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Kirche und Krisen

Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form

0622
2020
978-3-8930-8660-3
978-3-8930-8460-9
Attempto Verlag 
Lukas Ohly

Die Reformation erscheint heute vorrangig als mediales Ereignis: ohne Buchdruck, Bibelübersetzung und Kirchenlied keine Botschaft. In unserer modernen Welt verlangt jeder Inhalt so sehr nach einer passenden, wirksamen Form, dass die Form das Wesentliche zu werden droht und der Inhalt nachrangig. Was bedeutet das für die Theologie, deren Gegenstand per Definition keine Gestalt und keine Form hat? Ihre Denkweisen bieten Anregungen, um die "Formalismuskrise" nicht nur der Theologie zu überwinden. Dazu bedient sich der Theologe und Pfarrer Lukas Ohly auch interdisziplinärer Theorien von Denkern wie Charles S. Peirce oder Ludwig Wittgenstein. Am Beispiel der Flüchtlingskrise 2015 und digitaler kirchlicher Angebote während der Corona-Krise 2020 zeigt er, wie wir Dingen auf den Grund gehen, Sachverhalte verstehen und Sinn finden können.

<?page no="0"?> ISBN 978-3-89308-460-9 W W W . N A R R . D E W W W . N A R R . D E Die Reformation erscheint heute vorrangig als mediales Ereignis: ohne Buchdruck, Bibelübersetzung und Kirchenlied keine Botschaft. In unserer modernen Welt verlangt jeder Inhalt so sehr nach einer passenden, wirksamen Form, dass die Form das Wesentliche zu werden droht und der Inhalt nachrangig. Was bedeutet das für die Theologie, deren Gegenstand per De€nition keine Gestalt und keine Form hat? Ihre Denkweisen bieten Anregungen, um die „Formalismuskrise“ nicht nur der Theologie zu überwinden. Dazu bedient sich der Theologe und Pfarrer Lukas Ohly auch interdisziplinärer Theorien von Denkern wie Charles S. Peirce oder Ludwig Wittgenstein. Am Beispiel der Flüchtlingskrise 2015 und digitaler kirchlicher Angebote während der Corona-Krise 2020 zeigt er, wie wir Dingen auf den Grund gehen, Sachverhalte verstehen und Sinn €nden können. Ohly Kirche und Krisen Kirche und Krisen Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form Lukas Ohly 20460_Umschlag.indd 3 13.05.2020 15: 46: 56 ISBN 978-3-89308-460-9 W W W . N A R R . D E W W W . N A R R . D E Die Reformation erscheint heute vorrangig als mediales Ereignis: ohne Buchdruck, Bibelübersetzung und Kirchenlied keine Botschaft. In unserer modernen Welt verlangt jeder Inhalt so sehr nach einer passenden, wirksamen Form, dass die Form das Wesentliche zu werden droht und der Inhalt nachrangig. Was bedeutet das für die Theologie, deren Gegenstand per De€nition keine Gestalt und keine Form hat? Ihre Denkweisen bieten Anregungen, um die „Formalismuskrise“ nicht nur der Theologie zu überwinden. Dazu bedient sich der Theologe und Pfarrer Lukas Ohly auch interdisziplinärer Theorien von Denkern wie Charles S. Peirce oder Ludwig Wittgenstein. Am Beispiel der Flüchtlingskrise 2015 und digitaler kirchlicher Angebote während der Corona-Krise 2020 zeigt er, wie wir Dingen auf den Grund gehen, Sachverhalte verstehen und Sinn €nden können. Ohly Kirche und Krisen Kirche und Krisen Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form Lukas Ohly 20460_Umschlag.indd 3 13.05.2020 15: 46: 56 <?page no="1"?> Kirche und Krisen <?page no="3"?> Lukas Ohly Kirche und Krisen Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form <?page no="4"?> Bildnachweis Umschlag: Vetvector / iStock, Stock-Illustration- ID: -1218557964 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: / / dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: info@narr.de Satz: pagina GmbH, Tübingen CPI books GmbH, Leck ISSN 2626-0697 ISBN 978-3-89308-460-9 (Print) ISBN 978-3-89308-660-3 (ePDF) ISBN 978-3-89308-005-2 (ePub) <?page no="5"?> Für Emilia <?page no="7"?> Inhalt Einleitung 9 1 Der Formalismus in der Theologie: Präzisierungen zu einem aktuellen Denktyp 15 1.1 Mit Denkformen Inhalten aus dem Weg gehen 15 1.2 Die interdisziplinäre Herleitung des Formalismus 18 1.3 Der schöpfungstheologische Hintergrund des Formalismus 35 1.4 Debatten über Inhalte führen 43 2 Die Flüchtlingskrise und der Formalismus in der Protestantischen Ethik 47 2.1 Ist die universalistische Gesinnung der Inhalt, die begrenzte Verantwortung die Form? 47 2.2 Warum der Inhalt nicht an die Form gebunden ist 52 2.3 Der inhaltsoffene Formalismus der Semiotik 57 2.4 Kann sich ethischer Universalismus aus dem Korsett der begrenzenden Form befreien? 62 2.5 Folgerungen 72 3 Digitalisierung und Corona-Krise. Wozu die Kirchen jetzt da sind 75 3.1 Da sein oder im Netz sein? 75 3.2 Die Form des Gottesdienstes-- offline oder online, digital oder analog 80 3.3 Kirche in der digitalen Welt: Form oder Inhalt? 85 3.4 Die „Form“ im Digitalen 90 3.5 Welche Gemeinschaft will und kann die Kirche sein? 99 3.6 Christlicher Glaube und formale Ambiguität 102 Literaturverzeichnis 105 Anmerkungen 111 <?page no="9"?> 9 Einleitung Ein Jahr vor dem 500. Reformationsjubiläum saß ich auf einem Podium, um über den Vortrag eines Theologen zu diskutieren, der Martin Luthers Anliegen auf das 21. Jahrhundert übertragen wollte. Dabei hob er Äußerlichkeiten hervor, die Luthers theologisches Interesse so gut wie nicht berücksichtigten: Luther habe den populären Liedern seiner Zeit christliche Texte unterlegt; also müsse die evangelische Kirche auch heute die Kirchenmusik popularisieren. Ebenso habe Luther die Bibel nicht einfach in die deutsche Sprache übersetzt, sondern in die Umgangssprache der damaligen Bevölkerung. Daher müsse auch heute nicht nur die Bibel, sondern auch die christliche Botschaft in die Kultur- und Sprachgewohnheiten der Menschen umgesetzt werden. Ein Jahr später hatte ich bei einer öffentlichen Frankfurter Veranstaltung den Segensroboter BlessU2 kennengelernt, den die Evangelische Kirche von Hessen und Nassau zur Reformationsausstellung in Wittenberg entworfen hatte. Es ging um die Frage: Können Roboter segnen? Dabei meldeten sich etliche theologische Vertreter, die argumentierten, dass der Segen generell nur über Medien zum Ausdruck komme. Daher mache es keinen prinzipiellen Unterschied, ob ein Pfarrerin ihre Hände hebe und dabei Segensworte spreche oder ein Roboter. Was haben beide Beispiele miteinander zu tun? Sie reduzieren theologische Fragestellungen auf Formalfragen. Die Bedeutung des Segens wird auf seine mediale Ausdrucksform zurückgeführt. Ebenso wird das theologische Wahrheitsanliegen Martin Luthers auf seinen geschickten Einsatz von Medien reduziert. Dahinter liegt offenbar die Vermutung, Sachfragen ließen sich auf die begründete Entscheidung für geeignete Formen verkürzen. Diese Vermutung wird vor allem dann verstärkt, wenn behauptet wird, es gebe keine isolierte Sache, die ohne eine für sie passende Form <?page no="10"?> 10 überhaupt bedacht werden könne. Denn dann folgt, dass ungeeignete Formen die Inhalte verzerren oder verändern können. Also ist die Frage nach den Formen selbst eine Sachfrage. Die Grenzen zwischen Form und Inhalt verschwimmen, aber so, dass der methodische Gang doch signifikant die Formen in den Blick nimmt und nur vermittelt über sie auch die Inhalte. Es scheint dann so, als seien die Inhalte das Vermittelte, die Formen dagegen das Unmittelbare, das eigentliche Phänomen, das zu bedenken ist. Ich halte diese Wahrnehmung für eine Formalismuskrise. Sie besteht nicht darin, dass gewohnte Formen in eine Krise geraten, was ja durchaus auch in den obigen Beispielen behauptet wird. Dort war ja suggeriert, die traditionellen Kirchenlieder entsprächen nicht mehr der Intention Luthers und würden sich somit gegen die Reformation stellen. Ebenso sollte der Segensroboter einen Denkanstoß bieten, über welche Formen die evangelische Kirche, die als Institution gegenwärtig einen Vertrauensverlust erfährt, wieder zu den Menschen findet. Das ist jedoch nur eine Formkrise, mit der sich die entsprechenden kirchenleitenden Personen und die Theologie beschäftigen. Eine Formalismuskrise jedoch besteht darin, dass Sachprobleme pauschal als Formkrisen bearbeitet werden. Die Benennung von Formkrisen ist also das Symptom der Formalismuskrise. Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, auf den der Formalismus nicht übergesprungen ist. Die Dominanz der Form macht sich durch einen technokratischen Umbau der Gesellschaft auch im Denken breit. Nicht erst die Digitalisierung erzeugt den starken Suggestionsschub, dass sich das menschliche Denken auf formelle Muster reduzieren lasse. Sie vollendet vielmehr ein Denken, das sich auf seine Formen durchsichtig macht, als gäbe es nichts darüber hinaus. In diesem Büchlein untersuche ich zwar den Formalismus stets in theologischen Kontexten. Allerdings zeigen die drei Beispiele, die ich hier diskutiere, den gesellschaftlichen Bezug des Formalis- <?page no="11"?> 11 mus. Er schlägt sich in politischen und strategischen Entscheidungen von Organisationen ebenso nieder wie im Gebrauch von Technik. Dass der Formalismus auch in der Theologie angekommen ist, dürfte eher markieren, dass er auf die Spitze getrieben wird. Denn der Theologie als Reflexion des christlichen Glaubens ist es nie nur um die bloße Einübung und Wiederholung von Ritualen gegangen, sondern vor allem um das verstehende Erfassen der Wirklichkeit Gottes. Wenn es in der Welt kein Bild für Gott gibt, gibt es auch keine Formen für ihn. Folglich muss er für die Menschen anders zugänglich sein als alle anderen Gegenstände der Welt, bei denen man noch am ehesten vermuten könnte, dass ihnen verlässliche Formen zugrunde liegen. Die Dominanz der Form unterschlägt den Außenbezug des Denkens, als gäbe es keine Sache, die zu denken ist. Schon der Theologe Karl Barth hat die „Sache“ vor den formellen Rekonstruktionen in der Theologie retten wollen. Adolf von Harnack hatte ihm daraufhin vorgeworfen zu übersehen, dass uns Jesus Christus nur über seine kirchengeschichtlichen Reminiszenzen zugänglich ist. 1 Die Frage, die sich an diese Einsicht anschließt, heißt aber, ob sich theologisches Denken in der Rekonstruktion dieser Reminiszenzen erschöpft oder ob es dahinter zu einer Sache vorstoßen kann, die sich von der Form befreit: „Bis zu dem Punkt muss ich als Verstehender vorstoßen, wo ich nahezu nur noch vor dem Rätsel der Sache, nahezu nicht mehr vor dem Rätsel der Urkunde als solcher stehe.“ 2 Man könnte auch fragen, ob es im Formalismus überhaupt noch eine Sache gibt, auf die sich die Formen beziehen, oder ob sich die Funktion der Sache darin erschöpft, dass sie in den Formen ausgedrückt ist. Ist also Immanuel Kants „Ding an sich“ nur eine leere Konstruktion der Erkenntnis, so dass den Geisteswissenschaften nichts anderes übrig bleibt, als in intertextuellen Querverweisen lediglich formellen Sinn zu generieren? Es gibt eine Lösung für diese Krise. Die Hauptthese dieses Buches besteht darin, dass der Formalismus in der Theologie von innen <?page no="12"?> 12 her aufgebrochen wird. Ich erinnere also an solche Quellen in der Theologie, die zwar die Bindung von Inhalten an ihre Formen zunächst akzeptieren, dann allerdings Brechungen darin aufdecken, die feste Formen verflüssigen, um sie an theologische Inhalte anzupassen. Denn gerade weil Gott kein Gegenstand der Welt ist und es daher anderer Zugangsweisen für die Gotteserkenntnis bedarf, müssen Formen überstiegen werden, von denen man ursprünglich ausgegangen ist. Dieser Ansatz ist ein Angebot, die Formalismuskrise zu überwinden-- nicht nur innerhalb der Theologie. Dazu verweise ich auf Autoren, die interdisziplinär gearbeitet haben. Zu ihnen gehören der Semiotiker Charles S. Peirce, die Philosophen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein, der Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich sowie Ethiker der Gegenwart, die bei der Bearbeitung eines spezialethischen Problems an die Grenzen des Formalismus stoßen. Das Büchlein hat drei Teile. Im ersten Kapitel werde ich die theoretischen Grundlagen der Formalismuskrise beschreiben und die religionsphilosophischen Ressourcen rekonstruieren, die aus der Krise herausführen. Die beiden anderen Kapitel werden auf diese Ressourcen vertiefend eingehen, um die Formalismuskrise an konkreten politischen oder strategischen Themen aufzuzeigen. Die politische Ethik in der protestantischen Theologie hat in den vergangenen Jahren das Problem des Formalismus offengelegt, nämlich am kontrovers diskutierten Thema der deutschen Flüchtlingspolitik. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015 in einem deutschen Alleingang die Grenzen für Flüchtlinge geöffnet und eine Euphorie der „Willkommenskultur“ in Gang gesetzt hatte, die eine ebenso massive Gegenbewegung mit der Stärkung rechtspopulistischer Bewegungen hervorrief, haben etliche protestantische Theologen den Versuch unternommen, Merkels Flüchtlingspolitik allein unter formalen Aspekten ethisch zu verurteilen. Dass dieser Formalismus bereits politisch zu unterkomplex gewesen ist, legte die Debatte in den Folgejahren offen. Ich möchte im zweiten <?page no="13"?> 13 Kapitel zeigen, dass die Lösung zum Problem über politisch-ethische Vorschläge hinaus in einer Überwindung des Formalismus zu suchen ist. Das dritte Kapitel untersucht die gesellschaftliche Entwicklung, die derzeit unter dem Containerbegriff „Digitalisierung“ zu beobachten ist, nur an einem, aber vermutlich repräsentativen Beispiel. Zwar ist die Ursache für dieses Beispiel historisch beispiellos und liegt in der Corona-Krise des Jahres 2020. Etliche Staaten haben Ausgehsperren verhängt, um die Ausbreitung des Corona-Virus Covid 19 einzuschränken. Das führte auch zum Verbot, sich zu Gottesdiensten zu versammeln. In dieser Situation haben etliche Religionsgemeinschaften das Internet für sich entdeckt, um ihre Angebote in den virtuellen Raum zu verlegen. Die Corona-Krise hat jedoch die Digitalisierung von Sozialformen nicht verursacht, sondern nur beschleunigt. Mit der Digitalisierung hat sich schon vorher ein sozialer Trend entwickelt, Inhalte zu formalisieren. Die naive Euphorie, mit der Kirchengemeinden und Kirchenleitungen virtuelle Gottesdienstangebote ins Internet stellen, macht diesen Trend nur besonders sichtbar. Denn sie belegt die Anfälligkeit für die Formalismuskrise im Denken von Organisationen. Wenn dieses Büchlein die Aufmerksamkeit ein wenig dafür schärfen kann, was mit der Formalismuskrise verlorenzugehen droht und was deshalb zu verteidigen ist, wäre sein Ziel erreicht. Es gilt nämlich die menschliche Fähigkeit zu schützen, Sachverhalte zu verstehen, ihnen auf den realen Grund zu gehen, Ziele zu setzen, weil uns etwas trifft, was uns den Sinn offenbart, diese Ziele zu setzen; die menschliche Fähigkeit also, geistig zu sein und dem Geistigen zu begegnen. <?page no="15"?> 15 1 Der Formalismus in der Theologie: Präzisierungen zu einem aktuellen Denktyp 1.1 Mit Denkformen Inhalten aus dem Weg gehen Kein Zweifel, dass Denkformen Formen sind. Aber bestimmt damit die Form den Inhalt? Könnte es also sein, dass Inhalte nur in bestimmten Formen dargestellt werden können, ansonsten verlieren sie sich? Oder können bestimmte Inhalte überhaupt erst ihre eigene Form hervorbringen? Aber wenn es so wäre, wären sie dann nicht auch unmittelbar an die Form gebunden? Anselm von Canterbury hat im 11. Jahrhundert den ontologischen Gottesbeweis formuliert. Er besteht darin, dass man Gottes Existenz aus dem Gedachtsein ableitet. Wer Gott denkt, muss ihn so denken, dass Gott nicht nur gedacht sein kann. Dieser originelle Gedanke wurde seitdem seiner Form nach immer wieder verwendet, auch um damit die Existenz von anderem zu beweisen. Der ontologische Beweis wurde zu einer Form, die andere Inhalte aufnehmen konnte. Sartre etwa hat mit diesem Verfahren die Existenz einer Außenwelt außerhalb der Ideen nachgewiesen. Auch dass es neben mir noch anderes Bewusstsein gibt, ließ sich für Sartre mit dieser Form beweisen. 1 Doch dazu musste Anselm seinen Gottesbeweis zunächst einmal inhaltlich durchdrungen haben. Vermutlich hat Anselm dazu auf andere Formen zurückgegriffen, etwa auf die Gebetsform, in der er seinen Beweis entfaltet. Doch soll das heißen, dass Inhalte letztlich nie ohne eine ihr vorausliegende Form entwickelt werden können? Das würde heißen, dass die Form des ontologischen Gottesbeweises im Grunde schon in der Gebetsform angelegt gewesen war. Wirklich Neues ist dann nicht zu erwarten, sondern nur die Entwicklung der Potenziale alter Formen. Umgekehrt heißt das, dass Neuheiten nur unabgeleitet <?page no="16"?> 16 auftreten können. Neuheit ist Schöpfung aus dem Nichts, oder sie ist keine Neuheit. Ihre Unableitbarkeit liegt nicht darin, dass sie sich nicht über vorhandene Formen stülpt, sondern dass sie nicht als Form auftritt. Wer über das Verhältnis von Form und Inhalt nachdenkt, muss dazu bereits selbst Inhalte denken und sie in eine Form bringen. Dennoch denkt er über etwas nach, was nicht selbst Form oder Inhalt ist. Das Verhältnis zwischen Form und Inhalt liegt vielmehr zwischen beiden. Das ist einerseits so originell nicht: Der Gedanke über einen Dinosaurier ist nicht selbst ein Dinosaurier. Andererseits handelt es sich beim Nachdenken über Form und Inhalt ja um eine Selbstanwendung von Form und Inhalt. Irgendwie wird der Gedanke doch zum Dinosaurier, wenn Form und Inhalt Dinosaurier sind. Aber selbst dann ist ihr Verhältnis keiner. Oder in der Sache gesprochen: Zwar hat der Gedanke zum Verhältnis von Inhalt und Form selbst einen Inhalt und eine Form. Aber wenn das Verhältnis zwischen ihnen liegt, wird hier etwas gedacht, was selbst über Inhalt und Form liegt. In der Logik versucht man solche paradoxen Gedanken so zu lösen, dass man sie auf verschiedene Stufen stellt: Inhalte über Inhalte sind dann Inhalte zweiter Ordnung. Es könnte aber auch sein, dass das Verhältnis zwischen Form und Inhalt nicht einmal Inhalt oder Form höherer Ordnung ist, sondern nichts von beidem, sondern Neuheit: Ein Verhältnis, das nicht fest besteht, sondern sich frei bildet. Ich möchte in diesem Kapitel zeigen, dass es sich so mit Form und Inhalt verhält. Die Reflexion über Neuheiten gehört theologisch in die Lehre von der Schöpfung. Auf die Theologie selbst angewandt, ist Schöpfungslehre kein festes Fundament, weder für die Rede von Gott noch von der Welt. Theologische Rede ist daher selbst kreativ. Sie kann sich nicht auf feste Formen verlassen. Vielmehr müssen theologische Denkformen sich selbst übersteigen können. Und sie müssen ihre Inhalte in andere Formen bringen können. <?page no="17"?> 17 In der gegenwärtigen Theologie hört man oft davon, dass sich Form und Inhalt zu entsprechen hätten. Bisweilen wird sogar von einer „Kongruenz von Form und Inhalt“ gesprochen. Dahinter liegt eine Vorentscheidung über eine andere Verhältnisbestimmung von Form und Inhalt, als sie mir vorschwebt. Diese Vorentscheidung besteht darin, die Verhältnisbestimmung als Dominanz fester Formen vorzunehmen. Ich spreche deshalb von einer Vor-Entscheidung, weil dieser Formalismus, wie ich diese Dominanz der Form in diesem Büchlein nenne, seine Selbstanwendung nicht überprüft hat. Er hat nicht geklärt, ob neue Denkformen auf alten Denkformen beruhen. Und er hat keine Antwort auf die Frage gegeben, ob das Verhältnis zwischen Form und Inhalt selbst eine Form ist. Holt man diese Selbstaufklärung nach, ergibt sich eine andere Theologie, als sie von den gegenwärtigen Protagonisten des Formalismus vertreten wird. In diesem Kapitel werde ich theologische Konzepte eines sich revidierenden Formalismus vorstellen, der Neuheiten mitdenken kann. Damit wird der Formalismus zu einer typisch theologischen Denkfigur. Der gegenwärtige Formalismus mag sich zwar auf außertheologische Einsichten anderer Geisteswissenschaften berufen. Sobald er aber auf sich selbst angewendet wird, treten grundsätzliche Erwägungen auf, die eine schöpfungstheologische Dimension eröffnen. Dazu möchte ich in diesem Kapitel die „Kongruenzthese“ zwischen Form und Inhalt in Frage stellen. Ich stelle also meine Einwände gegen die These vor, dass zwischen Form und Inhalt eine Kongruenz besteht. Die These kann trivialer gemeint sein als sie klingt. Sie kann meinen, dass die Form immer dem Inhalt entspricht, der ausgedrückt wird, dass es also nie formlose Inhalte gibt. Es kann aber auch im nicht-trivialen Sinn gemeint sein, dass ein Inhalt ein anderer wird, wenn er in einer „unpassenden“ Form auftritt. Tatsächlich scheint diese nicht-triviale These hinter den Bemühungen insbesondere der Praktischen Theologie zu stehen, die angemessenen Formen theologischer Inhalte zu finden. <?page no="18"?> 18 Zunächst möchte ich die Grenzen des Formalismus aufzeigen. In einem nächsten Schritt rekonstruiere ich die schöpfungstheologischen Quellen des Formalismus, aus dem sich ein flexibleres Verhältnis von Form und Inhalt ergibt. 1.2 Die interdisziplinäre Herleitung des Formalismus Der Form-Inhalt-Zusammenhang wird interdisziplinär gestützt: Semiotisch gibt es keine Inhalte „an sich“, die erst sekundär an bestimmte Ausdrucksformen geknüpft würden. Vielmehr sind Inhalte immer schon an Ausdrucksformen gebunden. Zwar lasse sich Neues ausdrücken, aber nur, weil der dafür herangezogene Ausdruck selbst eine Form habe. 2 Dieser Formalismus dürfte weitgehend der trivialen Variante entsprechen: Es gibt keine formlosen Inhalte. Insofern bestimmt die Form den Inhalt, was aber nicht heißt, dass derselbe Inhalt nicht auch in einer anderen Form ausgedrückt werden könnte. Auch die Ästhetik „macht uns darauf aufmerksam, dass Inhalte immer nur in einer bestimmten Form für uns zugänglich sind. Das Was ist immer mit dem Wie verknüpft. Deshalb ist die Ästhetik falsch verstanden, wenn man sie-- wie es nicht selten geschieht-- auf Äußerlichkeiten, Stilfragen und formale Aspekte reduziert. Die Ästhetik ist vielmehr eine durch und durch inhaltsorientierte Wissenschaft.“ 3 In diesem Sinne wird dann sogar von einer „Kongruenz“ 4 von Form und Inhalt gesprochen. Hierbei handelt es sich um die eigentliche Kongruenzthese im nicht-trivialen Sinn: Wenn Inhalt und Form kongruent sind, folgt nämlich, dass eine Veränderung der Form unmittelbar zu einem anderen Inhalt führt. Ich werde im nächsten Schritt zeigen, dass diese These so konzipiert ist, dass sie sich nicht begründen lässt. Das kann man aber bereits an der geometrischen Metaphorik der Kongruenz erkennen: Das <?page no="19"?> 19 Verhältnis von Form und Inhalt liegt zwischen beiden und besteht dann-- im Bild-- in der Flächendimension, in der die beiden aufeinanderliegen. Die Kongruenz zeigt sich also in diesem Dritten. Solange aber nicht geklärt ist, was dieses Dritte ist, lässt sich die Kongruenzthese nicht begründen. Ist sie Inhalt 2 oder Form 2 oder eine Neuheit, wie ich das Verhältnis bestimmen möchte? Was passiert aber, wenn der Formalismus keine solche dritte Dimension annimmt? Durch den Prozess reiner Selbstreferenz wird nämlich die Flächendimension eingespart. Dadurch wird die Form die „Fläche“ für den Inhalt und der Inhalt die „Fläche“ für die Form. Das führt dazu, dass Form und Inhalt äquivoke Begriffe werden: Sie sind zum einen die Flächendimension, in der das jeweils andere gelegt wird, als auch die Form, die mit der anderen übereinstimmt. Diese Äquivozität beruht auf der reinen Selbstreferenz der formalistischen Begründungsfigur: Wenn Form und Inhalt kongruent sind, weil sie füreinander als passende Dimension definiert werden, kann Beliebiges passend gemacht werden. Die biblische Auslegung (Exegese) hat in ihren Methodenkanon im 20. Jahrhundert die Formgeschichte aufgenommen. Ihr liegt die Beobachtung zugrunde, dass in der Entstehungszeit biblischer Texte individuelle Einsichten durch die Formen der jeweiligen Gattungen stark begrenzt worden sind. Von „gattungsmäßiger Gebundenheit alt- und neutestamentlicher Texte“ 5 wird gesprochen. Das Ziel der Formgeschichte besteht zwar darin, den individuellen Anteil in einem Schriftwerk rekonstruieren zu können. Allerdings heißt das gerade nicht, dass sich der individuelle Anteil sozusagen „freischwebend“ auf die Gattungen legt. Mit der Disziplin der Formgeschichte wird der Inhalt nicht einem Individuum zugesprochen, während die Gattung die Form bildet. Vielmehr ist mit „gattungsmäßiger Gebundenheit“ auch eine Gebundenheit der Inhalte an die Form gemeint. Aber auch wenn man Jesus als einen individuell ausgezeichneten Geschichtenerzähler stilisiert, hält man am Formalismus fest. <?page no="20"?> 20 Die neutestamentliche Gleichnisforschung behauptet dann, dass die Form des Gleichnisses nicht willkürlich bestimmt worden ist, sondern sich ihr Inhalt nur so entfalten kann. Die individuelle Gleichniserzählung (Parabel) hat eine typische Form, die sich nicht in einer Aussage zusammenfassen lässt. Form und Inhalt finden hier zu einem Verhältnis in einem Dritten, nämlich in „strukturellen Gegebenheiten“ 6 . Was für die Parabel im Besonderen gilt, gilt im Allgemeinen für die „Gleichnisstruktur“ der theologisch repräsentierten Wirklichkeit: Die „besondere Leistung des frühen Christentums besteht offensichtlich darin, diese Gleichnisstruktur gerade bezogen auf Jesu Tod und im Namen des Osterglaubens auf den Gesamtkomplex des Lebens Jesu übertragen zu haben.“ 7 Die Beobachtungen der Gleichnisforschung werden metapherntheoretisch verallgemeinert: Metaphern werden nicht als stilistische Verzierungen verwendet und stellen auch keine Behauptungen auf, die sich verifizieren ließen. Vielmehr bilden sie neue Sinnhorizonte, um den Realitätsbezug überhaupt erst erschließbar zu machen. Sie werden daher dazu verwendet, neue Entdeckungen auf der Ebene des Sinns zu erschließen. Theologisch ist die Metapher daher diejenige Sprachform, das eschatologisch Neue in der Sprache des alten Menschen auszudrücken. 8 Form und Inhalt müssen sich aus theologischen Gründen entsprechen. Diese unterschiedlichen Quellen führen nicht geradlinig zu dem einem Modell von Formalismus. Allerdings haben sie eine starke Suggestivkraft, Inhalte an ihren Formen zu bemessen. Anstatt den Inhalt an der Sache zu überprüfen, die er meint, wird er vielmehr an der Form überprüft. Dabei wird die Aufmerksamkeit von der Wahrheitsüberprüfung auf das kommunikative Gelingen einer inhaltlichen Botschaft verlagert. Denn wenn der Inhalt an die jeweilige Sprachform gebunden ist, wäre bereits die Wahrheitsüberprüfung des Inhalts an der gemeinten Sache eine formelle Überschreitung des Inhalts. Das wäre nur dann nicht der Fall, wenn der <?page no="21"?> 21 Inhalt mit der Sache strukturell übereinstimmt, wenn es also eine Form höherer Ordnung gibt, die die Übereinstimmung sicherstellt. Es ist zwar zuzugestehen, dass ein wahrheitsfähiger Satz in der Ausdrucksform von Aussagen behauptet werden muss. Daraus folgt aber nicht, dass die Wahrheitsbedingungen wechseln, wenn die Aussage in Form einer Predigt oder eines Referats in universitären Seminaren geäußert wird. Man beachte, dass der Formbegriff mehrdeutig gebraucht wird. Er bezeichnet zum einen den Ausdruck als Dimension, in der ein bestimmter Inhalt repräsentiert werden kann, zum anderen aber auch die Ausdrucksweise in (Sprach-)Stilen innerhalb dieser Dimension. Werden beide Formbegriffe nicht unterschieden, stellen sich Missverständnisse ein, bis dahin dass der Stil die Inhalte determiniere oder ein bestimmter Inhalt eine bestimmte Form erfordert und ansonsten gar nicht gedacht werden könne. Warum der Formalismus schon logisch scheitert Ist also die Form selbst der Inhalt? Dann gibt es keinen Inhalt, den sie vermittelt. Das klingt nach einer bloßen und unbegründeten Setzung. Und das muss auch so sein, denn wie soll sich ein bestimmter Inhalt anders identifizieren lassen als über die Form? Nehmen wir an, ich möchte einer Frau meine Liebe bekennen. Dann kann ich ihr der Voraussetzung nach meine Liebe nicht mitteilen. Würde ich ihr nämlich meine Liebe bloß mitteilen, würde die emotionale Bindung gerade nicht mit zum Ausdruck gebracht, die meine Liebe prägt. Also würde ich dieser Frau etwas anderes aussagen, als wenn ich ihr meine Liebe bekenne. Aber woher weiß ich dann, dass ich diese Frau liebe? Muss ich mir vorher bereits meine Liebe bekannt haben? Und besteht meine Liebe zu dieser Frau erst seit dem Zeitpunkt meines Selbstbekenntnisses? In diesem Fall wiederhole ich mein Bekenntnis gegenüber <?page no="22"?> 22 der Frau, das ich vorher mir selbst abgegeben habe.-- An diesem Beispiel zeigt sich die zirkuläre Struktur formaler Selbstverweise: Die Bedeutung der Liebe wird dadurch gegeben, dass die Form eines Bekenntnisses die Form eines Bekenntnisses voraussetzt. Dadurch wird ausgeschlossen, dass man ohne diese zirkuläre Voraussetzung nachprüfen kann, dass auch wirklich der Fall ist, dass ich diese Frau liebe. Wie sollte sie nämlich erkennen können, dass ich ihr denselben Inhalt übermittelt habe, wenn ich ihr meine Liebe in Form einer Information mitteile? Es lässt sich qua Voraussetzung nicht am Inhalt verstehen, dass ich diese Frau liebe.-- Das könnte mein Argument gegen die Skepsis der Frau sein: „Du bist zwar Formalistin, die sich in logische Zirkelschlüsse verstrickt, aber ich liebe dich trotzdem.“ Nun könnte meine Geliebte aber einwenden, dass es für sie wirklich einen inhaltlichen Unterschied macht, ob ich ihr meine Liebe bekenne oder mitteile. Im ersten Fall ist meine Liebe heißblütig und engagiert, im zweiten Fall kühl und distanziert. Also bedeutet Liebe, so der Einwand meiner Geliebten, jeweils etwas anderes. Wie könnte ich zeigen, dass ich in beiden Formen dasselbe meine? Ich könnte, nachdem die Mitteilung von dieser Frau skeptisch aufgenommen worden ist, nachträglich vor ihr ein engagiertes Liebesbekenntnis abgeben. Aber würde sie dann nicht skeptisch bleiben, weil sie nicht wüsste, ob ich in beiden Aussagen wirklich dasselbe meine? Selbst wenn sie meine Aussagen am Inhalt, also am Sachverhalt meiner Liebe direkt überprüfen will, hängt die Wahrheit von sprachlogischen Meta-Kriterien ab. 9 Sei „p“ eine Aussage und p ein Sachverhalt. Dann ist „p“ wahr, wenn die Aussage mit dem Sachverhalt übereinstimmt. Um aber zu wissen, ob „p“ = p, muss vorher geklärt werden, wie das Gleichheitszeichen zu verstehen ist. Und das setzt eine sprachlogische Übereinkunft voraus. Die Übertragung der Form der Mitteilung in die Form des Liebesbekenntnisses setzt somit eine Meta-Form voraus, an der gemessen <?page no="23"?> 23 wird, wie gelungen die Übertragung ist. Diese Meta-Form würde sich entweder definitorisch oder zirkulär unantastbar machen, oder ihre Angemessenheit verdankt sich einer Überprüfung durch eine zweite Meta-Form, an der die Überprüfung der Übertragung mit der Meta-Form vorgenommen wird, die wiederum von einer dritten Meta-Form als Übereinstimmung bestimmt wird usw. bis ins Unendliche. Das wäre die unangenehme Antwort der Frau: „Ich bin zwar Formalistin, aber du verstrickst dich in einen logischen Regress. Und deshalb weiß ich nicht, was du mir eigentlich sagen willst.“ Ludwig Wittgenstein hat deshalb die Meta-Form als Grammatik bestimmt, die sich aus den Formen der Übertragung selbst ergibt. Man kann zwar nicht aussagen, dass die Grammatik richtig ist, aber sie zeigt sich in den Sprachformen. 10 Könnte ich nicht mit Wittgenstein argumentieren, dass ich jeweils dasselbe meine, wenn ich dieser Frau meine Liebe bekenne oder sie mitteile? Zeigt sich nicht wenigstens in beiden Sprachformen meine Liebe? Doch nur dann, wenn die Grammatik ihre Richtigkeit selbst verbürgen muss. Ansonsten müsste es wieder eine Grammatik für die Grammatik geben usw. Um also einen logischen Regress zu vermeiden, muss die Grammatik als Meta-Form zirkulär begründet werden: Sie ist dann richtig, weil sie sich in den entsprechenden Sprachformen zeigt. Das setzt eine Überprüfungsinstanz voraus, an der belegt werden kann, dass sie sich darin zeigt. Weder meine formalistische Geliebte noch ich können also für unsere jeweilige Position hinreichende Begründungen nennen. Weder kann ich ohne logische Fehler begründen, dass der Bekenntnisinhalt derselbe ist wie der Mitteilungsinhalt, noch kann diese wunderbare Frau ohne logische Fehler begründen, dass das nicht der Fall ist. Dieses Patt beruht darauf, dass wir beide von derselben Voraussetzung ausgehen, nämlich dass Inhalte überhaupt an die Form gebunden sind, nämlich entweder an die jeweilige Sprachform (Position der Frau) oder an die sprachlogische Meta-Form <?page no="24"?> 24 (meine Position). Denn was diese Gebundenheit bedeutet, führt dann in die erwähnten logischen Schwierigkeiten. Sie ist dann selbst eine Form. Anders gesagt: Das Begründungspatt rechnet nicht mit dem Verstehen. Verstehen ist das Bilden von Zusammenhängen, das sich zwar an neuen Ausdrucksmitteln zeigt (Übersetzungen, aber auch anderen Transformationen wie Antworten oder Handeln), jedoch nicht darin besteht. Es bildet sich immer im Rücken des Verstandenen: Wer merkt, dass er versteht, hat schon vorher verstanden. Es ereignet sich also nicht in einer festen Form und ist nicht am responsorisch ausgedrückten Inhalt ablesbar. Wenn eine Schülerin einen Lexikonartikel abschreibt, muss sie ihn nicht schon verstanden haben und ebenso wenig, wenn sie ihn auswendig vortragen kann. Zudem kann sich Verstehen sowohl auf Inhalte als auch auf Formen richten. „Im Rücken“ der Inhalte und Formen ereignet sich Verstehen frei. 11 Für den Soziologen Niklas Luhmann 12 ist Verstehen eine „doppelte Kontingenz“, die das Verstehen auf eine Äußerung bezieht, die ihrerseits von der äußernden Instanz verstanden sein muss, aber auch ganz anders verstanden werden könnte. Deshalb liegt in der doppelten Kontingenz auch eine „immanente Zirkularität“. Verstehen setzt Verstehen voraus. Darin liegt die „leere, geschlossene, unbestimmbare Selbstreferenz“ der doppelten Kontingenz-- und die des Verstehens. Und darin liegt die Unwahrscheinlichkeit des Verstehens. Um Verstehen, Erreichbarkeit und Befolgung einer Äußerung wahrscheinlich zu machen, werden Medien verwendet. Medien nennt Luhmann evolutionäre „Errungenschaften, die an jenen Bruchstellen der Kommunikation ansetzen und funktionsgenau dazu dienen, Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches zu transformieren.“ Zu ihnen gehören symbolisch generalisierte Medien, die Selektion und Motivation als Zusammenhang darstellen, indem sie Generalisierungen verwenden (zum Beispiel Wahrheit, Liebe, <?page no="25"?> 25 Geld, Macht, religiöser Glaube). Luhmann blendet die Techniken des Verstehens nicht aus, die vielmehr die Kommunikation steuern und begrenzen. Mit der Beschreibung dieser Techniken jedoch wird die doppelte Kontingenz nicht aufgehoben und schon gar nicht ein bestimmter Inhalt an die Form gebunden. Die symbolisch generalisierten Medien entsprechen der Form als Art, in der Inhalte ausgedrückt werden. Die unaufhebbare doppelte Kontingenz der Einzeläußerung wiederum markiert, dass das Verstehen im Rücken solcher Formen und Inhalte liegt. Dass Verstehen Verstehen voraussetzt, heißt damit, dass es nicht technisch zu lösen ist, was jedoch die prominente Medien-Metapher suggeriert, nach der Medien Transformationsinstrumente sind, die Verstandenes in Formen überführen, als ließe sich damit auch das Verstehen transformieren. Was man den hermeneutischen Zirkel nennt, nämlich dass Verstehen Verstehen voraussetzt, soll kein logischer Fehler sein, sondern das Phänomen beschreiben, dass wir nie voraussetzungslos verstehen, denn um etwas zu verstehen, muss „immer ein Verhältnis der Interpreten zu der Sache“ vorausgesetzt sein. 13 Doch wie kann man wissen, dass man die Sache schon verstanden hat, bevor man einen Text über diese Sache liest? Zumindest kann man es nicht dadurch wissen, dass man bereits einige Inhalte aus dem Text schon verstanden hat, bevor man sie liest. Nicht in den Gehalten liegt also das Vorverständnis. Offenbar gehört Verstehen einer anderen Kategorie zu als Verstandenes. Verstandenes sind Gehalte, Verstehen jedoch das Werden zusammenhängender Gehalte. Der Philosoph Martin Heidegger, der den hermeneutischen Zirkel wohl als erster so genannt hat, hat ihn als kreisförmigen Kranz und als Gewinde 14 beschrieben, als Rundes eines Ganzen, wofür die Logik keinen Maßstab hat. 15 Mit solchen tastenden Sprachbildern unterstreicht Heidegger, dass Verstehen anfangslos ist. Wenn Verstehen einsetzt, findet es sich selbst schon vor. In seinem Entwerfen lässt das Verstehen zu Wort kommen, was es selbst ist. 16 <?page no="26"?> 26 Entwerfen, dieser „Bezirk“ (der Zirkelbegriff deutet sich hier an), ist bereits Ereignetes. Darin berührt sich das Verstehen mit dem Ab-gründigen, 17 weil es keinen Grund in vorausgesetzten Gehalten hat. So betrachtet legt nicht etwa die Form den Inhalt fest, aber auch nicht der Inhalt die Form, sondern beide sind bereits Entwürfe des Verstehens, in dem noch etwas anderes erscheint als die Form ausdrückt oder der Inhalt meint, das Sein. Nur weil sich Verstehen auf sein Sein versteht, kann es überhaupt verstehen. Und deshalb setzt Verstehen Verstehen voraus, nämlich das Ereignis, in dem das Verstehen auf seine Voraussetzung durchsichtig wird, die es selbst ist. Oder anders: Der hermeneutische Bezirk meint die kategoriale Differenz zu allen Formen und Inhalten. Wenn ich bemerke, dass ich einen Text, über den ich lange grüble, plötzlich verstehe, dann habe ich ihn bereits verstanden. Dennoch verstehe ich nicht zuerst den Text und bemerke anschließend, dass ich ihn verstehe. Denn solange ich nicht bemerke, dass ich ihn verstehe, habe ich ihn noch nicht verstanden. (Das ist ein Charakteristikum des hermeneutischen Zirkels, dass er erst rückwirkend auffällt.) Ein verstandener Text ändert aber weder seine Form noch seinen Inhalt. Weder sieht er anders aus, noch ist sein Inhalt ein anderer geworden. Denn sonst hätte ich nicht ihn verstanden, sondern etwas anderes. Verändert hat sich aber auch nicht nur mein subjektiver Eindruck von diesem Text, denn auch dann hätte ich nicht ihn verstanden, also denselben Text, den ich vorher noch nicht verstanden hatte. Im Nachhinein kann ich nun versuchen, seine Form zu verändern, etwa um ihn anderen zu erläutern und ihnen damit zu helfen, ihn zu verstehen. Und ich kann dabei Inhalte „erleichtern“ oder „elementarisieren“. Diese Transformation verändert Form und Inhalt, aber nicht das Verstehen dieses Textes. Übertragen auf mein Liebesbekenntnis gegenüber dieser Frau heißt das, dass sie an ihrem Vorverständnis überprüfen kann, <?page no="27"?> 27 was sie von meiner Aussage versteht. Damit wird aber sekundär, in welcher Form ich mich ausgedrückt habe. Das heißt, dass der „Text“, dessen Form und Inhalt verändert werden kann, der aber selbst dann noch derselbe sein soll, das Verstehen des Textes ist. Das Verstehen ist das, was es selbst bleibt. Zwar verändert es sich, sonst wäre es ein Zustand und kein Verstehen, kein Ereignis und keine Neuheit. Aber es bleibt dabei derselbe Verstehensprozess, der darauf hört, was er zu verstehen gibt: Das „Voraus-setzen“ hat „den Charakter des verstehenden Entwerfens“, dass die Interpretation „das Auszulegende gerade erst selbst zu Wort kommen läßt, damit es von sich aus entscheide, ob es als dieses Seiende die Seinsverfassung hergibt, auf welche es im Entwurf formalanzeigend erschlossen wurde“ 18 . Diese Zirkularität ist kein „fester Bezirk“ 19 und wird daher nicht durch die Identität der Gegenständlichkeit identifiziert: „Also stehen wir nicht dem Dichten und dem Denken so gegenüber, als seien diese zwei Gegenstände, die von einem Standort außerhalb ihrer betrachtet werden könnten.“ 20 Der Denker drängt nicht aufs Verstandene, sondern sucht das Zwiegespräch mit dem Eigenen, ohne sich dabei einem anderen anzugleichen. 21 Für die Frage nach dem Form-Inhalt-Zusammenhang heißt das, dass im Verstehen weder Form noch Inhalt zu Kriterien desselben oder eines anderen Verstehens werden. Formen und Inhalte wären Verstandenes, feste Bezirke, die sich auch ohne Verstehen identifizieren lassen, wenn der Verstehensprozess beendet ist. Der Formalismus widerlegt sich aus diesem Grunde selbst in einem sogenannten performativen Widerspruch: Indem man eine formalistische Meinung vertritt, nimmt man zugleich eine nicht-formalistische Haltung ein. Konkret: Wenn der Formalismus wahr ist, ist er an eine bestimmte Form gebunden. Damit muss die Formalistin eingestehen, dass in anderen Formen sich etwas anderes herausstellen würde. Das macht den Formalismus zu einer <?page no="28"?> 28 relativistischen Position. Er lässt sich also nur durch eine formalistische Selbstbeschränkung auf sich selbst anwenden. Will man ihr entkommen, bleibt nur die Möglichkeit, die Behauptung des Formalismus aus dem behaupteten Bereich herauszunehmen, also vor einer Selbstanwendung zu schützen. Dann ist die Behauptung aus einer Vogelperspektive geäußert, für die er qua Voraussetzung nicht gilt und auch nicht gelten kann. Das ist aber nur möglich, wenn entweder die Behauptung vor Einwänden immunisiert werden soll oder wenn es neben Form und Inhalt noch ein Drittes gibt. Das würde auf das kategorial eigenständige Verstehen zutreffen. Und auch damit wäre die Geltung des Formalismus relativiert. Paul Tillichs Weiterführung Eine ganz andere Quelle des Form-Inhalt-Zusammenhangs ist die Metaphysik: Aristoteles und Thomas von Aquin haben die Form als das Wesen eines Gegenstandes bestimmt. 22 Daran setzt der Theologe Paul Tillich an, um allerdings diesen metaphysischen Formalismus zu erweitern. „Die Form, die ein Ding zu dem macht, was es ist, ist sein Inhalt, seine essentia, seine bestimmte Seinsmächtigkeit.“ 23 Tillich wiederholt damit die metaphysische Begründung, indem er die Form mit dem Gehalt verbindet und beide der Substanz zuschreibt. Zugleich unterscheidet er diesen Formalismus von einer inhaltsleeren Formalität, in der Formen mathematische Zeichen eines logischen Systems sind, die ohne die Bedeutung von Worten ein „totes Gerippe“ bleiben. 24 Für die Theologie sind weder der inhaltsleere noch der metaphysische Formbegriff hinreichend. Denn Inhalte über Gott werden nicht aus der Vernunft erzeugt. Vielmehr gilt: „Der Glaubensinhalt bricht ekstatisch in die Vernunft ein und gibt sich ihr, doch ohne ihre Struktur außer Kraft zu setzen.“ 25 <?page no="29"?> 29 Es lässt sich damit bei Tillich eine Aufnahme unterschiedlicher Formbegriffe beobachten: 1. Ein metaphysischer Formbegriff in Abgrenzung zu Stoff oder Materie (Form als Inhalt), 2. ein davon abgegrenzter Formbegriff im Sinne mathematisch-logischer Relationen, der für theologisch unzureichend erachtet wird (inhaltsleere Form), 3. Struktur, die trotz des vernunftekstatischen Glaubensinhaltes unangetastet bleibt. Keiner der drei Formbegriffe fügt sich jedoch dem Formalismus. Die unangetastete Vernunftstruktur (3) unterstellt gerade, dass der Glaubensinhalt vernünftig dargestellt werden kann, obwohl er in einem Erlebnis der „Ekstase der Vernunft“ 26 auftritt. In diesem Sinn ist der Glaubensinhalt also nicht auf eine eigene Form festgelegt, um zum Inhalt zu werden. Ebenso wenig ist er auf die Form eines mathematisch-logischen Systems (2) festgelegt, auch wenn sie immerhin die Grundlage einer semantischen Rationalität bildet. In ihrer metaphysischen Bedeutung (1) wiederum ist die Form der Begriff. 27 Sie ist zwar „die Gestaltung am sinnlich Wahrnehmbaren“ 28 , aber damit auch die Bedeutung, die Art, das Nicht-Konkrete eines Gegenstandes, und nicht sein Bedeutungsträger oder Vehikel, was vielmehr sein Stoff wäre. Oder anders: Die Form ist selbst unsichtbar am sinnlich Wahrnehmbaren, sie ist „dasjenige, was in einem anderen wird, durch Kunst oder durch Natur oder durch das Vermögen des Hervorbringens.“ 29 Darum ist der Begriff die charakteristische Beschreibung der metaphysischen Formbestimmung. 30 Dadurch entfällt die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt, weil die Form der Inhalt ist. Aus metaphysischer Perspektive wäre der Formalismus in Wirklichkeit eine These über das Verhältnis von Stoff und Form. Sie würde nicht einfach besagen, dass eine bestimmte Form auf einen bestimmten Stoff angewiesen ist, sondern auch, dass das Abstrakte (der Begriff) <?page no="30"?> 30 auf ein individuell Konkretes angewiesen ist. Damit jedoch ist die Form gerade in verschiedene Stoffe übersetzbar. Wäre das nicht so, so würde das individuell Konkrete den Begriff dekonstruieren. Bei Tillich 31 nun wird der metaphysische Formbegriff theologisch erweitert und damit nicht einfach mit dem Inhalt identifiziert, sondern als eine Facette des Glaubensinhalts entdeckt. Glaubensinhalte verdanken sich einem Erlebnis, einem „Akt des Empfangens“. Dieser Akt nun soll kein „rein formaler Akt“ sein. Damit wehrt Tillich den logisch-mathematischen Formalismus ab. Vielmehr gilt: „Inhalt und Form, Geben und Empfangen stehen in stärkerer dialektischer Beziehung zueinander, als die Worte es auszudrücken scheinen.“ Im Geben ist also ein Empfangen enthalten und umgekehrt. Der Glaubensinhalt muss an sein Erlebnis, an den Akt des Empfangens, angebunden bleiben, sonst verliert er sich. Die „Form“, wie der Inhalt auftritt, gehört zu ihm. Dabei handelt es sich um ein Erschütterungsmoment der Ekstase der Vernunft. Die Vernunft wird vom Glaubensinhalt „überwältigt, überfallen, erschüttert, wenn er in sie einbricht.“ Dieses Erschütterungsmoment ist eine theologische Form, die jedoch in die Form der Vernunft integriert werden kann, aber so, dass die Vernunft dabei transzendiert wird. Vernünftige Rede von Gott hat also dieses Erschütterungsmoment zu berücksichtigen, sie muss in ihrem Inhalt diese Form einbinden. Der vernünftige Inhalt hat eine übervernünftige Form. Damit unterstreicht Tillich geradezu die Transformationsfähigkeit des Glaubensinhalts in die Form der Vernunft. Zugleich wird seine inhaltliche Transformation in der Sprache der Vernunft an die Form des Glaubens angebunden. Gehalte und Formen stehen sich hier über Kreuz gegenüber: 1. Der Glaubensinhalt wird in Form der Vernunft verhandelbar, 2. aber so, dass die übervernünftige Form, wie der Glaubensinhalt empfangen wird, in einem vernünftigen Inhalt dargestellt wird. <?page no="31"?> 31 Diese metaphysisch-theologische Konzeption führt Tillich nun auch in seinem Kulturverständnis weiter. Im dritten Band seiner Systematischen Theologie, in dem Tillich das Verhältnis von Religion und Kultur beschreibt, legt er drei Elemente der Kultur zugrunde: „Gegenstand (Material), Form und Gehalt (Substanz).“ 32 Man beachte, dass der Form im Gegensatz zu den beiden anderen Elementen kein verwandter Begriff in einer Klammer folgt. Denn „Form ist einer jener Begriffe, die nicht definiert werden können, weil jede Definition ihn voraussetzt.“ In eine Kultur können nur solche Gegenstände eingehen, also „in sprachliche Formung“ übergehen, „die von Bedeutung sind“. Das heißt, dass nicht die Sprache Bedeutungen erzeugt. Vielmehr sind Bedeutungen von ursprünglichen außersprachlichen Bedeutungen abhängig. Erst über diese außersprachlichen Bedeutungen kann die Sprache die Überführung von Gegenständen in die Kultur leisten. Anscheinend gibt es also für Tillich Gehalte, die ursprünglich zumindest ohne sprachliche Form sind. Zwar ist „die Form beabsichtigt“, aber sie ist es nicht, die die Bedeutung setzt, sondern der „Gehalt oder die Substanz“. „Die Substanz einer Sprache gibt ihr ihren spezifischen Charakter und ihre Ausdruckskraft.“ Hier sind Form und Gehalt nicht mehr identisch. Es ist aber auch nicht so wie im Formalismus, dass die Form den Gehalt bestimmt. Vielmehr legt der Gehalt die Form fest, jedoch so, dass bei einer Transformation der Gehalt in der neuen Form verlorengeht. „Das ist der Grund, warum Übersetzung aus einer Sprache in eine andere nur in solchen Gebieten befriedigend sein kann, in denen das Formale gegenüber dem Gehalt vorherrscht (z. B. in der Mathematik).“ Unterstellt wird also, dass ein Gehalt seine Form erzeugt, an die er dann gebunden ist, wenn er überhaupt in Form auftritt. Er kann aber auch formlos sein. Dann geht er zwar nicht in eine Kultur ein. Aber die Bedingung der Kultur, die Bedeutung, ist auch erfüllt, wenn er formlos bleibt. Deshalb legt nicht die Form den Gehalt fest. Vielmehr gilt: Wenn eine be- <?page no="32"?> 32 stimmte Form, dann ein bestimmter Gehalt. Umgekehrt gilt: Wenn ein bestimmter Gehalt, dann ist er entweder formlos oder in einer nicht auswechselbaren Form. Unter dieser Voraussetzung lässt sich nun Tillichs Satz über die „Zusammengehörigkeit von Religion und Kultur“ erläutern: „Religion ist die Substanz der Kultur, und Kultur ist die Form der Religion.“ 33 Diese Zusammengehörigkeit tritt dann nämlich nur innerhalb der Kultur auf. Nur innerhalb der Form kann der eindeutige Zusammenhang von Substanz und Form behauptet werden. Die Substanz kann, muss aber nicht in Form auftreten. Versteht man nun Religion als das Phänomen, das ekstatisch in die Vernunft einbricht, so ist jegliche religiöse Form abhängig von ihrem Auftreten. Es gibt also keine ewigen religiösen Formen. Dass man so interpretieren kann, zeigen Stellen in Tillichs Systematischer Theologie, die das Verhältnis der Religion gegenüber der Kultur als Transzendierung gegenüber der Innerweltlichkeit beschreiben. Zwar ist Religion „Geschöpf der Offenbarung“ 34 und damit nicht selbst die Ekstase der Vernunft. Allerdings ist sie als „Substanz der Kultur“ auch nicht selbst Form, sondern deren Transzendierung. Insofern sie Transzendierung ist, ist sie „unzweideutig“: „Soweit die Religion auf Offenbarung beruht, ist sie unzweideutig, soweit sie Aufnahme der Offenbarung ist, ist sie zweideutig.“ 35 Die Substanz der Religion wird also zwar nur in der Form der Kultur selbst zum Gegenstand. Aber sie wird dabei durch die Form verzerrt, weil die Kultur eine der Substanz fremde Form ist. Das entspricht der obigen Beobachtung, dass sich Form und Gehalt über Kreuz gegenüberstehen. Religion kann nur in einer Form sein, die sie verzerrt. Unverzerrt bleibt sie nur, wenn die Substanz formlose Bedeutung hat. Der Form-Inhalt-Zusammenhang bei Tillich rechnet also mit Varianzen, graduellen Abstufungen und Unpässlichkeiten. Über die Form wird die Substanz zum Kulturgegenstand und damit zu etwas, was sie nicht ist. Ohne die Substanz keine Kultur und keine <?page no="33"?> 33 Formen, aber die Eindeutigkeit von Substanz und Form kann substanziell nur bedeuten, uneindeutig zu werden. Die richtige Form der Substanz ist diejenige, die ihre Zweideutigkeit bezeugt. Dafür steht Tillichs „protestantisches Prinzip“, das in seiner Form die Formen umstößt, denn es ist „Ausdruck für die Überwindung der Religion durch den göttlichen Geist“ 36 . In der Eindeutigkeit von Substanz und Form ist also gerade eine Öffnung aus der Profanisierung enthalten. „Protestantische Gestaltung-… überschreitet jede Form, die sie gestaltet, aber sie überschreitet nicht die Wirklichkeit der Gnade, die sich in diesen Formen ausdrückt.“ 37 Insgesamt also zeigt sich bei Tillich ein dialektischer Form-Inhalt-Zusammenhang: Der Inhalt wird nur so zum Inhalt, dass er zugleich von der Form gestört wird. Er wird daher erst recht in andere Formen übersetzbar, nämlich in solche, die diese Störung ausdrücken. Damit ist dieses Konzept geradezu transformationsfreundlich. Zwar ist derselbe Inhalt nicht in andere Formen übertragbar, ohne dass er dabei auch verändert wird. Da aber die Störung des Inhalts durch die Form zu diesem Zusammenhang gehört, lässt sich diese Störung auch in anderen Formen ausdrücken. Formalistisch ist Tillichs Konzept ebenso in dialektischer Weise: Es ist die Form, die die Störung zum Inhalt anzeigt, und anders als durch Formen lässt sich die Störung nicht anzeigen. Der Form-Inhalt-Zusammenhang wird also von der Form gesetzt, aber so, dass sie sich dabei transzendiert. Daher kann hier von einem dialektischen Formalismus gesprochen werden. Ertrag Ein behaupteter Form-Inhalt-Zusammenhang hat eine starke formalistische Tendenz, weil nicht der Inhalt die Form setzt. Denn ansonsten müsste der Inhalt zunächst „an sich“ freischwebend gegeben sein und damit unabhängig von einer bestimmten Form, um <?page no="34"?> 34 diese zu setzen. Das haben wir sogar bei Tillich gesehen, der zwar tatsächlich mit einem freischwebenden Inhalt beginnt, der aber ab dem Moment an die Form gebunden ist, sobald er in sie eingeht. Eine Begründung für den Formalismus ist aber selbst ein Inhalt. An der Selbstanwendung stößt der Formalismus somit an seine Grenze: Denn wenn der Formalismus auf den Inhalt der Begründung angewendet werden kann, entsteht ein Relativismus, weil andere Inhalte an ihre jeweilige Form nicht zwingend gebunden wären. Um den Formalismus zu belegen, müsste man die Veränderung des Inhalts an der Form ablesen. Das ist jedoch nicht möglich aufgrund der zirkulären Struktur, dass man voraussetzt, was man abliest: Dass es sich nach einer Transformation um einen anderen Inhalt handelt, lässt sich dann nur zirkulär an der formalistischen Voraussetzung ausweisen, dass der Inhalt an die Form gebunden ist. Der Formalismus im behaupteten Form-Inhalt-Zusammenhang ist zudem zu unterkomplex, weil er das Verstehen unterschlägt oder suggeriert, Verstehen sei selbst an die Form gebunden. Dann müsste Verstehen auch formalistisch garantiert werden. Denn ohne Garantie könnte vom Verstehen als einem Dritten zwischen Form und Inhalt nicht abstrahiert werden. In der klassisch metaphysischen Grundlegung wiederum lässt sich ein Formalismus begründen, der aber etwas anderes bedeutet. Denn in der Metaphysik ist Form kein Gegensatz zum Inhalt, sondern zum Stoff, zur Materie. Hier kehrt sich dann der Formalismus um: Nicht wird ein konkreter Inhalt an die allgemeine Form gebunden, sondern eine konkrete Form an einen konkreten Stoff, der jedoch austauschbar ist. Gerade deshalb kann hier von einem Formalismus gesprochen werden, weil er sich durch verschiedene Stoffe durchhält. Bei Tillichs theologischer Fokussierung nun zeigt sich ein äquivoker Gebrauch des Formbegriffs: Zum einen ist die Form der Ereignis- oder Offenbarungscharakter, der zu den theologischen <?page no="35"?> 35 Inhalten mit dazugehört und in ihnen mit zum Ausdruck gebracht werden muss. Zum anderen sind Formen kulturelle Ausdrucksweisen des theologischen Inhaltes, die ihre Unzulänglichkeit, den Inhalt auszudrücken, mit ausdrücken. In beiden Gebrauchsweisen des Formbegriffs zeigt sich eine produktive Spannung aus Form und Inhalt. Denn im ersten Fall transzendiert die Form der Offenbarung den Inhalt, den die Vernunft erfasst. Und im zweiten Fall transzendiert sich die kulturelle Form selbst, um ihre adäquate Unzulänglichkeit mit auszudrücken. Übrigens handelt es sich bei dieser Äquivozität der Formbegriffe selbst um eine Transformation des Formbegriffs, die aber eine Transzendierung durch die Form auf zwei Stufen vornimmt, auf der Stufe der Vernunft und der Kultur. Das Ergebnis ist dabei jeweils dialektisch: Die Form bildet den Zusammenhang zum Inhalt, aber nur so, dass sie ihren Unterschied zum Inhalt bildet. Tillich rekonstruiert diesen dialektischen Form-Inhalt-Zusammenhang an theologischen Inhalten. Die nächste Sektion will diesen Blick auf den theologischen Hintergrund dieses Zusammenhangs schärfen. Damit könnte sich ein Kriterium finden lassen, welche Art von Formalismus gerechtfertigt werden kann und welche anderen Spielarten des Formalismus damit abzulehnen sind. 1.3 Der schöpfungstheologische Hintergrund des Formalismus Wir haben bereits an Tillich gesehen, dass sein theologisches Programm einen Formalismus begründet, der zugleich Inhalte auf andere Formen übertragen kann. Theologische Motive also formulieren einen Formalismus sui generis. Ähnliches zeigt sich in theologischen Programmen, die aus der Semiotik heraus entwickelt werden. Beachtet man jedoch diese theologischen Pointen des Formalismus nicht, so führt er in kurzschlüssige oder unbegrün- <?page no="36"?> 36 dete Spielarten, wie ich sie in der vorigen Sektion dargestellt habe: Wird ein konkreter Inhalt an eine allgemeine Form gebunden, so verliert sich das Konkrete-- und damit der Inhalt. Dieser Formalismus kann dann nicht einmal ausweisen, um welche Inhalte es geht, die angeblich von der Form abhängen, ohne dabei die Form zur Begründung zu erheben, die aber zugleich zirkulär vorausgesetzt wird, um damit die Begründung vorzunehmen. Auf zwei aufeinander aufbauende religionsphilosophische Ansätze, die semiotisch entwickelt werden, möchte ich im Folgenden eingehen, nämlich auf Charles S. Peirce und Hermann Deuser. Beide zeichnen sich dadurch aus, den Ursprung des Denkens in seiner Parallelität zum Ursprung der Wirklichkeit zu beschreiben und dabei Inhalte aus Denkformen zu rekonstruieren, die der Wirklichkeit entsprechen. Damit sind Inhalte zwar auf feste Formen angewiesen, haben aber zugleich einen Realbezug, der sich nicht an den Formen ausweisen lässt, sondern an der „Sache“. Die Formen wiederum bestehen nicht einfach, sondern treten kreativ auf. Ähnlich wie bei Tillich wird damit der theologische Inhalt, nämlich die kreative Bildung von Wirklichkeit, über Gehalte hinaus auf ihr Auftreten erweitert. Kreativer Formalismus bei Peirce Auf die Frage, warum die Evolution den Geist „geformt“ hat, so dass er überhaupt objektive Erkenntnisse gewinnen kann, lässt sich nach Peirce keine psychologische Antwort geben. Psychologisch wäre die Antwort, wenn gesagt würde, dass Menschen durch Erziehung bestimmte Denkformen angenommen haben, dass sie sich daran gewöhnt haben, so zu denken oder dass sich der menschliche Geist durch Erfahrung zu dem entwickelt hat, der er ist. An einem Beispiel möchte ich zeigen, warum diese psychologische Antwort nicht ausreicht: Denn nehmen wir an, dass wir Bäume grün sehen, <?page no="37"?> 37 weil unser Geist durch Erfahrung gelernt hat, sie grün zu sehen. Dann folgt nicht, dass wir aus Erfahrung wissen, dass wir unserer Erfahrung trauen können. Denn trauen können wir ihr nur, wenn unsere Erfahrung ist, was sie ist. Und das schließt ein, dass wir auch ohne Erfahrung darauf sicher vertrauen, dass grün grün ist. Wenn wir dagegen stets die Erfahrung machen würden, dass sich alles permanent verwandeln könnte, könnten wir uns nicht einmal auf unsere Erfahrung verlassen, die sich dann auch im nächsten Moment in einen Wal verwandeln könnte. Logik kann also nicht auf Psychologie zurückgeführt werden. 38 Denn jegliche psychologische Antwort würde vom evolutionär entwickelten Geist Gebrauch machen und damit von den logischen Formen, die ihn prägen. Die Antwort führt also aus einer psychologischen Erklärung heraus in die Logik der Wirklichkeit: Der Geist also hat sich so entwickelt, weil er sich aus der Wirklichkeit entwickelt hat und in Kontinuität zu ihr steht-- also selbst wirklich ist. Eine psychologische Antwort, die davon absehen würde, dass der Geist Schlüsse zieht, weil der Kosmos Schlüsse zieht, 39 würde den Geist aus dem Kontinuum der Wirklichkeit verbannen-- und damit auch die psychologische Antwort, die ihm entstammt. Doch ohne Bezug zur Wirklichkeit wäre es höchst zufällig, dass unsere Erfahrung kein Wal ist. Warum trifft auf diese Antwort nicht derselbe logische Zirkel zu, in den sich eine psychologische Erklärung begeben würde? Der logische Zirkel der psychologischen Erklärung besteht ja darin, dass wir aus Erfahrung wüssten, dass wir der Erfahrung trauen können. Dazu muss also die psychologische Erklärung die Beschaffenheit des Geistes voraussetzen, die für seine Erklärung herangezogen wird. Dagegen verweist in der Antwort des Realismus die Beschaffenheit des Geistes nicht auf sich selbst, sondern auf die Beschaffenheit der Wirklichkeit. Der Realismus kann die Frage nach der Entwicklung des Geistes deshalb beantworten, weil die Beschaffenheit des Geistes nur exemplarisch die Wirklichkeit <?page no="38"?> 38 repräsentiert, deren Teil er ist. Dass er ihr Teil ist, setzt bereits die Frage nach der Evolution des Geistes voraus-- ansonsten wäre sie unsinnig. Denn sie fragt ja, wie Evolution den Geist so formen konnte. Somit ist die Wirklichkeit die Antwort. In der Frage bereits besteht ein sicheres Gespür dafür, dass eine Kontinuität zwischen Geist und Evolution besteht. Diese Kontinuität ist unbegründete Voraussetzung in der Fragestellung. Zirkulär daran ist allenfalls die Umkehrung, dass die Wirklichkeit des Geistes vorausgesetzt ist, wenn er mit der Wirklichkeit erklärt werden soll. Allerdings ist das kein logischer, sondern ein hermeneutischer Zirkel: Ohne das vorausgesetzte Sachverständnis, dass der Geist zur Wirklichkeit gehört, könnte man die Frage nicht einmal stellen. Bei diesem Argument sind geistige Inhalte und die Form des Geistes in der Wirklichkeit synthetisiert: Die Wirklichkeit des Geistes, ihre Inhalte zu erkennen, verdankt sich ihrer Form. Dieser Formalismus ist kosmologischer Art: Die Wirklichkeit ist so beschaffen, dass sie selbst geistig und damit beides ist: Form und Inhalt. Erkenntnisinhalte sind nicht beliebig, sondern verdanken sich einer verlässlichen Intuition, die in denselben Schlussformen zwischen Geist und Wirklichkeit besteht. 40 Allerdings besteht der Formalismus nicht in einer 1: 1-Relation. Derselbe Inhalt kann sehr wohl auch in anderen Sprachformen oder Zeichen ausgedrückt werden. Vielmehr bezieht sich der Form-Inhalt-Zusammenhang, den Peirce beschreibt, auf die allgemeine Formidentität von Geist und Wirklichkeit, nicht auf die konkrete Identität von bestimmten Inhalten und ihrem jeweiligen Ausdruck. Zudem enthält die Formidentität von Geist und Wirklichkeit eine Ambiguität. Die Wirklichkeit bildet sich aus Neuem 41 und geht damit über einen strengen Determinismus hinaus. Ein determiniertes Verhältnis eines bestimmten Inhaltes zu einer bestimmten Form kann nur nachträglich rekonstruiert werden. Die Determination ist das Ergebnis einer gebildeten Relation. Wie sie aber momentan gebildet wird, ist nicht ebenso determiniert. Ein <?page no="39"?> 39 Zeichen (Peirce nennt es ein Repräsentamen) muss nur „geeignet sein, zur Determination eines von ihm verschiedenen Repräsentamen beizutragen.“ 42 Es kann determinieren. Seine Fähigkeit ist es, Relationen zu schaffen, die es ohne seine Determination nicht gäbe. Der schöpferische Charakter der Wirklichkeit enthält Kontingenzen. In diesem Zusammenhang bestreitet Peirce, dass Existenz die einzige „Form“ der Wirklichkeit ist. 43 Denn was sich bildet, ist im Moment seiner Entstehung ja noch nichts Fertiges, Existentes und trotzdem wirklich. Bereits das ist wirklich, was Eigenschaften besitzt, die unabhängig davon bestehen, was man dem Wirklichen ansonsten zuschreibt. Auch ein Traum ist in diesem Sinne wirklich, weil er zweifellos enthält, was geträumt wurde, auch wenn es nicht „existiert“. Durch dieses erweiterte Wirklichkeitsverständnis nun findet Peirce einen „rationalen Zwang“, die Realität Gottes nicht bezweifeln zu können, während man über Gottes Realität meditiert. 44 Das sieht auf dem ersten Blick wie Descartes’ Variation des ontologischen Gottesbeweises aus. Nach Descartes können wir unvollkommenen Subjekte die Idee eines vollkommenen Wesens nur haben, weil dieses vollkommene Wesen die Idee selbst setzt. 45 Dieser Existenzbeweis Gottes ist nicht zwingend. Peirce erweitert daher Descartes’ Existenzbeweis Gottes um einen umfassenderen Wirklichkeitsbegriff. Der rationale Zwang, Gottes Realität vorauszusetzen, besteht also nicht darin, dass der Gottesbegriff seine Existenz einschließt, und auch nicht, dass Gott als vollkommenes Wesen im Zustand der Meditation eines vollkommenen Wesens vorausgesetzt wird. Vielmehr besteht der rationale Zwang in dem kreativen Element des Geistes, das mit dem kreativen Element der Wirklichkeit übereinstimmt: Die „zu assoziierenden Ideen [müssen] in einem Geist zusammengebracht werden, entweder durch eine zufällige Erfahrung oder durch die Kraft eines natürlichen oder erworbenen Instinkts oder als Folge eines gründlichen <?page no="40"?> 40 Studiums der Formen solcher Assoziationen. In jedem Fall wird es sich jedoch um einen neuen und originellen Gedanken handeln, den man klugerweise erwischt hat.“ 46 Gott wird hier als verlässliche Entsprechung zwischen Gedanken und ihrem Realitätsbezug in einer sich kreativ und evolutionär entwickelnden Wirklichkeit vorausgesetzt. Er ist das, worauf wir unmittelbar vertrauen, dass Wale Wale sind und der Geist zur Wirklichkeit gehört. Eigenschaften des Wirklichen sind nämlich nicht unabhängig vom Denken. 47 Auch diese Behauptung ist nicht cartesianisch und damit subjektivistisch zu verstehen, weil damit die Grundlage der Wirklichkeit wieder in der Existenz gefunden werden würde, nämlich in der Existenz des Subjekts. Die Grundlage der Wirklichkeit besteht vielmehr im Auftreten von Neuem, das zugleich mit seinem Auftreten im kosmischen Kontinuum eingebunden ist. Dass die Wirklichkeit abhängig vom Denken ist, meint daher, dass die Wirklichkeit selbst Schlüsse zieht. Ihre Evolution ist geistig. 48 Der entscheidende Punkt an dieser Argumentation ist, dass dem umfassenderen Wirklichkeitsbegriff ein umfassenderer Geistbegriff entspricht, der auch das Assoziative, Intuitive und Instinktive als Schluss versteht. 49 Dabei sortiert der Geist allerdings nicht nach dem strengen Muster von wahr / falsch 50 , sondern eröffnet Möglichkeiten, indem er Unbestimmtheiten einführt, deren Qualitäten sich noch entwickeln. Sie werden erst durch weitere geistige Schritte determiniert. Darin, dass Möglichkeiten gebildet werden, wobei deren Bildung im Moment ihres Ereignisses zur Wirklichkeit gehört, liegt der Realismus dieses Geistverständnisses. Peirce bringt sein Gottesverständnis an dieser Stelle ein, in der die Form-Inhalt-Identität von Geist und Wirklichkeit diese kreative Offenheit besitzt, aus der beide evolvieren. Die Identität von Form und Inhalt besteht in ihrer identischen Ambiguität. Sie ist eine Bedingung für die Entwicklung der Welt und der Erkenntnis. Ohne diese theologische Grundlegung kann von einer Form-In- <?page no="41"?> 41 halt-Identität nicht gesprochen werden. Und ohne sie wäre auch das kosmologische Kontinuum aufgehoben. Kreativer Formalismus bei Deuser Wir haben bei Tillich gesehen, wie er die Form der Offenbarung mit zum Glaubensinhalt zurechnet, was dazu führt, dass Form und Inhalt zwar zusammengehören, aber die Form den Inhalt transzendiert. Mit den Ressourcen des kreativen Formalismus bei Peirce kann Hermann Deuser 51 auch bei Tillich ein kosmologisches Kontinuum entdecken, über das Naturphänomene als geistige „Auslegung“ begriffen werden. Tillichs Transzendierung von Form und Inhalt wiederholt sich nach Deuser auch am Verhältnis von Natur und Geist: Unter ihrer Übereinstimmung kann „kein bestimmter Besitz, kein ‚Sein‘, wohl aber ein Werden gemeint sein.“ Dieses Werden schließt ein, „dass in der Natur etwas Unbegreifliches bleibt.“ Deuser findet bei Tillich, was er an anderer Stelle zur „vernünftigen Struktur des Universums“ 52 zählt und was eine Pointe des Form-Inhalt-Zusammenhangs bei Peirce war. Natur und Geist sind durch eine „gemeinsame präbewusstseinstheoretische Nicht-Spaltung“ synthetisiert. 53 Über Tillich nun führt Deuser aus: „Was uns am Anorganischen als fremd zunächst abstößt, ist nur die entwicklungslogisch frühere Form der Einheit von Geist und Natur.“ 54 Aber diese Einheit impliziert, dass sich gerade „nicht unmittelbar eine allgemeine Ontologie“ daraus ableiten lässt. 55 Vielmehr muss die Fremdheit mitberücksichtigt werden, die das Werden auszeichnet. Die „vernünftige Struktur des Universums“ führt bei Deuser daher nicht zu einem Struktur-Formalismus, als wären bestimmte Inhalte immer nur in einer bestimmten Form darstellbar. Das liegt daran, dass das Auftreten von Neuem beide, bekannte Formen und Inhalte, transzendiert. So spricht Deuser von „Welterfahrung, de- <?page no="42"?> 42 ren prinzipielle Zugänglichkeit jeder Fixierung oder Reduzierung auf schon bekannte Formen oder Inhalte entgegensteht.“ 56 Denn nicht allein bestimmte Inhalte und nicht bestimmte Formen werden in der Welterfahrung erfasst, sondern auch die „prinzipielle Zugänglichkeit“, also das Auftreten oder das Widerfahren von Inhalten oder Formen. „Jetzt aber wird klar, dass die zweifelsfrei belegten Verstehens- und Formalisierungsformen (als solche endlich) doch jeweils aus dem Unendlichen der Verstehensmöglichkeiten herkommen.“ 57 Zwar bedarf es der Repräsentation dieses Unendlichen und Unbegreiflichen, dieser prinzipiellen Zugänglichkeit, Neuheit, Fremdheit, „weil Unbegreifliches eben nicht verstanden werden kann.“ 58 „Eine Verarbeitungs- und Darstellungsform, worin die vorausliegende Wirklichkeit sich präsentiert, erscheint unabdingbar notwendig.“ 59 Aber diese Repräsentation kann das Unbegreifliche dabei nicht fixieren. Erfahrung hat eine Struktur der Repräsentation, sogar einer „vollständige[n] Repräsentation“, aber nur so, dass sie dabei die göttliche Kreativität enthält, die allen Formen und Inhalten vorausliegt. Die „strukturelle wie inhaltliche Trinität“ dieser vollständigen Repräsentation führt also zwar zu einem Struktur-Inhalt-Zusammenhang, aber so, dass sich dieser Zusammenhang dabei kreativ offen verhält. Das „Gleichnis, das Jesus selbst ist“, kann Gott nur in dieser trinitarischen Transzendierung bestehender Formen, Inhalte und Identitäten repräsentieren. 60 Kreativer Formalismus statt formaler Determinismus Die theologische Grundlage eines Formalismus hat gerade nichts mit einem formalen Determinismus zu tun. Selbst die beiden hier untersuchten Konzepte, die Semiotik und Theologie verknüpfen, erkennen in ihrer Strukturbeschreibung ein grundsätzliches kreatives Übersteigerungspotenzial der Formen. Inhalte fügen sich deshalb nicht einer bestimmten Form, weil beide einen unausdeut- <?page no="43"?> 43 baren Überschuss enthalten. Deshalb kann weder ein bestimmter Inhalt die Form determinieren noch die Form bestimmte Inhalte. Allenfalls unbestimmte und prinzipiell unbestimmbare Inhalte lassen sich in Form der semiotischen Struktur repräsentieren. Der Gottesbezug ist damit in allen Repräsentationen fest gesetzt, aber gerade als das Element, das sich keinen festen Formen fügt. Zwar gilt semiotisch rückwirkend auch ein Zeichen als determiniert: Wenn ein Zeichenprozess abgeschlossen ist, so ist die Relation seiner Elemente festgesetzt. Allerdings eröffnen abgeschlossene Zeichenprozesse weitere Zeichenprozesse, die sie gerade nicht determinieren können. Bereits die Feststellung, dass ein Zeichenprozess abgeschlossen und determiniert ist, ist nur eine mögliche und durch den abgeschlossenen Zeichenprozess ermöglichte Anschluss-Repräsentation, nicht aber eine determinierte. Deshalb lassen sich determinierte Zeichenrelationen in der Folge weiterer geistiger Prozesse wieder verflüssigen-- zwar nicht beliebig, aber doch so, dass daraus wieder Neues entstehen kann. Von der theologischen Implikation einer semiotischen Theorie aus gedacht, ist der Formalismus, für den bestimmte Inhalte nicht anders als in einer bestimmten Form ausgedrückt werden können, daher eine Abstraktion. Er bezieht sich nämlich auf eine isolierte Repräsentation, als stünde sie nicht im kosmologischen Kontinuum. 1.4 Debatten über Inhalte führen Entgegen den formalistischen Tendenzen in der Theologie der Gegenwart bedeutet die metaphysische Grundlegung des Formalismus gerade keine Abhängigkeit des Inhalts von der Form, sondern vielmehr umgekehrt eine Dominanz des Inhalts vor dem Ausdruck: Die Form (der Begriff) verleiht dem Stoff seine Eindeutigkeit. Deshalb kann der Begriff nicht in einem anderen Ausdruck enthalten sein, wohl aber einen anderen Stoff prägen. Die <?page no="44"?> 44 theologischen Konzepte, die ich hier vorgestellt habe, entwickeln diesen Formalismus weiter, indem sie das kreative Moment der Begriffsbildung in die Form integrieren. Dabei bleiben sie am metaphysischen Formalismus-Verständnis orientiert. Selbst wenn sie sich so lesen lassen, dass die Begriffsbildung eine ästhetische Qualität hat, die damit formgebend ist, 61 folgt daraus keine feste Eindeutigkeit im Verhältnis von Form und Inhalt. Gerade wenn die metaphysische Form ästhetisch erweitert ist, steigert sie sich zu einer Ambiguität, die sinnoffen ist. In der Konsequenz heißt das, dass Stilformen nicht inhaltliche Diskurse determinieren. Diese Diskurse dennoch darauf zu reduzieren, wäre gerade in semiotischer Hinsicht ein Missverständnis. Stilformen würden aus dem kosmologischen Kontinuum isoliert, als ließen sich damit auch Diskurse und ihre Themen isolieren, als hätten also diese Themen nicht wirklich mit der Wirklichkeit zu tun, sondern nur mit der Form, in der sie eingebettet sind. Der Realismus hinter den behandelten theologischen Konzepten, also die Annahme eines kosmologischen Kontinuums 62 , und der metaphysische Formbegriff, den sie erweitern, ist dagegen ein prinzipieller Einspruch. Spätestens wenn die Wahrheitsfrage berührt ist, bedarf es einer Transformation von Inhalten in andere Systeme (Verifikation) und einer sinnkritischen Übersetzungsarbeit. Selbst wenn die Form einer isolierten Repräsentation determiniert, was jemand sagt, legt sie nicht fest, was er meint, und noch weniger, welchem Sachverhalt der Sinn entspricht. Dafür muss vielmehr der Inhalt aus der Form in andere Repräsentationsprozesse überführt werden. Der theologische Sinn wird in keiner Repräsentation abschließend feststehen. In seiner Orientierung am offenen Sinn entspricht theologisches Denken der Sache, die es denkt. Dabei ist jedoch sofort hinzuzufügen, dass Offenheit nicht Beliebigkeit meint. Auch andere Sprachformen orientieren sich an der Form, die sie deuten. Und Verstehen ist nur sachgemäß, wenn <?page no="45"?> 45 es sich am hermeneutischen Zirkel orientiert, der das Verstehen auszeichnet. Mit seinem erweiterten und ambigen Formbegriff ist theologisches Denken skeptisch bezüglich eines strengen Verifikationismus, der einen Inhalt ohne Verlust in ein anderes System transformiert. Einem solchen Verifikationismus fehlt die Sensibilität für die Unabschließbarkeit von Sinn. Aber gerade deshalb sperrt sich theologisches Denken auch gegen einen Formalismus, der Inhalte in bestimmten Formen einkapselt, als wäre diese Form-Inhalt-Entsprechung ihre eigene Verifikation. Ein solcher Formalismus könnte nicht ohne logischen Zirkelschluss begründet werden, weil die Form-Inhalt-Entsprechung lediglich eine interne und damit scheinbare Transformation vollzieht: Dass der bestimmte Inhalt nur in dieser bestimmten Form ausgedrückt werden kann, verifiziert sich dann an dieser Form, die qua Voraussetzung kein Außerhalb zulässt. Mit diesem zirkulären Verfahren verliert der Inhalt seinen Realbezug. Wissenschaftlich sind Inhalte möglichst eindeutig zu benennen, um sie auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen zu können. Dann allerdings lässt sich eine Form-Inhalt-Ambiguität rechtfertigen, wenn sich ihre Elemente kategorial eindeutig zuordnen lassen, wie es bei Tillich, Peirce und Deuser unternommen worden ist. <?page no="47"?> 47 2 Die Flüchtlingskrise und der Formalismus in der Protestantischen Ethik Als sich Deutschland im Jahr 2015 für eine unkontrollierte Zuwanderung von Flüchtlingen entschied, schwankte die Gesellschaft zwischen Willkommenskultur und nationalistischer Reaktion. Aus dieser Gemengelage entstand eine innertheologische Debatte, die bis heute anhält, zum Verhältnis universaler Menschenrechte und Ordnungspolitik. Während der Papst aufgrund der universalen Struktur der katholischen Kirche deutlich für die Aufnahme von Flüchtlingen warb, gab sich innerhalb des deutschsprachigen Protestantismus, dessen historisches Erbe in einer zersplitterten Organisation liegt, ein erheblicher Teil von Fachvertretern der Theologischen Ethik vehement kritisch gegen die deutsche Entscheidung. Vor allem aus dem Herausgeberkreis der „Zeitschrift für Evangelische Ethik“ wurde eingewendet, dass die Öffnung der deutschen Staatsgrenzen für eine unkontrollierte Einwanderung der Verantwortung widerspricht, die der Staat für seine Einwohner hat. Dabei stützte man sich letztendlich auf ein einziges, aber formalistisches Argument. 2.1 Ist die universalistische Gesinnung der Inhalt, die begrenzte Verantwortung die Form? Das formalistische Argument beruht auf der Prämisse, dass zwar im Prinzip die Würde jedes Menschen zu achten ist, in der Umsetzung aber an eine Staatsform gebunden ist, die diesen Universalismus lediglich innerhalb ihrer Grenzen garantiert. 1 Wird der Staat und damit die Staatsgrenze zur Bedingung des Universalismus gesetzt, kann auch stärker formuliert werden, nämlich „dass gera- <?page no="48"?> 48 de der offene Verfassungsstaat ohne Grenzen und Begrenzungen nicht bestehen kann.“ 2 Die Grenze ist also die Form des universalistischen Inhalts-- und zwar nicht nur die Staatsgrenze, sondern auch die politische Denkform, in der sich der Inhalt universal gültiger Menschenwürde entfalten kann. In dieser Denkform steht anscheinend nicht im Horizont, dass ein Staat, in dem die Menschenwürde als unantastbar gilt, über seine Grenzen hinaus an die Achtung der Menschenwürde gebunden ist. Diplomatischen Druck auf Staaten auszuüben, die die Menschenwürde mit Füßen treten, lässt sich dann nur formalistisch mit der Sicherung des Staatsgebiets rechtfertigen, weil ein inhaltlich begründetes Eintreten für die Menschenwürde eine Einmischung in die Souveränität anderer Staaten wäre und damit ein Bruch mit der eigenen Form. Das führt nicht nur zu einem reduktionistischen Bild der Funktion und Funktionsfähigkeit von Staatswesen, sondern eben auch in einen Formalismus, der mögliche politisch-ethische Inhalte auf ihr formelles Maß beschneidet. Verbunden wird dieses formalistische Argument mit der Gegenüberstellung von- - positiv besetzter- - Verantwortungsethik und- - kritisch zu bändigender- - Gesinnungsethik. Die Kirchen, die den Zuzug von Flüchtlingen mit dem biblischen Gebot der Nächstenliebe rechtfertigen, „argumentieren bislang vor allem gesinnungsethisch.“ 3 Während die Gesinnungsethik persönlicher Art sei, erfordere Politik aber Verantwortung 4 , also- - anscheinend ausschließlich- - die Folgenabschätzung. Auch hier wird Folgenabschätzung nicht inhaltlich beschrieben, sondern zu einem formalen Maßstab erhoben. In der Diskussion um Begrenzung der Einwanderung von Flüchtlingen steht und fällt dieser Maßstab mit der Sicherung von Staatsgrenzen zur Aufrechterhaltung des politischen Systems. Aber abgesehen davon, dass die faktischen Folgen der Öffnung der deutschen Grenzen für Flüchtlinge aus dem Jahr 2015 von den erwähnten Autoren nicht abgeschätzt und auch nicht rückwirkend überprüft worden sind, so dass der Formalismus im <?page no="49"?> 49 Argument wie eine Immunisierung eigener politisch-inhaltlicher Einstellungen fungiert, wird Folgenabschätzung in dieser prinzipiellen Forderung selbst zu einer gesinnungsethischen Einstellung: 5 Der Inhalt ist die Form. Dementsprechend spricht Arnulf von Scheliha kritisch von einem „stereotype[n] Verweis auf Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.“ 6 Zuletzt wird auch die lutherische Zwei-Reiche-Lehre zur Bestimmung des Verhältnisses von Politik und christlicher Ethik formal in die Diskussion eingebracht. 7 Die Übertragbarkeit von Luthers Zwei-Reiche-Lehre auf das gegenwärtige Verhältnis von christlicher Ethik und Politik ist aber allein aufgrund der anderen rechtshistorischen Voraussetzungen fraglich und bedarf ihrerseits einer ethischen Begründung „jenseits dieser eher machttheoretischen Differenzierungen.“ 8 In den genannten Beiträgen jedoch liegt die Argumentationskraft der Zwei-Reiche-Lehre darin, dass sie eine Grenze zwischen Religion (und ihrem universalistischen Ethos) und Politik zieht. Diese Grenze wird zwar von beiden Seiten anerkannt: Die Obrigkeit erkennt an, dass sie Glauben nicht schaffen noch unterdrücken darf, während die Gläubigen die staatliche Befugnis anerkennen, weltliche Ordnung sicherzustellen. Aber nicht die reziproke Anerkennung fundiert diese Grenze. Vielmehr ist sie theologisch begründet. Die Grenze ist das theologische Verbindungsstück zwischen beiden Reichen, das sie funktional trennt und theologisch verbindet. Wird die Sicherung von Staatsgrenzen vor einem ungeregelten Zugang von Flüchtlingen mit der Zwei-Reiche-Lehre begründet, so wird zum einen der theologische Begriff der Grenze politisch überdehnt, indem er sich als Staatsgrenze und damit in einem politischen Institut inkarniert. Zum anderen entzieht er sich einer ethischen Rechtfertigung, weil die Ethik die Grenze nicht zu begründen, sondern nur anzuerkennen hat. Zum dritten wird die Zwei-Reiche-Lehre deshalb argumentativ in Anspruch genommen, weil sie dem Formalismus der Grenzargumentation folgt. <?page no="50"?> 50 Der Formalismus in diesem Argument protestantisch-politischer Ethik lässt sich damit auf das Verhältnis unbegrenzt geltender Prinzipien und der begrenzten Verantwortung fokussieren. Dieses Verhältnis wird als Grenze bestimmt. „Der egalitäre Universalismus des christlichen Glaubens nötigt also nicht zur Negation von Grenzen.“ 9 Damit dominiert die Begrenzung das Unbegrenzte. Man beachte, wie die Grenze, die eigentlich zwischen den beiden Reichen liegt, nun auch zum Übergriff des Reiches zur Linken auf das Reich zur Rechten führt. Die politische Funktionsweise liegt ja in der Begrenzung: Die Obrigkeit sichert die Ordnung durch Sanktionierung. 10 Die Politik sichert das Gemeinwesen durch Begrenzung der Gesinnungsethik mit Hilfe der Verantwortungsethik. Der ethische Universalismus findet seine Begrenzung „in konkreten Gemeinschaften“ 11 . Die Politik folgt also formal der Grenze, die zwischen ihr und der Ethik besteht, während die Ethik nur dann formal dieser Grenze folgt, wenn der Formalismus durch die Politik gesetzt wird. Konkret: Wenn Christen nach Luther aus Nächstenliebe den Staatsgesetzen folgen, obwohl sie ihrer nicht bedürften, und wenn daraus folgt, dass sich Christen aus Liebe auch für politische Ämter zur Verfügung stellen, dann lassen sie sich von der Logik der Begrenzung leiten, die den Ämterträgern vorausliegt. Es handelt sich dabei nicht um die Anerkennung der theologisch gesetzten Grenze zwischen Politik und Ethik, sondern um die Anerkennung der Begrenzung christlicher Freiheit durch den politischen Zwang. Die christliche Freiheit ist auf ihre Gemeinschaft, auf die Kirche 12 , begrenzt. Damit wird der universalistische Inhalt der Ethik auf eine Form begrenzt, die ihm eine Transformation verweigert. Der Inhalt ist die Form: Der christliche Universalismus wird damit reduziert auf „Angehörige der eigenen, marginalisierten Gesellschaft.“ 13 Wenn man nun ein solches Argument formalistisch überprüft, stellt man dabei auch die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt. Doch diese Frage hat selbst eine Form und einen Inhalt. Allerdings liegen beide auf einer anderen logischen Ebene als die <?page no="51"?> 51 Inhalte und Formen, über die sie redet. Denn ansonsten richten sie sich auf sich selbst und begehen dabei den Fehlschluss von Russells Paradox: „‚Alle Kreter lügen immer‘, sagt ein Kreter.“ Das Paradox besteht darin, dass die Aussage, wenn sie wahr ist, gelogen sein müsste, also falsch wäre. Bertrand Russell hat daraus gefolgt, dass eine Aussage über eine Menge nicht sich selbst enthalten darf. 14 Deshalb müssen Inhalt 1 und Form 1 der Frage, wie sich Inhalte 2 und Formen 2 zueinander verhalten, von ihnen unterschieden sein. Allein schon in dieser logischen Beschränkung, dass eine Variable nicht Element ihrer selbst sein darf, leiten Verhältnissetzungen über Form und Inhalt zu etwas Grundsätzlichem. Sie sind in diesem Sinne „metaphysisch“. Die metaphysischen Grundlagen des formalistischen Arguments in der protestantischen politischen Ethik zeigen sich nicht nur an der starken Ausrichtung an grundsätzlichen Denkfiguren wie am Dual aus Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die in die lutherische Zwei-Reiche-Lehre eingebettet werden. Sie zeigen sich vielmehr auch daran, dass durch die Entscheidung über die Form bestimmte Inhalte aus dem politischen Bereich exkludiert werden. Politische Inhalte werden also nicht im politischen Diskurs ihrer Unzulänglichkeit überführt, sondern durch prä-politische Grundsatzentscheidungen als un-politisch charakterisiert. Oder anders: Der politische Diskurs wird metaphysisch entschieden. Dabei wird die Denkform auf die metaphysische Ebene transformiert- - und schließlich politisch immunisiert. Ein solcher Rückzug auf formale Argumente schränkt den ethischen Diskurs ein. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass das formalistische Argument, wie es hier rekonstruiert worden ist, sowohl aus formalen als auch aus inhaltlichen Gründen zurückzuweisen ist. Da der in Anspruch genommene Formalismus widerlegt werden kann, folgt, dass Inhalte auch ihrer Form entwachsen können. Damit lässt sich schließlich ein ethischer Universalismus etablieren, der nicht an die Form der Grenze gebunden wird. <?page no="52"?> 52 Deshalb entwickle ich zunächst ein formales Argument gegen die Formalismus-These, dass der Inhalt die Form sei oder dass ein bestimmter Inhalt an eine bestimmte Form gebunden sei. Dieses Argument vertiefe ich in einer Diskussion über den Formalismus in der Semiotik. Im abschließenden Schritt diskutiere ich die auf den ersten Blick einleuchtende These, dass ethische Verantwortung begrenzt ist, auch wenn sie von universalistischen Prinzipien geleitet ist. Ich interpretiere die These, dass ethischer Universalismus von der Form der Begrenzung eingefasst wird, so dass eine Ablösung von der Form auch den Inhalt zerstört, als formalistisches Argument. Der Formalismus besagt, dass, wenn die Begrenzung aufgehoben wird, sich auch der ethische Universalismus auflöst. Mit beiden Verfahren versuche ich Auswege aus dem Formalismus dieses ethischen Arguments zu finden. Der wesentlich abstrakte Argumentationsweg wird für ein Thema der Angewandten Politischen Ethik überraschen. Wenn aber die Leitthese meines Kapitels lautet, dass hinter der protestantischen Begründung von „Obergrenzen“ für Flüchtlinge oder hinter der Sicherung von Staatsgrenzen ein formalistisches Argument steht, so muss dieser Formalismus auch formal untersucht werden. 2.2 Warum der Inhalt nicht an die Form gebunden ist Insbesondere die medientheoretischen Beiträge zu Formen suggerieren, Inhalte seien an Formen gebunden. Durch die Digitalisierung scheint es möglich zu sein, Inhalte formal zu durchsuchen und sie allein dadurch auszuwerten. Der Computeralgorithmus, der Nachrichten oder Stimmen auf ihre Strukturen untersucht, und das Bilderkennungsprogramm, das Situationen auswertet, zeigen Potenziale an, wie Informationen generiert werden können, ohne dass sie von der Instanz, die sie erzeugt, verstanden werden <?page no="53"?> 53 müssen. Der Algorithmus einer Online-Partnervermittlung etwa muss nur die Textprofile formal zuordnen, ohne zu verstehen, was für die zugeordneten Kunden Liebe bedeutet. Die Digitalisierung hat damit einen Suggestionsschub erzeugt, Inhalte ließen sich auf ihre Form reduzieren. Zwar lassen sich formalistische Tendenzen ethischen Denkens auch auf andere Quellen rückführen, wie wir an den Denkformen der Zwei-Reiche-Lehre und der Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik gesehen haben. Allerdings gewinnen solche formalistischen Argumentationen neue Schubkraft durch die erfolgreiche Anwendbarkeit digitaler Auswertungen. Medientheoretisch ist das Medium die Form, die das Denken determiniert. Horst Gorski etwa rekonstruiert vier Epochen, die durch die Entwicklung von „Kulturformen“ und „Verbreitungsmedien“ auch „Überschusssinn“ erzeugen 15 : 1. Erst das Verbreitungsmedium Sprache ermöglicht, Wahres und Falsches zu behaupten. 2. Erst das Verbreitungsmedium Schrift ermöglicht die zeit- und ortsunabhängige Kommunikation. 3. Erst das Verbreitungsmedium Buch mittels des Buchdrucks ermöglicht zeit- und ortsunabhängig Vergleich und Kritik von verschriftlichten Texten. 4. Erst das Verbreitungsmedium Computer ermöglicht ein vom menschlichen Bewusstsein unabhängiges „Gedächtnis“, das Kontrolle ausüben kann. Der Vergleich zwischen „Epochen“ hinkt allerdings. Bereits mit der Ermöglichung wahrheitsorientierender Rede ist auch die Kritik verbunden. Somit wird hier kategorial unangemessen die qualitative mit einer quantitativen Ermöglichung verglichen, nämlich dass sich seit dem Buchdruck Kritik einfach nur vervielfacht hat. Gorski könnte einwenden, dass es ihm ohnehin um die „Verbreitung“ der jeweiligen ermöglichten Praktiken geht, also um ihre quantitative <?page no="54"?> 54 Vervielfältigung. Allerdings bedeutet „Verbreitung“ jeweils Unterschiedliches, wenn man die Entstehung von Kritik oder ihre Vervielfältigung in Blick nimmt. Ich halte mich jedoch nicht länger damit auf, die Stichhaltigkeit dieses Epochen-Vergleichs zu überprüfen. Für unser Thema ist einzig die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt interessant. Gorski ordnet den Glauben der „Form der Religion“ in der Epoche des Buchdrucks zu. Mit seiner Ausdrucksweise, dass die jeweiligen Verbreitungsmedien „Möglichkeiten in die Welt gebracht“ haben, ist christlicher Glaube in seinem evangelischen Verständnis (als individuelle Haltung und somit als quantitative Verbreitung von Glauben) erst durch den Buchdruck möglich geworden. Zugleich ist der Glaube selbst die Form: „Die Form der Religion ist in dieser Epoche der Glaube als individuelle Haltung.“ Diese Darstellung ist symptomatisch für einen Formalismus, wie er sich nun auch in der Theologie und in der Theologischen Ethik zeigt. Zum einen werden Medien zur kausalen Ursache für bestimmte Inhalte erklärt, und zwar so, dass die Inhalte (hier: Glaube) zum anderen selbst als Formen interpretiert werden. Magie, Institution und Glaube stehen bei Gorski auf derselben kategorialen Ebene. Allerdings hält Gorski diesen Formalismus nicht durch, sobald er die jüngste Epoche beschreibt. 16 Die Kulturform in der Epoche des Computers lässt nämlich anscheinend der „Form der Religion“ keinen Raum mehr. Sie wird abgelöst durch die „Form der Form“, die überhaupt die Kulturform der Gegenwart charakterisiert. Christlicher Glaube, der das neue Existenzial der Konnektivität in einer alternativen Konnektivität des Heiligen Geistes verankert, scheint damit eine nicht-religiöse Weiterführung darzustellen. War der Glaube im Zeitalter der Reformation eine „Form der Religion“, so scheint er sich nun von der religiösen Form abzulösen. Man könnte gleichsam von einer „nicht-religiösen“ 17 oder „existentialen“ 18 Interpretation im digitalen Zeitalter sprechen. In <?page no="55"?> 55 dieser Darstellung bewirkt gerade die Digitalisierung, die Inhalte auf Formen und Mustererkennungen reduziert, einen Ausbruch aus dem Formalismus. An die Stelle der Form tritt das Existenzial. Ich spreche auch deshalb von einem Ausbruch, weil die jüngste Epoche nicht mehr die sozialen Praktiken der Vorgängerepoche synthetisiert, was noch die mittleren beiden genannten Epochen leisten: Zeit- und ortsübergreifende Kommunikation nimmt wahrheitsorientierende Rede auf, ebenso die Verbreitung der Kritik die übergreifende Kommunikation und die Wahrheitsorientierung. In der jüngsten Epoche dagegen lässt sich „immer nur momentane Anschlussfähigkeit“ erzielen, „ohne zu wissen, ob diese Handlung richtig oder falsch ist und ob die Handlung, zu der man Anschluss sucht, im nächsten Augenblick so noch besteht.“ Damit ist sowohl die wahrheitsorientierende Rede als auch die zeit- und ortsunabhängige Kommunikation auf den Moment fixiert. Die Befreiung von Zeit und Ort wird zurückgenommen. Das wirkt sich auch auf die Verbreitung von Kritik aus: Im digitalen Zeitalter ist zwar alles mit allem verbunden, aber ohne dauerhafte inhaltliche Verbindlichkeit zu erzielen. Alles ist kritisierbar (Fake News), weil alles auf den Moment und nichts auf eine verlässliche Übereinstimmung ankommt. Gorski bleibt daher dem Formalismus insoweit verhaftet, als die existenziale oder nicht-religiöse Interpretation durch die „Form der Form“ determiniert ist, weil sich „dem subjektiven Erleben keine Form mehr anbietet.“ Wo diese Möglichkeit nicht mehr „in die Welt gebracht“ wird, bestimmt folglich die „Form der Form“ die Notwendigkeit. Die alternative Konnektivität des Glaubens ist dann keine wirkliche Alternative zum Existenzial der Konnektivität, sondern nur eine Exemplifizierung der „Form der Form“. Befreit wird der christliche Glaube also von der religiösen Form, aber auf Grundlage eines sich selbst generierenden Formalismus, der kein Äußeres zulässt. Ich lasse offen, ob Gorskis Formalismus einen Prozess adäquat beschreibt, wie er durch die Digitalisierung angetrieben wird, oder <?page no="56"?> 56 ob umgekehrt die Digitalisierung erst die Mittel für einen solchen Beitrag bereitstellt oder ob es sich schließlich um voneinander unabhängige formalistische Tendenzen handelt. Zumindest zeigt sich eine mächtige Entwicklung, Inhalte auf Formen zu reduzieren, die auch vor dem theologischen Denken nicht haltmachen. Wenn sich Inhalte in Formen auflösen, kann der Eindruck entstehen, es komme auf die Inhalte nicht mehr an, weil ein funktionsäquivalenter Ersatz gefunden worden ist, der sich zudem schneller und automatisiert auswerten lässt. Und wenn sich Inhalte an Formen binden, lassen sie sich nicht unabhängig von der jeweils bestimmten Form verhandeln. Wenden wir diese These auf Gorskis religiöse Form „Glaube“ an: Zum einen könnten wir diese Form nicht mehr verstehen, weil wir jetzt in einer anderen Epoche leben, die die Voraussetzungen der Form des Glaubens zerstört hat. Zum anderen, selbst wenn wir dieses Problem nicht hätten, wäre Glaube ja eine Form und damit inhaltlich unspezifisch, weil sie sich als „individualisierte Vielfalt“ subjektiviert. 19 Nur als Form ist der Glaube noch greifbar, als Inhalt verflüchtigt er sich, wie Henning Theißen feststellt, in eine „vage innere ‚Stimmigkeit‘“. Allerdings kann Theißen in der Reformationsgeschichte auch inhaltliche Wahrheitsbezüge entdecken, als „kognitive Übereinstimmung mit einem externen Sachverhalt“ 20 und gerade nicht nur als Selbstevidenz, die sich in der formalen Selbstreferenz ihrer selbst vergewissert. Könnte es nicht sein, dass Gorskis Einschätzung zur Digitalisierung gerade ein Ergebnis der digitalen Hermeneutik ist? Die Konnektivität der „Form der Form“, die den selbstreferenziellen Prozess universalisiert und automatisiert, kann ihn dann auch rückwirkend in der Epoche der religiösen Form des Glaubens identifizieren, indem sie ihn seiner Inhalte entkleidet. Dazu hält er das cartesianische Cogito ergo sum für die Kulturform der Epoche des Glaubens, weil „der Kritiküberschuss mit dem Individuum verknüpft wird.“ 21 Konsequent zu Ende gedacht führt diese Individualisierung zur Auflösung des Inhaltlichen. Denn bekanntlich <?page no="57"?> 57 hat Kant das Cogito so weiter analysiert, dass es ohne „Objekt der Wahrnehmung“, also als gedachter Gegenstand leer ist. Es ist vielmehr die bloße Selbstreferenz („reine Apperzeption“). 22 Noch einmal: Der Argumentationsgang sollte nicht suggerieren, dass die Digitalisierung ausschlaggebend für den Formalismus in theologisch-ethischen Denkfiguren ist. Vielmehr wollte ich zeigen, dass sich derzeit formalistische Tendenzen einer besonderen Beliebtheit erfreuen und dass dadurch der Eindruck aufkommt, mit der Rückführung auf ihre Denkformen ließen sich auch ethische Diskurse bereits auflösen. Dagegen lässt sich ein grundsätzlicher formaler Einwand erheben: Wenn der Inhalt an eine bestimmte Form gebunden ist, wird von vornherein ausgeschlossen, dass er sich in eine andere Form übertragen lässt. Somit ändert sich laut der formalistischen Voraussetzungen auch der Inhalt, wenn ein Inhalt in eine andere Form übertragen wird. Aber diese Voraussetzungen bestimmen den Begriff „Inhalt“ zirkulär. Denn wie soll sich dann ein bestimmter Inhalt identifizieren lassen, der sich angeblich nicht in einer anderen Form ausdrücken lässt, als über die Form? Das Ergebnis gilt also nur unter der formalistischen Annahme, die überhaupt erst zu begründen ist. Die Voraussetzung des Formalismus legt fest, dass sich nicht am Inhalt zeigt, was ein Inhalt ist, sondern an der Form. 2.3 Der inhaltsoffene Formalismus der Semiotik Insbesondere durch die Theoriebildung der Praktischen Theologie ist der Formalismus in der Theologie reflektiert worden. In der Homiletik stellt sich die Frage nach der angemessenen Predigtform, um Kommunikation des Evangeliums gelingen zu lassen. Hier fließen semiotische Einsichten in homiletische Modelle ein. 23 Dabei wird die Form zumindest zur notwendigen Bedingung inhaltlicher Mitteilung, wie Wilfried Engemann zusammenfasst: <?page no="58"?> 58 Sofern die Funktion jedes beliebigen Zeichens in einer Verbindung von Inhalt und Form, Gehalt und Gestalt, Bedeutung und Ausdruck, Signifikat und Signifikant usw. gründet, können auch in der praktisch-theologischen Theoriebildung Inhaltsfragen zureichend nur im Zusammenhang von Gestaltungsfragen bedacht werden. Das Gelingen eines Kommunikationsvorgangs hängt davon ab, ob der jeweilige Inhalt der „Botschaft“ nun auch in einer entsprechenden Form repräsentiert wird, d. h. einen signifikanten Ausdruck findet, der es dem „Empfänger“ der Botschaft ermöglicht (bzw. ihn dazu befähigt! ), ihr eine Bedeutung zuzuordnen, sie zu „decodieren“. 24 Wird die Form so zur notwendigen Bedingung inhaltlicher Mitteilung, so erwächst sie zur hinreichenden Bedingung praktisch-theologischer Aussagen: Ihr gilt das eigentliche Augenmerk; der Inhalt entscheidet sich an der Form. Über ihn gibt es ja nichts Spezielles zu sagen, weil er die Form notwendig macht und somit auch nur an der Form überprüft werden kann. Kritisch wird aus semiotischer Perspektive eingewendet: Mit der dem Modell letztlich zugrunde liegenden Container-Metapher, die das Wort oder Zeichen als strukturiertes Gefäß mit einem in sich gleichfalls strukturierten Inhalt vorstellt, hat man die strukturelle Analogie zwischen Ausdruck und Inhalt jedoch übertrieben. Denn aus der unbestreitbaren Tatsache, daß es dem Zeichen wesentlich ist, Bedeutung zu haben, folgt keineswegs, daß die Bedeutung, die es hat, Teil des Zeichens wäre. Auch wenn das Zeichen dadurch definiert ist, daß ihm Bedeutung zukommt, ist noch keineswegs vollkommen klar, daß es aus Vorstellung / Gedanke / Signifikat / Bezeichnetem / Bedeutung / Begriff und Lautbild / Signifikant / Bezeichnendem / Zeichengestalt besteht oder zusammengesetzt ist. 25 Dementsprechend wird auch in der Homiletik die Predigt als „offenes Kunstwerk“ 26 verstanden, das die Rezipienten an der Sinnproduktion beteiligt. Dabei handelt es sich nicht um Beliebigkeit. ‚Offen‘ ist der schlichte Begriff für die Qualität eines Kommunikationsmediums oder Artefakts (eines Bildes, einer Skulptur, eines Textes, einer <?page no="59"?> 59 Rede usw.), bereits durch seine spezifische Struktur zu einer intensiven, gleichsam verwickelnden Interpretation herauszufordern und den Hörer bzw. Betrachter bei seiner Interpretationsaufgabe durch dieselbe Struktur zu unterstützen. 27 Die Struktur also soll das Artefakt so zu verstehen geben, wie es seiner Gestalt entspricht. Inhaltliches Verstehen wird durch die Form bestimmt, nämlich offenbar durch die Strukturgleichheit des Textes mit der verstehenden Interpretation. Wieder wird, wie schon bei der Kongruenz-Metapher (Sektion 1.2), mit der Struktur ein Bild aus der Geometrie verwendet. Dahinter steht offenbar die Vorstellung, dass die möglichst ähnliche Struktur eine Adäquanz zwischen Text und Interpretation herstellt. Diese Vorstellung beruht dann auf einem Struktur-Realismus. Diese These ist kühner, als man denkt. Und vor allem ist sie nicht beweisbar, weil man dafür den in Frage stehenden Realismus bereits unterstellen müsste. Sie kann allenfalls demonstriert werden. Diese These besagt nämlich, dass sich Adäquanz zwischen Text und Interpretation einstellt und nicht selbst aussagbar ist. Ludwig Wittgenstein drückt das in seinem Tractatus logico-philosophicus (TLP) so aus: „Wenn zwei Ausdrücke durch das Gleichheitszeichen verbunden werden, so heißt das, sie sind durch einander ersetzbar. Ob dies aber der Fall ist, muß sich an den beiden Ausdrücken selbst zeigen. Es charakterisiert die logische Form zweier Ausdrücke, daß sie durch einander ersetzbar sind“ ( TLP 6.23). Das heißt aber, dass die (logische) Form die Realität ist: „Die Logik ist keine Lehre, sondern ein Spiegelbild der Welt. Die Logik ist transzendental“ ( TLP 6.13). Zwischen der Sprache und der Welt besteht also ein formaler Zusammenhang, der zugleich die Realität ist. Aber dieser Zusammenhang ist nicht aussagbar, er kann sich nur zeigen: „Der Satz kann die logische Form nicht darstellen, sie spiegelt sich in ihm“ ( TLP 4.121). Auffällig ist, dass Wittgenstein mit der Spiegel-Metapher ebenfalls einen geometrischen Ausdruck verwendet. Ingolf Dalferth kommentiert Wittgensteins Beschreibung: „Die Form <?page no="60"?> 60 kommt also mit dem, aber nicht im Satz zum Ausdruck; sie zeigt sich an seiner Struktur.“ 28 Für Wittgenstein liegt darin etwas Mystisches: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“ (TLP 6.522, Herv. L. W.) Es ist deshalb das Mystische, weil die Entsprechung zwischen Sprache und Welt kein Gegenüber darstellt, über das etwas ausgesagt werden könnte. Das Gleichheitszeichen zwischen Sprache und der realen Welt ist nicht selbst real, sondern die Realität. Es kann sich nur als Transzendentes in der Immanenz zeigen. Ebenso wie man unter Mystik das innere Erleuchtetsein göttlicher Macht im Menschen verstehen kann, verweist Wittgensteins Mystik-Begriff auf das Andere innerhalb der Sprache. Die logische Form der Welt ist zugleich überweltlich, ohne damit außerhalb der Welt zu sein: „Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist“ ( TLP 6.44, Herv. L. W.) Dass also die logische Form der Sprache selbst die Realität ist, kann sich nur zeigen, und zwar nicht in der Sprache, sondern im Gefühl: „Das Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes ist das mystische.“ ( TLP 6.45) Damit enthält der Struktur-Realismus etwas Ungefähres, das nämlich in dem Moment auftritt, wo man nach seiner Realität fragt. Dass also die Form die Realität ist, die sich in sprachlichen Aussagen und in weltlichen Tatsachen zugleich zeigt, ist nicht mit derselben Apodiktizität aussagbar wie Aussagen über weltliche Gegebenheiten. Ein solcher Realismus trifft mystisch an die Grenze des Formalen. Darin stimmt Wittgensteins frühe Sprachphilosophie mit Charles Peirce’ Zeichentheorie überein. Auch Peirce’ formalistische Zeichentheorie beruht auf einem Realismus. Und was Wittgenstein das Mystische nennt, ist für Peirce die Realität Gottes, wie schon im ersten Kapitel gezeigt wurde. Die Grundverlässlichkeit der Wirklichkeit, die sich darin zeigt, dass der Geist relativ schnell und instinktiv Geheimnisse entschlüsseln kann, ist eine fraglose Bedingung wissenschaftlichen Arbeitens. Peirce hat sie einen „Instinkt <?page no="61"?> 61 für Rationalität“ genannt: „Ein Fisch ist sich seiner Fähigkeit zu schwimmen nicht weniger sicher, als der Mensch seiner Fähigkeit zu verstehen.“ Beide Sicherheiten beruhen nämlich darauf, dass sie ihren eigenen Fähigkeiten vertrauen und dass dieses Vertrauen zu Recht besteht. Das ist kein Beweis für die Wahrheit dieses Realismus, sondern eine Voraussetzung, der sich alle geistigen Bewegungen verdanken. Das Denken verbleibt also bis zu seinem Ende in einem instinktgeleiteten Verhältnis zur Wahrheit. Diese Unhintergehbarkeit des „Instinkts für Rationalität“ gilt für Peirce deshalb als vernachlässigtes Argument für die Realität Gottes. Peirce’ zeichentheoretischer Formalismus hat somit eine kosmologische und eine theologische Voraussetzung. Darin, dass Möglichkeiten gebildet werden, wobei deren Bildung im Moment ihres Ereignisses zur Wirklichkeit gehört, liegt zugleich der Realismus dieses Formalismus. Ebenso wie Wittgenstein zeigt Peirce, dass selbst bei einem strengen logischen oder semiotischen Formalismus die Form nicht die Grundverlässlichkeit der Realität determiniert. Peirce geht darüber hinaus, indem auch das Auftreten von Neuem nicht formal determiniert ist. Beides korreliert sogar, ohne formal eingefangen zu werden: Die Grundverlässlichkeit besteht ja nicht einfach wie bestimmte Tatsachen, über die das Denken Hypothesen anstellt. Vielmehr wird die Grundverlässlichkeit im instinktiven Schluss als Voraussetzung dieses Schlusses realisiert. Das Neue wird so in das kosmologische Kontinuum eingebunden, dass das Vertrauen in die Grundverlässlichkeit ebenfalls neu geweckt wird. Auf die Frage, wie stark Inhalte in ihren Formen gefangen sind, bietet sich somit eine kosmologische, theologische oder metaphysische Antwort an: Zwar lassen sich Inhalte auf ihre Formen hin untersuchen, die sogar strukturell eine klare Grenze haben. Allerdings determinieren die Formen nicht, wie instinktiv oder kosmologisch-kreativ Neues auftreten kann, was sich ebenfalls in die Formen des Denkens und der Realität einbetten lässt. Deshalb <?page no="62"?> 62 ist mit dem bloßen Verweis auf die formalen Strukturen von Inhalten nicht festgelegt, dass sich Gedanken nicht auch anders denken lassen. Dieses Ergebnis soll nun auf die ethische Frage übertragen werden, ob der ethische Universalismus auch unabhängig von der Form der Grenze entwickelt werden kann, die sich in der politischen Ethik des Protestantismus zeigt. 2.4 Kann sich ethischer Universalismus aus dem Korsett der begrenzenden Form befreien? Der Begrenzungsmechanismus der Form Als einer der Ersten hat Reiner Anselm 29 das formalistische Argument zum Vorrang der Grenzen vor der universalistischen Geltung der Menschenrechte bemüht: „Diskussionsbeiträge, insbesondere aus dem kirchlichen Raum[,] verweisen immer wieder auf die grundsätzlich für alle geltenden Rechte und verdrängen die Debatte um allfällige Grenzen und Begrenzungen damit aus dem politischen Raum.“ Stattdessen müsse es jedoch darum gehen, „die Grenze zwischen einer religiös-universalen und einer politisch-partikularen Argumentation wieder aufzurichten.“ Man bemerke die doppelte Kodierung der Grenze: Sie liegt zum einen in der Logik der Politik, die als partikularer Funktionsbereich des öffentlichen Lebens als solcher wesentlich grenzbestimmt ist. Zum anderen liegt die Grenze zwischen Religion und Politik und wird von Gott bestimmt. „Nur er [der Gottesgedanke] kann sicherstellen, dass die einzelnen Teilbereiche sich nicht selbst absolut setzen.“ Folglich besteht die ethische Aufgabe darin, „der Absolutsetzung von ethischen Positionen im Namen des Absoluten entgegenzutreten.“ Dieses Argument gibt den politisch-ethischen Formalismus in Reingestalt wieder und soll daher ausführlich analysiert werden. <?page no="63"?> 63 Absoluten Anspruch kann nur Gott erheben, nämlich in seiner Grenzziehung der beiden Teilbereiche. Diese Grenzziehung führt also dazu, dass beide Bereiche, Religion und Politik, begrenzt sind. Zugleich ist Grenzziehung auch die Funktionsweise des Politischen. Formal stimmen also Gottes absoluter Wille und die politische Wirkweise der Grenzziehung überein. Dem widerspricht ein religiös-ethischer Universalismus, der Grenzen überschreitet. Wenn daher in einem Teilbereich (wie hier in der Religion mit ihrer Akklamation universaler Menschenrechte) absolute Ansprüche vertreten werden, die sich auf den anderen Teilbereich auswirken, der selbst wiederum die göttliche Grenzziehung formal-funktional wiederholt und damit seine eigene Partikularität demonstriert, so entsteht daraus ein dialektischer Prozess: Die Partikularität des politischen Teilbereichs repräsentiert dann die absolute Grenzziehung des göttlichen Willens, indem die Politik die universalistisch-religiöse Position begrenzt. Partikularität wird somit zum Ausdruck des Absoluten. Und sie wirkt sich so aus, dass die Logik der Partikularität den Teilbereich der universalistischen Position in der Religion zu begrenzen befugt ist, und zwar mit absoluter Rechtfertigung. Man mag hier mit einer Widerherstellung göttlicher Ordnung argumentieren, also mit einer Art theologisch legitimiertem Notstandsrecht, um den Übergriff des Politischen auf das Religiöse zu rechtfertigen. Es handelt sich dann um ein Verteidigungsrecht göttlicher Ordnung. Und es führt dazu, dass universalistische Positionen letztendlich zu begrenzen sind. Das kann bedeuten, sie letztendlich aufzugeben oder, wie Wolfgang Huber und Johannes Fischer 30 es angedeutet haben, sie auf liturgisch-diakonische und zivilgesellschaftliche Handlungsvollzüge zu begrenzen. Zwar präzisiert Huber seine Andeutung, indem er den Kirchen auch politisches Engagement einräumt. Allerdings nimmt er zugleich zum einen eine Funktionsbegrenzung der Nächstenliebe vor (konkreter vs. generalisierter Anderer). Zum anderen folgt aus der Begren- <?page no="64"?> 64 zung, die universalistische Ethik in ihrem politischen Engagement auf den rechtsethischen Diskurs einzuschränken. Die Nötigung, der der egalitäre Universalismus ausgesetzt ist, liegt in der „Verbindung zwischen Grenzziehung und Grenzöffnung“, also zwischen der Anerkennung des partikular-rechtlichen Status quo und seiner rechtsethischen Diskursoffenheit. Formalistisch ist dieses Argument, weil es nicht am Inhalt entscheidet, auf welche Handlungsvollzüge sich eine universalistische Position erstrecken darf. Die Form erstickt den Inhalt und weist ihm einen festen Platz zu, aus dem er sich nicht entfalten kann. Der ethische Universalismus ist nämlich partikularistisch einzuhegen, weil er Religion ist und damit durch die Zwei-Reiche-Lehre qua Definition auf einen gesellschaftlichen Teilbereich begrenzt ist. Das würde voraussetzen, dass sich ethischer Universalismus ausschließlich im Teilgebiet der Religion findet. Bürgerinitiativen und zivilgesellschaftlicher Protest wären also Religion. Damit würde jedoch ein ethischer Universalismus nicht deshalb vertreten werden, weil er ethisch ist, sondern weil er religiös ist. Will man daher den Formalismus durchhalten, muss er aus der Zwei-Reiche-Lehre herausgeführt und auch auf ethische Bestimmungen der Grenz-Form angewendet werden können, so auf die Differenz von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, die schließlich sogar zur Differenz von Ethik und Politik 31 mutiert. Die Entscheidung von Bundeskanzlerin Merkel aus dem Jahr 2015, die deutschen Grenzen zu öffnen, sei gesinnungsethisch gewesen 32 und stelle daher einen Übergriff auf die Form der Berufspolitikerin dar, die nämlich verantwortungsethisch zu handeln habe. 33 Wieder entscheidet die Form über das Argument, nämlich hier darüber, was als Berufspolitikerin zu gelten hat, und übrigens nicht die Form des Grundgesetzes, das der Bundeskanzlerin eine Richtlinienkompetenz zuerkennt. Dabei muss ausgeblendet werden, dass die Anerkennung universaler Menschenrechte selbst bereits politische Geltung hat, worauf <?page no="65"?> 65 Wolf-Dieter Just hinweist: „Wir führen hier also keinen willkürlichen ethischen Maßstab ein, sondern fragen nach den Implikationen einer Norm, auf die sich die internationale Gemeinschaft verpflichtet hat.“ 34 Der Formalismus der Begrenzung des Inhalts durch die Form mutiert nämlich zum performativen Widerspruch, sobald nicht mehr Teilbereiche sozialer Wirklichkeit voneinander abgegrenzt sind (2 Reiche) oder ethische Haltungen gegeneinander ausgespielt werden (Gesinnungsvs. Verantwortungsethik), sondern die Spannung von Universalismus und Grenzverantwortung im selben Bereich auftritt. Der performative Widerspruch besteht dann darin, dass ein Universalismus inhaltlich vertreten wird, weil zur Politik formal gehört, dass Verantwortung begrenzt wird. Für lösbar wird der Konflikt dann gehalten, wenn die Form über den Inhalt gestellt wird, also Priorität hat. Natürlich haben Argumente Grenzen, sonst wären sie keine bestimmten Gedanken. Sie begrenzen sich bereits an ihrem kontradiktorischen Gegensatz. Auch ethischer Universalismus grenzt sich ab, nämlich vom Partikularismus. Seine Grenze liegt im Argument beschlossen. Das ist davon zu unterscheiden, dass die Form die Grenze des Arguments von außen aus bestimmt. Der Formalismus dagegen entzieht dem Universalismus die eigenen Grenzbestimmungen, die dem Argument inhärent sind, und erzwingt eine heteronome Grenze im Namen des Absoluten. Aber ist nicht die Grenzbestimmung innerhalb des Arguments bereits absolut? Könnte nicht die universalistische Position, die, weil sie universalistisch ist, somit nicht partikularistisch ist, das „Mystische“ in Wittgensteins Sinn sein, nämlich die Logik, die innere Entsprechung zwischen ihr und der Negation ihres Gegensatzes, die sich nicht aussagen lässt, sondern sich nur zeigt? Ebenso wie die Logik ist für den frühen Wittgenstein auch die Ethik „transzendental. (Ethik und Ästhetik sind Eins.)“ ( TLP 6.421). Die Ethik stimmt nämlich mit der Logik darin überein, dass sie nicht aussagbar ist: „Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. <?page no="66"?> 66 Sätze können nichts Höheres ausdrücken.“ ( TLP 6.42) Dann ist die Ethik offenbar deshalb mit der Ästhetik eins, weil sie sich zeigt und damit zum Bereich der Wahrnehmungswissenschaft gehört, die sich auf das Sich-Zeigen bezieht. Wenn der Formalismus in der protestantischen Ethik stattdessen auf formelle Grenzen eines Arguments verweist, die aber außerhalb seiner selbst liegen, leugnet er das Mystische in Wittgensteins Sinn, indem er vor die inhaltlichen Entsprechungen formale Entsprechungen schiebt, als wären sie Tatsachen in der Welt und nicht das Transzendentale der Welt. Und ist die Realität Gottes bei Peirce’ in der instinktiven Sicherheit nicht auch im Vertrauen gegeben, dass Inhalte sind, was sie sind-- und nicht erst durch Formen werden, was sie sind? Dann wäre das Absolute nicht erst in einer äußeren Verhältnissetzung zwischen Form und Inhalt zu vermuten, sondern bereits in neuen Ideen, die ebenso mit „rationalem Zwang“ ein Kontinuum mit der Realität bilden. Ethischer Universalismus kann sich dann als ein Neues zeigen, das alte Formen transformiert, in denen es bislang nicht möglich war. (Denn als Neues kann es nicht möglich, sondern erst rückwirkend möglich gewesen sein.) 35 Der Formalismus in der protestantischen Ethik rechnet nicht mit der Transformationsfähigkeit politischer Wirklichkeit durch neue Ideen. Gerade wenn die Grenze formbestimmend ist, kann Neues, das als solches die Grenzen des Gegebenen überschreitet, nicht mehr gedacht werden. Dagegen ist der ethische Universalismus eine Herausforderung für eine Politik, die das universale Menschenrecht anerkennt, aber zugleich nur innerhalb bestimmter Grenzen entscheidungsbefugt ist. <?page no="67"?> 67 Anwendung der Transformation „Freiräume bewahren heißt: Ein Land, auch Deutschland (auch Europa), kann nicht unbegrenzt Migranten aufnehmen.“ 36 Die Gründe können sich auf verschiedene Ebenen beziehen: 1. Die Kapazitäten (z. B. Verantwortung) eines Landes sind begrenzt. 2. Gemeinschaften ohne Grenzen können ihr Ethos nicht entwickeln. Somit gilt auch für ein universalistisches Ethos, dass seine Genese abhängig von Grenzen ist. 3. Der ethische Universalismus bedarf politischer Sicherheiten, die sich vor politischen Unsicherheiten abgrenzen. Hier ist die Geltung des Universalismus abhängig von Grenzen, und zwar I von den Grenzen einer Ethosgemeinschaft (E. Herms), die also durch den Ethos und damit ideell gebildet werden, oder II von Staatsgrenzen, also von der institutionellen Sicherung im Recht eines von anderen Nationen abgegrenzten Staates. Befreit man diese Varianten von ihrer formalistischen Dominanzsuggestion, lassen sie sich inhaltlich diskutieren. Sie erheben dann keinen prinzipiell-formellen Anspruch des Vorrangs von Grenzen, zumal sie sogar zueinander in inhaltlicher Spannung stehen. Man kann einräumen, dass Ethosgemeinschaften mehr oder weniger feste Grenzen haben, um ihr Ethos zu entwickeln. Daraus folgt aber nicht, dass ethischer Universalismus begrenzte Ethosgemeinschaften ausschließt. Universale Freiheitsrechte schließen also die Legitimität nicht-politischer Grenzen ein. Ebenso wenig folgt, dass Ethosgemeinschaften die Geltung ihres Ethos nicht universal rechtfertigen können. Begrenzungen in der Genese und unbegrenzte Geltung schließen sich also nicht aus. Aber selbst wenn die Geltung von den Grenzen einer Ethosgemeinschaft abhängt, folgt <?page no="68"?> 68 nicht zwingend, dass sie von Staatsgrenzen abhängt. Wenn schließlich Staaten die allgemeinen Menschenrechte zwar anerkennen, aber konkret missachten, so wird geltendes Recht verletzt, also die Grenze staatlichen Rechts überschritten. Es ist dann gerade die Verletzung universaler Menschenrechte, die universalistische Tendenz hat, denn sie bricht dann aus der Grenzsicherheit staatlichen Rechts aus. Im Übrigen kann man auch als Universalist Staatsgrenzen für legitim halten 37 , wenn sie zugleich für das internationale Recht durchlässig sind. Das ist nicht einmal eine neue Verhältnissetzung, sondern lässt sich bereits bei Kants Bemerkungen zum Völker- und Weltbürgerrecht nachlesen. 38 Damit stellt sich der Formalismus in der protestantisch-politischen Ethik als Übervereinfachung heraus. Ethischer Universalismus wird nicht notwendig und vor allem nicht formal durch eine ethische Rechtfertigung von Grenzen begrenzt. Die eigentliche Frage dieser Diskussion spitzt sich vielmehr auf das Recht der Zuwanderung von Flüchtlingen zu. Die einzige Grenzfrage, für die noch eine formalistische Begründung in Anschlag gebracht werden könnte, ist die Frage nach Obergrenzen für Zuwanderung. Und das einzige Argument hierfür liegt im ersten Punkt: Die Kapazitäten eines Staates für einen unbegrenzten Zuzug sind begrenzt. Interessanterweise hat dieser Formalismus jedoch sogar für die Befürworter von Obergrenzen selbst keine konkrete Orientierungskraft. In keinem der hier behandelten Beiträge findet man eine konkrete Zahl, sondern im Gegenteil eine Haltung, sich nicht festlegen zu wollen. Plötzlich verweist man auf ein „Dilemma“ oder eine „Inkommensurabilität“ von Prinzipien. 39 Eine Entscheidung über Obergrenzen wird- - natürlich verantwortungsethisch- - auf Kompromisse und transparente Verfahren delegiert. Eine eigene inhaltliche Festlegung fehlt jedoch, die in den Diskurs zur Kompromissfindung einzubringen wäre. Am weitesten geht dabei Ul- <?page no="69"?> 69 rich Körtner, indem er über ein österreichisches Rechtsgutachten referiert, das zwar Obergrenzen ausschließt, aber Beschränkungen des Zustroms unter völkerrechtlichen Kriterien für zulässig erklärt. 40 Aber auch darin wird eine positionelle Festlegung vermieden. Das könnte dafür sprechen, dass das „Mystische“ Wittgensteins noch Restspuren im politischen Formalismus hinterlassen hat. Zum einen bestand das Mystische darin, dass es nicht ausgesagt werden kann und damit eine Vagheit besitzt, die sich nur zeigen kann. Zum anderen bestand es in der Entdeckung des Anderen im Eigenen. Die formale Grenzziehung zwischen Religion und Politik, Gesinnungs- und Verantwortungsethik oder ethischem Universalismus und politischem Partikularismus ist also nicht jenseits politischer Verständigung gesetzt. Johannes Fischer integriert in dialektischer Weise den ethischen Universalismus in die Politik, indem er ihn ausschließen will: „Aber eben: Es sind Dilemmata der Politik, nicht Dilemmata, mit denen sich die kirchliche Ethik auseinandersetzt.“ 41 In die Dilemmata der Politik gehört die kirchliche Ethik folglich dazu, nicht weil sie kirchlich ist, sondern weil sie inhaltliche Ethik ist. Politik und Ethik könnten eine Lösung bei Peirce finden, um das Dilemma ethischen Universalismus und begrenzter Kapazitäten doch innerhalb der politischen Ethik zu bearbeiten: Diese Lösung könnte auf dem instinktiven Vertrauen Peirce’ beruhen, dass hinter dem Dilemma noch ein kosmisches Kontinuum besteht. Die angebliche Eigenständigkeit des Politischen, die sich ohne inhaltliche Einspeisung durch Positionen nur in formalen Kompromissen ausagieren kann, wird dadurch korrigiert. Nun lassen sich substanzielle politische Lösungen finden, wenn sich Neues auftut, das politische Dilemmata durchbricht. Hierzu gehört der Vorschlag von Thorsten Moos 42 , Grenzziehungen für begründungsbedürftig zu halten und eine „Neuverhandlung der politischen Ontologie“ auszurufen. Moos scheint <?page no="70"?> 70 dabei nicht den Begriff der „politischen Ontologie“ zurückzuweisen, sondern „die Ziehung von Grenzen selbst als politischen Akt zu verstehen“, womit die Grenze ent-ontologisiert wird zugunsten einer Ontologie des Verfahrens, das sie zieht. Dieser Vorschlag ist kohärent zum semiotischen Formalismus bei Peirce, nämlich instinktives Vertrauen in das kosmologische Kontinuum kreativ aufzuspüren, anstatt feste Grenzformen zu setzen. Es geht dabei nicht nur um die Frage, wo die Grenze entlangführt, sondern auch, wie sie zu verstehen ist. Für Arnulf von Scheliha liegt sie in der „Aufgabe von Staatlichkeit, die Verteilung der Menschheit auf der Erde rechtlich zu ordnen“, und zwar so, „dass alle in [einem bestimmten Territorium] verbundenen Bürger ein Leben in vernünftiger Freiheit führen können.“ 43 Wolf-Dieter Just wiederum scheint zwischen einer Grenzfunktion zur zwischenstaatlichen Anerkennung und zum Schutz des Menschenrechts zu unterscheiden. Ohne Grenzen wären Flüchtlinge ihren Verfolgern unbegrenzt ausgesetzt, „Flüchtlinge könnten ihren Verfolgern nirgendwo entrinnen.“ 44 In beiden Vorschlägen werden Staaten gerade unter Anerkennung von Staatsgrenzen befähigt, über ihre Grenzen hinaus Verantwortung für Flüchtlinge zu übernehmen, ohne dabei die Souveränität anderer Staaten abzuerkennen. Denn indem Staaten, die stark von Einwanderung geprägt sind, Fluchtursachen bekämpfen und ortsnahe Hilfe in Ursprungs- oder Nachbarländern leisten, überschreiten sie ihre Verantwortung über ihre Grenze hinaus. Dazu sind sie fähig, gerade weil die Staatsgrenzen ihre politische Souveränität sichern. Der Begriff der Staatsgrenze bekommt dadurch eine andere Bedeutung: Er lässt eine erweiterte Staatssouveränität zu, um dem ethischen Universalismus damit gerecht zu werden. Die Grenze wird zur durchlässigen Membran zwischen Universalismus und Partikularismus, und zwar so, dass sie einen politischen Universalismus möglich macht. An die Stelle „diskreter <?page no="71"?> 71 Einheiten“ tritt eine „Gemengelage“ 45 , die die Spannung ins Kontinuum der „politischen Ontologie“ internalisiert. Zu dieser Dynamisierung von Grenzen in der „politischen Ontologie“ gehört eine Dynamisierung der Zwei-Reiche-Lehre, die Moos 46 als „Abstandsarbeit“ charakterisiert. An die Stelle säuberlicher „Sphärentrennung“ stellt er eine „Zweiregimentepraxis“. Damit ist allerdings die Aufgabe nur beschrieben und noch nicht umgesetzt. Denn selbst wenn es sich dabei um eine auf Dauer gestellte Praxis handelt, so bedarf sie doch konkreter Kriterien, an denen sie sich vollzieht. Unter den kosmologischen Voraussetzungen Peirce’ bilden Politik und Glaube ein Kontinuum, das sich in der Dimension der Verständigung bildet. Auch wenn der Fürst bei Luther die Ordnung mit dem Schwert sicherstellt, setzt diese soziale Funktion Verständigung über die Rechtmäßigkeit der Ordnung voraus. * Ebenso wird das Reich des Glaubens durch Lehre gebildet, durch den heiligen Geist, der die Gläubigen „leret“ 47 . Die Einheit zwischen beiden Reichen bildet also nicht der göttliche Wille allein, sondern auch die kommunikative Verständigung über ihre Funktion. Wenn Luther das christliche Widerstandsrecht gegen den Staat nur auf das Wort beschränkt 48 , so handelt es sich dabei um eine Form, die beiden Reichen genuin ist. Die Verständigungslogiken sind zwar nach Luther aus funktionalen Gründen unvereinbar, weil die Gläubigen das staatliche Recht nicht zur Aufrechterhaltung der Ordnung einhalten, sondern aus Liebe. 49 Dennoch hat der christliche Übergriff auf das Reich der Politik in der Verständigung ein gemeinsames Vehikel. Das gilt insbesondere unter demokratischen Bedingungen und auch unter diplomatischen Beziehungen zwischen Staaten, die dem universalen Men- * M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, 248. Luthers Ausrichtung staatlicher Funktionen auf das Naturrecht und die Goldene Regel (M. Heckel: Staatskirchenrecht als säkulare Rahmenordnung, 106) setzt voraus, dass sich Menschen über die Rechtmäßigkeit von Ordnungen verständigen können. <?page no="72"?> 72 schenrecht unterstehen. Die Politik kann sich nicht aus formalen Gründen der Verständigung mit dem Glauben entziehen. Beide bleiben über die Verständigung einander ausgesetzt, auch wenn sie sich formal in verschiedene Regierweisen ausdifferenzieren. Gerade Luther wäre aber ein Kronzeuge der Gesinnungsethik gewesen, weil sich die Gläubigen ausschließlich mit ihrer eigenen Verständigungslogik an die Politik wenden: „Darumb weyß ich keyn recht eym fursten fur zuschreyben sondernn weill nur seyn hertz unterrichten.“ 50 Mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre lässt sich damit nicht die Verantwortungsethik gegen die Gesinnungsethik ausspielen, weil Luther selbst in der formalistischen Denkweise der protestantischen Ethik ein Gesinnungsethiker wäre. Vielmehr bedarf es einer demokratie- und rechtstheoretischen Weiterführung nationalen und internationalen Rechts, um den Diskurs zu öffnen. Nicht die formale Bestimmung der Gesinnungsethik hilft hier weiter, sondern die Unterstützung solcher Gesinnungen 51 , die diskursiv und „bilingual“ 52 ausgestattet sind, also zwischen den verschiedenen Verständigungslogiken vermitteln können. 2.5 Folgerungen Staatsgrenzen zwingen Nationen, ihre Souveränität in gegenseitiger Anerkennung voreinander einzuschränken. Sie sind nur in ihren eigenen Grenzen souverän. Das gilt selbst für den Kriegsfall, in dem Staaten ihre Grenzen überschreiten. Selbst dann sind sie in den besetzten Gebieten nicht souverän, solange ihre Gewalt mit Gegengewalt beantwortet wird. Staatsgrenzen müssen damit aber nicht Menschen anderer Herkunft zwingen, draußen zu bleiben. Denn Menschen wandern nicht mit Souveränitätsrechten ein. Ihre Gründe liegen in der Gewinnung oder Entfaltung ihrer persönlichen Freiheit. Deshalb unterwerfen sich auch Flüchtlinge dem staatlichen Recht des Lan- <?page no="73"?> 73 des, in das sie einwandern. Bloße Einwanderung also gefährdet die staatliche Souveränität nicht. Ob sie das tut, hängt vielmehr von der materialen Politik ab. Mit einer massiven Zahl von Einwanderern sind ebenso massive Anstrengungen in der Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik verbunden. Insofern ist die Umsetzung staatlicher Souveränität auch auf die Wirtschaftsleistung angewiesen und Vertrauenswürdigkeit eines Landes, politische Maßnahmen gegebenenfalls mit Krediten zu finanzieren. Die entscheidende Frage eines Staates, der die universalen Menschenrechte anerkennt, muss daher lauten, wie sich die staatliche Souveränität mit Migration verbinden lässt. Mein Vorschlag, dass Grenzen zwar gegenüber Staaten gelten, aber nicht zwingend und mit derselben Direktheit auch gegenüber Menschen, erweitert den Spielraum, die staatliche Souveränität im Hinblick auf die gegenwärtigen Migrationsherausforderungen zu konkretisieren. Ganz anders verhält es sich mit dem Problem, dass einzelne Staatsbürger, und seien sie auch viele, die Migranten nicht willkommen heißen. Denn Einzelmeinungen tasten die Staatssouveränität keineswegs an. Dass das gesellschaftliche Klima kippen kann, so dass Parteien gewählt werden, die das universale Menschenrecht ablehnen, kann zwar im Extremfall dazu führen, dass der Staat ein anderer wird, nicht nur seine Politik, sondern auch seine Staatsform oder seine verfassungsmäßige Grundierung in den Menschenrechten. Aber auch viele einzelne Staatsbürger sind nicht selbst der Souverän. Die Souveränität des Volkes hat nichts mit einer homogenen Meinung zu tun. Insofern ist die gegenwärtige fremdenfeindliche Funktionalisierung der DDR -Befreiungsbewegung und ihrer Parole „Wir sind das Volk“ bereits Ausdruck für umstürzlerische Bestrebungen. Auch wenn das Volk demokratisch der Souverän ist, ist seine Identifikation mit einer bestimmten Gruppierung bereits antidemokratisch. Der demokratische Staat entwickelt seine Souveränität integrativ in der gemeinsamen Berücksichtigung aller Staatsbürger, also auch der Minderheiten. <?page no="74"?> 74 Das schließt ein, dass Mehrheit und Minderheit einander reziprok verpflichtet sind. An diesem beständigen Austarieren von Interessen beteiligt zu sein, liegt auch in den Pflichten und Rechten von Flüchtlingen und Migranten. Insofern stellen Migrationsbewegungen politische Herausforderungen dar, aber keine zwingende Gefährdung der Staatssouveränität. Staatliche Souveränität bedarf der Verständigung. 53 Dazu gehört auch, verständlich zu machen, dass die Legitimität der Aufnahme von Flüchtlingen nicht von der Zustimmung einzelner Staatsbürger abhängt. Deshalb gibt es keine festen Obergrenzen, weil die Frage, wie viel Einwanderung ein Land verkraften kann, ideell entschieden wird, und zwar je und je im politischen Meinungsbildungsprozess. Politische Inhalte lassen sich nicht durch Formalismen ersetzen. Das formalistische Argument, das in der protestantisch-politischen Ethik verwendet wird, ist auf die gewaltigen Flüchtlingsbewegungen der Gegenwart nicht vorbereitet. Es zieht aus einer formellen Unterstellung, dass sich eine begrenzte Staatsverantwortung nicht auf unbegrenzt viele Flüchtlinge erstreckt, voreilig den Schluss, die Öffnung der deutschen Staatsgrenzen im Jahr 2015 sei unverantwortlich gewesen. Für die Frage, wie verantwortungsethisch mit Menschen umzugehen ist, die sich bereits auf der Grenze befinden, fehlt dann der nötige Spielraum, um inhaltliche Erweiterungen vorzunehmen. <?page no="75"?> 75 3 Digitalisierung und Corona-Krise. Wozu die Kirchen jetzt da sind 3.1 Da sein oder im Netz sein? Es ist im Frühling 2020 eine geschichtlich unvergleichliche Situation gewesen, dass im Zuge von Ausgehsperren und Versammlungsverboten auch christliche Gottesdienste in Europa verboten worden sind, um die Corona-Pandemie einzudämmen. In dieser Situation sind Gemeinden kreativ geworden und entwickelten virtuelle Gottesdienste als Live-Stream, zum Ansehen oder Herunterladen im Internet. Dahinter dürften mehrere ineinander verschlungene Motive gelegen haben: zum einen der befürchtete oder empfundene gesellschaftliche Relevanzverlust von Pfarrerinnen und Pfarrern, der sich durch die Pandemie verschärft. Zum anderen durften Pfarrerinnen und Pfarrer keine Hausbesuche mehr vornehmen, keinen Unterricht halten und keine Gruppen betreuen, zumindest nicht im „physischen Kontakt“-- der Terminkalender war plötzlich ungewohnt leer. Wer Zeit hat, steht, zumal angesichts des erwähnten Relevanzverlustes, unter besonderer Selbstbeobachtung. Der Zwang zur Selbstrechtfertigung nimmt zu, denn während andere Branchen entweder auf Kurzarbeit umstellten oder, wie das Gesundheitssystem, wirklich überlastet gewesen sind, bekamen Pfarrerinnen und Pfarrer weiter ihr ungekürztes Gehalt. Wofür eigentlich? ! Ein wichtiges Motiv dürfte auch in der Liebe zum Gottesdienst gelegen haben, die sich durch die Zeit im Kirchenjahr verstärkt haben könnte: Ostern, das Initialereignis des christlichen Glaubens, wirklich ohne Gottesdienste feiern? All diese Motive erklären den Wunsch nach einer Alternative zum Gottesdienst vor der versammelten Gemeinde im Kirchen- <?page no="76"?> 76 raum, aber noch nicht die Entscheidung für das digitale Gottesdienst- oder Andachtsformat. Denn ebenso könnte man sich für telefonische Betreuung von Gemeindegliedern oder Postsendungen entscheiden. Es sind daher zwei Aspekte, die den Auftritt im Internet attraktiv erscheinen lassen: Er ist zum einen relativ günstig und bietet eine prinzipiell unbegrenzte Präsentationsfläche. Zum anderen unterstützt die gegenwärtige Einschätzung praktisch-theologischer Beiträge zur Medialisierung der Kommunikation des Evangeliums diese Entwicklung. Denn wenn man annimmt, digitale Gottesdienstformen seien adäquate Versammlungen der communio sanctorum, besteht kein Grund, die derzeitige Veräußerungswut kirchlicher Gottesdienste auf Youtube und Facebook zu beklagen. Es überrascht daher, dass in dieser Krisenzeit ausgerechnet eine Praktische Theologin eine Qualitäts-Debatte angemahnt hat. Sollte hier etwa ein Prozess fortschreitender theologischer Formalisierung zum Stehen kommen? Katharina Scholl beklagt „ein völlig pfarrerInnenzentriertes Kirchenbild im Netz“ 1 , was angesichts des empfundenen Relevanzverlustes keine Überraschung darstellt: „Das ständige Sendungsbedürfnis in der Krise scheint ein Reflex auf eine schon länger in der Kirche pulsierenden Frage zu sein: Wer braucht uns? Geschäftigkeit ist immer ein probates Mittel[,] um solche Sorgen zu verdrängen.“ Eine Qualitätsdiskussion steht an: „So viele qualitätvolle digitale kirchliche Angebote gibt es bereits seit längerer Zeit! Man könnte leicht auf sie verweisen[,] aber dennoch, so schien es mir, musste jeder selber ‚auf Sendung‘-- immer und immer wieder.“ Dahinter steht die Sorge, durch übertriebene Hast die Möglichkeiten und Grenzen des Digitalen misszuverstehen, das doch für eine Verbindung aus „Kirche und Welt“ ein Potenzial birgt, was Scholl ausdrücklich unterstreicht: „Das ist etwas, was ich mir immer gewünscht hatte und woran ich arbeite, seitdem ich mich professionell mit Kirche beschäftige. Dass es auf diese Weise passiert, hatte ich mir nicht gewünscht.“ Deshalb also Qualität! <?page no="77"?> 77 Ich zitiere diese Aussagen mit vollem Genuss, denn sie sprechen mir aus der Seele. Ich befürchte nur, dass die angemahnte Qualitätsdiskussion doch lediglich wieder auf die Form reduziert wird. Weil bereits andere Anbieter im Networking vorerst wirkungsvoller sind, gelte es nun, „Schweigen als religiöse Grundhaltung“ wiederzuentdecken. Zwar habe ich einen Hinweis gefunden, dass es auch um Inhalte gehen sollte. Im Vergleich mit den deutschen Virologen in der Öffentlichkeit stellt Scholl fest: „Drosten, Kekulé und Co ventilieren die Sinnfragen, stellen die Schuldfrage und trösten. Sie machen das für den Moment ziemlich gut. Trotzdem wird eines Tages der Moment kommen, in dem sie erschöpft auf die Couch sinken und wir wieder am Zug sind. Ich habe den Wunsch, dass wir dann situationssensibel religiös reden können.“ Aber auf welche Sache mit dem Schweigen eigentlich referiert wird, bleibt offen. Das muss man auch von einem so kurzen Aufsatz nicht verlangen, zumal wenn er eine brandaktuelle Situation in Echtzeit reflektiert hat. Mein Unbehagen hat eher etwas mit der Gesamtlage praktisch-theologischer und kirchenleitender Denkformen zu tun, nämlich die Form für den maßgeblichen Referenzpunkt zu halten. Wenn es um die Form geht, dann verbessert sich angeblich mit der Qualität der Form auch der kommunikative Erfolg. Es verwundert daher nicht, dass auch die direkte Reaktion auf Scholls Artikel in formalistischen Argumenten hängen bleibt. Wolfgang Thielmann befürchtet, dass die Kirche mit Schweigen den Anschluss verpasst, indem er dieses Schweigen mit einer Fehlentscheidung der PR -Abteilung des Schuhhändlers Deichmann in der Corona-Krise vergleicht. 2 Mit seiner Befürchtung, dass sich Kirche „mit ihrer Stressangst der Modernisierung verweigert, die den Alltag der Menschen prägt“, scheint er Scholls Anliegen jedoch nicht verstanden zu haben. An Kirchenleitungen, Theologen und Pfarrpersonen kritisiert Thielmann: „Jetzt starren sie heidenängstlich auf das beschleunigt an ihnen vorbeiziehende Leben- - und seinen wachsenden digitalen Anteil.“ Dabei sind es oft gerade die <?page no="78"?> 78 Kirchenleitungen, die mit ihren Brandmails an ihr Personal Empfehlungen für digitale Gottesdienstformen geben. Der Beitrag des Journalisten ist daher in seiner Recherche erstaunlich knapp an die aktuelle Situation angepasst gewesen. Aber klar ist das formalistische Interesse: „Mit digitalen Formen geht auch in der Kirche noch mehr.“ Man solle sich „freuen, wenn Kirchenmitglieder, ob mit Talar oder ohne, den digitalen Rückstand der Kirche mildern.“ Scholls Qualitätsmahnung wird mit der Ermutigung zur quantitativen Verbreiterung schlicht übergangen. Wo jedoch viel produziert wird, kann auch viel Müll entstehen. Hatte schon Dietrich Bonhoeffer vor der Gnade als Schleuderware gewarnt, 3 scheint sich momentan eine ungebremste digitale Verramschung kirchlicher Kommunikation zu zeigen, deren Vermarkter deshalb ihre Produkte nicht prüfen zu müssen scheinen, weil die Ordinierten ja als solche zur öffentlichen Verkündigung berufen und damit eo ipso qualifiziert sind. Öffentliche Verkündigung scheint vor allem quantitativ verstanden zu werden. Hier liegt offenbar ein formalistisches Missverständnis vor: Denn was konkurrenzlos in kirchlichen Räumen gepredigt werden kann, lässt sich nicht einfach auf den Markt der Selbstinszenierungen privater und öffentlicher Anbieter übertragen. Wer es doch tut, hat sich zu wenig mit dem Medium beschäftigt und einen Auffrischungskurs in formeller Kriteriologie dringend nötig. Dennoch sollte damit die Qualitätsdiskussion nicht auf Formen beschränkt sein. Und auch wer die Qualität von Formen in den Blick nehmen will, muss zunächst einen signifikanten Formbegriff vorlegen. Ansonsten unterlaufen Kategorienfehler oder Verschaltungen von Formen auf unterschiedlichen Ebenen. Ein Beispiel: Derzeit erfreut sich die Formalisierung von Medien besonderer Beliebtheit. Wird ein Gottesdienst ins Internet gestellt, so ist die Datei das digitale Medium der Predigt. Allerdings versteht man auch das Internet selbst als Medium. Der hochgeladene Gottesdienst ist dann ein Medium im Medium. Unterscheidet man Medien auf <?page no="79"?> 79 diese Weise, so muss man ihre unterschiedlichen Ebenen berücksichtigen, sonst können kategoriale Missverständnisse entstehen. Ein solches Missverständnis liegt etwa vor, wenn ein Gottesdienst im Kirchenraum mit einem Gottesdienst verglichen wird, der ins Internet hochgeladen wird. Denn das Netz ist dabei bereits das Medium (3) für den Film (Medium 2) des Gottesdienstes im Kirchenraum (Medium 1). Man vergleicht dann unterschiedliche Ebenen miteinander, wie wenn man die Eigenschaft, europäisch zu sein, mit einem Europäer vergleichen würde. Ich vermute also, dass in der Diskussion um die geeigneten Formen kirchlicher Kommunikation verschiedene Formbegriffe verwendet werden, die teilweise kategorial zu unterscheiden sind, teilweise aber auch qualitativ. Die Formdiskussion zwischen Scholl und Thielmann läuft dabei auf den Unterschied von Stil (Scholl) und Medium (Thielmann) hinaus. Daher können beide recht, aber auch beide unrecht haben. In diesem Kapitel möchte ich die unterschiedlichen Formbegriffe sortieren helfen, die zur Beschreibung der Digitalisierung verwendet werden. Dabei möchte ich zunächst zeigen, was sich an den Formen verändert, wenn Gottesdienste ins Internet hochgeladen oder gestreamt werden. In einem zweiten und dritten Schritt untersuche ich die unterschiedlichen Formbestimmungen der Digitalisierung, zunächst enger auf die Kirche bezogen und später in einem weiteren gesellschaftlichen Rahmen. Der abschließende Schritt soll einen Vorschlag begründen, nach welchen theologisch-inhaltlichen Kriterien digitale Gottesdienstformen gewählt werden sollen. <?page no="80"?> 80 3.2 Die Form des Gottesdienstes-- offline oder online, digital oder analog Versteht man Medien als Formen, so determinieren sie zwar nicht den Inhalt, aber entscheiden mit, wie erfolgreich kommuniziert werden kann. 4 Medien vermitteln somit nicht primär den Inhalt, sondern die Kommunikanten. Es ist ein Irrtum zu meinen, eine Predigt würde einen anderen Inhalt vermitteln, wenn sie vor einer Gemeinde im Gottesdienst gesprochen oder in schriftlicher Form verschickt wird. Allerdings ändert sich je nach Medium das Rezeptionsverhalten: Einen schriftlichen Text kann man mehrfach lesen, Absätze darin überspringen oder ihn ungelesen weglegen. Im Gottesdienst hingegen müssen die Anwesenden der Zeitstruktur des Redevortrags folgen. Man kann allenfalls weghören oder sich ablenken, nicht aber einen überhörten Gedanken nochmals hervorholen. Dazu braucht man vielmehr wieder ein anderes Medium. Dieser unterschiedliche Umgang mit dem Medium ist nicht das, was das Medium vermittelt, sondern allenfalls ermöglicht. Vielmehr vermitteln verschiedene Medien ein anderes Verhältnis zwischen dem Sender (kommunikationstheoretisch: Ego) und dem Empfänger (Alter) der Botschaft, indem sie unterschiedliche Zugänge zum Inhalt eröffnen. Die Relevanzkrise der Kirche wird in den medientheoretischen Beiträgen Scholls und Thielmanns folgerichtig auf ein fragiles Verhältnis zwischen Ego und Alter zurückgeführt. Allerdings ist eben zu beachten, dass der Inhalt auch in anderen Medien vermittelt werden kann. Und die entscheidende Frage ist, ob das Verhältnis zwischen Ego und Alter theologisch zu berücksichtigen ist, wenn theologische Inhalte vermittelt werden. Gehört also das Verhältnis mit zum Inhalt? Der Slogan: „The medium is the message“ 5 dagegen überspringt den Unterschied zwischen dem Medium und dem Verhältnis zwischen Alter und Ego, das es vermittelt. <?page no="81"?> 81 Tatsächlich ist theologisch das Verhältnis zwischen Ego und Alter ein Teil des Inhaltes. Es wird in der Ekklesiologie beschrieben und kirchentheoretisch entfaltet: Es macht einen Unterschied, ob die Predigerin zur Gemeinde spricht oder zu einer nicht-kirchlichen Öffentlichkeit. Auch wenn in der Gemeinde Nicht-Christen sitzen mögen, ist die Gemeinde trotz ihrer Mischung aus Gläubigen und Ungläubigen (corpus permixtum) als ganze anzuerkennen. 6 Und auch Nicht-Christen sind als Teil der Gemeinde anzusprechen. 7 Nur unter dieser Voraussetzung lässt sich nach Dietrich Bonhoeffer die gottesdienstliche Verantwortung für Abwesende ausweiten: „Jede Fürbitte zieht den Gemeinten potenziell in die Gemeinde hinein.-… Wo die Möglichkeit einer Eingliederung ausgeschlossen ist, ist die Fürbitte gegenstandslos, gottlos.“ 8 Die Gemeinschaft der Gläubigen ist das Verhältnis, das mit zur Botschaft gehört: Die Gläubigen werden ermutigt, ermahnt, getröstet, weil sie Gläubige sind und im Horizont des Glaubens in einem wechselseitigen 9 Verantwortungsverhältnis zueinander stehen. Die Predigt richtet sich an diese Gemeinschaft, weil die gestiftete Gemeinschaft in Christus zum Inhalt gehört. Wenn ich hier dagegen analytisch über diese Gemeinschaft rede, so stelle ich zwar diesen Zusammenhang von christlicher Botschaft und Gemeinde dar, ohne allerdings die Leser als Gläubige zu ermutigen, ermahnen oder trösten. Das Verhältnis der Gläubigen zueinander kann also inhaltlich mit verschiedenen Medien ausgedrückt werden, ohne dass der gleiche kommunikative Erfolg intendiert oder erreicht wird. Interessant ist nun, dass es sowohl Thielmann als auch Scholl nicht um das Verhältnis der innerchristlichen Kommunikationsgemeinschaft geht, sondern um das Verhältnis von Kirche und Welt. Einig sind sich beide, dass die Digitalisierung grundsätzlich nützlich für „die Kirche“ ist. Scholl hat sich ausdrücklich der Aufgabe verschrieben, an einer angemessenen Verhältnissetzung von Kirche und Welt arbeiten zu wollen: „Die Dichotomie von Kirche <?page no="82"?> 82 und Welt war vorher schon theologisch wenig überzeugend und sie wird es nach der Krise umso weniger sein.“ Dabei handelt es sich allerdings um ein anderes Verhältnis als beim Verhältnis der Gläubigen einer Gemeinde. Zumindest die kommunikativen Verhältnisse müssen in der theologischen Einschätzung differenziert werden. Ansonsten wird das Verhältnis von Kirche und Welt, ob als Dichotomie oder als gesellschaftliches Integrationsverhältnis, ontologisiert anstatt kommunikationstheoretisch entfaltet zu werden. Konkret: Wird die Kirche als „Teil gesellschaftlicher Prozesse und nicht ihr Gegenüber“ (Scholl) verstanden, so richten sich gut gemeinte Ostergrüße auf der Gemeinde-Homepage auch an die Welt. Ihre Resonanz wird aber nicht-kirchlich eine andere sein als innerkirchlich. Es ist zu vermuten, dass die Like-Buttons von Gemeindegottesdiensten auf Youtube erheblich aus dem Milieu der Hochverbundenen geklickt worden sind-- auch wenn sie aus Australien angeklickt worden sind, wo die Pfarrerstochter gerade ein Freiwilliges Auslandsjahr absolviert. Insofern gehen diese Gottesdienste auf Verbundenheitsgefühle ein. Zugleich können sie jedoch das Unverständnis und Angewidertsein von Menschen außerhalb dieses spezifischen Gemeindemilieus steigern, die sich gegenseitig die Links als Online-Witze zuschicken. Man mag einwenden, dass das doch schon immer schon so war, dass die Kirchgänger, „die in den Gottesdienst rennen“, verspottet wurden. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass nicht die konkreten Inhalte eines Gottesdienstes im Zentrum dieses Spotts stehen konnten, weil ja die Spötter abwesend waren. Wird nun das Gottesdienstgeschehen in eine unbestimmte Öffentlichkeit gezerrt, werden auch Inhalte verdunkelt, die das Gemeindeleben von innen den Blicken anderer aussetzen und die bislang im Raum der Gemeinde vorsichtig bewahrt wurden. Ein vorschneller Upload von Gottesdiensten rechnet nicht mit der Interaktivität des Web 2.0: Nutzer des Internet sind eben nicht mehr nur Rezipienten, sondern Akteure, die ins Geschehen eingreifen und es verändern. Schnell <?page no="83"?> 83 kann die Persiflage zum Original werden und das Original zur billigen Kopie mutieren. 10 Bonhoeffers Vorschlag einer „Arkandisziplin“, also einer christlichen Praxis, das Geheimnis des Evangeliums zu behüten, empfiehlt sich daher gerade aus medientheoretischen Gründen: „Es gibt Stufen der Erkenntnis und Stufen der Bedeutsamkeit; d. h. es muß eine Arkandisziplin wiederhergestellt werden, durch die die Geheimnisse des christlichen Glaubens vor Profanisierung behütet werden.“ 11 Die Auswahl der Medien hat sich also daran zu orientieren, ob sie in der Kommunikation der christlichen Botschaft das Verhältnis in der Gemeinde fördern sollen oder ob man ein Signal an „die Welt“ senden möchte. Dabei dürfte die Medienauswahl im Hinblick auf das Kirche-Welt-Verhältnis unbestimmter sein und dadurch auch freier erscheinen, allein weil je nach Interesse unterschiedliche außerkirchliche Milieus angesprochen werden sollen. Kommunikation unter den Gläubigen hat sich dagegen auf solche Medien zu konzentrieren, die das Verhältnis in der Gemeinde mit kommunizieren, das ein Teil der Botschaft ist. Allerdings kann in der kirchlichen Gemeinschaft auch kommuniziert werden, ohne dabei christliche Inhalte zu benennen. Etliche kreative Umsetzungen virtueller Andachten in der Zeit der Versammlungsverbote wegen der Corona-Pandemie dürften diese Funktion gehabt haben, einfach miteinander verbunden zu sein. Allerdings ist auch hier zu beachten, dass ein „Grußwort der Pfarrerin“ in virtuellen Öffentlichkeiten eine andere Nebenwirkung hat als ein Telefonanruf an die Hochverbundenen. Nicht inhaltlich gemeinte Fürsorge kann dennoch inhaltlich verstanden werden. Und sie wird anders verstanden, je nachdem, wer Zugang zur Nachricht hat, auch wenn er nicht ihr eigentlicher Adressat ist. Die Soziologin Sherry Turkle hat in einer älteren Studie gezeigt, dass virtuelle Kommunikation unter Jugendlichen zum einen schamabschwellend wirkt, 12 zum anderen aber Einsamkeitsgefühle steigert. 13 Turkle interpretiert ihre Ergebnisse so, dass sie auch über <?page no="84"?> 84 Jugendliche hinaus Geltung haben. 14 „We are alone and imagine ourselves together. On networks, including game worlds, we are together but so lessen our expectations of other people that we can feel utterly alone.“ 15 Wenn nach Rudolf Bultmann der „Ruf Gottes“ zur „Form“ christlicher Verkündigung gehört, 16 dann wird er im Internet anders rezipiert, und zwar auch dann, wenn der Online-Gottesdienst interaktiv konzipiert ist und als Live-Stream umgesetzt wird. Das Medium lädt ein zum Multitasking aufgrund der Raumüberlagerungen von physischem und virtuellem Raum. 17 Ebenso wie Zuschauer den Fernsehgottesdienst durchschnittlich nur einige Minuten ansehen, kann eine hochgeladene Andacht „durchgeblättert“ werden, oder man beschäftigt sich während des Live-Streams zugleich mit etwas anderem. Das lässt sich zwar auch als soziale Interaktion interpretieren, aber ihr Fokus liegt dabei auf der Selbst-kontrolle und weniger auf der Versammlung, der man sich verantwortlich fühlt. „To be never alone but always in control“ 18 ! Zur Corona-Krise haben Landeskirchen Abendmahlsgottesdienste als Video-Chat vorgeschlagen. Auch wenn sie dabei betonen, dass es sich um kirchliche Not-Zusammenkünfte handele, verändert sich dabei die Bedeutung des Begriffs der Zusammenkunft und lässt wenig von dem christlichen Verhältnis übrig, das zum Inhalt der christlichen Verkündigung gehört. Zum einen droht das Abendmahl zu einem korinthischen Missstand zu mutieren, wenn „ein jeder beim Essen sein eigenes Mahl“ vorwegnimmt (1. Kor. 11,21). Zum anderen stehen Brot und Wein als Medien der Anwesenheit Christi in Spannung zu ihrer medialen Distanzierung durch die Online-Präsenz. Ebenso wie man eine Online-Predigt überspringen kann, lässt das Medium der Online-Präsenz mehr Distanzierungsmöglichkeiten zu als das gemeinsame Essen und Trinken an einem Tisch: Ich kann die Kamera ausschalten, Verbindungsprobleme bekommen, verwundert über den Küchentisch der Mitfeiernden blicken usw. Es ist zwar einzuräumen, dass das <?page no="85"?> 85 Online-Medium auch geistliche Nähe empfinden lassen kann, etwa wenn man die Offline-Gemeinschaft vermisst und nun immerhin der Anwesenheit der Abwesenden begegnet. 19 Allerdings setzt das lebensgeschichtliche Begegnungen in der Gemeinde voraus, die hier vergegenwärtigt werden. Doch diese Voraussetzung wird nicht durch das Medium Internet erzeugt, sondern allenfalls reaktiviert, wenn sie bei einigen der Mitfeiernden erfüllt ist. Ebenso wenig wie man über das Telefon sprechen lernen kann, 20 kann man durch die Online-Konferenz gemeinsam essen lernen. Hier jedoch geht es ja um die Einschätzung von Medien als Formen, die Verstehen wahrscheinlich machen sollen. Und auf das digitale Medium trifft eben zu, dass mit dem kommunizierten Verhältnis der Gemeinde zugleich auch persönliche Distanz zur Gemeinschaft kommuniziert wird. Kommuniziert wird nicht einfach die Ambivalenz aus Zugehörigkeit und Ausgeschlossenheit, wie sie fürs Abendmahl sogar typisch sein dürfte, 21 sondern die Überlagerung der Gemeinde von persönlicher Unverbindlichkeit. Auch hier wird unterschätzt, wie sehr das Web 2.0 die egalitäre Partizipation verstärkt, nämlich so sehr, dass die gemeinsame Interaktion dabei geschwächt wird. Wenn das Medium dem Empfänger die Freiheit vermittelt, nicht nur zum Sender, sondern zum eigenen Administrator zu werden, verfehlen sich die Kommunikationsvollzüge, die hier übereinander liegen. 3.3 Kirche in der digitalen Welt: Form oder Inhalt? Das Problem, das ich im vorigen Abschnitt skizziert habe, hat also mit der Überlagerung von Medien zu tun: Wenn Medien ihrerseits medial aufbereitet werden und dadurch eine Verschaltung von Medien entsteht, können sich ihre Wirkungen wechselseitig behindern. Daran zeigt sich, dass die mediale Struktur von Inhalten auf unterschiedlichen Ebenen liegen kann, die deshalb nicht <?page no="86"?> 86 miteinander verglichen werden dürfen, weil man sonst einem Kategorienfehler erliegt. Es wäre also ein Fehler, Brot und Wein mit einer Online-Abendmahlsfeier zu vergleichen. Vergleichen lassen sich allenfalls Gottesdienste miteinander, nämlich über ihre unterschiedliche mediale Aufbereitung, wie viele Medien also miteinander verschaltet sind. Und vergleichen lassen sich Medien auf derselben kategorialen Ebene (also Brot mit Wein oder mit dem Wort), nicht aber auf verschiedenen Ebenen (Brot und Wein mit ihrer Inszenierung via Internet). Darüber hinaus haben sich im vorigen Abschnitt unterschiedliche Formbegriffe gezeigt: 1. Medien sind Formen. Dabei ist die Form die Art, und Medien sind Unterarten der Form. Andere Unterarten stehen daneben (Stil, Qualität, Sprache, Institution etc.). 2. Bultmanns Einschätzung, dass der Ruf Gottes die Form der Verkündigung sei, würde man heute sprachpragmatisch so ausdrücken, dass Verkündigung eine Sprechhandlung ist. Sprachliche Inhalte werden also an die Form von Sprechhandlungen angeschlossen. Welche Formen werden nun durch die kirchliche Flucht in die Digitalisierung gesucht? Thielmann zumindest scheint in seinem Impetus auf das Quantitative des Digitalen als eines Verbreitungsmediums zu setzen: Denn kirchenleitende Personen hätten zur Kenntnis zu nehmen, dass „das Leben einen wachsenden digitalen Anteil“ habe. „Haben sie vergessen, dass gerade der Protestantismus unbefangen und- - Vorsicht, Unwort- - erfolgreich neueste Medien eingesetzt hat? “ Ebenso spricht Thielmann von „digitalen Formen“, also vom Medium als der Unterart der Form. In Scholls Beitrag wiederum ist der Begriff des Digitalen ausnahmslos an den Begriff der Kirche angeschlossen: Von der „digitale[n] Kirche“ ist die Rede und von „digitale[n] kirchliche[n] Angebote[n]“, so dass man meinen könne, hier sei gar eine Wesensbestimmung der Kir- <?page no="87"?> 87 che, zumindest aber doch ihre Qualität im Sinn. Dagegen tritt der Medienbegriff auffällig zurück. Der Begriff der Vermittlung fehlt ganz. Ganz offensichtlich verstehen Thielmann und Scholl Unterschiedliches unter dem Digitalen. Es erstaunt daher nicht, dass Thielmanns Antwort an Scholls Beitrag weit vorbeizielt. Wir erfahren daher auch nicht, ob das Digitale bei Scholl eine Form ist. Es könnte auch ein kirchlicher Inhalt sein, insbesondere wenn für sie die Kirche Teil „gesellschaftlicher Prozesse“ ist. Könnte es sein, dass das Digitale die Wesensbestimmung der Kirche deshalb unterstützt, weil beide prozessieren? Trifft vielleicht auf diesen Prozessbegriff das zu, was Bultmann unter der Form der Verkündigung versteht, nämlich dass „der Mensch in Begegnungen lebt“ 22 , die nichts ausdrücken, „was vorhanden in mir ruht als ein Gegebenes“ 23 ? Entspricht der Inhalt der Form der Verkündigung etwa darin, dass ihr Inhalt „ein geschichtliches Ereignis“ ist, so dass Bultmann feststellen kann: „Wir sind, indem wir von Christus redeten, unvermerkt von der formalen Charakteristik der christlichen Verkündigung zu ihrem Inhalt übergegangen“ 24 ? Form und Inhalt wären also dann unter dem Aspekt ihres Ereignischarakters der gleichen Kategorie zugeordnet, wenn auch nicht der Kategorie des dinglich Gegebenen. Die Kirche, die durch Gottes Wort konstituiert wird (creatura verbi), wäre insofern für Bultmann sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht dieses Ereignis: „Wo erklingt dieses Wort? Die christliche Kirche will es in jedem Gottesdienst erklingen lassen“ 25 , und zwar nicht als verfügbar Gegebenes, sondern als unverfügbaren Ruf Gottes. „Träger der Verkündigung ist die Kirche, und hier wiederholt sich jene Paradoxie. Denn die Kirche ist unter einem Aspekt ein dem objektivierenden Blick verfügbares Phänomen, ihrem eigentlichen Wesen nach ist sie ein eschatologisches Phänomen-- oder besser: ein je und je sich ereignendes eschatologisches Ereignis.“ 26 Es bleibt offen, ob Katharina Scholls Beitrag das Digitale wirk- <?page no="88"?> 88 lich so eng qualitativ an den Kirchenbegriff anschließt. Allerdings deutet sich hier ein theologisches Potenzial der Digitalität an, das über die medientheoretische Deutung hinausgeht: Das Digitale manifestiert sich nämlich ebenfalls ausschließlich im Vollzug. Es ist digitaler Müll, solange es nicht aufgerufen, transformiert oder algorithmisch verwertet wird. Eine „digitale Kirche“ scheint somit in ihrem Ereignischarakter das zu sein, was Kirche ohnehin ihrem Wesen nach ist, nämlich unverfügbarer Prozess. Ereignisse unterscheiden sich von Dingen darin, dass sie zu keinem Zeitpunkt ganz da sind, und auch ihre Eigenschaften sind zu keinem Zeitpunkt alle realisiert. 27 Sie entwickeln sich ja erst. Das bedeutet, dass Ereignisse unerkennbare Momente enthalten: die Momente, in denen sich Eigenschaften erst ausprägen, ohne dass man erkennen könnte, was sich hier ausprägt oder zumindest wie. Das liegt nicht an unserer mangelnden Erkenntnisfähigkeit, sondern am Phänomen von Ereignissen selbst, dass sie eben manche ihrer Eigenschaften erst entwickeln. Ereignisse enthalten Momente der Unbestimmtheit. Und sie brauchen diese unerkennbaren Momente der Unbestimmtheit, damit sie sich ereignen können. Somit steckt also in Ereignissen, die wir erkennen können (z. B. der Vollzug eines Gottesdienstes), immer auch etwas Unerkennbares. Und dieses Unerkennbare macht es überhaupt erst möglich, dass sich etwas ereignen kann. Damit ist aber auch gesagt, dass sich Ereignisse nicht nur aus Eigenschaften zusammensetzen und nicht nur auf ihre Gegenständlichkeit zurückgeführt werden können. Sie müssen vielmehr noch aus einer anderen Kategorie betrachtet werden. Ich nenne diese Kategorie den Widerfahrenscharakter von Ereignissen. Dieser unerkennbare Moment ist nicht völlig unscheinbar. Man kann ihn ja durchaus bemerken. Man weiß, dass es ihn gibt. Denn sonst gäbe es eben kein Ereignis. Das erfahrbare Ereignis wird zum Ereignis durch seinen Widerfahrenscharakter. Der Wider- <?page no="89"?> 89 fahrenscharakter ist dabei auch erfahrbar, aber er ist nicht sinnlich erkennbar. Erfahren lässt er sich nur gemeinsam mit dem Ereignis. Er ist also ein Unsichtbares im Sichtbaren: Ohne das Ereignis würde er nicht sichtbar werden. Aber er selbst bleibt dabei unsichtbar. Den Widerfahrenscharakter von Ereignissen nehmen Menschen zum Anlass, von Gott zu reden. 28 Sie thematisieren dieses unerkennbare Moment von Ereignissen, das von anderer Kategorie ist als gegenständliche Eigenschaften. Deshalb geht es bei der christlichen Verkündigung nicht nur um den Gehalt, was sich ereignet (hat). Sondern es geht eben auch um den Moment des Widerfahrens eines Ereignisses. Aussagen über Gott, die auf einer Offenbarung gründen, haben deshalb eine doppelte Ausrichtung. Sie beziehen sich oft in paradoxer Weise auf Inhalte, nämlich so, wie Bultmann den Begriff des Paradoxen verwendet: als innergeschichtliches Ereignis, das auf seine Transzendenz verweist. 29 „Gott muß erkannt werden als der Unbedingte im Bedingten.“ 30 In diesem Fall würden „qualitätvolle digitale kirchliche Angebote“ in Scholls Beitrag die Qualität des Qualitätsüberstiegs meinen, also die permanente Vollzugsform, die nicht zu festen Eigenschaften gerinnt. Das erinnert an Paul Tillichs protestantische Gestaltung aus dem ersten Kapitel, an die Form der permanenten Formüberschreitung. Ich habe den beunruhigenden Verdacht, dass die digitalen Produkte kirchlicher Angebote seit der Corona-Pandemie diesem Anspruch einer Formüberschreitung nicht genügen werden. In dialektischer Weise jedoch werden diese Formen bereits im Vollzug unbrauchbar. Sie entsprechen den katholischen Zügen der Verdinglichung des Heiligen, indem Abendmahlsfeiern einer geistlichen Elite aufgezeichnet und ins Netz gestellt werden, wenn Pfarrerinnen und Pfarrer ihre Vollzüge als selbstinszenierende Amtspersonen hochladen, als könnten sie allein die Gemeinde vertreten. Dahinter stehen die anfangs des Kapitels benannten Sorgen der Pfarrpersonen, einem Relevanzverlust zu erliegen. Die digitale <?page no="90"?> 90 Präsenz kann hier nur vorerst Abhilfe schaffen. Doch die Häme des Internet, das zwar angeblich nie vergisst, aber auch vieles niemals oder nur zum Spaß aufruft, ist ihnen sicher. Diese Angebote wird das Schicksal etlicher toter Internetseiten ereilen, die monatelang kein Update erfahren haben und als Leichen im Internet-Keller liegen: Sie sind zwar digital verfügbar, aber es prozessiert dabei keine paradoxe Qualität des Qualitätsüberstiegs, sondern nur die Formüberschreitung ins Bedeutunglose. Gerade darum ist es aber so wichtig, die Digitalität daraufhin zu überprüfen, ob sie dem kirchlichen Wesen wirklich entspricht. Tut man also der Kirche etwas Gutes, wenn man sie zur „digitalen Kirche“ stilisiert? Man sollte nicht verkennen, dass die digitalen Vollzüge von Internetkonzernen ausgewertet werden, um daraus feste Muster zu generieren. Die Form der Formüberschreitung stellt der Algorithmus dar, nicht aber die User, die der Algorithmus besser kennt als sie sich selbst. 31 Selbstlernende Algorithmen optimieren ihre Regeln permanent, um jedoch die Profile von Menschen, Mustern und natürlichen sowie gesellschaftlichen Prozessen zu fixieren. Das beherrschende Instrument des Digitalen ist somit die Form. Bevor man die theologische Adaptionsfähigkeit des Digitalen erkennt, muss man daher zwischen seinen flexiblen Erscheinungsformen auf dem Display, dem permanenten Prozessieren der Algorithmen und dem festen Sein der ausgewerteten Form unterscheiden. 3.4 Die „Form“ im Digitalen Der Begriff „Digitalisierung“ umfasst sowohl unterschiedliche technische Abläufe als auch verschiedene soziale Veränderungen. So werden Virtuelle Welten, Maschinen künstlicher Intelligenz, Robotertechniken oder die Speicherung und Auswertung von Daten (Big Data) unter diesem Trendbegriff zusammengefasst. Nicht <?page no="91"?> 91 gemeint ist, dass „alles immer digitaler wird“, also alles in digitale Zeichen übersetzt wird. Die Ergebnisse der Digitalisierung können vielmehr neue analoge Zeichen freisetzen: Das digitale Foto ist zugleich ein analoges Bild, das Ähnlichkeit zu einem Gegenstand hat. Ein digital verfasstes Computerprogramm kann mit Hilfe eines 3D-Druckers ein plastisches Gebilde hervorbringen. Und digitale Hilfsmittel können Kommunikation unter leiblichen Personen erleichtern (z. B. bei Sehbehinderten mit Hilfe von Neuroprothesen). Zu den Prozessen der Digitalisierung gehört die Transformation von Gestalten, Formen, Bedeutungen in eine digitale Struktur und wiederum ihre Rückführung in Gestalten, Formen und Bedeutungen. Eine Symphonie von Beethoven kann in eine Struktur überführt werden, um daraus seine unvollendeten Kompositionen in seinem Stil zu vollenden. Digitalisierung bezeichnet somit das Instrument eines Zwischenschrittes von einer lebensweltlichen Ausgangssituation zu ihrer lebensweltlichen Veränderung. Dieses Instrument umfasst die 1. Übersetzung eines Gegenstandes (z. B. eine Komposition) 2. in digitale Zeichen (eine Kette von 1 und 0), 3. ihre Speicherung (auf Festplatte), 4. Mustererkennung (etwa: „Beethovens Kompositionen haben zu 75 % aller Fälle in Takt drei das Muster 10011“) 5. und Gestaltung über digitale Muster (die Vollendung einer unvollendeten Komposition). Der digitale Zwischenschritt besteht also darin, Bedeutungsträger in Struktur aufzulösen, um damit neue Bedeutungen oder Bedeutungsträger zu generieren. Im interdisziplinären Diskurs werden einige Leitmetaphern als Verstehenshilfen verwendet, um den Prozess der Digitalisierung bzw. den Zustand der Digitalität zu beschreiben. Als Metaphern haben sie eine sinnerweiternde Funktion, ohne dass man sie unvorsichtig als Begriffe missverstehen sollte: <?page no="92"?> 92 Medium: Digitalität wird im Zusammenhang mit „Neuen Medien“ verwendet. In dieser Metapher wird der kommunikationstheoretische Aspekt der Digitalisierung betont. Die Grenze der Metapher besteht darin, dass Digitalisierung als Instrument in der Regel unsichtbar bleibt, also gerade nicht zur Kommunikation genutzt wird. Erst über die Ergebnisse der Digitalisierung (z. B. die Ergebnisse einer Suchmaschine) lässt sich wieder kommunizieren. Die digitale Verarbeitung der Suchergebnisse, der Algorithmus, ist rein automatisch und bleibt weithin unbekannt. Ort: Vom „Ort“ wird etwa in kirchlichen Verlautbarungen gesprochen, wenn gefordert wird, Kirche müsse dort sein, „wo die Menschen sind“- - und das seien etwa die sozialen Netzwerke. Auch Thielmann changiert zwischen der Vorstellung des Digitalen als Medium und als Ort, wenn er denkt, Kirche könne Menschen „versammeln“ oder sie „erreichen“. Selbst wenn man im Digitalen unter „Ort“ keinen geometrischen Punkt versteht, sondern ihn sozialräumlich versteht, ist das Topografische daran nicht digital. Soziale Verbundenheit oder das Eintauchen in soziale Wirklichkeiten („Immersion“) hat vielmehr emotionale, visuelle und sensorische Eigenschaften: Ich sehe die Person auf dem Bildschirm, mit der ich mich im „digitalen Raum“ treffe, oder wir schicken uns Emoticons, analoge Zeichen der Ähnlichkeit zu Gestalten. Der digitale Hintergrund der Treffpunkte virtueller Kommunikation ist dabei ortlos. Technik: Gemeint ist die standardisierte Automatisierung von Organisation und Kommunikation. Die Grenze der Metapher liegt darin, dass dabei soziale Trends unberücksichtigt bleiben, die das Gesamtphänomen mit umfassen. Eine „digitale Kirche“ etwa lässt sich nicht allein als technisches Phänomen beschreiben. Gut: Digitalisierung wird als soziale Ressource, als Wirtschaftsgut o. ä. betrachtet. Auch hier wird das Ergebnis digitaler Transformationen in den Blick genommen, nicht der Prozess selbst. Das ist anders bei Digitalisierung als Kapital: Digitalisierung bezeichnet dann dasjenige Produktions- <?page no="93"?> 93 mittel, das Güter mit Hilfe der Technik der Digitalisierung herstellt. In diesem Kontext wird der Begriff vor allem in der Wirtschaftspolitik verwendet. Dabei zeigt sich der äquivoke Gebrauch des Ausdrucks „Digitalisierung“: Sie ist zum einen Kapital, zum anderen der technische Prozess, der durch bestimmte Produktionsmittel in Gang gebracht wird. Infrastruktur: Infrastrukturen ermöglichen einen offenen instrumentellen Gebrauch. Sie sind auch funktionell, wenn man sie nicht nutzt: Straßen ermöglichen Mobilität, indem sie zugleich andere Funktionen ausschließen (z. B. auf der Straße etwas pflanzen). Man muss nicht die Straße benutzen, kann es aber jederzeit tun. Genauso ist das Internet „da“, auch wenn wir gerade offline sind. Es ist aber auch nur „da“, wenn im Internet Seiten angeboten werden, also Medien. Darin liegt die Grenze der Infrastruktur-Metapher: Denn Straßen sind auch da, wenn niemand Auto fährt. Die digitale Infrastruktur macht dagegen auch ihren Gebrauch notwendig und ist daher mehr als nur Infrastruktur. Oder anders: Sie besteht nur im Vollzug. Andreas Reckwitz 32 hat versucht, die technologische Struktur der Gesellschaft als „Komplex“ (226) dreier voneinander unabhängiger Komponenten zu fassen, in denen die Digitalisierung nur einen Trend bestimmt. Die Gesamtstruktur besteht in dem Zusammenspiel „algorithmischer Verfahren des Computing, der Digitalisierung medialer Formen und des Kommunikationsnetzwerks des Internets“. Damit reserviert Reckwitz den Begriff des Digitalen für das Verfahren, wie Medien generiert oder reproduziert werden: „Beliebige mediale Formate setzen sich aus digitalen (sowohl zeitals auch wertdiskreten) Signalen zusammen, die in der Praxis gewöhnlich zwei Zustände kennen: 0 und 1“ (231). Die metaphorische Sinnüberlagerung des Digitalen, die ich angedeutet habe, wird dadurch vermieden und stattdessen in einem gesellschaftlichen Komplex unter unterschiedlichen technologischen Trends auf- <?page no="94"?> 94 geteilt. Computing und Digitalisierung konvergierten zwar, aber es lägen doch zwei sich „zunächst unabhängig voneinander entwickelnde Verfahren“ vor (231). Dadurch bleibt auch der Begriff der Form (bei Reckwitz das „Format“) auf die Digitalität beschränkt. Medien können dann digitale Formen sein, ebenso wie sie weiterhin analoge Formen bleiben können (z. B. Bilder * ), ohne dass das Digitale schon mit Medien identisch wäre, denn es bezeichnet ja das Verfahren, wie sie entstehen. Drei mediale Formate lassen sich dabei unterscheiden, nämlich Daten, Informationen und Kulturformate (234). Während Daten unabhängig von Subjekten wirken, bilden Informationen und Kulturformate „Sinnzusammenhänge, mit denen menschliche Subjekte hantieren“ (234). Dabei hätten Informationen instrumentellen Wert und Kulturformate einen Eigenwert (234). Reckwitz’ These, dass sich die Gesellschaft zu einer Gesellschaft der Singularitäten entwickle, also jeweils „fabrizierte Einzigartigkeit“ (51) hervorbringe, bedeutet somit, dass Kulturformate das subjektive und soziale Selbstverständnis zunehmend prägen, und zwar als „Streben nach Authentizität“ (245). Dementsprechend ist die digitale Welt eine Welt der Visualität (235). Und die Form bestimmt das Verständnis. Trotz seines Versuchs, das metaphorische Dickicht zur Digitalisierung zu ordnen, wiederholt sich bei Reckwitz die Überlagerung der Metaphern auf den Tiefenschichten der Darstellung: Obwohl Computing und Digitalisierung voneinander eigentlich unterschieden sind, ist Computing vom Digitalen abhängig: Daten (digitale mediale Formate) kommen in Algorithmen vor (234). Dadurch ist die „Infrastruktur“, zu der sich die technischen Basiskomponenten zusammenfügen (243), selbst schon digital geprägt, und es verwischen die obigen Metaphern mit ihren jeweils be- * Indem Reckwitz das Digitale auf eine Kombination zweier Zustände (1 / 0) reduziert, fehlt ihm ein Sensorium für die Charakterisierung der Sprache, die nicht analog ist, aber auch nicht unter seinen Begriff des Digitalen fällt. <?page no="95"?> 95 grenzten Sinnhorizonten. Dennoch zeigt Reckwitz’ Darstellung, dass das Digitale zur Dominanz der Formen führt, und zwar so, dass eine begrifflich-inhaltliche Signifikanz fehlt. Wenn Kirche sich der Welt des Digitalen öffnen soll, kann deshalb darunter alles Mögliche verstanden werden, aber nichts Genaues. Das liegt an zwei Charakteristika der Digitalisierung. Das erste besteht darin, dass der Automatisierungsprozess weitgehend intransparent ist. Wie also Gestalten transformiert werden, lässt sich erst am Ergebnis ablesen. Das bedeutet auch, dass viele Ergebnisse digitaler Operationen nur an sich selbst überprüft werden können. Dass der frühzeitliche Mensch, dessen Skelett Archäologen gefunden haben, wirklich dieses Gesicht hatte, das das digitale Verfahren für seinen Schädel rekonstruiert hat, lässt sich nur zirkulär über den Selbstverweis auf den digitalen Zwischenschritt behaupten-- einfach weil das Gesicht dieses Menschen auf andere Weise nicht vorhanden ist und man das Ergebnis der digitalen Gesichtserrechnung an keinem anderen Bild überprüfen könnte. Damit hängt das zweite Charakteristikum zusammen: Die Digitalisierung erweitert ihre Daten, ohne deren Bedeutungen zu kennen. Hier weiche ich von Reckwitz’ Einschätzung ab, dass die Kulturformate immer wichtiger werden. Vielmehr zeigt ja seine Überlagerung der technischen Basiskomponenten, dass auch Kulturformate letztendlich von Daten abhängig sind. Dadurch können Kulturformate auch von sinnfremden Zusammenhängen okkupiert werden, die sich bloß auf der Strukturebene befinden (Korrelationen) und keinen inhaltlichen Bezug haben. So kann vielleicht ein Algorithmus das digitale Muster erkennen: „60-jährige verheiratete Diabetiker, die samstags Sportschau sehen, sind zu 80 % katholisch.“ Dazu muss jedoch kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den betrachteten Parametern bestehen, und zwar deshalb nicht, weil zum Digitalisierungsprozess gerade gehört, Bedeutungen in Strukturen zu transformieren und damit zu entleeren. Die Annahme, es müsse doch zwischen Sportschau, Diabetes und Ka- <?page no="96"?> 96 tholizismus ein Bedeutungszusammenhang liegen, beruht vielmehr auf einer menschlichen Verstehensleistung. Wenn der Mensch solche Ergebnisse verstehen will, missversteht er einerseits das Verfahren der Digitalisierung, indem er andererseits die formalen Bezüge in sein Wirklichkeitsverständnis integriert. Die Digitalisierung generiert aber auf andere Weise Informationen und Kulturformate als das Bewusstsein. Das führt so weit, dass auch das Verständnis der Intelligenz formalisiert wird: Digitale Umwandlungsprozesse erzeugen ja die Suggestion, sie seien selbst künstlich intelligent. Digitale Wissensgenerierung stellt kognitive Gehalte jedoch nur für Bewusstsein zur Verfügung. Darin besteht ihr gesellschaftlicher Wert, und darin ist Reckwitz zuzustimmen. Für die Algorithmen jedoch sind die Ergebnisse digitaler Wissensgenerierung wiederum nur Daten, die den formalen Datenvorrat erweitern und eine automatische Mustererkennung präzisieren. Das Erstaunliche an der Digitalisierung ist für das menschliche Bewusstsein, dass etwas generiert wird, wozu bisher Verstehen nötig war. Es muss aber nicht zu verstehen sein, dass 60-jährige verheiratete Diabetiker, die samstags Sportschau sehen, zu 80 % katholisch sind. Digitalisierung zu „nutzen“ heißt, sie als Gut zu gebrauchen, indem ihre Ergebnisse genutzt werden. Es bedeutet aber auch, auf der Prozessebene auf etwas Unsichtbares zu setzen, das Korrelationen herstellt und dabei ohne Verstehen auskommt. Zur Nutzung würde etwa gehören, wenn auf den Schriftentischen katholischer Kirchen gezielt das Diabetiker-Journal ausgelegt wird mit einer fußball-affinen Titelseite. Das könnte im Ergebnis effektiv sein, ohne dass es damit schon verständlich wäre. Wenn Menschen Digitalisierung zunehmend nutzen, bedeutet das, dass gezielt auf Güter gesetzt wird, die nur in ihrem Nutzenaspekt verständlich sind, ohne einen verständlichen Sinn zu haben. Daraus folgt, dass auch die drei Formen des Sozialen im Netz, die Reckwitz benennt (262 f.), keine verständlichen Communitys sein müssen. Dazu zählt Reckwitz <?page no="97"?> 97 1. heterogene Kollaborationen, Netzwerke, die keine feste Außengrenze haben, nicht exklusiv sind und beliebig kombiniert werden können, 2. Singularitätenmärkte, der Wettbewerb um Aufmerksamkeit und 3. sogenannte Neogemeinschaften, die als Kollektiv singuläre Besonderheit beanspruchen und exklusiv sind, da die Mitglieder formell eintreten müssen und sich nach außen scharf abgrenzen (264). Reckwitz zählt dazu so unterschiedliche Communitys wie die Anhänger der Serie Star Trek, die Breitbart-Anhänger, Verschwörungstheoretiker oder Anhänger der Terror-Organisation IS . Das digitale Verhalten der Kirchen in der Corona-Krise weist darauf hin, dass zumindest keine Neogemeinschaften angestrebt sind-- was jedoch aus Gründen einer neuen Kirchenfinanzierung durchaus Sinn machen könnte. Vielmehr strebt die Kirche in die digitale Öffentlichkeit. Am ehesten dürfte das Verhalten der Kirchen den Singularitätenmarkt betreffen. Scholls Mahnung, ein qualitätvolles Angebot zu präsentieren, erklärt sich dadurch: Amateurhaft gefilmte Clips können den Wettbewerb um Aufmerksamkeit wohl kaum bestehen, auch nicht, wenn man sie, wie in Thielmanns Plädoyer für quantitative Steigerung digitaler kirchlicher Angebote als Massenware herausschleudert. Dahinter steht offenbar die Phantasie, dass mehr Nutzer über diese Angebote stolpern. Aber das heißt nicht, dass am Ende die gewünschte Aufmerksamkeit erzielt wird. Und die Phantasie einer quantitativen Steigerung bildet einen unangemessenen Vergleich zum analogen Markt. Wer regelmäßig den Wochenmarkt besucht, kann nicht übersehen, dass plötzlich doppelt so viele Obststände dort sind wie sonst. Die quantitative Steigerung kirchlicher Angebote im Internet kann dagegen völlig unbemerkt bleiben. Denn da das Netz nur „da“ ist, wenn es von den Nutzern aktiviert wird, können sich kirchenferne Nutzer fröh- <?page no="98"?> 98 lich am digitalen Kirchenmarkt vorbeimogeln, zumal ihr digitales Profil ihre Interessengebiete vorfiltert (259). Es ist aber zu beachten, dass sich die Kirchen, gleichgültig für welche Sozialformen sie sich entscheiden, auf etwas einlassen, das zumindest teilweise unverständliche Zugehörigkeiten generiert. Korrelationen ohne Bedeutung erzeugen ja die Muster, was auch für Sozialformen gilt. Eine esoterische Neogemeinschaft ist nur für die Mitglieder selbst verständlich. Der Aufmerksamkeitsmarkt wiederum wird durch formelle Korrelationen gesteuert statt durch Sinn: Denn der Algorithmus findet die Kompatibilitäten und nicht primär persönliche Bindungskräfte wie Sympathie oder „Geistesverwandtschaft“ (z. B. Partnerbörsen). Und auch heterogene Kollaborationen sind fragil, weil ihre Bindungskraft stets durch affektive Impulse regeneriert werden muss. Aber gerade dadurch können einzelne Impulse auch den Zerfall beschleunigen. Die Klimabewegung „Fridays for Future“ gewinnt Unterstützer durch Emotionalisierung und Personalisierung. Ebenso schnell verliert aber die Bewegung Unterstützer, wenn eine dunkelhäutige Aktivistin aus einem Pressefoto wegretuschiert wird oder wenn die Finanzkanäle von Greta Thunberg verschleiert werden. Die Resonanz von Informationen auf die Stabilität der Bewegung ist somit kaum steuerbar, zumindest nicht über Sinn. Ebenso wenig wie die überraschten Initiatoren verstehen können, warum ihr Netzwerk so erfolgreich entstanden ist, lässt sich seine weitere Entwicklung über Verstehen kontrollieren. Am erfolgreichsten dürften dann diejenigen Netzwerke sein, die die Muster ihrer Bewegungen mit Hilfe von Algorithmen auswerten und automatisch antizipieren. Dabei jedoch können die inhaltlichen Ziele der Bewegung entgleiten, zumal das Netzwerk ebenso formell manipuliert werden kann. Eingeschleuste künstliche Meinungsmacher (Bots) können auf diese Weise das Netzwerk destabilisieren oder inhaltlich in eine andere Richtung führen. <?page no="99"?> 99 3.5 Welche Gemeinschaft will und kann die Kirche sein? Die kirchenleitende Ermutigung, Gemeinden mögen angesichts der Corona-Ausgehbeschränkungen ihre Angebote auf das Internet verlagern, erweist sich damit strategisch als zu unspezifisch. Dazu hätte zunächst eine kirchentheoretische Entscheidung getroffen werden müssen, welche Sozialform überhaupt beabsichtigt wird. Mit dieser Entscheidung allerdings sind instrumentelle Konsequenzen unmittelbar verbunden: Wer sich auf dem Aufmerksamkeitsmarkt tummelt, muss sich medial professionalisieren und kann die Angebote nicht den Kirchengemeinden überlassen. Und wer eine heterogene Kollaboration anstrebt, was sich in der Vorstellung ausdrückt, Kirche müsse sich besser in der Welt vernetzen, braucht nicht nur eine Sprache öffentlicher Theologie, sondern muss auch über digitale Steuerungselemente verfügen, die das Netzwerk durch Frühwarnsysteme der Mustererkennung absichern. Am konsequentesten dürfte für Kirchengemeinden der digitale Aufbau von Neogemeinschaften in Reckwitz’ Sinn umsetzbar sein: kleine soziale Einheiten von Menschen, die sich persönlich kennen oder eine Gesinnungsgemeinschaft bilden, ohne dass sie Rücksicht auf Resonanzen außerhalb ihres Milieus nehmen müssen. Mir scheint, dass die meisten Angebote während der Corona-Krise so konzipiert gewesen sind, wenn die strickende Pfarrerin auf der Couch im Kurzfilm von der Speisung der 5000 erzählt. Allerdings widerspricht diesem Typ, dass Neogemeinschaften egalitär und partizipativ bestimmt sind (265), was durch die Pfarrzentriertheit der Filme gefährdet wird. Ebenso widerspricht die Neogemeinschaft dem Bedürfnis der pastoralen Filmproduzenten, ihre Links über soziale Netzwerke weiterzuschicken. Dieser Widerspruch mag damit zusammenhängen, dass die Evangelische Kirche seit <?page no="100"?> 100 einiger Zeit eine „Milieuverengung“ festgestellt hat und sie überwinden will. Allerdings gibt es durchaus neutestamentliche Vorbilder für gestaffelte christliche Verantwortlichkeiten. Das trifft etwa auf die sogenannten johanneischen Gemeinden zu, die zwar das Zeugnis von Jesus Christus der Welt weitergeben, dabei jedoch eine Liebesgemeinschaft nur unter ihresgleichen etablieren sollten. 33 Warum also in der Corona-Krise nicht zuversichtlich im Kleinen verharren? ! Als Volkskirche lässt sich auch eine Ausdifferenzierung in alle Sozialformen vorstellen, die allerdings impliziert, dass die Akteure jeweils verschiedene sind und klar begrenzte Aufgaben übernehmen. Die traditionelle Vorstellung des Gemeindepfarrers als Generalist behindert jedoch diese auch funktional differenzierten Sozialformen. Dass es sich allerdings bei dieser Ausdifferenzierung noch jeweils um die eine Kirche handelt, muss nicht nur durch Überbrückungsformen sichergestellt werden, sondern nach Ingolf Dalferth 34 auch durch eine „Segmentierung von Rationalität“, also durch das Vermögen, Inhalte in andere Lebensformen zu übersetzen. Das setzt eine verstärkte theologisch-inhaltliche Arbeit voraus und kann nicht an digitale Profis delegiert werden. Neben einer kirchentheoretischen Verortung der „digitalen Kirche“ muss daher auch die Frage beantwortet werden, welche christlichen Wahrheitsansprüche im Netz zu vertreten sind. Wenn Bultmanns Beschreibung zutrifft, dass die christliche Verkündigung, deren Inhalt das geschichtliche Ereignis in Jesus Christus ist, in der Form der Anrede zum Ausdruck kommt, so ist Anrede die christliche Ur-Form, an der die Auswahl digitaler Formen zu messen ist. Wie bereits erwähnt, kann die Verkettung von Medien das Verstehen unwahrscheinlicher machen, das das ursprüngliche Medium noch wahrscheinlich gemacht hat. Ins Netz gestellte Gottesdienste informieren eher über eine Anrede, als dass sie selbst anreden. Erst wenn sie gleichzeitige Partizipation verstärken, die sich auf das Gottesdienstgeschehen direkt auswirkt, <?page no="101"?> 101 kann (muss nicht! ) das Senden einer Botschaft auch als Anrede empfunden werden. Umgekehrt jedoch können digitale Formate in der Zeit der Ausgehsperre noch Informationen liefern, wenn Face-to-Face- Kontakte eingeschränkt sind. Darin könnte die Stärke digitaler Formen liegen, zumal sie dann eine klare inhaltliche Ausrichtung haben und weniger anfällig für künstliche Manipulationen sind als Sozialformen, die auf die affektive Dimension der Kommunikation abheben. Um theologisch zu informieren, wäre allerdings als Sprechhandlung mehr zu tun als nur mitzuteilen: „Achtung, dies ist eine Anrede! “ Wer Gottesdienste ins Netz stellt, informiert primär über den Anredecharakter christlicher Gottesdienste, statt selbst anzureden. Wenn aber der Schwerpunkt der Form auf der Information liegt, sollten die theologischen Inhalte im Mittelpunkt stehen und nicht die Anrede als Information simuliert werden. Zweifellos können virtuelle Formen den Widerfahrenscharakter von Ereignissen hervorheben, indem sie in andere Welten immersiv verwickeln. Die Neuigkeit des einzelnen Klicks wird mit dem Ausstreuen von Glückshormonen belohnt. 35 Allerdings haben virtuelle Welten die Tendenz, den Widerfahrenscharakter von konkreten Inhalten abzulösen, weil es allein auf die Neuigkeit ankommt. 36 Darin liegt der beliebige Gebrauch der Rezipienten mit Pfarrbotschaften aus dem Netz im Web 2.0, dass es auf den Gehalt nicht ankommt, sondern schnell aus der gut gemeinten Botschaft ein Witz wird. (Auch Witze leben von ihrem Widerfahrenscharakter und nicht von ihrem Gehalt-- ein Grund, warum sich viele Menschen Witze nicht merken können.) Es könnte also theologisch gerade Sinn machen, in Zeiten der Ausgehsperre im Internet darauf hinzuweisen, was man vermisst, was sich verbirgt, sobald man es präsentieren will. Und was in der Corona-Krise auffällt, könnte überhaupt zum kritischen Maßstab für den Gebrauch von Formen christlicher Inhalte werden: Auch die „Arkandisziplin“ repräsentiert Christus formgerecht als den <?page no="102"?> 102 Gekreuzigten in der Welt, der in ihr zum Schweigen gebracht wird. Christus wird als der Abwesende präsent, als der, den man gerade hier nur als Abwesenden zum Ausdruck bringen kann. Über diese „Anwesenheit des abwesenden Zuspruchs“ 37 lässt sich einerseits informieren; man kann sie aber auch inszenieren. Scholls Vorschlag des Schweigens scheint mir diesen inszenierenden Sinn zu haben: „Kirche verstummt in großen Teilen. Und genau darin ist sie Kirche. Das ist neu.“ Im Schweigen neu zu sein, lässt den Widerfahrenscharakter (1) hervortreten, und zwar von der Leerstelle eines Gehaltes (2), den man vermisst (3). Gerade dadurch, dass man ihn vermisst, wird er aufdringlich dicht und manifestiert seine Anwesenheit. Diese Struktur des Widerfahrens (1) der Anwesenheit (3) des Abwesenden (2) zeichnet theologische Rede vom dreieinigen Gott aus. Warum also nicht im Netz einen „leeren“ Film zeigen? Warum soll nicht, wie es Gilles Deleuze 38 beschrieben hat, „der Weißfilm und das überbelichtete Bild, dessen tanzende Körper sich zu Körpern verdichten“, die aktuelle Situation repräsentieren? Warum nicht den „genetischen Wert“ der Anwesenheit darstellen? Und dazu gegebenenfalls eine Sprechstimme, die den Gehalt der christlichen Botschaft so ausdrückt, dass er gerade jetzt nicht zu finden ist, gerade über Ostern nicht: „Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten“ (Mk. 16,6)? Wer das technisch nicht inszenieren kann, macht mit Schweigen schon vieles richtig. 3.6 Christlicher Glaube und formale Ambiguität Gerade in formaler Hinsicht ist der Ausdruck der „Kommunikation des Evangeliums“ gegenüber der reformatorischen „Verkündigung des Evangeliums“ im Nachteil. Denn weil angeblich <?page no="103"?> 103 durch den Kommunikationsbegriff das Absenken von Hierarchien gefördert werde, die durch einen predigerzentrierten Verkündigungsbegriff noch aufrechterhalten werden, 39 gewinnt das Spiel mit Informationen und Daten die Oberhand, anstatt dass der Inhalt der christlichen Botschaft als „Ruf Gottes“ verstanden wird, der als solcher asymmetrisch sein muss. Zwar sagt der Sender denselben Inhalt aus, wenn er ihn predigt oder ins Netz stellt, an dem die Nutzer egalitär partizipieren. Aber formal wird das Verstehen unterschiedlich stark gefördert oder geschwächt. Wenn gottesdienstliche Versammlungen verboten sind, tut man der christlichen Botschaft keinen Schaden an, wenn man sie in der Stille via negationis zum Ausdruck bringt. Zwischen Botschaft als Massenware und Stille gibt es aber kreative Zwischenbereiche, die probiert werden können. Da die Corona-Krise in die Passions- und Osterzeit gefallen ist, gäbe es hier Anschlussmöglichkeiten, zwischen einer stillgestellten Gesellschaft und dem Christusgeschehen zu vermitteln: Christus starb gottverlassen (Mk. 15,34). Seine Auferstehung ist das Privatissimum göttlicher Macht, von dem kaum jemand erfuhr und das selbst die Jünger Jesu zu spät mitbekommen hatten. Der Auferweckte erschien ihnen am ersten Tag der Woche, als die Türen verschlossen waren (Joh. 20,19). Gottes Ruf ertönt ursprünglich von einem Abwesenden. Wenn das die Ur-Form der christlichen Botschaft ist, an der sich alle Anschlussformen orientieren, ist das besonnene Hinhören auf diesen Ruf theologisch angemessener als ein gehetztes digitales Marktgeschrei. Und noch einmal: Wer ausschließlich kirchenstrategisch denkt und befürchtet, Kirche könne etwas verpassen, wenn sie jetzt nicht digital wird, muss vorher bedenken, welche Sozialformen eine digitale Kirche suchen soll. <?page no="105"?> 105 Literaturverzeichnis Th. v. Aquin: Über das Sein und das Wesen (De ente et essentia); Darmstadt 1956 R. Anselm: Ethik ohne Grenzen? ZEE 60 / 2016, 163-167 A. Badiou: Being and Event; London / New York 2013 K. Barth: Ein Briefwechsel mit Adolf von Harnack; in: Ders.: Theologische Fragen und Antworten, 7-31 K. Barth: Theologische Fragen und Antworten; Zollikon 1957 K. Barth: Der Römerbrief. Zweite Fassung 1922 (hg. v. H.-A. Drewes); Zürich 2010 D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio. 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Dalferth: Jenseits von Mythos und Logos. Die christologische Transformation der Theologie; Freiburg / Basel / Wien 1993 <?page no="106"?> 106 I. U. Dalferth: Ereignis und Transzendenz; ZTHK 116 / 2013, 475-500 G. Deleuze: Das Zeit-Bild; Kino 2; Frankfurt 1997 H. Deuser: Die phänomenologischen Grundlagen der Trinität; MJT h VI / 1994, 45-67 H. Deuser: Evolutionäre Metaphysik als Theorie des menschlichen Selbst. Beiträge zum Begriff religiöser Erfahrung; MJT h XVI / 2004, 45-78 H. Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie; Stuttgart 1999 H. Deuser: Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus; Tübingen 2004 H. Deuser: Religion: Kosmologie und Evolution. Sieben religionsphilosophische Essays; Tübingen 2014 W. Engemann: Semiotik III . Praktisch-theologisch; TRE 31 W. Engemann: Einführung in die Homiletik; Tübingen / Basel 2020 3 J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung? Über Gesinnungsethik, Verantwortungsethik und das Verhältnis von Moral und Ethik; ZEE 60 / 2016, 297-306 H. Gorski: Christlicher Glaube in Zeiten digitaler Kommunikation; ZEE 62 / 2018, 263-278 Chr. Grethlein: Praktische Theologie als Theorie der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart-- Grundlagen und Konsequenzen; IJPT 18 / 2014, 287-304 A. Grözinger: Mit den Sinnen sprechen; in: R. Charbonnier / K. Merzyn / P. Meyer (Hg.): Homiletik, 153-165 F. Hahn: Theologie des Neuen Testaments Bd. 1: Die Vielfalt des Neuen Testaments; Tübingen 2011 3 Y. N. Harari: Homo Deus. A Brief History of Tomorrow; London 2017 W. Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu. Eine hermeneutische Einführung; Göttingen 1990 2 M. Heckel: Staatskirchenrecht als säkulare Rahmenordnung im Spiegel von Luthers Lehren über Kirche und Welt, Weltlichkeit und Verweltlichung; ZT hK 117 / 2020, 170-139 M. Heidegger: Sein und Zeit; Tübingen 1986 16 <?page no="107"?> 107 M. Heidegger: Wegmarken; Frankfurt 1996 3 M. Heidegger: Das Ereignis; Frankfurt 2009 E. Herms: Systematische Theologie: Das Wesen des Christentums: In Wahrheit und Gnade leben Bd. 2; Tübingen 2017 W. Huber: Moralischer Impuls und rechtliche Differenzierung. Für einen erweiterten Blick auf die Debatte zu Flucht und Migration; ZEE 61 / 2017, 244-249 K. Huizing: Scham und Ehre. Eine theologische Ethik; Gütersloh 2016 P. Janich: Was ist Information? Kritik einer Legende; Frankfurt 2006 W.-D. Just: Menschenrechte für Flüchtlinge; ZEE 61 / 2017, 250-263 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft I. Kant: Vom ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf; in: Ders.: Werke Bd. VI , 191-251 I. Kant: Werke Bd. VI ; Darmstadt 1964 I. Karle: Den Glauben wahrscheinlich machen. Schleiermachers Homiletik kommunikationstheoretisch beobachtet; ZT hK 99 / 2002, 332-350 Kirchenamt der EKD : Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier der EKD ; Hannover 2006 K. Koch: Was ist Formgeschichte? Neue Wege der Bibeexegese; Neukirchen 1967 2 U. H. J. Körtner: Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik; ZEE 60 / 2016, 282-296 N. Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie; Frankfurt a. M. 1987 M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei ( WA 11) G. M. Martin: Offene Kunstwerke schaffen; in: R. Charbonnier / K. Merzyn / P. Meyer (Hg.): Homiletik, 102-118 M. Meyer-Blanck: Evangelium zeigen; in: R. Charbonnier / K. Merzyn / P. Meyer (Hg.): Homiletik, 137-152 M. Meyer-Blanck / B. Weyel: Studien- und Arbeitsbuch Praktische Theologie; Göttingen 2008 <?page no="108"?> 108 Th. Moos: Moralisches Unbehagen. Die theologische Debatte um Flucht und Migration und das Verhältnis von Politik und Moral; ZEE 62 / 2018, 248-262 L. Ohly: Der reale Andere und die Realität Gottes. Sartre und Levinas; NZST h 48 / 2006, 176-191 L. Ohly: Warum Menschen von Gott reden. Modelle der Gotteserfahrung; Stuttgart 2011 L. 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Theologiegeschichtliche und ethische Erwägungen zu einem aktuellen Thema; ZT hK 113 / 2016, 78-98 A. v. Scheliha: Politische Flüchtlingskrise und öffentlicher Protestantismus; ZEE 61 / 2017, 264-273 H. Theißen: Die digitale Revolution und der analoge Mensch. Eine interdisziplinäre Betrachtung aus theologischer Perspektive; ZEE 62 / 2018, 31-45 <?page no="109"?> 109 G. Thomas: Kafkaeske Züge. Zur Reichweite von Verantwortung und Macht angesichts der Flüchtlingskrise; Zeitzeichen 8 / 2016, 12-15 P. Tillich: Systematische Theologie; Berlin / New York. Bd. I 1987 8 , Bd. III 1987 4 P. Tillich: Protestantische Gestaltung; in: Ders.: Auf der Grenze, 89-109 P. Tillich: Auf der Grenze. Eine Auswahl aus dem Lebenswerk (hg. v. H. Zahrnt); München 1987 E. Tugendhat / U. Wolf: Logisch-semantische Propädeutik; Stuttgart 1993 Sh. Turkle: Alone Together. Why We Expect More from Technology and Less from Each Other; New York 2011 U. Volli: Semiotik. Eine Einführung in ihre Grundbegriffe; Tübingen / Basel 2002 B. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit; Frankfurt a. M. 2004 B. Waldenfels: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung; Berlin 2015 S. Žižek: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan; Frankfurt 2005 Links K. Scholl: Schweigen als Auftrag. Wider den kirchlichen Aktionismus in der Coronakrise (zeitzeichen.net/ node/ 8209; letzter Zugriff 01. 04. 2020) W. Thielmann: Versemmelte Gemeinde. Warum Kirche gerade jetzt nicht schweigen darf (zeitzeichen.net/ node/ 8213; letzter Zugriff 01. 04. 2020) <?page no="111"?> 111 Anmerkungen Einleitung 1 K. Barth: Ein Briefwechsel mit Adolf von Harnack, 14. 2 K. Barth: Der Römerbrief, 14, Herv. K. B. Der Formalismus in der Theologie: Präzisierungen zu einem aktuellen Denktyp 1 J.-P. Sartre: Das Sein und das Nichts, 35, 504. L. Ohly: Der reale Andere und die Realität Gottes, 185 ff. 2 U. Volli: Semiotik, 55 ff. M. Meyer-Blanck: Evangelium zeigen, 137. 3 A. Grözinger: Mit den Sinnen sprechen, 154. 4 W. Engemann: Einführung in die Homiletik, 238. 5 K. Koch: Was ist Formgeschichte, 15. 6 W. Harnisch: Die Gleichniserzählungen Jesu, 71, Herv. W. H. 7 H. Deuser: Gottesinstinkt, 168. 8 I. U. Dalferth: Religiöse Rede von Gott, 230 f. Ders.: Jenseits von Mythos und Logos, 162. 9 E. Tugendhat / U. Wolf: Logisch-semantische Propädeutik, 227, 230. 10 L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen § 573. 11 B. Waldenfels: Phänomenologie der Aufmerksamkeit, 114. 12 Zum Folgenden s. N. Luhmann: Soziale Systeme, 149 ff, 217-223. 13 R. Bultmann: Glauben und Verstehen Bd. 3, 146 f, Herv. R. B. 14 M. Heidegger: Das Ereignis, 139. 15 M. Heidegger: Wegmarken, 400. 16 M. Heidegger: Sein und Zeit, 314 f. 17 M. Heidegger: Das Ereignis, 298. 18 M. Heidegger: Sein und Zeit, 314 f, Herv. M. H. <?page no="112"?> 112 19 M. Heidegger: Das Ereignis, 328. 20 Ebd., 330 f. 21 Ebd., 334, 337. 22 Th. v. Aquin: Über das Sein und das Wesen, 20. 23 P. Tillich: Systematische Theologie Bd. I, 210, Herv. P. T. 24 Ebd., 66 f. 25 Ebd., 66. 26 Ebd. 27 Aristoteles: Metaphysik VIII ,4 1044b. 28 Ebd., VII ,8, 1033b. 29 Ebd., XI ,2 1060b. 30 Aristoteles: Metaphysik X,1 1052a. 31 Zum Folgenden P. Tillich: Systematische Theologie Bd. I, 66. 32 P. Tillich: Systematische Theologie Bd. III , 75 f. 33 P. Tillich: Systematische Theologie Bd. III , 285. 34 Ebd., 127. 35 Ebd., 127. 36 Ebd., 281. 37 P. Tillich: Protestantische Gestaltung, 101. 38 Ch. S. Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus, 13. 39 Ch. S. Peirce: Semiotische Schriften Bd. 3, 350 f. 40 Ch. S. Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus, 116. 41 Ch. S. Peirce: Religionsphilosophische Schriften, 158. 42 Ch. S. Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus, 93. 43 Ch. S. Peirce: Semiotische Schriften Bd. 3, 370. 44 Ebd., 396 f. 45 R. Descartes: Meditationen III , 27. 46 Ch. S. Peirce: Semiotische Schriften Bd. 3, 311. 47 Ebd., 370. 48 Ch. S. Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus, 116 f. Ders.: Semiotische Schriften Bd. 3, 301. 49 Ch. S. Peirce: Semiotische Schriften Bd. 1, 165. Ders.: Bd. 3, 311. Ders.: Vorlesungen über Pragmatismus, 117. <?page no="113"?> 113 50 Ch. S. Peirce: Semiotische Schriften Bd. 3, 311. 51 Zum Folgenden H. Deuser: Religion: Kosmologie und Evolution, 133-138. 52 H. Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie, 142. 53 Ebd. 54 H. Deuser: Religion, 146. 55 Ebd., 144. 56 H. Deuser: Die phänomenologischen Grundlagen der Trinität, 47. 57 H. Deuser: Evolutionäre Metaphysik als Theorie des menschlichen Selbst, 58. 58 H. Deuser: Gottesinstinkt, 167. 59 H. Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie, 18. 60 H. Deuser: Gottesinstinkt, 169. 61 P. Tillich: Systematische Theologie Bd. I, 94. Ch. S. Peirce: Vorlesungen über Pragmatismus, 18. H. Deuser: Kleine Einführung in die Systematische Theologie, 112. 62 P. Tillich: Systematische Theologie Bd. I, 210. Ch. S. Peirce: Semiotische Schriften Bd. 3, 398. H. Deuser: Die phänomenologischen Grundlagen der Trinität, 54 f. Die Flüchtlingskrise und der Formalismus in der Protestantischen Ethik 1 R. Anselm: Ethik ohne Grenzen, 249. G. Thomas: Kafkaeske Züge, 12. 2 U. H. J. Körtner: Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik, 283. 3 Ebd., 288. 4 J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 300. <?page no="114"?> 114 5 L. Ohly: Die Gesinnung der Verantwortungsethik, 215. 6 A. v. Scheliha: Politische Flüchtlingskrise und öffentlicher Protestantismus, 265. 7 U. H. J. Körtner: Gesinnungs- und Verantwortungsethik, 300. J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 300. 8 P. Dabrock: Befähigungsgerechtigkeit, 59 f. 9 W. Huber: Moralischer Impuls und rechtliche Differenzierung, 249. 10 M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, 249 ff. 11 W. Huber: Moralischer Impuls und rechtliche Differenzierung, 248. 12 U. H. J. Körtner: Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik, 292. 13 W. Huber: Moralischer Impuls und rechtliche Differenzierung, 248. Ähnlich J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 306. 14 B. Russell: Die Philosophie des Logischen Atomismus, 38. A. Badiou: Being and Event, 43. 15 Zum Folgenden s. H. Gorski: Christlicher Glaube in Zeiten digitaler Kommunikation, 274 f. 16 Zum Folgenden Ebd., 276 f. 17 D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, 414. 18 R. Bultmann: Glauben und Verstehen Bd. 4, 132. 19 H. Gorski: Christlicher Glaube in Zeiten digitaler Kommunikation, 275. 20 H. Theißen: Die digitale Revolution und der analoge Mensch, 43. 21 H. Gorski: Christlicher Glaube in Zeiten digitaler Kommunikation, 275. 22 I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 132, 401. 23 M. Meyer-Blanck: Evangelium zeigen, 137. W. Engemann: Einführung in die Homiletik, 223. <?page no="115"?> 115 24 W. Engemann: Semiotik III. Praktisch-theologisch; TRE 31, 136. 25 A. Burkhardt: Semiotik II . Philosophisch-linguistisch, TRE 31, 123 f, Herv. A. B. 26 G. M. Martin: Offene Kunstwerke schaffen, 104 f. 27 W. Engemann: Einführung in die Homiletik, 254. 28 I. U. Dalferth: Religiöse Rede von Gott, 101. 29 Zum Folgenden R. Anselm: Ethik ohne Grenzen, 164-167. 30 J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 306. W. Huber: Moralischer Impuls und rechtliche Differenzierung, 248. Die folgenden Ausführungen zu Huber beziehen sich auf dieselbe Stelle. 31 J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 301. 32 U. H. J. Körtner: Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik, 292. K. Huizing: Scham und Ehre, 440. Ferner J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 297. 33 J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 299. 34 W.-D. Just: Menschenrechte für Flüchtlinge, 257. 35 L. Ohly: Die zeitliche Paradoxie des Ereignisses bei Karl Barth, 340. Ders.: Schöpfungstheologie und Schöpfungsethik, 288. 36 K. Huizing: Scham und Ehre, 447. 37 W.-D. Just: Menschenrechte für Flüchtlinge, 259. 38 I. Kant: Vom ewigen Frieden, 208-216. A. v. Scheliha: Migration in ethisch-religiöser Reflexion, 81. 39 U. H. J. Körtner: Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik, 295 f. J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 306. R. Anselm: Ethik ohne Grenzen, 167. 40 U. H. J. Körtner: Gesinnungs- und Verantwortungsethik in der Flüchtlingspolitik, 287. <?page no="116"?> 116 41 J. Fischer: Politische Verantwortung aus christlicher Gesinnung, 306. 42 Th. Moos: Moralisches Unbehagen, 258. 43 A. v. Scheliha: Migration in ethisch-religiöser Reflexion, 87. 44 W.-D. Just: Menschenrechte für Flüchtlinge, 259. 45 B. Waldenfels: Sozialität und Alterität, 436. 46 Th. Moos: Moralisches Unbehagen, 259. 47 M. Luther: Von weltlicher Obrigkeit, 250. 48 Ebd., 277. 49 Ebd., 250. 50 Ebd., 273. 51 A. v. Scheliha: Migration in ethisch-religiöser Reflexion, 90. 52 P. Dabrock: Befähigungsgerechtigkeit, 69. 53 E. Herms: Systematische Theologie Bd. 2, 2281. Digitalisierung und Corona-Krise. Wozu die Kirchen jetzt da sind 1 K. Scholl: Schweigen als Auftrag (zeitzeichen.net/ node/ 8209; letzter Zugriff 01. 04. 2020). Auch die Folgezitate beziehen sich auf diesen Beitrag. 2 W. Thielmann: Versemmelte Gemeinde. Warum Kirche gerade jetzt nicht schweigen darf (zeitzeichen.net/ node/ 8213; letzter Zugriff 01. 04. 2020). Auch hier beziehen sich die Folgezitate auf diesen Beitrag. 3 D. Bonhoeffer: Nachfolge, 29. 4 N. Luhmann: Soziale Systeme, 220. 5 Sh. Turkle: Alone Together, 199. Vgl. A. Nusselder: Interface Fantasy, 28. 6 L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 103 f. 7 I. Karle: Den Glauben wahrscheinlich machen, 341. 8 D. Bonhoeffer: Sanctorum Communio, 123 f. 9 L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 103. 10 S. Žižek: Körperlose Organe, 215. <?page no="117"?> 117 11 D. Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung, 415. 12 Sh. Turkle, 241. 13 Ebd., 226. 14 Ebd., 116. 15 Ebd., 226. 16 R. Bultmann: Glauben und Verstehen Bd. 3, 124. 17 Sh. Turkle: Alone Together, 155. 18 Ebd., 157. 19 L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 46. 20 P. Janich: Was ist Information, 35. 21 L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 167. 22 R. Bultmann: Glauben und Verstehen Bd. 3, 71. 23 Ebd., 69. 24 Ebd., 126. 25 Ebd., 129. 26 R. Bultmann: Glauben und Verstehen Bd. 4, 137, Herv. R. B. 27 I. U. Dalferth: Existenz Gottes und christlicher Glaube, 136 f.; Ders.: Ereignis und Transzendenz, 477. 28 L. Ohly: Warum Menschen von Gott reden, 39 f. 29 R. Bultmann: Glauben und Verstehen Bd. 3, 128. 30 R. Bultmann: Glauben und Verstehen Bd. 4, 122. 31 Y. N. Harari: Homo Deus, 383. 32 Die folgenden Seitenzahlen im Haupttext beziehen sich auf A. Reckwitz: Die Gesellschaft der Singularitäten. 33 F. Hahn: Theologie des Neuen Testaments Bd. 1, 686 f., 698. 34 I. U. Dalferth: Kombinatorische Theologie, 67 f. 35 Sh. Turkle: Alone together, 227. 36 L. Ohly / C. Wellhöfer: Ethik im Cyberspace, 137 f. 37 L. Ohly: Anwesenheit und Anerkennung, 150. 38 G. Deleuze: Das Zeit-Bild, 258. 39 Chr. Grethlein: Praktische Theologie als Theorie der Kommunikation des Evangeliums, 301 f. <?page no="118"?> ISBN 978-3-89308-460-9 W W W . N A R R . D E W W W . N A R R . D E Die Reformation erscheint heute vorrangig als mediales Ereignis: ohne Buchdruck, Bibelübersetzung und Kirchenlied keine Botschaft. In unserer modernen Welt verlangt jeder Inhalt so sehr nach einer passenden, wirksamen Form, dass die Form das Wesentliche zu werden droht und der Inhalt nachrangig. Was bedeutet das für die Theologie, deren Gegenstand per De€nition keine Gestalt und keine Form hat? Ihre Denkweisen bieten Anregungen, um die „Formalismuskrise“ nicht nur der Theologie zu überwinden. Dazu bedient sich der Theologe und Pfarrer Lukas Ohly auch interdisziplinärer Theorien von Denkern wie Charles S. Peirce oder Ludwig Wittgenstein. Am Beispiel der Flüchtlingskrise 2015 und digitaler kirchlicher Angebote während der Corona-Krise 2020 zeigt er, wie wir Dingen auf den Grund gehen, Sachverhalte verstehen und Sinn €nden können. Ohly Kirche und Krisen Kirche und Krisen Theologische Perspektiven auf Inhalt und Form Lukas Ohly 20460_Umschlag.indd 3 13.05.2020 15: 46: 56