium, 30. Juni 1933, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 18. <?page no="346"?> Es kennzeichnet aber deutlich die neue Zeit, wenn die Industrie selbst an einen leitenden Staatsbeamten mit der Bitte um Mitarbeit herantritt.« Lehnich wirkte nun auch dort mit, wurde im November 1933 zum Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und dort zum Vorsitzenden des Ausschusses für Kartellrecht, später auch zum Mitglied der Ausschüsse für Aktienrecht, Filmrecht und das Recht des geistigen Schaffens berufen. 43 Im Februar 1934 kam noch eine Mitgliedschaft im Verwaltungsrat des Industriepensionsvereins Berlin hinzu, im März 1934 seine Bestellung zum Mitglied des Reichsfachgruppenrates des BNSDJ und im Januar 1935 zum Beisitzer des Reichsehrengerichtshofes. 44 Er gehörte auch dem Verwaltungsrat des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel an. Einen Ruf von Reichswirtschaftsminister Dr. Schmitt, die Leitung des Reichsaufsichtsamtes für Privatversicherung zu übernehmen, lehnte Lehnich im März 1934 ab. 45 Man wird diese Fülle teils ehrenamtlicher, teils dotierter Tätigkeiten und Mitgliedschaften nicht anders bewerten können als in der Weise, daß Lehnich in der Zeit seiner Ministertätigkeit in Stuttgart endgültig zu einem Multifunktionär des NS-Systems geworden war, der auf verschiedenen Ebenen stark eingebunden war in die Organisationen von Staat und Partei. Da Lehnich auf keinerlei Erfahrung im württembergischen Verwaltungsdienst verweisen konnte, mußte ihn Murr von den Vorschriften der Verordnung über die Befähigung für den höheren Verwaltungsdienst vom 7. Dezember 1903 erst befreien. 46 Er trat an die Spitze eines Ministeriums, das es unter der Bezeichnung »Wirtschaftsministerium« erst seit 1926 gab und das damals unter Staatspräsident Wilhelm Bazille durch die Fusionierung von Arbeits- und Ernährungsministerium - die beide erst Ende 1918 nach der Revolution unter Herauslösung aus dem Innenministerium gebildet worden waren - entstanden war. 47 Das Wirtschaftsministerium hatte in Württemberg von Anfang an einen schweren Stand und wurde zunächst kommissarisch von Ministerialdirektor Staatsrat Edmund Rau, dann seit 1928 von Josef Beyerle (Zentrum) geführt, der zugleich Justizminister war. Erst seit der Berufung des DDP-Politikers Reinhold Maier im Januar 1930 hatte das Ministerium ein Eigengewicht erhalten, das freilich sogleich wieder in Frage gestellt wurde, als im Sommer 1930 ein Reichssparkommissar dessen Wiedereingliederung ins Innenministerium vorgeschlagen hatte. Seitdem hing dieses Damoklesschwert über dem Ministerium, und wie oben bereits angesprochen, dachten auch die neuen Machthaber in Würt- Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 345 43 Ernennungsschreiben des Reichsjustizkommissars Dr. Frank an Lehnich, 15. November 1933, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 28 und 29. 44 HSTAS, F 130 c, Bü. 77, 31, 38 und 42. 45 HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 36. Daß der »Tatsachenbericht«, S. 10, PAHG, vor allem im Hinblick auf Angaben von Daten mit größter Vorsicht zu genießen ist, zeigt sich schon daran, daß der Bericht die Ablehnung dieses Postens auf Mitte 1933 datiert. 46 Verfügung von Murr, 21. März 1933, HSTAS, E 130 c,Bü. 77, 12. 47 Vgl. dazu Besson, Waldemar, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928 - 1933. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1949, S. 44 - 46, und Matz, Klaus-Jürgen, Reinhold Maier (1889 - 1971). Eine politische Biographie (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 89), Düsseldorf 1989, S. 81 - 82. <?page no="347"?> temberg darüber nach, das Wirtschaftsministerium als eigenständige Behörde wieder aufzulösen. Nach Lehnichs Ansicht war das falsch. Er wollte versuchen, die Probleme der württembergischen Wirtschaft, also vorrangig den Abbau der Massenarbeitslosigkeit und die Förderung wirtschaftlich schwacher Gebiete 48 , in sachbezogener Weise anzupacken und zu lösen. Diese Sachlichkeit und sein Renommee als Wirtschaftsfachmann scheinen Lehnich, der aus Tübingen seine »Zöglinge« Paul Löffler 49 und Hellmuth Guder 50 mit ins Ministerium brachte, dort bei den Beamten einen guten Start verschafft zu haben. Ministerialdirektor Ewald Staiger hatte, als zunächst Gerüchte kursierten, ein NS-Politiker werde Wirtschaftsminister, bereits an Rücktritt gedacht, verblieb aber in seiner Position, nachdem feststand, daß Lehnich die Leitung des Ministeriums übernehmen würde. 51 Auch setzte Lehnich seine Beamten nicht unter Druck, der Partei beizutreten, wenn er sich auch der Aufforderung, den jüngeren Beamten zum 1. Mai 1933 den Eintritt in die NSDAP »nahezulegen«, selbst nicht entzog oder entziehen konnte. 52 In besonderer Weise hat sich später Hermann Gögler, ehemaliger Oberregierungsrat im Wirtschaftsministerium, im Entnazifizierungsverfahren Lehnichs für seinen ehemaligen Dienstherrn verwendet. In einer Erklärung hielt der im September 1945 zum Ministerialdirektor im württemberg-badischen Staatsministerium, später Frank Raberg 346 48 Auf die württembergische Wirtschaft während des »Dritten Reiches« kann hier nicht näher eingegangen werden. Siehe dazu Sauer (wie Anm. 2), S. 250 - 298. 49 Löffler war wissenschaftlicher Assistent beim Seminar für Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen gewesen, wo er 1932 zum Dr. rer. pol. promoviert wurde. 1933 folgte er seinem »Mentor« Lehnich ins Wirtschaftsministerium, wurde dort 1937 Regierungsrat, 1941 Oberregierungsrat. 1944/ 45 war SS-Sturmbannführer Löffler Erster Beigeordneter und Bürgermeister der Stadt Ulm. Später gab er an, Lehnich habe ihn aufgefordert, der SS beizutreten. Vgl. Schmidt, Sabine, Kurzbiographien: Paul Löffler. Erster Beigeordneter und Bürgermeister 1944 - 1945, in: Ulm im Zweiten Weltkrieg, hrsg. v. H. E. Specker (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 6), Ulm 1995, S. 467 - 470. 50 Guder war, ebenso wie Löffler, Doktorand bei Lehnich gewesen. 1933 war er zunächst Hilfsarbeiter, später Referatsleiter im Wirtschaftsministerium. Er verfolgte aber nach Lehnichs Weggang aus Württemberg seine Beamtenlaufbahn nicht weiter und arbeitete als Steuerberater. Vgl. Eberl/ Marcon (wie Anm. 3), S. 351, 358. 51 »Tatsachenbericht«, S. 7, PAHG. 52 Erklärung von Staatssekretär Hermann Gögler für Lehnich, Stuttgart, den 29. Oktober 1946: »Es ist mir nicht bekannt, daß Wirtschaftsminister Dr. Lehnich auf seine Beamten einen Druck zum Eintritt in die Partei ausgeübt hätte, wenn er auch dem Verlangen, daß die jüngeren Beamten der Partei beitraten, sich nicht widersetzen konnte.« PAHG. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Ministerialdirekor Staiger, Ministerialrat Dr. Eugen Möhler und Oberregierungsrat Walther Mosthaf konnten sich erst nach Lehnichs Rückzug aus dem Ministerium dem Parteieintritt nicht mehr länger entziehen und traten 1937 der NSDAP bei. Oberregierungsrat Hermann Gögler wurde Ende 1936 entlassen. Zum Verhältnis Lehnich - Gögler sowie zu den genannten Beamten und zur damaligen Atmosphäre im Wirtschaftsministerium vgl. demnächst Raberg, Frank, Staatssekretär Hermann Gögler 1945 - 1948. Ein Beamter als Politiker im Staatsministerium Württemberg-Baden und auf US-zonaler Ebene [erscheint in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 56 (1997)]. <?page no="348"?> zum Staatssekretär aufgestiegene Gögler bereits Ende August 1945 fest, daß Lehnich ihn, »obwohl Nichtparteigenosse und überzeugter Katholik, von seinem Amtsantritt an [...] bis zu seinem Ausscheiden [...] trotz allerhand Anfechtungen als Hauptberichterstatter für Wirtschaft und Verkehr [...] gehalten« habe; »- nach seinem Weggang mußte ich auf Ende 1936 aus der Ministerialtätigkeit ausscheiden.« 53 Lehnich habe »mit Nachdruck und Erfolg versucht, der großen Arbeitslosigkeit und dem Tiefstand der württembergischen Wirtschaft zu steuern. Er hat sich unleugbare Verdienste um den wirtschaftlichen Wiederaufbau Württembergs erworben. Dabei hat er sich von den verwerflichen nationalsozialistischen Methoden freigehalten und sich der nationalsozialistischen Einrichtungen nicht mehr als unbedingt nötig bedient [...]. In der Arisierung jüdischer Firmen hat er sich größte Zurückhaltung auferlegt, jüdische Firmen, die für die württembergische Wirtschaft nötig waren, zu fördern und möglichst lange zu halten versucht.« 54 Daß Lehnich bei den NS-Größen bis herauf zu Hitler 55 mit seinen Vorstößen, nun endlich ein praktikables Wirtschaftsprogramm zu erarbeiten, nicht durchdrang, zeigte sich bald. Ministerpräsident Mergenthaler versuchte im Juni 1933, in puncto Währungspolitik das Wirtschaftsministerium auf den Kurs von Feder, mittlerweile Präsident des Reichswirtschaftsrates der NSDAP, zu bringen. Lehnich wies Mergenthaler zurück und bot seinen Rücktritt an, da er sich eine Einmischung in sein Ressort seinerzeit verbeten habe. Außerdem informierte er Murr, der ihn bat, im Amte zu bleiben. Murr scheint dann dafür gesorgt zu haben, daß Mergenthaler sich zurückhielt. 56 Daß er dennoch im eigenen Geschäftsbereich vergleichsweise wenig zu sagen hatte, kam nicht zuletzt auch bei zwei Personalentscheidungen zum Ausdruck. Er hatte sich dafür eingesetzt, dem langjährigen DDP-Landesvorsitzenden und Landtagsabgeordneten Peter Bruckmann weiterhin den von diesem bereits seit 1917 geführten Vorsitz im Südwestdeutschen Kanalverein zu überlassen, während »unter nicht näher zu klärenden Umständen« im Oktober der Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin dieses Amt erhielt - entgegen dem ausdrücklichen Wunsch des Wirtschaftsministers. 57 Ebensowenig konnte er die im April 1934 erfolgte Absetzung Gustav Kilppers als Präsident der Industrie- und Handelskammer Stuttgart verhindern. 58 Wohl aber kann Lehnich für sich in Anspruch nehmen, nicht alle Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 347 53 Erklärung von Staatssekretär Hermann Gögler für Lehnich, 24. August 1945, PAHG. 54 Erklärung von Staatssekretär Hermann Gögler für Lehnich, 29. Oktober 1946, PAHG. 55 »Tatsachenbericht«, S. 8, PAHG. Lehnich war im Juni 1933 bei Hitler eingeladen gewesen, vgl. »NS-Kurier« Jg. 3 Nr. 138, 16. Juni 1933, S. 1. 56 »Tatsachenbericht«, S. 9 - 10, PAHG. 57 Vgl. dazu Nachtmann, Walter, Karl Strölin. Stuttgarter Oberbürgermeister im Führerstaat, Stuttgart 1995, S. 173 ff. 58 Schnabel (wie Anm. 2), S. 256. Nachfolger Kilppers wurde der Fabrikant und NSDAP-Reichstagsabgeordnete Fritz Kiehn, der übrigens auch Nachfolger Peter Bruckmanns als Vorsitzender des Verbandes Württembergischer Industrieller war. Kilpper, der von 1919 - 1932 auch Vorsitzender der Vereinigungen württembergischer Arbeitgeberverbände war, wurde im Mai 1945 Sonderbeauf- <?page no="349"?> Entscheidungen und Aktionen der württembergischen Parteiführung gegen zahlreiche Wirtschaftsführer im Land schweigend hingenommen zu haben. So hat er, um nur ein Beipiel zu nennen, für den Direktor der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke, Adolf Pirrung, eine Ehrenerklärung im Staatsanzeiger veröffentlichen lassen, nachdem dieser unzutreffenderweise umfangreicher unsauberer Finanztransaktionen beschuldigt worden war. 59 Der Zentralismus im nationalsozialistischen Staat ließ immer weniger Raum für eine speziell den Bedürfnissen der Länder Rechnung tragende Politik. Im dauernden Gegensatz zur Reichsleitung und ohne Unterstützung der württembergischen Staatsregierung konnte Lehnich, der fleißig im Lande, aber auch in der Welt umherreiste 60 , Vorträge hielt, Werke besichtigte, Messen eröffnete und sich für die »Ostland«-Kolonialisierung stark machte 61 , nicht »seine« Wirtschaftspolitik durchführen und degradierte mehr und mehr zu einem reinen Repräsentationsstatisten. Lehnich versuchte deshalb nach eigenen Angaben bereits Anfang 1935, sich vom Amt des Wirtschaftsministers zu befreien und in die freie Wirtschaft oder wieder an die Universität zu gehen. Daß er sich der Lehrtätigkeit und der Universität sehr verbunden fühlte, erweist sich durch seine bereits angesprochenen Versuche, zumindest »auf kleiner Flamme« Veranstaltungen in Tübingen durchzuführen, was sich aber als unmöglich erwies. Der Annahme des von Reichswirtschaftsminister Dr. Hjalmar Schacht ausgesprochenen Angebots, geschäftsführender Präsident der neuen Reichswirtschaftskammer zu werden, stellte sich der Widerstand von Partei und SS entgegen. 62 Präsident des Messeamts Leipzig konnte er aufgrund des Einspruchs des sächsischen Reichsstatthalters Martin Mutschmann, mit dem ihn eine Intimfeindschaft verband, ebenfalls nicht werden. 63 Die Unzufriedenheit über seine Machtlosigkeit im Amt und die unsicheren Zukunftsaussichten trugen mit dazu bei, daß Lehnich sich im September 1935 einer Kur in Bad Mergentheim unterziehen mußte. 64 Am 18. Oktober 1935 wurde Staatsminister Professor Dr. Lehnich zum Präsiden- Frank Raberg 348 tragter der Stadt Stuttgart für die Selbstverwaltung der Wirtschaft und im Oktober 1945 Landesdirektor für Wirtschaft in Württemberg-Hohenzollern (bis Dezember 1946). Kilpper setzte sich im Entnazifizierungsverfahren für Lehnich ein. 59 Sauer (wie Anm. 2), S. 122; Staatsanzeiger für Württemberg, 6. Mai 1933. 60 Im September 1933 reiste Lehnich per Luftschiff sogar nach Südamerika (Pernambuco, Rio de Janeiro). Vgl. »NS-Kurier« Jg. 3 Nr. 251, 27. September 1933, S. 3. 61 Vgl. Artikel »Nach Ostland wollen wir reiten« im »NS-Kurier« Jg. 4 Nr. 515, 3. November 1934, S. 4, und »Württemberg auf der Ostmesse«, »NS-Kurier« Jg. 5 Nr. 384, 19. August 1935, S. 2. Noch gegen Ende seines Lebens unterstützte Lehnich den Grundgedanken der Ostlandkolonisation durch gezielte ländliche Siedlung, indem er die einschlägigen Arbeiten von Wilhelm Friedrich Boyens herausgab. 62 »Tatsachenbericht«, S. 14, PAHG. 63 »Tatsachenbericht«, S. 9, 14, PAHG. 64 »Tatsachenbreicht«, S. 14, PAHG und Lehnich an das Staatsministerium, 9. September 1935, in dem er eine »akute Erkrankung der Verdauungsorgane« als Grund für den Kuraufenthalt angibt, der etwa drei Wochen dauern werde, HSTAS, 1, 130 c, Bü. 77, 45. <?page no="350"?> ten der Reichsfilmkammer ernannt. 65 Die Reichsfilmkammer war eine berufsständische Organisation im Rahmen der Reichskulturkammer. 66 Lehnich schloß seinen Vertrag mit der Reichsfilmkammer erst am 17. Dezember 1935 (rückwirkend zum 15. Oktober) 67 ; am 9. Dezember 1935 bat er in einem Einschreibebrief an Reichsstatthalter Murr um seine Entlassung als Württembergischer Wirtschaftsminister. 68 Bei der Verabschiedung im Ministerium zeigte er sich nochmals ganz staatstragend: »Im Dritten Reich komme es, so betonte der Herr Minister, darauf an, daß jeder zu seinem Teil an dem Platze, an den er gestellt sei, zum Wohle der Gesamtheit seine Pflicht tue und auf diese Weise an dem Aufbau des neuen Staates mitwirke [...] Der Verlauf der Zusammenkunft war ein neuer Beweis für die hohe Wertschätzung und die große Beliebtheit, deren sich der Herr Minister bei allen seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen erfreut hat.« 69 Zum 10. Januar 1936 schied Lehnich offiziell aus dem württembergischen Staatsdienst aus. 70 Zu seinem Nachfolger wurde Innenminister Dr. Jonathan Schmid ernannt. Das württembergische Wirtschaftsministerium verkam zu einer Behörde ohne Einfluß und Bedeutung. Die Württembergische Volkswirtschaftliche Gesellschaft ernannte noch 1936 ihr Mitglied Lehnich zum Ehrenpräsidenten. 71 Wirtschaft war Lehnichs Fachgebiet, aber mit Film hatte er sich bisher nicht befaßt. Die Aufforderung, das Präsidentenamt zu übernehmen und die Nachfolge von Fritz Scheuermann anzutreten, erging vom Staatssekretär im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, Walther Funk. Nachdem er abgelehnt hatte, soll Funk geäußert haben, daß dies »an maßgebenden Stellen erhebliches Befremden auslösen würde«. Erst nachdem Hitler entschieden hatte, daß Lehnich das Präsidentenamt annehmen müsse, sagte dieser zu, behielt sich aber vor, nach Lösung der wirtschaftlichen Aufgaben im Film wieder in die Wissenschaft zurückzukehren. 72 Aus seiner Berufung in dieses Amt wird man auch mit viel Phantasie nicht ableiten können, daß er bei der Partei in »Ungnade« gefallen war. Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 349 65 Ausarbeitung des Staatsministeriums, 13. Juli 1939 über den Versorgungsanspruch von Lehnich, HSTAS, E 130 c, Bü 77, 67. Die SS-Kartei (wie Anm. 32) gibt als Ernennungsdatum den 28. Oktober 1935 an. 66 Zur Reichskulturkammer (mit zahlreichen Hinweisen auf die Reichsfilmkammer) vgl. den instruktiven Beitrag von Dahms, Volker, Anfänge und Ideologie der Reichskulturkammer. Die »Berufsgemeinschaft« als Instrument kulturpolitischer Steuerung und sozialer Reglementierung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 34 (1986), S. 53 - 84, sowie den Artikel im rororo-Filmlexikon 2: Filme K-S, hrsg. v. L.-A. Bawden, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 545 - 546. Die dortige einseitige Charakterisierung Lehnichs als »ein SS-Oberführer« wird ihm gewiß nicht gerecht und zeugt von größter Unkenntnis. 67 Antrag Lehnichs an das Versicherungsamt Stuttgart, UATÜ 126/ 374 (wie Anm. 4). 68 Lehnich an Murr, 9. Dezember 1935, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 51. 69 Vorbereitete Pressenachricht, HSTAS 130 c, Bü. 77, 56. 70 Artikel »Professor Dr. Lehnich. Württembergs Wirtschaftsminister scheidet aus seinem bisherigen Wirkungskreise« in: Stuttgarter Neues Tagblatt Nr. 5, 4. Januar 1936. 71 »Tätigkeitsbericht«, S. 15, PAHG. 72 »Tätigkeitsbericht«, S. 15, PAHG. <?page no="351"?> Die Reichsfilmkammer, der alle Filmschaffenden Deutschlands angehören mußten, war im wesentlichen nichts anderes als ein monströses Gleichschaltungs- und Überwachungsinstrument des Propagandaministers Joseph Goebbels. Lehnich wußte das selbstverständlich und er wußte auch, daß der Film eines der Steckenpferde von Goebbels war und daß der Minister sich in die Filmherstellung bis hin zur Themenfindung, Drehbucharbeit und Besetzung einmischte. 73 Unter den prüfenden Augen von Goebbels und seines Reichsfilmdramaturgen Fritz Hippler war es praktisch unmöglich - selbst für den Präsidenten der Reichsfilmkammer - eine vom Kurs der Politisierung des Films abweichende Linie zu verfolgen. Goebbels war durchaus nicht von Anfang an gegen den neuen Präsidenten eingestellt. In seinem Tagebuch hielt er nach der offiziellen Amtseinführung Lehnichs fest: »Macht einen guten und festen Eindruck.« 74 Und ein Vierteljahr später: »Lenich schildert Situation Film. Wirtschaftlich nicht gut, aber kann behoben werden. Lenich macht seine Sache gut.« 75 Der Reichspropagandaminister, der Lehnich stets ohne h schrieb, hatte festgefügte Vorstellungen vom deutschen Filmwesen, und schon bald traten Dissonanzen zwischen ihm und Lehnich auf: »Prof. Lenich hält mir Vortrag über Filmfragen. Er quatschte immer nur von Wirtschaft. Von der Kunst des Films versteht er nichts, und er bekümmert sich auch nicht darum. Dabei ist die Wirtschaft doch, gerade hier, nur Mittel zum Zweck. Ich vermisse bei ihm Phantasie, Initiative, Umsicht, Zielstrebigkeit. Ich sage ihm das auch ganz offen. Und fordere dringend ändernde Maßnahmen. Er ist sehr kleinlaut. Aber ich lasse jetzt nicht mehr nach.« 76 So waren auch von Lehnich, wie etwa auf dem ersten Kongreß der Reichsfilmkammer (1937) Worte zu hören, die ebenso gut Goebbels hätte sprechen können: Der Film dürfe nicht länger »Synthese künstlerischer, politischer und wirtschaftlicher Elemente«, nicht länger »Gegenstand wirtschaftlicher Spekulationen« sein, sondern müsse zu einem »Zivilisationsfaktor« werden, »der dem Regime gehorcht.« 77 Goebbels war das nicht weitgehend genug: Noch vor dem Kongreß hielt er nach einem Vortrag Lehnichs fest, dieser sei »kein Kirchenlicht«-, seine Rede enthielt für den Minister »nichts von Belang.« 78 Bei Goebbels wuchs die Unzufriedenheit über Lehnich, der sich seinen Vorstellungen nicht in allen Punkten anschloß. Dabei stellte der sich sehr weitgehend in den Dienst nationalsozialistischer Überwachung und Gleichschaltung des Films. Der totalen Reglementierung und Kontrolle diente etwa Lehnichs Anwei- Frank Raberg 350 73 Courtade, François; Cadars, Pierre, Geschichte des Films im Dritten Reich, München, Wien 1975, S. 9 ff. 74 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Josef Goebbels. Sämtliche Fragmente Teil I, Bd. 2, München u.a. 1987, S. 529 (Eintrag vom 19. Oktober 1935). 75 Fröhlich (wie Anm. 74), S. 567 (Eintrag vom 23. Januar 1936). 76 Fröhlich (wie Anm. 74), S. 745 (Eintrag vom 4. Dezember 1936). 77 Courtade/ Cadars (wie Anm. 73), S. 14 ff. 78 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Josef Goebbels. Sämtliche Fragmente Teil I, Bd. 3, München u.a. 1987, S. 67 (Eintrage vom 5. März 1937) und S. 68 (Eintrag vom 6. März 1937). <?page no="352"?> sung aus dem Jahre 1937, daß die Mitglieder der Fachgruppe Spielfilmherstellung spätestens zehn Tage vor Drehbeginn »zur Sicherung des künstlerischen Schaffens dem Produktionsleiter, dem Spielleiter und den Hauptdarstellern ein Drehbuch zuzustellen« hatten, »aus dem Aufbau und Dialogführung des Films ersichtlich sein müsse; bei Musikfilmen müssen ferner bis zum gleichen Zeitpunkt die Partitur und die Gesangstexte zugestellt sein.« 79 Noch 1936 schlug er vor, die Bildung einer Sonderkommission für Fragen der Weltanschauung ins Auge zu fassen, weil »der Film ständig neue und schwerwiegende weltanschauliche Probleme« aufwerfe. 80 Als positiv wird man die Begründung eines Filmarchivs (1935) und der Filmakademie (1937) werten dürfen. Im Ausland war Lehnich als sachlicher Vertreter des deutschen Films sehr anerkannt. 1936/ 37 präsidierte er der Internationalen Filmkammer, 1937 dem Internationalen Filmkongreß, der damals im Rahmen der Weltausstellung in Paris stattfand. 81 In seinen Reden im Ausland schlug er einen Ton an, der Goebbels entschieden zu gemäßigt war: »Lenich hat in Paris lauter Quatsch gemacht. Er ist eine Fliegentüte. Weihnachtsmann. Man muß ihn stellen! « 82 Immerhin scheint sich Lehnich aber gut verteidigt zu haben, als Goebbels ihn »stellte«, der Präsident der Reichsfilmkammer aber auf die Notwendigkeit eines maßvollen Auftretens im Ausland hinwies: »Er hat wohl recht mit seinen Argumenten.« 83 In Bezug auf die Qualität von Filmen war Lehnich scheinbar des öfteren anderer Meinung als Goebbels. Auf den Filmfestspielen in Venedig (1937) weigerte er sich, der Anweisung von Goebbels zu folgen, einen deutschen Film für den 1. Preis zu melden, und setzte sich dafür ein, daß der französische Film »Un Carnet de Bal« von Julien Duvivier den Sieg davontrug und »La Grande Illusion« von Jean Renoir den Spezialpreis der Jury erhielt. Goebbels notierte sich, daß Lehnich »fliege«, wenn er sich tatsächlich so verhalten habe. 84 Solche Aktionen verbesserten Lehnichs Verhältnis zu Goebbels, der ihn mittlerweile als »Oberschlappier« und »absolute Niete« bezeichnete, natürlich nicht; Goebbels soll ihm zuletzt sogar nach dem Leben getrachtet haben - eine Behauptung Lehnichs, die man wohl der Abteilung »eigene Reinwaschung durch Konstruktion großer Gegnerschaft zu verstorbenen NS-Größen« zuzurechnen hat. 85 Zum 30. Juni 1939 wurde Lehnich »auf eigenen Wunsch« als Präsident der Reichsfilmkammer entlassen, »nachdem die ihm im Rahmen der Reichsfilmkammer gestellten besonderen Aufgaben als erledigt zu betrachten sind«, wie es in der Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 351 79 Courtade/ Cadars (wie Anm. 73), S. 14 ff. 80 Hembus, Joe; Bandmann, Christa, Klassiker des deutschen Tonflims 1930 - 1960, München 1980, S. 253. 81 »Lenich turnt in Paris und Le Havre beim Internationalen Filmkongreß herum«, war Goebbels einziger Kommentar dazu. Fröhlich (wie Anm. 78), S. 197 (Eintrag vom 9. Juli 1937). 82 Fröhlich (wie Anm. 78), S. 208 (Eintrag vom 22. Juli 1937). 83 Fröhlich (wie Anm. 78), S. 210 f. 84 Fröhlich (wie Anm. 78), S. 302 (Eintrag vom 15. Oktober 1937). 85 »Tatsachenbericht«, S. 22, PAHG. <?page no="353"?> offiziellen Pressenotiz hieß. 86 Sein Nachfolger war ein Mann der Praxis, der Filmregisseur Professor Carl Froelich, bekannt durch zahlreiche Filme, die ganz auf der Linie des NS-Regimes lagen und von denen hier beispielhaft nur »Der Choral von Leuthen« (1933) und der Zarah-Leander-Film »Heimat« (1938) genannt seien. Unter Froelich gewann der bisherige Geschäftsführer und nunmehrige Vizepräsident der Reichsfilmkammer Karl Melzer bestimmenden Einfluß. Goebbels war jetzt sehr zufrieden: »Dort läuft die Sache nun, nachdem Lenich beseitigt ist.« 87 Goebbels hatte bereits 1937 einen Versuch unternommen, Lehnich an die Stelle des Direktors des Leipziger Messeamts, Dr. Raimund Köhler, »zu schieben«. Doch abermals scheiterte dies, wie fast fünf Jahre zuvor, am Widerstand des sächsischen Reichsstatthalters Mutschmann. 88 Die berufliche Zukunft des 44jährigen Lehnich schien sich daher nach seinem Abschied von der Filmkammer langfristig dergestalt zu entwickeln, daß er Verhandlungsführer bei den Bemühungen zur Schaffung einer einheitlichen Organisation in der Hohlglasindustrie Großdeutschlands wurde. Zu diesem Zweck besichtigte Lehnich zahlreiche Fabriken in Sachsen, Thüringen, Schlesien, im Rheinland, in Westfalen, im Saargebiet, in Bayern, in Österreich und im Sudetenland. 89 Vor der Fahrt durch das damalige Reichsprotektorat Böhmen-Mähren war es üblich, bei der Gestapo eine Genehmigung für die Durchfahrt zu erwirken und die Ein- und Ausfahrzeit sowie die Orte der Ein- und Ausfahrt bekanntzugeben. Davon wurde auch Lehnich, der von Wien nach Karlsbad fahren wollte, nicht ausgenommen. Bei der Einfahrt in das Protektorat erlitt der Wagen Lehnichs einen glimpflich verlaufenden Unfall. Bei der Ausfahrt ereignete sich in der Nacht vom 6. zum 7. August ein zweiter Unfall, bei dem Lehnich schwer verletzt wurde. 90 Er war drei Tage bewußtlos und mußte bis Ende Oktober 1939 im Krankenhaus von Marienbad bleiben. Der württembergische Ministerpräsident Mergenthaler 91 bekundete sofort seine Anteilnahme, worauf Frau Lehnich ihm aus Marienbad dankte und berichtete, ihr Mann habe eine schwere Gehirnerschütterung erlitten und sich den Fuß gebrochen. 92 »Die Zusammenhänge, unter denen sich der Unfall ereignet hatte, waren so eigenartig, daß die Vermutung nahe liegt, daß es sich hierbei um ein Attentat der Geheimen Staatspolizei handelte.« 93 Aber welches Interesse sollte die Gestapo Frank Raberg 352 86 So u.a. auch im Stuttgarter Neuen Tagblatt Nr. 302 (1939). 87 Fröhlich (wie Anm. 78), S. 622 (Eintrag vom 27. Oktober 1939). 88 Fröhlich (wie Anm. 78), S. 286 (Eintrag vom 2. Oktober 1937) und S. 313 (16. Oktober 1937). 89 »Tatsachenbericht«, S. 26 ff., PAHG. 90 Der »NS-Kurier« wußte bereits in seiner Ausgabe vom 8. August 1939 von dem Unfall zu berichten und teilte mit, daß Lehnich »Quetschwunden im Gesicht und am Kopf« erlitten habe. 91 Mergenthaler an Lehnich, 11. August 1939, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 69. 92 Irmgard Lehnich an Mergenthaler, 17. August 1939, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 70. 93 »Tatsachenbericht«, S. 27, PAHG. 1943 konnte Lehnich in einem Schadensersatzprozeß die Anerkennung der Verminderung seiner Erwerbsfähigkeit um 75 Prozent und die Auszahlung einer Abfindung in Höhe von 140.000 Reichsmark erwirken, Spruchkammerentscheidung vom 2. März 1950, UATÜ 126/ 374 (Kopien aus den Unterlagen Lehnich vom Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg). <?page no="354"?> oder ihre Auftraggeber gehabt haben, den nunmehr wenig einflußreichen Lehnich umzubringen? Trotz seiner Verletzungen, insbesondere seiner schwerwiegenden Kopfverletzung, die ihn zu wiederholten Sanatoriumsaufenthalten zwang, konnte Lehnich unter Aufbietung der letzten körperlichen Kraftreserven die Verhandlungen in der Hohlglasindustrie 1940 zu Ende bringen. In Zusammenhang mit diesen Verhandlungen wußte Lehnich später auch Ludwig Erhard, nach 1949 Bundeswirtschaftsminister und 1963 - 1966 Bundeskanzler, als Zeugen dafür zu benennen, daß er damals »den nationalsozialistischen Wirtschaftsmethoden« ablehnend gegenüber gestanden sei. 94 Im Mai 1941 mußte Lehnich auf Anraten seiner Ärzte Prof. Dr. Schultz (Berlin) und Prof. Dr. Niekau (Esslingen) von Berlin wieder nach Tübingen ziehen und sich größte Schonung auferlegen, da sich seine Gesundheit verschlechtert hatte. 95 Obwohl er zwischen 75 und 80 Prozent seiner früheren Schaffenskraft infolge des Unfalls eingebüßt hatte, stand er nach eigenen Angaben weiter unter Überwachung. Offenbar hat er sich dadurch nicht abhalten lassen, sich mit dem Landesbischof der Evangelischen Landeskirche Theophil Wurm, mit Oberkirchenrat Wilhelm Pressel und mit dem Staatswissenschaftler Jens Peter Jessen (der 1944 hingerichtet wurde) zu treffen. 96 Diese und andere Kontakte, so auch zu Ulrich von Hassell 97 , lassen keinen anderen Schluß zu, als daß sich Lehnich spätestens 1939/ 40 vom Nationalsozialismus langsam entfernte und den Kontakt zu regimekritischen bzw. -feindlichen Kreisen pflegte, obwohl er wußte, daß er unter ständiger Überwachung stand. Es ist freilich merkwürdig, daß er trotzdem fast unbehelligt blieb. Die Situation führte lediglich zu einem Verhör, das der SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS von Herff am 13. März 1943 mit Lehnich in Stuttgart durchführte. 98 Herff hob in seinem Bericht von diesem Verhör den schlechten Gesundheitszustand Lehnichs in der Zeit, als er die »staatsabträglichen Äußerungen« gemacht haben soll, hervor, der »oft unter Erregungs-, Depressions- und Dämmerzuständen litt, was unbedingt bei der Beurteilung des Falles mit zu berücksichtigen ist. Zum Teil fehlt Prof. Lehnich auch überhaupt das Gedächtnis und die Erinnerung Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 353 94 Ebd., S. 28. 95 Ebd., S. 30. 96 Ebd. und eidesstattliche Erklärung von Käthe Jessen im PAHG. Darin heißt es u.a.: »Ein schwerer Autounfall mit seinen Folgen hinderte Prof. Lehnich daran, aktiv an einer Widerstandsbewegung teilzunehmen, aber sonst gehörte er völlig dazu.« 97 Auszug (Abschrift) aus einem Brief von Ilse von Hassell (10. Januar 1948) an Oswald Lehnich, PAHG, in dem es u.a. heißt: »Ich besinne mich sehr genau, nicht nur auf Sie selbst, sondern auch, wie erfreut mein Mann über Ihre klare Einstellung und Ihre Offenheit war [...] Es freut mich, daß Sie seine Tagebücher gelesen haben, vor allem auch, weil sie unserm guten Freund Prof. Jens Jessen offenbar näher standen und folglich die qualvollen Jahre mitempfinden können.« 98 »Tatsachenbericht«, S. 31 - 32, PAHG, und Bericht von Herff an den Chef des Reichssicherheitshauptamtes Dr. Kaltenbrunner (»Betr.: Staatsabträgliche Äußerungen des SS-Oberführers und Staatsmin. a.D. Prof. Dr. Oswald Lehnich«), 15. März 1943, BA, Abt. III (BDC). <?page no="355"?> an Vorgänge in dieser Zeit.« Der Heilpraktiker Lehnichs, Georg Frick, bürgte für die positive Haltung seines Patienten gegenüber dem Nationalsozialismus. Der seinen Bericht im Hinblick auf die Person Lehnichs sehr wohlwollend formulierende Herff schloß: »Ich darf noch bemerken, daß mich der Reichsstatthalter und Gauleiter SS-Obergruppenführer Murr bei meinem Besuch nach der Vernehmung auf Lehnich ansprach, von dem er wußte, daß ich ihn zu einer Rücksprache bestellt hatte, und betonte, daß Lehnich sich besonders im letzten Jahr (1942) immer durchaus positiv für den Nationalsozialismus und die Regierung eingesetzt habe.« Demnach muß Lehnich nach außen und innen ein geradezu einem Chamäleon gleichendes Dasein geführt haben. Wer ihn näher kannte, wußte aber offenbar, wie er jetzt wirklich dachte. Anders läßt sich der Besuch von Mechthild Bolz, der Tochter des vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilten Eugen Bolz, im Dezember 1944 bei Lehnich nicht erklären. Freilich konnte Lehnich zu diesem Zeitpunkt auch nichts mehr für den Mann tun, der ihn zwölf Jahre zuvor zum Professor ernannt hatte. 99 Als französische Truppen (5. Panzerdivision) am 19. April 1945 Tübingen besetzten, hielt sich Lehnich, dem es wieder schlechter ging, in seinem Haus auf der Eberhardshöhe auf. 100 Der schwerkranke 50jährige Exminister konnte angesichts der hohen Auszeichnungen und Ämter, die er erhalten und nur dem Nationalsozialismus zu verdanken hatte, freilich nicht davon ausgehen, daß er unbehelligt blieb. Die Franzosen verhafteten ihn am 23. Mai und brachten ihn in das Lager Balingen. Die zerrüttete Gesundheit Lehnichs, die bedrückende Erfahrung der Lagerhaft und das Gefühl, zu Unrecht eingesperrt zu sein, bedingten eine starke nervliche Belastung des Gefangenen, die dazu führte, daß er im Mai 1947 in die Universitäts-Nervenklinik nach Tübingen verlegt wurde (aber in Haft blieb). Erst im Januar 1949, als er die Klinik wieder verlassen konnte, war auch seine Haftzeit beendet. 101 Ein endgültiges Urteil in seinem Entnazifizierungsverfahren war aber auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesprochen worden. Die Spruchkammerverhandlung Lehnichs war auf den 23. November 1948 vor der Lager-Spruchkammer I Balingen angesetzt. In einem Brief an deren Vorsitzenden ließ Lehnich diesen wissen, daß er mit dem Beschluß des Kreisuntersuchungsausschusses Tübingen (vom 27. Juli 1948) »nicht einverstanden« sei. 102 Dieser Beschluß reihte Lehnich in die Gruppe der »Minderbelasteten« ein und erlegte ihm eine Bewährungsfrist von fünf Jahren auf, in der er nicht Mitglied einer Partei werden und sich politisch betätigen durfte. Vor allem widersprach er der Einschätzung, daß er hätte wissen müssen, auf Dauer nicht gegen die Partei arbeiten zu können, unter Hinweis auf seine »anerkannten Erfolge« in der ersten Zeit. Die Bewertung, daß er durch Übernahme eines Ministeramtes »die nationalsozialistische Gewaltherrschaft Frank Raberg 354 99 »Tatsachenbericht«, S. 33, PAHG. 100 »Tatsachenbericht«, S. 34, PAHG. 101 Spruchkammerentscheidung, 2. März 1950 (wie Anm. 93). 102 Lehnich an den Vorsitzenden der Lager-Spruchkammer I Balingen, 1. November 1948, PAHG. <?page no="356"?> gefördert« habe, »schlägt den Tatsachen ins Gesicht.« Auch gegen die Wertung seiner »Widerstandsleistungen«, die nicht derart gewesen seien, »daß sie geeignet gewesen wären, das frühere Eintreten für die Partei, seine Mitarbeit in der nat. soz. württ. Regierung und seine oben näher ausgeführte erhebliche Unterstützung des nat. soz. Gedankens auszugleichen«, legte er Widerspruch ein. Er sei zu jeder Zeit in seinem »Widerstand bis zum letzten gegangen«. Als einzig gerechter Spruch müsse seine Einstufung als »Entlasteter« das Ergebnis des Verfahrens sein. Nochmals wies er besonders auf Hermann Gögler und Gustav Kilpper als Zeugen hin und benannte den Rektor der Universität Freiburg, Professor Dr. Constantin von Dietze, als Zeugen für seine Sachlichkeit als Wissenschaftler. Mit großem Geschick wußte Lehnich hier Namen zu nennen, die bereits seit langem als Gegner des Regimes oder zumindest als unbelastet bekannt und frühzeitig wieder in ranghohen Positionen tätig geworden waren. Bei Gögler setzte er zudem auf die Reputation eines Beamten, der wesentlich am Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 mitgearbeitet hatte. Gögler und Kilpper entlasteten Lehnich dann auch bei der Zeugenvernehmung am 23. November 1948 wesentlich und trugen dazu bei, daß er tatsächlich als »entlastet« eingestuft wurde. 103 Die französische Militärregierung für Württemberg-Hohenzollern bestätigte diesen Spruch allerdings nicht und erzwang eine zweite Verhandlung (am 25. März 1949), die zum gleichen Ergebnis führte wie die erste. Wiederum versagte die Militärregierung dem Spruch die Bestätigung. Dafür wird sicherlich der Hauptgrund gewesen sein, daß selbst den Franzosen das Verständnis dafür fehlte, den Mann, der vor 1933 der NSDAP beigetreten und später Minister und Präsident sowie bei der SS gewesen war, nun als »entlastet« zu sehen. Erst der Spruch vom 2. März 1950, genehmigt am 12. Mai 1950 durch das Staatskommissariat für die politische Säuberung des Landes Württemberg-Hohenzollern, beendete Lehnichs Entnazifizierungsverfahren. Der Spruch lautete: »Die Entscheidungen der Sonderspruchkammer Balingen vom 23. 11. 48 und vom 25. 3. 1949 werden aufgehoben. Prof. Dr. Oswald Lehnich gilt als Minderbelasteter, wird jedoch - da die Bewährungsfrist bereits als beendet angesehen wird - endgültig in die Gruppe der Mitläufer eingestuft. Das Recht der Wählbarkeit wird ihm bis zum 31. 12. 50 entzogen. Von der Auferlegung einer Geldbuße und von der Verhängung sonstiger Sühnemaßnahmen wird mit Rücksicht auf die lange Internierungshaft des Betroffenen abgesehen. Er trägt die Kosten des Verfahrens. Der Streitwert beträgt 40.000.- DM.« 104 Die Spruchkammer stritt Lehnich das Recht ab, sich der Widerstandsbewegung zuzurechnen, und hielt auch fest, daß er nach seinem Ausscheiden aus der Reichsfilmkammer immerhin eine monatliche Pension in Höhe von 1.800 Reichsmark erhalten habe und es ihm auch aufgrund seiner Verhandlungen in der Hohlglasindustrie finanziell sehr gut gegangen sei. Lehnich habe sich »aus taktischen Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 355 103 Spruchkammerentscheidung, 2. März 1950 (wie Anm. 93). 104 Spruchkammerentscheidung, 2. März 1950 (wie Anm. 93), S. 1. <?page no="357"?> und opportunistischen Beweggründen für hohe Positionen des 3. Reiches zur Verfügung gestellt« und »sich in ihnen jahrelang gehalten«. Entlastend wirkten sich besonders die Umstände aus, daß Lehnich nicht Abgeordneter der NSDAP im Landtag oder Reichstag gewesen und bereits 1939 aus seiner letzten hohen Position ausgeschieden war, also vor Ausbruch des Weltkrieges. Sowohl für die Prozeßkosten als auch für die Bestreitung des Lebensunterhaltes der Familie war Lehnich gezwungen, hohe Kredite in Anspruch zu nehmen, da er seit Mai 1945 keine Pensionszahlungen mehr erhalten hatte. 105 Da Lehnich 1935 selbst seine Entlassung aus dem württembergischen Staatsdienst erbeten hatte und er als Präsident der Reichsfilmkammer vom Propagandaministerium entlohnt wurde, war bereits 1939 festgestellt worden, daß er in Württemberg keinen Versorgungsanspruch habe. 106 Obwohl seine Tätigkeit bei der Reichsfilmkammer auf der Grundlage des Reichsbeamtenrechts erfolgte, hatte Lehnich auch vom Bund nichts zu erwarten, da weder die Reichsfilmkammer noch das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda in der Bundesrepublik Deutschland einen Rechtsnachfolger hatten. Noch 1957 stritt Lehnich beim Stuttgarter Versicherungsamt um Nachversicherung und gab auf dem Meldebogen verbittert an, er sei »gleichsam Privatgelehrter« und erhalte »keine Pension, keine Rente und keine Unterstützung«. 107 In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Lehnich, der nach Stuttgart gezogen war und zuletzt in Bad Ditzenbach lebte, im kleinen Rahmen wieder wissenschaftlich und schrieb ein Buch über »Die Wettbewerbsbeschränkung« sowie einen Kommentar zum neuen Kartellgesetz. Ein Herzinfarkt schränkte ihn weiter ein. Hermann Gögler, dem Lehnich regelmäßig zu Weihnachten Grüße schickte und dem er auch öfters längere Briefe schrieb, hatte einst festgehalten, daß Lehnich nach seiner Wahrnehmung »ein gemäßigter Nationalsozialist« gewesen sei, »der Unrecht und Gewalt nicht gebilligt, nicht gefördert und sich an solchen Untaten nicht beteiligt hat«. Er sei weder Hauptschuldiger noch belasteter Aktivist. 108 Politisch, so meinte Lehnich selbst, sei er zu keiner Zeit sonderlich hervorgetreten, weil er sich als Fachminister verstand und sachbezogene Entscheidungen zu treffen versuchte. Seine politische Naivität verstellte ihm den Blick dafür, daß in einem verbrecherischen System jeder Funktionär, jeder Amtsträger in irgendeiner Weise dessen Stütze ist und daß es zumeist eine ganz andere Wirkung auf bestimmte Kreise hatte, wenn man sich als »gemäßigtes« Parteimitglied für hohe Positionen im NS-Staat zur Verfügung stellte. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Lehnich sich der NS-Bewegung zu einem Zeitpunkt anschloß, als er - abgesehen vom Wirtschaftsteil - die großen Linien Frank Raberg 356 105 Lehnich an die Kassen- und Rechnungsabteilung des Finanzministeriums Württemberg-Hohenzollern, 6. Februar 1951, UATÜ 126/ 374 (Kopien aus den Unterlagen Lehnich vom Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg). 106 Ausarbeitung des Staatsministeriums, 13. Juli 1939, HSTAS, E 130 c, Bü. 77, 67. 107 Antrag Lehnichs beim Versicherungsamt Stuttgart, 12. Februar 1957, UATÜ 126/ 374 (Kopien aus den Unterlagen Lehnich vom Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg). 108 Erklärung von Staatssekretär Hermann Gögler für Lehnich, 29. Oktober 1946, PAHG. <?page no="358"?> ihrer Programmatik in nationaler und »völkischer« Hinsicht voll unterstützte. Er stellte seine Fähigkeiten bereitwillig in die Dienste des »Dritten Reiches«, funktionierte im System. Seine langsam wachsende Gegnerschaft und sein Rückzug aus Amtsfunktionen erwuchs eher aus persönlicher Enttäuschung denn aus der »objektiven« Erkenntnis, diesem Staat nicht länger dienen zu dürfen. Aus seinen wenigen Kontakten zu verschiedenen Personen des Widerstands wird man ihm nicht die Weihe spenden dürfen, sich dem deutschen Widerstand zurechnen zu können. Lehnich, der den Nationalsozialismus in Württemberg durch seine Mitwirkung wesentlich stabilisiert und längerfristig konsolidiert hatte und dem man allein schon deshalb eine Mitschuld an der zwölfjährigen Existenz des NS-Staates attestieren muß, hat aber auch im Gegensatz zu vielen NS- und SS-Funktionären, deren Schuldkonto erheblich stärker belastet war, den Sühnebecher schon seit 1939 bis zur Neige leeren müssen. Unter den Folgen des Unfalls von 1939 litt er körperlich und psychisch schwer bis zu seinem Tod, materiell ging es ihm und seiner Familie sehr schlecht, beruflich vermochte er nicht mehr Fuß zu fassen. Die Hoffnung, in Bad Ditzenbach auf lange Sicht doch noch seinen Gesundheitszustand verbessern zu können, erfüllte sich nicht. Oswald Lehnich erlag am 23. Mai 1961, einen Monat vor seinem 66. Geburtstag, an seinem Wohnort einem Herzinfarkt. Bibliographie Quellen Dieser Beitrag orientiert sich im wesentlichen an den Personalakten Lehnichs in verschiedenen Archiven. Soweit sie seine Tätigkeit als Dozent und Professor an der Universität Tübingen betreffen, befinden sie sich im Universitätsarchiv Tübingen (UATÜ, 126/ 374), wo in Kopie auch Unterlagen zu Lehnichs Entnazifizierung und seinen Anträgen im Hinblick auf Unterhaltsbezüge und Nachversicherung aus dem Landesamt für Besoldung und Versorgung Baden-Württemberg beigeschlossen sind. Unterlagen zur Mitgliedschaft Lehnichs in der NSDAP und SS enthält der Bestand ZA 1, 5701 im BA Abteilungen Potsdam, Außenstelle Dahlwitz-Hoppegarten, sowie im BA (Außenstelle Berlin-Zehlendorf), Abt. III (BDC). Für seine Zeit als Leiter des Württembergischen Wirtschaftsministeriums und als Staatsminister konnte ebenfalls eine Personalakte E 130 c, Bü 77 (Personalakten des württembergischen Staatsministeriums vor 1945, Akte Lehnich) im Hauptstaatsarchiv Stuttgart (HSTAS) ermittelt werden. Weiterhin waren zum größten Teil die Unterlagen über Lehnich nützlich, die der spätere württemberg-badische Ministerialdirektor im Staatsministerium und Staatssekretär, Hermann Gögler, in seinem Privatarchiv hinterlassen hat (PAHG), hier vor allem der aus dem Jahr 1947 stammende, 35seitige »Tatsachenbericht über die Haltung des Universitätsprofessors Dr. Oswald Lehnich aus Tübingen (seit 1939 wegen Krankheit beurlaubt). Eine Antwort an seine Denunzianten« mit dreiseitiger Vorbemerkung sowie zahlreichen Briefabschriften. Bei der Auswertung des »Tatsachenberichts« ist der durchgehend apologetische Charakter Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 357 <?page no="359"?> dieser Ausführungen in Rechnung gestellt worden. Die Akten zum Spruchkammerverfahren gegen Lehnich befinden sich Staatsarchiv Sigmaringen (Wü 13, Nr. 2130 Az. 15/ T/ E/ 5189). Sie enthalten u.a. ebenfalls den »Tatsachenbericht«. Vergleichsweise wenige Einträge zu Lehnich enthalten die Tagebücher von Josef Goebbels. Sämtliche Fragmente, Band 2 (l. 1. 1931 - 31. 12.1936) und Band 3 (l. 1. 1937 - 31. 12. 1939), hrsg. v. E. Fröhlich, München u.a. 1987. Sie spiegeln aber das sich rasch von der Anerkennung des Parteimannes Lehnich in die Geringschätzung für den Reichsfilmkammer-Präsidenten wandelnde Bild Goebbels’ sehr anschaulich, wenn auch bisweilen in drastischen Formulierungen, wider. Schriften Lehnich hat zahlreiche wissenschaftliche Bücher, Kommentare und Aufsätze, hauptsächlich zur Kartell- und Industriepolitik, verfaßt. Einige dieser Aufsätze sind mehrfach in verschiedenen Zeitschriften, teilweise auch gekürzt oder leicht verändert, publiziert worden. In nachfolgender Aufstellung geht es nicht um ein vollständiges Schriftenverzeichnis, sondern um einen Überblick über Lehnichs Veröffentlichungen, soweit sie sich über eine Aufstellung in seinen Personalakten im HSTAS und der Württembergische Landesbibliothek Stuttgart nachweisen ließen. Eine Nennung aller in Zeitungen und Parteiblättern abgedruckten Vorträge und Reden Lehnichs in der Zeit zwischen 1933 und 1939 würde den gebotenen Rahmen sprengen. - Das Problem der polnischen Währung. Diss. rer. pol., Universität Breslau, 1920. - Währung und Wirtschaft in Polen, Litauen, Lettland und Estland, Berlin 1923. - Die Währungsreform in Estland und Lettland in: Wirtschaftsbericht der Commerz- und Privatbank Nr. 8 (1923), S. 2-5, Nr. 10 (1923), S. 3-6. - Lehnich-Fischer, Das deutsche Kartellgesetz. Kommentar, Berlin 1924. - Kartellpraxis und Kartellverordnung, in: Zeitschrift für Gesellschaftswesen, Heft 9 (1924), S. 322-325, Heft 10 (1924), S. 364-371. - Das Kartellgesetz in seiner Bedeutung für die Abnehmerverbände, in: Zeitschrift für Gesellschaftswesen, Heft 12 (1924), S. 438-443. - Kartellgesetz und Einzelhandel, in: Die Textilwoche Nr. 46 (1924), S. 11-12, Nr. 47 (1924), S. 14-15. - (Bearb.), Alfred Kestner, Der Organisationszwang. Eine Untersuchung über die Kämpfe zwischen Kartellen und Außenseitern, Berlin 1927. - Der Rechtsschutz gegen Maßnahmen des Kartellzwanges durch die Gesetzgebung und Rechtsprechung in Deutschland, England und Amerika, in: Kartell-Rundschau 25 (1927), Nr.1-2, S. 87-98. - Kartelle und Staat unter Berücksichtigung der Gesetzgebung des In- und Auslandes, Berlin 1927. - Die Verbandsbildung unter besonderer Berücksichtigung der Kartellgesetzgebung, in: Eisen- und Stahlwaren-Industrie Nr. 16 und 17 (1927). - Kartellprobleme der Gegenwart, in: Württembergische Industrie 19 (1928), Nr. 29, S. 449-452, Nr. 30, S. 461-464. - Empfiehlt sich eine Änderung und Vereinheitlichung der deutschen und österreichischen Kartellgesetzgebung? Gutachten für den 35. Deutschen Juristentag, in: Verhandlungen des 35. Deutschen Juristentages, Band 1, Lieferung 1 (1928), S. 243-331. - Der gegenwärtige Stand der Kartellfrage, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 87 (1929), S. 501-544. Frank Raberg 358 <?page no="360"?> - Internationale Kartelle und Truste. Ihre Struktur und Bedeutung. Denkschrift für die Interparlamentarische Union, Genf 1929. - Ein Jahr nationalsozialistische Wirtschaftspolitik, in: NS-Kurier 4/ 47 (Sonderausgabe 2) vom 30. Januar 1934. - Wirtschaftsgesinnung und Wirtschaftserfolg, in: Südwestdeutscher Industrie- und Handelsbeobachter (Stuttgart 1934). - Der Sinn der Handwerksorganisation, in: Regierungsanzeiger 5/ 422, 10. September 1935, S. 2. - Das Problem der Marktregelung in der nationalsozialistischen Wirtschaft, in: Beihefte der Rhein-Mainischen Wirtschafts-Zeitung, Heft 2, 1936. - Filmrechtsreform, in: Festschrift der Akademie für deutsches Recht. »Das Recht des schöpferischen Menschen«, Berlin 1936. - Die Wettbewerbsbeschränkung. Eine Grundlegung, Berlin 1956. - Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (Kartellgesetz), Berlin 1958. - (Hrsg.), Wilhelm Friedrich Boyens, Die Geschichte der ländlichen Siedlung. Im Auftrag der Gesellschaft zur Förderung der inneren Kolonisation, 2 Bände, Berlin 1959, 1960. - (Hrsg.), Wilhelm Friedrich Boyens, Das wirtschaftliche und politische Ringen um die ländliche Siedlung, Berlin, Bonn 1960. Literatur Lehnich war bisher noch nicht Gegenstand einer biographisch-historischen Untersuchung. Abgesehen von knappen und sehr summarischen Zusammenstellungen seiner biographischen Stationen, etwa in »Das deutsche Führer-Lexikon 1934 - 1935«, Berlin 1934, S. 273-274; Wer ist’s? , Band 10, Berlin 1935, S. 948; Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 6 (1941/ 42), Berlin 1942, 2. Halbband, Sp.38, Wilhelm Kosch, Biographisches Staatshandbuch. Lexikon der Politik, Presse und Publizistik, Bern, München 1963, S. 747, Erich Stockhorst, Fünftausend Köpfe. Wer war wer im Dritten Reich, Velbert, Kettwig 1967, S. 266, und (vergleichsweise detaillierter) in: 150 Jahre Promotion an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Biographien der Doktoren, Ehrendoktoren und Habilitierten 1830 - 1980 (1984). Bearb. v. I. Eberl, H. Marcon, Stuttgart 1984, S. 615, gibt es im herkömmlichen Sinne praktisch keine »Literatur« über ihn. Auch im einschlägigen Schrifttum über die Zeit des »Dritten Reiches« in Württemberg gibt es nur sehr verstreute Hinweise auf Lehnichs Tätigkeit als Staatsminister. Bisher beschäftigte sich fraglos Paul Sauer, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, 1. Aufl. Ulm 1975, am eingehendsten mit Lehnich als Minister. Auch bei Thomas Schnabel, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 13), Stuttgart u.a. 1986, sowie bei Harald Winkel, Geschichte der württembergischen Industrie- und Handelskammern Heilbronn, Reutlingen, Stuttgart/ Mittlerer Neckar und Ulm 1933 - 1980. Zum 12jährigen Jubiläum, Stuttgart 1980, und in der Chronik der Stadt Stuttgart 1933 - 1945 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart 30), hrsg. v. K. Leipner, Stuttgart 1982, finden sich einige Nennungen. Nur in wenigen Publikationen zur Geschichte des »Dritten Reiches« und zur Geschichte des Films zwischen 1933 und 1945 wird Lehnich erwähnt. Eine Ausnahme bildet das Buch von François Courtade und Pierre Cadars, Geschichte des Films im Dritten Reich, München, Wien 1975, in das vor allem Auszüge aus Reden Lehnichs als Präsident der Reichsfilmkammer aufgenommen wurden. Oswald Lehnich, Württembergischer Wirtschaftsminister 359 <?page no="362"?> Vom Hilfsarbeiter zum Kreisleiter Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm Sabine Schmidt *13. November 1899 Untertürkheim, kath., 1938 Kirchenaustritt, Vater: Vitus Maier, Hilfsweichenwärter, Mutter: Rosa, verheiratet seit 1922 mit Elsa Emma, geb. Baumeister, vier Kinder. Volksschulbesuch, Realschulbesuch abgebrochen, ohne Berufsausbildung, 1916 - 1918 Kriegsteilnehmer, 1919 Freiwilliger beim Grenzschutz Ost, danach Bahnarbeiter. 1. April 1928 Mitglied der NSDAP und SA, 28. Januar 1929 Ortsgruppenleiter in Geislingen, Bezirksleiter der Bezirke Geislingen und Göppingen, 1. August 1931 Leiter des Bezirkes Ulm-Fils, 1. September 1931 Leiter der Ortsgruppe Ulm/ Neu- Ulm, 1. Oktober 1932 Kreisleiter von Ulm und Gaubeauftragter des Gaubezirkes 7, ab 1933 Gauinspekteur der Gauinspektion II Süd-West. Gest. 16. Januar 1940 Ulm. Eugen Maier starb fünf Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges in Ulm. Er wurde zu Grabe getragen wie ein Staatsmann, mit einer Zeremonie, die die Münsterstadt während des Krieges nur noch einmal, beim Tode des Generalfeldmarschalls Erwin Rommel, erleben sollte. Der Bahnarbeiter Eugen Maier hatte Karriere gemacht - Parteikarriere, wie sie wohl nur unter den Bedingungen einer Diktatur möglich war. »Jedenfalls hat man in Ulm aufgeatmet, als der Tod Eugen Maiers Tyrannei ein Ende machte [...].« 1 Eugen Maier 361 1 Aus dem Brief des Direktors der Dresdner Bank/ Filiale Ulm, Paul Laepple, an die Zentralspruchkammer Nord-Württemberg, 19. August 1949, STALB EL 902/ 22 Bü. 47/ SV/ 465. <?page no="363"?> Kindheit und Jugend Am 13. November 1899 in Untertürkheim bei Stuttgart als zweites von elf Kindern geboren 2 , entstammte er einfachsten Verhältnissen. Sein Vater Vitus Maier konnte die große Familie von seinem Lohn als Hilfsweichenwärter nur mit Mühe ernähren. Bedingt durch dessen Versetzungen lebte die Familie in den Folgejahren auch in Weißenstein und in Bad Mergentheim. Hier ging Eugen Maier zur Volks- und später zur Realschule, deren Besuch ihm seine Eltern nach zweieinhalb Jahren nicht mehr finanzieren konnten. Maier kehrte auf die Volksschule zurück und verließ diese kaum 14jährig, um mitzuverdienen. Ohne Aussicht auf eine Berufsausbildung schlug er sich als Hilfsarbeiter, Tagelöhner und Steinbrucharbeiter durch, lernte früh große materielle Not kennen und mußte miterleben, daß zwischen 1912 und 1914 vier seiner jüngeren Geschwister im Alter von zehn, fünf, einem und 13 Jahren starben. Die Situation verschlimmerte sich als die Familie kurz nach dem Umzug nach Geislingen an der Steige im Februar 1915 auch noch den erst 42jährigen Vater verlor. Soldat im Ersten Weltkrieg Inzwischen sah der Bahnarbeiter Eugen Maier täglich die Militärzüge mit ausrükkenden Soldaten in Richtung Frankreich rollen und mit Verwundeten und Kriegsgefangenen nach Geislingen, das Garnisonsstadt wurde, zurückkehren. 3 Dennoch meldete er sich im Januar 1916 als Kriegsfreiwilliger, kam an die Westfront zum Infanterie-Regiment 247, danach zum Bayrischen Sturmbataillon 15 und zum Infanterie-Regiment 476. 1917 zog er sich schwere Granatsplitter- und Schußverletzungen im Gesicht zu, die lebenslange Narben hinterließen. 4 Ein Jahr später wurde er abermals verwundet. Seine Hoffnungen auf einen Sieg wurden durch den Kriegsverlauf zunichte gemacht und er erlebte das Scheitern der Westoffensive vom Juli/ August 1918. Die alte politische Ordnung brach zusammen, und auch in Geislingen versuchte im November 1918 ein Arbeiter- und Soldatenrat vergeblich, an die Macht zu kommen. 5 Obwohl zu 15% kriegsdienstbeschädigt 6 , meldete sich Eugen Maier im Januar 1919 als Freiwilliger zum Grenzschutz Ost. Nachdem im Sommer 1919 der Versailler Vertrag unterzeichnet und neue Grenzen festgelegt worden waren, zog Maiers Einheit aus Litauen ab. Das beschrieb er später als einen »von der seinerzeitigen Sabine Schmidt 362 2 STALB PL 502/ 32 Bü. 27; StAUlm G2 Eugen Maier. 3 Bauer, Karlheinz, Geschichte der Stadt Geislingen an der Steige Bd. 2, Geislingen 1976, S. 120. 4 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 5 Bauer (wie Anm. 3), S. 123-134. 6 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. <?page no="364"?> Reichsregierung zum Schaden der Memeldeutschen erzwungenen Rückzug«. 7 Anschließend diente er bis zu seinem freiwilligen Ausscheiden im November 1919 bei der Reichswehr. Seine Heimkehr aus dem Krieg, in dem er es bis zum Gefreiten gebracht hatte und in dem er u.a. mit dem Eisernen Kreuz Zweiter Klasse, der Württembergischen silbernen Verdienstmedaille und dem Verwundeten-Abzeichen A ausgezeichnet worden war, verlief anders als erhofft. Jahre später, als 1935 per Volksabstimmung die »Wiederangliederung« des Saarlandes an Deutschland erfolgte, nannte er diese »Wahl« »die letzte Schlacht des Weltkrieges [...], die jetzt noch geschlagen wurde«. 8 Die Rückkehr von 300 Abstimmungsberechtigten aus Ulm, Oberschwaben und dem Allgäu, von Eugen Maier »als Soldaten des deutschen Volkes« 9 bezeichnet, gestaltete die NSDAP unter seiner Regie so, »wie dereinst unsere sturmerprobten Regimenter nach dem Kriege hätten empfangen werden sollen« 10 , »mit den Gefühlen, die wir damals bei unserer Rückkehr aus dem Felde so sehr vermißten«. 11 Rückkehr in das alte »Elend« und Suche nach einer politischen Heimat Während seiner Soldatenzeit scheinbar Gleicher unter Gleichen, arbeitete Eugen Maier ab 1920 wieder als Bahnarbeiter. Die Unzufriedenheit mit seiner Lage und das Streben nach Verbesserung weckten sein Interesse für Politik. Er sympathisierte mit marxistischen Ideen, wurde 1920 Gewerkschaftsmitglied, schloß sich den Monisten 12 und Freidenkern an 13 und trat aus der katholischen Kirche aus. 14 In Geislingen war es zwei Jahre nach Kriegsende wieder zu Unruhen gekommen: Die Bürger, die nach dem Kriege einen wirtschaftlichen Aufschwung erhofft hatten, waren ebenso enttäuscht wie die Arbeiter, die des Wartens auf Reformen müde waren. Im Sommer 1920 demonstrierten die Vereinigten Gewerkschaften und forderten die Sicherstellung des Existenzminimums für Arbeiter und Angestellte, die Festsetzung von Höchstpreisen, die Bekämpfung von Wucher und Schleichhandel sowie die Regelung, Überwachung und Kontrolle der industriellen Produktion durch Organe der Arbeiter und Angestellten. 15 Eugen Maier, mittlerweile Schreibgehilfe bei der Eisenbahn, versuchte, beruflich weiterzukommen. Im Herbst 1921 wechselte er in die Industrie und brachte es hier Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 363 7 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 8 Ulmer Tagblatt, 15. Januar 1935. (Im folgenden UT). 9 UT, 12. Januar 1935. 10 UT, 15. Januar 1935. 11 UT, 12. Januar 1935. 12 Der von Haeckel begründete Monismus war naturalistisch bzw. materialistisch orientiert und führte alle Erscheinungen auf ein einziges Urprinzip (Materie) zurück. Seine Anhänger verfolgten im Deutschen Monistenbund freidenkerische, pazifistische und religionsfeindliche Ziele. 13 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 14 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 15 Bauer (wie Anm. 3), S.138. <?page no="365"?> bis zum Lohnbürovorsteher eines mittleren Betriebes. Wirtschaftskrise und Personalabbau machten seine kaum begonnene berufliche Entwicklung bald zunichte. Gießereiarbeiter, Maschinenformer, Handlungsgehilfe auf dem Installationsbüro eines Elektrizitätswerkes, Werkstattschreiber und Provisionsreisender waren die Tätigkeiten der nächsten Zeit. In Geislingen verschärfte sich im Frühjahr 1922 die wirtschaftliche Lage und es kam zu einem elf Wochen dauernden Metallarbeiterstreik, dessen Ausgang bei vielen Arbeitern Verbitterung zurückließ 16 und die Stimmung in der Bevölkerung weiter verschlechterte. Am 26. August 1922 heiratete Eugen Maier Elsa Baumeister, die Tochter eines Heizers aus Göppingen, die, ebenso wie er, »aus einfachsten Verhältnissen kommend, gezwungen war, aus eigener Kraft und zwar als Industriearbeiterin, ihr Brot zu verdienen«. 17 In der Stadt traten sogenannte »Hakenkreuzler« in Erscheinung, deren Parolen Eugen Maiers Interesse hervorriefen. Er besuchte einige ihrer Veranstaltungen, ohne sich endgültig dafür oder dagegen entscheiden zu können. Von der ersten Versammlung der Geislinger Nationalsozialisten am 9. Dezember 1922 erlebte Maier aufgrund einer Verspätung nur deren vorzeitiges Ende 18 , da es zu einer Saalschlacht gekommen war und die Polizei das Lokal räumte. Immer wieder auftretende folgenschwere Zusammenstöße zwischen Nationalsozialisten und gewerkschaftlich Organisierten sowie sozialistischen und kommunistischen Parteigängern führten schließlich zum Verbot aller NSDAP-Versammlungen in Württemberg, das bis zum Juli 1923 bestehen bleiben sollte. Trotzdem vergrößerte sich die am 28. Dezember 1922 in Geislingen gegründete Ortsgruppe der NSDAP rasch, war im Januar 1923 bereits auf 150 Mitglieder angewachsen und entfaltete eine lebhafte Propagandatätigkeit. Das Versammlungsverbot umging man durch die Veranstaltung sogenannter »Sprechabende«, zu denen auch Nichtmitglieder eingeladen wurden und deren Teilnehmerzahl 19 stetig wuchs. Die Geislinger Ortsgruppe der NSDAP wurde von dem ortsansässigen Fabrikanten und stadtbekannten Antisemiten Heinrich Becker finanziell sowie propagandistisch unterstützt. Der Unternehmer gehörte zu Hitlers Geldgebern und empfing diesen einige Male in seinem Geislinger Landhaus, was Ansehen und Aktivitäten der Ortsgruppe einen zusätzlichen Auftrieb verschaffte. 20 Arbeitslosigkeit und Inflation - im Oktober 1923 war die Stadt Geislingen bereits gezwungen, Notgeld auszugeben 21 - trugen mit dazu bei, das Interesse an den Nationalsozialisten zu forcieren. Sabine Schmidt 364 16 Bauer (wie Anm. 3), S.142. 17 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 18 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 19 Bei einem solchen »Abend« am 2. April 1923 sollen bereits 900 Personen anwesend gewesen sein; vgl. Bauer (Anm. 3), S. 146. 20 Bauer (wie Anm. 3), S. 143-147. 21 Bauer (wie Anm. 3), S. 151. <?page no="366"?> Eugen Maier schrieb 1938 rückblickend über diese Zeit: »Die Roten säumten, die Nationalsozialisten antworteten mit der Eroberung der Straße und der öffentlichen Meinung. Beides gelang ihnen in einem Jahr vollständig. Der zahlenmäßige Aufschwung war so stark, daß sie mit einer starken SA und Jugendgruppe aufzuwarten vermögen. Dem einzigen Juden in der Stadt, der zugleich sozialdemokratischer Stadtrat 22 war, setzen sie so zu, daß er sein offenes Warenhaus und sein Stadtratsmandat bald aufgibt und in Geislingen Metallwarenfabrikant wird. Der USPD-Stadtrat Banzhaf 23 , ein ehrlicher, armer Arbeiter, tritt 1923 zu den Nazis offen über, deren politischer Führer der WMF-Arbeiter und Flaschner Jakob Scheible, zugleich Pächter des Gasthauses ›Zum Deutschen Kaiser‹ ist. [Parteilokal] [...] Die propagandistische Arbeit schwillt immer stärker an, der zahlenmäßige Bestand der Ortsgruppe soll mehrere Hundert Mitglieder betragen 24 , die Ausrüstung und Ausbildung der SA eine sehr gute sein.« 25 Auf der Suche nach politischer Orientierung entfernte sich Eugen Maier immer mehr von der auf Klassenkampf ausgerichteten marxistischen Arbeiterbewegung. Die Propaganda der Nationalsozialisten, die jeden ungeachtet seiner sozialen Herkunft aufforderte, der »aufrichtig und ohne persönliche Ehrsucht mitarbeiten will an dem Zusammenschluß aller ehrlichen deutschen Männer, die das Wohl ihres Vaterlandes vor Eigenwohl - Gemeinnutz vor Eigennutz - stellen« 26 und »Standesdünkel und Kastengeist« 27 offen zu verdammen schienen, fiel bei ihm auf fruchtbaren Boden. Eugen Maier fühlte sich angesprochen, wenn die Nationalsozialisten schrieben: »Unsere Bewegung, die von deutschen Arbeitern im Jahre 1919 gegründet wurde, zeigt dem Arbeiter klar und eindeutig, warum er umsonst gekämpft, umsonst gelitten und wer ihn betrogen hat. Hand- und Kopfarbeiter kämpfen hier gemeinsam zur Befreiung von den Sklavenketten, die Börsianer und Großschieber um unser Volk gelegt haben. Nur ehrliche Kämpfer aus allen Lagern, die nicht aus Ichsucht und Sesseljägerei, sondern aus heiliger inniger Überzeugung gekämpft und um die Wahrheit gerungen haben, sollen zu uns kommen«. 28 Hier fand er sich in seiner Suche nach Antworten angesprochen. 29 Der Aufschwung der Nationalsozialisten wurde vorerst durch das Scheitern des Hitlerputsches und das darauf folgende Verbot der NSDAP gehemmt. Maier erinnerte sich später: »[...] Am 8.11.1923 liegt ein beträchtlicher Teil derselben [SA] marschbereit auf Abruf nach München wartend. Der Verrat des 9. November 1923 verhinderte dies, die Bewegung wird auch in Geislingen aufgelöst.« 30 Ihre regionale Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 365 22 Max Weil; vgl. Bauer (wie Anm. 3), S. 142-148. 23 Friedrich Banzhaf; vgl. Bauer (wie Anm. 3), S. 144-145. 24 Im Oktober 1923 zählte die Geislinger NSDAP-Ortsgruppe bereits 235 Mitglieder; vgl. Anm. 19. 25 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 26 Bauer (wie Anm. 3), S. 145. 27 Bauer (wie Anm. 3), S. 145. 28 Vgl. Anm. 19. 29 STALB EL 902/ 21 Bü. 45/ 84/ 6966. 30 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. <?page no="367"?> Galionsfigur, der Fabrikant Heinrich Becker, wurde wegen Hochverrats angeklagt, das Verfahren jedoch später eingestellt. 31 Die Nationalsozialisten wechselten ihr öffentliches Erscheinungsbild, nicht aber ihre Parolen wie: Hitler sei ausersehen, Deutschland von den marxistischen Novemberverbrechern, der Schmach von Versailles, der Arbeitslosigkeit, dem Chaos der Weimarer Republik und den Juden, in deren Händen sich das Großkapital befände, zu befreien. Bei den Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924 kandidierte wie andernorts auch als Ersatzorganisation für die NSDAP in Geislingen der Völkisch-Soziale Block, der Wähler sämtlicher Bevölkerungsschichten zu vereinen suchte und dessen »zahlenmäßige Erfolge« Eugen Maier im nachhinein »sehr gering« 32 erschienen. Je mehr sich im Laufe des Jahres 1924 die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland besserten, desto schlechter wurden die Chancen der Nationalsozialisten. Auch ihre Propaganda fiel in Geislingen, bedingt durch Geldmangel, gegenüber früheren Zeiten deutlich ab. 33 Heinrich Becker, bis dahin die »personifizierte Hitlerbewegung« 34 dieser Stadt, wandte sich, ohne dies jedoch öffentlich werden zu lassen, zunehmend den Gedanken des Generals Ludendorff und dem Tannenbergbund zu, mit der Begründung, daß »dessen Ideenwelt in vieler Hinsicht eine Parallele zu der des Nationalsozialismus erkennen läßt, sich aber [...] in der Art des Kampfes von dem des Nationalsozialismus durch die Ablehnung jeder Gewaltanwendung unterscheidet.« 35 Auch Eugen Maier orientierte sich neu: »Die Tatsache des Zusammengehens der Marxisten mit dem mir verhaßten Zentrum beim zweiten Wahlgang der Reichspräsidentenwahl 1925 haben mich und meine Frau das wahre Wesen des Marxismus zum ersten mal deutlich erkennen lassen. Das führte zu einer restlosen Loslösung von allen schwarz-rot-goldenen Bestrebungen und im Laufe der Jahre zu unserem Bekenntnis zum völkischen Gedanken.« 36 Er zog daraus die Konsequenzen und beendete 1925 seine Mitgliedschaft in allen links gerichteten Organisationen. 37 NSDAP-Mitglied Die Versuche einer Wiedergründung der Geislinger NSDAP Ortsgruppe, 1927 initiiert durch den Ulmer Nationalsozialisten Wilhelm Dreher 38 , scheiterten laut Sabine Schmidt 366 31 Bauer (wie Anm. 3), S. 152. 32 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46; vgl. Bauer (wie Anm. 3), S. 153. Tatsächlich hatte der Völkisch-Soziale Block 1924 mit 22% der Stimmen relativ hohe Gewinne zu verzeichnen. 33 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46, Bauer (wie Anm. 3), S. 153. 34 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 35 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 36 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 37 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 38 In Ulm/ Neu-Ulm war erstmals im November 1922 eine NSDAP-Ortsgruppe gegründet worden, <?page no="368"?> Eugen Maiers 1938 niedergeschriebener Version der lokalen Parteigeschichte »an der Ablehnung der früheren Geislinger Führerschaft« und, so berichtete er weiter, »gelang erst am 1. April 1928, an welchem Tag ich selbst nach einem öffentlichen Referat des PG. Mergenthaler meinen erstmaligen Eintritt in die NSDAP vollzog. […] Am Tage meines Eintritts in die Partei kannte ich nahezu das gesamte bis damals erschienene Schrifttum der NSDAP; vor allen Dingen den ersten Teil des Buches ›Mein Kampf‹ unseres Führers. Programm, Ziel, Propaganda, Organisation, Arbeitsweise der Partei mit ihren Grundsätzen, Führer-soldatische Gefolgschaft, Verantwortung, Gehorsam, Treue und Opferbereitschaft waren mir in großen Zügen also bereits bekannt und ich selbst willens, mich mit allen Kräften in diesem Sinne für den Führer einzusetzen.« 39 Wenig später wurde in Geislingen auch die SA gegründet, der Maier ebenfalls beitrat 40 und die sich aus 10-15 Mitgliedern der Ortsgruppe zusammensetzte, die der NSDAP vor 1923 noch nicht angehört hatten. 41 In den folgenden Monaten kam es immer wieder zu Konflikten zwischen der SA und dem Kreis der »Altparteigenossen« um Heinrich Becker. Dieser gab bei seiner Spruchkammerverhandlung 1948 zu Protokoll, er habe an der »Wiederbegründung« vor 20 Jahren nur teilgenommen »in der Absicht, in die neu geschaffene Ortsgruppe der NSDAP seinen Einfluß hineinzutragen«. 42 Obwohl er selbst 1928 nicht wieder NSDAP-Mitglied geworden sei, habe er den Eintritt seiner alten Parteifreunde forciert, um über diese das Gedankengut des Tannenbergbundes in die gesamte Ortsgruppe der NSDAP zu bringen. 43 Trotz des gemeinsam von SA- und NSDAP- Ortsgruppe geführten Kommunalwahlkampfes verstärkte sich die Kluft zwischen SA und »tannenbergorientierten« Parteimitgliedern. Besonders Eugen Maier, seit Sommer 1928 zum Führer eines SA-Trupps avanciert, opponierte immer mehr gegenüber den von ihm als »Zivilparteigenossen« 44 titulierten übrigen Ortsgruppenmitgliedern. Schließlich erstattete er Gauleiter Wilhelm Murr Bericht über eine Parteiversammlung, der darin gipfelte, daß der Tannenbergbund von der Ortsgruppenleitung als »die völkische Bewegung an sich, die NSDAP nur recht als hintendreinhinkendes Auffangbecken für die breite Masse« 45 bezeichnet worden sein soll. Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 367 die nach Aufhebung des Parteiverbots dann Mitte August 1925 wieder gegründet wurde und deren Leitung Wilhelm Dreher übernahm; vgl. STALB PL 502/ 32 Bü. 261 und UT, 21. Oktober 1934. 39 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 40 Die Mitgliedschaft Eugen Maiers in der SA bestand rückwirkend ab 1. April 1928: STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 41 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 42 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 43 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 44 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 45 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. <?page no="369"?> Ehrenamtlicher NSDAP-Funktionär Seine Berichterstattung bei Murr hatte für Eugen Maier die Ernennung zum Ortsgruppenleiter mit Wirkung vom 28. Januar 1929 und für die bisherige Geislinger NSDAP-Führung den Parteiausschluß durch den Gauleiter zur Folge. 46 Erstmals in seinem Leben hatte Maier eine, wenn auch umstrittene, Spitzenposition erreicht. Deren Erlangung und Erhaltung schienen weder von Bildungsnoch Berufsabschlüssen noch Herkunft, sondern - und dazu war er nun um so mehr bereit - von kompromißlosem Durchsetzen der Parteilinie bestimmt. Daß die Ortsgruppe durch seine »Machtergreifung« von 65 auf 19 Mitglieder, davon 18 SA-Männer, zusammenschmolz, weckte erst recht seinen Ehrgeiz und er formulierte als Ziel: »den Tannenbergbund ins Unrecht zu setzen, um ihm jeden Mitgliederzuwachs aus der alten 1923er Bewegung abzuschneiden; alle Mitglieder, die sich weder ihm noch uns vorerst anschlossen, mittels Erfolgen der nun kleinen Gruppe wiederzugewinnen; hierzu mit kurzer Vorbereitungszeit diese kleine Gruppe zu befähigen.« 47 Eugen Maier war inzwischen Vater zweier Kinder, doch er »mobilisierte« auch seine Frau, die am 1. März 1929 NSDAP-Mitglied wurde und nach Kriegsende sagte, »dies sei nicht zuletzt geschehen, um damit einem Wunsche ihres Mannes zu entsprechen«. 48 Als Ortsgruppenleiter trat er auch wieder in die katholische Kirche ein. 49 Eugen Maiers Bestrebungen, die NSDAP unter seiner Leitung, die sich bald auch auf die Bezirke Geislingen und Göppingen ausgedehnte 50 , zu »neuer Blüte« zu führen, wurden vom Beginn der Weltwirtschaftskrise und der daraus folgenden rapiden Verschlimmerung der Lage der Bevölkerung maßgeblich begünstigt. Im April 1930 fand in Geislingen der Parteitag des Gaues Württemberg der NSDAP statt: »Keine Mittel wurden gescheut, um dem Ruf Geislingens als NS-Hochburg gerecht zu werden. Zwei Tage stand die Stadt ganz im Zeichen der Braunhemden. Das Programm reichte von einem Standkonzert der SA-Kapelle Ulm bis zu einem Propagandamarsch, von einem geselligen Zusammensein bis zu einer riesigen Kundgebung. In diesen Aktionen größeren Stils warben die Nationalsozialisten wirksam für ihre Bewegung«. 51 Die geschickte Mischung von Volkstümlichem und Agitation erreichte auch ansonsten politisch nicht interessierte Menschen. Eugen Maier hatte als Teilnehmer am Reichsparteitag der NSDAP 1929 52 in Nürnberg selbst miterleben können, wie die »Bewegung« Großveranstaltungen aufzuziehen pflegte. Bereits bei der Reichstagswahl vom 14. September 1930, in deren Vorfeld die Geislinger NSDAP Sabine Schmidt 368 46 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 47 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 48 STALB EL 902/ 21 Bü. 45/ 84/ 6966. 49 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 50 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 51 Bauer, (wie Anm. 3), S. 156. 52 Reichsparteitag der NSDAP vom 1.-8. April 1929: STALB PL 502/ 32 Bü. 27. <?page no="370"?> verstärkt Massenkundgebungen veranstaltete, konnte sie entscheidende Erfolge erzielen 53 und damit wesentlich zur Festigung von Maiers Position als Ortsgruppenleiter beitragen. Mit Hilfe seiner Ehefrau versuchte Maier auch andere Möglichkeiten der Mitgliederwerbung auszuschöpfen: »Sie sammelte in wenigen Monaten eine stets wachsende Anhängerinnenzahl um sich und bildete darauf Mitte 1930 eine nationalsozialistische Frauenarbeitsgemeinschaft [...] Am 1.10.1931 wurde daraus die Ortsgruppe der an diesem Tage neu errichteten NS-Frauenschaft gebildet.« 54 Über seine Gründe, den Parteiaktivitäten seiner Frau Grenzen zu setzen, berichtete er: »Lediglich die Führung der Gruppe ließ ich aus politischen Gründen nicht meiner Frau, weil sonst die Frau des Bezirksleiters die weibliche Führung, die ganze Führung also eine Familie erhalten hätte.« 55 Für die SA stellte die inzwischen fünfköpfige Familie ein Zimmer ihrer Wohnung als »Heim« zur Verfügung. So rigoros wie er seine Privatsphäre auf den Nationalsozialismus ausrichtete, versuchte er es auch nach außen hin: »Allein im Jahre 1931 wurden in 24 großen öffentlichen Veranstaltungen mit über 8.000 Besuchern die Ideen Hitlers in die Geislinger Bevölkerung getragen und dabei 16.000 Flugblätter verteilt. Die Zahl der Parteimitglieder stieg sprunghaft an.« 56 Ebenso vergrößerte sich ab 1. August 1931 Maiers »Arbeitsgebiet« um die Leitung der Bezirkes Ulm-Fils 57 , der sieben Oberämter 58 umfaßte, und vier Wochen später noch um die Leitung der Ortsgruppe Ulm- Neu/ Ulm ausgebaut wurde. 59 Dies hatte eine Verlagerung der Bezirksgeschäftsstelle von Geislingen nach Ulm in die Räume der Ortsgruppe zur Folge. 60 Bereits im Oktober schrieb der »Ulmer Sturm«: »Die Neugruppierung des Bezirkes zum Gesamtbezirk Ulm und Fils veranlaßte den Bezirksleiter, noch schärfer als bisher die Konzentration der gesamten Bezirksarbeit vorwärts zu treiben [...] Innerhalb von fünf Wochen fanden nicht weniger als 80 Versammlungen und Sprechabende statt [...] Eine große Anzahl neuer Kämpfer konnte gewonnen [...] werden [...] Neue Ortsgruppen und Stützpunkte entstanden«. 61 Zu den am Jahresende 1931 anstehenden Kommunalwahlen traten die Nationalsozialisten mit der Forderung an, daß neue Männer ins Rathaus gehörten, die sich selbstlos für die arbeitende Bevölkerung Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 369 53 »Auf die NSDAP entfielen im Oberamt 18%, in der Stadt Geislingen 24,2 % der Stimmen. Bei dieser Wahl gewannen die Nationalsozialisten auf Reichsebene 107 Parlamentssitze an Stelle von zwölf im alten Reichstag«: Bauer (wie Anm. 3), S. 157. 54 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 55 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 56 Bauer (wie Anm. 3), S. 157. 57 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 58 STALB PL 502/ 32 Bü. 261. 59 Ulmer Sturm, 19. September 1931; Wilhelm Dreher gab die Führung der NSDAP-Ortsgruppe Ulm/ Neu-Ulm infolge »seiner vielseitigen Verwendung im Reichstag und bei der Reichsleitung« ab; vgl. Anm. 38. 60 Ulmer Sturm, 1. August 1931. 61 Ulmer Sturm, 10. Oktober 1931. <?page no="371"?> einsetzten und den Mut dazu hätten, gegen die marxistische Schuldenwirtschaft Stellung zu nehmen. 62 Sie weckten mit diesen Versprechungen in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit und fortschreitender Wirtschaftskrise die Hoffnungen vieler Wähler. Daß die NSDAP aus den Wahlen in seinem »Gebiet« als Sieger hervorging, verbuchte Maier als persönlichen Erfolg und vermerkte 1937: »Die damals unter meiner Führung durchgeführten Gemeinderatswahlen brachten auf dem Geislinger Rathaus vier und auf dem Ulmer Rathaus sieben Sitze für die nationalsozialistische Bewegung.« 63 In seinem Wohnort Geislingen, wo die SPD nur noch auf zwei Sitze gekommen war 64 , übernahm Maier selbst den Fraktionsvorsitz. 65 Zum Ulmer Wahlausgang, durch den die Nationalsozialisten erstmals als stärkste Fraktion 66 im Gemeinderat vertreten waren, kommentierte er im »Ulmer Sturm«: »Auch in unserer engeren Heimat konnten wir kurz vor Jahres-Torschluß noch eine Reihe beträchtlicher Fuhren unnötigen politischen Gerümpels wegfahren und es freut uns Ulmer Nationalsozialisten ganz außerordentlich, unseren verehrten Vorkämpfer Wilhelm Dreher an der Spitze einer Reihe bewährter Mitkämpfer zum Beginn des neuen Kampfjahres in das Ulmer Rathaus einziehen zu sehen. Es soll schon vielen von den Überflüssigen inzwischen ganz schwammrig 67 geworden sein.« 68 Das freie Denken hatte Eugen Maier, der ehemalige Freidenker, längst aufgegeben, für ihn galt nur noch eine Meinung, eine Richtung, eine Partei. Als Ziel hatte er bereits im Juni 1931 bei der Eröffnung des Wahlkampfes für die Reichstagswahl vom Juli 1932 verkündet: »Von unseren politischen Gegnern wird nach dem Wahlkampf nichts anderes mehr übrig bleiben, als ein kümmerlicher Rest sich verkriechender Bonzen. Die Stunde kommt, in der wir die Macht und die Verantwortung im Staate übernehmen«. 69 1932 stieg die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland weiter bis auf sechs Millionen. Regierungskoalitionen brachen auseinander, es kam zu Straßenschlachten zwischen politisch unterschiedlich gesinnten Gruppen. Die Propaganda der Nationalsozialisten lief auf Hochtouren. Eugen Maiers Bilanz zum Jahresende enthielt »fünf Großwahlkämpfe, sechs große Kundgebungen und Demonstrationen, 943 sonstige öffentliche Veranstaltungen, 142 Mitgliederversammlungen und dergl.« 70 sowie eine Sabine Schmidt 370 62 Bauer (wie Anm. 3), S. 161. 63 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 64 Bremes, Hans, 65 Jahre Sozialdemokratische Partei Deutschlands in Geislingen an der Steige 1891 - 1956, Göppingen 1956, hier S. 23. 65 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 66 UT, 8. Dezember 1931. 67 Diese Formulierung stellte eine Anspielung auf den demokratisch gewählten und seit 1919 amtierenden Ulmer Oberbürgermeister Dr. Emil Schwamberger dar. 68 Ulmer Sturm, 2. Januar 1932. 69 Ulmer Sturm, 9. Juni 1931. 70 Die Zeitung berief sich als Quelle für die veröffentlichten Zahlen auf den von Maier vorgelegten Geschäftsbericht des Kreises Ulm (früher Bezirk Ulm-Fils) für das Jahr 1932; Ulmer Sturm, 23. Januar 1933. <?page no="372"?> Zunahme des Mitgliederstandes der NSDAP um 57 Prozent. 71 Er trat in unzähligen Veranstaltungen selbst als Bezirksredner auf. 72 Der »Ulmer Sturm« beschrieb ihn enthusiastisch als »rednerische Kämpfernatur, bei der jedes Wort kämpferisch beseelten Ausdruck erfährt. Beseelte Formung, abgeleitet und geboren durch ein durch und durch nationalsozialistisches Empfinden und einen überzeugenden Glauben.« 73 Zeitzeugen blieben seine emotional, lebhaft und teilweise mit beträchtlicher Lautstärke vorgetragenen Reden eher in Erinnerungen als deren Inhalte. Bei der im April 1932 stattfindenden Landtagswahl wurde die NSDAP im Oberamt Geislingen zur stärksten Partei 74 und Eugen Maier Landtagsabgeordneter. 75 Das seit 1931 als Wochenzeitung existierende nationalsozialistische Parteiblatt »Ulmer Sturm, Kampfblatt für Ulm, Neu-Ulm und Oberschwaben« erschien ab 1. Mai 1932 täglich und bedeutete für Maier eine »neue und noch schärfere Waffe [...] des ständigen Angriffes auf unsere Gegner«. 76 Sowohl in Ulm 77 als auch in Geislingen provozierten die NSDAP-Mandatsträger Zwischenfälle im letzten demokratisch gewählten Gemeinderat. »In der Sitzung am 30. Juni 1932 erschienen die nationalsozialistischen Stadträte Maier und Schauz in Parteiuniform und lösten damit heftigste Auseinandersetzungen aus [...] Auf Antrag der SPD beschloß der Gemeinderat jedoch, daß Uniformtragen bei Sitzungen unzulässig sei.« 78 Auch seinen Kampf gegen den Tannenbergbund hatte Maier nicht aus den Augen verloren und war stolz darauf, »obwohl bereits in Ulm parteitätig, Mitte Sommer 1932 in Geislingen vor aller Öffentlichkeit« 79 dessen Versammlungen »gesprengt« zu haben. In einer Zeit des Höhepunktes der Wirtschaftskrise fanden am 31. Juli 1932 die Reichstagswahlen statt, bei denen die Nationalsozialisten mit 230 Abgeordneten in einen Reichstag einzogen, in dem die bürgerlichen Parteien nur noch eine Minderheit bildeten. 80 Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 371 71 Ulmer Sturm, 23. Januar 1933. 72 Der Titel eines Bezirksredners war Maier bereits Mitte 1929 verliehen worden; vgl. STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 73 Ulmer Sturm, 20. Februar 1932. 74 Bauer (wie Anm. 3), S. 158. 75 Lechner, Silvester, »In Ulm ein frohes Leben und Treiben. Zur Geschichte der Region Ulm in der Zeit des Nationalsozialismus«, in: Kunst und Kultur in Ulm 1933 - 1945, hrsg. vom Ulmer Museum, Ulm 1993, S. 14. 76 Ulmer Sturm, 1. Mai 1932. 77 In einer Gemeinderatssitzung Ende 1932 kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen dem Fraktionsführer der Nationalsozialisten, Wilhelm Dreher, und Oberbürgermeister Dr. Emil Schwamberger: Dreher hatte mehrfach die Sitzung gestört und wiederholt versucht, mit ungesetzlichen Anträgen Agitation für die Nationalsozialisten zu betreiben. Er wurde daraufhin vom Oberbürgermeister aus der Sitzung ausgeschlossen und aufgefordert, das Haus zu verlassen. Als er sich weigerte dem nachzukommen, ließ ihn Schwamberger gewaltsam entfernen. Die übrigen Fraktionsmitglieder der NSDAP verließen daraufhin ebenfalls den Sitzungssaal: StAUlm, Ratsprotokoll. Beratungen des Oberbürgermeisters mit den Ratsherren, 19. September 1932, § 122, und 1. Dezember 1932, § 143, im folgenden RpR; Ulmer Nachrichten 25. Juli 1955. 78 Bauer (wie Anm. 3), S. 161. 79 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 80 UT, 1. August 1932. <?page no="373"?> Kreisleiter Innerhalb der NSDAP begannen ebenfalls Strukturveränderungen, die zum 1. Oktober 1932 eine Auflösung der Bezirksleitung Ulm-Fils und die Bildung der Kreisleitung Ulm mit Eugen Maier an der Spitze zur Folge hatten. Der »Ulmer Sturm« veröffentlichte bereits im September eine vierspaltige, von Maier unterzeichnete, detaillierte Anordnung über die Neugliederung. 81 Für Eugen Maier bedeutete dies einen erheblichen Machtzuwachs innerhalb des Parteiapparates und die Niederlegung der Ortsgruppenleitungen in Ulm 82 und Geislingen sowie seines Stadtratsmandats. Gleichzeitig mit dem Aufstieg zum Kreisleiter wurde er Gaubeauftragter des Gaues Württemberg, die SA beförderte ihn vom Scharzum Truppführer. 83 Durch den Karrieresprung seiner Ernennung zum Kreisleiter 84 gehörte Maier, der nie einen Beruf erlernt hatte, zum Korps der politischen Leiter, war hauptamtlicher Parteifunktionär und innerhalb seines Kreises oberster »Hoheitsträger« der NSDAP. Er zog mit seiner Familie, der er aufgrund seiner Parteistellung eine neue Existenz ermöglichen konnte, nach Ulm. 85 Als Hitler am 4. November 1932, zwei Tage vor der Reichstagswahl, in die Donaustadt kam, um in der Max-Eyth-Halle zu sprechen, lag die Zuständigkeit für die Organisation der Veranstaltung seines »Führers« bei Eugen Maier, der diese Aufgabe in einem späteren Lebenslauf als »Glück« 86 bezeichnete. Bei der Großkundgebung, deren Teilnehmerzahl im »Ulmer Sturm« mit 25.000, im »Ulmer Tagblatt« mit 15.000 Menschen angegeben wurde und deren Ablauf laut Zeitungsberichten bis auf die in einigen Bereichen ungenügende Lautsprecherübertragung reibungslos von statten ging, hielt Maier eine kurze Begrüßungsansprache, bei der auch Hitler anwesend war. Als bei Veranstaltungsende der »alte Ulmer Vorkämpfer« Wilhelm Dreher sprach, hatte der »Führer« den Saal bereits verlassen. 87 Das anschließende Wahlergebnis war für Eugen Maier wider Erwarten enttäuschend. Die National- Sabine Schmidt 372 81 Ulmer Sturm, 22. September 1932; die NSDAP wurde in Gaue, Kreise und Ortsgruppen gegliedert. 82 Die bis dahin bestehende Ortsgruppe Ulm wurde von Neu-Ulm getrennt und in sieben Ortsgruppen gegliedert: Gross, Rainer, Repertorium STALB, Bestand PL 502/ 32, Ludwigsburg 1988. 83 Seine Beförderung zum Scharführer erfolgte am 1. April 1929: STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 84 Maier war als Kreisleiter allen politischen Leitern seines Zuständigkeitsbereiches übergeordnet. Ohne seine Genehmigung durfte kein unteres Parteiamt niedergelegt oder besetzt werden. Als Funktionsträger der Partei war der Kreisleiter laut Organisationsbuch der NSDAP von 1937 zuständig für »die politische und weltanschauliche Erziehung [...] der Bevölkerung« innerhalb seines Hoheitsgebietes. Außerdem hatte er alle »Veranstaltungen und Handlungen« zu unterbinden, die der Zielsetzung der Partei zuwiderliefen, wenn nötig mit Hilfe der Gestapo: Arbogast, Christine; Gall, Bettina, Aufgaben und Funktion des Gauinspekteurs, der Kreisleitung und der Kreisgerichtsbarkeit der NSDAP in Württemberg, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck, München 1993, S. 151 - 169, hier S. 156; vgl. Organisationsbuch der NSDAP, München 1937, S. 130 -135. 85 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 86 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 87 UT, 5. November 1932. <?page no="374"?> sozialisten konnten in Ulm 88 , ebenso wie reichsweit 89 , weniger Stimmen erzielen als bei der letzten Reichstagswahl. Die sozialdemokratische Zeitung »Donauwacht« kommentierte dazu: »Das Bemerkenswerteste an der Wahl ist, daß die nationalsozialistische Welle im Abflauen begriffen ist. Die Nazi haben das erstemal einen bedeutenden Stimmenverlust zu verzeichnen, trotzdem ihr Führer Adolf Hitler noch nach Ulm kam und in der größten Wahlkundgebung, die jemals in Ulm stattgefunden hat, für seine Sache geworben hatte.« 90 Diese Analyse ließ die Ulmer NSDAP nicht lange unbeantwortet. 1933 - von der Demokratie zur Diktatur Am 21. und 22. Januar 1933 richtete die NSDAP ihren ersten Kreistag des Oberamtes Ulm aus, begleitet von Aufmärschen, Vorträgen und Musikdarbietungen an verschiedenen Stellen der Stadt. Die Bevölkerung sollte in möglichst großer Zahl angesprochen und einbezogen werden. Eugen Maier sprach auf dem Münsterplatz, und es gelang ihm und seiner Partei, an einem Tag 10.000 Menschen auf die Beine zu bringen. 91 Unter der Überschrift »Der Kreis Ulm im Vormarsch. Machtvolle Kundgebung der Nationalsozialisten. Nicht Niedergang, sondern Aufstieg« berichtete der »Ulmer Sturm« davon und relativierte gleichzeitig das Wahlergebnis: »auch noch nach dem 6.11.1932 ist Ulm in Württemberg die Stadt, die prozentual am besten für die Bewegung Adolf Hitlers abstimmt.« 92 Trotz zeitweiliger Rückschläge arbeitete Maier unablässig auf das Ziel hin, »sein« Gebiet zu einem Musterkreis und Ulm mehr und mehr zu einer »Braunen Hochburg« zu machen. Am 30. Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler; für Eugen Maier und die Ulmer Nationalsozialisten geschah das schneller als erwartet. 93 Sie versammelten sich nach einem Fackelzug durch die Stadt, nachdem sie ganz bewußt am Haus des sozialdemokratischen Blattes »Donauwacht« vorbeigezogen waren, auf dem Münsterplatz. Hier sprach Eugen Maier von der Angst der gegnerischen Presse, die »uns bis heute verlachte und verspottete, [...] und von der unverbrüchlichen Treue, die die Ulmer Nationalsozialisten ihrem Führer gehalten haben und die heute ihre Früchte trägt«. 94 Er gehörte mit dieser Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 373 88 Die Nationalsozialisten erhielten in Ulm gegenüber 39,6% bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 nur noch 34% der Stimmen; UT, 7. November 1932. 89 Die Nationalsozialisten erreichten reichsweit gegenüber 230 Mandaten bei der Reichstagswahl vom Juli 1932 diesmal nur noch 195 Sitze: UT, 7. November 1932. 90 Donauwacht, 7. November 1932. 91 UT, 24. Januar 1933. 92 Ulmer Sturm, 23. Januar 1933. 93 Beöczy, Siegfried von, Ulmer Augenzeugen. »Ich war dabei...«, Weißenhorn 1970, S. 31. Zur Machtergreifung in Württemberg vgl. Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/ 46 (Schriften zur politischen Landeskunde 13), Stuttgart u.a. 1986, S. 181-205. Hier auch weitere Literaturhinweise zur Machtergreifung in einzelnen württembergischen Gemeinden. 94 Ulmer Sturm, 31. Januar 1933. <?page no="375"?> Einschätzung, obwohl nicht Resultat politischen Weitblicks, sondern engen Parteidenkens, zu den wenigen, die Hitlers Ernennung zum Reichskanzler bereits als Entscheidung über die Zukunft Deutschlands ansahen. Kaum zwei Wochen später begann ein von allen Seiten heftig geführter Wahlkampf: »Die eiserne Front, ein Kampfbund aller republiktreuen Kräfte unter Führung der SPD, ruft für den 12. Februar zu einem Kampftag der Freiheit auf, dessen Höhepunkt eine Kundgebung auf dem Weinhof sein soll. Rund 5.000 Menschen, so berichtete die ›Donauwacht‹ später, folgten dem Aufruf und zeigten auf dem Weinhof Flagge zugunsten der bedrängten Weimarer Demokratie. Fanatische Hakenkreuzler, so schrieb die SPD-Zeitung, hätten versucht, die Demonstration zu stören und durch Terror unmöglich zu machen«. 95 Der »Ulmer Sturm« veröffentlichte einen von Maiers Mitarbeiter, dem Kreispropagandaleiter Max Hörburger, unterzeichneten Brief an die KPD, in dem diese zu einer NSDAP-Kundgebung im Saalbau mit einem Referat zu »Wahrheit und Dichtung der KPD über Rußland« eingeladen wurde. In der Einladung hieß es: »Wir geben Ihnen die Gelegenheit, in dieser Versammlung in freier Aussprache unserem Redner entgegenzutreten und sichern Ihnen freie Redezeit für ihren Führer zu.« 96 »Freundlicherweise« stellte man den Eingeladenen, dem Schreiben beiliegend, 50 Freikarten zur Verfügung und vermerkte im Nachsatz: »Wir glauben nicht, daß die KPD-Führer ebenso feige sein werden wie die ›Führer‹ 97 der SPD, die noch jedesmal, wenn wir sie in Ulm zu einer Versammlung eingeladen haben, gekniffen sind [...].« 98 Von der Veranstaltung, auf der der kommunistische Stadtrat Arnold 99 als Redner erschien, berichtete der »Ulmer Sturm«: »Kreisleiter Maier entzog ihm sofort das Wort und verwies ihn von der Rednertribüne; dieser Aufforderung kam Arnold nicht nach, und es ist mehr wie genug zu begreifen, daß ihm ein Nationalsozialist in der Wut über diese Frechheit im raschen Verlassen der Rednertribüne behilflich war.« 100 Nach der Reichstags»wahl« vom 5. März 1933, aus der die Nationalsozialisten als stärkste Partei 101 hervorgingen, wurde der hier von Maier vorgeführte Umgang mit Andersdenkenden zur Regel und betraf bald nicht nur die Linke, sondern auch die anderen Parteien. Bereits einen Tag nach der Wahl feierten die Nationalsozialisten ihren »Sieg« mit einem Fackelzug durch Ulm. 102 Am 7. März rief der Kreisleiter die SA, SS, Hitlerjugend und die Amtswalter der NSDAP auf dem Münsterplatz zusam- Sabine Schmidt 374 95 Schwäbische Zeitung, Ausgabe Ulm, 29. Januar 1983. (Im folgenden SDZ). 96 Ulmer Sturm, 18. Februar 1933. 97 Das Wort »Führer« ist hier erstmals im ganzen Artikel in Anführungszeichen gesetzt. 98 Ulmer Sturm, 18. Februar 1933. 99 Hans Arnold, Lackierer, war zu diesem Zeitpunkt einer der beiden KPD-Stadträte im Ulmer Gemeinderat, von denen sich einer bereits in Haft befand. 100 Ulmer Sturm, 22. Februar 1933. 101 Die NSDAP erreichte in der Stadt Ulm 45,2%, im Oberamt Ulm 47,4% der Stimmen und im Reichstag insgesamt 288 Sitze: UT, 6. März 1933. Die angestrebte Mehrheit wurde also verfehlt. 102 UT, 8. März 1933. <?page no="376"?> men. Sie marschierten in Kolonnen zum Rathaus, wo man ebenso wie auf der Polizeidirektion und auf anderen öffentlichen Gebäuden der Stadt die Hakenkreuzfahne hißte. Kreisleiter Eugen Maier erschien zusammen mit Wilhelm Dreher 103 auf dem Balkon des Rathauses 104 und demonstrierte so den zahlreich versammelten Ulmern, wer zu den neuen Machthabern gehörte. Vor dem Rathausportal zogen SA-Posten auf, die den Sozialdemokraten den Zutritt verwehrten. 105 Am 11. März 1933 erschien die sozialdemokratische »Donauwacht«, Eugen Maier seit langem ein Dorn im Auge und von ihm in zahlreichen Reden heftig attackiert, zum letztenmal. Zwei Tage später entmachtete sich der Gemeinderat förmlich selbst, indem er einem Antrag der NSDAP-Fraktion auf Änderung der Zusammensetzung des Gremiums mittels Neuwahlen 106 zustimmte, da diese nicht mehr dem Willen des Volkes entspreche. 107 SS und Polizei 108 besetzten das Ulmer Rathaus. Oberbürgermeister Dr. Emil Schwamberger, dem die Nationalsozialisten Korruption und Mißwirtschaft vorwarfen, wurde beurlaubt 109 und die Verwaltung der Stadt am 17. März einem Staatskommissar 110 übertragen. Unter dessen Leitung begann ein Untersuchungsausschuß 111 , dem wenig später auch Eugen Maier angehörte 112 , mit der »Säuberung« der Stadtverwaltung von »demokratischen Elementen«. 113 Bei der mit Massenaufmärschen, Fakkelzug und großer Propaganda aufgezogenen Feier zum »Tag von Potsdam« am 21. März 1933 zog Eugen Maier in seiner Rede auf dem Münsterplatz Bilanz, indem er verkündete: »Das System der Parteien, der Demokratie und des Parlamentarismus ist endgültig zerstört [...].« 114 In seinen Einflußbereich als Kreisleiter fielen nun bis dahin durch demokratische Verfahren geregelte Vorgänge, wie die Bestimmung des Leiters der Stadtverwaltung. Friedrich Foerster, NSDAP-Mitglied seit 1931 und damals SA-Sturmbannführer, schilderte dazu: »[...] Kurz nach meiner Rückkehr Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 375 103 Dreher war im März 1933 Ulmer NSDAP Reichstagsabgeordneter und Fraktionsführer im Gemeinderat. 104 Ulmer Sturm, 9. März 1933; UT 9. März 1933. 105 SDZ, 29. Januar 1983. 106 Neuwahlen des Gemeinderates wurden durch das wenig später erlassene »Gleichschaltungsgesetz« hinfällig. 107 StAUlm, RpR, 13. März 1933, § 24. Zur Machtergreifung in Ulm vgl. weiterführend Tschaffon, Dieter, Die Nationalsozialistische Machtergreifung in Ulm, Stuttgart 1980. 108 Mit der am 17. März 1933 erfolgten Ernennung Wilhelm Drehers zum »ehrenamtlichen Unterkommissar zu Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung für den Bezirk der Polizeidirektion Ulm« besaßen die Nationalsozialisten auch die Polizeigewalt, vgl. UT, 18. März 1933. 109 Nachfolgend wurde Dr. Schwamberger am 9. Mai 1933 seines Amtes enthoben, am 14. Juli 1933 der Stadt verwiesen und am 26. Juli 1933 entlassen, vgl. StAUlm, G2 Emil Schwamberger. 110 Dr. Hermann Schmid, Stadtrat der DVP, war ab 17. März 1933 Staatskommissar für die Verwaltung der Stadt Ulm. 111 UT, 20. März 1933. 112 UT, 27. März 1933. 113 SDZ, 29. Januar 1983. 114 UT, 22. März 1933. <?page no="377"?> erhielt ich am späten Abend von der Kreisleitung einen Anruf. Ich wurde beauftragt, sofort in unser Parteilokal zu kommen. Dort saß ein kleiner Kreis von Parteimitgliedern zusammen. Man äußerte sich kritisch über den amtierenden Staatskommissar 115 und meinte, an seine Stelle solle ein zuverlässiger Mann der Partei treten. ›Das bist du! ‹ hieß es. Ich hatte keinen Grund, das Angebot abzulehnen. Alles ging sehr schnell. Der Gauleiter gab seine Zustimmung, und schon am nächsten Tag erhielt ich an meinem Arbeitsplatz im Elektrizitätswerk einen Anruf des Staatskommissars. Er bestellte mich in sein Dienstzimmer und übergab mir die Amtsgeschäfte [...] Es war der 4. April 1933«. 116 Weitere neue Posten entstanden: Drei Tage später wurde in der Presse die Ernennung des nationalsozialistischen Kreisleiters Eugen Maier zum Politischen Sonderkommissar für Stadt und Oberamt Ulm 117 bekanntgegeben. Um die Bevölkerung mit der neuen Ämtervielfalt vertraut zu machen, erläuterte kurz darauf das »Ulmer Tagblatt«: »Die beiden Sonderkommissare Maier und Schwäble 118 sind keine Regierungs-, sondern Parteikommissare, die dem oberen SA-Führer Berger 119 unterstehen und nicht mit der Überwachung oder Führung eines bestimmten Verwaltungszweiges betraut sind, sondern größere Sonderaufgaben, die ganz verschiedene öffentliche Einrichtungen betreffen können, durchzuführen haben [...].« 120 Diese unklare Benennung der Zuständigkeiten war charakteristisch für den Nationalsozialismus und führte oft zu Kompetenzgerangel. Sie war aber auch Methode, um die Bevölkerung zu verunsichern, und trug dazu bei, den Eindruck von der Allmacht der Partei sowie ihrer Repräsentanten, in diesem Falle Eugen Maiers, zu stärken. Der »Umbau der NSDAP vom privaten Verein der ›Kampfzeit‹ zur Staatspartei« 121 mit dem Ziel der Einflußnahme auf alle Lebensbereiche hatte begonnen. Von den »alten Kämpfern« brachte nur ein kleiner Teil die Qualifikation für die wichtigen Ämter mit. 122 Außerdem erwuchs ihnen aus dem nun einsetzenden Zustrom der »Märzgefallenen« 123 eine gut ausgebildete Konkurrenz. Im Gegensatz zu Sabine Schmidt 376 115 Der Deutschnationale Dr. Hermann Schmid, Staatskommissar für die Verwaltung der Stadt Ulm ab 17. März 1933, war den Nationalsozialisten offenbar zu lasch gegen die demokratische Opposition vorgegangen: SDZ, 29. Januar 1983. 116 Beöczy (wie Anm. 93), S. 31-32. 117 Ulmer Sturm, 7. April 1933; UT, 7. April 1933. 118 SA-Standartenführer Georg Schwäble wurde zum Sonderkommissar für SA- und SS-Angelegenheiten für Stadt und Oberamt Ulm ernannt; Ulmer Sturm, 7. April 1933; UT, 7. April 1933. 119 Zu Gottlob Berger vgl. den Beitrag von Joachim Scholtyseck in diesem Band. 120 UT, 12. April 1933. 121 Roser, Hubert, »Nationalsozialistische Beamte auf der Anklagebank? NS-Parteigerichtsbarkeit und öffentliche Verwaltung in Südwestdeutschland 1933 - 1945«, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck, München 1993, S. 125 - 149, hier S. 125. 122 Arbogast/ Gall (wie Anm. 84), S. 163. 123 Opportunistische Motive unterstellende Bezeichnung für diejenigen, die nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 und nach der endgültigen Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft mit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 der NSDAP beitraten, vgl. Zentner, Christian; Bedürftig, Friedemann (Hrsg.), Das Große Lexikon des Dritten Reiches, München 1985, S. 375. <?page no="378"?> denen, die lediglich aufgrund ihrer NSDAP-Mitgliedschaft einen Posten erlangten, ohne gleichzeitig über die erforderliche fachliche Qualifikation zu verfügen 124 , hatte Maier den Vorteil, ein reines Parteiamt innezuhaben. Dafür war in erster Linie die »richtige Gesinnung« sowie etwas Rede- und Organisationstalent notwendig. Er betrieb seine »Weiterbildung« durch die Teilnahme an Partei- und Rednerschulungen 125 sowie die Auswertung des von übergeordneten Parteistellen massenweise zugesandten Informationsmaterials. 126 Die darin enthaltenen Instruktionen galt es dann, möglichst wirksam in der Öffentlichkeit umzusetzen, indem er bestrebt war, die Ideologie des Nationalsozialismus in die Bevölkerung zu tragen. Maier, der als junger SA-Mann bereits begeistert und eifrig das antisemitische Hetzblatt »Stürmer« auf der Straße verkauft 127 hatte, verteidigte den Anfang April einsetzenden Boykott jüdischer Geschäfte, der längst nicht von allen Ulmern gebilligt wurde. 128 Er hielt eine Rede auf dem Ulmer Münsterplatz, »in der er die ungeheuren Lügen der Juden im Ausland scharf brandmarkte« und drohte: »Wir Nationalsozialisten werden den Kampf solange führen, bis die Judengazetten im Auslande aufgehört haben, Deutschland in dieser unerhörten Weise zu beschimpfen. Wenn sie es jedoch vorziehen sollten, den Kampf trotzdem fortzusetzen, so werden wir noch zu ganz anderen radikalen Mitteln greifen.« Den Bürgern kündigte er an: »Jeden Deutschen aber, der noch beim Juden kauft, werden wir als Volksverräter kennzeichnen.« 129 In dieser und in zahllosen folgenden Reden verfocht und propagierte Maier die Rassentheorien der Nationalsozialisten. Seine Frau gab 1948 vor der Spruchkammer an: »Der unduldsamen Rassenlehre des Nationalsozialismus habe sie nicht beitreten können. Sie habe nie Verständnis dafür gehabt, daß die anständigen Juden, die sich nie etwas zuschulden kommen ließen, verfolgt und in ihrem Vermögen geschmälert wurden.« 130 Mitte April 1933 beendete der Untersuchungsausschuß seine »Säuberungsaktion« der Stadtverwaltung. »Die freigewordenen, für die lokale Machtpolitik oftmals bedeutsamen Posten konnten nun mit regimetreuen Leuten besetzt werden.« 131 Gleiches galt auch für die Neubildung des Ulmer Gemeinderates, in dem die NSDAP jetzt 15 von 30 Sitzen 132 einnahm und dem Eugen Maier als Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 377 124 Wie zum Beispiel der spätere Polizeidirektor Wilhelm Dreher. 125 Eugen Maier, ab Mitte 1929 Bezirksredner, wurde noch vor 1933 zum Gauredner ernannt. Vgl. STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 126 STALB PL 502/ 32 Bü. 196. 127 STALB EL 902/ 8 Bü. 16/ 71/ 1a/ 501/ 46. 128 Keil, Heinz, Dokumentation über die Verfolgung der jüdischen Bürger von Ulm, Ulm 1961, S. 30. 129 Ulmer Sturm, 3. April 1933. 130 STALB EL 902/ 21 Bü. 45/ 84/ 6966. 131 Tschaffon (wie Anm. 107), S. 57. 132 Bei seiner Vereidigung am 15. Mai 1933 hatten die fünf sozialdemokratischen Mitglieder des Gemeinderats ihre Mandate bereits niedergelegt, so daß in dem Gremium außer der NSDAP nur noch vier Deutschnationale und sechs Vertreter des Zentrums saßen. Vgl. Tschaffon (wie Anm. 107), S. 59 - 61. <?page no="379"?> Fraktionsführer 133 angehörte. 134 Bei der Zusammensetzung der nationalsozialistischen Kandidatenliste habe man, so schrieb das »Ulmer Tagblatt«, »besonders darauf Rücksicht genommen, daß zur Betonung der Volksgemeinschaft Vertreter aus allen Bevölkerungsschichten und Berufsständen zum Zuge kamen«. 135 Zur Untermauerung des Anspruchs der Nationalsozialisten, Vertreter der »Volksgemeinschaft« zu sein, wurde der 1. Mai reichsweit zum »Tag der nationalen Arbeit« erklärt und feierlich begangen. Bereits im Vorfeld bildete man einen unter Kreisleiter Maiers Vorsitz stehenden Arbeitsausschuß zur generalstabsmäßigen Vorbereitung dieser Massenveranstaltung. 136 In einem Presseartikel sowie in seiner im Stadion zum 1. Mai 1933 gehaltenen Rede betonte Maier, »die Pflichterfüllung des Einzelnen für das Gesamte, die Leistung des Einzelnen für das Gesamtvolkswohl, die Arbeit also allein kann der Maßstab der Wertung der Zugehörigkeit des einzelnen Volksgenossen zur Nation in Zukunft sein, nicht die Zugehörigkeit zu irgend einem Berufsstand oder einer Konfession«. 137 »Der Marxismus konnte deshalb nicht zum Sieg kommen, weil er in seinem Programm nicht den Aufbau und die echte deutsche Kameradschaft predigte, sondern Haß gegen das eigene Blut.« 138 Eugen Maier bereitete damit bereits rhetorisch einer Besetzung des Ulmer Gewerkschaftshauses durch die SA am nächsten Tag den Weg. Die Interessenvertretung der Arbeitnehmer wurde ausgeschaltet, ihre Funktionäre in »Schutzhaft« 139 genommen. »Der Terror gegen Regimegegner war zu diesem Zeitpunkt bereits zu einem normalen, beinahe alltäglichen Vorgang geworden« 140 und wurde von der Öffentlichkeit hingenommen. Möglichkeiten des Protestes hatten sich parallel zum Machtaufbau der Nationalsozialisten immer mehr verringert. Auseinandersetzungen gab es lediglich noch innerhalb der NSDAP. Bei einer öffentlichen Versammlung im Saalbau verwahrte sich Eugen Maier dagegen, »daß Männer auf verantwortlichem Posten, die sogar das Parteiabzeichen tragen, hintenherum bei den Ministerien gegen die örtliche Parteiführung hetzen« 141 und drohte diesen mit Parteiausschluß sowie dem Verlust ihres Beamtenstatus. Auch mit dem am 3. August 1933 zum Ulmer Oberbürgermeister ernannten NSDAP-Mitglied und SA-Obersturmbannführer Friedrich Foerster 142 hatte Maier große Probleme. Obwohl beide nach außen hin reibungslose Zusammenarbeit demonstrierten 143 , gab es wiederholt Auseinandersetzungen, größtenteils darum, ob finanzielle Aufwendungen durch die Kommune oder die NSDAP zu erbringen seien. Dabei zog der Sabine Schmidt 378 133 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 134 Ulmer Sturm, 26. April 1933; UT, 26. April 1933. 135 UT, 26. April 1933. 136 Ulmer Sturm, 2. Mai 1933. 137 Ulmer Sturm, 1. Mai 1933. 138 Ulmer Sturm, 2. Mai 1933. 139 Lt. Erinnerungen des SDP-Mitglieds Hugo Roller; SDZ, 22. Januar 1983. 140 SDZ, 30. April 1983. 141 UT, 10. Juni 1933. 142 StAUlm, B 006/ 10 Nr. 7.2. 143 StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 7. <?page no="380"?> Oberbürgermeister, zwar parteiergeben 144 , aber ebenso dem Wohlergehen der Stadt verpflichtet, meist den kürzeren gegen den fanatisch auf Parteiinteressen ausgerichteten Kreisleiter. 145 Als Fraktionsführer erklärte Eugen Maier, »[...] daß die Führung der Stadt Ulm einzig und allein den Nationalsozialisten gebühre«, und kündigte die Vernichtung aller anderen Parteien an. 146 Im Ulmer Gemeinderat 147 sowie überregional war dies bald erreicht. Bei der nächsten »Reichstagswahl« wurde nur noch über den Wahlvorschlag der NSDAP mit »ja« oder »nein« abgestimmt. Andere Parteien waren bereits verboten oder aufgelöst worden. Von Ulmer Häuserwänden prangten Transparente mit Texten wie »Ulm hat keine Volksverräter, es stimmt mit ›ja‹«, mit denen alle, die dies nicht zu tun gedachten, als Staatsfeinde abgestempelt wurden. Den riesigen Propagandaaufwand rechtfertigte Maier bei einer Wahlkundgebung auf dem Münsterplatz: »[...] wenn wir erklären können, daß ganz Ulm zu seinem Führer steht, so bekunden wir vor aller Welt, daß uns kein Zwang, sondern die anständige Gesinnung zusammengeführt hat in der Erkenntnis, daß kein Volksgenosse sein Brot essen kann, wenn er keine Ehre besitzt [...], so möge diese Kundgebung der Beweis dafür sein, daß alle hinter dem Führer stehen und daß die Stadt Ulm keinen Volksverräter in ihren Mauern beherbergt.« 148 Am 12. November 1933, an dem »bereits am frühen Morgen [...] Hitlerjugend und andere Verbände mit Trommelwirbel und Sprechchören durch die Städte zogen, um die Bürger an ihre »Wahlpflicht« zu erinnern, Kranke und Gebrechliche zu den Wahlurnen gebracht« 149 wurden und auch sonst jegliches Druckmittel angewandt wurde, um auch den Letzten zur Teilnahme zu bringen, stimmte Ulm mit 92,8 Prozent für die NSDAP und mit 95,7 Prozent für Hitlers Politik. 150 Die Wahlleiter waren meist Nationalsozialisten und angewiesen, jede irgend mögliche Stimme als »Ja« zu zählen. Beschwerden oder Forderungen nach Überprüfung des Wahlergebnisses blieben ohne Aussicht auf Erfolg. Eugen Maier, der »Bahnarbeiter in Ulm« 151 , wurde als einer der Vertreter Württembergs in den Reichstag »gewählt«. Am 13. November 1933 schrieb der »Ulmer Sturm«: »Ein schöneres Geburtstagsgeschenk ist dem Führer der nat.-soz. Bewegung, Gauinspekteur Maier zu seinem Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 379 144 Foerster bezeichnete sich selbst als »gläubigen und überzeugten Nationalsozialisten«, vgl. StAUlm, Nachlaß Oberbürgermeister Friedrich Foerster. 145 StAUlm, Nachlaß Oberbürgermeister Friedrich Foerster. 146 UT, 10. Juni 1933. 147 Am 22. August 1933 bestand der Ulmer Gemeinderat bereits nur noch aus 21 Mitgliedern - 44 waren es vor der nationalsozialistischen Machtergreifung -, zu den 15 Nationalsozialisten wurden als »Hospitanten« in die NSDAP-Fraktion vier Stadträte der ehemaligen Deutschnationalen Front und zwei von der früheren Zentrumspartei aufgenommen: StAUlm, RpR, 22.8.1933, §§ 149-151. 148 Ulmer Sturm, 11. November 1933. 149 Neu-Ulmer Zeitung, 12./ 13. November 1983. (Im folgenden NUZ) 150 UT, 13. November 1933. 151 Von der Presse angegebener Beruf Eugen Maiers; vgl. UT, 13. November 1933; Ulmer Sturm, 13. November 1933. <?page no="381"?> 34. Geburtstag wohl nicht zuteil geworden, als der alle Erwartungen übertreffende Ausgang des gestrigen Volksentscheides und der Reichstagswahl«. 152 Festigung der Allmacht der Partei »Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns« Die politischen Erfolge der Nationalsozialisten fielen in eine Zeit des Abflauens der Wirtschaftskrise. Nach der Machtergreifung sank die Arbeitslosigkeit 153 , bedingt durch die Verbesserung der konjunkturellen Lage und Maßnahmen zur »Arbeitsbeschaffung«, rapide ab. Auch für Eugen Maier war 1933 ein sehr erfolgreiches Jahr. Einen Tag vor Silvester erschienen im »Ulmer Sturm« unter der Überschrift »Bekenntnisworte führender Ulmer zum neuen Jahre« Grußworte des Oberbürgermeisters, des Kreisleiters, des Polizeidirektors, der Leiter der Handwerkssowie der Handelskammer. Maier gehörte nun auch ganz offiziell zu den »neuen Honoratioren« der Stadt. Die in den letzten zwölf Monaten errungenen Positionen galt es auszubauen. Dies tat er nicht nur als Kreisleiter, sondern auch auf seinem Posten als Gauinspekteur 154 , auf dem er Beschwerden innerhalb der Partei ebenso wie an die NSDAP gerichtete Klagen aus der Bevölkerung zu bearbeiten hatte. Wie bereits als Politischer Sonderkommissar hatte er auch hier eine Aufgabe mit fließenden Kompetenzen. Die diesbezüglich von Maier zu »betreuenden« 26 Kreise 155 waren das einzige ganz konkret festgelegte Kriterium für seine Arbeit. Er stellte seine Ermittlungen meist direkt vor Ort an und verlieh so - obwohl innerparteiliche, dem Renommee schadende Differenzen möglichst verborgen bleiben sollten - der jeweiligen Klage bereits durch sein Erscheinen eine besondere Bedeutung. Dies führte in der Öffentlichkeit zu dem Eindruck, die Partei könne bei allen Schwierigkeiten für Abhilfe sorgen. Falls Maier jedoch zu dem Schluß kam, daß die vorgebrachte Klage unberechtigt sei, konnte sich dies sehr negativ für den Beschwerdeführer auswirken, was wiederum zu Verunsicherungen führte. Eugen Maier selbst sah sich als Gauinspekteur in der Rolle eines Richters, und bei seinen Empfehlungen an die Gauleitung, von ihm mitunter auch als »Urteile« bezeichnet, ging er ebenso nach eigener Auffassung vor wie bei der Ausfüllung des Sabine Schmidt 380 152 Ulmer Sturm, 13. November 1933. 153 1933 betrug die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland im Jahresdurchschnitt 4,8 Mio., 1934 nur noch 2,7 Mio. und sank in den folgenden Jahren stetig, bedingt durch z.B. staatliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Arbeitsdienst, Rüstungsproduktion und einer regimespezifische Sichtweise darauf, wer als »arbeitslos« zu zählen war. »Die Verelendung weiter Kreise durch die Weltwirtschaftskrise in den letzten Jahren der Weimarer Republik hatte viel zur Radikalisierung des politischen Spektrums beigetragen und insbesondere der NSDAP den entscheidenden Zulauf gebracht. Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit trug dann entsprechend zur Stabilisierung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems bei.« Zentner/ Bedürftig (wie Anm. 123), S. 36. 154 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP (wie Anm. 84), S. 142. 155 Arbogast/ Gall (wie Anm. 84), S. 153. <?page no="382"?> Postens selbst. Eckpunkte waren hier eine formal korrekte Verfahrensweise sowie die Lösung des Problems in den Augen von Partei und Öffentlichkeit. Obwohl Maier als Gauinspekteur nicht über exekutive Mittel verfügte, war für die Betroffenen nicht kalkulierbar, welche Auswirkungen seine Berichterstattung bei der Gauleitung haben würde. 156 Über die allumfassende Zuständigkeit der Partei ließ der Kreisleiter keinen Zweifel, als er im Februar 1934 auf einer Führertagung betonte, daß die NSDAP sich anmaße, »[...] sich um alle Gebiete zu kümmern, die das Leben eines Volkes bestimmten. Der politischen Organisation falle die Aufgabe zu, das gesamte Gesellschafts- und Vereinswesen im Interesse des Volksganzen zu beeinflussen [...] Jeder kleinste Volksgenosse muß heute von der Führung betreut werden, damit er das höchste des Möglichen zu leisten im Stande ist.« Weiter führte er aus: »Unser gesellschaftliches Leben muß so gestaltet werden, daß es für jeden Volksgenossen eine Freude ist, Deutscher zu sein, daß sich aber auch jeder gleichberechtigt fühlt.« 157 Maier, der sich aufgrund seiner Herkunft und mangelnden Ausbildung immer als benachteiligt empfunden hatte, kritisierte: »Zahlreiche Veranstaltungen in letzter Zeit in Ulm beweisen, daß diese Erkenntnis noch nicht überall durchgedrungen ist, selbst wenn Eugen Maier (li. vorne) Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 381 156 Arbogast/ Gall (wie Anm. 84), S. 151-156. 157 UT, 16. Februar 1934. <?page no="383"?> schöne Reden auf das Dritte Reich geschwungen und der Oberbürgermeister, der Polizeidirektor und der Kreisleiter dazu eingeladen werden. In Zukunft werden Einladungen solcher ›Kreise‹ nur noch möglich sein, wenn auch der kleinste Blockwart der Partei und der kleinste SA-Mann Zutritt haben. Einzelne Kreise hätten kein Recht, sich abzukapseln, sie haben im Gegenteil durch ihre angeblich höhere Intelligenz auch gesteigerte Pflicht und Verantwortung.« 158 Weiter plädierte er für äußerliche Uniformität: »Wenn es nur noch das Dienstkleid der Partei und den Festanzug der Arbeit gebe, sei der Kampf gegen Zopf, Zylinder und Frack gewonnen und der einfache Mann braucht sich seines Kleides nicht mehr zu schämen.« 159 Auch wenn Eugen Maier in dieser Rede linientreu die Direktiven seiner Partei propagierte, schien es ihm ein besonderes persönliches Anliegen zu sein, in seinen Ansprachen immer wieder die Arroganz »bestimmter Kreise« anzuprangern. Besonders von Angehörigen der Intelligenz und der Künstlerschaft fühlte er sich mißachtet und herausgefordert. In seinen von der Lokalpresse 160 zitierten Reden griff er jene an, »die nicht wahr haben wollen, daß man aus eigener Kraft, durch mutigen persönlichen Kampf, den auch der Ulmer Kreisleiter als das arme Kind einer dreizehnköpfigen Familie - der Redner führte ergreifende Wahrheiten aus seinem Leben auf - von frühester Kindheit an bis in die nationalsozialistische Bewegung herein unerbittlich zu bestehen hatte, doch etwas mehr werden kann, als ein ›besserer Parteischreiber‹, wie ihn gewisse Leute der Künstlergilde bezeichneten.« 161 Seine Verbitterung zeigten weitere im »Ulmer Tagblatt« wiedergegebene Schlagworte, wenn er gegen »Drückeberger«, »Preistreiber«, »Wirtschaftsschädlinge« und »Mietwucherer« wetterte. 162 Er kündigte an, all diese »rücksichtslos im Pranger des ›Ulmer Sturms‹ dem ganzen Volk als Saboteure der deutschen Volksgemeinschaft vorzustellen« und »wenn das nichts nützt, dann haben wir ja auch die Verbindung mit Ministerpräsident Göring 163 und seinen Männern, die dann alles weitere besorgen werden« 164 : In Ulm, wo es zwischen 1933 und 1935 auf dem Oberen Kuhberg ein KZ gab, eine durchaus von Tatsachen untermauerte Drohung. Eugen Maiers ganz besonderer Ehrgeiz bestand darin, im Sinne seiner Partei alle »Volksgenossen« zu Nationalsozialisten umzuerziehen und jede Art von Vielfalt zu bekämpfen: »Wir brauchen heute keine Zersetzung, sondern innerste Geschlossenheit, für die die Partei verantwortlich ist.« 165 Bedingt durch seinen Lebensweg, auf Sabine Schmidt 382 158 UT, 16. Februar 1934. 159 UT, 16. Februar 1934. 160 Das »Ulmer Tagblatt« wurde im Mai 1934 mit dem nationalsozialistischen Parteiblatt »Ulmer Sturm« zwangsfusioniert und war damit die einzige noch existierende Ulmer Tageszeitung. 161 UT, 16. November 1936. 162 UT, 16. Februar 1936. 163 Verbindung mit Ministerpräsident Hermann Göring soll in diesem Zusammenhang Verbindung zur Gestapo bedeuten. 164 UT, 16. November 1936. 165 UT, 26. Mai 1934. <?page no="384"?> dem er Unterschiede als demütigend erfahren hatte, empfand er diese Art von »Vereinheitlichung« auch persönlich als besonders notwendig und gerechtfertigt. Kampf gegen die Kirche Als »zersetzendes Element« betrachtete Maier alles, was seinem Bestreben nach Vereinheitlichung zuwider zu laufen schien. Kritiker wurden von ihm, ebenso wie kirchliche Jugendorganisationen, als »Kritikaster und Miesmacher« 166 bezeichnet. Auf einer extra zum Thema »Konfessionelle Zersetzungsversuche« anberaumten Pr otes tk un dgebu ng der Na tiona ls ozial is ten gege n e ine Saa lbauk undg ebun g d er katholischen Verbände 167 wehrte Maier sich gegen »Gerüchte, daß der Kreisleiter zwischen der HJ (die eine Veranstaltung der katholischen Verbände erfolgreich gestört hatte, [S. Sch.]) gestanden und hetzerische Anordnungen gegeben habe«. 168 Die Vorliebe Maiers, bei solchen Gelegenheiten persönlich »leitend« einzugreifen, läßt dieses »Gerücht« durchaus berechtigt erscheinen. Um seine und die Haltung der Partei zur Kirchenfrage zu verdeutlichen, fuhr er fort: »Wenn heute der Jugend vorerzählt wird, daß sie eine katholische oder protestantische Jugend sei, so bedeutet das eine bewußte Trennung dieser Jugend vom Vaterland, das nicht im geringsten daran denkt, diese zu drangsalieren. Diese Jugend will nur einen Kampf führen, um die Idee des Führers kommenden Geschlechtern weiterzugeben. Diese Idee aber wird verwässert, wenn man diese Jugend in Konfessionen anspricht.« 169 Gegen Franz Weiß, seit 1932 katholischer Pfarrer des Ulmer Vorortes Söflingen, der als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges wehrhaft und patriotisch zugleich als unbeugsamer Gegner des Nationalsozialismus in Erscheinung trat, führte Maier zusammen mit Polizeidirektor Wilhelm Dreher einen jahrelangen Kampf. Eugen Maier setzte sich dabei mit solch großer emotionaler Beteiligung ein, daß ihm bei einer 1938 als Provokation für den Priester gedachten und vor dem Söflinger Pfarrhaus veranstalteten Kundgebung »die Stimme gebrochen« 170 war, wie sich Weiß Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 383 166 UT, 26. Mai 1934. 167 Am 30. Mai meldete das Ulmer Tagblatt: »Aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit wurde der von den katholischen Jugendverbänden Ulms, am Dienstag, den 29. Mai abends acht Uhr, im Saalbau veranstaltete Elternabend polizeilich aufgelöst.« Prälat Bernhard Hanssler, damals katholischer Jugendseelsorger in Ulm, schilderte in seinen Erinnerungen, daß er nach zähen Verhandlungen bei der Gestapo die Genehmigung für einen großen Elternabend im Saalbau erstritten habe. Vor Beginn der Veranstaltung habe vor dem Haus bereits HJ in großer Zahl patroulliert. Minuten nach Versammlungseröffnung habe die HJ den Saal gestürmt und es sei zu einer Saalschlacht gekommen, worauf die Veranstaltung von der Gestapo aufgelöst worden sei. Hanssler, Bernhard, Bischof Joannes Baptista Sproll - Der Fall und seine Lehren, Sigmaringen 1984, S. 125-126. 168 UT, 31. Mai 1934. 169 UT, 31. Mai 1934. 170 Südwestpresse, 16. November 1985. (Im folgenden SWP) <?page no="385"?> später erinnerte. Obwohl die Kreisleitung der NSDAP den renitenten Pfarrer damals bereits im KZ wissen wollte 171 , erreichte sie dessen Inhaftierung 172 und Vertreibung aus Söflingen erst 1939/ 40. Franz Weiß, seinen Kontrahenten »methodisch und geistig überlegen« 173 , empfand den Polizei-Chef Dreher 174 noch eher als einen ihm ebenbürtigen Gegner »als den blasseren Kreisleiter«. 175 Trotz des Söflinger Versuches, Widerstand zu entfachen, gaben am 19. August 1934 90,2 Prozent der Ulmer »dem Führer ihr freudiges Jawort«. 176 Und längst nicht alle unter ihnen mußten mit dem bereits bei der vorangegangenen »Wahl« angewandten Schleppdienst für Säumige zum Abstimmungslokal gebracht werden. 177 Beim Kreisparteitag der NSDAP am 21. Oktober 1934 in Ulm zählte Maier in seinem Rechenschaftsbericht stolz sechs Gemeinden des Landkreises Ulm ohne »Nein- Stimmen« auf. Für die organisatorische Ausgestaltung der Hauptkundgebung in der Max-Eyth-Halle spannte er auch seine Kinder ein, indem er seine damals sechsjährige Tochter Blumen an Reichstatthalter Wilhelm Murr überreichen und seinen achtjährigen Ältesten einen kurzen Prolog sprechen ließ. 178 Partei und Stadtverwaltung im Kompetenzstreit Zu Beginn des neuen Jahres wurde die NSDAP des Kreises Ulm unter der Maßgabe, flexibler arbeiten zu können, neu in eine größere Zahl von Ortsgruppen 179 gegliedert 180 , deren Namensgebung Maier persönlich festlegte. Seit dem 1. Januar 1935 hatte er neben dem Kreis Ulm und seinen Geschäften als Gauinspekteur auch die Leitung des Kreises Laupheim inne. 181 Nach Inkrafttreten der neuen Deutschen Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935 teilte er dem Ulmer Oberbürgermeister Sabine Schmidt 384 171 Kopf, Paul, Franz Weiß - Für Deutschland und Christus, Ulm 1994, S. 50. 172 Weiß wurde im Juni 1939 wegen »Heimtücke und Kanzelmißbrauches« zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, im April 1940 entlassen und im gleichen Monat »lebenslänglich« aus Württemberg und Bayern verwiesen: SWP, 16. November 1985. Vgl. hierzu: Hehl, Ulrich von (Bearb.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung (Veröffentlichung der Kommission für Zeitgeschichte A 37), Mainz 1984, S. 1221. 173 Kopf (wie Anm. 171), S. 24. 174 Dreher wurde von Zeitzeugen eine gewisse Volkstümlichkeit nachgesagt. Er habe trotz allem einen Rest an Gutherzigkeit besessen, die dazu führte, daß er manchmal sogar, je nach Laune und persönlicher Bekanntschaft, politischen Gegnern oder Juden half. Eugen Maier habe dagegen unerbittlich und tyrannisch gewirkt. 175 SWP, 1. Oktober 1994. 176 UT, 20. August 1934. 177 UT, 20. August 1934. 178 UT, 22. Oktober 1934. 179 Ab 1. Januar 1935 war der Kreis Ulm in zehn Stadt- und 14 Landortsgruppen eingeteilt, davor waren es sieben Stadt- und vier Landortsgruppen gewesen: UT, 23. Januar 1935. 180 UT, 23. Januar 1935. 181 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. <?page no="386"?> Foerster im Mai des gleichen Jahres mit, daß er zum Beauftragten der NSDAP für die Kreise Ulm und Laupheim sowie weiterer Städte und Gemeinden des Gaugebietes Württemberg-Hohenzollern ernannt worden sei. 182 Mit der neuen Gemeindeordnung war für die betreffenden Kommunen die Zustimmung des Kreisleiters Maier bei der Berufung und Abberufung von Bürgermeistern, Beigeordneten und Gemeinderäten 183 , bei der Verleihung und Aberkennung von Ehrenbürgerrechten sowie beim Erlaß der Hauptsatzung unbedingt erforderlich und der Einfluß der NSDAP gesetzlich zementiert. Bei Unstimmigkeiten hatte als nächste Instanz Reichsstatthalter Wilhelm Murr zu entscheiden. Der Ulmer Oberbürgermeister Friedrich Foerster schrieb während seiner Internierungshaft 1946: »Alles Politische in der Führung der Stadt war Sache der Partei. Aber auch über die Verwaltung hatte die Partei praktisch die politische Kontrolle und Aufsicht. Das war in der Gemeindeordnung mit der Bestellung des ›Beauftragten der NSDAP‹ festgelegt. Die Berufung der Beigeordneten und Gemeinderäte, also der engsten Mitarbeiter des Oberbürgermeisters, war dem Beauftragten, in der Regel war dies der Kreisleiter, übertragen. Darüber hinaus machte die Partei je länger, je mehr, ihren Totalitätsanspruch auch in der Verwaltung geltend. In allen Dingen, welche irgendwie mit der Menschenführung zusammenhingen, machte sie ihr alleiniges Recht geltend. Ich habe mich gegen diese Totalität stets zur Wehr gesetzt, denn Verwalten muss gleichzeitig Menschenführung sein, wenn sie nicht zur toten Bürokratie und zum subalternen Handlangerdienst werden will. Die gesetzlichen Grundlagen fehlten jedoch, und so konnte mein politischer Einfluss in der Stadt nur begrenzt sein. Viele wichtige Vorgänge in der Stadt kamen mir überhaupt nicht zur Kenntnis, weil ihre Behandlung bei den Hoheitsträgern der Partei, Kreisleiter und Ortsgruppenleiter, hängen blieben. Diese unbefriedigende Stellung des Oberbürgermeisters wurde mir mit den Jahren zur grössten Enttäuschung. Mein persönliches Verhältnis zu den Ulmer Parteiführern wurde immer kühler [...].« 184 Wenn Foerster hier auch versuchte, im nachhinein seine Mitverantwortung an der NS-Herrschaft in Ulm zu schmälern, wirft dies doch ein bezeichnendes Licht auf Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 385 182 StAUlm, B 123/ 1321 Nr.7. 183 Vgl. Organisationsbuch der NSDAP (wie Anm. 84), S. 501. Am 12. August 1935 wurden in Ulm 27 Gemeinderäte vereidigt, die der NSDAP Beauftragte Eugen Maier bestimmt hatte: StAUlm, RpR, 12. August 1935, § 64; Das Ulmer Tagblatt veröffentlichte am 12. August 1935 eine von Maier verfaßte Urkunde, die den Stadträten ausgehändigt und von diesen persönlich unterzeichnet wurde und solche Anforderungen enthielt wie: »Jedes Deiner Kinder muß daher Mitglied der Hitlerjugend und deren Untergliederungen sein; denn wer gegen des Führers Jugend ist, ist gegen den Führer selbst [...] Gemeinnutz vor Eigennutz, die Gemeinde und das Volk kommen also stets vor Deinem eigenen Ich [...] Den Juden und seine Sippe aber hasse. Wer mit Juden direkt oder indirekt Verkehr pflegt, kann in den Kreisen der Ehrenamtsträger des Deutschen Volkes keine Stunde geduldet werden«; bei der Berufung von Ratsherren war für Eugen Maier allein »das Verhältnis zwischen der Bewegung und der Stadtverwaltung maßgebend [...]. Ausschlaggebend bei der Auswahl sei weniger die fachliche Seite [...].« UT, 3. August 1937. 184 StAUlm, Nachlaß Oberbürgermeister Friedrich Foerster. <?page no="387"?> das gespannte Verhältnis der lokalen NS-Größen untereinander. Als er Eugen Maier, der als Beauftragter der NSDAP zwar das Recht hatte, an Gemeinderatssitzungen teilzunehmen, jedoch dem Gremium kraft Gesetzes nicht mehr angehören durfte, offiziell verabschiedete, war von Diskrepanzen nichts zu spüren. Die »politischen Beurteilungen« Dennoch gewann Eugen Maier nicht nur entscheidenden Einfluß auf die Personalpolitik in Stadtverwaltung und Gemeinderat, sondern zunehmend auf andere Lebensbereiche. Die Kreisleitung »war sowohl Auskunftsorgan für staatliche Stellen, wenn diese Informationen über die ›politische Zuverlässigkeit‹ von Mitarbeitern oder Stellenanwärtern anforderten, als auch Adressat von Bittbriefen von Parteigenossen, die eine Empfehlung des Kreisleiters für eine Stellenbewerbung, eine Beförderung oder eine soziale Vergünstigung benötigten«. 185 Ebenso belieferte sie Gestapo und Sicherheitsdienst mit Informationen. Diese »politische Beurteilung« wurde, je länger der NS-Staat bestand, um so entscheidender für das Fortkommen des Einzelnen wie für das Fortbestehen privater Einrichtungen. Dabei wurde nicht nur der Kandidat, sondern auch dessen familiäres Umfeld bespitzelt und bewertet. Das trieb zuweilen Blüten, wie die Anfrage eines »Führeranwärters« zeigte, der von Eugen Maier Auskunft über den politischen Leumund seines, ehemals in ein Strafverfahren verwickelten, zukünftigen Schwiegervaters 186 erbat. Der Bräutigam in spe klopfte mit seiner Anfrage beim Kreisleiter bereits eventuelle Folgen für seine eigene Karriere ab. Er begründete sein Ansinnen damit, daß er die Absicht habe, »das Mädel zu heiraten«. 187 Mit Hilfe der »politischen Beurteilung«, die der Betroffene nicht einsehen durfte, konnte Eugen Maier entscheidend auf das Schicksal von Menschen einwirken und behielt sich das auch ganz persönlich vor. Dabei galt es jedoch, eine Anhäufung negativer »Führungszeugnisse«, die Rückschlüsse auf mangelnde »Erziehungsarbeit« in seinem Gebiet zugelassen hätte, zu vermeiden. In einem seiner parteiinternen Rundschreiben hieß es: »Ich wiederhole daher ausdrücklich meine Anordnung, daß jede Art von politischer Beurteilung, auch Sabine Schmidt 386 185 Arbogast/ Gall (wie Anm. 84), S. 157. 186 Der Betreffende war ein alter Parteigenosse und Mitglied des 1933 auf dem Ulmer Rathaus eingesetzten Untersuchungsausschusses, konnte aufgrund seiner NSDAP-Zugehörigkeit die Stelle eines der »Säuberungsaktion« zum Opfer gefallenen Beamten einnehmen und wurde danach Leiter des Wohlfahrts- und Jugendamtes. In Zusammenhang mit dort vorgefallenen Unterschlagungen wurde er wegen Rechtsbeugung verurteilt, jedoch im Revisionsverfahren freigesprochen und infolge eines Disziplinarverfahrens aus seinem Amt entlassen. Im Parteigerichtsverfahren wurden seine Verfehlungen festgestellt, ein Ausschluß erfolgte jedoch nicht: StAUL, Nachlaß Oberbürgermeister Friedrich Foerster. 187 STALB PL 502/ 32 Bü. 11. <?page no="388"?> solche von Volksgenossen, die nicht der Partei und ihrer Gliederungen oder angeschlossenen Verbänden angehören, sobald sie ungünstig lautet, in jedem Falle mir persönlich vorzulegen ist«. 188 Die Person des Kreisleiters und dessen Toleranz, oder im Falle Eugen Maiers dessen Totalitätsanspruch und Unerbittlichkeit, war, einem »kleinen König« 189 gleich, ausschlaggebend für das Wohl und Wehe seiner »Untertanen«. Trotzdem konnte er außerhalb seiner Region aufkommende »Kritik« an deren Verhalten nicht unterbinden: Im antisemitischen Hetzblatt »Stürmer« war im Februar 1935 ein Artikel unter dem Titel »Was geht in Ulm vor? « erschienen, der die Bevölkerung der Donaustadt als zu »judenfreundlich« anprangerte 190 und damit eine Forcierung der antijüdischen Propaganda einläutete. 191 Dieser gezielt eingesetzte Pressebericht gab Maier, der in kaum einer seiner Reden vergaß, auf drastische Weise gegen Juden und »Judenknechte« zu Felde zu ziehen, Anlaß, noch stärker als bisher den Antisemitismus in Ulm zu schüren. Als »Parole dieses Kampfes« verkündete er in einer Ansprache: »Jeder Ulmer fanatischer Gegner des Judentums! « 192 Wenige Monate später begrüßte er die Nürnberger Gesetze als »Gesetze, die wir alle brauchen und erwarten«. 193 Zur nationalsozialistischen Großkundgebung am 1. Mai 1935 entsandte Maier, sonst bei solchen Gelegenheiten immer präsent, in diesem Jahr seinen Stellvertreter Friedrich Gagel. Der Ulmer Bevölkerung konnte so nicht verborgen bleiben, daß der Kreisleiter zu einer militärischen Übung eingerückt war. In den vergangenen beiden Jahren hatte er »Militärische Abendkurse« 194 besucht und war daraufhin am 1. Februar 1935 zum etatmäßigen Feldwebel der Reserve ernannt worden. Auch bei der SA hatte man ihn anläßlich Hitlers 46. Geburtstags zum Sturmführer 195 befördert. Im September 1935 ging Eugen Maier zum zweiten Mal binnen eines Jahres für drei Wochen zum Militär. 196 Zwei Tage nach seiner Rückkehr von der Übung begrüßte er in Ulm, das mit der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht seine Renaissance als Garnisonsstadt erlebte, die einrückenden neuen Truppenteile mit überschwenglichen Worten: »Der heutige Begrüßungsappell der Wehrmacht ist ein bedeutendes und freudiges Ereignis für unsere Stadt. Wir Kämpfer des Führers, die wir unsere Kraft gerade auch aus dem deutschen Soldatentum geschöpft haben, Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 387 188 Aus dem Rundschreiben des Kreisleiters 09/ 39. STALB PL 502/ 32 Bü. 4. 189 Der Volksmund bezeichnete die Kreisleiter als »kleine Könige«: Arbogast/ Gall (wie Anm. 84), S. 157. 190 Lechner, Silvester, Zum Beispiel die Wegleins. Zeit- und Lebensspuren einer Ulmer jüdischen Familie, 1883 bis 1977, in: Weglein, Resi, Als Krankenschwester im KZ Theresienstadt. Erinnerungen einer Ulmer Jüdin (Die NS-Zeit in der Region Ulm/ Neu-Ulm. Vorgeschichte, Verlauf, Nachgeschichte 2), Stuttgart 1988, S. 145. 191 Vgl. Keil (wie Anm. 128). 192 UT, 23. April 1935. 193 UT, 21. September 1935. 194 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 195 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 196 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. <?page no="389"?> wissen deshalb jene Kräfte, die aus der deutschen Wehrmacht allezeit - auch in der allem Soldatischen verständnislos gegenüberstehenden Nachkriegszeit - geflossen sind, zu schätzen. Wir sind stolz darauf, daß Ulm wieder zu einer richtigen Soldatenstadt geworden ist. Schon in der Kampfzeit sind uns aus den Truppen des Standorts wertvolle Mitkämpfer erwachsen, was mit dazu beigetragen hat, daß nach der nationalsozialistischen Machtergreifung das Verhältnis zwischen Wehrmacht und Bewegung sich in Ulm sofort herzlich gestaltet hat, und so ist es bis heute geblieben [...]«. 197 Für Ulm bedeutete die Anwesenheit des Militärs eine Fortsetzung alter Traditionen, für Maiers NSDAP eine weitere Gelegenheit, gemeinsam mit der Wehrmacht Stärke zu demonstrieren; und für den am 1. Juli 1936 zum Leutnant des Beurlaubtenstandes 198 beförderten Kreisleiter die Möglichkeit bei offiziellen Anlässen Spaliere angetretener Soldaten abzuschreiten. Seinen im Grunde immer gleichbleibenden Reden, bei denen er Pflichterfüllung, Zucht, Ordnung, Anständigkeit und Judenhaß in einem Atemzug zu predigen pflegte, fügte er verstärkt eine weitere Komponente bei: Er appellierte an seine Zuhörer, sich der geschichtlichen Verantwortung als Bewohner der »alten Soldatenstadt Ulm« 199 würdig zu erweisen und in gleicher Manier für Ulm als Hochburg des Nationalsozialismus zu kämpfen und zu opfern, wie es das Vermächtnis der Gefallenen erfordere. 200 Bei den unablässig veranstalteten Sammlungen sei Opferbereitschaft in diesem Sinne Ehrensache jedes »Volksgenossen«. Die mit solcherlei Druck und Propaganda zustandekommenden »Erfolge « in seinem Zuständigkeitsbereich 201 wollte er auch öffentlich gebührend erwähnt wissen. Des öfteren beschwerte er sich, wenn im »NS-Kurier« oder im »Ulmer Tagblatt« hervorragende Spenden- oder Sammelergebnisse seiner Meinung nach nicht genug hervorgehoben wurden. Worauf er mitunter die ernüchternde und seinen Bestrebungen, einem anerkannten Musterkreis vorzustehen, zuwiderlaufende Begründung erhielt, daß für einen gesunden Wettbewerb die Überbetonung von Spitzenleistungen abträglich sei und auf andere Kreise mehr demoralisierende als anfeuernde Wirkung habe. 202 Übereifrige Pflichterfüllung bis zum körperlichen Ruin Auch in anderer Hinsicht schoß Eugen Maier zum Ärger übergeordneter Stellen über das Ziel hinaus: Im Frühjahr 1937 forderte ihn die Gauleitung auf, zu Äußerungen Stellung zu nehmen, die er zum Thema »Sind Rasierklingen wertlos? « getan habe. Sabine Schmidt 388 197 UT, 16. Oktober 1935. 198 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 199 UT, 4. Dezember 1936. 200 UT, 31. Januar 1936. 201 Im Oktober/ November 1936 wurden Ulm und Laupheim zur Kreisleitung Ulm-Laupheim unter Maiers Leitung fusioniert. UT, 19. Oktober 1936. 202 STALB PL 502/ 32 Bü. 9. <?page no="390"?> Maier, seit 1. Mai 1936 Reichsredner, rechtfertigte sich: »Aus mir amtlich zugegangenem Material habe ich zu Beginn der Propagandatätigkeit Winter 1936/ 1937 das Beispiel entnommen, daß, wenn es gelänge, alle verbrauchten Rasierklingen innerhalb des deutschen Volkes in einem Jahr restlos zu sammeln, man aus diesem Material 10.000 Granaten à 20 Pfund herstellen könne. Da dieses Beispiel mir treffend die Notwendigkeit des Sammelns auch geringster Teile von Alteisen zu beweisen schien und weil ich es für äußerst einprägsam hielt, habe ich es mir sofort herausnotiert und es in einer Reihe von Führerbesprechungen, Mitarbeiterinstruktionen und auch Schulungsvorträgen benützt. Sobald ich im Verlaufe der Sommermonate Zeit habe, mein gesamtes Wintermaterial wieder durchzustöbern, werde ich darauf zurückkommen.« 203 Der für die Herausgabe von solchen Redevorlagen verantwortliche Vertreter der Reichspropagandaleitung, Hugo Ringler, schrieb dazu, er könne sich »beim besten Willen nicht erinnern, daß [er] ein Beispiel gebraucht hätte, wie man aus Rasierklingen Granaten herstellen kann«. 204 Für Eugen Maier bestanden bei der Erfüllung seiner Verpflichtungen als Redner jedoch nicht nur inhaltlich bedingte Schwierigkeiten. Als er im März 1937 um Verschiebung seiner geplanten Teilnahme »an einem Kurs im Stab des Stellvertreter[s] des Führers« 205 bat, berichtete er Gauleiter Wilhelm Murr: »Ich habe Ihnen ja bisher über meinen gesundheitlichen Zustand eine Mitteilung nicht zukommen lassen, da ich hoffte, sehr schnell darüber hinwegzukommen. In den letzten drei Wochen war mir infolge ganz schlimmer Magen- und Darmkrämpfe der Einsatz in meiner Tätigkeit als Redner nur dadurch möglich, dass ich mich von der übrigen Arbeit sehr zurückgehalten habe [...]. Seit einigen Tagen ist eine wesentliche Besserung in meinem Zustand eingetreten. Dies ist auf die Einhaltung der mir ärztlich empfohlenen Diätkur zurückzuführen. Diese Diätkur erfordert strengste Zurückhaltung von Essen in Gasthöfen, Hotels, Pensionen usw. Sie dauert bis Ende April, um einen dauernden Erfolg zu garantieren [...]. Ausserdem bitte ich, mir jetzt schon in der Zeit vom 22. bis einschließlich 31. März, die ich mir bisher von allen Terminen freigehalten habe, Erholungsurlaub in die Berge genehmigen zu wollen.« 206 Weiter schilderte er Murr, er habe bei sämtlichen 37 Ortsgruppen und Stützpunkten des Kreises Ulm-Laupheim im Zeitraum bis zum 25. April 1937 Auftritte als Redner vereinbart. »Die Absetzung dieser Termine würde [...] nicht die beste Auswirkung haben, da ich bei vielen seit zwei Jahren, meiner anderen Arbeit wegen, gar nicht mehr gesprochen habe.« 207 Im Mai ersuchte Eugen Maier die Gauleitung abermals, nicht als Redner für die Sommermonate eingesetzt zu werden, da sich sein »Gesundheitszustand noch nicht soweit gebessert hat[te], um voll tätig sein zu kön- Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 389 203 STALB PL 502/ 32 Bü. 196. 204 STALB PL 502/ 32 Bü. 196. 205 STALB PL 502/ 32 Bü. 196. 206 STALB PL 502/ 32 Bü. 196. 207 STALB PL 502/ 32 Bü. 196. <?page no="391"?> nen«. 208 Trotz dieser Probleme erweiterte sich Maiers Zuständigkeitsbereich durch die im Juni 1937 erfolgende Neueinteilung der Parteikreise 209 , bei der die Kreisleitung Ulm-Laupheim mit der ehemaligen Kreisleitung Blaubeuren zusammengelegt wurde 210 , nochmals. Ende Juni rückte der Kreisleiter zu einer militärischen Übung 211 ein, kehrte jedoch rechtzeitig zurück, um den zur Schwör- und Heimatwoche umgestalteten »Ulmer Nationalfeiertag« zu eröffnen. Maier kündigte an, daß »das Fest so durchgeführt werde, wie man Feste im nationalsozialistischen Geist feiere [...]«. 212 Sinnbildlich dafür wurde die Veranstaltungsfolge um Kampfspiele der SA angereichert, zu denen Eugen Maier, seit Mai 1937 SA-Standartenführer 213 , in seinem Grußwort schrieb: »Damit verbindet sich ein neuer und großer Gedanke des Nationalsozialismus mit uraltem Brauch zu einer glücklichen Einheit.« 214 Bis auf den privaten Bereich 215 hatten sämtliche öffentliche Veranstaltungen nach NSDAP-Machart abzulaufen. Um auf dem »wichtigsten Gebiet des öffentlichen Lebens« Ordnung zu schaffen und sichtlich auch durch Parteischulungen instruiert, begann der Kreisleiter gleich zu Anfang des Jahres 1938 mit der Herausgabe parteiinterner Rundbriefe zur Veranstaltungsplanung und -gestaltung. Nach diesen Texten wurden acht Veranstaltungswertegruppen - vom nationalen Feiertag bis zum Kinoabend - gebildet und aufgelistet, wie diese von der Anmeldung bis zur Pressekritik aufzuziehen seien. Die letzte Entscheidung über die Genehmigung oblag Kreisleiter Maier selbst. 216 Noch detaillierter äußerte er sich zu Parteiveranstaltungen, angefangen vom respektvollen Umgang mit dem Redner über die Ausgestaltung des Saales bis zum Benehmen der Parteimitglieder, die er im Oberlehrerton maßregelte: »Lackelhaft in allen Ecken herumstehende oder sich herumtreibende, dauernd Zigaretten rauchende, dabei im Dienstanzug der Partei oder ihrer Gliederungen sich befindende Besucher verderben oft mehr, als nachher die Veranstaltung an den Besuchern gut machen kann.« 217 In seine Überlegungen zur Veranstaltungsorganisation bezog Eugen Maier ebenfalls Ulms bauliche Gegebenheiten ein. Er erhob das Münster, wie auf einer Partei- Sabine Schmidt 390 208 STALB PL 502/ 32 Bü. 196. 209 StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 7. 210 Gross (wie Anm. 82). 211 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 212 UT, 16. August 1937. Vgl. Rundbrief des Kreisleiters 09/ 38. STALB PL 502/ 32 Bü 3. 213 STALB Pl 502/ 32 Bü. 27. 214 StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 19. 215 Die NSDAP strebte danach, ihren Einfluß auch auf diesen Bereich auszudehnen. Am 23. Januar 1938 sagte Eugen Maier bei einer Presse- und Propagandatagung in Ulm, daß die Regelung des Verhältnisses zwischen Mann und Frau, Kindern und Eltern künftig von der Bewegung getroffen werden müsse und gab danach »sehr aufschlußreiche Darlegungen über die Feiergestaltungen in den Familien«: UT, 24. Januar 1938. 216 Rundbrief des Kreisleiters 01/ 38. STALB PL 502/ 32 Bü. 3. 217 Rundbrief des Kreisleiters 04/ 38. STALB PL 502/ 32 Bü. 3. <?page no="392"?> schulung gehört, zum »grössten Gemeinschaftshaus der Welt« 218 und zum leuchtenden Beispiel für die Stadtgestaltung; aber »nicht etwa, was die Lehre anlangt, deren Zwecken dieses Bauwerk gerade dient; für mich ist dieses gewaltige gotische Bauwerk nicht eine evangelische oder katholische Kirche, sondern ein Teil meines Volkes.« 219 Neuere Architektur, darunter auch den für die meisten Parteiveranstaltungen genutzten Saalbau, bezeichnete er sarkastisch als »architektonischen Schlager der Stadt Ulm« und schrieb in seinem offiziell verbreiteten Rundbrief wörtlich: »Wem da das grosse Kotzen nicht täglich ankommt, dem fehlt ein grosser Teil der fünf gesunden Sinne.« 220 Als stadtgestalterische Ziele für Ulm sah Maier nationalsozialistische Großbauten, wie zum Beispiel ein »Haus der NSDAP« sowie ein großes Gemeinschaftshaus für Versammlungen und einen Aufmarschplatz. 221 Mit dem Münsterplatz, obwohl von ihnen mit Beschlag belegt, waren die Ulmer Nationalsozialisten wegen seines kirchlichen Hintergrundes und seiner, ihrer Meinung nach, zu geringen Größe unzufrieden. 222 Kreisleiter Eugen Maier, stadtbekannt für seine antikirchliche Haltung, trat 1938 mit seiner mittlerweile sechsköpfigen Familie aus der katholischen Kirche aus und bezeichnete sich im nationalsozialistischen Sinne als »gottgläubig«. 223 Die Feierlichkeiten zur Geburt des jüngsten Sohnes wurden im Hause Maier mit pseudoreligiösen Zeremonien begangen. 224 Das »Ulmer Tagblatt« vermeldete am 17. Januar 1938, Oberbürgermeister Foerster habe dem Kreisleiter gratuliert und ihm mitgeteilt, »daß er im Sinne unserer nationalsozialistischen Weltanschauung die Absicht habe, für jedes vierte Kind einer Familie die Ehrenpatenschaft durch die Stadt Ulm zu übernehmen. Die Patenschaft wird in jedem Fall und ohne Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse der Eltern übernommen, sofern nur die Eltern nationalsozialistischer Auffassung und als würdige Volksgenossen anzusehen seien«. 225 Weiter hieß es, der Oberbürgermeister rechne es sich zur Ehre an, Maier als politischem Führer als erstem im Ulm diese Patenschaft für sein viertes Kind anzubieten.Ä hnlich wie bei der Verleihung der Mutterkreuze 226 war damit eine Möglichkeit geschaffen, mißliebige Familien in der Öffentlichkeit zu stigmatisieren, indem ihnen die nach der Kinderzahl eigentlich gebührende »Auszeichnung« versagt wurde. Nach einer scheinbaren gesundheitlichen Erholung trat Eugen Maier in alter Manier als Redner auf, ob beim Festakt zum fünften Jahrestag der Machtergreifung Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 391 218 Rundbrief des Kreisleiters 09/ 38. STALB PL 502/ 32 Bü. 3. 219 Rundbrief des Kreisleiters 09/ 38. STALB PL 502/ 32 Bü. 3. 220 Rundbrief des Kreisleiters 09/ 38. STALB PL 502/ 32 Bü. 3. 221 Rundbrief des Kreisleiters 09/ 38. STALB PL 502/ 32 Bü. 3. 222 SDZ, 9. Juni 1994. 223 StAUlm, G2 Eugen Maier 224 Mitteilung von Herrn Dr. Lechner, Leiter des Dokumentationszentrums KZ Oberer Kuhberg Ulm. 225 UT, 17. Januar 1938. 226 Vgl. König, Martin, Die »deutsche Frau und Mutter«. Ideologie und Wirklichkeit, in: Specker, Hans Eugen (Hrsg.), Ulm im Zweiten Weltkrieg (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 6) Ulm 1995, S. 109-112. <?page no="393"?> im Saalbau 227 oder am 13. März 1938 bei der »Freudenkundgebung zum Anschluß Österreichs« auf dem Münsterplatz. Das »Ulmer Tagblatt« berichtete darüber, er habe eine jener Ansprachen gehalten, »wie wir sie seit jeher bei dem Hoheitsträger der Ulmer Bewegung kennen«. 228 In »Hochform« präsentierte sich Eugen Maier jedoch am Tag vor der Volksabstimmung über den Anschluß Österreichs, als er sich bei einer nächtlichen Kundgebung vor dem rot angestrahlten Münster, »in seinem Kraftwagen stehend«, auf Goebbelssche Art mit den Worten an die Menge wandte: »Ulmer, ich frage Euch: Wollt Ihr das Großdeutsche Reich? [...] Ulmer, ich frage Euch: wollt Ihr ein Reich voller Macht, Zukunft, Größe und Stärke? [...] Ulmer, wollt Ihr Adolf Hitler? « 229 Die Antwort, so berichtete die Zeitung, sei ein »begeistertes [...] brausendes [...] tosendes, nicht endenwollendes Ja« gewesen und Maier habe keinen Zweifel daran gelassen, daß Ulm am 10. April hundertprozentig wählen würde. Für das erreichte »Abstimmungsergebnis« 230 dankte Gauleiter Murr dem Kreisleiter in einem offenen Telegramm. 231 Wenige Tage später konnten die Ulmer in der Zeitung lesen, daß Eugen Maier, Gauinspekteur und Ulmer Kreisleiter, erneut in den Reichstag gewählt worden sei. 232 In der Folgezeit hatte Maier wieder mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen. Beim Wehrbereichskommando entschuldigte er sich, an einem für den 18. Juli 1938 vorgesehenen Geländelehrgang nicht teilnehmen zu können, da er »während dieser Zeit im Krankheitsurlaub in Italien« 233 sei. Seine durch diese Reise hervorgerufene Abwesenheit von Ulm führte in der Stadt zu Spekulationen, denen er nach seiner Rückkehr öffentlich entgegentrat. Unter derÜberschrift »Ein Mann ohrfeigt Lügner und Schnüffler [...]« berichtete das »Ulmer Tagblatt« von einer Kundgebung im Saalbau, bei der der Kreisleiter mit den falschen Gerüchten, die gewisse Kreise 234 seit längerer Zeit über ihn ausgestreut hätten, abgerechnet habe: Einige davon hätten ihn totgesagt, andere hätten behauptet, er sei »von höchster Stelle zur Verantwortung gezogen« worden, andere wieder meinten, er sehe in Dachau seiner Strafe entgegen oder befinde sich auf einem »Bittgang zum Papst« oder er liege im Krankenhaus im Sterben. Weiter schrieb das Blatt: »Es ist in Zukunft besser, wenn sie nicht mit den vielbesprochenen ›Magengeschwüren‹ von Kreisleiter Maier, sondern mit der hinreichend bekannten Zähigkeit dieses fanatischen Kämpfers für die Idee rechnen.« 235 Sabine Schmidt 392 227 UT, 31. Januar 1938. 228 UT, 14. März 1938. 229 UT, 11. April 1938. 230 Die Wahlbeteiligung betrug nach Verlautbarung des Ulmer Tagblattes in Stadt und Kreis Ulm jeweils 100 Prozent: UT, 11. April 1938; Ulm stimmte nach Angaben des Ulmer Tagblattes mit 99,88 Prozent für den Anschluß Österreichs: UT, 12. April 1938. 231 UT, 12. April 1938. 232 UT, 16. April 1938. 233 STALB PL 502/ 32 Bü. 11. 234 In seiner Rede spielte Eugen Maier in bekannter Manier und ohne konkrete Namen zu nennen mehrmals auf die Kirche an. 235 UT, 6. August 1938. <?page no="394"?> Ulm muß eine judenfreie Stadt werden - »Auge um Auge, Zahn um Zahn« 236 War der Großteil der deutschen Bevölkerung unter der Macht der NSDAP zu unmündigen »Volksgenossen« degradiert worden, so wurde den noch im Lande lebenden Juden durch eine Unzahl von diskriminierenden Gesetzen 237 immer mehr die Luft zum Atmen genommen. Den vorläufigen Gipfel erreichte diese Entwicklung durch das Pogrom vom 9./ 10. November 1938, bei dem die Ulmer Synagoge angezündet und ortsansässige Juden 238 von Polizei und SA auf dem Weinhof zusammengetrieben, mißhandelt, danach ins Gefängnis und die meisten von ihnen in das KZ Dachau eingeliefert wurden. Nach den Aussagen eines Betroffenen benahmen sich die Polizeibeamten, die aber auch nichts unternahmen, um Übergriffe zu verhindern, »von wenigen Ausnahmen abgesehen korrekt [...] dagegen die SA Leute, die die Juden aus den Wohnungen holten, wie die übelsten Rowdies.« 239 In einem Verfahren vor dem Landgericht Ulm mußten sich im Dezember 1946 240 einige der Gewalttäter verantworten. Der Angeklagte Stephan Herrmann, Werkmeister und seit 1938 Parteigenosse und stellvertretender NSDAP-Ortsgruppenleiter, sagte dabei aus, in den frühen Morgenstunden des 10. November 1938 den Befehl erhalten zu haben, in Zivil auf der NSDAP-Geschäftsstelle zu erscheinen. Von dort habe man ihn auf den Weinhof beordert, wo die Synagoge bereits brannte. Weiter schilderte Hermann: »Auf dem Weinhofplatz waren Männer von Gliederungen der Partei, die mir namentlich nicht bekannt [waren] mit Ausnahme von dem damaligen Kreisleiter [...] Aus nächster Entfernung sah ich, wie man am Brunnen einen Juden mißhandelte. Demselben lief das Blut herunter, fielen die Zähne aus dem Mund (künstliches Gebiß), worauf dann der Kreisleiter anfeuerte, ›schlagt die Saujuden tot‹.[...] In meinem damaligen unerschütterlichen Glauben und vollständig unter der einseitigen Propaganda stehend und auf Befehl war ich dabei [...], ich war dabei und schäme mich heute deswegen.« 241 Ein anderer Augenzeuge, der SA-Mann und Sanitätstruppführer Wilhelm Fisel gab im August 1945 zu Protokoll, mit dem SA-Sanitätsführer Dr. Meyer-König zum Weinhof gegangen zu sein und berichtete: »Als wir dort ankamen, sahen wir, daß Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 393 236 Aussprüche Eugen Maiers in seiner Rede vom 22. November 1938 im Ulmer Saalbau: UT, 23. November 1938. 237 Vgl. Keil (wie Anm. 128), S. 392-407. 238 Polizeidirektor Wilhelm Dreher verhängte am 9. November 1938 »zum Schutz« für alle Juden eine von 20.00 bis 6.00 Uhr befristete Ausgangssperre und sicherte so, daß diese unter Androhung von Inschutzhaftnahme bei Zuwiderhandlung auch in ihren Wohnungen anzutreffen waren: UT, 9. November 1938. 239 Keil (wie Anm. 128), S. 152. 240 Bei diesem Verfahren wurde vor der Strafkammer des Landgerichtes Ulm gegen ehemalige SA-Leute und NSDAP-Mitglieder wegen ihrer aktiven Teilnahme am Pogrom vom 9./ 10. November 1938 verhandelt. Schwäbische Donau-Zeitung (im folgenden SDZ), 14. Dezember 1946. 241 Keil (wie Anm. 128), S. 144; SDZ, 14. Dezember 1946. <?page no="395"?> Betrieb im Brunnen war. Ich muß gestehen, daß ich sah, wie Juden geschlagen wurden, aber ich konnte nicht sehen, wer sie in den Brunnen warf. Plötzlich erschien der verstorbene Kreisleiter Maier und sagte: ›Los, kommt, für was seid Ihr hier! ‹ Dr. Meyer-König erwiderte: ›Wir sind hier zum Helfen und nicht zum abbürsten, weil wir Angehörige des Sanitätstrupps sind.‹« 242 Das Ulmer Pogrom wurde in der Presse als Äußerung »Gerechten Volkszornes« 243 gerechtfertigt und ging, wie die Justiz später feststellte, auf den Befehl der Kreisleitung und der SA-Führung zurück, die eine große Anzahl von politischen Leitern und SA-Männern zu diesem Zweck alarmiert und auf den Weinhof beordert hatte. 244 Das bestätigte auch eine Aussage, die der Kriminalangestellte Mayer 1945 vor der Militärregierung machte: »Die ganze Aktion wurde von dem ehemaligen, jetzt verstorbenen Kreisleiter Maier, geleitet.« 245 Ein Gerichtsverfahren ergab, daß die Brandstiftung vom Führer der SA-Brigade 56, Erich Hagenmeyer 246 , befohlen und von der SA-Standarte 120 ausgeführt wurde. 247 Während Hagenmeyer in der Zeit des Pogroms in seiner Wohnung blieb, trat Eugen Maier vor Ort persönlich in Erscheinung. In seinem »Monatsbericht für politische Redner der NSDAP« vom November 1938 schrieb er: »Die Aktion in der Nacht vom 9. auf den 10.11. (Synagogen und dergl.) hat das Kraftgefühl der nat.-soz. Bewegung selbst ungemein gestärkt, während in weiten Kreisen der Bevölkerung die Stimmung halb auf halb für und gegen verteilt war. Soweit Redner durchschlagend in Judenfragen gewirkt haben, hat sich auch in der Bevölkerung die Stimmung weitestgehend zu unseren Gunsten in wenigen Tagen gebessert, soweit nicht die bekannten Judenknechte und konfessionell entsprechend festgelegt Teile der Bevölkerung in Frage kommen.« 248 Maier war sich demnach völlig klar darüber, daß von »spontanem Volkszorn« keine Rede sein konnte und sich ein beträchtlicher Teil der Einwohnerschaft von den verübten Gewaltakten distanzierte. Franz Müller, später Mitglied der Widerstandsgruppe »Weiße Rose«, erinnerte sich, zusammen mit Klassenkameraden als 14jähriger Schüler Augenzeuge des Pogroms auf dem Weinhof gewesen zu sein und dadurch die Diskrepanz zwischen offizieller Propaganda und den Taten der Nationalsozialisten begriffen zu haben. Den Schülern sei eingetrichtert worden, der Germane kämpfe offen und anständig; »[...] doch wir haben gesehen, wie die SA-Leute wehrlose Juden zusammengeschlagen haben.« 249 Sabine Schmidt 394 242 STALB EL 902/ 22 Bü. 47/ SV/ 465. 243 UT, 11. November 1938. 244 Keil (wie Anm. 128), S. 138. 245 STALB EL 902/ 22 Bü. 47/ SV/ 465. 246 Vgl. Schmidt, Sabine, Kurzbiographien. Erich Hagenmeyer. Polizeidirektor von 1943 - 1945, in: Ulm im Zweiten Weltkrieg, hrsg. v. H. E. Specker (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 6), Ulm 1995, S. 473 - 476. 247 Keil (wie Anm. 128). 248 STALB, PL 502/ 32 Bü. 196. <?page no="396"?> Am 22. November 1938 hielt Eugen Maier im Saalbau eine der abscheuerregendsten Reden der Ulmer NS-Zeit. Die Lokalpresse zitierte: »Was jetzt endlich gegen die Juden in Deutschland geschah, war notwendig und gut, und wer das nicht begreifen will, ist gedankenlos und leichtsinnig und hat aus der deutschen Geschichte nichts gelernt.« Am Schluß seiner Rede, so berichtete die Zeitung, habe der Kreisleiter sechs Forderungen aufgestellt, für deren Durchführung die Partei sorgen werde: »1. Nie mehr darf in Ulm eine Synagoge entstehen; denn eine Stätte, in der Haß als ein Stück der jüdischen Religion gepredigt wird, ist kein Gotteshaus, sondern eine Hochschule des Teufels. 2. Wir werden nicht ruhen, bis sämtliche Juden die alte freie Reichsstadt verlassen haben. 3. Wir dulden auf keinem Gebiet mehr einen Judenknecht [...] 6. Um eine vollkommene Trennung des Lebens zwischen Juden und Deutschen in Ulm zu erreichen, müssen die Juden in jüdische Häuser ziehen und die Häuser in arischem Besitz räumen.« 250 Als Geschenk anläßlich des zehnten Jahrestages seiner »Berufung zum Hoheitsträger der NSDAP« am 28. Januar 1939 erhielt Eugen Maier eine Tafel, auf der diese Forderungen in Kunstschrift und mit Illustrationen versehen festgehalten waren. 251 Dieses »Werk« wurde ebenfalls vom »Ulmer Tagblatt« veröffentlicht und in der Ulmer Kunsthandlung Göbel ausgestellt. Der von 200 Parteigenossen zum Dienstjubiläum ihres Kreisleiters veranstaltete Fackelzug mußte allerdings in Richtung Krankenhaus gehen, wo sich Maier, wie er Murr mitteilte, »zur Beobachtung« 252 befand. Vom Balkon seines Krankenzimmers, so berichtete das »Ulmer Tagblatt« ausführlich, habe Kreisleiter Maier den Vorbeimarsch »abgenommen« und in einer Ansprache bekräftigt, im alten Kampfgeist auch weiterhin der politischen Arbeit seines Kreises dienen zu wollen. 253 Oberbürgermeister Foerster hob in einem Glückwunschschreiben den »vorbildlichen persönlichen Einsatz« und die »kameradschaftliche Haltung« des Kreisleiters hervor. Intern vermerkte er: »Anlaß für eine besondere Ehrung durch die Stadt wird m.E. die Feier des zehnjährigen Kreisleiterjubiläums, die Kreisleiter Maier in einem der nächsten Jahre begehen kann, sein.« 254 Anfang Februar 1939 wurde Maier aus dem Krankenhaus entlassen, hielt sofort wieder öffentliche Reden 255 und fuhr im März zu einer Reichs- und Stoßtrupprednertagung nach Berlin. 256 Den 50. Geburtstag des »Führers« beging Ulm mit allen Insignien nationalsozialistischer Propaganda. 257 In seiner Ansprache auf dem Mün- Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 395 249 SDZ, 6. Februar 1983. 250 UT, 23. November 1938. 251 UT, 11. Februar 1939. 252 STALB PL 502/ 32 Bü. 196. 253 UT, 30. Januar 1939. 254 StAUlm, B 123/ 1321 Nr.7. 255 UT, 7. Februar 1939. 256 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 257 UT, 20. April 1939; UT, 21. April 1939. <?page no="397"?> sterplatz bezeichnete Eugen Maier Hitler als von der Vorsehung dazu bestimmt, Weltgeschichte zu machen. 258 Zum 1. Mai 1939 wurde der Öffentlichkeit eine auf Anregung von Kreisleiter Maier entstandene Ulmer Frauenfesttracht 259 präsentiert. Hierzu schrieb er in einem seiner Rundbriefe: »Jeder deutsche Mann, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, tut heute ehrenamtlichen Dienst an irgend einer Stelle der Bewegung des Führers [...]. Er besitzt daher als männliche Tracht der heutigen politisch-geformten Zeit seinen Dienstanzug [...]. Es wird eine Bereicherung unserer Festgestaltung in Ulm bedeuten, [...] wenn unsere Frauen als Mitwirkende wie auch als Zuschauerinnen [...] alle in der Ulmer Festtracht erscheinen. Es liegt daher an der Werbe- und Führungskraft aller Politischen Leiter und Frauenschaftsleiterinnen, hier bahnbrechend zu wirken.« 260 Das vorzeitige Ende der keinesfalls durch modische oder gestalterische Ambitionen des Kreisleiters entstandenen Frauenfesttracht kam mit der Einführung von Bezugsscheinen für Textilien kurz vor Kriegsausbruch 1939. 261 Und auch Eugen Maiers Ehefrau, die ihrem Mann als Protagonistin und »Modell« für die Festtracht diente, konnte damit seltener repräsentieren 262 als gedacht. Für die Zeit von Juli bis September 1939 war von Reichspropagandaminister Goebbels ein Veranstaltungsverbot 263 für die Partei, ihre Gliederungen sowie die angeschlossenen Verbände erlassen worden. Begründet wurde diese Maßnahme mit der Rücksichtnahme auf die Sicherstellung der Ernte und auf die Hauptferienzeit. Auch die, zunächst noch vor der Bevölkerung geheimgehaltene, Organisierung der dann am 27. August einsetzenden Lebensmittelkartenverteilung 264 waren für Eugen Maier, eher als für die größtenteils noch auf Frieden hoffenden Ulmer, ein eindeutiges Indiz für den bevorstehenden Krieg. Trotz all seiner propagandistischen Bemühungen gab es in der »Nationalsozialistischen Hochburg« Ulm keine Begeisterung, als der Krieg ausbrach. 265 Viele fürchteten um das Leben ihrer von der Mobilmachung betroffenen Angehörigen. Eugen Maier blieb als Kreisleiter natürlich in der »Heimat«, war jedoch krampfhaft Sabine Schmidt 396 258 UT, 20. April 1939. 259 UT, 22. April 1939. 260 Rundbrief des Kreisleiters 08/ 38. StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 32. 261 Die Einführung der Bezugsscheinpflicht erfolgte am 28. August 1939; vgl. Herrmann, Bettina, Das tägliche Leben zwischen Einschränkung und Pflichterfüllung, in: Ulm im Zweiten Weltkrieg, hrsg. v. H. E. Specker (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 6), Ulm 1995, S. 55-98. 262 Vgl. UT vom 7., 11. und 22. August 1939. 263 Das bereits am 15. Juni 1939 ergangene Veranstaltungsverbot beinhaltete jedoch die Möglichkeit, Ausnahmegenehmigungen beim Gaupropagandaamt zu beantragen. Sonderveranstaltungen, wie z.B. der Schwörmontag, fanden 1939 im üblichen Rahmen statt, so daß die Bevölkerung von Goebbels Erlaß nicht allzuviel bemerkte: StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 5. 264 UT, 28. August 1939. 265 Vgl. Specker, Hans Eugen, Ulm am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Das letzte Friedensjahr, in: Ulm im Zweiten Weltkrieg, hrsg. v. H. E. Specker (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 6), Ulm 1995, S. 13-54. <?page no="398"?> bemüht, diese Tatsache zu rechtfertigen. So beschwerte er sich bereits in den ersten Kriegsmonaten darüber, daß in der örtlichen Presse ein Artikel, der die Kampfeinsätze der Reichs- und Gauleiter als Soldaten an der Westfront im Ersten Weltkrieg belegen sollte, nicht erschienen sei. Maier fuhr fort: »Viele Politische Leiter werden auf Befehl des Führers gegen ihren eigenen Willen an der inneren Front festgehalten, obwohl sie am gernsten als Soldaten ihre Pflicht erfüllen würden [...], außerdem sind sie doch mancherlei Angriffen unverständiger Elemente deshalb ausgesetzt, weil sie noch zu Hause sind. Schon aus diesen Gründen ist es unerlässlich, daß die örtliche Presse solche Artikel des NSK 266 ohne Kürzung bringt, die zu diesem Verhältnis Stellung nehmen.« 267 »... was der Führer nicht kann« Trotz dieser Bemühungen um sein öffentliches Ansehen, kam es zu einer peinlichen Entgleisung Maiers, als dieser im September 1939 einen »Flüchtlingstransport« 268 von Ulm nach Kehl begleitete. In einem Schreiben an ihre Oberste Dienststelle in Berlin 269 beschwerten sich die DRK-Begleiterinnen des Zuges: »Als Führer des Transports nahm Herr Kreisleiter Maier aus dem Kreis Ulm teil, der am frühen Morgen den Zug in angetrunkenem Zustand bestieg, sich zu den Helferinnen setzte, sie belästigte und sofort anfing, über sein häusliches Leben und über seine Ehe allerlei Intimitäten zu erzählen und in einer seiner Stellung unwürdigen Weise breitzuschlagen. [...] Wenn ihm etwas nicht passe an seiner Ehefrau, werfe er während der gemeinsamen Mahlzeit den vollen Teller an die Wand. Nun gingen seine Ausführungen weiter vor all diesen fremden Menschen, bei einer offiziellen Dienstfahrt, in ganz unfeiner Weise, immer sich in demselben Gebiet bewegend und gipfelnd in dem Satz: ›Ja überhaupt, auf 1.000 Kinder im Jahr kommt es mir nicht an, drei am Tag kann ich ›machen‹; das ist es eben, was der Führer nicht kann.‹ Nebenher wurden von ihm noch einmal drei Flaschen Wein ausgetrunken, was die Nüchternheit und das Verantwortungsgefühl nicht gerade förderte. Außerdem wurde von Herrn Kreisleiter Maier geprahlt, daß ihm, dem Kreisleiter, ja nichts passieren könne, [...] die Beschwerden [gingen] höchstens bis zum Gau.« 270 Mit seiner letzten Behauptung hatte Eugen Maier erwiesenermaßen Recht. Obwohl in der Beschwerde betont wurde, daß »dieses Verhalten eines deutschen Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 397 266 Nationalsozialistische Parteikorrespondenz. 267 Aus Maiers Schreiben an das Kreispropagandamt sowie das Kreispresseamt vom 19. Dezember 1939. STALB PL 502/ 32 Bü. 5. 268 Archiv des Alb-Donaukreises (im folgenden ADK), OA Ulm, Az. 0138-1162. 269 Dort kam er wahrscheinlich nicht an, sondern blieb bei untergeordneten Stellen hängen; vgl. König (wie Anm. 226). 270 ADK, OA Ulm, Az. 0138-1162. <?page no="399"?> Mannes in einer so verantwortungsvollen Stellung tief bedauert« 271 werden müsse und darum gebeten wurde, »in irgend einer Form Abhilfe« 272 zu schaffen, hatte sie für Maier keine erkennbaren Folgen. Als Kreisleiter und Verfasser verschiedener Papiere zum »Verhalten gegenüber Partei- und Volksgenossen« 273 arbeitete er weiter an der Aufgabe der NSDAP, »nach dem Willen des Führers das deutsche Volk zu erziehen«. 274 Es lag zu Beginn des Krieges wohl nicht im Interesse übergeordneter Stellen, Eugen Maier zu diskreditieren, obwohl er sich anscheinend über Hitler erhoben hatte. Die Schilderungen der häuslichen Zwistigkeiten des Kreisleiters betrachtete man, sollten sie zutreffen, wohl als »Kavaliersdelikt«: eingedenk dessen, daß die Ehefrau eines höheren Parteifunktionärs meist als einzige wagen konnte, diesen zu kritisieren, ohne Repressalien fürchten zu müssen. Es geschah durchaus, daß Menschen sich mit ihren Anliegen lieber an Maiers Frau als an diesen selbst wandten: So berichtete ein Brief in deren Spruchkammerakte über drei Ulmer Juden, die 1939 die Kreisleitersgattin um Unterstützung bei der Genehmigung 275 ihrer Ausreise bitten ließen. Aufgrund der zunehmenden Judenverfolgung gezwungen, Deutschland sobald als möglich zu verlassen, untermauerten sie Ihren Wunsch durch das Angebot, den Eheleuten Maier ihr Wohnhaus in der Ulmer Schadstraße 276 zu schenken, sollte die Ausreiseerlaubnis erteilt werden. Weiter hieß es: »Frau Maier verwandte sich tatsächlich für unsere jüdischen Bekannten mit dem Erfolg, daß die beiden Damen und der Sohn innerhalb von zehn Tagen ins Ausland reisen konnten, ohne daß ihnen irgendwelche Schwierigkeiten seitens der Behörden bereitet worden wären. Die Eheleute Maier haben die angebotene Schenkung des Wohnhauses abgelehnt.« 277 Da 1939 die Vertreibung der Juden aus Deutschland noch gängige Strategie der Nationalsozialisten war, handelte Maier auch hier keinesfalls gegen die Interessen der NSDAP, verzichtete jedoch auf persönliche Vorteilsnahme. Seit Kriegsbeginn galt es, die Parteiinteressen auch gegenüber den Anforderungen der Wehrmacht zu verteidigen, die beispielsweise früher für NSDAP-Veranstaltungen genutzte Räume beschlagnahmte. Dabei erregte die »Tatsache der Verfügungstellung von Gemeinschaftsräumen der Partei und des Volkes an kriegsgefangene Polacken« den besonderen Zorn Kreisleiter Maiers. 278 So daß er auf einer seiner nun um so zahlreicher veranstalteten »Führerschulungen« verkündete: »Auch in Kriegs- Sabine Schmidt 398 271 ADK, OA Ulm, Az. 0138-1162. 272 ADK, OA Ulm, Az. 0138-1162. 273 Rundschreiben des Kreisleiters 09/ 39, STALB PL 502/ 32 Bü. 4. 274 Rundschreiben des Kreisleiters 09/ 39, STALB PL 502/ 32 Bü. 4. 275 Eugen Maier hatte dabei ein entscheidendes Wort mitzureden. 276 Das Haus in der Schadstraße 18 wurde jedoch sofort als »Judenhaus eingeplant« und wenig später verkauft: StAUlm, RpR, 23. Juni 1939, § 103. 277 STALB EL 902/ 21 Bü. 45/ 84/ 6966. 278 Rundschreiben des Kreisleiters 13/ 39. STALB PL 502/ 32 Bü. 4. <?page no="400"?> zeiten ist Anfang und Ende jeder politischen Arbeit, daß das ganze Volk zur nationalsozialistischen Weltanschauung erzogen wird.« 279 Will man einem später Maier zu Ehren verfaßten Theaterstück glauben, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand gegen Ende 1939 so sehr, daß er beschloß, sich einer Operation zu unterziehen, um für die »kommenden großen Aufgaben« gerüstet zu sein. 280 Bei einer Feierstunde der NSDAP am 9. Januar 1940 unter dem Motto »Wir fahren gegen Engelland« hielt Kreisleiter Eugen Maier, der seit wenigen Tagen Oberleutnant 281 war, noch einmal eine seiner berühmt-berüchtigten Propagandareden. Das »Ulmer Tagblatt« berichtete, er habe an seine Zuhörer die Fragen gestellt: »Wollt Ihr leb en und wol lt Ihr den To d E urer Ver nic hter? [...] Woll t I hr nac h E ngla nd fahren ? « und beantwortete sie mit dem propagandistischen Schlachtruf: »Führer befiehl, wir folgen! « 282 »... zur Standarte Horst Wessel abberufen« 283 Am 16. Januar 1940 verstarb Eugen Maier im Ulmer Krankenhaus. 284 Das »Ulmer Tagblatt« schrieb dazu auf seiner Titelseite: »Ein Kämpfer, dessen Lebensbegriff Adolf Hitler, dessen Lebensinhalt Deutschland, nur Deutschland hieß, ist nicht mehr. Ein Führer, dem sein Kreis, mit der alten nationalsozialistischen Hochburg Ulm an der Spitze, zum Inbegriff seines Schaffens wurde, ist zur Standarte Horst Wessel eingerückt.« Weiter hieß es: »Das Leben unseres Kreisleiters war von frühester Jugend an unaufhörlicher Kampf und rücksichtsloser Einsatz für den Führer, seine Idee und für Deutschland.« 285 Die Trauerfeierlichkeiten wurden ganz im Stile des Verstorbenen und der NSDAP per neunseitigem Veranstaltungsbefehl 286 generalstabsmäßig vorbereitet und zu einer Propagandaveranstaltung 287 sondergleichen aufgebauscht; zeitlich »so ange- Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 399 279 UT, 2. Dezember 1939. 280 Ernst, H. W., Eugen Maier. Ulm. Das Leben eines Kämpfers, Programm zur Eugen-Maier-Feierstunde im Saalbau der Stadt Ulm am 25. Februar 1940, Ulm 1940, S. 29-30. 281 STALB PL 502/ 32 Bü. 27. 282 UT, 10. Januar 1940. 283 Diese Formulierung wurde in Zusammenhang mit Eugen Maiers Tod nicht nur wiederholt in der Presse gebraucht, sondern ebenfalls von seiner Witwe in ihren Dankschreiben für erhaltene Kondolenzen verwendet: UT, 17. Januar 1940; StAUlm, B 123/ 1321 Nr.7. 284 Eugen Maiers Krankenakte wurde nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist kassiert, die genaue Todesursache ist dadurch leider nicht mehr feststellbar. 285 UT, 17. Januar 1940. 286 StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 7. 287 Vgl. Loges, Georg; Schmidt, Uwe, Partei und Propaganda im Krieg, in: Ulm im Zweiten Weltkrieg, hrsg. v. H. E. Specker (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 6), Ulm 1995, S. 250 - 276. <?page no="401"?> setzt, daß jeder Volksgenosse seinen unauslöschlichen Dank dem ersten Ulmer Kreisleiter im Großdeutschen Reich zum Ausdruck bringen kann.« 288 Bis zum Abend des 18. Januar 1940 bahrte man den Leichnam Eugen Maiers im Krankenhaus auf. Von dort wurde der Sarg bei Einbruch der Dunkelheit, begleitet von einem Fackelzug der Ulmer Nationalsozialisten, mit einem von Trommelwirbel untermalten Halt am Dienstgebäude der Kreisleitung und vorbei am Ulmer Münster zum Rathaus gebracht. 289 Als der Leichenzug an der Georgskirche vorbeikam, fiel die nach militärischer Sitte auf dem Sarg liegende Kreisleitermütze zu Boden. Ein Geschehen, das der Volksmund damit kommentierte, daß Eugen Maier, der zu Lebzeiten nie bereit gewesen sei, vor der Kirche »den Hut zu ziehen«, dies im Tode nun habe doch tun müssen. 290 Im großen Ratssaal wurde der Sarg mit der in Kreisleiteruniform gehüllten Leiche Eugen Maiers nochmals aufgebahrt. Es fand eine Abschiedsfeier für seine engsten Mitarbeiter in der Kreisleitung statt, bei der aber auch Vertreter der Gauleitung, Ortsgruppenleiter, Behördenvorstände und Ratsherren anwesend waren. Polizeidirektor Wilhelm Dreher würdigte den Verstorbenen in einer Ansprache als »alten Kämpfer«, dessen Erbe in der Mahnung an die Lebenden bestehe: »Erfüllet Eure Pflicht, damit euer Leben erfüllt sei, ehe es zu Ende ist! « 291 Am Vormittag des 19. Januar wurde »der Ulmer Bevölkerung Gelegenheit gegeben, im Rathaussaal vom verstorbenen Kreisleiter Abschied zu nehmen« 292 sowie sich in ein Kondolenzbuch einzutragen. Und es hätten sich, so berichtete das »Ulmer Tagblatt«, ungeachtet der Kälte Tausende gedrängt, um »vor seine sterbliche Hülle« zu treten, und »still zu geloben, seinem Beispiel zu folgen und nach seinem Vorbild zu leben«. 293 Gegen Mittag fand im Rathaus eine Trauerfeier für Maiers Angehörige und geladene nationalsozialistische Funktionäre statt. Dabei sprach der Gauleiter und Reichsstatthalter Wilhelm Murr in heroisierenden Worten vom Beginn der Maierschen Parteikarriere, die in einem »so reich gesegneten Wirken im Dienst von Führer, Partei und Staat« 294 gemündet habe. Im Anschluß wurden Kränze von Rudolf Heß, Joseph Goebbels und anderen »Nazigrößen« niedergelegt. Den Verlauf der Veranstaltung übertrug man per Lautsprecher auf den Marktplatz. 295 Danach wurde der Sarg, gefolgt von Kolonnen der Nationalsozialisten und der Wehrmacht, durch die mit Trauerbeflaggung versehene Stadt zum Friedhof gleitet, wo unter Salutschüssen die Beisetzung in einem Ehrenhain stattfand. 296 Sabine Schmidt 400 288 UT, 17. Januar 1940. 289 UT, 19., 20. Januar 1940. 290 StAUlm Mitteilung der Zeitzeugin Frau Mauser. 291 UT, 19. Januar 1940. 292 UT, 19. Januar 1940. 293 UT, 20. Januar 1940. 294 UT, 20. Januar 1940. 295 UT, 20. Januar 1940. 296 UT, 19., 20. Januar 1940. <?page no="402"?> Die Kommune, die bereits an den Kosten der Trauerfeierlichkeiten 297 maßgeblich beteiligt war, bemühte sich in der Folgezeit um die Errichtung eines bildhauerisch gestalteten Grabmonuments für Kreisleiter Maier. 298 Sie nahm sich auch der Hinterbliebenen an, indem sie finanzielle Unterstützung 299 für die Schulausbildung seiner Kinder gewährte. Die bereits bei den Trauerzeremonien begonnene Stilisierung des toten Kreisleiters zum nationalsozialistischen Helden der Region wurde in der Folgezeit noch gesteigert: Zu seinem Gedächtnis veranstaltete die NSDAP am 25. Februar 1940 im Saalbau eine »Eugen-Maier-Feierstunde« 300 mit der Aufführung des vom Kreispropagandaamt gestalteten Stückes »Eugen Maier, ein Kornett des Führers«. 301 Das als szenische Lesung dargebotene »Werk« stellte in nazistisch verklärender Weise, umrahmt von Wagnermusik und dem Zeitgeist entsprechenden Dichterworten, nochmals den Lebenslauf des verstorbenen Kreisleiters dar. Im »Ulmer Tagblatt« wurde die Veranstaltung als »eine kultische Handlung [...], bei der Kampf, Feier, Tat und Besinnung zu einer verpflichtenden Einheit wurden« 302 , hochgejubelt. Auch Oberbürgermeister Foerster trug mit seiner Ansprache am Schwörmontag 1940 weiter zum Aufbau der Legende Eugen Maier bei. Der Verstorbene sei im Kampfe für Volk und Führer an der inneren Front gefallen, sein »höchster Wunsch, mit der Waffe in der Hand für sein Volk kämpfen zu dürfen« 303 , sei ihm leider versagt geblieben. Noch bis 1944 fanden an Maiers Grab jährlich Kranzniederlegungen im Zuge des Gedenkens an die Toten der Bewegung und die Gefallenen des Krieges statt. 304 Nach Kriegsende beschloß der Gemeinderat die »Umbettung der Leichen sogenannter verdienter Nationalsozialisten« von auf dem Friedhof zugewiesenen Ehrenplätzen in normale Reihengräber, sobald die erforderlichen Arbeitskräfte zur Verfügung stehen würden. Die Hakenkreuze auf den Grabdenkmälern sollten ebenfalls entfernt werden 305 : Eugen Maiers Grabstätte befand sich zwischenzeitlich »in einem ziemlich verwahrlosten Zustande. Die Hinterbliebenen 306 hätten sich wenig um das Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 401 297 StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 7. 298 StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 7. Bereits vorliegende Entwürfe eines solchen Monuments wurden aber durch die Kriegsentwicklung nicht mehr realisiert. 299 StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 7. 300 UT, 26., 27. Februar 1940. 301 Das Stück war vom damaligen Dramaturgen des Ulmer Theaters und Parteigenossen H.W. Ernst verfaßt worden: Ernst, H.W., Eugen Maier. Ulm. Das Leben eines Kämpfers, Programm zur Eugen-Maier-Feierstunde im Saalbau der Stadt Ulm am 25.Februar 1940, Ulm 1940. 302 UT, 26. Februar 1940. 303 StAUlm, RpR, 12. August 1940, § 53. 304 UT, 11. November 1940, 17. Januar 1941, 10. November 1941, 10. November 1942; StAUlm, B 123/ 1321 Nr. 35. 305 StAUlm, RpR, 23. November 1945, § 94, Ratsprotokoll: Entschließung des Oberbürgermeisters in Verwaltungsangelegenheiten, 24. November 1945, § 406. Im folgenden RpE. 306 Eugen Maiers Familie wurde bei dem Luftangriff auf Ulm vom 1. März 1945 »total fliegergeschädigt«: STALB EL 902/ 21 Bü. 45/ 84/ 6966. <?page no="403"?> Grab gekümmert« 307 , berichtete das Ratsprotokoll am 23. November 1945. Der Beschluß des Gemeinderates wurde 1946 vollzogen. 308 ... ein berüchtigter Antreiber 309 Eugen Maier starb in der Zeit der »Blitzsiege«. Er erlebte den Zusammenbruch des NS-Staates nicht mehr und entging damit einer Internierung und einer Anklage als »Hauptschuldiger«. 310 Aufgrund der Verwechslung mit einem seiner Nachfolger gleichen Namens 311 erhielt die Spruchkammer Zeugenaussagen über ihn, in denen das Bild eines Fanatikers, Tyrannen und »berüchtigten Antreibers«, bar jeder gesellschaftlichen Anständigkeit und Menschlichkeit, gezeichnet wurde 312 : Im Gegensatz zu entlastenden Zeugenaussagen über andere Ulmer »Nazigrößen«, finden sich derartige Dokumente über Eugen Maier nicht in den Archiven. Sabine Schmidt 402 307 StAUlm, RpR, 23. November 1945, § 94. 308 Lt. Mitteilung des städtischen Friedhofsamtes. 309 Bezeichnung für Eugen Maier in dem Schreiben des Rechtsanwaltes Otto Fischer, Ulm, an die Zentralspruchkammer Nord-Württemberg vom 14. November 1949: STALB EL 902/ 22 Bü. 47/ SV/ 465. 310 Das »Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus« vom 5. März 1946 teilte die (ehemaligen) Nationalsozialisten (ohne die eines Kriegsverbrechens beschuldigten) in die Kategorien Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer und Entlastete ein: Zentner/ Bedürftig (wie Anm. 123), S. 155. 311 Die SDZ vom 19. August 1949 druckte einen Zeugenaufruf zur Spruchkammerverhandlung des ehemaligen Ulmer Kreisleiters Wilhelm Maier, gab dessen Amtszeit darin fälschlicherweise von 1931 - 1945 an und bezog sich damit in mehreren aufgeführten Verdachtsmomenten auf den ersten Ulmer NSDAP-Kreisleiter Eugen Maier. 312 STALB EL 902/ 22 Bü. 47/ SV/ 465. <?page no="404"?> Bibliographie Quellen Umfangreiches Quellenmaterial zu Eugen Maiers Tätigkeit als Kreisleiter und Gauinspekteur verwahrt das Staatsarchiv Ludwigsburg, ergänzt durch die ebenfalls dort verwahrten Spruchkammerakten von Maiers Ehefrau sowie von anderen Geislinger und Ulmer Nationalsozialisten aus dem Umkreis des bereits zu Kriegsbeginn verstorbenen Ulmer Kreisleiters. Das Stadtarchiv Ulm besitzt Akten aus Maiers Amtszeit als NSDAP-Funktionär sowie eine, jedoch größtenteils auf Presseberichten fußende, Personendokumentation über ihn. Unentbehrlich hinsichtlich seiner öffentlichen Auftritte sind die im Stadtarchiv Ulm vorhandenen Lokalzeitungen »Ulmer Sturm«, »Ulmer Tagblatt« und »Donauwacht«. Der Nachlaß des ehemaligen Ulmer Oberbürgermeisters von 1933 bis 1945, Friedrich Foerster, sowie die Ulmer Ratsprotokolle liefern wertvolle Hinweise zu Eugen Maiers Zeit als Stadtrat und NSDAP-Beauftragter im Ulmer Gemeinderat. Kritisch betrachtet, aber nicht außer acht gelassen werden sollte auch das ganz im Sinne seiner Zeit verfaßte Theaterstück von H.W. Ernst, Eugen Maier. Ulm. Das Leben eines Kämpfers, Programm zur Eugen-Maier-Feierstunde im Saalbau der Stadt Ulm am 25. Februar 1940, Ulm 1940. Literatur Informationen über die Entstehung von NSDAP und SA in Geislingen sowie über Eugen Maiers dortige Tätigkeit als Stadtrat liefert Karlheinz Bauer, Geschichte der Stadt Geislingen an der Steige Bd. 2, Geislingen 1976. Wichtige Aussagen zu Maiers Ulmer Zeit enthalten Beiträge in Specker, Hans Eugen (Hrsg.), Ulm im Zweiten Weltkrieg (Forschungen zur Geschichte der Stadt Ulm 6), Ulm 1995. Hier findet sich ebenfalls eine Kurzbiographie Eugen Maiers. Sein Wirken als Gauinspekteur beschreiben Christine Arbogast und Bettina Gall, Aufgaben und Funktion des Gauinspekteurs, der Kreisleitung und der Kreisgerichtsbarkeit der NSDAP in Württemberg, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne und M. Ruck, München 1993, S. 151-169. Zum politischen Zeithintergrund auch Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/ 46 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 13), Stuttgart u.a. 1986. Eugen Maier, NSDAP-Kreisleiter von Ulm 403 <?page no="406"?> Hermann Mattheiß *18. Juli 1893 Ludwigstal/ Oberamt Tuttlingen, ev., Vater: Hermann Mattheiß, Hauptlehrer in Ludwigstal, verheiratet mit Charlotte, drei Kinder. Realschulbesuch, 1911 Abitur, 1911 Einjährig-Freiwilliger im Württembergischen Feldartillerie-Regiment 65, 4. August 1914 - 1. März 1919 Kriegsteilnehmer, zuletzt im Range eines Leutnants d.Res., EK I und II sowie diverse andere Auszeichnungen, 1912 - 1914 und 1919 Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen, 1919 und 1922 I. und II. Höhere Justizdienstprüfung, 1. Juni 1922 - 31. Dezember 1922 Stellvertretender Amtmann beim Oberamt Schorndorf, 24. Januar 1923 - 31. März 1924 Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter beim statistischen Landesamt, 1. April 1924 - 30. Juni 1924 Juristischer Berichterstatter bei der Landespreisstelle Stuttgart, 1. Juli 1924 Hilfsrichter in Ellwangen und Ravensburg, 21. Januar 1927 Amtsrichter in Oberndorf, 18. September 1929 Hilfsrichter in Ellwangen, 17. Oktober 1930 Amtsrichter in Oberndorf, 15. März 1933 Unterkommissar für die Oberämter Balingen, Horb, Oberndorf, Rottweil, Spaichingen, Sulz, Tuttlingen, 19. April 1933 Sonderkommissar z.b.V. im Württembergischen Innenministerium, 28. April 1933 Vorstand des Württembergischen Politischen Landespolizeiamtes, 20. Juni 1933 Landgerichtsrat, 1. November 1933 Oberregierungsrat, 4. November 1933 Verleihung des Titels »Präsident«, 11. Mai 1934 Entlassung und Beurlaubung. Vor 1933 Mitglied der NSDAP und SA-Standartenführer. Gest. 1. Juli 1934, Ellwangen, erschossen. Walther Stahlecker *10. Oktober 1900 Sternenfels/ Oberamt Maulbronn, ev., Kirchenaustritt, Vater: Eugen Stahlecker, Oberstudiendirektor, Mutter: Anna, geb. Zaiser, verheiratet seit 14. Oktober 1932 mit Luise-Gabriele, geb. Freiin von Gültlingen, vier Kinder. Gymnasium in Tübingen, 1920 Abitur, 21. September - 7. Dezember 1918 Militärdienst, 1919 - 1921 Angehöriger des freiwilligen Tübinger Studentenkorps und der Polizeiwehr, 1920 - 1924 Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen, 1924 und 1927 I. und II. Höhere Justizdienstprüfung, 24. Dezember 1924 - 14. November 1927 Referendariat in den Amtsgerichten Reutlingen,Tübingen, beim Landgericht Tübingen und in einer Rechtsanwaltskanzlei in Reutlingen, 7. März 1928 - 27. August 1930 Amtmann, 7. Mai 1929 Regierungsrat in den Die Exekutoren des Terrors Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Geheimen Staatspolizeileitstelle Stuttgart Jürgen Schuhladen-Krämer 405 <?page no="407"?> Oberämtern Ehingen und Saulgau, 1. Februar 1930 - 27. August 1930 Stellvertretender Dienstleiter des Arbeitsamtes Nagold, 28. August 1930 - 28. Mai 1933 Arbeitsamtsdirektor in Nagold, 29. Mai 1933 - 23. November 1933 Stellvertretender Leiter des Württembergischen Politischen Landespolizeiamts, 23. November 1933 - 13. Mai 1934 Oberregierungsrat bei der Vertretung Württembergs beim Reich in Berlin, 14. Mai 1934 Leiter des Württembergischen Politischen Landespolizeiamtes, 11. Mai 1937 Leiter der Staatspolizeileitstelle Breslau, 20. Mai 1938 Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD in Österreich, 2. Juni 1939 Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD im Protektorat Böhmen und Mähren, Mai - November 1940 Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Oslo, 14. November 1940 - 18. Juni 1941 Ministerialrat im Auswärtigen Amt, April 1941 Leiter der Einsatzgruppe A für die zu besetzenden Gebiete in der Sowjetunion, 6. Februar 1941 SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei. Mitglied des Alldeutschen Verbandes und des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes, 1921 Mitglied der Brigade Ehrhardt und des Wiking-Bundes, 1921/ 23 Mitglied der NSDAP bis zum Verbot 1925, April 1933 Wiedereintritt, rückdatiert auf 1. Mai 1932 (Mitgliedsnr. 1.069.130), Mitglied der SS, 1938 SS-Standartenführer, 1941 SS-Brigadeführer. Gest. 23. März 1942 Nordrußland. Friedrich Mußgay *3. Januar 1892 Ludwigsburg, ev., 22. August 1941 Kirchenaustritt, Vater: Friedrich Mußgay, Hausmeister, Mutter: Karoline, geb. Bay, verheiratet seit 23. Februar 1918 mit Emma, geb. Schanbacher, zwei Kinder. Volksschule, Mittelschule (acht Klassen), Höhere Schule, Einjährig-Freiwilliger, 7. August 1914 - 4. Dezember 1918 Kriegsteilnehmer, zuletzt im Range eines Oberleutnants d.Res., EK I und II sowie diverse andere Auszeichnungen, fünf Jahre Vorbereitungsdienst für den gehobenen mittleren Verwaltungsdienst (Kommissarlaufbahn), 5. Juli 1913 - 30. April 1917 Assistent bei den Oberämtern Mergentheim, Ellwangen, Eßlingen, seit 1. Mai 1917 im Polizeidienst (Unterbrechungen durch den Kriegsdienst), 1923 Kriminalinspektor im Polizeipräsidium Stuttgart, beschäftigt in der Abteilung Politische Polizei, 26. August 1920 Verwaltungssekretär, rückwirkend zum 1. April 1920, 23. Dezember 1920 Obersekretär, rückwirkend zum 1. April 1920, 20. Februar 1921 Polizeikommissar, 1. Januar 1923 Kriminalinspektor, 1. Oktober 1923 Kriminaloberinspektor, 23. Juni 1932 »Kriminalpolizeirat«, Mai 1933 Übernahme in das verselbständigte Württembergische Politische Landespolizeiamt, 1. November 1935 Regierungs- und Kriminalrat, 2. Mai 1940 Vertreter des Leiters der Staatspolizeileitstelle Stuttgart, Juli 1941 Leiter der Staatspolizeileitstelle, 9. November 1943 Oberregierungs- und Kriminalrat. 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 3.227.759), 1. April 1933 Mitglied der SS, 1936 SS-Hauptsturmführer, 1943 SS-Obersturmbannführer. April/ Mai 1945 Gefangennahme, gest. 3. September 1946 Stuttgart, Selbstmord. Jürgen Schuhladen-Krämer 406 <?page no="408"?> Dr. Hermann Mattheiß - Bürokrat mit Restrisiko Geboren am 18. Juli 1893 in Ludwigstal bei Tuttlingen, erhielt Mattheiß wie sein Vater den Vornamen Hermann. Aufgewachsen in einem protestantischen Elternhaus, besuchte er die weiterführende Friedrich-Eugen-Realschule in der Landeshauptstadt Stuttgart, die er 1911 verließ. Durch die Ergänzungsprüfung in Latein hatte er das Reifezeugnis eines Realgymnasiums und damit den Zugang zu einer Hochschule erworben. Danach meldete er sich als Einjährig-Freiwilliger, um dann ab dem Wintersemester 1912/ 13 in Tübingen als 19jähriger Jura zu studieren. Er schloß sich während seiner gesamten Studienzeit keiner der dort zahlreich existierenden Studentenkorporationen an. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges unterbrach sein Studium nach dem vierten Semester. Trotz mehrerer Verwundungen, die letztlich zur Einstufung als 30% kriegsdienstbeschädigt führten, stand er die gesamte Dauer des Krieges als Soldat, zuletzt im Rang eines Leutnants, an der Front. Er erhielt das EK I und II sowie verschiedene andere Orden. Nachdem er im März 1919 demobilisiert worden war, setzte er sein durch den Ersten Weltkrieg unterbrochenes Studium in Tübingen fort. In einem Alter, in dem in einer »Normalbiographie« mit Universitätsabschluß bereits die ersten Sprossen der zukünftigen Karriereleiter erklommen worden wären, mußte Mattheiß wie viele andere der Kriegsjahrgänge nochmals Vorlesungen und Seminare besuchen. Die Universität hatte eigens für die Frontheimkehrer ein kurzes Zwischensemester im Frühjahr 1919 eingerichtet. Statt der üblichen acht Semester bis zur Ablegung der I. Höheren Justizdienstprüfung absolvierte Mattheiß diese Hürde mit anderen Kriegsteilnehmern in nur sechs Semestern im Sommer 1919. Im Justizministerium, das für die Abnahme der Prüfung verantwortlich zeichnete, sah man sich diesem Jahrgang gegenüber besonders in der Pflicht. Obwohl man dort davon ausging, daß bei diesen Absolventen keine überdurchschnittlichen Leistungen zu erwarten waren, wurden dennoch alle Prüflinge aus sozialen Gründen in den Staatsdienst übernommen. Mattheiß hatte in dieser Gruppe der »Mittelmäßigen« selbst nur einen mittleren Platz, den neunten von 17, eingenommen. 1 Nach der II. Staatsprüfung 1922, die er wiederum mit mittelmäßigem Ergebnis abschloß, durchlief Mattheiß in seiner Laufbahn erst einmal zwei Jahre lang verschiedene Stellen im Landesdienst, bevor er seine vorerst endgültige Laufbahn im Gerichtsdienst einschlug. Die Machtergreifung 1933 erlebte er in einer Stellung als Amtsrichter in Oberndorf. Im Rahmen des üblichen Beförderungsverlaufes wäre wahrscheinlich eine Stellung am Landgericht am Ende seiner Laufbahn zu erwarten gewesen, doch die nationalsozialistische Machtergreifung eröffnete Mattheiß eine der Schaltstellen im totalitären Herrschaftsgefüge. Persönliche Motivationen und das Handeln von Mattheiß während der Weimarer Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 407 1 HSTAS E 130b Bü. 2068, Qu. 204. <?page no="409"?> Zeit bleiben weitgehend im dunkeln. Bekannt ist, daß er ein Anhänger Ludendorffs war, und daß er sich antisemitisch äußerte. 2 Sicher ist zudem, daß er sich länger vor 1933 der NSDAP angeschlossen hatte und in der SA hervorgetreten war. Möglicherweise gilt auch für ihn wie für andere »Alte Kämpfer«: Ein von Haus aus konservativ geprägtes Weltbild führte durch die Erfahrungen als Offizier im Schützengraben des Krieges und durch die Ablehnung der Niederlage und der Parteien, die das Geschick Nachkriegsdeutschlands bestimmten, zu einer Radikalisierung hin zur »modernen« völkischen Massenpartei NSDAP. Mattheiß’ Sympathien galten Gregor Strasser, doch wäre es sicherlich falsch, ihn in eine Reihe von Nationalsozialisten einzuordnen, die mit »antikapitalistischem« Pathos den »deutschen Sozialismus« propagierten - außerdem galt Gregor Strasser bis zu seinem Fall im Dezember 1932 als die Nummer Zwei, insgeheim für viele sogar als die eigentliche Führungsperson innerhalb der NSDAP. 3 Mattheiß, aufgewachsen in den bescheidenen Verhältnissen eines Hauptlehrer-Elternhauses, war ein Mann der SA, der sich nicht auf dem Parkett der gehobenen Umgangsformen bewegte. Seine Radikalität richtete sich vor allem gegen den politisch verorteten Feind von links, »verbonzte« alte Eliten und die Kirche. Mit Fritz Kiehn, einem frühen Nationalsozialisten, Fabrikant und Propagandist der Partei im Bodenseeraum, Freund Gregor Strassers und eine der schillerndsten Figuren, 1938 wegen dubioser Finanztransaktionen in Partei und SS in Ungnade gefallen, verband ihn eine Freundschaft seit der »Kampfzeit«. 4 Die Anfänge einer Politischen Polizei in Württemberg reichten in die Zeit der Weimarer Demokratie und auch davor zurück. In der Republik war sie als Überwachungsinstrument für die dem Staat feindlich eingestellten Kräfte von links und rechts ein defensives Organ und zuletzt als Abteilung II beim Polizeipräsidium in Stuttgart angegliedert. Die Aneignung der Polizeigewalt durch die Nationalsozialisten geschah in Württemberg, administrativ bedingt, etwas später als in Preußen. Auf Anordnung von Reichsinnenminister Frick, gestützt auf § 2 der »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat« vom 28. Februar 1933, wurde wenige Tage nach der Reichstagswahl am 8. März der SA-Gruppenführer Südwest, Dietrich von Jagow, Jürgen Schuhladen-Krämer 408 2 RBA, kurze Aussage Gottlob Bergers über Mattheiß in einer Tonbandaufzeichnung. 3 Dazu Kissenkoetter, Udo, Gregor Strasser und die NSDAP (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 37), Stuttgart 1978. 4 Kissenkoetter (wie Anm. 3), S.175. Hinweise zu Kiehn bei Rauh-Kühne, Cornelia, Unternehmer und Entnazifizierung in Württemberg-Hohenzollern, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck, München 1993, S. 305 - 331, hier S. 306. Vgl. auch Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 13), Stuttgart 1986, S. 256 f. Angaben zu Kiehns wirtschaftspolitischem Einfluß bei Winkel, Harald, Geschichte der württembergischen Industrie- und Handelskammern Heilbronn, Reutlingen, Stuttgart, Mittlerer Neckar und Ulm 1933 - 1980. Zum 125jährigen Bestehen, Stuttgart 1980, passim. Aufschlußreich zur Person Kiehns sind die Personalakten im BA, Abt. III (BDC), zu seinen Transaktionen der Bestand NS 19/ 790 (RFSS/ Persönlicher Stab). <?page no="410"?> Reichskommissar für das Polizeiwesen in Württemberg. Jagow richtete als erster ein Konzentrationslager auf dem Heuberg bei Stetten am kalten Markt ein, in das sofort in großer Zahl Sozialdemokraten und Kommunisten nach den bereits bei der Politischen Polizei angelegten Listen eingeliefert wurden. Durch die Übernahme der Regierungsgewalt am 15. März war die Tätigkeit von Jagows eigentlich hinfällig geworden. Der neue Innenminister Wilhelm Murr, zugleich Staatspräsident und Gauleiter, ernannte ihn jedoch, mit weitreichenden Personalkompetenzen ausgestattet, zum ehrenamtlichen »Polizeikommissar für das Land Württemberg«. Die Kontrolle über die Polizeibehörden sicherte von Jagow durch ein Netz ihm untergebener Unterkommissare, die in den Oberämtern die nationalsozialistische Gleichschaltung der Polizei sicherstellten. So wurde am 15. März auch von Jagows »SA-Kamerad« Mattheiß zum Unterkommissar für die Oberämter Balingen, Horb, Oberndorf, Spaichingen, Rottweil und Sulz bestellt. Doch die Unterkommissariate, die zu Überschneidungen mit den Kompetenzen der Landräte führten, waren, nachdem das erste Ziel, die Ausschaltung der »Marxisten« erreicht worden war, für die nationalsozialistische Durchdringung des Staates auf Dauer nicht wirksam genug. Chaos, Kompetenzwirrwarr und die Ablösung von Jagows führten zu einer Umstrukturierung der Politischen Polizei. Mit Wirkung vom 7. April 1933 wurde die Abteilung der Politischen Polizei beim Polizeipräsidium auf Anweisung Murrs verselbständigt und der Landrat Eduard Zimmer zum kommissarischen Leiter bestimmt. Bereits am 19. April war Mattheiß von Murr persönlich als Sonderkommissar zur besonderen Verwendung ins Innenministerium berufen worden. Am 28. April 1933 wurde die Politische Polizei erneut umstrukturiert. Analog zur Errichtung des Geheimen Staatspolizeiamtes in Berlin wurde sie als »Württembergisches Politisches Landespolizeiamt« beim Württembergischen Innenministerium direkt angesiedelt. Mattheiß wurde zum Leiter ernannt. Ihm oblagen unter anderem alle Angelegenheiten der Schutzhaft im Land. Damit war ein Organ entstanden, mit dem sich effizient der politische Feind verfolgen und vernichten ließ, und Mattheiß spielte vorerst in Württemberg die entscheidende Rolle dabei. Er verstand die Politische Polizei als »Wächter des neuen Staates«, wie er öffentlich verbreitete. 5 Und es war recht eindeutig, wenn er die Aufgaben beschrieb, die weit über die bisherige Kompetenz der Politischen Polizei hinausgingen: »Die Politische Polizei sieht ihre gegenwärtige und zukünftige Aufgabe darin, die Feinde des Dritten Reiches zu erforschen und zu beobachten, aber auch sie gegebenfalls [sic] unmittelbar und, wenn es sein muß, rücksichtslos zu bekämpfen, gleichgültig, in welchen Formen diese Gegner auch auftreten mögen«. Daß die Politische Polizei »Wächter des nationalsozialistischen Programmes und seiner Verwirklichung« sein sollte, erscheint im nachhinein zweideutig. Wollte er hier Anspruch auf die Verwirklichung nationalsozialistischer Politik, wie er sie selbst verstand, erheben? Eindeutig fiel seine Drohung Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 409 5 »NS-Kurier«, 30. Januar 1934, Sonderbeilage zum ersten Jahrestag der »Machtergreifung«, Artikel von Mattheiß. Zitate im folgenden daraus, Hervorhebungen im Original. <?page no="411"?> aus, »daß zukünftig von ihr [der Württembergischen Politischen Landespolizei] nicht nur ausschließlich politisch polizeiliche Dinge im engeren Sinne des Wortes behandelt werden, sondern daß von hier aus sehr sorgfältig das gesamte politische und kulturelle Leben des Volkes überhaupt in allen Äußerungen beobachtet werden muß und wird.« Als Leiter der Politischen Polizei erlebte Mattheiß nun jenen raschen beruflichen Aufstieg, der in seiner früheren beruflichen Stellung mit ziemlicher Sicherheit nicht zu erwarten gewesen wäre. Am 20. Juni 1933 wurde er rückwirkend zum 12. Mai 1933 zum Landgerichtsrat, am 5. Oktober zum Oberregierungsrat im Innenministerium ernannt und am 4. November wurde ihm sogar für die Dauer seiner Verwendung als Vorstand des Württembergischen Politischen Landespolizeiamts der Titel »Präsident« verliehen. Die geltenden Richtlinien zur Beamtenbeförderung wurden für ihn ausdrücklich außer Kraft gesetzt. Am 24. April 1934, die Bestrebungen zu seinem Sturz waren bereits im Gange, schlug das Innenministerium den »Vorstand des Württembergischen Politischen Landespolizeiamts« rückwirkend zum 1. Februar 1934 auch noch zur Beförderung zum Ministerialrat im Innenministerium vor. Daß Mattheiß, wie es in dem Beförderungsvorschlag heißt, »die Geschäfte der Politischen Polizei seit April 1933 mit Umsicht und Tatkraft [leitet]«, 6 kann allerdings nur als formale Begründung zur Höherstufung bezeichnet werden. Mattheiß genoß längst nicht mehr das uneingeschränkte Vertrauen aller Parteiverantwortlichen. Zwar war es ihm wiederholt gelungen, außerhalb seines direkten Zuständigkeitsbereiches mißliebige Personen zu entfernen, wie den Oberregierungsrat Rueff beim Polizeipräsidium, den er wegen »ständig versteckter Sabotageversuche an den Maßnahmen der Regierung« und als »Demokraten« aus dem Amt entfernen ließ, doch hatte er sich zugleich Feinde in den eigenen Reihen geschaffen. 7 Sein forsches Vorgehen im April 1933, er hatte z.B. noch als Unterkommissar dem Spaichinger Landrat die Polizeikompetenz entzogen, erregte Gauleiter Murrs Mißfallen. 8 Bestrebungen innerhalb der württembergischen NSDAP, durch relativ behutsames Vorgehen die alten Eliten zur Anpassung an das neue System zu bringen, wirkte sein Verhalten allzuoft entgegen. 9 Dies führte zu zunehmenden Spannungen innerhalb der NSDAP-Spitze im Land. Beschwerden, wie sie der Staatssekretär Waldmann, Verfechter eines vorsichtigen Kurses, an Mattheiß wegen tatsächlich unhaltbarer Zustände im Stuttgarter Polizeigefängnis herantrug, dürfen als Versuch gewertet werden, Mattheiß in seinem unliebsamen Eifer zu bremsen. Ein kritisches Schreiben aus der NSDAP-Landtagsfraktion vom 10. August 1933 wegen der Zustände im Polizeigefängnis nutzte Waldmann, ohne die Urheberschaft mitzuteilen, Jürgen Schuhladen-Krämer 410 6 HSTAS E 151/ 01 Bü. 133, Qu. 41. 7 Vgl. Wilhelm, Friedrich, Die Württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil. Stuttgart 1989, S.109 f. 8 Wilhelm (wie Anm. 7), S.91 f. 9 Vgl. Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S.109 ff. <?page no="412"?> zu einem Vorwurf an Mattheiß. Selbst eine für die Machthaber an und für sich belanglose Beschwerde der Ehefrau eines inhaftierten politischen Häftlings vom September 1933 wegen Überfüllung und unhygienischer Zustände im Polizeigefängnis wurde vom Innenministerium auf höchster Ebene dazu genutzt, Mattheiß zu einer für ihn peinlichen Stellungnahme gegenüber seinem Vorgesetzten, Innenminister Jonathan Schmid, zu zwingen. 10 Schmid ließ denn auch kaum eine Gelegenheit ungenutzt, Druck auf Mattheiß auszuüben und ihn, wo möglich, auflaufen zu lassen. Der Leiter der Politischen Polizei klagte seinerseits darüber, daß er die »wiederholt ausgesprochene Besorgnis nicht unterdrücken [könne], als ob von bestimmter interessierter Seite meiner organisatorischen Aufbauarbeit mit einer verdeckten passiven Resistenz entgegengearbeitet wird. Darüberhinaus habe ich schon wiederholt festgestellt, daß Erlasse, die ich in Auslauf bringe, nicht hinausgehen.« 11 Insbesondere der Geschäftsbereich I im Innenministerium setze seiner Tätigkeit immer wieder Hindernisse entgegen, klagte Mattheiß. 12 Wiederholt gab Mattheiß seiner Besorgnis darüber Ausdruck, daß der Nationalsozialismus an der Macht zu verwässern drohe, so etwa auch in einem Lagebericht vom 30. November 1933. 13 Nach dem Abschluß der totalen Machtergreifung im Staat und ihrer Stellung als Staatspartei war der NSDAP daran gelegen, unvorhergesehene innenpolitische Erschütterungen zu vermeiden und endgültig in nun ruhigerem Fahrwasser die noch übriggebliebenen Stellungen der konservativen Funktionsträger zu durchdringen. Mattheiß scheint mit seinen gegen diese Absichten gerichteten Interessen allmählich zu einem unkalkulierbaren Risiko geworden zu sein. Ein weithin aufsehenerregendes Ereignis am Wahltag des 12. November 1933, der vom Regime inszenierten Volksabstimmung zur Außenpolitik des Reiches und zur »Reichstagswahl«, machte diesen sich abzeichnenden internen Konflikt deutlich: Herzog Philipp Albrecht in Stuttgart hatte es vorgezogen, den Wahlen fernzubleiben. Mattheiß sah dies wahrscheinlich als günstige Gelegenheit, mit der alten monarchischen Aristokratie im Lande abzurechnen, und inszenierte am selben Abend einen Menschenauflauf aus Getreuen, SA-Männern und Stahlhelm, die in das Haus des Adeligen eindrangen und ihn bedrohten. Von den Randalierern herbeigerufen, erschien die Politische Polizei sofort am Ort und nahm Philipp Albrecht in Schutzhaft. Wenige Stunden später mußte Mattheiß ihn auf Geheiß des Reichsstatthalters und Gauleiters Wilhelm Murr wieder entlassen. Doch Mattheiß ließ nicht locker und forderte in einem eigenen Schreiben an das Staatsministerium mit dem Briefkopf seiner Behörde die Streichung der Apanage für einen Teil des württembergischen Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 411 10 HSTAS E 130b Bü. 1181, Waldmann an Mattheiß, 18. August 1933; Bü. 1064, Mattheiß an den Innenminister, 4. Oktober 1933. 11 HSTAS E 151/ 01 Bü. 794, Abschrift des Schreibens von Mattheiß an Innenminister Schmid, 28. September 1933. 12 Ebd. 13 Vgl. Müller (wie Anm. 9), S. 277. <?page no="413"?> königlichen Hauses »im neuen Staat«. »Es wird nirgends verstanden, daß die Herzöge aus der Art wie das Volk nach der November-Revolution sich zu seinem Königshaus gestellt hat, nicht die nötigen Konsequenzen zu ziehen vermochten.« 14 Hatte Mattheiß vielleicht gehofft, bei seinem alten Gefährten und SA-Kameraden, dem Staatspräsidenten Mergenthaler, auf besseres Gehör zu stoßen, so mußte er erkennen, daß seine radikale Fürstenablehnung in diesem »neuen Staat« durchaus nicht opportun war. Der von Mergenthaler in das Kabinett eingebrachte Vorstoß von Mattheiß muß dort wahrscheinlich auf peinliches Befremden gestoßen sein. In jedem Fall sah man sich auch im Staatsministerium nicht in der Lage bzw. willens, einem Teil des ehemaligen Württembergischen Königshauses den nationalsozialistischen Fehdehandschuh hinzuwerfen und verschanzte sich hinter gültigen staatlichen Abmachungen mit dem Fürstenhaus aus der Weimarer Zeit. 15 Auch in anderer Hinsicht machte sich Mattheiß unbeliebt. So wenig Widerspruch gegen die erfolgreiche Zerschlagung der Opposition von links in den Schutzhaftlagern auf dem Heuberg und später auf dem Kuhberg in Ulm vorhanden war, so deutlich kritisierte man in den zuständigen Ministerien doch schon bald die dabei entstehenden hohen Kosten. Wie andernorts im Reich auch, war die bestehende Polizei durch eine eiligst zusammengestellte Hilfspolizei als »politische Bereitschaft« erweitert worden, um die innenpolitische Säuberung zu bewerkstelligen. Mattheiß hatte dazu 2.000 Männer aus der NSDAP, der SA und teilweise der SS in polizeiliche Funktion übernommen und damit alten Parteigängern und teilweise persönlichen Bekannten aus seiner Amtsrichterzeit Broterwerb verschafft. Im Mai 1933 waren allein 500 Mann an Personal für das Lager Heuberg zuständig. Die Kosten des Polizeiapparates stiegen im Vergleich zur Weimarer Zeit in schwindelnde Höhen. Doch Mattheiß blieb unersättlich und klagte beständig die weitere personelle Aufstockung seines Amtes ein. Dabei war es in erster Linie seiner Verfolgungswut zuzurechnen, daß Württemberg reichsweit die höchste Anzahl an Hilfspolizisten im Solde hatte und die vergleichsweise höchste Anzahl an »Schutzhäftlingen«, und dies, obwohl, wie Finanzminister Dehlinger klagte, die Marxisten im »Ländle« doch wahrlich nicht ihre Bastion gehabt hätten. 16 Finanz- und Innenministerium versuchten dieser, finanziell gesehen, besorgniserregenden Entwicklung entgegenzuwirken und Kosten der politischen Bereitschaften auf das Reich abzuwälzen und sogar im engsten Bereich der Württembergischen Politischen Polizei den Rotstift anzusetzen. Mattheiß führte deswegen einen bürokratischen Kleinkrieg, um Kürzungen in seinem Zuständigkeitsbereich zu verhindern. 17 Jürgen Schuhladen-Krämer 412 14 HSTAS E 130b Bü. 68, Qu. 287; Schreiben von Mattheiß mit Briefkopf: Württembergisches Innenministerium, Württembergische Politische Polizei, an das Staatsministerium, 18. November 1933. 15 Ebd. Vgl. auch Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S.170 f. Dort ist der Brief von Mattheiß an Mergenthaler (wie Anm. 14) vollständig wiedergegeben. 16 Vgl. Schnabel (wie Anm. 4), S.185 f. 17 HSTAS E 130b Bü. 793, Bü. 795; Bü. 1065 und Bü. 1181 passim. <?page no="414"?> Am 9. Dezember 1933 wurde der Reichsführer-SS (RFSS), Heinrich Himmler, von Reichsstatthalter Murr als Kommandeur der Politischen Polizei im Land eingesetzt. Damit war Württemberg nach Bayern das erste Flächenland, in dem von nun an der unaufhaltsame Aufstieg Himmlers zum obersten Chef der Polizei im Reich begann. Mattheiß schickte dem neuen Chef der Polizei zwar ein Ergebenheitstelegramm, aber er dachte nicht daran, zugunsten des SS-Führers auf Kompetenzen in Württemberg zu verzichten. 18 Am Innenministerium in Stuttgart vorbei wollte er weiterhin über seine SA-Gruppierung die Fäden polizeilicher Arbeit in jedem Oberamt ziehen. Mit einer Anweisung vom 23. März, in der die Landräte angewiesen wurden, auf polizeilicher Ebene mit den SA-Standartenführern zusammenzuarbeiten, überspannte er dann jedoch den Bogen. Auf entsprechende Beschwerden von Landräten hin, die sich in ihrer Kompetenz beschnitten sahen, stellte sich Innenminister Schmid gegen Mattheiß. 19 Die aus diesen Beschwerden entstandene dossierartige Akte wurde sicherlich bereits zu dem Zweck angelegt, das mittlerweile laufende Entlassungsverfahren gegen Mattheiß zu unterfüttern. Sie zeigt aber auch, wie in dem Mächteparallelogramm des württembergischen NS-Staates die unterschiedlichen Ebenen gegeneinander konkurrierten. Am 2. Mai hatte sich Innenminister Schmid die Beschwerde der Landräte angehört. Reichsstatthalter Murr veranlaßte bereits am 5. Mai die notwendigen Schritte beim Innenministerium, um Mattheiß zu entlassen. Er sollte als Oberstaatsanwalt nach Heilbronn abgeschoben werden, und als Nachfolger war bereits Dr. Walther Stahlecker, zu diesem Zeitpunkt noch Vertreter Württembergs in Berlin, vorgesehen. Am 7. desselben Monats teilte Innenminister Schmid Mattheiß persönlich mit: »Entsprechend der Ihnen bereits mündlich eröffneten Weisung des Reichsstatthalters enthebe ich Sie hiermit mit Wirkung vom Freitag, den 11. Mai 1934 ihres Amtes [...] und genehmige Ihnen zugleich antragsgemäß einen Erholungsurlaub bis zunächst 31. Mai des Jahres. Einem etwaigen Verlängerungsurlaub werde ich, sofern nicht zwingende dienstliche Gründe entgegenstehen, gerne entsprechen.« 20 Mattheiß protestierte scharf gegen seine Entlassung. »Es handelt sich im vorliegenden Falle«, schrieb er an Innenminister Schmid, »lediglich um die Frage, ob Deutschland noch ein Rechtsstaat ist oder nicht. Ich sehe in dem Vorgehen gegen mich den Anfang eines rechtlosen Zustandes.« 21 Innenminister Schmid seinerseits war geflissentlich bemüht, den Wünschen des Reichsstatthalters nach Absetzung von Mattheiß und Einsetzung von Stahlecker Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 413 18 Vgl. Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903 - 1989, Bonn 1996, S. 138. Herbert führt aus, daß Mattheiß sich der Unterordnung unter Himmlers SD widersetzt habe. 19 HSTAS E 151/ 01 Bü. 793, Qu. 88. 20 HSTAS E 151/ 01 Bü. 793, Qu. 58. 21 Mattheiß an Innenminister Schmid und Reichsinnenminister Frick, 7. Mai 1934, Abschrift enthalten in den vermutlich kassierten Akten der Staatsanwaltschaft Ellwangen Js 4739/ 48 zum Verfahren nach 1945 wegen der Ermordung Mattheiß’ und als Splitter daraus in der Spruchkammerakte STALB EL 902/ 2 Bü. 7590, Spruchkammerbeschluß S. 6. <?page no="415"?> nachzukommen, und forderte beim Staatsministerium umgehend die abgesteckte Vorgehensweise ein. Dagegen wandte sich nun jedoch Murrs Intimfeind, Ministerpräsident Mergenthaler, der sich über das Hineinreden des Reichsstatthalters in seine Kompetenzen entrüstete, weil der ihm in der Berliner Landesvertretung unterstellte Stahlecker gegen seinen Einspruch vom 8. Mai bereits am 14. Mai unter persönlicher Verantwortung des Innenministers Schmid die Leitung des Politischen Landespolizeiamtes übernommen hatte. Zwar war Mergenthaler zu diesem Zeitpunkt nicht mehr unbedingt an Mattheiß interessiert, wollte den Vorgang aber weiterhin im Interesse einer Kompetenzabgrenzung zum Reichsstatthalter Murr verfolgen. 22 Doch auch dies erübrigte sich im weiteren Verlauf der Dinge. Gerade in diesen Wochen strebte die innenpolitische »SA-Krise« ihrem Höhepunkt zu, und Mattheiß geriet in ihr Fahrwasser. Da er nicht daran dachte, Oberstaatsanwalt in Heilbronn zu werden, erbat er Beurlaubung bis zur Zuweisung einer adäquaten Stellung. Am 30. Juni muß er als SA-Gruppenführer Nachricht davon erhalten haben, daß der SA-Oberführer der SA-Brigade 55, Berchtold, verhaftet werden sollte. Für den 30. Juni war der Aufmarsch dieser SA-Brigade in Stuttgart vorbereitet worden. Der NS-Kurier hatte noch in seiner Abendausgabe des 30. Juni auf der Frontseite »Willkommen in Stuttgart, SA! «, samt Lobhudeleigedicht, Grußadresse Murrs und Schmuckbild getitelt. Nun wurde das im Nachhinein für die Öffentlichkeit als Putschvorbereitung uminterpretiert. Auch Nachrichten von dem Vorgehen gegen die Spitze der SA im bayrischen Bad Wiessee und von der Demolierung von SA-Einrichtungen durch die SS in Württemberg dürften dem zur Erholung am Bodensee Weilenden zu Gehör gekommen sein. Die Konkurrenz zwischen SA und SS seit der Machtergreifung war in Württemberg besonders erbittert. 23 Mattheiß muß jedenfalls die Gefahr für sein Leben bewußt geworden sein, und er hatte allen Grund zur Angst: Seine Häscher waren bereits unterwegs. 24 SS-Standartenführer Beck und SS-Obersturmführer Glück, letzterer seit Mai 1933 Leiter des SD in Württemberg, und zwei weitere SS-Männer waren am 30. Juni seit sechs Uhr in der Frühe mit dem Dienst-Mercedes in Richtung Friedrichshafen unterwegs, um Mattheiß zu verhaften. Der Befehl hierzu war Beck am Abend des 29. Juni - die gesamte SS befand sich bereits im Alarmzustand - von SS-Gruppenführer Hans Prützmann, Führer des SS-Oberabschnitts Südwest, gegeben worden. Versehen mit der frei fabulierten Begründung, daß sich Mattheiß der Geldunter- Jürgen Schuhladen-Krämer 414 22 HSTAS E 130b Bü. 1065, Qu. 30, 43, 71, 72, 77. 23 Vgl. Schnabel (wie Anm. 4), S. 380 - 385. 24 Die folgende Schilderung der Vorgänge der Verhaftung und Ermordung Mattheiß ist nach den Spruchkammerakten der beteiligten O. Glück, J. Beck und Prützmann rekonstruiert. STALB EL 902/ 2 Bü. 7588 - 7590. Gegen die hier Genannten wurde nach 1945 wegen der Ermordung von Mattheiß ermittelt. Sie wurden jedoch nicht verurteilt, da offensichtlich niemand von ihnen den Schuß auf Mattheiß abgegeben hatte (siehe Anm. 21 zum Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Ellwangen). <?page no="416"?> schlagung bei der SS in Ellwangen schuldig gemacht habe, machten sich die vier auf die Suche nach Mattheiß in seinem vermuteteten Urlaubsdomizil Friedrichshafen. Nachdem sie ihn dort nicht mehr antrafen, erhielten sie telefonisch den Auftrag, nach Nußdorf zur Villa Fritz Kiehns zu fahren. Mattheiß war jedoch auch hier nicht mehr anzutreffen und so fuhren die SS-Männer nach Überlingen zur Wohnung der Eltern von Mattheiß. Es war mittlerweile bereits Abend geworden. In Überlingen wies Mattheiß’ Mutter sie auf eine nahegelegene Gastwirtschaft hin, wo sie ihn fanden und zum Mitkommen aufforderten. Dem nun sichtlich nervösen Mattheiß wurde nochmals erlaubt, sich in Begleitung Becks in die Wohnung zu begeben und sich dort von seinen Eltern zu verabschieden. Dann wurde er wie er war, mit Sommermantel und Aktentasche in der Hand, im Wagen mitgenommen. Während der ganzen Fahrt wurde kein Wort gesprochen. In Friedrichshafen angekommen, erhielt das Kommando nach telefonischer Rücksprache den Befehl, Mattheiß statt in das Gefängnis nach Stuttgart in die SS-Kaserne nach Ellwangen zu bringen. Auf der Fahrt dorthin passierten sie Ravensburg. Trotz der vorgerückten Stunde befand sich dort eine Menschenmenge auf dem Marktplatz, die wegen der mittlerweile von der NSDAP- Propaganda veröffentlichten Schaukastenmeldungen zu den Geschehnissen um den »Röhm-Putsch« offensichtlich von örtlichen Parteigliederungen zur Sympathiekundgebung für das Regime mobilisiert worden war. Jedenfalls mußte der Wagen mit dem Gefangenen, weil kein Durchkommen war, stoppen. Der während der Fahrt bis dahin von seinen Bewachern als völlig verängstigt erlebte Mattheiß nutzte die Gelegenheit zur Flucht und sprang aus dem Wagen quer über den Marktplatz. Der Versuch scheiterte jedoch schnell; Mattheiß war kopflos in eine Gastwirtschaft gelaufen, wo ihn Beck mühelos stellen konnte. So ließ er sich widerstandslos abführen und im nahegelegenen Polizeirevier Handschellen anlegen, bevor die Fahrt fortgesetzt wurde. Nach den Aussagen von Glück stand Mattheiß die Todesangst im Gesicht. Dies erscheint durchaus wahrscheinlich, da Mattheiß, als einer, der mit den nationalsozialistischen Methoden zur Beseitigung unliebsamer Personen vertraut war, und angesichts der gemeldeten Geschehnisse des Tages sich über seine Lage und über das, was ihn erwartete, bewußt gewesen sein düfte. So müssen die letzten Stunden seines Lebens während dieser Fahrt in teilweise heftigem Sommergewitterregen qualvoll für ihn gewesen sein. Die Gruppe traf gegen 5 Uhr in der Frühe des 1. Juli in der SS-Kaserne Ellwangen ein, wo die SS-Bewacher Mattheiß übergaben. Eine Stunde später knallte eine Gewehrsalve über das Kasernengelände. Mattheiß war erschossen. Die Ermordung von Mattheiß wurde von Adolf Hitler persönlich durch Aufnahme in die quasi offizielle Liste der vom 30. Juni bis 2. Juli 1934 Umgekommenen als Staatsnotwehr sanktioniert. 25 Er war der einzige württembergische Tote dieser Affäre. Wer letzten Endes den Befehl zur Erschießung gab, läßt sich nicht zweifels- Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 415 25 Bennecke, Heinrich, Die Reichswehr und der »Röhm-Putsch«, München, Wien 1964, S. 91. <?page no="417"?> frei klären. In einer Beziehung zu den Vorgängen auf höchster Ebene an diesem 30. Juni stand Mattheiß auf jeden Fall nicht. Eher wahrscheinlich ist, daß die Ereignisse vom 30. Juni die Gelegenheit zur Abrechnung boten. Der erwähnte SS-Abschnittsführer Südwest, Prützmann, war mit Mattheiß persönlich verfeindet. Mattheiß hatte es noch am 1. Mai 1934 kategorisch abgelehnt, Prützmanns SS-Männer in die Politische Polizei zu integrieren, und zwischen beiden war es häufig zu Beleidigungen gekommen. Zusätzlich kompliziert wird eine Aufhellung der Abläufe durch die Tatsache, daß seit Juni bei der Politischen Polizei, sozusagen im Schreibtisch des Nachfolgers Stahlecker, ein Haftbefehl gegen Mattheiß lag. Der Grund hierfür bleibt im dunkeln, weil nach dem Krieg keiner der Beteiligten etwas darüber gewußt haben will. Die nach 1945 von verschiedenen Seiten aufgestellte Behauptung, daß der Befehl zur Ermordung von Heydrich oder Himmler gekommen sei, bleibt, weil unbelegt, eine Vermutung, wenngleich angesichts der geschilderten Vorgänge vieles dafür spricht. 26 Die Bemühung der Witwe Mattheiß nach 1945, die Erschießung ihres Mannes als »Verbrechen gegen ein Opfer des Nationalsozialismus« anerkennen zu lassen 27 , kann nur als grotesk bezeichnet werden. Eine solche Einreihung wäre eine Verhöhnung der Opfer in der ersten Phase der Abrechnung der NSDAP mit ihren innenpolitischen Feinden gewesen, für die auch Mattheiß mit seiner ganzen Person mitverantwortlich gewesen war. Dr. Walther Stahlecker - intellektueller Terrorspezialist der Bürokratie Am 26. März 1942 nachmittags fand in der Prager Burg eine feierliche Zeremonie statt, draußen war halbmast geflaggt. SS-Führer hielten mit gezogenen Degen Ehrenwache vor einem Sarg mit den sterblichen Überresten eines hohen SS-Offiziers. Zahlreiche Vertreter von Staat, Wehrmacht und NSDAP waren anwesend. Nach dem Verklingen von Schuberts »Unvollendeter« ergriff der Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, der Chef der Deutschen Polizei, SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich das Wort und würdigte in seiner Trauerrede die Leistungen des Toten. »Im Leben und im Tode galt sein Streben dem Führer und Deutschland. Er war ein echter SS-Mann im Sinne der Parole der SS: ›Meine Ehre heißt Treue‹«, führte er am Ende aus, bevor unter weihevollen Klängen Kränze vom Reichsführer-SS Himmler, von Jürgen Schuhladen-Krämer 416 26 Vgl. Gisevius, Hans Bernd, Bis zum bitteren Ende Bd. 1, Hamburg 1946, S. 255. RBA, auch Gottlob Berger äußert diese Vermutung in einer Tonbandaufzeichnung, in der er kurz Bezug auf Mattheiß nimmt. Ein mögliches Motiv zu einem eventuellen Mordbefehl durch Himmler könnte in der Widerspenstigkeit Mattheiß’ begründet gewesen sein, sich dem SD unterzuordnen, siehe Anm. 18. 27 Ob Mattheiß tatsächlich als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt wurde, konnte nicht festgestellt werden. <?page no="418"?> Heydrich und vom Reichsminister des Auswärtigen Ribbentrop plaziert wurden. Eine Ehrenformation der Waffen-SS schoß Trauersalut für den toten Generalmajor der Polizei, SS-Brigadeführer Dr. Walther Stahlecker. 28 Walther Stahlecker wurde am 10. Oktober 1900 als zweiter von drei Söhnen der Familie Stahlecker geboren. Er wuchs in den wohlgeordneten und gediegenen Umständen einer bildungsbürgerlichen Honoratiorenfamilie in Tübingen auf. Mindestens zwei Generationen der Stahleckers hatten bereits württembergische Kinder protestantisch erzogen, und auch die zwei Brüder Walther Stahleckers sollten später die pädagogische Laufbahn einschlagen. Vater Eugen Stahlecker hatte evangelische Theologie studiert und kurzfristig das Pfarramt in Sternenfels und Korntal versehen, bevor er der Tradition gemäß den Lehrerberuf ausübte, zunächst als Oberreallehrer in Korntal, seit 1906 als Rektor der Mädchenrealschule in Tübingen. In der Familie identifizierte man sich mit dem König und dem Kaiserreich. Der Zusammenbruch der Monarchie 1918 wurde als Katastrophe empfunden, und obgleich niemand aus der Stahleckerfamilie an der Front gekämpft hatte - der eine Sohn, Rudolf, hatte seinen Heeresdienst seit 1917 in der Heimat geleistet, und Walther Stahlecker, im September 1918 von der Schulbank des humanistischen Gymnasiums weg eingerückt, war auch keine Gelegenheit zum Fronteinsatz gegeben - erlebte die Familie einen regelrechten »Politisierungsschub«. Vater Eugen ließ sich für die Württembergische Bürgerpartei als Gemeinderatsmitglied aufstellen und zog im Mai 1919 mit 3.086 Stimmen in das kommunale Parlament ein; im Dezember 1925 erhielt er als Kandidat der DNVP 1.559 Stimmen und wiederum ein Mandat. 29 In diesem von der Dolchstoßlegende, deutschnationalem Chauvinismus und Trauer um das untergegangene Kaiserreich geprägten familiären Umfeld erlebte Walther Stahlecker nochmals eine ihn formende Phase; wie vielen seiner Altersgenossen aber genügte ihm die Perspektive einer Wende rückwärts und dies mittels parlamentarischer Methoden nicht. Prägend für ihn wurde der Anschluß an bewaffnete Freiwilligenverbände. Zunächst setzte er sich im Frühjahr 1919 als noch nicht eingeschriebener Student im Tübinger Studentenbataillon ein, einer auf Initiative von Offizieren und dem sozialdemokratischen Kultusminister Heymann aufgestellten bewaffneten Einheit aus militärdiensterfahrenen Studenten, die nach offizieller Verlautbarung den Schutz der Republik garantieren sollten. Stahlecker bewährte sich dabei in verschiedenen Einsätzen. Im März 1919 zog das Studentenbataillon auf das Stichwort »Metzelsuppe« hin in Stuttgart ein, um Sicherungsfunktionen gegen den von USPD und KPD ausgerufenen Generalstreik auszuüben. Am darauffolgenden Marschbefehl gegen die Räterepublik in München - die Tübinger Studenten standen dabei im Gefecht - nahm Stahlecker nicht teil. Nachdem das Studentenbataillon während des Kapp-Putsches von der Landesregierung nicht zum Schutz der in Stuttgart weilenden Reichsregierung gerufen worden war, da man seinem Eintreten für die demokratische Verfassung Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 417 28 Vgl. »NS-Kurier«, 28. März 1942. 29 Mitteilung des Stadtarchivs Tübingen vom 6. Oktober 1995 an den Verfasser. <?page no="419"?> mißtraut hatte, kam es im Ruhrkampf gegen aufständische Sozialisten und Kommunisten abermals zum Einsatz. 30 Stahlecker ging in dieser Welt der Wehrhaftigkeit gegen den linken Feind auf. Als das Bataillon infolge der Verpflichtungen des Versailler Friedensvertrages demobilisiert werden sollte, schloß er sich mit einem kleineren Teil der Studenteneinheit nahtlos der württembergischen Polizeiwehr an. Als auch diese auf Druck der Interalliierten Militärkommission aufgelöst werden sollte, ordnete sich ein Teil von ihr, darunter Stahlecker, selbständig der »Organisation Escherich« zu, einer getarnten privaten militärischen Auffangorganisation, die den militärischen Ausbildungsstandard aufrechterhielt. Die endgültige Auflösung im Mai/ Juni 1921 führte in die illegale Organisation. Diesen Schritt vollzog nur eine Minderheit der politisiertesten Tübinger Studenten - Stahlecker war darunter. Die Fäden in diesem völkisch-militaristischen Dunstkreis wurden über Verbindungsmänner der »Organisation Consul« (O. C.), einer Geheimorganisation, die zahlreiche Terroranschläge auf Politiker der Republik verübte, gezogen. Zwei Verbindungsleute, Gustav Petzold und Dietrich von Jagow, besorgten in Tübingen die Organisation des »Geheimbundes«, darunter Wehrübungen in der Umgebung, an denen sich auch Stahlecker beteiligte. 31 Von Jagow war in dieser Zeit sowohl Führungsmann der O. C. als auch Angehöriger der NSDAP, der auf Hitlers Anweisung die Partei- und SA-Organisation in Württemberg aufbauen sollte. Im Februar 1923 wurde die Tübinger Ortsgruppe der NSDAP gegründet. Stahlekker gab später an, der Partei seit 1921 angehört zu haben. Dies kann anhand der vorliegenden Quellen für diesen frühen Zeitpunkt nicht bestätigt werden, ist gleichwohl aber auch nicht unwahrscheinlich; sicher ist, daß er im Jahre 1923 Mitglied gewesen ist. 32 Seine Mitgliedschaft erklärt sich aus der aufgezeigten Struktur der radikalisierten nationalen und völkischen Kräfte in Tübingen: Über die Nachfolgeorganisation des Studentenbataillons, die O. C., nach deren Verbot sich legal u.a. der Wiking-Bund organisierte, dem Stahlecker ebenfalls angehörte, und über von Jagow führte ihn der Weg schließlich zur NSDAP. Für Stahlecker kam zusätzlich auch noch ein weiteres Moment hinzu. Er hatte zeitweilig auch dem Alldeutschen Verband angehört, und darüber hinaus dem durch dessen führende Vertreter 1919 mitinitiierten Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bund, der neben seinem kategorischen Antibolschewismus den Antisemitismus verbreitete. Diese radikale Massenorganisation der äußersten nationalen und völkischen Rechten wurde häufig zur Ausgangsbasis von Ortsgruppen der NSDAP, überwand so vielfach überhaupt erst deren Jürgen Schuhladen-Krämer 418 30 Ausführlich zur Organisation und Geschichte des Studentenbataillons: Schmid, Manfred, Die Tübinger Studentenschaft nach dem Ersten Weltkrieg 1918 - 1923 (Werkschriften des Universitätsarchivs Tübingen 13), Tübingen 1988. 31 Zur »Organisation Escherisch« und »Organisation Consul« siehe Sabrow, Martin, Der Rathenaumord. Rekonstruktion einer Verschwörung gegen die Republik von Weimar (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 69), München 1994. 32 StATÜ E 104/ 68; dies ergibt sich aus der namentlichen Auflistung der Polizeidirektion Tübingen von rund 190 NSDAP-Mitgliedern in Tübingen vor dem 23. November 1923. <?page no="420"?> Schattendasein als bayrische Regionalgruppierung. 33 Stahlecker gab später an, während dieser Zeit auch Schriftleiter einer völkischen Zeitung gewesen zu sein, ohne jedoch deren Namen zu nennen. Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung pflegte er gerne auf eine Episode hinzuweisen, mit der er seine Selbstinszenierung als »Alter Kämpfer« vorantrieb: 34 Im Dezember 1922 hatte die NSDAP in Göppingen zu einer Versammlung aufgerufen, und ein hundertköpfiges SA-Kommando aus München war hierzu martialisch aufgezogen, um es den »Roten zu zeigen«. Dagegen hatten Sozialdemokraten, Kommunisten und Gewerkschaften mobilisiert. Beim Marsch der SA durch die Göppinger Innenstadt kam es zu Rangeleien, die schließlich in eine Schießerei mit Verletzten vor dem Gasthaus »Walfischkeller« ausarteten. Während dieser Auseinandersetzung kam vom Bahnhof her eine Rotte von 20 Tübinger Studenten, die zusätzlich für den Saalschutz der NSDAP-Veranstaltung sorgen sollte, und griff nun ebenfalls ein. Dabei unterlagen sie den erregten Gegendemonstranten und wurden verprügelt. Stahlecker kokettierte später damit - die »Schlacht am Walfischkeller« war eine der gern kolportierten Legenden aus der »Kampfzeit« der NSDAP-Bewegung geworden - , daß er im Kampf für die Partei schwer verletzt worden sei. 35 Dieser Lebensabschnitt der radikalen Bekämpfung der demokratischen Republik fiel zusammen mit der Zeit seines Studiums der Rechtswissenschaften, das er im Sommersemester 1920 aufgenommen hatte. Mit Studienbeginn trat er der studentischen Verbindung »Lichtenstein« bei. Der Eintritt in gerade diese Verbindung erfolgte nicht in erster Linie vor einem besonderen politischen Hintergrund, sondern der Familientradition gemäß; der Vater gehörte der bis 1914 durch das evangelische Stift geprägten Verbindung seit 1885 an, ebenso Stahleckers älterer Bruder seit 1918, 1924 sollte auch der jüngere Bruder folgen. War der »Lichtenstein«, als schwarze, nichtfarbentragende Korporation, ursprünglich Duellen und Mensuren ablehnend gegenüber gestanden, so hatte er sich bereits 1914 immer mehr den anderen Verbindungen angeglichen. Nach 1918 - das Element der Beziehung zum Evangelischen Stift war völlig zurückgetreten und Studenten der Medizin und der Jurisprudenz prägten die Korporation - befand er sich politisch im extremen nationalistischen Lager, wobei andere Tübinger Verbindungen, wenn man eine Skala anlegen wollte, noch weiter rechts standen. Jedenfalls hatte man sich im »Lichtenstein« ein elitäres Bewußtsein erhalten, neben Fechten, Turnen, Reiten und Bierkommers hielt man sich etwas zugute auf das Zelebrieren diffiziler rhetorischer Übungen und auf Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 419 33 Allgemein zu dieser Gruppierung: Lohalm, Uwe, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes, Hamburg 1970. 34 Die Angaben Stahleckers in seiner Personalakte von 1934: HSTAS E 130c Bü. 112, Qu. 41. 35 Ausführliche Schilderung der Ereignisse und Folgen, ohne die Teilnahme Stahleckers zu verifizieren, bei Lang, Walter, Die »Schlacht am Walfischkeller«, in: Hohenstaufen (Veröffentlichungen des Geschichts- und Altertumsvereins Göppingen), (1975), S.138 - 147. Jüngst neu publiziert in: Göppingen unter dem Hakenkreuz (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Göppingen 32), Göppingen 1994. <?page no="421"?> Musikabende. 36 Über die Erziehung im Elternhaus hinaus dürfte Stahlecker diesem Kreis den größten Anteil seines gepflegt erscheinenden bürgerlichen Habitus verdankt haben - und dies trotz seiner Zugehörigkeit zum radikal-völkischen Lager mit dessen teilweise antibürgerlich anmutender Propaganda und Führerideal. 1924 schloß er sein Studium mit dem I. juristischen Staatsexamen ab. Das Ergebnis war insgesamt mittelmäßig, lediglich in der Teilprüfung zum Kirchenrecht mit dem Thema »Die Stellung der Bischöfe nach katholischem Kirchenrecht« schnitt er überdurchschnittlich ab. Das sollte ihn später nicht davon abhalten, die katholische Kirche zu bekämpfen. Auch in der großen Staatsprüfung 1927/ 1928 tat er sich nicht besonders hervor. Trotz dieser mäßigen Ergebnisse gelang ihm beruflich ein erstaunlich schneller Aufstieg. Der NSDAP hatte er bis zu ihrer Auflösung infolge des Hitlerputsches angehört, nach ihrer Wiederzulassung hatte er sich jedoch nicht wieder angemeldet und verhielt sich auch ansonsten nach außen hin nun politisch abstinent. Dieser angesichts der vorherigen Aktivitäten erstaunliche Befund läßt vermuten, daß Stahlecker seine Karriere plante und darauf achtete, diese nicht durch politische Aktivitäten zu gefährden. Nach dem juristischen Vorbereitungsdienst versah er ab 1928 seine Tätigkeit im Landesdienst in verschiedenen Oberämtern, bevor er im Februar 1930 die sich ihm bietende Chance zur kommissarischen Leitung des Arbeitsamtes im Städtchen Nagold ergriff. Bereits ein halbes Jahr später hatte er sein erstes Ziel erreicht, als er zum Leiter des Arbeitsamtes ernannt wurde, ab November desselben Jahres erhielt er eine Besoldung als Arbeitsamtsdirektor. Gerade 30 Jahre alt, durfte er auf weitere Aufstiegschancen hoffen. Auch privat war er erfolgreich. 1932 ehelichte er die zehn Jahre jüngere Luise-Gabriele und heiratete damit in einen Zweig des schwäbischen Reichsadelsgeschlechts derer von Gültlingen ein. Damit war zwar nicht ein Aufstieg in den »Hochadel« verbunden - die Gültlingens waren bereits sozial und vom Ansehen her abgestiegen -, aber prestigeträchtig war es allemal und konnte dem angestrebten Aufstieg nur dienlich sein. Seine frühere rechtsextreme politische Betätigung scheint er zunächst bemerkenswerterweise nicht wieder aufgenommen zu haben, obwohl die zunehmenden Wahlerfolge der NSDAP gegen Ende der Weimarer Republik dies hätten erwarten lassen. Als Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde, war Stahlecker nicht einmal Parteimitglied und mußte sich beeilen, der NSDAP und SS baldmöglichst noch beizutreten. Er erhielt die Mitgliedsnummer 3.219.015. Diese für eine Parteiförderung viel zu hohe Mitgliedsnummer wirkte sich - um an dieser Stelle dem Ablauf der Geschehnisse kurz vorzugreifen - besonders negativ aus, als er 1934 die Leitung des Politischen Landespolizeiamtes in Württemberg übernehmen sollte. Deshalb stellte Stahlecker etwa im Personalbogen sein früheres Engagement für die nationale Sache und für die NSDAP bis zu deren Verbot heraus und behauptete, um Jürgen Schuhladen-Krämer 420 36 Vgl. Der Tübinger Lichtenstein 1873 - 1933, Göppingen 1933 (Eigenschrift der Verbindung). <?page no="422"?> Wiedermitgliedschaft in Partei und SS »im Einvernehmen mit den zuständigen Partei- und Dienststellen erst im Mai 1932« nachgesucht zu haben. 37 Da keine Unterlagen zum Aufnahmegesuch 1932 vorhanden waren, wurde es von Stahlecker und seinem Förderer, Reichsstatthalter und Gauleiter Murr, als Versäumnis der Parteistellen dargestellt, diesen Aufnahmeantrag nicht weitergeleitet zu haben. Zu einem Politikum wurde die Angelegenheit, als Ministerpräsident Mergenthaler diese Unregelmäßigkeit ausnutzen wollte, um seinem Intimfeind und Stahleckers Förderer Murr einmal mehr Schwierigkeiten zu bereiten. Dieser Absicht kam nämlich der Umstand entgegen, daß der Personalstammbogen und -fragebogen Stahleckers vom Sommer 1933 im Innenministerium verloren gegangen war und Stahlecker im Mai 1934 einen zweiten ausfüllen mußte. So waren im Juli 1934 einige Hebel in Bewegung zu setzen, um den Makel und das Problem, das für Stahlecker als noch nicht endgültig bestätigtem neuen Leiter der Politischen Polizei entstanden war, zu lösen. Murr bestätigte persönlich den Antrag auf Mitgliedschaft Stahleckers, der bei ihm selbst im Mai 1932 gestellt worden sei, und fügte zwei ähnliche Bestätigungen aus der SS-Spitze bei: einmal von Oberführer Diehm und einmal vom Leiter des SS-Abschnitts Südwest Prützmann. Die Intervention war erfolgreich. Im August 1934 wurde die Mitgliedschaft Stahleckers auf den Mai 1932 zurückdatiert, und er erhielt statt der für eine steile Karriere anrüchigen Mitgliedsnummer eines »Märzgefallenen« die »optisch« bessere Nummer 1.069.130 zugeteilt. 38 Noch im Mai 1934 hatte Mergenthaler interveniert und auf die angeblich zwielichtige Rolle Stahleckers vor der Machtergreifung hingewiesen. Im November 1932 habe er sich abfällig über die NSDAP geäußert und auch im Arbeitsamt Nagold eine Hakenkreuzfahne entfernen lassen. Zeuge dieser Vorgänge sei der NSDAP-Kreisleiter von Calw, Wurster. 39 Der bis Herbst 1934 schwelende Streit endete vermutlich vor dem Parteigericht, denn eine Notiz in Stahleckers Parteiakte weist ohne weitere Präzisierung ein solches Verfahren für das Jahr 1934/ 35 aus. Aus diesem Prozeß ging er schließlich ohne Belastung hervor und konnte daraufhin seinen beruflichen Aufstieg in der Politischen Polizei beginnen. Dieser Aufstieg war 1933 - um nach den geschilderten vorgreifenden Ausführungen wieder zum Ausgangspunkt im Frühjahr 1933 zurückzukehren - von Murr angeschoben worden. Dieser hatte im Mai 1933 Mattheiß, dem Leiter des Württembergischen Politischen Landespolizeiamtes, den »zuverlässigeren« Spitzenbeamten Stahlecker als Stellvertreter zur Seite gestellt. Zwischen beiden herrschte ein Zustand der Spannung. 40 Murr dachte bei seiner persönlichen Anordnung vom 21. November Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 421 37 HSTAS E 130c Bü. 112, Qu. 41. 38 BA, Abt. III (BDC) PA Stahlecker. Vgl. auch Aronson, Shlomo, Reinhard Heydrich und die Frühgeschichte von Gestapo und SD, Stuttgart 1971, S. 137. Hier jedoch einige sachliche Fehler Stahlecker betreffend. 39 HSTAS E 130b Bü. 1065, Qu. 48. 40 HSTAS E 130b Bü. 1065, Qu. 48, Hinweis auf ein Schreiben von Mattheiß vom 7. Mai 1934 (siehe Anm. 21). <?page no="423"?> 1933, Stahlecker mit sofortiger Wirkung als Oberregierungsrat bei der Vertretung Württembergs beim Reich in Berlin zu verwenden, eventuell auch daran, seinen Protegé vor Angriffen zu schützen. Dem Dienst bei der Vertretung in Berlin war zwar weder eine politische noch eine verwaltungsmäßig hervorragende Bedeutung beizumessen (eigentlich war zunächst vorgesehen, die Stellung in Berlin infolge der Zentralisierung nach dem 5. März überhaupt abzubauen). 41 Für Stahlecker persönlich aber war mit dieser Stellung eine beträchtliche Steigerung des Salärs verbunden, und darüber hinaus dürfte er die besten Gelegenheiten bekommen haben, gesellschaftliche Kontakte herzustellen und zu pflegen. Es ist nur eine Vermutung, aber es erscheint nachvollziehbar, daß es Stahlecker gelang, in der Reichshauptstadt Verbindungen zu knüpfen, die ihm bei seinem späteren Aufstieg nützlich waren. In der neuen Stellung arbeitete er eng und in direkter Absprache mit Murr zusammen und half ihm bei den Maßnahmen, die eingeleitet wurden, um die wirtschaftliche Situation in Württemberg zu verbessern und damit die Bevölkerung von einer positiven NS-Politik zu überzeugen. 42 Die Querelen um Mattheiß und dessen Absetzung nutzte Murr dazu, den Ministerpräsidenten zu »ersuchen«, ihm, Murr, »die Ernennung des Oberregierungsrats Dr. Stahlecker auf die durch den Tod des Präsidenten Dr. Mattheiß freiwerdende Ministerialratsstelle beim Innenministerium [...] vorzuschlagen« 43 und somit seinen Schützling in diesem brisanten Bereich der nationalsozialistischen Herrschaft einzusetzen. Mergenthaler wehrte sich zunächst, war doch Stahlecker auf den Berliner Posten ohne seine Zustimmung berufen worden. Über Monate hinweg ereignete sich hinter den Kulissen zwischen Murr und Mergenthaler ein erbitterter Kleinkrieg um die endgültige Bestätigung Stahleckers als ständiger Leiter der Württembergischen Politischen Polizei, aus dem schließlich Murr und die SS siegreich hervorgingen. Stahlecker wurde rückwirkend zum 14. Mai 1934 Leiter der Politischen Polizei in Württemberg. 44 Neben der für Stahlecker günstig verlaufenen dienstlichen Angelegenheit trat noch familiäres Glück hinzu. Im Juli 1934 brachte seine Frau die Zwillinge Anne- Kristine und Konrad zur Welt, 1937 und 1938 sollten Gisela und Boto folgen. Im dienstlichen Verkehr gestaltete sich unter Stahleckers Leitung das Verhältnis von Politischer Polizei und Ministerien infolge seiner Eloquenz und seines verbindlicheren Auftretens reibungsloser als zu Zeiten des ermordeten Vorgängers. In der Verfolgung der vermeintlichen und tatsächlichen Gegner des »Dritten Reiches« war Jürgen Schuhladen-Krämer 422 41 HSTAS E 130c Bü. 112, Qu. 7, 8, 12. 42 Vgl. Müller (wie Anm. 9), S. 80. 43 HSTAS E 151/ 01 Bü. 133, Hinweis auf das Schreiben Murrs an Mergenthaler, 31. August 1934. 44 HSTAS E 130b Bü. 1065, Qu. 43 - 48, 51, 58, 71, 72; E 151/ 01 Bü. 133, Qu. 47, 77. Vgl. Müller (wie Anm. 9), S. 185. Die nach dem Tod von Mattheiß unbesetzt gebliebene Ministerialratsstelle, welche erst im Nachtragshaushalt 1933 für den Leiter der Politischen Polizei geschaffen worden war, erhielt Stahlecker nicht übertragen, da sie mittlerweile innerhalb der Verwaltung verschoben worden war: HSTAS E 151/ 01 Bü. 133, Qu. 47. <?page no="424"?> er nicht weniger hart. 1935/ 36 gelang dem Politischen Landespolizeiamt die Aufdekkung des nach der ersten Zerschlagung sich reorganisierenden illegalen Leitungsapparates der württembergischen KPD. Gegen einen Teil der dabei Verhafteten wurde 1937 wegen »Hochverrats« vor dem Volksgerichtshof die Todesstrafe verhängt und vollstreckt. Unter ihnen befand sich eine junge Mutter, die von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, Liselotte (Lilo) Hermann. 45 Im Bemühen, die evangelische Kirche gleichzuschalten, bewährte sich Stahlecker als flexibler Taktiker. Am 25. Januar 1934 noch hatte die evangelische Kirche auf Reichsebene, darunter der württembergische Landesbischof Wurm, sich den Wünschen Hitlers hinsichtlich der Machtzuteilung an die nationalsozialistisch orientierten »Deutschen Christen« gebeugt. Zur Umsetzung dieser Kapitulation in Württemberg fand eine Woche später bei der Politischen Polizei eine Unterredung zwischen kirchlichen und staatlichen Vertretern statt. Wenige Wochen später aber hatte der anfangs den nationalsozialistischen Machthabern noch wohlgesonnene Wurm eine Kehrtwendung vollzogen und die württembergische evangelische Kirche in Opposition zum Regime und zur Reichskirche gebracht - wenigstens in den Bereichen, die ihre Selbständigkeit betrafen. Daraufhin entbrannte Ende 1934 ein heftiger Kirchenstreit, den Stahlecker mit harten staatspolizeilichen Maßnahmen führte. Als sein Amt aber in Schwierigkeiten kam, weil das scharfe Vorgehen gegen die Widerständigkeit der Landeskirche selbst in Partei- und Regierungsstellen umstritten war, schwenkte Stahlecker ein. Ähnlich wie Murr und Mergenthaler vertrat er bald die Überzeugung, daß keine Märtyrer geschaffen werden sollten, und zeigte sich überzeugt, daß mit Gummiknüppeln kein kultureller Kampf zu gewinnen sei. 46 Nachdem bis 1934 in nahezu allen Ländern des Reichs der Reichsführer-SS Himmler zum »Kommandeur der Politischen Polizei« arriviert war und damit bereits eine weitgehende Zentralisierung stattgefunden hatte, brachte das Jahr 1936 einen vorläufigen Abschluß in der Organisierung nationalsozialistischer Polizeiherrschaft: Beim Reichsinnenministerium wurde die Stelle eines »Chefs der Deutschen Polizei« eingerichtet und Himmler mit dieser Funktion betraut. Durch die Gliederung der Polizei in eine Ordnungspolizei (Orpo) und eine Sicherheitspolizei (Sipo) - letztere umfaßte die Politische Polizei und die Kriminalpolizei, an deren Spitze Reinhard Heydrich stand - sollte ihre Schlagkraft verbessert werden und vor allem die Polizeigewalt in Deutschland stärker zur SS hin verlagert werden. Stahlecker schien einer der richtigen Männer für diese Aufgabe zu sein. Ein Ergebnis der organisatorischen Änderung war auch die einheitliche Benennung aller Politischen Polizeien im Reich, und so wurde das Württembergische Politische Landespolizeiamt seit 1. Oktober 1936 zur »Geheimen Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Stuttgart«. 47 Als Chef dieser Stapoleitstelle amtierte Stahlecker nur noch ein knappes halbes Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 423 45 Vgl. Müller (wie Anm. 9), S. 159 - 164. 46 Schnabel (wie Anm. 4), S. 413. 47 Vgl. Wilhelm (wie Anm. 7), S. 142 - 149. <?page no="425"?> Jahr. Sein Vorgesetzter, Reinhard Heydrich, ernannte ihn zum Leiter der Staatspolizeileitstelle Breslau. Nichts deutet auf irgendwelche Querelen hin, die dem vorausgegangen sein könnten; wahrscheinlich ist, daß Heydrich den in seinen Augen befähigten Polizeiorganisator in der neuen Stelle dringend benötigte. Breslau stellte für Stahlecker vor allem das Sprungbrett für eine weiterführende Karriere dar, die sich mit der Annektion Österreichs ergab. Zwei Monate nach dem Einmarsch deutscher Truppen am 12. und 13. März 1938 avancierte Stahlecker zum Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD für Österreich. Bis dahin hatte ein »Sonderstab« unter dem Chef der Gestapo, Heinrich Müller, die ersten organisatorischen Maßnahmen getroffen. Hatten die Inspekteure der Sipo bis zum Kriegsbeginn im Altreich eine eher koordinierende Funktion, so wurden sie in den annektierten Gebieten und erstmals in Österreich zu Vollstreckern einer umfassenden nationalsozialistischen Durchdringung des Landes, die direkt dem Chef der Sicherheitspolizei, Heydrich, unterstanden. In dieser Funktion wurde Stahlecker zu dem Mann Heydrichs in Österreich, der »Ostmark«. Mit ihm stellte Heydrich seinen Rivalen Ernst Kaltenbrunner, dem eigentlich die Polizeiorganisation übertragen war, teilweise kalt, indem er sich Stahlecker unmittelbar unterstellte und weisungsabhängig machte. 48 Neben dem Aufbau der Gestapo arbeitete Stahlecker 49 aber auch eng mit einem direkten Vertrauten Heydrichs zusammen, mit Adolf Eichmann. 50 Dies ergab sich durch die formelle Leitung der »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«, die der Reichskommissar und Gauleiter Bürckel am 20. August 1938 gründen ließ. Für die praktische Verwaltung dieser Einrichtung war vom SS-Hauptamt Eichmann abgeordnet. Er charakterisierte seinen unmittelbaren Vorgesetzten Stahlecker später als »außerordentlich lebendig und aktiv«, »vielleicht auch etwas ehrgeizig, aber immer auf der Suche nach schöpferischen Ideen.« 51 Nach der internationalen Konferenz von Evian im Juli 1938, auf der die Bereitschaft anderer Länder, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, im Mittelpunkt stand, wollte man im Rasse- und Siedlungsamt der SS durch verstärkten Auswanderungsdruck ein sogenanntes »jüdisches Problem« für das Ausland erzeugen. Stahlecker und Eichmann bewährten sich in den Augen ihrer Vorgesetzten, gelang es doch bereits im September, 10.000 österreichische Juden über die Zentralstelle außer Landes zu verbringen und damit die Auswanderungsquote im Jürgen Schuhladen-Krämer 424 48 Vgl. Black, Peter, Ernst Kaltenbrunner, Vasall Himmlers. Eine SS-Karriere, Paderborn 1991, S. 119 - 126. 49 Zur Organisation der Gestapo in Österreich siehe Weisz, Franz, Personell vor allem ein »ständestaatlicher« Polizeikörper. Die Gestapo in Österreich, in: Die Gestapo - Mythos und Realität, hrsg. v. G. Paul, K.-M. Mallmann, Darmstadt 1995, S. 439 - 462. 50 Vgl. Aschenauer, Rudolf (Hrsg.), Ich, Adolf Eichmann. Ein historischer Zeugenbericht, Leoni am Starnberger See 1980, S. 87, 90 u. 100 f. Im folgenden als »Eichmann-Memoiren« bezeichnet. Siehe auch Lang, Jochen von, Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Berlin 1982, S. 50. Im folgenden als »Eichmannprotokolle« bezeichnet. 51 »Eichmann-Memoiren« (wie Anm. 50), S. 118. <?page no="426"?> Vergleich zum Altreich deutlich nach oben zu treiben. Wohlhabendere jüdische Bürger, die die Ausreise beantragten, wurden finanziell »abgeschöpft«, um auf deren Kosten auch die ärmeren jüdischen Bürger - und das wurden infolge der Politik der »Arisierung« und beruflichen Verdrängung immer mehr - loszuwerden. Zugleich fand auf diese Weise eine Enteignung jüdischen Eigentums in großem Ausmaß statt. 52 Doch diese zwangsweise Auswanderung versprach nicht den erhofften »Erfolg«. So kam durch Anweisung des Reichsführers Himmler ein Modell zur Konzentrierung der österreichischen Juden in Wien in Anwendung, das wenig später zu den dann geschaffenen Ghettos erweitert und perfektioniert wurde. 53 Stahlecker konnte hierbei sein »Talent« in Wien nicht mehr einbringen: Im Herbst 1938 wurde er abkommandiert und während der Sudetenkrise mit schwierigen Aufgaben betraut. Im Zuge der Abtretung des Sudetenlandes an das Reich, die im Münchner Abkommen festgelegt wurde, sollte er eine Einsatzgruppe, die direkt den einmarschierenden Wehrmachteinheiten folgte, leiten und die schnelle Säuberung des Landes von politischen Gegnern gewährleisten. Darüber hinaus war ihm auch hier der rasche Aufbau einer Polizeiorganisation in den neuen Landstrichen anvertraut. Als schließlich auch die »Rumpf-Tschechoslowakei« zerschlagen wurde, setzte Heydrich ihn als »Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD« im Protektorat Böhmen und Mähren ein. Das »bewährte« Modell der Zentralstelle aus Wien wurde auch im Protektorat eingeführt, Eichmann installierte diese Institution im Juli 1939 in Prag und konnte wiederum auf Stahleckers wärmste Unterstützung bauen. Überhaupt arbeiteten von nun an die beiden Männer nicht nur im »beruflichen Alltag« zusammen, sondern entwickelten darüber hinaus ein privates Verhältnis. Nahezu jeden Sonntagvormittag trafen sie sich zu privaten Gesprächen. 54 Der Krieg hatte die Politik der erzwungenen Auswanderung jüdischer Bürger nahezu zum Stillstand gebracht. Eine neue Stufe der rassistischen Lösung des in nationalsozialistischen Augen »jüdischen Problems« begann mit dem Kriegsausbruch. Die sukzessive Abschiebung der unerwünschten Juden und Sintis aus dem Reichsgebiet und aus dem Protektorat und ihre Konzentrierung im äußersten Osten Polens war von Hitler und Himmler bereits Ende September 1939 vorgesehen worden. Eichmann erkundete zu diesem Zweck das Terrain, und Stahlecker, der den Plan Eichmanns »begeistert« aufnahm, begleitete ihn. Beide kamen auf einer Inspektionsfahrt durch Polen im Oktober überein, südlich von Lublin das geplante »Judenreservat« einzurichten. 55 Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 425 52 Vgl. Wildt, Michael (Hrsg.), Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938. Eine Dokumentation (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 71), München 1995, S. 53 und 193 (Dokument 31). Zur Politik gegenüber jüdischen Bürgern in Österreich siehe Luza, Radomir, Österreich und die großdeutsche Idee in der NS-Zeit, Wien, Köln, Graz 1977; ebenso Botz, Gerhard, Wien vom Anschluß zum Krieg. NS-Machtübernahme und politische und soziale Umgestaltung am Beispiel der Stadt Wien 1938/ 39, Wien, München 1978. 53 BAP, R 58/ 904, Bl. 169. Vermerk beim Inspekteur der Sipo vom 2. November 1938. 54 »Eichmannprotokolle« (wie Anm. 50), S. 56; vgl. Safrian, Hans, Die Eichmann-Männer, Wien-Zürich 1993, S. 73 f. <?page no="427"?> Schon bald jedoch benötigte das RSHA Stahleckers Fähigkeiten andernorts: im gerade besetzten Norwegen. Innerhalb der Machtzentren des NS-Staates herrschte nach der Besetzung des skandinavischen Landes keine einheitliche Auffassung hinsichtlich der Kompetenzverteilung zwischen Wehrmacht und zivilen Stellen und nicht einmal über die Art der Installierung norwegischer Verwaltungsbefugnisse. Stahlecker sollte nach Heydrichs Anschauung auch hier den Aufbau der Polizei nach bewährtem Muster durchführen. Infolge der verschiedenen politischen Planungen war Stahlecker aber noch im April 1940 formal als dem Auswärtigen Amt Unterstellter vorgesehen. Er sollte die Funktion eines »Beauftragten für die innere Verwaltung beim Reichsbevollmächtigten in Norwegen« wahrnehmen. In dieser Funktion hätte er zwar auch den Polizeiapparat aufbauen sollen, seine Kompetenzen im Sinne des RSHA wären aber zwischen Wehrmacht, Auswärtigem Amt und dem potentiellen Reichsbevollmächtigten äußersten Reibungen ausgesetzt gewesen. Es kam schließlich ein anderes Modell zum Zug. Am 21. April 1940 traf Stahlecker zusammen mit dem eingesetzten Reichskommissar für Norwegen, Josef Terboven, in Oslo ein. 56 Mit dessen Ernennung, und damit der Variante der klassischen Besetzung eines Landes, entfiel die Unterordnung unter das Auswärtige Amt. Stahlecker konnte als Befehlshaber der Sipo und des SD allein dem RSHA verantwortlich fungieren. Nicht einmal gegenüber Terboven war er in irgendeiner Beziehung untergeordnet. Rasch baute er ein Netz von rund 200 Sipo- und SD-Angehörigen auf, koordiniert durch den »Einsatzgruppenstab« in Oslo. Seine Sicherheitsaufgabe sah er weit gefaßt; er beschränkte sich nicht allein auf die Ausschaltung des Feindes, er betätigte sich zugleich im engeren Sinn politisch. Stahlecker berichtete Heydrich regelmäßig über die Entwicklung im Lande und erörterte die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit kollaborationsbereiten norwegischen Personen und Gruppen. 57 Ebenso wie Terboven opponierte er heftig gegen die Pläne im Amt Rosenberg, Vidkun Quisling in eine »nationale Regierung« einzusetzen, und setzte statt dessen auf dessen Gegenspieler Jonas Lie. 58 Im November 1940 - der Sicherheitsapparat war schon vollständig aufgebaut - wurde Stahlecker aus Oslo wieder abberufen. 59 »Im Einvernehmen mit Jürgen Schuhladen-Krämer 426 55 Vgl. Höhne, Heinz, Der Orden unter dem Totenkopf, die Geschichte der SS, Gütersloh 1967, S. 321 ff. Siehe ebenso Deschner, Günther, Reinhard Heydrich, Statthalter der totalen Macht, 3. Aufl. Esslingen 1992, S.178. »Eichmann-Memoiren« (wie Anm. 50), S. 118, detailliert hierzu Safrian (wie Anm. 54), S. 75 f. 56 Vgl. Loock, Hans-Dietrich, Quisling, Rosenberg und Terboven. Zur Vorgeschichte und Geschichte der nationalsozialistischen Revolution in Norwegen (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 18), Stuttgart 1970, S. 356 - 359. 57 Davon existieren nur noch Überreste: BAP R 58/ 496, Stahleckers Tagesbericht Nr. 24 an Chef der Sipo und des SD [Heydrich] vom 13. Juni 1940. 58 Vgl. Loock (wie Anm. 56), S.448 f. und 451. Akten zur deutschen auswärtigen Politik, 1918 - 1945, D, 10, Frankfurt/ Main 1963, Dok. Nr. 124. 59 Bohn, Robert, »Ein solches Spiel kennt keine Regeln.« Gestapo und Bevölkerung in Norwegen und Dänemark, in: Die Gestapo - Mythos und Realität, hrsg. v. G. Paul; K.-M. Mallmann, Darmstadt 1995, S. 463 - 481, hier S. 465, meint, daß die Abberufung auf Drängen Terbovens erfolgte, dem <?page no="428"?> dem Herrn Reichsaußenminister«, schrieb Heydrich, »ordne ich Sie [Stahlecker] hiermit aus dienstlichen Gründen vom 14. November 1940 ab zur informatorischen Beschäftigung beim Auswärtigen Amt in Berlin bis auf weiteres ab.« 60 Damit blieb Stahlecker weiterhin dem RSHA zugeordnet. Als Ministerialrat arbeitete er in der unmittelbaren Umgebung des Reichsaußenministers und sicherte die verstärkte Einflußnahme der SS seit der Amtsübernahme von Ribbentrops. 61 Stahlecker agierte allerdings nicht unangefochten. In dem Gesandten Luther, Leiter der Abteilung »Deutschland«, hatte er einen Gegenspieler, der darauf bedacht war, Stahleckers Streben auf die Leitung der Abteilungen Kult ins Leere laufen zu lassen, und der keine Intrige scheute. 62 Stahleckers Stellung im AA jedoch war durchaus wichtig: Er hatte Zugang zu Informationen auf höchster Staatsebene 63 und war befugt, auswärtige Gesandtschaften zu instruieren. 64 Zudem war er durchaus in der Lage, selbständig politisch zu denken und zu agieren. Dies geschah immer in den Grenzen der NS-Ideologie, die er bis zu seinem Tod nie in Frage gestellt hat. Im Dienst des AA hatte er auch mit der ihm aus SD und Gestapo bekannten Tätigkeit des Nachrichtensammelns zu tun. 65 Die Vorbereitungen für den Überfall auf die Sowjetunion gaben der Karriere Stahleckers eine erneute Wendung. Am 6. Februar 1941 erfolgte seine Beförderung zum SS-Brigadeführer und zum Generalmajor der Polizei, wahrscheinlich für die Verdienste, die er sich bei der Umsetzung des SS-Gedankens im Polizeikorps erworben hatte. Die Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion waren in vollem Gange, als Heydrich im April 1941 vor den Amtschefs des Reichssicherheitshauptamtes und auserlesenen SS-Führern, darunter Stahlecker, die Planungen dazu verkündete und sich in Ausführungen über die sicherheitspolizeilichen Aufgaben er- Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 427 Stahleckers »politischer Betätigungsdrang« Stein des Anstoßes gewesen sein soll. Dies gründet sich auf einen Bericht Hans Dellbrügges, Hauptabteilungsleiter im Reichskommissariat Norwegen, der sich im Reichsarchiv Oslo befindet. Siehe im Gegensatz dazu die Darstellung bei Loock (wie Anm. 56). 60 Personalunterlagen Stahleckers im Politischen Archiv des AA. Schreiben Heydrichs S Ic(a) 1a Nr. 1195/ 40 vom 18. Dezember 1940 [Dezember, sic] an die Personalabteilung des AA. Diese nachträgliche Mitteilung ist bezeichnend für die Dreistigkeit, mit der die SS-Spitze sich im Auswärtigen Amt breitmachen konnte. Die Personalabteilung des AA beschäftigte sich fortan hauptsächlich mit Streitigkeiten darüber, welche Stelle Stahleckers Besoldung auszuzahlen habe. 61 Zu den Rivalitäten zwischen SS und AA siehe Döscher, Hans-Jürgen, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der »Endlösung«, Berlin 1987. 62 BAP, NS 19/ 3872, Chefs des SS-Hauptamtes Gottlob Berger an RFSS Himmler, 28. Mai 1941. 63 Akten zur deutschen auswärtigen Politik, 1918 - 1945, D, 11,1, Frankfurt/ Main 1963, Dok. Nr. 78, Niederschrift der Unterredung des Reichsaußenministers mit dem japanischen Botschafter am 23. Februar 1941. Dieser Bericht ging im AA nur an ausgewählte Beamte, darunter Stahlecker. 64 Akten zur deutschen auswärtigen Politik, 1918 - 1945, D, 11,2, Frankfurt/ Main 1963, Dok. Nr. 734, Anweisung Stahleckers an die Gesandtschaft in Helsinki, 30. Januar 1941. 65 Akten zur deutschen auswärtigen Politik, 1918 - 1945, D, 12,2, Frankfurt/ Main 1963, Dok. Nr. 579, Bericht Stahleckers an den Reichsaußenminister, 31. Mai 1941 über eine Unterredung mit dem kroatischen Gesandten Benzon u.a. über die skeptische Haltung des kroatischen Staatspräsidenten Pavelic zu einem möglichen deutschen Sieg. <?page no="429"?> ging, die jedes bisherige Ausmaß an Härte in den Schatten stellen sollten. Die »Sonderbehandlung«, ein Synonym für Exekution, war fortan für die meisten dem NS-Regime mißliebigen Menschen im östlichen Zugriffsraum vorgesehen. Stahlekker meldete sich zwar nicht freiwillig, übernahm nun aber bereitwillig die ihm übertragene Funktion des Leiters einer der einzurichtenden Einsatzgruppen, die hinter den Heereseinheiten das eroberte Gebiet sicherheitspolizeilich »befrieden« sollten. 66 Am 17. Juni erhielt er in Berlin die letzten Instruktionen zu diesem Sondereinsatz, das Gros der Einsatzgruppe A bezog die Bereitstellungsräume um Gumbinnen bei Königsberg. Dann überstürzten sich die Ereignisse. Nachträglich, am 5. Juli, hob der Chef der Sicherheitspolizei und des SD rückwirkend mit Ablauf des 18. Juni Stahleckers Abordnung nach Berlin auf und wies das Auswärtige Amt darauf hin, daß »Dr. Stahlecker gegenwärtig bei einem Einsatzkommando im Osten Verwendung findet.« 67 Stahlecker erwies sich auch bei dieser »Aufgabe« nicht bloß als ein Befehlsempfänger, der das Aufgetragene erledigte, sondern er setzte sein ganzes Organisations- und Führungstalent ein, um sich bei der Erfüllung der »Sonderaufgaben« auszuzeichnen. Anstatt sich hinter den seit den frühen Morgenstunden des 22. Juni vorrückenden Wehrmachtstruppen zu halten, eilte er seiner Einsatzgruppe zum Gefechtsstab der Heeresgruppe Nord voraus, um zeitgleich mit der Wehrmacht in die größeren Orte einzurücken. Noch am Abend des gleichen Tages fuhr er zur Stapoleitstelle nach Tilsit und befahl, in einem litauischen Grenzstreifen von 25 Kilometer Breite mit der »Sonderbehandlung« von Juden, einschließlich Frauen und Kindern, und Kommunisten zu beginnen - er bestimmte die Leitstelle sozusagen vorübergehend zum weiteren Einsatzkommando. Ziel dieser Mission war es, »den Einsatzgruppen und -kommandos größtmögliche Bewegungsfreiheit [zu] erhalten«, da der rasche Vorstoß in die Sowjetunion anfangs ein hohes Tempo bei der Erfüllung der Sipo-Aufgaben nach sich zöge. 68 Zur bestmöglichen Erfüllung des gestellten Auftrages in der Weite des baltischen und nordrussischen Raumes war die Einsatzgruppe A in drei Einsatzkommandos geteilt, 69 deren Kommandeure Stahlecker persönlich aus ihm bekannten und ergebenen SS-Offizieren rekrutiert hatte. Eine spätere Personalaufschlüsselung gewährt Einblick in die Struktur dieser Terrorkommandos. Danach wies die Einsatzgruppe A am 31. Januar 1942 eine Gesamtstärke von 909 Personen aus, darunter 185 Kraftfahrer, 277 verpflichtete SS-Soldaten, 53 Notdienstverpflichtete, 23 Funker, 9 Fernschreiber, 134 Beamte der Ordnungspolizei, 85 der Gestapo und 53 Kriminalbeamte, 37 SD-Leute, 3 Sonderbeauftragte, 26 Jürgen Schuhladen-Krämer 428 66 Vgl. Krausnick, Helmut; Wilhelm, Hans-Heinrich, Die Truppe des Weltanschauungskriegs. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938 - 1942, Stuttgart 1981, S. 141 f. Ebenso Höhne (wie Anm. 55), S. 326 ff., Deschner (wie Anm. 55), S. 186 f. 67 Personalunterlagen Stahleckers im PAAA. Schreiben Heydrichs IA2a Nr. 1249/ 41 vom 5. Juli 1941. 68 Van Dam, Hendrik George; Giordano, Ralph (Hrsg.), KZ-Verbrechen vor deutschen Gerichten Bd. 2, Frankfurt/ Main 1966, S. 88 - 90. 69 Folgende Zitate und Angaben, soweit nicht anders vermerkt, nach dem »Stahlecker-Bericht« der Einsatzgruppe A bis zum 15. Oktober 1941, in IMT, Bd. 37 (L-180), S. 670 - 717. <?page no="430"?> Verwaltungskräfte und 22 weibliche Angestellte. 70 Trotz des so sichergestellten hohen Grades an Arbeitsteilung und Mobilität hätte Stahlecker die nun folgenden »Erfolgsmeldungen« über außerordentlich hohe Zahlen von »Liquidierungen« nicht in dem Ausmaß an das RSHA melden können, wenn er nicht zugleich ein höchstes Maß an »Effizienz« organisiert hätte. Er eilte teilweise persönlich mit einem Teil seines Stabes der Einsatzgruppe voraus und beschränkte sich nicht, wie ursprünglich mit dem OKW abgesprochen, auf das rückwärtige Heeresgebiet, weil nach seiner Auffassung »zur Durchführung der sicherheitspolizeilichen Aufgaben [...] in größeren Städten zusammen mit der Truppe einzuziehen« erstrebt werden sollte. Diese Eile hielt er für notwendig, um »schon in den ersten Stunden nach dem Einmarsch, wenn auch unter erheblichen Schwierigkeiten einheimische antisemitische Kräfte zu Progromen [sic] gegen die Juden [zu veranlassen].« 71 In den baltischen Ländern, insbesondere in Litauen und Lettland, organisierte er schnell einheimische kollaborationsbereite Gruppen nationalistischer Kräfte als »Schutzmannschaften« unter dem Befehl seiner Sipo und des SD als Hilfstruppe. Mit dieser Strategie erreichte er höhere »Erfolgsziffern« an »liquidierten« Menschen - eingeteilt in die Kategorien Juden, Kommunisten, Partisanen, Geisteskranke und Sonstige - als seine Kollegen in den anderen Einsatzgruppen. 72 Dabei war Stahlecker ein politisch versierter SS-Führer, der jede Ambition nationalistischer baltischer Führer auf selbständige Kompetenzen im eroberten deutschen Machtbereich zu vereiteln wußte. In seinem großen Einsatzbericht nach dem ersten Vierteljahr resümierte er: Da »von vornherein zu erwarten war, daß allein durch Progrome [sic] das Judenproblem im Ostlande nicht gelöst werden würde, wurden daher durch Sonderkommandos, denen ausgesuchte Kräfte - in Litauen Partisanentrupps, in Lettland Trupps der lettischen Hilfspolizei - beigegeben wurden, umfangreiche Exekutionen in den Städten und auf dem flachen Lande durchgeführt. Der Einsatz der Exekutionskommandos war reibungslos.« Über die Tätigkeit, die unter seiner Leitung durchgeführt wurde, konnte er sich keine Illusionen machen. Er betrachtete es vielmehr als Herausforderung, die es bestmöglich zu erledigen galt. Wenn es stimmen sollte, was ein enger Mitarbeiter sehr viel später behauptete, daß Stahlecker einmal in ganz kleinem Kreis seine Mißbilligung über die Judenvernichtung ausgedrückt habe, so hat er es jedenfalls nicht an Eifer fehlen lassen, genau diese Massenvernichtung der ersten Phase rationell durchzuführen. 73 Und dabei wußte er, wie er seine Gruppe zu führen hatte: Er legte Wert auf die Teilnahme aller Männer der Einsatzgruppe bei den Erschießungsaktionen jüdischer Männer und Frauen, der Greise und Kinder in Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 429 70 ZStLB, Ordner UdSSR 402 II. Teil, Bericht der Einsatzgruppe A bis zum 31. Januar 1942. 71 IMT, Bd. 37 (L-180), S. 672. 72 Denen standen allerdings auch keine kollaborationsbereiten Gruppen in dem Ausmaß wie im Baltikum zur Verfügung. 73 Aussage Tschierschky, Mitarbeiter Stahleckers im Stab der Einsatzgruppe A, in einem Prozeß vor dem LG Koblenz 1961; vgl. Krausnick/ Wilhelm (wie Anm. 66), S. 628. <?page no="431"?> von den Opfern selbst auszuhebenden Gruben, damit sich alle »die Finger schmutzig machten«. Den Alltag eines Einsatzkommandos aus Stahleckers Einsatzgruppe beschrieb 1947 einer der Beteiligten während seiner Vernehmung: »Die Verurteilten [gemeint sind die zusammengetriebenen Menschen] wurden nicht nur auf Lastautos gebracht, sondern auch zu Fuß in Gruppen zu je 70 bis 80 Personen und wurden dabei unbarmherzig geprügelt. Die zum Erschießungsort gebrachten Personen wurden in einer Entfernung von ca. 50 m von den Gräbern aufgestellt und so lange bewacht, bis sie zur Erschießung an die Reihe kamen. [...] Bei den Gräbern wurden sie ausgezogen, es wurde ihnen sogar die gute Unterwäsche vom Leibe gerissen. Die vollkommen Entkleideten wurden in die Gräber getrieben, wurden gezwungen, sich mit dem Gesicht nach unten zu legen. Die Polizisten [gemeint sind die kollaborierenden ›Schutzmannschaften‹] und Deutschen [gemeint sind die Männer des Einsatzkommandos] erschossen sie mit Gewehren und Maschinenpistolen. [...] Die Polizisten tranken in der Pause zwischen den Erschießungen der Partien der Juden Schnaps, nahmen einen Imbiß ein und machten sich in betrunkenem Zustand wieder an ihr blutiges Werk.« 74 Stahlecker hatte sich zum Ziel gesetzt, dem RSHA »sein« Gebiet als »judenfrei« zu melden. Seine »Erfolge« listete er auf, anschaulich graphisch präsentiert durch entsprechende Särge: Bis Ende Januar 1941 meldete er die Exekution von 240.410 Menschen, darunter 218.050 Juden, 8.359 Kommunisten, 1.644 Geisteskranke. 75 Letztlich dürfte diese Übererfüllung seines Auftrages auf einen nahezu schranken- und gewissenlosen persönlichen Ehrgeiz zurückzuführen sein, und möglicherweise wäre Stahlecker nach einem Sieg über die Sowjetunion in die Stelle eines Höheren SS- und Polizeiführers (HSSPF) in »Ostland« gelangt, damit abermals eine Stufe in der Hierarchie des RSHA nach oben rückend und so noch näher beim Chef der Sipo, Heydrich, angesiedelt. Da der erwartete schnelle deutsche Sieg über die Sowjetunion jedoch ausblieb, bezeichnete er sich bereits seit September quasi im Vorgriff als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS), bevor er Anfang Dezember auch offiziell diese Amtsbezeichnung erhielt. Sein Amtssitz als BdS war Riga, doch der mobile Stahlecker - er hatte in den ersten drei Monaten des Rußlandkrieges über 15.000 Kilometer mit dem Pkw zurückgelegt - befand sich meistens bei seinem frontnahen Hauptquartier der Einsatzgruppe A in Krasnogwardeisk (seit 1944 Gatcina), wenige Kilometer vor Leningrad. Stahleckers Ambitionen gingen über das Erreichen der totalen Säuberung seines Abschnittes hinaus. Er sah sich als Teil der politischen Elite innerhalb der Polizei an, die die Ideologie des Nationalsozialismus verinnerlicht hatte und daraus selbständig Jürgen Schuhladen-Krämer 430 74 Vgl. Krausnick/ Wilhelm (wie Anm. 66), S. 579. 75 Vgl. zur Diskussion um die Zahl der Exekutionen Krausnick/ Wilhelm (wie Anm. 66), S.607 f. Wilhelm bestätigt die Zahl insgesamt und addiert noch weitere 100.000 Ermordete durch die Vergrößerung des Gebietes der Einsatzgruppe A nach Weißrußland hinzu. <?page no="432"?> Handlungsanleitungen ableitete. Deshalb analysierte er in seinen Berichten die sicherheitsrelevanten Probleme bei der Besetzung des Landes und legte alternative Konzepte zu deren Überwindung vor. Dabei beschäftigten ihn keineswegs allein engere polizeiliche Fragen, sondern auch die Möglichkeiten deutschen Einflusses auf die Bewohner des Baltikums und - das hatte nun mit Polizeiaufgaben gar nichts zu tun - auch wirtschaftliche Probleme wie z.B. Fragen der Preisfestsetzung und der Reprivatisierung der ehemals sowjetischen Wirtschaft. Solche Problemanalysen und Entwürfe wiesen ihn unübersehbar als einen Beamten aus, der sich in vielerlei Führungspositionen bewähren würde. 76 Neben den engeren »polizeilichen« Aufgaben widmete Stahlecker sich auch besonderen Aufträgen für das Rasse- und Siedlungsamt im RSHA, wie beispielsweise der Sicherstellung von geraubten Bibliotheken aus jüdischem Besitz. In einem daraus entstandenen Interessenkonflikt zwischen dem »Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg«, dem Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, der waggonweise geraubte Kunstgegenstände ins Reich für seine Dienststellen rollen ließ, und dem RSHA, engagierte sich Stahlecker vehement für seine Dienststelle. 77 Auf einem anderen Gebiet brachte er seine Fähigkeiten noch sehr viel stärker zur Geltung, entsprach es doch seiner Qualifikation und bot darüber hinaus größte Möglichkeiten, sich zu profilieren und seinen Ehrgeiz zu befriedigen. Stahlecker hatte sich einen besonders guten Draht zur 18. Armee geschaffen - »die Zusammenarbeit mit der Wehrmacht war im allgemeinen gut, in Einzelfällen, wie z.B. mit der Panzergruppe 4 unter Generaloberst Höppner [sic], sehr eng, ja fast herzlich« - 78 , und in Erwartung der baldigen Einnahme Leningrads hatte er unmittelbar Kontakt zu deren Stab gehalten. Bereits zu Beginn der Blockade dieser bedeutenden Stadt hatte er begonnen, ein Spionagenetz zu errichten, das ihn mit Nachrichten aus der Stadt versorgte. Damit baute er bewußt eine Konkurrenz zur Abwehrabteilung des Heeres auf. Mit seiner Organisation war er dann wesentlich effektiver als die dafür zuständige militärische Stelle des Amtes Abwehr, so daß Stahleckers Nachrichtenberichte im RSHA begierig aufgegriffen wurden. 79 Im dienstlichen Verkehr konnte Stahlecker bedingt durch seinen Ehrgeiz oder durch seine unbedingte Identifikation mit dem Nationalsozialismus oder durch beides zusammen zu einem gefährlichen Gegner werden. Gegen Oberstleutnant und SS-Hauptsturmführer Kriegsheim z.B., Generalstabschef des rückwärtigen Heeresgebiet Nord, ging Stahlecker rücksichtslos vor, weil dieser sich wiederholt kritisch zu deutschen Siegeserwartungen geäußert hatte und auch die Ansicht vertreten hatte, daß »die Erschießung eines Juden für einen Deutschen unwürdig sei«. In einem persönlichen Schreiben an RFSS Himmler verlangte er, Kriegsheim vor ein Kriegs- Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 431 76 IMT, Bd. 37 (L-180), vgl. den Abschnitt IV: S. 696 - 701. 77 BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZR 540/ 20. 78 IMT, Bd. 37, S. 671. 79 Vgl. Krausnick/ Wilhelm (wie Anm. 66), S. 454 - 462. <?page no="433"?> gericht zu stellen. Darin rühmte er sich auch der Methode, wie er Kriegsheim bei einem Zusammentreffen gezielt ausgehorcht habe. Diese kurze Episode zeugt abermals von Stahleckers zielgerichtetem Denken. So gibt er in diesem Brief auch Ratschläge, wie Kriegsheim sinnvoll vor einem Kriegsgericht angeklagt werden könnte, ohne daß »es so scheint, als ob planmäßig gegen Kriegsheim Material gesammelt worden wäre.« 80 Kriegsheims Zweifel hielt er für »Defätismus«. Ihm selbst scheinen solche Gedanken nicht gekommen zu sein, obwohl er doch noch im Juli den baldigen Fall Leningrads erwartet hatte und nun im Winter an vorderster Stelle miterlebte, daß sich der sowjetische Widerstand verhärtet und die Front nur mit Mühe und Not gehalten hatte. Anstelle der bereits fest eingeplanten blutigen Verfolgung in Leningrad begann Stahlecker mit dem größten Teil der Einsatzgruppe die Bekämpfung der immer massiver hinter den deutschen Linien auftretenden sowjetischen Partisanen. Auch hier ging Stahlecker emotionslos zur Sache, ganz so wie bei den Massenerschießungen. Kühl legte er in seinen Berichten eine Ist-Analyse von Umfang und Art der Partisanengruppen vor und leitete daraus die seiner Meinung nach erfolgversprechende »Taktik, Terror gegen Terror zu setzen«, ab. Zur Abschreckung befahl er, Häuser und Dörfer niederzubrennen. Die gemeldete Zahl von über 1.000 getöteten Partisanen bis Januar 1942 in seinem Abschnitt hielt er für einen Erfolg. Vielleicht hätte er später - denn zweckrationales Denken war im Grunde seine Stärke - seine rein auf Terror aufbauende Strategie angesichts der gleichwohl zunehmenden Partisanenbewegung flexibler gehandhabt. Diese Überlegungen mußte er jedoch nicht mehr anstellen. Im März 1942 wurde er unmittelbar in der Nähe seines Hauptquartiers bei einem Angriff von Partisanen angeschossen. Der Schuß traf ihn in den Oberschenkel und verletzte die Hauptarterie; medizinische Hilfe im Lazarett von Riga konnte ihn nicht mehr retten, er verblutete am 23. März 1942 auf dem Flug zurück nach Prag, wo seine Familie wohnte. Friedrich Mußgay - Bürokrat im Bewährungsaufstieg Paul Emil Friedrich Mußgay wurde am 3. Januar 1892 als Kind der Eheleute Georg Friedrich und Karoline Mußgay in Ludwigsburg geboren. Die Umstände, unter denen der junge Friedrich Mußgay aufwuchs, müssen bescheiden gewesen sein. Sein Vater, noch auf dem Lande groß geworden, hatte die Stellung eines Hausmeisters inne, Großvater bis Ururgroßvater waren noch Metzger gewesen. Auch mütterlicherseits konnte dem Jungen außer einer religiösen Einstellung kein großer Bildungshintergrund in gesicherten Verhältnissen vermittelt werden; als Tochter eines Bauern hatte die Mutter wenig in die Ehe eingebracht. Über die Schulbildung versuchte Mußgay, aus der Enge seiner Herkunft auszubrechen. Nach Volksschule Jürgen Schuhladen-Krämer 432 80 BAP, NS 19/ 2030, Fernschreiben Stahleckers an RFSS, 14. Februar 1942. <?page no="434"?> und Mittelschule besuchte er die Höhere Schule. Die Laufbahn im gehobenen mittleren Verwaltungsdienst schien ihm hinreichend Aussicht auf ein Leben in gesicherter und öffentlich anerkannter Stellung zu bieten. Während des Besuches der Verwaltungsfachschule in Stuttgart machte er die Bekanntschaft von Robert Scholl, dem Vater der im Februar 1943 hingerichteten studentischen Widerstandskämpfer der »Weißen Rose«, Hans und Sophie Scholl. Der Kontakt der beiden Männer sollte über die gemeinsame Vorbereitung auf eine Laufbahn im Staatsdienst hinaus bestehen bleiben und erst sein jähes Ende finden, als Mußgay in seiner Gestapofunktion die Verfolgung der Widerstandsgruppe der »Weißen Rose« in Württemberg organisierte. 81 Die Abschlußnote IIa - befriedigend - auf der Verwaltungsfachschule konnte als Ausgangspunkt für einen langsamen, aber stetigen Aufstieg Mußgays in der Beamtenhierarchie angesehen werden. Die Einberufung als Soldat und die zeitweilige Frontverwendung während des Ersten Weltkrieges unterbrachen den beruflichen Werdegang. Immerhin hatte er den Krieg lebend und als dekorierter Leutnant d.Res. überstanden. Noch während des Krieges 1917, nach Beendigung seiner Assistentenzeit, konnte er mit der Einsetzung in eine Stelle bei der Polizeidirektion in Stuttgart seine Lebensplanung für die Zeit nach dem Krieg beginnen. Im Februar 1918 ehelichte er Emma Schanbacher und am 1. November 1918 kam in Schwäbisch Gmünd das erste Kind Fritz zur Welt, am 11. November 1927 folgte der zweite Sohn Manfred. Mag es nun am privaten Familienglück gelegen haben oder in der Tatsache der gesicherten Beamtenstellung begründet gewesen sein, Mußgay ging jedenfalls in seiner Stellung auf. Zum Anschluß an ein Freikorps oder auch zu irgendwelcher politischer Betätigung sah er keinen Anlaß. Unpolitisch war er deswegen aber nicht. Hinter der nach außen indifferent erscheinenden politischen Haltung Mußgays versteckte sich die in den Jahren nach 1918 in Beamtenkreisen weit verbreitete Ablehnung des demokratischen Systems. In württembergischen Polizeikreisen galt Verfassungstreue nicht als Markenzeichen. 82 Vor 1933 profilierte sich Mußgay in der Politischen Polizei der Abteilung II beim Polizeipräsidium im Kampf gegen Verfassungsfeinde von links. Von seiner Tätigkeit, die ihm den Spitznamen »Kommunistenjäger« einbrachte, konnte der nationalsozialistische Staat dann auch nahtlos profitieren. 83 Nach seiner komplikationslos verlau- Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 433 81 Aicher-Scholl, Inge (Hrsg.), Sippenhaft. Nachrichten und Botschaften der Familie in der Gestapo- Haft nach der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl, Frankfurt/ Main 1993, S. 95 f. Für seinen alten Schulfreund Scholl hat Mußgay dann im Spätsommer 1943 nicht einmal mehr einer Strafverschärfung wegen dessen regimekritischer Äußerungen widersprochen, obwohl er dazu die Kompetenz gehabt hätte. Inge Scholl, Schwester von Hans und Sophie Scholl, meint, daß Mußgay der Mut gefehlt habe. 82 Vgl. Schnabel (wie Anm. 4), S. 30. Die Rolle der Polizei vor 1933 war in der aktuellen zeitgenössischen Politik umstritten, es kam zu erbitterten Debatten im Landtag darüber. Vgl. Keil, Wilhelm, Erlebnisse eines Sozialdemokraten Bd. 2, Stuttgart 1948, insbesondere S. 473 - 487. Dessen Einschätzung der Polizei als auf dem rechten Auge blind widerspricht Wilhelm (wie Anm. 7) vehement, doch seine Verteidigungsversuche haben einen deutlich apologetischen Charakter. 83 Müller (wie Anm. 9), S. 500. <?page no="435"?> fenen Übernahme aus dieser Abteilung in das verselbständigte Württembergische Politische Landespolizeiamt ergriff Mußgay die Chance und schloß sich mit dem Mitgliedsdatum vom 1. Mai 1933 der NSDAP an. Als Leiter des Referates 5, Nachrichtendienst beim Politischen Landespolizeiamt, ab 1937 Abteilungsleiter der Abteilung 2, und seit dem 20. April 1938 auch tätig beim SD-Hauptamt, führte er seine Aufgaben weiter fort: die Erfassung des definierten Feindes; zugleich konnte er jetzt aber, im Gegensatz zu demokratischen Zeiten, den erkannten »Feind« auch sogleich mit polizeilichen Mitteln selbst ausschalten lassen. 84 Als Abteilungsleiter im Politischen Landespolizeiamt mußte er nicht selbst vor Ort tätig werden, sondern nur seine Beamten effektiv im Sinne umfassender Nachrichtensammlung über regimefeindliche Äußerungen plazieren. So bestand seit der Zentralisierung der Gestapo 1936 eine wesentliche Aufgabe für ihn darin, die eingehenden Berichte seiner Untergebenen zu sammeln und redigiert an die Zentrale, das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin, weiterzugeben. Doch das Lesen der seitenlangen Ausführungen seiner Beamten über die mehr oder minder positiv von den »Volksgenossen« angenommenen Kdf-Fahrten und anderer Bereiche bestimmten seinen Tagesrhythmus nicht alleine. Bei Verhören von Gefangenen im Gestapogefängniskeller zeigte der 1,66 Meter große Mann sich zuweilen als Charaktertyp des verhörenden Gestapobeamten, wie er in Trivialliteratur und -filmen späterer Tage häufig gezeigt wurde: als kreischend Schäumenden, der die Opfer durch wüste Drohungen gefügig zu machen versuchte. 85 Das Ziel des RFSS und Chefs der Deutschen Polizei Himmler, Polizei und SS quasi zu einem einheitlichen »Staatsschutzkorps« zu verschmelzen, führte zur Aufnahme der meisten Beamten und Angestellten in die SS. Mußgay, der diesen Schritt von sich aus »rechtzeitig« schon 1933 vollzogen hatte, wurde gemäß seinem Beamtenrang zum Hauptsturmführer befördert. Die aggressive Expansion des »Dritten Reiches« seit 1938 verschaffte ihm kurzfristig einen Ortswechsel. Die Unterdrükkung und Terrorisierung des annektierten »Protektorats Böhmen und Mähren« erforderte erfahrene Beamte beim Aufbau der Gestapo in den besetzten Gebieten. Unmittelbar nach dem Einmarsch der Wehrmacht folgte Mußgay als einer von 19 abkommandierten württembergischen Beamten, um in Brünn (Brno) den Aufbau der Gestapo mitzuorganisieren. Wegen dieser Tätigkeit erhielt er auch im Dezember 1939 die »Medaille zur Erinnerung an den 1. 10. 1938«. 86 Jürgen Schuhladen-Krämer 434 84 HSTAS E 140 Bü. 10, Geschäftsverteilungsplan des Württembergischen Politischen Landespolizeiamts vom 27. Januar 1934. 85 Vgl. Haag, Lina, Eine Handvoll Staub, Frankfurt/ Main 1977, S. 47 f. 86 BA, Abt. III (BDC), Personalakten Mußgay. Der 1. Oktober 1938 markiert die Annektion des Sudetenlandes gemäß dem Münchner Abkommen. Im BA, Abt. III (BDC) Ordner Sammelliste 47E, S. 144 findet sich ein Hinweis über eine möglicherweise weitere Verwendung Mußgays in annektierten Gebieten. Aus einem aus dem Polnischen übersetzten Stellenplan der eingesetzten Beamten in der Staatspolizeistelle Kattowitz (Katowice) geht hervor, daß ein Obersturmbannführer und Kriminalrat Friedrich Mußgay stellvertretender Chef der Staatspolizei in Kattowitz gewesen ist. Weiterer Aufschluß über die Tätigkeit ist darüber hinaus nicht zu gewinnen. Es verbleiben letzte Zweifel, ob der dort aufgeführte Mußgay mit dem Mußgay identisch ist, der hier vorgestellt wird; <?page no="436"?> Der Zweite Weltkrieg führte zu einem weiteren Karrieresprung. Am 2. Mai 1940 wurde Mußgay durch den Chef der Sicherheitspolizei und des SD Heydrich mit der Vertretung des Stapoleitstellenleiters Boës beauftragt. Dessen Einberufung am 21. Juni 1940 brachte Mußgay an die Spitze der Gestapo in Württemberg, wenn zunächst auch noch als Stellvertreter für den abwesenden Boës. Mußgay hatte nun nach rund 25 Dienstjahren nahezu die Spitze erklommen, war sozusagen von der »Pike« auf gelernter Staatspolizist und hatte die »Ochsentour« absolviert. Seine Stellung verdankte er zum einen seiner absoluten Loyalität und zum anderen seiner Dienstbeflissenheit. Stets hatte er sich willfährig verhalten, mit Eifer seit 1936 regelmäßig Wehrübungen absolviert, seit dem 27. August 1939 bekleidete er den Hauptmannsrang. Nach der Degradierung der SA im Gefolge des »Röhm-Putsches« zu einem Instrument der Wehrerziehung hatte er sich dort ertüchtigt und das Sportabzeichen in Bronze erworben. Er war keineswegs die erste Wahl für den Posten an der Spitze gewesen. Das Personalrevirement infolge der Annektionen und des Krieges hatte jedoch aussichtsreichere Kandidaten auf höhere auswärtige Posten gebracht. Da wären zuerst Mußgays Kollege Regierungsrat und SS-Sturmbannführer Dr. Harster in Frage gekommen, der zur Stapoleitstelle nach Innsbruck ging, oder der um 18 Jahre jüngere SS-Sturmbannführer und Regierungsrat Dr. Lange, der Ende 1939 die stellvertretende Leitung der Stapoleitstelle Berlin übernahm. Erst jetzt war die Bahn frei für Mußgay. Als alter Kriminalpolizist hatte er, trotz größter Anpassungsbereitschaft in Amt und SS, ständig Querelen mit den jüngeren Kollegen gehabt. In der Stapoleitstelle herrschte eine ausgeprägte Rivalität zwischen den aus nationalsozialistischen Gliederungen kommenden Beamten und den aus der alten politischen Polizei stammenden Kräften. 87 Im Juli 1941 hatte es Mußgay endgültig geschafft; der Tod von Boës an der Front machte ihn zum Leiter der Dienststelle. Der Amtsantritt fiel zeitlich mit seinem Austritt aus der evangelischen Kirche zusammen - ein Zufall? Mußgay jedenfalls scheint es für opportun gehalten zu haben, diesen letzten unangepaßten Punkt in seiner SS-Biographie zu tilgen. Außerdem mag ihm dieser Schritt die Auseinandersetzung mit kirchlichen nichtkonformen Kräften leichter gemacht haben. Dabei tat sich Mußgay zunächst bei der Konfiszierung eines kopierten Briefes, welcher reichsweit kursierte und die offiziellen Stellen nervös machte, weil darin ein Oberst gegenüber einem katholischen Propst die katholische Kirche als Trost beim Sterben im Krieg gepriesen hatte, hervor und setzte die ganze Macht des ihm zur Verfügung stehenden Apparates ein, um die Verbreiter des Briefes ausfindig zu machen. 88 Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 435 abgesehen von der kleinen Unstimmigkeit, die die Stellung als SS-Obersturmbannführer auf November 1939 statt realiter auf November 1943 datiert, trifft die Beschreibung auf Mußgay zu. Wenn Mußgay diese Stellung innegehabt haben sollte, dann kann es sich zeitlich lediglich um einen kurze Spanne zwischen Ende 1939 und Frühjahr 1940 gehandelt haben. 87 Vgl. Wilhelm (wie Anm. 7), S. 208; ebenso Müller (wie Anm. 9), S. 502. 88 STALB K 100 Bü. 2, Mußgay an das Polizeipräsidum Stuttgart, 20. März 1942. <?page no="437"?> In der Angelegenheit »Bischof Sproll«, der 1938 der Abstimmung zum Anschluß Österreichs ferngeblieben war und deswegen aus seiner Diözese Rottenburg ausgewiesen worden war, oblag der Stapoleitstelle Stuttgart in Mußgays Amtszeit die heikle Aufgabe, einen Ausgleich zwischen den Wünschen im Reichssicherheitshauptamt und den stimmungsmäßigen Erfordernissen im Land herzustellen. Die Lösung, die Mußgay vorschlug, Predigtverbot für den Bischof und Unterlassung jeglicher Ansammlung von Gläubigen um den Bischof im Falle seiner Rückkehr, waren für die katholische Seite jedoch nicht annehmbar. Mußgay war die Angelegenheit spürbar unangenehm, und so überließ er die Verhandlungen weitestgehend seinem für das Kirchenreferat zuständigen Beamten Koch oder seinem Stellvertreter Hans-Joachim Engelbrecht. 89 Bei anderer Gelegenheit zeigte Mußgay weniger Zurückhaltung. Während des Krieges absorbierte die rassistische Verfolgung, die organisatorische Durchführung der Entrechtung und Deportation der jüdischen Bevökerung und die Überwachung der in das Reich verschleppten Zwangsarbeiter immer größere Kräfte der Gestapo. Kriegsfront und Heimatfront glichen sich in ihrem Kampf gegen den »Feind« an. Die Stapoleitstelle richtete immer mehr Anträge an das RSHA zur Durchführung außerjustizieller Hinrichtungen von Zwangsarbeitern. Als Leiter der Stapoleitstelle war Mußgay somit »Scharnier« nach »oben« zur Zentrale des Terrors, dem RSHA, und nach unten, indem er die Durchführung organisatorisch sicherstellte. Die Anwesenheit Mußgays bei der Hinrichtung des 30jährigen polnischen Zwangsarbeiters Marian Swiderski in einem Flecken bei Calw wegen eines Verhältnisses zu einer deutschen Frau 90 zeugt von einer Dienstauffassung, die auch das Grobe nicht scheute, denn Hinrichtungen wegen »verbotenen Verkehrs« wurden in der Regel von Gestapobeamten der Außenstellen durchgeführt. Die Teilnahme des Amtsleiters stellte eine Ausnahme dar. Durch die persönliche Anwesenheit Mußgays war er als Ranghöchster in diesem Fall zugleich der Leiter des zwölfköpfigen Hinrichtungskommandos an diesem Oktobertag des Jahres 1942. 91 Der Wunsch Mußgays, sich über die Entscheidung am Schreibtisch hinaus bei der Hinrichtung persönlich einzubringen, läßt angesichts fehlender Äußerungen Raum für Spekulationen. Die Vollstreckung von Hinrichtungen polnischer Zwangsarbeiter im Bereich der Stapoleitstelle Stuttgart war wie anderswo zu einem Stück »Tagesroutine« der Staatspolizei geworden. Die persönliche Anwesenheit des Behördenleiters dürfte den übrigen Jürgen Schuhladen-Krämer 436 89 Vgl. Kopf, Paul; Miller, Max (Hrsg.), Die Vertreibung von Bischof Joannes Baptista Sproll von Rottenburg 1938 - 1945. Dokumente zur Geschichte des kirchlichen Widerstandes (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 13), Mainz 1971, Dokumente 95b und 99. 90 Am 8. März 1940 war mit den sogenannten »Polenerlassen« durch das RSHA Sonderrecht außerhalb des bestehenden Polizei- und Strafrechts geschaffen worden. Unter anderem war darin das Verbot des »geschlechtlichen Umgangs« zwischen Deutschen und Polen ausgesprochen. Deutschen drohte bei Zuwiderhandlung das Konzentrationslager, für Polen war »Sonderbehandlung«, d.h. Hinrichtung, vorgesehen. 91 ZStLB 414 AR 25550/ 65. <?page no="438"?> beteiligten Beamten, die solche Verrichtungen wie das Legen der Schlinge um den Hals des Opfers und das anschließende Stuhlwegtreten vorzunehmen hatten, jedenfalls eine willkommene Rückenstärkung bei ihrem Tun gewesen sein. Als Vorgesetzter stellte sich Mußgay, wo er konnte, hinter seine Beamten, auch gegenüber höheren Stellen. Trotz der hohen Fluktuation in der Dienststelle infolge von Einberufungen und Versetzungen wird ein solches Verhalten zu einem Korpsgeist beigetragen haben, der für die tägliche Arbeit bei der Unterdrückung realer und vermeintlicher Regimegegner unerläßlich schien. Ein bezeichnendes Beispiel hierfür stellt die Auseinandersetzung zweier Pgs. in einem schwäbischen Dorf dar, bei der einer von Mußgays Beamten hart durchgriff und einen der beiden Streitsüchtigen im Stuttgarter Polizeigefängnis arretierte. Der Verhaftete spielte jedoch seine Beziehungen zu Reichsmarschall Göring aus. Mußgay, zu einer Stellungnahme herausgefordert, verwahrte sich in einem Bericht an das RSHA und an das Württembergische Innenministerium gegen jeden Vorwurf gegenüber dem mit diesem Fall beauftragten Kriminalsekretär. 92 Die Entfesselung des Krieges hatte dem NS-Regime Auftrieb gegeben, »sozialpolitische« Planungen - d.h. die »Ausmerzung« unerwünschter Lebensäußerungen - in großem Stil auszuführen. Eine davon war die sogenannte Euthanasie, ein anderer Bereich, der zum Teil die Stapoleitstelle berührte, war die neue »Asozialen«-Politik, die per Landesfürsorgegesetz im März 1940 verkündet wurde. Danach wurde die Einweisung von Alkoholkranken und »Asozialen« in Anstalten erleichtert, daneben die Fürsorgesätze für diesen Personenkreis geschmälert. Der Stapoleitstelle war es erlaubt, Menschen von vorneherein in das konzentrationslagerähnliche Gestapogefängnis nach Welzheim zu verbringen. An Mußgays Schreibtisch wurden diese Einweisungsverfügungen unterschrieben. Bei der Deportation der jüdischen Deutschen kam den Stapoleitstellen eine der vielen Schlüsselrollen zu, die dieses gigantische Mordprogramm in seiner komplizierten Arbeitsteilung erforderte. Im Osten war die Ermordung hunderttausender jüdischer Menschen seit dem Sommer 1941 in vollem Gange, als im RSHA die Planungen für die »Endlösung« der noch im Reich verbliebenen Juden begannen. Noch am 10. Juni 1941 hatte Mußgay, vollkommen im Einklang mit der NS-Politik gegenüber Juden, die Landratsämter angewiesen, für die in Frankreich und Belgien befindlichen württembergischen Juden keine Ausreisepapiere auszustellen, da es schließlich darum gehe, die noch in Württemberg befindlichen Juden zuerst zum Ausreisen zu bringen. 93 Fünf Monate später organisierte er die Deportation der württembergischen Juden. Im Erlaß vom 18. November 1941 94 an die Landratsämter Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 437 92 HSTAS E 151/ 01 Bü. 794, Qu. 34. 93 Sauer, Paul (Bearb.), Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 - 1945 Bd. 2, Stuttgart 1966, hier Dokument Nr. 371. Zur Verfolgung der jüdischen Bürger in Stuttgart siehe auch Müller (wie Anm. 9), S. 396 - 411. 94 Sauer (wie Anm. 93), Dokument Nr. 462. <?page no="439"?> und Polizeistellen regelte er die erste Deportation von 1.000 Juden aus Württemberg und Hohenzollern nach dem Reichskommissariat Ostland, nach Riga, die auf den 1. Dezember festgelegt wurde. Dazu sah er die Zusammenziehung der jüdischen Mitbürger aus allen Teilen des Landes ab dem 27. November auf dem Reichsgartenschaugelände am Killesberg vor. Bürokratisch hatte Mußgay die Deportation geplant. Das Vermögen der Juden wurde durch die Staatspolizei beschlagnahmt. Den Landräten und den örtlichen Polizeibehörden hatte Mußgay die Aufgabe des Verschubs nach Stuttgart zugewiesen. Den betroffenen Menschen gegenüber wurden die Maßnahmen als Umsiedelung bezeichnet. Als Mußgay in dem o.g. Erlaß ausführte, »weil in dem Siedlungsgebiet zur Errichtung eines Ghettos nicht das geringste Material sowohl zum Aufbau als zur Lebenserhaltung selbst vorhanden ist, ersuche ich durch Einschaltung eines jüdischen Mittelsmannes zu veranlassen, daß eine sich nach der jeweiligen Kopfzahl richtende Menge von Baugerät, Werkzeugkästen, ferner Küchengerät [...] vorhanden sind. Diese Gegenstände werden zusammen mit dem größeren Gepäck befördert«, muß ihm klargewesen sein - wie es den Adressaten in den Landratsämtern und Polizeidienststellen klar sein mußte -, was eine Deportation dieser Art im Winter Lettlands bei Minustemperaturen bis 30 Grad Celsius bedeutete. Das »größere Gepäck« kam nie nach, es war nach Verladung in Waggons der durch die Stapoleitstelle beauftragten Speditionsfirmen durch die Behörden enteignet worden. Beamte der Gestapo überwachten das Lager am Killesberg und brachten die zu Deportierenden an den Stuttgarter Nordbahnhof, wo sie in Eisenbahnwaggons verfrachtet wurden. Einige Gestapobeamte fuhren bis nach Riga als Bewachung mit. Dort zogen die württembergischen Juden in Teile des Rigaer Ghettos ein, die zuvor »freigemacht« worden waren. Mußgays Vorvorgänger Stahlecker hatte hier seinen Teil an der »Endlösung« verrichtet und Tausende ermorden lassen. Am 26. März 1942 erschossen SS- und Polizeiverbände über 1.600 arbeitsunfähige Menschen dieses Rigaer Ghettos. Kaum einen Monat später leitete Mußgay die zweite Deportation der württembergischen und hohenzollerischen jüdischen Menschen ein, diesmal in das Generalgouvernement in die Nähe Lublins. In seinem Erlaß an die Landräte und Polizeistellen 95 übernahm er die »Fachsprache« der Technokraten der Vernichtung. Hatte er in seinem erwähnten ersten Erlaß noch von »Entjudung« gesprochen, hieß es nun im neuen Amtsdeutsch »Endlösung«. Mußgay machte sich diesmal auch weniger Mühe, die Aktion als »Umsiedelung« zu tarnen. »Im Gegensatz zu der am 1.12.1941 durchgeführten Umsiedelung stehen diesmal keine Güterwagen zur Verfügung. [...] Zusätzliche Ausrüstung, ebenso Matratzen, Arbeits- und Kochgeräte usw. kommen für diesmal in Wegfall«, ordnete er knapp, aber präzise an. Seinen Erlaß schloß er mit der Anweisung: »Bei Abmeldung der Juden ist in den Melderegistern der Meldeämter lediglich ›unbekannt verzogen‹ bzw. ›ausgewandert‹ anzuführen.« Alle 278 Depor- Jürgen Schuhladen-Krämer 438 95 Sauer (wie Anm. 93), Dokument Nr. 486. <?page no="440"?> tierten dieser zweiten Welle wurden in den Vernichtungslagern Belzec und Majdanek ermordet. Mit seinem Erlaß vom 14. August 1942 96 leitete Mußgay die dritte Deportationswelle für den 22. August ein, diesmal nach Theresienstadt. Württemberg sollte endlich »judenrein« gemacht werden. Die Deportation hatte diesmal auch alle Kranken und Älteren zu erfassen. Mußgay handhabte die Aktion mittlerweile routiniert. Über 900 Menschen wurden in der Ehrenhalle des Reichsnährstandes auf dem Killesberggelände zusammengepfercht; es befanden sich viele sehr Alte, Schwerstkranke und Behinderte darunter, wegen mangelnder Betreuung starben mindestens acht Menschen. Nach diesen Deportationen lebten in Stuttgart noch rund 300 Juden bzw. »Mischehepartner«, die meisten mußten in Rüstungsbetrieben Zwangsarbeit verrichten. Danach erfolgten Deportationen in kleinerem Umfang, aber genauso durchorganisiert. Teilweise von der Arbeitsstelle weg verhafteten Gestapobeamte Menschen und sorgten für ihre Verschleppung nach Auschwitz oder Theresienstadt; so 17 Personen am 1. März 1943, am 16. April 1943 19 und im Juni desselben Jahres nochmals 23 Personen. Nunmehr gerieten die »Mischehen« ins Blickfeld. Am 10. Januar 1944 wurden Juden, deren »arischer« Ehepartner verstorben war, zur Stapoleitstelle beordert und sofort deportiert, insgesamt 35 oder 36 Personen. Zuletzt ging man auch noch gegen die »Mischehen« selbst vor. Mußgay sorgte auch hier für eine reibungslose Ausführung. Noch in einem Erlaß vom 26. Januar 1945 97 ordnete er im Sinne des RSHA die Sammlung aller verbliebenen Juden und »Mischlinge« zum 12. Februar im Lager Bietigheim - dies war das zentrale Lager im Südwesten für die Verteilung von Zwangsarbeitern - zum geschlossenen Arbeitseinsatz an. Die letzten Tage des »Tausendjährigen Reiches« erlebte Stuttgart im Bewußtsein der immer näher rückenden alliierten Truppen. Am 4. April 1945 hatte im Württembergischen Innenministerium eine Besprechung stattgefunden, an der auch Mußgay teilnahm, worin der Abmarsch der staatlichen Behörden aus der Stadt besprochen wurde. Die Stapoleitstelle wurde am 11. April aufgelöst und die meisten Beamten zu den noch nicht unmittelbar von den alliierten Truppen bedrohten Außenstellen beordert. Am 20. April verließen Lkw-Kolonnen die Stadt auf dem letzten noch möglichen Fluchtweg in Richtung Schwäbische Alb über das Neckartal. Unter den fliehenden Partei- und Staatsgrößen befand sich auch Mußgay nebst Ehefrau. Der Flucht war eine »Nacht der langen Messer« vorausgegangen; Gestapoangehörige hatten einige der unter ihrer »Obhut« im Gefängnis einsitzenden Häftlinge ermordet, die sie nicht zu dem vorgesehenen Ersatzgefängnis Riedlingen mitnehmen konnten oder wollten. 98 Damit war der Terror jedoch noch nicht am Ende. Noch in Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 439 96 Sauer (wie Anm. 93), Dokument Nr. 508. 97 Sauer (wie Anm. 93), Dokument Nr. 550. 98 Vgl. Müller (wie Anm. 9), S. 529 - 534. Ebenso Bohn, Willi, Stuttgart Geheim! Widerstand und Verfolgung 1933 - 1945, 3. Aufl. Frankfurt/ Main 1978, S. 167 - 170, Rüter-Ehlermann, A. L. (Bearb.), Justiz und NS-Verbrechen, Sammlungen deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistiden <?page no="441"?> letzten Zuckungen verfaßte das RSHA in Berlin Hinrichtungsbefehle. Mußgay erreichte so noch der Auftrag zur Hinrichtung der Antifaschisten Hermann Schlotterbeck - andere aus der kommunistischen Widerstandsorganisation Schlotterbeck waren bereits im November 1944 unter Federführung der Stapoleitstelle hingerichtet worden 99 -, Gottlieb Aberle und Andreas Stadler. Trotz bereits fehlender Kommunikationsmöglichkeiten gab Mußgay alles daran, diesen Mordbefehl ausführen zu lassen, und setzte dazu einen Kriminalsekretär der Leitstelle nach Tuttlingen in Marsch, um von dort aus die Exekution der sich mittlerweile in Riedlingen befindlichen Gefangenen zu organisieren. Am 19. April wurden die drei Männer von einem Hinrichtungskommando in einem Wald in der Nähe Riedlingens erschossen. Dies war eines der letzten Verbrechen der Stapoleitstelle. Noch im April oder Mai 1945 wurde Mußgay verhaftet, da er von US-amerikanischen Behörden schon 1944 als vermutlicher Kriegsverbrecher eingestuft worden war und auf der »List of Potential War Criminals under Proposed US Policy Directives« vom 30. September 1944 geführt wurde. 100 Es erwartete ihn wie andere nationalsozialistische Verbrecher ein Prozeß vor einem alliierten Gericht. Dem entzog er sich, indem er sich am 3. September 1946 in seiner Zelle im Stuttgarter Militärgefängnis erhängte. Vergleicht man alle drei hier behandelten Personen in ihrer Stellung als Stapoleitstellenleiter, fallen die Unterschiede ins Auge. Mattheiß’, Stahleckers, Mußgays Biographien wirken wie ein kleiner Querschnitt jener Funktionselite, die an den Hebeln des Terrorapparates saßen. Sie alle entstammten protestantischen Elternhäusern. Lediglich bei Stahlecker läßt sich von einer gutsituierten Herkunft sprechen, bei Mattheiß dürfte die Familie zwar in dem kleinen Ort angesehen gewesen sein, darüber hinaus jedoch fehlten Beziehungen zur höheren Gesellschaft. Zwei der drei hatten eine juristische Vorbildung. Aber nur Mußgay absolvierte die Laufbahn bei der Polizei von unten nach oben und wies so einen geradlinigeren Lebenslauf auf. Er hatte sich bereits vor 1933 bei der Politischen Polizei ausgewiesen und konnte unter den veränderten Bedingungen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung daran anknüpfen. Das noch fehlende NSDAP-Engagement holte er postwendend nach; seine Leitungsfunktion für die Gestapo in Württemberg und Hohenzollern erlangte er durch die Wegbeförderung ambitionierterer Kräfte und den Tod des Leiters infolge des Krieges. Mattheiß hatte den Posten als »Alter Kämpfer« und - das war zu der im Frühjahr 1933 noch nicht gesicherten unumschränkten Stellung der NSDAP wichtig - aufgrund seiner beamtenrechtlichen Voraussetzung erhalten. Seine Ernennung erwies sich nach der Konsolidierung der NS-Herrschaft als »Fehlgriff«, wenigstens nach Meinung maßgeblicher Kräfte im württembergischen NSDAP-Apparat und wahrscheinlich auch nach Himmlers Meinung, so daß dies durch seine »Enthebung« korrigiert werden mußte. Seine Beseitigung durch Mord Jürgen Schuhladen-Krämer 440 scher Tötungsverbrechen 1945 - 1966 Bd. 4, Amsterdam 1966 ff., lfd. Nummer 116. 99 Vgl. Bohn (wie Anm. 98), S. 145 - 149. 100 National Archives Microfilm Publication M-1221: R&A 2577. <?page no="442"?> war der »Gunst der Stunde«, die sich infolge der Geschehnisse um den »Röhm- Putsch« ergab, zuzuschreiben. Stahlecker hatte bereits in ganz jungen Jahren seine ideologischen Lorbeeren in der NS-Bewegung errungen. Doch ebenso extrem wie sein politisches Bekenntnis war auch seine Karriereorientierung, wodurch er fast den Anschluß verpaßt hätte, nachdem er sich nach 1925 politisch nicht mehr öffentlich betätigt hatte. Doch tatkräftige Protegierung half ihm über diese Klippe, und nachdem er sie überwunden hatte, zeigte er sich als nüchterner und sachlicher Organisator sicherheitspolizeilicher Belange, der an höchster Stelle reüssieren konnte. Pflegte Mattheiß eigenständige Ambitionen, bei denen er aber zuweilen die Rückkoppelung mit den gerade aktuellen Zielsetzungen der Partei »vergaß«, so war Stahlecker klug genug, als daß er seinen Ehrgeiz jemals allein aus seinem Willen heraus, ohne Berücksichtigung höherer Interessen, verfolgt hätte. Mußgay war in dieser Beziehung zu sehr in seiner Beamtenmentalität verhaftet, um eigenständig Initiative ergreifen zu können. Ihn deswegen aber als bloßen Befehlsempfänger zu sehen, träfe den Sachverhalt nicht: Dazu stand er in der Hierarchie der Gestapo zu weit oben und war in der Lage, die Anweisungen des RSHA eigenverantwortlich und selbstgestalterisch umzusetzen. Stahlecker hatte äußergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten, die Mattheiß und wahrscheinlich auch Mußgay abgingen. Trotz der vordergründigen Intellektuellenfeindlichkeit des nationalsozialistischen Regimes eckte Stahlecker damit nie an, denn sein zweckrationales Denken, das eiskalt bürokratisch plante, war für das NS-Regime von entscheidender Bedeutung. Stahlecker verfügte dazu auch noch über eine konzeptionelle Gabe: Er konnte Situationen analysieren und daraus Handlungsanleitungen ableiten, die zwingend schienen. Dabei hatte er eine gehörige Portion persönlichen Ehrgeizes, der sich auch manchmal gegen Rivalen auf verschiedenen Ebenen richtete. Seine Loyalität gegenüber der SS-Spitze im RSHA scheint dabei aber außer Zweifel gestanden zu haben. Einer, der phasenweise am engsten mit ihm zusammengearbeitet hatte - Adolf Eichmann -, verglich Stahlecker später mit dem Oberorganisator des NS-Terrors Reinhard Heydrich, dem er geglichen haben soll und die »Brüder hätten sein können«. 101 Der Schwabe Dr. Walther Stahlecker könnte daher ebenso wie Heydrich als Synonym für das entfesselte deutsche Terrorsystem nationalsozialistischer Herkunft stehen. Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 441 101 »Eichmann-Memoiren« (wie Anm. 50), S. 118. <?page no="443"?> Bibliographie Quellen Die Quellenlage ist unbefriedigend, größere Lebensabschnitte und persönliche Motive der Handelnden müssen weitgehend im dunkeln bleiben. Familienangehörige von Mattheiß und Mußgay konnten bei den Recherchen nicht ausfindig gemacht werden, aus der Familie Stahleckers versicherte sein Sohn, keine Auskünfte über den Vater geben zu können. Im Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam (ehemaliges Berlin Document Center) befinden sich Splitter von Personaldokumenten zu Mußgay und Stahlecker, nicht jedoch zu Mattheiß. Gerade das für biographische Untersuchungen so wichtige Moment, die Beurteilung der zu behandelnden Person durch andere, fehlt bei allen Dreien fast gänzlich, ebenso Selbstzeugnisse. Aus der Zeit der Abordnung Stahleckers als Ministerialrat in das Auswärtige Amt befinden sich heute im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes lediglich noch Besoldungsakten. Verstreute Überlieferung ist im Hauptstaatsarchiv Stuttgart in den Beständen Staats- und Innenministerium, Akten zur Staatspolizei vorhanden, die jedoch ausnahmslos bereits in der Standardliteratur zu württembergischen Ereignissen ihre Auswertung erfahren haben. Quellensplitter liegen im Bestand Reichssicherheitshauptamt und RFSS-Persönlicher Stab im Bundesarchiv, Abteilungen Potsdam vor, die über die Tätigkeit Stahleckers und Mußgays Auskunft geben. Im Staatsarchiv Ludwigsburg ergeben Spruchkammerakten der an der Verhaftung von Mattheiß beteiligten Beamten und SS-Offiziere näheren Aufschluß über seine letzten Stunden. Der ebenfalls dort liegende Bestand zur Gestapo kann nur als »Mikrobestand« im Sinne von mikroskopisch klein bezeichnet werden, eine größere Rekonstruktion der Tätigkeit der hier Behandelten läßt sich danach nicht vornehmen. Einen Einblick in die Tätigkeit der Einsatzgruppe A im Baltikum und Belorußland unter der Leitung Stahleckers gewähren die »Ereignismeldungen UdSSR« im Bundesarchiv. Diese wurden in der u.g. Monographie von Krausnick und Wilhelm akribisch ausgewertet. Diese Sammlung befindet sich in Kopie auch im Institut für Zeitgeschichte in München, ebenso einige Akten aus den Beständen des RSHA und RFSS. Die in der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg verfügbaren Dokumente über Stahlecker und Mußgay gehen nicht über die hier angeführten Quellen hinaus, mit Ausnahme der Ermittlungen wegen der Hinrichtung eines polnischen Zwangsarbeiters im Beisein Mußgays. Über mögliche Bestände in ausländischen Archiven, insbesondere in Tschechien, Polen, Norwegen und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion kann hier nichts gesagt werden. Dr. Joachim Boës, SS-Sturmbannführer und Oberregierungsrat, Leiter der Staatspolizeileitstelle Stuttgart von Oktober 1937 bis zu seinem Tod in Rußland im Juli 1941, wurde in der vorliegenden Darstellung nicht behandelt, weil sich in den einschlägigen Archiven wie auch in der Literatur keine nennenswerten Unterlagen zu seiner Person finden. Literatur Zu Mattheiß und Mußgay gibt es bisher noch keine biographischen Arbeiten. Über Stahlecker erschien am 18. Mai 1996 von dem Journalisten Hans-Joachim Lang ein ganzseitiger Artikel im »Schwäbischen Tagblatt« (»Südwest-Presse«) unter dem Titel »Die mörderische Karriere Jürgen Schuhladen-Krämer 442 <?page no="444"?> des Walter Stahlecker«, der die bisher ausführlichste Beschreibung zum Lebensweg von Stahlecker liefert; Lang hatte jedoch nicht alle für den hier vorliegenden Band ausgewerteten Quellen zur Verfügung. Langs Artikel über Stahlecker soll in einer überarbeiteten Fassung 1996 im »Jahrbuch der Geschichtswerkstätten« erscheinen. Einen genauen Überblick über die Organisation und die Struktur der Gestapo in Württemberg bietet die Dissertation von Friedrich Wilhelm, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil., Stuttgart 1989. Darin finden sich auch rund 100 Kurzbiographien, u.a. zu den hier behandelten Personen. Die tendenziell unkritische Beurteilung einiger Polizeibeamter, die, aus der Zeit vor 1933 kommend, ihren Dienst an verantwortlicher Stelle im NS-System weiterführten, steht im Widerspruch zu den Forschungserträgen von Roland Müller, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988. Müller trägt, obwohl er eine Ortsgeschichte vorlegt, vieles an Fakten und Interpretationen zu den hier interessierenden Figuren der Stapoleitstelle und ihren Verwicklungen für Württemberg zusammen. Hermann Mattheiß, Walther Stahlecker, Friedrich Mußgay, Leiter der Gestapo Stuttgart 443 <?page no="446"?> Der schwäbische Schulmeister Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister Michael Stolle *8. November 1884 Waiblingen, ev., später Kirchenaustritt, Vater: Christian Johann Mergenthaler, Bäkkermeister, Mutter: Sofie; verheiratet seit 4. November 1911 mit Marie Elisabeth, geb. Dangel, eine Tochter. Volks- und Realschulbesuch, Wechsel zur Oberrealschule, Juli 1902 Abitur, 1902 - 1907 Studium der Mathematik und Physik in Stuttgart, Göttingen und Tübingen, 1. Oktober 1908 - 30. September 1909 Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger, 1912 Oberreallehrer, 27. Januar 1913 Leutnant d. Res., 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, 1920 Studienrat auf Professorenstelle, 1924 MdR, 1924 - 1928 und 1929 - 1933 MdL (NSDAP), 15. März 1933 Württembergischer Justiz- und Kultminister, 11. Mai 1933 Ministerpräsident und Kultminister. Herbst 1922 Mitglied der NSDAP und der SA, 1924 - 1927 Führer des Völkisch-Sozialen Blocks im württembergischen Landtag und Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Freiheitsbewegung in Württemberg, 27. Juli 1927 erneut Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 70.178), Gau- und Reichsredner, 1934 Ehrenführer des RAD, 9. November 1935 SA-Gruppenführer ehrenhalber, 9. November 1938 SA-Obergruppenführer ehrenhalber. 28. Mai 1945 Gefangennahme, Internierungshaft, 21. Dezember 1948 Entscheidung der Sonderspruchkammer Lager Balingen: »Hauptschuldiger«, 4. Januar 1949 Haftentlassung, Mai 1951 Empfänger von Unterhaltsbeihilfe, Juli 1953 Versorgungsbezüge eines Studienrats »im Wege der Gnade«, Rentner in Korntal bei Stuttgart, gest. 11. September 1980 Bad Dürrheim. Christian Mergenthaler 445 <?page no="447"?> Christian Mergenthaler war einer der Politiker, die im Württemberg des »Dritten Reiches« in der Öffentlichkeit besonders präsent waren. Als Ministerpräsident und vor allem als Kultminister prägte er das Erscheinungsbild des Nationalsozialismus im »Ländle«. Er galt als ideologischer Fanatiker, der seine Überzeugungen, die im wesentlichen mit der nationalsozialistischen Weltanschauung und ihren Forderungen übereinstimmten, mit sturer Einfallslosigkeit durchsetzen wollte. Stolz auf seine schwäbische Herkunft, empfand sich Mergenthaler in erster Linie als treuer deutscher »Volksgenosse«. Besondere württembergische Bezüge lassen sich in seinem politischen Handeln nicht nachweisen. In einer Ansprache vor dem gleichgeschalteten 5. württembergischen Landtag am 8. Juni 1933, die so etwas wie eine Regierungserklärung war, verkündete er nicht nur für sich, sondern für alle Württemberger, daß die Schmach nun auch für Württemberg getilgt sei und daß sein Volk »unerschütterlich in Treue und Kampfbereitschaft hinter de[m] Führer des deutschen Volkes Adolf Hitler« stehe. 1 Er engagierte sich im Rahmen seiner im polykratischen Staat vorhandenen Möglichkeiten für die Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaft getreu dem Motto, das er für alle württembergischen »Volksgenossen« im »NS-Kurier« 1930 ausgegeben hatte: »Er wägt und prüft gründlich. Ist er aber einmal gewonnen, so hält er mit Zähigkeit an der als richtig erkannten Sache fest.« 2 Schon früh Anhänger der »Bewegung«, war Mergenthaler eine Person, die selbst innerhalb seiner eigenen Partei umstritten blieb. Erste Ursache dafür war, daß er in Württemberg nach dem Hitlerputsch vorübergehend eine von der NSDAP unabhängige, völkische Bewegung geleitet hatte. Doch davon abgesehen gestaltete sich der persönliche Umgang mit Mergenthaler sehr schwierig. Die Bereitschaft, seine zum Starrsinn und zur Schroffheit neigende Persönlichkeit zu akzeptieren, fand deshalb schon bei den Gleichgesinnten ihre Grenzen. Goebbels nannte ihn treffend den »Schulmeister«, der doch eines Tages noch weg müsse. 3 Trotzdem hielt Mergenthaler politisch bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft durch, seiner Überzeugung und dem Nationalsozialismus mit »starrer Geradlinigkeit« 4 treu folgsam. An der verbreiteten, sich selbst übersteigernden Brutalität des Regimes während des Zweiten Weltkriegs hat sich der entschlossene Schulmeister allerdings nicht direkt beteiligt. Christian Julius Mergenthaler wurde am 8. November 1884 als das viertälteste von acht Kindern des Bäckermeisters Christian Johann Mergenthaler und seiner Ehefrau, Michael Stolle 446 1 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 5. ordentlichen Landtag, 1. Sitzung, 8. Juni 1933, S. 3. 2 Mergenthaler schrieb den Leitartikel der ersten Ausgabe des »NS-Kuriers« vom 7. Dezember 1930, Sondernummer, S. 1. 3 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente. Teil 1. Aufzeichnungen 1924 - 1941, Bd. 3, München 1987, S. 255. (Eintrag vom 6. September 1937) 4 Troll, Thaddäus, Deutschland deine Schwaben im neuen Anzügle. Vordergründig und hinterrücks betrachtet, 19., neu erarb. Aufl. Hamburg 1978, S. 70. <?page no="448"?> der Flaschnerstochter Sofie, in Waiblingen/ Württemberg geboren. Mergenthalers Vorfahren waren Bauern, Weingärtner und Handwerker und seit der Einführung der Reformation in Württemberg evangelisch. Als einzigem Familienangehörigen seit 200 Jahren gelang es ihm, in die Schicht der Beamten aufzusteigen. 5 Nach dem für die Familie Mergenthaler angelegten Ahnenbuch fühlte er sich nach eigener Stellungnahme »der Arbeitsamkeit, dem Fleiß, dem Geist der Pflichterfüllung, dem Sinn für Recht und Sauberkeit« 6 seiner Vorfahren verpflichtet. Christian Mergenthaler besuchte die Volksschule, anschließend die Latein- und Realschule in Waiblingen bis zu seinem 14. Lebensjahr, dann wechselte er auf die Oberrealschule in Cannstatt, wo er im Juli 1902 die Reifeprüfung mit der Durchschnittsnote »gut« ablegte. Noch im gleichen Jahr begann er das Studium der Mathematik und Physik an der Technischen Hochschule in Stuttgart. Um sein Studium nicht unterbrechen zu müssen, ließ sich der junge Student zunächst drei Jahre vom Militärdienst zurückstellen. Er studierte 1902/ 03 in Stuttgart, 1903/ 04 in Tübingen, 1904/ 05 in Göttingen und von 1905 bis 1907 wieder in Tübingen. Zeitweilig gehörte er der christlichen Wingolfverbindung an, trat aber im Jahr 1928 wieder aus. Am 31. Oktober 1906 reichte er sein Zulassungsthema für die erste Dienstprüfung in Tübingen ein. Ein Jahr später war er kurz als Amtsverweser und anschließend als Hilfslehrer am Realgymnasium Calw, danach nur wenig länger als Hilfslehrer am Realgymnasium und der Realschule in Aalen tätig (1. Januar - 15. September 1908). Am 1. Oktober 1908 begann für Mergenthaler der Militärdienst als »Einjährig-Freiwilliger« beim Hohenzollerschen Fußartillerieregiment Nr.13 in Ulm. Aus diesem Grund mußte er die Meldung zu seiner zweiten Dienstprüfung zurückziehen und verschieben, so daß er erst nach seinem Militärdienst (am 1. Oktober 1909) die letzte Qualifikation für den Lehrerberuf erwarb. Gleichzeitig wurde er als Hilfslehrer am Realgymnasium und an der Oberrealschule Heilbronn eingestellt. Seine Lehrtätigkeit wurde dort zweimal unterbrochen, weil er zu achtwöchigen Reserveübungen eingezogen wurde 7 , was dem jungen Lehrer jedoch nicht allzuviel Unbehagen bereitet haben dürfte, schrieb er doch an das Rektorat, daß »aber die Uebung nicht etwa auf die Vakanz verlegt werden« 8 könne. Das Vorhaben, seine Zulassungsarbeit wissenschaftlich weiter zu verwerten, konnte er nicht durchführen. Ende 1912, Mergenthaler war inzwischen nach mehreren Bewerbungen zum Oberreallehrer in Leonberg berufen worden, stellte er sich beim Bezirkskommando Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 447 5 Bauder, Wilhelm (Bearb.), Die Mergenthaler. Der Ahnen- und Sippenkreis des Württembergischen Ministerpräsidenten. Die Hohenacker Mergenthaler. Der Erfinder Ottmar Mergenthaler, Leipzig 1939, S. 11 und S. 16 f.; zu seiner Ahnenreihe siehe außerdem: Bauder, Wilhelm, Die Mergenthaler aus Waiblingen, Hegnach, Hohenacker und benachbarten Orten. Nach einem Vortrag gehalten zu Stuttgart am 29.4.1936 im Verein für Württ. Familienkunde, in: Sonderbeilage des Remstal-Boten Nr. 201, 29. August 1936. 6 Bauder (wie Anm. 5), S. 24. 7 GLA 456 Nr. 7927. 8 HSTAS EA 3/ 152, Bü. 67. <?page no="449"?> Straßburg als Reserve-Offizier zur Verfügung. Er schien Gefallen am Soldatentum als Zweitbeschäftigung gefunden zu haben: »Ich bin stets mit Leib und Seele Soldat gewesen.« 9 Zu dieser Einstellung paßt auch die Tatsache, daß er neben seiner Lehrtätigkeit (außer an der Oberrealschule übernahm Mergenthaler den Physikunterricht an der landwirtschaftlichen Winterschule in Leonberg) eine Jugendgruppe des Jungdeutschlandbundes in Leonberg leitete, die sich vor allem die (Wehr)-Ertüchtigung der Jugend zur Aufgabe gemacht hatte. 10 Am 27. Januar 1913 wurde Mergenthaler zum Leutnant der Reserve des Hohenzollerschen Fußartillerieregiments Nr. 13 befördert. Vom 3. Mai - 27. Juni 1913 nahm er in seiner neuen Stellung erneut an einer Reserveübung teil. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs rückte der Oberreallehrer mit seinem Regiment am 4. August 1914 an der Westfront in den Krieg, wurde am 1. November 1915 zum Führer seiner Batterie ernannt. Er blieb während der ganzen vier Jahre im Kriegseinsatz in Lothringen und Flandern, darunter die längste Zeit (29. Oktober 1914 - 27. August 1917) in Stellungskämpfen vor Verdun. 11 Mit der Niederlage des deutschen Kaiserreichs wurde Mergenthalers Soldatendasein beendet: Am 15. Januar 1919 schied er als Oberleutnant der Reserve mit gutem Dienstleistungszeugnis und hochdekoriert aus der Reichswehr aus. Schnell gelang es ihm, im zivilen Leben wieder Fuß zu fassen. Er kehrte zurück nach Leonberg, wo er schon vor Ausbruch des Kriegs mit seiner Frau und Tochter gewohnt hatte. Mergenthaler hatte am 4. November 1911 die Tochter eines Schulrektors Marie Elisabeth Dangel geheiratet. Im Dezember des folgenden Jahres wurde ihre Tochter Lore in Leonberg geboren. Für Mergenthaler hatte seine Familie große Bedeutung, betonte er doch stets im Schriftverkehr mit dem Kultministerium die Auswirkungen seiner beruflichen Anstellung für seine Familie. 12 Als seine Frau am 28. November 1933 an den Folgen einer Operation unerwartet starb, muß dies für Mergenthaler ein schwerer Schicksalsschlag gewesen sein. Im Trauerbrief schrieb Mergenthaler, seine Frau sei ihm »tapfere Gefährtin im Kampf um Deutschlands Freiheit« 13 gewesen. In dem für seine Ahnentafel verfaßten Lebenslauf erinnerte er ausdrücklich an seine Frau. 14 Michael Stolle 448 9 Bauder (wie Anm. 5), S. 25. 10 Der Jungdeutschlandbund war eine halbstaatliche Organisation, die sich unter ihrem Führer Colmar Freiherr von der Goltz zur Aufgabe gemacht hatte, die Jugend durch paramilitärische Übungen zu erziehen. Goltz ließ verlauten, daß durch seine Gruppe Soldaten bereit gestellt würden, die besonders gut marschieren könnten. Die »Führer« dieser Bewegung waren, wie auch das Beispiel Mergenthalers zeigt, Erwachsene. Darin unterschied sich der Bund von den anderen zahlreichen Jugendbünden im Kaiserreich, etwa des Wandervogels, der außerdem auch keine militärische Ausbildung in seinen Aktivitäten vorsah. Einige Bünde des Wandervogels schlossen sich trotzdem dem Jungdeutschlandbund an, um von dessen Privilegien (vergünstigte Bahnkarten, kostenlose Unterkunft in Kasernen etc.) zu profitieren. So umfaßte der 1911 gegründete Bund 1914 rund 20% der deutschen Jugendlichen. Der Jungdeutschlandbund zerfiel im Ersten Weltkrieg. Vgl. v.a.: Laqueur, Walter, A History of the German Youth Movement, London 1962, S. 72 f. 11 GLA 456 Nr. 7927. 12 HSTAS EA 3/ 152, Bü. 67. 13 StAWN, Remstal-Bote 1933/ 11/ 30. 14 Bauder (wie Anm. 5), S. 25. <?page no="450"?> Ihr früher Tod wird in seinem Spruchkammerentscheid als bemerkenswerter Auslöser für seine zunehmende Gereiztheit und Radikalisierung angesehen. 15 Umgekehrt kann aus dieser Familienbindung geschlossen werden, daß sie auf den von den Erlebnissen des Kriegs erschütterten Mergenthaler mäßigend gewirkt haben muß, als er sich 1919 in der sich verändernden politischen Gesellschaft zurecht finden mußte. Dazu trug sicherlich auch bei, daß er schon bald wieder als Lehrer tätig war. Zunächst unterrichtete er Physik an der Schickardtrealschule in Stuttgart. Am 1. September 1920 erhielt Mergenthaler die mathematisch-physikalische Lehrerstelle am Realgymnasium und an der Oberrealschule in Hall. Obwohl er sich fortan »Professor« nannte, wurde er im Kultministerium als Studienrat geführt. 16 Er blieb im Prinzip bis zum Frühjahr 1929 der Haller Schule zugehörig, war allerdings wegen seiner Verpflichtungen als Land- und Reichstagsabgeordneter von 1924 bis 1928 so gut wie nicht mehr im Lehrbetrieb. Seit 1926 bewarb er sich um eine Versetzung aus Hall, erhielt die angestrebte Stelle aber erst 1929 in der Nähe Stuttgarts, wo er als Studienrat auf dem Gymnasium in Bad Cannstatt zehn, später sechs Stunden Physik unterrichtete. Mehr ließen seine politischen Verpflichtungen nicht zu. Mergenthaler wurde bei seinen Bewerbungen um eine Fachlehrerstelle von den Schulleitungen immer wohlwollend und gut beurteilt. Er sei ein »tüchtiger Lehrer mit einem wohl durchdachten und gewissenhaft vorbereiteten Unterricht« 17 . 1910 hieß es, »sein Verhalten gegen die Schüler der oberen Klassen ist würdig und er weiss sich bei Ihnen Ansehen und Gehorsam zu verschaffen.« Noch 1931 wurde es von der Schulleitung begrüßt, »dass er die Schüler bewusst und erfolgreich zu straffer Ordnung und ernster Pflichterfüllung anhält und erzieht.« Als sich Mergenthaler um eine leitende Lehrerstelle, das heißt eine mit Fachaufsicht, oder sogar als Schulleiter bewarb, mußte jedoch eingeräumt werden, daß »er im Verkehr mit dem Amtsgenossen und überhaupt mit anderen Menschen häufig schroff und wenig verträglich ist, und für Anschauungen, die von den seinigen abweichen, manchmal wenig Verständnis zeigt«. Allerdings enthalte er sich »geradezu vorbildlich« jeder parteipolitischen Tätigkeit in der Schule. Diese Aussage stammt vom Juli 1931, als Mergenthaler bereits überregional ein bekannter Mann war. Daß er sich politisch betätigte, war dem Kultministerium am 9. Mai 1923 bekannt geworden, nachdem sein Name in der Schwäbischen Tagwacht vom Vortag gefallen war. 18 Zu diesem Zeitpunkt war Mer- Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 449 15 STASIG Wü 13 Nr. 648, 1/ T/ E/ 3007. 16 HSTAS EA 3/ 152, Bü. 67. 17 Alle Beurteilungen in: HSTAS EA 3/ 152, Bü. 67. 18 Schwäbische Tagwacht 106, 8. Mai 1923; HSTAS EA 3/ 152, Bü. 67. In Mergenthalers Dienstakte im Kultministerium finden sich abgesehen von dieser Notiz keine Anmerkungen oder Berichte über ihn. Seine Mitgliedschaft in der NSDAP wurde zwar beachtet, führte aber zu keinen beruflichen Konsequenzen; der württembergische Staat zeigte viel Toleranz gegenüber den nicht besonders zahlreichen nationalsozialistischen Beamten. Siehe hierzu: Schnabel, Thomas, Die NSDAP in Württemberg 1928 - 1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel, Stuttgart u.a. 1982, S. 49-81, hier S. 71. <?page no="451"?> genthaler bereits ein halbes Jahr aktives Mitglied der NSDAP in Schwäbisch Hall und entschlossener Verfechter des Nationalsozialismus. Was bewog diesen Mann dazu, sich für nationalsozialistische Ideen zu engagieren? 1938 proklamierte er für sich, er habe gesehen, »daß Millionen Männer, die draußen als Frontsoldaten ihre Pflicht getan hatten, mit ihren Familien darbten und hungerten. Deutschland wehrlos und ehrlos! « 19 Damit konnte sich der damals 40jährige wie viele andere ehemalige Frontsoldaten nicht abfinden. In seinen späteren Reden wetterte er mit Vorliebe gegen »Erfüllungspolitiker«, prangerte das »Versagen des Internationalismus« 20 an und polemisierte gegen »Großschieber« und »Landesverräter« 21 , aber auch gegen die »zersetzenden Einflüsse des Judentums«. 22 Für ihn standen nationale und soziale Belange im Vordergrund. Er schien von der Notwendigkeit eines nationalen Sozialismus überzeugt zu sein, »wobei er unter nationalem Sozialismus einen Sozialismus [verstand], welcher der Eigenart des betreffenden Volkes angepasst ist«. 23 War Mergenthaler nach eigenen Aussagen vor der Spruchkammer in seiner Studentenzeit ein Anhänger Friedrich Naumanns, so war er 1922 begeistert von Adolf Hitler und Erich Ludendorff. Von einer eher liberalen Ausprägung eines nationalen Sozialismus, wie sie von Naumann schließlich gefordert wurde, war bei Mergenthaler allerdings nichts zu merken. Seine Begriffe von »Ordnung« und »Tugendhaftigkeit« erschöpften sich fast ausschließlich in einer soldatischen Gesinnung, in Opferbereitschaft und Wehrwillen. Sein sozial gemeintes Soldatentum konnte er aus seinen eigenen Erfahrungen vor und im Ersten Weltkrieg heraus entwickeln. Dieses Ideal zu verwirklichen und andere danach zu erziehen, lag in seiner Berufsaufgabe als Lehrer und in seinem Charakterzug des Schulmeisters. Wenn er auch im Unterricht keine direkte »Überzeugungsarbeit« unternahm, so versuchte er dennoch seine Schüler zu beeinflussen, sei es durch persönliches Beispiel 24 , sei es außerhalb des Schulbetriebs im Jungdeutschlandbund und auf der Winterschule. Ebenfalls aus dem Jahr 1938 auf die politischen Anfänge zurückblickend konstatierte Mergenthaler: »Voll Hoffnung schaute ich auf den Frontsoldaten Adolf Hitler«. 25 Von Hitlers Engagement geleitet und von den Ideen völkischisch-nationalistischer Gruppen angestiftet, beschloß auch Mergenthaler, sich »der Politik zu widmen«. 26 Michael Stolle 450 19 Bauder (wie Anm. 5), S. 25. 20 Müller, Armin, Zwischen Tugend und Gewalt. Die Haller Rechtsparteien in den Anfangsjahren der Weimarer Republik bis 1924/ 25, in: Württembergisch Franken 77(1993), S. 445-473, S.448. 21 Antwort auf den »Offenen Brief der Pazifisten«, in: »Völkischer Beobachter«, 4. Oktober 1930, in HSTAS EA 3/ 152, Bü. 67. 22 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 2. ordentlichen Landtag, 6. Sitzung, 6. Juni 1924, S. 84. 23 Spruchkammerentscheid 1/ SO/ KB 347/ 48, 21. Dezember 1948, S. 2, in: STASIG Wü 13 Nr. 648, 1/ T/ E/ 3007. 24 Kieß, Rudolf, Christian Mergenthaler. Württembergischer Kultminister 1933 - 1945, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 54 (1995), S. 281 - 332, hier S. 285. 25 Bauder (wie Anm. 5), S. 24. 26 Bauder (wie Anm. 5), S. 24. <?page no="452"?> Es war im Herbst 1922, als der Haller Kurt Ismer, im Weltkrieg U-Boot-Matrose, das Parteiprogramm der NSDAP aus München mitbrachte und zusammen mit weiteren Gesinnungsfreunden, darunter auch Christian Mergenthaler, die NSDAP- Ortsgruppe Hall-Gaildorf gründete. 27 In dem Mitgliederkreis der ersten Stunde fällt die hohe Zahl an Lehrern und Buchhändlern auf, denen es rasch gelang, für Aufsehen in der Öffentlichkeit zu sorgen, so daß sie ihren Mitglieder- und Zuhörerkreis schnell ausweiten konnten. 28 Nicht unerheblich trug hierzu Christian Mergenthaler bei, der nicht nur 2. Vorsitzender und frühes Mitglied der SA 29 in Hall war, sondern auch die Gruppe derart aktiv prägte, daß er in der von Kreisleiter Bosch geschriebenen Ortsgruppengeschichte sogar als »ihr Führer« bezeichnet wurde. 30 Er galt, genau wie Hitler, als mitreißender Redner, der seine Wortbeiträge auch auf Versammlungen der politischen Gegner anbrachte und seine Mitkämpfer fanatisierte. Als überzeugter Anhänger der NSDAP bot er für »verfolgte« Parteifreunde aus Baden in seiner kleinen Wohnung Unterschlupf und bereitete sich auf die aktive Unterstützung eines Putsches vor. Als aus München (9. November 1923) das Scheitern des »Hitlerputsches« gemeldet wurde und die Reichsregierung die NSDAP verbot (20. November 1923), mußte die 200 Mitglieder umfassende Haller Ortsgruppe aufgelöst werden. Neben anderen wurde die Wohnung Mergenthalers durchsucht. 31 Damit war die politische Tätigkeit jedoch keineswegs beendet, denn die Ortsgruppe konnte sich als »Vaterländischer Volksbund« neu formieren und als Angehörige des Völkisch-Sozialen Blocks an den Reichs- und Landtagswahlen 1924 teilnehmen. An der Spitze der Bezirksliste für die Oberämter Hall, Crailsheim, Gerabronn, Gaildorf und Öhringen stand Christian Mergenthaler, der in der Wahl vom 4. Mai 1924 mit 7,92% der abgegebenen Stimmen aus der Stadt Hall in den Landtag und mit 8,12% 32 in den Reichstag gewählt wurde. Beide Ergebnisse lagen deutlich über dem Landesbzw. Reichsdurchschnitt (4,0% bzw. 4,2%). Bei der Reichstagswahl im gleichen Jahr (7. Dezember 1924) büßte der völkische Block allerdings wieder die Hälfte seiner Stimmen vom Frühjahr ein. Spitzenkandidat Mergenthaler erreichte nunmehr 4,40% (2,55%) der Stimmen, so daß er sein Reichstagsmandat verlor. Im württembergischen Landtag dagegen war er weiterhin vertreten, und er sollte es die nächsten Jahre mit einer kurzen Unterbrechung auch bleiben. Sein Engagement für die lokale Parteiarbeit jedoch nahm ab. Das hatte mehrere Gründe. Vordergründig wurde es in Hall ruhiger, weil Mergenthaler von dort wegzog. 33 Zwar blieb er trotz mehrerer Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 451 27 Bosch, Otto, Die nationalsozialistische Bewegung in Hall, in: Schwäbisch Hall. Ein Buch aus der Heimat. Zeitbilder von einst und jetzt, hrsg. v. W. Hommel, Schwäbisch Hall 1937, S. 391- 400, hier S. 392. 28 Müller (wie Anm. 20), S. 446 ff. Mergenthaler gehörte zu den 465 Lehrern, die vor der »Machtergreifung« Mitglied der NSDAP geworden sind: Schnabel (wie Anm. 18), S. 71. 29 BA, Abt. III (BDC), SA-Führer-Fragebogen Christian Mergenthaler. 30 Bosch (wie Anm. 27), S. 392. 31 Müller (wie Anm. 20), S. 449. 32 Müller (wie Anm. 20), S. 473. <?page no="453"?> Versetzungsgesuche am Realgymnasium in Hall angestellt, doch war er wegen seiner Landtagstätigkeit seit Ende 1924 praktisch ständig vom Dienst beurlaubt. 34 Aus Hall zog er schließlich weg, weil er sich in Korntal, dem Wohnort seiner Schwiegereltern, als Mitglied des Bausparvereins »Gemeinschaft der Freunde in Wüstenrot« ein Eigenheim baute und seit Mitte September 1926 dort wohnte. Das Haus besaß einige Bedeutung für ihn und tatsächlich verbrachte er den größten Teil seines restlichen Lebens darin. Es ist auffällig, daß der württembergische Propagandakatalog der NSDAP für die Landtagswahl im April 1932 unter anderem forderte: »Herabsetzung der Zinssätze, insbesondere der Wohnungskreditanstalt, Förderung des Eigenheimgedankens«. 35 Größere Bedeutung als diesen privaten Hintergründen seines abnehmenden lokalen Pateiengagements dürfte allerdings dem Umstand beizumessen sein, daß er sich zwischenzeitlich auch aus pragmatischen und programmatischen Gründen von den Nationalsozialisten entfernte. Mergenthaler war nicht mehr nur lokaler Parteiredner, sondern Führer einer drei Mann starken Fraktion im württembergischen Landtag, die später der »Nationalsozialistischen Deutschen Freiheitsbewegung« (NSDFB) zugerechnet wurde. 36 Im Gau Württemberg trat die NSDFB auch außerhalb des Landesparlaments als Nachfolgeorganisation der NSDAP auf. Ihre Existenz war zunächst ein Symptom der »Gärung« im völkischen Lager, die nach dem Scheitern des »Hitlerputsches« und dem Verbot der NSDAP reichsweit zu beobachten war: Die nationalsozialistische »Bewegung« und die hinter ihr stehenden politischen Kräfte und Gruppierungen splitterten sich auf. 37 Zwar konnte sich der »Führerkult« um Hitler bis ins Frühjahr 1924 halten oder sogar noch steigern, doch zeigten sich im Verlauf desselben Jahres die ersten Zersetzungserscheinungen. Das Interesse der Öffentlichkeit am Nationalsozialismus und an anderen völkischen Gruppen nahm deutlich ab. Bei der zweiten Reichstagswahl im Herbst 1924 hatte der Völkisch-Soziale Block starke Stimmeneinbußen zu verkraften. Außerdem traten nun viele Führer aus dem völkisch-nationalistischen Spektrum auf, die alle versuchten, ihre Meinungen und Auffassungen zur Geltung zu bringen. Christian Mergenthaler war einer davon. Der ehemalige Lehrer stand eher deutschvölkischen Splittergruppen nahe, als daß er ausschließlich an dem in Landsberger Festungshaft sitzenden Hitler festhielt. In Michael Stolle 452 33 Bosch (wie Anm. 27), S. 397. Zum Niedergang der Haller Ortsgruppe siehe auch: Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/ 46, Stuttgart u.a. 1986, S. 83 f.; Kieß (wie Anm. 24), S. 288; Müller (wie Anm. 20), S. 451. 34 HSTAS EA 3/ 152, Bü. 67. 35 Abdruckt in: Schnabel (wie Anm. 18), S. 79 f. 36 In den Landtag noch als »Völkisch-Sozialer Block« gewählt, bezeichnete sich die Gruppe nach der Neugründung der Stuttgarter NSDAP am 14. Juni 1925 als Nationalsozialistische Deutsche Freiheitsbewegung (NSDFB); vgl. Vollnhals, Clemens (Hrsg.), Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933 Bd. 1, München u.a. 1992, S. 103. 37 Vgl. hierzu vor allem Horn, Wolfgang, Führerideologie und Parteiorganisation in der NSDAP (1919-1933), Düsseldorf 1972, S. 154-208; Heiden, Konrad, Geschichte des Nationalsozialismus. Die Karriere einer Idee, Berlin 1932, S. 177 ff. <?page no="454"?> seiner ersten Landtagsrede in Stuttgart am 6. Juni 1924 hatte er sich vor allem auf Ludendorff berufen, »der jahrelang die Riesenlast der Verantwortung mit auf seinen Schultern getragen hat«. 38 Hitler erwähnte er nicht. Dieser Einstellung blieb er noch treu, als die Nationalsozialistische Freiheitsbewegung im Reich nach der Neugründung der NSDAP am 27. Februar 1925 und der Ausschaltung Ludendorffs in rapidem Verfall begriffen war. Auch nach Hitlers Freilassung fügte er sich dessen Ansprüchen, die »Bewegung« unter seiner Führung neu zu vereinen, zunächst nicht. Was bewegte Mergenthaler zu dieser starren Haltung? In seinem späteren Spruchkammerverfahren gab er an, daß er es 1925 für verhängnisvoll gehalten habe, Hitler ganz allein die Macht zu überlassen. Er hielt »vielmehr die Übertragung der Macht an ein Gremium mehrerer Persönlichkeiten aus Anhängern des Nationalsozialismus und des Völkisch-Sozialen Blocks für das Gegebene«. 39 Wenngleich diese Aussage auch vor dem Hintergrund der erwünschten Entlastung im Entnazifizierungsverfahren gemacht wurde, erscheint sie angesichts der Ereignisse in der Mitte der 20er Jahre dennoch glaubhaft. Die Politik der völkischen Sammlungsbewegung, der sich sowohl die NSDFB als auch der Völkisch-Soziale Block zugehörig fühlte, war auf eine Modifikation des »Führerbegriffs« ausgerichtet. Gerade 1924/ 25 tauchte die Idee eines Triumvirats bestehend aus dem norddeutschen »Führer« der völkischen Bewegung Albrecht von Graefe, dem überaus populären Erich Ludendorff und Adolf Hitler auf, die auch Mergenthaler zu favorisieren schien. Obwohl die beiden erstgenannten im Verlauf des Jahres 1925 wieder von der politischen Bühne verschwanden, behaupteten sich auch weiterhin Vorstellungen, die eine Gleichsetzung von »Führer« und »Idee« zu durchbrechen und also Hitlers ungebundene Führerideologie zu modifizieren suchten. 40 Vorgetragen wurden diese Ideen vor allem von der Parteilinken um die Gebrüder Strasser und von der »Arbeitsgemeinschaft Nord-West«, die sich gegen die Münchner Parteizentrale stellten. Der Württemberger Mergenthaler konnte diesen »innerparteilichen Gegnern« lange Zeit zugerechnet werden, auch wenn er nicht an exponierter Stelle stand oder sich am programmatischen Entwurf der Gruppe kreativ beteiligte. In seinem Spruchkammerverfahren definierte Mergenthaler, wie oben bereits erwähnt, den Nationalsozialismus als Sozialismus, »welcher der Eigenart des betreffenden Volkes angepasst ist« 41 . Diese Aufsplitterung des Leitbegriffs »Nationalsozialismus« in seine zwei Bestandteile mit den daraus folgenden Konsequenzen war für die Auffassung der Parteilinken, besonders der norddeutschen Nationalsoziali- Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 453 38 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 2. ordentlichen Landtag, 6. Sitzung, 6. Juni 1924, S. 85. 39 STASIG Wü 13 Nr. 648. 40 Horn (wie Anm. 37), S. 231. Mergenthaler selbst sprach von einer »Reichsführerschaft« durch Ludendorff, Hitler und Gräfe, Frankfurter Zeitung Nr. 611, 16. August 1924, Abendblatt, S. 2. 41 STASIG Wü 13, Nr. 648. <?page no="455"?> sten, typisch. 42 Jene versuchten außerdem, der »Münchner Clique« um Hitler 43 erstens die Schuld an der Entfremdung zwischen der eigenen Gruppe und dem »Führer« zu geben 44 und sie damit zweitens zu entmachten, erschien ihnen die NSDAP-Führung doch zu stark bayrisch geprägt. In einer Rede auf dem Einigungsparteitag von deutschvölkischen Gruppen im Juli bzw. August 1924 in Weimar 45 führte Mergenthaler, neben Ludendorff Hauptreferent des Parteitages, wiederum aus, daß Bayern die nationalsozialistische Bewegung nicht mehr allein tragen könne, so daß nun Preußen das eigentliche Rückgrat für die völkische Bewegung werden müsse. 46 Er versprach sich also auch mehr von einer Führung außerhalb Bayerns und der hier waltenden Partei. Es kann eigentlich nur Zufall sein, doch es ist auffällig, daß Mer genthaler in just jenen Tage n d er Ausein anders etzu ng zum Jahr eswechs el 1925/ 26 in Württemberg das Gerücht verbreitete, Hermann Esser, einer der frühesten Waffengefährten Hitlers und ein großer Polemisierer und Verleumder dazu, habe von der jüdischen Firma Landauer in München 50.000 Reichsmark erhalten, um damit die nationalsozialistische Bewegung zu zerschlagen. 47 Damit geriet er zunehmend in Gegensatz zur NSDAP. In Württemberg beschloß die Stuttgarter Ortsgruppe am 1. März 1925, sich bedingungslos hinter Hitler zu stellen und der NSDAP wieder beizutreten. Im Juni wurde sie von Hitler während einer Versammlung in Stuttgart mit den Vorarbeiten für die Neubildung der Organisation in Württemberg beauftragt. 48 Mergenthaler erschien nicht, was Hitler sehr bedauerte. »Die Differenz zwischen ihm und Mergenthaler sei [...] nicht taktischer, sondern prinzipieller Art«. 49 Mergenthaler als Führer der NSDFB zögerte und konnte somit den Bruch mit der NSDAP in Württemberg nicht verhindern. Er wollte mit Hitler über einen möglichen Beitritt der NSDFB verhandeln und sich nicht Michael Stolle 454 42 Horn (wie Anm. 37), S. 236 f. Zur Parteilinken vgl. außerdem: Kühnl, Reinhard, Die nationalsozialistische Linke (Marburger Abhandlungen zur Politischen Wissenschaft 6), Meisenheim am Glan 1966; Schüddekopf, Ernst-Otto, Linke Leute von rechts. Die nationalrevolutionären Minderheiten und der Kommunismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1960. 43 Gemeint waren v.a. Esser und Streicher, vgl. Horn (wie Anm. 37), S. 232. 44 Horn (wie Anm. 37), S. 241. 45 Die erste »nationalsozialistische Vertretertagung« fand bereits im Juli 1924 in Weimar statt. Dabei ging es vor allem um die Frage, ob die NSDAP mit der Deutschvölkischen Fortschrittspartei (DVFP) fusionieren sollte. Diejenigen, die sich hier für eine Zusammenarbeit ausgesprochen hatten, tagten einen Monat später, am 15. August 1924, wieder in Weimar, um weitere Formalitäten zu klären. Bei dieser Gelegenheit trat dann auch Mergenthaler auf und referierte über die Organisation der nationalsozialistischen Bewegung. Die Rede ist wiedergegeben in: Frankfurter Zeitung Nr. 609-611, 16. August 1924. Vgl. Horn (wie Anm. 37), S. 189 ff. 46 Frankfurter Zeitung Nr. 610, 16. August 1924, Zweites Morgenblatt, S. 2. 47 Nachtmann, Walter, Von der Splitterpartei zur Staatspartei, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung. Von der republikanischen zur braunen Stadt, bearb. v. K. Fuchs, Stuttgart 1982, S. 128-157, hier S. 135. Das von Esser angestrengte Gerichtsverfahren gegen Mergenthaler fand nicht statt, da Mergenthaler sich als Abgeordneter auf seine Immunität berufen konnte, BAP NS 26/ 591. 48 Nachtmann (wie Anm. 47), S. 134. 49 Hitler, Reden, Bd. 1 (wie Anm. 36), S. 101. <?page no="456"?> bedingungslos unter seine alleinige Führung stellen. Doch Hitler ließ sich darauf nicht ein: »Nun führe ich die Bewegung, und Bedingungen stellt mir niemand; denn wenn die Herren kommen, und mir der eine sagen sollte, ich stelle die Bedingung, und der andere, ich stelle jene, so habe ich nur eine Antwort zu geben: Freund, warte erst, welche Bedingung ich stelle.« 50 Trotzdem blieb Mergenthaler zunächst an der Spitze seiner von der NSDAP unabhängigen »Bewegung«, so daß es zwangsläufig zu Konflikten mit der württembergischen NSDAP kommen mußte. 51 Die NSDFB konnte sich in dieser Situation jedoch nicht mehr lange halten. Bereits am 22. Juni 1926 meinte Hitler, die »Gruppe um Prof. Mergenthaler« wäre »in nichts zusammengesackt«. 52 Am 24. Juni 1927 trat die Nationalsozialistische Deutsche Freiheitsbewegung nach abschließenden Beratungen in Stuttgart daher im Beisein Hitlers der NSDAP bei. 53 Mergenthalers Wiedereintritt datiert vom 27. Juli 1927. 54 Er wurde zum Parteimitglied Nr. 70.178. Der württembergische Führer der NSDFB hatte »aus organisatorischen Gründen« eingelenkt, da er das Fortbestehen seiner eigenen Gruppierung für aussichtslos erachtete. 55 Er verwarf damit seine Anliegen, die er unbedingt hatte erreichen wollen, die jedoch nie den Umfang oder die Qualität eines eigenständigen Programms wie bei Gregor Strasser erreichten. Mergenthaler war ohnehin kein reiner Programmatiker, der sich Gedanken um die Organisation der Partei, das zukünftige Wirtschaftssystem oder die deutsche Bündnispolitik im erhofften »Dritten Reich« machte. Er entwickelte kein eigenes, innovatives politisches Konzept; seine Sache war es vielmehr, die von ihm vermeintlich herausgefundenen »Wahrheiten« zu verbreiten. Das taten auch andere Nationalsozialisten vor 1933. Mergenthalers Eigenart war, daß er versuchte, die anderen nach seinen Vorstellungen zu erziehen. Hierin war er der typische Lehrer, der in seiner Begrenztheit und seiner Halsstarrigkeit zum Schulmeister wurde. Als sein Einfluß endgültig zurückging, dachte er, sich dem erfolgreicheren Führer anschließen zu müssen. Dies geschah vor allem aus machtpolitischem Kalkül. Der Schulmeister war hier in erster Linie Pragmatiker. Er wäre zum Opportunisten geworden, wenn er mehr als nur seine politische Grundposition, die eher links war, hätte aufgeben müssen. Anders als etwa Goebbels, dessen Biographie leicht zum Vergleich einfallen könnte, besaß Mergenthaler kein sozialistisches und nationalistisches Weltbild, sondern nur für sich erfahrene Überzeugungen, an denen er Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 455 50 Hitler, Reden, Bd. 1 (wie Anm. 36), S. 27. 51 Hitler, Reden, Bd. 1 (wie Anm. 36), S. 399. 52 Hitler, Reden, Bd. 1 (wie Anm. 36), S. 446. 53 Dusik, Bärbel (Hrsg.), Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933 Bd. 2/ I, München u.a. 1992, S. 367 und Nachtmann (wie Anm. 47), S. 138 f. Zur ersten Mitgliederversammlung nach der Fusion siehe die Berichte der Staatspolizei zur politischen Lage vom 13. Juli 1927 und 5. Oktober 27 in BAP NS 26/ 1400. 54 Dieses Datum hat Mergenthaler in seinem SA-Fragebogen angegeben, in: BA, Abt. III (BDC) SA-Führer-Fragebogen Christian Mergenthaler. 55 Aussage im Spruchkammerverfahren, die auch in die Spruchbegründung aufgenommen wurde. STASIG Wü 13 Nr. 648. <?page no="457"?> im Stile des Prinzipienreiters so lange wie möglich festhielt. Goebbels, der sich gleichsam als »nationaler Sozialist« verstand, schwenkte schon vor Mergenthaler auf Hitlers Kurs ein, behielt aber dennoch sein Weltbild bei und vertrat es auch weiterhin durch innerparteiliche Auseinandersetzungen hindurch. 56 Goebbels machte trotzdem seine bekannt große Karriere im »Dritten Reich«. Davon war Mergenthaler weit entfernt; sein Aktions- und Wirkungsradius blieb deutlich begrenzt. Zwar engagierte er sich nun ausschließlich für die NSDAP, brachte kein Verständnis mehr für abweichende Meinungen auf 57 , war fortan »Gauredner und Reichsredner« 58 sowie Vorsitzender der Sondertagung für Schul- und Jugendfragen beim Reichsparteitag der NSDAP vom 19. bis 21. August 1927 in Nürnberg. 59 Von dem alsbald alleinigen »Führer« der NSDAP Adolf Hitler wurde er sogar zum Wahlleiter für die Reichs- und Landtagswahl in Württemberg am 20. Mai 1928 ernannt 60 , was angesichts manchen Konkurrenzkampfes im eigenen Landesverband nicht ganz unumstritten war. 61 Dieses Engagement blieb aber vergebene Mühe: Als das Wahlergebnis verkündet wurde, hatte Mergenthaler seinen Parlamentssitz verloren. Nur 1,8% der Stimmen konnte die NSDAP bei der Landtagswahl auf sich vereinen (Reichstagswahl: 1,9%). 62 Am 31. Mai 1928 erschien er in seiner Haller Schule, um wieder Physik zu unterrichten, denn in der Politik war er quasi arbeitslos geworden und in der Partei hatte er keine Ämter übernommen oder übertragen bekommen. Daran änderte sich auch in Zukunft nichts. Auch in den der NSDAP untergliederten Institutionen spielte Mergenthaler nie eine besondere Rolle. Lediglich ehrenhalber wurde er am 9. November 1935 zum SA Gruppenführer ernannt, seit dem 9. November 1938 war er SA-Obergruppenführer, ebenfalls ehrenhalber. »Diese äußeren Insignien waren ihm wichtig wegen der Uniform, die er stets bei öffentlichen Auftritten trug.« 63 Außerdem war er seit 1934 Ehrenführer des RAD im Rang eines Gauarbeitsführers, und schon früher Mitglied des NS-Altherrenbundes, der NSV, des NS-Reichskriegerbundes und des NS-Lehrerbundes. Er wurde Träger des gol- Michael Stolle 456 56 So das Ergebnis der Arbeit von Ulrich Höver, der feststellt, daß die bisher in der Forschung weitgehend vertretene Auffassung, Goebbels sei der reine Opportunist gewesen, einer Differenzierung bedarf: Höver, Ulrich, Joseph Goebbels - ein nationaler Sozialist, Bonn, Berlin 1992. Eine vergleichbare Studie über Mergenthaler anzustellen, wird durch die schlechte Quellenbasis behindert. Es existieren keine tagebuchähnlichen Aufzeichnungen oder andere Selbstzeugnisse von Mergenthaler. Die Lebenserinnerungen befinden sich immer noch in Privatbesitz und sind nicht zugänglich. 57 Das Zögern seines Fraktionskollegen Dr. Steger, der Änderung des Fraktionsnamens im Landtag in NSDAP zuzustimmen, erregte den Zorn Mergenthalers: Süddeutsche Zeitung, 10. November 1927; siehe: HSTAS Ea 3/ 152 Bü. 67. 58 BA, Abt. III (BDC), SA-Führer-Fragebogen Christian Mergenthaler. 59 Dusik, Bärbel (Hrsg.), Hitler, Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933 Bd. 2/ II, München u.a.1992, S. 469. 60 Hitler, Reden, Bd. 1 (wie Anm. 36), S. 778. 61 Schnabel, (wie Anm. 33), S. 45. 62 Zahlen aus: Schnabel (wie Anm. 18), S. 312. 63 Kieß (wie Anm. 24), S.292. <?page no="458"?> denen Parteiabzeichens und der Dienstauszeichnung der Partei in Bronze und Silber. Und dennoch war er eher Staatsals Parteimann im nationalsozialistischen »Doppelstaat«. 64 Doch bis dahin gab es noch eine lange Durststrecke für ihn zu überwinden. Mergenthaler schien Mitte 1928 offenbar gewillt, seine politischen Aktivitäten ruhen zu lassen und sich ganz seinem Lehrerberuf zu widmen. Er versuchte, endlich die gewünschte Versetzung in den Stuttgarter Raum zu erreichen. Politisch frustriert, zog er sich nun völlig aus der Parteiarbeit zurück und »stänkerte« 65 über die württembergische Partei. Ausgerechnet Gregor Strasser, der von der württembergischen Gauleitung darüber informiert worden war, soll in seiner Funktion als Reichsorganisationsleiter Mergenthaler deswegen heftig angegriffen haben. Wie Mergenthaler von seinem Parteifreund Hans Etter erfahren hatte, äußerte Strasser am 24. Februar bei einer Besprechung in München, die Art und Weise, wie sich Mergenthaler nach dem Wahlkampf zurückzog, sei vom nationalsozialistischen Standpunkt aus nicht vertretbar. »Einen Gau in Schulden stürzen und dann sitzen lassen, ist unrecht.« 66 Mergenthaler fühlte sich angegriffen und schaltete den Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß der Reichsleitung der NSDAP in München ein. Selbst als sich Strasser dort sachlich erklärte und sich über Mergenthalers Empörung wunderte, da er mit ihm »jahrelang in reibungsloser Zusammenarbeit und später in achtungsvollem Verhältnis gestanden habe« 67 , wollte sich der zum Starrsinn neigende, schulmeisterlich anmutende Kämpfer zunächst nicht zufrieden geben. 68 Schließlich konnte der Streit mit Strasser jedoch beigelegt werden. Im November 1932 traten die beiden sogar gemeinsam auf einer Wahlkundgebung in Stuttgart auf. 69 Mit anderen politischen Gegnern, die innerhalb und außerhalb der NSDAP zu finden waren, stritt Mergenthaler mit großer Heftigkeit und Hartnäckigkeit. In Wilhelm Murr, dem späteren Reichsstatthalter und Gauleiter von Württemberg, fand er seinen intimsten und dauerhaftesten Gegner. Die bis zur Feindseligkeit neigenden Spannungen hatten ihren Ursprung schon in der Frühgeschichte der württembergischen NSDAP. Nachdem Mergenthaler 1927 Hitlers Partei wieder beigetreten war, beanspruchten sowohl er selbst als auch Murr die Führung der württembergischen Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 457 64 Fraenkel, Ernst, Der Doppelstaat, Frankfurt/ Main, Köln 1974. 65 Schreiben des württembergischen Gaupropagandaleiters an Gregor Strasser, 2. Januar 1929, BAP NS 22/ 1077. 66 Brief Hans Etters an Mergenthaler, 3. März 1929, in dem die Beschuldigungen Strassers nach Etters Erinnerung wiedergegeben werden, BA, Abt. III (BDC) PK Christian Mergenthaler. 67 Strasser an den Untersuchungs- und Schlichtungsausschuß der Reichsleitung der NSDAP in München, 25. Juni 1929, BA, Abt. III (BDC) PK Christian Mergenthaler. 68 In einem erneuten Schreiben an den Schlichtungsausschuß, 9. Juli 1929 meinte Mergenthaler: »Ohne auf weitere Einzelheiten einzugehen muß ich trotzdem aussprechen, daß mich der Standpunkt des Herrn Strasser sachlich und persönlich außerordentlich befremdet. Sollte der N.S.A. damit die Angelegenheit beruhen lassen, so würde für mich ein sehr erheblicher Rest zurückbleiben.« BA, Abt. III (BDC) PK Christian Mergenthaler. 69 Schäfer, Gerhard, Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf, 6 Bde., Stuttgart 1971-1986, hier Bd. 1, S. 101. <?page no="459"?> Bewegung. 70 Beide versuchten sich gegenseitig bei den Münchner Führungsgremien »anzuschwärzen« und auszuschalten. Mergenthaler schrieb 1930 etwa an Himmler und beschwerte sich über Murrs ungenügende Arbeit als Gauleiter, weil dieser sich zu sehr um seinen »Kaufmannsberuf« kümmere. »Sollte die Ordnung der Verhältnisse in Württemberg unterbleiben, so könnte ich an eine erfolgversprechende Arbeit in Württemberg nicht mehr glauben und ich wäre gezwungen, die Folgerung daraus zu ziehen.« 71 1932 schien der Konflikt oberflächlich beigelegt. Doch schon in den Tagen der »Machtergreifung« brach der Konkurrenzkampf aufs Neue aus. Es war Murr, der am 30. Juni 1933 in einem Brief an Hitler wieder die Initiative in der Auseinandersetzung ergriff, indem er meldete, daß ihm wie anderen Mitgliedern des Kabinetts die Zusammenarbeit mit Mergenthaler auf Dauer nicht möglich erscheine: er beantragte die Entlassung seines Intimfeindes. 72 In Reichsinnenminister Wilhelm Frick fand er dabei Unterstützung, da dieser im Zuge der von ihm betriebenen Zentralisierung den Reichsstatthalter mit den Geschäften des Ministerpräsidenten zu betrauen wünschte. 73 Hitler unterzeichnete im Mai 1935 die Entlassungsurkunde für Mergenthaler 74 , händigte sie allerdings aus unbekannten Gründen nie aus. Mit großer Wahrscheinlichkeit beabsichtigte er die Dualität der beiden führenden Nationalsozialisten in Württemberg zu seinem eigenen Nutzen zu erhalten. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß im April 1941 Mergenthaler und nicht Murr den »Führer« Adolf Hitler bei einer Reise von Stuttgart nach Berlin begleiten durfte. »Von da an stellte sich Murr mehr und mehr auf die Linie Himmlers ein, um von Mergenthaler nicht überrundet zu werden.« 75 Aus ähnlichem Grund hatte Murr bereits 1939 versucht, die Kreise seines innerparteilichen Gegners zu beschränken. Seit Kriegsbeginn soll er Mergenthaler untersagt haben, als Parteiredner auf Versammlungen der NSDAP zu sprechen. Der Presse soll er verboten haben, seinen Namen überhaupt noch zu erwähnen. Mergenthaler behauptete daher in seinem Spruchkammerverfahren, er sei in der Partei »völlig kaltgestellt« 76 worden. Auch in den Auseinandersetzungen mit der Kirche hatten die beiden Kontrahenten sehr oft unterschiedliche Auffassungen. Der evangelische Landesbischof Wurm Michael Stolle 458 70 Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 28 f.; Besson, Waldemar, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928 - 1933. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1959, S. 332 ff. 71 BAP NS 22/ 1077. 72 Murr berichtete Hitler, er arbeite mit allen anderen Mitgliedern des Kabinetts ausgezeichnet zusammen, mit Mergenthaler sei dies »bei dessen angeborener Widersetzlichkeit, Eitelkeit und Arroganz […] auf die Dauer unmöglich«. BAP R 43 II/ 1374, fol. 68 ff. 73 Am 18. April 1935 drängte Frick Hitler, Murr an die Stelle Mergenthalers als Ministerpräsidenten zu setzen. Mergenthaler sollte lediglich Kultminister bleiben. Vgl. Hüttenberger, Peter, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 90. 74 Diehl-Thiele, Peter, Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner inneren Staatsverwaltung, 2. Aufl. München 1971, S. 47. 75 Wurm, Theophil, Erinnerungen aus meinem Leben, Stuttgart 1953, S. 146. 76 STASIG Wü 13 Nr. 648. <?page no="460"?> versuchte deshalb, diese Differenzen auszunutzen, so daß er seit 1939 mit Murr eine Art Burgfrieden schloß, um gegen Mergenthaler besser vorgehen zu können. Die Dualität der württembergischen NS-Führung gab Außenstehenden also auch die Möglichkeit, die eigene Position zu verbessern. Trotz dieser Zerstrittenheit innerhalb der württembergischen NSDAP gelang es der Partei seit 1930 durch intensive Propaganda, geschickte politische Kleinarbeit und nicht zuletzt aufgrund der immer stärker spürbar werdenden Wirtschaftskrise aus der selbstverschuldeten Agonie herauszukommen. Christian Mergenthaler trug hierzu seinen Teil als Redner und vor allem als Landtagsabgeordneter der NSDAP bei. Als am 22. März 1929 der Staatsgerichtshof jene Teile des württembergischen Wahlgesetzes für ungültig erklärte, die die kleineren Parteien benachteiligten, mußte der NSDAP ein Sitz im Landtag eingeräumt werden. Obwohl in nationalsozialistischen Kreisen zunächst befürchtet wurde, der Spitzenkandidat werde verzichten 77 , übernahm Christian Mergenthaler doch die Arbeit im Landtag. Der Wille, für die Durchsetzung des Nationalsozialismus zu kämpfen, war und blieb bei ihm stets größer als die Frustrationen mancher politischer Fehde. Mergenthalers Auftreten im Stuttgarter Halbmondsaal, dem Plenum der Landtagsdebatten, kann unschwer der nationalsozialistischen Taktik in den Parlamenten der Weimarer Republik zugeordnet werden. 78 Rundweg lehnte auch er das demokratisch-parlamentarische System ab. Im August 1924 hatte er vor dem völkischen Parteitag gesagt: »In der Frage des Parlamentarismus haben wir uns umstellen müssen, aber nur deshalb, um nicht mundtot gemacht zu werden. Wir wollen durch unsere Mitarbeit den Parlamentarismus von innen her bekämpfen.« 79 Im selben Jahr sprach er in seiner ersten Landtagsrede davon, daß »Deutschland [...] nicht durch Parlamente, sondern durch eine völkische Diktatur gerettet« 80 werde. Als frischgebackener Landtagsabgeordneter des 2. ordentlichen Landtages zeichnete Mergenthaler als Verantwortlicher für die dreiköpfige Gruppe des »Völkisch-Sozialen Blocks« Anträge ab, die allesamt eher agitatorischen Charakter hatten und von ernsthaftem politischen Wollen weit entfernt waren. Ein politisches Programm im besonderen wird man bei Mergenthalers Redebeiträgen vergebens suchen. Die Ideen erschöpften sich in allgemeinen Formeln und Desideraten der völkischen bzw. nationalsozialistischen Weltanschauung. Das Ziel nationalsozialistischer Parlamentspolitik war es, darin unterschied sich die völkisch-nationalistische Gruppe im Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 459 77 Schnabel (wie Anm. 18), S. 53. 78 Vgl. hierzu v.a.: Schönhagen, Benigna, Zwischen Verweigerung und Agitation. Landtagspolitik der NSDAP in Württemberg 1928/ 29 - 1933, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928-1933, hrsg. v. T. Schnabel, Stuttgart u.a. 1982, S. 113-149. 79 Frankfurter Zeitung Nr. 610, 16. August 1924, Zweites Morgenblatt , S. 2. (vgl. auch Anm. 45 und 46.) 80 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 2. ordentlichen Landtag, 6. Sitzung, 6. Juni 1924, S. 89. <?page no="461"?> Halbmondsaal nicht von der NSDAP, Geschäftsabläufe zu behindern, aktive Mitarbeit zu verweigern und das eigene Machtstreben zu demonstrieren, um das Weimarer System scheinbar legal aus den Angeln zu heben. Dabei verleugnete Mergenthaler nie seine antisemitische Einstellung: »Wir kämpfen gegen die zersetzenden Einflüsse des Judentums und wir sind Antisemiten, weil wir glauben, daß das Judentum nach Rasse und innerem Empfinden nichts gemeinsam hat mit dem deutschen Volk.« 81 Im 3. Landtag war Mergenthaler als einziger Abgeordneter der NSDAP dazu gezwungen, den »Alleinunterhalter« in den Parlamentssitzungen zu spielen. Die Formen der Verhandlungen verschärften sich dabei mehr und mehr. 82 Mergenthaler war immer bereit, durch Zwischenrufe und demonstrativen Auszug aus dem Landtag für aggressive Unruhe und erheblichen Aufruhr zu sorgen. Solches Verhalten brachte ihm in dieser Legislaturperiode beinahe die meisten Ordnungsrufe und Ermahnungen aller Abgeordneten ein. Nach der Landtagswahl vom 24. April 1932 und dem Erfolg der NSDAP saßen 23 Nationalsozialisten im Stuttgarter Parlament. Sie stellten die stärkste Fraktion und durften nach altem parlamentarischen Brauch den Landtagspräsidenten stellen. Daher wurde der erfahrenste »Parlamentarier« aus ihren Reihen, der mittlerweile 47jährige Mergenthaler, am 10. Mai 1932 mit 52 von 80 Stimmen in jenes Amt gewählt. Für Mergenthaler bedeutete dies den vorläufigen Höhepunkt seiner politischen Karriere. Gelobte er in seiner Eröffnungsrede, sein Amt unparteiisch nach allen Seiten zu führen, so verstand er es in den nächsten zehn Monaten, durch geschicktes Lavieren, durch Mißbrauch der Geschäftsordnung und durch einseitiges Unterbrechen und Ermahnen, seine nationalsozialistische Fraktion klar zu bevorteilen. Zu eigenen innovativen Ideen, geschweige denn zu einem konkreten Regierungsprogramm war die nationalsozialistische Landtagsfraktion auch zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage. Zu sehr war die württembergische NSDAP von der Parteizentrale in München abhängig. Deshalb bestand auch nie die ernsthafte Möglichkeit, mit eigenen Mitteln zu einer Regierungsbeteiligung in Württemberg zu gelangen. Die Verhandlungen, die darüber mit den anderen Parteien im Mai 1932 geführt wurden, scheiterten, als offensichtlich wurde, daß die Nationalsozialisten kein Programm hatten, trotzdem aber die Schlüsselstellungen Staatspräsidium und Innenministerium verlangten. 83 Um die Macht in Württemberg zu erhalten, war die Landes- NSDAP von den Ereignissen und den Entwicklungen im Reich abhängig. Am 31. Januar 1933, einen Tag also, nachdem Adolf Hitler in Berlin zum Reichskanzler ernannt worden war und die »Machtergreifung« im gesamten Deutschen Reich ihren Anfang nahm, eröffnete Christian Mergenthaler, nun in SA-Uniform wie seine anderen 22 Fraktionskollegen auch, die 35. Sitzung des 4. württembergischen Landtags mit den Worten: »Wir beginnen unsere Arbeit in einer Zeit gewaltiger Michael Stolle 460 81 Verhandlungen (wie Anm. 80), S. 89. 82 Keil, Wilhelm, Erlebnisse eines Sozialdemokraten Bd. 2, Stuttgart 1948, S. 473 f. 83 Schnabel (wie Anm. 33), S. 123 f. <?page no="462"?> politischer Ereignisse von geschichtlicher Tragweite. Möge dieses Jahr unserem geliebten deutschen Volk die Rettung aus seiner tiefen Not bringen und auf dem Boden wahrer Volksgemeinschaft erstehen das neue Reich der Ehre, der Freiheit und der sozialen Gerechtigkeit.« 84 Er setzte sich nun aktiv für die Durchsetzung der nationalsozialistischen Herrschaft in Württemberg ein und trug im Rahmen seiner politischen und agitatorischen Möglichkeiten dazu bei, die Verhältnisse im Land nach nationalsozialistischen Prinzipien zu verändern. 85 Der Februar 1933 war geprägt von der Vorbereitung der Reichstagswahl, die für den 5. März angesetzt war. Welchen Stellenwert diese Wahl für Mergenthaler hatte, machte er bei einer Wahlrede in Ludwigsburg deutlich: »Möge der 5. März ausfallen wie er wolle, wir haben die Macht und wir werden unter allen Umständen an der Macht bleiben.« 86 In seiner Agitation richtete er sich insbesondere gegen die bisherige württembergische Staatsregierung unter Eugen Bolz. Aggressiv drohte er, man werde gegen renitente Staatspräsidenten eine Säuberungsaktion durchziehen. 87 Als dann im gesamten Württemberg etwa 42% der Wähler für die Nationalsozialisten gestimmt hatten, fühlte sich Mergenthaler bestätigt und ließ in einem Anflug von Euphorie am 7. März die Hakenkreuzflagge und die württembergische Landesflagge auf dem Landtagsgebäude zeigen als »Quittung für das Hissen des roten Fetzens im November 1918«. 88 Bolz forderte er anmaßend zum Rücktritt auf, ansonsten werde die Reichsregierung anders mit ihm sprechen. 89 Wie sehr gleichwohl taktische Erwägungen und die parteiinternen Machtkämpfe die württembergische NSDAP zu zerreißen drohten, wird dadurch deutlich, daß für den 11. März eine Landtagssitzung einberufen worden war, die dann aber aus fadenscheinigen Gründen verschoben werden mußte. Wilhelm Murr und Christian Mergenthaler reisten nach München, um mit Hitler zu konferieren, ob in Württemberg ein nationalsozialistischer Staaatspräsident gewählt werden sollte und wer von beiden dieses Amt anstreben sollte. Beide, sowohl Murr als auch Mergenthaler, erhoben Anspruch auf diesen Posten. Die württembergische SA, an der Spitze ihr Führer Dietrich von Jagow, trat für Mergenthaler ein 90 , die SS unterstütze Murr. Der »Führer« entschied sich für Wilhelm Murr, der am 15. März Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 461 84 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 4. ordentlichen Landtag, 35. Sitzung, 31. Januar 1933, S. 863. 85 Zur Gleichschaltung der Länder, insbesondere Würrtembergs gibt es zahlreiche Untersuchungen. Vgl. beispielsweise Sauer (wie Anm. 70), S. 14 ff; Schnabel (wie Anm. 18), S. 72 ff.; ders. (wie Anm. 33), S. 181 ff., Besson (wie Anm. 70), S. 328 ff. 86 Bericht des Bayrischen Gesandten, 28. Februar 1933, zit. nach Schnabel (wie Anm. 33), S. 161. 87 Sauer (wie Anm. 70), 19 ff.; Besson (wie Anm. 70), S. 337. 88 Zelzer, Maria, Stuttgart unterm Hakenkreuz. Chronik aus Stuttgart 1933 - 1945, 2. Aufl. Stuttgart 1984, S. 42. 89 Sauer (wie Anm. 70), S. 26; Besson (wie Anm. 70), S. 344. 90 Dietrich von Jagow war es auch, der die Landtagssitzung »auf Anweisung von Berlin aus Sicherheitsgründen« verschieben ließ, um die beschlossene Sache, daß Murr zum Staatspräsidenten gemacht werden sollte, zu verzögern. Von Jagow wurde deshalb nach Abschluß der »Machtergreifung« aus Württemberg »wegbefördert«. Schnabel (wie Anm. 33), S. 182 f. <?page no="463"?> 1933 mit den Stimmen von NSDAP, Bauernbund, DNVP und Christlich-Sozialem Volksdienst im Stuttgarter Halbmondsaal gewählt wurde. Mergenthaler erhielt zunächst das Ministeramt für Justiz und Kultus. Nach einer Art »Kabinettsumbildung« am 11. Mai 1933 wurde er schließlich Ministerpräsident und Kultminister. Diese Positionen sollte er bis zum Ende des »Dritten Reiches« behalten. Mit diesen Machtbefugnissen saß Mergenthaler zweifellos am »kürzeren Hebel«. Als Ministerpräsident war er zunächst der geschäftsführende Leiter des Ministerkollegiums. Hier wurden in erster Linie die Landesgesetze debattiert, was gerade in den ersten Tagen der »Machtergreifung« noch von einiger Bedeutung war. Als es im Zuge der »Gleichschaltung« beispielsweise um die württembergische Gemeindeordnung ging und ein Gesetz zur vorläufigen Regelung der Gemeindeverwaltung verabschiedet werden sollte, setzte sich Mergenthaler in der Sitzung vom 1. Juni 1933 gegen den auf Landestradition pochenden Staatssekretär Waldmann für die konsequente Durchsetzung des Führerprinzips auch in den unteren Verwaltungsebenen ein. 91 Eine Woche später rechtfertigte er diese typisch nationalsozialistische Befehlshierarchie vor dem Landtag. »An die Stelle von endlosen Behandlungen muß die Arbeit von sachkundigen Persönlichkeiten treten, die von der Sache etwas verstehen, über die sie zu entscheiden haben.« 92 Dementsprechend entließ er in seinem Kultministerium auch zahlreiche Beamte auf der Grundlage des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, behielt allerdings einige der leitenden Beamten im Dienst, obschon diese keine Mitglieder der NSDAP waren, wie zum Beispiel seinen Ministerialdirektor Dr. Robert Meyding. Dies war vermutlich ein Gebot der Stunde, standen doch nach wie vor nicht genügend (fähige) Parteigenossen als »sachkundige Persönlichkeiten« zur Verfügung. 93 Den Leitern der Behörden, die nicht Parteimitglieder waren, wurden aber Nationalsozialisten als politische »Berater« an die Seite gestellt. In der Ausübung seiner Amtsgeschäfte wurde Mergenthaler folglich damit konfrontiert, daß einerseits einige engstirnige »Nazis« in der Durchführung seiner Verordnungen eine eigenständige, rigorose Dynamik entwikkelten 94 , daß aber andererseits auch Beamte wie Meyding versuchten, den harten Kurs des Ministers in der praktischen Auslegung zu mäßigen. 95 In der gleichen Sitzung des Ministerkollegiums vom 1. Juni 1933 wurde unter Mergenthalers Führung der von ihm gestellte Antrag beschlossen, die staatliche Unterstützung für die »israelitische Religionsgemeinschaft« zu streichen. In Baden ließ man sich hierzu noch bis 1938 Zeit. 96 Mergenthaler begründete sein übereiltes Michael Stolle 462 91 Mergenthaler betonte vor allem den Einfluß, den die Ortsvorsteher einnehmen sollten. Vgl. hierzu: HSTAS E130b Bü. 991. 92 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 5. ordentlichen Landtag, 1. Sitzung, 8. Juni 1933, S. 4. 93 Schnabel (wie Anm. 18), S. 49. 94 Siehe Kieß (wie Anm. 24), S. 293 ff. 95 Siehe hierzu die Beweisführung im Spruchkammerverfahren von Meyding: STALB EL 902/ 20; 37/ 6/ 4627. <?page no="464"?> Vorgehen vor dem Landtag damit, daß es nicht mehr möglich sei, »angesichts der Einstellung des neuen deutschen Staates zu einer artfremden Rasse« 97 weiterhin solche Unterstützungen zu gewähren. Mit seiner antisemitischen Überzeugung hielt Mergenthaler also nie hinter dem Berg. Dies wurde auch in einer Rede zur Eröffnung der neuberufenen Württembergischen Kommission für Landesgeschichte (6. März 1937) deutlich, in der er forderte, die Inangriffnahme einer Rassen- und Siedlungsgeschichte Schwabens sei für die Kommission vordringlich. 98 Sein praktizierter Antisemitismus hielt sich dagegen in den »Grenzen« verbaler Drohungen und Verwaltungsanordnungen seines Ministeriums. Bereits im Juni 1933 ließ er die beiden öffentlichen jüdischen Volksschulen in Württemberg in Privatschulen umwandeln und entzog ihnen jede staatliche Zuwendung. Außerdem versetzte er die Lehrkräfte in den Ruhestand. 99 Nur wenige Tage nach dem Novemberpogrom 1938 verbot Mergenthaler dann den württembergischen Juden per Erlaß den Besuch von »deutschen« Schulen. An Pogromen selbst und an Deportationen war er jedoch nicht direkt beteiligt. In seinem Spruchkammerverfahren gab er sich später - daraufhin befragt - daher auch völlig ahnungslos. 100 Diese Ahnungslosigkeit erscheint jedoch wenig glaubhaft, setzte er sich doch 1942 »angesichts der Entwicklung der Judenfrage« 101 dafür ein, die bisher noch gewährten Unterhaltszuschüsse für diejenigen Juden, die nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen worden waren, nunmehr vollends zu streichen. Daneben fungierte er de jure bei der Beschlußfassung des Staatshaushaltes und der Landesgesetze. Mit zunehmender Etablierung der nationalsozialistischen Herrschaft hingen jedoch die Entscheidungen der Landesregierung von der »Verkündung« durch den Reichsstatthalter ab, wenn sie nicht ohnehin vorher auf Reichsebene schon entschieden und beschlossen worden waren. War es dem Ministerpräsidenten bis 1939 wenigstens möglich, auf seine Rechte zu pochen, so gingen die Befugnisse mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges endgültig auf den Reichsstatthalter über, der nun zusätzlich zum Reichsverteidigungskommissar im württembergischen Wehrkreis 102 ernannt wurde. Das Ministerkollegium trat in Kriegszeiten nicht mehr zusammen, der Beamtenapparat des Staatsministeriums wurde abgebaut. Mergenthaler besaß als Ministerpräsident nur noch weniger wichtige Aufgaben, wie zum Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 463 96 Sauer, Paul (Bearb.), Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 - 1945, Teil 1, Stuttgart 1966, S. 264. 97 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 5. ordentlichen Landtag, 1. Sitzung, 8. Juni 1933, S. 6. 98 Leipner, Kurt (Hrsg.), Chronik der Stadt Stuttgart 1933/ 45 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart 30), Stuttgart 1982, S. 364. 99 »NS-Kurier«, 7. Juni 1933, S. 2. 100 STASIG Wü 13 Nr. 648. 101 Schreiben Mergenthalers an den Reichsminister des Innern und den Reichsminister der Finanzen, 31. Januar 1942, in: STALB E 131, Ablief. 1958 II D, 1/ 30. 102 Reichsverteidigungsgesetz vom 1. September 1939, RGBl 1939 I, S. 1539. Vgl. Hüttenberger (wie Anm. 73), S. 152 ff. <?page no="465"?> Beispiel die Oberaufsicht über das Staatsarchiv, die Regierungsbücherei und den »Staatsanzeiger«, der auf Betreiben Murrs ab 1. Januar 1935 als Beilage des »NS-Kuriers« erschien. Ihm blieb vor allem sein Amt als Kultminister, für dessen Ausübung er allein sein Gehalt bezog. Dennoch rückte ihn der Titel des Ministerpräsidenten, vor allem für Außenstehende, in eine prominentere politische Position, als dies der »Nur-Minister« hätte erreichen können. Die evangelische Landeskirche beispielsweise wandte sich in den Auseinandersetzungen um die Stellung der Kirche im »Dritten Reich« nicht an den Kultminister, sondern an den Ministerpräsidenten Mergenthaler. 103 Größeren Einfluß auf das landespolitische Geschehen konnte er tatsächlich als Kultminister ausüben. Hier war er vor allem für die Schul- und Kirchenpolitik Württembergs verantwortlich 104 , bei der er nationalsozialistische Prinzipien zu verwirklichen suchte. In seinem Vorgehen war er stets an Vorgaben des Reichserziehungsministeriums und des Reichskirchenministeriums gebunden. Deren Umsetzung in Württemberg hing darüber hinaus von der Auseinandersetzung mit dem Reichsstatthalter Murr ab, der jeweils seinen eigenen Vorstellungen zum Durchbruch verhelfen wollte. Mergenthaler besaß jedoch Ehrgeiz, Schroffheit und Starrsinn genug, um seine Anliegen nach Schulmeisters Art durchzubringen. Häufig war er dabei in seinem politischen Handeln und seinen Erlassen den Entwicklungen im Reich sogar voraus. Trotzdem brachte er allzu oft nicht die Courage auf, die von ihm angeordneten Maßnahmen vor den Betroffenen als eigene Politik zu vertreten, sondern gab statt dessen vor, den Anordnungen anderer Befehlsinstanzen Folge leisten zu müssen. 105 Bei einer Tagung der Leiter der höheren Schulen Württembergs im Jahr 1937 stellte er zur Entwicklung der Schulpolitik allgemein fest: »Die Notwendigkeit der Totalität [verlangt], alle Einrichtungen des Staates nach nationalsozialistischen Grundsätzen zu gestalten. Dabei kann man entweder revolutionär, wie bei der Gestaltung der neuen Staatsverfassung und der Zerschlagung der Gewerkschaften, oder evolutionär wie bei der Wirtschaft und der Wehrmacht vorgehen. Auch die Schule stellt ein Beispiel der evolutionären Umgestaltung dar.« 106 Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kultminister bereits vier Jahre Zeit gehabt, die ersten »Evolutionen« im »Ländle« herbeizuführen. Von den Lehrern verlangte Mergenthaler, anfangs noch zaghaft, dann immer Michael Stolle 464 103 Dies wird nachvollziehbar in den Dokumentationsbänden von Schäfer (wie Anm. 69). 104 Zur den einzelnen politischen Maßnahmen, die Mergenthaler mit »Gründlichkeit, Eifer und Hektik« betrieben haben soll, siehe: Schneider, Karl, Schule und Erziehung, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 121-136, bes. S. 125 ff.; Sauer (wie Anm. 70), S. 207 ff. 105 Diese Haltung ist sehr häufig in seinen Mitteilungen an die evangelische Kirchenleitung zu finden. Siehe Schäfer (wie Anm. 69), beispielsweise Bd. 5, S. 820; Bd. 6, S. 60. 106 Bericht über die Tagung der Leiter der höheren Schulen Württembergs auf der Insel Reichenau Anfang Mai 1937, in: Aus Unterricht und Forschung Heft 5/ 6 (1937), S. 236. <?page no="466"?> vehementer ein deutliches Bekenntnis zum Nationalsozialismus. Schulräten, die politisch auf der Linie der Kommunisten lagen, wurde bereits im März 1933 gekündigt. Aktive Betätigung in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen wurde zu einem Einstellungskriterium für den Schuldienst, das von dem von Mergenthaler ziemlich unabhängigen NS-Lehrerbund mitgetragen wurde. Ein Erlaß des Kultministeriums vom 19. April 1937 erhob - angeblich auf Druck des Reichsstatthalters Murr - die Parteimitgliedschaft für Lehrer endgültig zur Pflicht, noch bevor auf Reichsebene eine ähnliche Verordnung verabschiedet worden war. 107 Daneben wollte Mergenthaler auch im Lehrkörper das Führerprinzip verwirklicht wissen. Seinen ministeriellen Anordnungen war dementsprechend unverzüglich Folge zu leisten. Einsprüche wollte er nicht dulden, so daß Zuwiderhandelnde häufig ohne Disziplinarverfahren strafversetzt wurden. Innerhalb seines Ministeriums wollte er als letzte Entscheidungsinstanz auftreten. Ließ er in einigen Fällen Gnade vor »Recht« ergehen oder bewahrte er einige Personen vor Verfolgungsmaßnahmen anderer Partei- oder Staatsinstanzen, so schreckte er dennoch in seinen Durchführungsbestimmungen nicht vor ungesetzlichen Schritten und vor Anwendung massiven Drucks zurück. 108 Seine ihm eigene Schroffheit und Sturheit verlieh ihm die Typik schulmeisterlicher Amtsführung. Dabei konnte es zu fast schon dramatischen Übersteigerungen kommen. Als ihn eine Abordnung von Eltern aus Ludwigsburg in seinem Ministerium im Juli 1937 unangemeldet besuchen wollte, um den Wunsch nach einer Fortführung des christlichen Religionsunterrichts vorzutragen, vermochte er dem nur mit einem unbeholfenen Schreianfall zu begegnen. 109 Wichtiger als die Personalpolitik war Mergenthaler die Erziehung der Schüler im nationalsozialistischen Sinn. »In der Schule [genügt] es nicht, bloß Wissen zu vermitteln, nein, sondern es ist unser harter und fester Wille, die Jugenderziehung auch in der Schule auf eine neue Grundlage zu stellen und neben dem Fachwissenschaftlichen [...] in einer deutschen Schule voranzustellen die Bildung des Charakters und die Entfaltung und Pflege des Willens. Hinzutreten muß eine sorgsame Pflege der körperlichen Ertüchtigung.« 110 Solche Vorstellungen trug er in zahlreichen Reden vor und veröffentlichte seine Überlegungen in mannigfachen Zeitschriftenaufsätzen. Bei der Einführung eines Schulleiters in Stuttgart am 3. Oktober 1935 äußerte er, die körperliche Ertüchtigung und die nationalpolitische Erziehung seien wichtiger als die fachliche Ausbildung. 111 Auch Anklänge von Darrés Blut- und Boden-Mystik lassen sich bei Mergenthaler nachweisen. So bei der Amtseinführung des Rektors der Stuttgarter TH am 12. Mai 1934, als er der Hochschule die Aufgabe Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 465 107 Reichsverordnung über die Vorbildung und die Laufbahn der deutschen Beamten vom 28. Februar 1939. RGBl 1939 I, S. 371. 108 Siehe die Beweisführung im Spruchkammerverfahren, STASIG Wü 13 Nr. 648. 109 Bericht über den Besuch im Kultministerium, 25. Mai 1937 in: Schäfer, Bd. 5 (wie Anm. 69), S. 742. 110 Verhandlungen des Freien Volksstaates Württemberg auf dem 5. ordentlichen Landtag, 1. Sitzung, 8. Juni 1933, S. 5. 111 Leipner (wie Anm. 98), S. 234. <?page no="467"?> zuwies, den engen Zusammenhang zwischen Volk, Blut und Boden aufzuzeigen. 112 Und bei der Einweihung der Staatlichen Hochschule für Musik am 19. Oktober 1938 sprach er über Wesen und Bedeutung der deutschen Musik sowie ihre »rassenmäßige Bedingtheit«. 113 Es liegt in hohem Maße an dieser nationalsozialistischen Rhetorik, daß Mergenthaler als einer der »radikalen NS-Ideologen« 114 erschien. Die Bemühungen, das Erziehungswesen nach diesen Grundsätzen neu zu ordnen, brachte ihn unausweichlich in Gegensatz zu beiden christlichen Kirchen. Nicht nur, weil sich nationalsozialistische Ideologie und christliche (vor allem katholische) Lehre fundamental unterschieden, sondern auch, weil in Württemberg der schulische Bereich noch nach Konfessionen getrennt war. Die Kirche verfolgte in den Konfessionsschulen eigene Lehrerausbildungen und Erziehungsrichtlinien. Schon im Oktober 1933 führte Mergenthaler deshalb vor den versammelten Lehrkräften am »Tag der schwäbischen Erzieher« in Stuttgart aus, daß es künftig »keine konfessionelle, sondern nur eine deutsche Erziehung« geben werde. 115 Der Kurs war damit klar: Vereinheitlichung des Schulwesens und Simultanisierung der Lehrerbildung. Seit 1934 sorgte er dafür, daß die Privatschulen Zug um Zug aufgelöst wurden. Ein Jahr später bemühte er sich, die deutsche Gemeinschaftsschule als gleichberechtigte Form neben der Konfessionsschule in Württemberg zu etablieren. Reichserziehungsminister Rust erhob jedoch rechtliche Bedenken, als er von Mergenthalers Gesetzentwurf über die Gemeinschaftsschule vom 5. August 1935 116 hörte. Eine landesrechtliche Teilregelung erschien ihm äußerst bedenklich. 117 Nichtsdestotrotz versuchte Mergenthaler, seine Projekte auf eigene Faust zu verwirklichen und dadurch ein »fait accompli« zu schaffen. 118 Dies ließ Württemberg in der Folgezeit nicht selten zum Experimentierfeld nationalsozialistischer Schulpolitik werden. In den Berichten der exilierten SPD-Führung wurde daher auch bemerkt, daß die entsprechenden Schritte ohne eine Mitteilung in der Presse oder sonst in der Öffentlichkeit eingeleitet wurden. Mergenthalers Schulpolitik führte zwangsläufig in den Konflikt mit den Kirchen, deren völlige Trennung vom Staat er anstrebte. 119 Dabei hatte er sich in seinen Landtagsreden vor der Machtergreifung sowohl für die Gewährung der Staatsleistungen an die Kirchen als auch für die Beibehaltung der konfessionellen Schule eingesetzt. 120 Auch als Landtagspräsident hatte er sich kooperationsbereit gegeben. Jetzt Michael Stolle 466 112 Leipner (wie Anm. 98), S. 123. 113 Leipner (wie Anm. 98), S. 521. 114 Schnabel (wie Anm. 33), S. 590. 115 Staats-Anzeiger für Württemberg Nr. 253, 30. Oktober 1933, S. 5. 116 »Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Volksschulgesetzes«, in: HSTAS E 130b, Bü. 1479/ Bl. 229. 117 Schnabel (wie Anm. 33), S. 494. 118 Deutschland-Berichte der Sopade 3 (1936), Frankfurt/ Main 1980, Bericht Juni 1936, S. 762 f. 119 Besprechung zwischen dem Reichskirchenminister und den Vertretern der Länder vom 8. August 1935, abgedruckt in Conway, John S., Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933 - 1945. Ihre Ziele, Widersprüche, Fehlschläge, München 1969, S. 355 ff., hier S. 357. <?page no="468"?> wurde rasch deutlich, daß diese Haltung blanker Opportunismus war, der der eigenen Partei den nötigen Zuspruch bei den Wählern sichern sollte. In seiner Regierungserklärung am 8. Juni führte er aus, »die württembergische Regierung [lehne] jeden Gedanken an Kulturkampf restlos und schärfstens ab. Dafür müssen natürlich die Kirchen zur nationalen Erhebung eine positive Stellung einnehmen, was eigentlich selbstverständlich ist«. 121 Seine scheinbare Neutralität war also an von ihm bestimmte Bedingungen geknüpft. Folgten die Kirchen nicht seinem »Empfehlungen«, so mußte er sie als Schulmeister bestrafen, daraus resultierte seine kirchenfeindliche Politik. Aus der evangelischen Kirche trat er allerdings erst in den späten 30er Jahren aus. 122 Stellte er dabei auch sein Fähnchen nach dem »Wind in den obersten Regionen«, wie Theophil Wurm, der damalige evangelische Landesbischof später vermutete 123 , so stimmten aber doch auch die neuheidnischen Gedanken sozialistischer und rassenpolitischer Prägung durchaus mit eigenen Vorstellungen überein. Ob man ihm gleichwohl eine »im Grunde religiöse Einstellung« zubilligen kann, wie neuerdings dargelegt wurde 124 , ist eher fraglich, da sowohl Kirchenbesuche wie auch spätere Entlastungsaussagen vor dem Spruchkammergericht keine hinreichenden Indizien dafür sein können. Mergenthaler bleibt in dieser Hinsicht an seinen politischen Taten gegenüber den Kirchen und an seinen Aussagen über die nationalsozialistische Weltanschauung zu messen. Seine anfangs propagierte Nichteinmischung 125 in kirchliche Angelegenheiten wurde nicht lange aufrecht erhalten. Erstes Zeichen dafür war, daß er als Kultminister am 14. November 1934 vom Staatsministerium, also letztlich von sich selber als Ministerpräsident, verlangte, disziplinarische Maßnahmen gegen jene Richter einzuleiten, die sich gegen das Eingreifen der Deutschen Christen in die evangelische Landeskirche in einem Gerichtsurteil ausgesprochen hatten. 126 Mit der Zurückdrängung der kirchlichen Beteiligung am Schulunterricht und der Abschaffung der Konfessionsschulen verschärfte sich dann seine Gangart in der direkten Auseinandersetzung mit der Kirche. Er kürzte die staatlichen Zuwendungen an die Kirche und beschuldigte diejenigen, die sich gegen die Einführung der Gemeinschaftsschule sträubten, »Sabotagearbeit am Nationalsozialismus« 127 zu betreiben. Im April 1936 Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 467 120 Wurm (wie Anm. 75), S. 140. 121 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 5. ordentlichen Landtag, 1. Sitzung, 8. Juni 1933, S. 6. 122 Die Angaben über Mergenthalers Austrittsjahr schwanken zwischen 1937 und 1941, Kieß (wie Anm. 24), S. 320. 123 Wurm (wie Anm. 75), S. 140. 124 Kieß (wie Anm. 24), S. 319. 125 Mergenthaler schrieb am 21. November 1933 in einem Brief an Theophil Wurm: »In die Einzelheiten der Auseinandersetzung möchte ich mich naturgemäß nicht einmischen. Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß bald ein gutes Verhältnis zwischen der Landeskirche und der Glaubensbewegung deutscher Christen in Württemberg hergestellt wird. Mit deutschem Gruß und Heil Hitler! « Schäfer, Bd. 2 (wie Anm. 69), S. 895. 126 Der Wortlaut des Schreibens ist abgedruckt in: Schäfer, Bd. 3 (wie Anm. 69), S. 643. <?page no="469"?> wurde die erste große Gemeinschaftsschule in Stuttgart eröffnet. Noch ließ Mergenthaler die Konfessionsschulen daneben bestehen und lockte die Eltern der Schüler mit dem Versprechen, daß der Religionsunterricht auch in der Gemeinschaftsschule konfessionell getrennt ausgeübt werden würde 128 ; auf Widerstrebende, vor allem auf katholische Eltern, mußte dabei gehöriger Druck ausgeübt werden. Auch der Protest der katholischen Kirche von seiten des Rottenburger Bischofs Sproll hielt Mergenthaler nicht davon ab, im Zusammenspiel mit örtlichen nationalsozialistischen Organisationen und Gemeindebehörden unter Verstoß gegen das Reichskonkordat die Konfessionsschulen weiter zu bedrängen. 129 Am 4. Juni 1937 wurde die letzte Bekenntnisschule aufgehoben. Mit der Durchsetzung der Gemeinschaftsschule schien die Grundlage dafür geschaffen zu sein, die Lehrinhalte in Württemberg auf neue Grundlagen zu stellen. Der Schulmeister war außerordentlich bemüht, den christlichen Religionsunterricht an den Schulen weitestgehend zu verdrängen. So verbot er Inhalte, die der nationalsozialistischen Weltanschauung entgegenstanden. Am 28. April 1937 gab er im Alleingang unter Berufung auf Artikel 24 des Parteiprogramms der NSDAP einen Erlaß 130 heraus, der für weitere Schritte grundlegend sein sollte: »Stoffe, die dem Sittlichkeitsempfinden der germanischen Rasse widersprechen, [sind] im Unterricht nicht zu behandeln.« 131 Zu diesen Stoffen sollte auch das Alte Testament gehören. Nicht nur, daß damit geltendes Recht gebrochen wurde, die besondere Brisanz erhielt diese Verfügung dadurch, daß mittelbar mit ihr die Forderung nach einem Treuegelöbnis auf den »Führer« verbunden wurde. 132 Mergenthaler konnte also einen Doppelschlag gegen den Religionsunterricht führen. Zum Verbot alter Inhalte kam die Entlassung zahlreicher Lehrer, die sich den neuen Vorstellungen nicht geneigt zeigten und den Eid auf den Führer nur unter Vorbehalt ablegten. Diesen wurde das Recht entzogen, weiterhin Religionsunterrichts zu erteilen. 210 katholische und 800 evangelische Geistliche waren davon betroffen. 133 Nachdem der Religionsunterricht damit bereits beschnitten worden war, ging Mergenthaler nun daran, den Weltanschauungsunterricht an seiner Statt einzuführen. Am 5. April 1939 ließ er verkünden: »Die weltanschaulichen Auseinanderset- Michael Stolle 468 127 Meier, Kurt, Der evangelische Kirchenkampf Bd. 2, Göttingen 1976, S. 326. 128 Thierfelder, Jörg, Die Auseinandersetzungen um Schulform und Religionsunterricht im »Dritten Reich« zwischen Staat und evangelischer Kirche in Württemberg, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich, Teil 1, hrsg. v. M. Heinemann, Stuttgart 1980, S. 230-250, hier S. 235. 129 Mergenthaler wies die vom Bischof erhobene feierliche Verwahrung vom 8. April 1936 auf das schärfste zurück (Schreiben an Sproll, 20. Mai 1936), siehe Hagen, August, Geschichte der Diözese Rottenburg Bd. 3, Stuttgart 1960, S. 305. 130 Erlaß des Kultministeriums, 28. April 1937, abgedruckt in: Schäfer, Bd. 5 (wie Anm. 69), S. 737 f. 131 Schäfer, Bd. 5 (wie Anm. 69), S. 737. 132 Auf Anordnung des Reichserziehungsministeriums vom 18. März 1937 sollten alle Geistlichen, die ohne Berufung ins Beamtenverhältnis Religionsunterricht an öffentlichen Schulen erteilten, ein Treuegelöbnis auf den »Führer« ablegen. Thierfelder (wie Anm. 129), S. 238 f. 133 Hagen (wie Anm. 129), S. 337 ff. <?page no="470"?> zungen unserer Tage haben zur Abmeldung zahlreicher Kinder vom Religionsunterricht geführt, und werden zu weiteren Abmeldungen führen. Für alle Schüler(innen), die den Religionsunterricht auf Wunsch ihrer Eltern nicht mehr besuchen, hat der Kultminister weltanschaulichen Unterricht eingerichtet. Dieser Unterricht dient der nationalsozialistischen Erziehung der deutschen Jugend und soll die Jungen und Mädchen an die letzten und tiefsten Fragen heranführen.« 134 Diese letzten und tiefsten Fragen waren zutiefst antichristlich, von Rassegedanken und altgermanischer Frömmigkeit durchtränkt und zeigten in ihrem deutsch-völkischen Element den Einfluß von Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts«. 135 In Württemberg fand der Weltanschauungsunterricht wenig Anklang, nahmen doch gerade deshalb viele Eltern ihre Kinder aus dem Religionsunterricht, um dem vom Nationalsozialismus verwässerten Unterricht zu entgehen. Mergenthaler mußte eine Werbekampagne starten, nicht ohne dabei Repressalien anzudrohen. 136 Die Parteileitung vermochte zu diesem Thema keine einheitliche Auffassung zu vertreten. Der Reichskirchenminister sprach sich gegen den Weltanschauungsunterricht aus, der Reichserziehungsminister genehmigte seine versuchsweise Einführung. Während Bormann die Pläne Mergenthalers vermutlich unterstützte 137 , hielt sie Heß in einem Schreiben an Göring am 18. April 1940 zu diesem Zeitpunkt für wenig glücklich. 138 Zu Zeiten des Weltkrieges sollte jede Unruhe vermieden werden, die die Volksgemeinschaft stören konnte. Wilhelm Murr machte sich diese Auffassung einmal mehr zu Nutzen, um gegen seinen alten Widersacher Mergenthaler vorzugehen und dessen Handlungsspielraum zu begrenzen. 139 Den übrigen Zuständigkeitsbereichen seines Ministeriums versuchte Mergenthaler kein eigenes Gepräge zu verleihen. Soweit seine ministerielle Tätigkeit nachvollziehbar ist, belegt sie die pflichtgetreue Ausführung der reichspolitischen Vorgaben. Vor dem württembergischen Presseverband stellte er beispielsweise am 21. Mai 1933 fest, daß die Journalisten und Verleger auf dem Boden des neuen Staates stehen müßten. Eine absolute Pressefreiheit könne es nicht mehr geben. »Es gibt nur eine Freiheit im Rahmen der Verantwortlichkeit, in der Gebundenheit an eine höhere Idee und diese Idee wird heute dargestellt durch das Gedankengut der nationalsozialistischen deutschen Revolution.« 140 Mergenthaler unterstütze auf diese Weise die Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 469 134 Abgedruckt bei Hagen (wie Anm. 129), S. 347 f. 135 Thierfelder (wie Anm. 128), S. 243 ff. 136 Es hieß, der »Führer« wünsche den Weltanschauungsunterricht und die Kinder würden im Weigerungsfall im Zeugnis benachteiligt. Kinderhilfe und Winterhilfswerk fallen weg; es gebe nur ein Entweder-Oder, jüdisch-mosaische Lehre oder nationalsozialistische Weltanschauung. Hermelink, Heinrich (Hrsg.), Kirche im Kampf. Dokumente des Widerstandes und des Aufbaus in der Evangelischen Kirche Deutschlands von 1933 bis 1945, Tübingen, Stuttgart 1950, S. 586. 137 Hermelink (wie Anm. 136), S. 589 f. und Eilers, Rolf, Die nationalsozialistische Schulpolitik. Eine Studie zur Funktion der Erziehung im totalitären Staat, Köln, Opladen 1963, S. 27. 138 Das Schreiben ist abgedruckt in Conway (wie Anm. 119), S. 372 ff. 139 Erlaß Murrs vom 16. September 1939, der dem Kultminister Zurückhaltung bei der Durchsetzung des Weltanschauungsunterrichts auferlegte, Schäfer, Bd. 6 (wie Anm. 69), S. 691. <?page no="471"?> geforderte totale Erfassung des Volkes. Beim 15. Deutschen Turnfest im Juli 1933 hielt er die Eröffnungsrede und geriet in pseudo-religiöses Schwärmen: »Seid einig im Glauben an Deutschland, ein Wille beseele euch, eine Sehnsucht brenne in euch und ein Glaube lodere in euch und er heiße: Deutschland über alles.« 141 Solche Töne finden sich des öfteren bei ihm. Damit unterschied er sich nicht von den anderen nationalsozialistischen Machthabern. Mergenthaler »begleitete« die Bewohner Württembergs durch die Friedensjahre des »Dritten Reiches« mit zahlreichen Reden, Stellungnahmen und Kommentaren zu innen- und außenpolitischen Ereignissen. Nach Ausbruch des Weltkrieges meldete er dann Hitler im September 1939: »Schwaben zu höchstem Einsatz bereit.« 142 Sein »Einsatz« war es, die Stellung in der württembergischen Staatsverwaltung zu halten, obschon sie angesichts der Priorität der außenpolitischen, kriegerischen Ereignisse und durch die oben bereits erwähnte »Kaltstellung« durch Murr nicht mehr das Gewicht der dreißiger Jahre besaß. Die großen und kleinen politischen Schritte hatte der Ministerpräsident und Kultminister zu dieser Zeit bereits schon eingeleitet. Zu den letzteren gehören sicherlich seine »kulturschöpferischen« Arbeiten als Minister: Er diktierte den öffentlichen Kulturinstitutionen wie dem württembergischen Landestheater oder der Kunstakademie in Stuttgart neue Leiter zu. 1938 ernannte er zum Beispiel Fritz von Graevenitz zum Leiter der Kunstakademie, weil sich »Soldat und Künstler in dieser Person harmonisch vereinen« 143 , ließ alle nach nationalsozialistischer Auffassung nicht mehr lesenswerten Bücher, deren Verbrennung er 1933 abgelehnt hatte 144 , aus dem öffentlichen Leihverkehr der Landesbibliothek entfernen und in einen »Giftschrank« einschließen und stiftete 1935 den Schwäbischen Schrifttumspreis, der fortan jährlich verliehen wurde. Seine Aufgaben als Kultminister nahm er sehr ernst, daran änderten seine verminderten öffentlichen Auftritte in der württembergischen Öffentlichkeit zu Kriegszeiten nur wenig. Noch kurz vor dem militärischen Zusammenbruch setzte er sich für die unbedingte Durchführung des durch Luftangriffe und Behördenauslagerungen gestörten Unterrichts ein, wie ein Beispiel aus Weinsberg im Kreis Heilbronn zeigt. 145 Der obersten NS-Führung blieb er dabei immer ergeben. Zum Geburtstag des »Führers« hielt er meist eine Ansprache und übermittelte noch 1945 ein persönliches Glückwunschtelegramm nach Berlin. Bis zuletzt war er dem nationalsoziali- Michael Stolle 470 140 Leipner (wie Anm. 98), S. 34. 141 Leipner (wie Anm. 98), S. 49. 142 Zelzer (wie Anm. 88), S. 173. 143 Zelzer (wie Anm. 88), S. 324. 144 Mergenthaler unterstützte Gerhard Schumann, den Führer des Tübinger SA-Studentensturms, als dieser zum Verzicht der Bücherverbrennung mißliebiger Autoren aufgefordert hatte. Siehe: Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 109. 145 In der Oberschule in Weinsberg sollte das Landratsamt untergebracht werden. Mergenthaler setzte sich an Ort und Stelle für die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs dort ein. Vgl. Schnabel (wie Anm. 33), S. 590. <?page no="472"?> stischen Staat treu ergeben und »kämpfte« für seine Erhaltung. 146 Dieses Verhalten läßt eigentlich nicht den Schluß zu, daß er »Hitlers Defizite erkannt« haben soll. 147 Im privaten Bereich führte Mergenthaler ein einfaches, bescheidenes Leben, das sich an dem Ehrgeiz, dem Pflichtbewußtsein und der Arbeitsamkeit des eigenen Wesens aufrichtete. Es lag ihm fern, seine Machtstellung persönlich auszunutzen. Er war eher der Typ des Asketen, der keine private oder wirtschaftliche Bevorteilung brauchte. Andere, mißliebige Personen zu benachteiligen, war dem Schulmeister dagegen nicht fremd. Als der Sohn des ehemaligen württembergischen Staatspräsidenten Dr. Johannes Hieber auf einen Lehrstuhl der TH Stuttgart berufen wurde, legte Mergenthaler persönlich Verwahrung dagegen ein. 148 Er wehrte sich aber auch gegen die Versuche seiner Parteikollegen, sich Privilegien zu verschaffen. Als Göring ein Gemälde aus der Staatsgalerie für seinen Privatbesitz beanspruchte, verweigerte er ebenso seine Zustimmung wie bei Murrs Ansinnen, eine Burg als »Lustschloß« für die Regierung zu erwerben. 149 Er konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Dennoch, jede Art von besonderer Bevorzugung scheint Mergenthaler zuwider gewesen zu sein. Hierin war er vermutlich im guten Sinn seiner »einfachen« Herkunft verpflichtet. Nicht anders ist es zu verstehen, daß er, als er von dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 hörte, zutiefst empört geschrien haben soll: »Natürlich diese von, von, von [...].« 150 Als sich im April 1945 die alliierten Truppen Stuttgart näherten, entschloß sich Christian Mergenthaler wie viele andere zur Flucht nach Süden. In seiner SA-Obergruppenführeruniform mit umgeschnalltem Koppel und geschultertem Tornister, auf den ein Stahlhelm gebunden war, verließ er die Landeshauptstadt. 151 Sein Weg führte ihn ins Allgäu, wo er am 28. Mai 1945 in Hinterstein bei Hindelang gefangengenommen wurde. Es folgte die Inhaftierung in verschiedenen Lagern im Bodenseeraum: Zunächst war er in Fischbach bei Friedrichshafen interniert, von wo aus er im Oktober 1945 nach Kressbronn verlegt wurde. Dort konnte er kurze Zeit als Physiker in einem Forschungsinstitut für Feinmeßtechnik für die französische Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 471 146 In dem Neujahrsglückwunsch an Hitler vom Januar 1945 schrieb Mergenthaler: »Wir alten Kämpfer sind wie einst an Ihre Seite getreten, als Deutschland zusammengebrochen darniederlag. Deshalb kann kein Rückschlag und keine noch so schwere Belastung in dem weltgeschichtlichen Ringen unserer Tage uns in dem festen Glauben an Sie und an die Zukunft unseres Volkes und Reiches wankend machen. Die deutschen Erfolge in der Winterschlacht im Westen zeigen unseren haßerfüllten Gegnern, daß Deutschland niemals kapitulieren, sondern bis zum Letzten um seine Freiheit und sein Lebensrecht kämpfen wird.« Regierungs-Anzeiger für Württemberg 1945 Nr. 1, 5. Januar 1945, S. 1. 147 Kieß (wie Anm. 24), S. 331. 148 Kißener, Michael: Verfolgung - Resistenz - Widerstand. Südwestdeutsche Parlamentarier in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 95-104, hier S. 99. 149 Beweisaufnahme in Mergenthalers Spruchkammerverfahren, STASIG Wü 13 Nr. 648. 150 Kieß (wie Anm. 24), S. 325. 151 Ströle, Karl, Aus meinem bunten Leben. Erinnerungen für meine Familie zur Feier des 80. Geburtstages aufgeschrieben, Stuttgart 1967, S. 75. <?page no="473"?> Marine arbeiten. 152 Ende Dezember 1945 wurde er aber von einer Militärkommission abgeholt, verhört und mußte fortan wieder im Straflager leben. Am 14. August 1946 wurde er vom Bodensee nach Balingen in das dortige Arbeitslager verlegt. Hier verrichtete er anstandslos zumeist einfache Arbeiten in der Flickstube und leitete die Lagerbibliothek. In seinen »Ausführungen zu einigen grundsätzlichen Fragen der Zeit von 1933 - 1945« 153 , die er im Lager Balingen im April 1948 aufschrieb, zeigte er sich auf dem Stand der aktuellen politischen Ereignisse. Auf der Grundlage von Berichten aus verschiedenen Tageszeitungen gab er Kommentare zum beginnenden »Kalten Kriegs« zwischen den Weltmächten ab, an dem seiner Auffassung nach »das besiegte Deutschland nicht schuld« sei. Zu tieferer Reflexion über die politische Entwicklung Deutschlands seit Hitlers »Machtübernahme« und seine eigene Beteiligung an der verbrecherischen Diktatur war der Schulmeister jedoch nicht in der Lage. Zwar stellte er fest, daß der Glaube, »daß Hitler die richtigere Einsicht habe, [...] eine Täuschung war; denn am Ende stand der furchtbarste Zusammenbruch in der deutschen Geschichte.« Doch schränkte er im Anschluß daran sogleich ein, daß auch »[...] Roosevelt, Truman, Churchill und Stalin sich nicht auch [...] über die Linien ihrer Politik [getäuscht haben], wenn drei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wettrüsten ohne Beispiel einsetzt und ein Dritter Weltkrieg droht? « 154 Mergenthalers Blickwinkel blieb beschränkt. In seinen rückwärtigen Betrachtungen konnte man zwar den Eindruck gewinnen, daß er einige Handlungen des NS-Regimes bedauerte; daß er »aber auch vieles Verfehlte einsah« 155 , davon kann im Grunde keine Rede sein. Sollte es dafür nach dem bereits Gesagten noch eines weiteren Belegs bedürfen, so wäre schließlich auf sein andauerndes Unverständnis über den Kontakt des nationalsozialistischen Oberbürgermeisters von Stuttgart, Dr. Karl Strölin, zum deutschen Widerstand zu verweisen. 156 In der Stellungnahme zum Entscheidungsvorschlag des Kreisuntersuchungsausschusses Balingen versuchte Mergenthaler, sich ein »sachliches, unparteiisches Handeln« und eine »aufrichtige soziale Gesinnung« zu attestieren. Seine eigene Position im polykratischen Führerstaat spielte er über Gebühr herunter. Zur Rechtfertigung seines Vorgehens bei der von ihm erzwungenen Einführung der Gemeinschaftsschule meinte er immer noch, daß das Elternrecht gewahrt worden wäre und daß die Kirchen genausoviel Einflußmöglichkeiten wie die Partei, »vielleicht sogar noch mehr« gehabt hätten. 157 Von einem Eingeständnis eigener Verfehlungen, geschweige denn von einer realistischen Michael Stolle 472 152 Handschriftliche Äußerung Mergenthalers in der Gefangenschaft im Dezember 1945, in: STASIG Wü 13 Nr. 648. Über die Zeit in Kressbronn gibt auch ein Bericht an Theodor Heuss einigen Aufschluß, in: HSTAS EA 3/ 152, Bü. 67. 153 Die Aufzeichnungen sind enthalten in: STASIG Wü 13 Nr. 648. 154 STASIG Wü 13 Nr. 648. 155 Kieß (wie Anm. 24), S. 330. 156 Kieß (wie Anm. 24), S. 325. 157 Mergenthaler an die Lagerspruchkammer Balingen, 19. September 1948, in: STASIG Wü 13 Nr. 648. <?page no="474"?> Einschätzung der vergangenen Jahre war Mergenthaler weit entfernt. Er war und blieb der alte Schulmeister. Von seiner Schuld war auch der Kreisuntersuchungsausschuß für die politische Säuberung überzeugt, der am 1. September 1948 zum letzten Mal in Balingen tagte. Nachdem die Beweisaufnahme und die Zeugenbefragung abgeschlossen waren, stufte das Gremium Mergenthaler als »Hauptschuldigen« ein. Dies war ein nicht eben häufiger Vorgang. Vor der Sonderspruchkammer für die Internierten des Lagers Balingen fand Mergenthalers »Prozeß« dann seinen vorläufigen Abschluß. Noch einmal wurden Zeugen gehört. Mergenthaler forderte mit seinem Anwalt eine Milderung des Urteils des Kreisuntersuchungsausschusses. Dabei erhielt er vom Spruchkammervertreter des Staatskommissariats für die politische Säuberung Unterstützung, der ebenso »angesichts seiner korrekten Lebensführung« die Einstufung in eine niedrigere Gruppe 158 befürwortete. Die Spruchkammer ließ sich jedoch nicht beirren und beschloß, Mergenthaler in die Kategorie der »Hauptschuldigen« einzuordnen. Damit sollte er für die Dauer von dreieinhalb Jahren in ein Arbeitslager eingewiesen werden. Da allerdings die Internierungshaft auf die Zeit angerechnet wurde, konnte Mergenthaler am 4. Januar 1949 das Lager Balingen verlassen. 159 Darüber hinaus aber verlor er fast alle bürgerlichen Rechte, besaß keinen Anspruch auf Pension und durfte weder einer selbständigen noch einer öffentlichkeitswirksamen Arbeit (Lehrer, Redakteur, Schriftsteller etc.) nachgehen. Als der 64jährige im Januar 1949 nach Korntal zurückkehrte, mußte er sein Leben neu ordnen. Beim Einmarsch der alliierten Truppen war sein Haus geplündert und beschädigt worden. Mit der Übersiedelung von der französischen in die amerikanische »Besatzungszone« mußte außerdem sein Spruchkammerurteil noch einmal bestätigt werden. 160 Das Ministerium für die politische Befreiung Württemberg-Baden hielt das Urteil zunächst für zu milde. Tatsächlich wurden zu dem seit 28. Februar 1949 rechtskräftigen Urteil noch weitere Sühnemaßnahmen vom Land Württemberg-Hohenzollern gefordert, wie etwa Wohnungs- und Aufenthaltsbeschränkungen, Verlust aller Approbationen, Konzessionen, Privilegien und der Fahrerlaubnis für einen PKW. 161 Am 30. November 1949 beschloß die Zentralspruchkammer Nord-Württemberg aber, das Verfahren unter Beibehaltung des Urteils einzustellen. Mergenthaler hatte dagegen keine Einwände erhoben. Erst mit einem Gnadenakt des Staatspräsidenten des Landes Württemberg-Hohenzollern vom 12. Mai 1951 erhielt der frühere Ministerpräsident und Kultminister Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 473 158 Protokoll der Spruchkammersitzung, 21. Dezember 1948, Geschäftszeichen: 1/ SO/ KB 347/ 48, STASIG Wü 13 Nr. 648. 159 Das Datum geht aus seiner Spruchkammerakte hervor: STASIG Wü 13 Nr. 648. Klaus Dietmar Henke gibt Weihnachten als Entlassungstermin an. Vgl. Henke, Klaus Dietmar, Politische Säuberung unter französischer Besatzung. Die Entnazifizierung in Württemberg-Hohenzollern, München 1981, S. 41. 160 Darüber liegt ebenfalls eine Spruchkammerakte vor: STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ SV/ 1941. 161 STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ SV/ 1941. <?page no="475"?> schließlich Unterhaltsbeihilfe auf der Grundlage seines früheren Dienstverhältnisses als Studienrat. Zum 1. Juli 1953 wurden die beschlossenen Sühnemaßnahmen dann gänzlich aufgehoben und das volle Ruhestandsgehalt eines Studienrats ausbezahlt. Allerdings handelte es sich auch dabei um »keine Versorgung im beamtenrechtlichen Sinn, sondern lediglich um eine Versorgung im Weg der Gnade«. 162 In der Folgezeit führte Mergenthaler das Leben eines zurückgezogenen Pensionärs. Die von ihm verfaßten Lebenserinnerungen befinden sich noch im Besitz seiner Nachkommen. Daher ist eine Aussage über seine Einstellung zur Bundesrepublik nicht möglich. Am 20. August 1977 wurde der mittlerweile 88jährige in ein Kurstift in Bad Dürrheim eingeliefert. Dort verbrachte der greise »Schulmeister« seine letzten Lebenstage. Christian Mergenthaler starb am 11. September 1980 und wurde auf dem Stuttgarter Hauptfriedhof beerdigt. Bibliographie Quellen Die wichtigsten Quellen liegen in den baden-württembergischen Staatsarchiven. Zu den ersten Lebensjahrzehnten und seiner Tätigkeit als Lehrer ist besonders seine Personalakte im Kultministerium von Interesse (HSTAS EA 3/ 152, Bü 67), aber auch seine Offiziersstammrolle im Karlsruher Generallandesarchiv (GLA 456 Nr. 7927). Im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv befinden sich die nicht sehr zahlreichen, vor der Zerstörung bewahrten Dokumente aus seiner Ministerzeit (HSTAS E 130b und E 200 bzw. E 200b). Akten aus dem Umfeld des Kultministeriums liegen auch in Ludwigsburg (STALB PL 516 Bü 152 und E 202). Aufschlußreich sind die beiden Spruchkammerakten. Die ursprüngliche, unter französischer Verwaltung entstandene Akte liegt in Sigmaringen (STASIG Wü 13 Nr. 648), die später für die amerikanische Besatzungszone angelegte in Ludwigsburg (STALB EL 902/ 14 Bü 29/ SV 1941). Weiterführendes Material, das zwar nur punktuelle, aber dafür bemerkenswerte Informationen liefern kann, ist in folgenden Archiven einzusehen: BA, Abt. III (BDC) und (nun) im BA-Potsdam, früher im BA-Koblenz (NS 22/ 1077; NS 26/ 1400; NS 26/ 591 und R 43II/ 1374 fol.68 ff.). Gedruckte Quellen zu Mergenthalers Aktivitäten in den 20er Jahren findet man (allerdings nicht sehr zahlreich) in dem Sammelwerk Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, München u.a. 1992 ff. Seine Herkunft geht aus der für seine Familie angelegten Ahnentafel hervor; Wilhelm Bauder (Bearb.), Die Mergenthaler. Der Ahnenkreis des Württembergischen Ministerpräsidenten. Leipzig 1939). Mergenthalers Reden sind in zahlreichen Tageszeitungen der damaligen Zeit enthalten, ebenso in den Erziehungsorganen »Der Deutsche Erzieher« und »Unterricht und Forschung«. Michael Stolle 474 162 Die Beschlußfassung hierzu ist in der Personalakte Mergenthalers im Kultministerium enthalten: HSTAS EA 3/ 152 Bü. 67. <?page no="476"?> Literatur In den biographischen Nachschlagewerken fand die Person Mergenthalers bisher wenig Beachtung. Erwähnenswert ist allein der Eintrag im Munzinger-Archiv. Das Verdienst, die biographische Pionierarbeit zu Mergenthaler geschrieben zu haben, gehört Rudolf Kieß, Christian Mergenthaler. Württembergischer Kultminister 1933 - 1945, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 54 (1995), S. 281-332. Fast alle wesentlichen Quellen sind hier erschlossen, das Interesse des Autors liegt allerdings hauptsächlich bei Mergenthalers kultusministerieller Tätigkeit. Christian Mergenthaler, Württembergischer Ministerpräsident, Justiz- und Kultminister 475 <?page no="478"?> *16. Dezember 1888 Esslingen/ Neckar, ev., 1942 Kirchenaustritt, Vater: Michael Murr, Schlosser (1843 - 1903), Mutter: Selma, geb. Müller, verheiratet seit 15. Januar 1920 mit Lina, geb. Halbritter, ein Sohn, der im Krieg Selbstmord beging. Volksschulbesuch, Angestellter im Gießereibüro der Maschinenfabrik Esslingen, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, mehrfach verwundet, nach dem Krieg Weiterarbeit in der Maschinenfabrik Esslingen, 1930 Berufsaufgabe. 1922 Mitglied der NSDAP, August 1925 Wiedereintritt in die NSDAP (Mitgliedsnr. 12.873), Propagandaleiter und Ortsgruppenleiter in Esslingen, Februar 1928 Gauleiter, 15. März 1933 württembergischer Staatspräsident, Mai 1933 Reichsstatthalter, 1. September 1934 SS-Gruppenführer, 1. September 1939 Reichsverteidigungskommissar, 1. Januar 1942 SS-Obergruppenführer. 20. April 1945 Flucht aus Stuttgart, gest. 14. Mai 1945 Vorarlberg, Selbstmord. Im Mai 1945 wurde ein gewisser Walter Müller zusammen mit seiner Frau auf dem Friedhof eines kleinen Städtchens in Vorarlberg in einer schlichten Zeremonie beerdigt, nachdem sich das Ehepaar mit Giftampullen das Leben genommen hatte. Nur scheinbar war dieser Doppelselbstmord eines der vielen tragischen Schicksale des Zweiten Weltkrieges. Denn wenige Monate später kam ans Tageslicht, daß sich hinter dem Aliasnamen Müller der ehemalige nationalsozialistische Gauleiter Württembergs, Wilhelm Murr, verbarg, der seit Mitte der 20er Jahre treuer Anhänger des »Führers« Adolf Hitler gewesen war und bis in den April 1945 seinen Gau mit eiserner Hand geführt hatte. Trotz seines hohen Parteiranges war Murr jedoch eine merkwürdig farblose Gestalt im Spektrum nationalsozialistischer Persönlichkeiten geblieben: Ein politisch unbedeutender Abenteurer, der, den Zipfel der Weltge- »Der Mann aus dem Volk« Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern Joachim Scholtyseck Wilhelm Murr 477 <?page no="479"?> schichte umklammernd, für zwölf Jahre Furcht, Schrecken und Elend im deutschen Südwesten verbreiten konnte, ehe er, genauso plötzlich wie er die politische Bühne betreten hatte, von ihr wieder verschwand. Wilhelm Murr wurde am 16. Dezember 1888 in Esslingen am Neckar als Sohn eines Schlossers geboren. In der schwäbischen Mittelstadt wuchs er in Verhältnissen auf, die später als »arm und kärglich« bezeichnet worden sind. Mit 14 Jahren verlor er innerhalb eines Jahres beide Eltern. 1 Nach einer kurzen Schulphase - er besuchte lediglich die Volksschule bis zur 7. Klasse - begann er eine kaufmännische Ausbildung und Tätigkeit, die vom Militärdienst unterbrochen wurde. Seine militärische Ausbildung absolvierte er von 1908 bis 1910 beim württembergischen Infanterie-Regiment 125. Als kaufmännischer Angestellter arbeitete er anschließend bei der Esslinger Maschinenfabrik. Den Weltkrieg erlebte er zunächst mit dem Reserve-Infanterie-Regiment 120 in den Vogesen. Im Juni 1915 wurde er verwundet und kehrte nach Esslingen zurück. Kaum genesen, zog er drei Monate später mit dem Füsilier- Regiment 122 an die Front zurück, diesmal als Brigadeschreiber in Serbien. 2 In den folgenden Kriegsjahren war er mehrfach im Fronteinsatz: auf dem Balkan, in Galizien und an der Westfront. Sein Kriegsschicksal entsprach demjenigen vieler Soldaten, die die Grausamkeiten des Krieges erlebten und für die der Krieg das prägende Erlebnis ihres Lebens wurde. Murr kämpfte an allen Fronten, wurde dreimal verwundet und blieb doch, wie ein früher Biograph schrieb, »alle die Jahre hindurch nichts anderes als der namenlose Verteidiger seines Volkes.« 3 Das Kriegsende, wie er es erlebte, wies erstaunliche Parallelen zu den traumatischen Erfahrungen auf, die Hitler später schilderte. Im September 1918 schwer erkrankt, erfuhr Murr, dessen militärische Karriere mit dem Rang eines Vizefeldwebels beendet war, vom deutschen Zusammenbruch im Lazarett in Cottbus. Murr gehörte zu der Generation, für die der Krieg 1918 nicht beendet war. Seit dem deutschen Zusammenbruch widmete er sich dem, was er als Wiederherstellung der deutschen Ehre verstand. Obwohl er 1919 in seinen bürgerlichen Beruf zurückkehrte, war sein Leben nun verändert. Schon vor dem Krieg war er dem »Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband« (DHV) beigetreten. Seine aktive Tätigkeit in diesem 1893 gegründeten Verein, der lange Jahre seine geistige Heimat war, nahm er sogleich nach dem Weltkrieg wieder auf. In einem Lebenslauf verwies Murr ausdrücklich auf seine frühe Beschäftigung mit den Schriften des im DHV polemisierenden Antisemiten Theodor Fritsch. Im DHV, der in Württemberg besonders stark und ein wichtiger Wegbereiter des Nationalsozialismus war 4 , fanden sich verängstig- Joachim Scholtyseck 478 1 Vgl. die Kurzbiographie aus Anlaß des zehnjährigen Gaujubiläums in: »NS-Kurier«, 5./ 6. Februar 1938. 2 BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZM 1455 A.3 Bl. 93; »NS-Kurier«, 5./ 6. Februar 1938. 3 Overdyck, Carl, Wilhelm Murr. Der Reichsstatthalter in Württemberg, in: Die Reichsstatthalter. Ein Volksbuch, hrsg. v. K. Ekkehart, Gotha 1933, S. 20 - 25, hier S. 21. 4 Vgl. Prinz, Michael, Vom neuen Mittelstand zum Volksgenossen. Die Entwicklung des sozialen Status der Angestellten von der Weimarer Republik bis zum Ende der NS-Zeit, München 1986, bes. <?page no="480"?> te Kleinbürger, die im extremen Nationalismus eine Antwort auf die Herausforderungen der Moderne suchten. Murr, der unverblümt einen völkischen Antisemitismus propagierte, entsprach dem Bild des sich bedroht fühlenden Deutschen, ohne den die »nationale Revolution« nicht hätte in Gang gesetzt werden können. 5 Die Forschung über die nationalsozialistische Klientel und Wählerschaft hat zwar inzwischen die lange vorherrschende Überzeugung relativiert, Hitlers Anhänger seien fast ausschließlich im deklassierten Mittelstand zu finden gewesen, aber Murr repräsentierte tatsächlich diesen Prototyp eines »typischen« Gefolgsmannes: Der Kontorist der Maschinenfabrik Esslingen mußte mitansehen, wie die Arbeiterschaft zunehmend an politischem Gewicht gewann, während der Mittelstand in seiner wirtschaftlichen Existenz gefährdet schien - eine Entwicklung, vor der Murrs Idol Theodor Fritsch in seiner Zeitschrift »Hammer« stets prophetisch gewarnt hatte, da sie den Traum einer späteren Selbständigkeit zerplatzen lasse. Die untergeordnete Position eines Verwaltungsangestellten widersprach den Hoffnungen Murrs, der 1922 heiratete und im DHV eine Lebensperspektive erblicken mochte. Aus Murrs sozialer Unzufriedenheit erwuchs eine Aggressivität, die eine einfache Lösung für schwierige Probleme suchte. Völkischer Gedanke und Gegnerschaft zur Sozialdemokratie verbanden sich so zu einer recht wolkigen Idee einer deutscher Sozialpolitik, die fortan sein Steckenpferd wurde. 6 Entsprechend verwies Murr später mit Stolz auf seine Zeit im Handlungsgehilfen-Verband und erklärte, die »DHVer [seien] die Nationalsozialisten der Vorkriegszeit« gewesen. 7 Die eifrige Agitation beschränkte sich jedoch nicht auf das Studium sozialpolitischer Pamphlete. Schon aus dem Jahr 1922 liegt ein Bericht vor, daß Murr lautstark gegen einen Rabbiner protestierte, der in einer Esslinger Versammlung für ein jüdisches Recht auf eine deutsche Heimat geworben hatte. 8 Im gleichen Jahr besuchte er eine Abendveranstaltung der NSDAP. Seit diesem »Erweckungserlebnis« war sein Weg in Richtung Nationalsozialismus vorgezeichnet. Bereits im Sommer 1923 schloß er sich, wie viele andere DHV-Mitglieder auch, der neuen Partei Hitlers an, die allerdings wenig später verboten wurde. Murr entsprach dem Klischee eines typischen NSDAP-Mitglieds: Ein völkisch Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 479 S. 20 f. Vgl. auch Deutschnationaler Handlungsgehilfen-Verband (DHV), in: Lexikon zur Parteiengeschichte Bd 2, hrsg. v. D. Fricke, Köln 1984, S. 457 - 475 und die instruktive Schilderung des Innenlebens des DHV bei Krebs, Albert, Tendenzen und Gestalten der NSDAP. Erinnerungen an die Frühzeit der Partei, Stuttgart 1959; Hamel, Iris, Völkischer Verband und nationale Gewerkschaft. Der Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband 1893 - 1933, Frankfurt/ Main 1967, bes. S. 238 f. 5 Winkler, Heinrich August, Mittelstand, Demokratie und Nationalsozialismus. Die politische Entwicklung von Handwerk und Kleinhandel in der Weimarer Republik, Köln 1972, S. 182. 6 Krebs (wie Anm. 4), S. 26. 7 Zit. nach Genuneit, Jürgen, Völkische Radikale in Stuttgart 1890 - 1925. Zur Vorgeschichte und Frühphase der NSDAP, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Völkische Radikale in Stuttgart, Stuttgart 1982, S. 29. 8 »NS-Kurier«, 5./ 6. Februar 1938. <?page no="481"?> gesinnter kleiner Angestellter, dessen Sorgen vor dem sozialen Abstieg zur politischen Radikalisierung führten. Mit seinem unklaren sozialen Antisemitismus sprach der Nationalsozialismus den »völkisch« denkenden Murr an, der in seiner Provinzialität weder mit der modernen Industriegesellschaft und ihrer »Asphaltkultur« noch mit der Demokratie zurechtkam und auf Adolf Hitler als starken Mann zählte, der Stabilität, Macht und Einigkeit wiederherstellen würde. Ein Bericht der sozialdemokratischen »Schwäbischen Tagwacht« beschrieb die Klientel dieser neuen Bewegung: Ihre Anhänger seien »neben unreifen jungen Menschen aus den höheren Schulen, deutschnationale Handlungsgehilfen, Lehrer an den höheren Schulen, Beamte aus der Gemeinde- und Staatsverwaltung [...], Angehörige des Handwerkertums, des Handels und Unternehmer. Dazu kommen abenteuerlich veranlagte Elemente aus allen Schichten, wie sie nur in der überhitzten Atmosphäre der Zeit nach 1914 gedeihen können.« 9 Wilhelm Murr aus Esslingen paßte in das Schema des rührigen Trommlers für eine Partei, die »sowohl eine Partei des Mittelstandsextremismus als auch der radikalisierten Unpolitischen aller Couleur und sozialen Herkunft, sowohl Heilsauch Protestbewegung« war. 10 Regionale oder landsmannschaftliche Bezüge im Denken Murrs wurden von diesen irrational wirkenden Kräften fast vollständig überlagert. Analysiert man die privaten und öffentlichen Äußerungen Murrs, so erhärtet sich der Eindruck, der Esslinger Angestellte habe fast nur noch für die »Bewegung« gelebt. Seine Orientierungslosigkeit und die Suche nach einem Ausweg aus dem persönlichen Dilemma der Mittelmäßigkeit und dem Empfinden nationaler Schmach verdeckte er durch das Bemühen, die sozialen Wurzeln der »Bewegung« herauszustellen. Wenn er später auf die Anfänge seiner Esslinger Ortsgruppe zurückblickte, legte er stets Wert darauf, daß es die »Handarbeiter« gewesen seien, die den Grundstock des württembergischen Nationalsozialismus gebildet hätten. 11 Im Südwesten Deutschlands stand er mit dieser diffusen Grundstimmung nicht allein. Die NSDAP in Württemberg entwickelte sich seit der Mitte der 20er Jahren zu einer »tonangebenden politischen Kraft.« 12 Das Verbot der Partei nach dem Hitler-Putsch bedeutete wenig mehr als eine Verschnaufpause. Murr trat im August 1925 mit der Mitgliedsnummer 12.873 der neugründeten NSDAP wieder bei. Für Murrs parteipolitischen Einsatz war mitentscheidend, daß in seiner Esslinger Umgebung die angebliche Gefahr einer »Bolschewisierung« besonders groß schien. Als Kaufmann im Gießereibüro der »Maschinenfabrik Esslingen« wurde ihm die Stärke der oppositionellen Kommunisten täglich vor Augen geführt. 13 Obwohl jedoch die »ME« als linke Bastion und in bürgerlichen Kreisen als kommunistisch Joachim Scholtyseck 480 9 Schwäbische Tagwacht, 8. Mai 1923. 10 Falter, Jürgen W., Die erste moderne Integrationspartei? , in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. März 1986. Vgl. ders., Hitlers Wähler, München 1991. 11 »NS-Kurier«, 24. Juli 1931, »Kampf um Eßlingen«. 12 Genuneit (wie Anm. 7), S. 103. 13 Vgl. Borst, Otto, Geschichte der Stadt Esslingen am Neckar, Esslingen 1977, S. 439. <?page no="482"?> unterwandert galt, entwickelte sich der Betrieb in den späten 20er Jahren zu einem Unternehmen, in dem sich die Nationalsozialisten einzunisten begannen. »Nazi hatten wir viele in der ME«, so berichtete rückblickend ein ehemaliger sozialdemokratischer Arbeiter. 14 Murrs Eifer bei der Rekrutierung von Kampfgenossen wurde bald registriert. Eine Arbeiterzeitung kritisierte im September 1927, Murr habe »anscheinend einen Freibrief in der Maschinenfabrik Eßlingen. Seine einzige Aufgabe ist, Hakenkreuzler in den Betrieb zu schmuggeln.« 15 Murrs Aktivitäten waren indessen nicht auf den Arbeitsplatz beschränkt. Seit 1925 war er in der Partei als Propagandaleiter und Ortsgruppenleiter im Dienste Adolf Hitlers unermüdlich im Einsatz. In diesen Jahren konnte von einer straffen Führung innerhalb der verschiedenen Ortsgruppen und Gaue noch nicht die Rede sein. Während organisatorisch in Süddeutschland noch vieles in Bewegung war und ein »Führerwille« noch nicht lenkend eingriff, stand der eigenen Initiative eines willensstarken Parteisoldaten Tür und Tor offen. Dies galt im besonderen Maße für Württemberg, dessen Gau sich in den Jahren nach der Neugründung in einem desolaten Zustand befand. 16 Als Murr in seiner Eigenschaft als Bezirksleiter der Ortsgruppe Esslingen im Jahr 1925 vor wenigen Getreuen sprach, zeigte seine Einschätzung, daß er um die mannigfachen Orientierungsprobleme der NSDAP wußte: »Die nunmehr vergangene Krise unserer Bewegung zeigte uns in aller Klarheit, daß mit Konjunkturrevolutionären nichts anzufangen ist. Deutschlands Wiederaufstieg kann niemals von Männern erkämpft werden, die nur aus Verärgerung zu unserer Bewegung gestoßen sind, sondern nur von Männern, die aus freier Überzeugung Nationalsozialisten geworden sind und als solche bereit sind, immer dem Führer zu folgen. Ob einzelne, die uns verlassen haben, wieder in unsere Reihen zurückkehren, hängt davon ab, ob ihnen die Befreiung des deutschen Volkes von- Versailles, von Juden und Marxisten und damit von der jüdisch-liberalistischen Idee tatsächlich ernst war, oder ob sie nur aus innerer Verärgerung oder um persönlicher Vorteile willen zu unserer Bewegung kamen.« 17 In diesen Jahren einer »konfliktreichen Konsolidierung« 18 der Partei, die eher durch organisatorisches Chaos und persönliche Machtkämpfe als durch einen substantiellen politischen Richtungsstreit von sich reden machte, bemühte sich der Ehrgeiz entwickelnde Murr, die Position des amtierenden Gauleiters in Württem- Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 481 14 Köhle-Hetzinger, Christel, Von der »Roten ME« zur »Braunen ME«. Die Maschinenfabrik Esslingen als Fallbeispiel, in: Von Weimar bis Bonn, Esslingen 1919 - 1949. Begleitband zur Ausstellung, Sigmaringen 1991, S. 2 - 47, hier S. 44. 15 Zit. nach: Weinmayr, Georg, »... unerschrockenes Auftreten der Hakenkreuzler«. Einer der alten Garde kramt in Erinnerungen, in: »NS-Kurier«, 5./ 6. Februar 1938. 16 Vgl. Nachtmann, Walter, Von der Splitterpartei zur Staatspartei. Zur Entwicklung des Nationalsozialismus in Stuttgart von 1925 bis 1933, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Die Machtergreifung, Von der republikanischen zur braunen Stadt, Stuttgart 1983, S. 128 - 156. 17 Zit. nach Weinmayr (wie Anm. 15). 18 Bracher, Karl Dietrich, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1969, S. 146. <?page no="483"?> berg, Eugen Munder, zu untergraben. Munder galt als »wenig tatkräftig« 19 und führte seinen Gau mit einem »fast bürgerlich-demokratischen Vereinsstil«. 20 Murr verstand das byzantinische Gewirr einer wenig professionell geführten Partei, deren mangelnde personelle und organisatorische Struktur später das auffällige Kompetenzenchaos zeitigte, das zu einem charakteristischen Merkmal nationalsozialistischer Herrschaft werden sollte, für seine Ambitionen zu nutzen. Über die genauen Hintergründe dieser Diadochenkämpfe wissen wir wenig, 21 aber es ist eher unwahrscheinlich, daß programmatische Fragen im Vordergrund standen. Es gelang Murr, sich in dem harten Konkurrenzkampf mit seinen Rivalen, zu denen auch der spätere Ministerpräsident Mergenthaler zählte, durchzusetzen. 22 Er konnte durch seine radikalere und skrupellose Vorgehensweise so weit an Einfluß gewinnen, daß Hitler ihm schließlich im Februar 1928, nach internen Querelen der bisherigen örtlichen Parteiführung und dem Rückzug Munders »bis zu einer allgemeinen, späteren endgültigen Regelung« 23 , die Führung der NSDAP in Württemberg-Hohenzollern übertrug. Dieser »Aufstieg« vollzog sich ganz in den Grenzen, die Hitler seinen regionalen Gefolgsleuten setzte. Es ging diesem nicht in erster Linie um die Einsetzung der Unterführer von oben. An der Spitze sollte stehen, wer »durch seine Erfolge auf dem Weg dorthin bewiesen hatte, daß er unter allen in Frage kommenden Kräften der geeignetste Mann für diese Position sei, in der er sich dann durch weitere Leistungen zu bewähren oder aber einem besseren zu weichen hatte.« 24 Murr erwies sich in diesem von Hitler abgesegneten Ausleseverfahren als stärkste Macht vor Ort, da er nicht zuletzt durch seine Propagandaerfahrung alle Rivalen ausschalten konnte. Die Gauleitung in Württemberg wurde nach seiner Ernennung zum Gauleiter von Stuttgart nach Esslingen, dem Wohnort Murrs verlegt. Wie gering Murrs Rolle als lokaler Führer einer Splitterpartei war, zeigte die Rückschau, die der »Völkische Beobachter« zehn Jahre nach diesen Anfängen nicht ohne Stolz seinen Lesern ermöglichte: »Ein Schreibtisch, ein Rollschrank und ein Stuhl - das war das Inventar der Gauleitung, als sie 1928 von Stuttgart nach Eßlingen, dem Wohn- und Arbeitsort des neuen Gauleiters verlegt wurde. Der Kassenbestand mit seinen 57,01 RM sah auch nicht rosiger aus und die Zahl der Parteigenossen (905 in 30 Ortsgruppen) berechtigte ebensowenig zu kühnen Hoffnungen.« 25 In dieser Phase waren die württembergischen Wahlergebnisse für die NSDAP Joachim Scholtyseck 482 19 Heiden, Konrad, Geschichte des Nationalsozialismus. Die Karriere einer Idee, Berlin 1932, S. 202. 20 Hüttenberger, Peter, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP, Stuttgart 1969, S. 14. 21 Vgl. allgemein jedoch Horn, Wolfgang, Führerideologie und Parteiorganisation in der NSDAP (1919 - 1933), Düsseldorf 1972; Orlow, Dietrich, The History of the Nazi Party: 1919 - 1933, Pittsburgh 1969. 22 Vgl. Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 21 f. 23 Faksimile in: Stuttgart im Dritten Reich (wie Anm. 16), S. 141. 24 Tyrell, Albrecht, Führergedanke und Gauleiterwechsel, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 23 (1975), S. 341 - 374, hier S. 346. 25 Völkischer Beobachter (Süddeutsche Ausgabe), 5. Februar 1938. <?page no="484"?> kläglich, nicht zuletzt deshalb, weil die Intrigen, die Murr erst an die Parteispitze gespült hatten, eine ordentliche Parteiarbeit unmöglich machten. Murrs Aufstieg war somit, wie treffend geurteilt worden ist, eher Folge des »Mangels an personellen Alternativen« 26 denn Ausdruck der Wertschätzung seiner Fähigkeiten. Allerdings war Hitler gegen Ende der 20er Jahre zunehmend darum bemüht, die Machtrivalitäten stärker zu kontrollieren. Diese Tendenz kam Murr zugute. Er wurde in einer Zeit Gauleiter, in der die Münchener Parteiführung an kontinuierlicher Aufbauarbeit stärkstes Interesse hatte. 27 Auf lange Sicht machte sich die Beharrlichkeit Murrs bezahlt. Es gelang ihm, stramme Parteisoldaten zu rekrutieren. Zu Beginn seiner Gauleitertätigkeit war sein Wirkungskreis mit seiner geringen Mitgliederzahl noch beschränkt. Trotz schwacher Machtbasis vermochte Murr jedoch, seine Position zu halten. Weder schlechte Wahlergebnisse im Jahr 1928 noch die leeren Parteikassen schädigten seine Stellung. Erfolgreich lenkte er die parteiinternen Gegner gegeneinander und ging aus allen Machtkämpfen als lachender Dritter hervor: 28 Unfreundliche Kritik, die in der Forderung gipfelte, »den gesamten Gau Württemberg aufzulösen und ihn zunächst einmal, bis restlos geordnete Verhältnisse eingetroffen sind, München oder einem anderen benachbarten rührigen Gau zu unterstellen und dabei eine Säuberung vorzunehmen« 29 stießen im »Braunen Haus« auf taube Ohren. Murrs Servilität gegenüber der Münchener Parteizentrale mag hier eine Rolle gespielt haben. Es ist erstaunlich, in welch hohem Maße sich der »Gau Württemberg« den Interessen Hitlers unterordnete. Die geographische Nähe war nicht ausschlaggebend; entscheidend war, daß in der württembergischen NSDAP angesichts der vermeintlich notwendigen »nationalen Erweckung« partikulare Interessen oder Belange des Landes als sekundär eingeschätzt wurden. Bis zum Jahr 1930 stieg die Mitgliederzahl auf 4.500, die Zahl der Ortsgruppen auf 98. Im Oktober 1930 gab Murr seine Anstellung in der Maschinenfabrik Esslingen endgültig auf. Die hauptberufliche Hinwendung zur Partei trug bald Früchte. Im Juli 1932 verfügte die NSDAP bereits über fast 21.000 Mitglieder in 430 Ortsgruppen. Die Finanzlage hatte sich soweit gebessert, daß Murr inzwischen ein eigenes Organ herausgeben konnte, den seit Anfang 1931 erscheinenden »NS-Kurier«. In einer der ersten Ausgabe vorangehenden »Sondernummer« erläuterte er als Herausgeber vollmundig die Aufgabe seines Kampfblattes: Die Zeitung solle zwischen Nationalsozialismus und den »Volksmassen« vermitteln, sie solle aber ebenso »die Ewig-gestrigen ›kurieren‹, gründlich kurieren, die andere zu ihrer eigenen Beruhigung anzulügen die Stirn besitzen, der Nationalsozialismus sei eine bloße Fiebererscheinung.« 30 Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 483 26 Müller (wie Anm. 22), S. 22. 27 Vgl. Tyrell (wie Anm. 24), S. 351 - 353. 28 Vgl. Nachtmann (wie Anm. 16), S. 140 - 146. 29 Der ehemalige Gau-Kassierer Paul Essich an die Reichsleitung der NSDAP, 30. November 1929, zit. nach Nachtmann (wie Anm.16), S. 146. <?page no="485"?> Der Machtzuwachs des Gauleiters rief indessen fortwährend Mißgunst hervor. Besonders die württembergische SA, die sich zunehmend verselbständigt hatte, kritisierte den Ehrgeiz Murrs. Die SA sei der eigentliche Schöpfer des württembergischen Gaues, betonte der für Süddeutschland zuständige stellvertretende SA-Führer August Schneidhuber im September 1930. Es sei die SA, »die seit erdenklichen Zeiten nicht nur SA-Dienst macht, sondern darüber hinaus auch die gesamte politische Aufbauarbeit von sich aus übernommen und erledigt« habe. Gauleiter Murr, mit dem ihn eine herzliche Feindschaft verband, wurde besonders scharf angegriffen als einer derjenigen, die inzwischen »genau das tun und lassen« könnten, »wozu sie Lust« hätten und sogar »eine Art Gottähnlichkeit erreicht« hätten. 31 Trotz solch massiver Kritik machte Murr weiter Karriere. Nach den gewaltigen Stimmengewinnen der Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen im Herbst 1930 wurde er Mitglied des Reichstags für den Wahlkreis 31 Württemberg, was ein nicht unbedeutendes finanzielles Zubrot bedeutete. Zur gleichen Zeit versuchte sein Rivale Christian Mergenthaler durch einen Appell an Himmler, Murr als Gauleiter auszubooten. 32 Murrs Skrupellosigkeit wirkte sich nun positiv aus, denn Mergenthaler war zwar ein fanatischer Nationalsozialist, 33 aber vermochte sich gegenüber der kruden Methode Murrs, nötigenfalls auch mit Gewalt seine Ziele zu erreichen, nicht durchzusetzen. Für Murr sprach zudem die zunehmende Konsolidierung der Partei in den Jahren des Aufstiegs nach 1930. Die inneren Streitigkeiten wurden zwar nicht überwunden, aber doch zumindest so weit überdeckt, daß Propagandamaßnahmen und Außenwirkung nicht beeinträchtigt wurden. Hier war Murr in seinem Metier. Für den finanziell ständig am Rande des Ruins wirtschaftenden »NS-Kurier« reiste Murr in den Jahren 1931 und 1932 in seinem DKW von Kreis zu Kreis, um Gelder aufzubringen: Das notleidende Kampfblatt mit einer mageren Auflage von 18.000 Exemplaren im Januar 1933 konsolidierte sich dennoch erst nach der »Machtergreifung« durch die massive Gleichschaltungspolitik, die Murr forcierte. 34 Durch die ständige Neugründung von NSDAP-Nebenorganisationen gelang es ihm, seine Machtstellung innerhalb des Gaus Württemberg weiter zu festigen. Daß Mergenthaler nach den für die Nationalsozialisten erfolgreichen Landtagswahlen im Frühjahr 1932 zum Landtagspräsidenten gewählt wurde, konnte Murr daher verschmerzen. Da das parlamentarische Leben durch die Obstruktionspolitik der NSDAP im Landtag weitgehend lahmgelegt war, wirkten sich die Satrapenkämpfe Joachim Scholtyseck 484 30 »Vorwärts«, in: »NS-Kurier«, 7. Dezember 1930 (Sondernummer). 31 Zit. nach Hüttenberger (wie Anm. 20), S. 67 f. 32 Nachtmann, Walter, (wie Anm. 16), S. 146. 33 Zu Mergenthaler vgl. den Beitrag von Michael Stolle in diesem Band. 34 Bechtle, Friedrich Richard, Die nordwürttembergische politische Presse 1930 bis 1949 unter Berücksichtigung allgemeiner Vorgänge im deutschen Zeitungswesen, Diss. München 1952, S. 117 - 120; Wilhelm Murr, Zwei Jahre »NS-Kurier«, »NS-Kurier«, 11. Januar 1933; vgl. »NS-Kurier«, 18. Januar 1936. <?page no="486"?> hinter den Kulissen der »Bewegung« nicht negativ auf das Erscheinungsbild der NSDAP aus. Es ist einmal gesagt worden, der Stuttgarter Landtag sei in seiner 500jährigen Geschichte vielleicht nur in der Zeit der Bauernunruhen während des 16. Jahrhunderts so unpopulär gewesen wie in diesen Tagen. 35 Selbst wenn dies überspitzt formuliert sein dürfte, so profitierte Murr doch von der überall spürbaren antiparlamentarischen Stimmung, die den scheinbar immerwährenden schwäbischen Liberalismus für den Totalitarismus anfällig machte. An der Erosion demokratischer Traditionen war Murr an herausragender Stelle beteiligt. Seine zahlreichen Leitartikel im »NS-Kurier« waren zwar keineswegs Ausweis intellektueller Schärfe, aber in ihrer dumpfen Eindringlichkeit zeigten sie Wirkung. Gegen die Sozialdemokraten, und besonders gegen den zum Intimfeind werdenden Staatspräsidenten Eugen Bolz und das Zentrum richteten sich die Angriffe. Konstruktive Ideen, wie die Misere der Wirtschaftskrise bewältigt werden könne, waren nicht zu hören, dafür erfuhr man, daß mit der »Politik im Biedermeier-Stil« Schluß sein müsse. 36 Murrs naive politische Vorschläge waren ein merkwürdiges Gebräu früher sozialistischer NSDAP-Forderungen, die nun populistisch angereichert vorgestellt wurden: Wie allerdings die von ihm gewünschte Stärkung des Mittelstandes und der Bauern erreicht werden sollte, erfuhr man nicht, wenn man von der Einführung einer Warenhaussteuer einmal absah, die gegen die »Schmutzkonkurrenz der Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte« erhoben werden sollte. 37 Es mutet erschreckend an, daß ausgerechnet in einem Land, in dem demokratische Traditionen lange verwurzelt waren, ein in jeder Hinsicht mittelmäßiger Vertreter der nationalsozialistischen Ideologie reüssieren konnte und wie schnell die demokratische Überlieferung preisgegeben wurde, selbst wenn man in Rechnung stellt, daß Murr niemals den Status eines geliebten »Landesvaters« erreichte. Murrs Erfolg ist in dieser Perspektive ein Hinweis, wie gering in Württemberg die aus den regionalen Sonderbedingungen resultierende Widerstandskraft blieb. Die nationalsozialistischen Herausforderer hatten es zwar zunächst schwer, in einem zum großen Teil landwirtschaftlich geprägten Raum mit protestantisch-pietistischem Erbe Fuß zu fassen. Aber auch hier fielen die Schranken gegenüber den Verlockungen einfacher Antworten. Trotz aller demokratischen Tradition Württembergs: Murr als Provinz-»Führer« einer Partei, die »den radikalsten Willen zur Veränderung zeigte, dabei freilich für regionale Eigenentwicklung keinen Raum ließ« 38 , setzte sich mit Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 485 35 Grube, Walter, Der Stuttgarter Landtag 1457 - 1957, Stuttgart 1957, S. 569. 36 »NS-Kurier«, 22. Januar 1932. 37 »NS-Kurier«, 4./ 5. Juni 1932. 38 Büttner, Ursula, »Völkergemeinschaft« oder Heimatbindung: Zentralismus und regionale Eigenständigkeit beim Aufstieg der NSDAP 1925 - 1933, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler, (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 87 - 96, hier S. 96. <?page no="487"?> seinem Programm durch. Die NSDAP in Württemberg, die als »weniger radikal« als in anderen Regionen Deutschlands galt, hatte einen unbestrittenen Führer, der mit diesen Tendenzen nichts gemein hatte. Murr müsse, so beurteilte ein enger Mitarbeiter des Stuttgarter Oberbürgermeisters Strölin, in dieser Hinsicht »ausgenommen werden, das war ein intoleranter Mensch.« 39 Im nationalsozialistischen Deutschland war die Stellung des Gauleiters als Vertrauensmann Hitlers so stark, daß eventuelle regionale Sonderinteressen kaum eine Rolle spielen konnten. Wenn in der offiziösen Darstellung über den Gau Württemberg-Hohenzollern auf die regionalen Eigenheiten verwiesen wurde und die Besonderheiten Schwabens lobende Erwähnung fanden, so war dies nicht als ein Hinweis auf Partikularismus im Südwesten mißzuverstehen. Denn dies war lediglich folkloristische Propaganda, die verbrämen sollte, daß die Besonderheiten Schwabens keine Rolle mehr spielten. Der abschließende Absatz des Artikels, der scheinbar auf die außergewöhnlichen Tugenden der Landsleute hingewiesen hatte, war tatsächlich ein kaum ummäntelter Hinweis, daß sich die Zeiten geändert hatten: »Nach der Machtübernahme, als der Führer seine Worte zur Tat umsetzen konnte, haben die Schwaben mit als erste bewiesen, daß sie zu den treuesten Gefolgsmännern Adolf Hitlers gehören. Immer wieder konnte Gauleiter Murr dem Führer melden, daß die Schaffenden in Württemberg das Wollen und das Ziel Adolf Hitlers begriffen haben und vorbehaltlos ihm vertrauen und folgen. So wurden wir im Gau Württemberg-Hohenzollern als gute Schwaben zu besseren Deutschen. Und das ist mit das Werk unseres Schwabenführers Wilhelm Murr.« 40 Murrs Rezept zur Gesundung war wenig mehr als ein primitiver Antisemitismus, vermischt mit dem Pathos der Volksgemeinschaft, den Murr als einen Ausweg aus »Erfüllungspolitik« und nationaler Schande empfahl. Die intellektuelle Schärfe der NS-Elite fehlte ihm ebenso wie eine eigene Philosophie: »Nicht Bürger oder Proletarier, nicht Katholik oder Protestant war die Parole, sondern einfach und klar: Ich bin ein Deutscher und will es sein.« Mit diesen dürren Worten erinnerte sich Murr kurz vor dem Untergang des »Dritten Reiches« an die Ziele der »Machtergreifung«, die er als Gefolgsmann Hitlers eifrig herbeizuführen trachtete. Nach den Reichstagswahlen im März 1933 verstärkte Murr - unterstützt von Mergenthaler - seine Agitation gegen die amtierende Regierung: »Es ist ausgebolzt! Weg mit Bolz! « triumphierte Murr auf einer gut besuchten Veranstaltung in Stuttgart schon am 6. März. 41 Zwei Tage später wurde durch das Reichsinnenministerium ein Joachim Scholtyseck 486 39 Nachtmann, Walter, Gespräch mit Dr. jur. Albert Locher, in: Ausstellungsreihe Stuttgart im Dritten Reich. Anpassung, Widerstand, Verfolgung, Die Jahre von 1933 bis 1939, Stuttgart 1984, S. 50 - 57, hier S. 52. 40 Der Gau Württemberg-Hohenzollern, in: Das Buch der deutschen Gaue. Fünf Jahre nationalsozialistische Aufbauleistung, Bayreuth 1938, S. 27 - 279, hier S. 279. Mit fast identischen Worten hatte Murr anläßlich des Heimat- und Schwabentages im Jahr 1933 angemahnt, »als gute Schwaben noch bessere Deutsche zu sein.« Man dürfe nicht vergessen, daß die Schwaben »zugleich Söhne einer Mutter sind, der Mutter Germania.« Vgl. »NS-Kurier«, 6. Juni 1933. 41 »NS-Kurier«, 7. März 1933. <?page no="488"?> Nationalsozialist als Reichspolizeikommissar bestellt. Die darauf folgende Wahl eines neuen Staatspräsidenten war eine Farce. Unter dem vereinten Druck der Regierung in Berlin und den nun nationalsozialistisch geführten Polizeibehörden in Württemberg wurde Murr am 15. März 1933 vom Württembergischen Landtag zum neuen Staatspräsidenten gewählt. 42 Die absehbaren Komplikationen waren im Vorfeld umgangen worden. Eine starke Gruppe württembergischer Nationalsozialisten favorisierte zwar Murrs langjährigen parteiinternen Rivalen Christian Mergenthaler, aber die zwischen den beiden Kontrahenten in München geführten Besprechungen führten zu einer Entscheidung zugunsten Murrs. Dessen Gegenspieler im Kampf um den höchsten Posten im Land mußte sich schließlich als Ministerpräsident mit dem Kult- und Justizministerium abfinden, während Murr das Innen- und Wirtschaftsministerium übernahm. Murr versuchte noch im Juni 1933 - allerdings vergeblich - in einem Appell an Hitler, seinen Rivalen zu verdrängen und Hitler zu bewegen, »mir freie Hand in der Ernennung eines anderen Ministerpräsidenten einzuräumen.« 43 Immerhin wurde der Streit innerhalb der Partei hinter verschlossenen Türen ausgetragen. So konnte der Mythos des einheitlichen Blocks der Partei nach außen gewahrt werden. In Wahrheit war der Streit um die Parteiämter ein Zeichen des fortwährenden Machtkampfes, dessen Ende nun allerdings absehbar war. Der »permanente Wettlauf um das Wohlwollen des Führers« war in Württemberg zwar noch nicht endgültig entschieden 44 , aber die Waagschale neigte sich deutlich auf Murrs Seite. Viele der langjährigen Mitstreiter Murrs waren von dessen Fähigkeiten nicht sonderlich überzeugt. Einer seiner Gegner in Esslingen, der aus Protest gegen Murrs Wahl zum Staatspräsidenten von seinem Posten als Kreisleiter zurücktrat, machte aus seiner Ablehnung keinen Hehl. Protestierend schrieb er an Murr: »Ein Staatspräsident muß aber mehr sein als das, er muß ein anerkannt geistig überlegener Führer sein. Es liegt mir völlig fern, über Sie ein Urteil zu fällen. Pflichtgemäß muß ich Ihnen aber sagen, daß die Nachricht, daß Sie Staatspräsident würden, in Eßlingen sowohl von den Pgg. als auch von den Anhängern, die Sie kennen, als eine Katastrophe angesehen wird.« 45 Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 487 42 Sauer, Paul, Der württembergische Landtag, in: Von der Ständeversammlung zum demokratischen Parlament: die Geschichte der Volksvertretungen in Baden-Württemberg, hrsg. v. der Landeszentrale für politische Bildung, Stuttgart 1982, S. 205 - 223; Müller (wie Anm. 22), S. 42. Umfassend Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/ 46, Stuttgart u.a. 1986, S. 182 f. 43 BAP, R 43 II/ 1374, f. 73. Noch im April 1935 scheiterte ein neuerlicher Versuch bei Hitler, als Ministerpräsident berufen zu werden. Vgl. Hüttenberger (wie Anm. 20), S. 90 und Diehl-Thiele, Peter, Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung 1933 - 1945, München 1969, S. 47. 44 Diehl-Thiele (wie Anm. 43), S. 47. Noch im Sommer 1933 verstand es Murr, mit dem Hinweis auf vermeintliche »partikularistische Tendenzen« einen Besuch Mergenthalers bei der bayerischen Regierung zu verhindern. 45 Nachtmann, Walter, Die NSDAP in Esslingen 1920 - 1945, in: Von Weimar bis Bonn, Esslingen 1919 - 1949. Begleitband zur Ausstellung, Sigmaringen 1991, S. 235 - 254, hier S. 247. <?page no="489"?> Trotz aller Anfeindungen blieb Murr im Südwesten der Sieger der Machtkämpfe. Am 6. Mai 1933 schlug Hitler Reichspräsident von Hindenburg die Ernennung Murrs zum »Reichsstatthalter« vor, der dafür Sorge zu tragen hatte, daß die Gesetze des Reiches auch im Land eingehalten wurden. Der Landtag selbst wurde wie überall in Deutschland seiner Funktionen entkleidet. Dies schmerzte Murr um so weniger, als sein Feind Mergenthaler als Landtagspräsident nun einen weiteren Machtverlust erlitt. Murr dagegen konnte sich ganz auf seine Parteistellung als Gauleiter und als frisch ernannter Reichsstatthalter berufen. Murr war ein Landesfürst, der die »Machtergreifung« nutzte, um einerseits gute Freunde aus der »Kampfzeit« mit Pfründen zu versorgen 46 und andererseits seine Gelüste nach Mehrung seines Ansehens und Vernichtung des politischen Gegners skrupellos auslebte. Weitab von der politischen Zentrale Berlins etablierte sich in Stuttgart eine Exekutive, die radikaler und ungehemmter als im politischen Machtzentrum des Reiches agierte. Murrs im Siegestaumel ausgestoßene Kampf- und Racheansage an die politischen Gegner war das Programm eines Funktionärs, der sich der Revolution verschrieben hatte, und der nun die Möglichkeit gekommen sah, gegen das verhaßte etablierte System vorzugehen: »Die Regierung wird mit aller Brutalität jeden niederschlagen, der sich ihr entgegenstellt. Wir sagen nicht: Aug um Aug, Zahn um Zahn; nein, wer uns ein Auge ausschlägt, dem werden wir den Kopf abschlagen, und wer uns einen Zahn ausschlägt, dem werden wir den Kiefer einschlagen.« 47 Nicht zu Unrecht wird diese Aussage immer wieder zur Illustrierung des Charakters der württembergischen »Machtergreifung« angeführt. Die Machtübernahme in Stuttgart, wie fast überall in Deutschland ein »Triumph geordneter Gewalt« 48 , erfolgte schnell, kalt und mit der »notwendigen« dosierten Brutalität, die den reibungslosen Verlauf ermöglichte. Murrs Rede charakterisierte den neuen Typus eines Landesherrn nationalsozialistischer Provenienz: Der Staatspräsident von Hitlers Gnaden hatte einen Bildungsstand, der von den bisherigen Inhabern des Staatsamtes erschreckend abstach. Nur dem kometenhaften Aufstieg der Partei hatte er die Würde seines Amtes zu verdanken. Ähnliches galt für seine servilen Anhänger. Seine Machtposition erwuchs nicht aus geistiger Überlegenheit, sondern stützte sich auf das Führerprinzip, das dem Gauleiter ein hohes Maß an Verantwortung übertrug und den anderen Instanzen überordnete. 49 Um ihn herum scharte er einen kleinen Kreis von Getreuen. Die Joachim Scholtyseck 488 46 Vgl. Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten, München 1996, S. 116 - 121. 47 Zit. nach Miller, Max, Eugen Bolz. Staatsmann und Bekenner, Stuttgart 1951, S. 440. 48 Fest, Joachim, Hitler. Eine Biographie, Frankfurt/ Main, Berlin 1973, S. 551. 49 Düwell, Kurt, Gauleiter und Kreisleiter als regionale Gewalten des NS-Staates, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 161 - 174, bes. S. 161 f. <?page no="490"?> württembergische »Gauclique«, zu der neben Staatssekretär Waldmann der stellvertretende Gauleiter Friedrich Schmidt zählte, stellte von nun an einen Machtfaktor dar, gegen den sich kaum wirkungsvoll opponieren ließ. Aus der Not der offenkundig mangelnden geistigen Begabung bei Murr ließ sich eine Tugend machen. Murrs Manko wurde von der Parteipropaganda als Volksnähe ausgegeben und der neue Mann an der württembergischen Staatsspitze in der Öffentlichkeit flugs als »der Mann aus dem Volk« präsentiert. 50 Entlarvend war freilich das Urteil des neuen Reichspropagandaministers Goebbels, der im Sommer 1933 anläßlich eines Besuchs in Stuttgart nähere Bekanntschaft mit Murr machte. Sein Kommentar war in der Kürze lapidar, aber in seinem Sarkasmus ebenso bezeichnend für die elitäre Arroganz von Goebbels wie für die Einfalt des Ersten Manns in Württemberg: »Bei Murr zu Mittag. Parvenüs.« 51 Bei den höheren Stuttgarter Beamten des Staatsministeriums war Murrs Ruf nicht viel besser: Murr, der sich noch vielfach mit seinen ungehobelten Freunden aus der »Kampfzeit« umgab, galt hier herablassend als der »Magazinier von der Maschinenfabrik Esslingen«. 52 Seine Karriere besaß dennoch eine innere Logik. Hitler war davon überzeugt, daß der Machtinstinkt seiner »Parteisoldaten« - und zu diesen zählte Murr ohne jeden Zweifel - eine positive Wirkung auf das staatliche Gefüge des »Dritten Reiches« haben werde. Allerdings zeigte eine politische Figur wie Wilhelm Murr, welchem tragikomischen Mißverständnis Hitler hierbei unterlag. Denn statt zu einem produktiven staatlichen Wirken kam es unter Murr zu einem ideenlosen Verwalten der Landesinteressen, die sich stets den Bedürfnissen des Reiches unterzuordnen hatten. Murr drängte auf einer Vorbesprechung einer Reichsstatthalterkonferenz mit Hitler im September 1933 auf eine Stärkung der Rechte der Reichsstatthalter, weil ihm nur dies die absolute Gewähr für die Durchführung der Politik des »Führers« zu bieten schien. 53 Das Kompetenzengerangel innerhalb der Partei trug gleichwohl dazu bei, daß es in vielen Bereichen, besonders in schul- und kirchenpolitischen Angelegenheiten, keine einheitliche Marschroute der Nationalsozialisten gab und damit ein »größere(r) Freiraum« als »in anderen Ländern mit weitgehend einheitlicher Willensbildung der NS-Führer« vorhanden war. 54 Murrs Tätigkeit erschöpfte sich auf diese Weise in einem ständigen Absichern gegen mögliche Intrigen und in phantasieloser bürokratischer Tagesarbeit. Peter Hüttenbergers ernüchterndes Fazit über die Tätigkeit der Gauleiter ist eine beinahe maßgeschneiderte Charakterisierung der Politik Murrs, daß nämlich »die rivalisierende Herrschaft partikularer Machtträger [...] schließlich in chaotischem Nihilismus« endete. 55 Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 489 50 Overdyck (wie Anm. 3), S. 21. 51 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil I, Bd. 2, München u.a. 1987, S. 453 (Eintrag vom 31. Juli 1933). 52 Ströle, Karl, Aus meinem bunten Leben. Erinnerungen für meine Familie zur Feier des 80. Geburtstages aufgeschrieben (Manuskript), Stuttgart 1967, S. 67. 53 Hüttenberger (wie Anm. 20), S. 81. 54 Schnabel (wie Anm. 42), S. 183. <?page no="491"?> Die nationalsozialistische »Revolution« fand nicht statt. Das von Hitler angekündigte und von Murr angedrohte »Köpferollen« blieb aus, weil Hitler auf seinem Weg der legalen Machtergreifung auf eine Bartholomäusnacht verzichten konnte und weil Murr sehr bald klar wurde, daß Schwaben mit allzu harten Methoden nicht für den nationalsozialistischen Staat zu gewinnen waren. So war die Unterdrückung der Gegner des Nationalsozialismus in Württemberg zwar brutal, blieb aber hinter den Andeutungen zurück. 56 Murr als »alter Kämpfer« mochte in der Zeit der »Bewegung« und im unerbittlichen Kampf gegen die »Systemparteien« besonders erfolgreich gewesen sein; als »Reichsstatthalter« war er zwar mächtig, aber keine herausragende Erscheinung. Dies erklärt, warum Murr in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft ein ausgesprochen blasses Bild hinterläßt. Weder aufsehenerregende programmatische Reden noch ein profilierter Kurs waren zu verzeichnen: Murr agierte in den Jahren nach 1933 als gut funktionierendes Rädchen im Getriebe der nationalsozialistischen Umwälzung. Allerdings ging Murrs Rolle doch darüber hinaus, lediglich den »Platzhalter und Aufpasser zu spielen.« 57 Ob es um die Gleichschaltung der Parteien, der Kultur, des öffentlichen Lebens - oder im Jahr 1934 um die Zurückdrängung der SA 58 - ging: Immer war Murr zur Stelle, wenn es um die Durchsetzung der Ziele des nationalsozialistischen Machtapparates ging. Selbst wenn seine Politik dabei keineswegs als außergewöhnlich gelten konnte, blieb er immer ein Mann der Partei, der wußte, wem er seinen Aufstieg zu verdanken hatte und der sich nur dann für württembergische Belange einsetzte, wenn es der Festigung der eigenen Stellung im Land diente. Die Interessen des Landes hatten demgegenüber zurückzustehen. Diese Devise galt, obwohl etwa sein Staatssekretär Waldmann stets bemüht blieb, die fachliche Kompetenz der Verwaltung nicht durch rein parteilichen Einfluß untergraben zu lassen. 59 Württembergische Besonderheiten wurden auf diese Weise eingeebnet. Daß er sich als in seiner Heimat verwurzelten »Urschwaben« 60 feiern ließ, blieb Blendwerk. Allein der Wille des »Führers« sollte für das deutsche Volk Bedeutung haben, wie Murr öffentlich bekundete, als er im Jahr 1937 die Genesung des Landes würdigte: »In erster Linie ist die Gesundung auch der württembergischen Verhältnisse auf die genialen Entschlüsse und Maßnahmen des Führers zurückzuführen. Ich und meine Mitarbeiter hatten ausschließlich die Aufgabe, alles was sich aus den Besonderheiten unseres Landes ergibt, zum Gelingen des Werkes des Führers einzusetzen.« 61 Joachim Scholtyseck 490 55 Hüttenberger (wie Anm. 20), S. 212. 56 Vgl. allgemein auch Haffner, Sebastian, Anmerkungen zu Hitler, München 1978, S. 36. 57 So die Einschätzung von Gayer, Kurt, Wilhelm Murr. Gauleiter und Reichsstatthalter von 1933 bis 1945, in: Die Villa Reitzenstein und ihre Herren. Die Geschichte des baden-württembergischen Regierungssitzes, hrsg. v. K. Gayer, H. Krämer, G. Kempter, Stuttgart 1988, S. 119 - 130, hier S. 124. 58 Hüttenberger (wie Anm. 20), S. 83 f. 59 Schnabel (wie Anm. 42), S. 327. 60 »NS-Kurier«, 5./ 6. Februar 1938. <?page no="492"?> Den Oberbürgermeister Strölin, der die städtischen Interessen nicht ganz aus den Augen verlor, obwohl er Nationalsozialist war, erinnerte Murr an die Prioritäten: »Ich sehe das Merkmal eines nationalsozialistischen Beamten nicht darin, daß er hundert Paragraphen und Bedenken auskramt, sondern darin, daß er nach einem gangbaren Weg durch das Gestrüpp von Paragraphen und Bedenken sucht, um Wünsche zu erfüllen. Die Partei muß es sich grundsätzlich versagen, in der Erfüllung ihrer Wünsche seitens der Behörden auch nur ein Entgegenkommen zu erblicken. Sie muß vielmehr erwarten, daß die Behörden es als eine Ehre und selbstverständliche Anstandspflicht ansehen, der Partei bei der Erfüllung ihrer Aufgaben behilflich zu sein.« 62 Zwischen Murr und Strölin stand es ohnehin nicht gut. Der institutionelle Widerspruch zwischen Gauleiter und Oberbürgermeister führte zu ständigen Reibereien, so daß sich beide schließlich »spinnefeind« 63 waren. Der Kampf endete wie fast überall zugunsten des Gauleiters, der seine Parteifunktion im Namen von Regime und Ideologie einsetzen konnte. 64 Streng wachte Murr über die Kompetenzverteilung der württembergischen Städte, denn er fürchtete eine Machtkonzentration bei den Oberbürgermeistern, die seine eigene Position zu gefährden drohte. So wehrte er sich gegen alle Reformen, die die Stadtoberhäupter stärkten und die, so Murr, zu Entwicklungen führen konnten, »in denen der Staat gar nichts mehr zu sagen hätte.« 65 Strölin, der sich von Murr des öfteren vorwerfen lassen mußte, »unnationalsozialistisch« zu sein 66 , blieb nichts anderes übrig, als resignierend die Vormachtstellung von Murr zu akzeptieren. Aus Berlin bekam Murr in diesen Auseinandersetzungen beständige Schützenhilfe: Ein Erlaß des »Führers« vom 28. August 1939 über die »Vereinfachung der Verwaltung« beendete faktisch jede Selbstverwaltung der Gemeinden. 67 Fachkompetenz war für diese Entscheidung nicht ausschlaggebend. Als ein Experte für Behördenarbeit konnte Murr, der seine mangelnden Fähigkeiten vornehm damit umschrieb, er sei »ein Feind aller grauen Theorie« 68 , wahrlich nicht gelten. Murr verstand sich als Parteimann und widmete sich eher seinen Diensten als Gauleiter als seinem Amt als Reichsstatthalter. In der Praxis ließen sich allerdings Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 491 61 »Unser Gau: Unterredung mit Gauleiter Murr und Hauptschriftleiter Overdyck«, in: »NS-Kurier«, 6./ 7. Februar 1937. 62 Zit. nach Nachtmann, Walter, Karl Strölin. Stuttgarter Oberbürgermeister im »Führerstaat«, Tübingen, Stuttgart 1995, S. 147. 63 Nachtmann (wie Anm. 39), S. 52. 64 Noakes, Jeremy, Oberbürgermeister und Gauleiter. City Government between Party and State, in: Der »Führerstaat«: Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, hrsg. v. G. Hirschfeld, L. Kettenacker, Stuttgart 1981, S. 194 - 227, bes. S. 211 f. 65 Zit. nach Nachtmann (wie Anm. 62), S. 226. 66 »Notiz über ein Telefongespräch mit Reichsstatthalter Murr am 7. 8. 1943« , Nachlaß Strölin, StAS, Bü 48. 67 Vgl. hierzu Matzerath, Horst, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart u. a. 1970. 68 »NS-Kurier«, 5./ 6. Februar 1938. <?page no="493"?> beide Ämter kaum voneinander trennen, und es fiel selbst Parteifreunden schwer, inhaltliche Unterschiede zu erkennen. So eng seien die »Aufgabenbereiche miteinander verbunden, daß sich hier schwer eine Grenze ziehen« lasse. 69 Offene Opposition gab es inzwischen nicht mehr. Stolz verkündete Murr im Jahr 1937 in einem Interview: »Es besteht gar kein Zweifel, daß unsere politischen Gegner in Württemberg ein für allemal ausgespielt haben. Wenn wir uns hin und wieder mit politisch »Andersgläubigen« zu beschäftigen haben, so handelt es sich nur um Einzelerscheinungen und Äußerungen asozialer Elemente, mit denen das Volk seit jeher zu rechnen hat. Im übrigen ist festzustellen, daß selbst diese Erscheinungen von Jahr zu Jahr geringer werden.« 70 Nach der Ausschaltung der politischen Opposition widmete sich Murr der Zurückdrängung des kirchlichen Einflusses. Stets befürchtete er einen Eingriff in nationalsozialistische Machtbefugnisse, wenn die Kirchen sich nicht an die engen Richtlinien halten mochten, die er ihnen zog. Die Kirchen sollten sich »auf ihr seelsorgerisches Amt beschränken und nicht Aufgaben erfüllen wollen, die in einem geordneten Staatswesen Sache des Staates sind.« 71 Im protestantisch geprägten Württemberg vollzog sich die Auseinandersetzung zwar vornehmlich als ein evangelischer Kirchenkampf, aber auch die katholische Kirche hatte sich massiver Angriffe zu erwehren. Als einen Affront betrachtete es Murr, als er erfuhr, daß der Bischof von Rottenburg Joannes Baptista Sproll sich an der Volksabstimmung über die Angliederung Österreichs am 10. April 1938 nicht beteiligt hatte. In einem Zeitungsartikel, der in fast allen Tageszeitungen des Landes erschien, wandte sich Murr vehement gegen diese vermeintliche Unbotmäßigkeit: »Bischof Sproll hat schon bisher seine Abneigung gegen den nationalsozialistischen Staat schlecht verbergen können. Anstatt sich auf religiöse Betrachtungen zu beschränken, hat er immer wieder versucht, den Staat durch mehr oder minder versteckte Angriffe zu verunglimpfen. Ich habe diesen Ausflügen auf das politische Gebiet [...] bisher mit Langmut zugesehen.« Sein Verhalten bei der Volksabstimmung am 10. April lasse indessen eine Besserung des Bischofs nicht mehr erwarten. 72 Mit solchen Drohungen gab er sich allerdings nicht zufrieden. Gegenüber dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Ernst von Weizsäcker äußerte er wenig später, Sproll »müsse auf alle Fälle aus Württemberg verschwinden.« 73 In den folgenden Wochen ordnete Murr wohl- Joachim Scholtyseck 492 69 »NS-Kurier«, 5./ 6. Februar 1938. 70 »Unser Gau: Unterredung mit Gauleiter Murr und Hauptschriftleiter Overdyck«, in: »NS-Kurier«, 6./ 7. Februar 1937. 71 »NS-Kurier«, 5./ 6. Februar 1938. Spätere Behauptungen des Adjutanten Murrs, die Einstellung des Reichsstatthalters in kirchlichen Angelegenheiten sei »grundsätzlich eine loyale und legale« gewesen und »Ausschreitungen irgendwelcher Art in kirchlichen Angelegenheiten« seien weder geduldet noch befohlen worden, muß angesichts der Quellenlage als reine Schutzbehauptung gewertet werden. Zit. nach Jeggle, Utz, Heimatkunde des Nationalsozialismus, in: Dachauer Hefte, Heft 6, hrsg. v. W. Benz, B. Distel, München 1994, S. 162 - 181, hier S. 168. 72 Kopf, Paul; Miller, Max (Hrsg.), Die Vertreibung von Bischof Joannes Baptista Sproll von Rottenburg 1938 - 1945, Mainz 1971, S. 108. <?page no="494"?> organisierte Demonstrationen an, die durch Drohungen und Tätlichkeiten unterstrichen wurden. Diese »Unruhen« gaben nach bewährtem Muster den nationalsozialistischen Behörden Anlaß, Sproll wenig später aus Württemberg nach Bayern zu vertreiben. Murr war jedoch aus taktischen Gründen bereit, kirchliche Belange in gewissem Umfang zu respektieren. In der Auseinandersetzung mit der evangelischen Kirche kam es daher gar zu einer Art »Burgfrieden«. 74 Die strategisch bedingte Rücksichtnahme Murrs stieß auf Reichsebene freilich auf Unwillen und rief Reichsorganisationsleiter Robert Ley auf den Plan, der Murr im April 1941 auf die Notwendigkeit »eine[r] klare[n], einheitliche[n] weltanschaulich-politische[n] Haltung aller Gaue« in konfessionellen Fragen hinwies: »Bei Ihrer bekannten Vorsicht, allen politisch belastenden Problemen gegenüber ist doch das Gefühl wach geworden, als ob in Ihrem Gau bestimmte Rücksichtnahmen innerhalb der Partei und auch in der Erziehung der Partei geübt werden.« 75 Ob sich Murr durch diese Anspielungen höchster Parteikreise - und in der Gewißheit der Gegnerschaft Mergenthalers - einschüchtern ließ, ist unklar. Jedenfalls trat er mit seiner Frau und seinem Sohn Anfang 1942 aus der Kirche aus. Eine der Schwächen Murrs war seine mangelnde Verankerung in der SS, die gerade nach dem Beginn des Weltkrieges an Macht gewann. Seit September 1934 war Murr zwar Ehrenmitglied der SS (mit Mitgliedsnr. 147.545 unter gleichzeitiger Ernennung zum SS-Gruppenführer beim SS-Oberabschnitt Südwest); im Januar 1942 wurde er gar zu dem Generalsrang eines SS-Obergruppenführer befördert 76 , aber dies war nicht mehr als ein Ausdruck für die Anerkennung der Leistungen des »alten Kämpfers«, was dem Renommee dienlich sein mochte, aber politisch wenig nutzbar war. Politische Visionen, überhaupt eine politische Konzeption für seine radikalen Forderungen der Schaffung einer »nationalen Kampfgemeinschaft« suchte man bei Murr vergebens. Der Wille zur Macht stand im Vordergrund, und das »Revolutionäre«, das vor als notwendig erachteten Gewalttaten nicht zurückschreckte, war wenig fundiert. Während der mit wenig Machtinstinkt ausgestattete Mergenthaler immer stärker in eine resigniert akzeptierte Isolation gedrängt wurde und von Goebbels 1943 gar verächtlich als »der sogenannte württembergische Ministerpräsident« tituliert wurde 77 , gewann die Reichsstatthalterei immer größere Bedeutung 78 und konnte sich auch in personalpolitischen Angelegenheiten meist gegen Mergenthaler durchsetzen. 79 Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 493 73 Kopf/ Miller (wie Anm. 72), S. 127 (Aktenvermerk Weizsäckers vom 16. Mai 1938). 74 Schnabel (wie Anm. 42), S. 432. 75 Schäfer, Gerhard (Hrsg.), Landesbischof D. Wurm und der nationalsozialistische Staat 1940 - 1945. Eine Dokumentation. Stuttgart 1968, S. 22 f. 76 BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZM 1455 A.3 Bl. 93. 77 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 8, München u. a. 1993, S. 245 (Eintrag vom 9. Mai 1943). 78 Vgl. Ströle (wie Anm. 52), S. 68. 79 Ruck (wie Anm. 46), S. 212. <?page no="495"?> Bei Kriegsbeginn, im September 1939, wurde Murr Reichsverteidigungskommissar im Wehrkreis V. Mit diesem neuen Amt ging ein Macht- und Kompetenzenzuwachs einher, denn die neue Aufgabe verlieh Autorität, um »die maximale Mobilisierung der wirtschaftlichen, sozialen und personellen Ressourcen im Innern mit Erfolg durchsetzen zu können und trotz aller innerparteilichen Widerstände und administrativ-bürokratischer Hemmnisse handlungsfähig zu bleiben.« 80 Die wichtigsten Bereiche der Zivilverwaltung unterstanden nun seinen Anordnungen. Der Wehrkreisbefehlshaber als militärische Instanz war zunehmend gezwungen, sich mit dem Machtapparat Murrs zu arrangieren. Sukzessive übernahm Murr die Aufgaben mehrerer Sonderbehörden. Deren Verwaltung übertrug er meist der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen. Die durch die neu anfallenden Aufgaben merkliche Machtballung führte dazu, daß »ohne seine Zustimmung oder die seiner Beauftragten [...] im Land eigentlich nichts geschehen« konnte. 81 Die mangelnde Kompetenz Murrs, dessen organisatorische Fähigkeiten nicht mehr als durchschnittlich waren, stand zwar außer Frage, aber der Widerstand blieb gering. Eine entscheidende Rolle spielte das eklatante Versagen der zentralen Reichsbürokratie, die den regionalen Kräften der Partei immer größeren Handlungsspielraum gab. Württemberg litt besonders unter der »Überbürokratisierung« und unter den fehlgeschlagenen Versuchen, die Kriegswirtschaft zentral von der Reichshauptstadt aus zu steuern. 82 Aus dieser Unfähigkeit angemessener Verwaltung konnte Murr als Reichsverteidigungskommissar in Koordination mit Betrieben und unter Umgehung bestehender Vorschriften einige Sonderrechte ableiten, die während des Krieges de facto die weitgehende Ausschaltung des Rüstungs- und Reichswirtschaftsministeriums bedeuteten. Die Zweckgemeinschaft diente den Interessen aller Beteiligten: Die Betriebe begrüßten die Lockerung des eisernen Griffs der Reichsbehörden und Murr konnte einen persönlichen Einfluß- und Machtgewinn verbuchen. Allerdings vermochte er langfristig gesehen nur einen Teilerfolg erzielen. Den regionalen Instanzen Württembergs gelang es nicht immer, sich gegen die zentrale Überbürokratisierung zu behaupten. So verhallte etwa der Ruf aus Stuttgart nach mehr Mitspracherechten beim Arbeitskräfteeinsatz in Berlin meist ungehört. 83 Regional arbeitende und selbständig agierende lokale Gewalten waren in der Zeit Murrs als Herrscher in Württemberg von 1933 bis 1945 nicht vorstellbar: Partikularistische Strömungen, die Betonung der württembergischen Heimat und der regio- Joachim Scholtyseck 494 80 Teppe, Karl, Der Reichsverteidigungskommissar, in: Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers, hrsg. v. D. Rebentisch, K. Teppe, Göttingen 1986, S. 278 - 301, hier S. 301. 81 Nachtmann (wie Anm. 62), S. 247. 82 Ruck (wie Anm. 46), S. 119. 83 Burth, Wolfgang u. a., Nationalsozialistische Wirtschaftslenkung und württembergische Wirtschaft, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 195 - 219, hier S. 213. Vgl. etwa Murr an den Chef der Reichskanzlei, 7. April 1941, BAP, R 43 II/ 1394 a, f. 157 - 158. <?page no="496"?> nalen Sonderinteressen gehörten in den Jahren der Weimarer Republik zum alltäglichen Bild und bisweilen gar zum guten Ton, um die Interessen im Reich angemessen vertreten zu können. Unter Murr spielten die föderativen Strukturen keine Rolle. Sie wurden zurückgedrängt, und Württemberg wurde ein im Gesamtverband des nationalsozialistischen Staates profilloser Gau. Erst im Angesicht der drohenden Niederlage entwickelte sich im Lande eine Opposition, die regionale Aspekte als Argumente anführte, um beispielsweise gegen die drohenden Vernichtungsbefehle Hitlers aufzubegehren. Aber diese Neuentdeckung regionalen Heimatbewußtseins artikulierte sich wirkungsmächtig erst als Folge des Bombenhagels. Solange deutsche Truppen in Europa siegten, rief die schleichende Aushöhlung der eigenen Identität, die Gauleiter Murr in Württemberg durchsetzte, kaum Widerspruch hervor. Murr hatte als mächtiger Landesfürst von Hitlers Gnaden einen Handlungsspielraum, den er zu nutzen verstand. Es ergäbe jedoch ein schiefes Bild, wenn man annähme, Murr habe seine Stärke bewußt eingesetzt, um die Zentralisierung zu forcieren. Ihm ging es um die reibungslose Integration seines Gaues in den »Führerstaat«. Dies erforderte die Beachtung der eindeutig markierten Grenzen, die gleichsam die Voraussetzung selbständigen Agierens bildeten: Die »unbedingte persönliche Loyalität gegenüber dem Führer« und »den Verzicht auf jegliche Einmischung in die strategischen Entscheidungsprozesse der Reichspolitik.« 84 Es ist kürzlich darauf hingewiesen worden, daß der Einfluß der Gauleiter auf Reichsangelegenheiten »gleich Null« war. 85 Wie streng sich Murr an diese Bedingung seiner Herrschaft hielt, zeigte sich in der unerbittlichen Durchsetzung und Durchführung der Judenverfolgung und -vernichtung. In Württemberg gab es keine »eigenständige Judenpolitik«. 86 Als Gauleiter und Reichstatthalter war Murr in hohem Maße für die reibungslose Ausführung des Holocaust verantwortlich, der im »Ländle« seine eifrigen Exekutoren fand, weil Murr als der unerbittliche Befehlsempfänger Hitlers funktionierte, ohne überhaupt Einfluß auf die Maßnahmen des »Führerstaates« nehmen zu wollen. Ähnlich servil war seine Haltung in den Fragen der »Euthanasie«. Murr wurde über die »Vernichtung unwerten Lebens« ständig auf dem laufenden gehalten. Über die notwendige Genehmigung einer Einweisung hinaus, die er als Reichsverteidigungskommissar jeweils befahl, zeigte er offensichtlich Interesse an den Verfahren selbst: Im Rahmen eines regelrechten »Vergasungs-Tourismus« ließ er es sich nicht nehmen, der als »Landespflegeanstalt« firmierenden Tötungsanstalt Grafeneck bei Münsingen einen Besuch abzustatten. 87 Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 495 84 Ruck (wie Anm. 46), S. 121. 85 Ziegler, Walter, Gaue und Gauleiter im Dritten Reich, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1996, S. 139 - 159, hier S. 149. 86 Schnabel (wie Anm. 42), S. 567. 87 Vgl. Klee, Ernst, »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung unwerten Lebens«, Frankfurt/ Main 1983, S. 163; Stöckle, Thomas, Die »Aktion T4« in Grafeneck, in: Die alte Stadt 20 (1993), S. 381 - <?page no="497"?> Wenig später begann Murr, für den Notfall Evakuierungsmaßnahmen für Stuttgart zu treffen. Hier war er wieder in seinem Element. Angesichts der zunehmenden Fliegerangriffe auf Stuttgart konkretisierten sich 1943 die von ihm koordinierten und vorbereiteten rigorosen Planungen. Murr beschlichen zu diesem Zeitpunkt bereits Ahnungen über ein bevorstehendes schlimmes Ende. Anläßlich des Geburtstages des Gauleiters am 16. Dezember 1943 notierte sein Rivale Oberbürgermeister Strölin gemeinsame pessimistische Empfindungen: »Wir sind uns darüber einig, daß wir von großem Glück sagen können, wenn wir seinen Geburtstag im nächsten Jahr im gleichen Raum und in gleicher Form begehen können.« 88 Solche Erkenntnisse wurden indessen nur im engsten Kreis artikuliert. In der Öffentlichkeit blieb Murr die treue Stimme seines Herrn, der unermüdlich die hohlen Durchhalteparolen der Goebbelsschen Propaganda herausposaunte: »Je schärfer der Wind uns um die Ohren pfeifen wird, desto enger wollen wir zusammenrücken.« Es gehe schließlich darum, die Kräfte zusammenzuballen, »um der jüdischen, jahrtausendealten Völkerpest für immer und überall Herr zu werden«, rief er seinen Kreisleitern im Juni 1943 zu. 89 Ähnlich lauteten die Aufrufe auf einer Großkundgebung der Partei im September: Die »Genialität des Führers«, der »der größte Feldherr unserer Zeit« sei, werde zum Sieg führen. 90 Die schweren Angriffe auf Stuttgart im Frühjahr 1944 schienen dem Plädoyer Murrs für groß angelegte Evakuierungsmaßnahmen recht zu geben. Da Murr in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar nur die übergeordneten »nationalen« Interessen beachtete, kam es zwischen ihm und der in Stuttgart ansässigen Industrie zu Reibereien, da Murr recht willkürlich Auslagerungen für die Rüstungsindustrie über die Köpfe der Unternehmen hinweg vornahm. 91 Die Proteste der Wirtschaft verhallten, obwohl stets auf die »Kriegswichtigkeit« hingewiesen werden konnte. Von anderer Seite war ein Aufbegehren gegen die oktroyierten Maßnahmen ohnehin nicht mehr zu erwarten. Das gescheiterte Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 bot Murr nochmals Gelegenheit, sich zu profilieren und die Verbundenheit seines Gaues mit dem »Führer« unter Beweis zu stellen. Der Putsch war an Stuttgart vorbeigegangen, und um die unverbrüchliche Treue des Militärs zu demonstrieren, stattete der Befehlshaber des Wehrkreises dem Gauleiter am 21. Juli einen Höflichkeitsbesuch ab, der »in den angenehmsten Formen« verlief. 92 Am gleichen Abend veranstaltete die NSDAP Stuttgart eine Kundgebung, Joachim Scholtyseck 496 384, hier S. 382, Anm. 9. 88 Zit. nach Müller (wie Anm. 22), S. 516. (Tagebuch Strölin im StAS, Bd. 41, 16. Dezember 43). 89 »NS-Kurier«, 3. Juni 1943. 90 »NS-Kurier«, 18. September 1943. Ähnlich Murrs Rede auf einer Kreisleitertagung am 20. Oktober 1943: »NS-Kurier«, 21. Oktober 1943. 91 Vgl. Müller (wie Anm. 22), S. 457 - 463. 92 Hoffmann, Peter, Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 4. Aufl. München, Zürich 1985, S. 549. Vgl. Scholtyseck, Joachim, Der »Stuttgarter Kreis« - Bolz, <?page no="498"?> auf der Murr eine Ergebenheitsadresse auf den Führer verlas: »In allen Städten, in allen Dörfern haben die Volksgenossen solche Kundgebungen verlangt, um der Welt zu zeigen, daß sie und wie sie zum Führer stehen [...] Unser Schicksalsweg wird ein Weg des Sieges und des Stolzes sein, solange wir mit dem Führer gehen, und der wird vernichtet, der ihn verläßt«. 93 Das Jahr 1944 läutete Murrs Ende ein. Sein einziger Sohn, der inzwischen 21 Jahre alte Wilfried, war als Soldat einer Waffen-SS-Division in Belgien eingesetzt. Nachdem er nach einer ausgedehnten Zechtour eine Frau und ein 15-jähriges Mädchen vergewaltigt hatte, erschoß er sich Ende Januar 1944. Dieser Schritt war ihm angesichts der bevorstehenden kriegsgerichtlichen Konsequenzen von seinen »Kameraden« nahegelegt worden. 94 Der Tod seines Sohnes traf Murr und seine ohnehin labile Frau zwar tief, aber die bedingungslose Treue gegenüber dem »Führer« stellte er nicht in Frage. Am 1. März schrieb er an Hitler: »So sehr ich bedaure, daß es meinem Sohn nicht vergönnt war, vor dem Feinde zu fallen, so kann auch dieser harte Schicksalsschlag nichts daran ändern, in Ihrem Dienste und in der Arbeit für die Größe des Reiches meine Lebensaufgabe zu sehen.« 95 Angesichts der immer häufiger werdenden Luftangriffe auf Stuttgart zeigte sich sogar Joseph Goebbels mitfühlend: Murr, so notierte er, gehöre »nicht zu unseren starken Gauleitern. Er hat einiges Familienpech gehabt, das hat ihn dazu noch etwas handicapt. Schon deshalb müssen wir ihm jetzt unter die Arme greifen.« 96 Zumindest nach außen ließ sich Murr keinerlei Verzweiflung anmerken. Noch im November 1944 sprach er anläßlich der Mobilisierung des Volkssturms vom kommenden Endsieg. 97 Mitte Dezember 1944 wurde seine Absicht bekannt, Stuttgart vollständig räumen zu lassen. Die teils abstrusen Pläne sahen vor, alle noch in der Stadt verbliebenen Einwohner in Tagesmärschen von 20 Kilometern in südöstliche Richtung zu führen und im Sinne der »Verbrannten Erde« Stuttgart zu zerstören. Die sich nun überschlagenden militärischen Entwicklungen verhinderten die Durchführung dieses Vorhabens, aber Murr wäre in seiner Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissar von seinen Befugnissen her in der Lage gewesen, seine Pläne gegen den heftig opponierenden Strölin ins Feld zu führen. Es mag dahingestellt bleiben, ob Murr, wie Strölin ihn charakterisierte, tatsächlich »kein Gewaltmensch« war. 98 Denn studiert man die Aufrufe, Appelle und Artikel, Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 497 Bosch, Strölin: ein Mikrokosmos des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, in: 20. Juli 1944 in Baden und Württemberg, hrsg. v. R. Lill, M. Kißener, Konstanz 1994, S. 61 - 123. 93 »NS-Kurier«, 23. Juli 1944. 94 Murr an Bormann, 4. Februar 1944; Bormann an Himmler, 7. Februar 1944; Himmler an Bormann, 11. Februar 1944, ZStLB I - 114 AR 266/ 79. 95 Murr an Hitler, 1. März 1944, ZStLB I - 114 AR 266/ 79. 96 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 11, München u. a. 1994, S. 383 (Eintrag vom 3. März 1944). Vgl. ebd., S. 403 (Eintrag vom 4. März 1944). 97 Zit. nach Müller (wie Anm. 22), S. 519 f. 98 Strölin, Karl, Stuttgart im Endstadium des Krieges, Stuttgart 1950, S. 27. <?page no="499"?> die Murr selbst im Angesicht der Niederlage noch verfaßte, so läßt sich neben der ermüdenden Eintönigkeit und Ideenlosigkeit, mit denen er ein ums andere Mal die Plattitüden und Phrasen der nationalsozialistischen Führung wiedergab, eine Neigung zur Sanftmut nicht erkennen. In einem programmatischen Artikel zum Jahrestag der »Machtergreifung« im letzten Kriegsjahr waren zwar keine originellen Gedanken zu finden, wohl aber die Warnung vor Kapitulation: »In diesem schicksalhaften Kampf gibt es kein Ausweichen. Wer sich dem westlichen oder östlichen Feind ergibt oder mit ihm gemeinsame Sache macht, hat seine Freiheit mit dem Tode zu bezahlen. Eine andere Münze wird hier nicht gehandelt. Warnende Beispiele sind dafür genug vorhanden.« 99 Murr blieb bis zum bitteren Ende der getreue Vollstrecker der Befehle aus Berlin. »Nero«-, »Cäsar«- und »Schwabentreue«-Befehle, hinter deren wohlklingenden Namen sich die Realität brutaler Evakuierung und einer rücksichtslosen Politik der »Verbrannten Erde« verbargen, wurden vom Reichsverteidigungskommissar verkündet. 100 Wäre es nach ihm gegangen, so wäre um Stuttgart gekämpft worden. Die Gründe für Murr, sich vehement gegen das Votum des Oberbürgermeisters, der Militärs und der Stadtverwaltung für eine kampflose Räumung vor den sich nähernden Franzosen zu sperren, liegen im dunkeln. Möglicherweise zögerte der niemals souverän entscheidende und unsichere Murr, einen einmal gegebenen Befehl umzukehren; eventuell fürchtete er »die Rache seiner Parteigenossen mehr als die anrükkenden Alliierten.« 101 Zumindest in einem Punkt erscheint das bislang ausgesprochen negative Bild Murrs - das nach dem Krieg von seinem Rivalen Strölin und den ehemaligen Mitstreitern sorgsam gepflegt wurde - einiger vorsichtiger Korrekturen bedürftig: Murr wollte zumindest zeitweilig offensichtlich keine totale Zerstörung Stuttgarts, sondern instruierte die Behörden, lediglich Maßnahmen zu treffen, die nötigenfalls eine rasche Wiederaufnahme der Betriebsproduktion möglich machten. 102 Die Evakuierungspläne ließ Murr im März 1945 endgültig fallen. Möglicherweise war dies der Grund für den Tadel von Joseph Goebbels, der noch am 27. März 1945 die schlechte Moral der Gauleiter im Westen monierte. Murr zählte er zu denjenigen, die »überaltert« seien und schon längst resigniert hätten. 103 Murrs Einflußgebiet wurde durch die anrückenden Franzosen und Amerikaner nun zunehmend beschränkt. Gleichwohl verweigerte er hartnäckig jede Eigenmächtigkeit in Fragen der militärischen Verteidigung der württembergischen Hauptstadt. Eine gemeinsame Intervention des Oberbürgermeisters, des Stadtkommandanten und des Kreisleiters am 4. April, die zum Ziel hatte, das inzwischen fast eingeschlos- Joachim Scholtyseck 498 99 »NS-Kurier«, 30. Januar 1945. 100 Zit. nach Müller (wie Anm. 22), S. 529. 101 Müller (wie Anm. 22), S. 530. 102 Nachtmann (wie Anm. 62), S. 340. 103 Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil II, Bd. 15, München u. a. 1995, S. 603 (Eintrag vom 27. März 1945). <?page no="500"?> sene Stuttgart zur offenen Stadt zu erklären und dadurch eine Zerstörung zu verhindern, lehnte Murr strikt ab, obwohl er sich darüber im klaren sein mußte, daß sich das Blatt inzwischen gegen ihn gewendet hatte. 104 Noch am 10. April rief er dazu auf, die Stadt bis zum äußersten zu verteidigen. In einem Tagesbefehl verfügte er am folgenden Tag: »Wer sich dem Feinde unterwirft, verfällt der Ächtung und der Verachtung. [...] Wer Feindparolen folgt, hat sein Leben verwirkt.« Sein »NS-Kurier« wütete am gleichen Tag gegen »Erzbergernaturen«. Zwei Tage später, am 13. April 1945, verbot er im »NS-Kurier« als »Wichtige Bekanntmachung des Reichsverteidigungskommissars« unter Androhung der Todesstrafe und Sippenhaft die Beseitigung von Panzersperren und das Hissen der weißen Flagge. 105 Sechs Tage später strafte er seine eigenen Worte Lügen. Er beugte sich der Macht des Faktischen und nutzte am 19. April die letzte Gelegenheit, um in Begleitung seiner Frau die inzwischen fast vollkommen eingekreiste Stadt in Richtung Schwäbische Alb zu verlassen. Murr verhielt sich so, wie der evangelische Dekan von Künzelsau in jenen Tagen in einem Situationsbericht prophezeit hatte: »Von der Bevölkerung ist so gut wie alles dageblieben. Allgemeine Auffassung war: Die Bonzen wollen sich in Sicherheit begeben, und um ihre Flucht gegen den Vorwurf der Feigheit zu schützen, wird Räumung angeordnet.« 106 Murr, der seine »Gefolgschaft« sich selbst überließ 107 , hatte allen Grund, sich Sorgen über die Zukunft zu machen. Noch wenige Monate zuvor hatte ein Informant amerikanischen Diplomaten in der Schweiz über die Stuttgarter Zustände berichtet. Die Amerikaner, die sich bereits mit der Strafverfolgung von führenden Nationalsozialisten beschäftigten, faßten die Ergebnisse wie folgt zusammen: »Among the countless responsible Nazi officials to be brought to justice after the war may be mentioned Reichsstatthalter Murr. The gauleiter of this name lets Party members have their own sweet way. An inconceivable corruption prevails. Every Nazi can do what he wants. The old career officials are being pushed to the wall by party functionaries, mostly younger SS-members. The party constantly oppresses with violence the people. There occur unimaginable injustices in thousands and thousands of cases. Gauleiter Murr covers up everything.« 108 Angesichts solcher Berichte war es nicht verwunderlich, daß er von den amerikanischen Behörden der »general responsibility on the general level« beschuldigt wurde und auf einer »List of Potential War Criminals under Proposed US Policy Directives« stand. 109 Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 499 104 Nachtmann (wie Anm. 62), S. 341. 105 Faksimile-Abdruck in: Lersch, Edgar; Poker, Heinz H.; Sauer, Paul (Hrsg.), Stuttgart in den ersten Nachkriegsjahren, Stuttgart 1995, S. 21. 106 Dekan Kieser an den Evangelischen Oberkirchenrat, 12. April 1945, zit. nach Henke, Klaus-Dietmar, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995, S. 832. 107 Henke (wie Anm. 106). 108 Report vom 5. Juni 1944, National Archives, RG 84 (Foreign Service Posts of the Department of State, American Legation, Bern, Confidential File, 800, Box 15). 109 »List of Potential War Criminals under Proposed US Policy Directives« vom 30. September 1944, <?page no="501"?> Seine Flucht vollzog sich völlig überstürzt kurz vor Mitternacht im Kreise seiner engsten Mitarbeiter und deren nächster Angehöriger: Zehn völlig überfüllte Personenwagen umfaßte dieser Troß gen Osten. 110 Erste Station war Urspring, ein Örtchen auf dem Weg von Geislingen nach Ulm. Hier blieb der Gauleiter allerdings aufgrund der immer näher rückenden Front nur drei Tage und entkam nun Richtung Süden. Die nächste Zwischenstation war das Schloß Kißlegg in Oberschwaben, von wo sich der Treck nach Trauchburg in die Nähe von Wangen im Allgäu weiterbewegte. Trauchburg diente allerdings nicht nur als eine Art Erholungspause: Trotz aller Zerfallserscheinungen bot Trauchburg in diesen Tagen ein groteskes Bild: Es wurde zu einem Sammelplatz versprengter württembergischer NS-Würdenträger, die verzweifelt nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau hielten. Zu Murrs Besuchern zählten sein Freund aus den Tagen der »Kampfzeit«, der Heilbronner Kreisleiter Richard Drauz, der Ulmer Oberbürgermeister Friedrich Foerster, Stuttgarts Polizeipräsident Heinrich Wicke und der berüchtigte Stuttgarter Gestapo-Leiter Mußgay. Der immer größere Andrang dieser Funktionäre wurde Murr aber bald zuviel. Ende April kam es im sogenannten »Gaustab«, der inzwischen wenig mehr als ein verlorener Haufen ratloser Nationalsozialisten war, zu Besprechungen über die weiteren Möglichkeiten. Was im einzelnen hier beratschlagt wurde, läßt sich wohl nicht mehr rekonstruieren. Die letzte Institution württembergischer nationalsozialistischer Macht löste sich jedenfalls auf. Murr, der Ende April zweimal in Wangen übernachtete und dessen Stab im dortigen Forsthaus »übel gehaust« hatte 111 , tauschte seine Uniform gegen unauffällige Zivilkleidung, die die Braut seines Adjutanten zur Verfügung stellte. Murr entschloß sich, Trauchburg zu verlassen. Von den Funktionären blieben nur seine beiden Adjutanten Hans Gutbrod und Dr. Heinz Spieß bei dem Trupp, der nun in Tagesetappen die Flucht fortsetzte. Über Kressbronn am Bodensee ging es über die deutsch-österreichische Grenze durch den Bregenzer Wald nach Schoppernau, von dort weiter im wilden Zickzack, der symptomatisch für die gesamte Flucht war, über Rankweil an der Grenze zur Schweiz ins Große Walsertal. Über Bludenz erreichten Murr und seine versprengte Horde schließlich die Biberacher Hütte. In diesem Notquartier blieb er bis zum 12. Mai, um es dann mit einer nicht weit entfernten unbewirtschafteten Almhütte oberhalb von Schröcken zu vertauschen. In Europa war inzwischen Frieden eingekehrt, aber für Murr und sein Gefolge war der Krieg noch nicht abgeschlossen. Die Zeit der Flucht als unerkannter Zivilist neigte sich allerdings dem Ende zu: Am Morgen des 13. Mai wurde die zunächst Joachim Scholtyseck 500 National Archives Microfilm Publication M-1221: R&A 2577.2. 110 Die Angaben über Murrs Flucht beruhen auf dem detaillierten Bericht, der am 23. April 1946 in der »Stuttgarter Zeitung« erschien. 111 Scheurle, Albert, Wangen im Allgäu. Das Werden und Wachsen der Stadt, Wangen im Allgäu 1975, S. 182. <?page no="502"?> unbekannte Gruppe von französischen Soldaten festgenommen, die das unwegsame Alpengelände erkundeten. Murr firmierte unter dem Allerweltsnamen »Müller«. Seine Papiere, so gab er gegenüber den Vernehmungsbeamten an, habe er verloren. Auf eine Kontrolle war er offenbar vorbereitet, denn er konnte österreichische Dokumente vorlegen, die ihn und seine Frau als Evakuierte auswiesen. Die Verhafteten kamen zunächst in ein Lager nach Schoppernau und wurden von dort auf Lastwagen ins knapp 20 Kilometer entfernte Egg in Vorarlberg gebracht. Hier wurde Murr von seiner Frau getrennt, die durch die lange Flucht offensichtlich körperlich und nervlich stark angegriffen war. Er selbst wurde, immer noch unerkannt, zusammen mit den drei verblieben Mitgliedern seines Gaustabes im Sammellager für männliche Internierte, dem Saal des Gasthauses »Zum Löwen« arretiert. Seine Frau und andere weibliche Gefangene wurden in einer 30 Meter entfernten Scheune festgehalten. Murr hatte seinen Parteigenossen und Begleitern mehrfach versichert, er werde sich bei einer Gefangennahme das Leben nehmen. Für sich und seine Frau hatte er für diesen Fall Giftampullen besorgt. In der Nacht brachte sich Frau Murr durch Gift um. Als ihm am folgenden Morgen von einem Beamten aus Egg mitgeteilt wurde, seine Frau sei einem Herzschlag erlegen, nutzte er die Gelegenheit der Identifizierung seiner Frau, um ebenfalls eine Giftampulle zu zerbeißen. Um 8 Uhr 30 am 14. Mai 1945 war der württembergische Gauleiter Wilhelm Murr alias »Walter Müller« tot. Zusammen mit seiner Frau wurde er auf dem Friedhof von Egg mit einem schlichten Holzkreuz beerdigt. Von der Herrlichkeit eines Reichsstatthalters war wenig übriggeblieben: In dem Sack mit den Habseligkeiten der unbekannten Toten befanden sich in wildem Durcheinander Taschentücher, Toilettengegenstände, Wäschestücke und Murrs beschädigte Brille. Das Nachspiel der ebenso erfolglosen wie verzweifelten Flucht vor der Verantwortung stand im Zeichen nüchterner Polizeiarbeit. Murrs Mitgefangene gaben seine Identität zunächst nicht preis, um sich nicht selbst zu belasten. Schon bald jedoch schöpften amerikanische und französische Behörden den Verdacht, Murr, nach dem fieberhaft gefahndet wurde, sei nicht mehr am Leben. Zusammen mit Fahndungsbeamten der württembergischen Landespolizei nahm man Ermittlungen auf, die schließlich auf den Friedhof von Egg im Bregenzer Wald führten. Am 16. April 1946 wurde das Grab des angeblichen Ehepaars Müller geöffnet. Der ehemalige Zahnarzt Murrs stellte anhand von Gebißstellung und einer Zahnprothese einwandfrei fest, daß es sich bei der vorgefundenen Leiche um den ehemaligen Gauleiter und Reichsstatthalter von Württemberg handelte. Die Erinnerung an Murr verblaßte schnell. Als zunächst Verschollener und dann als Toter war es für viele seiner innerparteilichen Gegner in den Jahren nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reiches« einfach, jegliche Verantwortung für die wenig heroische Geschichte Württembergs in der Zeit des Nationalsozialismus auf den ungeliebten und weithin verachteten Murr zu schieben. Murr bot sich freilich Wilhelm Murr, Gauleiter und Reichsstatthalter in Württemberg-Hohenzollern 501 <?page no="503"?> für diese undankbare Rolle geradezu an. Weder weltanschaulich noch persönlich hinterließ er einen bleibenden Eindruck. Er teilte damit das Schicksal vieler anderer Gauleiter, die in einer Ausnahmesituation ein politisches Gewicht erlangt hatten, das sie in politisch ruhigen Zeiten niemals erlangt hätten. So galt auch für Murr, den »Mann aus dem Volk«, das vernichtende Urteil, das ein nüchterner Bericht in der »Süddeutschen Zeitung« wenige Jahre später über das Schicksal der 43 Gauleiter fällte: »Per saldo: Kein Hahn kräht mehr nach ihnen«. 112 Bibliographie Quellen Die Informationen über die frühen Jahre Wilhelm Murrs sind dürftig. Da seine Frau mit ihm zusammen starb und sein Sohn während des Kriegs Selbstmord beging, ist kein Nachlaß vorhanden. Das Stadtarchiv Esslingen verfügt nur über rudimentäre Bestände zu Murrs früher politischer Betätigung. Unentbehrliche archivalische Bestände finden sich im ehemaligen Berlin Document Center und im Zwischenarchiv des Bundesarchivs in Dahlwitz-Hoppegarten. Eine wichtige Quelle für seine Tätigkeit nach 1930 ist der Stuttgarter »NS-Kurier«, den Murr seit 1931 leitete und in dem sich eine Vielzahl von Artikeln findet, die sich mit Murr als Gauleiter und Reichsstatthalter beschäftigten. Literatur Eine ausführliche Biographie über Wilhelm Murr liegt bis heute nicht vor. Hinweise auf seine Tätigkeit als Gauleiter finden sich zwar in einer Vielzahl von Abhandlungen über den Aufstieg des Nationalsozialismus in Württemberg, jedoch stellen sie Murr eher skizzenhaft vor. Hierzu zählt die Darstellung von Kurt Gayer, Wilhelm Murr. Gauleiter und Reichsstatthalter von 1933 bis 1945, in: Die Villa Reitzenstein und ihre Herren. Die Geschichte des baden-württembergischen Regierungssitzes, hrsg. v. K. Gayer, H. Krämer, G. Kempter, Stuttgart 1988, S. 119 - 130. Ein Aufsatzbeitrag zu Wilhelm Murr von Hubert Roser erscheint demnächst in »Lebensbilder aus Baden-Württemberg« 19 (1997). Joachim Scholtyseck 502 112 Süddeutsche Zeitung, 4. Mai 1950. <?page no="504"?> *2. Februar 1873 Kleinglattbach (Oberamt Vaihingen/ Enz), ev., Vater: Konstantin Karl Sebastian Ludwig Peter Julius Freiherr von Neurath, Kgl. Württ. Oberkammerherr, Mutter: Mathilde Berta Clementine Sophie Wilhelmine Auguste Freifrau von Neurath, geb. Freiin von Gemmingen-Hornberg, verheiratet seit 1901 mit Marie Auguste Moser von Filseck, zwei Kinder. Volks-, dann Lateinschule in Vaihingen/ Enz, 1886 Eberhard-Ludwigs-Gymnasium in Stuttgart, 1893 - 1896 Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Tübingen und Berlin, 1893/ 94 Einjährig-Freiwilliger beim Grenadierregiment Nr. 119 (1. Württ.) »Königin Olga», 1897 I. juristische Staatsprüfung, 1901 II. juristische Staatsprüfung, 1901 Assessor im Auswärtigen Amt, 1903 - 1908 Vizekonsul in London, 1908 - 1909 Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, 1909 - 1914 Legationsrat im Auswärtigen Amt, 1914 und 1915/ 16 Botschaftsrat in Konstantinopel, 1914 - 1915 Kriegsdienst als Hauptmann d. Res., EK II und I, Ritterkreuz des Württ. Militärverdienstordens, 1917 - 1918 Chef des Zivilkabinetts des Königs von Württemberg, 1919 - 1921 Gesandter in Kopenhagen, 1921 - 1930 Botschafter in Rom (Qurinial), 1920 - 1932 Botschafter in London, 2. Juni 1932 Reichsminister des Auswärtigen im Kabinett von Papen, 3. Dezember 1932 Reichsminister des Auswärtigen im Kabinett von Schleicher, 30. Januar 1933 - 4. Februar 1938 in gleicher Funktion im Kabinett Hitler, 4. Februar 1938 Vorsitzender des Geheimen Kabinettsrates, November 1939 Mitglied des Reichsverteidigungsrates, 18. März 1939 - 27. September 1941 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren. Januar 1937 Goldenes Parteiabzeichen und Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 3.805.229), September 1937 SS-Gruppenführer, 1943 SS-Obergruppenführer. 4. Mai 1945 Gefangennahme durch französische Truppen in Österreich, Haft in Lindau, Überlingen, Baden-Baden, Nürnberg, 1. Oktober 1946 Urteil des Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg: »Hauptkriegsverbrecher«, 15 Jahre Haft, 5. November 1954 Begnadigung, Haftentlassung, gest. 14. August 1956 Enzweihingen. Der erste Außenminister des »Dritten Reiches« war zugleich der letzte Außenminister der Weimarer Republik und damit eine Figur, die zumindest äußerlich Kontinuität zu verkörpern schien in einer Zeit, als Deutschland das Experiment Demokratie ad acta gelegt und sich dem »Führer« Hitler zugewendet hatte. Neurath war eine Persönlichkeit, auf die viele Etikettierungen zutreffen, ohne daß deren Summe eine auch nur halbwegs ausgewogene Charakteristik bieten würde: ein Karrierediplomat und konservativer Adeliger, den seine beruflichen Erfahrungen für das Das Aushängeschild der Hitler-Regierung Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) Frank Raberg 503 <?page no="505"?> Konstantin Freiherr von Neurath mit Adolf Hitler, 1938 anläßlich des 65. Geburtstages des Reichsaußenministers. Frank Raberg 504 <?page no="506"?> bedeutende Amt ebenso empfohlen wie seine mangelnde Belesenheit und Gewandtheit im Gespräch sowie sein Desinteresse am gesellschaftlichen Leben dagegen gesprochen hatten. Als parteiloser, aber eher dem rechten Spektrum zuzuordnender Minister gehörte er dem »unpolitischen«, vor allem nicht koalitionsgebundenen Kabinett von Papens an, und parteilos blieb Freiherr von Neurath auch für die nächsten Jahre. Sein Renommee insbesondere in Großbritannien und die Achtung, die er weithin in Europa genoß, verlieh der Hitler-Regierung einen nicht zu unterschätzenden Bonus, und so wird man den erfahrenen Diplomaten Neurath, dem am häufigsten das Attribut »nobel« zugesprochen wird, mit einigem Recht als ein Aushängeschild dieser Regierung in ihren ersten Jahren bezeichnen dürfen. Neurath blieb Außenminister, solange Hitlers Außenpolitik in den Bahnen des traditionellen Revanchismus verblieb. Als sich auch sein fatales Verständnis von Pflichterfüllung und Dienst am Vaterland mit den Zielen nationalsozialistischer Außenpolitik nicht mehr in Einklang bringen ließ und er sich in wenigen Einzelfällen wehrte und verweigerte, wurde er 1938 entlassen und auf einen letzlich bedeutungslosen, weil durch seine Stellvertreter Frank und Heydrich machtpolitisch paralysierten Posten als Reichsprotektor in Böhmen und Mähren abgeschoben, wo er erneut mit seinem Namen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verbrämen sollte. Doch auch diese Stellung verlor er, freilich bereits im 70. Lebensjahr stehend. Der behäbige, wenig entschlußfreudige Schwabe hat - als Außenminister und als Reichsprotektor - stets zu spät an Rücktritt gedacht, obwohl er in einem Alter war, das ihm diesen leicht gemacht hätte. So wird man Neurath, der immerhin neun Jahre lang eine Spitzenstellung im »Dritten Reich« einnahm, nicht zugestehen können, er sei ein Gegner des NS-Staates oder ein Kriegsgegner gewesen. 1 Er stand seit 1945 als zweifellos exponierter Vertreter des NS-Systems in Nürnberg unter schwerwiegendster Anklage und wurde zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt, aus der der über Achtzigjährige kurz vor seinem Tod entlassen wurde. Er selbst hat wohl bis zuletzt nicht begriffen, nicht begreifen können oder nicht begreifen wollen, warum er, der Patriot, der sich bemüht sah, in seiner Arbeit als Diplomat ebenso wie als Außenminister zum Vorteil Deutschlands tätig zu sein, der bei seinen europäischen Kollegen anerkannt und, solange er Minister war, ohne sie bzw. gegen deren Widerstand »seine« Außenpolitik gar nicht hätte »machen« können, nach dem Sturz des NS-Staates seine einstige Reputation verloren hatte. Er realisierte nicht, in welchem Maße er verstrickt gewesen war in den Fäden eines zunehmend aggressiven, menschenverachtenden und unmoralischen Terror- und Unrechtsstaates. Er entstammte einer zur Zeit seiner Geburt erst seit wenigen Jahrzehnten in Württemberg ansässigen, ursprünglich hessischen Familie, die uns in urkundlichen Er- Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 505 1 Diesen »Mythos« haben zuletzt überzeugend widerlegt Janßen, Karl-Heinz; Tobias, Fritz, Der Sturz der Generäle. Hitler und die Blomberg-Fritsch-Krise 1938, München 1994, S. 14 f. und 263. <?page no="507"?> wähnungen erstmals als Nauroth bzw. Naurod begegnet. 2 1791 hatte Kaiser Leopold II. die Familie in den Reichsadelsstand erhoben, und seit Dr. Constantin Neurath, zuletzt Präsident des Hofgerichts in Rastatt, seine juristische Karriere nach Südwestdeutschland geführt hatte, war die Familie darangegangen, sich mit Nachdruck in die Geschichte des Königreichs Württemberg einzuschreiben. Schon der Sohn Constantin Franz Fürchtegott war Präsident des Justizkollegs in Stuttgart und wenige Wochen vor seinem frühen Tod von König Wilhelm I. sogar zum Justizminister ernannt worden. Sein Sohn wiederum, Constantin Justus Franz, stieg zum Wirklichen Geheimen Rat und Staatsrat, 1852 zum Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, 1855 zum Präsident des Geheimen Rates, 1864 zum Justizminister auf. 1868 wurde er als Abgeordneter in das Zollparlament gewählt. Dieser bis dahin (und vielleicht überhaupt) bedeutendste Vertreter der Familie erreichte, daß sie im März 1851 in den württembergischen Freiherrenstand erhoben wurde, und kaufte die Güter Kleinglattbach und Leinfelderhof. Auf dem Familiengut Kleinglattbach wurde Konstantin Hermann Karl Freiherr von Neurath als ältestes Kind des Freiherrn Konstantin von Neurath und dessen aus dem Hause Gemmingen-Hornberg stammender Ehefrau Mathilde am 2. Februar 1873 geboren. Dem Erstgeborenen folgten noch zwei weitere Söhne, Wilhelm Heinrich Julius und Ernst Joseph Baptist, die beide die Offizierslaufbahn einschlugen. Der Vater 3 , ein Jugend- und Studienfreund des württembergischen Kronprinzen und späteren Königs Wilhelm II., hatte schon während seiner Studienjahre im Corps Suevia, einer der traditionellen Tübinger Studentenverbindungen, eine herausragende Position eingenommen und stand seit 1905 an der Spitze der »alten Herren«. Er war verheiratet mit einem Mitglied des altschwäbischen Geschlechts Gemmingen- Hornberg, der Freiin Mathilde. Auf diese Weise wußte er seine Familie noch fester in die Hofgesellschaft einzubinden. 1875 wurde er zum Kammerherrn bei Hofe ernannt, und von 1881 - 1890 dauerte der Ausflug des politisch wenig ambitiösen Gutsbesitzers, der sich der Freikonservativen Partei anschloß, in den Reichstag, in den er als Abgeordneter des Wahlkreises Württemberg IV (Vaihingen-Maulbronn- Böblingen-Leonberg) gewählt worden war. Ende 1891 ernannte ihn der neue König Wilhelm II. zum Vorstand des Oberkammerherrnamtes - eine Position, die er bis zu seinem Tode - er erlag einem plötzlichen Blutsturz - ausfüllen sollte. Der älteste Sohn wuchs mit seinen Brüdern in der ländlichen Atmosphäre von Kleinglattbach und Leinfelderhof auf. Neurath blieb stets seiner schwäbischen Heimat und der Natur verbunden, schätzte die Zurückgezogenheit und wurde bereits Frank Raberg 506 2 Die folgenden Ausführungen zur Familie Neurath beruhen auf den Angaben im Genealogischen Handbuch des Adels. Freiherrliche Häuser B II, Günzburg 1957, S. 303 - 306. Wesentliche Unterlagen zur Familiengeschichte und zur Geschichte der Güter Kleinglattbach und Leinfelderhof befinden sich in dem 6 lfm. umfassenden Familienarchiv der Freiherren von Neurath im HSTAS, Q 3/ 11. 3 Über den Vater vgl. Schwäbischer Merkur 254 (Mittagsblatt), 4. Juni 1912, S. 4, sowie Marchtaler, Kurt Erhard von, Lebensbilder (Suevia-Tübingen 1831 - 1931 3), Tübingen 1931, S. 245 - 246. <?page no="508"?> als Kind von seinem Vater, der oftmals mit Kronprinz Wilhelm auf die Jagd ging, zu einem großen Freund dieser »Leidenschaft« erzogen. In ganz selbstverständlicher Weise wurden die Neurath-Brüder in einem christlich-protestantischen Elternhaus im Bewußtsein ihres Standes und in Ehrfurcht vor Gott, König und Kaiser - in dieser Reihenfolge - erzogen. Pflichteifer, Tüchtigkeit, Verantwortung und Patriotismus blieben ihm ein Leben lang, freilich in der von ihm verstandenen Weise, Koordinaten des Lebens, und seine sowie die Bindung seiner Familie an Württemberg war stets besonders eng - was er auch vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg hervorhob 4 und was sich etwa in seiner Bevorzugung schwäbischer Beamte durchgängig ausdrückte. 5 Der Älteste erhielt einige Monate Unterricht bei einem Privatlehrer, ehe er zunächst die Volksschule, danach die Lateinschule in der Oberamtsstadt Vaihingen an der Enz besuchte. 1886 wechselte er mit seinem Bruder Wilhelm nach Stuttgart, wo beide ihre schulische Ausbildung am renommierten »Ebelu«, dem Eberhard-Ludwigs-Gymnasium, beendeten. 6 Obwohl er kein überdurchschnittlich guter Schüler war, stand es wohl zu keiner Zeit in Frage, daß der älteste Neurath-Sohn die Familientradition fortsetzte und sich zum Juristen ausbilden ließ 7 . Das Jurastudium führte ihn - obligatorisch für ein Mitglied einer der ersten Familien des württembergischen Hofadels - im Sommersemester 1893 an die Alma Mater des Landes, die Eberhard-Karls-Universität in Tübingen 8 , wo er sich nach Ende seines Militärdienstjahres als Einjährig-Freiwilliger (bei den »Olga«-Grenadieren, Infanterieregiment Nr. 119) auch dem traditionsreichen und besonders von jungen Adligen frequentierten schwäbischen Corps Suevia anschloß, dem schon sein Vater angehört hatte und dem später wiederum sein Sohn angehören sollte. 9 Im Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 507 4 Taylor, Telford, Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkenntnisse aus heutiger Sicht, 2. Aufl. München 1996, S. 526 f. 5 So versuchte Neurath etwa noch als Reichsprotektor ebenso beharrlich wie erfolglos, zwei Beamte der Stuttgarter Stadtverwaltung nach Prag abzuwerben. Den Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin gedachte er nach Kriegsende zum Prager Stadtoberhaupt zu ernennen, vgl. Nachtmann, Walter, Karl Strölin. Stuttgarter Oberbürgermeister im »Führerstaat«, Tübingen, Stuttgart 1995, S. 210 ff. Neuerdings betont auch Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 4), München 1996, S. 223 ff., nochmals, wie sehr sich Neurath um schwäbische Beamte für Spitzenpositionen in der Protektoratsverwaltung bemühte und damit auch insofern Erfolg hatte, als immerhin 18 Württemberger vom Neckar an die Moldau wechselten und zum Teil bedeutende Stellungen erhielten - so etwa Freiherr Hans von Watter (1939 Oberlandrat von Prag-Stadt und -Land) oder Walter Fuchs (1939 Leiter der Abteilung Innenverwaltung). 6 Vgl. Heineman, John L., Hitler’s First Foreign Minister. Constantin Freiherr von Neurath. Diplomat and Statesman, Berkeley, Los Angeles 1979, S. 8. 7 Auch sein keineswegs erstklassiges Abitur relativierte von Neurath später mit dem Hinweis, die Klassenbesten wären selten auch im Leben die Erfolgreichsten, vgl. Heineman (wie Anm. 6). 8 Immatrikuliert am 13. Juni 1893, abgegangen am 6. März 1895, Abgangszeugnis vom 16. Oktober 1896, Studentenakte von Neurath, UATÜ 40/ 154 Nr. 154. 9 Vgl. Howaldt, Heinz, Mitglieder (Suevia-Tübingen 1831 - 1931 2), Tübingen 1931, S. 68, 171, 316. Neurath wurde am 30. Juni 1894 Mitglied des Corps. <?page no="509"?> Sommersemester 1895 und im Wintersemester 1895/ 96 war er an der Universität Berlin eingeschrieben, um im Sommersemester 1896 in Tübingen seine Studienzeit zu beenden. 10 Während dieser Zeit besuchte er auch Seminare des berühmten späteren Kanzlers der Universität, Max von Rümelin, und war als Corpsstudent ein begeisterter Duellant und Fechter, der die ihm beigebrachten Narben voller Stolz trug. 1897 bestand er die I. Höhere Justizdienstprüfung, der die obligatorische Referendarzeit folgte, 1901 die II. Höhere Justizdienstprüfung, wonach er als Gerichtsassessor tätig war. Jedoch stellte sich bald heraus, daß er wenig Neigung für eine Laufbahn im württembergischen Justizdienst hegte und zu ganz anderen Ufern strebte. Nur scheinbar war der Wunsch Neuraths, in den diplomatischen Dienst des Reiches einzutreten, mit großen Hindernissen verknüpft. Damals mußte man, je nach intendierter Laufbahn (Konsul, Gesandter, Botschafter) zwischen 10.000 (konsularische Laufbahn) und 20.000 Reichsmark (diplomatische Laufbahn) jährliches Mindesteinkommen nachweisen, um überhaupt eine Chance für die diplomatische Karriere zu haben. Die Güter der Neuraths warfen aber nicht einmal 10.000 Reichsmark pro Jahr ab, so daß der Ausweg nur in einer reichen Heirat bestehen konnte. Recht nüchtern scheint auch der 28jährige Neurath dies gesehen zu haben, und so heiratete er am 30. Mai 1901 in Stuttgart Marie Auguste »Manny« Moser von Filseck, die umtriebige und energische Tochter des einflußreichen und sehr betuchten Bankdirektors Alexander Moser von Filseck, eines Mannes, der 1870 vom württembergischen König geadelt worden war und sich seitdem von Moser nannte. Der mit einer ebenfalls begüterten Kaufmannstochter verheiratete Moser war von dieser Ehe denn auch nicht eben angetan und zeigte sich auch vom familiären Hintergrund des ambitiösen Schwiergersohns wenig beeindruckt 11 , dessen Karriere er nicht mehr erlebte. Die junge, rundliche Freifrau von Neurath konnte es nicht entfernt mit dem blendenden Äußeren ihres Ehemannes aufnehmen, hielt jedoch stets bedingungslos zu ihm und wußte ihn mit ihrem Ehrgeiz zu steuern und zu höheren Zielen zu treiben - was auch vielen Zeitgenossen nicht verborgen blieb. 12 Frank Raberg 508 10 Unzutreffend sind die Angaben bei Bleyer, W., Neurath, Constantin von, in: Biographien zur deutschen Geschichte. Lexikon von den Anfängen bis 1945, hrsg. v. K. Pätzold u.a., Berlin 1991, S. 367, und bei Hofmann, Hans Hubert, in: Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte Bd. 2, München 1974, S. 2009, von Neurath habe 1892 (also im Alter von 19 Jahren ! ! ) promoviert. Da er lediglich während seiner Zeit als Botschafter in Italien zum Dr. jur. E. h. der Universität Camerino ernannt wurde, hat von Neurath zu keiner Zeit einen regulären Doktorgrad erworben, weshalb auch die (nicht an das Jahr 1892 gebundene) Angabe bei Behnen, Michael, Neurath, Constantin von, in: Lexikon der deutschen Geschichte. Personen - Ereignisse - Institutionen. Von der Zeitwende bis zum Ausgang des 2. Weltkrieges, hrsg. v. G. Taddey, Stuttgart 1979, S. 853, Neurath sei Dr. jur. gewesen, nicht den Tatsachen entspricht. 11 Der Vater Alexander von Mosers war Finanzrat und Geheimer Sekretär der württembergischen Königin Pauline gewesen. Der ältere Bruder Rudolf war zum Staatsrat ernannt worden und württ. Gesandter in Berlin gewesen. Dessen Sohn Karl war später württembergischer Gesandter in München. Vgl. zur Familie Moser von Filseck das Genealogische Handbuch des Adels, Adelige Häuser B III, Glücksburg 1958, S. 322 - 330. Vgl. auch Heineman (wie Anm. 6), S. 9. 12 Theodor Heuss schrieb am 19. August 1956, Neurath sei vom »Ehrgeiz der Frau« und starken <?page no="510"?> Im Herbst 1901 trat der frischverheiratete Neurath als Assessor in die Wirtschaftsabteilung des Auswärtigen Amtes in Berlin ein und wurde im Januar 1903 an das deutsche Konsulat nach London abgeordnet, wo er bis 1908, zuletzt als Vizekonsul, tätig war und ein ambivalentes Englandbild gewann, das über Jahrzehnte hin bei ihm bestimmend blieb: einerseits bewunderte er die Weltmacht, pflegte die englische Sprache mit einer gewissen Begeisterung und persönliche Kontakte bis in die königliche Familie hinein - die spätere Königin Mary, eine geborene Prinzessin von Teck, hatte er als 19jähriger in Stuttgart vor einem Feuer in Sicherheit gebracht, später trug er Sorge dafür, daß die Königin stets von ihr besonders geschätzte Äpfel aus einem Obstgarten in Kirchheim unter Teck erhielt 13 -, andererseits blickte er verächtlich auf die Engländer herab, die nach seinem Dafürhalten nur danach trachteten, Deutschland einmal anzugreifen, weshalb das Kaiserreich seine Flottenrüstung unbedingt weiterführen müsse. 14 In diesen Jahren, als Neurath in seinem Beruf die ersten wichtigen Schritte tat, wurden auch die beiden Kinder geboren: Constantin Alexander am 10. April 1902 in Berlin, Winifred Mathilde Christine Helene am 23. September 1904 in London. 15 Im Januar 1908 wurde er nach Berlin zurückgerufen - eine Entscheidung des Auswärtigen Amtes, der Neurath gerne folgte, fühlte er sich doch von seinen im wesentlichen nur auf den wirtschaftlichen Sektor beschränkten Aufgaben unterfordert. Außerdem erkannte er, daß ihm die konsularische Laufbahn doch nicht gefiel, ein Wechsel in die diplomatische aus finanziellen Gründen jedoch beinahe unmöglich war. So füllte er mit wenig Begeisterung ihm übertragene Sekretärsstellen wie etwa bei der Internationalen Verlagsrechtskonferenz 1908 aus, wurde im Jahr darauf zum Legationsrat in der Sektion Handel der Westeuropäischen Abteilung befördert und hoffte auf ein Wunder, das seine unbefriedigende Situation möglichst umgehend verbessern würde. Als 1910 Alfred von Kiderlen-Wächter als Staatssekretär bestimmenden Einfluß auf die deutsche Außenpolitik gewann, schien sich das Wunder zu ereignen. Selbst Schwabe und zudem mit Neuraths Mutter verwandt, sah Kiderlen-Wächter in Neurath einen idealen Kandidaten für die reorganisierte diplomatische Laufbahn, wie sie ihm vorschwebte: neben den traditionellen Fähigkeiten sollten die Diplomaten nämlich auch spezielle Kenntnisse im Bereich Wirtschaft und Industrie aufweisen, was bei Neurath in der Tat der Fall war. Der plötzliche Tod des Staatssekretärs schien alle Hoffnungen Neuraths auf einen Wechsel in die diplomatische Laufbahn zunichte Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 509 »Besitz-Sinn ins letzte Unheil getrieben« worden. Siehe Heuss, Theodor, Tagebuchbriefe 1955 - 1963. Eine Auswahl an Briefen an Toni Stolper, Tübingen, Stuttgart 1970, S. 188. 13 Dies berichtete Neurath noch als Häftling in Spandau, wie sich etwa Albert Speer erinnert, vgl. Speer, Albert, Spandauer Tagebücher, Frankfurt/ Main, Berlin, Wien 1975, Eintrag vom 22. April 1952, S. 185. 14 Speer (wie Anm. 13), S. 10. 15 Der Sohn starb am 7. Juni 1981 in München, die Tochter am 12. März 1985 in Stuttgart. Freundliche Mitteilung des Leiters des Stadtarchivs Vaihingen/ Enz, Dr. Lothar Behr, 10. Oktober 1996. <?page no="511"?> zu machen, zumal der ebenfalls 1912 erfolgte Tod seines Vaters ihn dazu zwang, sich verstärkt um die Familienbesitzungen zu kümmern. Doch im Februar 1913 gelang ihm dann doch noch dieser Wechsel, indem er in die Politische Abteilung des Auswärtigen Amtes übernommen wurde. Neuraths eigentliche Karriere konnte beginnen. 16 Nach einem Jahr erfolgte seine Ernennung zum Botschaftsrat bzw. Ersten Sekretär am Hofe des türkischen Sultans. In Konstantinopel, wo er seine neue Tätigkeit zum 1. August 1914 aufnehmen sollte, folgte er damit dem nach St. Petersburg wechselnden Botschaftsrat von Mutius nach. Die Ereignisse im Vorfeld des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges hielten Neurath aber zunächst in Deutschland fest, und als das Reich an der Seite Österreich-Ungarns in den Krieg eingetreten war, betrachtete es der Hauptmann der Reserve als selbstverständlich, mit den Olga-Grenadieren zu marschieren - obwohl er durchaus nicht kriegsbegeistert war und die Entscheidungen Kaiser Wilhelms II. für falsch hielt. Aus welchen Gründen auch immer - wenn sich das Vaterland im Krieg befand, wollte er Soldat sein und nicht Diplomat. 17 Noch im August 1914 wurde er verwundet und erhielt bald das EK II (16. Oktober 1914), nur wenig später auch das EK I (1. Januar 1915). 18 Nur widerstrebend leistete Neurath im Frühjahr 1915 dem Wunsch des Auswärtigen Amtes Folge, sofort nach Konstantinopel zu reisen, um seinen Aufgaben in der dortigen, personell unterbesetzten Botschaft nachzukommen. Als er am Bosporus eintraf, herrschte dort ein vollständiges Chaos in den Beziehungen der Bündnispartner Deutsches Reich und Türkei, deren Truppen im Vorderen Orient im wesentlichen gegen die Engländer kämpften. Dem wenig tatkräftigen Botschafter - der seiner Krankheit bald erlag - war es nicht gelungen, Eigenmächtigkeiten des deutschen Offizierskorps’ zu unterbinden und einen guten Draht zu den Spitzen der türkischen Regierung herzustellen. Bis zum Eintreffen des neuen Botschafters Metternich Ende 1915 nahm Neurath faktisch die Leitung der Botschaft in die Hand, und es gelang ihm, dem bisher am Hofe von St. James akkreditierten Metternich vergleichsweise geordnete Verhältnisse zu präsentieren. Vor allem hatte er Mitarbeiter, die er für unfähig hielt, von ihren Positionen entfernt und das Auswärtige Amt mit kritischen Berichten bombardiert, die Wirkung zeigten. Er kultivierte bereits in dieser Zeit die Eigenschaft, Zustände, die ihm nicht paßten, deutlich zu benennen und Unprofessionalität unnachsichtig zu ahnden. 19 Mit Metternich überwarf sich Neurath schnell. In der deutschen Botschaft am Bosporus machte Metternich vieles rückgängig, was Neurath auf den Weg gebracht hatte, und wußte das Auswärtige Amt dabei ebenso hinter sich wie den Kaiser. Als Frank Raberg 510 16 Vgl. Heineman (wie Anm. 6), S. 10 ff. und Döscher, Hans-Jürgen, Das Auwärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung, Berlin 1987, S. 51. 17 Heineman (wie Anm. 6), S. 10. 18 HSTAS, Heeresarchiv, Personalakten Reserveoffizier N 4/ 6. 19 Heineman (wie Anm. 6), S. 13. <?page no="512"?> der verärgerte Botschaftsrat im August 1916 auf Urlaub in Berlin war, erklärte er kategorisch, er werde nicht mehr nach Konstantinopel zurückkehren. So wurde er wieder in Berlin verwendet, und zwar als stellvertretender Leiter der Presseabteilung - eine Aufgabe, die ihm überhaupt nicht behagte. 20 Es fügte sich gut, daß sich nach wenigen Monaten die Möglichkeit ergab, ein anderes Tätigkeitsfeld zu beackern. Neurath war als Sohn eines engen Freundes des württembergischen Monarchen von Anfang an fest in das höfische Leben vor allem in Stuttgart eingebunden. 21 1903 wurde er zum Kammerjunker ernannt, sieben Jahre später zum Kammerherrn. Schon vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war er mit dem Friedrichsorden I. Klasse sowie mit dem Preußischen Roten Adlerorden III. Klasse ausgezeichnet worden; 1914/ 15 hatte er neben den Eisernen Kreuzen auch das begehrte Ritterkreuz des Württembergischen Militärverdienstordens und das Großkreuz des Österreichischen Franz- Josef-Ordens erhalten. Ende 1916 trat der Chef des Kgl. Württ. Zivilkabinetts, Julius Freiherr von Soden 22 , ein Großonkel Neuraths, im Alter von 70 Jahren in den Ruhestand. Der vakante Posten wurde von Neurath angeboten, dessen Name schon lange vorher im Gespräch gewesen und dessen mögliche Nachfolge bereits seit Wochen auch öffentlich bekannt war. So berichtete der »Schwäbische Merkur« bereits Ende November über die wichtigsten Stationen der Karriere von Neuraths, der nun - was ja gar nicht mehr zutraf - in Konstantinopel wirke und von dem »gerühmt« werde, »daß er seiner dortigen schwierigen und verantwortungsreichen Aufgaben in vollem Umfang gewachsen war und die deutschen Interessen ebenso mit Klugheit wie mit Interesse vertreten hat«. 23 Am 11. Januar 1917 trat er die neue und gut dotierte Stellung, eine hochangesehene Vertrauensposition als engster Berater und Berichterstatter des Monarchen in allen politischen Angelegenheiten, offiziell an. 24 Das Verhältnis zum König gestaltete sich so gut, daß er ihn bald beim Vornamen nannte. Neurath wohnte den meisten Gesprächen des Königs mit Gästen im Land, aber auch auf Besuchen bei, erstattete ihm täglich Bericht über die Kriegslage sowie über die innenpolitischen Tagesereignisse, vor allem über die Sitzungen der beiden Kammern des Landtags, und stand qua Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 511 20 Heineman (wie Anm. 6), S. 14 und ausführlich S. V f. in den »Notizen aus dem Leben des Reichsprotektors Constantin Hermann Freiherrn von Neurath«, die sich im Nl Neurath 177 im BA befinden. Darin beschreibt er (in der dritten Person) seine Laufbahn. 21 Vgl. zu den höfischen Ämtern Neuraths die Unterlagen im HSTAS, E 14, Kabinettsakten IV, Bü 229. 22 Siehe zu Soden den Beitrag von Meinrad Freiherr von Ow in: Lebensbilder aus Schwaben und Franken Bd. 16, hrsg. v. R. Uhland, Stuttgart 1986, S. 250 - 272. 23 Artikel »Wechsel im Kabinett des Königs«, in: Schwäbischer Merkur 550 (Morgenblatt), 23. November 1916, S. 6. 24 Heineman (wie Anm. 6), S. 15. Der Schwäbische Merkur 19 (Morgenblatt), 13. Januar 1917 meldete, der Wechsel an der Spitze des Kgl. Württ. Kabinetts habe sich »nunmehr vollzogen«. Quellen zu Neuraths Tätigkeit als Kabinettschef im HSTAS, E 14. Bisher wenig beachtet ist die Tatsache, daß mit Ausnahme des Freiherrn von Gemmingen-Guttenberg alle Kabinettschefs Wilhelms II. seine Corpsbrüder waren. <?page no="513"?> Amt an der Spitze des Schwäbischen Schillervereins. 25 Auch in Kriegszeiten war diese Tätigkeit für einen Mann, der die Herausforderungen des diplomatischen Dienstes kennengelernt hatte, wenig befriedigend und nicht selten einfach langweilig; deshalb spielte er auch mehrfach mit dem Gedanken, seine Stellung aufzugeben und als Offizier an die Front zurückzukehren. 26 Seine Fähigkeiten als Diplomat konnte der Kabinettschef dann wieder voll einbringen, als die Langeweile des täglichen Einerleis durch die Revolution in Württemberg und die Thronentsagung des Königs unterbrochen wurde. Ohne Frage bedeutete der November 1918, der auch in Württemberg den Umsturz der politischen Verhältnisse brachte, für Neurath, seine berufliche Stellung und seine Kaste einen fundamentalen Einschnitt. Über die Einzelheiten der entscheidenden Tage und der Aktivitäten des Kabinettschefs sind wir vergleichsweise gut unterrichtet. 27 So bemühte sich von Neurath im Auftrag des Königs erfolgreich um den Verbleib zumindest zweier Kgl. Württ. Minister - des Innenministers von Köhler und des Finanzministers von Pistorius - in der neuen parlamentarischen Regierung unter Führung des Demokraten Liesching, nachdem das Kabinett von Ministerpräsident von Weizsäcker am 6. November zurückgetreten war. 28 Als in Stuttgart die Meldung eingetroffen war, daß im München die Republik ausgerufen worden sei, rief Innenminister von Köhler auf den Abend des 8. November eine Sitzung ein, an der neben dem neuen Ministerpräsidenten und Ministerialbeamten vornehmlich des Innenministeriums, Vertretern der Stadt Stuttgart, des Militärs und der Polizei auch Neurath teilnahm, der sich besorgt über ihm mehrfach telefonisch angekündigte Putschversuche äußerte und sich nach den Sicherheitsvorkehrungen für das Königspaar erkundigte. Nachdem ihm darüber beruhigende Mitteilungen gemacht werden konnten, verließ er die Sitzung kurz und eilte zum König, der Neurath bat, der Versammlung mitzuteilen, daß ein Blutvergießen um seinetwillen verhindert werden müsse. 29 Tags darauf verhandelte er mit den in das Wilhelmspalais eingedrungenen Revolutionären, die das Einholen der Kgl. Hausstandarte und die Hissung der Roten Flagge forderten, und sorgte für die gefahrlose Abfahrt des persönlich tiefgetroffenen Königs nach Bebenhausen. 30 Neurath blieb zunächst in Stuttgart, um die weiteren Verhandlungen zu führen und den Monarchen aus erster Hand über den Fortgang der Ereignisse unterrichten zu können. Wenig Frank Raberg 512 25 Sauer, Paul, Württembergs letzter König. Das Leben Wilhelms II., Stuttgart 1994, S. 251. 26 Heineman (wie Anm. 6), S. 15 ff. 27 Vgl. vor allem Kohlhaas, Wilhelm, Der 9. November 1918 im Stuttgarter Wilhelmspalais. Die Geschichte einer Legende, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 37 (1978), S. 307 - 361, und Weller, Karl, Die Staatsumwälzung in Württemberg 1918 - 1920, Stuttgart 1930. 28 Pistorius, Theodor von, Die letzten Tage des Königreichs Württemberg. Mit Lebenserinnerungen und Lebensbekenntnissen von seinem letzten Finanzminister, dem nachherigen Hochschullehrer..., Stuttgart 1935, S. 16. 29 Ausführliche Schilderungen zum Verlauf der Sitzung bei Köhler, Ludwig von, Zur Geschichte der Revolution in Württemberg. Ein Bericht, Stuttgart 1930, S. 137 - 146; Weller (wie Anm. 27), S. 104 - 105 . 30 Köhler (wie Anm. 29), S. 149; Kohlhaas (wie Anm. 27), S. 318. <?page no="514"?> später am gleichen Tag war es auch der Chef des Kgl. Württ. Zivilkabinetts, der nach einem Anruf des SPD-Landtagsabgeordneten Keil die vom Innenminister zugesagte, aber nicht erfolgte Entlassung des Spartakistenführers Rück und einiger seiner Freunde aus der Haft vermittelte, was am Abend des 9. November geschah und weitere Unruhen und Aktionen seiner Anhänger verhinderte. 31 Nachdem sich ebenfalls noch am 9. November eine aus Vertretern der Mehrheits- und Unabhängigen Sozialdemokratie bestehende Gegenregierung gegen das Kabinett Liesching gebildet hatte, telefonierte Neurath am 10. November auf Bitte von Ministerpräsident Liesching mit dem König in Bebenhausen und erwirkte, daß dieser die Mitglieder des 2-Tage-Kabinetts Liesching von ihren Amtspflichten entband. 32 In den nächsten drei Wochen handelte Neurath mit der neuen Regierung unter Vorsitz des fast 70jährigen Wilhelm Blos (SPD) die Einzelheiten der Neuregelung der finanziellen und Besitzverhältnisse des Königs und seiner Familie aus. Pragmatisch hatte sich Neurath auf die neue Grundlage gestellt, die ihm zwar nicht gefiel, die er aber akzeptierte, weil nach seinem positivistischen Verständnis der Staat über der Regierungsform und über den jeweils Regierenden rangierte. Die offizielle Abdankung König Wilhelms II. erfolgte am 30. November 1918. Neurath war auch an der Abfassung dieses Schreibens beteiligt. Es war eine seiner letzten Handlungen im Dienste des alten Herrn. Neurath wollte nämlich nicht als Haushofmeister in Bebenhausen verbleiben, weshalb er um seinen Abschied bat und sich auf sein Familiengut zurückzog. 33 Er hatte keine Angebote für eine andere Tätigkeit, will aber einen Kabinettsposten in der württembergischen Regierung mit dem Gruß des Götz von Berlichingen abgelehnt haben. 34 Als der Monarch im Herbst 1921 starb, wohnte Neurath der Trauerfeier als wandelndes Symbol einer vergangenen Ära als einziger in der großen Trauerversammlung im vollen Ornat eines Kgl. Württ. Kammerherrn bei. 35 Die Revolution in Württemberg hatte Neuraths Position als Kabinettschef nach zwei Jahren überflüssig gemacht. Damit hatte er sowenig wie irgend jemand anderer rechnen können, als er den diplomatischen Dienst verärgert quittiert hatte. Die neuen Verhältnisse, die in Stuttgart seinen Abschied erzwungen hatten, führten aber auf Reichsebene dazu, ihn wieder in den Dienst des Auswärtigen Amts aufzunehmen - was sonst wohl kaum noch möglich gewesen wäre. Eine Schlüsselrolle kam dabei Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 513 31 Vgl. Keil, Wilhelm, Erlebnisse eines Sozialdemokraten Bd. 2, Stuttgart 1948, S. 90 f. Der damalige Innenminister erwähnt diese Rolle Neuraths in seinem Buch (wie Anm. 29), S. 155 f. ebenfalls. 32 Keil (wie Anm. 31), S. 99; Köhler (wie Anm. 29), S. 160; Pistorius (wie Anm. 28), S. 42. 33 Heineman (wie Anm. 6), S. 17; Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. VII. 34 Neurath, Notizen (wie Anm.), S. 18. Heineman beruft sich auf ein Schreiben Neuraths an den Reichsaußenminister Graf von Brockdorff-Rantzau vom 1. Januar 1919. Weder in der Literatur noch in den einschlägigen Quellenbeständen des HSTAS läßt sich dafür freilich ein Beleg finden, was angesichts der Tatsache, daß Neuraths Berufung in ein Ministeramt Ende 1918 eine Signalwirkung gehabt hätte, welche die Regierung Blos gesprengt und Unruhen im Land ausgelöst hätte, auch nicht zu erwarten war. Vgl. auch Döscher (wie Anm. 16), S. 56. 35 Heineman (wie Anm. 6), S. 21. <?page no="515"?> allem Anschein nach Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau zu, der im Dezember 1918 vom Rat der Volksbeauftragten zum Staatssekretär des Äußeren ernannt worden war und mit Personalproblemen zu kämpfen hatte, die vor allem daraus resultierten, daß der Personalbestand der höheren Beamten des Auswärtigen Amtes sich innerhalb kurzer Zeit mehr als halbiert hatte. Auch vor dem Hintergrund der schwierigen Friedensverhandlungen in Versailles dazu gezwungen, sehr schnell wieder fähige Mitarbeiter zu gewinnen, konnte er Neurath mit der Aussicht, Botschafter in Dänemark zu werden, wieder an das Auswärtige Amt binden. 36 Brockdorff-Rantzau hatte diesen Posten bis zu seinem Aufstieg nach der Revolution selbst bekleidet. Ob Neurath, wie er in einer autobiographischen »Skizze« seiner diplomatischen Laufbahn (1945) festhielt, auch vom damaligen Vorsitzenden des Rates der Volksbeauftragten und späteren ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (SPD) gebeten worden ist, sich wieder dem Reichsdienst zur Verfügung zu stellen, darf hingegen füglich bezweifelt werden. 37 Neurath trat im Februar 1919 seinen Posten als Botschafter in Kopenhagen an und begann damit eine Tätigkeit als Repräsentant eines Staates, mit dem er sich bestenfalls oberflächlich und äußerst pragmatisch arrangiert hatte, ohne selbst als südwestdeutscher, konservativ geprägter Adliger auch nur ein wenig mit dessen später beschlossener Verfassung sowie dem ganzen Regierungssystem anfangen zu können. Hier stieg ein Mann wieder in seinen Beruf ein, der in erster Linie Deutschland vertrat und nicht das neue politische System, der für Deutschland warb und darum, seinem Vaterland auf dem Weg aus der »Erniedrigung« nach der Niederlage im Weltkrieg wieder aufzuhelfen. Daraus den Schluß zu ziehen, er habe bei »einer konservativen Grundhaltung durchaus demokratisch empfunden« 38 , läßt sich entweder auf große Blauäugigkeit zurückführen oder stellt den Versuch dar, Neurath retrospektiv »umzufärben«. Dieser war in seinem obrigkeitsstaatlichen Denken gefangen und hat zu dem republikanischen Staatswesen, das er in den folgenden 13 Jahren im Ausland vertreten sollte, niemals eine Beziehung aufbauen können. 39 In Kopenhagen, wo er zweieinhalb Jahre lang wirkte, fand er geeignete Anknüpfungspunkte, um dort einer Isolation des neuen Staates nach dem Abschluß der Friedensverhandlungen in Versailles entgegenzuwirken, denn man war dort trotz aller Grenzfragen nicht deutschfeindlich wie in anderen benachbarten Staaten. 1920/ 21 griff man im Auswärtigen Amt auf Neuraths Erfahrungen zurück, da das Ministerium einer grundlegenden Reform unterzogen werden sollte, wobei sich der in Kopenhagen bewährende Schwabe keine Zügel anlegte und seiner Ansicht Aus- Frank Raberg 514 36 Heineman (wie Anm. 6), S. 19 f. 37 »Skizze« im Nl Neurath (wie Anm. 20) und Sasse, Heinz-Günther, 100 Jahre Botschaft in London. Aus der Geschichte einer deutschen Botschaft, Bonn 1963, S. 56 ff. Auch Heineman (wie Anm. 6), der dies brav reportiert, räumt S. 251 ein, daß er dafür keinen Quellennachweis erbringen konnte. 38 Sasse (wie Anm. 37). 39 So auch Döscher (wie Anm. 16), S. 56, der erstmals den Nl Neurath im BA auswerten konnte. <?page no="516"?> druck gab, daß eine solide Ausbildung mit gutem Abschluß die sicherste Gewähr bot, die Qualität des Personals zu erhalten. Von »Seiteneinsteigern« hielt der Jurist, der sich, wie in Württemberg üblich, bei der Beurteilung von Mitarbeitern hauptsächlich an ihre Fachprüfungsnoten hielt, herzlich wenig. 40 Daß er sich jedoch nicht durchweg an fachlichen Kriterien orientierte, spiegelt bereits seine sich auf die damaligen Reorganisationsbemühungen im Auswärtigen Amt beziehende Bemerkung wider, dieses habe man damals »von unliebsamen Neulingen ohne geeignete Vorbildung, darunter diverse Juden, reinigen« müssen. 41 Der Antisemit Neurath betrat nicht erst mit Hilter die Bühne ... Im Herbst 1921 reiste Neurath nach Berlin, um Reichskanzler und Außenminister Josef Wirth in Personalfragen zu beraten. Bei dieser Gelegenheit wurde er gefragt, ob er die Leitung der Botschaft in Rom übernehmen wolle, die bekanntermaßen in einem schlechten organisatorischen Zustand war. Er stimmte zu und traf im Februar 1922 in Rom ein, kurze Zeit vor tiefgreifenden politischen Veränderungen in Italien, die sich im Gefolge des von den Faschisten um Mussolini inszenierten Marsches auf Rom zeigten. Zunächst durchaus nicht angetan von dem um zehn Jahre jüngeren neuen italienischen Ministerpräsidenten, der mit demagogischer Rhetorik das italienische Volk zu begeistern wußte, verband Neurath bald ein gutes Verhältnis zu Mussolini, dem »Duce«, dessen Erfolge für sich zu sprechen schienen. In den acht Jahren, in denen er in Rom tätig war, lernte er den Faschismus kennen und wußte ihn auch zu schätzen. 42 Die nächste Station Neuraths war London, wo er im November 1930 auf besonderen Wunsch des Reichspräsidenten Hindenburg Botschafter wurde. Neurath kannte die Stadt von seiner ersten Auslandsmission her, er kannte die Königin, mit der er sehr gut stand, und er wußte sich auf dem Londoner Parkett souverän zu bewegen. So war er sicherlich der richtige Mann, um das Empire in einer Zeit, als Deutschland versuchte, Großbritanniens Unterstützung in der Außenpolitik zu erlangen, von der Richtigkeit eines solchen Schrittes zu überzeugen. Aber auch mit dieser wichtigen Aufgabe ließ sich der erzkonservative Monarchist Neurath nicht darin beirren, seine eigentliche Haltung gegenüber dem Weimarer System stets aufs Neue an den Tag zu legen: Bereits in Kopenhagen, so merkt er in den »Notizen« an 43 , habe ihn die schwarzrotgoldene Fahne auf dem Gesandtschaftsgebäude gestört - das Symbol des Weimarer Staates. Am 11. August, dem Verfassungstag, befand er sich regelmäßig im Urlaub, während er am 18. Januar, dem Reichsgründungstag (1871), große Empfänge gab. 44 Kein Wunder, daß im September 1929 Parlament und Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 515 40 Heineman (wie Anm. 6), S. 23; Döscher (wie Anm. 16), S. 57 f. 41 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. X. 42 Ausführlich zu Neuraths Amtszeit in Rom vgl. Heineman (wie Anm. 6), S. 24 - 30. 43 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. VIII. 44 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. VIII u. XVIII; Heineman (wie Anm. 6), S. 31; Döscher (wie Anm. 16), S. 56. <?page no="517"?> Regierung in Berlin an dieser ja offen zur Schau getragenen Haltung des Diplomaten Anstoß nahmen und Stresemann sogar seine offizielle Mißbilligung zum Ausdruck brachte. 45 Kein Wunder auch, daß der sehr gut mit dem Reichspräsidenten stehende Neurath dennoch nichts zu befürchten hatte. Und kein Wunder schließlich - bei solchen Botschaftern, Ministern, Militärs, Parlamentariern, Spitzenbeamten etc. -, daß die erste deutsche Republik kraftlos unter Hitlers Zugriff zusammenbrach, nachdem die wenigen, die die Demokratie verteidigen wollten, kaum jemanden um sich scharen konnten, um den Kampf auch nur anfangen zu können. Der Weg Neuraths zum Reichsaußenminister war nicht vorbestimmt, er war nicht gradlinig und deshalb auch nicht folgerichtig. Bereits im Mai 1929, als Stresemann sehr krank war und an seiner Wiedergenesung gezweifelt werden mußte, soll Reichspräsident Hindenburg, der an dem Schwaben nach Auskunft des Diplomanten Vicco von Bülow-Schwante die »gerade, offenherzige, warme und vornehme Art, fern von allen Intrigen« schätzte 46 , Neurath auf dessen Nachfolge angesprochen haben. Nach dem Tod Stresemanns bot er ihm dann das Außenministerium an. Im Hinblick auf die Tatsache, daß er im Reichstag keine Unterstützung finden würde und deshalb auch keine stabile Außenpolitik gewährleisten könne, versagte sich der Umworbene jedoch und konnte sich nur zu der Zusage durchringen, in Notzeiten den Posten doch zu übernehmen. 47 Von diesem Zeitpunkt an war Neuraths Name ständig im Gespräch, wenn es um den Wechsel an der Spitze des Außenministeriums ging: »Daß Neurath der Nachfolger von der Volkspartei bis einschließlich Nazi sei, habe ich jetzt wieder gehört«, schrieb im Februar 1931 Ernst Freiherr von Weizsäcker, der spätere Staatssekretär im Auswärtigen Amt. 48 Dabei fehlte es Neurath entschieden an Ehrgeiz, um einen Ministerposten überhaupt gezielt anzustreben. »Er wäre viel lieber in der Stellung eines Botschafters geblieben. Er fühlte sich ungeeignet zum Minister durch seinen Mangel an Schlagfertigkeit und an Rednergabe«. 49 Eine politisch interessante Figur wurde Neurath aufgrund seiner hervorragenden Kontakte zu Hindenburg, seinem Jagdfreund, der wie Neurath Adliger war, das Militär glorifizierte und zur Weimarer Republik ein indifferentes Verhältnis hegte. Es war Neurath, der auf Ansuchen des Reichskanzlers Brüning im Januar 1932 Hindenburg bat, sich trotz seines hohen Alters für eine zweite Amtszeit als Staats- Frank Raberg 516 45 Vgl. das Pressetelegramm Nr. 22, 10. September 1929, das Döscher (wie Anm. 16), S. 56 anführt. 46 Döscher (wie Anm. 16), S. 61 nach den Aufzeichnungen von Bülow-Schwante, die sich im Institut für Zeitgeschichte München (ZS-Bestände) befinden. 47 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. XVI ff.; Döscher (wie Anm. 16), S. 61; Heineman (wie Anm. 6), S. 38; Jacobsen, Hans-Adolf, Nationalsozialistische Außenpolitik 1933 - 1938, Frankfurt/ Main 1968, S. 30. Reichsaußenminister wurde Stresemanns Parteifreund, der badische Reichstagsabgeordnete Julius Curtius. 48 Hill, Leonidas E. (Hrsg.), Die Weizsäcker-Papiere 1900 - 1932, Frankfurt/ Main, Berlin, Wien 1982, S. 424 (Brief vom 20. Februar 1931). 49 Graf Schwerin von Krosigk, Lutz, Es geschah in Deutschland. Menschenbilder unseres Jahrhunderts, Tübingen, Stuttgart 1951, S. 312. <?page no="518"?> oberhaupt zur Verfügung zu stellen 50 , und im gleichen Monat kam er auch erstmals mit Adolf Hitler zusammen, dem Motor und »Führer« der NSDAP, der sich dann später als Gegenkandidat Hindenburgs aufstellen ließ. Neurath notierte dazu 51 : »In Berlin beginnt, dank des Faktums, daß die Regierung keinen Schritt mehr weiterkommt, der Nationalsozialismus unter Adolf Hitler eine Rolle zu spielen und weitere Anhänger zu gewinnen. Er [=Hitler] [...] will nun vor der Wiederwahl Hindenburgs Fühlung mit der Regierung nehmen und läßt deshalb bei Neurath anfragen, wo er ihn sprechen könne. In Gegenwart Görings hatte dann Neurath eine einstündige politische Unterhaltung mit Hitler. Eine Stunde später läßt dieser durch den Nationalsozialisten Prinzen zu Wied 52 bei Neurath anfragen, ob er im Falle der Regierungsübernahme der Nationalsozialisten bereit wäre, bei Hitler das Außenministerium zu übernehmen. Neurath behält sich die Entscheidung bis zum Eintritt der Voraussetzungen vor.« Hitler kannte den Kredit, den Neurath bei Hindenburg hatte, und verfolgte sicherlich das Ziel, den alten Reichspräsidenten über den gewandten Diplomaten dafür zu gewinnen, eine nationalsozialistisch majorisierte Regierung zu ermöglichen, in der Neurath - gewissermaßen als konservativer Gewährsmann - das Außenministerium innehaben sollte. Daraus, wie Döscher, zu schließen, Neurath habe sich bereits im Januar 1932 »grundsätzlich« dazu bereiterklärt, ist jedoch nicht möglich. Denn im Januar 1932 hatte sich Neurath nicht einmal grundsätzlich bereiterklärt, irgendein Regierungsamt zu übernehmen, und sein Einfluß auf Hindenburg ist wohl auch von Hitler überschätzt worden. Aus der Formulierung, daß er sich die Entscheidung bis zum Eintritt der Voraussetzungen vorbehalte, ist hingegen viel eher zu entnehmen, daß er Wied durch eine klare Absage nicht vor den Kopf stoßen wollte und daher gänzlich unverbindlich reagierte. Die Voraussetzungen für einen Regierungseintritt traten allerdings bald ein. Nachdem Hindenburg den Reichskanzler Brüning hatte fallenlassen, bedurfte es der raschen Neubildung einer Regierung unter einem neuen Kanzler. Nachdem die NSDAP sich versagt hatte, da der Reichspräsident Hitler nicht das Amt des Reichskanzlers anbieten wollte, und sich auch das Zentrum mit Brüning verweigerte, erschien es als eine praktische Lösung, eine Präsidialregierung zu ernennen, die vielleicht bis Ende des Jahres amtieren und Reichstagsneuwahlen vorbereiten sollte. Der Amtsleiter im Reichswehrministerium, Generalmajor Kurt von Schleicher, bereitete den Boden für den preußischen Landtagsabgeordneten und Herausgeber des Zentrumsblattes »Germania«, Franz von Papen, vor. Nachdem sich dieser einige Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 517 50 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. XXI. 51 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. XXI - XXII. 52 Viktor Prinz zu Wied war der Bruder des Fürsten Friedrich, der mit der Tochter Pauline des Königs Wilhelm II. von Württemberg verheiratet war. Von daher ist mit Döscher (wie Anm. 16), S. 60 ff., zu vermuten, daß Neurath Wied seit spätestens 1917 kannte und aufgrund der Verbundenheit zum württembergischen Königshaus Wied Gehör bei Neurath fand. <?page no="519"?> Tage gesträubt hatte, kam es tatsächlich dazu, daß eine Persönlichkeit, die bisher weder auf Reichsnoch auf Landesebene ein Spitzenamt ausgefüllt und überhaupt in der Politik nur eine vergleichsweise geringe Rolle gespielt hatte, in einer besonders schwierigen innen- und außenpolitischen Situation zum Kanzler ernannt wurde. Hindenburg teilte von Papen am 31. Mai mit, daß er Neurath als Außenminister wünsche, was diesen überraschte, da er zunächst geplant hatte, das Ministerium selbst zu übernehmen. Hindenburg selbst war es auch, der Neurath per Telefon in London davon informierte, daß er Minister in einem neuen Kabinett werde. 53 Erst als der Botschafter am 2. Juni in Berlin eintraf, hörte er, daß von Papen diese Regierung als Kanzler führen würde. Am 1. Juni hatte von Papen mit dem Reichspräsidenten über das unter seiner Führung zu bildende Kabinett verhandelt und am gleichen Tag schon die ersten sechs Ernennungsurkunden ausstellen lassen; am Tag darauf wurde auch von Neuraths Ernennungsurkunde ausgefertigt; damit war er der 12. Außenminister der Weimarer Republik in deren 19. Regierung. Das neue Kabinett setzte sich aus parteilosen und der DNVP angehörenden Ministern zusammen, die alle nicht dem Reichstag angehörten (und auch früher nicht angehört hatten) und auch von daher ihre parlamentarische Bindungslosigkeit ostentativ dokumentierten. Diese Regierung verdeutlichte die Verachtung des parlamentarischen Systems von Weimar; sie war die »Kamarilla als Institution« mit einem Kanzler an der Spitze, der gewiß kein Kopf war, aber nach dem berühmten Ausspruch des tatsächlich die Fäden ziehenden von Schleicher, ein Hut - und das schien zu genügen, denn der Kopf war Schleicher. 54 Mit Recht knüpften weder die SPD noch die Gewerkschaften große Hoffnungen an das neue »Präsidialkabinett« oder »Kabinett der Persönlichkeiten«. Der Vorsitzende der Reichstagsfraktion, Breitscheid, bezeichnete es als ein Kabinett der Barone und hielt fest, daß Neurath ein Gegner des Völkerbundes sei. 55 Damit traf er ins Schwarze: Das erste, was Neurath in seinem Ministerbüro tat, war die Entfernung eines gerahmten Telegramms über dem Schreibtisch anzuordnen, das die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund mitgeteilt hatte. »Er selbst nimmt sich vor, für die Entfernung Deutschlands aus Genf selber Sorge zu tragen.« 56 Freiherr von Braun, ein Kabinettskollege von Neuraths, betont in seinen Erinnerungen, »daß das Milieu, aus dem die meisten von uns stammten, recht homogen war« 57 , wofür er neben der adeligen Herkunft auch die militärische Laufbahn hervorhebt, und daß Hindenburg »sich zufrieden fühlte«. Braun, dessen Memoiren durch eine durchweg wohlwollende Charakterisierung seiner Kabinettskollegen Frank Raberg 518 53 Heineman (wie Anm. 6), S. 44 f. 54 Schulze, Hagen, Weimar 1917 - 1933 (Die Deutschen und ihre Nation), Berlin 1982, S. 373. 55 Bericht über die Fraktionssitzung der SPD, 1. Juni 1932, abgedruckt in Keil (wie Anm. 31), S. 447 - 448. 56 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. XXV - XXVI. 57 Freiherr von Braun, Magnus, Von Ostpreußen bis Texas. Erlebnisse und zeitgeschichtliche Betrachtungen eines Ostdeutschen, Stollhamm 1955, S. 228 f. <?page no="520"?> auffallen, meinte über Neurath, dieser sei »keine außergewöhnliche Begabung« und vor allem kein guter Redner gewesen; es habe ihm auch »vielleicht etwas an Arbeitsintensität« gefehlt. »Aber er hatte gesunden Menschenverstand und war ein alter Diplomat, der die großen Zusammenhänge kannte und sich auf die Behandlung von Menschen verstand. Auf dem Parkett der internationalen Diplomatie war er sicher. Dank seiner großen, vornehmen Erscheinung und seiner einfachen, natürlichen Freundlichkeit galt er als ausgezeichneter Vertreter des Deutschtums im Ausland«. Neurath sei ein »aufrechter, vornehmer und ungekünstelter Mann« gewesen, dessen Verurteilung in Nürnberg Braun »für ungerecht und grausam« hielt. 58 Ministerkollege Graf Schwerin von Krosigk stellte demgegenüber mehr Neuraths »Unbewegtheit, die auch etwas von Unbeweglichkeit an sich hatte«, in den Vordergrund und wies in feiner Unterscheidung darauf hin, daß es ihm zwar nie an Mut, wohl aber »an jener aktiven Kraft des Entschlusses« gefehlt habe, »die einen Menschen zwingt, gegen den Strom zu schwimmen und sich am Risiko einer Tat zu erproben, deren Folgen unberechenbar sind«. 59 Die Feuerprobe als Außenminister bestand Neurath in Lausanne, wo seit Mitte Juni 1932 unter dem Vorsitz des britischen Premierministers eine internationale Konferenz zur Lösung der Reparationsfrage stattfand. Während der Reichskanzler sich auch dort als politisch unterbelichtete und unglücklich taktierende Figur entlarvte, vermochte Neurath den Erfolg der Konferenz, die freilich wesentlich auf Vorarbeiten der Regierung Brüning basierte, zu retten. Der Sachverständige bei den Lausanner Reparationsverhandlungen, Carl Melchior, äußerte gegenüber dem Staatssekretär im Reichsfinanzministerium Hans Schäffer, der Außenminister sei in Lausanne »eine sehr angenehme Enttäuschung« für ihn gewesen. »Er [=Neurath] könne zwar nicht drei Sätze hintereinander sprechen, ohne aus der Konstruktion zu fallen, aber er habe gesunden Menschenverstand und die nötige Kraft, um das, was er als richtig erkannt habe, auch durchzusetzen.« 60 Der französische Botschafter François-Poncet meinte knapp, Neurath sei »eng und nicht sehr intelligent«. 61 Später kleidete er seine Ansicht über Neurath und dessen ebenfalls im Auswärtigen Amt tätigen Schwiegersohn in die Worte: »Ich habe den Vater und den Sohn gesehen, aber den Heiligen Geist habe ich nicht gesehen.« 62 Im Rahmen dieses Beitrags ist es nicht möglich, die Außenpolitik des Reiches unter Neuraths Leitung zu schildern und zu analysieren. 63 Es sei hier nur festgehalten, daß er sich zunächst der schwierigen Aufgabe durchaus gewachsen zeigte und Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 519 58 Braun (wie Anm. 57), S. 237 - 238. 59 Schwerin von Krosigk (wie Anm. 49), S. 310 ff. 60 Tagebucheintrag Schäffers vom 3. August 1932, IfZ, ED 93, 22a, S. 709, auch zitiert bei Minuth, Karl Heinz, Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik. Das Kabinett von Papen. 1. Juni - 3. Dezember 1932 Bd. 1, Boppard/ Rhein 1989, S. XXIII. 61 Graf Kessler, Harry, Tagebücher 1918 - 1937, Frankfurt/ Main 1979, S. 673. 62 Döscher (wie Anm. 16), S. 77. 63 Vgl. dazu die Hinweise im kommentierten Literaturverzeichnis am Ende dieses Beitrags. <?page no="521"?> auf dem internationalen Parkett durch seine freundlich-distanzierte Art, sein sicheres Auftreten und die scheinbare Verbindlichkeit, die er an den Tag zu legen wußte, reüssierte. Das Gegenteil traf auf Kanzler von Papen zu, der sich in jeder Hinsicht als völlig überfordert entpuppte. Neurath hatte von Anfang an wenig von ihm gehalten; auch Schleicher schätzte er nicht. 64 Seine Loyalität war nicht unerschöpflich, und als von Papen im November 1932 feststellen mußte, daß die von ihm geführte Regierung bereits unhaltbar geworden war, wollte Neurath ihm nicht widersprechen. Im Gegenteil: Er sprach sich dagegen aus, Papen erneut mit der Regierungsbildung zu betrauen, was Hindenburg bereits beschlossen hatte (womit dieser unter Beweis stellte, daß er die Lage ebenfalls nicht mehr überblickte). In der Sitzung des Kabinetts von Papen am 2. Dezember 1932, in der die allgemeine Kopflosigkeit sich unter anderem auch in dem ernsthaft geäußerten Vorschlag des Ministers Warmbold dokumentierte, Neurath zum Reichskanzler zu ernennen, fiel die Entscheidung: »Papen teilt mit, Hindenburg habe ihn erneut mit Kabinettsbildung beauftragt. Als zunächst alle schwiegen, gab ich Neurath ein Zeichen mit den Augen, er müsse jetzt sprechen. Er sagte dann in seiner schweren, stockenden Art ein paar Worte, daß er gegen die Möglichkeiten eines zweiten Kabinetts Papen skeptisch eingestellt sei, daß er daher vor einer erneuten Betrauung Papens warnen müsse«. 65 Tags darauf hielt er die Abschiedsansprache im Kabinett, betonte Papens Leistungen, das menschliche Miteinander und die schwierigen Aufgaben, die zu bewältigen gewesen seien, und schloß mit den Worten, »daß unsere Person nichts, der Dienst am Vaterland alles« bedeute. 66 Der neue Reichskanzler von Schleicher - bisher die »graue Eminenz« im Hintergrund und Reichswehrminister, der er auch blieb - beließ nicht nur Neurath im Amt, sondern auch Schwerin von Krosigk, Warmbold, Gürtner und die Freiherren von Braun und von Eltz-Rübenach. Wechsel fanden nur an der Spitze des Innen- und des Arbeitsministeriums statt. Schleicher war fraglos intelligenter und politischer als Papen, scheiterte aber als Regierungschef noch schneller auf der ganzen Linie, zumal die Unterstützung Hindenburgs nur halbherzig war und Schleichers Plan, den NSDAP-Flügel um Gregor Strasser auf seine Seite zu ziehen und damit die Hitler- Bewegung zu spalten, nicht aufging. So resignierte Schleicher bereits am 28. Januar 1933, nachdem Hindenburg eine erneute Auflösung des Reichstages verweigert hatte. Der Weg Hitlers zur Macht im Deutschen Reich fand nach Schleichers Rücktritt ein rasches Ziel. Umgehend wurde vom Reichspräsidenten mit Hitler verhandelt, dem unter anderem auferlegt wurde, er müsse Neurath und Papen ins Kabinett aufnehmen. 67 Als sich die meisten der in Aussicht genommenen Minister in der Frank Raberg 520 64 Heineman (wie Anm. 6), S. 45, 50. 65 Minuth (wie Anm. 60), Kabinett von Papen Bd. 2, S. 1037. 66 Minuth (wie Anm. 60), S. 1039. 67 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. XXIX. <?page no="522"?> Dienstwohnung Papens in der Reichskanzlei versammelten, um gemeinsam zum Reichspräsidenten zu gehen, der sie vereidigen mußte, wußten einige, darunter auch Neurath, noch nicht, wer eigentlich die Regierung führen sollte - Papen oder Hitler. 68 Neurath verblieb in erster Linie als Außenminister in der Hitler-Regierung, weil sich Hindenburg und Hitler darauf geeinigt hatten und dieser Schritt im Ausland, vor allem in England, sehr begrüßt wurde. 69 Beruhigend wirkte darüber hinaus wohl auch, daß neben Hitler als Reichskanzler nur noch ein weiteres Ressort mit einem Nationalsozialisten besetzt war, nämlich das Innenministerium mit Wilhelm Frick - Hermann Göring wurde Reichsminister ohne Portefeuille und Reichskommissar für die Luftfahrt -, während die anderen Minister parteilos oder Mitglied der DNVP waren. Hitler plante zunächst keinen radikalen Wechsel in der deutschen Außenpolitik, weshalb ihm ein Ressortchef, der in geradezu klassischer Weise Kontinuität zu verkörpern schien, gerade recht war, zumal der Kredit dieser Politik erhalten blieb. Persönlich war der neue Reichskanzler allerdings wenig angetan von Neurath: »Der Neurath ist schwerfällig. Er ist verschmitzt wie ein Bauer, aber ohne Einfälle. Vorläufig nützt mir sein wohlwollendes Gesicht mehr als alles andere. Solchem Manne kann man keine revolutionäre Politik zutrauen, werden sie drüben in England sagen«. 70 Es ist deshalb auch in Frage zu stellen, ob Neurath - auch in der ersten Zeit der Hitler-Regierung - auf den neuen Kanzler wirklich Einfluß ausgeübt hat 71 oder sich eben nur in dem Rahmen bewegte, den Hitler ihm steckte und den Neurath offenbar nicht als Einengung empfand. Der Außenminister lobte sogleich Hitlers Bemühen um gute Kontakte zwischen dem Auswärtigen Amt und der Reichswehr, die »so sehr erwünscht« seien, und bezeichnete die Kooperation mit dem neuen Kanzler als »von Anfang an sehr günstig« 72 - eine Feststellung, die weder für Papen noch für Schleicher Gültigkeit besessen hätte. So wird man festhalten müssen, daß sich für Neurath als Außenminister im Kabinett Hitler nicht viel geändert hatte. Nach seiner Auffassung hatte er für die Außenpolitik geradezustehen und hielt sich ansonsten aus der Politik sehr heraus 73 , so daß es ihm relativ unwichtig war, ob er einer von einem katholischen Konservativen, einem General oder einem Nationalsozialisten geführten Regierung angehörte. Nur einem Kabinett, das von Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 521 68 Schulze (wie Anm. 54), S. 406 ff. 69 Michalka, Wolfgang, Rippentrop und die deutsche Weltpolitik 1933 - 1940. Außenpolitische Konzeptionen und Entscheidungsprozesse im Dritten Reich (Veröffentlichungen des Historischen Instituts der Universität Mannheim 5), München 1980, S. 177 f. 70 Rauschning, Hermann, Gespräche mit Hitler, 2. Aufl. Wien 1973, S. 252 f. Rauschning stand als Vorsitzender des Landbundes und Senatspräsident zeitweise in engem Kontakt mit Hitler. Über seine Begegnungen mit ihm zwischen 1932 und 1934 verfaßte er 1939 das hier zitierte Buch, dessen Quellenwert umstritten ist. Vgl. Schieder, Theodor, Herrmann Rauschnings »Gespräche mit Hitler« als Geschichtsquelle (Publikation der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften), Opladen 1972. 71 Schwerin von Krosigk (wie Anm. 49), S. 312. 72 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. XXX ff. 73 Von Papen, Franz, Der Wahrheit eine Gasse München 1952, S. 326. <?page no="523"?> einem überzeugten Parteipolitiker und Verfechter des Parlamentarismus geführt worden wäre, hätte er sicher nicht angehört. Seine Verachtung und Gleichgültigkeit für das alte System zeigte sich beispielhaft im Zusammenhang mit einem noch vor kurzem wichtigen Politiker der Republik und in einer in der Literatur bisher kaum beachteten Episode: Als wenig nobel und couragiert wird man nämlich Neuraths Verhalten Ende März 1933 zu bewerten haben, als dem früheren Reichskanzler Brüning beim Verlassen des Reichstagsgebäudes von Seiten aufgebrachter SS-Leute massiv gedroht wurde, ihn jetzt totzuschlagen. Brüning sah Neurath vor dem Reichstag und grüßte ihn, dieser aber ignorierte den Bedrängten und »sprang« sofort in den bereitstehenden Wagen, obwohl gewiß ein Wort von ihm genügt hätte, Brüning aus der gefährlichen Lage zu befreien. 74 Sicherlich ist richtig, daß sowohl das Auswärtige Amt als auch die Wehrmacht »dem Nazifizierungsdruck nicht so leicht« nachgaben. »Hitler betrachtete die Fachleute in der Wilhelmstraße fraglos mit Mißtrauen und Verachtung. Doch selbst nach der Neubesetzung der höchsten Ränge von Militär und Auswärtigem Dienst, gelang es der alten Elite, ihre Stellung im Auswärtigen Amt zu behaupten. Sie diente dem Dritten Reich mit ihrem Fachwissen und ihrer Respektabilität im Ausland, und lange Zeit hielten die alten Diplomaten an der Überzeugung fest, daß sie trotz aller Differenzen mit den nationalsozialistischen Parteileuten immer noch eine nützliche Arbeit tun und das Schlimmste verhindern könnten«. 75 Die konservative Personalstruktur des von Neurath geleiteten Ministeriums stand Hitlers Absicht, es möglichst schnell zu »nazifizieren«, direkt entgegen, und die Tatsache, daß der Minister direkt Hindenburg verantwortlich war, führte dazu, daß er zumindest noch zu Lebzeiten des alten Reichspräsidenten in einigen Punkten recht »autonom« gegenüber Hitler auftreten konnte. 76 Vor allem in Personalfragen wußte Neurath beim »Führer« seinen Standpunkt zu vertreten, konnte oder wollte aber den Beitritt vieler Beamten des höheren Dienstes zur NSDAP nicht verhindern 77 und unterlag von Anfang an in viel grundsätzlicheren Punkten, wie etwa der von Goebbels geforderten Verlegung der Auslandspropaganda vom Außenin dessen neues Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda, die im Mai 1933 vollzogen wurde, obwohl sich der Außenminister heftig dagegen gewehrt hatte. 78 Nur anfänglich erfolgreicher, aber letztlich auch nicht bestimmt genug setzte sich Frank Raberg 522 74 Heinrich Brüning, Memoiren 1918 - 1934, Stuttgart 1970, S. 659 - 660. 75 So Klemperer, Klemens von, Die verlassenen Verschwörer. Der deutsche Widerstand auf der Suche nach Verbündeten 1938 - 1945, Berlin 1994, S. 32. 76 Bloch, Michael, Ribbentrop, London u.a. 1992, S. 35 f. 77 Dies hat erstmals Döscher (wie Anm. 16), S.69 ff. überzeugend nachgewiesen. 1933 waren am Anfang des Jahres zehn, am Ende des Jahres aber bereits fünfzig Beamte im Auswärtigen Amt Mitglieder der NSDAP. Dieses Faktum schließt freilich nicht aus, daß unter diesen einige waren, die aus formalen Gründen der Partei beitraten, ihr aber tatsächlich ablehnend oder zumindest neutral gegenüberstanden. 78 Reuth, Ralf-Georg (Hrsg.), Joseph Goebbels. Tagebücher Bd 2. 1930 - 1932, München 1992, Eintrag 25. Mai 1933, S. 804 f. <?page no="524"?> Neurath gegen Joachim von Ribbentrop zur Wehr, den ambitiösen Schwiegersohn des Sekt-Fabrikanten Henkell, einen Mann, der so recht das Schreckbildnis verkörperte, das der routinierte und konservative Außenminister vor Augen hatte, wenn er an die schlecht ausgebildeten Diplomaten zu Beginn der 20er Jahre dachte. Ribbentrop, Leiter einer nach ihm benannten Dienststelle (für »außenpolitische Sonderfragen«) im Stab von Rudolf Heß und sich für die NSDAP immer wieder in die Außenpolitik einmischend, war ein Seiteneinsteiger, der seine diplomatischen Fähigkeiten besonders hoch einschätzte und schon bei der Bildung des Kabinetts Hitler gehofft hatte, Staatssekretär im Auswärtigen Amt zu werden. 79 Neurath spottete über Ribbentrops Adelstitel, den er per Adoption erhalten hatte, hielt ihn für völlig unfähig und bezeichnete ihn als »schrecklichen Kerl«. 80 Er erkannte nicht, wie sich Ribbentrop als SS-Mann und Intimus von Himmler eine stetig stärkere Stellung zu erarbeiten wußte, die 1936 dazu führte, daß dieser Botschafter in London wurde. Es ist durchaus möglich, daß der Außenminister zu sehr ein »Herr von Stand« war, um den von ihm Verachteten »über seine Unzulänglichkeit und die Unbeliebtheit bei der Partei stolpern zu lassen«. 81 Damit zeigte sich aber erneut, daß Neurath eine Situation nicht erfassen konnte und die Energie seines Gegners in verhängnisvoller Weise unterschätzte. Neurath genoß innerhalb der Reichsregierung großes öffentliches Ansehen. Im Zuge zahlreicher entsprechender damaliger Ehrungen für Partei- und Regierungsvertreter wurde er zum Ehrenbürger seiner Heimatgemeinde ernannt (Beschluß des Gemeinderates vom 5. Mai 1933). 82 Erst fünf Jahre später hingegen erfolgte seine Ernennung zum Ehrenbürger von Stuttgart (3. Februar 1938). 83 Ob allerdings die enge Verbundenheit zu seiner württembergischen Heimat schon 1933 in der Weise ihren Ausdruck finden sollte, daß Neurath als Minister demissionieren und Reichsstatthalter in Württemberg werden wollte, ist vor dem Hintergrund fehlender Quellenbelege in Zweifel zu ziehen. 84 Der Minister, der später in Nürnberg allen Ernstes behauptete, daß er »die Methoden der Partei in ihrem Kampf um die Macht verabscheute« 85 , wußte sich mit Hitler, der für diese Methoden verantwortlich war, Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 523 79 Papen (wie Anm. 73), S. 421. 80 Heineman (wie Anm. 6), S. 126 ff. 81 Schwerin von Krosigk (wie Anm. 49), S. 312. 82 Vgl. Behr, Lothar, Die Ehrenbürger der Stadt Vaihingen an der Enz, in: Vaihinger Köpfe. Biographische Porträts aus fünf Jahrhunderten (Schriftenreihe der Stadt Vaihingen an der Enz 8), Vaihingen 1993, S. 19. Das Ehrenbürgerrecht wurde von Neurath am 15. Oktober 1946 mit Genehmigung des zuständigen Landratsamtes wieder aberkannt. 83 Leipner, Kurt (Hrsg.), Chronik der Stadt Stuttgart 1933 - 1945 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart 30), Stuttgart 1982, S. 461. Das Ehrenbürgerrecht wurde von Neurath am 5. August 1946 wieder aberkannt. Vgl. Vietzen, Hermann, Chronik der Stadt Stuttgart 1945 - 1948 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart 25), Stuttgart 1972, S. 165. 84 Hill, Leonidas E. (Hrsg.), Die Weizsäcker-Papiere 1933 - 1950, Frankfurt/ Main, Berlin, Wien 1974, S. 71 (Brief vom 25. April 1933). 85 IMT, Bd. XVI, S. 657. <?page no="525"?> offenbar in allen prinzipiellen Fragen der Außenpolitik einig, insbesondere darin, Deutschland aus dem Völkerbund zu lösen und buchstäblich verlorengegangenes Terrain zurückzugewinnen. Seine »Verabscheuung« der Methoden hielt sich auch in Grenzen: das 1934 veranstaltete Gemetzel im Zusammenhang mit dem vorgeblichen »Röhm-Putsch« buchte er in seinen Notizen unter der Rubrik »Wo gehobelt wird, fallen Späne« ab und lobte Hitlers »blitzartiges« Eingreifen, dem nicht zuletzt auch das Ehepaar Schleicher zum Opfer fiel. Das Fehlen des »Führers« und Görings beim Staatsdiner für das siamesische Königspaar als Folge dieser Mordaktion bedauerte er natürlich lebhaft. 86 Das Verhältnis Hitler-Neurath entwickelte sich immer besser, da sich ihre Ziele in der Außenpolitik ebenso deckten wie ihre antisemitische Haltung und - was Neurath betraf, nur in der Anfangszeit und ohne mörderische Dimension - ihre Übereinstimmung bei der »Lösung des Judenproblems«. 87 Neurath machte ansonsten keinen politischen Einfluß geltend. Das Regime konnte also ohne jede Einschränkung von der großen Erfahrung und dem Renommee des weithin geschätzten Diplomaten Neurath profitieren, während dieser Tag für Tag mehr zu einem reinen Werkzeug und Exekutor kriegsvorbereitender Politik wurde. Seite an Seite führten der Reichskanzler und sein Minister die Abkehrung von der behutsamen deutschen Außenpolitik der Weimarer Zeit durch und etablierten den neuen deutschen Kurs rücksichtsloser nationalistischer und revisionistischer Politik - ein Kurs, der vom Ausland viel zu lange geduldet wurde. Der von Neurath ersehnte Austritt des Reiches aus dem Völkerbund im Oktober 1933, die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes im März 1936, die Proklamation der »Achse Berlin-Rom«, die Intervention zugunsten Francos im Spanischen Bürgerkrieg, der Abschluß des Antikominternpaktes mit Japan und Italien (1936 bzw. 1937) und Neuraths Mitarbeit am aggressiven (geheimen) Reichsverteidigungsgesetz waren Stationen eines Weges, der wenig später in die Entfesselung des Weltkrieges einmündete. Neurath ist diesen Weg nicht nur in vollem Bewußtsein mitgegangen, er hat diesen Weg sogar mitkonstruiert. Dabei zeigte er sich nicht nur einmal entschlossener als Hitler selbst, den etwa bei der Rheinlandbesetzung die Nerven zu verlassen drohten. Aber es war ja Neurath in der Nähe, der ihn beruhigte und zum Durchhalten anhielt. 88 Von daher war es nicht verwunderlich, daß Hitler diesen getreuen Paladin auch als Mitglied der Partei sehen wollte. Am 30. Januar 1937 verlieh er allen Ministern, Frank Raberg 524 86 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. XXXVIII. 87 Vgl. die Erläuterungen bei Döscher (wie Anm. 16), S. 121 - 128. Das Auswärtige Amt mit Neurath an der Spitze folgte frühzeitig dem »rassenideologischen Axiom der nationalsozialistischen Weltanschauung ebenso [...] wie der propagandistischen Diktion«. In einem Schreiben vom 30. Oktober 1934 sprach Neurath vom »jüdischen Gegner«, mit dem man weder im Innoch im Ausland »verhandeln oder paktieren« dürfe. Ein »Nachgeben« gegenüber den Juden würde zur »Unterminierung der weltanschaulichen Grundposition des nationalsozialistischen Deutschland zur Folge haben«. 88 Heineman (wie Anm. 6), S. 115 f.; Döscher (wie Anm. 16), S. 64. <?page no="526"?> die bisher noch nicht der NSDAP angehörten, wie eben auch Neurath, das Goldene Parteiabzeichen. Neurath wußte vorher nichts von der Absicht des »Führers« und nahm die »Ehrung« kommentarlos an. Damit war er freilich automatisch in die Partei aufgenommen (Nr. 3.805.229) und erhielt im September des Jahres eine SS-Uniform (Gruppenführer) ins Haus geschickt, womit er auch der SS (Nr. 287.680) angehörte. 89 Dieser plumpen Überrumpelung des bisher alle Parteien so ostentativ verachtenden Neurath setzte er nicht den geringsten Widerstand entgegen. Daß dies möglich war, zeigt das Beispiel seines Kabinettskollegen Eltz-Rübenach, der aus Protest gegen die katholikenfeindliche Politik des Regimes das Goldene Parteiabzeichen ablehnte und seine sofortige Entlassung als Minister in Kauf nahm. Der Außenminister sah demgegenüber offenbar keinen Anlaß, sich von der NSDAP zu distanzieren. Daher kann man staunen, wenn man nachliest, was Neurath später in Nürnberg alles über die sogenannte Hoßbach-Konferenz zu sagen wußte, die am 5. November 1937 stattfand und an der neben Hitler und seinem Außenminister auch Reichswehrminister von Blomberg, Hermann Göring, der Oberbefehlshaber des Heeres von Fritsch, der Oberbefehlshaber der Marine Raeder und Hitlers Wehrmachtsadjutant Hoßbach , der die Sitzung protokollierte, teilnahmen. Hitler entwickelte vor den versammelten Herren seine Eroberungspläne der nächsten Zukunft und kündigte etwa die Ausschaltung Österreichs und der Tschechoslowakei schon für das kommende Jahr an. Neurath wollte später den Eindruck erwecken, er sei von diesen Absichten Hitlers »aufs tiefste erschüttert« gewesen 90 Die Aussage einer Zeugin, der Baronin von Ritter, er habe vor lauter Aufregung einige schwere Herzattacken erlitten 91 , ist wenig glaubhaft, da Neurath in seinen Notizen davon nichts erwähnt. In Nürnberg sagte er dann einerseits aus, er habe bei dieser Konferenz erstmals die aggressive Gesamttendenz der Pläne Hitlers realisiert, weshalb er sein Amt als Minister habe zur Verfügung stellen wollen, wenig später aber abwiegelte und versuchte, es so darzustellen, als wenn Hitler gar nicht von einem Angriff auf die Tschechoslowakei gesprochen und nur gemeint habe, diese und Österreich müßten zum Schutz Deutschlands besetzt werden, wenn ein Krieg ausgebrochen sei. Diese Aussage steht aber im Widerspruch zu den vorausgegangenen Ausführungen. 92 Neurath versuchte jedenfalls, zumal er schon einige Wochen vor der Hoßbach- Konferenz Amtsmüdigkeit signalisiert hatte 93 , Ende des Jahres 1937 von Hitler seinen Abschied als Minister zu erhalten, bekam jedoch bis zum 14. Januar 1938 keine Gelegenheit, bei diesem persönlich vorzusprechen. In Berchtesgaden will Neurath Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 525 89 NSDAP- und SS-Akten betreffend Neurath im BA, Abt. III (BDC); Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. L; Heineman (wie Anm. 6), S. 84. 90 IMT, Bd. XVI, S. 700. 91 IMT, Bd. XVI, S. 700. 92 In den Schlußfolgerungen folgt der Vf. hier ganz Taylor (wie Anm. 4), S. 528 ff. 93 Heineman (wie Anm. 6), S. 165. <?page no="527"?> zu Hitler gesagt haben, dessen Pläne in bezug auf Österreich und die Tschechoslowakei seien gefährlich und geeignet, einen neuen Weltkrieg heraufzubeschwören. Hitler habe ihn keiner Antwort gewürdigt. 94 Dieser war offensichtlich mit Wichtigerem beschäftigt, nämlich mit der Entfernung der unliebsam gewordenen Militärs von Blomberg und von Fritsch aus ihren Ämtern. Neuraths Ablösung als Außenminister erfolgte im Zuge der Entmachtung der beiden Genannten, die mit Methoden ins Werk gesetzt wurde, die Neurath angeblich nicht schätzte, in deren Schatten er nun aber selbst aus seinem Amt entfernt wurde. Goebbels notierte einige Tage vor der Entlassung Neuraths, daß »um die ganze Sache [=um von Blomberg und von Fritsch] zu vernebeln [...] ein großes Revirement« stattfinden solle: »Anstelle Neuraths Ribbentrop als Außenminister, Neurath Minister ohne Portefeuille und persönlicher Ratgeber des Führers. [...] Es tut mir leid um Neurath. Ich halte Ribbentrop für eine Niete«. 95 Das »große Revirement« wurde offenbar bestens geheimgehalten, denn Neurath feierte am 2. Februar seinen 65. Geburtstag ohne zu ahnen, »welche Wolke über ihm steht«. 96 Hitler ließ es sich nicht nehmen, seinem Außenminister persönlich »aufs wärmste« zu gratulieren 97 und ihm ein Ölgemälde des Constantin-Bogens in Rom 98 sowie als erstem das Goldene Treudienstabzeichen für 40jährige Dienstzeit zu überreichen. Trotz der festlichen Atmosphäre und der großen Ehre, die ihm widerfuhr, will Neurath Hitler bei dieser Gelegenheit nochmals um seine Entlassung gebeten haben. Der »Führer« habe daraufhin die Hände Neuraths ergriffen und gesagt, er könne ihn niemals gehen lassen. Er müsse sich für ihn opfern. Und zu Neuraths Tochter, die ganz in der Nähe war, soll Hitler gesagt haben, Neurath sei wie ein Vater für ihn, er brauche ihn für die Außenpolitik. 99 Der ebenfalls anwesende Chef der Reichskanzlei, Hans Lammers, hatte Gelegenheit, sich zu wundern, denn auf seinem Schreibtisch lagen bereits die Entlassungsurkunde Neuraths und die Ernennungsurkunde Ribbentrops zum Außenminister. Als Neurath am Vormittag des 4. Februar zu Hitler befohlen wurde, erklärte ihm dieser, er habe Ribbentrop zum Außenminister ernannt. »Neurath ist ganz gebrochen. Aber ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle. Man hat ihn richtig gern. Er erzählt mir noch, daß er insgeheim mit Tokio wegen der Rückgabe der Kolonien verhandelt habe und dort durchaus keine Ablehnung erfuhr. Der gute Neurath! Er tut mir richtig leid«. 100 Wie ernst war es Neurath mit seiner Rücktrittsdrohung? War es nur Spielerei, um einen Einfluß zurückzugewinnen, den er nie besessen hatte? Oder war es ihm ernst, Frank Raberg 526 94 IMT, Bd. XVI, S. 641. 95 Reuth, Goebbels-Tagebücher (wie Anm. 78), S. 1194 (Eintrag 1. Februar 1938). 96 Reuth, Goebbels-Tagebücher (wie Anm. 78), S. 1197 (Eintrag 3. Februar 1938). 97 Neurath, Notizen (wie Anm. 20), S. LIV; Heineman (wie Anm. 6), S. 168 ff. 98 Bei dem bei Heineman (wie Anm. 6), S. 168 ff. angegebenen Constantine’s tomb scheint es sich um ein Mißverständnis zu handeln. 99 Heineman (wie Anm. 6), S. 169 f. 100 Reuth, Goebbels-Tagebücher (wie Anm. 78), S. 1202 (Eintrag 6. Februar 1938). <?page no="528"?> und er ärgerte sich nur über Hitlers hinterhältiges Spiel und die Berufung des verhaßten Ribbentrop? Davon aber unabhängig bleibt festzuhalten: Wenn er der Überzeugung gewesen wäre, daß Hitler den Krieg wollte, und er selbst dagegen gewesen wäre, hätte er regulär und ohne für sich oder seine Familie Schwierigkeiten befürchten zu müssen in den Ruhestand treten können. Doch nicht einmal die Tatsache, daß er an diesem 4. Februar entlassen wurde, kränkte Neurath in seinem Stolz so sehr, daß er sich aus dem öffentlichen Wirkungskreis zurückzog. Er war sich nicht zu schade, als Präsident des nur einmal (6. Februar 1938) zusammengetretenen und völlig einflußlosen Geheimen Kabinettsrates solange eine marionettenhafte Rolle zu spielen, bis sich durch seine Berufung zum Reichsprotektor von Böhmen und Mähren eine wieder größere Machtfüllle zu bieten schien. Neurath entlarvte sich damit als beflissener Diener des NS-Regimes, der sich an jeden Posten klammerte und dessen spätere Zweifel an Hitler sowie seine diffuse Rolle im »Widerstand« einzig und allein aus der Verbitterung darüber resultierten, daß die NS-Führung den alten Mann dann doch 1941 völlig hatte fallen lassen! Der Abschied vom Auswärtigen Amt verlief denn auch keineswegs abrupt, es war kein Sturz ins Bodenlose und Neurath auch nicht persona non grata - ganz im Gegenteil. Die »Berliner Illustrirte Zeitung« feierte Neuraths 65. Geburtstag mit einem Bildbericht (»Im Dienste von Volk und Reich - drei Stationen einer großen Laufbahn«), der nicht nur dem Jubilar schmeichelte, sondern auch dem Leser nochmals vor Augen führte, daß sich ein Mann mit diesen Verdiensten ganz hinter Hitler gestellt hatte. 101 Am 20. Februar wohnte Neurath wie üblich in der ersten Reihe der Regierungsbank neben Goebbels der Reichstagssitzung bei. Und schon im März 1938 wirkte er »zu [seiner] kindlichen Begeisterung« in Abwesenheit des in London weilenden Ribbentrop in der Reichskanzlei an den Vorbereitungen für den »Anschluß« Österreichs mit 102 , und im August, als Hitler in die Tschechoslowakei einmarschieren wollte, schien der »Führer« sogar mit dem Gedanken gespielt zu haben, Neurath zu seinem Stellvertreter während seiner Abwesenheit zu bestellen. 103 Zu hinterfragen ist auch hier wieder der Nimbus des Friedenspolitikers, der Neurath bei manchen Autoren umgibt. Staatssekretär von Weizsäcker äußerte sich nach Abschluß des Münchner Abkommens geradezu empört darüber, daß Neurath sich nun rühme, daran großen Anteil genommen zu haben, obwohl er in all den Monaten der Sudetenkrise geschwiegen und nie versucht habe, Hitler in beschwichtigender Absicht zu beeinflussen. 104 In der Tat trat Neurath in München, eigens von Hitler geladen, wieder als der gerade bei den Briten besonders geachtete elder statesman auf, dem man Vertrauen schenken durfte. 105 Erneut nutzte der »Führer« Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 527 101 Vgl. Berliner Illustrirte Zeitung, 47. Jg., Nr. 5, 3. Februar 1938. 102 Hill (wie Anm. 84), S. 122 (Brief vom 10. März 1938). 103 Hill (wie Anm. 84), S. 136 (Brief vom 19. August 1938). 104 Hill (wie Anm. 84), S. 145 (Brief vom 9. Oktober 1938). 105 Bloch (wie Anm. 76), S. 197. <?page no="529"?> die Eitelkeit, aber auch den Kredit des einstigen Außenministers weidlich aus, weil er für seine Politik der Lügen und der Aggression von unschätzbarem Wert war. Wenn es noch eines weiteren Belegs dafür bedurft hätte, daß sich Neurath zunehmend in den Sumpf nationalsozialistischer Unterdrückungs- und Terrorpolitik begab, so lieferte er ihn selbst durch die Annahme des Angebots, Reichsprotektor des neugeschaffenen Reichsprotektorats Böhmen-Mähren zu werden. Hitler ließ Neurath am 18. März 1939 nach Wien kommen, wo er diesem den Posten des Reichsprotektors über das besetzte Gebiet antrug. Neurath scheint nicht sogleich zugesagt zu haben, sondern wollte unter Hinweis auf sein Alter und seine Verdienste ablehnen. Hitler habe dann darauf hingewiesen, daß es natürlich auch möglich sei, im Falle der Ablehnung einen harten SS-Mann aus dem Umkreis Himmler - Ribbentrop auf den Posten zu bringen, weshalb Neurath dann doch zugesagt habe. Wichtig sei dem neuen Reichsprotektor gewesen, daß er nur Hitler direkt verantwortlich sei und er die Tschechen durch eine Politik der Versöhnung und Mäßigung gewinnen sollte. 106 So wurde Neurath am 20. März 1939 zum Reichsprotektor von Böhmen-Mähren ernannt und erhielt sogleich als Staatssekretär den brutalen Sudetendeutschen Karl Hermann Frank an die Seite gestellt, der dafür sorgte, daß Mäßigung und Versöhnung bloße Worte blieben und die tschechische Bevölkerung terrorisiert und verfolgt wurde. Neurath gab einmal mehr seinen guten Namen für eine schlechte Sache. Seine Naivität oder Dummheit ließ sich nicht mehr überbieten, da er einem Hitler geglaubt hatte, der so mit ihm umgegangen war und sich schon mehrfach als intriganter Lügner offenbart hatte. Der neue Reichsprotektor, ins zweite Glied zurückbefördert, aber offenbar noch immer ambitiös, legte Wert auf Publizität, und Eitelkeit war ohnehin Neuraths Verhängnis. Schon wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Reichsprotektor wurde Neurath in der »Berliner Illustrirten Zeitung« als solcher der Leserschaft präsentiert. 107 Als Blickfang diente ein von Hitler-Leibphotograph Hoffmann aufgenommenes Bild des Neuernannten, wie er vom Garten seines Dienstsitzes auf der Prager Burg verantwortungsbewußt und entschlossen auf die Stadt herunterblickt, keinen Zweifel daran lassend, daß er als »Vertreter des Führers und Reichskanzlers für die Beachtung der politischen Richtlinien Adolf Hitlers« in seinem neuen Wirkungsbereich sorgen werde. Wahrscheinlich ist ihm auch hier nicht klargeworden, wie sehr er erneut instrumentalisiert wurde, wie eng er an Hitler und das System gebunden, wie groß seine Verantwortung war für alles, was dort geschah und unterblieb. Es gilt aber an dieser Stelle auch vor dem Hintergrund der weitgehenden schuldhaften Verstrickung Neuraths hervorzuheben, daß dieser in Prag nicht im Stil eines der zahllosen fanatischen Gauleiter oder Reichsstatthalter wirkte, sondern bisweilen versuchte, Menschen zu retten, wie dies etwa seine Intervention bei Hitler und Himmler für Prager Studenten, die Ende Oktober 1939 am Unabhängigkeitstag Frank Raberg 528 106 Heineman (wie Anm. 6), S. 188 - 190; Taylor (wie Anm. 4), S. 529. 107 Berliner Illustrirte Zeitung, 48. Jg., Nr. 25, 22. Juni 1939. <?page no="530"?> demonstriert hatten, beweist. 108 Freilich fehlte es dem alten Herrn an Durchsetzungsvermögen gegen Frank und später gegen Reinhard Heydrich. Das Terrorsystem Hitlers trat nun, mitten im Weltkrieg, unmaskiert in Erscheinung, und Neurath war wieder einmal überflüssig. Neurath selbst schilderte in Nürnberg 109 die Umstände seiner Ablösung als Reichsprotektor dahingehend, daß Hitler ihn am 23. September 1941 ins Hauptquartier bestellt habe, wo er ihm vorwarf, er sei »zu mild gegen die Tschechen, das könne so nicht weitergehen. Er habe beschlossen, nunmehr scharfe Maßnahmen zu ergreifen und zu diesem Zwecke den berüchtigten Obergruppenführer Heydrich nach Prag zu entsenden. Ich habe mich nach Kräften bemüht, ihn davon abzubringen, hatte aber keinen Erfolg. Darauf bat ich um meinen Abschied, da ich ein Wirken Heydrichs in Prag unter keinen Umständen verantworten würde«. Hitler verweigerte Neurath trotz nachhaltiger Bitten die Entlassung, beurlaubte ihn aber. Erst im August 1943 wurde er formell auf sein eigenes Ansuchen entlassen, erhielt aber den Rang eines SS-Obergruppenführers und einen Scheck über 250.000 Reichsmark. Neurath wollte das Geld nicht, weil er jetzt wirklich erkannte, wie sehr er sich getäuscht hatte und in welchem Maße er sich hatte mißbrauchen lassen. Er rührte es nicht an. 110 Nach dem Attentat auf Heydrich kommentierte Ernst von Weizsäcker, »daß die Tschechen lange beten müssen, ehe sie Neurath wieder kriegen«. 111 Sie bekamen ihn nicht wieder, denn nun war er persona non grata. Zu seinem 70. Geburtstag erhielt Neurath weder von Hitler noch vom württembergischen Reichsstatthalter Murr Glückwünsche; die von Oberbürgermeister Strölin dem Ehrenbürger Stuttgarts übermittelten Geburtstagsgrüße wurden ebensowenig vom Presseamt der Öffentlichkeit bekanntgemacht wie der darauf folgende Besuch Neuraths bei Strölin. 112 Die guten Kontakte Neuraths zu Strölin und zu Stuttgart resultierten aus der engen Kooperation der beiden Politiker im Zusammenhang mit dem in Stuttgart ansässigen Deutschen Auslands-Institut, für das sich Neurath stets eingesetzt hatte. Anläßlich einer Jahreshauptversammlung dieses Instituts hatte Neurath 1934 gesagt, »daß unserer heißen Liebe zum eigenen Volk die Achtung vor fremden Völkern gegenübersteht. Daraus geht klar hervor, daß die Erhaltung und Förderung des deutschen Volkstums, wie der Nationalsozialismus will, nichts mit Imperialismus zu tun hat. [...] Das deutsche Volk will jedenfalls nichts anderes als dies: Mit fremden Staaten in Frieden leben und mit fremden Völkern friedliche und freundnachbarliche Beziehungen unterhalten« 113 . Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 529 108 Przybylski, Peter, Täter neben Hitler, Berlin 1990, S. 590 f. 109 IMT, Bd. XXVII, S. 23 f. 110 Heineman (wie Anm. 6), S. 214. 111 Hill, (wie Anm. 84), S. 292 (Brief vom 7. Juni 1942). 112 Leipner (wie Anm. 83), S. 878. 113 Redeauszug in Leipner (wie Anm. 83), S. 151. <?page no="531"?> Oberbürgermeister Strölin versuchte über den über hervorragende Kontakte zu den Militärverschwörern um Goerdeler und Stauffenberg verfügenden Stabschef Rommels, General Hans Speidel, an Rommel selbst heranzukommen, und bat Speidel, Rommel von der Notwendigkeit eines Gesprächs zwischen ihm und Neurath zu überzeugen. Auch Goerdeler halte ein Gespräch in diesem Kreis für wertvoll. 114 Rommel, der seinen schwäbischen Landsmann Neurath schätzte und auch den Sohn kannte, der ihm zeitweise als Vertreter des Auswärtigen Amts in Afrika zugeteilt gewesen war, ging darauf nicht ein, lehnte aber auch nicht ganz ab, da er Speidel ermächtigte, an seiner Stelle teilzunehmen. So trafen sich am 27. Mai in Freudenstadt Strölin, Speidel und Neurath 115 , wobei letzterer eine zutreffende, also düstere Schilderung der Lage des Reiches gab und Speidel bat, dringend auf Rommel einzuwirken, sich einer neuen Regierung nach dem Ende Hitlers zur Verfügung zu stellen, da die Alliierten mit Hitler nicht verhandeln würden, wohl aber mit einem Mann wie Rommel, der über eine große Reputation vor allem bei den anglo-amerikanischen Kriegsgegnern verfügte. Nach mehrstündigem Gespräch sagte Speidel zu, Rommel zu informieren. Neurath verfaßte einige Tage später ein Memorandum über die außenpolitische Lage, in dem er sich selbst bereit erklärte, einer zukünftigen Regierung mit Rat und Tat dienen zu wollen, und ließ es Rommel zukommen. Dieser reagierte freundlich, aber unverbindlich, und versicherte sich lediglich der weiteren Zusammenarbeit Strölins und Neuraths. Bekanntermaßen schlug das Attentat der Offiziere fehl und führte zu blutigen »Sühnemaßnahmen« des Regimes. Der Moskauer Rundfunk meldete in diesem Zusammenhang aus Istanbul fälschlich, auch Neurath sei hingerichtet worden 116 , mehrfach tauchte Neuraths Name in bezug auf das Attentat auf. 117 Er wurde aber niemals deswegen behelligt. Nach der Verhaftung des ehemaligen württembergischen Staatspräsidenten Eugen Bolz im Gefolge des gescheiterten Attentats vom 20. Juli 1944 begab sich Mechthild Bolz nach Rücksprache mit einem engen Vertrauten ihres Vaters im Staatsministerium, Oberregierungsrat Karl Ströle, zu Neurath nach Kleinglattbach und baten diesen, sich für ihren Vater zu verwenden. Neurath erklärte ihr aber, er stehe selbst unter ständiger Überwachung und könne »sich auf sowas Gefährliches nicht einlassen«. 118 Zudem hätte Neuraths Verwendung für Bolz wohl ohnehin Frank Raberg 530 114 Speidel, Hans, Aus unserer Zeit, Berlin, Frankfurt/ Main, Wien 1977, S. 164. 115 Heineman (wie Anm. 6), S. 216 - 218; Speidel (wie Anm. 114), S. 169 - 170; Nachtmann (wie Anm. 5), S. 334 f.; Leipner (wie Anm. 83), S. 966. 116 Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.), Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944. Geheime Dokumente aus dem ehemaligen Reichssicherheitshauptamt Bd. 1, Stuttgart 1989, S. 144. 117 Jacobsen (wie Anm. 116), S. 278, 446; Bd. 2, S. 660, wo davon die Rede ist, Neurath habe sich nach der Abberufung aus dem Protektorat in Bebenhausen auch bei der Exkönigin Charlotte aufgehalten, die Patin von Stauffenbergs gewesen sei. 118 Ströle, Karl, Aus meinem bunten Leben [Masch.], Stuttgart 1967, S. 70 ff. <?page no="532"?> keinen Sinn gehabt, da er zwar früher ein Mann von Einfluß gewesen, aber nunmehr persona non grata war. Der Zusammenbruch des »Dritten Reiches« im Frühjahr 1945 kam nicht überraschend, auch für den mittlerweile 72jährigen Neurath nicht. Ende März hatte er sich auf seine Jagdhütte in den Alpen zurückgezogen. 119 Hitler, der sich seiner Verantwortung durch Selbstmord entzog, erklärte in seinem Testament den Großadmiral Dönitz zu seinem Nachfolger. Dieser »Nachfolger« war sich im klaren darüber, daß er einen Außenminister benötigte, über den er mit den Alliierten in Kontakt würde treten können, und dachte offenbar sogleich an Neurath, eine Persönlichkeit, »die im Ausland im Hinblick auf die kommenden Verhandlungen Resonanz« besitze. Ribbentrop malte sich bereits die Szene aus, seinem Vorgänger und zukünftigen Nachfolger, dem ungeliebten Neurath, wiederzubegegnen. 120 Der Zufall verhinderte aber dieses Szenario, denn der Wunschkandidat des Großadmirals war nicht aufzufinden, so daß (am 2. Mai) Minister a.D. Graf Schwerin von Krosigk das Amt übernahm. Am 4. Mai 1945 wurde Neurath von französischen Soldaten, ebenso wie sein Schwiegersohn Mackensen, der zeitweise Staatssekretär im Auswärtigen Amt gewesen war, gefangengenommen und zunächst in Lindau am Bodensee interniert. Da der prominente Gefangene an Prostata-Schmerzen litt, wurde er in Kirchberg operiert, ehe er über Überlingen und Baden-Baden im Oktober 1945 ins Gefängnis nach Nürnberg kam, wo am 20. November 1945 der Prozeß des Alliierten Gerichtshofes gegen die Hauptkriegsverbrecher begann. Auch Neurath stand unter der Anklage der Verschwörung, des Verbrechens gegen den Frieden, des Kriegsverbrechens und des Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Er selbst blieb ungerührt und suchte in englischsprachigen Interviews mit den US-amerikanischen Untersuchungsführern den Eindruck zu erwecken, er sei in allen Punkten völlig unschuldig: »If everyone had as clear a conscience as I have then it would be all right.« 121 Es war freilich nicht alles in Ordnung, auch bei ihm selbst nicht. 122 Es lief bei seiner Verteidigung alles schief, was nur schieflaufen konnte. Sein Verteidiger, Freiherr von Lüdinghausen, war nicht entfernt so scharfsinnig und geschickt wie etwa Otto Kranzbühler, der die Verteidigung von Dönitz übernommen hatte. Neurath, gesundheitlich angeschlagen und merklich unsicher, verlas zur allgemeinen Langeweile einen gigantischen Rechenschaftsbericht, der in sich unschlüssig war und wenig Einsicht zeigte. Sir David Maxwell-Fyfe ging im Kreuzverhör gnadenlos mit Neurath ins Gericht, überführte ihn seiner Lügen, wies seine Judenfeindlichkeit nach, stellte Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 531 119 Heineman (wie Anm. 6), S. 220. 120 Lüdde-Neurath, Walter, Regierung Dönitz. Die letzten Tage des Dritten Reiches, 3. Aufl. Berlin, Frankfurt/ Main, Zürich 1964, S. 81. Vgl. auch Bloch (wie Anm. 76), S. 429. 121 Heineman (wie Anm. 6), S. 221. 122 Zum Prozeß vgl. Heineman (wie Anm. 6), S. 222 - 238, Taylor (wie Anm. 4), S. 526 - 532. <?page no="533"?> unter Beweis, daß der Angeklagte sein Berliner Haus zu einem sensationell niedrigen Preis erhalten hatte, weil die Frau des Verkäufers Jüdin war, und stellte den Staatsdiener dreier Systeme der deutschen Geschichte, des Kaiserreiches, der Republik und des NS-Staates, als gewissenlosen Mann dar, der sich Hitler völlig in die Arme geworfen habe. 123 Unbeweglich und nicht fähig, sich wie einige andere Angeklagte zu wehren, stellte Neurath in seinem kläglichen Schlußwort fest, er stehe »mit gutem Gewissen nicht nur vor [sich] selbst, sondern vor der Geschichte und dem deutschen Volk«. 124 Seine Teilnahme an der Hoßbach-Konferenz und die Tätigkeit als Reichsprotektor gewichtete das Gericht so schwer, daß es ihn in allen vier Punkten für schuldig befand und zu 15 Jahren Haft verurteilte. 125 Während Neuraths Familie davon ausging, daß der an einer Augenkrankheit und angina pectoris leidende Verurteilte bald auf dem Gnadenwege freikommen werde, war dieser selbst nicht so optimistisch. Am 18. Juli 1947 wurde er wie ein gewöhnlicher Krimineller in Gefängniskleidung als Häftling Nr. 3 in das von den vier alliierten Siegermächten genutzte und bewachte Gefängnis von Spandau übernommen, wo er die nächsten sieben Jahre verbringen sollte. 126 »1948. Der erste Geburtstag hinter den Mauern von Spandau. Tagsüber Tütenkleben, nachts alle Viertelstunde im Scheinwerferlicht. Tochter Winifred hat als Geburtstagsgeschenk ein Paar feste Stiefel für die Gartenarbeit im Gefängnishof mitgebracht. Aber das Geschenk wird nicht genehmigt. Es bleibt bei dem Gefängnisschuhzeug aus Holzsohlen und Papierstoff«. 127 Dem Beschluß der Zentral-Spruch- und Berufungskammer Nordwürttemberg und Nordbaden vom Oktober 1950, trotz der Verurteilung und Inhaftierung Neuraths in Spandau aus Gründen der Gleichbehandlung und »Verantwortung vor der Geschichte« ein Spruchkammerverfahren gegen ihn zu eröffnen, kam demgegenüber nur deklamatorische Bedeutung zu; ein Prozeß gegen Neurath in Württemberg-Baden wurde aber dennoch eröffnet, ohne daß dieser freilich direkte Auswirkungen auf den Spandauer Häftling gezeitigt hätte. 128 Es war aber gerade das Schicksal des ältesten Häftlings in Spandau, der »Nummer 3«, das auch die hohe Politik fortan beschäftigen sollte. Bundeskanzler Adenauer trug Mitte 1950 in einem Schreiben an den damaligen geschäftsführenden Vorsitzenden der Alliierten Hohen Kommission in Berlin, den französischen Botschafter André François-Poncet, die Bitte vor, die Haftbedingungen der vom Militärtribunal in Nürnberg Verurteilten zu überprüfen. 129 Als einzigen der Häftlinge nannte er in Frank Raberg 532 123 Taylor (wie Anm. 4), S. 530 ff. 124 IMT, Bd. XXII, S. 462. 125 IMT, Bd I, S. 380; Heineman (wie Anm. 6), S. 236 - 238. Die Sowjets hatten auf Todesstrafe, die Briten auf lebenslange Haftstrafe plädiert. 126 IMT, Bd. I, S. 238. 127 Artikel »Freiherr von Neurath gestorben«, Ludwigsburger Kreiszeitung, 16. August 1956. 128 Kopie des Beschlusses (AZ SV/ 1236) mit Begründung in HSTAS, J 191 (Neurath). Vgl. auch Heineman (wie Anm. 6), S. 240. 129 Mensing, Hans Peter (Bearb.), Adenauer. Briefe 1949 - 1951 (Adenauer. Rhöndorfer Ausgabe), Berlin 1985, S. 234 - 235. <?page no="534"?> diesem Brief Neurath namentlich, der nicht mehr arbeitsfähig sei und »den ganzen Tag, abgesehen vom Spaziergang, ohne Tätigkeit und ohne Lektüre auf (seinem) Holzhocker« sitzen müsse. Der Appell Adenauers, »daß der Strafvollzug den in allen zivilisierten Staaten üblichen Prinzipien angepaßt« werden sollte, wurde mit dürren Worten beantwortet, eine Überprüfung der Haftbedingungen als unnötig erklärt. Auf Antrag 130 der DVP-Fraktion beschäftigte sich auch der württemberg-badische Landtag mit dem »Fall« Neurath. Dieser Antrag ging dahin, daß die Landesregierung in Stuttgart auf die Bundesregierung einwirken sollte, sich bei den Alliierten Hochkommissaren dafür einzusetzen, den unter »unerträglichen Haftbedingungen« in Spandau einsitzenden Ex-Reichsaußenminister alsbald freizulassen. In der Plenarsitzung vom 20. Juni 1951 ergriff zunächst ein Abgeordneter der Fraktion DG/ BHE, der gebürtige Deutsch-Böhme Josef Schwarz, das Wort, um Neurath insofern zu entlasten, als dieser von den Nationalsozialisten »schon 1941« als Reichsprotektor entlassen worden sei, weil er nicht hart genug durchgegriffen habe. Neurath sei in großen Teilen der Bevölkerung Böhmens sehr anerkannt gewesen. Danach sprach der DVP-Fraktionsvorsitzende Dr. Wolfgang Haußmann. Der wendige Jurist vermied geflissentlich jede Beurteilung von Neuraths politischer Tätigkeit und betonte, daß der Antrag, um den die Familie Neurath gebeten habe, aus »rein menschlichen Gründen« gestellt worden sei. Der Inhaftierte sei ein alter Mann, der seit zehn Jahren an »Herzneurose« leide und eine schwere Operation während seiner Haftzeit habe über sich ergehen lassen müssen. Neurath sei so krank, daß er als haftunfähig anzusehen sei. Rechtsanwalt Haußmann erinnerte auch daran, daß der Gesundheitszustand Neuraths während des harten Kreuzverhörs in Nürnberg sehr schlecht gewesen sei, so daß er sich selbst nur sehr unzureichend habe verteidigen können. Es sei richtig, daß sich der Landtag mit dem Schicksal des gebürtigen Württembergers Neurath beschäftige, meinte Haußmann, und warb um die Annahme des Antrags. Tatsächlich wurde er bei fünf Enthaltungen angenommen. 131 Der daraufhin von Ministerpräsident Maier an den Bundeskanzler in diesem Sinne verfaßte Brief wurde dahingehend beantwortet, daß früher unternommene »verschiedene Schritte« in dieser Richtung erfolglos geblieben seien, Adenauer sich aber bei den Hochkommissaren »eindringlich« um eine Verlegung des Gefangenen in ein Krankenhaus verwendet habe. 132 Im Nachgang zu dieser Mitteilung erhielt Maier Mitte August einen weiteren Brief aus dem Bundeskanzleramt, der an der harten Haltung der Westalliierten in puncto Neurath keinen Zweifel mehr ließ: Adenauer Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 533 130 Antrag vom 30. Mai 1951, ausgegeben am 5. Juni 1951, Beilage 401 im Beilagenband 1 zu den Verhandlungen des 2. Württemberg-Badischen Landtags, S. 235. 131 Verhandlungen des 2. Württemberg-Badischen Landtags, 26. Sitzung, 20. Juni 1951, Protokollband 2, S. 861 - 862. 132 Reinhold Maier, an den Bundeskanzler Konrad Adenauer, 23. Juni 1951, ausgegeben am 2. Juli 1951, Beilage 502 im Beilagenband 2 zu den Verhandlungen des 2. Württemberg-Badischen Landtags, S. 308, und Herbert Blankenhorn an den Ministerpräsidenten von Württemberg-Baden, 9. Juli 1951, ausgegeben am 19. Juli 1951, Beilage 541, ebd., S. 334. <?page no="535"?> habe im Gespräch mit dem Hohen Kommissar der USA erfahren, daß eine Verlegung in ein Krankenhaus nicht geplant sei, weil die gesundheitlichen Probleme Neuraths altersbedingt und nicht auf die Haftsituation zurückzuführen seien. Man habe Freifrau von Neurath die Erlaubnis erteilt, ihren Mann am Tag der Goldenen Hochzeit zu besuchen, was aber wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes nicht zustandegekommen sei. Der Bundeskanzler verfolge das Schicksal Neuraths weiterhin »mit großer Anteilnahme«. 133 Damit war diese Initiative des Landtags ohne jeden Erfolg an ihrem Ende angelangt. Im Oktober 1953 gedachte der Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett im Rahmen einer Kundgebung aus Anlaß der Kriegsgefangenengedenkwoche ausdrücklich auch Neuraths. 134 In den langen Jahren der Haft hielt sich Neurath aus den Gesprächen der Mithäftlinge weitgehend heraus und hörte meist nur zu. Dieses Verhalten wurde ihm auch als Hochmut ausgelegt, obwohl den ohnehin nicht Gesprächigen wohl vor allem der tiefe Schmerz über den Untergang Deutschlands und die Verbitterung über sein eigenes Schicksal schweigen ließ. Albert Speer überliefert folgende Episode: Er habe bei einem abendlichen Spaziergang Neurath gegenüber vorsichtig geäußert, daß dessen Zurückhaltung im Gespräch als Arroganz empfunden werde, worauf er die Antwort erhielt: »Ach, für Sie alle sind ja nur Hitler und das Dritte Reich untergegangen! « Speer gibt Neurath im folgenden Recht, denn dieser sei unter den Häftlingen der einzige Konservative, für den die Begriffe Deutschland, Nation und Reich »und die Aura, die sie besitzen, wirklich etwas konkret Erlebtes« bedeuteten. »Die melancholische Verschlossenheit, mit der er unseren Diskussionen folgt, auch das, was ich als Arroganz empfand«, war laut Speer die bei Neurath eingetretene Erkenntnis, daß von den Nationalsozialisten »sowohl in der Wirklichkeit wie als Idee eine mehr als tausend Jahre alte Geschichte verspielt« worden sei. In der Tat: Wohl nur wenige ehemals politisch Handelnde der Weimarer Zeit und des NS-Systems werden das Ende des Reiches so sehr als »finis Germaniae« erlebt haben wie Neurath. 135 Die Mitteilung, daß seine Entlassung aus der Haft, für die sich die Sowjetunion nach Absprache mit der politischen Führung der Tschechoslowakei ausgesprochen hatte 136 , unmittelbar bevorstehe, löste unter den Mithäftlingen große Unruhe aus, während der erst kurz zuvor von einem weiteren Herzanfall genesene »Betroffene« ruhig blieb und kundtat, er glaube erst daran, wenn er auf der anderen Seite des Tores stehe. 137 Als es dann soweit war, wurde er in Pantoffeln zum Magazin geführt, ohne daß ihm zuvor gesagt worden war, daß er nun entlassen würde, so daß er sich auch Frank Raberg 534 133 Blankenhorn an Maier, 14. August 1951, ausgegeben am 24. August 1951, Beilage 689 (wie Anm. 132), S. 446. 134 Leipner, Kurt, Chronik der Stadt Stuttgart 1949 - 1953 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart 27), Stuttgart 1983, S. 226. 135 Speer (wie Anm. 13), S. 285 - 287. 136 Heineman (wie Anm. 6), S. 244 f. 137 Speer (wie Anm. 13), S. 397 ff. <?page no="536"?> nicht von den Mitgefangenen verabschieden konnte. Neurath bedauerte dies sehr. »Ohne Erklärung sei er in das Magazin geführt worden, wo ihm anstelle seines mottenzerfressenen Anzugs eine unnumerierte Gefängniskleidung ausgeliefert worden sei. Neuraths Tochter habe den Vater im Besuchszimmer empfangen und dann, ohne Ausweispapiere und ohne Entlassungsschein, zu dem im Gefängnishof wartenden Auto gebracht«. 138 Die Entlassung des schwerkranken, sich nur noch undeutlich artikulierenden Neurath wurde als Politikum angesehen. Bundeskanzler Adenauer, der Neurath sogleich ein Glückwunschtelegramm zukommen ließ, vertrat gegenüber seinem Kabinett sogar die Ansicht, der Vorschlag zur Haftentlassung von seiten Moskau sei ein Versuch, »den Aufbau einer westlichen Verteidigungsfront zum Scheitern zu bringen«. 139 So wurde der alte Neurath auch jetzt noch einmal instrumentalisiert, diesmal, um Adenauers Pläne der bundesdeutschen Wiederbewaffnung an der Seite der Westalliierten zu legitimieren. Bundespräsident Heuss, der sonst nicht verhehlte, wie wenig er von Neurath letztlich hielt 140 , schickte dem entlassenen schwäbischen Landsmann ein Schreiben, das eine heftige öffentliche Reaktion auslöste. Es lautete 141 : »Mit freudiger Genugtuung habe ich, von einer kurzen Reise zurückgekehrt, heute früh die Mitteilung gelesen, daß den Nachrichten der letzten Tage nun doch rasch die Erfüllung folgte, und das Martyrium dieser Jahre für Sie ein Ende gefunden hat. Ich bin froh darüber, daß Sie nun Ihrer Familie und der württembergischen Heimat, mit der Sie immer so eng verbunden blieben, zurückgegeben sind, und daß unsere Sorgen und Gedanken nicht mehr von einer herben Phantasie gequält werden müssen. Ich kann Ihnen nur wünschen, daß es ihrer in der Anlage so kräftigen Natur gelingen wird, mit den Folgen der argen Jahre bald fertig zu werden, und daß Sie in der altvertrauten und jetzt wieder neugeschenkten Umgebung auch die Ruhe der Seele wiederfinden werden.« Bemerkenswert ist dieser Brief in mehrfacher Hinsicht: die Verwendung der Begriffe »Genugtuung« und »Martyrium« sowie der herzliche Ton signalisieren in eindeutiger Weise zumindest Sympathie und deuten an, daß Neurath nicht zu Recht inhaftiert gewesen sei. Und als sich Heuss in einem Brief an die Juristische Fakultät der Universität Frankfurt gegen die auch von dort kommenden Anschuldigungen wehrte, er habe mit einem solchen Brief die »nazistischen Kräfte« ermuntert und die notwendige Zurückhaltung vermissen lassen, stellte Heuss doch tatsächlich einen Zusammenhang zwischen den Persönlichkeiten des deutschen Widerstands um Goerdeler und Stauffenberg und Neurath her, als er schrieb, »einige Mitglieder der Fakultät waren ganz damit einverstanden, daß ich in Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 535 138 Speer (wie Anm. 13), S. 398 ff. 139 Hüllbüsch, Ursula; Trumpp, Thomas (Bearb.), Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung Bd. 7. 1954, Boppard/ Rhein 1993, 57. Kabinettssitzung am Freitag, den 5. November 1954, S. 478 f. 140 »Neurath, den ich freilich nur ein paarmal vor Jahrzehnten im kleinen Kreis traf, [...] war [...] ausgesprochen dumm; wann wird Dummheit zum Verbrechen? « Heuss (wie Anm. 12), S. 188. 141 Abgedruckt in Keesing’s Archiv der Gegenwart, 24. Jg. (1954), S. 4832 B (6. November 1954). <?page no="537"?> der Würdigung der Männer des 20. Juli 1944 aus jener ›Zurückhaltung‹ heraustrat, die Sie als Pflicht meines Amtes mir jetzt deklarierten«. 142 Der Mann, der nach neun Jahren der Gefangenschaft bzw. Inhaftierung die Freiheit zurückerhielt, war nicht mehr in der Lage, sich ihrer lange zu erfreuen. Neurath war ein gebrochener Mann, ausgemergelt und zusammengefallen, und nichts erinnerte mehr an seine einstmals strahlende Erscheinung. Selten traf er sich mit Jagdfreunden, noch seltener empfing er Besucher. Von seiner Vergangenheit wollte er nichts mehr hören, und dem Vorschlag seines nunmehrigen Anwalts, sein Entnazifizierungsverfahren nach Beendigung der Haft mit guten Chancen aufzurollen, mochte er nicht folgen. 143 Am 14. August 1954 ist Neurath in der Mitte des 84. Lebensjahres auf seinem Gut Leinfelderhof bei Enzweihingen gestorben. Er wurde im Familiengrab in Kleinglattbach beigesetzt. 144 Als der eifrige Tagebuchschreiber Speer in Spandau vom Tod des einstigen Mitgefangenen erfuhr, notierte er, der in der Beurteilung anderer Persönlichkeiten stets mehr Scharfblick erkennen ließ als bei der eigenen: »Er war der einzige gewesen, der sich nie hatte gehen lassen. Älter und kränker als alle anderen und vielleicht auch weniger schuldig, hatte er einen Maßstab gesetzt, wie diese Zeiten, ihre Härten und Demütigungen mit Haltung, ja sogar mit Würde zu bestehen waren. [...] Sicher wirkte er inmitten vieler zweideutiger Existenzen, inmitten der zahlreichen Condottieri-Typen, die den Hofstaat Hitlers bevölkerten, wie eine Gestalt aus einer anderen Welt. Eigentlich unverständlich, daß er sich zur Mitarbeit hergegeben hat. Darin lag seine Schuld, gerade weil er diese Camarilla um Hitler immer verachtete und daraus kein Geheimnis machte. Seine Welt war die Monarchie geblieben; stellvertretend büßte er für das gemeinsame Spiel, das die Konservativen und Hitler betrieben hatten«. 145 Eigentlich unverständlich, vielleicht weniger schuldig: Speer spricht die beiden Kulminationspunkte an, die einer endgültigen Beurteilung der politischen und moralischen Schuld Neuraths im Wege stehen. Warum stellte er sich in den Dienst Hitlers und der NSDAP, die er zumindest anfänglich verachtete? Warum reichte der Aristokrat und Patriot den populistischen Phrasendreschern die Hand? Weshalb verschloß er solange die Augen vor ihren Verbrechen? Und wann beginnt die Schuld, die auf politischer Dummheit gründet? Frank Raberg 536 142 Mensing, Hans-Peter (Bearb.), Theodor Heuss, Konrad Adenauer. Unserem Vaterland zugute. Der Briefwechsel 1948 - 1963, München 1992, S. 197, 473. 143 Heineman (wie Anm. 6), S. 245. 144 Vgl. Der Enz-Bote, 18. August 1956. 145 Speer, Tagebücher (wie Anm. 13), S. 439 ff. <?page no="538"?> Bibliographie Quellen Grundlage wissenschaftlicher Beschäftigung mit Neurath sind die Akten im Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland (Bonn) sowie der Nachlaß Neurath (NL 177) im Bundesarchiv Koblenz. Dieser Nachlaß wurde 1982 von Neuraths Tochter dem Bundesarchiv übergeben und umfaßt etwa 3 lfm. Daneben können seine Personalakten (NSDAP und SS) im BDC sowie Handakten des Ministerbüros im Deutschen Zentralarchiv Potsdam herangezogen werden. Unverzichtbar unter den publizierten Quellen sind die Akten zur deutschen auswärtigen Politik, 1918 - 1945. Aus dem Archiv des Auswärtigen Amts, Serie B (1925 - 1933), Göttingen 1966 ff., Serie C (1933 - 1937), Göttingen 1971 ff. und der erste Band der Serie D (1938 - 1941). Von Neurath zu Ribbentrop, Baden-Baden 1950, sowie die Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik, hrsg. v. K.-D. Erdmann u.a. Von besonderer Relevanz sind hier die von Karl-Heinz Minuth bearbeiteten Bände über das Kabinett von Papen, 2 Bde. Boppard/ Rhein 1989, der von Anton Golecki bearbeitete Band über das Kabinett von Schleicher, Boppard/ Rhein 1986 und der wiederum von Minuth bearbeitete Band über die Regierung Hitler 1933/ 34, 2 Bde. Boppard/ Rhein 1983. Ebenfalls wichtig sind die 1947 - 1949 in Nürnberg erschienenen 42 Bände über den Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (IMT), Nürnberg 1947. Literatur Die bisher einzige wissenschaftliche Biographie von Neuraths stammt von John L. Heineman, Hitler’s First Foreign Minister. Constantin Freiherr von Neurath. Diplomat and Statesman, Berkeley, Los Angeles 1979. Der engagierten, detailreichen und wesentlich auf Quellenmaterial (auch Teilen des Neurath-Nachlasses, der damals noch im Besitz der Familie war) beruhenden Arbeit ist der Vorwurf zu großer Sympathie für den »Protagonisten« ebensowenig zu ersparen wie der Hinweis, daß der Autor sich in deutschen und speziell württembergischen Verhältnissen offenkundig zu wenig auskennt, was zu zahlreichen Fehlern (auch Übertragungsfehlern vom Deutschen ins Englische und vice versa) geführt hat. Dennoch ist das Buch die wichtigste Grundlage für eine Beschäftigung mit der Person Neuraths und war auch für diesen Beitrag von größtem Wert. Zahlreich sind die eher summarisch-lexikalischen Beiträge über Neurath, von denen hier im folgenden allein schon aus Platzgründen nur einige aufgeführt werden können: Michael Behnen, in: Lexikon der deutschen Geschichte. Personen-Ereignisse- Institutionen. Von der Zeitenwende bis zum Ausgang des 2. Weltkrieges, hrsg. v. G. Taddey, Stuttgart 1979, S. 853; W. Bleyer, in: Biographien zur deutschen Geschichte. Lexikon. Von den Anfängen bis 1945, hrsg. v. K. Pätzold u. a., Berlin 1991, S. 367 - 368; H. H. Hoffmann, in Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte Bd. 2, München 1974, S. 2008 - 2009; Wilhelm Kosch, Biographisches Staatshandbuch. Lexikon der Politik, Presse und Publizistik, Bern, München 1963, S. 917; Peter Krüger, in: Biographisches Lexikon zur Weimarer Republik, hrsg. v. W. Benz, H. Graml, München 1988, S. 238 - 239; Das Deutsche Führerlexikon 1934/ 35, Berlin 1934, S. 17; Wer ist’s ? 10 (1935), S. 1138; Munzinger-Archiv / Internationales Biographisches Archiv (der Verstorbenen), Lieferung 40/ 56; Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft. Konstantin Freiherr von Neurath, Außenminister des Deutschen Reiches (1932 - 1938) 537 <?page no="539"?> Das Handbuch der Persönlichkeiten in Wort und Bild Bd. 2, Berlin 1931, S. 1321, Stockhorst, Erich, Fünftausend Köpfe. Wer war wer im Dritten Reich, Velbert, Kettwig 1967, S. 307; Zentner, Christian; Bedürftig, Friedemann (Hrsg.), Das große Lexikon des Dritten Reiches, München 1985, S. 416 - 417. In Kürze erscheint die Kurzbiographie über Neurath von Frank Raberg in den Baden-Württembergischen Biographien, hrsg. von Bernd Ottnad im Auftrag der Kommission für geschichtliche Landeskunde Baden-Württemberg. Zahlreiche Zeitgenossen haben sich an ihre Begegnungen und/ oder ihre Zusammenarbeit mit Neurath in ihren Memoiren erinnert. Hier sind als wichtigste zu nennen Magnus Freiherr von Braun, Reichsminister a.D., Von Ostpreußen bis Texas. Erlebnisse und zeitgeschichtliche Betrachtungen eines Ostdeutschen, Stollhamm 1955; Heinrich Brüning, Memoiren 1918 - 1934, Stuttgart 1970; Franz von Papen, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952; Lutz Graf Schwerin von Krosigk, Es geschah in Deutschland. Menschenbilder unseres Jahrhunderts, Tübingen, Stuttgart 1951, S. 310 - 317 (»Der kaltgestellte Diplomat: Konstantin von Neurath«); Albert Speer, Spandauer Tagebücher, Frankfurt/ Main, Berlin, Wien 1975; Ernst von Weizsäcker, Erinnerungen, München, Leipzig, Freiburg 1950, sowie die von Leonidas E. Hill in zwei Bänden herausgegebenen Weizsäcker-Papiere 1900 - 1932 bzw.1933 - 1950, Frankfurt/ Main, Berlin, Wien 1982 bzw. 1974. Eine Liste der Arbeiten zusammenzustellen, in denen Neurath mehrfach genannt und auf seine Aktivitäten in verschiedenen Phasen seiner beruflichen Laufbahn eingegangen wird, würde ein umfangreiches Buch füllen. Daher kann auch hier nur eine Auswahl getroffen werden. Nach wie vor grundlegend und unverzichtbar für die Beurteilung Neuraths als Außenminister bleibt die umfassende Studie von Hans-Adolf Jacobsen, Nationalsozialistische Aussenpolitik 1933 - 1938, Frankfurt/ Main, Berlin 1968. Wichtige Ergänzungen und Korrekturen bietet die vorzügliche Arbeit von Hans-Jürgen Döscher, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung, Berlin 1987, in der erstmals der vollständige Nachlaß Neuraths ausgewertet werden konnte. Sehr materialreich und die Außenpolitik aus zahlreichen verschiedenen Blickwinkeln beleuchtend ist Manfred Funke (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reichs, Düsseldorf 1978. Frank Raberg 538 <?page no="540"?> *27. Juli 1896 Rauenberg/ Wertheim, kath., 1937 Kirchenaustritt, Vater: Hans Pflaumer, Oberlehrer, Mutter: Lina, geb. Raab, verheiratet seit 9. Oktober 1920 mit Hertha, geb. Hauck, drei Kinder. Volksschule, Lehrerseminar ohne Abschluß, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer als Leutnant (1915), 17. Mai 1918 - 2. Februar 1920 französische Gefangenschaft, Entlassung als Oberleutnant d. Res., 12. April 1920 Polizeileutnant, 1. April 1922 Polizeioberleutnant, 28. Februar 1929 in den Ruhestand versetzt. 1. Mai 1929 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 186.057), Oktober 1929 - Januar 1931 SA-Standartenführer, 8. Dezember 1930 Gemeinderat Heidelberg, Januar 1931 Mitglied der SS, 1. Oktober 1931 Geschäftsführer und Kreispropagandaleiter der NSDAP in Mannheim, 1933 Mitglied der NSV, 8. März 1933 Kommissar z.b.V., 6. Mai 1933 Minister des Innern, 14. November 1933 MdR, 9. September 1934 SS-Oberführer, 1938 Mitglied des Lebensborn, 20. April 1940 SS-Brigadeführer, 1941 - 1942 Gesandter in Rumänien, 1940 - 1944 Leiter der Verwaltungs-und Polizeiabteilung beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß. April 1945 im französischen Internierungslager Alschweier, März 1948 von französischer Militärregierung in die Gruppe der Kriegsverbrecher eingereiht, 19. Mai 1948 von der Liste der Kriegsverbrecher gestrichen, 25. Mai 1948 Haftentlassung, 26. Mai 1948 Gerichtsgefängnis Karlsruhe, 2. - 12. August 1948 Internierungslager 77 Ludwigsburg, 14. Januar 1950 Entscheidung der Zentralspruchkammer Karlsruhe: »belastet«, 11. April 1953 durch Gnadengesuch Anrechnung der gesamten Zeit als Polizeioberleutnant auf das Ruhegehalt, 30. Mai 1958 durch weitere Gnadenentscheidung Anrechnung der Hälfte der Zeit als Innenminister auf das Ruhegehalt, zeitweilig Handelsvertreter, gest. 3. Mai 1971 Rastatt. Zwischen Partei, Amt und persönlichen Interessen Karl Pflaumer, Badischer Innenminister Norma Pralle Karl Pflaumer 539 <?page no="541"?> Am 28. Februar 1929 wurde der Polizeioberleutnant Karl Pflaumer mit nur 32 Jahren wegen körperlicher Dienstunfähigkeit aus dem Polizeidienst entlassen und pensioniert. Ärztliche Gutachten bestätigten eine endogene Depression, die »auf den günstigen Boden eines einmal schon schwer geschädigten Zentralnervensystems fällt [und] die zu erheblichen Insuffizienzerscheinungen auf körperlichem wie seelischem Gebiet führt«. 1 Zwei Monate später trat der Polizeioberleutnant a.D. Pflaumer in die NSDAP ein - der Beginn seiner politischen Karriere, die mit seiner Ernennung zum Minister des Innern des Landes Baden im Mai 1933 ihren Höhepunkt erreichte. Wer war dieser Mann, der sich in jungen Jahren als Beamter wegen angeblicher körperlicher Beschwerden pensionieren ließ und nur wenige Jahre später als Nationalsozialist eines der wichtigsten Ämter in der badischen Regierung bekleidete? Karl Pflaumer wurde am 27. Juli 1896 in Rauenberg/ Wertheim geboren und katholisch getauft. Seine Eltern, Hans Pflaumer, Oberlehrer in Reicholzheim an der Tauber und Lina Pflaumer, geb. Raab, erfreuten sich mit ihren sieben Söhnen eines »ausgezeichneten Rufes« und galten als eine »achtbare und angesehene Familie«. 2 Als der Erste Weltkrieg ausbrach, besuchte der drittälteste Sohn Karl gerade das Lehrerseminar, in das er nach Abschluß der Volksschule eingetreten war. Pflaumer sah - wie soviele seiner Zeit - den Krieg als Chance, seinem Leben eine Richtung zu geben: Er verließ das halbherzig begonnene Lehrerseminar, meldete sich am 7. August 1914 freiwillig zum Militärdienst und gehörte damit zu den Kriegsfreiwilligen der ersten Stunde. Noch am selben Tag wurde er dem Leib-Grenadier-Regiment 109 zugeteilt, kam schon im Dezember an die Front und kämpfte im Reserve-Infanterieregiment 40 bei den Stellungskämpfen an der Somme sowie ein Jahr später im Infanterieregiment 80 in den Vogesen. Bei diesen Einsätzen muß er sich bewährt haben, denn er erhielt schon bald sein Offizierspatent und seine Beförderung zum Leutnant der Reserve. Ab August 1917 flog er als Beobachter in der Fliegerabteilung 29 nördlich von Paris, um Artilleriestellungen auszukundschaften. Bei einem dieser Frontflüge, im Mai 1918, geriet er südwestlich von Compiègne mit einer französischen Jagdstaffel in einen Luftkampf, bei dem sein Flugzeugführer schwer verwundet und das Flugzeug abgeschossen wurde. Die Franzosen internierten Pflaumer im Offiziersgefangenenlager Montoire-sur-Le-Loire, das seinen Aussagen zufolge streng geführt wurde. Gerne stilisierte Pflaumer diese Gefangenschaft zu einer persönlichen Passionszeit. Sein Gesundheitszustand habe sich erheblich verschlechtert, nicht selten hätten die französischen Wachmannschaften aus nichtigen Anlässen in die Unterkünfte geschossen, ohne Rücksicht auf Leib und Leben der Gefangenen. 3 Folge solcher Behandlung wie des Kriegserlebnisses überhaupt - seine zwei älteren Brüder Norma Pralle 540 1 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 159, PA Karl Pflaumer. 2 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 6, PA Karl Pflaumer. 3 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 3, PA Karl Pflaumer. <?page no="542"?> waren gefallen - sei schließlich das Erwachen seines politischen Interesses gewesen: »Im großen Erleben des Krieges wurde ich Sozialist.« 4 Ausgezeichnet mit zahlreichen Kriegsorden und befördert zum Oberleutnant kehrte er erst am 2. Februar 1920 aus der Gefangenschaft zurück. Da die Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages wenig Hoffnung auf eine Weiterverwendung als Soldat zuließen, setzte Pflaumer alles daran, in den Polizeidienst, den er dem Soldatenstande nahe wähnte 5 , zu gelangen. Er sprach sogar persönlich im Badischen Ministerium des Innern vor und ließ sich vom Vorstand der Gewerbe- und Handelsschule Wertheim dem damaligen Referenten für die Sicherheitswehr empfehlen. 6 Jener hob Pflaumers Leistungen als Infanterieoffizier und Fliegerleutnant und seinen Wunsch, sich in dieser Richtung weiter zu betätigen, besonders hervor. Pflaumers Gesuche hatten Erfolg: Am 12. April 1920 trat er der badischen Polizei in Heidelberg bei. Ab August 1920 wurde er Polizeileutnant bei der Badischen Sicherheitspolizei. 7 In dieser Zeit heiratete er auch Hertha Hauck, mit der er schon seit drei Jahren verlobt war, und zog mit ihr von Wertheim nach Heidelberg. Pflaumer nahm seine Arbeit sehr ernst und war von Anfang an darauf bedacht, die Karriereleiter aufzusteigen. Sein außerordentliches Engagement bewies er nicht zuletzt auch mit der Einschreibung als Gasthörer an der Universität Heidelberg, an der er vorwiegend Seminare über Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre besuchte. 8 Auch nahm er an verschiedenen Polizeilehrgängen 9 teil und wurde zum 1. April 1922 zum Polizeioberleutnant befördert. Am 26. Februar 1925, nach Beendigung des II. Sonderlehrgangs für Polizeioffiziere, bei dem er als »geweckter und fleissiger Offizier«, dem »geistige Arbeit [...] ein Bedürfnis« war, positiv auffiel 10 , wurde er dann zur Polizeibereitschaft Heidelberg versetzt; etwa 14 Monate später der Einsatzbereitschaft Heidelberg zugeteilt. Sein Vorgesetzer war äußerst zufrieden mit Pflaumer: »pflichttreu, gewissenhaft, unermüdlich hat er in restloser Hingabe an seinen Beruf stets recht Gutes geleistet.« 11 Über Pflaumers politisches Interesse wußte man in der Polizeidirektion zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Dies änderte sich jedoch schlagartig. Im Jahr 1928 gehörte die NSDAP in Heidelberg noch zu den eher bedeutungslosen politischen Gruppierungen. Sie zählte höchstens 60 Mitglieder und hatte bei den Reichstagswahlen vom 20. Mai gerade mal 3,1% der Stimmen gewonnen (im Reich Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 541 4 »Der Führer« Jg. 4 Nr. 18, 3. Mai 1930, S. 3. 5 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 5, PA Karl Pflaumer. 6 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 5 - 7, PA Karl Pflaumer. 7 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 37, PA Karl Pflaumer. 8 Pflaumer war vom Sommersemester 1921 bis Sommersemester 1923 nur als Gasthörer in Heidelberg eingeschrieben, da er den für ein ordentliches Hochschulstudium notwendigen Schulabschluß nicht besaß. UAHD, B8085/ 1 und B8085/ 3. 9 Im Juli 1921 legte er die Abschlußprüfung beim II. Lehrgang für Polizeioffiziere erfolgreich ab. 10 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S.113, PA Karl Pflaumer. 11 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S.109, PA Karl Pflaumer. <?page no="543"?> 2,6%). Im Vorfeld der Wahl hatte die Partei eine rege Versammlungstätigkeit betrieben und u.a. am 5. März eine »geschlossene Hitler-Versammlung« organisiert. 12 Zu den persönlich geladenen Gästen gehörte Polizeioberleutnant Karl Pflaumer. Den Polizeikollegen, die die Versammlung überwachten, fiel Pflaumers Teilnahme sofort auf; sie meldeten den Vorfall umgehend. Die Reaktion seiner Vorgesetzten ließ nicht lange auf sich warten. In aller Deutlichkeit wurde Pflaumer erklärt, daß von ihm »eine große Zurückhaltung gegenüber staatsfeindlichen Parteien« verlangt werde, um jegliche Zweifel über seine politische Zuverlässigkeit als Beamter auszuschließen. 13 Pflaumer rechtfertigte sein Verhalten mit »große[m] Interesse […] an politischen Dingen«. Er habe sich bei der NSDAP-Versammlung nur zum Zwecke der »Orientierung« aufgehalten. 14 Mochte man seinen Beteuerungen anfänglich noch Glauben schenken, so reduzierte sich das Vertrauen angesichts der häufiger werdenden Besuche von NSDAP-Veranstaltungen immer mehr. Schließlich wurde eine von Pflaumer selbst angeregte dienstliche Untersuchung in dieser Angelegenheit eingeleitet, die, von Polizeiinspektor Gustav Walther geführt, ergab, daß Pflaumer in fast allen Veranstaltungen der NSDAP der letzten Jahre gesehen worden war. Aber es blieb nicht nur bei Sympathien für die NSDAP. Pflaumer konnten auch Kontakte zum Tannenbergbund nachgewiesen werden, einer 1925 gegründeten militaristischen Dachorganisation etlicher Wehrverbände, die, antidemokratisch und antisemitisch geprägt, auf eine Diktatur hinarbeitete. 15 Darüber hinaus hatte Pflaumer Verbindung zum Bezirksführer des Stahlhelms. 16 Der Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, stellte den größten militaristischen Massenverband der Weimarer Republik dar und zeichnete sich durch gezielt antirepublikanische Propaganda aus. 17 Pflaumers Wahl in den Vorstand der »Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung Norma Pralle 542 12 Hoffmann, Herbert, Im Gleichschritt in die Diktatur? Die nationalsozialistische »Machtergreifung« in Heidelberg und in Mannheim 1930 bis 1933 (Sonderveröffentlichung des Stadtarchivs Mannheim 9), Frankfurt/ Main 1985, S.64 f. Vgl. auch Wagner, Ulrich, Die NS-Bewegung in Heidelberg bis 1933, in: Bücherverbrennung, Zensur, Verbot, Vernichtung unter dem Nationalsozialismus in Heidelberg, hrsg. v. J.-F. Leonhard, Heidelberg 1983, S. 15 - 32, hier S. 16. 13 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 119, PA Karl Pflaumer. Vorschläge, Beamte mit zweifelhaftem politischem Interesse zur Treue gegenüber der republikanischen Verfassung zu verpflichten, konnten erst Anfang der 30er Jahre und dann nur in abgeschwächter Form gesetzliche Verankerung finden. Vgl. Merz, Hans-Georg, Beamtentum und Beamtenpolitik in Baden, Freiburg, München 1985, S. 230 ff. 14 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S.133, PA Karl Pflaumer. 15 Finker, Kurt, Tannenberg-Bund, Arbeitsgemeinschaft völkischer Frontkrieger- und Jugendverbände (TB) 1925 - 1933, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789 - 1945) Bd. 4, hrsg. v. D. Fricke, Köln 1986, S. 180 - 183. 16 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 123 - 125, PA Karl Pflaumer. 17 Mahlke, Bernhard, Stahlhelm. Bund der Frontsoldaten, in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789 - 1945) Bd. 4, hrsg. v. D. Fricke, Köln 1986, S. 145 - 158. Vgl. auch Klotzbücher, Alois, Der politische Weg des Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten, in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Geschichte der »Nationalen Opposition« 1918 - 1933, Erlangen, Nürnberg 1965. <?page no="544"?> - Kampfbund der Entrechteten« im November 1926 mußte ebenso mit Befremden von der Untersuchungskommisision registriert werden. Zwar vertrat diese Partei, 1926 vor dem Hintergrund wirtschaftspolitischer Fragen gegründet, die Interessen der Inflationsgeschädigten, jedoch kristallisierte sich nach 1928 ein politisches Programm heraus, das die »Schaffung eines wahren deutschen Volksstaats« proklamierte und mit der Forderung, die Stellung des Reichspräsidenten und die des Reichskanzlers zu stärken, sich denjenigen Bewegungen anschloß, die den Abbau der Demokratie zum Ziel hatten. 18 Pflaumer wollte die amtlichen Beanstandungen an seiner politischen Haltung in keiner Weise verstehen, stand doch für ihn das Programm gerade der Reichspartei auf dem Boden der Republik. 19 Ebenso verbat er sich, daß Rückschlüsse auf seine politische Haltung aus seinen Bekanntschaften mit extrem weit rechts stehenden Personen, die er noch aus seiner Zeit als Soldat kannte, gezogen würden. Das Wohlwollen seiner Dienststelle gegenüber dem als pflichtbewußt geltenden Polizeioberleutnant schwand nun sehr schnell. Am 12. April 1928 wurde Pflaumer von der Einsatzbereitschaft zum Revierdienst versetzt, wo er mit dem Posten des Reviervorstehers des III. Polizeireviers Heidelberg vertröstet wurde. 20 Den provozierten Konflikt zwischen antidemokratischem politischem Betätigungsdrang und beruflichem Engagement für den verhaßten Staat scheint er schließlich gesundheitlich nicht verkraftet zu haben. Zeitweise wurde er für mehrere Wochen krank geschrieben, hauptsächlich wegen Kopfschmerzen, nervösen Störungen, Angstzuständen und Schwindelgefühlen. Sein Nervenarzt versuchte, mit elektrischen Behandlungen seinen Zustand zu verbessern. Das Gutachten der Universitätsklinik Heidelberg, in der er sich vom 23. bis zum 27. Juli 1928 zur Beobachtung aufhielt, diagnostizierte eine »physisch nervöse Depression leichten Grades, die zu erheblichen Insuffizienzerscheinungen auf körperlichem wie seelischem Gebiet führt, durch [...] große Sorgen um die Zukunft noch verstärkt.« 21 Ein Zusammenhang mit seiner Kriegsverletzung - einem Schädelbasisbruch, den er sich bei dem Flugzeugabsturz zugezogen hatte - konnte nicht festgestellt werden. Aufgrund dieser Diagnose wurde Pflaumer zunächst als dienstbehindert eingestuft; eine vom Arzt dringend empfohlene Kur konnte er aus finanziellen Gründen nicht antreten. Am 27. Oktober 1928 bat die Polizeidirektion Heidelberg das Innenministerium um die Entlassung Pflaumers, da dieser seit dem 18. Mai nicht mehr zum Dienst erschienen war und auch keine Wiederherstellung seiner Dienstfähigkeit zu erwarten Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 543 18 Fritsch, Werner, Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (Volksrecht-Partei) [VPR] 1926 - 1933, in: Lexikon der Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789 - 1945) Bd. 3, hrsg. v. D. Fricke, Köln 1985, S. 739 - 744. 19 GLA, 466, 5621/ 3, Zug.1979/ 2, S. 130, PA Karl Pflaumer. 20 Ab dem 13. April 1928, GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 143, PA Karl Pflaumer. 21 GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 159, PA Karl Pflaumer. <?page no="545"?> sei. Genau einen Monat später wurde Pflaumer der Beschluß eröffnet, ihn zum 31. März 1929 aus dem Polizeidienst zu entlassen, »da er sich körperlich den hohen Anforderungen des polizeilichen Dienstes nicht mehr voll gewachsen fühlt.« 22 Ohne weitere Begründung beantragte Pflaumer daraufhin, schon einen Monat früher entlassen zu werden; seinem Gesuch wurde ohne Zögern stattgegeben. Am 28. Februar 1929 beendete er schließlich seinen Dienst, ohne sich ordnungsgemäß abgemeldet und ohne seine Offiziersseitenwaffe trotz mehrerer Mahnungen abgegeben zu haben. Dem vorangegangen waren mehrfache erfolglose Anträge auf sofortige Beförderung mit dem Ziel, ein höheres Ruhegehalt zu erhalten. 23 Welche Schwere Pflaumers Krankheit tatsächlich zu diesem Zeitpunkt hatte, welche Rolle sein Einsatz für die NSDAP bei der Entlassung spielte, schließlich welche Absichten im einzelnen er selbst bei all diesen Vorgängen verfolgte, läßt sich heute kaum mehr feststellen. Zwar gehörte Baden zu den wenigen Reichsländern, in denen, nicht zuletzt auf Initiative des langjährigen Innenministers Adam Remmele (SPD), gegen republikfeindliche Kräfte in der Beamtenschaft konsequent durchgegriffen wurde, doch lagen zum Zeitpunkt der Entlassung Pflaumers einschlägige gesetzliche Handhaben nicht vor. 24 Es scheint, als hätten Pflaumer und die badische Staatsregierung trotz völlig gegenteiliger Interessen hier Hand in Hand gearbeitet. Der badische Staat konnte einerseits mit der Zurruhesetzung Pflaumers einen Staatsfeind ohne größere rechtliche Bedenken unter dem von Pflaumer selbst gelieferten Vorwand der Kränklichkeit aus einer wichtigen Dienststellung entfernen. Pflaumer andererseits ermöglichte sich durch seine Zurruhesetzung größeres politisches Engagement und bezog dabei noch staatliche Pensionszahlungen. Schon am 1. Mai entschied sich der kranke, dienstunfähige Polizeioberleutnant endgültig für den Eintritt in die NSDAP: »Es war für mich eine Selbstverständlichkeit, daß ich nach meinem Ausscheiden aus der Polizei in die NSDAP eintrat.« 25 Kaum sechs Wochen später wurde Pflaumer vom Leiter des Gaustabes Baden zum Organisationsleiter desselben ernannt 26 und mit der Abhaltung zahlreicher öffentli- Norma Pralle 544 22 Dienstleistungszeugnis vom 18. Dezember 1928, GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 189, PA Karl Pflaumer. 23 GLA 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 195, PA Karl Pflaumer. 24 Erst am 8. Dezember 1930 - »unter Berufung auf das gesteigerte Treueverhältnis« - wurde den Beamten der Polizei und Gendarmerie durch die Badische Regierung gesetzlich verboten, die NSDAP oder die KPD zu unterstützen. Mit diesem und dem im Juli 1930 verabschiedeten Erlaß, der sich auf die Lehrerschaft bezog, war Baden das Land, welches im Reich am entschiedensten gegen die Radikalen in der Beamtenschaft vorging. Einschlägige Maßnahmen gegen Ruhestandsbeamte sah die Bekanntmachung allerdings nicht vor. Vgl. Brandel, Hermann, Staatliche Maßnahmen gegen den politischen Radikalismus in Baden 1930 - 1933, Heidelberg 1976, S. 59. Abdruck der Bekanntmachung vom 8. Dezember 1930 ebd. S. 117. Siehe auch Fenske, Hans, Radikale im öffentlichen Dienst, in: Civitas, Jahrbuch für Sozialwissenschaften 14 (1976), S. 99 - 141, hier S. 125. 25 »Der Führer« Jg. 4 Nr. 18, 3. Mai 1930, S. 3. 26 »Der Führer« Jg. 3 Nr. 24, 15. Juni 1929, vgl. auch STAFR, A96/ 1/ 1617, Bericht über das politische Leben, S. 501. Vgl. GLA 309, 5987. <?page no="546"?> cher Reden für die Partei beauftragt - eine Aufgabe, der seine »Erkrankung« offenbar nicht im Wege stand. 27 1929 konnte die NSDAP in Baden erste Erfolge verzeichnen: Mit 4.300 Mitgliedern landesweit und ungefähr 100 Ortsgruppen wurde der Landtagswahlkampf angegangen. 28 Mit recht gutem Erfolg: Im Oktober zog die NSDAP mit sechs von 88 Sitzen in den Badischen Landtag ein. Die Parteileitung sah darin zwar einen »erheblichen Erfolg«, jedoch auch die Aufgabe, »nun Anhänger und Sympathisierende [zu] erfassen und Einbruchstellen in die gegnerischen Linien durch Fortsetzung und Verstärkung der Propaganda zu erweitern.« 29 Pflaumer fühlte sich bestärkt und trat immer öfter als engagierter Redner in NSDAP-Versammlungen auf. 1930 wurden allein in Heidelberg 18 Veranstaltungen abgehalten, zu denen insgesamt 40.000 Menschen kamen. 30 Die Reichstags- und Kommunalwahl in jenem Jahr belegte den Erfolg der Bemühungen: Die NSDAP wurde zur zweitstärksten politischen Kraft im Reich und zur stärksten Fraktion im Heidelberger Stadtrat. 31 Pflaumer selbst erhielt dort ein Mandat. 32 Die Partei war überzeugt von Pflaumers »Rednergabe und Sachkenntnis«; sie hielt ihn für fähig, »mit unermüdlichem Fleiß [...] eine nachhaltige Agitation« im ganzen Land durchzuführen. 33 Seine politischen Gegner hingegen sahen in ihm den »Nationalisten und Faschistenredner [...], der Gehalt bezog und Ruhegehalt nimmt von einem Staat, den er unterhöhlte und noch fortgesetzt unterwühlt.« 34 Die Heidelberger Polizeidirektion beobachtete ihren ehemaligen Mitarbeiter mit Argusaugen. Als in NSDAP-Aushängen für Pflaumers Reden geworben wurde, indem man ihm eine wichtige Funktion in der Schutzpolizei während seiner Zeit als Polizeibeamter zuschrieb, die er jedoch nie innehatte, verlangte man von ihm, öffentlich diese falsche Meldung klarzustellen. Pflaumer kam dieser Forderung auch tatsächlich nach, jedoch nicht ohne darauf hinzuweisen, daß er in seiner früheren Dienststellung oft genug die ihm unterstellten Mannschaften über den Marxismus aufgeklärt und so »organisatorisch gewirkt« 35 habe. Vor allem nutzte er in seiner Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 545 27 Pflaumer gehörte zu den Jungen in der Partei: Fast 50% aller Redner in Baden waren zwischen 1891 und 1900 geboren. Bräunche, Ernst Otto, Die NSDAP in Baden 1928 - 1933, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel, Stuttgart 1982, S. 15 - 48, hier S. 22. 28 Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), S. 331 - 375, hier S. 348. 29 »Der Führer« Jg. 3 Nr. 44, 2. November 1929, vgl. auch STAFR, A96/ 1/ 1617. 30 Hoffmann (wie Anm. 12), S. 66. Vgl. auch Grill, Johnpeter Horst, The Nazi Movement in Baden, 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 195: »The Heidelberg local, for example, scheduled up to six evening courses for February [1930] alone with lectures by Karl Pflaumer, Walter Köhler, [...], all having some municipal expertise.« 31 Hoffmann (wie Anm. 12), S. 68. 32 Die Wahl des Stadtrats und die Ergänzung des Stadtratkollegiums, 1930 - 1935, StAHD, AA 24/ 2. 33 Bericht über die Entwicklung und Tätigkeit des Gaues Baden seit der Landtagswahl vom 27. Oktober 1929, STAFR, A96/ 1/ 1617. Vgl. auch GLA 309, 5987. 34 Volkszeitung Heidelberg 39, 15. Februar 1930. <?page no="547"?> Funktion als Propagandaredner alle sich bietenden Gelegenheiten, alte Rechnungen zu begleichen. Sein erster Angriff galt Gustav Walther, der die Untersuchung über seine politischen Aktivitäten als Polizeibeamter geführt hatte. Nach Pflaumers Entlassung aus dem Polizeidienst erschienen recht bald auffallend viele Schmähartikel in dem nationalsozialistischen Kampfblatt »Heidelberger Beobachter« über Person und Diensttätigkeit des Polizeiinspektors. Walther vermutete Pflaumer hinter dieser Pressekampagne, unter der auch seine Familie sehr zu leiden hatte. Der Höhepunkt der »raffiniert eingefädelte[n] Hetze« war 1931 die Versetzung Walthers nach Baden-Baden, wo er aus dem politischen Polizeidienst ganz herausgenommen wurde. 36 Für Pflaumer war damit die »Walther-Mappe« 37 allerdings noch lange nicht abgeschlossen, wie sich später zeigen sollte. Willy Herbst, ein Kollege aus Pflaumers Heidelberger Polizeizeit, war das nächste Opfer seiner propagandistischen Tätigkeit: Auch er sah sich einer »wüste[n] persönliche[n] Hetze« im »Heidelberger Beobachter« ausgesetzt. Herbst stellte Strafantrag wegen Beleidigung - mit Erfolg: Pflaumer mußte 1932 seine Äußerungen zurücknehmen und wurde zu einer Geldbuße verurteilt. 38 Diese Niederlage sollte ihm Pflaumer später vergelten. Das wohl prominenteste Opfer der Pflaumerschen Kampagnen war Adam Remmele, früherer Innenminister und amtierender Justizminister. Spöttisch äußerte sich Pflaumer über Remmeles »Vorliebe für Juden und Großkapitalisten« und behauptete in einer Wahlveranstaltung, daß Remmele nur durch seine guten Beziehungen zu Juden überhaupt Minister geworden sei. 39 Auch Remmele wehrte sich mit gerichtlichen Mitteln. Das Verfahren geriet jedoch zur politischen Bühne Pflaumers, da er sich weigerte 40 , auf die Fragen von Remmeles Anwalt, Ludwig Marum, zu antworten: »Mit Ihnen habe ich überhaupt nichts zu tun.« 41 Marum reagierte auf seine Weise, wie sich sein Sozius Albert Nachmann erinnerte: »Pflaumer, [...], hat sich, [...], zu oft von Marum vor den Gerichten sagen lassen müssen, daß er ein unbedeutender und unzuverlässiger Beamter war, und er hat Marum nie verziehen die Wegwerfung, mit der dieser ihn behandelt hatte.« 42 Norma Pralle 546 35 Volkszeitung Heidelberg 39, 15. Februar 1930. 36 Wathers Aussage zufolge versuchte Pflaumer, ihm sogar eine dienstliche Verfehlung nachzuweisen, was ihm jedoch nicht gelang. GLA 465a/ 51/ 68/ 1032, S. 113 - 118. 37 Die Schmähartikel gegen Walther erschienen in den einschlägigen Blättern immer unter der Überschrift »Aus unserer Walther-Mappe«. GLA 465a/ 51/ 68/ 1032, S. 114. 38 Willy Herbst an die Zentralspruchkammer, 1. Juli 1949. GLA 465a, 51/ 68/ 1032, S. 133 - 135. 39 »Der Führer« Jg. 4 Nr. 18, 3. Mai 1930, S. 3. 40 Vgl. zum Berufungsverfahren Heidelberger Beobachter 1, 3. Januar 1931, S. 7. 41 »Der Führer« Jg. 4 Nr. 18, 3. Mai 1930, S. 3. Ludwig Marum war prominentes jüdisches Mitglied des badischen Landtags für die SPD. 42 Marum-Lunau, Elisabeth; Schadt, Jörg (Bearb.), Ludwig Marum. Briefe aus dem Konzentrationslager Kislau, 2. Aufl. Karlsruhe 1988, S. 142. Vgl. auch Schickele, René, Werke in drei Bänden Bd. 3, Köln, Berlin 1959, S. 1108: »Pflaumer war seinerzeit wegen Beleidigung Remmeles vor Gericht gestellt und von Marum in seinem Plädoyer unsanft angefaßt worden.« <?page no="548"?> Am 19. Dezember verurteilte die Große Strafkammer des Mannheimer Landgerichts Pflaumer schließlich zu vier Wochen Gefängnis bzw. wahlweise einer Geldstrafe von 2.000,- RM. 43 Zum Zeitpunkt dieser Verurteilung konnte die badische NSDAP auf ein erfolgreiches Jahr zurückblicken. 44 Bei der Reichstagswahl im September 1930 hatte sie das sensationelle Ergebnis von 19,2% in Baden erlangt, lag damit um 0,9% über dem Reichsdurchschnitt und hatte der SPD den zweiten Platz abgerungen. Pflaumer stieg zusammen mit seiner Partei auf: Ab 1. Oktober 1931 fungierte der aus gesundheitlichen Gründen Frühpensionierte als Geschäftsführer und Kreispropagandaleiter der NSDAP in Mannheim, einer Stadt, in der die NSDAP - zu diesem Zeitpunkt drittstärkste Partei - wegen des hohen sozialistischen Arbeiteranteils weitaus größere Schwierigkeiten hatte als in Heidelberg, sich zu etablieren. 45 Auch in seinem neuen Wirkungskreis ließ Pflaumer keinen Zweifel an seiner staatsfeindlichen und nationalsozialistischen Gesinnung. Weil seine Ausführungen als Redner der NSDAP »verhetzend« wirkten und die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdeten, wurde ihm am 7. Januar 1932 von der Polizeidirektion Mannheim auf Anweisung des Badischen Innenministeriums ein politisches Redeverbot auferlegt. 46 Am 11. März 1933 übernahm der Gauleiter Robert Wagner, vom Reichsinnenminister zum Reichskommissar ernannt, in Baden die Macht 47 und setzte Karl Pflaumer als Kommissar zur besonderen Verwendung ein. 48 Dieser gab dem Stadtrat Heidelberg am 14. März 1933 sein Ausscheiden bekannt, »um seiner Berufung ins Innenministerium zu folgen.« 49 Als Kommissar z.b.V. war der Zuständigkeitsbereich Pflaumers nicht klar umrissen; seine besondere Verwendung lag jedoch vorwiegend auf dem Gebiet der Polizei. Dieses Amt führte er bis zu seiner Ernennung zum Badischen Innenminister ehrenamtlich aus. 50 Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 547 43 Verhalten von Mitgliedern des Stadtrats, Eröffnung des Disziplinarsverfahrens gegen sie, 1923 - 1935, StAHD, AA 24/ 7. 44 Bräunche (wie Anm. 28), S. 351. 45 Hoffmann (wie Anm. 12), S. 81. 46 Der Erlaß bezog sich auf die Verordnung zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 28. März 1931, Hakenkreuzbanner 7, 9. Januar 1932, GLA, 466, 5621/ 3, Zug. 1979/ 2, S. 273 bzw. S. 277, PA Karl Pflaumer. 47 Die NSDAP hatte bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 mit 45,5% der Stimmen in Baden die zur Regierungsübernahme notwendige absolute Mehrheit deutlich verfehlt. Vgl. Sauer, Paul, Staat, Politik, Akteure, in: Das Dritte Reich in Baden und in Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 14 - 28, S. 18. Vgl. auch Rehberger, Horst, Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/ 33, Heidelberg 1966. 48 Drei Tage zuvor war Pflaumer von Wagner zum »beauftragten Personalreferenten des gesamten Polizei- und Gendarmeriewesens« in Baden ernannt worden. »Der Führer« Jg. 7 Nr. 74, 15. März 1933, S. 1. Vgl. auch Rehberger (wie Anm. 47), S. 104. Aus der Perspektive der Nationalsozialisten siehe Ebbecke, Otto, Die deutsche Erhebung in Baden, Karlsruhe 1933, S. 14. Kurzbiographie Pflaumers, ebd. S. 39. 49 Pflaumer an den Heidelberger Gemeinderat, 14. März 1933, StAHD, AA 24/ 2. 50 Es wurde ihm jedoch eine Dienstaufwandsentschädigung von täglich 12 ,- RM gewährt, die Pflaumer <?page no="549"?> Die NS-Machtübernahme in Baden war noch im Gange, da nutzte Pflaumer bereits seine neue Machtstellung aus, um die verbliebenen »alten Rechnungen« endgültig zu begleichen. Die »Walther-Mappe« wurde wieder hervorgeholt: Gustav Walther mußte sich im Karlsruher Innenministerium einfinden und wurde dort ohne Vorwarnung unter Pflaumers Augen brutal von SA- und SS- Männern zusammengeschlagen. Pflaumer kommentierte das Geschehen mit den Worten: »Sie sind mir zu dreckig, dass ich mich an ihnen vergreife, das werden andere erledigen« 51 und eröffnete ihm, daß er auf Anweisung Wagners verhaftet sei. Der Höhepunkt der nun folgenden Erniedrigungen war die Entlassung des verdienten Polizeibeamten nach 31jähriger Dienstzeit am 2. August 1933. 52 Auch Willy Herbst bekam nun die Auswirkungen des von ihm angestrengten Beleidigungsprozesses zu spüren: Er wurde im März 1933 grundlos entlassen und Pflaumer legte ihm noch 1934 persönlich die Auswanderung nahe. 53 Pflaumer wußte auch in finanzieller Hinsicht seine neue Stellung zu nutzen. Für das ihm von diesen verfassungstreuen Beamten angeblich zugefügte Unrecht verlangte er nur wenige Monate später Entschädigung. Dabei schreckte er vor offensichtlichen Lügen und Verdrehungen nicht zurück, um die Geschichte seiner Entlassung im nationalsozialistischen Sinne umzuschreiben. Obwohl er tatsächlich von sich aus nie ein Pensionsgesuch bei der Heidelberger Polizeidirektion eingereicht hatte, behauptete er, dies getan zu haben, um einer Entlassung aus politischen Gründen zuvorzukommen. 54 Daher stünden ihm nach dem »Gesetz über die Aufhebung der im Kampf für die nationale Erhebung erlittenen Dienststrafen« vom 23. Juni 1933 55 Entschädigungsleistungen zu. Tatsächlich wurden ihm diese 1934 dann auch in Höhe von 3.489,68 RM 56 zugestanden. In seinem Vorgehen bestätigt, wollte er auch jene Geldstrafe von 2.000,- RM wegen Beleidigung Adam Remmeles als Einsatz für die nationale Erhebung anerkannt haben, hatte damit jedoch keinen Erfolg. Im Mai 1933 konnte Pflaumer seinen Einflußbereich ausbauen und seine Stellung im Staatsministerium stärken: Bei der Regierungsbildung (6. Mai) ernannte Wagner, einen Tag zuvor von Hitler zum Reichsstatthalter berufen, den ehemaligen Polizeioberleutnant zum Minister des Innern. 57 Pflaumer hatte sein Ziel erreicht: Er stand Norma Pralle 548 auch äußerst genau und pünktlich einforderte. GLA, 466, 5621/ 1, Zug. 1979/ 2, S. 23 f., PA Karl Pflaumer. 51 Pflaumer entgegnete im Spruchkammerverfahren im Jahre 1949, daß diese Aussage verdreht worden sei; sie habe gelautet, »das gibt es nicht, dass hier geschlagen wird, das wäre mir zu dreckig.« Eine Bestätigung dieser Version war in den 32 Entlastungsschreiben nicht zu finden. GLA 465a/ 51/ 68/ 1032, S. 115. 52 GLA 465a/ 51/ 68/ 1032, S. 113 - 118. 53 GLA 465a/ 51/ 68/ 1032, S. 134. 54 GLA, 466, 5621/ 1, Zug. 1979/ 2, S.71, PA Karl Pflaumer. 55 RGBl. I, S. 390. 56 MdI an die Polizeikasse Heidelberg, Januar 1933, GLA, 466, 5621/ 1, Zug. 1979/ 2, S.75, PA Karl Pflaumer. 57 Rehberger (wie Anm. 47), S.142. <?page no="550"?> an der Spitze eines Ministeriums, das er nun in »nationalsozialistischer Gesinnung« weiterführen wollte: »Durch meine Berufung an die Spitze des Ministeriums des Innern [...] ist die Sicherung und Festigung der von mir verfolgten nationalsozialistischen Ziele im staatlichen Sicherheitsdienst voll gewährleistet. Als höchster Vorgesetzer bestimme ich nunmehr allein über die Politik im staatlichen Sicherheitsdienst bis zu den untersten Organen. Es ist mein Bestreben, diese Politik ganz einseitig zu gestalten und damit gegensätzliche politische Parteiauffassungen innerhalb des staatlichen Sicherheitsdienstes zu beseitigen.« 58 Mit welcher grausamen Konsequenz Pflaumer seine Auffassungen vertrat, bekamen schon bald die einstigen politischen Gegner zu spüren. Als einer der ersten wurde Ludwig Marum in »Schutzhaft« genommen. 59 Auch wenn Pflaumer nicht persönlich für Marums Verhaftung verantwortlich war, ist davon auszugehen, daß die Entfernung des »badischen Rathenau« 60 seine volle Zustimmung gefunden haben dürfte. Bei einem Besuch im Bezirksgefängnis Riefstahlstraße ließ er es sich nicht entgehen, Marum zu versichern, daß er »nur aus Gründen der persönlichen Sicherheit in Schutzhaft genommen worden« sei. 61 Für den 16. Mai war die Überführung der »Schutzhäftlinge« ins KZ Kislau geplant: Sieben SPD-Politiker, unter ihnen Marum und Remmele, wurden durch die Karlsruher Kaiserstraße gefahren, begleitet von einer grölenden und pöbelnden Menschenmenge. 62 Am Tag zuvor - die Schaufahrt war in den Zeitungen groß angekündigt worden - bat Marums Tochter Elisabeth Pflaumer verzweifelt um Hilfe: »Er [Pflaumer] empfing mich, stand mir in seinem Bureau in der schwarzen SS-Uniform gegenüber, ließ mich stehen und vortragen, was ich zu sagen hatte. Ich sagte, ich hätte von den Plänen für den nächsten Tag gehört und bäte ihn, von einer öffentlichen Überführung abzusehen. Er antwortete, daß dies nicht mehr möglich Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 549 58 Rundschreiben Pflaumers, 3. Juli 1933, STAFR A96/ 1/ 1448. 59 Die Einrichtung der Schutzhaft hatte es schon vor der NS-Zeit gegeben. In der Weimarer Republik diente sie zum Schutz einer Person oder zur Beseitigung einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, war jedoch auf einen Tag begrenzt, für eine Verlängerung war ein richterlicher Haftbefehl notwendig. Die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 ermöglichte den Nationalsozialisten eine willkürlich lange Inhaftierung ohne richterliche Überprüfung, ohne Anklage und ohne Rechtsbeistand. Siehe Schadt, Jörg, Verfolgung und Widerstand, in: Das Dritte Reich in Baden und in Württemberg, hrsg. v. O. Borst, Stuttgart 1988, S. 96 - 120, hier S. 99. Die Staatsanwaltschaft beklagte sich zunehmend über die Handhabung der Schutzhaft, weil diese immer öfter der Korrektur unliebsamer richterlicher Entscheidungen diente und sie sich dabei übergangen fühlte. Pflaumer erließ daraufhin Ende 1934 eine Anweisung, die den Gerichten zwar einen Vorrang einräumte, jedoch so durchlässig formuliert war, daß unter bestimmten Voraussetzungen ein eigenmächtiges Vorgehen der Polizei und damit auch die Verhängung von Schutzhaft weiterhin möglich war. Vgl. Schiller, Christof, Das OLG Karlsruhe im Dritten Reich, Diss. jur. [Masch.] Heidelberg 1995, S. 46 f. 60 Pflaumer soll Marum nach einem Interview so genannt haben. Marum (wie Anm. 42), S. 56. 61 Der Besuch des Innenministers sollte der Bevölkerung demonstrieren, daß es den »Schutzhäftlingen« an nichts fehle. Badische Presse 49, 7. April 1933, S. 5. 62 Werner, Josef, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich, 2. Aufl. Karlsruhe 1990, S. 43 f. <?page no="551"?> sei.« 63 Denn Pflaumer, wie auch Wagner, wollten sich diese öffentliche Demütigung ihrer politischen Feinde nicht entgehen lassen. Besonders auf Marum hatte man es abgesehen, weil , so Nachmann, Marum »diese Führer, wie den späteren Reichsstatthalter Wagner und den Innenminister Pflaumer, immer als das hingestellt [hat], was sie wirklich waren, geistige Nullen mit einer nicht einwandfreien Vergangenheit. Das haben sie ihm nie verziehen.« 64 In der Nacht vom 28. zum 29. März 1934 wurde Ludwig Marum im KZ Kislau vom stellvertretenden Kommandanten des Lagers Sauer 65 auf Befehl Wagners ermordet. Nach Ansicht von Marums Sozius stand auch Pflaumer voll hinter dieser Direktive: »Es ist klar, daß der Mord von den Herren Wagner und Pflaumer gewünscht und begünstigt wurde, und daß sie nur auf die Gelegenheit warteten, sich Marums zu entledigen, ohne selbst als die Täter oder Urheber des Mordes zu erscheinen.« 66 Abgesehen davon trug Pflaumer die politische Verantwortung für die Vorgänge, da das KZ Kislau seiner Dienstgewalt unterstellt war. 67 Als Minister des Innern fiel Pflaumer verwaltungstechnisch die gesamte innere Staatsverwaltung zu wie auch die Aufgabe, die »tiefe Gegensätzlichkeit, die zwischen Bewegung und Staat, zwischen der NSDAP als ›Trägerin des Staates‹ und dem Berufsbeamtentum als Institution« 68 besteht, zu überwinden. Es galt, die Beamten für die »Bewegung« zu gewinnen, um den neuen Staat funktionstüchtig zu erhalten. Pflaumer sah sich in einer Vermittlungsposition, »durch Tatkraft, andererseits aber auch durch gewinnende Liebenswürdigkeit den Beamten, die noch nicht der nationalsozialistischen Bewegung angehört haben, manche seelische Hemmung überwinden zu helfen und sie zur freudigen Mitarbeit am Wiederaufbau des nationalen Staates zu gewinnen.« Dabei schwebte ihm ein »sauberer Staat mit einer einwandfreien Verwaltung« vor. Vielversprechend für die um ihre Stellung besorgten Beamten klangen dabei die Worte bei seiner Antrittsrede als Innenminister: »Wenn Sie Ihre Pflicht tun, wie Sie es in den vergangenen Monaten getan haben, dann werden Sie in mir nicht nur den Kameraden, sondern auch den entschiedenen Verfechter Ihrer Berufsbelange kennen lernen.« 69 Angeblich die Aufrechterhaltung der badischen Beamtentradition in den Vordergrund stellend, dabei seine eigenen Vorteile nie vergessend, sorgte er für die Mitarbeit der Beamten im NS-Staat und lavierte sich und sein Ministerium durch die widerstreitenden, nicht Norma Pralle 550 63 Badische Neueste Nachrichten 38, 16. Mai 1983, S. 11. 64 Niederschrift von Dr. Albert Nachmann, 1945 verfaßt, in: Marum, Briefe (wie Anm. 42), S. 142. 65 1948 wurde Sauer als Hauptangeklagter im Mordfall Marum zu lebenslanger Haft verurteilt. Werner (wie Anm. 62), S. 46. 66 Niederschrift von Dr. Albert Nachmann, 1945 verfaßt, in: Marum (wie Anm. 42), S. 146 f. 67 Schadt, Jörg (Hrsg.), Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933 - 1940, Stuttgart 1976, S. 67. 68 Mommsen, Hans, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966, S. 23. 69 Alle Zitate aus »Der Führer« Jg. 7 Nr. 131, 13. Mai 1933, S. 3. <?page no="552"?> selten gefährlichen Rankünen des polykratischen Herrschaftsgefüges. Dabei lehnte er sich zunächst an den Gauleiter an, mit dem er zusammen den Personalbestand der inneren Verwaltung »überprüfte«. Im Laufe des ersten Jahres nach der Machtergreifung wurde fast die gesamte Führungsspitze des Innenministeriums ausgewechselt, was »durchaus den Charakter einer politischen Säuberungsaktion« trug. 70 Das Einvernehmen Wagners und Pflaumers wurde jedoch schon bald durch häufige Eingriffe des Reichsstatthalters und Gauleiters in Pflaumers Amtsgewalt getrübt. Die schon bei der Machtergreifung eingesetzten Parteikommissare 71 , dringende Personalwünsche von Parteigewaltigen 72 und Wagners eigene von Parteiinteressen bestimmte Personalpolitik 73 machten es Pflaumer zunehmend schwer, die badische Bürokratie nach seinen Vorstellungen zu formen und Personalentscheidungen autonom zu treffen. So häuften sich seine Klagen über den zunehmenden Einfluß von Parteistellen auf den ordentlichen Gang der Verwaltung 74 einerseits wie er andererseits dem schleichenden Machtverlust seines Amtes gegenüber der von Berlin aus betriebenen Zentralisierung zusehen mußte. Denn gerade zu Beginn der NS- Herrschaft war Reichsinnenminister Frick erfolgreich bemüht, die Verwaltung der deutschen Länder auszuhöhlen und in seiner Hand zu vereinen. So wurden z.B. 1933 in bestimmten Aufgabenbereichen die Landeskommissäre der Weisungsbefugnis der Berliner Zentrale unterstellt 75 und die badische Vertretung beim Reich gänzlich aufgehoben. 76 Darüber hinaus wurde durch das Gesetz über den Neuaufbau des Reiches (30. Oktober 1934) der Vorrang des Reiches besonders auf dem Gebiet der allgemeinen und inneren Verwaltung begründet. Pflaumer wehrte sich gegen diese »die Geschäftsbehandlung ausserordentlich belastende und verteuernde Zentralisation bei den Reichsbehörden« 77 - doch vergeblich. 78 Für eine scharfe Auseinandersetzung besaß er, der als Opportunist galt und nicht ohne Grund als »schwächste[r] unter den Ministern« 79 bezeichnet worden ist, nicht das nötige Format. So verwundert es nicht, daß Pflaumers Amtsführung in der historischen Rückschau ganz überwiegend von der regionalen Exekution der Reichsdirektiven gekennzeichnet ist. Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 551 70 Ruck, Michael, Kollaboration - Loyalität - Resistenz, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 124 - 151, hier S. 130. 71 Die Sonderkommissare stellten die »Verbindungsleute der nationalsozialistischen Bewegung [...] mit der […] inneren Verwaltung« dar. GLA 236/ 23616, S. 33. 72 GLA 236, 29272. 73 Der Reichsstatthalter an Pflaumer, 28. August 1939, GLA 236, 29273. 74 Pflaumer an die Gauleitung, April 1945, GLA 236, 29145. 75 Nach dem Verwaltungsgesetz von 1863 waren die Bezirksämter und die Landeskommissäre, die die Verbindung zwischen Landes-und Lokalverwaltung darstellten, dem Innenministerium unterstellt. 76 GLA, 236, 23616, S. 175. 77 GLA, 233, 28090. 78 Vgl. Anm. 119. 79 Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein, Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972, München 1996, S. 154. <?page no="553"?> In der kommunalen Verwaltung führte er wie seine Amtskollegen in anderen Reichsländern auch eine rigorose Ausschaltung der als politisch unzuverlässig geltenden Kommunalvertreter durch, um die Stellung der Partei auch in den untersten Verwaltungsebenen zu stärken. 80 Bis September 1933 wurden 127 Bürgermeister auf der Grundlage des Berufsbeamtengesetzes (BBG) entlassen. 81 Von der Selbstverwaltung der Kommunen blieb kaum etwas übrig, da diese im krassen Widerspruch zum Zentralisierungs- und Gleichschaltungsbedürfnis des Führerstaates stand. Im Sinne der Reichspolitik führte Pflaumer das »Einkörperschaftssystem« ein, bei dem der Bürgermeister das Führerprinzip verwirklichen sollte. 1934 wurden die Bürgermeisterwahlen ganz abgeschafft, die Bürgermeister von Pflaumer ernannt und direkt dem Innenministerium unterstellt. Bei der Kreisreform verfuhr Pflaumer ähnlich. 82 Von den 40 Bezirksämtern wurden bis Mitte 1936 13 aufgehoben, die restlichen erweitert. 83 Das Konzept der »Einheitsgemeinde« verminderte die Zahl der badischen Gemeinden um 90. 84 Die Deutsche Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935 lieferte dazu ein einheitliches, für das gesamte deutsche Staatsgebiet geltende Gemeinderecht. 85 Pflaumer lobte die Reform als den entscheidenen Schritt zur »leistungsfähigen Verwaltungsorganisation«. 86 Zuletzt wurden im Zuge der Angleichung an die Verwaltungsverhältnisse im Reich die 1863 gebildeten elf badischen Großkreise aufgehoben (Landkreisordnung vom 24. Juni 1939) und die vergrößerten 27 Landkreise zu Selbstverwaltungskörperschaften gemacht. 87 Norma Pralle 552 80 Hourand, Rupert, Die Gleichschaltung der badischen Gemeinden 1933/ 34, Stuttgart 1985, S. 52. 81 Somit waren 25% aller Bürgermeisterstellen in Baden mit Nationalsozialisten neu besetzt. Damit waren die Entlassungen noch lange nicht abgeschlossen, da immer noch »das Verlangen einzelner Parteiinstanzen auf Zurruhesetzung von Bürgermeistern nach § 6 des BBG« bestand. Tätigkeitsbericht des Gauamtes für Kommunalpolitk Baden für April bis Juni 1934, zit. nach Matzerath, Horst, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970, S. 88. Vgl. auch Grill (wie Anm. 30), S. 282. 82 Schon in der Weimarer Republik bestanden Pläne, in Baden die Kreise zu reformieren, doch blieben diese in ihren Ansätzen stecken. 1919 Einführung direkter und geheimer Wahlen für die Abgeordneten der Kreisversammlungen; 1923 Erlaß einer neuen Kreisordnung; 1924 Aufhebung von 13 Bezirksämtern; nicht verwirklicht wurde jedoch die nach einem Gutachten der Sparkommission von 1931 notwendige Reduzierung der Bezirksämter von 40 auf 27 sowie der Plan, die Amtsbezirke zu Körperschaften des öffentlichen Rechts umzugestalten. Die Nationalsozialisten übernahmen einige dieser Vorschläge und führten sie weitgehend durch. Fischer, Joachim, Die badische Landkreisordnung vom 24. Juni 1939, Zur Geschichte der Selbstverwaltung in Baden, in: Landkreis Nachrichten 28 (1989), S. 91 - 94, hier S. 92. 83 Neckenauer, Albert, Von den altbadischen Kreisen bis zur Kreisreform 1803 - 1973, in: Beiträge zur Geschichte der Landkreise in Baden und Württemberg, Stuttgart 1987, S. 27 - 59, hier S. 44. Die verbliebenen 27 Bezirksämter umfaßten nun durchschnittlich 55 Gemeinden; die 40 Bezirksämter hatten durchschnittlich 40 Gemeinden umfaßt. Vgl. Götz, Gerhard, Die Entwicklung der höheren Kommunalverbände in Baden, Freiburg 1957, S. 132. 84 GLA, 233, 28090. Vgl. auch Matzerath (wie Anm. 81), S. 345. 85 Mutius, Albert von, Kommunalverwaltung und Kommunalpolitik, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 4, hrsg. v. Kurt G.A. Jeserich u.a., Stuttgart 1985, S. 1070. 86 »Der Führer« Jg. 10 Nr. 181, 2. Juli 1936, S. 1. Vgl. Pflaumers Bericht vom 22. Mai 1939, GLA 233, 28090. 87 Neckenauer (wie Anm. 83), S. 45. <?page no="554"?> In nahezu allen Bereichen der Innenpolitik, insbesondere in den politisch brisanten Fragen, setzte Pflaumer die Vorgaben der Reichszentrale ohne eine irgendwie erkennbare »badische Milderung« durch. So wurden am 23. Juni 1933 die KPD und die SPD in Baden aufgelöst und verboten 88 . Damit einher ging die Einziehung kommunistischen Vermögens. 89 Auch christliche und pazifistische Vereine wurden durch das Badische Innenministerium geschlossen. 90 Stolz ließ Pflaumer im »Führer« vermelden: »Pg Pflaumer [hat] mit der eisernen Energie eines alten nationalsozialistischen Kämpfers die Säuberung Badens von den Volksschädlingen in Angriff genommen.« 91 Im Gesundheitswesen nahm sich Pflaumers Ministerium insbesondere der staatlichen Heil- und Pflegeanstalten an. Anfang 1934 wurde z.B. beschlossen, eine »besondere Verwahrungsanstalt für dauernd anstaltsbedürftige Geisteskranke« zu errichten, »um die neuen und wichtigen Aufgaben, die im Vollzug des Reichsgesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 sowie des Reichsgesetzes gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher [...] in Angriff nehmen zu können.« 92 Zu diesem Zweck wurde u.a. ein ehemaliges Festungslazarett in Rastatt, das nur noch eine Ruine war, notdürtig umgebaut. Pflaumers Ministerium stellte nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung; den Patienten sollte eine »Unterbringung [...] in einfachster Art unter tunlichster Belassung des alten Zustandes« 93 , Unzulänglichkeiten eingeschlossen, genügen. Zur Eröffnungsveranstaltung im Juni 1934 erschien der Innenminister persönlich und würdigte die Arbeit der Anstalt. Etliche Schreiben des Ministeriums an Dr. Arthur Schreck, den Direktor der Anstalt, sowie dessen regelmäßige Berichte an Pflaumer beweisen, daß der Innenminister über die Tätigkeit der Anstalt bestens informiert war: von der »ordnungsmäßigen Durchführung des Sterilisierungsgesetzes« 94 bis hin zu den Verlegungen »mit unbestimmtem Ziel«, der »Euthanasie«. Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 553 88 Vgl. auch Rehberger (wie Anm. 47), S. 133. Pflaumer am 23. Juni 1933, STAFR, A96/ 1/ 1615, S.346. 89 Badisches Gesetz- und Verordnungs-Blatt 50, 29. Juli 1933, S. 139. 90 Pflaumer am 1. Juli 1933, STAFR, A96/ 1/ 1615. 91 »Der Führer« Jg. 7 Nr. 205, 27. Juli 1933, S. 9. 92 Erlaß des MdI, 8. Januar 1934, zit. nach Peschke, Franz, Schreck’s Anstalt. Eine Dokumentation zur Psychiatrie und »Euthanasie« im Nationalsozialismus am Beispiel der Pflegeanstalt Rastatt, Rastatt 1992, S. 11. 93 Peschke (wie Anm. 92), S. 12. 94 Pflaumer an Frick, 8. November 1934, zit. nach Peschke (wie Anm. 92), S. 19. Im September 1939 wurde die gesamte Belegschaft nach Zwiefalten verlegt, anschließend fast alle Kranken in Grafeneck umgebracht. Auf Klagen des Freiburger Erzbischofs Conrad Gröber wegen bekanntgewordener Euthanasiefälle reagierte Pflaumer ausweichend oder überhaupt nicht. Vgl. Ferdinand, Horst, Karl Pflaumer, in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 1, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1994, S. 266 - 271, hier S. 270. Hierzu wie zu weiteren badischen Anstalten die Untersuchung der Leitung des Gesundheitsdienstes in der französischen Zone von 1947 über die Anstalten in Baden und in Württemberg: »Die Ermordeten waren schuldig? « Amtliche Dokumente der Direction de la Santé Publique der französischen Militärregierung in Deutschland, Baden-Baden 1947. Ebenso Faulstich, Heinz, Die »T-4-Aktion« im deutschen Südwesten, in: Euthanasie, 50 Jahre nach der Aktion »Gnadentod«, Weingarten, 14. - 16. September 1990, Materialen 2/ 95 der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, S.58 - 67. Auch: Rückleben, Hermann, Deportation und Tötung von Geisteskranken aus den badischen Anstalten der Inneren Mission Kork und Mosbach, Karlsruhe 1981. <?page no="555"?> Der Kirche gegenüber erwies sich der Badische Innenminister als hartnäckiger Gegner. Im Juni 1935 machte er auf Anregung von Reichsinnenminister Frick einen Vorschlag zur Neufassung des §130a StGB, um jegliche Form von staatsfeindlichen Äußerungen durch Geistliche gesetzlich strafbar zu machen. Zweck dieser Maßnahme war, »dass sie [die Geistlichkeit] sich jeder Einmischung in die Politik und jeder Kritik an den Einrichtungen des Staates zu enthalten habe.« 95 Bei der Durchführung der Nürnberger Rassengesetze, die eine lückenlose Erfassung aller Juden im Deutschen Reich erforderlich machte, 96 bewies der Innenminister besonderen Pflichteifer. Der bekennende Antisemit Pflaumer veranlaßte am 1. Oktober 1935 die Erstellung der badischen Judenkartei, zunächst diejenigen Juden erfassend, die »zur israelitischen Religion gehören.« Pflaumer hatte auch »keine Bedenken gegen die Anlegung von Judenkarten in denjenigen Fällen, in denen die rein-jüdische Rasse von Getauften oder Religionslosen amtsbekannt ist.« 97 Auf Anweisung des MdI mußte die Kartei ab 1. Oktober 1936 vierteljährlich aktualisiert werden, um der Gestapo Bericht erstatten zu können. Die Judenkartei diente als »unentbehrliche buchhalterische Grundlage« 98 für die Deportation der badischen Juden am 22. Oktober 1940 nach Gurs. Wenige Tage zuvor hatte Pflaumer nochmals eine »sofortige Überprüfung der Judenkartei« veranlaßt, um »festgestellte Mängel zu beseitigen.« 99 Somit konnte »die Abschiebung der Juden [...] in allen Orten Badens [...] reibungslos und ohne Zwischenfälle abgewickelt« 100 werden. Über das »volks- und reichsfeindliche Vermögen« wurde nach Pflaumers Erlassen, von Himmler mit der Sicherstellung des von den Juden zurückgelassenen Vermögens beauftragt, rücksichtslos verfügt. Eigens dafür ernannte Pflaumer »einen Generalbevollmächtigten für das jüdische Vermögen«, der ihm unterstand und die Sicherstellung nach seinen Richtlinien durchführte. Dabei durften diesbetreffende Erlasse auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gelangen. 101 Als seine Hauptaufgabe sah Pflaumer die Leitung und nationalsozialistische Ausrichtung der Polizei in Baden an. Es galt, dieses nach Ansicht Heinrich Himmlers »hilfsbedürftige[s], an allen Enden eingeschnürte[s] Gebilde« 102 , die Polizei der Weimarer Republik, völlig neu zu organisieren: Sie sollte wie die übrige Verwaltung Norma Pralle 554 95 Pflaumer an das Erzbischöfliche Ordinariat Freiburg, 23. Dezember 1933, GLA 235, 12754. 96 Werner (wie Anm. 62), S. 161. 97 MdI an die Bezirksämter, Polizeipräsidien, Polizeidirektionen, 1. Oktober 1935, GLA 357, 33112. Vgl. auch Werner (wie Anm. 62), S. 161. 98 Ferdinand (wie Anm. 94), S. 270. 99 GLA 357/ 33112. 100 Heydrich an das Auswärtige Amt, 29. Oktober 1940, abgedruckt in: Sauer, Paul, Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden- Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 - 1945 Bd. 2, Stuttgart 1966, S. 2. Vgl. auch 232 f. 101 Pflaumer an die Landräte, Polizeipräsidien, Polizeidirektionen, 29. Oktober 1940, GLA 237/ 40480. 102 Heinrich Himmler am 11. Oktober 1936 in seinem Epilog in der Akademie für deutsches Recht, zit. nach Harnischmacher, Robert; Semerak, Arved, Deutsche Polizeigeschichte, Stuttgart 1986, S. 93. <?page no="556"?> auch von der nationalsozialistischen Ideologie durchdrungen und zum »Instrument der nationalsozialistischen Staatsführung« 103 umgestaltet werden. Dazu wurde vom Reichministerium des Innern der Neuaufbau der Polizei in Angriff genommen: Die Zentralisierung der Polizei in eine starke und umfassende Reichspolizei verlangte eine Angleichung aller Länder an die reichsdeutschen Verhältnisse - ein Prozeß, der in den folgenden Jahren die Innenministerien der Länder immer mehr in den Hintergrund drängte. Ein erster Schritt in diese Richtung war schon im März 1933 mit Wagners Ernennung zum Reichskommissar unternommen worden. Als Innenminister war Pflaumer angehalten, diesen »Neuaufbau« zu unterstützen. Zunächst wurden Veränderungen personeller Art eingeleitet 104 : Pflaumer entließ Polizeibeamte, die nach ihrer »bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür [boten], daß [sie] jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialitischen Staat eintreten« würden. 105 Der Polizist solle »in erster Linie soldatisch fühlen«, und - wenn notwendig - sich zur Umformung einer Parteischulung 106 unterziehen, um ihn »zu einem absolut zuverlässigen Instrument des neuen Staates« heranzubilden. Für die neu zu besetzenden Stellen oder für Beförderungen schlug er Wagner Beamte mit einwandfreier nationalsozialistischer Gesinnung vor. 107 Von den 13 leitenden Polizeibeamten im Polizeipräsidium und in den Landespolizeiabteilungen konnte nur einer seine Stellung halten. Das spätere Landeskriminalpolizeiamt wurde in den leitendenen Positionen ebenso einer Säuberung unterzogen. 108 Zweiter Schritt war die Neuorganisation der politischen Polizeien in den Ländern. Pflaumer reichte einen Entwurf zu einem Landeskriminalpolizeigesetz ein, in dem er seine Idee einer Einheitspolizei darlegte, die die politische Polizei als Bestandteil der Kriminalpolizei vorsah. 109 Das endgültige Gesetz über die Landeskriminalpolizei berücksichtigte auf Drängen des Justizministeriums stärker die Interessen der Staatsanwaltschaft als in Pflaumers Entwurf; es wurde am 22. August 1933 verabschiedet 110 - im Vergleich zu den anderen Ländern relativ spät. Auf dieser Grundlage wurde ein Landeskriminalpolizeiamt eingerichtet, das die Aufgaben der politischen Polizei in Baden wahrnehmen sollte. Nach Pflaumers Verordnung vom 26. August 1933 hatte Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 555 103 Himmler, Heinrich, Aufgaben und Aufbau der Polizei des Dritten Reiches, in: Dr. Wilhelm Frick und sein Ministerium, hrsg. v. H. Pfundtner, München 1937, S. 128. 104 Wagner hatte schon in seiner Funktion als Innenminister (18. März - 6. Mai 1933) unter den mißliebigen Polizeibeamten »aufgeräumt«. GLA 236, 29272. GLA, 233, 29676. 105 MdI, 4. August 1933, GLA 233, 29676. Vgl. auch Grill (wie Anm. 30), S. 260 f. 106 Zur »weltanschaulichen Grundschulung und politischen Erziehung der Beamten aller Verwaltungen« wurde das ehemalige Beamtenerholungsheim Schloß Hornberg umgebaut. Dort fanden ab 1936 regelmäßig Lehrgänge für Beamte statt, die von ihren Vorgesetzten dazu vorgeschlagen wurden. Siehe Ministerial-Blatt für die Badische innere Verwaltung 22 (1936), S. 431. 107 GLA 233, 27901; GLA 233, 27905. 108 Ferdinand (wie Anm. 94), S. 267. 109 Schadt (wie Anm. 67), S. 29. Die Einrichtung der Landeskriminalpolizei sah er als vordringlichste Aufgabe. Pflaumer am 19. Juli 1933, GLA 233, 27892. 110 Schadt (wie Anm. 67), S. 30. <?page no="557"?> es die Bezeichnung »Landeskriminalpolizeiamt - Geheimes Staatspolizeiamt« zu führen; seine Aufgabe war die Erfassung aller wichtigen politischen Vorgänge und Ereignisse, soweit sie unmittelbar oder mittelbar den Bestand des Staates oder die Staatssicherheit betreffen oder in größerem Umfang die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden. Zu »erforschen und zu bekämpfen« waren insbesondere »staatsfeindliche oder staatsgefährliche Umtriebe«. 111 Das Gesetz war zwar vom Einheitsgedanken geprägt, weil es eine einzige Behörde schaffte, doch wurde bereits zum 1. Oktober 1933 die Politische Polizei aus dem Dienstbereich herausgenommen und als Geheimes Staatspolizeiamt dem Badischen Innenministerium als eigenständige Behörde unterstellt. 112 Kriminalpolizei und politische Polizei waren somit getrennt. Ende des Jahres schlug Pflaumer den Reichsführer-SS, der Zug um Zug die Leitung aller geheimpolizeilichen Dienststellen des Deutschen Reiches übernahm, als »Kommandeur der politischen Polizei Badens« vor; am 18. Dezember wurde Himmler von Wagner in diesem Amt bestätigt. 113 »Pflaumer erklärte sich bereit, die SS in jeder Hinsicht zu fördern, auch hat in ihm der Gedanke der Gleichschaltung der politischen Hilfspolizei für Baden zur Politischen Hilfspolizei Bayerns einen guten Fürsprecher,« 114 berichtete die SS-Gruppe Süd an den RFSS. Mit der Amtsübertragung setzte allerdings eine fortschreitende Entmachtung der Innenminister der Länder auf dem Gebiet des Polizeiwesens ein, die auch Pflaumer, der fast immer stolz in SS-Uniform auftrat 115 , ein weiteres Mal Einwirkungs- und Handlungsmöglichkeiten nahm. Augenfällig wurde dies, als am 17. Juni 1936 der RFSS Himmler zum »Chef der deutschen Polizei im RMdI« ernannt wurde. 116 Um die Bezeichnung der Dienststellen der Politischen Polizei aller Länder zu vereinheitlichen, wurde zum 1. Oktober 1936 das badische Geheime Staatspolizeiamt in »Staatspolizeileitstelle Karlsruhe« umbenannt. Im September 1936 wurden »Inspekteure der Sicherheitspolizei« in Baden eingesetzt, die sich um eine »enge und verständnisvolle Zusammenarbeit mit den Zentralstellen der allgemeinen und inneren Verwaltung der Provinzen und der Länder sowie mit den Gauleitern der NSDAP und den Dienststellen der Wehrmacht« kümmern sollten. 117 Zwei Jahre später, 1938, Norma Pralle 556 111 Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt 60, 30. August 1933, S. 167 - 175, hier S. 173. Vgl. auch STAFR, A 96, 1/ 1482. 112 Wilhelm, Friedrich, Der Wandel von der politischen Polizei zur Gestapo, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Wirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 222 - 236, hier S. 228. Vgl. auch den Bericht Pflaumers über die Organisation der Geheimen Staatspolizei, 28. Oktober 1937, GLA 233, 27892. 113 Wilhelm (wie Anm. 112), S. 228. 114 Bericht der SS-Gruppe Süd an Himmler, 12. Mai 1933, BA, Abt. III (BDC), zit. nach Schadt (wie Anm. 67), S. 32. 115 Schadt (wie Anm. 67), S. 32. Siehe oben auch die Beobachtung Elisabeth Marums, als sie Pflaumer um Hilfe für ihren Vater bat, ebenso Pflaumers eigene Feststellung BA, Abt. III (BDC), SSO. 116 RGBl. 1936 I, S. 487. 117 Neben Baden waren Bayern, Württemberg und Sachsen sowie die preußischen Provinzen davon betroffen. Zit. nach Wilhelm (wie Anm. 112), S. 231. <?page no="558"?> konnte Pflaumer nur noch resigniert feststellen: »Außerdem hat der Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei die Zuständigkeit zu politisch-polizeilichen Maßnahmen grundsätzlich für die Dienststellen der Geheimen Staatspolizei vorbehalten und zwar in einem Umfang, der für eine selbstverantwortliche Entscheidung der Landesbehörden nur noch einen sehr beschränkten Spielraum übrig läßt.« 118 Er kritisierte die zentral gesteuerte Verwaltung in polizeilichen Angelegenheiten. Sie erschwere nicht nur zunehmend die Dienstgeschäfte, sondern degradiere auch die Landesministerien und setze ihm als Minister deutliche Schranken. 1939 klagte er: »weshalb beispielsweise die Ausmusterung jeden Polizeihundes und die Ersatzzuteilung durch den Chef der deutschen Polizei selbst verfügt werden muß, ist nicht einzusehen.« 119 Die fortschreitende Entmachtung und Einflußlosigkeit Pflaumers in seinem Amt mag einer, vielleicht der wichtigste Grund dafür gewesen sein, daß sich der Badische Innenminister zunehmend seinen privaten Interessen zuwandte und es nicht selten an der notwendigen Parteidisziplin fehlen ließ. Pflaumer zahlte nun gar nicht oder nur noch sehr unregelmäßig seine NSDAP- Mitglieds- und Hilfskassenbeträge. Er wurde insgesamt 19mal von der Reichsleitung der NSDAP, deren Mitglied er kurioserweise selbst war, wegen solcher Versäumnisse und anderer Mitgliedschaftsangelegenheiten gemahnt, was »bei anderen Parteigenossen längst Anlass gewesen wäre, ein Parteigerichtsverfahren mit dem Ziele des Ausschlusses aus der NSDAP wegen Interesselosigkeit einzuleiten.« 120 Dennoch wurde ihm 1937 das »Goldene Parteiabzeichen« verliehen. Dabei mußte zu diesem Zeitpunkt bereits in Parteikreisen bekannt geworden sein, daß der Badische Innenminister sich sogar private Eskapaden leistete, ohne Rücksicht auf seine Staats- und Parteiämter. 1935 war sein Name im Zusammenhang mit einer Spielbankaffäre in Baden-Baden aufgetaucht. Pflaumer hatte anscheinend regelmäßig in jenem Spielcasino verkehrt und ein »unzulässiges enges Verhältnis« zur Spielbank unterhalten. 121 Angeblich hatte er sich Spielmarken in beträchtlicher Höhe ohne Bezahlung aushändigen lassen und als Gegenleistung die jüdischen Inhaber rechtzeitig vor Untersuchungen durch deutsche Zollbehörden gewarnt. 122 Da auch französische Staatsbürger an der Baden-Badener Spielbank beteiligt waren, bestand die Gefahr, daß bei Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 557 118 Pflaumer an Wacker, 13. September 1938, GLA 235, 12754, S. 309. 119 Bericht Pflaumers vom 22. Mai 1939 über die Einsparungen durch Vereinfachung der Behördenorganisation, GLA 233, 28090. Pflaumer wurde zeitweise bei Entschließungen durch offiziell ihm unterstellte Sachbearbeiter einfach übergangen, indem ihm Entwürfe gar nicht erst gezeigt wurden. - Pflaumer an den Leiter der Geheimen Staatspolizei, 13. Oktober 1938, GLA 236, 23616, S. 407. 120 BA, Abt. III (BDC), PK Karl Pflaumer. Im April 1944 fiel Pflaumer abermals negativ bei der Reichsleitung der NSDAP auf. Über ein halbes Jahr hatte er nicht auf wichtige Anfragen aus Berlin reagiert. Wagner hatte zu diesem Zeitpunkt des Krieges wichtigere Dinge zu tun, als seinen Minister ein weiteres Mal an seine Parteipflichten zu erinnern. Grill (wie Anm. 30), S. 263 f. 121 BAP, R 18/ 5488, S. 195. 122 Der Oberlandesgerichtspräsident Heinrich Bammesberger bestätigte dieses Verhalten Pflaumers in seinem Spruchkammerverfahren, 26. Oktober 1947, GLA 465a, 51/ 68/ 148, S. 67. <?page no="559"?> Bekanntwerden solcher Vorfälle im Ausland die nationalsozialistische Führung in einem denkbar schlechten Licht erscheinen konnte. Damit nicht genug, war zudem der Verdacht aufgekommen, daß Pflaumer zusammen mit anderen Beamten die Verpachtung der Spielbank im Jahre 1934 an ein »ausländisches jüdisches Konsortium« ermöglicht habe. 123 Der Verdacht hatte sich so weit erhärtet, daß sogar ein kurzer Erholungsurlaub des Innenministers in Athen als Flucht vor der Spielbankaffäre gedeutet wurde. Die Gerüchte waren bis nach Berlin gedrungen, wo man die Ehre des SS-Führers als »schwer angegriffen« betrachtete. Es war sogar Pflaumers »Beurlaubung« von der SS erwogen worden, da er als SS-Oberführer »peinlichste Folgen« für das Ansehen der Schutzstaffel verursacht habe. 124 Da jedoch eine ausführliche Untersuchung von seiten des RMdI keine stichhaltigen Beweise für eine Belastung Pflaumers geliefert und nur noch mehr Ungereimtheiten ans Tageslicht gebracht hatte, zog das RMdI es vor, »von weiteren Maßnahmen abzusehen« und die Angelegenheit ruhen zu lassen. 125 Der SS scheint Pflaumers Verhalten dennoch suspekt geblieben zu sein. Reinhard Heydrich hielt den Fall für »überaus schwerwiegend« 126 . Im Januar 1931 in die SS eingetreten, am 15. Mai 1933 zum Standartenführer bei der Gruppe Süd-West ernannt, brachte Pflaumer es über ein Jahr später zum SS-Oberführer und wurde als »geeignet« eingestuft. 127 Nach der Spielbankaffäre bezeichnete der SS-Gruppenführer des Oberabschnitts Südwest ihn jedoch »als [..] nicht erprobt.« 128 Das schien ihn weiter nicht zu stören, bis sein »gleichbleibender SS-Dienstrang« ihm durch seine »staatliche Stellung und durch das dauernde Auftreten in SS-Uniform« peinlich wurde. 129 Zudem bemerkte er, wie dienstjüngere Polizeibeamte schneller aufstiegen als er. Im Februar 1939 richtete er eine Anfrage an die SS-Personalkanzlei in dieser Sache, in der er seinen Einsatz für die nationalsozialistische Bewegung in übertriebener Weise pries und eine Beförderung als überfällig ansah. Nach über einem Jahr hatte er Erfolg: Im März 1940 wurde Pflaumer auf persönlichen Wunsch Himmlers zum 20. April 1940 zum SS-Brigadeführer befördert. Als der Krieg ausbrach, sah Pflaumer eine günstige Gelegenheit, sich von seinem zunehmend einflußlosen Posten ehrenvoll verabschieden zu können. Er drängte darauf, seine »Zurückstellung vom Heeresdienst« aufzuheben. 130 Als ehemaligem Flieger muß ihm sehr daran gelegen gewesen sein, möglichst schnell wieder in der Norma Pralle 558 123 BAP, R 18/ 5488, S. 195. 124 BA, Abt. III (BDC), SSO. 125 BAP, R18/ 5488, S. 193. 126 Reichsführer SS an den Chef des SS-Gerichts, BA, Abt. III (BDC), SSO. 127 Der SS-Gruppenführer des Oa Süd-West in einer Beurteilung am 1. Juni 1934, BA, Abt. III (BDC), SSO. 128 Derselbe SS-Gruppenführer in einer Beurteilung vom 27. September 1935, BA, Abt. III (BDC), SSO. 129 Pflaumer an SS-Gruppenführer Schmidt, 14. Februar 1939, BA, Abt. III (BDC), SSO. 130 GLA 466, 5621/ 1, Zug. 1979/ 2, S. 117, PA Karl Pflaumer. <?page no="560"?> Luftwaffe dienen zu können. Wagner war einverstanden, Pflaumer konnte sich am 1. Februar 1940 im Range eines Majors zur Luftwaffe melden und einen »interessanten militärischen Posten als Verbindungsoffizier zwischen der Luftwaffe und einer Panzerarmee« übernehmen. 131 Doch scheint er auch hier nicht den gesuchten Erfolg gefunden zu haben. Nach vier Monaten schon - Ministerialdirektor Müller-Trefzer hatte ihn in dieser Zeit vertreten - kehrte er nach Karlsruhe zurück und übernahm wieder sein altes Amt. Möglicherweise stand Pflaumers Rückkehr auch in direktem Zusammenhang mit Robert Wagners Ernennung zum Chef der Zivilverwaltung für das Elsaß. In Straßburg wurden Filialverwaltungen für das besetzte Land eingerichtet, und Pflaumer hatte die Verwaltungs- und Polizeiabteilung zu übernehmen. 132 Doch er hatte sich kaum in sein neues Aufgabengebiet eingearbeitet, da fand in seinem Berufsleben ein Schauplatzwechsel statt: Pflaumer wurde nach Rumänien abgeordnet. Seit Sommer 1940 suchte Rumänien Anlehnung an das Deutsche Reich; der Öl-Waffen-Pakt vom 27. Mai 1940 legte den Grundstein für die deutsch-rumänische Zusammenarbeit, bei der Rumänien zunehmend in wirtschaftliche und militärische Abhängigkeit vom Deutschen Reich geriet. Ende Januar 1941 war dann ganz im Sinne Hitlers endgültig eine Militärdiktatur unter General Ion Antonescu errichtet worden. Der deutsche Gesandte Wilhelm Fabricius in Bukarest wurde durch den Gesandten Manfred Frhr. von Killinger ersetzt, der am 24. Januar in seiner Dienststelle eintraf mit der Weisung Hitlers, »den General Antonescu unter allen Umständen zu unterstützen« 133 - militärische und kriegswirtschaftliche Überlegungen standen im Hintergrund. Eine dringende Aufgabe Antonescus war die Reorganisation der Staatsverwaltung und die Schaffung eines dem deutschen vergleichbaren Beamtenapparates. Nach einem Bericht des Auswärigen Amtes war die staatliche Verwaltung Rumäniens mit 500.000 Beamten überbesetzt; eine durchaus negative Dienstauffassung und mangelnde Qualifikation der Beamten verschlimmerten die Situation. 134 Antonescu soll daher die Deutsche Gesandtschaft in Bukarest um einen Sachverständigen gebeten haben; diese leitete das Anliegen des Generals an das Auswärtige Amt weiter. Am 14. Februar 1941 schlug das Reichsministerium des Innern dem Auswärtigem Amt den Badischen Innenminister zur »Beratung bei der Reorganisation des rumänischen Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 559 131 Müller-Trefzer, Friedrich-Karl, Erinnerungen aus meinem Leben, 1879 - 1949, S. 196 f., GLA 65, 11746. 132 Erst im Mai 1941 verlegte er seinen offiziellen Wohnsitz nach Straßburg. Durch diesen Umzug konnte Pflaumer den Kriegszuschlag zur Einkommenssteuer umgehen. Arbeitnehmer, die ihren ausschließlichen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Westgebieten hatten, waren vom Kriegszuschlag befreit. Auskunft des Politischen Archivs des AA. Vgl. auch GLA 466, 5621/ 1, Zug. 1979/ 2, S. 175, PA Karl Pflaumer. 133 Hagen, Walter (Pseudonym für Wilhelm Höttl), Die geheime Front, Linz-Wien 1950, S. 290. Zit. nach Hillgruber, Andreas, Hitler, König Carol und Marschall Antonescu, Die deutsch-rumänischen Beziehungen 1938 - 1944, Wiesbaden 1954, S. 121. 134 BAP, 27217/ 1. <?page no="561"?> Staatsapparates in personeller Hinsicht« vor, da Pflaumer für »die vorgesehene Aufgabe in jeder Weise besonders geeignet« sei. 135 Das Auswärtige Amt erklärte sich mit der Entsendung Pflaumers zusammen mit dem Oberlandrat Hans-Karl von Reinhard aus Pilsen als ständigem Mitarbeiter einverstanden: Beide wurden am 21. Februar 1941 nach Berlin zu Besprechungen ins Auswärtige Amt einberufen und von dort aus direkt an die Deutsche Gesandtschaft in Bukarest abgeordnet. 136 Pflaumer wurde nach einer Einarbeitungszeit im August 1941 in Bessarabien und in der Nordbukowina eingesetzt. Noch im Juni 1940 hatte Rumänien - um einen aussichtslosen Krieg zu vermeiden - auf deutschen und italienischen Rat hin diese Gebiete an die Sowjetunion abgetreten. 137 Über ein Jahr später, am 26. Juli 1941, eroberte Rumänien im Krieg gegen die Sowjetunion an der Seite der deutschen Wehrmacht diese Gebiete wieder zurück. Pflaumers Aufgabe in den sogenannten befreiten Gebieten bestand nun darin, ein neues Verwaltungssystem aufzubauen, das den rumänischen Verhältnissen entsprechen und später im gesamten Staatsgebiet eingeführt werden sollte. 138 Inwiefern Pflaumers Tätigkeit über »kluge[n] Ratschläge und Hilfe« 139 hinausging, ist nicht ersichtlich. Überliefert ist sein Vorschlag, »eine zentrale Behörde für die Verwaltung des volks- und staatsfeindlichen Vermögens« einzurichten, die sich im Elsaß bewährt habe und die ermögliche, den Wert des Staatsvermögens zu vergrößern. 140 Zudem soll er einen Organisationsplan für die Militärverwaltung, der wohl im wesentlichen dem im Deutschen Reich entsprach, entworfen haben. Die tatsächliche Befehlsgewalt übten allerdings von Antonescu bevollmächtigte Militärs aus, die auch über Pflaumers Vorschläge zu entscheiden hatten. Nachdem im Krieg gegen die Sowjetunion am 16. Oktober 1941 auch das Gebiet zwischen Dnjestr und Bug, Transnistrien, erobert und der rumänischen Zivilverwaltung übergeben werden konnte 141 , wurde Pflaumer die Organisation und Verwaltung der dort lebenden Volksdeutschen übertragen. Zwar erhielt Pflaumer am 13. November 1941 als Anerkennung für die geleistete Arbeit den Orden »Die Krone Rumäniens« 142 , doch kann dies über die abermalige Erfolgslosigkeit seiner zweifelhaften Bemühungen nicht hinwegtäuschen. Der deutsche Gesandte von Killinger jedenfalls erklärte Ende des Jahres mehr als deutlich, Pflaumer nicht mehr in Bukarest Norma Pralle 560 135 Staatssekretär Pfundtner hatte zuvor einige höhere Beamte aus der Kriegsverwaltung vorgeschlagen. Warum diese letztendlich doch nicht in Betracht kamen und Pflaumer ausgewählt wurde, ist aus den Akten nicht zu ersehen. BAP, 27217/ 1. 136 BAP, 27217/ 1. 137 Förster, Jürgen, Rumäniens Weg in die deutsche Abhängigkeit. Zur Rolle der deutschen Militärmission 1940/ 41, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1 (1979), S. 47 - 77, hier S. 55. 138 Laut Auskunft Pflaumers in seinem »Rumänien-Bericht«, PAAA, R 29846. 139 PAAA R 29846. 140 PAAA R 29846. 141 Hillgruber (wie Anm. 133), S. 138. 142 Auskunft des Staatlichen Archivs Bukarest. Weiterführende Nachfragen beim Staatlichen Archiv in Bukarest über Pflaumers Aufenthalt blieben erfolglos. <?page no="562"?> haben zu wollen. Ausdrücklich beschwerte er sich über Pflaumers privates Verhalten und über seine Diensteinstellung. Wegen »Nebenbeschäftigungen im Reich« halte sich Pflaumer mehr in Berlin auf und sei nicht da, wenn er gebraucht werde. 143 Pflaumers Auftreten entspreche nicht dem eines Staatsministers, zudem habe er einen Kollegen vor der rumänischen Regierung herabgesetzt. Pflaumer verkehre, obwohl ihm dies strengtens untersagt war, in Legionärskreisen und unterhalte Kontakte zu Iuliu Maniu, dem Führer der oppositionellen Nationalen Bauernpartei. 144 Maniu wurde als Feind des Deutschen Reiches eingestuft, da er freundschaftliche Beziehungen zum britischen Gesandten in Bukarest unterhielt und den Standpunkt vertrat, daß Rumänien demokratisiert werden müsse. 145 Klagen über Pflaumer kamen auch von anderer Seite: Seine Vermieter in Bukarest beschwerten sich bei der Gesandtschaft, daß der Staatsminister die Miete gar nicht oder nur verzögert zahle. Pflaumer entschuldigte sich erst Monate später mit angeblichen »Devisenproblemen«. 146 Das Verhältnis zwischen von Killinger und Pflaumer muß sich in jenen Wochen so zugespitzt haben, daß sich schließlich das Auswärtige Amt veranlaßt sah, Pflaumer »unverzüglich von seinen Dienstgeschäften zu befreien.« Am 28. Februar 1942 wurde die Tätigkeit Pflaumers in Bukarest offiziell beendet, er wurde gebeten, sofort nach Berlin zu reisen, um im RMdI vorzusprechen. 147 Wie groß die Aversionen Pflaumer gegenüber dort geworden waren, ließ sich daran erkennen, daß Staatssekretär Stuckart vom RMdI, der Mitte März nach Bukarest reisen wollte, außerordentlich großen Wert darauf legte, Pflaumer dort nicht mehr anzutreffen. Die Deutsche Gesandschaft in Bukarest veranlaßte deshalb Pflaumers Abreise zum 12. März, Stuckart traf drei Tage später ein. Auch in Baden war man von Pflaumers Rückkehr nicht begeistert. Gauleiter Wagner ließ im RMdI anklingen, daß er damit nicht einverstanden sei. 148 Da aber das RMdI keine andere Verwendung für Pflaumer finden konnte, mußte sich Wagner mit Pflaumers Anwesenheit arrangieren. Am 1. April 1942 übernahm dieser wieder die Leitung des Badischen Innenministeriums und der Verwaltungs- und Polizeiabteilung im Elsaß. Pflaumer ist in dieser Funktion nicht sonderlich hervorgetreten, was seine Beurteilung über diese Zeit erschwert. Auf der einen Seite bescheinigten eine Vielzahl von Personen Pflaumer in seinem späteren Spruchkammerverfahren, er habe den Verwaltungsbeamten Rückhalt gegen die Partei geboten und sogar »parteipolitische Maß- Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 561 143 Auskunft des Politischen Archivs des AA. 144 Auskunft des Politischen Archivs des AA. 145 Böhm, Johann, Das Nationalsozialistische Deutschland und die Deutsche Volksgruppe in Rumänien 1936 - 1944, Frankfurt 1985, S. 114. 146 Auskunft des Politischen Archivs des AA. 147 Bei der Nachfolge Pflaumers wurde vom RMdI großen Wert auf eine »charakterfeste« Person gelegt. 148 BAP 27217/ 1, S. 21. Wagners Wunsch, Pflaumer loszuwerden, wird auch von Pflaumers Vertreter Müller-Trefzer bestätigt. Müller-Trefzer (wie Anm. 131), S. 213. <?page no="563"?> nahmen« verhindert. Zudem sei er ein ausgesprochener Gegner von Wagners Volkstumspolitik gewesen, habe sich »im Maße der Möglichkeiten« für die elsässische Bevölkerung eingesetzt und große Sympathien unter ihr gehabt. Andere bescheinigten ihm wiederum, über nur geringe Machtbefugnisse im Elsaß verfügt zu haben sowie als Leiter der Polizeiabteilung kaum in Erscheinung getreten zu sein. Auch sein Vertreter Müller-Trefzer bestätigte, daß Pflaumer zwar die Verlegung des Innenministeriums nach Straßburg verhindert habe, jedoch die Partei seine Pläne einer »sauberen, rein beamtenmäßig aufgebauten und dem Völkerstaat entsprechenen Zivilverwaltung im Elsaß« durchkreuzt habe. 149 Die Problematik der Entlastungszeugnisse der Spruchkammerakten wird hier besonders deutlich: Immer wieder widersprechen sich die tendenziell positiven Aussagen über Pflaumers Tätigkeit, treten als Anwälte seiner Sache ehemalige Mitarbeiter auf, die zumeist selbst ein Interesse an einer positiven Darstellung der innenpolitischen Tätigkeit im Elsaß hatten. Von seiner Verantwortung für das Geschehene vermögen sie Pflaumer nicht zu entbinden. Selbst in Fällen offensichtlichsten Unrechts beugte sich Pflaumer den Direktiven seiner Vorgesetzten, verblieb auf seinem Posten und genoß die Privilegien seines Amtes. Dies wird u.a. auch im Falle der ungesetzlichen Erschießung zweier polnischer Zwangsarbeiter durch die SS deutlich, die Pflaumer 1944 bekannt wurde. Wagner gegenüber verwahrte er sich zwar gegen solches Vorgehen, doch akzeptierte er widerspruchslos dessen autoritäre Weisung, in dieses Geschehen nicht weiter einzugreifen. 150 Als am 23. November 1944 amerikanische und französische Verbände Straßburg eroberten, floh Pflaumer zusammen mit Wagner und anderen über den Rhein. 151 Die französisch-amerikanische Offensive auf Karlsruhe im März 1945 zwang die meisten badischen Ministerien und Behörden, die Stadt zu verlassen; Pflaumers Amtssitz war für kurze Zeit das Hotel »Quellenhof« in Baden-Baden. 152 Von dort aus gab der Innenminister letzte Anweisungen zum Verhalten der Bevölkerung im feindbesetzten Gebiet. 153 Nachdem Karlsruhe am 4. April 1945 von den Franzosen besetzt worden war und diese nach Baden-Baden vordrangen, versuchte Pflaumer in Richtung Schweiz zu fliehen, geriet jedoch in französische Gefangenschaft. Norma Pralle 562 149 GLA, 465a, 51/ 68/ 1032, S. 51. 150 BA, Abt. III (BDC), SS 1959. 151 Dernières Nouvelles d’Alsace, Edition de Strasbourg, 21. November 1984, LO, V. Der Augenzeugenbericht des damals 17jährigen Elsässers Raymond Riff erwähnt Pflaumer nicht ausdrücklich - (andere »hohe Tiere« ) - , jedoch bestätigte Müller-Trefzer in seinen Erinnerungen, daß Pflaumer sich Wagner angeschlossen und mit anderen zusammen den Rhein überquert habe. Müller-Trefzer (wie Anm. 131), S.223. 152 Werner, Josef, Karlsruhe 1945. Unter Hakenkreuz, Trikolore und Sternenbanner, Karlsruhe 1985, S. 30. 153 GLA 357, Zug. 1973/ 51, Bd. 83, Nr.1575, abgedruckt in: Der deutsche Südwesten zur Stunde Null. Zusammenbruch und Neuanfang im Jahr 1945 in Dokumenten und Bildern, bearb. v. H. Schwarzmaier, Karlsruhe 1975, S. 86. <?page no="564"?> Die französische Militärregierung entließ Pflaumer im April 1945 aus dem Staatsdienst, reihte ihn in die Gruppe der Kriegsverbrecher ein und internierte ihn bis Mai 1948 in den französischen Lagern Alschweier und Reutlingen. 154 Am 19. Mai 1948 strichen die Franzosen Pflaumer wieder von der Liste der Kriegsverbrecher 155 , sechs Tage später war er »à la disposition des autorités allemandes à Karlsruhe«, woraufhin er in das Gerichtsgefängnis Karlsruhe eingeliefert wurde. Der öffentliche Kläger bei der Spruchkammer Karlsruhe stellte einen Antrag auf Festnahme und Festhaltungsbefehl gegen Pflaumer wegen des Verdachts, als ehemaliger Minister des Innern und SS-Brigadeführer verantwortlich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sein. Am 29. Mai 1948 wurde Pflaumer durch diese einstweilige Anordnung in das Gerichtsgefängnis II in Karlsruhe eingewiesen, denn in Anbetracht der zu erwartenden Höhe der Sühnemaßnahmen bestand Fluchtgefahr. Am 30. Juli 1948 wurde er entlassen und vom 2. - 12. August im Internierungslager 77 Ludwigsburg untergebracht. Am 14. Januar 1950 fand sein Verfahren vor der Spruchkammer Karlsruhe statt. Trotzig bekannte er dort: »Ich habe nie bestritten, dass ich Nationalsozialist gewesen bin. Ich war mein Leben lang ein guter Patriot und das werde ich auch bleiben«. 156 Dennoch reihte ihn die Kammer nur in die Gruppe der »Belasteten« ein und verurteilte ihn zu vier Wochen Sonderarbeit, die ihm wegen der Internierungshaft jedoch erlassen wurden. Außerdem wurde der Einzug von 10% seines Vermögens, mindestens 500,- DM, sowie die Übernahme der Verfahrenskosten verfügt. Die kommunistische Presse verurteilte diese »Sympathiekundgebung[en] für die Größen des Nationalsozialismus«. 157 Von Bedeutung für die Höhe des Strafmaßes war vor allem der Umstand, daß Pflaumer, obwohl er bekennender Antisemit war, in einigen Fällen von sogenannten jüdisch versippten Mitarbeitern wohlwollend und hilfsbereit gewesen war. In einem Fall hatte er sogar den Abtransport einer jüdischen Mutter nach Theresienstadt in letzter Minute verhindert. Hinzu kamen seine belegten Auseinandersetzungen mit Gauleiter Wagner sowie zahlreiche Zeugnisse von Beamten seines Ministeriums, die versicherten, Pflaumer habe sich als Minister von sachlichen Gesichtspunkten leiten lassen, habe sich oft gegen Wagner durchsetzen und ein »sauberes« Beamtentum aufrecht erhalten können. Da auch in der Mordsache Marum trotz eigener gerichtlicher Untersuchungen Pflaumer eine Mitschuld nicht bewiesen werden konnte und sein menschlich erbärmliches Verhalten keine Relevanz besaß, zählte dieses Ergebnis für die Spruchkammer zu den entlastenden Momenten. Daß er etwa durch die Erstellung der badischen Judenkartei eine erhebliche Mitschuld an der Ermordung tausender Menschen trug, wurde ebensowenig berücksichtigt wie sein Wissen über die Vorgänge in den Pflegeanstalten Badens. Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 563 154 Bis Ende März in Alschweier, die letzten zwei Monate in Reutlingen. 155 Der Grund dafür konnte nicht ermittelt werden. 156 GLA 465a/ 51/ 68/ 1032, S. 199. 157 Badisches Volksecho 41, 17. Februar 1950. <?page no="565"?> Die Zentralspruchkammer legte daraufhin im März 1950 Berufung ein mit der Begründung, daß der Beschuldigte doch als Badischer Innenminister - »einer der wichtigsten Eckpfeiler der Nazifront« - die Kontrolle über die Polizei besessen habe, was der schlagkräftigste Beleg für seine Mitverantwortung an den NS-Verbrechen sei. Auch wenn Pflaumer keine persönlichen Übergriffe nachgewiesen werden könnten, so hafte er doch für die Übergriffe der ihm unterstellten Organe. 158 Pflaumer seinerseits stellte zur gleichen Zeit den Antrag, in eine günstigere Belastungsgruppe eingereiht zu werden; im Januar 1951 wurden beide Anträge als unbegründet verworfen. Es folgten die zu erwartenden Gnadengesuche: Schon das erste vom 23. Januar 1953 wurde zugunsten Pflaumers entschieden. Im April wurde durch Ministerpräsident Reinhold Maier die bereits bewilligte Unterhaltsbeihilfe von bisher 2/ 3 auf die volle Höhe des erdienten Ruhegehalts als Polizeioberleutnant heraufgesetzt, und zwar rückwirkend zum 1. Oktober 1952. 159 Zudem wurde ihm eine Ermäßigung der Verfahrenskosten und ein großzügiges Entgegenkommen bei der Rückzahlung der Vermögenssühne zugebilligt. Pflaumer, durch sein Herzleiden in seiner Erwerbsfähigkeit stark eingeschränkt, gab sich mit dieser Entscheidung keineswegs zufrieden. Beim zweiten Gnadengesuch im Oktober 1953 bestand Pflaumer nicht nur darauf, die Dienstzeit als Innenminister auf seine Pension angerechnet zu bekommen, sondern auch die besser gestellten Pensionsbezüge eines Polizeimajors zu erhalten. Seine Forderung begründete er mit einer seiner Ansicht nach erwartbaren, aber hypothetischen Beförderung kurz vor seiner Entlassung im Jahre 1929. Als der Antrag abgelehnt wurde, versuchte Pflaumer Ende 1953 abermals, in die Gruppe der Minderbelasteten umgestuft zu werden, um zumindest auf diesem Wege eine höhere Pension zu erhalten. Es folgten weitere Gnadengesuche. Als Pflaumer zum 1. Juli 1958 im Gnadenwege die in den Jahren 1933 - 1945 im öffentlichen Dienst verbrachte Zeit zur Hälfte angerechnet wurde, gab er immer noch nicht auf und bestand darauf, daß seine »Dienstzeit« als Badischer Innenminister endlich »als Beamter im badischen Landesdienst« gewertet werden müsse mit allen daraus abzuleitenden Konsequenzen für die Höhe seiner Ruhegehaltsbezüge. 160 Da ihm dies nicht gelang, versuchte er wiederum, seinen Dienst als Polizeibeamter als hypothetisch fortgeführt zur Anrechnung zu bringen, beschied sich nunmehr jedoch damit, bei ungünstiger beruflicher Entwicklung bis zum Jahre 1945 zumindest den Dienstgrad eines Polizeihauptmanns erlangt zu haben. 161 Das Staatsministerium lehnte zwar Pflaumers Antrag ab, kam ihm jedoch insofern entgegen, als der frühere Innenminister Mitte November 1963 auf der Grundlage des GG Art.131 §72 162 rückwirkend zum 1. November 1958 nachversichert wurde. Die Norma Pralle 564 158 GLA 465a, 51/ 68/ 1032, S. 309. 159 GLA 466, 5621/ 1, Zug. 1979/ 2, S. 217 bzw. S. 221, PA Karl Pflaumer. 160 GLA 466, 5621/ 1, Zug. 1979/ 2, S. 301, PA Karl Pflaumer. 161 GLA 466, 5621/ 1, Zug. 1979/ 2, S. 301, PA Karl Pflaumer. 162 BGBl. I, S. 1685. <?page no="566"?> BfA nahm zunächst den Regierungsauftrag an und stellte den zu Versicherten durch eine »fiktive Nachversicherung« besser. Doch eine genaue Überprüfung des Falles Pflaumer Mitte 1966 durch die BfA ergab, daß er eigentlich nicht unter den zu begünstigenden Personenkreis fiel. Somit mußte das Land Baden-Württemberg die mit der Nachversicherung verbundenen hohen Kosten übernehmen, um einem ehemaligen Beamten und überzeugten Nationalsozialisten eine bessere Pension zu verschaffen. So verbrachte Pflaumer die letzten Jahre seines Lebens mit Gelegenheitsarbeiten und im Kampf mit den Behörden, um eine seiner Stellung im »Dritten Reich« »angemessene« Pension zu erhalten. Der einst hochrangige NS-Führer, der sich durch seine zunehmende Machtbeschneidung frei von aller Schuld sah, vermochte nie einzusehen, daß er mit seiner Tätigkeit das verbrecherische NS-System mitgetragen hatte. Daß er zudem sich in seinem Amt große persönliche Vorteile erschafft hatte, wurde nie thematisiert. Er starb am 3. Mai 1971 in Rastatt. Bibliographie Quellen Als personenbezogenes Quellenmaterial sind die Personalakten Karl Pflaumers im GLA sehr ergiebig, da sie die Zeit von 1918 bis zu seinem Tod umfassen, ebenso wie seine Spruchkammerakte aus dem Jahre 1955. Weitere Bestände befinden sich im Potsdamer Bundesarchiv, im ehemaligen Berlin Document Center, im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn, im Stadtarchiv Heidelberg und im Universitätsarchiv Heidelberg. Das staatliche Archiv Bukarest konnte keine weiteren Auskünfte geben. Die wichtigsten sachbezogenen Bestände befinden sich ebenfalls im GLA, wobei jedoch ein wesentlicher Teil der Akten des Innenministeriums verbrannt ist. Aus diesem Grunde mußte auf Überlieferungen anderer Ministerien zurückgegriffen werden, die von den Vorgängen im Innenministerium betroffen waren. Ergänzend zu Pflaumers Amtsführung erwiesen sich einige Bestände der Polizeiverwaltung im Staatsarchiv Freiburg. Wenig ergiebig sind die Erinnerungen von Friedrich-Karl Müller-Trefzer und der Rechenschaftsbericht von Robert Ernst 163 ; beide lassen eine sachliche Bewertung Pflaumers vermissen und sind nur ergänzend zu verwenden. Als weitere Quelle sind die Briefe Ludwig Marums aus dem Konzentrationslager zu nennen, in denen Pflaumer in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt wird. Von Bedeutung ist auch die badische NS-Zeitung »Der Führer« von 1930 - 1942, die vor allem Auskunft über Pflaumers Auftritte in der Öffentlichkeit gibt. Literatur Horst Ferdinand hat die erste und bisher einzige Biographie über Karl Pflaumer in den Baden-Württembergischen Biographien Bd. 1, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1994, S. 266 - 271, Karl Pflaumer, Badischer Innenminister 565 163 Ernst, Robert, Rechenschaftsbericht eines Elsässers, 2. Aufl. Berlin 1955. <?page no="567"?> veröffentlicht. Darüber hinaus ist angesichts der Bedeutung Pflaumers für die badische NS-Innenverwaltung erstaunlich wenig über ihn in den meisten gängigen Überblicksdarstellungen über den Nationalsozialismus in Baden zu finden. Eine Ausnahme ist hier nur Johnpeter Horst Grill, The Nazi Movement in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, der auch auf Pflaumers Konflikt mit der Partei eingeht. Grundlegend zur badischen inneren Verwaltung sind die Arbeiten von Michael Ruck, Kollaboration-Loyalität-Resistenz, Administrative Eliten und NS-Regime am Beispiel der südwestdeutschen Innenverwaltung, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Wirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, und Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein, Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972, München 1996. Aufschlußreich zu Pflaumers Rolle in der badischen Polizei sind die von Jörg Schadt herausgegebenen Lageberichte der Gestapo, Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden, Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933 - 1940, Stuttgart 1976. Norma Pralle 566 <?page no="568"?> *22. November 1907 Rosenberg / Baden, ev., 1944 Kirchenaustritt, Vater: Wilhelm Scheel, Pfarrer und Leiter des Diakonissenmutterhauses in Mannheim, Mutter: Cornelia, geb. Tillmans, verheiratet seit 1936 mit Elisabeth, geb. Lotze, vier Kinder. 1928 Abitur, 1928 - 1934 Studium der Theologie, später der Medizin in Tübingen und Heidelberg, 1934 Staatsexamen, 1935 Promotion zum Dr. med. 1930 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 391.271) und der SA (bis 1934), 1931 Führer der Deutschen Studentenschaft Heidelberg, 1933 Kreisleiter der südwestdeutschen Studentenschaften, 1933 kurzzeitig ASTA-Vorsitzender der Universität Heidelberg, dann Ernennung zum Führer der Heidelberger Studentenschaft, 1933/ 34 Mitglied des »Führerstabes« der Universität, Gaustudentenbundsführer und als solcher Mitglied der Gauleitung Baden der NSDAP, 1934 Mitglied der SS, hauptamtlicher Leiter der SD- Schule Berlin, 1935 Führer des SD- Oberabschnitts Südwest, Ehrensenator der Universität Heidelberg, 1936 Reichsstudentenführer, 1938 Leiter des Reichsstudentenwerks, 1940/ 41 Leiter des SD-Oberabschnitts Bayern, 1941 Leiter des SS-Oberabschnitts Alpenland, 1941 Gauleiter und Reichsstatthalter von Salzburg, zugleich Ausscheiden aus dem SD, 1942 Reichsverteidigungskommissar für den Gau Salzburg, 1944 Reichsdozentenbundsführer, 1945 Reichskultusminister in Hitlers Testament. »Deutscher Student, es ist nicht nötig, daß Du lebst, wohl aber, daß Du Deine Pflicht gegenüber Deinem Volk erfüllst« Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg Birgit Arnold Gustav Adolf Scheel 567 <?page no="569"?> 1945 - 1948 Internierungshaft, 1948 Entscheidung der Spruchkammer Heidelberg: »Hauptschuldiger«, Haftentlassung, 1949 Arzt in einem Hamburger Krankenhaus, später eigene Praxis, 1952 Entscheidung der Zentralspruchkammer Nordwürttemberg (Tübingen) im Berufungsverfahren: »Belasteter«, 1953 vorübergehende Verhaftung im Zusammenhang mit der »Naumann-Affäre«, Entlassung mangels hinreichenden Tatverdachtes, gest. 25. März 1979 Hamburg. Dr. Gustav Adolf Scheel - der Vorzeige-Nationalsozialist, der idealistische, um das Wohl von Studenten und Universität besorgte Reichsstudentenführer, der landesväterliche Gauleiter, der half, wo er nur konnte - das ist in groben Zügen das Bild, das Scheel nach dem Krieg von sich zu zeichnen bemüht war. Er berief sich dabei auf Zeugnisse von Menschen, die ihn als anständigen, aufrechten Charakter schilderten, der, seinen Standpunkt entschieden vertretend, dennoch gegenteilige Ansichten respektierte und tolerierte. 1 Der kompromißlose Techniker der Macht, der seine ganze Energie als Studentenführer und SD-Mitarbeiter dafür einsetzte, Universität und Gesellschaft im nationalsozialistischen Sinne umzugestalten - so sahen ihn Menschen, die sich von ihm verfolgt oder in ihrer freien Lebensentfaltung gehindert fühlten. Für sie war Scheel ein »Vertreter brutaler Gewalt«, ein »absolute[r] Diktator«, der »solche Leute, mit denen er schlecht stand, mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfte«. 2 Der als »äußerst gütiger, hilfsbereiter und gerechter Mensch« geschilderte Vorgesetzte, der während seiner Tätigkeit beim SD keinen persönlichen Vorteil aus seiner Stellung zog, war gleichzeitig in der Lage, einem Mitarbeiter, der heimlich Lebensmittel gehortet hatte, zu drohen: »Saboteure des Sieges werde ich unerbittlich vernichten.« 3 Es ist schwierig, das Wesen und den Lebenslauf von sog. »NS-Größen« nachzuzeichnen: nicht nur, weil ihre Persönlichkeit und ihre Handlungen wie im Falle von Scheel auf so unterschiedliche Weise wahrgenommen und erfahren wurden, sondern auch, weil in der Zeit der Diktatur ein völlig anderes Wertesystem galt als in der Nachkriegszeit. Es gab andere Maßstäbe, nach denen die Menschen ihr Handeln ausrichteten und nach denen sie von ihrer Umgebung beurteilt werden wollten. In Scheels Biographie wird das am »Fall Gumbel« besonders deutlich. So legte Scheel als junger Mann großen Wert auf die Feststellung, daß er seit 1930 an sämtlichen Kundgebungen der Heidelberger Studenten maßgebend beteiligt gewesen und unter seiner Führung »der Kampf gegen den bekannten Juden Gumbel« durchgeführt worden sei. 4 Emil Gumbel, Privatdozent und seit August 1930 außer- Birgit Arnold 568 1 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 (Spruchkammer der Interniertenlager, Verfahrensakten des Lagers 75, Kornwestheim) Bd. 1a/ 36, Bd. 6/ 8, 14, 15, 18, 31, 35. Die Verfasserin bedankt sich herzlich bei Dr. Ulrich Nieß, Stadtarchiv Mannheim, der an den Vorarbeiten zu diesem Aufsatz maßgeblich beteiligt war und seine Entstehung mit wohlwollender Kritik begleitet hat. 2 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 36, 69 f. 3 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 46, 103, Bd. 1d/ 20. 4 BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel, Lebenslauf vom 7. Mai 1934; BA, Abt. III <?page no="570"?> planmäßiger Professor für Statistik an der Universität Heidelberg, hatte sich durch pazifistische Äußerungen in »nationalen Kreisen« verhaßt gemacht. An den Auseinandersetzungen um seine Person waren neben der rechtsradikalen Studentenschaft auch die DNVP, die NSDAP und der Stahlhelm beteiligt. Sie mündeten schließlich in ein von der Universität angestrengtes Disziplinarverfahren gegen Gumbel mit dem Ergebnis, daß ihm im August 1932 vom Kultusministerium die Lehrbefugnis entzogen wurde. 5 Nach dem Krieg hingegen beteuerte Scheel allen Ernstes, er habe noch nie einen Professor angegriffen und gegen Gumbel nie Reden gehalten; ihm seien Demonstration und Agitation unmöglich gewesen. 6 Tatsächlich trat Scheel bei den »Gumbelkrawallen« wie auch in den Agitationsveranstaltungen, mit denen die »nationale« Bevölkerung mobilisiert wurde, nicht als Redner in Erscheinung; er war zu der Zeit weder NSDStB-Hochschulgruppenführer noch ASTA-Vorsitzender. 7 Scheels öffentliches Wirken begann im Januar 1931 als Führer der »Deutschen Studentenschaft Heidelberg«, die von der NSDStB-Hochschulgruppe und der Großdeutschen Studentengemeinschaft in Reaktion auf die ASTA-Auflösung durch Kultusminister Remmele gegründet wurde. 8 1932 übernahm Scheel nach eigenen Angaben außerdem das Amt des Kreisleiters der südwestdeutschen Studentenschaften (Kreisleitung VI - Baden - Württemberg - Hessen). 9 Auf diese Tätigkeit bezog sich wohl der Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 569 (BDC), RS Scheel, Gustav, Lebenslauf vom 8. August 1935. Vgl. auch den Artikel »Reichsstudentenführer Dr. Gustav Adolf Scheel«, in: Die Bewegung. Zentralorgan des NSD.-Studentenbundes, 14. Januar 1941: »Besonders erwähnenswert ist auch der entschlossene politische Kampf, den Dr. Scheel als Heidelberger Studentenführer gegen den pazifistischen Juden Professor Gumbel führte. Dieser Kampf [...] endete mit dem Siege der nationalsozialistischen Studenten unter Dr. Scheel.« 5 Zum Fall Gumbel vgl. Jansen, Christian, Der »Fall Gumbel« und die Heidelberger Universität 1924 - 1932, unveröffentlichte Magisterarbeit Heidelberg 1981; weiterhin Wolgast, Eike, Emil Julius Gumbel - Republikaner und Pazifist, in: Emil Julius Gumbel 1891 - 1966. Akademische Gedächtnisfeier anläßlich des 100. Geburtstages, Heidelberg 1993, S. 9 - 52; Benz, Wolfgang, Emil J. Gumbel. Die Karriere eines deutschen Pazifisten, in: 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen, hrsg. v. U. Walberer, Frankfurt/ Main 1983, S. 160 - 198; Peters, Christian; Weckbecker, Arno, Auf dem Weg zur Macht. Zur Geschichte der NS-Bewegung in Heidelberg 1920 - 1934. Dokumente und Analysen, Heidelberg [1983], S. 121 ff.; Heiber, Helmut, Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1, München u.a. 1991, S. 68 ff. 6 Aussage Scheels, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321, Bd. 10/ 5 ff. 7 ASTA-Vorsitzender im WS 1930/ 31 war Werner Kleen (NSDStB), Hochschulgruppenführer waren bis Frühjahr 1932 Karl Doerr, im SS/ WS 1932/ 33 Bayer und Chelius. Scheel übernahm dieses Amt erst im SS 1933. Vgl. Jansen (wie Anm. 5), S. 53; Doerr, Karl, Herr Gumbel und die Kohlrübe. Auch eine Geschichte aus Alt-Heidelberg, in: Die Bewegung. Nr. 4 ff. (als Kopie vohanden in: Jansen (wie Anm. 5)); STAWÜ RSF II 150. 8 Die studentische Kampagne gegen Gumbel floß mit Gewaltprotesten gegen Kultusminister Remmele zusammen, nachdem dieser am 19. Januar 1931 die verfaßte Studentenschaft Heidelberg wegen der politischen Aktivitäten, Satzungsverstöße und unkorrekten Geschäftsführung ihres von NSDStB und Großdeutscher Studentengemeinschaft beherrschten ASTA aufgelöst hatte. Siehe Wolgast (wie Anm. 5), S. 36. 9 BA, Abt. III (BDC), RS Scheel, Gustav, Lebenslauf vom 8. August 1935. Scheels Angabe muß korrigiert werden: Er war 1932 wohl schon stellvertretender Kreisleiter. Zum Kreisleiter wurde er <?page no="571"?> Hinweis von Doerr, daß Scheel wieder einmal wegen einer Tagung verhindert gewesen sei, als er ihn als Spitzel zu der Veranstaltung mitnehmen wollte, in der Gumbels »Kohlrüben-Äußerung« fiel. 10 Scheel scheint also schon aus Zeitgründen doch nicht, wie behauptet, ständig an vorderster Front gekämpft zu haben. Es greift sicher zu kurz, Scheel unterstellen zu wollen, daß er im einen oder anderen Fall schlicht gelogen habe. Vielmehr versuchte er wohl, einer Art Legendenbildung Vorschub zu leisten, mit der bestimmte Adressaten beeindruckt oder beeinflußt werden sollten. Seinerzeit war es »eine Prestigefrage aller Nationalsozialisten, ja, der ganzen deutschen Jugend, daß dieser Gumbel fallen müsse«. 11 Und so wollte sich nach der Machtergreifung jeder der Akteure, so auch Scheel, mit den Lorbeeren dieses »Sieges« schmücken 12 oder schlüpfte bei Bedarf in die Rolle des Märtyrers mit den »im Kampf der Bewegung« erlittenen Strafen. 13 Im Spruchkammerverfahren waren natürlich Siegerpose und Märtyrerrolle nicht mehr opportun, und so versuchte Scheel, sich von beidem zu distanzieren, eine Legendenbildung in die andere Richtung zu bewirken. 14 Die Frage, »wie es wirklich war«, kann, wenn überhaupt, nur weiteres Quellenstudium beantworten. Eins wird man allerdings behaupten können: Gustav Adolf Scheel gehörte zu jenen, ohne die die »Machtergreifung« und Stabilisierung des »Dritten Reiches« in den 30er Jahren nicht denkbar gewesen wären. Daher sollen drei Abschnitte im Leben Scheels im Mittelpunkt stehen: Scheels Weg in die NSDAP, seine Beteiligung an der »Machtergreifung« als Führer der Heidelberger Studentenschaft und Reichsstudentenführer und seine hauptamtliche Tätigkeit im Sicherheitsdienst der SS. Birgit Arnold 570 erst im Juni 1933 ernannt. Siehe G. A. Scheel, Kreisleiter Südwestdeutschland, an den Kreisleiter VI des NSDStB, 23. Juni 1933, STAWÜ RSF II 158. Die studentische Selbstverwaltung wurde 1919/ 20 ins Leben gerufen: Jeder deutsche Student war zahlendes Zwangsmitglied der Studentenschaft seiner Hochschule und der ASTA Teil der Hochschulselbstverwaltung. Die »Deutsche Studentenschaft« mit ihren Kreisleitungen als organisatorischem Unterbau fungierte als staatlich anerkannter Dachverband der Studentenausschüsse. Vgl. Heiber (wie Anm. 5), S. 42 f. 10 Doerr (wie Anm. 7). 11 Doerr (wie Anm. 7). 12 Vgl. auch Doerr (wie Anm. 7), wenn er betonte: »Kamerad Scheel hat die Studentenschaft auf seiner Seite, also kann von hier aus kein Versagen kommen. Für die Nationalsozialisten hatte mir der Gauleiter Robert Wagner die Verantwortung des Kampfes gegen Gumbel übertragen.« 13 In einer SD-Personalbeurteilung Scheels vom 25. November 1934 durch Dr. Werner Best ist zu lesen: »Strafen im Kampf der Bewegung: Strenger Verweis des Universitätsgerichts Heidelberg als Hauptbeschuldigter im Falle Gumbel«. BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel; vgl. auch die diesbezüglichen Äußerungen in den beiden Lebensläufen (wie Anm. 4). Die Philosophische Fakultät der Universität Heidelberg hatte sich mit 10: 7 Stimmen bei 2 Enthaltungen dafür ausgesprochen, parallel zum Verfahren gegen Gumbel, das man einstimmig befürwortete, auch ein Disziplinarverfahren gegen die beteiligten Studenten anzustrengen. Siehe Jansen (wie Anm. 5), S. 88. 14 Mit Bezug auf das Disziplinarverfahren betonte Scheel, daß er zwar als Hauptbeschuldigter angeklagt worden, aber nicht als solcher »herausgekommen sei«. STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321, Bd. 10/ 29. <?page no="572"?> Gustav Adolf Scheel wurde am 22. November 1907 in Rosenberg/ Baden geboren, wo sein Vater Wilhelm als evangelischer Pfarrer tätig war. 15 Nach Stationen in Bötzingen und Tauberbischofsheim ließ sich die Familie 1922 in Mannheim nieder, wo Wilhelm Scheel die Leitung des Diakonissenmutterhauses übernahm. 16 Für den ältesten und einzigen Sohn - Gustav Adolf hatte noch drei jüngere Schwestern 17 - brachte der dritte Umzug Probleme mit sich: Seine schulischen Leistungen in Latein, Griechisch, Französisch und Mathematik waren so schlecht, daß er die Klasse am Karl-Friedrich-Gymnasium wiederholen mußte. Auch in den nächsten Schuljahren kam er mehr schlecht als recht über die Runden, um 1928 am KFG mit einiger Mühe das Abitur abzulegen. 18 Wie viele seiner Altersgenossen gehörte Scheel einer Jugendgruppe an. Schon in Tauberbischofsheim Mitglied des »Bibelkreises evangelischer Schüler höherer Lehranstalten« 19 , wandte er sich in Mannheim der »Deutschen Freischar«, dem späteren »Großdeutschen Jugendbund«, zu. 20 Diese Jugendgruppe der DNVP war dafür bekannt, anders gesinnte Jugendliche zu drangsalieren. Auch unter den Schülern des KFG herrschte in den 20er Jahren eine starke politische Spannung. Scheel spielte bei der Politisierung dieser Schule nach Aussage eines Mitschülers eine führende Rolle. Besonders heftig wütete der »Fahnenkrieg« zwischen den Farben »Scharz-Weiß- Rot« und »Schwarz-Rot-Gold«: Bei jeder Gelegenheit versuchten die Schüler, ihre Fahne zu zeigen oder die des »Gegners« zu entwenden oder zu beschädigen. 21 Nach Scheels eigenen Angaben wurde er in der Schulzeit häufig wegen Landfriedensbruch bzw. des Verstoßes gegen das Republikschutzgesetz vernommen, ein Verfahren gegen ihn jedoch nicht eröffnet. 22 Entsprechend seinem ursprünglichen Berufswunsch, Pfarrer zu werden, nahm Scheel im April 1928 an der Universität Heidelberg ein Theologiestudium auf. Im Oktober ging er für drei Semester nach Tübingen, wo er nach einem Semester zur Medizin überwechselte. 23 Im Wintersemester 1930/ 31 kehrte Scheel nach Heidel- Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 571 15 StAMA, Meldekarte Gustav Adolf Scheel. 16 StAMA, Meldekarte Gustav Adolf Scheel; Diakonissenmutterhaus Mannheim. Festschrift zum 75jährigen Bestehen 1884 - 1959, Mannheim 1959, S. 76 f. 17 StAMA, Meldekarte Wilhelm Scheel. 18 StAMA, Karl-Friedrich-Gymnasium, Zug. 4/ 1977 (Klassen- und Notenlisten ab Schuljahr 1922/ 23 ff.). 19 Franz-Willing, Georg, »Bin ich schuldig? « Leben und Wirken des Reichsstudentenführers und Gauleiters Dr. Gustav Adolf Scheel 1907 - 1979, Landsberg am Lech 1987, S. 9; eidesstattl. Erklärung des ehemaligen Mitschülers von Scheel, Martin Hörz, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 95. Ein großer Teil der konfessionellen Jugendverbände gehörte zur »Bündischen Jugend«, die das »Gefolgschaftsverhältnis« betonte und sich völkisch-nationalistischen Ideologien zuwandte. 20 Der »Großdeutsche Jugendbund«, seit 1924 Name des 1918 gegründeten Deutschnationalen Jugendbundes, hatte zum Ziel, die Jugend für die staatliche Einigung des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa zu begeistern. 21 Eidesstattl. Erklärung von Dr. R. E. Feith, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 85. 22 Lebenslauf vom 7. Mai 1934 (wie Anm. 4). 23 UAHD, Studentenakten 1928; Auskunft des UATÜ vom 14. April 1989 an das StAMA, 609 AZ <?page no="573"?> berg zurück. 24 Nach eigenen Angaben nahmen ihn seine politischen Betätigungen jedoch so in Anspruch, daß er das Studium dabei völlig vernachlässigte. 25 Trotz seiner »erbärmlichen Kenntnisse«, wie er nach dem Krieg gestand, legte er 1934 das Staatsexamen mit der Note »sehr gut« ab und wurde im darauffolgenden Jahr zum Dr. med. promoviert. Er habe immer darauf gewartet, so Scheel, daß ihm einer seiner Professoren »einmal den Kopf waschen würde«; sie hätten ihn bei seinem damaligen Einfluß jedoch immer nur servil umschmeichelt. 26 An der Universität Heidelberg 27 wurde Scheel Mitglied im »Verein Deutscher Studenten« (VDST), einer farbentragenden Verbindung im Kyffhäuser-Verband, dem beharrlichsten Vertreter eines völkischen Extremismus mit starkem antisemitischen Grundton. 28 Der VDST bildete zusammen mit anderen farbentragenden Verbindungen im Heidelberger ASTA die »Großdeutsche Studentengemeinschaft«, die mehr und mehr zu einer Rekrutierungsbasis für den NSDStB wurde. 29 Scheel selbst trat im Oktober 1930 in die SA und im selben Jahr auch in die NSDAP ein. 30 Er gehörte damit zu der Generation junger Deutscher, die sich nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg, nach dem als schmachvoll empfundenen Versailler »Diktat«, nach dem »Verbrechen« der Novemberrevolution und angesichts Birgit Arnold 572 572. Scheels eigene Angaben sind widersprüchlich: Nach seinem Lebenslauf von 1934 (wie Anm. 4) hat er drei Semester Theologie studiert, nach seinem Lebenslauf von 1935 (wie Anm. 4) nur zwei Semester. Die Angabe, er habe auch Volkswirtschaft und Jura studiert, vgl. Franz-Willing (wie Anm. 19), S. 10, scheint sich auf je eine Wochenstunde »Elektrizitätswirtschaft« und »Sozialpolitik« zu beziehen, die er in Tübingen im WS 1928/ 29 belegte. 24 Scheels zweite Immatrikulationsakte für die Jahre 1930 - 1934 ist nach Auskunft des UAHD nicht mehr vorhanden. 25 Thielicke, Helmut, Zu Gast auf einem schönen Stern, Hamburg 1986, S. 294; vgl. dazu auch Dr. Feith (wie Anm. 21): »Scheel war an der medizinischen Fakultät immatrikuliert, doch wußte fast jedermann, daß er praktisch keine Studien betrieb.« 26 BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel; Thielicke (wie Anm. 25), S. 294. Noch in seinem Spruchkammerverfahren bezeugten zwei Professoren Scheel »hervorragende Leistungen in der ärztlichen Prüfung«. STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 43, 131. Scheels Dissertation (im Oktavbändchen) »Zur Frage der Beeinflußbarkeit der Strahlensensibilität durch Diabetes bei Radiumbehandlung von an Collum- und Corpus-carcinom erkrankten Frauen« umfaßt 13 Seiten; sie erschien 1938. 27 Akten oder Urkunden über politische Aktivitäten von Scheel in Tübingen ließen sich nicht ermitteln. Rektor der Universität Tübingen an die Spruchkammer Stuttgart, 16. August 1948, UATÜ, 364/ Scheel. 28 Handschriftlicher Lebenslauf Scheels vom 30. April 1948, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1/ 2; Giles, Geoffrey J., Students and National Socialism in Germany, Princeton 1985, S. 18 f. 29 Jansen (wie Anm. 5), S. 32; Zimmermann, Clemens, Die Bücherverbrennung am 17. Mai 1933 in Heidelberg. Studenten und Politik am Ende der Weimarer Republik, in: Bücherverbrennung. Zensur, Verbot, Vernichtung unter dem Nationalsozialismus in Heidelberg, hrsg. v. J.-F. Leonhard, Heidelberg 1983, S. 55 - 84, hier S. 68. 30 Scheel gibt als Eintrittsdatum in SA und NSDAP den 1. Oktober 1930 an. Siehe Lebenslauf von 1934 (wie Anm. 4). Ein Lebenslauf in den Unterlagen der Parteikanzlei vom 27. Mai 1943 nennt als Eintrittsdatum den 1. Dezember 1930. BA, Abt. III (BDC), PK Scheel Dr., Gustav Adolf. Als Mitgliedsnummer wird übereinstimmend die Nr. 391.271 genannt. <?page no="574"?> des oft als »unwürdig« betrachteten Parlamentarismus der Weimarer Republik mit ganzer Kraft nach dem »Führer« sehnte, der Deutschland aus »Schande« und politischer Ohnmacht zur alten Weltgeltung zurückführen sollte. Scheels Weg von der Bündischen Jugend mit ihrem völkisch-nationalistischen Ideengut und dem Streben nach einem »Großdeutschen Reich« über den Verein Deutscher Studenten hin zum Nationalsozialismus war deshalb nur folgerichtig: Für ihn war Adolf Hitler der ersehnte »Führer«, der »Retter« Deutschlands: »Deutsch und nationalsozialistisch schien damals dasselbe zu sein.« 31 Das Rektorat der Universität bemühte sich, nach der Auflösung des ASTA im Jahre 1931 die politischen Aktivitäten der Studenten in geordnete Bahnen zu lenken. Die Heidelberger Studentenschaft unter Scheel wurde de facto wie ein demokratisch legitimierter ASTA behandelt, wenn er sich auch zweieinhalb Jahre lang keiner Abstimmung stellen mußte. Erst im Januar 1933 wurde mit Zustimmung des Kultusministeriums auf der Grundlage einer neuen Satzung ein neuer ASTA gewählt, in dem Scheel den Vorsitz übernahm. 32 Dieser ASTA amtierte jedoch nicht lange, denn im Sommersemester 1933 wurde Scheel zum Führer der Heidelberger Studentenschaft ernannt. 33 Scheel verfügte jetzt in Heidelberg über eine beeindruckende Ämterfülle: Er war Hochschulgruppenführer des NSDStB und Führer der Heidelberger Studentenschaft, Kreisleiter der südwestdeutschen Studentenschaften und damit gleichzeitig Hochschulinspekteur bei der Kreisleitung VI des NSDStB; außerdem gehörte er seit September 1934 als Gaustudentenbundsführer der badischen Gauleitung an. 34 Damit vereinigte Scheel die wichtigsten studentischen Ämter sowohl auf Parteiebene als auch im Rahmen der Selbstverwaltung der Studentenschaft auf sich. 35 Im Wintersemester 1933/ 34 berief ihn der erste gemäß dem »Führerprinzip« auf unbestimmte Zeit ernannte Rektor der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Wilhelm Groh, in seinen »Stab des Führers der Universität«. 36 Dieser Führerstab, der sich nur Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 573 31 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 1, Bd. 5/ 38a. 32 Mußgnug, Dorothee, Die Universität Heidelberg zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 - 1986 Bd. 3, hrsg. v. W. Doerr, Berlin u.a. 1985, S. 464 - 503, hier S. 466; Jansen (wie Anm. 5), S. 76. 33 Die Ernennung erfolgte gemäß der Bad. Studentenrechtsverordnung vom 20. Mai 1933 (GVBl. 1933 S. 89) zum Reichsgesetz über die Bildung von Studentenschaften an den wissenschaftlichen Hochschulen vom 22. April 1933 (RGBl. I S. 215). An die Stelle des ASTA traten zwei Älteste, die zusammen mit den studentischen Amtsleitern den beratenden Mitarbeiterkreis des Studentenführers bildeten. 34 Zimmermann (wie Anm. 29), S. 65; Kreisführer-Stellvertreter des Kreises VI des NSDStB an Kreisleiter VI der D.St. G. A. Scheel, 31. Mai und 9. Juni 1933, GLA 465d/ 1021; »Der Heidelberger Student«, 5. Dezember 1934; STAWÜ RSF II 106. 35 Die »Deutsche Studentenschaft« wurde 1933 neu organisiert und vom Staat als »alleinige Gesamtvertretung der an den reichsdeutschen Hochschulen immatrikulierten Studenten deutscher Abstammung und Muttersprache« anerkannt. Vgl. Wolgast, Eike, Das zwanzigste Jahrhundert, in: Semper Apertus, Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 - 1986 Bd. 3, hrsg. v. W. Doerr, Berlin u.a. 1985, S. 1 - 54, hier S. 5, 29. 36 Baden führte als erstes deutsches Land mit dem Erlaß einer neuen Universitätsverfassung am 21. <?page no="575"?> aus politisch zuverlässigen Vertrauenspersonen des Rektors zusammensetzte 37 , entwickelte sich zum wichtigsten Gremium der Universität, das dem Rektor zur Beratung in allen grundsätzlichen hochschulpolitischen Fragen zur Seite stand und die verfassungsmäßig vorgesehenen Beratungsorgane, wie den Senat, verdrängte. 38 Auch auf Fakultätsebene konnte Scheel seinen Einfluß geltend machen: Nach dem Examen arbeitete er seit Oktober 1934 als Medizinalpraktikant in der Ludolf-Krehl- Klinik. Als solcher wurde er von Rektor Groh zum Mitglied der Medizinischen Fakultät erklärt und sofort in den Fakultätsbeirat berufen. 39 Da die Mitarbeit der Fakultäten am Aufbau der nationalsozialistischen Hochschule noch sehr zu wünschen übrig ließ, sollte dieses neu geschaffene Gremium als »Stoßtrupp in dem Kampf um die neue Hochschule« fungieren und bestand deshalb in der Regel nur aus zuverlässigen Nationalsozialisten. Scheels Einflußbereich wurde durch die Immatrikulationskommission arrondiert, der er seit Juli 1933 als Führer der Studentenschaft mit Sitz und Stimme angehörte. Er war ermächtigt, alle Erhebungen anzustellen, die er im Zusammenhang mit Anträgen auf zwangsweise Exmatrikulation für erforderlich erachtete. Außerdem hatte diese Kommission nach der Einführung eines Ahnennachweises für Studenten seit dem Sommersemester 1934 in Zweifelsfällen zu prüfen, ob nach »Abstammung oder Betätigung eine engere Beziehung zum Deutschtum« bei den Studienbewerbern vorausgesetzt werden könne. Welchen Gebrauch machte Scheel von der ihm durch diese Ämterfülle gegebenen Macht? Inwieweit war er an dem studentischen Aktivismus beteiligt, der die ersten Wochen der Machtergreifung an den deutschen Universitäten beherrschte und die Säuberungsmaßnahmen des Regimes wesentlich unterstützte? Gesetzliche Grundlage für die Versetzung in den Ruhestand bzw. Entlassung der Dozenten war zunächst das am 7. April 1933 verabschiedete »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«. 40 Weitere Säuberungswellen folgten 1935 auf Birgit Arnold 574 August 1933 das Führerprinzip an seinen Hochschulen ein: Der Rektor wurde vom Badischen Kultusminister aus der Zahl der ordentlichen Professoren ernannt und bestimmte seinerseits die Dekane der Fakultäten. Ein neu zu gründender Senat fungierte nur noch als den Rektor beratende Körperschaft ohne eigenes Beschlußrecht. Siehe Vézina, Birgit, »Die Gleichschaltung« der Universität Heidelberg im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung, Heidelberg 1982, S. 71 ff.; Wolgast (wie Anm. 35), S. 21 ff. 37 Ihm gehörten außer Scheel nur der Kanzler Prof. Stein, der Vizekanzler Privatdozent Himmel und Dr. Kunstmann, Obermedizinalrat am Städt. Krankenhaus in Pforzheim, an. Vézina (wie Anm. 36), S. 79. 38 Vézina (wie Anm. 36), S. 80. 39 Mußgnug (wie Anm. 32), S. 482. Auf Anregung von Rektor Groh erließ der Badische Kultusminister am 16. Januar 1934 eine neue Fakultätsverfassung als Übergangsregelung. Als Ersatz für die bisherige Engere Fakultät wurde dem Dekan ein Beirat zur Seite gestellt, dem entgegen der bisherigen Praxis auch Privatdozenten, Assistenten und Studenten angehören konnten. Rektor Groh nahm für sich in Anspruch, im Einvernehmen mit seinem Führerstab die Mitglieder dieser Beiräte zu ernennen. Vgl. Vézina (wie Anm. 36), S. 82 ff.; dort auch das Folgende. 40 RGBl. I S. 175. Es bestimmte in den §§ 3 u. 4, daß Beamte nichtarischer Abstammung und solche, die sich nicht jederzeit rückhaltlos für den neuen Staat einsetzten, in den Ruhestand zu versetzen <?page no="576"?> Grundlage des Reichsbürgergesetzes und 1937 nach Erlaß des Deutschen Beamtengesetzes. 41 Der vor allem bei der Zurruhesetzung oder Entlassung aus politischen Gründen gegebene behördliche Ermessensspielraum war der Ansatzpunkt für den Druck, der auf die betroffenen Professoren und Dozenten in der nationalsozialistischen Presse und von seiten der Studentenschaft ausgeübt wurde. Polizeiliche Hausdurchsuchungen unter Beteiligung von Studenten, Tumulte in den Vorlesungen, direkter oder mittels »Flüsterpropaganda« bewirkter Vorlesungsboykott und Anträge beim Kultusministerium auf Entlassung von Professoren waren die Mittel, denen sich dabei die Studentenschaft bediente. 42 In den Augen seiner Zeitgenossen war Scheel bei diesen Unternehmungen die treibende Kraft. Als »außerordentlich aktivistischer Nationalsozialist, dessen führende Rolle innerhalb der Heidelberger nationalsozialistischen Studentenschaft außer Zweifel stehe« 43 , habe er - »von geistigem Habitus ein kleiner Spiesser, aber nicht bösartig« - sich »mit Fanatismus die Vertreibung aller nichthitlerisch gesinnten« zum Ziel gesetzt. 44 In einem Nachruf auf den scheidenden Hochschulgruppenführer bescheinigte ihm 1935 ein ehemaliger »Mitkämpfer«: »Von größter Tragweite und von größtem Segen für die Studentenschaft aber war seine Stellung zum Professorentum. Auch hier ging er in den Tagen und Monaten des Aufbaus kompromißlos gegen alle undeutschen und rassefalschen Lehren vor und befreite die Universität von manchem Schädling des Deutschtums.« 45 Auch die Universität Heidelberg würdigte Scheels »Verdienste«. An ihrem 549. Gründungstag verlieh sie ihm die Würde eines Ehrensenators: Scheel, »der als Student den Sieg des Nationalsozialismus an dieser Hochschule vorbereitet und durchgekämpft hat, der als Studentenschaftsführer mit der Lauterkeit seines Charakters, mit der Vorbildkraft seiner Haltung, mit dem Ernst seiner Arbeit allen voranging, der als Senator unermüdlich und treu seiner Universität gedient hat im schweren und verantwortlichen Werke ihres Neubaues im nationalsozialistischen Geiste.« 46 Scheel beteuerte in seinem Spruchkammerverfahren, daß er zwar die Möglichkeit gehabt habe, gegen Professoren Stellung zu nehmen, aber er habe keinen Gebrauch Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 575 waren. Das kam in vielen Fällen einer Entlassung gleich, da das Ruhegeld an eine zehnjährige Dienstzeit geknüpft war. Vgl. dazu Vézina (wie Anm. 36), S. 27 ff.; Mußgnug, Dorothee, Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität nach 1933, Heidelberg 1988, S. 21 f. 41 RGBl. I S. 1146, RGBl. I S. 39; Wolgast, Eike, Die Universität Heidelberg und die nationalsozialistische Diktatur, in: 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen, hrsg. v. U. Walberer, Frankfurt/ Main 1983, S. 33 - 53, hier S. 39. 42 Vézina (wie Anm. 36), S. 49 ff.; Führer, Christoph; Zier, Hans G. (Hrsg.), Hellpach-Memoiren 1925 - 1945, Köln 1987, S. 274; Mußgnug (wie Anm. 40), S. 58 ff., 90 ff. 43 Eidesstattl. Erklärung Prof. H. Sultan, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 92. 44 Eidesstattl. Erklärung Prof. E. Hoffmann, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 52; vgl. auch die sinngemäßen Äußerungen anderer Zeugen ebd., Bd. 10/ 3; Bd. 1a/ 36, 39, 62, 70; Bd. 10/ 4. 45 »Der Heidelberger Student«, 16. November 1935. 46 Ernennungsurkunde vom 22. November 1935; Kopie dank der freundlichen Unterstützung von Frau Elisabeth Scheel im Besitz des StAMA (vorl. Az. 16.81.34 - Bildband 1933 - 45). <?page no="577"?> davon gemacht; er habe sich vielmehr für eine Reihe von Professoren persönlich eingesetzt. 47 Diese Aussage wurde von Prof. Eugen Fehrle, einem der engagiertesten Nationalsozialisten an der Universität Heidelberg und seit März 1933 Ministerialrat und Leiter der Hochschulabteilung im Badischen Kultusministerium 48 , bekräftigt: Anträge auf Entlassung von Professoren seien von einzelnen Gruppen aus der Studentenschaft an ihn [Fehrle] ergangen; Scheel sei nie mit einer Absetzungsfrage zu ihm gekommen, vielmehr sei es gelungen, einzelne Leute zu halten. 49 Auch die Professoren, die politisch unter Druck gesetzt wurden und Scheel als den Verursacher ihrer Schwierigkeiten betrachteten, konnten ihre Vermutungen nicht stichhaltig beweisen, da sich Scheel, wie bekundet wurde, bei diesen Vorgängen stets im Hintergrund gehalten habe. 50 Scheel versuchte diese Widersprüche mit dem Hinweis aufzulösen, daß er aufgrund seiner Ämterfülle viel unterwegs gewesen sei und seinen Mitarbeitern größte Freiheit gelassen habe. 51 Unter diesen Mitarbeitern gab es offensichtlich »Leute [...], die fanatischer wie er waren«. 52 Der ehemalige Rektor Groh bezeugte Scheel, daß dessen Einfluß im Leben der Universität Heidelberg sicher sehr groß gewesen, es aber völlig abwegig sei, zu behaupten, Scheel habe »Terror« ausgeübt. Vielmehr sei er stets bemüht gewesen, »nicht nur das Ansehen der Universitätsleitung, sondern auch der Professoren und Dozenten gegenüber Übergriffen von Parteileuten, Studenten usw. zu sichern.« 53 Die tatsächlich erfolgte Einflußnahme Scheels und seine Beteiligung an den »Säuberungsmaßnahmen« könnten nur durch weitere Forschungen geklärt werden. Die schon untersuchten Bestände weisen Scheel in mindestens vier Fällen als Scharfmacher aus, der gegen den hinhaltenden Widerstand des Ministeriums, vertreten durch Fehrle, die Entlassung von Dozenten durchzusetzen versuchte. 54 Damit werden die Äußerungen von Fehrle und Groh zugunsten von Scheel in ihrer Glaubwürdigkeit zumindest schwer erschüttert. Birgit Arnold 576 47 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 5; vgl. auch die eidesstattliche Erklärung von Prof. Dr. R. Kienle 1948, daß Scheel die Zurruhesetzung der Professoren Jaspers und Regenbogen rückgängig zu machen versucht habe, ebd., Bd. 6/ 23. 48 Zu Fehrle vgl. Wolgast (wie Anm. 35), S. 25; Vézina (wie Anm. 36), S. 23, Anm. 25; Mußgnug (wie Anm. 32), S. 468. 49 Zeugenaussage von E. Fehrle, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 5. 50 Eidesstattl. Erklärung Prof. H. Mitteis, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 78, Prof. E. Hoffmann, ebd., Bd. 1a/ 52 f., Prof. W. Andreas, ebd., Bd. 1a/ 49, Zeugenaussage v. Prof. H. v. Eckardt, ebd., Bd. 10/ 4. 51 Aussagen von Scheel und seinem Verteidiger, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 5, 9, 16. 52 Zeugenaussage von Prof. W. Andreas, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 9; vgl. auch den Hinweis Hellpachs über die »Kreaturen, die ihn [Scheel] in der Studentenführung umgaben«: Hellpach-Memoiren (wie Anm. 42), S. 274, und die Äußerung eines Mannheimer Studentenführers: »Scheel ist furchtbar, er taugt nichts, die sind ja zu liberal«: Zit. von Zeuge Dr. H. Walz, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 20. 53 Prof. Groh, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 113. 54 Vgl. die Darstellung der Fälle Anschütz, Weber, Klibansky u. Lemberg bei Mußgnug (wie Anm. 40), S. 21, 41 ff. <?page no="578"?> Scheel bestritt auch seine direkte Beteiligung an der Relegation von Studenten. 55 Doch auch hier sprechen die mittlerweile zugänglichen Akten gegen ihn: Auf Scheels Drängen verhängte die Badische Landesregierung am 13. April 1933 ein totales Immatrikulationsverbot für nichtarische Studenten. Sie übertraf damit sowohl im Zeitpunkt als auch in ihrer kompromißlosen Härte die reichseinheitliche Regelung durch das »Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen«, die erst am 25. April 1933 erging. 56 Scheel war auch unmittelbar an der Zwangsexmatrikulation kommunistischer Studenten durch das Badische Kultusministerium beteiligt, die er gegen den hinhaltenden Widerstand des Rektorats im Juli 1933 durchsetzte. 57 Diese Vorgehensweise schloß nicht aus, daß sich Scheel in einzelnen Fällen auch für nichtarische oder politisch belastete Studenten einsetzte. 58 Im August 1934 verließ Scheel die SA und trat mit der Mitgliedsnummer 107.189 in die SS ein. Im September wurde er von Heydrich als hauptamtlicher Mitarbeiter in den Sicherheitsdienst (SD) des Reichsführers SS berufen. 59 Die Gründe für Scheels Wendung zu SS und SD waren sicher vielfältig: So wird angesichts der blutigen Niederschlagung des Röhm-»Putsches« politischer Opportunismus eine Rolle gespielt haben. Wichtigstes Motiv dürfte für Scheel jedoch die große Attraktivität gewesen sein, die in jenen Jahren die SS für viele besaß. Sie galt als Elitetruppe der Partei, die sich deutlich von der plebejischen Masse des braunen Fußvolkes abhob, und wurde als Parteigliederung von den »feinen Leuten« bevorzugt, die ab März 1933 in die SS strömten. Den Anfang machte der Adel; es folgten die Söhne des unteren und gehobenen Mittelstandes, die oft über eine akademische Bildung verfügten und sich vor allem dem SD zuwandten. 60 Diese Gruppe junger Akademiker kam wie auch Scheel durchweg aus der Gefühls- und Ideenwelt der völkischen Jugendbewegung und fand in der Ordens-Mystik der SS mit dem absoluten Treuegelöbnis gegenüber dem Führer, der Betonung von Disziplin und Selbstaufopferung ihre alten bündischen Ideale wieder. 61 Eine gewisse Geheimdienst-Romantik und der Anspruch des SD, gleichsam als »Elite der Elite« durch die Beobachtung der Partei »den National- Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 577 55 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 2. 56 Mußgnug (wie Anm. 32), S. 472; Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen (RGBl. I S. 225). Danach durfte die Zahl der neu zuzulassenden Nichtarier in jeder Fakultät den Anteil der Juden an der Reichsbevölkerung nicht übersteigen. Ein reichsweites absolutes Immatrikulationsverbot für Juden wurde erst 1938 erlassen. Vgl. Wolgast (wie Anm. 35), S. 20. 57 Vgl. dazu im einzelnen Mußgnug (wie Anm. 32), S. 473, »Der Heidelberger Student«, 13. Januar 1934. 58 Eidesstattliche Erklärung von Dr. L. Wolff, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 27. 59 Lebenslauf vom 8. August 1935 (wie Anm. 4). 60 Vgl. dazu Höhne, Heinz, Der Orden unter dem Totenkopf. Die Geschichte der SS, München 1979, S. 125 ff. Mitte der 30er Jahre hatten 30 % aller SS-Führer ein Universitätsstudium absolviert, und 18 % besaßen den Doktortitel. In der Gesamtbevölkerung verfügten 3 % über einen akademischen Abschluß. 61 Zipfel, Friedrich, Kirchenkampf in Deutschland 1933 - 1945, Berlin 1965, S. 168 ff. <?page no="579"?> sozialismus besser zu machen« waren weitere Momente, die den SD für diese jungen Menschen so attraktiv machten. 62 Scheel wurde zusammen mit einem anderen Mitglied der Heidelberger Studentenführung, Franz Alfred Six, von Reinhard Höhn, seit Sommersemester 1935 a.o. Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Heidelberg, für den SD gewonnen. 63 Wie Six 64 , stieg auch Scheel auf der SS-Dienstrangleiter schnell nach oben. 65 Die »ausgesprochene Führernatur mit besonderer erzieherischer Begabung«, die die NS-Weltanschauung »tief erfaßt« hatte, den jungen Mann mit dem »arischen Gesamtbild« und dem »julklaren, selbstbewußten Charakter« und einem außerdienstlich »tadellosen Verhalten« hielt man für geeignet, jede SD-Dienststellung zu bekleiden. 66 Scheel baute zunächst in Berlin die zentrale SD-Schule auf, die er bis zum Sommer 1935 leitete. 67 Sein nächstes Aufgabengebiet wurde der SD-Oberabschnitt Südwest (Württemberg-Baden und Rheinpfalz), mit dessen Leitung er im Juli 1935 betraut wurde. Scheel erhielt damit eine Schlüsselposition, die Dr. Werner Best vor seiner Berufung zur Gestapo innegehabt hatte. 68 1940/ 41 wechselte Scheel in den SD-Oberabschnitt Bayern. Mit seiner Ernennung zum Leiter des SS-Oberabschnittes Alpenland im Mai 1941 schied Scheel aus dem SD aus. 69 Diese Truppe junger Akademiker war unter der Leitung Heydrichs, der im Juli 1932 von Himmler zum Chef des Sicherheitsdienstes ernannt worden war, maßgeblich am Aufbau des SD beteiligt. 70 Der parteieigene Nachrichtendienst hatte zu- Birgit Arnold 578 62 Höhne (wie Anm. 60), S. 196. 63 Six war Redakteur des »Heidelberger Student« und unter Scheel Amtsleiter für Presse und Propaganda. Höhn erhielt 1935 einen Ruf an die Juristische Fakultät Berlin und wurde gleichzeitig von Heydrich zum Leiter der Zentralabteilung II/ 2 im SD-Hauptamt ernannt. Zu seiner Person vgl. Vézina (wie Anm. 36), S.84, Anm. 301, 126 ff., 132; Höhne (wie Anm. 60), S. 198, 217 ff.; Aronson, Shlomo, Reinhard Heydrich und die Frühgeschichte von Gestapo und SD, Stuttgart 1971, S. 212 ff. 64 Schon Ende 1936 avancierte Six als SS-Sturmbannführer zum Leiter der Zentralabteilung II/ 1 (Weltanschauliche Beobachtung und Bekämpfung der Gegner Judentum, Kirche und Freimaurerei) im SD-Hauptamt, die er bis 1941 leitete und in der auch Eichmann zu seinen Mitarbeitern gehörte. Vgl. Aronson (wie Anm. 63), S. 207 f. 65 13. September 1934 SS-Sturmführer, 20. April 1935 SS-Obersturmführer, 30. Januar 1936 SS-Hauptsturmführer, 20. April 1936 SS-Sturmbannführer, 9. November 1936 SS-Obersturmbannführer, 30. Januar 1937 SS-Standartenführer, 20. April 1938 SS-Oberführer (Oberst), 20. April 1941 SS-Brigadeführer, 21. Januar 1942 SS-Gruppenführer, 1. August 1944 SS-Obergruppenführer (General); damit erreichte Scheel die vorletzte Rangstufe der SS-Dienstränge. BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel; vgl. dazu auch Höhne (wie Anm. 60), S. 150. 66 Beurteilung Scheels vom 25. November 1934 durch Dr. Werner Best, BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel. 67 Lebenslauf vom 8. August 1935 (wie Anm. 4). 68 Best wurde 1934 Leiter der Abteilung Verwaltung und Recht im Preußischen Geheimen Staatspolizeiamt und war bis 1940 als Heydrichs Stellvertreter in dessen Eigenschaft als Chef der gesamten politischen Polizei einer seiner engsten Mitarbeiter. 69 BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel; Aronson (wie Anm. 63), S. 152. 70 Aronson (wie Anm. 63), S. 60. Im Herbst 1933 hatte der SD 100 Mitglieder, davon z.B. der Oberabschnitt Süd-West nur 5. Wenige Jahre später, 1937, verfügte die Nachrichtenorganisation schon über 3.000 hauptamtliche Mitarbeiter und 50.000 Informanten. Vgl. Höhne (wie Anm. 60), S. 166, 202. <?page no="580"?> nächst die Aufgabe, die NSDAP mit Informationen über ihre politischen Gegner zu versorgen, aber auch oppositionelle Strömungen in den eigenen Reihen und Agenten der politischen Polizei zu ermitteln. 71 Das ehrgeizige Vorhaben Heydrichs, mit Hilfe des SD die staatlichen politischen Polizeien zu unterwandern und schließlich die SS mit der gesamten Polizei in einem alles umfassenden Staatsschutzkorps zusammenzuschließen, ließ sich nicht realisieren. SD und Politische Polizei bzw. Gestapo blieben organisatorisch und personell getrennt, wobei dem SD die Aufgabe zugewiesen wurde, die Feinde der NS-Idee zu ermitteln, während die Politische Polizei dieselben abzuwehren und zu bekämpfen hatte. 72 Doch in der Praxis kam es immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten und Doppelarbeit der beiden Organisationen, da sich Gegnerermittlung und Gegnerbekämpfung oft nicht genau trennen ließen. Der SD verlegte deshalb den Schwerpunkt seiner Tätigkeit auf zwei neue Aktionsfelder, die Auslandsspionage und die »Lebensgebietserforschung«. Die Zentralabteilung II/ 2 unter Reinhard Höhn entwickelte sich seit 1936 zu einer Art Meinungsforschungsinstitut. Nach den Vorstellungen von Höhn hatte der SD vor allem die Aufgabe, die Führung von Partei und Staat über Fehlentwicklungen und Mißstände im NS-System zu informieren; er sollte so etwas wie ein Korrektiv der NS-Diktatur, eine Stimme der Kritik sein. Zu diesem Zweck wurde die Stimmung der Bevölkerung im allgemeinen und ihre Reaktion auf politische Ereignisse und die Maßnahmen der Or gan e v on Pa rt ei und Sta at ermi ttelt . N atür lic h s ol lte auf di ese m W eg ke ine »öffentliche Meinung« hergestellt werden. Letztes Ziel war nach wie vor die Herrschaftssicherung der Partei. 73 Scheel griff nach dem Krieg diesen Arbeitsbereich des SD heraus, um seine Laufbahn in SS und SD zu relativieren und ihre Bedeutung herabzumindern. Im Hinblick auf den eingetretenen Wandel der politischen Werte pervertierte er Höhns Vorstellungen und betonte, daß der SD »der vorübergehende Ersatz des Parlamentes« sein sollte, »das demokratische Korrektiv«, um auf »Fehlentwicklungen und Mißstände hin[zu]weisen«. 74 Für den überzeugten Nationalsozialisten Scheel war die Demokratie mit ihren Institutionen jedoch kein System, das es zu schützen, sondern vielmehr zu beseitigen galt. 75 Daß Scheel als SD-Oberabschnittsführer nicht nur »Meinungsforschung« betrieb, Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 579 71 Boberach, Heinz (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich 1938 - 1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS Bd. 1, Herrsching 1984, S. 11. 72 Höhne (wie Anm. 60), S. 163; Aronson (wie Anm. 63), S. 196. 73 Höhne (wie Anm. 60), S. 210 ff.; Aronson (wie Anm. 63), S. 212 ff. Ergebnis der »Lebensgebietserforschung« waren die Stimmungs- und Lageberichte, die von 1938 bis 1943 vom SD an die Parteispitze, an Reichsministerien und die Wehrmacht weitergegeben wurden. Vgl. Boberach (wie Anm. 71). 74 Scheel in seinem handschriftlichen Lebenslauf vom 30. April 1948, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1/ 2. 75 Vgl. Scheels Ausführungen über den »Weg der deutschen studentischen Jugend« nach 1918, in: Scheel, Gustav Adolf, Tradition und Zukunft des deutschen Studententums, Sonderdruck der Rede des Reichsstudentenführers am 13.5.1937 in München, S. 10 ff. <?page no="581"?> sondern auch an anderen Aktivitäten beteiligt war, belegen etwa seine aktive Rolle als Organisator der Karlsruher Judendeportation vom Oktober 1940 oder auch einige, freilich nicht herausragende Auszeichnungen, die ihm verliehen wurden. 1940 erhielt er das »Schutzwallehrenzeichen«, eine Auszeichnung für besonderen Einsatz beim Bau des Westwalles, und 1941 das »Kriegsverdienstkreuz II.Klasse« für den »unermüdlichen Einsatz des SD während des Westwallbaues, der Operationen am Oberrhein und der Säuberungsmaßnahmen im Elsaß«. 76 Der Bau des Westwalles 77 bot dem SD ein weites Betätigungsfeld: die Absicherung der militärischen Anlagen gegenüber feindlichen Nachrichtendiensten, die Disziplinierung von Arbeitern, die sich gegen ihre Dienstverpflichtung wehrten oder mit den schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Baustellen unzufrieden waren, die Überwachung einer großen Zahl von arbeitslosen, politisch oder moralisch »unzuverlässigen Elementen«, die in der Hoffnung auf schnellen Verdienst auf die Baustellen strömten. Mit den »Operationen am Oberrhein« waren offensichtlich die zu Beginn des II. Weltkrieges durchgeführten militärischen Aktionen an der deutschen Westgrenze gemeint. Dazu gehörten der vom 26. August bis 2. September 1939 durchgeführte »Aufmarsch West«, mit dem die westliche Grenze Deutschlands gegenüber Frankreich abgesichert werden sollte 78 , und der Angriff »Kleiner Bär«. Dieser Tarnname bezeichnete den Truppenaufmarsch und anschließenden Rheinübergang der deutschen Einheiten am 15. Juni 1940 im Zusammenhang mit dem Westfeldzug gegen Frankreich. 79 In seiner Eigenschaft als Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD 80 wurde Scheel im Sommer 1940 auch im Elsaß tätig, das nach Beendigung des Westfeldzuges dem Gau Baden einverleibt wurde. Er hatte vor allem die Aufgabe, dort die Kriminalpolizei aufzubauen und war mit der Durchführung von Säuberungsmaßnahmen befaßt, die - nach Scheels Angaben - auf Anweisung des Chefs der Zivilverwaltung Birgit Arnold 580 76 BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel, zu Scheels aktiver Beteiligung an der Judendeportation siehe Badische Neueste Nachrichten, 22. Oktober 1946, S. 2. 77 Die Befestigungslinie entlang der deutsch-französischen Grenze mit Tausenden von Bunkern, Wassergräben und Panzersperren sollte Hitler ursprünglich den Rücken für seine Angriffspläne gegenüber der Tschechoslowakei freihalten. Sie wurde von Mai 1938 bis Kriegsbeginn unter der Leitung des Generalinspekteurs für das deutsche Straßenwesen, Dr. Todt, mit einem immensen Aufwand an Menschen, Material und Maschinen nicht »aus«, sondern eher »in den Boden gestampft«. Vgl. dazu Bettinger, Dieter; Büren, Martin, Der Westwall. Die Geschichte der deutschen Westbefestigungen im Dritten Reich 2 Bde, Osnabrück 1990. 78 Vgl. dazu Jacobsen, Hans-Adolf (Hrsg.), Dokumente zur Vorgeschichte des Westfeldzuges 1939 - 1940, Göttingen u.a. 1956, S. 31 ff. 79 Zu den Vorbereitungen des Angriffs »Kleiner Bär« vgl. BAMAFR, RH 24 - 33/ 83. 80 Im Herbst 1936 wurden die Führer der SD-Oberabschnitte von Heydrich im Einverständnis mit Himmler zu Inspekteuren der Sicherheitspolizei und des SD ernannt, um vor allem die mangelnde Zusammenarbeit zwischen SD, Gestapo und Kripo zu verbessern. Die IdS, Teil des Macht- und Kompetenzkampfes zwischen dem »Hauptamt Sicherheitspolizei« unter Heydrich und dem »Hauptamt Ordnungspolizei« unter Daluege, entwickelten sich zu mächtigen Gegenspielern der Polizeipräsidenten. Vgl. Höhne (wie Anm. 60), S. 185, 192, 234. <?page no="582"?> im Elsaß, des badischen Gauleiters Robert Wagner, durchzuführen waren. Scheel hielt die Ausweisungen, wie ein ehemaliger Mitarbeiter bezeugte, für ungerecht und unklug, war aber »kein Mann, der sich sagte, ich wende mich gegen die Befehle meiner Chefs.« Doch habe »seine humane Einstellung« seinen Mitarbeitern die Möglichkeit eröffnet, die Ausweisungsaktion durch das Verschwindenlassen der Listen teilweise zu sabotieren. 81 Scheel selbst scheint ein offenes Ohr für die Elsässer gehabt zu haben, die auf seiner Dienststelle erschienen, um Einwendungen gegen die Ausweisung vorzubringen: Er wollte, wie ein Mitarbeiter formulierte, »halt immer den Weihnachtsmann spielen«. Ob tatsächlich auf Scheels Intervention hin wesentlich weniger Elsässer als vorgesehen ausgewiesen wurden, blieb im Spruchkammerverfahren offen. Möglicherweise konnte er »mangels Masse« nicht die vorgeschriebenen Quoten erfüllen, da das Elsaß bei Kriegsbeginn von den Franzosen völlig geräumt worden war und die Bevölkerung nach Beendigung des Westfeldzuges nur langsam zurückkehrte. 82 Scheels hauptamtliche Tätigkeit im SD hat möglicherweise auch den Ausschlag dafür gegeben, daß er am 5. November 1936 vom Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, und dem Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, zum »Reichsstudentenführer« ernannt worden war. 83 Als solcher übernahm Scheel die Leitung des NSDStB und der Deutschen Studentenschaft in Personalunion. 84 Wenn auch für Scheel diese Ernennung nicht so überraschend gekommen sein kann, wie er es vorgab, wird man ihm glauben können, daß die neue Würde ihn bedrückte. 85 Trotz der herzlichen Gratulationen von allen Seiten 86 wußte Scheel genau, daß dieses Amt alles andere als ein »Traumjob« war: Die jahrelangen Konflikte zwischen der Deutschen Studentenschaft und dem NSDStB, vor allem in der Frage Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 581 81 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 30 ff. 82 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 30 ff. 83 Chefbefehl Nr. 1 des Reichsstudentenführers vom 16. November 1936, STAWÜ RSF I 06p 56. Der NSDStB war im Juli 1934 dem Einflußbereich der Reichsjugendführung entzogen und direkt dem »Stellvertreter des Führers« untergeordnet worden. Vgl. Grüttner, Michael, Studenten im Dritten Reich, Paderborn u.a. 1995, S. 89. 84 Die beiden Organisationen existierten offiziell weiter: Die DST erhielt den Charakter einer »betreuten Organisation der NSDAP«, die Reichsstudentenführung wurde zum »Hauptamt der NSDAP« erhoben. Siehe dazu NSDAP Reichsorganisationsleiter Anordnung Nr. 8/ 37 vom 19. April 1937, STAWÜ RSF I 06p 56 und Scheel, Gustav Adolf, Die Reichsstudentenführung, Berlin 1938, S. 10. Die Mitgliedschaft in der DST ergab sich für die Studenten zwangsläufig mit der Einschreibung an einer deutschen Hoch- oder Fachschule. Vgl. das Gesetz über die Bildung der Studentenschaften an den wissenschaftlichen Hochschulen vom 23. April 1935, RGBl I S. 215. 85 Aussage von Scheel, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 17; Scheel hatte wenige Tage vor seiner Ernennung Rust und Heß eine Denkschrift über »Die Neuordnung des deutschen Studententums« unterbreitet und von der Billigung seiner Vorstellungen durch Partei und Ministerium die Übernahme des Amtes abhängig gemacht. Giles (wie Anm. 28), S. 200. 86 So auch von Rektor Groh: »[...] meinem langjährigen treuen und unermüdlichen Mitarbeiter am Aufbau der nationalsozialistischen Hochschule wünsche ich herzlichst Glück zur Arbeit an der großen Aufgabe, die ihm als Führer der deutschen studierenden Jugend gestellt ist«. »Der Heidelberger Student«, 6. November 1936. <?page no="583"?> der Zuständigkeit für die politische Schulung der Studenten und der Kontrolle über die studentischen Verbände, hielten auch nach 1933 an. Ursache dieser Spannungen waren nicht zuletzt Kompetenzstreitereien zwischen dem Reichswissenschaftsministerium und dem Stab von Heß, die ihre eigene Position dadurch zu festigen suchten, daß sie den ihnen jeweils unterstellten Studentenverband nach Möglichkeit stärkten. Hinzu kamen persönliche Rivalitäten zwischen den Führern der beiden Studentenorganisationen und die Machtansprüche von anderen Parteigliederungen, so daß sich die Studentenschaft den widersprüchlichsten Anordnungen von Ministerien, Partei, SA, NSDStB und DST gegenübersah. 87 Die Situation spitzte sich zu, als NSDStB- Führer Albert Derichsweiler nahe daran war, die schon lange von beiden Seiten angestrebte Vereinigung von DST und NSDStB in seiner Hand zu vollenden. Derichsweiler war jedoch wegen seiner rigorosen Gleichschaltungspolitik gegenüber den studentischen Verbänden für weite Teile der Studentenschaft als Reichsstudentenführer unannehmbar. So fiel die Wahl von Rust und Heß, nach Fühlungnahme mit Universitäten und Studentenschaft und offensichtlich auf persönliche Intervention von Himmler, auf Scheel, der im April 1934 in die Reichsführung des NSDStB berufen worden war. 88 Seine Ernennung - Scheel war zu diesem Zeitpunkt schon Leiter des SD-Oberabschnitts Südwest - ließ Befürchtungen aufkommen, daß die Reichsstudentenführung zu einem bloßen Anhängsel der SS degradiert würde. 89 Tatsächlich bemühte sich Himmler in den Aufbaujahren der SS, ganze Organisationen in sein Imperium einzubauen, wenn sie ihm den Zugang zur etablierten Gesellschaft eröffneten. 90 Auch Scheels ehemaliger Mitschüler und sozialdemokratischer Kommilitone Martin Hörz, der nach eigenem Bekunden alle nationalsozialistischen Studentenführer jener Jahre kannte, mutmaßte andere Gründe für Scheels Ernennung als dessen intellektuelle oder soziale Fähigkeiten. 91 Scheel selbst trat in seinem Spruchkammerverfahren der Vermutung, daß er als Reichsstudentenführer nur Himmlerschen Machtansprüchen dienen sollte, natürlich mit Nachdruck entgegen. Er sei nicht durch Himmler Reichsstudentenführer geworden, sondern aufgrund des Vertrauens, das Birgit Arnold 582 87 Vgl. zu der hier skizzierten Entwicklung Giles (wie Anm. 28); Faust, Anselm, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund. Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik Bd. 2, Düsseldorf 1973; Weber, R.G.S., The German Student Corps in the Third Reich, Houndmills u.a. 1986; Grüttner (wie Anm. 83), S. 89 ff. 88 Grüttner (wie Anm. 83), S. 303 ff., Giles (wie Anm. 28), S. 196 ff; BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel. 89 Giles (wie Anm. 28), S. 204; vgl. auch Faust (wie Anm. 87), Bd. 2, S. 132: »Es ist als deutliches Zeichen für die wirklichen Machtverhältnisse im Dritten Reich zu werten, daß im November 1936 mit Gustav Adolf Scheel ein SS-Obersturmbannführer Chef aller deutschen Studenten wurde.« 90 Höhne (wie Anm. 60), S. 129. 91 »[...] ich habe nie begreifen können, wie Scheel zu der zweifelhaften Ehre kam, Reichsleiter des NSDStB zu werden.« Scheel, »der, was Intelligenz, Wissen, Begabung, Rednerfähigkeit, Fähigkeit der Menschenführung etc. betrifft, ein gutes Stück unter dem akademischen Durchschnitt liegen muss.« STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 95 f. <?page no="584"?> ihm die Studentenschaft entgegebracht habe, von Rust und Heß ernannt worden. 92 In einem Schreiben vom Februar 1937 an den Führer des SD-Oberabschnitts Nord hatte Scheel freilich betont, daß er vom Reichsführer SS den Befehl bekommen habe, die Reichsstudentenführung zu übernehmen und »vor allem auch mit den der SS zur Verfügung stehenden Mitteln die Studentenfragen [...] in Ordnung zu bringen«. Zu diesem Zweck setzte Scheel Gebietsbeauftragte ein, die die Arbeit der Studentenschaften überwachen sollten. Im Einverständnis mit Heydrich war er bemüht, für diese Aufgabe SD-Abteilungsleiter zu gewinnen, denen so die Möglichkeit gegeben wurde, »entschieden besser als bisher in die Hochschule hineinzuschauen«. 93 Auch das enge personelle Beziehungsgeflecht, in das Scheel als Mitarbeiter des SD eingebunden war, macht es mehr als wahrscheinlich, daß Himmler sich des jungen Mannes als Werkzeug bedienen wollte: Scheels Mentor Höhn nahm als SD-Abteilungsleiter jahrelang beträchtlichen Einfluß auf das Reichswissenschaftsministerium unter Rust. 94 Die Vermutung ist naheliegend, daß Höhn im Auftrag von Himmler diesen Einfluß auch zugunsten von Scheel geltend gemacht hat. Scheels Hauptaufgabe war aus der Sicht der Parteileitung, zunächst einmal für »Ruhe« zu sorgen, das deutsche Studententum neu zu organisieren und zu befrieden. 95 In den Kreisen, die um die Entwicklung der Universität besorgt waren, wurde Scheels Berufung offensichtlich mit Genugtuung begrüßt, da er als Mann galt, der für die Rechte von Hochschule und Wissenschaft eintrat. 96 »Er vertrat die Interessen der Universität gegen Anfeindungen von radikalen Parteielementen, hatte Sinn für das Leistungsprinzip und trat der Intelligenzfeindlichkeit in hohen Parteikreisen mit Nachdruck entgegen.« 97 So hat Scheel, will man einer Reihe von Äußerungen seiner ehemaligen Mitarbeiter Glauben schenken 98 , die Forschungsinstitution der SS, das »Ahnenerbe«, den Rosenbergschen Plan der »Hohen Schule« und die Forschungs- und Akademieinstitutionen des Luftfahrt- oder Rüstungsministeriums abgelehnt und bekämpft. Er habe sich für die Freiheit der Wissenschaft eingesetzt und gegen die Überschätzung von Zweckforschung gewandt. 99 Doch stellt sich die Frage, ob es sich bei diesen Auseinandersetzungen nicht eher um einen der üblichen Machtkämpfe handelte, mit dem eine Organisation ihren Einflußbereich gegenüber dem Zugriff anderer Parteiinstitutionen abzusichern bemüht war. 100 Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 583 92 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 17, 35. 93 Reichsstudentenführer an Führer des SD-Oberabschnitts Nord, 9. Februar 1937, STAWÜ RSF II 156. 94 Müller, Gerhard, Ernst Krieck und die nationalsozialistische Wissenschaftsreform. Motive und Tendenzen einer Wissenschaftslehre und Hochschulreform im Dritten Reich, Weinheim, Basel 1978, S. 118. 95 Vgl. »Die Bewegung«, 11. November 1936. 96 Eidesstattl. Erklärung von Dr. K. Lang, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 3. 97 Aussage von Prof. Stickl, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1e/ 8. 98 Vgl. die diesbezüglichen eidesstattlichen Erklärungen, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 3, 4, 8 - 10, 18, 41, 91, Bd. 10/ 13. 99 Eidesstattliche Erklärung von Dr. K. Lang, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 3. 100 Vgl. dazu Giles (wie Anm. 28), S. 210. So mußte für Scheel als Führer einer »schwachen« Partei- <?page no="585"?> Scheels öffentliche Verlautbarungen zu dieser Frage hinterlassen einen zwiespältigen Eindruck. In einer Bilanz über das erste Jahr seiner Tätigkeit als Reichsstudentenführer sprach sich Scheel in der Tat mit Nachdruck für das Leistungsprinzip aus und verteidigte die Hochschule als Stätte der Wissensvermittlung und Forschung. 101 Scheel begründete seine Haltung mit dem Hinweis, »daß der Vierjahresplan und die deutsche Zukunft auf keinen Kopf verzichten können, der wissenschaftlich, das heißt selbständig forschend [Hervorhebungen im Original] zu arbeiten versteht.« 102 Der 1936 verkündete Vierjahresplan steigerte den Bedarf an Naturwissenschaftlern und Technikern erheblich, während sich Mitte der 30er Jahre durch einen deutlichen Rückgang der Studentenzahlen ein Mangel an qualifizierten Akademikern abzeichnete. Dadurch wurde die politische Zuverlässigkeit zunehmend zweitrangig, und Scheels Haltung entsprach einer weit verbreiteten Einsicht in den engen Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Qualifikation und geistigem Freiraum, die sich auch auf die Berufungspraxis auswirkte. 103 Ein halbes Jahr später hingegen forderte Scheel, daß »der Student nicht nur zu einem Höchstmaß von Wissen, sondern auch vor allem zu Charakter und Persönlichkeit« erzogen werden müsse. »Die nationalsozialistische Hochschule muß eine nach diesen Gesichtspunkten hin ausgebaute Stätte der Erziehung [Hervorhebungen im Original] und nicht wie die alten Universitäten der Wissensvermittlung allein sein.« 104 1939 schließlich betonte Scheel vor Berliner Studenten, daß »bisher absolute Wahrheitsbegriffe wie Geist und Bildung« einer grundsätzlichen Korrektur unterzogen werden müßten. Die Wertschätzung und die Stellung des Akademikers bestimmten sich ausschließlich danach, »wie er sich als Nationalsozialist bewähre und was er an bleibenden Leistungen für die Gesamtheit vollbringe«, wenn auch ein gutes Fachwissen weiterhin notwendig sei. 105 Hatte sich bei Scheel ein Sinneswandel vollzogen oder müssen diese Äußerungen als ideologische Lippenbekenntnisse verstanden werden? In den Fällen jedenfalls, in denen Scheel direkt auf personalpolitische Entscheidungen im Hochschulbereich Einfluß zu nehmen suchte, erwies er sich Birgit Arnold 584 dienststelle das Vorhaben Rosenbergs, von Hitler ein Mitspracherecht bei dem Erlaß von Gesetzen, Verordnungen und grundsätzlichen Maßnahmen erzieherischen und weltanschaulichen Inhalts zu erhalten, höchst besorgniserregend sein. Vgl. Bollmus, Reinhard, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 128 ff. 101 »Nach dem fanatischen Willen von Dr. Scheel soll in Zukunft auf den Hochschulen einzig und allein das Leistungsprinzip [Hervorhebung im Original] gelten [...] Auch bei dieser Gelegenheit wieder bekannte sich der Reichsstudentenführer fanatisch zu den Aufgaben der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Arbeit, und zwar gerade der, wie sie die alte universitas verkörperte.« »NS-Kurier«, 8. November 1937, Stuttgarter Ausgabe, S. 2. 102 »NS-Kurier«, 8. November 1937, Stuttgarter Ausgabe, S. 2. 103 Giles (wie Anm. 28), S. 320 f.; Vézina (wie Anm. 36), S. 172. In Heidelberg waren z.B. nach 1934 Berufungen wegen wissenschaftlicher Verdienste eher die Regel als die Ausnahme. Wolgast (wie Anm. 41), S. 50. 104 »NS-Kurier«, 27. Juni 1938, Stuttgarter Ausgabe, S. 2. 105 »NS-Kurier«, 15. Juni 1939, Stuttgarter Ausgabe, S. 2. <?page no="586"?> stets als Ideologe, dem es allein auf die politische Haltung der Bewerber ankam. 106 Auch sein Handeln in der Folgezeit macht deutlich, daß er nicht bereit war, seinen Anspruch auf die politische Erziehung der Studentenschaft zu reduzieren. Als Reichsstudentenführer richtete Scheel zunächst sein Augenmerk auf den Ausbau der »Kameradschaften«. Ziel dieser Erziehungs- und Lebensgemeinschaften für die Anfangssemester sollte es sein, den Studenten zu befähigen, »alle seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zu entwickeln und in den Dienst der großen und zeitlosen völkischen Aufgaben zu stellen.« 107 Dabei griff Scheel einige Elemente des alten studentischen Verbandslebens wieder auf, wie ein bestimmtes Aufnahmeritual, den Erlaß einer Ehrenordnung, die zur Genugtuung mit der blanken Waffe verpflichtete, und die Unterscheidung zwischen Jung- und Altkameraden. 108 Doch nicht die alte akademische Freiheit sollte wiederbelebt werden, sondern Gehorsam und Unterordnung, Zucht und Dienst waren die Vorgaben; nicht »bierehrliche Stichfestigkeit« wurde verlangt, sondern »schlank wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl« sollte der neue Student werden. 109 Das Verbindungsleben sollte nicht erneuert 110 , sondern die Kameradschaften den Studenten »schmackhafter« gemacht werden. Doch das Problem war nicht nur, den Kameradschaften neue Mitglieder zuzuführen, sondern ihr Interesse am Kameradschaftsleben wachzuhalten. Nach Hitler-Jugend-, Arbeits- und Wehrdienst sehnte sich die studentische Jugend nach Freiräumen ohne ideologische Indoktrination. So war es vor allem die politische Schulung, die die Kameradschaften für viele Studenten uninteressant machte. 111 Das größte Hindernis, das Scheels Ziel der »Schaffung und Erziehung einer fachlich hochstehenden und weltanschaulich zuverlässigen zukünftigen geistigen Führerschicht für Volk und Staat« 112 entgegenstand, war das Desinteresse und die Gleichgültigkeit der Studentenschaft. 113 Hinzu kam, daß mit Kriegsbeginn die Studentenschaft sich mehr Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 585 106 Grüttner (wie Anm. 83), S. 98. 107 Scheel (wie Anm. 84), S. 11; zu Entstehung und Entwicklung der »Kameradschaften« vgl. Grüttner (wie Anm. 83), S. 260 ff., 317 ff. 108 Scheel (wie Anm. 84), S. 14, 16 f. 109 Scheel (wie Anm. 84), S. 12, 15 mit Zitat von Hitler aus dem Jahr 1927. 110 Aufgrund der gemeinsamen ideologischen Basis von antidemokratischen und antisemitischen Ressentiments hatten die Korporationen am Sieg der »nationalen Bewegung« an den Hochschulen beträchtlichen Anteil, doch wurden sie schnell mit dem allumfassenden Machtanspruch der Partei und des NSDStB konfrontiert. Alle Bemühungen zur Erhaltung der Selbständigkeit der Verbände, auch die Erfüllung nationalsozialistischer Forderungen wie Einführung des Führerprinzips und Durchsetzung des Arierparagraphen, scheiterten: Die Korporationsverbände lösten sich 1935 auf, kurze Zeit später folgten die Einzelverbindungen. Zu der hier skizzierten Entwicklung ausführlich Grüttner (wie Anm. 83), S. 287 ff. 111 Giles (wie Anm. 28), S. 317 f.; vgl. dort auch Tabelle 6, S. 215. So klagten viele örtliche Studentenführer über Kommilitonen, die nur dem Namen nach Mitglied einer Kameradschaft waren. Vgl. Weber (wie Anm. 87), S. 154. 112 Scheel (wie Anm. 84), S. 9. 113 Giles (wie Anm. 28), S. 325 f.; Wolgast (wie Anm. 35), S. 31 f. <?page no="587"?> und mehr aus beurlaubten Frontsoldaten zusammensetzte, die nach ihren Erfahrungen keine Neigung hatten, sich von Zivilisten über das Kämpfen und Sterben fürs Vaterland belehren zu lassen. Sie hatten an der Front echte Kameradschaft erlebt und waren deshalb mit den hochtrabenden politischen Theorien der Parteidoktrinäre nicht mehr zu beeindrucken. Außerdem unterstanden die zum Studium abkommandierten Soldaten der Disziplinargewalt der Wehrmacht. Sie konnten also nicht zur Teilnahme an Veranstaltungen und Einsätzen des NSDStB gezwungen werden. 114 Große Probleme bereitete der Reichsstudentenführung auch die chronische Funktionärsknappheit, die nach Kriegsbeginn mit dem Einzug oder der freiwilligen Meldung eines Großteils der Studentenführer zum Wehrdienst einsetzte. Der Mangel an politisch zuverlässigen und einsatzbereiten Funktionären trug entscheidend dazu bei, den Zugriff des NSDStB auf die Studentenschaft zu lockern. 115 Wenn sich auf diesem Hintergrund die Kameradschaften in ihrer äußeren Organisation und in ihrem Brauchtum mehr und mehr an dem früheren Verbindungsleben orientierten, so war das nicht die Folge von Scheels vermeintlicher grundlegender Sympathie für das alte Korporationswesen und seine wertvollen Traditionen. 116 Vielmehr zeigte sich hier mit aller Deutlichkeit, daß das Erziehungsmodell »Kameradschaft« gescheitert war: Politische Indoktrination, gegebenenfalls unter Druck oder gar Zwang, konnte nicht das alte Verbindungsleben ersetzen. Dieses war zwar keineswegs politikfrei gewesen. Doch wurden hier politische Inhalte, in bestimmte Rituale und Verhaltensformen gekleidet, im Zusammenleben von Aktiven und Altherrenschaften weitergegeben und so eine kleine geistige und politische Elite herangezogen. Diesem alten »Erziehungsmodell« hatte der NSDStB auf Dauer nichts entgegenzusetzen, sondern glich sich ihm, je länger, je mehr, an. 117 An dieser Entwicklung hatten die »Altherrenschaften«, die auch nach Auflösung der einzelnen Verbindungen weiterbestanden und über beträchtliche Vermögenswerte verfügten, einen wesentlichen Anteil. Scheel war sich der großen Bedeutung der Altherrenschaften bewußt: Sie waren nicht nur eine unentbehrliche Finanzquelle, sondern auch ein wichtiges Bindeglied zwischen den einzelnen Studentengenerationen. Er versuchte deshalb, mit Hilfe der »NS-Studentenkampfhilfe« die Alther- Birgit Arnold 586 114 Weber (wie Anm. 87), S. 155; Kleinberger, Aharon F., Gab es eine nationalsozialistische Hochschulpolitik? , in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich Teil 2, hrsg. v. M. Heinemann (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 4,2), Stuttgart 1980, S. 9 - 30, hier S. 24; Grüttner (wie Anm. 83), S. 361 ff., 400 ff.; vgl. auch Roegele, Otto B., Student im Dritten Reich, in: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München 1966, S. 165: »Die Armee war daran interessiert, daß wir ein möglichst effektives Studium betreiben konnten. [...] Noch mehr hielt sie aber parteipolitische Inanspruchnahme von uns fern und ermöglichte manchem, der nicht systemkonform war [...], ein Durchkommen.« 115 Grüttner (wie Anm. 83), S. 397, 402. 116 Vgl. die eidesstattlichen Erklärungen, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 96, 99, 104, Bd. 1e/ 7. 117 Grüttner (wie Anm. 83), S. 402 ff.; Giles (wie Anm. 28), S. 316 f., 323 f.; Weber (wie Anm. 87), S. 156 ff. <?page no="588"?> renschaften in sein Erziehungskonzept zu integrieren. Diese am 14. März 1931 von Hitler zur Unterstützung des NSDStB gegründete Organisation wurde im Mai 1937 zum einzigen, von der NSDAP anerkannten Altherrenbund der Fach- und Hochschulstudenten erhoben. 118 Seit dem April 1938 stand die jetzt »NS-Altherrenbund« genannte Studentenkampfhilfe ebenfalls unter der Leitung des Reichsstudentenführers. 119 Der Altherrenbund sollte die Kameradschaften nicht nur materiell, sondern auch ideell unterstützen: »Erst dann, wenn es gelungen ist, nationalsozialistische Studenten zu erziehen, ist die Gewähr dafür gegeben, daß dereinst an den Stätten des Wissens und der Forschung Nationalsozialisten Wissenschaft lehren. Es ist vornehmste Aufgabe der deutschen Alten Herren, [...] zu helfen, dieses Ziel zu erreichen.« 120 Mit der Würdigung der alten studentischen Ideale »Ehre, Freiheit, Vaterland, Einigkeit, Recht und Freiheit«, die durch die »Erziehungsarbeit« des Nationalsozialismus zum »Bekenntnis des ganzen deutschen Volkes geworden« seien, versuchte Scheel, den Altherrenschaften eine ideologische Brücke in die »Jetztzeit« zu bauen. 121 Doch die geforderte Unterstützung wurde zunächst nur zögernd 122 und nach 1938 nur um den Preis gewährt, daß Scheel das Eigenleben der Altherrenschaften, die sich dem »NS-Altherrenbund« anschlossen, offensichtlich kaum antastete und ihnen auch bei der Betreuung der Kameradschaften weitgehend freie Hand ließ. 123 Das Ergebnis war die oben skizzierte Entwicklung der Kameradschaften mit der Reaktivierung alter studentischer Lebensformen. Die katholischen Studenten- und Altherrenverbände wurden 1938 aufgrund eines Erlasses von Himmler durch die Gestapo aufgelöst. 124 Auch diese Vorgänge werfen ein Schlaglicht auf die engen Beziehungen zwischen Himmlers Herrschaftsapparat und der Reichsstudentenführung. Scheel beteuerte nach dem Krieg, daß die Gestapo ohne sein Zutun und ohne Rücksprache mit ihm gegen die Verbände vorgegangen sei. Er habe sich lediglich bemüht, das Vermögen der Verbände für »Hochschulzwekke« zu retten und zu verhindern, daß es in die Hände anderer Parteiorganisationen fiel. 125 In Wirklichkeit nutzte Scheel den ersten »Großdeutschen Studententag« in Heidelberg, um Himmlers Verbot zu verkünden und unter »stürmischem Beifall« mit »scharfen Worten« mit den katholischen Verbänden »abzurechnen«. 126 Scheel Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 587 118 Giles (wie Anm. 28), S. 221; Scheel (wie Anm. 75), S. 19. 119 Scheel (wie Anm. 84), S. 33. 120 Scheel (wie Anm. 84), S. 34. 121 Scheel (wie Anm. 75), S. 8, 13 ff.; vgl. auch den Bericht über die Kundgebung des NSDStB am 19. November 1937 in Stuttgart, in: »NS-Kurier«, 20. November 1937, Stuttgarter Ausgabe, S. 1 f. 122 Im November 1937 hatte die »NS-Studentenkampfhilfe« 15.664 Mitglieder gegenüber rund 175.000 »Alten Herren« der Verbindungen. Siehe Grüttner (wie Anm. 83), S. 321. 123 Vgl. die eidesstattlichen Erklärungen, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 95 f. 124 Erlaß des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei und des Geheimen Staatspolizeiamtes vom 20. Juni 1938, zit. in Leiter des Verfassungsausschusses der Reichsstudentenführung an die Bereichsführer des Reichsstudentenführers, 29. Juni 1938, GLA 465d/ 1018. 125 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 10/ 15. 126 »Katholische Studentenverbände aufgelöst«, in: »NS-Kurier«, 24. Juni 1938, Stuttgarter Ausgabe, S. 1. <?page no="589"?> beauftragte einen Abteilungsleiter der Reichsstudentenführung damit, alle sich aus Himmlers Erlaß ergebenden Fragen zu bearbeiten. Die vermögensrechtliche Liquidation wurde nicht, wie Scheels Darstellung suggerierte, gegen, sondern in engster Zusammenarbeit mit der Gestapo durchgeführt. Ein Erlaß an die Staatspolizeileitstellen regelte die Modalitäten der Vermögensauflösung. Danach sollten gütliche Verhandlungen zwischen den örtlichen NSDStB-Vertretern und den Altherrenverbänden mit dem Ziel aufgenommen werden, deren gesamten Vermögensbestand dem NSDStB zur Verfügung zu stellen. Bei einem Scheitern der Verhandlungen war die Gestapo befugt, die Vermögenswerte als staatsfeindliches Vermögen einzuziehen, wobei sich Scheel in jedem Einzelfall das endgültige Entscheidungsrecht vorbehielt. 127 Auch andere Vorhaben versuchte Scheel mit Hilfe des Polizeiapparates durchzusetzen. Die Heranziehung von Studenten zur Erntehilfe, der Versuch der Einführung einer generellen Dienstpflicht und der Kriegseinsatz von Studenten in den verschiedensten Lebensbereichen stießen oft auf den passiven, in einigen Fällen auch aktiven Widerstand der Betroffenen, den der Reichsstudentenführer mit dem angedrohten oder tatsächlichen Einsatz der Gestapo zu brechen bemüht war. 128 Widerstand erwuchs Scheel auch von seiten des Reichswissenschaftsministeriums, das im Hinblick auf den akademischen Nachwuchsmangel versuchte, die politische Inanspruchnahme der Studenten zugunsten der fachlichen und wissenschaftlichen Qualifikation nach Möglichkeit zu reduzieren. Reichswissenschaftsminister Rust galt allgemein als schwache und labile Persönlichkeit mit mangelnder Entschlußfreudigkeit und geringem Durchsetzungsvermögen und kümmerte sich zudem wenig um Hochschulpolitik. 129 Scheel hingegen erfreute sich der wohlwollenden Unterstützung durch den Stab Heß und wurde in der Parteikanzlei als einer der fähigen Nachwuchskräfte der NSDAP betrachtet. Die Beamten des Reichswissenschaftsministeriums beobachteten daher die Verlagerung der hochschulpolitischen Kräfteverhältnisse zugunsten der Reichsstudentenführung mit großer Sorge. 130 Dennoch oder gerade deshalb gelang es Scheel nicht, den von ihm immer wieder angestrebten umfassenden politischen Zugriff auf die Studenten zu realisieren. So war es vor allem der Widerstand aus dem Reichswissenschaftsministerium, der Scheel hinderte, Kameradschaftserziehung und Mitgliedschaft im NSDStB für alle Studenten verpflichtend zu machen. 131 So versuchte er, mit anderen Mitteln sein Erziehungskonzept Birgit Arnold 588 127 Erlaß des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei und des Geheimen Staatspolizeiamtes vom 20. Juni 1938, zit. in Leiter des Verfassungsausschusses der Reichsstudentenführung an die Bereichsführer des Reichsstudentenführers, 29. Juni 1938, GLA 465d/ 1018. 128 Grüttner (wie Anm. 83), S. 344 ff., 374 f., 378 ff. 129 Goebbels bezeichnete in seinen Tagebüchern das Ministerium als »Saustall erster Klasse« und seinen Ministerkollegen als »absoluten Hohlkopf« und »nicht ganz zurechnungsfähig«. Vgl. Grüttner (wie Anm. 83), S. 87 f. 130 Grüttner (wie Anm. 83), S. 95 f. 131 Giles (wie Anm. 28), S. 318 f. <?page no="590"?> durchzusetzen. Zwar wurde formal der Grundsatz der Freiwilligkeit aufrecht erhalten, doch durch die Verfahrensweise ein nicht unerheblicher Druck auf die Studenten ausgeübt. 132 Ein wichtiges Kontrollmittel war auch der »Stammschulerlaß«, der auf Verlangen Scheels 1937 vom Reichswissenschaftsminister erlassen wurde. Er erlaubte den Studenten erst nach drei Semestern, an eine andere Universität zu wechseln und gewährleistete so eine bessere Erfassung der Studenten, doch wurde dieser Erlaß unmittelbar nach Beginn des Krieges wieder aufgehoben. 133 Auch die von Scheel gewünschte Vollmacht, politisch mißliebige Studenten vom Studium ausschließen zu können, und sein 1939 gestarteter Versuch, für Abiturienten den Zugang zum Hochschulstudium von der Zustimmung des Gaustudentenführers und Gauleiters abhängig zu machen, ließen sich nicht durchsetzen, wobei im letztgenannten Fall sogar die Parteikanzlei ihr Veto erklärte. 134 Auch im Rahmen der Reichsstudentenführung arrondierte Scheel seinen Einflußbereich: Nach jahrelangem Tauziehen übernahm Scheel 1938 mit Hilfe des Stabes Heß vom Reichswissenschaftsministerium die Leitung des Reichsstudentenwerks. 135 Schon in seiner Heidelberger Zeit hatte Scheel dafür plädiert, die Universität zur »wahren Volkshochschule« umzubauen, in der die Jugend aller Schichten gefördert werden sollte. 136 Nach den Bekundungen eines Mitarbeiters der Reichsstudentenführung hatte Scheel zu einer Gruppe von Studenten gehört, die durch den Gedanken der »sozialen Volksgemeinschaft« und hier insbesondere durch die sozialistischen Parolen Gregor Strassers für die Parteiarbeit gewonnen wurden. 137 Dieser sozialrevolutionäre Impetus, das Bemühen, die Kluft zur Arbeiterklasse zu schließen, scheint für Scheel auch weiterhin bestimmend gewesen zu sein, denn noch 1941 plädierte er für »die Durchsetzung des totalen Sozialismus auf der Hochschule« als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die »nationalsozialistische Revolution.« 138 Dementsprechend wurde ein Schwerpunkt seiner Tätigkeit im Reichsstudentenwerk das sog. »Langemarckstudium«. Diese schon seit 1934 existierende Vorstudienförderung, die unbemittelten begabten jungen Menschen ohne Abitur ein Freistudium ermöglichte, wurde von Scheel weiter ausgebaut. 139 Doch auch auf diesem Gebiet blieb ihm ein durchschla- Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 589 132 Zusammen mit den Immatrikulationspapieren wurde dem Studenten ein Aufnahmeformular zum NSDStB ausgehändigt. Trat er dem Studentenbund nicht bei, hatte er seine Weigerung schriftlich und in einem anschließenden Gespräch auch mündlich dem örtlichen Studentenführer zu begründen. Vgl. Richtlinien für die Kameradschaftserziehung des NSDStB, hrsg. von der Reichsstudentenführung, zit. bei Roegele (wie Anm. 114), S. 147, Anm. 16. 133 Grüttner (wie Anm. 83), S. 323, 402. 134 Grüttner (wie Anm. 83), S. 243. 135 Grüttner (wie Anm. 83), S. 96. 136 Müller (wie Anm. 94), S. 116. 137 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 10. 138 Reichsstudentenführer Dr. G. A. Scheel, »Arbeitsjahr 1941«, BA, Abt. III (BDC), PK Scheel, Gustav Adolf. 139 Zum »Langemarckstudium« vgl. Grüttner (wie Anm. 83), S. 149 ff. <?page no="591"?> gender Erfolg versagt. Zwar soll er »Tausenden von ›Bettelstudenten‹ das Studium vermittelt« haben 140 , doch die Akten sprechen eine andere Sprache: Für das Haushaltsjahr 1939 forderte Scheel die Mittel für die Ausbildung von 200 Studenten; die reichsweiten Ausgaben für das »Langemarckstudium« betrugen 1938 nur 140.000 RM. 141 Diese bescheidenen Erfolge lasen sich in Scheels Worten natürlich ganz anders: So betonte er in einer Vorausschau auf das »Arbeitsjahr 1941«, daß das Langemarckstudium trotz des Krieges »vergrößert, ja verdreifacht worden« sei und »in absehbarer Zeit die Langemarckstudenten eine bedeutende Zahl innerhalb der Studenten auf der Hochschule überhaupt stellen werden.« 142 Doch trotz der »ungeheure[n] Vergrößerung und Erweiterung der sozialen Maßnahmen des Reichsstudentenwerks« kam Scheel nicht umhin, zuzugeben, daß »die nationalsozialistische Revolution auf der Hochschule noch nicht beendet ist«, daß ihre Durchsetzung vielmehr noch »besonderer Anstrengungen und Leistungen« bedürfe. 143 Der Ausbau des Langemarckstudiums fungierte gleichsam als »Feigenblatt«, mit dem Scheel nur mit Mühe das Scheitern seiner Bemühungen um die »Erziehung des deutschen Studenten zum starken und tüchtigen, ehrbewußten und charaktervollen deutschen Mann [...] bereit zum selbstlosen Dienst an Volk und Staat« verdecken konnte. 144 Noch 1943 hieß es von der »studentischen Bewegung«, daß sie »durch ihre Aktivität innerhalb der grossen nationalsozialistischen Bewegung einer der einsatzfähigsten Faktoren im Kampf um unsere Weltanschauung werden w i r d.« 145 Dieser Blick in die Zukunft war bei der üblichen Diktion nationalsozialistischer Erfolgsmeldungen eine bemerkenswerte und aufschlußreiche Formulierung. Bei Scheel bekamen die Bemühungen um die Verwirklichung der »sozialen Volksgemeinschaft« eine besondere Note, wenn er ihre Notwendigkeit in jungen Jahren mit einem Bibelzitat betonte. 146 Hier wird wohl der Einfluß seines protestantischen Elternhauses greifbar, der möglicherweise zeitlebens für den Pfarrerssohn bestimmend blieb. So hieß es von Scheel, daß er evangelisch-kirchlichen Kreisen »wohlgesinnt« war und auch später »in seinen polizeilichen Funktionen [...] die kirchlichen Belange schonte.« 147 Auch im SD wußte man, »daß Herr Dr. Scheel dem Christentum und der Kirche wohl gesinnt war«. 148 In Scheels Verteidigungsstrategie spielten diese Aussagen zu seinen Gunsten natürlich eine wichtige Rolle. Es stellt sich Birgit Arnold 590 140 Eidesstattliche Erklärung von Dr. Hornung, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 42. 141 Giles (wie Anm. 28), S.243 f., und Anm.130. 142 Scheel (wie Anm. 138). 143 Scheel (wie Anm. 138). 144 Lebenslauf vom 27. Mai 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Scheel Dr., Gustav Adolf. 145 Ebd. [Hervorhebung von der Verfasserin]. 146 So schrieb er 1934: »Der wahre Sozialismus ist das Christuswort: ›Siehe ich bin bei euch alle Tage.‹ [...] die Arbeit am kleinsten Manne, der rein äußerlich für das Leben des Staates gar keine Bedeutung hat, ist die Pflicht des einzigen Sozialismus, den wir vorläufig Studierenden augenblicklich erfüllen können.« Siehe Müller (wie Anm. 94), Anm. 491. 147 Aussage eines ehemaligen Pfarrers, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 30. 148 Aussage eine ehemaligen SD-Mitarbeiters, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 49. <?page no="592"?> allerdings die Frage, wie Scheel diese prokirchliche Haltung mit seinen Amtspflichten als hauptamtlicher SD-Mitarbeiter vereinbaren konnte. Mindestens bis Ende der 30er Jahre bildete die »Gegnererfassung« und »Gegnerbekämpfung« in Zusammenarbeit mit der Gestapo als polizeilicher Exekutive die Hauptaufgabe des SD. So stand z.B. im Mittelpunkt des ersten Lehrganges der von Scheel geleiteten SD-Schule die Unterrichtung über die »Gegner« Separatismus, Katholische Aktion, Evangelische Kirche, Freimaurer und Judentum. 149 Auch in den Arbeitsanweisungen, die der SD-Oberabschnitt Südwest unter Scheels Leitung 1937/ 38 an SD-Berichterstatter herausgab, spielte die Beobachtung der Kirche eine wichtige Rolle. 150 Unter der Führung Heydrichs, in dem sich die »Technologie nacktester Staatsräson« verkörperte, dessen »Gott die Macht um ihrer selbst willen« war, wuchs eine Generation von unsentimentalen SS-Technokraten heran, die die Führerdiktatur mit jeder gewünschten formalrechtlichen oder organisatorischen Formel bediente. 151 Es gab für diese jungen Menschen keine allgemein verbindlichen Normen mehr. So formulierte Dr. Werner Best 1930: »Der Kampf ist das Notwendige, Ewige, die Kampfziele sind zeitbedingt und wechseln. [...] So bleibt als Maß der Sittlichkeit nicht ein Inhalt, nicht ein Was, sondern das Wie, die Form.« 152 Die Macht, das Herrschen an sich wurde zur neuen ethischen Norm einer selbsternannten Elite, die nur einen Bezugspunkt kannte, den charismatischen Führer. 153 Für Scheel, die »farblose, im Grunde subalterne Natur«, die auch in der Uniform eines »höheren SS-Bonzen« auf seinen ehemaligen Mitschüler und Kommilitonen »etwas verlegen, bieder und anständig« wirkte 154 , muß es einen unwiderstehlichen Reiz gehabt haben, zu dieser Machtelite zu gehören. Hier konnte Scheel seine Unterwerfungsbereitschaft ausleben, die ihn, wie ein Mitarbeiter formulierte, »im guten Glauben an die von ihm vertretene Sache absolut an die Weisungen der Reichsregierung« band und als »leidenschaftlichen Nationalsozialisten« alles in Bewegung setzten ließ, um dieser Ideologie zum Durchbruch zu verhelfen. 155 Auf der anderen Seite fand hier sein starker Geltungstrieb ein weites Betätigungsfeld: Scheel, »ein kleiner Spießer, aber nicht bösartig« 156 , er, der immer gern »den Weihnachtsmann« spielte, konnte seine Macht auch darin genußvoll erleben, daß er »Gnade« gewährte. Verfügte Scheel tatsächlich über soviel Charakterstärke, daß er auch in der kalten Welt des Machttechnikers Heydrich sein Verhalten nach Maßstäben ausrich- Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 591 149 Boberach (wie Anm. 71), S. 13. 150 Vgl. dazu Boberach (wie Anm. 71), S. 22. 151 Höhne (wie Anm. 60), S. 154, 128. 152 Zit. bei Höhne (wie Anm. 60), S. 149. 153 Höhne (wie Anm. 60), S. 197. 154 Martin Hörz, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 96. 155 STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 6/ 60, Bd. 10/ 3. 156 Aussagen von Prof. Andreas und Prof. Hoffmann, STALB EL 903, Nr. I/ 75/ 5321 Bd. 1a/ 52, Bd. 10/ 10. <?page no="593"?> tete, die ihm sein Elternhaus mitgegeben hatte? Oder war am Ende der Zwiespalt für Scheel zwischen seiner politischen und beruflichen Existenz und seiner Prägung durch das Elternhaus gar nicht so groß? Die Evangelische Diakonie legte ja zunächst »immer wieder freudige Bekenntnisse zum nationalsozialistischen Staat« ab und beteiligte sich am »Aufbau des großdeutschen Reiches«. 157 Auch das Diakonissenmutterhaus Mannheim hielt sich hier nicht abseits: In der Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Hauses ist zu lesen, daß »das große nationale Geschehen in unserm Volk Anfang 1933 [...] auch im Mutterhaus einen starken Widerhall fand.« »Nicht oberflächliche Begeisterung rief die Diakonie auf den Plan zur Mitarbeit an den gewaltigen Aufgaben der Gegenwart, sondern das Bewußtsein der Verantwortung unserm Volk gegenüber, zumal ein seltener Gleichklang zwischen unseren diakonischen Grundsätzen und den neuen Bestrebungen besteht.« 158 So fehlte unter den Gästen des Jubiläums »auch das braune Hitlerkleid nicht«, »wehten vom Mutterhaus [auch] die Hoheitszeichen des dritten Reiches herab«, wurden in den Schwesternlehrkursen des Hauses neben den biblischen und diakonischen Fächern auch Kenntnisse in »Rassenkunde« und »Erbgesundheitslehre« vermittelt. 159 Am 18. November 1941 wurde Scheel von Hitler zum Gauleiter und Reichsstatthalter des Gaues Salzburg ernannt 160 , was zur Folge hatte, daß ihn Himmler von seinem Amt als Höherer SS- und Polizeiführer des SS-Oberabschnitts Alpenland entband. 161 Scheel fiel der Abschied von der hauptamtlichen SS-Tätigkeit offensichtlich sehr schwer, denn in einer Ergebenheitsadresse an Himmler bat er den Reichsführer, »die Versicherung entgegenzunehmen, dass ich mich auch als Gauleiter und Reichsstatthalter von Salzburg voll und ganz als Ihr Gefolgsmann fühlen werde. Ich bin überzeugt, dass man in mir in erster Linie den SS-Mann sehen wird und [...] gelobe Ihnen, Reichsführer, mein Amt anständig zu führen und bitte Sie von ganzem Herzen mir behilflich zu sein und mit Kritik und Weisungen nicht zu sparen.« 162 Scheel erwarb sich bei seiner Amtsführung in Salzburg in mancherlei Hinsicht auch Verdienste, denn immerhin sah sich der Landeshauptmann veranlaßt, dem ehemaligen Gauleiter zu seinem 70. Geburtstag am 22. November 1977 ein Glückwunschschreiben zu senden. Und auch der Fürsterzbischof dankte Scheel 1972 in einer Ansprache auf dem Domplatz noch einmal für seine Bemühungen um die Stadt. Der Landesrat der Salzburger Landesregierung schließlich kondolierte der Witwe Scheels im April 1979 mit der Versicherung, daß Scheel sehr viel für Salzburg und Birgit Arnold 592 157 Vgl. die Belege bei Klee, Ernst, »Die SA Jesu Christi«. Die Kirche im Banne Hitlers, Frankfurt/ Main 1989; dort auch die Zitate S. 76, 122. 158 Diakonissenmutterhaus Mannheim 1884 - 1934. Fünfzig Jahre Diakonissendienst. Festschrift zum 50jährigen Jubiläum [Mannheim 1934], S. 45. 159 Blätter für weibliche Diakonie. Aus dem Diakonissen-Mutterhaus Mannheim, 41. Jahrgang, Sept.-Okt. 1934, hrsg. von Pfarrer W. Scheel, S. 24 f., 29. 160 Lebenslauf vom 27. Mai 1943, BA, Abt. III (BDC), PK Scheel Dr., Gustav Adolf. 161 BA, Abt.III (BDC), PK Scheel Dr., Gustav Adolf. 162 Scheel an Himmler, 19. November 1941, BA, Abt. III (BDC), SSO Dr. Gustav Adolf Scheel. <?page no="594"?> seine Bevölkerung geleistet und in der Stadt »Geschichte gemacht« habe. 163 Hintergrund dieser positiven Würdigungen war vor allem, daß Scheel den Bau von Luftschutzstollen vorangetrieben und entgegen seinem Gelöbnis, »Wächter über die Reinheit der nationalsozialistischen Idee und den entschlossenen Kampfeswillen zu sein« 164 , bei Kriegsende die kampflose Übergabe der Stadt an die Amerikaner durchgesetzt hatte. Aber vielleicht war die Triebfeder für diese Bemühungen des Gauleiters weniger die Sorge um seine »Landeskinder« als vielmehr um das eigene Wohl: Den nahen Zusammbruch des Regimes vor Augen, erschien es zwingend notwendig, »Pluspunkte« für die Zeit danach zu sammeln, wollte Scheel nicht auch untergehen. Auch die Weiterführung der Salzburger Festspiele wurde dem Gauleiter hoch angerechnet: In der Residenz fanden just zur Zeit der Festspiele auf Einladung Scheels die Rektorenkonferenzen 1942 und 1943 statt, die mit ihrem »ausgezeichneten Beiprogramm« und der »reichlichen Bewirtung« alles Bisherige in den Schatten stellten. Der altgediente Studentenführer wußte natürlich, was er den Herren Professoren schuldig war und konnte wieder einmal seine Renommiersucht in vollen Zügen ausleben. 165 Hitler hatte mehrfach mit dem Gedanken gespielt, Rust zu entlassen, doch seine sentimentale Anhänglichkeit gegenüber den alten Kumpanen aus der »Kampfzeit« sorgte dafür, daß der allseits verachtete Reichswissenschaftsminister bis 1945 auf seinem Posten bleiben konnte. Scheel, der im Juni 1944 auch noch die Führung des NS-Dozentenbundes übernahm und damit bei Kriegsende wohl der einflußreichste Hochschulpolitiker war, wartete vergeblich darauf, Rust beerben zu können. Erst in seinem Testament vom 29. April 1945 versah Hitler den Reichsstudentenführer mit dem Amt des Reichskultusministers unter der Regierung Dönitz. 166 Scheel stellte sich Mitte Mai 1945 freiwillig den Amerikanern. Nach dreijähriger Internierungshaft in verschiedenen Lagern und Gefängnissen wurde er von der Heidelberger Spruchkammer als »Hauptschuldiger«, im Berufungsverfahren der Zentralspruchkammer Nordwürttemberg als »Belasteter« eingestuft. Scheel arbeitete 1949 zunächst als Arzt in einem Hamburger Krankenhaus; später eröffnete er eine eigene Praxis. Im Jahre 1953 ging sein Name im Zusammenhang mit dem »Naumann- Kreis« noch einmal durch die Presse: Zusammen mit sieben Angehörigen dieser Gruppe, darunter der ehemalige Hamburger Gauleiter Karl Kaufmann, wurde Scheel im Januar 1953 von der britischen Militärpolizei verhaftet. Man legte dem »Naumann-Kreis« den Aufbau einer Geheimorganisation und die Unterwanderung bundesrepublikanischer Parteien mit nationalsozialistischem Ideengut zur Last. Es kam Gustav Adolf Scheel, Reichsstudentenführer und Gauleiter von Salzburg 593 163 Franz-Willing (wie Anm. 19), S. 76 f. 164 So Scheel bei seinem Amtsantritt als Gauleiter und Reichsstatthalter von Salzburg, zit. in »NS-Kurier«, 30. November 1941, Stuttgarter Ausgabe, S. 2. 165 Heiber, Helmut, Universität unterm Hakenkreuz Teil 2/ I, München u.a. 1992, S. 313 ff. 166 Grüttner (wie Anm. 83), S. 88, 100; Höffkes, Karl, Hitlers politische Generale [Tübingen 1986], S. 289 f.; dort auch das Folgende. <?page no="595"?> zwar zu einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hamburg, doch der Bundesgerichtshof lehnte im Dezember 1954 die Eröffnung des Hauptverfahrens ab. Scheel wurde nach sechsmonatiger Untersuchungshaft wieder freigelassen. Er starb am 25. März 1979 in Hamburg. 167 Bibliographie Quellen Als Quellenmaterial hat die vorliegende Untersuchung vor allem die Spruchkammerakte Scheels im Staatsachiv Ludwigsburg EL 903, Nr. I/ 75/ 5321, Spruchkammer der Interniertenlager, Verfahrensakten des Lagers 75, Kornwestheim, und die Akten über Scheel im ehemaligen BDC, heute BA Abt. Potsdam, Außenstelle Zehlendorf, herangezogen. Auch die Bestände des seit 1985 im Staatsarchiv Würzburg verwahrten Archivs der ehemaligen Reichsstudentenführung und des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes wurden eingesehen. Die von der Vernichtung verschont gebliebenen Reste der Akten der Reichsstatthalterei Salzburg im Salzburger Landesarchiv hingegen konnten für diese Untersuchung leider nicht eingesehen werden. Das Salzburger Landesarchiv verwahrt außerdem einen »Nachlaß Scheel«, der hauptsächlich aus Notizen und Erinnerungen besteht, die Scheel während seiner Haft in Nürnberg niedergeschrieben hat und auf denen auch Franz-Willings Darstellung basiert. Literatur Eine Biographie über Gustav Adolf Scheel liegt bisher nur aus der Feder von Georg Franz- Willing, »Bin ich schuldig? « Leben und Wirken des Reichsstudentenführers und Gauleiters Dr. Gustav Adolf Scheel 1907 - 1979, Landsberg am Lech 1987, vor. Sie basiert im wesentlichen auf den Zeugenaussagen zugunsten von Scheel in seinem Spruchkammerverfahren und ist deshalb durchweg apologetischer Natur. Wissenschaftlich fundiert ist dagegen der biographische Beitrag von Horst Ferdinand, der demnächst in den Baden-Württembergischen Biographien erscheinen wird. Informationen über Scheels Rolle in seiner Heidelberger Zeit und als Reichsstudentenführer liefern die einschlägigen Untersuchungen von Anselm Faust, Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund. Studenten und Nationalsozialismus in der Weimarer Republik Bd. 2, Düsseldorf 1973, Geoffrey J. Giles, Students and National Socialism in Germany, Princeton 1985, R.G.S. Weber, The German Student Corps in the Third Reich, Houndmills u.a. 1986, Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz, München u.a. 1991, und derselbe, Universität unterm Hakenkreuz, Teil II: Die Kapitulation der Hohen Schulen, Bd. 1, München u.a. 1992, sowie neuerdings und am umfassendsten Michael Grüttner, Studenten im Dritten Reich, Paderborn u.a. 1995. Birgit Arnold 594 167 Zum »Naumann-Kreis« und seinem Versuch, vor allem auf der Basis des rechten FDP-Flügels eine große nationalistische Sammlungspartei zu schaffen, vgl. neuerdings Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903 - 1989, Bonn 1996, S. 461 ff. und Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 361 ff. mit weiterführender Literatur. <?page no="596"?> *21. Januar 1888 Gebersheim/ Oberamt Leonberg, ev., März 1942 Kirchenaustritt, Vater: Gottfried Schmid, Landwirt, Mutter: Wilhelmine, geb. Hecker, verheiratet mit Franziska, geb. Becker. 1907 Abitur, Studium der Rechtswissenschaft in Tübingen und München, 1911 I. juristisches Staatsexamen, 7. April 1913 Promotion zum Dr. jur., 1913 Einjährig- Freiwilliger, 1916 - 1918 Kriegsteilnehmer, zuletzt als Leutnant, EK II, Württembergische goldene Verdienstmedaille, 1919 II. juristisches Staatsexamen, 1919 Rechtsanwalt in Leonberg, 1923 in Stuttgart, April 1933 Ministerialdirektor im Württembergischen Innenministerium. 1922 Gemeinderat in Leonberg (parteilos), Juni 1923 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. nicht mehr ermittelbar), Oktober 1930 - April 1932 Ortsgruppenleiter in Leonberg, 24. April 1932 MdL (NSDAP), 15. März 1933 Württembergischer Landtagspräsident, 1933 - 1945 Innen- und 1933 - 1935 Justizminister, 1936 - 1945 Wirtschaftsminister, 1933 Württembergischer Bevollmächtigter zum Reichsrat, Beisitzer der Reichsregierung im Reichsehrenhof, 3. April 1934 Ehrenführer der SA, Mitglied des Verteidigungsausschusses beim Reichsverteidigungskommissar V, 27. August 1939 - 20. Juni 1940 Chef der Zivilverwaltung des Operationsgebietes Heimat, 21. Juni 1940 - 1. August 1942 Chef des Verwaltungsstabes der Militärverwaltung in Frankreich, 9. November 1943 Obergruppenführer der SA, goldenes Ehrenzeichen der NSDAP. Gest. 15. Juli 1945 Langenargen/ Bodensee in französischer Internierung. Im Zweifelsfall auch mit harter Hand Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister Angela Borgstedt Jonathan Schmid 595 <?page no="597"?> Als kompromißbereit, bescheiden 1 , tolerant und ausgleichend 2 , in seiner Sachlichkeit wohltuend anders als die »Heißsporne seiner Partei« 3 , wenn auch eher passiv und ohne Durchsetzungsvermögen galt der nationalsozialistische Innenminister Württembergs selbst seinen distanzierteren Zeitgenossen und parteipolitischen Gegnern. Schmid, so auch der Tenor historiographischer Charakterisierung, ein zuletzt ohnehin »kränklicher und duldsamer Mann« 4 , sei ein sachlicher Argumentation zugänglicher, »gemäßigter Parteigängers Hitlers« gewesen, der fachliche Qualifikation gegenüber Parteizugehörigkeit durchaus abzuwägen gewußt habe. 5 Hierbei wird einerseits die gegenüber den alten Eliten der Beamtenschaft eher konziliante Personalpolitik, andererseits die zentralistischen Bestrebungen Berlins gegenüber betont sachbezogene und regionalspezifische Kommunalpolitik Schmids angeführt 6 , ein traditionelles »Abwehrbündnis« gegen Zumutungen sowohl auf lokaler Parteials auch auf Reichsebene. Als Indiz einer »gemäßigteren« Einstellung erscheint auch der partielle Rückzug aus den Amtsgeschäften, zunächst auf einen Verwaltungsposten im besetzten Frankreich 1940 bis 1942, sodann die weitgehende Abgabe von Kompetenzen an seinen Ministerialdirektor 1942 zu sein, ferner sein Kontakt zu einigen der im Zusammenhang des 20. Juli in Paris verhafteten Militärs 7 , schließlich sein Bemühen, sich den Zerstörungsbefehlen des Gauleiters Murr zu widersetzen 8 : Eine Entwicklungslinie, die nicht zuletzt als Entlastungsstrategie im Spruchkammerverfahren gezeichnet wurde. Demgegenüber läßt sich aber auch durchaus stringent eine weitaus weniger »passive« und »konziliante« Entwicklungslinie aufzeigen: die einer Parteikarriere vom lokalen Gründungsmitglied der NSDAP, Verleger antisemitischen und kirchenfeindlichen Propagandamaterials zum Mitglied der Führungsclique - ein immerhin mit dem goldenen Ehrenzeichen der Partei gekürter Werdegang. Die Kompromiß- Angela Borgstedt 596 1 Bargatzky, Walter, Hotel Majestic. Ein Deutscher im besetzten Frankreich, Freiburg i. Br. 1987, S. 47. 2 Strölin, Karl, Stuttgart im Endstadium des Krieges, Stuttgart 1950, S. 27. 3 Fritz Ulrich an die Spruchkammer IV Leonberg, 23. Oktober 1947, STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759; ähnlich auch Keil, Wilhelm, Erlebnisse eines Sozialdemokraten Bd. 2, Stuttgart 1948, S. 486 f. 4 So Jäckel, Eberhard, Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 14), Stuttgart 1966, S. 63. 5 Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 54. 6 Ruck, Michael, Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Staates, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich, hrsg. v. H. Möller, A. Wirsching, W. Ziegler (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Sondernummer), München 1996, S. 99 - 122, hier S. 115. Hierzu auch »NS-Kurier« Nr. 70, 12. Februar 1936, S. 6 »Raum-Gestaltung der Gemeinden. Aufschlußreicher Vortrag von Innenminister Dr. Schmid«. 7 Vgl. Bargatzky (wie Anm. 1), Speidel, Hans, Aus unserer Zeit. Erinnerungen, 3. Aufl. Frankfurt/ Main, Berlin, Wien 1977, S. 225, sowie eidesstattliche Erklärung Speidels, 14. Februar 1948, STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759. 8 Etwa bei Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 529. <?page no="598"?> bereitschaft und Zurückhaltung auch im Umgang mit politischen Gegnern mochten einerseits den Umgang mit jenen administrativen Eliten erleichtern, deren Karriere der seinen nicht unähnlich war, zum anderen jedoch auch leicht darüber hinwegtäuschen, daß Schmid in manchen Sachfragen wenig Konzilianz bewies: »In solchen Fällen bin ich nur Innenminister und werde mit harter Hand zupacken«. 9 Evident wird dies etwa bei der von ihm forcierten Fusion der lokalen württembergischen Energieanbieter zur Energieversorgung Schwaben A.G. Auch der so positiv gewertete Einsatz zugunsten von Fachbeamten gegenüber Aspirationen von Parteikarrieristen ist durchaus ambivalent. So mochten sich zwar in Abteilungen etwa des württembergischen Innenministeriums, vor allem der zentralen Kommunalverwaltung, unbestreitbar auch »Nichtparteigenossen« halten, manche mitunter während der gesamten NS-Herrschaft. Hingegen konnten in den bedeutsamen Sparten des Gesundheitswie des Polizeiwesens jedoch - ob mit oder ohne Zutun des Ministers - gerade jene reüssieren, die später zu berüchtigten Vollstreckern von »Euthanasie« und »Endlösung« zählten. Die folgende Portraitskizze ist in sechs Themenbereiche geteilt: Abschnitt I skizziert das soziale Umfeld wie die berufliche Entwicklung (1888 - 1923); Abschnitt II die lokalen Anfänge seines Engagements für die Nationalsozialisten bis zum Einzug ins Landesparlament (1923 - 1933); Abschnitt III die Tätigkeit als Minister dreier Ressorts (1933 - 1939); Abschnitt IV - quasi als Exkurs - sein massenwirksames Auftreten als Gauführer des schwäbischen Sängerbundes (1933 - 1939); Abschnitt V sein Handeln als Chef des Verwaltungsstabes in Paris (1940 - 1942); Abschnitt VI die Endphase seiner Ministertätigkeit in Stuttgart bis zum Tod in französischer Internierung (1942 - 1945). I. Jonathan Schmid 10 wurde am 21. Januar 1888 als Sohn einer Bauernfamilie in Gebersheim, Oberamt Leonberg, geboren, einem damals noch nahezu ausschließlich agrarisch strukturierten Dorf von wenig mehr als 400 Einwohnern. Noch 1914 lebte die Mehrzahl der Gebersheimer haupterwerblich von der Landwirtschaft, darunter Hopfenanbau, lediglich einige wenige pendelten zur Fabrikarbeit nach Leonberg oder Stuttgart. 11 Schmid entstammte dem konservativ-protestantischen und noch Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 597 9 So Schmid in einer Rede vor dem Sängerkreis Kniebis-Nagold, abgedruckt im »NS-Kurier« Nr. 119, 12. März 1935, S. 3, zur Charakterisierung seines Vorgehens gegen Mitglieder der aufgelösten Arbeitergesangsvereine. 10 Mitunter wird in der Literatur die korrekte Schreibung des Familiennamens (d statt dt) mißachtet: So ohne Konsequenzen bei Strölin (wie Anm. 2), S. 27; fatal jedoch bei Dreyfus, François-Georges, Histoire de Vichy. Collection Vérités et Légendes, Paris 1990, der den Staatsminister Jonathan Schmid im Text zwar korrekt, im Register jedoch als »docteur Schmidt« schreibt, um dann mit der Seitenangabe auf den »Chefdolmetscher« Paul Schmidt zu verweisen. <?page no="599"?> intakten dörflich-kleinstädtischen Milieu 12 des nördlichen Württemberg: ein Hintergrund, auf den ihn Landesbischof Wurm in einem Brief anläßlich des Kirchenaustritts im Frühjahr 1942 noch einmal explizit verwies. 13 Einen »echten, heimatverbundenen Schwaben« nannte ihn die Parteipresse in einem anläßlich des 50. Geburtstages erschienenen Portrait. 14 Innerhalb dieses Milieus vollzog sich dann auch Schmids Werdegang: nach Absolvierung des Jurastudiums an der nur unweit entfernten Tübinger Landesuniversität als Rechtsanwalt und Mitglied der Honoratiorenschicht, als Vorstand des örtlichen Liederkranzes, als Inhaber der Druckerei Lina Lindenberger GmbH, die dann für die Verbreitung nationalsozialistischer Schriften bedeutsam werden sollte, als »Häuslebauer«, vor allem jedoch als Gemeinderatsmitglied, Mitbegründer der NSDAP-Ortsgruppe Leonberg und zeitweiliger Ortsgruppenleiter. Milieugeprägt war später auch die Übernahme des Vorsitzes in einer Vielzahl von nunmehr gleichgeschalteten Vereinen in seiner Funktion als Minister: so im Schwäbischen Sängerbund, dem er ohnehin schon seit geraumer Zeit angehörte, so aber auch im Verband für Pferdesport Württemberg und Hohenzollern, stammte er doch aus der Umgebung von Leonberg, dessen Pferdemarkt bereits auf das Jahr 1684 datiert. Als milieubestimmter und -verhafteter, honoriger Anwalt und promovierter Akademiker war der zunächst parteilose, dann nationalsozialistische Gemeinderat Jonathan Schmid mit dem im skizzierten Umfeld so bedeutsamen, vielbezeugten 15 Ruf der Anständigkeit 16 und seinen vielfältigen Verbindungen zum lokalen Vereinsleben dann jedoch auch jenen Wählern akzeptabel und wählbar, die vor der Brachialgewalt der SA-Schläger zurückschreckten. »Das sind halt so Leut’ [gewesen], die man akzeptieren hat können, denen man normalerweise in ihrem Leben, in ihrem bürgerlichen Leben, nichts nachsagen hat können; ordentliche, rechtschaffene, arbeitsame [Leute]«, so resümierend ein Zeitzeuge. 17 Angela Borgstedt 598 11 Entsprechend gering war die Zahl der Sozialdemokraten, gerade auch im Vergleich zum »roten Eltingen«. Vgl. Oechslein, Fritz, Leonberg in der Zeit des Königreichs Württemberg, in: Leonberg. Eine altwürttembergische Stadt und ihre Gemeinden im Wandel der Geschichte, bearb. v. W. Setzler u.a., Stuttgart 1992, S. 156 - 220, hier S. 213. 12 Formuliert in Anlehnung an den Titel der Dissertation von Cornelia Rauh-Kühne, Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft. Ettlingen 1918 - 1939 (Geschichte der Stadt Ettlingen 5), Sigmaringen 1991, insbesondere S. 13 - 21. Dort auch die Diskussion des Milieubegriffs (Rainer M. Lepsius). 13 Schäfer, Gerhard (Bearb.), Landesbischof D. Wurm und der nationalsozialistische Staat 1940 - 1945. Eine Dokumentation, Stuttgart 1968, S. 377 f. 14 »NS-Kurier«, Nr. 32, 20. Januar 1938, S. 1 f. 15 So schildert ihn ein freilich selbst nicht unbelasteter Entlastungszeuge im Spruchkammerverfahren als »Gentleman« mit weißer Weste, aber auch der sozialdemokratische Abgeordnete Fritz Ulrich als von den Heißspornen seiner Partei wohltuend unterschieden, vgl. STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759. 16 So wörtlich bei Keil (wie Anm. 3), S. 486; Max Miller nennt Schmid - zumindest in der Anfangszeit - einen der wenigen Nationalsozialisten mit Gesittung. Miller, Max, Eugen Bolz. Staatsmann und Bekenner, Stuttgart 1951, S. 442. 17 Zit. nach Schönhagen, Benigna, Zwischen Revolution und Diktatur. Leonberg 1918 - 1945, in: <?page no="600"?> Schmid immatrikulierte sich, nach bestandener Reifeprüfung an einem Stuttgarter Gymnasium, 1907 als Student der Rechtswissenschaft an der Universität Tübingen, eine für die Karriere im württembergischen Staatsdienst geradezu verpflichtende Wahl des Studienorts. 18 Wie etliche seiner Jahrgangs- und Studienkollegen, unter ihnen manche seiner späteren Ministerialbeamten, schloß sich Schmid einer renommierten Verbindung, der Akademischen Musikverbindung Stochdorphia 19 an, welcher freilich primär die Theologiestudenten des Tübinger Stiftes zugehörten - insofern eine nicht ganz typische Wahl für den angehenden Juristen. Die Stochdorphia, 1857 als erste nichtschlagende und nichtfarbentragende deutsche Studentenverbindung immerhin betont schwäbisch-protestantischen Charakters gegründet, war wohl aus Begeisterung für mehrstimmigen Männergesang gewählt worden. Als Gauverbandsleiter der NS-Studentenkampfhilfe sollte der einstige Aktive dann in nicht unerheblichem Maß die Gleichschaltung der Altherrenverbände forcieren. 20 Nach vier Semestern wechselte Schmid an die Universität München, wo er, nach einem Interim in Tübingen, am 7. April 1913 zum Dr. jur. promoviert wurde. In seiner knapp 70 Seiten starken Dissertation »Gehört der Anspruch auf Leistung des vereinbarten Gesellschaftsbeitrags (BGB § 705) bereits zum Gesellschaftsvermögen? « 21 nutzte er, hier ganz in der Tradition staatswissenschaftlicher Positionen des 19. Jahrhunderts 22 , die Definition eines Rechtsbegriffs, des »Gesamthandprinzips«, Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 599 Leonberg. Eine altwürttembergische Stadt und ihre Gemeinden im Wandel der Geschichte, bearb. v. W. Setzler u.a., Stuttgart 1992, S. 221 - 264, hier S. 228 f. 18 Michael Ruck nennt den Besuch der Landesuniversität sowohl für Kandidaten protestantisch-pietistischer als auch katholischer Provenienz als »nahezu unabdingbare Voraussetzung für die Aufnahme in den württembergischen Staatsdienst«. Vgl. hierzu und zum folgenden Ruck, Michael, Kollaboration - Loyalität - Resistenz. Administrative Eliten und NS-Regime am Beispiel der südwestdeutschen Innenverwaltung, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 124 - 151, hier S. 127. 19 Diese und viele andere Detailinformationen sind der Habilitationsschrift Michael Rucks, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972 (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 4), München 1996, hier S. 47, entnommen. Zur Stochdorphia, benannt nach ihrem Begründer, Emil Stochdorph, vgl. Hahn, Joachim; Mayer, Hans, Das Evangelische Stift in Tübingen. Geschichte und Gegenwart - Zwischen Weltgeist und Frömmigkeit, Stuttgart 1985, S. 209. 20 Vgl. hierzu »NS-Kurier« Nr. 222, 15./ 16. Mai 1937, S. 5; »NS-Kurier« Nr. 269, 13. Juni 1938, S. 3: »Wie Gauamtsleiter Rohrbach in seinen Begrüßungsworten betonte, sind gerade in Württemberg die ganzen Einigungsbestrebungen am weitesten gediehen, dank vor allem des tatkräftigen Einsatzes des Innenministers.«; ferner »NS-Kurier« Nr. 260, 7. Juni 1939, S. 6; »NS-Kurier« Nr. 302, 1./ 2. Juli 1939, S. 6, beide zum Württembergischen Studententag. Hierzu auch Jarausch, Konrad, Deutsche Studenten 1800 - 1970, Frankfurt/ Main 1984, S. 191. 21 Vgl. Jahresverzeichnis der an den Deutschen Universitäten und Technischen Hochschulen erschienenen Schriften XXIX. Jahrgang 1913, Berlin 1914, S. 186. 22 Zu nennen ist hier insbesondere Otto von Gierke. Zur Tübinger Juristenfakultät vgl. Elsener, Ferdinand, Lebensbilder zur Geschichte der Tübinger Juristenfakultät (Contubernium. Beiträge zur Geschichte der Eberhard-Karls-Universität 17), Tübingen 1977; zum Einfluß der Genossenschaftstheorie Gierkes vgl. z.B. Matzerath, Horst, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung (Schriftenreihe des Vereins für Kommunalwissenschaften 29), Stuttgart u.a. 1970, S. 26. <?page no="601"?> zu einer Gegenüberstellung von römischem und germanischem Recht. Letzterem als deutschem Rechtsempfinden mehr entsprechend, gelte es künftig gegenüber dem als »undeutsch empfundenen« römischen Recht »zu neuen Ehren« zu verhelfen, wie dies partiell mit dem preußischen allgemeinen Landrecht sowie dem allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuch ja bereits geschehen sei. 23 Eine solche Kritik formaler Rechtsauffassung, zumeist gemeinsam mit einer Forderung nach Berücksichtigung des Rechtsempfindens vorgetragen, wurde dann in den 1920er Jahren vor allem seitens der antidemokratischen Rechten geäußert. Von Oktober bis Dezember 1913 war Schmid als Einjährig-Freiwilliger beim Infanterie-Leibregiment München, mußte jedoch wegen Krankheit nach kurzer Zeit entlassen werden. Dennoch nahm er als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil und kehrte, dekoriert mit Eisernem Kreuz II. Klasse und Württembergischer goldener Verdienstmedaille 24 , als Leutnant in eine noch erst zu schaffende »Zivilexistenz« zurück. Rückblickend idealisierte er wie viele andere das Gemeinschaftserlebnis 25 , die Vereinigung der deutschen Stämme im Felde 26 , in den Stahlgewittern Ernst Jüngers. 27 Fortan engagierte er sich in diversen Kriegervereinen, so im Offiziersverein, im Reichskolonialbund 28 sowie im Kyffhäuserbund 29 , dessen stellvertretender Landesvorsitzender der künftige Ministerialrat und Stellvertreter Schmids, Gottlob Dill, war. 30 Die Position dieser personell wie ideell den republikfeindlichen Freikorps nahestehenden Vereine und ihrer Mitglieder dem so diffamierten »System« gegenüber war evident antidemokratisch. Angela Borgstedt 600 23 Vgl. Schmid, Jonathan, Gehört der Anspruch auf Leistung des vereinbarten Gesellschaftsbeitrags (BGB § 705) bereits zum Gesellschaftsvermögen? , Leonberg 1913, S. 11 f. Die Dissertation wurde in eben jener Lindenbergerschen Druckerei publiziert, die Schmid drei Jahre später erwarb. 24 BA, Abt. III (BDC), PK Jonathan Schmid, sowie Deutsches Führerlexikon 1934/ 35, Berlin 1934, S. 421. 25 Vgl. hierzu noch immer: Sontheimer, Kurt, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1978. 26 »NS-Kurier« Nr. 52, 1. Februar 1934. 27 Auf Jünger sei hier zwar vor allem wegen der enormen seinerzeitigen Resonanz seines Werkes verwiesen, zudem aber auch, weil er 1941/ 42 in der Militärverwaltung in Frankreich tätig war. Jonathan Schmid nennt er in seinen Erinnerungen freilich nicht. Vgl. Jünger, Ernst, Strahlungen, 8. Aufl. Stuttgart 1980. 28 Vgl. hierzu Weißbecker, Manfred, Kolonial Reichsarbeitsgemeinschaft (Korag) 1922 - 1936. (1933 - 1936 Reichskolonialbund [RKB]), in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789 - 1945) Bd. 3, hrsg. v. D. Fricke u.a., Köln 1985, S. 268 - 273. 29 Zum Kyffhäuserbund vgl. etwa Fricke, Dieter, Bramke, Werner, Kyffhäuserbund der Deutschen Landeskriegerverbände (KB) 1899/ 1900 - 1943. (1922 - 1938 Deutscher Reichskriegerbund »Kyffhäuser« [RKBd]; 1938 - 1943 Nationalsozialistischer Reichskriegerbund), in: Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789 - 1945) Bd. 3, hrsg. v. D. Fricke u.a., Köln 1985, S. 325 - 344. 30 Diese aufschlußreichen Verbindungen hat erstmals Michael Ruck (wie Anm. 19), S. 112 f. konstatiert. <?page no="602"?> Jonathan Schmid ließ sich nach Bestehen der II. Höheren Justizdienstprüfung 1919 als Rechtsanwalt nieder, zunächst in Leonberg, dann vier Jahre später in Stuttgart. Bereits in den 1920er Jahren vertrat er weniger salonfähige Parteigenossen, die »antikommunistischen« Akteure der Straße. Im Jargon der NS-Presse hieß das: »Vielen Parteigenossen hat Dr. Schmid [...] in den zahllosen Prozessen vor den Gerichten des Systems Rechtsbeistand gewährt, wobei er in seinen Plädoyers schonungslos die Provokateure der Moskauer Garde an den Pranger stellte und den Freiheitskampf der Nationalsozialisten einer formalen Rechtsauffassung entgegenstellte.« 31 II. Schmids eigentliche »politische Karriere« begann 1922, als er zum zunächst nominell parteilosen, mit dem Parteieintritt im Juni 1923 32 nationalsozialistischen Gemeinderat gewählt wurde. »Auf jeden Fall bin ich schon im März 1922 als ›Nazi‹ in den Gemeinderat gelangt«, so die nachträgliche Stilisierung. 33 Schmid war Mitbegründer der Ortsgruppe, im November 1923 bereits 80 Personen stark, und neben dem »Journalisten« Karl Puschacher nicht allein als Redner auf Parteiversammlungen - so auch im »roten Eltingen«, heute ebenfalls Stadtteil von Leonberg -, sondern überdies als Inhaber der erwähnten Lindenbergerschen Druckerei wohl einflußreichstes Mitglied. Puschacher war Schriftleiter des Leonberger Tagblatts 34 , dem lokalen Presseorgan der Nationalsozialisten, welches in Schmids Druckerei produziert wurde. Hier wurden 1924, also während der Verbotszeit, auch die Satzungen der Partei, Landesverband Württemberg und Hohenzollern gedruckt. Ebenfalls bereits 1924 erschien in Leonberg allwöchentlich, redigiert von Alfred Miller, die »Völkische Wacht, Organ der Nationalsozialistischen Deutschen Freiheitsbewegung« in Württemberg und Baden. Miller, ein Freund und Protegé Alfred Rosenbergs, gab überdies von 1927 an das antisemitische und antiklerikale Hetzblatt »Flammenzeichen« 35 heraus, welches in der Folgezeit zum württembergischen Pendant des »Stürmer« avancierte. Als Verleger dieser völkisch-antisemitischen Pamphlete war Schmid, bereits 1924 Kandidat auf der Landesliste und zuletzt 1930 bis zu seiner Wahl ins Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 601 31 »NS-Kurier«, Nr. 32, 20. Januar 1938, S. 2. 32 So die Angaben im »Führer-Fragebogen«, BA, Abt. III (BDC), PK Jonathan Schmid. Zu den Anfängen der politischen Karriere Schmids und zum Aufstieg der NSDAP in Leonberg vgl. Leonberger Tagblatt, 16./ 17. Oktober 1937; Schönhagen (wie Anm. 17), S. 227 - 229. 33 BA, Abt. III (BDC), PK Jonathan Schmid. 34 Vgl. hierzu Leonberger Tageblatt Nr. 112, 15. Mai 1933. 35 Zu den Flammenzeichen vgl. Bluhm, Gabriele, »Aus der Achalmstadt«. Die denunziatorische Berichterstattung der nationalsozialistischen Hetzschrift »Flammenzeichen«, in: Reutlinger Geschichtsblätter N.F. 34 (1995), S. 9 - 27; Bluhm, Gabriele, Von »Judenknechten«, »Dunkelmännern« und anderen »Volksschädlingen«. Die Geschichte der Zeitschrift »Flammenzeichen« und ihre denunziatorische Berichterstattung in den Jahren 1935 - 1939, Magisterarbeit Tübingen 1991. <?page no="603"?> Stuttgarter Landesparlament Leonberger Ortsgruppenleiter, ein dezidierter und aktiver Förderer der »Bewegung«. Nach den Landtagswahlen vom 24. April 1932 war Schmid einer der 23 neuen NSDAP-Abgeordneten der inzwischen stärksten Fraktion im Stuttgarter Landtag. In der Sitzungsperiode 1932/ 33 tat er sich sogleich mit Redebeiträgen 36 zum uniformierten Auftreten im Landtag 37 - die Nationalsozialisten waren entgegen den Zusicherungen gleich in der Eröffnungssitzung in Uniform einmarschiert - sowie zum Versammlungs- und zum SA-Verbot hervor. Zu letzterem richtete er eine »Anfrage den Empfang der drei süddeutschen Ministerpräsidenten beim Reichspräsidenten betreffend«, auf die ihm Staatspräsident Eugen Bolz erwiderte. Gerade diese Konsultationsreise der bayerischen, württembergischen und badischen Ministerpräsidenten am 11./ 12. Juni 1932, bei der sich Bolz, letztlich vergeblich, für die Fortdauer des Verbots von Versammlungen und Aufmärschen uniformierter Formationen eingesetzt hatte, quittierten die süddeutschen Nationalsozialisten, und nicht zuletzt auch Schmid, mit wütenden Attacken gegen vorgeblichen Separatismus und gegen die »katholische Fraktion«. 38 Abgesehen von seinen Redebeiträgen, parteitypisch etwa zur Finanzpolitik der Regierung Bolz, tat sich Schmid in diversen Untersuchungsausschüssen hervor: in einer Untersuchung über sogenannte »Parteibuchbeamte« 39 , einem polemisch inszenierten Unterfangen gemäß dem Parteiprogramm der NSDAP 40 , dem allerdings der gewünschte Erfolg, der »Beweis« einer Besetzung von Beamtenstellen nach Parteibuch, versagt blieb. Immerhin mochte diese Tätigkeit einen konstruktiveren Umgang auch mit politischen Gegnern er- Angela Borgstedt 602 36 Insgesamt sechs teilweise längere Redebeiträge. Vgl. Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 4. ordentlichen Landtag in den Jahren 1932/ 33. Protokollband. Stuttgart 1933, 2. Sitzung, 24. Mai 1932, S. 16; 7. Sitzung, 8. Juni 1932, S. 155 - 157; 12. Sitzung, 28. Juni 1932, S. 184, 195 - 203; 20. Sitzung, 14. Oktober 1932, S. 451 - 453; 21. Sitzung, 15. Oktober 1932, S. 479, 499; 23. Sitzung, 29. November 1932, S. 536. 37 Verordnung des württembergischen Innenministers vom 22. Mai 1931. Zum Uniformwie zum Versammlungsverbot wie auch zum folgenden vgl. etwa Besson, Waldemar, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928 - 1933. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1959, S. 265, 275, 283; Wilhelm, Friedrich, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil. Stuttgart 1990, S. 32/ 33. 38 Schmid verwahrte sich in der diesbezüglichen Debatte gegen jeglichen Vorwurf des Antikatholizismus, welchen er süffisant den Sozialdemokraten unterstellte, »die doch seit einem Jahrzehnt mit Ihnen Schulter an Schulter im Reich und in Preußen marschiert sind«, und erklärte mit Verweis auf Hitlers Aussage »ich bin nicht irgendwie ein kirchlicher Reformator, ich bin lediglich Politiker«, das vorgebliche Desinteresse seiner Fraktion an einem neuerlichen Kulturkampf. Vgl. Verhandlungen (wie Anm. 36), 12. Sitzung, 28. Juni 1932, S. 202. 39 Vgl. Keil (wie Anm. 3), S. 486 f. »Parteibuchbeamte« waren den Nationalsozialisten insbesondere Kommunisten, daneben Sozialdemokraten und Mitglieder des Zentrums, ferner jene, die nach der Definition der NS-Rassenideologie keine Deutschen sein konnten, d.h. Juden. 40 »›Wir bekämpfen die korrumpierende Parlamentswirtschaft einer Stellenbesetzung nur nach Parteigesichtspunkten ohne Rücksicht auf Charakter und Fähigkeiten‹.« Zit. nach Fiehler, Karl, Nationalsozialistische Gemeindepolitik (Nationalsozialistische Bibliothek 10), München 1929, S. 68. <?page no="604"?> zwingen, etwa mit den Sozialdemokraten Wilhelm Keil und Albert Pflüger 41 sowie dem Zentrumsabgeordneten Josef André. 42 Das im Anschluß vorgetragene Plädoyer Schmids zugunsten der von den Brüningschen Sparmaßnahmen mit erheblichen Besoldungskürzungen belasteten Beamten entsprach der Parteistrategie, welche entgegen bisheriger Propaganda die Beamtenschaft nunmehr für die »Bewegung« zu gewinnen suchte. 43 Schmid war als Ausschußmitglied ferner Berichterstatter über den »Entwurf eines Änderungsgesetzes zum Gemeindesteuergesetz«, einer seitens der Nationalsozialisten auf kommunalpolitischer Ebene wiederholt inszenierten Kampagne zur Filialbesteuerung von Warenhäusern. 44 »Wir fordern eine schärfere Heranziehung der Warenhäuser und Konsumvereine durch eine entsprechende Warenhaus- und Filialgeschäftssteuer« 45 , so der Münchener »Vordenker« nationalsozialistischer Kommunalpolitik, Karl Fiehler. Die antisemitische Provenienz dieser Polemik gegen »Betriebe, deren wirtschaftliche Schädlichkeit erkennbar sei « 46 , eine im übrigen nicht originär nationalsozialistische, sondern kulturpessimistische und lebensreformerische Forderung, ist offenkundig. In Auftreten und Ausdrucksweise war Schmid hier wie sonst auch vergleichsweise moderater, dem Komment parlamentarischer Umgangsformen entsprechend. An seiner Position dem Gremium wie dem »System von Weimar« gegenüber ließ freilich auch er keinerlei Zweifel: »Die Papen-Regierung geht uns ja gar nichts an. [...] Die Regierung, zu der wir Vertrauen haben, wird allerdings, hoffen wir, sehr bald kommen, aber die jetzige Regierung, die berührt uns nicht.« 47 Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 603 41 Zu Albert Pflüger vgl. Raberg, Frank, Albert Pflüger (1879 - 1965). Parlamentarier zwischen Monarchie und Bundesrepublik, in: Schwäbische Heimat 47 (1996), S. 135 - 147; zu Josef André Schumacher, Martin (Hrsg.) M.d.L. Das Ende der Parlamente 1933 und die Abgeordneten der Landtage und Bürgerschaften der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933 - 1945. Ein biographischer Index (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn), Düsseldorf 1995, S. 8, sowie Schumacher, Martin (Hrsg.), M.d.R. Die Reichtagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933 - 1945. Eine biographische Dokumentation (Veröffentlichung der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn), 3. Aufl. Düsseldorf 1994, S. 9. 42 Zu André vgl. Schumacher, M.d.L. (wie Anm. 41), S. 4; Fehrenbacher, F., Josef André (1879 - 1950) - ein Schramberger in höchsten Staats- und Parteiämtern, in: D’Kräz. Beiträge zur Geschichte der Stadt und Raumschaft Schramberg 12 (1992), S. 45 - 55. 43 Verhandlungen (wie Anm. 36), 20. Sitzung, 14. Oktober 1932, S. 452. Zum Sachverhalt vgl. Mommsen, Hans, Beamtentum im Dritten Reich, Düsseldorf 1966, S. 62. 44 Vgl. Matzerath (wie Anm. 22), S. 54, hier auch Hinweise auf zeitgenössische Literatur zur antijüdischen »Warenhauskampagne«, etwa Fiehler, Karl, Gegen die Warenhauspest, in: Mitteilungsblatt 2 (1928/ 29), S. 71 f.; ders., Kampf gegen die Warenhäuser, Mitteilungsblatt 2 (1928/ 29), S. 98 ff. 45 Fiehler (wie Anm. 40), S. 61. 46 So Schmid im württembergischen Landtag. Vgl. Verhandlungen (wie Anm. 36), 21. Sitzung, 15. Oktober 1932, S. 499. 47 Verhandlungen (wie Anm. 36), 7. Sitzung, 8. Juni 1932, S. 157. <?page no="605"?> III. Die »Regierung seines Vertrauens« wurde in Stuttgart nach den »Wahlen« vom 5. März 1933 installiert. Per Notverordnung übernahm am 8. März Dietrich von Jagow als von der Reichsregierung bevollmächtigter Reichskommissar die polizeiliche Gewalt in Württemberg. In der eine Woche später, am 15. März, durchgeführten Landtagssitzung, deren einziger Zweck die Bestimmung Wilhelm Murrs zum neuen Staatspräsidenten war, wurde Jonathan Schmid, seit April Ministerialdirektor in der Innenverwaltung 48 , mit 50 von 68 Stimmen bei einer Gegenstimme und 17 Enthaltungen zum Landtagspräsidenten »gewählt«. Seine Machtbefugnisse wurden unmittelbar im Anschluß ersichtlich, als der sozialdemokratische Abgeordnete Fritz Ulrich 49 nach einer Erklärung an das Plenum unter Verletzung seiner Immunität noch im Parlamentsgebäude verhaftet und trotz Intervention beim »neugewählten« Präsidenten ins Konzentrationslager Heuberg verbracht wurde. Immerhin soll Schmid Ulrich zufolge noch im März 1933 eine erste Freilassung erwirkt haben. 50 Eine frühzeitige Entlassung aus dem KZ nach der abermaligen Verhaftung wurde jedoch durch Querelen mit Hermann Mattheiß hintertrieben, dem berüchtigten und von Schmid bekämpften Gestapochef. Es scheint dies zugleich ein instruktives Beispiel von Kompetenzenkonflikt und tatsächlicher Machtbefugnis. Auch Angehörige anderer verhafteter Parlamentarier baten den Landtagspräsidenten um Intervention, so die Ehefrau des von der Politischen Polizei »vorgeladenen« Eugen Bolz. 51 Der ehemalige Wirtschaftsminister Reinhold Maier wandte sich, wohl auch aus Sorge um die Sicherheit seiner Ehefrau Gerta, einer evangelisch getauften Jüdin, in einem Brief an Schmid. 52 Dieser reagierte in diesem, wie auch im Fall des Sozialdemokraten Berthold Heymann 53 sowie der beiden Tübinger Juristen Dr. Simon und Dr. Heinrich Hayum, denen wie allen Juden das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufbeamtentums« die berufliche Existenz zerstörte 54 : Heymann verschaffte er den be- Angela Borgstedt 604 48 Ihm hatte der Katholik Robert Held weichen müssen, der zum Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs »befördert« wurde. Vgl. Ruck (wie Anm. 18), S. 129. 49 Zu Fritz Ulrich vgl. Schumacher, (wie Anm. 41), S. 534 ff.; zur Situation der Stuttgarter Sozialdemokraten vgl. v.a. Nachtmann, Walter, Allein gegen rechts. Die Stuttgarter SPD in den Jahren 1926 bis 1945, in: Mit uns für die Freiheit. 100 Jahre SPD in Stuttgart, hrsg. v. S. Bassler, Stuttgart, Wien 1987, S. 96 - 115. 50 Fritz Ulrich an die Spruchkammer Leonberg, STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759. 51 Vgl. Miller (wie Anm. 16), S. 457. 52 Reinhold Maier an Jonathan Schmid, 20. September 1933. Zit. nach Matz, Klaus-Jürgen, Reinhold Maier (1889 - 1971). Eine politische Biographie (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 89), Düsseldorf 1989, S. 158 f. Matz hält es für unwahrscheinlich, jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen, daß der nur noch im Durchschlag im Privatbesitz der Familie Maier erhaltene Brief auch gar nicht abgeschickt wurde. 53 Zu Heymann vgl. Raberg, Frank, Ein vergessener württembergischer Minister. Berthold Heymann war ein bedeutender Vertreter der SPD im Landtag, in: Beiträge zur Landeskunde H. 3 (1996), S. 14 - 18; ferner Schumacher, M.d.L. (wie Anm. 41), S. 66 f. 54 Vgl. Marx, Alfred, Das Schicksal der jüdischen Juristen in Württemberg und Hohenzollern 1933 - <?page no="606"?> schlagnahmten Reisepaß, Dr. Heinrich Hayum »auf Widerruf« die Wiederzulassung beim Landgericht Tübingen, nachdem sein Vater und Sozius Simon Hayum - als Kriegsteilnehmer noch vom Gesetz ausgenommen - auf eine weitere Berufsausübung »verzichtet« hatte. Aus diesen noch dazu an ihn herangetragenen Einzelfällen auf Mäßigung, gar partielle Opposition gegen einzelne Maßnahmen des Regimes zu schließen, wäre weit verfehlt, mochten doch solche Gesten nicht zuletzt die Machtvollkommenheit der neuen Herrscher demonstrieren. Zudem hob Schmid ausdrücklich den Präventivcharakter polizeilicher Terrorakte hervor: »Wir haben mit Hilfe dieser politischen Polizei lediglich diejenigen Personen auf kürzere oder längere Zeit in Verwahrung genommen, von denen eine Gefahr für den neuen Staat drohte, und haben sie alsbald wieder laufen lassen, wenn diese Gefahr beseitigt schien. Daß die Bolschewiken im umgekehrten Fall nicht bloß die führenden, sondern womöglich alle politischen Gegner an die Wand gestellt oder samt ihren Angehörigen glattweg tot geschlagen hätten, das lehren die Beipiele von Rußland und Spanien. Unsere Politische Polizei hat, mögen auch da und dort kleine Fehlgriffe vorgekommen sein, was in so bewegten Zeiten ganz unvermeidlich ist, ihre Aufgabe glänzend gelöst.« 55 Als der württembergische Gauleiter Wilhelm Murr am 5. Mai 1933 zum Reichsstatthalter avancierte und infolgedessen die Ministerpräsidentschaft abgab, übernahm Schmid am 11. Mai das Innen-, zudem von dem zum Nachfolger Murrs aufgestiegenen Christian Mergenthaler das Justizministerium. In Leonberg wurde der neu ernannte Minister mit musikalischem Rahmenprogramm gefeiert: »Der Leonberger Musikverein, der [...] schneidig und stramm spielte, und die Sänger vom Liederkranz mit einigen prächtigen, wohlgelungenen Chören, darunter das Lieblingslied des Ministers ›Soweit dich Wellen tragen‹, umrahmten die Feier in schöner Weise.« 56 Wiederholte Interventionen Murrs bei Hitler bezüglich einer Demission Mergenthalers zugunsten des ihm weitaus genehmeren Schmid, immerhin schon eine Bescheidung gegenüber der zunächst favorisierten Vereinigung von Reichstatthalter- und Ministerpräsidentenamt, die Hitler verweigerte, blieben erfolglos. 57 Schmid sollte in der Folgezeit wiederholt zwischen dem Gauleiter und dem ihm wohl intellektuell wie auch von seiner Sozialisation weitaus näherstehenden Ministerpräsidenten und Kultminister vermitteln. Mit dem Innenministerium übernahm Schmid ein zentrales und zunächst noch weitgehend intaktes Ressort. Dies änderte sich im folgenden mit der Abgabe einzelner, sodann mit der im »Gesetz über den Neuaufbau des Reiches« vom 30. Januar Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 605 1945, in: Die Justiz 14 (1965), S. 175 - 184; 202 - 211; 245 - 247; hier S. 205. 55 »NS-Kurier«, Nr. 49, 30. Januar 1937, S. 23 f. 56 Leonberger Tageblatt Nr. 112, 15. Mai 1933. Vgl. STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759 Spruchkammerakte Schmid. 57 Vgl. Schnabel, Thomas, Die NSDAP in Württemberg 1928 - 1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart u.a. 1982, S. 49 - 81, hier S. 73 f. <?page no="607"?> 1934 verfügten Überleitung landesrechtlicher auf reichsrechtliche Kompetenzen, welche die nicht gänzlich »verreichlichten« Landesministerien den jeweiligen Berliner Gremien unterstellte. Die seitens des Stuttgarter Innenministers in einer Kolumne im »NS-Kurier« über »Die Aufgaben des Innenministeriums« 58 so genannte massivste »Umstrukturierung« innerhalb seines Ressorts, dem ferner die Sparten Verkehrswesen, Arbeitsbeschaffung, Hochbau-, neuerdings auch Vermessungswesen 59 , Wohlfahrts- und Gesundheitswesen zugehörten, erfuhr unmittelbar nach der Installierung der nationalsozialistischen Landesregierung das Polizeiwesen. 60 Noch im April 1933 war die erst vier Jahre zuvor der Stuttgarter Landeskriminalpolizei eingegliederte Nachrichtenabteilung herausgelöst und als Württembergische Politische Polizei dem SA-Standartenführer und Sonderkommissar im Innenministerium, Mattheiß, unterstellt 61 , am 9. Dezember 1933 war Heinrich Himmler zum Kommandeur der Württembergischen Politischen Polizei ernannt worden. »Die damals eine besondere Abteilung des Polizeipräsidium Stuttgart bildende Politische Polizei«, so die Version Schmids, »wurde aus diesem Amt herausgenommen, durch sofort eingesetzte Hilfskräfte wesentlich verstärkt und in dem neu geschaffenen Politischen Landespolizeiamt als selbständige Landesmittelbehörde zu einem schlagkräftigen und mächtigen Instrument des Staates gemacht.« 62 Als solchem oblag ihr die Überwachung der »staatsfeindlichen Elemente« 63 sowie der Unterhalt der Konzentrationslager. Bis zur »Verreichlichung« am 17. Juni 1936 hatte sich die Politische Polizei bereits eine ganze Reihe von Kompetenzen angeeignet, die längst nicht allein ihrem Zuständigbereich unterlagen: so etwa das lokal strukturierte Paß- und Meldewesen. Schmid versuchte wohl nach Möglichkeit, Stellenbesetzungen im Bereich der Polizeiverwaltung, mitunter gar der Polizeipräsidenten nach dem Kriterium der Kompetenz, vielleicht auch eingedenk der Erfahrungen im »Parteibuchausschuß« nicht nach der Parteibzw. SA-Zugehörigkeit vorzunehmen, konnte sich im allgemeinen jedoch nicht durchsetzen. 64 Positiv würdigte der Innenminister etwa das vorgeblich noch Angela Borgstedt 606 58 »NS-Kurier« Nr. 40, 25. Januar 1936, S. 9. 59 Die Landesvermessung und Topographie war mit der »Verordnung über die Neuordnung des Vermessungswesens« vom 10. Oktober 1936 vom Kompetenzbereich des Finanzauf den des Innenressorts übergegangen, nachdem das eigentliche Vermessungswesen bereits am 3. Juli 1934 zur Reichsangelegenheit geworden war. Vgl. hierzu: 150 Jahre Württembergische Landesvermessung 1818 - 1968. Festschrift zur 150 Jahrfeier, Stuttgart 1968, S. 36 - 43. 60 »NS-Kurier« Nr. 40, 25. Januar 1936, S. 9. Zu Polizei und Gestapo in Württemberg vgl. Wilhelm (wie Anm. 37); Wilhelm, Friedrich, Der Wandel von der politischen Polizei zur Gestapo, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 222 - 236. 61 Zementiert wurde dies mit der Verordnung des Innenministeriums über die Neuorganisation der Politischen Polizei vom 12. Mai 1933. Vgl. Regierungsblatt für Württemberg Jg. 1933 Nr. 25, S. 138 ff. Zum Sonderkommissar im Innenministerium, Hermann Mattheiß, vgl. den Beitrag von Jürgen Schuhladen-Krämer in diesem Band. 62 »NS-Kurier« Nr. 49, 30. Januar 1937, S. 23. 63 »NS-Kurier« Nr. 40, 25. Januar 1936, S. 9. 64 Vgl. Wilhelm (wie Anm. 37), S. 115, 141, 167 f., 187. <?page no="608"?> aus der Kampfzeit datierende gute Verhältnis zur lokalen Polizei, persönlich das zu dem nicht gerade nationalsozialistischen Stuttgarter Polizeipräsidenten Rudolf Klaiber, den Schmid nicht zuletzt über das schwäbische Rote Kreuz kannte und den er in einem »Kameradschaftsabend« anläßlich seiner Pensionierung feierte. 65 Allerdings begann in der Stuttgarter Kriminalpolizei auch die »Karriere« jenes berüchtigten Christian Wirth, der als einer der bei Daniel Goldhagen 66 dargestellten »willing executioners« zunächst ein »Arbeitslager« nahe Lublin, schließlich als Kommandant das Vernichtungslager Belzec leitete. Besondere Brisanz erhielten die Tätigkeiten vermeintlich »unpolitischer« Abteilungen: des Fürsorge- und Wohlfahrtswesens 67 einerseits, wie des Gesundheitswesens andererseits. Während erstere Aktionen gegen vorgebliche »Bettler«, »Asoziale« und »Arbeitsscheue« durchführte, war letztere in die Planung und Realisierung des »Euthanasieprogramms«, der sogenannten »Aktion T4« 68 , involviert. Federführend war hierbei der Stuttgarter Medizinalrat Dr. Eugen Stähle, Parteigenosse seit 1923, langzeitiger Ortsgruppenleiter der frühen NSDAP-Hochburg Nagold 69 und massiver Verfechter sozialdarwinistischer Ideologeme. 70 Bereits 1935 hatte sich Stähle, wenn auch erfolglos, für die Einrichtung einer »Erbgesundheitsklinik« in Tübingen eingesetzt, um dort zentral für ganz Württemberg Sterilisierungen vornehmen zu lassen. 71 Gemeinsam mit dem aus Pforzheim stammenden Dr. Herbert Linden, seinem Pendant im Reichsinnenministerium, dem späteren Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten 72 , suchte er das von Berlin angeordnete Tötungsprojekt Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 607 65 Wilhelm (wie Anm. 37), S. 169; Leipner, Kurt (Hrsg.), Chronik der Stadt Stuttgart 1933 - 1945 (Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart 30), Stuttgart 1982, S. 501. 66 Vgl. Goldhagen, Daniel J., Hitler’s Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust, New York, London 1996, S. 305 - 310, der hier Wirths Aktionen im Flughafenlager nahe Lublin darstellt; zu Wirth überdies: Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden Bd. 3, hrsg. v. E. Jäckel, P. Longerich, J. H. Schoeps, Berlin 1993, S. 1605 f.; Hilberg, Raul, Die Vernichtung der europäischen Juden, Frankfurt/ Main 1990 Bd. 2, S. 955 - 959. 67 Hierzu Ayaß, Wolfgang, »Asoziale« im Nationalsozialismus, Stuttgart 1995, S. 75 - 88 zu den Vorgängen in Württemberg. 68 T4 war das Kürzel für die in der Berliner Tiergartenstraße 4 installierte Zentralbehörde der Euthanasie, welches alsbald nicht nur zur Kennzeichnung der Institution, sondern auch der Aktion verwendet wurde. Zum folgenden Klee, Ernst, »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Neuausgabe Frankfurt/ Main 1994; Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, 1890 - 1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 75), Göttingen 1987; speziell zu Württemberg Stöckle, Thomas, Die »Aktion T 4« in Grafeneck, in: Die alte Stadt 20 (1993), S. 381 - 384; ders., Reutlingen in der »Euthanasie«-Aktion T4. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« in den Jahren 1940/ 41, in: Reutlinger Geschichtsblätter N.F. 34 (1995), S. 103 - 124; Morlok, Karl, Wo bringt ihr uns hin? »Geheime Reichssache« Grafeneck, Stuttgart 1985. 69 Vgl. Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/ 46 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 13), Stuttgart u.a. 1986, S. 50, 60 f. 70 Vgl. Schmuhl (wie Anm. 68), S. 321. 71 Vgl. Sauer (wie Anm. 5), S. 146 - 154, hier S. 151 f. 72 Verordnung über die Bestellung eines Beauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten, 23. Oktober <?page no="609"?> in der südwestdeutschen Heimat durchzuführen. Bereits im Oktober 1939 wurde die Heil- und Pflegeanstalt Grafeneck bei Münsingen zum »Prototyp« der Vernichtungsanstalten umfunktioniert, in welcher die vorgeblich der Frontnähe wegen verlagerten Insassen badischer und württembergischer Anstalten von Januar 1940 an systematisch ermordet wurden: ein »Experiment der Massenvernichtung«, welches sich gar manche NS-Größe, darunter der Reichsverteidigungskommissar, mit voyeuristischem Interesse demonstrieren ließ. 73 Zudem mochten einige der an der »T4- Aktion« Beteiligten ihre Tätigkeit in den Vernichtungslagern des Ostens fortsetzen, wie etwa der Anstaltsleiter von Grafeneck, Dr. Horst Schumann, der schließlich in Auschwitz Menschenversuche durchführte. 74 Interventionen seitens der Kirchen, wie etwa der berühmt gewordene Protestbrief des württembergischen Landesbischofs Theophil Wurm vom 19. Juli 1940, führten zur Einstellung der Transportfahrten, nicht jedoch zum kompletten Abbruch der Euthanasie in der Region oder gar im Reich. Zugleich hatten die Interventionen in Stuttgart die unterschiedlichen Positionen innerhalb des Innenministeriums verdeutlicht: Während sich Stähle wie auch sein Mitarbeiter Dr. Otto Mauthe, der sich u.a. als Revisor in jenen Anstalten betätigte, die ihre Meldebögen nicht fristgerecht ablieferten 75 , als intransigente Verfechter der Euthanasie zeigten, mochte Ministerialrat Dill 76 Berlin gegenüber Mißfallen bekunden. Dieses bezog sich freilich weit weniger auf die Aktion an sich als auf die ausbleibende rechtliche Sanktionierung. Gewisses Unbehagen mußte der Innenminister insgeheim hegen angesichts der in Medizinerkreisen ventilierten Forderung von »rassenhygienischen Maßnahmen« auch gegen Diabetiker 77 , »Ballastexistenzen« in Zeiten von Lebensmittel- und Medikamentenknappheit sowie totalem Kriegseinsatz. Schließlich war er selbst Diabetiker, vermochte hier wohl jedoch von seiner eigenen Situation gänzlich zu »abstrahieren«. Die alte württembergische Innenverwaltung blieb nicht zuletzt in Ermangelung qualifizierter Beamter unter den Nationalsozialisten personell mehr oder weniger intakt. Abgesehen vom bereits genannten Revirement der Ministerialdirektoren Angela Borgstedt 608 1941, RGBl. I 1941, S. 653. 73 Vgl. Klee (wie Anm. 68), S. 163 f. 74 Schumann führte Versuche zur Massensterilisation mittels Röntgenstrahlung durch. Vgl. Klee, Ernst, Was sie taten - was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt/ Main 1986, S. 98 - 107. 75 Vgl. Stöckle, Reutlingen (wie Anm. 68), S. 105. 76 Dill zufolge hatten auch Reichsstatthalter Murr und Innenminister Schmid interveniert, freilich weniger aus humanitären, denn aus juristischen Gründen. Vgl. Schmuhl (wie Anm. 68), S. 323. 77 »Der Diabetes-Experte Dr. W. Falta [...] forderte auf einem Vortrag der Medizinischen Gesellschaft in Wien (am 9. 10. 1942) mit dem Titel ›Die Erbbiologie des Diabetes mellitus‹ sogar ›rassenhygienische Maßnahmen‹. ›Ehen zwischen Diabetikern oder Individuen, die aus einer stark belasteten Sippe stammen, mit einem Partner, der ebenfalls diabetisch oder hochgradig diabetisch belastet ist, sollen unterbleiben‹.« Zit. nach Knödler, Ulrich, Das Insulinproblem. Eine Studie zum Zusammenbruch der Arzneimittelversorgung der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, in: Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918 - 1945, bearb. v. C. Pross, G. Aly, Berlin 1989, S. 250 - 260, hier S. 251. <?page no="610"?> zugunsten Schmids bzw. Dills verblieben in der so zentralen Abteilung Kommunalverwaltung mit Gustav Knapp, Ministerialrat Dr. Max Pfleiderer und schließlich Oberregierungsrat Hermann Reihling an der Spitze Beamte traditioneller Provenienz. Diese konnten sich, vom Ressortchef protegiert, mitunter bis zum Kriegsende behaupten. Parallel dazu schien Jonathan Schmid die Landräte als Vertreter der Kommunalverwaltung auf lokaler Ebene gegen die konkurrierenden Parteigrößen der Ortsgruppen- und Kreisleiter zu stützen. Schmids Konzilianz den alten Eliten gegenüber, welche er auch nicht als »Märzgefallene« diffamiert wissen wollte, war jedoch keineswegs uneigennützig, waren ihm die »Nebenregierungen« der Kreisleiter doch ebenso Konkurrenz wie seinen Beamten, mußte doch auch er sein Ressort gegen Kompetenzverluste zu schützen suchen. Zudem vermochte Schmid als Absolvent der Tübinger Universität, der »Kaderschmiede« des württembergischen Beamtentums, das Verhalten seiner Mitarbeiter entsprechend einzuschätzen: »Schon aufgrund seines eigenen Bildungsganges stand der Innenminister den höheren Beamten zu nahe, um nicht genau zu wissen, wie sehr sie strukturell und mental für eine loyale Zusammenarbeit mit dem NS-Regime prädisponiert waren.« 78 Tendenzen einer »Verreichlichung« der Justiz, Schmids zweitem Ressort vom Mai 1933 bis Dezember 1934, datierten, wenn auch unter gänzlich anderen Prämissen, bereits von 1928. 79 Die Länderregierungen hatten gegen diesen weiteren und weitgehenden Kompetenzverlust vehement opponiert. Schmids Protest anläßlich der in zwei Schritten vollzogenen Zentralisierung und Gleichschaltung, in Stuttgart am 7. Januar 1935 mit einem »Festakt zum Abschied von der Landesjustizverwaltung« in Anwesenheit des Reichsjustizministers Franz Gürtner feierlich begangen 80 , argumentierte ähnlich föderalistisch, freilich ganz im Sinne der Parteidoktrin: »Die Justizverreichlichung ist der Vorläufer der übrigen Verreichlichung. Die kulturelle und rassische Zurücksetzung Württembergs geht parallel mit den Versuchen, Württemberg zu einer preußischen Kolonie zu machen. Das hat mit Nationalsozialismus nichts zu tun und ist, gemessen an der Zustimmung des schwäbischen Volkes, gefährlich. Es gilt jetzt entschieden, weiteres Unheil zu verhüten und der machtgierigen preußischen Bürokratie, die prozentual weniger nationalsozialistisch ist als die schwäbische, Halt zu gebieten.« 81 Die Abgabe der Landesjustiz an das Reich markierte den Endpunkt der national- Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 609 78 Ruck (wie Anm. 19), S. 95. 79 Hierzu und zum folgenden Gruchmann, Lothar, Justiz im Dritten Reich 1933 - 1940. Anpassung und Unterwerfung in der Ära Gürtner (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 28), München 1988, insbesondere S. 84 - 123; Claussen, Karl E., Justizverwaltung, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 4, Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, hrsg. v. K. G. A. Jeserich, H. Pohl, G.-C. v. Unruh, Stuttgart 1985, S. 1032 - 1054; speziell zu Württemberg: Sauer (wie Anm. 5), S. 65 ff. 80 Vgl. Leipner (wie Anm. 65), S. 178. Schmid verwies beim Festakt auf die »große Tradition der Justiz in Württemberg seit Bildung des Justizdepartements 1806.« 81 Zit. nach Sauer (wie Anm. 5), S. 66 f. <?page no="611"?> sozialistischen Durchdringung und Umgestaltung des Rechtswesens. Gravierende Schritte dieser Transformation waren die Einrichtung der Sondergerichte zur Aburteilung politischer Straftaten, in Stuttgart am 25. März 1933 82 , und der Erlaß des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April des Jahres. Dieses, der früheren Polemik Schmids gegen »Parteibuchbeamte« konforme »Gesetz« zerstörte die Existenz vieler freiberuflich tätiger jüdischer Juristen, zudem aber auch - weit mehr als im Bereich der Innenverwaltung - die der beamteten Richter, Staatsanwälte und Notare. Allein in Stuttgart wurden neun jüdische Juristen, ein Gerichtsassessor, sieben Amtsbzw. Landgerichtsräte, ein Landgerichtsdirektor 83 , entlassen bzw. in den Ruhestand versetzt. 84 Entfernt wurden überdies politisch mißliebige Juristen, wie etwa Dr. Eugen Schmoller, seit 1926 Präsident des Oberlandesgerichts Stuttgart. Sein Nachfolger, Senatspräsident Erwin Heß, bat allerdings schon 1935 um Versetzung in den Ruhestand. Übernommen wurde hingegen der ebenfalls nicht der NSDAP angehörende Generalstaatsanwalt Karl Heintzeler. Ob der Justizminister in diesem Ressort, ähnlich wie im Bereich der Innenverwaltung, die Beibehaltung manches Fachbeamten nach Möglichkeit förderte, bleibt fraglich. 85 Fast exakt ein Jahr nach der Abgabe des Justizressorts übernahm Jonathan Schmid als Nachfolger des zur Reichsfilmkammer wechselnden Oswald Lehnich das Amt des Wirtschaftsministers. 86 In dieser Eigenschaft betrieb er wie schon sein Amtsvorgänger die bereits seit dem Ersten Weltkrieg diskutierte Zentralisierung der württembergischen Energieversorgung. 87 Diese war im Gegensatz zur badischen und bayerischen traditionell dezentral strukturiert, so daß in den 1920er Jahren Kritiker wie der Stuttgarter Abgeordnete Fritz Elsaß das Bild der Elektrizitätswirtschaft mit dem der deutschen Landkarte von 1803 vor dem Reichsdeputationshauptschluß verglichen und andernorts das Bonmot vom »Elektrizitätsbalkan« geprägt wurde. War in den Jahren der Weimarer Republik nicht zuletzt aus Furcht vor Übernahmen Angela Borgstedt 610 82 Zum Stuttgarter Sondergericht und seinem berüchtigten Vorsitzenden Hermann Cuhorst siehe den Beitrag von Stefan Baur in diesem Band. 83 Vgl. Marx (wie Anm. 54); der in den Ruhestand versetzte Landgerichtsdirektor, Otto Kaulla, war im Mai 1933 von Angehörigen der SA zusammengeschlagen worden; Alfred Marx, der Verfasser des Aufsatzes über das Schicksal der jüdischen Juristen in Württemberg und Hohenzollern war selbst aufgrund des Berufsbeamtengesetzes entlassen und später nach Theresienstadt deportiert worden. Zum Schicksal jüdischer Juristen 1933 bis 1945 vgl. allgemein Göppinger, Horst, Juristen jüdischer Abstammung im »Dritten Reich«. Entrechtung und Verfolgung, 2. Aufl. München 1990. 84 Vgl. Gruchmann (wie Anm. 79), S. 167. In Karlsruhe waren 22 jüdische Juristen entlassen worden, in München 20, in Berlin 228. 85 Eine der Studie Rucks (wie Anm. 19) vergleichbare Untersuchung der Justizverwaltung in Baden und Württemberg steht noch aus. 86 Vgl. »NS-Kurier« Nr. 19, 14. Januar 1936, S. 1. 87 Zum folgenden vgl. Stier, Bernhard, Württembergs energiepolitischer Sonderweg. Kommunale Stromselbsthilfe und staatliche Elektrizitätspolitik 1900 - 1950, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 54 (1995) 227 - 279; Leiner, Wolfgang, Der Weg zur Großwirtschaft (1916 - 1945) (Geschichte der Elekrizitätswirtschaft in Württemberg 2,2), Stuttgart 1985; Müller (wie Anm. 8), S. 247 - 255. <?page no="612"?> durch außerwürttembergische Großunternehmen vom damaligen Innenminister Eugen Bolz eine schrittweise Vereinheitlichung der Energieversorgung favorisiert worden, die letztlich am Finanzdefizit scheiterte, so stellte die von Lehnich 1934 mit der Zusammenfassung der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke und der Württembergischen Landeselektrizitäts-Aktiengesellschaft initiierte, von Schmid im April 1939 vollendete Fusion in der Energieversorgung Schwaben A.G. nichts anderes als eine zentralistische Gleichschaltung im Sinne von nationalsozialistischem Wirtschaftsdirigismus dar. Schmid hatte hierbei, unterstützt von Wilhelm Murr 88 , nicht allein Widerstände seitens der örtlichen Energieversorger, sondern auch seiner für die Kommunen zuständigen Ministerialbeamten im Innenministerium, etwa Gottlob Dills, zu überwinden. Letztlich konnten jene weder die Enteignung noch die Selbstauflösung verhindern. Die Zentralisierung württembergischer Energieversorgung, im demokratischen Staat avisiert, wurde unter der Ägide Schmids gewaltsam und bar jeder Rücksichtnahme auf spezifisch schwäbische Strukturen, entgegen auch sonstigen ostentativen Bekundigungen von Heimatverbundenheit ganz im Sinne nationalsozialistischer Gleichschaltung vollzogen. IV. Heimatverbunden gerierte sich Jonathan Schmid hingegen mit dem in der zeitgenössischen Presse häufig dokumentierten und der Teilnehmermassen wegen besonders publikumswirksamen Eintreten 89 für den Männerchorgesang und die gerade im »liedgesegneten Schwaben tief im Volke wurzelnde Pflege des deutschen Liedes«. 90 Von 1934 an war er Bundesführer des Schwäbischen Sängerbundes, dem er, wie der NS-Kurier vermerkte, »im Rahmen der kulturellen Aufgabe, die das deutsche Lied zu erfüllen hat, Ziel und Aufgabe steckte.« 91 Der 1862 begründete Deutsche Sängerbund 92 , und hier vor allem seine traditionsreiche schwäbische Sektion, war aus den Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 611 88 Das entsprechende Schreiben Murrs an Schmid, 27. Dezember 1938, abgedruckt bei Leiner (wie Anm. 87), S. 411 f. 89 Von insgesamt etwa 70 Artikeln über die Tätigkeit des Ministers im Stuttgarter »NS-Kurier« berichten 16 über seine Mitwirkung an Sängerfesten, drei davon in großer Aufmachung von mehr als einer Seite Umfang. 90 »NS-Kurier« Nr. 344, 27. Juli 1937, S. 1. 91 »NS-Kurier« Nr. 32, 20. Januar 1938, S. 2. 92 Zum Deutschen Sängerbund vgl. allgemein: Sängerbünde, in: Riemann Musiklexikon Bd. 3, 12. Aufl. Mainz 1967, S. 831 f.; Klenke, Dietmar, Bürgerlicher Männergesang und Politik in Deutschland. Teil 1, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 40 (1989), S. 458 - 485; Teil 2, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 40 (1989), S. 534 - 561; zum Sängerbund in der NS-Zeit: Wulf, Joseph, Musik im Dritten Reich, Gütersloh 1963; Prieberg, Fred K., Musik im NS-Staat, Frankfurt/ Main 1982; Hellkuhl, Antoinette, »Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun«. Der Deutsche Sängerbund in faschistischer Zeit, in: Musik und Musikpolitik im faschistischen Deutschland, hrsg. v. H.-W. Heister, H.-G. Klein, Frankfurt/ Main 1984, S. 193 - 203; speziell zu Württemberg: Langewiesche, Dieter, Die schwäbische Sängerbewegung in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts - <?page no="613"?> bürgerlich-liberalen Bewegungen, der »deutschen Trias« der Sänger, Schützen und Turner 93 hervorgegangen, insbesondere nach der Reichsgründung zunehmend national-konservativ orientiert und kulturpessimistischen Positionen verhaftet. Als Gegner des »Systems von Weimar« begrüßten die Sängerbünde, die schon vor 1933 Kompositionen des NS-»Tondichters« Richard Trunk, etwa den Chorzyklus »Die Feier der neuen Front« nach Gedichten von Baldur von Schirach in ihr Repertoire aufgenommen hatten, die Machtübergabe. »Das aus den Freiheitskriegen und dem erwachten völkischen Geist hervorgegangene Männerchorwesen besitzt ein wertvolles Traditionsgut, und wir vergessen nicht, daß in den letzten 15 Jahren Turner und Sänger mitgeholfen haben, das deutsche Volk vor dem völligen Zerfall zu bewahren«, so rückblickend Schmid vor dem Sängerkreis Kniebis-Nagold. 94 Bereits vor der Gleichschaltung und Eingliederung des Sängerbundes in die Reichsmusikkammer 1934 95 , in Württemberg unter Schmid »organisatorisch wie fachlich früher als in anderen Gauen durchgeführt« 96 , hatten die Regionalbünde einerseits nicht allein eine inhaltliche Bereinigung von der »schwelgerischen« hin zur »stählernen Romantik«, zur Pflege des ausgesprochen »männlichen« Liedes 97 , sondern vor allem die Durchsetzung des Arierparagraphen sowohl gegen die ohnehin wenigen jüdischen Mitglieder als auch gegen »Das Judentum in der Musik« (Richard Wagner) praktiziert; andererseits hatten sich die Vorstände einiger weniger Bünde katholischer Provenienz gegen die Übernahme durch altgediente Parteigenossen 98 gewehrt. Auch wurden, wie die Vereinnahmung des Komponisten und langjährigen Tübinger Universitätsmusikdirektors Friedrich Silcher 99 , zeigt, beliebte Werke der »schwelgerischen Romantik« durchaus beibehalten, sofern sie als »Ausdruck und Urgrund des deutschen Gemütes« 100 systemstabilisierend waren. »Die Männer«, so Angela Borgstedt 612 ein Beitrag zur kulturellen Nationsbildung, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 52 (1993), S. 257 - 301; 125 Jahre Schwäbischer Sängerbund 1849 e.V. Grundbuch und Geschichte. Im Auftrage des Schwäbischen Sängerbundes 1849 e.V. hrsg. v. F. Weiß, Stuttgart o. J. Eine wissenschaftliche Darstellung des Schwäbischen Sängerbundes sowohl in der Weimarer Republik wie in der NS-Zeit steht noch aus. 93 Langewiesche (wie Anm. 92), S. 289. 94 »NS-Kurier« Nr. 119, 12. März 1935, S. 2. 95 Eingliederung in der Reichsfachschaft D Chorwesen und Volksmusik, Fachgruppe I. Männerchöre (Deutscher Sängerbund). Vgl. Wulf (wie Anm. 92), S. 112 f. 96 »NS-Kurier« Nr. 317, 11. Juli 1938, S. 3. 97 »NS-Kurier« Nr. 119, 12. März 1935, S. 2. 98 Prieberg präsentiert einige Kurzbiographien von Sängergauführern, die nahezu ausnahmlos frühe Parteigänger und oft Träger des goldenen Ehrenzeichens der NSDAP waren. So war etwa Albert Meister, Bundesführer 1934 bis zu seinem Tod 1942, seit 1923 Parteigenosse. Vgl. Prieberg (wie Anm. 92), S. 198 f. 99 Zu Silcher und Silchers Rezeption im Nationalsozialismus vgl. Loistl, Alexander, Die Silcher-Pflege in Tübingen zwischen 1933 und 1945, in: Nationalsozialismus in Tübingen. Vorbei und vergessen, hrsg. v. B. Schönhagen (Tübinger Kataloge 36), Tübingen 1992, S. 171 - 178. 100 Dieses kulturpessimitische Moment, gerade auch der erstmals in Richard Wagners Pamphlet vom »Judentum in der Musik« (1850) behauptete Antagonismus von germanischer, im Volk wurzelnder, und jüdischer, d.h. traditions- und wurzelloser, moderner Kultur, letztlich eine einzige Diffamie- <?page no="614"?> Jonathan Schmid anläßlich der Grundsteinlegung für das Tübinger Silcher-Denkmal 1939, »die im Kampf um ein neues nationalsozialistisches Reich immer wieder neue Kraft zum Einsatz aus der Tiefe der deutschen Seele geschöpft haben, haben darum gewußt, wie not es tut, daß ein Volk einen Glauben an ein Hohes und Schönes hat.« 101 Die dem »deutschen Gemüt« korrespondierende »Schlichtheit« des deutschen Volksliedes, homophon und eingängig, wurde bei solchen Feiern als Massenphänomen dargeboten: 3.000 bis 30.000 102 schwäbische Sänger traten auf den diversen Festen und Kundgebungen mit Silchers unvergänglichen Weisen »Der Gute Kamerad« und »Mädele, ruck, ruck, ruck« 103 , mit Wilhelm Nagels 104 »Deutscher Glaube« für Männerchor a capella, »Deutschland stirbt nicht« oder »Du sollst an Deutschlands Zukunft glauben« zu stilisiertem Wettstreit à la Meistersinger von Nürnberg an. Die »Nationale Aufgabe des deutschen Liedes«, wie sie Alfred Rosenberg formulierte, war die »Gewinnung der deutschen Menschen für die Bewegung«: der politisch Abseitsstehenden, der Wiedereinzugliedernden sowie der Auslandsdeutschen. 1934 intonierten denn auch württembergische und saarländische Sänger beim massenhaft besuchten Fest des schwäbischen Liedes zum Abschluß gemeinsam »Deutsch ist die Saar«. Das einzige während des »Dritten Reiches« realisierte Bundesfest, 1937 in Breslau - ein kaum zufällig gewählter Austragungsort - wurde zur nationalen, alle »deutschblütigen« und -sprachigen Sänger vereinigenden Kundgebung erhoben. 105 Der auf den ersten Blick als nicht zum Thema gehörige Exkurs über eine von Schmids zahlreichen außerministeriellen Funktionen, hier wäre noch etwa die eines Landesführers V. des Deutschen Roten Kreuzes 106 , sein Vorsitz im Verbandes für Pferdesport Württemberg und Hohenzollern 107 zu nennen, sollte verdeutli- Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 613 rung Felix Mendelssohn-Bartholdys, ist in der Literatur vielfach thematisiert. Vgl. hierzu z.B.: Altgeld, Wolfgang, Wagner, der »Bayreuther Kreis« und die Entwicklung des Völkischen Denkens, in: Richard Wagner 1883 - 1983. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert. Gesammelte Beiträge des Salzburger Symposions, hrsg. v. U. Müller (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 129), Stuttgart 1984, S. 35 - 64. Die nationalsozialistische Musikpolitik gerade gegenüber Mendelssohn, dessen Denkmal in Leipzig 1937 trotz internationaler Proteste entfernt wurde, ist wohl letztlich auf Wagner zurückzuführen. Die Chormusik Mendelssohns, etwa die so beliebte Vertonung von Eichendorffs Abschied vom Walde (»Oh Täler weit, oh Höhen«), war im Auswahlband des DSB-Liederbuchs von 1934 noch vertreten. Vgl. Prieberg (wie Anm. 92), S. 195. 101 Tübinger Chronik, 26. Juni 1939, zit. nach Loistl (wie Anm. 99), S. 177. 102 So vorgeblich beim »Fest des Schwäbischen Liedes« in Heilbronn, NS-Kurier Nr. 348, 30. Juli 1934, S. 1. 103 Vgl. »Das singende schwäbische Volk in Stuttgart«, »NS-Kurier« Nr. 317, 11. Juli 1938, S. 3. 104 Dem Gauleiter Wilhelm Murr zugeeignet. »NS-Kurier« Nr. 317, 11. Juli 1938, S. 3. 105 »Daß hierfür gerade Breslau als Tagungsort gewählt wurde«, so Schmid, »mag als ein treffendes Symbol unserer Verbundenheit mit den deutschen Brüdern jenseits der Grenzen gewertet werden.« Vgl. »6000 schwäbische Sänger fahren nach Breslau«, ein Interview mit Innenminister Schmid, in: »NS-Kurier« Nr. 344, 27. Juli 1937, S. 1. Der schwäbische Gauführer bemühte sich, Stuttgart als Ausrichtungsort des nächsten Sängerbundesfests 1941 durchzusetzen. 106 Zum DRK Württemberg vgl. Gruber, Walter, 125 Jahre Rotes Kreuz. 1863 - 1988. Vom Württembergischen Sanitätsverein zum DRK-Landesverband Baden-Württemberg, Stuttgart 1988. 107 Seit dem 13. Februar 1939. Diese und andere Detailinformationen bei Leipner (wie Anm. 65), S. 551. <?page no="615"?> chen, daß auch der Innenminister in seiner Eigenschaft als Gauführer der Sänger über ein Forum verfügte, welches in seiner Bedeutung als Multiplikator der Indoktrination kaum zu überschätzen ist. V. Zu Kriegsbeginn war Schmid, dessen Befugnisse in den beiden Stuttgarter Ministerien nunmehr bei dem zum Reichverteidigungskommissar ernannten Gauleiter Murr lagen, zunächst Chef der Zivilverwaltung des Operationsgebiets Heimat. Vom 21. Juni 1940 an, genau eine Woche nach der Okkupation von Paris, war er Chef des Verwaltungsstabes beim Militärbefehlshaber im besetzten Frankreich 108 : präziser Nordfrankreich außer Elsaß und Lothringen, die dem badischen bzw. saarpfälzischen Gauleiter unterstanden, und den Departements Nord und Pas-de-Calais, die dem Militärbefehlshaber in Brüssel zugeordnet waren. Schmid war als oberster Militärverwaltungsbeamter in diesem Terrain, welches regional noch einmal in fünf Verwaltungsbezirke (A, B, C, Bordeaux und Paris) unterteilt war, nominell direkt dem Militärbefehlshaber, anfänglich Generalfeldmarschall von Brauchitsch, sodann den beiden von Stülpnagel 109 unterstellt. Sein Verwaltungsstab wiederum bestand aus der Zentralabteilung, der Abteilung Verwaltung unter Dr. Werner Best 110 , 1931 Verfasser der sogenannten »Boxheimer Dokumente«, ein »Nationalsozialist von alarmierendem Werdegang« 111 , sowie der Abteilung Wirtschaft. Diese leitete Dr. Elmar Michel 112 , wie Schmid Württemberger und später dessen Nachfolger. Best Angela Borgstedt 614 108 Zur deutschen Militärverwaltung in Frankreich vgl. noch immer Umbreit, Hans, Der Militärbefehlshaber in Frankreich 1940 - 1944 (Wehrwissenschaftliche Forschungen I 7), Boppard am Rhein 1968; Jäckel, Eberhard, Frankreich in Hitlers Europa. Die deutsche Frankreichpolitik im Zweiten Weltkrieg (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 14), Stuttgart 1966; Oldenhage, Klaus, Die Verwaltung der besetzten Gebiete, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 4, Das Reich als Republik und in der Zeit des Nationalsozialismus, hrsg. v. K. G. A. Jeserich, H. Pohl, G.-C. v. Unruh, Stuttgart 1985, S. 1131 - 1168, hier S. 1155 ff.; sowie das Kapitel Frankreich in: Hilberg (wie Anm. 66), S. 641 - 701. Zur Atmosphäre im besetzten Paris allgemein wie speziell in der Militärverwaltung vgl. Jünger (wie Anm. 27). 109 Militärbefehlshaber in Paris war 1940 - 1942 Otto von Stülpnagel, 1942 - 1944 sein Vetter Carl-Heinrich, letzterer wurde am 30. August 1944 wegen seiner Beteiligung am 20. Juli hingerichtet. Vgl. Bücheler, Heinrich, Carl-Heinrich von Stülpnagel. Soldat - Philosoph - Verschwörer. Biographie, Frankfurt/ Main, Berlin 1989; Schmidtchen, Volker, Karl Heinrich von Stülpnagel, in: 20. Juli. Porträts des Widerstands, hrsg. v. R. Lill, H. Oberreuter, Neuaufl. Düsseldorf, Wien 1994, S. 397 - 422. 110 Zur Biographie Bests vgl. zuletzt Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903 - 1989, Bonn 1996. Speziell zu Bests Aktionen als Leiter der Abteilung Verwaltung bei der Militärverwaltung in Paris, insbesondere seine Beurteilung des Vorgesetzten Jonathan Schmid vgl. Best, Werner, Erinnerungen aus dem besetzten Frankreich 1940 bis 1942, niedergeschrieben 1951 im Kopenhagener Gefängnis; sowie Umbreit (wie Anm. 108), S. 25 ff. 111 Bargatzky (wie Anm. 1), S. 50. 112 Dr. Elmar Michel, vor Kriegsbeginn Ministerialdirigent im Reichswirtschaftsministerium, war 1942 <?page no="616"?> unterstanden die allgemeine Verwaltung, das Finanz- und Justizwesen und vor allem das Polizeiwesen, somit auch die Bekämpfung der sich allmählich formierenden Résistance. Zur Wirtschaftsabteilung gehörte das für »Feindvermögen und Entjudung« zuständige Ressort Allgemeine Angelegenheiten der Wirtschaftsabteilung. Mit der Militärverwaltung, die aus Personalmangel von Anbeginn als Aufsichtsbehörde konzipiert war, kollaborierte die lokale französische Administration. Hingegen entstand der Militärverwaltung in Fragen der Zuständigkeiten Konkurrenz seitens der Botschaft (Botschafter Otto Abetz), dem Amt Rosenberg, die beide als Kunsträuber in staatlichen Museen wie in Privatbesitz, wie dem der Familie Rothschild, aktiv waren und hier mit der Abteilung Wirtschaft kollidierten, ferner seitens der Vertreter von SS und Polizei. Letztere hatten offensichtlich, wie die große »Rafle« vom 16. Juli 1942, die Massenverhaftung und Internierung tausender, zumeist ausländischen Juden in Paris im Radrennstadion Vélodrome d’Hiver verdeutlicht, den Kompetenzenstreit der konkurrierenden Institutionen im Sommer 1942 weitgehend für sich entschieden. 113 Den Wechsel Schmids zur Militärverwaltung in das eigens requirierte Hôtel Majestic an der Avenue Kléber, vor dem deutschen Einmarsch eine der Nobeladressen besonders auch der kulturellen Elite 114 , hatte offensichtlich der ebenfalls aus Württemberg stammende Chef des Kommandostabes, Hans Speidel, arrangiert. »Der verstorbene Staatsminister Dr. Jonathan Schmid«, so beurteilte Speidel rückblickend 1948 die Tätigkeit seines Protegés, »[...] führte sein verantwortungs- und arbeitsreiches Amt nicht nur mit hoher Sachkenntnis und beispielhaftem Gerechtigkeitsgefühl, sondern auch mit tiefem Verständnis für das französische Volk. Wo er Härten mildern konnte, trat er dafür ein und wirkte im Sinn einer echten humanitas.« 115 Ein solches Urteil muß freilich angesichts der in der neuesten Literatur herausgestellten Rolle der Militärverwaltung bei der Judendeportation weitgehend relativiert werden. 116 Walter Bargatzky 117 , von Sommer 1941 bis Anfang 1942 per- Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 615 bis 1944 Chef der Militärverwaltung und Nachfolger Schmids. Mitunter wird Michel in der Literatur irrtümlich bereits für die Jahre 1940 - 1942 mit dieser Funktion assoziiert, indirekt wohl auch wiederum Indiz für die Passivität Schmids. Vgl. Klarsfeld, Serge, Vichy - Auschwitz. Le Rôle de Vichy dans la Solution Finale de la Question Juive en France - 1942, Paris 1983, S. 237. 113 Das Ausscheiden Dr. Bests aus der Abteilung Verwaltung ausgerechnet im Frühsommer 1942 scheint dann nur noch Konsequenz des Kompetenzenverlusts gewesen zu sein. So Umbreit (wie Anm. 108), S. 27. 114 So erinnert sich der russische Violinist Nathan Milstein, der in den 1920er Jahren mit Vladimir Horowitz in Paris konzertierte, daß zeitgleich mit ihnen auch George Gershwin im »Majestic« residierte und mit den Klängen von »Rhapsodie in Blue« seine Anwesenheit signalisierte. Vgl. Milstein, Nathan; Volkov, Solomon, »Lassen Sie ihn doch Geige lernen«. Erinnerungen, München, Zürich 1993, S. 113. 115 Eidesstattliche Erklärung Speidels an die Spruchkammer Leonberg, 14. Februar 1948, STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759; überdies Speidel (wie Anm. 7), S. 225. 116 Herbert (wie Anm. 110), S. 309 - 314, hier S. 312. 117 Bargatzky, 1967 bis 1982 Präsident des Deutschen Roten Kreuzes, zählte zu den späteren Akteuren des 20. Juli 1944 in Paris. Vgl. zuletzt Zur Mühlen, Bengt von; Bauer, Frank (Hrsg.), Der 20. Juli <?page no="617"?> sönlicher Referent Schmids, schildert seinen Vorgesetzten als Prototyp des in Parteikreisen Unverdächtigen und daher den Militärs Genehmen, der an dem sich im »Majestic« formierenden Oppositionszirkel der späteren Verschwörer des 20. Juli 1944 zwar keinen Anteil hatte, gegen den er jedoch auch nicht intervenierte. »Ich muß das Mittagessen an seinem Kasinotisch einnehmen, statt mit meinen Freunden, manchmal auch die nicht endenwollende Abendmahlzeit, und es kann nicht ausbleiben, daß man unter den Tischgenossen das politisch Delikate erst ausspricht, wenn er gegangen ist. Aber er würde nie denunzieren, was sich von anderen ›politisch Zuverlässigen‹ nicht unbedingt sagen läßt.« 118 Die dem Oppositionszirkel zweifellos nützliche »fehlende Durchschlagskraft« Schmids war andererseits angesichts der bereits skizzierten Kompetenzkämpfe wohl eher fatal. So zog sich Schmid etwa im August 1940 in einer Auseinandersetzung mit dem Botschafter Abetz um die »Beschlagnahmung« von Kunstwerken aus jüdischem Besitz auf die Forderung einer »korrekten Abwicklung« zurück, statt sich gemäß der Anordnung des Oberbefehlshabers des Heeres vom 11. August 1940 bis zum endgültigen Friedensschluß solcherlei Aktionen schlichtweg zu widersetzen. 119 Unter den eigenen Abteilungsleitern förderte die Passivität den Aufstieg eben jenes Dr. Best, der innerhalb von zwei Jahren de facto zum Leiter der Militärverwaltung avancierte, bevor er Ende 1942 den Posten des Reichsstatthalters in Dänemark übernahm. In Bests Ressort fiel, wie bereits dargestellt, die Bekämpfung der gerade in den Monaten nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion verstärkt aktive Résistance zumeist kommunistischer Provenienz. Die Militärbehörde setzte hierbei zum einen, wie ein von Schmid signiertes Circulaire vom 3. September 1941 veranschaulicht, auf die wohl übliche Prämierung von Denunziationen. 120 Zugleich wurden als Revanche für Attentate der Résistance französische Zivilisten - lokale Honoratioren, vorgebliche oder potentielle Sympathisanten der Résistants, mit Vorliebe jene, deren Komplizenschaft als Juden ohnehin als »erwiesen« schien - interniert und alsbald füsiliert. Eine besonders perfide Aktion war hierbei der offenkundig von SD-Angehörigen inszenierte Bombenanschlag auf eine Pariser Synagoge im August 1941, der dann als Vorwand für Razzien diente. 121 Im Gegensatz zu diesen in Militärkreisen Angela Borgstedt 616 1944 in Paris. Verlauf - Hauptbeteiligte - Augenzeugen, Berlin-Kleinmachnow 1995, insbesondere jedoch Bargatzky (wie Anm. 1); zu Schmid, der sich 1942 für eine Rückkehr auch Bargatzkys nach Deutschland eingesetzt hatte, siehe hier S. 47, 92 f., 109; Treue, Wilhelm, Zum nationalen Kunstraub in Frankreich. Der »Bargatzky-Bericht«. (Dokumentation), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 13 (1965), S. 285 - 337. 118 Bargatzky (wie Anm. 1), S. 47. 119 Vgl. Treue (wie Anm. 117), 297 f. 120 Vgl. hierzu und zum folgenden: Steinberg, Lucien, Les Autorités Allemandes en France Occupeé. Inventaire de la Collcetion de Documents Conservés au C.D.J.C. (Les Inventaires des Archives du Centre de Documentation Juive Contemporaine 2), Paris 1966; Klarsfeld, Serge (Hrsg.), Die Endlösung der Judenfrage in Frankreich. Deutsche Dokumente 1941 - 1944 (Dokumentationszentrum für Jüdische Zeitgeschichte CDJC Paris), Paris 1977. 121 Vgl. Herbert (wie Anm. 110), S. 311 f. <?page no="618"?> unpopulären Maßnahmen, gegen die man in Berlin erfolglos intervenierte, scheint die Militärverwaltung die alsbald einsetzende Judendeportation nicht allein indifferent betrachtet, sondern diese sogar bei eben diesen Stellen forciert zu haben. Offensichtlich wollte man Juden ausliefern, um nichtjüdische Franzosen zu retten. So mochte denn Schmid am 21. Dezember 1941 in einem Circulaire lapidar vermerken, daß die »Deportation jüdisch-bolschewistischer Elemente in Richtung Osten [...] nunmehr im Gange« sei. 122 Tatsächlich ist diese hier dokumentierte die erste Deportation überhaupt, die französisches Terrain in Richtung Auschwitz verließ. Unter den dort Ermordeten befanden sich auch Juden französischer Staatsangehörigkeit, die nach der Pariser Verhaftungsaktion vom 12. Dezember zunächst drei Monate interniert waren. Schmid suchte, wie ein ebenfalls vom 21. Dezember 1941 datiertes Schreiben belegt, auf die Zusammenstellung der Transportlisten Einfluß zu nehmen und die Freilassung einiger der in Compiègne internierten Juden zu erwirken, an deren Stelle Insassen aus dem Lager Drancy abtransportiert wurden. 123 Seine Kenntnis vom Schicksal der Deportierten ist kaum zu bezweifeln: Kursierte doch bereits im Dezember 1941 im »Majestic« ein Augenzeugenbericht vom Massenmord in Babi Yar und dem tatsächlichen Charakter der nationalsozialistischen »Endlösung der Judenfrage«. 124 Zum Zeitpunkt des Transports am 27. März wie dann der erwähnten großen »Rafle« am 16. Juli 1942 hielt er sich bereits nicht mehr in Paris auf, wenngleich seine Tätigkeit in Frankreich offiziell erst am 1. August des Jahres endete. Sein Ausscheiden wurde, angesichts seiner Diabeteserkrankung auch durchaus plausibel, mit gesundheitlichen Problemen begründet. Inwieweit der in der ersten Jahreshälfte 1942 offenkundig gewordene Positionsverlust im Kompetenzenstreit mit Partei und SS für Schmids Entscheidung maßgeblich waren, wie dies das Entlastungsgutachten Speidels nahelegt, mag zwar nicht grundsätzlich zu bezweifeln, jedoch andererseits auch kaum zweifelsfrei zu verifizieren sein. 125 Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 617 122 Steinberg (wie Anm. 120), S. 267. 123 Zur Judenverfolgung in Frankreich vgl. Marrus, Michael R.; Paxton, Robert, Vichy France and the Jews, New York 1981; Klarsfeld (wie Anm. 112, 120); Steinberg (wie Anm. 120); Hilberg (wie Anm. 66), hier auch die Daten der ersten Deportationen. 124 Herbert (wie Anm. 110), S. 313. 125 »Seine Amtsführung«, so Hans Speidel in einer eidesstattlichen Erklärung an die Spruchkammer Leonberg vom 14. Februar 1948, »widersprach den Ausfassungen der führenden Parteimänner, die ihm deshalb wiederholt Schwierigkeiten machten. Bei Übergang der Exekutive an die SS nahm er seinen Rücktritt.« STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759. <?page no="619"?> VI. Infolge seiner Diabeteserkrankung zog sich Schmid - von April bis August 1942 krankgeschrieben 126 - nach seiner Rückkehr auch mehr und mehr von den Dienstgeschäften in den Stuttgarter Ministerien zurück, ohne jedoch seine Positionen zur Verfügung zu stellen. 127 Mit Georg Stümpfig avancierte ein ausgesprochener Parteikarrierist zum faktischen »Chef« des Innenressorts. 128 Das ohnehin wenig traditionsreiche Wirtschaftsressort sollte Plänen des Reichsinnenministeriums vom Frühjahr 1943 zufolge gar wieder mit dem Innenressort fusioniert werden, aus welchem es einst ausgegliedert worden war. Dem widersetzte sich Schmid vehement 129 und insofern erfolgreich, als die beabsichtigte Umstrukturierung im Sande verlief. Von vergleichsweise realistischerer Einschätzung der Situation insbesondere nach der Landung der Alliierten in Frankreich zeugen seine »partiellen Widersätzlichkeiten« angesichts der Massenverhaftungen nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 im Zuge der sogenannten »Aktion Gewitter« einerseits, des im März 1945 ausgegebenen »Nero-Befehls« andererseits. So unterstützte Schmid den nach dem 20. Juli in verschiedene Gefängnisse und zuletzt nach Württemberg verbrachten General Speidel, ein zumindest guter Bekannter aus Pariser Tagen, demzufolge der Innenminister sic h a uch um das Sch ic ksa l a nd erer Inh af tierte r s orgte , » unt er denen sich neb en deutschen Persönlichkeiten [...] der ehemalige niederländische Oberbefehlshaber General Jonkherr van Roell und andere ausländische Offiziere befanden.« 130 Ferner soll er sich für eine ebenfall im Zusammenhang der »Aktion Gewitter« verhaftete Familie Steiner aus Laupheim eingesetzt haben. 131 Gemeinsam mit dem Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin versuchte er kurz vor Kriegsende die von Gauleiter Murr angeordneten Zerstörungen strategisch bedeutsamer Straßenverbindungen und Brücken, der Wasser- und Elektrizitätsversorgung zu verhindern. Laut Zeugenaussage gelang ihm dies im Fall des württembergischen Regierungsitzes, der Villa Reitzenstein. 132 Intakt blieb auch die Wegverbindung, auf der sich der Reichsstatt- Angela Borgstedt 618 126 Schmid hatte am 19. Februar 1942 zunächst Urlaub genommen und sich fortan krankschreiben lassen. Vgl. STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759. 127 In diese Zeit fiel auch sein definitiver Bruch mit dem Christentum. In einem Brief an den Landesbischof erklärte er seinen und seiner Frau Kirchenaustritt und bekannte sich fortan parteikonform zum »gottgläubigen« Neuheidentum. Angesichts dieser vergleichsweise spät vollzogenen Abkehr von der evangelischen Kirche einerseits, der Annahme eines pseudoreligiösen Germanenkults andererseits erscheint die Wertung seines Rückzugs ins Privatleben als einer Abkehr vom Regime, gar einer Oppositionshaltung als eher wenig plausibel. 128 Entsprechend fehlen in den Jahren 1942 - 1945 jegliche Presseberichte über den Minister im »NS-Kurier«. Zu Stümpfig vgl. den Beitrag von Hubert Roser in diesem Band. 129 Vgl. Sauer (wie Anm. 5), S. 386 f. 130 STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759, Eidesstattliche Erklärung Hans Speidels, 14. Febraur 1948. 131 STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759, Eidesstattliche Erklärung der Sekretärin Emilie Frasch. 132 Vgl. Müller (wie Anm. 8) S. 528 - 537; Gayer, Kurt, Wilhelm Murr. Gauleiter und Reichsstatthalter von 1933 - 1945, in: Gayer, Kurt; Krämer, Heinz; Kempter, Georg F., Die Villa Reitzenstein und ihre Herren. Die Geschichte des Baden-Württembergischen Regierungssitzes, Stuttgart 1988, S. 119 <?page no="620"?> halter mit seinen Paladinen, aber auch der Innenminister am 20. April 1945 unmittelbar vor der Einnahme Stuttgarts durch französische Verbände über die Schwäbische Alb und den Bodensee in Richtung »Alpenfestung« absetzten. Der Aufforderung, gleich Oberbürgermeister Strölin zu bleiben und die Übergabe der Stadt vorzubereiten, soll Schmid entgegnet haben: »[...] ich stehe unter scharfer Aufsicht; wenn ich versuche auszukratzen, legen mich die SSer um«. 133 In der Bodenseeregion wurde Schmid festgenommen und von den französischen Militärbehörden interniert, am 15. Juli 1945 verstarb er im ehemaligen Militärlazarett Langenargen bei Lindau - wohl infolge Insulinmangels. 134 Entsprechend der Durchführungsverordnung über die Meldepflicht war auch für Tote, Verschollene, Abwesende oder Flüchtlinge ein Meldebogen auszufertigen, sofern der Betreffende, wie Jonathan Schmid, seit dem 30. Januar 1933 seinen Wohnsitz in der Gemeinde und gar als Hauptschuldiger oder Belasteter zu gelten hatte. 135 So wurde auch im Falle Schmids, der als nationalsozialistischer Minister formal der Klasse I der »Hauptschuldigen« zuzurechnen war 136 , drei Jahre nach seinem Tod vor der Spruchkammer IV. in Leonberg ein posthumes Verfahren angestrengt, in welchem seine Tätigkeit in den Jahren 1933 bis 1945 zu bewerten und über die Höhe einer zu entrichtenden Sühneleistung aus der beschlagnahmten Immobilie zu befinden war. 137 Die Freigabe eben solchen Wertbesitzes wie die gesperrter Konten war wiederum für die Angehörigen von »Betroffenen« mitunter Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 619 - 130, hier S. 129; ferner die auf den Entlastungszeugen Dr. Kurt Göbel, ehemaliger Berichterstatter im Innenministerium, rekurrierende Feststellung der Leonberger Spruchkammer, Schmid »habe durch entschlossenes Auftreten 1945 die Vernichtung der Villa Reitzenstein und anliegender Gebäude verhindert«. Vgl. STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759, Bl. 2. 133 Zit. nach Ströle, Karl, Aus meinem bunten Leben. Erinnerungen, [Masch.] Stuttgart 1967, S. 76. 134 Die Versorgung mit Insulin scheint bereits während des Krieges so problematisch gewesen zu sein, daß ausreichende Mengen nur an »voll Leistungsfähige« abgegeben, über 50jährige Patienten hingegen den utilitaristischen Zielen des Systems geopfert werden sollten. Vgl. Knödler (wie Anm. 77), S. 258 f. Zur Situation in den Internierungslagern der französischen Besatzungszone gibt es so gut wie keine Literatur. Ein kurzer Abriß bei Böhme, Kurt W., Die deutschen Kriegsgefangenen in französischer Hand (Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges 13), München 1971, S. 27 - 30; 77 - 94 veranschaulicht die schlechte Ausstattung der Franzosen mit Medikamenten noch über das Kriegsende hinaus. Lieferungen des Internationalen Roten Kreuzes und der Amerikanischen Verbündeten konnten aufgrund von Transportproblemen erst allmählich Abhilfe schaffen. 135 Vgl. hierzu Art. 37 des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946. München 1946, S. 32, wonach ein Verfahren zwecks ganzer oder teilweiser Vermögenseinziehung angeordnet wurde, sofern der Betroffene als Hauptschuldiger oder Belasteter anzusehen war. 136 Anlage zum Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus (wie Anm. 135), L Teil A: K. Regierungsbeamte, S. 56. 137 Zu solchen Entnazifizierungen Verstorbener vgl. Ettle, Elmar, Die Entnazifizierung in Eichstätt. Probleme der politischen Säuberung nach 1945 (Europäische Hochschulschriften III. Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 281), Frankfurt/ Main, Bern, New York 1985, S. 255 - 259. <?page no="621"?> von existentieller Bedeutung; so machte etwa die Witwe Franziska Schmid geltend, ausschließlich von der zimmerweisen Vermietung des Leonberger Eigenheims zu leben. 138 Dem von Elmar Ettle 139 in solchen Fällen konstatierten Trend zu tendenziell milderen Urteilen mochte der Vorsitzende der Leonberger Spruchkammer jedoch nur bedingt folgen: Jonathan Schmid wurde mit Rechtswirkung vom 13. August 1948 unter Auferlegung einer Geldbuße von 7.000 DM.-, einer entsprechend dem Einheitswert der Immobilie durchaus üblichen, angesichts der allgemeinen Finanzsituation nach der Währungsreform nicht ganz unbeträchtlichen Summe, als »Belasteter« eingruppiert. Eine mildere Beurteilung, wie sie einige der in diesem Band charakterisierten Funktionsträger zu diesem vergleichsweise späten Zeitpunkt, spätestens jedoch in Revisionsverfahren erwirkten, eine Einstufung gar als »Opponent«, wie die zahlreichen Entlastungszeugnisse auch prominenterer Provenienz dokumentieren wollten, lehnte die Kammer in einer trotz eher spärlichem Belastungsmaterial differenzierten Begründung ab: »Wenn der Betroffene mehr gewollt hätte als in Einzelfällen Schonung und Rücksichtnahme walten zu lassen, so hätte er sich gegen die Einrichtung und Methoden der Gewaltherrschaft selbst wenden und ihre Aufhebung oder grundsätzliche Umgestaltung anordnen oder mit Nachdruck betreiben müssen. Denn diese Einrichtungen und Methoden (Heubergaktion 1933, Judenverfolgung 1938, Grafeneckaktion 1939 - 41) haben sich ja gerade in denjenigen Zweigen der Verwaltung ausgewirkt, deren Leiter der Betroffene selbst war.« 140 So bleibt abschließend festzustellen, daß Jonathan Schmid, vielfach als im Vergleich zur übrigen »Elite der württembergischen Funktionsträger« moderater, konzilianter, gar »gentleman like« beschrieben, den Nationalsozialismus »in der Provinz« wie im besetzen Europa mitgeprägt und bis zuletzt mitgetragen hat. Der promovierte Rechtsanwalt Schmid hat angesichts elementarer Rechtsverletzungen wie im Falle der Euthanasie, insbesondere der Judenvernichtung, aber auch der Verfolgung politisch Andersdenkender nicht einmal ansatzweise opponiert, geschweige denn persönliche Konsequenzen gezogen. 141 Angela Borgstedt 620 138 So Franziska Schmid in etlichen, bis in die 1960er Jahre hinein gestellten Anträgen an die Baden- Württembergische Landesregierung auf Stundung der Geldbuße. Vgl. STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759. 139 Wie Anm. 137 140 Spruchkammerakte Schmid STALB EL 902/ 14 Bü. 29/ 1a/ VII/ 2759, Bl. 1 f. 141 Vgl. die Beurteilung Rucks (wie Anm. 19), S. 97. <?page no="622"?> Bibliographie Quellen Da Jonathan Schmid sich im Frühjahr 1945 seine Personalakte aushändigen ließ, muß eine wohl sehr wichtige Quelle als vernichtet gelten. Die im Staatsarchiv Ludwigsburg verwahrte Spruchkammerakte gibt Auskunft über den familiären Hintergrund, etwa auch die Versorgung seiner Witwe, ferner seine Bemühungen, den Zerstörungsbefehl des Gauleiters Murr vom März 1945 zu unterlaufen, nicht jedoch über seine politische Tätigkeit. Diese ist teilweise aus der Überlieferung der entsprechenden Ministerien im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv zu erschließen. Wenig informativ ist die im Berlin Document Center archivierte Personalkarte, die etwa die SA-Karriere dokumentiert. Die Archives du Centre de Documentation Juive Contemporaine in Paris verwahren einzelne, von Schmid signierte Rundbriefe. Die insgesamt acht Redebeiträge im Stuttgarter Landtag in der Zeit vom 24. April 1932 bis 8. Juni 1933 sind in den Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg enthalten. Etliche auf öffentlichen Versammlungen, vornehmlich des württembergischen Sängerbundes, gehaltene Reden Schmids sind zumindest in Auszügen in der NSbzw. der Lokalpresse, im »NS-Kurier«, im Leonberger Tageblatt oder der Tübinger Chronik wiedergegeben. Literatur Abgesehen von einem biographischen Abriß in Friedrich Wilhelms Dissertation »Die württembergische Polizei im Dritten Reich«, einem Abschnitt im »Deutschen Führerlexikon« 1934/ 35, sowie in Degeners »Wer ist’s« (1935) existiert bislang keinerlei biographische Literatur über den württembergischen Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister. Hinweise auf Schmids Tätigkeit als Leonberger Gemeinderat und Mitbegründer der lokalen NSDAP wie auf seine verlegerische Verbindung mit den »Flammenzeichen« finden sich bei Benigna Schönhagen, »Zwischen Revolution und Diktatur«. Leonberg 1918 - 1945. Angaben über seine Tätigkeiten als Stuttgarter Minister sind in Michael Rucks Habilitationsschrift »Korpsgeist und Staatsbewußtsein«, in Roland Müllers »Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus«, in Paul Sauers »Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus« sowie in Thomas Schnabels »Württemberg zwischen Weimar und Bonn« enthalten. Zu einzelnen Aspekten seiner Ministertätigkeit sind zudem neuere Studien erschienen, so z.B. Michael Ruck, »Zentralismus und Regionalismus im Herrschaftsgefüge des NS-Staates« oder Berndhard Stier, »Württembergs energiepolitischer Sonderweg«. Andere Facetten des schier unermüdlichen Engagements, etwa in diversen Vereinen und Organisationen wie dem württembergischen Sängerbund, dem Deutschen Roten Kreuzes, Sektion Württemberg, lassen sich überhaupt nur über die zeitgenössische Presse oder aber Kurt Leipners Chronik der Stadt Stuttgart 1933 - 1945 ermitteln, sodann anhand von Vereins- und Organisationsgeschichten nachzeichnen. Funktion und Tätigkeit der deutschen Militärverwaltung im Pariser Hôtel Majestic sind bei Hans Umbreit »Der Militärbefehlshaber in Frankreich 1940 - 1944« detailliert beschrieben. Persönliche Eindrücke vom Paris der Jahre 1940 - 1942 allgemein, vom »Majestic« sowie von Schmid als Chef der Militärverwaltung speziell vermittelt die Memoirenliteratur von Walter Bargatzky, Hans Speidel sowie Ernst Jünger. Charakterisierungen des Ministers Schmid finden sich überdies bei Wilhelm Keil, ferner bei Karl Ströle. Jonathan Schmid, Württembergischer Innen-, Justiz- und Wirtschaftsminister 621 <?page no="624"?> *2. Dezember 1884 Neckarbischofsheim, ev., Vater: Adolf Schmitthenner, Pfarrer, Mutter: Aline, geb. Wagner, seit 1910 verheiratet mit Emma, geb. Grimmel. Volksschul- und Gymnasiumsbesuch, 1904 Fahnenjunker, 1905 Leutnant, 1912 - 1914 Kriegsakademie Berlin, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer als Kompanie- und Bataillonsführer, dann im Generalstab, 1920 Verabschiedung als Major, 1919 - 1922 Studium der Geschichte in Heidelberg, 1922 Promotion, 1928 Habilitation, 16. Mai 1933 außerordentlicher Professor für Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Kriegsgeschichte und Wehrkunde an der Universität Heidelberg, November 1937 ordentlicher Professor für Geschichte und Kriegsgeschichte, 1. November 1938 - 30. April 1945 Rektor der Universität Heidelberg. 1925 MdL (DNVP), 11. März 1933 Staatskommissar, 6. Mai 1933 Staatsrat, Ende September 1933 Badischer Staatsminister, August 1934 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 2.090.224, Rückdatierung auf 1. Oktober 1933), nach der Stahlhelm-Auflösung seit 15. Oktober 1934 Mitglied des SS-Oberabschnitts Rhein (Ränge ehrenhalber), 15. September 1935 SS-Standartenführer, 30. Januar 1939 SS-Oberführer, August 1939 Oberstleutnant, bis Januar 1940 Regimentskommandeur im Westen, 4. Juni 1940 Wahrnehmung der Geschäfte des Badischen Ministers des Kultus und Unterrichts, Leiter der Abteilung Erziehung, Unterricht und Volksbildung im Elsaß, 1944 SS-Brigadeführer. 19. Juni 1945 Verhaftung, bis 15. Mai 1946 in verschiedenen amerikanischen Internierungslagern, danach bis zum 16. September 1947 im französischen Gefängnis Baden-Baden, nach Entlassung bis 15. Dezember 1948 Krankenhausaufenthalte, 20. März 1951 Einstellung des Spruchkammerverfahrens, 1952 als außerordentlicher Professor zur Ruhe gesetzt, gest. 12. April 1963 Heidelberg. Ein badischer »Preuße« Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister Ulrike Lennartz Paul Schmitthenner 623 <?page no="625"?> »Wahlverwandtschaft mit echtem Preussentum« 1 - so umschrieb der am 2. Dezember 1884 in Neckarbischofsheim bei Heidelberg geborene Paul Schmitthenner 2 in seinen in den 50er Jahren abgefaßten Lebenserinnerungen den geistigen und politischen Standort, der zeit seines Lebens bestimmend für ihn gewesen war. Zwar erinnerte er sich in der verklärten Rückschau gerne an die ersten neun Kindheitsjahre in badisch-ländlicher Idylle und bezeichnete Heidelberg als seine Lebensheimat 3 , aber diese Bindungen waren auf die landschaftlichen und architektonischen Schönheiten der Gegend beschränkt. Wichtiger war ihm seine Verbundenheit mit »echtem« Preußentum, das sich in seiner Interpretation auf die als typisch preußische Tugenden verstandenen Ideale der Pflichterfüllung, des Gehorsams und der Loyalität sowie auf die überhöhte Darstellung der Heroen preußischer Geschichte reduzierte. Das belegt schon sein angeblich erster bewußter Lebenseindruck, den er in den selbststilisierenden Memoiren mitteilte: Am Abend des 9. März 1888 sei sein Vater »lebhaft« an sein Kinderbett, vor dem seine Mutter gestanden hatte, getreten und habe mit »bewegten Worten« gesagt: »Der Kaiser ist tot«. 4 Paul Schmitthenner stammte als drittes von sechs Kindern aus einer traditionsreichen evangelischen Pfarrersfamilie und behauptete stolz von sich, »dass mehr als 300 Pfarrerahnen« in seinem »Blute predig[t]en.« 5 Der Vater, Adolf Schmitthenner 6 , der in Neckarbischofsheim und ab 1893 in Heidelberg sein Pfarramt ausübte, war auch als Dichter bekannt geworden. Schmitthenner führte seine erzählerische Begabung, die oft pathetisch und in epischer Breite seine Reden und Schriften durchzog, auf dieses Erbe zurück. Während Schmitthenner als Kind den Herbstmanövern der preußischen Armee im Kraichgau ein eher schwärmerisches Interesse entgegenbrachte, wurde aus dem Spiel mit Zinnsoldaten bei dem Heranwachsenden die detailgetreue Nachstellung von Schlachten auf der Basis kriegsgeschichtlicher Literatur. 7 Nach der Volksschulzeit und dem Besuch des Gymnasiums in Heidelberg kam für Schmitthenner nur eine militärische Laufbahn in Frage. Seine Herkunft aus einer traditionsreichen Pfarrersfamilie stand nicht im Widerspruch dazu, denn für vorangegangene Jahrhunderte gab es genealogische Belege über Vorfahren, die ebenfalls als Soldaten gedient hatten. Nach einer Familienlegende soll ein Bruder seines Ururgroßvaters als Oberst Ulrike Lennartz 624 1 Schmitthenner, Paul, Kindheits- und Jugenderinnerungen, S. 19, Schmitthenner-Familienarchiv. 2 Oft verwechselt mit dem am 15. Dezember 1884 in Lauterburg/ Elsaß geborenen Paul Schmitthenner, der als Professor für Architektur die »Stuttgarter Schule« entscheidend mitprägte. Er starb am 11. November 1972 in München. Vgl. Lurz, Meinhold, Paul Schmitthenner, in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 1, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1994, S. 333 - 335. 3 Vgl. Schmitthenner (wie Anm. 1), S. 3. 4 Schmitthenner (wie Anm. 1), S. 19. 5 Schmitthenner (wie Anm. 1), S. 9. 6 Vgl. Oeftering, W. C., Adolf Schmitthenner, in: Badische Biographien 6. Teil 1901 - 1910, hrsg. v. A. Krieger, K. Obser, Heidelberg 1935, S. 143 - 149. 7 Vgl. Schmitthenner (wie Anm. 1), S. 31, 150 f. und S. 159 f. <?page no="626"?> und Kommandant von Glatz Friedrich dem Großen das Leben gerettet haben und dafür geadelt worden sein. 8 In seinen Lebenserinnerungen sah sich Schmitthenner im Vergleich mit Bismarck, der das Gymnasium 1832 als Pantheist und Vernunft-Republikaner verlassen hatte, zu diesem Zeitpunkt als undogmatischer Christ und überzeugter Monarchist. 9 Seine militärische Karriere 10 begann er am 18. Juli 1904 als Fahnenjunker bei der »9. Kompagnie des 2. Badischen Grenadier-Regiments Nr. 110«, welches - gewiß in Schmitthenners Sinn - auch den Namen »Kaiser Wilhelm I.« trug. Er wurde dort Offizier und später Adjutant des Bataillons. Ab 1912 war er zur Kriegsakademie in Berlin abkommandiert. Ins Feld rückte er 1914 als Kompaniechef in einem badischen Bataillon, dessen Führung er bald übernahm. Nachdem er Adjutant einer selbständigen gemischten Brigade geworden war, wurde er in den Generalstab eines Armeeoberkommandos übernommen. Ab Herbst 1916 war er Erster Generalstabsoffizier von Großkampfdivisionen im Westen und nahm im weiteren Kriegsverlauf an Rückzugsschlachten und Stellungskämpfen teil. 11 Schmitthenner erhielt im Ersten Weltkrieg zahlreiche Orden und Ehrenzeichen 12 , darunter das EK I und II; 1920 wurde er mit einer Kriegsverletzung als Major verabschiedet. Seit 1919 studierte er Philosophie, Geschichte und Kriegsgeschichte in Heidelberg. 13 Hierbei konnte er auf die finanzielle Unterstützung seiner Frau Emma zurückgreifen, die er 1910 geheiratet hatte. Sie stammte mütterlicherseits aus der begüterten Familie Landfried, der eine Zigarrenfabrik in Heidelberg gehörte. Am Anfang seiner wissenschaftlichen Laufbahn 14 als Historiker stand die Dissertation bei Karl Hampe über »Die Ansprüche des Adels und Volks der Stadt Rom auf Vergebung der Kaiserkrone während des Interregnums«. 15 Die Doktorprüfung Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 625 8 Vgl. Schmitthenner (wie Anm. 1), S. 10 sowie den Artikel zu Friedrich Benignus von Schmitthenner (1727 - 1790) in: Genealogie der Familie Schmitthenner Teil I, in: Deutsches Familienarchiv. Ein genealogisches Sammelwerk Bd. 2, hrsg. v. G. Geßner, Neustadt an der Aisch 1954/ 55, S. 175 - 201, hier S. 191. 9 Vgl. Schmitthenner (wie Anm. 1), S. 170. 10 Vgl. hierzu Schmitthenners Offiziersakte, GLA 456/ 11074 sowie Badischer Geschäfts- und Adreßkalender, Anhang Behörden und Dienststellen im Elsaß, 3. Ausgabe, Stand Anfang Mai 1942, Karlsruhe o.J., S. 8. 11 Die pointierte Darstellung bei Heiber, Helmut, Universität unterm Hakenkreuz Teil 2, Bd. 2, München u.a. 1994, S. 303, wonach Schmitthenner den Weltkrieg »ab Ende 1914 beschaulich bei einem Generalstab im Westen verbracht« hatte, ist wahrscheinlich nicht zutreffend. 12 Vgl. Groß, Karl (Bearb.), Handbuch für den Badischen Landtag. V. Landtagsperiode 1933 - 1937, Karlsruhe 1934, S. 145 f. und UAHD PA Schmitthenner 5708. 13 Vgl. Groß (wie Anm. 12), S. 146 und Badischer Geschäfts- und Adreßkalender (wie Anm. 10), S. 8. Bei Wolgast, Eike, Paul Schmitthenner, in: Badische Biographien N.F. Bd. 3, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1990, S. 239 - 243, hier S. 239 die wohl irrtümliche Angabe, daß Schmitthenner das Geschichtsstudium an der Kriegsakademie Berlin begonnen habe, während die Zeit an der Berliner Kriegsakademie von 1912 - 1914 keine Erwähnung findet. 14 Vgl. UAHD PA Schmitthenner 5708 und Wolgast (wie Anm. 13), S. 239 f. 15 Schmitthenner, Paul, Die Ansprüche des Adels und Volks der Stadt Rom auf Vergebung der Kaiserkrone während des Interregnums (Historische Studien 155), Berlin 1923. <?page no="627"?> bestand Schmitthenner am 2. Mai 1922 mit dem Gesamtergebnis ausgezeichnet (1. Grad). Seine Habilitationsschrift über »Weltgeschichte des Krieges« wurde 1930 in populärwissenschaftlicher Form unter dem Titel »Krieg und Kriegführung im Wandel der Weltgeschichte« 16 veröffentlicht. In seiner Rezension des Werkes würdigte Friedrich Lammert die Menge des aus allen Kulturkreisen zusammengetragenen Tatsachenmaterials, das im einzelnen nicht der Zuverlässigkeit entbehre, und die Fülle der Abbildungen. Kritik übte er an der kapitelweisen thematischen Darstellung über alle Zeitspannen hinweg, unter Verzicht auf eine Zeitfolge in der Gesamtdarstellung, und an der abstrakten Ausdrucksweise sowie der sprachlichen Durchsetzung mit Fremdwörtern. 17 Die Venia legendi für das Fach »Geschichte des Kriegswesens« wurde ihm am 3. November 1928 verliehen. 18 Seine Antrittsvorlesung »Die Auseinandersetzung Asiens und Europas in ihrer Bedeutung für das Kriegswesen« 19 wurde 1929 in der Historischen Zeitschrift veröffentlicht. Obwohl Schmitthenner als Privatdozent im Fach Kriegsgeschichte wissenschaftlich nur wenig hervortrat, wurde es, nach Karl Jaspers, vor 1933 im Kollegenkreis als durchaus selbstverständlich angesehen, »daß er [Schmitthenner, U.L.] zum Ordinarius reif sei«. 20 Die Mehrheit der Heidelberger Professoren vertrat in den 20er Jahren eine verfassungsfremde national-konservative Gesinnung und verband mit der Weimarer Republik die Niederlage von 1918 und die »Schmach« des Versailler Vertrags. Die Distanz zu den staatstragenden Parteien entsprach dem gelehrten Selbstverständnis von Überparteilichkeit, welches aber eine Hinwendung zu rechten Parteien und eine Betonung des »Nationalen« in Erinnerung der vergangenen deutschen Größe und Weltgeltung durchaus nicht ausgeschlossen hat. 21 Freilich gingen nur wenige so weit wie Schmitthenner, der schon seit 1919 mit Vorträgen »über den Weltkrieg, gegen Marxismus, Pazifismus und Weimarer System« 22 rednerisch tätig war und sich ab 1925 als Heidelberger Vertreter der DNVP im Badischen Landtag auch parteipolitisch für seine Überzeugungen einsetzte. Zuerst war er Abgeordneter, dann Fraktionsführer und später gehörte er zu den Vorsitzenden der Landespartei. Nach seiner Habilitation 1928 war erstmals seit dem Rückzug des Nationalökonomen Eberhard Gothein aus der aktiven Politik im Jahre 1922 wieder ein Heidelberger Dozent im Badischen Landtag. Aber im Gegensatz zu den Honoratiorenpolitikern, die sich erst Ulrike Lennartz 626 16 Schmitthenner, Paul, Krieg und Kriegführung im Wandel der Weltgeschichte (Museum der Weltgeschichte 3), Wildpark-Potsdam 1930. 17 Vgl. Lammert, Friedrich, P. Schmitthenner, Krieg und Kriegführung im Wandel der Weltgeschichte, in: Historische Zeitschrift 143 (1931), S. 615 f. 18 Vgl. UAHD PA Schmitthenner 5708. 19 Schmitthenner, Paul, Die Auseinandersetzung Asiens und Europas in ihrer Bedeutung für den Krieg, in: Historische Zeitschrift 140 (1929), S. 489 - 512. 20 Jaspers, Karl (1961) zit. nach Wolgast (wie Anm. 13), S. 240. 21 Vgl. Wolgast, Eike, Die Universität Heidelberg in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 135 (1987), S. 359 - 406, hier S. 361. 22 Badischer Geschäfts- und Adreßkalender (wie Anm. 10), S. 8. <?page no="628"?> als Professoren für ein Mandat qualifizierten, vertrat Schmitthenner »den neuen Typus des Berufspolitikers« 23 , der versuchte, seine politischen Erfolge zur Förderung seiner wissenschaftlichen Karriere zu nutzen, wie sein weiterer wissenschaftlicher Werdegang ab 1933 noch zeigen wird. Die Kritik profilierter Fachkollegen an einer solchen Verknüpfung von Professorenamt und politischer Überzeugung macht das Antwortschreiben des Freiburger Historikers Gerhard Ritter auf einen Brief Schmitthenners vom 1. Januar 1928 deutlich. Schmitthenner hatte darin eine Pressekampagne gegen den Badischen Kultusminister Leers angeregt, da dieser den Lehrauftrag des pazifistisch eingestellten Heidelberger Professors Emil Julius Gumbel gegen den Willen der Philosophischen Fakultät und des neuen Dekans Willy Andreas, ein entschiedener Gegner Gumbels 24 , verlängert hatte. Ritter erteilte dem Vorhaben eine ebenso klare wie prinzipielle Absage: »Es scheint mir durchaus nicht Aufgabe von Universitätsprofessoren, ihre akademischen Wünsche [...] durch politisches Intrigieren aus dem Hinterhalt [...], am wenigsten aber durch Ministerstürzerei durchzusetzen«. 25 Schmitthenners Anliegen, eine erneute nationale Einigung unter preußischen Vorzeichen zu schaffen, führte zu pseudo-mystischen Überhöhungen der Heroen preußischer Geschichte. 26 Der allgemeinen Würdigung von Bismarcks Persönlichkeit und übergroßer Autorität als Reichsgründer 27 schloß er sich in der ihm eigenen Weise an. So verglich er im April 1926 unter der Überschrift »Deutsche Ostern! Zu Bismarcks Geburtstag« unter Verwendung von religiösem Vokabular Bismarck mit einem Berg, dessen Gipfel von den Deutschen zu erklimmen sei. Den Text durchsetzte er wiederholt mit einem beschwörenden »Bismarck erwache! «, um einen Führer für Deutschland herbeizurufen: »Wohl mag er [Bismarck, U.L.] uns selbst unerreichbar sein, aber er weht im Blut unseres Volkes dort und hier und wird sich wieder einst zusammenfinden zu menschlicher Gestalt.« 28 In einer am 18. Januar 1929 vor Kriegsveteranen von 1870/ 71 in Freiburg gehaltenen Rede mit dem Titel »Der Deutschen Weg zum dritten Reich« bezeichnete er das Glück und die Erlösung der Reichsgründung als Resultat des Zusammenwirkens dreier Kräfte, nämlich: dem Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 627 23 Jansen, Christian, Professoren und Politik. Politisches Denken und Handeln der Heidelberger Hochschullehrer 1914 - 1935 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 99), Göttingen 1992, S. 202. 24 Vgl. Jansen, Christian, Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten, Heidelberg 1991, S. 26 ff. 25 Ritter an Schmitthenner, 7. Februar 1928, in: Gerhard Ritter, Ein politischer Historiker in seinen Briefen, hrsg. v. K. Schwabe, R. Reichardt (Schriften des Bundesarchivs 33), Boppard am Rhein 1984, S. 231. 26 Vgl. auch Schmitthenner, Paul, Finale zum Fridericus-Streit, in: Badische Zeitung, 21. und 22. Januar 1927. 27 Vgl. hierzu Eyck, Erich, Bismarck nach fünfzig Jahren, in: Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, hrsg. v. L. Gall (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 42 Geschichte), Köln, Berlin 1971, S. 34 - 50, hier S. 34. 28 Schmitthenner, Paul, Deutsche Ostern! Zu Bismarcks Geburtstag, in: Badische Zeitung, 7. und 8. April 1926, hier 8. April 1926. <?page no="629"?> preußischen Machtstaat, der nationalen Sehnsucht der Deutschen und dem göttlichen Genius, »der in Otto v. Bismarck als ein Geschenk der Gnade Fleisch geworden war«. Für die Weimarer Republik war dagegen der am 20. Januar 1920 in Kraft getretene Versailler Vertrag maßgebend: »Dort ward zerstört und zerrissen! « 29 In manchen Partien wortwörtlich mit dieser Rede von 1929 übereinstimmend war die »Festrede zur Feier der Wiederkehr des Tages der Machtergreifung durch den Führer und Reichskanzler am 30. Januar 1935« mit dem Titel »Vom Ersten zum Dritten Reich«. Breiten Raum nahm die Schilderung des Preußentums ein, dessen Idee nun aber in sinnfälliger Weise den ideologischen Erfordernissen der Zeit angepaßt wurde: So erschien das Preußentum als »das verheißungsvolle Symbol nordischen Wesens, die vorbildliche, dem Sinn nach ewige Form des deutschen Sozialismus«. 30 Dem herbeigesehnten »Führer« konnte Schmitthenner nun in der Person Hitlers huldigen: Das »edle Erbgut deutsch-heldischen Wesens« sei im Weltkrieg nicht gestorben: »Es schlummerte osterbereit in den Toten, Saat von Gott gesät, [...] Es sammelte sich in der Seele Adolf Hitlers, jenes Mannes, dem es beschieden war, einst der Retter Deutschlands zu werden.« 31 Auf diese Weise ergab auch der verlorene Weltkrieg für Schmitthenner einen Sinn. Seine in Analogien gehaltene Argumentation ließ sich auf einen einfachen Nenner bringen: der volksdeutsche Nationalsozialismus mit seiner rassischen, sozialistischen und autoritären Grundlage sei aus der Weiterentwicklung der preußischen Idee hervorgegangen und ersetze diese. 32 Schmitthenners religiös verklärtes und übersteigertes Preußentum wurde in seinen Reden so zum Nährboden, auf dem die NS-Ideologie wachsen konnte. 33 Auch im Landtag setzte er sich wortgewandt für seine Überzeugungen ein. Der Verschärfung des republikfeindlichen Kurses der DNVP unter Hugenberg folgte er in seinen Reden, die seit 1930 zunehmend aggressiver wurden. 34 Er beteiligte sich damit an der Verunglimpfung des parlamentarischen Systems und trug so zu dessen Zerstörung bei. In einer großen Landtagsrede vom 28. April 1932, die in der Breisgauer Zeitung Ulrike Lennartz 628 29 Schmitthenner, Paul, Der Deutschen Weg zum dritten Reich, Sonderdruck aus der Breisgauer Zeitung, 21. Januar 1929. 30 Schmitthenner, Paul, Vom Ersten zum Dritten Reich. Festrede zur Feier der Wiederkehr des Tages der Machtergreifung durch den Führer und Reichskanzler am 30. Januar 1935 (Freiburger Universitätsreden 16), Freiburg i. Br. 1935, S. 10. 31 Schmitthenner (wie Anm. 30), S. 15. 32 Vgl. Schmitthenner (wie Anm. 30), S. 16 ff. 33 Vgl. im Gegensatz dazu das Preußenbild des Historikerkollegen Ritter, Gerhard, Friedrich der Große. Ein historisches Profil, Leipzig 1936 und ders., Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des »Militarismus« in Deutschland, 4 Bde., München 1954 - 1968. Allgemein zum Thema der Aufsatz von Mommsen, Hans, Preußentum und Nationalsozialismus, in: Der Nationalsozialismus. Studien zur Ideologie und Herrschaft, hrsg. v. W. Benz, H. Buchheim, H. Mommsen, Frankfurt/ Main 1993, S. 29 - 41. 34 Vgl. Wolgast (wie Anm. 13), S. 240. <?page no="630"?> unter dem vielsagenden Titel »Die deutschnationale Abrechnung mit dem badischen System« 35 abgedruckt wurde, wandte er sich gegen den von der badischen Regierung geführten Kampf gegen die NSDAP und stellte fest: »Wir verstehen überhaupt die Politik nicht, die zur Zeit hier und im Reiche von den herrschenden Parteien betrieben wird. Man greift sich da wirklich an den Kopf. [...] Da ist nun einmal eine politische Bewegung, die, glaube ich, zur größten geschichtlichen Partei angewachsen ist, die man sich denken kann, die es je gegeben hat. [...] Die einzige praktische Politik wäre die, die Opposition mit der Regierungsverantwortung zu belasten«. 36 Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler eines »Kabinetts der nationalen Konzentration« am 30. Januar 1933, welche die sogenannte »Machtergreifung« einleitete, wurde von Schmitthenner im Hinblick auf den Zusammenschluß der nationalen Kräfte begrüßt: »Gott sei Dank, daß sie [von Papen und Hitler, U.L.] zusammen gekommen sind! Süd- und Norddeutschland sind einst zusammen gekommen und so ist [sic! ] Papen und Hitler auch zusammen gekommen«. 37 Als Robert Wagner in seiner Funktion als Reichskommissar am 11. März 1933 die Auflösung der badischen Regierung veranlaßte und sie aus eigener Machtvollkommenheit durch eine kommissarische Regierung ersetzte, gehörte Schmitthenner als Staatskommissar dieser »Regierung der nationalen Erhebung« 38 an. Dabei nahm er eine Sonderstellung ein, denn er blieb nach wie vor Abgeordneter der DNVP und war über zehn Jahre älter als die »NSDAP-Kämpfer« Wagner, Pflaumer, Köhler und Wacker. 39 Wagner sprach Schmitthenner seinen Dank und seine Anerkennung aus und versicherte, daß die badischen Nationalsozialisten ihn, »obwohl er nicht zu unserer nationalsozialistischen Bewegung gehört, immer geschätzt haben«. 40 Am 6. Mai wurde Schmitthenner Staatsrat, und ab Ende September 1933 gehörte er dem Badischen Staatsministerium als Staatsminister ohne Geschäftsbereich an. 41 Sein Parteieintritt unter der Mitgliedsnummer 2.090.224 erfolgte im August 1934 und wurde, wohl um mit der Ernennung zum Minister ohne Geschäftsbereich übereinzustimmen, auf den 1. Oktober 1933 zurückdatiert. 42 Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 629 35 Breisgauer Zeitung, 7. Mai 1932. 36 Verhandlungen des Badischen Landtags. Protokolle, 28. April 1932, Sp. 1207 - 1225, hier Sp. 1208. Eine Abgrenzung zur NSDAP nahm er nur auf wirtschaftlichem Gebiet vor, indem er betonte, daß die DNVP im Gegensatz zur NSDAP Privatwirtschaft und Privateigentum schützen wolle. 37 Verhandlungen des Badischen Landtags. Protokolle, 3. Februar 1933, Sp. 903 ff., hier Sp. 905. 38 Vgl. Pressefoto der »Regierung der nationalen Erhebung« in Baden, in: »Der Führer«, 15. März 1933 (auch in: Sauer, Paul, Baden-Württemberg. Bundesland mit parlamentarischen Traditionen, hrsg. v. Landtag Baden-Württemberg, Stuttgart 1982, S. 189, Abb. 123). 39 Die Altersdifferenz zu Schmitthenner (*1884) betrug 11 bis 15 Jahre: Robert Wagner (*1895), Karl Pflaumer (*1896), Walter Köhler (*1897) und Otto Wacker (*1899). 40 Wagner, Robert, in: »Der Führer«, 9. Mai 1933. 41 Vgl. GLA 233/ 29453. 42 Vgl. Angaben in der Spruchkammerakte, GLA 465a B/ Sv/ 1629. Heiber (wie Anm. 11), S. 776, Anm. 1130 ordnet die Mitgliedsnummer unter Berufung auf BA Slg. Schumacher 376 dem Aufnahmetag 1. Mai zu. <?page no="631"?> Obwohl nach der Machtübernahme (in Baden) anfangs noch von einer Kooperation zwischen der DNVP und NSDAP gesprochen werden konnte, geriet die DNVP schon im Juni 1933 zusammen mit dem Stahlhelm in den Verdacht, ein Sammelplatz staatsfeindlicher Elemente zu sein, und löste sich auf. 43 Inwieweit Schmitthenner als Mitglied der badischen Regierung darauf Einfluß nahm, ist schwer abzuschätzen. In die Zeit nach der Machtübernahme fiel jedenfalls die Einrichtung des sogenannten »Büro Schmitthenner«, dem die frühere DNVP-Abgeordnete Johanna Richter vorstand. Das Büro, das nationalsozialistische Übergriffe, besonders im Rahmen der Gleichschaltungsmaßnahmen, nach Möglichkeit begrenzen sollte, wurde angeblich aufgrund einer Denunziation längere Zeit überwacht und gegen Ende 1937 auf Parteibefehl aufgelöst. Trotz spürbarer Bespitzelung habe Richter, so Schmitthenner, die Arbeit jedoch in Pforzheim bis zu ihrem Tod im Jahre 1943 fortgeführt. 44 Weiter ging es mit Schmitthenners politischer Karriere erst, als sein Amtsvorgänger Dr. Otto Wacker im Februar 1940 unerwartet verstarb und er durch Erlaß vom 12. Mai 1940 von Hitler »mit der Wahrnehmung der Geschäfte« 45 des Badischen Kultusministers beauftragt wurde. Nach der Amtseinführung, die zum 4. Juni 1940 erfolgte, stand Schmitthenner, wie schon sein Amtsvorgänger Wacker, bald in einem scharfen Gegensatz zu dem Freiburger Erzbischof Conrad Gröber, der in einem Schreiben vom 22. Juli 1940 um eine »Aussprache über Fragen der Erteilung des Religionsunterrichtes« mit dem Kultusminister bzw. dessen Stellvertreter bat. 46 Während der Referent im Ministerium, Dr. Josef Denz, eine zwar hinhaltende, aber doch wohlwollende Antwort formulierte, fertigte Ministerialdirektor Gärtner, der das Ministerium anscheinend dominierte, im August 1940 einen Aktenvermerk an, der sich auf SD-Berichte berief. Danach sei Gröber »der größte Feind der NSDAP und des nationalsozialistischen Staates. Lediglich sein Amt als Erzbischof hat ihn bisher davor bewahrt, daß er noch nicht als Hochverräter im Gefängnis sitzt.« 47 Eine Aussprache über Fragen des Religionsunterrichts mit Gröber sei zwecklos, außerdem könne ein Minister keinen »Hochverräter« empfangen. Schmitthenner ließ daraufhin das Schreiben in Gärtners Sinn ändern. Ulrike Lennartz 630 43 Zu Schmitthenners Position vgl. Grill, Johnpeter Horst, The Nazi Movement in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 329 und S. 612, Anm. 4. 44 Vgl. Nachgang vom 3. August 1950, GLA 465a B/ Sv/ 1629 sowie die ironische Kommentierung bei Heiber (wie Anm. 11), S. 311 f. 45 GLA 233/ 29453 und den Beitrag über Otto Wacker in diesem Band. 46 Vgl. Maier, Joachim, Schulkampf in Baden 1933 - 1945. Die Reaktion der katholischen Kirche auf die nationalsozialistische Schulpolitik, dargestellt am Beispiel des Religionsunterrichts in den badischen Volksschulen (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 38), Mainz 1983, S. 184 ff. 47 GLA 235/ 12790. Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die nationalsozialistische Diktatur. Eine Studie zum Episkopat des Metropoliten der Oberrheinischen Kirchenprovinz während des Dritten Reiches, Karlsruhe 1986, S. 144 schreibt den Aktenvermerk irrtümlich Schmitthenner zu. <?page no="632"?> Damit führte er den im Kultusministerium bereits vorgegebenen Kurs gegen Gröber fort und berief sich auf die geltenden Reichsverordnungen. Gröbers Klage über die ungerechte Behandlung seiner Geistlichen vom 31. Oktober 1941 hatte wiederum einen scharfen Briefwechsel mit dem Kultusminister zur Folge, in dem dieser auf den hochverräterischen Inhalt von Gröbers Predigten hinwies. Die Geistlichen, die Gröbers Beispiel folgten, seien »gewissenlose Elemente«. 48 Eine weitere Verschärfung erhielt die Auseinandersetzung mit dem Erzbischof in den Jahren 1942/ 43, als Gröbers Predigten seitens der NSDAP einer Kontrolle unterzogen wurden. 49 Konfliktstoff bot auch die Veröffentlichung einer von Schmitthenner zusammen mit Friedrich Fliedner unter dem Titel »Führer und Völker« 50 herausgegebenen Reihe von Geschichtsbüchern für höhere Schulen. Gröber bezeichnete diese Werke in einem Brief an Papst Pius XII. vom 8. Februar 1944 als unsachlich und kritisierte insbesondere, daß in manchen Partien christentumsfeindlich und gehässig gegen den Heiligen Stuhl polemisiert werde. 51 Die scharfe Ablehnung der tendenziösen Geschichtsdarstellung durch den Oberhirten war durchaus berechtigt 52 und wurde sicherlich noch durch den bestehenden konfessionellen Gegensatz Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 631 48 Vgl. hierzu und zum weiteren Verlauf des Schriftwechsels Schwalbach (wie Anm. 47), S. 144 ff., Maier (wie Anm. 46), S. 186 f. und Hoffmann, Konrad (Hrsg.), Hirtenrufe des Erzbischofs Gröber in die Zeit (Das christliche Deutschland 1933 - 1945, Katholische Reihe 7), Freiburg 1947, S. 17 f. und S. 121 ff. Nach einem von Denz verfaßten Entlastungsschreiben für Schmitthenner vom Oktober 1947 hatte sich damals, wohl auf Veranlassung Gärtners, Gauleiter Wagner eingeschaltet und die Beschuldigung Gröbers als Hoch- und Landesverräter, die Schmitthenner durch die inhaltliche Beanstandung der Predigten umgangen hatte, gefordert. Vgl. GLA 465a B/ Sv/ 1629. Denz verwies auf die Darstellung des Briefwechsels bei Hoffmann. 49 Nach dem Krieg berief sich Gröber zum Beweis, daß er »von der Partei in schmählichster Weise verfolgt« worden sei, auf Kommentare Schmitthenners zu stenographischen Predigtabschriften der Gestapo. Der Erinnerung eines Zeitzeugen zufolge fand sich in Schmitthenners Schreiben die Bemerkung, das Leben des Erzbischofs Gröber gehöre »ausgelöscht«, jedoch eigne sich das »derzeitige Kriegsgeschehen nicht dazu«. Zit. nach Schwalbach (wie Anm. 47), S. 88 f. Vgl. hierzu die allerdings problematische Aussage von Denz, wonach Schmitthenner »hetzerische oder gehässige Äusserungen gegen die Kirche oder Geistliche« ferngelegen hätten. Im Rahmen dieser Argumentation erschien es kaum glaubhaft, daß Schmitthenner den Tod des Erzbischofs gefordert habe. GLA 465a B/ Sv/ 1629. 50 Schmitthenner, Paul; Fliedner, Friedrich (Hrsg.), Führer und Völker. Geschichtsbuch für höhere Schulen, Bd. 1 - 8, Bielefeld, Leipzig 1939 ff. 51 Vgl. Maier (wie Anm. 46), S. 188, Anm. 840. In seinem Hirtenschreiben »Die deutsche Jugend, ihr Irrweg und ihre Heimkehr« vom August 1945 wandte sich Gröber wiederholt gegen diese Geschichtsbücher, in denen »man sowohl deutsche Menschen, wie den ›Sachsenschlächter‹ Karl den Großen, als auch andere Völker und ihre Könige und Herrscher in der Achtung des Volkes verdunkelte und entthronte, um ihnen gegenüber dann das Machtvolle und Einzigartige der wirklich deutschen ›Helden‹, aber auch Ulrichs von Hutten und anderer Raubritter des Geistes und der Faust ins hellste Licht zu rücken.« Gröber, Conrad, Die deutsche Jugend, ihr Irrweg und ihre Heimkehr, in: Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die deutsche Katastrophe. Sein Ringen um eine menschliche Neuordnung, Karlsruhe 1994, S. 222 - 250, hier S. 230. 52 Vgl. Bopp, Marie-Joseph, L’Alsace sous l’Occupation Allemande 1940 - 1945, 2 me édition Le Puy 1947, S. 152: »Le comble de la falsification historique se trouve dans le livre d’histoire: ›Fuehrer und <?page no="633"?> zwischen dem katholischen Bischof und dem durch protestantische Traditionen geprägten Minister verstärkt. 53 Zu der permanenten Auseinandersetzung zwischen Gröber und Schmitthenner gehörte auch Gröbers Kritik an der von Schmitthenner betriebenen Militarisierung der Jugend. So forderte ein Erlaß des Badischen Kultusministeriums über die politische Aktivierung der Schulen, »die ihnen anvertraute Jugend ›geistig-seelisch und körperlich zur Wehrbereitschaft und Wehrhaftigkeit zu erziehen mit dem Ziel, [...] daß die Verteidigung der Ehre, Einheit und Freiheit des Reiches und des Lebensrechtes der Natur die höchste Aufgabe und die heiligste Pflicht jedes deutschen Menschen‹« 54 sei. Eine Druckschrift vom 21. März 1944 mit dem Titel »Hitlerjugend und Schule im totalen Krieg« ergänzte diesen Erlaß und formulierte als letztes Ziel: »Das ewige Reich der Deutschen ist die kommende Aufgabe der Jugend von heute.« 55 Nur wenige Wochen vor Kriegsende, am 7. März 1945, verfaßte Schmitthenner selbst noch ein Durchhalteflugblatt unter dem Titel »Einstellung der Schule und Erzieherschaft zum Kriegsgeschehen«. Darin beurteilte er, der sich doch auf seine soldatische Erfahrung und sein militärisches Wissen soviel zu gute hielt, gegen jede realistische Einschätzung der Kriegslage die Siegesaussichten als günstig. Die Erzieher rief er auf, selbständig zur Waffe zu greifen und bezeichnete eigenmächtiges Verlassen der Dienststelle als feige Flucht und größte Schande. Schüler und Schülerinnen seien »zum Haß gegen unsere Feinde zu erziehen«. 56 Ausschlaggebend für das martialische Gebaren Schmitthenners scheint die Fronterfahrung aus dem Ersten Weltkrieg gewesen zu sein, die für ihn wie für viele andere Weltkriegsteilnehmer zum Trauma geworden war. Die Teilnahme an den Rückzugsgefechten im Westen hatte ihn damals gesundheitlich so mitgenommen, daß er im April 1919 um eine Erholungs- und Ruhezeit bitten mußte, da er nach einer schweren Grippe, verbunden mit Herzbeschwerden, einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, den er als Folge der Überanstrengung der letzten beiden Kriegsjahre darstellte. 57 In seinem Erlaß zur politischen Aktivierung der Schulen vom 24. November Ulrike Lennartz 632 Voelker‹ du ministre badois de l’éducation, le Dr. Schmitthenner lui-même. Il prétend sérieusement que Dante n’a pu écrire la ›Divine Comédie‹ que parce qu’il était de race germanique et que le grand peintre Leonardo da Vinci était également d’origine purement allemande, de son vrai nom Leonhard von Wincke! « In der Anmerkung zitiert Bopp den Abschnitt aus Führer und Völker, 7. Klasse, Bielefeld, Leipzig 1941, S. 77, der doch recht frei von ihm paraphrasiert wurde, denn dort ist von dem Anteil an germanischem Blut bei den großen Renaissance-Menschen und von ihren gotischen Namen die Rede. 53 Vgl. zu diesem Aspekt das Entlastungschreiben des Verlages vom Dezember 1947, in dem anhand von Textstellen zu Karl dem Großen, Luther, Bismarck oder Cromwell die christlich-evangelische Einstellung Schmitthenners verdeutlicht wird. GLA 465a B/ Sv/ 1629. 54 Gröber (wie Anm. 51), S. 228 f. Ein Exemplar des mit Dr. Schmitthenner unterzeichneten Erlasses vom 24. November 1943 befindet sich in GLA 235/ 16682. 55 Zit. nach Gröber (wie Anm. 51), S. 229. 56 UAHD PA Schmitthenner 5709. Vgl. auch Heiber (wie Anm. 11), S. 311. 57 Vgl. Urlaubsgesuch vom 22. April 1919, GLA 456/ 11074. <?page no="634"?> 1943 hatte er deshalb bereits an den Zusammenbruch des Jahres 1918 erinnert. Er sei »nur deshalb möglich [gewesen U.L.], weil den unerhörten Leistungen der Front die Haltung des Volkes in der Heimat nicht entsprach. Das Versagen seiner politischen Führung und seine eigene Mutlosigkeit hat das deutsche Volk mit 25 Jahren der Schande und Schmach, der Not und des Elendes bezahlen müssen.« 58 Einen zweiten Zusammenbruch ähnlich dem von 1918 durfte es daher nach Schmitthenner selbst in der völlig aussichtslosen Lage des Jahres 1945 nicht mehr geben. Fast zeitgleich mit der Amtseinführung als Badischer Kultusminister erfolgte die Ernennung Schmitthenners zum Leiter der Abteilung Erziehung, Unterricht und Volksbildung im Elsaß. Gauleiter Wagner war nach der militärischen Niederlage Frankreichs im Juni 1940 zum Chef der Zivilverwaltung in dem nun wieder dem Reich eingegliederten Elsaß ernannt worden und in seinem Handeln dort allein dem »Führer« gegenüber verantwortlich. Diese direkte Unterstellung galt auch für die badischen Minister, die als Verwaltungschefs im Elsaß ebenfalls nicht den obersten Reichsbehörden, sondern nur dem Beauftragten Hitlers unterstellt waren. Die von den Karlsruher Ministerien errichteten »Nebenstellen« in Straßburg wurden bald zu eigenständigen Ressorts. Die Personalunion an der Spitze der einzelnen Ministerien verband die beiden Gauhälften. 59 Als Leiter der Abteilung Erziehung, Unterricht und Volksbildung war Schmitthenner in oberster Instanz für die »Volkstumspflege« und die nationalsozialistische Erziehung der Lehrer im Elsaß zuständig. 60 Mit der fachlichen Umschulung der elsässischen Volksschullehrer beauftragte Wagner Ministerialdirektor Gärtner, der als Gauamtsleiter des Amtes für Erzieher der NSDAP auch für die weltanschauliche Schulung aller elsässischen Lehrer in den Gauschulen des NS-Lehrerbundes verantwortlich war. 61 Diese ideologischen Zwangsumschulungen, die sich über mehrere Wochen bzw. Monate hinzogen, waren für die Teilnehmer mit Härten verbunden. Sie wurden überdies zum Beitritt in den NS-Lehrerbund und zur parteipolitischen Betätigung verpflichtet. 62 Schmitthenner bezeichnete Gärtner als seinen wichtigsten Mitarbeiter und Fach- Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 633 58 GLA 235/ 16682. 59 Vgl. Kettenacker, Lothar, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß (Studien zur Zeitgeschichte 5), Stuttgart 1973, S. 141 f. 60 Vgl. Borst, Otto, Die Wissenschaften, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttgarter Symposion 1), Stuttgart 1988, S. 149 - 182, hier S. 172. 61 Vgl. Kettenacker (wie Anm. 59), S. 203. Eine Charakterisierung Gärtners gibt Bopp (wie Anm. 52), S. 143: »La direction de l’enseignement primaire fut confiée au Ministerialdirektor Pg Karl Gaertner, un ancien instituteur que les dirigeants du parti récompensèrent ainsi son zèle pour la bonne cause. Ses mérites politiques l’avaient rendu digne d’occuper cette haute position, réservée autrefois à des universitaires.« Ernst, Robert, Rechenschaftsbericht eines Elsässers (Schriften gegen Diffamierung und Vorurteile 5), 2. Aufl. Berlin 1955, S. 290 stellt das Wirken Gärtners im Elsaß in ein gutes Licht; sein Urteil lautet: »Hinter einem brummigen, oft geradezu brutal wirkenden Äußeren verbarg sich ein mitfühlendes Herz.« 62 Vgl. Kettenacker (wie Anm. 59), S. 203. Vgl. hierzu auch die Darstellung des »umgeschulten« elsässischen Lehrers Phillips, Eugène, Une tragédie pour l’Alsace: La dictature nazie et l’incorporation de force. Un témoignage vécu, Strasbourg 1993. <?page no="635"?> mann ersten Ranges auf dem Gebiet der Lehrerumschulung, da er »die von meiner Abteilung herauszugebenden Lehrpläne, Umschulungspläne und Lehrbücher in kürzester Frist persönlich bearbeitet und mit mir die wirklich ungewöhnliche Gesamtaufgabe mit ungewöhnlicher Arbeitskraft meistert.« 63 Auf den ersten Blick läßt dieses Lob nicht darauf schließen, aber es ist wohl von einer Rivalität zwischen Schmitthenner und Gärtner auszugehen, denn es liegt die Vermutung nahe, daß der durch Wagner protegierte Gärtner sowohl bei der Umschulung der Lehrer wie im Badischen Kultusministerium überhaupt als Ministerialdirektor das Sagen hatte. 64 Für seine Arbeit wurde er mehrfach durch hohe Auszeichnungen geehrt, die Schmitthenner als Vorgesetztem vorenthalten wurden. 65 Die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes 2. Klasse für besondere Verdienste bei der Aufbauarbeit im Elsaß durch Wagner muß für Schmitthenner 66 , den Träger hoher Orden aus dem Ersten Weltkrieg, einer Degradierung gleichgekommen sein, denn Gärtner erhielt das Kriegsverdienstkreuz 1. Klasse. 67 Aber selbst wenn Schmitthenner einer späteren Zeugenaussage zufolge »nur die Marionette« Gärtners 68 gewesen sein sollte, änderte dies nichts an seiner politischen Verantwortung. Im Vergleich zu seinem Wirken an der Universität Heidelberg scheint das Badische Kultusministerium insgesamt nur ein Nebenschauplatz für Schmitthenner gewesen zu sein. Die Universität Heidelberg, die im Kaiserreich als »liberale Hochburg« galt, wurde von antisemitischen Kreisen als »jüdisch« abqualifiziert. 69 Nach der »Säuberung« der Dozenten- und Studentenschaft 1933 wurde sie jedoch gern als nationalsozialistische Musteruniversität dargestellt 70 , war intern aber keineswegs so radikal wie ihr Ruf. 71 Noch 1940 beantwortete Schmitthenner in der Rede »Die Ulrike Lennartz 634 63 Deutsche Schulen im deutschen Elsaß. Unterredung mit Staatsminister Dr. Schmitthenner, in: Der Deutsche Erzieher, Heft 5 (1941), S. 140. (Nachdruck aus: Der Alemanne, Freiburg). 64 Zu einer ähnlichen Beurteilung kommt das Spruchkammerverfahren gegen Schmitthenner. Vgl. hierzu den Aktenvermerk vom 21. März 1951, GLA 465a B/ Sv/ 1629. 65 Nach dem Entlastungsschreiben von Michel Fuhs für Schmitthenner soll Gärtner 1943 den Gaukulturpreis und das Goldene Parteiabzeichen erhalten haben. Vgl. GLA 465a B/ Sv/ 1629. 66 Vgl. zur Auszeichnung Schmitthenners im Jahre 1941 UAHD PA Schmitthenner 5708. Die Verleihung des Kriegsverdienstkreuzes 1. Klasse durch den Führer wird in einem Zeitungsausschnitt über Schmitthenner, der 1944 seinen 60. Geburtstag begehen konnte, erwähnt. Vgl. hierzu UAHD PA Schmitthenner 5709. 67 Gärtner, 1897 in Lahr geboren, war seit 1930 NSDAP-Mitglied und galt als überzeugter und einsatzfreudiger Parteianhänger, der, 1932 noch Hauptlehrer, nach 1933 erst als Kommissar, dann Ministerialrat und ab November 1939 schließlich als Ministerialdirektor im Badischen Kultusministerium tätig war. Er starb am 26. November 1944 in Straßburg an einer Verwundung aus einem Schußwechsel mit einmarschierenden US-Truppen. Vgl. GLA 465a/ 51/ Sv/ 884. 68 Seebach, Dr. Kurt, Aktennotiz der Zentralen Spruchkammer Nordbaden vom 17. Oktober 1949, GLA 465a B/ Sv/ 1629. 69 Vgl. Giovannini, Norbert; Jansen, Christian, Judenemanzipation und Antisemitismus an der Universität Heidelberg, in: Jüdisches Leben in Heidelberg. Studien zu einer unterbrochenen Geschichte, hrsg. v. N. Giovannini, J.-H. Bauer, H.-M. Mumm, Heidelberg 1992, S. 155 - 199, hier S. 167 f. 70 Vgl. Der Heidelberger Student, 27. Juni 1936, S. 8 (Jubiläumsnummer: 550 Jahre Universität Heidelberg). 71 Vgl. Ernst, Fritz, Die Wiedereröffnung der Universität Heidelberg 1945 - 1946. Aus Anlaß des 70. <?page no="636"?> nationalsozialistische Bewegung und die Universität« die rhetorische Frage, ob denn zwischen beiden eine Verschmelzung tatsächlich stattgefunden habe, mit: »Niemand wird diese Frage voll bejahen wollen. Im Gegenteil, noch viel blieb und bleibt zu tun übrig«. 72 Die meistenteils rechtsextrem eingestellte Studentenschaft begrüßte die Machtübernahme 1933. Der nationalliberal-konservativ denkende Historiker Willy Andreas versuchte in seiner Funktion als Rektor, mit einer Strategie des Anpassens und Ausweichens auf die einsetzende Gleichschaltung der Universität zu reagieren. Ein grundsätzliches Eintreten gegen die nationalsozialistischen Säuberungsmaßnahmen erfolgte allerdings nicht, es wurde lediglich versucht, in möglichst vielen Fällen beim badischen Ministerium Ausnahmeregelungen zu erreichen. 73 Auch Schmitthenner setzte sich 1933 und später gelegentlich für rassisch oder politisch Verfolgte ein, worauf im Zusammenhang mit seiner Einstellung zu Juden noch zurückzukommen sein wird. In seinen Reden und Publikationen hat er sich jedoch ideologisch immer auf die Seite der Nationalsozialisten gestellt, so daß Wolgasts Charakterisierung zuzustimmen ist: »Schmitthenner war nicht eigentlich ein bösartig-bornierter Funktionär, eher ein sich an Phrasen berauschender Bramarbas.« 74 Bei der nationalsozialistisch ausgerichteten Feier des 1. Mai, die ab 1933 zu den üblichen akademischen Festakten trat und als Tag der nationalen Arbeit die nationale Erhebung würdigen und das Semester einleiten sollte, hielt Schmitthenner als badischer Staatskommissar und Dozent der Universität 1933 die Festansprache. In der mit schwarz-weiß-roter und Hakenkreuzflagge geschmückten Aula berief er sich bei seinem Bekenntnis zum neuen Staat mit den Worten »Hindenburg und Hitler seien heute das Doppelgestirn deutschen Glaubens« 75 ein weiteres Mal auf die Fortführung politischer und militärischer Traditionen Preußens. Seine Stellung an der Universität konnte Schmitthenner, der 1933 schon zu der Gruppe der älteren Privatdozenten gehörte 76 , in der Folgezeit schrittweise ausbauen. Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 635 Geburtstags von Karl Heinrich Bauer am 26. September 1960, in: Heidelberger Jahrbücher 4 (1960), S. 1 - 28, hier S. 2. 72 Schmitthenner, Paul, Die nationalsozialistische Bewegung und die Universität, in: Hochschulführer Heidelberg (1. Trimester) 12 (1940), S. 35 ff., hier S. 35. 73 Vgl. Wolgast, Eike, Willy Andreas, in: Badische Biographien N.F. Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1987, S. 4 - 7, hier S. 5 und ders. (wie Anm. 21), S. 371. 74 Wolgast, Eike, Die neuzeitliche Geschichte im 20. Jahrhundert, in: Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar, 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde, hrsg. v. J. Miethke, Berlin u.a. 1992, S. 127 - 157, hier S. 144. 75 Heidelberger Neueste Nachrichten, 2. Mai 1933 (Faksimile in: Leonhard, Joachim-Felix (Hrsg.), Bücherverbrennung. Zensur, Verbot, Vernichtung unter dem Nationalsozialismus in Heidelberg (Heidelberger Bibliotheksschriften 7), Heidelberg 1983, S. 34 f., hier S. 34). Vgl. auch die Darstellung bei Mußgnug, Dorothee, Die Universität Heidelberg zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 - 1986 Bd. 3, hrsg. v. W. Doerr, Berlin u.a. 1985, S. 464 - 503, hier S. 480 und Heiber (wie Anm. 11), S. 304. 76 Vgl. Wolgast (wie Anm. 21), S. 390. <?page no="637"?> Bereits am 12. Mai 1933 gab das Unterrichtsministerium bekannt, daß es die badische Regierung als eine dringliche Aufgabe betrachte, den Wehrwillen im deutschen Volk zu stärken und deshalb im Sommersemester eine Professur für Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Kriegsgeschichte und Wehrkunde einzurichten sei. Wegen der drängenden Zeit wurde auf das sonst übliche Berufungsverfahren verzichtet und die Professur Schmitthenner übertragen. 77 Dies war ein klarer Verstoß gegen das gewohnheitsmäßige Mitspracherecht der Fakultäten bei der Neueinrichtung von Lehrstühlen wie auch gegen ihr Vorschlagsrecht bei Berufungen. Die Philosophische Fakultät gab, wohl um einer offenen Konfrontation aus dem Weg zu gehen, am 18. Mai 1933 ihre Zustimmung, brachte aber gleichzeitig die Erwartung zum Ausdruck, daß in Zukunft das bisherige Verfahren eingehalten werde. 78 So übernahm Schmitthenner rückwirkend zum 16. Mai 1933 die Professur für Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Kriegsgeschichte und Wehrkunde, verbunden mit der Amtsbezeichnung und den akademischen Rechten eines ordentlichen Professors. 79 Seine feierliche Einführung am 20. Mai 1933 hatte mehr den Charakter einer Parteials einer Universitätsveranstaltung: neben Kultusminister Wacker und Innenminister Pflaumer waren die Führer der SA, SS sowie des Stahlhelms anwesend. Besondere Erwähnung fand die Teilnahme des überzeugten Antisemiten und NS-Vorkämpfers Philipp Lenard 80 , der erstmals seit 1932 wieder die Universität betrat. Schmitthenner sah sich in seiner Rede neben dem Dank für das Vertrauen der Regierung zu der Feststellung veranlaßt: »Ich bekenne mich zu diesem deutschen Volkstum, zu diesem neuen Gemeinschaftsstaat und zu seinem Führer Adolf Hitler.« 81 Um die neue Fachrichtung im universitären Gefüge zu institutionalisieren, wurde in Absprache mit dem Badischen Kultusministerium der Besuch einer zweistündigen Pflichtvorlesung innerhalb der ersten vier Semester vorgeschrieben. Da es sich in erster Linie um Gesinnungs- und Wissensbildung handeln sollte, war diese Veranstaltung auch für Studentinnen obligatorisch. Außerdem wurde das Fach »Geschichte mit besonderer Berücksichtigung von Kriegsgeschichte und Wehrkunde« als Hauptfach bei Staatsprüfungen und Promotionen zugelassen. 82 Die neue Abteilung Ulrike Lennartz 636 77 Vgl. Dahlhaus, Joachim, Geschichte in Heidelberg - Aktenstücke und Statistiken, in: Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar, 50 Jahre Institut für Fränkisch-Pfälzische Geschichte und Landeskunde, hrsg. v. J. Miethke, Berlin u.a. 1992, S. 263 - 319, hier S. 289 f. 78 Vgl. Vézina, Birgit, »Die Gleichschaltung« der Universität Heidelberg im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung (Heidelberger rechtswissenschaftliche Abhandlungen N.F. 32), Heidelberg 1982, S. 69 f. sowie Dahlhaus (wie Anm. 77), S. 290, Anm. 19. 79 Vgl. UAHD PA Schmitthenner 5708 und Groß (wie Anm. 12), S. 146. 80 Philipp Lenard (1862 - 1947), Professor für Physik und Nobelpreisträger (1905), wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einem fanatischen Antisemiten und Nationalsozialisten, der für eine »deutsche« Physik eintrat. Vgl. Schönbeck, Charlotte, Philipp Lenard, in: Badische Biographien N.F. Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1987, S. 184 - 187. 81 Der Heidelberger Student, 1. Juni 1933, S. 26. Vgl. auch Mußgnug (wie Anm. 75), S. 480 f. und Heiber (wie Anm. 11), S. 305. 82 Vgl. Schreiben Schmitthenners vom 22. Juli 1933, in: Dahlhaus (wie Anm. 77), S. 290 f. sowie die <?page no="638"?> wurde räumlich dem Historischen Seminar angegliedert und eine Assistentenstelle sowie finanzielle Mittel für eine Bibliothek und eine Schreibkraft zugesagt. 83 Nachdem mit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht am 16. März 1935 die einengenden Bestimmungen des Versailler Vertrages wegfielen, konnte aus der Abteilung für Kriegsgeschichte ein selbständiges Kriegsgeschichtliches Seminar werden, dem Schmitthenner als Direktor vorstand. 84 Das Seminar wurde ausdrücklich als wissenschaftliche, nicht als militärische Einrichtung präsentiert. Seine Hauptaufgabe sollte darin bestehen, »den Einfluß des Kriegs- und Wehrwesens auf die Kultur, insbesondere auf die Staaten und Völker, ihre Politik und ihr Schicksal zu erforschen.« 85 Am 1. Februar 1936 richtete Schmitthenner ein Schreiben an den Ministerpräsidenten, den Kultusminister und die Gauleitung der NSDAP, in dem er auf die Bedeutung der Forschungsergebnisse seiner Abteilung für die nationalsozialistische und politische Erziehung in Abgrenzung zu Professuren in Berlin und München hinwies und den politischen Charakter seiner Arbeit im Rahmen der Gesinnungsbildung am Oberrhein besonders herausstellte. Ziel dieses Schreibens war es, neben dem weiteren Ausbau des Seminars, die schon 1933 zugesagte Umwandlung in eine ordentliche Professur zu erreichen. 86 Rund eineinhalb Jahre später wurde Schmitthenners Wunsch Wirklichkeit, als das durch die Entlassung von Karl Jaspers im November 1937 freiwerdende Ordinariat für Philosophie zum Ordinariat für Wehrpolitik und Wehrwissenschaft umgewandelt werden konnte. 87 Trotz seiner Zugehörigkeit zur nationalsozialistischen Regierung Badens hatte Schmitthenner bei der Etablierung seines Faches ständig mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen. 88 Die Parteibegünstigung für Schmitthenners wehrwissenschaftliche Pläne hielt sich also durchaus in Grenzen. Mit der Ernennung zum Rektor durch Reichswissenschaftsminister Rust im November 1938 wurde Schmitthenner nach dem Juristen Wilhelm Groh und dem Pädagogen Ernst Krieck der dritte »nationalsozialistische Rektor« in Heidelberg. Groh, der Willy Andreas zum Oktober 1933 abgelöst hatte, war ein kompromißloser Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 637 Darstellung bei Vézina (wie Anm. 78), S. 168 und Mußgnug (wie Anm. 75), S. 478. 83 Vgl. Conze, Werner; Mußgnug, Dorothee, Aus der Arbeit der Universitätsinstitute. Das Historische Seminar, in: Heidelberger Jahrbücher 23 (1979), S. 133 - 152, hier S. 145. 84 Vgl. Wolgast, Eike, Die Universität Heidelberg 1386 - 1986, Berlin u.a. 1986, S. 157. Vgl. zur Benennung Dahlhaus (wie Anm. 77), S. 291, Anm. 20 und S. 292. 85 Die Universität Heidelberg. Ein Wegweiser durch ihre wissenschaftlichen Anstalten, Institute und Kliniken, hrsg. v. d. Pressestelle der Universität, Heidelberg 1936, S. 44 f., hier S. 44. 86 Vgl. GLA 235/ 29988. 87 Vgl. Conze/ Mußgnug (wie Anm. 83), S. 145. Im März 1937 war noch der Austausch mit dem Ordinariat für Neuere Kunstgeschichte, dessen Inhaber August Grisebach entlassen wurde, im Gespräch. Vgl. hierzu GLA 235/ 29988 sowie Mußgnug, Dorothee, Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität nach 1933 (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte N.F. 2), Heidelberg 1988, S. 97 f. 88 Vgl. Dahlhaus (wie Anm. 77), S. 289 sowie die Schriftwechsel, GLA 235/ 29988. <?page no="639"?> nationalsozialistischer »Führer«. Sein Nachfolger Krieck, der das Amt von April 1937 bis Oktober 1938 innehatte, setzte sich dagegen in bescheidenem Umfang für »jüdisch versippte« Dozenten oder »nichtarische« Studenten ein. Sein Rücktritt vom Rektorenamt ist wohl auf Konflikte mit dem Reichswissenschaftsminister zurückzuführen. 89 Schmitthenners Amtseinführung erfolgte im Rahmen der 552. Jahresfeier der Universität Heidelberg am 21. November 1938. In einer großangelegten Rede hob er die »Schicksalsgemeinschaft, die zwischen Wehrmacht und Wissenschaft heute mehr als je besteht«, hervor und betonte als entscheidende Kernfrage der Gegenwart die »Berufung echter Nationalsozialisten zu Lehrern und Forschern«. 90 Schmitthenner selbst charakterisierte seine besondere Befähigung und Kompetenz gern mit der Trias »Soldat, Politiker, Wissenschaftler«. 91 In dem 1944 von ihm sicherlich selbstverfaßten Antrag auf Verleihung der Goethemedaille anläßlich seines 60. Geburtstages - Schmitthenner war seit 1940 als beauftragter Kultusminister sein eigener Vorgesetzter im Rektorat - hieß es, »dass er Soldatentum, Wissenschaft und Politik in vollendeter Weise in sich vereinigt: Soldatentum als Fundament und Haltung, Wissenschaft als Rüstzeug und Mittel, Politik als Ziel.« 92 Der Antrag, der inhaltlich und sprachlich äußerst unbescheiden formuliert und so ein beredtes Zeugnis seiner überzogenen Selbsteinschätzung war, machte aus »Schmitthenners Werk eine glänzende wissenschaftliche Legitimierung des nationalsozialistischen Führerstaates vom Gesichtspunkt der wehrpolitischen Forschung aus.« Es sei »zugleich das Bekenntnis eines kämpferischen Soldaten, eines glühenden Nationalsozialisten und eines wehrpolitischen Künders von grossem Format.« 93 Diesen Selbstanspruch hat Schmitthenner in seinen Publikationen, die in dem Ulrike Lennartz 638 89 Vgl.Wolgast (wie Anm. 21), S. 385 ff., Weckbecker, Arno, Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933 - 1945 (Motive - Texte - Materialien 29), Heidelberg 1985, S. 165 f. und S. 185 f. sowie Vézina (wie Anm. 78), S. 165. Heiber (wie Anm. 11), S. 303 führt für die Tatsache, daß Schmitthenner auf den Vorschlagslisten der Fakultäten nicht an erster Stelle stand, zwei Möglichkeiten an: erstens Schmitthenners geringe Popularität, zweitens die Unwahrscheinlichkeit, daß »der Staatsminister Paul Schmitthenner, vor dem die Heidelberger Magnifizenzen bisher in Ehrfurcht erstorben waren«, dieses Amt annimmt. Leider bleibt Heiber hier spekulativ; denn auf das angedeutete Machtverhältnis des Staatsministers Schmitthenner zu seinen Vorgängern im Rektorenamt wird nicht weiter eingegangen. 90 Schmitthenner, Paul, Rede des Rektors der Universität Heidelberg zur 552. Jahresfeier der Universität Heidelberg (Heidelberger Universitätsreden N.F. 5), Heidelberg 1939, S. 5 und S. 11. Vgl. zum feierlichen Rahmen den Bericht in: »Der Führer«, 22. November 1938. 91 Schmitthenner, Paul, Politik und Kriegführung als wehrpolitisches Problem. Eine grundsätzliche Erwiderung, in: Historische Zeitschrift 159 (1939), S. 538 - 550, hier S. 550, läßt dem Hinweis auf sein Wissen, seine Methode und Lebenserfahrung den Zusatz folgen, er habe »wie wenige in Deutschland die wissenschaftliche, politische und soldatische Praxis und Theorie in einer Person vereinigt«. 92 UAHD PA Schmitthenner 5709. Eine Fassung des Antrages ist an Schmitthenners Stellvertreter als Minister, Ministerialdirektor Gärtner, gerichtet und von seinem Stellvertreter als Rektor, Prorektor Eugen Fehrle, unterzeichnet. Vgl. zur Verfasserschaft Wolgast (wie Anm. 21), S. 391 und Heiber (wie Anm. 11), S. 304 und S. 306 f. 93 UAHD PA Schmitthenner 5709. <?page no="640"?> gleichen militärischen Vokabular wie seine Reden gehalten waren, auf Kosten der Wissenschaftlichkeit eingelöst. Die Verknüpfung der Begriffe Frieden und (totaler) Krieg gehörte ebenso zu seinem Standardrepertoire wie die metaphernreiche Verklärung der Partei und des »Führers«. Er pries den Genius von Adolf Hitler 94 , den er als »Erwecker« der »deutschen Auferstehung« oder als »Retter Deutschlands« bezeichnete. 95 Im Mittelpunkt seiner nach 1933 immer mehr populärwissenschaftlich werdenden Veröffentlichungen standen die Kriegsgeschichte und die Wehrkunde. 96 Als sein Hauptwerk sah Schmitthenner »Politik und Kriegführung in der neueren Geschichte« 97 an, das in einer Rezension von Fritz Hartung 98 zu recht heftig kritisiert wurde. Er bemängelte die allzu schematische Betrachtungsweise sowie die unzulängliche wissenschaftliche Grundlage und wies auf zu wenig eigene Quellenforschung hin: »Deshalb bleibt Schm[itthenner] überall an der Oberfläche, gleitet über die Dinge hin, statt sie ernsthaft und gründlich anzupacken«. 99 In einer Erwiderung ging Schmitthenner dezidiert auf diese Vorwürfe ein und stellte die wehrpolitische Erziehungsaufgabe über die Wissenschaftlichkeit. Die Kritik an dem nationalsozialistischen Gehalt des Buches wies er ebenfalls zurück, ohne jedoch in seiner Argumentation über Phrasen hinauszukommen: »Denn dieses [das Buch, U.L.] schwebt nicht in der Sphäre der vorausssetzungslosen Wissenschaft, sondern es steht auf der Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschauung und damit auf deren festen Voraussetzungen.« 100 Auch die Kritik von Gerhard Oestreich 101 , die in erster Linie auf begriffliche Abgrenzungen zielte und Schmitthenner die »Gleichsetzung und Verwechslung von Wehrgeschichte und (theoretischer) Wehrpolitik« 102 vorwarf und sein ganzes me- Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 639 94 Vgl. Schmitthenner, Paul, Politik und Kriegführung in der neueren Geschichte, Hamburg 1937, S. 311. 95 Schmitthenner, Paul, Wehrhaft und frei. Das deutsche Heer von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Langensalza, Berlin, Leipzig 1943, S. 5 und S. 144. 96 Vgl. Wolgast (wie Anm. 13), S. 241 f. und Schmitthenner, Paul, Die Wehrkunde und ihr Lehrgebäude, in: Volk im Werden 1. Heft 3 (1933), S. 34 ff. 97 Schmitthenner (wie Anm. 94). 98 Fritz Hartung (1883 - 1967), Verfassungshistoriker, als Nachfolger seines Lehrers Otto Hintze seit 1923 Professor in Berlin, vgl. Oestreich, Gerhard, Fritz Hartung als Verfassungshistoriker (1883 - 1967), in: Der Staat 7 (1968), S. 447 - 469. 99 Hartung, Fritz, Politik und Kriegführung in der neueren Geschichte. Von Paul Schmitthenner, in: Historische Zeitschrift 158 (1938), S. 584 - 587, hier S. 584. Bereits Friedrich Frahm wies in seiner Rezension zu Paul Schmitthenner, »Geschichte der Zeit seit 1871« (Oskar Jägers Weltgeschichte 5), Bielefeld 1933, in: Historische Zeitschrift 148 (1933), S. 432 f. auf die »Volkstümlichkeit« der Arbeit und den nationalen Standpunkt des Verfassers hin. 100 Schmitthenner (wie Anm. 91), S. 548. Vgl. dazu Hartung, Fritz, Entgegnung, in: Historische Zeitschrift 159 (1939), S. 550 ff. 101 Gerhard Oestreich (1910 - 1978), Verfassungshistoriker, der 1935 bei Hartung promoviert hatte, vgl. Baumgart, Peter, Gerhard Oestreich zum Gedächtnis, in: Historische Zeitschrift 227 (1978), S. 251 - 256. 102 Oestreich, Gerhard, Vom Wesen der Wehrgeschichte, in: Historische Zeitschrift 162 (1940), S. 231 - 257, hier S. 240. <?page no="641"?> thodisches Vorgehen in Frage stellte, wurde von ihm scharf zurückgewiesen. 103 Seinen Anspruch, die Wehrwissenschaft als interdisziplinäre Universalwissenschaft zu etablieren, die zu Wehrhaftigkeit und Volksgemeinschaft erziehen sollte, konnte Schmitthenner weder theoretisch noch methodisch einlösen. Trotz wiederholter Versuche, Begriffe zu klären und eine Systematik zu erarbeiten, blieb die von ihm inaugurierte Wissenschaft ein Kunstgebilde. 104 Ein von ihm geplantes Alterswerk konnte wegen des kriegsbedingten Verlustes seiner wissenschaftlichen Unterlagen nicht mehr geschrieben werden. Aber nicht nur in Kreisen mit wissenschaftlichem Anspruch fehlte die Resonanz für seine Arbeit. So wurde im November 1938 Schmitthenners »Das deutsche Soldatentum. Entwicklung, Wesen und Leistung« 105 mit dem Hinweis auf unklare Ausführungen und unrichtige Angaben durch den »Prüfungsausschuß für vaterländisches Schrifttum« beim Reichserziehungsministerium nicht für Schulbüchereien zugelassen - was Schmitthenner wiederum zu brieflichen Einwendungen veranlaßte, in denen er seine Person und seinen Einsatz für den Nationalsozialismus in einem recht unbescheidenen Licht darstellte. 106 Bei Kriegsbeginn 1939 wurde die Universität geschlossen und erst im Januar 1940 wieder geöffnet. Bis zur Wiederherstellung der Semesterfolge im Jahr 1941 wurde eine vorübergehende Einteilung in Trimester vorgenommen. Zum stellvertretenden Rektor für die Zeit seiner kriegsbedingten Abwesenheit ernannte Schmitthenner den Juristen Karl Bilfinger. 107 Nicht nur für die Universität, sondern auch für Schmitthenner bedeutete der Kriegsausbruch eine Zäsur. Wenige Wochen vor dem Polenkrieg, im August 1939, wurde er zum Oberstleutnant befördert. Als Regimentskommandeur führte er das Infanterieregiment Nr. 483 am Westwall 108 , mußte aber schon bald seine zivilen Ämter wieder übernehmen, da eine Erkrankung aus dem Ersten Weltkrieg seinen weiteren militärischen Einsatz unmöglich machte. 109 In seiner nach der Rückkehr an die Universität gehaltenen Rede zur Feier der Ulrike Lennartz 640 103 Vgl. Schmitthenner, Paul, Wehrpolitik, Wehrpolitische Geschichte, Wehrgeschichte. Entgegnung und Entwirrung, in: Historische Zeitschrift 163 (1941), S. 316 - 327. 104 Vgl. Wolgast (wie Anm. 13), S. 241. 105 Schmitthenner, Paul, Das deutsche Soldatentum. Entwicklung, Wesen und Leistung, Köln 1938. 106 Vgl. Heiber (wie Anm. 11), S. 306 f. 107 Vgl. Wolgast (wie Anm. 84), S. 163. 108 Zu Schmitthenners maßloser Überwertung des Westwalls vgl. Schmitthenner, Paul, Der Westwall, in: »Der Führer«, 11. November 1939 und ders., Westwall und totaler Krieg, in: »Der Führer«, 14. November 1939. 109 Vgl. Badischer Geschäfts- und Adreßkalender (wie Anm. 10), S. 10. In dem von Schmitthenner selbstverfaßten Artikel »Paul Schmitthenner«, in: Genealogie der Familie Schmitthenner Teil II, in: Deutsches Familienarchiv. Ein genealogisches Sammelwerk Bd. 5, hrsg. v. G. Geßner, Neustadt an der Aisch 1956, S. 245 - 317, hier S. 230 heißt es: »infolge Kriegsbeschädigung Januar 1940 Rückkehr in die Heimat u. Übernahme d. zivilen Ämter.« Nach UAHD PA Schmitthenner 5708 und 5709 ist dagegen ein Antrag auf Unabkömmlichkeit zu vermuten. Vgl. hierzu auch Heiber (wie Anm. 11), S. 309. <?page no="642"?> Immatrikulation am 30. Januar 1940 forderte Schmitthenner von den nicht im Feld stehenden Studenten in besonderem Maße Haltung, Zucht, Arbeit und Treue. Er rief zu politischem Einsatz auf und wies darauf hin, daß in der jetzigen Situation der richtige Platz draußen am Feinde sei, denn »dann ist die Universität Heidelberg Waffenschmied der Wehrmacht des Reiches, dann ist sie jenes Regiment der inneren Front, wie es die politische Führung braucht.« 110 Die Universität hatte somit in erster Linie eine militärische und politische Aufgabe zu erfüllen, während sie als wissenschaftliche Institution in Frage gestellt wurde. Schmitthenners Ausführungen, daß nationalsozialistische Gesinnung ohne Wissenschaft an der Universität genauso sinnlos sei wie Wissenschaft ohne nationalsozialistische Gesinnung 111 , können nicht darüber hinwegtäuschen, daß damit gegen den unabdingbaren wissenschaftlichen Grundsatz der Freiheit von Forschung und Lehre auf die eklatanteste Weise verstoßen wurde. Eine deutliche Demonstration der politischen Funktion der Universität, die zugleich ein Beispiel dafür ist, wie Schmitthenner sich in seinem Rektorat über akademische Gepflogenheiten hinwegsetzte, war die Erneuerung der Promotionsurkunde von Joseph Goebbels im Rahmen des Reichsstudententages am 9. Juli 1943, die in Anwesenheit des Reichserziehungsministers Rust, des Reichsstudentenführers Scheel sowie zahlreicher Rektoren vorgenommen wurde. In seiner Begrüßungsrede betonte Schmitthenner die Einmaligkeit dieses akademischen Geschehens. Er hatte damit in zweierlei Hinsicht recht; denn erstens war wohl noch nie aufgrund eines Politikerbesuches eine solche Erneuerung ausgesprochen worden und zweitens war dies eigentlich erst nach 50 Jahren üblich. Die Fakultät wehrte sich auch entsprechend hartnäckig gegen diesen Akt, der von Schmitthenner als Rektor und dem Dekan Eugen Fehrle verantwortet werden mußte. 112 Das mit der Promotion über einen Poeta minor der Romantik 113 bei dem jüdischen Doktorvater Max von Waldberg abgeschlossene Germanistikstudium war für Goebbels in seiner inzwischen erreichten Position kein Ruhmesblatt mehr und wurde daher in seinem biographischen Werdegang vernachlässigt. Schmitthenner hielt sich in seiner Rede an diese Tabuisierung und sprach allgemein von der Heidelberger Studienzeit als einem Stück von Goebbels Schicksals- und Lebenslinie. Studienfach, Doktorvater und Dissertationsthema blieben unerwähnt. 114 Goebbels äu- Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 641 110 Schmitthenner, Paul, Rede zur Feier der Immatrikulation, in: Reden zur Feier der Immatrikulation für das 1. Trimester 1940 am 30. Januar 1940 (Kriegsvorträge der Universität Heidelberg 2), Heidelberg 1940, S. 16 - 23, hier S. 23. 111 Vgl. Schmitthenner (wie Anm. 72), S. 36. 112 Vgl. Sauder, Gerhard, Goebbels in Heidelberg, in: Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg, hrsg. v. K. Buselmeier, D. Harth, Chr. Jansen, Mannheim 1985, S. 307 - 314, hier S. 311 und Wolgast (wie Anm. 84), S. 165. 113 Goebbels, Paul Joseph, Wilhelm von Schütz als Dramatiker. Ein Beitrag zur Geschichte des Dramas der Romantischen Schule, Diss. phil. [Masch.] Heidelberg 1922. 114 Vgl. Sauder (wie Anm. 112), S. 311. <?page no="643"?> ßerte sich über den Empfang und die Rede positiv: »Der Empfang [...] ist sehr feierlich gehalten und Professor Schmitthenner, der Rektor der Heidelberger Universität, hält dabei eine ausgezeichnete Rede.« 115 Obwohl sich Schmitthenner den Parteioberen als linientreuer Nationalsozialist präsentierte, war er doch zugleich in einigen Fällen bemüht, staatlichen oder parteiamtlichen Maßnahmen ihre Härte zu nehmen. 116 So setzte er sich im Juli 1933 für den jüdischen Doktorvater von Goebbels, Max von Waldberg, beim badischen Ministerium ein: »Ich würde es für dringend notwendig halten, dass hier eine hochanständige Lösung gefunden wird.« 117 Im gleichen Schreiben verwandte er sich außerdem für Professor Wolf von der Universität Freiburg und sprach den Fall des Heidelberger Althistorikers Eugen Täubler an. Erfolglos intervenierte Schmitthenner für den von der Heidelberger SA im Mai 1933 in Schutzhaft genommenen Psychiater Karl Wilmanns, der 1932 und noch Anfang 1933 erklärt hatte, Hitler sei ein Hysteriker. 118 Teilweisen Erfolg hatte der Einsatz für die »nichtarische« Botanikerin Gerta von Ubisch, der bis 1935 eine Lehrbefugnis an der Universität Heidelberg erteilt wurde. 119 Ebenso setzte sich Schmitthenner für »jüdisch versippte« Professoren wie den Indologen Heinrich Zimmer und den Rechtshistoriker Eberhard von Künßberg ein. 120 Er befürwortete die Rückkehr des Dichters Alfred Mombert aus dem Konzentrationslager Gurs und hat auch anderen Verfolgten des NS-Regimes gelegentlich geholfen. 121 Da für den zum 30. September 1937 aufgrund des Berufsbeamtengesetzes aus dem Universitätsdienst entlassenen Philosophen Karl Jaspers eine Trennung von seiner Frau Gertrud, die jüdischen Glaubens war, unter keinen Umständen in Frage kam 122 , setzte sich Schmitthenner auf seine Bitte hin ab 1940 mehrfach, wenn auch erfolglos Ulrike Lennartz 642 115 Eintrag vom 10. Juli 1943, in: Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels Bd. 9, Teil 2, München u.a. 1993, S. 73 f. 116 Zur »Säuberung« der Universität Heidelberg vgl. Weckbecker (wie Anm. 89), S. 142 - 187 und Mußgnug (wie Anm. 87). 117 Schreiben vom 27. Juli 1933, GLA 235/ 2632. Waldberg wurde 1933 aus der Liste der Dozenten gestrichen und 1935 beurlaubt; er starb 1938 im Alter von 80 Jahren nach einer Operation. Vgl. hierzu Mußgnug (wie Anm. 87), S. 32 f. und Sauder, Gerhard, Positivismus und Empfindsamkeit. Erinnerung an Max von Waldberg (mit Exkursen über Fontane, Hofmannsthal und Goebbels), in: Euphorion 65 (1971), S. 368 - 408, hier S. 382. 118 Vgl. Wolgast (wie Anm. 21), S. 366. 119 Vgl. Wolgast (wie Anm. 21), S. 371 f., Anm. 46. 120 Vgl. Wolgast (wie Anm. 21), S. 386 f. Zu Zimmer vgl. Vézina (wie Anm. 78), S. 173, Anm. 753. 121 Vgl. Wolgast (wie Anm. 13), S. 240. Alfred Mombert konnte 1941 mit Hilfe seines Winterthurer Mäzens Hans Reinhart in die Schweiz emigrieren. Siehe Weber, Ulrich, Alfred Mombert, in: Badische Biographien N.F. Bd. 1, hrsg. von B. Ottnad, Stuttgart 1982, S. 213 - 215, hier S. 214. 122 Wie aussichtslos die Lage für Jaspers war, zeigten seine Tagebuchaufzeichnungen, in denen er neben der Auswanderung den Selbstmord in Betracht zog, um einer Trennung durch Deportation zu entgehen. Vgl. hierzu Jaspers, Karl, Tagebuch 1939 - 1942, in: ders., Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften, hrsg. v. H. Saner, München 1967, S. 143 - 163. Nach Saner, Hans, Karl Jaspers in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 47 verschaffte sich Jaspers Zyankali, das er für den Fall einer Verhaftung griffbereit aufbewahrte. <?page no="644"?> ein. Er bat um Belassung der Hausangestellten, bemühte sich, eine Ausreiseerlaubnis für Gastvorlesungen an der Universität Basel zu erhalten, und versuchte, eine Ausnahmegenehmigung bei Maßnahmen gegen jüdische Mischehen zu erreichen. Noch am 2. März 1945 wandte sich Schmitthenner zum wiederholten Male deswegen mit einem Bittbrief an den Sicherheitsdienst des Reichsführers SS. Ihr Leben verdankten Jaspers und seine Frau letztendlich dann aber dem Einmarsch der Amerikaner in Heidelberg. 123 In seinem Entlastungsschreiben bescheinigte Jaspers Schmitthenner eine »ungewöhnliche Bereitwilligkeit zu helfen« und betonte, »dass Herr Schmitthenner die Jahre hindurch die Geduld nicht verlor und sich so würdig zu mir verhielt, dass ich jederzeit zu ihm zu gehen keine Hemmung hatte, während ich bei anderen Nationalsozialisten ein Verhalten erlebte, das mir eine Wiederholung einer Bitte unmöglich machte.« 124 Abschließend wies Jaspers in seinem Schreiben jedoch darauf hin, daß sich seine Ausführungen nur auf das Verhalten Schmitthenners ihm gegenüber bezögen und kein Urteil über sein Gesamtverhalten und seine politische und geistige Verantwortung darstellten. Dies deutet bei aller Wertschätzung der Hilfsbereitschaft auf eine deutliche Distanz zu Schmitthenners politischem und wissenschaftlichem Wirken. Auch von Schmitthenners Seite scheint es Vorbehalte gegen Jaspers gegeben zu haben, denn die Doktorandin Wilhelmine Drescher berichtete im Zusammenhang mit ihrer Anmeldung zur Promotion 125 von einer gewissen Feindlichkeit gegenüber Schülern von Jaspers: »Herr Professor Schmidthenner [sic! ] erklärte mir [...]: ›Es steht in meiner Machtbefugnis, Sie nur in allgemeiner Geschichte zu prüfen, aber von Ihnen als Jaspersschülerin verlange ich speziell die Wehrgeschichte.‹« 126 In einem Widerspruch zu den geschilderten Hilfen und der Tatsache, daß er häufig die Zulassung sogenannter »Mischlinge« zum Studium befürwortete 127 , stand Schmitthenners Reaktion auf die antisemitische Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938. In seiner Funktion als Rektor wandte er sich noch am 10. November 1938 in einem Brief, der die Tilgung der Namen jüdischer Soldaten des Ersten Weltkrieges auf den Gefallenentafeln der Universität betraf, an den Kultusminister: »Anlässlich des Kampfes des Weltjudentums gegen das 3. Reich ist es ferner untragbar, dass auf den Gefallenentafeln die Namen jüdischer Rassezugehöriger weiterhin verbleiben.« Mit dem Hinweis auf die bisher »mit Rücksicht auf die Ehre der Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 643 123 Vgl. die Übersicht bei Fulda, Hans-Friedrich, Der Philosoph Karl Jaspers, in: Karl Jaspers in seiner Heidelberger Zeit, hrsg. v. J.-F. Leonhard (Heidelberger Bibliotheksschriften 8), Heidelberg 1983, S. 83 - 123, hier S. 121 - 123 sowie das Entlastungsschreiben von Karl Jaspers für Schmitthenner, 20. April 1948, GLA 465a B/ Sv/ 1629. 124 Jaspers, 20. April 1948, GLA 465a B/ Sv/ 1629. 125 Als Tag der Promotion wird der 18. Februar 1937 angegeben. Vgl. hierzu Drescher, Wilhelmine, Die dialektische Bewegung des Geistes in Hegels Phänomenologie, Heidelberg 1937. 126 Drescher, Wilhelmine, Erinnerungen an Karl Jaspers in Heidelberg, Meisenheim am Glan 1975, S. 27. Drescher meldete sich daraufhin bei Professor Andreas zur Prüfung an. 127 Vgl. hierzu UAHD B - 8018/ 3. <?page no="645"?> deutschen Toten« unterbliebene Entfernung einer solchen Tafel, die von seiten der Studentenschaft gefordert wurde, hielt Schmitthenner dieses Vorgehen, »jedoch in ordnungsmässiger und würdiger Form«, für notwendig. 128 Durch eine solche Maßnahme, die dem Ethos eines ehemaligen Frontsoldaten in keiner Weise entsprach, stellte sich Schmitthenner moralisch schließlich auf die gleiche Ebene mit jenen Stellen, die für die gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden in der sogenannten »Reichskristallnacht« vom 9. November 1938 verantwortlich waren. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung einer Entscheidung wandte sich das Badische Kultusministerium am 22. November 1938 an den Reichserziehungsminister in Berlin und plädierte mit einem handschriftlichen Vermerk dafür, die Frage dem »Führer« vorzulegen. In einem Schreiben an die Unterrichtsverwaltungen der Länder teilte der Reichserziehungsminister die Entscheidung des »Führers« am 14. Februar 1939 mit: »1. Auf bereits bestehenden Denkmälern und Ehrentafeln werden die Namen der Juden nicht entfernt. 2. Auf Denkmälern und Ehrentafeln, die erst errichtet werden sollen, sind die Namen gefallener Juden nicht anzubringen.« 129 Die allgemeine Bekanntgabe des Badischen Kultusministers im März 1939 war ähnlich formuliert wie die Direktive aus Berlin. In Heidelberg blieben die Gefallenentafeln unverändert. Hatte sich Schmitthenner als neuernannter Rektor durch die Unterstützung der Studentenforderung als besonders »nationalsozialistisch« profilieren wollen, so war er damit gescheitert. 130 Für Schmitthenners ambivalentes Verhalten gegenüber Juden mag es eine Vielzahl von Gründen gegeben haben. Mit Sicherheit kann aber davon ausgegangen werden, daß Schmitthenner in einem Umfeld von religiöser Toleranz aufgewachsen ist, das auch seine Haltung gegenüber Juden beeinflußt haben dürfte. 131 So hielt sein Bruder Adolf, der als Pfarrer die Familientradition fortführte, trotz anders lautender Vorschriften der nationalsozialistischen Behörden im Religionsunterrricht am Alten Testament fest und wurde wegen prosemitischer Äußerungen beim Badischen Kultusministerium angezeigt. Schmitthenner hat diese Sache dann wohl »unter der Hand« geregelt. Nach der Einschätzung von Wolgast bewegte sich Schmitthenners Rassismus überhaupt mehr in allgemeinen Kategorien wie »Art« und »Rasse«, ohne die sonst übliche Diffamierung. 132 So stellte er beispielsweise in dem 1936 gehaltenen Vortrag Ulrike Lennartz 644 128 GLA 235/ 29790, dort die folgenden Schreiben. Vgl. auch die Darstellung bei Wolgast (wie Anm. 13), S. 240, ders. (wie Anm. 21), S. 387 und Heiber (wie Anm. 11), S. 307 f. 129 Zit. nach Pätzold, Kurt (Hrsg.), Verfolgung. Vertreibung. Vernichtung. Dokumente des faschistischen Antisemitismus 1933 - 1942, Frankfurt/ Main 1984, S. 222. 130 Hingegen hatte der vom 21. Oktober 1938 datierende Vorschlag von Schmitthenners Amtsvorgänger Krieck, eine Tafel mit Namen amerikanischer Stifter, darunter auch Juden, vom neuen Universitätsgebäude zu entfernen, das Einverständnis des Kultusministers gefunden. Vgl. hierzu GLA 235/ 29790. 131 So wird in der Erzählung »Der Seehund« des Vaters Adolf Schmitthenner ein alter, erblindeter Jude zum Retter eines kleinen Jungen, der in einen Bach gefallen war. Vgl. Schmitthenner, Adolf, Der Seehund, in: Schmitthenner, Adolf, Neue Novellen, Leipzig 1901, S. 231 - 257. 132 Vgl. Wolgast (wie Anm. 13), S. 241. <?page no="646"?> »Wehrhaftigkeit und Rasse« 133 die Rassemerkmale des französischen und des russischen Soldaten klischeehaft als Mentalitäten dar und lobte im Gegensatz dazu das nordische Erbgut des deutschen Soldaten, der im Kampf Vorwärtsdrängen und Angriffsgeist zeige. Ein wichtiges Anliegen war ihm daher die biologische »Erhaltung der Volkssubstanz«, die aber durch den Geburtenrückgang gefährdet sei. Die Begriffe »deutsche Rasse« und »deutsches Volk« verwendete er in seiner Argumentation synonym. In der Ausübung seines Rektorenamtes schreckte Schmitthenner nicht davor zurück, sich gegen vorgesetzte Parteistellen zu stellen, wenn Universitätsbelange nicht nach seinen Wünschen behandelt wurden. Als ein bemerkenswertes Beispiel dafür mag die Ernennung von Walter Thoms zum Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät im April 1939 gelten: Schmitthenner hielt trotz der zu erwartenden Ablehnung aus Berlin unter Androhung seines Rücktritts an Thoms fest. 134 Auch für den Erhalt der Theologischen Fakultät Heidelberg setzte sich Schmitthenner ein. Dabei spielte sicherlich sein Ehrgeiz als Rektor der Universität und seine familiäre Bindung zu dieser Fakultät eine Rolle. Sein Vater, Adolf Schmitthenner, hatte sein Theologiestudium, nach Semestern in Tübingen und Leipzig, 1876 in Heidelberg beendet und war neben seinem Amt als Heidelberger Stadtpfarrer seit 1896 am Theologischen Seminar tätig gewesen. 135 Die 1939 unter der Federführung von Martin Bormann geplante Zusammenlegung der theologischen Fakultäten 136 sah für den südwestdeutschen Raum eine Verlegung der Heidelberger evangelischen Fakultät nach Tübingen und eine Verlegung der Tübinger katholischen Fakultät nach Freiburg vor. Im Mai 1939 wandte sich Schmitthenner, nachdem er durch den Dekan der theologischen Fakultät, Theodor Odenwald, und den Landesbischof der pfälzisch-protestantischen Landeskirche, Diehl, über die gerüchteweise Verlegung informiert worden war, an das Badische Kultusministerium. In seiner Argumentation stellte sich Schmitthenner zwar nicht gegen eine grundsätzliche Beseitigung aller theologischer Fakultäten, doch wenn es sich nur um einzelne handeln sollte, könne nicht die traditionsreiche Heidelberger Fakultät dazugehören, die darüber hinaus ein politisches Gegengewicht zum Freiburger Katholizismus und zur württembergischen Bekenntnisfront sei. Ferner wies Schmitthenner auf die nationalsozialistische Überzeugung des Dekans Odenwald hin. Von Bormann wurde im Juni dann eine Umkehrung des Planes ins Auge gefaßt, aber eine Verlegung der Tübinger Fakultät nach Heidelberg erfolgte schließlich doch nicht. 137 Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 645 133 Vgl. Wehrhaftigkeit und Rasse. Ein Vortrag Minister Schmitthenners in der Verwaltungsakademie Baden, in: »Der Führer«, 10. Juni 1936. 134 Vgl. hierzu Heiber, Helmut, Universität unterm Hakenkreuz Teil 2, Bd. 1, München u.a. 1992, S. 353 f. Die genauen Umstände der Protegierung Thoms, der nur Extraordinarius war, bleiben dunkel. 135 Vgl. Oeftering (wie Anm. 6), S. 145 f. 136 Zur Vorgeschichte vgl. den Beitrag über Otto Wacker in diesem Band. 137 Vgl. Siegele-Wenschkewitz, Leonore, Die Theologische Fakultät im Dritten Reich. »Bollwerk gegen Basel«, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 - <?page no="647"?> Noch in den letzten Monaten des Krieges beschäftigte sich Schmitthenner mit der Universitätsverwaltung. Ein vom Reichserziehungsministerium vermutlich für das Wintersemester 1944/ 45 vorgesehener Rektoratswechsel in Heidelberg wurde vom Badischen Kultusministerium, dem Schmitthenner als beauftragter Kultusminister ja selbst vorstand, mit dem Hinweis auf örtliche Gründe auf das Sommersemester 1945 verschoben. 138 Nach Protesten Schmitthenners sowie der betroffenen Studenten unterblieb die im Oktober 1944 durch das Reichserziehungsministerium aufgrund der näherrückenden Front verfügte Verlegung der Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät samt dem Dolmetscherinstitut nach Tübingen, mit der die Gesamtschließung der Universität Heidelberg eingeleitet werden sollte. 139 Nachdem Schmitthenner den längst emeritierten Anglisten Johannes Hoops mit der Vertretung seines Rektoramtes beauftragt hatte, verließ er Heidelberg noch vor der Besetzung durch amerikanische Truppen am 30. März 1945 140 und führte das Badische Unterrichtsministerium über Baden-Baden, Bad Rippoldsau und Königsfeld nach Meersburg, wo er es auflöste. Am 24. April 1945 erreichte er mit seiner Frau das gemeinsame Besitztum Schloß Wiesberg in der Nähe von Landeck. Kurz darauf quartierte sich dort die Heeresgruppe West ein. Nach den letzten Kämpfen fanden im Schloß die Waffenstillstandsverhandlungen statt und das Oberkommando wurde gefangengenommen und abtransportiert. 141 Das Counter Intelligence Corps der 7. Armee stellte schon in den ersten Tagen der Besetzung Heidelbergs umfangreiche Nachforschungen an der Universität an. Befragungen von Universitätsangehörigen ergaben, daß es sich bei Schmitthenner um einen »violent nazi« handele, der für eine »fervent advocacy of Nazi doctrines« stehe. 142 Der als flüchtig geltende Schmitthenner wurde gesucht und am 19. Juni 1945 auf Schloß Wiesberg verhaftet. Bis zu seiner Überstellung nach Baden-Baden in französische Gefangenschaft am 15. Mai 1946 war er in mehreren amerikanischen Lagern 143 interniert. Nach der Entlassung durch die Franzosen am 16. September 1947 folgten bis zum 15. Dezember 1948 Aufenthalte in mehreren badischen Krankenhäusern, um eine durch die Internierung entstandene Herzkrankheit zu bessern. Da das Heidelberger Wohnhaus belegt war und Schmitthenner wegen seines angegriffenen Gesundheitszustands Pflege benötigte, fand er Aufnahme bei seinem Ulrike Lennartz 646 1986 Bd. 3, hrsg. v. W. Doerr, Berlin u.a. 1985, S. 504 - 543, hier S. 510 - 516. 138 Vgl. Wolgast (wie Anm. 21), S. 386 und Heiber (wie Anm. 11), S. 310 f. 139 Vgl. Wolgast (wie Anm. 21), S. 403. 140 Vgl. Wolgast (wie Anm. 21), S. 404. Nach Angaben bei Heiber (wie Anm. 11), S. 777, Anm. 1163 war Schmitthenner zwischen dem 21. und 27. März 1945 noch in Heidelberg. 141 Vgl. Paul Schmitthenner an Willy Andreas, 30. Mai 1951, GLA 69 N Andreas 764. 142 Memorandum des Counter Intelligence Corps der 7. Armee vom 9. April 1945, Abdruck als Anlage I in: Heidelberg 1945, hrsg. v. J. C. Heß, H. Lehmann, V. Sellin (Transatlantische Historische Studien 5), Stuttgart 1996, S. 393 - 401, hier S. 394 f. 143 Es muß sich dabei um folgende Lager gehandelt haben: Freilager bei Ulm, Zentrallager Ludwigsburg, SS-Straflager Nr. 73 bei Kornwestheim, Lager Seckenheim bei Mannheim, Internierungslager Nr. 75 bei Kornwestheim und Kriegsverbrecherlager Nr. 78 bei Zuffenhausen. <?page no="648"?> Bruder Adolf Schmitthenner, dem Stadtpfarrer von Emmendingen. 144 Seine Frau war nach seiner Verhaftung auf Schloß Wiesberg verblieben und erhielt das Schloß und seine Ausstattung dadurch, daß sie bis 1950 Feste für französische Soldaten ausrichtete, die bald nach den US-Truppen das Schloß besetzt hatten und dort versteckte französische Kunstschätze vermuteten. Nach der Pensionierung des Bruders im Jahr 1950 zog Schmitthenner mit dessen Familie nach Allensbach am Bodensee. 145 Wenige Jahre später wohnte er zusammen mit seiner Frau wieder in Heidelberg, wo er am 12. April 1963 starb. Das im September 1949 gegen Schmitthenner eingeleitete politische Säuberungsverfahren 146 erstreckte sich über rund eineinhalb Jahre. Im Meldebogen bezeichnete sich Schmitthenner, der über die Jahre eine Vielzahl von Ämtern und Dienstgraden gesammelt hatte, ganz bescheiden als Mitläufer und gesinnungsmäßig entlastet. Neben den bereits aufgeführten Positionen im soldatischen, politischen und wissenschaftlichen Bereich hatte er außerdem noch einen hohen SS-Rang geführt und war Ratsherr der Stadt Heidelberg, Beauftragter für das militärische Vortragswesen in Baden und im Elsaß, Gauverbandsleiter des NS-Altherrenbundes, Reichsredner z.V. der NSDAP, Reichsredner der DAF (Volksbildungswerk), Gauredner und Vorsitzender der Goethegesellschaft am Oberrhein gewesen. 147 Wegen dieser Ämterhäufung wurde er in der Klageschrift vom 16. November 1949 dann auch der Gruppe der Hauptschuldigen zugeordnet. In seiner Erwiderung vom 7. Juli 1950 plädierte er dagegen auf Einstellung des Verfahrens. Zu seiner Entlastung führte er an, daß er kein Alt-Parteigenosse und als DNVP-Mitglied aufgrund von bereits im März 1933 geführten Koalitionsverhandlungen erst am 1. Oktober 1933 zum Staatsminister ohne Geschäftsbereich in der badischen Regierung ernannt worden und somit kein nationalsozialistischer Minister gewesen sei. Seine Einflußmöglichkeiten auf die Landesregierung wurden als sehr eingeschränkt dargestellt. Auch mit der Beauftragung als Kultusminister und der Leitung der Abteilung Erziehung, Unterricht und Volksbildung im Elsaß habe sich daran nichts geändert. Zudem sei er nicht als Etat-Minister ernannt worden und habe die Verwaltung dieser Ämter nur ehrenamtlich ausgeübt. 148 Seine Mitgliedschaft in der Allgemeinen SS sei nicht mit einer aktiven Dienstausübung verbunden gewesen, sondern habe sich durch die Verleihung des Ranges und der Uniform eines Ehrenführers bei der Auflösung des Stahlhelms im Jahre 1934 ergeben, dem Schmitthenner Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 647 144 Vgl. den am 15. August 1949 ausgefüllten Meldebogen in Schmitthenners Spruchkammerakte, GLA 465a B/ Sv/ 1629. 145 Vgl. Schmitthenner an Andreas, 30. Mai 1951, GLA 69 N Andreas 764. 146 Vgl. die Spruchkammerakte GLA 465a B/ Sv/ 1629, die auch die folgenden Schriftstücke enthält. 147 Vgl. Badischer Geschäfts- und Adreßkalender (wie Anm. 10), S. 10 sowie Schmitthenner (wie Anm. 109), S. 230. 148 Dies galt auch für die Ausübung des Rektorenamtes; sein Gehalt bezog Schmitthenner durch seine Lehrtätigkeit als Professor. <?page no="649"?> nur inaktiv angehört hatte. Da er erst ab 1938 Rektor der Universität Heidelberg geworden war, sei er nicht für Abbaumaßnahmen der NSDAP im Personal- und Institutsbereich zuständig gewesen. Bei Berufungen habe er nach dem wissenschaftlichen Rang und nicht nach der Stellung zur Partei entschieden und sich auch sonst für die Belange der Universität sowie deren Professoren und Studenten eingesetzt. Als Belege für seine Zurücksetzung durch die Parteistellen wurden die Nicht-Ernennung zum Kultusminister, die Nicht-Aufstellung als Kandidat für den Reichstag und die Unterlassung sonst üblicher Ehrungen bei Parteigrößen, etwa anläßlich des 50. und 60. Geburtstages oder die Verleihung des goldenen Parteiabzeichens, aufgeführt. Die Tatsache, daß er trotzdem seine Ämter beibehalten hatte, wurde mit seiner idealistischen und einwandfreien charakterlichen Haltung erklärt und dem Willen, jede Möglichkeit zur Milderung der Verhältnisse zu nutzen. In einem Nachtrag wurde als Beweis die Tätigkeit des »Büro Schmitthenner« angeführt, dessen Schließung wiederum das von Parteiseite Schmitthenner entgegengebrachte Mißtrauen belegen sollte. 149 Die mündliche Verhandlung vor der Spruchkammer in Karlsruhe, die aus gesundheitlichen Gründen immer wieder verschoben werden mußte, fand am 20. März 1951 in Abwesenheit Schmitthenners statt. Der Beschluß lautete auf Einstellung des Verfahrens. Im Aktenvermerk zur Urteilsbegründung hieß es, daß Schmitthenner als Gegner von Gewaltmethoden nicht als Förderer der NS-Gewaltherrschaft angesehen werden könne und daß er kein führender Nationalsozialist gewesen sei. Als mildernd wurde das umfangreiche Entlastungsmaterial angeführt, das über 60 Entlastungsschreiben umfaßte. Mit diesem Beschluß konnte Schmitthenner mehr als zufrieden sein. Er war zwar kein Alt-Parteigenosse, hatte aber als Abgeordneter der DNVP in seinen Landtagsreden als Wegbereiter der NSDAP in Baden fungiert. In dem wohl selbstformulierten Antrag zur Verleihung der Goethe-Medaille aus dem Jahr 1944 war schon für die Zeit vor 1933 von »engster Fühlungnahme und Kameradschaft mit den nationalsozialistischen Abgeordneten Wagner, Wacker und Pflaumer« 150 die Rede. Die von Schmitthenner beklagte Zurücksetzung und Übergehung durch Parteistellen sowie die damit verbundene eingeschränkte Einflußnahme auf das Geschehen in Baden und im Elsaß stellt kein ausreichendes Argument zur Entlastung dar, da es hierfür eine Vielzahl von Gründen gegeben haben mag. Schmitthenners Überzeugungstreue als Nationalsozialist wird jedenfalls durch den Eintrag in einer Liste des »Sicherheitshauptamtes der SS« vom 7. Februar 1939 bestätigt, in der hauptsächlich Mitglieder der früheren Systemparteien und Regimegegner verzeichnet und scharf kritisiert wurden: »Schmitthenner gilt in politischer Hinsicht für durchaus zuverlässig. Er setzt sich voll und ganz für die NS-Bewegung ein.« 151 Ulrike Lennartz 648 149 Vgl. Nachgang vom 3. August 1950, GLA 465a B/ Sv/ 1629. 150 UAHD PA Schmitthenner 5709. In der Klageschrift der Spruchkammer vom 16. November 1949 war diese Formulierung wörtlich übernommen worden, GLA 465a B/ Sv/ 1629. 151 BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZB 1- 875, S. 70. <?page no="650"?> Außerdem mußte es Schmitthenner klar gewesen sein, daß in einem autokratischen Führerstaat nur geringe Einflußmöglichkeiten bestehen. Wenn er sich trotzdem - selbst ohne nennenswerte Bezüge aus seinem Ministeramt erhalten zu haben - mit seinem Namen und seiner Persönlichkeit in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt hat, so dürfte dafür zu einem Großteil sein ehrgeiziges Streben nach Ansehen und Einfluß, wie die stattliche Ämtersammlung oder der Antrag zur Verleihung der Goethe-Medaille zeigte, mitverantwortlich sein. Die in seiner Entlastungsargumentation unterschwellig zum Ausdruck gebrachte Kränkung dieses Ehrgeizes scheint doch eher ein Indiz dafür zu sein, daß er auf die Anerkennung seiner Person und seiner Leistung durch das nationalsozialsitische System großen Wert legte. Darauf spielt auch die Charakterisierung durch den Freiburger Historikerkollegen Gerhard Ritter an, der in Kontakt zum Widerstandskreis um den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl-Friedrich Goerdeler gestanden hatte und als Mitwisser der Attentatspläne vom 20. Juli 1944 im November 1944 von der Gestapo verhaftet worden war. Er beschrieb im Dezember 1945 das Wirken Schmitthenners für die Sache echter Wissenschaft mit den Worten: »Unser Badisches Wissenschaftsministerium in Karlsruhe (zeitweise in Straßburg) wurde freilich von einem charakterlosen ehrgeizigen Mann geführt, einem Naziüberläufer von 1933, der uns keinerlei Deckung bot.« 152 Schmitthenners Rolle als beauftragter Kultusminister in der Auseinandersetzung des Erzbischofs Gröber mit der badischen Regierung sowie die an Erzieher und Schüler gerichteten Durchhalteflugblätter wurden im Spruchkammerverfahren nicht verhandelt. Dagegen stellte sein gelegentlicher Einsatz für politisch und rassisch Verfolgte ein entlastendes Moment dar. Dabei wurde kaum berücksichtigt, daß in den zahlreichen Entlastungsschreiben inhaltlich immer wieder die gleichen Fakten bzw. Namen aufgeführt wurden und es sich insgesamt nur um einige wenige Fälle als Werke direkter Menschlichkeit handelte, die wiederum vermutlich auf persönlichen Bekanntschaften beruhten. Es ist nicht mehr nachvollziehbar, ob Schmitthenner sich mit seinen Hilfemaßnahmen tatsächlich selbst in Gefahr brachte. So setzten sich im Falle Jaspers auch Ernst Krieck, sein Vorgänger im Rektorat, sowie der Gauleiter und Reichstudentenführer Scheel ein. 153 Bezeichnend scheint auch die Aussage in dem wohlwollend formulierten Entlastungschreiben des im März 1945 von Schmitthenner mit der Rektoratsvertretung beauftragten Johannes Hoops zu Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 649 152 Ritter, Gerhard, Der deutsche Professor im »Dritten Reich«, in: Die Gegenwart 1 (1946), S. 23 - 26, hier S. 25. Dieses Urteil klingt anonym, da es nur den Amtsträger und nicht dessen Namen nennt. Ritter scheint Schmitthenner 1934 durchaus als akzeptabel für den Universitätsdienst gehalten zu haben, denn er schlug ihn für einen wehrwissenschaftlichen Lehrauftrag in Freiburg vor. Schmitthenner, der auch in Tübingen und Karlsruhe Vorlesungen hielt, kam dem Lehrauftrag bis zu seiner Beauftragung als Badischer Kultusminister 1940 nach. Vgl. hierzu Martin, Bernd, Die Universität Freiburg im Breisgau im Jahre 1933. Eine Nachlese zu Heideggers Rektorat, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 136 (1988), S. 445 - 477, hier S. 456, Anm. 74. 153 Vgl. Fulda (wie Anm. 123), S. 120 ff. <?page no="651"?> sein. Dieser bescheinigte ihm, bei äußerlicher Wahrung des Parteirahmens eine gerechte Personalpolitik bei Berufungen verfolgt zu haben 154 , relativierte diese Aussage jedoch wieder mit der Bemerkung: »Wenn er im Lauf seines Rektorats Missgriffe begangen hat, so hat er dafür durch seine jahrelange Internierung wohl gebührend gebüsst.« 155 Die Frage nach Schmitthenners Stellung im und zum nationalsozialistischen Regime stand nach Abschluß seines Entnazifizierungsverfahrens erneut im Mittelpunkt, als sich Schmitthenner um die Durchsetzung seines Pensionsanspruches als ordentlicher Professor bemühte. Eine Emeritierung sah er selbst als aussichtslos an. Er bat den zwischenzeitlich emeritierten Willy Andreas zu bezeugen, daß seine wissenschaftliche Tätigkeit von 1928 bis 1945 nicht parteipolitischer oder nationalsozialistischer Propaganda gedient und seine Ernennung vom außerordentlichen zum ordentlichen Professor dem ordnungsgemäßen akademischen Aufstiegsweg entsprochen habe. Die Kernpunkte seiner Argumentation fügte er am Schluß des Briefes noch einmal als vorformulierte Sätze an. 156 Sich wiederholdende sprachliche Formulierungen im Entlastungsmaterial des Spruchkammerverfahrens legen eine solche Vorgabe durch Schmitthenner auch für andere Entlastungsschreiben nahe. Andreas erklärte sich zu einer Aussage aus wirklicher Kenntnis bereit und wies darauf hin, daß es zweckmäßiger sei, die gewünschten Aussagen über Dritte bei ihm einholen zu lassen, beispielsweise durch das Ministerium oder durch Schmitthenners Rechtsbeistand, da sonst der Eindruck einer bestellten Arbeit entstehe. 157 Die gewünschte Beurteilung von Schmitthenners wissenschaftlicher Laufbahn wurde daraufhin von dessen Rechtsbeistand, Professor Karl Engisch, bei Andreas erbeten 158 und von diesem im erwarteten Sinne formuliert. Schmitthenners Versuch, mildernd einzuwirken und rassisch und politisch verfolgte Kollegen zu unterstützen, führte nach Andreas dazu, »daß er [Schmitthenner, U.L.] eine Art Klagemauer des Dritten Reichs, Abt. Baden und speziell Universität Heidelberg wurde.« 159 Schmitthenner selbst sah sein Lebensschicksal in der Rückschau in einem tragischen Licht. In seinen Lebenserinnerungen formulierte er einleitend, daß »ein Leben, Ulrike Lennartz 650 154 Bei Heiber, Helmut, Universität unterm Hakenkreuz Teil 1, München u.a. 1991, S. 23 findet sich der Hinweis, daß fachlich einwandfreie Berufungen nicht unbedingt etwas mit einer nationalsozialismusfernen Auffassung der Verantwortlichen zu tun hatten, sondern auch der Abwendung parteipolitischer Konkurrenz gedient haben können. 155 Hoops, Entlastungschreiben vom 30. Oktober 1947, GLA 465a B / Sv/ 1629. 156 Vgl. Schmitthenner an Andreas, 30. Mai 1951, GLA 69 N Andreas 764. 157 Vgl. Andreas an Schmitthenner, 13. Juni 1951, GLA 69 N Andreas 764. 158 Vgl. Engisch an Andreas, 20. Juni 1951, GLA 69 N Andreas 764. 159 Andreas an Engisch, 22. Juni 1951, GLA 69 N Andreas 764. Nach Wolgast (wie Anm. 13), S. 239 wurde Schmitthenner 1952 als planmäßiger außerordentlicher Professor zur Ruhe gesetzt. Nach seinem Tod gab es weitere Schriftwechsel zwischen der Witwe und dem Land Baden-Württemberg, in denen wieder die Frage im Mittelpunkt stand, inwieweit sich seine wissenschaftliche Laufbahn der nationalsozialistischen Protektion verdankte. Vgl. hierzu UAHD PA Schmitthenner 5710. <?page no="652"?> wie das meine, trotz Mühe und Arbeit zwecklos und sinnlos gewesen zu sein scheint.« 160 In diesem Grundton hatte er sich 1951, noch vor seiner Verhandlung, in einem mehrseitigen Brief an den damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss gewandt, um seine Kritik an der Entnazifizierung vorzubringen. In pathetischen Worten stellte er sich als unmittelbarer badischer Vorgänger von Heuss im Amt des Unterrichtsministers und irregeführter Friedrich Naumann-Anhänger, dessen Dasein seit 1945 dem eines »Staatsheloten« gleiche, vor. In den Spruchkammerverfahren sah er die Fortsetzung der »Sünde des vergangenen Systems gegen Juden und anders denkende Idealisten heute gegen saubere Patrioten« und bezweifelte, »dass ein solches Gesetz [Säuberungsgesetz, U.L.] das geeignete Werkzeug sei, das deutsche Volk in einer neuen Demokratie zu befrieden und zu beheimaten«. 161 Zu einer objektiven und kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gelangte Schmitthenner also nicht. Auch seine Lebenserinnerungen blieben eine apologetische Selbstdarstellung in verklärter Sichtweise, die noch einmal seine Verwurzelung in der wilhelminischen Welt verdeutlichten, auf die in der Verhandlung vor der Spruchkammer ebenfalls hingewiesen wurde. 162 Eine Beurteilung durch die amerikanischen Internierungsbehörden bestätigt in diesem Sinne Schmitthenners Haltung: »he was an active and leading part of the German viewpoint [...] by his insistence upon the survival of an antiliberal tradition.« 163 Und so drängt sich die Assoziation mit Stefan Zweigs Buchtitel »Die Welt von Gestern« auf, wenn Schmitthenner larmoyant eine ewige Kette der Vertreibungen nachzeichnet: »die Vertreibung aus dem Paradies meiner Jugend, aus dem des Kaiserlichen Reiches, aus dem des Soldatentums, aus dem des Großdeutschen Traumes und daß am Ende nichts anderes mehr übrig bleiben würde als das schlichte Paradies der Erinnerung, aus dem man, wie Jean Paul irgendwo geschrieben hat, nicht vertrieben werden kann.« 164 Als letztes Zeugnis seiner »hehren« Absichten, aber auch als Beleg seines unumstößlichen Festhaltens an seinem »Preußentum«, kann die sicherlich selbst aufgesetzte Todesanzeige angesehen werden. Dem vorangestellten Motto »Du gingest im Geleite Deiner Zeit / Und hast’s getan in Herzenslauterkeit.« aus »Huttens letzte Tage« von C. F. Meyer folgte: »entschlief [...] nach einem dem deutschen Reich und Volk geweihten Leben« 165 sowie eine Aufzählung seiner Titel und Ämter. Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 651 160 Schmitthenner (wie Anm. 1), S. 2. 161 Schmitthenner an Heuss, 1. Februar 1951, Abschrift im Schmitthenner-Familienarchiv. In einem Antwortschreiben vom 20. Februar 1951 wurde Schmitthenner mitgeteilt, daß der Bundespräsident keine Einwirkungsmöglichkeit in Fragen der Entnazifizierung besitze. Vgl. hierzu GLA 465a B/ Sv/ 1629. 162 Vgl. Protokoll vom 20. März 1951, GLA 465a B/ Sv/ 1629. 163 ZStLB, 107 AR 1554/ 66. 164 Schmitthenner (wie Anm. 1), S. 49. 165 Schmitthenner-Familienarchiv. <?page no="653"?> Die Treue zu »seinen Farben« behielt er selbst im Tode bei: der Sarg war während der Trauerfeier mit einer schwarz-weiß-roten Fahne bedeckt. Schon zu Zeiten der Weimarer Republik hatte diese Treue Anlaß gegeben, eine Zeitungsnotiz mit der Überschrift »Schmitthenners Farben« zu versehen. Danach sollte Schmitthenner in Mannheim bei der Reichsgründungsfeier der Militärvereine eine Festrede halten, »sagte aber ab, als er erfuhr, daß außer 62 schwarz-weiß-roten Fahnen auch eine schwarz-rot-goldene im Saal sein werde.« 166 Bibliographie Quellen Das umfangreichste Aktenmaterial zu Paul Schmitthenner befindet sich im Generallandesarchiv Karlsruhe und im Universitätsarchiv Heidelberg. Sein Wirken als Abgeordneter der DNVP im Badischen Landtag ist in den »Verhandlungen des Badischen Landtags« der Jahre 1925 bis 1933 dokumentiert. Von Schmitthenner in den 50er Jahren verfaßte »Lebenserinnerungen« befinden sich in Privatbesitz und sind bisher nicht veröffentlicht. Die dazu gehörigen »Kindheits- und Jugenderinnerungen« sind in einer Kopie der maschinenschriftlichen Ausfertigung im Schmitthenner-Familienarchiv einsehbar, zur Zeit bei Pfarrer i.R. Werner Schmitthenner, Simonswald, dem an dieser Stelle für sein Interesse gedankt sei. Biographische Angaben finden sich u.a. im »Handbuch für den Badischen Landtag. V. Landtagsperiode 1933 - 1937«, bearb. v. K. Groß, Karlsruhe 1934, S. 145 f., im »Badischen Geschäfts- und Adreßkalender, Anhang Behörden und Dienststellen im Elsaß«, 3. Ausgabe, Stand Anfang Mai 1942, Karlsruhe o.J., S. 8 ff. und in dem selbstverfaßten Artikel für die Genealogie der Familie Schmitthenner. Teil II, in: »Deutsches Familienarchiv. Ein genealogisches Sammelwerk« Bd. 5, hrsg. v. G. Geßner, Neustadt an der Aisch 1956, S. 245 - 318, hier S. 230. Schriften Eine Werkübersicht bieten die Ausgaben der Jahre 1931 bis 1941 von »Kürschners Deutscher Gelehrtenkalender«. Beiträge in der »Historischen Zeitschrift« lassen sich über das Autoren- und Rezensentenregister erschließen. Viele seiner Reden liegen in gedruckter Form vor. Publikationsauswahl: - Die Ansprüche des Adels und Volks der Stadt Rom auf Vergebung der Kaiserkrone während des Interregnums (Historische Studien 155), Berlin 1923. - Die Auseinandersetzung Asiens und Europas in ihrer Bedeutung für den Krieg, in: Historische Zeitschrift 140 (1929), S. 489 - 512. - Krieg und Kriegführung im Wandel der Weltgeschichte (Museum der Weltgeschichte 3), Wildpark-Potsdam 1930. - Weltgeschichte vom Frankfurter Frieden bis zur Gegenwart, Bielefeld, Leipzig 1933. Ulrike Lennartz 652 166 Zeitungsausschnitt im Schmitthenner-Familienarchiv, der mit »Mannheim, 16. Januar« beginnt; weitere Angaben fehlen. <?page no="654"?> - Vom Ersten zum Dritten Reich. Festrede zur Feier der Wiederkehr des Tages der Machtergreifung durch den Führer und Reichskanzler am 30. Januar 1935 (Freiburger Universitätsreden 16), Freiburg 1935. - Politik und Kriegführung in der neueren Geschichte, Hamburg 1937. - Rede des Rektors der Universität Heidelberg zur 552. Jahresfeier der Universität Heidelberg gehalten am 21. November 1938 (Heidelberger Universitätsreden N.F. 5), Heidelberg 1939. - Wehrpolitik, Wehrpolitische Geschichte, Wehrgeschichte. Entgegnung und Entwirrung, in: Historische Zeitschrift 163 (1941), S. 316 - 327. - Goethe und der Oberrhein. Ansprache gehalten in der ersten Mitgliederversammlung der Landesvereinigung Oberrhein der Goethe-Gesellschaft Weimar in Straßburg am 23. Mai 1943, Straßburg 1943. - Wehrhaft und frei. Das deutsche Heer von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl. Langensalza, Berlin, Leipzig 1943. Außerdem war Schmitthenner zusammen mit Friedrich Fliedner Herausgeber von »Führer und Völker. Geschichtsbuch für höhere Schulen«, Bd. 1 - 8, Bielefeld, Leipzig 1939 ff., das in mehreren Auflagen erschien. Literatur Biographische Angaben sowie einen Lebensabriß mit schwerpunktmäßiger Behandlung von Schmitthenners wehrwissenschaftlichem Wirken bietet der Artikel über Paul Schmitthenner von Eike Wolgast in »Badische Biographien«, N.F. Bd. 3, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1990, S. 239 - 243. Stationen seines universitären Werdegangs werden in Publikationen über die Universität Heidelberg zur Zeit des Nationalsozialismus dargestellt, vor allem in: - Vézina, Birgit, »Die Gleichschaltung« der Universität Heidelberg im Zuge der nationalsozialistischen Machtergreifung (Heidelberger rechtswissenschaftliche Abhandlungen N.F. 32), Heidelberg 1982. - Wolgast, Eike, Die Universität Heidelberg in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 135 (1987), S. 359 - 406. Weitere Hinweise finden sich in Aufsätzen der Festschrift »Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 - 1986« Bd. 3, hrsg. v. W. Doerr, Berlin u. a. 1985. Eine pointierte Darstellung von Schmitthenners Wirken bietet Helmut Heiber in seinem drei Bände umfassenden Werk »Universität unterm Hakenkreuz«, passim. Teil 2, Bd. 2, S. 303 - 313 geht explizit auf Schmitthenner ein. Paul Schmitthenner, Badischer Staatsminister 653 <?page no="656"?> *26. August 1891 Karlsruhe, ev., 1934 Kirchenaustritt, Vater: Bernhard Seiler, Magazinmeister, Mutter: Susanna, geb. Maier, verheiratet seit 1922 in erster Ehe mit Hilda Luise, geb. Trunzer, seit 1937 in zweiter Ehe mit Lini, geb. Eisengrein, sechs Kinder, davon drei aus erster Ehe. Volksschulbesuch und Lehrerseminar in Heidelberg, Unterlehrer in Lörrach, 1914 - 1917 Kriegsteilnehmer, zuletzt als Leutnant d.Res., Kriegsgefangenschaft, 1919 - 1933 Volksschullehrer, 1933 Rektor, 1933 - 1937 Leiter des Stadtschulamtes Heidelberg, 1934 Stadtoberschulrat, 1940 nach dreijähriger Beurlaubung auf Ansuchen Entlassung aus dem badischen Staatsdienst. 1919 - 1923 Mitglied bzw. Vorsitz in verschiedenen völkischen Organisationen in Heidelberg, 1922 - 1923 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 288.130), 1924 Mitglied der Deutschen Partei, 1929 Mitglied des Stahlhelms, 1. August 1930 Wiedereintritt in die NSDAP, Mai 1930 - September 1932 Mitglied der SA, 1930/ 31 und seit 1. Dezember 1932 Leiter des NSLB in Heidelberg, 1933 - 1945 Mitglied der NSV, NSKOV, 1930 - 1934 Stadtverordneter der NSDAP in Heidelberg, 1933 - 1935 Fraktionsvorsitzender der NSDAP im Heidelberger Stadtrat, Juni 1934 ehrenamtlicher, 1937 - 1945 hauptamtlicher NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg. 4. April 1945 Gefangennahme, bis 14. April 1949 Internierungshaft, 5. Oktober 1948 Entscheidung der Spruchkammer Heidelberg: »Belasteter«, 24. Juni 1949 Verurteilung zu fünf Monaten Gefängnis wegen Landfriedensbruchs, 13. Januar 1950 Verfahren gemäß Straffreiheitsgesetz eingestellt, 1949 - 1952 Vertreter und Abonnentenwerber für eine »Volksbücherei«, 29. Oktober 1952 Volksschullehrer im Angestelltenverhältnis in Ladenburg, 1961 Rentner, gest. 15. November 1975 Heidelberg. Parteistatthalter in Badens NS-Kaderschmiede Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg Hubert Roser Wilhelm Seiler 655 <?page no="657"?> Wohl kaum jemand weiß heute noch, daß Heidelberg, die altehrwürdige, malerisch am Ausgang des Neckartals gelegene, weltberühmte Universitätsstadt, lange Zeit ein Zentrum des Linksliberalismus in Deutschland und seit Ende der siebziger Jahre als Schnittpunkt grün-alternativer Lebenskultur im Südwesten bekannt, mit seinem weit in den Odenwald und den Kraichgau reichenden ländlich-protestantischen Umland schon früh zu den Hochburgen der Nationalsozialisten in Baden zählte. 1 Bereits mit den Reichstags- und Kommunalwahlen im Herbst 1930 hatte sich die NSDAP als stärkste politische Kraft in Heidelberg etabliert, die seit 1924 bestehende Ortsgruppe war zahlenmäßig bei weitem die größte im Lande. 2 Entscheidendes Rückgrat der NS-Bewegung in Heidelberg war, neben der seit jeher engen Verflechtung mit der Ruperto-Carola-Universität, das personelle Netzwerk prominenter Nationalsozialisten aus Heidelberg und der näheren Umgebung, das einen großen Teil der NS-Spitzenfunktionäre in Baden stellte. 3 Um nur einige Beispiele zu nennen: Gauleiter Robert Wagner selbst stammte aus Lindach im Odenwald. Sein Stellvertreter, der spätere Ministerpräsident und Finanz- und Wirtschaftsminister Walter Köhler, begann seine NS-Karriere als Ortsgruppen- und Kreisleiter in Weinheim. Jenen damals noch unbekannten Polizeioberleutnant Karl Pflaumer bei der Polizeidirektion Heidelberg, der 1929 vorgeblich aus Krankheits-, tatsächlich aber aus politischen Gründen aus dem badischen Polizeidienst entlassen wurde, bestellte Wagner 1933 zum Innenminister. 4 Und in Eberbach, einer der Keimzellen der badischen Nationalsozialisten, kaum 30 Kilometer von Heidelberg entfernt, war Wilhelm Keppler, ein früher Geldgeber der Nationalsozialisten und nach 1933 Wirtschaftsberater Hitlers, SS-Obergruppenführer und Reichskommissar in Wien, zu Hause. 5 Hubert Roser 656 1 Zur politischen Lage und dem Aufstieg der NSDAP in Heidelberg in den 20er Jahren vgl. demnächst Roser, Hubert, Nationalsozialistische Personalpolitik und regionale Verwaltung in Südwestdeutschland 1933 - 1939, München 1997; vgl. auch Hoffmann, Herbert, Im Gleichschritt in die Diktatur? Die nationalsozialistische »Machtergreifung« in Heidelberg und Mannheim 1930 bis 1935, Frankfurt/ Main u.a. 1985, S. 59 - 75; Peters, Christian; Weckbecker, Arno (Hrsg.), Auf dem Weg zur Macht. Zur Geschichte der NS-Bewegung in Heidelberg 1920 - 1934. Dokumente und Analysen, Heidelberg 1983; Sommer, Antje, Der Aufstieg der NSDAP in Heidelberg 1928 - 33, in: Heidelberg unter dem Nationalsozialismus. Studien zu Verfolgung, Widerstand und Anpassung, hrsg. v. J. Schadt, M. Caroli, Heidelberg 1985, S. 1 - 50. 2 Nach den Erhebungen des badischen Landespolizeiamtes vom Sommer 1930, GLA 309/ 5987. 3 Die Liste der Heidelberger Stadtverordneten seit 1930 etwa liest sich geradezu wie ein »Who is Who? « der badischen Nationalsozialisten, StAHD, AA 27/ 2; vgl. auch den Anhang bei Hoffmann (wie Anm. 1), S. 231 - 239. 4 Zu Pflaumer vgl. den Beitrag von Norma Pralle in diesem Band; Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996; die biographische Skizze von Ferdinand, Horst, in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 1, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1994, S. 266 - 271. 5 Als Direktor der Odin-Werke, damals der größte Arbeitgeber in Eberbach, protegierte Keppler offen die NSDAP. Seine Belegschaft setzte sich schon vor 1930 überwiegend aus Nationalsozialisten zusammen. Zur Eberbacher NS-Clique und der Person Kepplers vgl. Grill, Johnpeter Horst, The Nazi Movement in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 66 f., 154 - 157; Cser, Andreas; Vetter, <?page no="658"?> Die traditionelle Vorreiterrolle der Heidelberger NSDAP in Baden und die guten Verbindungen zu Wagner sorgten dafür, daß führende Heidelberger Nationalsozialisten der »Kampfzeit« nach der Machtübernahme rasch in Spitzenstellungen bei der Gauleitung aufrückten. Hermann Röhn, bis März 1933 Kreisleiter, wurde von Wagner zum Gaugeschäftsführer und stellvertretenden Gauleiter berufen. Sein Nachfolger Philipp Dinkel tat es ihm ein Jahr später gleich, er wechselte als Leiter der badischen NSV ebenfalls zur Karlsruher Parteiführung. 6 Ihr Weggang schaffte Platz für Führungspersönlichkeiten, die bislang eher unauffällig in der zweiten oder dritten Reihe gestanden hatten und nun mit Macht nach vorne drängten. Zu ihnen gehörte Wilhelm Seiler, seit Mitte Juni 1934 Kreisleiter für die Stadt und den Kreis Heidelberg. Selbst in Seilers Spruchkammerverfahren 1948 wurde übereinstimmend festgestellt, daß der Heidelberger Volksschullehrer und NSDAP-Stadtrat vor der NS-Machtübernahme kaum in Erscheinung getreten sei. 7 Was Seiler vielmehr für sich zu nutzen verstand, war die Phase der »Machtergreifung« und »Gleichschaltung« zwischen Frühjahr und Herbst 1933, in der er sich insbesondere bei der politischen Säuberung der Heidelberger Beamten- und Lehrerschaft als rühriger Organisator und Vollstrecker zu profilieren wußte. An seinem Beispiel läßt sich das Wirken der Kreisleitung im städtischen Rahmen und hier insbesondere die »Umformung« der städtischen Schuladministration sehr anschaulich darstellen. Seiler, am 26. August 1891 in Karlsruhe geboren, aber noch im selben Jahr mit den Eltern nach Heidelberg verzogen, wo er acht Jahre lang die Volksschule besuchte, stammte aus einfachen Verhältnissen. 8 Der Vater, kleiner Beamter bei der Badischen Staatseisenbahn, starb, als Seiler noch ein Kind war. Seitdem mußte die Mutter den Lebensunterhalt für die vierköpfige Familie durch »Zimmervermieten und Kostgeben« verdienen. Der Volksschullehrerberuf und die mit ihm verbundene Verbeamtung auf Lebenszeit bedeuteten insofern eine Möglichkeit zum raschen sozialen Aufstieg und - nicht zuletzt - auch zu einer spürbaren materiellen Besserstellung für Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 657 Roland; Joho, Helmut, Geschichte der Stadt Eberbach am Neckar vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Sigmaringen 1992, S. 241 - 245; die biographische Skizze von Volkmann, Hans-Erich, in: Badische Biographien N.F. Bd. 3, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1991, S. 149 - 151. 6 Röhn kam 1946 zusammen mit Wagner vor ein französisches Kriegsgericht und wurde hingerichtet. Dinkel, Mitbegründer der NSDAP in Heidelberg, übte den Posten eines Gauamtsleiters bis Kriegsende aus. Von 1954 bis 1970 war er Bürgermeister seiner Heimatstadt Eschelbronn; vgl. zu beiden Roser (wie Anm. 1); zu Dinkel vgl. auch Hansen, Eckhard, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen im »Sozialismus der Tat« des Dritten Reiches, Augsburg 1991, S. 427. 7 Siehe dazu Seilers Entnazifizierungsakte, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 8 Die folgenden Angaben stützen sich auf Seilers Personalakte (im folgenden PA) beim badischen Minister des Kultus und Unterrichts (im folgenden MdKuU), GLA 235, 1967/ 43, 2787; den im Internierungslager (im folgenden IL) Hohenasperg verfaßten Lebenslauf vom 26. August 1947, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99; die Laudatio zum 50. Geburtstag in der Heidelberger NS-Tageszeitung »Volksgemeinschaft«, Nr. 236, 26. August 1941. <?page no="659"?> die in ärmlichen Verhältnissen lebende Familie. Die sechsjährige Ausbildung am Heidelberger Lehrerseminar schloß Seiler im März 1913 mit der Note »gut bis sehr gut« ab. Kurz darauf trat er die Stelle eines Unterlehrers in Lörrach an, wo ihn am 24. September 1914 der Gestellungsbefehl erreichte. Seine militärische Grundausbildung erhielt Seiler beim Ersatzbataillon Grenadier- Regiment 110 in Mannheim. Hier und bereits während der gemeinsamen Zeit als Absolventen des Lehrerseminars Heidelberg lernte er den späteren Gauleiter Robert Wagner kennen, dem er, wie er einmal formulierte 9 , seitdem »kameradschaftlich verbunden« war. Seilers frühe persönliche Bekanntschaft zu Wagner hat ihm, insbesondere nach 1933, sicher nicht geschadet und manches Hindernis in seiner beruflichen Laufbahn zur Seite zu schieben vermocht, von einer »engen Freundschaft« der beiden Regimentskameraden zu sprechen 10 , erscheint jedoch übertrieben. Wäre dies der Fall gewesen, hätte Seiler vor der »Machtergreifung« wie auch danach zweifellos eine weitaus stärker politisch akzentuierte Karriere durchlaufen. Die entsprechenden persönlichen und fachlichen Voraussetzungen hierfür brachte er allemal mit. Im weiteren Kriegsverlauf kämpfte Seiler seit Januar 1915 wechselweise an der Westwie an der Ostfront. 11 Am 20. September 1917 wurde er vor Langemark schwer verwundet und geriet in britische Kriegsgefangenschaft. Infolge eines Steckschusses litt er seitdem unter einer Versteifung des linken Ellenbogen- und Handgelenkes, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit zur Folge hatte. Trotz alledem war der Krieg nun für ihn zu Ende. Knapp zwei Jahre später, am 14. Juli 1919, kehrte Seiler nach Deutschland zurück, kurz darauf erfolgte seine Entlassung aus dem Heeresdienst als Leutnant d. Res. Kaum wieder in der Heimat, meldete sich Seiler bei seiner alten Dienstbehörde, dem badischen Kultus- und Unterrichtsministerium, und bat um Wiederverwendung im Schuldienst. Zwei Monate später trat er die Stelle eines Unterlehrers an der Wolterschule in Heidelberg an, seit 1. Oktober 1921 wurde er als Hauptlehrer an der Schule der Gewerkschaftssiedlung im Stadtteil Heidelberg- Pfaffengrund verwendet, wo er bald auch seßhaft wurde. Gleichzeitig mit den ersten beruflichen Schritten nach dem Kriege steuerte Seiler nun auch sein Privatleben in gesicherte Bahnen. Ende Dezember 1922 heiratete er seine erste Frau Hilda Luise Trunzer, eine Lehrerstochter aus einer streng katholischen Buchener Familie. Aus der Ehe gingen bis 1930 drei Kinder hervor. Es ist aus der Rückschau nicht ganz eindeutig zu beurteilen, in welchem Ausmaß sich Seiler in den folgenden Jahren politisch exponiert hat, denn hierzu liegen nur spärliche, zumeist nicht authentische Quellen vor. Einerseits kann als weitgehend Hubert Roser 658 9 Seiler an MdI Württemberg-Baden, 12. Juli 1952, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 10 So die Aussage eines Berufskollegen von Seiler in dessen Spruchkammerverfahren, 24. August 1948, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 11 Vgl. dazu im einzelnen die PA als badischer Offizier, GLA 456/ 10203. Seiler wurde das EK I und II sowie diverse andere Auszeichnungen verliehen. <?page no="660"?> gesichert gelten, daß sich der Heidelberger Junglehrer bereits unmittelbar nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft aktiv in rechtsextremen Kreisen betätigte. Er war Ortsgruppenführer bei den »Adler und Falken«, seit 1919 Mitglied in einem völkischen Wandervogel und bis 1923 angeblich auch zweiter Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes in Heidelberg. Der NSDAP gehörte er bis zu deren Auflösung im November 1923 an, während der »Verbotszeit« engagierte er sich für die Deutsche Partei, eine der zahlreichen NS-Nachfolgeorganisationen in Deutschland. 12 Andererseits fungierte Seiler zwischen 1925 und 1928 kraft seines Amtes als gewählter Bezirksvorsitzender in Heidelberg als Repräsentant des linksliberalen Badischen Lehrervereins, dem er selbst seit Beginn seiner aktiven Dienstlaufbahn im April 1913 angehörte. 13 Und auch als Lehrer in der roten Hochburg Pfaffengrund, einer Anfang der 20er Jahre errichteten genossenschaftlichen Gartenstadt-Siedlung am Westrand der Stadt 14 , soll der »fanatische Stahlhelmmann und Nationalsozialist« Seiler »nicht unbeliebt« gewesen sein, wurde ihm noch nach dem Kriege von einem seiner früheren politischen Gegner bezeugt. 15 Allem Anschein nach hat sich Seiler ausgangs der 20er Jahre - womöglich aus Tarnungsgründen, obwohl er dies später nie für sich reklamierte - nicht öffentlich für die Nationalsozialisten betätigt. In die NSDAP trat er, für einen Kreisleiter relativ spät, erst am 1. August 1930 wieder ein. 16 Aber auch nach dem Parteieintritt, der Übernahme der Leitung des NSLB in Heidelberg am 1. September und der Wahl zum Stadtverordneten im Dezember 1930 17 trat er, von einigen Reden im Bürgeraus- Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 659 12 Zu diesen Angaben vgl. den Lebenslauf vom 15. Februar 1936 in Seilers Personaldossier beim badischen Gaupersonalamt, GLA 465d/ 515. 13 Lebenslauf im IL Hohenasperg, 26. August 1948, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99; siehe auch die gleichlautende Äußerung in einem Schreiben an das Karlsruher Oberschulamt vom 9. Mai 1969, GLA 235, 1967/ 43, 2787. Erst im Sommer 1932 trat Seiler, wie er 1936 angab, »aus politischen Gründen« aus dem Badischen Lehrerverein aus, GLA 465d/ 515. Zu dessen politischer Funktion als maßgeblichem Interessenverband der badischen Lehrerschaft in der Weimarer Republik vgl. Merz, Hans-Georg, Beamtentum und Beamtenpolitik in Baden. Studien zu ihrer Geschichte vom Großherzogtum bis in die Anfangsjahre des nationalsozialistischen Herrschaftssystems (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 32), Freiburg i.Br., München 1985, S. 135 f.; Lenhart, Volker, Geschichte der Lehrerbewegung in Baden 1926 - 1976, Bühl 1977. Zu Seiler ebd., S. 40. 14 Zu deren Entstehung vgl. Die Stadt- und die Landkreise Heidelberg und Mannheim. Amtliche Kreisbeschreibung, hrsg. von der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg in Verbindung mit den Städten und den Landkreisen Heidelberg und Mannheim Bd. 2, Karlsruhe 1968, S. 348 - 350. Zur Pfaffengrund-Schule ebd., S. 267. 15 So das Urteil des bekannten Heidelberger SPD-Politikers Josef Amann, selbst wohnhaft im Pfaffengrund, in Seilers Entnazifizierungsverfahren, 26. September 1947, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. Zur Person und dem Verhältnis Amanns zu Seiler nach 1933 vgl. S. 596 und Anm. 92. Zur Ernennung Seilers zum Leiter des Heidelberger Stadtschulamtes vgl. Heidelberger Neueste Nachrichten, Nr. 287, 8. Dezember 1933. 16 BA, Abt. III (BDC), PA Wilhelm Seiler. 17 StAHD AA 27/ 2. Bei der zum gleichen Zeitpunkt durchgeführten Stadtratswahl, in deren Folge sieben Nationalsozialisten in den Heidelberger Stadtrat einzogen, war Seiler nicht nominiert, StAHD AA 24/ 2; vgl. auch Volkszeitung Nr. 288, 4. Dezember 1930. <?page no="661"?> schuß abgesehen, nicht gerade als Propagandist hervor. Seiler war zum damaligen Zeitpunkt in der mit reichlich NS-Prominenz durchsetzten Ortsgruppe lediglich einer unter vielen - ein Funktionär, der die ihm zugewiesenen Aufgaben pflichtgetreu erledigte, ohne besonders aufzufallen. In keiner der zahlreichen vor und nach 1933 publizierten Rückblicke auf die »ruhmreiche Entstehungsgeschichte« der Heidelberger NSDAP 18 fällt sein Name. Daß er dennoch am Aufbau des Stahlhelm und der NSDAP im Pfaffengrund »führend« beteiligt gewesen sein soll 19 , bestätigt nur von neuem Seilers vor 1933 vergleichsweise subalterne Stellung innerhalb der Heidelberger Parteihierarchie. In diesem Stadtteil verfügten die Nationalsozialisten über so wenige Mitglieder, daß erst im September 1934 eine Ortsgruppe gegründet werden konnte. 20 Seilers eigentliche Stunde schlug mit dem Tag der nationalsozialistischen »Machtergreifung« in Baden am 9. März 1933. Anstelle der »Trommler« und verdienten Propagandisten der »Kampfzeit«, derer es damals in Heidelberg wahrlich nicht zu wenige gab, waren jetzt vor allem Leute gefragt, die mit der den Nationalsozialisten übertragenen Staatsmacht auch umzugehen verstanden. 21 Seilers intime Kenntnis der Personalverhältnisse an den Heidelberger Volksschulen, die nicht allein aus der langjährigen Berufserfahrung als Lehrer, sondern gerade auch aus der Mitgliedschaft im Bürgerausschuß sowie im Badischen Lehrerverein resultierte, war in diesem Augenblick von unschätzbarem Wert. Sie wurde dringend benötigt, um die Heidelberger Lehrerschaft - und mit ihr die beiden maßgebenden Schulaufsichtsbehörden, das Stadtbzw. Kreisschulamt Heidelberg, - so rasch wie möglich unter nationalsozialistische Kontrolle zu bringen. Und in der Tat - Seiler enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Ganz im Gegenteil, insbesondere in den folgenden Wochen und Monaten leistete er »ganze Arbeit«! In direktem Zusammenhang mit seiner maßgeblichen Rolle bei der politischen Säuberung der Heidelberger Lehrerschaft 1933 stand auch Seilers nunmehr rasch an Dynamik gewinnender Aufstieg an die Spitze von Partei und Schulverwaltung in Heidelberg. Er vollzog sich in vier Hauptetappen: Am 26. April 1933 wurde Seiler in den im Zuge der »Gleichschaltung« neugebildeten Stadtrat berufen, wo er für »kulturelle, Beamten- und Angestellten- Angelegenheiten, Volks- und Fachschulen« zuständig war. Gleichzeitig wurde er zum »Geschäftsführer« der NSDAP-Fraktion ernannt. 22 Fünf Wochen später setzte Hubert Roser 660 18 Vgl. Volksgemeinschaft Nr. 23, 1. April 1931, Nr. 22, 26. Januar 1933, Nr. 264, 28. September 1935, Nr. 141, 28. Mai 1938; Heidelberger Neueste Nachrichten Nr. 227, 28. September 1935, Nr. 228, 30. September 1935. 19 Aussage Amanns vom 26. September 1947 (wie Anm. 15). 20 Vgl. die Gründungsdaten der Heidelberger NSDAP-Ortsgruppen in der Volksgemeinschaft Nr. 141, 28. Mai 1938. Zum schwachen Abschneiden der Nationalsozialisten im Pfaffengrund bei den Wahlen vor 1933 vgl. Sommer (wie Anm. 1), S. 36, 44 - 49. 21 Zum Hintergrund vgl. Roser (wie Anm. 1). 22 StAHD AA 24/ 2; Volksgemeinschaft Nr. 105, 4. Mai 1933. Am 24. Mai 1933 nahm Seiler erstmals an einer Stadtratssitzung teil, StAHD, Ratsprotokolle 1933, S. 78. <?page no="662"?> ihn der Badische Innenminister als »Vertrauensmann« der Partei bei der Durchführung des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« im Kreis Heidelberg ein. 23 Mitte Oktober 1933 übernahm er die Leitung des Stadtschulamtes Heidelberg, und im Juni des darauffolgenden Jahres wurde er von Gauleiter Wagner zum kommissarischen Kreisleiter berufen. Erstes Opfer der nationalsozialistischen Gleichschaltungswelle im Frühjahr 1933 wurde erwartungsgemäß der erst 1931 als Leiter des Stadtschulamts Heidelberg eingesetzte Stadtoberschulrat Oskar Hofheinz. Als langjähriger Heidelberger Stadtrat, MdL und Landesvorsitzender des Badischen Lehrervereins war Hofheinz den Heidelberger Nationalsozialisten von Beginn an ein Dorn im Auge. Der Badische Innenminister Adam Remmele hatte sich seinerzeit für den profilierten DDP-Landtagsabgeordneten stark gemacht, da er für die mehr und mehr nach rechts tendierende Heidelberger Lehrerschaft als Vorstand der Schulaufsichtsbehörde unbedingt einen republiktreuen Beamten benötigte. 24 Hofheinz wurde am 1. April 1933 beurlaubt und vorläufig durch den bislang beim Kreisschulamt Heidelberg verwendeten parteilosen Schulrat Dr. Georg Laule ersetzt. 25 Läßt sich in diesem Fall Seilers Mitwirkung lediglich erahnen 26 , so trug von nun an die Personalpolitik, insbesondere was die Neubesetzung der Rektorenstellen an den Heidelberger Volksschulen anbetraf, eindeutig seine Handschrift. Binnen kurzem gelang es Seiler, zunächst noch gestützt auf seine Funktion als verantwortlicher Stadtrat für Schulangelegenheiten und dann als Leiter des Heidelberger Stadtschulamts, »seine Vertrauensleute in den Schulen« auf allen wichtigen Führungspositionen zu installieren und auf diese Weise in kürzester Zeit »die Schule geistig nationalsozialistisch auszurichten«. 27 Als für den Historiker besonders glücklicher Umstand Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 661 23 Mit Erlaß vom 2. Juni 1933, GLA 356, 1977/ 31, 926. Zum »Berufsbeamtengesetz« vgl. Mommsen, Hans, Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966, S. 39 - 61. Zur Funktion der »Vertrauensmänner« in Baden vgl. Roser (wie Anm. 1). 24 Zu den politischen Kontroversen um die Besetzung der Heidelberger Stadtoberschulratstelle in der Weimarer Republik sowie zur Person und dem politischen Profil von Hofheinz vgl. eingehend Merz (wie Anm. 13), S. 136, 211 - 215, 311; dessen biographische Skizze, in: Badische Biographien N.F. Bd. 3, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1990, S. 130 - 132; Lenhart (wie Anm. 13), S. 6 - 10. Von 1945 bis zu seinem Tode 1946 war Hofheinz erneut Stadtrat in Heidelberg; vgl. Reutter, Friederike, Heidelberg 1945 - 1949. Zur politischen Geschichte einer Stadt in der Nachkriegszeit, Heidelberg 1994, S. 222. 25 Zum Vorgang vgl. GLA 235/ 21795; StAHD AA 288/ 10; siehe auch die Meldungen im Staatsanzeiger für Baden Nr. 79, 3. April 1933, sowie im Amtsblatt des Badischen Ministeriums des Kultus und Unterrichts, 6. April 1933, S. 38. Laule war einer jener bei der Besetzung des Stadtschulamts 1931 unterlegenen Konkurrenten von Hofheinz. 26 Gesichert ist, daß Seiler seit dem 30. Januar 1933 offen gegen Hofheinz agitierte; vgl. Badische Schulzeitung 1933, S. 86, 101, 103; Lenhart (wie Anm. 13), S. 40 f. In einer von Hofheinz geleiteten Lehrerkonferenz Ende März 1933 brachte er unerwartet ein »Sieg Heil« auf den »Führer« aus; Aussage des Heidelberger Stadtschulrats Fritz Frey in Seilers Spruchkammerverfahren, 24. August 1948, GLA, 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 27 So die zutreffende Beurteilung von Seilers Personalpolitik durch zwei Belastungszeugen in seinem <?page no="663"?> ist in diesem Zusammenhang zu werten, daß sich eine von Seiler Ende 1933 verfaßte interne »Besetzungsliste« erhalten hat, in der er ohne Umschweife auf jene Kriterien eingeht, die nach seinem Dafürhalten bei der zukünftigen Besetzung von Funktionsstellen im Schuldienst maßgebend sein sollten. Von dem zuständigen Referenten im badischen Kultus- und Unterrichtsministerium, Ministerialrat Karl Gärtner, einem »Alten Kämpfer« und nationalsozialistischen Parteibuchbeamten, mit dem er seit der »Machtergreifung« in engem dienstlichen Kontakt stand, hatte Seiler den (mündlichen) Auftrag erhalten, entsprechende Vorschläge für die Besetzung von sieben freiwerdenden Rektorenstellen in Heidelberg auszuarbeiten. Seiler übersandte Gärtner daraufhin eine Liste der seiner Meinung nach in Frage kommenden Stellenanwärter, versehen mit entsprechenden Angaben über deren Parteizugehörigkeit bzw. »politische Zuverlässigkeit«. Die Vorschläge, so teilte er mit, seien »vorerst unverbindlich und rein privater Natur - wie besprochen. Die rot angekreuzten würde ich - in der Reihe der roten Zahlen - ernstlich in Erwägung ziehen. Eventuell kann - Ihrem Wunsche folgend - einer von auswärts genommen werden, jedoch haben wir genügend Leute hier. [...] Nr. 5 und 6 könnten auf einige Zeit kommissarisch tätig sein. Bei 1 und 4 klappt der Laden sicher«. 28 Auch zwei andere Fälle verdeutlichen, daß es Seiler nicht zuletzt darum ging, »Alte Kämpfer« aus seinem persönlichen Umfeld in führende Positionen in der Heidelberger Schulverwaltung einzuschleusen. Anfang 1935 wurde die Rektorin einer Heidelberger Mädchenschule auf seine Veranlassung hin in den Ruhestand geschickt. Seiler hatte ausdrücklich um ihre baldige Pensionierung gebeten, »damit die Schulabteilung I in Heidelberg unter die straffere Leitung eines männlichen Rektors gestellt werde«. Als Nachfolger schlug er einen auf seiner Liste stehenden Heidelberger Hauptlehrer vor: H. habe »in der Partei und im NSLB in den Kampfjahren von 1930 an regen Anteil genommen, allerdings nicht in vorderster Linie sich betätigt, was seiner ganzen Veranlagung nicht entsprochen hätte. Eines ist über ihn zu sagen, er hat trotz seiner alten Freundschaft zu Stadtoberschulrat Hofheinz in den Jahren der Entscheidung sich klar zum Nationalsozialismus bekannt und dabei diese Freundschaft in die Brüche gehen lassen. Er hat auch seither klare Richtung gehalten, und es wäre zu begrüßen, wenn er als alter Pg. in leitender Stellung an der Spitze einer Schulabteilung künftig sich betätigen könnte«. 29 Bereits ein Jahr zuvor hatte Seiler den Hauptlehrer an der Fortbildungsschule in Bretten, Adolf Neureuther, nach Heidelberg beordert und hier zum Rektor einer Grund- und Hauptschule ernannt, weil er ihn als »Kreisamtsleiter für Erzieher« in seinem Parteistab Hubert Roser 662 Spruchkammerverfahren; Aussage von Josef Amberger, 1925 - 1933 Zweiter Bürgermeister, 1933 - 1945 Rechtsrat bei der Stadt Heidelberg, 25. September 1947; von Otto Geibel, 1919 - 1933 Redakteur bei der sozialdemokratischen »Volkszeitung«, nach 1945 Mitglied im Vorstand der SPD in Heidelberg, 27. September 1947, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 28 Seiler an Gärtner, 14. Dezember 1933, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 29 Stadtoberschulrat Seiler an badisches MdKuU, 8. März 1935, GLA 235/ 37857. Seinem Wunsch wurde entsprochen; vgl. zu dem Fall auch Merz (wie Anm. 13), S. 316. <?page no="664"?> benötigte. 30 Weitere Beispiele aus der Mitte der 30er Jahre, die hier nicht erörtert zu werden brauchen, unterstreichen noch die zunehmende Dominanz der Seiler-Protegés innerhalb der Heidelberger Schulverwaltung seit 1933. 31 Natürlich trug Seiler bei dem seit Sommer 1933 unter seiner Ägide stattfindenden Personalrevirement auch dafür Sorge, daß er selbst nicht zu kurz kam. Die offensichtliche Protektion aufgrund seiner Parteistellung geht aus den einschlägigen Stellenbesetzungsakten klar hervor. Unmittelbar vor der »Machtergreifung« waren zwei Heidelberger Rektorenstellen zur Besetzung ausgeschrieben gewesen. 32 Ende März 1933 veranlaßte der Staatskommissar beim Badischen Kultus- und Unterrichtsministerium ohne ersichtlichen Grund, daß beide Stellen erneut im Amtsblatt ausgeschrieben wurden. 33 Über die bereits eingelaufenen Bewerbungen wurde, trotz Vorlage durch das Stadtschulamt Heidelberg (gez. Hofheinz), nicht entschieden. Am 22. Mai 1933 reichte das Stadtschulamt (jetzt gez. Laule) die neue Bewerberliste, zusammen mit ihren Besetzungsempfehlungen, beim Ministerium ein, wobei als Hauptkriterium offensichtlich die dienstlichen Leistungen im Vordergrund standen. Das Ministerium brachte daraufhin sechs Heidelberger Hauptlehrer, darunter zwei »Alte Kämpfer« von Seilers Liste, zum Vorschlag, wozu der Heidelberger Oberbürgermeister am 15. Juli 1933 die erforderliche Stellungnahme abgab. Die Besetzungsprozedur war damit formell eigentlich abgeschlossen, als unter Zurücknahme der Ernennungsvorschläge am 28. Juli 1933 plötzlich Seiler und ein weiterer »Alter Kämpfer«, der Heidelberger Hauptlehrer Albert Geisel, später Kreisschulrat in Karlsruhe und stellvertretender Gauamtsleiter des NSLB 34 , ins Spiel gebracht wurden, obwohl weder der eine noch der andere sich auf die seinerzeitige Ausschreibung förmlich beworben hatten. Mit Wirkung vom 1. September 1933 wurde Seiler zum Rektor der Wilckensschule in Heidelberg ernannt. 35 Schon bald zeigte sich jedoch, daß die Rektorenstellen für beide nur als kurzfristige Übergangslösung gedacht waren. Bereits am 7. September wurde Geisel zum kommissarischen Vorstand des Kreisschulamts berufen, Seiler folgte ihm am 10. Oktober als neuer Leiter des Stadtschulamts Heidelberg nach. Seiler, so der Ernennungsantrag des Ministeriums, »ist ein äußerst fähiger, erfolgreicher und tüchtiger Lehrer, der in jeder Hinsicht für die Stelle des Vorstands des Stadtschulamts Heidelberg vereigenschaftet erscheint. Er ist außerdem ein Vorkämpfer für die nationalsozialistische Bewegung und als solcher besonders geeignet, an der Neugestaltung der Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 663 30 Der »Alte Kämpfer« Neureuther avancierte rasch zu Seilers in Schulangelegenheiten engstem Gefolgsmann in Heidelberg. Zu Neureuther vgl. S. 17 f. 31 Vgl. dazu GLA 235/ 37857. Zur NS-Personalpolitik innerhalb der badischen Schulverwaltung vgl. Merz (wie Anm. 13), S. 311 - 318. 32 Amtsblatt (wie Anm. 25) Nr. 6, 8. März 1933, S. 22. 33 Amtsblatt (wie Anm. 25) Nr. 10, 6. April 1933, S. 38. 34 Zu Geisel vgl. Merz (wie Anm. 13), S. 313. 35 Der gesamte Vorgang ist in den Heidelberger Stellenbesetzungsakten enthalten, GLA 235/ 37857. Zur Ernennung Seilers vgl. auch Amtsblatt (wie Anm. 25) Nr. 22, 14. September 1933, S. 147. <?page no="665"?> Jugenderziehung und der Schulaufsicht im Geiste des neuen Deutschland mitzuarbeiten. Als Führer der Fraktion der NSDAP im Stadtrat Heidelberg bietet er auch die Gewähr für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Stadtschulamt und Stadtverwaltung«. 36 Auch in diesem Falle läßt sich zweifelsfrei nachweisen, daß Seiler höchstpersönlich der Initiator dieses Schachzugs war, sich damit quasi der Stadtrat Seiler selbst zum Stadtschulrat beförderte. Zusammen mit seinem Verbündeten bei der Heidelberger Stadtverwaltung, Bürgermeister Otto Wetzel, einem der damals führenden Heidelberger Nationalsozialisten und seit Juni 1933 offizieller Stellvertreter von Oberbürgermeister Dr. Carl Neinhaus, gelang es ihm, die vom Kultus- und Unterrichtsministerium bereits in Aussicht genommene Bestätigung des kommissarischen Amtsverwesers Laule abzuwehren. Der Stadtrat, teilte die Stadtverwaltung auf Anfrage mit, sei zu der Auffasung gekommen, »daß man dem Ministerium nahelegen soll, von einer endgültigen Übertragung [der Stadtschulratstelle] an Dr. Laule absehen zu wollen. Wohl liegen gegen Dr. Laule keine Bedenken vor, die gedeihliche Weiterentwicklung der hiesigen Volksschule erfordert jedoch als Leiter einen im Dienste des nationalen Umbruchs aktiv tätigen Mann«. 37 Laule, der nicht darüber im Bilde war, daß Seiler der eigentliche Urheber dieser Intrige gegen seine Person war, versuchte noch, Ministerialrat Gärtner zum Einlenken zu bewegen: Wie er festgestellt habe, sei der Stadtrat bei seiner Entscheidung massiv beeinflußt worden. »Eine halbe Stunde vor der entscheidenden Stadtratssitzung« habe Wetzel drei der mir als Schulrat unterstellten Lehrer »hinter meinem Rücken auf das Rathaus kommen lassen und sie über meine Tätigkeit« als Schulaufsichtsbeamter »ausgefragt«. »Daß nicht jeder Lehrer günstige Aussagen über seinen Schulrat macht, dürfte Ihnen wohl bekannt sein. Die Stadtverwaltung hätte sieben Monate Zeit gehabt, sich beim Ministerium über mich zu erkundigen«. 38 Doch auch dieser letzten Verteidigungsoffensive blieb der Erfolg versagt, denn Gärtner stand als Parteimann auf der Seite Seilers, wie ein Schreiben Seilers an Gärtner in der Angelegenheit Laule eindeutig beweist: Ich bin »Mitarbeiter eines Mannes, der durch mich als Stadtrat beurteilt und abgelehnt werden mußte«. Laule wandte sich »vor allem sehr erregt dagegen, daß man seine Befähigung als Schulaufsichtsbeamter anzweifle, und hierauf allerdings platzte ich diesem älteren Herrn, bei dem ich schon Hubert Roser 664 36 Ernennungsantrag des Badischen Ministers des Kultus, Unterrichts und der Justiz (im folgenden MdKUuJ) vom 22. Dezember 1933. Die Bestellung erfolgte durch Beschluß des Reichsstatthalters vom 23. Januar 1934 mit Wirkung vom 1. Januar 1934, GLA 233/ 24818; vgl. auch Amtsblatt (wie Anm. 25) Nr. 4, 20. Februar 1934, S. 29; Jahrbuch des nationalsozialistischen Lehrerbundes, Gau Baden, Abt. Grund- und Hauptschule 1935/ 36, Bühl 1935, S. 214. 37 Stadtverwaltung Heidelberg (gez. Wetzel) an MdKUuJ, 6. November 1933, GLA 235/ 21795; vgl. auch den Stadtratsbeschluß vom 3. November 1933, StAHD, Ratsprotokolle 1933 S. 193; den vorläufigen Auszug aus der Niederschrift des Stadtrats vom 3. November 1933, StAHD, AA 288/ 10. 38 Erstes Zitat: Laule an Gärtner, 13. Dezember 1934, PA Dr. Georg Laule, GLA 235, 1967/ 43, 1783. Das zweite Zitat entstammt einem Privatschreiben Laules an Gärtner vom 5. November 1933, das von diesem aber zu den Akten des Ministeriums genommen wurde, GLA 235/ 21795. <?page no="666"?> in der Schule war, nicht mit der vollen Wahrheit ins Gesicht, sondern sagte ihm, daß die Entscheidung keine Herabsetzung seiner Leistungen bedeute, sondern mit meiner Fraktionsleitertätigkeit zusammenhänge. [...] Ich werde heute zum ersten Male deutlich, weil ich aus der Briefkarte an den Herrn Ministerialdirektor hierzu die Berechtigung - sogar die Verpflichtung - ableite, denn es ist taktlos, Versuche, einen wildgewordenen Mann zu beruhigen, als amtliche oder ernstzunehmende Meinung des Stadtrats beim Ministerium hinzustellen«. 39 Während Seiler am 1. Februar 1934 endgültig zum Leiter des Stadtschulamtes ernannt wurde, mußte Laule ins zweite Glied zurücktreten und seinen Dienst beim Kreisschulamt Heidelberg wieder aufnehmen. 40 Mit der Übernahme der Amtsgeschäfte des Kreisleiters der NSDAP Mitte Juni 1934 verfügte Seiler in der Stadt und im Kreis Heidelberg von nun an über einen nahezu unumschränkten persönlichen Machtbereich. Sein anfänglich sogar dreifacher institutioneller Rückhalt als Fraktionsvorsitzender im Stadtrat 41 , Schulaufsichtsbeamter und oberster Parteistatthalter in Heidelberg eröffnete ihm alle Möglichkeiten, um das wirtschaftliche, politische und kulturelle Leben weit über die Stadtgrenzen Heidelbergs hinaus maßgeblich beeinflussen zu können. Bereits in der Frühphase der »Machtergreifung« war es den Kreisleitern der NSDAP gelungen, sich als die von nun an tonangebenden Repräsentanten der Partei auf regionaler Ebene zu profilieren. 42 Sie firmierten in ihren Parteikreisen als Vertraute bzw. verlängerter Arm des Gauleiters, dem sie persönlich verantwortlich waren, und bildeten so gewissermaßen das entscheidende Bindeglied zwischen Parteibasis und NSDAP- Zentrale im Lande. Spätestens seit Sommer 1933 übten die Kreisleiter die informelle Entscheidungsgewalt bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Dienst aus. In erster Linie sie bestimmten nun, wer gegebenenfalls sein Amt niederzulegen hatte bzw. wer bei der Wiederbesetzung zum Zuge kommen sollte. Dabei bedurfte es weder großer Worte noch Drohgebärden und auch nicht irgendeines Befehls »von Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 665 39 Seiler an Gärtner, 24. November 1933, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 40 Am 1. Oktober 1934 wurde Seiler zum Stadtoberschulrat befördert; siehe dazu den Ernennungsantrag des MdKuU vom 5. November 1934, ebd. Laule trat nie in die NSDAP ein. Im März 1935 wurde er nach einer abfälligen Bemerkung über die NS-Lehrerschaft und Kreisleiter Seiler denunziert und danach zurück in den Schuldienst versetzt. 1945 übernahm Laule erneut für kurze Zeit die Leitung des Stadtschulamts. Den Antrag auf »Wiedergutmachung« lehnte das Oberschulamt jedoch ab, da Laule seinerzeit sowohl bei der Entfernung von Stadtschulrat Hofheinz als auch bei der politischen Säuberung der Lehrerschaft mitgewirkt habe. Im Hinblick auf seine Kaltstellung im Dezember 1933 wurde ihm mitgeteilt, daß er »vom Schulamt nicht etwa seiner politischen Überzeugung wegen oder aus Gründen der Weltanschauung entfernt [worden sei], sondern einzig und allein deshalb, weil der allmächtige und ehrgeizige Kreisleiter Seiler selbst nach diesem Amte strebte«. Eine »berufliche Schädigung« habe er dadurch nicht erlitten; siehe Oberschulamt Nordbaden an Laule, 2. Januar 1953, GLA 235, 1967/ 43, 1783. 41 Den Posten als Stadtrat mußte Seiler nach Inkrafttreten der Deutschen Gemeindeordnung im Herbst 1935 aufgeben. Zur damaligen personellen Neubildung des Heidelberger Stadtrats siehe Volksgemeinschaft Nr. 304, 8. November 1935. 42 Zum folgenden vgl. eingehend Roser (wie Anm. 1). <?page no="667"?> oben«, um ihrem Machtanspruch Geltung zu verschaffen. Die politische Atmosphäre seit 1933 sprach für sich. Als äußerst hilfreich bei der Usurpation personalpolitischer Kompetenzen hatte sich gezeigt, daß, wie bereits angedeutet wurde, die Kreisleiter oder enge Vertraute von ihnen im Frühjahr 1933 zu »Vertrauensmännern« der Partei bei der Durchführung des »Berufsbeamtengesetzes« eingesetzt wurden. In dieser Funktion oblag ihnen die wichtige Aufgabe, »Beweismaterial« zu erheben, auf dessen Grundlage dann eine »Erklärung« über die »politische Zuverlässigkeit« des von der Partei, d.h. in aller Regel von ihnen selbst beanstandeten Beamten abzugeben war. 43 Auch wenn die zumeist rein vom Machthunger lokaler NS-Funktionäre getriebenen Entlassungsbzw. Pensionsanträge der »Vertrauensmänner« oft schon an formalen Hindernissen scheiterten, ist dennoch festzuhalten, daß gerade der Amtsbezirk Heidelberg unter der Ägide Seilers zu jenen Kreisen in Baden zählte, in denen das »Berufsbeamtengesetz« besonders rigoros durchgezogen wurde. 44 Mit Inkrafttreten der Deutschen Gemeindeordnung im Jahre 1935 und der Einbindung der Kreisleiter als »Beauftragte der NSDAP« in die neue, reichsweit einheitliche Gemeindeverfassung 45 wurde ihr seit 1933 informell erhobener Machtanspruch kommunalrechtlich sanktioniert. Bei der Berufung von Bürgermeistern und Gemeindebeamten wirkten fortan die Kreisleiter dergestalt mit, daß ihnen als Parteibeauftragten das Vorschlagsrecht zufiel, während die Staatsaufsichtsbehörde nurmehr eine Einverständniserklärung abzugeben hatte. Fand man bei dieser etwas eigenartigen Verfahrensweise zu keiner Einigung, hatte nach dem Buchstaben des Gesetzes die Staatsbehörde das letzte Wort. Ein offener Meinungsbildungsprozeß indes war selbstverständlich nicht erwünscht. Faktisch änderte sich somit an der mittlerweile längst eingespielten Prozedur nichts, ausschlaggebend blieb letztlich die Entscheidung des Kreisleiters. Zu Seilers politischen Hauptkontrahenten auf städtischer und Kreisebene erwuchsen der Heidelberger Oberbürgermeister Dr. Carl Neinhaus und Landrat Otto Naumann. Der 1929 zum Stadtoberhaupt gewählte konservative Pastorensohn Neinhaus war 1933 unter zum Teil dubiosen Umständen von den Nationalsozialisten »übernommen« worden 46 , Naumann, ein innerlich dem NS-Regime gegenüber zwei- Hubert Roser 666 43 Zum Verfahrensablauf vgl. Roser (wie Anm. 1); ferner Hourand, Rupert, Die Gleichschaltung der badischen Gemeinden 1933/ 34, Diss. jur., Freiburg i.Br. 1985, S. 143 - 149. 44 »Erklärungen« der »Vertrauensmänner« in bezug auf die politische Säuberung der Gemeinde- und Körperschaftsbeamten enthalten die betreffenden Generalakten des Bezirksamts Heidelberg, GLA 356, 1977/ 31, 926 - 27; die PA bzw. Dienstakten der jeweils betroffenen Beamten und Bürgermeister. Einzelne Fälle werden vorgestellt bei Roser (wie Anm. 1). 45 Ende April 1935 wurde Seiler von Gauleiter Wagner zum »Beauftragten der NSDAP« für die Stadt und den Kreis Heidelberg ernannt, GLA 465d/ 1040; vgl. auch Nachrichtenblatt der Gauleitung Baden 2 (1935), S. 33; Volksgemeinschaft Nr. 115, 28. April 1935. 46 Geboren 1888, Mitglied der NSDAP seit 1. Mai 1933. Zu dem profilierten südwestdeutschen Kommunal- und Landespolitiker, der der Stadt Heidelberg über zwei politische Systemwechsel hinweg als Oberbürgermeister diente, fehlt nach wie vor eine Biographie; vgl. aber die Skizze von <?page no="668"?> fellos zurückhaltender Beamter, vor der »Machtergreifung« Landrat in Wiesloch und Polizeidirektor in Baden-Baden, übte den Landratsposten in Heidelberg seit Oktober 1933 aus. 47 Beide waren in Seilers Spruchkammerverfahren 1948 geradezu auffällig bemüht, den ehemaligen Parteistatthalter als zwar politisch überzeugten, alles in allem aber doch besonnenen und vor allem dienstlichen Erwägungen durchaus zugänglichen Nationalsozialisten darzustellen. Naumann betonte, daß sich Seiler zwar »wiederholt in die Tätigkeit des Landrates eingeschaltet [habe], und zwar in Dingen, die ihn als Kreisleiter nichts angingen«. Er sei aber »nie gehässig« gewesen und ließ es auch »nie zum Äußersten kommen, sondern fand stets doch noch die richtige Form und einen vernünftigen Ton. So kam er u.a. einmal nach einer schriftlichen Kontroverse in einer Angelegenheit [ins Landratsamt] und sagte [...], daß es doch keinen Zweck habe, wenn sie beide sich schriftlich herumstritten, sie wollten doch in Zukunft ihre Streitfragen mündlich besprechen. Dabei blieb es auch in der Folgezeit [...]«. 48 Neinhaus ging sogar noch einen Schritt weiter: Er charakterisierte Seiler als einen »Mann, der mehr schien als er war. Er zeigte nach außen hin ein schroffes und brüskes Auftreten, konnte aber andererseits sehr weich und nachgiebig sein. Ich habe bei gegebenen Anlässen oft beobachten können, daß ihm die Tränen in den Augen standen. Er äußerte sich wiederholt mir gegenüber, daß er sich die größte Mühe gebe, um mit mir ein ersprießliches Zusammenarbeiten herbeizuführen, was aber von mir nicht gewürdigt werde. Da ich seit 1913 im Kommunaldienst tätig war, bestand dem Seiler gegenüber, welcher vorher Lehrer gewesen war, eine geistige Überlegenheit. Er hat sich in vielen Situationen mir gegenüber nicht durchgesetzt, sondern meinem Willen stets nachgegeben. [...] An die verschiedenen Einzelheiten kann ich mich natürlich nicht mehr entsinnen«. 49 Hinter diesen überaus wohlwollenden Beurteilungen, die das Verhältnis der beiden Hauptexponenten der Heidelberger Verwaltung zu der dortigen Parteileitung nur sehr unzureichend beschrieben, steckte Methode: Zwar war Seiler tatsächlich nicht jener brutale Parteistatthalter vom Typ eines Richard Drauz 50 gewesen, der sich über etwaige Widerstände mit Brachialgewalt hinwegsetzte. Daß es Seiler aber lediglich darum gegangen wäre, sich zu bemühen, es seinen beiden Kontrahenten Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 667 Moraw, Frank, »Ich gestatte mir die Anfrage an den Herrn Oberbürgermeister...« Carl Neinhaus - Stadtoberhaupt in drei politischen Systemen, in: Verführt und verraten. Jugend im Nationalsozialismus. Bruchstücke aus der Region. Ausstellungskatalog für das Kurpfälzische Museum der Stadt Heidelberg, hrsg. v. J. Bahns, Heidelberg 1995, S. 77 - 83; Hoffmann (wie Anm. 1), S. 127 - 129, 148 f., 160 - 162; Grill (wie Anm. 5), S. 280. Zu Neinhaus’ Hilfestellung bei der Rückkehr schwer belasteter Beamter in die Heidelberger Stadtverwaltung Anfang der 50er Jahre vgl. Reutter (wie Anm. 24), S. 69 - 112. 47 Geboren 1876, Mitglied der NSDAP seit Juli 1938, rückdatiert auf 1. Mai 1937. Zur Person Naumanns vgl. eingehend Roser (wie Anm. 1); Ruck (wie Anm. 4), S. 148, 198, 221. 48 Aussage Naumanns vor der Spruchkammer, 7. Juli 1948, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 49 Aussage Neinhaus’, 31. März 1948, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99 (Hervorhebungen von H.R.). 50 Zu dem Heilbronner Kreisleiter Richard Drauz vgl. den Beitrag von Susanne Schlösser in diesem Band. <?page no="669"?> Neinhaus und Naumann recht zu machen, davon konnte nun wahrhaftig keine Rede sein. Mit ihren »Entlastungszeugnissen« verfolgten die beiden ehemaligen Heidelberger Spitzenbeamten, die aus ihrem eigenen Entnazifizierungsverfahren jeweils als »entlastet« hervorgegangen waren, vielmehr eine - letztlich erfolgreiche - Doppelstrategie: Einerseits »revanchierten« sie sich dafür, daß ihnen Seiler während der NS-Zeit keine allzu schweren Brocken in den Weg gelegt hatte, andererseits vermochten sie, indem sie den Kreisleiter als vergleichsweise »kleines Licht«, das nicht allzu gefährlich werden konnte, sich selbst dagegen als unerschütterliches Bollwerk des Rechtsstaats gegenüber totalitärer Parteiwillkür erscheinen ließen, von ihrer eigenen Verstrickung in das NS-Regime abzulenken - ein dichotomisches Bild der Machtverteilung, das, wie wir heute wissen, mitnichten der Herrschaftspraxis des NS-Regimes entsprach. Im Falle Naumanns ließen sich zuhauf Beispiele aufführen, die die weitgehende Kooperation zwischen Landrat und Kreisleiter während des »Dritten Reiches« etwa in Personalfragen - eindeutig beweisen. 51 Und im Falle von Neinhaus hat Seiler selbst nach dem Kriege eingeräumt, daß es nicht zuletzt seiner Fürsprache als für Beamtenangelegenheiten zuständigem Stadtrat und späteren Kreisleiter zuzuschreiben war, daß der Oberbürgermeister 1933 gehalten und 1938 für eine zweite Amtszeit von zwölf Jahren bestätigt werden konnte. Es könne »also keine Rede davon sein, daß Oberbürgermeister Dr. Neinhaus sich nur mit großen Schwierigkeiten in seinem Amt« habe halten können. 52 Auch was andere, aus Sicht des NS-Regimes besonders sensible Politikbereiche anbetraf, präsentierte sich Seiler tendenziell nicht als gemäßigter, sondern eher als »scharfer« Kreisleiter. Besonderen Ehrgeiz entwickelte er im Hinblick auf die Durchsetzung der nationalsozialistischen Schul- und Kirchenpolitik. In seiner ersten Sitzung als Stadtschulrat Anfang 1934 sprach er vor der versammelten Lehrerschaft offen aus, daß er es als seine Hauptaufgabe betrachte, sie »zu Nationalsozialisten zu erziehen« und dafür zu sorgen, daß auch die Kinder im nationalsozialistischen Sinne erzogen würden. In der Schule verbot Seiler den Gebrauch bestimmter religiöser Lehrbücher, förderte die Kirchenaustrittsbewegung und führte für die aus der Kirche ausgetretenen Schüler einen besonderen »Weltanschauungsunterricht« ein, den er zum Teil selbst ausarbeitete. Die Lehrkräfte für diesen Untericht wurden einer besonderen Schulung unterzogen. 53 Geistliche, die sich wie der bekannte Heidelberger Stadtpfarrer Hermann Maas öffentlich für die Juden einsetzten oder in anderer Weise ihre Kritik am NS-Regime zum Ausdruck brachten, wurden verfolgt bzw. auf Hubert Roser 668 51 Vgl. dazu Roser (wie Anm. 1). 52 Seiler an MdI Württemberg-Baden mit der Bitte um Überprüfung seines Spruchkammerurteils, 12. Juli 1952, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 53 Aussage Freys, 24. August 1948, (wie Anm. 26). Zur Einführung des »Weltanschauungsunterrichts« durch Seiler vgl. auch Heidel, Klaus; Peters, Christian, Nicht nur ein Kampf um Seelen. Die Kirchen und das »Dritte Reich« in Heidelberg, in: Heidelberg unter dem Nationalsozialismus. Studien zu Verfolgung, Widerstand und Anpasssung, hrsg. v. J. Schadt, M. Caroli, Heidelberg 1985, S. 51 - 341, hier S. 216. <?page no="670"?> Schritt und Tritt von der Gestapo überwacht. 54 Es bestehen auch keinerlei Zweifel daran, daß Seiler im Jahre 1937, kurz nach dem Tode seiner ersten Frau, die unter der Kirchenfeindlichkeit ihres Mannes sehr gelitten haben soll, den Austritt seiner drei Kinder aus dem Religionsunterricht und aus der Kirche veranlaßte. Die aus der im Dezember gleichen Jahres geschlossenen Ehe mit seiner zweiten Frau, der 18 Jahre jüngeren Lehrerin Lini Eisengrein, hervorgegangenen drei Kinder wurden ebenfalls »gottgläubig« erzogen. 55 Führende Repräsentanten der Heidelberger Schulszene, die sich der permanenten Indoktrinierung durch die Nationalsozialisten zu entziehen versuchten, wurden von Seiler rücksichtslos aus dem Weg geräumt, sobald sich dazu eine passende Gelegenheit ergab. Anläßlich einer Schulfeier zum fünften Jahrestag der NS-Machtübernahme am 30. Januar 1938 war es an Heidelbergs renommiertester Schule, dem humanistischen Kurfürst-Friedrich-Gymnasium, zu einigen peinlichen Zwischenfällen gekommen. Während eines Redevortrags, gehalten von einem der dortigen Gymnasiallehrer, zugleich »Politischer Leiter«, in dem auch Themen behandelt wurden, die »eine gewisse politische nationalsozialistische Bedeutung haben«, hatte sich die versammelte Schülerschaft, wie Seiler gegenüber der Karlsruher Gauleitung bemerkte, »mißlich bemerkbar gemacht«. Als der Redner etwa »auf die Kirche und die Geistlichen zu sprechen kam, setzten Unruhe und Murren ein, oder als er von der Arbeit und kulturellen Leistung im neuen Staat sprach, Unruhe und Lachen. [...] Wenn man bedenkt, daß dies in einer Heidelberger Anstalt geschah, bei der der überwiegende Teil nicht katholisch sein dürfte; in einer Anstalt, die ihre nationale Tradition aufweisen kann, und in einer Anstalt, die die Elite der Heidelberger Schülerschaft aufweist, dann kann wohl gesagt werden, daß hier ein hundertprozentiges Versagen der Leitung dieser Anstalt vorliegt«. Aufgrund dessen bat Seiler die Gauleitung, »beim Unterrichtsministerium wegen dieser Fälle ein Dienststrafverfahren gegen den Direktor einzuleiten«, denn dieser habe das Verhalten der Schüler, »ohne irgendetwas zu tun, geduldet«. 56 Der Direktor des Kurfürst-Friedrich-Gym- Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 669 54 Zu Maas vgl. die biographischen Skizzen von Marggraf, Eckhart, in: Der Widerstand im deutschen Südwesten (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 10), hrsg. v. M. Bosch, W. Niess, Stuttgart u.a. 1984, S. 71 - 82; Oppenheimer, Max, in: Jüdisches Leben in Heidelberg. Studien zu einer unterbrochenen Geschichte, hrsg. v. N. Giovannini u.a., Heidelberg 1992, S. 117 - 119; Borgstedt, Angela, »... zu dem Volk Israel in einer geheimnisvollen Weise hingezogen«. Der Einsatz von Hermann Maas und Gertrud Luckner für verfolgte Juden, in: Widerstand gegen die Judenverfolgung, hrsg. v. M. Kißener (Portraits des Widerstands 5), Konstanz 1996, S. 227 - 259; vgl. ferner Keller, Werner u.a., »Redet mit Israel freundlich«. Zeugnisse von und über Hermann Maas, Karlsruhe 1986; Ludwig, Max, Das Tagebuch des Hans O. Dokumente und Berichte über die Deportation und den Untergang der Heidelberger Juden, Heidelberg 1965; Weckbecker, Arno, Die Deportation der Heidelberger Juden, in: Oktoberdeportation 1940. Die sogenannte »Abschiebung« der badischen und saarpfälzischen Juden in das französische Internierungslager Gurs und andere Vorstationen von Auschwitz. 50 Jahre danach zum Gedenken, hrsg. v. E. R. Wiehn, Konstanz 1990, S. 323 - 340. 55 Siehe dazu das Schreiben der Katholischen Kirchensteuerkasse Heidelberg an die Spruchkammer Heidelberg, 29. September 1948, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99; Seilers Angaben in der PA, GLA 235, 1967/ 43, 2787. <?page no="671"?> nasiums, Dr. Hermann Ostern, mit dem Seiler schon seit geraumer Zeit über Kreuz lag, wurde eineinhalb Jahre später in den Ruhestand geschickt. 57 Die Nachfolge übernahm mit Oberregierungsrat Georg Mildenberger vom Badischen Kultus- und Unterrichtsministerium ein »Alter Kämpfer«. »Nach der jahrelangen, ziellosen und unnationalsozialistischen Arbeit« des bisherigen Direktors habe »die Kreisleitung Heidelberg ein Interesse daran, an dieser Stelle einen politisch klaren und aktiven Mann zu sehen«, hatte Seiler der Gauleitung zuvor unmißverständlich klargemacht, wen er sich als Nachfolger für den Schulleiterposten wünsche. 58 Selbst wenn gelegentlich »auch von Nichtparteigenossen« seine »etwas konziliante Art gerühmt« wurde 59 und sich der Heidelberger Kreisleiter hier und da nachweislich sogar für Verfolgte eingesetzt hat, konnte Seiler in Einzelfällen durchaus brutal und gehässig sein: So im Fall von Hermann Schück, Lehrer an der Oberrealschule in Heidelberg, der im Jahre 1933 aus politischen Gründen an das Adolf-Hitler-Realgymnasium in Mannheim strafversetzt worden war. Schück hatte vor der »Machtergreifung« der SPD, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Lehrer und der Deutschen Friedensgesellschaft angehört. Dazu war er in Heidelberg führendes Mitglied im Reichsbanner gewesen und hatte sich aktiv in einer Freimaurerloge betätigt. 60 Am 28. September 1942 war Schück wegen »Wehrkraftzersetzung, begangen in Tateinheit mit hetzerischen Äußerungen gegen die Reichsregierung«, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. 61 Nach der Verhaftung hatte seine Frau den Kreisleiter persönlich aufgesucht und um eine Fürsprache gebeten, ohne allerdings etwas zu erreichen. Seiler hatte ihr erklärt, ihm wären die Hände gebunden, die politischen Beurteilungen der zuständigen »Politischen Leitung« seien geradezu »verheerend«. 62 Tatsächlich jedoch setzte er dem Urteil der Ortsgruppenleitung noch einen drauf. Der Heidelberger Gestapostelle, wo Schück seit dem 7. Februar 1942 einsaß, schrieb er, Schück hätte sich 1933 nur durch »sehr großes, heute unverständliches Entgegenkommen des nationalsozialistischen Staates« als Lehrer halten können, obwohl er vor der Machtübernahme »zu den prominenten Vertretern Hubert Roser 670 56 Kreisleiter Seiler an Gaugeschäftsführung, 14. Februar 1938, GLA 235, 1967/ 41, 1919. Das betreffende Schreiben, das ebenso in Seilers Spruchkammerakte enthalten ist, wird auszugsweise zitiert bei Moraw, Frank, Das Gymnasium zwischen Anpassung und Selbstbehauptung. Zur Geschichte des Heidelberger Kurfürst-Friedrich-Gymnasiums 1932 - 1946, Heidelberg 1987, S. 55, Faksimile abgedruckt in: ebd., S. 57; vgl. auch Volksgemeinschaft Nr. 29, 31. Januar 1938. 57 Ostern hatte vor 1933 der DNVP bzw. der DVP angehört, in die NSDAP trat er nicht ein. Zu seinen Konflikten mit dem NS-Regime vgl. ausführlich Moraw (wie Anm. 56), S. 31 - 87, 95 - 104. 58 Seiler an badisches Gauamt für Erzieher, 9. Juni 1939, zit. nach Moraw (wie Anm. 56), S. 105, Faksimile abgedruckt in: Moraw (wie Anm. 56), S. 107. Zu Mildenberger vgl. Moraw (wie Anm. 56). 59 Aussage Ambergers, 25. September 1947 (wie Anm. 27). 60 Aktennotiz des Oberstaatsanwalts bei den Landgerichten Mannheim und Heidelberg, 25. Juli 1942, GLA 507/ 4235. 61 Das Urteil selbst ist nicht vorhanden, siehe aber die Aktennotiz der Staatsanwaltschaft Heidelberg, 19. März 1949, GLA 507/ 4235. 62 Aussage Schücks vor der Spruchkammer, 14. September 1948, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. <?page no="672"?> der SPD gehörte und in gehässigster Weise bei all seinen Reden gegen die NSDAP auftrat. Die Erwartung, die man in ihn setzte, daß er das Entgegenkommen danken würde, hat er, wie die politische Begutachtung zeigt, schmählich mißbraucht. Er ist ein übler Gegner des Staates geblieben und in seinem Innern heute noch ein arroganter Marxist [...]. Ich bitte die Gestapo, dafür Sorge zu tragen, daß der Mann in einem Konzentrationslager Gelegenheit hat, auch einmal die andere Seite des neuen Staates [kennen]zulernen«. 63 Auch gegenüber einem Bürgermeister, dessen Amtsentfernung er kurz zuvor selbst veranlaßt hatte, glaubte Seiler unmißverständlich deutlich machen zu müssen, wer im NS-Staat am längeren Hebel saß. Auf dessen Anfrage, ob er »es vor unserem Führer verantworten« könne, ihn ohne vorherige Rücksprache oder Klärung »rücksichtslos zu verabschieden«, antwortete ihm Seiler, seine »nachlässige Haltung« in dienstlichen Belangen, die bereits zu Klagen geführt habe, könne nicht mehr länger hingenommen werden. Schon des öfteren »waren wir [...] gezwungen [gewesen], wegen der Behandlung von Roten [sic! ] Volksgenossen durch Sie einzuschreiten«. »Und nun eine persönliche Sache, die ich Ihnen [...] doch nicht vorenthalten möchte. Das sind Ihre Briefe, die Sie als Soldat ans Rathaus nach R. geschrieben haben, Briefe, die eines Nationalsozialisten, eines Bürgermeisters und eines Pol[itischen] Leiters unwürdig sind. Die Briefe befinden sich in unserem Besitz. Ich bin gerne bereit, sie einmal wieder vorzulesen [...]. Und noch eines darf ich Ihnen verraten, daß es nicht Pg. T. ist, der Sie kaltstellen ließ und intrigierte«. 64 Abgesehen von solchen Verfolgungsmaßnahmen gegen Einzelne war Seiler in die Ausschreitungen gegenüber den Juden anläßlich der Pogromnacht am 9./ 10. November 1938 persönlich verstrickt. Ein im Jahre 1949 beim Landgericht Heidelberg angestrengter Strafprozeß vermochte die genauen Umstände seiner Beteiligung an der Zerstörung der Heidelberger Synagogen allerdings nicht mehr exakt aufzuklären. 65 Fest steht, daß Seiler in den frühen Morgenstunden des 10. November über den Brand der Synagoge fernmündlich in Kenntnis gesetzt wurde und sich daraufhin unverzüglich mit seinem Dienstwagen zum Tatort begab, wo er neben einer Reihe von SA-Leuten, die den Brand gelegt hatten, auch die bereits alarmierte Feuerwehr vorfand. Nach Rücksprache mit den Verantwortlichen vor Ort fuhr er weiter zur jüdischen Synagoge im Stadtteil Rohrbach, die bei seinem Eintreffen bereits abge- Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 671 63 Seiler an Gestapoleitstelle Heidelberg, 17. Februar 1942, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 64 Kreisleiter Seiler an Bürgermeister G., 3. Juli 1943, GLA 356, 1975/ 25, 7232. 65 Siehe dazu die umfangreichen Prozeßakten, GLA 309/ 3308 - 09; Rhein-Neckar-Zeitung Nr. 120, 25./ 26. Juni 1949; Heidelberger Tageblatt Nr. 31, 27. Juni 1949. Zur »Kristallnacht« in Heidelberg vgl. die grundlegende Arbeit von Weckbecker, Arno, Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933 - 1945, Heidelberg 1985, S. 188 - 196. Eine Chronologie der Ereignisse am 9./ 10. November 1938, die auch ausführlich auf Seilers Beteiligung am Judenpogrom eingeht, liefert Moraw, Frank, Das November-Pogrom 1938 und die lokale Politik in Heidelberg, in: Jüdisches Leben in Heidelberg. Studien zu einer unterbrochenen Geschichte, hrsg. v. N. Giovannini u.a., Heidelberg 1992, S. 121 - 141; vgl. ferner Moraw (wie Anm. 56), S. 71, Anm. 40.; demnächst ders., Die nationalsozialistische Diktatur (1933 - 1945), in: Geschichte der Juden in Heidelberg, Heidelberg 1996, S. 440 - 555. <?page no="673"?> brannt war. Zweifelsfrei nachweisen konnte das Gericht hier folgenden Dialog Seilers mit dem zuständigen Leiter der hiesigen Feuerwehr. Kaum angekommen, zitierte der Kreisleiter den Mann, der ihm persönlich bekannt war, zu sich und fragte ihn, »na, was machen Sie denn da, ich glaube, Sie löschen? «, worauf dieser antwortete, »ich bin Brandmeister und kein Parteimann«, er müsse das Ausgreifen des Brandes verhindern. Damit erkärte sich Seiler einverstanden. »Bedrohtes Volksgut«, so tönte er, müsse unter allen Umständen geschützt werden. 66 Da ein wichtiger Zeuge, der zunächst angegeben hatte, er habe selbst gesehen, wie der Kreisleiter den vor der Wohnung eines jüdischen Kaufmannes in der Bunsenstraße aufmarschierten SA- Leuten Beile verabreicht habe, diese Aussage im weiteren Verlauf des Prozesses wieder zurückzog, kam Seiler am Ende mit einer fünfmonatigen Gefängnisstrafe wegen Landfriedensbruchs davon, die zudem durch die Internierungshaft bereits abgesessen war. Indem der Angeklagte »nicht hemmend in die Synagogenzerstörung eingegriffen« habe, führte das Gericht in seinem Urteil aus, habe er »die Zusammenrottung und die Gewalttätigkeit« hingenommen und »damit mittelbar zum Ausdruck« gebracht, »daß er die Zusammenrottung billige und daß sein Dabeistehen als Anschluß an sie gelte«. 67 Bereits ein halbes Jahr später, am 13. Januar 1950, wurde das Urteil des Landgerichts Heidelberg aufgehoben und das Verfahren gemäß Straffreiheitsgesetz vom 31. Dezember 1949 eingestellt. 68 Eine für seine weitere berufliche Karriere folgenschwere Zäsur, die er nach dem Kriege bitter bereut haben mag, bedeutete für Seiler das Jahr 1940. Noch Anfang Juli hatte er sich im Überschwang des Sieges über den französischen »Erbfeind« bei Gaupersonalamtsleiter Adolf Schuppel um eine Kreisleiterstelle im Elsaß oder »sonstigem Grenzgebiet« beworben, da er sich »noch zu jung« fühle, um »mich von dem großen Geschehen an den Grenzen des Reiches, wo es heißt, Menschen zu erobern und zu gewinnen und sie dem deutschen Volkstum wieder zuzuführen, abzusondern und aufs Faulbett zu legen«. 69 Dieses Ansinnen, das von der Gauleitung aus grundsätzlichen Erwägungen abgelehnt werden mußte, scheiterte ebenso wie ein bereits fest avisiertes Kommando als »Verbindungsoffizier des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß in Lunéville«. 70 Statt, wie erhofft, beim Neuaufbau der Partei in den besetzten Gebieten auf vorgeschobenem Posten zum Einsatz zu kommen, sah sich Seiler unversehens in eine Auseinandersetzung mit seinem Dienstherren, dem Badi- Hubert Roser 672 66 Vgl. dazu die Ermittlungen des Landgerichts Heidelberg, GLA 309/ 3308 - 09. 67 Eine »Rädelsführerschaft« habe aber nicht vorgelegen; Urteil des Landgerichts Heidelberg vom 24. Juni 1949, GLA 309/ 3308 - 09. 68 GLA 309/ 3308 - 09. 69 Seiler an Schuppel (Lieber Pg. Schuppel! ), 1. Juli 1940, GLA 465d/ 515. 70 Vgl. dazu die »Tagebücher der Kreisleitung« Bd. 3, Einträge vom 12. Juli 1940, S. 175 und 24. Juli 1940, S. 186. Die Tagebücher selbst sind verschollen, es existieren jedoch Auszüge davon in Seilers Spruchkammerakte, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. Einige Zeit später wurde Seiler als Hauptmann d. Res. und Kompanieführer kurzfristig zur Wehrmacht einberufen, dann aber für den Rest des Krieges uk gestellt, GLA 465d/ 515. <?page no="674"?> schen Kultus- und Unterrichtsministerium, hineingezogen. Im Jahre 1937 hatte sich Seiler - nicht ganz ohne Nachhilfe von außen - von seiner Stelle als Leiter des Stadtschulamts für ein Jahr beurlauben lassen 71 um, wie inzwischen von der Obersten Parteileitung der NSDAP reichsweit für verbindlich erklärt worden war, seinen Posten als Heidelberger Kreisleiter nunmehr hauptamtlich ausüben zu können. Die Vertretung der verwaisten Stadtoberschulratstelle hatte damals, auf seine persönliche Empfehlung hin, Seilers »Adlatus«, der Heidelberger Rektor und Kreisamtsleiter für Erzieher Adolf Neureuther, übernommen. 72 Zweimal, 1938 und 1939, war die Beurlaubung ohne Schwierigkeiten verlängert worden, wobei zuvor jedesmal die Einwilligung des Reichserziehungsministers eingeholt werden mußte. Nun jedoch weigerte sich das Karlsruher Ministerium beharrlich, sie ein drittes Mal zu verlängern: »Die so lange Zeit andauernde Vertretung Ihrer Stelle als Leiter des Heidelberger Schulwesens bereitet ernsthafte Schwierigkeiten. Die dauernde Versehung dieses Postens durch einen Rektor erscheint nicht mehr länger tragbar. Hierunter leidet die Autorität der Stelle. Außerdem kann ich es dem mit der Stellvertretung beauftragten Beamten nicht mehr länger zumuten, diese mit besonderen Aufwendungen verbundene Stelle dauernd zu versehen, ohne daß die Möglichkeit besteht, ihm eine Entschädigung zu bieten. Ich halte es deshalb für dringend notwendig, daß der jetzige Zustand beendigt wird«. 73 Ohne sein Zutun war Seiler unversehens in eine Zwangslage geraten, aus der er kaum einen Ausweg sah. Offensichtlich hatte er gehofft, das 1937 gewählte, für ihn durchaus bequeme Provisorium beliebig lange weiterführen zu können. Nun stand er mit einem Mal vor einem schier unlösbaren Dilemma: Einerseits war er nur ungern bereit, seinen einträglichen und mit hohem öffentlichen Ansehen verbundenen Zivilberuf endgültig der Partei zu opfern, andererseits wollte er keinesfalls riskieren, durch einen Verzicht auf sein Parteiamt beim Gauleiter in Ungnade zu fallen. Wenn überhaupt, mußte die Initiative, ihn von seinen Pflichten als Kreisleiter zu entbinden, also vom Gauleiter selbst ausgehen. In der Hoffnung, daß ihm die Partei schon keine ernsten Schwierigkeiten bereiten werde, teilte Seiler dem Gaupersonalamt mit, er selbst könne keine Entscheidung treffen, da er »als Parteigenosse der Entscheidung des Gauleiters unterstehe«. »Selbstverständlich« ziehe er das politische Amt vor, doch wolle er andererseits bei einem eventuellen späteren Ausstieg aus dem Parteidienst nicht in »irgendeinen anderen Beruf abgedrängt werden [...]. Der Gauleiter muß also entscheiden, ob er mich auf die Dauer in der Partei einzusetzen gedenkt, wenn nicht, wäre jetzt der Zeitpunkt gegeben, mich der Schule wieder zurückzuge- Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 673 71 Vgl. auch Volksgemeinschaft Nr. 22, 23. Januar 1937, Nr. 264, 30. September 1937. 72 Siehe dazu Seilers Antrag an das badische MdKuU, 27. Juli 1937, dessen Genehmigung vom 17. August 1937, GLA 235, 1967/ 43, 2787. Seiler wurde unter Fortfall der Bezüge beurlaubt und seitdem von der Partei bezahlt. 73 MdKuU an Seiler, 21. August 1940, GLA 235, 1967/ 43, 2787. Eine Abschrift des Schreibens ging mit gleichem Datum an das Gaupersonalamt, GLA 465d/ 515. <?page no="675"?> ben«. Gauamtsleiter Schuppel indes durchschaute Seilers Strategie, und er wußte auch, wie er seinen Kreisleiter am besten in die Pflicht nehmen konnte. »Der Gauleiter stellt die Entscheidung in Dein eigenes Ermessen«, und erwartet von Dir eine »Gewissensentscheidung«, antwortete er ihm. 74 Damit waren die Würfel gefallen - im Zweifelsfall erwies sich Seiler eben als pflichtgetreuer Gefolgsmann seines Gauleiters. »Es ist für mich als politischer Leiter selbstverständlich, daß ich nach einer Berufung des Gauleiters und nach der Ernennung durch den Führer als Kreisleiter des Kreises Heidelberg nicht von diesem Amt zurücktreten kann«, meldete Seiler nicht ohne einen gewissen Verdruß seiner Karlsruher Dienstbehörde und bat gleichzeitig um die Entlassung aus dem badischen Schulaufsichtsdienst. 75 Am 11. Februar 1941 schied er, wie es offiziell hieß, »zwecks Übertritt in den Parteidienst auf Ansuchen aus dem staatlichen Dienst« aus. 76 Zu seinem Nachfolger, der die Stelle bis Kriegsende ausübte, wurde nun endgültig Adolf Neureuther berufen. Wenn über Seilers weitere Tätigkeit nichts Genaueres bekannt ist, so ist doch davon auszugehen, daß Seiler bis in die letzten Jahre des »Dritten Reiches« jener unerschütterliche Vorkämpfer des Nationalsozialismus blieb, der er seit der »Kampfzeit« gewesen war, auch wenn ihm zum Schluß doch manche Zweifel gekommen sein mögen. Jedenfalls leistete er keinen Widerstand mehr, als es darum ging, die bis dahin fast unbeschädigte Stadt den Amerikanern kampflos zu übergeben, um sie so vor einem Artilleriebeschuß zu bewahren. Die einzigen nennenswerten Zerstörungen, die Heidelberg im Kriege zu erleiden hatte, die Sprengung der Neckarbrücken in den letzten Märztagen 1945, gingen nachweislich auf das Konto der Wehrmacht. Zusammen mit Oberbürgermeister Dr. Neinhaus versuchte Seiler nun, sich vom NS-Regime zu lösen. So leiteten sie am Abend des 29. März 1945 gemeinsam die Auflösung des »Volkssturms« in die Wege, und empfahlen den Männern, »ihre Uniformen zu verbrennen«. 77 Während allerdings Neinhaus in der Stadt zurückblieb und sich den Amerikanern ergab, suchte Seiler sein Heil zunächst in der Flucht. Mit einem Teil seines Gefolges setzte er sich entlang des Neckartals in den Odenwald ab. Erst als er merkte, daß jede weitere Flucht zwecklos war, kehrte er am 4. April in die Stadt zurück und meldete sich auf dem Rathaus, wo er ebenfalls in Gewahrsam genommen wurde. 78 Die mehr als vierjährige Internierungshaft bis zu seiner Entlassung am 14. April 1949 verbrachte Seiler im Amtsgerichtsgefängnis in Heidelberg, im »Freilager« Böhl-Iggelheim in der Pfalz und zuletzt in verschiedenen Internierungslagern bei Stuttgart. Hubert Roser 674 74 Seiler an Schuppel, 26. August 1940, dessen Antwort an Seiler, 10. September 1940 (Hervorhebungen von H.R.). Zum gesamten Vorgang siehe Seilers Personaldossier beim badischen Gaupersonalamt, GLA 465d/ 515. 75 Seiler an MdKuU, 17. September 1940, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 76 Amtsblatt (wie Anm. 25) Nr. 5, 20. März 1941, S. 45. Die Entlassungsurkunde des Reichsstatthalters mit Datum vom 11. Februar 1941 befindet sich in GLA 233/ 24819. 77 Moraw (wie Anm. 56), S. 132. 78 Moraw (wie Anm. 56), S. 133f. <?page no="676"?> Seine Frau und die größtenteils noch minderjährigen Kinder fanden bei ihren Eltern in Ludwigsburg Unterkunft, da das gemeinsame Haus im Heidelberger Nobelviertel Handschuhsheim von »Displaced Persons« und danach von den Amerikanern geplündert worden war. Nach aufwendigen Ermittlungen der Kammer wurde im Frühjahr 1948 Seilers Entnazifizierungsverfahren eröffnet. Die Klageschrift vom 2. März 1948, die für die Einstufung als »Hauptschuldiger« plädierte, sah in Seiler den »vollendeten Nationalsozialisten«, in ihm sei »der Aktivist, Propagandist, Militarist, Nutznießer, Denunziant und Gewaltmensch in einer Person vereinigt«. 79 Der Beginn der Spruchkammerverhandlung, die wegen des erwarteten öffentlichen Andrangs in den Großen Saal des Heidelberger Rathauses verlegt worden war, wurde auf den 28. September anberaumt. Ursprünglich waren drei Verhandlungstage vorgesehen, es sollte jedoch länger als eine Woche dauern, bis das Urteil verkündet werden konnte. Am Ende hatte Seiler Glück (und vor allem einen ihm wohlgesinnten Spruchkammervorsitzenden). Trotz hoher Formalbelastung wurde er am 5. Oktober 1948 lediglich als »Belasteter« eingestuft und mit viereinhalb Jahren Arbeitslager bzw. 25 Prozent Vermögenseinzug bestraft. Auf Lebenszeit durfte er kein öffentliches Amt mehr ausüben und keine aus öffentlichen Mitteln bezahlte Rente oder Pension beziehen. Er verlor das aktive und passive Wahlrecht, durfte weder in eine Partei oder einen Berufsverband noch in eine Gewerkschaft eintreten, und es wurde ihm untersagt, ein Kraftfahrzeug zu besitzen. Auf die Dauer von fünf Jahren wurde ein »Berufsverbot« verhängt, währenddessen er lediglich »gewöhnliche Arbeit« annehmen durfte. 80 Auf Anraten seines Rechtsbeistandes jedoch verzichtete Seiler auf eine Berufung. Da er bei einer Wiederaufnahme des Verfahrens Gefahr laufe, daß der öffentliche Kläger Anschlußberufung einlege und so am Ende vielleicht sogar eine ungünstigere Einstufung herauskomme, empfahl dieser, besser den Gnadenweg einzuschlagen. »Ein Berufungsverfahren ist erfahrungsgemäß ganz von der Besetzung der Kammer abhängig. Hat man mit der Kammerbesetzung Pech, kann man den wohlwollendsten Vorsitzenden haben, und die Sache kann schiefgehen«. 81 Somit wurde das Urteil der Spruchkammer Heidelberg mit dem 23. November 1948 rechtskräftig. Drei von Seiler bis Dezember 1949 gestellte Gnadengesuche wurden jeweils vom Ministerpräsidenten des Landes Württemberg-Baden abgelehnt, wenngleich nun schrittweise gewisse Vergünstigungen gewährt wurden. Die viereinhalbjährige Arbeitslagersühne wurde um ein halbes Jahr verkürzt, und seit Anfang 1952 kam Seiler Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 675 79 GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 80 Beschluß der Spruchkammer Heidelberg, 5. Oktober 1948, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. Zu Seilers Spruchkammerverfahren, das in der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wurde, vgl. die ausführliche Berichterstattung in der Rhein-Neckar-Zeitung, 10. April, 29. September, 1. Oktober, 2. Oktober und 6. Oktober 1948. 81 Rechtsanwalt B. an Seiler (Lieber Willi! ), 10. November 1948, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. <?page no="677"?> wieder in den Genuß seiner bis 1945 bezogenen Kriegsversehrtenrente. Sein Gesuch um Ermäßigung der Kosten des Spruchkammerverfahrens - der als Kreisleiter ehemals hochbezahlte Seiler verfügte weder über Einkommen noch Vermögen oder Sparguthaben, war seit der Entlassung aus der Internierungshaft arbeitssuchend gemeldet und lebte, da er keinerlei Arbeitslosenunterstützung bezog, von 175 DM öffentlicher Fürsorge im Monat - wurde jedoch aus prinzipiellen Gründen abgelehnt. Während sich die Stadt Heidelberg im Hinblick auf die desolaten wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie einer finanziellen Hilfe nicht völlig versperren wollte, verweigerte der »Ausschuß der politischen Parteien Heidelberg-Rohrbach« jegliche Unterstützung. Anderen Deutschen, die weniger Schuld am »Dritten Reich« trügen, gehe es noch schlechter, lautete dessen knappe Begründung. 82 Auch Seilers sämtliche in den folgenden Jahren gestellten Anträge auf Wiederaufnahme seines Verfahrens oder Umstufung in eine niedrigere Belastungsgruppe waren zum Scheitern verurteilt, da seine frühere Dienstbehörde gegen eine Begnadigung Seilers unverändert »stärkste Bedenken im Hinblick auf die politische Vergangenheit des Lehrers« vorbrachte. 83 Seiler habe seine frühere »einflußreiche Stellung dazu mißbraucht, um die politischen und religiösen Gegner des Nationalsozialismus in rücksichtsloser Weise und mit verwerflichen Mitteln zu bekämpfen, wobei er in vielen Fällen die Einleitung von Strafverfahren, Dienststrafverfahren und Anzeigen an die Gestapo veranlaßt« habe. Wohl sei er »in einzelnen Fällen für Verfolgte eingetreten«. In der Spruchkammersitzung sei jedoch »ausdrücklich festgestellt [worden], daß er hart an der Grenze des Hauptschuldigen liegt. Diese Feststellung entspricht auch noch der heutigen Bewertung«. 84 Seiler mußte sich letztlich mit dem Status eines »Belasteten« abfinden, ein Stigma, das ihn bis zuletzt persönlich schwer gedrückt hat. 85 Geradezu spannend und im Grunde eine eigene Darstellung wert sind Seilers hartnäckige und am Ende erfolgreiche Bemühungen in den 50er Jahren um Wiederzulassung zum Schuldienst. Sie sollen im folgenden in der gebotenen Kürze vorgestellt werden. 86 Mag Barbara Faits überlegenswerte These, daß die Mehrzahl der ehemals aktiven NS-Funktionäre nach dem Kriege politisch weitgehend isoliert und auf Dauer sozial deklassiert war 87 , noch so sehr auf Seilers materielle Lage nach 1945 Hubert Roser 676 82 »Ausschuß der politischen Parteien Heidelberg-Rohrbach« an die Stadtverwaltung Heidelberg, 2. Juli 1949, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. Dennoch wurde das Vollstreckungsverfahren gegen Seiler im April 1950 eingestellt, da einziehbares Vermögen nicht vorhanden sei. 83 Oberschulamt Karlsruhe an Justizministerium Baden-Württemberg, 22. August 1953, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 84 Justizministerium Baden-Württemberg an den Gnadenausschuß des Ministeriums für Politische Befreiung, 1. Oktober 1953, GLA 465a, ZtrSpK K/ Sv/ 99. 85 Ein letzter Versuch im Jahre 1969, die im Zuge des Spruchkammerverfahrens ergangene Beurteilung der »Abt. Kultus und Unterricht« beim Präsidenten des LBB aus den Personalakten zu löschen, scheiterte am Widerstand des Oberschulamts Karlsruhe, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 86 Die Darstellung stützt sich auf die in diesem Punkt besonders inhaltsreichen Personal- und Spruchkammerakten Seilers. 87 Vgl. Fait, Barbara, Die Kreisleiter der NSDAP - nach 1945, in: Von Stalingrad zur Währungsreform. <?page no="678"?> zutreffen, im Hinblick auf sein gesellschaftliches Ansehen innerhalb maßgeblicher Kreise (nicht nur) der Heidelberger politischen Nachkriegsszene greift sie zu kurz. Daß es Seiler bereits nach verhältnismäßig kurzer Zeit gelang, seinen ehemaligen Beruf als Grund- und Hauptschullehrer wenigstens als Angestellter wieder ausüben zu dürfen, hing nämlich vor allem damit zusammen, daß sich führende Heidelberger Nachkriegspolitiker schon bald nach dem Kriege mit Vehemenz für den früheren Kreisleiter verwandten. Seiler und seine vierköpfige Familie, die Ehefrau und drei minderjährige Kinder, mußten, wie schon gesagt, in den ersten Nachkriegsjahren praktisch von der Hand in den Mund leben. Das geräumige Haus in Handschuhsheim hatten sie gegen eine einfache Mietwohnung in Rohrbach eintauschen müssen. Seilers knapp 40jährige Frau war mittlerweile nerven- und herzleidend - insofern eine Rückkehr in ihren früheren Beruf als Lehrerin vorläufig ausgeschlossen, der 1943 geborene, jüngste Sohn war zeitweise an Tuberkulose erkrankt. Und auch die Berufsaussichten des mittlerweile 57jährigen waren nach Entlassung aus der Internierungshaft im April 1949 alles andere als rosig. Infolge der 40prozentigen Kriegsbeschädigung aus dem Ersten Weltkrieg war eine Arbeitsvermittlung außerordentlich erschwert. Die Wiedereinstellung als Beamter oder Gewährung einer staatlichen Unterhaltsbeihilfe war beamtenrechtlich nicht durchsetzbar und erschien - selbst nach Ablauf des »Berufsverbots« im Jahre 1952 - mehr als aussichtslos, da Seiler wegen seines Übertritts in den Parteidienst im Jahre 1940 aus eigenem Ansuchen um die Entlassung aus dem staatlichen Dienst gebeten und »somit jeden Anspruch auf eine aus öffentlichen Mitteln zahlbare Pension oder Rente verloren« hatte. 88 Zu dem Personenkreis der nach Artikel 131 des Grundgesetzes »verdrängten« Beamten 89 zählte Seiler zu seinem Leidwesen ebensowenig, da er zum Zeitpunkt der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 nicht mehr über den Beamtenstatus verfügte, auch wenn er diesen später mit zum Teil dubiosen Mitteln nachzuweisen bemüht war. 90 Einer Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 677 Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, hrsg. v. M. Broszat u.a., München 1988, S. 213 - 299, hier S. 296 - 299. 88 Beschluß des Präsidenten des LBB, Abt. Kultus und Unterricht, 14. Juli 1950, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 89 Zum Hintergrund vgl. Wengst, Udo, Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948 - 1953, Düsseldorf 1988; Langhorst, Wolfgang, Beamtentum und Artikel 131 des Grundgesetzes. Eine Untersuchung über Bedeutung und Auswirkung der Gesetzgebung zu Artikel 131 des Grundgesetzes unter Einbeziehung der Position der SPD zum Berufsbeamtentum, Frankfurt/ Main u.a. 1994. 90 Im Jahre 1951 erklärte Seiler unter Vorlage einer »eidesstattlichen Erklärung« des früheren badischen Staatsministers Dr. Paul Schmitthenner, daß ihn Reichsstatthalter Wagner angeblich im Dezember 1944 als Nachfolger für den im Kriege gefallenen Ministerialrat Gärtner zum Ministerialdirektor beim MdKuU »ernannt« habe. Die förmliche Ernennung durch den Reichserziehungsminister sei zwar durch »höhere Gewalt« verhindert worden, er habe aber seit Anfang 1945 mit Schmitthenner »laufend [...] dienstliche Besprechungen in meinem neuen Amte durchgeführt«; Seiler an den Präsidenten des LBB, Abt. Kultus und Unterricht, 15. Juli 1951, GLA 235, 1967/ 43, 2787. <?page no="679"?> damals durchaus möglichen Anstellung als Privatlehrer wiederum stand damals noch das »Berufsverbot« entgegen. Im September 1949 gelang es Seiler, seine materielle Lage geringfügig zu stabilisieren. Inzwischen hatte er eine Stelle im Vertrieb eines Stuttgarter Verlages übernommen. Innerhalb von nur vier Jahren hatten sich damit die Vorzeichen seiner persönlichen Lebensumstände gerade umgekehrt: Der noch vor nicht allzu geraumer Zeit beinahe allmächtige Kreisleiter war gezwungen, in seiner Heimatstadt als Vertreter von Haus zu Haus zu gehen, um Abonnenten für eine »Volksbücherei« zu werben. Doch Abhilfe war bereits in Sicht, denn im Frühjahr 1952 geriet die inzwischen heftig entbrannte innerbehördliche Auseinandersetzung um seine Wiedereinstellung in den Schuldienst in ihre entscheidende Phase. Seilers seit der Entlassung aus der Internierungshaft nahezu pausenlos gestellten Anträge auf Wiederverwendung schienen damit Früchte zu tragen. Die wesentliche Frontlinie in dieser Auseinandersetzung verlief zwischen Seilers früherer vorgesetzten Dienststelle, der nunmehrigen Abteilung »Kultus und Unterricht« beim Präsidenten des Landesbezirks Baden, seit 1952 Oberschulamt Karlsruhe, die sich mit Zähnen und Klauen gegen eine Wiederverwendung Seilers als Lehrer zur Wehr setzte, und dem württembergisch-badischen bzw. ab 1952 baden-württembergischen Innenministerium und Kultusministerium in Stuttgart, die beide die Einstellung befürworteten. So richtig ins Rollen war die Sache allerdings erst gekommen, als es Seiler gelang, namhafte Fürsprecher für sein Anliegen zu gewinnen. Zu ihnen gehörten Josef Amann, vor 1933 und nach dem Kriege einer der führenden Sozialdemokraten in Heidelberg 91 , Regierungsbaurat Friedrich Honikel, langjähriger Zentrumsvorsitzender und 1945 CDU-Mitbegründer in Heidelberg 92 und - nach dem bisher Gesagten vielleicht nicht ganz unerwartet - auch Dr. Carl Neinhaus, mittlerweile Mitglied der Verfassungsgebenden Landesversammlung von Baden-Württemberg und von 1952 bis 1958 Präsident des baden-württembergischen Landtags. 1944 hatte sich Seiler für Amann und Honikel persönlich eingesetzt und deren baldige Freilassung erreicht, als diese nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli im Zuge der berüchtigten »Aktion Gitter« in ein Konzentrationslager eingeliefert worden waren. Über Seilers besonderes Verhältnis zu Neinhaus wurde bereits berichtet. Nur am Rande sei bemerkt, daß nun auch sein früherer Heidelberger Spruchkammervorsitzender, Geheimrat M., offen auf Seilers Seite trat und dessen Rechtsvertretung übernahm. Hubert Roser 678 91 Bis 1933 Parteisekretär der SPD und Stadtrat in Heidelberg, MdL, 1945 - 1947 erneut Stadtrat, 1948 - 1954 Bürgermeister in Heidelberg, 1948 und 1952 OB-Kandidat der SPD. Zur Person Amanns vgl. Reutter (wie Anm. 24), S. 75, 110, 170; dies., Verfolgung und Widerstand der Arbeiterparteien in Heidelberg (1933 bis 1945), in: Heidelberg unter dem Nationalsozialismus. Studien zu Verfolgung, Widerstand und Anpassung hrsg. v. J. Schacht, M. Caroli, Heidelberg 1985, 469 - 549, hier S. 491. 92 Bis 1933 MdL und Fraktionsvorsitzender des Zentrums in Heidelberg, 1933 zum Leiter des Straßenverkehrsamtes ernannt, 1945 bis 1953 Stadtrat. Zu Honikel vgl. Heidel/ Peters (wie Anm. 53), S. 338; Reutter (wie Anm. 24), S. 218. <?page no="680"?> Eine nicht ganz unwesentliche Rolle dürfte auch die über die Rohrbacher Gemeindepfarrei im Jahre 1952 geknüpfte Beziehung zu dem Dekan Dr. Ernst Köhnlein gespielt haben, dessen Kirchengemeinde wiederum der zuständige Referent beim Stuttgarter Kultusministerium angehörte. Köhnlein, Mitte der 30er Jahre junger evangelischer Vikar und Mitglied im NSDStB, war 1942/ 43 als Mitglied der Bekennenden Kirche bei der Neubesetzung einer Heidelberger Pfarrei von der Gestapo und dem Badischen Kultus- und Unterrichtsministerium wegen eines früheren Vorfalls abgelehnt worden. Ungeachtet dessen hatte sich Kreisleiter Seiler damals für ihn verwendet und an zuständiger Stelle ausrichten lassen, daß er Köhnlein und nicht etwa »einen von außen kommenden, der Kreisleitung unbekannten Manne« als neuen Pfarrer wünsche. 93 Dekan Köhnlein teilte Seiler im September 1952 mit, daß er »die Sache« mit Ministerialrat Dr. W. besprochen habe und eine Wiederverwendung »beschlossene Sache« sei. Bis dahin könne es allerdings noch »einige Zeit dauern«, da »innerhalb der Abteilung für Volksschulen wohl mancherlei Hemmungen zu überwinden sind«. 94 Damit lag er nicht ganz falsch, denn dort hegte man tatsächlich nach wie vor ernste »Bedenken, die unser Gewissen berühren, den Genannten noch einmal als Erzieher vor Kinder zu stellen«. Da nun aber einmal die Gewährung einer »Unterhaltsbeihilfe in Höhe der Pensionsbezüge« aus beamtenrechtlichen Gründen nicht möglich war, beugte sich letztlich das Oberschulamt der Macht des Faktischen und stimmte »im Hinblick auf die große wirtschaftliche Not der Familie« und unter Beachtung der zahlreichen namhaften Fürsprecher Mitte Oktober 1952 einer »auf die Dauer von sechs Monaten befristeten Anstellung« im Angestelltenverhältnis im Landkreis Heidelberg zu. 95 Mit Beschluß vom 29. Oktober 1952 wurde Seiler - ohne vorherige Anhörung des dortigen Gemeinderats - zur Dienstleistung der Volksschule in Ladenburg zugewiesen, der Dienstantritt erfolgte am 2. November. Wie wohl erwartet (und von manchen auch befürchtet), wurde, da die dienstlichen Leistungen nicht beanstandet und Seilers außerdienstliches Verhalten als »korrekt und einwandfrei« bezeichnet wurden, die befristete Anstellung schon bald verlängert und schließlich in ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis umgewandelt. 96 Welche Konsequenzen Seilers Wiedereinstellung als Lehrer im November 1952 - gerade einmal sieben Jahre nach Kriegsende - nach sich zog, zeigten nicht zuletzt die unzähligen, zum Teil empörten Reaktionen in der Öffentlichkeit. 97 Gewissermaßen Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 679 93 Seiler an die Finanzabteilung der DC in Baden, 22. Januar 1943, zit. nach Heidel/ Peters (wie Anm. 53), S. 336. Ein nach einer Denunziation 1937 gegen Köhnlein eingeleitetes Verfahren beim Sondergericht Mannheim war 1938 eingestellt worden; vgl. ebd., S. 259 f. 94 Köhnlein an Seiler, 11. September 1952, Abschrift in der PA, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 95 Präsident des LBB, Abt. Kultus und Unterricht, an Seiler, 16. Oktober 1952, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 96 Zu dem gesamten Vorgang vgl. Seilers PA, GLA 235, 1967/ 43, 2787. 97 Vgl. dazu die Artikel in der sozialdemokratischen Mannheimer »Allgemeinen Zeitung« Nr. 79, 3. Dezember 1952 und in der Badischen Zeitung Nr. 191, 4. Dezember 1952. Zudem wurde dem <?page no="681"?> die Quintessenz jener Zuschriften an das Oberschulamt formulierte ein Dozent an der Heidelberger Pädagogischen Hochschule: Er sei mit jeder Lösung einverstanden, die der »bitter notleidenden Familie eine laufende Unterstützung« zukommen lasse. »Diesen Mann, der wiederholt gegen die einfachsten menschlichen Gesetze verstoßen hat, aber wieder als Erzieher - und das muß der Volksschullehrer sein - vor die Kinder zu stellen«, könne er nur ablehnen. Wer ihn einstelle, möge dann bitte »dafür auch die Verantwortung übernehmen«. 98 Zu den schärfsten Kritikern zählte die Bonner SPD-Bundestagsabgeordnete Emmy Meyer-Laule 99 , die Frau des seinerzeit von Seiler verdrängten Heidelberger Schulaufsichtsbeamten Dr. Georg Laule, die - offenbar über den Stand der Dinge genauestens unterrichtet - bereits am 29. Oktober 1952 in einem Telegramm das Präsidium des Landesbezirks Badens zu einer entsprechenden Stellungnahme aufgefordert hatte. Im Verein mit dem Mannheimer Oberbürgermeister Jakob Trumpfheller wandte sie sich darüber hinaus an den besagten Referenten Dr. W. beim Kultusministerium, in dem beide - völlig zutreffend - einen der maßgeblichen »Befürworter« der Wiedereinstellung Seilers erblickten. In seinem Antwortschreiben vom 11. November 1952 äußerte W., er werde sich über die Art des Vorgehens von Frau Meyer-Laule »bei der Parteileitung beschweren«. 100 Mit alledem mußte und konnte Seiler leben und arbeiten. Er war schließlich bis kurz vor Vollendung seines 70. Lebensjahres als Lehrer in Ladenburg tätig. Über irgendeine politische Äußerung oder Betätigung in dieser Zeit ist nichts bekannt. Da sein Status als »Belasteter« einer Verbeamtung bis zuletzt im Weg stand, versicherte ihn schließlich die Bundesanstalt für Angestellte für den Zeitraum 1919 - 1937 nach, so daß Seiler ab 1961 eine Rente bezog. Vierzehn Jahre später, am 15. November 1975, verstarb Seiler 84jährig in seiner Heimatstadt Heidelberg. Hubert Roser 680 Oberschulamt von anonymer Seite ein Ausschnitt aus den Fränkischen Nachrichten, 3. Dezember 1952 zugesandt, in dem über Seilers Wiedereinstellung und die Errichtung eines Mahnmals im früheren KZ Bergen-Belsen berichtet wurde. 98 Schreiben an den Präsidenten des LBB, Abt. Kultus und Unterricht, 12. November 1952. 99 Zur Person vgl. Hochreuther, Ina, Frauen im Parlament. Südwestdeutsche Abgeordnete seit 1919, Stuttgart 1992, S. 205 f. 100 Alle Zitate entstammen erneut Seilers PA, GLA 235, 1967/ 43, 2787. <?page no="682"?> Bibliographie Quellen Die Quellenlage zu Wilhelm Seiler ist hervorragend, denn für seine Zeit als Heidelberger Kreisleiter 1934 - 1945 sind wichtige zeitgenössische Unterlagen überliefert. Sowohl die Personalakten beim Badischen Ministerium des Kultus und Unterrichts als auch beim Gaupersonalamt haben den Krieg wohlbehalten überstanden. Sie ergänzen sich in vielem und sind als wertvolle Quelle für Seilers Berufs- und politische Karriere einzustufen. Wesentlich ergiebiger als die spärlichen Unterlagen der NSDAP-Zentralkartei im früheren Berlin Document Center, sind sie zugleich Ersatz für die bei Kriegsende vernichteten Akten der Kreisleitung, von denen heute nur noch Restbestände erhalten sind. Seilers Tätigkeit als Leiter des Heidelberger Stadtschulamts 1933 - 1937 spiegelt sich zudem in zahlreichen aussagekräftigen Sachakten des Kultusministeriums wider. Die beim Stadtarchiv (Original) und der Universitätsbibliothek Heidelberg (Mikrofilmausgabe) vollständig erhaltene Heidelberger NS-Tageszeitung »Volksgemeinschaft« enthält zahllose Reden und Vorträge Seilers als Kreisleiter. Eine knappe Zusammenstellung der Beiträge mit Textbeispielen gibt die Entnazifizierungsakte, die auch Auszüge aus den »Tagebüchern der Kreisleitung« enthält. Die Originale, bei Seilers Spruchkammerverfahren 1948 noch greifbar, sind mittlerweile verschollen. Die sehr umfangreiche Entnazifizierungsakte, die wie die Personalakten des Kultusministeriums auch wertvolle Informationen zur Wiedereinstellung in den Schuldienst Anfang der 50er Jahre beinhaltet, wird noch ergänzt durch die Verfahrensakten des Landgerichts Heidelberg, in der Seilers Rolle bei der Zerstörung der Heidelberger Synagoge am 9./ 10. November 1938 eingehend behandelt wird. Literatur Trotz der guten Quellenlage und überaus zahlreichen Literatur zur NS-Zeit in Heidelberg fand Seiler in der Forschung bislang kaum Beachtung. Eine Biographie existiert nicht. Knappe Hinweise zu Seilers Tätigkeit als Heidelberger Stadtschulrat gibt Frank Moraw in seiner beachtenswerten Studie über das Heidelberger Kurfürst-Friedrich-Gymnasium in der NS-Zeit (Heidelberg 1987). Hilfreich ist auch die von dem Autor zusammengestellte Chronologie der Ereignisse im Zusammenhang mit der Pogromnacht 1938 in Heidelberg (in: Giovannini u.a., Heidelberg 1992). In seiner neuesten Veröffentlichung geht Moraw auf Seilers Verhältnis zu dem Heidelberger Oberbürgermeister Dr. Carl Neinhaus ein (in: Geschichte der Juden in Heidelberg, Heidelber 1996). Meine Dissertation »Nationalsozialistische Personalpolitik und regionale Verwaltung in Südwestdeutschland 1933 - 1939«, die 1997 bei Oldenbourg erscheint, wird zudem eingehend Seilers Rolle als Gegenspieler von Landrat Otto Naumann in den Blick nehmen. Wilhelm Seiler, NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 681 <?page no="684"?> *9. Dezember 1890 Bölgental/ OA Crailsheim, ev., 1937 Kirchenaustritt, Vater: Andreas Stümpfig, Landwirt (1856 - 1944), Mutter: Katharine Karoline, geb. Schüttler (1869 - 1932), verheiratet seit 1916 mit Anna Marie Mathilda Wilhelmine, geb. Hammer (1893 - 1966), eine Tochter. Volks- und Realschulbesuch, Vorbereitungsdienst für die mittlere Verwaltungslaufbahn, 1913 mittlere Verwaltungsdienstprüfung, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer als Leutnant d. Res., 1919 - 1934 Bürgermeister von Gaggstadt und Wiesenbach/ OA Gerabronn, 30. März 1933 Staatskommissar bei der Landesversicherungsanstalt, 19. Juni 1933 ehrenamtlicher Berichterstatter beim Staatskommissar für Körperschaftsverwaltung, 9. November 1933 Berichterstatter für Ortsvorstehersachen im württembergischen MdI, Regierungsrat, Oberregierungsrat, Ministerialrat, 25. März 1937 Kanzleidirektor und Hauptberichterstatter, 17. November 1944 Ernennung zum Präsidenten der Württembergischen Gebäudebrandversicherung kommt wegen der Kriegsereignisse nicht mehr zustande. 1. Oktober 1929 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 164.202), 1930 NSDAP-Bezirksleiter »Franken«, 29. Oktober 1931 Mitglied der SS, 1932 - 1934 Kreisleiter Gerabronn, Träger des Goldenen Parteiabzeichens (trotz Mitgliedsnummer über 100.000), 1932 - 1933 MdL (NSDAP), 1933 - 1945 Mitglied der NSV, des RDB, des RLB, 1935 - 1945 Mitglied der Deutschen Jägerschaft, 25. Juli 1934 Gauamtsleiter für Kommunalpolitik, 1939 SS-Hauptsturmführer 30. Juni 1945 Dienstentlassung, 21. August 1945 Verhaftung, bis 21. Juli 1948 Internierungshaft, 19. Juli 1948 Entscheidung der Spruchkammer der Interniertenlager Ludwigsburg: »Belasteter«, 1951/ 53 noch bestehende Sühnemaßnahmen durch Gnadenerweis aufgehoben, 1. November 1953 dienstunfähig, 1954 Pension, gest. 5. Dezember 1966 Crailsheim. Vom Dorfschultheiß zum hohen Ministerialbeamten Georg Stümpfig, Kanzleidirektor im Württembergischen Innenministerium und Gauamtsleiter für Kommunalpolitik Hubert Roser Georg Stümpfig 683 <?page no="685"?> Das Land Württemberg, dies mußten seinerzeit schon die Nationalsozialisten erkennen, gehörte vor der »Machtergreifung« nicht gerade zu ihren Hochburgen. Seine konfessionelle Durchmischung, das tendenziell gemäßigt-konservative, unpolitischinstrumentelle Staatsverständnis, u.a. bedingt durch die länger als anderswo bestehende Parallelität von industrieller Arbeitswelt und vormoderner Denkhaltung, kurzum die vielgerühmte und vielgescholtene Eigenwilligkeit und Gründlichkeit der Schwaben, gepaart mit einer selbst in den Hochzeiten der Weltwirtschaftskrise noch vergleichsweise entspannten Arbeitsmarktlage, verhinderten vor 1933 das massenweise Abdriften der Bevölkerung in das nationalsozialistische Lager. 1 Bei Reichs- und Landtagswahlen erzielte die NSDAP regelmäßig Ergebnisse, die weit unter dem Reichsdurchschnitt lagen, und ihre Parteiorganisation erwies sich lange Zeit als so lückenhaft, daß erst Ende 1932 im Lande ein flächendeckendes Netz von Parteikreisen aufgezogen werden konnte. Entsprechend setzte sich auch die Parteispitze weniger aus altgedienten, d.h. in den frühen 20er Jahren zur Partei gestoßenen »Alten Kämpfern« zusammen. Viele führende württembergische NS-Repräsentanten waren keine Parvenüs, berufliche Hasardeure oder gescheiterte Existenzen der »Frontgeneration«, sondern vielfach Beamte, Lehrer oder Juristen - ausgesprochene Fachleute eben, denen als besondere Integrationsfiguren in der Konsolidierungsphase des NS-Regimes eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zukam. Persönlichkeiten wie der deutschnationale Finanzminister Alfred Dehlinger, der im März 1933 die Koalitionsgespräche mit den Nationalsozialisten anregte, oder die Berufung von Karl Waldmann, Beamter beim Landesgewerbeamt Stuttgart, zum Staatssekretär von Gauleiter Wilhelm Murr leisteten gerade in einem Land wie Württemberg dem Ansehen des Nationalsozialismus unschätzbare Dienste. Indem der Verbleib bzw. die Übernahme solcher »Fachleute« in höchste staatliche Führungspositionen die Kontinuität von Recht und Ordnung vorspiegelte, wurde so manchem Wankelmütigen ein Beispiel gegeben und viele noch Schwankende zur Mitarbeit für den NS-Staat gewonnen. Im Hinblick auf die kommunale und später auch die staatliche Beamtenschaft in Württemberg erfüllte diese Funktion Georg Stümpfig. Die Berufung des wie Waldmann aus dem gehobenen »Beamtenstand« stammenden Bürgermeisters einer Elfhundert-Seelen-Gemeinde im Hohenlohischen ins württembergische Innenministerium im Sommer 1933 wurde von den vom ungebremsten Säuberungswillen einzelner Parteiführer reichlich verunsicherten »Berufskameraden« draußen im Lande Hubert Roser 684 1 Zur politischen Kultur und dem Aufstieg der NSDAP in Württemberg vgl. demnächst Roser, Hubert, Nationalsozialistische Personalpolitik und regionale Verwaltung in Südwestdeutschland 1933 - 1939, München 1997; vgl. ferner Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 17 - 33; Schnabel, Thomas, Die NSDAP in Württemberg 1928 - 1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel, Stuttgart u.a. 1982, S. 49 - 81. Zur Wahlentwicklung vgl. Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 bis 1945/ 46, Stuttgart u.a. 1986, S. 36 - 180. <?page no="686"?> nicht zu Unrecht als Zeichen der »Entwarnung« gewertet. Solange »einer der ihren« an so entscheidender Stelle im Ministerium die Fäden in der Hand hielt und die Interessen der gehobenen Beamtenschaft, deren professionelles Selbstverständnis damals noch stark korpsmäßig geprägt war, vertrat, drohte der Institution des württembergischen Berufsbeamtentums zumindest keine unmittelbare Gefahr. Zugleich ist bemerkenswert - und für die württembergischen Verhältnisse überaus bezeichnend - daß der Aufstieg des NS-Funktionärs Stümpfig in eine der wichtigsten politischen Machtpositionen im Lande faktisch nicht über die Parteischiene lief. Seine spätere, zeitweise nahezu unangefochtene Machtstellung verdankte Stümpfig weniger der Autorität als hoher Parteiführer, vielmehr seinem doppelten institutionellen Rückhalt als Personalreferent des Ministeriums und als Gauamtsleiter der NSDAP. Georg Stümpfig wurde am 9. Dezember 1890 in Bölgental, Oberamt Crailsheim, als jüngster Sohn einer alteingesessenen, protestantischen, kinderreichen Bauernfamilie geboren. Eigentlich war ihm wie den anderen männlichen Nachkommen unter seinen elf Geschwistern der Beruf des selbständigen Landwirts vorbezeichnet 2 , doch nach einem Unfall mit schweren Kopf- und Oberschenkelverletzungen beschloß der Vater, daß der Sohn einen weniger kräftezehrenden Beruf ergreifen und die Realschule besuchen sollte. Stümpfig wurde Beamter. Nach siebenjährigem Vorbereitungsdienst absolvierte er im Juli 1913 »als 32./ 35. unter 105 Kandidaten« die mittlere Verwaltungsdienstprüfung »mit gutem Erfolg«. Die bald darauf beginnende Militärzeit als Einjährig-Freiwilliger beim 12. bayerischen Infanterieregiment in Neu-Ulm ging im August 1914 nahtlos in den Ersten Weltkrieg über, an dem Stümpfig ohne Unterbrechung bis in den dritten Kriegswinter teilnahm. 3 Nach zweimaliger, zum Teil schwerer Verwundung wurde der mittlerweile zum Reserveleutnant und Kompanieführer Beförderte im Herbst 1917 für die weitere Dauer des Krieges »felddienstuntauglich« geschrieben. 4 Die restliche Zeit bis zur Entlassung aus dem Heeresdienst am 28. Dezember 1918 verbrachte Stümpfig als Garnisonssoldat bei der 4. und 5. Ersatz-MG-Kompanie in Neu-Ulm bzw. Münsingen. Im Gegensatz zu vielen anderen später führenden Nationalsozialisten, die, vom unerwarteten Ausgang des Weltkrieges enttäuscht und über die »Novemberrevolution« verbittert, nach Ende ihrer aktiven Kriegsdienstzeit den Weg in die rechtsradikalen Freikorps suchten, irrte Stümpfig beruflich nicht orientierungslos umher, Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 685 2 Die folgenden Angaben zur beruflichen Laufbahn beruhen im wesentlichen auf der Spruchkammerakte, STALB, EL 903/ 2, 1006; vgl. auch die biographischen Skizzen bei Ruck, Michael, in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad, erscheint 1997; Hansen, Eckhard, Wohlfahrtspolitik im NS-Staat. Motivationen, Konflikte und Machtstrukturen im »Sozialismus der Tat« des Dritten Reiches, Augsburg 1991, S. 457 f. Für die Übermittlung persönlicher Daten zu Stümpfigs Familie bin ich der Gemeinde Satteldorf zu Dank verpflichtet. 3 Stümpfig kämpfte sowohl an der Westals auch an der Ostfront, zuletzt in Rumänien. Er erhielt das EK I und II sowie diverse andere Auszeichnungen. 4 Siehe die Laudatio zum 50. Geburtstag im »NS-Kurier«, Nr. 338, 7. Dezember 1940. <?page no="687"?> sondern kehrte unverzüglich in die Heimat zurück. Dies hatte zwei naheliegende Gründe: Zum einen waren seine Frau Anna, die er mitten im Krieg 1916 geheiratet hatte, und die ein Jahr später geborene gemeinsame Tochter zu versorgen 5 , zum anderen war die Rückkehr ins Zivilleben offensichtlich wohlgeplant, denn schon nach kurzer Zeit, im Februar 1919, wurde Stümpfig zum Bürgermeister von Gaggstadt gewählt. Eineinhalb Jahre später wechselte er in die größere Nachbargemeinde Wiesenbach über, der er 14 Jahre lang als Bürgermeister vorstehen sollte. Damit verlief Stümpfigs Berufskarriere in den erhofften Bahnen, denn es war das erklärte Ziel der meisten gehobenen württembergischen Verwaltungsbeamten, nach der Ausbildungszeit und einigen Jahren Verwaltungspraxis die Leitung einer Gemeinde im Lande zu übernehmen. 6 Aus welcher Motivation heraus und zu welchem Zeitpunkt sich Stümpfig dem Nationalsozialismus zuwandte, ist nicht eindeutig überliefert. »Ich war mir von August 1914 ab der Not unseres Volkes stets bewußt und fühlte immer die Verpflichtung zum Kampf für die Zukunft der Nation.« Er habe sich deshalb von 1923 an »innerlich hinter den mutigsten Kämpfer des deutschen Volkes, hinter Adolf Hitler«, gestellt, war Stümpfig nach 1933 sichtlich bemüht, sich den Anstrich eines Nationalsozialisten der ersten Stunde zu geben. 7 Die ersten näheren Kontakte zur NS-Bewegung indes dürften kaum vor 1928/ 29 erfolgt sein, den Eintritt in die NSDAP jedenfalls vollzog er erst am 1. Oktober 1929. Folgt man den wenigen überlieferten Versammlungsauftritten als Parteiredner 8 , so zeigt sich, daß Stümpfigs politisches Repertoire vor 1933 ganz auf die ländlichen Gemeinden seines näheren Einzugsgebiets, das Hohenloher Land im Nordosten Württembergs, abgestimmt war. Hauptziel seiner Kritik war immer wieder die infolge der Agrarkrise der 20er Jahre zunehmende Verschuldung der Bauern, die er als Bürgermeister einer Gemeinde in einer strukturschwachen Region »zu beobachten beste Gelegenheit hatte« 9 und die er voll und ganz dem »System« anlastete. Hier dürfte der eigentliche Antrieb für den Parteieintritt gelegen haben. Auch seine nicht sehr zahlreichen Reden und Wortbeiträge als Landtagsabgeordneter widmeten sich ausschließlich diesem Thema. 10 Hubert Roser 686 5 Stümpfig befand sich infolge eines Unfalls seit April 1916 im Lazarett bzw. Heimaturlaub. Die Hochzeit selbst fand am 2. Oktober 1916 statt. Eine Woche später mußte Stümpfig zurück ins Feld, und er kehrte erst infolge einer schweren Verwundung am 2. September 1917 nach Hause zurück. Da die Tochter im Verlauf des Jahres 1917 geboren wurde, ist nicht auszuschließen, daß es sich bei ihr um ein sogenanntes »Urlaubskind« handelte und die Eheschließung ein Jahr zuvor in aller Eile vollzogen worden war, bevor Stümpfig wieder zur Truppe kam. Im schlimmsten Fall wäre sonst die ledige Mutter mit ihrem Kleinkind ohne Versorgung zurückgeblieben. 6 Zum Berufsprofil und Karriereverlauf der württembergischen mittleren und gehobenen Beamtenschaft vgl. Roser (wie Anm. 1). 7 Lebenslauf für die Parteiakten, 3. August 1934, BA, Abt. III (BDC), PA Georg Stümpfig. 8 Vgl. »NS-Kurier«, Nr. 49, 28. Februar, 1. März 1931, Nr. 143, 24. Juni 1931. 9 Lebenslauf aus der Internierungszeit, o.D. (20. März 1947), STALB, EL 903/ 2, 1006. 10 Vgl. Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem vierten ordentlichen Landtag in den Jahren 1932/ 1933, Stuttgart 1933, S. 370 f., 622 f. <?page no="688"?> Ein großer Propagandist und »Trommler« scheint Stümpfig nicht gewesen zu sein, wohl eher war er der unermüdliche Organisator und Arbeiter, der im Hintergrund die Fäden zog - Eigenschaften, auf die er bei seiner späteren Tätigkeit im Ministerium zurückgreifen konnte. Immerhin aber hatte sich Stümpfig bereits soweit profilieren können, daß er nach dem Weggang seines Duzfreundes, des bisherigen NSDAP-Bezirksleiters Friedrich Schmidt 11 , der als Geschäftsführer zur Stuttgarter Gauleitung wechselte, Mitte 1930 zu dessen Nachfolger bestimmt wurde. Zum NSDAP-Bezirk »Franken«, den Stümpfig bis zur Reorganisation der Parteikreise Ende 1932 leitete, gehörten die drei Oberämter Crailsheim, Gerabronn und Mergentheim. Am 1. Oktober 1932 übernahm Stümpfig dann den Kreisleiterposten in Gerabronn. Damit stieg er endgültig zum Parteiführer einer der größten NS-Hochburgen in Württemberg auf. Daß Stümpfig an den spektakulären Wahlerfolgen der NSDAP im protestantischen Nordosten Württembergs nicht zuletzt persönlichen Anteil hatte, ist nicht von der Hand zu weisen und dürfte ihm frühzeitig wichtiges innerparteiliches Prestige verschafft haben. Seit 1932 erzielten die Nationalsozialisten in Stümpfigs Heimatkreis Gerabronn regelmäßig die höchsten Stimmengewinne im ganzen Land: bei der Landtagswahl im April 1932 52,9%, bei der Reichstagswahl drei Monate später 64,1% und bei der Reichstagswahl im März 1933 71,7%. 12 Nach der »Machtergreifung« wurde aus parteiamtlichen Kreisen verlautet, daß Stümpfig »einer der wenigen Bürgermeister in Württemberg« gewesen sei, »die sich schon vor Jahren offen zu uns bekannt haben«. Daß das Oberamt Gerabronn vor 1933 »am besten für uns abgestimmt« habe, sei »in der Hauptsache der Persönlichkeit Stümpfigs zu verdanken«. 13 Nach eigenen Angaben betreute Stümpfig Mitte 1932 »ca. 900 Pgs. in 32 Ortsgruppen und Stützpunkten« 14 , eine im Vergleich zu anderen württembergischen Regionen damals stattliche Mitgliederzahl. Am 29. Oktober 1931 war Stümpfig auch in die SS eingetreten, ohne hierin allerdings eine nennenswerte Rolle zu spielen. Aktiven Dienst als Sturmführer in Wiesenbach leistete er lediglich bis zu seiner Übersiedelung nach Stuttgart im Frühjahr 1933. 15 Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 687 11 Schmidt, 1902 in Stümpfigs Dienstgemeinde Wiesenbach geboren, bis 1927 arbeitsloser Volksschullehrer und seitdem in Stuttgart im Schuldienst tätig, gehörte neben Stümpfig 1929 zu den Gründern der NSDAP-Ortsgruppe Wiesenbach. 1933 - 1937 übte Schmidt das Amt des stellv. Gauleiters in Württemberg aus. Zur Person Schmidts, des engen Weggefährten und Förderers von Stümpfig, vgl. dessen Spruchkammerakte, STALB, EL 903/ 4, 203; die Kurzbiographien bei Kurz, Hermann, Aus dem Leben der nationalsozialistischen Abgeordneten im Landtag, in: NS-Gemeindezeitung für Südwestdeutschland 1 (1933), S. 10; Degener, Hermann A. L. (Hrsg.), Wer ist's? , 10. Ausgabe, Berlin 1935, S. 1404; Der Großdeutsche Reichstag 1938, IV. Wahlperiode (nach dem 30. Januar 1933), Berlin 1938, S. 385. 12 Zu den Wahlergebnissen vgl. die einschlägigen Publikationen des Statistischen Reichsamtes sowie die Rangliste der NSDAP-Stimmenanteile nach Oberämtern bei der Landtagswahl 1932 im »NS- Kurier«, Nr. 99, 28. April 1932. 13 Vgl. Kurz (wie Anm. 11), S. 10. 14 Bezirkstätigkeitsbericht, Bezirk I »Franken«, Februar - April 1932, STALB, EL 903/ 2, 1006. 15 BA, Abt. III (BDC), SSO Georg Stümpfig; vgl. auch die Ermittlungen der Spruchkammer 1948, STALB, EL 903/ 2, 1006. <?page no="689"?> Seit der Erringung des Stuttgarter Landtagsmandats im Mai 1932 16 konzentrierte sich Stümpfigs politische Tätigkeit ganz auf die Arbeit in der NSDAP-Fraktion. Den Bürgermeisterposten in Wiesenbach übte er nur noch »nebenher« aus, d.h. er kam am Wochenende »zum Unterschreiben« in seine Gemeinde, die daran auch keinerlei Anstoß nahm - ganz im Gegenteil, sie war stolz auf ihren Bürgermeister und förderte dessen politische Karriere nach Kräften. Bei der Landtagswahl 1932 etwa erzielte die NSDAP in Wiesenbach mit 77,3% die zweithöchste Stimmenzahl im Kreis. Seit Juni 1933 war Stümpfig vom Gemeinderat beurlaubt, die Amtsgeschäfte erledigte jetzt ein dafür von der Gemeinde angestellter Verwaltungsgehilfe. Als Stümpfig 1933 endgültig nach Stuttgart verzog und sein Bürgermeisteramt am 20. November 1933 niederlegte, verlieh ihm die Gemeinde Wiesenbach, »in Würdigung seiner außerordentlichen Verdienste anläßlich des Aufbaus des Dritten Reiches und der nationalen Erhebung und ganz besonders auch für die Gesamtgemeinde Wiesenbach und den Bezirk Gerabronn« das Ehrenbürgerrecht. 17 In Stuttgart gehörte Stümpfig nun zu jenem informellen Kreis von Nationalsozialisten, den der NSDAP-Landtagsabgeordnete und spätere Staatssekretär, der für Verwaltungsangelegenheiten zuständige Referent bei der Gauleitung Karl Waldmann 18 , in Erwartung der künftigen Machtübernahme der Nationalsozialisten um sich scharte. Die Kontakte, die Stümpfig hier in den Monaten bis zur »Machtergreifung« knüpfen konnte, waren ausschlaggebend für den seit Sommer 1933 steilen Aufstieg als NS-Spitzenbeamter. Zu dem Kreis gehörten höhere Verwaltungsbeamte wie Gustav Himmel, leitender Personalsachbearbeiter im Innenministerium, 1929 von Staatspräsident Eugen Bolz abgeschoben, der Herrenberger Landrat Ludwig Battenberg, einziger »Alter Kämpfer« unter den württembergischen Landräten, und Helmut Wider, Regierungsrat beim württembergischen Staatsministerium, die sich Hubert Roser 688 16 Genaue Angaben dazu bei Weik, Josef, Der Landtag von Baden-Württemberg und seine Abgeordneten von 1952 bis 1988 mit einem Verzeichnis der Abgeordneten von Baden, Württemberg und der Hohenzollerischen Lande 1919 - 1933, hrsg. vom Landtag Baden-Württemberg, 4., erg. Aufl. Stuttgart 1988, S. 319. 17 Auszug aus der Verhandlungsniederschrift des Gemeinderats vom 18. Januar 1934, STALB, EL 903/ 2, 1006. Die förmliche Entlassung aus dem Gemeindedienst erfolgte am 28. April 1934; vgl. dazu die Wiesenbacher Stellenakte, HSTAS, E 151/ 43, 281, und Stümpfigs Versorgungsakte, STALB, E 180b II/ 579. 18 Zu Waldmann, neben dem stellv. Gauleiter Schmidt der zweite wichtige Förderer Stümpfigs, siehe den Beitrag von Annette Roser in diesem Band; meine Kurzbiographie, in: Baden-Württembergische Biographien Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad, erscheint vorr. 1997. Waldmanns Rolle als Architekt der württembergischen Beamtenpolitik seit 1933 beleuchten eingehend Roser (wie Anm. 1); Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein. Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972, München 1996, S. 107 - 111 et passim. Zu Waldmann als Gründer der NS-Beamtenabteilung in Württemberg vgl. Roser, Hubert; Spear, Peter, »Der Beamte gehört dem Staat und der Partei«. Die NSDAP-Gauämter für Beamte und für Kommunalpolitik in Baden und Württemberg, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 71 - 102, hier S. 79. <?page no="690"?> aufgrund enttäuschter Karriereambitionen den Nationalsozialisten als Kollaborateure angeboten hatten. Insgeheim waren sie bereits der NSDAP beigetreten oder dienten der Fraktion als Informanten. Im Zuge der NS-Machtübernahme übernahmen alle drei wichtige Schlüsselpositionen in der württembergischen Innenverwaltung, denn mit ihren langjährigen Erfahrungen und intimen Personalkenntnissen waren sie für eine rasche Durchsetzung der NS-Personalpolitik von unschätzbarem Wert. 19 Ferner bestanden über Waldmanns Stuttgarter »Seilschaft« Verbindungen zu dem Leonberger Rechtsanwalt Jonathan Schmid 20 , 1933 von Gauleiter Murr zum Innenminister berufen, und zu Gottlob Dill, Richter am Stuttgarter Landgericht und von 1933 bis 1945 ranghöchster Ministerialbeamter in der württembergischen Innenverwaltung, in dieser Funktion seit 1937 Stümpfigs unmittelbarer Vorgesetzter. 21 Kurz vor Einmarsch der Amerikaner im April 1945 sorgte Stümpfig persönlich dafür, daß seine eigene sowie die Personalakten von Dill und Schmid rechtzeitig beiseite geschafft wurden. 22 Über die Kontakte in der Partei hinaus bestand zwischen Stümpfig und Waldmann auch beruflich und privat seit längerem eine engere Verbindung. Fest steht, daß beide Familien miteinander befreundet waren 23 und daß Stümpfig spätestens seit seiner Stuttgarter Zeit mit Waldmann persönlich bestens bekannt war. Es dürfte aber sicherlich kein Zufall sein, daß zwischen den Biographien der beiden noch weitere, höchst auffällige Parallelen bestanden. Gerade eineinhalb Jahre jünger als Stümpfig wurde Waldmann, nur ein paar Kilometer von dessen Geburtsort Bölgental entfernt, in Tiefenbach geboren. Nahezu zeitgleich - Stümpfig 1913, Waldmann 1911 - absolvierten die beiden auch ihre Abschlußprüfung für den gehobenen Verwaltungsdienst an der Höheren Verwaltungsschule in Stuttgart. Und zu guter Letzt: Jener Bürgermeister, der vor Stümpfigs Amtsantritt im Jahre 1920 jahrzehntelang der Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 689 19 Himmel wurde im März 1933 zum Kanzleidirektor im MdI berufen, Battenberg im April als Staatskommissar für Körperschaftsverwaltung (im folgenden StKoKV) eingesetzt, Wider wurde einen Tag nach Murrs Ernennung zum Staatspräsidenten mit der Führung der Geschäfte des Ministerialdirektors im Staatsministerium beauftragt. Besonders aufschlußreich im Hinblick auf die Zusammensetzung des um Waldmann bestehenden Kreises ist ein von Wider im Rahmen seines Spruchkammerverfahrens 1948 verfaßter Erinnerungsbericht, HSTAS, E 130c/ 127; vgl. auch die knappen Hinweise bei Munder, Eugen, Ausklang und Ausschau, in: 100 Jahre Württembergischer Verwaltungsdienst. Festschrift, hrsg. v. Verein Württ. Verwaltungsbeamten e.V., Stuttgart 1937, S. 117 f. Zur Funktion der »NS-Kollaborateure« bei der Säuberung und Dienstbarmachung der württembergischen Innenverwaltung seit 1933 vgl. eingehend Ruck (wie Anm. 18), S. 107 - 111. 20 Zu Schmid siehe den Beitrag von Angela Borgstedt in diesem Band; vgl. ferner Ruck (wie Anm. 18). 21 Dills, unter Zuhilfenahme von Waldmann, hartnäckige Bemühungen um Erhalt einer niedrigeren NSDAP-Mitgliedsnummer werden geschildert bei Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 74 f. Zur Person Dills vgl. Ruck (wie Anm. 18), S. 112 - 114; Wilhelm, Friedrich, Die württembergische Polizei im Dritten Reich, Diss. phil., Stuttgart 1989, S. 240 - 242. 22 Vgl. dazu den Aktenvermerk des MdI in Stümpfigs Nachkriegs-Personalakte vom 12. September 1946; MdI Baden-Württemberg an Stümpfig, 19. Mai 1954, HSTAS, EA 2/ 150, 1736. 23 Siehe Waldmanns Schreiben aus dem gemeinsamen Nordsee-Urlaub an Stümpfig, 10. August 1937, HSTAS, E 140/ 1. <?page no="691"?> Gemeinde Wiesenbach vorgestanden hatte, hieß mit Nachnamen ausgerechnet Waldmann! 24 Nach alledem ist davon auszugehen, daß Stümpfig und Waldmann nicht nur als Beamte eine identische und dazu fast zeitgleiche berufliche Sozialisation durchlaufen, sondern sich aller Wahrscheinlichkeit nach bereits in dieser Zeit persönlich näher kennengelernt haben. Bei beiden führten die gemeinsame Herkunft in Verbindung mit ähnlichen familiären und beruflichen Sozialisationserfahrungen zu entsprechenden politischen Konsequenzen, an deren Ende der Eintritt in die NSDAP stand. Im Vergleich zu Stümpfig hatte sich Waldmann schon früher der NSDAP angeschlossen und dort auch früher wichtige Führungspositionen erreicht. Dies wiederum war für Stümpfigs raschen politischen Aufstieg seit der »Machtergreifung« entscheidend, denn »kaum in Murrs Schlepptau an die Schalthebel der Macht gelangt, zog Waldmann den Kampfgefährten nach«. 25 Als Staatssekretär und persönlicher Referent von Gauleiter und Reichsstatthalter Murr koordinierte Waldmann inzwischen eigenverantwortlich die Beamtenpolitik in Württemberg. 26 Hierbei war sein hauptsächliches Anliegen eine radikale »Säuberung« der württembergischen Verwaltung von allen »politisch unzuverlässigen« Beamten, zugleich verbunden mit einem zügigen Umbau der demokratischen Gemeindeverfassung in einen autoritären Führerstaat, ohne dabei wie in Preußen allzusehr der nationalsozialistischen Versorgungspatronage Tribut zollen zu müssen. Insbesondere sollte sichergestellt werden, daß das traditionelle württembergische Fachbeamtentum nicht durch sogenannte »NS-Außenseiter«, d.h. Parteifunktionäre ohne die erforderliche fachliche Vorbildung, zusehends aufgeweicht würde. Die württembergische Beamtenschaft in den Gemeinden und Kreisen sollte den Übergriffen lokaler Parteistellen nicht schutzlos ausgeliefert, sondern auf höchster Ebene einer übergeordneten politischen Kontroll- und Überwachungsinstanz der Partei unterstellt sein. Hierfür benötigte Waldmann an den zentralen personalpolitischen Schaltstellen Leute seines Vertrauens, die einerseits im Sinne der Partei zu entscheiden wußten, andererseits aber bei deren weitgehenden Personalwünschen das Ziel der Aufrechterhaltung einer funktionierenden Verwaltung nicht aus den Augen verlieren würden. Darüber hinaus galt es, sich dem rasch zunehmenden Gleichschaltungsdruck der Berliner Zentralstellen entgegenzustemmen, um so bei der absehbahren reichsweiten Vereinheitlichung des Beamtenrechts die Besonderheiten und Eigentümlichkeiten der württembergischen Verwaltungstradition in den zukünftigen nationalsozialistischen Einheitsstaat hinüberretten zu können. Daß Stümpfig für beide Aufgaben persönlich wie fachlich alle nötigen Voraussetzungen mitbrachte, bedarf nach dem bisher Gesagten wohl keiner näheren Begründung. Während Wald- Hubert Roser 690 24 Vgl. dazu Königlich Statistisches Landesamt (Hrsg.), Hof- und Staatshandbuch des Königreichs Württemberg 1914, Stuttgart 1914, S. 371, 377 f. Bekanntermaßen stammte Waldmann aus einer alten Beamten- und Bürgermeisterfamilie. Sein Vater war selbst lange Jahre Bürgermeister gewesen. 25 Ruck (wie Anm. 18), S. 117. 26 Zum folgenden vgl. Roser (wie Anm. 1). <?page no="692"?> mann quasi als »spiritus rector« die Leitlinien der neuen württembergischen Beamtenpolitik absteckte, avancierte Freund und Berufskollege Stümpfig zu seinem Chefexekutor in allen personalpolitischen Fragen. 27 Zugleich fungierten Waldmann als »Berufskamerad« des Vereins Württembergischer Verwaltungsbeamter bzw. Stümpfig als führendes Mitglied und Repräsentant der Württembergischen Ortsvorstehervereinigung 28 nach 1933 weiterhin als informelle Interessenvertreter der württembergischen gehobenen Beamtenschaft, aus der sie selbst stammten - erst recht, nachdem ihre alten berufsständischen Organisationen 1937 dem nationalsozialistischen Gleichschaltungsdruck zum Opfer gefallen waren. 29 Der eigentliche Aufstieg des Parteibuchbeamten Stümpfig nahm damit seinen Anfang im Sommer 1933, als er auf Veranlassung Waldmanns und anderer höchster Verwaltungsstellen als maßgeblicher Vertrauensmann der Partei in die Stuttgarter Ministerialbürokratie eingeschleust wurde. Nach vorübergehender Tätigkeit als Staatskommissar bei der Landesversicherungsanstalt 30 wurde Stümpfig am 19. Juni 1933 unter Beurlaubung aus dem Gemeindedienst dem kurz zuvor neu gebildeten Staatskommissariat für Körperschaftsverwaltung als »ehrenamtlicher Berichterstatter« zur Dienstleistung zugewiesen. 31 Die offiziell am 11. April 1933 ins Leben gerufene 32 Dienststelle sollte die von den Nationalsozialisten ins Auge gefaßte Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 691 27 Auf die einzelnen Schritte der württembergischen NS-Beamtenpolitik seit 1933 einzugehen, fehlt hier der Platz. Waldmann war der Schöpfer des »Ortsvorstehergesetzes«, mit dem Württemberg als erstes deutsches Land die Berufung der Bürgermeister auf Lebenszeit durch den Staat einführte und damit noch vor Inkrafttreten reichsweiter Bestimmungen den nationalsozialistischen Führerstaat im württembergischen Kommunalrecht verankerte. In denselben Kontext gehört auch die württembergische Kreisordnung vom 27. Januar 1934, mit deren Verabschiedung Waldmann den Plänen des Reichinnenministeriums zuvorkam. Die 1939/ 42 erlassenen Ausführungsbestimmungen zum Deutschen Beamtengesetz, die für die zahlreichen württembergischen Sonderregelungen das Aus bedeuteten, kamen infolge des Kriegsverlaufs nicht mehr zum Tragen. Zur württembergischen Beamtenpolitik vgl. ausführlich Roser (wie Anm. 1). 28 Am 17. Juni 1933 wurde Stümpfig in deren Ausschuß berufen; siehe Staatsanzeiger für Württemberg, Nr. 139, 19. Juni 1933; vgl. auch Schmidt, Friedrich, Aus Geschichte und Arbeit des Vereins Württ. Verwaltungsbeamten e.V., in: 100 Jahre Württembergischer Verwaltungsdienst. Festschrift, hrsg. v. Verein Württ. Verwaltungsbeamten e.V., Stuttgart 1937, S. 107 (mit Bild); Schnabel (wie Anm. 1), S. 192. 29 Im Jahre 1933 hatte Waldmann die Auflösung seiner eigenen Standesorganisation noch verhindern können, wofür ihn der Verein in den neugebildeten »Führerrat« berief; vgl. dazu Munder (wie Anm. 19), S. 118; die Berichte zum 40. Vereinsjubiläum 1933 im »NS-Kurier«, Nr. 89 (Abendausgabe), 18. Dezember 1933, und im Staatsanzeiger für Württemberg, Nr. 295, 18. Dezember 1933. 30 Ernennung zum Staatskommissar am 30. März 1933; vgl. Staatsanzeiger für Württemberg, Nr. 75, 30. März 1933; Seeger, Helmut, Der Staatskommissar mit besonderer Berücksichtigung Württembergs im Jahr 1933, Diss. jur., Stuttgart 1940, S. 108 f. Offizielle Rücknahme der Berufung am 11. August 1933, HSTAS, E 151/ 01, 122. 31 Von einer öffentlichen Bekanntgabe dieser Verfügung wurde abgesehen; MdI Schmid an StKoKV, 19. Juni 1933, HSTAS E 151/ 01, 123; vgl. dazu auch die Wiesenbacher Stellenakte des StKoKV, HSTAS E 151/ 43, 281. 32 »Gesetz über die Errichtung eines Staatskommissariats für Körperschaftsverwaltung« vom 11. April 1933, RegBl. 1933, S. 93. Die tatsächliche Arbeitsaufnahme von Staatskommissar Battenberg <?page no="693"?> Generalrevision der Personalverhältnisse der württembergischen Gemeinde- und Körperschaftsbeamten in einer Hand vereinigen. Als Sachbearbeiter von Staatskommissar Battenberg und dessen Nachfolger, des späteren Waiblinger Landrats Karl Storz, hatte Stümpfig in den folgenden Monaten in der Tat reichlich Gelegenheit, sich in seinem neuen Aufgabenbereich zu bewähren. Damit stand der weiteren Karriere nichts mehr im Wege. Schon am 9. November 1933 erfolgte die Ernennung zum »Berichterstatter für Ortsvorstehersachen« unter Berufung in das Beamtenverhältnis. 33 Mit dem fast zeitgleichen Wechsel von Storz zurück in die Bezirksverwaltung fiel Stümpfig zugleich die Leitung des Staatskommissariats zu, ohne daß es dazu eines formellen Verwaltungsakts bedurft hätte. Am 27. November 1933 wurde Stümpfig für die Dauer der weiteren unständigen Verwendung vom Staatsministerium die Amtsbezeichnung »Regierungsrat« verliehen. 34 Und wenige Tage später erhielt er die Ermächtigung, Verfügungen ohne Vorlage an seinen direkten Vorgesetzten unmittelbar im Auftrag des Herrn Ministers zu treffen. Die Ernennung zum Regierungsrat (der höheren Besoldungsstufe) 35 verzögerte sich unvorhergesehenerweise bis zum 29. April 1934, da die im Staatshaushaltsplan neu vorgesehene Planstelle eines »Berichterstatters für Ortsvorstehersachen« noch der Genehmigung bedurfte. Ohnehin mußte Stümpfig, der weder Abitur noch ein abgeschlossenes Jurastudium vorweisen konnte, vor der endgültigen Übernahme in die höhere Dienstlaufbahn von den geltenden Vorschriften über die Befähigung für den höheren Verwaltungsdienst befreit werden. Diese ungewöhnliche Maßnahme begründete die Anstellungsbehörde damit, daß sich »Regierungsrat Stümpfig [...] im Kampf für die nationale Erhebung [...] in vorderster Reihe als Mitglied der NSDAP« betätigt habe. 36 Dank entsprechender »Schubwirkung« von außen hatte Stümpfig innerhalb von weniger als einem Jahr zwei wesentliche Ziele erreicht: sich einerseits trotz seiner Außenseiterrolle im Innenministerium zu etablieren und andererseits das anfangs als reines Provisorium gedachte Staatskommissariat bzw. die ab Ende 1933 von ihm federführend geleitete Abteilung im Ministerium fest im Getriebe der württembergischen Verwaltungsmaschinerie zu verankern. Dem Vorschlag von Innenminister Schmid, das Staatskommissariat zur Jahreswende 1933/ 34 aufzulösen, wollte sich Stümpfig deshalb nicht anschließen. Obwohl tatsächlich der größte Teil der aus der »Machtergreifung« resultierenden Personalveränderungen inzwischen abgeschlossen sei, bat er darum, es noch einige Zeit weiterbestehen zu lassen. Andernfalls sei ihm »die Möglichkeit genommen [...], auf die Gemeinde- und Körperschaftsverwal- Hubert Roser 692 erfolgte allerdings schon am 29. März 1933; siehe MdI an Battenberg, 12. April 1933, HSTAS, E 151/ 01, 122. 33 HSTAS, E 151/ 01, 286. 34 Vgl. auch Staatsanzeiger für Württemberg, Nr. 270, 18. November 1933. 35 Siehe die Meldung in der NS-Gemeindezeitung für Südwestdeutschland 2 (1934), S. 200. 36 Ernennungsantrag des württembergischen MdI vom 11. April 1934. Sämtliche genannten Personalvorgänge sind in den einschlägigen Stellenakten des MdI enthalten, HSTAS, E 151/ 01, 169. <?page no="694"?> tungen durch Bestellung von Amtsverwesern oder durch entsprechende Vorschläge einzuwirken«. 37 Seinem Wunsch wurde entsprochen. 38 Nach Auflösung des Staatskommissariats im Mai 1935 wurde dessen Geschäftsbereich der Kommunalabteilung des Innenministeriums zugewiesen und Stümpfig zum dortigen Abteilungsleiter befördert. Gleichzeitig hatte jetzt auch die Ministerialabteilung für Bezirks- und Körperschaftsverwaltung, die die unmittelbare Dienstaufsicht über die Gemeinden führte, sämtliche Personalvorgänge ihres Geschäftsbereichs Stümpfig zur Mitzeichnung zuzuleiten. 39 Ein Jahr später folgte außerdem die Ernennung zum Oberregierungsrat (wiederum der höheren Besoldungsstufe). 40 Um die exponierte Stellung des Staatskommissars im Ministerium institutionell weiter abzusichern und zugleich mögliche innerparteiliche Rivalen von vornherein auf Abstand zu halten, erschien es geboten, Stümpfig auch innerhalb der NSDAP entsprechende Kompetenzen einzuräumen. Die Gelegenheit hierfür war Anfang 1934 günstig, denn das Amt des Gauamtsleiters für Kommunalpolitik in der Partei war seit Mitte April vakant. Der bisherige Amtsinhaber, der Leonberger Bürgermeister Rudolf Abele, war von Gauleiter Murr aus disziplinarischen Gründen kaltgestellt worden. 41 Hinsichtlich der Frage der Neubesetzung entspann sich nun aber ein Disput mit dem Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin, der seinerseits auf die Berufung des bisherigen stellvertretenden Amtsleiters Hugo Kroll, langjähriger Stuttgarter Weggefährte Strölins und seit 1933 stellvertretender Fraktionsvorsitzender im dortigen Stadtrat, drängte. Zum Wortführer in der Auseinandersetzung auf seiten Stümpfigs avancierte erneut der stellvertretende Gauleiter Schmidt. Mit dem Argument, daß zwischen dem Gauamt und der Landesdienststelle des Deutschen Gemeindetags, deren Vorsitz er selbst führte, eine möglichst enge Verbindung bestehen müsse, hatte Strölin bereits das Münchener NSDAP-Hauptamt für Kommunalpolitik, das für die Besetzung des Gauamtsleiterpostens formal zuständig war, auf seine Seite ziehen können. 42 Der erhoffte Erfolg blieb ihm dennoch versagt. Dank der Rückendeckung von Gauleiter Murr hatte Schmidt keine Probleme, den lästigen Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 693 37 Stümpfig an MdI, 9. Januar 1934, HSTAS, E 151/ 01, 122. 38 Abgesehen vom StKoKV und einer weiteren Ausnahme waren sämtliche in Württemberg bestehenden Kommissariate bereits im Sommer 1933 aufgelöst worden; vgl. Seeger (wie Anm. 30), S. 61 - 70. 39 Erlaß des württembergischen MdI vom 28. Mai 1935, HSTAS, E 151/ 01, 304; vgl. auch Ruck (wie Anm. 18), S. 177. 40 Mit Wirkung zum 1. Juli 1936; siehe dazu den Ernennungsantrag des MdI vom 27. März 1936, HSTAS, E 151/ 01, 158. 41 Die Amtsenthebung erfolgte zum 20. April 1934; siehe Abele an Hauptamt für Kommunalpolitik, 25. April 1934, BA NS 25/ 392; Gauleitung Württemberg-Hohenzollern (gez. Schmidt) an Hauptamt für Kommunalpolitik, 30. April 1934, BA, Abt. III (BDC), PA Rudolf Abele. Kurze Zeit später wurde Abele zum Direktor des Württembergischen Sparkassen- und Giroverbands ernannt; vgl. allgemein auch Roser/ Spear (wie Anm. 18), S. 82 f. 42 Hauptamt für Kommunalpolitik an Gauleitung Württemberg-Hohenzollern, 26. Juni 1934, BA, Abt. III (BDC), PA Georg Stümpfig. <?page no="695"?> Konkurrenten abzuwehren. »Pg. Reichsstatthalter und Gauleiter Murr ist nach wie vor der Ansicht«, rückte er das wahre Kräfteverhältnis deutlich zurecht, »daß das Amt für Kommunalpolitik durch unseren Parteigenossen Reg.Rat Bürgermeister Stümpfig [...] besetzt werden soll. Ich bitte Sie deshalb, dieser Bestellung keinerlei Schwierigkeiten mehr zu bereiten, da diese Lösung bestimmt die beste ist«. 43 Die offizielle Ernennung erfolgte am 25. Juli 1934. 44 Einmal mehr hatte sich, gerade im Hinblick auf die Besetzung von personalpolitischen Schlüsselpositionen, die »Gerabronn-Verbindung« innerhalb der Stuttgarter Gauleitung als durchschlagskräftiger erwiesen. Ungeachtet der neugeschaffenen Personalunion zwischen Verwaltungs- und Parteiamt lag Stümpfigs eigentliches Gewicht weiterhin auf der Verwaltungsseite. Den Geschäftsbetrieb als Gauamtsleiter erledigte er praktisch von seinem Schreibtisch im Innenministerium aus. Im Vergleich zu seinem badischen Pendant Rudolf Schindler bzw. dessen Nachfolger Franz Kerber, die beide über einen umfangreichen Mitarbeiterstab verfügten, assistierten Stümpfig lediglich drei ehrenamtliche »Gaustellenleiter«, die zweckmäßigerweise als Schreibkräfte beim Innenministerium beschäftigt wurden. Stümpfig bezog als Gauamtsleiter weder eine Aufwandsentschädigung noch verrechnete er seine (zahlreichen) Dienstreisen bei der Parteikasse. Er beanspruchte und erhielt lediglich seit etwa 1935 einen monatlichen Bürozuschuß von 150 RM. 45 In Stümpfigs neuer Dienststelle im Innenministerium liefen seit März 1933 die Personalangelegenheiten sämtlicher Beamten von Gemeinden, Stiftungen und sonstigen Körperschaften zusammen. Auch für die Mitglieder der Kreis-, Bezirks- und Gemeinderäte war das Staatskommissariat zuständig. 46 Neben der routinemäßigen politischen Überprüfung der Ortsvorsteher, der Verhängung von Zwangsbeurlaubungen oder zwangsweisen Versetzungen in den Ruhestand, Dienstentlassungen und Kündigungen fielen auch alle Dienststrafverfahren, Dienstaufsichtsbeschwerden, die Bearbeitung von Denunziationen sowie die Einsetzung von kommissarischen Amtsverwesern in seine Kompetenz. »Schutzhaft« gegen diese Beamten und Bediensteten durfte ausdrücklich nur mit seiner Zustimmung verhängt bzw. aufgehoben werden. 47 Auch die beim Staatsministerium für die Abwicklung der Verfahren nach dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« 48 1933 eingerichtete »Prüfungsstelle« hatte, sofern es sich um Gemeinde- und Körperschaftsbeamte Hubert Roser 694 43 Schmidt an Hauptamt für Kommunalpolitik, 20. Juli 1934, BA, Abt. III (BDC), PA Georg Stümpfig. 44 Vgl. NS-Gemeindezeitung für Südwestdeutschland 2 (1934), S. 277 (mit Bild). 45 Soweit die Angaben des württembergischen Gauschatzmeisters Anton Vogt am 26. August 1948, HSTAS, EL 903/ 2, 1006. Sie werden durch Erkenntnisse aus anderen Quellen bestätigt; vgl. dazu Roser/ Spear (wie Anm. 18), S. 89 f. 46 Die sich rasch anhäufenden »Berge von Akten«, von denen Staatssekretär Waldmann am 30. Mai 1933 sprach, HSTAS, E 151/ 01, 2318, sind fast vollständig erhalten; vgl. die Bestände E 151/ 42 und E 151/ 43 im HSTAS. 47 Vgl. Seeger (Anm. 30), S. 77 - 79. 48 Zum Hintergrund vgl. Mommsen, Hans, Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik, Stuttgart 1966, S. 39 - 61. <?page no="696"?> handelte, die von ihr erhobenen Belastungsmomente zur Verwertung unverzüglich dem Staatskommissar für Körperschaftsverwaltung zuzuleiten, der daraufhin eigenverantwortlich die Entscheidung traf. Erachtete er das Verfahren für abgeschlossen, durfte die »Prüfungsstelle« nicht von neuem belastendes Material vorlegen. 49 Seit Herbst 1933 durften freiwerdende Stellen innerhalb der Kommunalverwaltung, die für geprüfte Verwaltungsbeamte in Frage kamen - also vom Gemeinderatschreiber aufwärts bis zum Oberbürgermeister einer mittleren Stadt -, generell nur noch nach vorheriger Rücksprache mit Stümpfig besetzt werden. Des weiteren war Stümpfig für Parteidienststellen, die auf die Absetzung ihnen mißliebiger Beamter drängten oder ihre Gefolgsleute im öffentlichen Dienst unterzubringen versuchten, die zentrale Anlaufstelle. Vor allem mit den NSDAP-Kreisleitern, die jetzt bei Personalentscheidungen mehr und mehr in den Vordergrund traten, hatte er es hierbei zu tun. Ihren Wünschen war in gebührender Weise Rechnung zu tragen, auch wenn manch harter und langwieriger Kampf mit ihnen ausgefochten wurde, etwa wenn »ein rabiater und ellenbogenkräftiger Kreisleiter« wie der Heilbronner Parteistatthalter Richard Drauz 50 , der bei Gauleiter Murr über starken Einfluß verfügte, sich den Vorgaben aus Stuttgart zu widersetzen versuchte. Dieser schwierigen und mitunter heiklen Aufgabe entledigte sich Stümpfig mit Geschick und Sachverstand, wobei er sein ganzes persönliches Gewicht in die Waagschale zu werfen wußte. 51 Dank des doppelten institutionellen Rückhalts in der Verwaltung und der Partei sowie der uneingeschränkten Rückendeckung durch Waldmann befand sich Stümpfig in der günstigeren Verhandlungsposition, die ihm bei etwaigen Auseinandersetzungen unübersehbare Vorteile verschaffte. Keineswegs läßt sich aber die These aufrechterhalten, der Staatskommissar habe sein Amt primär dazu benutzt, um bei Personalentscheidungen die Interessen einer vorgeblich unpolitischen Fachverwaltung gegenüber der Partei zu wahren. 52 Stümpfig war ausdrücklich als maßgeblicher Vertrauensmann der Partei für seine Aufgabe ausgewählt worden, und diese erledigte er jederzeit zu deren vollster Zufriedenheit. Auf allerhöchster Ebene in alle kommunalen personalpolitischen Entscheidungen formell miteinbezogen, vertrat Stümpfig allerdings nicht die partiellen Interessen subalterner, regionaler Parteistellen, sondern die maßgeblicher Kreise innerhalb der Stuttgarter Gauleitung. Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 695 49 Siehe StKoKV (gez. Storz) an die »Prüfungsstelle«, 19. August 1933, HSTAS, E 151/ 01, 2318. 50 Aussage von Kurt Göbel, seit 1941 Leiter der Kommunalabteilung im MdI, in Stümpfigs Spruchkammerverfahren; siehe Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 19. Juli 1948, STALB, EL 903/ 2, 1006. Zu Drauz vgl. den Beitrag von Susanne Schlösser in diesem Band. 51 Es ist deshalb unrichtig zu behaupten, daß Stümpfig »weder ein großer Könner noch ein großer Arbeiter« gewesen sei; so die Aussage von Fritz Schwenninger, seit 1935 Personalreferent im Büro des Reichsstatthalters, in Stümpfigs Entnazifizierungsverfahren, 17. Dezember 1947, STALB, EL 903/ 2, 1006. 52 In diesem Sinne argumentieren Sauer (wie Anm. 21), S. 93 f., und Schnabel (wie Anm. 1), S. 191 f., 298 - 300. <?page no="697"?> War ein Beamter oder Bürgermeister aufgrund von Beanstandungen durch Parteistellen auf seinem Posten nicht mehr zu halten, nahm ihn Stümpfig aus dem politischen Schußfeld und sorgte, sofern er nicht aus Altersgründen »pensionsreif« war, für dessen anderweitige Verwendung. Eindeutige Zielvorgabe hierbei war, das ohnehin seit 1933 arg strapazierte Personalbudget nicht durch allzu hohe Pensionskosten noch weiter zu belasten. Die beamtenrechtlichen Rahmenbedingungen in Württemberg und die seit 1933 auf dem Gebiet der Beamtenpolitik von den Nationalsozialisten eingeschlagenen gesetzgeberischen Maßnahmen 53 eröffneten Stümpfig dabei reichhaltige personalpolitische Gestaltungsmöglichkeiten. So war selbst bei älteren Beamten der Wechsel vom Kommunalin den Staatsdienst oder umgekehrt ohne weiteres möglich und durchaus statthaft, auch wenn wie im Fall eines beurlaubten Ortsvorstehers, der im Frühjahr 1934 als Regierungsinspektor beim Oberamt Waiblingen eintrat, die Übernahme in die Bezirksverwaltung nach Ansehen und Besoldung zweifellos einer Zurücksetzung gleichkam. Die Beschäftigung des Beamten, der »fraglos ein tüchtiger Ortsvorsteher« sei, bei einem Oberamt, so der Staatskommissar, sei »weiter kein Problem«, werde aber einige Zeit in Anspruch nehmen, da er »nicht der einzige ist, der anderwärts untergebracht werden« müsse. 54 Zuweilen wurden, wie das Beispiel zweier städtischer Rechnungsräte aus Rottenburg bzw. Bad Mergentheim zeigt, politisch belastete Beamte auch einfach gegeneinander ausgetauscht. 55 Geradezu typisch für die politische Einstellung wie die praktische Vorgehensweise Stümpfigs als Personalreferent ist der Fall eines Reichsbahnobersekretärs aus Gerabronn, der 1933 wegen seiner Verbindung zur KPD entlassen worden war. Der Beamte, so der Kommentar Stümpfigs, habe sich zwar nicht aktiv für die KPD betätigt, diese aber »gefördert«. Er habe »keinen Hehl aus seiner Gegnerschaft zu Hitler und der Bewegung gemacht«. Eine Zurücknahme der Entlassungsverfügung komme »insofern kaum in Frage«. »Dagegen würde ich es mit Rücksicht auf die Familie begrüßen, wenn V. privatrechtlich im Arbeiter- oder Angestelltenverhältnis mit späterer Aufstiegsmöglichkeit wiederverwendet würde. Es bleibt zu hoffen, daß aus V. noch ein brauchbarer Deutscher wird«. 56 Über seine Hauptaufgabe, die politische Säuberung und personalpolitische Ausrichtung der Beamtenschaft im Sinne des NS-Regimes hinaus, sah sich Stümpfig, wie bereits angedeutet wurde, wiederholt mit den Folgen der nationalsozialistischen Parteibuchwirtschaft konfrontiert. Es fällt dabei auf, daß, wenn sich Stümpfig den Wünschen verdienter »Parteigenossen« oder anderer Nutznießer des NS-Regimes um Zuteilung etwa einer einträglichen Bürgermeisterstelle zugänglich zeigte, er damit nicht selten eine gewisse Gegenleistung oder besondere Bewährungsprobe für Hubert Roser 696 53 Vgl. dazu Roser (wie Anm. 1). 54 StKoKV an den betreffenden Bürgermeister, 17.August 1933, STALB, EL 902/ 24, 49/ 1/ 2098. 55 Vgl. zu dem Fall Roser (wie Anm. 1). 56 Äußerung Stümpfigs als Gerabronner Kreisleiter vom 16. Dezember 1933, STALB, EL 903/ 2, 1006. <?page no="698"?> den Betreffenden zu verbinden suchte. So unterstützte er beispielsweise mit Nachdruck die Berufung von Alois Gau, »Alter Kämpfer« und Rechnungsrat beim württembergischen Wirtschaftsministerium, zum Bürgermeister von Saulgau: »Die Ernennung des Rechnungsrats Gau zum Ortsvorsteher in Saulgau war von jeher vorgesehen und wird von allen maßgebenden Stellen (Gauleitung, Staatssekretär Waldmann usw.) befürwortet«, notierte er Mitte Oktober 1933. 57 Bereits ein Jahr später glaubte sich dieser jedoch bei seinem Kumpan, Staatssekretär Waldmann, darüber beschweren zu müssen, daß Stümpfig ihm »mit allen Mitteln den Bürgermeister Scheiger von Sulz [...] als Ratschreiber aufhängen« wolle. 58 Als kommissarischer Bürgermeister von Waiblingen hatte sich Scheiger 1933 mit der dortigen Parteiclique völlig überworfen und war deshalb von Stümpfig »unter Umgehung des Gemeinderats, der Kreisleitung und des Oberamts« 59 nach Sulz transferiert worden. Hier hatte er schwere dienstliche Verfehlungen begangen, weshalb gegen ihn ein Dienststrafverfahren eingeleitet worden war. 60 Nach alledem glaubte Stümpfig nun, »zwei Fliegen mit einer Klappe« schlagen zu können: einerseits Scheiger »preisgünstig« in die sichere Obhut eines politisch zuverlässigen NS-Bürgermeisters loszuwerden, andererseits die Ortsvorsteherstelle in Sulz umgehend für deren Wiederbesetzung freizubekommen. Dieses Mal allerdings hatte Stümpfig die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Auf Fürsprache von Waldmann mußte Stümpfig seinen ursprünglichen Plan aufgeben und für Scheiger eine andere Lösung suchen. 61 In einem anderen Fall hatte Stümpfig einem durchaus karrierebewußten, aber erst nach der »Machtergreifung« in die NSDAP eingetretenen Bürgermeister, dessen Posten infolge einer Eingemeindung aufgelöst werden sollte, in Aussicht gestellt, zu einem späteren Zeitpunkt das Bürgermeisteramt in einer größeren Gemeinde übernehmen zu können. Zuvor allerdings sollte er sich in dem früheren »Kommunistennest B. bewähren und dort Ordnung schaffen«. 62 Eine andere Möglichkeit als B. komme momentan nicht in Frage, sei er damit nicht zufrieden, müsse er »längere Zeit auf eine passende Stelle warten«, ließ er dem Bürgermeister durch das Landratsamt ausrichten. 63 Der Betreffende nahm dieses »Angebot« an, indes stellte sich bald heraus, daß der neue Ortsvorsteher die in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen in der Lage war. Anstatt, wie erhofft, Ruhe in die Gemeinde zu bringen, provozierte er durch sein Auftreten als vermeintlicher »Alter Kämpfer« die lokale NS-Prominenz und bedrängte überdies das Innenministerium von nun an mit Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 697 57 Aktenvermerk Stümpfigs vom 13. Oktober 1933, HSTAS, E 151/ 43, 872. 58 Bürgermeister Gau an Staatssekretär Waldmann, 24. Oktober 1934, HSTAS, E 140/ 96; vgl. auch Schnabel (wie Anm. 1), S. 379. 59 Aktennotiz des StKoKV (gez. Stümpfig) vom 19. Mai 1934, HSTAS, E 151/ 43, 584. 60 Der »Fall Scheiger« wird ausführlich behandelt bei Roser (wie Anm. 1). 61 Die er offensichtlich auch fand. Scheiger war Ende der 30er Jahre als Rechnungsrat bei der Stadt Ludwigsburg beschäftigt. 62 Aktennotiz Stümpfigs vom 13. September 1933, HSTAS, E 151/ 43, 936. 63 Stümpfig an OA Oberndorf, 21 September 1933, HSTAS, E 151/ 42, 409. <?page no="699"?> zahllosen Versetzungsanträgen. Es bedurfte schließlich eines »Machtworts« von oberster Stelle, damit die Lage vorübergehend entschärft werden konnte. Stümpfig habe den Bürgermeister »in Stuttgart antreten lassen und ihm deutsch seine Meinung gesagt«, stellte die Rottenburger Kreisleitung im September 1934 befriedigt fest. 64 Schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit hatte sich das in der heißen Phase der »Machtergreifung« entwickelte Modell, einen zwar nationalsozialistisch entsprechend ausgewiesenen, aber dennoch dem traditionellen württembergischen Beamtenmilieu verpflichteten Berufsbeamten auf einer zentralen personalpolitischen Schaltstation im Innenministerium zu plazieren, offenbar soweit bewährt, daß man schon bald konkrete Überlegungen anstellte, es auf den Bereich der gesamten staatlichen Innenverwaltung auszudehnen. 65 Den eigentlichen Anlaß hierfür bot das durch das unerwartete Hinscheiden seines Inhabers im Jahre 1937 urplötzliche Freiwerden des Präsidentenamtes beim Württembergischen Verwaltungsgerichtshof. Die »prestigeträchtige Position ohne operative Einflußmöglichkeiten« 66 diente als klassischer Abschiebeposten für den Kollaborateur Himmel aus der Anfangszeit des NS-Regimes, der nunmehr seine Schuldigkeit getan hatte. An seiner Stelle übernahm am 25. März 1937 Stümpfig höchstpersönlich die Funktion des Personalchefs und Kanzleidirektors in der Innenverwaltung. Die Leitung des Gauamts für Kommunalpolitik der NSDAP behielt Stümpfig, wie im Ernennungsantrag von Minister Schmid ausdrücklich festgestellt wurde 67 , bei, so daß von nun an sowohl die kommunale als auch die württembergische höhere Beamtenschaft unter seiner Personalaufsicht stand. Zugleich signalisierte der Wechsel auf dieser zentralen personalpolitischen Schlüsselposition im Innenministerium »unübersehbar den Beginn einer neuen Etappe in dem Bemühen der Stuttgarter Parteiführung, die Innenverwaltung vollends unter ihre Kontrolle zu bringen«. 68 Die Mitte 1940 ausgesprochene Beförderung zum Ministerialrat und damit zum - nach ihm und dessen rechter Hand, Ministerialdirektor Dill - ranghöchsten Beamten der württembergischen Innenverwaltung begründete Schmid ohne Umschweife damit, daß sich Stümpfig nicht nur »dienstlich in jeder Hinsicht ausgezeichnet bewährt«, sondern auch »der Bewegung Hubert Roser 698 64 In ihrem Schreiben an die Gauleitung vom 20. September 1934, ebd. 1938 ließ sich der Bürgermeister dazu bewegen, sein Amt niederzulegen und als Obersteuerinspektor in den Reichsfinanzdienst überzuwechseln. 65 Zum folgenden vgl. Ruck (wie Anm. 18), S. 117 f., 213; vgl. auch Ruck, Michael, Administrative Eliten in Demokratie und Diktatur. Beamtenkarrieren in Baden und Württemberg von den 20er Jahren bis in die Nachkriegszeit, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne; M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 37 - 69, hier S. 55 f.; Ruck, Michael, Kollaboration - Loyalität - Resistenz. Administrative Eliten und NS-Regime am Beispiel der südwestdeutschen Innenverwaltung, in: Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, hrsg. v. T. Schnabel, Ulm 1994, S. 124 - 151, hier S. 140. 66 Ruck (wie Anm. 18), S. 118. 67 Ernennungsantrag vom 23. März 1937, HSTAS, E 151/ 01, 125. 68 Ruck (wie Anm. 18), S. 118. <?page no="700"?> vor und nach der Machtübernahme hervorragende Dienste geleistet« habe. 69 Nur der Vollständigkeit halber sei angemerkt, daß Stümpfig nebenher auch einige lukrative Vorstands- und Aufsichtsratsposten ausübte: Er fungierte u.a. als »ständiger Vertreter« des Innenministers beim Statistischen Landesamt und saß seit 1933 im Vorstand der Landesdienststelle des Deutschen Gemeindetags 70 bzw. von 1937 bis 1945 im »Vorsteherrat« der Württembergischen Landessparkasse. Die bereits fest vorgesehene Ernennung zum Präsidenten der Württembergischen Gebäudebrandversicherung Ende 1944 71 kam infolge der Kriegsereignisse nicht mehr zustande. Als Kanzleidirektor und Personalreferent im Innenministerium konnte Stümpfig an seine Erfahrungen aus dem Kommunalbereich nahtlos anknüpfen. 72 Bei der Neubesetzung von Landratspositionen wurden die württembergischen Kreisleiter, die ihre Personalwünsche von Beginn an sehr energisch und mit Erfolg vorzubringen verstanden, im Gegensatz zu weiten Teilen Preußens selbst aber keinen Anspruch auf diesen Posten erhoben, von vornherein sorgsam in die personalpolitischen Abstimmungsprozesse miteinbezogen, um es möglichst gar nicht erst zu konfliktträchtigen Konstellationen kommen zu lassen. »Die Vorschläge auf Besetzung von Landratsstellen erfolgen immer im Einvernehmen mit dem Kreisleiter. Häufig liegt sogar ein entsprechender Wunsch des Kreisleiters vor«, teilte die Gauleitung dem Reichsinnenministerium zur württembergischen Praxis mit. 73 Waren die Auseinandersetzungen zwischen Landrat und Kreisleiter doch einmal so weit gediehen, daß eine weitere »Zusammenarbeit« aussichtslos erschien, entschärfte Stümpfig den Konflikt, indem er den Beamten früher oder später durch Versetzung auf ein anderes Oberamt oder einen der typischen Abschiebeposten in der Innenverwaltung aus dem politischen Schußfeld nahm. 74 Andererseits sorgte er dafür, daß höhere Beamte, die sich mit dem NS-Regime nicht zu arrangieren vermochten, auf dem ihnen einmal zugedachten Abstellgleis endgültig »hängenblieben«. 75 Das in zahlreichen Fällen nachweisbare Eintreten für politisch beanstandete Beamte war letztlich wohl ausschlaggebend dafür, daß Stümpfig bei der Entnazifizierung sowohl von seiten der früheren Kollegen im Ministerium als auch von Beamten, die unter seiner Ägide nachweislich zum Teil schwere berufliche Nachteile Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 699 69 Ernennungsantrag vom 22. November 1939, HSTAS, E 151/ 01, 126; Ruck (wie Anm. 18), S. 118. 70 »NS-Kurier«, Nr. 473, 9. Oktober 1935. 71 Siehe den Ernennungsantrag des MdI vom 17. November 1944, HSTAS, E 151/ 01, 859. 72 Zum folgenden vgl. Ruck (wie Anm. 18), S. 164 f. 73 Am 25. Oktober 1935, HSTAS, E 151/ 01, 2310; vgl. Ruck (wie Anm. 18), ebd. 74 Einschlägige Beispiele dazu bei Ruck (wie Anm. 18), S. 173 - 175, 210 f., 244 f.; vgl. auch die Aussagen der Landräte Theodor Kreeb und Otto Meditsch in Stümpfigs Spruchkammerverfahren, STALB, EL 903/ 2, 1006. 75 So monierte die Witwe des früheren Landrats Karl Rüdiger in Stümpfigs Spruchkammerverfahren, daß dieser das ihrem Mann seinerzeit gegebene Versprechen, ihm bei seinem beruflichen Fortkommen behilflich zu sein, niemals eingelöst habe. »Andere, der Partei angehörige Herren« hingegen seien befördert worden; Schreiben an die Spruchkammer, 21. April 1948, STALB, EL 903/ 2, 1006. Zu Rüdiger vgl. auch Ruck (wie Anm. 18), S. 175. <?page no="701"?> erlitten hatten, überwiegend positiv beurteilt wurde. Stümpfig wurde nicht als »Parteimann« ausgegrenzt, sondern es wurde ihm wiederholt zugute gehalten, sich »stets für die Belange der staatlichen Innenverwaltung eingesetzt und nie den einseitigen parteipolitischen Standpunkt vertreten« zu haben. 76 Er »war für seinen Posten unbedingt geeignet«, gerade »der richtige Mann auf diesem Platz [und] jeder Stelle im Ministerium, die er ausgefüllt hat, gewachsen«. 77 Stümpfig »erwies sich als guter Menschenkenner« und hatte »einen guten Überblick über die gesamte ihm unterstellte [sic! ] Beamtenschaft«. Ich lernte ihn als »überzeugten, aber gemäßigten Nationalsozialisten kennen«. Mit dem »radikalen Kreis um Murr pflegte er keine Gemeinschaft«. 78 Stümpfig hat »mir und vielen anderen Kollegen geholfen und durch Versetzung unsere Existenz gerettet«. »Einzig und allein Herrn Stümpfig habe ich es zu verdanken, daß ich damals wegen meiner Opposition zur Partei nicht meiner Pensionsansprüche verlustig ging«. 79 Solche Urteile, die sich noch beliebig ergänzen ließen, zeigen nur die eine Seite der Medaille und täuschen darüber hinweg, daß Stümpfig als Vertrauensmann der Partei in der württembergischen Innen- und Kommunalverwaltung über Jahre hinweg tatsächlich eine wirkungsvolle Kontroll- und Überwachungsfunktion ausgeübt hat. Sie sind zugleich beredte Zeugnisse für den über zwölf Jahre NS-Diktatur weitgehend ungebrochenen Korpsgeist und das Beharrungsvermögen der Beamtenschaft bis weit in die Kreise der württembergischen gehobenen Berufsbeamten hinein. 80 Daß Stümpfig ungeachtet seiner personalpolitischen Schlüsselposition im »Dritten Reich« nach 1945 als Beamter nur in relativ geringem Maße kompromittiert war, mag auch mit einem gewissen Machtverfall spätestens seit 1941/ 42 zusammengehangen haben. Die eigentliche Ursache hierbei dürfte gewesen sein, daß Stümpfigs maßgebende Fürsprecher innerhalb der Stuttgarter Gauleitung, Schmidt und Waldmann, bei Murr zusehends an Einfluß verloren und am Ende als politische Machtfaktoren weitgehend ausgeschaltet waren. Schmidt hatte bereits 1937 die entsprechenden Konsequenzen gezogen und war als neuer Leiter des Hauptschulungsamts in die Münchener NSDAP-Zentrale gewechselt, Waldmann wurde nach mehreren schweren Zusammenstößen mit Reichsstatthalter Murr 81 1942 auf den Posten des württembergischen Finanzministers abgeschoben. Obwohl Stümpfig zeitweise »zur engeren Jagdgesellschaft des Statthalters« gehörte 82 , gelang es ihm doch niemals, eine Hubert Roser 700 76 Oberregierungsrat Otto Wilderer, Personalreferent im MdI, zuletzt als stellv. Kanzleidirektor Stümpfig unmittelbar unterstellt, 9. Januar 1948, STALB, EL 903/ 2, 1006. 77 Präsident a.D. Gustav Himmel, bis 1937 als Kanzleidirektor Stümpfigs Amtsvorgänger, in der öffentlichen Sitzung am 19. Juli 1948, ebd. 78 Ministerialdirektor a.D. Gottlob Dill am 9. Juli 1948, ebd. 79 So - stellvertretend für die Kommunalbeamten - der Bürgermeister von Isny, Hermann Kinkele, am 11. September 1947, und Julius Holzschuh, Stadtamtmann in Heidenheim, am 9. Februar 1948, ebd. 80 Vgl. dazu eingehend Ruck (wie Anm. 18), zusammenfassend S. 257 - 266. 81 Sie sind dokumentiert in Waldmanns Spruchkammerakte, STALB, EL 902/ 20, 37/ 18/ 29680. 82 Aussage von Ministerialrat Karl Ströle in Stümpfigs Spruchkammerverfahren, 8. Januar 1948, STALB, EL 903/ 2, 1006. <?page no="702"?> persönliche Beziehung zu dem unnahbaren und persönlich rücksichtslosen Gauleiter aufzubauen. Auch wenn er als NS-Spitzenbeamter an entscheidender Stelle im Ministerium sicher gerne den »starken Mann« spielte, menschlich war er doch eher eine farblose Persönlichkeit mit einem Hang zur Bequemlichkeit, »ein gutmütiger, nicht gehässiger Charakter«. 83 Wie viele andere Schreibtischtäter des NS-Regimes hat Stümpfig dessen Terrormaßnahmen im ganzen bereitwillig mitgetragen, persönliche Gewaltanwendung jedoch stets verabscheut. Dies zeigte sich erstmals bereits im März 1933, als sich Stümpfig in seiner damaligen Funktion als Gerabronner Kreisleiter gegen die Mißhandlung jüdischer Einwohner durch SA-Leute persönlich verwahrte. 84 Im Herbst 1938 erhielt er erneut Gelegenheit, die Kehrseite der NS-Volksgemeinschaft persönlich kennenzulernen. Zweieinhalb Wochen mußte er als »Wachmann im KZ Dachau« Dienst tun, ehe es ihm gelang, wieder an seinen Schreibtisch im Innenministerium zurückzukehren. 85 Und auch eine Episode, die sich gegen Kriegsende zugetragen hat, soll hier nicht vorenthalten werden. Sie veranschaulicht, daß Stümpfig - im Kontrast zu manch anderen führenden Nationalsozialisten - den Untergang des »Dritten Reiches« wohl frühzeitig vorausgesehen, aus dieser Einsicht bis zuletzt aber keine persönlichen Konsequenzen ziehen wollte. Anläßlich des 125jährigen Bestehens der Württembergischen Landessparkasse im Jahre 1943 sollte Stümpfig als deren Vorstandsmitglied in einer zündenden Rede an das Zusammengehörigkeitsgefühl der »Gefolgschaft« appellieren. Sie gipfelte in dem peinlichen Versprecher, »wir müssen eben durchhalten bis zum bitteren Ende! « Obwohl Stümpfig den »Irrtum« sofort bemerkt und sich schleunigst verbessert habe, habe diese »Entgleisung [...] verständlicherweise« die »Heiterkeit des Personals« erregt, und »von diesem Tage an [sei] dieses Zitat im Betrieb zum geflügelten Wort« geworden. 86 Stümpfig übte seine Ämter in Partei und Staat bis zum Ende des »Dritten Reiches« aus. Am 30. Juni 1945 erfolgte auf Veranlassung der amerikanischen Militärregierung die Entlassung aus dem Staatsdienst, am 21. August 1945 die Einweisung in ein Internierungslager. 87 Bis 21. Juli 1948 verbrachte Stümpfig knapp drei Jahre in amerikanischer Internierungshaft. Zwei Tage zuvor war er von der Spruchkammer der Interniertenlager in Ludwigsburg in die Gruppe der »Belasteten« eingestuft worden. Er wurde zu zwei Jahren und drei Monaten Arbeitslager, die zum damaligen Zeitpunkt bereits verbüßt waren, und zum Einzug von 25 Prozent seines Vermögens bestraft. Zudem unterlag er fünf Jahre lang den üblichen Berufsbeschränkungen. Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 701 83 Charakterisierung durch Fritz Schwenninger, 17. Dezember 1947, STALB, EL 903/ 2,1006. 84 Vgl. zu diesem Vorfall Schnabel (wie Anm. 1), S. 406. 85 Ermittlungen der Amerikaner sowie eine persönliche Gegenüberstellung mit ehemaligen Häftlingen nach 1945 brachten keine Erkenntnisse; nach den Erhebungen der Spruchkammer, STALB, EL 903/ 2, 1006. 86 Aussage des Direktors der Württembergischen Landessparkasse Rupp in Stümpfigs Spruchkammerverfahren, 10. Dezember 1947, STALB, EL 903/ 2, 1006. 87 Zum folgenden vgl. Stümpfigs Spruchkammerakte, STALB, EL 903/ 2, 1006. <?page no="703"?> Durch Gnadenerweise des Ministerpräsidenten von Württemberg-Baden bzw. Baden-Württemberg wurden die letzten noch bestehenden Sühnemaßnahmen 1951 und 1953 aufgehoben. In welchen wirtschaftlichen Verhältnissen Stümpfig damals gelebt hat, ist nicht bekannt. Da er sich über sie nicht beklagte, dürften sie nicht so bedrohlich gewesen sein wie bei manch anderem früheren NS-Funktionär. Eine Fortsetzung bzw. Wiederaufnahme der Beamtenlaufbahn kam für den Anfang der 50er Jahre mittlerweile 63jährigen naturgemäß kaum mehr in Frage. Von großem Interesse indes waren der Erhalt einer Pension im Zusammenhang mit der Anerkennung als »131er« 88 sowie bei der Berechnung des zu erwartenden Ruhegehalts vor allem die Frage der Berücksichtigung der seinerzeitigen Beförderung in die höhere Dienstlaufbahn. Hierbei erzielte Stümpfig einen nicht unbeachtlichen Teilerfolg. 89 Die Beförderungen zum Regierungsrat, Oberregierungsrat und Ministerialrat blieben zwar wegen der »engen Verbindung zum Nationalsozialismus« formal unberücksichtigt. Es wurde ihm jedoch ohne weiteres zugute gehalten, daß aufgrund seiner »Befähigung und Leistungen« und »bei regelmäßigem Verlauf seiner Dienstlaufbahn« bis 1939 der Aufstieg von der gehobenen in die höhere Dienstlaufbahn unterstellt werden könne, so daß für die Berechnung des Ruhegehalts letztendlich doch die Bezüge eines Regierungsrats zugrunde gelegt wurden. Eine durchaus wohlwollende Interpretation von Stümpfigs Karriereverlauf, so möchte man meinen, besonders wenn berücksichtigt wird, daß Stümpfig bis 1933 die Stelle eines Bürgermeisters versehen hatte und ein Übertritt in den gehobenen Staatsdienst unter anderen als den damaligen Bedingungen aus naheliegenden Gründen wohl kaum zur Debatte gestanden hätte. Mit Wirkung vom 1. November 1953 wurde Stümpfig für dienstunfähig erklärt. Von da an bis zu seinem Tode am 5. Dezember 1966 lebte er, von seinen ehemaligen Beamtenkollegen weitgehend vergessen, zurückgezogen als Pensionär in Crailsheim. Hubert Roser 702 88 Zum Hintergrund vgl. Wengst, Udo, Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948 - 1953, Düsseldorf 1988; Langhorst, Wolfgang, Beamtentum und Artikel 131 des Grundgesetzes. Eine Untersuchung über Bedeutung und Auswirkung der Gesetzgebung zu Artikel 131 des Grundgesetzes unter Einbeziehung der Position der SPD zum Berufsbeamtentum, Frankfurt/ Main u.a. 1994. 89 Die nachfolgenden Vorgänge basieren auf Stümpfigs Nachkriegs-Personalakte, HSTAS EA 2/ 150, 1736. <?page no="704"?> Bibliographie Quellen Die Quellenlage zu Georg Stümpfig ist im ganzen uneinheitlich und nur schwer zu überblikken. Während wichtige personenbezogene Quellen fehlen, sind umfangreiche Bestände an Sachakten überliefert. Nahezu alle Personalunterlagen aus der NS-Zeit, sowohl was die Verwaltungsals auch die Parteiseite angeht, wurden (teilweise von ihm selbst) bei Kriegsende vernichtet. Es existieren lediglich die zur Klärung seiner Pensionsansprüche angelegte Nachkriegspersonalakte sowie eine Versorgungsakte, die die Zeit bis zum Ausscheiden aus dem Kommunaldienst 1933/ 34 abdeckt. Weitaus höheren Informationswert besitzen die offenbar vollständig erhaltenen Verwaltungsakten seiner Dienststelle im württembergischen Innenministerium - nach Gemeinden gegliederte »Stellenakten« und Personalakten von Bürgermeistern und Gemeindebeamten (Bestände E 151/ 42 und E 151/ 43 im HSTAS). Und auch die Hauptetappen seiner Karriere als NS-Spitzenbeamter seit 1933 lassen sich aus den einschlägigen Stellenakten der württembergischen Innenverwaltung weitgehend rekonstruieren. Stümpfigs Funktion als Kanzleidirektor und Personalreferent von Innenminister Schmid seit 1937 spiegeln ferner die in großer Zahl erhaltenen Personalakten der württembergischen höheren Staatsbeamten wider (ausgewertet durch: Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein, München 1996). Knappe Hinweise zu Stümpfigs Parteitätigkeit, darunter die Ernennung zum Gauamtsleiter für Kommunalpolitik, enthalten die Personalunterlagen beim früheren Document Center (jetzt BA, Abt. III) sowie die Spruchkammerakte. Die Akten des Gauamts für Kommunalpolitik sind wie fast die gesamten württembergischen Parteiakten auf Gauebene vernichtet. Ihr früherer Umfang dürfte indes kaum erheblich gewesen sein, da sich Stümpfig mehr als Exponent der Verwaltung betrachtete und den Geschäftsbetrieb als Gauamtsleiter vornehmlich von seinem Schreibtisch im Innenministerium erledigte. Einen gewissen Ersatz leistet hier auch Stümpfigs Korrespondenz mit dem Münchener Hauptamt für Kommunalpolitik, die im Koblenzer Bundesarchiv aufbewahrt wird (BA NS 25/ 391 - 96). Schriften - Zur neuen Gemeindeordnung, in: NS-Gemeindezeitung für Südwestdeutschland 3 (1935), S. 42 - 45. - Stellung und Aufgaben der Beauftragten der NSDAP in der Gemeindeverwaltung, in: NS-Gemeindezeitung für Südwestdeutschland 3 (1935), S. 205 f. - Wege zwischengemeindlicher Zusammenarbeit, in: Die Landgemeinde Ausgabe (D) 60 (1937), S. 249 - 55. Literatur Weder der NS-Parteifunktionär noch der hohe Ministerialbeamte Stümpfig vermochten bisher die Aufmerksamkeit der zeitgeschichtlichen Forschung zu wecken. Lediglich Thomas Schnabel geht in seinem Standardwerk »Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1928 - 1945/ 46«, Stuttgart u.a. 1986, kurz auf Stümpfig ein. Dessen führende Rolle als Chefexekutor der NS-Personalpolitik in Württemberg haben neuerdings die Arbeiten von Michael Ruck und Georg Stümpfig, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 703 <?page no="705"?> Hubert Roser herausgearbeitet. Rucks Habilitationsschrift »Korpsgeist und Staatsbewußtsein - Beamte im deutschen Südwesten 1928 bis 1972«, München 1996, liegt seit kurzem vor, meine Dissertation »Nationalsozialistische Personalpolitik und regionale Verwaltung in Südwestdeutschland 1933 - 1939« erscheint 1997 bei Oldenbourg. Erste Hinweise auf Stümpfig liefern auch die Beiträge von Ruck und Roser in dem von Cornelia Rauh-Kühne und Michael Ruck herausgegebenen Sammelband »Regionale Eliten zwischen Demokratie und Diktatur - Baden und Württemberg 1930 - 1952«, München 1993. Hubert Roser 704 <?page no="706"?> Zwischen Heimaterde und Reichsdienst Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz Katja Schrecke *6. August 1899 Offenburg, kath., Kirchenaustritt, Vater: Karl Josef Wacker, Architekt und Stadtbaumeister, Mutter: Anna Wacker, verheiratet seit 11. Juli 1931 mit Mercedes Wacker, geb. Heinrich, drei Kinder. Volksschule und Gymnasium, 1917 Kriegsabitur, 1917/ 1918 Kriegsteilnehmer als Gefreiter und Geschützführer, nach dem Krieg Studium der Architektur bis zum Abschluß der Diplom-Vorprüfung, dann Studium der Neueren Deutschen Literaturgeschichte, der Germanischen Philologie und der Kunstgeschichte in Freiburg i. Br., 1928 Promotion zum Dr. phil., 6. Mai 1933 Minister für Kultus, Unterricht und Justiz in Baden, 1933 - 1934 MdR (NSDAP), 1. Januar - Frühjahr 1939 Leiter des Amtes Wissenschaft im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 1937 - 1940 Erster Vizepräsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. 3. Dezember 1925 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 22.948), 1. April 1928 Hauptschriftleiter des »Führer«, 1. Juni 1929 Mitglied der SA, 1931 - 1933 Leiter der Pressestelle der NSDAP, Dezember 1933 Mitglied der SS, 1937 SS-Oberführer beim Stab RFSS. Gest. 14. Februar 1940 in Karlsruhe. Als Otto Wacker am 17. Februar 1940 auf dem Friedhof seiner Geburtsstadt Offenburg beigesetzt wurde, würdigte Gauleiter Robert Wagner den Verstorbenen als einen »wahre[n] Nationalsozialist[en]« und eine »wahre Führerpersönlichkeit« 1 . Willensstärke, Zielstrebigkeit und Ehrgeiz hatten Wacker in seinem kurzen Leben zu einer beachtlichen Karriere verholfen: Bereits seit Mitte der 20er Jahre in der Otto Wacker 705 1 »Der Führer« Jg. 14 Nr. 48, 18. Februar 1940, StAOG. <?page no="707"?> nationalsozialistischen Bewegung aktiv, entschied er sich nach Abschluß seines Studiums für einen beruflichen Einstieg in die regionale NS-Presse, gelangte nach der Machtergreifung als »alter Kämpfer« in sein Karlsruher Ministeramt und wurde schließlich sogar in die Reichshauptstadt Berlin berufen, um von dort aus in verantwortungsvoller Position die Wissenschaftspolitik des »Dritten Reiches« mitzugestalten. Otto Wacker wurde am 6. August 1899 in Offenburg geboren. Er war das einzige Kind von Karl Josef und Anna Wacker. Der Vater arbeitete als Architekt, zunächst als Angestellter, dann als Selbständiger, und beendete seine Laufbahn 1916 schließlich als Stadtbaumeister von Offenburg. Zu den entfernteren Verwandten der katholischen Familie zählte auch der Gründer und langjährige Führer der badischen Zentrumspartei, der Geistliche Rat Theodor Wacker. Von 1907 bis 1909 besuchte Wacker die Volksschule seiner Geburtsstadt und wechselte 1909 auf das humanistische Gymnasium. Sein letztes Schuljahr (1916 - 1917) verbrachte er auf dem Gymnasium in Donaueschingen. Im Juni 1917 wurde er als Grenadier zum Heeresdienst eingezogen, konnte aber im Juli zur außerordentlichen Kriegsreifeprüfung beurlaubt und zugelassen werden und bestand das Abitur. Von September 1917 bis zum 1. April 1919 war Otto Wacker als Freiwilliger Kriegsteilnehmer und Frontkämpfer beim Badischen Fußartillerie-Regiment Nr.14. 2 Als ungedienter Landsturmmann trat er seinen Dienst am 25. September 1917 beim 1. Rekrutendepot Ersatzbataillon Fußartillerie-Regiment 14 in Straßburg an und absolvierte erfolgreich einen Offiziersaspirantenkurs. Am 17. Februar 1918 wurde der junge Soldat zur 6. Batterie Landwehr-Fußartillerie-Bataillon 14 versetzt. Er nahm an Kämpfen in Belgisch-Flandern, an der Yper, am Ypernbogen und im Houthoulster Wald teil und kämpfte in der April-Schlacht 1918. 3 Später diente er bei der 1. und anschließend bei der 5. Stammbatterie des Regiments. In den Monaten von Oktober 1918 bis Januar 1919 wurde Wacker zweimal für mehrere Wochen ins Lazarett eingeliefert. Seine Entlassung nach Offenburg erfolgte im April 1919. 4 Für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg wurde er mit dem EK II und dem Frontkämpferkreuz ausgezeichnet. Seine Kriegsaufzeichnungen 5 machen deutlich, daß Wacker seine freiwillige Teilnahme am Krieg und seine Soldatenrolle mit Stolz betrachtete und darin vom Vater bestärkt wurde, der seinen Sohn als pflichtbewußtes »Glied der kämpfenden Ge- Katja Schrecke 706 2 Vgl. handschriftlicher Lebenslauf vom 17. April 1934, Personalakte Dr. Otto Wacker, GLA 235/ 37452, Bl. 7. Zu Theodor Wacker siehe Bender, Helmut; Sepaintner, Fred, Wacker, Theodor, in: Badische Biographien N.F. Bd. 2, hrsg. v. B. Ottnad, Stuttgart 1987, S. 294-297. 3 Vgl. Wacker, Otto, in: Badisches Geschlechterbuch Bd. 1 (Deutsches Geschlechterbuch 81), Görlitz 1934, S. 460 - 596, hier S. 502. 4 Vgl. Abschrift des Militärpasses, GLA 235/ 37452, Bl. 12. 5 Vgl. »Der Führer« Jg. 16 Nr. 45, 14. Februar 1942, S. 3. <?page no="708"?> meinschaft« 6 sehen wollte. Die in dieser Zeit verinnerlichte soldatische Haltung und Gesinnung, nach der die Verteidigung des Vaterlandes erste Pflicht war, verließ Wacker nie mehr. Von August 1923 bis zum Dezember 1927 war er Mitglied im Freikorps »Damm«, 1935 nahm er an mehreren Lehrgängen der Wehrmacht teil und wurde 1936 Leutnant der Reserve 7 , und als er 1939, nur wenige Monate vor seinem Tod, bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes nicht mit einrücken konnte, soll er eigens den Regimentskommandeur in den Bunkerstellungen am Oberrhein aufgesucht haben, um »seiner Hoffnung Ausdruck zu geben, in Bälde auch beim Regiment sein zu können.« 8 Dem Beispiel seines Vaters folgend, immatrikulierte sich Wacker im Februar 1919 an der Technischen Hochschule Fridericiana in Karlsruhe, um Architektur zu studieren, konnte das Studium jedoch erst Ende des Sommersemesters 1919 aufnehmen. Am 3. Oktober 1921 legte er die Diplom-Vorprüfung ab, hatte aber bereits den Vorsatz gefaßt, sein Studienfach zu wechseln. Vom Wintersemester 1921/ 22 bis zum Sommersemester 1926 war Wacker bei der Philosophischen Fakultät der Albert- Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau eingeschrieben und studierte Neuere Literaturgeschichte, Germanische Philologie und Kunstgeschichte. Am 13. April 1928 wurde er zum Dr.phil. promoviert. Thema seiner Dissertation war die groteske Satire bei Johann Fischart (1545-1614), einem alemannischen Dichter aus Straßburg, der in seinen Werken gegen das Papsttum und den Jesuitenorden zu Felde gezogen war. Wacker unterbrach sein Studium immer wieder, um diversen bezahlten Tätigkeiten nachzugehen. 9 So fand er in seiner Karlsruher Zeit eine Stelle als Zeichner und Hilfsbauführer in einem Architekturbüro und arbeitete später in den verschiedensten Berufen als Hilfskraft, unter anderem als Schmied, Schlosser, Heizer, Erdarbeiter, als Streckenarbeiter bei der Eisenbahn und als Bremser. Auch in der Landwirtschaft und im Weinbau war er beschäftigt. Angesichts der schwierigen finanziellen Lage nach dem frühen Tod des Vaters im Jahre 1918 war er gezwungen, den Lebensunterhalt nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Mutter zu verdienen. In seinem Lebenslauf schrieb er: »Da meine Mutter 69jährig, nicht erwerbsfähig und ohne Pension lebt, zwang mich weniger die Neigung, als die Notwendigkeit, mein Studium zu unterbrechen und Umwege zu machen.« 10 Als es im Zusammenhang mit seiner Dissertation zwischen den verantwortlichen Prüfern, den Professoren Witkop und Wilhelm zu Streitigkeiten über die Anerkennung der Arbeit kam, legte ersterer wegen der besonders schwierigen Situation des Doktoranden ein gutes Wort für Wacker ein: »Eine völlige Ablehnung würde dem Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 707 6 »Der Führer« Jg. 16 Nr. 45, 14. Februar 1942, S. 3. 7 Vgl. Fragebogen o.O., o.J., GLA 235/ 37452, Bl. 9. 8 Grüninger, H[ans] A., Otto Wacker, in: Straßburger Monatshefte 6 (1942), S. 76-79, hier S. 78. 9 Vgl. Otto Wacker, Lebenslauf o.O., o.J., UAFR B 42/ 69. 10 Otto Wacker, Lebenslauf o.O., o.J., UAFR B 42/ 69. <?page no="709"?> jahrelangen Fleiß und der besonders ungünstigen persönlichen Lage des Verfassers Unrecht tun. Er hatte als Kriegs- und Werkstudent seine Mutter zu ernähren«. 11 Professor Wilhelm hatte sich anfänglich scharf gegen die Annahme der Dissertation Wackers gewandt, da dieser nach Jahren des Studierens offensichtlich nicht einmal die Grundzüge wissenschaftlichen Arbeitens beherrschte: »Leute, welche keine Begriffe vom wissenschaftlichen Zitieren haben, sind nicht reif für die Promotion.« 12 Schließlich einigte man sich darauf, dem Verfasser die Dissertation zur Überarbeitung zurückzugeben. Ende des Jahres 1927 wurde die korrigierte Fassung angenommen, letztlich jedoch nur mit dem Prädikat »laudabilis« bewertet. Otto Wackers wenig erfolgreich abgeschlossene Universitätslaufbahn war aber sic herlic h n icht nur auf die Tatsa che zurüc kzu füh ren, daß er neben sein em Studi um erwerbstätig sein mußte. Einen Großteil seiner Energie und seiner Zeit steckte er als leidenschaftlicher Vorkämpfer für die Ziele der NSDAP nämlich schon früh in Aktivitäten, die dem Aufbau der jungen nationalsozialistischen Bewegung in seiner Geburtsstadt dienten. Neben der Teilnahme am Ersten Weltkrieg scheint für den jungen Mann vor allem die Besetzung seiner Heimatstadt Offenburg durch die Franzosen im Februar 1923 das Schlüsselerlebnis gewesen zu sein, welches sein Engagement im Dienst der nationalsozialistischen Belange und für »Deutschlands Wiederaufstieg« 13 schon in der sogenannten »Kampfzeit« beförderte: »Stand da eines Tages vor dem Elternhaus auf dem Gehweg ein französischer Reiter. Das war einer jener Augenblicke im Leben, die immer haften bleiben. Es war in Offenburg am 4. Februar 1923, an einem Sonntagmorgen. Von diesem Augenblick an gehörte ich der Politik und machte nebenher Examina.« 14 Freilich nahm sich sein Engagement gegen den »Feind« zunächst eher wie die trotzige Reaktion eines vorlauten, draufgängerischen Jugendlichen aus, indem er etwa ein von den Franzosen am Portal des Offenburger Rathauses angeschlagenes Plakat entfernte 15 oder am Schriftleiter des Offenburger Tageblatts mit dem Anliegen scheiterte, in der Zeitung eine Anzeige aufzugeben, in der Frauen und Mädchen, die sich mit französischen Soldaten einließen, von den »Werwölfen 16 mit harter Strafe bedroht wurden. Katja Schrecke 708 11 Schreiben Witkops, 1. Februar 1927, UAFR B 42/ 69. 12 Schreiben Wilhelms, 26. Januar 1927, UAFR B 42/ 69. 13 Zehn Jahre NSDAP Ortsgruppe Offenburg 1924 -1934. Festbuch zur 10jährigen Gründungsfeier am 17. und 18. März 1934, Offenburg 1934, StAOG 13/ 402, S. 1. Zu Offenburg allgemein vgl. Kähni, Otto, Offenburg und die Ortenau. Die Geschichte einer Stadt und ihrer Landschaft, Offenburg 1976. 14 Zit. nach: Grüninger (wie Anm. 8), S. 76-77. Wenn auch anläßlich eines Nachrufes in der Rückschau möglicherweise publikumswirksam etwas überspitzt formuliert, ist dieses Zitat im Kern sicherlich wahr. 15 Vgl. Grüninger (wie Anm. 8), S. 76, sowie Zehn Jahre NSDAP Ortsgruppe Offenburg, StAOG 13/ 402, S. 3. 16 Zehn Jahre NSDAP Ortsgruppe Offenburg, StAOG 13/ 402, S. 4. Die Schilderung der weiteren Vorgänge um die Ortsgruppe Offenburg bezieht sich ebenfalls auf diese Festschrift. <?page no="710"?> Eine Arbeit in großem Stil war zunächst ohnehin nicht möglich, da die NSDAP noch verboten war und eine Fühlungnahme mit Gleichgesinnten sich deshalb schwierig gestaltete. Dennoch gelang es Wacker, unter Mithilfe zweier Freunde allmählich einen kleinen Kreis junger Männer um sich zu versammeln, und am 15. März 1924 gründeten sie unter dem Decknamen »Deutsche Partei« die Ortsgruppe Offenburg der NSDAP. Wacker gab auch in der folgenden Zeit als Ortsgruppenführer den Ton an. Vor der Reichstagswahl im Mai 1924 organisierte er nächtliche Propagandaaktionen für den »Völkisch-Sozialen Block«, die im Verteilen von Flugblättern und im Kleben von Plakaten bestanden. Das für die Agitation ausgegebene Geld wurde in Haus- und Geschäftssammlungen wieder eingenommen, wobei Wakker die potentiellen Spender trickreich zur Großzügigkeit zu animieren wußte, indem er vorab Sammlungslisten mit höheren Nummern aufsetzte und große Beträge als bereits gegebene Spenden eintrug. Nach den Reichstagswahlen, bei denen die Nationalsozialisten in Offenburg einen Stimmenanteil von 1,6% erzielt hatten, stellte Wacker, inzwischen zum Gauleiter von Offenburg 17 aufgestiegen, die Arbeit der Ortsgruppe mit dem Ziel der Wählererfassung und der Mitgliedergewinnung um. Er begann, ein Kassenbuch zu führen; man legte den Grundstock für eine kleine Bibliothek, und sogar eine Zeitung, der »Völkische Kämpfer«, wurde in 30 Exemplaren vertrieben. Nachdem am 18. August 1924 die Franzosen aus Offenburg abgezogen waren, wurde am 4. September eine vorerst auf Geheimarbeit eingestellte neue Ortsgruppe gegründet. Wacker und der bisherige Ortsgruppenleiter, die die führenden Köpfe der ersten Stunde gewesen waren, traten zurück, um älteren und repräsentativeren Personen den Weg an die Spitze freizumachen. Sie konnten ihren Nachfolgern eine Ortsgruppe mit 35 Mitgliedern und 55 Abonnenten des »Völkischen Kämpfers« übergeben. Die offizielle Gründung der Ortsgruppe Offenburg der NSDAP fand nur wenige Tage später, am 15. September 1924, statt. Wacker blieb der Ortsgruppe in den folgenden Jahren treu. Er organisierte Vortragsabende, bei denen er auch selbst sprach, er hielt Versammlungen in der Umgebung ab, um weitere Mitglieder für die nationalsozialistische Bewegung zu gewinnen, und er brachte das erste Exemplar von Hitlers »Mein Kampf« nach Offenburg, um den Parteigenossen regelmäßig daraus vorzulesen. Daneben gehörte er auch der nationalsozialistischen Studentengruppe in Freiburg an und schrieb von Zeit zu Zeit Berichte für den »Völkischen Beobachter« und den »Südwestdeutschen Beobachter«. Wackers engagierte Arbeit für die nationalsozialistische Bewegung und ihre Presse scheint auch den damaligen Gauleiter Robert Wagner auf den jungen Mann aufmerksam gemacht zu haben. Wagner, Herausgeber des seit November 1927 wöchentlich erscheinenden »Führer« 18 , hatte schon in der Vorbereitungsphase mit Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 709 17 Das entsprach 1934 etwa dem Kreisleiter für die Bezirke Offenburg und Oberkirch. 18 »Der Führer, Das Badische Kampfblatt für nationalsozialistische Politik und deutsche Kultur« war das Hauptorgan der NSDAP im Gau Baden. <?page no="711"?> Wacker Kontakt aufgenommen und ihn dann als ehrenamtlichen Mitarbeiter eingestellt, der auch zum Schriftleitungsstab gehörte. 19 Nachdem im Februar 1928 der bisherige Hauptschriftleiter des »Führer« verstorben war, trat Wagner im März an Wacker mit der Frage heran, ob er bereit sei, dessen Nachfolge zu übernehmen. Wacker, der seine berufliche Zukunft bisher im Archiv- oder Bibliothekswesen gesehen hatte, kam in seinen durchaus realistischen, abwägenden Überlegungen (wie er sie zumindest in der Rückschau darstellte), zu dem Schluß, daß die ihm angebotene Stellung zwar »den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu der gesamten damaligen Umwelt bedeuten würde und daß es auch im Falle eines Mißerfolgs kein Zurück mehr geben konnte.« 20 Dennoch entschied er sich für den »Führer«, da er der Ansicht war, eine berufliche Befriedigung nur im Umkreis der nationalsozialistischen Bewegung finden zu können, und so trat er sein Amt am 1. April 1928 in Karlsruhe an. Die Anfangszeit war schwierig, denn sowohl finanzielle als auch technische Mittel standen so gut wie überhaupt nicht zur Verfügung. Wacker schrieb später, es sei gerade die Aussichtslosigkeit des Unternehmens gewesen, die ihn zur Annahme dieser Herausforderung bewegt habe 21 , und ohne Zweifel war es vor allem seiner Tatkraft und Willensstärke zuzuschreiben, daß es seit Ende des Jahres 1928 mit dem »Führer« bergauf ging. Die Auflage stieg, der Umfang erhöhte sich, die Zahl der Abonnenten und Inserenten vergrößerte sich stetig, und es mußten zusätzliche Mitarbeiter gewonnen werden. Im August 1930 wurde aus der Wocheneine Halbwochenschrift, und nicht einmal ein halbes Jahr später erschien »Der Führer« schon als Tageszeitung. 22 In einem Artikel zum zehnjährigen Jubiläum der Zeitung vertrat Wacker ganz offen die Ansicht, daß die Presse bewußt als Mittel zur Lenkung der Massen eingesetzt werden sollte: »Die Presse muß ein Hammer sein, der das deutsche Eisen unaufhörlich schmiedet und formt in Tagschicht und Nachtschicht.« 23 An diese Maxime hat er sich während seiner Zeit als Hauptschriftleiter auch stets gehalten, indem »Der Führer« journalistische Agitation gegen alles trieb, was der Weltanschauung der Nationalsozialisten widersprach oder sich ihnen in den Weg stellte. Daß dabei bisweilen die Grenzen des Gesetzes überschritten wurden, belegen die mehrfach ausgesprochenen Verbote und Beschlagnahmungen des Blattes, die zahlreichen Anzeigen gegen den Hauptschriftleiter sowie die Prozesse, denen sich Wacker als pressegesetzlich und strafrechtlich Verantwortlicher stellen mußte. Als Wacker 1933 zum Kultusminister ernannt wurde, hatte er bereits mehr als 30 mal vor Gericht gestanden und war fünfmal auch verurteilt worden. 24 Katja Schrecke 710 19 Vgl. »Der Führer« Jg. 10 Nr. 26, 26. Januar 1936, S. 4. 20 »Der Führer« Jg. 10 Nr. 26, 26. Januar 1936, S. 4. 21 Vgl. »Der Führer« Jg. 7 Nr. 159, 11. Juni 1933, S. 4. 22 Vgl. »Der Führer« Jg. 6 Nr. 281, 1. November 1932, S. 3. 23 »Der Führer« Jg. 11 Nr. 301, 1. November 1937, Sonderbeilage, S. 5. 24 Vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten, ZM 831 A. 11. <?page no="712"?> Besonders aufsehenerregend war der Prozeß um einen Artikel des »Führer« vom 16. März 1932. Darin waren die Zentrumsabgeordneten Ernst Föhr, Edmund Kaufmann und Carl Diez beschuldigt worden, an einer Beratung der südbadischen Zentrumsführer teilgenommen zu haben, in der der Plan ausgesprochen worden sei, im Falle der Wahl Hitlers zum Reichspräsidenten »die Errichtung eines rein katholischen Staates im Süden unter Zerschlagung des Reiches« 25 durchzusetzen. Die Schriftleitung hatte deshalb gegen die drei genannten Politiker Anzeige auf dringenden Verdacht des Hoch-und Landesverrats beim Oberreichsanwalt erstattet, der diese jedoch niederschlug. Wacker wurde vom Gericht wegen öffentlicher übler Nachrede eine Haftstrafe von fünf Monaten auferlegt, die später allerdings auf drei Monate reduziert wurde. Weniger spektakulär, aber dennoch aufschlußreich sind auch die weiteren Begegnungen Wackers mit der Justiz im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Hauptschriftleiter. Er wurde zu Geldstrafen von 50, 100 und zweimal 600 RM verurteilt, weil im »Führer« wiederholt Artikel erschienen, die die übelste Verunglimpfung des Badischen Landtags, der demokratischen Parteien sowie ehemaliger Regierungsmitglieder 26 zum Ziel hatten. Zahlreiche ähnliche Fälle wurden häufig mit einem Vergleich und einer im »Führer« abgedruckten Richtigstellung abgeschlossen. Zwar war keiner der fraglichen Artikel von Wacker persönlich verfaßt worden, aber als Schriftleiter hatte er den Charakter der Zeitung wesentlich bestimmt und muß über den Inhalt der veröffentlichten Beiträge informiert gewesen sein. Daher kann man ihn durchaus auch persönlich für die verleumderischen und aufhetzenden Artikel verantwortlich machen, zumal seine eigenen Produktionen für den »Führer« nicht selten in demselben polemischen Ton verfaßt waren und sich auf einem ähnlich niedrigen Niveau bewegten. 27 Wackers kämpferisches und engagiertes Wirken im Dienste der nationalsozialistischen Idee wurde 1933 schließlich belohnt. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Baden wurde er am 11. März 1933 für das Kultus- und Unter- Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 711 25 »Der Führer« Jg. 6 Nr. 75, 16. März 1932, S. 1. 26 Ein besonders unschönes Beispiel war der Artikel im »Führer« Jg. 3 Nr. 14, 16. April 1929, S. 3, GLA 270/ 944, über den ehemaligen Reichsfinanzminister Köhler. In beleidigender und demütigender Weise wurden schwere Vorwürfe gegen ihn erhoben Ein Zitat aus besagtem Artikel mag den Tonfall verdeutlichen: »Treten Sie ab, Herr Köhler, Sie haben sich und Ihre Partei blamiert. [...] Bringen Sie wenigstens das Gefühl dafür auf, daß die Uhr eines Politikers abgelaufen ist, wenn er in finanziellen Dingen so gefährlich daneben greift, wie Sie, Herr Dr. h.c. Das Volk hat diese Menschen satt bis zum Erbrechen.« 27 Insbesondere die Zentrumspartei stellte für Wacker immer wieder ein beliebtes Angriffsziel dar. In seinem Artikel »Der verfahrene Karren« im »Führer« Jg. 5 Nr. 192, 12. September 1931, S. 1, heißt es: »Das Einzige, was beim Zentrum überhaupt ins Gewicht fällt, ist eine Überheblichkeit und ein Ehrgeiz nach irdischer Macht, die schon an jenen Geisteszustand grenzen, der von seeligen Griechen mit dem bösen Wort ›Hybris‹ bezeichnet wurde. Was die Zentrumspartei heute so schwer macht und ihr Asthma täglich verschlimmert, ist die Tatsache, daß sie liberale pazifistische Außenpolitik, marxistische Innenpolitik, kapitalistische Wirtschaftspolitik treiben muß - mangels eines eigenen Programms, mangels eigener Ideen.« <?page no="713"?> richtsministerium, am 17. April 1933 auch für das Justizministerium zunächst als kommissarischer Leiter eingesetzt. Am 6. Mai 1933 wurde er dann zum Minister für die Ressorts Kultus und Unterricht und Justiz ernannt, und seit dem 8. Mai 1933 hatte er auch das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten inne. Mitglied des Reichsrates war Wacker vom 6. Mai 1933 bis zum 14. Februar 1934. Seit 1933 war er auch Mitglied des Reichstages. Justizminister blieb Wacker bis zur Verreichlichung der Justiz am 1. Januar 1935, das Amt des Kultusministers übte er bis zu seinem plötzlichen Tod im Februar 1940 aus. 28 Da Wacker bereits seit 1923 für die Partei aktiv gewesen war und stetig auf die Machtübernahme hingearbeitet hatte, stellten sich die Ereignisse in den ersten Monaten des Jahres 1933 für ihn natürlich als zumindest vorläufiger Höhepunkt seiner Karriere dar, der über jeden Zweifel erhaben war. Schon Wackers Auftreten anläßlich der Übernahme der Amtsgeschäfte des noch amtierenden Kultusministers Eugen Baumgartner am 11. März 1933 zeigte, daß er sich mit den Methoden und Machtinstrumenten des neuen Regimes identifizierte, indem er gemeinsam mit vier Polizeibeamten und ebensovielen SS-Männern im Kultusministerium erschien. 29 Auch wenn diese, wie Wacker es bezeichnete, »persönliche […] Begleitung« 30 auf seinen Befehl alsbald wieder das Haus verließ, konnte schon angesichts der Stärke der Mannschaft kein Zweifel darüber bestehen, daß es sich hier um eine Machtdemonstration und einen kalkulierten Einschüchterungsversuch handelte. Mit welcher selbstbewußten Einstellung Wacker seine neue Tätigkeit anging, mag seine Antrittsrede 31 als Justizminister verdeutlichen: Nicht ohne einen gewissen Stolz wies er auf seine Erfahrungen als »Prozeßbeteiligter« hin und meinte, von dieser Warte des »Volksgenossen« aus, die Rechtspflege im Sinne der neuen Ordnung günstig beeinflussen zu können. Gleichzeitig ließ er keinen Zweifel aufkommen, daß die Justiz ihre Entscheidungen künftig dem nationalsozialistischen Prinzip der Erhaltung der Volksgemeinschaft und des Staates unterzuordnen habe. Gerade in seiner Tätigkeit als Justizminister war Wacker jedoch größtenteils auf den bereits vorhandenen Justizapparat angewiesen. Er versuchte, diesem »Mangel« einserseits durch Urteilsschelte 32 bei unliebsamen Entscheidungen entgegenzutreten, andererseits die Beamten durch geeignete Maßnahmen 33 und sanften Druck für Katja Schrecke 712 28 Zur Machtübernahme in Baden vgl. Rehberger, Horst, Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/ 33 (Heidelberger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen N.F. 19), Heidelberg 1966, hier S. 142 ff. 29 Vgl. Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts, Staatskommissar, 17. März 1933, GLA 235/ 8123, Bl. 159. 30 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts, Staatskommissar, 17. März 1933, GLA 235/ 8123, Bl. 160. 31 Rede Wackers zu seinem Amtsantritt als Justizminister, in: Badisches Justizministerialblatt 23/ 9, 27. April 1933, S. 55 - 57. 32 Vgl. Schiller, Christoph, Das Oberlandesgericht Karlsruhe im Dritten Reich, Diss. iur. [Masch.] Heidelberg 1995, S. 34 f. 33 Dazu gehörten z.B. die »erwünschte« Teilnahme an Parteikundgebungen. Vgl. Schiller (wie Anm. 32), S. 41 - 42. <?page no="714"?> den neuen Staat einzunehmen. Dabei kam es immer wieder zu Konflikten zwischen dem Minister und der Partei, die hier wie auch bei der Stellenbesetzung ein härteres Durchgreifen verlangte, was dazu führte, daß Wacker hin und wieder seinen Führungsanspruch bekräftigen mußte. Er betonte, daß es unumgänglich sei, Nichtparteimitglieder in gewissen Positionen zu belassen, und bemühte sich, auch Beamte, die nicht der NSDAP angehörten, für die Arbeit im neuen Staat zu gewinnen. 34 Wackers gemäßigtem Kurs lag die Einsicht zugrunde, daß die Regierung auf ein bestimmtes Kontingent an qualifizierten Fachkräften angewiesen war. Deshalb warnte er - auch im Hinblick auf mögliche öffentliche Kritik - davor, bei der Stellenbesetzung das Leistungsprinzip zu vernachlässigen und ausschließlich nach Parteibuch und Parteinummer zu entscheiden: »Die Öffentlichkeit würde es nie verstehen, wenn wir, die wir in den langen Jahren des Kampfes gegen das Parteibuchbeamtentum der vergangenen Systemparteien Sturm gelaufen sind, nun in denselben Fehler verfallen würden.« 35 Auch war Wacker nicht daran gelegen, das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 auf Beamte niedrigen Ranges in aller Strenge anzuwenden, da er in ihnen keine wirklichen Gegner zu erblicken vermochte und ihre Anpassung an den neuen Staat erhoffte. 36 So argumentierte er gegenüber den Justizbehörden: »Je gedrückter die wirtschaftliche Lage eines Beamten gewesen ist oder je jünger er war, um so näher liegt bei ihm, wenn er sich vorübergehend in einem den Grundsätzen der nationalen Erhebung zuwiderlaufenden Sinne betätigt hat, die Wahrscheinlichkeit, daß von außen an ihn herantretende Einflüsse ihn zu diesem Verhalten bestimmt haben und daß er nach Beseitigung dieser Einflüsse in der Lage sein wird, dem nationalen Staat in Treue zu dienen.« 37 Staatsdiener, die eine gehobene Stellung innehatten und Gegner der nationalsozialistischen Bewegung waren, mußten hingegen mit aller Härte rechnen und wurden meist sofort entlassen bzw. ihres Ruhegeldes für verlustig erklärt. Im Fall des ehemaligen Reichskanzlers Joseph Wirth, eines Zentrumsmannes, und der ehemaligen Mitglieder der badischen Regierung wandte sich der Kultusminister eigens an das Staatsministerium mit der Anregung, die Rechtmäßigkeit ihrer Ruhegehaltsbezüge prüfen zu lassen. 38 Zwar wurde die Angelegenheit nach einer komplizierten juristischen Debatte zu den Akten Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 713 34 Vgl. Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Justiz, an die Justizbehörden, 13. November 1934, GLA 240/ 286. 35 Wacker an das Personalamt der NSDAP des Gaues Baden (Auszug), 6. Juni 1935, GLA 235/ 37545. 36 Die ausführenden Behörden scheinen dennoch ziemlich rigoros auch gegen Beamte des mittleren und unteren Dienstes vorgegangen zu sein. Vgl. Merz, Hans-Georg, Beamtentum und Beamtenpolitik in Baden. Studien zu ihrer Geschichte vom Großherzogtum bis in die Anfangsjahre des nationalsozialistischen Herrschaftssystems (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 32), Freiburg, München 1985, S. 283. 37 Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Justiz, an die Justizbehörden (Doppelschrift), 2. Juni 1933, GLA 240/ 361. 38 Vgl. Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an das Staatsministerium, 29. September 1933, GLA 235/ 42918. <?page no="715"?> gelegt, aber die Vehemenz, mit der Wacker sein Anliegen verfolgte, zeigt seine Unnachgiebigkeit gegenüber politischen Gegnern, auch wenn diese, wie im vorliegenden Fall, längst unschädlich gemacht worden waren. Härte und Profilierungssucht des Ministers zeigten sich in der Anwendung der Bestimmungen auch gegenüber den jüdischen Beamten. Auf seine Veranlassung hin wurden sogar über das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« hinaus Beamte vom Dienst suspendiert. In einem Schreiben an den Reichsstatthalter in Baden vom 12. September 1935 betonte er im Hinblick auf die als Anlage beigefügte Übersicht über Verwendung und Ausscheidung nicht-arischer Beamter und Lehrkräfte: »Aus dem Material bitte ich zu entnehmen, daß außer den aufgrund des Reichsgesetzes vom 7. April 1933 zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ausgeschiedenen Nichtariern durch andere Maßnahmen des Ministeriums sowohl schon vor der Erlassung des Gesetzes vom 7. April als auch später in erheblicher Zahl nichtarische Beamte, Lehrkräfte usw. ausgeschieden wurden.« 39 Wacker berichtete stolz, daß im Bereich der Volksschule keine einzige jüdische Lehrperson mehr arischen Schülern Unterricht erteile und fügte sogleich seine Absicht hinzu, »durch geeignete Maßnahmen auch bei den übrigen Schularten das Ziel zu erreichen, daß keine arischen Schüler durch nichtarische Lehrkräfte unterrichtet werden.« 40 Seine Haltung gegenüber Juden war also eindeutig. Wenn er sich in einem Erlaß vom März 1933 gegen die schlechte Behandlung jüdischer Kinder durch ihre Mitschüler wandte und sich sogar gezwungen sah, einige Monate später nochmals auf seine Anordnungen zu verweisen 41 , geschah das nicht aus einer judenfreundlichen Haltung heraus, sondern weil er sich an die geltenden Bestimmungen hielt. Folgerichtig argumentierte er denn auch, die »Bekämpfung der Auswüchse des Judentums« müsse »in gut organisierter und wohldisziplinierter Weise nach den von den verantwortlichen Stellen gegebenen Anordnungen geführt werden.« 42 Wie Wacker sich dieses Vorgehen vorstellte, zeigen einige von seinem Ressort durchgeführte Maßnahmen. So begann das Badische Kultusministerium schon im Frühjahr 1934, in einzelnen Städten die »als störendes Hemmnis für die Durchführung der Jugenderziehung« 43 bezeichneten jüdischen Volksschüler von den übrigen Kindern zu Katja Schrecke 714 39 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Reichsstatthalter in Baden, 12. September 1935, GLA 235/ 42918. 40 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Reichsstatthalter in Baden, 12. September 1935, GLA 235/ 42918. 41 Vgl. Walk, Joseph, Die »jüdische Schulabteilung« in Karlsruhe 1936 - 1940, in: Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung, hrsg. v. H. Schmitt (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 8), Karlsruhe 1988, S. 311-320, hier S. 311. 42 Erlaß des Badischen Ministers des Kultus und Unterrichts vom 31. März 1933, in: Sauer, Paul (Bearb.), Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 - 1945 Teil 1, Stuttgart 1966, S. 247. 43 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an das Reichserziehungsministerium, 21. September 1935, GLA 235/ 42914. <?page no="716"?> trennen, in Sonderklassen zusammenzufassen und von jüdischen Lehrern unterrichten zu lassen, die im Dienst verblieben waren. 44 Als das Reichserziehungsministerium im Sommer 1935 eine möglichst vollständige Rassentrennung für alle Schularten ab dem Schuljahr 1936 forderte, versäumte man es nicht, von seiten des Kultusministers auf die bereits ergriffenen Maßnahmen hinzuweisen und das von Erziehungsminister Rust beabsichtigte Vorgehen als »Zuendeführung« 45 derselben zu begrüßen. Die Schulpolitik betrachtete Wacker ohnehin als einen besonderen Auftrag im Rahmen seiner Tätigkeit als Kultusminister. Als »eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Staatsführung« bezeichnete er »die Erziehung der deutschen Jugend zum nationalen Stolz« 46 . Ziel der Erziehungspolitik müsse es sein, die heranwachsenden Generationen mit Hilfe der Lehrer für den Nationalsozialismus zu gewinnen und so eine breite gesellschaftliche Basis für das Regime zu schaffen. Seine Äußerung, in der er als wesentliche Pflichten der Schulpolitik die »Schaffung des Schultyps, der mit zwingender Gewalt den deutschen Menschen formt, und Formung eines deutschen Erzieherkorps« 47 nannte, zeugt von einer fast schon martialischen Einstellung in dieser Frage. Wacker ging denn auch zügig daran, seine Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Entfernung der »national unzuverlässigen« Lehrer, angeordnete Feiern zu nationalen Anlässen sowie die Aufnahme neuer Fächer wie Volks- und Staatsbürgerkunde und Rasse- und Erbgesundheitslehre in den Lehrplan waren nur einige der Maßnahmen, die ihm zur Verwirklichung dieses Ziels geeignet schienen. Mit dem Badischen Grund- und Hauptschulgesetz vom 29. Januar 1934 48 setzte Wacker das völkische Erziehungsziel zumindest für diese Schulzweige dann auch verbindlich fest. Die wichtigsten Änderungen betrafen den Religionsunterricht, in den der Staat nun beträchtliche Eingriffe vornehmen konnte. 49 Insbesondere die Tatsache, daß den staatlichen Behörden das Recht eingeräumt wurde, auch geistliche Religionslehrer abzusetzen, führte in der Folgezeit zu erheblichen Konflikten mit den Kirchen. Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 715 44 Vgl. Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an das Reichserziehungsministerium, 21. September 1935, GLA 235/ 42914. 45 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an das Reichserziehungsministerium, 21. September 1935, GLA 235/ 42914. 46 »Der Führer« Jg. 7 Nr. 85, 26. März 1933, S. 1. 47 »Der Führer« Jg. 8 Nr. 277, 8. Oktober 1934, S. 3. 48 Vgl. Entwurf/ Gesetz als Anlage zu einem Schreiben des Badischen Ministers des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an das Badische Staatsministerium, 24. Januar 1934, GLA 233/ 24797. 49 Vgl. Maier, Joachim, Zur Auseinandersetzung zwischen Staat und katholischer Kirche in Baden 1933 - 1945 in Fragen der Schule und des Religionsunterrichts, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich. Teil 1, hrsg. v. M. Heinemann (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 4,1), Stuttgart 1980, S. 216-229, hier S. 219. Zur nationalsozialistischen Schulpolitik vgl. u.a. Ottweiler, Ottwilm, Die Volksschule im Nationalsozialismus, Weinheim 1979. <?page no="717"?> Im selben Jahr sah Wacker sich mehrfach veranlaßt, in Schulangelegenheiten gegen die Parteipresse vorzugehen 50 , die sich in verschiedenen Artikeln insbesondere über die Lehrerschaft der höheren Schulen mokiert und gleichzeitig schwere Anschuldigungen gegen sie erhoben hatte. Der Kultusminister ging sofort auf harten Konfrontationskurs mit den Verantwortlichen und nahm seine Untergebenen in Schutz, indem er darauf hinwies, daß die meisten Lehrer sich zum neuen Staat bekannten. Gleichzeitig mahnte er für die Fälle Geduld an, die von der »geistigen Erneuerung« bisher nicht ausreichend erfaßt worden waren. Seine Entgegnung fiel vermutlich nicht zuletzt auch deshalb so scharf aus, weil er sich als Akademiker selbst von der herablassenden Haltung getroffen fühlte, mit der in den Beiträgen von »mittleren Doktoren« 51 und dem »Bildungsphilister« 52 gesprochen worden war. Wackers Hochschulpolitik zielte in Baden vor allem darauf ab, die Universitäten strukturell an das neue Herrschaftssystem anzupassen. Er war einer der ersten Minister auf Landesebene, die rigorose Änderungen im Hochschulbereich durchsetzten. Unter Verschärfung des bayerischen Vorbilds und auf den Vorschlag des Freiburger Rektors Martin Heidegger 53 hin führte Wacker bereits am 21. August 1933 das Führerprinzip an badischen Hochschulen ein, um sie von ihrem Status als, wie er es nannte, »selige Inseln ohne Bindung zu Staat und Volk « 54 zu befreien. 55 In einem Artikel des »Führer« vom 22. August 1933 mit der Überschrift »Baden geht bahnbrechend voran« 56 , mutmaßte man damals schon folgerichtig: »Die badische Lösung [...] dürfte ein wesentlicher Schritt vorwärts sein auf dem Wege der großen Hochschulreform des Reiches.« Zahlreiche Länder folgten denn auch diesem Beispiel und änderten ihre Hochschulverfassungen in ähnlicher Weise. 57 Eine reichsrechtliche Regelung der Hochschulverfassung durch den Reichswissenschaftsminister erging dann am 1. April 1935. 58 Katja Schrecke 716 50 Vgl. GLA 233/ 27969. Dazu auch Grill, Johnpeter Horst, The Nazi Movement in Baden, 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 275 f. 51 »Der Führer«, 8. Februar 1934, GLA 233/ 27969. 52 »Der Führer«, 23. Juni 1934, GLA 233/ 27969. 53 Vgl. Ott, Hugo, Universitäten und Hochschulen, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttgarter Symposion 1), Stuttgart 1988, S. 137-148, hier S. 144 und Heiber, Helmut, Universität unterm Hakenkreuz Teil 2, Bd. 1, München u.a. 1992, S. 283. 54 »Der Führer« Jg. 8 Nr. 69, 11. März 1934, S. 7. 55 Das wesentliche Anliegen dieses Erlasses war es, die Hochschulen gleichzuschalten, um sie in den neuen Staat einzubinden. Dieses Ziel sollte über den Rektor verwirklicht werden, der als Führer der Hochschule vom Unterrichtsminister ernannt wurde, seinerseits die Dekane bestimmte und fortan die Befugnisse des Senats übernahm. Diese bisher beschlußfassende Körperschaft wurde auf eine lediglich beratende Funktion reduziert. Vgl. dazu GLA 235/ 4908. 56 »Der Führer« Jg. 7 Nr. 231, 22. August 1933, S. 1. 57 Vgl. dazu GLA 235/ 4908. 58 Fortan ernannte der Reichswissenschaftsminister die Rektoren, die Prorektoren und die Dekane sämtlicher Reichsuniversitäten. Siehe Eggers, Philipp, Bildungswesen, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte Bd. 4, hrsg. v. K.G.A. Jeserich u.a., Stuttgart 1985, S. 966-988, hier S. 981. Dort auch der Verweis auf den Abdruck des Gesetzestextes. <?page no="718"?> Wie in der Frage der Hochschulverfassung folgte Wacker auch bezüglich der Aberkennung der Doktorwürde dem im Oktober 1933 an den bayerischen Landesuniversitäten eingeführten Modus, an die Entziehung der deutschen Staatsbürgerschaft die Aberkennung des Doktorgrades zu knüpfen. Wacker erließ diese Regelung am 9. November desselben Jahres für Baden, nicht ohne seinen besonderen Erfindungsgeist zu zeigen und auch in dieser Angelegenheit eine zusätzliche Bestimmung »anzuregen«, die eine Überprüfung der Ehrenpromotionen der vergangenen Jahre forderte 59 und von der er dann lange Zeit vergeblich hoffte, daß ihre Geltung auf das gesamte Reichsgebiet erweitert werden würde. 60 Am 16. Januar 1934 setzte Wacker in einer »revolutionäre[n] Tat« 61 schließlich eine Neuordnung der Fakultätsverfassung durch, die das Führerprinzip nun innerhalb der Fakultäten einführte und ihnen auch den letzten Rest an Selbstbestimmung noch nahm: »Die Rangordnung innerhalb der Fakultät bestimmt sich nach der ständig zu beweisenden Leistung jedes Einzelnen. Die Fakultät steht in engster Verbindung mit den Berufsständen des Volkes, denen ihre Arbeit in Forschung und Lehre dient, und erfährt durch diese Verbundenheit immer neu Sinn und Ziel ihres Tuns. Wert solcher Gemeinschaft bestimmt allein Wille und Einsatz im Dienst der nationalsozialistischen Weltanschauung.« 62 Der durch die Hierarchisierung der Strukturen entstandende Druck auf die Fakultätsangehörigen schien Wacker geeignet, den im Sinne des Regimes erwünschten Einsatz zu gewährleisten. Als Kultusminister war Wacker auch für die Kirchenpolitik zuständig. Trotz mancher Probleme war er angesichts der Zugeständnisse der Kirchen - so zunächst auch des Freiburger Erzbischofs Gröber - vorerst durchaus zur Mäßigung bereit und setzte sich für ein akzeptables Verhältnis zwischen Staat und Kirchen ein, was dazu führte, daß es in Baden in dieser Frage zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft relativ wenig Konflikte gab. 63 Es gibt eine Reihe von Beispielen, die belegen, daß man in Baden 1933 eine harte Konfrontation mit den Kirchen vermeiden wollte. 64 Wacker genehmigte beispielsweise das Tragen von Abzeichen kirchlicher Verbände der christlichen Bekenntnisse 65 und die Teilnahme katholischer NS-Arbeitsdienstler an einer Fronleichnamsprozession. 66 Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 717 59 Vgl. Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an die Rektoren der Landeshochschulen, 9. November 1933, GLA 235/ 31747. 60 Vgl. Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Oberbürgermeister der Stadt Freiburg, 5. Juni 1935, GLA 235/ 31747. 61 »Völkischer Beobachter« 31, 31. Januar 1934, GLA 235/ 4908. 62 Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an die Rektoren der Landeshochschulen, 16. Januar 1934, GLA 235/ 4908. 63 Vgl. Thierfelder, Jörg, Die Kirchen, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttgarter Symposion 1), Stuttgart 1988, S. 74-95, hier S. 76. 64 Vgl. dazu Scholder, Klaus, Baden im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Aspekte und Fragen, in: Oberrheinische Studien Bd. 2, hrsg. v. A. Schäfer, Karlsruhe 1973, S. 223-241. 65 Vgl. »Der Führer« Jg. 7 Nr. 85, 26. März 1933, S. 1. 66 Vgl. Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und <?page no="719"?> Auf Beschwerdeschreiben des Erzbischöflichen Ordinariats, ein Reichsredner habe sich besonders gehässiges Auftreten gegen katholische Geistliche zuschulden kommen lassen, reagierte das Kultusministerium mit einer deutlichen Anweisung an die Gauleitung der NSDAP, dieses künftig nicht mehr zuzulassen. 67 Im Einvernehmen mit Innenminister Pflaumer erging im November 1933 ein Erlaß, der »Zwangsmaßnahmen gegen katholische Geistliche außerhalb des Rahmens der allgemeinen Gesetze« 68 von nun an untersagte. Der Kultusminister hielt es »nicht nur für erwünscht, sondern für dringend erforderlich«, das geplante Verbot an die zuständigen Bezirksämter und Polizeibehörden zu richten, damit von dieser Seite aus »die vielfach beliebte Methode gewaltsamen Vorgehens gegen Geistliche« 69 unterbunden werde. Allerdings zeigte seine anschließende Begründung, worum es eigentlich ging: Er befürchtete, andernfalls wegen Verstoßes gegen das Reichskonkordat mit dem Ausland in Konflikt zu geraten. Wie aus diesem Beispiel ersichtlich wird, war Wackers zurückhaltende Politik also kein Ausdruck der Achtung vor der Kirche, sondern schien ihm ein geeigneter Weg zu sein, die Interessen der neuen Machthaber in dem überwiegend katholischen Baden zu wahren. Wenn er am Beginn seiner Amtszeit als Kultusminister vollmundig mehrfach verkündet hatte, er werde »Sorge tragen, daß die mit den Kirchen geschlossenen Verträge loyal erfüllt werden« 70 , so geschah es deshalb auch lediglich in der Absicht, Klerus und Gläubige zu beruhigen und für das neue Regime zu gewinnen. Wie Wacker wirklich zur Kirche, besonders zur katholischen stand, zeigte seine Reaktion auf die Teilnahme Gröbers 71 am akademischen Akt für den neugewählten Rektor der Universität Freiburg 72 , Heidegger, zu Beginn des Sommersemesters 1933: »Der neue Rektor mußte sich danach vom Badischen Kultusminister Dr. Wacker sagen lassen, man wünsche künftig den Erzbischof nicht mehr unter den Ehrengästen zu sehen.« 73 Vor diesem Hintergrund erwecken auch Schreiben Wak- Katja Schrecke 718 Unterricht, an die Gauleitung der NSDAP, 21. Juni 1933, GLA 235/ 12809, Bl. 16. 67 Vgl. Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an die Gauleitung der NSDAP in Karlsruhe, 15. September 1933, GLA 235/ 12809, Bl. 103. 68 Der Badische Minister des Innern an den Badischen Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, 9. Oktober 1933, GLA 235/ 12754, Bl. 74. 69 Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an den Badischen Minister des Innern, 24. Oktober 1933, GLA 235/ 12754, Bl. 75. 70 »Der Führer« Jg. 7 Nr. 104, 14. April 1933, S. 4. 71 Die Reaktion Wackers auf die Teilnahme des Freiburger Erzbischofs offenbart sich in ihrer Kirchenfeindlichkeit um so deutlicher, wenn man bedenkt, daß gerade Gröber - in der Hoffnung auf den Abschluß eines Reichskonkordats, das die Stellung der katholischen Kirche sichern und ein entspanntes Verhältnis zum Staat herstellen sollte - den neuen Machthabern immer wieder die Loyalität der katholischen Kirche zugesichert hatte. 72 Die Anwesenheit des Freiburger Erzbischofs bei der Amtseinführung des neuen Rektors der Universität der Stadt entsprach der Tradition. 73 Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die deutsche Katastrophe. Sein Ringen um eine menschliche Neuordnung, Karlsruhe 1994, S. 84. <?page no="720"?> kers 74 , in denen er eine staatliche Einmischung in Angelegenheiten der Kirche ablehnte, obwohl von kirchlicher Seite seine Stellungnahme geradezu erwartet wurde, den Eindruck einer kalkulierten Zurückhaltung. Offene Unstimmigkeiten zwischen der NSDAP und den Kirchen entzündeten sich in Baden 1933 vor allem an der Jugendarbeit. 75 In diesem Konflikt trat erstmals die später in der Auseinandersetzung mit kirchlichen Vertretern systematisch angewandte Taktik Wackers zutage, alle Verantwortlichkeit in der betreffenden Frage abzulehnen und den Beschwerdeführenden an die »zuständigen Stellen« zu verweisen. 76 Zu einem offensichtlichen Bruch in der bislang gemäßigten Kirchenpolitik Otto Wackers kam es 1935. Er begann, auf einen radikaleren Kurs einzuschwenken. Sein Ziel war es, den Kirchen jegliche politische Einflußmöglichkeit zu nehmen und sie allein auf ihr religiöses, seelsorgerisches Aufgabenfeld zu reduzieren. Mit seinem Vorschlag an den Reichsinnenminister 77 , das badische Gesetz »über die Aufbesserung gering besoldeter Pfarrer aus Staatsmitteln« vom 3. April 1930 78 trotz entsprechender Anträge des evangelischen Landesbischofs und des Erzbischöflichen Ordinariats in Freiburg nach seinem Ablauf am 31. März 1935 nicht mehr zu verlängern, ging er einen ersten Schritt in diese Richtung. Er rechtfertigte die anvisierte Maßnahme einerseits mit der Finanznot des Landes Baden und argumentierte, schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten sei ein allmähliches Einstellen der Dotationen geplant und sogar von einem führenden Zentrumsvertreter begrüßt worden, der sich für die Selbständigkeit der Kirche ausgesprochen habe. Andererseits machte er in seinem Schreiben kein Hehl daraus, worum es ihm eigentlich ging. Wacker wollte die totale Trennung von Kirche und Staat erreichen und auf diese Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 719 74 Vgl. Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, 27. April 1934, GLA 235/ 12809, Bl. 127, sowie Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an den Vorsitzenden des Vorstandes der Landeskirchlichen Vereinigung in Baden, Prof. Dr. Knevels, 19. Juni 1933, GLA 235/ 12809, Bl. 14. Den Grundsatz der Nicht-Einmischung des Staates in innerkirchliche Angelegenheiten sah Wacker (zumindest im Konflikt mit der Gegenseite, vgl. hierzu z.B. den Briefwechsel mit Erzbischof Gröber, GLA 235/ 12790) auch in Zeiten härtester Auseinandersetzung mit Vertretern der Kirche gewahrt, da es sich der Logik seiner Argumentation zufolge bei diesen innerkirchlichen Angelegenheiten um das eigentliche Aufgabengebiet der Kirche, die Seelsorge, handelte. 75 Vgl. Scholder (wie Anm. 64), S. 233-234. 76 Vgl. Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht an den Landesbischof der Vereinigten Evang. protestant. Landeskirche Badens in Karlsruhe, 8. November 1933, GLA 235/ 12809, Bl. 99. Wacker schreibt zu dem beanstandeten Erlaß des Landesjugendführers, es handele sich dabei um eine »rein parteiamtliche Organisationsfrage«, und der Landesbischof möge sich an die zuständigen Parteistellen wenden. 77 Vgl. Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern, 18. Juni 1935, GLA 233/ 27767. Die Rechtshoheit Badens war mit der Verreichlichung der Justiz am 1. Januar 1935 zwar auf das Reich übergegangen, aber der Vortrag des Badischen Kultusministers mußte ausschlaggebend für die Zukunft der staatlichen Pfarrdotation sein. Vgl. Scholder (wie Anm. 64), S. 238. 78 Das genannte Gesetz - zurückgehend auf ein Gesetz von 1876 - verpflichtete den Badischen Staat, einen Teil der Pfarrerbesoldung für die Kirchen zu übernehmen. <?page no="721"?> Weise den Weg zum »Weltanschauungsstaat« 79 ebnen, der nach und nach die Kirchen ersetzen sollte: »Diese Trennung in der äußeren Bindung zwischen Staat und Kirche wird naturgemäß nicht dazu führen, daß der einzelne Mensch nun entweder kirchlich oder staatlich eingestellt sein wird. Jeder deutsche Volksgenosse wird vielmehr auch ohne die Bindung seiner Kirche an den Staat in seinem Innern das Bewußtsein haben, daß er unbeschadet seiner religiösen Neigungen und Gefühle ein deutscher Mensch ist, dem der Dienst an Volk und Vaterland über alles geht. So wird schließlich die Lösung des Problems zwischen der religiösen und der politischen Frage vom einzelnen Menschen selbst richtig getroffen werden, d.h. es wird, wenn die Kirchen von jeder politischen Aufgabe im Staat losgelöst sind, für den Einzelnen ein Problem dieser Art nicht mehr geben« 80 . Wackers Absicht war es, mit der für Baden ins Auge gefaßten Regelung des Einstellens der staatlichen Zuschüsse an die Kirchen einen Präzedenzfall zu schaffen, der später für das ganze Reich ausschlaggebend sein und die generelle Trennung von Staat und Kirche einleiten sollte. 81 Dem Einspruch von seiten des Erzbischöflichen Ordinariats, der geplante Wegfall der Dotationen sei eine Ausnahmebehandlung der Kirchen in Baden und es existiere in dieser Angelegenheit noch keine reichseinheitliche Regelung, hielt Wacker entgegen: »Eine solche könnte aber nach meinen vorstehenden Ausführungen nur auf der Grundlage erfolgen, die nunmehr in Baden gegeben ist.« 82 Der Vortrag des Kultusministers scheint die zuständigen Reichsinstanzen jedenfalls überzeugt zu haben, denn eine Neuauflage des Gesetzes hat es in Baden tatsächlich nicht gegeben. 83 In dieses Bild einer verschärften Kirchenpolitik Wackers paßten auch die Anfang des Jahres 1935 erstmals erteilten Unterrichtsverbote für katholische Geistliche durch das Badische Kultusministerium. 84 Die Betroffenen waren in der Regel durch gegen den Nationalsozialismus gerichtete Äußerungen aufgefallen oder wurden zumindest dieses Vergehens beschuldigt. Auf einer Kundgebung der NSDAP am 29. August 1935 in Freiburg nutzte Wacker seine Rede 85 , um genau diese Fälle staats- Katja Schrecke 720 79 Scholder (wie Anm. 64), S. 238. 80 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern, 8. Juni 1935, GLA 233/ 27767, Bl. 462-463. 81 Vgl. Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern, 8. Juni 1935, GLA 233/ 27767, Bl. 463. 82 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern, 8. Juni 1935, GLA 233/ 27767, Bl. 463. 83 Vgl. GLA 233/ 27772. Bei den im Gesetz zur Aufbesserung gering besoldeter Pfarrer aus Staatsmitteln festgelegten Zuschüssen handelte es sich keineswegs um geringe Summen. Allein die römischkatholische Kirche erhielt bei einem veranschlagten Gesamthaushalt von 4.349.000 RM im Rechnungsjahr 1933 aufgrund der bestehenden Bestimmungen 832.400 RM vom Staat. Vgl. Gesetz vom 3. April 1930, Badisches Gesetz- und Verordnungs-Blatt Jg. 1930, Nr. 23, S. 85. 84 Vgl. Maier, Joachim, Schulkampf in Baden 1933 - 1945. Die Reaktion der katholischen Kirche auf die nationalsozialistische Schulpolitik, dargestellt am Beispiel des Religionsunterrichts in den badischen Volksschulen (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 38), Mainz 1983, S. 135-137. 85 Wacker hatte in seiner am 29. August 1935 auf dem Münsterplatz in Freiburg gehaltenen Rede eine <?page no="722"?> feindlichen Verhaltens zu nennen und die vom Dienst suspendierten Geistlichen als »Vertreter des politischen Katholizismus im geistlichen Gewand« 86 zu enttarnen. Eine im September 1935 von Reichskirchenminister Kerrl gestartete Initiative, die vor allem auf die Aufhebung erteilter Unterrichtsverbote zielte 87 , konnte Wacker - der in dieser Frage von Reichsstatthalter Wagner und von der Gestapo unterstützt wurde 88 - ebensowenig wie die von Erzbischof Gröber vorgebrachte Bitte 89 und dessen Versicherung, er werde die Geistlichen nochmals nachdrücklich zur Loyalität gegenüber dem Regime auffordern, zu einer Kurskorrektur veranlassen. Wackers Vorstoß nach den »Reichstagswahlen« vom 29. März 1936, unter dem Eindruck des für Hitler überragenden Wahlergebnisses alle Verfahren gegen Geistliche, die nicht strafgerichtlicher Natur waren, aufzuheben, und die Betroffenen wieder zum Religionsunterricht zuzulassen 90 , scheint nur ein kurzes taktisches Intermezzo gewesen zu sein. Die Tatsache, daß wenig später bereits die nächsten Schulverbote verhängt wurden und dieses Vorgehen auch in den folgenden Monaten kein Ende fand 91 , sollte dem Erzbischof wohl einmal mehr vor Augen führen, wie abhängig er von der Gunst der zuständigen staatlichen Stellen war. 92 Zeitlebens von großer Bedeutung für Wacker waren seine badische Heimat und ihr Volk. Von dem Wissen um die historische und kulturelle Einheit des Oberrheingebietes getragen 93 , war Wacker von einem großen Stolz erfüllt, Kind dieses Kulturraumes zu sein. Aus Ansprachen und Aufsätzen aus seiner Feder klingen immer wieder eine ganz besondere Heimatverbundenheit und eine hohe Wertschätzung des Bauerntums heraus. Ein unerfüllt gebliebener Wunsch Wackers war es denn auch, »auf Ortenauer Scholle sich und seiner Familie ein Leben auf eigenem bäuerlichen Grund zu ermöglichen.« 94 In dieses Bild eines heimat- und bodenverbundenen, historisch interessierten Menschen paßt auch die Tatsache, daß Otto Wacker ein passionierter Ahnenforscher war. Bereits 1922 begann er mit genealogischen Studien über die Familie Wacker, indem er im Badischen Generallandesarchiv in Karlsruhe Material über die Geschich- Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 721 Trennung zwischen der katholischen Kirche einerseits und dem politischen Katholizismus andererseits vorgenommen, um in der Konsequenz die Staatsfeindlichkeit des letzteren aufzuzeigen. 86 »Der Führer« Jg. 9 Nr. 238, 30. August 1935, S. 2. 87 Vgl. Der Reichs- und Preußische Minister für die kirchlichen Angelegenheiten, Erlaß betr. Maßnahmen politischer Natur in kirchlichen Angelegenheiten, 5. September 1935, GLA 235/ 12789, Bl. 7. 88 Vgl. Maier (wie Anm. 84), S. 139-141. 89 Vgl. Erzbischöfliches Ordinariat an den Badischen Minister des Kultus und Unterrichts, 31. Januar 1936, GLA 235/ 12789, Bl. 53. 90 Vgl. Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an das Erzbischöfliche Ordinariat, 3. April 1936, GLA 235/ 12789, Bl. 90. 91 Vgl. Maier (wie Anm. 84), S. 152. 92 Vgl. Maier (wie Anm. 84), S.146. 93 Vgl. Rede Otto Wackers, gehalten auf der Festsitzung der Badischen Historischen Kommission am 14. Dezember 1935, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 49 (1936), S. 518-522, hier S. 521. 94 Grüninger (wie Anm. 8), S. 79. <?page no="723"?> te der Ortenau auswertete. 95 Das Ergebnis seiner akribischen, jahrelangen Arbeit erschien 1934 im ersten Band des Badischen Geschlechterbuches im Rahmen des Deutschen Geschlechterbuches. 96 Ferner veröffentlichte Wacker zwei Aufsätze über die Ortenau 97 , in denen er neben den natürlichen Gegebenheiten die politische, wirtschaftliche, historische, soziale und kulturelle Entwicklung seiner Heimat schilderte. Insbesondere die 1935 erschienene Arbeit offenbart in ihrer bisweilen ausgeprägt blumigen Sprache 98 - der sich der Verfasser vor allem bediente, um die besonderen landschaftlichen Reize der Gegend und den Charakter der dort lebenden Menschen herauszustellen - eine beinahe schwärmerische Heimatliebe. Die starke persönliche Verbundenheit mit seiner Heimat fand gelegentlich auch in seiner Arbeit als Kultusminister Ausdruck. Neben der Förderung der regionalen Kultur waren ihm Schutz und Unterstützung der Heimatvereine ein besonderes Anliegen, und er legte größten Wert auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit diesen Institutionen. Zu diesem Zweck gründete er eigens eine Arbeitsgemeinschaft der badischen Heimatvereine, deren Vorsitz er übernahm. 99 Wacker verstand die badische Heimatpflege als ureigenes Anliegen der Badener und scheute sich deshalb auch nicht, Eingriffe von übergeordneten Instanzen zurückzuweisen. In seiner Rede vor der Mitgliederversammlung des Landesvereins »Badische Heimat« am Tag des Erntedankfestes 1934 wandte er sich denn auch selbstbewußt gegen Bestrebungen aus der Hauptstadt, hier erneuernd und »gleichmacherisch« einzugreifen: »Man kann nicht von Berlin aus die am Oberrhein notwendige Volkstumsarbeit leisten. [...] Wir haben von uns aus das Gefühl, daß wir dazu selber in der Lage, dazu berufen und dazu verpflichtet sind.« 100 Die hier vertretene Auffassung hatte Wacker schon einige Monate zuvor gegenüber dem Reichsinnenminister in deutlichen Worten zum Ausdruck gebracht, indem er sich nachdrücklich und mit Erfolg gegen das Vorgehen der Vertreter des Reichs- Katja Schrecke 722 95 Vgl. Stenzel, Karl, Staatsminister Dr. Otto Wacker, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins N.F. 54 (1940), S. 276-278, hier S. 276. 96 Wacker (wie Anm. 3). 97 Otto Wacker, Das Gesicht der Ortenau, in: Badische Heimat 22 (1935), S. 5 - 40, sowie Wacker, Otto, Ortenauer Mosaik, in: Mein Heimatland 24 (1937), S. 169-173. 98 Als Beispiel sei an dieser Stelle ein Zitat aus dem Aufsatz »Das Gesicht der Ortenau« (wie Anm. 97), S. 38, angeführt: »Auf einen Felsen geklebt hängt das Brigittenschloß über einem gähnenden Abgrund, der plötzlich gegen Westen stürzt. Da steht der Wanderer am Rande des Berges wie am Rande der Erde und schaut tief hinunter in ein gesegnetes Land, durch das sich ein feines Silberband zieht, der Strom, der Rhein.« 99 Vgl. Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an die Leiter der in Baden bestehenden Vereinigungen für die Pflege der Heimatgeschichte, der Volkskunde, des Natur- und Heimatschutzes und ähnlicher kultureller Aufgaben, 18. Dezember 1933, GLA 235/ 6488. 100 Ansprache von Dr. Otto Wacker, in: Mein Heimatland 21 (1934), S. 376-379, hier S. 378 f. <?page no="724"?> bundes Volkstum und Heimat zur Wehr setzte 101 , die die Eingliederung der Heimatverbände und -vereine in ihre Organisation durchzusetzen versuchten, was die Auflösung des Vereins »Badische Heimat« bedeutet hätte. Der Badischen Historischen Kommission blieb dieses Schicksal zwar zunächst nicht erspart, aber auch in diesem Fall konnte Wacker seinen Einfluß geltend machen und die Neubildung der traditionsreichen wissenschaftlichen Vereinigung durchsetzen. 102 Nicht zu übersehen war indes die Kehrseite dieser besonderen Verbundenheit mit der Heimat. Wacker war zum einen ein vehementer Verfechter der vom Nationalsozialismus gepredigten »Blut und Boden«-Ideologie. Seine Arbeit über das Geschlecht der Wacker verriet in dem Bedürfnis, die eigenen Wurzeln zu entdecken, einen ausgesprochenen Stolz auf seine germanische Herkunft und auf die bäuerlichen Vorfahren, die den Fährnissen der Zeit zu trotzen gewußt hatten. Auch in dem Aufsatz »Das Gesicht der Ortenau« wurden neben sozialdarwinistischem Gedankengut diese Punkte herausgehoben: Trotz aller Kriegswirren habe sich am Oberrhein »ein eingewurzeltes Bauerntum« bilden können, da der »Zustrom nichtdeutschen Blutes völlig unbedeutend« 103 gewesen sei. Zum anderen tat sich Wackers ausgeprägtes Rassenbewußtsein in vielen seiner Reden und Schriften als radikale, menschen- und kulturverachtende Abwertung all derer hervor, die nicht das »Privileg« hatten, Deutsche zu sein oder wenigstens zur nordisch-germanischen Rasse zu gehören. Anläßlich einer Jahresfeier der Technischen Hochschule Karlsruhe sprach Wacker davon, daß die wesentlichen Errungenschaften der Zivilisation dem Arier zu verdanken seien, hob aber ausdrücklich die Rolle des Deutschen hervor: »Insbesondere ist es der Deutsche, der in einem viel höheren Grade als irgend ein anderer [...] Staatsbürger, als irgend ein anderes Mitglied eines Volkes der Welt zum Kulturdünger für andere Staaten und Völker geworden ist«. 104 Die eine Bücherverbrennung der Hitlerjugend begleitende »Feuerrede« Wakkers lobte schließlich den Haß der Jugend »gegen alles Undeutsche, Wesensfremde und Internationale, das man ihr 14 Jahre lang honigsüß und mundgerecht einzuflößen versuchte«. 105 Insgesamt betrachtet hatte Wackers Heimatliebe auf sein politisches Wirken nur einen geringen Einfluß. Seine enge Bindung an Baden und insbesondere an die Ortenau war doch eher der Ausdruck einer persönlichen und privaten Neigung, die den politischen Bereich eben gelegentlich berührte, als die Grundlage einer auf die besonderen Interessen Badens ausgerichteten Politik. Eine solche läßt sich zwar in einzelnen Punkten erkennen, im ganzen aber verfolgte der Kultusminister auf Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 723 101 Vgl. Der Badische Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz, Abteilung Kultus und Unterricht, an den Reichsinnenminister (Auszug), 11. April 1934, GLA 235/ 6587. 102 Vgl. Stenzel (wie Anm. 95), S. 277. 103 Wacker, Gesicht der Ortenau (wie Anm. 97), S. 16. 104 »Der Führer« Jg. 7 Nr. 333, 2. Dezember 1933, ohne Seitenangabe. 105 »Der Führer« Jg. 7 Nr. 166, 18. Juni 1933, S. 3. <?page no="725"?> Landesebene einen Kurs, der mit den Vorstellungen der Reichsregierung weitgehend übereinstimmte. Das Jahr 1937 brachte für Wacker zumindest zeitweilig den Abschied von seiner geliebten Heimat, da er - unter Beibehaltung seines Karlsruher Ministerpostens - vom Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Rust, als Leiter in das Amt Wissenschaft 106 nach Berlin berufen wurde. Da Wacker 1933 in die SS eingetreten war und nach regelmäßig erfolgten Beförderungen - von denen die Ernennung zum Untersturmführer am 25. März 1934 durch Himmler persönlich stattfand 107 - am 31. Dezember 1936 die Stellung eines Oberführers erreicht hatte, kann man durchaus annehmen, daß er von Himmler als überzeugter Repräsentant 108 und aktiver Vertreter der SS mit der Absicht ins Reichserziehungsministerium eingeschleust wurde, später Rust auf dem Posten des Reichserziehungsministers abzulösen. 109 Unter Wackers Leitung brachen im Amt Wissenschaft vorübergehend neue Zeiten an. Er rückte von der autoritären, konfliktträchtigen Amtsführung seines Vorgängers ab. Die zu bewältigenden Aufgaben sollten durch eine kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen dem Ministerium und den Hochschulen auf der Basis persönlicher Kontakte im Dialog gelöst werden. 110 Diese Vorstellungen standen dem bisher üblichen, dem Nationalsozialismus eher entsprechenden Procedere der Anordnung von oben entgegen und ließen zumindest auf ein konstruktives Miteinander hoffen. Die Rektorenkonferenzen sollten nun zweimal im Jahr stattfinden, und als Tagungsort sollte neben Berlin eine weitere Hochschulstadt gewählt werden. Die vielversprechenden Ankündigungen wurden indes nur sehr bedingt eingelöst, und nach den Zusammenkünften im Mai 1937 in Berlin und im Dezember desselben Jahres in Marburg kam unter dem Amtschef Wissenschaft Wacker nur noch eine einzige, die erste großdeutsche Rektorenkonferenz, zustande, und zwar am 7. und 8. März 1939 in der Hauptstadt. Katja Schrecke 724 106 Das Amt Wissenschaft war für die Ressorts Hochschulen und Forschung zuständig. 107 Vgl. BA, Abt. III (BDC), SSO-Akte Wacker. 108 Das besondere Verhältnis Wackers zur SS bestätigen die Äußerungen seiner Witwe gegenüber dem SS-Obergruppenführer Heißmeyer, der auf Befehl Himmlers an der Beisetzung des verstorbenen Kultusministers teilnahm. In einer Aktennotiz Heißmeyers vom 22. Februar 1940 heißt es, Frau Wacker habe, während sie die übrigen Kondolationen schweigend zur Kenntnis nahm, auf die Beileidsbezeugung, die der SS-Obergruppenführer ihr im Namen des Reichsführers-SS ausgesprochen habe, sinngemäß geantwortet: »Sagen Sie dem Reichsführer-SS, daß mein Mann sich mit nichts so eng verbunden gefühlt hat, wie mit der Schutzstaffel. Er hat von ihr noch in den letzten Minuten mit Gefühlen des Stolzes und der Dankbarkeit gesprochen.« BA, Abt. III (BDC), SSO-Akte Wacker. 109 Vgl. Heiber, Helmut, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 13), Stuttgart 1966, S. 643. Es entsprach der Taktik Himmlers, vor allem SS-Angehörigen zu leitenden Positionen im Reichserziehungsministerium zu verhelfen. Vgl. dazu Bollmus, Reinhard, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 211. 110 Vgl. Heiber (wie Anm. 53), S. 304-305. <?page no="726"?> Auch wenn Wacker mit der Anerkennung einer auf die nationalsozialistische Weltanschauung ausgerichteten Wissenschaft und mit der Überzeugung, daß die Befähigung zu wissenschaftlichem Arbeiten und Erkennen an die Zugehörigkeit zur weißen Rasse gebunden sei 111 , wesentliche Grundzüge der zeitgemäßen Vorstellung von Wissenschaft und Forschung vertrat, war er in seiner Politik doch eher ein Pragmatiker. Da es keine offizielle nationalsozialistische Wissenschaftstheorie gab, an die er sich in seinem Amt hätte halten können, schienen er und seine Mitarbeiter »sich nicht viel um die ideologische Bedeutung der Wissenschaft zu kümmern, solange das Regime und die nationalsozialistische Ideologie nicht offensichtlich kritisiert oder herausgefordert wurden.« 112 Es war Wacker offenbar ein ehrliches Anliegen, sich im Interesse der wissenschaftlichen Qualität und des Forschungsniveaus gemeinsam mit den Rektoren für sachlich begründete Berufungen einzusetzen, zumal seiner Meinung nach der Großteil der Akademiker ohnehin politisch zuverlässig war. 113 Er betrachtete es als seine Aufgabe, allzu mächtig werdenden Bestrebungen des NS-Dozentenbundes, der als Arm der Partei vor allem die Personalpolitik zu beeinflussen versuchte, Einhalt zu gebieten. 114 Die Anpassung der wissenschaftlichen Institutionen an das nationalsozialistische Herrschaftssystem indes trieb er weiter voran. Als Leiter des Amtes Wissenschaft und Vertreter des Reichserziehungsministeriums war er maßgeblich an der Durchsetzung des Führerprinzips in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 115 im Jahre 1937 beteiligt. 116 Nachdem die geänderten Statuten im Mai 1937 vom Senat der Organisation gebilligt worden waren, folgte am 22. Juni die Bestätigung durch die Hauptversammlung. 117 Selbstsicher wußte Wacker sich hier im Namen des Ministeriums Gehör zu verschaffen und den Teilnehmern vor Augen zu führen, wer nun das Sagen Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 725 111 Vgl. die Rede Wackers »Bewegung und Wissenschaft«, in: Volk im Werden 6 (1938), S. 161-166, hier S. 165. 112 Kelly, Reece C., Die gescheiterte nationalsozialistische Personalpolitik und die mißlungene Entwicklung der nationalsozialistischen Hochschulen, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich Teil 2, hrsg. v. M. Heinemann (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 4,2), Stuttgart 1980, S. 61-76, hier S. 69. 113 Vgl. Kelly (wie Anm. 112), S. 68. 114 Vgl. Kelly (wie Anm. 112), S. 67 f. 115 Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft unterstand fortan dem Reichserziehungsministerium. Der Präsident der Organisation wurde nicht mehr vom Senat der Gesellschaft gewählt, sondern lediglich vorgeschlagen. Seine Ernennung erfolgte durch den Reichserziehungsminister. Weitreichende Entscheidungsbefugnisse gingen vom Senat bzw. vom Verwaltungsausschuß auf den Präsidenten als den »verantwortlichen Leiter« der Gesellschaft über. Vgl. dazu Albrecht, Helmuth; Hermann, Armin, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Dritten Reich (1933 - 1945), in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/ Max- Planck-Gesellschaft, hrsg. v. R. Vierhaus, B. vom Brocke, Stuttgart 1990, S. 356-406, hier S. 385. 116 Vgl. Macrakis, Kristie, Surviving the Swastika. Scientific Research in Nazi Germany, New York, Oxford 1993, S. 100. 117 Vgl. Albrecht / Hermann (wie Anm. 115), S. 385. Zwar scheint es Proteste gegen die Einführung der neuen Statuten gegeben zu haben, aber es existiert lediglich ein einziger, indirekter Hinweis auf solche Gegenstimmen. Vgl. Macrakis (wie Anm. 116), S. 100. <?page no="727"?> hatte: »Although the decision [über die Annahme der neuen Statuten, K.S.] had already been made by the senate meeting, the minutes of the meeting reveal the extent to which Wacker bullied the society into accepting his way. It also displays the new active role which the Ministry attempted to play in determining the society’s shape and agenda. Planck began the senate meeting with the issue of the presidential election. Before he even began his discussion, Wacker interrupted him and stated that he was ordered by the Ministry to defer this first point until after the second point - the changes in the statutes - had been disposed of. The minutes then reported that Planck ›expressed objections‹ but withdrew them after a ›short dicussion‹.« 118 Ferner sorgte Planck auf Wackers Betreiben hin dafür, daß die nach 1933 noch im Senat verbliebenen Mitglieder jüdischer Abstammung auf ihre Sitze verzichteten. 119 Max Planck, der sich stets gegen eine Vereinnahmung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft durch die neuen Machthaber gewehrt hatte, war bereits einige Wochen zuvor von seinem Amt als Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zurückgetreten. Als dann unter dem Druck der Nationalsozialisten auch der Generaldirektor Friedrich Glum und sein Mitarbeiter Lukas von Cranach am 22. Juni abdankten 120 und die Einführung des Führerprinzips beschlossene Sache war, war der Weg für den »Einzug von Nationalsozialisten in das oberste Leitungsgremium der KWG« 121 frei. Auch Wacker profitierte von den personellen und organisatorischen Veränderungen innerhalb der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Er wurde vom neuen Präsidenten Carl Bosch zu dessen Stellvertreter, d.h. zum 1. Vizepräsidenten ernannt und erhielt einen Sitz im Senat. 122 Außerdem wurde er von Reichserziehungsminister Rust in das Amt des Vizepräsidenten des neugegründeten Reichsforschungsrates berufen. 123 Als im Jahr 1938 das Problem der Aufhebung und Zusammenlegung theologischer Fakultäten aktuell wurde, sah sich Wacker auch auf seinem Posten als Leiter des Amtes Wissenschaft mit der Kirchenpolitik konfrontiert. Nachdem im »konkordatsfreien« Österreich bereits erste Maßnahmen getroffen worden waren 124 , wurde die Katja Schrecke 726 118 Macrakis (wie Anm. 116), S. 101. 119 Vgl. Brocke, Bernhard vom, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Kaiserreich. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft, hrsg. v. R. Vierhaus, B. vom Brocke, Stuttgart 1990, S. 17-162, hier S. 57-58. 120 Vgl. Albrecht; Hermann (wie Anm. 115), S. 385. 121 Brocke (wie Anm. 119), S. 55. 122 Vgl. Albrecht; Hermann (wie Anm. 115), S. 386. 123 Vgl. Brocke (wie Anm. 119), S. 56. 124 Als im September 1938 die Verlegung der katholisch-theologischen Fakultät Salzburg nach Innsbruck erwogen wurde, wo kurz zuvor die Jesuitenfakultät aufgelöst worden war, bekundete Wacker sein grundsätzliches Einverständnis mit diesem Plan, aber nur »unter der Voraussetzung, daß durch die Aufhebung der Jesuitenfakultät in Innsbruck mit den kirchlichen Stellen solche Schwierigkeiten entstehen, daß ein kleines Zugeständnis gemacht werden muß und sich unter keinen Umständen verhindern läßt. Ich bin aber der Auffassung, daß es besser wäre, die theologische Fakultät Salzburg aufzuheben, ohne daß sie verlegt wird.« (Amtschef W, Vermerk, 3. September 1938, BA R 21/ 460, Bl. 46.) So geschah es dann auch. <?page no="728"?> Frage wenige Monate später auf das gesamte Reich ausgeweitet. 125 Hitler, mit dem das grundsätzliche Vorgehen in dieser Sache natürlich abgesprochen worden war 126 , legte angesichts der besonderen Brisanz jedoch großen Wert darauf, »die Angelegenheit in der Sphäre der Reichsministerien, insbesondere des Erziehungsministeriums und des Stellvertreters des Führers« zu belassen, ohne seinen eigenen Namen »nach außen hin zu belasten.« 127 Im Reichserziehungsministerium war es Wacker, der - seinen in Baden eingeschlagenen Kurs weiter verfolgend - das Problem mit besonderem Elan in Angriff nahm. In einem geheimen Schreiben 128 an Reichsleiter Martin Bormann vom 28. November 1938 faßte er »unter bewußter Verletzung der Konkordate« die Schließung bzw. Zusammenlegung weiterer theologischer Fakultäten ins Auge und unterbreitete bereits konkrete Vorschläge dazu, die er »spontan niedergeschrieben« habe. Etwaige Proteste seitens der Kirchen sollten mit Hinweis auf die bereits in anderen Gebieten erfolgten Zusammenlegungen von Fakultäten abgeschwächt werden. Bormanns Aufgabe sollte es nun sein, angesichts dieses Plans »gelegentlich den Willen des Führers darüber zu ermitteln und mir mitzuteilen.« Der weitere Schriftwechsel zwischen dem Braunen Haus und dem Reichserziehungsministerium bezüglich der Frage der theologischen Fakultäten 129 verdeutlicht, wie die Pläne immer konkretere Formen annahmen. In einem Schreiben an SS-Gruppenführer Heydrich vom 14. März 1939 130 bestätigte Wacker denn auch, die Vorbereitungen zum Abbau der theologischen Fakultäten seien im Reichserziehungsministerium bereits weit gediehen und stünden kurz vor der Verwirklichung. 131 Als Folge der weitestgehenden Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 727 125 Hierzu Scholder (wie Anm. 64); Reifferscheid, Gerhard, Das Bistum Ermland und das Dritte Reich (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 7), Köln, Wien 1975; Siegele-Wenschkewitz, Leonore, Die Theologische Fakultät im Dritten Reich. »Bollwerk gegen Basel«, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 - 1986 Bd. 3, hrsg. v. W. Doerr, Berlin u.a. 1985, S. 504 - 543; Wolgast, Eike, Nationalsozialistische Hochschulpolitik und die evangelisch-theologischen Fakultäten, in: Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, hrsg. v. L. Siegele- Wenschkewitz, C. Nicolaisen (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte 18) Göttingen 1993, S. 45-79; Zipfel, Friedrich, Kirchenkampf in Deutschland 1933 - 1945. Religionsverfolgung und Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin 11), Berlin 1965. 126 Vgl. Reifferscheid (wie Anm. 125), S. 57 und Siegele-Wenschkewitz (wie Anm. 125), S. 509. Auch Wacker hatte in einem Schreiben an den Reichsamtsleiter des NS-Dozentenbundes vom 4. Juli 1938 davon gesprochen, daß die Entscheidung der Frage der theologischen Fakultäten »nicht in erster Linie« Sache des Reichserziehungsministeriums sei, sondern vielmehr von Hitler selbst getroffen werden müsse. Vgl. BA R 21/ 10789 (Abschrift). 127 Geheimvermerk von Schwarz, 24. Februar 1939, BA R 21/ 460, Bl. 98. 128 Wacker an Bormann, 28. November 1938, BA R 21/ 460, Bl. 50 - 51. 129 Der gesamte Schriftwechsel ist überliefert in BA R21/ 460. Teilweiser Abdruck auch in IMT Bd. 25, S. 204 - 223. 130 Vgl. Wacker an Heydrich, 14. März 1939, in: Zipfel (wie Anm. 125), S. 489-490. 131 Wie hoch Wacker die Frage der theologischen Fakultäten bewertete und wie er in dieser Angelegenheit zu taktieren wußte, belegt sein Vermerk auf einem Schreiben des Reichsdozentenbundfüh- <?page no="729"?> Reduzierung der theologischen Fakultäten stellte man sich auf die Gründung eigener Ausbildungsstätten der Kirche ein. Während Heydrich dieses Vorgehen wohl akzeptiert hätte, war Wacker dazu nicht bereit. Vielmehr verlangte er den Einsatz von Geheimer Staatspolizei und Sicherheitsdienst, um diese Neugründungen, wenn nötig, auch mit Gewalt verhindern zu können. 132 Letztlich war es das Ziel dieser harten Politik, die theologischen Fakultäten völlig aufzuheben. 133 Da Wacker aber Ende April 1939 aus dem Reichserziehungsministerium ausschied und in sein Amt als Kultusminister in Karlsruhe zurückkehrte, war die Frage seinem Zuständigkeitsbereich wieder entzogen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhinderte dann die tatsächliche Ausführung der kirchenfeindlichen Pläne ohnehin, da Hitler mit Hinweis auf die besondere Situation eine Schonung der Kirchen anordnete. Ob Wacker in noch weitergehende Vorhaben zur Bekämpfung der Kirchen verstrickt war, muß offenbleiben. In der Forschungsliteratur wird die These 134 aufgeworfen, er habe im Frühjahr 1939 gemeinsam mit Bormann und Wagner (vergeblich) versucht, ein im konkordatsfreien Österreich und im Warthegau geltendes Gesetz, das die Kirchen auf die Stufe von unter staatlicher Aufsicht stehenden Vereinen stellte, auf Baden zu übertragen. 135 Einige Fakten sprechen in der Tat dafür, wie die vorangegangene Zusammenarbeit zwischen Wacker und Bormann in der Frage der theologischen Fakultäten und das von Wacker bereits 1935 aufgestellte Konzept zur Trennung von Kirche und Staat in Baden. Andererseits brachte Wacker gerade in diesem Schriftstück zum Ausdruck, daß mit einem Abbau der Staatsdotation ein »Ausbau des Kirchensteuerrechts« 136 einhergehen müsse, was zumindest ausschließt, daß er schon zu diesem Zeitpunkt eine weitere Verschärfung seiner Pläne ins Auge gefaßt hatte. Und auch im Sommer 1937 bestätigte das Kultusministerium der Badischen Staatskanzlei auf Anfrage, nach dem Wegfall der staatlichen Aufbesserungszuschüsse an die Kirchen sei »ein weiterer Abbau der noch bestehenden Leistungen [...] nicht geplant.« 137 Katja Schrecke 728 rers vom 8. Februar 1939 ((Abschrift) BA R 21/ 460, Bl. 101), in dem dieser in Erfahrung bringen wollte, ob tatsächlich eine Verlegung der evangelisch-theologischen Fakultät Heidelberg nach Tübingen geplant sei. Der Amtschef forderte in einer handschriftlichen Weisung seine Mitarbeiter dazu auf, zunächst die Antwort bis zur endgültigen Regelung zurückzustellen und zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur eine Zwischennachricht ohne Entscheidung abzugeben, indem er auf den nötigen Überraschungseffekt verwies: »Die Sache muß schlagartig kommen.« 132 Vgl. Zipfel (wie Anm. 125), S. 258. 133 Vgl. Wolgast (wie Anm. 125), S. 67. 134 Scholder vertritt diese These, merkt aber zugleich an, daß es keinen schlüssigen Beweis hierfür gebe. 135 Anfragen von Bormanns Referenten im Frühjahr 1939 in der Reichskanzlei (Vgl. Scholder (wie Anm. 64), S. 239-240) und im Badischen Kultusministerium (Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Reichsstatthalter in Baden, 20. März 1939, GLA 233/ 27759a. In diesem Schreiben heißt es: »Der zuständige Referent im Stab des Stellvertreters des Führers übermittelte mir strengvertraulich den in Abschrift angeschlossenen Entwurf eines Gesetzes über die Erhebung von Kirchenbeiträgen.«) bezeugen diese Pläne. 136 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an den Reichs- und Preußischen Minister des Innern, 18. Juni 1935, GLA 233/ 27767, Bl. 463. <?page no="730"?> Wackers Amtszeit in Berlin war offensichtlich von zahlreichen Querelen überschattet. Zum einen machte er Rust (allem Anschein nach zu Recht) Vorhaltungen über dessen wenig durchsetzungsfähige und entscheidungsfreudige Politik, die auch seine (Wackers) Arbeit häufig belastet habe 138 , zum anderen gab es eine eher persönlich motivierte Auseinandersetzung mit Staatssekretär Zschintzsch, der Wakker als ehrgeizigen Konkurrenten fürchtete. Anscheinend hatte Wacker aber zunächst trotz der aufgetretenen Probleme nicht die Absicht, mit Ablauf seines Kommissariats in Berlin am 1. Mai 1939 nach Baden zurückzukehren. Vielmehr erhoffte er sich einen weiteren Aufstieg im Reichserziehungsministerium. 139 Die angestrebte Beförderung in die Position eines Staatssekretärs erging jedoch nicht. Da Wacker im folgenden die in Aussicht gestellte Ernennung zum Ministerialdirektor mit Blick auf seine wirtschaftliche und politische Stellung als Staatsminister in Baden ausschlug und auf die anschließend vom Reichserziehungsminister beantragte Ernennung zum Unterstaatssekretär ebenfalls ablehnend reagierte, weil sie auch hinsichtlich der Besoldung seinen Ansprüchen nicht genügte und er sich gegen eine bloße Titelverleihung verwahrte 140 , blieb ihm in seinem enttäuschten Ehrgeiz lediglich die Rückkehr in sein Ministeramt nach Karlsruhe. Nur wenige Monate vor seinem Tod lieferte Wacker nochmals einen eklatanten Beweis für seine unnachgiebige, festgefahrene Position in der Kirchenpolitik. Erzbischof Gröber hatte angesichts des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs einen Aufruf an den Kultusminister 141 gerichtet, in dem er im Interesse des deutschen Volkes eine Beendigung der Auseinandersetzungen zwischen Staat und Partei auf der einen und Klerus und katholischem Volk auf der anderen Seite anmahnte und um eine Unterredung mit Wacker bat. In Anbetracht der Tatsache, daß gerade Wacker in den vergangenen Jahren einer der Vorreiter im Kampf gegen die Kirchen gewesen war und nichts unversucht gelassen hatte, ihren Einfluß zurückzudrängen, nahm sich seine Antwort 142 wie purer Zynismus aus: Weder Staat noch Partei hätten Anlaß, gegen eine Konfession zu kämpfen, da sie sich nicht in kirchliche Angelegenheiten einmischen wollten. Wenn gegen Geistliche vorgegangen worden sei, so könne man Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 729 137 Der Badische Minister des Kultus und Unterrichts an die Badische Staatskanzlei, 22. Juli 1937, GLA 233/ 27772, Bl. 176. 138 Vgl. Rust an Staatssekretär, 23. November 1938, GLA 235/ 37452, Bl. 42. 139 In einem Schreiben Wackers an Rust vom 5. April 1939 ist davon die Rede, Himmler habe bei einer gemeinsamen Besprechung »von sich aus die Auffassung vertreten, daß eine stärkere Herausstellung meiner Person im Reichserziehungsministerium erforderlich scheine.« Wacker betonte außerdem, daß es »mir auf die klare Hervorhebung der Bedeutung des Aufgabenbereiches ankommt, den ich wahrzunehmen habe«. GLA 235/ 37452, Bl. 48 und Bl. 57. Auch die »vertretungsweise Zeichnungsbefugnis« wurde von Wacker immer wieder als Kompetenzerweiterung gefordert. 140 Vgl. hierzu das in Anmerkung 139 genannte Schreiben Wackers an Rust sowie die Stellungnahme Rusts (Abschrift) vom 28. April 1939, GLA 235/ 37452, Bl. 70. 141 Erzbischof Gröber an Wacker, 2. September 1939, GLA 235/ 12790, Bl. 2. 142 Wacker an Erzbischof Gröber, 8. September 1939, GLA 235/ 12790, Bl. 3 - 4. <?page no="731"?> nicht von einem Kampf gegen die Kirche sprechen, sondern müsse hierin die Abwehr staatsfeindlicher Angriffe sehen. Jeder, der die Treuepflicht gegenüber Führer und Volk verletze, werde dafür zur Verantwortung gezogen, gleich welcher Konfession er angehöre. Wie Wacker sich eine dem Nationalsozialismus genehme Kirche vorstellte, führte er auch hier wieder deutlich aus: Er verwies die Kirche in ihr »ureigenstes« Gebiet der Seelsorge und erklärte, jegliche Aktivitäten außerhalb dieses Rahmens könnten von der NSDAP nicht geduldet werden. Auf die umfangreiche Darstellung, in welcher der Erzbischof widerrechtliches Vorgehen gegen die katholische Kirche im einzelnen aufführte, reagierte Wacker mit dem Hinweis, die Vorwürfe seien größtenteils unbegründet, im übrigen könnten sie von ihm nicht nachgeprüft werden, da sie nicht in seiner Zuständigkeit lägen. Der Briefwechsel mit Gröber 143 belegt einmal mehr die Taktik des Badischen Kultusministers, in der Auseinandersetzung mit kirchlichen Stellen alle Verantwortlichkeit von sich zu weisen und den verschiedensten Instanzen zuzusprechen. Der im Ton immer schärfer werdende Briefwechsel, in dem Wacker sämtliche Konflikte zwischen seinem Ministerium und der Kirchenbehörde leugnete und eine Aussprache mit Gröber als sinnlos bezeichnete, wurde schließlich vom Kultusminister abgebrochen. Noch in Berlin hatte Wacker einen schweren Herzinfarkt erlitten und sich daraufhin im Juni und Juli 1939 zur Genesung im Sanatorium Bühlerhöhe im Schwarzwald aufgehalten. Offenbar hat er sich nie mehr vollständig von seiner Krankheit erholt, denn am 14. Februar 1940 starb er, 40jährig, in Karlsruhe an Herzversagen. Die Trauerfeierlichkeiten ließen keinen Zweifel daran, daß man einen überzeugten Nationalsozialisten zu Grabe trug. Am 16. Februar fand im ehemaligen Landtagsgebäude in Karlsruhe der Staatsakt für den Verstorbenen statt. Es sprach Ministerpräsident Walter Köhler, der Wacker als kompromißlosen Nationalsozialisten lobte und sein Leben als »einen einzigen großen Kampf« 144 schilderte. Einen Tag später wurde Wacker in seiner Geburtsstadt Offenburg beigesetzt, und hier hielt Gauleiter Robert Wagner die Ansprache. Die Traueranzeige erschien auf Veranlassung Himmlers auch im »Völkischen Beobachter« und im »Schwarzen Korps«. Zu Ehren Wackers wurde in seiner Geburtsstadt Offenburg eine Straße nach ihm benannt, und im März 1942 stiftete das Badische Kultusministerium der Universität Freiburg eine Otto Wacker-Büste. Katja Schrecke 730 143 Der gesamte Briefwechsel zwischen Gröber und Wacker ist dokumentiert in GLA 235/ 12790. Abdruck in großen Teilen auch bei Volk, Ludwig (Bearb.), Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche 1933 -1945 Bd. 4 (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 30), Mainz 1981, S. 710, 712 f., 714 ff., 720 -725, 726 -728. 144 »Der Führer« Jg. 14 Nr. 46, 16. Februar 1940, StAOG. <?page no="732"?> Was die Akten- und Forschungslage in gewissem Umfang bestätigt, führten auch zahlreiche Zeitgenossen des ehemaligen Staatsministers im postumen Entnazifizierungsverfahren zur Entlastung des Verstorbenen an: Immer wieder habe Wacker sich in seinen Ämtern gegen Einflußnahmen der Partei zur Wehr gesetzt. Weil er so das Interesse des nationalsozialistischen Staates am besten gewahrt sah, war er zum Beispiel um sachliche Personalentscheidungen bemüht und geriet deshalb öfter in Konflikt mit den Parteiinstanzen. Allerdings ging es dem Minister in diesen Auseinandersetzungen häufig nicht nur um die Sache selbst, sondern auch um die Verteidigung seiner Machtposition. Wackers besondere Heimatverbundenheit führte dazu, daß er regionale Einrichtungen wie den Verein »Badische Heimat« vor Zugriffen der Partei schützte. Dennoch war Wacker keineswegs Vertreter einer Politik, die die spezifisch badischen Interessen in den Mittelpunkt stellte. Vielmehr hatte er Baden eine Vorreiterrolle für die Reichskulturpolitik zugedacht: Er setzte die strukturelle Anpassung diverser Institutionen des Landes an das nationalsozialistische System durch, noch bevor diesbezüglich Entscheidungen auf Reichsebene getroffen worden waren, und verfolgte seit 1935 eine radikale Kirchenpolitik. Ambitioniert ging er gegen Vertreter der ehemaligen Weimarer Regierung und gegen Juden vor. Sein Antisemitismus, seine Äußerungen über die angeblich hervorragenden Eigenschaften der arischen Rasse und die unverhohlen behauptete Minderwertigkeit fremder Kulturen belegen eine besonders abstoßende Menschenverachtung. Während Wacker in bestimmten Angelegenheiten also durchaus eine gemäßigte Position vertrat, betrieb er insgesamt gesehen eine weitgehend kompromißlose Politik. Als 1945 der Zweite Weltkrieg und mit ihm die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten zu Ende ging, war Wacker bereits über fünf Jahre tot. Die schlimmsten Greuel und Auswüchse des Regimes, in dessen Dienst er als Badischer Kultusminister und als Leiter des Amtes Wissenschaft im Reichserziehungsministerium in Berlin jahrelang gestanden hatte, hat er nicht mehr erlebt. Jegliche Äußerung darüber, wie er sich angesichts der deutschen Kriegs- und Vernichtungspolitik wohl verhalten hätte, muß daher in den Bereich der Spekulation verwiesen werden. Sicher hingegen ist, daß Wacker die Ideologie der Nationalsozialisten zu Lebzeiten mit Überzeugung vertreten und seine Ämter stets in diesem Sinne ausgefüllt hat. Otto Wacker, Badischer Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz 731 <?page no="733"?> Bibliographie Quellen Quellenmaterial über Otto Wackers Tätigkeit als Badischer Kultus- und Justizminister findet sich vor allem im Badischen Generallandesarchiv Karlsruhe. Insbesondere im sehr umfangreichen Bestand des Staats- und des Kultusministeriums ist sein politisches Wirken dokumentiert. Auf Wackers Amtszeit als Leiter des Amtes Wissenschaft im Reichserziehungsministerium in Berlin finden sich Hinweise in verschiedenen Akten des Bestandes Reichserziehungsministerium - Amt Wissenschaft - im Bundesarchiv Koblenz. Lediglich Einzelinformationen über seinen beruflichen und parteipolitischen Werdegang vermögen die (als Kopie vorliegenden) Personalakten des Generallandesarchivs sowie des Berlin Document Center zu bieten, ebenso das Material der Außenstelle Dahlwitz-Hoppegarten des Bundesarchivs. Darüber hinausgehende Personalunterlagen sind im Zweiten Weltkrieg offenbar vernichtet bzw. entwendet worden. Über Wackers Amtsführung unterrichten außerdem zahlreiche Artikel im »Führer«, der Zeitung der NSDAP für den Gau Baden. Licht auf die Person Wackers werfen einige gedruckte Ansprachen sowie von ihm verfaßte Aufsätze. Literatur Otto Wacker findet gelegentlich Erwähnung in zusammenfassenden Darstellungen oder in Aufsätzen über die badische Geschichte im »Dritten Reich«. Über seine Rolle in der Beamten- und Schulpolitik informieren Hans-Georg Merz, Beamtentum und Beamtenpolitik in Baden. Studien zu ihrer Geschichte vom Großherzogtum bis in die Anfangsjahre des nationalsozialistischen Herrschaftssystems (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 32), Freiburg, München 1985, und Joachim Maier, Schulkampf in Baden 1933 - 1945. Die Reaktion der katholischen Kirche auf die nationalsozialistische Schulpolitik, dargestellt am Beispiel des Religionsunterrichts in den badischen Volksschulen (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte B 38), Mainz 1983. Relativ gut erforscht ist seine Rolle in der Kirchenpolitik in Klaus Scholder, Baden im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Aspekte und Fragen, in: Oberrheinische Studien Bd. 2, hrsg. v. A. Schäfer, Karlsruhe 1973, S. 223 - 241, Leonore Siegele-Wenschkewitz, Die Theologische Fakultät im Dritten Reich. »Bollwerk gegen Basel«, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 - 1986, Bd. 3, hrsg. v. W. Doerr, Berlin u.a. 1985, S. 504-543, und Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland 1933 - 1945. Religionsverfolgung und Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin 11), Berlin 1965. Hinweise zu Wackers Amtszeit als Leiter des Amtes Wissenschaft finden sich bei Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz Teil 2/ I, München u.a. 1992, bei Reece C. Kelly, Die gescheiterte nationalsozialistische Personalpolitik und die mißlungene Entwicklung der nationalsozialistischen Hochschulen, in: Erziehung und Schulung im Dritten Reich Teil 2, hrsg. v. M. Heinemann (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 4,2), Stuttgart 1980, S. 61-76, sowie in Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft, hrsg. v. R. Vierhaus, B. vom Brocke, Stuttgart 1990. Eine von Hans-Georg Merz verfaßte Biographie über Otto Wacker wird in absehbarer Zeit im vierten Band der von Bernd Ottnad herausgegebenen Badischen Biographien erscheinen. Katja Schrecke 732 <?page no="734"?> Der Führer vom Oberrhein Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß Ludger Syré *13. Oktober 1895 als Robert Heinrich Backfisch in Lindach bei Eberbach am Neckar, ev., Kirchenaustritt, Vater: Johann Peter Backfisch, Landwirt, Mutter: Katharina, geb. Wagner, 1921 Annahme des Mädchennamens der Mutter, verheiratet seit 11. Oktober 1930 mit Anna Luise Theresia, geb. Mayer, ein Kind. 1902 - 1910 Volksschule, 1910 - 1914 Präparandenanstalt und Lehrerseminar in Heidelberg, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer als Leutnant, 1919 - 1924 Berufssoldat, 9. November 1923 Teilnahme am Hitlerputsch in München, 1. April 1924 deswegen zu 15 Monaten Festungshaft verurteilt, 31. Mai 1924 formale Entlassung aus der Reichswehr. Herbst 1924 Rückkehr nach Baden, Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 11.540), 22. März 1925 Gründung des Gaues Baden im Auftrag Hitlers und Ernennung zum Gauleiter, 27. Oktober 1929 MdL (NSDAP), Dezember 1932 Stellvertretender Reichsorganisationsleiter und Leiter des Hauptpersonalamtes der NSDAP-Reichsführung in München, 5. März 1933 MdR (NSDAP), 1933 Träger des Goldenen Parteiabzeichens, 1934 des Blutordens, 8. März 1933 Reichskommissar in Baden, 9. März 1933 Rückkehr nach Karlsruhe, 11. März 1933 Bildung einer kommissarischen Regierung, Staatspräsident und Innenminister, 5. Mai 1933 Reichsstatthalter von Baden, Juni 1940 Chef der Zivilverwaltung des Elsaß, 16. November 1942 Reichsverteidigungskommissar des Gaues Baden. 23. November 1944 Flucht aus Straßburg, 29. Juli 1945 Verhaftung, 23. April 1946 Eröffnung des Prozesses vor einem französischen Militärgericht in Straßburg, 3. Mai 1946 Verurteilung zum Tod, gest. 14. August 1946 (Hinrichtung), 1.September 1950 Entscheidung der Zentralspruchkammer Nordbaden: »Hauptschuldiger«. Robert Wagner 733 <?page no="735"?> »Lang lebe Großdeutschland, lang lebe Hitler, lang lebe der Nationalsozialismus! « 1 Mit diesen trotzigen Worten starb am 14. August 1946 der Gauleiter, Reichsstatthalter und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, Robert Wagner, von einem französischen Militärgericht zum Tod durch Erschießen verurteilt. Bis zuletzt uneinsichtig und ohne Schuldgefühl, aber treu und fest zu seinem Herrn und Meister stehend demonstrierte Robert Wagner ein allerletztes Mal, welch glühender Anhänger Hitlers, welch fanatischer Nationalsozialist er spätestens seit 1923 gewesen war. Dank seiner Brutalität und Rücksichtslosigkeit, seines Organisations- und Führungstalents, seines eisernen Willens und seines Fleißes war es ihm gelungen, zur »herausragenden NS-Führergestalt in Baden« 2 aufzusteigen und dank seines sicheren Machtinstinkts diese Position 20 Jahre lang unangefochten innezuhaben. Zweifellos zählte er zu den mächtigsten Männern des »Dritten Reiches«. Er war einer von zuletzt etwa 40 Gauleitern, von denen nur elf auch zu Reichsstatthaltern und nur sechs außerdem zu Chefs der Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten ernannt wurden. Allerdings gehörte er auch zu den ganz wenigen Gauleitern, die nach dem Krieg für ihre Taten mit ihrem Leben zahlen mußten. Insbesondere seine fast grenzenlose Macht im Elsaß erlaubte es ihm, den Einfluß des Berliner Staatsapparates auch in Baden gering zu halten. Formal beruhte seine Ma ch t a uf de r I m med i a tst el lu ng zu Hi tl er ; s ie wa r a be r a uc h F olg e d er gu te n persönlichen Beziehung zum Führer und dessen unmittelbarer Umgebung sowie seines beinahe freundschaftlichen Verhältnisses zu Goebbels, bei dem er in hohem Ansehen stand. 3 Im Gegenzug zu seiner Treue ließ Hitler ihm in seinem Gau weitgehend freie Hand. Hier lag seine Hausmacht. Rivalitäten brauchte er nicht zu befürchten, weder von seiten der SA noch von seiten seines Stellvertreters oder des Ministerpräsidenten. Einen Gauleiterwechsel infolge eines internen Machtkampfes gab es in Baden im Unterschied zu anderen Gauen nicht. Der innere Kreis der badischen Parteiführung, die sogenannte Gauclique, gehorchte ihm bedingungslos; und über die nationalsozialistische Landesregierung scheint er souverän hinwegregiert zu haben. Eine Machtbasis außerhalb seines Heimatgaues besaß er jedoch nicht. Insofern stand und fiel seine Machtposition - Ludger Syré 734 1 Zit. nach Grill, Johnpeter Horst, The Nazi Movement in Baden, 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S. 518 unter Berufung auf die New York Times, 25. August 1946. Wagners letzte Worte auch in Le Nouveau Journal de Strasbourg, 15. August 1946, S. 1. In diesem wie in manchen anderen Fällen verdankt der Autor Hinweise auf entlegene Quellen dem Aufsatz von Ferdinand, Horst, Die Misere der totalen Dienstbarkeit. Robert Wagner (1895 - 1946), NSDAP-Gauleiter, Reichsstatthalter von Baden, Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, in: Eberbacher Geschichtsblatt 91 (1992), S. 97-209. 2 Sauer, Paul, Staat, Politik, Akteure, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttgarter Symposium 1), Stuttgart 1988, S. 14-28, hier S. 24. 3 »Sauberer Junge«, »Wagner ist ordentlich, klug, sauber und treu«, »Er gehört zu unseren besten Gauleitern« - Charakterisierungen wie diese sowie die persönlichen Kontakte zu Wagner und seiner Frau hat Joseph Goebbels in seinen Tagebüchern festgehalten. Fröhlich, Elke (Hrsg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, sämtliche Fragmente, Teil I, Aufzeichnungen 1924 - 1945, Teil II, Diktate 1941 - 1945, München 1987 ff. <?page no="736"?> durchaus typisch für die atavistische Konstruktion des »Dritten Reiches« - mit dem Verhältnis zu Hitler. 4 Hitlers Befehlen zu gehorchen fiel ihm nicht schwer. Da Hitlers Weltanschauung aber auch seine Weltanschauung war, nahm er Befehle gelegentlich in vorauseilendem Gehorsam vorweg. Er war jedoch keineswegs nur der Erfüllungsgehilfe seines Führers in Berlin, sondern bildete innerhalb seines Machtbereichs und Entscheidungsspielraums selbst den Ausgangspunkt der Befehlskette. Er, nicht Hitler, entschied in Baden und später im Elsaß über Leben und Tod. Und hier war er keineswegs zimperlich, wie noch zu zeigen sein wird. Für die hierzulande gern gehörte Einschätzung, in Baden (und Württemberg) sei vieles »moderater, erträglicher« abgelaufen, hätten nicht »die schlimmsten Scharfmacher« das Feld beherrscht 5 , eignet sich Robert Wagner als Kronzeuge jedenfalls nicht. Das folgende Lebensbild Robert Wagners gliedert sich in fünf Abschnitte. Zuerst gilt es nachzuvollziehen, wie Wagner den Weg ins rechte Lager fand, was ihn für die Karriere eines »mustergültigen Nationalsozialisten« disponierte (der Putschist); sodann wird gezeigt, wie Wagner die NSDAP in Baden auf Erfolgskurs brachte und dem Nationalsozialismus und Hitler den Weg zur Macht ebnete (der Gauleiter); nach der Machtergreifung, Gleichschaltung und Ausschaltung politischer Gegner setzte Wagner seine Weltanschauung in Baden um, wobei das Augenmerk auf sein Verhältnis zu den regionalen Eliten (Wirtschaft, Beamte, Kirche) einerseits, auf die Verfolgung der Juden andererseits gelegt wird (der Reichsstatthalter); die als persönliche Herausforderung empfundene Germanisierung des praktisch von Deutschland annektierten Elsaß versuchte Wagner mit allen Mitteln, aber letztlich ohne Erfolg durchzusetzen (der Chef der Zivilverwaltung); den Sturz von der totalen Macht zum totalen Untergang versuchte Wagner bis zur letzten Minute durch Zerstörungsbefehle und Durchhalteterror aufzuhalten, bis ihm ein Gericht einen Teil seiner Verbrechen gegen die Menschlichkeit - nämlich nur die im Elsaß begangenen - vorhielt und ihn zum Tode verurteilte (der Verbrecher). 1. Zur Sozialisation eines Parteisoldaten: Wagner empfiehlt sich dem Führer Als Robert Heinrich Backfisch wurde Wagner am 13. Oktober 1895 als zweites von fünf Kindern in Lindach bei Eberbach am Neckar geboren. Sein Vater, Peter Backfisch, war Landwirt; seine Mutter hieß Katharina Backfisch geb. Wagner. Diesen Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 735 4 Vgl. Grill (wie Anm. 1), S. 515 und 536. Wenig plausibel klingt die Behauptung Friedrich-Karl Müller-Trefzers, Wagner sei »in vielem fast nur noch ein Werkzeug in den Händen seiner vielfach recht skrupellosen Parteifunktionäre« gewesen. Müller-Trefzer, Karl-Friedrich, Erinnerungen aus meinem Leben. 1879 - 1949, S. 181, GLA 65/ 11746. 5 Sauer (wie Anm. 2), S. 28. <?page no="737"?> respektabler klingenden Mädchennamen der Mutter nahm Robert 1921 mit Erlaubnis des Ministeriums an, aus welchen Gründen auch immer. 6 Die Familie war evangelisch, doch bezeichnete sich Wagner ab Ende der 30er Jahre als »gottgläubig«, um zum Ausdruck zu bringen, daß er zwar der Kirche fernstehe, aus der er natürlich ausgetreten war, aber deswegen noch nicht atheistisch sei. 7 Alle zeitgenössischen Biographien betonen die Herkunft aus altem fränkischen Bauerngeschlecht, das auch schon mehrere Lehrer hervorgebracht habe. Der Lebensweg Wagners schien also vorgezeichnet zu sein. Nach dem Besuch der Volksschule von 1902 bis 1910 trat er mit dem Ziel, Lehrer zu werden, in die Präparandenanstalt in Heidelberg ein und wechselte nach dem dreijährigen Vorseminar zu Ostern 1913 auf das Lehrerseminar. Als jedoch im August 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, erfaßte auch ihn die Kriegs- und Vaterlandsbegeisterung. Der 19jährige meldete sich als Freiwilliger in Mannheim. Nach dem Krieg setzte er das Lehrerstudium nicht fort. Er besaß infolgedessen keine abgeschlossene Berufsausbildung, auch nicht das Abitur, sondern einen Schulabschluß auf der Ebene der Mittleren Reife. Mit dem 2. Badischen Grenadierregiment 110 rückte Wagner in den Krieg und erlebte in den folgenden Jahren einige der berüchtigtsten Schlachten an der Westfront; u.a. kämpfte er in Flandern, Verdun und an der Somme, vor Loretto und in der Champagne. 8 Wenn die NS - Propagandisten hervorhoben, daß Wagner sich in den schweren Kämpfen wiederholt vor dem Feinde ausgezeichnet habe, dann ist das sicherlich zutreffend, denn die schnelle Folge seiner Beförderungen - 15. März 1915 zum Gefreiten, 15. August 1915 zum Vizefeldwebel, 23. Februar 1916 zum Leutnant 9 - läßt erahnen, daß Wagner ein kühner Soldat mit Führungseigenschaften gewesen sein muß. Auch seine militärischen Auszeichnungen sprechen dafür: 1915 bekam er das EK II verliehen, zwei Jahre später das EK I und im August 1918 das Ritterkreuz II. Klasse mit Schwertern des Ordens vom Zähringer Löwen. Bereits ein Jahr nach Kriegsausbruch, im August 1915, wurde Wagner verletzt und erhielt dafür später das Verwundetenabzeichen in Schwarz. Wagner sei ein »lebhafter, gewissenhafter, vom Feuer ungebrochener junger Offizier mit gefestigtem Charakter« gewesen, bescheinigte ihm einer seiner Vorgesetzten. 10 Sein Münchener Verteidiger führte 1924 vor Gericht an, Leutnant Wagner Ludger Syré 736 6 »Hänseleien im Offizierskasino« vermutet Ferdinand (wie Anm. 1), S. 101. Wagner habe seinen Namen »seinen heldischen Wunschvorstellungen angepaßt«, schreibt, unter Anspielung auf Richard Wagner, Toury, Jacob, Die Entstehungsgeschichte des Austreibungsbefehls gegen die Juden in der Saarpfalz und Baden (22./ 23. Oktober 1940), in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte 15 (1986), S. 431 - 464, hier S. 461. 7 Maser, Werner, Der Sturm auf die Republik. Frühgeschichte der NSDAP, Stuttgart 1973, S. 316 vermutet fälschlicherweise, wohl auf Grund des Namens, jüdische Abstammung. 8 Grill, Johnpeter Horst, Robert Wagner. Der »Herrenmensch« im Elsaß, in: Die braune Elite Bd. 2, hrsg. v. R. Smelser, E. Syring, R. Zitelmann, Darmstadt 1993, S. 254-267, hier S. 255 (stellvertretend für weitere Quellen). 9 Der im Berliner Document Center BA, Abt. III (BDC)1464/ 24 vorhandene »Personal-Nachweis« unterrichtet über die Militärzeit. <?page no="738"?> habe sich im Felde einen »ausgezeichneten Ruf« erworben. 11 Und seine militärische Laufbahn kann nach Ferdinand als durchaus »respektabel« bezeichnet werden. 12 Ob Wagner bereits als Lehramtskandidat oder als Kriegsteilnehmer politisch interessiert und engagiert gewesen ist, wie er später behauptet haben soll, muß offen bleiben. Entscheidend prägte sein politisches Bewußtsein der Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918 und die [natürlich] als »Dolchstoß« empfundene militärische Niederlage Deutschlands, die ihn, so die NS-Panegyrik, »vollends wachgerüttelt« habe. 13 In die letzten Kriegstage fällt ein von Wagner als Schlüsselerlebnis für seinen Haß auf die Linke, auf Deserteure und die »Novemberverbrecher« eingeschätzter Vorfall: »Als am 2. November 1918 der Neffe des nunmehrigen Reichspräsidenten, Vizefeldwebel Ebert, bei Valenciennes die Mannschaften zur Meuterei aufforderte und hinter der Front sammelte, wurde ich beauftragt, die Meuterer wieder an die Front vorzuführen. Dabei kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen mir und Ebert. Ebert hatte die Mannschaft bereits soweit verhetzt, daß mir einer eine Handgranate nachwarf und ein anderer das Gewehr auf die Brust setzte. Ebert erklärte mir, daß das Regiment nicht mehr weiterkämpfe und seinen Vorgesetzten den Gehorsam verweigern werde, denn die Revolution stehe bereits bevor. Auf die Frage an Ebert, woher er denn das wisse, erklärte dieser, das weiß ich von meinem Onkel (dem jetzigen Reichspräsidenten). Vizefeldwebel Ebert selbst war sozialdemokratischer Parteisekretär. Was er mir gelegentlich des Rückzuges noch angetan hat, will ich verschweigen.« 14 Wie viele andere Kriegsteilnehmer konnte sich Wagner mit dem Zusammenbruch der Monarchie, der Niederlage Deutschlands und dem als Schmach empfundenen Versailler Vertrag nicht abfinden. »Der 9. November«, so bekannte er gerne, »ist der unglücklichste Tag unseres Lebens. An diesem Tag brach für uns nicht nur ein Staat zusammen, da versank für uns Deutschland, seine Ehre und seine Freiheit.« 15 Mit vielen anderen seiner Generation teilte Wagner das Unvermögen, die als militärische und politische Katastrophe eingeschätzte Situation Deutschlands bei Kriegsende individuell zu bewältigen. Statt ins zivile Leben zurückzukehren und einen bürgerlichen Lebensweg einzuschlagen, blieb er Soldat. Er schloß sich einem Freiwilligenbataillon seines Regiments an und beteiligte sich an der Niederschlagung revolutionärer Aufstände in Nordbaden. Die Gelegenheit, seinen Kampf auf der Seite der Konterrevolution zugunsten der sozialdemokratischen Regierung höhnisch und genüßlich auszuschlachten, ließ sich die NS-Propaganda später nicht entgehen: »Der Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 737 10 Zit. nach Grill (wie Anm. 8), S. 255. 11 Der Hitler-Prozeß vor dem Volksgericht in München (2 Teile in 1 Band), München 1924, hier Teil 2, S. 58. 12 Ferdinand (wie Anm. 1), S. 103. 13 So z.B. in: Robert Wagners Kampf um Baden, in: »Der Führer«, 30. März 1935, S. 1. 14 Der Hitler-Prozeß (wie Anm.11), S. 88. Gemeint war offenbar Karl Friedrich Ebert, dessen Teilnahme am Krieg jedoch schon während des Prozesses seitens der SPD bestritten wurde. 15 »Der Führer«, 10. März 1937. <?page no="739"?> Weltkrieg ist aus, und als der junge Kriegsleutnant Robert Wagner mit seiner Truppe in die Heimat zurückkehrt, da lümmeln sich die Novemberrevolutionäre durch die Straßen. Da packt ihn der Soldatenzorn über das Verräterpack: er hilft aufräumen [...]. Und da ergibt sich das ergötzliche Schauspiel, daß die erste badische Novemberregierung, die Herren Geiß, Haas, Marum, Wirth, Dietrich, Brümmer, Stokkinger, Rückert, Martzloff, Schwarz, zu Beginn des Jahres 1919 sich dem Schutz des jungen Kriegsleutnants Robert Wagner und seiner kampferprobten Truppe unterstellt! « 16 »Seiner soldatischen Natur folgend« 17 trat Wagner am 28. Februar 1919 dem Badischen Volksheer als Freiwilliger bei, um Berufssoldat zu werden. Aufgrund der militärischen Auflagen des Versailler Vertrags, die u.a. die Entmilitarisierung des linken und eines 50 km breiten Gebietsstreifens des rechten Rheinlands vorsahen, wurden die badischen Garnisonen geschlossen und ins Reichsinnere verlegt. Wagners Bataillon wurde nach Meiningen in Thüringen, das ebenfalls badischer Standort geworden war, verlegt, wo ihm im März 1920 »dieselben bitteren Erfahrungen mit Sozialdemokraten« erneut klarmachten, daß sein politischer Standort rechts zu sein habe: In Meiningen »hatte ich aus vaterländischen Gründen einen erheblichen Teil der Waffen, die abgeliefert werden sollten, außerhalb der Kaserne untergebracht. Die sozialistische thüringische Regierung erhielt davon Kenntnis, beschlagnahmte die Waffen, nahm mich fest und machte die Sache beim Staatsgerichtshof anhängig, der sie aber niederschlagen mußte. Damit war für mich das Maß der Erbitterung voll. Ich erkannte, daß eine Befreiung solange unmöglich ist, als es in Deutschland einen Sozialisten gibt. Denn daß eine Befreiung des Vaterlandes von seinen inneren und äußeren Feinden nicht durch Konferenzen möglich ist, darüber war ich mir immer klar. Mei ne böse n E rfahr ung en mit der Sozi al demok ratie ließen mich die rote Gefahr für das Volk klar erkennen. So wurde ich nun entschiedener und unerbittlicher Kämpfer für die nationale Sache. Meinen Soldaten habe ich meine Kenntnis der inneren Zustände Deutschlands nie vorenthalten.« 18 Die Intervention des Reichswehrministeriums rettete Wagner vor Strafverfolgung, aber nicht vor der Ausweisung. Nach Baden zurückverlegt, stieß er auch in Villingen mit der Polizei zusammen, weil er sich als »königlich-preußischer Leutnant« bezeichnete und rechte Gesinnungsfreunde mit Waffen versorgte, die vor den Franzosen versteckt gehalten worden waren. 19 Entscheidend für sein weiteres Leben wurde schließlich der 21. September 1923, an dem er als Reichswehrleutnant an die Ludger Syré 738 16 Schirach, Baldur von, Robert Wagner, in: ders., Die Pioniere des Dritten Reiches, Essen 1933, S. 230-234, hier S. 230 f. (Der Text stammt vermutlich von Franz Moraller, der als Pressechef der Badischen Staatsregierung einen fast textidentischen Beitrag lieferte: Der Reichsstatthalter in Baden Robert Wagner, in: Die Reichsstatthalter. Ein Volksbuch, hrsg. v. K. Ekkehart, Gotha 1933, S. 26-30. 17 Robert Wagner 45 Jahre alt, in: »Völkischer Beobachter«, 13. Oktober 1940, S. 2. 18 Der Hitler-Prozeß (wie Anm. 11), Teil 1, S. 88 f. 19 Nach Grill (wie Anm. 8), S. 256 und Grill (wie Anm. 1), S. 91. <?page no="740"?> Infanterieschule nach München geschickt wurde. »Diesem Kommando bin ich mit großer Freude gefolgt. Seit Jahren war die Aufmerksamkeit der Nationalen auf die nationale Entwicklung in Bayern gerichtet. Sie erwarteten nicht mehr und nicht weniger als die Befreiung des deutschen Volkes von Bayern aus. Unsere Hoffnung schien begründet.« 20 Der verhinderte Lehrer Wagner setzte an dieser direkt der Reichswehr und dem Kriegsministerium unterstellten, von 400 Schülern besuchten wichtigsten Offiziersausbildungsstätte Deutschlands 21 seine politische Agitation fort. 22 Wagner lernte Erich Ludendorff kennen und besuchte eine Kundgebung Adolf Hitlers. Und dieser Besuch hatte Folgen: »Als ich diesen Mann zum ersten Mal sprechen hörte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Er sprach das aus, was ich gern ausgesprochen hätte, aber damals nicht aussprechen konnte.« 23 Fast alle Schüler der Infanterieschule waren Dornberg zufolge »leidenschaftliche Anhänger der vaterländischen Sache, somit auch Ludendorffs und Hitlers. Der begeistertste unter ihnen war Leutnant Robert Wagner.« 24 Ihm fiel es deshalb nicht schwer zu folgen, als er am Morgen des 8. November von Oberleutnant Heinz Pernet, dem Stiefsohn des Generalstabschefs a.D., die Anweisung erhielt, die Infanterieschule als »persönliche Sturmabteilung für Exzellenz Ludendorff« einsatzbereit zu machen. Abends konnte Wagner die Offiziersschüler bewaffnet dem Kommando Gerhard Rossbachs übergeben, der sie in das Zentrum der Putschisten, den Münchener Bürgerbräukeller führte; von dort aus beteiligten sie sich am anderen Morgen an Hitlers legendärem Marsch auf die Feldherrenhalle, wo der Putschversuch, der am Vorabend mit der Ausrufung der »nationalen Revolution« begonnen hatte, blutig endete. Zu den Verhafteten und in die Festung Landsberg Überführten gehörte auch Wagner. Am 26. Februar 1924 begann vor dem Volksgericht in München gegen Hitler, Ludendorff und acht weitere Angeklagte, darunter Wagner, der Prozeß wegen gemeinschaftlich begangenem Hochverrat. Wagner wurde darüber hinaus vorgeworfen, die Infanterieschule »hinter dem Rücken der Vorgesetzten« alarmiert und auf die Seite des Kampfbundes gezogen zu haben. Bevor Wagner am 6. Verhandlungstag vernommen wurde, verlas der Vorsitzende ein Führungszeugnis, das Wagner von seinem Vorgesetzten, dem Lehrgangskommandeur Oberst Leupold ausgestellt worden war und Charaktereigenschaften hervorhob, die ihm auch später von seinen Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 739 20 Der Hitler-Prozeß, Teil 1 (wie Anm. 11), S. 89. 21 Vgl. dazu Dornberg, John, Der Hitlerputsch. München, 8. und 9. November 1923, Frankfurt 1989, S. 32. 22 Ferdinand (wie Anm. 1), S. 103 f. belegt, daß Wagner als Offiziersschüler nach München kam, während Karl Höffkes in seinem Bemühen, Wagners Leben zu heroisieren, ihn als Ausbilder an die Infanterieschule versetzt: Hitlers politische Generale. Die Gauleiter des Dritten Reiches. Ein biographisches Nachschlagewerk, Tübingen 1986, S. 372. 23 Straßburger Neueste Nachrichten, 10. Februar 1941. 24 Dornberg (wie Anm. 21), S. 32. Ob die von Dornberg mitgeteilten Einzelheiten und wörtlichen Zitate der Putschbeteiligten, darunter auch Wagner, stimmen, muß zumindest mit einem Fragezeichen versehen werden, weshalb sie hier nicht wiederholt werden sollen. <?page no="741"?> Mitarbeitern immer wieder attestiert wurden 25 : »Wagner ist ein aufrechter, sehr selbständiger Charakter, zielbewußt, sicher und von glühender Vaterlandsliebe beseelt. Er hat ideale Berufsauffassung, strebt nach den höchsten Zielen, hält an dem für Recht Erkannten mit Zähigkeit fest. Seine Führung war bisher tadellos.« 26 Zu seiner Verteidigung führte Wagner aus, wie er zu seiner politischen Einstellung und damit zur völkischen Bewegung gekommen sei; den Vorwurf des Hochverrats wies er zurück. Sein Verteidiger plädierte, im Unterschied zu der vom Staatsanwalt beantragten eineinhalbjährigen Festungshaft, auf Freispruch: »Sprechen Sie Wagner frei, einen Mann, der in den Kreisen seiner Kameraden und Vorgesetzten außerordentlich angesehen ist, einen Offizier, zu dem wir unsere Reichswehr nur beglückwünschen können.« 27 Die Richter waren anderer Ansicht. Sie verurteilten Wagner am 27. März, dem 24. Verhandlungstag, zu einer Strafe von einem Jahr und drei Monaten Festungshaft, abzüglich zwei Monate und drei Wochen Untersuchungshaft, und zu einer Geldstrafe von 100 Goldmark. Er konnte das Gericht als freier Mann verlassen, da ihm mit sofortiger Wirkung eine Bewährungsfrist bis 1. April 1928 eingeräumt wurde. Das Gericht hielt ihm zugute, über die Ziele des Deutschen Kampfbundes nicht näher unterrichtet gewesen zu sein, sah es aber als erwiesen an, daß Wagner am 8. November das Verhalten der Infanterieschule wesentlich mit herbeigeführt habe. 28 Insofern sind entsprechende Behauptungen in den parteiamtlichen Biographien Wagners zwar verkürzt, aber nicht ganz falsch. 29 Auch der Mitangeklagte Ernst Röhm lobte Wagners Rolle: »An Weihnachten traf Leutnant Wagner in Stadelheim ein. Der frische, begeisterte junge Offizier hatte am 9.11. als Führer der zur Infanterieschule kommandierten Offiziere sich besonders hervorgetan. [...] Im Februar verließ uns Leutnant Wagner wieder; er wurde auf freien Fuß gesetzt.« 30 Die Reichswehr wollte sich zu einem Offizier wie Wagner offenbar nicht beglückwünschen lassen, wie Wagners Verteidiger gemeint hatte; sie entließ ihn am 31. Mai 1924. 31 Wagner-Biograph Franz Moraller schlachtete auch dieses aus: »Die Reichs- Ludger Syré 740 25 Z.B. Ernst, Robert, Rechenschaftsbericht eines Elsässers, 2. Aufl. Berlin 1955, S. 240 f. und Bickler, Hermann, Ein besonderes Land. Erinnerungen und Betrachtungen eines Lothringers, Lindhorst 1978, S. 340. Beide betonen das Starre, Dogmatische, Unflexible in Wagners Charakter und die Neigung, an einmal gefaßten Urteilen stur festzuhalten. 26 Hitler-Prozeß, Teil 1 (wie Anm. 11), S. 88. 27 Hitler-Prozeß, Teil 2 (wie Anm. 11), S. 60. 28 Hitler-Prozeß, Teil 2 (wie Anm. 11), S. 91 f. und 97 f. 29 Z.B. heißt es im »Völkischen Beobachter« (wie Anm. 17): »Am 9. November 1923 führte er die Infanterieschule München der jungen Bewegung zu und marschierte mit den Männern der Sturmabteilungen und der Reichskriegsflagge zur Feldherrnhalle.« 30 Röhm, Ernst, Die Geschichte eines Hochverräters, 2. neu bearb. Aufl., München 1930, S. 247 f. 31 Insbesondere nationalsozialistische Quellen behaupten, Wagner sei, nachträglich befördert, als Hauptmann aus der Reichswehr verabschiedet worden, z.B. in: Das Deutsche Führerlexikon 1934/ 35, Berlin 1934, S. 513. Höffkes (wie Anm. 22), S. 373 verlegt die Beförderung auf 1933. Ferdinand (wie Anm. 1), S. 99 stellt fest, daß es keinen schriftlichen Beleg dazu gibt. Wagners Schwager behauptete 1950, Wagner habe eine Pension als Hauptmann beziehen können, darauf jedoch verzichtet. GLA 465a/ 51/ 69/ 817. <?page no="742"?> wehr hat ihn ausgestoßen. Sie hat keine Verwendung für Männer, denen das Vaterland über einer sinnlosen Verfassung steht. Adolf Hitler kann ihn dafür um so besser brauchen und schickt ihn in seine Heimat, nach Baden, um dort die nationalsozialistische Idee zum Durchbruch zu bringen.« 32 Wagner blieb jedoch noch einige Zeit in München, wo ein Strafverfahren wegen Beleidigung - er hatte im Hitler-Prozeß den bayerischen Reichswehrkommandanten Otto von Lossow einen »Schuft« genannt - anhängig war, das ihm zwei Monate Haft eintrug, und reiste erst im Herbst 1924 nach Baden zurück. Abermals ohne Beruf ins zivile Leben zurückgekehrt, frei von intensiven familiären, religiösen, sozialen Bindungen erfüllte Wagner nun das Auslesemerkmal so vieler Nationalsozialisten, die völlige Voraussetzungslosigkeit. Bei seiner Entscheidung für den Beruf des Soldaten mag ihn 1919 auch der Wunsch nach Kameradschaft, die Suche nach der militärischen Kollektivgemeinschaft und die Hoffnung auf sozialen Aufstieg geleitet haben. Nun zählte er zur militanten Minderheit der frühen Anhänger Hitlers, die sich aus Gescheiterten, Enttäuschten, Entwurzelten aller Klassen und Schichten zusammensetzte und die vor allem Protest, Gewalt und die Bewegung vereinte. Die Politik wurde für Wagner die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln, die wichtigsten Kategorien, Befehl und Gehorsam, blieben die gleichen. Auch Disziplin, Gewissenhaftigkeit, Ordnung und die Bewunderung von Führergestalten hatte er in der Schule der Armee gelernt. Sein soldatisches Bewußtsein, seinen militärisch beeinflußten persönlichen Stil - er legte Wert auf militärische Äußerlichkeiten, ließ sich bei Inspektionen des Gaugebäudes in strammer Haltung melden, trug meist peinlich genau nach Heeresdienstvorschrift seine Uniform - legte er nie ab. 33 Mit seiner Unterstützung des Hitlerputschs 1923 hatte sich Wagner dem »Führer« gegenüber Verdienste erworben, für die er 1934 mit dem Blutorden, dem höchsten Ehrenzeichen der NSDAP belohnt wurde. Wagner umgab in Zukunft der Nimbus des »Alten Kämpfers«, auch wenn er es nicht nötig hatte, ständig daran zu erinnern, daß er schon 1923 dabei gewesen war. Wie Hitler hatte er seine Lektion in München gelernt; Meuterei und Putsch waren nicht die geeigneten Mittel, an die Macht zu kommen. Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 741 32 Moraller (wie Anm. 16), S. 28. 33 »Befehlen und Gehorchen waren für ihn im politischen Wirken ebenso selbstverständlich wie im militärischen Bereich«, erinnert sich z.B. Robert Ernst (wie Anm. 25), S. 240. Im Unterschied zu anderen Gauleitern, etwa Bürckel, zeigte sich Wagner stets in Uniform. <?page no="743"?> 2. Der Gau Baden greift an: Wagner und die NSDAP in der Kampfzeit Begeistert von Hitler reiste Wagner nach seiner Rückkehr in die badische Heimat durch das Land und sprach zu völkischen Gruppen über Hitler und die nationale Revolution. Seinen ersten öffentlichen Auftritt hatte er am 12. Oktober 1924 bei einer gut besuchten nationalistischen Deutscher-Tag-Feier in Bruchsal, an der er als Vertreter des Karlsruher Frontkämpferbundes teilnahm. 34 Ein paar Tage darauf, am 17. Oktober 1924, ließ Wagner den Schlageterbund, eine Ersatzorganisation für die verbotene SA, bei der Karlsruher Polizei registrieren und sammelte unter diesem Decknamen die Reste der verbotenen Partei. 35 Im Februar 1925 fuhr er nach München und traf dort Hitler, der am 20. Dezember 1924 wegen guter Führung sehr vorzeitig aus Landsberg entlassen worden war und am 27. Februar 1925 die NSDAP im Reich neu gründete. Hitler beauftragte den neuen Parteigenossen (Mitgliedsnummer 11.540) mit dem Aufbau der NSDAP in Baden. Wagner handelte sofort und lud für den 22. März verschiedene völkische Führer und Nationalsozialisten in den Karlsruher Gasthof »Prinz Carl« ein und gründete den Gau Baden der NSDAP. 36 Er selbst wurde von Hitler mit der Gauleitung beauftragt - und wurde damit zum 20 Jahre lang unumstrittenen obersten Repräsentanten des Nationalsozialismus in Baden und ab 1940 auch im Elsaß. Bereits vor dem Verbot der Partei durch das Badische Innenministerium existierten mehrere naionalsozialistische und völkische Gruppierungen; 1923 zählte die Partei mindestens 19 Ortsgruppen und Stützpunkte. Wagner brauchte also nicht ganz von vorne anzufangen. 37 Doch blieb die Partei zunächst klein und unbedeutend und erlitt bei der ersten Wahlbeteiligung 1925 gleich eine Schlappe, wie Wagner zugeben mußte. 38 Als sich jedoch die Phase der relativen Stabilität der Weimarer Republik dem Ende näherte, wuchsen die Erfolge der Partei, im Reich und in Baden, woran Wagner sicherlich einen großen Anteil hatte. Am 4. Februar 1927 gab er die Parole aus: »Der Gau Baden greift an! Für diesen Kampf erwarte ich den bedingungslosen Einsatz aller Parteigenossen mit Gut und Blut. Unser Opfer soll die Saat des neuen Deutschland sein. Wer zu feige ist, dieses Opfer zu bringen, den fordere ich auf, sich von uns zu entfernen.« 39 Ludger Syré 742 34 GLA 344/ 6583. 35 Grill (wie Anm. 1), S. 109. 36 In der Literatur findet man als Gründungsdatum auch den 25. März. Als am 22. März 1941 der Gau Elsaß der NSDAP gegründet wurde, geschah dies auf den Tag genau 16 Jahre nach der Gründung in Baden. 37 Die Geschichte der NSDAP in Baden findet sich beschrieben bei Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), S. 331-375. 38 Grill (wie Anm. 1), S. 124. 39 »Südwestdeutscher Beobachter«, Nr. 9, 4. Februar 1927, zit. nach Bräunche (wie Anm. 37), S. 338. <?page no="744"?> Gerade Deserteure haßte der ehemalige Soldat Wagner: »Wenn aus der Partei Ausgetretene oder Ausgeschlossene Sie aufsuchen«, soll er auf einer Mitgliederversammlung gesagt haben, »nehmen Sie einen Notizblock zur Hand, notieren Sie alles gut auf, ziehen Sie sich aber ein dickes Elefantenfell über die Ohren und machen Sie weiter keinen Gebrauch davon. Aber Ihre Notizen bewahren Sie sich gut auf bis zum Tage der großen Abrechnung und - Rache, damit wir mit diesen Elementen zuerst abrechnen können.« 40 Mit unermüdlichem Einsatz brachte Wagner ein erstaunliches Pensum an politischen Veranstaltungen hinter sich, dabei unterstützt von den Reichsführern Gregor Strasser, Joseph Goebbels u.a.; auch Hitler durfte nach seinem Redeverbot seit 1927 in Baden auftreten. Einer der fleißigsten Redner im Wahljahr 1928 war Robert Wagner, der es auf 199 Versammlungsreden brachte. 41 Diese Leistung, so ist bemerkt worden, sei um so erstaunlicher, wenn man bedenke, daß Wagner 1928 fast zwei Monate im Gefängnis gesessen habe und kein sonderlich begabter Redner gewesen sei. 42 Ob dieses offenbar auf Walter Köhler zurückgehende und gerne zitierte Urteil über Wagners rhetorische Fähigkeiten zutrifft, muß an dieser Stelle offenbleiben. Es ist sicherlich subjektiv gefärbt - Köhler galt im Unterschied zum Gauleiter als guter Redner; vielleicht kompensierte Wagner ja wirklich fehlende Rednerqualitäten durch die Anzahl seiner Auftritte in Baden, im Reich und (ab 1940) im Elsaß. Auf jeden Fall verstand Wagner etwas von Propaganda. Hitlers »Mein Kampf« hatte er aufmerksam gelesen und verfaßte auf dieser Basis einen Ratgeber für den täglichen Kampf der Parteigenossen. 43 An zweiter Stelle nach dem »gesprochenen Wort« rangierte das »geschriebene Wort«. Wagner sorgte deshalb dafür, daß sich der Gau Baden nicht länger mit dem Nachbargau Württemberg den »Südwestdeutschen Beobachter« teilen mußte, sondern eine eigene Gauzeitung erhielt: Am 5. November 1927 erschien in Karlsruhe die erste Ausgabe des »Führer«, der zunächst als Wochen- , dann als Tageszeitung herauskam und zu dessen Mitarbeitern »Nazis der ersten Stunde« zählten, neben Wagner Franz Moraller, Ludwig Ankenbrand, Otto Wacker, Walter Köhler und Karl Lenz. Der »Führer« wurde das Zentralorgan der Partei auf Gauebene, die übrigen NS-Presseorgane, von Wagner streng kontrolliert, behielten ihren lokalen Charakter bei. 44 Die genannten Personen gehörten zum Kreis der Gauclique oder zum Dunstkreis des badischen Gauleiters. Hinzu kamen Namen wie Herbert Kraft, Franz Merk, Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 743 40 So der Vorwurf des von der Arbeiterpolitik der Partei enttäuschten NSDAP- und früheren SPD- und KPD- Mitglieds Herrmann Friedrich, Unter dem Hakenkreuz. Meine Erlebnisse als Agitator bei der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Karlsruhe 1929, S. 5. Vgl. zu ihm auch Grill (wie Anm. 1), S. 134. 41 Tyrell, Albrecht, Führer befiehl...: Selbstzeugnisse aus der »Kampfzeit« der NSDAP. Dokumentation und Analyse, Düsseldorf 1969, S. 224. 42 Bräunche (wie Anm. 37), S. 344. 43 Wagner, Robert, Propaganda und Organisation im Gau Baden der NSDAP (Braune Bücherei 1), Karlsruhe 1931. 44 Daneben gab die Partei die Reihe »Braune Bücherei« heraus, in der bekannte NS-Texte, aber auch Wagners eigene Elaborate veröffentlicht wurden. <?page no="745"?> Albert Roth, Adolf Schuppel, Friedhelm Kemper, Karl Pflaumer, Hermann Röhn, August Kramer, Adolf Schmid u.a. Es handelte sich um die Leiter wichtiger Gauämter, Landtagsabgeordnete, Führer von Parteigliederungen und Massenorganisationen, spätere Staatsminister. Die meisten stammten aus Nordbaden, also aus jener Region, in der die NSDAP vor 1933 ihre größten Wahlerfolge verbuchen konnte. In die »Kampfzeit« fallen zahlreiche Gerichtsverfahren gegen führende Nationalsozialisten. Nicht ohne Stolz vermerkt das Deutsche Führerlexikon, Wagner sei »sechsmal für die Freiheitsbewegung auf Festung bzw. im Gefängnis« gewesen. 45 Am 7. März 1929 stand Wagner zusammen mit zwei Parteigenossen wegen Beleidigung vor Gericht in Freiburg; er wurde freigesprochen. 46 1928 mußte er jedoch eine zweimonatige Haftstrafe antreten wegen eines Zeitungsartikels, für den er nach Ansicht des Gerichts verantwortlich war. 47 Mehrmals bat das Justizministerium den Landtag, die Immunität des Abgeordneten Wagner aufzuheben, damit er vor Gericht gestellt werden konnte, doch nicht immer wurde dem Wunsch stattgegeben. 48 Spektakulär, da mit parlamentarischem Nachspiel verbunden, war ein Vorfall im »Darmstädter Hof« in Karlsruhe am 18. Dezember 1929, der zeigt, daß Wagner auch persönlich gegen politische Gegner handgreiflich werden konnte. In der genannten Wirtschaft provozierten die Nationalsozialisten die anwesenden Mitglieder einer internationalen Eisenbahntarifkommission durch das Singen antifranzösischer Lieder. Darum gebeten, das Singen einzustellen, beschimpfte Wagner einen Reichsbahnoberinspektor aus Altona mit »Schwein, Pack, gemeiner Kerl, Lump« und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Nachdem der Landtag am 14. Januar 1930 der Aufhebung der Immunität Wagners zugestimmt hatte 49 , konnte das Verfahren gegen den »Schriftsteller« Wagner und den Schriftleiter Moraller wegen erschwerter Körperverletzung und Beleidigung eröffnet werden. Am 6. März erhielt Wagner eine Geldstrafe von 100 RM. Das milde Urteil erklärt sich dadurch, daß dem verletzten Reichsbahner vom Gericht falsches Verhalten vorgeworfen wurde: »Er wusste doch, daß er es mit Nationalsozialisten zu tun hatte, und er musste sich doch auch in Berücksichtigung der allgemein bekannten fanatischen Einstellung der Nationalsozialisten dem ehemals feindlichen Ausland gegenüber sagen, dass die Nationalsozialisten in die grösste Erregung versetzt werden, wenn sie zu hören bekommen, dass wegen der Ausländer die Soldatenlieder nicht gesungen werden sollten.« 50 Dieser Einstellung und Einschätzung ist wohl nichts hinzuzufügen. Ludger Syré 744 45 Das Deutsche Führerlexikon (wie Anm. 31), S. 513. Und der »Völkische Beobachter« (wie Anm. 17) formulierte: »Durch Not und Entbehrungen und durch die Gefängnisse des Systems ging sein Weg immer vorwärts.« 46 Bräunche (wie Anm. 37), S. 346. 47 Bräunche (wie Anm. 37), S. 345. 48 So z.B. bei einem vom Landtag als Pressevergehen eingestuften Kundgebungsaufruf. Verhandlungen des Badischen Landtages, IV. Landtagsperiode, 50. Sitzung, 17. Juni 1931, Sp. 2685 f. 49 Verhandlungen (wie Anm. 48), 10. Sitzung, 14. Januar 1930, Sp. 478 ff. 50 GLA 465c/ 16312. <?page no="746"?> Beide Seiten gingen in die Revision, mit dem Ergebnis, daß Wagner nun wegen leichter Körperverletzung verurteilt und vom Vorwurf der Beleidigung freigesprochen wurde. Die Strafe blieb bei 100 RM, weil Wagner mit den Tätlichkeiten angefangen habe, »obwohl gerade er als Gauführer der Nationalsozialisten auf eine Verhütung der Tätlichkeiten hätte hinwirken müssen und obwohl für ihn als Volksvertreter besondere Zurückhaltung geboten gewesen wäre.« 51 Den erneuten Revisionsantrag verwarf der Strafsenat des Oberlandesgerichts am 11. Oktober 1930 als unzulässig. Die propagandistische Arbeit der badischen Nationalsozialisten erreichte 1929 einen neuen Höhepunkt und zahlte sich aus; die Partei erzielte 7% der Stimmen und zog mit sechs Abgeordneten in den Badischen Landtag ein. Gemäß der von Goebbels vorgegebenen Marschrichtung nutzten die NSDAP-Abgeordneten den Landtag als politische Bühne und betrieben, sofern sie nicht in eigener Sache sprachen, eine Obstruktionspolitik. Wichtig waren die Diäten und die Freifahrten mit der Reichsbahn. Wagner interessierte sich für die parlamentarische Arbeit nicht im Geringsten. Den Fraktionsvorsitz überließ er Walter Köhler. Während der ersten Sitzungsperiode soll er in 41 von 68 Sitzungen gefehlt haben. 52 Entsprechend selten waren seine Auftritte: »Im Landtag selbst bin ich bisher nur zu außergewöhnlichen Anlässen als Redner aufgetreten«, schrieb er 1932 an Reichsorganisationsleiter Strasser. 53 Wichtige Anlässe bildeten die gegen die NSDAP gerichteten Verbotsmaßnahmen des Badischen Innenministeriums, z.B. das Tragen der Parteiuniform und das Mitführen der Hakenkreuzfahne betreffend. Wagners Argumentation läßt erkennen, wie er sich, nun scheinbarer Anhänger des Legalitätsprinzips, den Griff nach der Macht vorstellte. Er halte, so sagte er am 18. Oktober 1930 im Landtag, das Uniformverbot für verfassungswidrig und wolle eifersüchtig über die staatliche Einhaltung der Verfassung und Gesetze wachen, »und zwar deshalb, weil wir in dieser Verfassung und in den von Ihnen geschaffenen Gesetzen den Weg erkannt haben, der zum sicheren Sieg der nationalsozialistischen Bewegung führen muß.« 54 Und in seinem Schlußwort vor der Abstimmung, bei der die NSDAP-Fraktion unterlag, sagte er: »Wir Nationalsozialisten denken nicht daran, die Dummheit zu begehen, gegen den Staat, so wie Sie es bezeichnen, mit Gewalt vorzugehen. Nein, im Gegenteil; ich habe heute Vormittag schon erklärt [...], [daß] für uns die Weimarer Verfassung und Badische Verfassung nur Weg zum Ziele sein kann. [...] Der Tag wird kommen, wo das Machwerk von Weimar mit Ihrem sogenannten Staate in sich zusammenbricht.« 55 Drohungen wie diese, von Tumulten im Parlament begleitet, Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 745 51 GLA 465c/ 16312. 52 Bräunche (wie Anm. 37), S. 354. 53 BA, NS 22/ 1044. Zit. nach Bräunche, Ernst Otto, Die NSDAP in Baden 1928 - 1933. Der Weg zur Macht, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden- Württembergs 6), Stuttgart 1982, S. 15 - 48, hier S. 46. 54 Verhandlungen (wie Anm. 48), 6. Sitzung, 18. Oktober 1930, Sp. 257. 55 Verhandlungen (wie Anm. 48), 6. Sitzung, 18. Oktober 1930, Sp. 313. <?page no="747"?> stieß Wagner häufiger aus; eine gewisse Zuversicht und visionäre Perspektive ist ihnen nicht abzusprechen. Nicht den Staat wollten die Nationalsozialisten abschaffen, erklärte Wagner am 2. Juni 1932, dem einzigen Mal, daß er in dieser Sitzungsperiode das Wort ergriff: »Die Partei Hitlers ist nicht staatsfeindlich, sie lehnt den Staat an sich nicht ab, sie ist sogar [...] im höchsten Sinne staatsbejahend« 56 Aber den »wertezerstörenden Parlamentarismus« gelte es abzubauen. »Wir Nationalsozialisten legen keinen Wert darauf, Parlamentarier zu sein«, rief Wagner und wurde prompt von der SPD-Fraktion per Zuruf aufgefordert, dann doch zu gehen. 57 Auftritte im Parlament waren für Wagner eher Nebensache. In erster Linie widmete er sich dem Aufbau der Partei, wobei er insbesondere auf das Korps der Politischen Leiter setzte, die er nicht nur gut schulen ließ, sondern in denen er seine »politischen Soldaten« sah. »Wie die Wehrmacht unserem Volke die militärische Führung stellt, so wird künftig die Partei unserem Volk die politischen Führer geben und diese selbst für den Kampf schulen und vorbereiten.« 58 Streng achtete er auf eine Trennung zwischen der Politischen Organisation (der NSDAP) und den der Partei angegliederten Verbänden, z.B. der SA. Diese ging in Baden aus dem von Wagner angemeldeten Schlageterbund hervor. Ihre Führer wurden von München aus ernannt. Letzter SA-Führer vor 1933 war Hans Ludin, der angeblich ein gutes Verhältnis zu Wagner gehabt haben soll, weil beide sich als ehemalige Offiziere respektiert hätten. 59 Gewalttätige Ausschreitungen der SA versuchte der Gauleiter zu begrenzen. 60 Im Vergleich zur SA spielte die SS vor 1933 so gut wie keine Rolle; sie wurde in Baden auf Veranlassung Himmlers im März 1929 gegründet. Wagner war, im Unterschied zu vielen anderen Gauleitern und auch im Unterschied zu anderen badischen Gauführern, weder SAnoch SS-Mitglied. Zweifellos war Wagner ein »außerordentlich befähigter Propagandist« (Sauer), dem es dank seines Organisations- und Führungstalents gelang, Baden zu einer Art Mustergau zu machen. Weil er »in fast allen Gebieten der Organisation, Propaganda, Presse, SA, Kassenwesen, Verwaltung, Rednerqualität, Mitgliederzahl usw. an der Spitze marschiert«, wurde er bei einer Führertagung in München als vorbildlich gelobt 61 - ein weiterer Grund für die gute Position Wagners bei Adolf Hitler. Selbst die badische Polizei konstatierte 1931: »Keine andere Partei dürfte heute eine so ausgedehnte und gut durchgliederte und aktive Organisation besitzen.« 62 Damit trug Ludger Syré 746 56 Verhandlungen (wie Anm. 48), 28. Sitzung, 2. Juni 1932, Sp. 1711. 57 Verhandlungen (wie Anm. 48), 12. Sitzung, 16. Januar 1930, Sp. 652. 58 Das hatte in Baden gegolten, das galt auch im Elsaß, wie Wagner in Colmar sagte. Straßburger Neueste Nachrichten, 24. Juni 1941. 59 Aussage Walter Köhlers gegenüber Bräunche (wie Anm. 37), S. 363. 60 Grill (wie Anm. 1), S. 212. 61 »Der Führer«, 30. April 1931, S. 2. 62 Die politische Lage in Baden, S. 5. GLA 233/ 28388. Zit. nach Bräunche (wie Anm. 37), S. 362. <?page no="748"?> Wagner wesentlich dazu bei, dem Nationalsozialismus in Baden den Weg zu ebnen und Hitler an die Macht zu bringen. Auch für ihn persönlich blieb das Lob aus München nicht folgenlos. Im Dezember 1932 wurde er in die Reichsleitung der NSDAP berufen. Dort hatte Robert Ley den bisherigen Reichsorganisationsleiter Gregor Strasser abgelöst, der noch im Sommer die Politische Organisation der NSDAP neu strukturiert hatte. Wagner wurde Leys Stellvertreter und zugleich Leiter des Hauptpersonalamtes. Gerne scheint er dem Ruf in die Parteizentrale nicht gefolgt zu sein, wie selbst die parteiamtliche Biographie des Gauleiters durchblicken läßt: »Des Führers Ruf ist für Robert Wagner Befehl - aber schweren Herzens nur scheidet er von seinem Gau Baden, den er aus dem Nichts geschaffen hat, und von seinen badischen Kameraden, die bedingungslose Treue mit ihm verbindet auf immer.« 63 Als ihm Strasser bei einer Gauleitertagung im Sommer 1932 vorgeschlagen hatte, die Inspektion über die südwestdeutschen Gaue zu übernehmen, hatte er ihm geantwortet: »Selbstverständlich aber bin ich nicht nur Nationalsozialist, sondern auch Soldat genug, um da meine Pflicht zu tun, wo ich hingestellt werde. Wenn Sie mich also zur Uebernahme des neuen Amtes befehlen, werde ich ohne zu zögern und ohne Einwände das Amt antreten.« 64 Doch dann wehrte er sich sehr wohl mit zahlreichen Einwänden gegen seine Versetzung aus Baden: »Jedoch fällt mir der Entschluß, den Gau Baden abzugeben sehr schwer. Sie wissen, daß ich im März 1925 den Gau ins Leben gerufen und seitdem geschaffen und geleitet habe. Dabei bin ich mit dem Gau, den Männern des Gaues und mit meiner Aufgabe in Baden derartig verwachsen, daß ich mich nur schwer davon trennen kann [...] Sie selbst haben des öfteren in Führertagungen davon gesprochen, daß der Gauleiter in seinen Gau gehört. Jedenfalls aber geben die Erfolge in Baden, was ich wohl ohne Ueberheblichkeit sagen darf, meiner Auffassung über die Aufgaben eines Gauleiters recht. Der Gau hat bei aussergewöhnlich schwierigen rassischen, weltanschaulichen und parteipolitischen Umständen heute nicht nur eine Organisation, die sich sehen lassen kann, sondern auch Wahlerfolge.« 65 3. Der Reichsstatthalter an der Macht: Wagners Weltanschauungspolitik in Baden Am 9. März 1933 kehrte Wagner mit großem Bahnhof nach Karlsruhe zurück, nachdem am Tag zuvor ein Telegramm des Reichsinnenministers Frick nicht nur das Badische Staatsministerium, sondern selbst den geschäftsführenden Gauleiter Köh- Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 747 63 Moraller (wie Anm. 16), S. 30. 64 Robert Wagner an Gregor Strasser, 13. Juni 1932, BA, NS 22/ 144, zit. nach Bräunche (wie Anm. 53), S. 47. 65 Wagner, zit. nach Bräunche (wie Anm. 53), S. 46. <?page no="749"?> ler überrascht hatte: »Da nach Umgestaltung politischer Verhältnisse in Deutschland Aufrechterhaltung öffentlicher Sicherheit und Ordnung in Baden unter jetziger Landesregierung nicht mehr gewährleistet, übernehme für Reichsregierung gemäß §2 Verordnung zum Schutze von Volk und Staat Befugnisse oberster Landesbehörden [...] und übertrage Wahrnehmung dieser Befugnisse badischem Landtagsabgeordneten Robert Wagner in Karlsruhe. Ersuche diesem sofort Geschäfte zu übergeben.« 66 Gestützt auf die SA und die Polizei, deren leitende Beamte er sofort entlassen hatte, übernahm Wagner innerhalb von drei Tagen die Macht in Baden und bildete nach dem erzwungenen Rücktritt der rechtmäßigen Regierung am 11. März eine kommissarische Regierung, bestehend aus ihm selber (Inneres, Staatspräsident), Köhler (Finanzen), Wacker (Kultus), Johannes Rupp (Justiz); Karl Pflaumer wurde spezieller Kommissar für Polizeiangelegenheiten, Schmitthenner und Hildebrand wurden zu Hilfskommissaren ernannt. Sodann verkündete er das Ende der Revolution, ein deutliches Signal in Richtung SA, der er eigenmächtige Aktionen verbot. Der Reichskommissar war nicht bereit, die Macht mit irgendjemandem zu teilen. 67 Die folgenden Wochen standen im Zeichen der Gleichschaltung und der Verfolgung der politischen Gegner und der Juden. Ein Zwischenfall in Freiburg 68 lieferte Wagner den Vorwand, »mit aller brutalen Strenge« gegen Sozialdemokraten und Kommunisten vorzugehen; die Landtags- und Reichstagsabgeordneten dieser Parteien ließ er am 17. März verhaften. Am 1. April kam es zu ersten staatlich gebilligten Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte. Am 16. Mai trat der neu zusammengesetzte Badische Landtag zu seiner ersten Sitzung zusammen, die mit einer Lobhudelei auf Wagner durch Alterspräsident Heinrich Otto Schmidt eröffnet wurde: »Voll Stolz, voll Dank, voll Freude begrüßt das badische Volk seinen ersten Reichsstatthalter. Mit Stolz sehen wir auf ihn als einem Mann, der binnen 18 Jahren vom Kriegsfreiwilligen zum Reichsstatthalter aufgestiegen ist.« Um dann nach weiteren Schmeicheleien den Kult um den badischen Führer auf die Spitze zu treiben: »In der Vorkriegszeit wurden die Eröffnungssitzungen des Landtags jeweils mit einem Hoch auf den Großherzog geschlossen. Heute gilt unser Sieg-Heil dem für Baden bestellten Träger der badischen Landeshoheit: Dem Herrn Reichsstatthalter Robert Wagner ein dreifaches, kräftiges Sieg-Heil! « 69 Am gleichen Tag - »eine besondere Niederträchtigkeit« 70 - wurden sieben prominente Sozialdemokraten, darunter der frühere Staatspräsident Adam Remmele und der Reichstagsabgeordnete Ludwig Marum, vom Gefängnis Karlsruhe im offe- Ludger Syré 748 66 Zit. nach Rehberger, Horst, Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/ 33, Heidelberg 1966, S. 97. 67 Vgl. Grill (wie Anm. 1), S. 251. 68 Der nicht ganz zurechnungsfähige Daniel Nußbaum (SPD-MdL) erschoß zwei Polizisten, die ihn in »Schutzhaft« nehmen wollten. Schilderung bei Rehberger (wie Anm. 66), S.122 f. 69 Verhandlungen (wie Anm. 48), V. Landtagsperiode, 1. Sitzung, 16. Mai 1933, Sp. 4. 70 Rehberger (wie Anm. 66), S. 134. <?page no="750"?> nen Polizeiwagen, angepöbelt von einer aufgehetzten Zuschauermenge, in das KZ Kislau überführt. Dort wurde Marum am 29. März 1934 ermordet, und für diese Bluttat trug Wagner persönlich die Verantwortung. Wagner haßte Marum, den Sozialisten, den Juden, den Intellektuellen, dessen subtilem Spott er nichts adäquates entgegenzusetzen vermochte. Marum, so berichtete dessen Sozius, der Karlsruher Rechtsanwalt Albert Nachmann, »hat diese Führer, wie den späteren Reichsstatthalter Wagner und den Innenminister Pflaumer, immer als das hingestellt, was sie wirklich waren, geistige Nullen mit einer nicht einwandfreien Vergangenheit. Das haben sie ihm nie verziehen. Wagner hat ihm nie verziehen, daß er [...] Dokumente im Besitz hatte, die bewiesen, daß Wagner Landtags-Diäten liquidiert hatte für Tage, an denen er nicht im Landtag war.« 71 Was Nachmann schon während des »Dritten Reiches« vermutete - »Alle Fäden zu seiner Ermordung laufen in der Reichsstatthalterei in Karlsruhe zusammen.« 72 - wurde 1948, als der Mord gesühnt wurde, zur Gewißheit. Die Täter, die Marum erdrosselt und die anschließend den Leichnam aufgehängt hatten, um einen Selbstmord vorzutäuschen, sagten vor Gericht aus, den Auftrag zur Ermordung Marums von Wagner erhalten zu haben. Sie wurden vom Landgericht Karlsruhe zu Zuchthausstrafen verurteilt. 73 Am 5. Mai 1933 wurde Wagner vom Reichspräsidenten zum Reichsstatthalter von Baden ernannt; als einer von elf Gauleitern bekleidete er neben dem Parteiamt nun auch ein staatliches Amt, das ihm, nebenbei bemerkt, auch ein stattliches Einkommen bescherte 74 und ihn zum Aufsichtsorgan der Reichsregierung über die Landesregierung erhob. Er hatte nun die Befugnis, die Landesregierung zu ernennen, den Landtag aufzulösen, Landesgesetze zu erlassen, die unmittelbaren Staatsbeamten und die Richter zu ernennen »auf Vorschlag der Landesregierung.« 75 Doch Wagner war mit diesen Kompetenzen, wozu noch das Begnadigungsrecht kam, nicht zufrieden. Auf der Reichsstatthalterkonferenz am 28. Februar 1934 forderte er mit Blick auf personelle Entscheidungen, »mehr und mehr Befugnisse der Landesregierung auf den Reichsstatthalter zu übertragen«, da die Personalpolitik »mit das Entscheidendste in der ganzen Tätigkeit des Reichsstatthalters« sei. 76 Von seinem neuen Recht, die Regierung zu ernennen, machte Wagner sofort Gebrauch. Zum Ministerpräsidenten und zugleich zum Finanz- und Wirtschafts- Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 749 71 Marum-Lunau, Elisabeth; Schadt, Jörg (Bearb.), Ludwig Marum. Briefe aus dem Konzentrationslager Kislau, 2. Aufl. Karlsruhe 1988, S. 142. 72 Marum-Lunau / Schadt (wie Anm. 71), S. 141. 73 Urteil des Landgerichts Karlsruhe vom 4. Juni 1948, in: Marum-Lunau / Schadt (wie Anm. 71), S. 150 -158. 74 Nach dem Krieg war die Rede von mindestens 20.000 RM Jahreseinkommen. GLA 465a/ 51/ 69/ 817. Seine Dienstbezüge gingen zu Lasten des Reiches. 75 Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich (Reichsstatthaltergesetz), 7. April 1935. RGBl I, S. 173 f. Aufgehoben durch das Reichsstatthaltergesetz, 30. Januar 1935. 76 Zit. nach Rehberger (wie Anm. 66), S. 150. <?page no="751"?> minister bestimmte er Walter Köhler, zum Minister des Kultus, des Unterrichts und der Justiz Otto Wacker, zum Innenminister Karl Pflaumer. Ergänzt wurde diese Regierung durch den (deutschnationalen) Staatsrat Paul Schmitthenner, zunächst Minister ohne Geschäftsbereich, nach Wackers Tod 1940 Leiter des Kultusministeriums. Mit dieser Riege regierte Wagner seit 1940 auch das Elsaß, wobei die entsprechenden Ressorts dem Chef der Zivilverwaltung als Abteilungen unterstellt wurden. Keiner der genannten stellte den Führungsanspruch Wagners in Frage, keiner scheint sich gegen seine Politik aufgelehnt zu haben, jeder fügte sich im entscheidenden Moment auch dann, wenn er anderer Ansicht war. Aber nur Wachs in Wagners Händen waren sie auch nicht, wenn man einem Zeugen wie Robert Ernst glauben darf, der feststellte, »daß die badischen Minister [...] alles andere waren als Marionetten Wagners. Mit Köhler hatte sich Wagner oft herumzuraufen, Pflaumer ließ an einem beachtlich dicken Fell die schärfsten Zumutungen abprallen, Schmitthenner, der ehemalige Generalstabsoffizier [...] verstand es, in weltmännischer Art Wagner zu beeinflussen.« 77 Nicht mehr dabei war Rupp, der ein von Wagner verlangtes Todesurteil nicht zulassen wollte. 78 Neben der Gleich- und Ausschaltung der politischen Institutionen und Organisationen sorgte Wagner für die Säuberung der Verwaltung. Daß dabei auch Zufälle und Willkürmaßnahmen eine Rolle spielten, illustriert der Fall des späteren Staatspräsidenten Leo Wohleb, der 1933 Referent im Kultusministerium war und dem linken Flügel des Zentrums nahestand. Ein am 6. Februar 1934 für den abwesenden Ministeralrat Herbert Kraft entgegengenommenes Telefongespräch führte zu seiner Entlassung. Kein Geringerer als Reichsstatthalter Wagner verlangte Rechenschaft über die von der Gestapo festgestellte angebliche Benachteiligung der Hitler-Jugend. Wohleb erkannte den Anrufer nicht, reagierte »falsch« und machte sich in den Augen Wagners einer »Ausflucht vor der Verantwortung« schuldig, weshalb dieser die sofortige Beurlaubung und die Einleitung eines »geeigneten Verfahrens« gegen den Beamten forderte. Kraft gelang es, Wohleb auf die vakante Direktorenstelle des Baden-Badener Gymnasiums zu setzen. Auf diese Art leistete Wagner Ludger Syré 750 77 Ernst (wie Anm. 25), S. 243. Wie hinter alle Äußerungen Ernsts, die grundsätzlich von dem Bemühen geleitet waren, die Zeit der deutschen Herrschaft im Elsaß in günstigem Licht erscheinen zu lassen, muß man auch hinter die oben zitierte ein Fragezeichen setzen, denn an anderer Stelle wird auch von Ernst hervorgehoben, wie wenig beeinflußbar Wagner im Grunde doch war. 1941 erklärte sich z.B. Pflaumer mit Erschießungen in Baden, die Wagners volle Billigung hatten, nicht einverstanden, ließ sie aber offenbar geschehen. BA, Abt. III (BDC), SS 1959. 78 Johannes Rupp hatte sich in den Augen Robert Wagners selbst disqualifiziert, als er es ablehnte, gegen den jüdischen Landtagsabgeordneten Daniel Nußbaum (SPD), der sich seiner Verhaftung gewaltsam widersetzt und zwei Polizeibeamte erschossen hatte, sofort ein Todesurteil zu erwirken. Rupp wurde zum Rücktritt gezwungen, durfte weiterhin aber Parteiämter auf mittlerer Verwaltungsebene bekleiden. 1942 legte er auch diese nieder, als er von den Judenmorden in Rußland persönlich Kenntnis bekam. Siehe Ferdinand, Horst, Johannes Rupp, in: Baden-Württembergische Biographien, hrsg. v. B. Ottnad. Erscheint voraussichtlich 1998. Herrn Ferdinand ist für die Einsicht in das fertiggestellte Manuskript zu danken. <?page no="752"?> seinen eigenen Beitrag zur noch nicht abgeschlossenen Gleichschaltung der Kultusverwaltung. 79 Wer Wagner kritisierte oder »verleumdete«, wurde in Schutzhaft genommen. 80 Wer innerhalb der Partei auf der falschen Seite stand, z.B. dem Strasser-Flügel nahegestanden hatte wie die NSDAP-Ortsgruppe Lahr, wurde nach der Machtübernahme verfolgt. Zu ihr gehörte Felix Wankel, 1921 in die NSDAP ein- und 1932 wieder ausgetreten, den Wagner 1933 für sechs Monate inhaftieren ließ. 81 Wankel entzog sich weiteren Nachstellungen durch die Verlegung seines Betriebs von Lahr nach Lindau. Und natürlich mischte sich Wagner in die Gleichschaltung auf kommunaler Ebene ein, wie am Beispiel seiner Heimat Eberbach gezeigt werden kann: Am 23. März 1934 versetzte die Badische Staatskanzlei den bisherigen Bürgermeister Friedrich Wenz, seit 1933 Parteimitglied, auf Drängen der alten Parteigenossen in den Ruhestand. Sein Nachfolger, Ortsgruppenleiter Carl Engelhardt, blieb nur kurz im Amt und wurde dann von Wagner zum Kreisleiter von Konstanz befördert. 82 Eberbach, dank des Bekanntheitsgrades Wagners und dank des mit Hitler befreundeten und diesen finanziell fördernden Direktors der Odin-Werke, Wilhelm Keppler, eine Hochburg der NSDAP, 83 mag zugleich als Beispiel für den Personenkult um den badischen Führer dienen. Wie in vielen badischen Städten 84 gab es auch in Eberbach eine Robert-Wagner-Straße, wurde Wagner zum Ehrenbürger der Stadt ernannt und von der lokalen Presse entsprechend gefeiert: »Wer, wie die alten Kampfgenossen miterlebte, mit welch unbeugsamem Willen, mit welch fanatischem Glauben an den Wiederaufstieg unseres Volkes und Vaterlandes Robert Wagner den Gau Baden aus kleinen und primitiven organisatorischen Anfängen heraus zu dem aufbaute und gestaltete, was er heute ist, den wird es mit dankbarem Stolz erfüllen, daß unser Gauleiter einem markigen Bauerngeschlecht unseres Odenwalds, unserer Nachbargemeinde Lindach entstammt.« 85 Auf die Dauer wurden Wagner Ehrungen dieser Art jedoch zuviel. Als die Stadtväter Mosbachs (Lindach lag im Amt Mosbach) dem »unermüdlichen badischen Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 751 79 Ausführlich dazu Merz, Hans-Georg, Beamtentum im nationalsozialistischen Staat. Der »Fall« Wohleb, in: Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins (»Schau-ins-Land«) 103 (1984), S. 131-148. Außerdem Weinacht, Paul-Ludwig, Leo Wohleb, in: Badische Biographien, N. F. 3, Stuttgart 1990, S.301-306, hier S. 303. 80 Solche Fälle finden sich in Schadt, Jörg (Hrsg.), Verfolgung und Widerstand unter dem Nationalsozialismus in Baden. Die Lageberichte der Gestapo und des Generalstaatsanwalts Karlsruhe 1933 - 1944 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Mannheim 3), Stuttgart 1976, S. 93, 102 u.a. 81 Zu diesem Fall vgl. Ferdinand (wie Anm. 1), S. 127 f. 82 Zum Fall Wenz vgl. Pfeiffer, Peter, Dr. Dr. Friedrich Wenz, Bürgermeister in Eberbach 1931 - 1934, in: Eberbacher Geschichtsblatt 86 (1987), S. 120-152. 83 Vgl. Cser, Andreas, Eberbach in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Geschichte der Stadt Eberbach am Neckar vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hrsg. v. A. Cser, Sigmaringen 1992, S. 241-252. 84 Natürlich auch in Karlsruhe, wo die Robert-Wagner-Allee nach Durlach hinausführte, dessen Eingliederung in die Stadt Karlsruhe zum 1. April 1938 Wagner anordnete, wohl in der Absicht, die Gauhauptstadt zu vergrößern. 85 Eberbacher Zeitung, 26. März 1934, S. 1. <?page no="753"?> Vorkämpfer für die nationalsozialistische Erhebung und deutsche Erneuerung« einen kunstvoll gestalteten Ehrenbürgerbrief überreichen wollten, wurde ihnen beschieden, die Urkunde doch einfach nach Karlsruhe zu schicken. 86 Und im Elsaß verbot er später sogar die Benennung von Straßen nach seinem Namen. Wie sehr sich Wagner seinem Heimatgau Baden verbunden fühlte, ist bereits erwähnt worden. Auch seiner engeren Heimat gegenüber blieb er stets verpflichtet. So bemühte er sich um die Ansiedlung von Industrie, setzte sich gemeinsam mit Keppler für den Schulbau ein, ließ das Dorf Lindach als »Tor zum Odenwald« in die Reihe der badischen »Fremdenverkehrsgemeinden« aufnehmen und soll sogar seine schützende Hand über einen offenbar früher der KPD nahestehenden Dorfbewohner gehalten haben: Als der Eisenbahnarbeiter Karl Friedrich Helm aus Lindach im April 1933 von der SA verhaftet wurde, intervenierten Wagners Bruder und die Angehörigen Helms erfolgreich bei Wagner, der gesagt haben soll: »Solange ich Reichsstatthalter bin, kommt von meinem Heimatort niemand ins KZ.« 87 Von der Wirtschaftskrise Anfang der 30er Jahre war Baden als Grenzland besonders betroffen. Reichskommissar Wagner schilderte deshalb bereits am 27. März 1933 Hitler die spezielle Notlage Badens und bat um wirtschaftliche Förderung: »Ich wäre Ihnen, Herr Reichskanzler, daher zu besonderem Danke verpflichtet, wenn Sie die badischen Belange, die durch die exponierte Lage Badens an der neuen französischen Reichsgrenze gleichzeitig Reichsinteressen sind, im Rahmen der Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten fördern würden.« 88 Tatsächlich erreichte er einige Zusagen. Zugleich nahm er aber auch die Unternehmer des Landes in die Pflicht: »Die Aufgabe muß sein, aus den Hirnen der Industriellen endlich die Meinung auszutreiben, daß die strategisch militärische Lage unserer badischen Heimat gefährlicher und für die Ansiedlung der Industrie ungeeigneter sei als die unserer Nachbarländer. Wenn eine solche Gefahr bestünde, wäre sie im Hinblick auf die moderne Kriegstechnik in Baden nicht größer als in Württemberg, in Bayern oder Innerdeutschland.« 89 Diese Angst vor Investitionen in Baden hatte nicht allein die Industrie, sondern auch die Wehrmachtführung, »die in den dreißiger Jahren der Vergabe von Rüstungsaufträgen in die südwestdeutsche Peripherie geradezu psychologische Widerstände entgegensetzte«, woran auch der Einmarsch der Wehrmacht in die entmilitarisierte Zone im März 1936 nichts änderte. 90 Hier bemühte sich die Ludger Syré 752 86 Schneider, Brigitte, Fachwerk unterm Hakenkreuz. Die Machtergreifung in Mosbach 1933. Eine Dokumentation zur Stadtgeschichte (Mosbach im 3. Reich 1), Mosbach 1992, S. 19. 87 Ferdinand (wie Anm. 1), S. 175, der sich hier auf eine Aussage von Walter Helm stützt. 88 Wagner an Hitler, 27. März 1933. Zit. nach Allgeier, Rudi, Grenzland in der Krise. Die badische Wirtschaft 1928 - 1933, in: Die Machtergreifung (wie Anm. 53), S. 150-183, hier S. 181. 89 »Der Alemanne«, 13. Juli 1933. 90 Peter, Roland, NS-Wirtschaft in einer Grenzregion. Die badische Rüstungsindustrie im Zweiten Weltkrieg, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. von C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 171-193, hier S. 172. <?page no="754"?> Gauleitung, auf die Wahrung der regionalen Interessen achtend, um eine andere Beschaffungspolitik. Insbesondere im Bereich der Wirtschaftspolitik, auch oder gerade unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft, focht Wagner immer wieder Auseinandersetzungen mit den Reichsministerien aus. Dabei wußte er meistens die letzte Instanz, Hitler, auf seiner Seite. Um nicht als reines ausführendes Organ der Berliner Zentralverwaltung zu gelten und um negative Stimmungen in der Bevölkerung aufzufangen, war es für Wagner wichtig, Eingriffe der Reichspolitik in badische Belange zu korrigieren. Andernfalls wäre Wagner »als Gauleiter in Baden im Abseits gelandet und hätte sein regionales Standbein verloren.« 91 Der hier zutage tretende Gaupartikularismus hatte keineswegs eine systemdestabilisierende Wirkung; Hitler erkannte sehr wohl, welche Rolle seine regionalen Vizekönige zu spielen hatten und nutzte sie im Sinne seiner polykratischen Herrschaftstechnik. Aus der oben zitierten Unternehmerschelte des Gauleiters läßt sich ebenso wenig auf ein schlechtes Verhältnis zwischen Wagner und der Industrie schließen wie sich aus der Tatsache, daß er von befreundeten Unternehmern, wie etwa Franz Burda aus Offenburg, immer wieder zu Jagden eingeladen wurde, auf ein gutes Verhältnis schließen läßt. Eher bezeichnend ist, daß Baden überproportional wenig »NS-Musterbetriebe« hatte (1938 waren es zwei, 1942 elf), daß Wagner die Deutsche Arbeitsfront total vernachlässigte und daß er zu keiner Zeit seiner Herrschaft einen Unternehmer an der Spitze der badischen Wirtschaft duldete. Selbst an dieser Stelle stützte er sich lieber auf seine Gauleute, in diesem Fall auf Finanz- und Wirtschaftsminister Köhler. »Die Berufung Köhlers war im Reich allerdings ein Kuriosum. Er dürfte der einzige Staatsbeamte auf diesem Posten gewesen sein.« 92 Auch Wagner kam nicht umhin, gewisse Aufgaben an Personen seines Vertrauens zu delegieren. Die Wirtschaftspolitik war jedenfalls nicht Chefsache, sei es, daß Wagner sie für zweitrangig hielt, sei es, daß er seine eigenen Fähigkeiten - ökonomische Kompetenz gehörte dazu wohl nicht - realistisch einschätzte, sei es, daß er wußte, daß ein gelernter Kaufmann wie Köhler die Vertreter der Wirtschaft glaubhafter ansprechen konnte. Von Ausnahmen abgesehen 93 , mischte sich Wagner in die Wirtschaftspolitik nicht ein, sondern überließ sie Köhler, der eine weitgehend ideologiefreie, pragmatische Politik betrieb, die direkte Eingriffe in die Unternehmen vermied und sich an den Landesinteressen orientierte und nach Kriegsausbruch bestrebt war, »die Ausraubung der humanen und ökonomischen Reserven Badens zu verhindern.« 94 Köhler wäre im übrigen der einzige badische Parteigenosse gewesen, der Wagners Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 753 91 Peter (wie Anm. 90), S. 191. 92 Peter, Roland, Rüstungspolitik in Baden. Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz in einer Grenzregion im Zweiten Weltkrieg (Beiträge zur Militärgeschichte 44), München 1995, S. 59. 93 Z.B. hinsichtlich der Gleichschaltung der Industrie- und Handelskammern oder bei der Sonderaktion im Mai 1933, die das Ziel hatte, »Alten Kämpfern« mit einer Mitgliedsnummer unter 100.000 einen Arbeitsplatz zu besorgen. Peter (wie Anm. 92), S. 73. 94 Peter (wie Anm. 92), S. 17. <?page no="755"?> Stellung hätte gefährden können, doch blieb ein Machtkampf zwischen Gauleiter und Ministerpräsident - im Unterschied zu Württemberg - aus. »Der Grund lag vermutlich in einer zwar nicht nachweisbaren, aber sehr wahrscheinlichen Absprache zwischen Wagner und Köhler. Der Ministerpräsident ließ in keiner Weise irgendwelche Ambitionen auf die Spitzenposition in Baden erkennen, dafür hatte er auf dem Gebiet der Wirtschaft völlig freie Hand und besaß in diesem Bereich das uneingeschränkte Vertrauen Wagners.« 95 Köhler galt als Wagners »Kronprinz«. Wagner ernannte ihn 1929 zu seinem Stellvertreter und konnte sich auf ihn während seiner Abordnung in die Parteizentrale verlassen, denn Köhler erging sich eigener Einschätzung zufolge in »absoluter Loyalität«. 96 So wurde er 1933 nicht nur Staatsminister, sondern auch Ministerpräsident. Allerdings versuchte Wagner 1935, Köhler aus diesem Amt zu entfernen, weil er hoffte, Hitler würde auch in Baden die Reichsstatthalter als Regierungschefs einsetzen, was eine weitere Konzentration der Macht für Wagner bedeutet hätte. Am 31. Mai 1935 ordnete Hitler jedoch an, die bereits unterzeichneten Ernennungsurkunden für Wagner und zwei weitere Gauleiter (Murr und Sauckel) nicht abzuschikken. 1942 unternahm Wagner erneut einen Vorstoß, den Posten des Ministerpräsidenten abzuschaffen. Hitler wäre auch bereit gewesen, Köhler seines Amtes entheben zu lassen, wies aber Wagners Forderung nach der Entlassung sämtlicher Ministerpräsidenten der Länder zurück. 97 Neben Machtfragen bestimmten Mentalitätsunterschiede die Beziehung zwischen beiden Führergestalten: »Wie Wagner war Köhler altes Parteimitglied, aber im Gegensatz zu jenem ein lebhafter Franke aus Nordbaden, ungezwungen, umgänglich und klug, der sich ein unabhängiges Urteil bewahrt hatte. Vielleicht war ihr Verhältnis deswegen eher etwas gespannt.« 98 Diese Einschätzung bewahrheitete sich bei Kriegsende, als beide Männer aus der Niederlage unterschiedliche Konsequenzen zogen. Während nämlich Wagner zu fanatischen Durchhalteparolen griff, um, wie vom Führer gewünscht, die deutsche Bevölkerung mit in den Untergang zu reißen, blieb Köhler entgegen Wagners Befehl beim Einmarsch der Franzosen in Karlsruhe und ließ sich dort verhaften. Wagner ordnete daraufhin gegen Köhler am 6. April 1945 ein Standgerichtsverfahren an, zu dem es natürlich nicht mehr kam. 99 Geht man davon aus, daß das starke politische Eintreten Wagners und Köhlers für die badischen Interessen eine Grundkonstante ihrer Politik war, dann kam diese gaupartikularistische Haltung auch bei der Diskussion um die Reichsreform zum Ludger Syré 754 95 Peter (wie Anm. 92), S. 16. 96 So Bräunche (wie Anm. 37), S. 341, der sich auf ein Gespräch mit Köhler am 25. Mai 1976 stützen konnte. 97 Grill (wie Anm. 8), S. 262 und Hüttenberger, Peter, Die Gauleiter. Studie zum Wandel des Machtgefüges in der NSDAP (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 19), Stuttgart 1969, S. 90. 98 Bickler (wie Anm. 25), S. 338. 99 Peter (wie Anm. 92), S. 18 und 194. <?page no="756"?> Ausdruck. Während Württemberg auf die Vereinigung mit Baden drängte, erinnerte Wagner an Fricks Versprechen, Baden werde ein Reichsgau ohne territoriale Veränderungen bleiben. 100 Die Rivalität mit Württemberg hatte neben dem verfassungsrechtlichen vor allem einen ökonomischen Hintergrund. Schon im Juni 1933 beschwerten sich Wagner und Köhler in einem persönlichen Gespräch mit Hitler über die Bevorzugung Württembergs, z.B. bei der Zuteilung von Reichsstellen. 101 Weitere Klagen folgten. Aus seiner Abneigung gegenüber den Intellektuellen hat Wagner nie ein Hehl gemacht. Wie seine Partei setzte er vor 1933 auf die Bauern, den Mittelstand, die Arbeiter und die Handwerker und verabscheute das »lethargische Bürgertum«. 102 Hoch im Kurs standen hingegen die Beamten. Im Zuge der Machtergreifung und der Gleichschaltung verloren zahlreiche Beamte ihre Stellen oder wurden umgesetzt. Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 bot dazu die passende Handhabe. Doch der notorische Antisemit Wagner nahm dieses Gesetz vorweg, als er bereits am Tag zuvor seinen eigenen Erlaß herausgab, »wonach sofort alle im öffentlichen Dienst stehenden Beamten jüdischer Abstammung vorläufig vom Dienst zu suspendieren waren.« 103 Dies war ein badisches, ein Wagnersches Spezifikum, doch der Erlaß griff. 104 Auf der anderen Seite ist die These von der »Kontinuität administrativer Funktionseliten auf regionaler Ebene« auch in bezug auf Baden bestätigt worden. 105 Teils aus finanziellen Gründen, teils wegen fehlender Alternativen blieb Wagner gar keine andere Wahl, als auf die Mitwirkung der gelernten Verwaltungsfachleute zu setzen und sie für die Durchsetzung der eigenen Ziele zu instrumentalisieren. So wenig einschneidend die politischen Säuberungen im Bereich der Innenverwaltung waren 106 , so wenig trug das Personalrevirement auf der Ebene der Bezirksverwaltung »revolutionäre Züge«: Nur den aus seiner Heimat Eberbach stammenden »Alten Kämpfer« Carl Engelhardt hievte Wagner als Außenseiter (ohne Hochschulabschluß und ohne Verwaltungsausbildung) auf den Posten des Landrats; alle übrigen neu Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 755 100 Da die Reichsreformdebatte ein erhebliches Störungspotential in sich barg, verbot sie Hitler im März 1935 schließlich. Vgl. Peter (wie Anm. 92), S. 14 f., Grill (wie Anm. 1), S. 260 und Rebentisch, Dieter, Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg. Verfassungsentwicklung und Verwaltungspolitik 1939 - 1945 (Frankfurter Historische Abhandlungen 29), Stuttgart 1989, S. 189 ff. 101 Rehberger (wie Anm. 66), S. 157, Grill (wie Anm. 1), S. 259. 102 Grill (wie Anm. 8), S. 259. 103 Ott, Hugo, Universitäten und Hochschulen, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg (wie Anm. 2), S. 147-148, hier S. 142. 104 So schärfte z.B. der Rektor der Universität Freiburg, Martin Heidegger, seinen Dekanen ein, Wagners Erlaß strikt zu beachten. Ott, Hugo, Laubhüttenfest 1940. Warum Therese Loewy einsam sterben mußte, Freiburg 1994, S. 123 f. 105 Regionale Eliten (wie Anm. 90), S. 18. 106 Tellenbach, Klaus, Die Badische Innere Verwaltung im Dritten Reich. Von den Erlebnissen eines Landrats, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 134 (1986), S. 377 - 412. Widerspruch gegen Tellenbachs Einschätzung von Ferdinand, Horst, Nachlese zu: Die Misere der totalen Dienstbarkeit, in: Eberbacher Geschichtsblatt 92 (1993), S. 208 - 222, hier S. 213 f. <?page no="757"?> bestellten Landräte waren Karrierebeamte; und nicht ein einziger Landrat wurde nach dem Berufsbeamtengesetz entlassen. 107 Typisch für den verhinderten Lehrer Wagner war der Wert, den er auf die Indoktrination und Schulung der Beamten legte, die er gerne als »Soldaten des Führers« bezeichnete. Nicht nur die Lehrer, alle Beamte hätten sich an der Erziehung des Volkes und am »Geisteskampf unserer Zeit« zu beteiligen. Immer wieder beschwor Wagner die Notwendigkeit der »positiven Erziehung zum Nationalsozialismus« und die Einheit von Partei und Staat (Verwaltung), wie sie in der Personalunion von Gauleiter und Reichsstatthalter zum Ausdruck komme: »Der Führer der Partei ist zugleich der Führer des Staates.« 108 Diese Personalunion hätte er gerne auch auf der Bezirksebene fortgesetzt, doch Hitler entschied sich gegen die Amtsverschmelzung von NSDAP-Kreisleiter und Landrat. Wenn die These zutrifft, »daß Baden in den ersten entscheidenden Jahren des Kirchenkampfs im Dritten Reich eine gewisse Sonderstellung einnahm«, weil dort trotz aller Ausschreitungen im Ganzen eine relativ ruhige Atmosphäre herrschte, etwa im Unterschied zu Württemberg, dann war dies auch das »Verdienst« des Gauleiters Robert Wagner, der sich sehr bewußt »einen Kirchenkampf vom Leibe zu halten suchte.« 109 In bezug auf die Evangelische Kirche fiel ihm das insofern leicht, als er hier durch seine Mitwirkung beim Zusammenschluß junger nationalsozialistischer Pfarrer zum NS-Pfarrerbund, der sich 1933 der »Glaubensbewegung Deutsche Christen« anschloß, vorgesorgt hatte. So konnte er sich seinem Führer gegenüber rühmen: »Das Land Baden ist bisher von dem evangelischen Kirchenstreit, wie er anderswo in Erscheinung getreten ist, fast völlig verschont geblieben.« 110 Auch später sind Konflikte zwischen Wagner und der gleichgeschalteten, nach dem Führerprinzip strukturierten evangelischen Kirche nicht zu registrieren. 111 Daß Wagner der Konfrontation mit der Katholischen Kirche zunächst ebenfalls ausweichen konnte, lag an seinem Gegenspieler. Bekanntlich begrüßte der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber, der den eigentlichen Feind stets im Bolschewismus sah, zunächst das neue Regime: »Wir dürfen und wir können den neuen Staat nicht Ludger Syré 756 107 Ruck, Michael, Administrative Eliten in Demokratie und Diktatur. Beamtenkarrieren in Baden und Württemberg von den zwanziger Jahren bis in die Nachkriegszeit, in: Regionale Eliten (wie Anm. 90), S. 37-69, hier S. 56 f. 108 Der Jahresappell der Beamten. Die Parole des Gauleiters und Reichsstatthalters Robert Wagner, Karlsruhe 1939, S. 19. 109 Scholder, Klaus, Baden im Kirchenkampf des Dritten Reiches. Aspekte und Fragen, in: Oberrheinische Studien Bd. 2, hrsg. v. A. Schäfer, Karlsruhe 1973, S. 223-241, hier S. 229. 110 Zit. nach Scholder (wie Anm. 109), S. 232. Vgl. auch Thierfelder, Jörg; Röhm, Eberhard, Die evangelischen Landeskirchen von Baden und Württemberg in der Spätphase der Weimarer Republik und zu Beginn des Dritten Reiches, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland (wie Anm. 53), S. 219-256, hier S. 232 und 246. 111 Zu Wagner und der Konfrontation zwischen Deutschen Christen und Bekennender Kirche vgl. Ferdinand (wie Anm. 1), S. 129. <?page no="758"?> ablehnen, sondern müssen ihn positiv bejahen.« 112 Und dem Reichsstatthalter gratulierte er am 6. Mai mit folgenden Worten: »Ich beeile mich, Ihnen zu Ihrem schweren Amte meine ergebensten Glückwünsche zu übersenden und Gottes Segen für Sie zu erflehen, damit Ihr Walten über dem badischen Volk und Lande zur Neubelebung der Volkskraft und zur Befestigung der Volkseinheit und des Volksfriedens führe [...] Bei der gewaltigen Aufgabe, die Ihnen obliegt, stelle ich mich als Oberhirte der badischen Katholiken rückhaltlos auf Ihre Seite.« 113 Mehrere Male traf Wagner den Erzbischof persönlich; im Anschluß an eine Unterredung 1935 in Badenweiler teilte ihm Gröber mit, er werde auch künftig fortfahren, »ausgleichend zu wirken und scharfe Auseinandersetzungen, soweit es nur möglich ist, zu vermeiden [...] Ich habe aus unserer letzten Besprechung den frohen Eindruck gewonnen, daß Sie der Gerechtigkeit und dem Frieden mit allen Kräften dienen wollen.« 114 Hier irrte sich der Erzbischof gewaltig. Die Angriffe auf die »schwarze Reaktion« in den NS- Blättern, das Vorgehen der Gestapo gegen katholische Priester und Laien, gegen Gröbers eigene Hirtenbriefe und Kanzelverkündigungen führten beim Freiburger Erzbischof allmählich zu einem Umdenkungsprozeß. Dazu trug auch die härtere Linie der badischen NSDAP bei, für die neben Wagner vor allem Wacker (ab 1940 Schmitthenner) und der Gestapo-Chef Berckmüller verantwortlich waren. 115 Gemeinsam versuchten sie, als der modus vivendi zwischen Regime und Kirche prekärer wurde, den badischen Bischof zu stürzen und griffen dabei zum Mittel der persönlichen Verleumdung. Als sich Gröber bei Wagner wegen der Intrigen beklagte, antwortete dieser: »Sorgen Sie, Herr Erzbischof, für eine andere, d.h. bejahende Haltung der Ihnen untergeordneten Geistlichkeit zum Nationalsozialismus [...], dann hören die Angriffe von NS-Seite von selbst auf.« 116 1940 scheiterte Wagner an Hitler, als er die Verurteilung Gröbers wegen dessen Silvesterpredigt zu erreichen versuchte. Auch mit der 1941 erhobenen Forderung, Gröbers Gehalt wegen dessen Hirtenbrief vom 12. Februar zu sperren, hatte er keinen Erfolg. Gröber jedoch kam zu der durchaus zutreffenden Erkenntnis: »Es besteht die Tendenz in Baden, die zurückzuführen ist auf Reichsstatthalter Robert Wagner, mich zum Landesverräter, Staatsfeind und Hochverräter zu erklären.« 117 Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 757 112 Auf der Freiburger Diözesansynode vom 25. bis 28. April 1933. Zit. nach Köhler, Joachim, Die katholische Kirche in Baden und Württemberg in der Endphase der Weimarer Republik und zu Beginn des Dritten Reiches, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland (wie Anm. 53), S. 257-294, hier S. 292. 113 Zit. nach Weis, Robert, Würden und Bürden. Die katholische Kirche im Nationalsozialismus, Freiburg 1994, S. 63. 114 Gröber am 22. Mai 1935 an Wagner, zit. nach Schwalbach, Bruno, Erzbischof Conrad Gröber und die nationalsozialistische Diktatur. Eine Studie zum Episkopat des Metropoliten der Oberrheinischen Kirchenprovinz während des Dritten Reiches, Karlsruhe 1995, S. 65 f. 115 Die Aufforderung zur Mäßigung durch Reichskirchenführer Kerrl wies Wagner als Zeichen der Schwäche zurück. Grill (wie Anm. 1), S. 337. 116 Wagner am 2. November 1936 an Gröber, zit. nach Schwalbach (wie Anm. 114), S. 100. 117 Gröber am 3. März 1942 an Bischof Heinrich Wienken, zit. nach Schwalbach (wie Anm. 114), S. 139. <?page no="759"?> Auch nachdem Gröber seinen pragmatischen Kurs der »gewissen Elastizität« 118 aufgegeben und auf einen Konfrontationskurs umgeschwenkt war, erzielte er noch einige Erfolge. Durch persönliches Eingreifen bei Wagner soll er die Ermordung von geistig Behinderten in Emmendingen verhindert haben. 119 Und 1943 vereitelte er im Elsaß die Aufhebung von 23 Niederlassungen kontemplativer Orden durch Wagner, dessen rigorose Kirchenpolitik auf die Zerschlagung aller konfessionellen Organisationen im Elsaß zielte. 120 Selbst mit einem seiner engsten elsässischen Mitarbeiter brach Wagner, als dieser es ablehnte, aus der Kirche auszutreten. 121 So entschieden antiklerikal Wagner also eingestellt war, so religiös durchsetzt war seine Sprache, so sehr bedurfte er einer Ersatzreligion. Nicht Gott, sondern Hitler galt ihm als der Messias: »Dieser Mann hat eine höhere Mission auf dieser Erde zu erfüllen. Und daher ist er unüberwindlich und wird seinen Auftrag erfüllen. Er wird Herr über alle Feinde werden und Herr jeder Situation.« 122 Immer wieder richtete er Dankgebete an seinen Führer: »Wir danken Ihnen, mein Führer, für alles, was Sie für unser Volk taten. Wir danken Ihnen für das, was Sie um Deutschlands Willen in beispiellos schwerem Kampf getragen haben. Wir danken dem Einiger unseres Volkes, dem Schöpfer des Dritten Reiches, dem Retter Deutschlands, indem wir ihm unsere nie versagende Treue und Gefolgschaft versichern.« 123 Seine Heilsgewißheit bezog er von »Lichtbringer Adolf Hitler« 124 selbst noch 1944, als das Licht deutlich dunkler wurde, was Wagner jedoch nicht wahrhaben wollte. So gesehen war er wirklich ein »gläubiger Nationalsozialist«. Wagner hoffte tatsächlich, den Einfluß der Kirche auf die Menschen seines Gaues zurückdrängen zu können, indem er den christlichen Glauben durch einen säkularisierten zu ersetzen versuchte. Zur Verbreitung dieses »Glaubens an unsere Mission« bestimmte er die Lehrer, von denen er, wie von den Beamten allgemein, soldatisches Pflichtbewußtsein, Treue und Opferbereitschaft verlangte. »Über jeder nationalsozialistischen Erziehungsarbeit [...] steht das Wort Glauben. Wenn manche vielleicht meinten, wir bräuchten keinen neuen Glauben, so erkläre ich: Kein Glaube vermochte das deutsche Volk aus seinem Zusammenbruch zu erretten als der Glaube, den uns Adolf Hitler gegeben hat.« 125 Auch wenn er sie nicht beim Namen nannte, die Kirche Ludger Syré 758 118 »Für mich handelt es sich namentlich darum, mit einer gewissen Elastizität mich den neuen Verhältnissen anzupassen.« Gröber am 18. März 1933 an Kardinalstaatssekretär Pacelli, zit. nach Köhler (wie Anm. 112), S. 283. 119 Schwalbach (wie Anm. 114), S. 108. 120 Vgl. Grill (wie Anm. 1), S. 481; Kettenacker, Lothar, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß (Studien zur Zeitgeschichte 5), Stuttgart 1973, S. 200 f.; Schwalbach (wie Anm. 114), S. 190. 121 Bickler (wie Anm. 25), S. 376. 122 Straßburger Neueste Nachrichten, 2. Februar 1942. 123 Wagner am 7. April 1938 in Schönau im Wiesental »am Grabe Albert Leo Schlageters«, in: Der Landschreiber vom Oberrhein, Karlsruhe 1939, S. 38. Man beachte die sprachliche Analogie zum »Glaubensbekenntnis«. 124 Straßburger Neueste Nachrichten, 19./ 20. August 1944. 125 »Der Führer«, 28. Juni 1937, S. 3. <?page no="760"?> blieb, nachdem die politischen Gegner ausgeschaltet waren, Wagners Feindbild Nummer eins. Er konnte aber auch polemisch werden: »Christus hat ausgesprochen: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. - Ich fürchte, daß die Machtansprüche der politisierenden Geistlichkeit eben nur von dieser Welt sind.« 126 Neben dem säkularisierten Glaubensverlangen prägte Wagners Ideologie das Bild vom neuen Menschen, der sich, wie er selber, furchtlos und bedingungslos fügt, die Kategorien von Befehl und Gehorsam akzeptiert und an die neue Herrenklasse glaubt. Wer in die Partei eintritt, pflegte er zu sagen, »gibt sein altes Leben auf und wird ein neuer Mensch«, analog zum Eintritt in einen religiösen Orden oder in eine Sekte. Immer wieder propagierte er das Führerprinzip und die Führerauslese. Intellektuelle und Individualisten verabscheute er; gefragt waren die »durch die nationalsozialistische Weltanschauung erfüllten Charaktere« mit soldatischen Tugenden: »In der Politik ist es nicht anders als im Kriege, wo der Wert einer Truppe von deren Führer abhing [...] Worauf es uns in erster Linie ankommt, das ist der einfache, unkomplizierte Mensch, der genug Wissen oder wenigstens den Willen, es zu erwerben, besitzt, um den an ihn gestellten Anforderungen gewachsen zu sein. Der geistig und seelisch komplizierte Mensch kann niemals unser Führertyp sein. Er irrt leicht ab vom Ziel oder hält im entscheidenden Augenblick nicht durch [...] Suchen Sie die deutschen Pflichtmenschen, die soldatischen Naturen. Unser Volk hat ihrer so unendlich viele, daß es nicht schwerfallen wird, eine Auslese besten deutschen Soldatentums als Träger des großen Kampfes unseres Führers zu finden.« 127 Konstitutiv für Wagners Weltanschauung waren selbstverständlich auch Antikommunismus und Rassismus. In unglaublich primitiver Weise demonstrierte er dieses in einer »Tod dem Marxismus: Es lebe der Nationalsozialismus« überschriebenen Broschüre, in der er mit den »jüdischen Schöpfungen« Liberalismus und Marxismus abrechnete. Nicht nach ökonomischen, sondern »nach den Gesetzen des Blutes und der Rasse« verlaufe das Leben des Volkes. 128 Der Bolschewismus sei eine jüdische Erfindung und hätte im Erfolgsfall an die Stelle der »edelsten Tugenden des größten Arischen Volkes [...] die Korruption asiatischen Untermenschentums« gesetzt. 129 Dann führte er aus: Die Juden seien eine »semitische Mischrasse«, die es im deutschen Interesse zu bekämpfen gelte, denn »deutscher Geist und jüdischer Geist sind unversöhnlich«, namentlich deshalb, und das ist wieder typisch für Wagner, weil die Juden von Ausnahmen abgesehen Pazifisten seien: »Seine Rasse reicht nicht zum Soldaten« 130 , deshalb auch nicht zur politischen Führung und zum Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 759 126 »Der Führer«, 24. Januar 1938, S. 5. 127 »Der Führer«, 16. Dezember 1937, S. 1. 128 Wagner, Robert, Tod dem Marxismus: Es lebe der Nationalsozialismus (Braune Bücherei 2), Karlsruhe 1932, S. 7. Grill (wie Anm. 8), S. 266 nennt die Schrift »durchschnittlichen völkischen Sozialdarwinismus«. Vermutlich ist der Text von irgendeinem NS-Rasseideologen abgeschrieben, denn ganz so platt äußerte sich Wagner sonst sowohl sprachlich als auch inhaltlich nicht. 129 Wagner (wie Anm. 128), S. 17. 130 Wagner (wie Anm.128), S. 22 hätte es als Kriegsteilnehmer 1914-1918 eigentlich besser wissen müssen. <?page no="761"?> Kampf für mehr Lebensraum. »Wir Nationalisten sind Imperialisten, unser Kampf wird nicht eher ruhen, bis unser Volk leben kann.« 131 Seine rassistischen Wahnvorstellungen blieben nicht reine Ideologie; sie wurden zur Richtschnur seines praktischen Handelns bei der Verfolgung und Deportation der Juden diesseits und jenseits des Rheines und bei der »völkischen Flurbereinigung« im Elsaß. Die unmittelbar nach der Machtergreifung einsetzende Repression gegen die Juden steigerte sich nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze 1935. Ähnlich wie er 1933 die Ausschreitungen der SA gebremst hatte, verbot Wagner jetzt mit Blick auf die Disziplin in der Partei und ihren Gliederungen antijüdische Einzelaktionen. 132 Nicht zuletzt auch wegen des Fremdenverkehrs und im Interesse der badischen Kurorte verlangte er in einem Rundschreiben: »Propaganda gegen das Judentum und gegen den politischen Katholizismus hat wie jede nationalsozialistische Propaganda der deutschen Art entsprechend anständig zu sein.« 133 Die Juden erlebten das ganz anders, und die Deutschland-Berichte der Exil-SPD meldeten: »So ist nun in Süddeutschland, insbesondere in Baden unter Führung des Reichsstatthalters Wagner die Judenhatz in vollstem Gange.« 134 Die Judenverfolgung kulminierte in der »Reichskristallnacht« am 9. November 1938, in der auch in Baden die Synagogen brannten, Juden tätlich angegriffen und in »Schutzhaft« genommen wurden. Ein Augenzeuge erlebte, wie Wagner persönlich das Löschen der brennenden Karlsruher Synagoge verhinderte und lediglich die Nachbarhäuser durch die Feuerwehr schützen ließ. 135 Nachdem der NS-Pöbel freien Lauf erhalten hatte, legte ihn Wagner wieder an die Kette: »Grundsätzlich sind Einzelaktionen streng untersagt. Alles weitere geschieht auf gesetzlicher Grundlage. Die Partei ist dabei durch den Stellvertreter des Führers oder durch den Gauleiter beteiligt [...] Arisierung nur nach den vorliegenden Verordnungen und Erlassen. Grundsätzlich keine persönliche Bereicherung [...] Für den Gau Baden verbiete ich den Erwerb bisher jüdischen Eigentums durch Parteistellen und durch führende Parteigenossen [...]Auswanderung der Juden, und zwar zunächst der armen Juden, fördern.« 136 In der Tat förderte Wagner die Emigration; 137 die Juden polnischer Staatsbürger- Ludger Syré 760 131 Wagner (wie Anm. 128), S. 23. 132 Tatsächlich wurden einzelne SA-Männer z.B. wegen eines Angriffs auf eine Synagoge verurteilt und »durch persönliches Eingreifen des Reichsstatthalters« aus der SA ausgeschlossen. Vgl. Schadt (wie Anm. 80), S. 224 f. 133 Rundschreiben Wagners, 15. August 1935, zit. nach Sauer, Paul, Dokumente über die Verfolgung der jüdischen Bürger in Baden-Württemberg durch das nationalsozialistische Regime 1933 - 1945, Teil 1 Stuttgart 1966, S. 67. 134 Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934 -1940, 6. Aufl. Frankfurt 1982, 2. Jg. 1935, S. 801. 135 Werner, Josef, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich, Karlsruhe 1988, S. 184. 136 Rundschreiben Wagners, 7. Dezember 1938, zit. nach Sauer (wie Anm. 133), S. 69 f. 137 Die Palästina-Auswanderer durften sich in landwirtschaftlichen Ausbildungszentren auf ihre Arbeit <?page no="762"?> schaft wies er am 27. Oktober 1938 aus; der Novemberpogrom und die wirtschaftlichen Repressionen ließen zahlreiche Juden fliehen. Am 22. Oktober 1940, nach der Besetzung des größten Teils von Frankreich, holte Wagner dann zum entscheidenden Schlag gegen die badischen Juden aus. Zusammen mit seinem Kollegen Josef Bürckel, Gauleiter und Reichsstatthalter der Saarpfalz und Chef der Zivilverwaltung in Lothringen, ließ er 6.500 Juden aus Baden, der Pfalz und dem Saarland in den unbesetzten Teil Frankreichs abschieben. Die Betroffenen hatten kaum Zeit zur Vorbereitung der Reise und durften nur wenig Gepäck mitnehmen. Auch die französische Regierung in Vichy traf die Ausweisung völlig überraschend; ihr Protest gegen die völkerrechtswidrige Maßnahme beeindruckte Wagner nicht. Die Abgeschobenen wurden unter unbeschreiblichen Bedingungen in einem überfüllten Barackenlager in Gurs, am Fuße der Pyrenäen, interniert. Von den 4.464 aus Baden stammenden Juden starben 1.168 vor der Befreiung Frankreichs, 491 vermochten zu fliehen oder auszuwandern, 777 überlebten. 2.028 wurden 1942 in die Konzentrationslager Auschwitz und Majdanek verschleppt und dort bis auf wenige Ausnahmen ermordet. 138 Die in Baden zurückgebliebenen Juden mußten ab 1. September 1941 den Judenstern tragen, durften nicht mehr auswandern und fanden schließlich in den Vernichtungslagern des Ostens den Tod. Hintergrund der Ausweisung vom 22. Oktober 1940 war eine deutsch-französische Vereinbarung im Rahmen des Waffenstillstandsabkommens vom 22. Juni 1940, nach der alle Juden französischer Staatsangehörigkeit aus Elsaß und Lothringen ins unbesetzte Frankreich abgeschoben werden durften. Diese Bestimmung wandten die beiden Gauleiter »sinngemäß«, aber vertragswidrig auch auf die Juden ihrer westlichen Gaue an. 139 Die Deportation der badischen und pfälzischen Juden ging als »Bürckel-Aktion« in die Geschichte ein. Auch Hitler wird aufgrund eines Berichtes von Heydrich 140 gelegentlich als Urheber genannt. Bürckel hatte bereits als Gauleiter von Wien bei der Vertreibung der österreichischen Juden Erfahrungen gesammelt. Und ohne Hitlers Zustimmung oder auch formellen Befehl konnte eine solche Aktion natürlich nicht ablaufen. Aufgrund zahlreicher Belege scheint heute jedoch so gut wie sicher zu sein, daß der badische Gauleiter der Initiator der Deportation gewesen ist: »Für Robert Wagner seinerseits gehörte wohl die Vertreibung der badischen Juden mit zu den demonstrativen - ihm selbst nötig erscheinenden - Beweisen seiner Machtfülle und seines Gewalterfolgs. Und vielleicht gerade aus dieser Sicht rückt er tatsächlich in die Position eines persönlich engagierten Initiators der Hölle vom Camp de Gurs.« 141 Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 761 als Kolonisten vorbereiten. Vgl. Grill (wie Anm. 1), S. 352. 138 Sauer, Paul, Die Schicksale der jüdischen Bürger Baden-Württembergs während der Nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933 - 1945, Stuttgart 1969, S. 281. 139 So der Gestapo-Bericht, 30. Oktober 1940, in: Sauer (wie Anm. 133). Teil 2, S. 242 f. 140 »Der Führer ordnete die Abschiebung der Juden aus Baden [...] an«, begann Heydrich seinen Bericht vom 29. Oktober 1940 an das Auswärtige Amt z. Hd. des Gesandten Luther, in: Sauer (wie Anm.133), Bd. 2, S. 241. 141 Toury (wie Anm. 6), S. 463, vgl. auch Werner (wie Anm. 135), S. 10 und 305 f. <?page no="763"?> Für die Verwaltung und Verwertung des Vermögens der ausgewiesenen Juden bestimmte Wagner einen Generalbevollmächtigten. Hausrat und Grundbesitz wurde zugunsten des Landes Baden versteigert, und die Bevölkerung, die angeblich die Abschiebeaktion »kaum wahrgenommen« (Heydrich) hatte, bediente sich gerne, wie jener Hitlerjunge, der im Namen seines Vaters das Haus eines Juden erbat. »Wenn viele so dachten, mochte sich der Initiator der Aktion, Robert Wagner, sogar als ein neuer Robin Hood in deutscher Fassung fühlen - als Wohltäter seiner armen Badenser, die fast kaum etwas von seiner Untat wahrgenommen hatten und kein überflüssiges Wort über das Schicksal verloren.« 142 Im Unterschied zu anderen Gauleitern tolerierte Wagner »Korruption von unten« und die Selbstbedienungsmentalität »Alter Kämpfer« nicht; die Arisierung jüdischen Vermögens mußte zumindest formal korrekt ablaufen. Fragt man nach der Sonderstellung, die die Ausweisung der badischen und pfälzischen Juden einnahm, dann liegt diese darin begründet, daß der notorische Antisemit Wagner wieder einmal in vorauseilendem Gehorsam - Hitlers Weltanschauung war auch seine Weltanschauung - voranging, denn die planmäßige Deportation der deutschen Juden in Richtung Osten erfolgte erst ab Herbst 1941. 4. Der Griff über den Rhein: Die Volkstumspolitik des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß Den Zenit seiner Macht erreichte Wagner, als ihn Hitler 1940 - schon vor dem Waffenstillstandsabkommen vom 22. Juni 143 - mit der Verwaltung des Elsaß beauftragte. Als Gauleiter und als Chef der Zivilverwaltung (CdZ) des Elsaß besaß er die völlige Kontrolle über alle Partei- und Staatsangelegenheiten einschließlich der Polizei und konnte, da Hitler seinem alten Kämpfer und neuen Territorialherrn weitgehend freie Hand ließ, seine weltanschaulichen Vorstellungen, Rassismus und Imperialismus eingeschlossen, fast ungehindert in die Tat umsetzen. Gut vorbereitet auf seine neue Aufgabe setzte Wagner beim Aufbau der Verwaltung auf seine bewährten Freunde aus der badischen Gauclique und stieß damit die kooperationsbereiten Elsässer Autonomisten, die sogenannten Nanziger, vor den Kopf. Nicht daß das Elsaß deutsch verwaltet wurde, störte sie, sondern daß Wagner das Elsaß zur badischen »Nebenstelle« machte und diese diskriminierende Bezeichnung auch noch den Staats- und Parteistellen verlieh, verletzte sie. In der Gauleitung Ludger Syré 762 142 Toury (wie Anm. 6), S. 404. In Wirklichkeit gab es zahlreiche Zeugen, die nach 1945 auch über das Erlebte berichteten. 143 Vgl. Kettenacker, Lothar, Die Chefs der Zivilverwaltung im Zweiten Weltkrieg, in: Verwaltung contra Menschenführung im Staat Hitlers. Studien zum politisch-administrativen System, hrsg. v. D. Rebentisch, K. Teppe, Göttingen 1986, 396 - 417, hier S. 402 und Six, Franz A. (Hrsg.), Dokumente der deutschen Politik, Reihe. Das Reich Adolf Hitlers, Bd. 1-9, Berlin 1935 - 1944, hier Bd. 8,2, S. 497. <?page no="764"?> saßen nur Badener (u.a. Röhn, Schuppel, Schmid), Parteifunktionäre, die »mit ihren stereotypen Formeln« die Stimmung verdarben. 144 Dazu kamen die badischen Minister Köhler, Pflaumer und Schmitthenner, deren Ressorts zu Abteilungen beim CdZ wurden. Auch der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD beim CdZ, Reichsstudentenführer Gustav Adolf Scheel, war ein badischer Import. Mit Ausnahme des Oberstadtkommissars von Straßburg, Robert Ernst, den Wagner als Generalreferenten in seinen Stab aufnahm, wurden »bodenständige Kräfte« (Wagner) höchstens auf kommunaler Ebene herangezogen. Wagner rechtfertigte sein Vorgehen rassisch: Elsässer und Badener seien schließlich »germanische Bruderstämme«; die »stammesverwandten« Badener könnten infolgedessen »lebensnah und verständnisvoll« ihre Aufgaben erfüllen. 145 Am 2. August 1940 wurde Wagner, wie auch sein Kollege Bürckel im benachbarten Lothringen, per Führererlaß Hitler unmittelbar unterstellt. »Für die besonderen Verdienste des Gauleiters um die Durchführung von Kriegsaufgaben« wurde ihm am 2. Oktober 1940 das Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse verliehen. 146 Nachdem er bereits am 16. Juli seinen Mitarbeitern deutlich gemacht hatte: »Wir kamen als Nationalsozialisten ins Land und können nur als Nationalsozialisten handeln«, 147 machte er am 20. Oktober auf der ersten nationalsozialistischen Kundgebung im Elsaß die Öffentlichkeit mit seinem Programm vertraut: »Ich bin gekommen, um mit allen meinen Kräften dafür einzutreten, daß das Elsaß frei wird von der Herrschaft Fremder [...] und nunmehr für alle Zeiten sich heimfindet zu seiner deutschen Mutter. Darin sehe ich meinen Auftrag. Und ich weiß heute schon, daß das elsässische Volk mir bei der Erfüllung meines Auftrages willig Gefolgschaft leisten wird! « 148 Dieser Auftrag stammte von Hitler, der von den beiden Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß und in Lothringen verlangte, ihm in zehn Jahren zu melden, daß ihr Gebiet »deutsch, und zwar rein deutsch sei«; er werde sie nicht danach fragen, »welche Methoden sie angewandt hätten, um das Gebiet deutsch zu machen«. 149 Doch Hitlers Musterschüler wollte seine Pflichten schneller erfüllen und hatte schon zugepackt: »Wir haben begonnen, das Elsaß von all jenen Elementen zu befreien, die dem elsässischen Volk seit Jahrhunderten zum Verhängnis wurden. Wir haben Juden, Franzosen und deren unbelehrbare Trabanten entfernt. Das Elsaß soll künftig wieder den deutschen Elsässern gehören. Fremde können hier nicht beheimatet, sie können allenfalls Gäste sein«. 150 Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 763 144 Bickler (wie Anm. 25), S. 337. 145 Zwei Jahre Verwaltung im Elsaß, in: Behörden und Dienststellen im Elsaß, 3. Aufl. Karlsruhe 1942, S. XX. 146 »Völkischer Beobachter«, 13. Oktober 1940, S. 2. 147 »Der Führer«, 17. Juli 1940. 148 Zit. nach Dokumente (wie Anm. 143), Bd. 8,2, S. 524. 149 Hitler bei einem Treffen in Berlin am 25. September 1940, zit. nach Toury (wie Anm. 6), S. 446. »Zehn Jahre« waren ein bei Hitler immer wiederkehrender Topos für mittelfristige Planung. Weitere Zitate bei Rebentisch (wie Anm. 100), S. 191. 150 Aus der Rede vom 20. Oktober 1940, zit. nach Dokumente (wie Anm. 143), Bd. 8,2, S. 527. <?page no="765"?> Wagners Programm der Germanisierung lief auf einen fanatischen antifranzösischen Kreuzzug hinaus. Auf die Wiedereinführung der deutschen Muttersprache am 16. August 1940 151 folgten die Verbote, in der Öffentlichkeit Französisch zu sprechen und Baskenmützen zu tragen; französische Straßennamen, Reklameschilder, Denkmäler usw. hatten zu verschwinden, kurzum alles, was an die »Geschmacklosigkeiten der französischen Zeit« erinnerte. 152 Auf die öffentliche und politische folgte die ethnische »Säuberung«. 22.000 Juden wurden über die Grenze nach Vichy-Frankreich deportiert, was Gaupropagandaamtsleiter Schmid entsprechend feierte: Das Elsaß sei »zum erstenmal in seiner Geschichte kurz und schmerzlos judenfrei geworden.« 153 Insgesamt ließ Wagner 105.000 Personen im zweiten Halbjahr 1940 aus dem Elsaß ausweisen oder an ihrer Rückkehr aus Südfrankreich hindern. Als Wagner weitere Ausweisungen »unzuverlässiger« Elsässer plante, geriet er mit dem Reichskommissar für die Festigung Deutschen Volkstums, Heinrich Himmler, in Streit, der die Massenausweisung deutschstämmiger Elsässer nach Frankreich strikt ablehnte, da kein deutsches Blut an Frankreich verloren gehen dürfe. 154 Erst als Wagner sich einverstanden erklärte, »rassisch wertvolle Personen in das Altreich und rassisch minderwertige nach Frankreich« abzusiedeln bzw. auszusiedeln und rückkehrwillige Flüchtlinge im Elsaß wieder anzusiedeln, kam es zu einer »fruchtbaren« Zusammenarbeit zwischen Wagner und Himmler. 155 Es charakterisiert den verhinderten Volksschullehrer Wagner, daß für ihn das Elsaß in erster Linie ein Erziehungsproblem war, das darin bestand, dem Volk zur Rückbesinnung auf seine deutsche Volkstumszugehörigkeit zu verhelfen. Doch wollte die Erziehung nicht recht gelingen. Nur wenige Elsässer waren bereit oder wurden für würdig befunden, der am 22. März 1941 im Elsaß gegründeten NSDAP beizutreten. Die Zahlen, die Wagner drei Jahre später über die Stärke der nationalsozialistischen Organisationen zusammenstellte, 156 klangen beeindruckend, konn- Ludger Syré 764 151 Seine Maßnahmen verkündete Wagner im »Verordnungsblatt des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß«, Straßburg 1940 ff., hier 1940, S. 2. 152 Zu welchen Absurditäten es dabei kam, kann hier im Einzelnen leider nicht geschildert werden, beispielsweise die Verbissenheit, mit der Wagner auch noch hinter der letzten französischen Nationalflagge her war, oder die Androhung einer Fremdwortsteuer. GLA 465d/ 1244. 153 Zit. nach Kettenacker (wie Anm. 120), S. 250. Die Zahlenangabe machte Wagner in seinem Prozeß. Vgl. Crenesse, Pierre, Le procès de Wagner, bourreau de l’Alsace, Paris 1946, S. 44. 154 Laut Kettenacker (wie Anm. 120), S. 111 f. und S. 125, seien Wagner und Himmler «wie Hund und Katze« zueinandergestanden. 155 Vgl. Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 14. November 1945 - 1. Oktober 1946, Bd. 1-42, Nürnberg 1947 - 1949, hier Bd. 6, S. 516, Bd. 38, S. 331 ff. Außerdem: Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte (Ursachen und Folgen), Berlin 1970, hier Bd. 18, S. 428 ff. 156 Angeblich unterlagen am 1. Mai 1944 rund 650.000 Menschen der »ständigen Beeinflussung durch die Partei« (63% der Gesamtbevölkerung). Bericht des Gauorganisationsamtes an den Gauleiter. GLA 465c/ 16229. <?page no="766"?> ten aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bewußtseinsbildenden Maßnahmen der NS-Propagandisten trotz allen Aufwands und trotz zweifellos vorhandener ökonomischer Erfolge nicht auf fruchtbaren Boden fielen. Das zeigte sich nirgends deutlicher als bei dem gescheiterten Versuch, die elsässischen Männer zum freiwilligen Eintritt in die Wehrmacht oder Waffen-SS zu bewegen. Das dürftige Resultat von 2.100 Meldungen war keineswegs ein »schöner Anfangserfolg«, 157 sondern ein gutes Zeugnis für die resistente Haltung der Elsässer und zugleich eine vernichtende Beurteilung von Wagners Überzeugungsarbeit. Auf zahlreichen Kundgebungen versuchte er seine »unerschütterliche Siegeszuversicht« zu verbreiten und vor der Jugend wurde er nicht müde, die einst von ihm selbst erfahrene und geschätzte soldatische Kameradschaft in der deutschen Wehrmacht zu beschwören. 158 Da die elsässischen Männer freiwillig nicht folgten, mußten sie gezwungen werden. Um sein Ziel, die Einführung der Wehrpflicht, zu erreichen, reiste Wagner zusammen mit Bürckel und dem luxemburgischen Gauleiter Simon bis in die Ukraine, wo er am 9. August 1942 mit Hitler und anderen NS-Führern im Führerhauptquartier in Winniza konferierte. Auch dieses Mal ging also die Initiative von Wagner aus; Hitler ließ sich überzeugen, ebenso der Oberkommandierende der Wehrmacht, Keitel, der aber darauf bestand, daß allen Einberufenen die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen werden müsse. Fast zeitgleich, am 24. und 25. August 1942 traten die Verordnung über die Staatsangehörigkeit und die Verordnung über die Einführung der Wehrpflicht in Kraft. 159 Außerdem wurde zur Abschreckung für Deserteure die Sippenhaft eingeführt: Angehörige von Wehrdienst- oder Arbeitsdienstverweigerern konnten durch die SS in das Reichsgebiet »abgesiedelt« werden. 160 Die Drohung mit harten Strafen und mit Sippenhaft konnte nicht verhindern, daß sich viele junge Elsässer dem Dienst in der deutschen Uniform zu entziehen versuchten. Wagner drohte offen: »Wo sich aber vereinzelt Fälle von Verräterei zeigen, wird keine Schonung geübt. Das könnte ich weder vor meinem Gewissen noch vor meinem Auftrag noch vor dem Volk verantworten.« 161 Zahlreiche Fahnenflüchtige - gerade sie haßte Wagner seit 1918 besonders - wurden an der Grenze zu Frankreich oder der Schweiz erschossen oder vom Sondergericht Straßburg zum Tode verurteilt. Eine Begnadigung lehnte Wagner so gut wie immer ab. Im Fall Ballersdorf rechtfertigte er sich gegenüber seinem Generalreferenten: Auch er würde lieber seinem »menschlichen Empfinden« nachgeben, aber wenn er jetzt nicht hart bliebe, müßte er »in den nächsten Monaten statt 13 Deserteure einige Hundert erschießen lassen.« 162 Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 765 157 2. Jahresrede Wagners im Juli 1942. Straßburger Monatshefte 1942, S. 367. Ernst (wie Anm. 25), S. 351, nennt die Zahl 2.700. 158 Elsässische Soldatenzeitung: Heimatbrief vom Oberrhein Nr. 1, Dezember 1942, S. 1. 159 Verordnungsblatt des CdZ, 1942, S. 251 f. Außerdem: IMT (wie Anm. 155), Bd. 38, S. 586 ff. 160 Verordnungsblatt des CdZ, 1943, S. 152. 161 Am 16. Mai 1942 bei einem Parteiappell in Gebweiler. Elsässische Soldatenzeitung Nr. 7, Juni 1943, S. 7. 162 Ernst (wie Anm. 25), S. 362. <?page no="767"?> Bei der Anwendung des Erziehungsmittels der Gewalt halfen Wagner zwei typische Einrichtungen des nationalsozialistischen Terrorapparates: das Sondergericht und das Konzentrationslager. In die Urteilsfindung des beim Straßburger Landgericht eingerichteten Sondergerichts griff Wagner, wie zahlreiche Zeugnisse belegen, regelmäßig ein. 163 Dem Oberlandesgerichtspräsidenten und dem Generalstaatsanwalt in Karlsruhe schrieb er die Strafzumessung vor: »Es ist insbesondere im Elsaß erforderlich, daß die wegen Wehrpflichtentziehung ausgesprochenen Strafen abschreckend wirken. Abschrekkende Wirkung kann aber [...] nur der Todesstrafe zukommen. Bei allen durch versuchte illegale Abwanderung nach dem 6. 6. 1944 im Elsaß unternommenen Wehrdienstentziehungen ist daher unabhängig von etwaiger anderer Gerichtsübung im Altreich grundsätzlich die Todesstrafe auszusprechen.« 164 Beispiele wie dieses belegen, »daß die Justiz in der Hand eines autonomen Statthalters des Dritten Reiches zu einem beliebig manipulierbaren Herrschaftsinstrument entarten mußte.« 165 Als Wagner am 19. Januar 1944 eine vorläufige Bilanz seines Repressionskurses aufmachte, war die Zahl der politischen Todesurteile auf 72 gestiegen, von denen 37 bereits vollstreckt worden waren, nur in zwei Fällen hatte er von seinem Begnadigungsrecht Gebrauch gemacht. 166 Diese harte Linie stieß selbst in den Reihen der NSDAP auf Kritik. So setzte sich der Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Strölin, dem der starke Einfluß der Badener im Elsaß schon lange mißfiel und der Wagners Art, mit den Elsässern umzugehen, verheerend fand, in einem Fall für angeklagte Elsässer ein und intervenierte sogar bei Himmler mit dem Erfolg, daß Hitler die Urteilsvollstreckung - die Todesstrafe - aussetzte. 167 Mehr Verständnis für Wagner brachte Goebbels auf, der die Arbeit im Elsaß »ungeheuer schwer« fand, aber zuversichtlich war, daß Wagner sich schon durchsetzen werde: »Allerdings hat er eine ganze Reihe von Todesurteilen vollstrecken müssen, sonst kann er dieses Gebiet nicht in Raison halten.« 168 Nachbar Bürckel, der sich einen »scharfen Gegner der Todesstrafe« nannte, »weil die politischen Delikte im Elsaß und in Lothringen anders beurteilt werden müßten als im übrigen Reich«, stellte Wagners Politik der Hinrichtungen und Konzentrationslager ein Armutszeugnis aus. 169 Wagner hingegen ließ bereits Mitte Juli 1940 in Ludger Syré 766 163 Vgl. Kettenacker (wie Anm. 120), S. 243. Zumindest indirekten Einfluß hatte Wagner 1935/ 36 auf die badische Justiz ausgeübt, als er einige Urteile des Mannheimer Sondergerichts als zu hoch kritisiert hatte.Vgl. Schadt (wie Anm. 80), S. 227-230. Im Elsaß galten andere Maßstäbe. 164 Fernschreiben vom 10. Juni 1944. Zit. nach IMT (wie Anm. 155), Bd. 38, S. 589 ff. 165 Kettenacker (wie Anm. 120), S. 243. 166 Wagner am 19. Januar 1944 an den Chef der Reichskanzlei, Lammers. Nach Kettenacker (wie Anm. 120), S. 361. 167 Vgl. Nachtmann, Walter, Karl Strölin. Stuttgarter Oberbürgermeister im »Führerstaat«, Tübingen 1995, S. 310 ff. 168 Goebbels (wie Anm. 3), Bd. 9, S. 75. 169 Nach Kettenacker (wie Anm.120), S. 244 und S. 361. Sofern Bürckels Behauptung überhaupt <?page no="768"?> Vorbruck bei Schirmeck sein eigenes Konzentrationslager für elsässische »Dickköpfe« errichten, das allerdings eher ein Arbeits- und Erziehungslager war, in dem, wie Wagner sich ausdrückte, »schwer erziehbaren Elementen des Elsaß die richtige Einstellung zur Arbeit und zur politischen Ordnung des Großdeutschen Reiches beizubringen« war. 170 Das Lager unterstand dem Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD, Scheel, der einerseits der SS unterstand, andererseits dem CdZ verantwortlich war und deshalb nach Wagner als der mächtigste Mann im Elsaß galt. Die Lageraufsicht führte ein Kommando der Polizei. Der SS und Himmler war Wagners Lager ein Dorn im Auge; sie versuchten wiederholt, es in das SS-Lagersystem zu integrieren, scheiterten aber am Widerstand Wagners, Scheels und (dessen Nachfolgers) Fischers. Daneben unterhielt die SS auf dem Gelände des Struthofs bei Natzweiler, unweit von Schirmeck, ein großes Konzentrationslager nach reichsdeutschem Muster, auf das der CdZ keinen Einfluß hatte. Es war dem Reichssicherheitshauptamt unterstellt und Teil des SS-Staates. In ihm starben zwischen 1941 und 1944 mehrere tausend Menschen. 171 1940 war Wagner mit dem Vorsatz ins Land gekommen, »daß die unverzeihlichen Fehler, die das Kaiserreich im Elsaß begangen hat, nicht wiederholt werden.« 172 Mit seiner rücksichtslosen Volkstumspolitik richtete er in Wirklichkeit viel Schlimmeres an; er benahm sich wie ein »Herrenmensch« (Grill), wurde gar zum »Henker« (Crenesse). Dabei war Wagner offenbar »mit den besten Absichten ins Elsaß gekommen und schien anfangs sogar Verständnis für seine neuen Untertanen mitzubringen.« 173 Seine verbohrte Weltanschauung hinderte ihn jedoch daran zu erkennen, daß die Elsässer zwar deutschstämmig, aber deswegen noch lange nicht deutschgesinnt waren. Reservierter, aber deshalb vielleicht auch realistischer betrachtete Hitler die Elsässer, die ihm als »unzuverlässig«, jedenfalls nicht als »gute Deutsche« galten, so daß er ein »Gefühl der Verbundenheit mit dem Elsaß« nicht kannte. 174 Auch aus diesem Grunde fiel es ihm leicht, nach der französischen Niederlage im Sommer 1940 den deutschen Verzicht auf Elsaß-Lothringen zu erklären. Völkerrechtlich blieb das Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 767 zutreffend ist, gilt sie auf jeden Fall nicht für die Saarpfalz; das Sondergericht Saarbrücken verhängte Todesurteile, von denen auch einige vollstreckt wurden. 170 Zit. nach Kettenacker (wie Anm. 120), S. 247. Zum Lager vgl. Granier, Jacques, Schirmeck. Histoire d’un Camp de Concentration, Strasbourg 1968. 171 V.a. Kriegsgefangene, politische Gegner, Widerstandskämpfer, darunter wahrscheinlich auch Elsässer. Vgl. Kettenacker (wie Anm. 120), S. 248. Laut Ernst (wie Anm. 25), S. 295, war dieses Lager nicht für Elsässer bestimmt. 172 Diese stereotype Redewendung, im August 1940 gegenüber einem deutschen Journalisten geäußert, wiederholte er häufig. Dokumente (wie Anm. 143), Bd. 8,2, S. 497. 173 Kettenacker (wie Anm. 120), S. 73. Bickler (wie Anm. 25), S. 340 und Ernst (wie Anm. 25), S. 249 bestätigen diesen Eindruck. 174 Vgl. Kettenacker (wie Anm. 120), S. 35, Bickler (wie Anm. 25), S. 343. Noch vernichtender dachte der SS-General Gottlob Berger, der Himmler vorschlug, die Hälfte dieses »Sauvolks« zu deportieren; Stalin werde sie schon nehmen. Grill (wie Anm. 1), S. 517. <?page no="769"?> Elsaß nach dem Waffenstillstandsvertrag vom 22. Juni 1940 ein Teil Frankreichs. 175 In Wirklichkeit lief die deutsche Besetzung auf eine »faktische Annexion« oder »verschleierte Annexion« hinaus. Gerade wegen des von Hitler intendierten rechtlichen Schwebezustands 176 fühlte sich Wagner mit Blick auf die Forderung des Führers, daß das Elsaß in zehn Jahren völlig deutsch sein müsse, zu einem erhöhten Arbeitstempo bei der Durchsetzung seiner Volkstumspolitik angetrieben. Es ist nicht plausibel, daß Wagner, wie er vor Gericht behauptete, 177 über den völkerrechtlichen Status des Elsaß irgendwelche Zweifel hegte. Die beruhigende Versicherung Hitlers ihm gegenüber, die Rückkehr des Elsaß zu Deutschland würde in einem Geheimvertrag mit Frankreich festgelegt, ist eine Legende, die Wagner gegenüber seinen Mitarbeitern 178 vielleicht verbreitet, aber wohl selbst nicht geglaubt hat. 179 Zumindest hatte er seit Juni 1940 jahrelang Zeit, den wahren Sachverhalt kennenzulernen. Die ihm aus der Hand des Führers gleichsam als persönliches Lehen übertragene Herrschaft im Elsaß nutzte Wagner instinktsicher zur Entfaltung seines persönlichen und territorialen Machtanspruchs. Dank seiner Immediatstellung zu Hitler gelang es ihm, den Machtkampf mit den obersten Reichsbehörden, namentlich Reichsinnenminister Frick, meist für sich zu entscheiden. Für Hitler hatte die Unabhängigkeit seines Vizekönigs den Vorteil, daß er sich so wenig wie möglich mit dem de facto annektierten Gebiet befassen mußte. Dafür nahm er, passend zu seinem polykratischen Führungsstil, gaupartikularen Lobbyismus und dezentrale Entwicklungstendenzen in Kauf. Wagners natürliches Streben ging dahin, bei einer späteren Verschmelzung der rechts- und linksrheinischen Gaue seine souveräne Position zu behaupten. Wie die übrigen Chefs der Zivilverwaltung sah sich Wagner »als Vorreiter einer auf eine erneute Dezentralisierung hinauslaufenden Reichsreform, mit der Zusammenfassung aller wichtigen staatlichen Verwaltungsfunktionen in den neuzuschaffenden Reichsgauen.« 180 Während der Gaupartikularismus des pfälzischen Nachbarn Bürckel eher politisch-ideologisch motiviert schien, war er bei Wagner das Ergebnis der besonderen Lage seines Gaues. Außer der gemeinsamen Aufgabe und der Volksschullehrerausbildung - »wobei allerdings Robert Wagner seine pädagogischen Neigungen nur auf dem Kasernenhof und auf dem Schlachtfeld erprobt hatte« 181 - besaßen Bürckel und Wagner wenig Gemeinsamkeiten. Hier militärischer Ludger Syré 768 175 Im Vertragstext findet sich kein Hinweis auf Elsaß-Lothringen. Dokumente (wie Anm. 143), Bd. 8,1, S. 187-203. 176 Hitler schaffte es dadurch, »sowohl die nationalen Gefühle der Deutschen zu befriedigen [...] als auch auf die Empfindlichkeiten des geschlagenen, aber dennoch nicht belanglosen Gegners Rücksicht zu nehmen.« Kettenacker (wie Anm. 143), S. 401. 177 Wagner in seinem Schlußwort. Le Nouveau Journal de Strasbourg, 4. Mai 1946, S. 4. 178 Z.B. Ernst (wie Anm. 25), S. 262, 349. 179 Vgl. dazu Ferdinand (wie Anm. 1), S. 187, der Wagner an dieser Stelle als von Lammers hintergangen sieht. Dazu auch Kettenacker (wie Anm. 120), S. 54 f. 180 Kettenacker (wie Anm. 143), S. 404. 181 Kettenacker (wie Anm. 120), S. 67. <?page no="770"?> Umgangston, braver und asketischer Lebensstil, völlige Humorlosigkeit, starre und oft dogmatische Denkweise, dort zivile Kleidung, Neigung zu Wein und Geselligkeit, selbstbewußtes Auftreten, hohe Flexibilität. Bürckel galt als der »rote Gauleiter«, weil er eine »volkssozialistische« Wirtschafts- und Sozialpolitik in der Pfalz betrieb und dem linken Flügel der NSDAP nahestand. Wagner hingegen, im Unterschied zu Bürckel kein SS-Mitglied, interessierte sich für die Wirtschaft, insbesondere die DAF, wenig und hatte keine Affinität zu sozialistischen Ideen, zur SA und zu Gregor Strasser, den er, glaubt man Goebbels, haßte »wie die Pest«. So unterschiedlich ihre Charaktere waren, so sehr differierte ihre Politik in den besetzten Gebieten. Und schließlich zogen beide Gauleiter aus der sich abzeichnenden Niederlage unterschiedliche Konsequenzen. 5. In Treue fest zum Führer: Der Durchhalteterror des badischen Gauleiters Nachdem im Juni 1944 die Alliierten in der Normandie gelandet waren und die Westfront immer näher rückte, befahl Hitler die »Herstellung der Verteidigungsbereitschaft« und die »Sicherung der Weststellung und des Westwalls«. Die praktische Durchführung, z.B. die Mobilisierung ziviler Arbeitskräfte für Schanzarbeiten, lag bei den Gauleitern, die sich, seit dem 16. November 1942 zugleich Reichsverteidigungskommissare, in der Endphase des Krieges nun auch noch militärische Kompetenzen aneigneten. 182 Wagner ordnete für das Elsaß die totale Mobilmachung an, verbot aber aus Angst vor dem Eindruck des Defätismus jeden Rückzug in Richtung Osten und setzte sich mit seinen Regionalinteressen erneut gegen die Reichsverwaltung durch. 183 Im November stießen die Alliierten in das nördliche Elsaß vor und am 23. November nahm General Leclercs Panzerdivision Straßburg ein, freudig begrüßt von der Bevölkerung. Wagner hatte mit dem Vorstoß gerechnet, aber deswegen sein Räumungs- und Ausreiseverbot nicht gelockert. Allen Ernstes verlangte er: »Es ist soweit! Wir müssen uns verteidigen [...] Nach der mit dem Wehrmachtkommandanten General Vaterrodt getroffenen Vereinbarung müssen sich jetzt alle militärisch ausgebildeten Männer der Dienststellen des Staates und der Partei der kämpfenden Truppe zur Verfügung stellen.« 184 Sein Generalreferent konnte ihn offenbar davon überzeugen, daß eine solche improvisierte Verteidigung »heller Wahnsinn« sei, denn Wagner erteilte nun den Befehl, keinen Widerstand zu leisten und zu fliehen. Auch der »militärisch ausgebildete« Leutnant Wagner zog es vor, die Flucht über den Rhein Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 769 182 Vgl. Hüttenberger (wie Anm. 97), S. 157, Peter (wie Anm. 92), S. 33. 183 Es ging v.a. um die Rückverlegung deutscher Betriebe. Ähnliche Konflikte gab es anschließend in Baden. Vgl. Peter (wie Anm. 92), S. 172 ff. und Ernst (wie Anm. 25), S. 400. 184 So die Erinnerung von Ernst (wie Anm. 25), S. 404 f. <?page no="771"?> anzutreten: »Der Weg nach Kehl war bereits durch Panzer gesperrt, als wir abfuhren. Nach kurzem Aufenthalt im städtischen Forsthaus im Neuhöfler Wald südlich von Straßburg und dem vergeblichen Versuch, telefonische Verbindung mit General Vaterrodt zu bekommen, setzten wir südlich von Erstein mit der Fähre über den Rhein und trafen mittags in Kehl ein, wo an den Rheinbrücken der Ausbau eines kleinen Brückenkopfes auf dem linken Rheinufer im Gange war. Minister Pflaumer fuhr sofort weiter nach Bergzabern in das Hauptquartier der Heeresgruppe Balk, auch Wagner verließ nach wenigen Stunden Kehl, während ich die niederdrückende Aufgabe einer überstürzten Räumung der Stadt durchzuführen hatte.« 185 Von Wagners Flucht berichtete später ein weiterer Augenzeuge, der damals 17jährige Raymond Riff, der gerade mit seinem Onkel auf der Hasenjagd im Rheinwald war, als zwei Autos vorfuhren, in denen Wagner, Ernst, Bickler, Pflaumer, eventuell auch Röhn u.a. saßen: »›Sie und der junge Mann‹, befahlen sie meinem Onkel, ›Sie werden uns über den Rhein setzen. Es sind Fischerkähne an der Herberge ›Zum Rohrschollen‹.‹ In diesem Augenblick wußten wir überhaupt nichts von der Befreiung von Straßburg und mein Onkel war über den Vorschlag sehr erstaunt. Er faßte sich aber und sagte: ›Es ist zur Zeit unmöglich, den Rhein zu überqueren, wegen des Hochwassers, das bis zum Deich kommt, und die Kähne sind im Wasser. Sie täten besser daran, bis Rhinau weiterzufahren und sich dort mit der Fähre übersetzen zu lassen.‹ Ohne Zweifel folgten sie diesem guten Rat. Die zwei Autos fuhren sofort wieder ab und wir erfuhren später, daß die ›mutigen‹ Personen den Rhein in Rhinau tatsächlich überquert hatten.« 186 Den Elsässern ließ er seine letzte Botschaft auf einem - nicht mehr verteilten - Flugblatt zurück, auf dem er drohte: »Betrachtet die Amerikaner, Engländer, Gaullisten, Juden und was alles sich in ihrem Gefolge über die Grenze hereinwälzen wird, als das, was sie sind: als Feinde.« Wer mit dem Feind zusammenarbeitete, dem drohte er »kurzen Prozeß« an. »Vergeßt nicht: Wir kommen wieder! Es lebe der Führer! « 187 Robert Wagner kam in der Tat wieder, jedoch als Gefangener. Von Kehl begab sich Wagner nach Baden-Baden, wohin sich wegen der schweren Luftangriffe auf Karlsruhe auch einige Ministerien und Behörden geflüchtet hatten 188 und koordinierte von dort die von ihm angeordneten Schanzarbeiten des »Badischen Volksaufgebots«. Als Gauleiter oblag ihm die Aufstellung und Ausbildung des deutschen Volkssturms, der erst im Einsatzfall dem Befehl der Wehrmacht unterstand. Wagner ging jedoch sehr selbstherrlich mit dem Volkssturm um und entschied persönlich, welche Einheiten er an die Armee gab und welche er zurück- Ludger Syré 770 185 Ernst (wie Anm. 25), S. 406. 186 Dernières Nouvelles d’Alsace, 21.November 1984. Auch in: Granier, Jacques u.a., La Libération de Strasbourg, Strasbourg 1994, S. 76 f. 187 Abgebildet in Granier (wie Anm. 186), S. 121. 188 Werner, Josef, Karlsruhe 1945. Unter Hakenkreuz, Trikolore und Sternenbanner, Karlsruhe 1985, S. 30. <?page no="772"?> behielt, so daß sich der Oberbefehlshaber der 19. Armee, die das rechte Rheinufer zu halten hatte, beklagte. 189 Immerhin gelang es ihm, 24 Bataillone mit insgesamt 12.000 Mann aufzustellen 190 , deren Kampfwert freilich gegen Null tendierte und die die Alliierten nicht aufzuhalten vermochten. Die letzten Ausgaben des »Führer«, der am 3. April 1945 sein Erscheinen einstellte, hallten wider von Wagners Durchhalteappellen. Nachdem er bereits im November verkündet hatte, der Kampf der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft werde »mehr und mehr den Charakter eines geschichtlich beispiellosen Volkskriegs annehmen«, 191 forderte er nun die männliche Bevölkerung auf, sich dem »Werwolf« anzuschließen und im Rücken des Feindes zu kämpfen. Doch diese hatte längst keine Lust mehr, für Wagner und seine Partei den Kopf hinzuhalten, wie er selbst erkannte und wie Goebbels notierte: »Auch er [Wagner] beklagt sich bitter darüber, daß die Moral sowohl bei der Bevölkerung als auch bei der Truppe außerordentlich abgesunken sei. Man schrecke jetzt auch nicht mehr vor einer scharfen Kritik am Führer zurück.« 192 Angesichts solcher Gotteslästerung, angesichts der rapide gesunkenen Moral und weil sich die Badener den Alliierten »teils mit Begeisterung, teils aber doch ohne inneren Widerstand« in die Arme warfen, blieb Wagner lediglich der Versuch, seinen Durchhaltefanatismus mit Gewalt durchzusetzen. Ähnlich wie Nachbar Murr drohte Wagner am 31. März 1945 allen »verbrecherischen Elementen«, die bei Annäherung des Feindes weiße Fahnen zeigen oder »andere Verbrechen gegen die Landesverteidigung« verüben, mit Standgerichten. »Allen führenden Männern der Bewegung und Parteigenossen« drohte er mit der Todesstrafe, wenn sie versuchen sollten, zu fliehen: »Wir setzen uns nicht ab, wir kämpfen! Wer dennoch ohne Befehl seinen Platz verläßt, kommt vor das Standgericht. Über sein Ende kann ein Zweifel nicht bestehen [...] Die Autorität der Führung ist mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, notfalls auch mit der Waffe, gegen jedermann aufrecht zu erhalten.« 193 Wo er konnte, versuchte Wagner den »Widerstand bis zum letzten Küchenmesser« zu organisieren und die kampflose Kapitulation der Dörfer und Städte vor den französischen Truppen zu verhindern. So untersagte er noch am 25. April 1945 dem Konstanzer Bürgermeister Verhandlungen mit den Franzosen über die Übergabe der Stadt. 194 Gleichzeitig rief er in seinen Flugblättern zur Sabotage auf und bemühte Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 771 189 Werner (wie Anm. 188), S. 49. 190 Peter (wie Anm. 92), S. 307. 191 Am 12. November 1944 in Straßburg anläßlich der Vereidigung des ersten Volkssturmbataillons aus Baden-Elsaß. Zit. nach Müller, Rolf-Dieter; Ueberschär, Gerd R., Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Reiches, Frankfurt 1994, S. 45. 192 Goebbels (wie Anm. 3), Bd. 15, S. 654 f. aufgrund eines Berichts von Wagner vom 1. April 1945. 193 Zit. nach Müller (wie Anm. 191), S. 165. 194 Krautkrämer, Elmar, Das Kriegsende in Südwestdeutschland, in: Der Oberrhein in Geschichte und Gegenwart (Schriftenreihe der Pädagogischen Hochschule Freiburg 1), 2. Aufl. Freiburg 1986, S. 201-224, hier S. 213. <?page no="773"?> tatsächlich noch das »Vertrauen auf unseren Führer Adolf Hitler«: »Daß die Vorsehung unserem Volke in schwerster Not und Bedrängnis diesen Mann schenkte, daß sie ihn in Stunden äußerster Gefahr erhielt und bewahrte, gibt uns die Überzeugung und das Wissen, daß unser Kampf nicht vergeblich sein kann.« 195 Angesichts dieser Einstellung überrascht es nicht, daß Wagner Hitlers »Nero-Befehl« vom 19. März 1945 zu Zerstörungsmaßnahmen im Reichsgebiet bereitwillig gehorchte. Die Verantwortung für die Zerstörung der nichtmilitärischen Anlagen, also vor allem der Industrie- und Versorgungsbetriebe übertrug Hitler den Gauleitern und Reichsverteidigungskommissaren. 196 Damit entmachtete er faktisch Rüstungsminister Speer, der sich Hitlers Befehl nicht beugen wollte und durch Deutschland reiste, um die Zerstörungen zu verhindern. Wagner, der sich in der Endphase zunehmend auf seine Kreisleiter stützte, ordnete Ende März die Zerstörung aller Wasser- und Gaswerke und speziell für Mannheim auch die Zerstörung der Eisenbahnanlagen an. 197 Sowohl die Verwaltung als auch die Leiter und die Beschäftigten der badischen Industrie verhinderten in vielen Fällen Wagners Politik der verbrannten Erde. Auch Speer nimmt dies für sich in Anspruch: »In Heidelberg lagen im Rüstungsstab für Baden und Württemberg bereits die Befehle des Gauleiters von Baden, Wagner, der das Wasser- und Gaswerk meiner Heimatstadt wie das aller anderen Städte Badens zerstören wollte. Für ihre Verhinderung fanden wir eine verblüffend einfache Lösung: Wir fertigten sie zwar schriftlich aus, übergaben aber die Briefe dem Briefkasten einer Stadt, die in Kürze vom Gegner besetzt werden mußte.« 198 Mit dem militärischen Rückzug auf die Schwarzwaldrandstellung floh auch Wagner, dem Bormann am 25. März befohlen hatte, in seinem Gau zu bleiben und Guerillaoperationen zu organisieren, 199 in Richtung Osten. Einige Tage hielt er sich in Schönwald auf, wo er seine Papiere verbrannte. Ein Augenzeuge berichtet: »Ich hatte hier noch den Hort äußersten Widerstandswillens erwartet und fand einen verscheuchten, rat- und hilflosen Verein [...] Ich berichtete dem Gauleiter, was ich auf den Fahrten durchs Land und bei den Kreisleitern erlebt hatte [...] von den verschiedenen Auffassungen der einzelnen Kreisleiter, über Art und Zweck ihrer Werwolftätigkeit.« 200 Ludger Syré 772 195 Flugblatt Wagners aus der letzten Kriegsphase. In: Riedel, Hermann, Ausweglos ...! Letzter Akt des Krieges im Schwarzwald, in der Ostbaar und an der oberen Donau Ende April 1945, Villingen- Schwenningen 1976, S. 64. 196 »Nero-Befehl« Hitlers vom 19. März 1945, abgedruckt in Müller (wie Anm. 191), S. 164. Vgl. dazu auch Speer, Albert, Erinnerungen, Frankfurt 1969, S. 446: Das deutsche Volk habe sich gegenüber dem »Ostvolk« als das schwächere erwiesen, brauche deshalb die Grundlagen zu seinem Weiterleben nicht mehr, soll Hitler gesagt haben. 197 Peter (wie Anm. 92), S. 194. 198 Speer (wie Anm. 196), S. 454. Warum er sich nicht schlicht weigerte, die Befehle auszuführen, verrät er nicht. 199 Bankwitz, Philip Ch. F., Alsatian Autonomist Leaders 1919 - 1947, Lawrence (Kansas) 1978, S. 102. 200 Riedel (wie Anm. 195), S. 188 f. Wagner soll vom 13. bis 20.April in Schönwald gewesen sein. Der Werwolf war weitgehend Fiktion. <?page no="774"?> In den letzten Apriltagen verlegte Wagner seinen Befehlsstand an den Bodensee, am 20. April 1945 trennte er sich von seinem elsässischen Mitstreiter Robert Ernst 201 , am 29. April entließ er in Bodman seine letzten Mitarbeiter und tauchte unter. 202 Auf einem Bauernhof bei Tuttlingen hielt er sich unter falschem Namen als Knecht versteckt. Durch Zufall erfuhr er dort vom Tod seiner Frau: Auf einer Bank an der Donau sitzend hörte er, wie sich zwei Spaziergänger über die Radionachrichten unterhielten, die den Tod der Frau des ehemaligen badischen Gauleiters gemeldet hatten. Daraufhin verließ er sein Versteck, fuhr am 25. Juli 1945 zu seinem Bruder nach Lindach und stellte sich vier Tage später den Amerikanern in Stuttgart. 203 Der ihn verhörende amerikanische Offizier beschrieb ihn als einen »Mann höherer Intelligenz«, der wegen seiner »verbissenen Treue gegenüber der Nazi-Ideologie« als gefährlich anzusehen sei. 204 Die Amerikaner internierten ihren prominenten Gefangenen u.a. in Seckenheim, wo er dem Kampfgefährten Schmitthenner begegnete, und lieferten ihn dann an die Franzosen aus. Seine Zeit als Führer am Oberrhein war längst beendet, als die amerikanische Militärregierung am 14. Juni 1945 offiziell bekanntgab: »Es sind entlassen: Wagner, Robert, Reichsstatthalter in Baden, Karlsruhe - Köhler, Walter [...]«. Es folgen die Namen Pflaumer, Schmitthenner, Dold und Frey. 205 Wagners Frau Anneliese war zunächst als Krankenschwester in einem Konstanzer Krankenhaus untergetaucht, wurde entdeckt (»denunziert«) und nach Frankreich gebracht. »Robert Wagner ist erschossen«, schreibt Robert Ernst in seinen Erinnerungen, »seine Frau Anneliese, diese lebensfrohe Frau, die in all dem Getue, das um die Frau des allmächtigen Reichsstatthalters aufgeführt wurde, nichts von ihrer einfachen Natürlichkeit und Herzlichkeit verloren hatte, stürzte sich, von den Franzosen in ein Pariser Gefängnis verschleppt, aus dem 4. Stockwerk dieses Gefängnisses Ende des Sommers 1945 in einen qualvollen Tod.« 206 Nach anderen Quellen soll es sich dabei in Wirklichkeit um ein Bordell für farbige französische Soldaten gehandelt haben: »Frau Wagner wurde nach Paris verschleppt, wo sie in ein algerisches Bordell gesteckt wurde. Nach mehreren qualvollen Vergewaltigungen sprang sie vom 5. Stock des Bordells in den Tod.« 207 Wagners Tochter Sigrid soll zusammen mit ihrer Mutter barfuß durch die Straßen Straßburgs getrieben und dann Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 773 201 Ernst (wie Anm. 25), S. 418. 202 Grill (wie Anm. 1), S. 519. 203 Die Datumsangaben stammen von Bankwitz (wie Anm. 199), S. 102, der sich auf französische Quellen stützte. Auf der anderen Seite meldete Le Nouveau Journal de Strasbourg am 8. Juni 1945 auf Seite 1: »Robert Wagner gefaßt« und berichtete zugleich vom Selbstmord seiner Frau. Diese starb nach der französischen Sterbeurkunde am 31. Mai 1945 in Paris. GLA 465a/ 51/ 69/ 817. 204 Bankwitz (wie Anm. 199), S. 102 f. 205 Amtsblatt der Militärregierung. Faksimile bei Werner (wie Anm. 188), S. 148. 206 Ernst (wie Anm. 25), S. 380. Laut Bankwitz (wie Anm. 199), S. 102, handelte es sich um das Gefängnis La Santé. 207 Ferdinand (wie Anm. 1), S. 152, gestützt auf die Mitteilung von Alfred Backfisch, Eberbach- Lindach, vom 16. April 1985. <?page no="775"?> in der Haft von ihr getrennt worden sein. Nach anderen Zeugenaussagen war sie zunächst verschollen und wurde per Zufall von Markgraf Berthold von Baden entdeckt, der sie zu ihren Großeltern, Familie Mayer in Lautenbach (Murgtal), brachte. Sie war damals zehn Jahre alt. Am 23. April 1946 eröffnete das Straßburger Militärgericht den Prozeß gegen Robert Wagner und sechs weitere Mitangeklagte: den Stellvertretenden Gauleiter Hermann Röhn, den Gaustabsamtsleiter Adolf Schuppel, den persönlichen Referenten des CdZ, Walter Gaedeke, den Kreisleiter von Lörrach und Thann, Hugo Grüner, den Oberstaatsanwalt am Sondergericht, Ludwig Luger und den Staatsanwalt Ludwig Semar, dessen Verfahren zu Beginn des Prozesses jedoch abgetrennt wurde. Dafür wurde in Abwesenheit auch gegen den Präsidenten des Straßburger Sondergerichts, Richard Huber, verhandelt. Unter den Mitangeklagten befanden sich nur zwei Namen aus der alten Gauclique und kein Minister. Aber auch kein Elsässer; mit Ausnahme Gaedekes handelte es sich um gebürtige Badener. Das Gericht setzte sich aus fünf Offizieren zusammen; und auch der Regierungskommissar (Ankläger) und der Gerichtsschreiber waren Offiziere. Da sich kein deutscher Anwalt bereit fand, die Angeklagten freiwillig zu vertreten, 208 bestellte das Gericht deutsche Pflichtverteidiger, denen französische Anwälte, ebenfalls Offizialverteidiger, zugeordnet wurden. Wagner wurde von den Anwälten Scheuermann aus Lörrach, Riegel aus Offenburg und Steck aus Straßburg verteidigt. Der Prozeß war öffentlich, die Presse zugelassen. 209 Pierre Crenesse, Chronist des Wagner-Prozesses, beschrieb die Angeklagten als »Scheusale in Ketten« und Wagner als »Henker des Elsaß«: »Wagner ist klein, dürr, seine sorgfältig gekämmten Haare sind grau. Sein hellgrauer Anzug ist zerknittert, aber sein weißes Hemd ist untadelig. Volle Lippen, die oft eine gewisse Menschlichkeit anzeigen, sind bei den Deutschen selten. Weniger noch als irgend sonst jemand besitzt Wagner das, was den Charme eines Lächelns ausmacht. Und dennoch, seit er auf der Anklagebank sitzt, zeichnet sich auf seinem Gesicht ein schmerzlich-spöttischer Zug ab, von dem nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob er einen aufrichtigen, wenn auch vorübergehenden, Ausdruck verrät oder ob es seine übliche Miene ist, wenn er das Schicksal durch eine verächtliche Haltung zu bezwingen sucht [...] Es ist äußerst unangenehm, Wagner zu beobachten, weil er zu den Menschen gehört, die weder Furcht noch Achtung einflößen, sondern nur Verachtung und Haß erregen.« 210 Die Anklage gegen Wagner lautete: »1. Franzosen dazu herausgefordert zu haben, die Waffen gegen Frankreich zu tragen, 2. zugunsten einer fremden Macht, die im Kriege mit Frankreich stand, angeworben zu haben, 3. sich an Morden mitschuldig Ludger Syré 774 208 Beispielsweise weigerte sich der Vorsitzende der Anwaltskammer Baden-Baden, Dr. Paul Bauer, die »politisch Belasteten« zu vertreten und verteidigte Oberstaatsanwalt Luger. GLA 240/ 879. 209 Von jedem Prozeßtag berichtete ausführlich Le Nouveau Journal de Strasbourg. 210 Crenesse (wie Anm. 153), S. 7, zit. nach der Übersetzung Ferdinands (wie Anm. 1), S. 154. <?page no="776"?> gemacht zu haben, 4. auf die persönliche Freiheit Anschläge verübt zu haben.« 211 Besonders schlimm wog in den Augen des Gerichts die Einführung der Wehrpflicht 1942, als deren Initiator Wagner aufgrund folgender Redepassage angesehen wurde: »Es war deshalb notwendig, daß ein Mann die Verantwortung für alle übernimmt. Das konnte nur ich sein. Darum habe ich vor einiger Zeit deswegen beim Führer vorgesprochen, der mir seine Zustimmung zur Einführung der Wehrpflicht im Elsaß gegeben hat.« 212 Vorgeworfen wurden ihm auch die Vertreibung der Juden, die Ausweisung von Franzosen, namentlich die Massenausweisung von 20.000 Menschen im Dezember 1940 sowie die Einrichtung des Lagers Schirmeck, in das mehr als 10.000 Elsässer eingewiesen worden waren. Außerdem hielt ihm das Gericht seine unmittelbare Einflußnahme auf die Justiz, vor allem das Sondergericht Straßburg und seine gnadenlose Gnadenpraxis vor: Alle Entscheidungen des Sondergerichts seien seiner Zustimmung unterworfen gewesen; beinahe systematisch habe er sich geweigert, von seinem Gnadenrecht Gebrauch zu machen. Ein Beispiel von vielen: Am 13. Februar 1943 kam es beim versuchten illegalen Grenzübertritt einer Gruppe von Deserteuren zu einer Schießerei. Bereits am 16. Februar wurden die Verhafteten vor Gericht gestellt, einen Tag später wurden alle Angeklagten im KZ Struthof von SS-Leuten erschossen. Wagner hatte die Begnadigung abgelehnt und schon am 16. Februar die Gestapo aufgefordert, die Todesurteile zu vollstrecken! 213 Am 3. Mai sprach das Gericht das Urteil. Robert Wagner wurde zum Tode verurteilt und in allen Punkten der Anklage für schuldig befunden, nur hinsichtlich eines Verbrechens erstaunlicherweise nicht: der Ermordung von vier englischen Jagdbomberpiloten, die am 7. Oktober 1944 bei Rheinweiler, in der Nähe von Bad Bellingen, also auf badischem Boden, notgelandet waren und anschließend von Kreisleiter Hugo Grüner, der dafür vom Straßburger Militärgericht zum Tode verurteilt wurde, am Ufer des Rheins von hinten erschossen worden waren. Grüner sagte zu seiner Verteidigung aus: »Wagner hat den formellen Befehl gegeben, alle alliierten Flieger, die in Gefangenschaft geraten, niederzumachen.« 214 Wagner habe argumentiert, daß die feindlichen Flieger einen unmenschlichen Krieg führten und deshalb nicht als Gefangene betrachtet werden brauchten. Wagner seinerseits berief sich auf Befehle aus Berlin 215 und behauptete, die Kreisleiter und Parteimitglieder Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 775 211 Nach der amtlichen Übersetzung des Urteils. GLA 465a/ 51/ 69/ 817. 212 Wagner am 10. November 1942 in einer Rede in Straßburg, zit. nach der Anklageschrift, S. 9. GLA 465/ 51/ 69/ 817. 213 Der »Fall Ballersdorf« führte zu der oben erwähnten Kontroverse zwischen Wagner und Ernst. Er kam am dritten Verhandlungstag zur Sprache. Le Nouveau Journal de Strasbourg, 26. April 1946, S. 3. Vgl. auch Grill (wie Anm. 1), S. 507 und Kettenacker (wie Anm. 120), S. 227. 214 Le Nouveau Journal de Straßburg, 26. April 1946, S. 1. Ausführlicher Grüners Aussage in IMT (wie Anm. 155), Bd. 6, S. 404. 215 In einem Rundschreiben an alle Reichs-, Gau- und Kreisleiter sprach sich Bormann am 30. Mai 1944 für die Lynchjustiz an abgeschossenen feindlichen Piloten aus. IMT (wie Anm. 155), Bd. 25, S. 112 f. <?page no="777"?> ausdrücklich angewiesen zu haben, sich an Ausschreitungen gegen Piloten nicht zu beteiligen, sondern diese dem Volkszorn zu überlassen. Der Wagner-Prozeß war zweifellos ein korrektes Gerichtsverfahren und das Urteil gegen Wagner nicht einfach »die an ihm unter juristischer Maskierung vollzogene Rache« (Bickler), sondern es entsprach der Schwere der Schuld und berücksichtigte auch die gänzlich fehlende Reue. Ob man die Todesurteile gegen Röhn und Schuppel ebenso bewerten kann, muß zumindest bezweifelt werden. 216 Nicht nachvollziehbar sind auf jeden Fall der Freispruch von Oberstaatsanwalt Luger einerseits und das Todesurteil gegen Gaedeke andererseits. Als persönlicher Referent des CdZ Wagner war er ein subalterner Beamter ohne Entscheidungsbefugnis, dem das Gericht deshalb auch nur vorwerfen konnte, Befehle weitergegeben, Anordnungen verbreitet, Gerichtsanweisungen seines Chefs geschrieben zu haben. 217 Wenn man sich vor Augen hält, wie die anderen badischen und württembergischen NS-Größen nach Kriegsende davonkamen, dann handelte es sich im Fall Gaedeke wirklich um einen »Justizskandal.« 218 Daß Wagner für seine Taten im Elsaß - die in Baden begangenen standen gar nicht zur Verhandlung an - mit dem Tode bestraft werden würde, war kaum anders zu erwarten. Insofern scheint das Urteil schon vorher festgestanden zu haben. So sollen die französischen Behörden bei der Auslieferung Wagners den Wunsch der Amerikaner akzeptiert haben, ihn nicht vor Beendigung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses hinzurichten. 219 Typisch für Wagner ist, daß er bis zuletzt an seinen Führer glaubte. Dem amerikanischen Nachrichtenoffizier stimmte er beim Verhör zu, daß Deutschlands ideologischer Krieg in Wahnsinn und Schrecken ausgeartet sei, doch nicht Hitler, sondern Himmler sei der grausame Mensch gewesen; mit seinem »mongolischen Charakter« habe dieser seinen verderblichen Einfluß auf Hitler ausgeübt. 220 Nicht bei Hitler und nicht bei sich suchte er die Schuld. So erklärte er in seinem Schlußwort beim Straßburger Prozeß: »Wenn man [...] mir die Frage stellt, ob ich mich schuldig fühle, dann muß ich diese Schuld bekennen, insofern man mir vorwirft, als Deutscher und als Nationalsozialist, d.h. als Kämpfer für eine Idee, an die ich glaubte, gehandelt zu haben. Eine Schuld jedoch im Sinne der Anklage bestreite ich mit reinem Gewissen.« 221 Rechtfertigung statt Reue könnte man seine Haltung nennen. Trotzig bekannte er sich bis zur letzten Sekunde zu Hitler und den Zielen des Nationalso- Ludger Syré 776 216 Ferdinand (wie Anm. 1), S. 190 schließt sich der Einschätzung Bicklers (wie Anm. 25), S. 338 an, daß nicht erkennbar gewesen wäre, was die Hinrichtung der beiden hätte rechtfertigen können. 217 Vgl. die Anklageschrift (wie Anm. 212). 218 Ferdinand (wie Anm. 1), S. 191. 219 Bankwitz (wie Anm. 199), S. 105. Wollten die Amerikaner Wagner als potentiellen Zeugen für Nürnberg erhalten? Der Nürnberger Prozeß endete am 1. Oktober 1946, Wagner wurde am 14. August 1946 hingerichtet. 220 Bankwitz (wie Anm. 199), S. 105. 221 Le Nouveau Journal de Strasbourg, 4. Mai 1946, S. 4. <?page no="778"?> zialismus. 20 Jahre lang hatte er bedingungslos gehorcht oder im vorauseilenden Gehorsam erfüllt, was von ihm erwartet worden war. Aber Robert Wagner war keinesfalls ein reiner Erfüllungsgehilfe, der lediglich Befehle ausführte. Als Gauleiter und Reichsstatthalter und erst recht als Chef der Zivilverwaltung herrschte er als einer von Hitlers Vizekönigen fast autonom; selbst die im Reich Himmler unterstellte Polizei hörte im Elsaß auf seinen Befehl. Sein Handlungs- und Ermessensspielraum waren enorm. Für seine Taten war er voll verantwortlich. Und er bekannte sich auch zu dieser Verantwortung, weil er glaubte, nur seine Pflicht getan zu haben. Aber schuldig, weder im Sinne der Anklage noch in moralischer Hinsicht, fühlte er sich nicht. Im Gegenteil, die Schuldfrage stellte sich für ihn erst gar nicht. Was sollte er dann bereuen? Sein Gewissen sprach ihn frei. »›Das habe ich getan‹, sagt mein Gedächtnis. ›Das kann ich nicht getan haben‹ sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach.« (Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse) Am 14. August 1946 morgens um 5.07 Uhr wurde das Urteil in Fort Ney nördlich von Straßburg, zwischen Fuchs-am-Buckel und Wantzenau, vollstreckt. »Nach der Verlesung [des Urteils] haben sich vier Piketts Infanterie gemäß den dienstmäßigen Vorschriften genähert und haben auf jeden der Verurteilten gefeuert, die tot niedergefallen sind.« 222 Etwas ausführlicher als das amtliche Hinrichtungsprotokoll berichtete die Presse: »Schritte im Dunkel. Die bekannten Schlüssel klirrten wirklich. Ein Tor geht. Um 3.55 Uhr werden Robert Wagner, der im besten Schlafe lag, dann Schuppel, dann Gädeke, Röhn geweckt. Man teilt ihnen mit, daß das Begnadigungsgesuch abgelehnt sei und daß es gelte, Fassung zu zeigen und den Weg zur Sühne mit Mut zu beschreiten. Anwesend sind u.a. Colonel Wenger, Commandant Renault, Commissaire du Gouvernement; Capitaine Ardivilliers, Capitaine Bayle, Bâtonnier Feller und der Verteidiger M e Paul Schmidt. Die Verurteilten protestieren und erklären, daß sie sich unschuldig fühlen. Dann machen sie Toilette, trinken den traditionellen Café und ein Glas Branntwein, rauchen einige Zigaretten. Wagner ist äußerst ruhig. Röhn und Gädeke verbergen die Erregung nur schlecht. Schuppel ist wieder ruhiger. Pasteur Neifer, Aumônier militaire, spendet die Tröstungen der Religion. Genau eine Stunde später, um 4.55 Uhr erfolgte die Ankunft im Fort Ney, bei der Wantzenau, in dem sich bei der Befreiung eine bekannte Kapitulationsszene abspielte. Die vier Verurteilten reichen sich nochmals die Hand. Schuppel und Gädeke rauchen. Dann wird jeder an einen Pfahl gebunden. Man will ihnen die Augen verbinden, aber sie lehnen das ab. Man gewährt ihnen diesen letzten Wunsch. Wagner protestiert auch gegen das Anbinden. Er ist es, der sich am meisten auflehnt. Er war auch nicht dabei, als der Geistliche Zuspruch brachte. Vier Pelotons machen sich bereit. Es geht dem Ende zu. Wagner schreit: ›Es lebe Großdeutschland, es lebe Adolf Hitler, es lebe der Nationalsozialismus.‹ Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 777 222 GLA 465/ 51/ 69/ 817. <?page no="779"?> Röhn und Schuppel rufen: ›Es lebe Deutschland, es lebe Europa! ‹ Gädeke ruft: ›Schießt richtig! Möge Gott meine Frau und meine Mutter beschützen! ‹ Dann hört man noch einmal Wagner: ›Unsere große Aufgabe hat nur kleine Richter gefunden. Nieder mit dem französischen Volk und seiner Rachejustiz. Es lebe das deutsche Elsaß! ‹ Schließlich schreit Röhn: ›Schießt richtig! Heil Hitler! ‹ Dann ertönte das Kommando ›Feuer! ‹ Die schwere Aufgabe des Gnadenschusses hatte ein Adjutant übernommen [...] Vier Särge wurden nach dem Friedhof von Cronenburg überführt.« 223 Auch der Anstaltsgeistliche, Pastor Neifer, hinterließ Erinnerungen an die Hinrichtung, die bestätigen, daß Wagner den Gang in die Gefängniskapelle ablehnte. 224 Der Legende nach wurde die Asche der sterblichen Überreste in den Rhein gestreut. Der Fall Wagner hatte auf badischem Boden nur ein kleines Nachspiel. Am 1. September 1950 entschied die Zentralspruchkammer Nordbaden, den im Lande Württemberg-Baden verbliebenen Nachlaß des ehemaligen Gauleiters einzuziehen. Unter Hinweis auf die im Straßburger Prozeß verhandelten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und aus der Einschätzung heraus, daß Wagner »für alle in seinem politischen und zivilen Machtbereich während der Nazizeit ergangenen Anordnungen und der sich daraus ergebenden Gewaltmaßnahmen voll verantwortlich ist«, wurde er als »Hauptschuldiger« eingestuft und das Entnazifizierungsverfahren eingeleitet. Allerdings gelang es Wagners Schwiegervater in seiner Eigenschaft als Vormund von Sigrid Wagner den Nachweis zu führen, daß der noch vorhandene Besitz - im wesentlichen eine komplette Wohnungseinrichtung - Anneliese Wagner gehört habe, die ihn ihrerseits an ihre Tochter weitervererbt habe. Das war zwar alles andere als plausibel, reichte der Karlsruher Nebenstelle des Württembergisch-Badischen Justizministeriums jedoch aus, um am 27. September 1951 festzustellen, daß kein einziehbarer Besitz vorhanden sei. 225 Ludger Syré 778 223 Le Nouveau Journal de Strasbourg, 15. August 1946, S. 1. 224 GLA 465/ 51/ 69/ 817. 225 GLA 465/ 51/ 69/ 817. <?page no="780"?> Bibliographie Quellen Die Quellenlage zu Robert Wagner ist nicht zufriedenstellend. Einen Teil seiner Papiere vernichtete er 1945; andere Akten sind beim Brand des badischen Staatsministeriums verloren gegangen. Die Akten der Gauleitung Baden-Elsaß befinden sich, soweit sie überhaupt erhalten blieben, möglicherweise im französischen Kriegsarchiv in Vincennes bei Paris. Die Prozeßakten bleiben nach französischem Recht 100 Jahre gesperrt (Bankwitz nennt einige, offenbar von ihm eingesehene Prozeßakten aus dem Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums). Um so wertvoller sind die Bestände des Generallandesarchivs GLA (Karlsruhe), des ehem. Berlin Document Center (BDC), des Bundesarchivs (insbesondere Korrespondenzen betreffend). Eine wichtige Quelle sind die zeitgenössischen Zeitungen wie »Der Führer«, »Straßburger Neueste Nachrichten«, »Le Nouveau Journal de Strasbourg« und zeitgenössische Materialien wie das »Nachrichtenblatt der Gauleitung Baden der NSDAP« oder das »Verordnungsblatt des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß«. Dazu kommen Aktenpublikationen und Erinnerungen von Wagners Mitstreitern und anderen Nationalsozialisten. Literatur Mit Horst Ferdinands Wagner-Biographie im »Eberbacher Geschichtsblatt« 1992 liegt eine umfangreiche, einschließlich der Nachlese von 1993 fast 120 Seiten starke Arbeit über Hitlers Stellvertreter am Oberrhein vor. Ihr voraus ging eine biographische Skizze in den Badischen Biographien N.F. Bd. 2, 1987. Daneben existiert eine kurze, aber treffende Darstellung von Johnpeter Horst Grill in Band 2 der »Braunen Elite«. Die zahlreichen zeitgenössischen Porträts spiegeln nicht nur den heroisierenden Stil ihrer Verfasser, sondern enthalten auch viele Ungenauigkeiten und falsche Angaben; ebenfalls nicht immer zuverlässig sind die neueren Kurzbiographien Wagners, z.B. in Lexika und Nachschlagewerken über das »Dritte Reich«. Auskunft über Wagner als Gauleiter und Reichsstatthalter in Baden sowie als Chef der Zivilverwaltung im Elsaß geben auch Johnpeter Horst Grill, The Nazi Movement in Baden, 1920 - 1945 (Chapel Hill 1983) und Lothar Kettenacker, Nationalsozialistische Volkstumspolitik im Elsaß (Stuttgart 1973). Robert Wagner, Gauleiter, Reichsstatthalter in Baden und Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 779 <?page no="782"?> *20. Juni 1889 Tiefenbach, Kreis Crailsheim, ev., Juni 1935 Kirchenaustritt, Vater: Georg Friedrich Waldmann, Landwirt und Schultheiß, Mutter: Eva Maria, geb. Kochendörfer, verheiratet seit 29. Mai 1917 mit Else, geb. Greiner, zwei Kinder. Volks- und Realschule, Ausbildung im gehobenen Verwaltungsdienst, 1911 im württembergischen Staatsdienst, mehrfache Beförderungen bis zum Regierungsamtmann, 1933 - 1945 Staatssekretär beim württembergischen Reichsstatthalter, 18. Juni 1940 - 10. April 1941 Kriegsverwaltungschef in Frankreich, Bezirk A (St. Germain), 1942 - 1945 Leitung des württembergischen Finanzministeriums. 5. Oktober 1925 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 19.992), Schriftführer in der Gauleitung, Gaugeschäftsführer, 3. Januar 1928 Austritt aus der NSDAP, 3. Januar 1931 Wiedereintritt in die NSDAP, Ortsgruppe Stuttgart, 1931 Leiter der NS-Beamtenschaft, 1931 - 1933 Leiter des Amts für Innenpolitik, 1931 - 1933 Personalreferent der Gauleitung, 1932/ 33 MdL (NSDAP), 1933 württembergischer Landtagspräsident, 9. November 1936 Mitglied der SA, 1. Mai 1937 SA-Standartenführer, 3. Januar 1939 Ernennung ehrenhalber zum Gauamtsleiter, 30. Januar 1942 SA-Oberführer. Juni 1945 - Dezember 1947 Haft im Internierungslager Ludwigsburg, 4. September 1948 Entscheidung der Spruchkammer Stuttgart: »Minderbelasteter«, 1. September 1948 - 31. Januar 1950 Büroangestellter des Richard Boorberg Verlags Stuttgart, Rentner in Stuttgart- Botnang, gest. 7. November 1969. »Beamter aus Berufung« Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär Annette Roser Karl Wilhelm Waldmann 781 <?page no="783"?> »Wir brauchen nicht zu sagen, daß die Rede des Herrn Staatssekretärs den Höhepunkt der Gauversammlung bildete. Staatssekretär Waldmann ist einer der führenden Nationalsozialisten in Württemberg. Er hat sich an diesem Nachmittag von den Staatsgeschäften frei gemacht und ist nach Ludwigsburg gefahren, um in unserer Mitte zu weilen und als Kollege zu Kollegen sprechen zu können. Die Berufskameraden wußten diese Ehre zu würdigen; sie gelobten im stillen aufs neue, dem Kollegen Waldmann und dem Nationalsozialismus unverbrüchliche Treue zu halten. An seinem Vorbild eines wahren Nationalsozialismus und einer echten Berufskameradschaft werden wir uns immer aufrichten - komme was da wolle! « 1 Diese für Stellung und Bedeutung des württembergischen Staatssekretärs Karl Waldmann im NS-Staat anschauliche Darstellung stammt aus einem Bericht über das Gautreffen des Vereins Württembergischer Verwaltungsbeamter in Ludwigsburg am 29. September 1934, der in dem »Standesorgan« der württembergischen Beamten, der Württembergischen Verwaltungszeitschrift, abgedruckt wurde. Karl Waldmann, so wird hier anderen, teils relativierenden, teils verharmlosenden Behauptungen der Nachkriegszeit entgegen deutlich, war ein überzeugter Nationalsozialist und zugleich seinem »Berufsstand« als Verwaltungsbeamter treu verbunden - gerade deshalb ein maßgebliches Vorbild für viele seiner Berufskollegen. Er besaß eine außergewöhnliche Einsatzbereitschaft für die »nationalsozialistische Sache«, die ihn oftmals bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit führte. Er war zugleich aber auch ein unbestritten sachkompetenter Verwaltungsbeamter, dem mit Hilfe des Nationalsozialismus eine steile Karriere bis in die Riege der unmittelbar Regierungsverantwortlichen in Württemberg gelang. Als rechte Hand des »Ersten Mannes« im Lande, des Reichsstatthalters Wilhelm Murr, war er letztlich über alles informiert, was im Südwesten vorging, trug Mitverantwortung für das politische Geschehen und nahm an den Entscheidungen des Staatsministeriums teil. Diese quasi halbamtliche Machtfülle, gepaart mit einer äußerlichen Freundlichkeit ließen ihn zur Anlaufstelle für Bittsteller unterschiedlichster Gesellschaftsbereiche werden, seine gelegentliche Hilfe wie auch sein nicht selten demonstrativer Einsatz für die spezifischen Belange des Landes vermittelten den Zeitgenossen, ganz im Sinne der Strategie der württembergischen NS-Führung, das Bild eines »gemäßigten Parteimannes«, der sich »vernünftigen« Erwägungen nicht verschloß. 2 Am 20. Juni 1889 wurde Karl Wilhelm Waldmann im schwäbischen Tiefenbach bei Crailsheim als jüngstes von zwölf Kindern geboren. Seine Mutter, Eva Maria Waldmann, geb. Kochendörfer, hatte vor ihm acht Söhne und drei Töchter zur Welt gebracht, doch drei Söhne waren noch im Kindesalter gestorben. Karl Wilhelm hat diese Brüder nie gekannt, die vier ältesten Geschwister waren zum Zeitpunkt seiner Annette Roser 782 1 Württembergische Verwaltungs-Zeitschrift (im folgenden WVZ) Nr. 11/ 12, 1934, Sp. 245. 2 Vgl. Entlastungsschreiben für Waldmann im Rahmen des Spruchkammerverfahrens, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, u.a. Bl. 118, 10b, 34, 21, 19/ 6, 19/ 4, 43, 10, 30a, 27/ 6, 15, 100, 81/ 2, 23, 83. <?page no="784"?> Geburt bereits halbwüchsig bzw. erwachsen. Vom Alter her am nächsten von den Geschwistern war ihm noch Wilhelm Paul, nur zwei Jahre älter als Karl selbst. Der Vater, Georg Friedrich Waldmann, war Landwirt und Schultheiß in Tiefenbach, die Familie Waldmann seit Generationen dort ansässig und - soweit sich dies aus den Quellen erschließen läßt - dem evangelischen Glauben und der evangelisch-lutherischen Tradition tief verbunden. 3 Von seinen Eltern wurde Karl Wilhelm »zu Sauberkeit, Pflichterfüllung und Sparsamkeit erzogen.« 4 Mit sechs Jahren besuchte er die Volksschule in Tiefenbach, wechselte 1898 - bereits nach drei Jahren - auf die Realschule nach Crailsheim, die er 1904 mit der mittleren Reife abschloß. Im August 1904 - Karl Wilhelm war 15 Jahre alt - trat er eine Stelle in der Verwaltung in Crailsheim an. Dies war der Beginn einer Beamtenkarriere, die ihn bis ins Finanzministerium führen sollte. Waldmann konnte schließlich auf 14 Jahre Beamtentätigkeit im Kaiserreich, auf 15 Jahre in der Weimarer Republik und auf 12 Jahre im »Dritten Reich« zurückblicken. Daß der königlich-württembergische Verwaltungsdienst als prägend, die Weimarer Zeit als Niedergang und die Errichtung des »Dritten Reichs« schließlich als anzustrebendes Ziel sowohl in fachlicher wie politischer Hinsicht von ihm empfunden wurden, dürfte außer Frage stehen. Nach seiner ersten Stelle in Crailsheim wechselte Waldmann nach Ebersbach im Kreis Göppingen und legte im April 1911 in Stuttgart seine Dienstprüfung für den gehobenen mittleren Verwaltungsdienst ab. Ab September 1911 kam Waldmann dann »im Ländle« herum. Er arbeitete im württembergischen Staatsdienst auf den Oberämtern Herrenberg, Gmünd, Waldsee, Ravensburg und Urach. 1917 wurde er zum Inspektor befördert. In Urach lernte Waldmann seine Frau kennen, die von dort stammende, vier Jahre jüngere und ebenfalls evangelisch-lutherische Else Greiner. Am 29. Mai 1917 heirateten sie, am 22. Februar 1918 wurde Tochter Lore geboren, die noch im gleichen Jahr verstarb. Im Gegensatz zu vielen seiner Generation war der Erste Weltkrieg für Waldmann persönlich kein einschneidendes Erlebnis - er wurde nicht einberufen. Sein zwei Jahre älterer Bruder Wilhelm Paul jedoch fiel 1917. Daß Karl Waldmann nicht selbst gedient hatte, mag ihn beschämt haben - jedenfalls wagte er - seiner eigenen Darstellung zufolge - aus diesem Grunde nicht, der NSDAP schon frühzeitig beizutreten. 5 Seit April 1919 arbeitete Waldmann bei der württembergischen Landesgetreidestelle in Stuttgart. Am 11. Februar 1920 kam sein Sohn Heinz auf die Welt, ein Jahr Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 783 3 Vgl. Stammbaum Waldmanns und Schreiben vom ev. Stadtdekanatamt Stuttgart, 29. Juni 1935 anläßlich des Kirchenaustritts von Waldmann und seiner Frau, beides in STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 15, 17 - 19. 4 Eigene Aussage im Fragebogen des Military Government of Germany, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 2, S. 14. 5 BA, Abt. III (BDC), PA Karl Waldmann, Personalfragebogen, S. 3. <?page no="785"?> später wurde er zum Oberinspektor befördert und wechselte noch im Juli 1921 zum württembergischen Landesgewerbeamt, wo er bis zu seiner Ernennung zum Staatsrat im März 1933 arbeitete. Aus seiner antisemitischen Einstellung machte Waldmann schon damals keinen Hehl, im Gegenteil. 1911 trat er als Leser der Zeitschrift »Hammer« dem noch geheimen, unter Leitung von Theodor Fritsch stehenden Hammerbund bei. 6 Dieser forderte mit Nachdruck die »Pflege der germanischen Rasse-Eigenschaften, Veredelung und Höherzüchtung des Menschentums, Ausscheidung der unverdaulichen Fremdrassen [...] kurz: die Förderung aller Kräfte zum Aufbau einer wahrhaft deutschen Edel-Kultur.« 7 Wenn Waldmann auch bereits 1914 diese Vereinigung aus unbekannten Gründen wieder verließ, änderte dies nichts an seiner in der Folgezeit immer wieder bezeugten Judenfeindschaft. Zumindest dies belegt sein an sich völlig unverständlicher und in seinen Hintergründen heute kaum mehr genau aufzuklärender Eintritt in die DDP im Januar 1919. Eigenen Angaben zufolge will er nämlich seinen Antrag um Aufnahme in diese Partei an die Bedingung geknüpft haben, daß die Partei sich dafür einsetzen sollte, die Juden aus dem öffentlichen Leben auszuschalten. Aber zu diesem Zweck ausgerechnet einer Partei beitreten zu wollen, die selbst einen hohen Anteil Juden als Abgeordnete aufwies und den Antisemitismus dezidiert ablehnte, ist nicht nachvollziehbar. Waldmanns Mitgliedschaft in der DDP war denn auch von kurzer Dauer. Als wegen der gestellten Bedingung bei Waldmanns Vorgesetztem eine Beschwerde einging, trat er nach einigen Wochen Mitgliedschaft wieder aus. Danach wählte er seinen eigenen Angaben zufolge erst die DVP, besuchte dann aber schon ab 1921 die Versammlungen der NSDAP. 8 Am 5. Oktober 1925 trat er dieser Partei bei und erhielt die Mitgliedsnummer 19.992. Damit war die Phase der politischen Orientierungslosigkeit beendet. Umgehend wurde Waldmann ehrenamtlicher Gauschriftführer, dann Gaugeschäftsführer und arbeitete an der NS-Wochenzeitung »Südwestdeutscher Beobachter« mit. 9 Doch schon nach etwas mehr als zwei Jahren, am 3. Januar 1928, trat er, trotz seines anfänglich offensichtlich überdurchschnittlichen Einsatzes für die Hitlerpartei, wieder aus, um 1931 dann erneut die Mitgliedschaft zu erwerben. Die Quellenlage ist auch an diesem Punkt dürftig und läßt eine hinreichende Erklärung für das offenbar wankelmütige Verhalten Waldmanns nicht recht zu. Der spätere Verteidiger Waldmanns vor der Spruchkammer führte die Waldmann »undurchführbar erscheinenden Programmpunkte der Partei« und die »moralische Minderwertigkeit« der leitenden Persönlichkeiten der Annette Roser 784 6 Theodor Fritsch, führender Vertreter der Antisemiten im Kaiserreich, Autor des 1887 erschienenen »Handbuchs der Judenfrage«, Herausgeber der seit 1902 erscheinenden Zeitschrift »Hammer«, seit 1924 nationalsozialistischer Abgeordneter. 7 Zit. nach: Wießbecker, Manfred, Reichshammerbund (Rh) 1910/ 12 - 1920, in: Lexikon zur Parteiengeschichte Bd. 3, hrsg. v. D. Fricke u.a., Köln 1985, S. 681 - 683, hier S. 682. Der Hammerbund ging 1920 dann im Deutschen Schutz- und Trutzbund auf. 8 BA, Abt. III (BDC), PA Karl Waldmann, Personalfragebogen, S. 3. 9 Eidesstattliche Erklärung am 22. Mai 1947, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 34. <?page no="786"?> NSDAP als eigentlichen Austrittsgrund an. Der Wiedereintritt Waldmanns im Jahre 1931, so der Verteidiger, »ist nachweisbar erst erfolgt, als ihm Gauleiter Murr - allerdings der Wahrheit zuwider - persönlich versichert hatte, dass die Partei ihre ›Kinderkrankheiten überwunden‹ habe und ihr neuer Mitgliederkreis dafür bürge, dass sie mit einwandfreien Mitteln ihre Ziele erreichen könne.« 10 Genauso wie hinsichtlich seines Eintrittes in die DDP scheint diese Darstellung zum NSDAP- Einbzw. Austritt eine nachträgliche Konstruktion Waldmanns zu sein, bei der er sich nicht scheute, auch gröbste Unwahrscheinlichkeiten vorzubringen. Galt es nach 1933, den DDP-Eintritt gegenüber den neuen Machthabern zu entschuldigen, so war nach 1945 eine Ausrede für das frühe NS-Engagement zu suchen, die in dem ihm nachgesagten angeblich ausgeprägten Gerechtigkeitsempfinden und in seiner Ablehnung von Willkür, Unverhältnismäßigkeit und Parteiklüngel gefunden wurde. Diese Vermutung wird auch durch seine offenkundig wahrheitswidrige Behauptung bestärkt, er sei nur unter der Bedingung wieder in die NSDAP eingetreten, daß er keine Parteireden halten müsse. Tatsächlich trat Waldmann gerade auch in den 30er Jahren als Staatssekretär durch seine Redetätigkeit und NSDAP-Propaganda stark hervor. Eine Trennung zwischen Staats- und Parteiamt, die er gerne im nachhinein betonte, fand gerade nicht statt. Die Daten des Einbzw. Austrittes aus der Partei lassen im übrigen die Vermutung zu, daß Waldmanns Mitgliedsverhalten von ganz anderen Beweggründen bestimmt war. Die NSDAP in Württemberg gab Ende des Jahres 1927 ein solch lamentables Bild ab 11 , daß Waldmann vielleicht nicht mehr an die Erfolgsaussichten der Partei geglaubt hat - eine Situation, die sich Ende 1930 in vielerlei Hinsicht zugunsten der NSDAP verändert hatte. 12 Entsprechend intensiv betätigte sich Waldmann ab 1931 dann auch wieder für die nationalsozialistische Sache. Am 10. Januar 1931 gründete die Ortsgruppe Stuttgart eine NS-Beamtenabteilung. Waldmann gehörte ihr von der ersten Stunde an. 13 Im Mai desselben Jahres löste er Karl Strölin, den späteren Stuttgarter Oberbürgermeister, in der Führung dieser NS-Organisation ab. Im September leitete er als Gauführer die erste NS-Beamtenversammlung in der Liederhalle in Stuttgart, mußte den Gau Württemberg-Hohenzollern allerdings im November »wegen anderer Inanspruchnahme für die Partei« 14 wieder abgeben. An Parteiämtern fehlte es ihm fortan nicht. Seit Mai 1931 leitete er das Amt für Innenpolitik der NSDAP und ab Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 785 10 Entlastungsantrag, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 42. 11 Vgl. Schnabel, Thomas, Die NSDAP in Württemberg 1928 - 1933. Die Schwäche einer regionalen Parteiorganisation, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart 1982, S. 49 - 81. 12 Bei den Reichstagswahlen vom 14. September 1930 konnte die NSDAP ihren Stimmenanteil in Württemberg von 1,9% auf 9,4% steigern. Vgl. Schnabel (wie Anm. 11), S. 58. 13 Vgl. Reichsbund der Deutschen Beamten (Hrsg.), Almanach der Deutschen Beamten (im folgenden Almanach), Berlin 1935, S. 72; »NS-Kurier«, 20. Juni 1939. 14 Almanach (wie Anm. 13). <?page no="787"?> September 1931 war er zusätzlich noch Personalreferent der Gauleitung. Beide Ämter hatte er bis zu seiner Ernennung zum Staatsrat inne. Die zahlreichen NSDAP-Organisationen waren vor der Machtergreifung regional sehr unterschiedlich aufgebaut. Für die spezifisch württembergischen Verhältnisse lassen sich kaum genaue Angaben machen, da viele Akten z.T. durch den Krieg, z.T. durch die Nationalsozialisten selbst vernichtet wurden. 15 Diese ungünstigen Faktoren erschweren genauere Untersuchungen, insbesondere auch im hier relevanten Bereich der Verwaltung und des Beamtentums. 16 Allein die Funktionsbezeichnungen jedoch, die Waldmann bereits vor dem 30. Januar 1933 führte, charakterisieren ihn als engagierten Nationalsozialisten, der sich aktiv und konsequent am Aufbau des Parteiapparates beteiligte und auf die Einsetzung einer Regierung der »nationalen Konzentration« hinarbeitete. Daß Waldmann trotz all dieser Betätigungen für die NSDAP als Beamter noch befördert wurde, wirft Fragen auf - gerade im vergleichenden Blick auf die Situation in Baden. Dort ging der sozialdemokratische Kultusminister bereits seit 1930 scharf gegen Lehrer vor, die sich aktiv für die NSDAP betätigten. 17 Die württembergische Regierung unter Staatspräsident Bolz hingegen wandte sich bei weitem nicht so radikal gegen die Unterwanderung der Beamtenschaft mit nationalsozialistischem Gedankengut wie das Nachbarland. Waldmann wurde 1931 zum Regierungsoberinspektor und Mitte 1932 zum Regierungsamtmann befördert. Vor der letzten Beförderung war er sogar als nationalsozialistischer Abgeordneter im 4. Württembergischen Landtag vertreten. Die Zeit als Landtagsabgeordneter war Waldmanns politisch aktivste Phase in der Weimarer Republik. Durch die Wahlen vom 24. April 1932 war die NSDAP mit 23 Mandaten zur stärksten Fraktion im Württembergischen Landtag geworden. Nach parlamentarischem Brauch besetzte sie das Amt des Landtagspräsidenten, das Christian Mergenthaler übernahm. Waldmann wurde Geschäftsführer der NSDAP-Fraktion und, seiner Qualifikation entsprechend, Vorsitzender des Finanzausschusses. Annette Roser 786 15 Vgl. Roser, Hubert; Spear, Peter, »Der Beamte gehört dem Staat und der Partei«. Die Gauämter für Beamte und Kommunalpolitik in Baden und Württemberg im polykratischen Herrschaftsgefüge des NS-Regimes, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 71 - 102, hier S. 75. 16 Zur Beamtenpolitik auf Reichsebene vgl. Mommsen, Hans, Beamtentum im Dritten Reich, Stuttgart 1966; Caplan, Jane, Government Without Administration. State and Civil Service in Weimar and Nazi Germany, Oxford 1988 und auf regionaler Ebene »Die Geschichte der NS-Beamtenbewegung in den Gauen«, in: Almanach (wie Anm. 13), S. 54 - 74; Rauh-Kühne/ Ruck (wie Anm. 15) sowie die soeben erschienene Veröffentlichung von Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein: Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972, München 1996. 17 Vgl. Merz, Hans-Georg, Beamtentum und Beamtenpolitik in Baden. Studien zu ihrer Geschichte vom Großherzogtum bis in die Anfangsjahre des nationalsozialistischen Herrschaftssystems (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte 32), Freiburg, München 1985, S. 227 - 262; Pyta, Wolfram, Gegen Hitler und für die Republik. Die Auseinandersetzung der deutschen Sozialdemokratie mit der NSDAP in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1989, S. 291 f., 324 - 329; Roser/ Spear (wie Anm. 15); Almanach (wie Anm. 13), S. 55; Schnabel (wie Anm. 11). <?page no="788"?> Da die Nationalsozialisten jedoch die Zerschlagung des Parlamentarismus auf ihre Fahne geschrieben hatten, war eine konstruktive Parlamentsarbeit auch von ihm nicht zu erwarten. Der spätere Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hatte schon 1928 sehr anschaulich ausgeführt, welche Haltung die Nationalsozialisten zum Weimarer Parlamentarismus einzunehmen gedachten: »Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir. Jetzt seid ihr nicht mehr unter euch! « 18 Nach dieser Devise wurde auch in Württemberg verfahren. »Beleidigende Zwischenrufe unterbrachen die Debatten, endlose Geschäftsordnungsanträge und Tagesordnungsdiskussionen verzögerten ihren Beginn, Fehlen oder demonstrative Auszüge verhinderten unangenehme Abstimmungen, Provokationen wurden bewußt zu tumultartigen Szenen hochgereizt. Selbst vor körperlicher Bedrohung wurde nicht zurückgeschreckt.« 19 Das Ergebnis der drei Sitzungsperioden des 4. Landtags: Bearbeitung von vier Gesetzesentwürfen und Verabschiedung von zwei Gesetzen. Trotz alledem: Waldmann selbst gab sich, was diese destruktive Parlamentsarbeit anbelangte, noch vergleichsweise moderat, wie der sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Keil bestätigte. Keil war Vorsitzender eines Untersuchungsausschusses über die sogenannten Parteibuchbeamten. Die Nationalsozialisten verunglimpften im Parlament Beamte, die angeblich ohne eine adäquate Ausbildung nur aufgrund ihres Parteibuches bestimmte Dienststellen erhalten hätten. Laut NSDAP war »das große Heer dieser Parasiten« Zeugnis eines maroden Systems, das die Nationalsozialisten »ausmerzen« wollten. Auf ihren Antrag hin wurde ein Ausschuß geschaffen, dem neben Keil u.a. Waldmann und sein Parteifreund Dr. Jonathan Schmid angehörten. Letztendlich stellte sich heraus, daß von der gesamten Beamtenschaft nur zwei Beamte keine entsprechende Ausbildung für ihre Tätigkeit nachweisen konnten, jedoch durch ihre vorherige Arbeit genug Erfahrung und Kompetenz mitbrachten, um den Anforderungen ihrer Stellung vollständig gewachsen zu sein. 20 Daß die Verhandlungen dieses Ausschusses trotz der üblichen »Katzbalgereien« der Nationalsozialisten im Landtag »sich halbwegs manierlich abwickelten«, lag an Waldmann und Schmid, »die noch ein wenig auf anständige Formen hielten« - so Keil. 21 Auch der Sozialdemokrat Erhard Schneckenburger fand später versöhnliche Worte: »Er [Waldmann] war einer der wenigen Nationalsozialisten, bei denen der Wille zur sachlichen Arbeit im Parlament nicht überdeckt war durch die immer mehr zu Tage tretende Absicht, die Landtagsarbeit lahmzulegen. Als Vorsitzender des Finanzaus- Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 787 18 Zit. nach: Möller, Horst, Weimar. Die unvollendete Demokratie, 4. Aufl. München 1993, S. 251. 19 Schönhagen, Benigna, Zwischen Verweigerung und Agitation: Landtagspolitik der NSDAP in Württemberg 1928/ 29 - 1933, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 6), Stuttgart 1982, S. 113 - 149, hier S. 121. 20 Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 4. ordentlichen Landtag in den Jahren 1932/ 33, Stuttgart 1933, Beilagen-Band 1, S. 14; 127. 21 Keil, Wilhelm, Erlebnisse eines Sozialdemokraten Bd. 2, Stuttgart 1948, S. 486. <?page no="789"?> schusses versuchte er, die Linie einer sachlichen Geschäftsführung nach Möglichkeit beizubehalten, soweit dies bei einem Nationalsozialisten, der an die Weisungen seiner Fraktion gebunden war, möglich war.« 22 Diesen Eindruck vermitteln auch die Protokolle der Verhandlungen des Württembergischen Landtags. Nur einmal, dann aber deutlich, ließ Waldmann die Maske des »Gemäßigten« fallen und schlug einen härteren Ton an. In der Landtagssitzung vom 2. Dezember 1932, in der es um einen Antrag der Nationalsozialisten zur Verstaatlichung der Banken ging 23 , beschuldigte er in einem Rundumschlag alle nichtnationalsozialistischen Parteien, mit den Juden zusammenzuarbeiten und deshalb an der finanziellen Misere und ihren Folgen wie hohen Mieten, Arbeitslosigkeit, Zinswucher usw. schuld zu sein. Den Sozialdemokraten warf er vor, sich schon seit 1918 gemeinsam mit den Juden zu bereichern. Dies löste heftige Reaktionen und Zwischenrufe aus, so daß der Landtagspräsident eingreifen mußte. Reichskanzler Papen, so Waldmann weiter, habe sich sogar »gegen eine wirksame Beschränkung der Macht der Banken, unter tatkräftiger Mitwirkung namhafter Juden und unter dem Jubel des ganzen Judentums« ausgesprochen. Die »Schwäbische Tageszeitung«, ein Organ des rechten Bauernbundes, bezeichnete er als »Lügenzentrale«, und über die DNVP urteilte er: »Sie können nicht dem Volke gegenüber behaupten, Sie seien völkisch, wenn Sie sich gleichzeitig mit Juden und Judengenossen verbinden.« Kommunisten und das Zentrum wurden selbstverständlich in der gleichen Manier attackiert. Nur seine Partei, die NSDAP allein, könne das Chaos verhindern und den Frieden zwischen den einzelnen Ständen des Volkes schaffen. Höhepunkt der parlamentarischen Karriere Waldmanns war seine Wahl zum Landtagspräsidenten im 5. Württembergischen Landtag von 1933. Nach dem massiv manipulierten Wahlkampf im Februar 1933 24 und den Wahlen zum Reichstag am 5. März 1933 wurde das »Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich« verabschiedet. Danach waren die Landtage gemäß der Stimmenverteilung der Reichstagswahlen neu zu bilden. 25 Dementsprechend wurde am 15. April 1933 auch der 5. Württembergische Landtag umgebildet, der am 8. Juni zum ersten Mal zusammentrat. Seine Wahl nahm Waldmann weihevoll mit den Worten an: »Ich werde bestrebt sein, das Amt des Landtagspräsidenten sachlich und unparteiisch zu führen. In diesem Geist übernehme ich das Amt«. 26 Viel zu führen gab es in diesem Annette Roser 788 22 Erhard Schneckenburger an die Spruchkammer Stuttgart, 1. März 1948, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 118. 23 Verhandlungen (wie Anm. 20), Protokollband, 26. Sitzung vom 2. Dezember 1932, S. 613 - 615. Einen ähnlich unversöhnlichen Ton schlug Waldmann auch bei den Koalitionsverhandlungen 1932 an. Vgl. dazu »NS-Kurier«, 3. Juni 1932. 24 Vgl. Besson, Waldemar, Württemberg und die deutsche Staatskrise 1928 - 1933. Eine Studie zur Auflösung der Weimarer Republik, Stuttgart 1959. 25 Die Sitze der Kommunisten wurden gestrichen, und die verbliebenen 54 Mandate wurden verteilt auf 26 Sitze NSDAP (entspricht 41,9% NSDAP) zuzüglich 3 Hospitanten des ehem. Bauernbundes, 10 Zentrum, 8 SPD, 3 DNVP, 3 Christlicher Volksdienst, 1 Demokrat. Vgl. Schnabel (wie Anm. 11), S. 123. 26 Verhandlungen (wie Anm. 20), 5. ordentlicher Landtag, Protokollband, 1. Sitzung vom 8. Juni 1933, S. 2. <?page no="790"?> Gremium allerdings nicht mehr, was Waldmann schon bei seiner Vereidigung klar gewesen sein dürfte. Mit der Annahme des württembergischen Ermächtigungsgesetzes noch in derselben Sitzung schaltete sich der Landtag nämlich selbst aus und trat nicht mehr zusammen. Waldmanns parlamentarische Karriere nahm damit ein - in den Augen eines Nationalsozialisten allerdings glanzvolles - Ende. Seine Beamtenkarriere hingegen begann jetzt erst richtig. Am 30. März 1933 wurde Waldmann zum ehrenamtlichen Beirat des Staatsministeriums ernannt und erhielt die Amtsbezeichnung Staatsrat. 27 Im Mai berief ihn Reichsstatthalter Murr zu seinem persönlichen Referenten, im Juni wurde er zum ordentlichen Staatsrat beim Staatsministerium ernannt. 28 Seit dem 13. Juli 1933 trug er in dieser Funktion, als einziger Ministerialbeamter in Württemberg, den Titel eines Staatssekretärs. Die Verbindung seiner Position als Vertrauter des Reichsstatthalters mit seinem berufsständischen Bewußtsein als Verwaltungsbeamter charakterisieren Waldmanns »personalpolitische Schlüsselstellung« 29 in der württembergischen Regierung. Diese Position hatte er bis zum Zusammenbruch 1945 inne, wenngleich er mit der »Ernennung« zum Finanzminister am 17. Februar 1942 angeblich nur noch »zu geringem Teil zum Reichsstatthalter abgeordnet« 30 blieb. Aufgrund seiner Stellung gelang es ihm, die traditionelle württembergische Beamtenschaft, die zum Funktionieren des NS-Staates notwendig war, zumindest für eine loyale Amtsführung im Hitlerstaat zu gewinnen. Eine erste Maßnahme zur Erreichung dieses Zieles war die von Waldmann z.T. persönlich durchgeführte »Gleichschaltung« der württembergischen Beamtenorganisationen. Schon vor 1933 hatte er sich im Württembergischen Beamtenbund e.V., der Interessenvertretung der Beamten bei der württembergischen Regierung, und im Landeskartell Württemberg des Deutschen Beamtenbundes, der württembergischen Untergliederung des reichsweiten Deutschen Beamtenbundes, engagiert und sich um die Durchdringung der Beamtenschaft mit nationalsozialistischem Gedankengut bemüht - allerdings mit geringem Erfolg. Die württembergische Beamtenschaft hatte der Bewegung kaum Beachtung geschenkt, wohl aus einer traditionell apolitischen Orientierung heraus. 31 Beide Organisationen wurden nun nach der Machtergreifung schrittweise gleichgeschaltet. Es gab danach einen nunmehr nationalsozialistisch kontrollierten »Interessenverband« und daneben nach wie vor die NS-Beamtenabteilungen als reine Parteiorganisation - ein typisches Beispiel für das Kompetenzenchaos des »Dritten Reiches«. Am 15. Oktober 1933 erfolgte der Zusammenschluß aller Beamtenorganisationen zum Reichsbund der deutschen Beamten, der Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 789 27 WVZ Nr. 4/ 5, 1933, Sp. 146. 28 WVZ Nr. 6, 1933, Sp. 175. 29 Ruck (wie Anm. 16), S. 25. 30 Eigene Aussage im Fragebogen des Military Government of Germany, STALB EL902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 2. 31 Vgl. Sauer, Paul, Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus, Ulm 1975, S. 67; Caplan (wie Anm. 16), S. 39, 102 ff. Zur Situation in Württemberg vgl. Schnabel (wie Anm. 11), S. 71. <?page no="791"?> wie die entsprechenden Fachabteilungen der Partei dem NSDAP-Hauptamt für Beamte unterstellt wurde. 32 Dieser Reichsbund war untergliedert in 18 Reichsfachgruppen. Waldmann wurde vom Reichsfachgruppenleiter 10 und 15, das waren die Gruppen für »allgemeine Länderverwaltungen« und »sonstige Länderverwaltungen«, in Absprache mit dem württembergischen Landeswart zum Landesfachgruppenführer dieser Verwaltungen ernannt. 33 Auch im Verein Württembergischer Verwaltungsbeamter e.V. beteiligte sich Waldmann bereits seit 1928 im geschäftsführenden Ausschuß. Nach der Gleichschaltung dieses Vereins wurde er als ehrenamtliches Mitglied in den neugegründeten »Führerrat« berufen. Zu seiner Ernennung hieß es in der Württembergischen Verwaltungs-Zeitschrift, dem offiziellen Organ des Vereins: »Er befindet sich heute in hoher maßgebender Staatsstellung. Jeder mittlere Verwaltungsbeamte ist stolz auf ihn! « 34 Als sozusagen »prominentestes« Mitglied des Vereins sorgte Waldmann dafür, daß die altehrwürdige württembergische Beamtentradition scheinbar gewahrt blieb und der Verein zumindest bis 1937 seine Selbständigkeit behielt. Nach dessen feierlich begangenem 100jährigen Jubiläum wurde der Verein dann aber zum 1. Januar 1938 aufgelöst und die WVZ zusammen mit der »Verwaltungspraxis« zu einer neuen »Württembergischen Verwaltungs-Zeitschrift« vereinigt. Neuer Herausgeber wurde Staatssekretär Karl Waldmann. 35 Ähnlich wie im Verein Württembergischer Verwaltungsbeamter gelangte Waldmann auch an die Schaltstelle der Württembergischen Verwaltungsakademie, einer Einrichtung zur Aus- und Fortbildung der württembergischen Verwaltungsbeamten. Am 21. Oktober 1933 wurde er zum Präsidenten der Akademie »gewählt« und betonte in seiner anschließenden Dankrede, wie sehr eine enge Zusammenarbeit mit den Stellen der NSDAP wünschenswert und notwendig sei. Um die Beamten in das »Wesen des neuen Staates« einzuführen und sie mit den »großen Problemen« vertraut zu machen, stehe der Vorlesungsplan des Wintersemesters 1933/ 34 unter dem Leitwort »Rasse, Volk, Staat, Wirtschaft«. 36 Mit Waldmann nahm die Akademie dem »NS-Kurier« zufolge einen »gewaltigen Aufstieg«. Der vorbildliche Ausbau des Lehrplans und dessen angeblich hervorragende Inhalte wurden ihm ebenso zugeschrieben wie das hohe Ansehen der Institution im Reich. 37 Annette Roser 790 32 Vgl. Schäfer, Wolfgang, NSDAP. Entwicklung und Struktur der Staatspartei des Dritten Reiches, Hannover, Frankfurt/ Main 1956, S. 59; Roser / Spear (wie Anm. 15), S. 84. 33 Vgl. Württembergische Beamtenzeitung (im folgenden abgekürzt WBZ), 10. Jahrgang, 1933, S. 58, 69, 94 und 126 f. Die WBZ selbst wurde mit der Gleichschaltung für überflüssig erklärt. Sie wurde zugunsten der reichseinheitlichen Beamtenzeitschrift »Das Dritte Reich« aufgelöst. 34 WVZ Nr. 4/ 5, 1933, Sp. 191. 35 Vgl. WVZ Nr. 11/ 12, 1937, S. 1 und WVZ Nr. 1, 1938, (34. Jg., 1. Jg. der neuen Folge), S. 1. Mitherausgeber waren Ministerialdirektor Dill, Direktor Dillmann und Direktor Munder. 36 WBZ 1933, S. 128. Ganz ähnliche Worte fand er bei seiner Eröffnungsrede zum WS 1933/ 34. Vgl. WVZ Nr. 11/ 12, 1933, Sp. 272. 37 »NS-Kurier«, Nr. 281, 20. Juni 1939. Vgl. auch STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Dillmann an Waldmann, 4. Januar 1936. <?page no="792"?> Neben der »Gleichschaltung« der »Standesorganisationen« war die sog. Reinigung des württembergischen Beamtenapparats die zweite Hauptaufgabe Waldmanns und zugleich das wichtigste Instrument zur Anpassung der Verwaltung an die neuen Verhältnisse. Manche zunächst als Racheakte willkürlich durchgeführte Entlassungen fanden ihre scheinlegale Grundlage in dem »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (BBG) vom 7. April 1933, das auch die Basis für die Fortführung der politischen Säuberungsmaßnahmen schuf. Nicht nur die politisch oder »rassisch« unliebsamen Ortsvorsteher und Gemeinderäte waren bedroht, auch die Staatsbeamten, die vor 1933 nur in recht geringer Zahl der NSDAP angehört hatten, mußten um ihre Stellung bangen. Die Unsicherheit wurde verstärkt durch das beständige radikale Gebaren mancher Nationalsozialisten, die glaubten, ihre neu erworbene Macht rücksichtslos ausleben zu können. Waldmann zeigte sich nun als janusköpfiger Taktierer. Zwar zog er nie die Berechtigung des BBG in Zweifel, das er auch öffentlich als ein probates Mittel bezeichnete, um »auf allen Gebieten der Politik, Wirtschaft und Kultur den nationalsozialistischen Staat fest zu verankern« 38 , doch wandte er sich ebenso klar gegen eigenmächtige Säuberungsaktionen seiner Parteigenossen. Es war ihm sehr wohl bewußt, daß die NSDAP gar nicht über so viele und vor allem kompetente Leute verfügte, um alle vermeintlich politisch unzuverlässigen Beamten zu ersetzen. Seine Taktik war es daher, durch »milde« Auslegung des BBG einerseits einzelne politische Gegner gezielt auszuschalten, andererseits die Beamtenschaft als Ganzes wirkungsvoll einzuschüchtern. In einer internen Besprechung am 20. April erörtete er dementsprechend seine Auffassung von der Durchführung des BBG. 39 Dabei wies er auf die recht geringe Zahl der sog. Parteibuchbeamten und der jüdischen Beamten in Württemberg hin und sprach sich eindeutig gegen eine von Nationalsozialisten betriebene »Personalpolitik auf eigene Faust« aus. 40 Es wurden anscheinend auch Maßnahmen zur Kontrolle solcher Säuberungsaktionen besprochen. Denn Ende April ging ein Rundschreiben der Gauleitung an alle Kreisleitungen, daß willkürliche Einzelaktionen gestoppt werden sollten. Bereits am 19. April 1933 versuchte er in einem Artikel des »NS-Kuriers« sogar, die Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 791 Die Württembergische Verwaltungs-Akademie war mit 25 weiteren Verwaltungs-Akademien im Reich im Reichsverband Deutscher Verwaltungs-Akademien, selbstverständlich unter nationalsozialistischer Ägide, organisiert. Vgl. Almanach (wie Anm. 13), S. 189 f. 38 Vgl. WBZ 1933, S. 82. Waldmann erläuterte in dem Beitrag die Ausführungsbestimmungen zum BBG. 39 Vgl. Schnabel, Thomas, Württemberg zwischen Weimar und Bonn 1918 bis 1945/ 46 (Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs 13), Stuttgart u.a. 1986, S. 328 und WBZ 1933, S. 59. 40 Zum Umfang der Entlassungen vgl. Sauer (wie Anm. 31), S. 94. Zur Anwendung des BBG in bezug auf die württembergischen Landräte vgl. Ruck, Michael, Die Verwaltung in Baden und Württemberg unter dem Nationalsozialismus, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. v. C. Rauh-Kühne, M. Ruck (Nationalsozialismus und Nachkriegszeit in Südwestdeutschland 1), München 1993, S. 37 - 67. Auch hier lag die Zahl der vorzeitig pensionierten oder abgeschobenen Landräte weit unter dem Reichsdurchschnitt. <?page no="793"?> allgemeine Verunsicherung aufzufangen. Unter dem Titel »Reinigung und Neuaufbau der Verwaltung« versicherte er: »Wer loyal seiner Wege ging, wird unberüht bleiben, auch wenn er anderer politischer Meinung ist.« Im gleichen Artikel schlug der Staatssekretär allerdings dann auch ganz andere Seiten an, die den Lesern deutlich zu verstehen gaben, daß mit dem Verständnis und der Unterstützung Waldmanns nur dann zu rechnen war, wenn als Gegenleistung ein loyales Mittun, besser noch eine Annäherung an die Partei seitens der Beamten stattfände. So äußerte er z.B., daß es unverständlich sei, wie man in der Beamtenschaft bislang an der »größten Volksbewegung aller Zeiten« habe vorbeigehen können und drohte: »Wo man hobelt, werden natürlich immer Späne fliegen.« 41 Auch andernorts erklärte er, daß die Bewegung nicht dulden werde, »daß Beamte, die all die Jahre her unsere Parteigenossen schikaniert haben, heute Nutznießer der Revolution sind.« Und auf Bedenken im Reichsministerium des Innern, daß durch das BBG Härten entstünden, die unverhältnismäßig seien, antwortete der württembergische Staatssekretär: »Es geht nicht an, nun heute aus sentimentalen Gründen nicht durchzugreifen.« 42 Diese Taktik des wechselweisen Entgegenkommens und Drohens setzte notwendigerweise voraus, daß die Partei für Beitrittswillige offenblieb, auch gegen alle Widerstände von Parteigewaltigen. Es war daher nur konsequent, daß er sich nicht selten für den Parteibeitritt leitender Beamter trotz Aufnahmesperre verwandte. Gelegentliche Angriffe gegen die sog. »Märzgefallenen«, die sich auch in Waldmanns Reden finden, sind daher wohl mehr als Lippenbekenntnisse zu werten. 43 Darüber hinaus nutzte Waldmann wie viele andere NS-Funktionäre seine Position, um einen treuen Mitarbeiterstab zu rekrutieren, der seine Interessen zu vertreten und durchzusetzen suchte. 44 So übte Waldmann insbesondere mit der Einsetzung Georg Stümpfigs als Gauamtsleiter für Kommunalpolitik gezielten Einfluß auf die Kommunalpolitik aus. 45 Nicht nur in der Personalpolitik, vor allem auch in seiner Sacharbeit leistete Waldmann seinen eigenständigen Beitrag zur Realisierung des NS-Staates im deutschen Südwesten, der vielen seiner Zeitgenossen nicht selten positiv in Erinnerung blieb. Seine Vorschläge zur gemeindlichen Selbstverwaltung etwa orientierten sich an dem antidemokratischen autoritären System der Kaiserzeit. Waldmann trat für eine Selbstverwaltung auf unterster Ebene ein, die u.a. durch Finanzhoheit, be- Annette Roser 792 41 »NS-Kurier«, 18. April 1933. Derselbe Artikel erschien sowohl in der WBZ als auch in der WVZ in den entsprechenden Ausgaben. 42 HSTAS E 151/ 01 2318, Bl. 41. Besprechung im Staatsministerium am 30. Mai 1933. 43 Vgl. Müller, Roland, Stuttgart zur Zeit des Nationalsozialismus, Stuttgart 1988, S. 109; Schnabel, (wie Anm. 39), S. 193 und 200. 44 Zu nennen sind in erster Linie Georg Stümpfig, Gottlob Dill, Gustav Himmel und Helmut Wider. Auch Innenminister Jonathan Schmid und der stellvertretende Gauleiter Friedrich Schmidt gehörten dazu. Vgl. die Biographie von Hubert Roser über Stümpfig in diesem Band und Ruck (wie Anm. 16), S. 99 ff. 45 Vgl. auch Roser/ Spear (wie Anm. 15), S. 87 ff. <?page no="794"?> schränktes Wahlrecht des Gemeinderats, begrenzte Staatsaufsicht und Recht auf Selbstgesetzgebung gekennzeichnet sein sollte: »Wenn die Staatsaufsicht so weit geht, daß die Organe durchweg vom Staat ernannt werden, die Aufsichtsbehörde die Zweckmäßigkeit jeder Maßnahme überprüfen kann und die Entlastung erteilt, dann kann man von einer Selbstverwaltung überhaupt nicht mehr reden«, so verkündete er mehrfach. Eine Personalunion von Ortsvorsteher und Ortsgruppenleiter bzw. Landrat und Kreisleiter sei abzulehnen, denn in diesem Falle sei jede Kontrolle der Verwaltung ausgeschlossen. In bezug auf das Verhältnis zwischen Ortsvorsteher und Gemeinderat hielt er eine Beschlußfunktion und ein Einspruchsrecht des Gemeinderates gegen Anordnungen des Ortsvorstehers für notwendig: »Ich halte es für ein Unding, die Frage so zu regeln, daß der Gemeinderat nur noch berät und überhaupt nichts zu sagen hat. Dann wird der Gemeinderat zu einer verantwortungslosen Schwatzbude.« 46 Das Gesetz über die Ortsvorsteher vom 28. Juni 1933, an dem Waldmann selbst mitgearbeitet hatte, bzw. mit dessen Ergänzung vom 29. Januar 1934 wurde tatsächlich eine Gemeindeordnung geschaffen, die einen beschließenden Gemeinderat beinhaltete. 47 Diese Tatsache darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß im Ortsvorstehergesetz dem Bürgermeister weithin freie Hand gegeben und somit »das Führerprinzip in der Gemeindeverwaltung verankert« 48 wurde. 49 Damit war Württemberg Vorreiter bei der nationalsozialistischen Ausrichtung kommunaler Strukturen, und Waldmann war maßgeblich daran beteiligt. 50 Als es allerdings um die Gestaltung einer deutschen Gemeindeordnung ging 51 , blieben Waldmanns Bemühungen, die Partei außen vor zu halten, erfolglos. Die Partei wurde zum bestimmenden Faktor bei der Auswahl der Ortsvorsteher und Gemeinderäte. Sie wurden vom Beauftragten der NSDAP im Einvernehmen mit der Staatsaufsichtsbehörde berufen. »Eine größere Perversion der gemeindlichen Selbstverwaltung [...] läßt sich kaum vorstellen,« urteilte Thomas Schnabel daher zu Recht. 52 Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 793 46 Zitate aus: »NS-Kurier«, 14. März 1934, vgl. auch Waldmann an Reichsinnenminister Frick, 20. Februar 1934, abgedruckt in: Sauer (wie Anm. 31), S. 97 - 99 und Schabel (wie Anm. 39), S. 294 f. 47 Das Ortsvorstehergesetz (Reg.Bl. 1933, S. 273) wurde zweimal einer Revision unterworfen: Am 20. Dez. 1933 (Reg.Bl. 1933, S. 446), vgl. Battenberg, Ludwig, Württembergische Kreisordnung vom 27. Januar 1934, Stuttgart 1934, und am 29. Januar 1934 (Reg.Bl. 1934, S. 39), vgl. Sauer (wie Anm. 31), S. 97. Für manche Hinweise zur württembergischen Beamtenpolitik im »Dritten Reich« sei an dieser Stelle Herrn Dr. Hubert Roser ausdrücklich gedankt. 48 Battenberg (wie Anm. 47), S. VIII. 49 Zur Entstehung und Funktion des württembergischen Ortsvorstehergesetzes vgl. Roser, Hubert, Nationalsozialistische Personalpolitik und regionale Verwaltung in Südwestdeutschland 1933 - 1939, erscheint München 1997. 50 Auf Württemberg folgte Preußen, für das am 15. Dezember 1933 das preußische Gemeindeverfassungsgesetz verabschiedet wurde, in dem der Leiter der Gemeinde »der alleinbestimmende, unumschränkte Herr« wurde. Vgl. Diehl-Thiele, Peter, Partei und Staat im Dritten Reich. Untersuchungen zum Verhältnis von NSDAP und allgemeiner innerer Staatsverwaltung 1933 - 1945, München 1969, S. 138. 51 Vgl. Matzerath, Horst, Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung, Stuttgart 1970, S. 126; Sauer (wie Anm. 31), S. 98 ff., und Schnabel (wie Anm. 39), S. 294 ff. <?page no="795"?> Es läßt sich kaum anders denken, als daß Waldmann mit der DGO höchst unzufrieden gewesen sein muß. In einer Denkschrift vom April 1935 über »Kreisfreie Städte (Stadtkreise)«, die durch die DGO auch in Württemberg eingeführt wurden, bezeichnete Waldmann dieses Vorgehen als nicht sinnvoll und mahnte die Reichsparteileitung, zwei Dinge nicht außer acht zu lassen: einmal »die große Verschiedenheit von Landschaft, Wirtschaftsstruktur, Volkscharakter in den einzelnen deutschen Gebieten«, zum anderen die Tatsache, daß »wir in einer Revolution stehen, die die festesten Bollwerke einreisst und die deshalb auch vor der preussischen Bürokratie nicht Halt machen kann und auch damit dort im Interesse ganz Deutschlands Änderungen bringen muß, wo Preussen bisher eine den Volksgenossen abträgliche Organisation hatte.« 53 Doch auch diese Argumente konnten nicht verhindern, daß bei der Gebietsreform in Württemberg 1938 54 die Stadtkreise Ulm und Heilbronn aus den jeweiligen Kreisverbänden herausgenommen wurden. 55 Obwohl sich Waldmann also mit seinen Vorstellungen von einer partiellen Selbstverwaltung mit dem Ziel eines austarierten Verhältnisses zwischen Partei und Bürokratie nicht hatte durchsetzen können, führte dies nicht zu einer wie auch immer gearteten Illoyalität gegenüber den zentralistischen, durch die Ideologie bestimmten Plänen der Reichsleitung, im Gegenteil, er paßte sich den ideologisch fixierten Vorgaben der Reichsregierung opportunistisch an und bezeichnete schon 1938 die DGO als Grundgesetz des nationalsozialistischen Staates. Die Aufgabe der kommenden Jahre und Jahrzehnte sei der Erhalt und Ausbau dieses Systems. 56 Von der Wahl des Gemeinderats, der Beschlußfunktion oder dem Einspruchsrecht war nicht mehr die Rede. Gleichwohl scheute er sich nicht, auch weiterhin dieses System als »Selbstverwaltungssystem« zu charakterisieren. Da in den immer wiederkehrenden Debatten um eine Reichsreform in der Weimarer Republik dieser Begriff nie genau definiert worden war, fiel es Nationalsozialisten wie Waldmann leicht, von »Selbstverwaltung« zu reden, sie aber gleichzeitig inhaltlich völlig zu entleeren. 57 Selbst Reichsinnenminister Frick konnte eine »Selbstverwaltung« propagieren, bei der »jede Aufgabe der Verwaltung, die örtlicher Ausführung fähig ist, in die Gemeinde« verlagert werden müsse. 58 Damit wurde der Begriff rein geographisch definiert. Mit wirklicher Selbstverwaltung hatte dies nichts mehr zu tun. Ähnlich wie mit seinen Vorschlägen zur gemeindlichen Selbstverwaltung wäre es Annette Roser 794 52 Schnabel (wie Anm. 39), S. 301. 53 HSTAS E 140, Bü 24. 54 Gesetz über die Landeseinteilung vom 25. April 1938, Reg.Bl. 1938, S. 155. Vgl. ebenso Sauer (wie Anm. 31), S. 101 und 118. 55 Die Herausnahme dieser Städte aus dem Kreisverband wirkte sich, wie Waldmann befürchtet hatte, ungünstig auf den von der Reform angestrebten Lastenausgleich aus. Vgl. Fauser, Manfred, Die Verwaltungsreform in Württemberg, insbesondere die neue Landeseinteilung, in: Reichsverwaltungsblatt 60 (1939), S. 197 - 201. 56 Vgl. WVZ Nr.1, 1938, S. 4. 57 Vgl. Matzerath (wie Anm. 51), S. 436 ff. 58 Zitat Waldmanns in WVZ Nr. 1, 1938, S. 4. <?page no="796"?> ihm möglicherweise auch mit seinen Ansichten zur Reichsreform ergangen, hätten nicht übergeordnete Interessen die sich zuspitzende Diskussion um eine neue Einteilung der deutschen Länder und Gaue abgebrochen und das Problem kurzerhand bis zum Ende des »Dritten Reiches« unerledigt belassen. Waldmann setzte sich nämlich in einer Denkschrift zur Gaueinteilung des Deutschen Reiches 59 entschieden gegen eine territoriale Aufsplitterung Württembergs ein und wies auf die organisch gewachsene Struktur seines Heimatlandes hin, die nicht zerstört werden dürfe. Allenfalls komme noch ein Zusammenschluß mit einigen badischen Gebieten in Frage. 60 Das Eigenleben der Region, so betonte Waldmann immer wieder, sei zu erhalten - eine deutliche Absage an den Berliner Zentralismus. Solche Vertretung der Landesinteressen gegenüber dem Reich führte dazu, daß Hitler Waldmann im Dezember 1935 nach Berlin beorderte. Der Staatssekretär wurde vom Reichskanzler angeblich in der »üblichen Manier abgekanzelt«. »Sichtlich angegriffen und deprimiert« soll Waldmann nach Stuttgart zurückgekehrt sein. Vor der Spruchkammer nutzte er dann später diese Begebenheit, um zu behaupten, er habe sich von da an innerlich vom »Führer« distanziert. 61 Davon jedoch war in seiner Amtsführung nichts zu erkennen. Weder zog er persönliche Konsequenzen aus dem Gang der Ereignisse noch hielt er sich in seinen öffentlichen Verlautbarungen fortan zurück. Im Gegenteil, die zeitgenössischen Aussagen Waldmanns im »NS-Kurier« und in der WVZ lassen keinen Bruch mit dem Nationalsozialismus erkennen. Dies belegt auch seine Tätigkeit auf einem zweiten, gewiß für Waldmann nur sekundären Arbeitsfeld. Als Vorsitzender der Landesplanungsgemeinschaft Württemberg-Hohenzollern gehörte er nämlich zu den maßgeblichen Förderern von Walter Darrés agrarromantischen Vorstellungen. Den »bäuerlichen Dingen, den Fragen der Landflucht und der Förderung der Lebensformen auf dem Land« gehörte sein besonderes Interesse. 62 Die Schwaben sollten an ihren Boden, an ihre Scholle gebunden werden und, wo dies nicht möglich war, zumindest an ihr Eigenheim. Daher waren Angelegenheiten des Wohnungsbaus, der Besiedelung und der Landflucht Themen, deren sich Staatsekretär Waldmann ebenso annahm: Er sprach auf einer Tagung der deutschen Hausbesitzer, nahm im Auftrag des Reichsstatthalters an Besichtungen von Neusiedlungen in Mecklenburg-Vorpommern teil und stellte sein Maßnahmenbündel zur Eindämmung der Landflucht und zur Verbesserung des Lebensstandards auf dem Land in der Württembergischen Verwaltungszeitschrift vor. 63 Wie wichtig »ein gesundes Bauerntum für die Erhaltung der Volkssubstanz« und »der rassischen Werte des Volkes« seien, so verkündete er, habe die NSDAP Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 795 59 Vgl. Sauer (wie Anm. 31), S. 46 ff. 60 Zur Diskussion über die Vereinigung Württembergs und Badens in der Weimarer Republik vgl. Heimers, Manfred Peter, Unitarismus und süddeutsches Selbstbewußtsein (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 98), Düsseldorf 1992, insb. S. 274 - 288. 61 Urteilsbegründung der Spruchkammer, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680. Bl. 1/ 34, S. 9 f. 62 »NS-Kurier«, 20. Juni 1939. 63 »NS-Kurier«, 29. Oktober 1934, WVZ Nr. 7, 1938, S. 145 - 148. <?page no="797"?> schon vor 1933 erkannt. Das deutsche Volk brauche »die Nährfreiheit zur Weltgeltung.« 64 Im März 1940 plädierte er für die Flurbereinigung und den Maschineneinsatz in der Landwirtschaft, um Arbeitskräfte einzusparen, damit »namentlich aber Menschen frei [werden] für die überaus wichtige Aufgabe der Besiedlung des Ostens.« 65 Seit seiner Ernennung zum Staatsrat bzw. Staatssekretär und seiner Zuordnung zu Reichsstatthalter Murr besetzte Waldmann eine der wichtigsten Schaltstellen im Land. Zum einen fungierte er als Berichterstatter Murrs an die Reichsregierung, zum anderen gehörte er als Staatssekretär zum Staatsministerium. So liefen bei ihm viele Fäden zusammen. Es gab kaum etwas, das nicht über seinen Schreibtisch ging, ob es sich nun einfach um ein Arbeitsverbot für Mädchen unter 16 Jahren handelte, um spezifisch württembergische Interessen wie den Weiterausbau des Neckarkanals, den er gegenüber Kritikern verteidigte, oder auch um Angelegenheiten wie eine illegal verbreitete Resolution der KPD. 66 Bei zahlreichen offiziellen Anlässen, wenn Reichsstatthalter Murr und Ministerpräsident Mergenthaler verhindert waren, vertrat Staatssekretär Waldmann die württembergische Regierung. 67 Aber auch bei Besprechungen mit dem »Führer« in Stuttgart fehlte er selbstverständlich nicht. 68 So fiel Waldmann u.a. auch eine entscheidende Rolle im württembergischen Kirchenkampf zu, den er mit der gleichen Janusköpfigkeit zu führen suchte, die auch seine Beamtenpolitik kennzeichnete. Seinen Gegnern gegenüber zeigte er sich zunächst gesprächsbereit und verständnisvoll, so daß manche glaubten, in ihm einen gemäßigten Vertreter der NS-Ideologie und eventuellen Fürsprecher gefunden zu haben. Am 5. Juni 1934 z.B. konnte in einer Besprechung mit Landesbischof Wurm, Dekan Borst und Dr. Ritter (Reichsstatthalterei) eine Reihe von »Mißverständnissen« im Verhältnis von Kirche und Staat geklärt und eine fühlbare Entspannung zwischen Kirchenleitung und Staat erzielt werden. 69 Als Waldmann sich im Januar 1936 mit einer kirchlichen Delegation traf, die den deutschchristlichen Dekan Rieder aus Schorndorf praktisch verjagt hatte, stellte er sich konziliant und kooperativ dar: »Herr Waldmann war zuerst zurückhaltend, um unsere Meinung und Stellungnahme kennenzulernen. Er beteiligte sich dann aber sehr eingehend an der Besprechung«, heißt es in einem Bericht dieser Delegation. Auch in der Korrespondenz mit Landesbischof Wurm verzichtete er auf scharfe oder verletzende Töne. Gegenüber der Reichsregierung und im praktischen Vollzug schlug er dann allerdings ganz andere Seiten an. Am 26. April 1934, also noch vor der Bekenntnissynode Annette Roser 796 64 WVZ Nr. 7, 1938, S. 148. 65 WVZ Nr. 3, 1940, S. 39. 66 Vgl. Sauer (wie Anm. 31), S. 174, 256; Müller (wie Anm. 43), S. 243. 67 »NS-Kurier«, 23. September 1933, 28. November 1933, 29. Oktober 1934 usw. 68 »NS-Kurier«, 20. März 1935. 69 Vgl. Schäfer, Gerhard, Die evangelische Landeskirche in Württemberg und der Nationalsozialismus. Eine Dokumentation zum Kirchenkampf Bd. 3, Stuttgart 1977 - 1984, S. 353. <?page no="798"?> von Barmen 70 , berichtete er an das Reichsinnenministerium über die »maßlose Hetze seitens der evangelischen Landeskirchenregierung unter Landesbischof Wurm«. Er interpretierte dies »geradezu als Landesverrat«, als »gegen den neuen Staat und die nationalsozialistische Idee geführt« und stigmatisierte die Kirchenregierung, indem er ihr kommunistische Kampfmethoden unterstellte. 71 1938 forderte er von Landesbischof Wurm sogar, das »Erbgesundheitsgesetz«, die »Förderung des Wehrwillens« und die rassische Weltanschauung des Nationalsozialismus kirchlicherseits offiziell anzuerkennen. 72 In der Öffentlichkeit bezog er deutlich Stellung gegen die Kirche und zog auch persönlich durch seinen Kirchenaustritt 1935 die Konsequenzen aus der immer deutlicher werdenden Gegnerschaft zwischen christlichen Kirchen und nationalsozialistischem Staat. 73 Landesbischof Wurm gegenüber begründete er seine Entscheidung damit, daß er für »die kommenden großen Auseinandersetzungen« seine »innere Freiheit« bewahren müsse. 74 Dies empfahl er denn auch seinen Parteigenossen 1937 auf einer NSDAP-Versammlung: Die Kirche, so betonte er in seiner Rede, sei überflüssig, der Nationalsozialismus ersetze ja alles, was sie biete. »Wozu dann noch das Kirchenspringen? Wozu überhaupt noch Kirche? [...] Ich bin jedenfalls ausgetreten aus der Kirche! « 75 Daß Waldmann sich über die furchtbaren Konsequenzen, die der Nationalsozialismus über all jene verhängte, die sich seinem Gleichschaltungsdruck nicht unterordneten, im unklaren gewesen sein könnte, ist mehr als unwahrscheinlich. Im Sommer 1937 jedenfalls besuchte er während einer Ferienreise das Strafgefangenenlager Papenburg im Emsland 76 , das ihn wegen des Einsatzes von Strafgefangenen bei der Moorkultivierung 77 interessierte. Die dort vorherrschenden KZ-ähnlichen Zustände können ihm nach einschlägigen Recherchen und Zeugenaussagen der VVN Württemberg-Baden im Jahre 1948 kaum verborgen geblieben sein. 78 Dem Staatssekretär im Reichsjustizministerium, Roland Freisler, gegenüber äußerte er sich jedenfalls positiv: »Ich war erfreut über den Erfolg des neuartigen Strafvollzugs.« Jedoch, fügte er an, bitte er, die Versorgungsansprüche für das Wachpersonal zu heben, »weil Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 797 70 Auf der Bekenntnissynode vom 29. - 31. Mai 1934 wurde die Barmer Theologische Erklärung verabschiedet, die zum Fundament der Bekennenden Kirche wurde. 71 Vgl. Schäfer (wie Anm. 69), S. 294 ff. 72 Vgl. Schäfer Bd. 5 (wie Anm. 69), S. 919. Wurm verwahrte sich bei Reichsstatthalter Murr gegen diese Zumutungen, insbesondere gegen die offizielle Anerkennung des NS-Rassismus. 73 Stadtdekan Lempp an Waldmann, 29. Juni 1935, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 17 - 19. 74 Waldmann an Landesbischof Wurm, 18. Juli 1935, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 38. 75 Schäfer Bd. 5 (wie Anm. 69), S. 168. 76 Zu Papenburg vgl. Studienkreis zur Erforschung und Vermittlung der Geschichte des Widerstandes 1933 - 1945, Präsidium der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes-Bund der Antifaschisten (Hrsg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945 Bd. 3, Niedersachsen II. Regierungsbezirke Hannover und Weser-Ems, Köln 1986, S. 121 - 126. 77 Protokoll der öffentlichen Sitzung, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 133, S. 5. 78 Urteilsbegründung der Spruchkammer, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 35. Waldmann hingegen bestritt stets, Kenntnis von den Lebensbedingungen der Häftlinge gehabt zu haben. <?page no="799"?> sonst auf die Dauer das Wachpersonal nicht zu bekommen sein wird.« 79 Gerade diese letzte Empfehlung wertete die Spruchkammer Stuttgart als Beweis dafür, daß Waldmann sehr wohl den Gewalt- und Terrorcharakter der Lager erkannt hatte, führte sie doch die angeblichen Schwierigkeiten der Lagerleitung, Wachpersonal zu verpflichten, auf den unmenschlichen Strafvollzug zurück. Noch vor Kriegsbeginn, am 27. August 1939 wurde Waldmann zum Leiter der Abteilung Wirtschaft beim Chef der Zivilverwaltung der 7. Armee ernannt. 1940 wurden seine Verwaltungsfähigkeiten im besetzten Frankreich benötigt. Von Juni 1940 bis April 1941 versah er das Amt des Kriegsverwaltungschefs im Militärverwaltungsbezirk A, Nordwestfrankreich, mit Sitz in St. Germain. 80 Die durchweg positiven Aussagen späterer Entlastungszeugen zu seiner dortigen Tätigkeit wurden von der Spruchkammer nicht angezweifelt. Reichsstatthalter Murr beorderte ihn im Frühjahr 1941 jedoch wieder nach Württemberg, da »dringende Aufgaben seine Anwesenheit in Stuttgart verlangten.« 81 Welche dringenden Aufgaben dies waren, kann nur vermutet werden. Ein schon seit längerem währender Konflikt mit Finanzminister Dehlinger spitzte sich zu, denn dieser war immer weniger geneigt, in Finanzangelegenheiten des Landes die Direktiven der Partei widerspruchslos zu befolgen. So wird Murr Waldmann als Nachfolger Dehlingers im Finanzministerium benötigt haben. Ende des Jahres war es dann so weit: Der 67jährige Dehlinger reichte sein Pensionsgesuch ein 82 , und Waldmann trat seine Nachfolge an. Offizieller »Finanzminister« wurde er allerdings nicht, da neue Länderminister weisungsgemäß nicht mehr ernannt werden sollten. Vielmehr sollte »ein anderer Minister oder der dienstälteste Staatssekretär mit der Verwaltung eines frei gewordenen Ministeriums beauftragt werden.« 83 Da die meisten Akten des württembergischen Finanzministeriums durch Bombenschäden vernichtet wurden und der erhaltene Rest 84 wenig ergiebig ist, kann zu Waldmanns Tätigkeit ab 1942 kaum etwas ausgesagt werden. Dies trifft auch für die zentrale Frage nach dem Verhältnis zwischen Waldmann und Reichstatthalter Murr insbesondere in den letzten Kriegsjahren zu. Kaum verständlich wäre Waldmanns Aufstieg in eine zentrale Position der württembergischen Landesregierung und Annette Roser 798 79 Waldmann an Freisler, 23. April 1938, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 12. 80 Murr an Hitler, BA R43 II/ 1347 c, Bl. 31v; STALB EL 902720 37/ 18 29680, Bl. 133, S. 3. 81 BA R43 II/ 1347 c, Bl. 32. 82 Sauer läßt anklingen, daß Dehlinger zur Einreichung seines Pensionsgesuches gedrängt worden sei (»nicht ohne eine gewisse Nachhilfe von NS-Seite«). Vgl. Sauer, Paul, Staat, Politik, Akteure, in: Das Dritte Reich in Baden und Württemberg, hrsg. v. O. Borst (Stuttgarter Symposion 1), Stuttgart 1988, S. 14 - 28, hier S. 28. 83 BA R43 II/ 1347 c, Bl. 31. Das Finanzministerium sprach in einer Mitteilung an die Spruchkammer nach dem Krieg davon, daß Waldmann »kaltgestellt« worden sei, doch geht aus dem Schriftsatz nicht eindeutig hervor, ob es sich dabei auf die fehlende Verleihung des Ministertitels oder die Tatsache der Abordnung in das Finanzministerium an sich bezog. Vgl. Auskunftserteilung des Finanzministeriums, 23. April 1947, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 7. 84 HSTAS E 222a. <?page no="800"?> schließlich seine de facto-Einsetzung als Finanzminister ohne dessen zumindest grundsätzliche Billigung und Förderung. In diesen Ämtern trug Waldmann die volle Mitverantwortung für alles, was bis zum Ende des Krieges in Württemberg geschah - ein Faktum, das z.B. hinsichtlich der auch in Württemberg durchgeführten Judenverfolgung nicht vergessen werden sollte. Daß sich schließlich in manchen Fragen der Politik und insbesondere des Krieges mit Murr und anderen württembergischen Nationalsozialisten zunehmend heftige Auseinandersetzungen ergeben haben sollen, wie Waldmann beständig behauptete, ist durchaus glaubhaft, dürfte aber kaum als echte Systemgegnerschaft zu werten sein. 85 Daß er sich am Ende, wie Oberbürgermeister Strölin und Innenminister Schmid auch, den in der Schlußphase des Krieges erlassenen Befehlen versagte, die Neckarbrücken zu sprengen, die Stuttgarter Wasserversorgungsanlagen und Elektrizitätswerke zu zerstören oder auch das Salzbergwerk Kochendorf unbrauchbar zu machen, müssen wohl als das gewertet werden, was sie waren: nicht Widerstandshandlungen, sondern Reste gesunden Menschenverstandes, die diese NS-Funktionäre im Chaos ihres untergehenden Reiches noch bewahrt hatten. 86 Wo und wie Waldmann den Untergang des von ihm mitgeschaffenen »Dritten Reiches« erlebte, bleibt im dunkeln. Nach dem Zusammenbruch stellte er sich am 22. Juni 1945 jedenfalls nicht in Stuttgart, sondern in Gmünd den amerikanischen Behörden. Am 13. August wurde er ins Internierungslager Ludwigsburg gebracht. Seine Entlassung erfolgte am 27. Dezember 1947. Das letzte halbe Jahr seiner Internierung hatte er in ärztlicher Behandlung verbracht und mehrfach Entlassungsgesuche gestellt, die er mit seiner angeschlagenen Gesundheit begründete. Im August 1948 wurde sein Entnazifizierungsverfahren vor der Spruchkammer eröffnet. Angesichts seiner Funktionen im NS-Staat fiel er eigentlich in die Gruppe der »Hauptschuldigen«. Waldmann schaffte es jedoch durch Verharmlosung seiner Ämter und Tätigkeiten und aufgrund vieler für ihn positiv aussagenden Zeitgenossen das Gericht davon zu überzeugen, daß er größte Milde verdient habe. Seine Parteiämter vor 1933 wollte er nicht oder nur delegierend ausgeführt haben. In dem einen Amt habe es sowieso nichts zu tun gegeben, das andere sei nur eine Frage der Uniform gewesen. Mit Hitler habe er als einer der wenigen bereits 1933 abgeschlos- Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 799 85 Waldmann führte mehrfach zu seiner Verteidigung vor der Spruchkammer an, die Auseinandersetzungen mit Murr hätten sich in den letzten Kriegsmonaten so verschärft, daß er auf Befehl Murrs im April 1945 sogar von einem SS-Kommando hätte liquidiert werden sollen. STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 4, 28v, 29, 133. Der Zeuge Karl Benz sollte laut Aussage Waldmanns dies bestätigen können (Bl. 2). In der offiziellen Niederschrift über die Anhörung des Zeugen Benz ist davon jedoch nicht die Rede (Bl. 83). Demnach liegt die Vermutung nahe, daß es sich hierbei um eine weitere Schutzbehauptung Waldmanns handelte. 86 Vgl. Gayer, Kurt, Wilhelm Murr. Gauleiter und Reichsstatthalter von 1933 bis 1945, in: Die Villa Reitzenstein und ihre Herren. Die Geschichte des baden-württembergischen Regierungssitzes, hrsg. v. K. Gayer, K. Krämer, G. Kempter, Stuttgart 1988, S. 119 - 130, hier S. 130; Urteilsbegründung der Spruchkammer, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 1/ 34, S. 12. <?page no="801"?> sen. Unter den Ungerechtigkeiten seitens der Partei habe er immer schwer gelitten. Gegen Parteipropaganda sei er immer gewesen und habe auch keine betrieben. Wenn Gegenteiliges in der Zeitung gestanden habe, sei das die NS-Einfärbung des Journalisten gewesen und habe nicht seiner eigenen Rede entsprochen. Und aufgrund der nicht mehr zu tragenden Entgleisungen der Partei wie auch der dadurch für ihn immer größer werdenden Spannungen und Anfeindungen durch Parteigenossen habe er sowieso nach dem Krieg seine Posten niederlegen wollen. Zeugenaussagen von Parteigenossen und Nicht-Parteigenossen über Waldmanns »Gerechtigkeitssinn«, seine angeblich mutige Anprangerung von Unrecht sowie die angeführten Einzelfälle von Hilfeleistung für politisch wie rassisch Verfolgte bewogen das Gericht schließlich, Waldmann in die Gruppe der »Minderbelasteten« einzureihen. Nach vier Verhandlungstagen wurde er am 4. September 1948 zu einem halben Jahr Haft auf Bewährung verurteilt und hatte die Kosten des Verfahrens zu tragen. Großen Einfluß auf den Urteilsspruch dürfte die Bekanntschaft Waldmanns mit dem Widerstandskämpfer Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg gehabt haben. 87 Laut eigenen Angaben traf Waldmann 1937 zum ersten Mal mit von der Schulenburg zur Besprechung von Verwaltungsfragen zusammen. Im September 1937 hatte von der Schulenburg öffentlich die Mißstände in der Beamtenschaft dargelegt und sofortige Abhilfemaßnahmen vorgeschlagen. 88 Über die Kritik an der NS-Verwaltung fanden beide Fachleute wohl zusammen. Von der Schulenburg hielt kontinuierlich Kontakt mit Waldmann sowie mit Ministerialdirektor Dill, selbst als Waldmann sich in Frankreich befand. Wiederholt soll von der Schulenburg betont haben, daß Waldmann seine Gesundheit schonen solle, da er noch gebraucht werde und er habe durchblicken lassen, daß man sich mit der Beseitigung der Mißstände und mit der »Zeit danach« beschäftige. Diese Angaben brachte Waldmann mehrfach zu seiner Verteidigung vor; ein Zeuge bestätigte deren Richtigkeit. Es bleibt jedoch äußerst fraglich, ob von einem solchen Kontakt auf einen »Widerstand« Waldmanns im engeren Sinne geschlossen werden kann. Wahrscheinlicher dürfte sein, daß Waldmann seine beruflichen Kontakte mit Schulenburg nutzte, um sich vor der Spruchkammer als NS-Opponent darzustellen. 89 Schließlich gelang es Waldmann, durch nachweisliche Lügen, Abmilderungen, Ausreden und Gedächtnislücken seine Verantwortlichkeit für die Errichtung und den Erhalt des nationalsozialistischen Staates zu leugnen. In einem anderen Spruchkammerverfahren, in dem Waldmann als Zeuge aussagte, wurde sogar festgestellt: »Die Angaben des Zeugen Waldmann sind derartig willkürlich, und so wenig sub- Annette Roser 800 87 Vgl. Heinemann, Ulrich, Ein konservativer Rebell. Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und der 20. Juli 1944, Berlin 1990. 88 Vgl. Mommsen (wie Anm. 16), S. 145 ff. 89 Der Biograph Schulenburgs, Ulrich Heinemann, ist bei seinen Recherchen nicht auf den Namen Waldmann gestoßen. Er mißt dem Kontakt Waldmanns zu Schulenburg keine Bedeutung bei. Freundliche Mitteilung an die Verfasserin, 28. März 1996. <?page no="802"?> stantiiert, dass man sich nur wundern kann, wie ein Mann, der Anspruch auf Bildung und Erfahrung erhebt, es wagen kann, eine so ungeheuerliche Beschuldigung in die Welt zu setzen, ohne sich auch nur der Mühe zu unterziehen, seine Beschuldigung irgendwie näher zu begründen oder gar zu beweisen. Im übrigen ist die Behauptung [....] völlig unwahr.« 90 Der öffentliche Kläger gab sich mit Waldmanns Eingruppierung als »Minderbelasteter« denn auch nicht zufrieden und beantragte die Kassation des Spruchs - allerdings ohne Erfolg. Nachdem Waldmanns Verteidiger L. mehrfach Gnadengesuche eingereicht hatte, kam es im Oktober 1949 doch noch zu einem Nachverfahren, in dem Karl Waldmann als »Mitläufer« eingestuft wurde. In der Begründung hieß es, daß »der Betroffene erwarten lässt, dass er seine Pflichten als Bürger eines friedlichen demokratischen Staates erfüllen werde.« 91 Und zu guter Letzt wurde ihm mit Stattgabe eines letzten Gnadengesuchs auch noch der Rest der Verfahrenskosten erlassen, »da er [Waldmann] in allen Kreisen als Hort der Gerechtigkeit und Anständigkeit« gegolten habe. 92 Das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft lag zu diesem Zeitpunkt erst fünf Jahre zurück. Hauptargumente Waldmanns in den Gnadengesuchen waren der ideelle und materielle Schaden, der ihm zugefügt worden sei. Der ideelle war das Verbot, als Beamter arbeiten zu dürfen, der materielle waren der Verlust seiner Wohnzimmereinrichtung aufgrund von Beschlagnahmung durch die französische Besatzungsmacht und der Diebstahl anderen Hausrats durch ehemalige polnische Zwangsarbeiter. Eine weitergehende Reflexion seiner Vergangenheit ist aus den Gnadengesuchen nicht erkennbar. 93 Ausgeschlossen vom öffentlichen Dienst, mußte sich der erst 59jährige Waldmann zur Sicherstellung seines Lebensunterhaltes anderweitig um eine Anstellung bemühen und fand sie im Richard Boorberg Verlag in Stuttgart. Dort arbeitete er als Büroangestellter vom 1. September 1948 an bis zu seiner Verrentung am 31. Januar 1950. Trotz seiner angeschlagenen Gesundheit lebte Karl Waldmann noch fast 20 Jahre als Rentner in seinem Haus in Stuttgart-Botnang. Er starb, knapp ein Jahr nach seiner Frau Else, am 7. November 1969. Waldmann als »gemäßigten Parteigänger Hitlers« 94 zu bezeichnen, ist nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht angemessen. Als überzeugter Antisemit band er sich früh an die NSDAP. Er war an der Verbreitung und am Aufbau der nationalsozialistischen Partei in entscheidendem Maße beteiligt und dafür verantwortlich. Er Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 801 90 STALB EL 902/ 2 Bü 7588. 91 Spruch der Zentralspruchkammer Nord Württemberg, 10. Oktober 1949, STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, o. Nr. 92 Gnadenantrag, vom Innenministerium Württemberg-Baden am 20. Oktober 1950 stattgegeben. STALB EL 902/ 20 37/ 18 29680, Bl. 161. 93 HSTAS EA 11/ 106 Bü 253 Nr. 22428. 94 Sauer (wie Anm. 82), S. 28. <?page no="803"?> hat den Unrechtsstaat des »Dritten Reiches« gewollt, vorbereitet und als einer der höchsten Staatsbeamten Württembergs bis zum Ende mitgetragen. Gerade auch seine Rolle als »Architekt der württembergischen Beamtenpolitik« 95 fällt hier schwer ins Gewicht. Wichtig für Waldmann war nicht die äußere Hülle der Parteizugehörigkeit, sondern die innere Gesinnung, wie er selbst mehrfach betonte. Diese innere Gesinnung definierte sich seinen Äußerungen zufolge in Antisemitismus und Unterdrückung Andersdenkender und im Gemeinwohl als höchstem Gut des »arischen Volkes«. Auch sein rechtsstaatliches Denken, das ihm immer wieder positiv angerechnet wurde, basierte in Wirklichkeit auf einer nationalsozialistischen Definition von positivem Recht, das mit einem rechtsstaatlichen Rechts- und Gesetzesverständnis nichts gemein hatte. Daß er in Verwaltungsfragen eine Position bezog, die der der Reichsführung bisweilen zuwiderlief, ist den spezifisch württembergischen Verhältnissen zuzuschreiben, die er als kompetenter und sachverständiger Verwaltungsbeamter richtig und mit der Absicht, dem NS-Staat zu dienen, einzuschätzen wußte. Das Gleiche gilt auch für seinen Pragmatismus, den er oft geschickt an den Tag legte: Vermeidung offener Konfrontation, aber auch Vermeidung jeglicher Kompromisse. Zuhören, vage Versprechungen leisten, um sich dann doch im nationalsozialistischen Sinne durchzusetzen, das war seine Taktik. Und darin liegt seine eigentliche Verantwortlichkeit, daß er für seine Zeitgenossen den unmenschlichen Nationalsozialismus so scheinbar menschlich und gerecht vertreten hat und dadurch mitgeholfen hat, das Unrecht erst möglich zu machen. Bibliographie Quellen Das Quellenmaterial zu Karl Wilhelm Waldmann ist nur schwer, weil verstreut zugänglich. Wichtige Unterlagen zur Person Waldmanns finden sich insbesondere in der Spruchkammerakte im Staatsarchiv Ludwigsburg, in den Gnadenakten im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart sowie im SA-Personalfragebogen, der im ehemaligen Berlin Document Center aufbewahrt wird. In den Handakten des Reichsstatthalters Murr sind Angaben zur Tätigkeit Waldmanns als Staatssekretär überliefert. Zur parlamentarischen Tätigkeit siehe die Verhandlungen des Landtags des freien Volksstaates Württemberg auf dem 4. ordentlichen Landtag in den Jahren 1932/ 33 und dem 5. ordentlichen Landtag von 1933. Diese Unterlagen werden durch publizierte Reden und Beiträge Waldmanns im »NS-Kurier«, in der Württembergischen Beamtenzeitung und der Württembergischen Verwaltungs-Zeitschrift ergänzt. Annette Roser 802 95 Roser (wie Anm. 49). <?page no="804"?> Literatur Eine Biographie Waldmanns als selbständige Veröffentlichung ist bisher nicht erschienen. Der 1997 erscheinende 2. Band der Baden-Württembergischen Biographien, hrsg. von Bernd Ottnad, wird eine Kurzbiographie Waldmanns von Hubert Roser enthalten. Des weiteren wird Waldmann im Zusammenhang mit Regionalstudien zu Württemberg behandelt, so in: Roser, Hubert; Spear, Peter, »Der Beamte gehört dem Staat und der Partei«. Die Gauämter für Beamte und Kommunalpolitik in Baden und Württemberg im polykratischen Herrschaftsgefüge des NS-Regimes, in: Regionale Eliten zwischen Diktatur und Demokratie. Baden und Württemberg 1930 - 1952, hrsg. von C. Rauh-Kühne, M. Ruck; Ruck, Michael, Korpsgeist und Staatsbewußtsein: Beamte im deutschen Südwesten 1928 - 1972, München 1996; Ruck, Michael, Zentralismus und Regionalgewalten im Herrschaftsgefüge des NS-Staates, in: Nationalsozialismus in der Region; Roser, Hubert, Nationalsozialistische Personalpolitik und regionale Verwaltung in Südwestdeutschland 1933 - 1939, erscheint München 1997. Karl Wilhelm Waldmann, Württembergischer Staatssekretär 803 <?page no="806"?> *26. Juli 1896 Straßburg, ev., Kirchenaustritt, Vater: Adam Worch, Schreinergeselle, Mutter: Sophie geb. Stengel, verheiratet seit 1935 mit Erika Worch, geb. Riedner, vier Kinder. Volks- und Gewerbeschulbesuch, Bierbrauer, 1914 - 1918 Kriegsteilnehmer, 1919 - 1932 Brauer in zwei Karlsruher Brauereien, Oktober 1923 - März 1924 arbeitslos. 1914 - 1923 Mitglied des Brauerei- und Mühlenarbeiterverbandes, seit 1923 aktiv in völkisch-nationalen Gruppierungen, 1. Januar 1926 Mitglied der NSDAP (Mitgliedsnr. 24.375) und der SA (bis 1930), 1933 Mitglied der NSV, 1935 Mitglied des NS-Fliegerkorps, 1936 Mitglied des RLB, 1927 - 1929 »Bezirksführer« des Bezirks Karlsruhe der NSDAP, 1930 - 1935 Stadtrat, 1930 - 1932 Sektionsleiter der NSDAP Karlsruhe-Südstadt, Sommer 1932 NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe (1. Januar 1933 - Ende 1944 hauptamtlich), 1937 - 1944 Beisitzer beim Volksgerichtshof. 26. April 1945 Verhaftung, 16. Juli 1948 Entscheidung der Spruchkammer des Internierungslagers Ludwigsburg: »Minderbelasteter«, Haftentlassung, 17. Januar 1950 Urteil der Zentralberufungskammer Karlsruhe: »Belasteter«, 1949 Tätigkeit als Vertreter, gest. 23. November 1972 Karlsruhe. »Überzeugter Nationalsozialist eigener Prägung« Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe Manfred Koch Kreisleiter Willi Worch am Rednerpult bei einer Großkundgebung am 1. Mai 1939 in Karlsruhe. 805 <?page no="807"?> Die Berufungsverhandlung gegen Willi Worch endete am 18. Januar 1950, wie ein journalistischer Beobachter festhielt, »in einem herzhaften Dank des Betroffenen an den Vorsitzenden der Kammer und den Öffentlichen Kläger und in allgemeinem Händeschütteln. Und man nahm den beruhigenden Eindruck mit, daß Herr Worch auch in seinem neuen Beruf als Vertreter [...] seinen Mann stellen wird.« 1 Damit endete 1950 das Entnazifizierungsverfahren für den Karlsruher NSDAP-Kreisleiter, dem in der Verhandlung selbst der Öffentliche Ankläger menschliches Verhalten und große Aufrichtigkeit bei der Wahrheitsfindung bescheinigte, mit der Einstufung als »Belasteter«. Tatsächlich gab es in dem Verfahren mehr entlastende als belastende Aussagen zugunsten von Worch, darunter waren so prominente Fürsprecher wie der sozialdemokratische Landtagsabgeordnete und spätere Bundesfinanzminister Alex Möller und der Oberbürgermeister Friedrich Töpper aus Karlsruhe. Die Unterscheidung zwischen »anständigen« und »fanatischen« Nazis, die in dieser Beurteilung Worchs anklingt, war zwar in den ersten Nachkriegsjahren durchaus gängig und weithin akzeptiert, sie bleibt aber in jedem Einzelfall genau zu hinterfragen und vor allem vor dem Hintergrund der jeweiligen nationalsozialistischen Karriere und der Entwicklung des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen insgesamt zu überprüfen. 2 Dies gilt insbesondere auch für Kreisleiter, die man wegen ihrer großen Machtfülle als »kleine Könige« betrachtete. Als »Säulen des Nazi-Regimes« waren sie aus der Sicht der NSDAP die »Garant[en] der nationalsozialistischen Revolution« und »geistige Träger der Idee Adolf Hitlers«. 3 Wilhelm Adolph Hermann Worch wurde in Straßburg in bescheidenen Familienverhältnissen geboren. Sein Vater war um 1890 als preußischer Soldat in der elsässischen Hauptstadt entlassen worden und verdiente seinen Lebensunterhalt als Schreinergeselle. 4 Seine Mutter hatte sich vor der Ehe als Hausmädchen verdingt. Ihr früher Tod im Jahre 1900 und die neue Ehe des Vaters ein Jahr darauf waren für den Jungen nach seiner Selbstdarstellung von 1948 »der Beginn einer fürchterlichen Jugend. Meine Stiefmutter wurde mir zur Rabenmutter und der Umstand, daß sie eine fanatische Katholikin war und ich [...] evangelisch getauft [...], verschlimmerte mein Los in verhängnisvoller Weise. [...] ich erlebte entsetzliche Mißhandlungen.« 5 Die neue Familie wuchs rasch. Die Frau hatte ihren Vater und ein Kind mit Manfred Koch 806 1 Badische Neueste Nachrichten, 19. Januar 1950. 2 Die Bezeichnung »anständiger« Nationalsozialist hat im übrigen schon Heinrich Himmler in einer Rede vom 4. Oktober 1943 in Posen ad absurdum geführt, als er den Massenmördern der SS in einer geradezu perversen Argumentation bescheinigte, »anständig« geblieben zu sein. 3 So der Gauorganisationsamtsleiter Reichinger am 11. Mai 1934 in einem Schreiben an die PO der NSDAP, zit. nach Fait, Barbara, Die Kreisleiter der NSDAP - nach 1945, in: Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, hrsg. v. M. Broszat u.a., München 1988, S. 213 - 299, hier S. 224. 4 Mitteilung von Peter Worch, dem ältesten Sohn Willi Worchs. Peter Worch danke ich sehr für jederzeit bereitwillig erteilte Auskünfte. 5 Abschrift des Lebenslaufs, den Willi Worch im April 1948 an den öffentlichen Ankläger aus dem <?page no="808"?> in die Ehe gebracht, fünf weitere Kinder wurden geboren. Durch zahlreiche Erkrankungen des Vaters herrschte große Not, so daß der Älteste schon ab dem 10. Lebensjahr in seiner Ferienzeit und dann auch während der Schulzeit arbeiten mußte. Nach dem Ende des Volksschulbesuches 1911 blieb keine Zeit, ein Handwerk zu lernen. Worch mußte vor allem nach dem Tod des Vaters 1912 mit für den Familienunterhalt sorgen. Er fand Arbeit in einer Brauerei in Kehl, wo er nach drei Jahren dank des Entgegenkommens seines Meisters die Gesellenprüfung ablegen durfte. Im Mai 1914 kam der Bierbrauer Worch erstmals nach Karlsruhe zur Brauerei Schrempp. Bereits drei Monate später meldete er sich in Straßburg beim Regiment seines Vaters als Kriegsfreiwilliger. Vorbild, so betonte Worch, sei ihm dabei der Sozialdemokrat und Jude Ludwig Frank gewesen, dem er sich als Angehöriger der Arbeiterbewegung verbunden sah. Denn in Kehl war Worch von seinen Kollegen in den Brauerei- und Mühlenarbeiterverband aufgenommen worden und hatte sozialdemokratische Versammlungen besucht. Im Krieg erlebte Worch die Kämpfe um Langemark, Ypern, Verdun, den Priesterwald, den Argonnerwald, die Vogesen und die Champagne mit. In der Rangordnung stieg er vom Soldaten bis 1917 zum Unteroffizier, wurde 1915 mit dem EK II und 1919 dem Frontkämpferehrenzeichen ausgezeichnet und erlitt mehrfach Gasvergiftungen und Granatsplitterverletzungen, zuletzt im Oktober 1918, ohne aber dauernde Schäden davonzutragen. Die Erfahrungen als Soldat haben Worchs Neigung zu den sozialistischen Ideen eher verstärkt. Er berichtete davon, sich gegen manches Unrecht in der Armee aufgelehnt, sich seine eigene Meinung bewahrt zu haben. Soldatische Disziplin war ihm ein durchaus zweifelhafter Wert, und es gibt keinen Hinweis darauf, daß das Schützengrabenerlebnis und der Frieden von Versailles bei ihm eine Hinwendung zu einem radikalen Nationalismus bewirkt hätten. Nach einem wohl nur einige Tage währenden Engagement im Soldatenrat im November 1918 in Kehl wandte sich der 22jährige wieder dem Berufsleben zu. Einer kurzen Tätigkeit in einer Kohlenfirma in Kehl folgte im Sommer 1919 die Rückkehr an den alten Arbeitsplatz bei seiner Brauerei in Karlsruhe. Er wählte nun nach eigenen Angaben sozialdemokratisch und begann eine aktive Mitwirkung in der gewerkschaftlichen Arbeit. Darin war er nach kurzer Zeit so erfolgreich, daß ihn im Jahr 1922 die 200 Arbeiter der Brauerei Schrempp, die inzwischen durch eine Betriebszusammenlegung zur Brauerei Schrempp-Printz geworden war, zum Betriebsratsvorsitzenden wählten. Bis hierher deutet nichts in dieser Biographie auf eine spätere nationalsozialistische Karriere. Fast schon lehrbuchmäßig verlief die politische Sozialisation Worchs von der durch materielle Not und Hunger geprägten Kindheit und den Erfahrungen des Arbeitslebens in der Jugend zu den Ideen der Gewerkschaftsbewegung und der Sozialdemokratie mit ihren auf Gleichheit und Gerechtigkeit zielenden Gesellschaftsvorstellungen. Das Streben danach ist denn auch ein Motiv, das der in seiner Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 807 Kornwestheim-Lager (Hospital) unaufgefordert zu den Akten gab. Spruchkammerakte Willi Worch, GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. Vgl. dort auch zum Folgenden. <?page no="809"?> Kindheit durch die Behandlung seiner Stiefmutter traumatisierte Worch in seinem Lebenslauf als durchgängige Maxime seines Handelns darstellte. Er sah sich »mit einem sturen Gerechtigkeitssinn ausgestattet«. Wie »als Soldat des Kaisers«, so habe er auch »später in der Hitlerei« seine eigene Meinung gehabt und den Standpunkt vertreten, daß »das unantastbare Recht über den Parteien zu stehen hat.« 6 Hier spätestens wird deutlich, daß Worch mit dieser Selbstcharakterisierung auch ein wesentliches Argument für seine Verteidigung vor der Spruchkammer akzentuierte. Seine Bemühungen, gerecht zu handeln, brachten den Betriebsratsvorsitzenden an der Jahreswende 1922/ 23 in Konflikt mit der Gewerkschaft. Er hatte mit dem Betriebsrat der von der Betriebsleitung beantragten Entlassung eines jungen ledigen und trotz mehrfacher Ermahnungen nicht arbeitswilligen Mannes zugestimmt. Einem fleißigen Familienvater blieb so die Kündigung erspart. Die Gewerkschaft strengte daraufhin ohne Rücksprache mit dem Betriebsrat einen Arbeitsgerichtsprozeß an, den sie verlor. In der Folge wurde Worch innerhalb der Gewerkschaft und nach seinen Angaben auch öffentlich in der SPD-Zeitung »Der Volksfreund« in für ihn ehrverletzender Weise angegriffen und bloßgestellt. 7 Kurz darauf trat der 26jährige Bierbrauer aus seinem gewerkschaftlichen Verband aus und sah sich von völkischen Gruppen in Karlsruhe umworben, die ihm den »Völkischen Beobachter« in den Briefkasten steckten und ihn zu ihren Versammlungen einluden. Worchs weitere Angaben in den Vernehmungen über seine Betätigung für die Nationalsozialisten zwischen 1923 und 1933 beschränkten sich auf das Wesentliche, nämlich seine Parteizugehörigkeit (Mitgliedsnummer 24.375) und seinen SA-Eintritt im Januar 1926, seine Ämter als Ortsgruppenleiter 1930 bis 1932 und als Kreisleiter seit 1932 sowie sein Stadtverordnetenmandat von 1930 bis 1935. 8 Im Gegensatz zu dem Eindruck, den diese Angaben erwecken sollen, war Worch jedoch seit 1923 als Nationalsozialist besonders aktiv und wurde in den polizeilichen Lageberichten als ein bekannter Führer der »Nazibewegung« bezeichnet. 9 Was neben seinem Zorn auf die Gewerkschaft zu der Radikalisierung Worchs beigetragen hat, bleibt unklar. Er selbst sprach von »anderen Enttäuschungen und unschönen Erleb- Manfred Koch 808 6 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 7 Bei Durchsicht des SPD-Organs »Der Volksfreund« vom September 1922 bis März 1923 unter der Rubrik »Aus der Stadt« fand sich keine Meldung, die den von Worch in seinem Lebenslauf geschilderten Fall betrifft. 8 Fast durchgängig wird in den Akten Worchs Stadtverordnetenzeit mit 1928 bis 1933 falsch angegeben. Die NSDAP erhielt erst bei den Kommunalwahlen 1930 auf Anhieb 28 der 84 Stadtverordnetensitze, vgl. Koch, Manfred, Karlsruher Chronik. Stadtgeschichte in Daten, Bildern, Analysen (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 14), Karlsruhe 1992, S. 317. 9 Vgl. dazu die Lageberichte des Badischen Landespolizeiamtes von 1924 - 1930, GLA 309, Zugang 1994 - 53, 6160 und STAFR, A 96/ 1 1617. Eine Auswertung der Berichte im Blick auf die NSDAP und die KPD bei Bräunche, Ernst Otto, Das Badische Landespolizeiamt. Die Überwachung der links- und rechtsextremen Parteien in der Weimarer Republik, in: Geschichte als Verantwortung. Festschrift für Hans Fenske zum 60. Geburtstag, hrsg. v. E. O. Bräunche, H. Hiery, Karlsruhe 1996, S. 85 - 111. Ich danke Herrn Dr. Bräunche für die Einsichtnahme in Kopien der Lageberichte. <?page no="810"?> nissen«. 10 Möglicherweise bezieht sich das auf eine mehrwöchige Untersuchungshaft in Karlsruhe von Ende August bis Anfang Oktober 1923. Worch könnte dabei von einer Verhaftungsaktion gegen bekannte Parteigänger der verbotenen NSDAP erfaßt worden sein, der sich sein späterer Schwiegervater Peter Riedner durch Untertauchen entziehen konnte. Vermutlich hat die sechswöchige Haftzeit Worch den Arbeitsplatz gekostet, denn im Anschluß daran war er von Oktober 1923 bis März 1924 arbeitslos. 11 Entlassungen waren bei den Brauereien, die während der Inflationszeit mit schweren Absatzproblemen rangen, keine Seltenheit und sind als eine der Ursachen für die Radikalisierung der Karlsruher Brauer hervorgehoben worden: »The skilled workers and brewers of the Schrempp brewery in Karlsruhe represented a Nazi stronghold.« 12 Worch selbst bemerkte, daß er nun die »NS-Presse verschlungen« habe. Themen wie »Nieder mit der Kriegsschuldlüge«, »Brechung der Zinsknechtschaft«, »Volksgemeinschaft« und »Betriebsgemeinschaft«, »Stadt und Land Hand in Hand« oder »Ehrt die Arbeit und den Arbeiter« hätten ihm »imponiert«. 13 Bereits am 22. Juli 1923 fiel Worch dem Polizeibeobachter bei einer Schlageter- Ehrung in Liedolsheim bei Karlsruhe auf. Auf diesem Treffen von etwa 300 Nationalsozialisten und Völkischen aus Nord- und Mittelbaden sprachen verschiedene Redner gegen den Frieden von Versailles, gegen das Judentum und gegen die marxistische Ideologie. Am Ende der Versammlung rief Willi Worch die Teilnehmer zu einem Umzug durch Liedolsheim auf. 14 Schon ein halbes Jahr darauf, am 25. Januar 1924, nahm er an einer Landesvertretertagung in Freiburg teil, zu der die Oberleitung Baden der verbotenen NSDAP eingeladen hatte. Die Veranstaltung wurde von der Polizei aufgelöst, die 51 Teilnehmer festgenommen und verhört. Sie alle waren der Polizei als Nationalsozialisten oder deren Anhänger bekannt. 15 Im Sommer 1924 ortet der Historiker Grill in den unterschiedlichen und widerstreitenden völkischen Gruppierungen Worch an der Seite des Heidelberger Antisemiten und Führers der Deutschvölkischen Reichspartei Arnold Ruge, für den Worch im Landkreis als Propagandist unterwegs war. 16 Zudem trat er auch in Versammlungen Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 809 10 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 11 Wie Anm. 4. Haftbücher des Karlsruher Amtsgefängnisses, mit denen diese U-Haft Worchs nachzuweisen wäre, existieren nicht mehr. 12 Grill, Johnpeter Horst, The Nazi Movement in Baden 1920 - 1945, Chapel Hill 1983, S 82. Grill irrt in seiner Annahme, Worch sei von Anfang seiner politischen Karriere an ein Förderer des völkischen Nationalismus gewesen. 13 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Spruchkammerverhandlung gegen Worch am 16. Juli 1948 in Ludwigsburg, S. 3. 14 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 75 ff. 15 Vgl. Lagebericht vom 25. Januar 1924, GLA, 309, Zugang 1994 - 53, 6160. Teilnehmer aus Karlsruhe waren neben Worch der Grötzinger Kunstmaler Otto Fikentscher, der Kaufmann Rudolf Vieser, der Reisende Fritz Plattner, der Zahnarzt Emil Lorenz und der Rechtsanwalt Karl Buchegger. 16 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 105. Am 22. Juni 1924 nahm Worch an der Veranstaltung eines »Deutschen Tages« in der NS-Hochburg Liedolsheim bei Karlsruhe teil. Dies geht aus einem Gerichtsverfahren gegen Fritz Plattner hervor, der an der Organisation beteiligt war, vgl. GLA 270/ 911. Zur Frühgeschichte der badischen NSDAP vgl. Bräunche, Ernst Otto, Die Entwicklung <?page no="811"?> der politischen Gegner als »Diskussionsredner und Hetzer« auf. 17 Als Robert Wagner im Spätsommer des Jahres 1924 nach Baden zurückkehrte, fand er in Karlsruhe Unterstützung bei einer Reihe junger »Nazis«, darunter Willi Worch. Dieser wurde dann auch führendes Mitglied in dem von Wagner am 17. Oktober 1924 gegründeten Schlageterbund. 18 Es spricht aufgrund der hier ermittelten Aktivitäten Worchs für die nationalsozialistische Bewegung vieles dafür, wenn es auch nicht belegt ist, daß Worch zu den etwa 60 Teilnehmern der von Wagner geleiteten Versammlung gehörte, die am 25. März 1925 im Gasthaus »Prinz Carl« in Karlsruhe den »Gau Baden« der NSDAP gründeten. Zusammen mit dem zeitweiligen Gauschatzmeister und seit 1935 besoldeten Stadtrat in Karlsruhe Peter Riedner, mit dem späteren Schriftleiter des NS-Organs »Der Führer« Franz Moraller und dem späteren Gaubetriebszellenobmann in Baden Fritz Plattner gehörte Willi Worch jedenfalls bereits 1924/ 25 zu den führenden Nationalsozialisten in Karlsruhe und zu den Mitbegründern der Karlsruher Ortsgruppe der NSDAP. 19 In den folgenden Jahren, in denen die NSDAP nicht über den Status einer Splitterpartei hinauskam, entfaltete Willi Worch ein bemerkenswertes Engagement für die »Bewegung«. Obgleich er in seinem Spruchkammerverfahren aussagte, er sei kein Parteiredner gewesen und nur selten öffentlich aufgetreten, bevor er 1932 Kreisleiter wurde, verzeichneten die Polizeiberichte immer wieder öffentliche und parteiinterne Auftritte Worchs auch außerhalb Karlsruhes. 20 In den Berichten von 1926 und 1927 wird Worch zudem als »Bezirksführer« genannt. Demnach wäre er einer von 23 Führungsfunktionären der mittleren Leitungsebene im Gau Baden gewesen. Grill bestätigt diesen Aufstieg Worchs in der frühen NS-Gauorganisation, nennt aber als ersten Karlsruher »Bezirksführer« den altgedienten völkischen Agitator und Aktivisten Albert Roth aus Liedolsheim. Der habe dieses Amt, wie damals durchaus üblich, nicht durch Wahlen erhalten, sondern es kraft seiner starken Stellung als ehemaliger Landbund-Führer ausgeübt. Im April 1926 habe Roth als seinen Stellvertreter im Amt des »Bezirksführers« Willi Worch berufen, der ihn ein Jahr später abgelöst habe. 21 Die herausgehobene Position Worchs in der NSDAP im Jahre 1926 unterstreicht seine Teilnahme zusammen mit nur 51 anderen Badenern am 1. Parteitag der NSDAP in Weimar im August 1926, wo ihm Adolf Hitler »beim Generalappell der SA im Nationaltheater die erste badische Standarte« übergab. 22 Manfred Koch 810 der NSDAP in Baden bis 1932/ 33, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 125 (1977), S. 331 - 375. 17 Kriminalsonderdienst, Abt. I A Karlsruhe an die Stadtverwaltung Reutlingen, Politisches Referat, 10. August 1946. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 18 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 109 f. und GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Aussage Stapelmann. 19 Zu diesem Schluß kam der Kriminal-Sonderdienst, Abt. I A, Karlsruhe (wie Anm. 17). 20 Vgl. die Lageberichte vom 5. November und 1. Dezember 1926, vom 1. Mai 1927 und vom 19. August 1930, in denen Worch als einer von 62 Parteirednern aufgelistet ist, vgl. STAFR A 96/ 1, 1617. 21 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 120. 22 »Der Führer«, 5. September 1935. <?page no="812"?> Sehr wahrscheinlich hat Gauleiter Wagner, der 1927 begann, die »Bezirksführer« selbst einzusetzen, Worch in dieses Amt gebracht. Dies war sicher auch eine Anerkennung der für die Parteiorganisation geleisteten Arbeit und für die Unterstützung Wagners durch Worch seit 1924. Einen weiteren Aufstieg in die Gauleitung, die Wagner ab 1927 installierte und 1930 ausbaute, gab es für Worch allerdings, wahrscheinlich auch aufgrund seines niedrigen Bildungsstandes, nicht. Er gehörte also nicht - wie etwa Plattner oder Moraller - zur engeren Führungsmannschaft Wagner ergebener Gefolgsleute. 23 Statt eines weiteren Aufstiegs mußte Worch vielmehr hinnehmen, daß Wagner ihn am 6. Januar 1929 in der Leitung des Kreises und der damals etwa 300 Mitglieder umfassenden Ortsgruppe Karlsruhe ablöste. 24 Die Hintergründe für diesen Bruch in der Karriere Worchs als Parteifunktionär sind nicht bekannt. Nimmt man aber Worchs Einlassungen in seiner ersten Spruchkammerverhandlung über sein Verhältnis zu Robert Wagner, das von Anfang an durch Opposition bestimmt gewesen sei, nicht nur als Verteidigungsstrategie, so liefern sie einen Hinweis über eine mögliche Ursache der vorübergehenden Amtsenthebung. Worch hatte sich demnach etwa 1927/ 28 in einem Brief an Hitler über Wagner beschwert, der »eine schlechte Mischung zwischen Schulmeister und einem Leutnant sei«, und um die Einsetzung eines kompetenteren Gauleiters gebeten. Der sehr eitle und furchtbar empfindliche Wagner habe ihm das nie vergessen. 25 Die weitere Entwicklung zeigt aber, daß dieser Vorgang keine Distanzierung Worchs vom Nationalsozialismus zur Folge hatte und auch nicht zur Abkehr von der NSDAP aus Zorn und Enttäuschung führte, die 1923 den Austritt aus der Gewerkschaft bewirkt hatten. 26 Bereits 1930 hatte Worch dann wieder eine Funktion in der NSDAP inne. Nachdem die Karlsruher Ortsgruppe auf über 1.000 Mitglieder angewachsen war und deshalb in Sektionen aufgeteilt werden mußte, erhielt der vormalige »Bezirksführer« im Sommer die Leitung der Sektion Südstadt der NSDAP übertragen. 27 Und bei den Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 811 23 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 112, 231 ff. Viele Gauamtsleiter kamen aus der Karlsruher NSDAP, die als Spezialisten für ihre neuen Aufgabenbereiche galten, vgl. Lögler, Herbert, Karlsruhe im Zeichen der nationalsozialistischen Machtergreifung, Diplomarbeit an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Universität Mannheim (MS), Mannheim 1984, S. 42. 24 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 120 und Lagebericht vom 15. Mai 1929, STAFR A 96/ 1, 1617. Rauh-Kühne führt Worch irrtümlich durchgehend von 1927 - 1945 als Kreisleiter, vgl. Rauh-Kühne, Cornelia, Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft. Ettlingen 1918 - 1939 (Geschichte der Stadt Ettlingen 5), Sigmaringen 1991, S. 246. 25 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung vom 16. Juli 1948, S. 3. Die Antwort auf seinen Brief habe er von Heß erhalten, der ihn zur Parteidisziplin gemahnt habe, andernfalls müßte er aus der Partei austreten. Worch war im übrigen mit seiner Kritik am Finanzgebaren Wagners nicht alleine, vgl. dazu Bräunche, Ernst Otto, Die NSDAP in Baden 1928 - 1933 - Der Weg zur Macht, in: Die Machtergreifung in Südwestdeutschland. Das Ende der Weimarer Republik in Baden und Württemberg 1928 - 1933, hrsg. v. T. Schnabel, Stuttgart 1982, S. 15 - 48, hier S. 32 f. 26 Vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Lebenslauf. Im Protokoll der Verhandlung vom 16. Juli 1948, S. 2, gab er an, in der Gewerkschaft geblieben zu sein. 27 Zur Mitgliederzahl der NSDAP in Karlsruhe vgl. Lagebericht vom 19. August 1930, STAFR A 96/ 1, <?page no="813"?> Kommunalwahlen im November desselben Jahres errang er für die Partei eines von 28 Stadtverordnetenmandaten, und seine Fraktion bestimmte ihn zu einem ihrer acht Stadträte. 28 Die Rückkehr Worchs in den Funktionärskader hatte mehrere Gründe. Er hatte sich, seit er im Mai 1924 bei der Brauerei Wolf in der Südstadt am Werderplatz wieder Arbeit gefunden hatte, in dem Quartier Ansehen und eine parteipolitische Basis geschaffen. Er war Mitglied eines Stammtisches in dem Stammlokal der Brauerei und hatte dort abends die Aufgabe, für Ruhe und Ordnung unter den Zechern zu sorgen. 29 Dem mit 1,86 Metern großen und kräftig gebauten Mann fiel dies nicht schwer, zumal ihm nach eigenen wiederholten Angaben die Hand etwas locker saß. Als ab 1929 der Aufstieg der NSDAP zur Massenpartei einsetzte und der Bedarf an verläßlichen Funktionären und Mandatsträgern erheblich zunahm, verfügte Worch nicht allein über eine lange Erfahrung in der Partei, sondern auch über den Vorzug, einer der weniger zahlreichen Vertreter des Arbeiterstandes innerhalb des Führungskorps der badischen NSDAP zu sein und somit als Wahllokomotive für diese Wählerschicht wirken zu können. 30 Willi Worch, der als Parteiagitator und -propagandist seit 1923 innerhalb und außerhalb der Partei wirkte, gehörte darüber hinaus zu jenen Männern, die, bevor 1933 der nationalsozialistische Terror von oben einsetzte, den Terror der Straße inszenierten. Als junges, unverheiratetes, schlagkräftiges und von der NS-Ideologie durchdrungenes Mitglied der SA kämpfte er mit dieser aktionistischen Parteitruppe für den Sieg der NS-Bewegung. Die SA sorgte auch in Karlsruhe mit ihren 52 Mitgliedern im Jahre 1929 31 durch Saalschlachten und gewalttätige Propagandaaufmärsche für Aufsehen mit dem Ziel, Stärke zu demonstrieren und politische Gegner einzuschüchtern. Die polizeilichen Lageberichte verzeichneten im November 1927, 1928 und 1929 SA-Schlägereien mit politischen Gegnern. 32 Im April 1929 fand eine große Saalschlacht in der Karlsruher Festhalle statt, als die SA in einer gezielten Aktion eine Versammlung mit dem bekannten KPD-Funktionär Max Hölz sprengte. 33 Ist die Beteiligung Worchs an diesen SA-Aktivitäten nur mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, so ist seine Mitwirkung an der unrühmlichen »Karlsruher Rathausschlacht« aktenkundig. In einer von der NSDAP provozierten Schlägerei zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten, an der sich auch Zuhörer beteiligten, gab es am 11. Mai 1931 mehrere Verletzte und es gingen Teile der Ausstattung des Sitzungssaales zu Bruch, vor allem wurden Stühle als Schlagwaffen Manfred Koch 812 1617. Zur Übernahme des Amtes durch Worch vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 28 Vgl. Koch (wie Anm. 8), S. 163 und 317. 29 Wie Anm. 4 und GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung vom 16. Juli 1948, S. 4. 30 Zur Sozialstruktur der NS-Führung in Baden vgl. Bräunche (wie Anm. 25), S. 22. 31 Vgl. Lagebericht vom 15. Mai 1929, STAFR A 96/ 1, 1617. 32 Vgl. die Lageberichte vom 15. Januar 1928, vom 15. Januar 1929 und 20. Februar 1930, STAFR A 96/ 1, 1617. 33 Vgl. Lögler (wie Anm. 23), S. 25 - 28. <?page no="814"?> benutzt. 34 In dem anschließenden Gerichtsverfahren wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung gegen alle Beteiligten gab Worch mit einem gewißen Stolz zu Protokoll, er habe nur geboxt, da er es aufgrund seiner Statur und Größe nicht nötig habe, Hilfsmittel zu benutzen. Die gegen ihn verhängte Strafe betrug 50 RM und Schadensersatzleistungen. 35 Männer wie Worch trugen durch ihre Mitwirkung bei SA-Aktionen und bei der »Rathausschlägerei« Mitverantwortung für den Terror der Straße und für die Diskreditierung der parlamentarischen Organe der kommunalen Selbstverwaltung in Karlsruhe und somit für die Zerstörung der Demokratie auf lokaler Ebene. Im Sommer 1932 erreichte der Bierbrauer und NSDAP-Stadtrat Willi Worch den Gipfel seiner Karriere als NS-Funktionär. Er wurde zunächst unbesoldeter und seit dem 1. Januar 1933 besoldeter Kreisleiter in Karlsruhe. Dafür nahm er sogar zunächst Einkommenseinbußen in Kauf. 36 Die Position des Karlsruher Kreisleiters war frei geworden, nachdem Robert Wagner als stellvertretender Reichsorganisationsleiter nach Berlin abberufen worden war. 37 Als Worch die Leitung des Kreises Karlsruhe übernahm, hatte sich gerade aufgrund einer reichseinheitlichen Neuorganisation der Partei auch die Aufgabenstellung für die Kreisleiter geändert. 38 Der »Bezirksführer« Worch des Jahres 1927/ 28 war hauptsächlich für die Mitgliederwerbung und die Parteipropaganda zuständig und reines Ausführungsorgan des Gauleiters. Der Kreisleiter Worch des Jahres 1932 hatte alle Parteigliederungen seines Gebiets (ausgenommen blieben u.a. SS, SA, und HJ) zu überwachen und war Vorgesetzter sämtlicher Amtswalter der Parteiorganisationen seines Kreises. Auf seinen Vorschlag wurden unter anderem die Ortsgruppenleiter vom Gauleiter berufen und abgesetzt. Über alle Anordnungen der Gauleitung war er zu informieren. 39 Im Jahre 1935 maß Wagner der propagandistischen Arbeit der Kreisleiter bei der Betreuung und Indoktrination der Bevölkerung wieder stärkere Bedeutung bei. 40 All diese Aufgaben erforderten nicht mehr nur die »Führerqualitäten« eines »alten Kämpfers«, sondern Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 813 34 Vgl. zu den Vorgängen im Einzelnen die zahlreichen Zeitungsberichte in: StAKA 1/ H.Reg 796. Vgl. auch Lögler (wie Anm. 23), S. 28 f. und Bräunche, Ernst Otto, Von der Demokratie zur Diktatur in Baden und Karlsruhe, in: Stilstreit und Führerprinzip - Künstler und Werk in Baden, hrsg. v. W. Rößling, Karlsruhe 1987, S. 11. 35 Vgl. die Prozeßakte, GLA 270/ 936. Die Schadensersatzzahlungen wurden den Nationalsozialisten auf Antrag der NSDAP-Fraktion im April 1933 rückerstattet, vgl. StAKA 1/ H.Reg. 795. 36 Als Bierbrauer verdiente er 1932 4.000,- RM und als Kreisleiter 1933 nur 2.400,- RM. Sein Kreisleitereinkommen stieg dann kontinuierlich auf 10.800,- RM im Jahre 1944, vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. Offensichtlich war es in diesem Zusammenhang auch notwendig, Worch die Badische Staatsbürgerschaft zu bestätigen, was mit einer Urkunde (Privatbesitz Peter Worch) vom August 1932 geschah. 37 Vgl. die Biographie Robert Wagners in diesem Band. 38 Vgl. Fait (wie Anm. 3), S. 218 f. Die damit einhergehende Umstrukturierung der Organisation war in Baden, das schon 1931 als Mustergau galt, bereits vorweggenommen worden, vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 233. 39 Vgl. Fait (wie Anm. 3), S. 219 f. 40 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 416. <?page no="815"?> auch Fähigkeiten in Organisation und Verwaltung. Die Tatsache, daß Willi Worch sich bis Ende 1944 in seinem Amt und in seinem ursprünglichen Kreis hielt, sind Beleg dafür, daß er diese Anforderungen meisterte. Angesichts der von Grill festgestellten Instabilität des Kreisleiterkorps in Baden ist das sicher bemerkenswert, zumal wenn man berücksichtigt, daß Worch einer der wenigen Arbeiter unter den Kreisleitern war. 41 Als in Baden 1936 zur Straffung der Parteiorganisation und auch zur Ausschaltung unqualifizierter Amtsinhaber die Zahl der Kreise von 40 auf 27 reduziert wurde, erhielt Worch, der 1935 die Tochter des besoldeten Stadtrates und »alten Kämpfers« Peter Riedner geheiratet hatte, auch noch den Kreis Ettlingen. 42 Die Eroberung des Elsaß 1940 brachte für den gebürtigen Straßburger zusätzlich für wenige Monate eine Kreisleitertätigkeit im Elsaß, und im Jahre 1942 war er nach eigenen Angaben von Juli bis Dezember in den »Kantonen« Laufenburg, Seltz, Sulz und Weißenburg damit beauftragt, die Rückkehr der nach Südfrankreich evakuierten Bevölkerung vorzubereiten und durchzuführen. 43 Für die Erfüllung ihrer Aufgaben verfügte die Kreisleitung seit 1933 über einen festen Stab von Mitarbeitern. In seinem Kreisamt in der Hans-Thoma-Straße in Karlsruhe unterstanden Worch 1939 24 Amtsleiter und in seinem Kreisgebiet etwa 6.000 politische Leiter. In einem ganzseitigen Artikel im »Führer« vom 15. April desselben Jahres anläßlich des Kreistages in Karlsruhe ließ sich Worch als Mann der Tat, der kein Freund großer Worte sei, porträtieren. In der Erfolgsbilanz wurden für das Vorjahr 940 Parteiveranstaltungen mit 450.000 Besuchern aufgezählt. Sie boten, wie auch die Berichterstattung im »Führer« belegt, ausreichend Gelegenheit für öffentliche Auftritte des Kreisleiters. 44 Die Machtstellung Worchs resultierte aber nicht allein aus seiner Herrschaft über den Parteiapparat, sondern ebensosehr aus seinen Einflußmöglichkeiten auf die regionalen wie kommunalen Verwaltungsstellen. Diese ergaben sich durch sein Mitspracherecht bei der Besetzung der Bürgermeisterposten und der Stadträte seines Kreises sowie durch die Verpflichtung, seine Stellungnahme in allen wichtigen Dingen einzuholen. 45 In Karlsruhe war er darüber Manfred Koch 814 41 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 184 und 435 ff. Grill zählt 1932, vor Worchs Amtsantritt, unter 20 Kreisleitern keinen Arbeiter und 1935 sieben unter 40. Das geringe Ansehen wegen seines niedrigen Bildungsstandes hat Worch offensichtlich getroffen, denn noch in seinem Spruchkammerverfahren betonte er unter Hinweis auf seine 1.000 Bände umfassende Bibliothek, daß er viel gelesen und sich weitergebildet hätte, vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung vom 16. Juli 1948, S. 3. 42 Vgl. Grill (wie Anm. 12), S. 437 und Rauh-Kühne (wie Anm. 24), S. 332. 43 Vgl. Grill (wie Anm 12), S. 468 und GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 44 Vgl. »Der Führer«, 15. April 1939. Zur Besetzung des Kreisamtes vgl. Adreßbuch der Stadt Karlsruhe, 1939. 45 Vgl. Fait (wie Anm. 3), S. 222. Auffällig ist Worchs Engagement bei der Einsetzung eines neuen Oberbürgermeisters in Ettlingen im Jahre 1943. Hier sorgte er mit einer Sondergenehmigung dafür, daß der »alte Kämpfer« und Neureuter Bürgermeister Karl Buchleither trotz fehlender Qualifikation den Posten erhielt. Laut Worch entbehrte die »ehemals schwarze Hochburg Ettlingen [...] in politischer und weltanschaulicher Hinsicht einer klaren Führung«, für die Buchleither in Neureut gesorgt habe. Vgl. Rauh-Kühne (wie Anm. 24), S. 330 und 406. <?page no="816"?> hinaus nach der Machtergreifung bis 1935 Fraktionsvorsitzender der Stadtratsfraktion der NSDAP und nahm danach als Kreisleiter an nahezu jeder Stadtratssitzung aktiv teil. 46 Seine einflußreiche und herausragende Stellung als Kreisleiter spielte Worch in seinem Spruchkammerverfahren herunter, als er feststellte, daß in Karlsruhe »die Gauleitung die politischen Dinge selbst gemacht« habe. »Wenn ich in Mannheim gewesen wäre, dann wäre es [...] bestimmt gut geworden, denn dort hätte ich die erste Rolle gespielt.« In Karlsruhe dagegen »war zuerst der Gauleiter, dann sein Stellvertreter, der Ministerpräsident, die Minister, dann kamen noch viele andere, die mehr Geltungsbedürfnis hatten.« 47 Daß der Kreisleiter bei öffentlichen Parteiveranstaltungen in der Gauhauptstadt nicht so im Vordergrund stand wie in anderen Städten, erscheint selbstverständlich, daß aber Worch deshalb in dem nationalsozialistischen »Triumvirat von Gauleiter, Kreisleiter und Oberbürgermeister« 48 eine geringere Machtfülle als andere Kreisleiter gehabt haben soll, ist eine abwegige Annahme. Worch, der von sich behauptete, kein großer Redner zu sein, bewährte sich dennoch auch beim propagandistischen Teil seiner Aufgabe und erfüllte den Auftrag, Parteimitglieder und Bevölkerung mit der Weltanschaung der »Nazis« zu indoktrinieren. So drohte er im August 1935 der »Reaktion« und dem Katholizismus an, man werde kämpfen, »bis jeder Gegner des nationalsozialistischen Aufbauwillens am Boden liege.« Wenige Tage später sagte er: »Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns und soll erfahren, daß wir keine Saboteure dulden« und »mit den Volksfeinden aufräumen.« 49 In Durlach propagierte er im Mai 1936 den nationalsozialistischen Rassismus, als er mit der Bemerkung, Deutschland habe durch »Erbkranke und geistig Minderwertige [...] vor dem Ruin gestanden«, das neue Gesundheitsgesetz erläuterte. Dieses sichere den »Bestand eines gesunden Nachwuchses [...] im Blick auf die Erfüllung der großen deutschen Mission in der Welt. Es kann und darf nicht mehr sein, daß unser Volk verseucht wird durch ›das auserwählte Volk‹ und deutsche Frauen Freiwild der Juden« seien. 50 Bei der Maikundgebung 1939 sprach der Kreisleiter in Karlsruhe von dem bedrückend engen Lebensraum der Deutschen und verwies darauf, daß »der Führer, dieser einmalige, große Mensch« auch diese Frage lösen werde, »weil die ganze Nation wie ein Mann hinter dem Führer steht.« 51 Daß er mit solchen Reden den kurz darauf von Deutschland entfesselten Krieg zumindest billigend in Kauf nahm, darf man annehmen. Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 815 46 Vgl. die Stadtratsprotokolle 1933 - 1939, StAKA 3/ B 18 a - d. 47 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung am 16. Juli 1948, S. 5. 48 Rebentisch, Dieter, Die politische Stellung der Oberbürgermeister im Dritten Reich, in: Oberbürgermeister, hrsg. v. K. Schwabe (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 13), Boppard am Rhein 1981, S. 125 - 155, hier S. 129. 49 »Der Führer«, 26. und 30. August 1935. 50 »Durlacher Tageblatt«, 27. Mai 1936, zit. nach Asche, Susanne; Hochstrasser, Olivia, Durlach. Staufergründung, Fürstenresidenz, Bürgerstadt (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 17), Karlsruhe 1996, S. 423. 51 »Der Führer«, 2. Mai 1939. <?page no="817"?> Der Karlsruher Kreisleiter gehörte zu jenen NS-Machthabern, die in ihrem Herrschaftsbereich zumindest in Teilbereichen das Unrechtssystem des »Dritten Reiches« forcierten. Seine Propagandareden enthielten das, was von einem Mann in seiner Position erwartet wurde. Auch in seinen Debattenbeiträgen im Stadtrat wandte er sich schroff gegen Sozialdemokraten, Kommunisten, Freimaurer und in besonders entschiedener Weise gegen Juden. Schon am 29. März 1933 hatte die NSDAP-Fraktion im Stadtrat einen von Worch mitunterzeichneten Antrag eingebracht, wonach jegliche Beziehungen zwischen Stadt und jüdischen Unternehmen sowie Ärzten zu unterbinden waren. Immer wieder sprach sich Worch danach gegen die Vergabe von Aufträgen an Juden aus. Besonders bei der Zulassung jüdischer Händler zur Einlösung von Bedarfsdeckungsscheinen für Ehestandsdarlehen bewirkte er, daß im Gegensatz zu anderen Städten auch ehemalige jüdische Frontkämpfer und Kriegsbeschädigte nicht berücksichtigt wurden. 52 Selbst der von der Staatsaufsicht für unrechtmäßig erklärte Beschluß, keine jüdischen Händler zur Karlsruher Messe zuzulassen, wurde auf Drängen Worchs aufrechterhalten. Der Kreisleiter beharrte darauf, sich nur einer Dienstanweisung des Gauleiters zu beugen. 53 Im November 1933 billigte Worch einem Juden einen Auftrag zu, weil dieser besonders günstig war. Er drohte jedoch zugleich: »Wenn es aber an der Zeit ist, werden sie alle vernichtet werden.« 54 Wenige Monate später, im März 1934, sagte er, »es müsse der Zustand eintreten, daß jeder Deutsche sich schäme, in ein jüdisches Geschäft zu gehen«, und im Juli 1937 forderte er, »die Geschäfte der Kaiserstraße müssen arisiert werden.« 55 Worch förderte mit dieser Politik von Anfang an massiv die Entstehung eines antisemitischen Klimas in der Stadt. Differenzierter als die unerbittlich benachteiligten und bedrohten Juden behandelte der Kreisleiter die politischen Gegner. Am 9. Mai 1933 führte er aus: »Die sozialdemokratischen Führer [haben] das Gift des Marxismus in das Volk hineingetragen und damit die Herzen der Deutschen zerfressen.« Da die weitere Entwicklung dahin gehe, »daß es keinen Marxismus [...], ebenso keine Parteien mehr« gebe, werde er »nicht zulassen, daß die Sozialisten in den Kommissionen mitarbeiten.« 56 Einen Monat später erklärte er im Zusammenhang mit der Besetzung städtischer Ausschüsse grundsätzlich: »Wenn man in Deutschland noch Parteien habe und auch im Rathaus, so könne das nicht von langer Dauer sein. Das Ziel der Nationalsozialisten sei ein in sich geschlossenes Volk, das von jeder Parteieinrichtung befreit sein solle. [...] Er möchte erklären, daß es den Nationalsozialisten überhaupt sehr schwer falle, an andere Parteien noch Arbeit zu verteilen.« 57 Eine Woche darauf forderte er die Manfred Koch 816 52 In der Stadtratssitzung vom 12. April 1934 wurde festgestellt, daß Karlsruhe »die einzige Stadt sei, die so streng durchfahre.« Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46) 53 Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzung vom 8. Dezember 1933. 54 Stadtratsprotokolle (wie Anm 46), Sitzung vom 23. November 1933. 55 Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzungen vom 8. März 1934 und 1. Juli 1937. 56 Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzung vom 9. Mai 1933. 57 Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzung vom 8. Juni 1933. <?page no="818"?> Fraktion der SPD zum Rücktritt auf und drohte, »warten Sie nicht, bis durch andere Maßnahmen Ihre Partei zu diesem Schritt gezwungen wird. [...] Ich sage Ihnen das nicht, weil ich ein Grobian bin. Die Situation ist aber so, daß es gesagt werden muß. Man schämt sich für Sie, daß Sie so loyal behandelt werden müssen, und daß Sie sich das gefallen lassen.« 58 Worch verkehrte hier bewußt die Fronten, denn Anlaß zur Scham hätte er gehabt, wenn man bedenkt, daß zur gleichen Zeit viele Sozialdemokraten und Kommunisten unrechtmäßig in Konzentrationslagern festgehalten wurden. Ganz offensichtlich hatte Worch sein Gerechtigkeitsgefühl hier völlig verlassen. Tatsächlich schieden am 30. Juni die SPD-Vertreter nach der Auflösung der Partei aus dem Bürgerausschuß und dem Gemeinderat der Stadt aus. Gegenüber der Zentrumspartei erklärte sich Worch dagegen bereit, ihre politisch zuverlässigen Abgeordneten als Hospitanten der NSDAP aufzunehmen. 59 Hier dokumentierte sich der große Einfluß des Kreisleiters auf die Zusammensetzung der Gemeinderatsgremien, der 1935 im gesamten Kreisgebiet wirksam wurde, als nach dem Erlaß der Deutschen Gemeindeordnung alle Stadt- und Gemeinderäte umgebildet werden mußten. Ohne Zustimmung des Kreisleiters gelangte niemand in ein solches Amt, wobei Worch sowohl in Karlsruhe als auch in Durlach versuchte, durch die Einbeziehung angesehener Bürger eine breite Legitimationsbasis für das nun nur noch beratende Gremium zu schaffen. 60 Bezüglich der Entlassung politischer Gegner aus dem Dienst der Stadt Karlsruhe in der Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums zeigte sich Worch konsequent auf der Linie der Partei. Im Juni 1934 bemerkte er, »wenn die öffentlichen Verwaltungen in dem Maße, wie es von der NSDAP erwartet worden sei, [...] die ›Schwarzen‹ und ›Roten‹ ausgeschieden hätten, wären heute keine alten Kämpfer [...] mehr arbeitslos. [...] Der Nationalsozialismus sei mit dem Marxismus unversöhnlich, versöhnlich aber mit dem ehemals marxistisch eingestellten Arbeiter, wenn er ehrlich umgebaut habe.« 61 Als früheres Mitglied der Arbeiterbewegung glaubte Worch, die Arbeiter könnten, wie er auch, den Weg zum Nationalsozialismus beschreiten, denn die Ideen des Sozialismus seien darin enthalten. 62 Aus Worchs Äußerungen ist nicht zu entnehmen, daß er sich bewußt war, mit seinem Austritt aus der Gewerkschaft und der Hinwendung zur völkischen Ideologie 1923 eine radikale politische Kehrtwende vollzogen zu haben. Mit Systemgegnern bekam es Worch von 1937 bis 1944 auch in seiner Eigenschaft Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 817 58 Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzung vom 16. Juni 1933. 59 Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzung vom 17. August 1933. 60 Vgl. Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzung vom 17.Oktober 1935 und Asche/ Hochstrasser (wie Anm. 49), S. 407. 61 Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzung vom 21. September 1933. Tatsächlich hatte die Stadt 124 Mitarbeiter entlassen und war damit anderen Städten und Staatsbehörden »weit voraus.« Diesen Entlassungen standen bis März 1934 die Einstellung von 229 Nationalsozialisten gegenüber, vgl. Bräunche (wie Anm.34), S. 22. Im Spruchkammerverfahren behauptete Worch, im Zusammenwirken mit dem Oberbürgermeister Jäger habe er dafür gesorgt, daß nur einige wenige städtische Mitarbeiter wirklich entlassen worden seien. 62 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung vom 16. Juli 1948, Blatt 1. <?page no="819"?> als Beisitzer des Volksgerichtshofs zu tun, wozu er auf Vorschlag des Gauleiters Wagner berufen wurde. 63 Er selbst gab an, an einem Hochverratsprozeß und mehreren Landesverratsprozessen, wovon einer mit einem Todesurteil endete, teilgenommen zu haben. Einen weiteren Prozeß unter Leitung des Volksgerichtshofvorsitzenden Freisler gegen elf angeklagte Elsässerinnen und Elsässer wegen der Organisierung von Fluchthilfe für französische Kriegsgefangene hatte Worch wohl bewußt verschwiegen, obwohl dieser erst am 26. Januar 1943 in Straßburg stattgefunden hatte und sein ehemaliger Karlsruher Bürgerausschußkollege von der Zentrumspartei Reinhold Frank als Verteidiger aufgetreten war. In diesem Verfahren wurden fünf Todesurteile und sechs langjährige Haftstrafen ausgesprochen. Diese Todesurteile wurden nicht vollstreckt. 64 Die Verstrickung in die nationalsozialistische Unrechtsjustiz als Beisitzer des Volksgerichtshofes hat Worch zwar heruntergespielt, aber nicht abgestritten, sie ist auch aktenkundig. Dagegen hat er jeden Verdacht zurückgewiesen, und das Gegenteil ist nicht nachweisbar, von dem Abtransport der Sozialdemokraten um Ludwig Marum aus Karlsruhe in das KZ Kislau 1933 und der Ermordung Marums 1934, vom Judenpogrom 1938, von der Judendeportation 1940 oder der reichsweiten Verhaftungsaktion »Gitter« nach dem 20. Juli 1944 vorher informiert gewesen zu sein. 65 In der Nichteinweihung Worchs in widerrechtliche oder verbrecherische landes- oder reichsweite Aktionen zeigen sich zum einen die Grenzen der Macht des Kreisleiters, sie dokumentieren zum anderen zugleich das Mißtrauen der Gauleitung ihm gegenüber. Dieses Spannungsverhältnis resultierte sowohl aus Worchs Kritik an Wagner aus der Zeit vor der Machtergreifung, aber vor allem wohl aus vielen Details der Amtsführung Worchs, dem man in zunehmendem Maße bürgerlichen Objektivismus und zu viel Kompromißbereitschaft bei der Durchsetzung der Parteiinteressen vorwarf. Mitarbeiter der Kreisleitung bestätigten, daß er manche Anordnung der Gauleitung verschleppte oder unterlief. 66 Offen aufgelehnt hat er sich nachweislich im Stadtrat im September 1934 gegen die von der Gauleitung angeordnete Erhöhung Manfred Koch 818 63 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. Nach Unterlagen im ehemaligen Berlin Document Center gehörte Worch auch ab dem 1. April 1944 dem 1. Senat unter dem Vorsitzenden Roland Freisler an, vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten ZJ 160 A 4. Nach seinen eigenen Angaben hatte Worch 1942 wegen der Bombardierungen Karlsruhes um seine Entlassung als Beisitzer gebeten. 64 Vgl. BA, Dahlwitz-Hoppegarten ZC 19861 und Schreiben einer damals Angeklagten vom 5. März und 17. Juni 1995 im Archiv der Forschungsstelle Widerstand gegen den Nationalsozialismus im deutschen Südwesten, Universität Karlsruhe. 65 Vgl. Marum-Lunau, Elisabeth; Schadt, Jörg (Bearb.), Ludwig Marum. Briefe aus dem Konzentrationslager Kislau, 2. Aufl. Karlsruhe 1988 und Werner, Josef, Hakenkreuz und Judenstern. Das Schicksal der Karlsruher Juden im Dritten Reich (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs 9), Karlsruhe 1990. 66 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Aussage Eugen Karchers, Angestellter der Kreisleitung Karlsruhe, vom 1. Oktober 1947. Danach hat Worch Frontbriefe mit defätistischem Inhalt entgegen eindeutigen Anweisungen nicht zur Bearbeitung an die Gestapo weitergeleitet, sondern vernichtet. Außerdem habe er sich für eine anständige Behandlung der Zwangsarbeiter eingesetzt. <?page no="820"?> der Bürgermeistergehälter, die lange propagierten Zielen der Partei widersprächen. Worch mußte jedoch in der folgenden Sitzung kleinlaut erklären, es habe ihm ferngelegen, an vorgesetzten Parteidienststellen Kritik zu üben. 67 Bei der Auszeichnung eines Karlsruher Dentallabors als nationalsozialistischer Musterbetrieb setzte er sich allerdings sogar gegen Widerstand aus Berlin durch, obwohl der Leiter des Betriebes kein Nationalsozialist war. 68 In einigen weiteren Fällen hat Worch sich für Karlsruher und Ettlinger Betriebe eingesetzt, indem er deren fähige, aber nicht nationalsozialistische Betriebsleiter im Amt hielt und unterstützte. Der 1942 eingesetzte Leiter der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik berichtete, daß ihm andere »Wirtschaftsführer« immer wieder gesagt hätten, »daß bei ihren Kreisleitern eine solche unvoreingenommene Einstellung wie die des Karlsruher Kreisleiters Worch einfach undenkbar sei.« 69 Diese Einschätzung bestätigt Worchs Vorgehen gegen einen nationalsozialistischen Betriebsinhaber, den er 1944 wegen Schiebereien im Elsaß als Betriebsleiter gegen den Widerstand von Parteidiensstellen nach längerem Ringen absetzte. 70 Worchs Engagement für die regionale Wirtschaft galt, soweit dies erkennbar ist, immer zuerst den einzelnen Firmen und nicht den Interessen der Partei oder gar einzelner Parteigänger. Man kann hierin einen Schwerpunkt seiner Arbeit als Kreisleiter bestimmen. Ihm, der selbst Arbeitslosigkeit erlebt hatte, ging es vor allem darum, den Menschen in seinem Kreis Arbeit zu verschaffen. Aufgrund der besonderen Bedingungen in Baden, das als Grenzland teilweise in der entmilitarisierten Zone lag, war das bis 1936 nicht zufriedenstellend gelungen. So sprach der Kreisleiter in Ettlingen im August 1936 über die wirtschaftliche »Not, die hier im Albtal besteht.« 71 Verbunden mit der Sorge um die Arbeitsplätze war auch Worchs ständiger Einsatz für den Bau von billigem und gesundem Wohnraum, worin er eine Möglichkeit zur »Ausrottung des Kommunismus« sah. 72 Mit seinem Einsatz für die Wirtschaft seines Kreisgebietes profilierte er sich als ein eher moderater, nicht immer parteikonformer Kreisleiter. Letztlich erfüllte er damit den Auftrag, die Verbindung mit der Bevölkerung zu halten, dieser vor Augen zu führen, daß das Wohlergehen der »Volksgenossen« ein Anliegen der NSDAP war. Dies schuf die Voraussetzung, die Bevölkerung erfolgreich zu »bearbeiten« mit dem Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 819 67 Vgl. Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzungen vom 27. September und 4. Oktober 1934. Noch am 9. Mai 1933 hatte Worch im Stadtrat geäußert, es sei eines der Ziele der NSDAP, die hohen Spitzengehälter zu kürzen. 68 Mitteilung von Hanne Landgraf, die seinerzeit in dem Betrieb arbeitete, an den Verfasser. 69 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Aussage von Dr. Ing. Ferdinand Busse von der Deutschen Waffen und Munitionsfabrik und von Dir. Carl Abelt von der Firma Gritzner und Kayser in Durlach. 70 Dies ist einer von mehreren Fällen, die Alex Möller in seinem umfangreichen Schriftsatz zur Entlastung des Kreisleiters Worch schon am 6. Juni 1945 der Kommandantur Calw, Chef de Police, bekannt gemacht hatte, vgl GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 71 Zit. nach Rauh-Kühne (wie Anm. 24), S. 303. 72 Stadtratsprotokolle (wie Anm. 46), Sitzung vom 14. Dezember 1933. Vgl. auch ebenda, Sitzung vom 10. Juli 1937 sowie Worchs Aussagen im Spruchkammerverfahren. <?page no="821"?> Ziel, den Bestand der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu sichern. 73 Durchaus funktional erscheinen aus dieser Sicht auch die in zahlreichen Einzelfällen belegte Hilfsbereitschaft Worchs für ehemalige Sozialdemokraten, Kommunisten, Kirchenangehörige sowie andere, die durch die bestehenden Verhältnisse in Bedrängnis geraten waren. So hat er - allerdings vergeblich - versucht, die behinderten Kinder eines Ehepaares aus Karlsruhe vor der Vergasung zu retten. 74 Er hat sich für zwei katholische Pfarrer eingesetzt und sie vor Verhaftung bzw. KZ-Haft bewahrt. 75 Als er nachträglich von der Aktion »Gitter« erfuhr, hat er einige Karlsruherinnen und Karlsruher aus dem Untersuchungsgefängnis freibekommen, bevor sie nach Dachau abtransportiert wurden. 76 Alex Möller erhielt von ihm eine Warung über seine kurz bevorstehende Verhaftung. Möller konnte daraufhin Karlsruhe verlassen und untertauchen. 77 Auf diese und andere Handlungen gründete Worch seine Selbsteinschätzung, ein Nationalsozialist eigener Prägung zu sein, offensichtlich ohne daß ihm dabei bewußt wurde, wie sehr er gerade damit letztlich das nationalsozialistische Unrechtssystem gestützt hat. Angesichts der nicht eben kleinen Zahl von »Entlastungsschreiben«, die ihm eine »menschliche Haltung« bescheinigen, stellt sich die Frage, warum Worch aus dem für ihn schon früh klar erkennbaren Unrecht der NS-Herrschaft keine anderen Schlußfolgerungen zog, als im Einzelfall Hilfe zu gewähren. 78 Alex Möller berichtete, daß Worch 1944 des öfteren davon gesprochen habe, »den ganzen Bettel hinzuhauen.« Er habe ihm aber zugeredet, dies nicht zu tun, da mit einem »scharfen Kreisleiter« als Nachfolger die Situation für die nicht nationalsozialistisch eingestellte Bevölkerung Karlsruhes noch prekärer würde. 79 Worch wurde jedoch einer eige- Manfred Koch 820 73 Vgl. die bei Fait (wie Anm. 3), S. 224 zitierte Dienstvorschrift der NSDAP von 1932. 74 Vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Aussage der Familie Wilhelm Wolf vom 2. April 1947. 75 Es handelt sich um den Ettlinger Kaplan Hermann Müller, den Worch 1942 vor dem Abtransport in das KZ aus dem Karlsruher Untersuchungsgefängnis herausholte, und den Pfarrer Franz Anton Fränznick, der schon 1939/ 40 in Karlsruhe wegen regimefeindlicher Predigten aufgefallen war. Vgl. Hehl, Ulrich von (Bearb.), Priester unter Hitlers Terror. Eine biographische und statistische Erhebung (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte A 37), Mainz 1984, Sp. 456, Sp. 418. 76 Vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Aussagen von Friedrich Töpper vom 7. Mai 1948 und Clara Siebert vom 12. März 1948. Seiner Behauptung, die im Spruchkammerverfahren auch der Oberbürgermeister Töpper vertrat, er habe auch für die in Dachau einsitzenden Karlsruher Sozialdemokraten eine beschleunigte Entlassung erreicht, haben betroffene Karlsruher Kommunisten aber entschieden widersprochen. Vgl. die Stellungnahme von drei ehemaligen Dachauern in der »Süddeutschen Allgemeinen Zeitung«, 28. August 1948. 77 Vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Schriftsatz Möller vom 6. Juni 1945. Möllers Dankbarkeit für den Schutz auch seiner Familie durch Worch war anhaltend und reichte nach Angaben von Peter Worch bis in die 1950er Jahre. 78 Auch im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Beisitzer des Volksgerichtshofs war ihm die Willkür der Gestapo aufgefallen, die die vom Gericht Freigesprochenen außerhalb des Gerichtsgebäudes dennoch in »Schutzhaft« nahm. Vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung vom 16. Juli 1948, S. 8. 79 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Schriftsatz Möller vom 6. Juni 1945. <?page no="822"?> nen Entscheidung enthoben, da ihn Gauleiter Wagner zum Jahresende 1944 von seinem Posten als Kreisleiter entfernte. Die Ablehnung des Volkssturmes und dessen zögerliche Aufstellung, von der Möller berichtete, haben vermutlich den letzten Ausschlag für diesen Schritt gegeben. 80 Worch verließ dann mit seiner Familie und der Frau Alex Möllers und deren Kindern das durch Bombenangriffe stark zerstörte und weiter gefährdete Karlsruhe. In Frauenalb fanden sie in der Gauschule Unterschlupf. In der Kluft eines Hausmeisters übergab Worch dann Anfang April 1945 zusammen mit der französisch sprechenden Frau Möller den heranrückenden französischen Truppen den kleinen Ort. 81 Wenige Tage später, am 26. April 1945, verhafteten die Franzosen den ehemaligen Karlsruher Kreisleiter Worch und brachten ihn in das Amtsgefängnis Calw. Dort erlitt er durch einen Pistolenhieb in den Nacken eine offene Wunde mit nachfolgender Blutvergiftung. Ende Oktober 1945 wurde er in das Internierungslager nach Altenhengstenstett verlegt, drei Monate später nach Calw zurückgebracht, um Ende Mai 1946 nach Balingen und am 7. September 1946 aus französischem Gewahrsam in das amerikanische Internierungslager nach Ludwigsburg überführt zu werden. Dort diagnostizierte der Lagerarzt im Dezember eine »doppelseitige facult. offene Spitzen-Oberfeld Tbc mit Verdacht auf Caverne« und zudem ein »tuberkulöses Stimmbandgeschwür«. 82 Schwere körperliche Arbeit, schlechte Haftbedingungen und erkrankte Mitgefangene hatten zu der Infektion geführt, derentwegen Worch arbeitslageruntauglich war und ins Lagerlazarett kam, aus dem er im Juni 1948 zu seinem ersten Verfahren vor der Ludwigsburger Lagerspruchkammer vorgeführt wurde. Der Kreisleiter Worch, nach seiner Funktion und Zugehörigkeit zum Korps der politischen Leiter im Dritten Reich »Hauptschuldiger«, wurde als »Minderbelasteter« eingestuft und erhielt kein Sühne auferlegt. So gelangte er aufgrund einer Gesetzesänderung von 1948 automatisch in die Gruppe der »Mitläufer«. In der Urteilsbegründung zeigte sich die Kammer beeindruckt von der Zahl der Entlastungszeugen aus dem Lager der politischen Gegner des Nationalsozialismus. Zur Begründung des Urteils machte sie sich Worchs Selbsteinschätzung, ein »überzeugter Nationalsozialist eigener Prägung« gewesen zu sein, zu eigen. Der Spruch bescheinigte Worch, vor und nach 1933 Antipode des Gauleiters Wagner gewesen zu sein und »der Gewaltherrschaft des NS keine Unterstützung gewährt, sondern jede Gewaltanwendung abgewehrt« zu haben. Ihm wurde sogar zu gute gehalten, »eine Fülle von fortgesetzten Widerstandshandlungen gegen die Gewaltherrschaft des NS« erbracht zu haben. 83 Dieses Urteil der Lagerspruchkammer - diesen Kammern Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 821 80 Schriftsatz Möller (wie Anm. 77). 81 Vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung vom 16. Juli 1948, S. 9. 82 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Attest vom 13. Dezember 1946. 83 Spruch der Kammer des Ludwigsburger Internierungslagers, GLA Zentrale Spruchkammer <?page no="823"?> wurde nachgesagt, »keine allzu strengen Maßstäbe anzulegen« 84 - war selbst für das Jahr 1948 überraschend milde. In den Augen der Öffentlichkeit galten die Kreisleiter als »Große« des NS-Systems, die man noch 1945/ 46 »hängen« sehen wollte. Als sie sich 1948 vor den Kammern verantworten mußten, war der Prozeß der Entnazifizierung längst in Mißkredit geraten, das Interesse an der politischen Säuberung stark geschwunden. Worch profitierte somit wie viele andere Hauptschuldige von einer »forgive and forget«-Haltung 85 und der Bereitschaft der Bevölkerung, die NS-Zeit und das Bewußtsein der eigenen Verantwortlichkeit vorerst zu vergessen. Der Spruch gegen Worch hatte dennoch keinen Bestand. Bereits am Tag nach der Verhandlung legte der Öffentliche Ankläger Berufung ein und begründete diese mit der durch die führende Stellung gegebenen Verantwortlichkeit Worchs, die durch nichts gemindert sei. Noch deutlicher wurde ein »Interner Bericht«, der in den Akten enthalten ist und der Spruchkammer in Ludwigsburg vorwirft, das dortige Verfahren nur auf Entlastungsmomente angelegt zu haben, um »aus einem aktiven Nationalsozialisten im wahrsten Sinn des Wortes einen Mitlaeufer zu konstruieren«. Dagegen sei festzuhalten, daß Worch aufgrund der formalen Belastung »Hauptschuldiger« sei. Durchaus nachvollziehbar wurde dargetan, Kreisleiter sei niemand geworden, der »nicht voll und ganz auf dem Boden der nationalsozialistischen Idee stand[en], in ihrem Sinn wirkte[n] und sich für sie gaenzlich einsetzte[n].« Zudem habe der Betroffene als Beweggründe für die entlastenden Handlungen in keinem Fall antinationalsozialistische Motive, sondern nur »fanatische Rechtsgründe« angeführt. Daher müßten die »fortgesetzten Widerstandshandlungen [...] in gaenzlich anderem Licht« gesehen werden. Trotz aller »Entlastungsschreiben«, die dem Betroffenen »menschliches Verhalten« bescheinigten, sei es aus menschlichen und politischen Gründen nicht vertretbar, sowohl Blockhelfer wie Kreisleiter durch die Einstufung als »Mitläufer« auf dieselbe Stufe zu stellen. Zudem bezögen sich die Ereignisse, die die beiden Hauptentlastungszeugen - der Oberbürgermeister Töpper und der Landtagsabgeordnete Alex Möller - schilderten, nur auf die Phase des nationalsozialistischen Niedergangs 1943/ 44. 86 In der Karlsruher Öffentlichkeit löste der Spruch, der den ehemaligen Kreisleiter zum »Mitläufer« stempelte, keine Entrüstung aus. Unkommentiert teilten ihn die »Badischen Neuesten Nachrichten« Anfang August 1948 mit und benannten auch die sozialdemokratischen Entlastungszeugen. 87 Dies führte im Gegensatz zu den öffentlichen Reaktionen zu heftigen innerparteilichen Debatten bei der Karlsruher Manfred Koch 822 B/ Sv/ 1969. In dem ähnlich gelagerten Fall eines bayerischen Kreisleiters hatte die zuständige Lagerspruchkammer die Einstufung in die Gruppe der »Belasteten« ausgesprochen, vgl. Fait (wie Anm. 3), S. 278 ff. 84 Woller, Hans, Gesellschaft und Politik in der amerikanischen Besatzungszone. Die Region Ansbach und Fürth, München 1986, S. 153. 85 So eine amerikanische Analyse vom 15. Juli 1947, zit. nach Fait (wie Anm. 3), S. 233. 86 »Interner Bericht«, Karlsruhe, 30. August 1948, GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 87 »Badische Neueste Nachrichten«, 5. August 1948. <?page no="824"?> SPD, und Töpper wie Möller sahen sich massiven Angriffen aus SPD und KPD ausgesetzt, die sie aber beide politisch unbeschadet überstanden. 88 Am 16. und 17. Januar 1950 verhandelte in Karlsruhe die Zentralberufungskammer den Fall des Karlsruher Kreisleiters. 89 Sie kam zu dem Schluß, daß Worch »Belasteter« sei. Als Sühnemaßnahme wurde auf ein Jahr Sonderarbeit erkannt, die durch die über dreijährige Internierungshaft als verbüßt gelte. Zudem seien 10% des Vermögens, mindestens aber 100,- DM einzuziehen. Wegen der »mißlichen Vermögenslage« wurden die Verfahrenskosten für den Betroffenen auf 250,- DM für beide Verfahren herabgesetzt. Der Betroffene, so wurde begründet, habe als Kreisleiter wie als Mitglied des Volksgerichtshofs »der nat.soz. Gewaltherrschaft außerordentliche politische und propagandistische Unterstützung gewährt« und sich »als überzeugter Anhänger der nat.soz. Gewaltherrschaft, insbesondere der Rassenlehre erwiesen.« Mit Rücksicht auf seine Hilfsbreitschaft für »viele in Schwierigkeiten befindlichen Volksgenossen« habe man Worch vom »Hauptschuldigen« zum »Belasteten« herabgestuft. 90 Damit korrigierte die Berufungskammer entgegen der damals üblichen Praxis den Spruch der ersten Instanz durch eine höhere Einstufung und Bestrafung. 91 Mit ihrer Beurteilung Worchs kam die Kammer auch ohne Kenntnis seiner hier genauer nachgewiesenen, seit 1923 anhaltenden Aktivitäten für die NSDAP zu einem für die damaligen Verhältnisse angemessenen Spruch. Die Kammer verneinte damit auch die Selbsteinschätzung Worchs, ein Nationalsozialist eigener Prägung gewesen zu sein. Die Mitglieder der Spruchkammer werteten dies als Verteidigungsstrategie und naiv anmutenden Glauben, einen Nationalsozialismus mit »menschlichem Antlitz« verwirklichen zu können. Aus der historischen Distanz muß festgehalten werden, daß Willi Worch sich vor 1933 mit seinem Einsatz für die NSDAP als entschiedener Gegner der Demokratie betätigte, mit seiner Bereitschaft zur physischen Gewalt einer ihrer Totengräber auf der lokalen Ebene wurde. Nach 1933 förderte er durch seine Politik als Stadtrat und Kreisleiter massiv den nationalsozialistischen Antisemitismus und funktionierte so in seinem Wirkungsbereich - wie so viele andere - als willfähriger Wegbereiter des Holocausts. Der Versuch, sich in seinem Verfahren unter Hinweis auf die ärztliche Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 823 88 Möller konnte mit Erfolg ein Parteiausschlußverfahren abwehren, und Töpper rechtfertigte seine Aussage in einer veröffentlichten Stellungnahme. Vgl. Möller, Alex, Genosse Generaldirektor, München, Zürich 1978, S. 46 und »Süddeutsche Allgemeine Zeitung«,18. und 25. August 1948. Von kommunistischer Seite wurde Töpper darauf vorgehalten, daß Worch im August 1944 zwar Töpper und seine Parteifreunde Deissler und Kunigunde Fischer sowie die frühere Landtagsabgeordnete des Zentrums Clara Siebert vor dem Abtransport nach Dachau bewahrt habe, aber keinerlei Einfluß auf die Entlassung aus Dachau habe nehmen können, vgl »Süddeutsche Allgemeine Zeitung«, 28. August 1948. 89 Im September 1949 war Worch laut Attest wegen seines schlechten seelischen und körperlichen Zustandes verhandlungsunfähig, vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 90 Spruch der Zentralberufungskammer III, Karlsruhe vom 17. Januar 1950, GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969. 91 Im Fall des erwähnten bayerischen Kreisleiters erbrachte die Berufung eine Herabstufung zum Minderbelasteten, vgl. Fait (wie Anm. 3), S. 281. <?page no="825"?> Behandlung durch einen Juden 1932/ 33 und den Kauf von Benzin bei einer Nichtarierin »Alibijuden« zu verschaffen, war ein durchaus gängiges Verhaltensmuster. Es belegt in seiner Unverfrorenheit zugleich aber das Ausmaß der Verdrängung oder der Uneinsichtigkeit in die Verstrickung in das und die Mitverantwortung für das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen. Während der Zeit im Internierungslager blieben die Kontakte zur Familie, die weiter in Frauenalb lebte, auf wenige Besuche seiner Frau z.T. mit den Kindern beschränkt. 92 Die vierköpfige Familie bewohnte zwei kleine Räume und lebte von einem Reichsmark-Sparbuch der Mutter, das bis zur Währungsreform aufgezehrt war, danach halfen Freunde und Bekannte. Eine Vermögensaufstellung der zuständigen Gemeindeverwaltung Schielberg vom März 1950 ergab, daß lediglich Sachwerte (Möbel, Hausrat, Kleidung, Schmuck) im Wert von etwa 6.500,- DM vorhanden waren. Zu Recht wurde aber vermutet, daß Worch noch irgendwo Möbel und Hausrat untergestellt habe, die bei dem Umzug nach Karlsruhe tatsächlich wieder zur Verfügung standen. Auch spätere Nachforschungen ergaben, daß Worch über keinerlei Vermögen verfügte. Entgegen der Unterstellung in dem nach der Machtergreifung kursierenden Spottvers »Worch, Worch, horch, horch! Wo hast Du Deine Häuser her, es gibt doch keine Bonzen mehr! « hatte Worch seine Position im »Dritten Reich« nicht zur persönlichen Bereicherung genutzt. 1951 wurde ihm gestattet, seine Sühneleistung und die Verfahrenskosten in Monatsraten von DM 10,- abzubezahlen. Bis Februar 1954 waren die Verfahrenskosten bezahlt, mit den Sühnezahlungen ließ Worch sich jedoch - trotz eines gesicherten Einkommens - bis zum April 1961 Zeit, ohne daß ihn die Vollstreckungsbehörde besonders bedrängt hätte. Unmittelbar nach dem Ende des Spruchkammerverfahrens in Ludwigsburg wurde Worch aus der Internierungshaft nach Karlsruhe entlassen, wo er ein Zimmer zugewiesen bekam. Tatsächlich lebte er jedoch in der beengten Notunterkunft bei seiner Familie in Frauenalb, bis er im Juni 1950 nach Karlsruhe umzog. An den Aufbau einer neuen beruflichen Existenz war aus gesundheitlichen Gründen zunächst nicht zu denken. Erst Ende 1949 konnte der Familienvater eine Vertretertätigkeit aufnehmen, um den Unterhalt für sich und seine Familie zu verdienen. Für verschiedene Firmen wirkte er im mittelbadischen Raum, praktisch seinem erweiterten ehemaligen Kreisleitungsgebiet, mit wachsendem Erfolg. Die politische Vergangenheit wirkte sich auf seine Tätigkeit keineswegs negativ, sondern teilweise sogar positiv aus. Worch mußte, trotz wiederkehrender Erkrankungen, fast bis zu seinem Tod mit 76 Jahren am 23. November 1972 seinen Beruf ausüben, da er keine den Lebensunterhalt sichernden Rentenansprüche hatte. 93 Manfred Koch 824 92 Dazu und zum folgenden vgl. GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969 und Angaben Peter Worchs (wie Anm. 4). Man begnügte sich 1957 mit der Feststellung, daß Worch als freiberuflicher Vertreter mit Beitreibungsmaßnahmen schwer zu fassen sei. Alex Möller hatte sich 1953 sogar für eine Aufhebung der Vollstreckung eingesetzt. 93 Während des »Dritten Reiches« waren entsprechende Zahlungen in die Parteikasse geflossen und <?page no="826"?> So wie die Geschäftspartner - sofern sie davon wußten - bereit waren, über die politische Belastung Willi Worchs hinwegzusehen, taten dies wohl auch die Nachbarn. Auch die massive Ablehnung seitens der SPD und der KPD, wie sie in der geschilderten Reaktion auf den Spruch der Ludwigsburger Lagerkammer deutlich geworden war, legte sich allmählich und wich einer versöhnlicheren Haltung. Diese hatte bereits die Berichterstattung der »Badischen Neuesten Nachrichten« über die Berufungsverhandlung vom Januar 1950 vorgegeben. Dort überwog in der Tendenz - trotz aller Nennung der schweren Belastungen des Betroffenen - die Betonung von Worchs Bereitschaft, vom Regime Bedrängten zu helfen und die eingangs zitierten positiven Erwartungen für die Zukunft dieses Mannes. 94 So konnte im Jahre 1954 der ehemalige Gewerkschafter und Betriebsrat wieder Mitglied einer Organisation der Arbeiterbewegung werden. Er trat in den Ortsausschuß Karlsruhe der Arbeiterwohlfahrt (Mitgliedsnummer 2.995) ein, ohne jedoch eine erkennbare Aktivität zu entfalten. 95 Von einem Mann, der zweimal in seinem Leben mit politischem bzw. sozialpolitischem Engagement Schiffbruch erlitten hatte, war dies auch nicht zu erwarten, zumal Worch alle Hände voll zu tun hatte, nach dem politischen Scheitern, das zugleich ein wirtschaftliches war, die Existenz seiner Familie zu sichern. So blieben denn wenige unverbindliche Gespräche mit Mitgliedern des »Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten« ohne Folgen. Die Wiederaufnahme freundschaftlicher Bindungen zu ehemaligen Parteigenossen - über die verwandtschaftlichen Beziehungen zu seinem Schwiegervater hinaus - hat Worch nicht gesucht oder gepflegt. Die Lektüre der Soldatenzeitung, die der Schwiegervater mitbrachte, lehnte er strikt ab. 96 Seine Distanzierung vom dem »Unglücksverein der NSDAP« findet sich etwa in folgender Formulierungen: »Einer Sache, [...] die unser Volk ins Unglück gestürzt hat, [...] der trauere ich nicht nach. Von dieser Idee blieb nichts übrig.« Gleichzeitig betonte Worch aber, er habe »aus Idealismus« mitgemacht und »das Unheil, das durch den Nationalsozialismus über die Welt gekommen sei, nicht vorausgeahnt« 97 , und kritisierte damit lediglich den »realexistierenden« Nationalsozialismus, nicht aber dessen ideologische Grundlage. Selbst wenn Worch in seinem Schlußplädoyer im Januar 1950 der Bonner Regierung, »egal ob Adenauer oder Schumacher« jeden Erfolg wünschte 98 , so weist ihn das bestenfalls als einen Mann aus, den die Geschichte gelehrt hat, die Demokratie als die bessere Staatsform zu akzeptieren, nicht aber als überzeugten Demokraten. Willi Worch, NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 825 nun verloren. 94 Wie Anm. 1 95 Mitgliedsbuch der Arbeiterwohlfahrt Nordbaden e.V., Ortsausschuß Karlsruhe für Willi Worch, Privatbesitz Peter Worch. 96 Angaben von Peter Worch (wie Anm. 4). 97 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung vom 16. Juli 1948. 98 GLA Zentrale Spruchkammer B/ Sv/ 1969, Protokoll der Verhandlung vom 16./ 17. Januar 1950. <?page no="827"?> Bibliographie Quellen Mit der Zerstörung des Karlsruher Rathaus durch einen Bombenangriff am 27. September 1942 sind alle dort gelagerten Akten vernichtet worden. Nur wenige Akten im Stadtarchiv Karlsruhe geben daher Auskunft über Worchs Wirken in der Stadt. Die Akten der Kreisleitung wurden vor der Flucht der Funktionsträger vor den anrückenden französischen Truppen vernichtet. Die zentrale Quelle zum Leben Willi Worchs stellt daher die Spruchkammerakte im Generallandesarchiv dar. Daneben enthalten die Stadtratsprotokolle der Stadt Karlsruhe für die Jahre 1933 - 1939 mit zahlreichen Wortmeldungen Worchs wichtiges Material. Hinweise geben auch die Berichte über Worchs öffentliche Auftritte in »Der Führer«. Spuren Worchs finden sich in weiteren Akten im Generallandesarchiv (Polizeiakten) und im ehemaligen Berlin Document Center. Zeitzeugengespräche mit dem ältesten Sohn Worchs lieferten zusätzliche Informationen. Literatur Eine biographische Abhandlungen über Willi Worch existiert bisher nicht. Er wird lediglich in verschiedenen stadtgeschichtlichen Publikationen erwähnt. Manfred Koch 826 <?page no="828"?> Die Entdeckung der Provinz Baden und Württemberg im »Dritten Reich« - ein Forschungsüberblick Lothar Belz Die Region ist als Gegenstand der NS-Forschung noch nicht sehr lange anerkannt. Das liegt zum einen daran, daß in der Erforschung des »Dritten Reiches« zunächst die Reichsebene und übergreifende Fragen etwa nach dem »Versagen« der Weimarer Demokratie, nach der Person Hitlers und den Strukturelementen totalitärer Herrschaft im Vordergrund standen. Zum anderen hat die Wissenschaft - ganz gleich, ob im Zeic hen der Tota li ta ri smu sthe orie ode r de s h is to ri sch en Mat er iali smus - das Selbstbild des »Dritten Reiches« als straff zentralisierter Führerstaat anfänglich weitgehend übernommen (12: Hehl, NS und Region, S. 114). Zwar wurde schon früh auf Risse im scheinbar monolithischen Gebilde des NS-Staates hingewiesen, aber an der auf die Berliner Zentrale ausgerichteten Gesamtdeutung, zugleich an der Vernachlässigung retardierender wie beschleunigender Elemente, änderte das bis in die 70er Jahre hinein wenig. Die seitdem einsetzende Erkenntnis regionaler Besonderheiten als modifizierende Faktoren der NS-Herrschaft wie als Möglichkeit zur Überprüfung allgemeiner Erklärungsansätze vor Ort gilt heute als wesentlicher und zukunftsträchtiger Zweig der NS-Forschung, auch wenn gelegentlich ein von methodischen Fragen motivierter Streit um die Bestimmung des »Region-Begriffs« die Forschungsarbeit unnötig kompliziert. 1 Der Einfluß anglo-amerikanischer Forschung und das Aufkommen sozialwissenschaftlicher Fragestellungen dürften die wesentlichen »Motoren« der Forschung in kleineren räumlichen Einheiten gewesen sein. (2: Broszat, Staat Hitlers, S. 424 f.). Aber auch das Interesse an den die Durchsetzung des NS-Totalitarismus relativierenden Faktoren von der Kompetenzzersplitterung in Partei und Staatsverwaltung bis zu den wechselnden persönlichen Gefolgschaften Hitlers hat die Überprüfung allgemeiner Erklärungsansätze anhand konkreter Befunde im eng umgrenzten lokalen Raum geradezu erzwungen. So ist zu erklären, daß die Intensivierung der Lokalhistorie mit einigen »Fallstudien« in den späten 60er und in den 70er Jahren ihren Anfang nahm. 2 Bald erweiterte sich die Fragestellung auch in ersten Versuchen 827 1 Siehe z.B. Steinbach, Peter, Zur Diskussion über den Begriff der »Region« - eine Grundsatzfrage der modernen Landesgeschichte, in: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 31 (1981), S. 185 - 210 und Reulecke, Jürgen, Von der Landesgeschichte zur Regionalgeschichte, in: Geschichte im Westen 6 (1991), S. 202 - 208. 2 Allen, William Sheridan, »Das haben wir nicht gewollt! « Die nationalsozialistische Machtergreifung in einer Kleinstadt 1930 - 1935, Gütersloh 1966. <?page no="829"?> des Vergleichs unterschiedlicher Lokalbefunde auf sozialgeschichtliche Aspekte wie Resistenz bzw. Kollaboration lokaler Eliten, Unterschiede der Parteiorganisation oder Einfluß auf den Staatsapparat (4; 40; 43). Verbunden mit der Erleichterung des Quellenzugangs löste eine »breite Erinnerungsbereitschaft« (11) und das nachgerade zur Mode ausufernde Interesse an Fragen der Alltagsgeschichte in den 80er Jahren wiederum eine Welle von Lokalstudien aus. 3 Standen bisher vorwiegend unpersönliche Strukturen und die großen Linien der historischen, vor allem politischen Entwicklung im Mittelpunkt der Forschung, so gab jetzt die Regional- und Lokalhistorie auch der individuell erfahrenen Praxis nationalsozialistischer Herrschaft in überschaubaren Bereichen Raum. Anlaß, aber auch inhaltlichen Schwerpunkt bildeten dabei häufig die in den 80er Jahren zahlreichen Jahrestage etwa der Machtergreifung, der Pogromnacht oder des Kriegsausbruchs bzw. -endes. Gleichzeitig brachte die Mentalitätsgeschichtsschreibung unter dem Einfluß der französichen Schule der »Annales« 4 Faktoren der subjektiven Wahrnehmung, der kulturellen, und hier gerade der regionalen Traditionen zur Geltung, die Antworten auf die von der historischen Sozialwissenschaft aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang von Gesellschaft und Politik versprachen (12: Hehl, Nationalsozialismus und Region, S. 121). In jüngster Zeit sucht die Forschung durch die Verbindung dieser Forschungsrichtungen im »Milieuansatz« 5 eine trotz seiner begrifflichen Unschärfe gegenseitig befruchtende Verbindung der hermeneutischen und der analytischen Methode, die besonders am lokalen Beispiel ihre Aussagekraft beweisen soll. Diese »Sozialgeschichte von unten« ermögliche, so die Vertreter dieser Forschungsrichtung, sozusagen mit der Lupe des Lokalhistorikers einen genauen Blick auf die NS-Herrschaftspraxis im mehr als nur politischen Sinne. Namentlich die Lokalstudie von Cornelia Rauh-Kühne (141) bemüht sich, einander ergänzende Forschungsansätze zu nutzen und vielfach als allgemeingültig bezeichnete Erklärungsversuche zu relativieren. So bestätigt Rauh-Kühne am Beispiel der badischen Kleinstadt Ettlingen zwar die Annahme einer dauerhafteren Stabilität des katholischen Milieus, stellt aber fest, daß eine politische Absage an das NS-Regime oder gar Widerstand damit nicht zwangsläufig einhergehen mußte. 6 Solchen wissenschaftlichen, theoriegeleiteten Bemühun- Lothar Belz 828 3 Erste Anfänge dieser Forschungsrichtung waren bereits in den 60er Jahren erkennbar, siehe z.B. Meyerhoff, Hermann, Herne 1933 - 1945. Die Zeit des Nationalsozialismus. Ein kommunalhistorischer Rückblick, Herne 1963 oder Görgen, Hans-Peter, Düsseldorf und der Nationalsozialismus. Studie zur Geschichte einer Großstadt im »Dritten Reich«, Düsseldorf 1969. Großen Aufschwung nahm die Geschichtsschreibung mit der Perspektive »von unten« dann aber vor allem mit dem großen Projekt »Bayern in der NS-Zeit« des Instituts für Zeitgeschichte. Siehe Broszat, Martin; Fröhlich, Elke; Wiesemann, Falk (Hrsg.), Bayern in der NS-Zeit Bd. 1, München 1977, S. 12. 4 Iggers, Georg G., Neue Geschichtswissenschaft, München 1978, S. 62. 5 Wirsching, Andreas, Nationalsozialismus in der Region. Tendenzen der Forschung und methodische Probleme, in: Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Sondernummer), München 1996, S. 25 - 46, hier S. 34. 6 Zu den Schwächen und Einseitigkeiten der Arbeit siehe die Rezension von Clemens Rehm, in: <?page no="830"?> gen stehen, auch dies ist festzuhalten, eine Vielzahl der seit den 80er Jahren erschienenen Lokalstudien gegenüber, die die Weiterentwicklung der Theoriedebatte nicht aufgenommen haben. In schwankender Qualität beschränken sich viele Arbeiten auf die chronikartige Wiedergabe von Ereignissen, verlieren sich ohne erkenntnisleitende Fragestellung in einem Wust von Details oder liefern mangels einer kritischen Haltung gegenüber Zeitzeugenberichten fragwürdige Ergebnisse (12: Hehl, Nationalsozialismus und Region, S. 123 f.). 7 Auch wenn die Vorteile der Lokalforschung unbestreitbar sind und auch einer rein antiquarischen Erinnerungsbereitschaft Bedeutung zukommt, so bleibt bei diesen Beispielen doch unverkennbar, daß ihre Ergebnisse nur unter bestimmten methodischen Voraussetzungen regional und überregional aussagekräftig und von wissenschaftlichem Wert sind. Die für den südwestdeutschen Raum, insbesondere die ehemaligen Länder Baden und Württemberg, unternommenen wissenschaftlichen Regional- und Lokalstudien haben sich diesem hier geschilderten allgemeinen Lauf der historischen Erforschung des Nationalsozialismus angeschlossen, allerdings mit vergleichsweise wenigen wissenschaftlich fundierten Detailstudien und auffälligen Lücken. Nach Ausweis der einschlägigen Bibliographien nahm die Erforschung der NS- Zeit im deutschen Südwesten nach dem Krieg ihren Anfang mit der bereits 1945/ 46 herausgegebenen Quellensammlung »Sieg des Glaubens« von John S. Steward (107). Der amerikanische Katholik beabsichtigte zwar keinen Beitrag zur Regionalgeschichte, weshalb auch jeder geographische Hinweis im Titel unterblieb, doch wurden mit den dort präsentierten, fast ausschließlich dem badischen Raum entstammenden SD- und Kreisleitungsberichten sehr früh schon regionalgeschichtlich bedeutsame Quellenzeugnisse verfügbar. Stewards Publikation erlangte in zweierlei Hinsicht Bedeutung. Zum einen wurde seine die Rolle des Katholizismus im »Dritten Reich« zweifellos überhöhende Darstellung schon recht bald durch weitere einschlägige Veröffentlichungen auch aus dem Bereich der evangelischen Kirche und mit Bezügen zur sog. Euthanasieaktion (88; 90; 93; 94; 97; 103) ergänzt und das Thema »Kirche und Staat im Nationalsozialismus« zu einem Schwerpunkt der NS-Forschung im Südwesten. Erste umfänglichere wissenschaftliche Darstellungen folgten in den 60er Jahren (85; 86), der Kontroverse um das Reichskonkordat entsprechend wurde ab den 70er Jahren auch über das Ende der Weimarer Koalition und die damit zusammenhängende Rolle des badischen Konkordats gearbeitet (76; 99) und schließlich mit den Darstellungen aus der Feder von Klaus Scholder (104), Paul Kopf und Max Miller (95), Gerhard Schäfer (101; 102) und Joachim Maier (98) wie auch mit der bereits angesprochenen, neue methodische Wege beschreitenden Arbeit von Cornelia Rauh-Kühne (141) die wesentliche Grundlage für einen differenzierten Einblick in das historische Geschehen geschaffen. Der von Steward vorgelegte, Baden und Württemberg im »Dritten Reich« - ein Forschungsüberblick 829 Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 143 (N.F. 104) (1995), S. 562 f. 7 So etwa in eklatanter Weise Ruch, Martin, Verfolgung und Widerstand in Offenburg 1933 - 1945. Dokumentation (Veröffentlichungen des Kulturamtes/ Stadt Offenburg 20), Offenburg 1995. <?page no="831"?> freilich thematisch selektive und quellenkritisch nicht aufbereitete Quellenfundus von Lage- und Stimmungsberichten fand andererseits zunächst keine Ergänzung. Erst in den von Jörg Schadt 1975 veröffentlichten Lageberichten der Karlsruher Gestapo und des Generalstaatsanwaltes Karlsruhe (70) und zum Teil auch mit Manfred Boschs Dokumentation »Als die Freiheit unterging« (35) wurden weitere einschlägige Zeugnisse verfügbar gemacht, deren systematische editorisch korrekte Erweiterung auch weiterhin wünschenswert wäre. 8 In zeitlicher Nähe zu Stewards Publikation erschienen auch Erinnerungsberichte von Zeitzeugen aus dem deutschen Südwesten, die neben übergreifenden Bezügen schon konkrete Hinweise auf die regionalen Entwicklungen, vor allem auch zu Fragen der regionalen Verwaltung und der Landespolitik enthielten. Zu nennen wäre hier neben vielen anderen dezidiert autobiographischen Zeugnissen (19 - 30) die Broschüre »Die Tragödie des 20. Juli 1944« des sozialdemokratischen Widerstandskämpfers aus dem Raum Mannheim- Heidelberg Emil Henk (23), die 1946 bereits in 2. Auflage erschien. Hierin verwies Henk u.a. auf zahlreiche südwestdeutsche Verbindungen der Verschwörung und insbesondere des Kreisauer Kreises. Henk selbst und seine Widerstandstätigkeit fand dann in dem 1984 publizierten Band über den Widerstand in Mannheim (136) eine umfängliche Würdigung. Auch die 1952 erschienene Darstellung von Hermann Maas und Gustav Radbruch (25) über die nationalsozialistischen Untaten an jüdischen Mitbürgern zielte zunächst auf die Weckung ganz genereller Erinnerungsbereitschaft ab, zog dazu aber auch schon eine Reihe regionalgeschichtlich bedeutsamer Einzelfälle heran. Maas, als evangelischer Stadtpfarrer und »Judenretter« in Heidelberg ebenso bekannt wie Gustav Radbruch, der als ehemaliger Reichsjustizminister 1933 seines rechtswissenschaftlichen Lehrstuhls an der Universität Heidelberg enthoben worden war, standen damit am Anfang einer in der Folgezeit einsetzenden Auseinandersetzung mit dem Thema, die bereits in den 60er Jahren zu wissenschaftlich fundierten Arbeiten und Quellenpublikationen etwa von Franz Hundsnurscher und Gerhard Taddey (114), insbesondere aber von Paul Sauer (119) und Hans Joachim Fliedner (164) führten. So kristallisierten sich in der südwestdeutschen NS-Forschung allmählich zwei deutliche Themenschwerpunkte heraus, »Kirchen« und »Judenpolitik«, die erst in den 80er Jahren durch das dann ähnlich umfänglich bearbeitete Thema »Universitätsgeschichte im Nationalsozialismus« (195; 208; 211; 212; 215) erweitert wurden. Demgegenüber wurden Detailstudien zu anderen Themen wie Wahlentwicklung (81; 40; 39) oder Machtergreifung in den Städten und Gemeinden (122; 130; 146; 143; 128) wie auch zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung (45; 58; 66) in vergleichsweise geringem Ausmaß, verspätet oder als mehr heimatkundliche Studien durchgeführt. Nichtsdestotrotz wurden zeitgleich auch ohne diese Vorarbeiten schon mehrere große, umfassend angelegte Werke, die Lothar Belz 830 8 Viele solcher Berichte unterschiedlichster Provenienz sind erhalten. So z.B. die Berichte der badischen Kreisleitungen über die Aufnahme des Attentatsversuchs vom 20. Juli 1944 in der badischen Bevölkerung GLA 465d, 49, 50. <?page no="832"?> bis heute als unverzichtbare Standardliteratur angesehen werden müssen, erarbeitet. Bereits 1959 untersuchte Waldemar Besson in seiner von Hans Rothfels betreuten Habilitationsschrift das Ende der Weimarer Republik in Württemberg (31). Horst Rehberger (65) trat 1966 mit einer juristischen Dissertation zur Gleichschaltung des Landes Baden hervor. Das Land Württemberg im Nationalsozialismus schilderte Paul Sauer 1975 in einer außerordentlich materialreichen Darstellung (69), die bereits viele Hinweise zur Alltagsgeschichte enthielt. Im gleichen Jahr schrieb der Amerikaner Johnpeter Horst Grill (43) die Geschichte der badischen NSDAP, und in den 80er Jahren erschien nicht zuletzt anläßlich des 50. Jahrestages der NS-Machtergreifung Thomas Schnabels Darstellung über die Machtergreifung in Südwestdeutschland (72) und nur kurze Zeit später die umfassende und detailreiche Darstellung Württemberg zwischen Weimar und Bonn (73). Möglicherweise lag es gerade an diesen frühen umfassenden Ansätzen selbst, daß die bei all diesen Autoren als Desiderat angesprochene Detailforschung zu den damals wichtigen wissenschaftlichen Fragestellungen nicht oder nur vereinzelt auf der Ebene unveröffentlichter Staatsexamensarbeiten geleistet wurde. Denn erst in jüngster Zeit werden parallel zur allgemeinen Entwicklung der NS-Historiographie andere, neuen Fragestellungen entsprechende Forschungsbereiche sichtbar, die durch diese Standardwerke nicht erschöpfend abgedeckt werden und erneute detaillierte Studien wie etwa über den Verfolgungsapparat (82), die Zwangsarbeiter (121; 78), die Rolle der Frauen (150), die spezifische Situation in den Gemeinden und Kommunen (51; 137; 149), Aspekte der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (42; 62; 83) oder in bestimmten Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten (55; 68; 67) verlangen. Und vielleicht ist es auch solch frühen umfassenderen Versuchen und nicht nur der in manchen Bereichen disparaten Quellenlage zuzuschreiben, daß für den gesamten südwestdeutschen Raum, für Baden und Württemberg, erst wenige Regional»synthesen« vorliegen. Die neueren Sammelbände von Otto Borst (34), Thomas Schnabel (74) und Rauh-Kühne/ Ruck (64) suchen diesem Mangel abzuhelfen, indem sie einzelne Aspekte in getrennten Aufsätzen beleuchten. Sie präsentieren sozusagen einzelne, wichtige und aussagekräftige Mosaiksteine, aber zu einem Gesamtbild fügen sich diese ebensowenig zusammen wie der vorliegende Band, der die biographische Forschungslücke zu schließen trachtet und damit einer künftig zu schreibenden Gesamtschau ebenso vorarbeitet. Als gesichertes Ergebnis all dieser wissenschaftlichen Bemühungen darf immerhin festgehalten werden, daß im Südwesten im Vergleich zur Reichsentwicklung eine größere Distanz gegenüber dem Nationalsozialismus, belegt etwa durch die historische Wahlforschung, festzustellen ist. Die Ursachen hierfür wie für eine Reihe bemerkenswerter Binnenunterschiede zwischen Baden und Württemberg sind vielschichtig und umstritten (39). Zugleich aber läßt die seit 1933 erfolgte Realisierung nationalsozialistischer Herrschaft keine wesentlichen Unterschiede zur Reichsentwicklung erkennen. Die Gleichschaltung der Länder nach den Märzwahlen 1933 lief in den gleichen Bahnen wie im Reich. Baden und Württemberg im »Dritten Reich« - ein Forschungsüberblick 831 <?page no="833"?> Württemberg stach von der allgemeinen Entwicklung nur insofern ab, als hier ein außerordentlich großer geheimpolizeilicher Apparat für die Verfolgung politischer Gegner aufgebaut wurde. Die zentrale Figur bei der Etablierung und Festigung der NS-Herrschaft blieb bis in die Kriegsjahre hinein der Gauleiter, wobei Murr eher blaß blieb, während Wagner durch die Übertragung der Sonderkompetenz als Chef der Zivilverwaltung im eroberten Elsaß weiter gestärkt wurde. Die Macht des Gauleiters - hierin bestätigt die Regionalforschung frühere Befunde - hing ab von seinem persönlichen Verhältnis zu Hitler, von seinem Rückhalt in einer auf persönlichen Bindungen beruhenden »Gauclique« und von der Kontrolle über die Verwaltung. Das unterstreicht die Bedeutung personaler Beziehungen für die konkrete Ausformung regionaler NS-Herrschaft, worüber die Biographien in diesem Band detailliert Aufschluß geben. Gegenüber der Bürokratie hat der Nationalsozialismus seinen Suprematieanspruch nie aufgegeben, was sowohl zur Legitimation der Parteiherrschaft als auch zur Rechtfertigung persönlicher Karriere- und Versorgungsansprüche diente. Allerdings kommt Ruck in seinen Untersuchungen zur südwestdeutschen Verwaltungselite zu dem Ergebnis, daß in Baden und Württemberg trotz unterschiedlicher Milieuprägung der höheren Beamtenschaft die Kontrolle der Verwaltung durch die Nationalsozialisten tatsächlich nicht in dem gewünschten Ausmaß gelang, sondern daß vielmehr die Beharrungskraft der württembergischen »Ehrbarkeit« wie auch des badischen Beamtenstandes eine vollständige »Nazifizierung« verhinderte und das nach sachlichen Gesichtspunkten arbeitende Fachbeamtentum Freiräume bewahren konnte. Stimmt Rucks Untersuchung insoweit mit früheren Erkenntnissen auch auf Reichsebene überein (Sauer, Politik, Staat, Akteure, in: 34, S. 22 f.; 73: Schnabel, Württemberg, S. 188), so beleuchtet seine die Jahre 1928 bis 1972 umfassende Untersuchung zugleich aber auch die Anpassungsbereitschaft der Verwaltungseliten durch drei ganz unterschiedlich geartete Systeme hindurch und belegt eine Reihe von Fällen größter Kollaborationsbereitschaft zugunsten des beruflichen Erfolgs. Für die Justiz Württembergs und Badens fehlen vergleichbare Ergebnisse. An der »prinzipiellen Akzeptanz des Regimes« durch die Richter (Majer, Richter und Rechtswesen, in: 34) und an ihrer Mitarbeit weit über »bloße Loyalität« hinaus auch im deutschen Südwesten dürfte aber kaum zu zweifeln sein, selbst wenn nach Kißener etwa am Land- und Amtsgericht Karlsruhe ein hohes Maß an Resistenz festzustellen war (132). Ob Württemberg und Baden also in der Gleichschaltung nicht nur der Verwaltung einen regionalen Sonderweg gegangen sind, muß nach dem derzeitigen Stand der Forschung noch offenbleiben, zumal die derzeit auch aus anderen Regionen verfügbaren bloßen Zahlen über Entlassungen nichts über die politische Bedeutung der neu besetzten Posten aussagt. Die baden-württembergische Regionalforschung hat also bisher trotz der erwähnten Einschränkungen durchaus einige Besonderheiten des Nationalsozialismus im Lande offenlegen können, doch sind diese Erkenntnisse für ein Urteil über die südwestdeutsche Entwicklung noch zu lückenhaft. So fehlen insbesondere noch Lothar Belz 832 <?page no="834"?> grundlegend wichtige Untersuchungen über die Entwicklung der NSDAP seit der zweiten Hälfte der 30er Jahre, bieten die schrittweise Entfaltung der Parteigliederungen oder der Prozeß der »Modernisierung« in Wirtschaft und Gesellschaft noch reichlich Stoff für die Lokalforschung. Für ein Gesamtbild wäre schließlich auch eine stringente und einheitlichen Fragestellungen folgende Auswertung der in unterschiedlichem Maß erhaltenen Quellen zu wünschen, die eine zusammenfassende Bewertung der disparaten Lokalbefunde erst ermöglicht. Auswahlbibliographie In der folgenden Auswahlbibliographie werden ausschließlich Titel verzeichnet, die regional- und lokalgeschichtliche Aspekte nationalsozialistischer Herrschaft in den ehemaligen Ländern Baden, Württemberg und Hohenzollern behandeln. Zum Vergleich mit der allgemeinen NS-Forschung sei auf die Bibliographie zum Nationalsozialismus von Michael Ruck verwiesen. In Abschnitt I sind ausgewählte Titel mit regionalübergreifender Thematik aufgenommen worden, die wenigstens in Teilen besondere Erkenntnisse über den deutschen Südwesten vermitteln (a) oder für Fragen der Methodik und des Forschungsstandes (b) grundlegend sind. Auf die Berücksichtigung landesgeschichtlicher Handbücher wurde verzichtet, weil diese für den Untersuchungszeitraum in der Regel wenig aussagekräftig sind und den neuesten Stand der Methodendiskussion nicht rezipiert haben. Um die Übersicht über die Menge der einschlägigen Untersuchungen zu erleichtern, werden in Anlehnung an die Kategorisierung Düwells (9) in Abschnitt II und III Titel getrennt nach regional- und lokalgeschichtlicher Reichweite aufgeführt. Da es derzeit in der Forschung keinen Konsens über eine befriedigende Definition des Begriffs »Region« gibt, werden in Abschnitt II alle Arbeiten aufgelistet, die in ihrer Fragestellung über die punktuelle lokalgeschichtliche Mikroanalyse hinausgehen, so daß hier die Zwischenebene zwischen Dorf/ Stadt und Reich erfaßt wird. Innerhalb des Abschnittes werden Erinnerungen (a), allgemeine Studien (b) und die beiden Themenschwerpunkte »Kirche und Staat« (c) sowie »Judenpolitik« (d) unterschieden. Da die Forschungsstelle »Widerstand« dem Thema Verfolgung und Widerstand besondere Aufmerksamkeit widmet und in jüngster Zeit mehrere, den Stand der Forschung repräsentierende Bände veröffentlicht hat, wurde auf die Aufnahme von Titeln aus diesem Bereich verzichtet. Hier sei auf die Literaturberichte von Angela Borgstedt und Michael Kißener 9 sowie auf die von Thomas Baden und Württemberg im »Dritten Reich« - ein Forschungsüberblick 833 9 Borgstedt, Angela; Meyer, Jochen, Literatur zum 20. Juli 1944. 1984 - 1993, in: 20. Juli 1944 in Baden und Württemberg, hrsg. v. R. Lill, M. Kißener (Portraits des Widerstands 3), Konstanz 1994, S. 209 - 240; Borgstedt, Angela, Jüdischer Widerstand - »Judenhelfer«. Ein Literaturbericht, in: Widerstand gegen die Judenverfolgung, hrsg. v. M. Kißener (Portraits des Widerstands 5), Konstanz 1996, <?page no="835"?> Schnabel herausgegebene Aufsatzsammlung »Formen des Widerstands« verwiesen. 10 In Abschnitt III werden Lokalstudien, die die Totalität der NS-Herrschaftspraxis zu erfassen suchen (a) getrennt aufgelistet von zwei nur beispielhaft herausgegriffenen Forschungsschwerpunkten: »Judenpolitik« (b), der den Schwankungen der Methodendiskussion in geringerem Maß ausgesetzt war und schon vor der Intensivierung der Regionalhistorie in den achtziger Jahren zahlreiche Arbeiten hervorgebracht hat, und (c) »Hochschule«, einem weiteren »Mikro-Lebensraum«. I. Allgemein a) Überregionale Studien und gedruckte Quellen mit südwestdeutschen Bezügen (1) Boberach, Heinz (Bearb.), Inventar archivalischer Quellen des NS-Staates. Die Überlieferung von Behörden und Einrichtungen des Reichs, der Länder und der NSDAP Teil 1 (Texte und Materialien zur Zeitgeschichte 3/ 1), München u.a. 1991. (2) Broszat, Martin, Der Staat Hitlers, München 1983. 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Forschungsaufgaben zur »Praxis im kleinen Bereich«, in: Jahrbuch für Westdeutsche Landesgeschichte 9 (1983), S. 287 - 344. (10) Grill, Johnpeter Horst, Local and Regional Studies on National-Socialism. A Review, in: Journal of Contemporary History 21 (1986), S. 253 - 294. Lothar Belz 834 S. 285 - 341; Borgstedt, Angela, Literaturhinweise, in: Widerstand in Europa. Zeitgeschichtliche Erinnerungen und Studien, hrsg. v. M. Kißener, H.-H. Brandt, W. Altgeld (Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 1), Konstanz 1995, S. 179 - 189; Kißener, Michael, Literatur zur Weißen Rose 1971 - 1992, in: Hochverrat? Die Weiße Rose und ihr Umfeld, hrsg. v. R. Lill (Portraits des Widerstands 1), Konstanz 1993, S. 159 - 179. 10 Schnabel, Thomas, Formen des Widerstandes im Südwesten 1933 - 1945. Scheitern und Nachwirken, Ulm 1994. <?page no="836"?> (11) Hehl, Ulrich von, Die nationalsozialistische Zeit in Handbüchern der Landesgeschichte, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 127 (1991), S. 91 - 114. (12) Hehl, Ulrich von, Nationalsozialismus und Region. Bedeutung und Probleme einer regionalen und lokalen Erforschung des Dritten Reiches, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 56 (1993), S. 111 - 129. (13) Horn, Wolfgang, Regionale Entwicklung des Nationalsozialismus, in: Neue Politische Literatur 21 (1976), S. 366 - 376. (14) Kuss, Horst, Die Ausbreitung nationalsozialistischer Herrschaft im westlichen Teil des deutschen Reiches. Ein Bericht über neuere regional- und lokalgeschichtliche Arbeiten, in: Blätter für deutsche Landeskunde 121 (1985), S. 539 - 582. (15) Möller, Horst u.a. (Hrsg.), Nationalsozialismus in der Region. Beiträge zur regionalen und lokalen Forschung und zum internationalen Vergleich (Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 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VI - Militärarchiv Freiburg BAP Bundesarchiv Abteilungen Potsdam EAFR Erzbischöfliches Archiv Freiburg GLA Generallandesarchiv Karlsruhe HSTADÜ Hauptstaatsarchiv Düsseldorf HSTAS Hauptstaatsarchiv Stuttgart HSTAWI Hauptstaatsarchiv Wiesbaden IfZ Institut für Zeitgeschichte München JM Justizministerium Baden-Württemberg, Stuttgart, Registratur MDAV Museum des deutschen Alpenvereins München, Archiv NA National Archives, Washington PAAA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn RBA Robert-Bosch-Archiv Stuttgart StAAM Stadtarchiv Amberg StADO Stadtarchiv Dortmund StAE Stadtarchiv Essen StAES Stadtarchiv Esslingen StAHN Stadtarchiv Heilbronn StAKA Stadtarchiv Karlsruhe StALB Stadtarchiv Ludwigsburg StAM Stadtarchiv München StAMA Stadtarchiv Mannheim StAN Stadtarchiv Nürnberg StAOG Stadtarchiv Offenburg StAS Stadtarchiv Stuttgart StATÜ Stadtarchiv Tübingen StAUL Stadtarchiv Ulm StAVS Stadtarchiv Villingen-Schwenningen StAWN Stadtarchiv Weingarten STAFR Staatsarchiv Freiburg STALB Staatsarchiv Ludwigsburg STAMS Staatsarchiv Münster 846 <?page no="848"?> STAN Staatsarchiv Nürnberg STASIG Staatsarchiv Sigmaringen STAWÜ Staatsarchiv Würzburg UAFR Universitätsarchiv Freiburg UAHD Universitätsarchiv Heidelberg UAM Universitätsarchiv München UATÜ Universitätsarchiv Tübingen UBFR Universitätsbibliothek Freiburg WASt Deutsche Dienststelle für Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht Berlin ZStLB Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg Sonstige Abkürzungen AA Auswärtiges Amt BdS Befehlshaber der Sicherheitspolizei / SD BDM Bund Deutscher Mädel BHE Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten BNSdJ Bund Nationalsozialistischer deutscher Juristen DAF Deutsche Arbeitsfront DAV Deutscher Alpenverein DF Deutsches Frauenwerk DGO Deutsche Gemeindeordnung DRK Deutsches Rotes Kreuz Gestapo Geheime Staatspolizei HJ Hitler-Jugend IdS Inspekteur der Sicherheitspolizei IMT Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg, 14. November 1945 -1. Oktober 1946, 42 Bände, Nürnberg 1947- 1949. KdF NS.-Gemeinschaft »Kraft durch Freude« KdS Kommandeur der Sicherheitspolizei / SD LG Landgericht MdB Mitglied des Bundestags MdI Ministerium des Innern MdL Mitglied des Landtags MdR Mitglied des Reichstags NF Nationalsozialistische Freiheitspartei NSBO Nationalsozialistische Betriebszellen-Organisation NSDDB NSD.-Dozentenbund NSDStB NSD.-Studentenbund NSF NS.-Frauenschaft NSFK NS.-Fliegerkorps 847 <?page no="849"?> NSLB NS.-Lehrerbund NSRB NS.-Rechtswahrerbund NSV NS.-Volkswohlfahrt OB Oberbürgermeister OKW Oberkommando der Wehrmacht OLG Oberlandesgericht OStA Oberstaatsanwalt PA Personalakten RA Rechtsanwalt RAD Reichsarbeitsdienst RDB Reichsbund der Deutschen Beamten RFSS Reichsführer-SS RJM Reichsjustizministerium RLB Reichsluftschutzbund RMdI Reichsministerium des Innern RSHA Reichssicherheitshauptamt SA Sturmabteilung SD Sicherheitsdienst SG Sondergericht Sipo Sicherheitspolizei SS Schutzstaffel Stapo Staatspolizei StA Staatsanwalt VGH Volksgerichtshof VVN Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten 848 <?page no="850"?> Bildnachweis Karl Berckmüller (S. 31): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Gottlob Berger (S. 77): Cargill, Morris (Hrsg.), A Gallery of Nazis, Secausus, N.J. (o.J.), S. 126. Hermann Cuhorst (S. 111): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Richard Drauz (S. 143, 147): Stadtarchiv Heilbronn. Gertrud Gilg (S. 226): Privatbesitz Dr. Hans Gilg. Josef Gmeiner (S. 33): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC), RS 601 500 56 84. Hans F.K. Günther (S. 161): NS-Monatsblätter 6 (1935), S.968. Dr. Alfred Wilhelm Carl Hanemann (S. 201): Generallandesarchiv Karlsruhe, 231/ 909. Dora Horn-Zippelius (S. 225): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Dietrich von Jagow (S. 267, 281): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Walter Köhler (S. 289): Stadtarchiv Karlsruhe 8/ PBS oIII 1722. Herbert Kraft (S. 311): Generallandesarchiv Karlsruhe 231/ 2937 Nr.982; 231/ 3397. Alexander Landgraf (S. 32): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Dr. Oswald Lehnich (S. 333): Bundesarchiv Koblenz, ADN Bildarchiv. Eugen Maier (S. 361, 381): Stadtarchiv Ulm. Christian Mergenthaler (S. 445): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Edmund Heinrich Mickel (S. 202): Generallandesarchiv Karlsruhe 465c/ 982. Wilhelm Murr (S. 477): Ekkehart, Klaus, Die Reichsstatthalter. Ein Volksbuch, Gotha 1933, S. 17. Constantin Freiherr von Neurath (S. 504): Süddeutscher Verlag, Bilderdienst, München. Karl Pflaumer (S. 539): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Gustav Adolf Scheel (S. 567): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Dr. Walter Schick (S. 33): Bundesarchiv Abt. III (ehem. BDC). Jonathan Schmid (S. 595): Verein Württembergischer Verwaltungsbeamter e.V. (Hrsg.), 100 Jahre Württembergischer Verwaltungsdienst. Festschrift, Stuttgart 1937, S. 48. Paul Schmitthenner (S. 623): Privatbesitz A. Schmitthenner. Wilhelm Seiler (S. 655): Generallandesarchiv Karlsruhe 445d/ 512. Georg Stümpfig (S. 683): Verein Württembergischer Verwaltungsbeamter e.V. (Hrsg.), 100 Jahre Württembergischer Verwaltungsdienst. Festschrift, Stuttgart 1937, S. 107. Dr. Otto Wacker (S. 705): Die Ortenau 28 (1941), S. III. Robert Wagner (S. 733): Der Landschreiber vom Oberrhein. Kalender für Stadt und Land aus dem Jahr 1939, Karlsruhe 1938. Karl Waldmann (S. 781): Württembergische Verwaltungs-Zeitschrift 28/ 29 (1932/ 33), S. 146. Willi Worch (S. 805), Stadtarchiv Karlsruhe 8/ Alben 5 Bd. 2, S. 215a (1). 849 <?page no="851"?> A Abele, Rudolf (*1898) 1932 - 1934 Gauamtsleiter für württ. Kommunalpolitik 693 Abelt, Carl Direktor der Frima Gritzner und Kayser, Durlach (Karlsruhe) 819 Aberle, Gottlieb (gest. 1945) Widerstandskämpfer 440 Abetz, Otto (1903 - 1955) 1940 - 1944 dt. Botschafter in Frankreich 615 f. Adenauer, Konrad (1876 - 1967) 1949 - 1963 dt. Bundeskanzler 532 - 535, 825 Amann, Albert (1879 - 1965) 1919 - 1933 MdL Baden (Zentrum) 321 f. Amann, Josef (1879 - 1971) 1924 - 1933 Stadtrat und Bürgerausschußmitglied von Heidelberg, 1948 - 1954 Erster Bürgermeister (SPD) 659 f., 678 Amberger, Josef (1889 - 1954) 1925 - 1945 Bürgermeister, Rechtsrat von Heidelberg 662, 670 Ammon, Otto Dr. (1842 - 1916) Anthropologe 169 André, Josef (1879 - 1950) 1907 - 1933 MdL Württemberg (Zentrum), 1919 - 1928 MdR, 1946 - 1950 MdL Württemberg-Baden (CDU) 603 Andreas, Willy Dr. (1884 - 1964) Professor, 1932 - 1933 Rektor der Univ. Heidelberg 576, 591, 627, 635, 637, 643, 646 f., 650 Anschütz, Gerhard Dr. (1867 - 1948) Professor 576 Antonescu, Ion (1882 - 1946) Marschall, 1940 - 1944 rumän. Staatschef 94, 559 f. Ardivillier Franz. Offizier 777 Arnold, Hans Stadtrat von Ulm (KPD) 374 August Wilhelm von Hohenzollern (1881-1951) 324 Aukenland, Ludwig (1888 - 1971) Redakteur des »Führer« 743 Azesdorfer, Hermann Dr. (*1898) Oberlandesgerichtsrat, Beisitzer am SG Stuttgart 122 B Bach, Johann Sebastian (1685 - 1750) Komponist 192 Bach-Zelewski, Erich von dem (1899 - 1972) SS-Obergruppenführer, 1942 Beauftragter für die Bekämpfung des Bandenwesens im Osten 93 Backfisch, Katharina, geb. Wagner (*1865) 733, 735 Backfisch, Peter (1860 - 1938) Landwirt 15, 733, 735 Backfisch, Robert d.i. Robert Wagner 735 Baltz, Elsa von (*1882) 1935 - 1943 Gaufrauenschaftsleiterin der NSF Baden 256 Bammesberger, Heinrich Dr. (1879 - 1948) Präsident des LG Karlsruhe 557 Banzhaf, Friedrich (1885 - 1924) Stadtrat von Geislingen (SPD/ USPD), seit 1923 Mitglied der NSDAP 365 Bargatzky, Walter (*1910) 1967 - 1982 Präsident des DRK 615 Battenberg, Ludwig Dr. (1890 - 1964) 1933 Staatskommissar im Württ. Innenministerium 688 f., 691 f. Bäuchlein (*1883) Oberstaatsanwalt 120, 124 Bauer, Paul Rechtsanwalt 774 Baumgartner, Eugen Dr. mult. (1879 - 1944) 1920 - 1933 MdL Baden (Zentrum), 1931 - 1933 Bad. Kultus- und Unterrichtsminister 319, 712 Bayer, Ernst Dr. (*1909) 1932 - 1933 Hochschulgruppenführer des NSDStB 569 Bayle Franz. Offizier 777 Bazille, Wilhelm Dr. h.c. (1874 - 1934) 1919 - 1933 MdL Württemberg (Württ. Bürgerpartei und Bauernbund), 1920 - 1930 MdR (DNVP), 1924 - 1928 Württ. Staatspräsident, Wirtschaftsminister, 1924 - 1933 Kultminister 345 Beck, Johann (*1888) SS-Standartenführer 414 f. Personenregister 850 <?page no="852"?> Becker, Heinrich (1890 - 1956) Fabrikant 364, 366 f. Benz, Karl (*1898) Regierungsdirektor 799 Benzon, Branko bis 1941 kroat. Gesandter in Berlin 427 Berchtold, Josef (*1897) 1933 SA-Oberführer, SA-Brigadeführer, seit 1936 MdR 414 Berckmüller, Gertrude Elisabeth, geb. Röhnich (*1900) 31, 34, 52 Berckmüller, Hugo (*1898) 38 Berckmüller, Karl (1895 - 1961) 1933 - 1937 Leiter der Gestapo Karlsruhe, 1937 - 1945 Bürgermeister von Villingen 16, 31 - 75, 757 Berckmüller, Karl Josef (1866 - 1919) 31, 34 Berckmüller, Maria, geb. Volker (*1871) 31 Berger, Gottlob (1896 - 1975) 1935 Oberregierungsrat im Württ. Kultministerium, 1943 SS-Obergruppenführer 77 - 110, 376, 408, 416, 427, 531, 767 Berger, Johannes 77 f., 96 Berger, Maria 77, 79, 82, 89, 109 Berlioz, Hector (1803 - 1869) Franz. Komponist 172 Berthold, Markgraf von Baden (1906 - 1963) 774 Best, Werner Dr. (1903 - 1989) SS-Obergruppenführer, 1939 - 1940 Leiter des Amtes I/ RSHA, 1942 - 1945 Reichsbevollmächtigter in Dänemark 45, 48, 56, 58, 570, 578, 591, 614 ff. Beutinger, Emil (1875 - 1957) 1921 - 1933 Oberbürgermeister von Heilbronn 152 Beyerle, Josef Dr. (1881 - 1963) 1921 - 1933 MdL Württemberg (Zentrum), 1923 - 1933 Justizminister, 1928 - 1930 Wirtschaftsminister, 1946 - 1951 Württ.-Bad. Justizminister (CDU) 345 Bickler, Hermann (*1904) Führer der Elsaß-Lothringischen Jungmannschaft 758, 770 Bieger, Arthur Regierungsbaumeister 136 Bilfinger, Karl Dr. (1879 - 1958) Jurist 640 Bismarck, Otto Fürst von (1815 - 1894) 1871 - 1890 Reichskanzler 88, 625, 627 f. Bittrich, Wilhelm (1894 - 1979) SS-Obergruppenführer 84 Blankenhorn, Herbert (1904 - 1991) Diplomat, Berater Adenauers 534 Bläsi, Franz (1893 - 1963) Professor, 1926 - 1933 Stadtrat von Bruchsal (Zentrum), 1945 - 1963 Bürgermeister, Oberbürgermeister, 1946 - 1952 MdL Württemberg-Baden (CDU), 1952 - 1956 MdL Baden- Württemberg 251 Blomberg, Werner von (1878 - 1946) Generalfeldmarschall, 1933 - 1935 Reichswehr-, 1935 - 1938 Reichskriegsminister 525 Blos, Wilhelm (1849 - 1927) 1878 - 1918 (mit Unterbrechungen) MdR (SPD), 1920 - 1924 MdL Württemberg, 1918 - 1919 Ministerpräsident, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten, 1919 - 1920 Staatspräsident 513 Bock, Max (1881 - 1946) 1921 - 1933 MdL Baden (KPD) 319 f., 324 Böes, Joachim (1899 - 1941) 1937 - 1941 Leiter der Stapoleitstelle Stuttgart 435 Bögli, Helene 1934 - 1935 Gaufrauenschaftsleiterin der NSF Baden 243, 257 Bohn, Alfred Dr. 1933 - 1937 Vorsitzender des SG Stuttgart, bis 1945 Landgerichtsdirektor in Stuttgart 119 Bolz, Eugen Dr. h.c. (1881 - 1945) 1912 - 1933 MdR (Zentrum), MdL Württemberg, 1920 - 1923 Württ. Justizminister, 1924 - 1933 Innenminister, 1928 - 1933 Staatspräsident 339, 354, 461, 485 f., 530 f., 602, 604, 611, 688, 786 Bolz, Mechthild Dr. Ärztin 354, 530 f. Bormann, Martin (1900 - 1945) 1941 - 1945 Leiter der Parteikanzlei der NSDAP 93, 95, 149, 194, 469, 497, 645, 727 f., 772, 775 Borst, Albert (1892 - 1941) Ev. Pfarrer, seit 1934 Mitglied im ev. Oberkirchenrat Stuttgart 796 Bosch, Carl Dr. (1874 - 1940) Professor, 1925 Vorstandsvorsitzender der IG- Farbenindustrie AG, 1937 - 1940 Präsident der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 726 Bosch, Otto NSDAP-Kreisleiter von Hall, 451 Bosch, Robert (1861 - 1942) Industrieller 96 ff., 101 Brandenberger, Erich (1892 - 1955) General 771 Brandt, Rudolf SS-Standartenführer 90 Personenregister 851 <?page no="853"?> Brauchitsch, Walther von (1881 - 1948) Generalfeldmarschall, 1939 - 1941 Oberbefehlshaber des Heeres 614 Braun, Magnus Frhr. von (1878 - 1972) 1932 - 1933 Reichsminister für Ernährung (DNVP) 518 ff. Breithaupt, Franz Chef des Hauptamtes SS-Gericht 558 Breitscheid, Rudolf Dr. (1874 - 1944) 1920 - 1933 MdR (USPD, SPD) 518 Brettle, Dr. Oberreichsanwalt beim Reichsgericht Leipzig 51, 216 f. Brettle, Emil 1934 - 1937 Generalstaatsanwalt am OLG Karlsruhe Brieger, Hans-Richard Dr. Rechtsanwalt 131 Brockdorff-Rantzau, Ulrich Graf von (1869 - 1928) Diplomat, 1918 - 1919 Reichsaußenminister 513 f. Brück, Wilhelm (1892 - 1972) 1945 - 1948 Oberbürgermeister von Weinheim, 1946 - 1950 MdL Württemberg-Baden (CDU) 292, 294 Bruckmann, Peter (1865 - 1937) 1915 - 1933 MdL Württemberg, Landesvorsitzender der DDP 347 Bruckner, Anton (1824 - 1896) Österr. Komponist 172 Brümmer, Johann (1886 - 1966) 1918 - 1919 Bad. Minister für militärische Angelegenheiten, 1925 - 1928 MdL Baden (SPD) 738 Brüning, Heinrich (1885 - 1970) 1924 - 1933 MdR (Zentrum), 1928 - 1933 MdL Preußen, 1930 - 1932 Reichskanzler 183, 517, 522 Buchegger, Karl Rechtsanwalt 809 Buchleither, Karl (1897 - 1961) 1935 - 1943 Bürgermeister von Neureut (Karlsruhe), 1943 - 1945 Bürgermeister von Ettlingen 814 Buck, Karl (1894 - 1977) 1933 - 1940 Lagerkommandant in den KZ Heuberg, Kuhberg, Welzheim, 1940 Kommandant im KZ Schirmeck 279 Bülow-Schwante, Karl-Alexander Vicco von (1891 - 1970) Diplomat 516 Bürckel, Josef (1895 - 1944) 1926 - 1944 Gauleiter von Rheinpfalz und Saar, 1930 - 1944 MdR (NSDAP), 1938 - 1944 Statthalter in Österreich 27, 67, 424, 614, 741, 761, 763, 765 f., 768 f. Burda, Franz (1903 - 1986) Verleger 753 Busse, Ferdinand Dr. Direktor der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik, Karlsruhe 819 Buzengeiger, Karl 1930 - 1937 Präsident des OLG Karlsruhe C Chamberlain, Houston Stewart (1855 - 1927) Engl. Schriftsteller (seit 1916 dt. Staatsbürger) 169 Chelius 1933 Hochschulgruppenführer des NSDStB 569 Cherubini, Luigi (1760 - 1842) Ital. Komponist 172 Chopin, Frédéric (1810 - 1849) Poln. Komponist, Pianist 172 Churchill, Sir Winston S. (1874 - 1965) 1940 - 1945 brit. Premier- und Verteidigungsminister 472 Claaßen, Günther (gest. 1945) 1941 - 1945 Polizeipräsident von Karlsruhe 74 Clauss, Ludwig Ferdinand (1892 - 1974) »Rassenforscher« 191 Columbus, Christoph (1451 - 1506) Seefahrer, Entdecker 167 Corneille, Pierre (1606 - 1684) Franz. Dramatiker 167 Cornelius, Peter (1824 - 1874) Komponist 172 Cranach, Max Lukas von Dr. (1885 - 1945) 1931 - 1937 stellv. Direktor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 726 Crenesse, Pierre Chronist des Prozesses gegen Robert Wagner 774 Cuhorst, Fritz Dr. (1902 - 1945) 1933 Kulturberichterstatter, seit 1934 Kulturreferent in Stuttgart 113, 115, 123 Cuhorst, Hermann (1865 - 1937) 1903 - 1930 Staatsanwalt, 1930 - 1932 Oberstaatsanwalt in Stuttgart 111, 113 f., 610 Cuhorst, Hermann Albert (1899 - 1991) 1934 Senatspräsident am OLG Stuttgart, 1937 - 1944 Vorsitzender des SG Stuttgart 16, 111 - 142 Personenregister 852 <?page no="854"?> Cuhorst, Hildegard, geb. Frank 111, 117 Cuhorst, Maria Henrietta, geb. Schiele (1878 - 1962) 111, 113 Cuhorst, Reinhild Dr. 113, 141 Curtius, Julius Dr. (1877 - 1948) 1920 - 1932 MdR (DVP), 1926 - 1929 Reichswirtschaftsminister, 1929 - 1931 Reichsaußenminister 337, 516 D Dannbauer, Karl (*1913) Schriftsetzer 182 Dannebauer, Heinrich Dr. Professor 340, 342 Darré, Richard Walter (1895 - 1953) 1933 - 1945 Reichsbauernführer, 1933 - 1942 Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft 163, 170, 175, 178, 184, 191, 193 f., 465, 795 Dehlinger, Alfred Dr. Dr. h.c. (1874 - 1959) 1924 - 1942 Württ. Finanzminister (DNVP) 334, 343, 412, 684, 798 Dehmel, Ida (1870 - 1942) Gründerin der GEDOK 234 Deissler, Josef (1884 - 1958) 1930 - 1933 Stadtrat von Karlsruhe (SPD) 823 Dellbrügge, Hans (*1902) Hauptabteilungsleiter im Reichskommissariat Norwegen, 1940 SS-Oberführer beim Stab des Reichsführers-SS 427 Denz, Josef Dr. (1897 - 1950) Oberregierungsrat 630 f. Derichsweiler, Albert bis 1936 Reichsführer des NSDStB 582 Diehl, Ludwig (1894 - 1982) 1934 - 1945 Landesbischof der pfälz.-protest. Landeskirche 645 Diehm, Christoph (1892 - 1960) 1932 - 1933 MdL Württemberg (NSDAP), 1933 SS-Oberführer, 1943 SS-Brigadeführer, Polizeipräsident von Metz und Saarbrücken 421 Dietrich, Hermann (1879 - 1954) 1911 - 1918 MdL Baden (Nationalliberal), 1918 - 1920 Minister für auswärtige Angelegenheiten, 1919 - 1921 MdL (DDP), 1919 - 1933 MdR (DDP/ Deutsche Staatspartei), 1928 - 1930 Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, 1930 - 1932 Reichswirtschaftsminister,Vizekanzler 738 Dietrich, Otto Dr. (1897 - 1952) 1931 Pressechef der NSDAP, 1937 Pressechef der Reichsregierung 22 Dietze, Constantin von Dr. (1891 - 1973) Professor 355 Diez, Karl (1877 - 1969) 1912 - 1918, 1919 - 1933 MdR (Zentrum) 711 Dill, Gottlob Dr. (1885 - 1968) 1933 - 1945 Ministerialdirektor im Württ. Staatsministerium 118, 133, 600, 608 f., 611, 689, 698, 700, 790, 792, 800 Dillmann, Wilhelm Direktor des württ. Sparkassen- und Giroverbandes 790 Dinkel, Philipp (1894 - 1987) NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 657 Dirlewanger, Oskar (1895 - 1945) SS-Oberführer 86, 92, 95, 106, 108 Doerr, Karl (*1906) Stud. med., bis 1932 Hochschulgruppenführer des NSDStB 569 f. Dold, Karl (1879 - 1962) Landeskommissär in Karlsruhe 773 Dönitz, Karl (1891 - 1980) Großadmiral, 1943 - 1945 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine 531, 593 Dornes, Carl Regierungsrat, 1940 Generalbevollmächtigter für das jüdische Vermögen in Baden 762 Döther 1937 - 1945 Kreisfrauenschaftsleiterin von Bruchsal 262 Drauz, Christian Heinrich (1865 - 1937) Postunterbeamter 143 Drauz, Emma Frieda, geb. Sohn (*1901) 143 Drauz, Friederike, geb. Dederer (1866 - 1938) 143 Drauz, Klara, geb. Schoch (1909 - 1966) 143, 145 Drauz, Richard (1894 - 1946) 1938 - 1945 NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 143 - 159, 500, 667, 695 Dreher, Wilhelm (1892 - 1969) 1933 - 1942 Polizeipräsident von Ulm, 1942 - 1945 Regierungspräsident für Hohenzollern- Sigmaringen 366 f., 369 - 372, 375, 377, 380, 382 f., 393, 400 Drescher, Wilhelmine Dr. (*1909) Publizistin 643 Drück, Dr. 84 Duffner, Josef (1868 - 1935) 1903 - 1933 MdL Baden (Zentrum), 1905 - 1918 MdR 321 f., 326 Duvivier, Julien (1896 - 1967) Franz. Filmregisseur 351 Personenregister 853 <?page no="855"?> E Ebert, Friedrich (1871 - 1925) 1919 - 1925 Reichspräsident 514, 737 Ebert, Karl Friedrich (1902 - 1969) 737 Eckardt, Hans Felix von Dr. (1890 - 1957) Professor 576 Eckert, Erwin (*1897) Landgerichtsdirektor am OLG Stuttgart 119, 131 Ehemann, Theodor (1869 - 1943) Landrat in Heilbronn 147 Ehrhardt, Hermann (1881 - 1971) Korvettenkapitän, 1919 Führer der »Brigade Ehrhardt« 313 Eichendorff, Joseph Frhr. von (1788 - 1857) Dichter 613 Eichmann, Adolf (1906 - 1962) SS-Obersturmbannführer, 1939 - 1945 Leiter des Judenreferates im Amt V/ RSHA 95, 424 f., 441 Eisner, Kurt (1867 - 1919) 1918 - 1919 Bayer. Ministerpräsident, Staatsminister des Äußeren (USPD) 207 Elsaß, Fritz Dr. (1890 - 1945) 1924 - 1926 MdL Württemberg (DDP), 1926 - 1931 Vizepräsident des Dt. und Preuß. Städtetages, 1931 - 1933 Zweiter Bürgermeister von Berlin 610 Eltz-Rübenach, Paul Frhr. von (1875 - 1943) 1932 - 1937 Reichsverkehrs-, Postminister 520, 525 Engelbrecht, Hans-Joachim Mitarbeiter der Stapoleitstelle Stuttgart 436 Engelhardt, Carl (1901 - 1955) 1934 - 1935 Bürgermeister von Eberbach, 1935 Landrat in Konstanz, 1937 - 1941 Polizeipräsident von Karlsruhe 751, 755 Engelhorn Rechtsanwalt 126 Engelhorn, Anna Mitglied der GEDOK 245 f. Engisch, Karl Dr. (*1899) Professor 650 Epp, Emil bis 1945 NSDAP-Kreisleiter, seit 1934 Erster Beigeordneter von Bruchsal 243 Erb, Ernst 1933 - 1935 Ortsgruppenleiter der NSDAP Hagsfeld (Karlsruhe) 240 Erhard, Ludwig (1897 - 1977) 1949 - 1963 Bundeswirtschaftsminister (CDU), 1963 - 1966 dt. Bundeskanzler 353 Ernst, Hans W. Dramaturg am Ulmer Theater 401 Ernst, Robert (1897 - 1980) 1940 - 1944 Generalreferent beim Chef der Zivilverwaltung im Elsaß, Bürgermeister von Straßburg 750, 763, 765, 769 f., 773, 775 Erzberger, Matthias (1875 - 1921) 1903 - 1921 MdR (Zentrum), 1919 - 1920 Reichsfinanzminister 270, 272 Esser, Hermann (1900 - 1981) 1923 Propagandaleiter der NSDAP, 1932 - 1933 MdL Bayern, Staatsminister 454 Essich, Paul Gaukassierer 483 Etter, Hans 457 Eucken, Walter Dr. (1891 - 1950) Professor 338 F Fabricius, Wilhelm (1882 - 1964) 1936 - 1941 Gesandter in Bukarest 559 Falta, Wilhelm Dr. (1875 - 1950) Professor 608 Fecht, Hermann Dr. (1880 - 1952) 1948 - 1952 Bad. Justizminister (CDU) 289, 302 Feder, Gottfried (1883 - 1941) NS-Wirtschaftsideologe 341, 347 Fehrle, Eugen Dr. (1880 - 1957) Professor, 1933 Leiter der Hochschulabteilung des Bad. Kultusministeriums 576, 638, 641 Feine, Hans Erich Dr. (1890 - 1965) Professor, Dekan der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen 339 f. Feith, Rudolf Ernst Dr. (*1910) 571 f. Feller Rechtsanwalt 777 Fickentscher, Otto (1862 - 1945) Kunstmaler 809 Fiehler, Karl (1895 - 1969) 1933 - 1945 Erster Bürgermeister von München 603 Finker 1941 Chef der Sicherheitspolizei und des SD im Elsaß 767 Fischart, Johann (um 1546 - um 1590) Dichter, Satiriker 707 Fischer, Albrecht (1877 - 1965) 1934 Mitarbeiter der Firma Bosch, 97 f., 100 Fischer, Eugen (1874 - 1967) Professor 164, 173 Personenregister 854 <?page no="856"?> Fischer, Hans Dr. (*1906) 1941 - 1945 Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD Stuttgart, 1941 - 1944 Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD in Straßburg 60 f. Fischer, Kunigunde (1882 - 1967) 1919 - 1933 MdL Baden (SPD) 823 Fischer, Norbert Regierungsrat im Reichswirtschaftsministerium 337 Fischer, Otto (1902 - 1979) Rechtsanwalt, 1939 - 1945 Stadtrat von Ulm 402 Fischer, Theodor 325 Fisel, Wilhelm (1891 - 1984) 393 Flaxland, Alfred Landgerichtsdirektor, 1933 - 1937 Vorsitzender des SG Stuttgart 119 f., 128, 130 Fliedner, Friedrich Lehrer 631 Foerster, Friedrich (1894 - 1970) 1933 - 1945 Oberbürgermeister von Ulm 375, 378, 380, 382, 385, 391, 395, 401, 500 Föhr, Ernst Dr. (1892 - 1976) 1921 - 1933 MdL Baden (Zentrum), 1928 - 1933 MdR, 1931 - 1933 Vorsitzender der Landespartei und der Landtagsfraktion 302, 711 Forster, Albert (1902 - 1954) 1930 - 1945 Gauleiter von Danzig, 1939 - 1945 Reichsstatthalter von Danzig-Westpreußen 91, 193 Frahm, Friedrich Dr. (1888 - 1936) Historiker 639 Franco, Francisco (1897 - 1975) 1936 - 1975 span. Staatschef (Caudillo) 524 François-Poncet, André (1887 - 1978) 1931 - 1938 franz. Botschafter in Berlin, 1949 - 1953 Hoher Kommissar für Deutschland, 1953 - 1955 franz. Botschafter in Bonn 519, 532 Frank, Hans Dr. (1900 - 1946) 1933 Reichsrechtsführer, Reichsjustizkommissar, 1939 - 1945 Generalgouverneur von Polen 90, 318, 345 Frank, Karl Hermann (1898 - 1946) 1938 stellv. Gauleiter des Sudetenlands, 1939 - 1943 Staatssekretär beim Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, 1943 - 1945 Reichsminister für das Protektorat 505, 528 f. Frank, Ludwig (1874 - 1914) 1907 - 1914 MdR (SPD) 807 Frank, Reinhold (1896 - 1945) Rechtsanwalt, 1933 - 1934 Stadtverordneter von Karlsruhe (Zentrum), Widerstandskämpfer 72, 818 Frankenberg und Ludwigsdorf, Hans von (*1883) 1939 - 1945 Präsident des LG Freiburg, Vorsitzender des SG Freiburg 220 Fränznick, Franz Anton (1889 - 1944) Kath. Pfarrer 820 Freisler, Roland (1893 - 1945) 1942 - 1945 Präsident des VGH 16, 97, 101, 112, 125, 203, 219, 797 f., 818 Freudenberg, Richard (1892 - 1975) Industrieller 292 Frey, Alfred Amtsgerichtsrat 133 Frey, Fritz Stadtschulrat von Heidelberg 661, 668 Frey, Wilhelm Generalstaatsanwalt in Karlsruhe 766, 773 Frick, Wilhelm (1877 - 1946) 1930 - 1931 Thür. Innenminister (NSDAP), 1933 - 1943 Reichsinnenminister, 1943 - 1945 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren 180, 194, 232, 278, 298, 301, 408, 413, 458, 463, 521, 551, 553 f., 719, 722, 728, 747, 755, 768, 793 f. Friedrich II. (1712 - 1786) 1740 - 1786 König von Preußen 625 Friedrich II. (1857 - 1928) 1907 - 1918 Großherzog von Baden 206 Friedrich, Hermann 743 Fritsch, Theodor (1852 - 1933) Verlagsbuchhändler, 1924 MdR (NF) 478 f., 784 Fritsch, Werner Frhr. von (1880 - 1939) Generaloberst, 1935 - 1938 Oberbefehlshaber des Heeres 525 f. Froehlich, Carl (1875 - 1953) Filmregisseur, 1939 Präsident der Reichsfilmkammer 352 Froeschmann, Georg Dr. Rechtsanwalt 105 Fuchs, Carl Johannes Dr. (1865 - 1934) Professor 338, 340 Fuchs, Walter (1891 - 1982) Ministerialrat/ -dirigent beim Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, Präsident des Verwaltungsgerichtshofs von Baden-Württemberg 507 Fuhs, Michael Dr. (1904 - 1990) Lehrer, Oberregierungsrat im Bad. Kultusministerium 634 Funk, Walther (1890 - 1960) 1933 Staatssekretär im Reichspropagandaministerium, 1937 - 1945 Reichswirtschaftsminister 349 Personenregister 855 <?page no="857"?> Furrer, August (1890 - 1957) 1920 - 1933 im bad. Polizeidienst, zuletzt Kriminalsekretär 307 f. G Gaedeke, Walter (gest. 1946) 1940 - 1944 Persönlicher Referent des Chefs der Zivilverwaltung im Elsaß 774, 776 ff. Gagel, Friedrich (*1890) Kreiswirtschaftsberater der NSDAP 387 Galen, Clemens August Graf von (1878 - 1946) 1933 - 1946 Bischof von Münster 62 Gärtner, Karl (1897 - 1944) 1933 - 1944 Ministerialrat im Bad. Kultusministerium, Gauamtsleiter des NSLB Baden 630 f., 633 f., 638, 662, 664 f., 677 Gau, Alois 1933 Bürgermeister von Saulgau 697 Geibel, Otto bis 1933 Redakteur der »Volkszeitung« Heidelberg 662 Geisel, Albert Kreisschulrat von Heidelberg, Karlsruhe 663 Geiß, Anton (1858 - 1944) 1895 - 1903, 1909 - 1921 MdL Baden (SPD), 1918 - 1920 Minister für milit. Angelegenheiten, 1919 - 1920 Staatspräsident 738 Gemmingen-Guttenberg, Karl Frhr. von 511 Gershwin, George (1898 - 1937) Komponist 615 Gerst, Adolf (*1909) Gestapo-Beamter 73 Gerstenhauer, Max Robert (1873 - 1940) Vorsitzender der Wirtschaftspartei von Thüringen 181 Gierke, Otto von (1841 - 1921) Professor 599 Gilg, Gertrud (1901 - 1972) 1933 - 1935 Ortsfrauenschaftsleiterin von Bruchsal, 1937 - 1945 Gauschulungsleiterin der NSF Baden 225 - 265 Gilg, Rudolf (1882 - 1952) 1930 - 1936 Richter im Kreisparteigericht, 1936 - 1945 Ortsgruppenleiter der NSV Bruchsal 226, 248 f., 265 Giniger, B. B. Nachrichtenoffizier 776 Globocnik, Odilo (1904 - 1945) SS-Gruppenführer, 1938 - 1939 Gauleiter von Wien, 1939 HSSPF in Lublin, 1942 Leiter der »Aktion Reinhard« 86 Glück, Otto (*1900) SS-Hauptsturmführer 414 f. Glum, Friedrich Dr. Dr. (1891 - 1974) 1927 - 1937 Generaldirektor der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 726 Gmeiner, Albert Kriminaloberwachtmeister 33, 69 Gmeiner, Franziska, geb. Graf 33, 69 Gmeiner, Josef (1904 - 1948) 1944 Leiter der Stapoleitstelle Karlsruhe, Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Baden/ Elsaß 31 - 75 Gmeiner, Margareta, geb. Knarr 33, 71 Göbel, Kurt Dr. (1898 - 1982) Ministerialrat im Württ. Innenministerium 619, 695 Gobineau, Joseph Arthur Comte de (1816 - 1882) Franz. Schriftsteller, Diplomat 169, 237, 244 Goebbels, Josef (1897 - 1945) 1933 - 1945 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda 19, 22, 91, 93 f., 102 f., 149, 280, 283, 295, 333, 350 f., 396, 400, 446, 455 f., 489, 493, 497 f., 522, 526 f., 588, 641 f., 734, 743, 745, 766, 769, 771, 787 Goerdeler, Carl Friedrich Dr. (1884 - 1945) 1930 - 1937 Oberbürgermeister von Leipzig, Widerstandskämpfer 98, 530, 536, 649 Goethe, Johann Wolfgang von (1749 - 1832) Dichter 175 Gögler, Hermann (1887 - 1964) Oberregierungsrat im Württ. Wirtschaftsministerium, 1945 Ministerialdirektor, seit 1946 Staatssekretär 346, 355 Goll Regierungsrat 244 Goltz, Wilhelm Leopold Colmar Freiherr von der (1843 - 1916) Generalfeldmarschall, Militärschriftsteller, 1911 Gründer des Jungdeutschlandbundes 448 Göring, Helmut Dr. Dr. (*1894) Professor, 1934 - 1935 Rektor der TH Stuttgart 465 Göring, Hermann (1893 - 1946) 1933 - 1945 Preuß. Ministerpräsident, 1935 - 1945 Reichsminister für Luftfahrt 149, 181, 306, 313, 315, 382, 437, 471, 517, 521, 524 f. Gothein, Eberhard Dr. (1853 - 1923) Professor 626 Graefe, Albrecht von (1868 - 1933) Gutsbesitzer, völkischer Politiker 453 Graevenitz, Fritz von (1892 - 1959) 1938 - 1946 Direktor der Kunstakademie Stuttgart 470 Personenregister 856 <?page no="858"?> Gramm, Hans Dr. Oberlandesgerichtsrat 131 Grisebach, August Dr. (1881 - 1950) Professor 637 Gröber, Conrad (1872 - 1948) 1932 - 1948 Erzbischof von Freiburg 46 f., 58, 129, 255, 330 f., 553, 630 ff., 649, 717 f., 721, 729 f., 756 ff. Groh, Wilhelm Dr. (1890 - 1964) Professor, 1933 - 1937 Rektor der Universität Heidelberg 573 f., 576, 581, 637 Gross, Walter Dr. (1904 - 1945) Professor, 1934 - 1945 Leiter des rassenpolitischen Amtes der NSDAP 190, 194 Grüner, Hugo (1895 - 1946) 1942-1945 NSDAP-Kreisleiter von Lörrach 774 f. Guder, Hellmuth (1904 - 1968) Referatsleiter im Württ. Wirtschaftsministerium 346 Gültig, Heinrich (1898 - 1963) 1933 - 1945 Oberbürgermeister von Heilbronn 144, 147, 156 Gumbel, Emil Julius Dr. (1891 - 1966) Professor 568 ff., 627 Günther, Hans Friedrich Dr. (1891 - 1968) Professor, 1935 Direktor der Anstalt für Rassenkunde Berlin 161 - 199 Günther, Hedda, geb. Lembach Schauspielerin 161, 166, 176 Günther, Karl (1858 - 1926) Musiker 161, 163 Günther, Konrad Dr. (1874 - 1955) Professor 194 Günther, Maggen, geb. Blom (1893 - 1966) Musikerin 161, 176 f., 180, 182 Günther, Mathilde (1864 - 1943) 161 Günther, Sigrun (*1930) 163, 177 Gürtner, Franz Dr. h.c. (1881 - 1941) 1922 - 1932 Bayer. Staatsminister der Justiz (Bayer. Mittelpartei, DNVP), 1932 - 1941 Reichsjustizminister 216, 520, 609 Gutbrod, Hans (*1908) Adjutant von Murr 500 Guzzoni, Ingrid (*1926) 166, 176 f., 180 H Haas, Ludwig Dr. (1875 - 1930) 1910 MdL Baden (DDP), 1918 - 1919 Minister des Innern, 1919 - 1920 Staatsrat, 1912 - 1930 MdR 738 Habenicht, Friedrich (*1896) Polizeipräsident von Mannheim 214 Haber, Eduard Dr. Professor 342 Haeckel, Ernst (1834 - 1919) Zoologe, Naturphilosoph 363 Hagenmeyer, Erich (1892 - 1963) SA-Brigadeführer, 1943 - 1945 Polizeidirektor von Ulm 394 Hahn, Ludwig Dr. (*1908) 1941 - 1945 Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Warschau, 63 Hahn, Paul (1883 - 1952) bis 1923 Oberpolizeidirektor von Stuttgart 208 Haller, Arnold 1939 NSDAP-Kreisleiter von Villingen 51 Hampe, Karl Ludwig Dr. (1869 - 1936) Professor 625 Hanemann, Alfred Dr. (1872 - 1957) 1933 - 1937 Präsident des LG Mannheim, Vorsitzender des SG Mannheim 16, 18, 201 - 224 Hanemann, Dorothea, geb. Mohr (1884 - 1963) 201, 205, 221 Hanemann, Melanie, geb. Schweitzer 201 Hanemann, Wilhelm (gest. 1888) Buchhändler 201, 204 Hanssler, Bernhard (*1907) Kath. Pfarrer 383 Harfer Staatsanwalt 122 Harster, Wilhelm (*1904) Regierungsrat im Polizeipräsidium Stuttgart, 1938 Leiter der Stapoleitstelle Innsbruck, 1940 Inspekteur der Sipo Wehrkreis IX, seit 1943 Befehlshaber der Sipo und des SD in Italien 435 Hartnacke, Wilhelm (1878 - 1952) 1933 - 1935 Sächs. Volksbildungsminister 180 Hartung, Fritz Dr. Dr. h.c. (1883 - 1967) Professor 639 Hassell, Ulrich von (1881 - 1944) 1932 - 1938 dt. Botschafter in Rom, Widerstandskämpfer 353 Hauptmann, Hans (1865 - 1946) Hauptschriftleiter des Heilbronner Tagblatts 149 ff. Haußmann, Wolfgang (1903 - 1989) 1946 - 1972 MdL Württemberg-Baden, Baden Württemberg (DVP/ FDP), 1953 - 1966 Justizminister 533 Haydn, Joseph (1732 - 1809) Österr. Komponist 172 Hayum, Heinrich Dr. (*1904) Rechtsanwalt 604 f. Personenregister 857 <?page no="859"?> Hayum, Simon Dr. (1867 - 1948) Rechtsanwalt 604 f. Heck, Philipp von Dr. (1858 - 1943) Professor 338 Hegele, Max Landgerichtsdirektor 122, 124, 133 Heidegger, Martin Dr. (1889 - 1976) Professor, 1933 - 1934 Rektor der Universität Freiburg 716, 718, 755 Heintzeler, Karl 1930 - 1937 Generalstaatsanwalt in Stuttgart 610 Heißmeyer, August (1897 - 1979) SS-Obergruppenführer, 1935 - 1940 Chef des SS-Hauptamtes 84, 724 Held, Robert Dr. (1875 - 1938) 1927 - 1933 Ministerialdirektor im Württ. Innenministerium 604 Hellpach, Willy Dr. Dr. (1877 - 1955) Professor, 1922 - 1925 Bad. Minister für Kultus- und Unterricht (DDP), 1924 - 1925 Staatspräsident, 1928 - 1930 MdR 576 Helm, Karl Friedrich (*1904) Eisenbahnarbeiter 752 Hemmeth Rechtsanwalt 740 Hencke, Andor (*1895) 1940 - 1941 Vortragender Legationsrat im AA 283 Henk, Emil (1893 - 1969) Kaufmann, Gründer der sozialistischen Widerstandsgruppe »Rechberg«, 1950 - 1952 MdL Württemberg-Baden (SPD), 1956 - 1960 MdL Baden-Württemberg 35, 40, 43, 830 Henkell Sektfabrikant 523 Henlein, Konrad (1898 - 1945) 1939 - 1945 Reichsstatthalter, Gauleiter des Sudetenlands 84 Herbst, Willy Polizeileutnant 546, 548 Herff, von SS-Gruppenführer, Generalleutnant der Waffen-SS 353 Herrmann, Liselotte (Lilo) (1910 - 1938) Kommunist. Widerstandskämpferin 423 Herrmann, Stephan (*1903) 393 Heß, Erwin 1933 - 1935 Präsident des OLG Stuttgart 119, 610 Heß, Rudolf (1894 - 1987) Stellvertreter Hitlers 149, 218, 340, 400, 469, 523, 581 ff., 589, 811 Heurich, Fridolin (1878 - 1960) 1919 - 1933 MdL Baden (Zentrum), 1946 - 1952 MdL Württemberg-Baden (CDU) 319, 321 f. Heuss, Theodor (1884 - 1963) 1949 - 1959 dt. Bundespräsident 472, 508, 535, 651 Heydrich, Reinhard (1904 - 1942) seit 1932 Leiter des SD, 1936 Leiter der Sicherheitspolizei, 1939 Chef des RSHA, 1941 stellv. Reichsprotektor für Böhmen und Mähren 49, 57, 93, 109, 127, 416, 423 ff., 426 ff., 435, 441, 505, 529, 554, 558, 577 - 580, 583, 591, 727 f., 761 f. Heymann, Berthold (1870 - 1939) 1907 - 1918, 1919 - 1933 MdL Württemberg (SPD), 1918 - 1919 Kultminister, 1919 - 1920 Innenminister 417, 604 Hieber, Johannes Dr. (1862 - 1951) 1898 - 1910, 1921 - 1924 MdR (Nationalliberal), 1900 - 1910, 1912 - 1932 MdL Württemberg (DDP), 1919 - 1924 Kultminister, 1920 - 1924 Staatspräsident 471 Hieber, Walter H. Dr. (*1895) Chemiker 471 Hiemer Hauptschriftleiter des »Stürmer« 39, 44 f., 49 Hilbert, Anton (1898 - 1986) 1925 - 1933 MdL Baden (Bad. Bauernpartei/ Zentrum), 1946 - 1952 MdL Baden (CDU), 1952 - 1956 MdL Baden-Württemberg, 1949 - 1969 MdB 300, 323 Hildebrand 1933 Vertreter des Stahlhelms in der kommissarischen Bad. Regierung 748 Hill Vorsitzender des Gaugerichts 118 Himmel, Gustav (1882 - 1969) 1933 - 1937 Ministerialrat, Kanzleidirektor im Württ. Innenministerium 688 f., 698, 700, 792 Himmel, Hans (*1897) Privatdozent 574 Himmler, Heinrich (1900 - 1945) Reichsführer SS, 1943 - 1945 Reichsinnenminister 24, 42 f., 48 f., 51, 57, 67, 78, 83 - 86, 88 - 93, 95 f., 100 ff., 107, 109, 163, 170, 178, 194, 213, 245 f., 329, 413, 416, 423, 425, 427, 431, 434, 440, 458, 484, 497, 523, 528, 554, 556, 558, 578, 580, 582, 587 f., 592, 606, 724, 729, 746, 764, 766 f., 776 f., 806 Hindenburg, Paul von (1847 - 1934) Feldmarschall, 1925 - 1934 Reichspräsident 488, 515 - 518, 520 f., 635, 749 Personenregister 858 <?page no="860"?> Hintze, Otto Dr. (1861 - 1940) Professor 639 Hippler, Fritz Reichsfilmdramaturg 350 Hirsch, Julius Dr. (1882 - 1961) Professor, Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium 336 Hirzel, Walter (1881 - 1943) 1932 - 1933 MdL Württemberg (DNVP), Vorsitzender der Landespartei, 1933 Staatsrat 334, 343 f. Hitler, Adolf (1889 - 1945) 1933 - 1945 Reichskanzler 11 f., 14 f., 17, 19 f., 24, 36, 38, 43, 45, 49, 68, 73, 81, 85, 87 ff., 92, 94 ff., 98 - 103, 105, 130, 145, 150, 153, 155, 169, 173, 180 f., 183 f., 189, 193 f., 197 f., 241, 246f., 249 f., 252 ff., 256, 263, 268 f., 271, 273, 275, 277 f., 280, 282 f., 286, 292 f., 298, 300 - 305, 312, 316, 318, 323, 325 f., 341, 347, 349, 366 f., 369, 372 f., 379, 384, 387, 392, 395, 397, 399 ff., 415, 418, 420, 423, 425, 446, 450, 452 - 456, 458, 460 f., 468 - 472, 477 f., 480 - 483, 486 - 490, 495 ff., 503ff., 515 ff., 520 - 529, 531 f., 534, 536, 548, 559, 567, 573, 580, 584 f., 587, 592 f., 596, 602, 605, 628 ff., 635 f., 639, 642 f., 674, 678, 686, 696, 709, 711, 721, 727, 733 ff., 739, 741 ff., 746 f., 751 - 755, 757 f., 761 ff., 765 - 769, 771 f., 776 ff., 795 f., 798 f., 806, 810, 815, 827, 832 Hoare, Sir Reginald 1939 - 1941 brit. Gesandter in Bukarest 561 Hoepner, Erich (1886 - 1944) Generaloberst 431 Hoffmann, Ernst Dr. (1880 - 1952) Professor 575 f., 591 Hoffmann, Heinrich (1885 - 1957) Pressefotograph Hitlers 528 Hofheinz, Oskar (1873 - 1946) 1921 - 1933 MdL Baden (DDP), 1929 - 1933 Fraktionsvorsitzender, 1919 - 1931 Vorsitzender des Badischen Lehrervereins, 1931 - 1933 Stadtschulrat von Heidelberg 661 ff., 665 Höfle, Hermann (1898 - 1948) SS-Sturmbannführer 95 Höhn, Reinhard Dr. Professor 578 f., 583 Höhne, Heinz (*1926) Journalist, Historiker 84 Hölderlin, Friedrich (1770 - 1843) Dichter 183 Hölz, Max (1889 - 1933) 1918/ 19 Mitbegründer der KPD 812 Holzschuh, Julius Stadtamtmann in Heidenheim 700 Honikel, Friedrich (1878 - 1964) Regierungsbaurat in Heidelberg 678 Hoops, Johannes Dr. (1865 - 1949) Professor 646, 649 Hörburger, Max (1908 - 1945) Kreispropagandaleiter von Ulm 374 Horn, Arnold Dr. Rechtsanwalt 225, 228 Horn, Emma, geb. Sexauer Malerin 225, 228 Horn-Zippelius, Dora (1876 - 1967) Malerin, 1932 Gaupropagandaleiterin der NSDAP Baden, 1934 - 1936 Gauschulungsleiterin der NSF 225 - 265 Hornung, Dr. 590 Horowitz, Vladimir (1903 - 1989) Amerik. Pianist (russ. Herkunft) 615 Horthy, Nikolaus (1868 - 1957) Ungar. Admiral, 1920 - 1944 Reichsverweser 285 Hörz, Martin (*1909) Student 571, 582, 591 Hoßbach, Friedrich (1894 - 1980) General 525 Huber, Richard Präsident des SG Straßburg 774 Hugenberg, Alfred Dr. (1865 - 1951) 1919 - 1945 MdR (DNVP/ NSDAP (Hospitant)), 1933 Reichswirtschafts- und Ernährungsminister 628 I Ismer, Kurt Begründer der NSDAP-Ortsgruppe Hall 451 J Jäger, Friedrich (1873 - 1955) 1933 - 1938 Oberbürgermeister von Karlsruhe 817 Jagow, Dietrich Bernhardt von (1892 - 1945) SA-Obergruppenführer, 1932 MdR (NSDAP), Württ. Reichskommissar 26, 85, 267 - 287, 408 f., 418, 461, 604 Jagow, Eduard Georg von (1850 - 1917) Oberst 267 f. Jagow, Elisabeth Pauline von, geb. von Kleist (1859 - 1938) 267 f. Jagow, Hedwig von, geb. Sinner (*1903) 267, 274 Jagow, Henning von (*1934) 275, 283 Jagow, Traugott von (1865 - 1941) Jurist, 1909 - 1926 Polizeipräsident von Berlin 270 Personenregister 859 <?page no="861"?> Jannings, Emil (1884 - 1950) Schauspieler 333 Jaspers, Gertrud (1878 - 1974) 642 f. Jaspers, Karl Dr. (1883 - 1969) Professor 576, 626, 637, 642 f., 649 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) (1763 - 1825) Dichter 651 Jessen, Jens-Peter (1895 - 1944) Professor, Widerstandskämpfer 353 Jordan, Richard Marineoffizier 271 Jordan, Rudolf (*1902) 1931 - 1937 Gauleiter von Halle-Merseburg, 1937 Gauleiter von Magdeburg-Anhalt 20 Jünger, Ernst (*1895) Schriftsteller 600 K Kalkoff Rechtsanwalt 122 Kállay, Miklós (1887 - 1967) 1942 - 1944 ungar. Ministerpräsident, Außenminister 285 Kaltenbrunner, Ernst (1903 - 1946) 1943 - 1945 Chef des RSHA 353, 424 Kamm, Gottlob (1897 - 1973) 1945 - 1948 Württ.-Bad. Minister für politische Befreiung (SPD) 135 f. Kapp, Wolfgang (1858 - 1922) 1906 - 1920 Generallandschaftsdirektor in Ostpreußen 270 Karcher, Eugen 1933 - 1938 Ortsgruppenleiter der NSDAP in Karlsruhe, 1938 - 1945 Kreisorganisationsleiter 818 Kästner, Erich (1899 - 1974) Schriftsteller 162 Kaufmann, Edmund Dr. (1893 - 1953) 1929 - 1933 MdL Baden (Zentrum), 1949 - 1951 Württ.-Bad. Finanzminister (CDU) 711 Kaufmann, Karl (1900 - 1969) 1928 - 1945 Gauleiter von Hamburg 593 Kaul Führer des SS-Oberabschnitts Südwest 329 f. Kaulla, Otto (1866 - 1955) Landgerichtsdirektor 610 Kehm, Otto (1869 - 1961) 1901 - 1935 Syndikus der IHK Ulm 380 Keil, Wilhelm (1870 - 1968) 1900 - 1933 MdL Württemberg (SPD), 1910 - 1932 MdR, 1921 - 1923 Württ. Ernährungsminister, 1946 - 1952 MdL Württemberg-Baden 513, 603, 787 Keitel, Wilhelm (1882 - 1946) Generalfeldmarschall, 1938 - 1945 Chef des OKW 765 Kemper, Friedhelm (*1906) 1927 - 1930 NSDAP-Kreisleiter von Mannheim, 1931 Führer der bad. HJ, 1933 Jugendführer, 1933 MdL Baden 304, 719, 744 Kempner, Robert Dr. (1899 - 1993) Professor, stellv. US- Hauptankläger in Nürnberg, 1947 Hauptankläger im »Wilhelmstraßenprozeß« 105 Kentrup IHK-Präsident 304 Keppler, Wilhelm (1882 - 1960) Direktor der Odin-Werke Eberbach, Wirtschaftsberater Hitlers 656, 751 Kerber, Franz Dr. (1901 - 1945) 1932 - 1936 NSDAP-Kreisleiter von Freiburg, 1933 - 1945 Oberbürgermeister von Freiburg 38, 694, 717 Kerrl, Hanns (1887 - 1941) 1935 - 1941 Reichs- und Preußischer Minister für kirchliche Angelegenheiten 469, 721, 757 Kersten, Felix (1898 - 1960) Leibarzt Himmlers 100 f., 108 Kiderlen-Wächter, Alfred von (1852 - 1912) Diplomat, 1910 - 1912 Staatssekretär im AA 509 Kiehn, Fritz (1885 - 1988) Fabrikant, 1932 - 1933, 1933 - 1945 MdR (NSDAP) 347, 408, 415 Kienle, R.v. Dr. Professor 576 Killinger, Manfred Frhr. von (1866 - 1944) 1941 - 1944 dt. Gesandter in Bukarest 559 ff. Kilpper, Gustav (1879 - 1962) bis 1934 Präsident der IHK Stuttgart 347, 355 Kinkele, Hermann (1892 - 1956) 1945 - 1949 Bürgermeister von Isny 700 Klaiber, Rudolf (1873 - 1957) 1923 - 1938 Polizeipräsident von Stuttgart 607 Klein Parteirednerin der NSDAP Karlsruhe 238 Klein, Gottfried Dr. (1869 - 1935) bis 1933 Bürgermeister von Stuttgart 277 f. Klett, Arnulf Dr. (1905 - 1974) 1945 - 1974 Oberbürgermeister von Stuttgart 116, 121, 124, 126, 534 Klibansky, Raymond (*1905) Privatdozent 576 Personenregister 860 <?page no="862"?> Klickermann, Hans Dr. Regierungsdirektor 141 Klotz, Helmuth (1894 - 1943) Schriftsteller, Politiker (NSDAP/ SPD) 37 Knapp, Gustav (1871 - 1934) Ministerialrat im Württ. Innenministerium, 1933 - 1934 Präsident der Ministerialabteilung für Bezirks- und Körperschaftsverwaltung 609 Knapp, Theodor Dr. (1854 - 1941) Universitätsrat in Tübingen 341 Knevels, Wilhelm Dr. (*1897) Professor, Vorsitzender des Vorstandes der Landeskirchlichen Vereinigung in Baden 719 Koch Mitarbeiter der Stapoleitstelle Stuttgart 436 Koch, Erich (1896 - 1986) 1932 Gauleiter von Königsberg, 1941 - 1944 Reichskommissar für die Ukraine 90, 131 Köhler, Anna, geb. Maier 289, 291 Köhler, Dr. Ministerialrat im Reichsjustizministerium 116, 130 ff. Köhler, Emilie, geb. Reinhard 289, 292 Köhler, Hans 291 Köhler, Heinrich (1878 - 1949) 1927 - 1928 Reichsfinanzminister, 1928 - 1932 MdR (Zentrum) 711 Köhler, Ludwig Dr. (1868 - 1953) 1918 Chef des Württ. Departements des Innern 512 Köhler, Philipp Julius 289, 291 Köhler, Raimund Dr. Direktor des Leipziger Messeamts 352 Köhler, Walter (1897 - 1989) 1933 - 1945 Bad. Ministerpräsident 17, 23, 289 - 310, 323, 328, 629, 656, 730, 734, 743, 745, 747 f., 750, 753 ff., 763, 773 Köhnlein, Ernst Dr. (*1904) Stadtpfarrer von Heidelberg, nach 1945 Kirchendekan 679 Kölle, Hugo (1903 - 1984) 1933 - 1945 Bürgermeister von Heilbronn 144 Koransky, Walter (1889 - 1963) 1947 Ministerialrat im Ministerium für Politische Befreiung, 1955 Präsident des Staatsgerichtshofs Baden-Württemberg 221 Kraft, Auguste, geb. Wiedel (*1896) 311 f., 331 Kraft, Herbert (1866 - 1946) 1929 - 1934 MdL Baden (NSDAP), 1933 - 1934 Landtagspräsident, 1935 - 1945 Ministerialrat im Bad. Kultusministerium 300, 311 - 332, 743, 750 Kraft, Johann Dr. 311 Kraft, Karoline, geb. Scheufele 311 Kramer, August (*1900) 1927 - 1930 Gaugeschäftsführer der NSDAP Baden, 1930 Leiter des Personalamts der Gauleitung 243, 744 Krämer, Viktor (1881 - 1937) Verleger in Heilbronn 151 Kranzbühler, Otto Rechtsanwalt 531 Kreeb, Theodor (1882 - 1954) Landrat 699 Krieck, Ernst Dr. h.c. (1882 - 1947) Professor, 1937 - 1938 Rektor der Univ. Heidelberg 637 f., 644, 649 Kriegsheim, Arno SS-Hauptsturmführer 431 f. Kroll, Hugo (1875 - 1953) 1928 erster Gauführer der HJ, 1931 - 1945 Stadtrat von Stuttgart (NSDAP) 693 Krüger, Dr. Rechtsanwalt 120 ff. Krüger, Friedrich Wilhelm (1894 - 1945) SS-Obergruppenführer 81, 83, 90 Kube, Wilhelm (1887 - 1943) 1928 - 1943 Gauleiter des Gaues Ostmark, 1941 - 1943 Generalkommissar von Weißruthenien 86 Kübler, Karl (1880 - 1945) Beigeordneter in Heilbronn 156 Kühlewein, Julius (1873 - 1948) 1933 - 1946 ev. Landesbischof von Baden 719 Kühn, Adolf (1886 - 1968) 1925 -1933 MdL Baden (Zentrum), 1946 - 1963 MdL Württemberg-Baden/ Baden-Württemberg (CDU) 322 Kuhn, August SA-Mann 80 Kuhn, Hans bis 1929 Ortsgruppenleiter der NSDAP Stuttgart 276 Künßberg, Eberhard von Dr. (1881 - 1941) Professor 642 Kunstmann, Heinrich Obermedizinalrat, 1933 bad. Landesführer der Junglehrerschaft 574 Küstner, Otto Dr. (*1886) 1935 - 1945 Präsident des OLG Stuttgart 119 f., 126 f. L Laepple, Paul (1881 - 1963) 1922 - 1951 Direktor der Dresdner Bank Ulm 361 Personenregister 861 <?page no="863"?> Lammers, Hans Heinrich (1879 - 1962) 1933 - 1945 Chef der Reichskanzlei 526, 766, 768 Lammert, Friedrich Dr. (1890 - 1956) Lehrer 626 Landgraf, Alexander (1906 - 1972) 1937 - 1942 Leiter der Stapoleitstelle Karlsruhe 16, 31 - 75, 557 Landgraf, Anne Marie, geb. Eichhorn (*1869) 32, 54 Landgraf, Elfriede, geb. Honje (*1909) 32, 56 Landgraf, Hanne (*1914) 1966 - 1976 MdL Baden-Württemberg (SPD) 819 Landgraf, Johannes (*1862) 31, 54 Lang, Karl Dr. (*1913) 1936 - 1939 Mitarbeiter in der Reichsstudentenführung, seit 1942 Regierungsrat in der Parteikanzlei 583 Lange, Rudolf Erwin Dr. (1910 - 1945) SS-Sturmbannführer, Regierungsrat, 1939 - 1940 stellv. Leiter der Stapoleitstelle Stuttgart 435 Lauer, Dr. Amalie (*1882) 1919 MdL Preußen (Zentrum), Direktorin der Wohlfahrtsschule in Köln 235 Laule, Georg Dr. 1933 Kreisschulrat von Heidelberg 661, 663 ff., 680 Lauterbacher, Hartmann (*1909) 1940 - 1945 Gauleiter von Süd-Hannover- Braunschweig 20 Leclerc de Hautecloque, Philippe (1902 - 1947) Franz. General 769 Leers, Otto Dr. h.c. (1875 - 1942) 1926 - 1929 Bad. Minister für Kultus und Unterricht (DDP), 1929 - 1933 MdL 627 Lehmann, Julius Friedrich (1864 - 1934) Verleger 170, 178 f., 181, 194 Lehnich, Helmut (*1926) 337 Lehnich, Hildegard, geb. Schlegel (*1906) 333, 337 Lehnich, Irmgard Elisabeth, geb. Gerstenberg (1903 - 1993) 333, 335, 337, 341, 352 Lehnich, Karl (1869 - 1934) Flaschnermeister 333, 335 Lehnich, Oswald Dr. (1895 - 1961) Professor, 1933 - 1935 Württ. Staatsminister für Wirtschaft 333 - 359, 610 f. Lehnich, Rosalie, geb. Klimek (1874 - 1941) 333, 335 Lehnich, Sigrid (*1934) 337 Lehnich, Waltraut (*1931) 337 Lehrs, Dr. 1920 Referent der Sicherheitswehr im Bad. Innenministerium 541 Leibbrandt, Georg Dr. (*1899) Abteilungsleiter im Ostministerium 105 Lemberg, Max Rudolf (1896 - 1975) Privatdozent 576 Lenard, Philipp Dr. mult. (1862 - 1947) Professor, 1905 Nobelpreisträger für Physik 636 Lenz, Fritz Dr. (1887 - 1976) Professor 181 Lenz, Karl (*1899) 1929 - 1930 MdL Baden (NSDAP), Politischer Leiter der NSDAP, 1931 - 1932 Gauleiter von Hessen-Darmstadt 297, 743 Leonardo da Vinci (1452 - 1519) Ital. Maler, Baumeister 167 Leopold II. (1747 - 1792) 1790 - 1792 Röm. - dt. Kaiser 506 Leupold Stellv. Kommandant der Infanterieschule München 739 Ley, Robert Dr. (1890 - 1945) 1928 - 1932 MdL Preußen (NSDAP), 1930 - 1945 MdR, 1931 - 1934 stellv. Reichsorganisationsleiter, 1933 - 1945 Leiter der DAF 297, 493, 747 Lie, Jonas (1899 - 1945) Polizeioffizier, norw. Kollaborateur 426 Liesching, Theodor (1865 - 1922) 1900 - 1922 MdL Württemberg (DDP), 1918 - 1922 Finanzminister 512 f. Linden, Herbert Dr. (gest. 1945) Ministerialdirigent im Reichsinnenministerium, 1941 Reichsbeauftragter für die Heil- und Pflegeanstalten 27, 607 List, Guido von (1848 - 1919) Schriftsteller Liszt, Franz (1811 - 1886) Komponist, Pianist 172 Loduchowski, Hans-Willy Dr. Gerichtsassessor 120, 122 Löffler, Paul Dr. (1903 - 1959) Oberregierungsrat im Württ. Wirtschaftsministerium, 1944 - 1945 Erster Beigeordneter und Bürgermeister von Ulm 346 Lorenz, Emil Zahnarzt 809 Lossow, Otto von (1868 - 1938) Reichswehrkommandant, Bayer. Landeskommandant 741 Personenregister 862 <?page no="864"?> Ludendorff, Erich (1865 - 1937) Preuß. General 366, 408, 450, 453 f., 739 Ludin, Hanns Elard (1905 - 1947) 1932 - 1945 MdR (NSDAP), SA-Führer, 1941 Gesandter in der Slowakei 82, 85, 280, 746 Lüdinghausen, Otto Frhr. von 531 Luetgebrune, Dr. Rechtsanwalt 274 Luger, Ludwig Oberstaatsanwalt am SG Straßburg 774 Luther, Hans (1879 - 1962) 1925 - 1926 Reichskanzler 337 Luther, Martin (1483 - 1546) Reformator 175 Luther, Martin (1895 - 1945) 1940 - 1943 Chef der Deutschland-Abteilung im AA 284, 427, 761 Lutze, Viktor (1890 - 1943) 1934 - 1943 SA-Stabschef 90, 152 M Maas, Hermann (1877 - 1970) Stadtpfarrer in Heidelberg 668 f., 830 MacDonald, Ramsay (1861 - 1937) 1924, 1929 - 1935 brit. Premierminister 519 Mackensen, Hans Georg von (1883 - 1947) Staatssekretär im AA 531 Mackensen, Winifred Mathilde von, geb. Freiin von Neurath (1904 - 1985) 509, 526, 532, 535 Mager, Leopold (1895 - 1966) 1933 - 1945 Bürgermeister von Konstanz 771 Mahraun, Arthur (1890 - 1950) Gründer des Jungdeutschen Ordens 55 Maier, Dieter (1938 - 1941) 391 Maier, Elsa, geb. Baumeister (1902 - 1967) 361, 364, 366, 368 f., 377, 396 - 399 Maier, Emil (1876 - 1932) 1909 - 1913, 1919 - 1932 MdL Baden (SPD) 299 Maier, Eugen (1899 - 1940) 1932 - 1940 NSDAP-Kreisleiter von Ulm 361 - 403 Maier, Gerta, geb. Goldschmidt (*1902) 604 Maier, Reinhold Dr. (1889 - 1971) 1930 -1933 Württ. Wirtschaftsminister (DDP), 1932 - 1933 MdL, MdR, 1946 - 1964 MdL Württemberg-Baden/ Baden-Württemberg (DVP/ FDP), 1945 - 1952 Württ.-Bad. Ministerpräsident, 1952 - 1954 Bad.-Württ. Ministerpräsident, 1953 - 1959 MdB (FDP) 345, 533 f., 564, 604, 702 Maier, Rosa (1874 - 1952) 361 Maier, Vitus (1872 - 1915) 361 f. Maier, Wilhelm (1894 - 1947) 1942 - 1945 NSDAP-Kreisleiter von Ulm 402 Mandry, Dr. Rechtsanwalt 136 f. Maniu, Iuliu (1873 - 1953) 1926 - 1946 Vors. der Nationalen Bauernpartei Rumäniens 561 Martens, Wilhelm Dr. (*1889) 1945 Präsident des OLG Karlsruhe 203, 222 Martzloff, Philipp (1880 - 1962) 1919 - 1921, 1925 - 1933 MdL Baden (SPD), 1918 - 1919 Minister für Übergangswirtschaft und Wohnungswesen 738 Marum, Ludwig Dr. Dr. h.c. (1882 - 1934) 1914 - 1928 MdL Baden (SPD), 1918 - 1919 Justizminister, 1919 - 1929 Staatsrat, 1928 - 1933 MdR 26, 44, 546, 549 f., 563, 738, 748 f., 818 Marum-Lunau, Elisabeth (*1910) 549, 556 Marx, Alfred (1899 - 1988) 1945 - 1964 Landgerichtsdirektor in Stuttgart 610 Marx, Karl (1818 - 1883) Philosoph 107 Matthaei, Rupprecht Dr. Professor 342 Mattheiß, Charlotte 405, 416 Mattheiß, Hermann Hauptlehrer 405, 407 Mattheiß, Hermann Dr. (1893 - 1934) SA-Standartenführer, 1933 - 1934 Leiter der Stapoleitstelle Stuttgart 16, 24, 26, 405 - 443, 604, 606 Mauk, Walther (1899 - 1979) Güterverwalter von Robert Bosch 107 Maurer 1930 SA-Führer in Stuttgart 276 Mauthe, Otto Dr. Obermedizinalrat, Sachbearbeiter für das »Irrenwesen« im Württ. Innenministerium 608 Max von Baden (1867 - 1929) Bad. Thronfolger, 1918 Reichskanzler 299 Maxwell-Fyfe, Sir David (1900 - 1967) Stellv. brit. Hauptankläger vor dem IMT 531 Mayer Kriminalpolizist 394 Mayer, Therese, geb. Oser 774 Mayer, Wilhelm Reichsbahnbeamter 774, 778 McCloy, John (1895 - 1989) Amerik. Politiker, 1949 - 1952 Hoher Kommissar für Deutschland 106, 534 Personenregister 863 <?page no="865"?> Meditsch, Otto (1896 - 1976) bis 1945 Landrat von Bahlingen 699 Meister, Albert (1895 - 1942) 1934 - 1942 Bundesführer des Deutschen Sängerbundes 612 Melchior, Carl (1871 - 1933) Finanzfachmann 519 Melzer, Karl Vizepräsident der Reichsfilmkammer 352 Mendelssohn-Bartholdy, Felix (1809 - 1847) Komponist 613 Mergenthaler, Christian Johann (1853 - 1918) 15, 445 f. Mergenthaler, Christian Julius (1884 - 1980) 1933 - 1945 Württ. Ministerpräsident, Kultminister 15, 139, 280, 334, 344, 347, 352, 367, 412, 414, 421 ff., 445 - 475, 482, 484, 486 ff., 493, 605, 786, 788, 796 Mergenthaler, Lore (*1912) 445, 448 Mergenthaler, Marie Elisabeth, geb. Dangel (1891 - 1933) 445, 448 f. Mergenthaler, Sofie, geb. Bauder 445, 447 Merk, Franz (1894 - 1945) 1929 - 1933 MdL Baden (NSDAP), Politischer Leiter der NSDAP 300, 743 Merk, Wilhelm Dr. Professor, Regierungsrat 339 Merkenschlager, Friedrich Dr. (1892 - 1968) Professor 175 f. Mesny, Maurice (gest. 1945) Franz. General 101, 107 Metternich, Paul Graf von (1853 - 1934) 1915 - 1916 dt. Botschafter in Konstantinopel 510 Meyding, Robert Dr. (1876 - 1950) Jurist, 1928 - 1945 Ministerialdirektor im Württ. Kultministerium 462 Meyer, Alfred Dr. (1891 - 1945) 1932 - 1945 Gauleiter von Westfalen (Nord) 62, Meyer, Conrad Ferdinand Dr. h.c. (1825 - 1898) Schweizer Dichter 651 Meyer-König, Otto Dr. Chirurg, SA-Sanitätsführer 393 Meyer-Laule, Emmy (*1899) 1949 - 1961 MdB (SPD) 680 Michel, Elmar Dr. 1940 - 1942 Leiter der Abteilung Wirtschaft beim Chef des Verwaltungsstabes/ Militärverwaltung in Frankreich 615 Mickel, Edmund (1825 - 1892) Ev. Pfarrer 202, 204 Mickel, Edmund Heinrich (1875 - 1949) 1938 - 1942 Präsident des LG Mannheim, Vorsitzender des SG Mannheim 16 f., 26, 201 - 224 Mickel, Pauline, geb. Spies (1837 - 1918) 202 Mildenberger, Georg (1888 - 1963) 1940 - 1945 Direktor des Kurfürst-Friedrich- Gymnasiums Heidelberg 670 Miller, Alfred 1927 - 1935 Herausgeber der »Flammenzeichen« 601 Milstein, Nathan (1904 - 1992) Violinist 615 Mitteis, Heinrich Dr. (1889 - 1952) Professor 576 Möhler, Eugen Dr. Ministerialrat im Württ. Wirtschaftsministerium 346 Mohr, Franz (*1882) 1933 - 1939 Leiter des KZ Kislau 41 Möller, Alex Dr. h.c. (1903 - 1985) 1946 - 1952 MdL Württemberg-Baden (SPD), 1952 - 1961 MdL Baden-Württemberg, 1961 - 1976 MdB, 1969 - 1971 Bundesfinanzminister 806, 819 - 824 Mombert, Alfred Dr. (1872 - 1942) Schriftsteller 642 Moraller, Franz (1903 - 1986) Schriftleiter des »Führer«, ab 1942 der »Straßburger Neuesten Nachrichten«, 1933 Pressechef der Bad. Regierung, 1934 - 1942 Geschäftsführer der Reichskulturkammer, Leiter des Reichskulturamtes der NSDAP bei der Reichspropagandaleitung 738, 740, 743, 810 Moser von Filseck, Alexander (1841 - 1903) Bankdirektor 508 Moser von Filseck, Karl (1869 - 1949) Württ. Gesandter in München 508 Moser von Filseck, Karl Rudolf (1840 - 1909) 1890 - 1894 Württ. Gesandter in Berlin 508 Mosthaf, Walther (1887 - 1970) Oberregierungsrat im Württ. Wirtschaftsministerium Mozart, Wolfgang Amadeus (1756 - 1791) Komponist 172 Müller, Franz (*1924) Mitglied der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« 394 Müller, Gebhard Dr. (1900 - 1990) 1948 - 1952 Württ.-Hohenz. Staatspräsident, Finanzminister, 1950 - 1952 Justizminister, 1953 - 1958 Bad.-Württ. Ministerpräsident (CDU) 473 Personenregister 864 <?page no="866"?> Müller, Heinrich (1900 - 1945) SS-Gruppenführer, 1939 - 1945 Amtschef im RSHA 74, 90, 424 Müller, Hermann (1911 - 1972) Kath. Pfarrer 820 Müller, Walter d.i. Wilhelm Murr 477 Müller-Trefzer, Friedrich-Karl (1879 - 1960) 1933 Ministerialrat, Leiter der Bad. Staatskanzlei, 1940 - 1945 Ministerialdirektor im Innenministerium 559, 561 f., 735 Munder, Eugen (*1899) 1925 - 1928 Gauleiter von Württemberg 482, 790 Murr, Lina (1893 - 1945) 477, 497, 501 Murr, Michael 15, 477 Murr, Selma 477 Murr, Wilfried (1923 - 1944) 477, 497 Murr, Wilhelm (1888 - 1945) 1928 - 1945 Gauleiter von Württemberg, 1933 Württ. Staatspräsident, Reichsstatthalter, 1939 Reichsverteidigungskommissar 12, 15 f., 22 f., 25 f., 81 f., 85, 96 f., 117, 130, 145 f., 149, 152, 276, 279 f., 334, 343 ff., 347, 349, 367 f., 376, 384 f., 389, 392, 395, 400, 409 ff., 413 f., 421 ff., 457 f., 461, 463 ff., 469 ff., 477 - 502, 529, 596, 604 f., 608, 611, 613 f., 618, 684, 689 f., 693, 695, 700 f., 754, 771, 782, 785, 789, 796 - 799, 832 Mußgay, Emma, geb. Schanbacher 406, 433, 439 Mußgay, Friedrich (1892 - 1946) SS-Obersturmbannführer, 1941 - 1945 Leiter der Stapoleitstelle Stuttgart 16, 405 - 443, 500 Mußgay, Friedrich Georg (*1847) 406, 432 Mußgay, Fritz (*1918) 433 Mußgay, Johannes (*1808) 432 Mußgay, Karoline, geb. Bay 406, 432 Mußgay, Lorenz (*1765) 432 Mußgay, Manfred (*1927) 433 Mussolini, Benito (1883 - 1945) Duce der ital. Faschisten, 1922 - 1943 ital. Ministerpräsident 515 Mutius, Gerhard von Botschaftsrat 510 Mutschmann, Martin (1879 - 1948) 1925 - 1945 Gauleiter, 1933 - 1945 Reichsstatthalter von Sachsen 348, 352 N Nachmann, Albert Dr. (1884 - 1947) Rechtsanwalt 546, 550, 749 Nagel, Wilhelm Komponist 613 Naumann, Friedrich (1860 - 1919) 1907 - 1912 MdR (bis 1910 Freisinnige Vereinigung, danach Fortschrittliche Volkspartei), 1913 - 1918 MdR (FVP), Jan. - Aug. 1919 MdR (DDP) 450, 651 Naumann, Otto (1876 - 1961) 1933 - 1945 Landrat von Heidelberg 666 ff. Neifer Franz. Anstaltsgeistlicher 777 f. Neinhaus, Carl Dr. (1888 - 1965) 1928 - 1945 Oberbürgermeister von Heidelberg 663 f., 666 ff., 674, 678 Neurath, Constantin Alexander Frhr. von Dr. (1902 - 1981) Attaché im AA 509, 530 Neurath, Constantin Dr. (1739 - 1816) Präsident des Hofgerichts Rastatt 506 Neurath, Constantin Franz (1777 - 1817) 1817 Chef des Württ. Justizdepartements 506 Neurath, Constantin Justus Frhr. von (1807 - 1876) 1851 - 1854 württ. Chef des Departements des Königl. Hauses und der auswärtigen Angelegenheiten, 1864 - 1867 Chef des Justizdepartements 506 Neurath, Ernst Joseph Frhr. von (1877 - 1960) Offizier 506 Neurath, Konstantin Frhr. von (1847 - 1912) 1881 - 1890 MdR (Freikonservative / Dt. Reichspartei) 503, 506 f., 510 Neurath, Konstantin Frhr. von (1873 - 1956) 1932 - 1938 Reichsaußenminister, 1939 - 1941 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren 503 - 538 Neurath, Marie Auguste Frfr. von, geb. Moser von Filseck (1875 - 1960) 503, 508, 534 Neurath, Mathilde Frfr. von, geb. Freiin von Gemmingen-Hornberg (1847 - 1924) 503, 506, 509 Neurath, Wilhelm Heinrich Frhr. von (1874 - 1962) Offizier 506 f. Neureuther, Adolf (*1893) 1941 Stadtschulrat von Heidelberg 662, 673 f. Nickles, Hermann 1924 Ortsgruppenleiter der NSDAP Offenburg 709 Niekau, Dr. Professor 353 Nietzsche, Friedrich (1844 - 1900) Philosoph 169, 777 Nußbaum, Christian Daniel (1888 - 1939) 1929 - 1933 MdL Baden (SPD) 748, 750 Personenregister 865 <?page no="867"?> O Odenwald, Dr. Theodor (1889 - 1970) Theologe 645 Oehlkers, Friedrich Dr. (1890 - 1971) Professor 195 Oestreich, Gerhard Dr. (1910 - 1978) Professor 639 Ohlendorf, Otto (1907 - 1951) SS-Gruppenführer, 1941 Chef der Einsatzgruppe D 72 Olpp, Felix (*1905) Mitarbeiter im Privatsekretariat von Robert Bosch 107 f. Öschey Vorsitzender des SG Nürnberg 134 Ostern, Hermann Dr. (1883 - 1944) bis 1939 Direktor des Kurfürst-Friedrich- Gymnasiums Heidelberg 670 P Pacelli, Eugenio (1876 - 1958) 1930 - 1939 Kardinalstaatssekretär, 1939 - 1958 Papst Pius XII. 758 Paganini, Niccolò (1782 - 1840) Ital. Violonist, Komponist 172 Pantle Rechtsanwalt 140 Papen, Franz von (1879 - 1969) 1920 - 1928, 1930 - 1932 MdL Preußen (Zentrum), 1932 Reichskanzler, 1933 Vizekanzler, Reichskomissar für Preußen 505, 517 - 521, 603, 629, 788 Pascal, Blaise (1623 - 1662) Franz. Philosoph, Mathematiker 167 Paul, Else (*1891) 1931 - 1934 Kreisfrauenschaftsleiterin der NSF Karlsruhe, 1934 - 1945 stellv. Reichsfrauenführerin 252 Pavelic, Ante (1889 - 1959) Führer der kroat. Ustascha, 1941 -1944 kroat. Staatschef 427 Payer, Adolf (1896) 1943 - 1945 Landgerichtsdirektor in Stuttgart 119 Pernet, Heinz Offizier 739 Petrarca, Francesco (1304 - 1374) Ital. Dichter 167 Petzold, Gustav 418 Pezold, Gustav (*1891) Kapitänleutnant, Anführer des Tübinger Studentenbataillons 271 f. Pflaumer, Hans Oberlehrer 539 f. Pflaumer, Hertha, geb. Hauck (1899 - 1979) 539, 541 Pflaumer, Karl (1896 - 1971) 1933 - 1945 Bad. Innenminister 15, 26 f., 47 ff., 67, 304, 539 - 566, 629, 636, 648, 656, 661, 718, 744, 748 ff., 763, 770, 773 Pflaumer, Lina, geb. Raab 539 f. Pfleiderer, Max Dr. (1877 - 1936) Ministerialrat im Württ. Innenministerium, 1934 - 1936 Präsident der Ministerialabteilung für Bezirks- und Körperschaftsverwaltung 609 Pflüger, Albert (1879 - 1965) 1914 - 1933 MdL Württemberg (SPD), 1928 - 1932 Präsident des Württ. Landtages, 1946 - 1952 MdL Württemberg-Baden, 1952 - 1955 MdL Baden-Württemberg 603 Pfundtner, Hans (1881 - 1945) 1933 - 1943 Staatssekretär im Reichsinnenministerium 560 Philipp Albrecht (1893 - 1975) Herzog von Württemberg 411 Pirrung, Adolf (1878 - 1965) Direktor der Oberschwäbischen Elektrizitätswerke 348 Pistorius, Dr. Theodor von (1861 - 1939) Professor, 1914 - 1918 Chef des Württ. Finanzdepartements 339, 512 Pius XII., siehe Pacelli Planck, Max Dr. (1858 - 1947) Professor, 1930 - 1937 Präsident der Kaiser- Wilhelm-Gesellschaft 726 Platon (427 - 347) Griech. Philosoph 167 Plattner, Fritz (1901 - 1960) 1931 Gaubetriebszellenobmann der NSDAP, 1933 - 1945 MdR 809 f. Ploetz, Alfred Dr. (1860 - 1940) Professor 181 Pressel, Wilhelm (*1895) Mitglied des ev. Oberkirchenrats von Württemberg 353 Preuß, Hugo Dr. (1860 - 1925) 1919 Reichsinnenminister (DDP) 207 Prützmann, Hans Adolf (1901 - 1945) SS-Gruppenführer, 1941 HSSPF Rußland-Süd (Ukraine) 414, 416, 421 Puschacher, Karl Schriftleiter des »Leonberger Tagblatts« 601 Personenregister 866 <?page no="868"?> Q Quint, Karl Dr. (*1900) 1936 Oberlandesgerichtsrat, 1943 - 1945 Senatspräsident in Frankfurt 131 Quisling, Vidkun (1887 - 1945) Führer der Norw. Nasjonal Samling 177, 426 R Radbruch, Gustav (1878 - 1949) 1920 - 1924 MdR (SPD), 1921 - 1923 Reichsjustizminister 209, 830 Raeder, Erich (1876 - 1960) Großadmiral, 1935 - 1939 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine 525 Rathenau, Walther (1867 - 1922) 1920 Wiederaufbauminister, 1922 Reichsaußenminister 37, 270, 272 Rau, Edmund (1868 - 1953) Ministerialdirektor, Staatsrat im Württ. Staatsministerium 345 Rauschning, Hermann (1887 - 1982) Politiker, Publizist 521 Regenbogen, Otto Dr. (1891 - 1966) Professor 576 Reichinger Leiter des Gauorganisationsamtes Bayern 806 Reihling, Hermann (1892 - 1949) Oberregierungsrat im Württ. Innenministerium 609 Reinbold, Georg (1885 - 1946) 1925 - 1933 MdL Baden (SPD) 300, 324 Reinerth, Hans Dr. Professor 342 Reinhard, Hans-Karl von Oberlandrat 560 Reinhardt, Walther (1872 - 1930) 1919 Preuß. Kriegsminister, 1920 - 1925 Befehlshaber des Wehrkreises V (Stuttgart) 272, 313 Reinhart, Hans (1880 - 1963) Schweizer Schriftsteller 642 Reinle, Heinrich (1892 - 1945) 1937 - 1945 Präsident des OLG Karlsruhe 211, 219 f., 766 Remmele, Adam (1877 - 1951) 1919 -1928 MdL Baden (SPD) 1919 - 1928 Innenminister, 1922 - 1923, 1927 - 1928 Staatspräsident, 1925 - 1926, 1929 - 1931 Kultusminister, Justizminister, 1928 - 1933 MdR 26, 207, 209, 296, 316 f., 320 ff., 544, 546, 548 f., 569, 661, 748, 786 Renault Franz. Offizier 777 Renoir, Jean (1894 - 1979) Autor und Regisseur 351 Renz, Frieda Wirtin einer DAV-Hütte 131 Reppmann, Paul (1890 - 1939) 1934 stellv. NSDAP-Kreisleiter von Heilbronn 149, 151 Ribbentrop, Joachim von (1893 - 1946) 1938 - 1945 Reichsaußenminister 87, 94, 284, 427, 523, 526 ff., 531 Richter, Johanna (1871 - 1943) Schriftführerin der DNVP Baden 630 Riedel, Hermann (1897 - 1982) 1935 - 1945 Erster Beigeordneter von Villingen 50, 52 Rieder, Otto (1879 - 1937) Ev. Pfarrer, 1932 Dekan in Schorndorf 796 Riedner, Peter (1883 - 1968) 1925 - 1929 Gauschatzmeister der NSDAP Baden, 1929 - 1935 Gaurichter, 1930 - 1945 Stadtrat von Karlsruhe 806, 810, 814 Riegel Rechtsanwalt 774 Riff, Raymond Tischler 562, 770 Ringler, Hugo Leiter der Hauptstelle Rednerwesen der NSDAP-Reichsleitung 389 Rinser, Luise (*1911) Schriftstellerin 162 Ritter, Gerhard Dr. (1888 - 1967) Professor 195, 627, 649, 796 Ritter, Thekla Baronin von 525 Ritter, Walter Dr. (1902 - 1968) 1934 - 1941 Sachbearbeiter für Verwaltungs- und Rechtsfragen beim Württ. Reichsstatthalter Roell, Willem Jonkher van (1873 - 1958) 1932 niederl. Oberbefehlshaber 618 Röhm, Ernst (1887 - 1934) 1931 - 1934 SA-Stabschef 81, 150, 280, 740 Röhn, Hermann (1902 - 1946) bis 1933 NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg, 1934 - 1945 stellv. Gauleiter von Baden 657, 744, 763, 770, 774, 776 ff. Rohracher, Andreas Dr. (*1892) 1943 Fürsterzbischof von Salzburg 592 Roller, Hugo (1907 - 1990) Gewerkschaftler, Sozialdemokrat 378 Rommel, Erwin (1891 - 1944) Generalfeldmarschall 361, 530 Roosevelt, Franklin D. (1882 - 1945) 1932 - 1945 Präsident der USA 472 Personenregister 867 <?page no="869"?> Rosenberg, Alfred (1893 - 1946) 1930 - 1945 MdR (NSDAP), 1933 - 1945 Leiter des Außenpolitischen Amtes der NSDAP 19, 89 ff., 93, 95, 102, 169, 182, 188, 192, 194, 196, 232, 431, 469, 583 f., 601, 613 Rossbach, Gerhard (*1893) Freikorpsführer 739 Roßmann SS-Gruppenführer 558 Roth, Albert (1893 - 1952) 1929 - 1933 MdL Baden (NSDAP), 1933 MdR, Politischer Leiter der NSDAP 744, 810 Rück, Fritz (1895 - 1959) Württ. Spartakistenführer 513 Rückert, Leopold (1881 - 1942) 1919 - 1933 MdL Baden (SPD), 1918 - 1921 Minister für Verkehr, 1928 - 1932 Staatsrat, 1932 - 1933 kommissarischer Innenminister, 1919 - 1920 MdR 320, 322, 738 Rüdiger, Karl (1877 - 1947) Landrat 699 Rudin, Ernst Dr. (1874 - 1952) Professor 187 Rueff, Otto (1891) Oberregierungsrat, Abteilungsvorstand im Polizeipräsidium Stuttgart 410 Ruge, Arnold (1881 - 1945) Privatdozent 809 Rümelin, Max von (1861 - 1931) 1908 - 1931 Kanzler der Univ. Tübingen 508 Rupp 1945 Direktor der Württembergischen Landessparkasse 701 Rupp, Johannes (1903 - 1978) 1930 - 1933 MdR (NSDAP), 1933 Bad. Staatskommissar für Justiz 212, 214, 748, 750 Rust, Bernhard (1883 - 1945) 1934 - 1945 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 340, 466, 469, 581 ff., 588, 593, 637 f., 641, 644, 715 f., 724, 726, 729 S Sauckel, Fritz (1894 - 1946) 1942 - 1945 Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz 754 Sauer, Karl Franz (1907) SA-Hauptsturmführer, Gestapobeamter 550 Sautter, Reinhold Oberkirchenrat der Württ. Landeskirche 123 Schacht, Hjalmar Dr. (1877 - 1970) 1923 - 1930, 1933 - 1939 Reichsbankpräsident, 1934 - 1937 Reichswirtschaftsminister 306, 348 Schäffer, Hans (1886 - 1967) 1929 - 1932 Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium 519 Schauz, Andreas (1893 - 1966) 1943 - 1945 Bürgermeister von Geislingen 371 Scheel, Cornelia, geb. Tillmans (1879 - 1942) 567 Scheel, Elisabeth, geb. Lotze (*1912) 567 Scheel, Gustav Adolf Dr. (1907 - 1979) 1936 Reichsstudentenführer, 1941 Gauleiter und Reichsstatthalter von Salzburg 17, 25, 567 - 594, 641, 649, 763, 767 Scheel, Wilhelm (1876 - 1949) Pfarrer 567, 571 Scheible, Jakob (1894 - 1968) 1922 - 1923, 1928 - 1929 Ortsgruppenleiter der NSDAP Geislingen 365 Scheiger, Emil (*1902) 1933 - 1934 Bürgermeister von Sulz 697 Schellenberg, Walter (1910 - 1952) 1939 - 1941 Leiter der Spionageabwehr Inland im RSHA, 1941 - 1944 Leiter des Auslandsnachrichtendienstes im RSHA 92 Scheuermann Rechtsanwalt 774 Scheuermann, Fritz Präsident der Reichsfilmkammer 349 Schick, Christian Friedrich (*1866) 33, 65 Schick, Emilie, geb. Fuchs (*1871) 33, 65 Schick, Irma, geb. Fastenau (*1912) 33, 66, 68 Schick, Walter Dr. (1909 - 1944) 1940 - 1942 stellv. Leiter, 1942 Leiter der Stapoleitstelle Karlsruhe 16, 31 - 75 Schindler, Rudolf (1903) 1930 - 1936 Gauamtsleiter der NSDAP für Kommunalpolitik Baden 694 Schirach, Baldur von (1907 - 1974) 1931 - 1940 Reichsjugendführer, 1940 Gauleiter, Reichsstatthalter von Wien 178, 612 Schlageter, Albert Leo (1894 - 1923) Freikorpskämpfer 758 Schlecht, Otto Dr. (*1890) Oberstaatsanwalt 119, 121, 127 Schleicher, Kurt von (1882 - 1934) General, 1932 Reichswehrminister, 1932 - 1933 Reichskanzler 517f., 520 f., 524 Schloßstein, Willy (1894 - 1953) Privatsekretär Robert Boschs 98 Schlotterbeck, Hermann (1919 - 1945) Kommunist. Widerstandskämpfer 440 Schmid, Adolf (*1905) 1931 Hauptschriftleiter des »Führer«, Leiter des Gaupropagandaamts der NSDAP Baden 744, 763 f. Personenregister 868 <?page no="870"?> Schmid, Franziska, geb. Becker 595, 620 Schmid, Gottfried Landwirt 15, 595 Schmid, Hermann (1892 - 1972) 1933 Staatskommissar für die Verwaltung der Stadt Ulm 375 f. Schmid, Johann Georg Fabrikant 226, 248 Schmid, Jonathan Dr. (1888 - 1945) 1933 - 1945 Württ. Innenminister, 1933 - 1935 Württ. Justizminister, 1936 - 1945 Württ. Wirtschaftsminister 16, 23, 26, 118, 334, 349, 411, 413, 595 - 621, 689, 691 f., 698, 787, 792, 799 Schmid, Wilhelmine, geb. Hecker 226, 248, 595 Schmidt SS-Gruppenführer 558 Schmidt, Friedrich Gottlob (1902 - 1973) 1931 Gaupropagandaleiter, Gaugeschäftsführer der NSDAP Stuttgart, 1933 - 1945 stellv. Gauleiter von Württemberg 489, 687, 693 f., 700, 792 Schmidt, Paul Rechtsanwalt 777 Schmidt, Robert (1864 - 1943) 1893 - 1898, 1903 - 1918 MdR (SPD), 1919 - 1922, 1929 Reichwirtschaftsminister 336 Schmidt-Bretten, Otto Heinrich (1873) 1905 - 1912 MdL Baden (Bund der Landwirte), 1921 - 1925 MdL (DNVP), 1929 - 1933 MdL (zuletzt NSDAP) 209, 748 Schmitt Brigadeführer 83 Schmitt, Andreas (1912 - 1944) Dt. »Volksgruppenführer« in Siebenbürgen 86, 94 Schmitt, Carl Dr. (1888 - 1985) Professor 118 Schmitt, Josef Dr. (1874 - 1939) 1921 - 1925, 1929 - 1933 MdL Baden (Zentrum), 1927 - 1931 Bad. Finanzminister, 1928 - 1930, 1931 - 1933 Staatspräsident, 1931 - 1933 Justizminister, 1931 Minister für Kultus und Unterricht, 1932 - 1933 MdR 308, 324 Schmitt, Krista, geb. Berger (1922 - 1942) 94 Schmitt, Kurt Dr. (1886 - 1950) 1933 - 1934 Reichswirtschaftsminister 345 Schmitthenner, Adolf (1854 - 1907) Pfarrer 623 f., 644 f. Schmitthenner, Adolf (1882 - 1962) Pfarrer 644, 647 Schmitthenner, Aline (1857 - 1922) 623 f. Schmitthenner, Emma (1890 - 1978) 623, 625, 647, 650 Schmitthenner, Friedrich von (1727 - 1790) Regimentskommandeur 624 f. Schmitthenner, Paul Dr. (1884 - 1963) Professor, 1933 - 1945 Bad. Staatsminister 623 - 653, 677, 748, 750, 757, 763, 773 Schmitthenner, Paul Dr. h.c. (1884 - 1972) Professor 15, 624 Schmoller, Eugen Dr. 1926 - 1933 Präsident des OLG Stuttgart 610 Schneckenburger, Erhard (1894 - 1959) 1931 - 1933 MdL Württemberg (SPD), 1946 - 1950 MdL Württemberg-Baden 787 f. Schneider, Hermann (*1894) 1937 - 1945 NSDAP-Kreisleiter von Mannheim 50 Schneidhuber, August (*1887) 1929 - 1931 Führer der SA-Gruppe München- Süd 484 Schoch-Leimbach, Emmy (1881 - 1968) Schneiderin, Inhaberin eines Modeateliers in Karlsruhe 243 Schöck, Willy Dr. (*1901) Rechtsanwalt 117, 124, 126 Scholl, Hans (1918 - 1943) Mitglied der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« 126, 433 Scholl, Inge (*1917) 433 Scholl, Magdalene (1881 - 1958) 126 Scholl, Robert (1891 - 1973) 1945 Oberbürgermeister von Ulm 126, 433 Scholl, Sophie (1921 - 1943) Mitglied der Widerstandsgruppe »Weiße Rose« 433 Scholl, Werner (1922 - 1944) 126 Scholtz-Klink, Gertrud (*1902) 1931 - 1934 Gaufrauenschaftsleiterin der NSF Baden, 1934 - 1945 Reichsfrauenführerin 227, 238, 240, 243, 245, 249, 260 Schreck, Arthur Dr. (1878 - 1963) 1934 - 1940 Direktor der staatl. Pflegeanstalt Rastatt 27, 553 Schück, Hermann Lehrer in Heidelberg, Mannheim, 670 Schulenburg, Fritz-Dietlof Graf von der (1902 - 1944) 1937 - 1939 stellv. Polizeipräsident von Berlin, seit 1939 stellv. Oberpräsident von Ober- und Niederschlesien 303, 800 Schultz, Dr. Professor 353 Personenregister 869 <?page no="871"?> Schultze, Walter Dr. (1894 - 1979) Professor, Ministerialdirektor, 1935 - 1944 Reichsamtsleiter des NS-Dozentenbundes 727 Schultze-Naumburg, Paul (1868 - 1949) Maler, Architekt 177 f., 194, 231 f., 246 Schumacher, Kurt (1895 - 1952) 1924 - 1931 MdL Württemberg (SPD), 1930 - 1933 MdR, 1946 - 1952 Vorsitzender der SPD, 1949 - 1952 MdB 825 Schumann, Gerhard Führer des SA-Studentensturms Tübingen, Landesführer des NSDStB Württemberg 470 Schumann, Horst Dr. (1906 - 1983) Euthanasiearzt, Leiter der Heil- und Pflegeanstalt Grafeneck, 1941 - 1944 Arzt im KZ Auschwitz 608 Schuppel, Adolf (1895 - 1946) 1934 - 1945 bad. Gaupersonalamtsleiter, Gaustabsamtsleiter 218, 672, 674, 744, 763, 774, 776 ff. Schwäble, Georg (1884 - 1937) 1933 Politischer Sonderkommissar für Gemeindeangelegenheiten 376 Schwamberger, Emil (1882 - 1955) 1919 - 1933 Oberbürgermeister von Ulm 370 f., 375 Schwarz Regierungsrat 727 Schwarz, Adolf (1883 - 1932) 1918 - 1919 Bad. Minister für Soziale Fürsorge (SPD), 1920 - 1924 MdR (USPD) 206, 738 Schwarz, Eberhard Gerichtsassessor 122, 125 Schwarz, Josef (1910 - 1985) 1950 - 1964 MdL Württemberg-Baden, Baden- Württemberg (BHE/ CDU) 533 Schwarzhaupt, Elisabeth Dr. (1901 - 1986) Juristin, 1953 - 1969 MdB (CDU), 1961 - 1966 Ministerin für Gesundheitswesen 235 Schwenninger, Fritz (1885 - 1970) Regierungsdirektor 695, 701 Schwerin von Krosigk, Lutz Graf (1887 - 1977) 1932 - 1945 Reichsfinanzminister 19, 463, 519 f., 531 Sebottendorff, Rudolf von Gründer der »Thule-Gesellschaft« 69 Seebach, Kurt Dr. (1909 - 1967) Lehrer 634 Seiler, Bernhard (1853 - 1900) Magazinmeister 655, 657 Seiler, Hilda Luise, geb. Trunzer (1886 - 1937) 655, 658, 669 Seiler, Lini, geb. Eisengrein (*1909) Lehrerin 655, 669, 675, 677 Seiler, Susanna, geb. Maier (1864 - 1934) 655, 657 Seiler, Wilhelm (1891 - 1975) 1937 - 1945 NSDAP-Kreisleiter von Heidelberg 655 - 681 Semor, Ludwig Staatsanwalt am SG Straßburg 774 Siebert, Clara (1873 - 1963) 1919 - 1933 MdL Baden (Zentrum), 1932 - 1933 MdR 820, 823 Siehl, Matthes Schulleiter in Weinheim 306 Silberstein, Max Dr. (1897 - 1966) Landgerichtsrat in Mannheim 211 Silcher, Friedrich (1789 - 1860) Komponist 612 f. Sima, Horia (*1906) Chef der »Eisernen Garde« 94 Simon, Gustav (1900 - 1945) 1931 Gauleiter von Koblenz-Trier, 1940 - 1945 Chef der Zivilverwaltung von Luxemburg 765 Six, Franz Alfred Dr. (*1909) Professor, 1936 Leiter der Zentralabteilung II/ 1 im SD-Hauptamt 578 Soden, Julius Frhr. von (1846 - 1921) 1900 - 1906 württ. Chef des Königl. Hauses und des Departements der auswärtigen Angelegenheiten 511 Speer, Albert (1905 - 1981) 1942 - 1945 Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion 92, 303, 509, 534, 536, 772 Speidel, Hans (1897 - 1984) General, Stabschef der Heeresgruppe B (Nord- Frankreich), 1957 - 1963 Oberbefehlshaber der Nato-Landstreitkräfte in Mitteleuropa 530, 615, 617 f. Spieß, Heinz Dr. (*1911) Adjutant von Murr 500 Spohner NSDAP-Kreisleiter von Reutlingen 144 Sproll, Johannes Baptista Dr. Dr. (1870 - 1949) 1927 - 1949 Bischof von Rottenburg 436, 468, 492 Stadler, Andreas Widerstandskämpfer 440 Stähle, Eugen Dr. (1890 - 1948) Medizinalrat im Württ. Innenministerium 607 f. Stahlecker, Anna, geb. Zaiser (1872 - 1932) 405 Stahlecker, Anne-Kristine (*1934) 422 Stahlecker, Boto (*1938) 422 Personenregister 870 <?page no="872"?> Stahlecker, Eugen (*1867) Oberstudiendirektor 405, 417, 419 Stahlecker, Gerhard (*1906) Lehrer 417, 419 Stahlecker, Gisela (*1937) 422 Stahlecker, Konrad (*1934) 422 Stahlecker, Luise-Gabriele, geb. Freiin von Gültlingen (*1910) 405, 420, 422 Stahlecker, Rudolf (*1898) Lehrer 417, 419 Stahlecker, Walther Dr. (1900 - 1942) SS-Brigadeführer, Generalmajor der Polizei, 1934 - 1937 Leiter der Stapoleitstelle Stuttgart, 1941 Chef der Einsatzgruppe A 16, 342, 405 - 443 Staiger, Ewald Ministerialdirektor im Württ. Wirtschaftsministerium 346 Stalin, Josef (1879 - 1953) 1929 - 1953 Generalsekretär der KPdSU, Staatschef der UdSSR 85, 472, 767 Stauffenberg, Claus Schenk Graf von (1907 - 1944) Oberst i.G., Widerstandskämpfer 530, 536 Steck Rechtsanwalt 774 Steger, Karl Dr. (1889 - 1954) 1924 - 1928 MdL Württemberg (Völkisch-Sozialer Block) 456 Stein, Dr. Johannes (1896 - 1967) Professor 574 Steinle, Willy (*1914) Staatsanwalt 126 Steltzer, Theodor (1885 - 1967) Mitglied im Kreisauer Kreis, 1945 Mitbegründer der Berliner CDU 100 Stenglein, Ludwig 1924 Erster Staatsanwalt im Hitler-Prozeß 740 Stickel, Katharina Parteirednerin der NSDAP Karlsruhe 238 Stickl, Otto Dr. 1939 - 1945 Rektor der Universität Tübingen 583 Stochdorph, Emil 1857 Begründer der Tübinger Verbindung »Stochdorphia« 599 Stockinger, Friedrich (1878 - 1937) 1909 - 1921 MdL Baden (SPD), 1918 - 1919 Minister des Unterrichts 738 Stoll, Heinrich Dr. (1891 - 1937) Professor 339 f. Storz, Karl Dr. (1897 - 1970) 1933 Staatskommissar im Württ. Innenministerium 692 Stracke, Ernst Dr. Professor 342 Strasser, Gregor (1892 - 1934) 1925 - 1932 Reichspropagandaleiter der NSDAP 238, 408, 453, 455, 457, 520, 589, 743, 745, 747, 769 Strasser, Otto (1897 - 1974) Vertreter des sozialrevolutionären Flügels der NSDAP, Gründer der »Schwarzen Front« 453 Streicher, Ernst Landwirt 304, 306 Streicher, Julius (1885 - 1946) 1925 - 1939 Gauleiter von Franken, Herausgeber des »Stürmer« 44 f., 240, 454 Stresemann, Gustav (1878 - 1929) 1907 - 1929 (mit Unterbr.) MdR (DVP), 1923 Reichskanzler, 1923 - 1929 Reichsaußenminister 516 Ströle, Karl (1887 - 1981) bis 1945 Oberregierungsrat im Württ. Staatsministerium 530, 700 Strölin, Karl Dr. (1890 - 1963) 1933 - 1945 Oberbürgermeister von Stuttgart 85, 347, 472, 486, 491, 496 ff., 507, 529 f., 618 f., 693, 766, 785, 799 Stuber, Max Dr. 124 Stuckart, Wilhelm (1902 - 1953) 1933 - 1945 Staatssekretär im Reichsinnenministerium 561 Stülpnagel, Carl-Heinrich von (1886 - 1944) General, 1942 - 1944 Militärbefehlshaber in Frankreich 614 Stülpnagel, Otto von (1878 - 1948) General, 1940 - 1942 Militärbefehlshaber in Frankreich 614 Stümpfig, Andreas (1856 - 1944) Landwirt 683 - 685 Stümpfig, Anna, geb. Hammer (1893 - 1966) 683, 686 Stümpfig, Georg (1890 - 1966) Kanzleidirektor im Württ. Innenministerium, Gauamtsleiter für Kommunalpolitik 618, 683 - 703, 792 Stümpfig, Katharine, geb. Schüttler (1869 - 1932) 683 Sultan, Herbert Siegfried Dr. (1894 - 1954) Privatdozent 575 Swiderski, Marian (gest. 1942) Poln. Zwangsarbeiter 436 T Tacitus, Cornelius (55 - 116) Röm. Geschichtsschreiber 168 Personenregister 871 <?page no="873"?> Tartini, Giuseppe (1692 - 1770) Ital. Komponist 172 Taubenberger, Karl (1888 - 1945) Ortsgruppenleiter der NSDAP Sontheim 156 Täubler, Eugen (1879 - 1953) Historiker 642 Teck, Mary von (1867 - 1953) 509, 515 Tellenbach, Klaus (1902 - 1985) 1937 - 1945 Landrat von Tauberbischofsheim 755 Terboven, Josef (1898 - 1945) 1928 Gauleiter von Essen, 1935 Oberpräsident der Rheinprovinz, 1940 - 1945 Reichskommissar von Norwegen 426 Teschemacher, Hans Dr. Professor 340 Thierack, Otto Georg (1889 - 1946) 1933 Sächs. Justizminister, 1936 - 1942 Präsident des VGH, 1942 - 1945 Reichsjustizminister 128, 132 Thoma, Hans (1893 - 1924) Maler, 1899 - 1916 Direktor der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe 229 Thoms, Walter Dr. (1899 - 1995) Betriebswirt 645 Todt, Fritz Dr. (1891 - 1942) 1933 Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen, 1940 - 1942 Reichsminister für Bewaffnung und Munition 580 Töpper, Friedrich (1891 - 1953) 1946 - 1950 MdL Württemberg-Baden (SPD), 1947 - 1952 Oberbürgermeister von Karlsruhe 806, 820, 822 f. Trendelenburg, Ernst Dr. (1882 - 1945) Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium 336, 339 Trotzkij, Leo (1879 - 1940) Russ. Revolutionär 35 Truman, Harry S. (1884 - 1972) 1945 - 1953 Präsident der USA 472 Trumpfheller, Jakob (1887 - 1945) Oberbürgermeister von Mannheim 680 Trunk, Richard (1879 - 1968) Komponist 612 Tschierschky, Karl 429 U Ubisch, Gerta von Dr. (1882 - 1965) Professorin 642 Ulrich, Fritz (1888 - 1969) Buchdrucker, Redakteur, 1930 - 1933 MdR (SPD), 1919 - 1933 MdL Württemberg, 1946 - 1952 MdL Württemberg-Baden, 1952 - 1968 MdL Baden-Württemberg 598, 604 Usadel, Willy Dr. Professor 340,342 V Vacher de Lapouge, Georges (1854 - 1936) Franz. Anthropologe, Soziologe 169 Vaterrodt, Franz General 769 f. Verdi, Giuseppe (1813 - 1901) Ital. Komponist 172 Vierke, Walter Bezirksführer des Stahlhelms 542 Vieser, Rudolf Kaufmann 809 Vogt, Anton (*1891) 1928 - 1945 Gauschatzmeister der württ. NSDAP 694 Voltaire (1694 - 1778) Franz. Philosoph 167 W Wacker, Anna, geb. Fehr (1857 - 1929) 705 ff. Wacker, Karl Josef (1855 - 1918) Architekt, 1903 - 1916 Stadtbaumeister von Offenburg 705 ff. Wacker, Mercedes, geb. Heinrich (*1906) 705, 724 Wacker, Otto Dr. (1899 - 1949) 1933 - 1935 Bad. Justizminister, 1933 - 1940 Kultus- und Unterrichtsminister 23 f., 126, 328, 574, 629 f., 636, 648, 705 - 732, 743, 748, 750, 757 Wacker, Theodor (1845 - 1921) 1888 - 1921 Vorsitzender des bad. Zentrums 706 Wagemann, Ernst Dr. (1884 - 1956) Professor 336 Wagner, Anna Luise, geb. Mayer (1906 - 1945) 733 f., 773, 778 Wagner, Otto Oberstaatsanwalt 126 Wagner, Richard (1813 - 1883) Komponist 172, 175, 612, 736 Wagner, Robert (1895 - 1946) 1929 - 1933 MdL Baden (NSDAP), 1925 - 1945 Gauleiter, 1933 Reichsstatthalter von Baden, 1940 - 1944 Chef der Zivilverwaltung im Elsaß 12, 15, 25, 27, 37 ff., 47 - 50, 57, 67 f., 216, 220, 239, 241, 243, 250, 258, 290, 292, 294, 296 - 305, 313, 317, 323, 325 f., 328 ff., 547., 550 f., 555, 557, 559, 561 ff., 570, 581, 614, 629, 631, 633 f., 648, 656 ff., 661, 666, 673 f., 677, 705, 709, 714, 721, 728, 730, 733 - 779, 810 f., 813, 821, 832 Personenregister 872 <?page no="874"?> Wagner, Sigrid (*1935) 773, 778 Wahl, Adalbert Dr. (1871 - 1957) Professor 338 Waldberg, Max von Dr. (1858 - 1938) Professor 641 f. Waldmann, Else, geb. Greiner (1893 - 1968) 781, 783, 801 Waldmann, Eva Maria, geb. Kochendorfer (1846 - 1923) 781 f. Waldmann, Georg Friedrich (1837 - 1914) Landwirt, Schultheiß 781, 783 Waldmann, Heinz (*1920) 783 Waldmann, Karl Wilhelm (1889 - 1969) 1933 - 1945 Staatssekretär beim Württ. Reichsstatthalter 23, 26, 118, 334, 344, 410 f., 462, 489, 684, 688 - 691, 694, 697, 700, 781 - 803 Waldmann, Lore 783 Waldmann, Wilhelm Paul (1887 - 1917) 783 Walther, Gustav Inspekteur der Bad. Polizei 542, 546, 548 Walz, Georg (1888 - 1952) 1933 - 1945 Präsident der Handwerkskammer Ulm 380 Walz, Hans (1883 - 1974) »Betriebsführer« der Robert Bosch AG 97 - 100, 109 Walz, Heinz Dr. Dozent 576 Wankel, Felix (1902 - 1988) Unternehmer, 1921 - 1932 Mitglied der NSDAP-Ortsgruppe Lahr 751 Warmbold, Hermann (1876 - 1976) 1932 - 1933 Reichswirtschaftsminister 520 Watter, Hans Frhr. von (gest. 1945) 1939 - 1944 Oberlandrat von Prag, 1944 - 1945 Ministerialrat im Staatsministerium für Böhmen und Mähren 507 Waumann, Friedrich (1860 - 1919) Schriftsteller, Politiker Weber, Alfred Dr. (1868 - 1958) Professor 576 Weber, Carl Maria von (1786 - 1826) Komponist 172 Weidner Parteirednerin der NSDAP Mannheim 238 Weigand, Ernst (1886 - 1972) Polizeimajor, Leiter des uniformierten Dienstes bei der Polzeidirektion Heidelberg 541 Weil, Max (*1871) Stadtrat von Geislingen (SPD) 365 Weinmayer Ortsgruppenleiter der NSDAP Stuttgart 276 Weiß, Franz (1892 - 1985) Kath. Pfarrer 383 Weiss, Joseph 770 Weizsäcker, Ernst Frhr. von (1882 - 1951) 1938 - 1943 Staatssekretär im AA, 1943 - 1945 dt. Botschafter beim Vatikan 285, 492, 516, 527, 529 Weizsäcker, Karl Hugo von (1853 - 1926) 1906 - 1918 Württ. Ministerpräsident 512 Wemmer Oberregierungsrat, Referent Martin Bormanns 728 Wendling Oberstaatsanwalt 130 Wenger Franz. Offizier 777 Wenz, Friedrich (*1900) 1931 - 1934 Bürgermeister von Eberbach 751 Werner, Paul 1933 - 1937 Leiter des Bad. Landeskriminalpolizeiamtes 40 Wetzel, Otto (1905 - 1982) 1933 - 1934 Bürgermeister von Heidelberg 664 Wetzlar, Heinrich (1868 - 1943) 1929 - 1933 Präsident des LG Mannheim 212 f. Wicke, Heinrich Polizeipräsident von Stuttgart 500 Wider, Helmut Dr. (*1898) Regierungsrat 688 f., 792 Wied, Friedrich Fürst Prinz zu (1872 - 1945) 517 Wied, Pauline Prinzessin zu (1877 - 1965) 517 Wied, Viktor Prinz zu (1877 - 1946) 517 Wienken, Heinrich (1883 - 1961) 1937 Titularbischof, 1937 - 1951 Leiter des Kommissariats der Fuldaer Bischofskonferenz in Berlin 757 Wilbrandt, Robert Dr. (1875 - 1954) Professor 338 Wilderer, Otto (*1902) Leitender Regierungsdirektor im Württ. Innenministerium 700 Wilhelm I. (1781 - 1864) 1816 - 1864 König von Württemberg 506 Wilhelm I. (1797 - 1888) 1871 - 1888 Dt. Kaiser 624 Wilhelm II. (1848 - 1921) 1892 - 1918 König von Württemberg 506 f., 511 ff., 517 Wilhelm II. (1859 - 1941) 1888 - 1918 Dt. Kaiser 510 Wilhelm, Friedrich (1882 - 1939) Professor 707 f. Personenregister 873 <?page no="875"?> Wilhelm, Josef Georg (1887 - 1952) 1931 - 1935 Polizeidirektor von Heilbronn 148, 152 f. Wilhelmi, Dr. Ministerialrat im Reichsjustizministerium 131 Wilmanns, Karl Dr. (1873 - 1945) Professor 642 Winter, Ludwig d.i. Hans Friedrich Günther 196 Wirth, Christian (1885 - 1944) Kommandant des Vernichtungslagers Belzec 607 Wirth, Josef Dr. (1879 - 1956) 1914 - 1933 MdR (Zentrum), 1913 - 1921 MdL Baden, 1921 - 1922 Reichskanzler 515, 713, 738 Witiska, Josef Dr. SS-Obersturmbannführer 95 Witkop, Philipp (1880 - 1942) Professor 707 f. Wittje, Gustav Leiter des SS-Hauptamts 342 Wohleb, Leo (1888 - 1955) 1947 - 1952 Bad. Staatspräsident 328, 750 Wolf, Gustav Dr. (1865 - 1940) Professor 642 Wolff, Lotte Dr. 577 Wolfhard, Johann Dr. (1876 - 1959) 1925 - 1933 MdL Baden (DDP) 320, 322 Worch, Adam 805 ff. Worch, Erika, geb. Riedner 805 f., 824 Worch, Sophie, geb. Stengel 805 f. Worch, Willi (1896 - 1972) 1930 - 1935 Stadtrat von Karlsruhe (NSDAP), 1932 - 1944 NSDAP-Kreisleiter von Karlsruhe 805 - 826 Wurm, Theophil (1868 - 1953) 1933 - 1953 ev. Landesbischof von Württemberg 353, 423, 458, 467, 598, 608, 618, 796 f. Wurster, Georg (*1897) NSDAP-Kreisleiter von Calw 421 Z Zimmer, Eduard (*1888) Stellv. Polizeipräsident von Stuttgart 409 Zimmer, Heinrich Dr. (1890 - 1943) Professor 642 Zinnecke, Helmut Kläger der Zentralspruchkammer Nordbaden 64 Zippelius, Hans (1873 - 1958) Architekt 225, 230, 234 Zircher, Hubert Präsident der Landesforstverwaltung 302 Zschintzsch, Werner (*1888) 1936 Staatssekretär im Reichswissenschaftsministerium 729 Zweig, Stefan (1881 - 1942) Österr. Schriftsteller 651 Zwiedineck-Südenhorst, Otto Edler von Dr. (1871 - 1957) Professor 336 Personenregister 874 <?page no="876"?> Die Autoren Arnold, Birgit, Dr., geb.1951, Historikerin, Mitarbeiterin im Stadtarchiv Mannheim. Baur, Stefan, Dipl. Inform., M.A., geb. 1969, Dissertant Universität Bielefeld. Belz, Lothar, M.A., geb.1961, Journalist. Borgstedt, Angela, M.A., geb. 1964, Dissertantin Universität Karlsruhe, Dokumentarin an der Forschungsstelle »Widerstand«, Karlsruhe. Bräunche, Ernst Otto, Dr., geb.1954, Leiter des Stadtarchivs Karlsruhe. Hachmann, Barbara, geb. 1965, Stud. phil. Universität Karlsruhe. Kißener, Michael, Dr., geb. 1960, Akad. Rat Universität Karlsruhe. Lennartz, Ulrike, M.A., geb. 1966, Dissertantin Universität Karlsruhe. Michel, Anette, M.A., geb. 1965, Dissertantin Universität Karlsruhe. Mohr, Alexander, M.A., geb.1960, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Generallandesarchiv Karlsruhe. Koch, Manfred, Dr., geb. 1942, Stadthistoriker am Stadtarchiv Karlsruhe. Lill, Rudolf, Prof. Dr., geb. 1934, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Karlsruhe. Pralle, Norma, geb. 1970, Stud. phil. Universität Karlsruhe. Raberg, Frank, Dr., geb.1964, Historiker und Politologe. Roser, Annette, M.A., geb. 1964, Dissertantin Universität Karlsruhe. Roser, Hubert, Dr., M.A., geb. 1957, Historiker. Schlösser, Susanne, Dr., geb.1956, Stadtarchivrätin am Stadtarchiv Heilbronn. Schmidt, Sabine, geb.1956, Diplom-Dokumentarin (FH), Stadtarchiv Ulm. Scholtyseck, Joachim, Dr., geb. 1958, Wissenschaftlicher Assistent Universität Karlsruhe. Schrecke, Katja, geb. 1971, Stud. phil. Universität Karlsruhe. Schuhladen-Krämer, Jürgen, M.A., geb. 1960, Dissertant Universität Karlsruhe. Stolle, Michael, geb. 1970, Stud. phil. Universität Karlsruhe. Syré, Ludger, Dr., geb.1953, Oberbibliotheksrat Badische Landesbibliothek Karlsruhe. Weisenburger, Elvira, geb. 1968, Stud. phil. Universität Karlsruhe. 875
