Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften
0817
2011
978-3-8930-8615-3
Attempto Verlag
Eve-Marie Engels
Oliver Betz
Heinz-R. Köhler
Thomas Potthast
Charles Darwin hat unser Verständnis vom Lebendigen und von der Stellung des Menschen im Naturganzen einschneidend verändert und nachhaltig geprägt. Er legte den Grundstein für eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie, deren Wirkung sich bereits zu Darwins Lebzeiten nicht auf Biologie und Naturwissenschaften beschränkte, sondern auch Fragestellungen und Inhalte der Geistes- und Sozialwissenschaften beeinflusste. Das vorliegende Buch vermittelt einen beeindruckenden Einblick in Darwins Bedeutung für die Wissenschaften vom 19. Jahrhundert bis heute. Namhafte Autorinnen und Autoren zeichnen aus der Perspektive ihrer Fächer ein Bild von der Vielseitigkeit des großen Denkers.
<?page no="1"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 045711 Engels_Betz_045711 Engels_Betz Titelei 20.06.11 10: 30 Seite 1 <?page no="2"?> 045711 Engels_Betz_045711 Engels_Betz Titelei 20.06.11 10: 30 Seite 2 <?page no="3"?> Eve-Marie Engels / Oliver Betz Heinz-R. Köhler / Thomas Potthast (Hrsg.) Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 045711 Engels_Betz_045711 Engels_Betz Titelei 20.06.11 10: 30 Seite 3 <?page no="4"?> Umschlag: Charles Robert Darwin, nach einem Ölgemälde von Tibor Pogonyi, München 2010, mit herzlichem Dank an den Künstler für die Erlaubnis zur Reproduktion. Im Vordergrund: Von Darwin während seiner Weltreise beschriebener und nach ihm benannter Fink, aus: The zoology of the voyage of H.M.S. Beagle: under the command of Captain FitzRoy, R.N., during the years 1832 to 1836 ... / edited and superintended by Charles Darwin. Volume 3, Plate 34: Tanagra darwini. Call number DSM Q591.9/ D. Courtesy of the State Library of New South Wales, Australia. Im Hintergrund: Ausschnitt einer Skizze aus einem von Darwins Notizbüchern, angefertigt im Sommer 1837. Wikimedia Commons. Erstellung der Bildcollage: Maddalena Angela Di Lellis, Universität Tübingen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.d-nb.de abrufbar. Herausgeber und Verlag bedanken sich bei der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen (Universitätsbund) e.V. für die finanzielle Unterstützung der Drucklegung dieses Bandes. © 2011 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.attempto-verlag.de E-Mail: info@attempto-verlag.de Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany ISBN 978-3-89308-415-9 045711 Engels_Betz_045711 Engels_Betz Titelei 20.06.11 10: 30 Seite 4 <?page no="5"?> Inhalt Vorwort ..................................................................................................................... 7 E VE -M ARIE E NGELS , O LIVER B ETZ , H EINZ -R. K ÖHLER , T HOMAS P OTTHAST Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften - Eine Einführung ................................................................................................................ 9 T HOMAS J UNKER Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie ............................ 27 W OLFGANG M AIER Darwins Weltreise mit der HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) - Historische Geologie und die Entstehung der modernen Evolutionstheorie ..................... 43 R ALF J. S OMMER Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie ................ 77 O LIVER B ETZ Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität - Darwins Theorie aus heutiger evolutionsbiologischer Sicht ......................................................................................................................... 89 T HOMAS P OTTHAST Darwin, Ökologie, Naturschutz - Historische, wissenschaftstheoretische und ethische Dimensionen ...................................................................... 121 E VE -M ARIE E NGELS Der Mensch, das moralfähige Tier - Zur Anthropologie und Ethik von Charles Darwin .................................................................................................... 145 D IRK B ACKENKÖHLER Auf Spuren zur Abstammung der Menschen - Eine kleine Reise in die Geschichte der Anthropologie zu Brennpunkten anthropologischer Debatten vor und kurz nach der Publikation von Darwins Evolutionstheorie .................................................................................................................... 181 <?page no="6"?> Inhalt 6 M IRIAM N OËL H AIDLE Darwin, Lucy und das Missing Link - Evolutionäre Anthropologie im 21. Jahrhundert ............................................................................................... 203 N ICOLE B ECKER Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen ........................................................................................................ 225 P ETER M EYER Darwin und die Gesellschaftstheorie ................................................................ 243 G ÜNTER A LTNER Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung .......................................... 257 Die Autorinnen und Autoren ............................................................................ 273 Personenregister .................................................................................................. 279 Sachregister ........................................................................................................... 283 <?page no="7"?> Vorwort Das vorliegende Buch basiert auf einer Ringvorlesung über „Charles Darwin und seine Wirkung in Wissenschaft und Gesellschaft“, die anlässlich des Charles Darwin-Jubiläumsjahres 2009 im Wintersemester 2008/ 2009 an der Eberhard Karls Universität Tübingen im Rahmen des Studium Generale stattfand. Die Vorlesungsreihe wurde von Mitgliedern des interfakultären Lehr- und Forschungsverbundes Evolution and Ecology Forum Tübingen (EvE), des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften der Fakultät für Biologie und des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen organisiert und veranstaltet. Am 12. Februar 2009 jährte sich der Geburtstag von Charles Darwin zum 200. Mal, und sein epochales Werk On the Origin of Species erschien vor 150 Jahren am 24. November 1859. Dieses Jubiläum wurde von den Veranstaltern zum Anlass genommen, Darwins Werk und Wirkung von ausgewiesenen Expertinnen und Experten aus dem Blickwinkel verschiedener Disziplinen beleuchten zu lassen. Ziel der Vorlesungsreihe war es, ein möglichst facettenreiches und authentisches Bild von Darwin selbst, seiner Theorie und ihrer Rezeption in verschiedenen Kontexten zu vermitteln. Darwins Name ist zwar in aller Munde, doch ranken sich um seine Person und Theorie nach wie vor zahlreiche Missverständnisse. Gleichzeitig besteht in der Bevölkerung ein großes Interesse an sachkundiger Aufklärung über und fundierter Auseinandersetzung mit Themen im Umkreis von Darwins Theorie. Hierzu gehören auch ihre weltanschauliche Bedeutung und ihre Relevanz für kultur- und gesellschaftstheoretische sowie ethische Fragen. Unsere Vorlesungsreihe stieß daher auf große Resonanz. Dieses große allgemeine Interesse und der ausdrückliche Wunsch von Besucherinnen und Besuchern, die Beiträge der Ringvorlesung noch einmal nachlesen zu können, haben die Veranstalter dazu veranlasst, sie in Buchform vorzulegen. An dieser Stelle danken wir allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Mitwirkung an der Vorlesungsreihe und an diesem Sammelband. Wir danken auch dem Verlagshaus Narr Francke Attempto, insbesondere Frau Mareike Reichelt, Frau Amelie Sareika und Frau Celestina Filbrandt vom Lektorat, für ihre engagierte Betreuung dieses Projekts. Den studentischen MitarbeiterInnen des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften, Frau Katharina Meyer-Borchert, Herrn Michael Botsch und Frau Johanna Edel danken wir für ihre vielfältige Hilfe. Hierzu gehören die Unterstützung beim Korrekturlesen, Literaturrecherchen, die teilweise selbständige Erstellung und Systematisierung des Sach- und Personenregisters, zahlreiche redaktionelle Arbeiten und nicht zuletzt die Formatierung aller Texte und die Erstellung der Druckvorlage für den Verlag. Frau Maddalena Angela Di Lellis danken wir für die Zusammenstellung der Bildcollage auf dem Umschlag. <?page no="8"?> Vorwort 8 Der Druck des vorliegenden Buches wurde durch einen finanziellen Zuschuss der Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen (Universitätsbund) e.V. gefördert. Wir danken dem Universitätsbund herzlich für seine Unterstützung. Tübingen, im März 2011 Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler und Thomas Potthast <?page no="9"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften Eine Einführung Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast Mit seinen Werken Die Entstehung der Arten (1859) und Die Abstammung des Menschen (1871) legte Charles Darwin (1809-1882) den Grundstein für eine naturwissenschaftliche Evolutionstheorie, die den Menschen in den Gesamtzusammenhang des Lebendigen miteinschließt. 1 Schon bald nach dem Erscheinen von Darwins Werk Die Entstehung der Arten erkannten seine Zeitgenossen die revolutionäre Bedeutung dieses neuen Ansatzes und verglichen Darwin mit den großen Denkern der Astronomie und Physik, insbesondere mit Kopernikus (1473-1543), Galilei (1564-1642) und Newton (1643- 1727). Gleichzeitig waren viele davon überzeugt, dass sich die Bedeutung von Darwins Theorie nicht nur auf die Biologie erstreckt, sondern auch auf die Geistes- und Humanwissenschaften sowie auf unser Natur- und Menschenbild generell. Wir haben das Darwin-Jubiläum im Jahre 2009 zum Anlass genommen, diesem Einfluss in verschiedenen Wissenschaften und Disziplinen nachzugehen. Hierzu gehören einerseits die Biologie mit der Entstehung einzelner neuer Disziplinen wie der evolutionären Entwicklungsbiologie, der Populationsgenetik und der Ökologie sowie andererseits die Evolutionäre Anthropologie, die Erziehungswissenschaften und die Gesellschaftstheorie. Wie sich zeigt, nimmt die Wirkung von Darwins Theorie in diesen verschiedenen Wissenschaftszweigen ausgesprochen unterschiedliche Züge an. Dies liegt zum einen an Merkmalen der Theorie selbst, zum anderen an den Bedingungen der Rezipienten. Zu den Merkmalen der Darwin’schen Theorie gehören ihre Neuheit, Komplexität, die von Darwin verwendeten Metaphern, die „Unvollständigkeit“ der Theorie in dem Sinne, dass zu Darwins Zeit viele theoretische und praktische Erkenntnisse, von denen wir heute wissen, nicht verfügbar waren. Darwins Origin war zudem ja auch kein Lehrbuch der Evolutionsbiologie, sondern „one long argument“, wie er selbst schreibt, also eine lange Argumentations- oder Beweiskette zur Fundierung seiner komplexen Theorie. Diese besteht aus (mindestens) vier Einzeltheorien bzw. Theoremen, die jeweils unterschiedlich rezipiert und nicht alle in gleicher Weise akzeptiert wurden. Diese sind (1) das Deszendenztheorem, d.h. die Annahme einer gemeinsamen Abstammung der Organismen (einschließlich des Menschen), (2) 1 Für detaillierte Literaturhinweise sei auf die Einzelbeiträge verwiesen. <?page no="10"?> Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast 10 der Gradualismus, (3) die Theorie der natürlichen Auslese und (4) die der Vervielfältigung der Arten (Divergenzprinzip, Speziation). Seitens der Rezipienten sind die verschiedenen Kontexte (disziplinär, philosophisch, religiös, kulturell, politisch usw.) sowie die persönlichen Voraussetzungen maßgeblich für die jeweils spezifische Aufnahme von Darwins Theorie. Dementsprechend können die Wirkungen dieser Theorie und damit ihre Bedeutung für die einzelnen Wissenschaften sehr unterschiedlich sein. Hinzu kommen länderspezifische Besonderheiten der Rezeption sowie Einflüsse auf die Rezeption, die durch die jeweiligen Übersetzungen bedingt sind. 2 Darwins Theorie bewirkte jedoch nicht nur eine Revolution in einzelnen Wissenschaften, sondern auch in den philosophischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der Biologie und anderer Disziplinen. Denn mit der Annahme, dass sich die Zweckmäßigkeit in der lebendigen Natur sowie ihre Phänomene rein wissenschaftlich mittels Naturgesetzen erklären ließe, wurde die Biologie nicht nur auf eine naturwissenschaftliche Grundlage gestellt, sondern ihre zahlreichen zerstreuten Phänomene ließen sich auch aus der Perspektive dieser Theorie einheitlich deuten. So sieht Hermann von Helmholtz die Relevanz dieses „wesentlich neuen schöpferischen Gedankens“ nicht zuletzt darin, die Ergebnisse verschiedener Einzeldisziplinen, die bislang als „Anhäufung räthselhafter Wunderlichkeiten“ schienen, in einen systematischen Zusammenhang bringen zu können. 3 Darwins zündende Idee gab den Anstoß zur Initiierung zahlreicher neuer Forschungsprogramme - ein Prozess, der bis heute anhält. Allerdings erweist sich diese Entwicklung durchaus als spannungsreich, wovon die Diskussionen um die Frage der Vereinbarkeit von Evolution und Schöpfungsgeschichte nur ein besonders augenfälliges Beispiel ist. In den Beiträgen des vorliegenden Buches steht Darwins Einfluss auf verschiedene Wissenschaften bzw. Kontexte im Mittelpunkt. Diese sind die Entwicklungsbiologie, die Populationsgenetik, die Ökologie, die Anthropologie vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, die Erziehungswissenschaften und die Gesellschaftstheorie. Schließlich wird auch nach der Beziehung zwischen Darwins naturwissenschaftlicher Evolutionstheorie und der Schöpfungstheologie gefragt. 2 Engels, E.-M. u. Glick, Th.F. (Hg.) 2008: The Reception of Charles Darwin in Europe. 2 Bde. Continuum, London, New York. 3 Helmholtz, H. von 1968: Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft. In: Ders., Das Denken in der Naturwissenschaft (1869). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 31-61. <?page no="11"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 11 1. Die Herausbildung biologischer Disziplinen unter dem Einfluss von Darwins Theorien Mit dem ersten Beitrag „Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie“ führt Thomas Junker in die Vorgeschichte von Darwins Theorie ein. Darwin gab mit seinem berühmten Buch On the Origin of Species, in dem er seine „theory of descent with modification through natural selection“ vorstellte, den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der neuen Wissenschaft der Evolution. Junker sieht Darwins Besonderheit darin, dass es hier erstmals gelang, in überzeugender Weise darzustellen, wie/ inwiefern Existenz, Eigenschaften und Zweckmäßigkeit der Organismen auf natürliche Weise erklärbar sind. Darwin gab eine überzeugende Antwort auf das schon Aristoteles (384- 322 v. Chr.) faszinierende Rätsel der Zweckmäßigkeit der Organismen und ihrer Körperteile. Allerdings machte Darwin nicht als Erster diesen Versuch. Wie kommt es, dass er im Unterschied zu Lamarck (1744-1829) einen so großen Erfolg hatte? Was machte sein Erklärungsmodell so wirkmächtig? Der Autor gibt einen Überblick über einige naturalistische Vorläufer Darwins, den er weniger als erschöpfende Aufzählung denn als Anregung versteht. Schon in der Naturphilosophie der Antike gab es Versuche, die Entstehung der Organismen auf natürliche Weise zu erklären, beispielsweise Lukrez (gest. 55 v. Chr.), dessen Ideen das Denken bis ins 18. Jahrhundert hinein beeinflussten, wie das Beispiel des französischen Philosophen der Aufklärung, Denis Diderot (1713-1784), zeigt. Der Grund für die sehr späte Durchsetzung des evolutionären Naturalismus ist nach Junker zum einen die Überschätzung der direkten Beobachtung. Evolutionäre Veränderungen folgen Prozessen, die sich im Allgemeinen sehr langsam vollziehen und in ihrem Zeitverlauf nicht nur Individuen in ihrer Lebensdauer, sondern in den überwiegenden Fällen auch Generationen von Wissenschaftlern übersteigen. Hinzu kommt, dass man seinerzeit ein zu kurzes Alter der Erde annahm. Darüber hinaus wurde die Idee der Evolution so spät akzeptiert, weil man andere Erklärungen auch aus weltanschaulichen Gründen für plausibler hielt. Die Idee der natürlichen Selektion bildete einen Gegenpol zu weitgehend anerkannten und dominanten religiösen Schöpfungsideen. Es sei Darwin gelungen, wie der Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli (1817-1891) konstatierte, „an die Stelle der übernatürlichen Einwirkungen eine natürliche Entwickelung, an die Stelle des Wunders den Causalnexus zu setzen“. Junker sieht Darwins wichtigste Leistung in den ersten Jahrzehnten nach dem Erscheinen von Origin in der Durchsetzung des Naturalismus in der Biologie. Die Frage stellt sich, wieso sich nicht Lamarcks Lehre, die bereits ebenfalls von der Annahme der Evolution ausging, durchsetzte. Obwohl Darwin hinsichtlich der Vererbung lamarckistisch argumentierte, entwickelte er einen neuen Mechanismus zur Erklärung der Zweckmäßigkeit des Aufbaus von Organismen. Nicht die Erklärung der Entstehung, sondern die der Erhaltung und der Anhäufung zweckmäßiger Variationen ist das Besondere an Darwins Erklärung. Dadurch gelang es zugleich, <?page no="12"?> Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast 12 auch die Systematik von Carl von Linné (1707-1778) naturalistisch zu fundieren. Darwins Theorie hatte also letztlich eine größere Erklärungskraft als alternative Theorien. Das zentrale Ereignis in Charles Darwins Biographie ist zweifelsohne seine mehrere Jahre dauernde Reise mit der Beagle. Mit ihr befasst sich Wolfgang Maier in seinem Beitrag „Darwins Weltreise mit der HMS ‚Beagle‘ (1831- 1836) - Historische Geologie und die Entstehung der modernen Evolutionstheorie“. Gerade einmal 22 Jahre alt und seinen Bachelor of Arts in der Tasche, hatte Darwin die Gelegenheit, mit diesem Vermessungsschiff unter Leitung des ebenfalls noch jungen, fast gleichaltrigen Kapitäns Robert FitzRoy (1805-1865) eine Reise um die Welt zu unternehmen. Diese Reise fand von 1831 bis 1836 statt. Den Zweck der Reise hat Darwin in seinem Buch Reise eines Naturforschers um die Welt wie folgt beschrieben: „Der Zweck der Expedition war die Aufnahme von Patagonien und dem Feuerland, welche unter Kapitän King in den Jahren 1826-1830 begonnen worden war, zu vollenden, die Küste von Chile, Peru und einigen Südsee-Inseln aufzunehmen und eine Kette von chronometrischen Maßbestimmungen rund um die Erde auszuführen“ 4 . Es handelte sich somit primär um eine Vermessungsreise zur Kartierung unbekannter Abschnitte, vor allem der südamerikanischen Küstenlinie zur Verbesserung der Handelsbeziehungen mit Süd-Amerika. Darwin selbst bezeichnete diese Reise als das wichtigste Ereignis seines Lebens, und sein weiterer Berufsweg als Naturforscher und sein Werk wären ohne diese Reise nicht denkbar gewesen. Fachlich war Darwin während seiner Reise weitgehend auf sich allein gestellt. Er besaß zwar Literatur und wies eine scharfe Beobachtungsgabe - gepaart mit Fachinteresse und Phantasie - auf, hatte aber keinen Fachkollegen an Bord. In Süd-Amerika hatte Darwin interessante Fossilien gesammelt, wofür ihn Exkursionen bis auf 3.000 m Höhe über dem Meer führten. Er sah Muschelbänke, die weit über dem Meer lagen und ihm zu denken gaben. Am 15.9.1835 landete die Crew der Beagle auf Galapagos, einer Reihe geologisch junger (unter fünf Millionen Jahre alter) Inseln mit einer merkwürdigen Faunenzusammensetzung, die sie wie eine Kolonie Süd-Amerikas erscheinen ließen. Jede dieser Inseln wies einen besonderen Typ von Spottdrosseln auf. Schwieriger zu interpretieren waren die dort lebenden „Finken“, welche später von dem Ornithologen John Gould (1804-1881) als Artenschwarm einer neu aufzustellenden Gattung Geospiza identifiziert wurden, die sich unter anderem deutlich in ihren Schnabelformen unterschieden. Darwin sammelte, präparierte und konservierte auf seiner Reise insgesamt mehr als 5.000 Objekte. Nach seiner Rückkehr nach England musste dieses Material von Spezialis- 4 Darwin, Ch. 2006: Gesammelte Werke. Nach Übersetzungen aus dem Englischen von J. Victor Carus. Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Melzer Verlag GmbH, Neu Isenburg 2006 für Zweitausendeins, Frankfurt a.M, 17. <?page no="13"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 13 ten bearbeitet werden. Die sich daraus entwickelnden Kooperationen waren für die Entwicklung seiner Theorie von eminenter Bedeutung, die bald prominente Unterstützer in dem Geologen Charles Lyell (1797-1875), dem Botaniker Joseph Dalton Hooker (1817-1911) und dem Zoologen Thomas Henry Huxley (1825-1895) fand. Maier stellt in seinem Beitrag auch den ideengeschichtlichen und persönlichen Hintergrund heraus, vor dem Charles Darwin seine Theorie entwickelt hat. Dabei wird deutlich, dass die intensiven geologischen Studien, die Darwin auf der Grundlage von Charles Lyells Principles of Geology (Bände 1-3: 1830-1833) während seiner Reise (und im Anschluss daran) betrieb, sein Bewusstsein für die unermesslich langen Zeiträume geschärft haben, die das Panorama für die von ihm postulierten Evolutionsmechanismen bilden. Erst vor diesem „tiefenzeitlichen“ 5 Hintergrund erhalten die von Darwin formulierten Deszendenz- und Selektionstheoreme ein Fundament, das sie wissenschaftlich plausibel und allgemein nachvollziehbar macht. So forderte Darwin im Gegensatz zu vielen seiner wissenschaftlichen Zeitgenossen für die postkambrische Zeit ein Alter von über 60 Millionen Jahren und vertrat damit bereits die Denkweise eines modernen Historismus, dem ein dynamisches Bild einer sich ständig im Wandel begriffenen Erde (Geologie und Biologie) zugrunde liegt. Nicht zuletzt war es die direkte Auseinandersetzung Darwins mit seinen Lehrern und Mentoren, die sein Denken beeinflusst haben. Teilweise handelte es sich dabei bereits um Anhänger des Evolutionsgedankens Jean-Baptiste de Lamarcks (1744-1829), wie der Meereszoologe und Evolutionsbiologe Robert Grant (1793-1874), teilweise um Kreationisten, die von der Unwandelbarkeit der von Gott geschaffenen Arten überzeugt waren. Zu Letzteren gehören der Botaniker und Geistliche John Stevens Henslow (1796- 1861), der Geologe und ebenfalls Geistliche Adam Sedgwick (1785-1873) sowie der Wissenschaftsphilosoph, Mathematiker und Historiker William Whewell (1794-1866). Sedgwick und Whewell wurden später scharfe Kritiker von Darwin. In seinem Beitrag „Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie“ stellt Ralf J. Sommer einige wichtige Forschungsansätze vor, die aus den verschiedenen Einzeltheorien bzw. Theoremen der komplexen Gesamttheorie Darwins entstanden sind. Darwins vier Haupttheorien sind, wie oben bereits erwähnt, die Theorie der gemeinsamen Abstammung aller Organismen, der Gradualismus, die Selektionstheorie und die Theorie der Speziation. Diese vier Theorien werden in der aktuellen Evolutionsforschung von verschiedenen Disziplinen mit jeweils unterschiedlichen Forschungsansätzen untersucht. Sommer stellt vier dieser Forschungsgebiete vor: die evolutionäre Entwicklungsbiologie, die Populationsgenetik, die evolutionäre Ökologie und 5 Falls nicht anders angegeben, sind die Zitate jeweils den Texten der Einzelbeiträge entnommen. <?page no="14"?> Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast 14 die molekulare Phylogenie. Eine zentrale Botschaft dieses Artikels ist die Forderung, die Evolutionstheorie nicht auf die Theorie der natürlichen Selektion zu reduzieren. Vielmehr seien die verschiedenen Forschungsansätze miteinander zu integrieren. Mit der Theorie der gemeinsamen Abstammung, welche von einer historischen Verwandtschaft der Organismen ganz verschiedener Gruppen ausgeht, verbindet sich die Frage, wie aus der Einheit Vielheit entstehen kann, d.h., „wie über evolutionäre Zeiträume hinweg Unterschiede in morphologischen Strukturen entstehen“, aber zugleich auch, wie der verwandtschaftliche Zusammenhang zwischen den Lebewesen unterschiedlicher Gruppen nachweisbar und erklärbar ist. Zur Bearbeitung dieser Forschungsfrage bedarf es einer Disziplin, welche die morphologischen Strukturen von Pflanzen, Pilzen und Tieren vergleichend untersucht. Dies ist die vergleichende Entwicklungsbiologie. Hier sind in den letzten drei Jahrzehnten vor allem durch den systematischen Einsatz genetischer Methoden große Durchbrüche erzielt worden. Modellorganismen sind u.a. zwei wirbellose Tiere, die Fruchtfliege Drosophila melanogaster und der Fadenwurm Caenorhabditis elegans. An diesen Tieren lässt sich die Funktionsweise von Entwicklungskontrollgenen sehr gut erforschen. Diese Gene, welche die Frühentwicklung von Drosophila steuern, sind im Tierreich hoch konserviert, d.h. sie kommen in ganz unterschiedlichen Tiergruppen vor, bei Drosophila, einfachen Nesseltieren über Fadenwürmer und Insekten bis hin zu den Säugetieren. Aber auch Vorgänge der pflanzlichen Entwicklung werden durch die Entwicklungsbiologie aufgeklärt. Dies ist eine wichtige und interessante Erkenntnis, die aber umso mehr die Frage aufwirft, wieso Organismen so unterschiedlich sind und auch bereits innerhalb einzelner Populationen individuelle Charakteristika aufweisen, wenn sie weitgehend über die gleichen Gene verfügen, die ihre Entwicklung steuern. Zur Bearbeitung letzteren Aspektes bedarf es der Populationsgenetik und ihrer Erklärungsmodelle (positive Selektion, negative Selektion, neutrale Theorie der molekularen Evolution). Die Populationsgenetik, welche aus der Theorie der natürlichen Selektion entstanden ist, untersucht die innerartliche natürliche Variabilität. Die Kombination der Forschungsansätze von Entwicklungsbiologie und Populationsgenetik ist nach Sommer jedoch ein Desiderat für künftige Forschungen. Als weitere wichtige Disziplinen führt Sommer die evolutionäre Ökologie und die molekulare Phylogenie an. Diese unterstützen Darwins Theorie der Speziation. Während die evolutionäre Ökologie die Bedeutung von Umweltbedingungen für die Ausbildung bestimmter Strukturen von Organismen und damit deren phänotypische Plastizität untersucht, besteht die Aufgabe der molekularen Phylogenie in der molekularen Rekonstruktion der Stammesgeschichte. Innerhalb der Erforschung der stammesgeschichtlichen Verwandtschaftsverhältnisse von Organismen gab es nach Sommer zwei tief greifende Revolutionen, die morphologische und die molekulare Phylogenie. Die erste ist mit der Arbeit des Morphologen Willi Hennig (1913-1976) zur phylogeneti- <?page no="15"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 15 schen Systematik verbunden, die zweite beinhaltet die Verwendung molekularer Sequenzdaten des Erbguts in der phylogenetischen Forschung. Von den vier oben genannten Theorien Darwins hat der Gradualismus nach Sommer bisher nicht zu einem eigenständigen Forschungsfeld geführt. Vielmehr ist er immer wieder kritisiert worden, vor allem von Paläontologen, wie z.B. von Niles Eldredge und Stephen Jay Gould mit ihrer Theorie des punctuated equilibrium. Der Gradualismus sei durch ein Evolutionsmodell zu ersetzen, nach dem kurze Perioden intensiven Wandels mit langen Phasen abwechseln, in denen kaum Veränderungen stattfinden. Die unterschiedlichen Einschätzungen der Evolutionsgeschwindigkeit, die Gradualisten und Punktualisten voneinander unterscheiden, lassen sich möglicherweise auf ein unterschiedliches, durch die jeweilige Disziplin bedingtes Zeitverständnis zurückführen 6 . Darwins Gesamttheorie wird dadurch nicht in Frage gestellt. Sommer plädiert dafür, die evolutionsbiologische Ausbildung an Schulen und Universitäten viel breiter zu fassen und sich um eine Integration der verschiedenen Forschungsfelder zu bemühen. In seinem Beitrag „Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität - Darwins Theorie aus heutiger evolutionsbiologischer Sicht“ verfolgt Oliver Betz zwei Zielsetzungen, erstens die Beurteilung der gegenwärtigen Biodiversitätskrise, die einen anthropogen verursachten Artenverlust darstellt, vor dem Hintergrund erdgeschichtlicher Aussterbeprozesse und zweitens eine differenzierte Darstellung der Entstehung neuer Arten mit Hilfe wissenschaftlicher Erklärungskonzepte, die seit Charles Darwins epochalem Werk On the Origin of Species erarbeitet wurden. Insbesondere der erste Teil beinhaltet wichtige empirische Informationen, die für eine ökologisch orientierte Ethik in mehrfacher Hinsicht relevant sind. Betz stellt zunächst kurz die 1992 in Rio de Janeiro verabschiedete Biodiversitätskonvention und ihre Zielsetzungen vor, die unter anderem in der Verpflichtung der Vertragspartner bestehen, die Biodiversität auf unserem Planeten zu erhalten, einen nachhaltigen Umgang mit ihr zu pflegen und Erträge aus genetischen Ressourcen der Erde in fairer Weise zu teilen. Dabei wird zwischen der Diversität innerhalb der Arten (genetische Diversität), der Diversität der Arten (Zahl der Arten in einem Ökosystem) und der Diversität zwischen Ökosystemen (Vielfalt der ökologischen Systeme auf dem Festland und im Wasser) unterschieden. Der vom Menschen verursachte Biodiversitätsverlust betrifft alle drei Ebenen. Die Dramatik dieses anthropogenen Verlusts lässt sich nicht mit dem Argument herunterspielen, dass im Laufe der Erdgeschichte stets Arten ausgestorben sind, die Anzahl neuer Arten jedoch stetig gewachsen ist, wie Darwin es bereits beschrieben hat. Nach Betz sprechen biologische Erkenntnisse dagegen, die derzeitige Aussterberate von 6 Stebbins, L.G. u. Ayala, F. J. 1985: Die Evolution des Darwinismus. Spektrum der Wissenschaft 9, 58-71. <?page no="16"?> Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast 16 7.000 Arten pro Jahr übersteige bei weitem die Entstehungsrate. Eine Besonderheit dieses Phänomens liegt darin, dass heute im Unterschied zum früheren Artensterben eine einzige Art die Ursache „einer neuen Massenextinktion“ ist, an deren Anfang wir stehen. Betz ermahnt zu bedenken, dass „jede Art qualitativ einmalig und nach ihrem Aussterben unwiederbringlich samt ihrem ihr eigenen Genpool verschwunden ist.“ Betz weist auch darauf hin, dass sich Maßnahmen zum Schutz der Biodiversität nicht nur ethisch und ästhetisch, sondern sogar monetär begründen lassen. Im zweiten Teil seines Beitrags gibt Betz einen Einblick in die Differenziertheit des Artbegriffs bzw. der Artbegriffe, und er stellt fünf verschiedene Artkonzepte vor: das biologische, das morphologische oder typologische, das evolutionäre, das ökologische und das genetische Artkonzept. Daneben gibt es noch ein umfassendes Konzept, das organismische oder integrative Artkonzept (nach Wolfgang Maier), das weitere Kriterien berücksichtigt. Nach der Vorstellung und Erläuterung dieser Artkonzepte gibt Betz einen informativen Einblick in die Mechanismen der Entstehung von Arten (allopatrische und sympatrische Speziation). Die Entstehung neuer Arten setzt eine reproduktive Isolation voraus, deren Mechanismen ebenfalls vorgestellt werden. Betz zeigt in seinem instruktiven Überblick, dass die Entstehung neuer Arten ein komplexes Phänomen ist und es verschiedene Mechanismen der Artbildung gibt. Der jeweils zur Anwendung kommende konkrete Mechanismus hängt „stark von den physiologischen, ökologischen und genetischen Eigenschaften der einzelnen Tier- und Pflanzengruppe sowie den jeweiligen Umweltbedingungen“ ab. Abschließend weist Betz darauf hin, dass nach aktuellen Hochrechnungen geologische Zeiträume für die Kompensation des sich gegenwärtig vollziehenden, anthropogen bedingten massiven Artenrückgangs veranschlagt werden müssen. Der Beitrag schließt mit einem Appell an das Verantwortungsbewusstsein des Menschen. Der Beitrag „Darwin, Ökologie, Naturschutz - Historische, wissenschaftstheoretische und ethische Dimensionen“ von Thomas Potthast erschließt die Wirkung Darwins auf die naturwissenschaftliche Ökologie einerseits und die „politische Ökologie“ des Umwelt- und Naturschutzes andererseits. In Darwins Hauptwerk Origin of Species spielen ökologische Überlegungen eine zentrale Rolle: die Interaktion zwischen verschiedenen Arten ist ein Kernbestandteil der Selektionstheorie, und Darwin formuliert zugleich komplexere Beispiele der gegenseitigen Beeinflussung, die nicht allein in Form von Konkurrenz stattfindet. Noch stärker ‚ökologisch‘ sind Darwins Werk über die Bedeutung der Regenwürmer für die Bodenbildung und seine Theorie der Korallenriffbildung. Doch die Ökologie als eigenständige Disziplin ist erst nach Darwin auf komplexe Weise entstanden. Konzeptionell hatte Ernst Haeckel (1834-1919) Ökologie als Teildisziplin der Biologie 1866 als eine Art Umweltphysiologie und zugleich als Haushaltslehre der Natur formuliert. Ein <?page no="17"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 17 praktiziertes Forschungsprogramm entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts in der Botanik, nicht nur, aber eben auch auf Darwins Theorien aufbauend. Die Rezeption der Evolutionstheorie verlief in der Ökologie des 20. Jahrhunderts durchaus wechselhaft. Insbesondere in der Ökosystemforschung herrschten zum Teil physikalisch-thermodynamische Theorien vor, die den individuellen Organismus und den Formenwandel - also den Kern der Darwin’schen Konzeptionen - kaum beachteten. Auf der anderen Seite entstand als Gegenbewegung eine „Darwinian Ecology“ bzw. „Evolutionary Ecology“, die sich explizit auf jene fokussierten. Die Verbindung beider Richtungen erscheint immer noch als Desiderat, also die evolutionäre Dimension der Dynamik raumzeitlich größerer ökologischer Einheiten: Ökosysteme, Landschaften, Biome. Auch die Verbindung von Stoff- und Energieflüssen mit der Biodiversitätsforschung ist noch nicht konzeptionell und praktisch vollzogen. In ethischer Perspektive stellten sich bereits vor Darwin unterschiedliche Fragen des richtigen Umgangs mit der belebten Natur und der Landschaft, die er vor allem mit Blick auf die nachhaltige Funktion der Landwirtschaft klugheitsethisch behandelte. Der Kieler Zoologe und spätere Berliner Naturkundemuseumsdirektor Karl August Möbius (1825-1908) stellt einen besonders interessanten Fall der Darwin-Rezeption für die Ökologie und den Umweltschutz dar: Im Zusammenhang mit der Frage der Überfischung der Austern entwickelt er das Konzept der „Lebensgemeinde“ (später: Lebensgemeinschaft) auf Basis der ökologisch interpretierten Selektionstheorie Darwins. Russische bzw. sowjetische Biologen forderten bereits Anfang des 20. Jahrhunderts zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung einen großflächigen Schutz von Evolutionsprozessen, die von Menschen unbeeinflusst bleiben. Potthast erläutert dabei, dass dieses Schutzmotiv nicht unproblematisch ist, denn Evolution findet ja immer statt und es ist schwierig, einen Schutz „natürlicher“ Prozesse zu begründen, es sei denn, sie würden immer seltener - und dies ist ja der Fall. Neben vielen wichtigen klugheitsethischen, also instrumentellen Gründen zur Erhaltung der Vielfalt und Variationsfähigkeit natürlicher und von Menschen seit Langem im lokalen Kontext gezüchteter Tier- und Pflanzenformen stellt sich die Frage nach den nicht nutzungsbezogenen Werten der biologischen Vielfalt und ihrer Prozesse. Angesichts der evolutionären Verbundenheit des Menschen mit allem Lebendigen plädiert Potthast abschließend dafür, die Anerkennung eines über menschliche Interessen hinausgehenden Eigenwertes der Biodiversität zumindest für moralisch plausibel zu erachten, ohne sich dabei die Begründungslast eines (absoluten) moralischen Selbstwertes im strengen Sinne auferlegen zu müssen. <?page no="18"?> Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast 18 2. Anthropologie, Kultur, Ethik und Religiosität bei Darwin und Beispiele seiner Rezeption in Anthropologie, Erziehungs- und Sozialwissenschaften und Theologie Mit ihrem Beitrag „Der Mensch, das moralfähige Tier - Zur Anthropologie und Ethik von Charles Darwin“ wendet sich Eve-Marie Engels dem zweiten Schwerpunkt des Sammelbandes zu, Darwins Evolutionärer Anthropologie. Engels verfolgt das Ziel, einige tief verwurzelte Missverständnisse und Vorurteile über Darwins Menschenbild und sein Verständnis von Kultur und Ethik auszuräumen. Mit der nicht von Darwin stammenden Wortschöpfung „Sozialdarwinismus“ verbindet sich im Allgemeinen die Vorstellung, dass Darwin der Begründer und Verfechter von Ideen einer rücksichtslosen, auf dem vermeintlichen Recht des Stärkeren basierenden Soziallehre und Ethik sei. Darwin war jedoch ein sehr differenzierter Denker, ein Verfechter von Ideen der Aufklärung und Humanität und ein Brückenbauer zwischen den biologischen und geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Nach einer Skizze von Darwins Theorie, wie er sie in seinem Werk On the Origin of Species entwickelt, stellt Engels Darwins Evolutionäre Anthropologie vor, die Gegenstand seines Werkes Descent of Man (2. Aufl. 1874) ist. Bereits am Ende von Origin of Species hatte Darwin einen kurzen Hinweis darauf gegeben, dass durch seine Theorie auch auf die Entstehung des Menschen und seine Geschichte Licht fallen werde. Dieser Aspekt wird nun ausführlich in Descent of Man behandelt. Hier betrachtet Darwin den Menschen in seinen körperlichen und geistigen Aspekten aus einer evolutionstheoretischen Perspektive und wird damit zum Begründer einer Evolutionären Anthropologie. Der Mensch hat sich allmählich, in einem langen, graduell verlaufenden Evolutionsprozess, aus nichtmenschlichen Vorfahren entwickelt. Dennoch ist ein wichtiges Thema dieses Werkes ein Spezifikum des Menschen, seine Moralfähigkeit, der „moralische Sinn“ des Menschen. Darwin möchte in seinem Werk aus dem Blickwinkel seiner Theorie die Frage nach dem Ursprung des moralischen Sinns oder Gewissens („moral sense or conscience“) beantworten, denn niemand habe sich dieser bedeutenden Frage bisher „ausschließlich aus der Perspektive der Naturgeschichte“ angenähert. Engels kommt in ihrer detaillierten Textanalyse von Darwins Werk zu interessanten Einblicken in Darwins Menschenbild und sein Verständnis von Moral und Ethik. Darwins moralische und ethische Vorstellungen sind ungeachtet seines revolutionären Ansatzes tief in Traditionen der philosophischen Ethik und Tugendlehre verwurzelt. Darwin verweist auf die Grenzen der natürlichen Selektion in der Anwendung auf den Menschen. Durch seine Moralfähigkeit und die gelebte Moral ist der Mensch in der Lage, die natürliche Selektion ein Stück weit außer Kraft zu setzen, wie sich dies auch in seinem Sozialverhalten gegenüber Kranken und Schwachen zeigt. Darwin spricht sich für die Kultivierung sozialer Tugenden und die Ausweitung des moral sense, des Wohlwollens (sympathy), auf alle Menschen ungeachtet ihrer Rasse und Nation sowie auf die emp- <?page no="19"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 19 findungsfähigen Tiere aus. Der Erziehung des Menschen, auch der Religion, misst er bei der Herausbildung und Kultivierung solcher Tugenden eine große Bedeutung bei. Darwins Ansatz kann daher auch für die Tierethik genutzt werden. Engels kommt zu dem Ergebnis, dass Moral für Darwin ein kulturgeschichtliches Phänomen mit naturgeschichtlichen Wurzeln ist. Darwin vertritt damit ein anderes Menschenbild als radikale Vertreter der heutigen Soziobiologie. Allerdings weist Engels auch auf ein bisher ungelöstes Problem bei Darwin hin. Einerseits vertritt Darwin einen Gradualismus und geht von einer graduellen Evolution der menschlichen Spezies von nichtmenschlichen, affenähnlichen Vorfahren und damit auch von einem nur graduellen Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Tieren aus. Andererseits reserviert er die Moralfähigkeit im genuinen Sinne für den Menschen. Darwin hat nicht definiert, was er unter einer „difference of degree“ im Unterschied zur „difference of kind“ versteht, d.h. er hat keine Kriterien für diese Unterscheidung genannt. Engels hält den Gradualismus bei Darwin daher für „überarbeitungsbedürftig“. In den folgenden beiden Beiträgen steht die Bedeutung von Darwins Theorie für die Anthropologie im Mittelpunkt. Dirk Backenköhler untersucht den Einfluss von Darwins Theorie auf die Anthropologie des 19. Jahrhunderts, während Miriam Noël Haidle die Bedeutung Darwins für die Anthropologie des 20. und 21. Jahrhunderts darstellt. In seinem Beitrag „Auf Spuren zur Abstammung des Menschen“ unternimmt Dirk Backenköhler „eine kleine Reise in die Geschichte der Anthropologie zu Brennpunkten anthropologischer Debatten vor und kurz nach der Publikation von Darwins Evolutionstheorie“. Lange vor dem Erscheinen von Darwins eigener Anwendung seiner Theorie auf den Menschen in Descent of Man (1871) löste sein Werk Origin of Species Debatten über die Abstammung des Menschen von nichtmenschlichen, affenähnlichen Vorfahren aus. Vielen von Darwins Zeitgenossen war sofort klar, welchen Sprengstoff sein Werk beinhaltete. Besonders deutlich wurde dies 1863, als gleich mehrere Monografien und Schriften angesehener Wissenschaftler zur Abstammung des Menschen erschienen (Huxley, Vogt und andere) und Ernst Haeckel (1834-1919) sein flammendes Plädoyer für Darwins Theorie vor der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin hielt, in welchem er zugleich weltanschauliche Konsequenzen aus Darwins Theorie zog. Obwohl der Mensch seit der Entstehung von Darwins Theorie in den 1830er Jahren als Anwendungsgegenstand mit eingeschlossen war und er viele Notizen angefertigt hatte, zögerte er nach der Publikation von Origin of Species aus Angst vor kritischen Reaktionen zwölf Jahre lang mit der Veröffentlichung seines Buches über die Abstammung des Menschen. Die Arbeiten von Huxley, Vogt, Haeckel und anderen beeinflussten und ermutigten ihn zur Ausarbeitung und Publikation von Descent of Man. <?page no="20"?> Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast 20 Backenköhler unternimmt zunächst mehrere gedankliche Reisen, die auch Zeitreisen in die Vergangenheit vor Darwin sind, um die Hintergründe aufzuzeigen, vor denen die anthropologischen Diskussionen im Umfeld von Darwins Theorie geführt wurden. Diese Reisen führen nach Göttingen ins 18. Jh. zu dem Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840), der die Unterschiede zwischen menschlichen Ethnien als körperliche und kulturelle Varietäten auf einer Entwicklungsstufe betrachtete und nicht, wie einige seiner Zeitgenossen, als hierarchische Differenzen. Zur Beleuchtung der Materiallage geht es nach Wien, wo die präparierte Haut eines afrikanischen Gorillas besichtigt werden konnte, nach Dresden, wo zwei mikrozephale mexikanische Kinder als „letzte Aztekenpriester“ präsentiert wurden und seinerzeit „hierarchische diskriminierende Einstellungen“ verbreitet waren, sowie zum Neandertal bei Düsseldorf. Mit der Identifikation des Neandertalers als Überrest einer sehr alten Menschenform verlängerten sich die Menschheitsgeschichte und damit der Zeitrahmen der Entstehung des Menschen, was für die anschließenden Überlegungen zur Evolution des Menschen eine wesentliche Voraussetzung war. Backenköhler zeigt anhand der 1863 erschienenen Schriften von Huxley, Vogt, Lyell und Haeckel über den Menschen, wie Darwins Origin of Species in der Anthropologie rezipiert wurde. Im Unterschied zu Huxley, Vogt und Haeckel war Darwins Mentor und Freund Charles Lyell von der Idee der Abstammung des Menschen von affenähnlichen Vorfahren nicht überzeugt, leistete aber der Durchsetzung der Evolutionstheorie und ihrer Anwendung auf den Menschen dennoch einen erheblichen Dienst, da er der Vorstellung vom hohen Alter der menschlichen Spezies zum Durchbruch verhalf. Abschließend führt die gedankliche Reise Backenköhlers in das Anatomische Institut der Universität Tübingen, wo der Leichnam einer Frau des südafrikanischen San-Volkes liegt, über deren Organe drei Dissertationen und eine größere Arbeit des Lehrstuhlinhabers angefertigt wurden, die insgesamt einen „spannenden Einblick in Stimmungen und Lage der Anthropologie kurz nach der Veröffentlichung von Darwins Evolutionstheorie geben.“ Ein wichtiges Ergebnis von Backenköhlers Abhandlung ist die Feststellung, dass nicht die Evolutionstheorie selbst der Grund für diskriminierende Hierarchisierungen von Menschen war, sondern die Anschauungen der jeweiligen Forscher. Insgesamt kommt Backenköhler zu dem Ergebnis, dass es vielen Anthropologen im 19. Jahrhundert „zunächst nicht gelang, das Potential, das die Evolutionstheorie bot, voll zu nutzen.“ Besonders althergebrachte rassistische Traditionen und Vorurteile standen den Forschern häufig im Wege. Auch Darwins Werk Descent of Man änderte daran zunächst nichts. Das Werk wurde selbst von Fachleuten zunächst nur verhalten aufgenommen. Miriam Noël Haidle zeigt in ihrem Beitrag „Darwin, Lucy und das Missing Link - Evolutionäre Anthropologie im 21. Jahrhundert“ die beeindruckende Aktualität von Darwins Evolutionärer Anthropologie, indem sie aus seinem <?page no="21"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 21 Werk Descent of Man einzelne Äußerungen herausgreift und Darwins Einschätzung mit dem heutigen Forschungsstand vergleicht. So nahm Darwin an, dass die Wiege der Menschheit in Afrika 7 sei, während Haeckel sie in Asien vermutete. Die Entwicklung des aufrechten Ganges ist ein zentrales Thema, das nach der Entdeckung von „Lucy“, dem Skelett eines weiblichen Australopithecus afarensis, im Jahr 1974 besondere Aktualität erlangte. Anhand der zunehmenden Zahl an fossilen Belegen lässt sich die biologische Evolution der Homininen, der Menschenartigen, immer besser rekonstruieren. Haidle beschreibt die anatomische, kognitive und sprachliche Entwicklung zum Jetztmenschen auf der Grundlage aktueller Forschungen, auch solcher zur Gehirnentwicklung. Auch in der biologischen Anthropologie erweisen sich die Fortschritte der Genetik mit ihrer Möglichkeit der Sequenzierung des menschlichen Genoms und der vergleichenden Analyse des Genoms von Jetztmensch und Neandertaler von unschätzbarem Wert. Durch die Genetik lassen sich Fragen wie die der Hautfarbe des Neandertalers beantworten, die bisher als unlösbar galten. Haidle befasst sich in ihrem Beitrag auch mit der kognitiven Entwicklung des Menschen, für deren Untersuchung sich der Umgang mit Werkzeug besonders eignet, weil dies ein Beispiel ist, dessen Entwicklung sich im Laufe der menschlichen Evolution bis zu den nichtmenschlichen Lebewesen zurückverfolgen lässt. Schon Darwin führte in Descent of Man Werkzeuggebrauch bei Tieren an, während sich heute bei Tieren auch die Werkzeugherstellung nachweisen lässt. Tiere können ihr kognitives Potential beeindruckend unter Beweis stellen, wenn es auf die Erfindung passender Lösungen zur Bewältigung neuer Problemstellungen ankommt. Die Autorin kommt daher zu dem Schluss, dass die Übergänge des Werkzeugverhaltens bei heute lebenden Tieren zum Werkzeugverhalten des modernen Menschen im Laufe der Evolution fließend sind. Nach unserem bisherigen Wissen gibt es nach Haidle jedoch einen Unterschied zwischen menschlicher und tierischer Werkzeugherstellung hinsichtlich der Problem- Lösung-Distanz, d.h. der Distanz zwischen der Wahrnehmung eines Problems und den verschiedenen Schritten oder Umwegen zu seiner Lösung. Hierzu gehört vor allem der Gebrauch von Werkzeugen zur Herstellung neuer Werkzeuge, die Konstruktion von Werkzeugen, die mehrere Funktionen erfüllen können und bei Bedarf flexibel einsetzbar sind und die Kombination verschiedener Materialien bei der Herstellung von Werkzeugen. Haidle widmet auch der Kultur einen Abschnitt. Unter „Kultur“ versteht sie die nichtgenetische, soziale Übertragung von Informationen. Auch diese Fähigkeit ist nicht auf den Menschen beschränkt. Trotz all dieser hoffnungsvollen Funde und Ergebnisse bleiben jedoch auch nach 150 Jahren Forschung noch viele Fragen offen. Zwischen dokumentierten Entwicklungsstadien gibt es noch große Lücken, was aber die Anwendbarkeit der Evolutionstheorie auf den Menschen keineswegs widerlegt. Wir sind heute in einer unvergleichbar 7 Siehe hierzu Fußnote 1 in Haidles Beitrag. <?page no="22"?> Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast 22 besseren Situation als Darwin zu seiner Zeit. Dennoch sind „archäologische und paläoanthropologische Quellen […] erhaltungs- und entdeckungsbedingt lückenhaft“. In den beiden folgenden Beiträgen steht Darwins Bedeutung für die Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften im Mittelpunkt. Nicole Becker untersucht in ihrem Beitrag „Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen“. Obwohl die Biowissenschaften in der aktuellen Erziehungswissenschaft eine größere Rolle als in den 1970er und 1980er Jahren spielen, bezeichnet der Begriff „Evolutionäre Pädagogik“ nach Nicole Becker keineswegs einen konsolidierten Theorietyp, sondern eher eine Randerscheinung. Die Autorin konzentriert sich auf zwei Hauptvarianten der Rezeption evolutionären Denkens in den Erziehungswissenschaften: Der erste Rezeptionsansatz, „Verhalten evolutionsgeschichtlich gedeutet“, stützt sich vorzugsweise auf Annahmen aus der Soziobiologie und der Evolutionären Psychologie. Becker skizziert ihn am Beispiel der evolutionsbiologischen Deutung des menschlichen Lernens und stützt sich dabei auf Überlegungen des Soziobiologen Eckhard Voland, mit dessen Position sie sich kritisch auseinandersetzt. Danach ist die Lernfähigkeit genetisch fixiert, so dass der Mensch zwar nicht anders könne als lernen, doch nur im Rahmen hochspezialisierter kognitiver Programme des Gehirns, „darwinischer Algorithmen“, die die Inhalte des Lernens begrenzten. Was wir lernen können, ergebe sich aus den Bedingungen unserer Entwicklungsgeschichte und sei an die Probleme angepasst, mit denen unsere Vorfahren konfrontiert waren. Für Becker ergibt sich daraus in zahlreichen Kontexten eine Reihe von Problemen für die praktische Pädagogik. Sie betreffen alle Situationen, in denen der Nahbereich der Kleingruppenmoral überschritten werden muss, angefangen von der Idee und Durchsetzung allgemeiner Menschenrechte bis hin zur Bildung für eine nachhaltige Entwicklung. Hinzuzufügen ist, dass diese „darwinischen Algorithmen“ nicht auf Darwin selbst zurückgehen, wie im Beitrag von Eve- Marie Engels deutlich wird. Darwin ging davon aus, dass der Mensch im Laufe der Kulturgeschichte dazu befähigt würde, sein Wohlwollen zunehmend auszuweiten und alle Menschen ungeachtet ihrer Nation oder Rasse und schließlich auch die Tiere in dessen Kreis einzuschließen. In ihrer kritischen Zwischenbilanz weist Becker einige definitorische, methodische und inhaltliche Schwächen des soziobiologischen Ansatzes nach. Die zweite Rezeptionsstrategie betrachtet „Pädagogik als Evolution“. Hier stehen pädagogische Praxen und Institutionen im Mittelpunkt, und es wird zum Beispiel gefragt, „warum so etwas wie eine Schule entstanden“ ist und weshalb „sie sich beinahe flächendeckend mit ähnlichen Merkmalen durchsetzen“ konnte. Welche Funktion erfüllt Erziehung in unserer Gesellschaft? Nicole Becker führt als Vertreter Alfred Treml an. Nach Treml geht es hierbei darum, „die zunächst in der Biologie gewonnenen Erkenntnisse einer (biologischen) Evolution von ihren biologischen Spezifika zu befreien, die allgemei- <?page no="23"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 23 nen formalen Strukturen von evolutionären Prozessen herauszuarbeiten und damit auf die Ebene einer Allgemeinen Evolutionstheorie zu bringen.“ Anders als im ersten Ansatz ist Lernen hier „eine Form flexibler Anpassung lebender Systeme an ihre (wechselnden) Umweltbedingungen durch Veränderung ihrer Möglichkeiten, sich zu verhalten“ (Treml). Auch an diesen Ansatz richtet Nicole Becker kritische Fragen und schlägt daher vor, das kritische Potential evolutionärer Erklärungsansätze zu nutzen und „evolutionäres Denken als Reflexionsangebot“ zu betrachten. Peter Meyer weist in seinem Beitrag „Darwin und die Gesellschaftstheorie“ auf eine große Bandbreite sehr unterschiedlicher, teilweise entgegengesetzter Weisen der Rezeption Darwins in der Gesellschaftstheorie hin. Die Entwicklung von Darwins Evolutionstheorie und die der modernen Gesellschaftstheorie vollzogen sich nach Meyer fast zeitgleich im Kontext der europäischen Aufklärung. Herbert Spencer (1820-1903), der zu den Klassikern der Soziologie gehört, suchte schon zu Lebzeiten Darwins nach der Verbindung der menschlichen Stammesgeschichte mit der Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Allerdings entwickelte Spencer sein Evolutionskonzept unabhängig von Darwin und vertrat auch ein anderes Konzept als dieser. Im Unterschied zu Darwin bediente sich Spencer eines teleologischen Denkmodells, wobei er sich an der zielstrebigen Entwicklung des Embryos orientierte. Auch ging er im Unterschied zu Darwin von einem universell wirksamen Fortschrittsgesetz aus, das in der Evolution und allen Bereichen der Menschheitsgeschichte zur Anwendung käme. Jedoch scheint sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Soziologie Darwins Naturalismus durchgesetzt zu haben. Zu Recht hebt Meyer hervor, dass der Sozialdarwinismus fälschlicherweise Darwin zur Last gelegt wird, während tatsächlich Spencer, Ludwig Gumplowicz (1838-1909) und William G. Sumner (1840-1910) seine wichtigsten Protagonisten gewesen seien. Darwin verwendete den Begriff „struggle for life“ lediglich in einem weiten und metaphorischen Sinn. In einem kontrastierenden Vergleich stellt Meyer die Positionen von Spencer und Peter Kropotkin (1842-1921), der die Kooperation und wechselseitige Hilfe der Lebewesen untereinander als wichtigsten Faktor der Evolution betrachtete und sich dabei auf Darwin stützte, einander gegenüber. Meyer erwähnt auch den Ansatz der Verwandtenselektion (kin selection) von William Hamilton (1936-2000), mit dem die Vorstellungen des traditionellen Darwinismus erweitert wurden. Abschließend kommt Meyer zu dem Ergebnis, dass Entwicklungen des Darwinismus geeignet sind, der Gesellschaftstheorie neue Impulse zu vermitteln. In dem abschließenden Beitrag von Günter Altner „Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung“ steht das Verhältnis von Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie im Mittelpunkt. Dieses ist selbst heute noch Gegenstand von Streitfragen. Obwohl die Evolutionstheorie „zur Fundmentaltheorie der modernen Biologie geworden ist“, zweifeln immerhin noch nicht unwesentli- <?page no="24"?> Eve-Marie Engels, Oliver Betz, Heinz-R. Köhler, Thomas Potthast 24 che Teile der Bevölkerung in Deutschland und anderswo an Darwins Theorie. Ein Grund für diese unvereinbaren Standpunkte ist nach Günter Altner „eine permanente Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass wissenschaftliche Empirie und Glaubenserfahrungen methodisch auf ganz verschiedenen Ebenen angesiedelt sind.“ Naturwissenschaft betreibe eine rein weltimmanente Faktorenanalyse im Sinne einer Aufdeckung von Ursache-Wirkungszusammenhängen, in der die Frage nach Gott prinzipiell ausgeschlossen sei. Die religiöse Sichtweise resultiere demgegenüber aus einer „Existenzerfahrung in der Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes“ - eine methodische Trennung, die zu Darwins Zeiten noch keine Selbstverständlichkeit war. Als eine der großen Leistungen Darwins stellt Altner heraus, dass Darwin trotz seines physikotheologischen Hintergrundes „die empirische Ursachenanalyse in die Biologie einführte“. Dies gelang ihm zudem auch noch „auf dem schwierigsten Feld der belebten Natur: der allgemeinen Abstammungsgeschichte“. Wenn die Befürworter der Design-Theorie den göttlichen Designer gegen Darwins Selektionstheorie ins Spiel bringen, pfuschen sie dieser nach Altner „unsachlich ins Handwerk“. Dasselbe gilt für die Gegenseite, wenn versucht wird, die Existenz Gottes mittels naturwissenschaftlicher Argumente zu widerlegen. Sinnvoll erscheint jedoch die Frage, ob es irgendwo einen Berührungspunkt zwischen Naturwissenschaft und Religion gebe. Dies umfasst sowohl die akademische Theologie als auch den Glauben insgesamt, was aber nicht in eins gesetzt werden darf. Naturwissenschaft und Religion richten sich auf den gleichen Wirklichkeitszusammenhang, nämlich auf „die Existenz des Menschen in einer werdenden Welt, die einerseits als Evolution und andererseits als Heilsgeschehen (Schöpfung und Erlösung) verstanden wird“. Diese Frage hat Darwin auch selbst bewegt, da er ursprünglich strenggläubig und von der Richtigkeit der Physikotheologie überzeugt war, einer Lehre, wonach aus der zweckmäßigen Struktur der Organismen, ihrem Design, auf einen göttlichen Schöpfer, einen intelligenten Designer geschlossen werden könne. Günter Altner schildert den Erkenntnisweg Darwins vom Gläubigen zum Agnostiker, für den die Gottesfrage ein ungelöstes Rätsel bleibt, von der physikotheologischen Weltsicht in eine offene Evolutionsperspektive. Darwin sei ein „Denker in ‚offenen Systemen‘“ gewesen. Damit ist nach Altner das Konzept der Selbstorganisation vereinbar, das in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde: „Die Gesetze der Evolution sind mit sich selbst unterwegs, sie öffnen sich zu neuen Leistungen, wie man an der aufsteigenden Evolutionsreihe sehen kann.“ Es sei nicht unangemessen, von einer „immanenten Transzendenz“ zu sprechen. Doch gebe es auch in diesem Modell keine biologischen Beweise für einen göttlichen Designer. Dennoch sei es „gewiss nicht verkehrt, sich in dieser Matrix unter dem Vorzeichen des Glaubens das verborgene Handeln Gottes mit seiner Schöpfung vorzustellen.“ Nach Altner ist dies jedoch nicht im Sinne des „Lücken- und Designarguments“ misszuverstehen, wie dies so oft geschieht. Inwiefern - so sei hier ergänzt - andererseits jedoch tatsächlich von einem <?page no="25"?> Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 25 „Aufstieg“ gesprochen werden kann, bleibt durchaus strittig, weil es jenseits dessen liegt, worüber naturwissenschaftlich ebenso wie theologisch Einigkeit bestehen dürfte. Darwin hat mit seinen Arbeiten das wissenschaftliche Verständnis der Lebensprozesse und der Lebensformen ebenso wie die menschliche Selbstverortung darin maßgeblich beeinflusst. Die Auswirkungen lassen sich nicht auf einen simplen Nenner bringen, sondern laden vielmehr zu einer detaillierten Beschäftigung mit den jeweiligen Fachdisziplinen und Themenfeldern ein. In diesem Sinne ist die Vielfalt der Wirkungen Darwins eine Anregung zum Weiterdenken über die natürlichen Grundlagen der Evolution und der Geschichte sowie der Verständigung darüber, was dies für heutige und zukünftige Menschen bedeutet. <?page no="27"?> Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie Thomas Junker Zusammenfassung Das Darwin-Jahr 2009 hat noch einmal eindrucksvoll bestätigt: Charles Darwin ist die unangefochtene Identifikationsfigur der Evolutionsbiologie, ja oft kann man den Eindruck gewinnen, er sei ihr einziger erwähnenswerter Repräsentant. Dies ist nicht nur eine höchst einseitige Betrachtungsweise, sondern auch unfair den vielen anderen Forschern gegenüber, die Darwins Werk erst möglich machten, die es korrigierten und weiterentwickelten. Schon im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schien es immer unbegreiflicher, dass die so einleuchtende Vorstellung der Evolution erst mit Darwin ihren Anfang genommen haben sollte. Man suchte nach Vorläufern und fand eine Reihe von Autoren, die sich mehr oder weniger explizit mit dem Gedanken der Evolution auseinandergesetzt hatten. Damit hatte man aber nur eines von mehreren Konzepten erfasst, auf denen die moderne Evolutionstheorie beruht. Darwins Bedeutung und die allgemeine Reichweite der Darwin’schen Revolution lassen sich nur verstehen, wenn man die Idee der Evolution als zentralen Knotenpunkt eines ausgedehnten theoretischen Geflechts auffasst. Entsprechend kann man den historischen Vorläufern Darwins nur gerecht werden, wenn man diese breitere konzeptuelle Grundlage der modernen Evolutionstheorie einbezieht. Was dies bedeutet, soll beispielhaft anhand von sechs Themen diskutiert werden: Naturalismus, Zweckmäßigkeit der biologischen Merkmale, System der Natur, gemeinsame Abstammung, Design ohne Designer und Emanzipation der Wissenschaft von ideologischer Bevormundung. Dabei wird sich zeigen, dass gerade auch Autoren, die der Evolutionsidee gleichgültig oder ablehnend gegenüberstanden, unverzichtbare Beiträge zu ihrer Durchsetzung geleistet haben. 1. Darwins Originalität Es ist ein ungewöhnliches und interessantes Phänomen, dass die moderne Evolutionstheorie noch heute nach ihrem Begründer - Charles Darwin - benannt wird. Normalerweise werden wissenschaftliche Theorien, im Gegensatz etwa zu politischen oder religiösen Weltanschauungen, nicht nach Personen benannt. Und so plädieren viele Biologen dafür, den Begriff ‚Darwinismus‘ zu vermeiden. Entsprechende Vorstöße gab es schon mehrfach, so in den 1950er Jahren, als die vermeintlich neutrale und bis heute gebräuchliche Bezeichnung ‚Synthetische Evolutionstheorie‘ geprägt wurde. Allen Neubenennungen waren indes nur Teilerfolge beschieden, und so erfreut sich die <?page no="28"?> Thomas Junker 28 Bezeichnung ‚Darwinismus‘ weiterhin großer Beliebtheit. Woher kommt diese Identifikation der Evolutionsbiologie mit Darwin, obwohl er ja nicht der einzige wichtige Theoretiker war und obwohl viele seiner Ideen der kritischen Überprüfung nicht standgehalten haben? Der unmittelbarste Grund ist, dass Darwins berühmtes Buch über die Entstehung der Arten (On the Origin of Species by Means of Natural Selection, 1859) den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung der neuen Wissenschaft der Evolution gab. Erstmals gelang es hier überzeugend nachzuweisen, dass es möglich ist, die Existenz, die Eigenschaften und die Zweckmäßigkeit der Organismen auf natürliche Weise zu erklären. Damit wurden einige der auffälligsten und zugleich rätselhaftesten Phänomene der Natur, die sich der biologischen Forschung über Jahrhunderte hinweg hartnäckig entzogen hatten, wissenschaftlich verstehbar. Heute ist die Evolution eine Tatsache - so wie es eine Tatsache ist, dass sich die Erde um die Sonne dreht oder dass die ägyptischen Pyramiden vor mehr als 4.000 Jahren erbaut wurden. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist auch Darwins Evolutionsmechanismus aus Variation und Selektion, seine berühmte Theorie der natürlichen Auslese, in ihrer modernisierten Form konkurrenzlos. Dies macht Origin of Species zu einem der wichtigsten Werke der Menschheitsgeschichte und Darwin zu einem der bedeutendsten Biologen aller Zeiten (Junker 1998; 2004; Engels 2007). Im Rückblick hat Thomas Henry Huxley (1825-1895) seiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, dass er wie die Mehrzahl der zeitgenössischen Biologen nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte: „My reflection, when I first [1858] made myself master of the central idea of the ‚Origin‘, was, ‚How extremely stupid not to have thought of that! ‘“ (Huxley 1887, 197). Darwin selbst war in der ersten Auflage von Origin of Species nicht auf mögliche Vorläufer eingegangen. In der dritten Auflage vom April 1861 stellte er dann eine kurze „historische Skizze“ an den Anfang, betonte aber zugleich, dass die meisten Naturforscher noch immer von der Konstanz der Arten überzeugt seien: „I will here attempt to give a brief, but imperfect sketch of the progress of opinion on the Origin of Species. The great majority of naturalists believe that species are immutable productions, and have been separately created. This view has been ably maintained by many authors. Some few naturalists, on the other hand, believe that species undergo modification, and that the existing forms of life have descended by true generation from pre-existing forms.“ (Darwin [1861] 1959, 59; zuvor war die historische Skizze bereits in der ersten deutschen Ausgabe erschienen, vgl. Darwin 1860) Auf wenigen Seiten nannte Darwin hier 35 Autoren, beginnend mit Aristoteles reicht das Spektrum über Georges Buffon (1707-1788), Jean-Baptiste de Lamarck (1744-1829), Erasmus Darwin (1731-1802) und Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), bis zu seinen Zeitgenossen Richard Owen (1804- 1892), Karl Ernst von Baer (1792-1876) und T.H. Huxley. <?page no="29"?> Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie 29 Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Idee der Evolution zur selbstverständlichen Überzeugung breiter Teile der gebildeten Bevölkerung wurde, schien es immer unbegreiflicher, dass diese so einleuchtende und vom Kausalitätsprinzip geradezu geforderte Vorstellung erst mit Darwins Origin of Species ihren Beginn gehabt haben sollte. Man suchte nach Vorläufern und fand neben Lamarck, dessen Werk nie ganz vergessen worden war, eine Reihe von Autoren, die sich mehr oder weniger explizit mit dem Gedanken der Evolution auseinandergesetzt hatten (vgl. hierzu beispielsweise Osborn 1894; Rádl 1909-13; Zimmermann 1953; Glass et al. 1959; Mayr 1982; Bowler 1984; Lefèvre 2009; Wuketits 1988; Junker 1989; Junker u. Hoßfeld 2009). Es stellte sich aber auch heraus, dass echte Evolutionsvorstellungen erst bemerkenswert spät in der Geschichte entstanden sind. Im Gegensatz zu anderen unser Weltbild prägenden Ideen wie dem heliozentrischen System (Aristarch von Samos) oder dem Atomismus (Demokrit) gab es weder in der Antike noch in der frühen Neuzeit (vor ca. 1750) Ansätze zu einer echten Evolutionstheorie. Wenn man bedenkt, wie unbefangen und radikal manche Denker der Antike und der Aufklärung an anderen Punkten vorgingen, so ist dies sicher eine erstaunliche und erklärungsbedürftige Tatsache. Darwins Theorie war aber nicht der erste Versuch, die Entstehung der biologischen Arten zu erklären, und sie war nicht die erste natürliche Erklärung. Bereits fünfzig Jahre zuvor, im Geburtsjahr Darwins, hatte der französische Naturforscher Lamarck eine Evolutionstheorie im Sinne einer allmählichen und unbegrenzten Umgestaltung von Arten vorgelegt (Philosophie Zoologique, 1809). Lamarck hatte auch bereits einen Mechanismus für die Entstehung zweckmäßiger Eigenschaften der Organismen. Er vermutete, dass es zu Anpassungen kommt, wenn Veränderungen der Umwelt neue Bedürfnisse bei den Tieren erwecken und neue Tätigkeiten notwendig machen. Dies wiederum soll die Entstehung neuer Organe anregen oder vorhandene Organe umgestalten. Bei Pflanzen soll es nach Abweichungen in der Ernährung, beim Licht, der Wärme oder Feuchtigkeit direkt zu evolutionärem Wandel kommen. Lamarck zufolge entstehen zweckmäßige Eigenschaften also, weil Organismen anatomisch und physiologisch sinnvoll auf ihre Umwelt reagieren können, sich an diese ‚anpassen‘ und die so entstandenen Anpassungen dann erblich werden (Vererbung erworbener Eigenschaften) (zu Lamarcks Evolutionstheorie vgl. Mayr 1972; Burkhardt 1977; Lefèvre 2009). Warum aber spielt Darwin diese enorme Rolle in der Wissenschaft und in den weltanschaulichen Debatten unserer Zeit, während Lamarck kaum mehr beachtet wird? Wie Ernst Mayr immer wieder betonte, bestand Darwins ‚lange Beweisführung‘ (Darwin 1859, 459) aus einem Bündel verschiedener Konzepte. Als die Wichtigsten nannte er: Die Evolution als solche, die gemeinsame Abstammung der Organismen (einschließlich der Menschen), den Gradualismus, die Vervielfältigung der Arten und die natürliche Auslese (Mayr 1985, 757). Ich denke, dass Mayr mit dieser Aufzählung recht hat, <?page no="30"?> Thomas Junker 30 wenn man die biologische Theorie als solche im Blick hat. Meine These ist aber, dass die eingangs beschriebene außergewöhnliche Bedeutung Darwins nur verständlich wird, wenn man zudem die wissenschaftspolitischen und weltanschaulichen Konsequenzen seiner Ideen in Betracht zieht. Worin aber bestanden (und bestehen) diese? Wie ich eingangs geschrieben habe, war Darwin der Erste, dem es gelang, überzeugend nachzuweisen, dass es möglich ist, die Existenz und die zweckmäßigen Eigenschaften der Organismen auf natürliche Weise zu erklären. Er selbst nannte sein Modell die ‚Theorie der Abstammung mit Abänderung durch natürliche Auslese‘: „the theory of descent with modification through natural selection“ (Darwin 1859, 459). Für ‚Abstammung mit Abänderung‘ setzte sich im Laufe der Zeit das prägnantere Wort ‚Evolution‘ durch und so kann man Darwins Theorie auf die Kurzformel ‚Evolution durch natürliche Auslese‘ bringen. Ihre Wahrheit werde durch „facts“ und „rational explanations“ sicher gestellt (Darwin 1868, 11-12). Was aber machte nun dieses Modell so wirkmächtig? Hier hilft ein Blick auf die historischen Vorläufer, denn erst im Vergleich mit diesen lässt sich Darwins Leistung wirklich würdigen. Die folgende Auswahl ist nicht die einzig mögliche, andere Konzepte und Autoren ließen sich mit ähnlich guten Gründen nennen. Und so soll meine Darstellung mehr als Anregung denn als erschöpfende Aufzählung dienen und auch auf weniger beachtete Aspekte aufmerksam machen. 2. Naturalismus „[…] species are produced and exterminated by slowly acting and still existing causes, and not by miraculous acts of creation.“ (Darwin 1859, 487) „He who is not content to look, like a savage, at the phenomena of nature as disconnected, cannot any longer believe that man is the work of a separate act of creation.“ (Darwin 1871 II, 386) Schon bei den Naturphilosophen der Antike gab es Versuche, die erste Entstehung der Organismen auf natürliche Weise zu erklären. Aufbauend auf diesen frühen Spekulationen hat der aus der Schule der Epikureer stammende römische Dichter und Philosoph Lukrez (97-55 v. Chr.) in seinem Lehrgedicht De rerum natura (Vom Wesen des Weltalls) ein grandioses Bild der Natur entworfen, das die Phantasie der Naturforscher und Philosophen anregte und erst im 19. Jahrhundert durch die Evolutionstheorie ersetzt wurde. Lukrez glaubte, dass die heutige Vielfalt der Arten dadurch zu erklären ist, dass Organismen unmittelbar durch Urzeugung entstehen. Die Lebewesen sind „auf ganz natürliche Weise entstanden“, indem „Urkörper sich von allein und zufällig trafen, vielfältig, blindlings, unnütz, vergeblich zusammen sich ballten, schließlich nach jäher Vereinigung miteinander verwuchsen“ (Lukrez 1989 II, 1057-63). <?page no="31"?> Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie 31 Als die Erde noch jünger war, habe sie, gleichsam zur Probe, auch Scheusale und Wundergeschöpfe erschaffen, die aber zugrunde gingen, da sie nicht zur Fortpflanzung fähig waren oder nicht aus eigener Kraft überleben konnten. Für Lukrez werden die Arten von der Erde geboren, sie sind durch diesen gemeinsamen Ursprung miteinander verwandt, haben aber ihre jeweils eigene Entstehung und können sich nicht ineinander verwandeln: „Sie [die Erde] schuf die Gattung des Menschen, ließ auch in annähernd regelmäßigen Fristen die Tiere aufwachsen, die überall im hohen Gebirge sich tummeln, gleichzeitig auch in den Lüften die vielgestaltigen Vögel. Doch weil sie einmal aufhören muß mit Gebären, so brachte sie nicht mehr Neues hervor, wie ein Weib, ermattet vom Alter.“ (Lukrez 1989 V, 821-29) Im Gegensatz zur religiösen Überlieferung des Alten Testaments glaubte Lukrez, dass die Erde, die er auch Mutter nennt, die Lebewesen aus sich heraus ohne ein väterliches Prinzip erschaffen hat. Gemeinsam ist beiden Vorstellungen, dass die einmal entstandenen Arten sich nicht mehr verändern können. Lukrez’ Ideen prägten die Diskussionen um die Entstehung der Lebewesen bis ins 18. Jahrhundert (Rupke 2005). So glaubte noch Denis Diderot (1713- 1784), dass die jeweils ersten Organismen einer Art durch Gärung entstehen können. Genügend Zeit vorausgesetzt, sei es nicht unplausibel anzunehmen, dass auch der „Elefant, diese riesige Masse von organischem Bau, ein plötzliches Produkt der Gärung“ ist. Wer weiß, fährt er fort, „ob die Gärung und ihre Produkte erschöpft sind? Wer weiß, in welchem Zeitpunkt der Aufeinanderfolge jener Tiergeschlechter wir uns jetzt befinden? “ (Diderot [1769] 1989, 93). Warum wurde die Evolution erst so spät entdeckt? Der Grund war weder, dass man sie nicht als Erklärung benötigt hätte, weil man bestimmte biologische Phänomene nicht kannte. Es lag auch nicht daran, dass man nicht nach der Ursache für die Existenz der Organismen und ihrer Merkmale gefragt hätte. Es war vielmehr so, dass man andere Antworten und Erklärungen für plausibel hielt. Dieser wissenschaftliche Fehlschluss hat verschiedene Ursachen. Zum einen überschätzte man die direkte, beziehungsweise eine falsche Beobachtung. So kann man nicht unmittelbar sehen, wie sich Arten wandeln. Man glaubte aber, die Urzeugung von Organismen aus den Elementen, bestimmten Stoffen oder der Erde beobachten zu können. Dann schien die Analogie zwischen der Entstehung eines Individuums und einer Art tragfähig. Man stellte sich den Ursprung der Arten also wie die eigene Entstehung vor. Und schließlich war mangelndes empirisches Wissen über die Tatsachen der Paläontologie (Fossilien), der Biogeographie, der vergleichenden Anatomie (Baupläne) und der Systematik (natürliches System) ein Hindernis. Da man <?page no="32"?> Thomas Junker 32 ein viel zu kurzes Alter der Erde annahm, überbetonte man zudem die Bedeutung der Ursprünge und beachtete langsame Veränderungen nur am Rande. Wie unzulänglich die Ideen von Lukrez und seinen Nachfolgern aus heutiger Sicht auch sein mögen, sie stellten doch einen entscheidenden Schritt zur modernen wissenschaftlichen Erklärung dar. Obwohl sie im Detail kaum weniger wundersam waren als der religiöse Mythos, unterscheidet sich ihre Methode und Weltanschauung grundlegend: Die Forderung, sich auf natürliche Erklärungen zu beschränken und mit bekannten Kräften und Stoffen auszukommen, erwies sich als der zwar schwierigere, aber im Endeffekt erfolgreichere Weg. Aus heutiger Sicht ist zugleich offensichtlich, dass die Lösung des Problems der Entstehung komplexer Organismen nicht in einer plötzlichen Urzeugung bestehen kann, sondern einen langandauernden Wandlungsprozess voraussetzt. Darwins wichtigstes Anliegen, das machte er an vielen Stellen in Origin of Species unmissverständlich klar, war es, eine wissenschaftlich tragfähige Erklärung für die biologischen Phänomene zu geben: Es ging ihm um die natürliche Selektion als Gegenpol zu religiösen Schöpfungsideen: Natural selection will „banish the belief of the continued creation of new organic beings“ (Darwin 1859, 95f.). Und er war erfolgreich. Der bedeutende Botaniker Carl Nägeli (1817-1891) konnte schon wenige Jahre später konstatieren, dass es Darwin gelungen sei, „an die Stelle der übernatürlichen Einwirkungen eine natürliche Entwickelung, an die Stelle des Wunders den Causalnexus zu setzen“ (Nägeli 1865, 10). Und so galt die Durchsetzung des Naturalismus in der Biologie in den ersten Jahrzehnten nach 1859 als Darwins wichtigste Leistung. Und heute? Wer die Debatten um Kreationismus und intelligent design auch nur am Rande mitverfolgt hat, wird bemerkt haben, dass Darwins Naturalismus bis heute und völlig zu Recht von vielen religiösen Menschen als Angriff auf ihre Glaubensvorstellungen empfunden wird. 3. Zweckmäßigkeit und die ‚utilitarian doctrine‘ „Owing to this struggle for life, any variation, however slight and from whatever cause proceeding, if it be in any degree profitable to an individual of any species, in its infinitely complex relations to other organic beings and to external nature, will tend to the preservation of that individual, and will generally be inherited by its offspring. […] I have called this principle, by which each slight variation, if useful, is preserved, by the term of Natural Selection.“ (Darwin 1859, 61) Die natürliche Auslese ermöglichte Darwin eine neue und überraschende Antwort auf das schon Aristoteles faszinierende Rätsel der Zweckmäßigkeit der Organismen und ihrer Körperteile. Organismen haben die Fähigkeit, auf die Umwelt gezielt zu reagieren und diese nach den eigenen Bedürfnissen aktiv zu gestalten. Die Organe und Körperteile wirken dabei als Werkzeuge, <?page no="33"?> Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie 33 die gemeinsam einer übergeordneten Aufgabe dienen: „Da jedes Werkzeug seinen Zweck hat und ebenso jedes Glied des Körpers, dieser Zweck aber in einer Verrichtung besteht, so ist klar, daß auch der ganze Leib als Zweck eine umfassende Tätigkeit hat“ (Aristoteles 1959, 44). Jede Theorie über die Entstehung der Lebewesen muss eine Aussage über dieses typische und zentrale Charakteristikum der biologischen Phänomene machen, wenn sie ihrem Gegenstand gerecht werden will. Es genügt nicht, wie der Zoologe Richard Hertwig (1850-1937) Anfang des 20. Jahrhunderts bemerkte, „die Umbildungen [beziehungsweise die Entstehung] der Organismen zu erklären; es muß vielmehr weiter im Auge behalten werden, daß diese Umbildungen [beziehungsweise diese Ursprünge] zu einer zweckmäßigen Anpassung des Organismus an seine Umgebung führen; es muß zugleich diese zweckmäßige Anpassung erklärt werden“ (Hertwig 1914, 27). Auch Mutationen oder andere Zufallsereignisse (zum Beispiel genetischer Drift) führen zu Veränderungen in der DNA-Zusammensetzung einer Population, das heißt zur Evolution. Anpassungen aber entstehen in der Natur nur durch Selektion und sie stellen immer Reaktionen auf eine ganz bestimmte Umwelt dar. Die beiden traditionellen Konzepte, die von der unabhängigen Entstehung und Unveränderlichkeit der Arten ausgegangen waren, das heißt die religiösen Schöpfungslehren und die naturalistischen Urzeugungstheorien, hatten hier nur ausweichende beziehungsweise vage Antworten geben können. Erst Lamarck hatte einen zwar unzutreffenden, aber nicht völlig unplausiblen Mechanismus vorgelegt. Darwin löste sich nicht gänzlich von den historischen Vorbildern - auch er akzeptierte die Vererbung erworbener Eigenschaften als evolutionären Faktor -, seine eigentliche Argumentation ging aber in eine andere Richtung. Zweckmäßige Variationen können durch unterschiedliche Ursachen entstehen, aber durch die natürliche Auslese bleiben sie erhalten und werden angehäuft: „Natural selection can act only by the preservation and accumulation of infinitesimally small inherited modifications, each profitable to the preserved being“ (Darwin 1859, 95). Im Laufe der Generationen werden sich so nützliche Eigenschaften verbreiten, schädliche dagegen werden seltener. Auf diese Weise erklärte Darwin nicht nur, warum Organismen (auch) zweckmäßige Eigenschaften haben, sondern konsequent weitergeführt impliziert sein Modell, dass alle ihre Eigenschaften zweckmäßig sein müssten. Diesen Schluss hat Darwin in der Tat gezogen. Er sprach in diesem Zusammenhang von der ‚utilitarian doctrine‘; im Deutschen wurde daraus die ‚Nützlichkeitstheorie‘. Sie besagt, dass „every detail of structure has been produced for the good of its possessor“. Und sie ermöglichte eine neue Sichtweise auf die Organismen und ihre Merkmale: „Hence every detail of structure in every living creature (making some little allowance for the direct action of physical conditions) may be viewed, either as having been of special use to some ancestral form, or as being now of special use to the descendants of this <?page no="34"?> Thomas Junker 34 form - either directly, or indirectly through the complex laws of growth“ (Darwin 1859, 199f.). Darwin war sich nicht sicher, ob sich eine durchgängige Zweckmäßigkeit der Organismen tatsächlich nachweisen lässt und modifizierte seine Meinung zu dieser Frage mehrfach (Junker 2009). In diesem Zusammenhang machte er die interessante biographische Anmerkung, dass seine ‚utilitarian doctrine‘ durch den teleologischen Gottesbeweis der Naturtheologie inspiriert war: „Nevertheless I was not able to annul the influence of my former belief, then widely prevalent, that each species had been purposely created; and this led to my tacitly assuming that every detail of structure, excepting rudiments, was of some special, though unrecognised, service“ (Darwin 1871 I, 152f.). Darwin war während seiner Studienzeit in Cambridge mit dem konservativen Weltbild der englischen Naturtheologie konfrontiert worden. Viele ihrer Beispiele von Anpassungen hat er als überzeugend empfunden und übernommen; auch die teleologische Sprache der Naturtheologie verwendete er weiter. Indem Darwin aber die Anpassungen als Folge eines natürlichen (teleonomen) Prozesses auffasste, gab er ihnen eine völlig neue kausale Erklärung. 4. Das System der Natur „If we extend the use of this element of descent, - the only certainly known cause of similarity in organic beings, - we shall understand what is meant by the natural system: it is genealogical in its attempted arrangement, with the grades of acquired difference marked by the terms varieties, species, genera, families, orders, and classes.“ (Darwin 1859, 456) Auf den ersten Blick scheint es fehl am Platze zu sein, in einer Erörterung der Geschichte des Evolutionsdenkens auch Carl Linnaeus (1707-1778) zu erwähnen, der oft als einer der wichtigsten Gegner der Evolutionsidee betrachtet wird. Dies ist auch richtig. Linnaeus spielte aber zugleich eine wichtige positive Rolle, da er ein umfassendes, hierarchisches System der Natur aufstellte, das sich später als eindrucksvolle Bestätigung für den phylogenetischen Zusammenhang der Organismen erwies. Eines der auffallendsten Merkmale der Organismen ist die Vielfalt. Neuere Schätzungen gehen von mehreren Millionen heute existierender Arten aus (siehe den Beitrag von Oliver Betz in diesem Buch). Diese Mannigfaltigkeit ist aber nicht regellos, sondern man beobachtet deutlich unterschiedene ‚Sorten‘ von Organismen. Diese ‚Sorten‘, beispielsweise die Arten, bilden ihrerseits wieder abgegrenzte Gruppen, die bestimmte Merkmale gemeinsam haben und sich zu größeren Einheiten zusammenfassen lassen. Die Klassifikation von Linnaeus, sein System der Natur (1758-59), machte es nun möglich, „die Unmasse der verschiedenartigen organischen Formen nach dem größeren oder geringeren Grade ihrer Aehnlichkeit zusammenzustellen und übersichtlich […] zu ordnen“ (Haeckel [1868] 1911, 38). <?page no="35"?> Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie 35 Woher aber kam die im System der Natur deutlich werdende Ordnung? Vor Darwin galt diese meist als Beleg für einen ideellen Zusammenhang (einen göttlichen Schöpfungsplan). Das hierarchisch aufgebaute System mit seinen vier Ebenen zunehmender Allgemeinheit (Art, Gattung, Ordnung und Klasse) ließ sich aber ebenso gut materiell deuten, als Ausdruck der gemeinsamen Abstammung der Organismen. Wenn man davon ausgeht, dass die systematische Anordnung der Organismen weder willkürlich, noch abhängig von den Lebensgewohnheiten der jeweiligen Arten und auch nicht mit der Klassifikation von Elementarstoffen und Mineralien vergleichbar ist, dann kommt nach Darwins Ansicht nur die gemeinsame Abstammung in Frage. Eine Klassifikation ist nach Darwin natürlich, wenn Nachkommen eines gemeinsamen Vorfahren in einer Gruppe zusammengeordnet werden. Die Hierarchie der Arten, Gattungen, Familien usw. im Natürlichen System ist also ein Ausdruck der abgestuften Verwandtschaftsverhältnisse. Viele Systematiker waren erleichtert, die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts als obsolet empfundene idealistische durch eine materialistische Theorie ersetzen zu können, „aus der figürlich angenommenen Verwandtschaft wurde echte Blutsverwandtschaft, das Natürliche System wurde ein Bild des Stammbaumes des Pflanzenreichs. Mit diesen Sätzen war das alte Problem gelöst“ (Sachs 1875, 12). Seit dieser Zeit wurde in der Systematik zumindest als theoretisches Ziel akzeptiert, dass jedes Klassifikationssystem auf der Theorie der gemeinsamen Abstammung aufbauen müsse. 5. Gemeinsame Abstammung und Evolution „[…] all living things have much in common, in their chemical composition, their germinal vesicles, their cellular structure, and their laws of growth and reproduction. […] Therefore I should infer from analogy that probably all the organic beings which have ever lived on this earth have descended from some one primordial form, into which life was first breathed.“ (Darwin 1859, 484) Der erste Versuch, alle Organismen in einen umfassenden evolutionären Zusammenhang zu bringen, findet sich in der Histoire Naturelle (Naturgeschichte) von George Buffon (1707-1788). Die Histoire Naturelle besteht neben verschiedenen einleitenden und allgemeinen Kapiteln im Wesentlichen aus Beschreibungen der einzelnen Arten, ihres Körperbaus und ihrer Lebensweise. Ähnliche Arten sind dabei zusammengeordnet, was gewisse Wiederholungen unvermeidlich macht. Als sich nun Buffon daran machte, im Anschluss an den Abschnitt über das Pferd den Esel zu beschreiben, zog er es vor, vielleicht ermüdet von der Aussicht auf eine weitgehend identische Beschreibung, statt dessen darüber zu spekulieren, warum beide Arten so ähnlich sind. Wenn man, so schreibt er, den Esel betrachtet, dann „scheint er nichts als ein entartetes Pferd“ zu sein: „Die vollkommene Ähnlichkeit der Bildung in Hirn, Lungen, Magen, Darm, Herz, Leber und anderen Eingewei- <?page no="36"?> Thomas Junker 36 den, die große Ähnlichkeit des Körpers, der Beine, Füße und des ganzen Skelettes scheinen diese Meinung zu stärken“ (Buffon 1753, 377) 1 . Entsprechende Ähnlichkeiten lassen sich noch weiter verfolgen und wenn wir aus der „unendlichen Mannigfaltigkeit [...] der lebenden Wesen ein Tier oder sogar den Körper des Menschen herausgreifen und darauf, auf dem Wege des Vergleichs, die anderen organisierten Wesen beziehen, so werden wir finden, dass [...] ein ursprünglicher und allgemeiner Plan besteht, den man sehr weit verfolgen kann“ (Buffon 1753, 379). Der Fuß der Pferde beispielsweise ist trotz aller äußeren Verschiedenheit aus denselben Knochen zusammengesetzt wie die Hand eines Menschen. Wie sind nun „diese verborgenen Ähnlichkeiten“, die so „viel wunderbarer sind als die augenfälligen Unterschiede“, zu deuten? Buffon diskutiert zwei alternative Erklärungen. Zum einen könnte man vermuten, dass „das höchste Wesen bei der Schöpfung der Tiere nur eine Idee hat verwenden wollen, um sie zu gleicher Zeit auf alle möglichen Weisen abzuwandeln, damit der Mensch gleicherweise die Großartigkeit der Ausführung als die Einfachheit des Planes bewundern könne“. Zum anderen könnte man annehmen, dass sich Gruppen ähnlicher Arten durch „Mischung, allmähliche Variation und Entartung der ursprünglichen Arten“ gebildet haben. Wenn man dies zugibt, dann könnte man weiter vermuten, dass „alle Tiere von einem einzigen Tier hergekommen seien, das im Laufe der Zeit, durch Vervollkommnung und Entartung, alle Rassen der anderen Tiere hervorgebracht hat“ (Buffon 1753, 381-83). Warum ist Buffon, warum sind seine genialen Gedanken in Vergessenheit geraten? Zwei Punkte waren sicher von Bedeutung: Zum einen hinterließ er nur diese kurzen Bemerkungen, zum anderen und vielleicht noch wichtiger: In den darauf folgenden Sätzen distanzierte er sich wieder von seinen Äußerungen. 6. Die unsichtbare Hand, oder: Design ohne Designer „[…] when many men, without intending to alter the breed, have a nearly common standard of perfection, and all try to get and breed from the best animals, much improvement and modification surely but slowly follow from this unconscious process of selection.“ (Darwin 1859, 102) Auf die Ähnlichkeit zwischen Darwins biologischer Theorie und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung hat schon Karl Marx (1818-1883) in einem Brief an Friedrich Engels (1820-1895) vom 18. Juni 1862 hingewiesen: „Es ist merkwürdig, wie Darwin unter Bestien und Pflanzen seine englische Gesellschaft mit ihrer Teilung der Arbeit, Konkurrenz, Anschluß neuer Märkte, 1 Die Übersetzungen der französischen Zitate von Buffon ins Deutsche wurden von Thomas Junker angefertigt. <?page no="37"?> Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie 37 ‚Erfindungen‘ und Malthus’schem ‚Kampf ums Dasein‘ wiedererkennt“ (Marx u. Engels 1964, 249). Vielleicht hat sich Darwin tatsächlich unmittelbar von der wirtschaftlichen Situation im England des 19. Jahrhunderts inspirieren lassen. Er kannte aber auch die Schriften der bekanntesten politischen Ökonomen seiner Zeit (Schweber 1980; Engels 2007). So führte Darwin seine Entdeckung des Selektionsprinzips ganz wesentlich auf die Lektüre des Essay on the Principle of Population (1826) von Robert Malthus (1766-1834) zurück: „In October 1838, that is, fifteen months after I had begun my systematic enquiry, I happened to read for amusement Malthus on Population, and being well prepared to appreciate the struggle for existence which everywhere goes on from long-continued observation of the habits of animals and plants, it at once struck me that under these circumstances favourable variations would tend to be preserved, and unfavourable ones to be destroyed. The result of this would be the formation of new species. Here then I had at last got a theory by which to work.“ (Darwin 1958, 120) Die Theorie von Malthus gehörte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England zu den populärsten und politisch einflussreichsten Ideen. Als wesentlichen Gedanken übernahm Darwin von Malthus, dass jede biologische Art eine starke Tendenz zur Vermehrung hat, die größer ist als die mögliche Vermehrung der Nahrungsmittel. Zusammen mit der Beobachtung, dass sich die Anzahl der Individuen einer Art auf lange Sicht meist nur wenig verändert, lässt sich aus diesen Beobachtungen schließen, dass es zwischen Mitgliedern derselben Art zu einem Kampf ums Dasein kommen muss. Darwins origineller Gedanke, der den Kampf ums Dasein zu einem dynamischen Prinzip machte, war die Einzigartigkeit der Individuen. Der Kampf ums Dasein und das unterschiedliche Überleben beziehungsweise der unterschiedliche Reproduktionserfolg einzelner Individuen kann nur unter der Voraussetzung, dass es sich um genetisch unterschiedliche Individuen handelt, zur Veränderung einer Art führen. Und noch eine andere Idee verdankte Darwin der politischen Ökonomie: Dass evolutionärer Wandel durch den Wettbewerb der Individuen entsteht und nicht auf Planung angewiesen ist. Die natürliche Auslese ist ‚blind‘, ohne Voraussicht und Überlegung, und selbst die Züchtung durch die Menschen verlief in der Geschichte weitgehend unbewusst. Und doch entstehen auf diese Weise geordnete Strukturen. Hier gibt es, wie oft bemerkt wurde, eine interessante Parallele zu den Vorstellungen der schottischen Ökonomen: Für Adam Smith (1723-1790) soll soziale Harmonie als ungewollte Konsequenz der individuellen Konkurrenz entstehen. Die Individuen handeln zwar nach ihren persönlichen Interessen, aber aus diesen zufälligen Beziehungen entsteht eine stabile Konfiguration der gesamten Gesellschaft: „By preferring the support of domestick to that of foreign industry, he intends only his own security; and by directing that industry in such a manner as its <?page no="38"?> Thomas Junker 38 produce may be of the greatest value, he intends only his own gain, and he is in this, as in many other cases, led by an invisible hand to promote an end which was no part of his intention. […] By pursuing his own interest he frequently promotes that of the society more effectually than when he really intends to promote it.“ (Smith [1776] 1979, 456) 7. Die wissenschaftliche Weltanschauung „At last gleams of light have come, and I am almost convinced (quite contrary to the opinion I started with) that species are not (it is like confessing a murder) immutable.“ (Brief von Darwin an Joseph Dalton Hooker vom Januar 1844, Darwin 1985-2010, Bd. 3, 2) Wie wir sahen, haben einige außerwissenschaftliche Bedingungen positiv im Sinne der Entdeckung und Durchsetzung der Evolutionstheorie gewirkt, andere haben diese verzögert. So bedurfte es erst der Emanzipation der Wissenschaft von religiöser Bevormundung, ehe die Evolutionstheorie auf allgemeine Anerkennung hoffen durfte. Bis ins 18. Jahrhundert konnten wissenschaftliche Aussagen, die im Widerspruch zu religiösen Glaubenssätzen standen, nur unter großer persönlicher Gefahr für die Wissenschaftler geäußert werden. Buffon etwa wurde von den Theologen der Sorbonne scharf angegriffen, weil er das Alter der Erde auf mehr als 100.000 Jahre geschätzt hatte (Roger 1989). War dies der Grund, warum er seine geniale Einsicht wieder verwarf? Wenn man von einer einzigen Pflanzen- oder Tierart nachgewiesen habe, dass sie durch Entartung aus einer anderen Art erzeugt worden ist, dann gäbe es „keine Grenzen mehr für die Allmacht der Natur, […die] mit der Zeit aus einem einzigen Wesen alle anderen organisierten Wesen herauszuziehen wusste. […] Aber nein, es ist durch die Offenbarung sicher, dass alle Tiere gleichermaßen an der Gnade der Schöpfung teilgenommen haben, dass die zwei ersten von jeder Art und von allen Arten vollkommen ausgebildet aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen sind, und man muss glauben, dass sie damals ungefähr dieselben waren, wie sie uns heute durch ihre Nachkommen vorgestellt werden.“ (Buffon 1753, 381-83) Aus welchen Gründen Buffon den Evolutionsgedanken letztlich wieder verwarf, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber es ist eine Tatsache, dass die erste ausgearbeitete Evolutionstheorie - Lamarcks Philosophie Zoologique - erst nach der französischen Revolution publiziert wurde. Darwin dagegen musste hier nur mehr persönliche Rücksichten nehmen: In wissenschaftlichen Untersuchungen sei es gestattet, jede beliebige Hypothese zu erfinden, und diese habe sich an den Tatsachen zu bewähren, unabhängig davon, ob sie mit den jeweiligen politischen oder religiösen Ideologien übereinstimme oder nicht: <?page no="39"?> Auf den Schultern von Riesen: Darwins Evolutionstheorie 39 „In scientific investigations it is permitted to invent any hypothesis, and if it explains various large and independent classes of facts it rises to the rank of a well-grounded theory. […] If the principle of natural selection does explain […] large bodies of facts, it ought to be received. On the ordinary view of each species having been independently created, we gain no scientific explanation of any one of these facts. We can only say that it has so pleased the Creator to command that the past and present inhabitants of the world should appear in a certain order and in certain areas; that He has impressed on them the most extraordinary resemblances, and has classed them in groups subordinate to groups. But by such statements we gain no new knowledge; we do not connect together facts and laws; we explain nothing.“ (Darwin 1868, Bd. 1, 9) 8. Die Darwin’sche Revolution Für die heutigen Naturwissenschaften sind 150 Jahre eine kleine Ewigkeit, und man könnte vermuten, dass Origin of Species inzwischen weitgehend überholt und nur noch von historischem Interesse ist. Überraschenderweise ist dies nicht der Fall, sondern viele der hier diskutierten Ideen sind erstaunlich modern und zukunftsweisend. Und dies, obwohl Darwin an einigen Punkten von falschen Voraussetzungen ausging, beispielsweise bei der Frage der Vererbung und Variabilität, bei seiner Unterscheidung von Varietäten und Arten und bei der Frage, wie sich Arten aufspalten. Aber er fand den grundlegenden Mechanismus der Evolution - die natürliche Auslese. Darwins zentrale These, die er auch im Titel seines Hauptwerkes formulierte, hat überlebt, da nur auf diese Weise die Anpassungen der Organismen an die belebte und unbelebte Umwelt zufriedenstellend erklären werden können: On the Origin of Species by Means of Natural Selection - Über die Entstehung (und die Evolution) der Arten durch natürliche Auslese. Dies ist der Kern der Darwin’schen Revolution: Die Existenz und die Eigenschaften der Organismen lassen sich wissenschaftlich, das heißt auf natürliche Weise erklären. Die Art und Weise, wie er dies erreichte - Evolution durch natürliche Auslese - war wichtig, aber sie war Mittel zum Zweck. Die Darwin’sche Theorie erklärt organisches Design ohne einen Designer, sie ist die Ausdehnung des naturwissenschaftlichen Weltbildes auf die gesamte belebte Natur. Organismen sind biologische Maschinen mit einem bestimmten Zweck und einem entsprechenden Bau (‚Design‘), wobei ihr Zweck (der Sinn ihres Lebens) darin besteht, ihre Gene zu verbreiten. Ein darüber hinausgehender allgemeiner Sinn der Welt lässt sich nicht feststellen. Der Unterschied könnte kaum tiefgreifender sein: Sind Lebewesen und damit auch Menschen das Produkt bewusster Planung, wie das religiöse Weltanschauungen behaupten? Oder sind sie eine Tierart unter vielen, deren typische Eigenschaften durch einen ‚blinden‘ Naturvorgang im Laufe von Millionen von Jahren entstanden, wie die Evolutionsbiologie sagt? Darwin, so empfanden es schon die zeitgenössischen Wissenschaftler, hatte die Biologie <?page no="40"?> Thomas Junker 40 in vielerlei Hinsicht erst zu einer echten Naturwissenschaft gemacht, indem er das religiöse Wunder (‚Schöpfung‘) aus ihr vertrieb. Und so wurde Darwins Buch über die Entstehung der Arten zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen und weltanschaulichen Revolution, deren Bedeutung und Reichweite erst langsam ins Bewusstsein der Menschen tritt (Engels u. Glick 2008; Junker u. Paul 2009). Literatur Aristoteles 1959: De partibus animalium (Über die Glieder der Geschöpfe). Schöningh, Paderborn. Bowler, P.J. 1984: Evolution, the History of an Idea. University of California Press, Berkeley, Los Angeles, London. Buffon, G. 1753: Histoire naturelle, générale et particulière. Bd. 4. Imprimerie Royale, Paris. Burkhardt, R.W. 1977: The Spirit of System: Lamarck and Evolutionary Biology. Harvard University Press, Cambridge, Mass. 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Abteilung, Bd. 4, 1-91. B.G. Teubner, Leipzig, Berlin. Huxley, T.H. 1887: On the Reception of the ‚Origin of Species‘, in: F. Darwin (Hg.): The Life and Letters of Charles Darwin, including an autobiographical chapter. Vol. 2, 179-204. John Murray, London. Junker, T. 1989: Darwinismus und Botanik. Rezeption, Kritik und theoretische Alternativen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart. Junker, T. 1998: Charles Darwin und die Evolutionstheorien des 19. Jahrhunderts, in: I. Jahn (Hg.): Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. 3. Aufl., 356-385. Gustav Fischer, Jena, Stuttgart. Junker, T. 2004: Geschichte der Biologie: Die Wissenschaft vom Leben. C.H. Beck, München. Junker, T. 2009: Charles Darwin, Carl Nägeli und das Rätsel der ‚neutralen Merkmale‘, in: J. Stöcklin u. E. Höxtermann (Hg.): Darwin und die Botanik, 192-211. Basilisken-Presse, Rangsdorf. Junker, T. u. Hoßfeld, U. 2009: Die Entdeckung der Evolution - Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte. 2. Aufl., Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (1. Aufl. 2001). Junker, T. u. Paul, S. 2009: Der Darwin-Code: Die Evolution erklärt unser Leben. C.H. Beck, München. Lamarck, J.-B. de 1809: Philosophie Zoologique. 2 Bde., Dentu, Paris. Lefèvre, W. 2009: Die Entstehung der biologischen Evolutionstheorie. 2. überarb. Aufl. Suhrkamp, Frankfurt a. M. (1. Aufl. 1984). Linnaeus, C. 1758-59: Systema naturae per regna tria naturae. 2 Bde., 10. Aufl., Laurentius Salvius, Holmiae (Stockholm). Lukrez, 1989: De rerum natura (Vom Wesen des Weltalls). Philipp Reclam jun., Leipzig. Malthus, T.R. 1826: Essay on the Principle of Population. John Murray, London. Marx, K., Engels, F. 1964: Werke. Bd. 30. Dietz, Berlin. Mayr, E. 1972: Lamarck Revisited. Journal of the History of Biology 5, 55-94. Mayr, E. 1982: The Growth of Biological Thought. 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Oldenbourg, München. <?page no="42"?> Thomas Junker 42 Schweber, S.S. 1980: Darwin and the Political Economists: Divergence of Character. Journal of the History of Biology 13, 195-289. Smith, A. 1776: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, vol. 1. Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, vol. 2a. Oxford: Clarendon Press 1979. Wuketits, F.M. 1988: Evolutionstheorien. Historische Voraussetzungen, Positionen, Kritik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. Zimmermann, W. 1953: Evolution. Die Geschichte ihrer Probleme und Erkenntnisse. Karl Alber, Freiburg, München. <?page no="43"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836), Historische Geologie und die Entstehung der modernen Evolutionstheorie Wolfgang Maier „Sie (die Natur) scheint alles auf Individualität angelegt zu haben und macht sich nichts aus den Individuen“ (Johann Wolfgang von Goethe [1783] 1966) „Droll thing life is - that mysterious arrangement of merciless logic for a futile purpose“ (Joseph Conrad [1902] 1995) Zusammenfassung Die Evolutionstheorie von Charles Darwin ist für die Biologie von zentraler Bedeutung. Sie besteht eigentlich aus zwei Theoriekomponenten, die jedoch eng aufeinander bezogen sind: Das Deszendenztheorem (Abstammungstheorem) erklärt die natürliche Vielfalt heutiger und ausgestorbener Lebewesen sowie ihre ‚natürliche Verwandtschaft‘ als Ergebnis einer genealogischen Entwicklung der Arten (Phylogenie); das Selektionstheorem (Auslesetheorem) erkennt den Mechanismus evolutiver Veränderungen (Anagenese) und Anpassungen (Adaptationen, Co-Adaptationen) im Wechselspiel zwischen natürlicher Variation und natürlicher Auslese in Populationen. Diese Auslese der an ihre jeweiligen Lebensbedingungen Bestangepassten („survival of the fittest“) erfolgt in kleinen Schritten in jeder Generation aufs Neue; daher benötigen evolutive Prozesse sehr lange Zeit, in der Regel Hunderttausende oder Millionen von Jahren. Bestenfalls können mikroevolutive Prozesse experimentell und empirisch untersucht werden, die makroevolutiven Prozesse müssen durch systematischen Vergleich von Strukturen und Molekülen rekonstruiert werden. Die absolute Datierung von Fossilien und makroevolutiven Prozessen erfolgt seit den 1920er Jahren durch radiometrische Methoden. Aus diesen Gründen hat die Evolutionstheorie den geistes- und kulturgeschichtlichen Historismus, der sich im 18. Jahrhundert ausgebildet hatte, zur notwendigen Voraussetzung. Allerdings war mehr als eine kulturgeschichtliche Historisierung und Dynamisierung erforderlich: Die unvorstellbar langen Zeiträume der organismischen Evolution (‚Tiefenzeit‘) konnten erst mit Hilfe der geologischen Forschung erschlos- <?page no="44"?> Wolfgang Maier 44 sen werden. Auch Charles Darwin war als praktizierender Forscher in der Hauptsache Geologe. Die biologischen Befunde, die er zur Untermauerung seiner Theorie verwendete, sammelte er großenteils während seiner Weltumsegelung zwischen 1831 und 1836; die Evolutionstheorie bildete er jedoch erst in den zwei Jahren nach seiner Rückkehr aus. Ihre revolutionäre Bedeutung gewann seine Theorie dadurch, dass sie die natürliche Vielfalt und die Angepasstheit der Organismen an ihre belebte und unbelebte Umwelt naturalistisch (mechanistisch) durch das Wechselspiel von natürlicher Variation und Selektion erklärte. Das genealogische Deszendenz-Konzept impliziert unter vielen anderen die Fragen nach dem Ursprung des Lebens einerseits und nach der Herkunft des Menschen andererseits - und beide haben seitdem ideologisch als besonders anstößig gegolten. 1. Einführung Charles Darwin schrieb in seiner Autobiographie von 1876: „Die Reise mit der Beagle war das wichtigste Ereignis meines Lebens und hat meine ganze Berufslaufbahn bestimmt.“ (Darwin 1993, 81). Er führte dort auch genauer aus, worin er die Hauptbedeutung der Reise sah: „Ich hatte immer das Gefühl, daß ich der Reise die erste wirkliche Übung oder Bildung meines Denkvermögens verdanke. Ich mußte meine Aufmerksamkeit zwangsläufig intensiv auf verschiedene Sparten der Naturgeschichte richten, und dadurch schärfte sich meine Beobachtungsgabe [...].“ (Darwin 1993, 81) Die Betonung des Aspekts der persönlichen Prägung mag für diejenigen verwunderlich klingen, die wissenschaftliche Erkenntnis ausschließlich für das Ergebnis induktionistischer Rationalität halten. Die Erfahrung mit aktiver und erfolgreicher Forschung lehrt jedoch, dass neben einer spezifischen Begabung und Methodenbeherrschung allgemeine Persönlichkeitseigenschaften wie Phantasie, Kreativität, Motivation, Ausdauer und andere von größter Wichtigkeit sind. Im Übrigen hat auch die moderne Wissenschaftstheorie längst erkannt, dass wissenschaftliche Forschung neben den empiristischen auch wesentliche soziopsychologische Komponenten besitzt (Kuhn 1979; Lakatos 1970; Feyerabend 1979; Lakatos u. Feyerabend 1999). Es war vor allem Fleck (1980), der auf die Bedeutung der wissenschaftlichen ‚Denkkollektive‘ und der darin herrschenden ‚Denkstile‘ für die Erarbeitung wissenschaftlicher Tatsachen und Erklärungsmodelle hinwies. Desmond (1989), Desmond u. Moore (1992), Engels (2007) und andere mehr haben aufgezeigt, wie mühselig und widerspruchsvoll die wesentlichen Evolutionstheoreme bei Darwin selbst zustande kamen. In der Einleitung zu seinem Origin of Species (1859) wurde Darwin in Bezug auf die Bedeutung seiner Weltreise etwas spezifischer: „Als ich mich als Naturforscher an Bord des ‚Beagle‘ befand, war ich aufs höchste überrascht durch gewisse Merkwürdigkeiten in der Verbreitung der <?page no="45"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 45 Tiere und Pflanzen Südamerikas sowie durch die geologischen Beziehungen der gegenwärtigen Bewohner dieses Erdteils zu den früheren [...]. Diese Tatsachen [schienen mir] Licht zu werfen auf die Entstehung der Arten, das Geheimnis aller Geheimnisse, wie einer unserer größten Philosophen [John Herschel] sie nannte.“ (Darwin 1963, 24) Mir scheint Darwins retrospektive Sicht zu sehr geglättet und rationalisiert, wie dies in Autobiographien zu geschehen pflegt. Der nachfolgende Beitrag versteht sich als Versuch, eine etwas realitätsnähere Sicht der Genese der Evolutionstheorie vorzustellen. 2. Ideengeschichtliche Voraussetzungen Die Evolutionstheorien von Lamarck und Darwin entstanden in einer Epoche, die durch das Aufkommen historischer Denkweisen gekennzeichnet war (Meinecke 1946). Marquard (1991) hat die These entwickelt, dass sich bereits um 1750 („Sattelzeit“ (Koselleck 1972, 15)) in Reaktion auf das Theodizee- Problem unter anderem die neuere Geschichtsphilosophie und die philosophische Anthropologie entwickelten. Dieses prozesshafte Denken, das sich während des 18. Jahrhunderts gegenüber dem statischen Verständnis des Mittelalters und der frühen Neuzeit durchsetzte, wurde von Meinecke (1946) als „eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat“ (Meinecke 1946, 1) bezeichnet. Nach demselben Autor besteht der Kern des Historismus „in der Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung“ (Meinecke 1946, 2); gemeint ist damit wohl die Singularität historischer Vorgänge und Personen, die auch eine kasuistische Untersuchungsmethodik erfordert. Besonders prägnant wurde die historistische Sichtweise auch von Hegel (1837) formuliert: „Jede Zeit hat so eigentümliche Umstände, ist ein so individueller Zustand, daß in ihm aus ihm selbst entschieden werden muß, und allein entschieden werden kann“ (Hegel 1837, 31). Zwar sind diese Bemerkungen in Sicht auf die Kultur- und Geistesgeschichte formuliert, sie können jedoch auch auf die Naturgeschichte übertragen werden (Lepenies 1978). Lovejoy (1993) charakterisierte in seinem Werk über die „Kette der Wesen“ die generelle Bedeutung dieses Paradigmenwechsels wie folgt: „Eine zeitliche und veränderliche Welt ist eine Welt, die mit dem Postulat, dass das Dasein Ausdruck und Folge einer Ordnung ‚ewiger‘ und ‚notwendiger‘, in der Logik des Seins verankerter Wahrheiten sein müsse, weder vereinbar noch daraus abzuleiten ist.“ (Lovejoy 1993, 394). Es ist zwar nicht nachzuweisen, wie Lamarck und Darwin direkt an die ideengeschichtliche Entwicklung des Historismus anknüpften, es ist jedoch evident, dass ihre Theorien nur unter der allgemeinen Voraussetzung einer historistischen Weltsicht entstehen konnten (Oeser 1974, Wenzel 1982b, Wuketits 1988). Das historische Denken manifestierte sich unter anderem in <?page no="46"?> Wolfgang Maier 46 der Abfassung großer historischer Monographien über das klassische Altertum, und es ist immerhin belegt (Desmond u. Moore 1992), dass Darwin während seiner ersten Studienjahre in Edinburgh zum Beispiel Verfall und Untergang des römischen Reichs von Edward Gibbon (1737-1794) las - und Gibbon wird auch von Meinecke zu den einflussreichen englischen Aufklärungshistorikern gerechnet. Der Historismus kann als neues Paradigma im Sinne von Kuhn (1979) verstanden werden: „Der Erfolg eines Paradigmas […] ist am Anfang weitgehend eine Verheißung von Erfolg, die in ausgesuchten und noch unvollkommenen Beispielen liegt. Die normale Wissenschaft besteht in der Verwirklichung jener Verheißung, einer Verwirklichung, die durch Erweiterung der Kenntnis der vom Paradigma als besonders aufschlussreich dargestellten Fakten, durch Verbesserung des Zusammenspiels dieser Fakten mit den Voraussagen des Paradigmas sowie durch weitere Artikulierung des Paradigmas selbst herbeigeführt wird.“ (Kuhn 1979, 37f.) Kuhn bezeichnete etwa das Auftauchen der kopernikanischen Astronomie als Paradigmenwechsel, der eine Revolution des Denkens auslöste; die Arbeiten von Kepler, Galilei, Newton und anderen sind dann letztlich nur Verfeinerungen und Ausarbeitungen dieses Theorierahmens. Entsprechend können die evolutionären Theorien von Lamarck und Darwin als konsequente Anwendungen des historistischen Denkens auf die Naturprozesse aufgefasst werden. Diese Deutung impliziert keineswegs, dass diesen Autoren der geistesgeschichtliche Zusammenhang voll bewusst gewesen sein muss, vielmehr bewegte sich ihr Denken bereits wie selbstverständlich im Rahmen des zeitgenössischen historistischen Paradigmas. Mit Bezug auf die Entwicklung eines historistischen Verständnisses des Organismus ist zunächst der damals neue Aspekt der embryonalen Veränderlichkeit der Individuen hervorzuheben. Basierend auf der Entwicklung mikroskopischer Techniken gelang es in der Mitte des 18. Jahrhunderts, die zumeist winzigen Frühstadien der Individualentwicklung erstmals zu erfassen und sie mit späteren Stadien in Beziehung zu setzen. Diese neue Disziplin regte sofort zu vielfältigen kontroversen Theoriebildungen und Spekulationen an (zum Beispiel Ovulisten versus Animalculisten; Präformationstheoriker versus Epigenetiker). Im Nachhinein betrachtet war aber wohl der Aspekt der zeitlichen Dynamisierung des Organismuskonzepts von wesentlicher Bedeutung (Lefèvre 2009). Bei Goethe und anderen wurden die individuelle und die naturgeschichtliche Dynamisierung durch ein Metamorphose-Konzept gedeutet, das mithin einen prä-evolutionistischen Charakter besitzt: „Die Gestalt ist ein Bewegliches, ein Werdendes, ein Vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur.“ (Goethe zitiert nach Kuhn 1994, 11; vgl. auch Wenzel 1982a) <?page no="47"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 47 Als weiterer propädeutischer Schritt kann die neue dynamische Deutung der Scala naturae durch Bonnet (1769) und andere angesehen werden, die aber ihrerseits von embryologischen Forschungen geprägt war. Hier wurde die ‚Stufenleiter der Natur‘ nicht mehr in aristotelischer Tradition als statische Ordnung verstanden, sondern als Momentaufnahme eines dynamischen Entwicklungsprozesses. Die Lebewesen sollten danach permanent durch eine ‚generatio spontanea‘ aus anorganischen Elementen neu entstehen und vermöge eines ihnen innewohnenden Drangs zur Höherentwicklung auf der Stufenleiter der Wesen unentwegt aufsteigen (vergleiche Mayr 1976, Rieppel 2001a). Diese Vorstellung behielt noch bis in das 19. Jahrhundert hinein ihre Bedeutung (z.B. Blumenbach 1832). Auch heute sprechen Evolutionisten noch häufig von Höherentwicklung, was aber nicht dem anti-teleologischen Konzept Darwins entspricht. 1 Von erheblicher theoretischer Bedeutung ist bis heute die daraus abgeleitete Wechselbeziehung zwischen Individualentwicklung und prozesshafter Scala naturae geblieben (Bonner 1982). Nachdem bereits Bonnet eine gewisse Parallelität zwischen beiden Vorgängen bemerkt hatte, spielte sie dann vor allem in der deutschen Naturphilosophie eine wichtige Rolle. So schrieb der Stuttgarter Kielmeyer ([1793] 1993): „Da die Vertheilung der Kräfte in der Reihe der Organisationen dieselbe Ordnung befolgt, wie die Vertheilung in den verschiedenen Entwiklungszuständen des nehmlichen Individuums, so kann gefolgert werden, daß die Kraft durch die bei leztern die Hervorbringung geschieht, nehmlich die Reproductionskraft in ihren Gesetzen mit der Kraft übereinstimme, durch die die Reihe der verschiedenen Organisationen der Erde ins Daseyn gerufen wurde [...].“ (Kielmeyer [1793] 1993, 38f.) Dieser Denkansatz wurde dann vor allem durch Friedrich Meckel (1821) und Carl Ernst v. Baer (1828) vertieft sowie schließlich von Ernst Haeckel ([1866] 1906) als ‚Biogenetisches Grundgesetz‘ kanonisiert (Russell 1916; Sewertzoff 1931; Kryzanowsky 1939; De Beer 1958; Gould 1977). 1 In seinem weniger bekannten Werk über das ‚Variieren der Tiere und Pflanzen‘ äußerte sich Darwin zu dieser Frage explizit: „Nach den hier kurz skizzirten Grundsätzen haben die organischen Wesen keine eingeborene oder nothwendige Neigung zu einem Fortschritt in der Stufenleiter der Organisation. Wir sind beinahe gezwungen, die Specialisation oder Differenzirung von Theilen oder Organen für verschiedene Functionen als den besten oder selbst einzigen Maszstab des Fortschrittes zu betrachten; [...] Glieder einer höheren Gruppe können selbst [...] für einfachere Lebensbedingungen geschickt gemacht werden, und in diesem Falle strebt die natürliche Zuchtwahl dahin, die Organisation zu vereinfachen und niedriger zu machen“ (Darwin [1868] 1899b, 8f.). <?page no="48"?> Wolfgang Maier 48 3. Verzeitlichung und Chronologie der Natur Ein spezielles Problem innerhalb des historistischen Denkens ist die Bestimmung der objektiven Zeitdimension. Während noch bis in das frühe 19. Jahrhundert hinein die biblische Genesis sich als allein zulässige Quelle zur Beantwortung dieser Fragen behaupten konnte, bereitete sich unter der Hand eine andere Sichtweise vor (Rossi 1984; Wuketits 1988). Zunächst waren es wohl vor allem die von Kepler, Newton und anderen inspirierten Disziplinen Astronomie und Kosmologie, die angesichts der neu erschlossenen kosmischen Raumdimensionen auch den biblischen Zeitrahmen sprengten (Blumenberg 1981). So kam bereits Kant ([1755] 1975) nicht umhin, für die Entstehung des Kosmos viele Millionen von Jahren anzusetzen. 2 Buffon getraute sich etwa gleichzeitig nur, von 75.000 Jahren für die gesamte Erdgeschichte zu sprechen, aber bereits diese Feststellung löste heftige Abwehrreaktionen aus. Diese Kritik führte wohl dazu, dass die Frage der Chronologie der Erde in den nächsten Jahrzehnten weitgehend tabuisiert blieb, zumal auch kaum überzeugende Methoden einer wissenschaftlichen Behandlung dieser Frage verfügbar waren. Ein ganz anderer Forschungsansatz führte dann mittelbar zu einer Veränderung der Zeitvorstellungen: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam in ganz Europa die Erforschung der Geologie in Mode; dahinter standen zwar primär kommerzielle Interessen wie Bergbau, Straßen- und Kanalbau, diese Arbeiten weckten jedoch auch bald die intellektuelle Neugier der zumeist autodidaktischen Feldforscher (James Hutton, William Smith und andere). Dabei wurde zunehmend der komplexe Aufbau der oberen Erdkruste deutlich. Neben den vulkanischen Strukturen beeindruckten insbesondere die oft viele hundert Meter dicken Sedimente mit marinen Fossileinschlüssen, was vor allem den ‚Neptunisten‘ Auftrieb gab. Neben den sedimentbildenden Prozessen wurden auch gewaltige Erosionsphänomene deutlich. Beide Befunde verweisen gleichermaßen auf eine eindrucksvolle Dynamik und Zeitdauer der Strukturbildungen der zugänglichen Gesteinsformationen der Erdkruste. Gould (1992) hat die Frühphase dieser geologischen Forschungen dargestellt und darauf hingewiesen, dass mit diesen Untersuchungen zwangsläufig auch die Zeitvorstellungen in Fluss geraten mussten: „[...] wie bedrohlich ist die [...] Vorstellung von einer schier unbegreiflichen Unermeßlichkeit, in der sich das 2 „Es ist vielleicht eine Reihe von Millionen Jahren und Jahrhunderten verflossen, ehe die Sphäre der gebildeten Natur, darin wir uns befinden, zu der Vollkommenheit gediehen ist, die ihr jetzt beiwohnt [...]. Es werden Millionen und ganze Gebirge von Millionen Jahrhunderten verfliessen, binnen welchen immer neue Welten und Weltordnungen nach einander in den entfernten Weiten von dem Mittelpunkte der Natur sich bilden [...]“ (Kant [1755] 1975, 106). Koselleck (2003) bemerkte, dass mit dieser Bemerkung Kants „bis dahin unvorstellbare Zeitverläufe von Millionen Jahrhunderten metaphorisch“ freigegeben sind (Koselleck 2003, 11). <?page no="49"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 49 gesamte menschliche Erdendasein letzten Endes auf eine Millimikrosekunde beschränkt! “ (Gould 1992, 14). Als Begründer der modernen, empiristischen Geologie gilt James Hutton (1726-1797), den allgemeinen Durchbruch für diese Disziplin schuf jedoch erst Charles Lyell mit seinen Principles of Geology (ab 1831). Diese erste Synthese setzte freilich die Untersuchungen zahlreicher anderer Feldforscher voraus. McPhee (1981) hat sich mit den psychologischen Schwierigkeiten, die geologischen Zeitdimensionen zu erfassen, auseinandergesetzt: „The human mind may not have evolved enough to be able to comprehend deep time. It may only be able to measure it [...]. Geologists, dealing always with deep time, find that it seeps into their beings and affects them in various ways [...]. The sense of geologic time is the most important thing to suggest to the nongeologist.“ (McPhee 1981, 132f.) Der Begriff der ‚Tiefenzeit‘ (‚deep time‘) beginnt sich neuerdings für die Kennzeichnung der geologischen Zeitdimensionen durchzusetzen. Gould (1992) schrieb dazu: „Die Tiefenzeit ist etwas so Fremdes, dass wir sie nur als Metapher begreifen können“ (Gould 1992, 15). Die eminente Bedeutung der Geologie für Darwin ist neuerdings von Herbert (2005) eingehend behandelt worden; in unserem Zusammenhang wird auf die Rolle der Geologie für Darwins Theorie weiter unten näher eingegangen. Für den Theologiestudenten Charles Darwin war in Cambridge der Geologe Adam Sedgwick (1785-1873) von großer Bedeutung. Sedgwick vermittelte ihm nicht nur das Theoriewissen seiner Zeit, er nahm ihn im Sommer 1831 auch mit auf eine mehrwöchige geologische Feldexploration nach Wales, auf der Darwin mit der Praxis der Freilandforschung vertraut gemacht wurde. Diese Ausbildung erfolgte zunächst im Hinblick auf eine geplante Forschungsreise zu den Kanarischen Inseln, die sich dann aber nicht realisieren ließ. Stattdessen vermittelte ihm sein Botaniklehrer (und späterer Freund) John Stevens Henslow (1796-1861) die Forschungsreise mit der Beagle. 4. Vorbildung des jungen Naturalisten Als sich der 22-jährige Darwin am 27.12.1831 auf der zum Vermessungsschiff umgebauten Brigg Beagle einschiffte, war er keineswegs optimal für seine Aufgaben vorbereitet, denn seine naturwissenschaftliche Vorbildung war eher amateurhaft-autodidaktisch und eklektisch; dies war jedoch nicht atypisch für seine Zeit, in der es noch nirgendwo - Paris vielleicht ausgenommen - eine formalisierte Ausbildung zum professionellen Biologen gab. Zunächst war Darwins Rolle auch eher als die eines standesgemäßen Gesellschafters für Kapitän Fitz-Roy definiert, aber er schlüpfte während der Reise immer mehr in die des Naturalisten, vor allem nachdem sich der offizielle Naturforscher der Beagle, der Schiffsarzt McCormick, als wenig tauglich für seine Aufgabe erwiesen hatte und vorzeitig die Rückreise antrat. <?page no="50"?> Wolfgang Maier 50 Die akademische Ausbildung Darwins ist so oft dargestellt worden, dass sie hier nur in stichwortartiger Kürze wiederholt werden muss: Er hatte zunächst von 1825-1827 in Edinburgh Medizin studiert, dieses Studium jedoch bald abgebrochen. Von 1828-1831 absolvierte er dann erfolgreich ein Bachelor of Arts-Studium in Cambridge mit dem erklärten Berufsziel, wie viele seiner Freunde und Verwandten naturforschender Landpfarrer oder (im günstigeren Fall) Universitätslehrer zu werden. In seiner Freizeit hatte er sich einigen Professoren der Biologie (vor allem J.S. Henslow) und der Geologie (A. Sedgwick) mehr oder weniger eng angeschlossen. Mit diesen Dozenten sammelte er in Vorlesungen und auf Exkursionen vielfältige theoretische und praktische Erfahrungen. Auf eigene Faust trieb er mit Hingabe und Ausdauer Freilandbiologie, wobei er sich vor allem auf das Sammeln und Klassifizieren von Pflanzen und Käfern konzentrierte. In diesem Zusammenhang arbeitete er nachweislich mit den meisten der damals gebräuchlichen Standardwerke der Systematik und Faunistik. Gleichwohl kann man den jungen Darwin bestenfalls als hochmotivierten Autodidakten bezeichnen, der weit davon entfernt war, die Grundlagen seiner Fächer auf Grund eigener wissenschaftlicher Arbeit gründlich zu beherrschen. (Nun, mehr leistet auch eine heutige Hochschulausbildung in der Regel nicht; auch hier beginnt die eigentliche Ausbildung zum Wissenschaftler mit dem ersten eigenen Projekt im Rahmen der Diplom- und Doktorarbeit). Die meisten der damaligen Koryphäen der Wissenschaft in England waren letztlich ebenfalls autodidaktische ‚Gentleman-Forscher‘; in der Mehrzahl handelte es sich um ausgebildete und ordinierte anglikanische Theologen. In Deutschland waren die Naturforscher hingegen in der Regel Mediziner und Anatomen, die auch professionell in die medizinische Praxis eingebunden waren. Deswegen war die deutschsprachige Biologie von Anfang an sehr organismisch, das heißt vor allem morphologisch und physiologisch, orientiert (Gegenbaur 1859; Maier 1999). Eine eigenständige professionelle Berufsausbildung zum Fachbiologen (zum sogenannten ‚Gehaltsempfänger‘, wie die abfällig-arrogante Bezeichnung zunächst lautete) setzte sich erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts durch (Uschmann 1960). Darwin war zu Beginn seiner Reise nach eigenem Bekunden noch ein überzeugter Anhänger der Schöpfungslehre im Sinn des Physikotheologen Paley und der Artenkonstanz im Sinne von Linné - wie die überwiegende Mehrzahl der zeitgenössischen Naturalisten (Desmond u. Moore 1992; Engels 2007; Wenzel 1982a). In der Physikotheologie spielte die harmonische wechselseitige Angepasstheit der Pflanzen und Tiere eine zentrale Rolle, da sie als wichtiger Beweis für die Existenz eines weisen Schöpfers angesehen wurde. Auch wenn Darwin später die Adaptation und Co-Adaptation ganz anders herleitete und begründete, so kann vermutet werden, dass er für diese Naturphänomene frühzeitig durch die Physikotheologie sensibilisiert wurde. Immerhin hatte er in jungen Jahren die Ideen des Evolutionismus durch Robert Grant, den er während seines Studiums in Edinburgh kennenlernte, <?page no="51"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 51 und durch die Lektüre der Zoonomia seines Großvaters Erasmus Darwin zur Kenntnis genommen. In seiner nachgelassenen Autobiographie äußerte er sich zum Einfluss von Grant wie folgt: „Als wir eines Tages zusammen spazieren gingen, hatte er einen Ausbruch von Bewunderung für Lamarck und dessen Ansichten zur Evolution. Ich hörte zu, stumm, staunend und, wenn ich es richtig einschätze, ohne einen bleibenden Eindruck zurückzubehalten. Zuvor hatte ich die Zoonomie meines Großvaters gelesen; er vertritt darin ähnliche Ansichten, aber auch sie hatten keine Wirkung auf mich.“ (Darwin 1993, 53) Wir werden zu prüfen haben, wie überzeugend diese Selbsteinschätzung Darwins tatsächlich ist. Es ist viel darüber gerätselt worden, wie ein derart unzureichend vorbereiteter Naturalist solch umwälzende wissenschaftliche Theorien entwickeln konnte. Einige Darwinisten haben die Ansicht vertreten, dass es gerade seine mangelnde Vertrautheit mit der Mehrzahl der in der damaligen Biologie ausgetragenen Kontroversen gewesen sein könnte, die ihm den Kopf für eine unvoreingenommene Wahrnehmung und Beurteilung neuer Natureindrücke freihielt. Allerdings eignete er sich nach seiner Rückkehr ein umfassendes Wissen über die zeitgenössische Naturforschung und Philosophie an, als es darum ging, seine Theorien, deren revolutionäre Bedeutung er sofort erfasst hatte, zu untermauern und theoretisch einzuordnen. Leisewitz charakterisierte den spezifischen methodischen Ansatz von Charles Darwin als „weltweite, vergleichende Feldforschung“ (Leisewitz 1982, 109f.). Diese Verknüpfung von Theoriebildung und Empirie vor Ort, die ihm ganz neuartige Einsichten in die Lebensverhältnisse (Ökologie und Ökomorphologie) der gesammelten Organismen vermittelte, war den damaligen Museums-Naturalisten naturgemäß weitgehend verschlossen. Aber auch hier zeigt der Blick auf zahlreiche andere Forschungsreisende seiner Zeit, dass Reisen und Sammeln allein noch nicht notwendig zu vertieften theoretischen Einsichten führen. 5. Die Bedeutung von Robert Edmond Grant (1793-1874) In den letzten Jahren hat vor allem Desmond wiederholt auf die bislang unterschätzte Rolle von Robert Grant hingewiesen (Desmond 1984 a; 1984b; 1989; Desmond u. Moore 1992). Grant war in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts vor allem durch seine Untersuchungen an wirbellosen Meerestieren international bekannt geworden. Daneben galt er als liberaler oder gar revolutionärer Freidenker, der engen Kontakt mit den Forschern des Kontinents hielt. Vor allem mit Lamarck und Geoffroy St. Hilaire in Paris war er auch persönlich gut bekannt, und er vertrat deren Evolutionsvorstellungen in England (Rieppel 2001 a; 2001b). Der junge Medizinstudent Darwin hatte in den Jahren 1826 und 1827 engen Kontakt mit Robert Grant und arbeitete in Freiland und Labor ganz eng mit ihm zusammen. Nach eigenem Eingeständnis <?page no="52"?> Wolfgang Maier 52 von Charles Darwin (s.o.) habe ihn Grant in dieser Zeit mit dem evolutionistischen Denken bekannt gemacht, was jedoch bei ihm keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen habe. Immerhin räumte Darwin später im historischen Vorspann seines Werkes Entstehung der Arten explizit Folgendes ein: „Im Jahre 1826 sprach sich Prof. Grant im Schlußabsatz seiner bekannten Schrift über Spongilla (Edinb. Philosophical Journal, Bd. XIV) klar dahin aus, daß nach seiner Meinung die Arten von anderen Arten abstammten und sich durch fortgesetzte Abänderungen vervollkommnet hätten.“ (Darwin 1963, 15) Wörtlich heißt es in dieser damals viel beachteten Artikelserie über die Schwämme (Porifera) des Süß- und Salzwassers im Allgemeinen und über Spongilla im Besonderen: „From this greater simplicity of structure, we are forced to consider it as more ancient than the marine sponges, and most probably their original parent; and, as its descendants have greatly improved their organization, during the many changes that have taken place in the composition of the ocean, while spongilla living constantly in the same unaltered medium, has retained its primitive simplicity, it is highly probable, that the vast abyss in which the spongilla originated and left its progeny, was fresh, and has gradually become saline, by the materials brought into the river [...]. The great looseness and softness of its texture obscurely indicate the unpeopled state of the waters of the globe [...] at the period of the first formation of this zoophyte.“ (Grant 1826, 283f.) Die wissenschaftlich sicherlich überholte Gültigkeit dieser Auffassung muss an dieser Stelle nicht kritisch diskutiert werden. Jedoch kommt in dieser Textpassage ein erstaunlich komplexes und ökologisch grundiertes Evolutionsszenario Lamarck‘scher Prägung zum Ausdruck, das bei den Teilnehmern der ‚Wernerian lectures‘ (an denen zeitweilig auch Charles Darwin teilnahm), denen dieses Konzept erstmals präsentiert wurde, einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben dürfte. Es scheint die Vermutung plausibel, dass die lamarckistischen Ideen Grants als Denkmuster bei Darwin unbewusst stärker weiterwirkten, als er sich später eingestehen konnte und wollte. Allerdings ist einzuräumen, dass die Evolutionsvorstellung von Lamarck und Grant nicht an ein sehr differenziertes Konzept des Artwandels geknüpft war, geschweige denn, dass ein präziser Mechanismus für die Transmutation der Spezies vorgeschlagen worden wäre (Mayr 1976). Es existierten freilich bereits zur damaligen Zeit recht modern klingende Artkonzepte. So schrieb G. Cuvier bereits 1816 in seinem Règne animal: „Da die Zeugung das einzige Mittel ist, die Grenzen kennen zu lernen, bis wohin sich die Varietäten ausdehnen, so muß man die Species so definiren: der Verein aller Individuen, welche von einander, oder von gemeinschaftlichen Älteren, oder von denen entsprungen sind, die ihnen so sehr gleichen, als sie <?page no="53"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 53 sich selbst. Allein, so streng auch diese Definition ist, so zeigt sich doch, daß ihre Anwendung auf bestimmte Individuen sehr schwierig werden kann, wenn es an den nöthigen Erfahrungen gebricht“ (Cuvier [1816] 1831, 11). Viel genauer kann man in praktisch-systematischer Hinsicht auch heute das Artkonzept noch nicht umreißen (Willmann 1985; Maier 2008). 6. Weltreise und Geologie Eine auffallend große Bedeutung gewann für Darwin die Beschäftigung mit der Geologie (Gould 1992; Herbert 2005). In seiner später veröffentlichten Reisebeschreibung nimmt die Schilderung geologischer Verhältnisse einen breiteren Raum ein als alles andere. Er sammelte zwar eifrig Mineralien, Pflanzen, Tiere und Fossilien, aber dieses Material wurde während der Reise im Wesentlichen nur provisorisch katalogisiert und konserviert; die Auswertung dieses Materials musste zwangsläufig auf die Zeit nach seiner Rückkehr vertagt werden. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit wurden diese Sammlungsobjekte nach England verschickt. Dagegen konnten - und mussten - geologische Gegebenheiten direkt vor Ort geklärt werden; hierbei waren im relativ unerforschten Südamerika unentwegt neue Entdeckungen zu machen und Darwin widmete sich dieser Aufgabe mit großer Faszination. Auch nach seiner Rückkehr waren nahezu alle Originalarbeiten Darwins geologischer Natur, und seine wissenschaftliche Reputation beruhte zunächst ausschließlich auf diesen Veröffentlichungen. Für die methodisch anspruchsvolle Bearbeitung der Organismen fühlte er sich nicht kompetent und er übergab sein Material an verschiedene Spezialisten (siehe unten). Die Dauer der Reise der Beagle war ursprünglich auf etwa zwei Jahre angesetzt gewesen - daraus wurden nahezu fünf Jahre. Allein die Vermessungen entlang der Ostküste Südamerikas dauerten schließlich bis zum Juni 1834. Abb. 1 Darwins Weltumsegelung mit der ‚Beagle‘ vom 2.12.1831 bis zum 29.19.1836. (Modifiziert nach Neffe 2008 in GEO) <?page no="54"?> Wolfgang Maier 54 Dieser lange Aufenthalt bot Darwin vielfach Gelegenheit, tage- und wochenlang an Land zu arbeiten. Dies kam insbesondere seinen geologischen und paläontologischen Untersuchungen zugute. Vor allem in seiner Autobiographie hob er die Bedeutung der geologischen Forschungen explizit hervor, während diese in seinem Hauptwerk (Darwin [1859] 1964) eher eine nachgeordnete Rolle spielen: „Viel wichtiger noch war die Erforschung der geologischen Formationen aller Orte, die wir anliefen, denn dabei kam es auf logisches Denken an [...]. Wenn man aber die Schichtungsverläufe, die Beschaffenheit des Gesteins und der Fossilien an vielen Punkten registriert [...] dann dämmert bald Licht über dem Untersuchungsgebiet, und die Struktur des Ganzen klärt sich mehr oder weniger. Ich hatte mir den ersten Band von Lyells Principles of Geology mitgebracht und las aufmerksam darin; und dieses Buch leistete mir in vielfacher Weise denkbar gute Dienste“ (Darwin 1993, 82). Insbesondere die relativ jungen Küstensedimente mit ihrer Kombination von marinen und terrestrischen Fossilien gaben ihm viel zu denken. Bei den Letzteren handelte es sich zum Teil um jüngst ausgestorbene Landwirbeltiergruppen, zum Teil gab es ganz enge systematische Beziehungen zur heutigen Fauna. Die marinen Sedimente wiesen außerdem auf vielfache Hebungen und Senkungen des Meeresspiegels oder der Erdkruste hin. Da er zum Beispiel in den Anden selbst in 2300 m Höhe fossile Muschelbänke antraf, ergab sich als zwingende Folgerung die Annahme einer sehr dynamischen Prozesshaftigkeit grandiosen Ausmaßes. Insgesamt fand er die Auffassungen von Lyell ([1831] 1997) in nahezu jeder Hinsicht bestätigt - nur in Bezug auf die Entstehung der Korallenriffe entwickelte er eine eigene, bis heute anerkannte Theorie. Exkurs: Korallenriffe Aus Darwins geologischen Arbeiten soll hier nur seine Theorie der Korallenriffe vorgestellt werden. Darwin hatte diese Theorie bereits während des Aufenthalts in Chile entwickelt, vor allem unter dem Eindruck der enormen Hebungs- und Senkungsvorgänge der Erdkruste - sie entstand also rein theoretisch, bevor er überhaupt ein Riff gesehen hatte! Im Grunde ist die Theorie eine Widerlegung der Auffassungen von Lyell, der Riff-Atolle als Aufwuchs unterseeischer Kraterränder deutete. Darwin postulierte dagegen eine langsame Absenkung der Meeresböden und ehemals herausragender Vulkankegel, wobei sich eine Sukzession von Saum-Riff - Barriere-Riff - Atoll ergab. Erst später verifizierte er seine Theorie während der Fahrt der Beagle durch die Südsee und den Indischen Ozean, hier vor allem bei den Malediven. Diese Theorie hat im Wesentlichen bis heute Bestand und wurde auch durch umfangreiche Tiefbohrungen in Südsee-Atollen bestätigt (etwa zur <?page no="55"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 55 Abb. 2 Zwei Schemazeichnungen aus Darwins ‚Reise um die Welt‘, in denen die Entstehung von Korallenriffen verdeutlicht wird (Darwin 1899a). Im oberen Bild ist ein frühes Stadium gezeigt, in dem sich in der Uferzone eines Meeresvulkans ein Saumriff (AB) gebildet hat; wenn der Meeresspiegel ansteigt oder der Meeresboden absinkt, wächst das Korallenriff, das mit seiner Oberfläche immer am lichtdurchfluteten Meeresspiegel verbleiben muss (Korallenwachstum vor allem mittels Photosynthese symbiotischer Einzeller der Gattung Symbio-dinium), auf das neue Niveau A’B’; hier bildet sich über dem breiten Riffsockel in der Regel eine ringförmig Lagune aus (C). Unteres Bild: Wenn vom vorigen Stadium ausgehend der Vulkankegel durch Überflutung oder durch Abtauchen unter den Seespiegel sinkt, wird der ganze Bergkegel vom Riff überwachsen und es bildet sich ein Ringatoll (A’’B’’) mit Zentrallagune (C’). In der Südsee und im Indischen Ozean finden sich sämtliche Übergangsstadien in großer Zahl. Bohrungen haben ergeben, dass unter einer Lagune immer ein Vulkankegel zu finden ist - oft in mehreren hundert Metern Tiefe. Vorbereitung von Atom- und Wasserstoffbomben-Explosionen im Bikini- Atoll). Da Korallen sich in der Hauptsache durch ihre photoautotrophen Endosymbionten ernähren, wachsen sie vorzugsweise in den durchsonnten oberen Wasserschichten, wobei sie mehrere Zentimeter pro Jahr zulegen können (Schumacher 1991). Darwin konnte naturgemäß noch nichts von den beachtlichen Veränderungen des Meeresspiegels während der Eiszeit wissen; so muss der rasche Anstieg des Meeresspiegels um ca. 150 m nach der letzten Eiszeit, also in weniger als 15.000 Jahren, für das Riff-Wachstum tiefgreifende Konsequenzen gehabt haben; umgekehrt ließen Senkungen während der Vereisungsphasen des Pleistozäns die Korallenbänke bis weit hinab trocken fallen. Korallenriffe haben infolge dieser Umstände einen außerordentlich komplexen Aufbau (Wood 1999). <?page no="56"?> Wolfgang Maier 56 7. Darwin und die geologische Zeitdimension In seinen frühen Niederschriften (Darwin 1842 u. 1844 in Darwin [1909] 1986) lässt sich feststellen, dass ihm schon damals bewusst war, dass seine Transmutations-Theorie nur bei Zugrundelegung sehr langer Zeiträume Sinn machte. Bereits in seinem Sketch von 1842 stellte er fest: „Our theory requires a very gradual introduction of new forms […]“ (Darwin 1842 in Darwin [1909] 1986, 18). Welche Bedeutung die Zeitvorstellungen später für Darwin besaßen, geht aus folgender Passage hervor: „The belief that species were immutable productions was almost unavoidable as long as the history of the world was thought to be of short duration; and now that we have acquired some idea of the lapse of time [...] (but) the mind cannot possibly grasp the full meaning of the term of a hundred million years; it cannot add up and perceive the full effects of many slight variations, accumulated during an almost infinite number of generations.“ (Darwin [1859] 1964, 481) Darwin reflektierte in seinem Origin of Species (1859) zwar den Aspekt der Geologie und der absoluten Zeitdimension in zwei eigenen Kapiteln, aber angesichts der damaligen Unsicherheit in diesen Fragen blieb er sehr zurückhaltend und allgemein. In Bezug auf die Geologie schrieb er: „It is hardly possible for me even to recall to the reader, who may not be a practical geologist, the facts leading the mind feebly to comprehend the lapse of time. He who can read Sir Charles Lyell’s grand work on the Principles of Geology, which the future historian will recognise as having produced a revolution in natural science, yet does not admit how incomprehensibly vast have been the past periods of time, may at once close this volume.“ (Darwin [1859] 1964, 282) Interessanterweise verweist er darauf, dass nicht allein das Studium der Literatur, sondern nur jahrelange praktische Erfahrung im Freiland in die Lage versetze, die monumentalen geologischen Prozesse und die dafür notwendige Zeitdimension zu begreifen. Er unternimmt es gleichwohl, das Problem zu verdeutlichen und postuliert für das Phanerozoikum (Zeit seit Beginn des Kambriums) unter Bezug auf mehrere geologische Autoren mehr als 60 Millionen Jahre. Vom angesehenen Geologen Ramsay ließ er sich die maximalen Schichtmächtigkeiten der phanerozoischen Sedimente in Großbritannien zusammenstellen und kam auf 72.584 Fuß (ca. 25.000 m); zudem weist er auf Schichtlücken, regionale Unterschiede, Erosionsvorgänge und dergleichen hin, die diese Angabe eher als Minimalwert erscheinen lassen: „The consideration of these facts impresses my mind almost in the same manner as does the vain endeavour to grapple with the idea of eternity“ (Darwin [1859] 1964, 285). Auf jeden Fall hatte er damit die Gewissheit gewonnen, einen hinreichend großen Zeitrahmen für den Ablauf der postulierten Transmutations- oder Evolutionsprozesse zur <?page no="57"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 57 Abb. 3 Aktuelle Geochronologie, die von der ‚Geological Society of America‘ in das Internet gestellt wird. Die wichtigsten Benennungen der verschiedenen Perioden und ihrer Unterteilungen sind eingetragen, wobei die jeweiligen Grenzen mit absoluten Zeitangaben versehen sind. Für das Mesozoikum und das Känozoikum ist auch die wechselnde Polarität des Magnetfelds der Erde angegeben, dessen Muster ebenfalls eine wichtige Datierungshilfe darstellt. Man beachte, dass die vier Säulen nur in sich richtig proportioniert sind. Die rechte Säule gibt jedoch die richtigen Relationen der verschiedenen Erdzeitalter in Relation zum Gesamtalter der Erde von ca. 4,6 Mrd. Jahren an. Daraus wird vor allem die relative Kürze des gesamten Phanerozoikums deutlich, also des Erdabschnitts, aus dem die heutigen Vielzeller belegt sind. (The Geological Society of America, 1999) <?page no="58"?> Wolfgang Maier 58 Verfügung zu haben und mehr war zu seiner Zeit nicht möglich. Im Übrigen machte er scharfsinnig plausibel, weshalb die Paläontologie nur eine äußerst lückenhafte Dokumentation der postulierten Stammesgeschichte der Organismen liefern kann. Dalrymple (2004) hat verschiedene historische Altersangaben tabellarisch zusammengestellt und gezeigt, dass die durch indirekte Abschätzungen gewonnenen Werte bis etwa 1920 außerordentlich schwankten - und aus heutiger Sicht generell viel zu niedrig angesetzt waren. Erst mit Entwicklung der radiometrischen Verfahren der absoluten Altersbestimmung kam Stabilität in die Angaben und die heute bekannten Datierungen sind sukzessive erarbeitet worden. Bei diesen radiometrischen Messungen werden instabile Isotope (Nuklide) in der Regel aus Mineralien vulkanischer Gesteine gewonnen; diese Nuklide zerfallen statistisch mit einer empirisch gewonnenen Halbwertszeit nach folgender Formel: = 1 × ln (1 + ) (t = absolute Zeit; = Zerfallskonstante; ln = natürlicher Logarithmus; D = Tochternuklid; P = Ausgangsnuklid) Mit diesem physikalischen Verfahren lässt sich das absolute Alter des Gesteins unter günstigen Umständen sehr genau messen und errechnen. Nach Möglichkeit werden aus einem Vulkangestein verschiedene Nuklide bearbeitet, um Fehlerquellen auszugleichen (Rüger 1943; Dalrymple 2004). Im Laufe der Jahre hat sich mittels dieser Methoden eine sehr zuverlässige Geochronologie entwickelt, die den Zeitrahmen für die Bewertung evolutiver Prozesse abgibt. 3 8. Galapagos-Inseln Zwar hat dieses kleine vulkanische Archipel 1.000 km vor der Küste Ecuadors im Pazifik in der Evolutionstheorie zentrale Bedeutung gewonnen, aber Darwin war die Wichtigkeit dieser Inseln während seines vergleichsweise kurzen Aufenthalts (15.9. - 20.10.1835) zunächst keineswegs klar gewesen (Darwin 1899a). Er sammelte dort relativ wenig Material - sehr zu seiner späteren Verärgerung. Vor allem von den später so bedeutsamen und nach ihm benannten Finken sammelte er lediglich 31 Exemplare, und er versäumte sogar, 3 Mittlerweile hat das Problem der absoluten Zeit auch in der zeitgenössischen Philosophie seinen Niederschlag gefunden: Marquard (1994), Blumenberg (2001), Koselleck (2003) um nur ganz wenige zu nennen. Odo Marquard (1994) spricht von der „unfasslich riesigen Weltzeit“ (Marquard 1994, 45) und fasst die Historisierung und die Verzeitlichung ganz allgemein als Kompensation der Beschleunigung aller gesellschaftlichen Prozesse seit etwa 1750 auf. <?page no="59"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 59 deren genaue Herkunftsorte zu notieren. Die bei oberflächlicher Inspektion sehr verschiedenartig und unspektakulär aussehenden Vögel wurden von ihm provisorisch sehr unterschiedlichen Singvogelgruppen zugeordnet; lediglich den vier Spottdrosselarten (Gattung Nesomimus), die von zwei verschiedenen Inseln stammten, wandte er mehr Aufmerksamkeit zu. Auch den unterschiedlichen Inselvarietäten der endemischen Schildkröten (Chelonoides elephantopus) und der Leguane (Conolophus und Amblyrhynchus) schenkte er zunächst nicht die nötige Beachtung (Weiner 1994). Nach seiner Rückkehr verteilte er zunächst sein übriges Tiermaterial zur Bearbeitung an verschiedene Spezialisten (Owen, Waterhouse, Bell, Jenyns, Walker, Newman, White), und er forcierte mit Hartnäckigkeit die Publikation der Ergebnisse. Die gesammelten Pflanzen gingen in umfassendere Untersuchungen von Hooker, Henslow und Berkeley ein. In kritischer Selbsteinschätzung war ihm immer klar gewesen, dass einzelne Teilgruppen den jeweiligen Spezialisten anvertraut werden mussten: „Eine andere Aufgabe auf der Reise bestand im Sammeln von Lebewesen aller Klassen [...]; weil ich aber nicht zeichnen kann und nicht genügend Anatomie- Kenntnisse habe, erwies sich leider ein ganzer Stapel meiner Reisenotizen als fast unbrauchbar.“ (Darwin 1993, 82) Er selbst beteiligte sich lediglich an der Veröffentlichung der ornithologischen Ergebnisse der Galapagos-Inseln, da der Erstautor Gould in der Zwischenzeit nach Australien abgereist war; dieser Beitrag lag ihm auch besonders am Herzen, weil ihm mittlerweile die Bedeutung der Galapagos-Fauna für seine Theorie bewusst geworden war: Als er nämlich die Vogelbälge aus Galapagos nach seiner Rückkehr im Winter 1836/ 37 dem Ornithologen John Gould vom Naturkundemuseum in London zur Bearbeitung übergeben hatte, stellte sich rasch heraus, dass es sich um 13 verschiedene Arten von nah verwandten Finken handelte, die in eine neue Gattung Geospiza (mit 3 Untergattungen) zu stellen waren. Hier erst wurde Darwin deutlich, welch einzigartigen Schatz er mitgebracht hatte, und er versuchte mühsam - unter Verwendung weiterer Bälge, die von Mitreisenden gesammelt worden waren -, eine Zuordnung der Arten zu den einzelnen Inseln zu rekonstruieren. Wenig später notierte er dann 1837 in seinem Tagebuch: „Had been greatly struck from about Month of previous March on character of S. American fossils- & species on Galapagos Archipelago. These facts origin (especially latter) of all my views“ (Darwin 1959, 7). Hier nahm die Deszendenztheorie konkrete Gestalt an, weil sich die Vorstellung aufdrängte, dass vor langer Zeit eine Stammart vom Festland auf den Archipel verschlagen worden sein konnte, die sich dann auf den verschiedenen Inseln in eigenständige Arten differenzierte. (Die bis heute durchgeführten Forschungen auf den Galapagos-Inseln haben zwar erwiesen, dass die Speziationsprozesse der Darwin-Finken wesentlich komplizierter sind, als damals angenommen, aber für die Theoriebildung Darwins war die prinzipiell richtige Grundannahme bahnbrechend (Lack [1947] 1983; Grant 1999). <?page no="60"?> Wolfgang Maier 60 Von seinen zoologischen Objekten wollte Darwin selbst eigentlich nur einen winzigen, bis dahin unbekannten und offenbar parasitären Cirripedier (Rankenfußkrebse, Seepocken) neu beschreiben. Auf Drängen von Freunden weitete er in den späten 40er Jahren widerwillig die Beschreibung von Arthrobalanus (heute Cryptophialus) zu einer mehr als 1.000 Seiten umfassenden monographischen Revision dieser Gruppe aus, die erst zwischen 1851 und 1854 veröffentlicht werden konnte. Erklärte Absicht dieser Revision war es, sich damit eine Legitimation als Zoologe zu verschaffen, was ihm auch gelang und was bis heute als zoologische Pionierleistung anerkannt wird. Weiterhin vermittelten ihm diese langjährigen Untersuchungen an den Cirripedien wertvolle Erfahrungen in Praxis und Methodik der Morphologie und Systematik. Allerdings hat er in dieser Monographie seine insgeheim längst fertige Theorie sorgfältig zu verbergen gewusst. Abb. 4 Köpfe von vier der insgesamt dreizehn Arten der Darwinfinken (Gattung Geospiza) vom Galapagos-Archipel, die Darwin in der 2.Auflage seines Reiseberichts abbildete: 1. Großer Bodenfink; 2. Mittlerer Bodenfink; 3. Kleiner Baumfink; 4. Laubsängerfink. (Zeichnung: John Gould, Wikimedia Commons) <?page no="61"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 61 Abb. 5 Stammbaum-Skizze aus Darwins Notizbuch B von 1837, der die angenommenen genealogischen Beziehungen der dreizehn Galapagosfinken-Arten zugrunde liegen; die blind endigenden Äste sollen mutmaßlich ausgestorbene Arten repräsentieren. (Skizze: Charles Darwin, Wikimedia Commons) Abb. 6 Neueres Stammbaumschema der Darwinfinken nach Lack ([1947] 1983). Mit freundlicher Genehmigung der Erben Lacks. <?page no="62"?> Wolfgang Maier 62 9. Rückkehr nach England und die Genesis der Theorie Als Charles Darwin Ende Oktober wieder nach England zurückgekehrt war, wurde der inzwischen berühmte Weltumsegler während der Wintersaison 1836/ 37 die Attraktion der Londoner Salons und Parties (Desmond u. Moore 1992). Gleichzeitig wirkte in ihm die Überfülle an Eindrücken und halbfertigen Ideen nach, die theoretisch verarbeitet werden mussten. Huxley und der Sohn Francis Darwin führten noch 1909 eine Debatte darüber, wie weit seine Haupttheorie zum Zeitpunkt seiner Rückkehr im Kopf ausgereift war. Vor allem seine Notebooks scheinen jedoch eindeutig zu belegen, dass im Winter 1836/ 37 noch alles im Fluss war und dass sich erst im Frühjahr 1837 Ansätze seiner Theorie herauskristallisierten (Barrett et al. 1987). In den lebhaften Debatten der privaten und professionellen Zirkel der Hauptstadt war interessanterweise der Evolutionsgedanke eines der Hauptthemen - was Darwins Theoriebildung sicherlich sehr befördert hat (Desmond u. Moore 1992). Insbesondere standen sich in einem auch politisch aufgeheizten Streitklima zwei Positionen gegenüber: Evolutionisten und Anti- Evolutionisten. Es zeigte sich, dass nahezu alle etablierten Vertreter der Wissenschaften Anhänger des orthodoxen Anti-Evolutionismus und der anglikanischen Physikotheologie waren. Dagegen wurden die Evolutionisten den liberalen Whigs sowie - horribile dictu - den Materialisten, Atheisten und politischen Aufrührern zugerechnet. Eine wichtige Rolle als Ideengeber spielte dabei Robert Grant, der seit 1828 am Londoner University-College den Lehrstuhl für Zoologie und Vergleichende Anatomie inne hatte, aber in der Zwischenzeit von seinen orthodoxen und konservativen Kollegen längst in eine soziale und wissenschaftliche Außenseiterrolle abgedrängt worden war. Darwin stand nun vor einem großen persönlichen Dilemma: Einerseits fand er äußerst wohlwollende Anerkennung und Förderung durch die dominierenden, aber konservativen Größen der Wissenschaft; andererseits kristallisierte sich seit dem Frühjahr 1837 in seinem Kopf mit zunehmender Klarheit seine Evolutionstheorie heraus, mit der alle seine vielfältigen Erfahrungen zu einer schlüssigen und eleganten Synthese gebracht werden konnten. Es war ihm sofort klar, dass er mit seiner radikalen Theorie in der herrschenden Wissenschaftsgesellschaft einer irreversiblen Ächtung verfallen und sich alle beruflichen Perspektiven verbauen würde; aber auch seiner inneren Überzeugung nach wollte er keinesfalls den politisch und gesellschaftlich stigmatisierten Evolutionisten zugerechnet werden. So blieb nur die Lösung, seine Theorien mit äußerster Diskretion insgeheim weiter zu entwickeln - was er dann auch 20 Jahre lang tat. Es ist eine häufig vertretene These, dass seine nun einsetzenden chronischen Leibbeschwerden als psychosomatische Reaktion auf den geschilderten Konflikt gedeutet werden können. Darwin fixierte 1842 und 1844 seine Theorie in handschriftlichen Kurzfassungen, die er in versiegelten Kuverts ablegte; beide wurden erst lange nach seinem Tod 1909 veröffentlicht (Darwin [1909] 1986). Beide Manuskripte <?page no="63"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 63 belegen eindeutig, dass seine Theorie in den wesentlichen Punkten zu Anfang der 40er Jahre fertig ausgebildet war. Die knapp zwei Jahrzehnte bis zur Publikation seines Hauptwerks On the Origin of Species (1859) dienten vor allem der Ausarbeitung, Begründung und Verfeinerung der theoretischen Grundkonzeption. Nur wenige Freunde, wie zum Beispiel Henslow und Hooker, wussten von der Existenz der provisorischen Fassungen seiner Theorie. Gelegentlich testete Darwin einzelne Elemente seiner Theorie in Korrespondenz mit Kollegen. Besonders aufschlussreich (und wenig beachtet) ist meines Erachtens der Versuch einer fachlichen Kommunikation mit George Waterhouse, dem Kurator für Mammalogie am Britischen Museum und Bearbeiter der Säugetiersammlung seiner Weltreise. Darwin schrieb ihm am 26. Juli 1843 folgendes: „According to my opinion (which I give every one leave to hoot at, like I should have, six years since, hooted at them, for holding like views) classification consists in grouping beings according to the actual relationship, ie their consanguinity, or descent from common stocks - In this view all relations of analogy &c &c &, consist of those resemblances between two forms, which they do not owe to having inherited it, from a common stock. - To me, of course, the difficulty of ascertaining true relationship ie a natural classification remains just the same, though I know what I am looking for.“ (Darwin 1843 in Burkhardt u. Smith 1986, 375f.) Am 31. Juli fasste er noch einmal nach: „[...] all rules for a natural classification are futile until you can clearly explain, what you are aiming at“ (Darwin 1843 in Burkhardt u. Smith 1986, 377). Ganz offenkundig verstand Waterhouse nicht, dass Darwin als Erkenntnisziel einer natürlichen Klassifikation die Aufdeckung der genealogischen Zusammenhänge meinte und dass sie diese reflektieren sollten, denn am 2. August 1843 antwortete er ganz verständnislos und in zeitgemäßer typologischer Denkhaltung: „That species of animals belonging to the same genus may have an affinity to each other; genera of the same family may have a mutual affinity; relationship of affinity may likewise exist between orders of the same class, but the degree of affinity is different in the different cases.“ (Waterhouse 1843 in Burkhardt u. Smith 1986, 379) Und eine Woche später bekräftigt er dies noch einmal: „‘Relationship‘- by relationship I merely mean resemblance -“ (Waterhouse 1843 in Burkhardt u. Smith 1986, 381). Darwin scheint es danach resigniert aufgegeben zu haben, Waterhouse von seiner Sichtweise zu überzeugen. 10. Darwins Evolutionstheorie Die Evolutionstheorie in der neuen Version von Charles Darwin ist so häufig dargestellt worden, dass hier eine ganz knappe Rekapitulation genügen kann. <?page no="64"?> Wolfgang Maier 64 Im Grunde hat er sein gesamtes Konzept im programmatischen Titel seines Hauptwerks von 1859: On the Origin of Species by means of natural selection, or the preservation of favoured races in the struggle for life zusammengedrängt formuliert. Freilich sind damit eigentlich nur die Selektionstheorie und die Mikroevolution bezeichnet. Im Text hat er jedoch seine Theorie wiederholt weiter gefasst charakterisiert als „theory of descent with modification through natural selection“ (Darwin [1859] 1964, 459, Hervorh. von W. Maier; vgl. auch 443). Daraus wird deutlich, dass die Theorie eigentlich aus zwei Hauptkomponenten besteht: 1. Deszendenztheorem (Abstammungstheorie) : Es erklärt, dass die abgestufte natürliche Verwandtschaft der Organismen (Systema naturae) Ausdruck unterschiedlich alter genealogischer Beziehungen der Arten ist. Neue Arten und Stammeslinien entstehen durch Aufspaltung bestehender Arten, die als veränderlich (variabel) angesehen werden. Im ersten Notizbuch von 1837 hat Darwin seine ersten neuartigen Stammbaumschemata skizziert (Barrett et al. 1987, Abb. S. 180). Auch in Origin of Species illustrierte er die evolutive Entstehung der Artenvielfalt anhand eines generalisierten Stammbaumschemas (Darwin [1859] 1964, 165). Die eigentliche theoretische Sprengkraft des Deszendenztheorems besteht darin, dass nach ihm alle Lebewesen genealogisch zusammenhängen. In letzter Konsequenz ist darin auch die Frage nach dem Ursprung des Lebens (Biogenese) einerseits und nach der Herkunft des Menschen (Anthropogenese) andererseits enthalten. In seinem Hauptwerk nimmt er auf diese Grundfragen nur ganz verschlüsselt Bezug: Der letzte Satz seines Werks klingt geradezu poetisch: „There is grandeur in this view of life, with its several powers, having been originally breathed into a few forms or into one“ (Darwin [1859] 1964, 490), und schon davor hatte er seine bekannte Formulierung eingeflochten: „Light will be thrown on the origin of man and his history.“ (Darwin [1859] 1964, 488) Obwohl sich Darwin in seinem Hauptwerk hinsichtlich dieser Aspekte, deren Tragweite ihm sehr wohl bewusst war, vollkommen bedeckt hielt, versuchten seine Gegner die neue Theorie sofort zielsicher als ‚Affentheorie‘ zu desavouieren - zugegebenermaßen mit feinem Gespür für einen der ideologisch brisantesten Aspekte seiner Theorie. Darwin hatte zur anthropologischen Relevanz seiner Deszendenz-Theorie bereits in den Notebooks Material und Ideen gesammelt, die er dann 1871 in einem eigenen Buch über die Abstammung des Menschen veröffentlichte (Darwin 1871, zitiert n. Darwin 1883). Zum Problem des Ursprungs des Lebens konnte er sich naturgemäß zu seiner Zeit <?page no="65"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 65 nicht näher äußern, da weder die chemischen noch die mikrobiologischen Grundlagen dafür vorhanden waren. 4 Evolutive Prozesse können wegen ihrer Langsamkeit und absoluten Zeitdauer nicht direkt beobachtet werden; sie müssen vielmehr durch systematischen Vergleich erschlossen und rekonstruiert werden. Die Methode der Homologieforschung wurde intuitiv bereits von der ‚Natürlichen Systematik‘ des 18. Jahrhunderts angewendet und schlug sich in deren Klassifikationen nieder (Linné [1758] 1956). Darwin und dann vor allem Ernst Haeckel ([1866] 1906, 1895, 1910) haben in ihren ersten Stammbäumen (der Name Phylogenie stammt von Haeckel) lediglich das ‚Natürliche System‘ genealogisch umgedeutet. Erst Hennig (1950, 1982), Wägele (2000) und viele andere haben dann die Methode des phylogenetischen Rekonstruierens in ihrer heutigen Form ausgearbeitet. 5 Komplexe Befunde der Wechselbeziehung zwischen ontogenetischer Anpassung und evolutiver Transformation können schließlich in einem evolutiven Szenario zur Synthese gebracht werden (Maier 1999, 2008). Auch die Frage nach der Entstehung des Lebens aus anorganischer Materie ist bis heute Gegenstand aktiver Forschung. Nachdem es bereits Oparin in den 20er Jahren (Oparin 1968) sowie Miller in den 50er Jahren (Miller u. Orgel 1974) gelungen war, im Laborexperiment einfachere organische Bausteine des Protoplasmas herzustellen, sind entsprechende Experimente viel- 4 Darwin hatte sich spekulativ aber sehr wohl mit der Frage der Entstehung des Lebens beschäftigt: „It is often said that all the conditions for the first production of a living organism are now present, which could ever have been present. But if (and oh! what a big if! ) we could conceive in some warm little pond, with all sorts of ammonia and phosphoric salts, light, heat, electricity, &c., present, that a proteine compound was chemically formed ready to undergo still more complex changes, at the present day such matter would be instantly devoured or absorbed, which would not have been the case before living creatures were formed“ (Darwin 1871 in Darwin 1887, 18). 5 In seiner kritischen Rezension kommentiert Kant auch die Scala naturae- Vorstellungen, die sich bei Herder in Anschluss an ältere Autoren finden. Dabei stellt er selbst Überlegungen an, die gedanklich weit in die Zukunft weisen, aber offenkundig von den Naturforschern nicht rezipiert wurden: Die Kleinheit der Unterschiede in der Stufenleiter der Organisationen sei in gewisser Weise tautologisch, denn ihre abgestufte Ähnlichkeit und Mannigfaltigkeit „ist eine notwendige Folge eben dieser Mannigfaltigkeit. Nur eine Verwandtschaft unter ihnen, da entweder eine Gattung aus der andern, und alle aus einer einzigen Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden Mutterschooße entsprungen wären, würde auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt [...]“ (Kant [1784] 1964, 792). Auch H.G. Bronn, der erste Übersetzer von Darwins Hauptwerk, diskutierte in seinem Handbuch einer Geschichte der Natur (1841) ausführlich das Problem des Artenwandels, kam aber resignierend zum Ergebnis, dass die damals verfügbaren Tatsachen noch nicht zu einer Beantwortung dieser Frage ausreichten (Schumacher 1975). <?page no="66"?> Wolfgang Maier 66 fach weiter verfeinert oder modifiziert worden (Wächtershäuser 2008). In 3,8 Milliarden Jahre alten Sedimentgesteinen sind erste Spuren organischer Materie nachgewiesen worden. Kaplan (1977) fasste die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse zusammen. Neuere Übersichten über diese Thematik finden sich bei De Duve (1994), Nisbet u. Sleep (2001) und Rauchfuß (2005). Unbeschadet kontroverser Auffassungen in Details ist festzuhalten, dass modellhaft der Übergang von anorganischer zu organischer Materie prinzipiell vorstellbar ist. Insgesamt haben sich in den letzten Jahren die Fossilfunde aus dem Grenzbereich des Präkambriums zum Kambrium, also aus einer Zeit vor etwa 550-600 Millionen Jahren, sehr vermehrt (Conway-Morris 1998; McMenamin 1998; Seilacher 2008). Andererseits erlebt die Paläoanthropologie in den letzten Dezennien eine ungeahnte Blüte. Vor allem im südlichen und östlichen Afrika wurden tausende Fossilreste menschlicher Vorfahren entdeckt, welche die letzten 15 Millionen Jahre der menschlichen Evolution gut dokumentieren. Danach ist geklärt, dass die menschlichen Vorläufer vor etwa 5 Millionen Jahren den aufrechten Gang erwarben (White et al. 2009), dass vor etwa 2,5 Millionen Jahren die ersten lithischen Artefaktkulturen nachweisbar sind (Semaw et al. 1997) und dass sich seit etwa 2 Millionen Jahren das Hirnvolumen um das Dreifache (von 400 cm 3 auf 1350 cm 3 ) vermehrt hat (Maier 2006); nach dem momentanen Kenntnisstand war der moderne Homo sapiens vor etwa 200.000 Jahren anatomisch fertig (White et al. 2003). Anstelle einer Fülle wissenschaftlicher Spezialartikel und populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen sollen hier lediglich folgende Übersichtswerke genannt werden: Henke u. Rothe (1994), Hartwig (2002), Cela-Conde u. Ayala (2007) und Klein (2009). 2. Selektionstheorie (Theorie der natürlichen Auslese): Sie besagt, dass in jeder Generation aus einem Überschuss variabler Nachkommen die Bestangepassten (funktionelle Fitness) eine erhöhte Chance zum Überleben und zur Fortpflanzung besitzen (reproduktive Fitness). Dieser natürliche Ausleseprozess wird in einer gewissen Analogie zur künstlichen Auslese bei der Domestikationszüchtung von Pflanzen und Tieren gesehen. Durch permanente Anpassung an veränderte äußere und innere Lebensbedingungen („conditions of life“) ergibt sich über viele Generationen und lange Zeiträume hinweg eine allmähliche Veränderung der Arten (Transmutation, Anagenese); der Adaptionismus von Paley findet quasi eine natürliche Erklärung. Auch die Artaufspaltung wird von Darwin als Ergebnis verschieden gerichteter Selektionsdrucke gedeutet. Seit den 30er Jahren kann das Spezialproblem der Artaufspaltung in Verbindung mit der Populationsgenetik und Biogeographie als im Wesentlichen geklärt gelten (Dobzhansky 1937; Mayr [1942] 1964, 1963; Willmann 1985); in vielen Einzelfragen wird allerdings höchst aktiv geforscht, ja man kann sagen, dass die Mikroevolution das ge- <?page no="67"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 67 genwärtig aktivste Forschungsfeld darstellt (Grant 1999). Man kann feststellen, dass sich die Grundgedanken der Selektionstheorie Darwins bislang glänzend bewährt haben, wenn auch in vielen Einzelfragen Erweiterungen und Differenzierungen vorgenommen wurden (Maynard Smith 1975; Stearns u. Hoekstra 2005; Futuyama 2007) (Abb. 7). Selektionsdruck Abb. 7 Graphische Darstellung evolutiver Prozesse unter dem Einfluss von Selektionskräften (nach Simpson 1951, Abb. 31). Die Arten sind als normalverteilte Populationen gedacht. Links oben ist die Aufspaltung einer Ausgangsart in zwei Tochterarten gezeigt, die sich in zwei adaptive Unterzonen hinein entwickeln (Speziation); nach neueren Vorstellungen wäre hierbei in der Regel noch geographische Isolation mit zeitweiliger genetischer Trennung (allopatrische Speziation) anzunehmen. Rechts oben wird die adaptive Veränderung (Anagenese) unter dem Einfluss eines gerichteten Selektionsdrucks verdeutlicht. Die untere Graphik zeigt den relativ raschen evolutiven Übergang von einer Anpassungszone in eine andere; derartige adaptive Übergänge dürften dem Modell des ‚punctuated equilibrium‘ (durchbrochenes Gleichgewicht) zugrunde liegen. Mit freundlicher Genehmigung des Muster-Schmidt Verlages. <?page no="68"?> Wolfgang Maier 68 Abschließend sei noch erwähnt, dass auch Psychologie und Soziologie durch die Berücksichtigung der Evolutionstheorie wesentlich bereichert worden sind. Aufbauend auf dem Pionierwerk von Darwin (1872) hat zunächst Konrad Lorenz (1943) zeigen können, dass bestimmte stereotype Verhaltenselemente wie körperliche Strukturen homologisiert und für phylogenetische Folgerungen verwertet werden können. Wesentliche Durchbrüche brachte dann die Soziobiologie (Wilson 1975), die in Ansätzen auch auf den Menschen übertragbar scheint (Voland 2000; Junker u. Paul 2009). 11. Generelle Relevanz der Deszendenztheorie Darwin äußerte sich in seinem Hauptwerk von 1859 außerordentlich zurückhaltend zu den theoretischen und weltanschaulichen Implikationen seiner Theorie. Dabei waren dem ausgebildeten Theologen diese Aspekte von Anfang an völlig bewusst, wie aus seinen Notizbüchern eindeutig hervorgeht. Zunächst einmal lieferte er eine Theorie, die eine Schöpfung zwar nicht ausschloss - aber diese musste nunmehr als überflüssige, redundante Zusatzhypothese erscheinen; das Prinzip der größtmöglichen Sparsamkeit und Einfachheit der Erklärung (‚Occam’s razor‘) galt ihm zu Recht als Ideal der modernen Naturwissenschaften. Dementsprechend löste diese ‚mechanistische‘ (naturalistische) Sicht auf die Entstehung des Lebens auch die heftigsten Abwehrreaktionen aus. Weltanschaulich sahen sich vor allem die Religionen in ihrem traditionellen Deutungsmonopol in Frage gestellt. Aber auch in der Biologie selbst gab es Widerstände und die Rezeption der Theorie erfolgte in den verschiedenen Ländern und Wissenschaftskulturen sehr unterschiedlich (Engels 1995; Engels u. Glick 2008): In Deutschland stieß vor allem der Zufallsaspekt der Selektionstheorie bei Biologen und Medizinern vielfach auf Unverständnis und Ablehnung (vgl. etwa F. Leydig 1864) 6 , weil es scheinbar 6 Insbesondere befasste sich der Tübinger Zoologe Franz Leydig in seinem unvollendeten Handbuch der vergleichenden Anatomie (1864) mit der Frage, ob die Tierbaupläne grundsätzlich getrennt werden müssen (Cuvier) oder doch ineinander überführt werden können. Hier sieht er in der Darwin’schen Deszendenztheorie eine Vermittlungsmöglichkeit: "Das große Verdienst Darwin’s besteht darin, dem Gedanken vom genealogischen Zusammenhang der jetzigen und früheren Thierwelt eine greifbare Form gegeben zu haben" (Leydig 1864, 6). "Die neue Lehre (steht) nicht im Widerspruch mit der Analogie (= funktionelle Angepasstheit; W.M.) in der allgemeinen Natur [...] Das Werk Darwin’s muss bei Jedem, der sich für die darin behandelten Fragen interessiert, einen tiefen Eindruck hinterlassen; auch ich kann mich der Ansicht nicht erwehren, dass der geistvolle englische Forscher in der Hauptsache Recht habe." (Leydig 1864, 7) Allerdings mag er sich das Zufallsmoment jener Theorie nicht zu Eigen machen: "Wir sind nun zwar, wie ich meine, kaum im Stande diesen uns abstoßenden, düsteren Punct der Darwin’schen Theorie zu widerlegen, aber andererseits fühlt doch wohl Jeder in sich wenigstens das Bedürfniss diesem Endergebniss nicht zuzu- <?page no="69"?> Darwins Weltreise mit HMS ‚Beagle‘ (1831-1836) 69 mit einem harmonisch-ganzheitlichen Organismuskonzept in Widerspruch zu stehen schien (Maier 1999). In der Tat ist die These der zufälligen Variation als Spielmaterial der natürlichen Selektion von Darwin insoweit missverständlich formuliert, als nicht hinreichend genug deutlich gemacht wird, dass das ‚richtungslose Variieren‘ selbstverständlich nicht beliebig, sondern immer nur im Rahmen der relativ engen Artnormen erfolgen kann. Das natürliche Variieren muss um das jeweilige Optimum der Art streuen, zu extrem ausgeprägte Varianten (Mutanten) sind nur begrenzt lebensfähig oder sogar letal; dadurch sind sie bei der Reproduktion benachteiligt, wenn sie überhaupt daran teilnehmen können. Mayr (1978, 1991) stellte die überragende Bedeutung der Evolutionstheorie Darwins mehrfach explizit heraus: • •• • die Welt insgesamt ist nicht statisch, sondern dynamisch veränderlich; • •• • insbesondere die Arten der Lebewesen verändern sich permanent, gehen ineinander über, oder sterben aus; ‚Naturgeschichte‘ wird zur ‚Geschichte der Natur‘ (Historismus s.l.); • •• • Arten werden als Populationen von Individuen gedacht, die sich nach statistischen Gesetzmäßigkeiten verhalten (‚population thinking‘); • •• • die evolutive Entwicklung der Organismen durch das Wechselspiel von zufälliger Variation und selektiver Notwendigkeit setzt an Stelle der aristotelischen Teleologie (Causa finalis) und der Physikotheologie ausschließlich den Wirkmechanismus (Causa efficiens); • •• • damit wird eine materialistische (naturalistische) Deutung der Naturphänomene als alleine hinreichend angesehen - supranaturalistische und essentialistische Erklärungen gelten fortan als redundant und als nicht falsifizierbar - und somit als unwissenschaftlich. Es ließe sich noch hinzufügen, dass Evolutionsbiologie und Phylogenetik große Strecken der 4,6 Milliarden währenden Existenz der Erde sozusagen mit Leben erfüllen; erst diese ‚Belebung‘ der Erdgeschichte macht die ungeheuerlichen Abgründe der Tiefenzeit für den Paläontologen und Evolutionsbiologen einigermaßen erfahrbar. Interessant ist weiterhin, dass Darwin während seiner Reise - aber auch später - immer wieder über seine Erkenntnismethodik nachdachte. Er war keineswegs nur Kompilator von Fakten wie manche andere Forschungsreisende, sondern er ist durch seine modern anmutende Neigung zum Spekulieren und Theoretisieren ausgezeichnet. So schrieb er 1859 an Hooker: stimmen. Der menschliche Geist fordert, dass das Werdende in der Natur bei aller Beeinflussung und Abänderung durch das schon Vorhandene denn doch im Grunde nach gewissen grossen feststehenden Principien sich gestalte" (Leydig 1864, 7) - was er damit genau meint, wird jedoch nicht näher erläutert. <?page no="70"?> Wolfgang Maier 70 „It is and old & firm conviction of mine, that the naturalists who accumulate facts & make many partial generalisations are the real benefactors of science. Those who merely accumulate facts, I cannot very much respect.“ (Darwin 1859 in Burkhardt u. Smith 1991, 441) Ähnlich äußerte er sich gegenüber Wallace: „I am a firm believer, that without speculation there is no good & original observation“ (Darwin 1857 in Burkhardt u. Smith 1990, 514). Obwohl er sich subjektiv als Vertreter des Bacon’schen Induktionismus verstand, folgte er in der Forschungspraxis vielfach einem Hypothetiko-Deduktionismus im Sinne von Popper (1968). Diese Feststellung gilt insbesondere auch für seine zentralen Evolutionstheoreme, die großteils erst post festum geprüft und untermauert worden sind - und sich auch aktuell weiter bewähren. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Evolutionstheorie von Charles Darwin sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrem Inhalt sehr viel komplexer ist, als es üblicherweise dargestellt wird; sie ist durchaus in geistesgeschichtliche Entwicklungen des frühen 19. Jahrhunderts eingebettet. In den Kernaussagen ist sie, wie viele bedeutende naturwissenschaftliche Theorien auch, wieder von frappierender Schlichtheit. Thomas Huxley soll nach der Lektüre des Origin of Species gesagt haben: "How stupid of me not to have thought of that“- aber die Genialität großer Geister besteht oft darin, in einem undurchdringlichen Geflecht scheinbar kontroverser Motive die zentralen Punkte zu erfassen und produktiv zu entfalten. Literatur Baer, C.E. v. 1828: Über Entwickelungsgeschichte der Thiere. 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Sommer Zusammenfassung Charles Darwin hat 1859 in seinem Hauptwerk The Origin of Species ein vielschichtiges, biologisches Gedankengebäude vorgelegt und darin mehrere unabhängige Evolutionstheorien entwickelt. Aus diesen Theorien Darwins sind mehrere unabhängige Forschungsansätze der Evolutionsbiologie hervorgegangen. War der Neo-Darwinismus der 1930er und 1940er Jahre noch von der Populationsgenetik geprägt, so sind in den letzten Jahrzehnten Forschungsansätze der Entwicklungsbiologie und der evolutionären Ökologie in den Mittelpunkt gerückt. Vor allem die moderne Entwicklungsbiologie mit ihrem enormen Erkenntnisgewinn der letzten 20 Jahre hat das Verständnis evolutionsbiologischer Zusammenhänge grundlegend erweitert. Die Entwicklungskontrollgene, die Gene, die die Entwicklung der Organismen steuern, sind im Tierreich hochkonserviert, von einfachen Nesseltieren über Fadenwürmer und Insekten bis zu den Säugern. Wie sich dennoch im Laufe der Evolution die uns bekannte hohe Artenvielfalt und Formenvielfalt herausbilden konnte, ist Gegenstand moderner Forschungsansätze der Evolutionsbiologie. Ziel zukünftiger Arbeiten muss dabei sein, die verschiedenen Forschungsansätze der Evolutionsbiologie miteinander zu verbinden. 1. Einleitung „Darwin was an inveterate theorizer and became the author of numerous evolutionary theories, some big, some small. He usually referred to his theories in the singular as „my theory“ and treated the non-constancy of species, common descent and natural selection as a single, individual theory [...]. His failure to recognize the independence of the various theories of his evolutionary paradigm also caused Darwin difficulties in the discussion of the principle of divergence.“ (Mayr 2004, 98) Die Arbeiten von Charles Darwin und Alfred Wallace stellen den Beginn der moderne Evolutionsbiologie dar (Darwin 1963). Der gemeinsame Ausgangspunkt des Evolutionsgedankens ist dabei die Beobachtung, dass die biologische Welt nicht konstant ist. Biologische Systeme und alle darin lebenden Organismen unterliegen einer stetigen Veränderung. <?page no="78"?> Ralf J. Sommer 78 Diese grundlegende Eigenschaft biologischer Systeme stellt einen wichtigen Gegensatz zu großen Teilen der Physik dar und macht die Biologie zu einer historischen Wissenschaft. Obwohl die Aussage von der Veränderlichkeit der Arten heute trivial klingt, war sie im 19. Jahrhundert eine Revolution, da die Konstanz der Arten und der Welt eine vorherrschende Stellung im damaligen Weltbild hatte (Amundson 2005). Die Akzeptanz des Evolutionsgedankens begründet sich im vorgeschlagenen Mechanismus der natürlichen Selektion. Darwin und Wallace haben die natürliche Selektion aus zwei Naturbeobachtungen abgeleitet, (1) die vererbbare individuelle Variabilität und (2) die Überproduktion von Nachkommen unter gleichzeitiger Konstanz der Populationsdichten. Daraus lässt sich die Idee ableiten, dass verschiedene Individuen einer Art einen unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg haben und unterschiedlich viele Nachkommen produzieren. Herbert Spencer hat dafür den nicht ganz zutreffenden Begriff des survival of the fittest eingeführt, der dann auch von Darwin in späteren Auflagen des Origin of Species übernommen wurde. Aus heutiger Sicht ist die Rezeption von Darwin dahingehend unglücklich und unzutreffend, dass selbst von vielen Biologen Darwins Argumentationskette häufig auf die natürliche Selektion reduziert wird. Dabei wird man seinem vielschichtigen Gedankengebäude nicht im Geringsten gerecht. Darwin hat vier Haupttheorien der Evolution aufgestellt, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: 1) Die Selektionstheorie, basierend auf den oben bereits beschriebenen empirischen Naturbeobachtungen. 2) Die gemeinsame Abstammung aller Organismen. Darwin formulierte aufgrund der Annahme der gemeinsamen Abstammung der Arten die Theorie vom gemeinsamen Vorfahren. Demnach stammen alle heutigen Organismen von einem gemeinsamen Vorfahren, der Urform des Lebens, ab. Interessanterweise wurde die historische Verwandtschaft aller Lebewesen in der Zeit Darwins zur am schnellsten akzeptierten Evolutionstheorie, obwohl diese These in krassem Widerspruch zur damaligen Weltanschauung stand. 3) Der Gradualismus. Darwin hat, basierend auf eigenen Beobachtungen der Tier- und Pflanzenwelt, die Theorie des Gradualismus aufgestellt. Demnach entwickeln sich neue Strukturen kontinuierlich über längere evolutionäre Zeiträume hinweg. 4) Die Theorie der Speziation. Durch Isolation können Populationen einer Art dauerhaft so getrennt werden, dass es schließlich zur Aufspaltung und damit zu einer Vervielfachung der Arten kommt. Die Unterscheidung dieser vier Evolutionstheorien im Werk von Charles Darwin ist auch für die moderne Evolutionsbiologie von entscheidender Bedeutung. So werden diese vier Theorien in der aktuellen Evolutionsforschung <?page no="79"?> Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie 79 von verschiedenen Disziplinen mit jeweils unterschiedlichen Forschungsansätzen untersucht, die jeweils in einem eng begrenzten Gedankengebäude agieren und dabei zum Teil unabhängig von den Erkenntnissen in anderen Disziplinen arbeiten. Im Folgenden sollen vier dieser Forschungsgebiete - die evolutionäre Entwicklungsbiologie, die Populationsgenetik, die evolutionäre Ökologie und die molekulare Phylogenie - kurz dargestellt werden, um die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschungsansätze in der modernen Evolutionsbiologie zu zeigen. Die vergleichende evolutionäre Entwicklungsbiologie unterstützt vor allem Darwins Theorie der gemeinsamen Abstammung, die Populationsgenetik lässt sich primär seiner Theorie der natürlichen Selektion zuordnen, die evolutionäre Ökologie und die molekulare Phylogenie unterstützen Darwins Theorie der Speziation. Der Gradualismus hat dagegen nicht zu einem eigenständigen Forschungsfeld geführt. Vielmehr ist er immer wieder kritisiert worden, vor allem von Paläontologen, wie z.B. von Niles Eldredge und Stephen Jay Gould mit ihrer Theorie des punctuated equilibrium (Eldredge und Gould 1972). 2. Evolutionäre Entwicklungsbiologie Die Theorie der gemeinsamen Abstammung und die damit einhergehende historische Verwandtschaft der Organismen wirft die Frage auf, wie über evolutionäre Zeiträume hinweg Unterschiede in morphologischen Strukturen entstehen. Diese Frage kann nur durch einen vergleichenden (evolutionären) Ansatz der Entwicklungsbiologie analysiert werden, da alle morphologischen Strukturen von Pflanzen, Pilzen und Tieren das Endprodukt entwicklungsbiologischer Prozesse sind. Die Entwicklungsbiologie beschäftigt sich mit der Ausbildung von morphologischen Strukturen im einzelnen Individuum, von der befruchteten Eizelle bis zum erwachsenen Organismus. Große Durchbrüche sind in der Entwicklungsbiologie vor allem in den letzten drei Jahrzehnten durch den systematischen Einsatz genetischer Methoden erzielt worden. Dabei waren Arbeiten an zwei wirbellosen Tieren, der Fruchtfliege Drosophila melanogaster und dem Fadenwurm Caenorhabditis elegans, von entscheidender Bedeutung. Eine wichtige Grundeigenschaft dieser „Modellorganismen“ ist die besonders einfache, schnelle und billige Zucht der Tiere unter Laborbedingungen. Zahlreiche Entwicklungsprozesse wurden und werden bei diesen beiden - und mittlerweile auch bei weiteren - Modellorganismen genetisch und molekularbiologisch untersucht. Ohne hier auf Detailergebnisse moderner entwicklungsbiologischer Forschungen einzugehen, besteht die überraschendste Erkenntnis der Entwicklungsbiologie darin, dass Entwicklungskontrollgene im Tierreich hoch konserviert sind. Die Gene, die die Frühentwicklung von Drosophila steuern, sind bei Fadenwürmern, Seeigeln, Wirbeltieren und allen <?page no="80"?> Ralf J. Sommer 80 anderen bisher untersuchten Tiergruppen in den meisten Fällen ebenfalls vorhanden. Ähnliche Gene steuern die Entwicklung ganz unterschiedlicher Organismen (Sommer u. Riebesell 2008). Selbst innerhalb einer Art werden häufig dieselben Gene zur Bildung unterschiedlicher Strukturen herangezogen. Der Siegeszug der modernen Entwicklungsbiologie führt zu immer detaillierteren Kenntnissen über die Vorgänge der tierischen und pflanzlichen Entwicklung (Westhoff 1996). Aus evolutionsbiologischer Sicht ist die Konservierung der Entwicklungskontrollgene ein weiterer wichtiger Beweis für die Evolution und die gemeinsame Abstammung der Organismen. 3. Populationsgenetik Ohne Zweifel stellt der Nachweis der Konservierung von Entwicklungskontrollgenen eine der wichtigsten Erkenntnisse der biologischen Grundlagenforschung der letzten Jahrzehnte dar. Gleichzeitig zieht diese Beobachtung aber zahlreiche neue Fragen nach sich. Warum sind Organismen morphologisch so unterschiedlich, wenn die Gene, die ihre Entwicklung steuern, hoch konserviert sind? Unterliegen Entwicklungskontrollgene der natürlichen Variation, so wie dies populationsgenetische Studien für andere Klassen von Genen belegt haben? Um derartigen Fragen nachgehen zu können, müssen die Forschungsansätze der Entwicklungsbiologie und der Populationsgenetik kombiniert werden. Bislang ist dies nur in geringem Umfang geschehen, so dass es zwischen beiden Forschungsrichtungen nur wenig interdisziplinäre Ansätze gibt. Die Populationsgenetik selbst hat in den vergangenen Jahrzehnten bedeutende Veränderungen durchlaufen. Im Zuge des Neo-Darwinismus in den 1930er und 1940er Jahren haben Populationsgenetiker begonnen, die Selektionstheorie Darwins mit mathematischen und später molekularen Daten zu belegen (Rensch 1954; Sperlich 1988). Heute messen die Populationsgenetiker die Frequenz von Allelen mit modernsten molekularbiologischen Methoden direkt im Erbgut der Organismen. Dabei können Unterschiede zwischen verschiedenen Individuen einer Art sehr schnell und höchst präzise identifiziert werden. Derartige Untersuchungen erlauben es herauszufinden, wie viel und welche Art von natürlicher Variation der Erbsubstanz in Populationen vorhanden ist und wie diese Variation im Laufe der Zeit in Populationen fixiert wird. Das ursprüngliche Modell geht davon aus, dass Veränderungen im Erbgut sich nur dann in einer Population durchsetzen, wenn sie zu einem höheren Fortpflanzungserfolg führen (Abb. 1A). Dieser Prozess der positiven Selektion wurde seit der Zeit Darwins als wichtiger Selektionsmodus betrachtet. Darüber hinaus gibt es aber auch die Form der negativen Selektion. Eine Veränderung im Erbgut kann auch zum Nachteil des Individuums führen, welches sich unter Umständen nicht oder nur mit wesentlich geringerem <?page no="81"?> Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie 81 A B C Abb. 1 Drei verschiedene Mechanismen der Fixierung von genetischen Veränderungen (Mutationen) in einer Population. Diese Graphik stellt eine Vereinfachung des Evolutionsgeschehens dar. Die einzelnen Kreise symbolisieren die Individuen einer Population, die verschiedenen Grautöne sollen die Unterschiede in der Erbsubstanz darstellen. Zur Vereinfachung sei hier nur eine Position der Erbinformation betrachtet. A: Positive Selektion: In einer Population von Individuen mit einer homogenen Erbinformation (helle Kreise) kommt es zu einer Mutation in einem Individuum (dunklerer Kreis). Wenn diese Mutation für seinen Träger vorteilhaft ist, und dieser dadurch einen erhöhten Fortpflanzungserfolg hat, wird sich diese dunkle Mutation im Laufe der Zeit in der Population durchsetzen, d.h. diese Mutation wird fixiert. B: Negative Selektion: Eine Mutation (dunklerer Kreis), die bei seinem Träger zu einem Nachteil, d.h. zu einem geringeren Fortpflanzungserfolg führt, kann sich in der Population nicht durchsetzen und wird eliminiert. C: Neutrale Evolution: Mutationen können auch für ihre Träger neutral sein, so dass sich derartige Veränderungen der Erbsubstanz nicht auf den Fortpflanzungserfolg auswirken. Kimura hat mit mathematischen Modellen zeigen können, dass auch neutrale Mutationen innerhalb von Populationen fixiert werden können. Viele moderne Arbeiten der Populationsgenetik weisen darauf hin, dass die neutrale Evolution auf molekularer Ebene einen dominierenden Einfluss auf Evolutionsprozesse hat. <?page no="82"?> Ralf J. Sommer 82 Erfolg fortpflanzen kann. Negative Selektion wird dafür sorgen, dass sich derartige Mutationen nicht durchsetzen (Abb. 1B). Mittlerweile ist deutlich geworden, dass negative Selektion von entscheidender Bedeutung für die Evolution ist. So ist z.B. die weiter oben beschriebene Konservierung der Entwicklungskontrollgene zum größten Teil auf negative Selektion bei diesen Genen zurückzuführen. Ein drittes, ursprünglich vollkommen unterschätztes Szenario hat der japanische Populationsgenetiker Motoo Kimura in den 1970er und 1980er Jahren beschrieben. Seine neutrale Theorie der molekularen Evolution geht davon aus, dass der Großteil der natürlichen Variation auf molekularer Ebene selektiv neutral ist und damit weder zu Vorteilen noch zu Nachteilen für seine Träger führt (Kimura 1987). Kimura hat mathematisch belegt, dass es trotzdem zur Fixierung derartiger neutraler Mutationen in natürlichen Populationen kommen kann (Abb. 1C). Tatsächlich deuten rezente Arbeiten darauf hin, dass der Großteil der sich in den Populationen durchsetzenden Veränderungen neutral ist. In den letzten 10 Jahren haben große technische Fortschritte zur Sequenzierung der Erbsubstanz zahlreicher Tier- und Pflanzenarten geführt. Die genomischen Sequenzierungsprojekte des Fadenwurms Caenorhabditis elegans, der Fruchtfliege Drosophila melanogaster und zahlreicher Wirbeltiere bis hin zum Menschen, haben dabei zu einer überzeugenden Bestätigung der Theorie von Kimura geführt. Ein Blick auf die genomischen Kennziffern (Genomgröße, Anzahl der Gene und Gemeinsamkeiten bzw. Unterscheide zwischen den Genomen) macht dies deutlich (Tab. 1). So hat zum Beispiel das Genom des Menschen etwa 3.000 000 000 Positionen und kodiert dabei schätzungsweise für 25.000 bis 30.000 Gene. Diese Zahlen sind für den Schimpansen und die Maus sehr ähnlich. Über das Ge- Spezies Genom-Größe [Basenpaare] Anzahl der Gene Unterschied zum Menschen Mensch 3 000 000 000 25 000 0,1 - 1% Schimpanse 3 000 000 000 25 000 1 % Maus 3 000 000 000 25 000 10 % Fliege (Drosophila) 122 000 000 14 000 zu geringe Ähnlichkeit Fadenwurm (C. elegans) 100 000 000 20 000 zu geringe Ähnlichkeit Tab. 1 Vergleich der genomischen Kenndaten von Modellsystemen und Mensch. <?page no="83"?> Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie 83 nom hinweg unterscheiden sich Mensch und Schimpanse nur in etwa 1% der Sequenz, d.h. die Übereinstimmung liegt bei etwa 99% (Tab. 1). Neuere Studien haben nun gezeigt, dass einzelne menschliche Individuen sich bis zu 0.1% oder gar 1% voneinander unterscheiden können. Die meisten dieser Unterschiede liegen in nicht-kodierenden Regionen und viele von ihnen sind wohl selektiv neutral. Derartige innerartliche Variabilität ist von großer Bedeutung, da sie das „Rohmaterial“ für morphologische Veränderungen und sonstige Neuerungen in der Evolution darstellt. Deshalb beschäftigt sich die Populationsgenetik seit jeher mit der innerartlichen natürlichen Variabilität. Dem weiter oben beschriebenen entwicklungsbiologischen Ansatz ist eine solche Arbeits- und Denkweise allerdings größtenteils fremd, so dass es bisher nur wenige Arbeiten zur populationsgenetischen Analyse von Entwicklungsprozessen und deren Bedeutung für die Ausbildung neuartiger Strukturen gibt. Dies verdeutlicht die unterschiedliche Methodik zweier wichtiger evolutionsbiologischer Forschungsrichtungen, die aus verschiedenen Evolutionstheorien Darwins hervorgegangen sind, der Selektionstheorie und der Theorie der gemeinsamen Abstammung. Dennoch ist eine Synthese zwischen diesen Forschungsrichtungen sinnvoll und könnte neue wichtige Einblicke in die Evolution liefern (Sommer 2009). 4. Evolutionäre Ökologie Ein weiterer wichtiger Aspekt biologischer Systeme und ihrer Veränderungen über historische Zeiträume ist der Einfluss der Umwelt. Alle Organismen sind einem ständigen Wandel sowohl ihrer abiotischen als auch ihrer biotischen Umwelt ausgesetzt. Die evolutionäre Ökologie untersucht die verschiedenen Facetten dieser Prozesse. Dabei ergeben sich auch zahlreiche Überlappungen mit anderen Teildisziplinen der Evolutionsbiologie, insbesondere der evolutionären Entwicklungsbiologie. Es ist seit langem bekannt, dass die Ausbildung bestimmter Strukturen von Organismen von Umweltbedingungen abhängig ist, denen die jeweiligen Individuen ausgesetzt sind. In Abhängigkeit von Temperatur oder Nahrungsbedingungen können manche Organismen dabei unterschiedliche Formen (Morphen) ausbilden. Ein Beispiel dafür ist der unterschiedliche Lebenszyklus freilebender Fadenwürmer (Abb. 2). Die Fadenwürmer Caenorhabditis elegans und Pristionchus pacificus können im Labor unter optimalen Futterbedingungen in einem direkten Zyklus gehalten werden. Dabei durchlaufen die Tiere eine relativ kurze Embryonalentwicklung und vier Larvenstadien, bevor sie erwachsen werden. Dieser direkte Zyklus kann bei 20° C in etwa 3-4 Tagen erfolgen. Unter schlechten Umweltbedingungen, wie z.B. bei hoher Temperatur, unter Futtermangel oder einer hohen Individuendichte, treten die Tiere in einen alternativen <?page no="84"?> Ralf J. Sommer 84 Abb. 2 Lebenszyklus des Fadenwurmes Pristionchus pacificus. Lichtmikroskopische Aufnahmen verschiedener Embryonalstadien und einer frühen Larve kurz vor dem Schlüpfen (linke Spalte, Balken = 20 μm) sowie der freilebenden Larvenstadien (J2-J4) und eines erwachsenen Zwitters (Adultus) mit gut erkennbarem Ei (Balken = 100 μm). Der Kopf liegt jeweils oben, die Bauchseite links. Lebenszyklus ein und bilden eine sogenannte Dauerlarve. Diese Dauerlarven können unter schwierigen Bedingungen lange überleben. Interessanterweise findet man in der Natur bevorzugt diese Dauerstadien, bei Caenorhabditis elegans im Boden und bei Pristionchus pacificus meist assoziiert mit Blatthornkäfern (Hong u. Sommer 2006). Dieses Phänomen, die umweltabhängige Ausbildung unterschiedlicher Morphotypen, ist seit Langem als phänotypische Plastizität bekannt. In den letzten Jahren wurde die phänotypische Plastizität als wichtiger Prozess für die Herausbildung neuer Strukturen während der Evolution diskutiert (West- Eberhard 2003). Mittlerweile untersuchen Wissenschaftler intensiv, wie wechselnde Umweltbedingungen auf die Kontrolle von Entwicklungsprozessen wirken und dabei zur Bildung von unterschiedlichen Morphen führen. Im Sinne einer interdisziplinären Erforschung evolutionsbiologischer Phänomene sollte also neben der entwicklungsbiologischen und der populationsbiologischen Betrachtungsweise auch eine ökologische, auf die potentielle Bedeutung der Umwelt ausgerichtete Arbeitsweise angestrebt werden. In der Vergangenheit wurden diese Aspekte allerdings meist an verschiedenen Objekten untersucht und es kam nur selten zu einer gegenseitigen Befruchtung der Teildisziplinen oder gar zu interdisziplinären Ansätzen. Dies beginnt sich gegenwärtig grundlegend zu verändern, so dass einige zukunftsweisende Forschungsansätze auf eine interdisziplinäre Analyse der Evolutionsprozesse abzielen (Sommer 2009). <?page no="85"?> Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie 85 5. Molekulare Phylogenie Seit Darwin ist die gemeinsame Abstammung aller heute lebenden Organismen ein fester Bestandteil der Evolutionsbiologie. Deshalb beschäftigen sich Biologen intensiv mit der Erforschung der Verwandtschaftsverhältnisse der Organismen. Dieses Forschungsfeld ist durch zwei tiefgreifende „Revolutionen“ in den letzten 40 Jahren massiv beeinflusst worden. Zuerst haben die Arbeiten des Tübinger Morphologen Willi Hennig zur phylogenetischen Systematik ein theoretisches Gedankengebäude für die Verwandtschaftsforschung etabliert (Hennig 1982). Mit der Unterscheidung von abgeleiteten und ursprünglichen Merkmalen und der Fokussierung der phylogenetischen Forschung auf die erste Gruppe hat Hennig ein neues Zeitalter begründet (Ax 1995). Der sogenannte Cladismus hat viele Streitfragen zur Systematik und Phylogenie gelöst, wenn er auch immer noch nicht von allen Gelehrten akzeptiert wird. Die zweite bedeutende Veränderung war die Verwendung molekularer Sequenzdaten des Erbguts in der phylogenetischen Forschung. Molekulare Rekonstruktionen der Stammesgeschichte sind auf allen Ebenen der Klassifikation der Organismen hilfreich gewesen, von den Großgruppen bis in die Familien- und Gattungsgruppierungen der Wirbeltiere und Invertebraten. Auf eine Auflistung der zahlreichen Paradigmenwechsel in der modernen phylogenetischen Forschung soll hier aus Platzgründen verzichtet werden. In seiner Monographie „Grundlagen der phylogenetischen Systematik“ hat Wägele (2000) viele Ergebnisse zusammengefasst und diskutiert kritisch die immer noch andauernde Diskussion zur Kombination der morphologischen und molekularen Phylogenie. Mittelfristig wird der Einsatz molekularer Methoden in der phylogenetischen Forschung vor allem bei kryptischen Arten der Meiofauna, die typischerweise besonders arm an morphologischen Merkmalen sind, von besonders großer Bedeutung sein. Vor allem die Identifizierung von Schwesterarten-Verhältnissen wird es erlauben, konkrete Hypothesen über mikroevolutionäre Prozesse zu formulieren, die dann in gezielten Experimenten verifiziert bzw. falsifiziert werden können. 6. Integration von Forschungsfeldern Die vier oben dargestellten Forschungsfelder arbeiten in der gegenwärtigen Evolutionsforschung parallel, aber oft ohne allzu viel Kommunikation. Die Spezialisierung, vorangetrieben durch die bahnbrechenden Befunde der Molekularbiologie, hat dazu geführt, dass in den meisten Forschungsfeldern mit unterschiedlichen Strategien und häufig mit unterschiedlichen Organismen gearbeitet wird. Die modernen Evolutionsbiologen sprechen also nicht unbedingt dieselbe Sprache. <?page no="86"?> Ralf J. Sommer 86 Deshalb ist der Ruf nach einer Integration dieser Forschungsfelder in den letzten Jahren immer wieder laut geworden. Ein Weg der Integration der evolutionsbiologischen Forschungsfelder könnte darin bestehen, Forschungsansätze der Evolutionsökologie, Populationsgenetik und der evolutionären Entwicklungsbiologie an denselben Organismen zu verfolgen und dabei dieselben Prozesse aus jeweils anderen Blickwinkeln zu analysieren. Ein derartiges Vorgehen sollte mittelfristig zu einer stärkeren Verzahnung der Einzeldisziplinen führen und würde dabei zweifelsohne zu neuen Synergien und Synthesen führen (Sommer 2009). So zielen zum Beispiel die Arbeiten am Fadenwurm Pristionchus pacificus in diese Richtung (Rae et al. 2008). 7. Die Rezeption der Evolutionsforschung in den modernen Lebenswissenschaften Auf die zahlreichen parallelen Ansätze in der Evolutionsforschung hat auch Ernst Mayr deutlich hingewiesen (Mayr 2004). Es ist vor diesem Hintergrund kaum verwunderlich, dass die Rezeption der Evolutionsforschung in der Gesellschaft, aber auch in anderen Bereichen der Lebenswissenschaften in ihrer Perspektive oft verengt ist. So lässt sich die Reduktion der Evolution auf die Theorie der natürlichen Selektion auch unter vielen Biologen finden. Dies hat zum Teil weitreichende intellektuelle und philosophische Konsequenzen (Lynch 2007). Die oben beschriebene Vielfalt der populationsgenetischen Prozesse (positive Selektion, negative Selektion, neutrale Evolution), zeigt aber, dass diese eingeengte Betrachtungsweise keine wissenschaftliche Grundlage hat. Um dieser Fehlentwicklung entgegenzuwirken, muss die evolutionsbiologische Ausbildung nicht nur an Schulen, sondern auch Universitäten viel breiter gefasst werden, da alle biologischen Phänomene nur im Blickwinkel der Evolution verstanden werden können. Allerdings können sowohl adaptive als auch nicht-adaptive Kräfte dabei eine Rolle spielen. Eine breite evolutionsbiologische Ausbildung an Schulen und Universitäten ist deshalb essenziell und sollte im Hinblick auf die Bedeutung der Evolution für das gesamte philosophische Gedankengebäude auch Nicht-Biologen und Nicht- Naturwissenschaftler einbeziehen. Danksagung Ich danke Herrn Dr. Matthias Herrmann für die kritische Durchsicht des Manuskripts. <?page no="87"?> Zur wissenschaftlichen Vielfalt der modernen Evolutionsbiologie 87 Literatur Amundson, R. 2005: The changing role of the embryo in evolutionary thought. Cambridge University Press, Cambridge. Ax, P. 1995: Das System der Metazoa I. Gustav Fischer, Stuttgart. Darwin, Ch. 1963: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Reclam, Stuttgart. Eldredge, N. u. Gould, St.J. 1972: Punctuated Equilibria: An Alternative to Phyletic Gradualism, in: Th. J. M. Schopf (ed.): Models in Paleobiology, 82-115. Freeman, Cooper & Company, San Francisco. Hennig, W. 1982: Phylogenetische Systematik. Paul Parey, Hamburg. Hong, R. u. Sommer, R.J. 2006: Pristionchus pacificus: a well rounded nematode. BioEssays 28, 651-659. Kimura, M. 1987: Die Neutralitätstheorie der molekularen Evolution. Paul Parey, Hamburg. Mayr, E. 2004: What makes biology unique? Cambridge University Press, Cambridge. Lynch, M. 2007: The origins of genome architecture. Sinauer, Sunderland, MA. Rae, R., Schlager, B. u. Sommer, R.J. 2008: Pristionchus pacificus, a genetic model system for evolutionary developmental biology and the evolution of complex life-history traits, in: N. Patel (Hg.): Emerging model organisms, 275-289. Cold Spring Harbor Laboratory Press, Cold Spring Harbor. Rensch, B. 1954: Neuere Probleme der Abstammungslehre. Ferdinand Enke, Stuttgart. Sommer, R.J., Riebesell, M. 2008: Die Entstehung der biologischen Formenvielfalt - Zur Bedeutung der Entwicklungsbiologie für die Evolutionsforschung, in: O. Betz u. H.-R. Köhler (Hg.): Die Evolution des Lebendigen, 57-78. Attempto, Tübingen. Sommer, R.J. 2009: The future of evo-devo: model systems and evolutionary theory. Nature Review Genetics 10, 416-422. Sperlich, D. 1988: Populationsgenetik. Gustav Fischer, Stuttgart. Wägele, J.-W. 2000: Grundlagen der phylogenetischen Systematik. Dr. Friedrich Pfeil, München. West-Eberhard, M. 2003: Developmental plasticity and evolution. Oxford University Press, Oxford. Westhoff, P. 1996: Molekulare Entwicklungsbiologie. Georg Thieme, Stuttgart. <?page no="89"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität Darwins Theorie aus heutiger evolutionsbiologischer Sicht Oliver Betz Zusammenfassung Im Verlauf der Erdgeschichte ist die Zahl der Arten trotz zwischenzeitlicher Einbrüche immer weiter angestiegen. Dieser Trend ergibt sich als logische Konsequenz aus Charles Darwins Deszendenztheorem (darstellbar in Form eines sich stetig verästelnden Stammbaumes), nach dem alle Lebewesen durch Abspaltung und Modifikation von gemeinsamen Vorfahren abstammen. Dennoch ergibt sich daraus kein kontinuierlicher Anstieg der Artenzahl, weil globale Veränderungen der Lebensbedingungen auf unserer Erde in vergangenen Erdepochen immer wieder zu Massenaussterbeereignissen geführt haben. Auch die gegenwärtig beobachtete, durch den Menschen verursachte, beschleunigte Aussterberate von mindestens 7.000 Arten pro Jahr droht die Dimension solcher Massenextinktionen zu erreichen. Sie wird zu Recht als Biodiversitätskrise bezeichnet. Um dieser Entwicklung entgegenzusteuern, hat die Weltgemeinschaft im Jahr 1992 in Rio de Janeiro die Biodiversitätskonvention (http: / / www.cbd.int/ ) verabschiedet, die den Schutz der Biodiversität, den Zugang zu genetischen Ressourcen und im Cartagena Protocol on Biosafety den grenzüberschreitenden Handel mit gentechnisch veränderten Organismen international regelt (http: / / bch.cbd.int/ protocol/ ). Im ersten Teil dieses Beitrags werden Daten präsentiert, die dabei helfen sollen, diese anthropogen verursachten Artenverluste vor dem Hintergrund natürlicher Evolutionsprozesse zu beurteilen. Der zweite Teil widmet sich der Frage, wie Arten entstehen, und welche wissenschaftlichen Erklärungskonzepte seit Charles Darwins epochalem Werk Origin of Species zu dieser Fragestellung erarbeitet wurden. Dabei zeigt sich, dass der konkrete Mechanismus der Artbildung stark von den biologischen, ökologischen und genetischen Eigenschaften der einzelnen Tier- oder Pflanzengruppe sowie den jeweiligen Umweltbedingungen abhängt. Neben verschiedenen exemplarisch ausgewählten Artdefinitionen werden die Prozesse der allopatrischen und sympatrischen Artbildung anhand von Beispielen erläutert. Unabhängig vom konkreten Mechanismus ist in allen Fällen die Auftrennung des Genpools der Stammart in zwei oder mehrere separate, voneinander isolierte Genpools entscheidend. In diesen isolierten Genpools findet dann eine getrennte Evolution statt, so dass die Teilpopulationen allmählich immer unterschiedlicher werden und sich schließlich zu neuen Arten weiterentwickeln. Obwohl neue Arten beispielsweise bei bestimmten Buntbarschen innerhalb weniger tausend Jahre entstehen können, müssen im Mittel deutlich längere Zeiträume von mehreren Millionen Jahren ange- <?page no="90"?> Oliver Betz 90 nommen werden. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass einzelne Organismengruppen (zum Beispiel „Fische“ und Amphibien) geologische Zeiträume benötigen werden, um den sich gegenwärtig vollziehenden massiven Artenrückgang zu kompensieren. 1. Die gegenwärtige Biodiversitätskrise vor dem Hintergrund erdgeschichtlicher Aussterbeprozesse D as Wort „Biodiversität“ ist als Kurzform für biologische Vielfalt heute in aller Munde. Im Zusammenhang mit dem anthropogen verursachten Artensterben steht es inzwischen ganz oben auf der politischen Agenda. Dieses Artensterben lässt sich im Wesentlichen auf die voranschreitende Übernutzung und Zerstörung natürlicher Lebensräume durch den Menschen zurückführen. Zwei Zahlen verdeutlichen diese Problematik. Der Anteil der vom Menschen veränderten Landfläche nähert sich gegenwärtig der 50%-Marke. Umfasste die menschliche Bevölkerung vor 10.000 Jahren noch 5-10 Millionen Individuen (Ehrlich et al. 1975), liegt diese Zahl heute bei sieben Milliarden (zuzüglich der Zahl der Haus- und Nutztiere, davon 1,5 Milliarden Hausrinder). 1.1 Biodiversitätserhaltung als zentrale Umweltaufgabe des 21. Jahrhunderts Um auf den beobachteten Biodiversitätsrückgang vor dem Hintergrund von Habitatzerstörung und einer weiterhin wachsenden menschlichen Weltbevölkerung (gegenwärtig um 200.000 Individuen pro Tag) zu reagieren und den Artenbestand langfristig zu sichern, verabschiedete die Weltgemeinschaft im Jahr 1992 in Rio de Janeiro die Biodiversitätskonvention. Dies ist ein internationales Vertragswerk, das bislang von beinahe 200 Einzelstaaten und der Europäischen Union unterzeichnet wurde. Die Vertragspartner verpflichten sich darin unter anderem, die Biodiversität auf unserem Planeten zu erhalten, einen nachhaltigen Umgang mit ihr zu pflegen und Erträge aus genetischen Ressourcen der Erde in fairer Weise zu teilen. Die Konvention definiert den Begriff Biodiversität so, wie es auch Fachwissenschaftler tun: Sie unterscheidet zwischen (1) der Diversität innerhalb von Arten (= genetische Diversität), (2) der Diversität der Arten im engeren Sinne (= Zahl der Arten in einem Ökosystem) und (3) der Diversität zwischen Ökosystemen (= Vielfalt der ökologischen Systeme auf dem Festland und im Wasser). Der anthropogen bedingte Biodiversitätsverlust betrifft gegenwärtig alle drei Ebenen. Ein bekanntes Beispiel sind die Prärien im Süden des Bundesstaats Wisconsin (USA). Bei Ankunft der ersten Europäer gab es dort noch 800.000 ha dieser natürlichen Grasländer. Heute ist davon aufgrund der sich ausdehnenden Landwirtschaft nur noch ein Anteil von 0,1% erhalten. Botaniker konnten nachweisen, dass <?page no="91"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 91 auf den übriggebliebenen stark fragmentierten Prärierestflächen der USA allein in den vierzig Jahren zwischen 1950 und 1990 bis zu 60% der ursprünglich vorhandenen Pflanzenarten verschwunden sind (Campbell u. Reece 2009, 1684f.). Das Aussterben einer Art geschieht dabei nicht über Nacht, sondern zieht sich meist über mehrere Menschengenerationen hin und wird damit für den Einzelnen schwer nachvollziehbar. Hinzu kommt, dass Aussterbeprozesse zunächst lokal an verschiedenen Orten des Verbreitungsgebietes einer Art beginnen, um von dort aus weiter fortzuschreiten. Die gegenwärtig zu verzeichnenden sinkenden Populationsgrößen vieler Arten lassen befürchten, dass diese, ausgehend von lokalen Aussterbeereignissen, zum völligen Verschwinden dieser Arten führen werden. Im niederösterreichischen Marchfeld (900 km2) östlich der Stadt Wien gab es vor 60 Jahren noch 300 Großtrappen. Zwei Vogelgenerationen später lebt dort ungefähr noch ein Dutzend dieser Großvögel (Grabner 2009). Die Biodiversitätskonvention benennt konkrete Maßnahmen zur Identifizierung, Überwachung, Erforschung und zum Schutz der weltweiten Biodiversität. Die Unterzeichner treffen sich alle zwei Jahre im Rahmen einer Conference of the Parties und legen Rechenschaft über die getroffenen Maßnahmen ab. Auch wenn seit 1992 kaum Fortschritte zu beobachten sind, wurde mit diesem Vertragswerk die Biodiversitätserhaltung neben dem Klimaschutz international als zentrale Umweltaufgabe des 21. Jahrhunderts anerkannt. In Europa ist der Naturschutz ein rechtlich verankerter Auftrag, der in verschiedenen Richtlinien (zum Beispiel Vogelschutzrichtlinie, Fauna- Flora-Habitat-Richtlinie) festgeschrieben ist. A ber warum ist der anthropogen verursachte Biodiversitätsverlust überhaupt problematisch? Hierauf gab der US-amerikanische Soziobiologe und Ameisenforscher Edward O. Wilson (* 1929) die zunächst verblüffende Antwort (Wilson 1984), dass sich Menschen aufgrund der ihnen angeborenen Biophilie (= Liebe zum Lebendigen) zu anderen Lebewesen hingezogen fühlen und diesen Kontakt mit der Natur brauchen, um gesund zu bleiben, den Sinn ihres Lebens zu finden und sich zu verwirklichen. Diese im Grunde genommen auf den deutschen Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm (1900-1980) zurückgehende Biophilie-Hypothese verweist zugleich auf unsere moralische Verpflichtung, verantwortungsvoll mit den natürlichen Ressourcen umzugehen. Die Verpflichtung zu verstärkten Anstrengungen zum Biodiversitätserhalt betrifft über die moralischen und ästhetischen Aspekte hinaus aber auch Gesichtspunkte, welche die unmittelbare Nutzung der biologischen Vielfalt als fundamentale natürliche Ressource durch den Menschen betreffen. Hierzu gehört die zentrale Bedeutung von Pflanzen und Tieren als Grundlage unserer Ernährung und der verarbeitenden Industrie. In den USA sind 25% der Arzneimittel pflanzlicher Herkunft. So enthält zum Beispiel der Wirkstoff des Madagaskar-Immergrüns (Catharanthus roseus) Alkaloide, die das Wachstum von Krebszellen hemmen. Diese halfen dabei, zwei der schlimmsten <?page no="92"?> Oliver Betz 92 Formen von Krebs - Hodgkin-Lymphom und akute lymphocytische Leukämie - zu heilen (Campbell u. Reece 2009, 1683). Diese Wirkstoffe werden zudem bei Brust- und Lungenkrebs eingesetzt. Auf Madagaskar gibt es nur noch fünf weitere Immergrünarten, von denen eine akut vom Aussterben bedroht ist. Dies ist nur ein Beispiel für viele Tausende von Arten, aus denen wirksame Medikamente hergestellt werden (können). Darüber hinaus werden von Organismen lebenswichtige ökologische Leistungen übernommen, die man als Stadtbewohner leicht aus dem Blick verliert. Hierzu gehören - um nur einige zu nennen - die Selbstreinigung von Luft und Wasser, die Kreisläufe von Nährstoffen in den Nahrungsketten, die Schaffung und der Erhalt fruchtbarer Böden, die Bestäubung von Nutzpflanzen, die Entgiftung von Abfallstoffen sowie die Abschwächung von Witterungsextremen. Insekten erbringen jedes Jahr 153 Milliarden US-Dollar an Bestäubungsleistung (Gallai et al. 2009). Dieses Beispiel zeigt, dass die ökologischen Leistungen von Tieren und Pflanzen in volkswirtschaftliche Rechnungen einbezogen werden sollten, um Schutzmaßnahmen auch monetär begründen zu können. Um den Schutz und die Erforschung von Ökosystemen zu ermöglichen, die für die Erhaltung der Artenvielfalt auf unserem Planeten besondere Bedeutung haben, wurde von der Naturschutz-Organisation Conservation International das sogenannte Hotspot-Konzept entwickelt, welches 34 Hotspots (= Biodiversitätsbrennpunkte) auf Kontinenten, Inseln und im Meer definiert. Diese Hotspots der Biodiversität weisen besonders hohe Artenzahlen auf, die zugleich einem hohen Bedrohungspotenzial ausgesetzt sind. Beispiele sind der indomalayische Archipel, die Inselgruppen um Neuguinea und Neukaledonien, aber auch der dicht besiedelte Mittelmeerraum, wo 11.500 endemische (= nur dort verbreitete) Pflanzenarten vorkommen. Das Hotspot- Konzept ist so bedeutsam, weil diese Gebiete einen Großteil der biologischen Vielfalt verschiedener Organismengruppen beherbergen. So sind zum Beispiel 30% aller Vogelarten auf nur 2% der Landfläche beschränkt. 50.000 Pflanzenarten (= 1/ 5 aller Arten) finden sich in nur 18 Gebieten, die zusammen 0,5% der Erdoberfläche ausmachen (Campbell u. Reece 2009, 1696f.). Im Amazonasbecken leben 40.000 Pflanzenarten, von denen 30.000 nur dort vorkommen. Auf einem einzigen Baum wurden in dieser Region 95 Ameisenarten gefunden, während in ganz Deutschland insgesamt nur 105 Ameisenarten vorkommen (Streit 2007, 80). Jedoch sind bei weitem nicht alle Pflanzen- und Tiergruppen durch die Hotspots abgedeckt. Biologen sind sich daher darüber einig, dass die politischen Anstrengungen zum Erhalt der Biodiversität nicht nur die Hotspots, sondern alle Regionen der Erde einbeziehen müssen. <?page no="93"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 93 1.2 Schätzungen und Beispiele des anthropogen bedingten Biodiversitätsverlustes Arten kommen nicht isoliert vor, sondern sind in komplexe Biozönosen (= Lebensgemeinschaften) eingebunden (Abb. 1). Besonders gut untersucht sind solche Lebensgemeinschaften im Boden. Boden-Ökosysteme beherbergen mehr Arten als jedes andere Ökosystem der Erde. Ein vor kurzem durchgeführter Vergleich wirbelloser Tiere zweier Probeflächen in Böden Alaskas ergab bei jeweils 600-700 festgestellten Arten eine Übereinstimmung von lediglich 13 Arten. Dies ist umso erstaunlicher als beide Probeflächen nur 400 km voneinander entfernt lagen (Dance 2008) und gibt eine Vorstellung von der enormen Artenvielfalt in vielen Ökosystemen. Studien zur mikrobiellen Diversität in Böden aufgrund von DNA- (= Desoxyribonucleinsäure-) Extraktionen ergaben 10.000-50.000 verschiedene bakterielle Genome pro Gramm Bodenprobe. Die wenigsten dieser Taxa (= als systematische Einheit abtrennbare Gruppen) sind von der Wissenschaft beschrieben, wobei 65% der gefundenen Genome immerhin bereits bekannten Gattungen zugewiesen Abb. 1 Lebensgemeinschaft an einem Blütenkopf der Distel Carduus sp. mit einer Larve eines Rüsselkäfers (links) und vier Bohrfliegen-Puparien. Außen erwachsene Stadien verschiedener Blütenkopfbewohner. Übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors Helmut Zwölfer sowie des R. Piper-Verlags aus Selbstorganisation - die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft. (Zwölfer 1986) <?page no="94"?> Oliver Betz 94 werden konnten (Roesch 2007; Dance 2008). Ökologen untersuchen gegenwärtig die Frage, wie viel biologische Vielfalt eigentlich erforderlich ist, um bestimmte Ökosystem-Funktionen wie zum Beispiel die Zerkleinerung und die Mineralisierung der pflanzlichen Biomasse zur Rückführung der Nährstoffe in die Böden zu gewährleisten. Laborversuche an Bodenorganismen deuten darauf hin, dass offenbar wenige Arten ausreichen, um die Mineralisierung zu gewährleisten (Filser 2001). In dieser Hinsicht besteht also anscheinend eine gewisse Redundanz. Letzten Endes ist die funktionelle Bedeutung einzelner Arten jedoch nicht leicht zu beurteilen und nur schwer zu verallgemeinern. Wie also ist der gegenwärtig zu beobachtende anthropogen bedingte Artenrückgang wirklich zu bewerten? Laut Medienberichten sind derzeit 18.000 Pflanzen- und Tierarten weltweit akut vom Aussterben bedroht (Südwest Presse Online 2010). Setzt man diese Zahl ins Verhältnis zur Gesamtzahl der insgesamt zwei Millionen beschriebenen eukaryotischen (= mit echtem Zellkern, keine Bakterien) Arten auf der Erde, so wäre demnach weniger als 1% der Flora und Fauna bedroht. Legt man die tatsächliche Zahl der Einzeller-, Pflanzen- und Tierarten auf der Erde zugrunde, die nach Schätzungen bei 5- 10 Millionen liegt (May 2010), wären sogar weniger als 0,2 % der Arten bedroht. Diese Zahl erscheint vernachlässigbar gering. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass der Zahlenwert von 18.000 akut gefährdeten Arten sich auf nur 52.000 von der Weltnaturschutzunion IUCN auf ihren Gefährdungsgrad hin genau untersuchten Arten bezieht (Südwest Presse Online 2010), wonach 35% dieser Arten als gefährdet eingestuft werden müssten. Dabei handelt es sich vor allem um bekannte und auffällige Organismen mit hohem Flächenbedarf (bei Tieren), die mehrheitlich zu den Gruppen der Blütenpflanzen, der "Fische", der Amphibien, der Vögel, der Säugetiere und auffälliger Insekten (zum Beispiel Libellen und Schmetterlinge) gehören. Die kursierenden Gefährdungszahlen beruhen somit derzeit noch auf nicht zufälligen Stichproben aus dem Gesamtpool aller Arten. Kritiker wenden daher ein, dass die Gefährdungszahlen nur die ohnehin problematischen Pflanzen- und Tiergruppen bevorzugen. Man sieht an diesen wenigen Zahlenbeispielen, dass solche Daten je nach Verständnis und Intention entweder als besorgniserregend oder als harmlos dargestellt werden können (Streit 2007, 16). Dies hat auch damit zu tun, dass der Großteil der auf der Erde lebenden Arten (zum Beispiel aus der Gruppe der Insekten) noch gar nicht beschrieben ist, geschweige denn ausreichende Daten zu ihrer Biologie vorliegen, um gesicherte Aussagen über ihre Gefährdung und Funktion im Ökosystem treffen zu können. Die kürzlich publizierten Zwischenergebnisse des vor 10 Jahren begonnenen Census of Marine Life zeigen jedoch, dass zunehmend auch unauffälligere Pflanzen- und Tiergruppen in die Schätzungen der globalen Diversität einbezogen werden (Costello et al. 2010). Auf der Grundlage von insgesamt 230.000 beschriebenen Arten (davon 19% Krebstiere, 17% Weichtiere und 12% Fische) schätzen die Autoren dieser Bestandsaufnahme die Gesamtarten- <?page no="95"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 95 zahl aller eukaryotischen Meerestiere, -pflanzen und -einzeller auf 1,0-1,4 Millionen. Als wesentliche anthropogen bedingte Bedrohungen dieser Diversität wurden in der Studie Überfischung, Lebensraumverlust sowie Verschmutzung und Eutrophierung identifiziert. Man muss bei der Diskussion um den weltweiten Artenrückgang auch beachten, dass jede Art qualitativ einmalig und nach ihrem Aussterben unwiederbringlich samt ihrem ihr eigenen Genpool verschwunden ist. Aufgrund ihrer Komplexität lassen sich einmal ausgestorbene Arten aus DNA-Resten nicht wieder herstellen. Bei der funktionellen Beurteilung der möglichen Folgen des Artensterbens muss über die reine Nennung von Artenzahlen hinaus daher bedacht werden, welche ökologische und evolutionäre Rolle bestimmte Tier- und Pflanzengruppen in den betroffenen Ökosystemen innehaben. Aus ökosystemarer Sicht problematisch ist es vor allem, wenn nicht nur einzelne Arten, sondern übergeordnete Großgruppen von Tieren und Pflanzen aussterben. Im Folgenden seien einige besonders bekannte und auffällige Beispiele für durch den Menschen ausgerottete Pflanzen- und Tierarten genannt. Der St. Helena-Olivenbaum (Nesiota elliptica) ist eine Baumart, die infolge der Entwaldung für die Nutzholzgewinnung, der Überweidung durch verwilderte Hausziegen sowie durch Pilzinfektionen im 20. Jahrhundert ausgestorben ist. Die Wandertaube (Ectopistes migratorius) (Abb. 2a) kam in der Zeit der europäischen Kolonisierung in Nord-Amerika noch in riesigen Schwärmen vor, die mehrere 100 km Länge umfassen konnten. Mit geschätzt 1 Milliarde Individuen galt die Wandertaube als individuenreichste Vogelart der Erde und bildete ein wichtiges Grundnahrungsmittel der damaligen Einwanderer. Durch die Rodung der großen Buchen- und Eichenwälder, die Brutwälder dieser Taube, und den massenhaften Abschuss (pro Tag bis zu 1 Million Tiere) brach der Bestand im 19. Jahrhundert völlig zusammen (vergleiche Streit 2007, 10f.). Der Tasmanische Beutelwolf (Thylacinus cynocephalus) (Abb. 2b) ist ein raubtierähnliches Beuteltier, das infolge intensiver Bejagung und der Hundestaupe-Krankheit seit dem Jahr 1936 verschollen ist. Die Stellersche Abb. 2 Beispiele für durch den Menschen ausgerottete Tierarten. (a) Wandertaube (Ectopistes migratorius), (b) Tasmanischer Beutelwolf (Thylacinus cynocephalus). Präparate aus der Tübinger Zoologischen Schausammlung. <?page no="96"?> Oliver Betz 96 Seekuh (Hydrodamalis gigas) bewohnte einst die Küsten des nördlichen Pazifiks von Mexiko bis Nord-Japan. Die Tiere konnten 8 m lang und bis zu 4 t schwer werden. Intensive Bejagung trieb die Populationen an den lebensunwirtlichen Rand ihres Verbreitungsgebietes in das Kaltwasser des Beringmeeres, wo sie nach ihrer Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert durch den deutschen Schiffsarzt und Naturforscher Georg Wilhelm Steller (1709-1746) innerhalb von nur 27 Jahren ausgerottet wurden (Petzsch 1983). Ein ähnliches Schicksal erfuhr die Karibische Mönchsrobbe (Monachus tropicalis), die allmählich durch Fischer und Robbenjäger verdrängt wurde und seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts ganz verschwunden ist. Neben der Unwiederbringlichkeit solcher Verluste einzelner Arten als Teil des Naturerbes muss man in dieser Diskussion die Aussterberate bedenken, um die Problematik richtig einordnen zu können. Globale Schätzzahlen über alle Organismengruppen hinweg liegen bei einem Verlust von 20 Arten pro Tag (Streit 2010), vor allem bedingt durch Biotopverluste. Dies entspricht einer Aussterberate von 7.000 Arten pro Jahr. Schätzungen wie diese basieren auf sogenannten Arten-Areal-Kurven kombiniert mit Messungen des Lebensraumschwundes insbesondere in den artenreichen tropischen Wäldern. Um 1900 umfassten Niederungsregenwälder auf Sumatra noch 16 Millionen Hektar. Heute sind davon nur noch 500.000 Hektar verblieben (Natus 2010). Die Schätzungen der gegenwärtigen Aussterberaten setzen zudem eine große Zahl noch unbekannter tropischer Insektenarten voraus, deren genaue Zahlen jedoch nicht bekannt sind (Streit 2007). Arten-Areal-Kurven zeigen, in welchem Ausmaß der Artenreichtum mit der Größe eines Lebensraumes zunimmt. Aus solchen Beziehungen lässt sich dann hochrechnen, wie hoch der mit einem Flächenverlust des Lebensraumes einhergehende Artenrückgang sein wird. Für den Fall des gegenwärtig zu verzeichnenden Verlustes tropischer immergrüner Wälder um 2% pro Jahr bedeutet dies, dass für die kommenden 100 Jahre dort mit dem Aussterben von 1 Million Arten zu rechnen ist (Purves et al. 2006, 1365), von denen nur ein Bruchteil wissenschaftlich erfasst und beschrieben sein wird. 1.3 Aussterbe- und Diversifizierungsprozesse in der Erdgeschichte Grundsätzlich ist es ein den Verlauf der Erdgeschichte begleitender ganz natürlicher Prozess, wenn Arten wieder aussterben. 99% aller Arten, die je auf der Erde gelebt haben, sind inzwischen wieder ausgestorben. Aus Fossilfunden weiß man, dass Arten nach ihrer mehrere Millionen Jahre dauernden Existenz (zum Beispiel im Mittel 5 Millionen Jahre bei Säugetieren und 10-20 Millionen Jahre bei marinen Weichtieren (Zrzavy et al. 2009, 395)) wieder ausstarben. Somit gehört das Aussterben zum evolutiven Schicksal einer Art. Die Aussterberaten waren im Verlauf der Erdgeschichte nicht gleichmäßig, sondern unterlagen starken Schwankungen. Die gegenwärtig beobachtete stark beschleunigte Aussterberate wird daher als Biodiversitätskrise bezeich- <?page no="97"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 97 net, wie es sie auch in vergangenen Erdepochen mehrfach gegeben hat. Davon waren - wie heute auch - immer nur bestimmte Organismengruppen betroffen, wenn auch teilweise ganze Großgruppen (Familien, Ordnungen) verschwanden (zum Beispiel die Ammoniten und Dinosaurier am Ende der Kreidezeit). Besonders empfindlich für Aussterbeereignisse sind Arten dann, wenn sie eine hohe ökologische Spezialisierung, geringe oder stark fluktuierende Populationsgrößen oder eine stark eingeschränkte geographische Verbreitung aufweisen. Betrachtet man die Entwicklung der Zahl der Arten über die Erdgeschichte, so erkennt man, dass diese trotz zwischenzeitlicher Einbrüche stetig gewachsen ist. Dieser Trend ergibt sich als logische Konsequenz aus Charles Darwins Deszendenztheorem, nach dem alle Lebewesen durch Abspaltung und Modifikation von gemeinsamen Vorfahren abstammen (vergleiche den Beitrag von Ralf Sommer in diesem Buch). Bereits Darwin stellte dies in Form eines sich immer weiter verästelnden Baumes dar. Hieraus ergibt sich eine ständig zunehmende Biodiversität, solange die Aussterberate von Arten unter ihrer Entstehungsrate liegt. In einem Stammbaum des Lebens (Abb. 3) stellt sich dies so dar, dass einige Äste absterben, während sich andere bis in die heutige Zeit fortsetzen. Verzweigungspunkte solcher Äste sind sogenannte Speziationsereignisse, also Punkte, an denen aus einer Vorläuferart zwei neue Arten hervorgehen. Die Abb. 3 illustriert gleichzeitig Darwins Theorie des Gradualismus. Diese besagt, dass im Anschluss an ein Speziationsereignis eine allmähliche Akkumulation quantitativer Merkmalsänderungen erfolgt, die sich irgendwann zu qualitativen Unterschieden ausweiten. Ein gut dokumentiertes Beispiel hierfür sind Schnecken der Gattung Gyraulus des Steinheimer Beckens (Baden-Württemberg). Hierbei handelt es sich um einen vor 15 Mil- Abb. 3 Fiktiver Stammbaum des Lebens mit sich gradualistisch verändernden Merkmalen. Jeder Verzweigungspunkt stellt ein Speziationsereignis dar, bei dem sich eine Stammart in zwei neue Arten aufspaltet. Äste, die in der Zeitskala nicht bis ganz nach oben reichen, stellen Arten dar, die in vergangenen Erdepochen bereits ausgestorben sind. <?page no="98"?> Oliver Betz 98 lionen Jahren im Miozän entstandenen Krater, der sich vor einer Million Jahren mit Wasser befüllt hat. Die graduelle Gehäuseumbildung dieser Schnecken, die in dieser Zeit kontinuierlich stattgefunden hat, ist bereits von dem Tübinger Geologen Franz Martin Hilgendorf (1839-1904) anhand eines umfangreichen Fossilmaterials dokumentiert worden (Reif 1983; vergleiche Abb. 6 in Kučera u. Maisch 2008). Ein modernes Beispiel gradualistischen Formenwandels betrifft die lückenlose Dokumentation der Änderung der Gehäuseform planktischer Mikrofossilien aus der Gruppe der Foraminiferen (schalenbildende Einzeller; Kučera u. Malmgren 1998, vergleiche Abb. 8 in Kučera u. Maisch 2008). Erfolgt die Akkumulation von Merkmalsänderungen in Bezug auf die Lebensdauer einer Art relativ schnell (zum Beispiel innerhalb eines Zeitraums von nur 50.000 Jahren) bei anschließender längerer Stasis, so spricht man auch von punktualistischer Artbildung (Eldredge u. Gould 1972). In diesem Fall scheint die Entstehung neuer Formen relativ schnell und plötzlich zu erfolgen, da sie auf vielleicht nur 1% der Lebensspanne einer Art zusammengedrängt ist. Die wesentlichen evolutiven Veränderungen erfolgen hier in der Regel gleich im Anschluss an die Abspaltung einer kleinen Teilpopulation, die aus nur wenigen Gründerindividuen der Vorläuferart besteht. In solch kleinen Populationen können sich Änderungen im Genpool dann sehr viel schneller durchsetzen als in großen. Warum aber haben einige Organismengruppen in bestimmten Phasen ihrer Evolution eine besonders starke Diversifizierung erfahren, während andere eher artenarm geblieben sind? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns die verschiedenen ökologischen Gründe vergegenwärtigen, welche die Aufspaltung einer Stammgruppe in viele neue Arten besonders begünstigen. Vier Aspekte sollen hier hervorgehoben werden: (1) Erschließung konkurrenzfreier „vakanter“ Lizenzen: Wird eine Gruppe von Individuen aus der Konkurrenz mit anderen Arten entlassen (zum Beispiel infolge der Besiedlung einer bislang unbesiedelt gebliebenen Insel oder eines neu entstandenen Gewässers), so stehen dieser Teilpopulation eine Reihe neuer ökologischer Möglichkeiten (Lizenzen) zur Verfügung, welche zunächst nicht von konkurrierenden Individuen anderer Arten genutzt werden. Eine solche Situation kann zu einer schnellen Vervielfältigung spezialisierter Arten aus einer Stammart (adaptive Radiation) führen, die auf divergenter natürlicher Selektion aufgrund der vorhandenen Umweltunterschiede beruht. Eine solche Radiation kann durch die dabei zunehmende zwischenartliche Konkurrenz zwischen den neu entstandenen Arten noch weiter verstärkt werden (Schluter 2000). Bekanntestes Beispiel einer stattgefundenen adaptiven Radiation sind die Galapagos- oder Darwinfinken (Geospizidae, die Benennung als Darwinfinken erfolgte erst im 20. Jahrhundert), die ausgehend von einer einzelnen Urpopulation des südamerikanischen Festlandes vor zwei bis drei Millionen Jahren auf das <?page no="99"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 99 900 km entfernte Galapagosarchipel eingewandert sind und dabei verschiedene Inseln kolonisiert haben (Grant u. Grant 2008). Sie konnten dabei vielfältige Lebensweisen (ökologische Nischen) annehmen (zum Beispiel die Spechtnische) und Lebensräume besetzen, die ihren Festlands- Vorfahren verwehrt waren, da diese dort bereits von konkurrierenden anderen Arten besetzt waren. Heute umfassen die Galapagosfinken 14 Arten, die sich durch ihre Schnabelform und damit korrelierten Ernährungstechniken deutlich voneinander unterscheiden. Die Bedeutung konkurrenzfreier Lizenzen für die Radiation von Organismen ergibt sich auch aus Fossilbefunden. So war die Rate des Anstiegs der Biodiversität nach Perioden relativer Artenarmut im Kambrium oder im Anschluss an Massenextinktionen jeweils besonders hoch (Zrzavy et al. 2009, 397f.). Auch korreliert in der mittleren Kreidezeit (vor 100 Millionen Jahren) der Rückgang von Koniferen und anderen Nacktsamern deutlich mit dem Anstieg der Blütenpflanzen (Berendse u. Scheffer 2009). Neben der Verfügbarkeit frei gewordener Nischen sind hierfür jedoch wohl zusätzlich auch kompetitive Verdrängungsmechanismen verantwortlich. Charles Darwin selbst hatte die plötzlich auftretende Radiation der Blütenpflanzen in der Kreidezeit als abominable mystery (= "grässliches Geheimnis") bezeichnet, da sie nicht gut mit seiner Vorstellung einer gradualistisch (= allmählich) verlaufenden Evolution übereinstimmte (Friedman 2009). Ökologen nehmen heute an, dass baumartige Blütenpflanzen die Koniferen deshalb verdrängt haben, weil sie eine leichter zersetz- und mineralisierbare Blattstreu besitzen und die im Boden verfügbaren Nährstoffe sehr viel effektiver und schneller in eigene Biomasse umsetzen können (Berendse u. Scheffer 2009). (2) Schlüsselinnovationen: Auch die Evolution so genannter Schlüsselinnovationen, das heißt qualitativ neuer Merkmale, die zum Beispiel eine besonders effektive Nutzung der Umwelt erlauben, hat zur Erschließung neuer adaptiver Zonen geführt (Wagner u. Lynch 2010). Ein Beispiel hierfür ist die Eroberung des Luftraumes durch die Evolution der Flügel der Insekten, die nach neuen Fossilbefunden vermutlich bereits im Devon erfolgt ist (Grimaldi u. Engel 2005). Innerhalb solcher adaptiver Zonen konnte es dann zu weiteren Radiationen in Form divergenter Formen der Ressourcennutzung kommen. (3) Ko-Speziation: Wir haben bereits gesehen, dass Arten nicht isoliert vorkommen, sondern in Lebensgemeinschaften eingebettet sind (Abb. 1). Hierbei entstehen neue Selektionsdrücke, die zu reziproken Anpassungen der Organismen aneinander führen. Wenn also eine bestimmte Gruppe eine starke Diversifizierung erfährt (aufgrund neuer ökologischer Möglichkeiten), kann dies bei einer von dieser Gruppe abhängigen zweiten Gruppe ebenfalls Artbildung initiieren („Vielfalt erzeugt Vielfalt“) (Emerson u. Kolm 2005). Beispiele für dieses als Ko-Speziation bezeichnete <?page no="100"?> Oliver Betz 100 Prinzip sind Beziehungen zwischen Wirt und Parasit, zwischen Räuber und Beute oder zwischen Insekten und Blütenpflanzen (Begerow 2008). (4) Provinzialisierung: Vor 250 Millionen Jahren war die gesamte Landmasse der Erde in einem Superkontinent namens Pangaea vereint. Vor 180 Millionen Jahren spaltete sich dieser in eine nördliche und eine südliche Landmasse (Laurasia und Gondwana), die sich später plattentektonisch weiter in die heutigen Kontinente auftrennten. Hierdurch kam es zur Aufspaltung ursprünglich zusammenhängender Populationen von Organismen, die sich von nun an unabhängig zu regionalen biologischen Lebensformen weiterentwickelten. Infolge der Abkühlung im Känozoikum (= Erdneuzeit) kam es zur weiteren Differenzierung der tier- und pflanzengeographischen Regionen entlang der Breitengrade. Die Verbreitung von Tier- und Pflanzenarten unter Kenntnis der geologischen Verteilung der großen Land- und Wassermassen ist Gegenstand der Biogeographie. Charles Robert Darwin (1809-1882) und der ebenfalls britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823-1913) waren beide sehr an biogeographischen Fragen interessiert und haben daraus wesentliche Impulse für ihre Evolutionstheorien erhalten. Vor allem Wallace erkannte wesentliche biogeographische Zusammenhänge, die noch heute Gültigkeit besitzen. Auch Darwin widmete zwei Kapitel seines Origin of Species (Darwin 1963) diesem Thema. Er erkannte, dass Arten bestimmter systematischer Gruppen innerhalb eines Kontinents (zum Beispiel die Nagetiere Süd- Amerikas) enger untereinander verwandt sind als mit Arten derselben systematischen Gruppe auf anderen Kontinenten. Darwin bezog sich bei seinen biogeographischen Studien vor allem auch auf ozeanische Inseln, wo er erkannte, dass die dortige Fauna und Flora eng verwandt mit der des nächstliegenden Festlandes ist. Nur flugfähige Formen konnten solche Inseln aktiv besiedelt haben, woraus sich erklärte, dass zum Beispiel Fledermäuse häufig die einzigen Säugetiere auf Inseln sind. Darwin widersprach damit der vor-evolutionären Sichtweise, wonach der Schöpfer jede Art an ihren ihr zugedachten Platz gesetzt hat. Die ebenfalls beobachtete Verbreitung von Verwandtschaftsgruppen über größere Areale (zum Beispiel mehrere Kontinente) ist biogeographisch erklärbar durch eine von einem Ursprungszentrum ausgehende sekundäre Ausbreitung oder die Aufspaltung einer ehemals kontinuierlichen Verbreitung in mehrere Teilpopulationen zum Beispiel infolge weiterer nachfolgender Aufspaltungen der Landmassen. So stimmt die Phylogenie der palaeognathen Laufvögel (hierzu gehören zum Beispiel Strauße, Emus und Kasuare), deren Entstehungsalter heute über molekulare Methoden geschätzt werden kann, sehr gut mit dem Muster der Aufspaltung des ehemaligen Südkontinents Gondwana überein (Haddrath u. Baker 2001). <?page no="101"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 101 Betrachten wir nun noch einmal die Evolution der Biodiversität über die geologische Tiefenzeit. Seit der Entstehung des Lebens auf unserer Erde vor etwa 3,8 Milliarden Jahren hat sich die Organismenwelt kontinuierlich gewandelt. Zunächst gab es über lange Zeiträume lediglich bakterienähnliche Formen. Vor 1,4 Milliarden Jahren traten komplexere Einzeller mit echten Zellkernen auf. Vor 900 Millionen Jahren entstanden erste mehrzellige Organismen, und vor etwa 400 Millionen Jahren im Devon begann die Besiedlung des Landes durch Pflanzen, Gliedertiere und Wirbeltiere. Gute Überlieferungen größerer Extinktions- (= Aussterbe-) Ereignisse, welche die biologische Evolution begleitet haben, finden sich zum Beispiel bei hartschaligen Meerestieren wie Muscheln oder Seeigeln. Demnach gab es einen massiven Anstieg der Biodiversität im Kambrium (vor 545-490 Millionen Jahren) und Ordovizium (vor 490-445 Millionen Jahren), gefolgt von einem Plateau über den Rest des Paläozoikums (= Erdaltertum). Ein weiterer stetiger Anstieg ist im Mesozoikum (= Erdmittelalter) und Känozoikum (= Erdneuzeit) zu verzeichnen. Dazwischen kam es mehrfach zu gewaltigen Massenextinktionen, für die ganz unterschiedliche Ursachen angeführt werden. Die gravierendste der Erdgeschichte erfolgte an der Grenze des Perms (vor 300-250 Millionen Jahren) zur Trias (vor 250-200 Millionen Jahren), bei der 95% der marinen Wirbellosen (zum Beispiel Trilobiten) ausstarben. Auch an Land kam es zu einem Rückgang von 75% der Arten. Als mögliche Ursache wird eine sehr lange über 100.000 Jahre anhaltende Vulkanaktivität angesehen. Am Ende des Erdmittelalters (Kreide) kam es zum Aussterben von 50% aller Arten, wobei 25% aller damals präsenten Familien (zum Beispiel aus der Gruppe der Ammoniten und Dinosaurier) verschwanden. Pflanzen waren von diesem Ereignis jedoch kaum betroffen. Häufig wird als Ursachenhypothese für dieses Ereignis ein Meteoriteneinschlag diskutiert. Da viele Gruppen bereits vorher (seit mehreren Millionen Jahren) rückläufig waren (zum Beispiel waren die Fischsaurier zum Zeitpunkt des Einschlags bereits ausgestorben), werden auch globale Klimaveränderungen als Ursache diskutiert. Aus dem fossilen Datenmaterial geht hervor, dass während der letzten 542 Millionen Jahre insgesamt fünf große Extinktionsereignisse stattgefunden haben. Evolutionsbiologen und Ökologen interessiert heute die Frage, ob beim Ausbleiben klimabedingter Massenextinktionen die Biodiversität immer weiter ansteigt oder ob es Regulationsmechanismen gibt, die immer weitere Speziationen begrenzen. Für verschiedene Taxa finden sich tatsächlich Hinweise auf solche Regulationsvorgänge infolge von Konkurrenzmechanismen, die insbesondere dann wirksam werden, wenn die besiedelbare Fläche begrenzt ist. In solchen Fällen entspricht die Entstehungsrate neuer Arten mehr oder weniger der Aussterberate, wobei die exakte Gleichgewichtsbedingung in geologischen Zeiträumen schwanken kann. Kommen wir aber zurück zu dem gegenwärtig durch den Menschen verursachten Rückgang der Biodiversität. Wir haben gesehen, dass Arten im <?page no="102"?> Oliver Betz 102 Verlauf der Evolutionsgeschichte aussterben und andere neu entstehen. Man könnte somit vermuten, dass die Zahl der gegenwärtig aussterbenden Arten kurzfristig durch neu entstehende wettgemacht wird. Biologische Erkenntnisse sprechen jedoch dagegen. Alle verfügbaren Daten sagen, dass die oben genannten derzeitigen Aussterberaten von 7.000 Arten pro Jahr die Entstehungsrate bei weitem übersteigen. Als besonders hohe Artentstehungsraten gelten dabei bereits vier Arten pro einer Million Jahren, wie sie zum Beispiel bei Grillen der Gattung Laupala auf Hawaii nachgewiesen wurden (Mendelson u. Shaw 2005). Normalerweise liegen Artentstehungsraten deutlich niedriger. Angesichts dieser Zahlen ist der momentan zu verzeichnende Abwärtstrend unbestritten, das heißt, wir stehen am Beginn einer neuen Massenextinktion, die diesmal durch eine einzelne biologische Art, den Menschen (Homo sapiens) verursacht wird, deren Populationsgröße um jährlich 76 Millionen Individuen wächst (Futuyma 2007). Bereits heute sind 30% der nordamerikanischen Süßwasserfische sowie 13% aller Vogelarten akut vom Aussterben bedroht. Nach aktuellen Prognosen werden 20% der Arten der tropischen Regenwälder und damit 5-10% der gesamten Diversität der Erde in den nächsten 30 Jahren aussterben. 2. Artbildung Als Charles Robert Darwin als junger Mann im Alter von 26 Jahren mit dem Segelschiff Beagle im August 1835 das Galapagos-Archipel bereiste (vergleiche den Beitrag von Wolfgang Maier in diesem Buch), schrieb er in sein Notizbuch: "Wir scheinen daher in beiden Beziehungen, sowohl im Raum als in der Zeit, jener großen Tatsache - jenem Geheimnis aller Geheimnisse -, dem ersten Erscheinen neuer lebender Wesen auf der Erde, näher gebracht zu werden." (Darwin 2006, 261). Darwin stellte damit die Frage, wie überhaupt neue Arten entstehen. Um diese zu beantworten, müssen wir uns zunächst der Frage zuwenden, was überhaupt biologische Arten sind. Wir hatten den Begriff der "Art" im vorigen Abschnitt so benutzt, als ob er eine einfache und unzweideutige Bedeutung habe. Jedoch ist die Frage nach dem Artbegriff nicht trivial, und Biologen haben mindestens zwanzig verschiedene Konzepte vorgelegt, was unter einer Art zu verstehen sei. Darwin selbst hatte kein klares Artkonzept, mit dem er arbeiten konnte. Vielmehr sprach er konventionalistisch davon, dass der Artbegriff willkürlich und sozusagen aus konventionellen Rücksichten zu gebrauchen sei. Er ordnete dabei solche Individuen einer Art zu, die einander sehr ähnlich waren. Darwin verwendete zudem den Begriff der Varietät, welchen er auch der Bequemlichkeit halber einer Gruppe von Individuen zuteilte, die nur geringfügige individuelle Unterschiede aufweisen (Darwin 1963). Durch diese Unklarheit seines Artbegriffs hatte Darwin Schwierigkeiten, eine Lösung für jenes Problem anzugeben, das er das "Geheimnis aller Geheimnisse" genannt hatte und das zu lösen eigentlich der <?page no="103"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 103 Titel seines Werkes Origin of Species versprochen hatte. Darwin hatte zwar eine Überfülle von empirischen Belegen für mikroevolutive Prozesse, das heißt den evolutiven Wandel und die Anpassung von Lebewesen, zusammengetragen. Die Frage, wie Arten und weitere übergeordnete systematischtaxonomische Gruppen entstehen (von heutigen Biologen als Makroevolution bezeichnet), wie sich also aus einer Stammform nicht nur willkürliche, sondern objektiv abgrenzbare Einheiten entwickeln, konnte Darwin nicht vollständig beantworten. Die Beantwortung dieser Frage setzt zunächst eine klare Definition des Artbegriffs voraus. Die auf einer solchen Definition aufbauende Forschung zur Artbildung war dann bis in die Gegenwart hinein (zum Beispiel Meyer 2001) auch ein Hauptgebiet der Evolutionsforschung nach Darwin. 2.1 Artbegriff Es ist zunächst bemerkenswert, dass sich die Biodiversität nicht nur in einem kontinuierlichen Spektrum von Varietäten äußert, sondern sich in diskreten Einheiten darstellt, die wir als Spezies (= Arten) bezeichnen. Konkrete biologische Untersuchungen werden immer an Individuen durchgeführt, wobei jedes Individuum zwar zu einer bestimmten Art gehört, selbst aber keine Art ist. Individuen sind zugleich Teil einer Population, also einer Fortpflanzungsgemeinschaft oder Genaustausch-Gruppe, welche die Gesamtheit der an einem Ort in einem bestimmten Zeitraum vorkommenden Individuen umfasst, die sich untereinander fortpflanzen können. Nun beobachtet man, dass Populationen diskrete Einheiten bilden, die insofern voneinander abgegrenzt sind, als sich ihre Individuen nicht über die Grenzen dieser Einheiten hinweg, sondern nur innerhalb ihrer eigenen Populationen fortpflanzen (Abb. 4). Solche diskreten Populationssysteme bezeichnen wir als verschiedene Arten oder Spezies. Die "Art" ist somit anders als übergeordnete systematische Kategorien wie "Gattung", "Familie" oder "Ordnung" kein willkürlicher Ordnungsbegriff, um mehrere Individuen zu einer höheren Kategorie zusammenzufassen, sondern stellt eine reale Natureinheit dar, gleichsam ein Individuum höherer Ordnung (Neumann 2004). In natürlichen Lebensgemeinschaften durchdringen sich somit diskrete Populationssysteme, die verschiedenen Arten entsprechen (Abb. 5). Alle Populationen, zwischen denen Genfluss herrscht, gehören dabei zur selben Art. Die folgenden fünf Artkonzepte betonen jeweils etwas unterschiedliche Aspekte des Artbegriffs und eignen sich unterschiedlich gut für Anwendungen in der Praxis. Das biologische Artkonzept wird von den meisten Biologen angewendet. Danach sind Arten Gruppen natürlicher Populationen, die sich tatsächlich oder potenziell untereinander kreuzen können und die von anderen solchen Gruppen reproduktiv isoliert sind (Mayr 1982, 120). Bereits <?page no="104"?> Oliver Betz 104 Abb. 4 Schematische Darstellung von Arten als diskrete Populationssysteme. Nur solche Individuen dieser Populationssysteme, die sich untereinander fortpflanzen können (gestrichelte Linien), gehören zur selben Art. Abb. 5 Zwei Arten (A und B) dargestellt als sich wechselseitig durchdringende diskrete Populationssysteme in einem Lebensraum. Übernommen mit freundlicher Genehmigung des Autors W. Sudhaus sowie des Spektrum-Verlags aus Einführung in die Phylogenetik und Systematik. (Sudhaus 1992) <?page no="105"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 105 Darwin hatte ein ähnliches Konzept angedacht, dieses aber wieder verworfen aufgrund seiner Beobachtung, dass viele ähnliche Arten in Überlappungsbereichen ihrer Verbreitung hybridisieren, indem sich einzelne Individuen über die Artgrenze hinweg miteinander fortpflanzen können. Ein europäisches Beispiel hierfür sind die in Mitteleuropa westlich der Elbe und in Teilen von England verbreitete Rabenkrähe (Corvus corone) und die östlich der Elbe sowie in Skandinavien, Schottland und Irland vorkommende Nebelkrähe (Corvus cornix). Im engen Überlappungsbereich ihrer beiden Verbreitungsgebiete können beide Arten fruchtbare Hybride bilden, was zeigt, dass die genetische Isolation dieser Arten noch nicht vollständig ist. Neben dieser Schwierigkeit lässt sich das biologische Artkonzept zudem nicht auf sich ungeschlechtlich fortpflanzende Organismen anwenden, wie sie primär bei Bakterien und Einzellern und sekundär zum Beispiel in Form der Parthenogenese (= Jungfernzeugung, das heißt die Erzeugung von Nachkommen aus unbefruchteten Eizellen) bei fast allen Großgruppen von Vielzellern wie zum Beispiel bestimmten Hornmilben vorkommen (Heethoff et al. 2009). Hier liegen streng genommen auch keine Populationen vor, da kein horizontaler Genfluss zwischen verschiedenen Individuen stattfindet, sondern das genetische Material ausschließlich vertikal über die Generationenfolge auf die Nachkommen eines jeden weiblichen Individuums weitergegeben wird (Agamospezies). Hinzu kommt, dass das biologische Artkonzept in der Praxis schwer nachprüfbar ist und sich deshalb nicht unbedingt für die Erkennung von Arten eignet. Aus diesem Grund haben auch die anderen Artkonzepte ihre Berechtigung, die ihrerseits zwar nur Teilaspekte beschreiben, aber auch Agamospezies umfassen. Nach dem morphologischen oder typologischen Artkonzept sind Arten Lebensformen, die sich anhand ihrer morphologisch-anatomischen Körpermerkmale deutlich von anderen Lebensformen unterscheiden (Mayr 1982, 115ff.). Dieses Artkonzept erklärt zwar nicht, warum Arten existieren, ist aber in der Praxis unentbehrlich, um Arten überhaupt erkennen und voneinander unterscheiden zu können. Seine Anwendung ist daher vor allem Aufgabe der Taxonomie, einer Disziplin der biologischen Systematik, die sich mit der Beschreibung und Zuordnung neuer Arten befasst. In der Paläontologie ist dieses Konzept überhaupt die einzige Möglichkeit der Arterkennung. Dennoch ist seine Anwendung nicht immer einfach, da auch innerhalb von Arten Individuen sehr stark variieren können (Varietäten), so dass oft schwer zu beurteilen ist, ob es sich um Mitglieder von Rassen oder Unterarten unterhalb des Artniveaus oder um gute Arten im Sinne des biologischen Artkonzeptes handelt. Hinzu kommen innerartliche Varietäten, die auf saisonbedingte Veränderungen oder Unterschiede zwischen Geschlechtern (Sexualdimorphismus), Generationen oder Kasten zurückzuführen sind. Beide Konzepte (Biospezies und Morphospezies) sind somit nicht allumfassend, so dass es weiterer Artkonzepte bedurfte, um zusätzliche Aspekte der biologischen Art zu beschreiben. <?page no="106"?> Oliver Betz 106 Abb. 6 Evolutionäres Artkonzept: Arten (A-E) als in Raum (horizontal) und Zeit (vertikal) begrenzte Einheiten. † = Aussterbeereignis. Das evolutionäre Artkonzept definiert eine Art als eine Abstammungsgemeinschaft aus einer bis vielen Populationen in einer bestimmten Zeitspanne (Wiley 1978). Es betont den Aspekt, dass eine Art im Verlauf ihrer Geschichte verändert werden kann (Anagenese), solange keine Aufspaltung in zwei Tochterarten stattfindet. Es bezieht somit im Gegensatz zu den anderen Konzepten die zeitliche Dimension mit ein. Der Art kommt in diesem Konzept eine Individualität in der Zeit zu: sie besitzt einen Anfang, eine nicht wiederholbare Geschichte sowie ein Ende, welches entweder durch ihr Aussterben oder ihre Aufspaltung verursacht wird. Damit sind Arten in Raum (horizontales Bezugssystem) und Zeit (vertikales Bezugssystem) objektiv begrenzte Einheiten (Abb. 6). Nach dem ökologischen Artkonzept sind Arten ökologische Einheiten, die sich durch ihre jeweils spezifische ökologische Nische auszeichnen. Die ökologische Nische bezeichnet dabei die Summe aller Wechselbezüge ihrer Individuen zur Umwelt (Sudhaus u. Rehfeld 1992). Dieses Konzept hebt hervor, dass die Art auch ökologisch eine Einheit darstellt, welcher in ihrer spezifischen Interaktion mit den abiotischen und biotischen Umweltgegebenheiten eine ihr eigene Stellung im Naturhaushalt zukommt. Obwohl Darwin den Begriff der ökologischen Nische noch nicht kannte, hatte auch er ein ähnliches Konzept im Kopf, wenn er den Arten "places in the economy of nature" zusprach (Engels 2007, 94). Das genetische Artkonzept schließlich definiert die Identität einer Art als Folge koadaptiv aufeinander abgestimmter Gencluster. Im Zuge der zunehmenden Artdifferenzierung nehmen derartige Cluster zu und werden damit allmählich inkompatibel zu benachbarten Arten (Wu 2001). <?page no="107"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 107 Eine umfassende Definition der Art (organismisches oder integratives Artkonzept), die neben den fünf genannten zusätzliche (zum Beispiel biogeographische, verhaltens- und entwicklungsbiologische) Kriterien berücksichtigt, findet sich bei Maier (2008). 2.2 Entstehung von Arten Wir sahen, dass für das Biospezieskonzept die reproduktive Isolation von Arten von entscheidender Bedeutung ist. Dies bedeutet, dass Paarungen zwischen den Individuen verschiedener Arten stark eingeschränkt sind, wodurch der Genfluss zwischen Arten reduziert ist oder ganz fehlt. Die meisten Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass solche Isolationsbarrieren als Nebenprodukte im Zuge räumlicher Trennungen oder anderer Mechanismen entstanden sind. Andere Autoren vermuten hingegen, dass Reproduktionsbarrieren als Anpassung zur Erhaltung der genetischen Identität von Arten evolvierten. Der Vorteil liege dabei im Erhalt einer zum Aufbau der Organismen notwendigen Abstimmung des Gen- und Merkmalsgefüges. Man geht jedoch heute davon aus, dass dieser Prozess dem ersten nachgeordnet ist, also zunächst eine erste zufällige räumliche Isolation von Populationen stattfindet, die zwangsläufig zu einer reproduktiven Isolation führt. Erst im Anschluss erfolgt womöglich die Evolution reproduktiver Barrieren, falls Hybridnachkommen reproduktiv weniger erfolgreich und daher evolutiv benachteiligt sind. In vielen Fällen sind solche Reproduktionsbarrieren daher auf die Überlappungszone zweier Arten beschränkt. Aber welche Mechanismen sind konkret für den Prozess der Artbildung (Kladogenese) verantwortlich? Entscheidend ist in jedem Fall eine Auftrennung des Genpools der Stammart in zwei oder mehrere separate, voneinander isolierte Genpools. In diesen isolierten Genpools findet dann eine getrennte Evolution (das heißt die unabhängige Verschiebung der Häufigkeit von Allelen = konkrete Zustandsform eines Gens) statt, so dass die Teilpopulationen allmählich immer unterschiedlicher werden (Abb. 7). Zu Beginn einer solchen Trennung führt die Wegnahme der Barriere noch zu Paarungen zwischen den zunächst noch sehr ähnlichen Genpools (Hybridisierungen). Später unterscheiden sich die Teilpopulationen aufgrund ihrer unabhängigen Evolution dann so stark voneinander, dass keine Paarungen zwischen ihnen mehr möglich sind. Grundsätzlich unterscheiden Biologen zwei Möglichkeiten, wie der Genfluss zwischen Populationen unterbrochen werden kann, nämlich die allopatrische und die sympatrische Speziation. Die häufigere Form ist die allopatrische Artbildung, bei der die Populationen und damit ihr Genpool durch physikalische Barrieren aufgetrennt werden. Solche physikalische Trennungen können durch geologische Ereignisse wie die Kontinentaldrift, einen Anstieg des Meeresspiegels, eiszeitliche Vergletscherungen und anschließender Rückzug von Gletschern oder Klimaver- <?page no="108"?> Oliver Betz 108 Abb. 7 Prinzip der Artbildung. Zunächst erfolgt durch das Auftreten einer Barriere die Auftrennung des Genpools der Stammart in zwei oder mehrere separate, voneinander isolierte Genpools (B). Indem die Teilpopulationen allmählich immer unterschiedlicher werden, entwickeln sie sich schließlich zu neuen Arten weiter (C). Solange die Barriere beide Teilpopulationen noch nicht vollständig voneinander trennt, ist die Artbildung noch nicht abgeschlossen, und Individuen beider Populationen können sich noch miteinander fortpflanzen (A). Verändert nach Stearns u. Hoekstra (2005). änderungen verursacht werden. Für kleine und wenig ausbreitungsfähige Organismen reichen bereits geringere topographische Barrieren (zum Beispiel für Landbewohner unüberwindbare Wasserläufe) für eine Separation von Populationen aus. Bei einem etwaigen späteren Zusammentreffen von Individuen solcherart getrennter Populationen verhindern dann inzwischen evolvierte arteigene Reproduktionsbarrieren eine Verschmelzung der jetzt getrennten Populationen, die damit Artstatus erreicht haben. Eine verbreitete Sonderform der allopatrischen Speziation ist die peripatrische Artbildung (= Artabspaltung). Sie findet statt, wenn es einigen Mitgliedern einer Population gelingt, am Rande ihres Verbreitungsgebietes eine geographische Barriere (zum Beispiel bei der Besiedlung einer Insel) zu überwinden und dabei eine von der Ausgangspopulation isolierte neue Gründerpopulation zu gründen. Die Individuen dieser Gründerpopulation weichen genetisch von der Ausgangspopulation ab, da sie nur einen kleinen Teil der Allele des ursprünglichen Genpools enthalten (Abb. 8). Eine solche zufallsbedingte Reduktion des Genpools bezeichnet man als genetische Drift oder neutrale Evolution. Anpassungen an die neue Umwelt werden in der Gründerpopulation gegebenenfalls erst später über Selektions- <?page no="109"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 109 Abb. 8 Prinzip der peripatrischen Artbildung (= Artabspaltung). Einigen Gründerindividuen einer Population gelingt es, am Rande ihres Verbreitungsgebietes eine geographische Barriere (gestrichelte Linie) zu überwinden. Die neue Gründerpopulation enthält nur einen kleinen Teil der Allele des ursprünglichen Genpools und entwickelt sich in der Isolation rasch zu einer neuen Art. vorgänge entwickelt. Hinzu kommt, dass sich bestimmte Allele in kleinen Populationen schneller durchsetzen als in großen. In dieser Hinsicht ähneln die infolge genetischer Drift entstandenen Populationen den Inzucht- Auszucht-Systemen der Tierzüchter, bei denen nur ein kleiner Teil von Individuen, welche die vom Züchter gewünschten Merkmale aufweisen, für die Weiterzucht zugelassen wird. Durch derartige Gründereffekte (Hartl u. Clark 2007) sind die bereits erwähnten Galapagos-Finken in mehreren aufeinander folgenden Besiedlungswellen entstanden. Nach der Kolonisierung einer Insel des Archipels durch wenige Individuen einer Festlandsart vor zwei bis drei Millionen Jahren besiedelten einzelne Individuen dieser Gründerpopulation später erneut weitere Inseln des Archipels und entwickelten sich in der Isolation zu neuen Rassen, Unterarten oder guten Arten. Kamen auf diese Weise separierte Gründerpopulationen später wieder in Kontakt, so verhinderten mittlerweile entwickelte arteigene Fortpflanzungsbarrieren deren erneute genetische Vermischung, obwohl in einigen Fällen auch Hybridisierungen nachgewiesen wurden (Grant u. Grant 2008). Man geht davon aus, dass die heute vorkommenden 14 Arten durch mehrfache Wiederholung solcher Vorgänge entstanden sind, wobei gleichzeitig Konkurrenzmechanismen zu einer divergenten Anpassung an unterschiedliche Nahrungsressourcen geführt haben. Ähnliche ökologische Radiationen sind auf Galapagos bei Korbblütlern der Gattung Scalesia nachgewiesen (Schluter 2000). Inseln sind aufgrund ihrer isolierten Lage prädestiniert für diese Form der Artbildung. So kommen auf Hawaii rezent 800 Arten der Taufliegen-Gattung Drosophila und 34 inzwischen stark bedrohte oder bereits ausgestorbene Kleidervogelarten (Fringiliidae, Drepanidinae) vor. Viele weitere Beispiele ließen sich für Pflanzen und wirbellose Tiere nennen. <?page no="110"?> Oliver Betz 110 Die Evolution reproduktiver Isolation ist bereits im Laborversuch demonstrierbar und wurde zum Beispiel über Selektionsexperimente bei Tauffliegen der Gattung Drosophila nachgewiesen (Dodd 1989). Werden künstliche Teilpopulationen im Labor auf unterschiedlich zusammengesetzten Nährmedien gehalten, so lassen sich nach mehreren Generationen bereits bevorzugte Paarungen mit Partnern der eigenen Teilpopulation nachweisen. In diesem Beispiel erfolgt die Isolation bereits präzygotisch oder progam (= vor der Paarung), so dass es gar nicht erst zur Befruchtung einer Eizelle kommt. Sie ist vermutlich auf einen pleiotropen (= mehrere phänotypische Merkmale betreffenden) Geneffekt zurückzuführen, bei dem Allele, welche die Verdauung bestimmter Kohlenhydrate begünstigen, gleichzeitig die Chemie der Cuticulaoberfläche verändern, die bei diesen Insekten der Partnererkennung dient. Hier verläuft die genetische Isolation über die unterschiedliche Entwicklung von Sexualsignalen. Auch der Vogelgesang oder die unterschiedlichen Gesichtsfärbungen bei afrikanischen Meerkatzen der Gattung Cercopithecus beinhalten solche Signale und stehen im Zusammenhang mit progamer reproduktiver Isolation. Andere mögliche progame Isolationsmechanismen beruhen auf der mechanischen Unvereinbarkeit der Geschlechtsorgane (zum Beispiel "Schlüssel- Schloss"-Prinzip der Insekten) oder der Inkompatibilität der Gameten (= Geschlechtszellen) aufgrund makromolekularer Veränderungen ihrer Zelloberfläche. Bei Blütenpflanzen wird progame Isolation vielfach dadurch erreicht, dass die Blütennarbe artfremder Pollen nicht mehr erkennt und dessen Keimung verhindert. Sollte es trotz der genannten Mechanismen dennoch zur Befruchtung einer artfremden Eizelle kommen, so treten häufig postzygotische oder metagame (= nach der Paarung erfolgende) Isolationsbarrieren in Kraft. Dies kann sich im Absterben der Bastardzygote infolge genetischer Unverträglichkeit beider Arten äußern oder zu einer verminderten Fruchtbarkeit der Hybriden (Bastardsterilität) führen wie bei Maultier und Maulesel. Die zweite Möglichkeit der Artentstehung wird als sympatrische Artbildung bezeichnet. Hierbei wird der Genfluss innerhalb einer Population unterbrochen, obwohl äußere physische Barrieren fehlen. Ein vor allem bei Pflanzen weit verbreiteter sympatrischer Artbildungsmechanismus ist mit dem Vorgang der Polyploidie verbunden. Die meisten Tiere und Pflanzen besitzen einen doppelten Chromosomensatz, bei dem jedes Chromosom in doppelter Anzahl vorkommt. Dieser doppelte Chromosomensatz wird in der Meiose zur Bildung der Gameten auf die Hälfte reduziert, um bei der anschließenden Befruchtung durch ein anderes Individuum wieder zum doppelten Satz zu verschmelzen (Abb. 9). Bei einigen Individuen einer Population führen bestimmte Mutationen zum Ausbleiben der Chromosomentrennung in der Meiose, was eine Verdopplung des Chromosomensatzes zur Folge hat, der dann als vierfacher Satz vorliegt (Autopolyploidie). Wenn sich solche Indivi- <?page no="111"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 111 duen mit Individuen mit normalem doppelten Chromosomensatz kreuzen, resultieren daraus Nachkommen mit einem ungeraden Chromosomensatz. Diese sind zumeist steril, da deren überzählige ungepaarte Chromosomen zu einer abnormen Meiose führen (Abb. 10). Innerhalb nur einer Generation Abb. 9 Prinzip der Meiose zur Bildung haploider Gameten (= Geschlechtszellen). Durch die Verschmelzung der haploiden Gameten zweier Individuen (rechte Teilabbildung) wird der ursprüngliche diploide Chromosomensatz wieder hergestellt. Die Chromosomen beider Partnerindividuen sind schwarz und weiß gezeichnet. Abb. 10 Prinzip der sympatrischen Artbildung infolge einer Verdopplung des Chromosomensatzes (Autopolyploidie) einzelner Individuen. Da sich der doppelte Chromosomensatz der Geschlechtszellen solcher Individuen nicht mehr korrekt mit dem einfachen Chromosomensatz der Individuen der Ausgangspopulation paaren kann (rechte Teilabbildung), sind solche Individuen von der Ausgangspopulation reproduktiv isoliert und können sich gemeinsam mit ebenfalls autopolyploiden Individuen der gleichen Chromosomenzahl zu neuen Arten entwickeln. <?page no="112"?> Oliver Betz 112 wird in diesen Fällen somit der Genfluss zwischen der Ursprungspopulation und den mutierten Individuen mit vierfachem Chromosomensatz unterbrochen, so dass sympatrisch (= im gleichen Gebiet) zwei reproduktiv voneinander isolierte Arten entstanden sind. Eine noch häufigere Form der sympatrischen Artbildung bei Pflanzen ist die der Polyploidisierung nach Hybridisierung. Diese erfolgt im Anschluss an eine Bastardierung (= die Kreuzung zweier verschiedener eng verwandter Arten), welche häufig eine unterschiedliche Zahl von Chromosomensätzen aufweisen. Wegen der Ungleichzahligkeit der Chromosomensätze sind die Hybriden in der Regel unfruchtbar, da die Chromosomen in der Meiose keinen homologen Partner finden. Verschiedene Mechanismen wie die Verdopplung des Chromosomensatzes bei den Hybriden (Allopolyploidie) können jedoch zu polyploiden fertilen Nachkommen führen, die zugleich von ihren diploiden Ursprungsarten isoliert sind und daher als neue Arten im Sinne des biologischen Artkonzeptes zu gelten haben. Pflanzen sind prädestiniert für diesen Mechanismus der Artbildung, da sie reproduktiv isolierte Übergangsphasen durch Selbstbefruchtung oder vegetative Vermehrung überbrücken können. Auf diese Weise sind sie auch in der Lage, die nach Autopolyploidie auftretenden abnormen Meiosen (siehe oben) zu kompensieren. Tatsächlich gehen Schätzungen davon aus, dass 70% der Blütenpflanzen- und 90% der Farnarten durch Polyploidie entstanden sind. Dies gilt auch für viele unserer Kulturpflanzen. So entstand der heutige hexaploide (= einen sechsfachen Chromosomensatz aufweisende) Saatweizen Triticum aestivum vor einigen tausend Jahren als spontaner Hybrid und nachfolgende Polyploidisierung aus einem ebenfalls durch Allopolyploidie entstandenen tetraploiden Kulturweizen (Triticum turgidum) und einem diploiden Wildgras (Aegilops triuncialis) (Denffer et al. 1983). Die Hauspflaume Prunus domestica ist ein Hybrid aus Schlehe (Prunus spinosa) und Kirschpflaume (Prunus cerasifera). Bei Tieren war die sympatrische Artbildung lange umstritten, und der vielleicht einflussreichste Evolutionsbiologe des 20. Jahrhunderts, Ernst Mayr (1904-2005) hat bis ins hohe Lebensalter dagegen gekämpft (Sander u. Meyer 2008). Ein inzwischen gut untersuchter Mechanismus sympatrischer Artbildung bei Tieren liegt jedoch dem sogenannten Treffpunktprinzip zugrunde, wie es zum Beispiel von phytophagen (= pflanzenfressenden) oder blütenbesuchenden Insekten beschrieben wurde (zum Beispiel Zwölfer 1974, Schwarz et al. 2005). Dabei handelt es sich um ein Verhalten, das sicherstellt, dass sich die Männchen und Weibchen in reich strukturierten Lebensräumen überhaupt finden. Dies ist vor allem bei Arten mit kleinen Individuen relevant und bei vielen Insekten wie Blattläusen (Aphidoidea) oder Bohrfliegen (Tephritidae) beschrieben (Futuyma 2007, 395). Das Treffpunktprinzip besagt, dass sich männliche und weibliche Tiere an solchen Pflanzen zur Paarung treffen, auf deren Blüten sie zur Nahrungsaufnahme spezialisiert sind oder an denen die weiblichen Tiere ihre Eier ablegen. Wenn nun einige Mitglieder der Popu- <?page no="113"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 113 lation durch Mutationen neue ökologische Vorlieben entwickeln, die zur Nutzung einer anderen Pflanzenart führen, sind diese unmittelbar genetisch von der Stammpopulation isoliert, da sie sich aufgrund des Treffpunktprinzips nur mit solchen Individuen paaren können, welche die gleiche Vorliebe für die neue Pflanzenart entwickelt haben. Solche zum Beispiel durch die Mutation eines Rezeptorproteins einer chemischen Sinneszelle (Zwölfer u. Bush 1984) neu entwickelten Vorlieben können bei phytophagen Insekten neue Fraßpflanzen sein (zum Beispiel neu eingeführte Kulturpflanzen) oder bei Bienen neue Blütenvorlieben. Die hieraus entstehenden isolierten Teilpopulationen werden zunächst als reproduktiv noch unvollständig isolierte Wirtsrassen oder Biotypen bezeichnet, die sich langfristig zu eigenständigen Arten entwickeln können (Zwölfer u. Romstöck-Völkl 1991; Matsubayashi et al. 2010) (Abb. 11). Die damit einhergehende zunehmende reproduktive Isolation kann zum Beispiel zusätzlich infolge zeitlicher Verschiebungen von Fortpflanzungszeiten im Zusammenhang mit unterschiedlichen Fruchtreife- Abb. 11 Sympatrische Artbildung nach dem Treffpunktprinzip bei Insekten mit enger Bindung an bestimmte Wirtspflanzenarten. Bei bestimmten Bohrfliegen treffen sich männliche und weibliche Tiere zur Paarung an der artspezifischen Eiablagepflanze. Entwickeln einzelne Individuen in einer sympatrischen Situation genetisch verankerte Vorlieben für andere Arten von Eiablagepflanzen, so sind sie aufgrund des Treffpunktprinzips unmittelbar von der Ausgangspopulation reproduktiv isoliert und können sich über Wirtsrassenbildung mittelfristig zu neuen Arten entwickeln. Ähnliche wirtsbezogene Artbildungsmechanismen wurden für bestimmte Blattläuse, Buckelzikaden und Gespinstmotten nachgewiesen (vergleiche Zwölfer u. Bush 1984). Die Bilder zeigen Weibchen der Bohrfliege Urophora cardui und wurden freundlicherweise von ihrem Fotografen Helmut Zwölfer zur Verfügung gestellt. <?page no="114"?> Oliver Betz 114 perioden der Wirtspflanzen beschleunigt werden. Insgesamt geht bei dieser Form der sympatrischen Artbildung also ein Wechsel der ökologischen Nische mit einer progamen reproduktiven Isolation einher. Sie tritt bevorzugt bei Lebensformen mit aggregierter (= räumlich stark eingegrenzter) Nischenstruktur auf, wie sie zum Beispiel bei auf einen oder wenige Wirte beschränkte Parasiten, parasitoiden Schlupfwespen oder spezialisierten phytophagen Fadenwürmern und Insekten auftritt (Zwölfer u. Bush 1984). Zu solchen Lebensformen gehören nach Schätzungen 50% aller Tierarten. Die Bildung von Wirtsrassen kann innerhalb kurzer Zeiträume von nur 10-100 Jahren ablaufen (Zwölfer u. Bush 1984). Auch bei der weltweit mehr als 2.000 Arten umfassenden Familie der Buntbarsche (Cichlidae) werden sympatrische Artbildungsprozesse als bedeutsam eingeschätzt. Diese sind besonders gut in den ostafrikanischen Seen untersucht, wo innerhalb der letzten 100.000 Jahre mehr als 1.500 Arten entstanden sind (Zrzavy et al. 2009, 356). Sogar in den noch jungen, weniger als 25.000 Jahre alten Kraterseen Nicaraguas ist sympatrische Artbildung zu beobachten (Barluenga et al. 2006). Die Radiationen bestimmter Artenschwärme im ostafrikanischen Victoriasee beruhen teilweise auf dem Sexualverhalten von Weibchen, die sich bevorzugt mit Männchen einer bestimmten Körperfarbe paaren, die zum Beispiel besonders gut mit den eigenen Farbmerkmalen übereinstimmen. Farb- und visuelle Rezeptorgene sind bei Buntbarschen leicht veränderbar. Wenn solche Gene mit ökologischen Spezialisierungen gekoppelt sind oder solche infolge von Konkurrenzmechanismen nach sich ziehen, kann dies über eine divergente Selektion der entstandenen Phänotypen zu Artbildung führen, da Mischformen häufig eine geringere Fitness aufweisen. Seehausen et al. (2008) fanden Hinweise darauf, dass sympatrische Artbildung bei Buntbarschen der Gattung Pundamilia des Victoriasees dadurch erfolgt, dass Unterschiede in den Lichtbedingungen des Sees (bedingt durch verschiedene Wassertiefen und Wassertrübungen) die Sehpigmente auf unterschiedliche spektrale Empfindlichkeiten selektieren. Solche Unterschiede in der Farbempfindlichkeit des Sehsystems beeinflussen auch die Partnerwahl und führen durch sexuelle Selektion dazu, dass solche Partner bevorzugt werden, deren Farben unter den gegebenen Lichtbedingungen besonders auffällig erscheinen (zum Beispiel blaue Farbvarianten in geringen und rote in großen Wassertiefen). Diese Interaktionen führen dazu, dass in der Population bestimmte Farballele (zum Beispiel die Körperfarbe rot) besonders häufig mit Rezeptorallelen kombiniert sind, die eine besondere spektrale Empfindlichkeit für diese Farbe aufweisen (zum Beispiel Rezeptoren mit höheren Empfindlichkeiten im langwelligen (roten) Spektrum). Wenn Individuen mit weniger gut zusammenpassenden Allelen beider Genbereiche eine geringere Fitness (= Fortpflanzungserfolg) aufweisen, kann dies über disruptive Selektion (= Selektion auf zwei oder mehr extreme Phänotypen, wobei dazwischenliegende Formen Nachteile haben) zu sympatrischer Art- <?page no="115"?> Artentstehung, natürliches Aussterben und anthropogene Krise der Biodiversität 115 bildung führen. Dieser Ablauf kann noch verstärkt werden, wenn Weibchen sich bevorzugt mit Männchen der eigenen Körperfärbung paaren. 3. Schlussbemerkung Die Ausführungen zur Artentstehung haben gezeigt, dass der konkrete Mechanismus der Artbildung stark von den physiologischen, ökologischen und genetischen Eigenschaften der einzelnen Tier- oder Pflanzengruppe sowie den jeweiligen Umweltbedingungen abhängt. Der Artbegriff umschreibt somit für so verschiedene Organismen wie Bakterien, Einzeller, Flechten, Pilze, Vögel oder Gräser nicht exakt das gleiche evolutionäre Phänomen. Artbildungsmechanismen haben sich im Verlauf der Evolution mehrfach unabhängig entwickelt. Das Biospezieskonzept lässt sich erst sinnvoll mit der Entstehung der bisexuellen Fortpflanzung vor ungefähr 600 Millionen bis 1 Milliarde Jahren anwenden (Neumann 2004). Arterhaltende Isolationsmechanismen stellen letztlich einen Mechanismus dar, um die Integrität eines Genpools aufrechtzuerhalten und vorteilhafte Genkombinationen vor Auskreuzungen zu schützen (Neumann 2004). Bei vielen wirbellosen Tieren mit kleinen Individuen und gleichzeitig hochaggregierter Nischenstruktur (zum Beispiel Fadenwürmer, parasitoide Schlupfwespen, phytophage Insekten) können bereits wenige Mutationen zu ökologisch neu eingenischten Formen führen, aus denen dann längerfristig eigenständige Arten werden. Zudem sind sympatrische und allopatrische Speziationsmechanismen auch in Kombination denkbar. Obwohl neue Arten innerhalb weniger tausend Jahre entstehen können wie es bei einigen Buntbarschen nachgewiesen wurde (Barluenga et al. 2006), müssen im Mittel deutlich längere Zeiträume von mehreren Millionen Jahren angenommen werden (Campbell u. Reece 2009, 675). Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass einzelne Organismengruppen sehr lange brauchen werden, um den sich gegenwärtig vollziehenden anthropogen bedingten massiven Artenrückgang zu kompensieren. Aktuelle Hochrechnungen gehen davon aus, dass hierfür geologische Zeiträume veranschlagt werden müssen (Alroy 2010). Charles Robert Darwin war nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch vielseitig gesellschaftspolitisch interessiert. Unter anderem interessierten ihn Fragen des Tierschutzes und der Tierethik (Engels 2007). Aus seiner Evolutionstheorie lässt sich unschwer ableiten, dass die nach wie vor verbreitete Vorstellung von der menschlichen Evolution als Leiter mit einer Reihe von Stufen, die direkt zum Homo sapiens führen, falsch ist. Vielmehr ist der Mensch historisch in den Stammbaum des Lebens eingebettet, so dass er viele Merkmale mit anderen Lebewesen teilt. Im Hinblick auf die anthropogen verursachte Biodiversitätskrise könnte die Bewusstmachung der evolutionsbiologischen Stellung des Menschen als einer Art unter vielen anderen zu <?page no="116"?> Oliver Betz 116 einem respektvolleren und bewussteren Umgang mit der ihn umgebenden Natur führen. Der Mensch kann und sollte als moralfähiges Wesen über die Folgen seiner Handlungen Rechenschaft ablegen und seine damit verbundene Verantwortung reflektieren - und begründete Konsequenzen daraus ziehen. Danksagung Ich danke meiner Frau Dr. Heike Betz sowie meinen Kollegen PD Dr. Thomas Potthast sowie Prof. Dr. Eve-Marie Engels und ihren studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die kritische Durchsicht des Manuskriptes und zahlreiche Verbesserungsvorschläge. Literatur Alroy, J. 2010: The shifting balance of diversity among major marine animal groups. Science 329, 1191-1194. Barluenga, M., Stölting, K.N., Salzburger, W., Muschick, M. u. Meyer, A. 2006: Sympatric speciation in Nicaraguan crater lake cichlid fish. Nature 439, 719- 723. Begerow, D. 2008: Koevolution - Zur Bedeutung organismischer Interaktion für die Evolution, in: O. Betz u. H.-R. Köhler (Hg.): Die Evolution des Lebendigen, 173-186. Narr Francke Attempto, Tübingen. Berendse, F. u. 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Fernandes u. W.W. Benson (Hg.): Plant-animal interactions: evolutionary ecology in tropical and temperate regions, 487-507. John Wiley & Sons, New York. <?page no="121"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz Historische, wissenschaftstheoretische und ethische Dimensionen Thomas Potthast Zusammenfassung Dieser Beitrag erschließt historische, wissenschaftstheoretische und ethische Dimensionen der Wirkung Darwins auf die naturwissenschaftliche Ökologie einerseits und die „politische Ökologie“ des Umwelt- und Naturschutzes andererseits. Bei Darwin bilden ökologische Perspektiven wie die komplexen Interaktionen zwischen verschiedenen Arten einen Kernbestandteil der Selektionstheorie und seiner eigenen experimentellen Forschungen. Die Ökologie als eigenständige Disziplin richtet ihren Fokus dann auf Einheiten jenseits des Individuums und der Arten. Sie entstand unter ausdrücklichem Bezug auf Darwin, doch die Bedeutung der Evolutionstheorie änderte sich immer wieder, weil kontrovers blieb, inwiefern Lebensgemeinschaften und vor allem Ökosysteme sich rein ‚darwinistisch‘ erklären lassen. Parallel zur Ökologie entstand der Naturschutz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eher in Abwendung von der Naturwissenschaft, und im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden eher von Darwin weg führende sozialdarwinistische Debatten über Degeneration im Naturschutz geführt. Zugleich aber wurden bereits früh im 20. Jahrhundert großräumige Schutzgebiete nicht zuletzt zum Zwecke der natürlichen Evolution gefordert, was heutigen Konzepten des Prozessschutzes sehr nahe kommt. Ethisch betrachtet ist die Idee eines ‚Evolutionsschutzes‘ eher unplausibel, weil Evolution in jedem Falle stattfindet. Doch es bestehen gute klugheitsethische Gründe zur Erhaltung der Vielfalt und Variationsfähigkeit natürlicher und von Menschen seit langem im lokalen Kontext gezüchteter Tier- und Pflanzenformen. Zudem ist die Anerkennung eines über menschliche Interessen hinausgehenden Eigenwertes der Biodiversität und der mit ihr verbundenen Prozesse angesichts der - nicht zuletzt von Darwin herausgearbeiteten - evolutionären Verbundenheit zwischen Menschen und dem Rest der Natur nachvollziehbar, ohne sich dabei die Begründungslast eines moralischen Selbstwertes im strengen Sinne auferlegen zu müssen. 1. Vorbemerkung und Fragestellung Da Charles Darwin (1809-1882) maßgeblicher Begründer der modernen Evolutionstheorie ist, sollten seine Einflüsse in jeder Teildisziplin der Biologie aufzuweisen sein. Auch für die Ökologie gilt das Diktum des Evolutionsfor- <?page no="122"?> Thomas Potthast 122 schers Theodosius Dobzhansky (1900-1975): „Nothing makes sense in biology except in the light of evolution“ (Dobzhansky 1973, 125). Hier lohnt es sich, eine genauere Spurensuche zu betreiben, wobei die Rolle Darwins als Impulsgeber für die Ökologie seit Längerem wissenschaftshistorisch diskutiert wird (Stauffer 1957). Vorab nicht so eindeutig zu erwarten ist sein Bezug zum Naturschutz, einem komplexen Feld gesellschaftspolitischer, wissenschaftlicher und lebensweltlicher Praxis. Doch auch diesbezüglich ist Darwins Einfluss bereits erörtert worden, denn die Art und Weise, wie Natur wissenschaftlich aufgefasst wird, beeinflusst die Grundannahmen des Naturverständnisses und damit auch die Ideen zu ihrem Schutz (Worster 1994). Für die Untersuchung der Thematik sollen im Folgenden drei Dimensionen einbezogen werden: 1) In historischer Perspektive wird gefragt, in welcher Weise Darwin und vor allem sein Werk in Ökologie und Naturschutz aufgenommen wurden. 2) In wissenschaftstheoretischer Perspektive ist zu erörtern, welche Rolle die Evolutionstheorie für Theorien der Ökologie und des Naturschutzes genau spielte, auch hierbei ist der historische Verlauf von Bedeutung. 3) Schließlich wird in ethischer Perspektive untersucht, ob moralische Imperative aus der Evolution bzw. der Evolutionslehre für Natur- und Umweltschutz abgeleitet wurden und inwiefern sie aus moralphilosophischer Sicht plausibel erscheinen. Da das Themengebiet ausgesprochen umfassend ist, erfolgt aus pragmatischen Gründen eine Schwerpunktsetzung auf den deutschsprachigen Bereich. 1 2. Darwins Bedeutung in der Geschichte der Ökologie Rein chronologisch betrachtet ist Darwin ‚älter‘ als die Ökologie und der Naturschutz. Sein erstes Hauptwerk (Darwin 1859) erschien vor der Begründung der naturwissenschaftlichen Ökologie, wobei er eine entscheidende Bedeutung besaß. Ökologie als Wissenschaftspraxis bzw. Forschungsfeld entwickelt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Vorher und noch weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden ökologische Fragestellungen nur als Teil der Zoologie oder Botanik bzw. in den Geowissenschaften bearbeitet, wodurch sich Pflanzen- und Tierökologie sowie Geoökologie zum großen Teil getrennt entwickelten (Trepl 1987). Im Vergleich zu anderen biologischen Disziplinen bildeten sich auch die wissenschaftlichen Fachgesellschaften eher spät und mit bemerkenswerten räumlichen Unterschieden: Die British Ecological Society 1 Die folgende Darstellung geht in unterschiedlichen Teilen zurück auf Ausführungen in Potthast (1999, 2006, 2011). Für hilfreiche Hinweise zu einer früheren Version dieses Aufsatzes danke ich Eve-Marie Engels, Oliver Betz und Michael Botsch. <?page no="123"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 123 wurde 1913, die Ecological Society of America 1917 gegründet, während eine eigenständige deutschsprachige Gesellschaft für Ökologie erst 1970 entstand. 2.1 Darwins Ökologie Ökologie als Teildisziplin der Biologie muss sich, wie erwähnt, notwendig auf Darwin beziehen, insofern dieser mit seiner Evolutionstheorie bzw. deren verschiedenen Teiltheorien die Biologie grundlegend revolutioniert und maßgeblich geprägt hat. Mit Bezug auf Darwins ökologische Perspektiven können drei Elemente herausgehoben werden: Zum Ersten formuliert das dritte Kapitel von Origin of Species („Struggle for Existence“, Darwin 1859, 60ff.) eine ökologische Interaktionstheorie aller Organismen: „[…] the structure of every organic being is related, in the most essential yet often hidden manner, to that of all other organic beings, with which it comes into competition for food or residence, or from which it has to escape, or on which it preys.“ (Darwin 1859, 77) Darwin illustriert die wechselseitige Abhängigkeit der Organismen mit der berühmt gewordenen Ketten-Parabel von Hummeln, Mäusen, Katzen und Klee: Da Rotklee (Trifolium pratense) vor allem von Hummeln bestäubt werde, Hummelnester aber von Feldmäusen zerstört und die Mäuse wiederum von Katzen gefressen würden, hänge die lokale Verbreitung von Pflanzen eben mittelbar von Katzen ab. (Darwin 1859, 73f.). Dass diese wiederum in der Nähe menschlicher Siedlungen häufiger seien, erwähnt Darwin ausdrücklich, schließt den Menschen in die Schilderung der ökologischen Wirkungskette aber nicht explizit mit ein. Dabei scheint mir der Grund dafür in der methodischen Trennung zwischen natürlicher und künstlicher Selektion zu liegen - ein Motiv, das sich auch insofern durch die gesamte Geschichte der Ökologie zieht, als dass Menschen zumeist nicht als ‚natürliche‘ ökologische Faktoren wahrgenommen werden, sondern eben als ‚unnatürliche‘. Dies hat - mit etlichen Zwischenschritten - auch Einfluss auf die ökologische Gegenüberstellung von Mensch und Natur, sogar nach und trotz der Darwin’schen evolutionären ‚Naturalisierung‘ des Menschen (vgl. ausführlicher Potthast 1999, Kap. 4). Zum Zweiten ist bei Darwin die auf Carl von Linné (1707-1778) zurückgehende Idee eines Haushalts der Natur vertreten, wo er von „places in the economy of nature“ spricht (z.B. Darwin 1859, 81f.). Zugleich ist diese Vorstellung verbunden mit folgender Beobachtung: Trotz dynamischer Ereignisse und Prozesse sind die Kräfte der Natur langfristig so im Gleichgewicht („nicely balanced“), dass das Erscheinungsbild der Natur über große Zeiträume hinweg gleich bleibe (Darwin 1859, 73). Diese Sichtweise ist meines Erachtens mit seiner naturphilosophischen Konzeption eines Gradualismus eng verknüpft (vgl. dazu Engels 2007, 94). Der Ausdruck „economy of nature“ findet sich in Origin of Species an vielen Stellen, und eine Interpretation er- <?page no="124"?> Thomas Potthast 124 scheint nicht einfach. In gewisser Weise kann er als erster Schritt zur späteren Konzeption der „ökologischen Nische“ verstanden werden, was mit Bezug auf die „Plätze“ einzelner Organismen in der Natur und ihrer entsprechenden Anpassung überzeugend ist. Doch zugleich verweist Darwin mit diesem Ausdruck sehr viel allgemeiner auf eine Ordnung der Natur, die der Wissenschaftshistoriker Stauffer (1957) - im Sinne der Biologie des 20. Jahrhunderts - als „Systemcharakter“ bestimmt und sie an entsprechende Konzepte der Ökosystemökologie anschließt. Andere Autoren haben dargelegt, dass diese Ökonomie der Natur vor allem einem allgemeinen zeitgenössischen sozialen und gesellschaftspolitischen Ideal entsprach. Die gemeinsamen Basistheoreme Knappheit, Konkurrenz und Effizienz sind die Grundlagen der Ökonomie der Natur („economy of nature“, siehe oben) ebenso wie die der Natur der Ökonomie, also der Wirtschaftsweise von Menschen (Young 1985). Der dritte Punkt betrifft die Schlussbemerkung von Darwins Origin: „It is interesting to contemplate an entangled bank, clothed with many plants of many kinds, with birds singing on the bushes, with various insects flitting about, and with worms crawling through the damp earth, and to reflect that these elaborately constructed forms, so different from each other, and dependent on each other in so complex a manner, have all been produced by laws acting around us. […] There is grandeur in this view of life, with its several powers, having been originally breathed into a few forms or into one; and that, whilst this planet has gone cycling on according to the fixed law of gravity, from so simple a beginning endless forms most beautiful and most wonderful have been, and are being, evolved.“ (Darwin 1859, 489f.) In der deutschen Übersetzung von Viktor Carus (1823-1903) wird die Metapher der „entangled bank“ durch „dicht bewachsene Uferstrecke“ nicht wirklich deutlich (Darwin 1988; in späteren englischen Auflagen hat Darwin „entangled“ durch „tangled“ ersetzt). Die ‚Verwickeltheit‘ des Uferstücks wird als Hinweis auf Komplexität verstanden, die wiederum ökologische Fragestellungen vorweg genommen habe. Der Historiker Joel Hagen (1992) hat die Metapher sogar zum Titel seines Buches über die Entstehung der Ökosystemökologie gemacht. Er verweist aber ansonsten vor allem auf Darwins interaktionsbezogene Selektionstheorie als entscheidenden Stimulus sowohl für die Biologie insgesamt als auch für die die Ökologie. Damit vermittelt Hagens Titelzitat von Darwins „entangled bank“ aus heutiger Sicht zwar einen nachvollziehbaren Hinweis darauf, dass verwickelte Komplexität eines der Kennzeichen moderner Ökologie ist; aus historischer Sicht jedoch ist Darwins Selektionstheorie von größerer unmittelbarer Bedeutung. Darwin hat neben seinem Hauptwerk auch praktisch an ökologischen Phänomenen gearbeitet. Genannt seien hier vor allem sein letztes Werk über Regenwürmer und deren Bedeutung für die Bodenentwicklung und Bodenfruchtbarkeit (Darwin 1881). Hier und ebenso in seinem frühen Buch über die Entstehung von Korallenriffen (Darwin 1842) nimmt er ausdrücklich die <?page no="125"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 125 Erdwissenschaften bzw. Ozeanographie mit in seine gewissermaßen fächerübergreifende Betrachtung auf. Dieser Einbezug wurde für die Ökologie im 20. Jahrhundert ausgesprochen bedeutsam. Im Buch zu den Regenwürmern (Lumbridicae) wie im ebenfalls mehrfach überarbeiteten Buch über Orchideen und ihre Bestäuber (Darwin 1862) wird klar, dass Darwin auch experimentell an ‚ökologische‘ Fragen herangegangen ist. Das Regenwurm-Buch gilt als Pionierarbeit für die quantifizierende Ökologie (De Beer 1963) bzw. als Beispiel einer experimentellen Naturgeschichte (Rheinberger u. McLaughlin 1984). In anderer Hinsicht wurde darauf hingewiesen, dass Darwins Naturbild einerseits streng selektionistisch („managerial“ im Sinne der Konkurrenz und eines ökonomischen Knappheitsprimats) ist, anderseits aber auch voller Vorstellungen natürlicher Harmonie („arcadian ideal of nature“) steckt (Worster 1994, 184). Worster deutet diese Elemente mit Verweis auf biographisch heterogene Erfahrungen Darwins auf Reisen und im ländlichen Down, zugleich aber auch mit festen Überzeugungen viktorianischer Fortschrittsideen, die ein rückwärtsgewandtes Naturideal ausschlössen. Insgesamt erscheint mir die Beobachtung der Ambivalenz sehr zutreffend. Dieselbe Ambivalenz findet sich in heutigen Debatten um das vermeintliche „ökologische Gleichgewicht“, das einerseits die öffentliche Diskussion beherrscht, andererseits immer wieder aufs Neue gerade von naturwissenschaftlichen Ökologen verworfen wird (Potthast 2004). Darwins ‚Ökologie‘ lässt sich insgesamt als eine implizite verstehen, in der die Umwelt des Organismus in ein Netzwerk selektionierender Interaktions- Beziehungen (Konkurrenz in einem weiten Sinne) eingebunden ist. In diesem Verständnis der Ökonomie der Natur bilden und verändern sich die einzelnen - wie wir heute sagen würden - Nischen („places in the economy of nature“, siehe oben) dynamisch, doch die (Ökonomie der) Natur insgesamt bleibt im Großen meist, aber nicht immer, langfristig stabil. Dieser Punkt spielt in der Geschichte der Ökologie ebenso wie in der des Naturschutzes immer wieder eine stets aufs Neue umstrittene Rolle. 2.2 Haeckels Begriffsprägung der „Ökologie“ Bereits die Wortprägung und der konzeptionelle Entwurf der Ökologie sind ganz maßgeblich mit Charles Darwin verbunden. Der „deutsche Darwin“ Ernst Haeckel (1834-1919) wurde nach der Publikation des Origin sehr rasch zum wichtigsten Vertreter der Darwin’schen Evolutionstheorie in Deutschland. Er publizierte 1866 mit der in weniger als einem Jahr geschriebenen Generellen Morphologie der Organismen ein ebenso umfangwie einflussreiches Werk mit dem erwähnenswerten Untertitel des Gesamt-Werkes: Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie (Haeckel 1866). Der zweite Band lieferte erstmals detaillierte Stammbäume, und zwar bereits einschließlich des Menschen, was zu dieser Zeit über Darwin hinaus <?page no="126"?> Thomas Potthast 126 ging (u.a. Hoßfeld 2009). Zugleich entwarf Haeckel darin eben das neue biologische Fachgebiet der Ökologie im Rahmen eines umfassenden Entwurfs für ein System der Biologie. Verbunden war dies mit scharfer Kritik an der Begriffsverwirrung durch unterschiedliche Verwendungen und Auffassungen biologischer Disziplinen und Fachkollegen. In einer Fußnote erwähnt Haeckel die Ökologie erstmals, um der Mehrdeutigkeit zu begegnen, die mit dem Ausdruck „Biologie“ verbunden war: Haeckel verstand unter „Biologie“ eine übergreifende ‚Lebenswissenschaft‘, während das, was andere zeitgenössische Autoren darunter verstanden, nunmehr eben neu als „Ökologie“ zu bezeichnen sei. Auch der Begriff „ethologisch“ bezeichnete seinerzeit zuweilen das, was dann „ökologisch“ heißen sollte (Haeckel 1866a, 8). Doch die terminologische Perspektive ist nur der erste Aspekt. Haeckel wollte ein umfassendes, einheitliches Forschungsprogramm der Biologie entwerfen, das er interessanterweise nur exemplarisch als System der „Gesamtwissenschaft von den Thieren“ vorlegte. Er forderte jedoch dasselbe auch für die Botanik und die Protistik als den anderen beiden „Reichen“ des Lebendigen. In diesem System nun findet sich unter „Physiologie“ - die anderen großen Bereiche sind „Morphologie“ und „Chemie“ - der Neologismus „Ökologie“: „Oecologie und Geographie des Organismus oder Physiologie des Organismus zur Aussenwelt“ (Haeckel 1866a, 237). In der Generellen Morphologie erscheint die Ökologie an verschiedenen Stellen und in leichten Differenzierungen, die inzwischen gut dokumentiert sind, ebenso wie die Erwähnung der Ökologie in späteren Publikationen (Stauffer 1957, 140f.; Acot 1998, 671f.). Eine Definition mit Bezug auf die griechischen Begriffe „oikos“ und „logos“ sowie inhaltliche Ausführungen zur Ökologie finden sich im zweiten Band: „Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ‚Existenz-Bedingungen‘ rechnen können. Diese sind theils organischer theils anorganischer Natur.“ (Haeckel 1866b, 286) Immer wieder rekurriert Haeckel auf den Haushalt der Natur - und zugleich auf seine eigene wissenschaftliche Weltanschauung: „Die Descendenz-Theorie erklärt uns also die Haushalts-Verhältnisse mechanisch, als die nothwendigen Folgen mechanischer Ursachen, und bildet somit die monistische Grundlage der Oecologie. Ganz dasselbe gilt nun auch von der Chorologie der Organismen.“ (Haeckel 1866b, 287) Die explizit räumliche (heute: biogeographische) Dimension, die im ersten Band noch unter „Geographie“ firmiert, heißt im zweiten „Chorologie“. Wie in einem Brennglas sind hier alle Elemente versammelt, die den Haeckel’schen Ökologieentwurf ausmachen. In späteren Definitionen hat er sowohl die Bedeutung Darwins und seiner Selektionstheorie als auch die des Gesamt-Haushaltes der Natur noch stärker betont. Andererseits ist Haeckels <?page no="127"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 127 Bezug auf Darwin oft eher deklamatorisch und kaum konkret auf bestimmte Details von Darwins Werk bezogen. Seitens der Wissenschaftsgeschichte wird Haeckels historisches Verdienst dahingehend gewürdigt, dass er das Forschungsgebiet der Ökologie als eigenständiges und sich seiner selbst bewusstes Forschungsgebiet definiert hat, ohne dass er aber dabei selbst die Ökologie weiter betrieben oder befördert habe (Jax 2011). 2.3 Die Darwin-Rezeption in Möbius’ Konzept der Lebensgemeinschaft Obwohl altersmäßig nicht weit von Darwin und Haeckel entfernt, lässt sich Karl August Möbius (1825-1908) als einer der tatsächlichen Gründerväter der Ökologie bezeichnen, weil er ökologische Forschung im eigentlichen Sinne praktizierte und diese mit einer konzeptionellen Neuerung verband, die ausgesprochen folgenreich für die Ökologie wurde. Möbius hatte als Zoologe im Auftrag der Preußischen Regierung eine Studie zur Europäischen Auster (Ostrea edulis) und der Austernwirtschaft an der deutschen Nordseeküste durchgeführt. Der Anlass lag in Problemen der Austernfischerei, die sich in keinem guten Zustand befand, und von Möbius’ Arbeit versprachen sich die Auftraggeber Einsichten in die Ursachen und mögliche Lösungsvorschläge. Interessanterweise entwickelte Möbius nun mitten in dieser anwendungsorientierten Studie den theoretisch bedeutsamen Begriff der Biozönose oder Lebensgemeinschaft: „Die Wissenschaft besitzt noch kein Wort für eine solche Gemeinschaft von lebenden Wesen, für eine den durchschnittlichen äusseren Lebensverhältnissen entsprechende Auswahl und Zahl von Arten und Individuen, welche sich gegenseitig bedingen und durch Fortpflanzung in einem abgemessenen Gebiete dauernd erhalten. Ich nenne eine solche Gemeinde Biocoenosis oder Lebensgemeinde.“ (Möbius 1877, 76) Wie die Nestorin der deutschen Biologiegeschichte, Ilse Jahn (1922-2010), nachgewiesen hat, exzerpierte Möbius bereits 1860 Teile aus Darwins Origin of Species, und er behandelte evolutionstheoretische Themen in seinen Vorlesungen an der Universität Kiel ab etwa 1870 (Jahn 1982). Entscheidend für Möbius’ Analyse der Austern war der Unterscheid zwischen „Keimfruchtbarkeit“, also der Zahl der Nachkommen und der „Reifefruchtbarkeit“, also derjenigen Austern, die letztlich zur Fortpflanzung kommen. Diese Denkfigur ist Malthus’ Populationskonzeption in Verknüpfung mit Darwins Selektionstheorie: die maßgeblichen ökologischen Faktoren sind hier zum einen Konkurrenz der Austern mit anderen sessilen (festsitzenden Tier-)Arten um geeignetes Bodensubstrat und zum anderen die Reduktion der Austern durch Überfischung. Wenn aber Möbius das zentrale selektionstheoretische Konzept von Darwin übernahm, warum findet sich keine Erwähnung dessen in der Schrift von 1877? Eine naheliegende Erklärung ist, dass dies von der ganzen Anlage her <?page no="128"?> Thomas Potthast 128 nicht passte: Möbius zitierte allein Austern-relevante Literatur und im Kapitel zur Biozönose überhaupt keine Schriften. Die Historikerin Lynn Nyhart weist darauf hin, dass Möbius in einem anderen Werk, dem ersten Band der „Fauna der Kieler Bucht“ von 1865, ebenfalls evolutionsbiologische Themen diskutierte, ohne Darwin explizit zu erwähnen. Im Zusammenhang mit Möbius’ Berufung nach Berlin 1887/ 88 ans neue Museum für Naturkunde und die Berliner Universität verweist Nyhart auf ein zweites mögliches Motiv: Möbius hatte sich - vielleicht zu seinem Vorteil, was die Berufungspolitik anging - aus den stürmischen öffentlichen Debatten um die Deszendenzlehre herausgehalten (Nyhart 1998). Dies passt zu Möbius eigener Positionierung in der Zoologengemeinde, wo er 1886 in einem Aufsatz einen heftigen Kampf zwischen darwinistischen und antidarwinistischen Kreisen ausmacht und zudem - sicherlich sich selbst darin einschließend - „stille kritische Beobachter“ erwähnt, die von beiden Lagern lernen könnten (Möbius 1886, 241; die heute geläufige Formulierung „Lebensgemeinschaft“ findet sich erstmals in dieser Publikation auf Seite 247). Mit Blick auf die Evolutionstheorie sei eine bislang praktisch nicht beachtete Bemerkung aus der Austern-Monographie erwähnt, in der Ökologie und Evolutionstheorie auf eigentümliche Weise miteinander in Berührung kommen: „Aller [im biozönotischen Gebiet] vorhandene organisirbare Stoff wird von den dort erzeugten Wesen völlig in Anspruch genommen. Daher sind wohl an keinem belebungsfähigen Orte der Erde noch organisierbare Stoffe für Urzeugungen übrig.“ (Möbius 1877, 83) Offenbar war sich Möbius der Deszendenztheorie Darwins, die eine kontinuierliche „Urzeugung“ ausschloss, nicht so sicher wie der Selektionstheorie. Wichtig für den Übergang zur Ökologietheorie ist hier die Idee, dass alle - wie man heute sagen würde - Ressourcen vollständig in der Nutzung sind. Ökonomisch gesprochen: Erst wenn ein Gut knapp ist, kann es Konkurrenz und letztlich auch Selektion geben. Eine solche Idee der Vollständigkeit stofflicher Einbindung in die Biozönose wird in Möbius’ vieldiskutierter Formulierung vom Gleichgewicht in der Biozönose sichtbar: „Alle lebendigen Glieder einer Lebensgemeinde halten mit ihrer Organisation den physikalischen Verhältnissen ihrer Biocönose das Gleichgewicht.“ (Möbius 1877, 80) Nimmt man diese Formulierung genau, so ist eindeutig, dass das „biozönotische Gleichgewicht“ keinesfalls eine prästabilierte (im Voraus bestimmte) Harmonie oder ein vorgegebener statischer Zustand ist, sondern dass vielmehr biotische und abiotische (physikalisch-chemisch-räumliche) Faktoren eine bestimmte Konstellation eingehen, die sich bei Veränderung irgendeines der Faktoren ändert. Möbius hob für die befischte Austernbank hervor, dass <?page no="129"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 129 es sich nicht um natürliche, sondern stets um anthropogen („künstlich“) bewirkte Gleichgewichte handelt, was zweierlei Implikationen hat: 1) Extreme Überfischung kann die Zahl der Austern dauerhaft reduzieren und sie damit als nutzbare Austernbänke zerstören, weil die Austern von anderen sessilen Arten immer weiter verdrängt werden. 2) Ein Abschöpfen reifer Austern vor ihrer weiteren Alterung hebt dagegen die Produktivität der Bank, wenn zugleich die Ansiedlungsmöglichkeiten für die jüngeren Stadien durch künstliches Substrat erweitert und zugleich die konkurrierenden Arten aktive zurück gedrängt werden. Dann kann ein anderes, künstliches, Gleichgewicht zwischen den biotischen und abiotischen Faktoren entstehen. Es besteht eine aufschlussreiche Parallele zwischen Darwins und Möbius’ Ökologie: Beide schildern in erzählender Weise eine Lebensgemeinschaft. Diese anschauliche Betrachtungsweise dient dem Verweis auf einheitliche Naturgesetze. Nicht nur lässt Möbius in seinem Biozönosekapitel die Austernbank sichtbar werden, sondern auch Darwin schildert im Schlusskapitel seines ungleich berühmteren Origin die erwähnte entangled bank: einerseits verwirrend und komplex, andererseits aber ist sicher zu sagen, dass alles von denselben Gesetzen - bei ihm Abstammung mit Modifikation (Variation) und Selektion der Passendsten (als Resultat der Konkurrenz) - bestimmt wird. Zugleich lässt sich Möbius stellvertretend als frühe Rezeption Darwins in der „angewandten“ Ökologie verstehen: Ökologisch-evolutionsbiologisches Wissen diente zur praktischen Analyse von Umweltproblemen im Ressourcenschutz: Forst-, Land- und Fischereiwirtschaft. Diese Traditionslinie der Anwendung der Malthus-Darwin’schen Konzeption für Problembeschreibungen von Überbevölkerung und damit verbundenem Ressourcendruck reicht bis zu der anhaltenden Debatte um (menschliche) Überbevölkerung als zentraler Ursache aller Umweltprobleme, wie sie besonders extrem in dem Buch The Population Bomb des Ökologen Paul Ehrlich (1968) formuliert wurde. Seither wird im Zusammenhang mit der Frage nachhaltiger Entwicklung kontrovers diskutiert, ob weniger die absolute Zahl von Menschen als vielmehr der je nach Lebensstil und Gesellschaftsform extrem unterschiedliche Land- und Ressourcenverbrauch entscheidend ist (vgl. Daten bei Dorling et al. 2010). 3. Darwin und die Entwicklung des Naturschutzes Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine Bewegung, die sich als Naturschutz formierte und die sich zunächst weder eng mit Darwin und seiner Evolutionstheorie noch mit der sich parallel entwickelnden Ökologie verband. Selbstredend gab es Vorläufer: Die Idee einer forstwirtschaftlichen Nachhaltigkeit lässt sich bis ins frühe 18. Jahrhundert zurück verfolgen, mit dem Werk des <?page no="130"?> Thomas Potthast 130 Hans Carl von Carlowitz (1713) Silvicultura oeconomica - oder hausswirthschaftliche Nachricht und naturmässige Anweisung zur wilden Baum-Zucht. Dies soll lediglich andeuten, dass die Idee eines Ressourcenschutzes Gesellschaften seit langem beschäftigt hat, dass aber gegen Mitte des 19 Jahrhunderts anders orientierte, neue Gedanken hinzu kamen: der Heimat- und Naturschutz, der sich nicht primär an der Nutzbarkeit und unmittelbaren Nützlichkeit orientiert, sondern beispielsweise Debatten zur Erhaltung einer typisch „britischen“ Landschaft organisierte (u.a. Schama 1996). Wichtige historische Marken sind 1872 die Gründung des Yellowstone National Parks, die Prägung des Begriffs „Naturschutz“ durch Ernst Rudorff (1880) sowie 1892 die Gründung des Sierra Clubs durch John Muir (1838-1914) in San Francisco und 1899 die Gründung des Bundes für Vogelschutz (heute: Naturschutzbund Deutschland) durch Lina Hähnle (1851-1941) in Stuttgart als einflussreicher Naturschutzorganisationen. 1906 nahm in Preußen mit der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Danzig eine erste staatliche Naturschutzinstitution ihre Arbeit auf (Frohn u. Schmoll 2006). 3.1 Darwinismus-Rezeptionen im Naturschutz Die Rezeption Darwins als Autor ist in vielen Fällen nicht dasselbe wie die „darwinistische“ Fort- und Umschreibung von Ansätzen Darwins. Darwin fungierte beispielsweise bei Ernst Haeckel (Di Gregorio 2008), aber auch im Naturschutz oft als Chiffre für bestimmte nur mehr oder minder auf Darwin selbst zurückführbare Positionen. Einer der wichtigsten Vertreter des frühen Naturschutzes in Deutschland, der Freiburger Biologe Konrad Guenther (1874-1955), brachte seine Sicht der Verbindung von Weltanschauung und Wissenschaft, von Naturschutz und Darwinismus im Titel eines weit verbreiten Buches zum Ausdruck: Der Darwinismus und die Probleme des Lebens. Zugleich eine Einführung in das heimische Tierleben (Guenther 1904). Er begann seine Darstellung mit einem fiktiven Waldspaziergang im Frühling, der allerlei biologische Entdeckungen ermöglicht, aber auch Fragen aufwirft - dieser erzählende Ansatz selbst kann als indirekte Anknüpfung an Darwins „entangled bank“ verstanden werden. Ausdrücklich bezog sich Guenther auf die Arbeiten von Möbius (1877, 1886) zur Lebensgemeinschaft und diskutierte danach im Sinne einer populärwissenschaftlichen Abhandlung in einem Durchgang durch die Großgruppen des Tierreichs die aktuellen Problemlagen der Biologie. Ebenso deutlich, wie er Darwins evolutionstheoretischen Positionen zur Variation, Selektion und geographischen Isolation zustimmte, übernahm er auch die Keimbahntheorie der Vererbung seines Freiburger Lehrers und „Neodarwinisten“ August Weismann (1834-1914). Kritisch argumentierte er gegen Vertreter der Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften („Lamarckismus“), vor allem aber auch gegen die monistische naturwissenschaftliche Weltanschauung, wie sie beispielsweise Ernst Haeckel popularisierte. Noch strenger setzte er sich von sozialdarwinistischen und <?page no="131"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 131 ähnlichen Versuchen einer „naturwissenschaftliche[n] Ethik“ ab, da letztere aufgrund der methodischen Orientierung der Naturwissenschaft „überhaupt keine Existenzberechtigung hat“ (Guenther 1904, 416). Er plädierte in diesem Buch unter Bezug auf den Neukantianer Heinrich Rickert (1863-1936) für einen Dualismus zwischen Naturwissenschaften und ethischer Werthaltung. In seinem ebenfalls erfolgreichen und oft aufgelegten Buch zum Naturschutz klang als Gegenseite des Dualismus ein anderer Tonfall als derjenige strenger wissenschaftlicher Wertneutralität an. Hier schwelgt Guenther in der Verbindung von „Heimatliebe und Vaterlandsliebe“. Diese sei das „beste Fundament für das Gedeihen und die Kraft eines Volkes“ (Guenther 1910, 13). Die kulturelle, vor allem die vaterländische Bedeutsamkeit des Erlebens und Erhaltens von der mütterlich konnotierten Natur steht hier parallel zur naturkundlichen Darstellung der Verhältnisse von Tier- und Pflanzenwelt. Wie schnell jedoch die methodisch begründete Trennung zwischen Natur und Ethik unter Bezug auf den (vermeintlich) darwinistischen „Daseinskampf“ des Volkes auflösbar sein konnte, zeigen spätere Einlassungen von Guenther nicht erst aus der Zeit des Nationalsozialismus: „Die Entartungserscheinungen des Menschen wie seiner Haustiere und Kulturpflanzen erklären sich aus der Entfernung aus dem lebendigen Mutterhaus“ (Guenther 1931, 31). Dies steht im Duktus des eugenischen Denkens, das Ende des 19. Jahrhunderts international verbreitet war und demzufolge fehlende Auslese zur Degeneration der menschlichen Rasse(n) führe: „Denn Kampf ist leitendes Gesetz in der Natur, Tiere und Pflanzen zeigen das noch heute.“ (Guenther 1937, 291). Diese Sicht auf den Verlust der Natur und zugleich menschliche Degeneration durch mangelnde Selektion prägte Teile des Naturschutzes bis in die 1980er Jahre (zum Naturschutz im Nationalsozialismus, der die völkischen, sozialdarwinistischen und rassistischen Stereotypen weitgehend unkritisch akzeptierte und zum Teil aktiv verinnerlichte, vgl. die ausführlichen Darstellungen in Frohn u. Schmoll 2006, 157ff., 315ff. sowie 371ff.). 3.2 Evolutionäre Degeneration und Naturschutz Die Vorstellung einer Bedrohung der gesamten Welt aufgrund der Zerstörung von Natur hing zusammen mit einer breiten kulturellen Verunsicherung, die weit in weltanschauliche und religiöse Dimensionen reichte. Dabei verschoben sich die Bezüge zwischen Umweltmoral und Naturwissenschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen in fast allen westlichen Staaten zivilisationspessimistische, populärwissenschaftliche Schriften. Zu den national- und kulturpolitischen sowie ästhetischen Motiven trat eine in Zahlen und Daten ökologisch umfangreich protokollierte Umweltzerstörung. Zugleich wurde das seit Beginn der Eugenik tradierte Bild eines sich verschlechternden genetischen Zustands der Bevölkerung aufgegriffen. Sogar grundsätzlich geriet eine vermeintlich defizitäre Eignung des evolutionären Erbes für die technologische Welt ins Gespräch. Ökologisch wurde vor allem mit dem <?page no="132"?> Thomas Potthast 132 Thema Überbevölkerung und Wasserverschmutzung argumentiert; evolutionsbiologisch erfuhren die Themen „Aggression“ durch die zu dichte Siedlungsform der Großstadt sowie „stammesgeschichtliche Degeneration“ aufgrund mangelnder Selektion Aufmerksamkeit (z. B. Lorenz 1973). Als prägende Personen gewannen für die Ökologie insbesondere die Gewässerkundler Reinhard Demoll (1882-1960, mit seinem Buch „Bändigt den Menschen! “) und August Thienemann (1882-1960), für die Evolutionsbiologie der Ethologe Konrad Lorenz (1903-1989) große Bedeutung. Beide Perspektiven transportierten moralische Botschaften, die sich weniger gegen Wissenschaft und Technik per se richteten als gegen eine Wissenschaft, welche sich ihrer kulturellen Aufgabe zu entziehen schien. Der Evolutionspessimismus, wie ihn Lorenz seit Anfang der 1940er Jahre vertreten hatte, vermischte sich mit dem Katastrophen- und Kulturpessimismus der Umwelt- und Naturschützer, was den großen Erfolg von Konrad Lorenz und seinen Thesen erklärt (vgl. unten). Bevor jedoch die ethische Dimension von Evolution, Ökologie und Naturschutz weiter erörtert wird, bedarf es zunächst noch einiger wissenschaftstheoretischer Erläuterungen zur Verbindung von Ökologie und Evolutionstheorie. 4. Verknüpfung von Evolutions- und Ökologietheorie und deren Grenzen Die Ökologie ist eine vergleichsweise junge Naturwissenschaft, und es lassen sich verschiedene Gründerväter - entsprechende ‚Mütter‘ finden sich in diesem Bereich bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts praktisch keine - identifizieren. Gemäß einer weithin akzeptierten Darstellung erfolgte gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Botanik eine Synthese dreier vorher weitgehend getrennter Bereiche: Andreas Franz Wilhelm Schimper (1856-1901) verband standörtliche und physiognomische Ansätze zu einem umfassenden vegetationskundlichen Forschungsprogramm; Carl Georg Oscar Drude (1852-1933) brachte zur Erklärung der Vergesellschaftung erstmals in systematischer Weise die Umweltverhältnisse, die Vegetationsformen und die Arten als taxonomische Einheiten zusammen. Und schließlich war es der Däne Johannes Eugenius Bülow Warming (1841-1924), der die Beziehungen zwischen den Arten betonte und ihre Anpassungen als Resultat eines Wettbewerbs verstand. Die so genannte synökologische Betrachtung von Pflanzengesellschaften war damit als kohärentes und praktiziertes Forschungsprogramm etabliert. Warming (1896) erschien bereits den Ökologen des frühen 20. Jahrhunderts als „Vater der modernen Ökologie“, und zwar nicht zuletzt, weil er eben Darwins Selektionstheorie konsequent in seinen Ansatz aufgenommen hatte (Trepl 1987). In der Zoologie war es vor allem der britische Ökologe Charles Elton (1900-1991), der eine ausführliche theoretische Integration vornahm. Dafür <?page no="133"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 133 benannte Elton als entscheidende Mechanismen die erbliche Variation, die sexuelle Fortpflanzung, die sexuelle Selektion als Spezialfall der natürlichen Selektion, die Umgebungswahl durch das Tier (Migration), die zufallsbedingte Verbreitung von Varietäten im Raum sowie die nichterbliche Tradierung von Verhaltensweisen. Eltons ökologische Grundfrage lautete: Wie und warum bleiben Artenkombinationen, also Lebensgemeinschaften, mehr oder minder konstant, obwohl es kein umfassendes Gleichgewicht (in) der Natur gibt? Darauf gab er folgende Antwort: „We must admit that the whole of an animal community can act as a biological unit, operated upon by natural selection so as to bring about the best compromise in the way of optimum populations for all.“ (Elton 1930, 30) Diese Selektion könne aber nicht mit der klassischen Darwin’schen gleichgesetzt werden, da es auf der Ebene von Lebensgemeinschaften keine Konkurrenten, keine Konkurrenz geben könne. Im Gegensatz zu dieser Position der Lebensgemeinschaft als ‚höherer‘ Einheit der natürlichen Selektion wurde das „Ökosystem“ von Arthur Tansley (1871-1955) als vom Beobachter ausgewählte physische Einheit definiert. Damit wandte er sich scharf und letztlich erfolgreich gegen die in der Vegetationskunde seiner Zeit verbreitete Ansicht, dass Vegetationseinheiten als Organismen angesehen werden sollten. In Deutschland wurde von den führenden Ökologen eine Mittelposition eingenommen, insofern formuliert wurde, dass die Einheit von Lebensraum und Lebensgemeinschaft kein Organismus, aber eine „Organisation“ sei (Friederichs 1927, 151; übereinstimmend mit Thienemann, auch wenn dieser von einem „Organismus höherer Ordnung“ gesprochen hatte). Die Ökosystemökologie bzw. Ökosystemforschung schließlich schloss an Tansley zwar an, formulierte aber dennoch Ökosysteme als reale funktionale Einheiten in der Natur. Diese konnten und sollten nun in Form von Stoff- und letztlich Energieflüssen analysiert werden, wobei die Organismen selbst nicht mehr im Fokus standen, sondern allein ihre ggf. ersetzbare Rolle im Stoff- und Energiefluss. Mit dieser sehr verkürzten Darstellung sei auf das grundlegende Problem der Verhältnisbestimmung von Ökologie und Evolutionsbiologie hingewiesen (ausführlicher dazu und für das Folgende: Potthast 1999, Kap. 3.2): Gibt es - in Erweiterung der Darwin’schen Konzeption - nicht nur Organismen als Einheiten der Reproduktion und Selektion, sondern müssen auch Arten, Lebensgemeinschaften, ja sogar Ökosysteme im Darwin’schen Sinne als evolvierende Einheiten angesehen werden? George Evelyn Hutchinson (1903-1991) formulierte mit seinem Buchtitel The Ecological Theater and the Evolutionary Play das Standardmodell: Ökologie bildet - und ÖkologInnen untersuchen - die Bühne, auf der sich das Schauspiel der Evolution ereignet. Die Evolutionstheorie ist die Basistheorie der gesamten Biologie, die Ökologie als Subdisziplin der Biologie hat als Fokus die Umwelt- und Selektionsbedingungen für die evolvierenden Organis- <?page no="134"?> Thomas Potthast 134 men. Doch reicht dieses Modell für die gesamte Spannbreite der Ökologie aus? Üblich geworden ist eine Aufteilung der Ökologie wie folgt: • •• • Die „Autökologie“ (heute oft: „Verhaltens-“ oder „Evolutionsökologie“) ist die Forschungsrichtung, die den ökologischen Kontext als Evolutionsbedingung des individuellen Organismus untersucht - sie ist das, was zuweilen sogar als „Darwinian Ecology“ benannt wird. • •• • Populationsökologie (früher: „Demökologie“): Hier geht es um ökologische Rahmenbedingungen der Populationen einer Art, beispielsweise setzt hier auch die Populationsgenetik auf evolutionsbiologischer Basis an. Diese beiden Bereiche zusammen werden heute oft als „Evolutionary Ecology“ bezeichnet - eine Ökologie auf Basis der Darwin’schen und Nachdarwin’schen Evolutionstheorie, die sich ganz unproblematisch in deren Theorierahmen einfügt. Doch es gibt zwei weitere Bereiche, welche früher gemeinsam als „Synökologie“ bezeichnet wurden: • •• • Die Ökologie der Lebensgemeinschaften oder „Community Ecology“ fokussiert Einheiten von Pflanzen und/ oder Tieren unterschiedlicher Arten, die innerhalb einer ökologisch definierten raumzeitlichen Einheit interagieren. Hierzu gehören auch Ansätze der Vegetationskunde und der zoologisch-faunistischen Co-Evolutionsforschung. • •• • Die „Ökosystemökologie“ umfasst das, was Haeckel mit dem Ausdruck „Gesamthaushalt der Natur“ bezeichnet hatte; hier geht es um die Integration biotischer und abiotischer Elemente, also das Ökosystem als Lebensgemeinschaft plus Lebensraum und als Einheit bzw. funktionales System. Hier schließen sich nun konzeptionelle Fragen an: Evolvieren (im Darwin’schen Sinne) Ökosysteme und Lebensgemeinschaften oder ausschließlich ihre Bestandteile (Populationen, Spezies)? Gilt und reicht also die Evolutionsbiologie, insbesondere die Selektionstheorie auch für Ökosysteme als Einheiten oder reicht der Erklärungsansatz nicht so weit? Es sei ausdrücklich betont, dass bereits innerhalb der Evolutionsbiologie die Frage strittig ist, ob nur Individuen (hier sind meist sowohl Organismen als auch Populationen gemeint) Einheiten der Selektion sind oder ob diese auch auf Artebene wirkt. Beispielsweise betonte Stephen Jay Gould (1941-2002), dass mit Blick auf die Makroevolution (Entstehung neuer Arten und größerer taxonomischer Einheiten wie Familien und Ordnungen) die Engführung ausschließlich auf Individuen nicht mehr trage, so dass zumindest auch Arten historische ‚Individuen‘ seien. Und nur, wenn dies gelte, wäre darüber hinaus denkbar, dass Evolutionsprozesse auch auf der Ebene von Lebensgemeinschaften ansetzen könnten, doch dies sei eben strittig (Gould 2002, 916f). Wichtig ist hier, einen engeren Begriff von Evolution im Darwin’schen Sinne mit den entsprechenden Mechanismen von allgemeiner Entwicklung in der Zeit oder auch Geschichte zu unterscheiden, denn dass Lebensgemeinschaften und Ökosysteme eine Veränderlichkeit in der Zeit haben, bestreitet niemand. <?page no="135"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 135 Meines Erachtens stellt sich in wissenschaftstheoretischer Hinsicht noch ein weiteres Problem: Die Ökosystemökologie beruht auf einer physikalischthermodynamischen Beschreibung und Kausalanalyse ökologischer Konnexe. Neu und wichtig dabei ist, dass alle biologischen Wechselwirkungen auf energetische Begriffe reduziert werden. Entscheidende Vorbedingung dafür war zudem das Aufkommen der Allgemeinen Systemtheorie, die die Übernahme kybernetischer Modelle in die Ökologie ermöglichte. Eine Verknüpfung mit der Evolutionsbiologie ist dabei von Anfang an nicht unproblematisch gewesen, weil gewissermaßen dabei die Besonderheit der Biologie bzw. biologischer Systeme verloren ging. Der Energieansatz in der Beschreibung von Stoffproduktion und -umsatz in ökologischen Systemen erscheint zunächst neutral gegenüber evolutionstheoretischen Erwägungen. Doch der entscheidende Punkt liegt darin, die letztliche, ultimate Ursache des Entstehens und Funktionierens aller lebenden Systeme als thermodynamische oder informationstheoretische Optimierung zu betrachten. Mutation, Selektion und differentieller Fortpflanzungserfolg der individuellen Organismen liegen demnach lediglich im Bereich der unmittelbaren, proximaten Ursachen. Diese Zuordnung kehrt das von Nikolaas Tinbergen (1907-1988) und dann insbesondere von Ernst Mayr (1904-2005) formulierte Verhältnis ins Gegenteil um: Hier sind biologisch-physiologische, physiko-chemische und thermodynamische Prozesse die proximate Ursachen (als „Wie? “-Erklärung), während die ultimaten Ursachen die evolutionsbiologischen Mechanismen (als „Warum? “- Erklärung) betreffen, über Anpassungs- und Selektionsphänomene letztlich die dynamische Erhaltung der genetischen Programme der Organismen (Mayr 1993). In der Ökosystemökologie ist die Besonderheit biologischer Organisation - bei Mayr gebunden an das genetische Programm - irrelevant als bloßer Spezialfall thermodynamischer Prinzipien: „By systems selection, Lotka, Tansley, and the theories in this volume refer to self-organisation choices that contribute to the systems resources for meeting contingencies. Darwinian selfish selection is regarded as a secondary priority for survival.“ (Odum 1983, 453) Ein zweiter Konfliktpunkt liegt in der Ablehnung oder zumindest theoretischen Indifferenz gegenüber der Bedeutung des im modernen Sinne naturhistorischen Aspekts, der zu den zentralen Ideen der Evolutionsbiologie gehört (Potthast 1999; vgl. auch den Beitrag von Maier in diesem Band). Die Besonderheit lokal- und zeitspezifischer ökologischer Systeme, die nicht zuletzt mit den kontingenten Besonderheiten der beteiligten Arten zurückgeht, hat in der Ökosystemökologie praktisch keine Bedeutung. Inzwischen wird auch dort allerdings die kontingente Geschichtlichkeit der Prozesse auch auf Ökosystemebene anerkannt. Die Theoriesprache des Ansatzes lässt es aber nicht oder nur schwer zu, solche Aspekte tatsächlich formal im Detail zu integrieren. Probleme bei der Festlegung evolvierender Einheiten bestehen in der Per- <?page no="136"?> Thomas Potthast 136 spektive der Ökosystemökologie nicht. Im Gegensatz zur community ecology und zur evolutionary ecology sieht sie auch Ökosysteme als Einheiten der Selektion an. Einheiten der Selektion können aber nicht rein willkürliche methodische Konstrukte sein, so dass Ökosysteme nicht allein einen erkenntnispraktisch-methodologischen Status, sondern auch „realen“ Charakter erhalten. Die Ökosystemökologie arbeitet letztlich mit Modellen einer thermodynamischen Optimierung von Stoff- und Energieflüssen im Gesamtsystem. Für die „Evolution“ höherer Integrationsebenen jenseits von Populationen und Symbiosen besteht seitens der biologischen Evolutionstheorie (noch) keine Konzeption, solange die Einheiten der Selektion und der Evolution bei Lebensgemeinschaften und v.a. Ökosystemen unklar sind. Eine bereits diskutierte Option ist, die biologische Evolutionstheorie in eine sehr viel allgemeinere bzw. basalere (physikalische oder informationstheoretische) Auffassung der Selbstorganisation zu überführen bzw. zu reduzieren, in der dann auch Ökosysteme nur Spezialfälle allgemeiner Systemdynamik darstellen. Obwohl es solche Ansätze bereits gibt (Kauffmann 1993), scheinen sie meines Erachtens für die konkreten Einheiten der Evolutionsbiologie und der Ökologie nicht wirklich zu überzeugen, weil sie zu viele wichtige Spezifitäten und Kontingenzen biologischer und ökologischer Systeme ausblenden (müssen). Eine umfassende Theorie über Biodiversität und Ökosystemleistungen ist meines Erachtens erst dann absehbar, wenn für die Integration von Evolutions- und Ökosystemtheorien hinsichtlich der erwähnten Problemlagen neue Lösungswege entwickelt werden. 5. Evolution, Naturschutz, Ethik Aus dem komplexen Feld der Überschneidungen von Evolution, Naturschutz und Ethik seien in diesem abschließenden Kapitel zwei Fragen aufgeworfen: • •• • Sind „wir“ Menschen bzw. ist die Menschheit der Evolution etwas schuldig? Soll Evolution aus moralischen Gründen erhalten oder in einer bestimmten Weise beeinflusst werden? • •• • Können „wir“ Menschen moralisch von bzw. aus der Evolution und Evolutionstheorie lernen? 5.1 Schutz der (natürlichen) Evolution? Die unberührte Natur als Idealmodell für biologische Forschungen ist eines der ersten Motive für die Ausweisungen bestimmter Schutzgebiete gewesen. Seit etwa 1890, vor allem aber dann in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts forderten russische und später sowjetische Biologen einen großflächigen Schutz von Gebieten, in denen von Menschen unbeeinflusste Evolutionsprozesse ablaufen. Dies sollte nicht zuletzt zum Zwecke wissenschaftli- <?page no="137"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 137 cher Forschungen geschehen, und tatsächlich wurden großräumige Evolutions-Schutzgebiete (russ.: Zapovednik) eingerichtet. In Großbritannien forderte der Ornithologe und Darwinianer David Lack (1910-1973) in den 1950er Jahren Studien der Ökologie und Evolution in möglichst nicht von Menschen beeinflussten Schutzgebieten. Und schließlich forderte der Australier (Sir) Otto Frankel (1910-1998) großräumige Evolutionsschutzgebiete aus genetischer Sicht, um die Vielfalt der Allele nicht zu verlieren. Die Argumente waren klugheitsethisch angelegt, denn es ging um das Potential sowohl natürlicher Vielfalt als auch der Vielfalt alter Pflanzensorten und Nutztiere für die Zukunftssicherung der Menschheit (vgl. Potthast 1999, Kap. 5). Wie der vorangehende Beitrag von Oliver Betz (in diesem Band) gezeigt hat, verweist die Dimension des aktuellen Lebensraum- und Artenverlustes in der Tat auf eine geradezu evolutionäre Dimension: Das heutige Massenaussterben ist eindeutig anthropogen, seit Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgt es in immer schnellerem Tempo (aufgrund von Habitatzerstörung) und wir sind mit extremen Verlusten von wildlebenden und kultivierten Taxa konfrontiert. Doch wird es ein Ende der Evolution aufgrund dieser Zerstörungen durch Menschen geben? Keinesfalls, denn Evolution gibt es mit und ohne Menschen, eine vollständige Ausrottung allen Lebens ist mehr als unwahrscheinlich. Ist demnach die Evolution um ihrer selbst willen zu erhalten? Die Antwort lautet eindeutig „nein“, denn entweder ist dies überhaupt nicht nötig, weil Evolution ohnehin immer stattfindet, oder es bedarf eines Differenzierungskriteriums, welche Prozesse, welche Taxa zu erhalten wären. Dies ist aus der Biologie nicht zu gewinnen, sondern es bedarf vielmehr einer aktiven Auswahl der bevorzugten Schutzgüter nach bestimmten Kriterien, die den Sinn von allgemeiner „Evolutionserhaltung“ fraglich werden lassen. Möglicherweise liegt der Verwendung des Wortes „Evolution“ im Naturschutz und in der Naturschutzforschung nur eine schwerwiegende Ungenauigkeit zugrunde. Die Idee unbeeinflusster Evolution bezieht sich auf von Menschen möglichst unbeeinflusste Prozesse und Strukturen in einem gar nicht primär auf Evolutionsbiologie bzw. Evolutionstheorie bezogenen Sinn, während der allgemeine biologische Evolutionsbegriff ja für alle Prozesse und Strukturen der belebten Welt gilt. Die Natur - und damit auch die Evolution - ist nicht einfach „gut“, wie schon Möbius warnend mitteilte: „Wer die Natur gerade da, wo er sich mit ihr beschäftigt, besonders anziehend, schön oder nützlich haben möchte, wird sich von dem Wege der strengen Naturforschung leicht in das dunkle und grenzenlose Gebiet der Naturdeutung verirren. Die Natur bewirkt in jedem Punkte gerade das, was ihre daselbst zusammentreffenden Kräfte dem Entwicklungszustande der Welt gemäss bewirken müssen. In ihrem grossen Ganzen giebt es keinen Nutzen und keinen Schaden. Angenehm oder widerlich, schön oder hässlich, nützlich <?page no="138"?> Thomas Potthast 138 oder schädlich erscheinen ihre Wirkungen nur in der Auffassung fühlender und denkender Wesen.“ (Möbius 1877, 57f.) Als Konsequenz solcher Überlegungen müssen Schutzgüter der Evolution also explizit ausgewiesen werden. Und dann lässt sich Folgendes gut begründen: • •• • Die Funktionsfähigkeit und vor allem die Adaptationsfähigkeit biologischer Systeme vom Genom bis zum Ökosystem erfordern Variabilität. In diesem Sinne sind Biodiversität und die mit ihr verbundenen Prozesse aus evolutionsbiologischen Erwägungen instrumentell ausgesprochen wertvoll und damit schützenswert. • •• • Instrumentell können evolutiv bewährte Strukturen Modelle für technische Nutzungen darstellen, wie die Bionik zeigt (z.B. Frey et al. 2011). Damit ist es schlichtweg klugheitsethisch wohlbegründet, möglichst alle Einheiten der Biodiversität auf allen Ebenen erhalten zu sollen. Dass Menschen Biodiversität auch um ihrer selbst willen schätzen, soll am Schluss noch kurz reflektiert werden. 5.2 Schutzgüter „Evolution“ und „Kultur“ im Konflikt? Dynamik und Veränderlichkeit ökologischer Systeme, die Geschichte der menschlichen Gesellschaften und die biologische Evolution stehen in einem komplizierten Verhältnis. Sie werden in Naturschutzfragen manchmal gegeneinander ausgespielt und oft miteinander verwechselt. Letzteres betrifft insbesondere einen unreflektierten Übergang in der Rede von ‚historischen‘ und ‚evolutiven‘ Prozessen in der Kulturlandschaft. Es sprechen Argumente des Arten- und Biotopschutzes, der Traditionspflege und der Nutzung für Naherholung und Tourismus für die Erhaltung ökologischer Zustände und Prozesse, die aus vorindustriellen Landschafts(um)gestaltungen durch den Menschen stammen. Allerdings wird zuweilen der Versuch gemacht, die Erhaltung historischer und evolutiver Prozesse in eins zu setzen, wenn zugleich die kulturhistorisch gewachsene Vielfalt gesichert werden und Evolution möglichst unbehindert weitergehen soll. Der Konflikt betrifft die konkreten Schutzmaßnahmen, die auf der einen Seite nutzungsbedingte oder pflegerische Maßnahmen, auf der anderen möglichst weitgehende Vermeidung menschlicher Eingriffe erfordern würde. Auch die zugrundeliegenden Begründungen unterscheiden sich erheblich: Die Idee von kulturhistorisch gewachsenen Landschaften und deren Genese umfasst die Vegetations- und Faunengeschichte als Resultat einer bestimmten Gesellschaftsform und deren Landnutzung. In diesem Rahmen gleichzeitig von unbehinderter Evolution als Ziel zu sprechen wäre paradox, da mit Letzterem gerade das Gegenteil gemeint ist - die Abwesenheit menschlicher Naturgestaltung. <?page no="139"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 139 Hier besteht also ein Widerspruch in der Schutzidee. Die Erhaltung und Förderung kulturhistorisch gewachsener Vielfalt kann entweder gesichert werden, oder aber man lässt sich auf die Devise „Lasst der natürlichen Evolution ihren Lauf“ ein. Die argumentative Verknüpfung zweier nicht nur konfligierender, sondern sich konsequenterweise ausschließender Naturschutzziele erscheint als argumentative Schwäche. In welche Schwierigkeit in diesem Zusammenhang das evolutionsbiologische Degenerationsmodell der Evolution im Naturschutz führt, soll an folgendem Zitat erörtert werden: „Ein Treibenlassen irgendwelcher Prozesse, eine ungelenkte Entwicklung ohne Sicherstellung ihrer Natürlichkeit bergen ein hohes Risiko zur Fehlentwicklung, wofür Lorenz (1973) - im Kontrast zum Begriff der natürlichen Evolution (= Entfaltung) - das drastische Wort Involution (= Abbau, Einschmelzen) geprägt hat. Wenn durch ‚freies Laufenlassen‘ auch interessante Wildnisgebiete entstehen können, so heißt ungelenkt nicht automatisch auch natürlich; letztlich werden ja auch Entwicklungen zugelassen, die zum Verlust der Phänomene (Naturschönheit, seltene Arten, ursprüngliche Artenvielfalt, seltene Ökosysteme) führen können, die einst Motiv zur Schutzgebietsgründung waren. Hier kann die angestrebte Dynamik deshalb nur im Sinne einer natürlichen/ naturnahen Entwicklung, gleichsam einer nicht gelenkten Evolution gemeint sein.“ (Scherzinger 1990: 294) Zunächst liegt das Problem in der fehlenden normativen Grundlage für die Lorenz’sche Unterscheidung von „Evolution“ und „Involution“. Wer entscheidet auf welcher Grundlage über eine solche Bewertung? Auch die Evolution kennt Phasen des Artenverlustes, bei bestimmten Organismen gibt es Rückbildungen vor Organen - wäre das „Involution“? Ist es einleuchtend, eine von Menschen produzierte „Devolution“ der ordentlichen „Evolution“ in der Natur gegenüberzustellen (Beispiele in Lorenz 1973). Um naturwissenschaftliche Aussagen handelt es sich dabei keinesfalls, sondern um politische Ideologie und Kulturkritik im Namen der Biologie unter Berufung auf deren Autorität. Scherzingers Anschluss an Lorenz ist also ausgesprochen unglücklich, weil es jenem um eine andere Unterscheidung geht - der konkret auf ein Gebiet bezogenen zwischen erwünschter und unerwünschter Natur- Dynamik. Und diesbezüglich hilft die Evolutionsbiologie außer mit Verweis auf das Klugheitsargument, möglichst viel Vielfalt zu erhalten, nicht weiter. Schutz unbeeinflusster Evolution und Erhaltung der Kulturlandschaft lassen sich weder als einheitliches Argument verwenden noch gleichzeitig an einem Ort verwirklichen. Diese Entgegensetzung gilt allerdings nur, wenn von beiden Ideen jeweils nur eine zum obersten Schutzziel erhoben wird. Wenn jedoch sowohl unbeeinflusste Prozesse als auch die vielfältige Kulturlandschaft als mehr oder minder gleichrangige Werte in der Naturschutzethik gelten, ist der Widerspruch aufgelöst und die jeweilige Zielsetzung muss im Einzelfall bestimmt werden. Es gibt im Naturschutz vier Grundmotive, die <?page no="140"?> Thomas Potthast 140 weitgehend unabhängig und nicht grundsätzlich hierarchisierbar sind: Naturnähe, Vielfalt, Nachhaltigkeit und historische Kulturlandschaft bzw. Heimat. Es muss also um bestimmte Strukturen und Prozesse in Natur und Landschaft gehen, die aus bestimmten Gründen anderen vorgezogen werden sollen. Für Schutzgebiete in Reservatform kann klar festgelegt werden, dass dort unbeeinflusste Prozesse das vom Menschen festgelegte Ziel des Naturschutzes sein sollen. Die Redeweise vom Schutz „der Evolution“ würde - streng genommen - für beides gelten, denn jeweils soll Vielfalt und deren Entwicklungsdynamik gesichert und gefördert werden. Ein Schutzgutmodell würde die unterschiedlichen Dimensionen von „Evolution“ herauszuarbeiten haben: • •• • Wildheit/ Dynamik/ Veränderung als Ziel • •• • Synonym für Natürlichkeit im Sinne der Ursprünglichkeit • •• • Erhaltung bestimmter ökologischer Funktionen • •• • Erhaltung bestimmter Ökosysteme • •• • Erhaltung bestimmter Organismen • •• • Imitation natürlicher Prozesse bei der Nutzung Nicht immer ist alles gleichzeitig zu haben, und diese Einschränkung sollte in der Naturschutzpraxis nicht verloren gehen, selbst wenn das eigentliche Ziel immer ist, „alles“ erhalten zu wollen. 5.3 Zum Eigenwert biologischer Vielfalt und natürlicher Prozesse Im Naturschutz lässt sich mit Evolution also kaum argumentieren, denn Evolution findet immer statt, und es ist auch schwierig, einen spezifischen Schutz „natürlicher“ Evolution zu begründen. Was wir meinen, wenn wir über Letzteres sprechen, ist der Verlust von Räumen und Zeiten, in denen Menschen möglichst wenig Einfluss hatten und haben. Diese zunehmende Seltenheit ist aber ein gutes Argument dafür, von Menschen wenig oder fast unbeeinflusste Ökosysteme zu erhalten. Denn zum einen bestehen wichtige klugheitsethische, also instrumentelle Gründe zur Erhaltung der Vielfalt und Variationsfähigkeit natürlicher und von Menschen seit Langem im lokalen Kontext gezüchteter Tier- und Pflanzenformen. Was ist aber mit den nicht nutzungsbezogenen Werten der biologischen Vielfalt und ihrer Prozesse? Die Debatte um entweder anthropozentrische oder physiozentrische Naturethiken hat die Debatte der letzten 30 Jahre bestimmt - und zuweilen auch gelähmt, weil schlichtweg keine Einigkeit zu erzielen war. Entweder sind Entitäten dieser Welt unmittelbar moralisch zu berücksichtigen, oder sie sind es nicht, dann kommt ihnen nur ein indirekter (instrumenteller) Wert zu. In der Anthropozentrik sind nur Menschen unmittelbar moralisch zu berücksichtigen, in der Physiozentrik werden auch andere Wesen bzw. Dinge mit einbezogen: alle empfindungs-, bzw. schmerz- <?page no="141"?> Darwin, Ökologie, Naturschutz 141 empfindlichen Tiere inkl. des Menschen (Pathozentrik), alle Lebewesen (Biozentrik), alle ökologischen Einheiten (Ökozentrik) oder alle Naturdinge (Holismus; für eine Übersicht über das Spektrum der Positionen vgl. Potthast 1991, 131). Ich möchte abschließend - und mit Rückbezug auf die von Darwin evolutionstheoretisch formulierte Zusammengehörigkeit allen Lebens - dafür plädieren, einen über menschliche Interessen hinausgehenden Eigenwert der Biodiversität angesichts der evolutionären Verbundenheit für moralisch plausibel zu erachten. Diese Formulierung eines Eigenwerts jenseits aller direkten und mittelbaren Nützlichkeiten ist auch völkerrechtlich seit 1992 im UN- Übereinkommen über die Biologische Vielfalt (Convention on Biological Diversity, www.cbd.int) sowie im deutschen Bundesnaturschutzgesetz seit 2002 verankert. Dieser Eigenwert muss dabei nicht die Begründungslast eines (absoluten) moralischen Selbstwertes im strengen Sinne tragen, sondern er soll hier folgendermaßen verstanden werden: Es ist möglicherweise unplausibel, Werte entweder ausschließlich bei Menschen oder völlig unabhängig von ihnen zu suchen. Vielmehr drückt sich moralische Relevanz möglicherweise in einer gemeinsamen geteilten Geschichte und der aktuellen Interaktion aus. Ethiktheoretisch stellt dies eine Herausforderung dar, denn das hieße, die bisherige Trennung zwischen Anthropozentrik und den physiozentrischen Ansätzen aufzugeben bzw. ganz anders zu formulieren. In diesem Sinne entstehen Werte in einem dialektischen Prozess und nicht allein aus einem bestimmten Merkmal (Menschsein, Schmerzempfindlichkeit, Leben, ökologische Vernetztheit, Natursein) heraus. Konkret bedeutet dies Folgendes: Es besteht eine moralische Verpflichtung auch deshalb, weil es die evolutionäre Verbundenheit allen Lebens und die ökologische Vernetztheit der gesamten Biodiversität einschließlich des Menschen gibt - und zwar jenseits der direkten oder indirekten Nützlichkeit, möglichst die gesamte biologische Vielfalt zu erhalten. Wenn wir zudem daher moralisch davon ausgehen sollten, „dass eine Menschheit sei“ (Jonas 1979), dann sind wir nicht allein instrumentell gut beraten, die Existenzbedingungen der übrigen Natur angesichts der künftigen Menschheit zu erhalten, sondern es erscheint darüber hinaus - aufgrund der evolutionären Verbundenheit der Biodiversität und ihrer Bestandteile in ihren Systemzusammenhängen - deren Eigenwert plausibel. Selbst wenn also moralische Werte erst durch moralfähige Menschen in die Welt kommen (anthropogene Herkunft), ist es dennoch möglich, einen „nicht-nuranthropogenen“ Wert der biologischen Vielfalt zu formulieren, der uns Menschen zur Achtung und damit zu Schutz und Förderung der Biodiversität verpflichtet, auch unabhängig von aktuell wertschätzenden Personen. <?page no="142"?> Thomas Potthast 142 Literatur Acot, P. (Hg.) 1998: The European origins of scientific ecology. 2 Bde. Overseas Publishers Association, Amsterdam. Carlowitz, H.C. von 1713: Silvicultura oeconomica - oder hausswirthschaftliche Nachricht und naturmässige Anweisung zur wilden Baum-Zucht. Johann Friedrich Braun, Leipzig. Darwin, Ch. 1842: The structure and distribution of coral reefs. Being the first part of the geology of the voyage of the Beagle, under command of Capt. Fitzroy, R.N. during the years 1832 to 1836. Smith Elder and Co., London. 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Altruismus lasse sich damit auf Egoismus reduzieren. Und schließlich wird Darwins Name häufig auch mit Ideen eines vorgeblich biologisch begründbaren Rassismus in Verbindung gebracht. Wenig bekannt dagegen ist Darwin als Brückenbauer. Weit entfernt davon, einem Biologismus das Wort zu reden, pflegte er einen interdisziplinären Denkstil und bemühte sich um eine Vermittlung zwischen den Naturwissenschaften einerseits und den Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits. Das Ziel des folgenden Beitrages ist es, einen Eindruck von der Differenziertheit und Sensibilität Darwins zu vermitteln, wie sie sich in seinem Verständnis von Moral und Ethik in seinem Werk Descent of Man (1871, 2 1874) ausdrücken, das er aus Angst vor öffentlichen Vorurteilen erst zwölf Jahre nach seinem Hauptwerk On the Origin of Species (1859) veröffentlichte. Nach Darwin hat die Evolution mit dem Menschen das einzige moralfähige Lebewesen hervorgebracht. Durch seinen moralischen Sinn, das Bewusstsein für Recht und Unrecht, ist der Mensch in der Lage, sich gegen die naturwüchsigen Mechanismen, die ihn hervorgebracht haben, zu behaupten und sie in gewissem Maße auszuhebeln. Darwin war ein Verfechter von Ideen der Aufklärung und Humanität. Dies zu zeigen, ist Ziel meines Beitrages. ∗ Diesem Beitrag liegen vor allem die Kapitel IV und V meines Buches Charles Darwin (Engels 2007) zugrunde, in dem ich ausführlicher auf Darwins Anthropologie und Ethik eingehe. Er ist zugleich die leicht erweiterte Fassung meines Artikels „Evolution und Ethik bei Charles Darwin“ (Engels 2010a) sowie die erheblich erweiterte Fassung meines Artikels „Der Mensch als Weltbürger in Darwins Evolutionstheorie“ (Engels 2010b). <?page no="146"?> Eve-Marie Engels 146 1. Eine Skizze von Darwins Theorie Während seiner Weltreise auf dem Vermessungsschiff Beagle macht Darwin Erfahrungen, die für ihn die Entstehung der Arten zu einem Rätsel werden lassen. 1 Wie die meisten seiner Zeitgenossen hat er bis dahin den biblischen Schöpfungsbericht wörtlich genommen und ist von der absichtlichen Erschaffung jeder einzelnen Tier- und Pflanzenart und des Menschen durch Gott ausgegangen. Während der Reise und verstärkt danach beginnt sich in Darwin allmählich ein theoretischer Gestaltwechsel zu vollziehen. Er kann sich nicht mehr mit dem biblischen Schöpfungsbericht und dessen wörtlicher Auslegung begnügen, weil damit zu viele Phänomene unerklärbar bleiben, die er während seiner Reise erfahren und beobachten konnte. So entsteht für Darwin ein neuer Forschungsgegenstand: das Problem der Entstehung von Arten, für das er eine Lösung sucht. Er entwickelt das ehrgeizige Ziel, das damals dominante „Dogma separater Schöpfungen“ (Darwin 1989 I, 65) durch Naturgesetze zu ersetzen. Im Folgenden werde ich Darwins Theorie kurz skizzieren, weil sie die Grundlage für seine Evolutionäre Anthropologie bildet und damit zugleich die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen einer evolutionstheoretischen Erklärung von Moral deutlich werden. Darwin bezeichnet seine Theorie als „theory of descent with modification through natural selection“, „Abstammungstheorie mit Abänderung durch natürliche Selektion“ und später korrekter als „theory of descent with modification through variation and natural selection“, wobei aber die Variation als wesentliches Element von Anfang an in seiner Theorie enthalten ist. Er geht von der Beobachtung aus, dass es zwischen den Individuen einer Art immer Unterschiede oder Varianten gibt und damit auch unterschiedlich gute Anpassungen an die jeweils herrschenden Umweltbedingungen. Diejenigen Organismen, die im Hinblick auf die jeweiligen Überlebenserfordernisse auf Grund ihrer Eigenschaften besser angepasst sind, d.h. zweckmäßiger ausgestattet sind als ihre Artgenossen, haben größere Überlebenschancen und können sich durchschnittlich erfolgreicher vermehren als die anderen, d.h. es findet eine natürliche Selektion der besser Angepassten statt. Ihre für das Überleben vorteilhaften Eigenschaften können sich daher über viele Generationen hinweg allmählich durch Vererbung anhäufen und sich dabei gegenüber den Merkmalen der Stammart zunehmend verändern. Dies ist nach Darwin ein sich graduell, nicht sprunghaft vollziehender Prozess. Er vertritt einen Gradualismus und lässt sich vom naturphilosophischen Kontinuitätsmodell leiten, wonach die Natur keine Sprünge macht, „natura non facit saltum“ (Darwin 2007, 265, 654). Dieser Vorgang führt nach Darwin zur Entstehung neuer Varietäten, Unterarten und schließlich zu neuen Arten. Die natürliche Selektion erfüllt hier also nicht nur die Funktion einer Erklärung des Aussterbens von Arten, sondern in erster Linie die konstruktive Funktion 1 Siehe den Beitrag von Wolfgang Maier in diesem Band. <?page no="147"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 147 einer Erklärung der Entstehung neuer Arten. 2 Ab der 5. Auflage verwendet Darwin neben dem Begriff der natürlichen Selektion auch den von Spencer geprägten Ausdruck „survival of the fittest“. 3 Wodurch wird in der freien Natur aber die natürliche Auslese bewirkt? Nach Darwin sind es die je spezifischen, überlebensrelevanten Herausforderungen, mit denen die Organismen einer Art unter ihren jeweiligen Lebensbedingungen konfrontiert werden. Darwin bezeichnet diese Herausforderungen mit dem Begriff „struggle for life“ oder auch „struggle for existence“ und lässt sich dabei durch Malthus’ Bevölkerungsgesetz inspirieren, das er im September 1838 durch Lektüre von dessen Essay on the Principle of Population kennen lernt. Da sich die Anzahl der Individuen einer Art nach Darwin im Großen und Ganzen stabil hält, muss es in der Natur einen Mechanismus geben, der diese Stabilität bewirkt. Knappe Ressourcen, die bei Malthus ausschlaggebend sind, können dabei eine von vielen Äußerungsweisen dieses „struggle for existence“, des Ringens um die Existenz, sein, es sind aber nicht die einzigen. Darwin legt das Bevölkerungsgesetz weiter aus als Malthus selbst und fasst unter diesen Begriff sämtliche Bewährungsproben, denen Organismen während ihres Lebens ausgesetzt sind und die einen Einfluss auf Überleben und Fortpflanzung haben können. Dabei können die kleinsten Unterschiede, Varianten, zwischen den Lebewesen einer Art bzw. Population, ein „Körnchen in der Waagschale“, für Überleben und Fortpflanzungserfolg ausschlaggebend sein (Darwin 2007, 650). Darwins Ausdruck „struggle for existence“ wurde vielfach missverstanden und dabei auf die Bedeutung eines schonungslosen Kampfes aller mit allen eingeengt. Er weist jedoch von Anfang an auf das weite Bedeutungsspektrum des Begriff hin, der je nach Lebenskontext die Konkurrenz zwischen Individuen derselben Art (innerartliche Konkurrenz), die Konkurrenz zwischen Individuen unterschiedlicher Arten (zwischenartliche Konkurrenz), das Ringen um die Existenz eines Lebewesens mit Umweltbedingungen (z.B. Trockenheit, Dürre, Kälte, Nässe usw.), das Hinterlassen von Nachkommenschaft und die Abhängigkeit der Lebewesen untereinander bedeuten kann. Der Begriff ist situationsspezifisch auszulegen, und es gibt demnach unterschiedliche Bewältigungsstrategien des Ringens um die Existenz, zu denen Konkurrenz ebenso gehört wie Kooperation, ein Aspekt, der in der russischen Darwin- 2 Zur heutigen, differenzierteren Sichtweise der Artentstehung und ihrer Mechanismen sowie zu verschiedenen Artkonzepten siehe den Beitrag von Oliver Betz in diesem Band. 3 Bisweilen wird gegen die Evolutionstheorie auch mit Verweis auf den Ausdruck „survival of the fittest“ der Einwand erhoben, dass diese Theorie tautologisch und damit keine Theorie über Empirisches sei: der Ausdruck „survival of the fittest“ bedeute nichts anderes als „survival of the survivor“. Dieser Einwand ist jedoch nicht berechtigt, da sowohl die Definitionen von „survival“ und „fitness“ als auch die Kriterien ihrer Überprüfung beider unterschiedlich sind (vgl. hierzu Engels 1989, 133-140). <?page no="148"?> Eve-Marie Engels 148 Rezeption besonders hervorgehoben wurde (Todes 1989; 2009). Begriffe wie „struggle for life“ und „war of nature“ wurden auch nicht von Darwin geprägt, sondern waren bereits geläufig, als er sein Buch verfasste. Nach Darwin können aus einer Art im Laufe langer Zeiträume mehrere Arten entstehen, weil die Lebewesen einer Spezies durch ihre Anpassung an verschiedene Stellen im Naturhaushalt eine Merkmalsdivergenz entwickeln. Für die Herausbildung der „Divergenz der Charaktere“ (divergence of character) und die Möglichkeit der reproduktiven Isolation boten gerade die Galapagos-Inseln exemplarische Voraussetzungen. 4 Die Entstehung von Arten und Anpassungen ist nach Darwin somit das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von externen Lebensbedingungen und der internen Struktur von Organismen, welches Naturgesetzen und Voraussetzungen unterschiedlicher Art (Gesetz der natürlichen Selektion, Vererbungs- und Variationsgesetze usw.) unterworfen ist, selbst wenn diese im Einzelfall nicht oder noch nicht bekannt sind. Darwin bezeichnet in Origin of Species die individuellen Variationen als „spontan“ und „zufällig“, räumt jedoch ein, dass die Rede vom „Zufall“ („chance“) eine völlig unkorrekte Ausdrucksweise sei, die nur die Unkenntnis der Ursache jeder einzelnen Variation zum Ausdruck bringe (Darwin 1859, 131; vgl. Darwin 2007, 188, 648). Obwohl Darwin die Variations- und Vererbungsgesetze noch nicht kannte und hierüber aus heutiger Sicht teilweise falsche Vorstellungen hatte, ist die Struktur seiner Theorie mit ihren Bestandteilen Variation, natürliche Selektion und Vererbung nach wie vor gültig. Mit dieser Theorie verabschiedete sich Darwin von den damals noch geläufigen Vorstellungen einer speziellen Schöpfung jeder einzelnen Art und der Konstanz der Arten. Nach seiner Theorie entstehen neue Arten durch einen Wandel, die Transformation bereits existierender Arten. Damit führte er eine Revolution in den Grundlagen des Denkens über bestimmte Fragen herbei. Ein dynamisches Naturbild löste das statische Bild von der Natur ab. Darwins Revolution war aber noch viel weitreichender und tiefgehender. Ihr Kern betraf die philosophischen Voraussetzungen der Wissenschaften vom Lebendigen: Zur biologischen Erklärung der Entstehung neuer Arten und der Zweckmäßigkeit in der lebendigen Natur bedarf es nach Darwin nicht der Annahme einer intelligenten Erstursache, eines planenden Schöpfergottes oder intelligenten Designers, Naturgesetze reichen hierfür aus. In diesem Sinne sind die Variationen zufällig. Dies beinhaltet für Darwin nicht die Zielsetzung, letzte metaphysisch-theologische Fragen zu klären oder gar die Nichtexistenz Gottes zu beweisen. Hierzu ist der Mensch mit seiner fehlbaren Vernunft nach Darwin gar nicht in der Lage. Eine weitere revolutionäre Implikation von Darwins Theorie ist die Stellung des Menschen in der Natur. Da sich diese Theorie auf alle Lebewesen bezieht, ist auch der Mensch mit eingeschlossen und in die Naturgeschichte eingebettet. Bereits in der 1. Auflage von Origin of Species deutete Darwin dies 4 Siehe den Beitrag von Oliver Betz in diesem Band. <?page no="149"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 149 gegen Ende seines Buches an (Darwin 1859, 488). Doch erst 1871 folgte sein Werk Descent of Man, nachdem zahlreiche Wissenschaftler bereits seit den 1860er Jahren Darwins Theorie zur Erklärung der Entstehung des Menschen angewandt hatten. 1863 erschienen zahlreiche Monografien renommierter Wissenschaftler hierzu (Engels 2007, Kap. IV). 2. Die Abstammung des Menschen von anderen Tieren In Descent of Man stehen vier Fragen im Mittelpunkt: Erstens, ob der Mensch wie andere Arten von einer früher existierenden Form abstamme, zweitens die Art und Weise seiner Entwicklung, drittens die Bedeutung der Unterschiede zwischen den „so genannten Menschenrassen“ (Darwin 1989 I, 4) 5 . Darüber hinaus möchte Darwin die Frage nach dem Ursprung des moralischen Sinns oder Gewissens („moral sense or conscience“) beantworten, denn niemand habe sich dieser bedeutenden Frage bisher „ausschließlich aus der Perspektive der Naturgeschichte“ angenähert. Darwin möchte wissen, inwieweit das Studium der Tiere Licht auf eine der „höchsten psychischen Fähigkeiten des Menschen“ wirft (I, 102). Er betrachtet den Menschen in seinen körperlichen und geistigen Aspekten aus einer evolutionstheoretischen Perspektive und wird damit zum Begründer einer Evolutionären Anthropologie. Da Darwins Abstammungstheorie mit ihrer Kontinuitätsannahme einen Gradualismus beinhaltet, muss er Belege dafür anführen können, dass sich der Mensch allmählich, nicht sprunghaft, aus nichtmenschlichen Vorfahren entwickelt hat. Darwins wissenschaftliches Programm in Descent of Man besteht nun darin, seine Theorie am Leitfaden dieser vier Fragen zu überprüfen. Bevor Darwins Programm im Folgenden näher vorgestellt wird, sollen zunächst aus dieser neuen Perspektive einige Fragen formuliert werden, um mögliche Implikationen einer Evolutionären Anthropologie für unser Menschen- und Naturbild zu verdeutlichen. Welche Aspekte des Menschen werden sichtbar, wenn wir ihn als einen Abkömmling affenähnlicher Vorfahren betrachten und ihn als Tier in einen verwandtschaftlichen Zusammenhang mit anderen Tieren stellen? Beinhaltet dies einen Verlust der Sonderstellung des Menschen in der Natur? Wie Kinder Merkmale mit ihren Eltern und Geschwistern teilen, so müsste der Mensch als Spezies auch mit seinen nichtmenschlichen Vorfahren und seinen nächsten Verwandten, Bonobo und Schimpanse, und mit den anderen Menschenaffen, Gorilla und Orang-Utan, Gemeinsamkeiten aufweisen. Da letztlich alle Organismen auf einige gemein- 5 Ich verwende die 2. Aufl. (1874 bzw. 1877) in der zweibändigen Ausgabe der Gesamtausgabe (Pickering Masters). Die römischen Ziffern beziehen sich auf den Band, die arabischen auf die Seitenzahl. Wenn nicht anders angegeben, stammt die Übersetzung der Texte aus Descent of Man von mir. Wird mehrmals hintereinander aus Darwins Descent of Man zitiert, sind nach dem ersten Zitat nur Band und Seitenzahl angegeben. <?page no="150"?> Eve-Marie Engels 150 same oder nur einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen, erstreckt sich diese Verwandtschaft darüber hinaus auch auf solche Lebewesen, die nicht in direktem Abstammungszusammenhang mit dem Menschen stehen. All diese Fragen müssen sich auch denjenigen aufdrängen, die zwar nicht mehr von der wörtlichen Wahrheit der Bibel ausgehen, jedoch Evolutionsgesetze als von Gott eingerichtete Gesetze betrachten. Denn auch unter diesen Voraussetzungen geht der Mensch nicht unmittelbar aus der Hand Gottes hervor, sondern stammt von nichtmenschlichen Vorfahren ab. Darwin führt in seinem Buch Descent of Man in den ersten beiden Kapiteln zunächst vorwiegend morphologische Belege dafür an, dass auch die Entstehung des Menschen mit Hilfe seiner allgemeinen Abstammungstheorie (theory of descent with modification through variation and natural selection) erklärbar ist, dass also auch der Mensch wie andere Arten durch eine graduell verlaufende Arttransformation entstanden ist und er sich allmählich aus nichtmenschlichen Vorfahren entwickelt hat. Verbunden sind damit Reflexionen über die Kontingenz, die Zufälligkeit der menschlichen Existenz, die an eine nicht von vornherein festgelegte, vorherbestimmte Konstellation von Entstehungsbedingungen gebunden ist. Wären diese anders gewesen, wäre der Mensch in seiner jetzigen Form nicht entstanden: „Hätte irgendein einziges Glied in dieser Kette nie existiert, wäre der Mensch nicht genau das geworden, was er jetzt ist“ (Darwin 1989 I, 171). Solche Überlegungen finden wir auch bereits in Darwins frühen Notizbüchern aus dem Jahre 1838: „Welche Umstände mögen für die Entstehung des Menschen notwendig gewesen sein! […] der Mensch, (der rohe, unzivilisierte Mensch), hätte vielleicht nicht gelebt, wenn bestimmte andere Tiere, die ausgestorben sind, noch leben würden.“ 6 „In seiner Arroganz hält sich der Mensch für ein großes Werk, das es würdig ist, durch Gottes Wirken hervorgebracht zu sein. Bescheidener und, wie ich glaube, zutreffender ist die Annahme, dass er aus Tieren erschaffen wurde.“ 7 Als Belege für die Abstammung des Menschen von anderen Tieren stützt sich Darwin zunächst auf körperliche Merkmale, auf Homologien, auf Ähnlichkeiten der Embryonen verschiedener Tierklassen der Wirbeltiere und auf Rudimente, d.h. körperliche Merkmale des Menschen, die bei diesem nutzlos geworden sind und sich zurückgebildet haben, bei unseren tierlichen Vorfahren jedoch eine Funktion erfüllten. 6 „What circumstances may have been necessary to have made man! […] man, (rude, uncivilized man) might not have lived when certain other animals were alive, which have perished.“ Darwin in Barrett et al. 1987, C 78f., 263f. 7 „Man in his arrogance thinks himself a great work. worthy the interposition of a deity, more humble & I believe true to consider him created from animals.-“ Darwin in Barrett et al. 1987, C 196f., 300. <?page no="151"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 151 Anschließend schlägt Darwin auch bei geistigen Merkmalen und Fähigkeiten eine Brücke zwischen Tieren und Menschen 8 . Durch die tief im Bewusstsein verwurzelte Annahme einer Kluft zwischen Tier und Mensch fehlt bei vielen ein Bewusstsein für den Reichtum und das breite Spektrum kognitiver sowie psychischer Fähigkeiten und Leistungen bei nichtmenschlichen Tieren. Darwins Ausführungen über die geistigen Fähigkeiten der Tiere bieten einen ausgezeichneten Überblick über die zeitgenössische vergleichende Verhaltensforschung auf dem aktuellen Stand des 19. Jahrhunderts. Dabei stützt er sich auf seine Beobachtung und Erfahrung mit eigenen Tieren und Kindern, in größerem Maße jedoch auf die internationale Literatur namhafter Wissenschaftler aus unterschiedlichsten Bereichen der Erforschung des Tierverhaltens sowie auf deren Angaben und Berichte in ihrer Korrespondenz mit ihm. So kann er ein breites und differenziertes Leistungsspektrum von Tieren aus ganz unterschiedlichen systematischen Kategorien vorstellen und damit die Variationsbreite der kognitiven Fähigkeiten im Tierreich, aber auch ihre Gemeinsamkeiten anschaulich demonstrieren. Da der Mensch in der Systematik der Tiere zum Stamm der Wirbeltiere und zur Klasse der Säugetiere gehört, ist ein Vergleich mit den verschiedenen Klassen der Wirbeltiere und hier wiederum mit Vertretern aus der Ordnung der Primaten für Darwin von besonderem Interesse. Darwin stützt sich auch auf Autoren, die zu seiner Zeit einen Namen hatten und für uns heute noch ein Begriff sind, wie Alfred Brehm („Brehms Tierleben“). Seine Ausführungen über den Vergleich der geistigen Fähigkeiten des Menschen und der Tiere haben bis heute nicht an Aktualität verloren. Beim Lesen fühlt man sich häufig in das 20. und 21. Jh. versetzt. Er benennt und diskutiert bereits sämtliche Vermögen, die auch heute in der Diskussion um die Erkenntnisfähigkeiten von Tieren im Gespräch sind: Denkvermögen, Lernen aus Erfolg und Irrtum in Verbindung mit Gedächtnis, assoziatives Lernen, Verwunderung, Erstaunen, Neugier, Aufmerksamkeit, Imitation, Abstraktionsfähigkeit, die Bildung von Allgemeinbegriffen, Imagination, einsichtiges Verhalten, Bewusstsein und bis zu einem gewissen Grad Selbstbewusstsein, Kommunikation, Werkzeuggebrauch. Obwohl Darwin im Unterschied zum heutigen Kenntnisstand für Werkzeugherstellung bei Tieren noch keine Beispiele anführt, beinhaltet dies für ihn keine unüberbrückbare Kluft zwischen Tier und Mensch, da der Beginn der Herstellung bestimmter Werkzeuge bei den Urmenschen eher auf zufälliger Entdeckung bestimmter Eigenschaften der Natur als auf gezielter Planung beruhen mag. Darwin beschreibt neben den kognitiven Fähigkeiten auch die Gefühlswelt der Tiere, wozu Freude und Schmerz (pleasure and pain), Glück und Elend (happiness and misery) und zahlreiche andere Gefühle gehören, wie Eifersucht, Liebe und das Bedürfnis, geliebt zu werden, Wetteifer, das Bedürfnis nach Zu- 8 Der Einfachheit halber verwende ich manchmal geläufige Formulierungen wie „Tier und Mensch“ oder „Tiere und Menschen“, ohne damit den Menschen außerhalb des Tierreichs stellen zu wollen. <?page no="152"?> Eve-Marie Engels 152 stimmung und Lob, Stolz und Selbstzufriedenheit, Rache, Misstrauen und andere. Die mehr intellektuellen Gefühle und Fähigkeiten wie Verwunderung und Neugier sind als Grundlage für die Entwicklung der höheren Vermögen von besonderer Bedeutung. Neben der Beobachtung ihres Verhaltens kann er sich auch auf die physiologischen Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier stützen, die bei bestimmten Gefühlen auftreten, wie Muskelzittern, Herzklopfen, Haarsträuben u.a. Diesem Thema hat Darwin ein ganzes Buch gewidmet, The Expression of the Emotions in Man and Animals (1872), in welchem er seine Ausführungen durch reichhaltiges Bildmaterial (historische Fotografien, Zeichnungen, Holzschnitte) untermalt. Diese Fähigkeiten sind im Tierreich ganz unterschiedlich verteilt. Es gibt kein Alles oder Nichts. Darwin beansprucht auch nicht, alle diese Fähigkeiten bei nichtmenschlichen Tieren in gleicher Weise wie beim Menschen anzutreffen. Seine Abstammungstheorie nivelliert keine Unterschiede; und die Zuordnung bestimmter Merkmale hängt für ihn auch von der jeweiligen Definition ab. So verfügen auch Tiere über Kommunikationsfähigkeiten (Laute, Körpersprache, Bewegungen) mit Ausdrucks-, Appell- und Symbolcharakter, während die verbale Sprache dem Menschen vorbehalten ist. Neben den zuvor bereits angeführten Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten sind Mensch und Tier nach Darwin mit einigen gemeinsamen Instinkten ausgestattet. Hierzu gehören der Instinkt der Selbsterhaltung, die geschlechtliche Liebe sowie die sozialen Instinkte wie Eltern- und Kindesliebe, Geselligkeit, Treue, gegenseitige Hilfsbereitschaft, Wohlwollen, Anteilnahme und Mitgefühl (sympathy) 9 für Familien und Gruppenmitglieder. Einige dieser von Darwin als „Instinkt“ bezeichneten Merkmale werden heute wohl als „Trieb“ bezeichnet. Darwin führt Beispiele für Hilfsbereitschaft und mütterliche Zuneigung an, die sich über den eigenen Nachwuchs hinaus auf kranke, schwache und verwaiste Artgenossen und sogar auf Mitglieder anderer Arten erstrecken, wie das Beispiel artüberschreitender Adoption bei Affen zeigt (Darwin 1989 I, 74ff., 104-112). Er stellt ein ganzes Repertoire an Beispielen für Hilfeleistungen bei sozial lebenden Tieren vor, wie gegenseitiges Warnen vor Gefahren, wechselseitige Fell- und Hautpflege, gemeinsames Jagen und Fischen. Damit stützt er seine These, dass bereits bei Tieren sympathy ein wesentliches Element und den Grundstein (foundation-stone) der sozialen Instinkte bildet (I, 103; II, 637). Diese mit den sozialen Instinkten der Tiere verbundenen Eigenschaften würden wir nach Darwin bei uns Menschen als „moralisch“ bezeichnen (I, 107). Zur Charakterisierung der Eigenschaften von Tieren vermeidet Darwin jedoch ausdrücklich aus in den Abschnitten 3 und 4 noch näher auszuführenden Gründen den Begriff „moralisch“. 9 Der englische Begriff „sympathy“ bedeutet nicht dasselbe wie der deutsche Begriff „Sympathie“, sondern bezeichnet Wohlwollen, Anteilnahme und Mitgefühl für andere. Daher werde ich hier außer bei Zitaten aus Übersetzungen und Paraphrasierungen der Sekundärliteratur den englischen Begriff verwenden. <?page no="153"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 153 Auf Grund all dieser Ähnlichkeiten nimmt Darwin nur einen „graduellen“, aber keinen „wesentlichen“ oder „fundamentalen“ Unterschied (one of degree and not of kind) zwischen Tieren und Menschen an (I, 69f., 130). Wiederholt weist er auf die Kontinuität zwischen Tieren und Menschen hin. Das von Darwin in Origin of Species angeführte naturphilosophische Kontinuitätsprinzip, dass die Natur keine Sprünge mache, „natura non facit saltum“, kommt also auch hier konsequent zur Anwendung. In der aufsteigenden Naturleiter lasse sich eine Abstufung zahlloser feinster Grade mentaler Fähigkeiten vom „niedrigsten“ Organismus bis zum Geist eines Newton oder Shakespeare verfolgen. Allerdings schließt dies nicht aus, dass es zwischen Tierarten und Tiergruppen große Unterschiede gibt. Ein „niederer“ Fisch wie ein Neunauge oder ein Lanzettfischchen unterscheide sich in seinen geistigen Fähigkeiten von einem „höheren Affen“ weitaus mehr als der Affe vom Menschen (I, 152). Wir werden auf dieses Thema im 6. Abschnitt zurückkommen. Im Unterschied zur Naturphilosophie und ihrer statischen Naturauffassung wird das Kontinuitätsprinzip bei Darwin jedoch durch die Verzeitlichung dynamisch. Auch ist er sich trotz seiner gelegentlichen Verwendung der traditionellen Terminologie der Problematik bewusst, welche die Annahme einer Hierarchie der Lebewesen provoziert. Ausdrücklich thematisiert er mehrfach die Schwierigkeiten der Angabe von Kriterien für die Einordnung der Lebewesen in eine Stufenleiter des Lebendigen (vgl. z.B. Darwin 1988a, 103) 10 . Der Jetztmensch verfügt nach Darwin nicht mehr über ausgeprägte soziale Instinkte wie der Urmensch. Er besitzt nur noch wenige spezielle Instinkte; und manche Instinkte sind bei ihm abgeschwächt. In diesem Sinne können wir von einer Instinktreduktion sprechen (Darwin 1989 I, 113; II, 636). Obwohl die sozialen Instinkte nach Darwin heute weitgehend ihre motivierende Kraft verloren haben, geben sie noch die Impulse zu unserem Sozialverhalten. In diesem Sinne sind sie Wurzeln wichtiger Elemente unserer Moral. Aus einer weit zurück liegenden Zeit haben wir noch einen gewissen Grad an instinktiver Liebe und instinktivem Mitgefühl für unsere Mitmenschen beibehalten. Zur Begründung seiner Annahme der Existenz solcher Impulse im Menschen stützt sich Darwin auf unsere Selbsterfahrung, wie sie auch von Hume beschrieben wird: „Hier scheint es notwendig zu sein, zuzugeben, daß das Glück und Elend anderer für uns kein gänzlich gleichgültiges Schauspiel ist, sondern daß der Anblick von Glück […] eine stille Freude und Befriedigung vermittelt und das Bild von Elend wie eine drohende Wolke oder eine unfruchtbare Landschaft einen düsteren Schatten auf unsere Phantasie wirft.“ (Hume 2002, 169; Darwin 1989 I, 113) 10 Siehe auch Engels 2007. <?page no="154"?> Eve-Marie Engels 154 Obwohl Darwin von einem nur graduellen Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Tieren ausgeht, betrachtet er den Jetztmenschen, selbst wenn er in „rohestem Zustand“ ist, als „das dominanteste Tier, das jemals auf dieser Erde erschienen ist“ (I, 52). Der Mensch verdankt seine „ungeheure Überlegenheit“ seinen gegenüber anderen Tieren gesteigerten intellektuellen Fähigkeiten in Verbindung mit seiner verbalen Sprache, den sozialen Gewohnheiten sowie seinem Körperbau. Hier zeigt sich der Einfluss von Alfred Russel Wallace auf Darwin. Indem sich der Selektionsdruck beim Menschen allmählich vom Körper auf die Herausbildung seiner intellektuellen und moralischen Fähigkeiten verlagerte, kam die körperliche Veränderung des Menschen mit Ausnahme des Gehirns als „Organ des Geistes“ und des Schädels weitgehend zum Stillstand (Wallace 1864, clxix). Ein entscheidender Schritt in der Geschichte der Menschwerdung ist für Darwin die Entwicklung des aufrechten Ganges, der Bipedie. Dadurch wurden die Hände für andere Funktionen als die der Fortbewegung frei. Das Tastgefühl verfeinerte sich, so dass ein gezielter Umgang mit Objekten und ein feinerer Gebrauch der Hände möglich wurden. Darwin bemerkt bereits die bedeutende Funktion des opponierbaren Daumens bei Affen, die dadurch Gegenstände festhalten und bearbeiten können. Nach Darwin besteht auch eine Beziehung zwischen dem fortgesetzten Gebrauch der verbalen Sprache, die für ihn ihren hauptsächlichen Ursprung in der Nachahmung hat, und der Entwicklung des Gehirns, wobei er sich vor allem auf Chauncey Wright stützt (Wright 1870). Danach haben sich Sprach- und Denkvermögen in ihrer Entwicklung wechselseitig beeinflusst. Darwin ist allerdings zurückhaltend, wenn es um Aussagen zur Rolle einzelner Evolutionsfaktoren bei der Veränderung körperlicher Merkmale im Laufe der Entstehung des Menschen geht. Die verschiedenen Modifikationen, die mit der Entwicklung des aufrechten Ganges verbunden sind, stehen derart miteinander in Korrelation, dass eine Entscheidung über die Rolle der natürlichen Selektion und anderer Faktoren schwer zu treffen ist. Wie andere Organismen waren auch unsere nichtmenschlichen Vorfahren einem struggle for existence und damit der natürlichen Selektion ausgesetzt. Bei streng sozial lebenden Tieren wirkt die natürliche Selektion nach Darwin manchmal auf das Individuum durch die Erhaltung von Variationen, die der Gemeinschaft nützen. So bildeten sich bestimmte geistige Fähigkeiten hauptsächlich zum Nutzen der Gemeinschaft heraus, und die Individuen profitierten indirekt davon (I, 66f.). Darwin erläutert dies am Beispiel von Erfindungen (I, 134). Wenn irgendjemand scharfsinniger als seine Stammesgenossen war und ein neues Angriffs- oder Verteidigungsmittel erfand, pflegten die anderen Mitglieder ihn aus reinem Eigeninteresse und ohne besonderen Scharfsinn zu imitieren, so dass alle davon profitierten. Die gewohnheitsmäßige Ausübung jeder neuen Fertigkeit trug ebenfalls zur Stärkung des Intellekts bei. War die neue Erfindung bedeutend, vermehrte sich der Stamm, dehnte sich aus und verdrängte andere Stämme. In einem derart vergrößerten Stamm wuchs auch die Wahrschein- <?page no="155"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 155 lichkeit der Geburt überlegener und erfinderischer Mitglieder. Deren Nachkommen würden weitere kognitive Fortschritte machen und ihre Vorfahren überflügeln. Selbst wenn sie keine Kinder hinterließen, lebten im Stamm noch ihre Blutsverwandten, so dass ihre überlegenen Fähigkeiten auf diese Weise erhalten blieben (s. Anm. 15). Kognitive Fähigkeiten stellen somit wie körperliche Fähigkeiten Anpassungen an Existenzbedingungen dar. In diesem Sinne vertritt Darwin eine Evolutionäre Erkenntnistheorie (Engels 1989). 11 Die geistigen und sozialen Fähigkeiten erwiesen sich bei unseren frühen Vorfahren von ihrer ersten Entstehung an als vorteilhaft für die Gemeinschaft und förderten damit auch das Überleben des Einzelnen. Der besondere Vorteil der intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten des Menschen liegt für Wallace und Darwin darin, „mit unverändertem Körper in harmonischem Verhältnis zu dem sich verändernden Universum“ bleiben zu können (I, 132, Hervorh. von E.- M. Engels). Kein Lebewesen konnte bisher dem Gesetz der Abänderung seines Körpers unter dem Druck wechselnder Umwelt- und Lebensbedingungen entkommen. Der Mensch ist jedoch durch die Technik in der Lage, seine Umwelt in Anpassung an seine Bedürfnisse selbst zu schaffen, statt sich umgekehrt an diese durch die allmähliche Veränderung seiner körperlichen Struktur anpassen zu müssen. Mittels der Technik hat sich der Mensch jedoch nicht nur von der Wirkung der natürlichen Selektion auf seinen Körper befreit, sondern hat die Natur darüber hinaus bis zu einem gewissen Grade entmachtet. Wallace sieht hierin ein neues Argument für die Sonderstellung des Menschen. Seine Entstehung bedeute eine „Revolution“ in der Natur. Entwicklung und Überleben des Menschen sind keine Selbstverständlichkeit. Wäre die Instinktreduktion nicht mit der Herausbildung bzw. Steigerung anderer Fähigkeiten wie Reflexionsvermögen und Sprache einhergegangen, gäbe es uns vermutlich nicht. Zu unserer Entstehung bedurfte es einer einmaligen Konstellation von Bedingungen. Instinktreduktion unter Beibehaltung von Impulsen für soziales Verhalten, die Entwicklung höherer kognitiver Leistungen in Verbindung mit der Weiterentwicklung des Gehirns und der Herausbildung einer verbalen Sprache bilden in ihrem Entstehungsprozess einen komplexen Zusammenhang, auch wenn sich dieser Prozess nicht in jedem einzelnen Schritt rekonstruieren lässt, wie Darwin zugibt. 3. Die Entstehung der Moralfähigkeit und des moralischen Sinns beim Menschen Dass Darwins Descent of Man kein rein naturwissenschaftliches Werk ist, zeigt sich spätestens mit den Kapiteln vier und fünf, in denen er seine Überle- 11 Zu dieser Thematik siehe auch die Studie von Robert Richards, in der neben Darwin auch weitere Ansätze eines evolutionären Verständnisses von Kognition und Handeln bzw. Verhalten und Moral vorgestellt werden (Richards 1987). <?page no="156"?> Eve-Marie Engels 156 gungen zur Ethik vorstellt. Gegenstand dieser Kapitel ist der moralische Sinn des Menschen, der aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. Darwin untersucht den Ursprung des moralischen Sinns erstmals systematisch und ausführlich aus der Perspektive der evolutionären Naturgeschichte. Dabei greift er vermittelnd auf die Philosophie als eine Quelle der Erfahrung mit dem Menschen zurück, in welcher dieser unter dem Aspekt eines moralischen Wesens betrachtet wird und die ihm das kategoriale Instrumentarium für eine angemessene Beschreibung an die Hand geben soll. Gleich zu Beginn des Kapitels unterschreibt Darwin „vollständig die Meinung derjenigen Autoren, die der Ansicht sind, dass von allen Unterschieden zwischen dem Menschen und den“ im Vergleich zum Menschen „niederen Tieren der moralische Sinn oder das Gewissen bei weitem der wichtigste ist.“ Dieser moralische Sinn wird in „jenem kurzen, aber gebieterischen Wort sollte zusammengefasst, das von so großer Bedeutung ist“ (I, 101). Er zitiert hier den Ethiker James Mackintosh sowie Kant mit seiner berühmten Frage nach dem Ursprung der Pflicht. 12 Kants Idee der Menschenwürde und die englisch-schottische Moralphilosophie (Butler, Hume, Smith, Mackintosh u.a.) mit der Theorie des moralischen Sinns kommen hier gleicherweise zur Geltung. Auch auf den Einfluss der antiken Tugendlehre gibt es Hinweise. Abstammungstheorie und Philosophie sollen in einen fruchtbaren interdisziplinären Zusammenhang gebracht werden, um die Erträge beider Perspektiven zu nutzen. Für Darwin ist der moralische Sinn „die edelste aller Eigenschaften des Menschen, die ihn dazu führt, ohne einen Augenblick zu zögern sein Leben für das eines Mitgeschöpfs zu opfern; oder nach eingehender Überlegung, angetrieben einfach durch das tiefe Gefühl von Recht oder Pflicht, es für irgendeine große Sache zu opfern.“ (I, 101) Später hebt er noch einmal hervor, dass die Moralfähigkeit den Menschen gegenüber anderen Tieren auszeichne, ja nur bei ihm anzutreffen sei. Nur der Mensch verfüge über ein Bewusstsein für Recht und Unrecht, einen moralischen Sinn, ein Gewissen. Damit wird der Mensch zu einem besonderen Lebewesen, da er mit einem Vermögen ausgestattet ist, das es im gesamten übrigen Tierreich nicht gibt. Der moralische Sinn ist nach Darwin ein äußerst komplexes Gebilde, das weder von seiner Entstehung noch in seiner Struktur und phänomenalen Besonderheit her auf soziale Instinkte reduzierbar ist. Zwar hat er Wurzeln in den Instinkten der Tiere, erschöpft sich darin jedoch bei weitem nicht. Obwohl Darwin nach landläufiger Auffassung mit seiner Theorie den Menschen seiner Sonderstellung in der Natur beraubt hat, reserviert er in Bezug auf die Moralfähigkeit nun doch eine ausgezeichnete Position für ihn. Im Unterschied zu traditionellen Ansätzen beansprucht Darwin diese Sonderstellung jedoch nicht innerhalb einer religiösen Schöpfungsgeschichte, sondern im Rahmen eines naturalistisch-evolutionären Ansatzes. 12 Vgl. Kant 1968, 86. <?page no="157"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 157 Ist dies ein Bruch mit der bisherigen Argumentation? Zuvor war es Darwins primäres Ziel, seine Hypothese vom abstammungsgeschichtlichen Zusammenhang des Menschen mit anderen Tieren zu fundieren. Aus diesem Grunde hob er immer wieder hervor, dass zwischen dem Menschen und den anderen Tieren nur ein gradueller, aber kein fundamentaler Unterschied bestehe, wenngleich dieser ungeheuer groß sein könne. Nun betont Darwin den Unterschied zwischen Tier und Mensch. Innerhalb eines evolutionstheoretischen Rahmens stellt sich die Frage, welcher Art diese auf seiner Moralfähigkeit basierende Sonderstellung des Menschen in der Natur ist. Müssen wir die Moralfähigkeit des Menschen als Novum der Evolution auf dieselbe Weise verstehen wie die Entstehung anderer neuer Merkmale im Laufe der Evolution, etwa die Herausbildung von Flügeln und Armen gegenüber Flossen, des aufrechten Gangs gegenüber dem Kriechen, Schwimmen und vierfüßiger Fortbewegung, oder umfasst sie noch etwas Zusätzliches? Bei diesen Beispielen sind die genannten körperlichen Unterschiede verschiedene Weisen der Erfüllung derselben Funktion oder Aufgabe, hier der Fortbewegung. Sie sind damit in dieser Hinsicht miteinander vergleichbar. Wenn Darwin nun die Moralfähigkeit für den Menschen reserviert, ist an ihn die Frage zu richten, auf welcher Ebene dies zu verorten ist. Ist sie etwas Besonderes, vergleichbar mit solchen Innovationen der Evolution, durch die ein und dieselbe Funktion erfüllt wird, oder gibt es hier eine differentia specifica in der Aufgabe und den Eigenschaften der Moral, die nirgends sonst im Tierreich realisiert ist? 13 Begründet die Moralfähigkeit des Menschen damit einen wesentlichen, prinzipiellen, fundamentalen Unterschied (difference of kind) zwischen dem Menschen und den übrigen Tieren? Schließen Nützlichkeit der Moral für das Überleben und spezifische Besonderheit der Moral einander aus? Und worauf basiert diese Besonderheit, an welche Voraussetzungen ist sie gebunden, und in welcher Beziehung stehen diese Voraussetzungen zu Fähigkeiten, die es im übrigen Tierreich bereits gibt? Stößt Darwins Theorie bei der Erklärung menschlicher Moralfähigkeit nun an ihre Grenze? Gibt es hierbei vom allgemeinen Prinzip der Natur, keine Sprünge zu machen, eine Ausnahme? Was bedeutet dies für den abstammungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Mensch und Tier und für die qualitative Beziehung zwischen beiden? Auf diese Fragen werde ich später zurückkommen. Ausgangspunkt von Darwins Überlegungen zur Entstehung der Moralfähigkeit des Menschen ist die Annahme gut ausgeprägter sozialer Instinkte, mit denen schon Tiere, die „affenähnlichen Vorfahren“ des Menschen (ape-like 13 Zur Vermeidung von Missverständnissen sei darauf hingewiesen, dass es im Bereich des nichtmenschlichen Lebendigen auch große Redundanzspielräume gibt und nicht nur Merkmale, die jeweils auf die Erfüllung spezifischer Funktionen zugeschnitten sind (vgl. Abschnitt 6). <?page no="158"?> Eve-Marie Engels 158 progenitors) und zunächst auch noch der Urmensch (primeval man) 14 ausgestattet waren und die durch natürliche Selektion entstanden sind. Auf Grund dieser Abstammung kommt der Urmensch nicht als tabula rasa zur Welt. Nach Darwin ist das Fundament der sozialen Instinkte die Zuneigung zwischen Eltern und Kindern. Ihr erwächst auch das Vergnügen an der Gesellschaft anderer, das sich als eine Erweiterung dieser ursprünglichen Zuneigung herausgebildet habe und teilweise durch Gewohnheit, hauptsächlich aber durch natürliche Selektion entstanden sei. Der moralische Sinn hat sich nach Darwin ursprünglich aus den sozialen Instinkten abgezweigt, denn beide beziehen sich in erster Linie ausschließlich auf das Wohl der Gemeinschaft (I, 123). Beim Urmenschen und den Naturvölkern erstreckt sich der Radius der sozialen Instinkte nach Darwin jedoch nicht über die eigene Gemeinschaft oder den eigenen Stamm hinaus, also nicht auf die gesamte menschliche Spezies, was Darwin als „low morality“ bewertet (I, 123). Auf das damit verknüpfte Phänomen des abgestuften Wohlwollens wurde in der Philosophiegeschichte mehrfach hingewiesen (vgl. Engels 2007, 172f.; vgl. auch den Beitrag von Nicole Becker in diesem Band). Da ein wesentliches Element der sozialen Instinkte sympathy ist, gehört dieses nach Darwin als unverzichtbarer Bestandteil auch zum moralischen Sinn. Damit ist dieser Sinn an die Naturgeschichte des Menschen gekoppelt. In der frühesten Periode seiner Entwicklung werden dem Menschen instinktive Impulse noch als grober Maßstab für Recht und Unrecht gedient haben (I, 129). Heute sind sie die Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt Mitgefühl empfinden können. Doch ist das Motiv unseres sozialen Handelns kein blinder instinktiver Impuls mehr (II, 636). Auch fehlen uns spezielle Instinkte, die uns in Bezug auf das Wie unserer Hilfe leiten könnten. Unser moralischer Sinn erschöpft sich also nicht in Gefühlsimpulsen. Darwin charakterisiert den „moral sense or conscience“ als ein „hoch komplexes Gefühl [sentiment] - mit Ursprung in den sozialen Instinkten, weitgehend geleitet durch die Zustimmung [approbation] unserer Mitmenschen, geregelt durch Verstand, Eigeninteresse und in späteren Zeiten durch tiefe religiöse Gefühle sowie bekräftigt durch Erziehung und Gewohnheit.“ (I, 137) 14 Darwin stützt sich bei seiner Beschreibung von Urmenschen auf die zeitgenössische Anthropologie, Ethnologie und Archäologie, vor allem auf die Werke von Sir John Lubbock (1865; 1870). Lubbock rekonstruiert die Merkmale des Urmenschen zum einen aus urgeschichtlichen Überresten, wie Werkzeugfunden, zum anderen aus der Beschreibung lebender Naturvölker, von denen er sich Aufklärung über die Urmenschen erhofft. Auch Darwin kommt auf seiner Weltreise mit Naturvölkern in Berührung. Im Anschluss an Lubbock bedient er sich der Epocheneinteilungen der Menschheitsgeschichte, wie Paläolithikum und Neolithikum. <?page no="159"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 159 Unsere sozialen Tugenden als Ausdruck des moralischen Sinns sind nach Darwin somit die verfeinerten und erweiterten ‚Nachkommen‘ sozialer Instinkte, wie man sagen könnte. Tugendhafte Neigungen können sich dem Geist zunächst durch Gewöhnung, Unterricht und beispielhaftes Vorbild eingeprägt haben, die generationenlang in der Familie gepflegt wurden. Darwin schließt nicht aus, dass die individuell erworbenen und zur Gewohnheit gewordenen Tugenden nach generationenlanger Ausübung vererbt werden (I, 136). Andererseits ist er in dieser Frage unschlüssig, da im Falle einer Vererbung von Tugenden auch sinnlose Sitten und abergläubische Gebräuche vererbt werden müssten, worauf es seines Erachtens aber keine Hinweise gibt. Doch glaubt er, auch die Vererbung der Neigung zu Delikten und Untugenden wie Diebstahl und Lüge ausmachen zu können (I, 128). Dieses Beispiel zeigt die Probleme, vor welche die wissenschaftlich noch ungeklärte Vererbungslehre Darwin stellte. Darwin greift zur Erklärung der allmählichen Ausdehnung des Kreises unseres Wohlwollens auf alle Menschen und schließlich alle Lebewesen auf einen gruppenselektionistischen Ansatz zurück. Stämme, deren Mitglieder sich wechselseitig unterstützten, über soziale Qualitäten wie Treue, sympathy, Mut verfügten, waren überlebensfähiger als intern zerstrittene oder weniger kooperativ zusammen gesetzte Gruppen. „Selbstsüchtige und streitsüchtige Menschen werden nicht zusammenhalten, und ohne Zusammenhalt kann nichts bewirkt werden.“ (I, 135). Stämme mit tugendhaften Individuen konnten sich daher gegenüber den anderen Stämmen durchsetzen, ein Vorgang, der sich im Laufe der Geschichte vielmals wiederholte. Im Zuge des zivilisatorischen Fortschritts vereinigten sich Stämme zu größeren Gemeinwesen. Damit vergrößerte sich nicht nur die Anzahl tugendhafter Individuen (quantitativer Fortschritt), sondern es vollzog sich auch allmählich eine Verfeinerung und Erweiterung der sympathy (qualitativer Fortschritt), eine Verbesserung des Maßstabes des Moralischen wie auch eine Erweiterung des Kreises derjenigen, die von uns moralisch berücksichtigt werden. Darwin hofft, dass sich die Moral auf diese Weise schließlich über die gesamte Welt ausbreiten werde. Er geht also von einer natürlichen Selektion unter den Stämmen auf Grund der unterschiedlichen Kooperationsbereitschaft der jeweiligen individuellen Mitglieder aus. Die zunehmende Verbesserung und Erweiterung der Moral betrachtet er als einen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte. Bemerkenswert ist, dass das von Darwin hier vorausgesetzte Fortschrittskriterium philosophischen Traditionen und einer christlich geprägten Kulturgeschichte entspringt. Er beansprucht nicht, es aus einer mit rein biologischen Kategorien beschriebenen Natur des Menschen abzuleiten. Der Revolutionär der Biologie vertritt somit keinen Biologismus! Darwins Überlegungen sind auch noch in anderer Hinsicht bemerkenswert. In der Rezeption werden die zentralen Begriffe seiner Theorie, „natürliche Selektion“ oder auch „survival of the fittest“ und „struggle for life“, häufig im Sinne des Überlebens der Gesündesten und körperlich Stärksten gedeutet. In Darwins <?page no="160"?> Eve-Marie Engels 160 Überlegungen spielen nun aber die Kooperation und der Fortschritt des allgemeinen Moralbewusstseins eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung von Menschengruppen gegenüber anderen, wodurch umgekehrt dieser Fortschritt weiter befördert wird. Darwin misst der Kulturentwicklung und der auf diesem Wege ermöglichten Weitergabe bestimmter kultureller Inhalte sogar eine größere Relevanz für den Fortschritt der Menschheit bei als biologischem Reproduktionserfolg. Die Kultur mit ihren Institutionen wird somit zu einem qualitativ neuen Faktor für die Entwicklung des Menschen. Angeregt durch die Lektüre von Francis Galton (1870) schreibt Darwin: „Große Gesetzgeber, die Stifter wohltätiger Religionen, große Philosophen und wissenschaftliche Entdecker tragen durch ihre Werke in weit höherem Maße zum Fortschritt der Menschheit bei als durch das Hinterlassen einer großen Nachkommenschaft.“ (I, 141f.). Darwin misst also der Kulturentwicklung für den Fortschritt der Menschheit eine immens große Bedeutung bei und verabsolutiert keineswegs die Bedeutung der biologischen Reproduktion. Die Bedeutung der Religion für den moralischen Fortschritt wird von Darwin wiederholt hervorgehoben. Bei uns hatte der Glaube an die Existenz eines allwissenden Gottes („all-seeing Deity“) einen mächtigen Einfluss auf den Fortschritt der Moral (II, 637). Das von Darwin hier in Anspruch genommene Fortschrittskriterium ist nicht die Steigerung der reproduktiven Fitness, sondern die Kultivierung unseres Moralvermögens. „So bedeutend der ‚struggle for existence‘ war und es sogar noch ist, so sind doch in Bezug auf den höchsten Teil der menschlichen Natur andere Wirkungen noch bedeutender. Denn die moralischen Qualitäten sind entweder direkt oder indirekt viel mehr durch die Wirkungen der Gewohnheit, das Denkvermögen, Unterweisung, Religion usw. als durch natürliche Selektion fortgeschritten; obgleich auf diese sicher die sozialen Instinkte zurückgeführt werden können, die die Grundlage für die Entwicklung des moralischen Sinns bereitstellten.“ (II, 643) Darwin stellt nun die Frage, wie bei den Individuen innerhalb eines Stammes ein moralischer Sinn allererst entstehen konnte, was ja die Voraussetzung für seine Verbreitung über die Grenzen dieses Stammes hinaus ist. Wenn einzelne Menschen erst einmal ansatzweise über einen moralischen Sinn verfügen, so ergibt sich daraus zwanglos die Überlegung, dass Gruppen kooperativer Individuen leichter überleben als Gruppen egoistischer und streitsüchtiger Individuen. Aber wie kommt der moralische Sinn ins Individuum? Geschieht dies auch durch natürliche Selektion? Diejenigen, welche vom Begründer der Theorie der natürlichen Selektion einen Anspruch auf universelle Anwendbarkeit dieser Theorie erwarten, werden verblüfft sein. Darwin weist nämlich explizit darauf hin, dass er die Herausbildung sozialer Tugenden wie Hilfsbereitschaft, Treue, Uneigennützigkeit bei einer größeren Anzahl von Individuen innerhalb eines Stammes mittels natürlicher Selektion für unwahrscheinlich hält. Seine Skepsis begründet er <?page no="161"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 161 damit, dass Individuen, die etwa über die Tugend der Opferbereitschaft verfügten, statistisch betrachtet häufiger als ihre egoistischen Artgenossen ihr Leben verloren und daher ihre „edle Natur“, die Disposition zur Opferbereitschaft, nicht an ihre Nachkommen weitervererben konnten (I, 135). Nach der Logik der Selektionstheorie hätte sich ein solches Merkmal in der Population eines Stammes also nicht durchsetzen können. Darwin greift daher bei seiner Rekonstruktion der „wahrscheinlichen Schritte“ dieser Entwicklung auf andere Erklärungsmuster zurück: Mit zunehmender Entwicklung des Verstandes und der Voraussicht lernte der Mensch, dass seine Unterstützung anderer von diesen gewöhnlich erwidert würde. Die Menschen machten also die Erfahrung der Nützlichkeit reziproker Unterstützung. Am Anfang des Entwicklungsprozesses sozialer Tugenden stehe somit das „niedrige Motiv“, anderen in der Erwartung ihrer Gegenleistung zu helfen (I, 136). Zur Gewohnheit geworden, stärkt die wechselseitige Unterstützung die sympathy füreinander. Einen noch mächtigeren Anreiz für die Entwicklung dieser Tugenden sieht Darwin im wechselseitigen Lob und Tadel der Menschen. Die Empfänglichkeit für Lob und Tadel unserer Mitmenschen wurzelt nach Darwin im Erbe unserer nichtmenschlichen Vorfahren, dem „instinct of sympathy“. Das für das allgemeine Wohl vorteilhafte Handeln wurde durch Lob unterstützt, das nachteilige zurückgewiesen. „Anderen Gutes zu tun - andere so zu behandeln, wie man selbst von ihnen behandelt werden möchte -, ist der Grundstein der Sittlichkeit.“ (I, 137). Die Bedeutung der Freude am Lob und der Furcht vor dem Tadel seiner Mitmenschen kann beim Urmenschen nach Darwin daher kaum überschätzt werden. „Ein Mensch, den zwar kein tiefes, instinktives Gefühl dazu trieb, sein Leben für das Wohl anderer zu opfern, aber der zu solchen Taten durch den Wunsch nach Ruhm veranlaßt wurde, entzündet durch sein Beispiel denselben Wunsch nach Ruhm in anderen Menschen und verstärkt das edle Gefühl der Bewunderung durch Übung. Vielleicht bedeutet so sein Wirken mehr für seinen Stamm, als wenn er Nachkommen zeugt, die seinen eigenen hohen Charakter ererben.“ (Darwin 2002, 169; I, 137) Für die Verbreitung von Moral kann es nach Darwin also viel förderlicher sein, wenn vorbildhafte Menschen mit gutem Beispiel vorangehen und auf diese Weise viele Menschen erreichen, als durch die Zeugung von Nachkommen, welche ihre Disposition zu sozialem Handeln erben. Denn wäre die Vermittlung von Moral von biologischer Vererbung statt von kultureller Tradierung abhängig, so würden die Tugenden mit ihren Trägern aussterben, wenn diese ihre Hilfsbereitschaft mit dem Verlust ihres Lebens bezahlen müssten. Durch die nichtbiologische, kulturelle Weitergabe von Werten und Wissen ist deren viel schnellere Verbreitung bei einer zudem viel größeren Anzahl von Individuen möglich. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass <?page no="162"?> Eve-Marie Engels 162 sich Hilfsbereitschaft, soziales Handeln, in einer Population verbreiten kann. 15 Wie bei der zuvor schon beschriebenen Ausbreitung und Steigerung kognitiver Leistungen, wie Erfindungen, spielt also auch hier die Imitation eine zentrale Rolle. In späteren Phasen der Entwicklung kommen zunehmend die regulierende Leistung des Verstandes, der Erziehung und der Religion hinzu, wobei die sicherste Richtschnur moralischen Handelns nach Darwin schließlich die eigenen habitualisierten, durch Vernunft kontrollierten Überzeugungen seien. Gefühl, Verstand und Urteilskraft als Vermögen des Menschen sowie Erziehung, Religion, Gesetz und öffentliche Meinung als externe Faktoren münden in das komplexe Gebilde des moralischen Sinns. Obgleich ursprünglich eigennützigen Motiven entsprungen, entwickelt sich im Laufe der Zeit eine eigenständige und echte moralische Motivation zur Beförderung des Wohlergehens anderer und der Gemeinschaft. Darwin wendet sich damit gegen den ethischen Egoismus, wie er von Hobbes und Mandeville vertreten wird. 16 Die Stoßrichtung seiner Argumen- 15 Allerdings stellt sich die Frage, ob dasselbe Argument, das Darwin gegen die Erklärbarkeit sozialer Tugenden durch natürliche Selektion anführt, nicht auch gegen die Erklärbarkeit sozialer Instinkte bei Tieren durch natürliche Selektion greifen müsste. Wie konnte ein sozialer Instinkt im individuellen Tier überhaupt durch natürliche Selektion entstehen, wenn opferbereite Individuen statistisch betrachtet häufiger ihr Leben ließen und daher keine oder nur wenige Nachkommen erzeugen konnten, die ihre Disposition erbten? Darwin verzichtet auf eine Thematisierung und Diskussion dieser Frage. Ich kann hier nur über die Gründe dafür spekulieren. Möglicherweise hatte er bereits eine Vorstellung der kin selection, der Verwandtenselektion mit ihrer Idee der inclusive fitness (Gesamtfitness) im Auge, wie sie von Haldane und Hamilton im 20. Jh. formuliert wurde. Da Darwin noch keine Gene kannte, müssen wir dabei die Vorstellungen von Genen durch die von Dispositionen oder Anlagen ersetzen. Nach dem Modell der Verwandtenselektion von Haldane und Hamilton können sich die Gene eines Altruisten innerhalb einer Population auch dann halten, wenn das betreffende Individuum beim altruistischen Verhalten ums Leben kommt, vorausgesetzt, es steuert zum Überleben seiner genetischen Verwandten bei (Haldane 1955; Hamilton 1964). Dies können alle Verwandten des Altruisten sein, nicht nur seine Kinder. Diesem Gedanken der Gesamtfitness kommt Darwin bereits sehr nahe. Denn er behauptet, neben der Verbreitung und Tradierung technischer Erfindungen durch Nachahmung verbessere sich das Niveau eines Stammes, indem erfinderische Mitglieder ihre Begabungen an ihre Kinder vererben können und, selbst wenn sie keine Kinder hinterließen - hier kommt die inclusive fitness ins Spiel -, ihre Blutsverwandten über die betreffenden Merkmale verfügten (Darwin 1989 I, 134; vgl. Vogel in Darwin 2002, XXXIX). Darwin hat dies jedoch nicht weiter ausgeführt und nicht für die Erklärung des Sozialverhaltens unter Verwandten fruchtbar gemacht. Hinweise in diese Richtung gibt es jedoch bei der Erklärung von sterilen Insekten und der Bedeutung der Sterilität für ihre Gemeinschaft im 8. Kap. von Origin of Species. 16 Darwin erwähnt Hobbes und Mandeville nicht explizit. Es ist jedoch davon auszugehen, dass er ihre Positionen aus den von ihm erwähnten Überblicksdarstellungen kannte (Bain 1868; Mackintosh 1837). <?page no="163"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 163 tation ist die Zurückweisung der Annahme, dass die Grundlage der Sittlichkeit im „niedrigen Prinzip der Selbstsucht“ liege (I, 125). Auch wenn sich unsere Förderung des Wohls anderer letztlich auch für uns als nützlich erweist, bedeutet dies nicht, dass sich der moralische Sinn auf das Prinzip der Selbstsucht reduzieren lässt. Mag er von seiner Entstehung her auch in „niedrigen Motiven“ wurzeln, so kann er sich im Laufe der Menschheitsgeschichte gegenüber diesem Ursprung verselbständigt und neue Qualitäten hinzugewonnen haben. Anders als Frances Cobbe urteilt, sind Darwins Überlegungen keineswegs „die gefährlichsten Lehren seit Mandeville“ (Cobbe 1871, 175). Ein entscheidender Faktor für die Entstehung und Befestigung sozialer Tugenden ist die Entwicklung der Sprache, die es ermöglicht, Prinzipien und Normen in artikulierbare symbolische Strukturen zu gießen, ihnen einen für alle verständlichen Ausdruck zu verleihen sowie die öffentliche Meinung in Form von Lob und Tadel, Billigung und Missbilligung zu artikulieren. Das gebieterische Wort „soll“ bezeichnet nach Darwin das Bewusstsein von der Existenz einer Richtschnur des Handelns (I, 120). Durch Sprache ist die Formulierung ethischer Prinzipien wie die der Goldenen Regel und des Prinzips der Achtung vor der Menschenwürde möglich. Obwohl Darwin beim Jetztmenschen von einer Instinktreduktion ausgeht, verwendet er manchmal den Instinktbegriff auch dort, wo nur abgeschwächte instinktive Impulse gemeint sein können. Dies ist eine sprachliche Unachtsamkeit, die er teilweise selbst in der 2. Auflage behebt. So schreibt er in der 1. Auflage im Kontext seiner Zurückweisung des ethischen Egoismus, dass der moralische Sinn im Wesentlichen mit den sozialen Instinkten identisch sei (Darwin 1871, 97f.). Dieser Passus ist jedoch in der zweiten Auflage gestrichen. Durch diese Unachtsamkeit hat er den Einwand herausgefordert, dass er keinen einheitlichen Begriff von „Sympathie“ durchhalte, sondern diesen einerseits als Instinkt definiere, andererseits aber auf den Sympathiebegriff von Hume und Smith zurückgreife. Durch seinen doppelten Sympathiebegriff werde verdeckt, dass Darwin Wertmaßstäbe einer ethischen Reflexion voraussetze, die er nicht selbst aus der Evolution ableiten könne (Vogt 1997, 130f.). Darwin beurteilt bestimmte natürliche Phänomene wie sympathy im Lichte ethischer Wertmaßstäbe, die er nicht aus der Evolution ableiten kann, dies aber auch nicht beansprucht. Damit eröffnet sich zugleich eine Möglichkeit, Darwins Entwurf als einen kohärenten Ansatz zu interpretieren: Darwin operiert nicht mit zwei Begriffen von sympathy, sondern er verfolgt ein Element des moralischen Sinns, sympathy, in seine Evolutionsgeschichte zurück, um dessen Wurzeln in sozialen Instinkten aufzuspüren. Dies ist durchaus mit seinem Konzept des moralischen Sinns vereinbar, der ein weitaus differenzierteres Vermögen als die Instinkte der Tiere darstellt, jedoch mit diesen durch seine Naturgeschichte verbunden ist. Zudem muss stets das Evolutionsstadium des Menschen im Auge behalten werden, auf das sich Darwin in seiner jeweiligen Argumentation bezieht. Beim sehr frühen Menschen hatte die sympathy nach Darwin noch stark instinktive Züge. Und schließlich be- <?page no="164"?> Eve-Marie Engels 164 dürfte es einer genaueren Untersuchung der Beziehung von Instinkt und sympathy bei Hume und Smith. Hume selbst verwendet den Instinktbegriff im Zusammenhang mit sympathy: „Die sozialen Tugenden der Menschlichkeit und des Wohlwollens üben ihren Einfluß unmittelbar, durch eine direkte Tendenz oder einen direkten Instinkt aus […]. Eltern eilen ihrem Kind zu Hilfe, getrieben durch die sie bewegende natürliche Sympathie.“ (Hume 2002, 236). Gleichwohl gibt Darwin auf Grund seiner unpräzisen Ausdrucksweise an zahlreichen Stellen Anlass zu Missverständnissen und kritischer Hinterfragung. 4. Reflexionsfähigkeit als Merkmal eines moralischen Wesens 4.1 Darwins Theorie des Gewissens Darwin verwendet einerseits die Begriffe „moralischer Sinn“, „Gewissen“, „Gefühl für Recht und Unrecht“ meist synonym, was verwirrend ist. Sein Sprachgebrauch mag auf den gemeinsamen Ursprung und die Kompositionsweise dieser moralischen Vermögen zurückführbar sein. Andererseits schreibt Darwin dem moralischen Sinn eine andere Funktion als dem Gewissen zu: Der moralische Sinn sagt uns, was wir tun sollen, während uns das Gewissen tadelt, wenn wir unserem moralischen Sinn nicht gehorchen (Darwin 1989 I, 121). Der moralische Sinn ist also unser innerer Gesetzgeber, das Gewissen die innere Sanktionsinstanz. Es ist auf das Gewissen zurückzuführen, dass wir im Falle eines Verstoßes gegen die Gebote des moralischen Sinns Reue, Bedauern, Scham und, wie es treffend heißt, Gewissensbisse empfinden können und wiederum moralkonformes Handeln ein „gutes“ Gewissen herbeiführt. Selbst wenn wir allein sind, können wir uns die Billigung und Missbilligung unseres Handelns durch andere vorstellen. Dies ist die notwendige Folge der Ausstattung des Menschen mit Reflexionsfähigkeit (I, 116; II, 636). Darwin stellt hier eine Theorie des Gewissens vor, in welcher die Reflexion die entscheidende Rolle spielt. Dank seiner Reflexionsfähigkeit kann der Mensch es nicht vermeiden, Eindrücke früher empfundener, vorübergehender Begierden und Leidenschaften, wie etwa von befriedigtem Rachedurst, mit dem stets gegenwärtigen „instinct of sympathy“ und den moralischen und gesellschaftlichen Normen zu vergleichen (I, 116f.). Die sozialen Instinkte und die beim Menschen daraus entspringenden sozialen Tugenden bezeichnet Darwin als permanent, sie können jedoch von anderen, auch kurzfristigen Begierden und Antrieben überwältigt werden. Beispiele für tugendhafte Handlungen dieser Art sind die Rettung eines Mitmenschen unter Gefährdung des eigenen Lebens, die eine Überwindung der Furcht vor dem eigenen Tod erfordert, sowie der Einsatz einer Mutter für ihre Kinder, welcher vielfältige Opfer verlangt. Wenn der Mensch die nach der Befriedigung vorübergehender Begierden schwächer gewordenen Eindrücke mit den immer gegenwärtigen sozialen Instinkten - hier müsste es korrekterweise heißen: mit den <?page no="165"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 165 in permanenten sozialen Instinkten wurzelnden Tugenden - vergleicht und sie in der Reflexion am Urteil der Mitmenschen misst, wird er Gewissensbisse (remorse), Reue (repentance), Bedauern (regret) oder Scham (shame) empfinden (I, 118). Diese Gefühle stellen sich also ein, wenn wir den Impulsen der dauerhaften sozialen Instinkte nicht folgen, sondern stattdessen niederen Impulsen auf Kosten der sozialen Gefühle nachgeben. 17 Kraft seines Gewissens wird der Betreffende den Entschluss fassen, in Zukunft anders zu handeln. Denn das Gewissen schaut zurück und dient als Führer in die Zukunft (I, 118). Voraussetzung hierfür sind Spuren sozialer Instinkte und die Reflexionsfähigkeit. Ein Mensch, der solche Spuren nicht in sich trüge, wäre ein unnatürliches Monster (I, 116; vgl. Hume 2002, 159). Darwin ist optimistisch und nimmt an, dass die Impulse, die ihre Wurzeln in dauerhaften sozialen Instinkten haben, kraft unseres moralischen Sinns und unseres Gewissens die weniger beständigen Impulse überwinden werden. Diese Hierarchie drückt sich auch in der Bewertung moralischer Regeln aus. Ungeachtet vieler Zweifel können wir im Allgemeinen leicht zwischen „höheren“ und „niederen“ moralischen Regeln unterscheiden, wobei sich erstere auf das Wohl der Gemeinschaft, letztere auf die Verfolgung eigener Interessen richten. Er hält es bei den niederen jedoch nicht in jedem Fall für gerechtfertigt, sie so zu klassifizieren, insbesondere nicht, wenn sie Selbstaufopferung verlangen. Möglicherweise meint Darwin damit die Tugenden der Mäßigung und Keuschheit (I 123, 137). Die Funktion unseres moralischen Sinns und des Gewissens besteht mithin darin, die uns von unserer evolutionären Vergangenheit her noch innewohnenden Impulse oder sozialen Gefühle zu orientieren und zu kultivieren. Obgleich der moralische Sinn in den sozialen Instinkten wurzelt, ist er ein qualitativ neues Vermögen, über das nach Darwin nur der Mensch verfügt. Moral besteht für Darwin nicht im blinden Befolgen von Instinkten, sondern im bewussten Urteilen und Handeln nach Prinzipien wie Kants Sittengesetz und der Goldenen Regel (I, 114, 131). „Böses mit Gutem zu vergelten, deinen Feind zu lieben, ist eine moralische Höhe, zu welcher uns die sozialen Instinkte wahrscheinlich niemals allein geführt hätten. Es ist notwendig, dass diese Instinkte zusammen mit der sympathy hoch kultiviert wurden und mit Hilfe der Vernunft, Erziehung und der Liebe zu Gott oder Gottesfurcht erweitert wurden, bevor jemals an eine solche Goldene Regel hätte gedacht und dieselbe befolgt werden können.“ (I, 117 Fn. 27) Voraussetzung hierfür ist ein bestimmtes Entwicklungsniveau der intellektuellen Fähigkeiten. Diese sind für Darwin die entscheidende Bedingung dafür, ein Wesen überhaupt als moralisch bezeichnen zu können (vgl. Erny 2003). 17 Darwin hat sich hiermit bereits 1839 befasst, wie aus seinen Notizen zu James Mackintosh hervorgeht (Darwin in Barrett et al. 1987, 620). <?page no="166"?> Eve-Marie Engels 166 4.2 Besonderheiten des Intellekts Nach Darwin ist ein moralisches Wesen (moral being) in der Lage, seine vergangenen und zukünftigen Handlungen und Motive zu vergleichen und sie zu billigen oder zu missbilligen, das heißt sie zu bewerten. Für ihn gibt es keinen Grund zu der Vermutung, dass irgendein anderes Tier als der Mensch über diese Fähigkeit verfügt. Daher bezeichnen wir nach Darwin das Verhalten eines Neufundländer-Hundes, der ein Kind aus dem Wasser zieht, oder eines Affen, der sich zur Rettung eines Kameraden in Gefahr begibt, nicht als moralisch. Beim Menschen jedoch, der allein mit Sicherheit den Rang eines moralischen Wesens einnehme, werden Handlungen „einer bestimmten Klasse“ als moralisch bezeichnet (I, 115f.). Beinhaltet die menschliche Moralfähigkeit mehr als nur einen graduellen Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Tieren? Liegt hier in Darwins Argumentation ein Bruch vor? Da Darwin in den vorherigen Kapiteln auch bei Tieren eine Reihe sogenannter höherer intellektueller Leistungen ausgemacht hat, welche ein Stützpfeiler seines Argumentes vom abstammungsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Mensch und Tier sind, drängt sich diese Frage auf. Denn die Besonderheit der Moralfähigkeit, welche Darwin ja für den Menschen reserviert, liegt auf intellektuellem Gebiet. „Die moralischen Fähigkeiten werden im Allgemeinen und zu Recht höher geschätzt als die intellektuellen Vermögen. Doch sollten wir im Auge behalten, dass die Aktivität des Geistes in der lebhaften Wiedererinnerung früherer Eindrücke eine der fundamentalen, wenn auch sekundären Grundlagen des Gewissens ist. Dies ist das stärkste Argument für die Erziehung und Anregung der geistigen Fähigkeiten jedes Menschen auf alle möglichen Weisen.“ (II, 636f.) Welches Leistungsspektrum umfassen die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen, die auch für die Moralfähigkeit relevant sind? Zu einem Vergleich der vergangenen und zukünftigen Handlungen und Motive ist das Vermögen der Rückschau und damit der Erinnerung sowie der Antizipation zukünftiger Handlungen, Ereignisse und deren Folgen imstande. Es enthält damit auch Vorstellungsvermögen sowie Imagination. Darüber hinaus umfasst es Selbstbewusstsein, d.h. die Kontinuität des Bewusstseins der eigenen Motive sowie Handlungen und ihrer Konsequenzen, und damit die Möglichkeit ihrer Zuschreibung zum Selbst als Grundlage für die Übernahme von Verantwortung. In Darwins Diskussion der Moral wird die Antizipation von künftigen Wirkungen von Handlungen und Verhaltensweisen auf das individuelle wie das allgemeine Wohl mehrfach erwähnt. Auch die zu erwartenden positiven wie negativen Reaktionen der Mitmenschen in Form von Sanktionen gehören dazu. Und schließlich gehört zur Moralfähigkeit eine Erkenntnis der Unterschiede. Andernfalls wäre kein Vergleich möglich. Ein zentrales Element der Imagination als Voraussetzung für moralisches Handeln ist das Vermögen, sich in Andere hineinzuversetzen. Dies geht über <?page no="167"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 167 die Vorstellung der Handlungsfolgen noch hinaus, denn es beinhaltet ein Bewusstsein des Bewusstseins Anderer als die Fähigkeit, sich vorzustellen, was diese fühlen und denken. Bei Hume, Smith und Bain, auf die sich Darwin bezieht, spielt die Imagination im Zusammenhang mit der sympathy eine zentrale Rolle. Erst wenn wir mit jemandem „in der Phantasie den Platz tauschen“, können wir seine Gefühle nachempfinden (Smith 1985, 3). „Hier scheint es notwendig zu sein, zuzugeben, daß das Glück und Elend anderer für uns kein gänzlich gleichgültiges Schauspiel ist, sondern daß der Anblick von Glück […] eine stille Freude und Befriedigung vermittelt und das Bild von Elend […] einen düsteren Schatten auf unsere Phantasie [imagination] wirft.“ (Hume 2002, 169; Darwin 1989 I, 113). Dank unserer Einbildungskraft können wir den Standpunkt wechseln. „Wir betrachten uns so, wie wir anderen erscheinen, oder andere so, wie sie selbst sich fühlen.“ (Hume 1978 II, 343). Nach Bain bedeutet „sympathy“, in die Gefühle anderer hineinzugehen, „to act them out“, als ob es die eigenen wären (Bain 1868, 276f). Weiterhin hat unser Verstand die Funktion, Impulse zu orientieren. Und schließlich ist eine weitere zentrale Voraussetzung für Moral die Einsicht in Prinzipien und Normen, wie das Prinzip der Achtung vor der Menschenwürde und die Goldene Regel. Handeln aus Einsicht in Prinzipien bildet den Kern moralischer Autonomie. Diese Möglichkeiten besitzt der Mensch, weil er über „freien Willen“ (free will), „freie Intelligenz“ (free intelligence) verfügt (I, 71f.). Mit diesen Begriffen beschreibt Darwin die Flexibilität der kognitiven Leistungen des Menschen und der durch sie angeleiteten Handlungen. Er grenzt sie von instinktivem, d.h. festgelegtem, nicht durch Verstand, Erfahrung und Belehrung angeeignetem (fixed and untaught) Verhalten ab. Dabei schließt er - zeitbedingt - nicht die Möglichkeit aus, dass instinktgeleitetes Verhalten seinen starren Charakter im Laufe der Zeit verliert und umgekehrt intelligentes Handeln, das zur Gewohnheit geworden ist, in instinkthaftes Handeln übergeht (vgl. Engels 2007, Kap. IV.4.4). Darwin beansprucht damit nicht, das metaphysische Problem der Willensfreiheit bearbeitet zu haben. Probleme wie die des freien Willens und der Prädestination hält er für unlösbar (Darwin 1988b II, 372). Wenn er von „freiem Willen“ spricht, so meint er wohl die in der Selbsterfahrung gegebene, unmittelbar erfahrbare Freiheit, sich Ziele zu setzen und diese im Handeln zu verfolgen. Solche spezifisch philosophischen Fragen im engeren Sinne werden von ihm auch eher berührt als diskutiert. Darwins Überlegungen sollen hier aber zum Anlass genommen werden, einen kurzen Blick auf die heutige Kontroverse über die Willensfreiheit zu werfen, die anlässlich neurowissenschaftlicher Ergebnisse und deren Interpretationen neu entfacht ist. Es ist scharfsinnig, eine Verbindung zwischen freier Intelligenz und freiem Willen herzustellen, wie Darwin es tut, denn die kognitive Flexibilität des Menschen ist vor allem im Kontext des menschlichen Handelns von Bedeutung, im Setzen von Handlungszielen, in der Reflexion auf ein Spektrum möglicher Handlungsalternativen, in der Wahl zwischen diesen Alternativen, in der Initiie- <?page no="168"?> Eve-Marie Engels 168 rung von Handlungen und der alles begleitenden Selbstreflexion. Unter selektionstheoretischen Aspekten ist die Annahme einer so verstandenen Willensfreiheit beim Menschen viel plausibler als die der Determiniertheit. Während der letzten zwei Millionen Jahre menschlicher Evolution hat sich das Hirnvolumen verdreifacht. Damit stellt sich die Frage, durch welchen Selektionsdruck diese enorme Steigerung, insbesondere des Neocortex, verursacht wurde (vgl. den Beitrag von W. Maier in diesem Band und Maier 2004, 289). Möglicherweise bestand dieser in der Notwendigkeit einer intensivierten Reflexion auf die eigenen Existenzbedingungen und der kognitiven Bewältigung komplexer Sozialbeziehungen. Moralfähigkeit als Besonderheit des Menschen findet ihren Ausdruck auch in einer anderen, spezifisch menschlichen Eigenschaft, dem Erröten. Kein Tier ist hierzu in der Lage, doch beim Menschen ist Erröten eine Universalie und kommt bei allen Rassen vor. Darwin hat diesem Thema in Expression of the Emotions (1872) ein ganzes Kapitel gewidmet (Kap. 13). Sein Interesse daran lässt sich bis in die Notebooks M und N zurückverfolgen (Barrett et al. 1987). Die Ursache für das Erröten im Zusammenhang mit der Moral ist der Gedanke, dass andere uns für schuldig halten oder wissen, dass wir schuldig sind (Darwin 1998, 331). Die Fähigkeit des Errötens setzt also die Fähigkeit der Reflexion voraus. Andere Ursachen für das Erröten sind Verstöße gegen die Etikette und Bescheidenheit. Darwins Bewertung der Motive bzw. Gründe für moralisches Handeln weist mit dem von Lawrence Kohlberg aufgestellten Stufenschema der moralischen Entwicklung beim Individuum von der präkonventionellen über die konventionelle zur postkonventionellen Stufe gewisse Parallelen auf (Kohlberg 1996). Normkonformes Handeln aus reiner Furcht vor Strafe und zur Verfolgung des Eigeninteresses hält Darwin für unsittlich („bad“) (Darwin 1989 I, 120). Die zweite Stufe ist die der Befolgung von Normen aus Gründen der öffentlichen Anerkennung, wegen des Lobes oder Tadels unserer Mitmenschen. Die öffentliche Meinung betrachtet Darwin zwar als wichtige Kontrollinstanz für die Gewährleistung sozialen Verhaltens, doch ist auch sie für ihn nicht die höchste Entwicklungsstufe. Diese hat der Mensch erst erreicht, wenn er Kraft seiner Überlegung auch die Urteile seiner Mitmenschen auf ihren Wert hin zu überprüfen lernt und schließlich erklären kann, um es in Kants Worten zu sagen: „Ich will in meiner eigenen Person nicht die Würde der Menschheit verletzen“ („I will not in my own person violate the dignity of humanity“) (I, 114). Was für die Herausbildung des moralischen Sinns im Individuum, für seine Genese, also ein wichtiges Element bildet, muss nicht zugleich für die Gültigkeit moralischer Urteile die höchste Stufe sein. Diese besteht im autonomen moralischen Urteil des Individuums. „Schließlich akzeptiert der Mensch nicht Lob oder Tadel seiner Mitmenschen als seinen einzigen Führer, obgleich wenige diesem Einfluss entgehen, sondern seine durch Vernunft kontrollierten, gewohnheitsmäßigen Überzeugun- <?page no="169"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 169 gen bieten ihm die sicherste Richtschnur. Dann wird sein Gewissen der höchste Richter und Wächter [judge and monitor].“ (II, 637) Dies würde der postkonventionellen Stufe Kohlbergs entsprechen, auf welcher ein Individuum aus Einsicht in Normen urteilt und in diesem Sinne die Stufe der moralischen Autonomie erreicht hat. Damit spricht Darwin dem Verstand bzw. der Vernunft die Funktion der Orientierung unserer Impulse zu. Er unterstützt die Erziehung, Anregung und Kultivierung unserer intellektuellen Fähigkeit, weil die Aktivität des Geistes bei der lebhaften Wiedererinnerung früherer Eindrücke eine der fundamentalsten Grundlagen des Gewissens ist (II, 636f.). Der Intellekt, der Geist des Menschen, macht das Gewissen feinfühliger und kann schwache soziale Gefühle kompensieren. Mit anderen Worten, der Intellekt des Menschen kann an die Stelle der schwachen Instinkte treten. Er erfüllt eine kompensatorische Funktion, ist dabei aber kein reiner Ersatz, denn er greift auf andere Mittel zurück. Er ist nicht „blind“. Die moralische Natur des Menschen hat ihren gegenwärtigen Grad durch Urteilskraft und Reflexion, aber auch mittels der Wirkungen der Gewohnheit erreicht. Beim Menschen gibt es somit ein enges Zusammenspiel von Gefühl und Verstand. Der Bezugspunkt ist hier unser evolutionäres Erbe, das Mitgefühl, über das wir noch verfügen, auch wenn unsere sozialen Instinkte ihre Kraft eingebüßt haben. Unsere sympathy funktioniert noch so gut, dass sie uns die motivierende Kraft verleiht, uns anderen gegenüber human zu verhalten. Doch wie Humanität jeweils inhaltlich situationsangemessen auslegbar ist, entscheidet der Verstand durch das Durchspielen der Konsequenzen der Anwendung von Prinzipien. Die Vernunft jedoch hat gemäß Darwins Darstellung des Fortschrittsprozesses auch motivierende Funktion im Hinblick auf die Erweiterung unseres Mitgefühls und Wohlwollens. Wenn die Stämme sich zu größeren Gemeinschaften vereint haben, überzeugt die „einfachste Überlegung“ jedes Mitglied davon, dass es seine sozialen Instinkte und sein Mitgefühl auf alle Mitglieder derselben Nation, auch die ihm persönlich unbekannten, ausdehnen „sollte“ (I, 127). Ist der Mensch einmal an diesem Punkt angelangt, kann ihn nur noch eine „künstliche Schranke“ daran hindern, seine sympathy auf die Menschen aller Nationen und aller Rassen auszudehnen. Sobald Humanität von einigen wenigen Menschen ausgeübt und geschätzt wird, breitet sie sich durch Unterricht und Vorbild in der Jugend aus und wird allmählich zum Bestandteil der öffentlichen Meinung. 5. Die Erweiterung und Verfeinerung des Wohlwollens - Der Mensch als Weltbürger Die Instinktreduktion des heutigen Menschen wird von Darwin nicht bedauert. Ganz im Gegenteil: Durch die sich im Laufe seiner Evolution vollziehende Instinktreduktion bei gleichzeitiger Steigerung seiner intellektuellen Vermö- <?page no="170"?> Eve-Marie Engels 170 gen eröffnet sich dem Menschen die positive Chance, ein moralisches Wesen (moral being) zu werden. Instinktreduktion eröffnet nicht nur die Möglichkeit der Steuerung, d.h. Orientierung der abgeschwächten sozialen Instinkte durch die Vernunft, sondern auch ihre Erweiterung im Laufe der Evolution und Kulturgeschichte des Menschen, wodurch unsere sympathy feiner und umfassender wird (Darwin 1989 I, 139; II, 637). Indem sich die Umklammerung des Menschen durch seine Instinkte allmählich löst und die instinktive Fokussierung des Mitgefühls auf den Nahbereich der unmittelbaren Familien- und Stammesgemeinschaft über diesen hinaus erweitert wird, kann der Mensch auch die Mitglieder anderer Nationen und Rassen, ja selbst die entferntesten, ihm unbekannten Mitglieder der Weltgemeinschaft und schließlich alle empfindungsfähigen Lebewesen in sein Wohlwollen einschließen. Diese Erweiterung bewertet Darwin als moralischen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte. Darwin verficht folglich nicht die Idee territorialer Abgrenzung, Misstrauen gegen Fremde oder gar Fremdenfeindlichkeit, sondern unterstützt Weltbürgertum und allgemeine Menschenliebe. Auch hier gibt es wiederum Parallelen zu Hume, der die Erweiterung unseres Mitgefühls konstatiert und dies auch als ethisches Postulat aufstellt: „Das Mitgefühl mit Personen, die uns fernstehen, ist viel schwächer als mit Personen, die nahe sind und uns nahestehen; aber genau aus diesem Grund ist es für uns notwendig, in unseren ruhigen Urteilen und Gesprächen über die Charaktere der Menschen alle diese Unterschiede zu vernachlässigen und unsere Gefühle allgemeiner und sozialer zu machen.“ (Hume 2002, 152) Die Verfeinerung und Erweiterung der sozialen Instinkte äußert sich nach Darwin auch in der Bereitschaft zur Unterstützung Schwacher, Kranker und Hilfloser. Deren Vernachlässigung hätte einen Verfall im „edelsten Teil unserer Natur“, dem moralischen Sinn, zur Folge. Obgleich die Unterstützung Kranker und Schwacher und deren dadurch ermöglichte Erhaltung und Vermehrung nach Darwin biologisch negative Konsequenzen für die menschliche Spezies hat, wobei er sich auf Ergebnisse aus der Tierzucht stützt, dürfen wir den Hilfsbedürftigen aus ethischen Gründen unsere Unterstützung nicht vorenthalten. Deren absichtliche Vernachlässigung im Dienste des Wohls unserer Spezies ginge nach Darwin mit einer Verrohung des Menschen, einer Zersetzung seines moralischen Sinns einher (I, 139). Darwin stellt damit also den moralischen Fortschritt über die Idee der Artgesundheit 18 . Nach Wallace haben wir durch die Entwicklung und Ausübung unserer moralischen Fähigkeiten, wie sie auch in der Unterstützung Kranker und Schwacher wirksam wird, die Macht der natürlichen Selektion gebrochen. Mit der Entstehung der mentalen und 18 Dieses wichtige Thema kann hier nicht ausführlicher behandelt werden. Darwin bedient sich bisweilen einer Sprache, die aus heutiger Sicht unsensibel und fragwürdig ist. Dabei sind jedoch das fehlende Wissen über genetische Zusammenhänge im 19. Jahrhundert und weitere Aspekte zu berücksichtigen (vgl. Engels 2007, Kap. V.4 und Engels 2011). <?page no="171"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 171 moralischen Fähigkeiten des Menschen trat „eine neue Ursachenkette in Kraft“, wie es sie für ihn in der übrigen Natur nicht gibt (Wallace 1864, clxiv). Zur Erklärung der zuvor beschriebenen sukzessiven Erweiterung und Verfeinerung unseres moralischen Sinns bedient sich Darwin wie zuvor Wallace (Wallace 1864) eines gruppenselektionistischen Ansatzes, der bereits im 3. Abschnitt dargestellt wurde. Für zukünftige Generationen stellt Darwin optimistische Prognosen. Er geht davon aus, dass die tugendhaften Gewohnheiten stärker und vielleicht durch Vererbung noch befestigt werden. In diesem Fall wird der Kampf zwischen den höheren und niederen Impulsen immer mehr von seiner Schwere verlieren, und die Tugend wird triumphieren (I, 129f.). Der Fortschritt überwiegt den Rückschritt (I, 150), obwohl er kein unabänderliches Gesetz ist und von vielen Faktoren abhängt (I, 145). Moralischer Fortschritt besteht nach Darwin weiterhin darin, nicht nur auf das Wohl anderer bedacht zu sein, sondern auch auf ihr Glück. Darwins humanitäre Grundeinstellung äußert sich auch in seiner Haltung zur Sklaverei, die er Zeit seines Lebens als ein „großes Verbrechen“ betrachtet (I, 121). Auf seiner Weltreise wird er in Südamerika mit der Misshandlung von Sklaven konfrontiert, unter der er leidet: „Am 19. August verließen wir zum letzten Mal die Küste von Brasilien. Ich danke Gott, daß ich nie wieder ein Sklavenland zu besuchen haben werde. […] In der Nähe von Rio de Janeiro lebte ich einer alten Dame gegenüber, welche sich Schrauben hielt, um die Finger ihrer weiblichen Sklaven zu quetschen. [...] Auch würde ich die oben erwähnten, widerwärtigen Einzelheiten nicht erwähnt haben, wären mir nicht mehrere Leute begegnet, welche von der konstitutionellen Heiterkeit des Negers so geblendet waren, daß sie von der Sklaverei als von einem erträglichen Übel sprachen. Derartige Leute haben meist Häuser der oberen Klasse besucht, wo die Haus-Sklaven gewöhnlich gut behandelt werden; und sie haben nicht, wie ich, unter den niederen Klassen gelebt. […] Diejenigen, welche den Sklavenbesitzer mit zarter Rücksicht betrachten und den Sklaven selbst mit einem kalten Herzen, scheinen sich niemals in die Lage des Letzteren versetzt zu haben; was für eine traurige Aussicht mit nicht einmal einer Hoffnung einer möglichen Veränderung eröffnet sich hier! […] Und diese Handlungen werden von Leuten ausgeführt und verteidigt, welche bekennen, ihren Nächsten wie sich selbst zu lieben, welche an Gott glauben und welche beten, daß sein Wille auf Erden geschehe! Es macht unser Blut aufwallen und doch unser Herz erzittern, wenn wir bedenken, daß wir Engländer und unsere amerikanischen Nachkommen mit ihrem übermütigen Geschrei nach Freiheit so schuldbeladen sind und noch sind.“ (Darwin 2008a, 267-270) Mit Kapitän FitzRoy hatte er auf der Reise eine Auseinandersetzung über die Sklaverei (Darwin 2008b, 83). In einem Brief vom 16. April 1866 an seinen nordamerikanischen Freund Asa Gray brachte Darwin sein Glück über die „bedeutende und großartige Tatsache“ zum Ausdruck, dass in Nordamerika die Sklaverei abgeschafft wurde (Burkhardt et al. 2004, 130). <?page no="172"?> Eve-Marie Engels 172 Auch war Darwin im Unterschied zu zahlreichen seiner Zeitgenossen von der Einheit der menschlichen Spezies überzeugt (Monogenie). Die sogenannten Rassen des Menschen sind für ihn keine unterschiedlichen Menschenarten, wie viele damals noch annahmen, sondern gehören zu einer einzigen menschlichen Spezies und verfügen damit auch über die Menschenwürde. Darwin führt die Möglichkeit der Einteilung des Menschen in verschiedene Arten (Polygenie) und sogar in verschiedene Rassen letztlich ad absurdum, indem er hinsichtlich der in der Literatur angegebenen Anzahl unterschiedlicher Menschenrassen vierzehn verschiedene Positionen anführt, unter ihnen die von Kant, Blumenbach und Buffon, die insgesamt bis zu 63 Rassen benennen (Darwin 1989 I, 180f.). Er zieht daraus die Konsequenz, dass biologisch keine scharfen Unterscheidungsmerkmale zwischen den Rassen auszumachen sind. Heute wird die Fragwürdigkeit menschlicher Rassenunterschiede auf genetischer Ebene bestätigt (Pääbo 2003). Der Nachweis der Einheit der menschlichen Spezies war neben dem der Abstammung des Menschen von anderen Tieren ein wesentliches Ziel seines Werkes The Expression of the Emotions in Man and Animals. Darwin zeigt darin, dass es kulturübergreifende menschliche Ausdrucksweisen gibt, menschliche Universalien, die gegen die Polygenie des Menschen sprechen. Den Höhepunkt der Humanität sieht Darwin erreicht, wenn sie sich nicht nur auf alle Menschen, sondern auch auf die Tiere erstreckt. Die Aufnahme der Tiere in den Kreis der moralisch zu berücksichtigenden Lebewesen, die „moral community“, wie es in der heutigen Tierethik heißt, liegt Darwin besonders am Herzen (I, 127, 129f.) 19 . Dass der Mensch das einzige moralfähige Lebewesen ist, der einzige „moral agent“, wie wir heute sagen, bedeutet für Darwin also nicht, dass er auch der einzige „moral patient“ ist, d.h. das einzige Wesen, das moralische Berücksichtigung verdient. Weil die ursprünglich engen Instinkte ihre dominierende Kraft verloren haben, können wir Weltbürger sein und zudem die menschliche Spezies überschreitend Rücksicht auf andere, nichtmenschliche Lebewesen nehmen. Die uneigennützige Liebe zu allen Lebewesen hält Darwin für die „edelste Eigenschaft des Menschen“ (I, 130). Die große Bedeutung, die soziale Tugenden für Darwin haben, wurde bereits zu seinen Lebzeiten in der Rezeption hervorgehoben und als Grundlage für die praktische Vereinbarkeit von christlicher Ethik und Darwins „new ethics“ herausgestellt (Everett 1878). Vor allem in der russischen Darwin- Rezeption rückte der Aspekt der Kooperation in den Vordergrund (Todes 19 Gemeinsam mit seiner Frau Emma Darwin engagiert sich Darwin für den Tierschutz, setzt sich im Kampf gegen die grausame Behandlung von Haustieren, wie Arbeits- und Kutschenpferden, ein und verfasst mit Emma einen Aufruf (appeal) an Landbesitzer gegen die Aufstellung von Tierfallen aus Stahl in Wildgehegen, in denen Tiere aller Art nach stundenlanger Qual elend verenden. Siehe hierzu die Literatur in Engels 2007, Kap. I.1, I.4. <?page no="173"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 173 1989, 2009). Auch auf Darwins Relevanz für die Tierethik wurde hingewiesen. 20 Es dürfte deutlich geworden sein, dass Darwin dezidierte Vorstellungen von Moral und moralischem Fortschritt hat. Diese äußern sich vor allem in seiner Wertschätzung von drei Entwicklungen unserer Moral von ihren Anfängen bis in die Zivilisation sowie in seiner Bewertung der Motive bzw. Gründe für moralisches Handeln: Erstens richtet sich Moral über das Wohl der eigenen Gemeinschaft hinaus auf alle Menschen und die empfindungsfähigen Tiere, zweitens richtet sie sich auch direkt auf das Wohl der einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft, nicht mehr nur auf das Gemeinwohl, was sich darin äußert, dass auch für das Wohl derjenigen, die für die Gesellschaft „nutzlos“ sind, für Kranke und Versehrte, gesorgt wird (I, 129). Und drittens berücksichtigt sie zunehmend auch das Glück, nicht mehr nur das Wohl unserer Mitmenschen (vgl. auch Rauprich 2009, 377f.). Damit hat sich Moral von den Selektionsmechanismen, denen sie ihre Entstehung verdankt, emanzipiert. Durch seine überragenden geistigen und moralischen Vermögen, in denen Wallace die „wahre Größe und Würde des Menschen“ sieht, ist es dem Menschen unter den Bedingungen der Zivilisation gelungen, der natürlichen Selektion zu „entkommen“ („escape“) (Wallace 1864, clxviii). Wie Wallace misst also auch Darwin der Kulturentwicklung für den Fortschritt der Menschheit eine immens große Bedeutung bei und verabsolutiert keineswegs die Bedeutung der biologischen Reproduktion. Darwins Idee von moralischem Fortschritt äußert sich auch in seinem ‚Kohlberg-Schema‘, wie dies zuvor bereits vorgestellt wurde. Frances Cobbe, die einerseits vor Darwins Buch warnt, hält andererseits Darwins Beschreibung des Menschen im Kontext seiner Überlegungen zum moralischen Fortschritt für unrealistisch, da viel zu positiv. Darwin habe unbewusst seine eigene, außergewöhnlich versöhnliche Natur auf den Rest der menschlichen Spezies übertragen. Auf welcher „Insel der Gesegneten“ gebe es diese universelle Liebe, die auch die „Gemeinen, Vulgären, Abstoßenden“ miteinschließe (Cobbe 1871, 183)? Wie andere Evolutionstheoretiker des 19. Jh. - Spencer, Haeckel, Wallace usw. - hatte Darwin tatsächlich eine sehr optimistische Einstellung zum moralischen Fortschritt, deren Berechtigung aus heutiger Sicht angesichts vielfältiger und nicht abreißender neuer negativer Erfahrungen relativiert werden muss. Dennoch lässt sich durchaus von einem moralischen Fortschritt sprechen, der in der Anerkennung der allgemeinen Menschenrechte zum Ausdruck kommt, auch wenn diese noch nicht überall befolgt werden, sowie in den Bemühungen um Natur- und Tierschutz. 20 Giźycki 1876, 40f.; vgl. auch von Giźycki 1885, 268; Schmid 1876, 386. <?page no="174"?> Eve-Marie Engels 174 6. Moral, ein kulturgeschichtliches Phänomen mit naturgeschichtlichen Wurzeln - Ein Resümee Im 3. und 4. Abschnitt habe ich die Frage gestellt, ob Darwins Sichtweise menschlicher Moral einen Bruch mit seiner bisherigen Argumentation beinhalte. Widerspricht Darwins anspruchsvolles Verständnis von Moral nicht seiner eigenen Theorie? Im Folgenden werde ich kurz erläutern, warum dies meiner Ansicht nach nicht der Fall ist, und ich werde dabei auf die in den Abschnitten 3 und 4 formulierten Aspekte dieser Frage eingehen. Unsere gegenüber anderen Tieren gesteigerten kognitiven Fähigkeiten haben sich nach Wallace und Darwin unter dem Druck der natürlichen Selektion herausgebildet. Diese Fähigkeiten, die sich für den Menschen während seiner Evolution als überlebensrelevant erwiesen, sind zugleich Bedingungen menschlicher Moralfähigkeit. Als deren organische Grundlage verfügt unser plastisches Gehirn über eine die Moralfähigkeit ermöglichende, komplexe Struktur und ist in diesem Sinne darauf eingerichtet. Denkbar ist, dass die sich im Laufe der Hominidenevolution allmählich vollziehende Instinktreduktion mit der überlebensnotwendigen Herausbildung sozialer Verhaltensweisen einherging, die höhere intellektuelle Leistungen erforderten, so dass auf ihrer Entwicklung ein mehrfacher Selektionsdruck lag, die Ermöglichung technischer und sozialer Kompetenz. Neben den gesteigerten intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten besteht eine zweite unverzichtbare Wurzel der sozialen Kompetenz des Menschen in den aus unserer vormenschlichen Vergangenheit stammenden instinktiven Resten oder Impulsen. Damit wird Moral in ihrem Gehalt nicht funktionalistisch auf ihre Überlebensrelevanz reduziert. Merkmale und Fähigkeiten, die sich zunächst als Überlebensinstrumente herausgebildet haben, können über weitere Spielräume der Bedeutung verfügen als ihre Funktionen, auf deren Herausbildung ursprünglich ein Selektionsdruck lag. 21 Das Lebendige lebt von solchen Redundanzspielräumen. Dies schließt andererseits selbstverständlich nicht aus, dass Moral für moralische Akteure auch nützlich sein kann. Die Möglichkeit einer genuinen Moral, die das Wohl anderer im Auge hat, widerspricht keineswegs der Darwin’schen Theorie. Mit diesen naturgeschichtlichen Entstehungsbedingungen unserer Moralfähigkeit sind jedoch noch nicht alle Entstehungsbedingungen der Moralfähigkeit genannt. Die Herausbildung menschlicher kognitiver, sprachlicher, psychischer, emotiver, sozialer Kompetenzen als Voraussetzungen der Moralfähigkeit ist auch nach Darwin auf einen kulturellen Kontext angewiesen. Dies gilt umso mehr für die Entstehung, Manifestation und Realisation von konkreter Moral. Dieses spezifisch menschliche Vermögen und seine Konkretisierung in Moral lässt sich mit den Kategorien der Naturgeschichte im engeren Sinne einer biologisch-naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise und dem 21 vgl. Engels 1989, Kap. 3.3 und 202ff., 339. <?page no="175"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 175 Mechanismus der natürlichen Selektion nicht erschöpfend erklären und reformulieren. Hierzu bedarf es eines anderen kategorialen Rahmens, der sich in kultureller Überlieferung und in Form von ethischen Prinzipien, Werten und Normen und dem sich daran orientierenden Gewissen geltend macht. Obgleich Darwin einerseits von nur graduellen Unterschieden in den kognitiven und sozialen Fähigkeiten zwischen Tieren und Menschen ausgeht, nehmen diese Unterschiede andererseits im Kontext seiner Überlegungen zur Ethik den Rang einer qualitativen Differenz ein, da moralisches Handeln für Darwin nicht gleichzusetzen ist mit instinktivem Verhalten. Die differentia specifica der Moral ist für ihn dem Menschen vorbehalten. Moral ist ein komplexes Phänomen, das auch emotive, kognitive und Verhaltenskomponenten enthält, über die andere Tiere ebenfalls verfügen (vgl. z.B. Bekoff u. Pierce 2009). Dennoch können Fühlen, Denken und Verhalten dieser Tiere nach Darwin nicht mit moralischen Kategorien beschrieben werden, weil entscheidende Fähigkeiten fehlen, wie oben ausgeführt wurde. Hinzuzufügen ist, dass Hilfe, Kooperation, Dankbarkeit, sympathy für sich genommen auch beim Menschen noch keine moralische Qualität haben. Wer Mitleid mit einer Gangsterbande empfindet, die erwischt wurde oder wer hilfsbereit deren Mitglieder unterstützt, handelt nicht moralisch. Von Moral lässt sich erst sprechen, wenn Urteil und Handeln an moralischen bzw. ethischen Prinzipien orientiert wird. Dazu sind nichtmenschliche Tiere nach unserem bisherigen Wissen jedoch nicht in der Lage. Damit komme ich zu der Frage, ob die Existenz der menschlichen Moral Darwins Gradualismus sprengt. Die Antwort hängt davon ab, was Darwin unter Gradualismus versteht. Ob ein Merkmal als ‚graduell neu‘ oder ‚wesentlich neu‘ zu beschreiben ist, hängt von den zugrunde liegenden Kriterien oder Bewertungsmaßstäben ab. Darwin hat darauf verzichtet, diese anzugeben, so dass letztlich unklar bleibt, worin bei ihm der Unterschied zwischen „difference of degree“ und „difference of kind“ besteht. Dies kommt prägnant in der Formulierung zum Ausdruck, „that the mental faculties of man and the lower animals do not differ in kind, although immensely in degree“. (Darwin 1989 I, 152). Die Frage, worin ein „wesentlicher Unterschied“ in Abgrenzung von einem „immensen graduellen Unterschied“ besteht, bleibt offen. Mit einem immensen graduellen Unterschied zwischen einem Fisch und dem Menschen können jedoch nicht nur quantitative Aspekte gemeint sein, denn Fisch und Mensch unterscheiden sich trotz mancher Gemeinsamkeiten offensichtlich in ihren Eigenschaften, und dies nicht nur in kognitiver Hinsicht, sondern in zahlreichen anderen Aspekten, wie in morphologischer Hinsicht. Andernfalls könnte man auch gar nicht von der Entstehung neuer Arten sprechen. Dasselbe gilt für die menschliche Moral im Unterschied zu den sozialen Instinkten. Moral und Moralfähigkeit sind für Darwin qualitative Besonderheiten des Menschen. In diesem Kontext vermeidet es Darwin auch, von einem nur graduellen Unterschied zwischen Tier und Mensch zu sprechen. <?page no="176"?> Eve-Marie Engels 176 Bricht damit seine Evolutionstheorie zusammen? Die Antwort lautet, dass seine Evolutionstheorie nicht zusammenbricht, dass jedoch sein Gradualismus überarbeitungsbedürftig ist, da er bisher ein ungeklärtes Konzept ist und mehr Probleme erzeugt als löst. Darwin besteht auf dem Gradualismus, weil er an der Darstellung abstammungsgeschichtlicher Kontinuität interessiert ist, an der Erklärung der Entstehung neuer Arten durch den Wandel bereits existierender Arten. Er scheint zu befürchten, dass mit dem Zugeständnis einer „difference of kind“ zwischen Arten und damit auch zwischen der Spezies Mensch und nichtmenschlichen Tierarten sein deszendenztheoretisches Projekt nicht durchführbar ist. Der Ausdruck „gradueller Unterschied“ ist bei Darwin ein Synonym zur Bezeichnung eines natürlichen, kontinuierlichen Entstehungs- und Transformationszusammenhangs von Arten, für ihre Verwandtschaft untereinander. Für die Verteidigung dieses Zusammenhangs ist jedoch die problematische Voraussetzung eines nur graduellen Unterschiedes zwischen den Arten nicht notwendig. Unterschiede dem Grad und der Art oder dem Wesen nach sind in einem evolutionstheoretischen Rahmen durchaus miteinander vereinbar. Evolutionärer Wandel kann sich graduell, das heißt in Form kleiner Veränderungen vollziehen, die dann - etwa durch Systembildung - die Grundlage für die Entstehung großer neuer Fähigkeiten und Potentiale bilden können, für die Emergenz des Neuen. Dies gilt nicht nur für die Evolution des Menschen, sondern für die Evolution aller Tier- und Pflanzenarten. Jede Spezies ist etwas Besonderes. Aus der Tatsache, dass der Mensch das einzige moralfähige Lebewesen ist, folgt zudem nicht, dass nur der Mensch einen Eigenwert hat oder Selbstzweck ist, dass wir nur dem Menschen gegenüber eine Verantwortung haben. Dies wäre ein anthropozentrischer Fehlschluss. Diese wichtigen Fragen der Natur und Tierethik können an dieser Stelle jedoch nicht weiter verfolgt werden (vgl. daher Ott u. Gorke 2000; Wolf 2009; siehe auch den Beitrag von Thomas Potthast in diesem Band). Abschließend lässt sich das interessante Ergebnis formulieren, dass Darwin weder im deskriptiv-explanativen noch im normativen Sinn eine Evolutionäre Ethik vertritt. Zwar hat die menschliche Moralfähigkeit im beschriebenen Sinne Wurzeln in der Naturgeschichte des Menschen, aber die daraus entstehende Pflanze bedarf der Kultivierung. Auch lassen sich nach Darwin moralische Normen nicht aus der Naturgeschichte ableiten. Die von ihm vertretenen humanitären Werte und Prinzipien entstammen den philosophischen Traditionen der Kulturgeschichte. Moral ist ein kulturgeschichtliches Phänomen mit naturgeschichtlichen Wurzeln. Danksagung Ich danke herzlich meinem Kollegen Prof. Dr. Oliver Betz für seine kritische Durchsicht des Manuskripts und seine Verbesserungsvorschläge. Meinen <?page no="177"?> Der Mensch, das moralfähige Tier 177 studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern danke ich herzlich für die redaktionelle Überarbeitung. Literatur Bain, A. 1868: Mental and Moral Science. Longmans, Green and Co, London. Barrett, P.H., Gautrey, P.J., Herbert, S., Kohn, D. u. Smith, S. (Hg.) 1987: Charles Darwin’s Notebooks, 1836-1844. Cornell University Press, Ithaca, New York. Bekoff, M. u. Pierce, J. 2009: Wild Justice. The Moral Lives of Animals. The University of Chicago Press, Chicago, London. 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Die Diskussionen um die Abstammung der Menschen und die Bedeutung der Evolutionstheorie für das Menschenbild bildeten von Anfang an einen Schwerpunkt der Diskussionen. Im Bereich der biologischen Anthropologie wurde Darwins Theorie jedoch mit unterschiedlichsten vorevolutionären Denktraditionen verwoben, so dass es vielen an diesen Diskussionen Beteiligten zunächst nicht gelang, das Potential, das die Evolutionstheorie bot, voll zu nutzen. In diesem Beitrag soll anhand von kleineren Reisen zu Brennpunkten der Debatten gezeigt werden, welche althergebrachten Traditionen und Vorurteile es waren, die Anhängern wie Gegnern der Evolutionstheorie häufig im Wege standen. Anhänger der Evolutionstheorie griffen nur allzu gern auf scheinbar „nieder stehende“ Nicht- Europäer oder Mikrozephale zurück, um Bindeglieder zwischen Menschen und nichtmenschlichen Tieren zu konstruieren und scheuten auch nicht davor zurück, wie es der Anthropologe Waitz ausdrückte, ganze Völkerscharen der „Zoologie zu überweisen“. Doch eurozentristische und rassistische Denkweisen wurden nicht nur von Darwins Anhängern genutzt. Auch die Gegner der Evolutionstheorie bedienten sich in gleichem oder sogar noch stärkerem Maße dieser Traditionslinien, um wertende, scheinbar unveränderliche Rasseneinteilungen vorzunehmen und Hierarchien zu konstruieren. Es dauerte noch lange, bis die Evolutionstheorie genutzt wurde, um genau diese Traditionslinien zu kritisieren, obwohl Darwin in der Abstammung des Menschen Mittel und Wege aufgezeigt hatte, seine Theorie kreativ zu nutzen. 1. Reisevorbereitungen Die moderne Biologie begann vor 150 Jahren mit der Publikation von Charles Darwins Origin of Species (Darwin 1859). Der revolutionäre Charakter seiner Evolutionstheorie wurde von vielen Zeitgenossen erfasst und seine Theorie <?page no="182"?> Dirk Backenköhler 182 wurde überraschend schnell in vielen Kontexten rezipiert (Engels 2000; Tort 2001; Engels u. Glick 2008). Dies führte in der frühen Rezeption zu einer Vielzahl zum Teil auch konkurrierender Vorstellungen, da viele Autoren gleichzeitig ihre eigenen Vorlieben und Interessen mit ins Spiel brachten. Besonders vielschichtig, aber auch umstritten, war die Anwendung von Darwins Evolutionstheorie auf die Menschen. Die Bedeutung der Evolutionstheorie für das Menschenbild und für die Stellung der Menschen im Naturganzen, besonders die Vorstellung, dass die Stammeslinien der Menschen bis ins Tierreich und noch darüber hinaus führen, war für viele Menschen im 19. Jahrhundert ein Schock (Backenköhler 2008). In meinem Beitrag werde ich einige Bemerkungen zur Rezeption von Darwins Evolutionstheorie in der biologischen Anthropologie machen und versuchen, diese in den Kontext der Rezeption von Darwins Evolutionstheorie im Allgemeinen einzubinden. Es wird sich zeigen, dass wissenschaftliche Umwälzungen oftmals langsamer vor sich gehen, wenn dadurch Themen berührt werden, die in emotionaler Hinsicht von großer Bedeutung sind. Dies zu illustrieren, möchte ich eine kleine Reise unternehmen, mit deren Hilfe ich zunächst die Hintergründe aufzeigen möchte, vor denen die anthropologischen Diskussionen im Umfeld von Darwins Evolutionstheorie geführt wurden. Dann suche ich erste Brennpunkte der Debatten um die Abstammung des Menschen von nichtmenschlichen Vorfahren auf, um abschließend noch einen Blick nach Down in Darwins Arbeitszimmer zu wagen. Hier möchte ich zeigen, wie diese Debatten Darwin bei der Ausarbeitung zu seinem Werk Abstammung des Menschen (Darwin 1871b) beeinflussten, das 12 Jahre nach der Publikation seines Hauptwerkes Entstehung der Arten (Darwin 1859) erschien. 2. 1786, Johann Friedrich Blumenbach auf dem Hofgut der Familie Treytorrens bei Yverdun Im Jahr 1786 machte sich der deutsche Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach auf zu einer Reise in die Schweiz zu einem Hofgut in der Nähe von Yverdun, um dort die Naturaliensammlung der Brüder Treytorrens zu begutachten. Auf dem Hof angekommen, kam es zu einer für ihn ganz unerwarteten Begegnung: „Wie ich in den Hof des herrlichen neuen Hauses am Wege nach Soumoens eintrat, sah ich niemand, der mich hätte zurecht weisen können, als ein rücklings stehendes Frauenzimmer, von einer Schönheit des Wuchses, die mir auffallend war. Aber wie ward ich nicht folgends frappirt, da sie sich auf meine Ansprache umwandte, und ich an ihr eine Negresse von einer Gesichtsbildung fand, die einem solchen Wuchse aufs vollkommenste entsprach, [...] Ein Gesicht, das durchaus - selbst in der Nase und in den etwas stärkeren Lippen, - doch sogar nichts auffallendes, geschweige denn unangenehmes hatte [...]. Und nun zu allem dem nicht nur die aufgeweckteste munterste Lebhaftigkeit <?page no="183"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 183 bey einem sehr gesunden Verstande, sondern, wie ich halb nachher erfuhr, oben drein ausnehmende Einsicht und Geschicklichkeit in - der Entbindungskunst. Die zum Verlieben hübsche Negresse von Yverdun ist weit und breit in der welschen Schweiz als die beste Hebamme berühmt.“ (Blumenbach 1787, 2f.) Dass uns diese Begegnung überliefert ist, verdanken wir der Tatsache, dass Blumenbach sie zum Anlass für eine kleine Publikation Von den Negern (Blumenbach 1787) machte. Er schildert darin neben der kleinen schon zitierten Episode verschiedene andere Beispiele dafür, dass die oftmals geschmähten Afrikaner in der Körperbildung viele Übergänge zu den nicht dunkelhäutigen Menschen zeigen und auch in ihrer Intelligenz anderen Menschen um nichts nachstehen (Blumenbach 1787, 4). Diese Themen, im Zusammenhang mit der Einteilung der geografischen Variabilität der Menschen, sowie das Verhältnis der Menschen zu den anderen Tieren, waren schon vor dieser kleinen Publikation zentrale Arbeitsgebiete von Blumenbach gewesen (Dougherty 1990). Die Ergebnisse, zu denen Blumenbach gelangte, erwiesen sich dabei als weitreichend und einflussreich: Seine Einteilung der Menschen in Weiße, Schwarze, Braune, Gelbe und Rote sowie der von ihm geprägte Begriff „Kaukasier“ für die weiße Menschenvarietät sind auch heute noch geläufig. Zur letztgenannten Begriffsschöpfung hatte ihn der Schädel einer Georgierin inspiriert, den er für außerordentlich schön hielt (Abb. 1). Abb. 1 Blumenbachs Kaukasiertypus, die Bildschöne Georgianerin. (Nach Blumenbach, J.F. 1796ff. Abbildungen naturhistorischer Gegenstände. Johann Christian Dieterich, Göttingen, Blatt 51) <?page no="184"?> Dirk Backenköhler 184 Bei Menschen und Menschenaffen trat Blumenbach für eine klare Trennung ein. Er erarbeitete eine Liste der Unterschiede und Gemeinsamkeiten von körperlicher Bildung und nicht körperlichen Charakteristika und kam zum Ergebnis, dass die Unterschiede bedeutend genug seien, um Menschen und Affen inklusive Menschenaffen in separate Ordnungen innerhalb der Säugetiere einzuordnen. Zwischenwesen zwischen Menschen und Affen, die immer wieder in Reiseberichten und wissenschaftlichen Publikationen auftauchten, verwies er ins Reich der Fabelwesen (Blumenbach 1798). Blumenbach entwickelte auch eine Theorie, wie es zu den unterschiedlichen Ausprägungen der Menschen gekommen sei: Er verglich die Menschen mit Haustieren, die im domestizierten Zustand ebenfalls eine hohe Veränderlichkeit aufwiesen, da sie besonders stark den Einflüssen von veränderter Umwelt, Nahrung und Klima ausgesetzt seien. Menschen sollten sich nach Ausbreitung über den Globus ebenfalls unter der Wirkung dieser Einflüsse regional verändert haben. Moralische, soziale oder politische Kriterien, die genutzt wurden, um Menschen etwa in Stände oder Zugehörigkeit zu einer Landherrschaft einzuteilen, wurden bei dem Naturforscher Blumenbach durch körperliche Einteilungsmerkmale ersetzt. Blumenbach sah die von ihm bestimmten unterschiedlichen Varietäten, die sich sowohl körperlich wie auch kulturell darstellten, als verschiedene Entwicklungen auf einer Stufe, quasi als Nachweis der produktiven Tätigkeit der Natur in alle Richtungen, weshalb er in seinem Aufsatz Von den Negern auch gegen generalisierte Diskriminierungen eintrat. Mit dieser Auffassung geriet er in Konflikt mit anderen Gelehrten seiner Zeit, wie etwa dem ebenfalls in Göttingen lehrenden Philosophen Christoph Meiners oder dem Anatomen Thomas Sömmerring (Dougherty 1985), die zwar dem Trend, die Menschen nach körperlichen Kriterien einzuteilen folgten, aber davon ausgingen, dass die Unterschiede der Menschen als reale Hierarchien aufzufassen seien. Den Nachhall dieser Diskussionen und die zwei unterschiedlichen Herangehensweisen, die sich in diesen Diskussionen in der Goethezeit offenbarten, wird man noch sehr lange in vielen Diskussionen, die mehr als ein halbes Jahrhundert später um die Evolutionstheorie geführt wurden, finden können. 3. 1856, ein Gorilla in Wien, Azteken in Dresden und ein Schädelbruchstück aus dem Neanderthal Die zweite Reise, die ich unternehmen möchte, soll die Materiallage beleuchten, auf der dann die ersten Debatten um die Evolutionstheorie geführt werden sollten. Nicht nur Informationen über fremde Völkerschaften waren zu diesem Zeitpunkt spärlich und zum Teil abenteuerlich, sondern auch über Menschenaffen wusste man nur wenig, und gesicherte Funde von vorgeschichtlichen Menschenüberresten waren gänzlich unbekannt. An drei Bege- <?page no="185"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 185 benheiten, die sich alle im Jahr 1856 ereigneten, lässt sich dies besonders gut veranschaulichen. Im Jahr 1856 schickte sich Wien an, die 32. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte auszurichten. Diese Wanderversammlung findet bis heute an wechselnden Versammlungsorten statt. Entsprechend der imperialen Größe Wiens sollte die Versammlung die größte werden, die man bisher gesehen hatte und Wien mit seinen naturwissenschaftlichen Sammlungen als den fortschrittlichsten und modernsten Forschungsplatz im deutschsprachigen Raum präsentieren. Die Zahl von fast 1700 anwesenden Besuchern stellte dann auch alles bisher da gewesene weit in den Schatten. Der Wiener Anatom Leopold Johann Fitzinger organisierte eigens für die Versammlung den Ankauf zweier besonderer Objekte, finanziert direkt aus der kaiserlichen Kasse: das Skelett und die präparierte Haut eines afrikanischen Gorillas, die ein Pariser Naturalienhändler zum Kauf angeboten hatte (Fitzinger 1856a; 1856b). Im Gegensatz zu Orang-Utans und Schimpansen, die zwar ebenfalls selten waren, von denen aber einzelne Exemplare schon lebendig nach Europa gelangt waren, waren Gorillas erstmals wenige Jahre vor der Naturforscherversammlung entdeckt und beschrieben worden, und in der Mitte der 1850er Jahre gab es in ganz Europa lediglich zwei vergleichbare Stücke: eines in Paris und eines in London (Barsanti 1990). Diese Sensationen sollten der versammelten Naturforscherelite und der Wiener Öffentlichkeit nun anlässlich der Versammlung präsentiert werden. Fitzingers Kalkül ging auf, und selbst in Wiener Familienblättern wurde über den Wiener Gorilla berichtet (Abb. 2). Das Bild des „Affen“ erhielt durch die Entdeckung der Gorillas eine völlig neue Nuance, denn die ersten ausführlichen Berichte schilderten die Tiere als reißende Ungeheuer und uneingeschränkte Herrscher des Dschungels (Chaillu 1863; Meyer 1863). In Abbildungen, besonders der männlichen Exemplare, spürt man deutlich die sexuelle Aufladung, mit der die Menschenaffen bedacht wurden: Um das Tier den Beschreibungen entsprechend bedrohlich wirken zu lassen, wurde es zumeist aufrecht stehend in Drohpose dargestellt und auch so präpariert (Fitzinger 1856a; Meyer 1864). Die in dieser Pose sichtbaren Geschlechtsorgane mussten dann aber hinter einem Ast oder Zweig versteckt werden. Das mannsgroße Tier stand im deutlichen Gegensatz zu den kleinen, neckischen und ungezogenen „Affen“, die in Menagerien bestaunt werden konnten, und das mag im Rahmen von Darwins Evolutionstheorie, die Abneigung gegen solch affenartige Vorfahren noch verstärkt haben (Voss 2007). Auch der Wiener Gorilla, ein Männchen, wurde im Familienblatt Faust auf diese Weise abgebildet. Verlässliche Kenntnisse über Menschenaffen, besonders über ihr Verhalten und ihre Lebensweise, die für die Beurteilung der Evolutionstheorie herangezogen werden konnten, waren im 19. Jahrhundert von oftmals fragwürdigen Quellen geprägt worden. <?page no="186"?> Dirk Backenköhler 186 Abb. 2 Wiener Gorilla. (Nach Fitzinger 1856a) In Dresden konnte etwa zur gleichen Zeit ebenfalls ein seltenes Schauspiel bewundert werden: Vor Ort weilte eine kleine Schauausstellung, in der zwei mikrozephale mexikanische Kinder als „letzte Aztekenpriester“ präsentiert wurden. Bei den beiden handelte es sich um Menschen mit deutlich verkleinertem Gehirn, abgeflachtem Schädel und den entsprechenden geistigen Einschränkungen. Die zwei waren mit einem amerikanischen „Führer“ zuvor <?page no="187"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 187 schon in Nordamerika und vielen Teilen Europas unterwegs gewesen, ehe sie auch im deutschsprachigen Raum auftraten. Um die Kinder als Aztekenpriester zur Schau zu stellen, wurde die Ausstellung mit einer aus heutiger Sicht haarsträubenden Hintergrundgeschichte ausgestattet, die letzten Endes auf Ähnlichkeiten der Kinder mit Abbildungen von Personen auf aztekischen Ruinen abzielte (Abb. 3) (Stephens 1855). Abb. 3 Aztec Lilliputians, Titelbild der deutschen Ausgabe des Werkes über Maximo und Bartola. (Nach Stephens, J.L. 1855) <?page no="188"?> Dirk Backenköhler 188 Auch Naturforscher interessierten sich rege für die beiden und der berühmte Dresdner Arzt Carl Gustav Carus nahm die Gelegenheit wahr, die beiden eingehend zu untersuchen, als er einen grippalen Infekt behandeln sollte (Carus 1856). Carus wies darauf hin, dass es sich bei der Hintergrundgeschichte um einen hanebüchenen Unsinn handelte. Was die zwei aber trotzdem für ihn so interessant machte, war die Tatsache, dass es sich bei ihnen um seltene Mikrozephale handelte. Dass Carus die Ähnlichkeit der beiden mit den Tempelabbildungen auf die „Rohheit einer noch aller Wissenschaft baren bildenden Kunst“ (Carus 1856, Heft 35, 1) der Azteken zuschrieb, zeigt deutlich, mit welcher Einstellung er den beiden entgegentrat. Über die Fabelgeschichte hinaus hinterfragte Carus folglich die ganze Kinderausstellung nicht. Er nutzte vielmehr die sich ihm bietende Gelegenheit, zwei seltene anatomische Objekte zu studieren und kam aufgrund der Lebendigkeit der Kinder und ihrer geistigen Beeinträchtigung zu dem Ergebnis, dass bei „niedriger stehenden Menschenracen Verkümmerungen der höchsten Geistesorgane [...] etwas weniger zu stören und herabzusetzen scheinen, als dies bei denselben Verkümmerungen beobachtet wird, wenn sie in einem an sich edleren Volksstamme vorkommen“ (Carus 1856, Heft 35, 1). Auch dies zeigt, dass sich am Vorabend von Darwins Evolutionstheorie und 70 Jahre nach Blumenbachs Besuch in der Schweiz hierarchische diskriminierende Einstellungen immer noch höchster Beliebtheit erfreuten. Noch ein weiterer bedeutender Fund sollte im selben Jahr gemacht werden. Im Tal der Düssel, dem Neanderthal, waren bei Steinbrucharbeiten aus dem Abraum einer Kalksteinhöhle die berühmten Überreste jenes vorzeitlichen Menschen geborgen worden, die einer ganzen Gruppe von Hominiden den Namen verleihen sollten (Abb. 4). Der Gymnasiallehrer Carl Fuhlrott eilte zum örtlichen Steinbruch, als ihm der Steinbruchbesitzer die Nachricht gesendet hatte, seine Arbeiter seien wieder einmal auf interessante Objekte gestoßen (Schmitz u. Thissen 2000). Als Fuhlrott die ihm vorgelegten menschlichen Knochen zu Gesicht bekam, erkannte er schnell die Wichtigkeit des Fundes und regte eine wissenschaftliche Beschreibung der Stücke an. Erste Veröffentlichungen von Fuhlrott und dem von ihm kontaktierten Anatomen Hermann Schaaffhausen ordneten die gefundenen Überreste einer sehr alten Menschenform zu (Schaaffhausen 1858; Fuhlrott 1859). Die Funde könnten damit als Beweis dienen, dass Menschen schon als Zeitgenossen von ausgestorbenen Großsäugetieren auf der Erde gelebt hatten und nicht, wie zu diesem Zeitpunkt häufig angenommen, erst später als letztes Produkt der Erdgeschichte erschienen seien. In anderen Aspekten der Deutung waren sich Fuhlrott und Schaaffhausen aber uneinig. Fuhlrott zeigte sich später erschrocken darüber, dass sein Fund im Sinne einer Abstammung der Menschen von nichtmenschlichen Vorfahren gedeutet wurde, einer Überzeugung, die er selbst entschieden ablehnte (Fuhlrott 1865). Er interpretierte den Fund zwar als alt, aber doch als typisch menschlich, während Schaaffhausen, der für eine <?page no="189"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 189 Abb. 4 Neanderkalotte aus dem Düsseltal. Der Gesichtsschädel fehlte komplett, was die Interpretation des Fundes erschwerte. (Nach Schaaffhausen, H., 1888: Der Neanderthaler Fund. Apolph Marcus, Bonn) Abstammung des Menschen von nichtmenschlichen Vorfahren eintrat, die Funde aus dem Neanderthal nicht nur als alt, sondern auch als besonders urtümlich im Sinne der Evolutionstheorie einstufte. Eine Entscheidung in dieser Frage war in den 1850er und 60er Jahren aufgrund der dünnen Materiallage noch nicht möglich. Die Erforschung der menschlichen Urgeschichte befand sich am Vorabend der Diskussionen um Darwins Evolutionstheorie noch fast am Nullpunkt. Was aber zunehmend klar wurde, war die Tatsache, dass sich die Menschheitsgeschichte deutlich verlängerte (Grayson 1983; Van Riper 1993). Ausgrabungen in Pfahlbauten rund um die Alpen und in Höhlen in England, Belgien und Frankreich belegten, dass Menschen in Mitteleuropa und Vorderasien in der Tat schon länger existiert hatten, als man bisher bereit war anzunehmen und schon als Zeitgenossen der eiszeitlichen, heute ausgestorbenen Säugetiere in Europa lebten. Der sich verlängernde Zeitrahmen war eine entscheidende Voraussetzung für alle folgenden Überlegungen über die Evolution der Menschen, die eine längere Zeitspanne erforderten. Das Hauptinteresse vieler Wissenschaftler bestand aber in der Einteilung der Funde in ein System paläolithischer Menschenrassen (Quatrefages 1873- 82; Dawkins 1876). Weitergehende Überlegungen zur Abstammung der Menschen, die sich eigentlich aus Sicht der Evolutionstheorie aufdrängten, blieben meist zweitrangig. Man interessierte sich, ähnlich wie Fuhlrott, für frühe Menschenfunde vor allem als Repräsentanten der früheren Einwohner Europas, die jedoch immer als menschlich angesehen wurden. <?page no="190"?> Dirk Backenköhler 190 4. 1863, Vorlesungen in Neuchâtel, zwei Bücher aus England und eine Rede in Stettin Obwohl Darwin die von ihm entworfene Evolutionstheorie in der Entstehung der Arten nicht selbst auf den Menschen anwendet, sondern sich gegen Ende des Werkes auf einen kurzen Ausblick beschränkt, war vielen Zeitgenossen sofort klar, welchen Sprengstoff sie in Händen hielten, wenn sie auch die Menschen in Darwins Abstammungstheorie einbetteten. So war es nicht verwunderlich, dass sich viele Reaktionen auf Darwins Theorie genau um diesen Punkt drehten und ihn in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellten. Besonders deutlich wurde dies erstmals im Jahre 1863: Der Zoologe Carl Vogt hielt in Neuchâtel in der Schweiz eine Reihe von öffentlichen Vorträgen über die Urgeschichte des Menschen (Vogt 1863), in England erschienen zwei für die folgende Diskussion wichtige Bücher von Thomas Henry Huxley und Charles Lyell (Huxley 1863; Lyell 1863) und auf der 38. Naturforscherversammlung in Stettin hielt der 29-jährige Zoologe Ernst Haeckel einen Vortrag in Form eines leidenschaftlichen Bekenntnisses zu Darwins Evolutionstheorie (Haeckel 1863). Um für die Abstammung des Menschen von nichtmenschlichen Vorfahren Belege zu liefern, wurden unterschiedliche Strategien gewählt: Carl Vogt nutzte neben dem anatomischen Vergleich vor allem die Embryologie bzw. die Rekapitulationstheorie, um einen genealogischen Zusammenhang der Menschen mit den menschenaffenartigen Vorfahren zu belegen. Die Rekapitulationstheorie erlaubte es ihm, Spuren von da Gewesenem und nun Verschwundenem in der Embryonalentwicklung und in Form von atavistischen Bildungen aufzuspüren. Vogt griff dazu wieder auf die Mikrozephalie zurück und versuchte zu zeigen, dass die veränderte Bildung des Gehirns und des Schädels einen Rückschlag auf reguläre Bildungen affenähnlicher menschlicher Vorfahren darstellte. Er glaubte damit einen Beweis für die Entwicklung der Menschen in Händen zu halten. Mikrozephale, die kurz zuvor noch als „letzte Aztekenpriester“ präsentiert wurden, wurden so in seinen Augen zu Menschen mit tierhaftem Gehirn und animalischem Wesen. Seine Thesen fanden breite Beachtung und auch Darwin zitierte Vogt in seiner Abstammung des Menschen. Gleichzeitig wurde Vogt aber auch von vielen Fachgenossen kritisiert, auch von Anhängern der Evolutionstheorie (Meynert 1868; Schaaffhausen 1877). Vogts unsensible Argumentation und Vorgehensweise war geradezu eine Einladung zur Kritik, trotzdem blieb es im 19. Jahrhundert unklar, ob die Veränderung des Gehirns ein pathologischer Vorgang war oder tatsächlich eine atavistische Bildung darstellte, denn die den Veränderungen des Schädels und des Gehirns zugrunde liegenden Vorgänge fanden in einer sehr frühen Stufe der Entwicklung statt, zu deren eingehender Untersuchung zu diesem Zeitpunkt weder ausreichendes Vergleichsmaterial noch die entsprechenden <?page no="191"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 191 Methoden zur Verfügung standen. Die Vorlesungen, die auch als Buch erschienen, waren trotz alldem ein großer Erfolg, den er bis Ende der 1860er Jahre an vielen Orten wiederholen konnte und die ihm in der Öffentlichkeit den Titel „Affenvogt“ einbrachten (Abb. 5). Abb. 5 „Affenvogt“ - Professor Vogt im Kreise seiner Ahnen und Verwandten. (Münchner Punsch: Ein humoristisches Originalblatt von M. E. Scheich 20, Heft 50 vom 15. Dez. 1867, 1) <?page no="192"?> Dirk Backenköhler 192 Während Carl Vogt seine Vorlesungen hielt, erschienen in London zwei Bücher, die sich ebenfalls mit demselben Themenkreis beschäftigten, aber andere Strategien nutzten. Thomas Henry Huxley setzte in seinem Werk Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur [Man´s Place in Nature] (Huxley 1863b) hauptsächlich auf anatomische Vergleiche. Er publizierte darin drei Vorlesungen, in denen er das Wissen über Menschenaffen und menschliche Fossilfunde zusammenfasste und unternahm einen detaillierten Vergleich der Menschen mit der Affenanatomie. Huxleys berühmter Schluss lautete: „Thus, whatever system of organs be studied, the comparison of their modifications in the ape series leads to one and the same result - that the structural differences which separate Man from the Gorilla and Chimpanzee are not so great as those which separate the Gorilla from the lower apes“ (Huxley 1863a, 123). Dies gelte trotz der immensen Kluft, die sich vor allem im geistigen Bereich zwischen den Menschen und den Affen auftue. Nähme man nun an, folgert Huxley, dass die rezenten Organismen das Ergebnis eines langsamen Entwicklungsprozesses seien, wofür Darwins Theorie die bisher einzige wissenschaftliche Erklärung böte, so müsse man auch für die Menschen die Konsequenz ziehen, dass sie sich langsam aus affenähnlichen Vorfahren entwickelt hätten. Huxley plädierte dafür, Vorurteile abzulegen, die einen objektiven Vergleich zwischen Mensch und Tier verhinderten (Huxley 1863a, 104). Von Huxleys Landsmann Charles Lyell erschien zum selben Zeitpunkt das Buch Geological Evidences of the Antiquity of Man (Lyell 1863), dass sich hauptsächlich mit Fossilfunden und ihrer Bedeutung für die Menschheitsgeschichte und Evolutionstheorie auseinandersetzte. Lyell, ein guter Freund und Mentor Darwins, war aber nicht überzeugt davon, dass die Menschen von affenähnlichen Vorfahren abstammen und zweifelte zudem an dem von Darwin vorgeschlagenen Evolutionsmechanismus. Sein Buch blieb deshalb in diesen Punkten ambivalent. Lyell gelang es aber, der Anerkennung der Tatsache, dass Menschen in Europa gleichzeitig mit ausgestorbenen Säugetieren wie den Mammuts gelebt haben, endgültig zum Durchbruch zu verhelfen. Er würdigte in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich die Funde aus dem Neanderthal. Besonders im letzten Kapitel, in dem Lyell sein Werk rückschauend zusammenfasste, distanzierte er sich, zum Ärger seines Freundes Darwin, von der Annahme der Abstammung der Menschen von nichtmenschlichen Vorfahren. Lyell blieb damit eher auf einer Linie mit Carl Fuhlrott, der für ein hohes Alter der Menschheit, aber nicht für die gemeinsame Abstammung von Menschen und Menschenaffen eintrat. Interessanterweise hat der deutsche Übersetzer des Werkes, der Arzt Ludwig Büchner, viele Passagen des letzten Kapitels für seine deutsche Übersetzung stillschweigend ausgelassen und damit der deutschen Übersetzung von Lyells Werk einen ganz eigenen Tenor gegeben (Backenköhler in Vorbereitung). Die letzte Station der Reise ins Jahr 1863 führt nach Stettin zur 38. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte. Mit einem Vortrag Über die <?page no="193"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 193 Entwickelungstheorie Darwin’s eröffnete Ernst Haeckel die öffentlichen Vorträge (Haeckel 1863). Haeckel zog in diesem Jahr die weitreichendsten Konsequenzen aus Darwins Evolutionstheorie. Sein Vortrag wirkt wie ein Programm seiner späteren Arbeiten, die ihn im Laufe des 19. Jahrhunderts zum „Deutschen Darwin“ aufsteigen ließen, dessen Publikationen in vielen Kontexten wirkungsmächtiger als Darwins eigene Veröffentlichungen werden sollten. „Was uns Menschen selbst betrifft, so hätten wir also konsequenterweise als die höchst organisierten Wirbelthiere unsere uralten gemeinsamen Vorfahren in affenähnlichen Säugethieren, weiterhin in känguruhartigen Beutelthieren und noch weiter hinauf in der sogenannten Sekundärperiode in eidechsenartigen Reptilien, und endlich in noch früherer Zeit, in der Primärperiode, in niedrig organisirten Fischen zu suchen“ (Haeckel 1863, 17) rief Haeckel in der gedruckten Version seines Vortrages seinen Zuhörern zu. Haeckel trat mit dem Pathos eines Aufklärers auf, der den Streit um Darwins Theorie „offen und klar vor Aller Augen“ (Haeckel 1863, 18) darlegen möchte. Er begnügte sich auch nicht damit, die gemeinsame Abstammung von Menschen und nicht menschlichen Tieren zu betonen, sondern er deutete auch schon die Anwendung des „Kernpunkts der Darwin’schen Lehre“, des „Kampf[es] ums Dasein“ (Haeckel 1863, 23) auf die menschliche Gesellschaft an, in der wie in der Natur ein „schonungsloser und unaufhörlicher K ri e g A ll e r g e g e n A ll e “ herrsche (Haeckel 1863, 24, Sperrung im Original). In den Folgejahren entwickelte er sich folgerichtig zu einem der wissenschaftlichen Hauptvertreter einer Anthropologie, welche die Variabilität der Menschen in eine hierarchische Struktur zu gießen suchte und den Beleg dafür in der Evolutionstheorie fand, die eine „ununterbrochene Vervollkommnung“ (Haeckel 1863, 20) zur Folge habe (Abb. 6). Die Suche nach fossilen Resten, die etwa Lyell beschäftigte, war für Haeckel zweitrangig, denn für ihn lagen die nötigen Beweise in den Ergebnissen embryologischer und vergleichend-anatomischer Untersuchungen von Affen und Menschen bereits vor. 5. 1866, eine bemerkenswerte Leiche im Anatomischen Institut der Universität Tübingen Einen guten Einblick darüber, wie Darwins Evolutionstheorie auch in der anthropologischen Forschung ihre Wirkung entfaltete, kann man mit einer Reise ins Anatomische Institut der Universität Tübingen erhalten. Im Jahr 1866 gastierte eine Schauausstellung in Süddeutschland, die ähnlich den in Dresden ausgestellten Aztekenkindern, Menschen als Schaustücke darbot. In diesem Fall war es eine südafrikanische San („Buschfrau“), die mit dem Namen Afandy bezeichnet und von einem Begleiter in verschiedenen Lokalitäten <?page no="194"?> Dirk Backenköhler 194 Abb. 6 Die Familiengruppe der Katerrinea (Schmalnasige Affen) (Frontispiz aus Haeckel 1868). 1. Indogermane (Mann), 2. Chinese (Mann), 3. Feuerländer (Mann), 4. Australneger (Mann), 5. Afroneger (Weib), 6. Tasmanier (Weib), 7. Gorilla (Weib), 8. Schimpanse (Weib), 9. Orang (Mann), 10. Gibbon (Mann), 11. Nasenaffe (Mann), 12. Mandrill-Pavian (Mann). Haeckels Abbildung wurde verschiedentlich kritisiert, am heftigsten das Bild des Nasenaffen (! ! ). Für die zweite Auflage seines Werkes erweiterte Haeckel die Tafel auf 24 Köpfe versetzte sie aber ins Innere des Buches, ab der dritten Auflage entfiel sie ersatzlos. <?page no="195"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 195 präsentiert wurde (Abb. 7). Als sie auf der Reise an einer Rippenfellentzündung starb, nutzte der Tübinger Anatom Hubert von Luschka die Gelegenheit und sicherte sich die Leiche der Afrikanerin zu Forschungszwecken. Aus der Sektion entstanden insgesamt drei Doktorarbeiten und eine größere Arbeit des Lehrstuhlinhabers Luschka, die zusammen genommen einen spannenden Einblick in Stimmungen und Lage der Anthropologie kurz nach der Veröffentlichung von Darwins Evolutionstheorie geben (Götte 1867; Koch 1867; Görtz 1868; Luschka 1868). Abb. 7 Afandy. (Nach Ecker, A., 1868: Anatomische Untersuchung eines Buschweibes von H. v. Luschka, J. A. Koch; A. Götte und K. Götz. Archiv für Anthropologie 3, 306-308) <?page no="196"?> Dirk Backenköhler 196 Bei Karl Görtz, der über das Becken und die Geschlechtsteile von Afandy promovierte, traten in Schreibstil und Art der Untersuchung männliche europäische Vorurteile am deutlichsten zu Tage. Seine Arbeit ist die umfangreichste der drei, die auch die meisten Quellen verarbeitete. Er erklärte Afandy zu einer Vertreterin „zurückgebliebener“ „wilder Völker“ (Görtz 1868, 8 u. 22), verglich sie mit „gewissen Affen“ (Görtz 1868, 26), obwohl er sich an keiner Stelle explizit zur Debatte um Darwins Evolutionstheorie äußerte. In seinen Vergleichen und Interpretationen spürt man die von Görtz unterstellte Hierarchie, die Afandy vom männlichen europäischen Beobachter entfernte. Die Evolutionstheorie schien auf diesem Wege, den auch Haeckel nutzte, zu einem Beleg für die angenommene Hierarchie innerhalb der Menschen zu werden. Potentiell „nieder“ stehende Menschen wurden affenähnlicher. Sie, die Angehörigen „wilder Völker“, wurden so, ähnlich wie Vogts Mikrocephale, zu Bindegliedern zwischen Affen und „höher entwickelten“ Europäern. Alexander Götte, der zweite Doktorand, äußerte sich in seiner Arbeit ebenfalls nicht zur Evolutionstheorie. In seiner Dissertation beschäftigte er sich mit dem Haar von Afandy. Er vermaß dazu Dichte, Kräuselung und Festigkeit ihres Haares. Seine Arbeit ist aber deutlich neutraler als die von Karl Görtz. Man findet darin keine expliziten Diskriminierungen oder Abwertungen, und seine Vergleiche mit Tieren dienen nur dazu, die Variabilität des Haarwuchses aufzuzeigen und nicht um Wertungen vorzunehmen. Er kommt in seiner Arbeit zu dem Schluss, dass die Haarbildung als Einteilungskriterium aufgrund der hohen Variabilität nur bedingt tauglich ist. Am präsentesten sind die Debatten um die Evolutionstheorie in der Dissertation von Julius Koch, der sich mit dem Gehirn von Afandy beschäftigte. Gleich zu Beginn seiner Arbeit beklagte er Afandys Schicksal in Europa, die nicht um ihrer „Naturanlagen“, wohl aber um das „im Lande der weissen Menschen erfahrenen Lebensschicksale willen“ zu bemitleiden sei (Koch 1867, 7). Mehrmals kritisierte Koch die diskriminierenden Schlüsse Carl Vogts (Koch 1867, 11 u. 16f.) und den Versuch, die „südafrikanischen Menschenstämme“ an den „t h i e ri s c h e n T y p u s “ (Koch 1867, 16, Sperrung im Original) anzunähern. Er stellte sich damit gegen die Tradition von Forschern, die eine Parallelisierung von Afrikanern und Menschenaffen vornahmen. Der Evolutionstheorie schien er kritisch gegenüber zu stehen, denn er spricht „dem Affen“ sowohl „Bildungsfähigkeit“ als auch „Bildungsstufe“ ab (Koch 1867, 24). Seine Arbeit schloss er mit dem Zitat eines Darwinisten, wie er ausdrücklich hervorhebt: Auch Huxley betone die existierende Kluft zwischen Menschen und Affen, die heute durch kein lebendes Zwischenglied gefüllt werde. Göttes und Kochs Arbeiten zeigen, dass es nicht notwendig war, Wertungen explizit vorzunehmen. Wenn Autoren dies trotzdem taten, so geschah dies unabhängig von ihrer Anschauung über die Evolutionstheorie, da sich diskriminierende Hierarchien mit Positionen pro und kontra die Evolutionstheorie kombinieren ließen. <?page no="197"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 197 6. 1870, von Tübingen nach Down ins Arbeitszimmer von Charles Darwin Im Jahr 1870 befand sich Darwin an der Arbeit zu seinem Buch über die Abstammung des Menschen. Ein Jahrzehnt war verstrichen, seitdem er sein Epoche machendes Buch über den Ursprung der Arten vorgelegt hatte. Aus dem zurückgezogenen Gelehrten war in dieser Zeit ein wissenschaftlicher Weltstar geworden. Darwin jedoch zog es vor, auch weiterhin zurückgezogen zu leben, die großen öffentlichen Debatten mussten andere führen, in Deutschland Carl Vogt und Ernst Haeckel, in England seine Freunde Thomas Henry Huxley und John Lubbock. Um seine Theorie zu untermauern hatte Darwin mittlerweile zwei weitere Bücher publiziert, die sich aber vor allem an Fachwissenschaftler wandten (Darwin 1862, 1868). Doch nun wandte er sich wieder einem populäreren Thema zu: Der Abstammung des Menschen, denn ihm war schon sehr früh klar gewesen, dass die Menschen und ihre Geschichte ein integraler Bestandteil seiner Evolutionstheorie sein müssten. Man hatte ihm schon vorgeworfen, sich aus Angst nicht an dieses Thema zu wagen, oder gar selbst nicht an die Möglichkeit zu glauben, dass auch die Menschen Teil des allgemeinen Evolutionsprozesses seien. Diese und andere Zweifel galt es nun auszuräumen, aber Darwin wurde sicherlich auch deshalb aktiv, weil er mit vielem, was im vergangenen Jahrzehnt publiziert worden war, nicht übereinstimmte. Aus der Arbeit gingen schließlich drei dicke Bände hervor, das zweibändige Werk The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex und The Expession of Emotions in Man and Animals (Darwin 1871a, 1872). Speziell The Descent of Man war in den Augen des Publikums ein eher sperriges Buch: Der größte Teil handelte nicht von der Abstammung der Menschen, sondern von der „geschlechtlichen Zuchtwahl“ (Schmidt 1871). Vergleicht man Darwins Abstammung des Menschen mit den schon geschilderten Debatten, dann sucht man in dem Buch vieles vergebens, etwa Abhandlungen über Menschenaffen oder die sogenannten „Naturvölker“, und doch wagte Darwin in seinem Buch eine umfangreiche Anthropologie, umfassender als alle seine Vorgänger in den 1860er Jahren. Er versuchte, die körperlichen, geistigen und sozialen Eigenschaften der Menschen mit Hilfe seiner Evolutionstheorie zu erklären. Er sprach sich dezidiert gegen einen polygenen Ursprung der Menschen aus, denn er hielt es für unmöglich, dass die komplizierte Entwicklung zum Menschen in mehreren unabhängigen Linien verlaufen sei. Die geschlechtliche Zuchtwahl, die er so ausführlich hergeleitet hatte, benutzte er, um beim Menschen die Entstehung der unterschiedlichen geografischen Varietäten und wichtige Schritte der Entwicklung der Menschen aus tierischen Vorfahren zu erklären. Und schließlich griff er auf dieselbe Strategie zurück, die er schon in Origin of Species erfolgreich angewandt hatte: er zeigte, dass es mit Hilfe seiner Evolutionstheorie möglich war, die beobachtbaren Verhältnisse besser und einfacher zu erklären als mit alternativen Theorien, welche die Herkunft der <?page no="198"?> Dirk Backenköhler 198 Menschen erklären sollten, etwa die in der Bibel formulierte Schöpfungstheorie. Darwin gelang es auch, sich in seiner Arbeit weitgehend von hergebrachten eurozentristischen Vorurteilen frei zu machen und eine im Vergleich zu vielen anderen Werken derselben Zeit ausgewogene Analyse vorzulegen. An einigen Stellen seines Werkes merkt man zwar, dass auch er zum Teil dieselben Vorurteile hegte, doch bestimmen sie nicht wie bei anderen Autoren die ganze Arbeit. Besonders innovativ waren Darwins Ausführungen über die Herleitung menschlicher Besonderheiten, hierbei vor allem der Moral, denen in diesem Buch aus diesem Grund auch ein eigenes Kapitel gewidmet wird. Im deutschsprachigen Raum löste das Werk eine weitere Publikationswelle aus, und Karikaturisten begannen nun auch hier damit, Darwins Kopf auf einen Affenkörper zu montieren. Insgesamt aber wurde das Werk zunächst verhalten aufgenommen und auch Fachmänner blieben zum Teil skeptisch. „Diese Darwinerei wird einst in der Geschichte der Naturwissenschaften als eine wüste Episode von Verirrungen betrachtet werden“, resümierte der Geograf Andree in der Zeitschrift Globus ([Andree] 1871, 125). Viele Anthropologen interessierte mehr Darwins 1868 erschienenes Werk Variations of Animals and Plants under Domestication, das ihren eigenen Interessen, besonders dem Studium der Menschenrassen, am nächsten lag. Literatur Andree, K. 1871: Wie haben die Urmenschen ausgesehen? Globus: Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde 19, 125-127. Backenköhler, D. 2008: Only „Dreams from an Afternoon Nap“? Darwin’s Theory of Evolution and the Foundation of Biological Anthropology in Germany 1860-1875, in: E.-M. Engels u. T.F. Glick (Hg.): The Reception of Charles Darwin in Europe, 98-115 u. 282-289. Continuum, London, New York. Barsanti, G. 1990: Storia naturale delle scimmie. Annali di storia della scienza 5, 2, 99-165. Blumenbach, J.F. 1787: Von den Negern. Eine naturhistorische Bemerkung bay Gelegenheit einer Schweizerreise. Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte 4, 3, 1-12. Blumenbach, J.F. 1798: Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte. Breitkopf und Härtel, Leipzig. Carus, C.G. 1856: Die sogenannten Aztekenkinder. Dresdner Journal: Königlich Sächsischer Staatsanzeiger. Verordnungsblatt der Ministerien und der Ober- und Mittelbehörden 35 und 36 vom 10. und 12.2.1856, 1-2. Chaillu, P.B. du. 1863: Die neuesten Entdeckungsreisen an der Westküste Afrika’s. Otto Spamer, Leipzig. Darwin, Ch. 1859: On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. John Murray, London. Darwin, Ch. 1862: On the Various Contrivances by which British and Foreign Orchids are Fertilised by Insects, and of the Good Effects of Intercrossing. John Murray, London. <?page no="199"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 199 Darwin, Ch. 1860: Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzenreich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn: Nach der zweiten Auflage mit einer geschichtlichen Vorrede und anderen Zusätzen des Verfassers für diese deutsche Auflage aus dem englischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von H.G. Bronn. E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung und Druckerei, Stuttgart. Darwin, Ch. 1868: The Variation of Animals and Plants under Domestication. John Murray, London. Darwin, Ch. 1871a: The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex. John Murray, London. Darwin, Ch. 1871b: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl: Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Zweite nach der letzten Ausgabe des Originals berichtigte Auflage. E. Schweizerbart'sche Verlagshandlung (E. Koch), Stuttgart. Darwin, Ch. 1872: The Expression of Emotions in Man and Animals. John Murray, London. Dawkins, W.B. 1876: Die Höhlen und die Ureinwohner Europas. Aus dem Englischen übertragen von J.W. Spengel. Mit einem Vorwort von O. Fraas. Autorisierte Ausgabe. C.F. Winter’sche Verlagshandlung, Leipzig, Heidelberg. Dougherty, F.W.P. 1985: Johann Friedrich Blumenbach und Samuel Thomas Soemmerring: Eine Auseinandersetzung in anthropologischer Hinsicht? In: G. Mann, F. Dumont (Hg.): Samuel Thomas Soemmerring und die Gelehrten der Goethezeit, 35-56. Soemmerring-Forschungen. Beiträge zur Naturwissenschaft und Medizin der Neuzeit. 1. Gustav Fischer, Stuttgart, New York. Dougherty, F.W.P. 1990: Christoph Meiners und Johann Friedrich Blumenbach im Streit um den Begriff der Anthropologie, in: G. Mann und F. Dumont (Hg.): Die Natur des Menschen, 89-112. Soemmerring-Forschungen. Beiträge zur Naturwissenschaft und Medizin der Neuzeit. 6. Gustav Fischer, Stuttgart, New York. Engels, E.-M. 2000: Darwins Popularität im Deutschland des 19. Jahrhunderts: Die Herausbildung der Biologie als Leitwissenschaft, in: A. Barsch, P. Hejl (Hg.): Menschenbilder, 91-145. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Engels, E.-M. 2008: Darwin’s Philosophical Revolution: Evolutionary Naturalism and the First Reactions to His Theory, in: E.-M. Engels, T.F. Glick (Hg.): The Reception of Charles Darwin in Europe. The Reception of British and Irish Authors in Europe. XVII. Continuum, London, New York. Fitzinger, L.J. 1856a: Der Gorilla des k.k. zoologischen Hofkabinetes, Faust: Polygrafisch illustrierte Zeitschrift für Kunst, Wissenschaft, Industrie und gesellschaftliches Leben 3, 205. Fitzinger, L.J. 1856b: Einladung zur Besichtigung des Gorilla in kaiserlichen zoologischen Hofcabinet. Tageblatt der 32. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Wien, 98-99. Fuhlrott, J.C. 1859: Menschliche Überreste aus einer Felsengrotte des Düsselthals: Ein Beitrag zur Frage über die Existenz fossiler Menschen. Verhandlungen des Naturhistorischen Vereines der Preussischen Rheinlande und Westphalens 16, 131-153, Tafel 1. <?page no="200"?> Dirk Backenköhler 200 Fuhlrott, J.C. 1865: Der fossile Mensch aus dem Neanderthal und sein Verhältnis zum Alter des Menschengeschlechts: Zwei Vorlesungen. W. Falk und Volmer, Duisburg. Grayson, D.K. 1983: The Establishment of Human Antiquity. Academic Press, New York, London, Paris. Görtz, K. 1868: Ueber das Becken eines Buschweibes. Diss., Universität Tübingen. Götte, A. 1867: Ueber das Haar des Buschweibes im Vergleich mit anderen Haarformen. Diss., Universität Tübingen. Haeckel, E. 1863: Über die Entwickelungstheorie Darwin’s: Vortrag auf der ersten allgemeine Versammlung, Sonnabend, den 19. September 1863. Amtlicher Bericht über die 38. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin, 17-30. 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Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, Berlin. Stephens, J.L. 1855: Illustrierte Denkschrift einer wichtigen Expedition in Central=Amerika, aus der die Entdeckung der Götzenstadt Iximaya in einer ganz unbekannten Gegend hervorgeht; und der Besitz von zwei merkwürdigen Azteken-Kindern, Maximo (der Mann) und Bartola (das Weibchen), Abkömm- <?page no="201"?> Auf Spuren zur Abstammung der Menschen 201 linge und Proben der Priesterkaste (jetzt fast erloschen) der alten Aztekischen Gründer der verfallenen Tempel dieses Landes. Übersetzt aus dem Spanischen von Pedro Valesquez. Ernst Kuhn, Berlin. Tort, P. 2001: Darwin and the Science of Evolution. Discoveries, New York. Van Riper, A.B. 1993: Men among the Mammoths. Victorian Science and the Discovery of Human Prehistory. University of Chicago Press, Chicago, London. Vogt, C. 1863: Vorlesungen über den Menschen, seine Stellung in der Schöpfung und in der Geschichte der Erde. J. Ricker, Gießen. Voss, J. 2007: Darwins Bilder. Ansichten der Evolutionstheorie. Fischer, Frankfurt a.M. Waitz, T. 1859: Anthropologie der Naturvölker. Bd. 1: Über die Einheit des Menschengeschlechtes und den Naturzustand des Menschen. Friedrich Fleischer, Leipzig. <?page no="203"?> Darwin, Lucy und das Missing Link Evolutionäre Anthropologie im 21. Jahrhundert Miriam Noël Haidle Zusammenfassung Darwin wagte 1859 die Aussage: „Licht wird auf den Ursprung der Menschheit und ihre Geschichte fallen.“ Er ebnete damit gedanklich den Weg für die Erforschung der Ursprünge und der Evolution der Menschen, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen hatte und bis heute regelmäßig durch neue Erkenntnisse nicht nur die Fachwelt überrascht. Dieser Beitrag bietet einen Überblick über Gedanken Darwins zu verschiedenen Aspekten der Menschwerdung und die Entwicklungen ihrer Erforschung in den letzten 150 Jahren. Fossilbelege von Neandertalern, anderen Homo- Arten, verschiedener Australopithecinen wie „Lucy“ und weiteren Menschenähnlichen ermöglichen heute ein weites Bild der menschlichen Evolution. Sowohl der Ursprung aller Menschenartigen als auch die Wiege der anatomisch modernen Menschen sind in Afrika zu finden. Fossilfunde erlauben Einblicke in viele Bereiche der biologischen Entwicklung der Menschen, u.a. Fortbewegung, Hirngröße, Hirnmorphologie, Lautbildungsfähigkeit, Lautwahrnehmungsfähigkeit. Die Evolution des Geistes hingegen kann aus der Entwicklung des Werkzeugverhaltens erschlossen werden. Archäologische Hinterlassenschaften geben Hinweise auf die Entwicklung der kulturellen Kapazität und des Sozialverhaltens. Das letzte Missing Link jedoch wird, wie bereits von Darwin erläutert, aufgrund der lückenhaften Überlieferung nie gefunden werden können. 1. Einleitung 1726 beschrieb der Züricher Arzt und Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer ein Skelett aus miozänen Schichten des Schiener Bergs bei Öhningen am Bodensee als Überreste eines vorsintflutlichen Menschen (Abb. 1). Zwar wurde die Bestimmung der Knochen von Georges Cuvier 1812 korrigiert und diese als Reste eines Riesensalamanders erkannt, doch schon vor Charles Darwin waren fossile Menschen durchaus denkbar, wenn auch nur im Rahmen und als Beleg der bekannten biblischen Geschichte. Darwin selbst wagte 1859 in den Schlussbemerkungen zu On the Origin of Species by Means of Natural Selection die Aussage: „Licht wird auf den Ursprung der Menschheit <?page no="204"?> Miriam Noël Haidle 204 Abb. 1 Doch kein vorsintflutlicher Mensch: ein Fossil des miozänen Riesensalamanders Andrias scheuchzeri. (Foto: Haplochromis, Wikimedia Commons) und ihre Geschichte fallen“ (Darwin [1859] 2002, 564), allerdings ohne Fossilbelege an der Hand und ohne Details seiner Überlegungen zu nennen. Er ebnete damit aber gedanklich den Weg für die Erforschung der Ursprünge und der Evolution der Menschen, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen hatte und bis heute regelmäßig durch neue Erkenntnisse nicht nur die Fachwelt überrascht (z.B. Berger et al. 2010; Green et al. 2010; Krause et al. 2010). 2. Hominine Fossilien - Menschenartige und doch nicht wie wir Mit der mit Darwins Veröffentlichung fast zeitgleichen Entdeckung von menschlichen Überresten 1856 im Neandertal bei Düsseldorf begann die Erforschung und gezielte Suche nach affenähnlichen Vorfahren der heutigen Menschen (Abb. 2). Bereits in ihren ersten Beschreibungen erkannten Hermann Schaaffhausen (1858) und Johann Carl Fuhlrott (1859) die menschlichen Reste aus der Feldhofer Grotte als urtümliche Menschenform. Ihre Einschätzung war äußerst umstritten: Während Thomas Henry Huxley (1863) die Evolutionstheorie sowie eine evolutionäre Betrachtung der Menschheitsgeschichte unterstützten und den Neandertaler als Beleg dafür sahen, wurde das Fossil von Gegnern wie Rudolf Virchow als krankhaft verändert betrach- <?page no="205"?> Darwin, Lucy und das Missing Link 205 Abb. 2 Die Neandertalerkalotte aus der Feldhofer Grotte. (Nach Fuhlrott 1859, Tafel I) tet oder als „Reste eines Kelten, aufgrund der Schädelform als Schwachsinnigen oder anhand der Biegung der Oberschenkelknochen als Kosaken, der in der Höhle Schutz vor den Truppen Napoleons gesucht hatte“ (Schmitz 2005). 1864 beschrieb William King den Homo neanderthalensis taxonomisch als eigene ausgestorbene Menschenart. Für die Funde aus dem Neandertal zog er sogar die Möglichkeit einer eigenen Gattung zwischen Menschen und Schimpansen in Betracht. In einer Zeit, in der die ersten Fossilfunde ebenso wie die Evolution des Menschen noch Kern heftiger Auseinandersetzungen waren, entwarf Ernst Haeckel im Neunzehnten Vortrag seiner Natürlichen Schöpfungsgeschichte (1868) zum Ursprung und Stammbaum des Menschen bereits eine menschliche Ahnenreihe. Affenmenschen (Pithecanthropi) oder sprachlose Urmenschen (Alali) nahm er als unmittelbare Zwischenform „zwischen den Menschenaffen und den echten Menschen“ an. Den eigentlichen Hauptakt der Menschwerdung sah Haeckel in der Entstehung der gegliederten Wortsprache. Er postulierte Urmenschenformen wie Homo primigenius bzw. Pithecanthropus primigenius und vermutete die menschlichen Ursprünge in Asien. Dies nahm der niederländische Anatom Eugène Dubois zum Anlass, sich als Militärarzt nach Indonesien, damals Holländisch-Ostindien, versetzen zu lassen, um dort die Suche nach den Ursprüngen der Menschheit voranzutreiben. Nach ersten erfolglosen Versuchen auf Sumatra entdeckte er verschiedene menschliche Überreste am Ufer des Solo-Flusses auf Java. Dubois fasste ein <?page no="206"?> Miriam Noël Haidle 206 Abb. 3 Das Lebensbild einer vormenschlichen Kleinfamilie: „Pithecanthropus alalus“ von Gabriel von Max. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Ernst- Haeckel-Hauses Jena. primitives Schädeldach und einen robusten, aber auf den aufrechten Gang hinweisenden Oberschenkelknochen als Überreste einer ausgestorbenen Art menschlicher Vorfahren zusammen. Mit dem Pithecanthropus erectus (heute Homo erectus) meinte Dubois (1894) den Beleg für die asiatischen Ursprünge der Menschheit erbracht zu haben. Dass die Frage nach der Entwicklung des Menschen nicht nur die Kreise weniger Naturforscher anregte, zeigt ein frühes Bildnis eines hypothetischen Urmenschen: Zum 60. Geburtstag von Ernst Haeckel schuf Gabriel von Max 1894 seinen „Pithecanthropus alalus“ mit Kleinfamilie (Abb. 3). 3. Die Wiege der Menschheit in Afrika Anders als Haeckel (1868; 1874) vermutete Charles Darwin die menschlichen Ursprünge nicht in Asien. In The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex schrieb er über die Geburtsstätte und das Alter des Menschen: „In jeder großen Region der Erde sind die dort lebenden Säugetiere nahe mit den ausgestorbenen Arten derselben Region verwandt. Es ist daher wahrscheinlich, dass Afrika früher von jetzt ausgestorbenen Affen bewohnt wurde, welche dem Gorilla und dem Schimpansen nahe verwandt waren; und da diese beiden Species jetzt die nächsten Verwandten des Menschen sind, so ist es noch etwas wahrscheinlicher, dass unsere frühen Urerzeuger auf dem afrikanischen <?page no="207"?> Darwin, Lucy und das Missing Link 207 Abb. 4 Das Australopithecus africanus- Kind von Taung. (Foto von Abguss: Guérin Nicolas, Wikimedia Commons) Festlande lebten.“ (Darwin [1871] 2005, 173). Es war Zufall, dass der junge Arzt und Anatom Raymond Dart kurz nach seiner Berufung an die Medical School der südafrikanischen University of the Witwatersrand ein in einem Steinbruch in der Nähe von Taung gefundenes Fossil untersuchen konnte. Es war kein Zufall, dass Dart die Möglichkeit eines Zwischengliedes zwischen affenähnlichen Vorfahren und Menschen annahm und aufgrund seiner anatomischen Kenntnisse Elemente beider Gruppen am Fossil belegen konnte. Dart (1925) bezog sich in der Erstpublikation des Kindes von Taung (Abb. 4) als Australopithecus africanus ausdrücklich und mehrfach auf Darwins Vorhersage einer afrikanischen Wiege der Menschheit. Doch die meisten Fachkollegen blieben skeptisch und sahen in dem kleinen Fossil bestenfalls einen Menschenaffenverwandten. Europa mit zahlreichen Neandertalerfunden und dem gefälschten Fossil von Piltdown schien leichter als Geburtsstätte des Menschseins zu akzeptieren zu sein. In den folgenden Jahrzehnten mehrten sich aber die Funde aus Süd- und Ostafrika. Sie zeigten eine so große Vielfalt der Formen und zum Teil ein so hohes geologisches Alter, dass an einem Ursprung der menschlichen Vorfahren in Afrika kein Zweifel mehr bestehen konnte. Ein Wegbegleiter Darts, Robert Broom, entdeckte in den 1930er Jahren in Sterkfontein weitere Individuen, die Australopithecus africanus zugeschrieben werden konnten. Anhand von Fossilien mit sehr kräftigen Gebissen wurden von Broom (1938) in Süd- <?page no="208"?> Miriam Noël Haidle 208 afrika und u.a. von Louis Leakey (1959) in Ostafrika verschiedene Arten der Paranthropus-Gruppe definiert. Die Funde sehr alter und primitiver Steinwerkzeuge z.B. durch Mary Leakey in der tansanischen Olduvai-Schlucht beförderte auch die Suche nach den Herstellern dieser Geräte. Als Anfang der 1960er Jahre in Olduvai ein graziles Schädeldach, ein Unterkiefer mit kleinen Zähnen und einige sehr menschlich wirkende Handknochen entdeckt wurden (Leakey et al. 1964), wurde den robusten Australopithecinen/ Paranthropinen die Krone der Steingeräteherstellung genommen. Im Vergleich zu ihnen benötigte der neue und an Körperkräften schwache Mensch Homo habilis diese Form der Anpassung offensichtlich, und bald schien sie ein typisches Merkmal der Gattung Homo, der echten Menschen, zu sein. In den 1970er Jahren wurde die Suche nach früheren Vorfahren vorangetrieben. Zwar wurden bereits in den 1930er Jahren erste Zahnfunde in Ostafrika von Louis Leakey in Laetoli und dem Ehepaar Kohl-Larsen in Garusi gemacht, doch ihre Bedeutung als Belege von Australopithecus afarensis wurde erst nach Entdeckung der berühmten Lucy (Johanson et al. 1982) erkannt. Das zu weiten Teilen erhaltene Skelett einer kleinen, ca. 3,2 Millionen Jahre alten Frau revolutionierte die Vorstellungen von der Entwicklung des aufrechten Ganges. Die etwas älteren, in feuchte Vulkanasche eingedrückten Fußspuren von Laetoli (Leakey u. Hay 1979) machten die frühe Bewältigung dieser Fortbewegungsart für jedermann sichtbar (Abb. 5). Wie früh und wie gut unsere Vorfahren aufrecht gingen, steht auch Anfang des 21. Jahrhunderts im Mittelpunkt heftiger Debatten (Raichlen et al. 2010). Sowohl für Sahelanthropus tchadensis (Zollikofer et al. 2005) als auch für Orrorin tugenensis (Pickford et al. 2002) wird der aufrechte Gang postuliert. In welcher Form die 6-7 Millionen Jahre alten Arten und der 4-5 Millionen Jahre alte Ardipithecus ramidus (White et al. 2009) dies taten, und wie genau diese Formen mit den späteren Australopithecinen verwandt sind, ist offen. Für Australopithecus afarensis steht die typisch menschliche Fortbewegungsweise seit dem Neufund des Teilskeletts eines großgewachsenen Mannes (Haile- Selassie et al. 2010) immerhin fest. Unumstritten ist inzwischen, dass die erste Wiege der Menschheit in Afrika war. 1 Es gibt keine vergleichbar alten Funde menschlicher Vorfahren aus 1 Als ich meinen Vortrag hielt und diesen Text verfasste, war Darwins Annahme noch die gängige Auffassung, die sich durchgesetzt hatte. Sie ist inzwischen jedoch durch Fossilienfunde in Libyen relativiert worden. Ein internationales Forscherteam berichtete am 28. Oktober 2010 in der Zeitschrift Nature (Jaeger et al. 2010), dass die gemeinsamen Vorläufer von Menschen, Menschenaffen und anderen höheren Primaten vermutlich aus Asien stammen und nach Afrika einwanderten, bevor sich die unmittelbaren Vorfahren des Menschen entwickelten. Die Paläoanthropologie betrachtet hinsichtlich des Ursprungs der Menschenähnlichen (Homininen) in der Regel die Zeit des letzten gemeinsamen Vorfahren mit unseren nächsten noch lebenden Verwandten vor 5-7 Mio. Jahren. Die Entstehung der ‚echten‘ Menschen, der Gattung Homo, wird vor ca. 2,5 Millionen Jahren ange- <?page no="209"?> Darwin, Lucy und das Missing Link 209 anderen Erdteilen. Die frühesten Fossil- und Artefaktfunde außerhalb Afrikas z.B. in Dmanisi in Georgien (de Lumley et al. 2002) oder auf Java (Sémah et al. 2000) in Südostasien deuten auf eine erste Ausbreitung der Menschen nach Eurasien vor ca. 1,8 Millionen Jahren hin. Europa erreichten die ersten Menschen spätestens vor 1,3 Millionen Jahren, wie in den letzten Jahren gemachte Funde von Fossilien und Steingeräten belegen (Carbonnell et al. 2008). Unumstritten ist heute auch, dass die Anfänge des heutigen anatomisch modernen Menschen ebenfalls in Afrika zu finden sind. Sowohl Fossilfunde als auch genetische Spuren belegen, dass der Homo sapiens in den letzten 100.000 Jahren von Afrika ausgehend die gesamte Welt besiedelte. Andere noch existierende Menschenarten wie der Neandertaler wurden verdrängt; allerdings zeigen paläogenetische Untersuchungen, dass es gelegentlich zu Vermischungen der Ureinwohner mit den Einwanderern kam (Green et al. 2010). Zwischen den beiden augenfälligsten Ausbreitungen der Menschheit vor 1,8 Millionen und vor 100.000 Jahren gab es verschiedene größere und kleinere Ausbreitungsphasen, die weniger gut erforscht sind. Nach der ersten Besiedlung Eurasiens bildeten sich auch dort Menschenarten heraus, die ihren Lebensraum bei günstigen Bedingungen erweiterten. Die Neandertaler sind solch eine außerafrikanische Entwicklung, die ihr Ursprungsgebiet in Europa in ihrer Blütezeit bis nach Zentralasien an die Grenzen des heutigen China ausweiteten (Serangeli u. Bolus 2009) (Abb. 5). Wie vage - trotz aller schon gemachten Funde - unser Wissen über die Entwicklungslinien der Gattung Homo, die Ausbreitungen verschiedener Arten und die Ausbreitungsmechanismen noch ist, zeigen rätselhafte Funde der letzten Jahre wie des zwergenhaften Homo floresiensis aus Indonesien (Brown et al. 2004) oder die aus einem Fingerknochen gewonnene DNA-Spur einer möglicherweise neuen Menschenart parallel zu Neandertalern und modernen Menschen (Krause et al. 2010). setzt. Und die Entstehung des anatomisch modernen Menschen Homo sapiens liegt ca. 200.000 Jahre zurück. Aus der Perspektive der Menschenähnlichen, der Gattung Homo und der anatomisch modernen Menschen liegt die Wiege nach unserem heutigen Wissen weiterhin in Afrika. Insofern ist Darwins Auffassung immer noch gültig. <?page no="210"?> Miriam Noël Haidle 210 Abb. 5 In der letzten Eiszeit breiteten sich Neandertaler bis an die Grenze Chinas aus. (Grafik: ROCEEH) klassische Neandertaler frühe Neandertaler Präneandertaler 4. Auch der Mensch entwickelt sich Für Charles Darwin war klar, dass auch der Mensch wie jedes andere Lebewesen den natürlichen Mechanismen der Evolution unterworfen ist. In seinem zweiten Hauptwerk The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex von 1871 beschrieb er im Kapitel „Über die Art der Entwicklung des Menschen aus einer niederen Form“ Veränderungen des Körperbaus. Er verglich die „Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Tiere“ und betrachtete dabei sowohl den Werkzeuggebrauch als auch das Sozialverhalten. In einem <?page no="211"?> Darwin, Lucy und das Missing Link 211 Abschnitt „Über die Entwicklung der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten während der Urzeit und der zivilisierten Zeiten“ verfolgte er die Herausbildung des Menschen als Kulturwesen 2 . Welche Veränderungen die biologische Evolution der Homininen besonders prägten, konnte im Laufe der letzten 150 Jahre anhand der zunehmenden Zahl an fossilen Belegen immer besser verstanden werden (McHenry u. Coffing 2000). Seit mindestens vier, möglicherweise seit mehr als sechs Millionen Jahren gehen Menschenartige auf zwei Beinen. Der typische aufrechte Gang ermöglichte durch die effizientere und schnellere Bewältigung längerer Strecken die Erschließung neuer Lebensräume mit geringerer oder sehr ungleichmäßig verteilter Nahrungsbzw. Kaloriendichte. Die durch die zweibeinige Fortbewegungsweise frei gewordenen Hände mussten nicht mehr besondere Anpassungen an das Baumleben zeigen. Die Finger wurden kürzer, die Daumen wurden länger und konnten den Fingern vollständig gegenübergestellt werden. Durch kraftvolle und präzise Griffe konnten dadurch Gegenstände in vielfältiger Weise gebraucht und manipuliert, aber auch einfach getragen werden. Das Gehirn nahm stark an Größe zu, sowohl absolut als auch relativ zur Körpergröße. Während Australopithecinen und Paranthropinen wie die heutigen Menschenaffen und die frühesten Vertreter der Gattung Homo nur ein Hirnvolumen von 400-500 cm3 besaßen, entwickelte sich das Gehirn ab ca. 2 Millionen Jahren vor heute in mehreren Schüben bis zu einer Größe von durchschnittlich 1350 cm3 beim modernen Menschen (Abb. 6). Nicht alle Abb. 6 Das Hirnvolumen verschiedener Menschenaffen, fossiler Australopithecinen- und Menschenformen im Vergleich. (Grafik: M.N. Haidle) 2 Siehe hierzu den Beitrag von Eve-Marie Engels in diesem Band. <?page no="212"?> Miriam Noël Haidle 212 Teile des Gehirns wuchsen gleichermaßen; der große Anteil der Großhirnrinde mit starker Furchung ist typisch für den heutigen Menschen. Der Entwicklung von Stirnlappen und Scheitellappen kommt eine besondere Bedeutung im Laufe der menschlichen Evolution zu (Bruner 2010). Im Bereich der für die Bildung und das Verständnis von Sprache wichtigen Hirnareale der Broca- und Wernicke-Regionen können schon bei Homo habilis verstärkte Vorwölbungen festgestellt werden. Allerdings können nur Untersuchungen an Schädelausgüssen gemacht werden, die lediglich die äußere Form des Gehirns grob abbilden. Gehirne selbst sind nicht erhalten, und damit fehlen auch die Details zur Rekonstruktion ihrer Strukturentwicklung. Andere Aspekte, die zur Sprachfähigkeit des Menschen beitragen, können aus Funden weiterer Skelettteile abgeleitet werden. Die Entwicklung der Lautbildungsfähigkeit lässt sich aus Teilen des Rachenraums erschließen. Bereits vor 300.000-600.000 Jahren besaßen die Menschen der Art Homo heidelbergensis aus der nordspanischen Höhlenfundstelle Sima de los Huesos ein Zungenbein mit modernen menschlichen Proportionen und einen vergleichbar großen Rachenraum (Martinez et al. 2008). Diese Funde können zwar nicht belegen, dass Homo heidelbergensis sprachähnliche Laute tatsächlich gebildet hat, aber anatomisch sprach zumindest nichts dagegen. Dasselbe gilt für die Entwicklung der Lautwahrnehmungsfähigkeit. Wiederum an Funden aus der Sima de los Huesos wurde die Hörfähigkeit von Homo heidelbergensis modelliert. Die erhaltenen Teile von Außen- und Mittelohr erlaubten eine ähnliche Sensibilität in den für Sprache besonders relevanten Bereichen von 2 bis 5 kHz wie bei modernen Menschen (Martinez et al. 2004). Ob diese Ohren tatsächlich Sprache gehört haben, muss offen bleiben, aber die anatomische Möglichkeit bestand, um unseren heutigen Lautbereich wahrnehmen zu können. Der rasanten Entwicklung genetischer Sequenzierungstechniken im letzten Jahrzehnt verdanken wir neue Ansätze zur Untersuchung der Herausbildung des typisch Menschlichen. Es konnten nicht nur Gene identifiziert werden, die wie Microcephalin an der Hirngrößenregulierung (Evans et al. 2006) oder wie HAR1 an der Entwicklung der Hirnrinde (Pollard et al. 2006) beteiligt sind. Die Aktivitätsrate der Gene in unterschiedlichen Geweben unterliegt Selektionsmechanismen (Gilad et al. 2006), im menschlichen Gehirn ist die Genaktivitätsrate gegenüber Schimpansen deutlich gesteigert (Enard et al. 2002). Das bei seiner Entdeckung viel gepriesene Sprachgen FOXP2 (Enard et al. 2002) wurde hingegen entzaubert. Anfänglich wurde vermutet, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen ausgestorbenen Menschenarten und anatomisch modernen Menschen darstellen könnte. Doch auch Neandertaler besaßen die moderne Genvariante (Krause et al. 2007). Wie ähnlich die Neandertalerkommunikation unseren heutigen Sprachen kam, lässt sich nicht ergründen. Aber FOXP2 ist sicher nicht die Ursache für den Siegeszug des Homo sapiens über die gesamte Welt. Die Genetik hilft auch, bislang voll- <?page no="213"?> Darwin, Lucy und das Missing Link 213 kommen unlösbare Fragen zu beantworten. Der Nachweis eines die Pigmentation regulierenden Gens bei Neandertalern belegt, dass diese zumindest zum Teil eine helle Hautfarbe und blonde bis rötliche Haare besaßen (Lalueza-Fox et al. 2007). Und die Evolution geht auch nach dem Erscheinen der anatomisch modernen Menschen und trotz (oder auch wegen) der vielfältigen kulturellen Anpassungen weiter. Die Fähigkeit z.B., den Milchzucker Laktose auch im Erwachsenenalter verdauen zu können, ist in den letzten 20.000 Jahren in der europäischen Bevölkerung stark angestiegen (Burger et al. 2007). Einen anderen Hinweis auf einen Fortgang der biologischen Evolution liefern unterschiedliche Anpassungen der Bewohner des äthiopischen Hochlandes, Tibets und der Anden an die Lebensräume mit reduziertem Sauerstoffgehalt der Atemluft (Beall 2006). 5. Die Evolution des Geistes Darwin sah auch die geistigen Fähigkeiten des Menschen nicht von der Evolution ausgenommen: „Die Psychologie wird sich mit Sicherheit auf den von Herbert Spencer bereits wohlbegründeten Satz stützen, dass nothwendig jedes Vermögen und jede Fähigkeit des Geistes nur stufenweise erworben werden kann.“ (Darwin [1859] 2002, 564). Darwin war bewusst, dass Schwarz-Weiß- Malereien nicht helfen, das Wesen und die geistige Entwicklung der Gattung Homo zu beleuchten, und die Nutzung von Werkzeugen ist dafür ein gutes, weil auch in seiner Entwicklung im Laufe der menschlichen Evolution verfolgbares Beispiel. Was sich landläufig erst nach den 1960er Jahren und den ersten bahnbrechenden Publikationen von Jane Goodall zum Verhalten von Schimpansen durchsetzte, nahm Darwin ein Jahrhundert vorweg: Werkzeuggebrauch per se ist nichts typisch Menschliches. „Es ist oft gesagt worden, dass kein Thier irgend ein Werkzeug gebrauche. Der Schimpanse knackt aber im Naturzustande eine wilde Frucht, ungefähr einer Walnuß ähnlich, mit einem Steine.“ (Darwin [1871] 2005, 89). Die Nutzung von Werkzeugen teilen Menschen mit etlichen Säugern und Vögeln, aber auch Weichtieren und Insekten. Auch die Herstellung von Werkzeugen oder der Gebrauch von Stein als Rohmaterial ist keine Eigentümlichkeit der Menschen. Und nicht nur der Mensch ist in seinem Verhalten flexibel genug, bei neuen Problemstellungen passende Lösungen zu erfinden. Neukaledonische Krähen zeigten sich z.B. in der Lage, nicht nur Haken aus Draht - einem ihnen unbekannten Rohmaterial - zu nutzen, um Futter zu angeln, sondern diese Haken bei Bedarf auch herzustellen (Weir et al. 2002). Von Schimpansen kennt man heute an die hundert verschiedene Werkzeugverhaltensformen aus mindestens zwölf unterschiedlichen Kontexten, wobei die Ernährung überwiegt. Mithilfe verschiedener Modifikationen werden unterschiedliche Werkzeugtypen hergestellt; mindestens 17 Rohmaterialien sind belegt (Stolarczyk 2009). Schimpansen nutzen Werkzeugsets (Sanz et <?page no="214"?> Miriam Noël Haidle 214 al. 2004), jagen mit Werkzeugen (Pruetz u. Bertolani 2007) und graben mit Werkzeugen Wurzeln und Knollen aus (Hernandez-Aguilar et al. 2007). Zwar unterscheiden sich die Welten von Schimpansen und modernen Menschen deutlich voneinander, doch die Übergänge zwischen Werkzeugverhalten heutiger Tiere und des modernen Menschen sind fließend. Die Unterschiede im Detail werden erst auf den zweiten Blick sichtbar. Ein Prozess, der die gesamte kognitive Entwicklung der Menschen begleitet und an den materiellen Hinterlassenschaften ablesbar ist, ist die Erweiterung der Problem-Lösung- Distanz. Ein Reh, das Knospen knabbert, befriedigt sein Bedürfnis nach Nahrung direkt. Jeder Gebrauch von Werkzeug aber bedarf eines Umwegs. Um eine Nuss mit einem Stein zu knacken, muss das eigentliche Ziel - der Verzehr der Nuss - kurzzeitig hintenangestellt werden, um ein Zwischenziel - ein passendes Werkzeug - zu finden, um die Nuss zu knacken und das eigentliche Ziel zu erreichen (Abb. 7). Das modern bekannte tierische Werkzeugverhalten zeigt viele Formen solcher Umwege, doch die Distanz zwischen Problem und Lösung scheint nach heutigem Wissensstand auf die direkte Herstellung und den Gebrauch eines oder mehrerer Werkzeuge nacheinander beschränkt zu sein. Was bisher bei wilden Tieren noch nicht beobachtet wurde, aber bereits den frühen menschlichen Steinwerkzeugen vor 2,5 Millionen Jahren zugrunde liegt, ist der Gebrauch eines Werkzeugs, um ein anderes herzustellen: hier ein Stein, Abb. 7 Über den Umweg Werkzeug zum Ziel Nahrung: Ein Bonobo beim Termitenangeln im Zoo von San Diego. (Foto: Mike R., Wikimedia Commons) <?page no="215"?> Darwin, Lucy und das Missing Link 215 um von einem anderen Stein einen scharfkantigen Abschlag abzutrennen. Möglicherweise waren aber auch schon Australopithecinen in der Lage, Steinwerkzeuge mit Werkzeugen herzustellen (McPherron et al. 2010). Im Laufe der menschlichen Entwicklung nahm das Vermögen, in Umwegen zu denken, zu, so dass die Werkzeuge immer komplexer, langwieriger in der Herstellung, aber auch flexibler werden konnten und nicht mehr auf ein bestimmtes Ziel gerichtet werden mussten. Spätestens ab 300.000 Jahre vor heute wurde die Werkzeugherstellung von der Befriedigung konkreter Bedürfnisse entkoppelt (Haidle 2010). Dadurch wurde die Modularisierung des Werkzeuggebrauchs möglich: Ein Gerät wurde nicht zu einem bestimmten Zweck gesucht oder hergestellt, sondern konnte wie in einem Werkzeugkasten vorrätig gehalten und je nach Bedarf in unterschiedlicher Weise eingesetzt werden. Die Möglichkeiten in der Herstellung und dem Gebrauch von Werkzeugen steigerten sich dadurch enorm. Komplizierte und mehrere Tage in Anspruch nehmende Herstellungsprozesse wie für die Anfertigung von Wurfspeeren wurden eingeführt. Kompositgeräte wie geschäftete Steingeräte wurden aus mehreren Elementen verschiedener Rohmaterialien zusammengesetzt. Komplementäre Werkzeugsets wie Nadel und Faden mit Elementen, die die Funktion kontrollieren (Nadel), und Verbrauchselementen, die nach Bedarf ausgetauscht werden können (Faden), eröffneten eine bis dahin unbekannte Flexibilität. Die Entwicklung des Geistes einer Art ist ein Produkt aus drei Faktorengruppen (Abb. 8). Die Grundlage bilden die biologischen Eigenschaften und ihre Abb. 8 Der Geist als Produkt verschiedener biologischer, sozialer und individueller Faktoren und in Wechselwirkung mit der artspezifischen Umwelt. (Grafik: M.N. Haidle) <?page no="216"?> Miriam Noël Haidle 216 Entwicklungen, wobei nicht nur das Gehirn und das neuronale Netzwerk ausschlaggebend sind, sondern auch die zur Interaktion mit der Umwelt befähigenden Sinnesorgane und „Handlungsapparate“ wie Gliedmaßen und Kommunikationsorgane sowie die biologische Basis der Sozialstruktur einer Art. Eine zweite Achse bilden die ontogenetischen Faktoren, die die Entwicklung eines Organismus im Laufe seines Lebens prägen. Hierzu gehören die Begegnung mit einer individuellen sozialen und natürlichen Umwelt, positive und negative Erfahrungen, die Chronologie individueller Lernprozesse sowie körperliche bzw. epigenetische und psychische Reaktionen darauf. Die dritte und im Laufe der menschlichen Evolution zunehmend wichtige Achse wird durch die historisch-kulturellen Faktoren bestimmt (Haidle 2008). 6. Kultur - kein Gegensatz zu Evolution Darwin sah das Wirken von Kultur, die Weitergabe erworbenen Wissens, eng verknüpft mit Sprache: „Daß [der Mensch] einer unvergleichlich größeren und schnelleren Veredelung als irgend ein anderes Thier fähig ist, läßt sich nicht bestreiten; dies ist wesentlich eine Folge seines Vermögens zu sprechen und eine erworbene Kenntnis zu überliefern.“ (Darwin [1871] 2005, 87). Inwieweit die Evolutionstheorie direkt auf die Kulturgenese übertragen werden kann, ist immer noch sehr umstritten. Richard Dawkins‘ (1976) Modell der „Meme“ als kulturelles Analogon der Gene stellt einen extremen Standpunkt dar. Ideen bzw. Meme sieht er als konzeptuelle Informationseinheiten, die sich - vergleichbar der genetischen Mutation - individuell entwickeln können. Meme werden reproduziert durch Kommunikation und unterliegen dabei Filterprozessen, die der genetischen Selektion und Drift entsprechen. Handelt es sich bei Dawkins‘ Modell um eine tatsächliche Parallelität oder um eine bloße Metapher? Während die Biologie die Evolutionstheorie unter Einbeziehung der Erkenntnisse aus ihren unterschiedlichen Teilbereichen fortlaufend weiterentwickelt, fehlt es in vielen Teilen der Kultur- und Sozialwissenschaften noch oft an der evolutionären Perspektive. Um die Entwicklung des gleichermaßen biologischen und kulturellen Wesens Mensch aber zu verstehen, muss auch die Natur der Kultur und ihre Herausbildung als Prozess entschlüsselt werden (Mesoudi et al. 2006). Kulturelle Faktoren spielen nicht nur bei Menschen eine Rolle. So können Bienen z.B. im Schwänzeltanz Informationen zu Futterquellen sozial übertragen. Werden durch wiederholtes soziales Lernen übertragene Verhaltensmuster zu dauerhaften Eigenheiten einer ganzen Population, spricht man von Traditionen. Ein typisches Beispiel dafür ist der berühmte Fall des Kartoffelwaschens einer Gruppe von Japanmakaken auf der Insel Koshima, doch konnten Traditionen auch bei Fischen und zahlreichen Vogel- und Säugetierarten beobachtet werden (Galef 2004). Eine Kultur im eigentlichen Sinne besteht aus einer Anzahl von Traditionen, die sich zwischen geographischen <?page no="217"?> Darwin, Lucy und das Missing Link 217 Gruppen unterscheiden. Bedingung ist auch, dass die Unterschiede im Verhalten nicht rein durch Umwelteinflüsse wie dem Vorhandensein einer bestimmten Futterquelle hervorgerufen werden. Diese Voraussetzungen erfüllen Schimpansen (Whiten et al. 1999) und Orang-Utans (van Schaik et al. 2003); sie können auch für frühe Homo-Arten und möglicherweise für einige Australopithecinen angenommen werden. Zwar wird vom Verhalten anderer Individuen gelernt, doch bleibt der Impuls individuell beim Lernenden. Was von anderen gelernt wird, ist in der Regel ergebnisorientiert, der genaue Ablauf der Handlungen ist meist zweitrangig. Diese Art der Kultur bleibt auf eine begrenzte Zahl einzelner Verhaltensmuster beschränkt. Eine Erweiterung stellt die kumulative Kultur dar, bei der Veränderungen aufeinander aufbauen und sich im Laufe der Zeit anreichern. Sie ist eng mit besonderen sozialen Lernformen, der prozessorientierten Imitation und dem aktiven Lehren, die beide ein Verständnis des anderen als intentional Handelndem voraussetzen, verknüpft. Die besonderen Formen menschlicher Kooperation und die soziale Motivation zu gruppenkonformem Verhalten fördern die Akkumulation kulturellen Verhaltens (Tennie et al. 2009). Wie mit einem Wagenheber muss nicht jedes Problem wieder von Grund auf angepackt werden, sondern in der Gruppe bereits erreichte, aber nicht vollständig passende Lösungen können ausgebaut oder verändert werden. Archäologisch kann die typische Prozessorientierung bei Homo heidelbergensis in der Entkopplung der Werkzeugherstellung von der Befriedigung konkreter Bedürfnisse und der Modularisierung des Werkzeuggebrauchs gefasst werden (s.o.). Mit ihr kommt es zu einer beschleunigten Akkumulation von Lösungsansätzen, die sich in der rasch wachsenden Diversifizierung der materiellen Hinterlassenschaften niederschlägt. Die Entwicklung und Verbreitung ganz neuer und vielstufiger Herstellungs- und Gebrauchstechniken ist auf ausschließlich individueller Ebene ohne eine enge Kooperation in der Gruppe und den Wagenhebereffekt nicht vorstellbar. Typisch für heutige Menschen ist der Besitz einer kulturellen Identität. Auch Schimpansen nehmen leichter Innovationen auf, die sie bei bekannten Tieren beobachten, und es herrscht eine gewisse Gruppenkonformität (Whiten et al. 2005). Prinzipiell jedoch bleibt ihr Verhalten wie auch ihr Lernen zwar an der sozialen Umwelt orientiert, aber individuell geprägt. Menschen folgen einer deutlich stärkeren Gruppenkonformität im Verhalten; oft werden kulturelle Elemente kopiert, ohne den ursprünglichen Sinn hinter dem Tun zu verstehen, „man macht es eben so“. Jenseits der Akkumulation von Kultur entwickelten sich daraus kulturelle Identitäten, die nicht nur ein Nebenprodukt von Verhaltensunterschieden in Gruppen waren. Die kulturelle Unterscheidbarkeit wurde zu einem Ziel an sich; um es zu erreichen, wurden eigens Werkzeuge hergestellt und gebraucht bzw. mit einer zweiten Funktion versehen. Dieser Entwicklungsschritt ist in den archäologischen Quellen schwer zu fassen. Ab wann ist der in der Gruppe beliebte Muschelschmuck nicht nur <?page no="218"?> Miriam Noël Haidle 218 Abb. 9 Eine durchlochte Hirschgrandel aus der späteiszeitlichen Fundstelle La Madeleine, Frankreich: ein identitätsstiftendes Schmuckstück? (Foto: Didier Descouens, Wikimedia Commons) einfach schön, sondern wird bewusst als Symbol der Gruppenidentifikation eingesetzt (Abb. 9)? Versuche, kulturelle Identitäten in der Altsteinzeit zu identifizieren, reichen immerhin schon in eine Vergangenheit von 35.000 Jahren (Vanhaeren u. d’Errico 2006). Symbolische Artefakte, deren Hauptzweck oder Nebenaufgabe die Vermittlung einer Information darstellen, sind zur Etablierung kultureller Identitäten wichtig. Nicht alle symbolischen Artefakte müssen identitätsstiftend gewirkt haben, und auch Artefakte, deren Symbolgehalt nicht offensichtlich ist, können eine Identitätsinformation übermittelt haben. Spezielle Kommunikationswerkzeuge wie Schmuck und künstlerische Objekte jedoch stehen der Entwicklung kultureller Identitäten sehr nahe. Um ihre ganze Wirkung zu entfalten, benötigen sie nicht nur Herstellende / Tragende / Nutzende, sondern auch Personen, die in der Lage sind die jeweilige Botschaft zu empfangen und zu entschlüsseln. Je komplexer oder verschlüsselter die Botschaft ist, umso mehr müssen auch die Details des Codes bekannt ein, um sie zu verstehen. Es bilden sich Gruppen von Eingeweihten und Außenstehenden. Untrennbar mit der Entwicklung der Kultur verknüpft ist die soziale Evolution der Gattung Homo. Darwin spricht vom Menschen als sozialem Tier: „Einige Schriftsteller vermuten, daß der Mensch im Urzustande in einzelnen Familien lebte; wenn aber auch heutigen Tages einzelne Familien oder nur zwei oder drei die einsamen Gefilde irgend eines wilden Landes durchziehen, so stehen sie doch immer, soweit ich es nur ermitteln konnte, mit anderen, denselben Bezirk bewohnenden Familien in freundschaftlichem Verkehr.“ (Darwin, [1871] 2005, 119). Wie bei der Entwicklung von Kognition und Kultur sind auch bei der sozialen Evolution des Menschen sowohl biologische als auch kulturell-historische Faktoren ursächlich und in der Folge beteiligt. <?page no="219"?> Darwin, Lucy und das Missing Link 219 Die am Stammbaum der Menschen nachvollziehbare Verlängerung von Kindheit und Jugend bedingt, dass der Nachwuchs zwar länger unselbstständig bleibt. Es verlängert sich aber die Phase der besonderen Lernfähigkeit und mit ihr die Möglichkeit der Erweiterung des kulturellen Lernens (Nowell 2010). Welches Gewicht die Ausweitung der nachfruchtbaren Phase vor allem bei Frauen in der Vergangenheit tatsächlich hatte, ist umstritten. Der evolutionäre Vorteil liegt in der Betreuung von Kindern durch andere Personen als die Eltern, z.B. eben Großmütter, und als Folge daraus in einer kürzeren Stillzeit und geringeren Geburtenabständen (Kachel et al. 2010). Gleichzeitig verlängerte sich dabei die Vorbildbzw. aktive Lehrphase, so dass die Möglichkeiten zur kulturellen Weitergabe von Wissen und Fähigkeiten ausgeweitet wurden. Eine Veränderung des Geschlechterverhältnisses lässt sich in den frühen Phasen der Menschwerdung anhand fossiler Reste gut belegen. Bei der Gattung Homo sind die Körpergrößenunterschiede zwischen Männern und Frauen im Vergleich zu anderen Menschenaffen und Homininen deutlich verringert, die in der Konkurrenz der Männer wichtigen imposanten Eckzähne ragen kaum mehr über die Zahnreihe heraus und entsprechen im Größenverhältnis denen der Frauen (Plavcan 2001). Wie sich im späteren Verlauf der Entwicklung die Macht- und Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern wandelt, ist für die Altsteinzeit nur schwer festzustellen. Es kann aber davon ausgegangen werden, dass auch diese stark kulturell geprägt waren. 7. ... und das Missing Link? Auch nach ca. 150 Jahren Forschung zur menschlichen Evolution bleiben immer noch viele Fragen offen. Zum Teil klaffen große Lücken zwischen dokumentierten Entwicklungsstadien. Dieser Umstand ist kein Beleg wider die Evolutionstheorie und ihre Anwendbarkeit auch auf den Menschen. Vielmehr gilt nach wie vor Darwins Aussage: „Woher kommt es dann, dass nicht jede geologische Formation und jede Gesteinsschicht voll von solchen Zwischenformen ist? [...] Die Erklärung liegt [...], wie ich glaube, in der äussersten Unvollständigkeit der geologischen Urkunden.“ (Darwin [1859] 2002, 357-358). Archäologische und paläoanthropologische Quellen sind erhaltungs- und entdeckungsbedingt lückenhaft. Zuerst bedarf es besonders guter Bedingungen bei der Einbettung, Fossilisierung und Überdauerung im Boden. Dann muss dieser geringe erhaltene Anteil der ursprünglichen Artefakte und Fossilien soweit aufgeschlossen werden, dass sie entdeckt und geborgen werden können. Je kundiger die Person ist, der die weiter reduzierten Funde letztlich auffallen, desto mehr begleitende Informationen können dazu gesammelt werden. Und schließlich kommt es noch darauf an, welches Wissen der Person zur Verfügung steht, die die Funde interpretiert. Auf andere Art eingeschränkt ist die Datenbasis der Verhaltensforschung. Auch nach 50 Jahren intensiver Beobachtung freilebender Schimpansen - und Schimpansen <?page no="220"?> Miriam Noël Haidle 220 gehören zu den bestbeobachteten Tieren überhaupt - treten immer noch grundlegende Erkenntnisse zu Tage. Die Beobachtungen werden z.B. durch limitierte Beobachtungszeiten, Verhalten außerhalb überschaubarer Bereiche oder bestimmte Beobachtungsschwerpunkte begrenzt, wobei andere daneben auftretende Verhaltensweisen undokumentiert bleiben. Mindestens 90% der Puzzleteile zur Evolution der Menschen und ihres Verhaltens fehlen, wobei oft zur Beurteilung des Gesamtbildes noch erschwerend hinzukommt, dass die genaue Position eines Puzzleteils unbekannt ist. Dies bereitet Probleme bereits bei der Beschreibung von Zuständen in einzelnen Stadien, viel mehr noch behindert es die Beschreibung von Entwicklungsprozessen. Es besteht die Gefahr, mit der Entdeckung von Meilensteinen der Entwicklung zufrieden zu sein, insbesondere, da diese im Gegensatz zu komplizierten und nur unvollständig bekannten Prozessen auch noch leichter zu vermitteln sind. Ist der Mensch einzigartig? „So groß nun auch nichtsdestoweniger die Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Thieren sein mag, so ist sie doch sicher nur eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art.“ (Darwin [1871] 2005, 139). Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird über diesen Satz Darwins heftig debattiert. Die Evolutionäre Anthropologie konnte in den letzten 150 Jahren zeigen, dass die Evolutionstheorie direkt oder im übertragenen Sinne auf das biologische, ökologische, soziale, kognitive und kulturelle Wesen „Mensch“ anwendbar ist. Ohne Zwischenschritte, Entwicklungsprozesse und Selektionsmechanismen ist keines seiner typischen Merkmale erklärbar. Der Mensch ist in der Gesamtheit seiner Eigenschaften einzigartig, doch er ist nicht willkürlich oder beliebig. Literatur Beall, C.M. 2006: Andean, Tibetan and Ethiopian patterns of adaptation to highaltitude hypoxia. Integrative and Comparative Biology 46/ 1, 18-24. Berger, L.R., de Ruiter, D.J., Churchill, S.E., Schmid, P., Carlson, K.J., Dirks, P.H. G.M. u. Kibii, J.M. 2010: Australopithecus sediba: A new species of Homo-like australopith from South Africa. Science 328, 195-204. Broom, R. 1938: The Pleistocene anthropoid apes of South Africa. Nature 142, 377-379. 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Mit Blick auf die Evolutionstheorie lassen sich zwei Rezeptionsstrategien unterscheiden: Entweder werden bestimmte pädagogisch oder erziehungswissenschaftlich relevante Verhaltensweisen als Ausgangspunkt gewählt und dann mithilfe evolutions- und soziobiologischer Befunde „neu“ bzw. anders beschrieben. Deutlich zeigt sich ein solches Vorgehen etwa an der soziobiologisch inspirierten Deutung des Lernens. Oder aber man versucht, eine evolutionstheoretische Deutung pädagogischer Praxen und Institutionen vorzunehmen; dann fragen Autoren nach Funktionen und stabilisierenden Mechanismen - etwa der Institution Schule. Der Beitrag skizziert an ausgewählten Beispielen die beiden Vorgehensweisen und diskutiert deren jeweilige theoretische Stärken und Schwächen. 1. Einleitung Die Rezeption von Wissensbeständen aus den Biowissenschaften spielt in der aktuellen Erziehungswissenschaft eine größere Rolle als etwa in den 1970er und 1980er Jahren. Seinerzeit sollte, in expliziter Abgrenzung von anderen Disziplinen, ihr Status als (autonome) Sozialwissenschaft begründet werden. Dass die Erziehungswissenschaft im Zuge ihrer Identitätsbemühungen insbesondere von den Biowissenschaften Abstand nahm, hatte nicht zuletzt politische Gründe: War insbesondere seit den 1920er Jahren und während des Nationalsozialismus der Blick auf erbbiologische Grundlagen von Erziehbarkeit und Begabung gerichtet gewesen (Dudek 1999), so war diese Perspektive in der Nachkriegspädagogik weitgehend diskreditiert. Insbesondere mit dem Einsetzen der umfassenden Bildungsreformen in den 1960er Jahren war die Diskussion im deutschen Sprachraum stark durch eine „umweltzentrierte“ Perspektive auf die Entwicklung des Menschen charakterisiert. Deutlich zeigt sich der damit verbundene pädagogische Optimismus etwa in dem von Heinrich Roth im Auftrag des Bildungsrates herausgegebenen Band „Begabung und Lernen“ (Roth 1969). <?page no="226"?> Nicole Becker 226 Dass sich die Stimmung - vor allem seit der Jahrtausendwende - merklich ändert und man nun bereit ist, sich mit den Wissensbeständen nicht nur der unmittelbaren Nachbardisziplinen Soziologie und Psychologie auseinanderzusetzen, dürfte viele Ursachen haben. Große Bedeutung kommt vermutlich der Medienberichterstattung zu, die regelmäßig über Durchbrüche der modernen Neurowissenschaften oder Fortschritte im Bereich der humangenetischen Forschung berichtet und den biowissenschaftlichen Disziplinen dadurch zugleich Aufmerksamkeit und Akzeptanz - auch innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften - sichert (Becker 2006). Hinzu kommt, dass sich die Erziehungswissenschaft vor allem seit den ausgehenden 1990er Jahren zunehmend der Kritik an ihrer mangelnden interdisziplinären Ausrichtung ausgesetzt sieht (Weiler 2003; Neumann 1999). Möglicherweise ist die verstärkte Rezeption biowissenschaftlicher Wissensbestände deshalb auch als ein Versuch zu verstehen, sich gegenüber anderen Disziplinen im Dienste der Selbsterhaltung zu öffnen. Auch die Rezeption evolutionärer Ansätze lässt sich vor diesem Hintergrund deuten, wenngleich sie - das sei den folgenden Abschnitten vorangestellt - innerhalb des Faches einen marginalen Stellenwert einnimmt. Vergleicht man sie etwa mit den Rezeptionsbemühungen um neurowissenschaftliche Wissensbestände, so fällt auf, dass sich mit dem Import evolutionsbiologischer und -theoretischer Ansätze nur eine kleine Anzahl von Autoren beschäftigt. Es mag in der erziehungswissenschaftlichen Literatur zwar gelegentlich von „Evolutionärer Pädagogik“ die Rede sein, aber das ist nicht zu verwechseln mit einem konsolidierten Theorietyp, der sich innerhalb des Faches etabliert hat. Eher ist das Gegenteil der Fall: Die Vertreterinnen und Vertreter einer „Evolutionären Pädagogik“ - hervorzuheben sind hier Annette Scheunpflug, Alfred K. Treml und Max Liedtke - stoßen nicht selten auf heftige Kritik und zwar selbst dann, wenn sie pädagogische Phänomene lediglich „neu“ oder „anders“ beschreiben und deuten wollen und anderen Zugängen keineswegs pauschal ihr Erklärungspotenzial absprechen (kritisch z.B. Lüders 2004; Pongratz 2004; Brumlik 2006). Im Folgenden werden charakteristische Merkmale der verschiedenen Rezeptionsweisen evolutionären Denkens in der Erziehungswissenschaft aufgezeigt. Ich werde mich dabei auf die zwei Hauptvarianten konzentrieren, die sich in der aktuellen Literatur finden. Es gibt demnach nicht die eine, einheitliche Nutzung darwinistischen bzw. evolutionären Denkens. Vielmehr zeigen sich verschiedene Verwendungsweisen, die im Folgenden als Rezeptionsansätze bezeichnet werden, und diese variieren je nachdem, welche Ziele Autoren damit verfolgen. Die folgenden Überlegungen beziehen sich ausschließlich auf die zeitgenössische Erziehungswissenschaft, sind also nicht historisch angelegt (zu früheren Rezeptionsansätzen vgl. Geiss 2009). Das Hauptaugenmerk liegt darauf, die Akzentuierungen sowie die Stärken und Schwächen des jeweiligen Rezeptionsansatzes herauszuarbeiten. Da ich keine Biologin bin, werde ich Aussagen, etwa von Seiten der Soziobiologie, <?page no="227"?> Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen 227 zunächst einmal unkommentiert darstellen. Dabei ist mir bewusst, dass weder die Grundannahmen noch die Reichweite soziobiologischen Denkens innerhalb der Biologie einheitlich eingeschätzt werden. Meine Bilanz, die sich an die jeweiligen Rezeptionsansätze anschließt, wird deshalb im Hinblick auf die Leistungen des jeweiligen Ansatzes für die erziehungswissenschaftliche Theoriebildung formuliert - und nicht im Hinblick auf die Angemessenheit der Deutung darwinistischen Denkens. Ich habe anhand der Literatur zwei Hauptrezeptionsstränge herausgearbeitet, wobei die Einteilung eine idealtypische ist; d.h. zum einen ließen sich innerhalb eines Typus nochmals unterschiedliche Verwendungsweisen unterscheiden; zum anderen gibt es gelegentlich Mischformen der beiden Ansätze, und zwar selbst dann, wenn die Autoren dies nicht explizit beabsichtigen. Ich hätte außerdem mindestens noch einen dritten Strang mit aufnehmen können, nämlich den der Kritik an der erziehungswissenschaftlichen Rezeption der Evolutionstheorie, denn um etwas zu kritisieren, muss man selbst Rezeption betreiben. Ich konzentriere mich jedoch in diesem Beitrag auf die integrierende Rezeption und nicht auf deren Abwehr. 2. Rezeptionsansatz 1: „Verhalten evolutionsgeschichtlich gedeutet“ Die erste Rezeptionsstrategie wählt erziehungswissenschaftlich relevante, einzelne Verhaltensphänomene aus und versucht sie unter Zuhilfenahme evolutionsbiologischer Überlegungen zu beschreiben und zu erklären. Die Erziehungswissenschaft rezipiert an dieser Stelle bevorzugt Befunde aus der Soziobiologie und der Evolutionären Psychologie oder lässt deren Vertreter selbst zu Wort kommen. Bisher konzentrieren sich die Rezeptionsansätze auf Fragen, die sich aus einer evolutionsbiologischen „Konzeption“ menschlichen Lernens ergeben. Diese Vorgehensweise ist naheliegend, denn die Lernfähigkeit von Menschen bildet die Grundlage pädagogischer Handlungen; könnten Menschen nicht lernen, so wären sie weder ihrerseits in der Lage zu erziehen, noch könnten sie erzogen werden, sie könnten anderen keine Bildungsangebote machen und könnten sich selbst nicht bilden. Der Begriff des Lernens liegt deshalb quer zu allen anderen in der Erziehungswissenschaft gebräuchlichen Begriffen, er bildet die Grundlage für alle Prozesse, mit denen sich dieses Fach beschäftigt (Becker 2009). Und am Beispiel der evolutionsbiologischen Deutung des menschlichen Lernens möchte ich auch den ersten Rezeptionsansatz skizzieren. Der Soziobiologe Eckart Voland definiert in der „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft“ Lernen als von einem „Programm gesteuerte Nutzbarmachung externer Information für die eigene Entwicklung und Verhaltensproduktion“ (Voland 2006, 106). Lernfähigkeit sei eine „evolutionär ausgesprochen erfolgreiche Strategie“, mit der sich Organismen „in die je vorgefundenen Gegebenheiten ihres Lebens einpassen können“ (Voland 2006, 106). Da <?page no="228"?> Nicole Becker 228 Lernfähigkeit genetisch fixiert sei, bleibe dem Menschen gar nichts anderes übrig als zu lernen. Dennoch komme der Mensch nicht als „unbeschriebenes Blatt“ zur Welt, das durch Lernerfahrungen beliebig gefüllt werde, vielmehr verfüge das menschliche Gehirn „über eine Vielzahl hochspezialisierter kognitiver Programme, jeweils evolviert, um ein ganz spezifisches Lebensproblem, und zwar nur dieses spezifische Lebensproblem zu lösen“ (Voland u. Voland 2002, 694). In der Evolutionären Psychologie werden diese Programme gelegentlich auch als „Module“ oder „darwinische Algorithmen“ bezeichnet. Charakteristisch sei für diese Programme, dass sie sich während einer Zeit entwickelt haben, in der die Umwelt des Menschen ganz anders aussah, als es heute der Fall ist. Evolutionspsychologisches Denken geht davon aus, dass der Mensch etwa 95% seiner Stammesgeschichte als Sammler und Jäger in überschaubaren Gruppen von bis ca. 150 Mitgliedern verbracht hat und sein Gehirn dementsprechend an die spezifischen Bedingungen der Steinzeit optimal angepasst war (Lenz 2002, 6). In Bezug auf Lernen bedeutet das: Es dient zwar der Anpassung des Menschen an seine Umwelt, doch diese Anpassungsleistungen oder anders ausgedrückt „das was wir lernen“ ist nicht beliebig oder offen, sondern ergibt sich aus den Bedingungen unserer Entwicklungsgeschichte. Lernen ist begrenzt und determiniert: „Der Mensch lernt nur, worauf er naturgemäß eingestellt ist“ (Voland u. Voland 2002, 696). Immer wieder werde jedoch in den Sozialwissenschaften behauptet, „dass die Lernfähigkeit des Menschen seine ,angeborene Biologie ‘ überdecke und deshalb evolutionsbiologische Erklärungen menschlichen Verhaltens bestenfalls zur Analyse von Primärbedürfnissen und basalen Verhaltensweisen wie angeborenen Reflexen taugen“ (Voland 2006, 103). Kultur werde als etwas von der Natur Unabhängiges, ja über sie Erhabenes gedacht (Voland 2006, 103f.) und noch immer halte man das Bild „vom Ersten (und Einzigen) ,Freigelassenen der Schöpfung‘“ aufrecht (Voland u. Voland 2002, 690). Eine solche Sicht verkenne vollständig, dass Lernen, ebenso wie andere Verhaltensweisen, konsequent im Sinne der Fitnessmaximierung gedeutet werden müsse: „Auch Lernen gehorcht den biologischen Imperativen“ (Voland 2006, 106). Eine gewisse Flexibilität müssen Organismen aufweisen; da beispielsweise ein Säugling nicht „wissen“ kann, welche Sprache seine Eltern sprechen werden, müssen die neuronalen Strukturen, die für Spracherwerb notwendig sind, flexibel sein. Spracherwerb als Verhaltensphänomen wäre demnach programmgesteuert, doch welche Sprache erworben wird selbstredend nicht. Weitere Beispiele für solche adaptiven Probleme, die Menschen flexibel und dennoch nicht vollkommen unvorbereitet bewältigen müssen, betreffen Bindungsverhalten, Kooperationsstrategien, Elternverhalten (bzw. „parentales Investment“), sexuelles Werbeverhalten und die jeweils gültigen Fairnessregeln einer Gemeinschaft (Voland 2006, 109; Scheunpflug 2006a, 2006b). Die Grundidee ist, dass Menschen für alle diese Verhaltensweisen gewissermaßen <?page no="229"?> Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen 229 ein Programm mitbringen, dessen Ausgestaltung in Einpassung in die jeweilige Umwelt stattfindet. Diese Einpassungen geschehen weitestgehend erfahrungsbasiert und wenn man so will, quasi automatisch. So weit ist das für die Pädagogik unproblematisch. Doch der hier enthaltene Programmgedanke reicht weiter: „Man lernt nicht, oder bestenfalls unter günstigen Umständen mit großem Aufwand und dann nur in Ansätzen, was nichts mit den adaptiven Problemen unserer Artgeschichte zu tun hat und für das es entsprechend kein Einpassungsprogramm gibt. Logisches Denken beispielsweise war nicht per se überlebenswichtig in den steinzeitlichen Milieus, und entsprechend erschwert ist der Versuch, es lehren und lernen zu wollen.“ (Voland 2006, 109) Daraus folgen nun für die praktische Pädagogik einige Probleme: Menschen tun sich nämlich demnach aufgrund ihrer Lernbegrenzungen nicht nur schwer mit logischem Denken, sondern auch damit, im globalen Maßstab moralisch „gut“ bzw. verantwortlich zu handeln, was mit ihren „Identität stiftenden in-group/ out-group Markern“ zu tun hat, die früh und äußerst stabil ausgeprägt werden. „Wir“ grenzen uns von „den Anderen“ ab, Menschen unterscheiden zwischen „vertraut“ und „fremd“ und knüpfen bestimmte Gefühle daran, das Gehirn ist evolutionär „darauf eingestellt“, solche Unterscheidungen zu treffen, es kann gar nicht anders, denn dem Überleben der Gene war das über weite Strecken dienlich (Buss 2004, 367ff.). Deshalb halten in dieser Logik die zahlreichen „Religions- und Ethnokonflikte“ an, die „Akteure [sind] revisionsstabil auf ihre jeweilige in-group geprägt und rational nicht zu erreichen“ (Voland 2006, 111). Das wirft, etwa für Programme „interkultureller Erziehung“, Probleme auf, denn so sehr man sich um „Verbesserung des Menschengeschlechts“ bemüht, die darwinischen Algorithmen lassen sich - nach dieser Logik - dadurch kaum ausschalten und umprogrammieren. Das sind weitreichende Aussagen, die sowohl die erziehungswissenschaftliche Theorie als auch die pädagogische Praxis berühren - und sie erzeugen Resonanz. Karl Ernst Nipkow greift die skizzierten Themen in seinen Überlegungen zur Pädagogischen Ethik und zur Friedenserziehung auf. Man brauche, so sagt er, „realitätsgerechte Erkenntnisse über den Menschen“ (Nipkow 2005, 728). Und das hat Konsequenzen: „Wenn das ,evolutionäre Paradigma‘ in der Erziehungswissenschaft berücksichtigt wird, kann man an dem Problem des Bösen nicht vorbeigehen“ (Nipkow 2002, 685). Für das Beispiel Jugendgewalt würde das etwa bedeuten, neben der üblichen Lesart des Phänomens, die nach der Vorgeschichte des Vorfalls selbst, nach der des Täters und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen frage, auch die Naturgeschichte zu berücksichtigen. In aller Regel werde ausgespart, dass aggressives Verhalten - und damit Gewaltbereitschaft - unter bestimmten Bedingungen durchaus einen adaptiven Vorteil hat(te). Zudem sei auffällig, dass Gewalt ein männliches, nicht etwa ein menschliches Phänomen ist und ein Großteil <?page no="230"?> Nicole Becker 230 schwerer Gewalttaten vor allem von jungen Männern ausgeübt werden (vgl. auch Euler 1999). Nipkow bilanziert: „Das männliche Konkurrenz- und Machtstreben ist zwar unter Reproduktionsgesichtspunkten funktional verständlich, aber damit keineswegs ethisch umstandslos gerechtfertigt“ (Nipkow 2005, 737). Es geht Nipkow um einen weiteren möglichen Erklärungsansatz für aggressives Verhalten bzw. Gewalt, nicht etwa die Legitimierung von Verhalten. Menschliche Bedürfnisse, beispielsweise nach Selbstsicherung und Abgrenzung, mögen evolutionsgeschichtlich plausibel begründbar sein, doch sie legitimierten nicht die Mittel, mit denen sie durchgesetzt werden: „Ein Naturalistischer Fehlschluss verbietet sich: Fakten sind nicht Normen“ (Nipkow 2005, 731). Nipkow spricht sich - wie auch andere Autoren - in diesem Sinne für die Berücksichtigung evolutionsgeschichtlicher Erklärungsansätze aus und verfällt trotzdem nicht einen pädagogischen Fatalismus. Denn: Auch unter der Bedingung, dass Aggression in der menschlichen Natur angelegt ist, Menschen ein „Nahbereichsethos“ pflegen und sich altruistische Verhaltensweisen primär auf die „in-group“ beziehen - kurz gesagt: Menschen also nicht alles mühelos lernen können - müsse und könne Erziehung Wichtiges leisten. Er fordert daher, „sehr früh mit einer an den Grund- und Menschenrechten orientierten Rechtserziehung zu beginnen“ (Nipkow 2005, 735) und nennt als einen weiteren Ansatzpunkt pädagogischen Handelns „die Überwindung maskuliner Ideologien in Gesellschaft und Familie“ (Nipkow 2005, 737). Doch damit ist das Problem nur vordergründig bearbeitet: Zweifellos sieht sich der moderne Mensch mit anderen sozialen Strukturen, ja mit einer anderen Welt konfrontiert, als seine Vorfahren. Es gebe aus Sicht mancher Evolutionsbiologen - Nipkow verweist an dieser Stelle auf den Biologen Franz M. Wuketits - keinen moralischen Kosmopolitismus (Nipkow 2005, 733). Doch genau darauf zielt Erziehung, wenn es bezogen auf globalen Frieden und universelle soziale Gerechtigkeit heißt, dass es um eine „von innen gewünschte Verträglichkeit“ gehe, darum „die Innenseite der Motivationen zu erreichen“ (Nipkow 2005, 740). Eine Evolutionäre Ethik und eine daran anknüpfende Pädagogik müsse sich der Frage stellen, wie aus einer „Kleingruppenmoral eine heute notwendige universal gültige und [...] eine praktisch wirksame Ethik“ werden könne (Nipkow 2002, 684f.). Geht es also darum, dass Kinder doch lernen - man könnte auch sagen ihren darwinischen Algorithmen zum Trotz lernen -, die Fernwelt kognitiv zu antizipieren und Prinzipien der Gerechtigkeit gewissermaßen aus ihrer „Sippenbeschränkung“ zu befreien und auch auf diejenigen Fremden anzuwenden, mit denen wir nicht verwandt sind, die wir sehr wahrscheinlich sogar niemals kennenlernen werden? Soziobiologen würden hier vermutlich widersprechen, denn eben jene „Innenseite“ halten sie für die ideologieverdächtige Hilfskonstruktion, die die theologisch-philosophisch geprägte Pädagogik seit Jahrhunderten erfolglos <?page no="231"?> Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen 231 bemühe. Unmissverständlich heißt es: „Lernziele, die erkennbar die Interessen des ,egoistischen Gens‘ transzendieren wollen, um beispielsweise Feindesliebe oder andere evolutionär nicht vorgesehene Kompetenzen etablieren zu wollen, [bleiben] trotz aller eventuell humanistisch gespeisten Rationalität unerreichbar“ (Voland 2006, 112f.). Das gilt keineswegs nur für Friedenserziehung, sondern gleichermaßen auch für differentielles Elterninvestment. Scheunpflug konnte auf der Basis einer Analyse des öffentlich zugänglichen PISA-E-Datensatzes 2000 zeigen, dass „in den Bereichen des physiologischen Investments und des zeitlichen Investments die Werte von den Eltern über die alleinerziehende Mutter, den alleinerziehenden Vater bis zu Waisen kontinuierlich abnehmen“ (Scheunpflug 2006a, 127). Das Investment von Eltern in ihre Kinder werde „durch die genetische Verwandtschaft beeinflusst“, in Nachkommen werde „mehr investiert, wenn diese Kinder potenziell der Verbreitung der eigenen Gene dienen“ (Scheunpflug 2006a, 127), ganz so, wie es die soziobiologische Theoriebildung nahe lege. Daraus ergeben sich zweifelsohne erziehungswissenschaftlich relevante Forschungsfragen. Auch für Konzepte der Bildung für nachhaltige Entwicklung (Schmidt 2009) sowie für Medienerziehung (Uhl 2008) ergeben sich Probleme hinsichtlich ihres pädagogischen Anspruchs, denn für alle genannten Bereiche gilt, dass sie auf der Lernfähigkeit des Menschen basieren bzw. von ihr abhängen. Wenn die Lernfähigkeit wirklich derart „genegoistisch“ und entsprechend „nahwelt“ begrenzt ist, hat die praktische Pädagogik - und immerhin, das gilt dann global - ein Problem. Ganz gleich, welches pädagogische Phänomen man unter Hinzuziehung evolutionärer Überlegungen soziobiologischer oder evolutionspsychologischer Provenienz überdenkt, stets verheddert man sich in denselben Fallstricken: Einerseits will man ein realistischeres Bild vom Menschen, ein empirisch fundiertes, das den Menschen zeigt, wie er wirklich ist, das auch Grenzen offen legt: Grenzen der Lernfähigkeit, Grenzen der Erziehung. Aber dann steht man andererseits vor einem Problem, denn man will sich wohl kaum die eigene Existenzgrundlage entziehen. Deshalb bleibt einem kaum etwas anderes übrig, als das Ganze zu relativieren. Vor diesem Problem standen schon andere, etwa Heinrich Roth, der sich damit behelfen wollte, dass er zwischen einer Realanthropologie und einer Idealanthropologie unterschied (Roth 1967, 129f.). Besonders überzeugend war das allerdings nicht und möglicherweise blieb es auch deshalb bei der programmatischen Forderung. Zwischenbilanz Bilanzierend lässt sich zur evolutionsbiologischen Deutung des Lernens und den sich daran anschließenden Thematiken Folgendes festhalten: der Versuch, pädagogisch bedeutsame Phänomene (auch) im Lichte der Entwick- <?page no="232"?> Nicole Becker 232 lungsgeschichte zu betrachten, ist als solcher interessant. Aber bei genauer Lektüre werfen die bisherigen Rezeptionsansätze einige Probleme auf: • •• • Man muss zum einen erkennen, dass der Lernbegriff - als konstitutives Moment dieser Debatten (! ) - beim genaueren Hinsehen merkwürdig unterbestimmt erscheint. Merkwürdig deshalb, weil zwar durchaus Definitionen formuliert werden, diese aber ihrerseits neue Begrifflichkeiten einführen, die, statt zu erklären, eigentlich den Lernbegriff genauso gut ersetzen könnten oder zumindest ihrerseits wieder definitorische Fragen aufwerfen: Wenn es heißt, Lernen exekutiert Programme, warum spricht man dann nicht von Programmexekution, wenn es heißt, Lernen sei ein Verhalten zur Bewältigung adaptiver Probleme, warum spricht man dann nicht von Problembewältigung? Irgendwie, hat man den Eindruck, verschwindet der Begriff des Lernens hier, statt theoretisch interessanter dargestellt zu werden, als es bisherige Ansätze leisten. • •• • Inhaltsanalytisch zeigt sich in der erziehungswissenschaftlichen Rezeption der Soziobiologie und Evolutionären Psychologie ein Sprachgebrauch, der sich einerseits technologischer Begriffe und Metaphern bedient: die Rede ist von Verhalten, das durch Programme gesteuert wird, von Modulen und Algorithmen. Ferner findet man Begriffsanleihen aus der Ökonomie: Von Kosten-Nutzen-Bilanzen, Investment und Ressourcen ist die Rede. Man denkt an harte Fakten und an Prozesse, die eine immanente Dynamik aufweisen. Damit soll vermutlich auf die Eigenlogik der Evolution verwiesen werden, die keinem Ziel der Entwicklung zu Höherem oder Besserem folgt und keine Intentionen kennt, sondern für die das Kriterium Anpassung gilt. Andererseits findet man aber auch eine Sprache vor, die Intentionen gewissermaßen durch die Hintertür ständig wieder einschleust: man liest, dass „Gene wollen“ und „Gehirne entscheiden“, und man stellt sich die Frage, ob hier schlicht die Intentionen, die als angeblich so wenig maßgeblich für menschliches Verhalten betrachtet werden, schlicht anderen Wesenheiten - den Genen, Zellen, Körpern, Gehirnen - übertragen werden. • •• • Ferner fällt auf, dass zwar eine Vielzahl an weitreichenden Behauptungen aufgestellt wird, die Anzahl empirischer Belege jedoch vergleichsweise gering ausfällt. Nimmt man bezüglich des Lernbegriffs ernst, was dieser Rezeptionstyp a) über die Grenzen menschlicher Lernfähigkeit und b) über die Unmöglichkeit des Belehrens sagt, dann muss man sich schon fragen, ob die Schule wirklich eine derart erfolglose Institution ist. Ist es tatsächlich so, dass abstraktes Denken für die meisten Menschen hochproblematisch ist? Dass Menschen sich mit abstraktem Lernen (unterschiedlich) schwer tun, steht außer Frage. Die Kognitionspsychologin Elsbeth Stern unterschiedet zwischen „privilegierten“ und „nicht-privilegierten“ Lernformen (Stern <?page no="233"?> Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen 233 2003a; 2003b) und zählt zu letzteren das Lernen abstrakter Inhalte. Privilegierte Lernformen seien solche, auf die der Mensch quasi „genetisch vorbereitet“ sei, dazu zählt beispielsweise Spracherwerb. Sie bedürfen keiner bewussten Instruktion, keiner besonderen Motivation und vollziehen sich („quasi automatisch“) im Rahmen sozialer Interaktionen. Anders verhält es sich mit den nicht-privilegierten Lernformen: sie bedürfen der Anleitung und Planung (z.B. durch Lehrende) und auf Seiten des Lernenden einer speziellen Motivation. Allerdings legen internationale Leistungsvergleichsstudien nahe, dass die unterschiedlichen Kompetenzen, die Schülerinnen und Schüler im Rahmen solcher Lernprozesse entwickeln, offenbar zu einem Gutteil der unterschiedlichen Organisation von Lehren und Lernen, sprich: Schultypen und Unterrichtsweisen geschuldet sind. Zumindest wird man die Unterschiede wohl kaum auf verschiedene Naturgeschichten zurückführen wollen. Soll heißen: Möglicherweise hat die Manipulation der Umwelt, die immerhin auch Soziobiologen den Pädagogen zugestehen, doch größere Einflüsse aufs menschliche Lernen oder ist - um es von der anderen Seite zu betrachten - möglicherweise doch etwas weniger determiniert, als manche Autoren vermuten. Viel interessanter als der Blick auf die Determiniertheit menschlichen Lernens insgesamt erscheint mir deshalb die Frage nach den individuellen Differenzen: Warum haben die einen engere (Lern-)Grenzen als die anderen? Warum ist die Motivation so unterschiedlich verteilt? Doch das ist eine Perspektive, die zeitgenössischen evolutionspsychologischen und soziobiologischen Ansätzen fremd ist. Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in ihrem methodischen Vorgehen: Ihre Studien gründen sich (selbstredend) auf Populationen und nicht auf einzelne Individuen. 3. Rezeptionsansatz 2: „Pädagogik als Evolution“ Bei der zweiten Rezeptionsstrategie („Pädagogik als Evolution“) steht nicht das Verhalten einzelner Akteure, sondern die Funktionslogik pädagogischer Praxen und pädagogischer Institutionen im Mittelpunkt. Was ist eigentlich Erziehung und welche Funktion erfüllt sie in unserer Gesellschaft? Warum ist so etwas wie eine Schule entstanden und weshalb konnte sie sich beinahe flächendeckend mit ähnlichen Merkmalen durchsetzen? Um die Entstehung, die Erhaltung (oder auch das Verschwinden) bestimmter Praxen, sowie entsprechend deren Tradierung zu beschreiben werden u.a. die Begriffe Variation, Selektion, Stabilisierung - teilweise in einem metaphorischen Sinne - genutzt und sollen eine Alternative zu einem üblicherweise an Absichten, Handlungen und Wirkungen orientiertem teleologisch-geisteswissenschaftlichen Denkmodell darstellen (Treml 2002, 661). Die Nutzung evolutionärer Denkfiguren erfolgt hier ungleich abstrakter als beim <?page no="234"?> Nicole Becker 234 ersten Typ und häufig in Kombination mit Versatzstücken der Systemtheorie Niklas Luhmanns (auf die ich nicht näher eingehen werde). Den Reiz evolutionären Denkens für die Erziehungswissenschaft skizziert Treml wie folgt: Die Evolutionstheorie gehe sowohl in die Tiefe als auch in die Breite. Ihre Tiefe drücke sich vor allem darin aus, dass sie „Grundüberzeugungen ins Wanken brachte, die so tief gelagert waren, dass sie das Selbstverständnis des Menschseins ausmachten, so dass jede Veränderung schmerzhaft sein musste. Das Wesen, das bislang glaubte, von Göttern abzustammen, fand sich plötzlich in die Verwandtschaft von Tieren gerückt und musste sich von Darwin sagen lassen, von ‚einem behaarten, geschwänzten Vierfüßler‘ abzustammen“ (Treml 2004, 12). Insofern betrifft die Tiefenwirkung pädagogischanthropologisches Denken über das Wesen des Menschen. Die Breitenwirkung zeichne sich dadurch aus, dass Darwins Werk, ursprünglich eine zoologische (die Entstehung des Menschen dabei mit einschließende) und botanische Abhandlung, grundsätzliche Mechanismen vorstelle, die sich - wie die breite interdisziplinäre Rezeption zeige - auf viele andere Phänomene anwenden ließen. Theoriestrategisch gehe es „darum, die zunächst in der Biologie gewonnenen Erkenntnisse einer (biologischen) Evolution von ihren biologischen Spezifika zu befreien, die allgemeinen formalen Strukturen von evolutionären Prozessen herauszuarbeiten und damit auf die Ebene einer Allgemeinen Evolutionstheorie zu bringen“ (Treml 2004, 53). Ziel ist es, „neben der Naturgeschichte des Menschen auch seine Kulturgeschichte in den Blick zu nehmen und als Evolution zu interpretieren“ (Treml 2006, 170). Für eine Evolutionäre Pädagogik bedeutet das, „Erziehungsprozesse als evolutive Prozesse, also selbst als Evolution zu beschreiben und zu erklären“, denn „Erziehung ,ist‘ eine Form der Evolution“ (Treml 2004, 14). Den Ausgangspunkt dieser Überlegungen bildet die Tatsache, dass die Erziehungswissenschaft über ihren ureigensten Gegenstand, die Erziehung, im Grunde ziemlich wenig weiß. Auf die Frage wie Erziehung möglich ist, was eigentlich geschieht, wenn erzogen wird, antwortet die Erziehungswissenschaft mithilfe von Ausweichstrategien: Die eine Ausweichstrategie bedient sich der Textexegese und transformiert die Frage, was Erziehung sei, in die Frage, was ein jeweiliger Autor glaube, dass Erziehung sei; die andere Ausweichstrategie praktiziert Moralisierung und fragt erst gar nicht danach, wie und was Erziehung sei, sondern wie sie sein sollte (Treml 2004, 7ff.). Die Evolutionäre Pädagogik will eine andere Strategie anwenden: Sie stellt zunächst fest, dass es Erziehung gibt und fragt sich dann, wie das möglich ist. „Wenn die Evolution so etwas Unwahrscheinliches wie Erziehung hervorgebracht und stabilisiert hat, muss dies offenbar einen Selektionsvorteil besitzen - oder, um ein anderes Wort zu benutzen: eine Funktion erfüllen“ (Treml 2002, 657). Damit wird Erziehung in den Kontext eines evolutionären Grundproblems gestellt, für das es offenbar Lösungen bereit hält. Erziehung trete dort auf, „wo Lebewesen mithilfe eines hoch entwickelten cerebralen <?page no="235"?> Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen 235 Nervensystems zu nichtgenetischen Lernprozessen durch spezifische Umweltanregungen in der Lage sind und damit zusätzlich zur biologischen Evolution, in der ein ,Lernen der Gene‘ stattfinde, eine weitere Evolutionsebene tritt, auf der ein ,Lernen der Gehirne‘ möglich wird. Mit der Entstehung dieser neuen Evolutionsebene für lernende Systeme können zeitverkürzende Adaptionen an veränderte Umweltsituationen erfolgen und so die Überlebensfähigkeit optimiert werden“ (Treml 2002, 657). Ein kausaler, direkter Durchgriff von Genen auf Verhalten wird als Erklärungsmodell abgelehnt, anders ausgedrückt: ebenso wenig, wie Genexpression unabhängig von Umweltbedingungen abläuft, führt das Gehirn blind Programme aus. Man kann die Unterschiedlichkeit der beiden Rezeptionsansätze - also des soziobiologisch motivierten und des „allgemein“-evolutionstheoretisch motivierten Ansatzes - an der Beschreibung des Lernens und den sich daran anschließenden Überlegungen deutlich erkennen: Lernen, so die Evolutionäre Pädagogik (nach A. K. Treml), „ist eine spezifische Form der Anpassungsleistung lebender Systeme, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Informationen aus der Umwelt in systemeigenes Wissen überführt, dort bewertet, gespeichert und bei Bedarf wieder aktiviert und in Verhaltensänderungen übersetzt werden können. Anders gesagt: Lernen ist eine Form flexibler Anpassung lebender Systeme an ihre (wechselnden) Umweltbedingungen durch Veränderung ihrer Möglichkeiten, sich zu verhalten“ (Treml 2004, 111). Wenn es nur ein Lernen der Gene gäbe, könnte sich ein Mensch nicht an sich schnell verändernde Umwelten anpassen, denn dieses phylogenetische Lernen laufe sehr langsam ab. Auf der Ebene des Gehirns laufe Lernen ungleich schneller ab und ermögliche auf diese Weise flexible Verhaltensweisen. Es stelle einen Selektionsvorteil dar, wenn man neben dem Wissen der Gene „auch auf das alte ,Wissen der Gesellschaft‘ - und das heißt: auf das Wissen anderer Menschen - zurückgreifen kann, um ein ,Lernen der Gehirne‘ zu aktivieren“ (Treml 2002, 657f.). Es liegt auf der Hand, dass sich hieraus Probleme ergeben: erschien die Frage der Selektion von Lerninhalten im ersten Rezeptionsansatz zumindest auf den ersten Blick beantwortet („Der Mensch lernt nur, worauf er naturgemäß eingestellt ist“) so stellt sich die Situation für das anpassungsfähige, erfahrungsverarbeitende Gehirn komplizierter dar, denn: Woher soll es wissen, welche Informationen es benötigt (und welche nicht)? Ihm bleibt nur eine begrenzte Lernzeit. Zudem: Lernen kann es immer nur, was zu einem bestimmten Zeitpunkt bekannt ist, beispielsweise gehören vorzufindende Lösungen zu Problemen, die sich zum Zeitpunkt X auf eine bestimmte Weise darstellen, doch wie geht das Gehirn damit um, dass zum Zeitpunkt Y möglicherweise ganz andere Probleme auftauchen, bei denen die bisherigen Strategien versagen? Nach Auffassung der Evolutionären Pädagogik sind eben jene Schwierigkeiten der Grund dafür, warum so etwas wie Erziehung entstanden ist, denn sie trifft eine Vorauswahl an Wissensbeständen, die sich in der Vergangenheit <?page no="236"?> Nicole Becker 236 bewährt haben und sie stellt auch die Methoden zur Vermittlung an die nächste Generation bereit: Lernen stelle die Grundlage für Erziehung dar; doch erst wenn Lernen „durch ein Verhalten bzw. Handeln anderer Menschen angeregt und beschleunigt wird“ und die Ebene der „sozialen Systeme“ hinzukomme, könne man von Erziehung sprechen (Treml 2002, 658). Der Vorteil gegenüber Lernprozessen, die en passant ablaufen und daher hinsichtlich ihrer Inhalte und ihres zeitlichen Auftretens zufällig seien, sei die inhaltliche Vorselektion bestimmter Inhalte und der geringere Zeitbedarf, Erziehung löse deshalb „das Problem des Auseinanderdriftens verschiedener Evolutionsebenen mit je unterschiedlichem Zeitbedarf und unterschiedlichem Leistungsvermögen“ (Treml 2002, 657f.). Diese Evolutionsebenen und die jeweils spezifischen Lernprozesse stellen sich aus dieser Sicht wie folgt dar: • •• • Ebene der Phylogenese - sehr großer Zeitbedarf - genetische Lernprozesse des biologischen Systems („Wissen der Gene“); • •• • Ebene der Soziogenese - relativ großer Zeitbedarf - kulturelle Lernprozesse des sozialen Systems („Wissen der Gesellschaft“); • •• • Ebene der Ontogenese - kleiner Zeitbedarf - (durch Erziehung vermittelte) individuelle Lernprozesse des psychischen Systems („Wissen der Gehirne“) Die Definition von Erziehung umfasst hier auch Belehrung, also nicht nur das, was sich zwischen Eltern oder Erziehern und Kindern abspielt, sondern auch alles, was in pädagogischen Institutionen geschieht. Was dort abläuft, wird also mithilfe evolutionärer Mechanismen beschrieben. So beschreibt etwa Annette Scheunpflug in ihrer „Evolutionären Didaktik“ Unterricht als eine Vorbereitung auf den Umgang mit der „Komplexität des Lebens in einer Gesellschaft […]. Im Unterricht werden durch das Zusammenspiel von Variation, Selektion und Stabilisierung zwei Ebenen der Evolution miteinander verbunden: die kulturelle Evolution einer Gesellschaft mit der individuellen Entwicklung einer heranwachsenden Person“ (Scheunpflug 2001, 63). Das wird im Sinne einer gleichsam gesamtgesellschaftlichen Überlebensstrategie gedeutet. Zunächst vollzieht sich dabei eine ,Einübung in Variationen‘, die sich wiederum in zwei Bereiche unterteilen lässt, nämlich a) in den Umgang mit Variationen, indem Schüler unterschiedliche Wissensbestände und unterschiedliche Weltdeutungen kennen lernen und b) in die Produktion von Variationen, indem sie zu eigenen Problemlösungen und kreativen Leistungen angeregt werden. Die Einübung in Selektion erfolgt laut Scheunpflug durch die Auswahl von und die Konzentration auf Themen, der Aspekt der Selbstproduktion besteht darin, Stellung zu beziehen und eigene Beurteilungen vorzunehmen (etwa entlang der Kriterien wichtig/ unwichtig). Stabilisierung sieht sie auf der <?page no="237"?> Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen 237 individuellen Ebene durch das Lernen oder auch Vergessen von Wissen gegeben, die Selbstproduktion besteht darin, die eigene Lernfähigkeit zu „optimieren“. Dieses Raster lässt sich auf diverse pädagogische Handlungsfelder übertragen. Man kann immer danach fragen, welche Funktion etwas erfüllt - und wird auch immer etwas finden - und die Begrifflichkeiten lassen sich ebenfalls auf alle möglichen Phänomene übertragen. Immer wird man Erklärungen für die Adaptivität dieser oder jener Praxen finden, irgendwie, so mein Eindruck, lässt sich tatsächlich alles durch die Brille dieser sehr allgemeinen Allgemeinen Evolutionstheorie betrachten. Zwischenbilanz Wie auch der erste Rezeptionsansatz ist die Deutung von Pädagogik als Evolution angesichts praktischer Fragen stumm, da beide Rezeptionstypen auf die Beschreibung und Erklärung pädagogischer Phänomene setzen, sich also als Reflexionsangebote, nicht jedoch als handlungsanleitend verstehen. Das liegt, wenn man so will, buchstäblich in der Natur der Sache - hier: in der Natur der Evolutionstheorie. Evolution ist ein Geschehen mit offenem Ausgang, und wenn man Erziehung als Evolution beschreibt, trifft dasselbe für sie zu. Das ist die eine Begründung. Darüber hinaus warnen Vertreter der Evolutionären Pädagogik vor einem Sein-Sollen-Fehlschluss: vom biologischen Sein könne man nicht aufs moralische Sollen schließen, wie sollte analog eine Evolutionäre Pädagogik den Pädagogen in der Praxis sagen können, was sie zu tun und zu lassen haben? Treml drückt sich an dieser Stelle unmissverständlich aus: „Eine evolutionäre Pädagogik (...) hat genug damit zu tun, die Erziehung in den Kontext der Evolution zu stellen und dann zu schauen, was dabei herauskommt (…). Es bedarf hier m.E. nicht auch noch normativer Verbesserungsvorschläge für die praktische Pädagogik, von denen wir keinen Mangel haben, sondern an deren Überfluss wir eher leiden, und die meist fruchtlos versanden werden“ (Treml 2004, 51). Der praktische Beitrag der Evolutionären Pädagogik liegt in der Theoriebildung, genauer: in einem spezifischen Theorieangebot zur Reflexion der Praxis. Scheunpflug versteht ihre Evolutionäre Didaktik als Anregung, anders über Unterricht nachzudenken, sich als Lehrkraft von Omnipotenzvorstellungen zu verabschieden und anzuerkennen, wie anspruchsvoll die Gestaltung anschlussfähiger Lernumgebungen ist. Das entspricht soweit den üblichen Ansprüchen einiger allgemeindidaktischer Ansätze und wird erst dann problematisch, wenn aus Realität Fiktion und aus Tatsachen „Als-Obs“ werden: Es ist beispielsweise nicht einsichtig, weshalb ausgerechnet Schule als „Probehandeln unter herabgesetztem Risiko des Scheiterns“ konzipiert wird. Plausibler ist, dass es sich um eine der ersten biographisch hochrelevanten Stationen handelt, in denen man manifest scheitern kann. <?page no="238"?> Nicole Becker 238 Ein weiteres theoretisches Problem handelt sich die Evolutionäre Pädagogik durch ihre Selbstbeschreibung als „Supertheorie“ ein. Alfred K. Treml charakterisiert die aus der biologischen Evolutionstheorie Darwins abgeleitete Allgemeine Evolutionstheorie als „eine ganz andere Art und Weise, die Welt zu sehen und die Herkunft und Veränderung ihrer Ordnung zu verstehen“ (Treml 2002, 655). Ob sie sich in ihrer Variante als Evolutionäre Pädagogik als anschlussfähig erweise, sei derzeit offen, sie könne „in der Ideenevolution als eine Art Mutante, und damit als eine riskante Selektionsofferte, interpretiert werden. Sie verspricht wohl nicht, alles besser, aber vieles anders beobachten und erklären zu können“ (Treml 2002, 667). Nipkow bemerkt hierzu kritisch: „Wird der freie evolutive Wettbewerb von Theorien nicht dadurch bereits asymmetrisch, dass eine Theorieofferte (in diesem Falle Tremls eigene) schon in ihrer Bezeichnung als ,Supertheorie‘ nobilitiert wird“ (Nipkow 2006, 14)? - Unabhängig davon, wie man dazu steht, kann man davon ausgehen, dass die Evolutionäre Pädagogik sogar für ihr eigenes Verschwinden, sollte es dazu kommen, eine Erklärung parat hielte. 4. Evolutionäres Denken als Reflexionsangebot Der Reiz und die Leistung evolutionstheoretischen Denkens in der Erziehungswissenschaft liegen in der Überwindung einer dualistischen Sichtweise bzw. einer Trennung von Natur auf der einen und Kultur auf der anderen Seite. Die Deutung von Kultur als einer von Natur unabhängigen bzw. von ihr emanzipierten Sphäre, zieht sich durch die pädagogische Ideengeschichte, wenngleich es immer wieder einzelne Bestrebungen gab, diese Sichtweise zu überdenken. Einige Autoren konstatieren nach wie vor eine „Resistenz der Pädagogik gegenüber Erkenntnissen der Biowissenschaften“ (Neumann 2007, 228), sie nahm und nehme diese nur dann zur Kenntnis, wenn sie traditionelle Sichtweisen stützen können, und blende aus, was die Wirksamkeitsvorstellungen von Erziehung und Bildung und insbesondere Steuerungsphantasien einschränken könnte. Die zeitgenössische, deutschsprachige Erziehungswissenschaft ist nach wie vor auf der Suche nach „Wirksamkeitsbelegen“, setzt also gern dort auf Empirie, wo (nicht selten religiös motivierte) Grundauffassungen auf Bestätigung hoffen dürfen und blendet sie gern aus, wo sie sich von ihr bedroht fühlt. Das gilt im besonderen Maße für Befunde der Verhaltensgenetik, aber eben auch für evolutionäre Erklärungsmuster. Insofern lösen evolutionäre Erklärungsansätze, mag ihre Reichweite auch an vielen Stellen ungeklärt sein, zumindest eine längst überfällige Debatte aus und eine ihrer Stärken besteht in ihrem reflexiven und kritischen Potential. Eine ihrer Schwächen besteht in der „Inselartigkeit“ der bisherigen Diskussionen: eine kleine Zahl von Erziehungswissenschaftlern und einige wenige Biologen leisten Teilbeiträge zu einer Evolutionären Pädagogik, aber sie tun <?page no="239"?> Evolutionäres Denken im Kontext erziehungswissenschaftlicher Diskussionen 239 das nicht nur weitestgehend unbemerkt vom Rest des Faches, sondern sie nehmen sich darüber hinaus kaum gegenseitig wahr. Das zeigt sich auch in den wenigen Sammelbänden und den Themenschwerpunkten erziehungswissenschaftlicher Zeitschriften: Was da zusammenkommt, ist positiv ausgedrückt vielfältig, man könnte es aber auch beliebig nennen (vgl. beispielsweise den Themenschwerpunkt „Evolutionäre Pädagogik in der Zeitschrift für Pädagogik Heft 5, 2002 oder den Sammelband von Kurig u. Treml 2008). Die Themenfelder sind wenig präzise abgesteckt, die Grundbegrifflichkeiten selten hinreichend geklärt. Möglicherweise ist das jedoch ein typisches Anfangsphänomen: eine Diskussion beginnt, man sammelt verschiedene Themen und probiert Zugangsweisen aus. Die weitere Entwicklung evolutionären Denkens innerhalb der Erziehungswissenschaft ist daher aus meiner Sicht offen und könnte durchaus neue Deutungsmuster pädagogisch relevanter Phänomene bieten. Literatur Becker, N. 2006: Die neurowissenschaftliche Herausforderung der Pädagogik. Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn. Becker, N. 2009: Lernen, in: J. Oelkers, R. Casale, R. Horlacher u. Th. Gabriel (Hg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft, 577-591. Beltz, Weinheim. Brumlik, M. 2006: Hermeneutik der Natur. Evolutionspsychologie und Pädagogik, in: A. Scheunpflug, Ch. Wulf (Hg.): Biowissenschaft und Erziehungswissenschaft, 153-160. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, Beiheft Nr. 5. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. Buss, D.M. 2004: Evolutionäre Psychologie. 2., aktualisierte Aufl. Pearson, München. Dudek, P. 1999: Grenzen der Erziehung im 20. Jahrhundert. Allmacht und Ohnmacht der Erziehung im pädagogischen Diskurs. Klinkhardt, Bad Heilbrunn. Euler, H.A. 1999: Geschlechtsspezifische Unterschiede und die nicht erzählte Geschichte in der Gewaltforschung, in: H.G. Holtappels et al. (Hg.): Forschung über Gewalt an Schulen, 191-207. Juventa, Weinheim. Geiss, M. 2009: Rezeptionsjubiläen. Pädagogen, Pragmatisten und andere Freunde Darwins. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 85(1), 99- 112. Kurig, J. u. Treml A.K. (Hg.) 2008: Neue Pädagogik und alte Gehirne? Erziehung und Bildung in evolutionstheoretischer Sicht. LIT, Berlin. Lenz, M. 2002: Evolutionspsychologie - Kritische Einwände aus interdisziplinärer Sicht. Vortrag auf der 3. Jahrestagung der MVE-Liste („Menschliches Verhalten aus evolutionärer Perspektive“) am 15./ 16.03.2002 an der Universität Bielefeld. Skript online unter: http: / / www.mlenz.de/ kritikep.pdf [18.02.2010]. 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Jahrhundert der Darwinismus zu einem „Credo“ der Soziologie, wobei insbesondere Herbert Spencer, ein Klassiker des Faches, sich intensiv mit Darwins Lehren auseinandersetzte. In diesem Zusammenhang entstand der Sozialdarwinismus, mit dem sich Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Soziologen identifizierten. Auch neuere soziologische Theorien wie der Funktionalismus, der symbolische Interaktionismus, die Systemtheorie sowie die philosophische Anthropologie setzten die Beschäftigung mit dem Darwinismus fort. Neuere Debatten um die Soziobiologie bestätigten den Einfluss des Darwin’schen Erbes, so dass als Ergebnis eine fortdauernde Diskussion zwischen diesen Disziplinen zu konstatieren ist. Es scheint, dass im Allgemeinen der Darwinismus Einblick in die Grundlagen menschlicher Natur verschafft, während es sich die Soziologie zur Aufgabe macht, diese Hintergründe anhand empirischer Erkenntnisse über Gesellschaften zu überprüfen. 1. Rezeptionsformen des Darwinismus in der Soziologie Darwins Theorie übte bedeutende Einflüsse auf die Gesellschaftstheorie aus. Die Bedeutung des Darwinismus für die Soziologie wird seitens der im Fach dominierenden Traditionen unterschiedlich beurteilt. Esser führt vier solcher Traditionen an: die normative Tradition, die interpretative, die strukturtheoretische und schließlich die utilitaristische Tradition (Esser 2002, 26). Hinsichtlich der interpretativen Tradition zeigt Michael Wehrspaun, dass sich Erving Goffmans Mikrosoziologie „als Fortsetzer von Darwins Arbeiten zum Ausdruck der Gemütsbewegungen“ (Wehrspaun 1989, 339) verstand. Auch die Psychologin Carroll Izard bestätigt, dass Darwin mit seiner Auffassung recht hatte, wonach „Emotionen angeboren und universell“ (Izard 1981, 35) sind. Darwin führte in diesem Zusammenhang aus: „Ich glaube, es ist nun gezeigt worden, daß der Mensch und die höheren Thiere, besonders die Primaten, einige wenige Instincte gemeinsam haben. Alle haben dieselben Sinneseindrücke und Empfindungen, ähnliche Leidenschaften, Affecte und Erregungen […] Die Individuen einer und derselben Species zeigen gradweise Verschiedenheit im Intellect von absoluter Schwachsinnigkeit bis hin zu großer Trefflichkeit“ (Darwin 1986, 87). Diese und weitere Äußerungen Darwins wurden zum Ansatzpunkt der modernen Ethologie, wie einschlägige Werke <?page no="244"?> Peter Meyer 244 von Irenäus Eibl-Eibesfeldt (Eibl-Eibesfeldt 1969) und anderen demonstrieren. Wie erwähnt, knüpfte Goffmans Mikrosoziologie an Darwins Erkenntnissen an, wonach zwingende Beweise „für die Existenz genetisch determinierter universeller Verhaltensmuster“ (Izard 1981, 92) vorliegen. Im Blick auf die Theorie der sozial-kulturellen Evolution geht der bedeutende Sozialphilosoph Jürgen Habermas von einer „Entwicklungslogik“ (Antweiler 1990, 493; Sanderson 2007, 220) der gesellschaftlichen Entwicklung aus, die in mancher Hinsicht mit Darwins Auffassungen inkompatibel ist. Auch der Soziologe Norbert Elias legt eine Theorie der sozial-kulturellen Evolution vor, wonach Individuen Handlungsketten auslösen, deren Folgen für das Individuum nicht absehbar sind (Elias 1988, 77). Ähnlich verweist auch Anthony Giddens auf Folgen im Handlungssystem, „welche die Akteure nicht beabsichtigt haben“ (Giddens 1988, 290). Folgt man Richards hinsichtlich Darwins evolutionärer Theorie, sind sowohl die Elias’schen Überlegungen als auch die von Giddens mit Darwins Auffassungen kompatibel, da die „Elemente der Wissensevolution von vorgängigen konzeptionellen Zuständen abstammen“ (Richards 1989, 17). Beide Soziologen stimmen überein, dass die betroffenen Individuen unfähig sind, zukünftige Ereignisse aufgrund intervenierender Variablen mit ihren ursprünglichen Konzeptionen zu verbinden. Schließlich beruht auch der Funktionalismus von Talcott Parsons und anderen auf biologischen Vorstellungen (vgl. Agassi 1977, 266), die allerdings implizit wiederum auf teleologischen Annahmen basieren. 2. Darwin und die Gesellschaftstheorie im Kontext Europäischer Aufklärung Die Entwicklung von Darwins Evolutionstheorie wie auch die Entstehung der modernen Gesellschaftstheorie vollzogen sich beide fast zeitgleich im Kontext des europäischen Aufklärungsprozesses. Nachdem Patrick Matthew sein Werk über die Grundstruktur der Selektionstheorie veröffentlichte (Hallpike 2008, 132), entfalteten sich Darwins und Wallaces Theorien. Matthew war Schüler des Moralphilosophen Adam Smith, den die Wirtschaftswissenschaft als ihren Begründer feiert. Während Smiths The Theory of Moral Sentiments (Smith 1986) die Bedeutung von Sympathie und Moral für die Wirtschaft betonte, wollte Auguste Comte die Entwicklung menschlichen Denkens vom Fetischismus bis hin zum positiven Denken ergründen (Comte 1972, 111). Wichtig für den gegenwärtigen Zusammenhang ist aber, dass sich die Soziologie seither als empirische Disziplin versteht, und Herbert Spencer schon zu Lebzeiten Darwins nach der Verbindung der Stammesgeschichte mit der Entwicklung menschlicher Gesellschaften suchte. Wie Bernulf Kanitscheider zu den Hintergründen des Darwin’schen Naturalismus darstellt, beruhte er auf der „methodologischen These, wonach die Gesamtheit aller Naturwissenschaften ausreiche, um alle Phänomene kognitiv <?page no="245"?> Darwin und die Gesellschaftstheorie 245 erfassen zu können“ (Kanitscheider 2006, 325). Ausdrücklich bezieht er dabei die Evolutionstheorie ein, die Darwin und seine Nachfolger im 19. Jahrhundert entworfen hatten. Aus soziologischer Sicht bestätigt in neuerer Zeit auch Hans Albert, dass der soziologische Naturalismus einer Anthropologie zuzuordnen ist, „die den Menschen als ein im Laufe der Evolution entstandenes Naturwesen mit besonderen Eigenschaften begreift, die notwendige Bedingungen seiner kulturellen Entwicklung sind. [... D]ie Phänomene […] (haben) daher auch biologische Grundlagen“ (Albert 1999, 220). Wie erwähnt, war Spencer der erste Soziologe, der die Stammesgeschichte benutzte, um die Entwicklung menschlicher Gesellschaften zu rekonstruieren. Spencer gehört zu den Klassikern der Soziologie, doch ist mittlerweile deutlich geworden, dass er sich bei seiner Argumentation des im naturalistischen Zusammenhang verpönten teleologischen Denkens bediente. Im biologischen Kontext berührt dieses Denken die Frage nach dem Zweck eines Organs bzw. des Organismus. Wuketits führt hinsichtlich solcher Zwecke aus, dass organische Prozesse zweifelsfrei „zielgerichtet“ sind, doch „sie sind nicht zielintendiert“ (Wuketits 1985, 177). Im evolutionären Zusammenhang wäre die Vorstellung fehl am Platze, dass die Funktion eines Organs einem „Schöpfer“ schon geläufig war, bevor es einer bestimmten Spezies eingepasst wurde. Wenngleich die Grundstruktur teleologischen Denkens heute verworfen wird, genießen Spencers Ausführungen zur sozialen Differenzierung der Gesellschaft in der Soziologie weiterhin großes Ansehen (Bernsdorf 1969, 187), weil er die Trennung von „sozial und kulturell mehr oder weniger gleichartigen Gruppen […] mit dem Erwerb besonderer Funktionen“ (Bernsdorf 1968, 187) verband und zu einem wichtigen Gegenstand des Faches machte. Während Darwin die „graduelle und kumulative Selektion“ (Runciman 1998, 167) betont, welche die Evolution der Arten bestimmte, konzentrierte sich Spencer auf „die festliegende Entwicklung des Embryos zum vollendeten Organismus“ (Baldus 2002, 319). Wie Richards zeigt, können Spencers Vorstellungen vor allem nicht mehr ernst genommen werden, weil Spencer davon ausgeht, „dass sich die menschliche Natur unerbittlich zur Perfektion entwickeln werde“ (Richards 1989, 287). Bekanntlich aber hat sich auch nach Spencers Ableben keine wie immer geartete Perfektion im sozialen Leben eingestellt. Darwins Naturalismus gehörte zwischen 1890 und 1895 nach den Worten von Otthein Rammstedt „zum Credo der Soziologie“ (Rammstedt 1988, 268). Auch in den Vereinigten Staaten schloss sich die berühmte Chicago-Schule Darwins Denken an, wobei unter anderem die Mikrosoziologie Erving Goffmans großen Einfluss auf die gesamte Disziplin gewann (Baldus 2002, 318). In der deutschsprachigen Soziologie hat Max Weber, einer der bedeutendsten Soziologen überhaupt, den evolutionären Naturalismus abgelehnt. Wie Joachim Radkau jüngst in seiner Biographie Webers verdeutlicht, wollte sich Weber angesichts seines eigenen, problematischen Gesundheitszustandes nicht ernsthaft mit diesem Thema befassen. Wenngleich Weber inhaltlich keine grundsätzliche Trennung zwischen Natur und Kultur einzufüh- <?page no="246"?> Peter Meyer 246 ren trachtete (Radkau 2005, 423), kann Radkau nachweisen, dass nach Weber „die Kultur ein naturhaftes Element“ (Radkau 2005, 595) enthält. Vor allem aber ist auch die Beobachtung des vormaligen Tübinger Soziologen Friedrich Tenbruck bedeutsam, wonach Webers Werk dem Naturalismus durchaus Tribut zollte, denn „seine Arbeiten setzen in Fragen und Antworten ein naturalistisches Wirklichkeitsbild“ (Radkau 2005, 404) voraus. Vor allem zeigt sich dies in der Bedeutung, welche Kampf und Gewalt in Webers Herrschaftssoziologie genießen. Georg Simmel, als Zeitgenosse Webers, zog evolutionäre Erklärungen in vielen Fällen heran. So spricht er in seiner Untersuchung „Der Streit“ davon, dass man auf einen „apriorischen Kampfinstinkt nicht verzichten könne“ (Simmel 1968, 196); für diese Bereitschaft liegt nach seiner Meinung eine „leichte Suggerierbarkeit“ (Simmel 1968, 198) bereit und sozialer Hass richte sich gegen all jene, welche die Grundwerte der Gruppe zu negieren drohten. Neben diesen Klassikern der Soziologie haben sich vor allem auch Arnold Gehlen, Adolf Portmann, Helmuth Plessner, Wolf Lepenies und Dieter Claessens mit der Problematik des Darwinismus und seiner Implikationen für die Gesellschaftstheorie angenommen. Besonders einflussreich war dabei Gehlens These der Instinktreduktion, die den Menschen zum „Mängelwesen“ machte, da nach seiner Meinung die Spezies kaum mehr über ausgeprägte Instinkte verfügte (vgl. Lepenies 1971, 13). Gehlen führt aus, „die Institutionen wirken wie Stützpfeiler und wie Außenhalte, deren Veränderlichkeit zwar die gesamte menschliche Geschichte und Kulturgeschichte zeigt. […] Zerschlägt man die Institutionen eines Volkes, dann wird die ganze elementare Unsicherheit, die Ausartungsbereitschaft und Chaotik im Menschen freigesetzt“ (Gehlen 1961, 24). Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist vor allem, dass Gehlen, Plessner und weitere Vertreter der philosophischen Anthropologie für den Menschen eine Sonderstellung in Anspruch nehmen, da ihm als einzigem Primaten eine „exzentrische Positionalität“ (Plessner) zu eigen sei. Nach ihrem Urteil beruht diese Positionalität in erster Linie auf den geistigen Kompetenzen des Menschen. Wie Plessner ausführt, sind Instinkt und Geist gegensätzliche, aber evolutionär gleichwertige Konzepte (Plessner 1965, 24), so dass ein Dualismus von Körper und Geist notwendigerweise entsteht. „Der Körper steht dabei für eine naturale Determination, seine Bewegungen sind eingebettet in einen kausalen Mechanismus […]. Der Geist steht für die Autonomie des Menschen, seine Freiheit, letzten Endes unantastbar und unerreichbar“ (Plessner 1970, 278). Auf dem naturalen Hintergrund besagt dies, „dass schon der naturale in-put gar nicht als natural, sondern nur als von der Person verarbeitete Größe eingeht“ (Plessner 1970, 304) und diese Größe ist, wie Plessner weiter ausführt, immer „geschichtlich gebunden“ (Plessner 1970, 25). Hinsichtlich des Gehlen’schen Ansatzes betont Gerhard Vowinckel, dass die spezifischen geistigen Kompetenzen „menschliche Natur als Nicht-Natur“ (Vowinckel 1991, 3) zu erklären trachten. Kritisch führt auch Arno Plack aus, <?page no="247"?> Darwin und die Gesellschaftstheorie 247 dass sich die philosophische Anthropologie offenbar als Erbin der Theologie zu etablieren suchte, um dem Menschen jene Sonderstellung einzuräumen, die man heute nicht länger als haltbar erachten kann. Aus naturalistischer Sicht kann der „menschliche Geist“ nicht von den ihn bedingenden Elementen menschlichen Lebens abgetrennt werden (vgl. Wuketits 1985, 219). Folgt man neueren Erkenntnissen der Hirnforschung, scheint der Geist aus verschiedenen Modulen zu bestehen, die jeweils spezifischen Problemen menschlichen Verhaltens zugeordnet sind (Gigerenzer 1997, 272). Marcus führt zu diesem Thema weiter aus, dass der Geist, wenn man sich dieses Kürzels weiter bedienen darf „vorverdrahtet“ (Marcus 2005, 100) ist und geistige Prozesse der Schlüssel dafür sind, „warum es auf Erden intelligentes Leben gibt“ (Marcus 2005, 122). Aus naturalistischer Sicht ist demnach „das Ich kein höheres Wesen, das völlig unabhängig irgendwo im Gehirn existiert. […] Das Ich und der Körper sind somit untrennbar verschmolzen“ (Wilson 1998, 160). In der neueren soziologischen Theorie vertrat Niklas Luhmann eine autopoietische Systemtheorie, die auf ausdrücklich naturalistischer Grundlage die wesentlichen Probleme der Gesellschaftstheorie zu lösen versprach. Dieter Claessens merkte zu Luhmanns Unterfangen an, dass Luhmann ähnlich wie Gehlen zeigen wollte, wonach soziale Institutionen eine „Reduktion der Komplexität“ (Claessens 1980, 334) bewirken. Auch Luhmann selbst betonte in einer Schrift von 1973 ebenfalls diese Entlastungsfunktion, wenngleich er Gehlens Theorie als „impressionistisch“ (Luhmann 1973, 184) verwirft und ihn des mangelnden Verständnisses für die Systemtheorie zeiht. Luhmann stützte seine Theorie einerseits auf Ludwig von Bertalanffys Systemtheorie aus dem Jahre 1949 (Bertalanffy 1949), andererseits aber auf spätere Anregungen der chilenischen Biologen Maturana und Varela (Maturana u. Varela 1987). Im Gegensatz zu Bertalanffys Ansatz wollte Luhmann allerdings nicht mehr das System als Gegenstand ansprechen, sondern die Differenz von System und Umwelt. Luhmann betont, dass „solche Systeme alles, was sie als Einheit verwenden […], selbst als Einheit herstellen und dabei rekursiv die Einheiten benutzen, die im System schon konstituiert sind“ (Luhmann 1985, 602). Nach Luhmann entsteht menschliche Gesellschaft nur über die Kommunikation verschiedenster Systeme, beispielsweise des psychischen, des sozialen, des wissenschaftlichen und vieler anderer systemischer Gebilde, die nur über die Resonanz ihrer Codes und Programme miteinander verbunden sind. Folglich ist für Luhmann eine Auseinandersetzung mit dem Reduktionismus überflüssig, da „die Elemente immer durch das System konstituiert werden, das aus ihnen besteht“ (Luhmann 1985, 50). Von daher erscheinen Gene, die dem Reduktionismus als kleinste Einheiten gelten, für Luhmann als irrelevante Größen, da ihre Bedeutung allein vom System bestimmt werde. Der wesentliche Unterschied zum reduktionistischen Ansatz wird auch in Küppers’ Beobachtung deutlich, wonach die Systemtheorie „holistisch“ und empirisch nicht falsifizierbar ist (Küppers 1986, 175). Auf diesem Hintergrund ist Luh- <?page no="248"?> Peter Meyer 248 manns Urteil über die Soziobiologie und Evolutionsbiologie nicht erstaunlich, denn auch in seinem Spätwerk von 1997 „wird auf grundsätzliche Weise dem Forschungsprogramm der Soziobiologie widersprochen“ (Luhmann 1997, 438). Bei dieser Bewertung stützte sich Luhmann auf den Harvard-Biologen Stephen J. Gould, der sich neben einflussreichen eigenen Arbeiten auch durch seine Attacken auf Edward O. Wilsons Reduktionismus auszeichnete. Deutlich prallt hier Luhmanns konstruktivistische Sicht mit den Vorstellungen des Naturalismus zusammen. Wie Hartmut Esser hinsichtlich des Luhmann’schen Forschungsprogramms formuliert, sind „leibhaftige Menschen“ (Esser 2002, 29) in dieser Theorie kaum präsent, so dass man hier eine „grandiose Fehlentwicklung in der Soziologie“ (Esser 2002, 31) vermuten darf. Einige Aspekte des soziobiologischen Programms, dessen Wert Luhmann in Abrede stellt, sollen im abschließenden Teil dieser Abhandlung vorgestellt werden. 3. Darwin und der Sozialdarwinismus Die folgenden Überlegungen gelten dem Sozialdarwinismus, der fälschlicherweise Darwin zur Last gelegt wird. Tatsächlich aber waren Herbert Spencer, Ludwig Gumplowicz und William G. Sumner seine wichtigsten Protagonisten. Wie Richard Lewontin ausführt, wurde Spencers Formulierung des „survival of the fittest“ zur Legitimation des zeitgenössischen “laissez faire- Kapitalismus“ eingesetzt (Lewontin 1968, 209). Diese Doktrin machte Spencer zum Ahnherrn des Sozialdarwinismus, eine im Hinblick auf ihre spätere politische Wirkung beklagenswerte Ahnherrschaft, denn der Sozialdarwinismus wirkte nicht nur im Sinne einer Legitimation des Kapitalismus, sondern auch über faschistische und kommunistische Ideen unmittelbar in den politischen Raum hinein (Flohr 1987, 279). Im Gegensatz zu sozialdarwinistischen Vorstellungen formulierte Charles Darwin, „ich benutze den Begriff des Kampfs ums Dasein in einem weiten und metaphorischen Sinne, welcher das Angewiesen sein des einen Wesens auf Andere ebenso einschließt wie (was noch wichtiger ist), den Erfolg, Nachkommen zu haben“ (Darwin 1985, 116). Offenbar wollte Darwin diesen Begriff in erster Linie auf die Reproduktion beziehen. Herbert Spencer übertrug den Kampf ums Dasein vor allem auf das Kämpfen, was im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt: „Ebenso wie unter Tieren, übte der Krieg bei den Menschen großen Einfluss darauf aus, ihre gesellschaftliche Organisation auf ein höheres Niveau anzuheben. Hier werden einige Wege beschrieben, wie sich dies vollzog. Zunächst geschah dies dadurch, dass ständig einige Rassen [races] ausgelöscht wurden, welche sich den Bedingungen der Existenz am wenigsten anpassen konnten. Vor allem geschah dies durch das Aussterben solcher vergleichsweise schwacher Stämme, welche weniger Ausdauer, Mut, Weisheit oder auch Kraft zur <?page no="249"?> Darwin und die Gesellschaftstheorie 249 Kooperation besaßen. … Ein nicht weniger einflussreiches Erbe des Krieges war die Entfaltung zunehmend größerer Formen von Gesellschaft. Denn die Entwicklung der ursprünglich kleinen nomadischen Horden zu größeren Stämmen vollzog sich durch den Einfluss physischer Gewalt, ebenso wie diejenigen größeren Gesellschaften, die sich wieder in kleinere Horden zurückverwandelten; kurz, alle diese Prozesse geschahen durch den Einfluss physischer Gewalt.“ (Herbert Spencer 1873, 193-194; übersetzt von P. Meyer) An anderer Stelle formuliert Spencer: „Sieht man von solchen einfachen Gruppen wie den Eskimos ab, die sich in Regionen aufhalten, welche sicher vor Invasionen sind, befinden sich alle sonstigen Gesellschaften gelegentlich oder gewohnheitsmäßig im Konflikt mit anderen Gesellschaften. […] Mittlerweile haben wir zahlreiche Belege dafür, dass die zentralisierte Kontrolle das primäre Merkmal aller kämpfenden Einheiten ist, ob es sich dabei um Horden von Wilden, von Räubern oder Soldaten handelt. Es zeigt sich, dass die zentralisierte Kontrolle, die durch Kriege entstanden ist, die Regierung auch während Friedenszeiten charakterisiert.“ (Spencer 1876, 574; übersetzt von P. Meyer) Spencer war davon überzeugt, dass es keinen sichereren Weg ins schließliche Elend gäbe, als die Unglücklichen zu verhätscheln: „Den Schlechten bei der Vermehrung zu helfen heißt schlussendlich dasselbe, wie in bösartiger Weise unseren Nachkommen eine Unzahl von Feinden zu schaffen“ (Russett Eagle 1981, 337). Eine Passage des amerikanischen Soziologen William Graham Sumner bestätigt Spencers Vorstellungen weitgehend. „Es sind die Notlagen des Krieges mit Fremdgruppen, welche im Binnenraum der Gesellschaften friedliche Verhältnisse befördern. Diese Notlagen fördern auch die Institution der Regierung sowie des Gesetzes innerhalb der Gruppe, um so Streitigkeiten im Binnenraum zu vermeiden“ (Sumner 1911, zit. nach van der Dennen, 1995, 232). Eine Alternative zum Sozialdarwinismus entwickelt Peter Kropotkin, wonach „in allen Fällen die Geselligkeit der größte Vorteil im Kampf ums Dasein ist. Solche Arten, die sie gezwungen oder freiwillig aufgeben, sind zum Niedergange verurteilt, während solche Tiere, die es am besten verstehen, sich zusammenzuschließen die größten Aussichten haben zu überleben und sich weiter zu entwickeln“ (Kropotkin 1975, 68). Diese Zitate verweisen darauf, dass Darwin nicht für Interpretationsfehler dieser Soziologen verantwortlich zu machen ist. 4. Evolutionäre Voraussetzungen menschlicher Hordensozialität Trotz der durch den Sozialdarwinismus verursachten wissenschaftlichen Probleme verschaffte die Entwicklung der neueren Evolutionsbiologie vielseitige Anregungen, welche die Gesellschaftstheorie teils mit Ablehnung, teils aber auch zustimmend zur Kenntnis nahm. Eine neue Entwicklung ist etwa <?page no="250"?> Peter Meyer 250 um 1970 durch Arbeiten des britischen Biologen William D. Hamilton entstanden. Hamilton konnte hinsichtlich des Sozialverhaltens verschiedener Insektenspezies zeigen, dass „die Arbeiterinnen für ihre Schwestern dreimal so viel Futter anbringen wie für ihre Brüder, die Drohnen, was mit dem jeweiligen Verwandtschaftsgrad übereinstimmt“ (Barash 1980, 88). Hamilton gelang es, die Vorstellungen des traditionellen Darwinismus insofern zu erweitern als er nachweisen konnte, dass die Verwandtenselektion (inclusive fitness) die „Summe der individuellen Fitness wie auch die genetische Repräsentation über Verwandte mit einschloss“ (Barash 1978, 17). Demnach erweist sich individuelle Fitness nicht allein durch die Nachkommen des betreffenden Individuums, sondern auch in den Nachkommen seiner oder ihrer Verwandten, die mit der betreffenden Person Teile ihres Erbguts teilen. Wenngleich sich Hamiltons wie Wilsons Analysen vor allem auf soziale Insekten bezogen, geht das zentrale Theorem der Evolutionsbiologie davon aus, dass auch menschliche Individuen nach maximaler Reproduktion streben. Folgt man anthropologischen Erwägungen über die Vorfahren des Jetztmenschen, so spricht einiges dafür, dass Menschen einstmals in kleinen Gruppen von weniger als einhundert Individuen lebten (Maryanski 1994, 381). Nach Maryanski war das Verhalten innerhalb dieser kleinen Horden meist kooperativ, wobei tief verwurzelte biologische Imperative den Ausschlag gaben. Boyd und Richerson führen hinsichtlich der Herkunft dieser Imperative aus, dass sie aus der Ko-Evolution von Genen und Kultur entstanden waren (Boyd u. Richerson 1998, 72). Interessant für den gegenwärtigen Zusammenhang ist, dass diese Lebensweise wichtige Konsequenzen für die männlichen und weiblichen Mitglieder dieser Horden mit sich brachte, die im folgenden Kapitel weiter beleuchtet werden sollen. 4.1 Geschlechtsspezifische Beiträge zur Hordensozialität Schon Darwin führte aus, dass dasjenige Geschlecht, das mehr Zeit und Energie in die Nachkommen investiert, zu einer knappen Ressource für das andere Geschlecht wird. Lässt man hier animalische Beispiele außer Betracht, werden weibliche Individuen zu einer knappen Ressource für männliche Individuen (Barash 1980, 155), und wie sich zeigen wird, hat dies große Bedeutung für das Verständnis des Verhaltens der Geschlechter. Bekanntlich streben Soziologie und Evolutionsbiologie danach, befriedigende Erklärungen für menschliches Verhalten zu finden. In der Regel gehen Soziologen davon aus, dass die Individuen das nachvollziehen, was sich in einer Gruppe seither bewährt hatte. Meist nutzen Soziologen dafür den Begriff der sozialen Rolle, der zum „selbstverständlichen Begriffsinventar“ des Faches zählt (Griese 1989, 547). Dabei stellt man sich vor, dass Eltern ihren Kindern die in der Gruppe vorherrschenden Erwartungen über typisches weibliches und männliches Verhalten weitergeben. Allerdings versagt dieses soziologische Konzept, wenn die unterschiedlichen Fitness-Erwartungen von Clans und Familien angespro- <?page no="251"?> Darwin und die Gesellschaftstheorie 251 chen sind. In einer von Wang entwickelten Studie über Risikoverhalten ging es darum, dass sechs hypothetische Familienmitglieder durch eine fatale tödliche Krankheit infiziert waren. Die Resultate der Studie zeigen, „dass die Entscheidung in einer potentiell lebensbedrohlichen Situation vom Alter der betreffenden Person, ihrer Gesundheit, ihrem Wohlstand und seiner oder ihrer potentiellen Fertilität abhing“ (Wang 1996, 11). Insgesamt kommt die Studie zu zwei wichtigen Ergebnissen, nämlich dass erstens bei solchen Entscheidungen die Gesamtfitness der betreffenden Familie ausschlaggebend ist, und dass zweitens menschliche Kognitionen nicht unabhängig von den spezifischen Interessen der betreffenden Person entstehen. Eine entscheidende Rolle spielen geschlechtsspezifische Interessen auch in Martin Dalys und Margo Wilsons Studie über Motive von Tötungsverbrechen (Daly u. Wilson 1998). Bei dieser Studie ging es vor allem um eine Erklärung dafür, warum die Anzahl der von Männern verübten Tötungsdelikte die von Frauen weit übertreffen. Wie Meyer durch Verweis auf kulturanthropologisches Material demonstrieren kann, waren bei der Kriegführung einiger indianischer Völker Südamerikas nicht materielle Güter das Ziel, vielmehr ging es in erster Linie um Trophäen. Sowohl bei den Yanomamö, den Jivaro und den Mundurucu (Meyer 2004, 403) war es in erster Linie der Besitz dieser Trophäen, welcher die Männer für eine Verheiratung qualifizierte. Gemeinsam war diesen Kulturen, dass sie eine kausale Beziehung zwischen kriegerischem Erfolg und der Reproduktion konstruierten, indem sie in mythologischer Form dem siegreichen Kämpfer ein besonderes Maß an Fertilität zuschrieben, und ihm das Privileg der Verheiratung - teilweise mit mehreren Frauen - zukam. Wie Daly und Wilson im Blick auf moderne Verhältnisse in den Vereinigten Staaten der siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigen, geschieht ein größerer Teil von Tötungsdelikten ebenfalls im Zusammenhang von Status und Besitz, bei denen junge Männer um Frauen konkurrieren. Zusätzlich obliegt in traditionellen Gesellschaften den Männern die Pflicht zur Blutrache, ein Umstand, der in jüngerer Zeit gelegentlich durch entsprechendes Verhalten von Migranten auch in Deutschland auftritt. Wenngleich die von Männern verübten Verbrechen die von Frauen weit übertreffen, gibt es auch typischerweise von Frauen begangene Vergehen, etwa an ihren eigenen Kindern, die gelegentlich junge, unverheiratete Mütter verüben (Blaffer Hrdy 2002, 53). Dies sind einige Hinweise darauf, dass die Erklärungskraft der Soziologie nicht ausreicht, um geschlechtsspezifische Handlungen von Menschen angemessen zu erklären. Hinsichtlich des Geschlechtsthemas erläutert beispielsweise Anthony Giddens, ein führender britischer Soziologe, dass der Begriff des Geschlechts meist im „biologischen und physiologischen Sinne“ (Giddens 1999, 98) gebraucht werde, während es nach seiner Auffassung für Soziologen ausgemacht sei, dass es sich beim Geschlecht um ein „kulturelles Konstrukt“ handele. Andere Soziologen setzen hingegen deutlicher postmoderne Akzente, etwa wenn Dorothea Bührmann postuliert, dass das „System der Zweigeschlechtlichkeit, in dem Individuen in <?page no="252"?> Peter Meyer 252 zwei eindeutig definierte und sich gegenseitig ausschließende Geschlechter eingeteilt werden, sozial konstruiert und nicht als Naturtatsache zu betrachten ist“ (Bührmann 2006). Ähnlich formuliert auch der Münchner Soziologe Armin Nassehi, dass der Sexus eine Gender-Kategorie sei, und „der Leib keine Natur im Sinne unbedingten So-Seins ist“ (Nassehi 1991, 355); darüber hinaus habe sich die Frage nach der „Natur des Menschen überlebt und paradox gemacht“ (Nassehi 1991, 354). Im Gegensatz zu diesen Formulierungen scheint mir die Aussage von Alice Rossi eher zutreffend, wonach „die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht einfach eine Funktion der Sozialisation, der kapitalistischen Produktionsweise oder des Patriarchats“ sind, sondern „auf den fundamentalen Zwecken der Reproduktion der Spezies homo“ (Rossi 1984, 1; übersetzt von P. Meyer) begründet sind. 4.2 Das Inzesttabu Die gesellschaftstheoretische Diskussion dieses Themas kreiste seit Jahrzehnten um die Frage, ob das Inzesttabu Bestandteil gesellschaftlicher Regulierung ist, oder ob die Selektion die Grenzen der Kulturen überwindet und damit die Universalität des Tabus bewirkt. Die große Mehrheit der Soziologen geht inzwischen davon aus, dass die Inzestmeidung ein kulturelles Universal ist, dessen Wurzeln allerdings nicht eindeutig auszumachen sind. Zahlreiche soziologische Autoren schlossen sich Freuds psychoanalytischen Deutungen an, die, wie sich zeigte, in die Irre führten. Einer der führenden Autoren der funktionalistischen Tradition, Talcott Parsons, behandelte das Tabu, indem er auf seine Bedeutung für die Gesellschaft des antiken Ägyptens hinwies, wobei er der psychoanalytischen Tradition verhaftet blieb. Auch Jürgen Habermas ist dieser Tradition verpflichtet, indem er den Zusammenhang zwischen „Inzest und der Entstehung der Vaterrolle“ (Habermas 1976, 149; 170) anspricht. Schließlich kann auch auf Luhmann verwiesen werden, der postuliert, das Tabu sei „zunächst interaktionsspezifisch eingeführt worden“ und habe „sich dann gesellschaftlich bewährt“ (Luhmann 1985, 591). In neuerer Zeit können Ethologie und Soziobiologie Beweise dafür vorlegen, dass die Meidung sexuellen Verkehrs zwischen Nahverwandten auch in zahlreichen Tierspezies jenseits des Menschen nachweisbar ist und Bestandteil von Darwins Theorie der sexuellen Selektion ist. In der zuvor zitierten Passage sagt Darwin, „hier geht es nicht um den Kampf ums Dasein, sondern um den Kampf der männlichen Individuen um den Besitz an weiblichen Individuen; dessen Ergebnis keineswegs der Tod des erfolglosen Bewerbers ist, sondern eine geringe Nachkommenzahl oder überhaupt keine Nachkommen“ (Darwin 1985, 136; übersetzt von P. Meyer). Im Nachhinein zeigt sich, dass die schon im Jahr 1891 von Westermarck geäußerte Vermutung berechtigt war, wonach „sich zwischen Personen, die seit ihrer Kindheit zusammenleben, keine erotische Spannung“ (vgl. Brown 1991, 118) entwickelt. Dieser Effekt wird in zahlreichen Studien bestätigt, beispielsweise in Shephers Kib- <?page no="253"?> Darwin und die Gesellschaftstheorie 253 buz Studie, die in Norbert Bischofs „Das Rätsel Ödipus“ (Bischof 1985) im Detail besprochen wird (vgl. Roos 2008, 135). Abschließend kann festgehalten werden, dass weder die Gesellschaftstheorie noch andere Wissenschaften vollständig unabhängig voneinander sind, denn als empirische Wissenschaften müssen sie ständig danach streben, Beweise für ihre Annahmen auch in anderen Disziplinen zu suchen, um sich ein vollkommenes Bild der Gesellschaft zu verschaffen. Wie sich zeigte, sind Entwicklungen des Darwinismus geeignet, der Gesellschaftstheorie neue Impulse zu vermitteln. Literatur Agassi, J. 1977: Towards a rational philosophical anthropology. Martinus Nijhoff, Den Haag. Albert, H. 1999: Die Soziologie und das Problem der Einheit der Wissenschaften. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 51(2), 215-232. Antweiler, Ch. 1990: Das eine und die vielen Gesichter kultureller Evolution. Anthropos 85, 483-506. Baldus, B. 2002: Darwin und die Soziologie. Kontingenz, Aktion und Struktur im menschlichen Sozialverhalten. Zeitschrift für Soziologie 31, 316-331. 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Diesen weltanschaulichen Bruch durchlebte auch Darwin selbst: Noch während seines Studiums war er als bibeltreuer Christ von Paleys physikotheologischen Ausführungen begeistert. Doch Lyells Schriften und die Beobachtungen während seiner Weltreise nötigten ihn - zum Leidwesen seiner Frau Emma - zu einem agnostischen Standpunkt, der sich der völlig unterschiedlichen methodischen Ebenen von naturwissenschaftlicher Empirie und existentieller Glaubenserfahrung bewusst ist. Darüber scheinen sich in der heutigen Diskussion um das Verhältnis von Evolution und Schöpfung weder Designtheoretiker noch Naturalisten im Klaren zu sein. Dabei hat das Christentum die primäre heilsgeschichtliche Erfahrung stets in Auseinandersetzung mit dem geltenden Weltbild schöpfungstheologisch gedeutet. Vor dieser Aufgabe steht die Theologie auch heute wieder: Es gilt, die Wirklichkeit des geschichtsmächtigen Gottes im Kontext offener Selbstorganisationsprozesse weiterzudenken. Mögliche Ansätze dazu existieren bereits. 1. Die evolutionsbiologische Provokation Als Darwins berühmtes Buch Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl 1859 erschien, konnte man am Ende des Buches lesen: „Wie anziehend ist es, ein mit verschiedenen Pflanzen bedecktes Stückchen Land zu betrachten, mit singenden Vögeln in den Büschen, mit zahlreichen Insekten, die durch die Luft schwirren, mit Würmern, die über den feuchten Erdboden kriechen, und sich dabei zu überlegen, daß alle diese so kunstvoll gebauten, so sehr verschiedenen und doch in so verwickelter Weise voneinander abhängigen Geschöpfe durch Gesetze erzeugt worden sind, die noch rings um uns wirken. Diese Gesetze, im weitesten Sinne genommen, heißen: Wachstum mit Fortpflanzung; Vererbung (die eigentlich schon in Fortpflanzung enthalten ist); Veränderlichkeit infolge indirekter und direkter Einflüsse der Lebensbedingungen und des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs; so rasche Vermehrung, daß sie zum Kampf ums Dasein führt und infolgedessen auch <?page no="258"?> Günter Altner 258 zur natürlichen Zuchtwahl, die ihrerseits wieder die Divergenz der Charaktere und das Aussterben der minder verbesserten Formen veranlaßt. Aus dem Kampf der Natur, aus Hunger und Tod geht also unmittelbar das Höchste hervor, das wir uns vorstellen können: die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Wesen. Es ist wahrlich etwas Erhabenes um die Auffassung, daß der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat und daß, während sich unsere Erde nach den Gesetzen der Schwerkraft im Kreise bewegt, aus einem so schlichten Anfang eine unendliche Zahl der schönsten und wunderbarsten Formen entstand und noch weiter entsteht.“ (Darwin 2007, 678) 1 Eine geniale Zusammenfassung der komplexen Tatbestände! Für unsere heutigen Ohren klingt das nicht so sensationell. Wir sind der Evolutionstheorie im Schulunterricht oder in anderen Zusammenhängen begegnet. Das war zu Darwins Zeit ganz anders. Darwins Buch bedeutete eine Provokation des damaligen statischen Weltbildes und wurde auch so in Wissenschaft und Gesellschaft empfunden. Der Eklat war da und Darwin hatte es befürchtet. Obwohl seitdem 150 Jahre vergangen sind und die Evolutionstheorie längst zur Fundamentaltheorie der modernen Biologie geworden ist, bleibt die Gesprächslage angespannt. Laut einer Allensbach-Umfrage glauben 61 Prozent der Deutschen, dass Menschen und Affen gemeinsame Vorfahren haben. Aber immerhin 18 Prozent der Bevölkerung zweifeln immer noch an Darwins Theorie (Schwemmer 2009). In diesen Kreisen werden kreationistische Standpunkte vertreten. Hinzu kommt als neue Variante die Designtheorie, also die Vorstellung, dass ein göttlicher Designer den Evolutionsprozess mit klarer Zielorientierung moderiere. Es gibt auch naturwissenschaftliche und theologische Befürworter dieses Standpunktes. Der Wiener Kardinal Schönborn konnte in der New York Times vom 7.7.2005 schreiben: „Evolution in the sense of common ancestry might be true, but evolution in the neo-Darwinian sense - an unguided, unplanned process of random variation and natural selection - is not. Any system of thought that denies or seeks to explain away the overwhelming evidence of design in biology is ideology, not science. Consider the real teaching of our beloved John Paul. While his rather vague and unimportant 1996 letter about evolution is always and everywhere cited, we see no one discussing these comments from a 1985 general audience that represents his robust teaching on nature: ‚All the observations concerning the development of life lead to a similar conclusion. The evolution of living beings, of which science seeks to determine the stages and to discern the mechanism, presents an internal finality which arouses admiration. This finality which directs beings in a direction for which 1 Vgl. zum Ganzen auch Altner 2009. <?page no="259"?> Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung 259 they are not responsible or in charge, obliges one to suppose a Mind which is its inventor, its creator.‘“ Auf der anderen Seite ist der Ton nicht minder scharf. Der Wiener Evolutionsbiologe Franz M. Wuketits führt aus: „Aber bei näherer Hinsicht erweisen sich Evolution und Schöpfung als unvereinbar, und es macht keinen Sinn, Evolutionstheorie und Schöpfungslehre miteinander versöhnen zu wollen… Gott in der Evolution zu suchen, ist daher ein hoffnungslos naives Unterfangen, das letztlich schwer enttäuschen muss. Der oft beschworene allmächtige und gütige Gott steht in Anbetracht des unsäglichen Leidens in dieser Welt auf verlorenem Posten… Mittlerweile haben sich die meisten Biologen weitgehend von Gott und von der Religion abgewandt.“ (Wuketits 2000, 3-5) Nach 150 Jahren Diskursgeschichte mit einer gewaltigen literarischen Produktion, in der es neben aller wechselseitigen Polemik auch sehr gescheite Vermittlungsangebote gibt, wirkt die etwas holzschnittartige Konfrontation von heute wie ein Rückfall. Es gibt natürlich auch Erklärungen dafür, dass Polemik immer wieder durchschlägt. Um hier nur zwei Aspekte zu nennen: Die Evolutionstheorie als Theorie zur Geschichte der Natur im Sinne eines offenen Prozesses in der Zeit wird trotz aller Fortschritte immer unabgeschlossen bleiben. Zum anderen gibt es eine permanente Ignoranz gegenüber der Tatsache, dass wissenschaftliche Empirie und Glaubenserfahrungen methodisch auf ganz verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Wir werden im Folgenden diese Unterschiede deutlich herausarbeiten. Methodisch vollziehen sich Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie auf ganz verschiedenen Ebenen. Die religiöse Sichtweise resultiert aus einer Existenzerfahrung in der Begegnung mit der Wirklichkeit Gottes, die sich in der Geschichte Europas vor allem in den Traditionszusammenhängen von Christentum und Judentum ereignet. Sie hat so gesehen immer eine biografische und darüber hinaus eine religionssoziologische und gesellschaftliche Dimension. Theologie stellt den Versuch dar, mit den kritischen Mitteln des Denkens über diese Erfahrung Auskunft zu erteilen. Im Erkenntnisansatz der Naturwissenschaften geht es um etwas ganz anderes. Hier handelt es sich n i c h t um eine überwältigende Existenzerfahrung, sondern um eine vom Menschen ausgehende dezidierte Erkenntnisabsicht, die Natur mittels Experiment und Mathematik der Berechnung zu unterwerfen. So wie es schon der Philosoph René Descartes formuliert hatte: An Natur berechenbar machen, was berechnet werden kann, et si deus non daretur: Als ob es Gott nicht gebe. Hier ist die Erfahrung Gottes per definitionem ausgeschlossen! Es geht um eine rein innerweltliche (immanente) Faktorenanalyse im Horizont von Ursache und Wirkung. Wie unangemessen ist es, der so arbeitenden Empirie Hinweise auf die Existenz Gottes abnötigen zu wollen. Das können die exakten Naturwissenschaften gar nicht leisten. Die Frage nach Gott ist prinzipiell ausgeschlossen. <?page no="260"?> Günter Altner 260 Zu Darwins Zeiten war diese methodische Trennung noch keine Selbstverständlichkeit. Mehr noch, zu den großen Leistungen Darwins gehört es, dass er, der noch durch ein physikotheologisches Weltbild (das Handeln Gottes wird an der physischen Ordnung der Natur ablesbar) geprägt war, die empirische Ursachenanalyse in die Biologie einführte, und dies auf dem schwierigsten Feld der belebten Natur: der allgemeinen Abstammungsgeschichte. Darwin hat diesen Durchbruch förmlich durchlitten. Wir werden uns im nächsten Schritt mit den historischen Zusammenhängen beschäftigen. Aber eine Frage bleibt bei der hier vorgenommenen Trennung zwischen Naturwissenschaft und Religion/ Theologie/ Glaube. Gibt es irgendwo einen Berührungspunkt? Immerhin richtet sich das Augenmerk von Evolutionsbiologie und Schöpfungsglaube auf den gleichen Wirklichkeitszusammenhang: Die Existenz des Menschen in einer werdenden Welt, die einerseits als Evolution und andererseits als Heilsgeschehen (Schöpfung und Erlösung) verstanden wird. Die Antwort auf die hier zu entscheidenden Fragen hängt davon ab, ob die beiden Kontrahenten die spezifische Tragweite (und die Ergänzungsbedürftigkeit) ihres eigenen Erkenntnisverfahrens kritisch einzuschätzen wissen, oder ob sie in einer weltanschaulichen Überziehung das Ganze der Wahrheit für sich beanspruchen und damit der Gegenseite unsachlich ins Handwerk pfuschen. Genau das geschieht, wenn die Befürworter der Designtheorie ihren göttlichen Designer gegen Darwins Selektionstheorie ins Spiel bringen. Doch geht es auch ähnlich zu, wenn Biologen wie Franz M. Wuketits und der Kasseler Ulrich Kutschera ihre Erkenntnisse naturalistisch als die einzig mögliche Position deklarieren und andererseits Religions- und Christentumsgeschichte als eine einzige Geschichte skurriler Absurditäten darstellen. Das ist sie gewiss auch, aber nicht nur. Naturwissenschaft ist methodisch an das Prinzip der Objektivität und nur daran gebunden. Das ist wohl wahr. Aber ob sie deshalb naturalistisch sein muss? Es entspricht der Alltagspraxis naturwissenschaftlicher Forschungsarbeit, wenn Forscher von der Absicht getragen sind, mit ihrem Erkenntnisansatz eines Tages die ganze Wirklichkeit naturwissenschaftlich erklären zu können. Aber ob und wie das gelingen kann, ist angesichts anderer Erkenntnis- und Erfahrungsmöglichkeiten eine offene Frage. 2. Der Erkenntnisweg Darwins Vom stabilen Haus der Schöpfung zur Dynamik der Evolution, so könnte man Darwins Durchbruch in ein neues wissenschaftliches Weltbild in Stichworten kennzeichnen. Darwin war für dieses „Abenteuer“ insofern prädestiniert, als er einerseits von Jugendzeiten an ein leidenschaftlicher Naturbeobachter und Sammler war, andererseits aber, bedingt durch die besonderen <?page no="261"?> Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung 261 Umstände seiner Biografie, ein Bakkalaureat-Examen (Bachelor of Arts) absolviert hatte und sich in diesem Rahmen auch mit den Werken des großen Physikotheologen William Paley befasste. Von dessen Natural Theology (1802) war er begeistert. Diese besondere Konstellation in der beruflichen Ausbildung von Charles Darwin war durch persönlich-biografische und durch die damaligen hochschulpolitischen Umstände bedingt. Darwin, Sohn eines begüterten Landarztes, sollte nach dem Willen seines Vaters Medizin studieren. Da er aber nach wenigen Semestern in Edinburgh vor dem "blutigen" Handwerk der damaligen Medizin zurückschreckte, wurde er für die Laufbahn eines Landpfarrers bestimmt. Auch auf diesem Berufsweg hätte er seinen Naturinteressen und Sammelleidenschaften frönen können. So taten es damals viele Pfarrer und Lehrer zum Wohle der Wissenschaften. Die allgemeinen Umstände kamen diesem Plan insofern entgegen, als es damals in Cambridge und Oxford üblich war, dass Professoren, auch im Bereich der Naturwissenschaften, zugleich Geistliche der Anglikanischen Kirche sein mussten. Das waren, wie sich an den Lehrern Darwins zeigen sollte, tüchtige Naturwissenschaftler. Aber in einem waren sie sich alle einig: Je genauer die Naturerkenntnis, desto eindeutiger der Hinweis auf den "großen Uhrmacher", der alles dieses am Anfang der Welt so gemacht hatte, wie es bis heute Bestand hat. Wie hatte der große Paley geschrieben: „Whatever is done, God could have done, without the intervention of instruments or means: but it is in the construction of instruments, in the choice and adaption of means, that a creative intelligence is seen“ (Paley 2006, 27). So wie eine Uhr in ihrer kunstvollen Feinanpassung der Rädchen und Federn auf den Uhrmacher (oder gar einen bestimmten) schließen lässt, so ist die Geschöpfwelt in ihrer differenzierten Vielfalt insgesamt ein einziger Hinweis auf den weisen Schöpfer als Urheber, der alles so gestaltete, wie es bis heute besteht. Ein durch und durch statisches Weltbild mit theologischer Fundierung! Das war es, was als unbestrittene, ja selbstverständliche Prämisse im Bewusstsein der englischen Bürgergesellschaft und speziell der Hochschul- Community existierte. Und genau hier entstand der Bruch, den Darwin bei der Auswertung seiner Funde und Beobachtungen nach der Weltreise herbeizuführen sich genötigt sah. Darwin entdeckte die Perspektive einer innerweltlichen Evolutionsgeschichte (Evolutionstheorie). Er verspürte allerdings dann auch die Pflicht und den Ehrgeiz, dafür eine kausale immanente (ohne Schöpfer) Erklärung zu finden (Selektionstheorie). Was hier in gedrängter Darstellung als abrupter Bruch erscheint, war das Ergebnis einer langen persönlichen Geschichte, die Darwin erst einmal auf einem Vermessungsschiff der englischen Krone rund um die Erde führte. Die nachstehende biografische Übersicht lässt das deutlich erkennen: <?page no="262"?> Günter Altner 262 1809 Geburt in Shrewsbury 1825-27 Medizinstudium in Edinburgh 1828-31 Bachelor of Arts-Studium in Cambridge. Seine akademischen Lehrer sind u.a. Henslow (Botanik) und Sedgwick (Geologie); Einfluss von Herschels Wissenschaftsphilosophie, Bekanntschaft mit Whewell (Philosophie, Wissenschaftsgeschichte) 1831-36 Weltreise mit dem Vermessungsschiff H.M.S. Beagle unter Kapitän FitzRoy 1839 Heirat mit Emma Wedgwood 1842 Umzug nach Down ins „Down House“ Kurze Bleistiftskizze seiner Theorie 1844 Ausarbeitung der Bleistiftskizze zur Evolutionstheorie 1859 Erste Auflage von On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. Darwin hatte erst 1842, sechs Jahre nach seiner Rückkehr von der Weltreise, eine erste Skizze seiner Theorie „mit Bleistift“ zu Papier gebracht: zart und skizzenhaft, jederzeit wegradierbar! 1844 arbeitete er sie zu einem 230seitigen Manuskript aus. Und dann sollte es noch 15 Jahre dauern, bis seine Theorie als Buch erschien. Und da bedurfte es auch noch des Drängens seitens der Freunde. Die immense Zögerlichkeit Darwins resultierte einmal aus dem Gefühl, die Begründung der Evolution durch die Selektionstheorie (mit den Faktoren "Vererbung und Auslese") möglichst detailliert durchführen zu müssen. Und damit kam er Zeit seines Lebens nicht zu Ende. Ja, diese Aufgabe ist trotz aller Bestätigungen und Erfolge in der modernen Biologie bis heute unabgeschlossen. Andererseits war Darwin sich ständig des weltanschaulichen Bruchs bewusst, den er - die Physikotheologie hinter sich lassend - bewältigen musste. Er dachte an die empörten Reaktionen in der Öffentlichkeit und hatte das Gefühl, einen „Mord“ gestehen zu müssen (Burkhardt et al. 1987, Bd. 3, 2). Immer lastete dieser Druck auf Darwin, aber er blieb hartnäckig und gewissenhaft. Er wusste: Wissenschaftlich ermittelte Ursachen sind nur Ursachen, wenn sie nachweislich existieren. Sie müssten im Sinne des naturwissen- <?page no="263"?> Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung 263 schaftlichen Beweises beobachtbar sein und sich im Blick auf die zu erklärende Erscheinung auch als angemessen erweisen. Die Behauptung der Angemessenheit ihrerseits bedarf der Bewahrheitung durch Experiment und wiederholbare Beobachtung. So hatte er es bei dem Philosophen John Herschel gelernt. Man kann den Denkweg Darwins vom göttlichen Designer zur Selbstorganisation des Evolutionsprozesses im Raster der Hauptgedanken von William Paley und Charles Darwin schematisch verdeutlichen. Fasst man Paleys Ansatz in den wesentlichen Punkten zusammen, so ergeben sich fünf grundlegende Feststellungen: 1. Arten sind konstant. Es gibt weder Entwicklung als Keimesnoch als Stammesgeschichte. Alle aufeinander folgenden Generationen sind bereits am ersten Schöpfungstag ineinander geschachtelt vorhanden. 2. Die Lebewesen sind kompliziert gebaute Mechanismen. 3. Die Anpassung (Fitness) der Organismen an ihre Umwelt lässt sich in allen Bereichen der Natur aufzeigen. 4. Die differenzierte Anpassung der Lebewesen ermöglicht ihr Zusammenleben auf engstem Raum. 5. Der planvolle Aufbau der Organismen wie auch ihre sinnvolle Angepasstheit an die Umwelt führen zwingend zu der Annahme eines vernünftigen Konstrukteurs im Sinne eines alles bedingenden Verursachers. Was geschieht nun mit diesen Vorstellungen Paleys bei Darwin? Auch hier wollen wir die wesentlichen Beobachtungen und Feststellungen in einer Punktfolge festhalten. Es geht um den Versuch einer ursächlichen Erklärung (Selektionstheorie), wobei der Gedanke der Evolution, der sich für Darwin im Rückblick auf die Weltreise erschlossen hatte, als Prämisse vorauszusetzen ist. Sechs „Gesetze“ (besser wohl: Faktorenfelder) sind es, die Darwin in seiner Zusammenfassung nennt: 1. Wachstum mit Fortpflanzung/ Vererbung. 2. Veränderlichkeit des Erbgutes (erbliche Variabilität). 3. Rasche Vermehrung: Streben der Lebewesen, sich zahlenmäßig zu vermehren. 4. Jedoch Gleichbleiben der Populationsgrößen als Folge des Kampfes ums Dasein. 5. Zuchtwahl durch Vernichtung der Nachkommenüberschüsse und Überleben der durch Variieren des Erbgutes besser angepassten Formen. 6. Wandel des Artbildes durch Auslese: Divergenz der Charaktere. Was also geschieht mit den Vorstellungen Paleys bei Darwin? Blicken wir auf die beiden Erklärungsmuster! Darwin, der zum Baccalaureatsexamen „seinen Paley“ vorzüglich beherrschte (1831), tritt seine Weltreise mit dem Vermes- <?page no="264"?> Günter Altner 264 sungsschiff Beagle nach seinen eigenen Worten noch als bibelgläubiger Christ an: „Whilst on board the Beagle I was quite orthodox“ (Darwin 1969, 85). Dann, unter dem Eindruck seiner Beobachtungen und der Lektüre von Lyells Principles of Geology vollzieht sich seine Wandlung zum Evolutionisten. Und damit gerät die Statik des Paley’schen Systems in Bewegung: Fällt die Voraussetzung, dass die Arten konstant sind (Punkt 1), dann gerät auch die Prämisse des überlegenen Konstrukteurs (Punkt 5) in Gefahr. Die Suche nach der Ursache für die erstaunliche Angepasstheit der Lebewesen (Punkt 3 und Punkt 4) verlagert sich in den innerweltlichen Bereich und verbindet sich hier mit der Frage nach der Veränderlichkeit der Arten. Die mechanistische Interpretation des Einzelorganismus (Punkt 2) als Produkt des großen Uhrmachers wird nun auf das gesamte Evolutionsgeschehen ausgeweitet. Aus dem göttlichen Maschinenbauer und seinen Maschinen wird die sich selbst bauende „Maschine des Evolutionsgeschehens“ (mechanistische Evolutionstheorie). Die Beobachtung der ausgesprochen feinen Angepasstheit der Organismen (Punkt 3) und die Feststellung des dadurch bewirkten Zusammenlebens verschiedener Arten auf engstem Raum (Punkt 4) verbinden sich mit Darwins Entdeckung der allgemeinen erblichen Variabilität und der Vernichtung minder angepasster Nachkommenüberschüsse durch die auslesende Umwelt. Aus der göttlichen Ordnung von „Fitness and fitting of one Thing to another“ wird der sich selbst steuernde Prozess der natürlichen Zuchtwahl, der zu dem Ergebnis des „survival of the fittest“ führt. Was also war geschehen? In den Sammlungskisten von der Weltreise stapelte sich das rezente und fossile Beweismaterial für die Evolution. Bei der jahrelangen Auswertung entstand nach und nach eine neue Weltsicht: Evolution! So trat Darwin aus dem wohl geordneten Haus der physikotheologischen Weltsicht in eine total geöffnete Evolutionsperspektive, die die ganze Natur dem Fluss der Zeit aussetzte. Damit war für Darwin auch die Annahme eines göttlichen Lenkers dahin. Und er stand vor der Kärrnerarbeit einer rein innerweltlichen Ursachenanalyse. Nüchtern, wie Darwin war, hat er die neue Situation am Beispiel einer Muschel zusammengefasst. In seiner Autobiografie schreibt er rückblickend: „Das alte Argument vom Bauplan in der Natur, das Argument Paleys, das mir früher so schlüssig vorgekommen war, hat inzwischen, seit das Gesetz der natürlichen Selektion entdeckt ist, seine Kraft verloren. Wir können nicht mehr argumentieren, daß zum Beispiel ein so wundervoller Gegenstand wie eine zweischalige Muschel ebenso von einem intelligenten Wesen gemacht sein muß wie eine Türangel von Menschen. In der Variabilität organischer Wesen und in dem Vorgang natürlicher Selektion scheint uns nicht mehr Planung zu stecken als in der Richtung, aus der der Wind bläst.“ (Darwin 2008, 96f.) Aber damit war die große Auseinandersetzung über die Frage eröffnet, ob es noch sinnvoll sei, über die Schöpfung zu sprechen und wenn ja, wie das Verhältnis von Evolution und Schöpfung zu denken sei. Diese Diskussion erfasste <?page no="265"?> Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung 265 die englische Gesellschaft und darüber hinaus viele Länder der Erde. Eine besondere Variante dieser Auseinandersetzung ergab sich im Hause Darwin. Charles und seine Frau Emma, die durch eine tiefe Liebe miteinander verbunden waren, konnten sich über diese Frage nicht einigen. 3. Die Gottesfrage im Hause Darwin und in der Christentumsgeschichte Für Darwin war mit der wissenschaftlichen Begründung der Evolutionstheorie durch die Wechselwirkung von Vererbung und Auslese die Gottesfrage erledigt. Der physikotheologische Gottesbeweis lag jenseits der von ihm ins Feld geführten empirischen Kriterien. Aber Darwin war klug genug, damit nicht einfach die Gottesfrage entschieden zu sehen. Er konnte nur mit seinen Methoden nichts dazu beitragen. Und so bezeichnete er sich als Agnostiker, also als einen, für den die Gottesfrage ein ungelöstes Rätsel bleibt. Darwins Frau Emma nahm diese Entwicklung mit großer Trauer wahr. Sie war eine fromme Christin. Ihr Glaube war durch eine tiefe Christusfrömmigkeit geprägt, in der sich eine persönlich-existentielle Komponente mit einer engagierten Christus-Nachfolge verband. Und sie war nicht zuletzt bei der religiösen Betreuung der Arbeiterkinder ein engagiertes Mitglied in der Ortsgemeinde, die ihr Mann ohne viel Aufhebens auch sponserte. Durch den Glauben an Jesus schließlich auch das ewige Leben zu erlangen, das war ein zentrales Anliegen im Leben Emmas. Aber damit war nun die große Angst verbunden, sie werde ihren Charles im Jenseits nicht wieder sehen, wenn er seinen Gottesglauben aufgebe. Und so schrieb sie ihrem Mann eines Tages einen Brief und beschwor ihn, das nicht zu vergessen, was Jesus für die Welt und für ihn ganz persönlich getan habe. Darwin war zu Tränen gerührt. Er hat diesen Brief zeitlebens aufbewahrt. Aber nach seiner Überwindung der physikotheologischen Schöpfungstheologie war ihm der Weg zu Emmas Frömmigkeit verschlossen. Man könnte auf den ersten Blick die Situation in der Familie Darwin als eine periphere historische Arabeske betrachten, aber bei genauerem Zusehen zeigt sich, dass hier eine Situation gegeben war, die für das Verhältnis von Evolution und christlichem Schöpfungsglauben von tieferer Bedeutung war. Wir haben schon eingangs darauf hingewiesen, dass sich die christliche Gotteserfahrung primär als Existenzerfahrung in jüdisch-christlichen Traditionen ereignet. Erst bei der Vergewisserung über die Relevanz dieser Erfahrung kommt in einem zweiten Schritt die Schöpfungsfrage ins Spiel. Wir wollen im Folgenden dieser Konstellation genauer nachgehen. Sowohl im Alten wie im Neuen Testament, aber auch in der Theologie- und Kirchengeschichte ist der angedeutete Zweischritt - von der Existenzerfahrung zur Schöpfungstheologie - zu beobachten. Der Apostel Paulus, der bekanntlich aus jüdischen Traditionen zum Christentum fand, spricht im 4. <?page no="266"?> Günter Altner 266 Kapitel des Römerbriefes (Röm. 4,17) von Gott als dem, der dem Nichtseienden ruft, dass es sei. Das klingt wie ein Bekenntnis zur creatio ex nihilo, zum großen Schöpfungsakt, zur Welterschaffung aus dem Nichts. Wenn man aber den Text genauer liest, erkennt man, dass Paulus von Abraham spricht. Der nomadische Urvater Israels wagte es, auf den schenkenden Anfang Gottes in der Geschichte zu setzen. Daraus wurde das Volk Israel. Aus dem Nichts, aus einem peripheren Nomaden wurde ein großes Volk. In dieser Zuversicht ist Abraham zugleich ein „Vater des Glaubens“ für die Christen, die noch radikaler auf das verborgene Handeln Gottes in der Geschichte setzen: In der Katastrophe des Kreuzes zeigt sich verborgen die Wirksamkeit des Zukunft schenkenden Gottes. Deshalb steht das Kreuz auch im Zentrum aller Glaubensbekenntnisse, während der Artikel über Schöpfung und Schöpfer relativ kurz gehalten ist. Und in der Tat ging von diesem Ereignis, wenn man es religionsgeschichtlich betrachtet, ein überraschend starker Impuls aus, ohne den die Geschichte Europas nicht zu denken ist. Auf der Grundlage jener existentiellen Glaubenserfahrung in der Geschichte wird nun in einem zweiten Schritt die Verbindung zum großen Schöpfungsereignis hergestellt, wie es alle Kulturen fasziniert hat. Wenn Gott sich in der Geschichte fundamental als der Leben schenkende und Anfang setzende Gott erwiesen hatte, dann musste er doch auch im Blick auf das Weltganze als Urheber vorausgesetzt und wahrgenommen werden können. Auf dieser sekundären Linie findet Denkarbeit statt, die sich mit den jeweiligen weltbildhaften Voraussetzungen auseinandersetzt. Als Ausdruck dieses sekundären Nachdenkens lesen wir im Alten Testament die beiden Schöpfungsberichte (zwei! ) am Anfang der Bibel (1. Mose 1 - 2,4a und 2,4ff.), die Schöpfungspsalmen (z.B. Psalm 104) und die Weisheitsbücher, insbesondere das schöne Buch Hiob Die Schöpfungsberichte am Anfang der Bibel (Sechstagewerk und Paradiesgarten) stammen aus ganz verschiedenen Zeiten und Umwelten: 1. Mose 1,1 - 2,4a (ca. 500 v. Chr.) ist im Zweistromland mit viel Wasser entstanden. 1. Mose 2,4bff. (ca. 1000 v. Chr.) stammt aus nomadischer Tradition mit wenig Wasser. In beiden Berichten erfolgt unter dem Vorzeichen der primären Geschichtserfahrung eine Umakzentuierung des damaligen Weltbildes. Im ersten Schöpfungsbericht werden aus den göttlich verehrten Gestirnen Lampen, die der Schöpfer in der Gestalt von Sonne, Mond und Sternen an die Himmelsfeste hängt. Im zweiten Schöpfungsbericht sind Wasser und Wachstum (Oase) Elemente einer Schöpfungserfahrung, in der der Mensch - erstaunlich modern - zu verantwortlichem Gärtnern aufgerufen wird. Er soll die Oase als Symbol der Lebenswelt bebauen und bewahren. Ohne Frage wirken sich hier aufklärerische Elemente aus, die ein bestimmtes zeitgenössisches Weltbild im Dienste der primären Gotteserfahrung umakzentuieren. Es geht darum, die Relevanz der primären Schöpfungserfahrung aus der Geschichte in einem aktuellen Weltbild so zum Ausdruck zu bringen, dass das Weltgeschehen transparent wird für das Handeln Gottes als <?page no="267"?> Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung 267 Weltschöpfer. So artikuliert sich also die primäre Gotteserfahrung aus der Geschichte sekundär in jeweils aktuellen aber kritisch bearbeiteten Weltbildern. Auch im Neuen Testament erfolgt der von uns für das Alte Testament beschriebene Übertritt aus der primären in die sekundäre Gotteserfahrung. Dieser Übersetzungsschritt vollzieht sich so, dass die elementare (und zugleich verborgene) Nähe Gottes im Kreuz des Jesus von Nazareth so ausgelegt wird, als sei hier endgültig der Leben schenkende Gott in die Wirklichkeit der Geschichte - durch das Tor des Todes - eingetreten. Im Lichte dieser Primärerfahrung wird aber nun dem Gottessohn auch die Beteiligung (Schöpfungsmittlung! ) am großen kosmischen Werk der Schöpfung zugesprochen. Im berühmten Prolog des Johannes-Evangeliums heißt es: „Im Anfang war das Wort (Logos), und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen“ (Joh. 1,1 - 4). Hier wird die zeitgenössische gnostische Logos-Spekulation (Der Gottesbote kommt aus der Sphäre des Lichts und berührt die Seelen der Menschen.) in das Geschehen der Schöpfung so eingebunden, dass der Mensch gewordene Gottessohn auch als der an der Schöpfung Beteiligte bezeugt wird. Das Wort wird Fleisch! So werden der gnostische Pessimismus und die mit ihm Hand in Hand gehende spirituelle Leibfeindlichkeit abgewiesen. Entscheidend ist aber dabei, dass die primäre Gotteserfahrung im Geschehen am Kreuz in ihrer Bedeutung als kosmisch relevantes Ereignis ausgewiesen wird. Die gnostische Logos-Spekulation ist ein mythisch-antikes Weltbild, in das der Evangelist Johannes eine neue Akzentuierung einführt. Auch hier gilt: Dieses Weltbild wird im Zuge der sekundären Christus-Interpretation transparent für das Schöpferhandeln Gottes. Man könnte nun eine lange theologiegeschichtliche Darstellung anfügen, aus der hervorginge, dass jener Übertritt aus der primären heilsgeschichtlichen Erfahrung in die schöpfungstheologische Reflexion ein Dauerphänomen ist, das - in jeweiliger Auseinandersetzung mit dem geltenden Weltbild - permanent immer wieder erfolgt, so in der mittelalterlichen Scholastik, in der orthodoxen und reformatorischen Theologie. Auch die physikotheologische Schöpfungsinterpretation ist ein solcher Versuch, der aber dann mit Darwins Evolutionstheorie ein Ende findet. Überhaupt zeigt der Streit mit Galilei und Darwin, dass der interpretierende Übertritt von der ersten zur zweiten Plausibilität angesichts des geschlossenen Prämissenkonzeptes der Naturwissenschaften das alte Verfahren ungemein erschwert. Ist es überhaupt möglich, im Kontext des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes von der Transparenz für das Schöpferhandeln Gottes zu sprechen? Im Hause Darwins blieb es bei der Geschiedenheit der beiden Sichtweisen: Hier Evolutionstheorie, dort Christusglauben. Aber danach setzte auf beiden Seiten eine leidenschaftliche Diskussion ein, die zu einer kaum <?page no="268"?> Günter Altner 268 übersehbaren Flut an Veröffentlichungen führte. Es beginnt mit einer wechselseitigen Bestreitung des Wahrheitsgehalts. Es folgen dann auf Seiten der Theologie gezielt Einreden in den Zusammenhang, wobei dem Gedanken der Evolution eine begrenzte Plausibilität zugestanden wird. Aber eine generelle Zielorientierung des Gesamtprozesses und „Sprünge“ an den entscheidenden Stellen (z.B. Entstehung ersten Lebens und Erscheinen des Menschen) müssten doch sein. Schließlich wird auch darauf hingewiesen, dass, wie wir es eingangs auch unterstrichen haben, Evolutionstheorie und Schöpfungstheologie auf methodisch ganz verschiedenen Ebenen angesiedelt seien. Im Wesentlichen sind es fünf Ebenen, auf denen die Auseinandersetzung geführt wird: 1. Wechselseitige Bestreitung des Wahrheitsgehaltes: entweder Evolution oder Schöpfung. 2. Einreden seitens der Theologie in den Sachzusammenhang der Evolutionstheorie: statt Zufall Zielorientierung, statt Kontinuität Lücken im Prozess - Entstehung ersten Lebens, Entstehung des Menschen. 3. Trennung der Kontrahenten unter Verweis auf die verschiedenen Erfahrungsebenen: naturwissenschaftliche Empirie und existenzielle Glaubenserfahrung. Oder wie der große Schweizer Theologe Karl Barth sagt: „Die Naturwissenschaft hat freien Raum jenseits dessen, was die Theologie als Werk des Schöpfers zu beschreiben hat. Und die Theologie muss sich da frei bewegen, wo eine Naturwissenschaft, die nur das ist, ihre gegebene Grenze hat“ (Barth 1945, Vorwort). 4. Das unabänderliche Kausalgesetz ist eine göttliche Dimension (Albert Einstein, Ernst Haeckel). 5. Dem von den Naturwissenschaften beschriebenen Prozess der Natur wird eine theologische Tiefendimension unterlegt. Der Prozess der Evolution wird in dem Sinne als Schöpfung interpretiert, als er für die Augen des Glaubens das Handeln Gottes „durchscheinen“ lässt. 4. Die neue Situation: Schöpfung als offenes Prozessgeschehen Die ersten Jahrzehnte des Streites zwischen Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube waren dadurch gekennzeichnet, dass Darwins Theorie - angeregt durch die klassische Physik - mechanistisch interpretiert wurde. Der deutsche Zoologe Ernst Haeckel sprach vom „ewigen und unabänderlichen Kausalgesetz“. Hier wurde kühn der ganze Verlauf der Evolution mechanistisch interpretiert. Haeckel sah das Ganze in der Mechanik der Atome festgelegt. Da blieb natürlich für die Theologen nicht mehr viel zu sagen. Kein Zieldesign und keine Lücken. Ein gewisser Widerspruch entstand dadurch, dass andere Biologen sehr stark auf den Zufall abhoben. Aus der Sicht vieler Theologen wurde der Zufall zum Gegenprinzip göttlichen Handelns. Das alles blieb weit hinter der Dar- <?page no="269"?> Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung 269 win’schen Interpretation zurück. Im Zusammenwirken von Zufall und gesetzlicher Regel sah Darwin den eigentlichen Clou. Die Variation des Erbgutes findet ihre Festlegung in den modifizierten Strukturen der Arten, die - je nach den Umständen - einen Überlebensvorteil darstellen können oder eben nicht. So verwandelt die Auslese den Zufall in Plan. Darwin ging nicht in die mechanistische Falle. Er war im Grunde genommen ein Denker in „offenen Systemen“. Aber dieser Umschwung fand erst in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts statt. In Verbindung damit kam auch das bis heute aktuelle Stichwort von der „Selbstorganisation“ auf. Nicht die Ausgangsvoraussetzungen legen den Prozess der Evolution fest, vielmehr finden auf den jeweils erreichten Organisationsplateaus Exkursionen nach neuen bzw. variierten Regeln statt. Die Gesetze der Evolution sind mit sich selbst unterwegs, sie öffnen sich zu neuen Leistungen, wie man an der aufsteigenden Evolutionsreihe sehen kann. Es ist nicht unangemessen, von einer immanenten Transzendenz zu sprechen. Aber es gibt auch in diesem Modell keine biologischen Beweise für den göttlichen Designer. Doch es ist gewiss nicht verkehrt, sich in dieser Matrix unter dem Vorzeichen des Glaubens das verborgene Handeln Gottes mit seiner Schöpfung vorzustellen. Der Philosoph Oswald Schwemmer beschreibt den hier zur Diskussion stehenden Vorgang so: „In organischen Systemen dagegen, die Darwin untersuchte, finden wir interne Veränderungen, die aus sich heraus beziehungsweise in sich selbst, also in ihrer inneren Gliederung, Neues und vielfach Unkontrollierbares hervorbringen. All dies geschieht im ständigen und vielfältigen Austausch mit der Umwelt. Ob Mutation, ob Selektion - die Innenwelten des Lebendigen bauen sich auf, aus und in ihren Umwelten. Dieser Aufbau verläuft nicht ohne Gesetze. Aber diese Gesetze ergeben sich erst in den Mutationen und ihrer Selektion. Mit Darwin gesprochen: in der ‚natürlichen Zuchtwahl‘. Erst dadurch, daß sich bestimmte Strukturen herausbilden und als existenzfähig erweisen, entwickeln sich auch neue Zusammenhänge oder ‚Gesetze‘ zwischen diesen Strukturen. Nicht schon die Ausgangssituation bestimmt gesetzmäßig über den Ablauf der Entwicklung, sondern eben diese Entwicklung selbst. Eben dies meint letztlich Evolution … Unser Universum ist als ein evolutionäres Geschehen in vielfältigsten Dimensionen und Feldern zu verstehen. Und damit als ein Geschehen, das Charles Darwin mit seiner Theorie über die Entstehung der Arten paradigmatisch dargestellt hat, das aber in allen Bereichen unserer Wirklichkeit - und damit als Forschungsthema nicht nur für die Lebenswissenschaften, sondern auch für die anderen Wissenschaften: für die Naturwissenschaften insgesamt und schließlich auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften - weiterentwickelt werden kann. Eine Voraussetzung für solche Fortentwicklungen besteht aber darin, die Denkfesseln des Determinismus abzustreifen - und sich einzulassen auf die Untersuchung der Prozesse, in denen Neues entsteht.“ (Schwemmer 2009) <?page no="270"?> Günter Altner 270 In dieser Aufforderung des Philosophen liegt auch eine Ermunterung für die Theologie, mit der alten Denkarbeit darüber fortzufahren, wie die Wirklichkeit des geschichtsmächtigen Gottes im Kontext offener Selbstorganisationsprozesse weitergedacht werden kann. Es gibt dazu mutige Vorläufer. Teilhard de Chardin (1881 - 1955) hat sehr kühn Evolution als Schöpfung interpretiert. Aber verfällt dann doch dem Fehler, den Prozess als Ganzen christozentrisch auf ein Endziel festzulegen. Der Astrophysiker Erich Jantsch hat angeregt durch Hans Jonas den Selbstorganisationsprozess der Evolution in seiner schöpferischen Potenz mit Gott gleichgesetzt. Das ist gewiss wieder zu direkt. Sehr viel umsichtiger geht der englische Theologe Arthur Peacocke vor. Über die Kategorie der Zeit sieht Peacocke die Wirklichkeit der Welt mit der Wirklichkeit Gottes verbunden: „Gott ist ewig in dem Sinne, dass es keine Zeit gibt, da er nicht war, und es in Zukunft keine Zeit geben wird, da er nicht sein wird“ (Peacocke nach Altner 2009, 99). Für welches der Modelle man sich auch entscheiden mag, es handelt sich um Versuche, die zeigen, wie in einem Gleichnis von der Wirklichkeit Gottes im Prozessgeschehen der Welt zu sprechen ist. Die alte Systematik in der Denkarbeit des Christentums, von der existentiellen Primärerfahrung in die schöpfungstheologische Deutung der Wirklichkeit - im jeweiligen Weltbild - „überzusteigen“, macht nach wie vor Sinn. Allerdings: Die komplexe Tiefe des Prozesses lässt die alten Versuche, mit dem Lücken- und Designargument zu arbeiten, als erledigt erscheinen. Literatur Altner, G. 2009: Charles Darwin und die Instabilität der Natur: Ein genialer Forscher zwischen den Fronten. Verlag für Akademische Schriften, Bad Homburg. Barth, K. 1945: Die kirchliche Dogmatik. Bd. 3: Die Lehre von der Schöpfung, T. 1. Evangelischer Verlag, Zollikon-Zürich. Burkhardt F. u. Smith, S. (Hg.) 1987: The Correspondence of Charles Darwin, Bd. 3. Cambridge University Press, Cambridge. Darwin, Ch. 2007: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl. Übersetzt von C. W. Neumann. Philipp Reclam, Stuttgart. (1. Aufl. 1963, übers. nach der 6. engl. Aufl. von 1872: The Origin of Species by means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. John Murray, London. 1 st ed. 1859.) Darwin, Ch. 2008: Mein Leben. N. Barlow (Hg.), Vorwort von Ernst Mayr. Aus dem Engl. von Ch. Krüger, Insel Verlag, Frankfurt a. M., Leipzig. (Englische Originalausgabe: The Autobiography of Charles Darwin, 1809-1882, with Original Omissions Restored. N. Barlow (Hg.). Collins, London 1958.) Paley, W. 2006: Natural Theology or Evidence of the Existence and Attributes of the Deity, collected from the appearances of nature. Nachdruck der 1. Aufl. von 1802, M.D. Eddy u. D. Knight (Hg.). Oxford University Press, Oxford. <?page no="271"?> Charles Darwin und die Dynamik der Schöpfung 271 Schönborn, C. 2005: Finding Design in Nature. The New York Times 7.07.2005: http: / / www.nytimes.com/ 2005/ 07/ 07/ opinion/ 07schonborn.html Schwemmer, O. 2009: Evolution ist überall. Mit Darwin gegen Determinismus. Süddeutsche Zeitung 25.02.2009, 46, 13. Wuketits, F.M. 2000: Biologie und Religion. Warum Biologen ihre Nöte mit Gott haben, in: Evolution und Schöpfung. PdN-Bio. (Praxis der Naturwissenschaften Biologie) Heft 6, Jahrgang 49, 2-5. <?page no="273"?> Die Autorinnen und Autoren A LTNER , G ÜNTER , Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Geb. 1936 in Breslau; 1956-1962 Studium der evangelischen Theologie in Wuppertal und Göttingen; Promotion 1964 zum Dr. theol.; 1962-1968 Studium der Biologie und Geologie/ Paläontologie in Mainz, Gießen und Frankfurt; Promotion 1968 zum Dr. rer. nat.; 1968-1971 Studienleiter für theologischnaturwissenschaftliche Grenzfragen an der ev. Akademie Mülheim/ Ruhr; 1971-1973 Professor für Humanbiologie an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd; 1973-1977 Wissenschaftlicher Referent an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg; 1977 Mitbegründung des Ökoinstituts in Freiburg/ Breisgau; 1977-1999 Professor für evangelische Theologie mit Schwerpunkt Systematische Theologie an der Universität Koblenz-Landau; 1999-2000 Ombudsmann für gute Wissenschaften an der Uni Koblenz-Landau; 1979-1982 Mitglied der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages „Zukünftige Energiepolitik“; Beratungsarbeit in Ausschüssen und Kommissionen; zeitweilig Mitglied am Staatsgerichtshof in Baden-Württemberg; Forschungsschwerpunkte: Umweltpolitik und Energiepolitik, Gentechnik, Nachhaltigkeit, Gesundheitspolitik. B ACKENKÖHLER , D IRK , Dipl.-Biol. Geb. 1969 in Ludwigsburg; 1992-1999 Studium der Biologie und der Wissenschaftsgeschichte an den Universitäten Hohenheim und Stuttgart; Arbeitsschwerpunkte sind die Geschichte der Evolutionstheorie und der Anthropologie im deutschsprachigen Raum; arbeitet zu diesen Themen an einer Dissertation am Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften bei Prof. Dr. Eve-Marie Engels und Prof. Dr. Thomas Junker. B ECKER , N ICOLE , Dr. Geb. 1975 in Rotenburg an der Fulda; 1996-2000 Studium der Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main; Promotion 2005 im Fach Erziehungswissenschaft an der Humboldt Universität in Berlin; von 2001 bis 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Pädagogik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg; von 2003 bis 2005 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hanse-Wissenschaftskolleg in Delmenhorst; seit 2005 zunächst wissenschaftliche Mitarbeiterin, dann Akademische Rätin auf Zeit an der Eberhard Karls Universität Tübingen; im Sommersemester 2007 Vertretung der Professur für pädagogische Wissensforschung am Institut für Erziehungswissenschaft an der Justus-Liebig- Universität Gießen; Forschungsschwerpunkte: Wissensforschung, insbes. Rezeption biowissenschaftlichen Wissens in der Erziehungswissenschaft so- <?page no="274"?> Die Autorinnen und Autoren 274 wie wissenschaftliche und subjektive Theorien über ADHS, Popularisierung pädagogischen Wissens. B ETZ , O LIVER , Prof. Dr. Geb. 1964 in Braunschweig; 1983 bis 1990 Studium der Biologie an der Technischen Universität Braunschweig und der Philipps-Universität Marburg; Promotion 1994 im Fach Zoologie an der Universität Bayreuth; zwischen 1995 und 2004 wissenschaftlicher (Ober-)Assistent an der Christian- Albrechts-Universität Kiel; dort Habilitation 2002 in den Fächern Zoologie und Ökologie; 1999-2001 Auslandsaufenthalt am Field Museum of Natural History (Chicago, USA) im Rahmen eines DFG-Forschungsstipendiums; seit 2004 Professor für Evolutionsbiologie der Invertebraten an der Eberhard- Karls-Universität Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Morphologie, Ökologie und Evolution der Insekten, insbesondere ökologische und funktionelle Morphologie, Ultrastrukturforschung und Bionik. E NGELS , E VE -M ARIE , Prof. Dr. Geb. 1951 in Düsseldorf; Studium der Philosophie, Romanistik (1. Staatsexamen 1975), Anglistik/ Amerikanistik (Nebenfach bei der Promotion) und Biologie (1981-1982) an der Ruhr-Universität Bochum; 1979-1989 wissenschaftliche Assistentin bzw. Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum; Promotion 1981 und Habilitation 1988 in Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum; 1976-77 und 1992 Forschungsaufenthalte in den USA; 1989-91 Vertretungsprofessuren an den Universitäten Bielefeld (Lehrstuhlvertretung), Göttingen und Hamburg; 1991-93 Heisenberg-Stipendiatin der DFG; 1993-96 Professorin für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel; seit 1996 Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik in den Biowissenschaften an der Fakultät für Biologie (nun des Fachbereichs Biologie in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät); 1996-2010 kooptiertes Mitglied der Philosophischen Fakultät bzw. der Fakultät für Philosophie und Geschichte der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, seit Oktober 2010 assoziiertes Mitglied des Philosophischen Seminars der Universität Tübingen; 2001-2011 Sprecherin des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen; seit 2004 Sprecherin des Graduiertenkollegs Bioethik des IZEW (2004-2013); Mitglied zahlreicher Gremien, 2001-2008 Mitglied im Nationalen Ethikrat der Bundesrepublik Deutschland; Forschungsschwerpunkte: Ethik, Theorie und Geschichte der Biowissenschaften; allgemeine Wissenschaftstheorie, Erkenntnistheorie und Ethik; philosophische Anthropologie. <?page no="275"?> Die Autorinnen und Autoren 275 H AIDLE , M IRIAM N OËL , Priv.-Doz. Dr. Geb. 1966 in Pforzheim; 1985-1992 Studium der Urgeschichte, Vor- und Frühgeschichte, Ethnologie, Physischen Anthropologie und Geologie in Tübingen und Basel; Promotion 1996 im Fach Urgeschichte in Tübingen; zwischen 1997 und 2005 mehrfach Kurzzeitdozentin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Royal University of Fine Arts, Phnom Penh, Kambodscha; 2001-2004 Margarete von Wrangell-Stipendiatin des Landes Baden-Württemberg; 2004-2008 Assistentin am Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters an der Universität Tübingen; 2005-2007 Feodor-Lynen-Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung am Institut for Antropologi, Arkæologi og Lingvistik, Afdeling for Forhistorisk Arkæologi der Universitet Aarhus, Dänemark; Habilitation für Ur- und Frühgeschichte und Paläoanthropologie 2006; seit 2008 Koordinatorin der Forschungsstelle „The Role of Culture in Early Expansions of Humans“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Forschungsschwerpunkte: die körperliche, kulturelle und kognitive Evolution des Menschen. J UNKER , T HOMAS , Prof. Dr. Geb. 1957 in München; 1978 bis 1982 Studium der Pharmazie an der Universität Freiburg; Promotion 1989 in Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Marburg; 1992 bis 1995 Associate Editor im Charles Darwin Correspondence Project (Cambridge, England) und Post-doc bei Ernst Mayr am Department of the History of Science der Harvard University (Cambridge, Mass.); 1996 bis 2002 Forschung und Lehre zur Geschichte und Theorie der Biologie am Lehrstuhl für Ethik in den Biowissenschaften, Universität Tübingen; 2001 Habilitation für Geschichte der Naturwissenschaften; 2006 Heyne- Haus-Gastprofessor am Institut für Wissenschaftsgeschichte der Universität Göttingen; seit 2006 apl. Professor an der Fakultät für Biologie der Universität Tübingen; Stellvertretender Vorsitzender der AG Evolutionsbiologie im VBIO; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Giordano-Bruno-Stiftung; Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Biologie, der Evolutionstheorie und der Anthropologie. M AIER , W OLFGANG , Prof. Dr. Geb. 1942 in Horb am Neckar; Studium der Biologie, Anthropologie, Geographie und Chemie in Tübingen und Frankfurt am Main; Promotion 1969 an der Dr. Senckenbergischen Anatomie Frankfurt/ Main bei D. Starck mit einem primatologischen Thema; 1970 Stipendiat in Südafrika zur Untersuchung plio-pleistozäner Cercopithecoidea (Hundsaffen); 1973 Professur für Humananatomie an der Universität Frankfurt am Main; 1980 Habilitation bei D. Starck mit einer konstruktionsmorphologischen Arbeit über das Gebiss der Halbaffen; seit 1987 Lehrstuhl für Spezielle Zoologie an der Universität Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Evolutionsbiologie der frühen Säugetie- <?page no="276"?> Die Autorinnen und Autoren 276 re; vergleichend-ontologische Untersuchungen an Primaten und Säugetieren; Wechselbeziehung zwischen ontogenetischen Anpassungen und evolutiven Transformationen bei Säugetieren; methodologische und wissenschaftshistorische Fragen der Morphologie. M EYER , P ETER , Prof. Dr. Geb. 1941 in Forbach, Rastatt; Studium der Soziologie an der Universität Heidelberg; Promotion 1971 an der Universität Heidelberg; anschließend Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Augsburg, stellvertretender Leiter eines DFG Projekts; 1982 Habilitation für Soziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg; Vertretungsprofessuren in Erlangen-Nürnberg, Mainz und Würzburg, der ETH in Zürich und schließlich 1991-1994 Lehrstuhlvertretung in Augsburg; 1996 Ernennung zum außerplanmäßigen Professor an der Universität Augsburg; Fellow bei dem Forschungsprojekt „Biological Foundations of Human Culture“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld; Forschungsschwerpunkte: Konfliktforschung; anthropologische Grundlagen der Sozialwissenschaften; Soziobiologie und verwandte Disziplinen. P OTTHAST , T HOMAS , Priv.-Doz. Dr. Geb. 1963 in Gadderbaum/ Bielefeld; Studium der Biologie und Philosophie in Freiburg i. Br.; freiberufliche Tätigkeit u.a. für das Öko-Institut Freiburg; Stipendiat des DFG-Graduiertenkollegs ‚Ethik in den Wissenschaften‘ sowie wiss. Mitarbeiter am Ethikzentrum (IZEW) der Universität Tübingen; interdisziplinäre Promotion 1998; 1998-2001 Research Scholar am Max-Planck- Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin; 2002 Feodor Lynen Fellow der Humboldtstiftung am Department History of Science und dem Institute for Environmental Studies der University of Wisconsin-Madison (USA); seit Mitte 2002 Wissenschaftlicher Koordinator des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften der Universität Tübingen (IZEW); seit 2007 Stellv. Sprecher des DFG-Graduiertenkollegs ‚Bioethik‘; Anfang 2010 Habilitation für das Fachgebiet Ethik, Theorie und Geschichte der Wissenschaften; im WS 2010/ 11 Lehrstuhlvertretung am Institut für Geschichte der Naturwissenschaften, Medizin und Technik der Universität Jena; Forschungsschwerpunkte: Umwelt- und Bioethik, Inter- und Transdisziplinarität, Geschichte der Bio- und Umweltwissenschaften sowie des Naturschutzes. S OMMER , R ALF J., Prof. Dr. Geb. 1963 in Bardenberg-Würselen; Studium der Biologie in Aachen, Tübingen und München; Promotion 1992 an der Ludwig-Maximilians Universität München; 1993-1995 Research Fellow am California Institute of Technology in Pasadena (Kalifornien, USA); 1995 bis 1999 Nachwuchsgruppenleiter am <?page no="277"?> Die Autorinnen und Autoren 277 Max-Planck Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen; seit 1999 Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck Gesellschaft und Direktor am Max- Planck Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen und seit 2002 Honorarprofessor an der Universität Tübingen; Forschungsschwerpunkte: Entwicklungsgenetik, Evolutionsbiologie, Zoologie. <?page no="279"?> Personenregister Afandy 193, 196 Albert, Hans 245 Andree, Karl 198 Aristarch von Samos 29 Aristoteles 11, 28, 33 Ayala, Francisco José 66 Baer, Karl Ernst von 28, 47 Bain, Alexander 167 Barth, Karl 268 Bell, Thomas 59 Berkeley, Miles Joseph 59 Bertalanffy, Ludwig von 247 Bischof, Norbert 253 Blumenbach, Johann Friedrich 20, 47, 172, 182-184, 188 Blumenberg, Hans 58 Bonnet, Charles 47 Boyd, Robert 250 Brehm, Alfred 151 Broom, Robert 207 Büchner, Ludwig 192 Buffon, Georges 28, 35f., 38, 48, 172 Bührmann, Dorothea 251 Butler, Joseph 156 Carlowitz, Hans Carl von 130 Carus, Carl Gustav 188 Carus, Viktor 124 Cela Conde, Camilo José 66 Chardin, Teilhard de 270 Claessens, Dieter 246f. Cobbe, Frances 163, 173 Comte, Auguste 244 Conrad, Joseph 43 Cuvier, Georges 52, 203 Dalrymple, G. Brent 58 Daly, Martin 251 Dart, Raymond 207 Darwin, Charles 9-25, 27-40, 43-70, 77f., 80, 83, 85, 89, 97, 99f., 102f., 106, 115, 121-130, 132, 141, 145- 176, 181f., 185, 188-190, 192f., 195- 198, 203f., 206-210, 213, 216, 218- 220, 226f., 234, 238, 243-245, 248- 250, 252, 257-269 Darwin, Emma (geb. Wedgwood) 172, 257, 262, 265, 267 Darwin, Erasmus 28, 51 Darwin, Francis 62 Dawkins, Richard 216 De Duve, Christian 66 Demokrit 29 Demoll, Reinhard 132 Descartes, René 259 Desmond, Adrian 44, 51 Diderot, Denis 11, 31 Dobzhansky, Theodosius 122 Drude, Carl Georg Oscar 132 Dubois, Eugène 205f. Ehrlich, Paul 129 Eibl-Eibesfeldt, Irenäus 244 Einstein, Albert 268 Eldredge, Niles 15, 79 Elias, Norbert 244 Elton, Charles 132f. Engels, Friedrich 36f. Esser, Hartmut 243, 248 Fitzinger, Leopold Johann 185 FitzRoy, Robert 12, 49, 171, 262 Fleck, Ludwik 44 Frankel, Otto 137 Freud, Sigmund 252 Fromm, Erich 91 Fuhlrott, Johann Carl 188f., 192, 204 Galilei, Galileo 9, 46, 267 Galton, Francis 160 Gehlen, Arnold 246f. Geoffroy St. Hilaire, Étienne 51 Gibbon, Edward 46 Giddens, Anthony 244, 251 <?page no="280"?> Personenregister 280 Goethe, Johann Wolfgang von 28, 43, 46 Goffman, Erving 243-245 Goodall, Jane 213 Görtz, Karl 195f. Götte, Alexander 195f. Gould, John 12, 59 Gould, Stephen Jay 15, 48f., 79, 134, 248 Grant, Robert Edmond 13, 50-52, 62 Gray, Asa 171 Guenther, Konrad 130f. Gumplowicz, Ludwig 23, 248 Habermas, Jürgen 244, 252 Haeckel, Ernst 16, 19-21, 34, 47, 65, 125-127, 130, 134, 173, 190, 193, 196f., 205f., 268 Hagen, Joel 124 Hähnle, Lina 130 Haldane, John Burdon Sanderson 162 Hamilton, William Donald 23, 162, 249f. Hartwig, Walter Carl 66 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 45 Helmholtz, Hermann von 10 Henke, Winfried 66 Hennig, Willi 14, 65, 85 Henslow, John Stevens 13, 49f., 59, 63, 262 Herbert, Sandra 49 Herder, Johann Gottfried 65 Herschel, John 45, 262f. Hertwig, Richard 33 Hilgendorf, Franz Martin 98 Hobbes, Thomas 162 Hooker, Joseph Dalton 13, 59, 63, 69 Hume, David 153, 156, 163f., 167, 170 Hutchinson, George Evelyn 133 Hutton, James 48f. Huxley, Thomas Henry 13, 19f., 28, 62, 70, 190, 192, 196f., 204 Izard, Caroll 243 Jahn, Ilse 127 Jantsch, Erich 270 Jenyns, Leonard 59 Jonas, Hans 270 Kanitscheider, Bernulf 244 Kant, Immanuel 48, 65, 156, 165, 168, 172 Kaplan, Reinhard W. 65 Kepler, Johannes 46, 48 Kielmeyer, Carl Friedrich 47 Kimura, Motoo 82 King, William 205 Klein, Richard G. 66 Koch, Julius 195f. Kohlberg, Lawrence 168f., 173 Kohl-Larsen, Ludwig 208 Kohl-Larsen, Margit 208 Kopernikus, Nikolaus 9 Koselleck, Reinhart 48, 58 Kropotkin, Peter 23, 249 Kuhn, Thomas Samuel 46 Küppers, Bernd-Olaf 247 Kutschera, Ulrich 260 Lack, David Lambert 61, 137 Lamarck, Jean-Baptiste de 11, 13, 28f., 33, 38, 45f., 51f. Leakey, Louis 208 Leakey, Mary 208 Leisewitz, André 51 Lepenies, Wolf 246 Lewontin, Richard 248 Leydig, Franz 68 Liedtke, Max 226 Linné, Carl von 12, 34, 50, 123 Lorenz, Konrad 67, 132, 139 Lotka, Alfred 135 Lovejoy, Arthur Oncken 45 Lubbock, John 158, 197 Lucy 20f., 203, 208 Luhmann, Niklas 234, 247f., 252 Lukrez 11, 30-32 Luschka, Hubert von 195 Lyell, Charles 13, 20, 49, 54, 56, 190, 192f., 257, 264 Mackintosh, James 156, 165 Malthus, Thomas Robert 37, 127, 129, 147 <?page no="281"?> Personenregister 281 Mandeville, Bernard 162f. Marcus, Gary 247 Marquard, Odo 45, 58 Marx, Karl 36f. Maryanski, Alexandra 250 Matthew, Patrick 244 Maturana, Humberto 247 Max, Gabriel von 206 Mayr, Ernst 29, 69, 77, 86, 112, 135 McCormick, Robert 49 McPhee, John 49 Meckel, Friedrich 47 Meinecke, Friedrich 45f. Meiners, Christoph 184 Miller, Stanley Lloyd 65 Möbius, Karl August 17, 127-130, 137 Moore, James 44 Muir, John 130 Nägeli, Carl Wilhelm von 11, 32 Nassehi, Armin 252 Newman, Edward 59 Newton, Isaac 9, 46, 48, 153 Nipkow, Karl Ernst 229f., 238 Nisbet, Euan G. 66 Nyhart, Lynn 128 Oparin, Alexander 65 Owen, Richard 28, 59 Paley, William 50, 66, 257, 261, 263f. Parsons, Talcott 244, 252 Paul, John 258 Peacocke, Arthur 270 Plack, Arno 246 Plessner, Helmuth 246 Popper, Karl 70 Portmann, Adolf 246 Radkau, Joachim 245f. Rammstedt, Otthein 245 Ramsay, Andrew 56 Rauchfuß, Horst 66 Richards, Robert J. 155, 244f. Richerson, Peter J. 250 Rickert, Heinrich 131 Rossi, Alice 252 Roth, Heinrich 225, 231 Rothe, Hartmut 66 Rudorff, Ernst 130 Schaaffhausen, Hermann 188, 190, 204 Scherzinger, Wolfgang 139 Scheuchzer, Johann Jakob 203 Scheunpflug, Annette 226, 228, 231, 236f. Schimper, Andreas Franz Wilhelm 132 Schönborn, Christoph 258 Schwemmer, Oswald 269 Sedgwick, Adam 13, 49f., 262 Shakespeare, William 153 Shepher, Joseph 252 Simmel, Georg 246 Sleep, Norman H. 66 Smith, Adam 37f., 156, 163f., 167, 244 Smith, William 48 Sömmerring, Thomas 184 Spencer, Herbert 23, 78, 173, 213, 243- 245, 248f. Stauffer, Robert C. 124 Steller, Georg Wilhelm 96 Stern, Elsbeth 232 Sumner, William Graham 23, 248f. Tansley, Arthur 133, 135 Tenbruck, Friedrich 246 Thienemann, August 132 Tinbergen, Nikolaas 135 Treml, Alfred 22f., 226, 233-238 Varela, Francisco 247 Virchow, Rudolf 204 Vogt, Carl 19f., 190, 192, 196f. Voland, Eckart 22, 227-229, 231 Vowinckel, Gerhard 246 Wägele, Johann-Wolfgang 65, 85 Waitz, Theodor 181 Walker, Francis 59 Wallace, Alfred Russel 69, 77f., 100, 154f., 170f., 173f., 244 Wang, Xiao Tian 250 Warming, Johannes Eugenius Bülow 132 Waterhouse, George 59, 63 Weber, Max 245f. <?page no="282"?> Personenregister 282 Wehrspaun, Michael 243 Weismann, August 130 Westermarck, Edward 252 Whewell, William 13, 262 White, Adam 59 Wilson, Edward Osborne 91, 248, 250 Wilson, Margo 251 Wright, Chauncey 154 Wuketits, Franz 29, 230, 245, 259f. <?page no="283"?> Sachregister Abstammung 52, 150, 176, 244, 260 - des Menschen 19f., 149f., 157f., 166, 172, 181f., 188-190, 192, 197 - gemeinsame 9, 27, 29, 35, 78, 80, 85, 89, 97, 106, 192f. - mit Abänderung 30, 129 Abstammungstheorie 13f., 30, 35, 43, 64, 79, 83, 146, 149, 152, 156, 190, siehe auch Deszendenztheorie - allgemeine 24, 150 Achtung 141, 163, 167 Adaptation 43, 50, 66f., 86, 99, 106, 138, 228f., 232, 235, 237, 261, siehe auch Anpassung Ähnlichkeit 19f., 35f., 65, 80, 82, 101f., 105, 107, 149f., 152f., 157, 190, 192f., 196, 203f., 207-209, 212, 243 Altersbestimmung 58, 192, 203, 206f. Altruismus 145, 162, 230 Ammonit 97, 101 Anatomie 20f., 29, 50, 59, 66, 105, 184f., 188, 193, 195, 203, 205, 207, 209, 212f. - vergleichende 31, 62, 68, 190, 192f. Anpassung 22f., 29, 33f., 39, 43f., 50, 65-68, 99, 103, 107-109, 124, 132, 135, 146, 148, 155, 208, 211, 213, 228, 232, 235, 248, 261, 263f., siehe auch Adaptation Anthropogenese 22, 64, 228, 232 Anthropologie 10, 18-22, 64, 66, 145, 158, 181f., 193, 195, 197f., 208, 219, 231, 234, 245, 250f. - Evolutionäre 9, 18, 20, 146, 149, 203, 220 - philosophische 45, 243, 246f. Anthropozentrik 140f., 176 Antike 11, 29f., 156, 252, 267 Ardipithecus ramidus 208 Artbegriff 16, 102f., 115 Artbildung 16, 89, 98f., 102f., 107-109, 112-115, 148, siehe auch Kladogenese und Speziation - allopatrische 16, 89, 107 - peripatrische 108f. - sympatrische 16, 89, 110-115 Artdefinition 89 Artefakt 66, 209, 218f. Artensterben 15f., 69, 89-97, 101f., 106, 146 Artkonzept 16, 52f., 102f., 105-107, 112, 147 Aufklärung 11, 18, 23, 29, 46, 145, 158, 193, 244, 266 aufrechter Gang 21, 154, 157, 206, 208, 211 Auslese 10, 43, 66, 131, 262-265, 269, siehe auch Selektion und Zuchtwahl - natürliche 28-30, 32f., 39, 43, 66, 147 Aussterben 15f., 43, 54, 61, 92, 94-97, 101f., 106, 109, 137, 146, 150, 161, 188f., 192, 205f., 212, 248, 258 Auster, Europäische (Ostrea edulis) 17, 127-129 Australopithecus 203, 208, 211, 215, 217 - afarensis 21, 208 - africanus 207 Autökologie 134 Autonomie 167-169, 246 Bauplan 36, 263f., 269 Beagle 12, 44, 49, 53f., 102, 146, 262, 264 Beobachtung 11, 31, 34, 37, 44, 65, 77f., 80, 89-91, 94, 96, 100, 103, 105, 114, 123, 133, 146, 151f., 214, 216f., 219f., 246f., 257, 260f., 263f. Bewusstsein 40, 145, 151, 156, 160, 163, 165-167, 173, 218, 233, 261 - Selbstbewusstsein 151, 166 <?page no="284"?> Sachregister 284 Bibel 31, 48, 150, 197, 203, 265-267 Biodiversität 15, 17, 89-93, 96f., 99, 101, 103, 115, 121, 136, 138, 141 Biogenese 64 Biogeographie 31, 66, 100, 107, 126 Biologie 9-11, 13, 16f., 22-24, 27f., 32, 39, 43, 49-51, 68, 78, 85f., 92, 94, 102f., 107, 121-124, 126, 130, 133, 135-137, 139, 159, 181, 216, 227f., 230, 234, 238, 247f., 250, 257-260, 262, 268 Biologismus 145, 159 Biophilie 91 Biotyp 113 Biozönose 93, 127-129, siehe auch Lebensgemeinschaft Blatthornkäfer 84 Blütenpflanze 94, 99f., 110, 112 Blutrache 251 Buntbarsch 89, 114f. Caenorhabditis elegans 14, 79, 82-84 Christentum 159, 172, 257, 259f., 264- 267, 270 Chronologie 48, 57f., 122, 216 Cichlidae 114 Cirripedia 60 Cladismus 85 Darwinfink (Geospizinae) 12, 58-61, 98f., 109 darwinische Algorithmen 22, 228-230 Darwinismus 23, 27f., 77, 80, 121, 128, 130f., 196, 243, 246, 250, 253 Demökologie siehe Populationsökologie Descent of Man 9, 18-21, 64, 145, 149f., 155, 181f., 190, 197, 206, 210 Design 27, 36, 39, 258 Deszendenztheorie 9, 13, 43f., 59, 64, 68, 89, 97, 125f., 128, 176, siehe auch Abstammungstheorie Determinismus 168, 228, 233, 244, 246, 258, 269 Didaktik 237 - Evolutionäre 236f. differentia specifica 157, 175 Dinosaurier 97, 101 Diskurs 125, 128f., 136, 259 Diversität 15, 90, 93-95, 102, 217 Drosophila 14, 79, 82, 109f. Dualismus 131, 238, 246 Egoismus 145, 160-163, 231 Eigenwert 17, 121, 140f., 176 Elterninvestment 231 Embryo 23, 46f., 83f., 150, 190, 193, 245 Emergenz 176 Emotion 174f., 182, 243 Entartung 35f., 38, 131 Entwicklungsbiologie 9f., 13f., 77, 79f., 83f., 86, 107 Entwicklungsgeschichte des Menschen siehe Anthropogenese Erdalter 11, 32, 38, 57, 207 Erdzeitalter 57 - Devon 99, 101 - Kambrium 13, 56, 66, 99, 101 - Känozoikum 57, 100f. - Kreide 97, 99, 101 - Mesozoikum 57, 101 - Neolithikum 158 - Ordovizium 101 - Paläolithikum 158 - Paläozoikum 101 - Perm 101 - Phanerozoikum 56f. - Steinzeit 218f., 228f. - Trias 101 Erkenntnistheorie - Evolutionäre 155 Erziehung 19, 22, 158, 162, 165f., 169, 225, 227, 229-231, 233-238, 260 Erziehungswissenschaften 9f., 18, 22, 225-227, 229, 231f., 234, 238f., siehe auch Pädagogik Ethik 16-18, 121f., 131, 137f., 140f., 145, 156, 162f., 170, 172, 175, 230 - Evolutionäre 176, 230 - Naturethik 140, 176 - Pädagogische 229 <?page no="285"?> Sachregister 285 - Tierethik 19, 115, 172f., 176 - Umweltethik 15, 132, 136, 139 Ethologie 126, 132, 243, 252, siehe auch Verhaltensforschung Evolution 10f., 13-25, 27-39, 43, 46f., 50-52, 56, 62, 66, 77-86, 89, 95, 98- 103, 106-110, 115, 121-123, 131- 141, 145, 150, 154-157, 163, 165, 168-170, 174, 176, 189, 192, 197, 203-205, 210-213, 216, 219f., 225- 239, 244-246, 249, 257-265, 268-270 - Koevolution 134, 250 - kulturelle 236, 244 - Makroevolution 103, 134 - Mikroevolution 64, 66, 85 - Schutz der natürlichen 17, 121f., 136-140 - soziale 218, 244 Evolutionsbiologie 9, 13, 15, 22, 27f., 39, 69, 77-80, 83-86, 89, 101, 107, 112, 115, 128f., 132-139, 225-228, 230f., 248-250, 257, 259f. Evolutionstheorie 9-14, 17-23, 27, 29f., 38, 43-46, 58, 62f., 67, 69f., 77f., 83, 100, 115, 121-137, 141, 145-149, 157, 173, 176, 181-185, 188-197, 204, 216, 219f., 225, 227, 234-238, 244f., 257-259, 261f., 265, 267f. - mechanistische 28, 39, 264 - synthetische 27 Existenz 11, 28, 30f., 39, 50, 69, 96, 126, 141, 147f., 150, 153, 155, 160, 163, 168, 175, 231, 244, 247f., 257, 259f., 262, 265f., 268-270 Expression of the Emotions 152, 168, 172, 243 Fadenwurm (Nematoda) 14, 77, 79, 82- 84, 86, 114f. Fetischismus 244 Fitness 66, 114, 147, 160, 162, 228, 250f., 263f. Fledermaus 100 Fortpflanzungserfolg 78, 80f., 114, 135, 147 Fortschritt 23, 91, 125, 155, 159f., 169, 173, 185, 226, 259 - evolutionärer 47 - moralischer 159f., 170f., 173 - technischer 21, 82 Friedenserziehung 229, 231 Fruchtfliege siehe Drosophila Fundstätte 189, 210 - Dmanisi 209 - Feldhofer Grotte 204f. - Garusi 208 - Georgien 209 - Indonesien 209 - Java 205, 209 - La Madeleine 218 - Laetoli 208 - Libyen 208 - Neandertal 20, 184, 188f., 192, 204f. - Olduvai 208 - Piltdown 207 - Schiener Berg 203 - Sima de los Huesos 212 - Steinheimer Becken 97 - Sterkfontein 207 - Taung 207 Funktionalismus 174, 243f., 252 Galapagos 12, 58-61, 98f., 102, 109, 148 Gärung 31 Gedächtnis 151 Gehirn 21f., 154f., 168, 174, 186, 190, 196, 203, 211f., 216, 228f., 232, 235f., 247 Geist 18, 45, 68, 70, 149, 151, 154f., 159, 166, 169, 173, 186, 188, 192, 197, 203, 210, 213, 215, 220, 246f. Gemeinschaft 52, 89f., 103, 106, 154f., 158, 162, 165, 169f., 173, 228 Gen 14, 37, 89f., 107f., 131, 135, 138, 145, 162, 170, 172, 197, 212f., 216, 228f., 231-233, 235f., 244, 247, 250 Gendrift 33, 108f., 216 Genealogie 34, 43f., 61, 63-65, 68, 190 <?page no="286"?> Sachregister 286 Genetik 14-16, 21f., 46, 67, 79, 81, 90, 105-107, 109f., 113, 115, 131, 134f., 137, 209, 212, 226, 238 Geologie 12f., 16, 43, 45, 48-50, 53f., 56f., 90, 100f., 107, 115, 122, 125, 192, 207, 219, 262, 264 Gerechtigkeit 230 Geschichte 10, 15, 18-20, 23-25, 28f., 37, 48, 69, 89, 96f., 101f., 134f., 141, 154, 156, 158f., 163, 170, 181, 184, 188-190, 192, 197f., 203-205, 227, 229f., 238, 246, 257, 259-261, 265- 267, 270 - Kulturgeschichte 45, 138f., 159, 170, 174, 176, 234, 246 - Naturgeschichte 18f., 35, 44f., 69, 125, 138, 148f., 156, 158, 163, 174, 176, 229, 233f., 259 - Stammesgeschichte 14, 23, 58, 85, 132, 157, 166, 176, 228, 244f., 260, 263 Geschlecht 105, 110f., 152, 185, 196f., 219, 250-252 Gesellschaft 9f., 22f., 122-124, 129f., 132, 138, 145, 164, 173, 193, 229f., 233, 235f., 243-253, 258f., 261, 265 Gewalt 229f., 246, 249 Gewissen 18, 149, 156, 164-166, 169, 175 Gewohnheit 35, 154, 158-161, 167-169, 171, 249 Glaube 24, 32, 38, 160, 171, 234, 257- 260, 265-269 Gleichgewicht 67, 101, 123, 125, 128f., 133 Glück 151, 153, 167, 171, 173, 249 Goldene Regel 163, 165, 167 Gondwana 100 Gott 13, 24, 34f., 146, 148, 150, 160, 165, 171, 234, 257-260, 263-270 Gradualismus 10, 13, 15, 18f., 29, 78f., 97-99, 123, 146, 149, 175f. Gründereffekt 109 Gyraulus 97 Handlungssystem 244 Haustier 131, 172, 184 Heil 24, 257, 260, 267 Hierarchie 34f., 140, 153, 165, 181, 184, 188, 193, 196 Historismus 13, 43, 45f., 69 Holismus 141, 247 Homo 203, 208f., 211, 213, 217-219, 252 - erectus 206 - floresiensis 209 - habilis 208, 212 - heidelbergensis 212, 217 - neanderthalensis 205, siehe auch Neandertaler - primigenius 205 - sapiens 66, 102, 115, 209, 212 Homologie 65, 67, 112, 150 Humanität 18, 145, 169, 171f., 176 Idealismus 35 Imagination 151, 166f. Impuls 23, 100, 153, 155, 158, 163, 165, 167, 169, 171, 174, 217, 253, 266 Individuum 31, 47, 79-81, 103, 105, 110, 121, 127, 134f., 146-148, 154, 159-162, 166, 168f., 207, 215-217, 233, 236f., 243f., 250-252 Instinkt 152f., 156, 158, 161, 163-165, 167, 169f., 172, 174f., 243, 246 - sozialer 152f., 156-165, 169f., 175 Instinktreduktion 153, 155, 163, 169f., 174, 246 Institution 22, 130, 160, 193, 225, 232f., 236, 246f., 249 Intellekt 48, 86, 152, 154f., 165f., 169, 174, 211, 243 intelligent design 24, 27, 32, 36, 39, 148, 257f., 260f., 263f., 268-270 Inzest 252 Isolation 67, 78, 105, 109f., 115, 130 - reproduktive 16, 103, 107, 110- 114, 148 Kampf 128, 131, 147, 171f., 246, 248f., 251f., 258 <?page no="287"?> Sachregister 287 Kampf ums Dasein 37, 131, 193, 248f., 252, 257, 263 Kausalität 29, 34, 135, 235, 246, 251, 261, 268 Kirschpflaume 112 Kladismus siehe Cladismus Kladogenese 107, siehe auch Artbildung und Speziation Klassifikation 34f., 50, 63, 65, 85, 165 Kognition 21f., 151, 155, 162, 167f., 174f., 214, 218, 220, 228, 230, 232, 244, 251 Komplexität 9, 16, 32, 48, 52, 55, 65, 70, 93, 95, 101, 121f., 124, 129, 136, 148, 155f., 158, 162, 168, 174f., 215, 218, 236, 247, 258, 270 Konifere 99 Konkurrenz 16, 36f., 98f., 101, 109, 114, 124f., 127-129, 133, 147, 219, 230, 251 Konstanz der Arten 28, 50, 78, 133, 148, 263f. Konstrukt 14, 43, 59, 65, 85, 136, 158, 161, 181, 212, 230, 245, 251f., 263f. Konstruktivismus 248 Kooperation 23, 147, 159f., 172, 175, 217, 228, 249f. Koralle 16, 54f., 124 Kreationismus 32, 258 Kultur 10, 18, 20f., 43, 45, 66, 68, 131f., 138-140, 160f., 172-175, 184, 203, 211, 213, 216-220, 228f., 236, 238, 245f., 250-252, 266 Kulturgeschichte 19, 22 Kulturweizen 112 Laurasia 100 Lautbildung 152, 203, 212, siehe auch Sprache Lautwahrnehmung 152, 203, 212, siehe auch Sprache Lebensgemeinschaft 17, 93, 99, 103, 121, 127-130, 133f., 136, siehe auch Biozönose Lebensraum 90, 95f., 99, 104, 112, 133f., 137, 209 Lebenswissenschaften 86, 126, 225f., 238, 269 Leguan 59 Leib 33, 62, 252, 267 Leid 171, 237, 259 Lernen 22f., 128, 136, 151, 161, 216f., 219, 225-237, 263 Mängelwesen 246 Materialismus 35, 62, 69 Medizin 50f., 68, 261f. Meerkatze 110 Meiose 110-112 Mem 216 Menschenaffe 149, 184f., 190, 192, 196f., 205, 207f., 211, 219 - Bonobo 149, 214 - Gorilla 20, 149, 184-186, 192, 194, 206 - Orang-Utan 149, 185, 194, 217 - Schimpanse 82f., 149, 185, 192, 194, 205f., 212-214, 217, 219 Menschenbild 9, 18f., 131, 181f., 231 Menschenwürde 156, 163, 167f., 172f. Menschheit 20f., 23, 28, 136f., 141, 158- 160, 163, 168, 170, 173, 189, 192, 203-209 Merkmal 27, 31, 33f., 85, 97-99, 105, 107, 109f., 114f., 141, 146, 148-152, 154, 157f., 161f., 164, 172, 174f., 184, 208, 220, 226, 233, 249 Mikrozephalie 20, 181, 186, 188, 190, 196, 212 Missing Link 20, 203, 219 Mitgefühl (sympathy) 18, 152f., 158f., 161, 163-170, 175 Modellorganismus 14, 79 Moral 17-19, 22, 91, 121f., 131f., 136, 140f., 145f., 152f., 156-176, 184, 198, 229f., 234, 237, 244 Moralfähigkeit 18f., 116, 141, 145, 154- 157, 166, 168, 170-176, 211 <?page no="288"?> Sachregister 288 moralischer Sinn (moral sense) 18, 145, 149, 155-165, 168, 170f. Moralphilosophie 122, 156, 244 Moralvermögen 160, 164, 173 Morphologie 14, 16, 50f., 60, 79f., 83, 85, 105, 125f., 150, 175, 203 Mutation 33, 52, 56, 66, 81f., 110, 112f., 115, 135, 216, 238, 269 Mutter 31, 65, 164, 231 Nachkommenüberschuss 66, 263f., siehe auch Überproduktion Nagetier 100 Naturalismus 11, 23, 27f., 30, 32f., 44, 49-51, 68f., 156, 244-248, 257, 260 Naturhaushalt 16, 106, 123, 126, 134, 148 Natürliches System 31, 34f., 65 Naturphilosophie 11, 30, 47, 123, 146, 153 Naturschutz 16, 91f., 94, 121f., 125, 129-132, 136-141, siehe auch Umweltschutz und Schutz der Biodiversität Naturtheologie 34, 261, siehe auch Physikotheologie Neandertaler 20f., 189, 203-205, 207, 209f., 212f., siehe auch homo, - neanderthalensis Neurowissenschaften 167, 226 Neuzeit 29, 45 Norm 69, 139, 163f., 167-169, 175f., 230, 237, 243 Nützlichkeitstheorie 33, siehe auch utilitarian doctrine Ökologie 9f., 16f., 51, 121-141, 220 - evolutionäre 13f., 17, 77, 79, 83, 86, 129, 132, 134, 136 - naturwissenschaftliche 16, 121f., 125 - politische 16, 121 Ökonomie 37, 124f., 128, 232, siehe auch Wirtschaft Ökosystem 15, 17, 90, 93-95, 121, 133- 140 Ökosystemforschung 17, 92, 133 Ökosystemökologie 124, 133-136 Organismus 9, 11, 13f., 16f., 24, 28-35, 39, 43f., 46, 50f., 53, 58, 64f., 68f., 77- 80, 83, 85f., 89f., 92, 94, 96-101, 105, 107f., 115, 123-126, 133-135, 139f., 146-149, 153f., 192, 216, 227f., 245, 263f. Origin of Species 9, 11, 15f., 18-20, 28f., 32, 39, 44, 56, 63f., 70, 77f., 89, 100, 103, 123-125, 127, 129, 145, 148, 153, 162, 181f., 190, 197, 203, 257, 262 Orrorin tugenensis 208 Pädagogik 22, 225-239, siehe auch Erziehungswissenschaften - Evolutionäre 22, 226, 233-239 Paläontologie 15, 22, 31, 54, 58, 66, 69, 79, 105, 208f., 219 Pangaea 100 Paranthropus 208, 211 Parthenogenese 105 Patriarchat 252 Pfahlbau 189 Pflaume 112 Pflicht 90f., 141, 156, 251, 261 Philosophie 29f., 38, 45, 51, 58, 86, 91, 148, 156, 158-160, 167, 176, 184, 230, 244, 259, 262f., 269 Phylogenie 13f., 15, 34, 43, 65, 67, 69, 79, 85, 100, 104, 235f. Physikotheologie 24, 50, 62, 69, 257, 261f., 265, 267, siehe auch Naturtheologie Pithecanthropus 205f. Planung 35-37, 39, 148, 151, 233, 258, 261, 264 Plastizität 174 - phänotypische 14, 84 Polyploidie 110-112 Population 14, 33, 37, 43, 67, 69, 78, 80-82, 84, 89, 91, 96-114, 127, 129, 133f., 136, 147, 161f., 216, 233, 263 Populationsgenetik 9f., 13f., 66, 77, 79- 83, 86, 134 <?page no="289"?> Sachregister 289 Populationsökologie 134 Primaten 151, 208, 243, 246 Prinzip 10, 29, 31, 37, 68, 100, 108-113, 135, 153, 157, 163, 165, 167, 169, 175f., 230, 260, 268 Pristionchus pacificus 83f., 86 Provinzialisierung 100 Psychologie 44, 49, 67, 213, 226, 232, 243, 252 - Evolutionäre 22, 225, 227f., 231- 233 Punktualismus 15, 98 Radiation 99, 114 - adaptive 98, 109 Radiometrie 43, 58 Rassismus 20, 131, 145, 181 Recht 18, 22, 91, 141, 145, 156, 158, 164, 173, 230 Reduktionismus 247f. Reflexion 23, 150, 163-169, 237f., 267 Reflexionsfähigkeit 155, 164f., 168 Regenwurm (Lumbricidae) 16, 124f. Rekapitulationstheorie 190 Religion 19, 24, 27, 31-33, 38-40, 68, 131, 156, 158, 160, 162, 229, 238, 259f., 265f. Reproduktion 37, 66, 69, 103, 107f., 110-114, 133, 145, 148, 160, 173, 216, 230, 248, 250-252 Ressource 15, 89-91, 99, 109, 128-130, 147, 232, 250 Revolution 51, 155 - französische 38 - wissenschaftliche 9f., 14, 18, 27, 39f., 44-46, 51, 56, 78, 85, 123, 148, 159, 181f., 208 Sahelanthropus tchadensis 208 Säugetier (Mammalia) 14, 63, 94, 96, 100, 151, 184, 188f., 192f., 206, 216 Schildkröte 59 Schlehe 112 Schlüsselinnovation 99, 247 Schöpfer 24, 38, 50, 100, 148, 245, 258, 261, 266-268 Schöpfung 10f., 23f., 30, 32-36, 38, 40, 50, 68, 146, 148, 156, 198, 205, 228, 257, 259f., 263-270 Schutz der Biodiversität 15f., 89-92, 138, 141, siehe auch Naturschutz und Umweltschutz Seepocke 60 Selbstorganisation 24, 136, 257, 263, 269f. Selbstzweck 176 Selektion 28, 33, 37, 43f., 67, 69, 80, 82f., 108, 110, 114, 123, 125, 128- 136, 159, 171, 173, 212, 216, 220, 233-236, 238, 245, 252, 269, siehe auch Auslese und Zuchtwahl - natürliche 11, 14, 18, 32, 37, 69, 78f., 86, 98, 123, 133, 146-148, 150, 154f., 158-160, 162, 170, 173-175, 203, 258, 262, 264 - negative 14, 80-82, 86 - positive 14, 80f., 86 - sexuelle 114, 133, 197, 206, 210, 252 Selektionsdruck 66, 67, 99, 154, 168, 174 Selektionstheorie 13, 16f., 24, 64, 66, 68, 78, 80, 83, 121, 124, 126-128, 132, 134, 161, 168, 244, 257, 260-263 Sequenzierungsprojekt 82, 212 Sexualdimorphismus 105 Sonderstellung 149, 155-157, 182, 246f. Sozialdarwinismus 18, 23, 121, 130f., 145, 243, 248f. Sozialisation 252 Soziobiologie 19, 22, 68, 91, 145, 225- 227, 230-233, 235, 243, 248, 252 Soziologie 67, 226, 243-252, 259 Speziation 10, 13f., 16, 59, 67, 78f., 97, 99, 101, siehe auch Artbildung und Kladogenese - allopatrische 67, 107f., 115 - sympatrische 107, 115 Spottdrossel 12, 59 <?page no="290"?> Sachregister 290 Sprache 21, 152, 154f., 163, 174, 205, 212, 216, 228, 233, siehe auch Lautbildung und Lautwahrnehmung Stammbaum 35, 61, 64f., 89, 97, 115, 125, 205, 219 Stoff- und Energiefluss 17, 128, 133, 135f. struggle for existence 37, 123, 147, 154, 160 struggle for life 23, 32, 64, 147f., 159, 262 Stufe 20, 35, 64f., 153, 184, 190, 196, 213, 217 - moralische 158, 168f. Stufenleiter 47, 65, 115, 153 survival of the fittest 43, 78, 147, 159, 248, 264 Synökologie 132, 134 System der Natur 27, 34f. Systematik 10, 12, 14, 31, 35, 37, 43, 50, 53f., 60, 65, 79, 85, 93, 100, 103, 105, 132, 151, 189 - phylogenetische 14, 85 Systemtheorie 135, 234, 243, 247 Technik 46, 82, 99, 131f., 138, 155, 162, 174, 212, 217, 232 Teleologie 23, 34, 47, 69, 233, 244f. teleologischer Gottesbeweis 34 Teleonomie 34 Theologie 10, 18, 23-25, 38, 49f., 68, 148, 230, 247, 257-261, 265, 267-270 Tiefenzeit 13, 43, 49, 69, 101 Tradition 18, 20, 23, 33, 47, 68, 129, 138, 153, 156, 159, 176, 181, 196, 216, 238, 243, 250-252, 259, 265f. Transformation 65, 148, 150, 176 Trieb 152, 164 Trilobit 101 Tübingen 20, 68, 85, 95, 98, 193, 195, 197, 246 Tugend 19, 156, 159, 161, 164f., 171 - soziale 18, 159-164, 172 Überproduktion 78, siehe auch Nachkommenüberschuss Umwelt 14, 16, 23, 29, 32f., 39, 44, 83f., 89-91, 98f., 106, 108, 115, 125, 129, 131-133, 146f., 155, 184, 215-217, 225, 228f., 233, 235, 247, 263f., 266, 269 Umweltschutz 16f., 121f., 132, siehe auch Naturschutz und Schutz der Biodiversität Ursache 16, 24, 31, 33, 89, 101f., 106, 108, 126f., 129, 135, 148, 168, 171, 212, 218, 226, 249, 257, 259f., 262- 264 - anthropogene 15f., 89-91, 93-95, 115, 129, 137, 141 Ursprung 18, 31-33, 36, 44, 53, 64, 80, 82, 85, 91, 100, 108f., 111f., 139f., 149, 154, 156, 158, 162-164, 172, 174, 197, 203-209, 217, 219, 234, 244, 249 Urzeugung 30-33, 128 utilitarian doctrine 32-34, siehe auch Nützlichkeitstheorie Variabilität 39, 64, 78, 83, 138, 193, 196, 263f. - geografische 183 - natürliche 14, 83 Variation 11, 17, 28, 32f., 36f., 47, 56, 66, 69, 80, 105, 114, 129f., 133, 140, 146-148, 150f., 154, 198, 212, 233, 236, 258, 263, 269 - geografische 133 - natürliche 43f., 69, 80, 82, 121, 140 Varietät 20, 34, 39, 52, 59, 102f., 105 Vater 132, 231, 252, 261, 266 Veränderlichkeit 33, 45f., 64, 69, 78, 134, 138, 184, 246, 257, 263f. Vererbung 11, 39, 78, 80f., 130, 146, 148, 159, 161f., 171, 257, 262f., 265 - erworbener Eigenschaften 29, 33, 130 Verhaltensforschung 151, 219, siehe auch Ethologie Verheiratung 251 Vernunft 65, 148, 162, 165, 168-170, 263 <?page no="291"?> Sachregister 291 Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte 19, 185, 190, 192 Verstand 158, 161f., 167, 169, 183 Verwandtenselektion 23, 162, 250 Verzeitlichung 48, 58, 153 Vorfahr 18-20, 22, 35, 66, 78, 89, 97, 99, 149f., 154f., 157, 161, 182, 185, 188- 193, 197, 204-208, 230, 250, 258 Weltanschauung 11, 19, 27, 29f., 32, 39f., 68, 78, 130f., 260, 262 - wissenschaftliche 38, 126, 130 Weltbild 29, 78, 257, 266f., 270 - antikes 266f. - physikotheologisches 34, 260, 264 - statisches 257f., 261 - wissenschaftliches 39, 260, 267 Weltdeutung 236 Weltreise 12, 43f., 53, 55, 63, 146, 158, 171, 257, 261-264 Weltsicht 45 - physikotheologische 24 - wissenschaftliche 238, 264 Weltumsegelung 12, 44, 62 Werkzeug 21, 32f., 151, 158, 203, 208, 210, 213-215, 217f. Willensfreiheit 167f. Wirtschaft 37, 92, 127, 129, 244, siehe auch Ökonomie Wirtschaftswissenschaft 244 Wirtsrasse 113f. Wissenschaft 9-11, 13, 15f., 19, 22, 24f., 27-32, 38-40, 44, 46, 48, 50-53, 62, 68f., 78, 84, 86, 89f., 93, 96, 122, 127, 130-132, 137, 148f., 151, 159f., 184, 188f., 192f., 197, 247, 249, 253, 258f., 261f., 265 - Geisteswissenschaft 9, 18, 145, 216, 226, 233, 269 - Naturwissenschaft 9f., 16, 24f., 28, 32, 39f., 49, 68, 70, 77, 86, 115, 121f., 125f., 130-132, 139, 145, 155, 174, 185, 198, 244, 257-261, 263, 267-269 - Sozialwissenschaft 18, 145, 216, 225f., 228, 269 Wissenschaftsgeschichte 122-125, 127, 262 Wissenschaftstheorie 10, 44, 121f., 132, 135 Wunder 11, 31f., 40 Zuchtwahl 263, siehe auch Auslese und Selektion - geschlechtliche 197 - natürliche 47, 258, 264, 269 Zweckmäßigkeit 10f., 24, 27-30, 32-34, 39, 146, 148 <?page no="293"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.attempto-verlag.de · E-Mail: info@attempto-verlag.de „Nichts in der Biologie macht Sinn, außer man betrachtet es im Licht der Evolution“, so formuliert der Genetiker und Zoologe Theodosius Dobzhansky den zentralen Anspruch der Evolutionsbiologie innerhalb der Biowissenschaften. Tatsächlich kann die im Verlauf der Erdgeschichte zu beobachtende Veränderung und Diversifizierung der Organismen seit Darwin auf der Grundlage einer umfassenden Theorie der Evolution erklärt werden. Jedoch auch heute noch bestehen in der Bevölkerung zum Teil große Missverständnisse darüber, wie Evolution eigentlich funktioniert und zur Diversifizierung des Lebendigen führt. Zum Teil wird die Evolutionsbiologie sogar als Bedrohung empfunden, da sie scheinbar im Widerspruch zu einer religiös geprägten Weltsicht steht. Dieses Buch vermittelt ein allgemeines Verständnis für die Evolutionslehre und die Kenntnis ihrer Prinzipien und Methoden. Dies umfasst auch die biologische und kulturelle Evolution des Menschen. Oliver Betz / Heinz-Rüdiger Köhler (Hrsg.) Die Evolution des Lebendigen Grundlagen und Aktualität der Evolutionslehre 2008, 304 Seiten, €[D] 29,90/ Sfr 48,50 ISBN 978-3-89308-399-2 <?page no="294"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Dieser Band führt in systematischer Form in die grundlegenden Konzepte und Methoden der Prähistorischen Archäologie ein. Unter Berücksichtigung forschungsgeschichtlicher Aspekte werden Struktur und erkenntnistheoretische Voraussetzungen eines Faches entwickelt, dessen Quellen im Wesentlichen aus nichtschriftlichen Hinterlassenschaften bestehen. Die hier erstmals umfassend erörterten Konzepte und Methoden sind jedoch nicht nur für die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, sondern für die Archäologie insgesamt von zentraler Bedeutung. Für diese dritte Auflage wurde das bewähr te Standardwerk grundlegend überarbeitet und um Beiträge von Nils Müller- Scheeßel (Korrespondenzanalyse) und Stefanie Samida (Neue Studiengänge) erweitert. „Die vorliegende Publikation ist mit vollem Recht als ein Standardwerk der Archäologie einzustufen. Es [...] gehört in jede Instituts-, allgemein öffentliche und Privatbibliothek.“ Tribus „Welche andere Einführung verpflichtet zur kritischen Lektüre grundlegender Werke so sehr wie die ‚Prähistorik‘ Eggerts? “ Fundber. Baden- Württemberg Manfred K.H. Eggert Prähistorische Archäologie Konzepte und Methoden 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage 2008 XXII, 463 Seiten, €[D] 26,90/ SFr 47,00 ISBN 978-3-8252-2092-1 <?page no="295"?> Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: www.francke.de · E-Mail: info@francke.de Zugeschnitten auf die neuen BA-Studiengänge vermittelt das Lehrbuch einen knappen, aber dennoch umfassenden Überblick über die Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie. Behandelt werden die Stellung des Fachs im Gesamtrahmen der Archäologie, seine forschungsgeschichtliche Entwicklung und theoretisch-methodische Basis sowie seine Grundbegriffe und Nachbarfächer. 17 exemplarische Fallbeispiele aus unterschiedlichen Epochen und Regionen dokumentieren das weite Spektrum des Forschungsgegenstands und informieren jeweils über den neuesten Forschungsstand. Übergreifende kulturwissenschaftliche Leitkonzepte werden ebenso thematisiert wie die aktuellen Studienmöglichkeiten und mögliche Berufsperspektiven. Manfred K.H. Eggert Stefanie Samida Ur- und Frühgeschichtliche Archäologie UTB 3254 basics 2009, X, 326 Seiten, zahlreiche Abb. und Tab., €[D] 22,90/ SFr 41,00 ISBN 978-3-8252-3254-2 <?page no="296"?> Deutschlands führende Experten zeichnen in diesem Band den langen Weg nach, den unsere Vorfahren gegangen sind - von Proconsul, einem Vorläufer der heutigen Menschenaffen, über die Australopithecinen, den ersten Werkzeugmacher Homo habilis und den Homo erectus bis zum Homo sapiens sapiens, dem modernen Menschen. Die hochaktuellen Beiträge gehen auf alle wesentlichen Aspekte der menschlichen Evolution ein und berücksichtigen auch jüngste spektakuläre Entdeckungen wie den Flores-Menschen oder die ersten Zeugnisse für die Entstehung von Musik und Kunst auf der Schwäbischen Alb. Dem übergeordnet ist jedoch als zentrales Anliegen des Bandes die Frage, die uns alle am meisten interessiert: was machte und macht den Menschen eigentlich zum Menschen? Mit Beiträgen von: Nikolaus Blin, Michael Bolus, Günter Bräuer, Nicholas J. Conard, Miriam Noël Haidle, Winfried Henke, Wolfgang Maier, Hans- Ulrich Pfretzschner, Holger Preuschoft, Carsten M. Pusch, Friedemann Schrenk, Joachim Wahl Nicholas J. Conard (Hrsg.) Woher kommt der Mensch? 2., überarb. und aktual. Auflage, 2006, 331 Seiten, 120 Abb., € [D] 29,90/ SFR 52,20 ISBN 978-3-89308-381-7 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 · D-72015 Tübingen · Fax (0 7071) 97 97-11 Internet: w w w.attempto -verlag .de · E-Mail: info@attempto -verlag . de