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Was ist Wahrheit?

Die Frage des Pilatus in 49 Spaziergängen aufgerollt

0618
2008
978-3-8930-8609-2
978-3-8930-8409-8
Attempto Verlag 
Hermann Steinthal

Was ist Wahrheit? Eine schwere Frage, der sich Hermann Steinthal mit der gebotenen Leichtigkeit nähert. In 49 Spaziergängen, in denen er sich so angeregt mit den Lesern unterhält wie einst die großen Philosophen mit ihren Schülern, durchwandert er das Feld der Wahrheit auf immer neuen Wegen, stets kurzweilig und bei aller Gelehrsamkeit für jeden gut verständlich. Da ein geglücktes Leben nicht anders vorstellbar ist als ein an der Wahrheit orientiertes Leben, kann man die Leser nur dazu einladen, den Autor auf seinem Weg zu begleiten und ihm aufmerksam zuzuhören. "Die 49 Kapitel belohnen die ... Lektüre mit manchem Erkenntnisgewinn ... Gefundene Wahrheit ist prägnant, d.h. treffend, und sie hat einen ganz eigenen Geschmack, der erfrischend sein kann. Der Verfasser muss jedenfalls viel erfahren und lange nachgedacht haben, um ein solches Buch zu schreiben." Neue Zürcher Zeitung

<?page no="0"?> Hermann Steinthal Was ist Wahrheit ? Die Frage des Pilatus in 49 Spaziergängen aufgerollt Zweite Auflage <?page no="1"?> Was ist Wahrheit? <?page no="3"?> Hermann Steinthal Was ist Wahrheit ? Die Frage des Pilatus in 49 Spaziergängen aufgerollt Zweite Auflage <?page no="4"?> Umschlagabbildung: Sandro Botticelli, La Calunnia di Apelle Tempera su tavola, Florenz, Uffizien, ca. 1495 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.d-nb.de> abrufbar. 2., durchgesehene Auflage 2008 1. Auflage 2007 © 2008 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Werkdruckpapier. E-Mail: info@attempto-verlag.de Internet: www.attempto-verlag.de Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 978-3-89308-409-8 <?page no="5"?> Dieser Versuch ist gewidmet dem Andenken an meine Frau und unseren Kindern und Enkeln <?page no="7"?> VII Inhaltsverzeichnis Präambulum .................................................................................................. 1 1. Spaziergang Was haben wir vor? Wie gehen wir’s an? ............................................ 1 2. Spaziergang Drei berühmte Äußerungen über Wahrheit: Jesus - Pilatus - Lessing ......................................................................... 4 Erstes Kapitel: Wahrheit und Erkenntnis ................................................ 9 Erste Runde: Eigentliche und uneigentliche Erkenntnis............................................... 11 3. Spaziergang Bemerkungen zu der Frage „Was heißt Erkennen? “ ....................... 11 4. Spaziergang Extrem problemlose Erkenntnisgebiete ............................................. 15 5. Spaziergang Extrem problematische Erkenntnisgebiete ........................................ 18 Zweite Runde: Wahrheitsdefinitionen ................................................................................ 22 6. Spaziergang Aus Antike und Mittelalter .................................................................. 22 7. Spaziergang Vermeintliche Mängel des Begriffs „Adäquation“........................... 24 Dritte Runde: Annäherung an eine moderne Wahrheitsdefinition .............................. 29 8. Spaziergang Präzision und Prägnanz ...................................................................... 29 9. Spaziergang Präzisierung des sprachlichen Ausdrucks......................................... 32 <?page no="8"?> VIII 10. Spaziergang Präzisierung der Begriffe...................................................................... 37 11. Spaziergang Eine modern-präzise Wahrheitsdefinition ........................................ 40 12. Spaziergang Wie weit kann diese präzise Definition gelten? ................................ 44 13. Spaziergang Redundanztheorie. Logischer Positivismus ...................................... 47 Vierte Runde: Wahrheitskriterien....................................................................................... 51 14. Spaziergang Zwei konkurrierende Wahrheits-Ideen.............................................. 51 15. Spaziergang Die Kohärenztheorie ............................................................................. 54 16. Spaziergang Hypothesen ............................................................................................ 59 Fünfte Runde: Über Denkwidersprüche ............................................................................ 63 17. Spaziergang Über den Fallibilitätsverdacht ............................................................. 63 18. Spaziergang Darf „freie Vernunft“ entscheiden? .................................................... 66 19. Spaziergang Resümee zum ersten Kapitel ............................................................... 70 Zweites Kapitel: Wahrheit und Leben ................................................... 75 Sechste Runde: Ausblicke auf das uferlose neue Kapitel.................................................. 77 20. Spaziergang Streiflichter ............................................................................................. 77 21. Spaziergang Fortsetzung der Streiflichter ................................................................ 81 <?page no="9"?> IX Siebente Runde: Noch ein Streiflicht: Wandel des Wahren. Wahrheitsbesitz ................. 86 22. Spaziergang Wandlungen des Wahren. Normierung des Wahren ...................... 86 23. Spaziergang Wahrheitsbesitz ..................................................................................... 90 Achte Runde: Am „Leben“ orientierte Wahrheits-Theorien.......................................... 94 24. Spaziergang Die pragmatische Wahrheits-Theorie................................................. 94 25. Spaziergang Die Konsens-Theorie ............................................................................. 97 26. Spaziergang Bedenkliche Züge an der Konsenstheorie ....................................... 100 27. Spaziergang Wahrheit - eine Norm ? ...................................................................... 105 Neunte Runde: Gegenvorschläge (I): Einheit und Weite des Wahren .......................... 109 28. Spaziergang Einheitlichkeit des Wahrheitsbegriffs .............................................. 109 29. Spaziergang Zurückweisung oktroyierter Einengungen ..................................... 111 Zehnte Runde: Gegenvorschläge (II): Kenntlichkeit des Wahren ................................. 117 30. Spaziergang Der eigentümliche ‚Geschmack’ des Wahren ................................. 117 31. Spaziergang Zwei Erwägungen dazu: I. Ist dieser umfassende Wahrheitsbegriff ein Fremdkörper in unserem Denken? - II. Darf man an ‚Kenntlichkeit auf den ersten Blick’ denken? ......... 120 32. Spaziergang Nochmals: Wandlungen des Wahren............................................... 124 33. Spaziergang Resümee zum zweiten Kapitel. Der Begriff „prekär“.................... 126 <?page no="10"?> X Drittes Kapitel: Sprache und Welt ........................................................ 131 Elfte Runde: Die Vielzahl der natürlichen Sprachen................................................... 133 34. Spaziergang Was hat das Kapitel „Sprache und Welt“ mit „Wahrheit“ zu tun? ...................................................................... 133 35. Spaziergang Notwendige Beschränkung................................................................ 138 36. Spaziergang Umfassende Anpassungsfähigkeit ................................................... 143 37. Spaziergang Übersetzbarkeit. Notwendige Vielzahl natürlicher Sprachen ...... 147 Zwölfte Runde: „Die“ natürliche Sprache.......................................................................... 152 38. Spaziergang Gibt es „die“ natürliche Sprache? ..................................................... 152 Dreizehnte Runde: „Welt an sich“ und „Welt objektiv“........................................................ 155 39. Spaziergang Was heißt „Welt objektiv“? ................................................................ 155 40. Spaziergang Was heißt „Welt an sich“? .................................................................. 160 Vierzehnte Runde: Welt „für uns“ ............................................................................................ 164 41. Spaziergang Was heißt „Es gibt die Welt“? ............................................................ 164 42. Spaziergang Welt gestalten - sich selbst gestalten ................................................ 167 43. Spaziergang „Alleinvertretungsrecht“? .................................................................. 171 44. Spaziergang Ist auch Gott ein Gegenstand unserer Welt-Erfassung? ................ 174 45. Spaziergang Resümee. Was leistet das dritte Kapitel für das Wahrheitsproblem? ............ 178 <?page no="11"?> XI Viertes Kapitel: Was ist Wahrheit? ....................................................... 183 46. Spaziergang Res und intellectus und „Was immer das heißt“.............................. 185 47. Spaziergang Adaequatio und „Was immer das besagt“......................................... 189 48. Spaziergang Bestandteile einer plausiblen Wahrheitstheorie ............................. 193 49. Spaziergang „Abschied“ ........................................................................................... 203 <?page no="13"?> 1 Präambulum 1. Spaziergang Was haben wir vor? Wie gehen wir’s an? Spaziergänge zur Wahrheit haben wir vor - aber geht das denn? - Liebe Leser: Ob es tatsächlich geht, weiß ich nicht. Eines glaube ich aber zu wissen: Wenn das gesamte Unternehmen, das mir vorschwebt, überhaupt geht, dann so; anders als in vielen lockeren Spaziergängen geht es schlechterdings nicht. - Übrigens verspreche ich nicht, dass es durchweg leicht geht. Indessen, wir nehmen uns Zeit, nicht nur für einen Spaziergang, sondern für deren neunundvierzig. So könnte es immerhin gehen. Beim ersten Spaziergang wollen wir sehen, weshalb wir unsere Absicht nur spazieren gehend erreichen können. - Wahrheit ist eine schwierige Sache. Vielleicht wendet jemand ein: Sich an die Wahrheit halten, sei doch einfacher als alles andere, Wahrheit sei bekanntlich „die beste Politik“. Das wird wohl stimmen, es ist aber nicht das Hauptthema unserer Spaziergänge, es ist nur ein kleiner Teil davon. Im Ganzen geht es uns darum, was Wahrheit überhaupt ist, und wie man sie erreicht und bewahrt. Diese Fragen stellen sich, wenn man Wahrheit nicht ohne Weiteres und unangefochten erreichen kann, wenn z. B. in der Praxis mehrere Wahrheitsansprüche konkurrierend auftreten und wir mit den Mitmenschen oder sogar mit uns selbst nicht einig sind, welcher davon berechtigt ist, oder ob vielleicht gar keiner der augenblicklichen ‚Konkurrenten‘ berechtigt ist und wir ganz wo anders suchen müssten. In einem solchen Zweifelsfall ist Wahrheit nicht der simple Nagel, der nur darauf wartet, auf den Kopf getroffen zu werden; eher lässt sie sich mit einem weiten Feld vergleichen, wo man, um sich zurechtzufinden, vorwärts und rückwärts, rechts und links Umschau halten muss. Wir können in unser Bild sogar noch die dritte Dimension einbeziehen: Wahrheit wäre dann so etwas wie ein Bergwerk, wo man außer dem „weiten Feld“ auch noch tiefe Schächte und hohe Türme beachten muss. - Dabei ist nicht einmal gesagt, dass unser Bergwerksbild mit seinen drei Dimensionen für die Komplexität des Wahrheits- <?page no="14"?> 2 begriffs schon ausreicht. Mehr als drei Dimensionen kennt aber unsere Anschauungskraft nicht. Denken kann man indes (anschauen nicht, aber denken! ) in mehr als drei - in vier, fünf oder mehr Dimensionen. Ich will nun aber nicht Schrecken verbreiten mit der Ankündigung, dass wir in wer weiß wie vielen Dimensionen zu denken genötigt sein werden. Es ist ein Vorzug unserer Spaziergeh-Methode, dass wir die nötigen Dimensionen, und seien es noch so viele, aufdröseln können und nie mehr auf einmal vornehmen müssen, als wir verkraften. Eben deshalb unternehmen wir die vielen Spaziergänge. Zum Stichwort ‚Dimensionen‘ noch Folgendes: Die Anzahl der benötigten Denk-Dimensionen nenne ich schon deshalb nicht, weil ich sie selbst nicht kenne. Niemand kennt sie, niemand braucht sie zu kennen. Denn diese ganze Rede von Dimensionen ist auch bloß eine Art Bild, eine uneigentliche Redeweise, die das Gemeinte veranschaulichen und klären soll und dies in gewissem Grade auch leistet, - aber vollkommen leisten kann sie es nicht. Das Wort Dimension kommt vom lateinischen di-metiri „aus-messen“, „ab-messen“. Im eigentlichen Sinne lässt sich also von Dimensionen dort reden, wo gemessen wird. Aber alles kann man nicht messen, und Wahrheit kommt auch dort noch in Frage, wo keine präzise Messung möglich ist. Wenn wir von ‚Dimensionen des Wahrheitsbegriffs‘ reden, sollten wir uns damit nicht unversehens an die Forderung fesseln, dass unser Wahrheitsbegriff unter allen Umständen exakt, präzise, messgenau sein muss. So genau wie möglich soll er schon sein, aber vor allem soll er vernünftig sein: Vernünftig ist nicht dasselbe wie präzise oder genau. Also: Was haben wir vor? Wir wollen das weite Feld, das Bergwerk, den Fuchsbau, den Ameisenhaufen namens „Wahrheit“ geduldig mehrfach umwandeln und durchwandern und uns nicht ärgern, wenn wir bei dieser Wanderung zum zweiten oder dritten Mal in eine Gegend kommen, wo wir früher schon waren, und wo wir nun feststellen, dass wir damals gar nicht alles bemerkt haben, was es da zu bemerken gibt. Zu der Frage, wie wir’s angehen wollen, sei einiges vorweg vereinbart: E r s t e n s: Wir werden zwar auf unseren Spaziergängen alles aufsammeln und in Erwägung ziehen, was uns an jedem Punkt der Wanderung als bemerkenswert aufstößt, aber Ergebnisse und Schlussfolgerungen daraus wollen wir jeweils nur vorläufig (provisorisch) ziehen und uns vorbehalten, diese ‚Ergebnisse‘ später aufzugreifen und, wenn es notwendig erscheint, zu revidieren. ‚Provisorisch-revisorisch‘ wäre ein passendes Kennwort für diese Vorgehensweise. Umgekehrt <?page no="15"?> 3 werden wir hin und wieder vorausblicken und von ferne auszumachen versuchen, welche Probleme oder Lösungen unser noch harren. Z w e i t e n s: Auf die Frage, bis zu welchem Punkt wir mit etwaigen Revisionen zu rechnen haben, ist zu antworten: Wir halten uns lange Zeit offen, aber nicht endlos - das hätte keinen Sinn. Je weiter wir vorankommen auf unseren Spaziergängen, desto mehr werden wir Provisorisches durch Endgültiges zu ersetzen suchen. Als endgültiger Ersatz fürs Provisorische könnte aber zweierlei in Betracht kommen: entweder endgültige Feststellungen, oder, falls sich zeigt, dass solche nicht möglich sind: endgültiges Offenlassen. Auch das darf dann endgültig, das heißt „zu guter Letzt gültig“ sein. D r i t t e n s: Möglichst locker und gut verständlich sollen unsere Spaziergänge sein. Ich möchte mich weitgehend in normaler Umgangssprache ausdrücken, also wenig Gebrauch machen von wissenschaftlich-philosophischer Fachsprache, und auch eine Anzahl der darin üblichen Unterscheidungen nicht mitvollziehen. - Weil allerdings Fachsprache und zünftige Begriffsdistinktionen nicht ganz vermeidbar sind, wird das Ganze notgedrungen ein Zwitter: Professionellphilosophisch kann es nicht sein, andererseits ist Verständlichkeit in jeder Hinsicht und für jeden Adressaten unerreichbar. Ich hoffe, dass das Gebotene für die verstehbar ist, die so interessiert sind, dass sie sich den unerlässlichen Mühen des Verstehens unterziehen. V i e r t e n s: Die normale Umgangssprache ist, wenn man sich gehörig um sie bemüht, reichhaltig und geschmeidig genug auch für den Ausdruck sehr komplizierter Sachverhalte. Weshalb ich sie vorziehe, wird im dritten und vierten Kapitel deutlich werden. Bei der unvermeidlichen Unschärfe der natürlichen Sprache werden wir aber unsere Erwägungen und Ergebnisse nicht immer (wenigstens nicht immer sofort) ganz präzise formulieren, weil sie in solcher Präzision dem Verstehen manchmal unnötige Schwierigkeiten machen, und auch weil die Ergebnisse, wie gesagt, ohnehin nicht immer sofort endgültig sein können. Auch das nicht ganz präzis Gesagte soll uns also - jedenfalls vorläufig - stets willkommen und unverächtlich sein, zumal es oft einen Ansatzpunkt fürs Genauere abgibt. <?page no="16"?> 4 2. Spaziergang Drei berühmte Äußerungen über Wahrheit: Jesus - Pilatus - Lessing Einen ersten, noch sehr unfertigen Eindruck von der Vielfältigkeit der Wahrheitsprobleme bekommen wir, wenn wir jetzt drei berühmte Äußerungen berühmter Menschen über Wahrheit studieren. Dem römischen Statthalter in Judäa, Pontius Pilatus, wurde seinerzeit ein Angeklagter namens Jesus aus Nazareth zum Verhör vorgeführt. Dies Verhör wird in allen vier Evangelien des Neuen Testaments erwähnt, die berühmte Frage des Pilatus nach der Wahrheit findet sich allerdings nur im Johannes-Evangelium (18, 38). Ob diese Frage also tatsächlich, in der historischen Wirklichkeit, so geschehen ist, wie sie dort berichtet wird, muss offen bleiben. Es wäre demnach nicht sinnvoll, zu überlegen, wie der historische Pilatus dazu kam, diese Wahrheits-Frage zu stellen. Sinnvoller ist die Überlegung, wie der Verfasser des Johannes-Evangeliums dazu kam, sie seinem Pilatus in den Mund zu legen. - Pilatus scheint sich vor allem für einen der Anklagepunkte interessiert zu haben: dass behauptet wurde, Jesus sei der König der Juden. Einem römischen Statthalter in Judäa kann so etwas ja nicht egal sein. Deshalb lautet die erste Frage des Verhörs „Du bist also der König der Juden? “. Jesus antwortet halb ja halb nein: „Mein Königtum ist nicht von dieser Welt“. Mit dieser Auskunft ist Pilatus nicht zufrieden, er hakt nach: „Ein König bist du also jedenfalls? “ Diesmal sagt Jesus eindeutig Ja, aber er fühlt wohl, dass da noch Missverständnisse beiseite geräumt werden müssen; deshalb setzt er ungefragt eine ausführliche Erläuterung dazu: „Ich bin in die Welt gekommen, damit ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“. Es ist also Jesus, nicht Pilatus, der hier die Rede auf Wahrheit bringt; Pilatus reagiert nur, und zwar mit seiner berühmten Frage „Was ist Wahrheit? “. Es ist so gut wie sicher, dass der Evangelist uns in dieser Frage einen Ton von Resignation oder Skepsis oder gar Desinteresse hören lassen will. Wir hören in Pilatus einen Mann reden, der in der griechischen Philosophie bewandert und daher überzeugt ist, dass Wahrheit von den mühseligen Menschen zwar allenthalben mit Nachdruck erstrebt, aber selten oder nie erreicht wird. Diesem skeptischen ‚Pila- <?page no="17"?> 5 tus-Aspekt der Wahrheit‘ setzt Jesus einen anderen Aspekt entgegen: Von Mühsal und Skepsis ist da nicht im Mindesten die Rede. Im Tone der Gewissheit verkündet Jesus, dass er der Wahrheit in dieser mühseligen Welt Geltung verschaffen soll und will. Und wie etwas Selbstverständliches setzt er voraus, dass es Menschen gibt (und damit kann er doch nur Menschen in dieser Welt meinen), die „aus der Wahrheit“, also in ihr geradezu zuhause sind. - Auf die berühmte Pilatus-Frage hat Jesus mit seiner umständlichen Erläuterung allerdings nicht geantwortet, und Pilatus fragt auch nicht weiter. Es ist unverkennbar, dass er eine Antwort gar nicht erwartet, weil er überzeugt ist, dass es keine gibt. Trotzdem bleibt das wortkarge Gespräch der beiden nicht ganz folgenlos. Wenig später, nachdem Jesus (nicht ohne Mitwirkung des Pilatus) getötet worden ist, macht eben dieser Pilatus in einer dreisprachigen Inschrift, damit‘s auch bestimmt jeder versteht, der Welt bekannt, dass Jesus der König der Juden war. Den empörten Einspruch der Ankläger weist er zurück: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“. Da hat man den Eindruck, dass der ‚Jesus- Aspekt der Wahrheit‘ über den skeptischen ‚Pilatus-Aspekt‘ den Sieg davongetragen hat, und es war wohl die Absicht des Verfassers des Johannes-Evangeliums, diesen Eindruck hervorzurufen. - In der Tat folgen dann Jahrzehnte, Jahrhunderte und schließlich mehr als ein volles Jahrtausend, in denen die Wahrheit des Jesus von Nazareth in ganz Europa und darüber hinaus zur Geltung kommt, - so kann man sagen, aber ganz stimmt es auch wieder nicht. Man könnte nämlich genau so gut sagen: Zu keiner Zeit in den zweitausend Jahren, die seit Jesu Tod verflossen sind, war seine Wahrheit an irgendeinem Ort in Europa oder sonstwo tatsächlich in voller Geltung. Die Kirche selbst hat sich ‚hienieden‘ immer als streitende, nie als triumphierende verstanden. Noch gravierender ist, dass die Christenheit, seit sie besteht, nicht nur mit dem ‚bösen Feind‘ und der ‚argen Welt‘ im Konflikt lag, sondern auch mit und in sich selbst. Sie war noch nie und ist bis heute über die Wahrheit Jesu nicht restlos und dauerhaft einig. Häresien (stille und laute), Reformationen, Abspaltungen, Sekten gab es immer. Die Trennungen zwischen römischen, orthodoxen und evangelischen Christen sind z. B. bis heute nicht überwunden. Usw., usw. Jesu Äußerung über Wahrheit und die Pilatusfrage danach sind, wenn sie tatsächlich historisch geschehen sind, etwa im Jahre 30 unserer Zeitrechnung geschehen, also vor fast zweitausend Jahren. Das Johan- <?page no="18"?> 6 nes-Evangelium, in dem davon berichtet wird, ist etwa siebzig Jahre nach diesen Geschehnissen entstanden, hat also heute auch schon das ehrwürdige Alter von rund neunzehnhundert Jahren. - Der dritte berühmte Ausspruch, dem wir uns jetzt zuwenden, ist demgegenüber geradezu modern: nur etwas mehr als zweihundert Jahre ist er alt. Lessing veröffentlichte in seinen letzten Lebensjahren als Bibliothekar in Wolfenbüttel in mehreren Folgen „Fragmente eines Ungenannten“, die aus dem Nachlass des kurz zuvor verstorbenen Philosophen und Theologen H. S. Reimarus stammten. Diese Fragmente warben für die christliche Religion, aber für ein gereinigtes, aufgeklärtes, vernünftiges Christentum: Die kirchliche Offenbarungslehre wurde abgelehnt, und speziell wurde die Wahrheit der Evangelienberichte über die Auferstehung Jesu wegen der nicht wenigen Widersprüche, die sich darin finden, in Zweifel gezogen. Das erregte einen Sturm der Entrüstung. Lessing griff in diesen Streit im Jahre 1778 mit einer eigenen Schrift unter dem Titel „Eine Duplik“ ein (das heißt etwa „Verteidigungsrede“). Darin kommt, gleich ziemlich am Anfang, sein berühmtes Wort über die Wahrheit: Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend ein Mensch ist oder zu sein vermeint, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. Denn nicht durch den Besitz, sondern durch die Nachforschung der Wahrheit erweitern sich seine Kräfte, worin allein seine immer wachsende Vollkommenheit besteht. Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. - Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: Wähle! , ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater, gib! Die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein. Trotz der dazwischen liegenden rund 1700 Jahre erweist sich Lessing in einer Hinsicht als Geistesverwandter des Pilatus: Auch er steht in der Tradition skeptischer Philosophie und rechnet wie Pilatus damit, dass wir Menschen die Wahrheit nicht schlicht und dauerhaft in Besitz haben können. Gewichtiger sind aber die Unterschiede. Lessing dreht den Spieß um: Genau dass die Wahrheit den Menschen letztlich entzogen ist, verschafft ihm jenes demütig-stolze Selbstbewusstsein, von dem der zitierte Text in jeder Zeile geprägt ist. Obwohl also Lessing den Verzicht stärker betont, hat er ein weit intensiveres Verhältnis zur Wahrheit als Pilatus - der hat ein solches Verhältnis im Grunde schon gar nicht mehr, er ist der Wahrheit und ihrer Probleme einfach überdrüssig. <?page no="19"?> 7 Nun aber nennt Lessing das, was in Gottes rechter Hand verschlossen und den Menschen ewig vorenthalten ist, nicht schlicht und einfach Wahrheit, sondern setzt ein unterscheidendes Adjektiv dazu: „reine“ Wahrheit. Das lässt vermuten, dass es auch außerhalb von Gottes rechter Hand noch so etwas wie Wahrheit gibt, eine Art ‚Wahrheit zweiten Ranges‘, die zwar nicht absolut „rein“ ist, aber den Namen Wahrheit immer noch verdient, weil sie, trotz irgendwelcher unreiner Beimengung, bei Weitem nicht schiere Falschheit, Verirrung oder gar Lüge ist. Wie auch immer das letztlich zu verstehen sein mag (wir lassen‘s halt vorläufig so stehen): Wir hatten es nicht nur zwischen Jesus und Pilatus, sondern haben es auch hier bei dem einen Lessing mit mehreren Aspekten von Wahrheit zu tun. Von jener ‚Wahrheit zweiter Klasse’ denkt Lessing zweifellos, dass sie den Menschen erreichbar ist. Und er denkt dabei zweifellos an religiöse Wahrheit, - darum ging’s ja in dem Streit damals. Freilich nicht an die, die in Gottes rechter Hand verschlossen ist und dort, wenn‘s nach Lessing geht, verschlossen bleiben mag, solange sie will. Sondern an die den Menschen zugängliche religiöse Wahrheit, die, mag sie auch (von Gott her gesehen) ‚zweiten Ranges‘ sein, doch die einzige ist, die des Menschen Würde ausmacht. Er denkt an aufgeklärte, vernünftige Religion, wie das auch H. S. Reimarus getan hatte - sonst hätte Lessing dessen Fragmente aus dem Nachlass wohl nicht veröffentlicht. Lessing traut dem „aufrichtig bemühten“ Wahrheitsstreben des Menschen die Fähigkeit zu, eine solche gereinigte, vernünftige Religion nach und nach „in immer wachsender Vollkommenheit“, in einem immer weiter fortschreitenden Prozess der Aufklärung zum Segen der Menschheit auf Erden aufzurichten. Das ist ein gewaltiges Zutrauen, wie es heute wohl kein Mensch mehr aufbringt. Trotzdem kann uns Lessings berühmtes Wort auch heute noch faszinieren, und nicht nur als vergangenes Phänomen der Geistesgeschichte. Die Suche nach vernünftiger Religion ist nämlich auch unter uns noch lebendig, und nicht nur bei Skeptikern vom Schlage eines Pilatus oder Lessing, deren es sicherlich heute viele gibt. Sogar die Theologie beteiligt sich an dieser Suche. Diese Suche steht zwar nicht im Zentrum ihres Interesses, ist aber jederzeit eine ihrer unabweislichen Nebenaufgaben. Lessings überschwängliche Zuversicht ist uns geschwunden, aber sein Problem ist geblieben. Unsere erste Umschau hat uns jetzt auf vielfältige Abschattierungen von Wahrheit stoßen lassen. Von keiner können wir aber bisher sagen, dass wir damit auch nur einigermaßen schon zu Rande ge- <?page no="20"?> 8 kommen sind. - Damit wenden wir uns nun dem Hauptteil unserer Untersuchung zu. <?page no="21"?> Erstes Kapitel _______________ Wahrheit und Erkenntnis <?page no="23"?> 11 Erste Runde Eigentliche und uneigentliche Erkenntnis 3. Spaziergang Bemerkungen zu der Frage „Was heißt Erkennen? “ Wir müssen nun versuchen, die verschiedenen ‚Sorten‘ von Wahrheit, die es möglicherweise gibt, nach und nach vollzählig und im vernünftigen Zusammenhang zu sehen. In einer längeren Reihe von Spaziergängen betrachten wir als unser erstes Hauptthema einen Aspekt von Wahrheit, den die Menschen immer besonders wichtig genommen haben: die Wahrheit, die man beim E r k e n n e n der Welt und ihrer Einzelheiten erstrebt. Ich sage mit Bedacht: Man erstrebt sie. Das heißt: Man erreicht sie, oder man erreicht sie nicht. Nicht jedes Erkennen-Wollen führt zum Erkennen, man kann auch fehlgehen. Wahre Erkenntnis ist für die Menschen so wichtig und spielt in ihrem Denken und Wollen eine so große Rolle, dass man vermuten könnte, das sei überhaupt der einzige Aspekt von Wahrheit, der von Belang ist, oder doch wenigstens der einzige, über den wir redlich ins Reine kommen können. Diese beiden Vermutungen gehen zu weit. Zwar dass es ein wichtiger Aspekt ist, kann nicht bezweifelt werden. Es sei aber schon jetzt klar ausgesprochen: Wir behandeln diesen Aspekt von Wahrheit hier zwar als ersten, aber nicht, weil er der wichtigste ist, sondern (a) weil man eben irgendwo anfangen muss und (b) weil dieser Aspekt dem gewöhnlichen heutigen Bewusstsein besonders nahe liegt, sich also zum Anfangen besonders eignet. Andere Aspekte kommen erst später an die Reihe, obwohl sie mindestens ebenso wichtig sind. Nun ist sogleich zu detaillieren: Ehe wir nach Wahrheit oder Irrtum im Erkennen fragen, studieren wir, soweit es für unseren Zweck dienlich ist, den Begriff des Erkennens als solchen. Zum Erkennen gehört als notwendige Voraussetzung Objektivität. Was mit diesem Wort im Ganzen gemeint und gesagt ist, können wir erst im dritten Kapitel genauer klären. Vorerst verwenden wir das Wort ganz naiv und grei- <?page no="24"?> 12 fen nur einiges Wenige, was dazugehört, auf. Zum Ersten die Vorstellung, dass das Subjekt und das Objekt der Erkenntnis einander in ruhiger Distanz gegenüberstehen. Das deutsche Wort „Gegen-stand“ und das ihm bedeutungsmäßig entsprechende lateinische Wort ob-jectum deuten genau jenes ruhige, distanzierte Einander-entgegen-Stehen von Subjekt und Objekt an. - Sodann zweitens die Vorstellung, dass das Erkennen rein rezeptiv („hinnehmend“) vor sich geht und dass der Erkennen-Wollende dazu nichts weiter beizusteuern hat, als dass er sich ganz unvoreingenommen öffnet und das zu Erkennende einfach vorbehaltlos aufnimmt, es sich ‚gesagt sein lässt‘. Diese beiden Vorstellungen halten nun allerdings einer aufmerksamen Prüfung nicht stand, sie erweisen sich (und damit irgendwie auch den Begriff Objektivitität) als Fiktionen (zu Deutsch: als „Gedankengebilde“). Einige Überlegungen zeigen das sehr rasch: Wenn die faktisch-reale Distanz für das Zustandekommen von Erkenntnis ausschlaggebend wäre, hätte ein Forscher in Tübingen bessere Erkenntnismöglichkeiten, wenn er sich nicht um Gegenstände in Tübingen, sondern meinetwegen in Kiel kümmert, oder noch besser am Südpol oder auf dem Saturn. Das ist absurd. Zu den Objekten, denen wir Menschen uns in solcher fiktiver Distanz erkennend zuwenden, gehören auch Menschen, und zwar sowohl unsere Mitmenschen als auch wir höchstselbst. Da ist faktische Distanz vollends unmöglich. Geistige Distanz ist aber nicht unmöglich, und auf die kommt es an. Die Fiktion von Objektivität, Distanz, Ruhe und Rezeptivität ist eine für das Erkennen unabdingbare Leistung des Geistes. Schwierig zu gewinnen ist aber auch die geistige Distanz, und zwar desto schwieriger, je dringender das Objekt den Menschen angeht. Das Wort „angehen“ ist da sehr erhellend: Es besagt, dass das Erkenntnisobjekt dem Erkennen-Wollenden gewissermaßen auf den Leib rückt und weder Distanz noch Ruhe duldet. Das lateinische Wort für „einen angehen“ heißt afficere. So kann man auch sagen: Das Erkenntnisobjekt affiziert den Erkennen-Wollenden, die Erkenntnisbemühung geschieht „im Affekt“. Solche Affekte sind etwa Furcht oder Hoffnung, Hass oder Liebe, Begünstigung oder Missgunst, und dergleichen. Nun ist aber der Mensch auf Erkenntnis genau dann am meisten erpicht, wenn das zu erkennende Objekt ihn in dieser Weise „angeht“. Bei Dingen, die einem egal sind, begnügt man sich eher mit dem oberflächlichsten Eindruck, dagegen was einen angeht, möchte man genau <?page no="25"?> 13 kennen. Die fürs Erkennen wünschbare geistige Distanz ist also fast immer sehr schwierig. Radikal unmöglich ist sie trotzdem nicht. Man kann sich darin üben. Die Übung hat mehr Aussicht auf Erfolg, wenn man sich nicht darüber täuscht, dass der Erfolg schwer und nie vollständig erreichbar ist. - Es ist übrigens fraglich, ob Distanz und Ruhe in jedem Fall optimale Vorbedingungen fürs Erkennen sind: Die Erkenntnisbemühung kann auch genau dadurch an Kraft gewinnen, dass ein lebendiger Affekt mit ihr verbunden ist. Fraglich ist sogar, ob „vollständige” Distanz und „vollständige” Ruhe überhaupt sinnvolle, klare Begriffe sind. (Wie weit müsste denn eine Distanz sein, um die Bezeichnung „vollständig“ zu verdienen? Auf diese Frage gibt es keine sinnvolle Antwort.) Diese Fraglichkeiten brauchen wir hier nicht genauer zu untersuchen. Jedenfalls ist es besser, wenn man sich beim Streben nach Erkenntnis um geistige Distanz und ruhiges Freisein von Affekten bemüht und dies wenigstens in gewissem Grade erreicht, als wenn man von vornherein zu wissen meint, dass Distanz und Affektfreiheit sowieso unerreichbar sind und man seine Affekte eben ungefiltert walten lassen muss und darf. Wenn Erkennen nicht ohne geistige Distanz vor sich geht, so heißt das, dass es nicht ohne D e n k e n und V e r s t e h e n vor sich geht. Hier kommen wir zu genauerer Auffassung der Fiktion der reinen Rezeptivität. Wie ist das gemeint? - Man sagt zwar: Etwas erkennen heißt so viel wie: es „begreifen“ oder „erfassen“. Das klingt so, als ob man den Erkenntnisgegenstand „mit den Händen“ griffe oder anfasste. Gemeint sind bei dieser bildhaften Redeweise aber nicht die Hände, sondern andere ‚Greiforgane‘ des Menschen, seine Sinnesorgane: Augen, Ohren usw. Soweit gut. Wenn man ein bisschen genauer überlegt, bemerkt man, dass die Sinnesorgane allein keine Erkenntnis zustande bringen. Was uns die Sinnesorgane geben, ist gewissermaßen nur das Rohmaterial der Erkenntnis, man nennt das auch die „Sinnes-Daten“ (von lat. dare „geben“, datum „das Gegebene“). Wenn uns diese „Daten“ allein und ohne Weiteres „gegeben“ wären, fielen sie als wahrer Wust von rasend schnell wechselnden und durcheinander wirbelnden Einzelheiten über uns her, von denen wir reinweg erschlagen würden. Wenn etwas „wahr-genommen“ und erkannt werden soll, muss die wirre Riesenmasse der Sinnesdaten geprüft, gesichtet, geordnet werden. Diese Sichtung und Ordnung wird vom Denken und Verstehen besorgt. Erst dadurch wird Wahr-Nehmung und Erkenntnis möglich. <?page no="26"?> 14 Also ist der Erkennende am Erkenntnisvorgang offensichtlich nicht rein rezeptiv, sondern wesentlich auch geistig spontan-tätig beteiligt. Soweit nun wieder gut. Wenn man dann noch genauer überlegt, bemerkt man, dass es unzutreffend wäre, sich vorzustellen, dass wir zuerst von den Sinnesorganen die Sinnesdaten als ‚Rohmaterial‘ der Erkenntnis bekämen, und hinterher käme das Denken und Verstehen an die Reihe und würde dies ‚Rohmaterial‘ sichten und ordnen. Sondern das alles geschieht in einem Zuge: Ohne Denken und Verstehen „hätten“ wir nicht einmal Sinnesdaten. Denken und Verstehen, die ich hier in einem Atemzug nenne, sind nicht schlechtweg miteinander identisch. Man kann sagen: Bei manchen Erkenntnisobjekten und Erkenntnisvorgängen ist mehr das Denken, bei anderen mehr das Verstehen nötig, um die rohen Sinnesdaten in Erkenntnis zu transformieren. „Denken“ ist mehr das sachliche Gliedern und Systematisieren der Daten, während mit „Verstehen“ eher gemeint ist, dass und wie der Erkennende sich persönlich zu den Daten und zur Erkenntnis stellt. „Verstehen“ gehört zur selben Wortfamilie wie „sich stellen“. Auch das altgriechische Wort für Verstehen (epístasthai) bedeutet wörtlich „sich zu etwas oder über etwas stellen“. - Aber an keinem Erkenntnisvorgang ist nur das Denken oder nur das Verstehen beteiligt, immer sind beide irgendwie, mehr oder weniger, mitbeteiligt. Vorläufig dürfen wir also beide zusammen wie eine Einheit ansprechen: Denken-und-Verstehen. Die Rede vom „Denken-und-Verstehen“ ist keine allgemein übliche philosophische Redeweise. Etwas üblicher wäre es, stattdessen von „Geist“ zu sprechen, und ich habe diesen Ausdruck oben selbst gebraucht, als ich die Fiktionen der Objektivität, der Ruhe und der Rezeptivität als eine für das Erkennen unabdingbare Leistung des Geistes bezeichnete. Trotzdem behalte ich den unüblichen Ausdruck „Denken-und-Verstehen“ vorläufig gerne bei, weil er unsere Betrachtung eher offen hält, als das mit vielerlei Assoziationen vorbelastete Wort „Geist“ es könnte. Wenn nun die Sinnesdaten vom Denken-und-Verstehen geprüft und geordnet, gewissermaßen zensiert werden müssen: Wer prüft und zensiert dann das Denken-und-Verstehen? Oder darf das in freier Willkür, ungeprüft und unzensiert tun und lassen, verknüpfen und trennen, behaupten und verwerfen, was und wie es will? Das doch wohl nicht, wenn bei dem ganzen Geschäft schließlich Wahrheit herauskommen und Wahres zuverlässig vom Falschen unterschieden werden soll. - Hier stoßen wir auf einen Kardinalpunkt der ganzen Wahrheitsproblematik. Dazu im Vorausblick nur so viel: An der Prü- <?page no="27"?> 15 fung des Denkens-und-Verstehens muss auch das Denken-und- Verstehen selbst beteiligt sein. Das Denken-und-Verstehen kann nicht nur eine spezielle, untergeordnete Funktion innerhalb der Einzelperson sein, es muss irgendwie auch etwas sehr Hochrangiges, Übergeordnetes, Überindividuelles sein. Zu seinen Aufgaben gehört auch die, sich irgendwie selbst zu denken und zu verstehen, zu berichtigen, zu kritisieren, und so weiter. Hierzu nun noch etwas ganz Wichtiges: Mit dem zweimaligen „irgendwie“ habe ich soeben angedeutet, dass da noch viel Klärungsbedarf besteht. Wer das Gesagte im Augenblick also noch etwas kopfschüttelnd zur Kenntnis nimmt, braucht sich nicht zu grämen. Er liegt mit seinem Zweifel nicht ganz falsch. Was wir hier ausgebreitet haben, genügt uns zwar für den Moment, es ist aber keine volle und runde Erkenntnistheorie, und wir werden eine solche hier auch nicht bringen. Wir werden aber das, was bisher noch unklar ist, innerhalb unserer Spaziergänge später noch etwas mehr klären. Eine weitere kennzeichnende Eigentümlichkeit des Erkennens ist hier vorläufig nur kurz zu erwähnen. Man formuliert sie manchmal so: Erkennen heißt „etwas als etwas erkennen“. Anders gesagt: In dem zu Erkennenden wird etwas schon Bekanntes irgendwie wiedererkannt. Diese kurze Erwähnung mag hier genügen: Genaueres dazu behandeln wir im 15. Spaziergang bei der Betrachtung einer Wahrheitstheorie, die eben von dieser Eigentümlichkeit des Erkennens ausgeht. 4. Spaziergang Extrem problemlose Erkenntnisgebiete Nun weiter: Wie steht es beim Erkennen der Welt und ihrer Einzelheiten mit der Wahrheit? - Da liegt vor uns eine riesige Menge „Welt und Einzelheiten“, unzählige Objekte des möglichen Erkennens (oder des möglichen Irrtums, des Verfehlens von Erkenntnis). Es wird gut sein, wenn wir diese unübersehbare Menge erst einmal etwas unterteilen und verkleinern (sie bleibt dann immer noch endlos), indem wir diejenigen Gebiete bei Seite tun, in denen von Erkenntnis im eigentlichen Sinne kaum die Rede sein kann. Es sind dies zwei Gebiete: Als ‚Erkenntnis‘-Gebiet A können wir diejenigen Erkenntnisobjekte bei Seite <?page no="28"?> 16 tun, bei denen Wahrheit und Irrtum sehr leicht, fast absolut sicher zu unterscheiden sind. Das entgegengesetzte Gebiet C umfasse diejenigen Objekte, bei denen die Unterscheidung Wahr-Falsch kaum möglich, jedenfalls mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist - auch dies Gebiet soll also vorläufig beiseite bleiben. Die Grenzen dieser Gebiete dürfen durchaus unscharf sein, wir haben keinesfalls vor, die zu jedem Gebiet gehörigen Erkenntnisgegenstände vollständig aufzuzählen. Der Zweck der ganzen Unterteilung ist nur, klar zu machen, dass zwischen dem einfachen Gebiet A und dem schwierigen Gebiet C bestimmt ein mittleres Gebiet B übrigbleibt, von dem erstens zu vermuten ist, dass es umfangreich ist (das Mittelmäßige ist überall häufiger als die Extreme) und dass man zweitens dort, eben weil man es mit häufigen und gut bekannten Gegenständen zu tun hat, am besten vorankommt mit der Klärung des Begriffs ‚Wahrheit in der Erkenntnis‘. Dieses mittlere Gebiet ist es, bei dem man im eigentlichen Sinne von Erkenntnis reden kann. Dort macht das Erkennen zwar unter Umständen immer noch große Mühe, aber man kann, wenn es gut geht, zu wahren Ergebnissen kommen, die Mühe kann sich lohnen. Ob nun Wahrheit oder Irrtum leicht oder schwer zu unterscheiden sind, hängt unter anderem wesentlich davon ab, wie die Erkenntnis zustande kommt. Das heißt: wie viel oder wie wenig zu diesem Zustandekommen die Sinnesdaten beitragen, und wie viel oder wie wenig andererseits das Denken-und-Verstehen dazu beitragen kann oder muss. Extrem leicht ist Wahr und Falsch bei denjenigen Erkenntnissen zu unterscheiden, zu denen die Sinnesdaten fast nichts beitragen, anders gesagt: die fast ganz vom Denken-und-Verstehen geleistet werden. Dies sind z. B. die Erkenntnisse in Logik und Mathematik. Sie sollen also zu unserem Gebiet A gehören. Wie weit andere Wissenschaften dazugehören, z. B. die stark von der Mathematik bestimmten Realwissenschaften wie etwa Physik und Chemie, das können wir hier unerörtert lassen. Wohl gemerkt: Ich behaupte nicht, dass Mathematik und Logik besonders einfach seien - das wäre eine närrische Behauptung. Fürs Lernen und Darin-Eindringen sind diese Wissenschaften sogar eher schwer. Aber wenn man dann eingedrungen ist, kann man darin Wahr und Falsch fast absolut sicher unterscheiden. In Wissenschaften wie Pädagogik oder Theologie kann man schon sehr tief eingedrungen sein, trotzdem kann Wahr und Falsch da immer noch sehr schwer unterscheidbar sein - was nun nicht bedeuten muss, dass es Wahr und <?page no="29"?> 17 Falsch dort gar nicht gibt. Dagegen in unserem Gebiet A, in Logik und Mathematik, gibt es so gut wie keine Fälle, in denen die Experten nicht einig wären oder wenigstens nach gründlicher Debatte einig würden, was wahr und was falsch ist. Die Wahrheit oder Falschheit ist da fast fraglos, weil in diesem Gebiet der Geist sich selbst betrachtet. Dass er dazu fähig und bevollmächtigt ist, haben wir schon am Ende des vorigen Spaziergangs ins Auge gefasst. Nun habe ich allerdings in den letzten Sätzen mehrfach das Wörtchen „fast“ gebraucht (oder den damit gleichwertigen Ausdruck „so gut wie“). Das klingt ein wenig beunruhigend. Wir kommen später darauf zurück, was es mit dieser Beunruhigung auf sich hat. - Im Moment jedoch beschäftigen wir uns mit unserem Objektgebiet A nur noch kurz, um an einem Beispiel zu zeigen, wieso da Wahr und Falsch leicht zu unterscheiden sind. Gesetzt, die Wenn-Dann-Verknüpfung „Wenn der Mond aus Edamer Käse besteht, dann ist er essbar“ sei gültig, dann ist auch eine zweite Wenn-Dann-Verknüpfung gültig, in der die beiden Teil-Aussagen („dass der Mond aus Edamer Käse besteht“ und „dass der Mond essbar ist“) inhaltlich dieselben bleiben wie in der erstgenannten Verknüpfung, jedoch werden sie nun in verneinter Form und umgekehrter Reihenfolge verknüpft. Diese zweite Wenn-Dann-Verknüpfung lautet also: „Wenn der Mond nicht essbar ist, dann besteht er nicht aus Edamer Käse“. (Nota bene: Woraus er dann etwa besteht, darüber verlautet nichts; aus Edamer Käse jedenfalls nicht). Der Übersicht halber stellen wir die beiden Wenn-Dann- Verknüpfungen noch einmal zusammen: Wenn gilt „Wenn der Mond aus Edamer Käse besteht, dann ist er essbar“, dann gilt auch „Wenn der Mond nicht essbar ist, dann besteht er nicht aus Edamer Käse“. Um die Gültigkeit oder logische Wahrheit dieser ganzen Verknüpfung einzusehen, braucht man keine Sinnesdaten (woher sollten die auch kommen, da ich ja für unser Beispiel mit Absicht einen so absurd-dummen Inhalt gewählt habe), es genügt dazu das reine Denkenund-Verstehen. - Damit lassen wir unser Gebiet A (Logik und Mathematik) vorläufig beiseite. <?page no="30"?> 18 5. Spaziergang Extrem problematische Erkenntnisgebiete Ebenso wollen wir nun das dem Gebiet A entgegengesetzte Gebiet C nur so weit betrachten, dass wir es dann vorläufig weglegen und uns dem mittleren Gebiet B zuwenden können. Beim Gebiet C wird dafür aber etwas mehr Überlegung nötig sein als soeben beim Gebiet A. - Zu den Gegenständen des Gebiets C können wir z. B. folgende rechnen: C 1: die ‚Welt‘ des religiösen Erkennens, Glaubens, Meinens, oder das Erkenntnisobjekt Gott. C 2: die ‚Welt‘ von Gut und Böse, Recht und Unrecht, oder das Erkenntnisobjekt „Du und Ich“. Wir verbürgen uns nicht dafür, dass die Aufzählung vollständig, und ebenso wenig dafür, dass sie in sich wohlgeordnet ist. Weiteres ließe sich etwa anfügen: z. B. die ‚Welt‘ des Seelischen. War beim Gebiet A zum Erkenntnisgewinn vor allem das reine Denken nötig, so ist hier mindestens in starkem Maße auch das Verstehen gefragt. Das Erkennende ist auch hier, wie überall, der Geist. Aber er bedenkt hier nicht, wie im Gebiet A, sich selbst. Sondern im Gebiet C sind die Objekte der Erkenntnisbemühung dem erkennenwollenden Geist in besonders problematischer Weise entgegengesetzt. Man kann sagen: Im Teilgebiet C 1 bedenkt der Geist seine Grenzen, also etwas normalerweise Fernliegendes. Im Teilgebiet C 2 bedenkt er Objekte, die gerade umgekehrt ihn so nahe angehen, dass die Erkenntnis, gewissermaßen aus Gründen der Perspektive, in beständiger Gefahr ist, verzerrt zu werden. - Die Erkenntnisbemühung, die sich auf derart problematische Objekte richtet, kann man zusammenfassend „Metaphysik“ nennen, und man hat sie tatsächlich manchmal so genannt. Man kann nun allerdings sofort fragen, ob es nicht das Gescheiteste wäre, alle Metaphysik als gehaltlos und belanglos und wahrheitsunfähig zu deklarieren und sich nicht weiter damit abzugeben. Das haben sich Menschen tatsächlich schon oft vorgenommen, und es wäre auch ganz schön und gut. Es bleibt aber eine unbestreitbare Tatsache, dass „das Metaphysische“ einem trotzdem immer wieder in den Sinn <?page no="31"?> 19 kommt, weil es von Erfahrungen provoziert wird, die jeder Mensch jeden Tag machen kann. Das ist unschwer einzusehen: Jeder Mensch kann jeden Tag plötzlich an den Grenzen (seiner Erkenntniskraft, oder seiner ganzen Existenz) stehen oder sich mit jenen problematischnahen Objekten, die seine Erkenntnis bedrängen und verzerren, konfrontiert sehen. - Da wir das ganze Gebiet aber nun vorerst beiseite zu legen vorhaben, wollen wir uns mit dem Begriff „Metaphysik“ im Moment nicht weiter abgeben. Solange wir darüber noch nichts Rechtes sagen können, denken wir uns das Wort „Metaphysik“ gewissermaßen immer in Anführungszeichen. Dies Bedenken sind wir jetzt also für den Augenblick los, es stellt sich aber sogleich ein weiteres ein: Alles, was ich oben unter C 1 und C 2 genannt habe, ist doch Gegenstand ernsthafter, mit Wahrheitsanspruch auftretender Wissenschaft. Es gibt tatsächlich wissenschaftliche Theologie, Ethik, Soziologie, Rechtswissenschaft. Indes, da gilt es zu unterscheiden: Die Welt des religiösen Glaubens usw. (oben als C 1 bezeichnet) kann man nicht in Bausch und Bogen mit der Wissenschaft Theologie gleichsetzen. Die Wissenschaft Theologie befasst sich unter anderem philologisch-historisch mit der Erforschung der biblischen Texte und dogmatisch-philosophisch oder hermeneutisch mit der Auslegung ihrer Inhalte. Da kann sie zu begründeter Wahrheit gelangen, und diese Wahrheit kann mit Gründen bestritten werden, auch wenn das alles im Einzelnen schwierig ist: Prinzipiell schwierig ist es nicht, und das alles gehört immer noch zu unserem mittleren Gebiet B. - Prinzipiell schwierig ist aber zu entscheiden, ob es wahr ist, dass Jesus (nach der Aussage des Johannes-Evangeliums) „in die Welt gekommen ist, um für die Wahrheit zu zeugen“, und dass, „wer aus der Wahrheit ist, seine Stimme hört“, oder dass eben dieser Jesus für die Sünden der Menschheit gestorben und nach drei Tagen vom Tode auferstanden ist. Bei C 2 kann man von vornherein grundsätzlich zweifeln, ob Gut und Böse überhaupt wesentlich Gegenstände des theoretischen Erkennens (und der Unterscheidung von Wahr und Falsch zugänglich) sind: Wesentlich, so kann man uns entgegenhalten, ist doch das praktische Handeln. Gut gesagt. Aber wer handeln will, steht oft genug vor der Frage, was ist löblich, was verwerflich, was ist gerecht, was ungerecht. Bei den alten Griechen gingen einige Denker so weit, dass sie alles moralisch gute Handeln aus einem richtigen theoretischen Wissen (und alles moralisch verwerfliche aus dem Fehlen dieses Wissens) herzuleiten versuchten. Der berühmteste dieser Denker war Sokrates <?page no="32"?> 20 (469 - 399 v. Chr.), - er war sich der Unwahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit dieser Herleitung vielleicht sogar bewusst, hielt aber an der Behauptung dieses „Tugendwissens“ fest, um Gegenthesen zu provozieren und der Lösung des Problems näher zu kommen. Seit die Menschheit besteht, bemüht sie sich, das mitmenschliche, gesellschaftliche Verhalten unter gute, verbindliche Regeln zu bringen, um Gerechtigkeit, Sittlichkeit, Nächstenliebe, Freiheit, Frieden theoretisch zu begründen und praktisch zu etablieren und zu sichern. Das ist sehr aufreibend, und es gelingt nie endgültig, schon deshalb nicht, weil die Welt und die Menschen sich während dieser Bemühungen unversehens verändern: Was einst anerkanntermaßen förderlich und gut war, ist es unversehens irgendwann nicht mehr. Deshalb wird periodenweise immer wieder einmal das Umgekehrte probiert: Alle etablierten Werte und Morallehren zu demontieren, weil sie naturwidrig und verlogen seien, und statt dessen das schiere Leben, kraftvoll und rücksichtslos wie es ist, zu verherrlichen, oder mindestens möglichst fraglos einen theoriefreien Pragmatismus zu pflegen. Ein solcher Versuch, unter Verzicht auf theoretische Richtigkeit und generelle theoretische Regeln eine „Ethik ohne Metaphysik“ zu praktischer Geltung zu bringen und in Geltung zu halten, verdient alle Hochachtung. Man kommt praktisch ohne solche Versuche nicht aus. Dass sie nie zu dauerhaft befriedigenden Ergebnissen führen, mindert ihren praktischen Wert nicht - wie könnte ich, der ich hier beständig irgendwelche Vorläufigkeiten stehen lasse, es unternehmen, den Wert des Vorläufigen zu leugnen! Und doch ist den Menschen das Bestreben nicht auszutreiben, das Vorläufige zu überwinden. Dies Bestreben ist nicht nur theoretisch gefordert, es ist sogar praktisch notwendig, denn wenn das Vorläufige nie mehr in Frage gestellt würde, wäre es schließlich auch praktisch nicht mehr hilfreich, sondern nur noch altbacken. Fassen wir zusammen, was wir über unser Erkenntnisgebiet C und seine Teilgebiete herausgefunden haben: In einem Punkte sind die sonst so verschiedenen Teilgebiete völlig gleich: Bei allen stößt man irgendwo an eine Grenze, wo die Möglichkeit wahrer Erkenntnis grundsätzlich zweifelhaft wird. Da hat es stark den Anschein, als ob man nur die Wahl zwischen zwei Unmöglichkeiten hätte: E n t w e d e r müsste man, um wahre Erkenntnisse über Gott und über Gut und Böse zu gewinnen, außer den Sinnesdaten und dem Denken-und-Verstehen weitere Erkenntnisquellen verfügbar haben (und zwar sicher verfügbar haben), die aber unsere menschlichen Möglichkeiten weit übersteigen. Z. B. müssten wir über das Einverständnis <?page no="33"?> 21 aller Menschen (aller Zeiten und Regionen) verfügen, oder es müsste uns eine wirklich unbeirrbare ‚Einfühlung‘ ins Seelische gegeben sein, oder eine unmittelbare und zweifelsfreie Offenbarung Gottes. O d e r man müsste sich eingestehen, dass es bezüglich all dieser Gegenstände Wahrheit nicht gibt. Diese Wahl zwischen zwei Übeln möchten wir, das sei hier vorweg ausgesprochen, nicht akzeptieren, wenn es nicht ganz unvermeidlich ist. Ob wir aus dieser Zwickmühle herausfinden und wie, das wird erst ganz gegen Ende unserer Spaziergänge zu ermessen sein. Vorerst also legen wir jetzt die ‚Erkenntnis‘-Gebiete A (Mathematik/ Logik) und C (Gott, Gut-und-Böse) bei Seite. Wir bezeichnen sie als Gebiete uneigentlicher Erkenntnis, weil im Gebiet A die wahre Erkenntnis fast fraglos ist, im Gebiet C dagegen extrem fragwürdig. In der Mitte dazwischen liegt das Gebiet B, d. h. die ganze Welt der eigentlichen Erkenntnisprobleme. Damit wollen wir uns nun vorerst gründlich beschäftigen. <?page no="34"?> 22 Zweite Runde Wahrheitsdefinitionen 6. Spaziergang Aus Antike und Mittelalter Drei Anliegen sind es ganz allgemein, die wir erfüllt sehen wollen, wenn wir von Wahrheit reden: E r s t e n s wollen wir wissen, was Wahrheit an sich ist, wie sie zu definieren ist. Das ist ein rein theoretisches Anliegen. Die beiden anderen sind in gewissem Grade auch praktisch von Belang: Z w e i t e n s nämlich wollen wir sehen, wie man Wahr und Falsch von einander unterscheiden kann, an welchen untrüglichen Kennzeichen Wahres als wahr, Falsches als falsch erkennbar wird: Das Kriterium des Wahren ist hier also gefragt. D r i t t e n s wollen wir sehen, auf welchen Wegen, mit welchen Mitteln, unter welchen Voraussetzungen man zur Wahrheit kommen und Irrtum meiden kann. Oder, wenn wir Wahrheit erreicht haben: Wie man vermeiden kann, sie wieder zu verlieren: Die Methode der Wahrheitsgewinnung und der Wahrheitssicherung ist gefragt. Definition - Kriterium - Methode: Mit diesen drei Stichworten kennzeichnen wir die drei Anliegen in Kürze. Nun detaillieren wir wieder: Die Fragen nach Kriterium und Methode bleiben vorerst noch beiseite. In diesem sechsten und den folgenden Spaziergängen geht es nur um Definitionen von Wahrheit. Die älteste Wahrheitsdefinition, die uns aus abendländischer Tradition überliefert ist, stammt von Platon, aus seinem Dialog Krátylos (p. 385 b). Man kann sie auf Deutsch so wiedergeben: „Der Gedanke, der vom Seienden denkt, dass es ist, der ist wahr. - Derjenige Gedanke aber, der vom Seienden denkt, dass es nicht ist, der ist falsch“. Im griechischen Text steht für „Gedanke“ das Wort logos. Dies Wort bedeutet allerdings nicht nur „Gedanke, Meinung“, sondern <?page no="35"?> 23 zugleich auch „Wort, Satz, Behauptung“. Also kann man die Definition genau so gut folgendermaßen übersetzen: „Die Behauptung, die vom Seienden behauptet, dass es ist, die ist wahr. Dagegen diejenige Behauptung, die vom Seienden behauptet, es sei nicht, die ist falsch“. In sehr ähnlicher Weise finden wir dieselbe Definition auch bei Platons Schüler Aristoteles (Met. 1011 b 26). Aristoteles verwendet statt des Substantivs logos das dazugehörige Verbum legein. Dieses Verbum hat genau die gleiche Doppelbedeutung wie logos: Es bedeutet sowohl „denken, meinen“ als auch „sagen, behaupten“, es bezeichnet also, genau wie logos, nicht nur das innerliche Meinen und Denken, sondern auch die Äußerung des Gemeinten/ Gedachten. - Die Aristoteles- Definition für Wahrheit lautet in deutscher Übersetzung: „Wenn man behauptet (oder denkt), dass das Nichtseiende ist oder dass das Seiende nicht ist, das ist falsch. Dagegen wenn man behauptet (oder denkt), dass das Seiende ist und das Nicht-Seiende nicht ist, das ist wahr“. Die platonische und die aristotelische Wahrheitsdefinition sind zwar etwas verschieden formuliert, aber ihrem Sinne nach sind sie, wie jeder einsieht, vollkommen identisch. Stellen wir nun diesen beiden antiken Definitionen eine mittelalterliche zur Seite. Wir schreiben links das lateinische Original, in vier kleinen Absätzen untereinander angeordnet (aus dem Wahrheitstraktat des Thomas von Aquin - gestorben 1274 - : Quaest. disput. de ver., qu. 1, art. 1, resp.) und setzen rechts daneben die deutsche Übersetzung in denselben vier Absätzen, damit man genau sieht, wie sich die Worte hüben und drüben entsprechen: Veritas Wahrheit est adaequatio ist Übereinstimmung rei von Sache et intellectus und Auffassung (Denken) Man kann die Reihenfolge der beiden letzten Glieder ohne Weiteres vertauschen, dann kommt heraus: Veritas est adaequatio intellectus et rei - „Wahrheit ist Übereinstimmung von Auffassung (Denken) und Sache“. Denn ob die Sache mit dem Denken übereinstimmt oder das Denken mit der Sache, das läuft aufs Gleiche hinaus. Von wem und wann diese Definition erstmals formuliert wurde, weiß man nicht. Thomas stellt sie bereits als allenthalben anerkannte Lehre dar. Da Thomas unser Hauptzeuge ist, kann man sie einfach als „Thomasische Wahrheitsdefinition“ bezeichnen. Nach dem Wort adaequatio „Übereinstimmung“ (das ist der „springende Punkt“ der Defini- <?page no="36"?> 24 tion, wie wir noch sehen werden) spricht man auch von der „Adäquationsdefinition der Wahrheit“. Man nennt sie auch die klassische Wahrheitsdefinition, denn als solche ist sie seit dem Mittelalter in der europäischen Philosophie maßgebend geblieben. Weshalb gerade sie und nicht eine der viel älteren griechischen Definitionen diesen Rang erreicht hat, das mag einerseits daran liegen, dass Thomas sie noch abstrakter formuliert als die beiden Griechen. Außerdem aber sicher daran, dass die Gelehrtensprache im ganzen europäischen Mittelalter Lateinisch, nicht etwa Griechisch war - das war eine Erbschaft des Römischen Weltreichs. Wahrheit ist also die Übereinstimmung zwischen dem, was ist, und dem, was man darüber sagt oder denkt. Man könnte sich das figürlich veranschaulichen im Bild einer Waage im Gleichgewicht: In der linken Waagschale läge der Begriff intellectus, in der rechten der Begriff res, und der waagerecht (= im Gleichgewicht) stehende Waagbalken dazwischen gäbe ein Bild der adaequatio, d. h. der Übereinstimmung zwischen intellectus und res. adaequatio 7. Spaziergang Vermeintliche Mängel des Begriffs „Adäquation“ Die Adäquationsdefinition der Wahrheit war rund ein Jahrtausend lang, seit dem Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, die klassische Definition des Begriffs Wahrheit und genoss allgemeine Wertschätzung. Erst seit etwa hundert Jahren hat sich das gewandelt. Man hat begonnen, ihre Tauglichkeit zu bezweifeln, sogar radikal zu leugnen. intellectus res <?page no="37"?> 25 Die Mängel, die man damals und landläufig großenteils bis heute an ihr feststellen zu müssen glaubt, werden verschieden formuliert und begründet, sie betreffen in ihrem Kern aber vornehmlich den „springenden Punkt“ der Definition, den Adäquationsbegriff. Wir gehen jetzt dieser ‚Mängelrüge‘ nach, lassen also die anderen Teilbegriffe der Definition, d. h. die Begriffe res („Sache“) und intellectus („Auffassung, Meinung, Gedanke“), vorläufig außer Betracht. Aber wohlgemerkt: nur vorläufig. Es war für die Einschätzung der Adäquationsdefinition vermutlich nicht günstig, dass man n u r den Adäquationsbegiff genauer unter die Lupe genommen hat. Hätte man dieselbe kritische Sorgfalt den beiden anderen Teilbegriffen der Definition zugewandt, so hätte man vielleicht zu einer anderen Einschätzung des Wertes dieser Definition kommen können oder sogar müssen. Man glaubte aber wohl, die Begriffe res und intellectus seien problemlos: res sei eben „die Realität“ (das deutsche Wort „Realität“ und seine in allen europäischen Sprachen zu findenden Äquivalente sind von dem lat. Wort res abgeleitet), und intellectus sei eben „der Intellekt“. Wir werden später sehen, dass res und intellectus sehr wohl genauerer Untersuchung wert sind. Vorläufig aber, wie gesagt, geht es nur um den Begriff Adäquation („Übereinstimmung“). - Die diesbezügliche ‚Mängelrüge‘ lässt sich, in stark vereinfachter Weise, so ausdrücken: Übereinstimmung kann man problemlos konstatieren zwischen Dingen gleicher Art. Zum Beispiel: Die Aussage des Zeugen A stimmt mit der Aussage des Zeugen B überein. Oder: Das Gewinde einer Schraube stimmt mit dem der dazugehörigen Mutter überein. Da weiß jeder, was mit „Übereinstimmung“ gemeint ist. - Schwierig oder, wie die Kritik behauptet, unmöglich ist es jedoch, anzugeben, was mit „Übereinstimmung“ zwischen einer „Sache“ und einem „Gedanken“ gemeint sein kann. Das seien, dachte man wohl, zwei so grundverschiedene Dinge, dass es unmöglich sei, dem Ausdruck Übereinstimmung irgendeinen präzisen Sinn abzugewinnen. Man sah somit in der Adäquationsdefinition der Wahrheit einen sinnlosen Wortschwall, mit dem weder etwas Richtiges noch etwas Falsches, sondern eben rein gar nichts gesagt sei. Nun würde man die Intelligenz der mittelalterlichen Denker unterschätzen, wenn man annähme, sie hätten von diesen Schwierigkeiten keinerlei Empfindung gehabt. Es ist viel wahrscheinlicher, dass ihnen die Schwierigkeit sehr genau bewusst war, dass sie aber die Lösung auf einem Wege suchten, der dem modernen Denken so fern liegt und insbesondere als so unwissenschaftlich gilt, dass er gar nicht in Betracht gezogen wird. <?page no="38"?> 26 Worin besteht dies Fernliegende und (scheinbar) Unwissenschaftliche? - Es besteht darin, dass die mittelalterliche Wahrheitsdefinition nicht präzise und unverrückbar auf den e i n e n Wortlaut festgelegt ist, den wir oben aus Thomas von Aquins Wahrheitstraktat zitiert haben. Auch bei Thomas selbst kommt die Definition an anderen Stellen in mehreren Ausdrucksvarianten vor. Insgesamt findet man die konstitutiven Begriffe der Definition in folgenden Abwandlungen: statt res „Sache“ liest man manchmal ens „Seiendes“ (so lautete dieser Begriff ja auch in den altgriechischen Definitionen), statt intellectus „Auffassung, Einsicht, Begriff, Gedanke“ findet sich manchmal mens „Verstand, Geist, Denkvermögen“. Ganz besonders variantenreich wird aber der Begriff adaequatio formuliert, also eben der ‚springende Punkt‘ der Definition, in welchem die landläufige Kritik deren wunden Punkt sehen wollte. Anstelle von adaequatio trifft man im Mittelalter hauptsächlich folgende Varianten: convenientia „Zusammenkommen, Übereinkunft“ comparatio „Gleichsetzung, Gleichheit, Vergleichung“ concordia „Gleichsinnigkeit, Einmütigkeit, Eintracht“ conformitas „Gleichgeformtheit, formale Übereinstimmung“ correspondentia „Entsprechung, gegenseitiges Aufeinanderbezogen-Sein“ rectitudo mente perceptibilis „geistig erfassbare Richtigkeit“ Die letztgenannte Variante zeigt ansatzweise schon das moderne Streben nach Exaktheit und Präzision der Ausdrucksweise, und im Vergleich dazu bemerken wir, wenn wir die Variantenliste insgesamt betrachten, dass ein solches Streben den mittelalterlichen Denkern offenbar irgendwie fern lag. Das ist für ein streng-wissenschaftlich modernes Denken sehr befremdend. Für den modernen Beurteiler sieht die Aufzählung dieser sieben Formulierungs-Varianten wie ein dilettantisches Durcheinander aus. Bestenfalls entnimmt er daraus, dass die mittelalterlichen Denker zwar ahnten, dass Wahrheit irgendeine Relation zwischen res und intellectus sei, aber w e l c h e, und wie man diese Relation begreifen und benennen könne, darüber seien sie völlig im Unklaren gewesen. Das kann aber nicht zutreffen, sonst hätte es im Mittelalter über diese Unklarheit wohl heftigen und andauernden Streit gegeben, wovon aber nichts überliefert ist. Nichts überliefert ist insbesondere davon, dass einer der Denker seine Formulierungsvariante gegenüber den <?page no="39"?> 27 anderen als einzig richtige hätte durchsetzen wollen. Man war offenbar gemeinsam der Ansicht, dass keine davon ganz allein ausreicht, dass das aber kein wesentliches Manko ist, da vielmehr jede dieser Formulierungen doch irgendwie brauchbar ist, um die jedem denkenden Menschen (mindestens gefühlsmäßig) wohlbekannte Wahrheitsrelation zwischen res und intellectus zum Ausdruck zu bringen. Die mittelalterlichen Denker waren sich, so ist anzunehmen, nicht nur des Wesens dieser Relation, sondern auch der Möglichkeit, sie zu benennen, sicher: dass es nämlich, wenn man einen so hoch abstrakten, hoch prägnanten und umfassend beziehungsreichen Begriff wie Wahrheit definieren will, verfehlt wäre, sich auf eine einzige Ausdrucksweise zu versteifen und eine Präzision vorzutäuschen, die weder erreichbar ist noch irgendeinen Wert hätte, sondern dass es besser ist, das Gemeinte vielfältig zu umschreiben, damit die Benennung treffend und verstehbar wird. - Dies gedankliche ‚Umwandern‘ eines Begriffs mit Hilfe von vielen Ausdrucksvarianten ist in der normalen Sprache, besonders bei schwierigeren Begriffen, auch heute noch ein sehr hilfreiches Ausdrucksverfahren. Wir verwenden es ja auch hier in unseren Spaziergängen in ähnlicher Weise: Wir ‚umwandern’ den schwierigen Begriff Wahrheit nach und nach von vielen Seiten. Dass solch lockeres Umwandern in den heutigen strengen Wissenschaften nicht viel gilt, steht auf einem anderen Blatt. Es spricht nicht unbedingt und nicht in jedem Fall f ü r diese strengen Wissenschaften. Mit fortschreitender Neuzeit war man nicht mehr so duldsam wie im Mittelalter. Präzision schien unabdingbar, schon gar bei einer Definition, und vollends bei einem so wichtigen Begriff wie Wahrheit. So sehr aber die Adäquationsdefinition der Wahrheit seit etwa hundert Jahren angezweifelt wurde und wird, nehmen doch erstaunlicherweise alle modernen Versuche, den Begriff Wahrheit besser zu definieren, immer wieder diese klassische Definition als Ausgangspunkt. Es ist und bleibt offenbar d i e gedankliche Grundlage für die Beschäftigung mit dem Begriff Wahrheit. Ich könnte mir deshalb vorstellen, dass man in der Moderne eigentlich gar nicht den Ideengehalt der Adäquationsdefinition anzweifeln wollte (weil man fühlte, dass das, was man mit „Wahrheit“ meint, darin unübertrefflich zum Ausdruck kommt), sondern nur den unpräzisen sprachlichen Ausdruck zu verbessern strebte, den das Mittelalter dieser Idee gegeben hat. Aber der Übergang vom vielseitig-umwandernden Umschreiben zum präzise festgelegten, unveränderlichen Wortlaut ist offenbar doch nichts bloß Äußerliches und Unwesentliches, und so wurde schließ- <?page no="40"?> 28 lich, auch wenn man das von vornherein vielleicht nicht gewollt hatte, die Definition als ganze verworfen. Wer nun eher recht hatte, die mittelalterlichen Denker mit ihren freien Ausdrucksvarianten oder die modernen mit ihrer Präzisionsforderung; und worin diese Präzisionsforderung überhaupt begründet ist und wohin sie zielt (denn, wenn man sich‘s recht überlegt: von selbst versteht sich all das ja nicht): darüber werden wir im nächsten Spaziergang reden (und sogar späterhin noch weitere Male). Vorläufig denken wir uns die Adäquationsdefinition im Stillen vorsichtshalber noch mit drei Klauseln abgesichert, wir formulieren sie also wie folgt: „Wahrheit ist adaequatio (was immer das heißen mag) zwischen res (was immer das heißen mag) und intellectus (was immer das heißen mag)“. Zum Abschluss dieses Spaziergangs noch zwei Anmerkungen zum Namen dieser Wahrheitsdefinition. Erste Anmerkung: Wir haben die Definition als „klassische“ oder „thomasische“ oder „Adäquations“- Definition bezeichnet. Nun hat von den oben aufgezählten sieben Varianten für den Begriff Adäquation der Begriff correspondentia noch am ehesten Gnade vor der modernen Kritik gefunden. Manche Kritiker trauen ihm zu, dass er für eine Wahrheitsdefinition besser geeignet ist als der Begriff Adäquation. Dies Zutrauen ist zwar nicht gerechtfertigt: Die Variante correspondentia ist sachlich nicht besser und nicht schlechter als jede der sechs anderen. Aber das mag hier für den Moment auf sich beruhen bleiben. Jedenfalls bezeichnet man die klassische Wahrheitsdefinition manchmal auch als „Korrespondenz- Definition“. Zweite Anmerkung: Manchmal hört man sogar sagen, diese Definition sei die „Korrespondenz-Theorie der Wahrheit“. Das ist eine unzureichende, nachlässige Bezeichnung, weil eine bloße Wahrheits- Definition noch keine ausgearbeitete Wahrheits-Theorie ist. Wenn man in der bloßen Definition schon die ganze Wahrheitstheorie finden wollte, wäre das ungefähr so, wie wenn man die Leistungsfähigkeit einer Firma bloß nach dem draußen über dem Eingang hängenden Firmenschild beurteilen würde. - Wir wollen hier im Laufe unserer vielen Spaziergänge zu einer Wahrheits-Theorie kommen, die mit eben dieser Adäquationsdefinition verträglich ist. Nur: So weit sind wir noch nicht. Deshalb nehmen wir den Mund nicht zu voll und bezeichnen das, was wir bisher betrachtet haben, bescheiden als Wahrheits- Definition. <?page no="41"?> 29 Dritte Runde Annäherung an eine moderne Wahrheitsdefinition 8. Spaziergang Präzision und Prägnanz Wir wollen nun baldmöglichst (im 11. Spaziergang) eine moderne Wahrheitsdefinition studieren, die von anderer Art ist als die bisher betrachteten, weil sie mit der Forderung nach Präzision Ernst macht, was die klassische Definition zweifellos nicht im selben Maße tut. Damit wir diese moderne Definition richtig erfassen und einschätzen können, detaillieren wir wieder und nehmen zuerst nur den Begriff Präzision als solchen vors Auge, und zwar in zwei Schüben: in diesem 8. Spaziergang geht es um Präzision allgemein: was sie besagt und bedeutet und bezweckt. - Im 9. und 10. Spaziergang stehen dann die speziellen Präzisierungen zur Debatte, die im Blick auf eine moderne Definition des Wahrheitsbegriffs für erforderlich gehalten wurden und noch werden. Nun also zum Thema „Präzision allgemein“. Von Hause aus, primär, so kann man sagen, geht jedes Forschen ‚forsch’ aufs Ganze, und wenn nicht gleich auf das allergrößte Ganze, die Welt, so doch jedenfalls nicht sofort auf die kleinsten Kleinigkeiten, sondern auf ein relativ Großes, Umfassendes, das in sich selbst sinnvoll und studierenswert ist. Es bleibt aber nicht aus, dass man sich dabei irgendwann und -wo in unübersehbarem Gestrüpp verfängt und nicht mehr weiter weiß, weil man (da muss man das Sprichwort erst einmal umdrehen) vor lauter Wald keine Bäume sieht, oder, im Klartext gesagt: weil man vor lauter Blick aufs große Ganze die Details vernachlässigt. In einer solchen Lage ist es hilfreich, wenn man den forschenden Blick neu orientiert und nicht mehr vordringlich nach dem großen Ganzen (nach dem „Wald“) fragt, sondern nach den Einzelheiten, den „Bäumen“. Anders gesagt: wenn man nicht nur das absolut Sinnvolle und Bedeutende zu erkennen sucht, sondern seinen Blick auf das nur relativ wichtige Kleine richtet, auf dem doch schließlich auch der Sinn des großen Sinnvollen irgendwie beruht. Man sucht also erst einmal diese <?page no="42"?> 30 kleineren Dinge im Detail, in möglichster Schärfe, Genauigkeit und Distinktion zu klären. Man gewinnt dabei nicht nur Erleichterung im Verfahren, sondern auch inhaltliche Befriedigung: Man kommt nämlich rascher zu zweifelsfreien Ergebnissen. Freilich: Es sind stets Ergebnisse im Kleinen, im Detail. Irgendwann ist es deshalb Zeit, den Blick noch einmal umzuwenden und sich wieder auf den unverdrehten Wortlaut unseres Sprichworts zu besinnen, sonst läuft man Gefahr, vor lauter Bäumen (= Details) den Wald (= das Ganze) nicht mehr zu sehen. Wenn wir so das Ganze und die Details einander entgegensetzen, haben wir es mit dem begrifflichen Gegensatz von Prägnanz und Präzision zu tun. Was ist das für ein Gegensatz? - Man könnte, oberflächlich betrachtet, den Eindruck haben, „prägnant“ und „präzise“ seien gleichbedeutend, beides bedeute etwa „knapp und klar“. Das stimmt so einfach nicht. Sinnvoll kann man dagegen feststellen, dass beide Wörter tatsächlich in einem Teil ihrer Bedeutung gleich sind, aber eben nur in einem Teil: Beide bezeichnen eine positiv zu wertende Eigenschaft des Denkens, Redens und Forschens. Bei jeder Forschung, jedem Denken benötigt man beides, Prägnanz und Präzision. Allerdings: Im Kern ihrer Bedeutung sind die beiden Begriffe einander strikt entgegengesetzt. Prägnanz kommt von dem lat. Substantiv praegnantia bzw. von dem lat. Adjektiv praegnans. Dies Wort heißt eigentlich „schwanger“. Im übertragenen Sinne bezeichnet es also etwas Gewichtiges, Bedeutungsschweres, Fruchtbares, jedenfalls ein Großes und Ganzes. - Präzision dagegen kommt von lat. praecisus. Das bedeutet „vorn zugespitzt, geschärft“ wie ein Pfeil oder ein Speer oder ein Bleistift. Das Wort bezeichnet also im übertragenen Sinne die Schärfe, Genauigkeit und penible Unterscheidung der Details. Die beiden Denk- und Redetugenden der Prägnanz und der Präzision ergänzen einander, treiben miteinander die Forschung vorwärts, jede bedarf der anderen. Ein einfaches, allgemeingültiges Rezept, wie weit man beim Erkennenwollen aufs gewichtige Ganze und wie weit man auf präzisierbare Einzelheiten sehen soll, oder wann man von der einen Sichtweise auf die andere umschwenken soll, gibt es vermutlich nicht. Man kann da aber mehrere einander teils verstärkende, teils widerstreitende Erfahrungen machen. E r s t e n s: Wenn man allzu lange beim Blick aufs große Ganze hängen bleibt (das kann einen lange festhalten), wird man nicht unbedingt schlauer, man wird vielleicht sogar stumpf, man tritt auf der Stelle. <?page no="43"?> 31 Z w e i t e n s: Wenn man längere Zeit Details untersucht hat (die gehen einem ja nie aus) und schließlich sich davon losreißt, um wieder aufs Große zu sehen, neugierig, wie es sich denn jetzt nach so langer Zeit ausnimmt, hat man manchmal eine große Erleuchtung, manchmal aber auch nicht, sondern man bemerkt, dass die Detailuntersuchung zwar viel Erkenntnis gebracht hat, dass aber das große Ganze unvermindert schwierig ausschaut. Das kann besonders in dem (im 5. Spaziergang betrachteten) Erkenntnis-Gebiet C mit seinen hochgradig fragwürdigen Gegenständen geschehen - es zeigt sich nachträglich noch einmal, dass wir gut daran getan haben, dies Gebiet hier, wo wir einer präzisen Wahrheitsbestimmung nachgehen, beiseite zu lassen. Mit forcierter Präzision wäre, wenn man über Gott, das moralisch Gute und dergleichen spricht, nichts zu bestellen. D r i t t e n s: Wer die Geduld oder Hartnäckigkeit aufbringt, Einzelheiten (sogar viele und über längere Zeit) unpräzisiert liegen zu lassen, der merkt manchmal zu seiner Überraschung, dass sich deren Präzisierung nachher als nicht mehr nötig erweist, ähnlich wie bei gewissen algebraischen Umformungen manche Unbekannten „sich herauskürzen“. V i e r t e n s: Für viele lebenspraktische Aufgaben genügt es, sich im Detail zu bewähren, und man kann die Sorge ums Ganze weit hinausschieben. Immerhin dürfte es dabei förderlicher sein, wenigstens zu wissen und anzuerkennen, dass es ein Ganzes gibt, das man einstweilen vertrauensvoll auf sich beruhen lässt, als das Ganze einfach zu leugnen. Es kann nun durchaus vorkommen, dass ein seriöses Denken oder eine seriöse Forschungsmeinung sowohl hervorragend präzise als auch hervorragend prägnant ist. Das ist gewissermaßen der Idealfall, - aber es ist sogar in der seriösen Wissenschaft ein wenig häufiger Fall. Sehr oft klaffen die beiden Tugenden (Präzision und Prägnanz) irgendwie auseinander: die eine wird, aus welchen Gründen auch immer, höher geachtet und intensiver angestrebt, die andere weniger. Wenn man dann vollends das nicht so klare, nicht so bewusste Alltagsdenken und -fühlen ansieht, so muss man wohl feststellen, dass heutzutage beim Denken, Reden und Forschen die Präzision in aller Regel höhere Achtung genießt als die Prägnanz. Diese letztere ist weniger bekannt und geachtet, - vielleicht wird sie einfach für selbstverständlich gehalten. Das ist sie aber sicher nicht. Eine einseitige Bevorzugung der Präzision könnte nämlich nur unter der Voraussetzung empfehlenswert sein, dass sich aus dem gedul- <?page no="44"?> 32 digen Aufsammeln von Detailkenntnissen am Ende zuverlässig die vollgültige, prägnante Erkenntnis des Ganzen ergibt. Diese Voraussetzung trifft jedoch nicht durchweg zu. Manchmal ist „das Ganze mehr als die Summe seiner Teile“, wie man gerne sagt. Das ist paradox geredet, denn „mehr“ als diese Summe kann es eigentlich nicht sein, wohl aber von anderer Art als alles das, was bei geduldigem Aufsammeln genau erfasster Einzelheiten zusammenkommen kann. Wir können hier ein erstes Ergebnis unserer Überlegungen festhalten: Sofern die moderne Wahrheitsforschung einseitig Präzision erstrebt, ist sie von vornherein mit einem gravierenden Mangel behaftet. Das wollen wir im Kopf behalten, - wir gehen aber vorläufig dieser Forschungsrichtung trotzdem weiter nach, ohne sie noch zu kritisieren: Das kommt später. 9. Spaziergang Präzisierung des sprachlichen Ausdrucks Jetzt kommen wir, wie angekündigt, zu den speziellen Präzisierungen, die zur Gewinnung einer modernen Wahrheitsdefinition vorgenommen wurden. Diese Präzisierungen betreffen einerseits den sprachlichen Ausdruck von Begriffen, andererseits die Begriffe selbst („wahr“, „Wahrheit“ usw.). - Achtung: Der geneigte Leser wird gebeten, genau zu lesen und aufzunehmen, was soeben gesagt worden ist. Einerseits war vom sprachlichen Ausdruck der Begriffe die Rede, andererseits von den Begriffen selbst. Diese Unterscheidung mag manchem unnötig oder sogar unsinnig vorkommen, weil er zwischen einem Begriff und dem sprachlichen Ausdruck dieses Begriffs keinen Unterschied annimmt: Das Wort Gott, so wird er etwa sagen, ist doch genau dasselbe wie der Begriff Gott. Oder: das Wort Ursache ist dasselbe wie der Begriff Ursache. Wenn man’s genau nimmt, ist Wort und Begriff nicht ganz dasselbe. Das merkt man daran, dass manchmal ein und derselbe Begriff mit verschiedenen Ausdrücken benannt wird, zum Beispiel, ganz banal, Samstag und Sonnabend. Im gewöhnlichen Sprechen muss man’s mit solchen Unterscheidungen nicht immer so streng nehmen. Aber den <?page no="45"?> 33 gedanklichen Unterschied zwischen Wort und Begriff sollte man immerhin kennen. Hier im 9. Spaziergang befassen wir uns also zunächst mit der Präzisierung der sprachlichen Ausdrücke. Eine solche besonders präzise Ausdrucksweise hat man nicht nur für die Zwecke der Wahrheitsforschung geschaffen, sondern es gibt sie für jede Wissenschaft. Für wissenschaftlichen Gebrauch erweist sich die natürliche Sprache in mancher Hinsicht als hinderlich: Sie bietet auf der einen Seite reichere Ausdrucksmöglichkeiten, als man für wissenschaftliche Zwecke streng genommen benötigt. Diese vielen Ausdrücke sind aber allermeist unscharf, mehrdeutig. Die Wissenschaft begnügt sich mit einer kleineren Zahl von Ausdrücken, die aber sollen scharf zugespitzt, eindeutig sein. So erschafft sich jede Wissenschaft ihre besondere, künstliche Sprechweise. Meist benutzt sie dabei im Ganzen zwar die natürliche Sprache, ersetzt oder ergänzt sie aber an den entscheidenden Stellen durch schärfer gefasste Fachausdrücke, begreiflicherweise vor allem da, wo die natürliche Sprache gar keine Wörter für das spezielle Ausdrucksbedürfnis bereitstellt. Nicht nur Wissenschaften verfahren so, sondern auch Handwerke, Künste und überhaupt Spezialdisziplinen jeder Art. Soweit klar. Nun gibt es darüberhinaus Wissenschaften, die mit der Präzisierung noch erheblich weiter gehen: Sie verwenden extrem künstliche Kunstsprachen, die von der natürlichen Sprache (fast) gar keinen Gebrauch mehr machen, sondern zwecks extremer Präzision sämtliche Ausdrücke streng „formalisieren“: Die Ausdrücke der natürlichen Sprachen werden radikal durch künstliche „Symbole“ ersetzt. Der heutige Schüler lernt derlei Kunstsprachen in den Formeln der Mathematik, Physik und Chemie kennen. Auch die moderne Logik bedient sich einer so extrem künstlichen Sprache (diese Logik wird deshalb auch als formale oder symbolische Logik bezeichnet), und im Gefolge der Logik wird eine ähnlich extreme Kunstsprache auch für die moderne Wahrheitsforschung verwendet. Wir wollen nun zunächst zur Veranschaulichung eine solche extreme Kunstsprache an unserem Logikbeispiel aus dem 4. Spaziergang vorführen. Da hatten wir die zwei Sätze „Der Mond ist essbar“ und „er besteht aus Edamer Käse“. Schon hier träte, wenn man in der Formulierung ganz genau und präzise vorgehen wollte, zusätzlicher Präzisierungsbedarf auf. Damals im 4. Spaziergang waren die Sätze nämlich etwas anders formuliert als hier oben. Sie lauteten damals: „dass der Mond aus Edamer Käse besteht“ und „dass der Mond essbar ist“. <?page no="46"?> 34 Hier oben dagegen findet sich in keinem der Sätze ein „dass“, außerdem steht das ausdrückliche Satz-Subjekt „der Mond“ hier nur im ersten Satz, während im zweiten dafür das Pronomen „er“ erscheint. Noch weitere Unterschiede wären zu nennen, was wir aber unterlassen, weil der Leser uns jetzt schon zuruft: Diese Verschiedenheiten sind doch unwesentlich. Da hat der Leser recht: Eben um sich nicht mit derlei Unwesentlichkeiten herumzuschlagen, sondern das Wesentliche knapp und klar auszudrücken, benützt die extrem künstliche Sprache ausschließlich künstliche Symbole. In extrem künstlicher Sprache kann man die beiden genannten Sätze durch je einen einzigen Buchstaben symbolisieren: den Satz vom Mond aus Edamer Käse z. B. durch ein „p“, den Satz von der Essbarkeit des Mondes z. B. durch ein „q“. - Im 4. Spaziergang waren nun die beiden Sätze mittels „Wenn-Dann“ miteinander verknüpft: „Wenn der Mond aus Edamer Käse besteht, dann folgt daraus, dass er essbar ist“, oder kürzer: „Wenn p, dann folgt daraus q“. Diese kurze Formel „abstrahiert“ von allen Aussage-Inhalten: hier ist weder vom Mond noch von Edamer Käse noch von Essbarkeit die Rede. Die Formel bringt nur noch das formal-logisch Relevante an den Sätzen zum Ausdruck. - Noch kürzer wird es, wenn man das „Wenn“ und das „dann folgt daraus“ durch einen Pfeil ( ) symbolisiert, der von p nach q weist. Man schreibt das Ganze also in rein formaler, symbolischer Schreibweise ganz kurz: p q. Für die negierte, umgekehrte Verknüpfung („Wenn der Mond nicht essbar ist, besteht er nicht aus Edamer Käse“, oder kurz: „Aus Nicht-q folgt Nicht-p“) benötigt man ein Symbol für das zweimalige „nicht“. Man kann z. B. über die Symbole p und q jeweils einen Querstrich setzen, dann hat man: q¯ p¯. Nun muss noch dargestellt werden, dass die beiden Wenn-Dann- Verknüpfungen auch untereinander noch mittels „Wenn-Dann“ verknüpft sind: „Wenn (p q) gilt, dann folgt daraus (q¯ p¯)“. <?page no="47"?> 35 Da hier genau dasselbe Wenn-Dann angesprochen ist wie vorhin, wird auch diese Folgerung durch genau den gleichen Pfeil symbolisiert. Kurz und gut sieht das Ganze schließlich so aus: (p q) (q¯ p¯). Dazu noch einige Anmerkungen: E r s t e n s: Ich sage: „Man kann“/ „z. B.“ / „etwa“ die genannten Symbole wählen. Man kann aber auch in jedem Fall beliebig andere wählen. Nötig ist nur, dass man das einmal gewählte Symbol dann belässt, wie es festgelegt ist. Und wenn das Ganze nicht nur dem Privatvergnügen eines Einzelnen, sondern der Kommunikation zwischen Mehreren dient, ist außerdem nötig, dass alle Teilnehmer dasselbe Symbolsystem verwenden, oder dass Regeln gegeben sind, wie man die Symbole aus einem System in ein anderes übersetzt. Z w e i t e n s: Festgelegt müssen die Symbole auf jeden Fall vorweg werden, und dazu benötigt man unausweichlich die natürliche Sprache. Wenn die Bedeutungen der Symbole nicht in natürlicher Sprache festgelegt würden, wären alle Symbole und alle daraus aufgebauten Formeln völlig sinn- und nutzlos. Deswegen habe ich oben gesagt: Die extrem künstlichen Kunstsprachen machen von der natürlichen Sprache f a s t keinen Gebrauch. Genauer müsste man sagen: Sie machen von der natürlichen Sprache nur v o r w e g Gebrauch, dies aber sehr ausgiebig, nämlich um die Bedeutung der Symbole festzulegen. Erst dadurch sind sie in der Lage, ‚im Inneren’ der Kunstsprache auf natürliches Sprechen völlig zu verzichten. D r i t t e n s: Ein Vorzug ist, dass das Symbolsystem und die Symbolbedeutungen nicht vor jedem einzelnen Gebrauch noch einmal neu festgelegt werden müssen. Wenn sie erst einmal festgelegt sind, genügt das für alle Zeiten. Es ist damit aber ein Nachteil verknüpft: Wenn man sich nicht genau Rechenschaft gibt, kann man den Eindruck haben, diese ‚ewig gleichen’ Symbole hätten ihre Bedeutung von Natur aus, die Kunstsprache lebe völlig aus eigener Kraft, ohne die natürliche Sprache zu benötigen. So kann (und wird auch wohl meistens) ein heutiger Schüler unbedenklich meinen, das Kreuzchen „+“ sei das naturgegebene Zeichen für die Addition, und zwei kleine waagrechte Parallelstriche (=) bedeuteten von Natur aus Gleichheit usw. Das ist aber irrig. Ohne den Hintergrund der sie definierenden natürlichen Sprache haben die Symbole der Kunstsprache keinerlei Sinn und Wert. <?page no="48"?> 36 V i e r t e n s: Die so extrem künstlichen Kunstsprachen sind eigentlich keine „Sprachen“. Sie bedürfen keiner hörbaren, lautlichen Realisation, wie die natürlichen Sprachen sie unabdingbar benötigen. Für den schon mehrfach erwähnten heutigen Schüler wird diese Tatsache dadurch verschleiert, dass er etwa in der Mathematik zugleich mit der künstlich festgelegten Formel (zum Beispiel a 2 + b 2 ) die ebenso künstliche Ausspracheregel („a Quadrat plus b Quadrat“) lernt. - Wenn jedoch die Symbole erst einmal allgemein umgangssprachlich definiert sind, wäre eine Ausspracheregel für die speziellen Symbolketten der Kunstsprache im Grunde nicht mehr nötig. Nötig ist dann nur noch die graphische Realisation auf dem Papier oder der Wandtafel und die gedankliche Realisation in den Köpfen der damit Arbeitenden. Die Wissenschaftler k ö n n t e n sich also in dieser Pseudo- Sprache ganz stumm ‚unterhalten‘, indem sie sich gegenseitig stumm, rein schwarz auf weiß, die geschriebenen Symbole zeigten, sie gegebenenfalls stumm veränderten, gedankliche Schlüsse daraus zögen, diese wiederum graphisch darstellten usw. usw. - Interessanterweise verfahren sie in der Regel jedoch nicht so. Sondern wenn sie die Symbole und Symbolketten aufs Papier oder an eine Wandtafel schreiben, pflegen sie sie gleichzeitig sich selbst und anderen hörbar vorzusagen. Meist wird freilich bei der ‚Aussprache‘ solcher Symbolketten nur ein knappes Gestammel aus Sprachbrocken laut, das dem, der nicht zugleich die geschriebene Formel vor Augen hat (und sie auch versteht! ), unbegreiflich bleibt („a Quadrat plus b Quadrat“ ist im Grunde genau ein solches ‚Gestammel‘). Daran zeigt sich, dass die graphische Symbolisierung und Formalisierung lediglich eine in bestimmten Wissenschaften verwendbare (und dort zweifellos höchst nützliche) Stütze für das natürliche Aussprechen von Gedanken ist, nicht aber ein vollkommener Ersatz fürs natürliche Sprechen und Denken. F ü n f t e n s: Wir haben gesagt, die natürlichen Sprachen bedürften unabdingbar der lautlichen Realisation. Dazu hier der knappe Hinweis, dass alles, was in natürlicher Sprache geäußert wird, nicht nur durch die grammatische (das Denken ansprechende) Form verstehbar wird, sondern auch durch die immer mitklingende „Sprechmelodie“. Ob frz. Ça va bien eine Frage oder eine Behauptung ist, erkennt man nur an dieser Melodie. - Bei den extrem-künstlichen ‚Sprachen’ klingt nichts mit. S e c h s t e n s: Auch in der extrem künstlichen Sprache waltet nicht ganz ‚reines‘ Denken. Manche Symbole sind an Worte aus natürlichen Sprachen angelehnt, so „p“ an engl. proposition „Satz, Aussage“. Viele <?page no="49"?> 37 andere sind figürlich-anschaulich gewählt; z. B. gibt der Pfeil ( ) ein anschauliches Bild des „Folgens“. Das mathematische Gleichheitszeichen macht durch die „Gleichheit“ der beiden Parallelstriche in ähnlicher Weise den Begriff Gleichheit anschaulich. Diese Anschaulichkeiten wären an sich nicht nötig. Man könnte also als Gleichheitszeichen auch ein beliebiges anderes Zeichen, etwa ein $ verwenden. Aber das tut man natürlich nicht, weil man ganz gern auch bei den ‚rein’ denkerischen Zeichen eine anschaulich-natürliche Denkstütze hat. Wir haben hier vor allem einige (noch nicht alle) Vorzüge der Kunstsprachen herausgestellt. Von ihren Nachteilen war noch so gut wie gar nicht die Rede. - Über die natürlichen Sprachen, und insbesondere darüber, dass sie im Ganzen den Kunstsprachen an Tauglichkeit sogar überlegen sind, sprechen wir genauer im dritten Kapitel. - Soviel also zur Präzisierung der sprachlichen Ausdrücke. 10. Spaziergang Präzisierung der Begriffe Nun zur Präzisierung der B e g r i f f e, mit denen die moderne Wahrheitstheorie arbeitet. - Als Erstes wird das Wort und der Begriff „Wahrheit“ gewissermaßen in den Bann getan. Den Untersuchungsgegenstand, um den es in der Wahrheitsforschung geht, benennt man nicht mit dem Substantiv „Wahrheit“, sondern mit dem Adjektiv „wahr“. Man möchte den Anschein vermeiden, als habe man es mit einem irgendwie und -wo in der Welt substanzhaft existenten Ding zu tun, dessen Name das Ding-Wort „Wahrheit“ sei. An die ontologische (= Seins- oder Substanz-) Beschaffenheit dieses etwaigen „Dings“, d. h. an die Frage, ob oder wo in aller Welt so ein Ding „ist“, verschwendet man keinen einzigen Gedanken, - es sei denn den, dass man diese Frage für müßig erklärt, weil sie nicht beantwortet werden könne: Das „Sein“ eines „Dings“ namens „Wahrheit“ könne man weder beweisen noch widerlegen. - Hier sei vorausschauend eingeschaltet, dass wir gegen Ende unserer Spaziergänge zu der Einsicht kommen sollten, dass „Wahrheit“ sehr wohl „ist“. Ein „Ding“ kann man Wahrheit vielleicht nicht so gut nennen, aber dass Wahrheit nicht nichts ist, sondern tatsächlich „etwas ist“, das hoffen wir darzulegen. <?page no="50"?> 38 Aber bleiben wir vorerst noch bei der modernen Wahrheitstheorie, - die genau genommen keine „Wahrheits“-Theorie ist, weil sie den Begriff Wahrheit meidet. Wenn sie das Wort „Wahrheit“ bequemlichkeitshalber trotzdem verwendet, dann unter der stillschweigenden Voraussetzung, dass das nur die rein sprachliche Substantivierung des Adjektivs „wahr“ ist. Man nimmt also das Wort „Wahrheit“ vielleicht noch in den Mund, nicht aber den Begriff „Wahrheit“ ins Denken. (Nebenbei: Hier haben wir wieder ein Beispiel dafür, dass es grundsätzlich möglich und in kritischen Fällen auch nötig ist, zwischen Wort und Begriff zu unterscheiden.) Der kritische Leser kann natürlich zweifeln, ob die Meidung des Substantivs „Wahrheit“ und die ‚Zuflucht’ zum Adjektiv „wahr“ überhaupt irgendeinen Nutzen erbringt. Diese Frage ist sehr wohl berechtigt. Wir klären sie hier aber nicht weiter, um uns nicht zu verzetteln, sondern gehen einfach den Gepflogenheiten der modernen Wahrheitsforschung weiter nach. Zu klären ist nun, w e l c h e n Dingen (oder Sachen oder Tatsachen oder Sachverhalten oder Gegenständen oder Gedanken oder Sätzen oder sonstigen [wie auch immer zu benennenden] Instanzen) man das adjektivische Prädikat „wahr“ rechtmäßig beilegen kann. Bei D i n g e n im grob materiellen Sinne verfällt niemand darauf, sie „wahr“ oder „falsch“ zu nennen: Eine Kartoffel oder ein Stuhlbein oder ein Felsklotz ist weder wahr noch falsch. - Wie steht es in dieser Hinsicht mit Sachverhalten bzw. Tatsachen? Sie werden zwar oft wahr genannt. Eigentlich kann da aber nicht gemeint sein, dass die Tatsache oder der Sachverhalt als solche(r) wahr ist: Tatsachen und Sachverhalte s i n d eben Tatsachen und Sachverhalte, es ist eine sinnlose Tautologie, sie zusätzlich noch wahr nennen zu wollen. Dagegen ist der Unterschied von wahr oder falsch sehr beachtlich in den Vorstellungen (Meinungen, Auffassungen usw.), die man über die Tatsachen hegt. Ob man z. B. eine Tatsache als solche erkennt oder nicht, oder ob man etwas für eine Tatsache hält, was in Wirklichkeit keine ist, usw. - darauf kommt es an. Aus diesen Überlegungen folgt: Wahrheit (bzw. Falschheit) gibt es nur in mente (= „im Geistigen“), z. B. im Denken, Meinen und Reden, im Erkennen von Sachverhalten bzw. im Verfehlen von Erkenntnis usw. - Der lateinische Ausdruck in mente zeigt, dass diese Einsicht schon im Mittelalter ausgesprochen worden ist. Sie war sogar in der Antike schon bekannt. Indes, der Präzisierungsdrang geht weiter. Was im Inneren, im Denken, Meinen usw. vor sich geht, sieht man nicht und hört man <?page no="51"?> 39 nicht, kann man also nicht zuverlässig beurteilen. Dann kann man es aber auch nicht zuverlässig als wahr oder falsch deklarieren. Damit man Wahr und Falsch unterscheiden kann, muss „das Innere“ erst einmal herauskommen, es muss geäußert werden. Konsequenterweise verwendet man also das Prädikat „wahr“ nur zur Kennzeichnung von Aussagen. Hier sei im Vorbeigehen in Erinnerung gerufen, dass die alten Griechen für das mentale, innerliche Denken und Meinen u n d für das geäußerte Reden und Behaupten ein gemeinsames Wort hatten: das Wort logos - wir haben es im 6. Spaziergang kennen gelernt. Die Subtilität und Präzision, mit der man heute zwischen mentalem Denken und geäußertem Behaupten unterscheidet, konnte einem Griechen nicht so einfach in den Sinn kommen. Darin zeigt sich einerseits eine Beschränktheit, eine Schwäche des griechischen Denkens und der griechischen Sprache. Wenn man andererseits Denken und Reden auf einer höheren Abstraktionsstufe als ein-und-dasselbe begreifen kann (wir werden später sehen, dass man das kann und muss), dann ist die ‚Beschränktheit’ der griechischen Sprache nicht eine Schwäche, sondern eher eine Stärke, die dem Denken eine wichtige Einsicht aufschließt, welche anderen Leuten, die von ihrer Sprache angehalten werden, strikt zwischen mentalem Denken und geäußertem Behaupten zu trennen, nicht so einfach nahe liegt. Es folgt nun eine letzte Präzisierung. Man wendet das Wort „Aussage“ (und damit auch die Unterscheidung wahr/ falsch) nicht auf alles und jedes an, was aus dem Inneren der menschlichen Meinungen und Gedanken zu Tage tritt und geäußert wird, sondern nur auf „Ist- Aussagen“, d. h. nur auf deskriptive, sachlich beschreibende, konstatierende, behauptende Äußerungen. Zu den Aussagen in diesem engen Sinne gehören also nicht: E r s t e n s die Fragen (Die Äußerung „Wie spät ist es? “ ist weder wahr noch falsch). Z w e i t e n s die „Soll-Aussagen“, also Wünsche, Bitten, Vorschriften, Normen (Wilhelm Buschs hübscher Kochbuch-Imperativ: „Man nehme einen Löffel Mehl, die nöt'ge Milch, dazu drei Eier“ ist weder wahr noch falsch). S c h l i e ß l i c h gehört zu den Aussagen im engeren Sinne all das nicht, was über die Zukunft geäußert wird: Wenn ein Schuldner seinem Gläubiger verspricht „Ich zahle dir das Darlehen in vierzehn Tagen zurück“, dann kann man das, wenigstens in dem Moment, in dem er es ausspricht, weder wahr noch falsch nennen. <?page no="52"?> 40 In strenger Präzision wird also das Wörtchen „wahr“ n u r zur Kennzeichnung von „Nicht-futurischen Ist-Aussagen“ verwendet. Außerhalb ihrer gibt es den präzisen Unterschied wahr/ falsch nicht. 11. Spaziergang Eine modern-präzise Wahrheitsdefinition Vorbemerkung: Wenn wir hier (und im Folgenden noch mehrfach) fremde Entwürfe zur Wahrheitstheorie erwähnen, geschieht das kurz zusammenfassend, aus unserem Blickwinkel und in unseren Formulierungen. Es ist unausbleiblich, dass dabei manche Einzelheiten zu kurz kommen. Es sei hier ein für alle Male auf das Unzureichende solcher Erwähnungen hingewiesen, - ich hoffe, dass trotzdem keine wesentlichen Verfälschungen mit unterlaufen. Der polnische Logiker und Mathematiker Alfred Tarski hat etwa 1930 eine Definition aufgestellt, die der Präzisionsforderung so vollkommen Rechnung trägt und dabei die Stärken und Schwächen dieser Forderung so klar zur Anschauung bringt, dass sie noch heute, nach fast achtzig Jahren, als eine veritable ‚Landmarke’ in der ‚Landschaft‘ der Wahrheitsforschung dasteht. Wie jeder, der die klassische Wahrheitsdefinition verbessern will, ging auch Tarski von eben dieser klassischen Adäquationsdefinition (Korrespondenzdefinition) aus. Verbessern heißt: Er will sie korrekt und präzise formalisieren, in die Begrifflichkeit der formalen Logik übertragen. Wir können uns von dieser Leistung die eindrücklichste Vorstellung verschaffen, wenn auch wir bei der Adäquationsdefinition ansetzen und sie schrittweise ins Präzise umbauen. - Da ich im Folgenden die ‚Entstehung‘ (den ‚Umbau’) der Definition nicht genau so darstelle wie Tarski, rede ich hier nur von ‚einer’ präzisierten Wahrheitsdefinition, meide also den Namen Tarski, um Missverständnisse auszuschließen. Die klassische Adäquationsdefinition besteht aus vier tragenden Begriffen: zunächst dem Begriff veritas „Wahrheit“ als Definiendum (als das, was definiert werden soll). Ihm stehen als Definiens (als Defi- <?page no="53"?> 41 nierendes) gegenüber die drei Begriffe res „Sache“, intellectus „Gedanke“ und adaequatio „Übereinstimmung“. Wir detaillieren jetzt wieder und lassen das Definiendum „Wahrheit“ einfachheitshalber noch beiseite. Lediglich das Definiens unterziehen wir einer ersten Formalisierung. adaequatio intellectus - - - - ======= - - - - res Hier soll das Definiens aus der klassischen Wahrheitsdefinition dargestellt sein, ein klein wenig formalisiert: Wir sehen hier keine bildhaftanschauliche Zeichnung, mit „Waagschalen“ links und rechts und dem „Waagbalken“ dazwischen, sondern denken uns nackt-abstrakte Begriffe: adaequatio in der Mitte deutet die Übereinstimmung zwischen links und rechts, zwischen intellectus und res an. In einem zweiten Schritt nehmen wir aus dieser Figur die Begriffs- Inhalte heraus, da sie als zu unpräzise gelten, und behalten so die leere, rein formale Konfiguration der Begriffe übrig. __________ - - - - ========== - - - - __________ Mit dieser Konfiguration sei dargestellt, dass zwei Begriffe gleicher ‚Höhenlage’ (symbolisiert durch die beiden Striche rechts und links) durch einen Begriff höherer Ordnung (symbolisiert durch den Doppelstrich in der Mitte) in irgendeine Relation zueinander gebracht sind. Diese leere Konfiguration füllen wir sodann wieder mit Inhalten, aber nun formal korrekt und präzise. Wir detaillieren wieder und nehmen zunächst nur den linken Strich (= Begriff) vor: Das Wort intellectus, das links stand, ersetzen wir durch „die Aussage, dass Schnee weiß ist“. Was ist hier geschehen? Zweierlei. Zum einen haben wir den vagen Begriff „Intellectus allgemein“ dadurch präziser gefasst, dass wir nur von einer speziellen Leistung des Intellectus reden, nämlich dass er z. B. sagen kann, Schnee sei weiß. Zum zweiten ist das Substantiv intellectus ersetzt durch eine Aussage: Wir haben ja oben gesehen, dass in extremer Präzisierung nur Aussagen wahr oder falsch sein können. (Die spezielle Aussage, dass Schnee weiß ist, werden wir nachher durch die allgemeine Aussage „p“ ersetzen. Das Schneebeispiel - es stammt <?page no="54"?> 42 übrigens von Tarski - dient nur vorläufig zur besseren Verständlichkeit und Veranschaulichung.) Nun zu dem Strich (= Begriff) auf der rechten Seite. Hier muss ich erst einmal im Irreal reden: Wir könnten rechts, wo ursprünglich res stand, die Worte „die Tatsache, dass Schnee weiß ist“ eintragen. Dann bekämen wir Folgendes: Die Aussage, dass - - - - ======== - - - - Die Tatsache, dass Schnee weiß ist. Schnee weiß ist. In dieser Figur wäre dargestellt, dass zwischen der Aussage, dass Schnee weiß ist, und der Tatsache, dass Schnee weiß ist, irgend eine Relation besteht, die hier noch nicht bezeichnet ist - deshalb ist der Doppelstrich in der Mitte noch leer. - Aber Vorsicht! Den Begriff Tatsache muss man in einer präzisen Wahrheitsdefinition als ‚Schmuggelware’ beanstanden. Weshalb? (a) Von der ‚Wahrheit’ einer Tatsache zu sprechen, ist eine sinnlose Tautologie, wie wir uns klargemacht haben: Wahrheit gibt es nicht im Tatsächlichen, sondern nur in mente. - (b) In strenger Präzision können nur Aussagen wahr (bzw. falsch) sein. Eine präzisierte Wahrheitsdefinition darf also nicht von Tatsachen, sondern nur von Aussagen sprechen. Nun fehlt auch noch der Relationsbegriff in der Mitte. Den unpräzisen Begriff „Adäquation“ (der ursprünglich dort stand), kann man hier nicht brauchen - in der modernen Logik ist er gar nicht definiert. Es liegt nahe, an seiner Stelle den logisch genau definierten Begriff „Äquivalenz“ („Gleichwertigkeit“) heranzuziehen. Äquivalenz besteht nach logischer Definition zwischen zwei Aussagen p und q genau dann, wenn p die logische Folge von q ist, und umgekehrt q auch die logische Folge von p. Als graphisches Symbol für „Äquivalenz“ bietet sich ein Doppelpfeil ( ) an, der gleichzeitig zu p und auch zu q hinzeigt. Nun entsteht aber eine neue Schwierigkeit: In die obige Figur können wir Äquivalenz als Mittelbegriff nicht eintragen, da Äquivalenz, wie gesagt, nur als Relation zwischen Aussagen definiert ist; in der obigen Figur steht jedoch nur links eine Aussage, dagegen rechts eine Tatsache. Wenn wir diesem Mangel dadurch abhelfen wollten (da muss ich immer noch irreal reden), dass wir auf der rechten Seite die Worte „die Tatsache, dass Schnee weiß ist“ ersetzen durch „die Aussage, dass Schnee weiß ist“, bekämen wir: Die Aussage, dass - - - - ======== - - - - Die Aussage, dass Schnee weiß ist. Schnee weiß ist. <?page no="55"?> 43 Da können wir den Begriff „Äquivalenz“ als mittleren Begriff leider immer noch nicht sinnvoll eintragen, denn jetzt besteht zwischen links und rechts m e h r als bloß Äquivalenz, es besteht Tautologie: Die beiden Seiten sind identisch, und die ganze Figur kann uns so nichts mehr nützen. Jetzt ist es Zeit, sich daran zu erinnern, dass aus dem Ganzen eine Wahrheits-Definition werden soll. Wir haben aber das Definiendum „Wahrheit“ (präzise gefasst: „wahr“) bisher noch ganz außer Acht gelassen und uns einstweilen nur um die Konfigurierung des Definiens aus seinen drei Teilbegriffen res, intellectus und adaequatio gekümmert. Jetzt müssen wir also den Begriff „wahr“ ins Spiel bringen. Wie machen wir das? Wir kennzeichnen eine der beiden tautologischen Aussagen der obigen Figur (egal welche, sie sind ja total gleich, sagen wir also: die linke) als „wahr“, dann sind sie nicht mehr tautologisch. Damit kann, gegebenenfalls, Äquivalenz zwischen ihnen festgestellt werden. Was heißt aber „eine Aussage als wahr kennzeichnen“? Da wir immer nur mit Aussagen arbeiten, heißt „eine Aussage als wahr kennzeichnen“ soviel wie „aussagen, dass diese Aussage wahr ist“. So erhalten wir schließlich folgende Wahrheits-Definition: ist äquivalent mit Die Aussage, dass die - - - - =========== - - - - der Aussage Aussage < Schnee ist <Schnee ist weiß>. weiß> wahr ist, Der besseren Lesbarkeit halber schreibe ich den Text der Definition noch einmal fortlaufend hintereinander: „Die Aussage, dass die Aussage <Schnee ist weiß> wahr ist, ist äquivalent mit der Aussage <Schnee ist weiß>“. Nun müssen wir noch das allzu spezielle Schneebeispiel eliminieren und die Definition so fassen, dass sie für Aussagen allgemein gilt, - denn man kann sich ja nicht vornehmen, für jede einzelne Aussage, also z. B. für „Zucker ist süß“, „Ruth ist volljährig geworden“ „Jesus Christus ist Gottes Sohn“ usw. usw. den Begriff „wahr“ jeweils gesondert zu definieren. Wir symbolisieren also eine Aussage allgemein (wie bisher) mit dem Symbol „p“, die Äquivalenz-Relation (siehe oben) mit dem Symbol „ “. Dann brauchen wir noch ein Symbol für „die Aussage, dass p wahr ist“. Wir wählen dafür „p w “. Die präzise Definition lautet dann: „p w ist äquivalent mit p“, oder kurz und gut: <?page no="56"?> 44 p w p. Wenn wir jetzt wieder in natürlicher Sprache reden (und auch wieder mit dem Schneebeispiel), können wir den Inhalt dieser ungemein knappen präzisierten Definition umschreibend entfalten. Es bieten sich dabei scheinbar zwei Formulierungen zur Wahl an: I Die Aussage <Schnee ist weiß> ist dann wahr, wenn Schnee weiß ist. II Dass die Aussage <Schnee ist weiß> wahr ist, kann man genau dann sagen, wenn man ebenso gut einfach behaupten kann: <Schnee ist weiß>. Die Formulierung I leuchtet dem gesunden Menschenverstand wohl besser ein. Sie entspricht dem, was man sich gemeinhin unter Wahrheit vorstellt - das tut sie aber, weil sie die Aussage, dass Schnee weiß ist, der Tatsache gegenüberstellt, dass Schnee weiß ist. Man kann einfach sagen: Sie e r k e n n t die Wahrheit der Aussage, dass Schnee weiß ist, an der Tatsache, dass Schnee weiß ist. Im formal-strengen Sinne ist somit die schwerfälligere Formulierung II die einzig akzeptable. Nur in II ist „Wahrsein“ als Relation zwischen zwei Aussagen formuliert. (In II wird außerdem auch zwischen „sagen“ und „behaupten“ unterschieden. Wer etwas behauptet, meint dabei immer mit, dass das Behauptete wahr ist.) 12. Spaziergang Wie weit kann diese präzise Definition gelten? Man könnte sagen: Sie gilt schlechtweg universell. Denn: Wo auch immer man sagt: „Die Aussage p ist wahr“, meint man damit, dass man stattdessen auch einfach „p“ behaupten kann. Zum Beispiel: Wenn man ganz banal sagt „Die Aussage <Heut ist es aber warm> ist wahr“, so meint man, dass man stattdessen auch kurz und bündig behaupten könnte: „Heut ist es aber warm“. Und wenn man höchstproblematisch sagt: „Die Aussage <Christus ist Gottes Sohn> ist wahr“, meint man, dass man stattdessen kurz und bündig behaupten kann: „Christus ist Gottes Sohn“. - Wenn die Definition in zwei so <?page no="57"?> 45 gewaltig unterschiedlichen Fällen anwendbar ist, dürfte sie wohl universell anwendbar sein. Dieser Gedankengang klingt einleuchtend, - er verschleiert allerdings, dass eine auf Präzision bedachte Wahrheitsforschung nach Wahr oder Falsch nur bei Aussagen fragt, die überhaupt wahr oder falsch sein können. Die banale Aussage „Heute ist es aber warm“ kann zweifellos wahr oder falsch sein, - aber auch sie, wohlgemerkt, zunächst nur mit Einschränkung. Sie enthält nämlich einen nicht-banalen Bestandteil: das Wörtchen „aber“. Dies Wörtchen färbt die ganze Aussage emotional, und wahr oder falsch kann im präzisen Sinne eine Aussage zweifellos erst heißen, wenn sie wirklich präzisiert, d. h. von Emotionalitäten gereinigt ist. Man könnte versuchen, auch dies „aber“ noch präzisierend ‚einzufangen’, und vielleicht gelingt das mit der gehörigen Raffinesse sogar in einem für die Wissenschaftspraxis hinreichenden Maße, - aber restlos kann es auf keinen Fall gelingen. Dies „aber“ gehört zu den Aussagegehalten, die man zwar sehr wohl umschreibend (und damit zunehmend prägnant) erklären, aber nicht restlos präzisieren kann. Vollends die hochproblematische Aussage „Christus ist Gottes Sohn“ ist so wenig präzisierbar, dass sie für unsere Definition völlig außer Betracht bleibt. Dann ist aber festzuhalten: Mit jener präzisen Wahrheitsdefinition wird das Wahrheits-Problem doch entscheidend verschoben. Es wird aus der ganzen weiten, nicht restlos präzisierbaren Welt herausgeholt und in ein eng umgrenztes Reich präzisierbarer Aussagen verpflanzt, in welchem „Reich“ man sozusagen mit der Studierlampe in alle Ecken und Winkel hineinleuchten kann, was in der ganzen Welt nicht restlos gelingt. In dem „Reich der Aussagen“ kann man freilich nur deswegen so schön alle Winkel ausleuchten, weil dies Reich ganz und gar von formal und präzise denkenden Menschen künstlich eingerichtet worden ist und daher von vornherein nichts enthalten kann, was man nicht formal-präzise beherrschen könnte. Wenn wir das Ergebnis der Präzisierung so in Worte fassen, hoffen wir darauf, dass unsere Leser dies Ergebnis bedenklich finden. Denn eigentlich, so könnten sie doch sagen, sollte eine Wahrheitsdefinition, die für das Erkennen der ganzen weiten Welt taugt, in Begriffen beschrieben werden, die nicht nur in einem abseits gelegenen (wenn auch wissenschaftlich höchst respektablen) „Reich von Aussagen“ gültig sind, sondern eben in der veritablen „weiten Welt“. Nun könnte man freilich die Berechtigung zu einer so einschneidenden Verpflanzung des Wahrheitsproblems in der, wie es scheint, unwiderleglichen Einsicht sehen, dass man über die weite Welt doch <?page no="58"?> 46 auf keine andere Weise etwas aussagen kann, als indem man etwas über sie aussagt. Daraus müsse man schließen, dass eben doch das eng umgrenzte „Reich exakt-wissenschaftlicher Aussagen“ gegenüber unserer Erkenntnisbemühung das Alleinvertretungs-Recht für die „ganze weite Welt“ haben muss. Anders gesagt: dass wir, obwohl wir freilich die weite Welt erkennen wollten, uns halt mit der Erkenntnis jenes engen Reichs präziser Aussagen begnügen müssen. - Dass dies scheinbar unwiderlegliche Räsonnement in Wirklichkeit nicht unwiderleglich ist, wird im dritten Kapitel klargestellt. Den Vorzug der Präzision und Exaktheit kann man dem präzisen Wahrheitsbegriff nicht bestreiten. Dieser Vorzug macht ihn im Bereich exakten Denkens sicherlich tauglich. - Es gibt gegen ihn trotzdem einen Einwand, vielleicht nur einen, der aber ist absolut schlagend: Hier wird der alten Pilatusfrage, was Wahrheit überhaupt (also nicht nur im Bereich exakter Wissenschaft) ist, das heißt: der Frage nach der Übereinstimmung zwischen Gedanke und Realität („was immer das alles sein mag“), eine Lösung gegeben, die keine ist: Die Frage wird als unlösbar und daher als nichtig und belanglos betrachtet. Wir halten dagegen einstweilen die Vermutung aufrecht, dass diese Frage belangreich, und dass sie auch lösbar ist. - Mit diesem Einwand sitzen wir im Moment wahrlich nicht auf dem hohen Ross, das sieht man an dem schwächlichen Zusatz „was immer das sein mag“. Erst wenn wir plausibel machen können, was „Gedanke/ Verständnis“ ist, und was „Realität“ ist, und was schließlich „Übereinstimmung“ zwischen diesen beiden Größen ist, können wir darlegen, dass die präzisierte Wahrheitsdefinition zwar für die Zwecke exakten neuzeitlichen Denkens wohl geeignet ist, aber trotzdem nicht im vollen Sinne ausreicht, weil sie nur einen speziellen Wahrheitsbegriff definiert und den umfassenden Wahrheitsbegriff, an dem uns gelegen ist, keiner Beachtung wert hält. <?page no="59"?> 47 13. Spaziergang Redundanztheorie. Logischer Positivismus Im zeitlichen und gedanklichen Umfeld des präzisierten Wahrheitsbegriffs trat in der Wahrheitsforschung eine frappante Theorie hervor: die sogenannte „Redundanztheorie der Wahrheit“. Vorgetragen wurde sie hauptsächlich von einem jungen englischen Mathematiker und Philosophen namens Frank Ramsey - er ist leider im Jahre 1930, noch nicht 27 Jahre alt, durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Wie wir uns klar gemacht haben, besagt die Formel p w p, in die Umgangssprache übersetzt: „Dass die Aussage ‚p‘ wahr ist, kann man genau dann sagen, wenn man auch ganz einfach ‚p‘ behaupten kann“. Daraus leitete Ramsey kurzer Hand ab, dass der Begriff „wahr“ überflüssig (redundant) ist. Er sagte sich: Von dem, was ist, genügt es, auszusagen, dass es ist. Dass diese Aussage außerdem wahr ist, braucht man nicht zusätzlich anzumerken, eine solche Anmerkung ist überflüssig und kann zum Wirklichsein des Seienden nichts hinzutun und nichts davon wegnehmen. Dem Gedanken, dass „Wahr-Sein“ im Grunde nichts anderes ist als „Sein schlechtweg“, kann man schon in sehr früher Zeit begegnen. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot wird „Vater der Geschichte“ genannt, weil er zwar, wie damals unvermeidlich, kaum andere Quellen für seine Geschichtsdarstellung hatte als die Erzählungen alter Leute; er ist aber der Erste, der diese Erzählungen kritisch abwägt. Den Leser lässt er hin und wieder an dieser Abwägung teilnehmen, trägt also von einem und demselben Ereignis mehrere Erzähl- Versionen vor, und manchmal nennt er dabei diejenige Version, die er für wahr hält, einfach die „seiende“ Version. Thomas von Aquin erwägt in der „Summa theologica“ (I qu. 16 a. 3) utrum ens et verum convertantur („ob die Begriffe ‚seiend‘ und ‚wahr‘ vertauschbar sind“). Thomas hebt dort allerdings sofort (a. 3, 1) hervor, dass der Begriff „Wahrheit“ seinen Ort im intellectus hat (das kennen wir schon: Wahrheit residiert in mente), der Begriff „seiend“ dagegen hat seinen Ort in den res („in den Sachen, in der Wirklichkeit“). Damit ist mindestens angedeutet, dass die beiden Begriffe nicht einfach in jeder Beziehung austauschbar sind. <?page no="60"?> 48 Zum Schluss des genannten Artikels (I qu. 16 a. 3 resp.) stellt Thomas dann die Sache vollends klar: Der Begriff „wahr“ ist mit dem Begriff „seiend“ in gewisser Hinsicht vertauschbar, und zwar so, wie auch der Begriff „gut“ mit „seiend“ vertauschbar ist: Sowohl „gut“ als auch „wahr“ weisen gegenüber dem (allgemeineren) Begriff „seiend“ je ein zusätzliches begriffliches Moment, ein zusätzliches Unterscheidungsmerkmal auf. „Gut“ und „wahr“ sind, kurz gesagt, speziellere Begriffe als der wesentlich allgemeinere Begriff „seiend“. Man kann sich das einfach klarmachen, wenn man feststellt, dass tatsächlich alles Wahre seiend ist (das hatte ja auch Ramsey gemerkt). Aber keinesfalls ist alles Seiende wahr (das hat Ramsey offenbar übersehen, erstaunlicherweise - wie war das möglich? Darauf kommen wir gleich zurück). Ganz ähnlich erweist sich das Verhältnis von „seiend“ und „gut“: Alles Gute ist seiend, aber durchaus nicht alles Seiende gut. Das ist gemeint, wenn man sagt, die Begriffe „wahr“ und „gut“ seien spezieller als der allgemeinere Begriff „seiend“. „Wahr“ besagt also mehr und Spezielleres als „seiend“. Deshalb kann und wird es Fälle geben, wo es um der Klarheit willen geboten ist, dies Speziellere auch ausdrücklich zur Geltung zu bringen. Dazu muss man den Begriff „wahr“ verwenden und kann sich nicht mit dem allgemeinen „seiend“ begnügen. Wie konnte nun Ramsey so einfach übersehen, was da vorliegt? Ramseys Schlussfolgerung, dass „wahr“ ein überflüssiger Begriff sei, ist nur zu verstehen unter einer Voraussetzung, die zu seiner Zeit von vielen denkenden Menschen stillschweigend als unumgänglich angenommen wurde, von der aber wohl schon damals andere Denker annahmen, sie sei nicht unumgänglich. Und wir heute sind vollends überzeugt, dass sie nicht unumgänglich ist. - Welche Voraussetzung ist da gemeint? In den Jahren um 1930 setzten viele denkende Menschen stillschweigend voraus, dass man mit „wahr“ (und genauso eben auch mit „wirklich“ und „seiend“) streng genommen nur das bezeichnen könne, was physikalisch-wissenschaftlich beweisbar ist, also das Dinglich-Greifbare oder auf andere Weise sinnlich Wahrnehmbare (Hörbare, Sichtbare usw.) oder exakt Messbare. - Unter dieser Voraussetzung konnte es damals einem Wissenschaftler für seinen wissenschaftlichen Gebrauch überflüssig erscheinen, außer dem Begriff „seiend“ auch noch einen eigenen Begriff für das Wahr-Sein zu haben. Ramsey gehörte, ebenso wie Tarski und viele Menschen ihrer Zeit, der damals weithin herrschenden Denkrichtung des „logischen Positivismus“ oder „logischen Empirismus“ an. Man hatte die Vorstellung, <?page no="61"?> 49 alle Wissenschaft, die diesen Namen verdient (und demgemäß auch die wissenschaftlich-strenge Philosophie), müsse den strengen Exaktheits- und Objektivitätsforderungen der (damaligen) Physik genügen, - wohl gemerkt: der damaligen. Inzwischen hat sich nun aber gerade die Physik zu der Einsicht weiterentwickelt, dass das Streben nach streng exakter und objektiver Erkenntnis auch in der Physik an unüberwindbare Grenzen stößt. Das ist eine sehr weitreichende Einsicht, die wir hier nicht in allen Voraussetzungen und Konsequenzen ausleuchten können. Wir können sie aber, im schlichten Rahmen unserer Spaziergänge, mit den Worten andeuten, die wir oben im dritten Spaziergang dafür verwendet haben: Die Weiterentwicklung der Physik seit 1930 hat gezeigt, dass bei jeder, und gerade auch bei jeder streng wissenschaftlichen Erkenntnis zwar Exaktheit und Objektivität erforderlich sind, dass aber Exaktheit und Objektivität reine Gedankengebilde (man könnte auch sagen: Fiktionen) sind. Es sind zwar unumgehbare, unaufhebbare (und gerade dadurch Erkenntnis ermöglichende) Fiktionen, aber eben doch Gedanken-Gebilde, nicht etwa Gegebenheiten der äußeren Wirklichkeit. So merkwürdig es nun klingt: Diese grundlegende Weiterentwicklung der Physik, die in der Zeit um 1930 zunächst von niemandem, und am allerwenigsten von den Positivisten, vorhergesehen werden konnte, - diese Entwicklung ist zu einem nicht unwesentlichen Teil von eben diesen Positivisten vorangetrieben worden. Sie haben mit großer Gewissenhaftigkeit die Bedingungen und Möglichkeiten objektiv-exakter Erkenntnis studiert, - natürlich in der Meinung und Hoffnung, dass sie darin zum Ziele kämen und die Möglichkeit solcher Erkenntnis exakt feststellen könnten. Sie sind bei diesen Studien so klug und energisch, so aufrichtig und vorurteilslos zu Werke gegangen, dass sie wesentlich zu der Einsicht beigetragen haben, dass Objektivität und Exaktheit reine Gedankendinge sind, - und so haben sie im Endeffekt ihrer eigenen Forderung, dass alle Wissenschaft ‚exaktobjektiv‘ (im damaligen naiven Sinn dieser Ausdrücke) vorgehen müsse, das Fundament entzogen. Wir haben also Anlass, diesen positivistisch-empiristischen Forschern ein ehrendes Andenken zu bewahren: Sie haben das Denken und Wissen der Wissenschaft wahrhaft gefördert. Was sie bei ihren Forschungen und Studien allerdings nicht erbrachten, das ist eine vernünftige Auffassung von Metaphysik. Die Positivisten wollten einen Beitrag leisten zu einer exakten, strengen Wissenschaft und Philosophie, - aber keinesfalls zur Metaphysik. Metaphysik war in ihren Augen der äußerste Gegensatz zu aller Wis- <?page no="62"?> 50 senschaft, ein Feld, auf dem nur Schwärmerei, Verdunkelung, Verdummung oder Schlimmeres gedeihen konnte. Nach positivistischer Auffassung ist angesichts dieses Feldes nur e i n e s erlaubt: Schweigen. Ludwig Wittgenstein hat das im Schlusssatz seines „Tractatus logico-philosophicus“ (erschienen schon im Jahre 1921) knapp zum Ausdruck gebracht: „Wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“. Es war aber unausbleiblich, dass diesem Satz in der Folgezeit irgendwann die konträre Einsicht entgegentrat: „Worüber man nicht schweigen darf, darüber muss man reden“. Auch das Reden über die Probleme der Metaphysik gewann wieder an Ansehen. Wir sind freilich heute wohl noch nicht so weit, dass es in diesem „metaphysischen“ Reden-Müssen durchweg redlich genug zugeht; und deshalb gedeiht da vermutlich auch heute noch einiges an haltloser Schwärmerei. Ob das je anders werden kann, weiß ich nicht. Trotzdem: So weit sind wir wohl schon gekommen, dass man der Metaphysik (als der Bemühung, die Grenzen des Rationalen anzuerkennen und sie ausdrücklich und vernunftgemäß zu bedenken) die Berechtigung, ja Notwendigkeit nicht bestreiten kann. <?page no="63"?> 51 Vierte Runde Wahrheitskriterien 14. Spaziergang Zwei konkurrierende Wahrheits-Ideen Im 6. Spaziergang haben wir drei Anliegen der Wahrheitssuche genannt: Erstens eine gültige Definition des Begriffs Wahrheit aufzustellen, zweitens ein schneidendes Kriterium (Unterscheidungsmerkmal) für die Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ bereitzustellen, und drittens eine tragfähige Methode für das Finden und Festhalten des Wahren zu gewinnen. Behandelt wurde bisher nur das erste dieser Anliegen: die Definition des Wahrheitsbegriffs. Zwei derartige Definitionen wurden vorgestellt: Die klassische Adäquations- oder Korrespondenz-Definition (in mehreren Spielarten, aus der Antike und aus dem Mittelalter), sodann ihr gegenüber eine präzisierte Definition, wie sie um 1930 aufgestellt worden ist. Eine Definition kann keine praktischen Fragen lösen. Was sie für die Praxis leisten kann, ist trotzdem etwas Wichtiges: Zielsetzung im Großen und Ganzen. Mehr als das verspricht sie auch nicht, das können wir uns klarmachen, wenn wir uns vorstellen, wir sollten irgendwann eine mit Wahrheitsanspruch auftretende Behauptung prüfen. Als ‚Versuchskaninchen‘ könnten wir an sich jede beliebige Behauptung wählen, es empfiehlt sich aber um der Deutlichkeit willen, eine solche von mittlerer Fragwürdigkeit auszusuchen. Die Behauptung „Schnee ist weiß“ ist zu fraglos, zu banal, sie zu prüfen hat niemand das ernstliche Bedürfnis. Umgekehrt ist eine Behauptung wie „Jesus Christus ist vom Tode erstanden“ allzu problembeladen, da könnte es zweifelhaft scheinen, ob sie überhaupt prüffähig ist. Stellen wir uns also eine mittelmäßig problematische wissenschaftliche Behauptung vor, etwa die Meldung, die Sternwarte in X habe soeben einen bisher unbekannten Nebel im Sternbild Y entdeckt. Das begegnet keinem grundsätzlichen Zweifel, aber so einfach hinnehmen wird <?page no="64"?> 52 man die Behauptung auch nicht, sondern man fühlt sich verpflichtet, sie zu prüfen. Was kann man dazu praktisch tun? Beobachten! Aber das haben die Leute in der Sternwarte, die die Behauptung verbreitet haben, ja schon getan - weshalb denn nochmal beobachten? Nun, sie könnten sich geirrt haben. - Aber jeder denkbare Prüfer kann sich ebenfalls irren. Also muss man wohl das Ergebnis der ersten Prüfung einem zweiten Prüfer zur Nachprüfung vorlegen, und so weiter ad infinitum. Die Nachprüfungen blieben in alle Ewigkeit unsicher, und die genialste Wahrheitsdefinition hilft da nicht weiter, sie hüllt sich gegenüber diesem Dilemma in Schweigen. Und wenn man nach, sagen wir: zehn Nachprüfungen die Behauptung als wahr gelten lässt, dann ist das weder ein zwingendes Ergebnis der vielen Nachprüfungen noch eine Leistung einer wie auch immer lautenden Wahrheitsdefinition, sondern es müsste sich, wenn es überhaupt zu rechtfertigen ist, auf andere Rechtfertigungsgründe stützen. Dies praktische Defizit jeder möglichen theoretischen Wahrheitsdefinition hat im zwanzigsten Jahrhundert zwei wichtige neue Wahrheitstheorien auf den Plan gerufen, die sich nicht so sehr um neue theoretische Definitionen bemühen. Vielmehr wollen sie die mit dem Wahrheitsbegriff verbundenen praktischen Anliegen in Angriff nehmen: den Wunsch nach einem zuverlässigen Kriterium des Wahren, und den nach einer Methode, die zur Wahrheit führt. Die darauf zielenden Theorien sind die K o h ä r e n z theorie und die K o n s e n s- Theorie. Die beiden Theorien sind in mehrfacher Weise aufeinander bezogen und von einander abgehoben. E r s t e n s: Die Kohärenztheorie nimmt sich vor allem des Kriteriums der Wahrheit an. Ihre Grundidee ist die, dass das Wahr-Sein einer Aussage nur im Zusammenhang mit anderen Aussagen geprüft und festgestellt werden kann. Die einzelne Aussage als einzelne ist unüberprüfbar. Daher der Name Kohärenz („Zusammenhang“). - Dagegen will die Konsenstheorie vor allem einen gangbaren Weg, eine Methode zur Wahrheit aufzeigen. Auch sie blickt dabei auf eine Vielheit, aber nicht eine Vielheit von Sach-Aussagen, sondern von forschenden Menschen und deren Meinungen. Wahrheit suchen und finden, so lautet ihre Grundidee, können die Menschen nur mittels Übereinstimmung („Konsens“), also in Gemeinschaft. Der Einzelne als Einzelner ist dazu unfähig. Z w e i t e n s: Die Kohärenztheorie stammt aus der exakten Wissenschaft, sie setzt also voraus, dass „wahr“ nur als Kennzeichnung von <?page no="65"?> 53 Aussagen (in dem oben auseinandergesetzten engen Sinn dieses Wortes) verwendet werden kann. - Die Konsenstheorie dagegen bewegt sich in einem umfassenderen, nicht unbedingt auf Wissenschaftlichkeit festgelegten Horizont. Demgemäß bedient sie sich im Allgemeinen der natürlichen Sprache, wenngleich sie daneben auch in gewissen Grenzen ihren Fachjargon pflegt. D r i t t e n s: Die Kohärenztheorie hat ihr Haupt-Arbeitsfeld in der Naturwissenschaft, die Konsenstheorie hat das ihre vornehmlich in den Gesellschaftswissenschaften und in der praktischen Politik. Sie knüpft an elementare Gegebenheiten des menschlichen Zusammenlebens an, an das Problem der Verständigung zwischen Menschen und Gruppen, an das Friedensbedürfnis ebenso wie an die Konfliktbereitschaft und an das sogenannte Demokratiegebot. Sie hat es mit dem normalen bürgerlichen, mitmenschlichen Leben zu tun. V i e r t e n s: Die Kohärenztheorie muss, als wissenschaftsbezogene Theorie, mit den alles Erkennen bestimmenden Gedankengebilden (Fiktionen) der Objektivität und Rezeptivität rechnen. Die Konsenstheorie als umfassend lebensbezogene rechnet darüber hinaus auch mit dem Einfluss vitaler Interessen, kurz und grob ausgedrückt damit, dass sich alles Erkennenwollen in einem Dschungel von Egoismen abspielt. - Deshalb werden wir die Konsenstheorie erst in unserem zweiten Kapitel („Wahrheit und Leben“) genauer entfalten. Die Kohärenztheorie hingegen kommt gleich nachher an die Reihe. F ü n f t e n s: Beide Theorien zeigen noch recht deutlich einen gewissen Zusammenhang mit den Begriffen der klassischen Adäquationsdefinition - diese klassische Definition ist es ja, die sie verbessern und für die sie die nötige praktische Handhabe bereitstellen wollen: Die Kohärenz-Theorie setzt bei den „Realien“ an, den Sachverhalten und Tatsachen. Das ist letztlich der ins Alltägliche übersetzte Begriff res, wie er in der klassischen Wahrheitsdefinition vorliegt. - Die Konsenstheorie geht vom Streit der Meinungen, Gedanken und Reden aus. Darin steckt der Begriff intellectus aus der klassischen Wahrheitsdefinition. Schließlich zusammenfassend s e c h s t e n s: Die beiden Theorien haben sich nebeneinander und in engem Bezug aufeinander entwickelt. Sie sind gewissermaßen Geschwister, streitende Geschwister, die sich in diesem beständigen Streit beständig genauer profiliert haben. <?page no="66"?> 54 15. Spaziergang Die Kohärenztheorie Wir haben bei der Erörterung des Erkenntnisbegriffs (im 3. Spaziergang) am Schluss kurz darauf hingewiesen, dass man zu sagen pflegt, „erkennen“ heiße so viel wie „etwas als etwas erkennen“. Diese Feststellung klingt geheimnisvoll - unnötig geheimnisvoll. - Zur Verdeutlichung kann man die beiden „etwas“-Begriffe, die in dieser Feststellung vorkommen, zwecks besserer Unterscheidung mit je einem Zahlindex versehen. Dann lautet die ‚Feststellung‘ so: „Das ‚Etwas Nr. 1‘ erkennen heißt soviel wie: erkennen, dass es sich dabei um das ‚Etwas Nr. 2‘ handelt“. Man muß also erkennen, dass das „Etwas Nr. 1“ mit dem „Etwas Nr. 2“ irgendwie identisch ist. Man führt das neu zu Erkennende auf etwas Bekanntes zurück, und dadurch erkennt man es erst richtig. Nun kann die so festgestellte Identität keine vollständige sein. Sonst wäre die ganze Erkenntnis nur die nachträgliche Aufhellung eines anfänglichen Irrtums. Man würde im Laufe des Erkenntnisvorgangs merken: Ach so, was ich da zu erkennen gedachte, ist ja gar nichts Neues (wie ich irrtümlich zunächst vermutet habe), sondern es ist schlicht und einfach identisch mit dem und dem längst Bekannten. - So etwas kommt vor, und einen anfänglichen Irrtum aufzuhellen, ist bestimmt nicht von Übel. - Die oben genannte geheimnisvoll klingende Feststellung meint aber nicht eine solche Irrtumsberichtigung, sondern eine echte und wesentliche Erweiterung dessen, was bisher bekannt war. Sie will sagen: Das „Etwas Nr. 1“ erkennen heißt: erkennen, dass es mit dem „Etwas Nr. 2” teilweise identisch ist. Teilidentität besteht bei Ober- und Unterbegriffen. Wenn man erkennt, dass etwas eine Tanne ist, erkennt man zugleich, dass es ein Spezialfall von Baum ist, und außerdem dass es weder Buche noch Eiche usw. ist. Und umgekehrt: etwas als „Baum“ erkennen, heißt gleichzeitig erkennen, dass es den „Baum“ schlechtweg eigentlich gar nicht gibt, weil er sich stets in einem der Spezialfälle „Eiche, Buche, Tanne usw.“ manifestiert. Ober- und Unterbegriffe bilden zusammen ein Begriffs-S y s t e m. Wenn wir es oben als die Grundidee der Kohärenztheorie bezeichnet haben, dass eine einzelne Aussage nur „im Zusammenhang mit“ an- <?page no="67"?> 55 deren Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden kann, dann war unter „Zusammenhang“ nicht ein x-beliebiges Sammelsurium von irgendwelchen Aussagen zu verstehen, sondern gemeint war eben ein System-Zusammenhang. Die Kohärenztheorie baut darauf, dass die Wissenschaft ein umfassendes System von als wahr befundenen Aussagen ist. Die Aufgabe, eine neu auftretende Aussage auf ihr Wahr- oder Unwahr-Sein zu prüfen, besteht dann einfach darin, zu prüfen, ob sie sich in dies System regelrecht einbauen (oder, wie man gerne sagt, „einbetten“) lässt. Wenn das geht, ist die neu auftretende Aussage als wahr erkannt, wenn nicht, dann nicht. Das ist der einfache, der Idealfall. Wir wollen aber nun unseren Blick nicht auf den Idealfall, und das hieße: zu eng, begrenzen: Wenn eine „neue“ (noch unbestätigte, noch zweifelhafte) Aussage auftritt und ins „alte“ (geprüfte, als wahr anerkannte) System eingebaut werden soll, kommt es erstens darauf an, wie gut dies „alte“ System bekannt ist: seine Struktur, seine Begrenzung nach außen hin, seine Unterteilung im Innern, seine Widerspruchsfreiheit. - Zweitens kommt es darauf an, wie der Begriff „Kohärenz“ aufzufassen ist. Je nach der Antwort auf diese Fragen kann es sehr verschiedene Ausprägungen von Kohärenztheorie geben. Das Extrem auf der einen Seite wäre die alte Vorstellung, dass die Welt ein umfassendes, wunderbar harmonisches Ganzes, ein Kosmos ist. In dieser Vorstellung sind die Begriffe „System“ und „Kohärenz“ sehr wenig streng gefasst - man kann dann auch den Begriff „Aussage“ nicht streng fassen. Gemessen an diesem unstrengen System wird man alle Auffassungen „wahr“ nennen, die in die Harmonie dieses Kosmos irgendwie ‚einklingen‘. Ein solcher Mangel an begrifflicher Schärfe muss nicht unbedingt einen Mangel an Wahrheitsgehalt anzeigen, - ein zuverlässiges Kennzeichen von Wahrheit wird man allerdings darin auch nicht ohne Weiteres zu sehen geneigt sein. Die im 20. Jahrhundert konkret aufgetretene Kohärenztheorie lässt sich auf diesen vagen Kosmos-Begriff von vornherein gar nicht ein, sie ist nur an dem entgegengesetzen Extrem, an Kohärenz im strengen Sinn interessiert. „Kohärent“ und damit „wahr“ kann unter diesem strengen Maßstab eine „neue“ Aussage nur dann heißen, wenn sie logisch-formal exakt in ein wohldefiniertes „altes“ System von als wahr gesicherten Aussagen einzubauen oder ebenso exakt aus ihm abzuleiten ist. Die besten Chancen dafür bieten sich in Mathematik und Logik. Dort sind strenge Kohärenzproben für „neue“ Aussagen möglich, weil das „alte“ System so gut wie unumstritten feststeht. Und man hat mit den Erkenntnis-Fortschritten, die durch solche Ko- <?page no="68"?> 56 härenzproben fortlaufend ermöglicht werden, keine weiteren Schwierigkeiten - außer der einen, dass man mit allen Fortschritten auf das Gebiet dieser ‚reinen‘ Wissenschaften beschränkt bleibt. Wenn die „neue“ Aussage die Probe besteht, dann bereichert oder verdichtet oder verfeinert sie das mathematisch-logische Feld, führt aber nirgends darüber hinaus. Damit kann aber eine Kohärenztheorie im Ganzen nicht zufrieden sein. Die Erkenntnis „der Welt und ihrer Einzelheiten“ richtet sich in erster Linie auf Objekte außerhalb von Logik und Mathematik. Zudem: Wissenschaft erstrebt Wissens-Erweiterung. Das heißt: Sie strebt über jedes einmal angenommene System, das man einer genauen Kohärenzprobe unterlegen könnte, hinaus. Die Naturwissenschaft arbeitet zwar immer mit möglichst strengen Systemen, aber in dem „möglichst“ liegt ausgedrückt, dass die Strenge (als Streben nach Geschlossenheit) eingeschränkt wird durch ein genau so wichtiges Streben nach prinzipieller Offenheit. Eine ganz unbeschränkte Offenheit würde freilich immer irgendwie in die Nähe des (metaphysischen! ) Begriffs der „Welt als ganzer“ führen. So bleibt es bei einer immerwährenden Spannung zwischen Geschlossenheit und Offenheit, und es bleibt ebendeshalb dabei, dass eine Kohärenzprobe prinzipiell nie zu voller Sicherheit führen kann. Die Wissenschaft hat es nie mit einem einzigen allumfassenden System zu tun (schon weil „allumfassend“ wieder soviel wie „metaphysisch“ wäre), sondern bestenfalls mit einem relativ umfassenden Systemoid (das heißt: mit etwas „System-Ähnlichem“), das seinerseits aus spezielleren, also noch weniger umfassenden Systemoiden zusammengesetzt ist. Wenn man nun unter diesen Vorzeichen eine „neue“ Aussage ins bewährte „alte“ System einzugliedern versucht, braucht sich der Blick nicht unbedingt auf „das Ganze“ zu richten, sondern es genügt der Blick auf ein bestimmtes, momentan in Frage kommendes Systemoid, und auch da nicht unbedingt auf dies Systemoid in all seinen Verästelungen, sondern zunächst auf eine kleinere Stelle darin, die momentan als problematisch empfunden wird, weil sie leer oder ungenügend besetzt ist, solange die „neue“ Aussage dort noch nicht eingegliedert ist. Wenn die Eingliederung gelingt, dann darf man sagen: die „neue“ Aussage ist wahr, mag auch das Systemoid an anderen Stellen immer noch problematisch bleiben - die Forschung geht ja weiter. In diesem „weiter“ versteckt sich allerdings möglicherweise ein Trugschluss, dass nämlich das Weiterforschen irgendwann zu vollkommenem Abschluss führen könnte oder sollte. Die oben genannten <?page no="69"?> 57 Erwägungen zeigen, dass das nie geschehen kann, sondern dass die Wissenschaft im Vorwärtsdringen entweder an „metaphysische“ Grenzen stößt, oder sich in spezielleren Einzelfragen verzweigt oder sich immer wieder einmal in ganz neue Richtungen wendet. Bis jetzt haben wir nur gefragt: Was ist, wenn die Eingliederung der „neuen“ Aussage ins „alte“ System gelingt. Was aber, wenn sie misslingt? Da neigt man dazu, zu sagen: Dann ist sie eben als falsch erwiesen. Das könnte aber nur dann ohne Weiteres gelten, wenn das „alte“ System problemlos abgeschlossen und bewährt wäre, was aber, wie gezeigt, prinzipiell nie der Fall sein kann. Deshalb kann es bei misslingender Eingliederung unter Umständen geboten sein, nicht die „neue“ Aussage als falsch zu verwerfen, sondern das „alte“ System. Die Aufgabe wäre dann, das „ganze alte System“ auf den Prüfstand zu nehmen und es so abzuändern, dass die „neue“ Aussage schließlich hineinpasst. Mehr als diese beiden prinzipiellen Möglichkeiten (entweder Verwerfung der „neuen“ Aussage oder Verwerfung des „alten“ Systems) hat die Kohärenztheorie im Falle einer misslingenden Eingliederung nicht zu bieten. W e l c h e von beiden aber zu wählen ist, darüber gibt die Kohärenzidee als solche keine Auskunft. Die Kohärenztheorie benötigt deshalb, wenn sie ihrem praktischen Zweck näher kommen will, irgendwelche Zusatz-Ideen - darauf kommen wir gleich nachher zu sprechen. Vorher aber müssen wir, nachdem wir am Falle einer misslingenden Eingliederung unseren kritischen Blick gehörig geschärft haben, noch einmal auf die gelingende Eingliederung zurückschauen und werden jetzt erst das eigentliche Schrecknis der ganzen Angelegenheit gewahr: Auch eine gelingende Eingliederung ist niemals problemlos zu beurteilen. Es ist erstens nie auszuschließen, dass beide Partner der Überprüfung, sowohl die „neue“ Aussage als auch das „alte“ System, irgendwie falsch sind. Aber nie auszuschließen ist noch ein weiterer Fall: dass die gelungene Eingliederung nur deswegen gelingen konnte, weil das „alte“ System und die „neue“ Aussage nicht nur „irgendwie“, sondern in genau übereinstimmender Weise f a l s c h sind, und dass man folglich diese beiderseitige Falschheit (da es eine übereinstimmende ist) nicht bemerkt, sondern, hoch befriedigt, die Kohärenzprüfung für bestanden und beide ‚Partner’ der Prüfung (irrtümlich! ) für „wahr“ hält, sowohl die „neue“ Aussage als auch das „alte“ System. Mit einem Beispiel aus dem Leben illustriert: Wenn zwei Zeugen vor Gericht übereinstimmende Aussagen machen, sagt man zwar (mit dem alten Sprichwort) „Aus zweier Zeugen Mund wird die Wahrheit <?page no="70"?> 58 kund“, aber das Sprichwort kann nur gelten, weil ein Rechtsstreit irgendwann zu Ende sein muss (darüber werden wir noch sprechen), nicht aber weil die Übereinstimmung von noch so vielen Zeugen tatsächlich Wahrheit verbürgt. Die zwei oder mehr Halunken könnten sich ja miteinander zu übereinstimmenden Falsch-Aussagen verabredet haben. Der scheinbar so günstige Fall einer gelingenden Eingliederung kann also (muss nicht, aber kann) in Wirklichkeit der allerungünstigste sein, weil er nicht nur ein falsches Ergebnis erbringt, sondern den Beurteiler außerdem in dem Wahn gefangen hält, das Ergebnis sei wahr, und ihn dadurch hindert, der Wahrheit weiter nachzuspüren. Die Kohärenzidee ist wegen dieser Schwierigkeiten keineswegs unbrauchbar, sie ist im Gegenteil in aller Regel brauchbar, nur ist sie eben, unbekannt wie oft, fehlerträchtig. Wenn sie möglichst oft zu praktisch brauchbaren Ergebnissen führen soll, bedarf sie, wie schon angedeutet, irgendwelcher Hilfsideen. Ich nenne deren vier: Wenn die Eingliederung einer „neuen“ Aussage misslingt, wird man sich eher entschließen, diese „neue“ Aussage (als einzelne) zu verwerfen, als dass man ihr zuliebe das „alte“ System (als ganzes) ändert. Umgekehrt: Wenn die Eingliederung gelingt, wird man das eher als günstigen Fall registrieren und wird das vorhin aufgezeigte Schrecknis, dass es der allerungünstigste sein könnte, außer Betracht lassen. - Diese Hilfsidee kann man als „wissenschaftlichen Konservativismus“ bezeichnen - dies Wort ohne jede Wertung gebraucht. Eine zweite Hilfsidee könnte aus der Überlegung kommen, dass man mit dem praktischen Handeln (auch in der Wissenschaft) nicht warten kann, bis alle theoretischen Fragen gelöst sind. Also könnte man, wenn eine Kohärenzprobe nicht eindeutig ausgeht, für den Augenblick auf jeden theoretischen Ehrgeiz verzichten und diejenige Deutung favorisieren, von der man sich am ehesten Hilfe für die dringendsten Handlungsbedürfnisse verspricht. Falls sich dies ‚Versprechen‘ später als trügerisch erweist, kann man immer noch umwählen, - die Forschung geht ja weiter. Das ist die Idee des Pragmatismus. Wenn dies ziemlich rohe Verfahren dem wissenschaftlichen Anspruch der Kohärenztheorie nicht angemessen erscheint, könnte man damit einen höheren Anspruch von Wissenschaftlichkeit verbinden, indem man nicht nur pragmatisch auf Erfolg und praktisches Weiterkommen dringt, sondern (als dritte Hilfsidee) allgemeinere wissenschaftliche Leitvorstellungen gelten lässt, wie etwa begriffliche Eleganz oder Kürze (simplex sigillum veri „Einfachheit ist das Siegel des Wahren“). <?page no="71"?> 59 Die vierte Hilfsidee ist wohl die wichtigste: Man macht die Entscheidung darüber, was schließlich als wahr akzeptiert und was als falsch verworfen werden soll, von einer Auseinandersetzung mit anderen Wissenschaftlern und dem dabei hoffentlich zu erreichenden Konsens abhängig. Kurz: Als wichtigste Hilfsidee für die Kohärenzidee kann die (ihr von vornherein verschwisterte, wenn auch oft eher feindselig verschwisterte) Konsensidee dienen, - und ebenso umgekehrt, wie wir sehen werden. Es bedarf kaum eines Hinweises, dass die Kohärenztheorie auch mit allen diesen Hilfsideen kein universal zuverlässiges Kriterium für Wahrheit bietet. 16. Spaziergang Hypothesen Wir werfen nun einen Blick auf die häufigste Gestalt, in der die Kohärenztheorie in der Praxis hervortritt. Das ist die Gestalt der Hypothese. Wenn man in der Wissenschaft, und darüberhinaus überall im mehr oder weniger aufgeklärten Alltagsdenken an eine Grenze des zuverlässig Feststellbaren stößt, hört man nicht einfach sofort auf mit Feststellungen und Behauptungen (wie es doch nötig wäre, wenn man nur mit zuverlässig festgestellten Wahrheiten weiter kommen könnte), sondern man stellt lustig weiterführende Behauptungen auf, und keinesfalls nur zaghafte, sondern auch kühne, aber eben in hypothetischer Form. Man sagt also nicht „Das und das ist so und so“, sondern „Nehmen wir an, es wäre so und so“. Damit kann man ein ordentliches Stück vorankommen. Im weiteren Verlauf wird die Hypothese vielleicht von anderer Seite mit Gegenthesen angegriffen, - aber das ist nicht so wichtig, wie dass jede Hypothese (und ebenso jede Gegenthese) von dem, der sie aufgestellt hat, bis auf weiteres als wahr behandelt wird. Nur solange das geschieht, bleibt die Hypothese nützlich. Man baut also auf der Hypothese konsequent theoretische Schlüsse auf und setzt sie konsequent in praktisches Handeln um, man ‚fährt‘ durchaus nach dem ‚Fahrplan‘, den die Hypothese vorgibt, als ob sie nicht hypothetisch, sondern vollgültig wahr wäre. <?page no="72"?> 60 Hierdurch setzt man die Hypothese einer intensiven Bewährungsprobe aus - das ist nichts anderes als eine (meist etwas komplexere) Kohärenzprobe: Man möchte dabei prüfen, ob die Hypothese sich in alle für sie in Frage kommenden Systemzusammenhänge regelrecht einbauen lässt. Die Bewährungsprobe setzt man so lange fort, bis sich die Hypothese entweder rundum endgültig bewährt hat oder bis es zu unerträglichen Widersprüchen kommt. Im Prinzip ist das klar und einfach. Nur: Was „rundum endgültig bewährt“ heißt, kann auch in der Wissenschaft, und vollends im Alltagsdenken lange Zeit, ja sogar in alle Ewigkeit, strittig bleiben. Und ebenso: Ab wann die Widersprüche unerträglich sind, und was aus dieser Unerträglichkeit für Konsequenzen zu ziehen sind, das ist von vornherein und allgemeingültig nicht auszumachen. Denn das Geschäft mit den Hypothesen ist ungemein ausgedehnt. Man hat schon gesagt: Die Wissenschaft (wenn man von den ganz exakten wie Logik und Mathematik einmal absieht) ist jederzeit nichts anderes als die Gesamtheit der bis zu diesem Zeitpunkt nicht widerlegten Hypothesen. In diesem Ausspruch steckt einige Übertreibung, aber nicht viel. Im vollen Sinne „wahre“ (also dauerhaft und absolut wahre) Aussagen kann man weder in der Wissenschaft noch anderswo so einfach vorweisen. Was man vorweist, sind mehr oder weniger alte (und somit mehr oder weniger langzeitig bewährte) Hypothesen. Je mehr dies alles stimmt, desto weniger zuverlässig kann man „neue“ Hypothesen prüfen. Das ausgedehnte ‚Geschäft mit den Hypothesen‘ nötigt den Hypothesen-‚Geschäftsführer‘ zu einer zwiespältigen Einstellung gegenüber seinen Hypothesen. Einerseits muss er sie, wie oben gesagt, rückhaltlos wie Wahrheiten behandeln. Andererseits muss er sich dessen bewusst bleiben, dass es immer noch „nur“ Hypothesen sind, sonst könnte er selber irgendwann unversehens aufhören, ihnen kritisch auf die Finger zu sehen. Dieselbe zwiespältige Haltung muss der bedauernswerte ‚Geschäftsführer‘ zugleich auch gegenüber dem „alten“ System einnehmen, an dem die Hypothesen sich bewähren sollen: Er muss es einerseits in vollem Umfang als wahr gelten lassen, sonst kommt keine Prüfung zustande, andererseits muss er mit der Möglichkeit rechnen, dass es Fehler enthält, die genau durch diese Prüfung zu Tage treten könnten. Solange der ‚Hypothesen-Geschäftsführer‘ an der vordersten Front der wissenschaftlichen Forschung tätig ist, kann er diese Zwiespältigkeit noch relativ leicht zustande bringen: Wer selbst gerade eine Hypothese aufgestellt hat und dabei ist, sie experimentell zu prüfen, weiß natürlich ganz klar, dass das nur eine Hypothese ist. Wenn man <?page no="73"?> 61 aber die vorderste Front der Wissenschaft verlässt und sich in der ‚Etappe‘ umsieht - nicht nur in der der Wissenschaft, sondern auch im Alltagsdenken, bis hin zum Stammtischgespräch: Da ist gar nicht zu ermessen, wie viele Hypothesen dort, flüchtig als Wahrheiten getarnt, herumkriechen und sich sicher fühlen dürfen, dass ihnen niemand kritisch auf die Finger schaut. Deshalb brauchen sie nicht einmal zu kriechen, sondern können erhobenen Hauptes einherstolzieren, obwohl es nur bislang unwiderlegte Hypothesen sind. Ja, vielleicht s i n d sie sogar schon widerlegt, und die Widerlegung hat sich nur noch nicht bis in die Etappe oder an den Stammtisch herumgesprochen. Zu keiner Zeit nämlich ist irgendjemand in der Lage, zu entscheiden, ob eine Hypothese deswegen bisher nicht widerlegt worden ist, weil sie tatsächlich dauerhaft unwiderleglich ist und sich eigentlich Wahrheit nennen dürfte, oder ob die Widerlegung nur noch nicht erfolgt ist, weil die Entscheidungsmittel dazu derzeit noch nicht ausreichen. Die arme Wahrheit ist gegenüber den dreisten Ansprüchen umherstolzierender Hypothesen machtlos: Sie könnte darauf pochen, dass sie tatsächlich Wahrheit ist und nicht nur so heißt, - aber die Hypothesen pochen genauso. Dass sie es zu Unrecht tun, kann man ihnen, solange sie nicht von Grund auf widerlegt sind (und das kann, wie gesagt, bis in alle Ewigkeit währen), nicht nachweisen. - Der Übergang zwischen den ernsthaft und gewissenhaft der Prüfung ausgesetzten wissenschaftlichen Hypothesen und dem, was man „Wissenschafts-Dogmen“ nennen müsste (also lang eingesessene, lange nicht mehr überprüfte, sondern wie Wahrheiten einherstolzierende Hypothesen) ist also ein fließender: Niemand ist in der Lage, diese Grenze scharf und genau und unter allseitiger und dauerhafter Zustimmung zu fixieren. Jetzt aber - ich muss direkt um Entschuldigung bitten - ist es an der Zeit, von diesem ganzen Hypothesen-Horror-Szenario wieder zurück zu kommen und noch einmal klar zu sagen: Es ist alles halb so schlimm, die Kohärenztheorie der Wahrheit ist praktisch sehr wertvoll, das ‚Geschäft mit den Hypothesen‘ blüht allenthalben und es blüht mit vollem Recht, Hypothesen sind unabdingbare Schritte auf jedem Weg, der zu wahren Erkenntnissen führen soll. Als Ergebnis müssen wir trotzdem zweierlei im Auge behalten: Je tiefer man bei der Anwendung der Kohärenzidee aus dem Exaktheitsbezirk von Logik und Mathematik herabsteigt in andere Wissenschaften oder gar ins gewöhnliche Leben, desto notwendiger wird zu ihrer Ergänzung die oben genannte wichtigste Hilfsidee: die Verständigung mit anderen Menschen. <?page no="74"?> 62 Abschließend: Wenn es auch nicht ganz so schlimm steht mit der Kohärenztheorie, - halb so schlimm steht es tatsächlich. Ganz zuverlässig hilft die Kohärenzidee nicht bei der Ermittlung des Wahren. Wer mit Hilfe der Kohärenzidee Wahrheit prüft, geht notgedrungen ein Risiko ein. <?page no="75"?> 63 Fünfte Runde Über Denkwidersprüche 17. Spaziergang Über den Fallibilitätsverdacht Jetzt ist über das Risiko zu reden, das man hier notgedrungen eingeht. Es besteht darin, dass man meint, Wahres zu behaupten, und in keiner Weise merkt, dass man stattdessen Unwahres behauptet. Denn wenn mir, der ich etwas meine oder behaupte, ein anderer mit einer entgegengesetzten Meinung in den Weg tritt, so werde ich wohl nachdenklich in Bezug auf meine Behauptung. Aber was hilft mir das? Es regt sich der Verdacht, dass niemand, weder einer von uns beiden noch wir beide gemeinsam noch sonst jemand, in der Lage ist, in jedem Fall und unter allgemeiner Zustimmung zu entscheiden, wer von uns beiden die Wahrheit sagt, oder ob keiner von uns diese Auszeichnung verdient und wo man dann weiter suchen soll. Wir wollen diesen Verdacht kurz als „Fallibilitätsverdacht“ bezeichnen. Das aus dem Lateinischen übernommene Adjektiv „fallibel“ heißt „möglicherweise falsch“ oder „möglicherweise täuschend“. Der diesbezügliche Verdacht besagt also, dass j e d e menschliche Behauptung, auch wenn man von ihrem Wahrsein zuversichtlich überzeugt ist, trotz dieser Überzeugung und ohne dass man davon etwas merken müsste, falsch sein kann (nicht unbedingt falsch i s t, aber sein k a n n). Der Fallibilitätsverdacht ist in der Tat fatal. Die Fatalität vervielfältigt sich noch, ohne dass sie darum aber für den Einzelfall weniger schwerwiegend würde, durch folgende Erwägung: Wenn der Verdacht, falsch zu sein, auf j e d e menschliche Behauptung anzuwenden ist, müsste er dann nicht auch auf den Fallibilitätsverdacht selbst angewendet werden? (Wir wollen das im Folgenden kurz als das Problem der „Selbstanwendung“ bezeichnen.) Anders gesagt: Stellt sich die Behauptung, dass jede menschliche Behauptung falsch sein kann, durch diese „Selbstanwendung“ etwa selbst als falsch heraus? Und wenn ja: Ist sie tatsächlich als falsch erwiesen, oder eben nur als <?page no="76"?> 64 „möglicherweise falsch“? Und wenn eine dieser Fragen bejaht werden müsste, was folgt daraus? Gibt es überhaupt irgendwo einen sicheren Halt für das menschliche Denken, Erkennen und Behaupten? Ein berühmtes Beispiel für die denkerische Zwickmühle, in die man da gerät, ist das schon aus dem Altertum überlieferte „Lügner- Paradox“. Es lautet: „Wenn ein Kreter sagt, alle Kreter seien Lügner, - was ist daraus zu schließen? “ - Ich weiß nun nicht, weshalb die Bewohner der Insel Kreta in der Antike in den Ruf kamen, samt und sonders Lügner zu sein, und möchte nicht zur Weiterverbreitung dieses abscheulichen Rufes beitragen. Deshalb formuliere ich das Paradoxon anders, - es kommt auf dieselbe Zwickmühle hinaus. Wenn jemand zu einem anderen sagt „Ich bin ein Lügner“, dann hat der Angesprochene drei Möglichkeiten, wie er diese Behauptung auffassen will, eine absolut rigorose (A), eine fast ebenso rigorose (B) und eine gemäßigte (C). Ich bespreche zuerst die beiden rigorosen. A u f f a s s u n g A: Das Behauptete gilt auch für die Behauptung selbst. Das heißt: Der Sprecher sagt lügnerischerweise, dass er lügt. Das heißt aber: Er lügt nicht. Wenn er aber nicht lügt, ist das Behauptete wahr. Behauptet hatte er aber, dass er lügt. Da wir jedoch gemäß der Auffassung A annehmen, dass diese Behauptung für das, was behauptet worden ist, auch selbst gilt, heißt das: Er behauptet lügnerischerweise, dass er lügt. Das aber heißt wiederum: Er lügt nicht, usw. usw. ad infinitum. Mit der Auffassung A kommt man aus der Zwickmühle nie heraus. A u f f a s s u n g B: Das Behauptete gilt für diese Behauptung selbst nicht, im Übrigen aber muss es ohne jede weitere Einschränkung gelten, - der Sprecher hatte ja uneingeschränkt behauptet, dass er lügt. Der Sprecher lügt somit sonst ausnahmslos, überall und jederzeit. Nur in dieser allereinzigsten Aussage, in der er seine uneingeschränkte Lügenhaftigkeit eingesteht, lügt er nicht. - Ein logischer Widerspruch entsteht hierbei nicht, aber ein sachliches Bedenken, nämlich ob man dem Lügner das glauben kann - logische Widerspruchsfreiheit ist nicht eo ipso sachliche Richtigkeit, und besonders wahrscheinlich ist die Auffassung B ja nun wirklich nicht. Nun ist das Lügnerparadox von Hause aus ein sophistisches Schaukunststückchen. Der Sophist, der sein Publikum damit ins Bockshorn jagt, stellt die Sache natürlich so dar, als ob es nur diese beiden nahezu gleich rigorosen Auffassungen gäbe. Wenn man aber eine maßvolle A u f f a s s u n g C gelten lässt, z. B. in der Lügnerbehauptung eine ironisch-rhetorische Übertreibung sieht, sodass eigentlich nur ge- <?page no="77"?> 65 meint ist „Auch ich komme schon mal in die Lage, lügen zu müssen. Man kann es in der schlechten Welt mit der Wahrheit nicht immer ganz genau nehmen“, dann kommt man weder in eine logische Sackgasse noch in sachliche Unwahrscheinlichkeiten. Soviel zum Lügnerparadox. Ich möchte über Lügen und Notlügen hier nicht weiter nachsinnen (wir kommen im zweiten Kapitel darauf zurück), sondern wende mich wieder dem Fallibilitätsproblem zu. Das Lügner-Paradox hat immerhin gezeigt, dass man bei solchen Zwickmühlen genau aufpassen muss, was eigentlich behauptet worden ist und was nicht. Der Fallibilitätsverdacht besagte, wie erinnerlich: „Alle menschlichen Behauptungen und Meinungen können falsch sein“. Folgende Auffassungen dieses Verdachts sind zu unterscheiden: 1. Bei allergünstigster Auffassung sind alle menschlichen Behauptungen und Meinungen tatsächlich wahr. Denn wenn alle falsch sein können (nur können, nicht müssen), dann können im günstigsten Extremfall alle wahr sein. 2. In der Mitte zwischen den Extremen liegt ein weites Feld mehr oder weniger günstiger oder ungünstiger Fälle: Eine gewisse Teilmenge aller menschlichen Behauptungen wird als tatsächlich wahr aufgefasst, die Restmenge als tatsächlich falsch. 3. Bei der aller-ungünstigsten Auffassung sind alle menschlichen Meinungen und Behauptungen tatsächlich falsch, denn wenn alle möglicherweise falsch sind, können im Extremfall alle tatsächlich falsch sein. Nun ist wegen der fatalen „Selbstanwendung“ weiter zu fragen: Muss man oder darf man eine dieser Auffassungen des Fallibilitätsverdachts auch auf eben diese Auffassung des Fallibilitätsverdachts selbst anwenden? Und wenn ja, was geht daraus hervor? Die Auffassung Nr. 1 fasst alle Meinungen als wahr auf, somit wird im Falle der „Selbstanwendung“ auch diese Auffassung selbst als wahr aufgefasst. Die Auffassung Nr. 1 wird dadurch nicht verändert, sie bleibt, was sie ist: Ein ganz außerordentlich wenig wahrscheinlicher Extremfall. Auch die zwischen den Extremen liegende Auffassung Nr. 2 wird von einer „Selbstanwendung“ nicht verändert. Auch sie bleibt, was sie ist: Der Normalfall, - mit dem Unterschied, dass bei „Selbstanwendung“ diejenige Teilmenge menschlicher Meinungen, die zunächst als wahr aufgefasst wurde, jetzt vielleicht als falsch aufgefasst werden muss, und umgekehrt. Dieser Unterschied ist aber aufs Ganze gesehen völlig belanglos. <?page no="78"?> 66 Wenn man dagegen die Auffassung Nr. 3 auf sie selbst anzuwenden versucht, gerät man in die aus dem Lügnerparadox bekannte „Zwickmühle ohne Ende“: Die Auffassung Nr. 3 fasst alle Meinungen als tatsächlich falsch auf. Also muss bei „Selbstanwendung“ auch diese Auffassung selbst als tatsächlich falsch aufgefasst werden. Das heißt aber: Alle Meinungen sind (mindestens möglicherweise) wahr. Wenn aber alle wahr sein können, dann kann auch diese Auffassung selbst wahr sein. Das hieße aber: Alle sind möglicherweise falsch, usw. ad infinitum. Ich hoffe, diese Denkspielereien hängen dem Leser noch nicht zum Halse heraus. Mit der Spielerei ist nämlich etwas Ernstes gemeint: Welche Auffassung des Fallibilitätsverdachts soll denn nun gelten: 1 oder 2 oder 3? Darüber sagt der Fallibilitätsverdacht von sich aus gar nichts. Es bleibt uns nur, aus freier Vernunft eine Entscheidung zu fällen. Dieser Aufgabe wollen wir uns jetzt unterziehen: Als erstes entscheiden wir uns aus freier Vernunft dafür, den Fallibilitätsverdacht nicht für eine unsinnige oder auch spaßhafte Sophisterei zu halten, sondern für ein ernstes Problem für jeden Menschen, dem es um Wahrheit zu tun ist. - Zweitens müssen wir uns jetzt vernunftgemäß darüber klar werden, welche der drei Auffassungen des Fallibilitätsverdachts wir akzeptieren. Da entscheidet die Vernunft so: Auffassung Nr. 1 ist so unwahrscheinlich, dass sie nichts taugt. Nr. 3 führt unser Denken in ewige Widersprüche. So etwas kann nur ein Sophist wollen, wir wollen es nicht. Also entscheiden wir uns für die „Normal“-Auffassung Nr. 2. - Dass mit diesem ernüchternden Ergebnis etwas gewonnen ist und was, das zeigen wir bei der Zwischenbilanz im übernächsten Spaziergang. 18. Spaziergang Darf „freie Vernunft“ entscheiden? Zuerst müssen wir eine Einwendung klären, die ein besonders rigoros denkender Mensch gegen das soeben Gesagte vorbringen könnte. Er könnte nämlich sagen: „Es geht doch nicht an, eine so wichtige Frage einfach aus ‚freier Vernunft‘ zu entscheiden. Diese freie Vernunft wäre <?page no="79"?> 67 ja reine Willkür. Ich wünsche eine Denkposition ohne solche Willkür einzunehmen“. Das wäre doch eine sehr ehrenwerte Einwendung. Dass der Rigorosissimus allerdings das, was wir etwas unbeholfen „freie Vernunft“ genannt haben, mir nichts dir nichts mit „Willkür“ in einen Topf wirft, werden wir ihm keinesfalls abnehmen, aber im Übrigen gibt sein Einwand doch zu denken. Ist „freie Vernunft“ in der vorliegenden schwierigen Frage wirklich zu freier Entscheidung berechtigt? Darf man und kann man mit Hilfe freier Vernunft die fatale ewige Zwickmühle des Denkens unschädlich machen? Der Rigorosissimus wird dabei auf eine Verfahrensregel hinweisen, die man seit Jahrzehnten in der Logik anwendet. Ehe wir diese Verfahrensregel im Wortlaut zitieren, wollen wir die Erwägungen kennenlernen, aus denen sie entstanden ist. Es sind die folgenden: Der Fallibilitätsverdacht richtet sich gegen Aussagen, nämlich gegen solche, von denen behauptet wird, sie seien wahr. Die Aussagen, die der Fallibilitätsverdacht auf diese Weise verdächtigt, bezeichnet man auch als seine Objekte, über die er (der Fallibilitätsverdacht) sein verdächtigendes Urteil abgibt. Diese Objekte, so verschieden ihr Aussage-Inhalt auch sein mag, haben logisch betrachtet gegenüber dem Fallibilitätsverdacht alle ein und denselben Rang. Man kann daher sagen: Sie liegen allesamt auf einer gemeinsamen Ebene, die deshalb Objekt-Ebene heißt. Der Fallibilitätsverdacht selbst hat jedoch einen anderen Rang, er enthält ja keine Objekt-Aussage wie die Aussagen, die er beurteilt, sondern er gibt sein Urteil ü b e r diese Objekte ab. Man sagt deshalb, der Fallibilitätsverdacht liegt nicht auf jener Objekt-Ebene, sondern eine Stufe höher, auf einer Meta-Ebene; von dort aus spricht er sein (verdächtigendes) Urteil über die (ihm unterworfenen) Objekte. Die räumlich-bildhafte Redeweise von „Ebenen“, die „über“ oder „unter“ einander angeordnet sind, besagt aber eigentlich gar nichts. Man könnte genauso gut etwa von „Bezirken“ reden: Man müsste dann feststellen, dass die Objekte des Fallibilitätsverdachts alle in einem gemeinsamen „Objekt-Bezirk“ liegen, dagegen der Fallibilitätsverdacht läge in einem „anderen“ oder „Meta-Bezirk“ (das griechische Wort meta heißt einfach „anders"). Wichtig ist, dass der Objekt-Bezirk und der Meta-Bezirk (oder die Objekt-Ebene und die Meta-Ebene) voneinander streng getrennt sind. Soweit die Erwägungen, die zu der angekündigten logischen Verfahrensregel geführt haben. Nun können wir die Verfahrensregel formulieren: „Aussagen der Meta-Ebene dürfen nur auf Aussagen der Objekt-Ebene angewendet werden, nicht auf Aussagen der Meta- <?page no="80"?> 68 Ebene selbst“. Die Verfahrensregel ist also einfach ein Verbot der fatalen „Selbstanwendung“. - Nun ist die Frage: Wer erlässt dies Verbot? Die ominöse „freie Vernunft“, oder wer sonst hat so viel Vollmacht? Wir können diese Fragen am treffendsten beantworten, indem wir uns klarmachen, dass die Verfahrensregel unserem Rigorosissimus keinesfalls, wie er gehofft hat, eine Denkposition sichert, in der er ohne freie Vernunftentscheidung (oder, in seiner Redeweise, ohne Willkür) auskommt. Mehrere Überlegungen zeigen das übereinstimmend: E r s t e Überlegung: Die Verfahrensregel ist dadurch zustande gekommen, dass aus gewissen Tatsachen ein Sollen gefolgert wurde: Tatsache ist erstens, dass aus der „Selbstanwendung“ in gewissen Fällen untragbare Denkwidersprüche erwachsen. Tatsache ist ferner, dass der Fallibilitätsverdacht einen anderen („höheren“) Rang hat als die Objekte, die er verdächtigt. Er liegt nicht auf der Objekt-Ebene, sondern auf einer Meta-Ebene. Aus diesen Tatsachen wurde nun ein Sollen, ein Verbot gefolgert, nämlich dass Aussagen der Meta-Ebene nur auf Aussagen der Objekt-Ebene, nicht aber auf Aussagen der Meta-Ebene selbst angewendet werden dürfen. Eine derartige Folgerung von einem „Ist“ auf ein „Soll“ ist aber logisch nicht begründbar. Sie ist zwar oft anzutreffen. Zum Beispiel: Aus der Tatsache, dass der Staat zu wenig Geld hat, wird hin und wieder gefolgert, dass die Bürger höhere Steuern zahlen sollen. Logisch ist diese Folgerung nicht zu begründen, vernünftig kann sie trotzdem sein, - sie muss es nicht, kann es aber. Derartige Folgerungen sind in der Lebenspraxis nicht zu vermeiden, sie sind geradezu lebensnotwendig. Wer jedoch eine derartige Folgerung zieht, muss sich darüber klar sein, dass er nicht einem logisch unausweichlichen Zwang folgt. Sondern er folgt, gemäß vernünftiger Einsicht, einem Gebot freier, vernunftgeleiteter „Willkür“, - die dann den Namen „Willkür“ aber nicht mehr verdient, denn „Willkür“ lässt an Unrecht denken. Die genannte Folgerung kann aber (muss nicht, aber kann) rechtmäßig sein, - darüber müsste gegebenenfalls noch entschieden werden. Diese Entscheidung jedoch, wie auch immer sie ausfallen mag, kann sich keinesfalls auf logische Zwangsläufigkeit berufen, sondern nur auf Vernünftigkeit. „Vernünftig“ ist nicht ein und dasselbe wie „logisch zwingend“. Z w e i t e Überlegung: Die Verfahrensregel wird, wie gesagt, in der Logik (und Mathematik) seit langem angewendet, sie ist aber kein <?page no="81"?> 69 normaler Lehrsatz der Logik bzw. Mathematik, und sie hat demgemäß nicht das absolut Zwingende an sich, das diese Lehrsätze haben. Einen Lehrsatz der Logik hatten wir gegen Ende des 4. Spaziergangs vor uns, als wir das hübsche, absurde Beispiel vom „essbaren Mond aus Edamer Käse“ durchexerzierten. Der logische Lehrsatz, den wir damals herausbekamen, lautete: „Wenn gilt <Aus p folgt q>, dann gilt auch <Aus Nicht-q folgt Nicht-p>“. Dieser Geltungszusammenhang ist streng logisch zwingend. - Nicht so die logische Verfahrensregel, die wir hier studieren: Sie ist „nur“ eine Vorsichtsmaßnahme, die zu befolgen sich in Logik und Mathematik aus Gründen ‚freier Vernunft’ empfiehlt, weil dadurch verhindert wird, dass das Denken mit sich selbst in Widerspruch gerät. Ein derartiger Denk-Widerspruch ist ungefähr vergleichbar einem Verkehrsunfall. Die oben entwickelte Verfahrensregel wäre also etwas Ähnliches wie eine Straßenverkehrsregel, die zu befolgen ebenfalls aus Vernunftgründen ratsam ist, obwohl sie nicht logischunausweichlich zwingend ist. Zum gleichen Ergebnis kommt man - in einer d r i t t e n Überlegung - auch auf folgendem Gedankengang: Wer über Sätze einer Objekt- Ebene Aussagen machen will, ohne dabei in Denkwidersprüche („Verkehrsunfälle“) zu geraten, und zu diesem Zweck eine „Meta- Ebene“ ausdenkt, der muss, um gegebenenfalls über die Sätze der Meta-Ebene widerspruchsfrei („unfallfrei“) Aussagen machen zu können, über dieser Meta-Ebene eine „Meta-Ebene zweiter Ordnung“ ausdenken, und über der Meta-Ebene zweiter Ordnung eine solche dritter Ordnung, und so weiter. Damit gerät er aber in einen besonders hässlichen denkerischen „Verkehrsunfall“: in einen regressus ad infinitum, in ein „Fortschreiten-Müssen bis ins Unendliche“. Er kommt nie zu einem Ergebnis. Wenn daraus etwas werden soll, muss man den hässlichen Regressus bei irgendeiner Meta-Ebene n-ter Stufe willkürlich abschneiden. Dabei ergibt sich aber eins von beidem: Entweder ist das willkürliche Abschneiden genauso hässlich wie der Regressus selbst, weil man nun über die zuoberst konstruierte Meta-Ebene ohne alle Schutzmaßnahmen reden muss, wobei genau die Denk-Widersprüche wieder auftreten können, die man mit dem ganzen Turmbau von Meta-Ebenen zu verhindern dachte. Oder aber das ‚willkürliche’ Abschneiden ist eben nicht hässlich (und verdient somit nicht den Namen „Willkür“), weil es aus einer freien Entscheidung der Vernunft hervorgeht, die sich zutraut, über jene zuoberst konstruierte Meta-Ebene n-ter Stufe auch ohne besonde- <?page no="82"?> 70 re Schutzmaßnahmen vernünftig zu denken und zu reden. Wenn sie sich das aber auf jener zuoberst konstruierten Meta-Ebene n-ter Stufe zutraut, dann muss sie es sich doch auch auf der untersten schon zutrauen. Kurz: Ohne ein souveränes Urteil freier Vernunft ist aus den drohenden Denkwidersprüchen nicht herauszufinden. Mit irgendeinem logisch-unausweichlichen Zwang kann man das nie erreichen. Es ist also tatsächlich diese „freie Vernunft“, die unsere Verfahrensregel und das Verbot der fatalen „Selbstanwendung“ angeordnet hat. - Dies alles würden wir unserem Rigorosissimus freundlich entgegenhalten, um ihn zu einem vernünftigen Urteil über „freie Vernunft“ anzuhalten und ihn davon abzubringen, sie mit „Willkür“ in einen Topf zu werfen. Es folgt nun der letzte Spaziergang dieses unseres ersten Kapitels. Er bringt eine Zwischenbilanz. 19. Spaziergang Resümee zum ersten Kapitel Aus dem ersten Kapitel dürfen wir nun einige Ergebnisse festhalten - wie immer sagen wir vorsichtshalber: wir halten sie vorläufig fest, aber es könnten sich daran doch Spuren von Endgültigkeit finden. E r s t e n s: Die im Anschluss an den Fallibilitätsverdacht kurz laut gewordene Befürchtung, das menschliche Denken könnte überhaupt nirgends sicheren Halt finden, hat sich nicht bestätigt. Dem Denken diesen sicheren Halt zu bieten, ist „freie Vernunft“, wie wir sie vorläufig nennen, in allen Notfällen berechtigt und fähig. Z w e i t e n s: Der Fallibilitätsverdacht selbst ist dahingehend geklärt, dass wir die beiden extremen Auffassungen dieses Verdachts (die extrem günstige, dass alle menschlichen Meinungen wahr sind, und die entgegengesetzte, dass alle falsch sind) zurückgewiesen haben, - die erste, weil sie wertlos ist, die entgegengesetzte, weil sie uns in Denkwidersprüche führt. - Speziell diese Klärung haben wir uns als <?page no="83"?> 71 eine Entscheidung der oben genannten „freien Vernunft“ begreiflich gemacht. D r i t t e n s: Jetzt (und nachher bei „Viertens“) kommen wir zu der Frage, die wir ganz am Ende des vorletzten Spaziergangs offengelassen haben: Ob mit unseren subtilen Überlegungen zum Fallibilitätsverdacht etwas gewonnen ist, und was. - Der Fallibilitätsverdacht besagt in seiner jetzt adoptierten Deutung, dass (nur! ) eine Teilmenge der menschlichen Meinungen falsch ist. Damit sagt dieser Verdacht aber zugleich positiv, dass die Restmenge wahr ist, tatsächlich und verlässlich wahr. - Allerdings: Wo die Grenze zwischen den beiden Teilmengen verläuft, welche konkreten Meinungen richtig und welche falsch sind, und wie viele falsch bzw. richtig sind, darüber sagt der Fallibilitätsverdacht als solcher leider gar nichts. V i e r t e n s: Dies bedeutet, negativ formuliert: Wir wissen nie sicher, ob eine bestimmte Meinung, der wir begegnen oder die wir selbst hegen, wahr oder falsch ist. Es gibt nirgends ein Kriterium, das uns darüber zuverlässig Auskunft gibt. - Dies jedoch lässt Raum für die Annahme, dass sogar viele menschliche Meinungen tatsächlich wahr sind. Es ist zwar unbekannt, wieviel Raum dafür bleibt, aber ebendeshalb (das ist das angekündigte Ergebnis! ) darf niemand behaupten, dass den Menschen nur verschwindend wenig oder gar kein Raum für wahre Erkenntnis gegeben ist. F ü n f t e n s: Zum Problem der Hypothesen können wir festhalten, dass die Menschen zwar irgendwie stets nach ideal-vollkommener Wahrheit streben, dass ihnen aber mit diesem Ideal praktisch wenig geholfen ist, weil sie seiner nie zuverlässig habhaft werden. Praktisch ist ihnen mit der „Als-ob-Wahrheit“ von „bislang unwiderlegten Hypothesen“ besser, jedenfalls genugsam gedient. S e c h s t e n s: Wenn es auch kein absolut zuverlässiges Wahrheitskriterium gibt, kann es doch mehrere einander ergänzende brauchbare Wahrheitsideen geben, z. B. die Kohärenzidee und die Konsensidee. Es kann auch noch weitere geben (darauf kommen wir zurück), sodass der suchende Mensch nicht ganz verlassen dasteht. Dessen ungeachtet ist festzuhalten, dass auch alle Wahrheitskriterien zusammengenommen nicht absolut verlässlich sind. Das Irrtumsrisiko ist unausrottbar. S i e b e n t e n s: Gegen Ende des 4. Spaziergangs haben wir festgstellt, dass in Logik und Mathematik die Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ fast fraglos sicher und zuverlässig ist. Wie das beunruhigende Wörtchen „fast“ zu verstehen sei, blieb dort offen. Dazu ist jetzt nach- <?page no="84"?> 72 zutragen, dass wir dies „fast“ dort einführen mussten und auch weiterhin festhalten müssen, weil sogar in so streng exakten Wissenschaften wie Logik und Mathematik das Denken in bestimmten Fällen, wenn man keine Vorsichtsmaßregeln ergreift, in Widerspruch mit sich selbst gerät. A c h t e n s: Das menschliche Denken, das uns so souverän Erkenntnisse in Logik und Mathematik besorgt, ist also offenbar nicht automatisch gefeit gegen Widersprüche. Es (das menschliche Denken) bedarf einer es leitenden und gegebenenfalls korrigierenden Instanz. Wir haben diese Instanz in den letzten Spaziergängen „freie Vernunft“ genannt. - Da wir uns aber nicht vorzeitig auf den einen Namen „freie Vernunft“ festlegen wollen, könnten wir ihr auch den unbeholfenen Namen belassen, den wir im dritten Spaziergang dafür hatten: „Denken-und-Verstehen“. Wir haben schon dort die Vermutung ausgesprochen, dass an der Prüfung (Zensierung) des Denkens-und- Verstehens auch eben dies Denken-und-Verstehen selbst beteiligt sein muss, dass also das Denken-und-Verstehen auch als eine überindividuelle Instanz zu verstehen ist, welcher ähnliche Funktionen zufallen wie der Instanz, die wir soeben als „freie Vernunft“ bezeichnet haben. N e u n t e n s: Wem die Namen „freie Vernunft“ oder „Denken-und- Verstehen“ für diese das Denken leitende Instanz zu ominös klingen, dem geben wir zu, dass er ein richtiges Gespür hat - wir haben den Ausdruck „ominös“ in diesem Sinne oben selbst gebraucht. Wir sind also wieder an einem Punkt, wo wir auf spätere Überlegungen verweisen müssen, die klären sollen, „wie frei“ , „wovon frei“ und „wozu frei“ diese „freie Vernunft“ ist, oder sein kann, oder sein muss. Z e h n t e n s: Die Bemühung der Menschen um wahre Erkenntnis ist nirgends gefeit gegen Irrtum, nicht einmal in ihrer sichersten Domäne, z. B. in Logik und Mathematik, noch weniger in dem „normalen Erkenntnisgebiet B“, das wir seit dem 6. Spaziergang betrachtet haben, ganz zu schweigen von den vertrackten Erkenntnisobjekten, die wir unter dem Buchstaben C zusammengefasst haben (Gott/ Gut-Böse): Nirgends ist das Wahrheitsstreben völlig gefeit gegen Irrtümer. E l f t e n s: Aber es ist auch nie und nirgends (nicht einmal bei den vertrackten Erkenntnisobjekten Gott/ Gut-Böse) gänzlich und hoffnungslos dem Irrtum anheimgegeben. Irgendwie und -wo ‚hängt’ der Mensch immer zwischen dem Finden und dem Verfehlen von Wahrheit. Man sollte aber deshalb nicht sagen, dass er da hängt. Der Aus- <?page no="85"?> 73 druck wäre zu pessimistisch. Vielmehr: Er wandert, er läuft, er arbeitet, er strebt, er feiert Erfolge, er muss lernen, mit Misserfolgen fertig zu werden usw. usw. - Kurz: Das Streben nach Wahrheit ist nicht bloß Sache des Kopfes (wie es in unserem ersten Kapitel den Anschein hatte), es geht den ganzen Menschen an. Es findet nicht bloß im Denken statt, sondern im Leben, im Handeln. Dieser Einsicht wollen wir nun in unserem zweiten Kapitel Rechnung tragen. <?page no="87"?> Zweites Kapitel _______________ Wahrheit und Leben <?page no="89"?> 77 Sechste Runde Ausblicke auf das uferlose neue Kapitel 20. Spaziergang Streiflichter Jetzt ist es geboten, unsere Darlegung auf eine breitere Basis zu stellen. Wir haben sie bisher, ohne das besonders hervorzuheben oder gar zu begründen, eng geführt, haben z. B. so getan, als sei es selbstverständlich, dass alle Menschen jederzeit mit allen Kräften nach Wahrheit streben. - Man braucht das aber nur so deutlich in Worte zu fassen, um einzusehen: So ist das keinesfalls. Die Menschen können sich im Leben zur Wahrheit auch anders verhalten und Wahrheit anders erleben. Das neue Kapitel ist nicht radikal neu, es liegt nicht beziehungslos neben dem bisher Behandelten. Was bisher im Zentrum der Betrachtung stand, das Erkennen, ist eine spezielle Aufgabe im Leben, sie liegt keinesfalls außerhalb des Lebens. Es geht jetzt darum, dies Spezielle, das uns im ersten Kapitel eng im Bann gehalten hat, in dem allgemeineren Rahmen wahrzunehmen, der ihm zukommt und es besser verständlich macht. Auch im ersten Kapitel ist schon die Vermutung aufgetaucht, dass die Wahrheitsbemühung des Menschen erst in einem solchen umfassenderen Rahmen recht gesehen und verstanden werden kann: Im 12. Spaziergang haben wir unser Bedenken darüber geäußert, dass eine präzisierte Wahrheitsdefinition das Wahrheitsproblem aus der weiten Welt in das künstlich konstruierte, enge wissenschaftliche „Reich von Aussagen über die Welt“ verlegt. Das ist ein so enger Rahmen, dass eine vernünftige Diskussion des Wahrheitsproblems im Ganzen darin nicht mehr möglich ist. Wenn nun also das neue Kapitel zwar nicht radikal neu ist, so stellt es doch unter anderem auch neuartige Wahrheitsprobleme vor uns hin. Im ersten Kapitel waren es theoretische: der Streit um die richtige Wahrheitsdefinition, die Suche nach einem zuverlässigen Wahrheitskriterium. Im neuen Kapitel werden wir es unter anderem mit dem <?page no="90"?> 78 Lebensproblem der persönlichen Wahrhaftigkeit zu tun bekommen, also der praktischen Pflicht, die Wahrheit zur Geltung zu bringen. Es kann sein, dass ein kritischer Leser argwöhnt, diese Problematik führe uns von unserem Wege ab, persönliche Wahrhaftigkeit sei doch etwas anderes als sachliche Wahrheit. Wir werden diesen Argwohn im Auge behalten und hoffen, den Leser davon zu überzeugen, dass das Problem „Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe, Wahrhaftigkeit“ durchaus zum ganzen Wahrheitsproblem dazugehört. Nun ist „das Leben“ aber uferlos. Alles auszubreiten, was zum Thema „Wahrheit und Leben“ gehört, käme dem Versuch gleich, das Meer auszutrinken. Das unterlassen wir vernünftigerweise. Es kommt nicht darauf an, dem Leser endlos Fakten, Material über den Kopf zu schütten. Die gedankliche Durchdringung des Materials, darauf kommt es an. Ganz ohne Fakten und Material geht das nicht, aber wir begnügen uns mit Streiflichtern: so wenig wie möglich - so viel wie nötig. Das Thema „Wahrheit und Leben“ ist ein Thema der Praxis. Allerdings: Wenn man über Praxis nachdenkt oder schreibt oder liest, bewegt man sich in der Theorie, an dieser Gegebenheit führt kein Weg vorbei. - Damit ergibt sich für dies zweite Kapitel folgende Grob- Einteilung: Zuerst (in der sechsten und siebenten Runde unserer Spaziergänge) breiten wir in „Streiflichtern“ soviel Material aus dem Problemfeld „Wahrheit und Leben“ aus, wie uns nötig erscheint. In der achten Runde stellen wir dar, welche Theorie-Entwürfe uns zur gedanklichen Durchdringung dieser Materialfülle von der Wahrheitsforschung angeboten werden. Die neunte und zehnte Runde bringen Gegenvorschläge, stellen also allem Bisherigen einen ergänzenden, eigenen gedanklichen Zugang gegenüber. Zuerst also Streiflichter: „Weil Ihr mich meines Lebens habt gesichert, so will ich Euch die Wahrheit gründlich sagen: Mit diesem Pfeil durchschoss ich Euch, wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte“, sagt Wilhelm Tell zu Geßler. Er d r o h t dem Tyrannen mit der Wahrheit. In der Tat: Wahrheit kann als bedrohlich, als unangenehm empfunden werden. Schauen wir uns dazu im literarischen und nichtliterarischen, auch im redensartlichen Sprachgebrauch um! Das Grimm‘sche Wörterbuch zeigt unter dem Stichwort „Wahrheit“ (im Band 27), dass die deutsche Sprache zur Charakterisierung von Wahrheit wesentlich mehr Adjektive bedrohlichen als erfreulichen Inhalts kennt: „Bitter“, „hart“, „verdrießlich“, „peinlich“, „entsetzlich“ kann Wahrheit erlebt werden. Thomas Mann lässt in „Königliche Hoheit“ den Milliardär und Brautvater Samuel Spoelmann <?page no="91"?> 79 seinem prinzlichen Schwiegersohn vor der Hochzeit mit knarrender Stimme viele „erfrischende“ Wahrheiten „ins Gesicht sagen“. Die Erfrischung ist aber keineswegs angenehm - der Alte bemängelt, dass sein Schwiegersohn ärgerlicher Weise nur gelernt hat, sich hochleben zu lassen (Die Braut kriegt er aber trotzdem). - Wenn die Wahrheit „an den Tag“ oder „ans Licht kommt“, kann das zwar manchmal befreiend, aber oft auch beklemmend wirken. Man sollte daraus nicht schließen, dass Wahrheit grundsätzlich niederdrückend ist. Sondern genau umgekehrt: Grundsätzlich und eigentlich ‚schmeckt‘ Wahrheit ganz anders - darauf kommen wir zurück. Desto auffälliger, desto skandalöser ist es, dass sie den Menschen in gewissen Lagen „unangenehm aufstößt“, zur Schande dieser Menschen sei es gesagt. - Ebenso wenig ist aus dem genannten Befund zu schließen, dass alle Menschen Schurken, Tyrannen und Schwindler sind, die sich vor der Wahrheit fürchten müssen. Wohl aber scheint sich darin auszudrücken, dass man die schlichten, anständigen Menschen in ihrem stillen Dasein unbeschrieen dahinleben lässt, während die Sprache dazu da ist, die anderen, die Schwindler und Schurken, mit deutlichen Worten an den Pranger zu stellen. „Kinder und Narren sagen die Wahrheit“, heißt es im Sprichwort. Kinder und Narren, das sind die, die (noch) nicht so wohlerzogen und abgebrüht sind wie die Erwachsenen und noch nicht wissen, wie sehr man mit einer wahren Äußerung „ins Fettnäpfchen treten“ kann. Die Erwachsenen, im Vollbesitz ihrer Verstandesschlauheit, nehmen gelegentlich lieber „ein Blatt vor den Mund“ oder „halten mit der Wahrheit hinter dem Berge“, als dass sie ihren Mitmenschen die Wahrheit „unter die Nase reiben“. Diese negativen Emotionen um das Phänomen Wahrheit führen uns zu den Gegenbegriffen des Begriffs „Wahrheit“. Denn eben dass wir manchmal in Unwahrheit verhaftet sind, lässt uns die Wahrheit als unerfreulich empfinden. - Zwischen der Wahrheit und ihren Gegenbegriffen fällt eine gewisse Asymmetrie auf. Die Wahrheit ist eine, der Gegensatz dazu ist zwar im Grunde auch nur einer, er tritt aber in vielen Farben schillernd auf: Lug und Trug, Täuschung, Sichtäuschen-Lassen, Mauschelei, Hinterhältigkeit, Sprachregelung usw. Wahrheit steht vor unserer Empfindung wie eine ferne, hohe, objektive Gegebenheit (nur dass man dieser Gegebenheit, gerade weil sie uns so unendlich ferne liegt, leider nie ganz zweifelsfrei habhaft wird), die vorhin genannten Gegensätze von Wahrheit sind aber in der Regel nichts Objektives und schon gar nichts Fernes, sondern es sind Spielarten der uns jederzeit naheliegenden persönlichen Wahrheitsunwillig- <?page no="92"?> 80 keit und Verlogenheit. - Hier zeigt sich, wie angekündigt, dass das Problembündel „Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Wahrheitswilligkeit“ sehr wohl seinen Platz im Ganzen der Wahrheitsproblematik hat. Die Lüge ist im Prinzip verwerflich. Aber selbst wenn man von Lüge nur dann spricht, wenn die Unwahrheit um eines Vorteils willen gesagt wird, bleibt der Begriff moralisch problematisch. Nicht immer ist dem, der lügt, die Lüge moralisch anzurechnen. Die gleichen Kinder und Narren, die harmlos die Wahrheit sagen, können ganz harmlos die Unwahrheit sagen, ja sogar relativ ‚harmlos lügen‘, - da man ihre Äußerung zwar Lüge nennen wird, wenn sie damit einen Vorteil erschleichen wollen. Aber auch das kann harmlos geschehen und muss dann darauf hinauslaufen, dass man sich für Nicht- Anrechenbarkeit entscheidet. Im Hintergrund einer solchen Entscheidung steht die Einsicht, dass die Fähigkeit des Menschen, Wahres als wahr zu erkennen, misslicher Weise immer nur eine beschränkte ist - diese Tatsache mussten wir in unserem ersten Kapitel ausgiebig zur Kenntnis nehmen. Die Fähigkeit und der Wille zur Wahrhaftigkeit kann somit nicht als angeborenes Erbteil des Menschengeschlechts betrachtet werden, Wahrheitsliebe ist dem Menschen nicht von Geburt an automatisch mitgegeben wie der Schluckreflex, wenigstens nicht in entwickeltem Zustand. Sie muss durch Erziehung und Vorbild ausgebildet werden. Wenn man jemandem nun eine Lüge nicht anrechnet, ist das für ihn zwar momentan entlastend, kann aber in der Folge belastend sein. Denn durch die Nicht-Anrechnung wird er ja im Stillen in die Klasse der „Kinder und Narren“ eingeordnet. Soweit das einem Kinde im Kindesalter geschieht, ist es kein Problem: Das Kind wird dieser Klassifizierung entwachsen, und beim Erwachsenwerden kann sich seine Fähigkeit zum Wahrhaftigsein ausbilden. Einem Menschen, der seinem Alter nach erwachsen wäre, wird in diesem Falle jedoch ein Stück der vollen Menschenwürde des Erwachsenen aberkannt. - In gewisser Weise vergleichbar damit ist es, wenn die Justizordnung einem Angeklagten oder Zeugen die Möglichkeit einräumt, die Aussage zu verweigern, und ihm so das Dilemma erspart, entweder lügen oder sich selbst bzw. den Angeklagten belasten zu müssen. Die Verwerflichkeit einer Lüge zu verneinen, ist auch dann nötig, wenn die Lüge gegenüber einem Menschen geäußert wird, dem das Recht auf Wahrheit nicht zusteht. Nun sollte man dies Recht auf Wahrheit eigentlich unter die grundsätzlich unveräußerlichen Menschenrechte einreihen. Das ist aber, soweit ich weiß, nirgends geschehen, wo Menschenrechte kodifiziert worden sind. Kodifiziert wurden <?page no="93"?> 81 nur diejenigen Menschenrechte, die in der Zeit der Aufklärung dem Staat zugunsten des Einzelnen abgetrotzt werden mussten. An das Menschenrecht auf Wahrheit hat man da offenbar nicht gedacht. - Dass jemandem das Menschenrecht auf Wahrheit aberkannt werden muss, ist also wohl ein seltener Fall, und die Abwägung darüber mag prekär sein, aber der Fall kommt leider vor. Wenn unter einem totalitären Regime (etwa im Nationalsozialismus bei der Gestapo oder im KZ) ein Häftling verhört wird, oder wenn jemand von Geiselnehmern entführt wird, kann er vielleicht nicht einfach schweigen, und ein formelles Recht auf Aussageverweigerung wird ihm der verhörende Scherge oder werden ihm die Geiselnehmer nicht einräumen. Deshalb kann es nicht verwerflich sein, wenn er in dieser Situation lügt. Seine Rechtfertigung liegt darin, dass dem Vernehmenden bzw. den Entführern das Menschenrecht auf Wahrheit nicht zustehen kann. 21. Spaziergang Fortsetzung der Streiflichter Zuerst noch einmal: Lügen ist im Prinzip moralisch verwerflich. Trotzdem kann es um der Menschlichkeit willen zur Pflicht werden, Wahres nicht auszusprechen. Jurek Becker schildert in seinem Roman „Jakob der Lügner“ eine Ghettostadt, deren Bewohner völlig der Willkür einer anonymen Gruppe von Herrschenden unterworfen sind. In einer solchen Situation gedeihen unkontrollierbare Gerüchte. Über die Titelfigur Jakob kommt nun ein Gerücht auf, er besitze einen Radioapparat, mit dem er heimlich regimefeindliche Sendungen empfängt, die das Näherrücken einer Befreiungsarmee melden und so den Hoffnungen der Eingeschlossenen Nahrung geben. Jakob tut nichts, um diese Hoffnungen, von denen er weiß, dass sie unbegründet sind, und die auch der Leser mehr und mehr als unwahre erkennen muss, zu zerstören, sondern spielt aus Liebe zu seinen Schicksalsgenossen seine Rolle als Lügner weiter, bis zum bitteren Ende. Wenn ein geistig verwirrter Mensch seine Phantasien oder Visionen äußert, ist mit wahrheitsgemäßer Richtigstellung nicht geholfen, <?page no="94"?> 82 mit kaltschnäuziger schon gar nicht, aber auch mit vorsichtigliebevoller meist nicht. Der Verwirrte, der seine Phantasien selbstverständlich für wahr hält, wird sich durch die Richtigstellung eher noch mehr in seine Scheinwelt verbohren, er wird vielleicht zornig, ganz sicher unglücklich, oder er wird gegen seine Umgebung (auf die er doch angewiesen ist) misstrauisch, und der Frieden ist dann schneller dahin als man denkt - der Frieden, an dem in derartigen Situationen doch letztlich alles hängt. Denn nicht nur ist der Verwirrte von der Hilfe seiner Umgebung abhängig, es gilt auch umgekehrt: Die Umgebung ist von ihm abhängig, sie kann nur helfen, wenn der Hilfsbedürftige in seiner mitmenschlichen Umgebung vertrauensvoll und beruhigt lebt und von „Wahrheiten“, die ihm nicht einleuchten können, verschont bleibt. Man merkt in solchen Lagen, wie wenig es doch hilft, dass man recht hat. Das waren Extremsituationen. Aber auch im ganz normalen Leben muss man nicht selten abwägen, ob Wahrheit zumutbar ist.- Erst einmal ganz banal: Auf die Frage „Wie geht es dir? “ lautet die stereotyp erwartete Antwort „Gut“. Sie ist sicher oft nicht ganz „wahr“. Aber wäre (in der vorauszusetzenden banalen Situation! ) ein Klagelied oder eine Krankengeschichte besser? - Wenn die Gäste eintreffen, äußern sowohl sie als auch die Gastgeber ihre Freude. Hätte es einen vernünftigen Sinn, wenn stattdessen die Gäste oder die Gastgeber oder beide gemeinsam sich erst um die Analyse und dann um die wahrhaftige Äußerung ihrer zwiespältigen Gefühle bemühen würden? Oder könnten und sollten sie schweigen? Und zwiespältig können die Gefühle in dieser Situation (und in vielen anderen, die nach Äußerung verlangen) doch immer sein. Aber auch in nicht so banalen, sondern ernsthaften Situationen sollte man die Wahrheit nicht mehr lieben als die Mitmenschen, man sollte also nicht um der schieren Wahrhaftigkeit willen in mitmenschliche Lieblosigkeiten verfallen, beispielsweise beim Beurteilen von Schülern oder Mitarbeitern, und ebenso bei etwaigen Konflikten in einer Gruppe oder in einer Partnerschaft. Kaputtgeschlagen ist da mit allzu schonungsloser Wahrheit (die man ja möglicherweise nur subjektiv und zu Unrecht für Wahrheit hält! ) schnell etwas, geflickt aber nicht, und manchmal kann man schon bald gar nicht mehr flicken. - Eine solche Situation ist also dilemmatisch. Denn selbstverständlich ist Wahrhaftigkeit ein hohes Gut, und sie lediglich aus Ängstlichkeit oder Konfliktscheu „unter den Teppich zu kehren“ ist nicht gut. - Über dilemmatische Situationen und was in ihnen tunlich ist, werden wir später noch allgemein nachsinnen. Einstweilen dazu nur dies, dass <?page no="95"?> 83 auch eine zwar wahrhaftige, aber lieblose Äußerung ein Übel sein kann, unter Umständen sogar ein großes. Hier zeigt sich, dass Wahrheit kein absoluter Höchstwert sein kann - und das darf uns darüber trösten, dass sie so schwer zu finden ist. Wichtiger als das Wahre ist immer das Gute, z. B. die Menschenliebe - womit nun allerdings nicht gesagt ist, dass das immer leicht zu finden und zu verwirklichen ist. Ein wichtiges und wirksames Mittel, eine Äußerung hervorzuheben, ist die Ironie. Der ironisch Redende verstellt das Wahre, redet also eigentlich unwahr, aber doch so, dass ein verständiger Adressat die Äußerung sogar besonders lebhaft und mit geistigem Vergnügen aufnimmt: Er begreift, dass mit der verdrehten Äußerung eine unverdrehte Wahrheit gemeint ist. - Deshalb muss, wer ironisch redet, die Verstehensmöglichkeiten seiner Adressaten einkalkulieren, sonst ist seine Rede mindestens unverständlich, und oft ist sie ebendeshalb auch moralisch verwerflich, für den Gegenüberstehenden kränkend, etwa wie wenn man in Gegenwart anderer mit jemand flüstert. Immanuel Kant hatte sich 1794 durch seine Schrift „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ einen bedrohlichen Tadel von allerhöchster Seite zugezogen. Die ihm vom König auferlegte Pflicht, künftig zu schweigen, legte er sich mit Hilfe der Überlegung zurecht, dass es zwar Pflicht sei, dass alles, was man sage, wahr ist, nicht aber sei es Pflicht, alles zu sagen, was wahr ist. Auf das königliche Reskript erklärte er brieflich seinen feierlichen Verzicht auf alle künftigen Veröffentlichungen religiösen Inhalts „als Ew. Königlichen Majestät getreuer Untertan“. Dazu schrieb er in einer späteren Veröffentlichung erläuternd, er habe diese Floskel gewählt, um der Freiheit seines Urteils nicht auf immer zu entsagen, sondern nur solange der damalige König am Leben wäre. Der König konnte aber der untertänigen Floskel diese stillschweigende Einschränkung natürlich nicht ansehen, Kant hat also hier im Reden geschwiegen, und wer scharf urteilen wollte, müsste sagen, er hat gelogen. Ob das berechtigt war, oder ob Kant mehr Zivilcourage an den Tag hätte legen sollen? Ich lasse das offen. Moralisches Urteil ‚aus der Ferne’ ist zu billig, man sollte sich dessen enthalten. Eine erstaunliche Art der Unwahrhaftigkeit liegt vor, wenn ein Mensch sich selbst belügt. Da möchte ein naiver Menschenfreund fragen: Kommt das denn vor? Würde jemand, der sich selbst belöge, nicht so heftig gegen seine eigenen Interessen verstoßen, dass es sich ihm von selbst verbietet. Offenkundig ist das nicht der Fall. Dem in die Lüge Verwickelten sind die Augen irgendwie verhalten, er merkt <?page no="96"?> 84 seine Verlogenheit gar nicht. Das wird wieder dadurch erleichtert, dass des Menschen Fähigkeit, das Wahre zu erkennen, peinlicher Weise sehr beschränkt ist. Auch seine eigentlichen, wahren Interessen erkennt der Mensch oft nicht klar genug. Man kann zwei Sorten dieser Sonderform von Lüge unterscheiden. Die erste liegt dann vor, wenn jemand mit seinem ‚Sich-selbst- Belügen‘ niemand schädigt - höchstens eben sich selbst. Es mag sich dabei vielleicht um kleine Unwahrheiten handeln. Wenn die Lüge aber das Wesen des Betreffenden in allen seinen Äußerungen prägt, müsste man von einer „Lebenslüge“ sprechen - der Ausdruck soll besagen, dass dem Menschen nur mittels dieser Lüge das Leben überhaupt möglich ist. Die Aufrechterhaltung der Lüge kann aber ein solches Maß an Kraft fordern, dass der Sich-selbst-Belügende gerade durch seine eisern durchgehaltene Lügenhaftigkeit zu Grunde geht. Dieser Tragik unterliegen wohl nur eigentümlich lebensschwache Menschen. - Bei der zweiten Spielart des ‚Sich-selbst-Belügens‘ ist das anders. Sie ergibt sich, wenn ein lebenstüchtiger Mensch mit kraftvollem Selbstbehauptungstrieb irgendetwas zu vertuschen hat. Nun ist auch beim Lebenstüchtigen die Fähigkeit, Wahrheit zu erkennen, nur eine beschränkte. Schwierig ist es ja nicht nur, sie zu erkennen, sondern auch diese Erkenntnis bei sich selbst durchzuhalten, sie sich dauerhaft einzugestehen. Also verbündet sich die allgemein menschliche Wahrheitsunfähigkeit mit der im speziellen Fall gegebenen Wahrheitsunwilligkeit, sodass beide zu Komplizen des in diesem Falle moralisch fragwürdigen Selbstbehauptungstriebs werden. Dazu kommt ja noch die Tatsache, dass das Verhalten eines Menschen kaum jemals rundum gut oder rundum schlecht ist: Ein schlechter Faden findet sich auch im besten Verhalten, und umgekehrt. Also fängt unser Lebenstüchtiger, lange bevor das Verhalten, das er vertuschen möchte, moralisch beurteilt werden könnte, damit an, es schon als Tatsache bei sich selbst zu vertuschen, d. h. es innerlich mit etwas veränderten Worten zu ‚verbuchen‘ (und diese Buchführung geflissentlich zu repetieren). Er sagt bei sich selbst: Ich habe ja nicht dies oder jenes Unmoralische getan, sondern etwas ganz anderes, moralisch Harmloses oder sogar Gutes. Nachdem der Lebenstüchtige auf diese Manier virtuos und erfolgreich sich selbst hinters Licht geführt hat, kann er später Außenstehenden gegenüber mit dem Brustton der Überzeugung, ohne sich seiner Unwahrhaftigkeit bewusst zu werden, die Sache und sich selbst als moralisch tadellos darstellen. <?page no="97"?> 85 Zum Schluss noch einmal generell: Die Lüge ist im Prinzip moralisch verwerflich. Jedoch auch Wahrheitsfanatiker sind nicht immer moralisch löblich. <?page no="98"?> 86 Siebente Runde Noch ein Streiflicht: Wandel des Wahren. Wahrheitsbesitz 22. Spaziergang Wandlungen des Wahren. Normierung des Wahren Dies letzte Streiflicht richten wir nun auf ein ausführlicher zu beleuchtendes Problem. Weil die Fähigkeit des Menschen zur Wahrheitserkenntnis beschränkt ist, hat er das Bedürfnis, wenigstens innerhalb des ihm erreichbaren Rahmens s i c h e r e Erkenntnis zu gewinnen. Nur deshalb hat man präzisierend den „Rahmen des Erreichbaren“ so eng gezogen, dass er uns allzu eng erscheint. Dies Bedürfnis nach Sicherheit des Erkennens ist zugleich das nach Unwandelbarkeit des Wahren: Was wahr ist - soviel meint man doch erwarten zu dürfen -, muss auch wahr gewesen sein, ehe man entdeckt hat, dass es wahr ist, und es muss auch in alle Zukunft wahr bleiben. - Zeitunabhängige Wahrheit gibt es in den extrem strengen, exakten Wissenschaften - unsere ständigen Beispiele sind Logik und Mathematik. Dass zweimal zwei vier ist, war auch schon wahr, als es noch keine Menschen gab, die das erkannten und aussprachen. Aber auch in der Astronomie stellen wir uns doch vor, dass die Kepler‘schen Gesetze über die Umlaufbahnen der Planeten schon wahr gewesen sein müssen, ehe Kepler sie entdeckt und formuliert hat. Allerdings: Sich vorzustellen, dass sie auch wahr gewesen sind, als es noch keine Planeten gab, hat etwas Absurdes. Lassen wir das dahingestellt. „Im Leben“ jedenfalls gibt es keine schlechthin unwandelbaren Wahrheiten. Es hätte keinen Sinn, zu behaupten, unsere wahren Erkenntnisse über die Physiologie der Tiere oder über die Perioden der Erdgeschichte seien schon wahr gewesen, als es noch gar keine Tiere und noch keine Erde gab. Immerhin: Die Zeit, als es Erde und Menschen und Tiere noch nicht gab, liegt sehr, sehr weit zurück, sie liegt in keines Menschen Erinnerungsraum. Und wenn es keine anderen Wandlungen des Wahren gäbe als solche, an die sich niemand erin- <?page no="99"?> 87 nern kann, lohnte es nicht, von diesem Wandel ein Aufheben zu machen. Es gibt aber Gegenbeispiele: Als mein Vater im Jahre 1929 eine Lungenentzündung hatte, hatten wir Angst um sein Leben, bis nach neun Tagen die „Krise“ vorbei war. Diese „Krise“, und dass sie am neunten Tage einträte, hatte uns der Arzt, nach damaligem medizinischem Kenntnisstand wahrheitsgemäß, mit großem Ernst angekündigt. Heutige Lungenentzündungen verlaufen anders, von jener „Krise“ weiß man heute nichts mehr. Das altgriechische Wort für Wahrheit heißt alétheia. Es ist zusammengesetzt aus der Verneinungs-Vorsilbe „a“ (sie entspricht der deutschen Vorsilbe „un“), dem Stamm „leth“ (er bedeutet „Vergessen“ oder „Verbergen“) und der Substantivendung „eia“, die der deutschen Endung „-heit“ oder „-keit“ entspricht. A-léth-eia besagt im Griechischen also ein grundlegendes Bewegtsein: Ein Heraustreten aus dem Verborgensein und Vergessensein. In diesem Wort ist die Einsicht ausgedrückt, dass eine Wahrheit sich in der Regel im Verlauf der Zeit erst herausstellt. Das Ptolemäische Weltbild, das die Erde im Mittelpunkt der Welt sah, galt ungefähr 1500 Jahre lang im Abendland unangefochten als wahr. Es kam 1500 Jahre lang niemanden in den Sinn, diese Wahrheit zu bestreiten, und ebendeshalb konnte es in diesen 1500 Jahren auch kaum jemand in den Sinn kommen, ausdrücklich zu behaupten oder gar zu beweisen, dass dies das w a h r e Bild der Welt sei. Das konnte erst geschehen, als Kopernikus sein anders geartetes Weltbild entwarf. Wahrscheinlich haben während der erwähnten 1500 Jahre die Menschen nicht einmal gewusst, dass das Weltbild, das sie da „hatten“, überhaupt ein „Weltbild“ im neuzeitlichen, erst von Kopernikus deutlicher ausgeprägten Sinn dieses Wortes ist, also eine denkerischrechnerisch-wissenschaftliche Deutung der Vorgänge am sichtbaren Firmament. Es war für sie eher ein „Weltbild“ in einem ursprünglicheren Sinne: nicht eine Sache der Astronomie, sondern eine religiöse Vorstellung über Gott, Welt und Menschenseele. Was wir heutigen Gebildeten das ptolemäische Weltbild nennen und in Gedanken gewohnheitsmäßig gegen „unser“ kopernikanisches Weltbild absetzen (fast so als ob das ptolemäische eine ganz unbegreifliche Verdrehung des kopernikanischen gewesen wäre), das war seinerzeit schlicht selbstverständlich - man kann sich seine Geltung gar nicht unangefochten genug vorstellen. Man dachte und glaubte, dass die Menschen „hienieden“ nicht nur räumlich, sondern auch durch ihre Würde vor dem Angesicht Gottes im Mittelpunkt des Kosmos stehen. <?page no="100"?> 88 Diese Wandelbarkeit des Wahren hat etwas Unheimliches, Verunsicherndes, geradezu Lebensfeindliches an sich. Der Mensch stellt deshalb dem Wandel Schranken entgegen. Wie das menschliche Zusammenleben allenthalben einigermaßen feste, verlässliche Regeln und Normen braucht, so gibt es auch ‚Wahrheitsnormen’, also Normen und Institutionen, die dazu dienen, die Menschen im zermürbenden Kampf um die Wahrheit zu entlasten und ihnen das Leben zu erleichtern oder überhaupt erst recht zu ermöglichen. Dazu gehören etwa die Glaubensdogmen der Religionsgemeinschaften. Das klingt heutigen Ohren befremdlich. Wer also religiöse Dogmen so heftig ablehnt, dass er sie auf keinen Fall in einem Atemzug mit der lebenspraktischen Wahrheit genannt hören mag, der kann sich daran erinnern, dass es auch Wissenschafts-Dogmen gibt. Sie sind lebenspraktisch genauso entlastend wie religiöse Glaubensdogmen. Wir haben derartige Dogmen oben im Zusammenhang mit dem Begriff der Hypothese erwähnt. Ein weiteres Beispiel wäre etwa das um 1930 von vielen Menschen felsenfest angenommene positivistische Dogma, dass Metaphysik unsinnig ist und zu unterbleiben habe. Die Wahrheitsnormen sind entlastend, weil die Menschen sich darauf verlassen, dass sie unangefochten (felsenfest) gelten, - aber auch sie gelten irgendwann aus irgendwelchen Gründen nicht mehr. Zwischen der Zeit ihrer unangefochtenen Geltung und derjenigen Zeit, in der sie ganz ohne jede Geltung sind, kann ein langer Zeitraum des Übergangs liegen, und denkbar ist es, dass während dieser Zeit die Geltung der Norm nicht unbedingt immer weiter abnimmt (wie auf einer Einbahnstraße) - sie kann zwischendurch (oder endgültig - aber was heißt das hier? ) auch wieder zunehmen. Jedenfalls: Dem Wandel entzogen sind auch die Wahrheitsnormen nicht. Allerdings behaupten wir nicht, dass Normen und Regeln für die Menschen nur entlastend sind, - jeder weiß, wie sehr sie auch belastend sein oder werden können. Zur Be- und Entlastung trägt auch bei, dass Normen nicht naturgegeben, sondern wesentlich von Menschen geschaffen sind. Es gibt zwar wichtige Normen, von denen man gerne denkt und sagt (und im großen Ganzen auch ruhig sagen darf, - denn auch das ungefähr Richtige ist vorläufig unverächtlich), sie gälten von Natur, z. B. die sog. Goldene Regel der Moral, - sie gebietet, einem anderen nicht anzutun, was man selbst von anderen nicht angetan bekommen möchte. - Wir können und wollen die alte Streitfrage, wieweit diese Norm (und gewisse andere) von Natur bestehen, hier nicht aufrollen. Wahrscheinlich muss man sie so entscheiden, dass keine Norm reinweg von Natur besteht. Denn Normen bestehen nur <?page no="101"?> 89 für Menschen. Aber die schiere Natur des Menschen ist nicht feststellbar. - Auf jeden Fall aber kann man sagen, dass die Menschen am Entstehen, am Gültig- und Ungültigwerden von Normen (und zwar ausnahmslos aller Normen, auch der quasi von Natur bestehenden) mitwirken. Alle Menschen zusammen tun das, und sogar jeder einzelne. Wie das? Nicht nur Mitglieder gesetzgebender Körperschaften, Parlamente usw. sind dabei tätig. Jede Befolgung einer Norm ist zugleich eine Bestätigung und Bestärkung der Norm, gewissermaßen ein erneuter Akt der Normsetzung. Ohne diese Bestätigung würde die Norm auf Dauer kraftlos und verschwände über kurz oder lang. - Ebenso umgekehrt: Jede einzelne Bestreitung einer Norm mindert deren Geltung, und äußerstenfalls bringt sie die Norm zu Fall, - andererseits können eben dadurch Energien anderer Menschen zur Stützung der Norm geweckt werden. Kurz: Normen sind umkämpft. Wenn das nicht mehr so ist, verschwinden sie aus dem Bewusstsein und letztlich aus der Wirklichkeit. Als Beispiel für ein Wirken im Spannungsfeld zwischen festen, institutionellen Norm-Vorgaben einerseits und vernunftgemäß-freien (norm-stärkenden oder auch norm-bestreitenden) Entscheidungen andererseits können wir den Beruf des Richters betrachten. Und gewissermaßen ist jeder verantwortliche Mensch, der im Spannungsfeld von „Wahrheit und Leben“ wirkt, irgendwie Richter: Er ist verpflichtet, Normvorgaben anzuwenden (und dadurch zu bestärken), zugleich aber gehalten, an ihrer Überprüfung, Bestreitung oder Stützung nach Maßgabe seiner Kraft und Einsicht mitzuwirken. Richter höherer und höchster Instanzen (und analog Menschen in sehr verantwortungsvollen Positionen) haben bei alledem deutlicher kenntliche Wirkungsmöglicheiten, aber ganz ohne sie ist auch der erstinstanzliche Einzelrichter (und analog der einfache Normalbürger) nicht. Die Rechtsordnung gestattet dem Richter, im Strafprozess unter bestimmten Voraussetzungen auf „Freispruch mangels Beweisen“ zu erkennen, das heißt festzustellen, dass der Versuch, die Wahrheit aufzufinden, so wenig Erfolg hatte, dass ein substantielles Urteil nicht möglich oder nicht zu verantworten ist. Daneben gibt es den Fall, dass der Richter die Wahrheitssuche, die zum Urteil führen soll, zwar nicht mit voller Sicherheit, aber doch mit so viel Wahrscheinlichkeit abschließen kann, dass ihm die Pflicht verbleibt, ein substantielles Urteil zu fällen, dass also ein „Freispruch mangels Beweisen“ nicht vertretbar ist. <?page no="102"?> 90 Ein Rechtsfall aber muss abgeschlossen werden. Zwar sehen die Justizordnungen für wichtigere Fälle einen „Instanzenzug“ vor, also die Möglichkeit der Berufung an eine höhere Instanz. Die Pflicht des Richters, den Fall in seiner eigenen, unteren Instanz erst einmal abzuschließen, bleibt ungeachtet dessen bestehen, und auch wenn der Instanzenzug in Anspruch genommen wird, ist die Verpflichtung zum endgültigen Abschluss dadurch nur verschoben, nicht aufgehoben. Ein Ziel der gesamten Rechtsordnung ist es, dass sie sich selbst, so bald es geht, unsichtbar und überflüssig macht. Nach jedem (lauten) Rechtskonflikt soll baldmöglichst der (stille, normale) Rechtsfrieden wieder hergestellt werden. 23. Spaziergang Wahrheitsbesitz Wir haben vom Ptolemäischen Weltbild gesagt, dass es rund 1500 Jahre lang unbezweifelt war. Man kann aber nicht sagen, dass es 1500 Jahre lang eine problematische, auf ständige Überprüfung und gegebenenfalls Falsifikation angelegte hypothetische Wahrheit war (wie es unsere heutigen wissenschaftlichen Wahrheiten eigentlich alle sind). Hier muss man von einem unangefochtenen Wahrheits-Besitz der Menschheit sprechen. Wenn wir hier freilich an Lessing denken, erscheint uns der Begriff Wahrheits-„Besitz“ suspekt. Nach Lessing kommt es darauf an, dass man unablässig nach Wahrheit strebt. Was soll oder kann man dazu sagen? Ein berühmter zeitgenössischer Philosoph, der vor wenigen Jahren verstorbene Karl R. Popper, soll einmal geäußert haben: „Sobald einer meint, alle Probleme seien gelöst, dann ist alles verloren“. Die Meinung, alle Probleme seien gelöst, kann die Menschen wohl tatsächlich träge und in unangenehmem Sinne stolz machen, wie es, nach Lessing, die eitle Vorstellung des Wahrheits-Besitzes tut. - Indessen, der Wahrheitsbesitz, dessen sich die abendländische Menschheit in ihrem Weltbild 1500 Jahre lang erfreute, war ganz sicher nicht identisch mit der Meinung, „alle Probleme seien gelöst“: Probleme hatten die Leute damals, und ernsthafte, nämlich mindestens das Problem, dass sie sich an ihrer bevorzugten Stelle im Zentrum des Kosmos beständig „vor <?page no="103"?> 91 dem Angesicht Gottes“ wussten und sich vor ihm bewähren, von Versündigung freihalten mussten. Die wissenschaftlichen Probleme, von denen Popper so dringlich verlangt, man dürfe sie nicht für gelöst halten, wurden auch damals nicht für gelöst gehalten: Sie waren, wenigstens zum größeren Teil, einfach nicht da, man konnte sie weder für gelöst noch für ungelöst halten. Ein Wahrheits-Besitz dieser unproblematischen Art ist für die Menschen jederzeit lebensnotwendig. Der Mensch kann nicht an allen Wahrheits-Fronten zugleich kämpfen, noch nicht einmal an all denen, die zu seiner Zeit aktuell sind und die ihm also an sich bewusst sein könnten: Er muss sich auf wenige besonders dringende beschränken. - Es ist ihm darüber hinaus sogar lebensnotwendig, dass er von vielen „Wahrheitsfronten“, an denen zu anderen Zeiten erbittert gekämpft wurde, in seiner Lebenszeit gar nichts erfährt, und falls er doch einmal davon hört, dass das für ihn (und vielleicht für seine ganze Zeitgenossenschaft) „rein historisch“ ist, gewissermaßen „auf der Rückseite des Mondes“ stattfindet. Man muss sich das so vorstellen, dass die Wahrheit von den Menschen stets in zweierlei Gestalt erlebt wird: Einerseits als fragwürdige Wahrheit, die des Nachfragens wert ist, die aber ebendeshalb stets mit Zweifel gepaart ist, stets gesucht, nie endgültig gefunden, stets verbunden mit dem Bewusstsein, dass andere anderes für wahr halten, und dass sogar wir selbst zu anderer Zeit anderes für wahr gehalten haben. Andererseits geglaubte Wahrheit, ohne Zweifel, in ruhigem, unbeirrtem Besitz, ohne Bewusstsein davon, dass andere anderes für wahr halten oder dass auch wir zu anderer Zeit anderes für wahr gehalten haben oder halten werden. Das ist nicht so zu lesen, als ob bestimmte Menschen (oder Gruppen) die Wahrheit immer gemäß dem „Einerseits“ erleben, und andere Menschen immer gemäß dem „Andererseits“. Sondern jeder Mensch (jede Gruppe) erlebt einiges gemäß dem „Einerseits“, anderes gemäß dem „Andererseits“. Allerdings kann die Verteilung aufs „Einerseits“ und „Andererseits“ bei den einzelnen Menschen oder Gruppen ungleich sein. Vor allem kann sich die Verteilung im Zeitablauf ändern, und zwar kann das bei allen Menschen geschehen, wenn es auch nicht bei allen im gleichen Zeitmaß geschehen muss. - Der Mensch (oder die Gruppe) ist bezüglich seines/ ihres Verhältnisses zur Wahrheit wie ein Wanderer: Nach vorwärts, in der Richtung seiner Wanderbewegung, sieht er problematische Wahrheiten vor sich, strebt nach ihrer Klä- <?page no="104"?> 92 rung, erreicht diese Klärung dann auch teilweise, freilich - mangels sicherer Kriterien - nie ganz zweifelsfrei. Auf den Flanken und im Rücken dagegen ist er umgeben von „Wahrheitsbesitz“, also von Wahrheiten, an denen er keine Probleme sieht (da er ja hinten keine Augen hat). Dieser unbeirrte Wahrheitsbesitz beschützt ihn und gibt ihm ein Gefühl sicheren Geleitetseins. In Weiterführung dieses Bildes kann man sich klarmachen, dass es im Laufe der Zeit dahin kommen kann, dass der Mensch (oder die Gruppe) irgendwann, durch irgendetwas Außergewöhnliches motiviert, einzelne Inhalte seines bis dahin unbeirrten Wahrheitsbesitzes von seinen Flanken oder seinem Rücken weg nach vorne holt oder seine Wanderrichtung so ändert, dass er das bisher Unbeirrte nun in seiner Problematik vor Augen hat. Gleichzeitig entgleiten ihm jedoch andere Inhalte und verschwinden aus seinem problematisierenden Blickfeld nach hinten, denn alles zugleich kann er nicht problematisierend im Blick haben. Wenn irgendwann sehr einseitige Menschen die Wahrheit nur oder auch fast nur gemäß des „Einerseits“ oder des „Andererseits“ wahrnähmen (ich rede im Irrealis), würde das zu ruinöser Einseitigkeit ihres Wahrheitsbegriffs führen. Wer nur das „Einerseits“ gelten ließe, müsste zu der Auffassung kommen, Wahrheit gäbe es gar nicht. Was man für Wahrheit hielte, wäre (nach seiner einseitigen Auffassung) derjenige Irrtum, der bei den Menschen auf längere Zeit und in subjektiv wohltuender Weise den kritischen Verstand lahmlegt. - Wer nur das „Andererseits“ gelten ließe, würde nicht etwa alle Zweifel leugnen - denn wenn er sie leugnet, h a t er sie ja. Sondern er würde gänzlich ohne Zweifel leben. Wahr wäre für ihn, was er glaubt. - Ich habe diesen ganzen letzten Gedankengang im Irrealis formuliert, da ich zwar annehme, dass Menschen zeitweise (etwa wenn sie durch gegenteilige Behauptungen gereizt sind) so einseitig reden und räsonnieren können. Aber dass tatsächlich irgendjemand dauerhaft und bis in sein Innerstes hinein so einseitig denken und fühlen kann, ist schier unmöglich. Wahrheit wird immer als Gemisch von Gewissheit und Zweifel erlebt. Zum Schluss dieser Gedanken- und Spazierrunde kann es erstens nicht schaden, wenn wir uns klarmachen, dass auch wir selbst, die wir soeben höchst distanziert und erhaben davon reden (oder lesen), dass die Menschen manchmal mit ihren Wahrheiten ruinös oder unbewusst oder sonstwie seltsam umgehen, - dass also auch wir selbst zu eben diesen Menschen gehören, sodass auch in unserem eigenen Wahrheitsverhalten manches recht seltsam sein könnte, und dass wir es <?page no="105"?> 93 sehr nötig haben, von wohlmeinenden Mitmenschen gegebenenfalls darauf hingewiesen und korrigiert zu werden. Zweitens müssen wir darauf hinweisen, dass wir uns bisher, und vor allem in der soeben abgeschlossenen siebenten Runde, nicht selten einer gewissen Nachlässigkeit der Wortwahl schuldig gemacht haben: Dem Wandel unterworfen ist streng genommen nur „das Wahre“, nicht aber (wie wir hin und wieder nachlässigerweise gesagt haben) „die Wahrheit“. - Zur Erläuterung: „Das Wahre“ ist vieles, und so kann bald dieses, bald jenes Wahre als „das (eine, absolut gültige) Wahre“ proklamiert oder normiert werden. „Die Wahrheit“ dagegen ist (rein begrifflich) eine. Da wird der Leser vielleicht ärgerlich fragen: Weshalb kommt der Autor erst jetzt mit dem Bekenntnis dieser Nachlässigkeit zutage, er hätte sie doch von Anfang an vermeiden und stets peinlich genau reden können. - Antwort: Das hätte der Autor kaum können, und schon gar nicht hätte er es sollen. In der normalen Sprache kann es, wenn die Rede im Ganzen flüssig und verständlich bleiben soll, nicht in jeder Einzelheit so penibel-säuberlich zugehen wie in einer präzisierten Fachsprache. - Dass und weshalb wir es trotz dieser in den Einzelheiten des sprachlichen Ausdrucks unumgänglichen Unschärfen und Ungenauigkeiten vorziehen, uns im großen Ganzen in normaler Sprache auszudrücken, haben wir schon im ersten Spaziergang kurz angedeutet, und in unserem nächsten (dritten) Kapitel kommen dazu noch eingehende Erläuterungen. - Damit nun genug der Streiflichter. <?page no="106"?> 94 Achte Runde Am „Leben“ orientierte Wahrheits-Theorien 24. Spaziergang Die pragmatische Wahrheits-Theorie Wir erinnern uns: Wir haben seinerzeit drei grundlegende Anliegen der Wahrheitssuche unterschieden: Die Menschen suchen erstens die zutreffende Definition des Begriffs Wahrheit, zweitens trennscharfe Unterscheidungsmerkmale (Kriterien) des Wahren, drittens gangbare Wege (Methoden), die zur Wahrheit führen oder sie sichern. Die Theorien, die jetzt zur Debatte stehen, dienen vorrangig dem zuletzt genannten Anliegen: Sie wollen W e g e zur Wahrheit entdecken oder empfehlen. Die Reihenfolge, in der wir die drei Anliegen damals aufgezählt haben und auch hier wieder aufzählen (1. Definition - 2. Kriterien - 3. Methoden) ist eine Reihenfolge abnehmenden Vertrauens in Theorie und zunehmender Hinwendung zur Praxis. Da es hier um die Nr. 3 (Methoden) geht, ist zu erwarten, dass der ‚Aufwand an Theorie’ bei allen hier einschlägigen Theorien relativ gering ist. Als erstes nehmen wir eine Theorie vor, die sogar mit dem möglichsten Minimum an Theorie auszukommen bestrebt ist - deshalb könnten wir hier das Wort „Theorie“ auch in Anführungszeichen setzen. Die p r a g m a t i s c h e Wahrheitstheorie geht, wie ihr Name sagt, von faktisch-praktischen Gegebenheiten aus und hat keinen weiteren Ehrgeiz, als der Praxis, dem Leben, zu dienen. So geht sie z.B. gerade von all dem aus, was normativ, zur Entlastung der Menschen, als wahr festgesetzt ist und somit faktisch als Wahrheit gilt. Dass das dem Wandel unterliegt und schon deshalb nicht jene volle, reine Wahrheit ist, die nach Lessing in Gottes rechter Hand ruht, erkennt die pragmatische Theorie rückhaltlos an. Sie paart jedoch mit dieser Skepsis gegenüber dem Faktischen einen grundlegenden Optimismus, indem sie auch im unvollkommenen faktisch Gegebenen einen brauchbaren Ausgangspunkt des Weges zur Wahrheit sieht. <?page no="107"?> 95 Sie baut dabei e r s t e n s darauf, dass alle Menschen der Wahrheit bedürftig und die meisten guten Willens sind und hinreichende Fähigkeiten haben, Wahr und Falsch zu unterscheiden. Dass diese Annahmen fragwürdig sind, ist uns in den bisherigen Betrachtungen sehr deutlich geworden: Sowohl was den guten Willen zur Wahrheit als auch was die Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis betrifft, muss sich die Menschheit mit großen Defiziten abfinden. Die pragmatische Wahrheitstheorie in ihrem Optimismus lässt diese fragwürdigen Annahmen trotzdem gelten, - man kann ja an den bestehenden Defiziten nun einmal nichts ändern, also muss man pragmatisch sehen, wie man trotzdem Wege findet, die weiter führen. Die pragmatische Theorie baut z w e i t e n s darauf (und das ist weniger fragwürdig), dass die Menschen bei der Wahrheitssuche, wie auch sonst überall im Leben, sich von etwaigen Rückschlägen nicht gleich entmutigen lassen, sondern weiter streben. Und sie ist überzeugt, dass sie dadurch ihr Ziel, bei der Wahrheitssuche also die Wahrheit, in the long run auch tatsächlich erreichen. Dieser long run ist ein Kernbegriff dieser philosophischen Richtung. Er zeigt nebenbei, dass sie besonders im angelsächsischen Sprachraum beheimatet ist. Wenn man nun so pragmatisch denkt, darf man den Wahrheitsbegriff wenigstens anfangs pragmatisch stutzen. „Wahr“ darf anfangs, und dann bis auf Weiteres, jede Auffassung heißen, die praktische Aufgaben zu bewältigen hilft. Mit „bis auf Weiteres“ ist gesagt, dass das, was heute praktisch förderlich ist und demgemäß „wahr“ heißt, in the long run durch noch Förderlicheres ersetzt werden kann, das dann, wiederum bis auf Weiteres, „wahr“ heißt. Wir finden hier ein ähnlich ungezwungenes Zusammenwirken von Theorie und Praxis, wie es uns bei der Betrachtung der Kohärenztheorie in den Blick kam: Dort sahen wir im Pragmatismus eine brauchbare Hilfsidee der Kohärenztheorie. Zugleich darf man annehmen, dass dem Menschen, auch wenn er nur eine defizitäre theoretische Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis hat, trotzdem, wie zum Ausgleich dieses Defizits, ein ziemlich sicheres irrationales Gespür für das Wahre mitgegeben ist, ein sicherer ‚Geschmack’ für das, was wahr ist und was nicht. Bei Dichtern, z. B. bei Goethe, finden wir ähnliche Anschauungen: „Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange / ist sich des rechten Weges wohl bewusst“, sagt ‚der Herr‘ im „Faust“ („Prolog im Himmel“, V. 328 f.), um gegenüber den hämischen Zweifeln des Mephistopheles die Zuversicht auszudrücken, dass Faust in seinem Streben letztlich nicht irregehen wird - ein Streben nicht nur nach dem Wah- <?page no="108"?> 96 ren, sondern auch nach dem Guten. Diese beiden Ideale sind einander eng verwandt, - die Anerkennung dieser ‚Verwandtschaft’ gehört ebenfalls zu den Grundannahmen des Pragmatikers: Er vertraut nicht gerne auf die graue Theorie, dass das Wahre theoretisch als wahr erweislich ist, sondern eher darauf, dass, was gut ist, als solches pragmatisch einleuchtet. In der Annahme, dass einem jeden Menschen ein grundlegend sicheres Gespür für das Wahre und Gute mitgegeben ist, das dann im Leben zwar noch verfeinert werden muss, aber tatsächlich auch verfeinert werden kann, liegt zweifellos ein interessantes und bedeutsames Lehrstück der pragmatischen Theorie vor. Die Hoffnung auf das Erreichen der Wahrheit bleibt freilich jederzeit pragmatisch, d. h. sie ist und bleibt mit dem Bekenntnis der letztlichen Unzulänglichkeit alles Menschlichen gepaart: Ein Pragmatiker erkennt an, dass Wahrheit endgültig nicht erreichbar ist. - Goethe, dem wir die zitierten wunderbaren Worte verdanken, sagt (wiederum im „Prolog im Himmel“): „Es irrt der Mensch, solang er strebt“, und am Ende des Zweiten Teils seines „Faust“ (dieses Ende stellt im Aufbau des gesamten Dramas das Pendant zum „Prolog im Himmel“ dar) hat er auch diese Unzulänglichkeit herausgestellt, und zwar positiv gewertet. Faust bleibt dort beim immerwährenden Streben, ein endgültiges Ziel wird nicht erreicht, Faust sagt zu dem lange ersehnten Augenblick nicht etwa in dürren Worten „Verweile doch, du bist so schön“, sondern er spricht im Irreal (Vers 11581): „Zum Augenblicke dürft ich sagen: Verweile doch ...“. Der dumme Teufel fällt darauf herein und meint, Faust habe sich jetzt endlich aufs „Faulbett“ gelegt und zu streben aufgehört, und er, der Teufel, habe gewonnen (er hat halt kein Sensorium für derartige sprachliche Feinheiten), aber der Chor aus der Höhe lässt sich ganz zum Schluss trotz allem überaus tröstlich vernehmen (V. 11936): „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“. <?page no="109"?> 97 25. Spaziergang Die Konsens-Theorie Wir haben die Konsens-Theorie im 14. Spaziergang schon einmal kurz berührt und bei der Gegenüberstellung mit ihrer ‚Zwillingsschwester‘, der Kohärenz-Theorie, gemerkt, dass diese Zwillinge sehr unterschiedliche ‚Erbanlagen‘ haben. Ich rufe einiges von dem damals Angedeuteten noch einmal ins Gedächtnis und führe es etwas genauer aus. Die Konsens-Theorie trägt einen Namen, der nach ihrer eigenen Einsicht problematisch genannt werden muss. Eine ideale Wahrheit kann man sich von einem allgemeinen, idealen Konsens getragen vorstellen. Die im 20. Jahrhundert aufgekommene konkrete Konsens- Theorie sucht jedoch nicht nach solchen Idealen, sondern nach praktisch begehbaren Wegen zur Wahrheit. Sie ist mit der durchgehenden Konflikthaftigkeit des menschlichen Zusammenlebens und Wahrheitsverhaltens vertraut und rechnet durchgehends mit diesen Konflikten, im Extrem damit, dass jede Wahrheitssuche sich in einem Dschungel von Egoismen abspielt. Der Konsens, d. h. dass die Menschen in dem, was sie Wahrheit nennen, übereinstimmen, wird in der Konsens-Theorie weder als Normalnoch als Idealfall wahrgenommen, sondern allenfalls als Ziel schwerer Mühen. Dem entsprechend steht die Konsenstheorie zwar bei den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften in hoher Geltung, aber nicht ebenso sehr bei den Naturwissenschaften: Dort hat die Konsensidee, wie wir gesehen haben, allenfalls den Status einer Hilfsidee, die man benötigt, weil die Kohärenzidee leider kein absolut sicheres Wahrheitskriterium liefert. Die Konsens-Theorie zeigt einen Weg zur Wahrheit. Diesen Weg sieht sie im Diskurs, in der gemeinschaftlichen Auseinandersetzung über Wahrheit. Manche Wahrheitstheoretiker nennen die Theorie deshalb lieber Diskurstheorie. Wir behalten hier den eingebürgerten Namen Konsenstheorie bei, nicht nur weil er eingebürgert ist, sondern weil der Konsens in ihr eben doch eine ganz herausragende Rolle spielt: Der nach den strengen Regeln der Kunst durchgeführte Diskurs, so lautet eine Kernthese der Theorie, führt mit einer Art Sicherheit, jedenfalls zuverlässiger als irgendetwas anderes, zum Konsens, <?page no="110"?> 98 zur Übereinstimmung bezüglich der Wahrheit. - Wenn der Leser in all dem gewisse Widersprüchlichkeiten empfindet, können wir ihm das nicht bestreiten - davon wird im nächsten Spaziergang die Rede sein. Verglichen mit der pragmatischen Wahrheitstheorie ist die Konsenstheorie, wenigstens in ihrer strengen Version, theoretisch anspruchsvoller und im ersten Ansatz pessimistischer. Sie vertraut nicht ohne Weiteres darauf, dass guter Wille und Einsicht oder auch sicheres Gespür die Menschen im Laufe der Zeit, wenn auch auf vielen Umwegen, zur Wahrheit führen werden. Sie selbst hat demgegenüber den Ehrgeiz, nicht nur praktisch irgendeinen Weg zur Wahrheit, sondern auch theoretisch den einzig richtigen Begriff von Wahrheit zu bieten. Der im Diskurs erarbeitete Konsens, so die These der strengen Konsenstheorie, ist Wahrheit im vollen Sinne des Wortes. Neben dieser Wahrheit gibt es nichts, auch in „Gottes rechter Hand“ nicht, das Wahrheit heißen könnte. Am Ende ihrer Mühen, aber erst dort, wird also auch die Konsenstheorie optimistisch. Unter Diskurs möchte man sich zunächst wohl einfach eine Diskussion, eine in Worten geführte Auseinandersetzung um die Wahrheit vorstellen. Um das auszudrücken, hätte man indes keinen neuen Terminus „Diskurs“ schaffen müssen. Der regelrechte Diskurs im Sinne der strengen Theorie ist mehr als eine Diskussion im üblichen Wortgebrauch. Zwar gehört das Miteinander-Sprechen, der verbale Austausch der Meinungen, unabdingbar dazu. Aber dieser Austausch ist eingebettet in Lebenszusammenhänge, in einen ‚Austausch‘ von Tun und Erleiden, Hoffen und Fürchten, Wählen und Meiden usw., den man als ‚Diskurs im weiteren Sinne‘ bezeichnen kann. Der Ausgangspunkt des Diskurses ist grundsätzlich der Konflikt der einander entgegenstehenden Meinungen mit ihren jeweils naiven und gerade dadurch sehr massiven Geltungsansprüchen. Der Diskurs ist eine Auseinandersetzung über diese Geltungsansprüche mit dem Ziel, dass am Ende eine Meinung in ihrem Geltungsanspruch ‚eingelöst‘, d. h. als wahr erwiesen ist und alle anderen abgewiesen sind. Die speziellen Bestimmungen, wie ein Diskurs „nach den Regeln der Kunst“ zu führen ist, sind nun die folgenden: Kontrafaktisch ist zu unterstellen, dass der Diskurs in idealer Unbeschränktheit verläuft, das heißt erstens in unverzerrter Kommunikation und herrschaftsfrei, bei absoluter Gleichberechtigung aller Teilnehmer, zweitens rein argumentativ, <?page no="111"?> 99 drittens ohne Zeitdruck (wie er etwa durch Entscheidungs- oder Handlungszwang entstehen könnte), und viertens so, dass am Ende die Zustimmung aller Vernünftigen erreicht wird. Die Konsenstheorie behauptet nun nicht, dass die Regeln, die sie aufstellt, de facto wirksam oder auch nur de iure gültig seien. Was sie behauptet, ist, dass sie kontrafaktisch zu unterstellen sind. Damit ist nicht nur gemeint, dass sie pflichtmäßig unterstellt werden sollen, sondern dass sie, so widersprüchlich das im ersten Moment klingt, bei jedem Diskurs, den Menschen gemeinsam durchführen, de facto (also tatsächlich), wenn auch kontrafaktisch (d. h. unter idealer Negierung der rohen Wirklichkeit und des oben genannten „Dschungels aus Egoismen“) unterstellt werden. Jeder, der in einen Wahrheitsdiskurs eintritt, unterstellt diese idealen Regeln mit Selbstverständlichkeit, - anders würde niemand jemals sich in einen solchen Diskurs einlassen. Der Gedanke der „kontrafaktischen Unterstellung“ von idealen Diskursregeln ist ein Kernpunkt der Konsens- oder Diskurstheorie, - zweifellos eine bedeutende Idee. Um ihre Bedeutung ins Licht zu rücken, sei die Frage angeschlossen: Wieso kann man mit solcher Sicherheit behaupten, dass jeder, der in einen Wahrheitsdiskurs eintritt, diese Regeln unterstellt? Man kann es deswegen, weil jeder angehende Diskursteilnehmer in einem ersten Gedankenschritt mindestens den Diskurs-Gegner innerlich auf diese Regeln verpflichtet, und wenn er nicht völlig töricht ist, muss er im zweiten Schritt zu der Einsicht gelangen, dass der Gegner ihn selbst mit demselben Recht in der gleichen Weise verpflichtet. Die Wichtigkeit der „kontrafaktischen Unterstellung“ liegt somit darin, dass mit diesen beiden aufeinander notwendig folgenden Gedankenschritten der „Dschungel der Egoismen“ bereits wesentlich gelichtet und teilweise außer Kraft gesetzt ist. Deswegen kann man sagen, dass ein so gearteter Diskurs, wenn er auch niemals problemlos ablaufen und nie ganz aus dem mehrfach erwähnten „Dschungel“ herausführen wird, doch auch nie ganz ohne bedeutendes Ergebnis zu Ende gehen kann. Ein bedeutendes Ergebnis eines zunächst mit sprachlichen Mitteln begonnenen Diskurses wird auch dann erreicht, wenn der sprachliche Diskurs irgendwann als aussichtslos abgebrochen wird, vorausgesetzt, dass er in den nicht-sprachlichen Lebenszusammenhängen ohne Unterbrechung weiterläuft. Da geschieht dann zunächst nichts weiter, als dass man nebeneinander her l e b t, - wobei nur zwei minimale Regeln zwischen den Konfliktparteien eingehalten werden müssen: (a) dass man sich gegenseitig nicht die Köpfe einschlägt, und vor allem <?page no="112"?> 100 (b) dass man das dringlich Lebensnotwendige, soweit möglich, gemeinsam besorgt - dass das wirklich Dringliche für beide Konfliktparteien lebensnotwendig ist, sollte man nämlich annehmen dürfen. - Von diesem ‚Nebeneinander-her-Leben‘ können aber die bisher sprachlich ausgetauschten Argumente nicht unberührt bleiben, und wenn man eines Tages den sprachlichen Diskurs neu aufnimmt, könnte sich zum Beispiel zeigen, dass das eine oder andere Argument, das man früher für absolut schlagend gehalten hat, jetzt auf einmal „alt aussieht“. Kurz, die „Lebenszusammenhänge“ wirken faktisch wie Argumente, sie können genauso zu einem guten Ende des Diskurses beitragen wie die verbalen Argumente. 26. Spaziergang Bedenkliche Züge an der Konsenstheorie Die erwähnten Diskursregeln enthalten manches Ungereimte oder Bedenkliche. Beginnen wir mit der „Zustimmung aller Vernünftigen“. So sehr ich der Überzeugung bin, dass in allen Wahrheitsproblemen das letzte Wort bei der Instanz liegen muss, die wir im 18. und 19. Spaziergang, freilich mit unzulänglichen Worten, als „freie Vernunft“, und vorher schon mit noch weniger zureichendem Ausdruck als „Denken-und-Verstehen“ bezeichnet haben (wir hoffen das Gemeinte später treffender benennen zu können), - so kommt es mir doch allzu kleinmütig vor, dass man sich zum Abschluss des Diskurses auf die Zustimmung n u r der Vernünftigen glaubt berufen zu dürfen. Weshalb nicht auf die Zustimmung aller schlechtweg? Das wäre grell kontrafaktisch und stünde der Theorie gut zu Gesichte. Vor allem traut die Konsenstheorie doch jedem, also auch dem Unvernünftigsten, zu, dass er in den Wahrheitsdiskurs nie anders eintritt als mit kontrafaktischer Unterstellung der Diskursregeln. Da ist nicht recht einzusehen, weshalb sie nicht auch die Zustimmung zum wahren Ergebnis des Diskurses jedem zutrauen sollte. Oder wird die Zustimmung aller etwa für unmöglich gehalten, und zwar für denk-unmöglich? - denn faktische Unmöglichkeit kann bei kontrafaktischer Unterstellung keine Rolle spielen. Denkmöglich ist aber die Zustimmung aller genauso wie die der Vernünftigen. <?page no="113"?> 101 Oder wäre die Zustimmung aller gar nicht erwünscht, etwa weil sie den Konsens diskreditieren würde? Das müsste aber heißen, dass nicht einfach sämtliche Zustimmungen ohne Ansehen der Person akzeptiert würden, sondern einer Vorzensur ad personas zu unterwerfen wären. Das widerspräche in unerträglicher Weise der Forderung nach unverzerrter Kommunikation. Und wie wäre überhaupt festzustellen, wer die Vernünftigen sind? Man wird doch nicht einfach hergehen und einem beliebigen faktischen Konsens, der sich ergeben hat, kontrafaktisch die Zustimmung aller Vernünftigen unterstellen, und daraufhin „vernünftig“ definieren als „wer unserem Konsens beitritt“. Da wären die schönen Diskursregeln als bloßes Geflunker entlarvt. - Oder gesetzt, eine politische Diskursrunde sei über ein wichtiges Sach-Anliegen einig geworden, dann wird sie wohl auch darüber einig werden, dass vernünftig ist, wer dies sachliche Anliegen unterstützt. Das ist, weil es sachlich fundiert ist, ein bisschen redlicher als die Bestimmung „wer unserem Konsens beistimmt“, aber ausreichend ist es nicht, weder zur Bestimmung der Wahrheit noch des „Vernünftigen“. - Ich denke also, mit der „Zustimmung aller Vernünftigen“ ist nicht viel Gescheites anzufangen. „Unverzerrt“, „herrschaftsfrei“, „unter Gleichen und Freien“ soll der Diskurs ablaufen. - Nun wird auch ein eingefleischter Konsenstheoretiker zugeben, dass letzten Endes ein kluger Diskursteilnehmer und ein förderliches Argument ‚mehr recht haben‘ als ein törichter Teilnehmer und ein schädliches Argument, - aber eben erst „letzten Endes“. Am Anfang des Diskurses und gegebenenfalls in seinem Verlauf darf kein Teilnehmer und kein Argument irgendeinen Vorauskredit bekommen, jeder und jedes muss von Grund aus diskursiv geprüft werden, - so lautet die Theorie in ihrer strengen Form. An diesem Punkt fängt es aber doch wieder an, ungereimt zu klingen. Nicht weil faktisch kein Mensch und keine Diskursrunde auch nur annähernd soviel Zeit und Urteilskraft verfügbar hat, wie nach dieser Regel benötigt würde. Faktische Bedenken sind unerheblich, da man sich mit gutem Grund zu „kontrafaktischer“ Betrachtung verpflichtet hat. Weshalb also trotzdem ungereimt? Die genannte Diskursregel orientiert sich an Kants berühmter Mahnung (sie steht in seiner „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? “, gleich zu Anfang), man solle sich seines eigenen Verstandes bedienen. Zu solcher Selbstständigkeit, sagt er, sei nur ein Wille nötig, und es sei pure Bequemlichkeit, sich stattdessen einer fremden Leitung anzuvertrauen, - welche Bequemlichkeit er insbesondere „dem ganzen schönen Geschlecht“ attestiert. Schon an dieser Malice <?page no="114"?> 102 gegen die Frauen sieht man, dass Kant hier nicht recht hat. Erst wenn man dieses böse Wort zurücknimmt und das Übrige gehörig einschränkt, zeigt sich der richtige Kern von Kants Mahnung, nämlich dass es im Extremfall nötig werden kann, sich von fremder Meinung radikal zu emanzipieren (NB: soweit wie möglich. Ein erheblicher Rest von Fremdeinfluss, dessen man sich gar nicht bewusst werden kann, bleibt bestehen. Dies Bedenken wollen wir jedoch im Moment vernachlässigen). Aber das Gesagte gilt, wie angedeutet, für den Extremfall. Im Normalfall besteht ein großer Teil des Lessing‘schen „immer regen Triebs zur Wahrheit“ und auch der von Kant geforderten Selbstständigkeit des Denkens darin, dass man sich bemüht nachzuerwägen, was andere vor uns erwogen haben, und diese anderen (es sind ja viele, viele! ) zu „prüfen, und das Gute zu behalten“ (siehe den ersten Brief an die Thessalonicher 5, 21). Das schließliche Urteil darüber behält sich der Selbst-Denker vor, aber zunächst muss er sich doch der fremden Leitung ein gutes Stück weit anvertrauen, sonst lernt er nichts. Als Zeugen gegen Kant können wir also Kant selbst aufrufen. Er hat doch wohl seine Schriften in der Absicht veröffentlicht, dass er mit seiner herkulischen Gedankenarbeit anderen ein Stück Arbeit abnimmt. Vielleicht klingt das für kritische Leser immer noch nicht überzeugend, da ja eben der Selbst-Denker schließlich doch selbstständig urteilen muss. Sehen wir aber einmal genauer an, was unter „fremder Leitung“ konkret zu verstehen ist, welche Masse von möglicherweise wertvollen „Vor-Erwägungen“ uns da zur Verfügung steht: der Rat von Freunden, die ja doch möglicherweise klüger sind als wir selbst (schon weil sie die Sache von außen her sehen), der Sachverstand von Fachkennern, die Erfahrung von Älteren, die in der Literatur aufbewahrten Probleme und Einsichten früherer Generationen, und dazu, was für sich allein schon eine riesige Masse ausmacht: die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen und Normen, von denen wir auf allen Seiten umgeben sind. Ich kann mir freilich vorstellen, dass einem Diskurstheoretiker mindestens aus der Anfangszeit der strengen Theorie die Berufung auf Institutionen und Normen nicht anders geklungen hätte, als ob der leibhaftige Gottseibeiuns beschworen würde. Institutionen und Normen, höre ich ihn sagen, das ist doch „Herrschaft“ in Reinkultur, feind jeder „unverzerrten“ Kommunikation. - Aber Institutionen und Normen sind der Diskursidee keinesfalls fremd. Der im Diskurs erzielte Konsens führt zu künftigen Institutionen, und in den gegenwärtigen <?page no="115"?> 103 Institutionen haben die Ergebnisse früherer Diskurse Gestalt gewonnen. Deshalb können sie uns für unsere Fragen im Regelfall Ratschläge oder Lösungsmöglichkeiten anbieten. Das alles macht das schließliche selbstständige Urteil des Selbst-Denkers oder der selbst denkenden Diskursrunde nicht überflüssig, aber es entlastet dies Urteil, und zwar in gewaltigem, schlechthin unentbehrlichem Grad und Umfang. Wir haben im vorigen Spaziergang die „kontrafaktische“ Unterstellung idealer Diskursregeln als einen bedeutenden Zug der Konsenstheorie bezeichnet. Hier zeigen sich nun gewisse Schwächen der Theorie: die Verkennung des Wertes von Traditionen und Institutionen, daneben auch die Verkennung der Tatsache, dass Begabung, Können, Einsicht und Urteilsvermögen nicht bei allen Menschen gleich sind. - Diese Schwächen der Konsenstheorie lassen sich historisch erklären: Die Theorie ist groß geworden in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich die Welt zunächst vorwiegend restaurativ, im Blick auf die Vorkriegszeit, einrichtete. Da musste notwendigerweise irgendwann die Zeit kommen, in der vehement Kritik an der starren Restauration, an verhärteten Traditionen und Institutionen laut wurde. Die Zeit dieser Kritik: Das war die Stunde der strengen Konsenstheorie. Aber eine solche „Stunde“ kann nicht ewig währen. Man sollte also nicht auf Dauer so einseitig urteilen, wie die reine Konsenstheorie das zunächst nahelegt. Die Theorie zielt ja doch letztlich auf den Konsens, das heißt sie baut auf die Zusammengehörigkeit und das gemeinsame Interesse der Menschen. Da wäre es widersinnig, wenn sie die Diskurswilligen anhalten würde, alles Vertrauen zuerst grundsätzlich in Misstrauen zu verkehren und ohne jeden Vorauskredit alle und alles von Grund aus kritisch zu prüfen. „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, so wird Lenin zitiert. Man kann genauso gut umgekehrt sagen, Kontrolle sei gut, aber Vertrauen besser. Welcher von diesen beiden Sätzen wahrer ist, lässt sich nicht ein für alle Male entscheiden. Beide sind riskant, wie das ganze Leben es ist. Jedenfalls muss ein Wahrheitsdiskurs, wenn er aussichtsreich sein soll, nicht nur frei von tatsächlich gegebener oder drohender Herrschaft sein, sondern auch frei von hypochondrischer Furcht vor vermeintlicher „Herrschaft“, die man, mit genügendem Misstrauen, in allen Ecken wittern kann. Zu der dritten Forderung, dass der Diskurs „rein argumentativ“ geführt werden müsse, hört man manchmal die Erläuterung, dem „schlagenden“ Argument, das den Diskurs erfolgreich zu beenden vermöge, wohne ein „zwangloser Zwang“ inne: der Zwang, ihm zuzustimmen, aber eben ganz aus freien Stücken. <?page no="116"?> 104 Mir ist dieser paradoxe Slogan immer etwas unheimlich gewesen. Wenn das „schlagende“ Argument wirklich nicht nur schlagend, sondern g u t ist, rundum einleuchtet und einen Konsens herbeiführt, welcher Wahrheit verbürgt, dann sollte man doch meinen, es sei dazu überhaupt kein Zwang nötig, weder ein zwangloser noch ein zwanghafter. Man hat fast den Eindruck, dass das Paradox vom ‚zwanglosen Zwang‘ eine Art magischer Beschwörungsformel ist, die dem noch nicht restlos überzeugten Diskursgegner suggerieren soll, das ihm angesonnene „schlagende“ Argument habe dieselbe zwangsläufige Überzeugungskraft, die mathematischen und logischen Lehrsätzen innewohnt. Das ist aber ein Irrtum, - es kann sein, dass er entschiedenen Befürwortern der strengen Diskurstheorie naheliegt. Ein Argument, das diesen Namen verdient, k a n n aber gar nicht universal und zwangsläufig einleuchtend sein. (Zu der zwangsläufigen Schlüssigkeit logischer und mathematischer Lehrsätze und der davon zu unterscheidenden Plausibilität vernünftiger Entscheidungen siehe den 17. bis 19. Spaziergang: „Über Denkwidersprüche“). Die Diskurse, zu denen uns die Konsenstheorie legitimerweise ermuntert, sind in einem anderen Bereich der Welt zuhause als Mathematik und Logik, in einer Welt der Konflikte und der mühsamen Kompromisse - es ist eine Merkwürdigkeit für sich, dass in der Diskurstheorie der Begriff „Kompromiss“ keine besondere Hochachtung genießt, jedenfalls nicht die extreme Hochachtung, die ihm im Leben gebührt. Überzeugungskraft gibt es auch in der Welt der Konflikte, das ist etwas sehr Wertvolles. Sie kann so weit gehen, dass jemand im Diskurs gegen seine eigenen vitalen Interessen stimmt und einen Konsens mitträgt, der ihn selbst schädigt. Es hieße die Überzeugungskraft in ihrem Wert herabsetzen, wenn man sie als Zwang umschriebe, und sei als zwanglosen. Nun noch kurz zur kontrafaktisch zu unterstellenden Freiheit von Zeitdruck. Wenn der Wahrheitsdiskurs in Lebenszusammenhänge und damit in die „Zeitläufte“ eingebettet ist, dann kann deren fortwährende Veränderung den faktischen Abschluss des Diskurses auf ewig verhindern. Damit wird die Vorstellung einer Freiheit von Zeitdruck ein bisschen widersinnig: Zeit, so scheint es, haben wir leider für jeden Diskurs überreichlich. Freiheit von Zeitdruck kontrafaktisch zu unterstellen, ist nur sinnvoll, wenn man an einen faktisch in relativ kurzer Zeit benötigten Konsens denkt, nicht aber wenn es um einen „irgendwann“ zu erzielenden idealen Konsens geht, - „irgendwann“ ist eine zeitliche Kategorie, was könnte die für einen zeitlos-idealen <?page no="117"?> 105 Konsens bedeuten? Vielmehr muss man jetzt postulieren, dass schon ein nicht-idealer, faktischer Konsens Wahrheit erbringen kann. Absolute Wahrheit, wie sie den Lehrsätzen der Mathematik oder Logik eignet, kann der faktische Konsens freilich nicht verbürgen, aber diejenige Wahrheit, die im Rahmen der Diskurs- und Konsenstheorie vernünftigerweise erwartet werden kann, das heißt: das förderliche, konflikt-schlichtende Plausible, das man auch das „Wahr-Gute“ nennen kann, das kann in einem faktischen Konsens sehr wohl erreicht werden. Damit aber kommen wir auf eine Abart der Konsenstheorie, die der im vorletzten Spaziergang besprochenen pragmatischen Theorie sehr ähnelt. In der Tat: Eine Konsenstheorie der Wahrheit ist vernünftig und förderlich am ehesten dann, wenn sie sich nicht zu der Meinung versteigt, mit regelrechtem Diskurs könne man absolut reine, vollkommene Wahrheit gewinnen, sondern wenn sie eine mittlere Höhenlage hält zwischen den idealen Ansprüchen strenger Theorie und den bescheidenen Möglichkeiten der Lebenspraxis. - Denn, um zu guter Letzt den theoretischen Haupteinwand gegen die Konsenstheorie nicht zu verschweigen: Ein Konsens, und sei er noch so kunstgerecht herbeigeführt und von noch so vielen und noch so vernünftigen Individuen gutgeheißen, ist doch niemals schlechtweg identisch mit Wahrheit. Sehr brauchbar kann er sein, das ist ja nicht wenig. 27. Spaziergang Wahrheit - eine Norm ? In unserem 22. Spaziergang haben wir von Wahrheits-Normierungen gesprochen, die die Menschen notgedrungen vornehmen, um der uferlosen Wahrheitsproblematik praktisch einigermaßen Herr zu werden. Es gibt nun auch die Meinung, Wahrheit sei im Grunde gar nichts anderes als eine Norm. Diese Meinung ist jedoch allzu kurzschlüssig. Sie erscheint freilich begreiflich, wenn man sich klarmacht, dass es den Menschen schlechterdings nicht gelingen will, die Wahrheit auf irgendeine Art für die Praxis des Lebens ‚dingfest‘ zu machen. Der Begriff Norm scheint einen einfachen Ausweg aus diesen Schwierig- <?page no="118"?> 106 keiten zu bieten. Eine Norm „macht dingfest“, das gehört zu ihren Charakteristika und ihren Zwecken. Tatsächlich haben Norm und Wahrheit einiges gemeinsam: Beide kann man durch Diskurse erreichen oder ihnen doch näher kommen. Beide bezeichnen etwas Großes und Wichtiges, das die Menschen in die Pflicht nimmt. Bei beiden ist unbestreitbar, dass sich die Menschen diesen Verpflichtungen oftmals entziehen wollen und dies auch tatsächlich können, ohne dass deshalb die Norm oder die Wahrheit zugrunde geht. - Jede Befolgung einer Norm ist zugleich eine Bestärkung der Norm, und Entsprechendes gilt auch von der Anerkennung der Wahrheit. Ebenfalls ist bei beidem, bei den Normen und bei der Wahrheit, auffällig, dass sie inhaltlichen Wandlungen unterliegen, ohne dadurch grundlegend beschädigt zu werden. Sowohl Wahrheit als auch Norm ist gewissermaßen eine „Medaille mit zwei Seiten“: Auf der einen Seite sieht man die unverbrüchliche Geltung der Norm bzw. der Wahrheit, auf der anderen Seite sieht man erstens die Veränderlichkeit der Norm bzw. der Wahrheit im geschichtlichen Zeitablauf, und zweitens die Übertretbarkeit von Normen bzw. die Möglichkeit, Wahrheit zu verfehlen oder sogar zu leugnen. Betrachten wir zuerst einige schlichte Details. Der Sommerfahrplan der Bahn ist eine Norm, die, sagen wir, vom 6. Mai bis 14. Dezember gilt. Jeder weiß also, dass sie am 15. Dezember nicht mehr gelten wird. Daraus zieht aber niemand den Schluss, dass sie am 14. Dezember auch nicht mehr so ganz richtig gilt. Sondern da gilt sie noch unverbrüchlich. So abrupt und vor aller Augen können sich Normen ändern. Die Wahrheit ändert sich nie und nimmer in dieser Weise. Jederzeit sind Übertretungen der Norm möglich, wenn auch natürlich nicht erwünscht. Bei sehr genauem Zusehen stellt sich vielleicht heraus, dass während der gesamten Geltungsdauer des Fahrplans kein einziger Zug haargenau planmäßig gefahren ist. Gegolten hat der Plan trotzdem die ganze Zeit unverbrüchlich. Normen aufzustellen hat überhaupt nur Sinn, wenn normwidriges Verhalten möglich und nicht ganz unwahrscheinlich ist. Niemand erlässt ein Fahrverbot, wo man aus technischen Gründen nicht fahren kann oder wo niemand ein Interesse hat zu fahren. Normen treten also nur in besonderen, wohl unterscheidbaren Fällen auf. Wahrheit ist überall zuständig. Es gibt weitere gravierende Unterschiede zwischen Wahrheit und Norm: Normen sind von Menschen gesetzt, d h. entweder von ihnen geschaffen (durch Konsens oder durch autoritative Anordnung) oder <?page no="119"?> 107 doch mindestens am Leben gehalten. Wahrheit dagegen ist keinesfalls Menschenwerk. - Selbst wenn festgestellt wäre, dass es für die Menschen keinen anderen Zugang zur Wahrheit gäbe als über festgesetzte Normen, so wäre doch jederzeit spürbar, dass das ein bedauerlicher Notbehelf ist, weil zwischen der Wahrheit und dem, was normativ erreicht werden kann, eine unüberbrückbare Kluft besteht. Bei den Normen dagegen wird die Herleitung aus Konsens oder Anordnung schlicht und einfach als das Richtige und Gegebene empfunden. Ein Wahrheitsdikurs kann u. U. ewig unabgeschlossen bleiben. Ein Normdiskurs muss, koste es was es wolle, irgendwann abgeschlossen werden - das kann je nach dem Instanzenzug lang dauern, aber keinesfalls ewig. - Deshalb wird jeder wichtige Normdiskurs von vornherein unter institutionelle Regeln gebracht, die die Abschließbarkeit garantieren. Eine im Normdiskurs häufige Institution ist die Mehrheitsregel: Sofern voller Konsens (= Einstimmigkeit) nicht erreicht wird, wird die Norm durch Mehrheitsbeschluss in Kraft gesetzt. Wahrheit durch Mehrheitsbeschluss dekretieren zu wollen wäre absurd. An Normdiskursen können oft nicht alle Personen teilnehmen, die von der zu schaffenden Norm betroffen sind, insbesondere wenn deren Zahl sehr groß wäre. Man delegiert den Diskurs in diesem Fall an Repräsentanten. Auch dadurch ist er leichter zum Abschluss zu bringen. An einem Wahrheitsdiskurs kann prinzipiell jeder teilnehmen. Die Diskrepanz zwischen dem unbedingten Geltungsanspruch und der nur bedingten Erfüllung dieses Anspruchs wird bei den Normen anders bewertet als bei der Wahrheit. Bei einer Norm wird die Übertretung im Prinzip gelassen hingenommen als ein zwar unerfreulicher, aber doch nicht weiter aufregender Zug des Lebens: „Man hat das ja kommen sehen“, sagt man etwa. Dabei kann es sehr wohl sein, dass man die Übertretung so ernst nimmt, dass man sie bestraft. Bei vielen Normen wird die Strafe sogar von vornherein angedroht, die Norm tritt „strafbewehrt“ auf, wie man sagt. - Wenn jemand die Wahrheit verfehlt, nimmt man das tragisch, im vollen Sinn des Wortes, weil es allgemeines Menschenlos ist, der Wahrheit nie absolut sicher sein zu können. Ebendeshalb bestraft man es nicht. - Es bestraft sich ja auch vielfach von selbst. Schließlich: Normen sind im Bereich des Sollens zuhause, Wahrheit im Bereich des Seins. - Ein einheitliches Kennzeichen von Normen ist, dass sie gelten - nicht etwa, dass sie zuverlässig und durchgreifend w i r k e n (das bringen sie nicht fertig), wohl aber dass sie <?page no="120"?> 108 wirken sollen. - Wahrheit lässt sich offensichtlich so nicht kennzeichnen. Das werden wir noch genauer durchdenken müssen. Angesichts so zahlreicher und gravierender Unterschiede ist es irreführend, mindestens aber nicht hilfreich, den Begriff Wahrheit auf den Begriff der Norm zurückzuführen. <?page no="121"?> 109 Neunte Runde Gegenvorschläge (I): Einheit und Weite des Wahren 28. Spaziergang Einheitlichkeit des Wahrheitsbegriffs Es ist eine Art Glaubensartikel modernen Nachdenkens über Wahrheit (also ein Wissenschaftsdogma), dass gemäß dem richtigen philosophischen Wahrheitsbegriff ausschließlich „Ist-Aussagen" (bezüglich Gegenwart oder Vergangenheit, nicht der Zukunft) wahr bzw. falsch genannt werden können. Alle anderen sprachüblichen Verwendungen der Worte „wahr“ und „Wahrheit“, die es gibt (z. B. dass man auch von Sachen oder Personen sagt, sie seien „wahr“, wie man etwa von einem „wahren Freund“ oder einem „wahren Glück“ spricht), das alles sei „etwas ganz Anderes“, das man keinesfalls mit dem eigentlichen Wahrheitsbegriff zusammensehen oder verwechseln dürfe. Unsere Überzeugung ist demgegenüber, dass es einen einzigen, umfassenden Begriff Wahrheit gibt, und dass der moderne Begriff des „Wahrseins nicht-futurischer Ist-Aussagen“ durchaus nicht „etwas ganz Anderes“, wohl aber etwas äußerst Spezielles ist, das als äußerster Spezialfall unter jenen einen, allgemeinen Wahrheitsbegriff subsumiert werden kann und muss, und dass man zu einem vernünftigen Begriff von Wahrheit nur gelangen kann, wenn man diese Subsumption vollzieht. Ich möchte diese Meinung zunächst mit zwei Hinweisen zur Begriffsstruktur erläutern: (I) zu den Oberbegriffen des Begriffs Wahrheit, und (II) zu seinen Gegenbegriffen. - In jeder Sprache gibt es Wörter, die, aus welchen Gründen auch immer, zwei oder sogar mehr tatsächlich „ganz verschiedene“ Bedeutungen haben. Dass das deutsche Wort „Schloss“ zwei so verschiedene Bedeutungen hat, ist sonnenklar. Die Verschiedenheit ist begrifflich (I) daran abzulesen, dass als nächstliegender Oberbegriff (in scholastischer Redeweise: als genus proximum) im einen Fall etwa „Verschlussmechanismus“, im anderen Fall aber z. B. „fürstliche Residenz“ zu nennen wäre. Und dass „Verschlussme- <?page no="122"?> 110 chanismus“ tatsächlich „etwas ganze Anderes“ ist als „fürstliche Residenz“, das ist wirklich sonnenklar. Nichts dergleichen trifft auf die vermeintlich „ganz verschiedenen“ Verwendungen des Begriffs Wahrheit zu: Als genus proximum kann man bei jeder Verwendung des Wortes Wahrheit gleichermaßen etwa „wertmäßig positiv“ oder einfach „gut“ angeben. Weitere ‚obere’ Begriffsmerkmale wären etwa „alle Menschen verpflichtend“, oder „großer Bemühung wert“, oder wie auch immer man das Allgemeine des Wahrheitsbegriffs in Worte fassen möchte: Dies alles gilt jedenfalls gleichermaßen für alle Verwendungen des Begriffs „Wahrheit“. (II) Ebenso wie an den Oberbegriffen läßt sich das an den Gegenbegriffen zeigen. Gegenbegriff zu dem tatsächlich mehrdeutigen Wort „Schloss“ wäre im einen Falle etwa „Riegel“ (als ein technisch primitiver Verschlussmechanismus, während „Schloss“ einen technisch höher entwickelten meint), im anderen Falle etwa „Hütte“ oder „Kate“ oder dergleichen. - Für „Wahrheit“ gibt es keine zwei Gegenbegriffe, sondern nur einen - der erscheint allerdings in buntschillernder Gestalt: als Lug und Trug, Irrtum, Täuschung, Hinterlist, Sprachregelung usw. usw. Dies Buntschillernde ist aber ein Begriff. Er zeigt, dass Wahrheit eben nichts Schillerndes ist, sondern schlicht und einfach und einheitlich Wahrheit. Der irrige Eindruck, es läge da „etwas ganz Anderes“ vor, konnte eben deswegen aufkommen, weil der moderne exakte Wahrheitsbegriff tatsächlich im alleräußersten Grade spezialisiert ist. Bildhaft könnte man sagen: Man hat den Wahrheitsbegriff, der in seiner ursprünglichen, vollen Begrifflichkeit als schöner, großer Baum voller Äste, Blätter und (je nach Jahreszeit) voll von Blüten oder Früchten vorzustellen wäre, in der Moderne radikal abgeholzt, sodass nur der kahle Stamm übrig blieb. Weshalb hat man das für nötig gehalten? Ich meine das Motiv zu sehen: Es ist das Streben nach absoluter Sicherheit der absolut wahren wissenschaftlichen Erkenntnis, die man mit diesem kahlen Begriff zu erreichen hofft. Dass diese Hoffnung zwar praktisch weitgehend gerechtfertigt ist, aber letzten Endes - mangels absolut zuverlässiger Wahrheitskriterien - doch unsicher bleibt, haben wir uns klargemacht - siehe die Spaziergänge 17 bis 19. Immerhin: Relativ sehr sicher, sehr exakt, sicherer und exakter als mit jedem anderen Wahrheitsbegriff, ist die moderne Wissenschaft im Zusammenhang mit dieser Auffassung von Wahrheit geworden, und insbesondere auch die technische Verwendung der Wissenschaft hat dabei einen sehr hohen Rang erreicht. <?page no="123"?> 111 Man hat aber für diesen Gewinn, wie ich meine, einen sehr hohen Preis bezahlt. Bei der ‚Abholzaktion‘ gingen zentrale Merkmale des vollen, richtigen Wahrheitsbegriffs verloren, z. B. dass Wahrheit Mut macht. (Wir werden dem bald genauer nachgehen.) Der Verlust konnte unbemerkt bleiben, weil man wohl dachte: Wer absolute Sicherheit der exakt-wissenschaftlichen Erkenntnis hat, der hat so viel Gutes, wozu braucht der noch das Gute, Ermutigende, das den eigentümlichen ‚Geschmack’ der Wahrheit ausmacht? Nun, wenn man diese Sicherheit hätte, dann ließe sich vielleicht darüber reden. Aber man hat sie ja letzten Endes nicht, - wir haben es soeben noch einmal festgestellt. Jene ermutigenden Begriffsmomente der Wahrheit sind aber inzwischen vergessen worden. Mit dem Begriffspaar „prägnant/ präzise“, das wir uns in seiner partiellen Gegensätzlichkeit im 8. Spaziergang klar gemacht haben, wäre zu sagen: Der umfassende Wahrheitsbegriff, den wir hier zu fassen suchen, ist weniger präzise (also weniger eng zugespitzt und dadurch weniger genau), aber prägnanter (also weiter und damit inhalts- und bedeutungsreicher) als der exakte Wahrheitsbegriff, den die Neuzeit für die Zwecke ihrer Wissenschaft einseitig bevorzugt. Damit hängt es zusammen, dass wir zu genauerer Kennzeichnung einer derartigen Prägnanz viele Wörter verwenden werden, z. B. ermutigend, bestärkend, verheißungsvoll usw. Dieses vielseitige Umschreiben ist keine Schwäche des Ausdrucks, sondern eine Stärke, es ist das angemessene Verfahren bei der sprachlichen Erfassung eines hoch prägnanten Begriffsinhaltes. (Wir haben das am Beispiel der mittelalterlichen Ausdrucksvarianten für den Begriff adaequatio gesehen und werden diese Methode des Umschreibens später noch mehrmals genauer ins Auge fassen.) 29. Spaziergang Zurückweisung oktroyierter Einengungen Heutige Wahrheitsforscher versichern manchmal, der Satz „Es ist ein wahres Glück, dass bei der Explosion niemand im Hause war“ sei eine zwar sprachübliche, aber nicht ganz korrekte Transformation und Zusammenziehung aus ursprünglich zwei Aussagen. Eigentlich ge- <?page no="124"?> 112 meint sei Aussage Nr. 1: „Es ist ein Glück, dass bei der Explosion niemand im Hause war“, und Aussage Nr. 2: „Die Aussage Nr. 1 ist wahr“. Diese Erklärung ist aber nicht stichhaltig, sonst müsste sich dasselbe Transformationsschema auch an anderen Sätzen gleichen Typs nachweisen lassen. - Zum Beispiel Satz 1: „Heute ist Mittwoch“. Satz 2: „Die Aussage im Satz 1 ist wahr“. Schön und gut, - aber deswegen verfällt doch kein Mensch auf die Idee, diese beiden Sätze zusammenfassend zu transformieren in „Heute ist ein wahrer Mittwoch“. Was ist da los? Das durchschaut man vielleicht eher, wenn man sich klarmacht, dass man spaßeshalber am Donnerstag doch einmal sagen könnte „Heute ist ein wahrer Donnerstag“, nämlich wenn es an diesem Tag kräftig donnert, - was ja nicht an jedem Donnerstag der Fall ist. Das ist der springende Punkt: Es donnert nicht an jedem Donnerstag. Ebenso ist das Glück leider nicht in jedem Fall „ein wahres Glück“, ebenso wenig wie nicht jeder Freund, den man zufällig hat und so nennt, ein „wahrer Freund“ ist. Wenn aber der seltene Fall eintritt und das Glück oder der Freund einen nicht enttäuscht, dann redet man, und zwar sprachlich und begrifflich völlig korrekt, von einem „wahren Glück“, einem „wahren Freund“, oder auch von einer „wahren Lust“ usw. Wahr heißt hier so viel wie „echt“, „verlässlich“. Man verspürt am „wahren Freund“, an einer „wahren Lust“ den vollen, eigentümlichen ‚Geschmack‘ des Wahren, sein Erfreuliches, Ermutigendes. Und diese Begriffsnuance ist nicht „etwas ganz Anderes“, sie gehört von vornherein zum vollen Begriff des „Wahren“ dazu, in jeder seiner Verwendungen. Wir werden nun weiterhin sehen, dass auch die übrigen Beschränkungen für den Gebrauch von „wahr“, die uns die moderne Wahrheitstheorie so rigoros auferlegen wollte, sich als allgemeinverbindliche nicht halten lassen, sobald man den eigentlichen, umfassenden Begriff und ‚Geschmack‘ von „wahr“ und „Wahrheit“ erkannt hat. In der Tat, als „wahr“ kann man unter Umständen auch Soll- Aussagen, ebenso auch futurische Aussagen bezeichnen. Ehe wir genauer studieren, unter welchen Umständen das sinnvoll und rechtmäßig möglich ist, sei noch einmal ausdrücklich festgehalten, dass der moderne, rigoros eingeschränkte („abgeholzte“) Wahrheitsbegriff durch diese Überlegung nicht etwa sinn- und wertlos wird. Man muss nur wissen und anerkennen, dass er hoch spezialisiert ist. Innerhalb seines (streng wissenschaftlichen) speziellen Anwendungsbereichs ist er sinn- und wertvoll. Sinn- und wertlos würde er nur außerhalb dieses Spezialbereichs. Sinnlos ist es demnach aber <?page no="125"?> 113 auch, wenn man behauptet, er sei der einzig klare und vernünftige Wahrheitsbegriff. Nun zur Wahrheitsfähigkeit von Sollens- und futurischen Aussagen. Als wir die einschränkenden Regeln vortrugen, die die moderne Wahrheitsforschung für den Gebrauch des Adjektivs „wahr“ aufgestellt hat, haben wir diese Regeln an Beispielen erläutert. Sie seien hier noch einmal in Erinnerung gerufen: Nicht möglich, so wurde damals gesagt, sei das Adjektiv „wahr“ zur Kennzeichnung von Fragen: Die Äußerung „Wie spät ist es? “ kann weder wahr noch falsch genannt werden, von Soll-Aussagen: Einen ‚Kochbuch-Imperativ‘ wie „Man nehme ein Pfund Mehl usw.“ wahr oder falsch zu nennen, ist nicht sinnvoll, von Äußerungen über die Zukunft: Ein Versprechen wie „Ich zahle dir das Darlehen in vierzehn Tagen zurück“ als wahr oder falsch zu kennzeichnen, ist mindestens problematisch. Diese Beispiele lassen wir allesamt bestehen: Wegen so banaler Äußerungen hätten wir uns nicht herausgenommen, die modernen Regeln für den Gebrauch von „wahr“ in Zweifel zu ziehen. Wir haben also nichts dagegen, dass b a n a l e Soll-Aussagen und banale futurische Äußerungen von der Kennzeichnung mit dem Adjektiv „wahr“ ausgeschlossen bleiben. Höchstens erlauben wir uns hinzuzufügen, dass auch banale Ist-Aussagen wie etwa „Schnee ist weiß“ nicht in vollem Ernst, sondern höchstens als schülerhafte Beispiele „wahr“ genannt werden können. Banales sollte von der Kennzeichnung als „wahr“ am ehesten generell ausgeschlossen werden. Anders gewendet: Hier dürfte die Redundanztheorie recht haben, dass die Kennzeichnung als „wahr“ überflüssig ist. Gänzlich unangetastet wollen wir zudem die erste der oben genannten Regeln lassen: Fragen, seien sie nun banal oder nicht, betrachten auch wir weder als wahr noch als falsch. (Rhetorische Fragen, die ja ihrem Sinn nach keine Fragen sind, bleiben hier außer Betracht.) - Damit haben wir die nicht-rigorosen Regeln, die uns für den Gebrauch von „wahr“ vorschweben, schon recht genau umrissen: Es geht also nur darum, dass wir für bedeutsame Soll-Aussagen und für bedeutsame Äußerungen über die Zukunft die Kennzeichnung als „wahr“ zur Erwägung empfehlen, - nur empfehlen, nicht dekretieren. Denn: Wann derlei Bedeutsamkeit vorliegt, das ist wieder einmal eine Frage, die sich nicht restlos präzise, aber doch in zureichender Prägnanz <?page no="126"?> 114 beantworten lässt, - diese Antwort wird also, so ist zu hoffen, aus den folgenden Ausführungen in zunehmender Klarheit zu entnehmen sein. Wir beginnen mit Beispielen aus der Bibel (werden aber dabei natürlich nicht stehen bleiben). - „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“, heißt es im 126. Psalm. Das ist ein futurischer Satz, und man kann ihn in dem hier gemeinten Sinne als wahr bezeichnen. Unzählige Menschen haben ihn schon als wahr, bestärkend, tröstlich empfunden. Nur kurz sei ferner hingewiesen auf die beiden „größten Gebote“, die Jesus (Matth. 22, 40 und Parallelstellen) dem Schriftgelehrten nennt: „Liebe Gott von ganzem Herzen, und deinen Nächsten wie dich selbst“. - Die Seligpreisungen in Matth. 5, 3 ff. sind ihrer sprachlichen Form nach Ist-Aussagen, aber es klingt darin auch immer ein Sollen an - in der Ist-Aussage „Selig sind, die Frieden schaffen“ ist die Aufforderung, Frieden zu schaffen, unabweislich mitgemeint: Lauter wahre Worte, - die aber, wenn man sich an die moderne ‚Gebrauchsanweisung‘ für das Adjektiv „wahr“ halten müsste, nicht „wahr“ heißen dürften. Es wäre schade darum. Ein etwas genaueres Nachdenken sei einigen besonders anstößigen Worten aus der Bergpredigt Jesu gewidmet. Matth. 5, 39 (und ähnlich Luk. 6, 29): „So dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den anderen auch dar“. Diese „Soll-Aussage“ ist zwar im höchsten Grade welt- und lebensfremd, aber sie ist wahr. Es hilft nicht, wenn man ihrem Wahrheitsanspruch dadurch zu entgehen sucht, dass man Wahrheit von vornherein als Norm interpretiert (vgl. den 27. Spaziergang) und daraus ableitet, dass dieser anstößige Satz eben eine extrem schwer einzuhaltende Norm sei. Damit würde man dem Sinn und Wert dieses Jesuswortes nicht gerecht. Man braucht sich dabei nur daran zu erinnern, dass das Charakteristikum von Normen darin besteht, dass sie gelten. Zu fragen ist also: Gilt jener anstößige Satz? Die Antwort kann nur lauten: Nein, gegolten hat er noch nie, aber wahr ist er. - Genauso weltfremd, und trotzdem wahr, ist z. B. das Gebot „Liebet eure Feinde, segnet die euch fluchen, tut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen“. Wem das alles zu geistlich oder zu fromm klingt, der darf sich statt dessen an die Grundrechtsartikel unseres Grundgesetzes erinnern, z. B. Artikel 3 (3): „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden“. Das ist eine Soll- Aussage, und sicherlich eine wahre. - Oder er frage sich, warum man denn die Soll-Aussage in dem kleinen Gedicht von Hilde Domin nicht <?page no="127"?> 115 wahr nennen dürfte: „Nicht müde werden / sondern dem Wunder / leise / wie einem Vogel / die Hand hinhalten“. Oder die schreckliche Zukunftsvision Brechts („Vom armen B. B.“, Strophe 6): „Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind“. Das ist ein futurischer Satz, und ein wahrer, wie ich meine. Wahr ist er, obwohl Städte wie etwa New York oder Singapur munter weiter bestehen - was wir den Menschen dort ja auch nicht missgönnen wollen. Zum Schluss dieses Spazierganges, in welchem wir uns dafür aussprechen, dass Soll-Aussagen und futurische Aussagen, sofern sie gewichtig sind, wahr sein können, sind noch zwei weitere Erwägungen angezeigt: Erstens wollen wir daran erinnern, dass es auch „nicht-futurische Ist-Aussagen“ gibt, und zwar massenweise, die als solche für wahrheits-fähig gelten müssten, die aber dennoch gewöhnlich in Bausch und Bogen für wahrheitsunfähig gehalten werden. Wenn man jedoch unseren umfassenderen Wahrheitsbegriff zugrundelegt, so können sie gewichtige Wahrheit enthalten: Märchen, Legenden, Sagen, Mythen enthalten solche Ist-Aussagen massenweise. Die ganze Welt der Poesie, der fiktionalen Literatur mit ihren Ist-Aussagen gehört dazu. Zweitens mag man fragen, ob es nicht einfacher wäre, den Ausdruck „wahr“, da er nun einmal heutzutage so eingeschränkt gebraucht wird, eben für präzise wissenschaftliche Wahrheit zu reservieren, und den umfassenderen Wahrheitsbegriff, den wir hier so vielfältig umschreiben, ebenso einfach nicht als „wahr“, sondern eben in Gottes Namen als „gut“ zu kennzeichnen. Man würde also sagen: Die Kepler’schen Gesetze sind wahr, das oben erwähnte Psalmwort „Die mit Tränen säen ...“ dagegen ist gut. Oder allgemein: Wahr ist ein theoretischer Begriff, im Bereich der Moral geht es nicht ums Wahre, sondern ausschließlich ums Gute. Erwidern ließe sich aber doch folgendes: Wahr sollte man mindestens diejenige unabdingbare intellektuell-theoretische Einsicht nennen, die man benötigt, um gut (oder doch besser) w e r d e n zu können, nach der einleuchtenden Lehre des Aristoteles. Wichtigste Voraussetzung für gutes Handeln ist nach Aristoteles tatsächlich nicht das Wissen des Wahren und Guten, sondern die durch Erziehung und Gewöhnung gefestigte gute charakterliche Haltung. (Das griechische Wort Charakter heißt einfach „Prägung“.) Aber damit diese eingeprägte Haltung eine gute wird (denn man kann sich doch unschwer auch an moralisch Schlechtes gewöhnen), ist intellektuelle Einsicht, ein nachhaltiges theoretisches Kennenlernen und Unterscheidenkönnen des <?page no="128"?> 116 moralisch Wahren und Guten unentbehrlich. - Der Begriff wahr ist also doch auch in der Moral nicht überflüssig. <?page no="129"?> 117 Zehnte Runde Gegenvorschläge (II): Kenntlichkeit des Wahren 30. Spaziergang Der eigentümliche ‚Geschmack’ des Wahren Wir kommen jetzt aus einer neuen Richtung auf das alte Problem der Wahrheits-Kriterien zurück: Ist Wahres zuverlässig kenntlich und unterscheidbar, und w o r a n ist es zu erkennen? Dass die Wahrheit einen eigentümlichen ‚Geschmack’ habe, haben wir in den vorigen Spaziergängen schon mehrmals anklingen lassen. Es entspricht gleichwohl, wie uns klar ist, nicht allgemeiner Überzeugung. Und vollends die Annahme, dass man das Wahre an diesem Geschmack müsste erkennen können, wird wohl auf Ablehnung stoßen. Ich nehme gleich einiges vorweg, was man gegen unsere Wortwahl einwenden wird. Erstens: Die Unterscheidung von Wahr und Falsch sei doch nicht Geschmackssache. - Das ist richtig: Als Geschmackssache im platten Sinn dieses Wortes, nämlich als gleichgültig, beliebig, unerheblich: So darf man die Unterscheidung „wahr/ falsch“ sicher nicht auffassen. Zweitens: So etwas Vages, Ungenaues, Unpräzisierbares wie ein Geschmack sei als Kriterium untauglich, es eröffne der Willkür Tür und Tor. Dagegen ist zu sagen: Ein schneidendes Kriterium fürs Wahre gibt es nicht und wird es niemals geben. Das heißt: Alle Kriterien taugen letztlich nur im negativen Sinne, d. h. gegebenenfalls zur Falsifikation. Also sind wir darauf angewiesen, alle Kriterien, die sich finden lassen, beizuziehen. Ein kritischer, schwer zu befriedigender ‚Geschmack fürs Wahre’ wäre dabei nicht von Übel. Nun gibt es bereits einen gut begründeten philosophischen Gebrauch der Worte „Geschmack“ und „Geschmacksurteil“. Kein Geringerer als Kant hat dafür gehalten, dass Urteile wie „schön“ oder „hässlich“ auf einem „ästhetischen G e m e i n-Sinn“ beruhen und somit, der Tendenz nach, Allgemeingültigkeit beanspruchen dürfen, oder vielleicht sogar müssen: Man versucht für ästhetische Urteile die Anerkennung derer zu erreichen, denen man sie „ansinnt“. Ferner ist <?page no="130"?> 118 es nicht unüblich, den von Kant angesprochenen „Sinn fürs Schöne“ als „Geschmack“, „ästhetischen Geschmack“ zu bezeichnen. Einen derartigen Gemeinsinn, d. h. einen die verschiedenen Individuen verbindenden Sinn, haben die Menschen, wie ich annehme, nicht nur für das Ästhetisch-Schöne, sondern irgendwie auch für das Wahre. Wir erinnern uns an die pragmatische Wahrheitstheorie, die unter anderem auf der Voraussetzung eines solchen Gemeinsinnes fürs Wahre beruht, und an die Goethe’schen Verse, die wir dazu zitiert haben. Ebenfalls von Goethe stammt ein kleines Distichon, das diesen Wahrheits-Gemeinsinn anspricht: Irrtum verläßt uns nie, / doch ziehet ein höher Bedürfnis immer den strebenden Geist / leise zur Wahrheit hinan. Auch dieses „höhere Wahrheits-Bedürfnis“, diesen „Gemeinsinn für das Wahre“ darf man also wohl in übertragenem Wortgebrauch als eine Art Geschmacks-Sinn begreifen, und so wäre es nicht sinnlos, davon zu reden, dass der Wahrheit ein kenntlicher Geschmack eigen sei. Dass die Allgemeingültigkeit der Geschmacksurteile, seien sie nun aufs Schöne bezogen oder aufs Wahre und Gute, keine schlechthin zwingende ist wie die der logischen und mathematischen Lehr-Sätze, bedarf unter uns Kundigen (wir haben gerade im vorhergehenden Spaziergang noch einmal darauf hingewiesen) inzwischen keiner Worte mehr. Suchen wir nun diesen Geschmack genauer zu bestimmen. Dass es ein eigentümlich klarer und positiver, ein Wohlgeschmack sein muss, weder so niederdrückend noch so vielfältig schillernd wie die Wahrheit manchmal von wahrheitsunwilligen Menschen erlebt wird, das steht fest. Wir haben das oben gerade daran abgelesen, dass Wahrheit in der gewöhnlichen Sprache vorwiegend mit gefühlsmäßig negativ klingenden Adjektiven genauer gekennzeichnet wird. Wenn Wahrheit nämlich erfreulich ist, bedarf das keiner besonderen Kennzeichnung, Wahrheit als solche ist etwas Klares und Gutes. Wahrheit schmeckt, sie ist bekömmlich. Der Wohlgeschmack kann sich ferner nicht in den freudigen Gefühlen erschöpfen, die derjenige verspürt, der intellektuell-wahre Erkenntnis errungen hat. Der Geschmack der Wahrheit bietet weit mehr als nur das. Er wirkt bestärkend, heilsam, erquickend, vertrauenerweckend, er macht Mut, er fördert Leben, Gemeinschaft und alles Gute. Wenn ich einen zusammenfassenden Ausdruck dafür finden sollte, würde ich am liebsten einen vorschlagen, der leider heutzutage keinen guten Klang mehr hat: Ich würde sagen, Wahrheit ist „erbau- <?page no="131"?> 119 lich“, und möchte darin, dem genauen Wortsinne nach, das gerade Gegenteil von „zerstörerisch“ sehen. Dass die Geltung dieses schönen Wortes so herunterkommen konnte, spricht nur wenig gegen die „Erbaulichkeit“ als solche (allenfalls kann man zugeben, dass halt auch das Gute gegen Missverstand und Missbrauch nicht gesichert ist), sondern eher gegen eine bedauerliche Verflachung unserer Sprache und Denkweise. Hier ist nun ein Blick auf eine Fremdsprache lehrreich, und zwar auf eine sehr fremde, die dem Deutschen sprachgeschichtlich und verwandtschaftlich gar nicht nahe steht: die Sprache des Alten Testaments. Im Althebräischen gibt es das Wort emeth. Es wird, z. B. von Luther, fast durchweg mit „Wahrheit“ übersetzt, aber diese Übersetzung, so wie wir modernen Menschen das Wort Wahrheit zu verstehen gewohnt oder nahezu genötigt sind, drückt nur den geringsten Teil des Wortsinnes aus. Neben Wahrheit ist auch anderes Gute und Bestärkende gemeint: Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit, Förderlichkeit, Heil, Vertrauen. - Sprachverwandt damit ist dasjenige hebräische Wort, das wir auf Deutsch mit „Amen“ wiedergeben. Es dient bekanntlich zur abschließenden Bekräftigung gewichtiger, vor allem auch prekärer Aussagen. (Über den Sinn des Wortes „prekär“, das wir schon einige Male gebraucht haben, reden wir am Ende dieses Kapitels genauer.) Mit dem „Amen“ will man sagen: „Die Aussage, die hierdurch bekräftigt worden ist, möge wahr werden, ja sie wird wahr werden. In dem Ausgesagten liegt Gutes und Heilsames beschlossen, und dass dies Gute sich herausstellt, darauf kann man sich verlassen, darauf darf man bauen“. Diese ganze Vorstellung ist ein Kardinalbegriff der alttestamentlichen Theologie, es ist darin an den Bund Gottes mit den Menschen gedacht. Gott steht auf der Seite der Menschen, er ist der Garant des emeth. - Im Neuen Testament lebt der Begriff in griechischer Wortgestalt weiter: Das alte griechische Wort für Wahrheit, alétheia, das wörtlich übersetzt „Unverhülltheit“ heißt, übernimmt in der Sprache des Neuen Testaments, besonders bei Johannes und Paulus, den Bedeutungsgehalt des hebräischen emeth und entwickelt ihn im Sinne der neutestamentlichen Theologie weiter. So kann Jesus im Johannesevangelium sagen (siehe den 2. Spaziergang), er sei in die Welt gekommen, um für die Wahrheit (und das heißt hier umfassend: für Gottes Treue und seinen verlässlichen Bund mit den Menschen) zu zeugen, oder mit einem der typisch johanneisch-knappen „Ich-bin“-Worte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14,6). Alétheia ist im Neu- <?page no="132"?> 120 en Testament manchmal geradezu ein zusammenfassender Name für die Sendung Christi als ganze. 31. Spaziergang Zwei Erwägungen dazu: I. Ist dieser umfassende Wahrheitsbegriff ein Fremdkörper in unserem Denken? - II. Darf man an ‚Kenntlichkeit auf den ersten Blick’ denken? Erste Erwägung: Man wird vielleicht einwenden, dieser umfassendere, noch nicht modern ‚abgeholzte‘ Wahrheitsbegriff, der auch die Momente des „Erbaulichen“ usw. enthält, sei nur im Alten und Neuen Testament anzutreffen. Eigentlich ist uns die Widerlegung dieses Einwands schon gelungen: Unsere richtigere Erklärung der deutschen Redeweise vom „wahren Freund“, von „wahrer Lust“ usw. zeigt, dass genau dieser Wahrheitsbegriff auch in der gewöhnlichen deutschen Sprache und Denkweise anzutreffen ist. Es gibt aber noch einiges hinzuzufügen. Man könnte nämlich immer noch argwöhnen, dieser Gebrauch von „wahr“ und „Wahrheit“ sei im Deutschen eben ein Fremdkörper, der erst durch die Christianisierung ins Abendland, und besonders seit Luthers Bibelübersetzung auch ins Deutsche eingedrungen sei. - Dagegen ließe sich mindestens sagen: Selbst wenn das so wäre, könnte man einen seit vielen Jahrhunderten einheimischen ‚Fremdkörper‘, der ja offenbar nicht als Fremdkörper abgestoßen, sondern lebendig assimiliert worden ist, nicht mehr ‚Fremdkörper‘ nennen. - Es braucht also gar nicht bezweifelt zu werden, dass Luthers Bibelübersetzung diesen Sprachgebrauch im Deutschen so wesentlich gestärkt hat, dass wir ihn heute ganz mit Luthers Sprache assoziieren, und ohne Zweifel steht z. B. Ph. J. Spener (1635 - 1705) in eben dieser Sprachtradition, wenn er in seinem Katechismus auf die Frage „Worin besteht Gottes Wahrheit? “ antwortet „Dass er seine Verheißungen erfüllt“. - Dessen ungeachtet muss man feststellen, dass es diesen umfassenderen Gebrauch von „Wahrheit“ im Deutschen nicht erst seit Luther gibt, und dass er ursprünglich durchaus nicht der theologischen Sprache angehört. <?page no="133"?> 121 Schon mittelhochdeutsch findet man die Ausdrücke „die Wahrheit halten“ bzw. „die Wahrheit brechen“ im Sinne von „Versprechen halten bzw. brechen“ (Grimm‘sches Wörterbuch Bd. 27, Spalte 893). Im Huldigungseid der Lehens- und Gefolgsleute wurde seit alters „Treue und Wahrheit geschworen“ (ebenda Sp. 892). Damit ist nicht gemeint, dass die Leute sich verpflichteten, ihrem Herrn gegenüber nur „wahre Aussagen“ im Sinne heutiger Aussagenlogik zu machen, sondern gemeint ist Treue und Zuverlässigkeit in jeder Hinsicht. - Im Altnordischen gab es das Substantiv varar. Das „v“ am Anfang wird als „w“ gesprochen; das zweite „a“ ist unbetont und klingt schwach, etwa wie ein tonloses „e“. Das Wort klingt also wie unser Komparativ „wahrer“. Es ist aber kein Komparativ, sondern ein Neutrum pluralis, gewissermaßen das Adjektiv „wahr“ im Plural: „das Wahr - die Wahrer“, analog gebildet wie „das Feld - die Felder“. Die Bedeutung dieses altnordischen Plural-Wortes ist „Treuegelöbnis“ (Kluge-Götze, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache 16 1953 s. v. „wahr“). Auch die deutsche Gegenwartssprache hat Wörter, die mit „wahr“ und „Wahrheit“ sprachverwandt sind und noch deren umfassendere Bedeutung zeigen, wie z.B. „sich bewähren“ und „Gewähr leisten“. - Ob auch das Verbum „(etwas) wahren“ (z. B. Besitzstand wahren, Abstand wahren, das Dekorum wahren) und seine Verwandten „aufbewahren“, „Gewahrsam“, „gewahrwerden“ usw. zur Wortfamilie „wahr“ gehören, lässt sich nach Kluge-Götze nicht sicher behaupten, aber auch auf keinen Fall strikt ausschließen. In diese Wortfamilie hineinpassen würden sie zweifellos. Zweite Erwägung: Die hier in Frage stehende weiträumigere Kenntlichkeit der Wahrheit, ihr Bestärkendes, Erbauliches muss nicht immer, - es kann nicht einmal immer, - ja es wird sogar sehr selten auf den ersten Blick wahrgenommen werden. Normalerweise gehört Geduld dazu, ein langer Atem, Lebenserfahrung, Gespräch und Austausch mit anderen Menschen, ein offener Blick zur Umschau in den Verhältnissen der Welt. - Das heißt nun nicht, dass etwa Kinder, deren Lebenserfahrung notorisch gering ist, dieser Wahrheitskenntnis überhaupt nicht teilhaftig werden könnten. Es gehört zu dieser Kenntlichkeit nämlich auch, dass man die Erfahrung und Lehren der Älteren, und generell die geistige Tradition ernst nimmt, sie „sich gesagt sein lässt“. Dass diese Weisheits- und Wahrheitsquelle heute in ihrem Wert eher zu gering eingeschätzt wird, haben wir schon bei der Kritik der Konsenstheorie moniert. <?page no="134"?> 122 Wir haben im 29. Spaziergang die Psalm-Prophetie „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten“ als tröstlich bezeichnet. Aber ist sie das denn zweifelsfrei und schlankweg? Wer aktuell so sehr in Bedrängnis ist, dass er seine Saat mit Tränen aussät, wird dem schwerlich zustimmen. Tröstlich ist erst das „auf den zweiten Blick“ für die Zukunft Verheißene, das im zweiten Teil der Prophetie zum Ausdruck kommt. Und auch das ist nur dann und nur dadurch tröstlich, dass man sich auf dies Ganze verlässt, sich darauf verlassen zu können glaubt. Bei den Propheten finden sich viele ähnliche Sätze. Im Buch Jeremia (22, 29) steht zu lesen: „O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort! “. Das ist eine Soll-Aussage, die wahr heißen kann und darf. Erstmals formuliert und niedergeschrieben wurde sie etwa im Jahre 500 v. Chr., ihre Wahrheit ist aber noch heutigen Tages wie neu, geradezu blitzblank. - Wenn hier wieder jemand einwendet, der Satz sei aber nicht tröstlich, sondern bedrohlich, er setze doch voraus, dass das „Land“ gesündigt habe und dass göttliche Strafe nicht ausbleiben werde, - so ist zu erwidern, dass es dennoch bestärkend, förderlich und trostreich sein kann, falls nämlich das „Land“ dies Wort als wahres Wort erkennt, es (wenigstens auf den zweiten Blick) in seiner Kenntlichkeit entdeckt, es ernst nimmt und sein Verhalten daraufhin korrigiert. Prophetie ist oft gerade in ihrer Bedrohlichkeit erbaulich, Gutes bestärkend. - Der ‚Wohlgeschmack‘ des Wahren ist durchaus nicht ein süßlich-billiger. Es bedarf der Geduld, der Erfahrung, einer ‚gewachsenen’ Vernunft (das Wort Vernunft kommt von „vernehmen“! ), ihn richtig wahrzunehmen. Auch im Neuen Testament gibt es derartige Prophetien. So prophezeit Jesus im Matthäusevangelium (8, 11 f.), nachdem er den Glauben eines heidnischen, also nicht dem auserwählten Volke angehörigen Hauptmanns gepriesen hat, eine große Umwälzung aller gewohnten Rangordnung unter den Völkern. Auch diese Prophezeiung ist zugleich bedrohend und erbaulich, in einem Atemzuge kündigt Jesus beides an, Freude und Schrecknis: „Viele werden kommen von Morgen und von Abend und mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische sitzen, aber die Kinder des Reichs werden ausgestoßen in die Finsternis hinaus, da wird sein Heulen und Zähneklappen“. Ähnlich Matth. 19, 30: „Viele, die jetzt die Ersten sind, werden die Letzten sein“. Auch das gibt sich nicht einfach „auf den ersten Blick“ zu erkennen. Aber wo steht denn geschrieben, dass der Mensch nur das Erkenntnis nennen kann, was er auf den ersten Blick sieht? <?page no="135"?> 123 Wir haben auch hier den Beispielen aus der Bibel den Vortritt gelassen, schließen aber Beispiele aus dem profanen „Leben“ an. - Höchstrichterliche Entscheidungen sind nicht anfechtbar, bei ihnen kommt es also endgültig darauf an, dass sie „wahr“ sind. Da aber auch sie von Menschen gefällt werden, und da Menschen grundsätzlich irren können, werden solch wichtige Urteile (erstens) nie von einem Einzelrichter erlassen, sondern stets von einem Gremium, und falls dies Gremium nicht einstimmig entscheidet, wird (zweitens) oft nicht nur das Mehrheitsvotum veröffentlicht, das den Fall rechtskräftig und unanfechtbar abschließt, sondern auch die Minderheitsvoten. Damit ist die Möglichkeit gegeben, dass die künftige Rechtsprechung sich auch an der diesmal nicht zur Rechtskraft gelangten Auffassung dieser Minderheit orientiert. So kann dereinst vielleicht das, was zuerst (auf den ersten Blick) nur eine Minderheit als wahr erkannte, künftig von der Mehrheit oder gar einstimmig erkannt werden. Auf solche Weise konnte sich z. B. in Ländern mit einem rassisch oder religiös diskriminierten Bevölkerungsteil die von der Mehrheit (nicht nur der Richter, sondern der Bevölkerung allgemein) lange Zeit verweigerte rassisch-religiöse Gleichberechtigung allmählich Geltung verschaffen: Geduld ist nötig und ein langer Atem, damit das Wahre kenntlich wird. Zwei andere Beispiele: Die Französische Revolution der Jahre 1789 ff., bzw. ungefähr vergleichbar die „Studentenrevolte“ und die Außerparlamentarische Opposition (APO) der Jahre 1968 ff. haben schrecklich viel Unsinn und abscheuliche Untaten hervorgebracht. Aber später, aus dem historischen Abstand, erkennt man auch gute Folgen (seinerzeit z. B. die Gleichberechtigung der Bürger, bzw. in unseren Tagen z. B. ein weitgehend entkrampftes Verhältnis zu Autoritäten), die ohne das anfängliche Schreckliche nicht so einfach hätten eintreten können. Das Schreckliche und Abscheuliche bleibt schrecklich und abscheulich. Aber um Weiteres zu sehen, ist Geduld nötig und langer Atem. Dass diese Geduld ein schwieriges Ding ist, sei schon jetzt ausdrücklich gesagt. Wie sie überhaupt zu begreifen und zu begründen ist, davon wird erst später genauer die Rede sein können. Man könnte nun vielleicht generell einwenden, in dieser ‚Kenntlichkeit des Wahren’ habe man im Grunde nichts weiter vor sich als die uns schon aus dem ersten Kapitel bekannten zwei konkurrierenden Wahrheits-Ideen: Im 14. Spaziergang hatten wir gesehen, dass: E r s t e n s: der Kohärenztheorie die Idee zu Grunde liegt, dass eine einzelne Aussage nicht als wahr oder falsch zu erkennen ist. Die Kennt- <?page no="136"?> 124 lichkeit entsteht erst im systematischen Zusammenhang mit vielen (im Idealfall: mit allen) Aussagen. Z w e i t e n s: Der Konsenstheorie liegt die Idee zugrunde, dass der einzelne Mensch unfähig ist, Wahr und Falsch zu unterscheiden. Kenntlichkeit von Wahr und Falsch entsteht erst in der wahrheitsuchenden Gemeinschaft, indem der regelrecht durchexerzierte Wahrheitsdiskurs zum Konsens führt. Aber wenn man die große Idee der „Kenntlichkeit von Wahrheit“ auf diese zwei Spezial-Ideen reduzieren wollte, hieße das die Weite des Wahrheitsbegriffs, dem wir hier auf der Spur sind, preisgeben. Das wäre schade. Ganz sicher gehören die beiden Spezial-Ideen hier zur Sache, und sie sind je an ihrer Stelle wertvoll. Aber ebenso sicher gibt es noch mehr als bloß dies Spezielle: Wir halten somit als weiteres (und allgemeineres, weniger spezielles) Kriterium des Wahren fest, dass Wahrheit aufbauend wirkt und Mut macht. 32. Spaziergang Nochmals: Wandlungen des Wahren Dass das Wahre im Leben dem Wandel unterworfen ist, gilt auch für den umfassenden Wahrheitsbegriff, der uns hier vorschwebt, ja vielleicht für ihn sogar ganz besonders. Der eng rationalisierte Begriff Wahrheit, der im ersten Kapitel dargestellt wurde, ist vor allem deshalb so eng gefasst worden, damit er uns möglichst nur zu beständiger Wahrheit hinleitet. - Dass die Wahrheit oft erst auf den zweiten Blick kenntlich wird, führt letztlich zu der Einsicht, dass der Wandel des Wahren nicht (mindestens nicht nur) negativ gewertet werden muss. - Sehen wir uns nach Beispielen um: Die beiden Anweisungen des Apostels Paulus im Neuen Testament, (a) die Männer sollten dafür sorgen, dass ihre Frauen in der Gemeinde schweigen (1. Kor. 14, 34), und (b) man solle der Obrigkeit untertan sein, weil jede Obrigkeit von Gott sei (Röm. 13, 1), kann man heute nicht mehr als allgemein plausible „wahre Soll-Aussagen“ betrachten. Zwar, dass auch eine radikal böse Obrigkeit „von Gott“ ist, lässt sich denken, wenn man voraussetzt, dass auch das Böse von Gott <?page no="137"?> 125 irgendwie ‚zugelassen‘ ist. (Ob und wie man das voraussetzen kann, sei hier nicht untersucht, es ist nicht unproblematisch). Aber dass man einer radikal bösen Obrigkeit ohne Weiteres untertan sein soll, das muss man zurückweisen. - Paulus ist damit nicht schlankweg als falscher Ratgeber entlarvt. Es ließe sich durch historische Auslegung vermutlich zeigen, dass er seinerzeit der römischen Gemeinde sehr wohl raten durfte, sich der Obrigkeit unterzuordnen: Die Obrigkeit war ja nur Nero, kein Hitler, und Nero tobte seine Mordlust im engen Kreis der Hofgesellschaft aus, das übrige Reich erfreute sich derweil unter Seneca und Burrus schönster Prosperität. Ferner ist das Römische Reich, so imposant es aus historischem Abstand ausschaut, nicht entfernt dem gleichzusetzen, was wir heute Staat nennen. Der lückenlos rationalisierte moderne Staat, selbst wenn es der demokratischste und liberalste ist, begegnet seinen Bürgern durchschnittlich mit mehr Ordnungszwang als das Römerreich seinen Untertanen. Ähnliche Zweifel erregen einige Aussagen der Bibel, die dem Christentum einen Anspruch auf ausschließliche und universale Geltung zusprechen: der sogenannte Missionsbefehl (Matth. 28, 19), dazu etwa die bei Johannes tradierten Jesusworte „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ oder „Ohne mich könnt ihr nichts tun“. Diese Worte scheinen einem unverzichtbaren Anliegen der heutigen Menschheit, dem gegenseitigen Verständnis und Miteinander-leben- Können (und Leben-Müssen) der Völker und Kulturen, im Wege zu stehen. Aber auch da gilt, dass die Wahrheit dieser biblischen Aussagen damit nicht einfach widerlegt ist. Problematisiert ist sie - das ist etwas anderes. Bei diesen Worten muss man nicht unbedingt an inquisitorisch-ausrottende Missionspraxis denken, man darf sie auch als Angebot auf letztliche religiöse ‚Einheit in der Vielheit’ hören. Es kommt nicht darauf an, dass alle in einem Bekenntnis uniformiert werden, sondern dass sich die Menschen verschiedener Religionsform achten, lieben, verstehen. Man braucht also wegen solcher Zweifel nicht gleich zu fordern, dass die Bibel entweder verboten oder radikal umgeschrieben wird. Ebenso wenig ist es nötig zu leugnen, dass sie „Gottes Wort“ ist. Dass die Bibel in allen ihren Teilen von Menschen geschrieben ist - von Menschen, deren Kenntnisse und Auffassungen sich historisch wandeln, steht ihrer Bedeutung als „Wort Gottes“ nicht im Wege. - Aber was hätte die Bibel - gerade als Gottes Wort - den Menschen denn zu sagen, wenn man die Frage nicht ernsthaft stellen dürfte, wie man sie zu unserer Zeit verstehen kann und muss, um „in der Wahrheit zu bleiben“ - nach dem Johannes-Evangelium (siehe den 2. Spaziergang) <?page no="138"?> 126 hat Jesus im Verhör vor Pilatus gesagt, wer „aus der Wahrheit ist“, der höre seine Stimme. Aus dem profanen Leben ziehen wir noch einmal die Grundrechtsartikel unseres Grundgesetzes als Beispiel heran: Sie gehen historisch zurück auf die Deklarationen der Menschenrechte, die erstmals in der Zeit der frühen Aufklärung in England 1689, wenig später in den Vereinigten Staaten und Frankreich, und noch einmal nach dem Zweiten Weltkrieg von den Vereinten Nationen 1948 verkündet wurden. Ihre Wahrheit besteht also seit gut dreihundert Jahren. Konzipiert sind sie als Individual-Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat, weil dem neuzeitlichen, stark institutionalisierten Staat die Tendenz eigen ist, zu mächtig zu werden, wenn ihn diese Rechte nicht einschränken würden. Da es auch in der Gegenwart Staaten gibt, die diese Menschenrechte missachten, ist es noch immer nötig, ihr Wahrsein zu betonen. Es zeichnet sich aber nicht erst in der allerneuesten Gegenwart ab, dass die Gemeinschaft der Menschen auf der Erde (und überhaupt die Erde mit allen ihren Geschöpfen) auf die Dauer nicht bestehen können, wenn nicht die Menschenrechte als Individualrechte eingeschränkt werden durch allgemeine Menschenpflichten, - Pflichten gegenüber der menschlichen Gemeinschaft (sogar auch gegenüber der staatlichen), ebenso gegenüber der natürlichen Umwelt und gegenüber den kommenden Generationen. Ob es einmal zu einer förmlichen Deklaration solcher Menschenpflichten kommt, kann natürlich niemand sagen. Es steht jedenfalls fest, dass die Menschenrechte weder seit eh und je da waren, und ebenso ist nicht ausgemacht, ob sie genauso, wie sie jetzt als wahre dastehen, in alle Zukunft bestehen bleiben werden. 33. Spaziergang Resümee zum zweiten Kapitel. Der Begriff „prekär“ Wir wollen nun im letzten Spaziergang dieses zweiten Kapitels wieder einiges zusammenfassen (und dabei auch etwas weiter bedenken), was sich an wichtigen Ergebnissen herausgestellt hat. <?page no="139"?> 127 E r s t e n s: Sowohl die im zweiten Kapitel vorgestellte Konsenstheorie als auch die aus dem ersten Kapitel bekannte Kohärenztheorie leiden, wie uns klar geworden ist, jeweils an gewissen Defiziten. Diese Defizite sind zum Teil komplementär, sodass sie sich - erfreulicherweise - gegenseitig ausgleichen. Einige Defizite sind aber auch beiden gemeinsam (und verstärken sich dadurch gegenseitig), - begreiflicherweise, denn beide Theorien entstammen unserer Gegenwart und zeigen deren typische Züge. Die Konsenstheorie (und mit geringerer Entschiedenheit auch die Kohärenztheorie) nimmt Wahrheit nur als dramatische, nicht als Wahrheits-Besitz wahr. Sie sieht in ihr zudem ausschließlich ein zwischen-menschliches oder zwischen-parteiliches Faktum und Problem, setzt also einen permanenten Streit um Wahrheit voraus. Ein umfassender Begriff von Wahrheit sollte aber auch ihre undramatische Erscheinungsform berücksichtigen, die nicht durch lautstarke Geltungsansprüche gekennzeichnet ist, sondern schlicht durch Geltung. Und selbst wenn um Wahrheit gerungen wird, ist zu fragen, wo und wie dies Ringen stattfindet: ob ausschließlich lautstark in des Tages Hitze zwischen Gegnern, seien es Indviduen oder Gruppen, politische Parteien, Staaten, Machtblöcke, seien es polare Entzweiungen allgemeinerer Art wie Alt und Jung, Weiblich und Männlich, Reich und Arm usw. Derlei Konflikte sind freilich allgegenwärtig. Trotzdem: Ziel des Konflikts ist allemal die Verständigung. Demnach muss es außer dem Konflikt, der da lautstark am hellen Tag zwischen den Gruppen stattfindet, auch einen Konflikt geben, der (gewissermaßen halblaut frühmorgens und spätabends) innerhalb der Gruppe abläuft - nun, den wird wohl auch die Konsenstheorie letztlich nicht leugnen -, aber schließlich auch einen Konflikt in der Einzelperson (gewissermaßen schweigend in der Stille der Nacht): Ihn nimmt die Diskurstheorie so gut wie nicht wahr. Es muss ihn aber geben. Es wäre unsinnig anzunehmen, dass die Einzelperson der Wahrheit und ihrer Kämpfe ganz unteilhaftig und ausschließlich zum stumpfsinnigen Irrtum verdammt wäre, weil nur der interpersonale oder interparteiliche Diskurs ein volles Wahrheitsverhältnis schaffen könnte. Für die Bewältigung der Wahrheitsprobleme braucht man beides: Persönlichkeit und Gemeinschaft. Z w e i t e n s: Wahrheit ist ein Ideal, nach dem man strebt, das aber im Leben nicht, wenigstens nicht immer und nicht einfach und nicht gänzlich, erreichbar ist. Diese Einsicht kann man auch mit einem anderen Wort zum Ausdruck bringen: Wahrheit ist p r e k ä r. Mein alter Brockhaus von 1972 umschreibt die Bedeutung dieses Wortes mit „unsicher, schwankend; bedenklich“. Abgeleitet ist es aus dem lateini- <?page no="140"?> 128 schen Adjektiv precarius. Das gehört zur selben Wortfamilie wie das Verbum precari „bitten, beten“ und das Substantiv preces „Bitte, Gebet“. Mit precarius wird, genau genommen, eine Sache bezeichnet, die man, wenn überhaupt, vielleicht auf eine Bitte oder auf ein Gebet hin, jedenfalls aber rational nicht ganz erklärlich, geschenkt bekommt, - damit ist zugleich gesagt, dass man sie durch noch so intensives Streben nicht in jedem Fall erreichen kann, dass man sie aber trotzdem nicht unbedingt verloren geben muss. (In Goethes „Faust. Der Tragödie Zweiter Teil“ gegen Ende heißen die berühmten Verse bekanntlich nicht „Wer immer strebend sich bemüht, erreicht bestimmt sein Ziel“, sondern „... den können wir erlösen“.) - Zu den prekären Dingen gehört auch Wahrheit. Heimito von Doderer stellt in seinen Romanen ein paar Mal zwei Menschentypen einander entgegen: auf der einen Seite den „zappelnden Aktivisten“, der vor lauter Aktivität und Gezappel das Erstrebte verfehlt, und ihm gegenüber den, der zwar auch fleißig und strebsam ist, aber doch weiß, dass Wichtigstes oft nicht erarbeitet werden, sondern nur „hinzugegeben“ werden kann und dann, so wie es ist, hingenommen werden muss. D r i t t e n s: Das Sicherheitsstreben des modernen Menschen ist heftig übersteigert und mit Ängsten durchsetzt. Das ist verständlich: Die Moderne nutzt die Ressourcen des „Lebens“ so rücksichtslos bis ins Letzte aus, dass man fürchten muss, für etwaige unvorhergesehene Ausfälle könnten keine Reserven mehr verfügbar sein. Also darf es unvorhergesehene Ausfälle einfach nicht geben. Man muss alles daran setzen, alle nur denkbaren Ausfälle vorsorglich planend in den Griff zu bekommen. - Im 28. Spaziergang haben wir dies Sicherheitsstreben auch im Wahrheitsdenken diagnostiziert: als Motiv für das radikale ‚Abholzen‘ des Wahrheitsbegriffs. Es kommt in der gesamten Wahrheits-Problematik zur Wirkung. Der Mensch ist nicht erst in der Moderne, sondern schon seit eh und je darauf angewiesen, beim Streben nach Wahrheit unaufhebbare Zweifel auszuhalten. Der moderne Mensch, der für Notfälle weder denkerische noch Glaubensressourcen verfügbar hat, versucht diesem zwar durchaus menschentypischen, aber für ihn als modernen Menschen unerträglichen Zweifel zu entgehen, indem er auch in der Wahrheitsfrage „alle denkbaren Unfälle vorweg einplant“. Das heißt aber: Er stellt alles, was nicht unwidersprechlich als wahr erwiesen ist, sicherheitshalber als falsch in Rechnung. Das ist so ähnlich, wie wenn jemand (verständlicher- und vernünftigerweise) möglichst kein Unge- <?page no="141"?> 129 ziefer in der Wohnung haben möchte und sich deshalb (unsinnigerweise) ganz ohne Polster, Betten, Vorhänge, Lebensmittelvorräte, Teppiche, Bücher, und möglichst überhaupt ohne Möbel einrichtet: Dann hat er zwar (vielleicht! ) kein Ungeziefer (vielleicht kommen die erfinderischen Biester aber doch herein), aber jedenfalls ist seine Bleibe äußerst unwohnlich. Auch in der Wahrheitsfrage ist dies radikale Sicherheitsstreben unratsam. Das Wahrheitsstreben sollte doch eigentlich nur darauf aus sein, das Wahre vom Falschen zu trennen. Dies Anliegen wird aber von vornherein verfehlt, wenn man eine ganze Menge (unbekannt wie groß) von möglicherweise Wahrem (aber eben nicht unweigerlich als wahr Erwiesenem) sicherheitshalber als falsch ansieht. Das bringt ein schädliches Ungleichgewicht ins gesamte Wahrheitsverhalten. Als vertrauenswürdig kann ein so hyperkritischer Mensch zunächst nur die Sätze der Mathematik und Logik annehmen. Nun kann man mit denen allein offenkundig nicht leben. Nächst ihnen bringt der moderne Hypercriticus deshalb ein hinreichendes Vertrauen nur den Erkenntnissen und Errungenschaften der technisch orientierten Wissenschaften entgegen. Der Ausdruck „technisch orientiert“ darf hier nicht missverstanden werden. Gemeint sind nicht die Naturwissenschaften schlechtweg, sondern nur, soweit sie „technisch orientiert“ sind (das sind sie ja nicht durchaus), dazu aber auch die ‚technisch’ (im weiten Sinne) orientierten Humanwissenschaften: Soziologie, Psychologie, Politologie, Medizin usw. Nun weiß (oder ahnt) der moderne Hypercriticus zwar, dass er all den glanzvollen technischen Errungenschaften dieser Wissenschaften nicht blindlings trauen dürfte, aber teils springt ihr Glanz so ins Auge, teils ist man ihrer Ratschläge so bedürftig, dass man die Bedenken in den Wind schlägt und diese Ratschläge, auch wenn man sich rein theoretisch ihrer letztlichen Brüchigkeit bewusst sein könnte, wenigstens praktisch nicht unter Verdacht stellt. So entfalten sie unverhältnismäßig große Wirkung, und es besteht die Gefahr, dass man für gewichtige und an sich durchaus kenntliche Wahrheiten, die es daneben möglicherweise gibt und deren man auch möglicherweise habhaft werden könnte, keine Zeit und Kraft mehr übrig hat. Man lässt sie den Händen entgleiten, weil ihr Wahrsein nur ein Plausibel-Sein, und somit halt nicht zweifelsfrei erweisbar ist. Irrtum und Zweifel zu überwinden, soweit es immer geht, ist sinnvoll und nötig. Irrtum und Zweifel absolut zu meiden ist jedoch menschenunmöglich. Auf Verfahrensprinzipien, die zwar Irrtum und Zweifel hintanhalten sollen, zugleich aber Wahrheit behindern kön- <?page no="142"?> 130 nen, sollte man sich eigentlich nicht einlassen. Dass Irrtum vorkommt und Zweifel ausgehalten werden müssen, ist „ein Erdenrest, zu tragen peinlich“. Dagegen Wahrheit zu behindern wäre unannehmbar. V i e r t e n s: Man könnte denken, mit diesen etwas negativ angehauchten Ergebnissen sei unsere Aufgabe gelöst und diese Schrift zu Ende gebracht. So ist es nicht gemeint. In den beiden noch ausstehenden Kapiteln kommt Weiteres, Positives, vielleicht sogar Überraschendes. Wir dürfen also unseren geneigten Lesern raten: Geben Sie nicht auf, lesen Sie weiter. <?page no="143"?> Drittes Kapitel _______________ Sprache und Welt <?page no="145"?> 133 Elfte Runde Die Vielzahl der natürlichen Sprachen 34. Spaziergang Was hat das Kapitel „Sprache und Welt“ mit „Wahrheit“ zu tun? Nichts wäre falscher als die Besorgnis, mit dem Thema „Sprache und Welt“ würde ein Exkurs angekündigt, eine Abirrung von unserem Generalthema „Wahrheit“. Das Gegenteil ist der Fall: Wir gelangen jetzt vollends in sein Zentrum. Blicken wir zurück: Das erste Kapitel hatte zum Gegenstand den theoretisch-rationalen Begriff Wahrheit. Die Einsichten jenes Kapitels sollten aus einer Material- und Beobachtungsbasis erwachsen, die im Wesentlichen von der exakten Wissenschaft erwartet wurde. Es erwies sich aber, dass sie daraus nicht problemlos, nicht rundum befriedigend hatten erwachsen können (siehe das Resümee des ersten Kapitels im 19. Spaziergang). - Deshalb haben wir im zweiten Kapitel unsere Material- und Beobachtungsbasis erweitert und unseren Blick aufs Leben allgemein gelenkt. Auf dieser erweiterten Basis haben wir eine größere Weite des Wahrheitsbegriffs entdeckt (oder doch geahnt). Im jetzt bevorstehenden dritten Kapitel (und dann ebenso im vierten) geht es nun (erstens) noch einmal zurück an die theoretischen Begriffe. Wir sind nämlich, wie wir uns erinnern sollten, im ersten und zweiten Kapitel an manchen Stellen über unbereinigte theoretische Reste vorläufig einfach hinweggegangen: Da war z. B. im 3. Spaziergang die unbeholfene und ungeklärte Rede vom „Denken-und- Verstehen“. Oder am Ende des 7. Spaziergang die dreimalige schwächliche Floskel „was immer das heißen mag“, mit der wir die klassische Adäquationsdefinition der Wahrheit ‚verzieren’ mussten, weil wir das Problem, das da steckt, noch nicht lösen konnten. Und es gab noch viele solcher Reste. Die müssen nun neu aufgegriffen werden - wir werden darauf hin und wieder mit dem „Stichwort: Rest“ hinweisen. Wir werden aber (zweitens) auch die Material- und Beobachtungsbasis unserer Erörterungen noch einmal erweitern müssen, und zwar <?page no="146"?> 134 eben um den Begriffskomplex „Sprache und Welt“. - Wieso kann nun dieser Begriffskomplex ins Zentrum der Wahrheitsfrage führen? - Das Verhältnis zwischen den Begriffen „Sprache“ und „Welt“ ist offensichtlich genau analog dem zwischen den Begriffen intellectus und res in der klassischen Wahrheitsdefinition. Wir können uns das Verhältnis „Sprache und Welt“ in derselben Denkfigur vorstellen wie am Ende des 6. Spaziergangs: als „Waage“ (die vielleicht sogar im Gleichgewicht steht) - nur dass jetzt in die Waagschale, in der früher der Begriff res lag, der Begriff „Welt“ gehört, denn „Welt“ ist der zusammenfassende Inbegriff aller res, aller Realität. In die Waagschale des intellectus gehört jetzt der Begriff „Sprache“, denn die Sprache ist eine ganz wesentliche Leistung des intellectus. - NB: Das Gleichgewicht besteht bei beiden Figuren nur, „wenn es gut geht“, d. h. soweit Wahrheit konstatiert werden kann. Beim Thema „Sprache und Welt“ geht es somit um die Frage: Kann uns die Sprache zu wahren (adäquaten) Einsichten über die Welt verhelfen? Ist die Sprache ein „adäquates“ Mittel zum Begreifen der Welt? - Wir werden sehen, dass die Sprache sogar ein unentbehrliches Mittel zum Begreifen der Welt ist. Da könnte ein Widerredner gleich einwerfen: Was hat denn die Sprache damit zu tun? Zum Begreifen der Welt benötigt man seine gesunden fünf Sinne: Sehen, Hören, Tasten usw., und dazu seinen gesunden Menschenverstand, basta. - Das alles benötigt man, aber das italienische Wort basta (zu Deutsch: „Es genügt“), mit dem der Widerredner seinen Einwurf bekräftigt, ist fehl am Platze. Zwar haben wir seinerzeit das Zustandekommen von Erkenntnis ungefähr so erklärt, wie der Widerredner es mit dem basta bekräftigen wollte: Die von den Sinnen gelieferten Rohmaterialien, die „Sinnesdaten“, werden (so sagten wir) vom Denken-und-Verstehen gesichtet, geordnet und so in Erkenntnis transponiert, und zwar völlig simultan, also völlig gleichzeitig, unmittelbar im selben Augenblick, in dem sie unsere Sinne berühren. Diese damalige Erklärung war im großen Ganzen richtig, nur in einem Punkt war sie zu einfach - Stichwort adaequatio Sprache Welt <?page no="147"?> 135 „Rest“! Wir müssen jetzt ergänzen: Zum Denken-und-Verstehen gehört unabdingbar die Sprache dazu. Aber, sagt der Widerredner, wieso denn das? Man kann doch denken, ohne das Gedachte auszusprechen: „Die Gedanken sind frei“, „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“, sagt der Volksmund. Und ebenso kann man gedankenlos oder hinterhältig sprechen, ohne das Gesprochene wirklich zu denken. - Das ist richtig, es geht aber hier nicht darum, ob das, was mehr oder weniger klar, mehr oder weniger aufrichtig in unseren Gedanken lebt, dann auch laut wird, - sondern ob das, was (sei‘s laut oder leise, sei‘s ehrlich oder hinterhältig) gedacht wird, in sprachlichen Formen gedacht wird. Und da muss die Antwort lauten: Ausnahmslos alles Gedachte wird irgendwann und wie sprachlich gedacht. Da bleibt freilich zunächst die Frage: Wann und wie bekommen unsere Gedanken sprachliche Form? Vorläufige Antwort: Das geschieht sehr, sehr früh, es geschieht sogar wiederum völlig simultan, unmittelbar gleichzeitig mit dem Denken selbst. Gehen wir der Frage aber genauer nach. Die Menschen haben vergeblich zu ergründen versucht, was ihre frühen Vorfahren in grauer Urzeit als Erstes gelernt und geübt haben: Denken oder Sprechen? Die Frage ist offenbar falsch gestellt, und sie ist so gut und so schlecht zu beantworten wie die Frage: Was war eher da, die Henne oder das Ei? Das Henne-oder-Ei-Problem kann man folgendermaßen (und nur folgendermaßen) lösen: Es gab eine Zeit, wo weder Henne noch Ei war. Dann kam eine Entwicklung, in der sich sehr langsam, über einen fast unendlich langen Zeitraum hin, stufen- und schubweise, aber immer gleichzeitig neben- und miteinander, Urformen von Henne und Ei (oder, bitte schön: von Ei und Henne) herausbildeten, und aus diesen Urformen entstanden, wiederum in langen Zeiträumen schubweise gleichzeitig mit- und nebeneinander, höher entwickelte Formen von Henne und Ei, bis vor langer Zeit - und zwar vor so unsagbar langer Zeit, dass die heutige Menschheit sich in keiner Weise mehr daran erinnern kann - sowohl Henne wie Ei da waren und bis heute da sind und einander gegenseitig reproduzieren - und dabei weiter entwickeln, wer weiß wohin. So muss es auch mit Sprechen und Denken gegangen sein. Die Forschung kann gewisse Erkenntnisse über einige Zwischenstufen dieser Entwicklung an den Tag bringen, aber bis zum Uranfang stößt keine Forschung vor, - es ist auch überflüssig. Denn wir können das Zusammenwirken von Sprache und Denken vom heutigen „End“- Zustand aus ganz gut beschreiben und verstehen, ohne den Urzustand <?page no="148"?> 136 zu kennen. - Der gegenwärtige Zustand ist aber gar kein „End“- Zustand (vermutlich wenigstens, - wer kann das schon genau wissen, vielleicht geht ja morgen die Welt unter? ), aber ganz sicher ist der gegenwärtige Zustand kein Zu-Stand im strengen Sinn dieses Wortes (Zu-Stand wäre ja etwas Stehendes), sondern es handelt sich um etwas Bewegtes, ein unaufhörliches Zusammenspiel von Sprache und Denken, Denken und Sprache. In der Tat: Kein Mensch kann etwas sprechen, ohne dass zugleich in seinem Denken irgendetwas dem Gesprochenen Entsprechendes abläuft. Das muss durchaus nicht klar und wohlunterschieden gedacht sein, und es kann unaufrichtig, verlogen gedacht sein, oder sonstwie krumm und schief: Aber es läuft in seinem Denken etwas ab, das dem Gesprochenen entspricht. - Ebenso kann kein Mensch irgendetwas denken, ohne dass zugleich etwas dem Denken Entsprechendes in sprachlicher Form abläuft, - man kann natürlich trotzdem den Mund halten, das ist unter Umständen sogar eine respektable Leistung, aber mindestens lautlos läuft irgendwann und -wie dabei etwas Sprachliches ab, das dem Gedachten entspricht. - Noch einige speziellere Überlegungen dazu. Erstens: Ich musste das oben Gesagte auf Schritt und Tritt mit dem Wort „irgend“ einschränken (irgendetwas wird gedacht, irgendwann und -wie bekommt das Gedachte sprachliche Form usw.), denn was im Denken genau geschieht, sieht man von außen nicht und kann man demgemäß nicht ohne Weiteres feststellen. Man darf aber annehmen, dass alle Denkvorgänge irgendwie auch körperlich fundiert und vermittelt sind und sich irgendwie auch körperlich „abbilden“, sodass man Spuren davon im Gehirn sogar sehen kann, - aber eben nur diese „Spuren“, nicht die Gedanken klar als solche. Man darf nämlich mit aller Sicherheit vermuten, dass die Gedanken des Menschen im allerersten Anfang noch gar nicht klar sind. Dann können sie schon deswegen nicht „klar abgelesen werden“. Dieser Vermutung darf man alsbald eine weitere an die Seite stellen: Nicht nur die ur-anfänglichen Gedanken sind notgedrungen unklar, sondern auch das ihnen entsprechende ur-anfängliche Sprechen. Beides klärt sich dann nach und nach simultan, indem das ur-anfänglich Gedachte dadurch, dass es in sprachliche Form eintritt, zu deutlicherer Klarheit geführt wird, - und simultan (völlig gleichzeitig) wird das uranfänglich Gesprochene durch das gleichzeitige Denken zu mehr Klarheit gebracht. Zweitens: Man hat vielleicht manchmal in einem speziellen Fall, an den man sich besonders gut entsinnt, das deutliche Gefühl, dass erst <?page no="149"?> 137 das Denken kam, und danach erst das Sprechen. Dies Gefühl wird wohl nicht durchaus trügerisch sein. Es gibt aber zweifellos auch das Umgekehrte. Heinrich von Kleist hat einen lesenswerten Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung von Gedanken beim Reden“ geschrieben. - Es ist aber im Grunde wirklich ganz egal, von wo im speziellen Fall der erste Anstoß ausging, vom Denken oder vom Sprechen; denn unzweifelhaft ging auch diesem scheinbar „ersten“ Anstoß des speziellen Falles ein noch früherer Anstoß voran. Auch hier gilt: Zum Uranfang, also zur allerersten sprachlich-denkerischen Regung des gerade eben Neugeborenen, oder richtiger gesagt: des noch ungeborenen Embryos (denn es kann kaum bezweifelt werden, dass jene allererste sprachlich-denkerische Regung schon vor der Geburt vor sich geht), - kurz: Bis zu jenem Ur-Anfang dringt kein Forschen vor. - Sobald aber dieser unbekannte allererste Anfang geschehen ist, gilt die einfache Regel, dass Denken und Reden sich gegenseitig und fortwährend weiter anstoßen, anregen, in Bewegung setzen (so wie auch Henne und Ei sich fortwährend gegenseitig reproduzieren). Jeder scheinbar erste Anstoß ist bereits Reaktion auf etwas noch Früheres. So eng und unabdingbar gehören Sprechen und Denken zusammen. Wir hätten also unser Kapitelthema treffender, aber umständlicher in die Worte fassen können „Denken samt Sprache einerseits - im Verhältnis zur Welt andererseits“. Oder noch etwas treffender (und noch umständlicher), indem wir uns an unseren Begriff „Denken-und- Verstehen“ aus dem 3. Spaziergang erinnern: „Denken-und-Verstehen samt Sprache einerseits - im Verhältnis zur Welt andererseits“. Das hätte allzu umständlich geklungen, aber gemeint ist es tatsächlich so und nicht anders. Es sei also für künftig vereinbart, dass, wenn wir im dritten Kapitel einfachheitshalber an einigen Stellen nur von „Sprache“ und „Sprechen“ reden, immer der ganze Begriffskomplex „Denken-und-Verstehen samt Sprechen“ gemeint ist. Wie das alles nun funktioniert, und was durch dies ewige Miteinander von Sprache-Denken-Verstehen an Wahrheit bewirkt und ermöglicht wird, das ist der wesentliche Inhalt unseres dritten Kapitels. Weil aber die Auseinandersetzung darüber ausführlich sein muss, bekommt dies Kapitel schließlich doch streckenweise den Charakter eines weit ausgreifenden Exkurses, in welchem von Wahrheit längere Zeit gar nicht mehr ausdrücklich die Rede ist. Aber, bitte schön: Trotz dieser Umständlichkeit führt uns der Exkurs nicht vom Hauptthema weg. Er führt strikt zu ihm hin. <?page no="150"?> 138 35. Spaziergang Notwendige Beschränkung Wenn man Latein lernt, kann man eines Tages staunen, wie primitiv diese Sprache (stellenweise! ) ist: Sie macht nämlich keinen Unterschied zwischen „Neffe“ und „Enkel“: Beides heißt auf lateinisch nepos. Das vom Lateinischen herkommende Italienisch ist an diesem Punkt genauso primitiv: Nipote ist im Italienischen das eine Wort für „Neffe“ und für „Enkel“. Für einen Deutschen ist es schier unbegreiflich, dass man zwei so zweifelsfrei unterscheidbare Verwandte wie den Neffen und den Enkel mit einem einzigen Wort bezeichnen kann - mein Neffe ist doch nun einmal nicht mein Enkel. Das muss doch, meint man, dauernd Konfusionen geben. - Die Unbegreiflichkeit verschwindet, oder sie wird wenigstens entschieden gemildert, wenn man begreift, dass mit dem lateinischen nepos und dem italienischen nipote offenbar weder „Neffe speziell“ noch „Enkel speziell“ gemeint ist, sondern eben gar nichts so Spezielles. Gemeint ist etwas Allgemeineres: Jeder männliche Nachkomme zweiten Grades, ob nun die Verwandtschaft in gerader Linie über Sohn bzw. Tochter läuft (dann kommt das heraus, was wir Enkel nennen), oder in schräger Linie über Bruder bzw. Schwester (dann ergibt sich das, was auf Deutsch Neffe heißt). - Da denkt man als Deutscher: Die Unbegreiflichkeit mag ja durch diese Erläuterung verschwunden sein, aber sie hat einer gewaltigen Umständlichkeit Platz gemacht. - Aber seien wir geduldig! Jetzt darf nämlich unser Lateiner samt Italiener die Retourkutsche fahren und sich über die deutsche Sprache wundern, wie primitiv die doch (stellenweise! ) ist: Das Deutsche hat nämlich nur e i n Wort „Onkel“ und bezeichnet damit zwei so zweifelsfrei unterscheidbare Verwandte wie den patruus (so heißt auf Lateinisch der Onkel väterlicherseits) und den avunculus (so heißt auf Lateinisch der Onkel mütterlicherseits). Der Deutsche wird da wohl einwenden: Zwischen einem Onkel väterlicherseits und einem mütterlicherseits sei doch kein Unterschied, Onkel ist Onkel, - es sei also eine unnötige Spitzfindigkeit, dass die lateinische Sprache dafür zwei Wörter bereitstellt. Dieser Einwand zeigt aber nur, dass unser Deutscher mit seinem scheinbar so sachlichen Urteil ganz im Banne seiner Muttersprache <?page no="151"?> 139 steht, die ihn nicht nur in seinem irrationalen Sprachgefühl, sondern auch im rationalen Denken beeinflusst. Ein Lateiner oder Italiener würde mit derselben Bestimmtheit und derselben Berechtigung die deutsche Unterscheidung zwischen „Neffe“ und „Enkel“ als spitzfindig und sachlich überflüssig ansehen. Diese Verwandtschaftswörter geben ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, dass die Welt offenbar nicht in allen Sprachen in gleiche Einzelheiten unterteilt wird: Manche Sprachen machen einen Unterschied zwischen Neffe und Enkel, andere machen ihn nicht. Einige Sprachen haben verschiedene Wörter für die Onkels auf der mütterlichen und der väterlichen Seite, andere kommen ohne diese Unterscheidung aus. - Aber das sind keineswegs die einzigen Beispiele für diese Merkwürdigkeit. Es gibt sie massenweise. In der Natur gehen die Farben, z. B. im Regenbogen, stufenlos in einander über. In den Sprachen gibt es jedoch Farb-Abstufungen, - in allen Sprachen gibt es sie, aber durchaus nicht in allen gleich. Im Deutschen gab es ursprünglich kein mittleres Farbwort zwischen Gelb und Rot, und ebenso wenig eines zwischen Rot und Blau. Unsere Farbwörter „orange“, „violett“ und „lila“ sind Fremdwörter, die erst im 19. Jahrhundert in allgemeineren Gebrauch gekommen sind - man sieht das daran, dass man sie auf Deutsch nicht recht ‚einbauen‘ kann, sondern zu Notbehelfen greifen muss wie „ein orangenes Tuch“ oder (undekliniert) „ein lila Kleid“ usw. Ferner: Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen „Mensch“ und „Mann“, die englische kann beides mit einem Wort ausdrücken: man, - seltsam, für Feministinnen geradezu empörend: Ist denn eine Frau etwa kein Mensch? Auf der anderen Seite unterscheidet das Englische zwischen sky und heaven, während wir Deutschen stumpfsinnig beides als „Himmel“ bezeichnen. - Noch ein besonders eindrucksvolles Beispiel aus unseren Spaziergängen: Das Griechische hat für „Gedanke“ und „Wort“ einen gemeinsamen Ausdruck: logos. Wir haben ihn im 6. Spaziergang kennen gelernt und uns dabei klar gemacht, dass in der Doppeldeutigkeit dieses Wortes nicht nur ein Differenzierungs- Mangel gesehen werden kann (wir haben Mängel dieser Art oben etwas aggressiv „Primitivität“ genannt), sondern ebenso auch ein begrifflicher Vorteil (also eben nichts Primitives, sondern etwas recht Gescheites): Man kann als Griechischsprechender (oder -lernender) an dieser Sprache direkt ablesen, dass Denken und Sprechen „unabdingbar zusammengehören“. - Wir wollen uns also lieber kein Urteil darüber erlauben, ob diese oder jene Sprache mit ihrer seltsamen, von unserer <?page no="152"?> 140 Sprache abweichenden Unterteilung der Welt geschickter oder weniger geschickt, primitiver oder weniger primitiv verfährt. Dagegen wollen wir nun an Hand dieser Beispiele zwei Eigentümlichkeiten der natürlichen Sprachen notieren. Zum Ersten: Jede Sprache hat eine besondere, eigentümliche Sicht der Welt und ihrer Einzelheiten. Jede nimmt die „objektiven“ Unterschiede in der Welt nur teilweise wahr. Manche Unterschiede nimmt sie nicht wahr und kann sie nicht ohne Weiteres ausdrücken, obwohl sie „objektiv“ da sein müssen, was man daran ablesen kann, dass sie in manchen anderen Sprachen sehr wohl eine Rolle spielen. Das Wort „objektiv“ steht hier in Anführungszeichen. Sie sollen daran erinnern (siehe den 3. Spaziergang), dass „Objektivität“ ein ‚Gedankending’, eine geistige Fiktion ist, und ferner daran, dass wir eine hinreichend vernünftige Erklärung der Objektivität bisher noch schuldig geblieben sind (Stichwort: „Rest“). Wir kommen aber jetzt bald darauf zurück. Nun sind diese Diskrepanzen zwischen den Welt-Sichten der einzelnen Sprachen nicht immer sehr groß. Wenn zwei Sprachen näher miteinander verwandt sind (wobei „Verwandtschaft“ sowohl genetisch als auch zivilisatorisch verstanden werden kann), dann sind auch ihre Weltsichten einigermaßen ähnlich. Es gibt aber auch unter den ganz nahe verwandten Sprachen keine zwei, die absolut die gleiche Weltsicht bieten. Die zweite Feststellung ist noch wichtiger: Zwischen den einzelnen Ausdrücken einer Sprache und den Einzelheiten der Welt, die damit bezeichnet werden, besteht kein „Eins-zu-eins-Verhältnis“, es ist also nicht so, dass jedem einzelnen Sprach-Ausdruck genau eine Welt- Einzelheit entspricht, und umgekehrt jede Welt-Einzelheit mit genau einem einzigen Sprach-Ausdruck zu bezeichnen wäre. Sondern das Verhältnis zwischen Sprache und Welt ist unscharf, unpräzise: Die Wörter und Ausdrücke der Sprache „kleben“ nicht unverrückbar an den Dingen der Welt wie aufgeklebte Etiketten, sondern sie „schweben“ locker, gewissermaßen in einigem Abstand über der Welt. Anders gesagt: Die Sprache zeigt uns die Welt nicht im starren, leblosen Abklatsch, sondern in lebendigen Symbolen. Noch anders gewendet: Die Ausdrücke der Sprache zeigen uns die Welt nicht präzise (zugespitzt, ganz genau), wohl aber prägnant (gehaltvoll, gesättigt mit Bedeutung). - Zu den Begriffen präzise und prägnant siehe den 8. Spaziergang. „Unscharf“ und „unpräzise“ sind vorläufig rein negative Kennzeichnungen. Dies Negative ist aus dem Blickpunkt der exakten Wissenschaft gesprochen, die ja wegen dieser negativen Züge der natürli- <?page no="153"?> 141 chen Sprache weithin die Kunstsprachen vorzieht. Das darf uns nicht irritieren. Wir werden bald sehen, dass dieser Mangel an Präzision, wenn man auf den großen Zweck der Sprache, nämlich auf die Erfassung der Welt als ganzer blickt, einen enormen Vorzug darstellt. - Nebenbei bemerkt: Wegen dieser unvermeidlichen Unschärfe jeder natürlichen Sprache haben wir uns schon im ersten Spaziergang darauf geeinigt, dass das ungefähr richtig Gesagte und Gedachte als erster Ansatz zum richtigen Denken und Sprechen sehr wohl brauchbar und unverächtlich ist. Das Wort „Symbol“ wird in Bezug auf ein-und-dasselbe Gebiet, nämlich auf die Sprache, in zwei sehr verschiedenen Bedeutungen verwendet. Das ist etwas ärgerlich, aber da es sich so eingebürgert hat, ist daran nichts zu ändern - und man muss im Grunde auch nichts daran ändern: Es ist eben eine sprachliche Unschärfe neben so vielen anderen. - Es muss aber darauf hingewiesen werden, dass die graphischen Zeichen, mit denen man in den extrem künstlichen Kunstsprachen arbeitet (z. B. in der sog. „symbolischen“ Logik und in der Mathematik), auch Symbole genannt werden. Auch wir haben sie ja im 10. Spaziergang so bezeichnet. Der Unterschied ist aber beträchtlich: Die „Symbole“ der Logik und Mathematik stehen zu dem, was sie bezeichnen, in strengem „Eins-zu-Eins-Verhältnis“: Jedem Symbol ist genau ein gemeinter Begriff zugeordnet, und umgekehrt gehört zu jedem Begriff genau ein Symbol. Von derartigen Symbolen könnte man also mit Recht sagen, dass sie auf den jeweils gemeinten Begriff unverrückbar „aufgeklebt“ sind. - Ganz anders die „schwebenden“ Symbole der natürlichen Sprachen: Jedes von ihnen hat eine große Spannweite von Bedeutung. Damit ist nicht in erster Linie gemeint, dass jedes Symbol viele einzelne, addierbare, von einander klar trennbare Bedeutungen hat, sondern vor allem, dass diese diversen Bedeutungen eben in keiner Richtung scharf abgesetzt, also nicht klar von einander trennbar sind. Sie sind eben unpräzise. Dafür sind sie aber in hohem Grade prägnant (bedeutungsgeladen). Eine weitere „notwendige Beschränkung“ im Felde der natürlichen Sprachen soll noch kurz betrachtet werden. Wir haben im vorigen Spaziergang von der „allerersten sprachlich-denkerischen Regung des eben Neugeborenen, ja sogar des noch ungeborenen Embryos“ gesprochen. - Man hat nun erstens festgestellt, dass jeder Säugling, sei er von deutschen oder von afrikanischen oder sonst welchen Eltern geboren, bevor er von diesen Eltern deren Sprache als Muttersprache erlernt, über sprachliche Laute verfügt, die er in seiner Muttersprache nie mehr benötigt. So bringen deutsche Säuglinge nicht nur das engli- <?page no="154"?> 142 sche „th“, sondern ganz mühelos z. B. auch „afrikanische Schnalzlaute“ zu Wege. All das verlernen sie später allmählich, wenn sie sich ebenso allmählich auf ihre Muttersprache „beschränken“ (und sie müssen dann, noch später, z. B. im Englischunterricht, das englische „th“ wieder mühsam aussprechen lernen). Zweitens weiß heute jeder, dass ein Säugling, der zufällig nicht bei seinen leiblichen (z. B. deutschen) Eltern, sondern z. B. in einer kroatischen Familie aufwächst, als „Mutter“-Sprache nicht Deutsch, sondern ohne Weiteres und ohne jede Lernschwierigkeit Kroatisch lernt. - Aus alledem ist nicht zu schließen, dass „also doch das Denken vor dem Sprechen kommt“, sondern dass sich Denken und Sprechen absolut simultan entwickeln. Der noch nicht sprechende Säugling hat die Fähigkeit zu jeder natürlichen Sprache in sich, und erst durch die Sprache der Familie und Umwelt, in der er aufwächst, „beschränkt“ er sich auf seine Muttersprache. Wenn die ersten Laute des noch nicht sprechenden Säuglings noch gar keiner speziellen Sprache zugeordnet werden können, dann wird das, was wir im 34. Spaziergang behauptet haben, scheinbar wieder etwas fragwürdig: dass nämlich eine „allererste sprachlichgedankliche Regung“ schon im noch ungeborenen Embryo vor sich geht: In welcher Sprache könnte dieser Regung denn geschehen? In irgendeiner der speziellen natürlichen Sprachen ja ganz sicher nicht. - Die Schwierigkeit ist aber nur eine scheinbare. Man darf sich hier noch einmal an das Henne-und-Ei-Problem erinnern, und daran, dass es nur lösbar ist, wenn man eine überaus langdauernde Entwicklung aus sehr frühen Vorformen von Henne und Ei annimmt. Auch im menschlichen Embryo kann jene frühe „Regung“ nur eine höchst unklare (und schon deshalb keiner speziellen Sprache zuzuordnende) Vorform von unklar denkendem Sprechen und ebenso unklar sprechendem Denken sein. Aus dieser durchaus unklaren Regung entwickelt sich dann nach und nach völlig simultan ein klareres Denken u n d ein klareres Sprechen - und zwar formt sich das klarere Denken und Sprechen sowohl in der Entwicklung des menschlichen Geschlechts (da hat es insgesamt lange, lange Zeit gebraucht) als auch im einzelnen Individuum (da geht das relativ rasch innerhalb weniger Jahre vonstatten). <?page no="155"?> 143 36. Spaziergang Umfassende Anpassungsfähigkeit Die Welt, und ebenso die Menschen in der Welt, ändern sich unausgesetzt, mal langsamer, mal rascher, nie bleiben sie gänzlich unverändert stehen. Auf diese Änderungen muss eine natürliche Sprache reagieren können, sie muss geschmeidig, anpassungsfähig sein, sonst taugt sie nichts. Wenn also in einer Sprachgemeinschaft, weil sich die Verhältnisse innerhalb der Gemeinschaft oder auch außerhalb ihrer geändert haben, ein neues Ausdrucksbedürfnis entsteht, das die Sprachgenossen mit den Mitteln, die ihnen ihre Sprache bisher zur Verfügung stellt, nicht erfüllen können - dann muss, koste es was es wolle, ein neues, dafür taugliches sprachliches Mittel, eine neue Ausdrucksmöglichkeit geschaffen werden. Dieser Fall kann in jeder natürlichen Sprache zu jeder Zeit auftreten. Welcher einzelne Sprachgenosse dieses neue Mittel schafft, dafür gibt es keine Regel, jeder kann und darf das tun, - es kommt nur darauf an, ob die ganze Sprachgemeinschaft die neue Kreation aufnimmt und als regelrechtes Ausdrucksmittel ihrer Sprache sanktioniert. Falls vielleicht gleichzeitig von mehreren Sprachgenossen mehrere Kreationen auftauchen, dann werden entweder alle oder mehrere oder eine oder keine sanktioniert, - auch dafür gibt es keine Regel. Die Sprachgemeinschaft ist in ihrer Entscheidung vollkommen souverän, und sie verfährt dabei so unauffällig, dass in den allermeisten Fällen hinterher niemand sagen kann, von wem die Neuerung aufgebracht worden und wann und wie sie eigentlich sanktioniert worden ist. Sie ist dann einfach da und gilt, - basta. Auf welche Weise, mit welchen Methoden kommen nun solche Neu- Kreationen zu Stande? Zwei Methoden sind es hauptsächlich, die die natürlichen Sprachen so enorm anpassungsfähig machen. Beiden Methoden gemeinsam ist, dass für das neue Ausdrucksbedürfnis nicht etwa jedesmal ein ganz neuer Ausdruck geprägt wird, sondern fast immer „wirtschaftet“ die Sprachgemeinschaft dabei mit den bereits vorhandenen Ausdrucksmöglichkeiten. - Es gibt daneben auch Neuschöpfungen, aber seltener, und in moderner Zeit haben sie manchmal etwas Rational-Willkürliches an sich, z. B. bei den heute beliebten <?page no="156"?> 144 Abkürzungswörtern wie etwa „Laser“ (für „Light Amplification by Stimulated Emission of Radiation“). Nun zu den beiden Standard-Methoden der natürlichen Sprachen. Mit der e r s t e n Methode schafft die Sprache kurzerhand aus einem schon vorhandenen Einzel-Wort, ohne es zu verändern, ein „neues“, d. h. sie verwendet einen Ausdruck, der für das neue Ausdrucksbedürfnis einigermaßen passt, „in übertragenem Sinne (metaphorisch)“. Dass das geht, ist eines der Wunder der natürlichen Sprache, und gehen kann es, weil von vornherein kein sprachlicher Ausdruck nur einem einzigen Ausdrucksbedürfnis dient, oder, wie wir es vorhin formuliert haben: weil kein sprachlicher Ausdruck wie eine Etikette auf genau eine Einzelheit der Welt „fest aufgeklebt“ ist. Die Sprache ist in allen ihren Ausdrücken unscharf, unpräzise, und genau dadurch ist sie geschmeidig: Jede ihrer Ausdrucksformen kann bei Bedarf mit zusätzlichen Bedeutungsinhalten ‚aufgeladen’ werden. So kann man das Wort „Fuß“, das eigentlich der Ausdruck für den unteren Teil der unteren Gliedmaßen von höheren Lebewesen ist, unbedenklich „in übertragenem Sinne verwenden“ und vom „Fuß eines Berges“ reden, obwohl der z. B. keine Zehen hat. Nun, er ist wenigstens „unten“ am Berg lokalisiert. Aber wo in aller Welt ist der Zins-„Fuß“ lokalisiert? Über fehlende Zehen, fehlende Lokalisierbarkeit und alle derartigen Mängel kann die Sprache bei der Schaffung von Metaphern unglaublich großzügig hinwegsehen, - weil eben alle ihre Ausdrucksmittel von vornherein den riesigen Vorzug haben, unscharf zu sein. Es gibt kein objektiv benennbares Maß dafür, wie weit ein Ausdruck „in übertragenem Sinne“ übertragen werden darf, um noch verstehbar zu sein. Es kommt nur darauf an, ob die Sprachgemeinschaft ihn als verstehbar akzeptiert und sanktioniert und in Gebrauch nimmt. Sie kann also ohne Weiteres sanktionieren, dass mit dem Wort „Viertel“ auch ein Stadtviertel bezeichnet wird, obwohl das nie genau ein Viertel, oftmals sogar nur ein Zehntel oder Hundertstel oder einen ganz krummen Bruchteil der Stadt ausmacht. Sie kann sanktionieren, dass als „Ring“ etwas bezeichnet wird, was gar nicht rund, sondern viereckig ist, wie der „Ring“, in dem die Boxer aufeinander loshauen, oder auch etwas, was weder rund noch eckig ist, wie der „Deutsche Ring“ (das ist eine Versicherungsgesellschaft). Sie lässt uns, ohne eine klare Antwort zu geben, rätseln, weshalb der Finger-Nagel und der Nagel des Zimmermanns mit ein-und-demselben Wort bezeichnet werden. - Sie würde vermutlich auch sanktionieren können, dass wir hier die Abschnitte unserer Schrift als „Spaziergänge“ bezeichnen, <?page no="157"?> 145 obwohl wir ja beim Schreiben und Lesen nicht unbedingt umherspazieren müssen. Die z w e i t e Haupt-Methode, durch die eine natürliche Sprache sich an jedes neue Ausdrucksbedürfnis sofort anpassen kann, ist die Umschreibung (Periphrase). Mit ihrer Hilfe werden keine ‚neuen’ Einzel-Wörter geschaffen, aber reichere Möglichkeiten ihrer Kombination. Die beiden Mittel wirken gewissermaßen entgegengesetzt und ergänzen sich dadurch hervorragend: Die Ausdrucksübertragung (Metapher) ist eine Sparsamkeitsmethode. Sie erlaubt, mit einem Ausdruck viele Sachen zu bezeichnen. Man kann da den Eindruck haben, dass in der Welt viel mehr Sachen sind, als es sprachliche Ausdrücke gibt. - Die Umschreibung (Periphrase) ist eine Verschwendungsmethode, sie wendet für eine Sache oder einen Sachverhalt viele Ausdrücke auf. Da hat man den umgekehrten Eindruck: dass die Sprache viel mehr Ausdrücke hat, als es in der Welt Sachen gibt. Die Umschreibung wird häufig (aber keineswegs ausschließlich) beim Übersetzen aus einer Fremdsprache oder in eine Fremdsprache angewendet. Auch das Übersetzen ist ja für die Sprachgemeinschaft oder konkret für den einzelnen Sprachgenossen zunächst ein „neu auftretendes Ausdrucksbedürfnis“. - Vor einigen Jahren las ich in einer in englischer Sprache abgefassten Abhandlung den Ausdruck „the sitzfleisch“, also das deutsche Wort „Sitzfleisch“ mit englischem Artikel und englischer Kleinschreibung mitten im englischen Text. Ich vermute, dem Autor war es zu schwierig, das deutsche Wort ins Englische zu übersetzen, vielleicht hatte er auch das Gefühl, ein ganz treffendes Wort dafür gäbe es auf Englisch nicht, also ließ er das deutsche Wort unübersetzt stehen, in der Hoffnung, dass seine Leser es verstehen. Andernfalls hätte er das Gemeinte mit vielen Worten umschreiben müssen, und ganz bestimmt hätte er das auch können (auf Englisch so gut wie auf Deutsch). Er hätte etwa sagen können, dass das Wort „Fleisch“ hier übertragen gebraucht ist. Es ist ja eigentlich kein Fleisch gemeint, sondern die Körpergegend, auf der der Mensch zu sitzen pflegt. Aber auch der Körperteil ist hier nicht als solcher, sondern in einem nochmals übertragenen Sinn genannt. „Sitzfleisch“ ist nichts Körperliches, sondern etwas Charakterliches: Gemeint ist der Fleiß, die Emsigkeit, die sich u. a. im beharrlichen Sitzen ausdrücken kann. Nun ist „Fleiß“ etwas Löbliches, „Sitzfleisch“ aber doch nicht ganz eindeutig, das Wort klingt auch ein bisschen nach Lächerlichkeit und Verächtlichkeit. All das - es ist wahrhaftig nicht wenig - müsste man bei einer Umschreibung des Begriffs „Sitzfleisch“ vorbringen. Fest <?page no="158"?> 146 steht aber: Auch wenn noch mehr nötig wäre, man könnte das Gemeinte jedenfalls ausdrücken. Mit der nötigen Geduld kann man mit Hilfe von Umschreibungen schlechthin alles, was man sagen möchte, und sei es noch so fremd oder kompliziert, zum Ausdruck bringen. Nicht nur beim Übersetzen, sondern auch innersprachlich wird die Umschreibung tausendfach angewandt, viel häufiger als einem das im gewöhnlichen Alltag bewusst wird. Man kann jede Aussage nach Lust und Laune variieren: Statt „Fritz hat mir einen Brief geschrieben, worin er mitteilt, dass ...“ kann man genauso gut sagen „Fritz hat mich brieflich wissen lassen, dass ...“, und noch anders. Und wer irgendwann nicht auf Anhieb verstanden wird, verlegt sich aufs Umschreiben. Das ist beim einfachsten Alltagsgespräch nicht anders als bei komplizierten wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Wir hatten bei unseren Spaziergängen schon viele Beispiele für Umschreibungen: Der Begriff adaequatio („Übereinstimmung“), der in der klassischen Wahrheitsdefinition die Relation zwischen dem Begriff intellectus und dem Begriff res bezeichnet, wurde von den mittelalterlichen Denkern vernünftigerweise mit nicht weniger als sieben Ausdrücken umschrieben: adaequatio, correspondentia, convenientia usw. - Den vollen, umfassenden Wahrheitsbegriff, dessen eigentümlicher ‚Geschmack‘ sich schwer in ein einzelnes simples Wort fassen lässt, haben wir in den Spaziergängen 30 bis 33 mit vielen Adjektiven umschrieben: erbaulich, vertrauenerweckend, lebenfördernd, ermutigend, zugleich bedrohlich und tröstlich, usw. usw. Wir können nun die beiden im vorigen Spaziergang formulierten allgemeinen Feststellungen über die natürlichen Sprachen genauer fassen: Obwohl jede natürliche Sprache die Welt in jedem gegebenen Augenblick aus einem beschränkten Blickwinkel wahrnimmt, hat dennoch jede die Möglichkeit, diese augenblickliche Beschränktheit, wann immer es nötig ist, hinter sich zu lassen und irgend eine neue „objektive“ Einzelheit der Welt sprachlich zu erfassen und auszudrücken. Jede einzelne natürliche Sprache kann so tatsächlich letzten Endes „die Welt als ganze“ zu ihrem Gegenstand machen. Das ist das erstaunliche Resultat der beiden geschilderten, im Grunde doch wahrhaft simplen Methoden. Die Unschärfe der Ausdrucksmittel der natürlichen Sprachen erweist sich wirklich als großer Vorzug. <?page no="159"?> 147 37. Spaziergang Übersetzbarkeit. Notwendige Vielzahl natürlicher Sprachen Wir haben im 9. Spaziergang die extrem künstlichen Kunstsprachen vorgestellt, die um der angestrebten Präzision willen auf Ausdrücke der natürlichen Sprache möglichst ganz verzichten. Jetzt müssen wir diese Vorstellung ein Stück weiterführen, denn an der Gegenüberstellung mit den extrem künstlichen Sprachen lassen sich weitere charakteristische Züge der natürlichen Sprachen verdeutlichen. Die extrem künstlichen Kunstsprachen haben den Vorzug, international zu sein. Da sie, wie gegen Ende des 9. Spaziergangs gezeigt, keiner eigentlich sprachlichen (d. h. lautlichen) Realisation bedürfen, gibt es bei ihnen, wenigstens solange die Benutzer ganz in ihrem graphischen Zeichen-Reich verbleiben und sich rein „schwarz auf weiß“ verständigen, kein Problem mit Fremdsprachen. - Die natürlichen Sprachen haben dies Problem, können es aber gut bewältigen, und zwar ohne an Grenzen der Übersetzbarkeit zu stoßen. Es gibt nichts, was man nicht von jeder natürlichen Sprache in jede andere übersetzen kann, und wenn es mit einfachen Worten nicht geht, dann nimmt man die beiden Standardmethoden der natürlichen Sprache zu Hilfe: Ausdrucksübertragung und Umschreibung. Irgendwie gelangt man auf diese Weise bei jeder Übersetzung bis zu praktisch ausreichender Verstehbarkeit. Weiter allerdings gelangt man nie, es bleibt immer ein Rest, wo die Übersetzung das Original nicht absolut vollkommen wiedergibt. Das kann sie schon deswegen nicht, weil die Ausdrucksmittel einer natürlichen Sprache (sowohl der Ausgangs-Sprache, a u s der übersetzt wird, als auch die der Ziel- Sprache, i n die übersetzt wird) stets unscharf, unpräzise sind. Mit so unpräzisen Ausdrücken kann man selbstverständlich nie zu absolut präzisen Übersetzungen gelangen. Desto erstaunlicher ist, dass die Übersetzung in jedem Fall hinreichend verstehbar werden kann. In dieser unbeschränkten Übersetzbarkeit zeigen also auch die natürlichen Sprachen einen ‚internationalen‘ Zug. Es kann sein, dass ein Leser zweifelt, ob eine Übersetzung tatsächlich jedesmal hinreichend verständlich ausfallen kann. Der Leser <?page no="160"?> 148 könnte einwenden, dass bei Verwendung so notorisch unpräziser Ausdrücke jederzeit irgendwelche Missverständnisse möglich sind. - Das ist richtig, - es hindert aber keinesfalls die Verstehbarkeit, die ja in jedem Moment durch nachträgliche Korrektur verbessert werden kann: Solange das Verständnis noch nicht hinreichend ist, kann man erneut mit Umschreibungen usw. ansetzen, bis hinreichende Verstehbarkeit erreicht ist. Missverständnisse sind bei jeder sprachlichen Kommunikation jederzeit möglich, nicht nur bei (zwischensprachlicher) Übersetzung, sondern ebenso beim innersprachlichen Sprachverkehr, also wenn ein Deutscher mit einem Deutschen oder ein Ungar mit einem Ungarn spricht. Und wenn man beim Sprechen von Deutsch zu Deutsch und von Ungarisch zu Ungarisch vernünftigerweise voraussetzt, dass man Missverständnisse jederzeit in hinreichendem Maße ausräumen kann, dann sollte man es für die zwischensprachliche Kommunikation ebenfalls voraussetzen. - Zum Begriff „hinreichend“ folgt Weiteres unten im 42. Spaziergang. Jede Kunstsprache gilt nur für je ein genau begrenztes Wissensgebiet, und für jedes solche Wissensgebiet benötigt man nur eine Kunstsprache. Das ist auffällig, weil in der historischen Entwicklung der Wissenschaft oft für ein und dasselbe Wissensgebiet erst einmal mehrere Kunstsprachen mit sehr unterschiedlichen Symbolsystemen entworfen wurden. Als z. B. die moderne symbolische Logik im 19. und 20. Jahrhundert nach und nach entwickelt wurde, arbeiteten daran gleichzeitig viele Gelehrte in Deutschland, Frankreich, USA, Polen usw., und jeder schuf zunächst sein eigenes Symbolsystem. Je genauer man aber in Kontakt miteinander kam und je genauer man dabei in dies Wissensgebiet eindrang, desto klarer zeigte sich, dass man diese mehreren Symbolsysteme eines ins andere übersetzen konnte, und zwar gelingt die Übersetzung in dieser Sphäre blanker Präzision ohne irgendeinen Rest von Ungenauigkeit (wie er beim Übersetzen im Bereich natürlicher Sprachen unvermeidlich bleibt). Deshalb war es nicht schwierig, sich für die Praxis der Logik, der Mathematik usw. schließlich auf je ein einziges Symbolsystem zu einigen. Im Gegensatz dazu gibt es jederzeit sehr viele natürliche Sprachen nebeneinander. Dass das so sein muss, leuchtet vielleicht nicht unmittelbar ein, besonders da wir ja festgestellt haben, dass im Prinzip jede einzelne natürliche Sprache ihre Ausdrucksmöglichkeiten bei Bedarf so sehr erweitern kann, dass sie für die ganze Welt ausreichen. Weshalb also trotzdem jederzeit viele Einzelsprachen nebeneinander? Das lässt sich in folgender Weise verstehbar machen. <?page no="161"?> 149 Dass eine natürliche Sprache irgendwann untergeht, ist schon vielfach passiert: Von der Sprache der alten Hethiter z. B. und von vielen anderen, von deren früherer Existenz wir wissen, ist heute nichts mehr übrig. (Das ‚tote‘ Latein ist insofern ein Sonderfall, als es nach der Spätantike zwar nirgends mehr als Muttersprache, aber bis ins 19. Jahrhundert, also eineinhalb Jahrtausende lang, ununterbrochen als Gelehrtensprache in ganz Europa in lebendigem Gebrauch war.) Wenn also irgendwann eine natürliche Sprache untergeht, gibt es insgesamt eine Sprache weniger auf der Welt. Könnte es nun nicht sein, dass in ähnlicher Weise eine Sprache nach der anderen ‚überflüssig’ wird und verschwindet, sodass schließlich nur eine einzige Sprache ‚überlebt’, die dann für alles und alle ausreichen muss und auch tatsächlich ausreicht? Nun, was die Zukunft bringt, kann man nie sicher wissen. Es gibt aber gute Gründe für die Annahme, dass das, was wir uns soeben fragend ausgemalt haben, nie eintreten kann. Je weiter sich nämlich der Anwendungsbereich der überlebenden Sprache über Räume und Völker ausdehnt, desto mehr wird diese Sprache den Charakter einer natürlichen Sprache verlieren. Es werden sich innerhalb dieser All- Sprache wegen ihrer riesigen Ausdehnung allmählich kleinere Sprach- Einheiten herausbilden, gewissermaßen Dialekte, deren Sprecher sich zwar anfangs, wenn auch mit Schwierigkeiten, noch direkt verständigen können, etwa wie wenn heute ein Friese und ein Steiermärker miteinander Deutsch sprechen. Aber die Schwierigkeiten werden zunehmen, je mehr sich diese kleineren Einheiten verselbständigen - und das wird, wenn jene All-Sprache sich immer weiter ausdehnt, durch keine Regelung verhindert werden können, sodass schließlich neue, ganz selbstständige natürliche Sprachen entstehen, zwischen denen die direkte Verständigung nicht mehr klappt, sondern es muss eben übersetzt werden. So sind einst aus dem untergehenden Latein die romanischen Sprachen erwachsen. Und noch viel früher, in vorgeschichtlicher Zeit, haben sich auf diese Weise die indogermanischen Sprachen aus ihrer zwar nirgends überlieferten, aber doch sehr zuverlässig erschlossenen Ursprache abgespaltet. Hier könnte man einwenden: Das war vor Jahrhunderten und Jahrtausenden. Aber wir heute leben im Zeitalter der globalen Zusammenschlüsse, die Welt wird immer kleiner. - Schön, nehmen wir also weiter an, dass es eines Tages so weit kommt, dass tatsächlich die ganze Erde technisch-wirtschaftlich-wissenschaftlich restlos „zusammengeschlossen“ ist - was immer man sich darunter vorstellen mag (denn klar und konkret kann sich das heute noch niemand vorstellen). - Wird <?page no="162"?> 150 dann nur noch eine Sprache nötig sein und für alles und alle ausreichen? Auch hier muss die Antwort wohl wieder Nein heißen. Zwar ist es wahrscheinlich, dass in der eigentlichen Domäne dieser Zusammenschlüsse, also in Technik, Wirtschaft und Wissenschaft, das Englische künftig die Sprache ist, die jeder beherrschen muss, der mitreden will (so weit sind wir ja auch heute schon). Und da niemand sich dem Einfluss dieser gewaltigen „Domäne“ völlig entziehen kann, wird Englisch bestimmt eine wichtige Rolle spielen. Aber zweifellos wird unsere Erde trotz alledem auch künftig neben ihrer einen total uniformierten, gewaltig dominanten, globalisierten Seite sehr viele andere Seiten haben, die eben nicht uniform sind. In Brasilien wird es auch künftig heißer sein als in Grönland, und deshalb wird es in Brasilien z. B. mehr Bananen geben als in Grönland, in Grönland dagegen mehr Schnee und Eis als in Brasilien. Diesen Unterschied wird man nicht einebnen wollen, obwohl man das technisch natürlich könnte (technisch ist ja fast alles möglich), - aber wer wäre so verrückt, in Grönland Bananen züchten oder in Brasilien olympische Winterspiele austragen zu wollen? Also wird in Brasilien auch künftig für die Vielzahl von Bananensorten und den vielfältigen Gebrauch und Genuss, den man davon hat, „mehr Sprache“ nötig sein, in Grönland dagegen „mehr Sprache“ für die vielfältigen Erscheinungs- und Erlebensformen von Schnee, Eis und Kälte. Und: In Brasilien wird Karneval gefeiert, in Grönland gibt es natürlich auch Feste, aber ganz andere, und es gibt anderes darüber zu sagen usw. usw., kurz: Es ist zu vermuten, dass die Fülle dieser Verschiedenheiten in der „ganzen Welt“ Grund genug ist, dass die Menschheit auch künftig jederzeit viele Sprachen spricht. Wir müssen deshalb das früher Gesagte noch einmal genauer differenzieren: Auch wenn jede Sprache prinzipiell die Möglichkeit hat, ihre Ausdrucksformen bei Bedarf nach allen Seiten zu erweitern, sodass man mit Recht behaupten kann, jede Sprache sei in der Lage, „die ganze Welt“ in allen ihren Einzelheiten zu erfassen, so wird das doch nur „bei Bedarf“ verwirklicht. Diese „prinzipielle Möglichkeit“ ist zwar gegeben, aber sie wird von keiner Sprache zu keinem Zeitpunkt voll realisiert. Jede Sprache könnte also tatsächlich prinzipiell alles erfassen, aber konkret erfasst sie immer nur, was die Sprachgemeinschaft im jeweils gegebenen Moment benötigt. Das aber erfasst sie jederzeit minutiös und vollständig. Man kann die Vielsprachigkeit der Menschheit als ein gigantisches Unschärfe-Phänomen betrachten, und man kann darin, genau wie in der Unschärfe der einzelnen sprachlichen Ausdrücke, zwar einen <?page no="163"?> 151 gewissen Nachteil sehen, oder auch eine göttliche Strafe für die Hybris der Menschen, wie die biblische Legende vom Turmbau zu Babel das darstellt. Daneben aber ist die Vielsprachigkeit ein gewaltiger Vorteil (auch darin ist sie der Unschärfe der einzelnen Ausdrücke vergleichbar), und dieser Vorteil überwiegt den Nachteil bei Weitem. Die Vielsprachigkeit ermöglicht es jeder Sprachgemeinschaft, zu jeder Zeit über alle Ausdrücke zu verfügen, für die sie „Bedarf hat“, bewahrt sie aber zugleich vor der Notwendigkeit, für alle momentan noch nicht erforderlichen, sondern lediglich theoretisch denkbaren Ausdrucksbedürfnisse (und das wären ja Millionen! ) vorsorgen zu müssen. Die Grönländer bewahrt sie davor, unzählige Differenzen bei Bananen benennen zu sollen: in Grönland genügt ein Wort „Banane“. Und die Brasilianer bewahrt sie davor, unzählige Ausdrücke für Schnee, Eis und Kälte bereithalten zu müssen: In Brasilien braucht man das nicht. Die Vielsprachigkeit hindert die Menschen jedenfalls nicht daran, miteinander zu kommunizieren. Nicht nur in der Einzel-Person gehören Sprechen und Denken unabdingbar zusammen, sondern ebenso auch zwischen mehreren Menschen. Kein Mensch denkt oder spricht auf Dauer für sich allein, sondern er kommuniziert mit anderen, und zwar sowohl denkend wie sprechend (und, notabene, auch handelnd und leidend, lebend und sterbend). Entsprechendes gilt aber auch für ganze Sprachgemeinschaften, auch sie sind in dauernder Kommunikation miteinander: also z. B. die Gemeinschaft aller Deutschen, oder aller Italiener, oder aller Russen usw. Ja es gilt sogar noch umfassender für die gesamte Menschheit. Alles menschliche Sprechen und Denken geschieht im weitesten Rahmen des gesamten Menschengeschlechts, und zwar aller Zeiten: Die Menschen haben immer auch mit Menschen anderer Sprachen kommuniziert, und nicht nur mit den Zeitgenossen, mit Menschen ihrer Gegenwart: Sie haben auch immer der Vorzeit gedacht, sie zu erforschen versucht und von ihr gesprochen, sie gepriesen oder verflucht, - und ebenso haben sie jederzeit der künftigen Menschen gedacht und von ihnen gesprochen. So allumfassend ist die unabdingbare Zusammengehörigkeit von Denken und Sprechen. Diese all-umfassende Gesamtheit von Sprechen und Denken ist das e i n e gleich-gewichtige (adäquate) Gegenstück zur Gesamtheit der „Welt“. Wenn man sich also (im Irrealis! ) vorstellt, man hätte alles Denken und Sprechen aller Menschen und aller Zeiten vor sich, dann hätte man alle Wahrheit - freilich zugleich auch alle Unwahrheit. <?page no="164"?> 152 Zwölfte Runde „Die“ natürliche Sprache 38. Spaziergang Gibt es „die“ natürliche Sprache? Diese zwölfte Runde unserer Spaziergänge besteht ausnahmsweise nur aus einem einzigen Spaziergang, der aber ist höchst wichtig. Wir haben bisher hin und wieder - einfach mir nichts dir nichts, ohne viel Worte darüber zu verlieren - von „der“ Sprache (Singular! ) gesprochen, und zwar auch an Stellen (z. B. schon in der Kapitelüberschrift „Sprache und Welt“), wo nicht etwa irgendeine spezielle Einzelsprache gemeint war, sondern eben „die“ natürliche Sprache ganz allgemein. - Nun gibt es aber doch, wie wir soeben lang und breit dargestellt haben, sehr, sehr viele natürliche Sprachen auf der Welt. Je nachdem, wie man einteilt, wie man also die großen, ganz selbständigen „Sprachen“ von den nicht ganz so selbständigen „Dialekten“ abgrenzt, kommt man auf eine Zahl von mehreren hundert oder sogar mehreren tausend verschiedenen Sprachen, die im gegenwärtigen Zeitpunkt auf dieser Erde gesprochen werden. Wie hat man sich die Entstehung dieser Hunderte oder Tausende von natürlichen Sprachen vorzustellen? Und wie verhält sich diese unleugbare Vielheit zu „der“ (einstweilen noch dubiosen) einen Sprache, von der wir so mir nichts dir nichts geredet haben? Den ersten Ansatz einer Antwort bringt die Beobachtung von sprachlichen Ähnlichkeiten: Innerhalb sogenannter Sprachfamilien (wie z. B. der Familie der indogermanischen Sprachen) zeigen sich deutliche Züge von Sprachverwandtschaft, die gewisse Schlüsse auf die geschichtliche Entstehung bestimmter Sprachen und Sprachgruppen zulassen. So wurde im vorigen Spaziergang erwähnt, dass alle romanischen Sprachen sich aus einer Ursprache, dem Lateinischen, entwickelt haben. Hiernach stellt sich die Frage: Hat es etwa in ähnlicher Weise irgendwann in grauer Vorzeit eine Ursprache gegeben, aus der sich alle natürlichen Sprachen herleiten lassen? - Diese Frage muss man klar <?page no="165"?> 153 mit Nein beantworten. Die Sprachen unserer Erde sind, wenn man ihre ganze Vielfalt in den Blick nimmt, in allen ihren Formen, in Wortschatz und Grammatik so ungeheuer verschieden, dass sich eine solche gemeinsame historische Wurzel nicht vorstellen lässt. Das ist höchst merkwürdig. Das heißt nämlich, dass das „Phänomen Sprache“ nicht zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort ein für alle Male aufgekommen ist, sondern dass dieses Menschheits-Ur-Ereignis mehrmals, an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte der Menschheit geschehen ist. Ein und derselbe Entwicklungsschritt der Menschheit ist demnach mehrmals geschehen. Wieso hat er nicht ein für allemal genügt? „Gibt es“ überhaupt „die“ eine, einzigartige natürliche Sprache? Ja. Es gibt sie zweifellos, und das ist wichtig genug, dass wir uns darüber möglichst genau verständigen müssen. Zunächst sollten wir einsehen: „Es gibt“ nicht nur Materielles: Kartoffeln, Kieselsteine und dergleichen. Wir haben z. B. schon früher unsere Überzeugung ausgesprochen, dass es Wahrheit gibt, dass Wahrheit „nicht nichts“, sondern etwas Seiendes ist (Näheres dazu am Ende dieses Kapitels). In ähnlicher Weise ist auch „die“ natürliche Sprache (im Singular) etwas real Seiendes. Es ist freilich keine Ur-Sprache, aus der sich in zeitlichgeschichtlicher Entwicklung alle speziellen Sprachen herleiten lassen. Es ist noch nicht einmal eine reale Sprache, die irgendwann irgendwo tatsächlich gesprochen wurde. Es ist vielmehr das Allgemeine, Elementare, Einfache, das allen natürlichen Sprachen zugrunde liegt - nicht etwa zeitlich-historisch zugrunde l a g, sondern zeitlos zugrunde l i e g t und sich in jeder speziellen natürlichen Sprache auf besondere Weise entfaltet. Es ist ganz einfach die Fähigkeit, dass die Menschen (und zwar alle Menschen, in allen so verschiedenen Völkern und Zeiten) sprechen können, dass sie also das, was sie von der Welt erfassen, nicht in wüstem Durcheinander in sich herumtragen müssen, sondern es in sprachlicher Form ‚verfestigen’ und dann auch einander mitteilen können. In jeder natürlichen Sprache entwickelt sich zwar diese allgemeine Sprechfähigkeit zu irgendwelchen ganz speziellen grammatischen und Wortschatz-Strukturen, und diese sind, wie gesagt, in den einzelnen natürlichen Sprachen geradezu ungeheuer unterschiedlich, so unterschiedlich, dass man sich eine gemeinsame Ur-Sprache aller Sprachen nicht vorstellen kann, - und doch gestalten sich dabei in <?page no="166"?> 154 allen Sprachen einige grundlegende Züge völlig gleichartig, - höchst merkwürdig. Die wichtigsten dieser „gleichartigen Züge“ kennen wir schon: Erstens: Die „Verfestigung“ der Welterfahrung ist in allen natürlichen Sprachen keine starre, sondern eine lebendig-bewegliche. Sämtliche Ausdruckselemente (Wörter, Satzformen usw.), die im Zuge dieser sprachlichen Verfestigung geschaffen werden, stehen zu den Einzelheiten der Welt, die durch sie ausgedrückt („verfestigt“) werden, nicht in scharf-präzisem Eins-zu-Eins-Verhältnis, sondern sie sind unscharf, unpräzise, - dafür aber sind sie in hohem Grade prägnant (bedeutungsgeladen - und bei Bedarf mit neuen Bedeutungen ‚aufladbar’). Alle natürlichen Sprachen zeigen die Welt und ihre Einzelheiten nicht im leblosen Abklatsch, sondern in lebens- und bedeutungsvollen Symbolen. Zweitens: Alle diese so verschiedenen Sprachen verfahren bei der etwa notwendigen Neu-Schaffung von Ausdrucksmitteln gleichartig: Sie schaffen neue Ausdrucksmöglichkeiten z. B. mittels Ausdrucksübertragung und Umschreibung. Hierin wird also mit Händen greifbar, dass das Phänomen Sprache, obwohl es tatsächlich an mehreren Stellen und zu verschiedenen Zeiten entstanden ist, trotzdem eine einzigartige Ur-Mitgift des Menschen darstellt, aller Menschen, und nur der Menschen. Das heißt nicht, dass wir Menschen uns über alle anderen Geschöpfe Gottes unvergleichlich erhaben dünken dürften. Zweifellos haben auch Tiere Möglichkeiten der gegenseitigen Verständigung. Bei manchen Tierarten sind diese Verständigungssysteme gut erforscht, bei den Bienen z. B. oder bei den Graugänsen. Diese Tier-„Sprachen“ sind übrigens in noch weit höherem Maße unscharf und unpräzise als die der Menschen, - und doch sind sie für die Tiergemeinschaft optimal brauchbar. - Das wirklich Erstaunliche an der menschlichen Sprache ist, dass sie sich zwar bei den verschiedenen Völkern im Detail geradezu extrem verschieden, aber doch in ganz fundamentalen Zügen völlig gleichartig herausgebildet hat. Mit dem Sprechen-Können ist zugleich gegeben, dass die Menschen die Welt auf spezifisch menschliche Weise erfassen können. Es ist die eine, allgemeine Fähigkeit zu sprachlicher und zugleich begrifflicher „Verfestigung“ dessen, was der Mensch von der Welt aufnimmt und erfährt. Darüber sprechen wir ausführlich nachher, in der vierzehnten Runde. Dass es also „die“ Sprache, diesen Inbegriff aller natürlichen Sprachen, als etwas Seiendes gibt, das darf man behaupten. <?page no="167"?> 155 Dreizehnte Runde „Welt an sich“ und „Welt objektiv“ 39. Spaziergang Was heißt „Welt objektiv“? Bisher haben im Mittelpunkt unserer Betrachtung die natürlichen Sprachen gestanden, und zuletzt der Inbegriff all dieser Sprachen, „die“ natürliche Sprache. Fürs Folgende soll der zweite Leitbegriff unseres Kapitelthemas ins Zentrum rücken: Die Welt, samt ihren Einzelheiten. Die jetzt beginnende dreizehnte Runde unserer Spaziergänge trägt zwar rein zufällig die ‚Unglückszahl’ 13, aber sie hat auch etwas Unglückliches an sich: Wir befassen uns hier mit Fragen, von denen manche Menschen überzeugt sind, dass sie uns nichts angehen. Es sind aber Fragen, die den Menschen (auch denen, die ihnen die Bedeutsamkeit absprechen) immer wieder durch den Sinn gehen. Wir haben gesehen, wie machtvoll jede Sprache das Denken und die Weltsicht ihrer Sprachgenossen dominiert. Da kann sich der Gedanke einschleichen, dass uns die Welt überhaupt nur in der Sprache gegeben ist. Nur was sich in der einzelnen Sprache sprachlich realisiert, sei unsere Realität, und die Grenze unserer Sprache sei eben auch die Grenze unserer Welt. Es gäbe dann also eine deutsche Welt für die Deutschsprachigen, eine englische für die Anglophonen, und so fort. Die deutsche und die englische Welt wären zwar auf Grund ihrer sprachlichen Verwandtschaft einander einigermaßen ähnlich, aber keinesfalls völlig gleich. Weiter voneinander getrennte Sprach- Welten dagegen müsste man sich nahezu hermetisch gegeneinander abgegrenzt vorstellen. Das theoretische Endglied dieser fatalen Gedankenkette hieße: Die Welt „an sich“ oder „objektiv“ gibt es gar nicht. Was es gibt, sind sprachlich vermittelte Ansichten von etwas, was jede Sprachgemeinschaft zwar „Welt“ nennt, von dem aber in Wirklichkeit niemand etwas weiß. Praktisch würde aus der fatalen Gedankenkette folgen, dass zwischen Sprechern verschiedener Sprachen, vor allem <?page no="168"?> 156 wenn diese Sprachen nicht nah miteinander verwandt sind, keine wirkliche Verständigung möglich wäre. Diese Menschen könnten vielleicht miteinander sprechen, aber verstehen könnten sie einander höchstens ab und zu durch einen günstigen Zufall. Der geneigte Leser wird sagen: Das ist kompletter Humbug. Erstens ist jeder Stein, an den man seinen Fuß stößt oder der einem ins Fenster oder an den Kopf geworfen wird, so objektiv real, dass er uns unwiderleglich von seiner Realität (und dann doch auch von der Realität anderer Gegebenheiten, und schließlich auch der Welt) überzeugt. Zweitens ist diese fatale Gedankenkette einfach nicht akzeptabel, sie darf nicht wahr sein, die Menschen müssen sich verständigen, und sie können es auch. Das wird ja täglich und stündlich durch die millionenfache Praxis des Sprachverkehrs bewiesen. - Letzten Endes, lieber Leser, halte ich deine beiden Argumente für richtig, wenigstens ungefähr. Es lohnt sich trotzdem, der Sache genauer nachzugehen, weil da Sinn und Unsinn nahe beieinander liegen. Denn, lieber Leser, deinem Erstens stimme ich nur von ferne und ungefähr zu, dein Zweitens dagegen halte ich in vollem Umfang und entschieden für richtig. Die oben genannte fatale Gedankenkette ist uralt, - sie geistert eben immer wieder durch den Menschensinn. Die griechischen Sophisten haben etwas Ähnliches schon vor zweieinhalb Jahrtausenden als das Neueste im Reich des Denkens ihren staunenden Zuhörern vorgetragen. Gorgias (im 5. Jh. v. Chr.) hat es in drei Sätzen kurz und bündig formuliert. Erstens: „Es gibt nichts“. Zweitens: „Selbst wenn es etwas gäbe, wäre es nicht erkennbar“. Und drittens: „Selbst wenn erkennbar, wäre es jedenfalls nicht mitteilbar“. Das heißt: Auch wenn irgendwelche Menschen tatsächlich etwas Seiendes erkennen würden, gäbe es keine Möglichkeit festzustellen, ob das, was das eine Individuum erkennt, dasselbe ist wie das, was ein anderes erkennt. - Ebenfalls im 5. Jahrhundert v. Chr. hat der bedeutendste der Sophisten, Protagoras, diesen skeptischen Relativismus in das berühmtberüchtigte Motto zusammengefasst: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge: der seienden, dass sie sind, und der nicht seienden, dass sie nicht sind“. Nach diesem Seitenblick auf die frühe Geschichte dieser fatalen Vorstellungsweise nun zur Sache. Wir werden die Sache aber auf zwei getrennten Wegen verfolgen, und es werden sich dabei auch zwei wohl zu unterscheidende Ergebnisse herausstellen. In diesem 39. Spaziergang fragen wir: Was heißt „Welt objektiv“ und: Gibt es „die Welt objektiv“? Im 40. fragen wir dann: Was heißt „Welt an sich“ und: Gibt es „die Welt an sich“? <?page no="169"?> 157 Dass die Welt und ihre Einzelheiten uns nur in der Sprache gegeben sind, stimmt offensichtlich so einfach nicht: Wir sehen sie doch, wir hören, schmecken, fühlen sie. - Schön. - Dazuhin allerdings - seltsam! - denken und sprechen wir doch über sie. Weshalb denn außerdem das? Genügt es nicht, zu sehen und zu hören, zu schmecken und zu fühlen? Was hat es für einen Sinn, dass wir das Gesehene, Gefühlte, Gehörte außerdem noch bedenken und besprechen? Nun, das wissen wir seit unserem 3. Spaziergang: Sinneseindrücke allein ergeben keine Erfahrung der Welt, die entsteht erst zusammen mit dem Denken-und-Verstehen (und, wie uns inzwischen klar geworden ist: mit dem Sprechen). Ein im Wege liegender oder ins Fenster oder an den Kopf geworfener Stein ergibt also noch keine Welt- Erfahrung. Es ergibt sich zwar „etwas“, aber solange das Etwas nicht bedacht und (mindestens stumm) ‚besprochen’ ist, ist es etwas total Ungenaues, Uneingeordnetes. Man kann dieses ungenaue Etwas gar nicht so ungenau ausdrücken, wie es nötig wäre - jeder Versuch, das Ungenaue zwar im Ungedachten und Unbesprochenen zu belassen, es aber doch sprachlich zum Ausdruck zu bringen (z. B. indem ich es hier niederschreibe), drückt es unweigerlich viel zu genau aus. Ein solcher Versuch hat also notgedrungen ein ganzes Pfund verrückte Absurdität an sich - wie sollte auch der Versuch, das Ungesprochene, Ungedachte zu sprechen und zu denken, nicht verrückt sein. Wir müssen nun vor allem klar sehen, dass der Begriff „objektiv“ doppeldeutig ist, - je nachdem ob man ihn in seiner genauen Wortbedeutung nimmt oder in seiner herkömmlichen, wenig genauen Verwendung in der Alltagssprache und im Alltagsdenken. Nach seiner genauen Wortbedeutung heißt „objektiv“ so viel wie „als Objekt“ oder „objektmäßig“. - „Die Welt objektiv nehmen“ heißt also „sie als Objekt nehmen“, nämlich als Objekt menschlicher Erkenntnis. Und das heißt: sie gerade nicht so nehmen wie sie (vielleicht, wenn man darüber etwas wissen könnte) an sich ist, sondern so wie sie sich zeigt, wie sie erscheint, nämlich wie sie unserer Erkenntnis erscheint. Wer die Welt als Objekt menschlicher Erkenntnis sieht, sieht sie eben unausweichlich als Erkennender, und das heißt unweigerlich auch: als Denkender und Sprechender. - Zur Sicherheit sei noch einmal gesagt, dass diese unumgehbare Objektivität menschlichen Welt- Erkennens keinesfalls eine wirre, unzuverlässige, wertlose Erkenntnis erbringt, sondern sie erbringt stabile, verlässliche, insbesondere auch von Mensch zu Mensch „objektiv“ mitteilbare Erkenntnis. In seiner herkömmlichen, ungenauen Verwendung heißt jedoch „die Welt objektiv sehen“ so viel wie „sie so sehen wie sie an sich <?page no="170"?> 158 wirklich ist“. Diese Verwendung des Worts „objektiv“ setzt also naiv voraus, dass man die Welt so sehen k a n n, wie sie an sich wirklich ist. - Man sieht: Die beiden Bedeutungen von „objektiv“, die genaue und die landläufig-ungenaue, stehen in diametralem Gegensatz zueinander. Aber da hält uns unser Leser vielleicht entgegen: Man kann doch sagen (und denken), dass man die Welt irgendwie „hat“, auch ohne Sprache-Denken-Verstehen, - man hat sie meinetwegen völlig undeutlich, aber man hat sie doch. Die Welt hat uns, und so haben auch wir sie. - Freilich, lieber Leser, das denke und sage ich auch - wir werden dem im nächsten Spaziergang unter dem Stichwort „Welt an sich“ genauer nachgehen. Wir fingieren jetzt ein kleines Streitgespräch, in welchem ein besonders Hartnäckiger mit Hilfe landläufig-ungenauer Argumente behauptet, dass man das objektive Sein, die objektive Existenz der Welt und ihrer Einzelheiten annehmen darf oder sogar muss, ohne dass man zugleich einen sprachlich-denkerisch vermittelten Erkenntnis- (Einordnungs-)Vorgang annehmen müsste. Wir unsererseits wollen dem Hartnäckigen diese Behauptung nicht so ohne Weiteres zugeben, allerdings wollen wir sie, wie sich zeigen wird, auch nicht in allen Details leugnen. Das heißt: Wir halten es wieder einmal für nötig, genauer zu differenzieren, damit wir Sinn und Unsinn, die in diesem Felde so eng beieinander liegen, sauber trennen können. Der Hartnäckige würde also an den uns im Wege liegenden oder ins Fenster oder an den Kopf geworfenen Stein anknüpfen und argumentieren: Der Stein bewirkt doch etwas, z. B. Beulen oder Scherben oder schlimmstenfalls den Tod, also muss er doch wirklich sein - „wirklich“ kommt doch von „wirken“. - Antwort: „Wirklich“ kommt tatsächlich von „wirken“. Dass da also „an sich“ etwas bewirkt wird, leugnen wir nicht. Aber wer da etwas bewirkt, und was da bewirkt wird, und dazu sämtliche näheren und weiteren Umstände dieses Wirkens (sogar einschließlich des Begriffes Wirkung selbst): all das bleibt zunächst in jenem absurd-verrückten Zustand totaler Ungenauigkeit. Man kann all das eben nicht denken oder in Worte fassen, ohne es zu denken und in Worte zu fassen. Kurz: Diese ‚Wirkung’ ist erst einmal reines Nichts. Solange kein Denken und Sprechen mit im Spiele ist, das registriert, beschreibt, einordnet, wahr-nimmt, versteht, ist die ganze Wirkung ein Nichts. Erst im Sprechen, Denken, Einordnen, Verstehen ist festzustellen: Da ist ein Stein, der etwas bewirkt, z. B. Scherben usw. <?page no="171"?> 159 Wenn unser Hartnäckiger noch nicht Ruhe gibt, können wir ihm klarmachen, dass er doch offenbar zwischen Stein und Scherben (oder zwischen Stein und Beule, oder zwischen Stein und Tod) einen ursächlichen (Wirkungs)-Zusammenhang konstatieren möchte. Gerade dieser ursächliche Zusammenhang entsteht aber erst, wenn er eingeordnet wird, also im Denken, Sprechen und Verstehen. Nehmen wir (absurderweise) einmal an, dass schon das bloße Sein des Steins auf der einen Seite, und das bloße Sein der Beule oder des Todes auf der anderen Seite (also ohne alles Sprechen, Denken usw.) uns berechtigen würde, zwischen diesen beiden Seiten einen ursächlichen Zusammenhang zu konstatieren, dann bliebe es völlig unerklärlich, wie Irrtum möglich ist. Man müsste dann nämlich jeden x-beliebigen Zusammenhang zwischen x-beliebigen Entitäten („seienden Dingen“) als wahr anerkennen, oder richtiger gesagt: Es gäbe nirgends weder Wahrheit noch Irrtum. - Dieser ganze Gedankengang ist jedoch, wie gesagt, von vornherein absurd-verrückt, denn es gäbe ja da gar kein „wir“, welches „Zusammenhänge konstatieren“ könnte. - Irrtum und Wahrheit zu unterscheiden ist Aufgabe des Denkens, Sprechens, Verstehens. Dass das Denken-Sprechen-Verstehen Wahrheit und Irrtum immer zweifelsfrei zu unterscheiden vermag, kann man leider, wie uns klar geworden ist, nicht behaupten. Aber die Aufgabe und (günstigenfalls) die Möglichkeit des Unterscheidens von Wahrheit und Irrtum bleibt, und sie bleibt als Aufgabe des Denkens-Sprechens-Verstehens. Und vollends wenn unser Hartnäckiger sagt, dass als Wirkung des Steins „schlimmstenfalls“ der Tod eintritt: Wie in aller Welt könnte man auf die Idee kommen (gesetzt es gäbe da ein „man“ und „Ideen“ - was der Hartnäckige ja aber gerade leugnet), dass der Tod „schlimm“ oder sogar „im höchsten Grade schlimm“ ist, wenn kein Denken und Sprechen und wertendes Verstehen mit im Spiele ist, welches gut und schlimm unterscheidet und sogar noch Grade des Guten bzw. Schlimmen kennt? Ob der Hartnäckige jetzt überzeugt ist, weiß ich natürlich nicht. Wir entlassen ihn jetzt jedenfalls mit allen guten Wünschen aus unserem fingierten Streitgespräch und halten fest: Wer (landläufigungenau) meint, dass die Welt objektiv existiert, stellt sich vor, dass sie genauso ist, wie wir sie erkennen (denken, aussprechen). Außerdem hält er aber hartnäckig-gedankenlos an der Vorstellung fest, dass sie so ist und existiert, o h n e d a s s wir sie erkennen (denken, aussprechen). Diese Kombination von Vorstellungen aber ist absurd. „Objektivität“ als klaren Begriff können wir nur konstatieren als (notwendiges, Erkenntnis ermöglichendes) Gedankengebilde, und <?page no="172"?> 160 somit nur im Erkennen, Aussprechen, Denken und Verstehen. - Nicht aber können wir Objektivität konstatieren in der „Welt an sich“. Damit kommen wir zu unserem zweiten Fragenpaar: Was heißt „Welt an sich“? und: „Gibt es die Welt an sich? “ 40. Spaziergang Was heißt „Welt an sich“? Wenn die Erkenntnisse der heutigen Wissenschaft über Erdgeschichte, Astronomie usw. nicht ganz trügerisch sind, gab es einmal eine Zeit, wo die Erde und unser Sonnensystem schon waren, aber noch keine Menschen auf der Erde. Wenn aber Erde und Sonne schon waren, gab es z. B. auch schon den Wechsel von Tag und Nacht auf der Erde. Da indessen Menschen noch nicht waren, hat seinerzeit kein Mensch diesen Wechsel beobachtet, niemand hat darüber gesprochen oder sich etwas dabei gedacht, kein Mensch hat sich bei hereinbrechender Nacht gefürchtet oder sich über den wiederkehrenden Tag gefreut. - Übrigens versteht sich von selbst, dass zwar dieser Zustand damals bestand, die eingangs erwähnte wissenschaftliche Erkenntnis dieses Zustands aber damals noch nicht bestand. Diese Erkenntnis konnte erst sehr viel später, und bestimmt nicht ohne sprachliche und denkerische Kommunikation unter den Menschen, zustande kommen. Irgendwann später waren also dann auf der Erde ganz frühe Vorformen des Menschen, und später höher entwickelte Vorformen, und eines Tages schließlich waren Menschen da. Wann war das? Mit irgendeiner auch nur annähernd genauen Zahl von Jahren, Jahrtausenden oder Jahrmillionen kann ich diese Frage nicht beantworten, und vielleicht kann das niemand. Aber eines kann man sagen: Als jene Vor-Menschen anfingen zu sprechen und zu denken, und somit anfingen in typisch menschlicher Weise sich die Welt erkennend-begreifend zu eigen zu machen, da waren es erste Menschen. Wir fühlen uns nach dem allem berechtigt, zu behaupten, dass es ein irgendwie real existierendes Sein der Welt und ihrer Einzelheiten „an sich“ gab, längst ehe Menschen waren, die dies „an-sich-Seiende“ dann erkannten und benannten. - Und nichts hindert uns, weiter zu behaupten: Nicht nur damals (lange Zeit vor den Menschen) gab es <?page no="173"?> 161 dies „An-sich-Seiende“, sondern auch heutigen Tages noch gibt es das, - ein irgendwie reales Sein, das real ist, auch wenn es von keinem menschlichen Erkenntniswillen, von keinem menschlichem Sprechen und Denken „objektivierend“ behelligt wurde oder wird. Das „irgendwie“ Reale besteht also „an sich“, aber w i e es beschaffen ist, können wir nicht sagen. Erst wenn wir es erkennend objektivieren, können wir etwas darüber sagen, aber auch dann nur, wie es uns als Erkennenden erscheint, nicht aber, wie es „an sich“ ist. Wir können uns das vielleicht leichter klarmachen, wenn wir an spezielle Erkenntnisse denken, die vor einiger Zeit noch nicht gegeben waren, jetzt aber gegeben sind. Denken wir an die Rückseite des Mondes, oder an irgendwelche vor wenigen Jahren oder auch Jahrhunderten neu entdeckten Sterne und Planeten: Alles das war seit Jahrmillionen „an sich“ irgendwie real seiend vorhanden, ehe es von einem menschlichem Erkenntniswillen objektiviert wurde. Selbst wenn der Mensch dann irgendwann einmal anfängt, dieses reale An-sich-Sein irgendwo seiner Aufmerksamkeit und seines Erkenntnisstrebens zu würdigen, kann er es nicht grundlegend ändern und nicht radikal vernichten, er kann es im Ganzen nur als gegebenes hinnehmen. - Und nochmals merkwürdig: Eben wenn er es im Ganzen hinnimmt: Gerade dann und dadurch kann er es in Einzelzügen modifizieren, in Einzelheiten ändern, es z. B. in gewissen Grenzen, in bescheidenem Maße, seinen Wünschen und Bedürfnissen anpassen. Mit der „an-sich-seienden Welt“ hat der Mensch also nie etwas zu tun. Zu tun hat er mit der „objektiven“, das heißt: mit der in menschlicher Erkenntnis objektivierten Welt, die er erkennen (und gestalten) kann. - Nun aber wohlgemerkt: Ich sage, „zu tun“ hat der Mensch mit der an-sich-seienden Welt nichts. Dass er hingegen etwas mit ihr zu denken hat, ist unbestreitbar. Eben in diesem Augenblick denken wir ja (schreibend bzw. lesend) diese an-sich-seiende Welt. Denken kann der Mensch insbesondere, dass die Welt „an sich irgendwie real existiert“. Und es ist sogar das einzig Vernunftgemäße, wenn er so denkt. Nun ist allerdings klar, dass der Mensch a u c h denken kann, dass die Welt an sich real nicht existiert - die Menschen schrecken ja vor nichts zurück. Unser vorhin bemühter Hartnäckiger (wir sind ihn also immer noch nicht los! ) kann uns sogar entgegenhalten, dass die ganzen oben angeführten ‚Erkenntnisse’ (dass also die Erde und die Sonne usw. „an sich irgendwie“ längst da waren, ehe Menschen da waren, usw.) nicht zwangsläufig zu der Folgerung nötigen, dass die Welt und ihre Einzelheiten an sich tatsächlich existieren. Es lässt sich nämlich auch denken, dass die genannten ‚Erkenntnisse’ gar nichts tatsächlich <?page no="174"?> 162 Existierendes erkennen, sondern nur von menschlichen Gehirnen ausgedacht oder vorgestellt sind, in der Art der am Anfang des 39. Spaziergangs vorgestellten „fatalen Gedankenkette“. - Schön, - oder vielleicht auch nicht schön (nämlich dass sich so ein schlauer Einwand gegen uns vorbringen lässt und wir nichts dagegen unternehmen können). - Nur: Der gegenteilige Gedanke, der unserem Hartnäckigen dabei vermutlich vorschwebt, dass nämlich aus seinem schlauen Einwand folgen müsste, dass die Welt „an sich“ nicht existiert: diese Folgerung ist nach Lage der Dinge ebenso wenig zwangsläufig notwendig. Beweisbar ist weder, dass die Welt „an sich“ existiert, noch dass sie „an sich“ nicht existiert. Die Partie steht unentschieden. - Was sollen oder können wir mit diesem Unentschieden anfangen? Mehreres: E r s t e n s: Oben nannten wir den Gedanken, dass die Welt zwar objektiv genauso ist, wie wir sie erkennen, trotzdem aber so ist, ohne dass wir sie erkennen - diesen Gedanken nannten wir absurd. - Dagegen der jetzt zur Debatte stehende Gedanke, dass die Welt „an sich irgendwie“ real ist und existiert, auch wenn sie nicht von Menschen erkannt und „zur Sprache gebracht“ (und ebendarin objektiviert) wird: Dieser Gedanke ist keinesfalls absurd. Z w e i t e n s : Wir können dem Hartnäckigen (wenn er auf uns hört, und andernfalls eben uns selbst) klarmachen, dass er seine Behauptung, dass die Welt an sich nicht existiert, mit der Maxime stützen könnte, alles, was nicht unwiderleglich als wahr bewiesen ist, sicherheitshalber als unwahr in Rechnung zu stellen. Diese typisch moderne Maxime haben wir oben im 33. Spaziergang (dort unter drittens) als schädlich und vernunftwidrig gekennzeichnet und zurückgewiesen, und ganz analog tun wir gut daran, auch die Behauptung, dass es die Welt an sich nicht gibt, als schädlich zu kennzeichnen und zurückzuweisen. Weshalb das? D r i t t e n s: Es ist besser, vernünftiger, der freien Vernunft angemessener, die An-sich-Existenz der Welt zu behaupten, als sie zu bestreiten. Und zwar ist es deswegen besser, weil man eine Welt, die „es gibt“, leichter und ungezwungener als „Gabe“ und insbesondere als zu verantwortende Aufgabe ansieht, während man mit einer Welt, die es an sich gar nicht gibt, eher geneigt sein könnte, willkürlich und hemmungslos umzuspringen. Damit lassen wir es nun genug sein der Fragen, ob die Welt „objektiv“ oder „an sich“ existiert - das sind metaphysische Fragen, die uns nicht <?page no="175"?> 163 direkt angehen, sondern eben in indirekter, gebrochener Weise. Aber immerhin: In dieser Weise „gehen sie uns an“ (dieser Ausdruck ist ganz wörtlich zu verstehen), das heißt: es ist unausweichlich, dass sie den Menschen immer wieder in den Sinn kommen. - Jetzt kommen wir zu einer neuen Runde und zu Fragen, die uns direkter angehen. <?page no="176"?> 164 Vierzehnte Runde Welt „für uns“ 41. Spaziergang Was heißt „Es gibt die Welt“? Wir knüpfen hier an die deutsche Redewendung „Es gibt“ an, - wir führen sie ja in diesem Zusammenhang ohnehin auf Schritt und Tritt im Munde. Statt „Die Welt samt ihren Einzelheiten existiert wirklich“ kann man umschreibend auch sagen: „Es gibt die Welt samt ihren Einzelheiten“. - Nun, wenn vom Geben die Rede ist, könnte man auf den netten Einfall kommen, einige genauere Fragen zu stellen. Erstens: Was ist oder wird gegeben? - Zweitens: Wer ist es, der da gibt? - Drittens: Wem wird das Gegebene gegeben? - Und viertens dann noch: Zu welchem Zweck wird das Gegebene gegeben? E r s t e n s also: Was ist gegeben? Das ist einfach zu beantworten: Die Welt und ihre Einzelheiten. Z w e i t e n s: Wer gibt das? Ja, wer denn? Das unpersönliche „Es gibt“ weist auf keine gebende Person hin, und wir dürfen es ohne Weiteres bei diesem ‚Nicht-Hinweis’ belassen. - Wer es vorzieht zu sagen: Den Geber darf oder muss man Gott nennen (obwohl das ja mit dem Neutrum „es“ nicht im Einklang steht), den wollen wir nicht daran hindern. D r i t t e n s: „Wem“ ist die Welt samt ihren Einzelheiten nun gegeben? Ich nehme an, die Frösche werden wohl die Empfindung haben, dass sie ihnen gegeben ist, und ähnlich doch wohl auch die Libellen und die Tiger und alles sonstige Getier, - und warum sollten nicht auch Pflanzen so empfinden können? Das können wir dahingestellt sein lassen. - Dagegen, dass die Welt samt ihren Einzelheiten unter anderem auch den Menschen gegeben ist, das dürfen wir mit Bestimmtheit sagen. <?page no="177"?> 165 Sodann v i e r t e n s und l e t z t e n s: Zu welchem Zweck ist die Welt den Menschen gegeben? Unsere Antwort lautet: primär zum Erfassen und Gestalten. Ob sie den Menschen auch zum Unterjochen und Ausbeuten gegeben ist, das ist höchst fraglich; aber jedenfalls zum Erfassen und Gestalten ist die Welt den Menschen gegeben. Nun habe ich im vorigen Spaziergang gesagt, das reale Sein der Welt kann der Mensch weder vernichten noch radikal ändern, er muss es als gegebenes hinnehmen. Auf welche Weise aber „nimmt der Mensch hin“? - Darauf ist zu antworten: Der Mensch ist ganz und gar außerstande, die Welt und ihre Einzelheiten so einfach passiv, rein rezeptiv, gewissermaßen sang- und klanglos hinzunehmen. Er nimmt sie zwar tatsächlich hin (und tut gut daran), aber er nimmt sie in der Weise hin, dass er das Gegebene im Hinnehmen aktiv, spontan „gestaltend erfasst“ oder „erfassend gestaltet“. Das tut er auf vielfältige Art und Weise: Er ritzt das Gegebene figürlich in Felswände, er knetet es in Ton, er singt es, er tanzt es, und noch anders, - vor allem aber erfasst er es im Wort und im Gedanken und im Verstehen. Damit ist mehreres angedeutet, e r s t e n s, dass das geistige Erfassen und das tätige Gestalten primär nicht zwei getrennte menschliche Aktivitäten sind. Sie treten dann zwar sekundär auch getrennt (oder wenigstens trennbar) in Erscheinung. Aber dieses Auseinandertreten von Geist und Tat ist etwas Sekundäres, es geht ihm etwas Primäres voran: ein simultanes Gestaltend-Erfassen und Erfassend-Gestalten. Wir haben ähnliche Simultaneitäten schon früher zur Kenntnis genommen: im 3. Spaziergang, als wir den Begriff der Erkenntnis analysierten und zu der Auffassung gelangten, dass das Denken-und- Verstehen, welches die Sinnesdaten ordnet, vom ersten Moment des Erkennensvorgangs an (simultan) mit dabei und mit tätig ist, sodass wir also ‚nackte’ (ungesichtete, ungeordnete) Sinnesdaten streng genommen nie ‚haben’. Wir haben sie immer nur in der Weise, dass sie schon im Moment ihres Auftretens mit Denken-und-Verstehen und mit Sprechen ‚umkleidet’ sind. - Und dann wieder im 34. Spaziergang, als wir uns klarmachten, dass, simultan mit dem Denken-und- Verstehen, unabdingbar auch die Sprache mitspielt und dass sich Denken und Sprechen unablässig simultan gegenseitig anstoßen und höher entwickeln. - Ähnlich also auch hier: Der Mensch ist außerstande, die Welt oder irgendeine ihrer Einzelheiten nur so einfach hinzunehmen. Er kann sie immer nur in der Weise „hinnehmen“, dass er sie im Hinnehmen (denkend-verstehend, sprechend, begreifend, begrifflich) gestaltet. <?page no="178"?> 166 Auch ein Z w e i t e s ist soeben schon angedeutet und muss nur noch vollends klar herausgestellt werden: Mit dem Gestalten ist hier offenkundig noch nicht das werktätige, verändernde Aus- und Umgestalten der Welt gemeint, sondern dasjenige Gestalten, das sich im ersten Sichten, Bedenken, Ordnen und Ansprechen der Welt vollzieht. Im Schöpfungsbericht der Bibel (1. Mose 2, 20) liest man, Adam (zu Deutsch „der Mensch“) habe „einem jeglichen Tier seinen Namen gegeben“. Mit dieser Namengebung hat der Mensch das Gegebene hingenommen, aber auf seine typisch menschliche Weise, nämlich so, dass er es gestaltend, ordnend erfasste und ihm sprachlich-begrifflich feste Gestalt gab. Das spätere werktätige, verändernde Um- und Aus-Gestalten der Welt und ihrer Einzelheiten, das Handeln in der Welt wird mit dieser Auffassung selbstverständlich nicht abgewertet. Es ist etwas eminent Wichtiges, und im normalen Leben der Menschen wahrscheinlich sogar das Allerwichtigste, das stellen wir keinesfalls in Abrede. Wir wollen aber, weil es im Kapitel „Sprache und Welt“ unerlässlich ist, die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Tatsache lenken, dass primär, vor allem Tun und Handeln, ein denkerisch-sprachlich-verstehendes Gestalten der Welt nötig ist. Mit dem Denken und der Sprache versteht, begreift oder erfasst der Mensch die Welt. Da darf man fast wörtlich an ein Greifen und Fassen denken: Die Sprache und das Denken nehmen für uns die Welt und ihre Einzelheiten ‚in die Hand’ und gestalten sie für uns „begrifflich“, also schlicht gesagt: in Worten und Gedanken, und dadurch, n u r dadurch wird sie für uns begreiflich und verfestigt. Dann noch ein D r i t t e s: Man kann die Tatsache, dass Sprache und Denken uns die Welt begrifflich begreiflich machen, auch anders formulieren: Sprache und Denken vermitteln uns die Welt. Das darf man uneingeschränkt wörtlich nehmen. Sprache und Denken treten in die Mitte zwischen uns und die Welt. Was heißt das aber? Steht da zwischen uns und der Welt plötzlich eine unumgehbare, unübersteigbare, undurchdringliche Trennwand namens Denken-Verstehen- Sprechen? Das wäre ja wieder die „fatale Gedankenkette“ der griechischen Sophisten! Das sei ferne: Diese Mittelinstanz trennt uns nicht von der Welt, sondern sie stellt sie begreiflich vor uns hin, sie „stellt sie uns vor“ (wie man uns eine unbekannte Person, die wir kennen zu lernen wünschen, vorstellt), sie verbindet uns mit ihr, und genau deswegen können wir die Welt objektiv erfassen - in dieser Weise haben wir die Wirkung des „Gedanken-Gebildes Objektivität“ schon im 3. Spaziergang beschrieben. Dieses für das Erkennen der Welt unab- <?page no="179"?> 167 dingbare Gedankending Objektivität verhindert nicht das Erkennen, sondern ermöglicht es erst. Sicherheitshalber sei v i e r t e n s angefügt: Man darf jetzt nicht aus Sinn plötzlich Unsinn machen und sagen: Also ist uns die Welt doch nur im Sprechen und Denken gegeben. Nein: Sie ist u n s zwar tatsächlich n i e o h n e unser Sprechen, Denken und Verstehen gegeben, aber das hindert nicht, dass sie ohne all unser Sprechen, Denken und Verstehen an sich irgendwie seit langem existiert und auch heutigen Tages noch existiert, von unserem Denken und Sprechen gänzlich unangefochten, und es kann auch nicht hindern, dass sie anderen ‚Empfängern’, etwa den Tieren und Pflanzen, auch ohne menschliche Sprache und menschliches Denken gegeben sein kann, - darüber können wir zwar nichts Bestimmtes sagen, aber kann das ein Grund sein, es für unmöglich zu halten? F ü n f t e n s: Man kann aus dem Gesagten folgern, dass der Mensch im Welt-Erfassen spontan und schöpferisch tätig ist, - ein stolzes Wort, und ein zutreffendes. - Aber es handelt sich da nicht um eine creatio ex nihilo (nicht um eine „Erschaffung aus dem Nichts“), sondern nur um eine creatio ab dato (eine „Erschaffung auf Grund von Gegebenem“). Der Mensch ist nur subaltern schöpferisch tätig. 42. Spaziergang Welt gestalten - sich selbst gestalten „Uns“ ist, so haben wir gesagt, die Welt gegeben, und wir haben sie, primär jedenfalls, zu dem Zweck bekommen, dass wir sie mittels Sprache und Denken begrifflich und begreiflich gestalten und sie damit objektiv erkennen. - Wer ist denn aber dieses „Wir“? Kann damit irgendeine spezielle Sprachgemeinschaft gemeint sein, eine der vielen tausend natürlichen Sprachen, die es auf der Erde gleichzeitig nebeneinander gibt? Aber da wäre doch sofort zu fragen: Welche denn? Etwa die Gemeinschaft aller Deutschsprechenden? Oder die Sprachgemeinschaft der Aborigines in Australien? Und weiter müsste man fragen: Welche zeitliche Entwicklungsphase dieser speziellen Sprachgemeinschaft wäre da gemeint? Etwa die Deutschen im zwölften Jahrhundert, oder die Aborigines im neunzehnten? Das alles wäre völlig <?page no="180"?> 168 absurd. Hier sehen wir wieder, wie nötig es ist, oberhalb aller speziellen natürlichen Sprachen eine einzige, ideelle Sprache als „die“ natürliche Sprache anzunehmen. Die Aufgabe, die Welt sprechend und denkend begrifflichbegreiflich zu erfassen und zu gestalten, ist als gemeinsame Aufgabe allen Menschen aller natürlichen Sprachgemeinschaften aller Zeiten gestellt. Also nicht nur der Gesamtheit der Menschen, die heutigen Tages unsere Erde bevölkern, sondern dieselbe Aufgabe war auch früher schon allen Menschen gestellt, die jemals gelebt haben. Und sie wird auch künftig die gemeinsame Aufgabe aller Menschengenerationen sein, solange es Menschen auf der Erde gibt. Jede Sprachgemeinschaft erfüllt allerdings diese gemeinsame Aufgabe je an ihrem Ort, je zu ihrer Zeit und je zur Lösung ihrer speziellen Bedürfnisse: So entstehen zunächst Tausende von verschiedenen Sprachen (und in wechselnden Entwicklungsphasen) auf der Erde. Aber damit sind keine unüberwindlichen Trennwände zwischen den Sprachgemeinschaften fixiert. Wir haben schon oben gesagt: Niemand spricht oder denkt auf Dauer für sich allein. Sprache, Denken und Verstehen sind auf Zusammenarbeit und Kommunikation angelegt, und dies nicht nur innerhalb der kleinen Gemeinschaft einer einzelnen Sprache, sondern umfassend im Rahmen der ganzen Menschheit aller Zeiten. Die Verständigung, die Kommunikation zwischen den Menschen, sei‘s innerhalb einer Sprachgemeinschaft, sei’s darüber hinaus, ist also zweifellos ein wichtiger Zweck der Sprache. Sie wird sogar oft als ihr eigentlicher, primärer und Hauptzweck angesehen. Diese Ansicht kann nicht ganz richtig sein. Als den Primärzweck der Sprache haben wir erkannt, dass sie, in Zusammenwirken mit dem Denken und dem Verstehen, für uns die Welt begrifflich-begreiflich erfasst, gestaltet und erschließt. Ehe nämlich dieser erste und Hauptzweck nicht erreicht oder wenigstens in Gang gekommen ist, haben wir Menschen noch überhaupt nichts, worüber wir uns kommunikativ verständigen müssten oder könnten. - Man kann hier zwar einwenden, dass auch dieser Primärzweck der Sprache, also das gestaltende Erfassen der Welt, immer nur kommunikativ zu erreichen ist: Kein Mensch erkennt, begreift und gestaltet die Welt ganz privat, nur für sich alleine. Trotzdem hat es seine Berechtigung, das begreiflich-gestaltende Erfassen der Welt als den primären Zweck der Sprache anzusehen, und die zwischenmenschliche Kommunikation als den sekundären, das heißt als das unabdingbare Hilfsmittel der gestaltenden Welterfassung. <?page no="181"?> 169 Nun entstehen freilich bei der Kommunikation zwischen den einzelnen Sprachen dauernd und unvermeidlich Missverständnisse. Das ist etwas lästig, - aber die Missverständnisse können immer und ausnahmslos bei beiderseitigem gutem Willen soweit behoben werden, dass eine hinreichende Verständigung zustande kommt, wie im 37. Spaziergang gesagt. Die Behebung von Missverständnissen ist das tägliche Brot jedes Sprachgenossen in jeder natürlichen Sprache. Und die Methoden, die ihm dazu an die Hand gegeben sind, sind, wie wir gesehen haben, in allen Sprachen dieselben, so sehr diese Sprachen sich sonst in Struktur und Wortschatz unterscheiden. Jeder Sprachgenosse lernt diese Methoden bereits in der Muttersprache kennen, und so kann er sie auch zwischensprachlich nutzen, und sie können auch dort zu hinreichender Verständigung führen. „Hinreichend“ heißt, dass die Verständigung zwar praktisch gut ist, aber trotzdem theoretisch nie restlos gelingt: So stark, dass auch theoretisch kein Missverständnis mehr möglich bliebe, sind natürliche Sprachen nicht. Natürliche Sprachen sind nie stärker (und man kann da wohl allgemeiner sagen: die Natur überhaupt ist nie stärker), als es notwendig ist. Wenn nun die zwischenmenschliche Verständigung zwar stets hinreichend, aber nie absolut restlos gelingen kann, dann könnte man uns fragen: Welches ist die maßgebende Größe, nach der man ermessen kann, ob eine Verständigung „hinreicht“, - und wonach man ebenso ermessen kann, dass sie gleichwohl nie restlos gelungen ist? Diese maßgebende Größe k ö n n t e die Welt sein, die, wie wir doch annehmen, an sich wirklich real existiert. Wir könnten also die gesuchte beziehungsweise erreichte Verständigung jederzeit daran messen, ob und in welchem Grade sie der real existenten Welt entspricht, und könnten danach feststellen: Jetzt ist die Verständigung noch nicht hinreichend, oder aber: Nun ist sie hinreichend. Das „könnten“ wir, - wenn wir außer unserem erkennendobjektivierenden Denken und Sprechen einen anderen, direkten Zugang zur Welt an sich hätten. Den haben wir aber nicht. Hier sind wir wieder einmal an dem Punkt, wo uns jemand bestreiten könnte, dass die Welt an sich real existiert. Dieser Jemand würde im vorliegenden Falle so argumentieren: Ob und wann eine sprachlich-denkerische Verständigung „hinreichend“ gelungen ist, das braucht man nicht an der „Welt an sich“ zu messen, es genügt, wenn es an der Gesamtheit alles irgendwann Gesprochenen und Gedachten gemessen wird. Diese Gesamtheit alles Gesprochenen und Gedachten ist so mächtig, dass sie <?page no="182"?> 170 ein zuverlässiges Maß für das Hinreichen oder Nicht-Hinreichen von Verständigung abgibt. Darauf würden wir, ganz ähnlich wie schon im 40. Spaziergang, erwidern: Dies Argument mag stark genug sein, um den Versuch, die Existenz der „Welt an sich“ zu behaupten oder gar zu beweisen, ad absurdum zu führen. Es ist aber aus genau denselben Erwägungen auch stark genug, die Behauptung oder den Erweis der Nicht- Existenz der „Welt an sich“ ad absurdum zu führen. Die Partie steht, wie gesagt, unentschieden. Und dies wiederum ist der Punkt, wo wir „aus freier Vernunft“ entscheiden dürfen, dass es (sachlich und moralisch) besser ist, die Existenz der Welt zu bejahen als sie zu leugnen, weil man so die Welt entschiedener als zu verantwortende Aufgabe nimmt. Jeder Mensch und jede Menschengeneration findet die Welt, wenn er sie betritt, bereits als umfassend begrifflich-begreiflich gestaltete und erschlossene vor. Die Aufgabe, die Welt begreifend zu gestalten, ist ihm und seiner Generation dennoch immer von Neuem aufgegeben. Es ist gut, dass ein heranwachsender Mensch zunächst gar nicht ahnt, wie sehr die Welt, in die er hineintritt, schon ausgestaltet ist, und dass sie anscheinend gar nicht auf ihn und seine weitere gestalterische Tätigkeit wartet. Der junge Mensch darf und muss dann allmählich lernen, dass sie dennoch, ja gerade deswegen, auf ihn und die von ihm ausgehende Weitergestaltung dringend wartet. Dass er das lernt, ohne dabei mutlos zu werden, sondern dass er im Gegenteil die Einsicht gewinnt, wo und wie die Welt doch gerade auf ihn als weiter Gestaltenden gewartet hat, und den Mut gewinnt, diese Gestaltung anzugehen: das ist eine der großen Aufgaben der Erziehung durch Eltern, Schule und Umwelt. Im Zuge seiner Entwicklung und Erziehung lernt der Mensch die geistige Tradition kennen, in der er steht, und die, in der andere Menschen standen und stehen. Zugleich lernt er diese Traditionen beurteilen, bewerten, d. h. er lernt, wie und wo allenfalls es seine (und seiner Generation) ureigenste Aufgabe ist, diese Traditionen zu klären, weiterzugestalten, sie etwa miteinander zu verknüpfen, zu ändern usw. - Und in all diesem Kennenlernen lernt der Mensch auch sich selbst kennen. Die Welt erkennen und gestalten heißt immer auch: Sich selbst erkennen und gestalten. Es wäre aber völlig hybride, wenn ein Mensch annähme, dass er sich der bisherigen, also von den früheren Generationen und von anderen Sprachgemeinschaften geschaffenen begrifflich-begreiflichen Weltgestaltung auch nur annähernd vollständig entledigen und die Welt (und damit zugleich auch sich selbst) ab ovo souverän neu gestal- <?page no="183"?> 171 ten könnte. Wir dürfen uns hier an das erinnern, was im 26. Spaziergang zur Konsenstheorie der Wahrheit und zu ihrer Forderung, im Wahrheitsdiskurs alles kritisch zu prüfen, gesagt worden ist. Aufs Ganze gesehen ist der Mensch unabdingbar darauf angewiesen, in und mit den überkommenen Traditionen zu leben und zu wirken. Gerade wenn er das tut, und nur dann, kann er (und soll er) die Traditionen im Einzelnen kritisch prüfen und gegebenenfalls im Einzelnen ändern. Und vollends ist es für den Menschen jederzeit reinweg unmöglich, durch die ganze, viele Jahrtausende alte Schicht überlieferter Weltgestaltung bis zu dem Ur-Punkt hindurchzudringen, an dem er erkennen könnte, wie die Welt war, e h e die ersten Menschen daran gingen, sie begrifflich-begreiflich zu erfassen und zu gestalten. Dass die Welt irgendwie „an sich ist“, dürfen und sollen wir zwar vernunftgemäß annehmen, aber w i e sie an sich war, ehe die ersten Menschen daran gingen sie zu erfassen, das übersteigt offenkundig unsere Fassungskraft. Der bloße Gedanke, so etwas anzustreben, wäre hochgradig absurd. 43. Spaziergang „Alleinvertretungsrecht“? Das Problem „Welt für uns“, d. h. die Frage, wie die Welt für uns Menschen als erkennbare gegeben ist, haben wir in unseren Spaziergängen schon einmal vor Augen gehabt. Das war im 12. Spaziergang. Wir haben da festgestellt: Wenn der streng rationalisierte Wahrheitsbegriff der einzig sinnvolle ist und uneingeschränkt gilt, dann ist die Welt für uns nur in nichtfuturischen Ist-Aussagen fassbar, weil als ‚Kandidaten‘ für die ‚Verleihung‘ des Prädikats „wahr“ nur diese Aussagen in Betracht kommen. Dass allerdings, wenn dies alles unumstößlich gültig wäre, das Reich des für uns Fassbaren und unser ganzes Welt-Verständnis geradezu unerträglich eingeengt wäre, haben wir uns schon damals klargemacht. Um diese Einengung noch deutlicher fühlbar zu machen, haben wir uns damals erkühnt, den Sinn dieses rationalen Wahrheitsbegriffs grell ins Licht zu rücken, indem wir zwei Grundsätze moderner <?page no="184"?> 172 Wahrheitstheorie formulierten, nämlich zum ersten den (offensichtlich unwiderleglichen und für unsere Absicht, einen weiten, umfassenden Wahrheitsbegriff aufzuweisen, scheinbar tödlich-bedrohlichen) Grund-Satz Nr. 1: „dass man über die Welt auf keine andere Weise etwas aussagen kann, als indem man etwas über sie aussagt". Und daran anschließend den Grund-Satz Nr. 2: „dass deshalb das Reich der nicht-futurischen Ist- Aussagen gegenüber unserem Erkenntnisstreben eine Art Alleinvertretungsrecht für die ganze weite Welt hat“, dass es also für uns überhaupt kein anderes gesichertes Wissen über die Welt geben kann als all das (man kann freilich, wegen der Enge des so definierten Reiches, auch sagen: „... als nur das“), was sich in Aussagen dieser eng beschränkten Art formulieren lässt. Der Grundsatz Nr. 1 ist nun freilich nur dann bedrohlich und überhaupt nur dann bedeutungshaltig, wenn man den Ausdruck „Aussage“ streng beschränkt auf die erwähnten nicht-futurischen Ist- Aussagen und alles andere, was Menschen sprachlich äußern, nicht zu den Aussagen zählt. Wenn man dagegen den Begriff „Aussage“ vernünftigerweise nicht so einseitig beschränkt (dass das möglich und geboten ist, haben wir im 29. Spaziergang dargelegt), dann ist dieser scheinbar so bedrohliche „eiserne Grundsatz“ eine bloße Banalität, - zwar unwiderleglich wie andere Banalitäten auch, aber es steckt schlechthin nichts dahinter. Und was den Grundsatz Nr. 2 anlangt, so haben wir im zweiten Kapitel entfaltet, dass der volle und richtige Begriff von Wahrheit umfassender ist als jener rational-präzisierte. Damit steht fest, dass jenes im 12. Kapitel in Frage stehende Vertretungsrecht jedenfalls kein Allein-Vertretungsrecht ist. Noch einige Anmerkungen zu der Formulierung der oben erwähnten Grund-Sätze: Die Formulierung ist, wie angedeutet, „grell“, und sie ist auf unserem eigenen Mist gewachsen. Wir haben dabei mit Bedacht unterschieden zwischen „Reich“ und „Welt“, nämlich zwischen dem (künstlich und absichtsvoll von Menschen konstruierten) Reich der exakt-wissenschaftlichen Aussagen - und der (unabhängig von allen menschlichen Absichten an sich gegebenen) ganzen weiten Welt. Es sollte deutlich werden, dass das Reich der exakten Wissenschaft eben nicht die ganze weite Welt ist, - und dies nicht nur heutigentages nicht, sondern auch früher und künftig niemals. Wir haben dabei nicht im Mindesten eine Abwertung der Wissenschaft im Sinne - das wäre ja verrückt -, sondern wollen nur aufmerksam ma- <?page no="185"?> 173 chen auf diejenigen Weltbereiche, die jenseits der rationalen Wissenschaft liegen. Wir hatten im 12. Spaziergang auch nicht „die“ Wissenschaft allgemein im Auge, sondern speziell den logischen Positivismus/ Empirismus, der seinerzeit die Exaktheitsforderung mit so prinzipieller Schärfe verfochten hatte. Nun ist der logische Positivismus, wie er um 1930 herum in Blüte stand, heute nur noch ein historisches, vergangenes Phänomen. Insofern ist es nicht lohnend, auf seine Widerlegung große Mühe zu verwenden. Indessen: Dieser wissenschaftliche Positivismus war seinerzeit nicht aus dem Nichts entstanden, er war vielmehr (marxistisch ausgedrückt) als „theoretischer Oberbau“ eines lebenspraktischen „Unterbaus“ aufgekommen. Sein Unterbau und Nährboden war die weit verbreitete ungenaue, unwissenschaftliche oder halb wissenschaftliche Anschauung, dass, grob gesagt, nur das Greifbare oder sonst sinnlich Wahrnehmbare „real“ genannt werden könne und dass von irgendwelchen Grenzen der Rationalität nichts zu halten sei. Dieser unwissenschaftliche Nährboden des Positivismus ist nun aber mit der Überwindung des wissenschaftlichen Positivismus nicht einfach vom Erdboden verschwunden, er ist davon kaum berührt worden und existiert auch heute noch weithin und ziemlich ungebrochen. Auch die heute nicht selten geäußerte Skepsis gegenüber den ‚Segnungen’ unserer Wissenschaft hat diesen Unterbau nicht entscheidend schwächen oder gar zerstören können. Sogar diejenigen, die in ihren Reden diese Skepsis öffentlich aussprechen, vertrauen im Leben im entscheidenden Moment eben doch auf jene Segnungen, - die sie doch zugleich so skeptisch betrachten. Es ist ihnen daraus auch kaum ein Vorwurf zu machen, - wer möchte da den ersten Stein werfen? - Diesen hartnäckig bestehenden Unterbau, die Sicherheit, die er zu versprechen scheint, die aber eben fadenscheinig ist, in ein kritisches Licht zu rücken, ist auch heute noch geboten. Dagegen und nur dagegen richtet sich unsere „grelle“ Formulierung und Argumentation. <?page no="186"?> 174 44. Spaziergang Ist auch Gott ein Gegenstand unserer Welt-Erfassung? Wir haben gesehen, wie die Menschen mit ihrem Denken, Sprechen und Verstehen die Welt, i h r e Welt, erfassen und gestalten. Gehört zu dieser ihrer Welt auch Gott? Ist auch Gott ein Gegenstand menschlicher Welt-Erfassung? Kann man Gott meinen, erkennen, erfahren? Gibt es Gott? - Diese Fragen werden bekanntlich verschieden beantwortet: Die einen (die Anti-Religiösen) sagen: Gott gibt‘s nicht, der Ausdruck Gott bezeichnet ein Hirngespinst, etwa von der Qualität des Opiums, das dem Menschen angenehme Gefühle beschert, aber seine Gesundheit ruiniert und seinen Verstand betäubt. Andere (die Un-Religiösen oder Agnostiker) sagen: Über Gott kann man nichts wissen und nichts erfahren, weder ob’s ihn gibt noch ob’s ihn nicht gibt. Am besten ist es, sich damit nicht abzugeben. Es gibt ja sonst wahrlich genug Wichtiges zu tun. Die Religiösen schließlich (weshalb ich sie hier nicht gerne „die Gläubigen“ nenne, wird noch deutlich werden) sagen mindestens etwa so: Gott existiert, man kann ihn vielleicht nicht problemlos erkennen, aber der Versuch, ihn kennen zu lernen, ist der Mühe wert. Was meint man nun eigentlich, wenn man von etwas sagt: Das gibt‘s, das ist wirklich, es existiert? Diese Frage, die Frage der Ontologie (= der Lehre vom Seienden und Wirklichen), haben wir schon ein paarmal gestreift, zuletzt im 39. und 40. Spaziergang, als es darum ging, ob die Welt an sich bzw. objektiv existiert. Und vorher im 38., beim Thema „Gibt es die natürliche Sprache? “. Im 15. sagten wir etwas ungenau, den Baum an sich gebe es gar nicht, weil er sich immer in einem seiner Spezialfälle manifestiere: Eiche oder Tanne usw. Wenn man da allerdings genauer nachdenkt, merkt man, dass es die Tanne dann auch nicht „gibt“, es gibt einzelne Tannen. Und da gerät man bald leicht vollends ins Blaue mit der Frage: Gibt es überhaupt Tannen, und nicht eher nur Äste, Nadeln, Rinde oder dergleichen? Sehen wir uns erst noch weiter um: Gibt es z. B. Glaube, Liebe, Hoffnung? Man sagt da vielleicht: So ganz richtig gibt es das jedenfalls nicht, denn greif- und sichtbar ist das ja alles nicht. Aber auch damit <?page no="187"?> 175 kommt man in Schwierigkeiten, denn die Ontologie ist nicht nur die Lehre vom Sein, sondern zugleich die von der Wirklichkeit. Wirklichkeit kommt aber von „wirken“. Und dass Glaube, Liebe, Hoffnung, wenigstens manchmal, etwas bewirken, lässt sich nicht leugnen. Dann sind sie aber mindestens „irgendwie“ wirklich. Ich denke, das Beste ist es, wenn man den Gesamtbereich des Seienden und Wirklichen nicht genau zu umgrenzen versucht, denn das führt dazu, ihn möglichst eng zu begrenzen, und dabei übersieht man vielleicht vor lauter Enge und Ängstlichkeit etwas Wichtiges. Sondern gerade umgekehrt: Das Beste ist es, diesen Gesamtbereich vorerst ganz umfassend zu nehmen. Am Beispiel Baum und Tanne/ Eiche usw. wäre also am besten zu sagen: Seiend ist sowohl der Baum als auch Tanne, Eiche usw. - Dann hat man allerdings einen riesigen Gesamtbereich von Seiendem und Wirklichem vor Augen, und damit man sich darin nicht verirrt, muss man das Ganze gehörig differenzieren, untergliedern, darf nicht alles in einen Topf werfen. Man muss also z. B. einsehen, dass der Baum in einem anderen ‚Haus’ des Seienden ‚wohnt’ als die Tanne, die Eiche usw. Der Gesamtbereich des Seienden hat, bildlich geredet, sehr viele solcher ‚Häuser’. Man kann sich diesen Gesamtbereich, mit einem anderen Bild, auch als einen großen, minutiös gegliederten Stufenbau vorstellen. Man würde dann etwa sagen: Glaube, Liebe und Hoffnung residieren auf einer anderen Stufe des Seienden als Kartoffeln, Petroleumlampen usw., und wieder auf einer anderen als Baum, Tanne, Eiche usw. - Wenn man so von ‚Häusern’ oder ‚Stufen’ des Seienden spricht, sind das selbstverständlich nur Bilder. Ganz bildlos kann man vom Seienden im Ganzen nicht reden. Und den vollständigen Stufenbau oder die sämtlichen Häuser des Seienden kann ich nicht beschreiben, und wahrscheinlich kann das niemand. Trotzdem, ja gerade deswegen, sind die Bilder erhellend. Das Gesamtreich des Seienden und Wirklichen erfasst man also mit zwei einander ergänzenden geistigen Regungen: einer umfassenden und einer differenzierenden. - Alles, was man meinen, also im Denken und Reden als etwas Bestimmtes, Besonderes ins Auge fassen kann, das alles darf man seiend nennen. Den Einwand, dass man dann auch Schneewittchen und den Osterhasen seiend nennen muss, kann man sich ruhig gefallen lassen (wäre doch auch schade für die Kinder, wenn das alles „nichts wäre“), - aber man muss dann das Ganze gehörig differenzieren: Schneewittchen ist etwas wohlunterscheidbar anderes als Glaube, Liebe usw., und wieder etwas anderes als Kartoffeln und Petroleumlampen. <?page no="188"?> 176 Damit steht nun nichts im Wege, z. B. auch Wahrheit als wirklich seiend zu betrachten - nicht etwa, weil man an irgendeinem Punkt innerhalb der Welt ein Ding namens Wahrheit auffinden und mit dem Finger darauf zeigen kann, sondern weil man im Denken-Reden- Verstehen die begrifflich-eine Wahrheit unterscheiden kann und muss vom vielen sich wandelnden Wahren: Nur weil uns die eine Wahrheit in Gedanken als Vergleichsgröße verfügbar ist, können wir diese Unterscheidung überhaupt vollziehen, und nur deshalb können wir überhaupt feststellen, dass das viele Wahre sich wandelt. Den Gedanken, dass Wahrheit nichts Seiendes sei, kann man als späte Ausgeburt des mittelalterlichen Universalienstreites betrachten. In diesem Streit - er wurde jahrhundertelang mit Inbrunst kultiviert - ging es um die Frage, ob die universalia realia sind („ob die Allgemeinbegriffe real, d. h. seiend sind“) oder ob man in ihnen bloß einen flatus vocis (bloß einen „Hauch der Stimme“, also bloße Worte, bloßen „Schall und Rauch“ ohne Realität) zu sehen habe. Die Antwort auf diese scheinbar schwierige Frage wird einfach, sobald man aufhört, als „real seiend“ nur das Dinglich-Materielle und wissenschaftlich Beweisbare gelten zu lassen. Dann bleibt bequem Raum für die Antwort: Auch die Allgemeinbegriffe sind real-seiend, nur eben in einem anderen ‚Haus’, auf einer anderen ‚Rangstufe’ des fein-komplex geordneten Seienden. Schließlich steht dann auch nichts im Wege, Gott als wirklich seiend zu betrachten - nicht etwa, weil ein Ding namens Gott an einer Örtlichkeit namens Jenseits so geifbar vorhanden ist, wie im Diesseits Petroleumlampen oder Automobile greifbar da sind, sondern weil viele (nahezu alle) Menschen denkend-redend-verstehend Gott von der Fülle des Nicht-Göttlichen unterscheiden. Das Denken-Reden-Verstehen von Gott fällt zwar in den verschiedenen Regionen und Zeiten und sogar bei den verschiedenen Individuen sehr unterschiedlich aus, auch hat es wohl immer Gottesleugner gegeben. Das wird wohl auch so bleiben. Man braucht daraus nichts Weiteres zu folgern, als dass Gott noch einmal ein ganz anderes Seiendes als alles bisher Genannte ist. Sagen wir: Gott ist ein Grenzfall des Seienden, ein Grenzfall menschlicher Welt-Erfassung. Damit wäre wohl etwas Wichtiges über Gott gesagt. Aussreichend ist das Gesagte natürlich nicht. Ausreichend über Gott zu reden nehme ich mir nicht heraus, das überlassen wir den Theologen. Wir beschränken uns hier auf das, was mit unserem Wahrheits- Thema zusammenhängt. <?page no="189"?> 177 Da hört man nun manchmal, wissen im eigentlichen Sinne könne man von Gott nichts, und ebenso: Gott begreifen, Erkenntnis, Erfahrung von ihm gewinnen, das sei im eigentlichen Sinne unmöglich. Ich halte das für falsch: Derartigen Reden liegt ein unzulässig eingeengter Begriff von Wissen, Erkennen, Erfahrung usw. zugrunde. Dass es von Gott kein präzis-rationales Wissen, keine unstrittige Erkenntnis und keine naturwissenschaftlich-experimentelle Erfahrung gibt, das braucht man mir nicht zu sagen, das weiß ich selbst. Aber inhaltsreich, bedeutend, klärend, lebenfördernd, ermutigend kann das Wissen, die Erfahrung, die Erkenntnis von Gott sehr wohl sein, und wenn man so sagt, sind die Worte Wissen, Erfahrung, Erkenntnis durchaus „im eigentlichen Sinne“ gebraucht. Im Uneigentlichen bewegt man sich weit eher mit jener überspitzten, ängstlichen Einengung und Präzisierung, die nicht mehr sieht, dass man von Gott intensives Wissen und intensive Erfahrung haben kann: zwar nicht ganz präzise, wohl aber höchst prägnant. - Die Überspitzung und Präzisierung ist, wie man sieht, hierbei genau die gleiche, die wir an dem präzisierten („abgeholzten“) Wahrheitsbegriff festgestellt haben. Meine Mutter hat in den letzten Tagen ihres Lebens die Worte „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“ vor sich hingesprochen, zuletzt war nur noch ein paarmal „Ich weiß - ich weiß“ zu hören. Hätten wir da etwa die Pflicht gehabt, der alten Frau, oder auch nur uns selbst, zu sagen: Das darf nicht heißen „Ich weiß“, sondern nur „Ich glaube“? - Unsinn! Es geht also nicht an, den Religiösen die Worte zu verbieten, mit denen sie zutreffend und sinnvoll über ihre Sache reden können, und sie einfach in die ‚Glaubens-Ecke’ abzuschieben, dass sie da miteinander herumglauben, wenn‘s ihnen Spaß macht. Das Wort „glauben“ ist schön und wertvoll, aber es allein reicht nicht aus, um auszudrücken, was die Religiösen (die ich eben deswegen hier nicht gern die Gläubigen nenne) zu sagen haben. Wir haben oben mehrfach gesehen, dass man, wenn es darum geht, hoch-prägnante Begriffsgehalte zum Ausdruck zu bringen, am besten mit Umschreibungen arbeitet, um sich ‚umwandernd’ der angestrebten Prägnanz nach und nach anzunähern. Für die präzisierten Begriffe der Naturwissenschaften braucht man das nicht, aber wenn man über Gott reden will, braucht man‘s. Übrigens: Das deutsche Verbum „meinen“ besagt ursprünglich „sich einer Sache aufmerksam, mit voller Intensität zuwenden“. Es ist mit „Minne“ sprachverwandt, dem alten deutschen Wort für Liebe. - Dass man Gott meinen, dass man von ihm etwas wissen und erfahren kann, das sollte man nicht bezweifeln. <?page no="190"?> 178 45. Spaziergang Resümee. Was leistet das dritte Kapitel für das Wahrheitsproblem? Das hinter uns liegende Kapitel erweist sich im Rückblick, wie wir eingangs auch angekündigt haben, als ausführlicher Exkurs, in dem seitenlang von Wahrheit nicht ausdrücklich die Rede war. - Wir müssen jetzt klarstellen, dass es trotzdem keine Abirrung von unserem Generalthema ist, ja dass es uns erst vollends ins Zentrum dieses Themas geführt hat. E r s t e n s: Im 43. Spaziergang hat sich ergeben, dass das „Reich“ exakt-wissenschaftlicher Ist-Aussagen unser Welt-Erkennen nicht konkurrenzlos und all-umfassend bestimmen kann. - Da bleibt die Frage: Gibt es irgendwie und -wo ein ähnlich allgemeines Prinzip (wie es jenes „Reich der Ist-Aussagen“ zu sein beanspruchte), das uns unsere Welt all-umfassend vermittelt und uns das Zustandekommen von Erkenntnissen über diese Welt in seiner Gänze verstehbar macht, - über die Welt, die doch nur dann sinnvollerweise „unsere“ Welt heißen kann, wenn wir sie in dieser Gänze (und nicht nur in den Grenzen exakter Wissenschaft) erkennen (betrachten, uns aneignen, lieben, Verantwortung für sie tragen ...) können. Auf diese Frage gibt uns das dritte Kapitel eine Antwort: Die Sprache - und mit ihr simultan das Denken und Verstehen - ist es, die diese umfassend-vermittelnde Leistung für uns Menschen vollbringt. Der Fehler, dass man dies Prinzip in einer immer spezieller rationalisierten Wissenschaft sehen wollte, war eigentlich gar nicht groß, aber er hat die Einsicht, um die es da geht, doch entscheidend getrübt: Man wollte da nur das Rationalisierbare gelten lassen. Richtig muss es also heißen: Nicht das rationale Denken allein, sondern dies zusammen mit dem, was im Denken und Verstehen nicht ganz rationalisierbar ist, und außerdem zusammen mit der ebenfalls nicht völlig rationalen natürlichen Sprache vollbringen uns die ganze Leistung der Weltvermittlung. Im Rahmen dieser all-umfassenden Weltvermittlung (aber eben nur in diesem Rahmen) erbringt uns dann auch das „Reich der wissenschaftlich-exakten Ist-Aussagen“ seine besondere, ganz sicherlich nicht unwichtige, aber eben relativ begrenzte Welt-Erkenntnis. Erst dies alles zusammen erklärt unsere Welt als ganze. <?page no="191"?> 179 Allerdings auch zusammen geschieht das nicht problemlos. Welt- Erfassen, Wahrheit-Suchen ist und bleibt problematisch und riskant. Sprache, und simultan damit Denken und Verstehen, ermöglichen uns Wahrheit, aber sie garantieren sie nicht. Sie ermöglichen eben auch Irrtum - das gilt für das natürliche Sprechen und Denken ebenso wie für das streng rationalisierte. Die Sprache ermöglicht sogar Lüge, und auch das rationale Denken ist leider fähig, auch der Lüge zu dienen. Z w e i t e n s: Die Erkenntnisvermittlung durch die natürliche Sprache ist dadurch gekennzeichnet, dass sie uns - der einzelnen Sprachgemeinschaft und dem einzelnen Sprachgenossen - immer nur zerfasert in Tausende von Einzelsprachen gegeben ist. Wir haben den Begriffskomplex Sprache und Welt als Analogon zu dem Begriffspaar intellectus-res aus der klassischen Wahrheitsdefinition verstanden. Das konnte so scheinen, als ob es für das Verständnis von Wahrheit letztlich egal wäre, ob die Betrachtung von dem einen oder von dem anderen Begriffspaar ausgeht. Egal ist das aber nicht. Wer das Problem Wahrheit in seiner ganzen Weite erfassen will, braucht beide Begriffspaare. Im Begriffspaar „Sprache/ Welt“ haben wir das Problem zerfasert, aber leicht und direkt greifbar, in Konkretion vor uns. - In dem Paar intellectus/ res haben wir‘s auf einen Blick, begrifflich-gedanklich gesammelt, theoretisch vor uns. Wir brauchen beides. „Begrifflich gesammelt“ ist nicht schlechtweg identisch mit „möglichst präzise rationalisiert“. Die neuzeitlich-moderne Kritik an der klassichen Wahrheitsdefinition ging irrtümlich davon aus, dass adaequatio, res und intellectus rationalistisch-präzise Begriffe sein müssten und sollten, wie wir sie eben überall, wo begrifflich gedacht wird, anzutreffen und zu handhaben gewohnt sind. Dass sie das nicht sind, ist schon im 7. Spaziergang deutlich geworden: Die klassische Wahrheitsdefinition ist nicht auf diese drei Ausdrücke fixiert, sondern kann auch mit anderen Wörtern formuliert werden. Im Verhältnis von Welt und Sprache gibt es nun, wie wir gesehen haben, derlei präzis-exakte Begriffe von vornherein nirgends. Dies Begriffspaar taucht also unser ganzes Wahrheitsproblem in eine Atmosphäre von Unschärfe ein. Der Mangel an begrifflicher Schärfe in dieser ‚Atmosphäre’ ist kompensiert und überboten durch die ihr eigene Fülle symbolischer Prägnanz. Mindestens seit dem zweiten Kapitel ist klar, dass diese prägnante Unschärfe dem Wahrheitsbegriff und -verständnis nicht weniger angemessen ist als scharfe Rationalität. Diese letztere ist dem Wahrheitsbegriff durchaus nicht fremd, aber sie erscheint wie eine Art Insel, umgeben von dem Meer prägnanter Unschärfe. <?page no="192"?> 180 D r i t t e n s: Das hinter uns liegende Kapitel hat uns auf gewisse für das Wahrheitsproblem wichtige ontologische Einsichten geführt: (a) Wie weit Seiendes überhaupt reicht, ahnen wir vermutlich nicht. Aber ohne unser Denken-Reden-Verstehen erfassen wir keinerlei Seiendes. - (b) Was wir redend-denkend-verstehend erfassen können, dürfen wir umfassend als seiend und wirklich ansprechen. - (c) Diesem umfassenden Zugriff muss aber ein differenzierender korrespondieren: Unsere Möglichkeit zu ontologischen Bestimmungen reicht genauso weit wie das Differenzierungsvermögen in unserem Denken-Reden-Verstehen. Eine erste, grundlegende Differenzierung im Gesamtbereich des Seienden ist die zwischen Materiellem und Immateriellem, - wobei zum Ersteren durchaus auch z. B. die Gehirnströme zu rechnen sind, die uns eine elektronische Apparatur sichtbar machen kann. Was übers Materielle im Einzelnen zu sagen oder zu wissen ist, dürfen wir hier übergehen: Das wird uns in bester Qualität immer neu von der Wissenschaft geliefert. - Dagegen übers Immateriell-Seiende (also über Glaube, Liebe, Hoffnung, Schneewittchen, Osterhase, die Phantasiewelt Harry Potters oder der Computerspiele, Halloweenspuk, Jenseits, Nirwana, Seelenfrieden, Reich Gottes, virtuelle Welten usw. usw.) müssen wir uns, wenn wir über Wahrheit reden wollen, verständigen, - und dies ist der Punkt, an dem vollends klar wird, dass unser drittes Kapitel tatsächlich ins Zentrum der Wahrheitsfrage geführt hat. Die wichtigste differenzierende Frage angesichts all dieses Nicht- Materiellen muss nämlich lauten: Was von all dem soeben Aufgezählten ist wahr - in dem umfassenden Sinne, den wir in den letzten Spaziergängen des zweiten Kapitels umschrieben haben? Anders gesagt: Was von alledem hilft „die Menschen zu stärken und die Sachen zu klären“ (wie Hartmut v. Hentig sehr erhellend die Aufgabe schulischer Erziehung umschrieben hat)? Was ist ermutigend, was ist überhaupt gehaltvoll, lebenfördernd, was ist bleibend und hält vor - fürs Leben, und schließlich auch fürs Sterben? - Kurz und bündig beantworten kann und werde ich diese Frage hier nicht, - außer dass ich andeute: Mit bloßen konventionellen Worten ist sie nicht zu lösen. Denn, beispielsweise: Ich persönlich möchte zwar Gott gerne zum Bestand des Wahren rechnen, aber es ist nicht zu leugen, dass man das bloße Wort „Gott“ hin und wieder schon für Unwahres, um nicht zu sagen für Teuflisches verwendet hat. Dass ich die anstehende Frage nicht eingehender beantworte, heißt andererseits nicht, dass ich einfach dem Alten Fritz zustimme, die Frage müsse eben „jeder nach seiner Fasson“ beantworten. So kurz <?page no="193"?> 181 lässt sich das Problem nicht abtun. Welche Urteilsquellen und Kriterien des Wahren für die Antwort herangezogen werden können, - das ist schließlich das Thema aller unserer vielen Spaziergänge, - ich habe gleich zu Anfang gesagt: Kürzer als in vielen Spaziergängen geht’s nicht. Ich hoffe aber, dass sie - die vielen Spaziergänge - zu guter Letzt eine taugliche Antwort bieten. Schließlich v i e r t e n s : Das hinter uns liegende Kapitel hat uns vollends den Blick geschärft für das Verhältnis zwischen den natürlichen Sprachen einerseits und den formalisierten wissenschaftlichen Kunstsprachen andererseits. Wenn die Wahrheitssuche über den Bereich der exakten Wissenschaften hinausstrebt (und das tut sie unvermeidlich), versagen uns die eleganten wissenschaftlichen Kunstsprachen den Dienst (oder sie leiten uns sogar in die Irre). Die natürlichen Sprachen stehen uns auch jenseits der exakten Wissenschaft unbegrenzt zur Verfügung, insbesondere da ihre im einzelnen zwar stets unscharfen Ausdrücke im Hinblick aufs Ganze stets mit der erforderlichen Prägnanz ‚aufgeladen‘ werden können. <?page no="195"?> Viertes Kapitel _______________ Was ist Wahrheit? <?page no="197"?> 185 46. Spaziergang Res und intellectus und „Was immer das heißt“ Das Meiste ist gesagt, und dies letzte Kapitel wird unser kürzestes. Zwei „Reste“, die früher unbereinigt liegen geblieben sind, müssen jetzt als Erstes vollends ausgearbeitet werden: Gegen Ende des 7. Spaziergangs haben wir die Begriffe res, intellectus und adaequatio mit der abschwächenden Klausel „was immer das heißen mag“ versehen. - Ein weiterer „Rest“ kam im selben Spaziergang, im letzten Abschnitt, zur Sprache: Auch wenn unsere Wahrheits-Definition voll geglückt ist, steht eine Wahrheits-Theorie als ganze immer noch aus. Das vierte Kapitel enthält also hauptsächlich zwei Teile: Die drei Kernbegriffe der klassischen Wahrheitsdefinition sind von jener ‚schwach-sinnigen’ Klausel zu befreien und gegen Missverständnisse zu sichern. Sodann ist eine plausible Wahrheitstheorie zu konzipieren. Dem allem schließt sich im allerletzten Spaziergang, in einem etwas persönlicheren Tone, ein Abschied des Autors von seinen Lesern an. Zuerst zum Begriff res und seiner vorschnellen Gleichsetzung mit dem gemeineuropäischen Wort „Realität“. In oberflächlicher Betrachtungsweise nennt man Realität vor allem die Gesamtheit des Dinglich- Materiellen und des wissenschaftlich Beweisbaren, - wie auch immer man das Letztere begrenzt denkt. Ob und was darüber hinaus noch zur Realität gerechnet wird, bleibt dabei ziemlich unklar, und wir können es auch ruhig im Unklaren belassen - wir wollen ja nicht den landläufigen Begriff „Realität“ klarstellen, sondern was ursprünglich und eigentlich unter res verstanden werden muss. Ursprünglich und eigentlich ist mit res die ganze Realität gemeint, also nicht weniger als alles Seiende: All das, was wir uns in den vorigen Spaziergängen als in den verschiedenen ‚Häusern’ oder auf den ‚Stufen’ des Seienden angeordnet gedacht haben. Selbstverständlich gehört dazu a u c h alles Dinglich-Materielle, aber eben auch alles andere. Dass man an den Begriff des Seienden am besten nicht ‚mäkelnd’ herangeht (etwa so, dass man von vornherein dies und das aus irgendwelchen Gründen lieber nicht-seiend nennt); sondern dass es das Beste ist, sich die Gesamtheit des Seienden wirk- <?page no="198"?> 186 lich all-umfassend vorzustellen, das haben wir am Ende des vorigen Spaziergangs auseinandergesetzt. - Das alles also kann im Einzelnen oder im Ganzen zum Gegenstand der Wahrheitsfrage werden, es kann dem intellectus gegenübertreten, und der intellectus muss sich fragen oder muss sich fragen lassen, ob er es „in Wahrheit“ erfasst. Die umgangssprachliche Auffassung des Begriffs Realität ist also nicht völlig falsch, sie ist nur grob und oberflächlich, vor allem insofern sie nicht sieht, dass in diesem Begriff ebenso gut Nicht-Materielles wie Materielles gedacht wird. - Wenn wir diese nötigen Richtigstellungen im Kopf haben, können wir im Folgenden statt des lateinischen Wortes res einfachheitshalber auch das uns vertraute Wort „Realität“ verwenden. Bei dem Begriff intellectus liegt die Sache offensichtlich anders. Was umgangssprachlich mit dem Ausdruck „Intellekt“ assoziiert wird, weicht ziemlich weit von dem ab, was intellectus in unserer Wahrheitsdefinition meint. Intellekt im umgangssprachlichen Sinne ist in erster Linie der individuelle Verstand, und zwar vorwiegend im Sinne kühler Rationalität. - Beim Begriff intellectus empfiehlt es sich also, zur Vermeidung von Missverständnissen stets das lateinische Wort zu benutzen. Wir haben seinerzeit gesagt, Sprache (die natürliche Spache ebenso wie jede wissenschaftliche Kunstsprache) sei eine wesentliche Leistung des intellectus. Schon damit ist mindestens klar, dass in der klassischen Wahrheitsdefinition der intellectus etwas Umfassenderes als einen Individualintellekt meint. Der Individualintellekt gehört auch dazu, aber eben nicht nur er. - Zudem legt sich die Einsicht nahe, dass der intellectus analog ‚organisiert’ ist wie die res. (Zur ‚Organisation’ der res in ‚Häusern’ oder in einem ‚Stufenbau’ siehe den 44. Spaziergang.) Dass res und intellectus in Analogie organisiert sind, ist deswegen zu erwarten, weil zwischen res und intellectus die Relation der „Adäquation“ bestehen können soll. - Auch der intellectus ist somit bildhaft als Stufen-Bau vorzustellen, und man hat zu unterscheiden zwischen dem intellectus im aller-umfassendsten Sinne, und anderen, spezielleren Spielarten des intellectus. - Jedoch im Gegensatz zu den vielen Namen, die man der Realität gibt, hat man für den intellectus in allen seinen Abstufungen nur den einen Namen intellectus. Der intellectus ist etwas Einheitliches - und Einheit-Stiftendes, er ist das begrifflich Zusammenfassende schlechtweg; res dagegen ist Vielheit. <?page no="199"?> 187 Hier ist nun eine Parenthese nötig: Spätestens hier müssen wir nämlich darauf gefasst sein, dass der Leser unwillig fragt: Woher will der Autor denn das alles wissen? Diesem Leser müssen wir freimütig zugestehen: W i s s e n im strengsten, präzisesten Sinne des Wortes kann „das alles“ niemand, auch der Autor „weiß“ es so streng nicht. Dass er trotzdem davon spricht, bedarf der Erläuterung und Rechtfertigung. Dazu im Moment nur dies: Unsere Denk- und Redeweise ist bei „dem allem“ in den letzten Spaziergängen zunehmend spekulativ geworden - wir halten das für unumgänglich. Was mit dieser Erläuterung aber gemeint und wie eine solche Denk- und Redeweise zu rechtfertigen ist, darüber werden wir uns nachher in der angekündigten plausiblen Wahrheitstheorie verständigen. - Ende der Parenthese. Vorerst also (spekulativ) weiter: W i e umfassend ist nun der intellectus äußerstenfalls zu denken? Das wird klar, wenn man erwägt, dass auch in diesem umfassendsten Fall zwischen res und intellectus das Verhältnis der adaequatio denkbar ist. Im umfassendsten Sinne muss also der intellectus die genaue Entsprechung und gleich mächtig sein wie die Realität in ihrem umfassendsten Sinne. Diese letztere Realität ist aber die der ganzen Welt. Also muss es äußerstenfalls auch einen intellectus geben, der auf die Welt als ganze bezogen ist und sie, wenn es gut geht, adäquat erfasst. Damit kommen wir allerdings auf einen frappierenden Grenzfall von Wahrheit. Wenn nämlich zwischen „intellectus im umfassendsten Sinne“ und „res im umfassendsten Sinne“ das Verhältnis der adaequatio vorliegt, dann haben wir eine Wahrheit vor uns, bei der es keinerlei Raum für Irrtum noch Zweifel gibt, während doch überall sonst Irrtum und Zweifel bei jeder Wahrheitssuche drohen. Außerdem ist hier die Adäquation zwischen intellectus und res nicht nur „denkbar“ und tritt nicht nur ein „wenn es gut geht“ (wie wir es oben allzu vorsichtig ausgedrückt haben), hier ist sie notwendig. Was sollen wir dazu sagen? Die mittelalterlichen Scholastiker dachten sich den intellectus im umfassendsten Sinn als Intellekt Gottes, welcher in problemloser Wahrheit alle Realität, alle Welt in ihrer Gesamtheit irrtums- und zweifelsfrei erfasst. - Der Rede vom „Intellekt Gottes“ begegnet man auch noch im nach-mittelalterlichen Denken, bis hin in die beginnende Neuzeit. Als eines der spätesten Beispiele könnte man Lessings berühmtes Wahrheits-Diktum anführen (zitiert in unserem 2. Spaziergang). Er redet dort freilich nicht von „Gottes Intellekt“, aber doch von der „reinen Wahrheit in Gottes rechter Hand“ - und dies nicht mehr in dem geradlinigen, unverstellten Ernst, <?page no="200"?> 188 in dem die Scholastiker von Gottes Intellekt sprachen, sondern etwas gebrochen, in skeptisch distanzierter Bildhaftigkeit. Immerhin: Gemeint ist etwas Ähnliches. Nochmal also: Was sagen wir? Ich persönlich sehe keinen Grund, die mittelalterliche Ausdrucksform abzulehnen, im Gegenteil, ich schätze sie als einfache und klare Sprechweise. - Dass ich über den Begriff Gott nur mangelhaft Auskunft geben, z. B. nicht exakt („durchgeführt“, „abschließend“) beschreiben kann, welches seine Merkmale sind, verschlägt dabei nichts. Das können auch die Theologen nicht, - manche von ihnen, und nicht die einfältigsten, versichern im Gegenteil, ein wesentliches Merkmal des Gottesbegriffs sei, dass man genau das nicht könne. Das sei nun wie es wolle: Die „Unbeschreiblichkeit“ Gottes hat die Menschen noch nie gehindert, sinnvoll und sogar vernünftig von Gott zu reden. - Indessen: Das sei dem Leser anheimgestellt. Man kann Gott aus dem Spiele lassen und schlicht und einfach sagen: In der Adäquation zwischen umfassendster Realität und umfassendstem intellectus haben wir einen Grenzfall von Wahrheit vor uns. Außer in diesem raren Grenzfall tritt der intellectus in unnennbar vielen Normalfällen auf, jeweils irgendwie beschränkt, irgendwie spezialisiert. Mittelalterlich-scholastisch-spekulativ sagt man: Jeder spezielle intellectus ist - stufenweise - eine Art Abglanz, ein Ausfluss jenes umfassenden, göttlichen Intellekts, - selbstverständlich in stufenweise geminderter Klarheit und Kraft. - So könnte man ihn sich spekulativ etwa als intellectus einer ganzen geschichtlichen Epoche oder eines Volks vorstellen, oder einer vorübergehenden, modischen Zeitströmung, oder einer Forschungsrichtung, oder einer Diskursrunde oder sonstigen Gruppierung, z. B. einer Zweierbeziehung, bis hinab zum ganz individuellen Intellekt der Einzelperson im einzelnen Zeitmoment. Was jeder spezielle intellectus an Wahrheit erfasst, ist in je charakteristischer Weise und unvermeidlich (aber trotzdem nicht leicht durchschaubar) bedroht von Irrtum und Zweifel, - gottlob aber, wie wir uns klar gemacht haben, nicht schlechtweg heillos damit verquickt. Wir müssen nun noch zwei besondere Momente im Begriff intellectus beachten - sie werden uns in den folgenden Spaziergängen noch beschäftigen: Das erste bemerkt man am einfachsten, wenn man feststellt, dass die klassische Wahrheitsdefinition „veritas est adaequatio intellectus et rei“ offensichtlich eine sprachliche Äußerung des intellectus über s i c h s e l b s t ist. Der Begriff intellectus enthält also irgendwie sich selbst als Teilmoment seines Inhalts. Der intellectus be- <?page no="201"?> 189 sitzt reflexive Fähigkeit, er vermag sich ,zu sich selbst zu verhalten’, kann also sich selbst betrachten, kritisieren, beurteilen usw. - Mit dem „kann“ ist selbstverständlich nicht gesagt, dass die genannten Fähigkeiten jederzeit, z. B. auch in jedem Individual-Intellekt in jedem einzelnen Moment tatsächlich wirksam werden. Damit kommen wir auf das zweite besondere Moment: Wir haben im Laufe unserer Darlegungen gemerkt, dass man das menschliche Denken nicht konsequent bedenken und speziell an Wahr und Falsch nicht denken kann, ohne eine oberste, alles entscheidende, für alle Zweifelsfragen zuständige Urteilsinstanz anzunehmen, - wir haben sie mehrfach vorläufig als „freie Vernunft“ bezeichnet - und schon viel früher als „Denken-und-Verstehen“, - auch am Denken-und- Verstehen fanden wir ja jene reflexiven Fähigkeiten, die wir uns von dem Begriff intellectus unzertrennlich denken. - Wie ist nun diese freie Vernunft genauer vorzustellen, und wie ist das Verhältnis zwischen ihr und dem intellectus? - Darüber also weiter im Zusammenhang unserer „plausiblen Wahrheitstheorie“. 47. Spaziergang Adaequatio und „Was immer das besagt“ Wenn man die klassische Wahrheitsdefinition auf Deutsch zitiert, könnte sie beispielsweise so lauten: „Wahrheit ist Übereinstimmung (oder variierend: Entsprechung, Gleichheit) zwischen Realität (oder variierend: Sache, Sachverhalt) und Denken (oder variierend: Gedanke, Auffassung, Einsicht)“. Neben den hier genannten Varietäten für adaequatio, res und intellectus ließen sich vermutlich auch noch weitere nennen. - Ferner kann man die Definition natürlich nicht nur auf Deutsch zitieren, sondern, in ähnlich vielfacher Variation, auch in den vielen anderen Sprachen, deren sich die neuzeitliche Philosophie bedient. Alle diese Varietäten geben die drei lateinischen Original- Ausdrücke unvermeidlich irgendwie verfälschend wieder - im Einzelnen auf so verschiedene Weise verfälschend, dass wir diese Einzel- Verfälschungen hier unmöglich alle klarstellen können. Das ist aber auch nicht nötig, denn außerdem liegt bei all diesen Varietäten noch <?page no="202"?> 190 eine generelle Verfälschung nahe, und die sollten wir klarstellen. - Vorausgesetzt nämlich, ein neuzeitlicher Denker halte Präzision für unverzichtbar und entscheide sich daher bei jedem der drei Originalbegriffe für eine einzige Übersetzungs-Varietät, dann hätte er zwar alle anderen momentan aus dem Felde geschlagen, - aber im Endeffekt könnte das trotzdem nicht überzeugend sein. Denn auch wenn er für seine Person diese eine Varietät für präzise hält, ist sie ja noch lange nicht tatsächlich präzise, es ist immer noch ein natürlichsprachlicher Ausdruck, also begrifflich unscharf. - Jedermann kann im Namen der Präzision eine andere Varietät bevorzugen, einen Konsens darüber im Namen der Präzision gäbe es nie. Aus dieser Sackgasse scheint es keinen anderen Ausweg zu geben, als dass man die ganze mittelalterliche Definition, die einen in solche Misslichkeiten bringt, für sinnleeren Wortschwall hält. Diese Folgerung ist aber falsch. Richtig ist es, einzusehen, dass alle Ausdrücke, auch alle philosophischen Fachausdrücke, wenn sie einer natürlichen Sprache entstammen, selbstverständlich unscharf sind. Nur weil sie das sind, hat man doch die präzise, extrem künstliche Begrifflichkeit der formal-symbolischen Logik erfunden. Man kann „Wahrheit“ auch in solch präzisen Kunst-Begriffen definieren, dann kommt eine Definition heraus, wie wir sie etwa im 11. Spaziergang entwickelt haben. Wenn man das nicht will (und wir haben Gründe, nicht n u r das zu wollen), dann muss man die Wahrheitsdefinition in natürlicher Sprache ausgedrückt belassen wie sie ist, muss (und kann! ) jedoch diese Ausdrucksweise, soweit wie es nur immer nötig und wünschenswert ist, variierend-umschreibend ergänzen und verbessern, mit der gewünschten Prägnanz anreichern. Um das vollends einzusehen, braucht man sich nur für einen Moment von dem speziellen Problem der Wahrheits-Definition abzuwenden. - Wenn jemand über ethisch-moralische oder rechtsphilosophische oder theologische oder psychologische Fragen redet oder schreibt (also zwar wissenschaftlich, aber eben nicht extrem präzise wissenschaftlich, weil das bei diesen Gegenständen nicht möglich ist), dann muss er alle dort fälligen Aussagen in unscharfen natürlichsprachlichen Ausdrücken formulieren, - die er jedoch nötigenfalls durch variierende Umschreibung soweit mit der erforderlichen Prägnanz anreichern und klären kann, dass er, wenn es gut geht, richtig verstanden wird. - Noch viel mehr geschieht das, wenn jemand (gar nicht wissenschaftlich, sondern halt schlicht im Leben) etwa einen Liebes- oder Kondolenzbrief schreibt. <?page no="203"?> 191 Es ist nicht einzusehen, weshalb dasselbe „Ausdrucks-Verfahren unscharfer Prägnanz“ nicht auch als vollkommen angemessenes akzeptiert werden sollte, wenn man über Wahrheit redet oder schreibt. - Dass nun zwischen den in „unscharfer Prägnanz“ ausgedrückten Begriffen res und intellectus die ebenfalls unscharf-prägnant ausgedrückte Relation der adaequatio festgestellt werden kann, das ist nicht zu bezweifeln. - Dass mit einer solchen Feststellung etwas nicht Sagbares, etwas Vernunftloses festgestellt, eine Art Wunder postuliert wäre, stimmt nicht. Die Feststellung ist durchaus nicht wunderbarer oder unsagbarer als das alltägliche Wunder, dass die Menschen sich mit Hilfe ihrer unscharf-prägnanten natürlichen Sprache(n) über die Welt im Ganzen und im Einzelnen unübertrefflich gut verständigen können. Dass und wie die beiden (vermeintlich) so grundverschiedenen Instanzen res und intellectus in eine begreifbare und (z. B.) mit dem Ausdruck adaequatio benennbare Relation zueinander treten können, darüber liest man wieder einmal bei Thomas v. Aquin spekulativ Erhellendes. Um seinen Gedanken verständlich zu machen, muss ich etwas weiter ausholen. Wir haben mehrfach betont, dass man die Begriffe res und intellectus in unserer Wahrheitsdefinition ohne Weiteres vertauschen kann - ob res mit intellectus übereinstimmt oder umgekehrt, das ist egal. - Nun wird die klassische Definition, in oberflächlichem Sinne, manchmal doch so verstanden, als ob diese Vertauschung nicht möglich wäre. Diesem oberflächlichen Verständnis liegt die Vorstellung zu Grunde, dass sich beim Erkenntnisvorgang immer nur der intellectus an die res anpassen könne und müsse, nicht umgekehrt, denn die res steht ja - naiv gedacht - unverrückbar fest. Wir haben uns demgegenüber erstens klargemacht, dass die res im Leben nie und nimmer unverrückbar feststeht. Und zweitens haben wir eingesehen, dass eine Wahrheits-Definition immer nur ein rein theoretisches Interesse bedient. Ob in der Praxis des Lebens Wahrheit dadurch entsteht, dass der intellectus sich an die res anpasst, oder umgekehrt die res an den intellectus, darüber sagt die Definition rein gar nichts. Sie nennt nur rein theoretisch die begriffliche Konstellation, die vorliegen muss, wenn Wahrheit festgestellt werden soll. Nun spricht jedoch Thomas von Aquin (er ist eben spekulativ munterer als wir heute) in der Summa Theologica (I 21 qu. 2) auch davon, wie Wahrheit zustande kommt. Aber auch dort erklärt er dies Zustandekommen nicht als einseitige Anpassung des intellectus an die gegebene res, sondern er konstatiert eine zweiseitige Anpassung, einer- <?page no="204"?> 192 seits zwar die des intellectus an die res, „wie das in uns geschieht“ (ut in nobis accidit), andererseits aber eine ebenso wichtige Anpassung der res an den intellectus. Diese Anpassung stellt er in Analogie zu der Anpassung eines in Entstehung begriffenen Kunstwerks (das ist in diesem Falle die res) an die ideale Kunstregel (die entspricht hier dem intellectus). Da wir heutzutage von idealen Kunstregeln nicht mehr viel halten, können wir uns das Gemeinte noch einleuchtender an einem uns geläufigen Beispiel zurechtlegen: Das Denken-und-Verstehen, der Geist, ordnet den wirren Wust der Sinnes-„Daten“ (die ohne diese Ordnung nicht einmal „Daten“, d. h. nicht einmal „gegeben“ wären) - und ebendadurch wird die zu erkennende Sache, die res, an den intellectus ‚angepasst’, eben dadurch wird sie objektiviert und erkennbar gemacht, und erst so kommt - wenn es gut geht - Wahrheit zustande. Als Fazit aus alledem ergibt sich, dass die Einwände gegen den Adäquationsbegriff und ganz allgemein gegen die klassische Wahrheitsdefinition gegenstandslos sind. Die Einwände konnten nur entstehen, wenn man die Kernbegriffe der Definition zu oberflächlich und ontologisch unsinnig eng auffasst, oder wenn man sich über den ganz tief greifenden Unterschied zwischen natürlich-sprachlicher, um Prägnanz bemühter Ausdrucksweise einerseits, und formal-präziser Ausdruckweise andererseits nicht genügend Rechenschaft gibt, oder wenn man nicht darauf achtet, dass Wahrheit im vollen Sinne auch in nicht-strengen Wissenschaften und im nicht-wissenschaftlichen Leben in Frage kommt. Die Einwände laufen ja letzten Endes darauf hinaus, dass die klassische Wahrheitsdefinition halt nicht präzise ist. In der Tat, das ist sie nicht. Sobald man einsieht, dass das kein Fehler, sondern eher ein Vorzug ist, lösen sich die Einwände in Luft auf. <?page no="205"?> 193 48. Spaziergang Bestandteile einer plausiblen Wahrheitstheorie Jetzt geht es, wie gesagt, an die „ganze“ Wahrheitstheorie. Wir können und wollen aber hier, in ausdrücklicher Form, nur eine gewisse Annäherung an die „ganze“ Wahrheitstheorie versuchen. Dies nicht nur, weil Vieles dazu in unseren vielen Spaziergängen schon ausreichend gesagt worden ist. Sondern auch, weil zu einer plausiblen Wahrheitstheorie die Einsicht gehört, dass Wahrheit prekär ist und immer auch in jene (im 45. Spaziergang erwähnte) ‚Atmosphäre prägnanter Unschärfe’ hineinreicht, - das heißt nicht, dass man jetzt gar nichts sagen kann. Aber wir begnügen uns, in einer Reihe von Fragen und Antworten einiges Wichtige, Allgemeinere, Übergreifende aufzugreifen. E r s t e n s: Wir beginnen mit einem Lob des Irrtums und des Zweifels und des ewigen Wandels. - Dass der Mensch in seinem Wahrheitsstreben sein Ziel nur erreicht, „wenn es gut geht“ (wie wir das mehrfach ausgedrückt haben), und es manchmal eben verfehlt, und dass er mit dieser Möglichkeit des Misserfolgs unausweichlich sogar dann zu rechnen hätte, wenn er über alle Menschenklugheit und alle Wahrheitstheorie verfügte: Das haben wir schon früh erkannt. Den Tiefpunkt in dieser Hinsicht haben wir gegen Ende des ersten Kapitels erreicht, im Zusammenhang mit dem fatalen Fallibilitätsverdacht. Andererseits haben wir gerade dort, im letzten Spaziergang des ersten Kapitels (unter „Viertens“), eine Einsicht der „freien Vernunft“ festgehalten, nämlich dass niemand berechtigt ist zu behaupten, den Menschen sei nur ganz verschwindend wenig oder sogar überhaupt kein Raum zu wahrer Erkenntnis gegeben. Dass der als Irrtum erkannte Irrtum, ja sogar der nur beargwöhnte, bezweifelte Irrtum einen Ansatzpunkt zur richtigen Erkenntnis bietet, das ist, seit Descartes und Brechts Galilei und andere es ausgesprochen haben, fast zur Trivialität geworden. - Aber nicht nur weil man trivialerweise das Wahre nur auf dem Irrtumspfad findet, ist der Irrtum zu preisen. Vielmehr: Wenn es keinen Irrtum gäbe, gäbe es auch Wahrheit nicht, sie wäre nicht als solche bemerklich, und schon vollends nicht in ihrem Wert schätzbar. - Wenn und weil es also Wahrheit gibt, muss es notwendig auch Irrtum geben. Wir sollten somit nicht über allenthalben drohende Irrtümer klagen, sondern das damit <?page no="206"?> 194 gegebene Dilemma als unabdingbaren Zug der geistigen Welt, in der wir leben, akzeptieren, samt den Mühen, die die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum uns immer wieder abverlangt. - Dass man den Zweifel nicht um jeden Preis forcieren muss, sondern ihn, auch wenn man ihn lobt, als „Erdenrest, zu tragen peinlich“ verstehen sollte, sei noch einmal erwähnt. Und nicht nur Irrtum und Zweifel müssen sein, sondern, so wahr Leben ist und sein soll, muss auch der unablässige Wandel des Wahren sein. Auch ihn also akzeptieren wir klaglos und fügen dem Lob des Zweifels und Irrtums ein Lob der ewigen Wandelbarkeit des Wahren an. Z w e i t e n s: Wert-Rang des Wahren und des Guten: Wahrheit rangiert in der Stufenfolge des S e i n s unter „Gutheit“, d. h. „gut“ ist im ontologischen Stufenbau höher einzuordnen als „wahr“. „Höher“ ist aber hier einfach so zu verstehen, dass „gut“ etwas Allgemeineres ist als „wahr“. Und „allgemeiner“ heisst nichts weiter, als dass es in geringerem Grade bestimmt, in geringerem Grade speziell ist. - Diese Stufenfolge des Seins ist uns jedoch beim Wahrheitsproblem weniger wichtig. Wichtiger ist, dass das Wahre und die Wahrheit nicht nur im Seins-, sondern auch im W e r t-Rang niedriger steht als das Gute und die „Gutheit“. Wir haben die Werte-Verwandtschaft zwischen „wahr“ und „gut“ an mehreren Stellen unserer Spaziergänge angesprochen und dabei auch das Rang-Verhältnis dieser Werte angedeutet. - Der Rangunterschied zwischen „wahr“ und „gut“ liefert uns nun ein neues und bedeutendes Wahrheits-Kriterium, und da es kein wirklich schneidendes Kriterium gibt, ist uns dieser Neu-Gewinn sehr willkommen. - Dies neue Kriterium gebietet, dass alles, was wir als „wahr“ prädizieren wollen, gut sein muss. Wenn wir also eine Wahrheit gefunden zu haben meinen, die nicht gut genannt zu werden verdient, dann muss der Verdacht naheliegen, dass sie auch nicht wahr genannt werden darf. Das ist ein klares Rezept. Dass es einfach anzuwenden ist, behaupte ich nicht. Aber man darf darauf bauen, dass (a) nicht in allen Fällen unklar ist, was gut genannt werden darf und was nicht. Es gibt auch klare Fälle. Und (b) dass auch das zunächst unklare Gute sich auf den zweiten (oder dritten) Blick klären kann: Geduld ist nötig, sie bringt manchmal Klarheit. - Es könnte den Anschein haben, als ob das soeben genannte ‚klare Rezept’ („Was wahr sein will, muss gut sein“) für den rationalistisch-präzisen Wahrheitsbegriff, den wir im ersten Kapitel vor Augen hatten, nicht gälte. Der Anschein besteht aber nur, weil dieser rationalistisch-präzise Wahrheitsbegriff künstlich von allem, <?page no="207"?> 195 was mit gut (also z. B. mit Moral) zusammenhängt, abgesondert worden ist. Wenn man diese Absonderung zurücknimmt, darf man sagen, dass auch das rational-Wahre, wenn es wirklich wahr ist, immer etwas Gutes sein muss. D r i t t e n s: Wahr und Falsch im religiösen Bereich? - Im 4. und 5. Spaziergang haben wir von dem großen Gebiet des normalen, eigentlichen Erkennens zwei Bereiche uneigentlichen Erkennens abgetrennt: Im 4. die extrem klare und problemlose Erkenntnis in Logik und Mathematik, im 5. die extrem problematische Erkenntnis-Bemühung, die sich z. B. auf das religiöse Meinen und Glauben und auf Gott richtet. - Gibt es nun in diesem hochproblematischen Erkenntnisgebiet den Unterschied zwischen Wahr und Falsch? Für eine Antwort genügt es schon, die wichtigsten Wahrheitskriterien, die wir im Laufe unserer Spaziergänge kennen gelernt haben, im Geiste Revue passieren zu lassen: (1) die Kohärenzidee (welche dasjenige als wahr anerkennt, was sich ins Gesamtwissen einordnen lässt), (2) die Konsensidee (die als wahr anerkennt, was die Zustimmung der Gemeinschaft findet), (3) die Idee, dass Wahrheit aufbauend wirkt und Mut macht, und schließlich (4) die Idee, dass, was als wahr anerkannt werden will, gut sein muss, - und bei jedem dieser Kriterien zu erwägen, ob es in jenem hoch-problematischen Erkenntnisgebiet mit Aussicht auf Erfolg anwendbar ist. Das Ergebnis dieser Erwägung heißt ohne Zweifel: Alle, samt und sonders, sind sie anwendbar. Daraus ist mit Gewissheit zu schließen, dass es in dem in Frage stehenden Erkenntnisgebiet den Unterschied von wahr und falsch tatsächlich gibt. - Zum selben Ergebnis kommt man durch folgende Erwägung: Wenn es in diesem hochproblematischen Gebiet keinen Unterschied zwischen wahr und falsch gäbe, dann müssten diametral entgegengesetzte, also einander gegenseitig ausschließende Meinungen gleichermaßen wahr (oder auch gleichermaßen unwahr) sein können. Es liegt auf der Hand, dass das nicht der Fall ist: „Liebet eure Feinde“ ist zweifellos wahr, hingegen das diametral entgegengesetzte „Rottet eure Feinde aus“ ist zweifellos unwahr. Dass die Unterscheidung wahr-falsch hier einfach zu handhaben ist, ist mit alledem nicht gesagt - wie sollte sie wohl einfach sein können in diesem hochproblematischen Gebiet? Aber wo steht geschrieben, dass die Menschen nur einfache Aufgaben lösen, nur einfache Pflichten erfüllen können und sollen? Zu den Konsequenzen dieses Ergebnisses nur wenige Bemerkungen: Wenn es Wahr und Falsch im Felde religiöser Erkenntnis gibt, zwingt das nicht nur ein weiteres Mal dazu, einen unaufhörlichen <?page no="208"?> 196 Wandel des Wahren anzunehmen: Man wäre blind, wenn man nicht sähe, dass die Menschen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen Unterschiedliches für religiös wahr hielten und halten. Darüberhinaus muss man aber sehen, dass es sogar gleichzeitig und ganz dicht nebeneinander scharf unterschiedliche Auffassungen von religiösem Wahr und Falsch geben kann, und dass diese widerstreitenden Auffassungen (die ja überall dort, wo sie gelten, den Charakter von lebenserleichternden, ja sogar erst recht Leben ermöglichenden Wahrheits-Normen oder -Dogmen haben) sich lange Zeit äußerst zäh halten und oft zu tödlicher Feindseligkeit führen können. Praktisch folgt daraus natürlich die Forderung, dass die Religionsgemeinschaften sich gegenseitig mit Verständnis, Nächstenliebe und Toleranz begegnen. Aber das ist leicht gesagt und schwer getan: Wieviel Zurückhaltung in der Äußerung dessen, was man für unverbrüchlich wahr hält und eigentlich nicht preisgeben kann, gerade wenn es Wahr und Falsch im Religiösen tatsächlich gibt, - wieviel Geduld und eingehendes Zuhören dazu gehört, - wie sehr man dabei daran denken muss, dass liebloses Verfechten auch der Wahrheit moralisch verwerflich ist: Für all das gibt es kaum genugsam Worte. Krass gesagt: Wenn dich ein Bekenner einer anderen Religion - tätlich oder argumentativ - auf den rechten Backen schlägt, so schlage nicht zurück, sondern werde nachdenklich und biete ihm einstweilen den linken dar, und verpflichte nicht sofort ihn, sondern zuerst dich selbst unnachsichtig zu Verständnis und Toleranz. Von hier aus fällt nun ein klärendes Licht auf die Forderung, die wir mehrfach ausgesprochen haben, wenn von der Wandelbarkeit des Wahren die Rede war: „Geduld“, so sagten wir, und in vielen Fällen ein „zweiter Blick“ sei da nötig, um das sich wandelnde Wahre richtig beurteilen zu können. Geduld freilich nicht als hörnerne Gleichgültigkeit und bloßes untätiges Zuwarten. Sondern weit eher im Sinne der unruhevollen Einsicht, dass unser intellectus einstweilen eben noch nicht jenen höheren Standpunkt innehat, nach dem es zu streben gilt, und dass wir deshalb noch nicht über jenen zweiten Blick verfügen, der erkennen könnte, was wahr ist oder werden soll und will, - dass uns aber unbedingt daran gelegen sein muss, diese Defizite zu überwinden. V i e r t e n s: Ist der Wandel des Wahren zielgerichtet? - Das Wahre wandelt sich, - es „stellt sich heraus“, - es wird oft erst auf den zweiten oder dritten Blick kenntlich. - Das könnte Anlass zu folgender Fragen- Alternative sein: (a) Treibt das Wahre infolge dieses Wandels richtungs- und sinnlos mal dahin mal dorthin, nach Art der Brown‘schen <?page no="209"?> 197 Molekularbewegung? - (b) Oder ist der Wandel zielgerichtet, sodass das Wahre gar nicht anders kann als „sich allmählich herauszustellen“, und stellt sich dabei asymptotisch immer deutlicher das (dauerhaft) Wahre heraus? Ich denke, angesichts dieser Fragen muss man sich vor allem davor hüten, metaphysischen Unsinn zu schwatzen. Wer kann diese Fragen denn beantworten? Eigentlich niemand. Dann kann man sie nur entweder als sinnlos betrachten und gar nicht stellen. Oder aber, da sie den Menschen, wie es metaphysische Fragen nun einmal tun, ungewolltunabweislich durch den Sinn gehen, muss man sie (und vor allem die Antwort darauf) irgendwie ins Sinnvolle abwandeln. Das geschieht am klarsten, wenn man die unsinnigen Fragen in eine sinnvolle Verpflichtung umdeutet, - in die Verpflichtung nämlich, den Wandel des Wahren stets aufmerksam wahrzunehmen und zu deuten und nach Maßgabe eigener Einsicht und Kraft mitzuhelfen, dem künftig besseren Wahren den Weg zu bahnen, - entweder, indem man neues Wahres zutage fördern hilft, oder umgekehrt, indem man das gute, bestehende, bewahrenswerte Wahre zu klären, zu reinigen und so als künftig besseres zu bewahren hilft. Ob man, vor diese dilemmatische Wahl gestellt, das Rechte gewählt hat, und ob man bei dem Bestreben, das Gewählte zu verwirklichen, Erfolg hat, kann man zu keiner Zeit zuverlässig wissen. Das darf einem jedoch fast gleichgültig sein, - allerdings nur fast. Man muss nämlich daraus die weitere Verpflichtung entnehmen, andere, u. U. sogar der eigenen Deutung strikt entgegengesetzte Deutungen und Stellungnahmen ernst zu nehmen. Eine der überraschendsten, aber jederzeit doch als Möglichkeit naheliegenden Einsichten im Wahrheitsstreben ist die, dass der Meinungs-Gegner recht haben kann, und manchmal sogar recht hat. F ü n f t e n s: Ist spekulatives Denken sinn- und wertlos? Spekulation wird manchmal als völlig ungebundenes, von der Erfahrungswelt gänzlich abgekoppeltes Denken aufgefasst und demgemäß für sinn- und wertlos gehalten. Diese Auffassung kann nicht ganz richtig sein, sie ist mindestens zu knapp ausgedrückt. - Wir haben seinerzeit unterschieden zwischen Erkenntnissen, die aus der gedanklichen Verarbeitung von Sinnes-„Daten“ resultieren, und anderen, die ohne solche Daten ganz vom ‚reinen’ Denken-und-Verstehen erbracht werden. - Das spekulative Denken hält zwischen diesen Extremen eine Art Mitte, es ist ein Denken nicht ganz ohne, aber doch mit relativ wenig sinnlich-erfahrungsmäßiger ‚Bodenhaftung’, dies aber nur deswegen, weil die Erfahrung irgendwann zu Ende ist und ausbleibt, - und dies ge- <?page no="210"?> 198 schieht oft schon an einem Punkte, wo sich dessen ungeachtet dem Denken unabweislich weitere Fragen stellen. Das spekulative Denken lässt sich nun eben auf diese weiteren Fragen ein, es spinnt somit im Idealfall nur die Fäden möglichst konsequent weiter, die vom erfahrungsgeleiteten Denken angelegt worden sind. In früheren Jahrhunderten, als es noch wenig präzises Erfahrungswissen gab, war das ein sehr förderliches, oft sogar das einzig angemessene Denkverfahren. - Aber auch heutigentages hat spekulatives Denken seine löblichen Qualitäten: Es versucht, die Grenzen des Erfahrbaren und Rationalisierbaren (die es doch auch heute gibt) zu ertasten und diesen prekären Grenz-Übergang vernunftgemäß zu bedenken. - Mit der soeben zitierten Formulierung haben wir gegen Ende des 13. Spaziergangs angedeutet, was wir unter einer ‚redlichen Metaphysik’ verstehen. Spekulatives Denken ist also ein Denken, das einen verantwortlichen Umgang mit diesem heiklen Denkbezirk anstrebt, und mindestens solange es diesem Ziel dient, kann es nicht als sinn- und wertlos abgetan werden. Zugeben muss man, dass Spekulation ambivalent zu bewerten ist. - Man kann „spekulativ“ im philosophisch-theologischen Bereich mit „spielerisch, uneigentlich, unernst“ umschreiben. Das mag nun manchmal ein Übel sein (manchmal hat man, wenn man eine spekulative Redeweise hört oder liest, den Eindruck: Das könnte man auch in ungespieltem, schlichtem Ernst sagen), - es ist jedoch bestimmt nicht unbedingt übel. Manchmal, wenn nämlich der philosophische Ernst nicht mehr da hinreicht, wo er hin soll und will, kann (oder muss sogar) an seiner Stelle das geistige Spiel „Spekulation“ eintreten. Auch wir in unseren Spaziergängen haben es hin und wieder gespielt, besonders in diesem letzten Kapitel. Gründliche Philosophie kann schwerlich ganz ohne dies Spiel auskommen, ja noch mehr: Sie ist, meine ich, noch nie ganz ohne es ausgekommen. Auch wir werden es also, insbesondere jetzt aufs Ende hin, manchmal noch weiter spielen. S e c h s t e n s: Was heißt: „Der Intellectus verhält sich zu sich selbst“? Was besagt es und was folgt daraus, dass der intellectus als Teilmoment seines Inhalts sich selbst enthält? - Gesagt haben wir schon, dass der intellectus gleichzeitig auf verschiedenen Stufen des ontologischen Stufenbaus residiert: auf höchster Stufe als Gottes Intellekt, auf jeder niedrigeren Stufe in entsprechend geminderter Kraft und Klarheit. Ferner, dass der intellectus „sich zu sich selbst verhalten“ kann, also z. B. mit sich selbst in Dissens geraten und im Konsens mit sich einig werden kann, dass er sich selbst tadeln oder auch gutheißen kann, - <?page no="211"?> 199 und dass er das alles sogar muss. Keine andere Instanz ist erdenklich, die ihm diese Aufgabe abnehmen könnte. Der intellectus ist somit allgemein zu endgültigem Urteil befugt und ermächtigt. Auch hierbei aber zerlegt er sich selbst wiederum notwendigerweise in eine Stufen-Mannigfaltigkeit. Bei genauerer Betrachtung kann es also nicht einfach heißen: „Der“ intellectus ist die Instanz für jedes endgültige Urteil und urteilt somit über sich selbst, sondern: Der jeweils höhere intellectus hat über die jeweils niedrigeren zu urteilen. Marx (oder wenigstens der Marxismus) wäre mit dieser Deutung vielleicht nicht einverstanden. Der Marxismus sieht die bestimmende Kraft beim materiellen Unterbau, nicht beim intellectus als geistigem Überbau. - Was stimmt da nun? Beides: Das Materielle ist unausräumbar, und insofern ist es überall mit-bestimmend. Aber der intellectus ist ebenfalls unausrottbar, und dass er letztlich zwar nicht absolut maßgebend ist, aber doch in höherem Grade maßgebend als der materielle Unterbau, das hat schon im 4. Jahrhundert v. Chr. Platon in seinem Dialog „Timaios“ gezeigt. (Dieser Dialog war seit der Spätantike bis in die beginnende Neuzeit, also rund tausend Jahre lang, die bekannteste und geschätzteste Schrift Platons.) Er sagt dort kurz zusammengefasst ungefähr folgendes: Der intellectus ist der Materie mindestens geistig unbedingt überlegen (das ist schließlich sein Spezifikum: er kann alles wissen und kennen, kann also auch die Materie in allen ihren Eigentümlichkeiten kennen lernen, und speziell kann er die Gestaltungsmöglichkeiten erkennen, die sie ihm - dem intellectus, dem Geist - bietet; - während die Materie natürlich nichts weiß und nichts kennt: das ist i h r Spezifikum), und so bringt der Geist es fertig, dass sich die Materie dem Urteil und Plan des Geistes zwar nicht absolut und widerstandslos unterordnet, aber doch „im Großen und Ganzen“ unterordnet. Soweit Platon, hübsch spekulativ und nicht unplausibel. S i e b e n t e n s: Grade des Spekulativen. „Freie Vernunft“. - Solange wir bisher nur so ganz allgemein vom intellectus reden, klingt unsere Rede noch so sehr spekulativ, dass man sie vielleicht mit Recht ablehnt. - Man kann aber in dem „Denkspiel Spekulation“ Grade des Spekulativen unterscheiden. Einen Grad weniger spekulativ dürfte unsere Rede klingen, wenn wir genau diejenige(n) Höhenlage(n) des intellectus ins Auge fassen, die das Denken, Reden und Verstehen des Menschen ausmachen. Diese oberste menschliche Rangstufe des intellectus ist es, die wir mit dem mehrfach verwendeten Ausdruck „freie Vernunft“ meinen. <?page no="212"?> 200 „Vernunft“ ist ein gut verbürgter Name für den intellectus im menschlichen Bereich - nicht nur im menschlichen, aber doch auch in ihm. Beachtliche Denker haben angenommen, dass Vernunft irgendwie das Menschliche mit dem verbindet, was höher als der Mensch ist, nicht nur höher als der einzelne, sondern als der Mensch überhaupt. Jedenfalls aber: Innerhalb des Menschlichen gehört Vernunft zur höchsten Region. Vernunft - wir haben es schon im 31. Spaziergang angedeutet - ist, dem genauen Wortsinne nach, die Kraft, zu vernehmen, insbesondere auch das Ganze zu vernehmen, nicht nur das, was rational beweisbar ist. Der Name bezeichnet ein Denken und Verstehen, das den praktischen, nützlichen, technischen Verstand übersteigen und zum Partisan höheren Strebens werden kann. - „Frei“ kann man die so verstandene Vernunft eben dann nennen, wenn sie die niedrigeren Stufen des menschlichen intellectus übersteigt und auf diese Weise die vorher gegebene (niedere) Bindung abstreift, um sich zu höheren Stufen aufzuschwingen und sich den dortigen höheren Bindungen zu unterwerfen. Genau dann kann und muss sie vorkommendenfalls die früher mehrfach (vor allem im 19. Spaziergang) erwähnte letzte, höchste Entscheidungsfunktion wahrnehmen. - Dass mit diesem höchsten menschlichen intellectus nicht unbedingt, ja vielleicht kaum jemals ein bloßer Individualintellekt gemeint ist, dürfte klar sein. A c h t e n s: Über Verstehen und Urteilen. - Der geistigen Instanz, von der die wirre Riesenmasse der Sinnesempfindungen in Erkenntnis verwandelt wird, haben wir schon anfangs (im 3. Spaziergang) den Namen „Denken-und-Verstehen“ gegeben, und im dritten Kapitel haben wir sehr ausführlich das Erfassen der Welt als eine Leistung der Dreiheit „Denken-Sprechen-Verstehen“ aufgezeigt. - Weshalb haben wir es nicht bei der Zweiheit „Denken und Sprache“ belassen, sondern es für nötig gehalten, eine Instanz namens „Verstehen“ einzubeziehen? - Mit diesem dritten Namen sollte einerseits (zum wiederholten Male) gesagt sein, dass die geistige Leistung der Welterfassung nicht restlos rationalisierbar ist. Und dies ist sie schon deshalb nicht, weil sie in der Person des Erkennenden als ganzer verankert ist: die aber reicht irgendwie ins Irrationale hinab. Das heißt: Auch Denken und Sprache ist nie restlos rationalisierbar. Unser wissenschaftliches Denken und Sprechen ist zwar weithin ein sehr beachtlicher und auch unerlässlicher, klärender Versuch, die Erkenntnis zu rationalisieren, aber eben kein restlos erfolgreicher. Wenn wir andererseits das Welt-Erfassen nur als „Verstehen“ bezeichnet hätten, also ohne Denken und Sprache ausdrücklich einzube- <?page no="213"?> 201 ziehen, dann hätte das dem Missverständnis Nahrung gegeben, im Erfassen der Welt könne oder gar müsse man aufs Urteilen verzichten. Von Wahr und Falsch kann man aber nicht reden, ohne dass man auch dem (scharf unterscheidenden) Urteilen sein Recht werden lässt. Das Streben nach Wahrem führt notwendig in ein Dilemma zwischen Verstehen und Urteilen. - Vielleicht kann man es einen Segen nennen (wir haben das schon oben im 21. Spaziergang angesprochen), dass uns die Unterscheidung Wahr/ Falsch nie problemlos gelingt. Denn gerade da, wo sie uns nicht mehr gelingt, finden wir uns irgendwie aufs liebevolle, mitmenschliche Verstehen verwiesen - und das ist dann noch immer möglich. Ganz aufs Urteilen zu verzichten ist uns aber nicht gegeben. Das Dilemma bleibt. - Reine Hermeneutik (falls es sie gibt), die nur Verstehen anstrebt und sich dem Urteilen-Müssen entzieht, mag zwar für den Denkenden und Sprechenden zeitweise anziehend oder entlastend sein, sie kann aber nicht das dauernde Ganze und das Ziel aller Welterfassung sein, - und übrigens ebendeshalb auch nicht die zentrale, alles übergreifende Disziplin der Philosophie. N e u n t e n s: Die Wahrheitsfrage stellt uns vor dilemmatische Zumutungen. „Dilemma“ nennt man eine Entscheidungslage, die irgendwie zu einem misslichen „Ja, aber“ nötigt. Rufen wir uns z. B. in Erinnerung das Dilemma zwischen dem Streben nach einem Ziel und der Einsicht, dass es Prekäres gibt, das sich letztlich jedem Streben versagt; oder das gerade vorhin angesprochene Dilemma, dass es auch im religiösen Bereich Wahr und Falsch gibt, man also am Wahren festhalten muss, - dass aber noch dringender geboten ist, den Nächsten, auch wenn er uns im Religiösen der Fernste, ja sogar wenn er unser Feind ist, zu lieben. - Es ist vielleicht klärend, wenn wir versuchen, diese misslichen ‚Lagen’ in ihren allgemeinen Zügen zu verstehen. Es handelt sich oft, vielleicht sogar immer, um ein Dilemma zwischen Geist und Form. Zu jeder Zeit findet man sich, wenn man sich umschaut, an vorgegebene, wenigstens auf den ersten Blick nicht veränderbare Formen gebunden. Beispiele gibt es viele, ich nenne nur ein paar, denen wir spazierengehend schon begegnet sind: Die rechtlichen und politischen Institutionen und Normen, an die wir uns halten müssen, die wir aber nicht unkritisiert lassen können und nicht einmal sollen, denen wir aber doch irgendwie auch zuzustimmen genötigt sind, weil sie uns und den Mitmenschen das Leben erleichtern, ja sogar erst ermöglichen; - ferner die anerkannten Systeme und Lehrmeinungen (samt ‚Dogmen’) der Wissenschaft, an denen sich jede neue Lehre, die sich <?page no="214"?> 202 durchsetzen möchte, erst einmal messen lassen muss, usw. usw. - Dass das alles so ‚unveränderlich’ festgelegt ist, ist gut, man könnte im völlig Offenen nicht bestehen. Andererseits ist es aber gar nicht gut, etwas in uns stößt sich und ärgert sich auf Schritt und Tritt daran. Das, was sich da ärgert, ist, allgemein gesagt, der Geist, ein ewiger Besserwisser und Besserwoller. Wenn wir uns heutzutage auf diese Bewandtnisse besinnen, neigen wir dazu, der Unruhe des Geistes einen unbedingten Vorrang vor den festen Formen zuzuerkennen. Wir schwärmen für Veränderung, für Innovation, und wenn es nur das nostalgische Neu-Hervorholen des Alten wäre. Ein Grund dafür ist der, dass unsere heutige Welt wohl tatsächlich in angsterregendem Grade geformt, festgefahren und ausgeschöpft ist. Trotzdem, wer so weit ginge, Form überhaupt als verlogen oder fortschrittshemmend zu bekämpfen und ganz auf die Unruhe des Geistes zu setzen, wäre nicht gut beraten. Auch der Geist ist grässlicher Abirrungen ins Inhumane fähig. Zum Guten führen, wenn‘s denn möglich ist, Form und Geist gemeinsam, und wenn dem Letzteren da ein gewisser Vorrang zukommt, dann deshalb, weil der Geist ein ‚Allesfresser’ ist und auch sich selbst angreifen kann. Damit ist aber zugleich gesagt, dass dieser Vorrang vor allem eine erhöhte Verantwortlichkeit ist. Wie soll, wie kann man sich in solchen Lagen verhalten? Ich mache mir das gern an einem Beispiel verstehbar, einem so banalen, dass, ähnlich wie Sokrates in der platonischen „Apologie“ seine Richter bittet, ich hier meine freundlichen Leser bitten muss, nicht ungehalten zu werden, wenn ich, ganz banal, jetzt vom - Fahrrad rede. Ich benutze dies Vehikel erstens gerne praktisch, schätze es aber auch theoretisch, weil es eine fassliche Anschauung bietet für gewisse Problemlagen. - Auch das Fahrrad hat, rechts und links, zwei gleiche, ‚dilemmatische’ Seiten. Wenn man es fertigbrächte, es ganz senkrecht hinzustellen, müsste es eigentlich regungslos stehen bleiben. Bekanntlich bringt man das nicht fertig, immer fällt es um. Wenn aber ein hinreichend geschickter Mensch sich draufsetzt, kann er - nun: stehen bleiben kann er dann auch nicht, aber er kann etwas Besseres: fahren. So kann er nicht nur den beiden Seiten seines dilemmatischen Fahrrads strampelnd gerecht werden, sondern außerdem kommt er vorwärts, er kann sich fernen Zielen in einem Maße nähern, wie er das, wenn er stehen bliebe (um sich erst einmal stundenlang um Gleichgewicht zu bemühen), nie könnte. - In dilemmatischen Lagen ist kurzes Stehenbleiben und Sich-Besinnen zweifellos gut, aber mit allzulangem Stehenbleiben ist meist nichts getan, indessen mit Vorwärtsstreben <?page no="215"?> 203 (und das heißt, wie wir inzwischen wissen: mit Höherstreben, einem höheren intellectus entgegen) ist zwar oft auch keine einfache Lösung zu bekommen, aber vielleicht doch eine Lösung. Zum guten Schluss erinnern wir uns hier daran, was schon im allerersten Spaziergang angekündigt worden ist, nämlich dass wir als Ergebnisse unserer Mühen zweierlei erwarten dürfen: entweder endgültige Feststellungen, oder, falls sich solche als unmöglich erweisen, endgültiges Offenlassen. Nach allem, was wir inzwischen durchdacht und begriffen haben, kann es keinem unserer Leser unbekannt geblieben sein, dass unsere ‚plausible Wahrheitstheorie’ in ihrem Kern auf ein endgültiges Offenlassen hinführt. Aber ebenso muss es, nach allem, was wir jetzt wissen, klar sein, dass wir in dieser dilemmatischen Lage des end-gültigen Offenbleibens nicht ratlos, rastlos, haltlos, kopflos zurückbleiben. Die Offenheit kann keine permanent unruhige, quälende sein (von Zeit zu Zeit kann sie das, vorübergehend, sehr wohl einmal werden), vielmehr wird sie im Ganzen, wenn wir unsere ‚Lektion’ richtig gelernt haben, ruhig, förderlich, erhellend sein. 49. Spaziergang „Abschied“ „Abschied“ lautet die Überschrift eines schönen Eichendorff‘schen Gedichts. Es beginnt mit den Worten „O Täler weit, o Höhen, o schöner, grüner Wald“ - von eben diesem Wald wird in dem Gedicht Abschied genommen. - Die dritte der insgesamt vier Strophen lautet: Da steht im Wald geschrieben Ein stilles, ernstes Wort Von rechtem Tun und Lieben, Und was des Menschen Hort. Ich habe treu gelesen Die Worte schlicht und wahr, Und durch mein ganzes Wesen Ward‘s unaussprechlich klar. „Unaussprechlich klar“, und „durch mein ganzes Wesen“ - da ist ausgesprochen, was wir uns erhoffen: dass das „end-gültig Offene“ <?page no="216"?> 204 uns nicht in Hektik, sondern in ruhiger, lebendiger Tätigkeit zurücklässt. Wenn wir dieser Strophe genauer nachgehen wollen, müssen wir den Dichter wohl als Erstes gegen die ‚strengen Lehrer’ in Schutz nehmen, die das, was Eichendorff hier bezeugt, möglicherweise nicht gelten lassen wollen: dass im Walde einem Menschen Klarheit, religiöse Klarheit, christlich-religiöse Klarheit zuteil werden kann. Denn dass genau diese Klarheit gemeint ist, ist bei diesem Dichter und nach den inhaltlichen Andeutungen in der dritten und vierten Zeile nicht zu bezweifeln. - Die gestrengen Lehrer würden aber vielleicht einwenden, diese Klarheit sei im Walde keinesfalls zu gewinnen, sondern es seien dafür andere Ur-Sachen oder Ur-Kunden unabdingbar: die Heilige Schrift, die Kirche, der Katechismus, die Predigt, die Sakramente, ... Einerseits muss man zugeben, dass gänzlich ohne die genannten „Ur-Sachen“ christliche Klarheit niemandem zuteil werden kann. Das Christentum beruht in concreto auf solchen (historisch-dogmatischen) Ur-Sachen und Ur-Kunden. - Andererseits geben die ‚Lehrer’ wohl selbst zu, dass aus solchen historisch-dogmatischen Ur-Sachen allein christliche Klarheit und Wahrheit nicht zustande kommt. Die Ur- Sachen und Ur-Kunden sind zunächst mumienhaft-leblose historische Fakten. Sie sind notwendige, jedoch nicht schon hinreichende Vorbedingungen für diese Klarheit. Man sollte also dem Dichter glauben, dass ihm diese Klarheit, die zwar „an sich“ in jenen Ur-Sachen auch für ihn bereit lag, tatsächlich eben doch erst durch eine Ur-Sache ganz anderer Art, das Erlebnis des Waldes, persönlich klar und glaubhaft wurde. - Und ebenso wie es ihm im Walde klar wurde, kann es anderen durch anderes persönlich klar und glaubhaft werden. Gehen wir noch auf die zwei letzten Zeilen der Strophe ein. - Obwohl die ersten sechs Zeilen andeuten, dass da im Walde „ein Wort geschrieben steht“ und dass dieses Wort „treu zu lesen“ ist, d. h. dass etwas Lesbares, Entzifferbares vorliegt, jedenfalls nichts unbedingt Irrationales, - und obwohl in der dritten und vierten Zeile in sehr gedrängter Form, aber doch deutlich genug eine Art ‚christliche Dogmatik in drei Artikeln’ namhaft gemacht wird: „rechtes Tun“, „(rechtes) Lieben“ und „was des Menschen Hort“, - nach alledem reden die beiden letzten Zeilen doch von einer wesentlich irrationalen Klarheit. Dass aber auf diesen letzten Zeilen und besonders auf der kühnen Wortverbindung „unaussprechlich klar“ die Hauptbetonung der Strophe liegt, das geht aus ihrer Stellung ganz am Ende hervor. Beim Stichwort „unaussprechlich“ müssen wir nun Eichendorff wohl noch einmal in Schutz nehmen, diesmal nicht gegen eine Ein- <?page no="217"?> 205 wendung, sondern gegen eine denkbare Zustimmung, die er aber, wenn er davon hätte wissen können, mit Recht abgelehnt hätte. - Wenn man nämlich nur die nüchterne („abgeholzte“) Ist-Aussage hört, sagt Eichendorff ungefähr dasselbe wie Wittgenstein in dem berühmten Schlusssatz seines „Tractatus“ (siehe den 13. Spaziergang): „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“. Eichendorff meint aber das Gegenteil: Worüber man nicht schweigen darf, davon muss man Zeugnis ablegen, - so gut oder schlecht es eben gehen mag, und wenn nicht anders, dann eben in „unaussprechlicher Klarheit“. (Man sieht hier, dass die abgeholzte Wahrheit einer Ist- Aussage unter Umständen doch allzu wenig oder sogar etwas Irreführendes sagt.) Was das Aussprechen und die Vermittlung religiöser Klarheit und Wahrheit anlangt, sehen wir jetzt mehrere Möglichkeiten vor uns - Möglichkeiten, die sich gegenseitig nicht ausschließen können, sondern ergänzen müssen, weil keine von ihnen wirklich zureichend sein kann: E r s t e n s: Wittgensteins Schweigen und Eichendorffs Unaussprechlichkeit - was zwar im Endeffekt etwas sehr Verschiedenes ist, im winzigen Ausgangspunkt aber doch gleich: der notgedrungene Verzicht auf Aussprechen und ausdrückliche Vermittlung. Z w e i t e n s: Die lediglich auf dogmatisch-historische Ur-Sachen hinweisende Lehre. Die ist und bleibt als solche, wenn sich nichts weiter tut, mumienhaft-leblos. D r i t t e n s: Das höchstpersönliche Ansprechende, Lebendig- Machende. Das ist allerdings, als ganz Persönliches, letztlich unverfügbar. Das kann nun noch nicht alles sein, sonst wären wir immer noch arm dran. Deshalb habe ich in den vorliegenden Blättern eine vierte Möglichkeit darzustellen versucht. Ich gebe ihr, einen alten Ausdruck aufgreifend, gerne den Namen (V i e r t e n s: ) „Vernünftige Religion“, - dies Wort aber in einem heute möglichen Sinne genommen, nicht in dem des achtzehnten Jahrhunderts. Eine heutige vernünftige Religion braucht weder den Offenbarungsglauben abzulehnen noch die Evangelienberichte über die Auferstehung Jesu wegen der darin enthaltenen Widersprüche in Zweifel zu ziehen, wie das Reimarus im 18. Jahrhundert tat (während Lessing vielleicht doch irgendwie Bedenken trug, ihm das geradezu nachzusprechen, - er begnügte sich, die Reimarus-Schriften kommen- <?page no="218"?> 206 tarlos zu veröffentlichen), noch braucht sie sonst etwas abzuweisen, das zur christlichen Wahrheit gehört. Sie weist nicht einmal das Tertullianische credo quia absurdum ab („Ich glaube, gerade weil‘s unvernünftig ist“), und noch viel weniger das kostbare Paulus-Wort vom „Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft“ (Phil. 4,7). - „Vernünftige Religion heute“ kann sich begnügen, als Vermittlerin und Helferin, das „Drum und Dran“ der Religion vernünftig zu entfalten - damit hat sie reichlich zu tun. Wir haben das hier in einer Hinsicht - nur in einer Hinsicht, allerdings einer zentralen, nämlich in puncto Wahrheit, zu tun versucht. - Auch ein Verfechter vernünftiger Religion kommt nicht ganz ohne die drei oben genannten Möglichkeiten des Vermittelns religiöser Wahrheit aus: Beschweigen des Unaussprechlichen, dogmatisch-historische Nachweise, personales Bekenntnis, - aber neben dem allem, soweit wie es irgend gehen will, verpflichtet er sich auf vernünftige Darlegung und Auseinandersetzung. Weil wir uns nun mit dem end-gültigen Offenlassen zu bescheiden haben, wäre wohl - wer könnte daran zweifeln! - noch manches zu sagen. Aber das überlassen wir anderen, - unserem eigenen Sermon hingegen setzen wir hier ein E N D E. <?page no="220"?> Willi Hirdt Bildwelt und Weltbild Die drei Philosophen Giorgiones 2002, 165 Seiten + Tafelteil mit 16 meist farbigen Abb., 22,90/ SFr 40,10 ISBN 978-3-7720-2785-7 Giorgiones schöpferische Tätigkeit gipfelt in dem 1506/ 07 entstandenen Gemälde Die drei Philosophen. Das Bildnis gilt bis auf den heutigen Tag als Rätsel. O. Goetz spricht von „wohl dem geheimnisvollsten aller Renaissancebilder“, G.-G. Lemaire stuft es als das „rätselhafteste Gemälde am Ende der venezianischen Renaissance“ ein. Tatsächlich hängt die Enträtselung der Botschaft Giorgiones vom Zusammenwirken zwischen Kunst- und Literaturgeschichte ab. Die Suche nach dem „gemalten Schriftsinn“ liefert den Schlüssel zur Enthüllung jener Artefakte, die mit allegorisierender Absicht verrätselt wurden. Das gilt nicht nur für das Mittelalter, sondern auch für die Neuzeit, deren Schwelle Giorgione mit seinen Drei Philosophen wegweisend überschreitet. Thematisch tritt bei ihm neben dem Glauben die Wissenschaft ins Bild. Narr Francke Attempto Verlag Postfach 2560 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 979711 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Giorgiones „Drei Philosophen“ - die Entschlüsselung eines Rätsels <?page no="221"?> Willi Hirdt Barfuss zum Der Freskenzyklus Andrea del Sartos im Florentiner Chiostro dello Scalzo 2006, 216 Seiten, 15 Abb., [D] 29,90/ SFR 52,20 ISBN 978-3-7720-8162-0 Der Freskenzyklus des Florentiner Chiostro dello Scalzo ist eines der ungewöhnlichsten Kunstwerke der Renaissance. Der Auftrag für die Bildnisse dieser Freskomalerei ergeht 1509 an Andrea del Sarto. Die biographisch-thematisch differenzierten Lebensumstände der einzelnen Episoden stehen für Glaubenstatsachen. Diese beziehen sich, exemplarisch für die Kunst der Zeit, auf das Schicksal Johannes des Täufers. Die schöpferische Umsetzung vom Text der Vita di San Giovambattista ins Bild verdeutlicht die Epochenwende zwischen klassizistischem Humanismus und früher Neuzeit. Die Florentiner »Barfüßer« sind sich dessen bewusst. Die sprichwörtliche Wendung »Bilder lesen« ist mit diesem Buch nicht metaphorisch gefasst, sondern konkret. Aus dem Inhalt: Draußen vor der Tür • Glaube, Liebe, Hoffnung • Die Verkündigung an Zacharias • Heimsuchung • Die Geburt des Johannes • Die Taufe Christi • Die Taufe des Volkes • Predigt des Täufers • Gefangennahme des Johannes • Tanz der Salome • Enthauptung des Johannes • Darbringung des Hauptes • Gerechtigkeit Narr Francke Attempto Verlag Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen www.francke.de · E-Mail: info@francke.de lieben Gott <?page no="222"?> Narr Francke Attempto Verlag Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Hartmut Heuermann Religion und Ideologie Die Verführung des Glaubens durch Macht 2005, 343 Seiten, 29,90/ SFr 52,20 ISBN 978-3-7720-8106-4 Der Mensch ist ein machthungriges Wesen. Um sich die Welt gefügig zu machen, strebt er danach, seinen subjektiven Willen der objektiven Wirklichkeit aufzuzwingen. Er folgt dabei einem Trieb, der auf Dominanz über Natur und Gesellschaft gerichtet ist und der - rationalisiert und systematisiert - die Bildung von Ideologien zur Folge hat. Dieses Buch untersucht ‚Brennpunkte‘ der Religions- und Gesellschaftsgeschichte, an denen die unselige Verquickung von Gläubigkeit und Machtversessenheit sichtbar wird. Ob es um den unduldsamen Allah der Muslime, den blutrünstigen Jahwe der Israeliten oder den „allmächtigen“ Gott der Christen geht; ob das Debakel der so genannten Kreuzzüge, die Untaten der „Heiligen Inquisition“ oder die Raubzüge der Konquistadoren in der Neuen Welt betrachtet werden; ob es sich um die Motive fundamentalistischer Gewalttäter oder die messianische Politik eines George W. Bush handelt - stets stoßen wir auf diesen Komplex aus Glaubensinbrunst und Machtgier, der die überirdischen Ziele religiöser Verkündiger auf höchst irdische Weise kompromittiert. Die kritischen Analysen münden in die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es ideologiefreie Religion geben kann. <?page no="223"?> Narr Francke Attempto Verlag Postfach 2567 · D-72015 Tübingen · Fax (07071) 979711 Internet: http: / / www. francke .de · E-Mail: info@ francke .de Philosophie Otfried Höffe (Hrsg.) Vernunft oder Macht? Zum Verhältnis von Philosophie und Politik 2006, 280 Seiten, € 19,90/ SFr 34,90 ISBN 978- 3-7720-8158- 3 „Vernunft oder Macht? “ - das Thema klingt hoch aktuell, ist in Wahrheit jedoch uralt und begleitet die Menschen, seit sie über ihr Zusammenleben in politischen Verbänden nachdenken. Denn für die Errichtung einer politischen Grundordnung wie für das Handeln innerhalb dieser Ordnung braucht es mindestens zweierlei: Einerseits Überlegungen über Nutzen und Schaden, über Gut und Gerecht, über die Einschätzung der Situation und der in ihr denkbaren Handlungsmöglichkeiten - also „praktisch-politische Vernunft“. Andererseits die Mittel, die Handlungsmöglichkeiten auch gegen Widerstände in die Tat umsetzen zu können: Einfluss, Geld, Beziehungen - mit einem Wort: Macht. Vernunft ist so auf Macht angewiesen, freilich nur auf eine, die ihr dient - dazu aber ist die Macht nicht immer bereit. Eine spannende Wechselbeziehung über Jahrtausende hinweg, wie die Beiträge dieses Sammelbands belegen. <?page no="224"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.attempto-verlag.de Um die gesellschaftliche Moral steht es heute nach landläufiger Meinung nicht zum Besten: allerorten wird ein Werteverfall, ein Schwund an Glaubwürdigkeit, eine weit verbreitete Bereicherungsmentalität beklagt. Die Autoren dieses Buches fragen hier nach: Hat wirklich nur das Böse Konjunktur? Und grundsätzlicher: Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen beeinflussen unsere Vorstellungen von Moral? Wie entwickelt sich im Kind die Vorstellung von Gut und Böse? Bei der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse bleiben die Autoren freilich nicht stehen - ihnen geht es zentral darum, wie pädagogische, psychiatrische, soziologische, kriminologische und theologische Konzepte von Gut und Böse zu Leitlinien und Maßstäben für unser Handeln und für unsere Erziehung in einer pluralistischen Gesellschaft werden können. Gunther Klosinski Über Gut und Böse Wissenschaftliche Blicke auf die gesellschaftliche Moral 2007, 172 Seiten, €[D] 29,90/ SFR 52,20 ISBN 978-3-89308-382-4