Woher kommt der Mensch?
0701
2005
978-3-8930-8681-8
978-3-8930-8381-7
Attempto Verlag
Nicholas J. Conard
<?page no="0"?> Nicholas J.Conard (Hrsg.) Woher kommt der Mensch? Zweite, aktualisierte Auflage <?page no="1"?> Woher kommt der Mensch? Herausgegeben von Nicholas J. Conard Mit Beiträgen von Nikolaus Blin · Michael Bolus · Günter Bräuer Nicholas J. Conard · Miriam Noël Haidle · Winfried Henke Wolfgang Maier · Hans-Ulrich Pfretzschner · Holger Preuschoft Carsten M. Pusch · Friedemann Schrenk · Joachim Wahl <?page no="2"?> Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http: / / dnb.ddb.de> abrufbar. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage 2006 1. Auflage 2004 © 2006 · Narr Francke Attempto Verlag Tübingen GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier. Internet: www.narr.de E-Mail: info@narr.de Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany ISBN 3-89308-381-2 <?page no="3"?> Inhalt Vorwort ............................................................................................ 7 Vorwort zur zweiten Auflage ........................................................... 9 Friedemann Schrenk Auf den Spuren der ersten Menschen ............................................... 11 Holger Preuschoft Die Biomechanik des aufrechten Ganges und ihre Konsequenzen für die Evolution des Menschen ................................ 36 Miriam Noël Haidle Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! Kognition und Sprache im Altpaläolithikum .................................... 74 Winfried Henke Evolution und Verbreitung des Genus Homo - Aktuelle Befunde aus evolutionsökologischer Sicht .......................... 104 Michael Bolus Wer war der Neandertaler? .............................................................. 143 Günter Bräuer Das Out-of-Africa-Modell und die Kontroverse um den Ursprung des modernen Menschen ................................................... 171 Nicholas J. Conard Die Entstehung der kulturellen Modernität ...................................... 197 Nikolaus Blin und Carsten M. Pusch DNA und die Stammesgeschichte des Menschen .............................. 229 Joachim Wahl Leben und Sterben in der Steinzeit Der Kampf ums Dasein im Spiegel anthropologischer Forschung .... 241 Wolfgang Maier Biologische Grundlagen der Menschwerdung: Die Evolution der Halbaffen und Affen ........................................... 278 Hans-Ulrich Pfretzschner Die Evolution der Menschenaffen .................................................... 305 Die Autorinnen und Autoren ............................................................ 328 <?page no="5"?> Vorwort „Woher kommt der Mensch? “ - so lautete das Thema der Ringvorlesung, die anlässlich der Gründung des Studiengangs Paläoanthropologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen gehalten wurde. Aus ihr ging dieser Sammelband hervor. Die Anthropologie in Tübingen kann auf eine lange Tradition zurückblicken. Ursprünglich gehörte sie zur Medizinischen Fakultät. Über viele Jahrzehnte hat man dort die umfangreiche und weit über Tübingen hinaus bekannte Osteologische Sammlung aufgebaut. Zahlreiche Studierende sind seither ausgebildet und viele Forschungsprojekte konzipiert und durchgeführt worden. In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Anthropologie und vor allem die ihr nahe stehende Rassenkunde in Deutschland als erheblich belastet. Für die Archäologie und die Erforschung der menschlichen Evolution aber spielte sie weiterhin, gemeinsam mit der Fossilgeschichte des Menschen, eine zentrale Rolle. Im Zusammenhang mit zahlreichen methodologischen Innovationen haben auch die Skelettfunde, deren Alter eine Zeitspanne von den Anfängen der Menschheit bis in die Gegenwart umfasst, an Bedeutung gewonnen. Untersuchungen an diesem Skelettmaterial helfen uns, vergangene Gesellschaften zu erforschen und die Hypothesen über die Menschwerdung zu überprüfen. In den letzten Jahren hatte innerhalb der Medizinischen Fakultät das Interesse an der Anthropologie abgenommen und frei werdende Stellen wurden nicht neu besetzt. So entschloss man sich im Jahr 2000, dieses Fach an die Geowissenschaftliche Fakultät umzusiedeln und auch gleich neue Wege in der Ausbildung zu gehen. Eine Abschaffung der Anthropologie kam nicht in Frage, denn von jeher hat dieses Fach mit seinem attraktiven Lehrangebot die Studierenden vieler Fachrichtungen angesprochen, wie die stets gut besuchten Vorlesungen und Kurse zeigen. Der neu geschaffene Studiengang Paläoanthropologie wurde von vornherein als interdiziplinärer und interfakultärer Studiengang konzipiert. Beteiligt sind, wie auch im vorliegenden Buch, Disziplinen aus der Archäologie, Biologie, Geologie und Medizin. Da das Thema der menschlichen Evolution in Forschung und Lehre in erster Linie vom Lehrstuhl der Älteren Urgeschichte und Quartärökologie vertreten wird und viele Studierende der Paläoanthropologie aus der Ur- und Frühgeschichte kommen, war es nahe liegend, dass dieser Lehrstuhl die Koordinierung des neuen Studiengangs <?page no="6"?> 8 Vorwort wahrnimmt. Durch die neue Struktur war es auch möglich, Fossilfunde, Abgusssammlung und Teile der Bibliothek der Älteren Urgeschichte und Quartärökologie mit den Beständen der Osteologischen Sammlung und der Bibliothek der Anthropologie zu vereinen und so sehr gute Voraussetzungen für Lehre und Forschung zu schaffen. Auch neue Räumlichkeiten werden zur Zeit für die Paläoanthropologie renoviert. Die hier veröffentlichte Ringvorlesung fand im Wintersemester 2000/ 2001 statt. Die Beiträge wurden seitdem überarbeitet und bieten nun einen Überblick über den aktuellen Stand paläoanthropologischer Forschung. Der Leser kann sich nicht nur über die Fossilgeschichte und Kulturevolution des Menschen informieren, sondern auch über Primatologie, Paläo-DNA, Funktionsmorphologie und prähistorische Anthropologie. Die Autoren sind ausgewiesene Fachkolleginnen und -kollegen aus Tübingen und von anderen Hochschulen. Viele gehören zu den international bekannten Spitzenforschern ihres Fachs. Aber auch viel versprechende Nachwuchswissenschaftler kommen zu Wort. Der hier vorgelegte Sammelband wendet sich in erster Linie an Studierende und gut informierte Laien. Weil es heutzutage für Fachkollegen kaum mehr möglich ist, die ganze Breite paläoanthropologischer Forschung zu überschauen, werden auch sie von der Lektüre profitieren können. Vor allem aber spricht dieses Buch unsere eigenen Studierenden der Paläoanthropologie an. Hier werden sie - auf anspruchsvolle und doch verständliche Weise - an die Kernfragen des Fachs herangeführt. Mein Dank geht zunächst an alle Autoren, die mit ihren Beiträgen der Idee zu diesem Buch den Weg bereitet haben. Darüber hinaus sei der Geschäftsleitung des Attempto Verlages, Herrn Gunter Narr, und den Lektoren Herrn Dr. Stephan Dietrich und Herrn Jürgen Freudl ganz herzlich gedankt für ihr Entgegenkommen und ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Herrn Dr. Michael Bolus und Frau Maria Malina möchte ich ebenfalls für ihre vielseitige Unterstützung sehr herzlich danken. Dem Tübinger Universitätsbund danke ich zudem für die großzügige Unterstützung dieses Buches. Mein besonderer Dank gilt schließlich Frau Beatrix Haas vom Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters für die weit gehende redaktionelle Betreuung dieses Projekts. Nicholas J. Conard Tübingen, im April 2004 <?page no="7"?> Vorwort zur zweiten Auflage Es ist sehr erfreulich, dass wir in Deutschland und fast weltweit eine positive Entwicklung in der Paläoanthropologie beobachten können. National wie international wurde in den letzten Jahren die Forschung und Lehre auf diesem Gebiet intensiviert. Hier in Tübingen stellen wir fest, dass das Studienfach attraktiver ist als je zuvor und dass wir in der jüngsten Vergangenheit zahlreiche Abschlüsse auf allen Ebenen verzeichnen konnten. Besonders positiv hierbei ist, dass viele unserer Absolventen im Umfeld des Faches arbeiten und forschen können. Beinahe täglich erfährt man auch in der breiteren Öffentlichkeit aus Berichten in Zeitungen und Zeitschriften sowie im Radio und Fernsehen etwas über neue Erkenntnisse und neue Entdeckungen. Die Tatsache, dass die erste Auflage des Buches ‚Woher kommt der Mensch? ’ innerhalb eines Jahres vergriffen war, spricht für das gegenwärtige Interesse am Fach, aber natürlich auch in hohem Maße für das Werk und seine Autoren. In der Annahme, dass die Bedeutung der Paläoanthropologie weiterhin wächst und ihre hohe Beliebtheit in der breiten Bevölkerung weiterhin zunimmt, ist es eine angenehme Aufgabe, die zweite verbesserte und aktualisierte Auflage dieses Buches herauszugeben. Die Beiträge entsprechen dem neuesten Wissensstand und sind in einer Art präsentiert, dass Studierende, interessierte Laien und Fachleute gleichermaßen Nutzen daraus ziehen können. Das Erscheinen dieser zweiten Auflage im Jahr des 150. Jubiläums der Entdeckung des Namen gebenden Neandertalers 1856 möchte ich zum Anlass nehmen, die früheren Forschergenerationen zu würdigen. Den Leserinnen und Lesern wird es bestimmt nicht entgehen, dass wir uns heute noch auf die Arbeiten von Boucher de Perthes, Darwin, Fraas, Fuhlrott, Lartet, Lyell, Schaaffhausen und vielen anderen, die danach kamen, stützen. Auch wenn die Entwicklung des Fachs generell und gerade in Deutschland sehr erfreulich verläuft, sollte nicht vergessen werden, dass bis heute in vielen Erdteilen Befürworter der menschlichen Evolution heftige Opposition aus politischen und religiösen Kreisen erleben. Stellvertretend für zahlreiche andere Beispiele erwähne ich Ergebnisse von Umfragen, die belegen, dass rund die Hälfte der Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika, darunter auch Politiker, gegenwärtig die Evolutionslehre ablehnt. Der Platz der Evolutionslehre im Schulunterricht und sogar im Hochschulunterricht wird erneut in Frage gestellt. Mit der Herausgabe dieses Buches hoffen wir, <?page no="8"?> 10 Vorwort zur zweiten Auflage einen kleinen Beitrag zur Klärung der Herkunft des Menschen geleistet zu haben. Ich danke allen Autoren und unseren Partnern beim Attempto Verlag, insbesondere Jürgen Freudl, ganz herzlich für ihre tatkräftige Unterstützung dieses Vorhabens. Nicholas J. Conard Tübingen, im Januar 2006 <?page no="9"?> Friedemann Schrenk (Frankfurt am Main) Auf den Spuren der ersten Menschen Zusammenfassung Afrika war die Wiege der Menschheit. Hier lebten seit etwa 6 Millionen Jahren die aufrecht gehenden Vormenschen, deren Gehirn noch kaum größer war als das der Menschenaffen, und seit etwa 2,5 Millionen Jahren die Urmenschen. Die Frühzeit des Menschen war geprägt durch gravierende Klimaänderungen, die seit ungefähr 9 Millionen Jahren zu einer deutlichen Verschiebung der Lebensräume in Afrika führten. Hierdurch änderten sich die Tier- und Pflanzenwelt und die Nahrungsgrundlagen für die frühen Menschen. Ein auf paläoökologischen Untersuchungen basierendes Szenario macht deutlich, wie und warum in Afrika vor etwa 2,5 Millionen Jahren unter dem Einfluss von Umweltveränderungen die Gattung Mensch entstand. Die Klimaverschiebungen resultierten auch in Wanderungsbewegungen großen Ausmaßes innerhalb von Afrika, bevor schließlich vor mehr als 2 Millionen Jahren die erste Auswanderung der Frühmenschen aus Afrika stattfand. Afrika - die Wiege der Menschheit Bereits 1871 hatte Charles Darwin die Wiege der Menschheit in Afrika vermutet, jedoch wurden fossile Hominiden lange Zeit nur in Europa (Fuhlrott 1859) und in Asien (Dubois 1894) gefunden. Erst 1924 gelang es, Darwins These zu belegen: In jenem Jahr bargen Steinbrucharbeiter in Taung, Südafrika (Abb. 1), einen fossilen Kinderschädel (Abb. 2). Dieser wurde von Raymond Dart (1925) als Australopithecus africanus („südlicher Affe aus Afrika“) der eher kritisch eingestellten Fachwelt vorgestellt. Das etwa 2 Millionen Jahre alte „Taung-Baby“ ließ erkennen, dass das Lebewesen zwar bereits aufrecht gehen, sein Gehirn jedoch nicht größer gewesen sein konnte als das eines Schimpansen. Allerdings waren die Eckzähne im Vergleich zu denen der Menschenaffen sehr reduziert - ein Zeichen für ein bereits stark entwickeltes Sozialverhalten. Der feindlichen Umwelt konnte nicht mehr mit den geeigneten Waffen entgegengetreten werden. Zum da- <?page no="10"?> 12 Friedemann Schrenk maligen Zeitpunkt der Forschung stieß diese Interpretation zunächst auf Ablehnung und Ignoranz (Lewin 1987). Die grundlegenden Resultate der Forschung Darts wurden seither durch eine große Anzahl weiterer Funde im südlichen, östlichen und kürzlich auch im westlichen Afrika bestätigt. Mit jedem neuen Fund nimmt damit die Wahrscheinlichkeit zu, dass die Wiege der Hominiden (Gattungen Sahelanthropus, Orrorin, Ardipithecus), der Vormenschen (Gattung Australopithecus), der Urmenschen (Gattung Homo) und der Frühmenschen (Homo erectus) in Afrika gestanden haben muss. In der gegenwärtigen Diskussion nimmt nun vor allem die Frage nach der Rolle des Klimas bei der Menschwerdung einen breiten Raum ein (Bromage u. Schrenk 1999). Vom Ursprung der Hominiden Die geographische Verbreitung der afrikanischen Menschenaffen war ursprünglich begrenzt auf die Regenwälder im tropischen Afrika. Die Lebensräume waren nur so lange stabil, bis die mittelbis spätmiozäne globale Abkühlung zu einschneidenden Umweltveränderungen führte (Brain 1981). Zusammen mit den Auswirkungen der Entwicklung des ostafrikanischen Grabensystems (Pickford 1991) führten diese klimatischen Bedingungen dazu, dass die ehemals riesigen Waldgebiete stark schrumpften. Demnach gab es vor ca. 9 bis 8 Millionen Jahren im östlichen Afrika einen hohen Anteil an offenen Grasgebieten (Cerling et al. 1991). Die Verschiebung der tropischen Waldgebiete begünstigte wiederum die Entstehung von Baumsavannen (Andrews 1981), was eine stärkere Diversität der Lebensräume nach sich zog (Retallack et al. 1990). Als sich die klimatischen Bedingungen im ausgehenden Miozän weiter verschlechterten, fanden sich einige Menschenaffen-Populationen an der östlichen Peripherie entlang der reichen Uferzonen-Habitate im Regenschatten des sich entwickelnden ostafrikanischen Grabens wieder. Veränderungen des Lebensraumes führten zu hohen Speziationsbzw. Aussterberaten bei Menschenaffen und anderen Säugergruppen, z. B. Boviden (Vrba 1985; 1987). Somit kann angenommen werden, dass die Trennung der Linien von Menschenaffen und Hominiden am Rande des tropischen Regenwaldes stattfand. Hier muss auch der noch unbekannte letzte gemeinsame Vorfahre gelebt haben. Diese frühesten Vorfahren des Menschen gehörten wohl zu einer Linie von Menschenaffen, die mit der Fortbewegung am Boden experimentierten. Wie dies genau geschah, war bis vor kurzem ein Rätsel, für dessen Lösung es nicht den geringsten fossilen Hinweis gab. Das ist umso erstaunlicher, als aus den jüngeren Zeiten Hunderte von Vor-, Ur- und Frühmenschenresten in Afrika gefunden wurden. In diese dunklen Tiefen des Stammbaums der Menschen fiel am Ende des Jahres 2000 ein erster Lichtstrahl, als <?page no="11"?> 13 Auf den Spuren der ersten Menschen Abb. 1: Wichtige Hominiden-Fundstellen in Afrika. Abb. 2: „Taung Baby“ (Australopithecus africanus) aus Taung, Südafrika (Alter ca 2 Mio. Jahre). <?page no="12"?> 14 Friedemann Schrenk in 6 Millionen Jahre alten Schichten Kenias der aufrecht gehende Millenium-Mensch (Orrorin tugenensis) (Senut et al. 2001) entdeckt wurde. Kurz darauf kamen in Äthiopien bis 5,8 Millionen Jahre alte Funde von Ardipithecus ramidus zum Vorschein (Haile-Selassie 2001). Diese unerwarteten Belege aus der Anfangszeit der Vormenschen bekamen jüngst spektakulären Zuwachs: Michel Brunet und das Team der „Mission Paléoanthropologique Franco T chadienne“ (MPFT) entdeckten die mit etwa 6 bis 7 Millionen Jahren bislang ältesten Hominidenreste (Sahelanthropus tchadensis) im Tschadbecken (Abb. 3) (Brunet et al. 2002). Auch wenn Brunet et al. den Fund für das lang gesuchte „missing link“ halten, so beweist dieser bei näherer Betrachtung genau das Gegenteil: Es gab kein missing link, sondern eine Verflechtung verschiedener geographischer Varianten der ersten Vormenschen in Raum und Zeit entlang der Grenzen des schwindenden tropischen Regenwaldes. Bereits seit 1992 wurden bei Aramis in Äthiopien (Abb. 1) zahlreiche Schädel-, Kiefer- und Skelettfragmente entdeckt, die ca. 4,4 Millionen Jahre alt waren und von insgesamt 17 Individuen stammen (White et al. 1994). Anfänglich wurden diese fossilen Fundstücke als Australopithecus ramidus beschrieben. Nach weiteren Funden musste man diese Annahme jedoch revidieren: Ein nahezu vollständiges Skelett ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um eine neue Gattung handelte, die als Ardipithecus („Bodenaffe“) beschrieben wurde (White et al. 1995). Ardipithecus unterscheidet sich von den Menschenaffen vor allem durch kleine Eckzähne und weniger scharf- Abb. 3: Schädel von Sahelanthropus. <?page no="13"?> 15 Auf den Spuren der ersten Menschen kantige Prämolaren. Hauptsächlich differiert Ardipithecus zu Australopithecus durch die kleinen und wenig kompliziert gebauten Molaren mit recht dünnem Zahnschmelz sowie die menschenaffenähnlichen Vorbackenzähne. Ungeklärt bleiben müssen allerdings noch immer die verwandtschaftlichen Beziehungen zu den frühen Australopithecinen. Offensichtlich lebte Ardipithecus am Rande eines tropischen Regenwaldes, wie aus der Begleitfauna zu schließen ist (WoldeGabriel et al. 1994). Diese „Uferzonen-Habitate“ waren das ideale Entstehungsgebiet für den aufrechten Gang (Niemitz 2004). Bei einer geographischen Ausdehnung von wenigstens 5 Millionen Quadratkilometern ist es jedoch unwahrscheinlich, dass nur eine einzige Form des aufrechten Gangs entstand. Vielmehr ist anzunehmen, dass sich unterschiedliche geographische Varianten frühester zweibeiniger Vormenschen entwickelten. Diese Annahme wird durch die drei ältesten Funde bestätigt (Schrenk et al. 2004). Bei späteren Hominiden ist zwischen der Gattung Australopithecus und der Gattung Homo zu unterscheiden. Die wichtigsten Merkmale beider Gattungen sind hier wiedergegeben: Die Vormenschen (Australopithecinen) Insgesamt kann man für die Vormenschen der Gattung Australopithecus drei Gruppen mit folgender Fundlage (Abb. 1) feststellen: ● Australopithecinen-Stammgruppe: - Australopithecus anamensis (4,2 bis 3,8 Millionen Jahre): Kanapoi, Allia Bay (Kenia) - Australopithecus afarensis (3,7 bis 2,9 Millionen Jahre): Laetoli (Tansania), Hadar, Maka (Äthiopien) ● Spätere geographische Varianten: - Westliches Afrika: Australopithecus bahrelgazali (3,5 bis 3,2 Millionen Jahre): Bahr el gazal (Tschad) Australopithecus Homo (ca. 4,5-1 Mio. Jahre) (seit 2,5 Mio. Jahren) Gehirngröße vergleichbar mit stark zunehmend Menschenaffen Werkzeugkultur keine vorhanden Nahrungsverarbeitung auf Backenzähne Backenzähne verlieren an angewiesen Bedeutung Fortbewegung zweibeinig und kletternd dauernd zweibeinig <?page no="14"?> 16 Friedemann Schrenk - Östliches Afrika: Kenyanthropus platyops (3,5 bis 3 Millionen Jahre): West Turkana (Kenia) - Nordöstliches Afrika: Australopithecus garhi (ca. 2,5 Millionen Jahre): Äthiopien - Südliches Afrika: Australopithecus africanus (3 bis 2 Millionen Jahre): Taung, Sterkfontein, Makapansgat, Gladysvale (Südafrika) ● Robuste Australopithecinen („Paranthropus“): - Australopithecus aethiopicus (2,6 bis 2,3 Millionen Jahre): Omo (Äthiopien), Lomweki (Kenia) - Australopithecus boisei (2,4 bis 1,1 Millionen Jahre): Olduvai Gorge, Peninj (Tansania), Koobi Fora (Kenia), Omo, Konso-Gardula (Äthiopien), Malema (Malawi) - Australopithecus robustus (1,8 bis 1,3 Millionen Jahre): Kromdraai, Swartkrans, Drimulen (Südafrika) Australopithecinen-Stammgruppe Australopithecus anamensis Die ältesten bekannten Funde der Australopithecinen sind knapp über 4 Millionen Jahre alt. Sie stammen aus Kanapoi und Allia Bay (Abb. 1) aus dem Turkana-Becken in Nord-Kenia (M. G. Leakey et al. 1995). Australopithecus anamensis unterscheidet sich deutlich von dem etwas älteren Ardipithecus ramidus, zugleich jedoch auch vom späteren Australopithecus afarensis. Die Zahnreihen im Ober- und Unterkiefer sind fast parallel angeordnet. Die Eckzähne des Unterkiefers stehen schräg zur Kaufläche und sind wie die Molaren sehr groß. Bei zahlreichen neuen Funden aus Allia Bay gibt es deutliche Größenunterschiede im Gebiss, was darauf hinweist, dass Männchen und Weibchen unterschiedlich ausgesehen haben müssen. Während der Schädel eher menschenaffenähnlich wirkt, ist der Bau der Extremitäten kaum von dem des modernen Menschen zu unterscheiden. Im Gegensatz zu A. afarensis war der aufrechte Gang bei dem früheren A. anamensis offenbar schon voll entwickelt. Das gibt zu der Vermutung Anlass, dass die in Kanapoi gefundenen Oberschenkelknochen vielleicht doch nicht zu A. anamensis gehören oder aber dass die ersten Angehörigen der Gattung Homo möglicherweise schon auf A. anamensis zurückzuführen sind. Als am Ende des Miozäns die saisonalen Trockenzeiten länger und ausgeprägter wurden, ernährten sich die frühen Hominiden von Bodenfrüchten wie Knollen und Speicherwurzeln, während in den Regenzeiten weiterhin Früchte, Kerne und Hülsen der Waldgebiete als Nahrung zur Verfügung standen (Peters et al. 1984). Die baumbestandene Savanne bot neue Lebensräume. Bei den hier lebenden Populationen lag der Selektionsvorteil in der Entwicklung eines verhaltens- und morphologieabhängigen Bewegungs- <?page no="15"?> 17 Auf den Spuren der ersten Menschen repertoires zur Überwindung der ausgedehnten baumlosen Zwischengebiete. Eine dieser Strategien ist der zweibeinige, aufrechte Gang und die damit verbundene Entwicklung des „Gehens“ (Jablonski u. Chaplin 1993). Vorteile brachte das aufrechte Gehen ebenfalls bei intensiver Sonnen- und Bodenabstrahlung in offenen Gebieten (Wheeler 1991): Durch die kleinere Körperoberfläche ist die Hitzeeinstrahlung geringer als bei der vierbeinigen Fortbewegung. Australopithecus afarensis Die berühmtesten Skelettreste eines Hominiden gehören einem möglicherweise weiblichen Wesen, das 1974 im äthiopischen Hadar (Abb. 1) gefunden wurde (Johanson u. Taieb 1976). Es ist die legendäre „Lucy“, deren Skelett zu fast 40 % vollständig erhalten war (Abb. 4), als man es fand. Die fossilen Fußabdrücke aus Laetoli (Abb. 5), die vor 3,6 Millionen Jahren durch Vulkanasche-Regen konserviert worden waren, belegen außerdem, dass der dauernd aufrechte Gang bereits früh entwickelt war (M. D. Leakey u. Hay 1979). Australopithecinen-Funde aus Laetoli und Äthiopien wurden der Beschreibung von A. afarensis zugrundegelegt (Johanson et al. 1978). Dabei ist es jedoch durchaus möglich, dass es sich auch hierbei um zwei verschiedene Arten handelt. Das Alter der Funde liegt zwischen 3,7 und 2,9 Millionen Jahren. Abb. 4: Rekonstruktion von „Lucy“ (Australopithecus afarensis) (Größe ca. 1,20 m). <?page no="16"?> 18 Friedemann Schrenk Wie sah nun A. afarensis aus und was kann man aus bisherigen Rekonstruktionen schließen? Wahrscheinlich war er ca. 30 bis 50 kg schwer und höchstens 1,20 m groß. Die relative Hirngröße entspricht derjenigen heutiger Schimpansen; insbesondere die Backenzähne sind deutlich größer, als bei Schimpansen ähnlicher Körpergröße zu erwarten wäre. Diese Tatsache lässt auf die Verarbeitung recht grober Nahrung schließen, die vor allem in den an den tropischen Regenwald anschließenden Savannengebieten zu finden ist. Aus der Anatomie der Schulterblätter und der Arme kann man außerdem den Schluss ziehen, dass eine gewisse Fähigkeit zum Klettern und zur vierbeinigen Fortbewegung noch vorhanden war. Allerdings wurden die Füße nicht wie beim modernen Menschen nach vorne abgerollt, sondern es wurden leicht rotierende Bewegungen im Hüft- und im Kniegelenk ausgeführt. Das Verhaltensrepertoire von A. afarensis war darauf ausgerichtet, eine enge Verbindung zu den breiten Uferzonen-Habitaten beizubehalten. Dies war über kurze geologische Zeiträume eine lokale Tendenz; dennoch hatte sich A. afarensis vor ca. 4 Millionen Jahren im Bereich des afrikanischen Rifts ausgebreitet. Man nimmt an, dass der Nahrungserwerb recht unspezialisiert gewesen sein muss: Früchte, Beeren, Nüsse, Samen, Sprösslinge, Knospen und Pilze standen den frühen Menschen zur Verfügung. Aber auch wasser- und bodenlebende kleine Reptilien, Jungvögel, Eier, Weichtiere, Insekten und kleine Säugetiere wurden verzehrt. Durch jahreszeitliche Witterungsänderungen stand natürlich nie das gesamte Nahrungsspektrum ständig zur Verfügung. So ist davon auszugehen, dass A. afarensis Strategien entwickelte, um das vielfältige Nahrungsangebot entsprechend der Verfügbarkeit in einem saisonalen Lebensraum bestmöglich auszunutzen. Abb. 5: Älteste Fußabdrücke der Vormenschen von Laetoli, Tansania (Länge der Strecke ca. 20 m, Alter 3,6 Mio. Jahre). <?page no="17"?> 19 Auf den Spuren der ersten Menschen Spätere geographische Varianten Westliches Afrika: Australopithecus bahrelgazali Ein Fund aus dem Tschad (Bahr el gazal, Abb. 1) (Brunet et al. 1996) sorgt für ein verändertes Bild der bisherigen Forschungen: Der Verbreitungsgrad von Australopithecus dürfte in Afrika rund um den Bereich des heutigen tropischen Regenwaldes beträchtlich groß gewesen sein. Vor ungefähr 3,5 Millionen Jahren entstanden die ersten geographischen Varianten. Der fossile Fund aus dem Tschad unterscheidet sich sowohl von A. anamensis als auch von A. afarensis: Der Unterkiefer weist zusammen mit menschenähnlichen Merkmalen der Backenzähne möglicherweise noch auf eine weitere zumindest potentielle Ursprungsgruppe für die Gattung Homo hin. Nordöstliches Afrika: Australopithecus garhi Auch im nordöstlichen Afrika entwickelte sich eine geographische Variante der Australopithecinen. Die Funde von A. garhi, erstmals 1999 aus Hata, Äthiopien, beschrieben (Asfaw et al. 1999), sind ca. 2,5 Millionen Jahre alt. Australopithecus garhi stammt von A. afarensis ab und könnte durchaus dem Ursprung der Gattung Homo nahe stehen. Eine direkte Beziehung zu Homo rudolfensis, dem ältesten Angehörigen der Gattung Homo, wurde jedoch bislang nicht untersucht. In der Nähe des Fundortes der Schädel- und Zahnfragmente entdeckte man auch Steinwerkzeuge, deren Zuordnung zu den Australopithecinen jedoch fraglich ist. Östliches Afrika: Kenyanthropus platyops In den Jahren 1998 und 1999 entdeckte das Team von Meave Leakey vom Nationalmuseum in Kenia um Lomweki am Westufer des Turkana-Sees eine Reihe fossiler Hominiden-Fragmente, darunter ein fast vollständiger Schädel, zwei Unterkiefer und viele Einzelzähne (M. G. Leakey et al. 2001). Deren Alter wurde mit Hilfe radiometrischer Datierungen auf 3,5 bis 3 Millionen Jahre eingegrenzt. Die anatomischen Besonderheiten von Kenyanthropus scheinen auf eine spezialisierte Ernährung zurückzuführen zu sein. Bei Kenyanthropus dürfte es sich im weitesten Sinne zwar um eine geographische Variante der Australopithecinen handeln, es ist jedoch umstritten, ob diese mit dem Ursprung der Gattung Homo in Verbindung steht und eine eigenständige Entwicklung der Art H. rudolfensis seit annähernd 4 Millionen Jahren begründen könnte. Südliches Afrika: Australopithecus africanus Als vor ungefähr 3,5 Millionen Jahren eine Verlagerung der angestammten Habitate und die Ausbreitung in weiter entfernt liegende Flussufer- und <?page no="18"?> 20 Friedemann Schrenk geschlossene Seeuferhabitate begann, behielt A. afarensis die Bindung an bewaldete Lebensräume bei. Insbesondere war dies der Fall in gemäßigteren Klimaten und in relativer geographischer Isolation am äußersten Rand des Verbreitungsgebietes. Dies führte schließlich zur Entstehung von Australopithecus africanus als Teil der Faunen des südlichen Afrika vor etwas mehr als 3 Millionen Jahren. Seit dem - schon beschriebenen - Fund des Taung-Babys (Abb. 2) wurden über tausend Fragmente der Art A. africanus aus dem südlichen Afrika bekannt. Durch eine Neuuntersuchung von Fußknochen aus einer alten Sammlungskiste und die anschließende Entdeckung der ursprünglichen Fundstelle in Sterkfontein gelang 1998 der Fund des ersten vollständigen Skeletts mit dazugehörigem Schädel eines Vormenschen überhaupt (Clarke 1998) (Abb. 6). Australopithecus africanus unterscheidet sich morphologisch allerdings nur im Detail von A. afarensis. Die Stirn ist wenig, der Überaugenwulst deutlich entwickelt. Die seitlichen Jochbeine sind kräftig ausladend, der Kiefer ist robust, ein Kinn fehlt. Charakteristisch ist die Kombination eines kleinen Gehirnschädels - mit einem ungefähren Volumen von ca. 450 cm 3 und in der Größe vergleichbar mit dem der Menschenaffen - mit einem Gebiss, in dem die Schneide- und Eckzähne fast winzig erscheinen, die Backen- und Vorbackenzähne aber doppelt so groß sind wie beim heutigen Menschen. Abb. 6: „Little Foot“ (Australopithecus africanus), Schädel aus Sterkfontein, Südafrika (Alter ca. 3 Mio. Jahre). <?page no="19"?> 21 Auf den Spuren der ersten Menschen Robuste Australopithecinen Vor ungefähr 2,5 Millionen Jahren spaltete sich der bis dahin - von geographischen Varianten abgesehen - einheitliche Hominidenstamm in zwei Linien auf, deren Wurzel A. afarensis war. Die Koexistenz zweier Linien ist durch Funde aus Schichten mit einem Alter von ca. 2 Millionen Jahren (Olduvai Gorge, Koobi Fora, Kordo-Gonsula) bekannt. Der mit 2,6 bis 2,4 Millionen Jahren älteste Nachweis hierfür gelang 1996 in Nord-Malawi (Schrenk u. Bromage 1999). Die eine Linie führt zum Homo sapiens, die andere starb mit den robusten Australopithecinen vor etwa einer Million Jahren aus (s. Abb. 11). Allen robusten Australopithecinen sind wesentliche Merkmale in der Konstruktion des Schädels und der Bezahnung gemeinsam: Der Gesichtsschädel ist breit, die Jochbögen sind sehr kräftig und weit ausladend. Am auffälligsten in der Betrachtung der fossilen Überreste ist allerdings die Ausbildung eines Scheitelkammes an der Oberseite des Schädels aufgrund einer stark vergrößerten seitlichen Kaumuskulatur. Diese Merkmale und auch die megadonte Bezahnung deuten darauf hin, dass vor allem harte und grobe pflanzliche Nahrung, z. B. Samen und harte Pflanzenfasern, zerkaut wurde. Australopithecus aethiopicus ist im Zeitraum zwischen 2,5 und 2,3 Millionen Jahren vor heute bekannt (Walker et al. 1986). Der Schädel KNM- WT 17000 besitzt den größten und massivsten Scheitelkamm, der je bei Hominiden gefunden wurde. Das Gehirn ist mit ca. 410 cm 3 eher klein; das breite, flache Gesicht und der Kiefer wirken äußerst massiv. Australopithecus boisei übertraf zum Zeitpunkt seiner Entdeckung („Zinjanthropus“; Abb. 7) (L. S. B. Leakey 1959) an Robustheit alle bis dahin bekannten Australopithecinen. Die Gehirngröße liegt mit 530 cm 3 leicht über der von A. aethiopicus. Das Gesicht ist sehr massiv, der Knochenkamm kräftig ausgeformt. Die Backenzähne sind teilweise über 2 cm breit. Die jüngsten Funde, die auch gleichzeitig die geologisch ältesten Reste dieser Art sind, stammen aus Nord-Malawi. Ein in Malema (Abb. 2) 1996 ausgegrabenes Oberkieferfragment ist ca. 2,6 bis 2,5 Millionen Jahre alt (Kullmer et al. 1999). Australopithecus robustus wurde erstmals aus Kromdraai (Broom 1936) beschrieben, über zehn Jahre später jedoch auch aus Swartkrans (Broom 1949). Seither kamen viele weitere Fragmente hinzu. Darunter ist besonders bemerkenswert ein fast vollständiger Schädel von Drimulen, einer neuen Fundstelle in Südafrika. All diese Funde sind zwischen 1,8 und 1,3 Millionen Jahre alt. Im Gegensatz zu A. aethiopicus und A. boisei ist bei ihnen der Scheitelkamm schwächer ausgebildet, auch wenn er an den meisten Schädeln deutlich zu erkennen ist. Zumindest für A. robustus ist nachzuweisen, dass er Knochenwerkzeuge zum Ausgraben unterirdischer pflanzlicher Speicherorgane wie Knollen und Wurzeln benutzte (Brain et al. 1988). <?page no="20"?> 22 Friedemann Schrenk Der für die robusten Australopithecinen charakteristische massive Schädelbau entstand wahrscheinlich während der zunehmenden Trockenheit in Afrika vor etwa 2,8 bis 2,5 Millionen Jahren. Die offenen Lebensräume mit einem höheren Anteil an trockenresistenten, hartfaserigen und hartschaligen Pflanzen dehnten sich aus, die verbleibenden Bänder von üppigen Flussauewäldern wurden schmaler. Der Selektionsdruck dieser Habitatänderung erhöhte die Chancen für Säugetiere mit großen Mahlzähnen, die sich das härtere Nahrungsangebot der Savannen erschließen konnten. Vor ca. 2,5 Millionen Jahren galt dies nicht nur für frühe Hominiden, sondern auch für zahlreiche andere afrikanische Säugetiere, z. B. Antilopen (Turner u. Wood 1993). Der Druck war groß genug, um eine phyletische Spaltung von A. afarensis in Paranthropus und Homo hervorzurufen (Vrba 1988). Die robusten Australopithecinen, insbesondere A. aethiopicus, hielten vor allem während der Trockenzeiten Verbindung zu den früchtereichen Wasser führenden Zonen. Sie waren jedoch genauso gut in der Lage, mit ihrer postcaninen Bezahnung jene härtere Nahrung aufzuschließen, die in den offenen Habitaten während der günstigeren Jahreszeiten reichlich zur Verfügung stand. Den robusten Australopithecinen ging wahrscheinlich nie die ursprüngliche Verbindung zu den geschlosseneren Habitaten ihres Lebensraumes verloren (Shipman u. Harris 1988), da diese Bereiche nach wie vor Schutz, Schlafplätze und ein gewisses Maß an Nahrung bereithielten. Abb. 7: „Zinjanthropus“ (Australopithecus boisei), Schädel OH 5 aus Olduvai Gorge, Tansania (Alter ca. 1,8 Mio. Jahre). <?page no="21"?> 23 Auf den Spuren der ersten Menschen Der Ursprung der Gattung Homo Die Suche nach den Wurzeln des modernen Menschen ist unweigerlich mit der Suche nach den Wurzeln der Gattung Homo verbunden. Bislang wurden in Afrika fast 200 Hominidenfragmente gefunden, die im weitesten Sinne zu den frühesten Nachweisen der Gattung Homo zu rechnen sind (Omo, Olduvai Gorge, Chemeron, Uraha, Swartkrans, Sterkfontein; Abb. 1). Es handelt sich hierbei um die Größenordnung von etwa 40 Individuen. Trotz oder auch wegen der vielen neuen Funde ist der Ursprung der Gattung Homo noch immer stark umstritten. Vor allem die Interpretation der Anatomie des Bewegungsapparates und der Hand als „modern“ unterstützte die Einstufung des von Louis Leakey et al. 1964 beschriebenen Homo habilis als frühen, aber fähigen Menschen im Gegensatz zu den „grobschlächtigen“ Australopithecinen. Skelettfunde in Olduvai Gorge (OH 62) (Johanson et al. 1987) zeigten jedoch, dass das Skelett von H. habilis tatsächlich weitgehend dem von Australopithecus entspricht. Als wichtigster Unterschied zu den Australopithecinen bleibt das absolut und, auf das Körpergewicht bezogen, auch relativ höhere Gehirnvolumen von H. habilis. Die Stirn ist steiler und ein Überaugenwulst nur schwach ausgebildet. Während die anatomischen Merkmale dieser Form in Olduvai Gorge recht einheitlich sind, entzündete sich die Diskussion um die Gattung Homo immer wieder an zwei extrem unterschiedlichen Schädeln aus Koobi Fora: KNM-ER 1813 (Abb. 8) (R. E. Leakey 1973b) und KNM-ER 1470 (Abb. 9) (R. E. Leakey 1973a). Unter Einbeziehung aller H. habilis-Funde aus Koobi Fora in eine umfassende Merkmalsanalyse stellte Bernard Wood (1991) fest, dass die Unterschiede nicht nur in den typischerweise geschlechtsspezifisch variierenden Merkmalen auftreten, sondern quer durch den gesamten Bauplan. Abb. 8: Schädel KNM-ER 1813 (Homo habilis) aus Koobi Fora, Kenia (Alter ca. 1,9 Mio. Jahre). <?page no="22"?> 24 Friedemann Schrenk So sind zwei Gruppen zu unterscheiden: Der Grundtypus der einen Gruppe, die der ursprünglichen Beschreibung von H. habilis aus Olduvai Gorge nahe kommt, ist der Schädel 1813 (Abb. 8). Die andere, neue Gruppe wird von dem Schädel KNM-ER 1470 (Abb. 9) repräsentiert, für die es in Olduvai Gorge keine vergleichbaren Funde gibt. Zusammen mit dem Schädel KNM- ER 1813 wurde etwa die Hälfte des Homo-Fundmaterials aus Koobi Fora in der Art H. habilis belassen, die andere Hälfte bildete den Grundstock für die Definition der neuen Art H. rudolfensis (Alexeev 1986). Auch der Unterkiefer UR 501 aus Uraha in Malawi (Schrenk et al. 1993) gehört zur Art H. rudolfensis und ist das älteste bekannte Fragment der Gattung Homo. Auszugehen ist also von der Existenz zweier früher Homo-Typen: H. rudolfensis vor 2,5 bis 1,8 Millionen Jahren aus Malawi, Chemeron, Koobi Fora und Omo sowie H. habilis vor 2,1 bis 1,5 Millionen Jahren aus Koobi Fora, Olduvai Gorge und aus dem südlichen Afrika. Verwirrend ist die Vermischung von Australopithecinen- und Homo-Merkmalen bei beiden Arten. Während H. rudolfensis ein eher ursprüngliches Gebiss aufweist, dafür aber im Fortbewegungsapparat schon Homo-ähnlich erscheint, zeigt H. habilis mit reduzierten Zahnwurzeln ein fortschrittlicheres Gebiss, ist aber im Skelettbau eher den Menschenaffen ähnlich als den Menschen. Wesentlich ist, dass die Anfänge der durch H. rudolfensis repräsentierten Homo-Linie vor ungefähr 2,5 Millionen Jahren geprägt waren durch ihre Abstammung von A. afarensis oder dessen geographischen Varianten. Abb. 9: Schädel KNM-ER 1470 (Homo rudolfensis) aus Koobi Fora, Kenia (Alter ca. 1,9 Mio. Jahre). <?page no="23"?> 25 Auf den Spuren der ersten Menschen Dasselbe gilt für P. aethiopicus. Aus diesem Grunde teilte H. rudolfensis mit den robusten Australopithecinen einige auf den Kauapparat bezogene Schädel- und Zahnmerkmale (Wood 1992), die den frühen Hominiden die Aufnahme der härteren Frucht- und Pflanzennahrung der Savanne ermöglichten. Da sie eine funktionelle Anpassung an ein zunehmend trockeneres Klima darstellen, zeigen sie, dass H. rudolfensis in der Ernährungsweise recht konservativ blieb und wohl überwiegend Pflanzenfresser war. Aus der Gleichzeitigkeit der Entstehung der robusten Australopithecinen und der Gattung Homo kann deshalb der Schluss gezogen werden, dass es zur Entwicklung des Kauapparates der robusten Australopithecinen eine Alternative gab, die ebenfalls geeignet war, der bei zunehmender Trockenheit immer härter werdenden Nahrung entgegenzuwirken. Mit dieser Alternative beginnt die Geschichte der Werkzeugkultur: Die ältesten Steinwerkzeuge sind aus Äthiopien und Tansania bekannt. Wenig östlich der Hominidenfundstellen von Hadar in Äthiopien (Abb. 1), bei Gona, wurden sehr ursprüngliche Geröllwerkzeuge entdeckt, die etwa 2,6 Millionen Jahre alt sind (Harris 1986). Auch neue Funde am Westufer des Turkana-Sees bestätigen, dass vor ca. 2,5 Millionen Jahren die ersten Werkzeugkulturen etabliert waren - zeitgleich mit der Entstehung der Gattung Homo. Im Middle- Awash-Gebiet Äthiopiens wurden im Jahr 1994 Steinwerkzeuge zusammen mit frühem Homo gefunden (Kimbel et al. 1996). Werkzeuge im Sinne von Hilfsmitteln sind im Tierreich und vor allem bei den höheren Primaten allerdings weit verbreitet. Unter dem Druck der Umweltveränderungen vor 2,5 Millionen Jahren war es insbesondere die Fähigkeit der Hominiden zu kulturellem Verhalten, die die Gattung Homo entstehen ließ. Im Gegensatz zu den robusten Australopithecinen ist der Vorteil der Gattung Homo die Beibehaltung eines eher unspezialisierten Körperbaus in Kombination mit einer beginnenden kulturellen Spezialisierung. Für die Entwicklung zum heutigen Menschen war eine Vielzahl weiterer Faktoren ausschlaggebend. Doch war neben der Entstehung des aufrechten Ganges vor ungefähr 5 Millionen Jahren ohne Zweifel das einschneidendste Ereignis in der Geschichte der Menschwerdung der Beginn der Abkoppelung aus Umweltabhängigkeiten vor ca. 2,5 Millionen Jahren. Die zunehmende Unabhängigkeit vom Lebensraum führte zu wachsender Abhängigkeit von den dazu benutzten Werkzeugen - bis heute ein charakteristisches Merkmal des Menschen. Vor allem durch sein Verhalten zeigte H. rudolfensis eine große Flexibilität. Seine Anpassung an die klimatischen Veränderungen ging einher sowohl mit der Entwicklung eines größeren und leistungsfähigeren Gehirns als auch mit der Entwicklung zum Allesfresser (Robinson 1962). Die entstehende Werkzeugkultur überdeckte die negativen Auswirkungen des Klimawechsels, so dass H. rudolfensis Nahrungsquellen besser nutzen konnte als jede andere Hominidenart jemals zuvor. Die Benutzung von Steinwerkzeu- <?page no="24"?> 26 Friedemann Schrenk gen zum Hämmern harter Nahrung zeigte bald Vorteile in unvorstellbarem Ausmaß: Zufällig entstehende scharfkantige Abschläge wurden als Schneidewerkzeuge eingesetzt - eine Revolution in der Fleischbearbeitung und der Zerlegung der Kadaver. Für spezialisierte Pflanzenfresser wie die robusten Australopithecinen hätte jedoch der Einsatz von Steinwerkzeugen keinen unmittelbaren Vorteil gebracht. Solange beide Ernährungsstrategien erfolgreich waren, also mehr als eine Million Jahre lang, existierten verschiedene Hominiden-Gattungen und -Arten nebeneinander. Homo habilis: Das Schicksal des Australopithecus africanus Der Rückgang der Waldgebiete und die gleichzeitige Ausdehnung des offenen Graslandes riefen nicht nur evolutive Veränderungen als Anpassung an das Leben in den Savannen des tropischen Ostafrika hervor, sondern hatten auch eine nordwärts gerichtete Ausbreitungstendenz von Faunen im südlichen Afrika zur Folge. Bis zu dieser Zeit war die Zambezi-Ökozone ein keilförmiges Gebiet zwischen der tropischen und der gemäßigten Zone mit hohem Anteil an süd- und ostafrikanischen Endemiten (Klein 1984). In der gemäßigten Zone stellten sich ausgeprägte Jahreszeitenextreme ein, und viele Organismen behielten ihre Präferenz für schwache jahreszeitliche Änderungen und die Vegetation des subtropischen Klimas dadurch bei, dass sie äquatorwärts migrierten. Unter ihnen war auch A. africanus, der in dem temperierten Klima des südlichen Afrikas lebte. Die geeigneten Lebensräume hatten sich nach einer halben Million Jahre kontinuierlicher Zunahme an Trockenheit und Abkühlung nach Norden, dem Rift-Valley zu, verlagert. Einige Populationen konnten ihr Habitat, die bewaldeten Gebiete, als Lebensraum beibehalten und verbreiteten sich entlang des Uferzonen-Korridors nach Norden. Im Verlauf dieser Ausbreitung in Richtung auf den ostafrikanischen tropischen Bereich war die Selektion auf verstärkte Flexibilität des Verhaltens ausgerichtet und an die Diversität nicht-vegetarischer Nahrung gekoppelt. Der hierbei entstehende H. habilis etablierte sich rasch als eindeutiger Allesfresser, der durch die Entwicklung einer Werkzeugkultur sich nicht nur gezielt Vorteile bei der Nahrungsbeschaffung sichern, sondern auch vor Umweltveränderungen schützen und dadurch Habitatgrenzen leichter überwinden konnte. Homo habilis ist somit auf A. africanus des südlichen Afrika zurückzuführen (Abb. 11). Erst vor ungefähr 2 Millionen Jahren begann in Afrika eine Umkehrentwicklung vom kühlen und trockenen Klima zu etwas wärmeren und humideren Verhältnissen (Shackleton et al. 1984). Die Folge waren Migrationsbewegungen vom Äquator weg. Homo habilis breitete sich in das südliche Afrika aus, ebenso A. boisei. <?page no="25"?> 27 Auf den Spuren der ersten Menschen Die ersten Frühmenschen - Homo erectus Vor etwa 2 Millionen Jahren begann in Afrika die Entwicklung zu Hominidentypen mit kräftigerem und größerem Skelett und massivem Knochenbau im Schädel, den typischen Merkmalen von H. erectus. Diese Frühmenschen breiteten sich von Afrika bis nach Asien und Europa aus. Drei Formenkreise sind zu unterscheiden: ● Früher H. erectus - auch als Homo ergaster bezeichnet (2 bis 1,5 Millionen Jahre) aus Kenia (Abb. 10), Äthiopien, Java und China ● Später afrikanischer und asiatischer H. erectus (1,5 Millionen bis 300.000 Jahre) aus Südafrika, Tansania, Kenia, Tschad, Algerien, Äthiopien, Java, China, Israel, Indien und Vietnam ● Europäischer H. erectus - auch als Homo heidelbergensis bezeichnet - (800.000 bis 400.000 Jahre) aus Spanien, Deutschland (Bilzingsleben, Mauer), Frankreich und England Abb. 10: „Turkana Boy“, früher afrikanischer Homo erectus (Homo ergaster), Skelett KNM-WT 15000 aus Nariokotome, West-Turkana, Kenia (Alter ca. 1,6 Mio. Jahre). <?page no="26"?> 28 Friedemann Schrenk Der Ursprung von H. erectus war wahrscheinlich H. rudolfensis, ein robuster Typus, der 500.000 Jahre zuvor im östlichen Afrika entstanden war. Die Abstammung von H. habilis ist fraglich, da jene Form zeitlich parallel erst aus A. africanus des südlichen Afrika hervorging. Gegenüber H. rudolfensis zeigen sich bei H. erectus Körpermerkmale, die eine progressive Entwicklung andeuten. Hierzu gehört vor allem die Vergrößerung des Hirnschädelvolumens, die Veränderung der Proportionen des Hirn- und Gesichtsschädels, die Verstärkung der Schädelbasisknickung, die tiefere Lage der Öffnung der Schädelunterseite und die rundlichere Zahnbogenform. Ebenfalls kennzeichnend ist eine recht niedrige Stirn und die Ausbildung von kräftigen Augenüberwülsten, über deren Funktion man bis heute rätselt. Vor allem die Hüften und die Bein- und Fußknochen sind sehr kräftig ausgebildet. Der massive Knochenbau lässt darauf schließen, dass H. erectus hohe Kraft und Ausdauer beim Tragen von Material und Nahrung zu den Wohnorten aufbrachte. Bei H. erectus ist eine Zunahme des Gehirnvolumens feststellbar. Es beträgt bei den ältesten, knapp 2 Millionen Jahre alten Schädeln ca. 800 bis 900 cm 3 . Vor einer Million Jahren werden Werte von ca. 900 bis 1.000 cm 3 erreicht und vor 500.000 Jahren Werte von mehr als 1.100 bis 1.200 cm 3 . Sowohl die Fähigkeit, das Feuer zu nutzen, als auch entwickelte Jagdtechniken waren wichtige Voraussetzungen, um Afrika zu verlassen. Möglicherweise war die Jagd, also die Suche nach Beute, eine wichtige Triebkraft, um den Lebensbereich allmählich in entferntere Gebiete auszudehnen. Die ältesten Nachweise der Besiedlung Javas und Chinas gehen bis ca. 1,8 Millionen Jahre zurück (Swisher et al. 1994). In Südspanien (Orce) wird ein entsprechend hohes Alter vermutet (Gibert 1992), gefolgt von Dmanisi in Georgien (Gabunia 1994; Vekua et al. 2002) und ‘Ubeidiya in Israel (Bar- Yosef u. Vandermeersch 1991). Aus Nord-Israel stammen Steinwerkzeuge mit einem Alter von sogar fast 2,4 Millionen Jahren (Brunnacker et al. 1989). Spätestens vor 2 Millionen Jahren verließ demnach der frühe H. erectus („Homo ergaster“) oder der späte H. rudolfensis zum ersten Mal den afrikanischen Kontinent. Dies stimmt überein mit klimageographischen Daten, die für die Zeit um 2 Millionen Jahre vor heute die Ausdehnung der an Nahrung reichen Lebensräume belegen. Diese dürfte zunächst zu einer passiven Mitwanderung einiger Hominidenpopulationen geführt haben, bevor eine weitere Ausbreitung stattfand. Vor spätestens etwa 500.000 Jahren war H. erectus außer in Afrika auch in Ostasien, Südostasien sowie in Mittel- und Südeuropa weit verbreitet. Zwar verhinderten die klimatischen Bedingungen der Eiszeiten in Europa eine frühe Besiedlung des gesamten Kontinents, jedoch wurde Südeuropa schon von den ersten Auswanderungen aus Afrika erreicht. Sicher nachgewiesen ist bislang nur die Ausbreitungsroute über den Nahen Osten. Allerdings lassen einige faunistische Ähnlichkeiten zwischen Fundstellen in Marokko und Südspanien auch eine Verbreitung über Gibraltar schon zu <?page no="27"?> 29 Auf den Spuren der ersten Menschen einem sehr frühen Zeitpunkt vermuten. Da von Nordafrika aus das gegenüberliegende Ufer sichtbar ist, war dies wohl auch für H. erectus leicht zu erreichen. Die Annahme einer solchen Nordwestafrika-Westeuropa-Route muss allerdings noch durch zukünftige Geländearbeit untermauert werden. Hierbei könnte aber letztlich der Nachweis gelingen, dass bereits vor knapp 2 Millionen Jahren die ersten Frühmenschen Afrika per Floß verließen. Möglicherweise begann also die fast endlose Geschichte der immer wieder neuen Auswanderungen aus Afrika nicht nur in der Levante. Vielleicht lassen sich auch in Nordwest-Afrika die Wurzeln der europäischen Variante des H. erectus finden, der als H. heidelbergensis seit fast 700.000 Jahren in Mitteleuropa wohl bekannt ist. Die weitere Entwicklung der Frühmenschen ist geprägt von der Bildung mehrerer geographischer Varianten des Homo erectus in Afrika, Asien und Europa (vgl. Beiträge Henke, Bräuer in diesem Band). Unabhängig davon, ob diese als eigene Arten abgegrenzt werden oder nicht, zeigt sich, dass es mehr und mehr Anlass dazu gibt, neben der Morphologie der Funde und ihrem geologischen Alter ihre geographische Lage genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Biogeographie von Fossilien bildet die Voraussetzung einer Interpretation, die auch die Veränderungen des Lebensraumes einbezieht. Dies gilt für die Rekonstruktion der afrikanischen Vormenschen (s.o.) ebenso wie beispielsweise für die der Neandertaler und ihrer Zeitgenossen. Abb. 11: Homo floresiensis-Schädel aus der Höhle Liang Bua, Insel Flores, Indonesien (Zeichnung: Christine Hemm). <?page no="28"?> 30 Friedemann Schrenk Abb. 12: Hominiden-Chronologie und Verwandtschafts-Hypothesen auf biogeographischer Grundlage. <?page no="29"?> 31 Auf den Spuren der ersten Menschen Für uns moderne Menschen ist es wichtig zu erkennen, dass wir als Homo sapiens nicht immer alleine existierten. Bis vor 27.000 Jahren teilten wir in Europa unseren Lebensraum mit den Neandertalern. In Südostasien lebte Homo sapiens sogar noch weitere 9.000 Jahre neben einer anderen Menschenart, Homo floresiensis (Abb. 11) (Brown et al. 2005). Diese im Jahr 2004 völlig unerwartet entdeckte Spezies hat, wie der Neandertaler auch, eine andere Anatomie als der moderne Mensch. Der zwergenwüchsige „Hobbit“ von Flores weist mit 417 cm³ (Falk et al. 2005) das kleinste Gehirn aller bisher gefundenen Hominiden im Stammbusch der Menschen auf. Wahrscheinlich war er ein Abkömmling sehr früher afrikanischer Auswanderer vor möglicherweise mehr als 2 Millionen Jahren, die Afrika noch vor Homo erectus verließen. So haben offensichtlich nicht nur in der Frühzeit der Menschwerdung in Afrika, sondern auch später auf unterschiedlichen Kontinenten zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Entwicklungen stattgefunden, die wiederum unterschiedliche Menschentypen hervorbrachten. Das Überbleibsel all dieser regionalen Entwicklungen sind wir, Homo sapiens. Als letzte verbliebene Hominiden-Art sind wir es auch, die das Bild der ersten Menschen prägen. Der spektakuläre Fund von Homo floresiensis belegt jedoch mindestens, dass die Evolution des Menschen nur dann wirklich verstanden werden kann, wenn nicht nur die anatomische und zeitliche Einordnung der Fossilien und ihre kulturelle Evolution berücksichtigt wird, sondern auch ihre geographische Verteilung und die Geschichte ihrer Ausbreitung. Danksagung Ich danke dem HCRP-Team, Oliver Sandrock, Ottmar Kullmer, Tim Bromage und dem Malawi Department of Antiquities für die Unterstützung bei den Geländearbeiten. Die Zeichnungen verdanke ich Marisa Blume (Abb. 1, 12), Christine Hemm (Abb. 3, 10, 11) und Claudia Schnubel (Abb. 2, 4, 7, 8, 9). Die Arbeiten wurden gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). <?page no="30"?> 32 Friedemann Schrenk Literatur Alexeev, V. P. 1986: The Origin of the Human Race. Progress Publishers, Moskau. Andrews, P. 1981: Hominoid habitats of the Miocene. Nature 289, 749. Asfaw, B., White, T. D., Lovejoy, O., Latimer, B., Simpson, S. u. Suwa, G. 1999: Australopithecus garhi: A New Species of Early Hominid from Ethiopia. Science 284, 629-635. Bar-Yosef, O. u. Vandermeersch, B. 1991: Premiers hommes modernes et Neanderthaliens au Proche-Orient: chronologie et culture. In: J. J. Hublin u. M. A. Tillier (Hrsg.), Aux Origines d’Homo sapiens, 217-250. Presses Universitaires, Paris. Brain, C. 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Nature 355, 783-790. <?page no="34"?> Holger Preuschoft (Bochum) Die Biomechanik des aufrechten Ganges und ihre Konsequenzen für die Evolution des Menschen Zusammenfassung Besser als anhand der Schädelreste lassen sich die bis jetzt bekannten Vorfahren des heutigen Menschen anhand der Körperform in zwei grundverschiedene „Baumuster“ unterteilen: zum einen die Australopithecinen und zum anderen die Angehörigen der Gattung Homo - H. erectus, H. neanderthalensis und H. sapiens. Die nächsten biologischen Verwandten des Menschen, die heute lebenden Menschenaffen, stellen weitere drei unterschiedliche „Baumuster“ dar. Anhand biomechanischer Überlegungen werden hier die kennzeichnenden körperlichen Merkmale auf die Frage hin untersucht, welche speziellen Leistungen sie zulassen und begünstigen. Die markanten Eigenschaften des Körperbaus der heutigen Menschen sowie der Frühmenschen sind optimal geeignet für ausdauerndes Gehen, aber nicht für schnelles Laufen. Die Bewegungsweisen der Australopithecinen kennen wir nicht unmittelbar, sondern wir müssen aus der Körperform erschließen, dass sie einerseits am Boden zweifüßig gingen, im Vergleich zu den Menschen aber weit weniger zur Bewältigung langer Laufstrecken geeignet waren. Auf der anderen Seite waren sie aber als Kletterer den Menschen deutlich überlegen, wenn auch nicht von der Leistungsfähigkeit der Menschenaffen. Ein klarer Unterschied zwischen den robusten Paranthropus-Formen und den grazileren Angehörigen der Gattung Australopithecus konnte bisher nicht nachgewiesen werden, wenngleich Hinweise darauf vorliegen, dass die Ersteren in einem trockeneren und baumärmeren Biotop lebten. Ein Schlüsselproblem für die Menschheitsevolution ist die Frage, warum der Übergang zu einem Leben fast ausschließlich auf dem Boden nicht zu einer vierfüßigen Fortbewegung geführt hat wie bei den bodenbewohnenden Affen. Neuere Überlegungen hierzu werden unter Berücksichtigung biomechanischer Gesichtspunkte diskutiert. <?page no="35"?> 37 Die Biomechanik des aufrechten Ganges Einleitung Die Stammesgeschichte des Menschen ist heute gut und ohne größere Lücken belegt (z. B. Klein 1999). Die spannendsten Fragen sind jetzt nicht mehr die nach der Abfolge der Formen, sondern nach dem Beginn des Weges zum Menschen, nach der Ablösung unserer Evolutionslinie von derjenigen zu den Menschenaffen und nach dem Warum der Aufspaltung der Evolutionslinien. Wenn heute neue Funde bekannt werden, richtet sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Datierung. Methodische Fortschritte bringen es mit sich, dass relative Datierungen anhand der Schichtenfolge heute als unbefriedigend empfunden werden. Allein mit chronometrischen Methoden datierte Funde überzeugen richtig. Funde der letzten Jahre werfen ein neues Licht vor allem auf die Dauer der Evolution zum Menschen, verlangen aber auch Antworten auf die Frage, warum die Funde als menschlich bzw. vormenschlich, also als „hominid“, angesehen werden, oder ob sie in Wahrheit Reste unserer nächsten biologischen Verwandten, der Menschenaffen, darstellen. Um den bekannten Hintergrund in Erinnerung zu bringen, zeigt die Abbildung 1 ein Zeitschema, aus dem die großen Züge der Evolution des Menschen hervorgehen. Das Schema ist als Übersicht über den zeitlichen Ablauf zu verstehen, nicht als ein Stammbaum im engeren Sinne. Es besteht ein zumindest zeitlicher Zusammenhang mit der Entstehung der weiten Grasländer und dem Rückzug der Wälder in Afrika (Pickford 2002). Taxonomie Vor den Menschen im engeren Sinn lebten die Australopithecinen, die man aus Süd- und Ostafrika kennt. Unter diesen „Vormenschen“ werden seit langem die grazileren und älteren Formen der Gattung Australopithecus von den robusteren und etwas jüngeren, heute oft wieder als eigene Gattung Paranthropus bezeichneten Formen unterschieden. Während Letztere bis etwa 1,5 Millionen Jahre vor heute überlebten, treten schon früher, seit mindestens 1,9 Millionen Jahren, Frühmenschen auf. Hier werden sie alle unter Homo erectus zusammengefasst, der in Ostafrika und Asien nachgewiesen ist. Erst viel später gibt es Reste der Neandertaler und schließlich auch des „anatomisch modernen Menschen“ Homo sapiens. Eine feinere taxonomische Gliederung der Funde, etwa eine Unterscheidung z. B. von Arten der Gattung Australopithecus wie A. afarensis, anamensis, garhi oder ramidus neben africanus oder die Abgliederung von Homo habilis oder Homo ergaster usw., hält der Autor nicht für sinnvoll. Jede Art variiert, und aufgrund von Einzelindividuen - wie sie in der Paläanthropologie fast immer vorliegen - können keine vernünftigen Schätzungen der Variation innerhalb einer Art vorgenommen werden. Diese zurückhaltende Meinung gründet sich auf die folgenden Befunde: <?page no="36"?> 38 Holger Preuschoft Abb. 1: Zeitlicher Überblick über die menschliche Stammesgeschichte. Links relative und absolute Zeitskala, in der Mitte die wichtigsten Menschenformen, rechts die Steinindustrien, beides mit Beispielen. Vor Jahren unternahm der Autor gemeinsam mit Norman Creel den Versuch, mit einer morphometrischen Technik die Variabilität der Schädelformen bei Hominoiden abzuschätzen und das morphologische Korrelat zu Artdifferenzen festzustellen. Zu diesem Zweck wurden repräsentative Zahlen von Schädeln von Menschenaffen und heutigen Menschen mit einer einheitlichen Technik vermessen (Creel u. Preuschoft 1971). Die Messdaten sind karthesische Koordinaten bekannter Messpunkte in Bezug auf die Ohr- <?page no="37"?> 39 Die Biomechanik des aufrechten Ganges Augen-Ebene. Mit Hilfe einer multivariaten statistischen Methode („canonical analysis“) kann man die Abstände der Gruppenmittelwerte und der zugehörigen Streuungen in einem mehrdimensionalen Raum darstellen (Abb. 2). Die erreichbaren menschlichen Fossilien wurden als Individuen in diesen Rahmen eingefügt und die Wahrscheinlichkeit für eine Einordnung in die heutigen Gruppen berechnet. Es stellte sich heraus, dass signifikante Unterschiede zwischen heute lebenden Menschenaffen, den Vormenschen, Frühmenschen und heutigen Menschen existieren. Die Neandertaler unterscheiden sich mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von 1: 10.000 oder mehr von den modernen Menschen (einschließlich der Jungpaläolithiker). Die Vertreter des H. erectus variierten mehr als andere Gruppen, überlappten aber kaum mit den Neandertalern und gar nicht mit den heutigen Menschen. Die Australopithecinen variierten ebenfalls erheblich und standen den Menschenaffen näher als die Angehörigen der Gattung Homo, waren aber dennoch anhand verschiedener canonical axes eindeutig von den Menschenaffen zu unterscheiden. Eine der besonders heiß diskutierten Fragen war damals die nach dem Ausmaß von Artunterschieden in der Schädelform. Weil unter den Menschenaffen allein für die Gibbons (Gattung Hylobates) zahlreiche Arten beschrieben worden sind, wurde in zwei weiteren Studien (Creel u. Preuschoft 1984) die Größe von Artunterschieden bei den Gibbons untersucht. Die Ergebnisse in aller Kürze: Die großen Siamangs sollten auf Art- und nicht auf Gattungsniveau von den übrigen Gibbons unterschieden werden; Kloss’ Gibbon sowie der Hulock sind eigene Arten; sowohl die Gibbons der lar-Gruppe als auch der concolor-Gruppe unterscheiden sich von allen anderen auf Artniveau. Beide Gruppen sind aber untereinander nicht einheitlich, sondern es können Unterarten unterschieden werden. Bei Vertretern der lar-Gruppe beträgt die Wahrscheinlichkeit für eine irrtümliche Zuordnung in eine falsche Unterart bis zu 1 : 4. Das zeigt einerseits die Nähe der Gibbonunterarten zueinander, verleiht aber dem oben genannten Befund über die Neandertaler-sapiens-Unterschiede erhebliches Gewicht. Dieser Abstand ist in letzter Zeit durch molekularbiologische Daten ganz nachdrücklich bestätigt worden (Krings et al. 1997; Ovchinnikov et al. 2000). Für die Gibbons schloss sich an die hier beschriebenen Befunde eine intensive Diskussion der Ergebnisse an, weil die Unterarten der lar-Gruppe verschiedene Duett-Gesänge und somit Verhaltensunterschiede aufweisen. Diese Duett-Gesänge haben eine erhebliche Bedeutung für die Bindung der Paare - Gibbons sind die einzigen Menschenaffen, die monogam und territorial leben - und stellen ein Hindernis für das Auftreten von Bastarden zwischen Angehörigen benachbarter Populationen dar, die aber dennoch vorkommen (Preuschoft 1988). So „schöne“ Befunde wie bei den Neandertalern konnten für die anderen Vor- und Frühmenschen nicht ermittelt werden, weil die Zahl der Funde zu gering und über allzu lange Zeitspannen sowie allzu große geographische Abstände verteilt ist. <?page no="38"?> 40 Holger Preuschoft Abb. 2: Beziehungen zwischen lebenden (Punkte) und fossilen (Querbalken) Hominoiden aufgrund morphometrischer Vergleiche der Schädel. Oben: Bezugsrahmen sind die Diskriminanten 1-3, die relative Lage auf der discriminant axis 4 ist durch die schwarze, graue oder weiße Färbung wiedergegeben. Neunzig unabhängige Variablen des ganzen Schädels, ohne Größenkorrektur. Unten: Vierzig unabhängige Variablen nur des Hirnschädels mit Größenkorrektur. Anordnung auf den Diskriminanten 1, 3 und 4. Die Platzierung auf den Achsen 1 und 4 ist punktiert. Rezente Formen, Mittelwerte aus Gruppen von 20-30 Individuen: 1: Westlicher Gorilla f.; 2: Westlicher Gorilla m.; 3: Borneo-Gibbon f.; 4. Borneo-Gibbon m.; 5: Orang-utan f.; 6: Orang-utan m.; 7: Bonobo f.; 8: Bonobo m.; 9: Östlicher Gorilla f.; 10: Östlicher Gorilla m.; 11: Siamang, beide Geschlechter; 12: Schimpanse f.; 13: Schimpanse m.; 14: Kongolesen f.; 15: Kongolesen m.; 16: Süddeutsche f.; 17: <?page no="39"?> 41 Die Biomechanik des aufrechten Ganges Problemstellung Das Hypothetisieren über die Frage, welcher bekannte Fund von welchem älteren abstammt, ist vor diesem Hintergrund kein Vorgehen, das uns heute noch zu wesentlichen und vor allem zuverlässigen Einsichten verhilft. Was zum Verständnis des Evolutionsprozesses wirklich Bedeutung hat, liegt erkennbar vor uns. Viel interessanter und konkreter scheinen dem Autor - zum heutigen Zeitpunkt (! ) - die Fragen nach der Lebensweise der fossilen Lebewesen und nach dem „Warum“ der Evolutionsschritte zu sein, die durch datierte Funde dokumentiert sind. Größte Aufmerksamkeit bei Fossilien aus der Ahnenreihe des Menschen gilt natürlich dem Werkzeuggebrauch als Nachweis für höhere geistige Fähigkeiten. Werkzeuge sind seit 2,5 bzw. 2,34 Millionen Jahren nachweisbar (Gona in Äthiopien: Semaw et al. 1997; West Turkana in Kenia: Roche et al. 1999). Diese Daten sind im Zeitschema der Abbildung 1 eingebaut; sie fallen in die Zeit der Vormenschen, nicht in die der Frühmenschen. Da der Werkzeuggebrauch allem Anschein nach auf eine spätere Phase beschränkt und zudem anhand von Gestaltmerkmalen bisher nicht zweifelsfrei nachweisbar ist (s. u.), schieben sich zwei Probleme in den Vordergrund, die gelöst werden müssen, bevor man weiter reichende Folgerungen über die Ursachen zu Evolutionsschritten ziehen kann. Es sind die Fragen nach der Körperhaltung und Fortbewegungsweise sowie nach der Ernährung. Erst wenn man hier Grund unter den Füßen hat, kann man weiter gehende Überlegungen, z. B. auch über die Voraussetzungen des Werkzeuggebrauchs und dessen Bedeutung für die weiteren Evolutionsschritte, anstellen. Die Paläanthropologie fördert ebenso wie die Paläontologie in erster Linie Formen, also Gestaltmerkmale, zutage. Zwischen der Skelettform und der mechanischen Funktion bestehen vielfach erwiesene enge Kausalbeziehungen. Diese Beziehungen gibt es auf zwei Ebenen: Erstens bildet sich nach dem Wolffschen Gesetz die Gestalt einzelner Skelettelemente intra vitam in Abhängigkeit von der statischen Beanspruchung aus, weil der Knochen dort Material anbaut, wo er hoch belastet ist, und an Stellen geringerer, unter- (Fortsetzung Abb. 2): Süddeutsche m.; 18: Mongolen f.; 19: Mongolen m. Fossile Individuen: 20: Swartkrans, „Paranthropus“; 21: Olduvai hominid OH 5; 22: KMN ER 406; 23: Sterkfontein 5; 24: „Pithecanthropus“ IV; 25: „Pithecanthropus“-Rekonstruktion; 26: „Sinanthropus“-Rekonstruktion Weidenreich; 27: Choukoutien II; 28: Choukoutien III; 29: „Sinanthropus“-Rekonstruktion MacGregor; 30: Steinheim; 31: Broken Hill; 32: Ngandong V; 33: Ngandong VI; 34: Le Moustier; 35: Skhul V; 36: La Quina; 37: La Ferassie; 38: La Chapelle aux Saints; 39: Gibraltar; 40: Monte Circeo; 41: Spy I; 42: Spy II; 43: Lautsch; 44: P ø edmost m.; 45: P ø edmost f.; 46: Cro Magnon m.; 47: Oberkassel m.; 48: Oberkassel f.; 49: Brünn III; 50: Combe Capelle; 51: Pavlov. <?page no="40"?> 42 Holger Preuschoft schwelliger Belastung Material abbaut. Das Längenwachstum der Skelettteile ist indessen so nicht zu erklären. Auf der zweiten Ebene muss man davon ausgehen, dass die Mutanten mit den vorteilhaftesten Proportionen die besten Fortpflanzungschancen hatten. Auf jeder der beiden Ebenen kann man das Problem der Körperhaltung und Fortbewegung auch über die Frage angehen, welcher mechanischen Funktion zuliebe dieses oder jenes Formmerkmal ausgebildet worden sein kann. Eine pauschale Antwort ist vor dem Hintergrund der allgemein anerkannten Evolutionslehre, der Ökologie und der kausalen Histogenese leicht zu geben: Merkmale werden entwickelt, weil sie ihrem Besitzer einen Vorteil für das Überleben in seiner Umwelt bringen. Die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen immer dann, wenn genau erklärt werden soll, welche Vorteile eigentlich der Besitz eines Merkmals oder eines Komplexes von Merkmalen bringt. Diese selektiven Vorteile herauszustellen, ist das Anliegen dieses Beitrags. Die Trennung der Stammeslinien von heutigen Menschenaffen und Menschen dürfte nach allgemeiner Erwartung vor etwa 5 bis 7 Millionen Jahren stattgefunden haben. Dass immer wieder neue „Hominiden“, aber keine Schimpansenreste aus der Zeit vor 4 bis 7 Millionen Jahren beschrieben werden, muss verwundern. Das könnte natürlich seinen Grund in einer fehlerhaften Zuschreibung etwa von Ardipithecus ramidus (White et al. 1994) oder Sahelanthropus tchadensis (Brunet et al. 2002) aufgrund ihrer Gebissreste haben. Die Schädelform ist in der entscheidenden Zeit nicht allzu gut belegt und wegen der Ähnlichkeit der frühen Vormenschen mit den Menschenaffen auch nicht sehr aussagekräftig. Über die Zahnmerkmale kann man im Einzelfall geteilter Meinung sein. Das gilt besonders deshalb, weil sich die Zähne bei den heutigen Menschenaffen insgesamt mehr unterscheiden als bei ihren fossilen Vorläufern und bei Menschen. Es ist sehr schwierig, die bei den Fossilformen gut bekannten, aber geringen Unterschiede in der Form und Anordnung der Kronenhöcker bestimmten Eigenschaften der Nahrung zuzuschreiben oder auch nur mit bestimmten Kieferformen zu verbinden. Nicht einmal die eindeutige Zuordnung zu Menschenaffen oder Hominiden ist möglich. Zumeist wird ein Eckzahn, der die Schneidezähne und Prämolaren nicht überragt, als kennzeichnend für die Hominiden angesehen, mag er auch die bei Affen übliche Kegelform haben. Ergebnisse Funktionelle Morphologie der Menschen und der Frühmenschen Beginnen wir mit dem heutigen Menschen. Der aufrechte Gang stellt nach Foley (2000, 98) „das grundlegende Charakteristikum aller Hominiden“ dar: „Entgegen einer weit verbreiteten Ansicht bewegten sie sich schon lan- <?page no="41"?> 43 Die Biomechanik des aufrechten Ganges ge, bevor ihre Intelligenz zunahm, auf diese Weise fort, und die gesamte menschliche Anatomie ist vom Schädeldach bis zur Zehenspitze auf diese Gangform abgestimmt.“ Die folgenden Merkmale zeichnen den Menschen vor seinen nächsten biologischen Verwandten aus: ● lange Beine, deren Gelenke gestreckt gehalten werden ● Fehlen des Greiffußes und schwache Zehenmuskulatur; stattdessen ein sehr widerstandsfähiges, steifes Fußskelett ● langer Rumpf mit breiten Hüften, einer Taille und breiten Schultern ● lange, nicht allzu kräftige Arme ● Bau der Hand ähnlich wie bei den Altweltaffen (die Menschenaffen haben stark spezialisierte Hände) ● recht langer Hals und ein Kopf, dessen schwach entwickelter Kieferapparat unterhalb des sehr großen Hirnschädels liegt, nicht vor demselben Was bringen diese Merkmale an möglichen Selektionsvorteilen? Unter rein statischen Gesichtspunkten sind manche dieser Merkmale wegen ihrer Anfälligkeit für Schädigungen schon mehrfach als „Fehlkonstruktionen“ bezeichnet worden. Das gilt besonders für die Länge des Rumpfes und die Konstruktion des Fußes. Fuß und Wirbelsäule sind anfällig für länger unverändert bestehende, d. h. statische, Überlastungen, aber auch für Vibrationen. Oft wird übersehen, dass der Mensch zwar kein schneller, aber ein ausgesprochen ausdauernder Läufer ist, der an mehreren Tagen nacheinander 30 bis 50 km hinter sich bringen kann. Damit ist er ein spezialisiertes Lauftier oder „cursorial animal“. Er steht damit im Gegensatz zu den Menschenaffen, die meist nur 500 bis 2.000 m laufen, aber auch zu den überwiegend bodenlebenden Pavianen, bei denen normalerweise nur wenige Kilometer am Tag zurückgelegt werden. In einem einzigen Fall sind einmal 12 km Laufstrecke bei Pavianen beobachtet worden (Altmann, persönl. Mitteilung). Die Laufgeschwindigkeit ergibt sich aus Schrittlänge · Schrittfrequenz. Die Schrittlänge wächst mit der „funktionellen“ Beinlänge (Abb. 3 oben links). Diese wiederum hängt nicht nur von der Länge der Segmente ab, sondern auch von der Streckung der Gelenke, die für den Menschen so charakteristisch ist. In der Vorschwungphase des Gehens schwingt das jeweilige Schwungbein wie ein Pendel nach vorn (Abb. 3 oben rechts). Das Ausnutzen der Pendelbewegung spart Energie, hält aber die Schrittfrequenz in Grenzen (Mochon u. McMahon 1980 u. 1981; Alexander 1984). Die optimale Beinform für Läufer muss, wie oben gesagt, durch eine bedeutende Beinlänge bestimmt sein. Das ist aber leider gleichbedeutend mit einem erheblichen Gewicht der Beine. Lange Beine besitzen ein großes Massenträgheitsmoment (J = m · l 2 ), welches dem Vorschwingen des Beins Wider- <?page no="42"?> 44 Holger Preuschoft Abb. 3: Beim zweibeinigen Gehen können die Standphasen (3 linke Figuren) als umgekehrtes, stehendes Pendel interpretiert werden. Je länger das umgekehrte Pendel, umso größer ist die in jedem Schrittzyklus zurückgelegte Wegstrecke. Das Schwungbein pendelt um das Hüftgelenk (oben). Je länger dieses Pendel ist, umso langsamer schwingt das Bein nach vorn (unten). Die Pendellänge ist in % der Beinlänge angegeben. stand entgegensetzt. Dieser Widerstand kann vermindert werden durch Beugung im Kniegelenk, vor allem aber durch Verschiebung seiner Masse nach proximal (Witte et al. 1991). Eine solche Verlagerung ist nicht unbegrenzt möglich: Die Knochen müssen eine bestimmte Dicke aufweisen, um dem Gewicht und vor allem dem Zug der Muskeln Widerstand leisten zu können, Sehnen sind unentbehrlich für die Kontrolle der Gelenke, und die Menge an Haut, die das Bein einhüllt, ergibt sich aus seiner Oberfläche (Grand 1977). Allein die Muskulatur - die immerhin die Hälfte der Masse einer Primatengliedmaße stellt - kann so angeordnet sein, dass die Masse <?page no="43"?> 45 Die Biomechanik des aufrechten Ganges Abb. 4: Die schweren Beine (je etwa 15 % der Gesamtmasse des Körpers) werden bei jedem einzelnen Schritt durch Muskelkraft am Beginn der Vorschwungphase beschleunigt bzw. am Ende des Vorschwungs gebremst. Die Muskeln (Doppellinien) müssen das Massenträgheitsmoment der Beine überwinden und wirken gleichzeitig auf den Rumpf. Rumpf, Arme und Hals plus Kopf sind als Säule vereinfacht. Je länger diese Säule, umso größer wird ihr Massenträgheitsmoment gemäß der Formel: J = l 2 · M. Es beträgt bei einer Säulenlänge von 40 cm eine Einheit, bei 80 cm Länge und gleichem Volumen wächst es auf 5 Einheiten an. Zusätzlich zu den Beinen üben auch die pendelnden Arme (je etwa 4,5 % der Körpermasse) Trägheitskräfte auf den Rumpf aus. auf den proximalen Abschnitten von Oberschenkel, Unterschenkel und Fuß konzentriert ist. Die Muskelkraft kann ohne weiteres durch lange, dünne und massearme Sehnen nach distal transportiert werden (Abb. 3 unten) (Witte et al. 1991; Preuschoft u. Witte 1991; 1993). Hier liegt der Grund für die kennzeichnende Form menschlicher Beine mit Waden und Pobacken, die in deutlichem, auch seitens der Forschung schon lange vermerkten Gegensatz zu den Affen steht. Die Waden entstehen durch Konzentration der Muskelfasern des M. triceps dicht unterhalb des Knies und durch eine schlanke Sehne, welche die Entfernung zur Ferse überbrückt. Die Gesäßbacken bestehen zwar zum großen Teil aus Fett und Bindegewebe, enthalten aber auch einen sehr großen Muskel - den M. gluteus maximus -, der bei den Affen weiter distal auf dem Oberschenkel liegt (Preuschoft 1970). Die Muskelmasse des Oberschenkels ist auf dessen proximaler Hälfte deutlich größer als nahe am Knie. Um den Fasern der Hüft- und Oberschenkel-Muskeln einen Ursprung ganz nahe am Rumpf zu erlauben, ist eine große Außenfläche des Beckens erforderlich. Alle genannten Einzelheiten führen beim Menschen zu einer Verschiebung des Beinschwerpunkts nach proximal. Trotz dieser funktionell günstigen Merkmale zwingt das Massenträgheitsmoment der schweren Beine bei jedem Vorschwingen dem Rumpf Nickbewegungen auf. Diese erfolgen mit der zweifachen Schrittfrequenz, also etwa 4 bis 5 Hz. Das stört die Sinneswahrnehmungen, jedenfalls das <?page no="44"?> 46 Holger Preuschoft Sehen und Hören, und verursacht u. U. sogar Gefäßspasmen. Deshalb muss die Nickbewegung unterdrückt werden, möglichst ohne Energieaufwand. Geeignet dafür ist die lange, schlanke Rumpfform (Abb. 4), die unter statischen Bedingungen schon vielen Untersuchern - aber auch Patienten und Orthopäden! - als Fehlkonstruktion erschienen ist. Ein langer Rumpf ist in vorgebeugter Stellung höheren Biegemomenten ausgesetzt als ein kurzer, und deshalb sind größere Muskelkräfte erforderlich, um die Körperstellung zu erhalten. Sie führen zu sehr hohen Druckkräften in der Wirbelsäule und erhöhen auch das Risiko von Bandscheibenschäden. Allein so betrachtet, sollte man deshalb meinen, ein kurzer, möglichst dicker Rumpf wie bei den Menschenaffen müsste vorteilhaft sein. Beim Gehen oder Rennen ist aber die Lage des Körperstammes im Raum umso stabiler, je länger der Rumpf ist. Seine schlanke Form ergibt sich einfach aus der Verteilung des erforderlichen Volumens auf eine möglichst große Länge. Ein langer Hals, der einen schweren Kopf trägt, erhöht die Stabilität des Körpers und besonders des Kopfes im Raum ganz besonders wirksam (Preuschoft u. Witte 1991). Auch in der Ansicht von oben wirken die Massenträgheitsmomente der Beine und versuchen, den Rumpf um eine senkrechte Achse zu drehen (Witte et al. 1991). Einer daraus resultierenden Drehbewegung wirkt ohne jeden Energieaufwand zweierlei entgegen: zunächst das hohe Massenträgheitsmoment des Rumpfes auch in dieser Ansicht, das aus der Breite von Becken, Brustkorb und Schultern gewonnen wird (Abb. 5). Die Breite des Rumpfes Abb. 5: Auch in Ansicht von oben üben die Beine Drehimpulse auf den Rumpf aus (links). Die Masse des Rumpfes ist so angeordnet, dass sie diesen Drehimpulsen durch große Hüft- und Schulterbreite ein Massenträgheitsmoment entgegensetzt, das zweibzw. dreimal so hoch ist wie in der Rumpfmitte. Auch die phasenversetzt pendelnden Arme üben stabilisierende Drehimpulse auf den Rumpf aus, ihre Trägheitskräfte greifen an einem längeren Hebelarm an als die Beine (Mitte). Schräge Bauch- und Rückenmuskulatur (rechts). <?page no="45"?> 47 Die Biomechanik des aufrechten Ganges ist mit geringer Tiefe verbunden, die natürlich ein Vorteil in der aufrechten Haltung des Rumpfes ist, weil die einzelnen Segmente nur kurze Hebelarme der Wirbelsäule gegenüber besitzen und infolgedessen geringe Muskelkräfte aufgewendet werden müssen. Hinzu kommt das um eine halbe Phase versetzte Pendeln der Arme (Abb. 3 u. 5), was allerdings nur dann ohne Energieaufwand möglich ist, wenn die Arme etwa die gleiche Pendelfrequenz besitzen wie die Beine. Die annähernd gleiche Pendelfrequenz ergibt sich aus dem ähnlichen Abstand zwischen Massenmittelpunkt und Aufhängung. Während das Bein im Hüftgelenk aufgehängt ist, pendelt der Arm um das Schultergelenk. Der Schwerpunkt des Beins liegt oberhalb des Kniegelenkes und ist dank der schon erläuterten Anordnung der Muskulatur und der Beugung im Kniegelenk etwa 37 cm vom Hüftgelenk entfernt. Der Schwerpunkt des viel leichteren Armes ist aber unterhalb des Ellbogens gelegen, denn die Muskelmasse der Arme ist nicht nach proximal konzentriert. Der Schwerpunkt ist immerhin 33 cm vom Schultergelenk entfernt. Da die Beine fast dreimal so schwer sind wie die Arme, muss ihr Hebelarm gegenüber dem Rumpf deutlich kürzer sein als derjenige der leichteren Arme: Der Abstand zwischen den beiden Hüftgelenken sollte also geringer sein als die Schulterbreite (Abb. 5). Das ist auch der Fall, und zwar bei Männern deutlicher als bei Frauen. Die Phasenverschiebung zwischen Bein- und Armbewegung hat noch einen wichtigen Nebeneffekt: eine Torsion des Rumpfes. So können die schräg verlaufenden Muskeln der Rumpfwand abwechselnd gespannt werden und sich wieder verkürzen, wodurch sich der Rumpf wie eine Drehfeder verhält. Die Einziehung der Rumpfkontur, die „Taille“, ergibt sich als Folge des schrägen Verlaufs der Muskelzüge (Abb. 5). Es spricht vieles dafür, dass es sich hierbei um einen elastischen Vorgang handelt, der keine Energie verbraucht (Witte et al. 1997). Alle diese Merkmale zusammen machen Homo zu einem zwar nicht schnellen, aber ausgesprochen ökonomischen, d. h. ausdauernden, Läufer. Das gilt für alle bekannten eindeutigen Vertreter der Gattung Homo, also auch für die Frühmenschen einschließlich H. erectus und H. neanderthalensis. Das Ergebnis stimmt völlig mit Untersuchungen überein, die vom experimentell ermittelten Energieverbrauch ausgehen (Steudel-Numbers 2001). Der Mensch verbraucht beim Gehen (nicht Rennen! ) über eine Strecke von 1 km um 10 % bis 20 % weniger Energie als ein „durchschnittlicher Vierfüßer“. Ähnlich ökonomisch oder sogar noch ökonomischer ist die Fortbewegung bei den spezialisierten Lauftieren unter den vierbeinigen Säugern. Die Ökonomie, d. h. der geringe Energiebedarf, beim Gehen stellt einen überragend wichtigen Grund für die Selektionsvorgänge dar, die zum Erwerb der „angepassten“ Merkmale geführt haben. Durch die Arbeiten aus der Gruppe um Robin Crompton in Liverpool wird der Zusammenhang bis <?page no="46"?> 48 Holger Preuschoft ins Einzelne erkennbar: An rezenten Formen gemessene oder mit guten Gründen für Fossilien angenommene Körperproportionen und Massenverteilungen werden in Computersimulationen von Lebewesen in bipeder oder quadrupeder Lokomotion eingesetzt. Die bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Fortbewegung werden ebenso berücksichtigt wie Varianten der Bewegungsweisen etwa bei Homo, Pongo oder Pan. Wenn eine Simulation brauchbar ist, kann sie über mehrere Zyklen wiederholt und beobachtet werden. Werden die mechanischen Bedingungen nicht erfüllt, so bricht die Simulation nach wenigen Wiederholungen zusammen. An funktionsfähigen Modellen können die äußeren (Boden-) Kräfte festgestellt und mit empirisch gemessenen äußeren Kräften verglichen werden. Auch hier kann, ebenso wie am kinematischen Ablauf, eine gezielte Variation der Bewegungsweisen ansetzen. Für unsere Frage nach den Ursachen der Evolution maßgeblich sind die erforderlichen Muskel- und Gelenkkräfte, die Drehmomente, Geschwindigkeiten und Hubhöhen, kurz: die Arbeit und die Leistung im physikalischen Sinne, die der Körper bei gegebener Morphologie aufzubringen hat. Das ist gleichbedeutend mit der Energie, die für die Lokomotion erforderlich ist. Die Arbeiten auf diesem Gebiet sind noch in vollem Gang. Bereits publizierte Ergebnisse belegen z. B., dass der schwerfällig wirkende, oft von den Armen unterstützte zweibeinige Gang des (arborealen) Orang-Utans zu äußeren Kräften und Gelenkbelastungen führt, die den Verhältnissen beim Menschen näher kommen (Thorpe et al. 1998) als die Werte beim Schimpansen, der viel leichtfüßiger biped geht - aber eben mit anderen Bewegungen (Thorpe et al. 1998; Kimura 2002). Der H. erectus von Nariokotome mit seinen menschenähnlichen Proportionen hat auch einen ähnlich geringen Energieverbrauch. Beim Gehen liegt er mit ca. 40 % deutlich unter dem eines Australopithecinen und dem der Menschenaffen. Homo erectus ist in der Lage, Lasten von 15 % seines Eigengewichtes auf den Schultern zu tragen, ohne sein Gangbild und den geringen Energiebedarf zu beeinträchtigen. Im Tragen schwerer Lasten bis 40 % des Eigengewichts und im Tragen von Lasten mit den Händen sind ihm aber die heutigen Menschen noch einmal überlegen (Wang 1999; Crompton et al. 1998; Crompton et al. 2004). Diese Körperform reicht bis nahezu 2 Millionen Jahre zurück; eindeutige Belege (Nariokotome) besitzen wir für 1,7 Millionen Jahre vor der Gegenwart (Walker u. R. Leakey 1993). Die neu gefundenen Reste aus Dmanisi in Georgien sind zwar noch älter, die Körperskelette sind aber nicht genauso vollständig. Neandertaler sind mit dieser Methode nicht untersucht worden. Sie unterscheiden sich in den Proportionen und in der Körperhaltung indessen nicht erheblich von den heutigen Menschen. Alle Früh- oder Urmenschen der Gattung Homo sind also ausdauernde Läufer, genauer Geher, gewesen. Ihre Fortbewegung wurde durch das Tragen bedeutender Lasten nicht wesentlich beeinträchtigt. <?page no="47"?> 49 Die Biomechanik des aufrechten Ganges Die für das Energie sparende Gehen vorteilhaften recht langen Arme (s. o.) haben zudem noch den Nutzen einer großen Reichweite beim Greifen. Das Greiforgan am Ende der Arme ist beim Menschen in seinen Proportionen ähnlich dem der meisten Altwelt- und Halbaffen. Die menschliche Hand weist keine der Sonderentwicklungen auf, die bei anderen Primaten vorkommen: Unter den Halbaffen hat das Fingertier einen besonders dünnen und verlängerten dritten Finger, bei vielen Loris-Verwandten ist der zweite Finger nur wenig entwickelt oder fehlt ganz. Unter den Neuweltaffen ist der Daumen bei den Spinnenaffen zurückgebildet, bei vielen Arten nicht oder nur unvollständig opponierbar, und das Greifen erfolgt häufig mit den Fingern I und II auf der einen und den Fingern III, IV und V auf der anderen Seite. Auch bei den afrikanischen Schlankaffen der Gattung Colobus ist der Daumen zurückgebildet, und die Menschenaffen haben verlängerte laterale Finger, denen gegenüber der Daumen sehr kurz und schwach erscheint. Diese Verlängerung der lateralen Finger hat für das Klettern mit Bevorzugung der Arme Vorteile (s. u.). Allein bei den Gorillahänden kommen viele Proportionen denjenigen des Menschen nahe (Jouffroy et al. 1993). Funktionelle Morphologie der Vormenschen Die Kombination von Merkmalen, die sich bei den Vorläufern der Frühmenschen finden, gibt es heute nicht mehr. Wir können also nicht den bequemen Weg gehen, Analogien zu suchen und Analogieschlüsse aneinander zu reihen. Was wissen wir also über die Vormenschen? Wie haben sie sich bewegt? In der Körpergestalt ist die Gruppe der Vormenschen oder Australopithecinen ziemlich einheitlich, ob man sie nun in eine Gattung oder in drei Gattungen, nämlich Australopithecus, Paranthropus und „Homo habilis“, unterteilt (Brandt 1995, Hartwig-Scherer u. Martin 1991; Jungers 1982; Schmid 1983; 1991; Stern u. Susman 1983). Es scheinen Unterschiede in der Körpergröße zu bestehen, aber Unterschiede im Körperbau sind nicht sicher nachgewiesen (trotz Susman u. Stern 1991). Charakteristische Merkmale sind (Abb. 6): ● im Vergleich zum Menschen schmächtige, kurze Beine ● Kniegelenke in X-Stellung ● biegefestes Fußskelett mit Zehen länger als die des Menschen, aber kürzer als die der afrikanischen Menschenaffen (Die Beweglichkeit der Großzehe ist fraglich) ● tonnenförmiger Rumpf ohne „Taille“ ● lordotische Krümmung der Lendenwirbelsäule ● ein von Homo, aber auch von den Menschenaffen abweichendes Becken <?page no="48"?> 50 Holger Preuschoft ● mächtige, lange Arme mit derben Fingern, die ebenso wie die Zehen kürzer und dabei breiter sind als bei den Menschenaffen, aber länger als beim Menschen In den meisten Merkmalen nehmen die Australopithecinen eine Stellung zwischen Homo und den heutigen Menschenaffen ein. Auf jeden Fall waren sie seit ungefähr 4 Millionen Jahren Zweibeiner. Zweifelsfrei nachgewiesen anhand der 3,7 Millionen Jahre alten Fußspuren von Laetoli (M. D. Leakey 1987), war die Bipedie dieser Lebewesen aufgrund von biomechanischen Analysen der Kniegelenke und des Fußes (Preuschoft 1971; Stern u. Susman 1983), der Hüftregion und des Beckens (Robinson 1972; Berge 1993; Preuschoft 1999) sowie wegen der lordotischen Lendenwirbelsäule (Robinson 1972) bereits Jahre vorher nicht mehr in Frage zu stellen. Daneben besitzen die Australopithecinen aber unverkennbar deutlich auch Merkmale, die für eine kletternde Lebensweise bevorzugt auf Bäumen vorteilhaft sind: vor allem lange, gekrümmte Zehen- und Fingerglieder (Susman et al. 1984), lange, kraftvolle Arme (Hartwig-Scherer u. Martin 1991), vielleicht sogar eine Beweglichkeit der Großzehe, die ein Greifen mit den Füßen erlaubt. Die Frage nach der Herkunft der Bipedie verbindet sich deshalb mit der Abb. 6: Rekonstruktion des gut erhaltenen Australopithecinen “Lucy” von Afar, Äthiopien, im Senckenberg-Museum, Frankfurt a. M. (nach Franzen u. Becker 1988) (Foto S. Tränkner). <?page no="49"?> 51 Die Biomechanik des aufrechten Ganges Frage nach der heute nicht mehr existierenden Lokomotionsform und Lebensweise der Australopithecinen. Worin liegt nun die Bedeutung - oder genauer - der funktionelle Wert und damit der selektive Vorteil der oben aufgezählten Merkmale? Was sagen sie uns über die Vormenschen? Kurze Beine haben den Vorteil, dass sie mit geringem Energieaufwand unter Kontrolle zu halten sind. Außerdem sind kurze Beine sicherer im Falle von Stürzen, wenn u. U. hohe Kräfte am freien Ende der Knochen angreifen und somit extreme Biegemomente entfalten können. Das alles führt aber nur zu morphologischen Konsequenzen, solange kein zwingender Grund für bedeutende Länge besteht - so wie er oben für die Hintergliedmaßen der Menschen gezeigt worden ist. Die Folge der kurzen Beine für Australopithecinen besteht in geringerer Gehgeschwindigkeit als bei Homo und vor allem in geringerer Ökonomie, d. h. Ausdauer (Abb. 3). Auf ganz kurzen Sprintstrecken können sie durchaus schnell gewesen sein, aber nicht auf langen Märschen (s. u.). Wegen der Kürze der Beine sind die Drehmomente der äußeren Lasten an den Gelenken geringer als beim langbeinigen Homo und verlangen keine speziell entfaltete Muskulatur. Folglich bleiben die Druckkräfte, Biegemomente und Gelenkkräfte kleiner als bei Homo, und die Skelettelemente der Gliedmaßen können weniger robust ausfallen. Kniegelenke in einer X-Stellung wie bei Homo vermindern die Biegebeanspruchung der Beine an einer kritischen Stelle. Der nach außen offene Winkel zwischen dem Zug der Streckmuskeln am Oberschenkel und dem Kniescheibenband führt zu einer nach außen gerichteten Umlenkkraft, die den erhöhten Rand der Patellargleitbahn nach sich zieht. Auch bei dem miozänen Menschenaffen Oreopithecus findet sich die X-Stellung des Kniegelenkes. Salvador Moyà Solà und Meike Koehler (1996b) haben das als einen unter mehreren Hinweisen darauf verstanden, dass diese enigmatische Form ebenfalls biped war. Für bevorzugt vierbeinig laufende Tiere ist eine derartige Stellung des Kniegelenks nicht von sonderlich großer Bedeutung. Immerhin kommt eine X-Stellung auch an den Vorderbeinen mancher vierfüßigen Lauftiere vor, etwa bei Rindern, Hirschen und Antilopen. Hier allerdings betrifft sie das Carpal-Gelenk und das nach unten anschließende Röhrbein, bewirkt aber ebenfalls eine Verminderung der Biegemomente im Gelenk und über dem folgenden Segment. Für häufig kletternde Primaten allerdings gibt es gute Gründe, das Kniegelenk in einer O-Bein-Stellung nach außen zu schwenken: auf diese Weise kann der Abstand zwischen Bauch und Stamm kleiner werden als die Oberschenkellänge. Am Fuß der Australopithecinen (Abb. 7) fallen die Zehen auf. Im Vergleich zu denjenigen der Menschenaffen erlaubt ihre Kürze eine Begrenzung der Muskelmasse am Unterschenkel. Wegen der verminderten Kraft auf den Beugesehnen ist dann eine höhere Steifigkeit des Fuß-Skeletts erforderlich als bei Schimpansen und Gorillas, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie bei <?page no="50"?> 52 Holger Preuschoft Homo, dessen Zehenbeuger zugunsten des Wadenmuskels nur ganz schwach entwickelt sind (Preuschoft 1970). Die nahe liegende Frage nach der Abspreizbarkeit der Großzehe, die den „Greiffuß“ bildet, kann nicht sicher entschieden werden. Frühere Untersucher schlossen aus dem Grundgelenk, dass die Verhältnisse ähnlich waren wie beim Menschen (Preuschoft 1971). Die Laetoli-Fußspuren deuten eine gewisse geringe Abspreizung der Großzehe an, die auch anhand des Skeletts von „Littlefoot“ (Clarke 1998) für möglich gehalten wird. Indessen ist die eingeschränkte Bewegungsmöglichkeit der Großzehe für die Fortbewegung am Boden nicht entscheidend, wie der Autor für den Gorilla gezeigt hat. Eine gewisse Greiffähigkeit des Fußes ist bei Australopithecus schon wegen der langen Zehen anzunehmen (Susman et al. 1984; Susman u. Stern 1991). Der Rumpf der Australopithecinen hat nach John T. Robinson (1972) fünf Lendenwirbel, die ihm Beweglichkeit verleihen. Das bedeutet aber nicht, dass der Rumpf schlank und lang war wie beim Menschen. Aufgrund der Rekonstruktionen des Rippenkorbes (Schmid 1983; Franzen 1988; Becker Abb. 7: Fußabdrücke von Mensch, Vormensch (Laetoli), Schimpanse und Gorilla. Man beachte die Länge der Zehen und die Stellung der Großzehe (oben). Die erhaltenen Mittelfußknochen des Fußskeletts OH 6 weisen eine geringere Biegefestigkeit auf als beim Menschen, aber eine deutliche höhere als bei den Menschenaffen (Mitte). Bei allen Formen besteht zwischen dem Ballen und der Ferse eine Längswölbung, die durch Muskeln und beim Menschen auch durch Bänder aufrecht erhalten wird. Lange Zehen erfordern starke Zehenbeuger. Je größer die Muskelkräfte, umso geringer die Biegebeanspruchung des Fußes (im Beispiel um 14,5 %). Schwächere Muskeln erfordern einen biegefesten Bau und eine höhere Wölbung des Fußskelettes (unten). <?page no="51"?> 53 Die Biomechanik des aufrechten Ganges 1988) ist anzunehmen, dass er nicht die für den Menschen so kennzeichnende Taille besaß (s. o.; Abb. 5 u. 6). Die beim Gehen Energie sparende Torsion in der Taille wie beim Menschen ist damit nicht anzunehmen. Ein gedrungener, fassförmiger Rumpf bietet - wie oben bereits für die Beinlänge ausgeführt - bei Stürzen mehr Sicherheit als ein langer, schlanker. Auch beim Vorwärts-Beugen hat er wegen der kurzen Hebelarme der Rumpfsegmente Vorteile (Abb. 8) und ist damit keine „Fehlkonstruktion“. Das gilt insbesondere, wenn eine lordotische, d. h. nach hinten hohle, Krümmung der Lendenwirbelsäule vorhanden war, welche den Muskeln lange Hebelarme verleiht. Das ist ganz eindeutig günstig für die aufrechte Haltung auf zwei Beinen. Wie der Autor et al. (1988) in einer Studie an Japanmakaken Abb. 8: Die Beanspruchung der Rückenmuskeln und der Wirbelsäule hängt von der Haltung des Rumpfes ab. Ein „lordotischer“ Knick vermindert die Beanspruchung der Rückenmuskeln umso mehr, je tiefer er liegt (oben). Becken und Wirbelsäule von einem Schimpansen, für Bipedie trainiertem Japanmakak, Australopithecus Sts 14, Homo. Der Iliumhals ist jeweils schraffiert. Australopithecus hat ein kurzes Becken, allerdings nicht die enorme Biegefestigkeit des Iliumhalses wie der Mensch (Mitte). Wegen des langen Iliumhalses führt bei einem galoppierenden Affen jede Rumpfbeugung zu vergrößertem Raumgewinn der Hinterbeine (unten). <?page no="52"?> 54 Holger Preuschoft zeigen konnten, scheint die Lendenlordose indessen ein während des Lebens durch Training zu erwerbendes Merkmal zu sein (Abb. 8). Dies wird auch durch die Befunde von Abitbol an einbis zweijährigen Kindern gestützt. Für den südafrikanischen Fund STS 14 ist die Lordose der Lendenwirbelsäule nachgewiesen (Robinson 1972). Da das zugehörige Beckenfragment mit den Beckenteilen des nahezu vollständigen, als „Lucy“ bekannt gewordenen Skeletts von A. afarensis aus Hadar in Äthiopien (Johanson u. Edey 1981) zu einem vollkommen symmetrischen Becken vereinigt werden kann, ist auch für Lucy eine Lendenlordose anzunehmen. Das Becken der Australopithecinen wird häufig als Beweis für die Zweibeinigkeit herangezogen, ohne dass je in befriedigender Form erklärt worden wäre, welche Formmerkmale es für die Bipedie geeignet machen. Immerhin ein auffälliges Merkmal kann aber biomechanisch begründet werden: Wie aus der Abbildung 8 (Mitte) hervorgeht, weist das Becken der Australopithecinen einerseits nicht die Länge und gestreckte Form des Darmbeinhalses auf wie bei allen anderen Primaten einschließlich der Menschenaffen (Berge 1993). Andererseits ist ihr kurzer „Iliumhals“ zwar etwas mehr nach hinten hohl gebogen als bei anderen Primaten, besitzt aber keine so ausgeprägte „Lordosierung“ wie beim Menschen. Der Vorteil der Kürze des Beckens liegt auf der Hand: Der Knick im Rumpf, oberhalb dessen keine Biegemomente mehr auftreten, befindet sich ganz dicht am Hüftgelenk (Abb. 8 Mitte), ohne dass die Gleichgewichtssituation an diesem Gelenk und damit die Anordnung und Koordination der Muskeln grundsätzlich geändert werden müssten. Mit der Lordosierung des Darmbeins selbst nähert sich der Knick in der Rumpfachse noch mehr dem Hüftgelenk. Jetzt treten große Biegemomente innerhalb der Darmbeine auf, die wegen der erheblichen Breitenentwicklung des Darmbeinhalses ertragen werden können. Die Länge der Darmbeine bei den Affen kann bisher nur mit dem Vorteil größerer Ausschläge beim Springen und Galoppieren in vierfüßiger Haltung begründet werden (Abb. 8 unten). Die Menschenaffen setzen allem Anschein nach ihre am Becken entspringende Muskulatur auch zur Stabilisierung des Rumpfes ohne Lendenlordose ein (Preuschoft 1999). Bei einem Zweibeiner mit Lendenlordose entfällt der Grund für große Beckenlänge. Ihre langen und schweren Arme sind jedoch ein Hindernis für die Abstimmung der Pendelbewegungen zwischen oberen und unteren Gliedmaßen: Die Pendellänge der Arme ist zu groß. Indessen bietet eine ausgeprägte Armlänge für einen großwüchsigen Kletterer den erheblichen Vorteil der Reichweite. Er braucht seinen einmal gefundenen stabilen und sicheren Platz im Baum nicht aufzugeben, um etwa an entlegene Zweige oder Früchte zu gelangen. Ein wichtiger Grund kommt noch hinzu: Ein großer, schwerer Kletterer muss sich näher am stärksten Teil eines jeden Baumes halten als ein kleines Tier, und der Stamm ist der stärkste Teil. Wenn ein Lebewesen <?page no="53"?> 55 Die Biomechanik des aufrechten Ganges teils am Boden und teils auf Bäumen lebt, muss es den Boden und Krone verbindenden Teil des Baumes überwinden - eben den Stamm. Beim Klettern an Stämmen haben die langen Arme den unmittelbar wichtigen Effekt der Kraftersparnis (Abb. 9) (Preuschoft u. Witte 1991; Preuschoft et al. 1992). Die so auffällige Stärke der Arme und Hände bei den Australopithecinen ist im Wesentlichen einfach eine Folge der Länge: Nur mit entsprechender Muskelausstattung sind lange Arme kontrolliert zu bewegen. Die mächtige Muskulatur bedingt erhebliche Druckkräfte und Biegemomente und erfordert entsprechende Dimensionen des Skeletts (Preuschoft u. Demes 1984; 1985). Die Fingerglieder liefern mit ihrer mäßigen Krümmung, Länge und beträchtlichen Breite (Susman 1988) Anhaltspunkte dafür, dass sie getrennt voneinander eingesetzt worden sind und nicht eng beieinander liegend und sich gegenseitig abstützend, wie es bei der hangelnden Fortbewegung meistens der Fall ist. Der weitgehend erhaltene Australopithecus „Lucy“ ist mit den Gelenkstellungen und -ausschlägen des Menschen besser zu stabilem - und rhythmischem - Gehen zu bringen als mit den Bewegungsparametern des Schimpansen. Australopithecinen müssen also trotz ihrer scheinbar schimpansenähnlichen Gestalt beim Gehen menschenähnliche Bewegungsabläufe beses- Abb. 9: Beim Klettern am Stamm zieht eine große Länge der Arme eine Verminderung der Kraft nach sich, die von den Armen getragen werden muss, ist also vorteilhaft. <?page no="54"?> 56 Holger Preuschoft sen haben (Crompton et al. 1998). Die insgesamt aufgebrachte Arbeit an den Gelenken - und damit der Energiebedarf - sind indessen höher als beim Genus Homo (s. o.). Aus alledem lässt sich folgern: Die Vormenschen waren Zweibeiner, aber keine sehr ausdauernden Geher. Sie waren deutlich bessere Kletterer als Homo, und das Klettern spielte in ihrem Leben eine viel bedeutendere Rolle als bei den Frühmenschen. Funktionelle Morphologie der vierfüßig laufenden Affen Die unmittelbaren Vorläufer der Vormenschen sind zur Zeit nicht bekannt. Zwischen dem ältesten bisher bekannten Vertreter der Gruppe, „Ardipithecus“ ramidus, und den miozänen Menschenaffen klafft eine Fundlücke. Auch die unmittelbaren Vorläufer der heutigen Menschenaffen sind nicht bekannt. Aufgrund molekularbiologischer Überlegungen erwartet man eine Trennung der Stammeslinien vor etwa 6 bis 7 Millionen Jahren. Fossile Dokumente aus jener Zeitspanne sind deshalb das spannendste Ziel für die Forschung. In jüngster Zeit sind zwei Funde beschrieben worden, die in diese Zeit fallen: Orrorin tugensis (Senut et al. 2001; Pickford u. Senut 2001) und Sahelanthropus tchadensis (Brunet et al. 2002). Beide werden von ihren Entdeckern der Hominiden-Linie zugeordnet. Vom Ersteren sind auch Reste von Gliedmaßen erhalten. Nähere Informationen liegen noch nicht vor. Wegen der Dimensionen des Oberschenkels sehen Brigitte Senut und Martin Pickford ihren Fund bereits als vollständig angepassten Zweifüßer an und bezweifeln folgerichtig, dass die Australopithecinen zur Stammeslinie der Menschen gehören (Senut 2002, 360). Im Falle von Sahelanthropus besteht der beste Teil des Fundes aus einem Schädel. Das ist natürlich besonders aufschlussreich, liefert aber zur Frage der Körperform und Fortbewegungsweise keinerlei Auskünfte. Auch hier ist abzuwarten, bis weitere Details über die erhaltenen Teile bekannt werden. Gleich, ob diese Neufunde sich als Zweibeiner herausstellen oder nicht, so bleibt doch die bereits gestellte Frage unbeantwortet, warum sie bei der Veränderung der Umwelt nicht ihre bisherige vierbeinige Fortbewegung perfektioniert haben - so wie es bei Schimpansen und Gorillas geschehen ist und in anderer Weise bei Pavianen, Makaken und Husarenaffen. Niemand zweifelt daran, dass die noch älteren Ahnen der heutigen Menschenaffen wie auch der Menschen unter den mittelmiozänen Menschenaffen zu suchen sind, den „dental apes“ der Englisch sprechenden Autoren, die unverkennbar die Körperbau-Merkmale der überwiegend baumbewohnenden vierfüßigen Primaten aufweisen. Um die Ausgangsbedingungen für die Evolution zur Bipedie zu verstehen, ist es erforderlich, die Biomechanik der Fortbewegung auf den Bäumen zu untersuchen. Das Substrat für die Fortbewegung auf Bäumen ist ein dreidimensionales Maschenwerk. Bewe- <?page no="55"?> 57 Die Biomechanik des aufrechten Ganges gung auf nicht ebenem Substrat bringt zunächst einmal kaum andere mechanische Bedingungen als das Gehen auf dem Boden; allerdings wird das bodennahe Beinpaar etwas stärker und das bodenferne Beinpaar etwas geringer belastet (Abb. 10) (Preuschoft 2002; Nakano 2002). Mit dem ansteigenden Neigungswinkel des Substrates steigt auch das Ungleichgewicht. Vorausgesetzt, dass der Kletterer den Kopf immer oben behält, werden die Hintergliedmaßen größeren Lasten ausgesetzt. Hieraus ergibt sich eine regelrechte Arbeitsteilung: Die hinteren Extremitäten tragen mehr Körpergewicht, die Vordergliedmaßen werden entlastet und können so auch zur Nahrungsaufnahme oder zu Manipulationen eingesetzt werden. Die erhöhte Belastung der Hinterbeine auch am Boden ist ein ganz typisches - und bei den Säugetieren sonst unübliches - Merkmal der Primaten (Kimura et al. 1979; Demes et al. 1994). Die demnach zu erwartende kräftigere Ausbildung der Hinterbeine findet sich nach den Befunden Tasuku Kimuras (1985; 2002) auch tatsächlich verstärkt bei den mehr baumlebenden Affen, während die mehr bodenlebenden Formen ähnlich den Lauftieren zu einer Verstärkung der Vordergliedmaßen tendieren. Abb. 10: Auf geneigten Substraten, wie sie beim Klettern in Bäumen die Regel sind, tragen die tiefer stehenden Gliedmaßen einen höheren Teil der Körperlast. Hält ein Tier den Kopf immer oben, so kann es zu einer Arbeitsteilung zwischen Vorder- und Hintergliedmaßen kommen, wobei die zuletzt genannte verstärkt wird. <?page no="56"?> 58 Holger Preuschoft Abb. 11: Die Greifhände bzw. Greiffüße von Primaten können mit ihren eigenen Muskeln die Anpresskraft der Zehen heraufsetzen, ohne die freie Wahl der Stellung in den Sprunggelenken zu beeinträchtigen (oben). Die Anpresskraft erhöht die Reibung. So können nicht nur Zugkräfte, sondern auch Momente vom Tier auf das Substrat übertragen werden. Beispiele finden sich in der Abbildung 10. Die Muskeln der Finger und Zehen (unten, Fußmuskeln eines Gorilla) ziehen ein beträchtliches Gewicht der Hände, Unterarme, Füße und Unterschenkel nach sich. <?page no="57"?> 59 Die Biomechanik des aufrechten Ganges Auf geneigten Substraten können hohe substratparallele Kräfte auftreten, die meist mit Hilfe der Reibung kompensiert werden. Erst bei erheblichen Neigungen kommt es dazu, dass an einem Beinpaar Zugkräfte auftreten, die auf das Substrat übertragen werden müssen. Dafür haben manche Tiere Krallen, andere Saugnäpfe. Primaten haben Greifhände und -füße. Diese können außer Zugkräften auch noch Drehmomente übertragen, wozu Krallen kaum in der Lage sind (Abb. 11). An den Kontaktflächen zum Substrat erhöhen die charakteristischen Hautleisten auf weichen Polstern den Reibungskoeffizienten um bis zu 20 % (Buck u. Bär 1993). Reibung ist proportional zur Anpresskraft. Das ist bei den meisten Tieren die Last, die von dieser Extremität getragen wird. Gerade wegen der Neigung der Substrate auf Bäumen kann aber die Anpresskraft im Verhältnis zur substratparallelen Kraftkomponente gering ausfallen. Die Anpresskraft wird unabhängig vom Gewichtsanteil, wenn Greifhände oder Greiffüße von verschiedenen Seiten gegen das Substrat gepresst werden. Das Greifen mit dem ersten Strahl, also dem Daumen oder der Großzehe, gegen die Strahlen II bis V ist die häufigste Variante; es kommen aber auch andere Griffformen vor. Chamäleons oder Papageien beispielsweise greifen mit den Strahlen I und II gegen III bis IV oder V. Eine ausgeprägte Länge der Finger oder Zehen vergrößert vor allem die Spannweite des Griffes. Sie erlaubt das Umfassen auch dicker Stämme und das Bündeln mehrerer dünner Zweige, um die Summe ihrer Festigkeiten zu nutzen. Hier liegt der entscheidende Grund für die akrobatischen Fähigkeiten der Primaten. Die für das Anpressen der Finger bzw. Zehen erforderlichen Muskeln sind Teil der Hand bzw. des Fußes oder des Unterarmes bzw. Unterschenkels. Die Länge der Finger und Zehen verlangt eine besonders starke Muskulatur (Abb. 7 u. 11). Deshalb sind beide Segmente bei den Affen zweimal so schwer wie bei Lauftieren (Preuschoft et al. 1998). Wegen des Gewichts der Hände und Unterarme sowie der Füße und Unterschenkel sind hochfrequente Gangarten ebenso ungünstig wie die Energiebilanz. Affen sind deshalb wenig ausdauernde Läufer, und sie benutzen den hochfrequenten und leichtfüßigen Trab höchst selten oder gar nicht, statt dessen bevorzugen sie einen langen, weit ausholenden Schritt. Ein erheblicher Vorteil beim Klettern besteht darin, den Arm nach vorn über die Kopfhöhe und auch seitwärts heben zu können, um einen Halt zu ergreifen. Beide Bewegungen sind bei Lauftieren deutlich eingeschränkt. In beiden Fällen müssen starke Muskeln, M. latissimus und M. pectoralis, eingesetzt werden, die den Oberarmkopf zur Mitte des Rumpfes hin ziehen (Abb. 12) (Preuschoft et al. 2004). Der Oberarmkopf presst gegen die Schultergelenkpfanne. Ein Schlüsselbein ist zweckmäßig, um einen Teil dieser Kraft aufzunehmen, aber auch der M. serrratus wird eingesetzt, um das Schulterblatt in seiner Lage auf dem Brustkorb zu halten. Die Rippen kön- <?page no="58"?> 60 Holger Preuschoft nen bei einem Kletterer den Zug der Muskeln an ihren Ursprüngen auf den Rippen nur aushalten, wenn sie eine ausgeprägte Biegung besitzen (Preuschoft et al. 2004). Die so herbeigeführte Verbreiterung des Brustkorbes macht die Aufrichtung des Rumpfes leichter, weil sich die Massenmittelpunkte der Rumpfsegmente näher an der Wirbelsäule befinden. Die großen Menschenaffen sind ausgezeichnete Kletterer und verbringen einen erheblichen Teil ihrer Zeit auf Bäumen. Das Klettern am Stamm und ihre hohe Körpermasse erzwingen besondere Anpassungen der Hände und Füße sowie eine ausgeprägte Länge und Stärke der Arme. Diese eröffnet im dreidimensionalen Lebensraum auf den Bäumen zusätzliche Perspektiven für die Lokomotion und hat zur Bildung von drei weiteren Baumustern geführt: Der langsam kletternde Orang-Utan zeigt die Besonderheiten der Baumbewohner am deutlichsten. Zum gleichen Baumuster wie die heutigen Menschenaffen gehören allem Anschein nach auch die spätmiozänen oder pliozänen Dryopithecinen (Moyà Solà u. Koehler 1996a). In extremer Weise haben die kleinen Menschenaffen, die Gibbons, die Dominanz der Arme genutzt und sind zu spezialisierten Schwinghanglern geworden. Ökonomisch ist das aber nur bei Körpermassen zwischen 3 und 12 kg. Bei noch mehr Masse wären dann zu große Kräfte in den Unterarm-Mus- Abb. 12: Heben der Arme über Kopfhöhe (links), sowie Spreizen der belasteten Arme zu den Seiten (Mitte und rechts) erfordert die Anspannung von Muskeln, welche von der Außenseite der Rippen entspringen. Aus Muskelzug und Körpergewicht ergibt sich eine Resultierende, die das Schultergelenk und das Schulterblatt nach kaudal und medial drückt. Diese erfordert eine entsprechende Lage des Schulterblattes, ein Schlüsselbein und eine ausgeprägte Krümmung der Rippen, um der hohen Biegebeanspruchung Widerstand zu leisten (rechts). <?page no="59"?> 61 Die Biomechanik des aufrechten Ganges keln erforderlich, die eine unproportionale Verstärkung der Arme und damit eine ungünstige Veränderung der Pendeleigenschaften des schwingenden Körpers nach sich ziehen müssten (Abb. 13). Gorillas und Schimpansen sind teils zum Klettern und teils zum vierfüßigen Laufen gebaut. Während Orang-Utans in aufgerichteter Körperhaltung eine Reihe von biomechanischen Parametern mit dem Menschen gemeinsam haben, sind sie auf dem Boden ganz schlechte Läufer. In diesem Punkt sind Gorillas und besonders Schimpansen deutlich überlegen, wobei sie aber eine vierfüßige Körperhaltung eindeutig bevorzugen. Die Lage des Körperschwerpunktes und die Länge der Hintergliedmaßen erlauben bei allen Menschenaffen ein müheloses Erheben auf die Hinterbeine, wobei aber die Gelenkstellung und Einzelheiten der Kinematik wegen der Erfordernisse der vierfüßigen Fortbewegung andere sind als beim Menschen. Diskussion Australopithecinen und ihre Lebensweise Von vielen typischen Merkmalen der Menschenaffen besaß Australopithecus (einschließlich des sog. „Homo habilis“) auch etwas: Die Länge seiner Finger und Zehenglieder erfordert sehr kraftvolle Finger- und Zehenbeuger (s. u.). Diese sind schwer, sie setzen starke Knochen voraus und bauen deutliche Sehnenansätze an den Finger- und Zehengliedern auf. Alle diese Merkmale sind vorhanden und beweisen, dass die Vormenschen recht gute Kletterer waren. Auch Länge und Robustheit der Arme sprechen dafür. Die Lebensweise der Vormenschen wurde demnach bestimmt vom häufigen Ersteigen der Bäume - vielleicht zum sicheren Schlafen, als Zuflucht vor Raubtieren oder auch zum Abernten von Früchten. Am Boden zwischen den Bäumen sind sie offenbar zweibeinig gelaufen (Abb. 13). Es fehlen ihnen aber die Merkmale, die ein Energie sparendes Gehen ermöglichen. Die Beschränkungen für die hochfrequente Gangart, den Trab, dürften auch für Australopithecus gegolten haben; für Homo trifft das auch noch bis zu einem gewissen Grad zu. Deshalb sind wir trotz der Ökonomie unseres Gehens so langsame Renner. Die Bäume dürften im Lebensraum der Vormenschen so dicht gestanden haben, dass sie keine übermäßig langen Strecken mit ihren Anforderungen an die Ausdauer zurücklegen mussten. Ihre Lebensweise und ihr Aktionsradius um die Baumgruppen mögen derbzw. demjenigen der heutigen Schimpansen gar nicht so unähnlich gewesen sein (Goodall 1968). Wir wissen aber, dass sie in offenerem Gelände lebten als Schimpansen und dass sie ausgedehnte Wälder gemieden haben. Ihren Lebensraum können wir uns mit guten Gründen als baumbestandene Savannen- oder Parklandschaft vorstellen, abwechslungsreich gegliedert und <?page no="60"?> 62 Holger Preuschoft durchzogen von Gewässern. Derartigen Landschaften gilt noch heute die ganz besondere Vorliebe der Menschen. Wo die Möglichkeit dazu besteht, werden solche Landschaften gestaltet. Ganz große Läufer waren die Vormenschen sicherlich ebenso wenig wie Bewohner dichter Wälder. Die große Frage, ob sie Werkzeuge benutzt haben, ist nur aus den Fundumständen zu beantworten. Das erste Auftreten von Steinwerkzeugen fällt in die Phase, in der bislang nur Australopithecinen nachgewiesen sind. Mehrfach wurde schon versucht, einen Zusammenhang zu finden zwischen der Anfertigung bzw. dem Gebrauch von Werkzeugen und speziellen Merkmalen des Skelettes, besonders der Hände und Finger. Diese Versuche haben bisher keine befriedigenden Ergebnisse geliefert. Das dürfte daran liegen, dass morphologische Anpassungen nur aufgrund von hohen mechanischen Beanspruchungen auftreten, die sich in der gleichen Form oft genug wiederholen („Wolffsches Gesetz“). Im Falle der Herstellung oder Benutzung von Abb. 13: Die fünf Baumuster, die unter Hominoiden realisiert sind: a Menschen und Frühmenschen: ausdauernde zweibeinige Geher; b Vormenschen: wenig ausdauernde Zweibeiner mit erheblichen Fähigkeiten im Klettern auf Bäumen; c afrikanische Menschenaffen: gute Kletterer, die am Boden das vierfüßige Gehen bevorzugen; d Orang-Utan: vorzüglicher Kletterer, der auch in zweibeiniger Haltung stehen und gehen kann, aber in der Regel den Boden meidet, jedenfalls keine langen Strecken läuft; e Gibbons: überaus geschickte Schwinghangler und Kletterer, die auch oft biped laufen; f vierfüßig laufender Vorläufer der Menschenaffen aus dem Miozän. <?page no="61"?> 63 Die Biomechanik des aufrechten Ganges Steinwerkzeugen treten solche Beanspruchungen jedenfalls in den Fingern beim Zugreifen oder Halten auf. Indessen ist das Greifen mit den Händen bei der Lokomotion in Bäumen ebenfalls erforderlich, genauso wie beim Nahrungserwerb. In beiden Zusammenhängen treten auch sehr große Kräfte auf, die eine ganz bestimmte Form der Skelettteile erfordern. Diese Form unterscheidet sich nach heutigem Kenntnisstand nicht von derjenigen, die für einen kraftvollen Umgang mit Werkzeugen („Kraftgriff“) erforderlich ist. Bewegungen mit geringem Kraftaufwand, wenn auch mit hoher Präzision („Präzisionsgriff“) führen nicht zu speziellen Formen des Skelettes, mögen sie auch noch so häufig wiederholt werden. Deshalb ist die Form der Hand immer entscheidend geprägt durch ihren Einsatz bei der Lokomotion. Tatsächlich zeigen mehrere Studien (z. B. Christel 1993), dass Affen sehr wohl Präzisionsgriffe einsetzen, dass deren Gestalt und Technik aber in Abhängigkeit von der Handform variiert und damit von der Lokomotion dominiert wird. Eine andere Frage, die besonders in den 1980er Jahren hitzig erörtert worden ist, lautet: Waren die Vormenschen Jäger? Ihnen fehlen die körperlichen Merkmale, die den ausdauernden Geher kennzeichnen. Immerhin ist nicht ausgeschlossen, dass sie Beuteschmarotzer waren, die den Raubtieren ihre Beute abnahmen. So können sie einen erhöhten Eiweißbedarf gedeckt haben. Das Argument, nach dem die Aufrichtung die Sonneneinstrahlung in der Tagesmitte vermindert (s. u.), hat ebenso Gültigkeit, wenn man mit Robert Foley (2000) die Zeitökonomie für die Ortsänderung von einer Baumgruppe zur nächsten berücksichtigt. Hetzjagden auf großes Wild sind dafür keineswegs eine zwingende Voraussetzung. Auch die Gebisse der Australopithecinen sprechen nicht für eine besondere Neigung zur Fleischnahrung. Unverkennbar haben sie Merkmale, die das Verzehren ausgesprochen harter Nahrung nahe legen (Pfretzschner in diesem Band). Die mächtige Muskulatur mit ihren langen Hebelarmen, die Form der Kiefer, die Proportionen des Gesichts und die Zahnformen sind geeignet, mit harter Nahrung fertig zu werden (Preuschoft 1989). Entscheidende Faktoren für die Schädelform sind die Lage der Zahnreihen im Verhältnis zum Hirnschädel sowie die Form des Zahnbogens (Witzel u. Preuschoft 2002; Preuschoft u. Witzel 2004). Sind diese Faktoren vorgegeben, dann ist die Schädelform der Primaten ganz einfach Folge des biomechanischen Beanspruchungsmusters oder des Kraftflusses. An der Lage und Form des Zahnbogens und der Stärke der Kaumuskulatur scheint die Evolution angesetzt zu haben. Während bei den meisten Wirbeltieren und auch bei den niederen Primaten die ersten und die engsten taktilen Umweltkontakte mit Nase und Mund aufgenommen werden, tritt an deren Stelle bei den Affen die Hand. Entsprechend groß ist im Gehirn der Affen die Repräsentanz der Hand. Die Verschiebung der biologischen Rolle der Hand vom reinen Fortbewegungsorgan zum wichtigsten Organ der Umweltkontakte <?page no="62"?> 64 Holger Preuschoft mit einer korrespondierenden Rückbildung der vorspringenden Schnauze ist bei allen Primaten eine durchgehende Evolutionstendenz und auch innerhalb der Hominoidea, d. h. der Menschenaffen und Menschen, zu beobachten. Die Vormenschen und die Frühmenschen stehen in erster Annäherung zwischen den Affen und den Menschen. Mit dem zunehmenden Einsatz der Hand anstelle der Schnauze kann diese verkürzt werden und so an Beißkraft gewinnen, ohne die Muskulatur zu verstärken. Die Vormenschen zeigen eine ausgeprägte Besonderheit hinsichtlich der Massivität des Kauapparates und der geringen Entwicklung der Frontzähne. Das spricht ganz und gar nicht für die Bevorzugung von Fleischnahrung, eher schon für das Knacken harter Schalen. Homo hat zwar eine hohe Ausbeute an Muskelkraft für das Beißen, aber eine zurückgebildete Kaumuskulatur. Man kann sich fragen, ob die frühen Menschen ihre Nahrung vielleicht gekocht und damit die Rückbildung des Kieferapparates gefördert haben, wie es Wrangham et al. (1999) vorgeschlagen haben. Warum aufrecht auf zwei Beinen? Zu der Frage, warum unsere Ahnen es vorzogen, am Boden biped zu laufen, gibt es zahlreiche Vermutungen, von denen Carsten Niemitz (2002; 2004) die am meisten diskutierten Überlegungen jüngst revidiert und scharfer Kritik unterzogen hat. Die meisten Autoren versuchen, auf der Ebene der biologischen Rollen anhand vermuteter ökologischer Notwendigkeiten plausibel zu machen, warum unsere Ahnen nicht wie die Schimpansen, Gorillas und Paviane von den Bäumen auf den Boden gegangen und auf allen Vieren gelaufen sind. Die meisten dieser Vorstellungen sind recht bekannt, aber nichtsdestoweniger in vielen Fällen keineswegs überzeugend, oder mit allzu vielen Voraussetzungen behaftet. Beispielsweise war angeblich der bessere Überblick im hohen Gras entscheidend oder zweibeiniges Laufen schneller als vierbeinige Fortbewegung. Gegen manche Vorschläge spricht die schlichte Feststellung, dass andere Tiere in ähnlicher Lage mit ganz anderen Anpassungen reagiert haben. Das gilt etwa für die Minderung der Sonneneinstrahlung durch Aufrichtung. Dieser Vorteil besteht tatsächlich (Wheeler 1991a; b). Indessen ist diese Idee mit einer anderen verbunden: dass ausgedehnte Ermüdungsjagden auf Großwild stattgefunden hätten. Vor diesem Hintergrund sind Überlegungen aus den 1980er Jahren, nach denen die Menschen als Hetz-Jäger entstanden sein sollen (Carrier 1984), keineswegs abzulehnen. Allerdings sind sie auch nicht zwingend zu beweisen, denn die Mehrzahl der heutigen Lauftiere sind Vegetarier, und das Gebiss der Hominiden gibt keinerlei Anhaltspunkte für eine Bevorzugung von Fleischnahrung (s. o.). Festzuhalten ist hier bereits, dass die Lauftiere, also die meisten Huftiere sowie Elefan- <?page no="63"?> 65 Die Biomechanik des aufrechten Ganges ten, Kamele und auch die hundeartigen Raubtiere, wie der Mensch durchweg Bewohner der offenen Landschaften, der Savannen und Steppen sind. Die körperlichen Merkmale, mit denen die Erfordernisse einer solchen Lebensweise erfüllt werden, tauchen einfach zu spät auf, um für den Erwerb der Bipedie eine Rolle zu spielen. Für Homo ist das Jagen mit dieser Methode nicht bewiesen, aber möglich. Die Idee, dass die Bipedie auf die Freigabe der Hände für Manipulationen zurückzuführen ist, erinnert an die Menschwerdung durch Arbeit (Engels 1884). Diese Vorstellung ist teleologisch, und sie setzt den Beginn des Werkzeuggebrauchs und wohl auch die Entfaltung mentaler Fähigkeiten als Ursache für die Bipedie voraus. Wir wissen aber, dass die Bipedie älter ist als die progressive Entfaltung des Gehirns. Auf neuere bzw. in neuerer Zeit wieder aufgegriffene Überlegungen soll hier näher eingegangen werden: Lose anknüpfend an die Idee einer „irgendwie“ aquatischen Lebensweise, die vor allem von Elaine Morgan (1982; 1991) in unterschiedlicher, aber nicht allzu klarer Weise vertreten worden ist, hat Niemitz (2002; 2004) das Waten im flachen Wasser als unmittelbaren Anlass für die Erhebung auf die Hinterbeine angesehen. In seiner „amphibischen-Generalisten-Theorie“ betont er, dass als Vorläufer nur eine nicht einseitig für das Baumleben spezialisierte Form, sondern ein sowohl auf Bäumen als auch am Boden geschickter Primate in Betracht kommen kann. Derartige Primaten gab und gibt es viele. Der selektive Vorteil für unsere hier angenommenen Vorläufer bestand in der Ausbeutung der eiweißreichen Nahrungsressourcen, die im flachen Wasser an Meeresküsten oder an den Flußufern in Gestalt von Wirbellosen weitgehend saisonunabhängig vorhanden sind. Niemitz weist in diesem Zusammenhang auch auf die ausgeprägte Neigung der Menschen, besonders der Kinder, zum Aufenthalt und Spielen im flachen Wasser hin. Das Waten im flachen Wasser bringt Affen mehrerer Arten und verschiedener Lokomotionstypen tatsächlich zur Aufrichtung. Die biomechanischen Anforderungen, die es an den Körper stellt, sind beim Menschen ebenfalls fast durchweg erfüllt (s. a. H. u. S. Preuschoft 1991). Shabel (2005) zeigte anhand der 13 C-Isotope, dass ein Vertreter der Gattung Paranthropus (Swartkrans) tatsächlich in großem Umfang Muscheln und Krustentiere zu sich genommen hat. Die Isotopenkonzentration ist ähnlich hoch wie bei einer Otter- und einer Ichneumon- Art, die heute im gleichen Gebiet von den gleichen Wirbellosen leben. Damit erhält Niemitz’ Annahme über die Bedeutung wasserlebender Wirbelloser als Ernährungsbasis für Vormenschen eine nachdrückliche Unterstützung. Eduard Kirschmann (1999) hat das Werfen, zunächst von Steinen zur Verteidigung gegen Raubfeinde und Konkurrenten, später auch von Speeren zum Jagen, als Ursache für die Aufrichtung erörtert. Die vorderen Gliedmaßen wurden durch die Aufrichtung von der Fortbewegung freigesetzt und <?page no="64"?> 66 Holger Preuschoft spezialisiert für das Werfen. Dieser Gedanke ist seit langer Zeit immer wieder einmal vertreten worden (Calvin 1982; Fifer 1987; Dunsworth et al. 2004). Auch in diesem Fall gilt, dass die biomechanischen Erfordernisse, die das Werfen stellt, mit der menschlichen Körperform gut erfüllt werden können. Das gilt allerdings auch für die Arme der Menschenaffen. Die Anforderungen an die Koordination von Sinneseindrücken und Bewegungsabläufen verlangen ein hoch entwickeltes Gehirn, so dass sie zu dessen Entfaltung beigetragen haben können. Ein Merkmal, das mit anderen Überlegungen nicht befriedigend erklärt werden konnte, ist die Neigung zum bevorzugten Gebrauch der Finger I bis III beim Greifen. Für den von Menschen bevorzugten Schlagwurf ist der Einsatz der drei ersten Finger plausibel. Diese Theorie setzt indessen einen Werkzeuggebrauch zu einem sehr frühen Zeitpunkt - lange vor 4 Millionen Jahren - voraus, der nicht bewiesen ist. Wenn man die im Ergebnisteil vorgestellten biomechanischen Sachverhalte addiert, kommt man zu einer Summierung von Faktoren, die ebenfalls eine aufrechte Körperhaltung und bipedes Gehen nahe legen. Die Bipedie ist aufgrund dieser Sachverhalte ganz und gar kein überraschend aufgetretenes Merkmal, sondern sie erscheint als Fortführung bestehender Tendenzen, die auf biomechanischen Erfordernissen beruhen. Jeder Evolutionsschritt geht ja von einem Lebewesen aus, das bereits vielfältigen Notwendigkeiten ausgesetzt ist und deshalb Merkmale besitzt, die geeignet sind, mit den Notwendigkeiten fertig zu werden. Die arboreale Lebensweise hat eine Reihe von Merkmalen mit sich gebracht, die als „Präadaptation“ oder Weichenstellung hin zur Bipedie angesehen werden können: Der Besitz von Greifhänden und -füßen ist ein biomechanisch begründetes Erbteil arborealer Vorläufer; ebenso die Neigung, einen erheblichen Anteil des Körpergewichts auf den Hintergliedmaßen zu tragen (Kimura et al. 1979; Kimura 2002; Preuschoft 2002; Nakano 2002) und die Vorderbeine zu entlasten. Der für Kletterer vorteilhafte Einsatz der Hände über der Kopfhöhe oder in ausgeprägter Abduktion verlangt eine starke Krümmung der Rippen und damit eine breite, nicht tiefe Form des Brustkorbs, die dann wiederum die Aufrichtung begünstigt (Preuschoft et al. 2004). Auch der Einsatz der gleichen Muskeln, die Becken und Rumpf über den Hüftgelenken ausbalancieren, ist bei Kletterern bereits vorgebahnt (Fleagle et al. 1981). Die Nachuntersuchung von Oreopithecus durch Moyà Solà und Koehler (1996a; b) bestätigt eine solche Annahme. Die bei allen Hominoiden belastbare - und nicht abgehobene - Ferse bietet eine große Unterstützungsfläche, die sich auch hinter dem Sprunggelenk ausdehnt und so ein Schwanken der Schwerlinie verträgt. Die Manipulationen und die Nahrungsaufnahme geschehen meistens im aufrechten Sitzen; der Rumpf muss und kann in dieser Lage leicht stabilisiert werden. Bei den Menschenaffen trägt die Kürze des Rumpfes zu dieser Stabilisierung bei. Ist der Rumpf kurz und sind die Hintergliedmaßen stark, <?page no="65"?> 67 Die Biomechanik des aufrechten Ganges so treten sie beim Gehen auf dem Boden weit unter die Körpermasse. Quadrupede Schimpansen tragen nur 20 % ihres Gewichts auf den Vorderbeinen, Lauftiere im Vergleich dazu 55 % (Kimura 1985). Mit dieser Feststellung ist auch gleich das in letzter Zeit wieder einmal „bewiesene“ „knucklewalking“ der Vor-Vormenschen (Tuttle 1967; Richmond u. Strait 2000) entwertet. Die immer wieder postulierten „Anpassungen“ der Finger und der Handwurzel an den Knöchelgang sind durchweg biomechanisch nicht überzeugend. Der Knöchelgang ist eine Folge der geringen Länge der Fingerflexoren und der Gewichtsverteilung, aber keine Ursache für die Bipedie. Wie die Beispiele von Orang-Utan - und, soweit wir heute wissen, auch von Oreopithecus - zeigen, ist (unterstützte) Bipedie bei Baumbewohnern nicht außergewöhnlich. Nichtsdestoweniger ist die Evolution bei den Menschenaffen einen anderen Weg gegangen: Die Verstärkung der Arme ermöglichte bei den Baumbewohnern eine ökonomische Fortbewegungsmöglichkeit, in der die Arme dominierten. Beim Rückgang der Baumbestände im späten Miozän (Pickford 2002) wurde es zunehmend nötig, die Distanzen zwischen den Baumgruppen auf dem Boden zu überwinden (Foley 2000). Gorillas und Schimpansen wählten den einen Weg, die ersten Hominiden den anderen - hin zur Zweibeinigkeit. Biomechanisch ist das sehr nahe liegend, wenn auch nicht zwingend. Die Nutzung von flachem Wasser und der darin enthaltenen Nahrungsresourcen könnte hier eine Erklärungslücke schließen. Ist der Schritt zur Bipedie einmal getan, so führt eine weitere Perfektionierung des zweibeinigen Gehens unausweichlich in Richtung der Gattung Homo (Witte et al. 1991; Preuschoft u. Witte 1991): Mit dem weiteren Auseinanderweichen der Bäume wurden die dazwischenliegenden Strecken immer länger und die Anforderungen der terrestrischen Lebensweise immer dringender. Im Interesse der Energieersparnis und der Geschwindigkeitssteigerung der bipeden Lokomotion sind die Beine verlängert und dergestalt umgeformt worden, dass die Greif- und damit die Kletterfähigkeit gelitten hat. Auch die Rumpfform und die Arme nahmen eine geeignete Form an. Homo kann zwar nicht einmal mit den langsamsten Läufern unter den großen Säugern konkurrieren, wohl aber gehört er zu den Lauftieren mit der größten Ausdauer. Auch der von der „Werfer“-Hypothese angenommene Selektionsdruck auf die Länge und Proportionierung der Arme steht nicht im Widerspruch zu diesen Folgerungen, ebenso wenig wie das Waten im flachen Wasser. Selbstverständlich liefert die Feststellung (Wang 1999, s. o.), dass das Baumuster Mensch zum Tragen von Lasten besonders geeignet ist, auch ein starkes Argument für die schon vor Jahren geäußerte Hypothese vom Transport von Früchten oder Beute in die Sicherheit der Bäume oder anderer Refugien. <?page no="66"?> 68 Holger Preuschoft Literatur Wer sich einen Überblick über den Stand der Kenntnisse erarbeiten möchte, sei besonders auf die Sammelbände verwiesen, in denen sich viele der hier aufgelisteten Zitate finden. Sie enthalten nicht nur weitere Literatur-Zitate, sondern auch flankierende Informationen, die hier nicht erwähnt sind. Alexander, R. McN. 1984: Walking and running. American Scientist 72, 348-354. Becker, U. 1988: Die Skelettrekonstruktion von „Lucy“ Australopithecus afarensis. Natur und Museum 118, 381-385. Berge, C. 1993: L’évolution de la hanche et du pelvis des hominidés. Bipédie, parturition, croissance, allometrie. CNRS Éditions, Paris. 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Kognition und Sprache im Altpaläolithikum Zusammenfassung Die Anfänge der den Menschen prägenden Merkmale „Bewusstes Denken“ und „Sprache“ sind bereits in den frühen Perioden der Altsteinzeit zu finden. Einfache Steingeräte und Faustkeile, hölzerne Speere und Knochenartefakte geben Hinweise auf die allmähliche Ausweitung des menschlichen Objektverhaltens und das ihm zugrunde liegende Denken. Die Elemente des Sprachvermögens - Kommunikations-, Sprach- und Lautfähigkeit - lassen sich indirekt durch fossile Schädelausgüsse, Beobachtungen an rezenten Primaten und entwicklungspsychologische Untersuchungen erschließen. Ein Problem bei der Beurteilung von Sprache und Kognition in den frühen Phasen der Menschheit bleibt jedoch der subjektive Standpunkt des Betrachters. Was ist ein Mensch? Was macht für Sie persönlich einen „Menschen“ aus? Platon etwa definierte Menschen als zweibeinige Lebewesen ohne Federn. Als ihm ein gerupftes Huhn als Mensch präsentiert wurde, präzisierte der Philosoph seine Beschreibung eines Menschen als „zweibeiniges Lebewesen ohne Federn mit breiten flachen Nägeln“ (Becker 1993). Generell werden zwei Gruppen von Merkmalen angeführt, um den heutigen Menschen von seinen nächsten Verwandten im Tierreich, den Menschenaffen, zu unterscheiden. Als anatomisch-morphologische Unterscheidungskriterien lassen sich die Größe des menschlichen Gehirns und dessen besondere Strukturierung zusammenfassen sowie die Hände mit exzellent ausgeprägter Feinmotorik, der aufrechte Gang, eine geringe Körperbehaarung, die typische Ausbildung des Stimmapparats, das Auftreten eines vorspringenden Kinns, die Aufwölbung der Stirn, bestimmte Gebissmerkmale etc. Diese rein körperlichen Unterscheidungskriterien greifen jedoch etwas kurz. Sie erlauben zwar die Bildung von Kategorien z. B. für die Taxono- <?page no="73"?> 75 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! mie, versagen aber kläglich bei der Erklärung des menschlichen Wesens (nimmt man an, es gibt ein solches). Abhilfe schaffen könnten Unterschiede im Verhalten wie Kultur, Werkzeuggebrauch, Werkzeugherstellung, Bildende Kunst, Musik, eine entwickelte Sprache im linguistischen Sinn, Wissenschaft, die Domestikation von Tieren und Pflanzen - oder auch mit Karl Jaspers: „Menschsein ist Freiheit und Gottbezogenheit“ (1997). Allerdings bergen auch diese Verhaltensunterschiede große Probleme, wenn es darum geht, das Menschsein unserer Vorfahren zu beurteilen. Zum einen sind diese Unterscheidungskriterien meist statisch. Sie lassen nur eine Entscheidung zwischen den Alternativen „wie wir“ bzw. „nicht wie wir“ zu, anstatt die dynamischeren Möglichkeiten „nicht mehr wie unsere gemeinsamen Vorfahren“ oder „in Richtung auf uns hin“ zu berücksichtigen. Diese Statik führte schon dazu, einige der angeführten Merkmale wie Kultur, Werkzeuggebrauch oder Werkzeugherstellung als Unterscheidungskriterien zu verwerfen, da sie schon bei Affen und z. T. auch bei anderen Tierarten nachgewiesen werden konnten. Zum anderen ist die Beurteilung urgeschichtlichen Verhaltens abhängig vom Standpunkt der Forschenden: Viele Befunde aus der Frühzeit vor mehreren hunderttausend bis Millionen Jahren sind äußerst fragmentarisch und schwer zu interpretieren. Wo die Wissenschaft ohnehin schon Probleme mit der Objektivierbarkeit hat, ist bei der Beurteilung des Menschseins erst recht das Feld für Spekulationen oder tendenziöse Interpretationen offen. Welche Merkmale sind notwendig, um einen Menschen zu definieren? Und welche Ausprägung eines Merkmals ist hinreichend für eine Klassifikation als Mensch? Reicht wiederum das, was wir finden, aus, um diese Merkmalsausprägung festzustellen? Eine differenziertere Betrachtung der Entwicklung von Kognition und Sprache kann helfen, Zwischenstufen wahrzunehmen, die weder unserem modernen Verhalten noch den Fähigkeiten moderner Primaten entsprechen. Die geschichtliche Dimension zeigt, dass die verschiedenen körperlichen und geistigen Aspekte des Menschseins sich unterschiedlich entwickelten und schwerlich ein Anfangspunkt dieses Menschseins auszumachen ist. Dieser Beitrag beschäftigt sich daher mit biologischer und kultureller Menschheitsgeschichte, mit Ergebnissen der Verhaltensforschung bei Primaten, aber auch der Entwicklungspsychologie. Und er befasst sich indirekt auch mit philosophischen Fragen, da es eben sehr auf den Standpunkt ankommt, was wir als „Mensch“, als „Kognition“ und als „Sprache“ zu akzeptieren in der Lage oder gewillt sind. <?page no="74"?> 76 Miriam Noël Haidle Die Quellen Bruchstückhafte Aussagen über die Entwicklung des menschlichen Denkens erlauben verschiedene Quellen. So können fossile Schädel eingeschränkt Auskunft geben über die Hirnentwicklung und Lautbildungsfähigkeit, jedoch nicht über das tatsächliche Denk- und Sprachverhalten einer ausgestorbenen Menschengruppe. Das Skelett z. B. der Hände bietet Hinweise auf die motorische Umsetzungsmöglichkeit gedanklicher Prozesse. Ob aber die eine oder die andere Vorfahrenart oder beide bestimmte Werkzeuge nicht nur herstellen konnten, sondern es auch taten, muss offen bleiben. Artefakte dienen als Belege für verschiedene Aspekte menschlichen Denkens, allerdings nur für jene, die auch materiell umgesetzt und überliefert wurden. Die Überlieferung ist abhängig von der Erhaltung des Materials und der Zugänglichkeit der Fundschichten. Benutzte Objekte und Werkzeuge geben somit nur einen Einblick in das Minimum der belegbaren geistigen Fähigkeiten ihrer ehemaligen Hersteller und Nutzer. Der Vergleich des Verhaltens von modernen Menschen und modernen Primaten zeigt durch Gemeinsamkeiten und ausschließlich menschliche Verhaltensweisen die modernen Pole auf, zwischen denen das Verhalten unserer späteren Vorfahren ansatzweise zu suchen ist. Verhaltensstudien bei Primaten, sei es im Freiland oder im Laborexperiment, ermöglichen zudem Rückschlüsse auf das Verhältnis von kognitiven Fähigkeiten und deren tatsächlicher Umsetzung. Ergänzend bietet die Entwicklungspsychologie über ihre Ergebnisse zur Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten einzelner moderner Menschen (Ontogenie) Ansätze zu Entstehung dieser Fähigkeiten im Laufe der Stammesgeschichte (Phylogenie). Das Altpaläolithikum Das Altpaläolithikum, also die ältere Altsteinzeit, ist für die Menschwerdung ein überaus interessanter Zeitraum, da sich in ihm die ersten Schritte der kulturellen Entwicklung jenseits des heutigen Menschenaffen Möglichen vollziehen. Der Abschnitt ist archäologisch definiert und umfasst neben einigen regionalen Ausprägungen hauptsächlich die Kulturkomplexe des Oldowan und des Acheuléen. Die überlieferten kulturellen Hinterlassenschaften aus dem Altpaläolithikum bestehen zu einem überwiegenden Teil aus steinernem Rohmaterial. Die ersten gesicherten Steinartefakte datieren ca. 2,5 Millionen Jahre zurück (Semaw et al. 1997). Die ältere Altsteinzeit endet ganz grob, da weltweit unterschiedlich, vor ungefähr 250.000 bis 100.000 Jahren. An- <?page no="75"?> 77 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! fänglich sind die kulturellen Spuren wie ihre möglichen Hersteller ausschließlich auf den afrikanischen Kontinent beschränkt: Erste Belege für Steinartefakte stammen aus Äthiopien, Kenia und Tansania. Schon die frühen Werkzeuge erlaubten ihren Herstellern die Lösung vieler Probleme und eröffneten damit einen neuen Handlungsspielraum. Die Steingeräte breiteten sich zuerst in Afrika aus und wanderten dann mit ihren Trägern in bislang von Menschenartigen unbewohnte Gebiete bis Ostasien nach China und Korea, bis Südostasien nach Java und schließlich bis nach Europa. Als Träger des Altpaläolithikums kommen verschiedene Menschenartige in Frage, die zwischen 2,5 und 0,2 Millionen Jahren vor heute lebten (Abb. 1). Die ersten Steingeräte in Afrika werden dem Oldowan und später dem Entwickelten Oldowan zugeordnet, aus dem sich zwischen 1,5 und 1,2 Millionen Jahren vor heute das Acheuléen herausbildete. Lange Zeit wurde das Oldowan als Geröllgerätekultur definiert. Als Hauptartefaktgruppen wurden Chopper, Chopping Tools, Sphäroide, Polyeder und Proto-Faustkeile gesehen - grobe Werkzeuge, die mit wenigen Schlägen aus Geröllen herge- Abb. 1: Die Vorfahren des modernen Menschen Homo sapiens sapiens. Die heute diskutierten Arten sind mit ihren ungefähren Datierungszeiträumen (Balken) angegeben. Da die tatsächliche Abstammung der verschiedenen Arten untereinander unklar ist, wurden nur morphologische Gruppen gekennzeichnet: grazile Australopithecinen mit Australopithecus afarensis, robuste Australopithecinen (oder Paranthropinen) mit Australopithecus robustus sowie die Vertreter der Gattung Homo mit Homo sapiens sapiens. <?page no="76"?> 78 Miriam Noël Haidle stellt wurden. Über ihre Verwendung als Hau- und Hackinstrumente wurde spekuliert; scharfkantige Abschläge wurden als gelegentlich benutzte Abfallprodukte betrachtet. Experimentelle Untersuchungen von Nicholas Toth (1985) zeigten aber, dass es sich bei den Geröllgeräten wohl vornehmlich um Kernformen handelte, deren Form u. a. abhängig ist von der Rohmaterialform. Schneidende Abschläge waren hingegen wichtige Hilfsmittel. Von der südafrikanischen Fundstelle Swartkrans gibt es Hinweise, dass auch Knochen oder Knochenbruchstücke gelegentlich als Geräte benutzt wurden (Brain u. Shipman 1993). Gebrauchsspuren an einigen Knochen legen nahe, dass diese - als eine Art Grabstock - zum Ausgraben z. B. von Wurzeln, Knollen oder Termiten eingesetzt wurden. Verbrannte Knochenstücke derselben Fundstelle zeigen Merkmale, wie sie gewöhnlich nur bei Temperaturen über denen eines normalen Buschfeuers entstehen (Brain 1993). Damit könnten sie möglicherweise auf eine sehr frühe Feuernutzung hinweisen. Der Bau von Behausungen oder von Schutzdächern in der frühen Phase des Altpaläolithikums ist unwahrscheinlich. Zwar wurde eine annähernd runde Steinstruktur in der Olduvai-Schlucht in Tansania als Überrest einer Behausung gedeutet (M. D. Leakey 1971); diese Interpretation wird aber mittlerweile mehrheitlich abgelehnt. Das Gleiche gilt für eine ähnliche Struktur an der Fundstelle Melka Kunturé in Äthiopien (Chavaillon et al. 1979). Die spätere Hauptphase des Altpaläolithikums, das Acheuléen, ist vor allem geprägt durch bifaziell, also beidseitig und flächig, bearbeitete Steingeräte wie Faustkeile und Cleaver (Querschneider), weist aber auch andere Gerätetypen auf. Als generelles Schneidgerät wurden jedoch wie zuvor Abschläge benutzt. Die bislang frühesten Faustkeile treten in Afrika auf, von wo aus sie sich später in weite Teile der Alten Welt ausbreiteten. Lange Zeit nahm man an, das Acheuléen mit bifaziellen Stücken wäre nur südwestlich einer sich von England über Deutschland bis nach Indien hinziehenden Linie, der sog. Movius-Linie, aufgetreten. Nordöstlich davon und insbesondere in Südost- und Ostasien hätte es hingegen nur Abschlag-Kulturen vergleichbar dem Oldowan gegeben. In neuerer Zeit mehren sich jedoch die Belege für zumindest sporadisches Auftreten von Faustkeilen und Cleavern aus fast allen während des Altpaläolithikums besiedelten Gebieten (Hou et al. 2000). Neben Stein wurden im Acheuléen auch andere Rohmaterialien zur Werkzeugherstellung gebraucht. Große Knochen hauptsächlich von Elefanten wurden gelegentlich zu Faustkeilen zugerichtet wie in Castel di Guido, Malagrotta und Fontana Ranuccio in Italien (Villa 1991) oder Rhede/ Kreis Borken in Nordrhein-Westfalen (Tromnau 1983). Im thüringischen Bilzingsleben wurden neben Stein auch Knochen, Geweih und Holz bearbeitet (Mania u. Mania 1998). Eine unerwartete Perfektion der Holzbearbeitung zeigen die ca. 400.000 Jahre alten Speere aus der niedersächsischen Fund- <?page no="77"?> 79 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! stelle Schöningen (Thieme 1997; 1998) und die Lanzenspitze von Clactonon-Sea in England (Oakley et al. 1977). Für die Nutzung von Feuer mehren sich Hinweise, die aber im Einzelnen immer noch umstritten sind (Gowlett 1994 2 ; Weiner et al. 1998). Für verschiedene europäische Fundstellen wurden auch Behausungen oder Schutzdächer postuliert. In Terra Amata und der Grotte du Lazaret, zwei Fundstellen in der Nähe von Nizza, wurden Bodenverfärbungen als Pfostensetzungen interpretiert (Lumley 1969; Villa 1983); in Bilzingsleben wiesen Fundkonzentrationen auf mögliche Behausungen hin (D. Mania 1983; Mania u. Mania 1999). Nach heutiger Sicht sind aber auch diese Hinweise zweifelhaft bis nicht haltbar. Gegen Ende des Acheuléen gibt es Anzeichen für erstes gestalterisches Empfinden jenseits der Vervollkommnung der Funktionalität von Artefakten. Der Transport von rot färbendem Hämatit über 25 km zu der indischen Fundstelle Hunsgi (Paddaya 1977), intentionelle, d. h. absichtliche, Ritzungen auf Knochen von Bilzingsleben (Mania u. Mania 1988) oder das Nacharbeiten der Halslinie eines vage menschenförmigen Steins von Berekhat Ram/ Golan (d’Errico u. Nowell 2000) sind möglicherweise als solche Hinweise zu interpretieren. Kognition Die mit dem Denken eng verknüpfte, aber nicht zu verwechselnde Erkenntnisfähigkeit oder Kognition ist schon an lebenden Untersuchungsobjekten oft nur schwer zu beurteilen: Was wird intuitiv gemacht, wo wird eine Handlung von der Erkenntnis unterstützt? Umso schwerer lassen sich natürlich anhand von archäologischen Quellen Aussagen treffen über die Erkenntnisfähigkeit ausgestorbener Gruppen von Menschenartigen. Allerdings erlauben uns ausschließlich Artefakte und Befunde, das Objektverhalten unserer Vorfahren zumindest näherungsweise zu beurteilen. Um den Rahmen der Erkenntnisfähigkeit der menschenartigen Populationen im Altpaläolithikum abzustecken, kann als Maximum unsere moderne Kognition und als Minimum die Erkenntnis der gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen gesetzt werden. Geht man davon aus, dass sich Schimpansen und Menschen nur kurzzeitig parallel entwickelten, so können Gemeinsamkeiten bei Objektgebrauch und Werkzeugherstellung einen ungefähren Ausgangspunkt unserer eigenen Entwicklung im Umgang mit Objekten aufzeigen. Nicht erst bei Schimpansen, auch bei anderen Primaten sind gruppenspezifische Traditionen zu beobachten. Einzelne Gruppen japanischer Rotgesichtsmakaken z. B. entwickelten verschiedene Bräuche wie das Waschen von Kartoffeln vor dem Verzehr oder das Rollen großer Schneebälle zur <?page no="78"?> 80 Miriam Noël Haidle Benutzung als Aussichtspunkte (Eaton 1976). Neben Orang-Utans zeigen insbesondere Schimpansen beim Werkzeuggebrauch bzw. der Herstellung sogar regelrechte gruppenspezifische Kulturen wie z. B. das Öffnen von Nüssen mit Schlagsteinen im Taï-Wald der Elfenbeinküste: Bei anderen Populationen bleiben die Nüsse ungenutzt (Whiten et al. 1999; Whiten u. Boesch 2001). Der Werkzeuggebrauch bei Schimpansen ist mittlerweile unbestritten (Abb. 2). Verschiedenste Objekte werden für die unterschiedlichsten Tätigkeiten gebraucht: Sonden, Angeln, Schlaginstrumente, Blattschwämme, Wurfgeschosse etc. Viele der genutzten Objekte werden vor dem Gebrauch gezielt verändert bzw. bearbeitet, um sie für die spezifische Problemstellung noch tauglicher zu machen. Zweige werden entlaubt, in der Länge gekürzt und z. T. am vorderen Ende ausgefranst, um noch besser als Termitenangeln zu dienen. Blätter werden leicht zerkaut, um die Saugfähigkeit zu erhöhen. Diese und andere Beispiele sind eindeutige Belege für Werkzeugherstellung. Darüber hinaus gebrauchen Schimpansen auch unspezifische Lösungen - sie nutzen beispielsweise Werkzeuge nicht nur für eine bestimmte Aufgabe. So werden Zweige einerseits als Insektenangeln, andererseits als Sonden zur indirekten Berührung anderer Individuen oder auch zur Untersuchung von Wunden verwendet. Blattschwämme dienen zum Wasserschöpfen, zum Auswischen leckerer Reste und auch der Körperreinigung. Die Tiere sind sowohl in der Lage, Lösungen flexibel auf ähnliche Probleme zu übertra- Abb. 2: Schimpanse beim Insektenangeln (Zeichnung A. Frey). <?page no="79"?> 81 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! gen, als auch die Werkzeuge an unterschiedliche Erfordernisse z.B. beim Termitenangeln gegenüber dem Ameisenfischen anzupassen. Außerdem nutzen Schimpansen Gerätesets, mehrere Werkzeuge mit unterschiedlichen Funktionen, wie um Insektennester aufzubrechen und Honig oder Termiten zu extrahieren. Bislang jedoch konnten bei Schimpansen einige für die heutige Menschheitsentwicklung interessante kognitiv gesteuerte Verhaltensweisen nicht nachgewiesen werden. So geben sie ihr spezifisches Verhalten nicht bewusst weiter. Objekte bzw. Rohmaterial zur Werkzeugherstellung werden nur in nächster Nähe gesucht und nicht kilometerweit transportiert, und sie stellen Steingeräte nicht spontan her. Nicholas Toth unternahm den Versuch, dem Zwergschimpansen „Kanzi“ das Steineschlagen beizubringen (Toth et al. 1993). Kanzi lernte, unter Anleitung für bestimmte Problemstellungen, schneidendes Steinwerkzeug herzustellen und einzusetzen. Er entwickelte neben der ihn gelehrten Methode eine eigene Herstellungstechnik, indem er das Rohmaterial auf den Betonboden schmetterte, was zwar Abschläge mit schneidenden Kanten liefert, aber keine kontrollierte Werkzeugherstellung erlaubt. In freier Wildbahn konnten die Herstellung und der Gebrauch von Steinwerkzeugen mit schneidenden Kanten bislang nicht beobachtet werden. Was macht Steingeräte zu etwas Besonderem? Steingeräte sind so genannte Sekundärartefakte: Zu ihrer Herstellung muss nicht nur ein Objekt mit Hilfe der eigenen körperlichen Mittel leicht verändert werden (wie ein Ästchen, das mit den Händen entlaubt wird). Stattdessen muss man ein zweites Objekt zu Hilfe nehmen, um eine Rohform so zu verändern, dass sie die gewünschten Eigenschaften annimmt. Ein Stein wird z. B. unter Verwendung eines anderen Steins zerschlagen. Man benötigt also zwei Objekte, eines als Rohform und eines als Werkzeug. Die gezielte Herstellung eines Steinwerkzeugs erfordert demnach zum einen eine erweiterte Planung (Haidle 1999; Haidle 2000), zum anderen eine ausgeprägte Kontrolle der Feinmotorik. Ob Schimpansen generell die kognitive Fähigkeit zur Sekundärartefaktherstellung fehlt (Kitahara-Frisch 1993), ist nicht abschließend geklärt. Die einzigen Hinweise auf Nutzung von Sekundärwerkzeugen bei wildlebenden Schimpansen, die die Enden von Insektenangeln durch Bearbeitung mit Steinen zu Bürsten zerfasert haben sollten (Sugiyama 1985), stellten sich als nicht haltbar heraus. Das Bürstenende entstand beim Abbrechen bzw. der Benutzung langfaseriger Hölzer. An Steinartefakten lässt sich außerdem häufig eine erweiterte Zeittiefe nachweisen. Die Lösung eines Problems ist bei Schimpansen gewöhnlich zeitlich sehr eng an ein Bedürfnis gebunden. So ist z. B. der Transport von Nüssen zu Ambossen bzw. von Nussknackgeräten zu Nüssen nur über ma- <?page no="80"?> 82 Miriam Noël Haidle ximal 500 m Meter belegt. Anhand des lokal nicht vorkommenden Rohmaterials konnte aber schon bei sehr frühen altpaläolithischen Steinartefakten gezeigt werden, dass sie bzw. ihre Rohformen z. T. über mehrere Kilometer zur Fundstelle gebracht worden waren (Wynn u. McGrew 1989). Erste Steingeräte Da die sehr frühen Steingeräte keine ausgeprägte Formgebung aufweisen, sind sie oft nur schwer von natürlich entstandenen Abschlägen oder angeschlagenen Geröllen zu unterscheiden (Abb. 3). Dies gelingt besser, wenn eine größere Anzahl von Steingeräten an einer Fundstelle vorliegt oder das Rohmaterial weniger Steinartefakte lokal nicht vorkommt. Die ersten Steingeräte wurden bislang in ca. 2,5 Millionen Jahre alten Fundzusammenhängen in Kada Gona, Hadar/ Äthiopien entdeckt (Semaw et al. 1997). Wer aber hat sie hergestellt? Wer war zur Sekundärartefaktherstellung fähig, wie dies nur eine kontrollierte Feinmotorik erlaubt? Wer besaß die Fähigkeit zur Planung in die erweiterte Gegenwart bzw. nahe Zukunft, wie dies Rohmaterialtransport nahe legt? Als man in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre Australopithecus boisei in Ostafrika als erste menschenartige Form in Oldowan-zeitlichen Schichten entdeckte (Leakey 1965), wurde er zum Hersteller der frühen altpaläolithischen Geräte erhoben. Mit der Publikation erster Homo habilis-Funde aus gleich alten Schichten 1964 nahm man jedoch lieber das deutlich menschenähnlicher aussehende Wesen mit dem größeren Gehirn und den kleineren Zähnen als ersten Steingerätehersteller an. Mittlerweile wurden die ersten Steinwerkzeuge mit ca. 2,5-2,6 Millionen Jahren noch deutlich früher datiert, und mit Homo rudolfensis trat eine fossile Menschenart auf den Plan, die zeitlich als erster Hersteller von Steingeräten besser passen würde als H. habilis. Abb. 3: Geschlagene Lavagerölle des Oldowan von Olduvai Bed I (aus Grahmann 1952). <?page no="81"?> 83 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! Randall L. Susman (1991; 1994) versuchte die Ehrenrettung der robusten Australopithecinen, indem er deren Handskelett untersuchte und feststellte, dass sie zu einem starken Präzisionsgriff, wie er zur gezielten Herstellung von Steinartefakten notwendig ist, in der Lage gewesen sein müssen. Bewiesen ist damit allerdings nichts. Selbst wenn wir einen robusten Australopithecinen mit unbestreitbarem Steingerät in den Händen finden würden, würde dies nur zeigen, dass das Individuum ein Steingerät gehalten hat. Wer es herstellte, bleibt im Dunkeln. Kognition im Oldowan Was aber sagen die Artefakte aus dem Oldowan-Umfeld über die Kognition ihrer unbekannten Hersteller? Zwischen 2,5 und 1,5 Millionen Jahre vor heute sind sowohl Werkzeuggebrauch als auch Werkzeugherstellung anhand von Steinartefakten eindeutig belegt. Objekte wurden also gebraucht und, um ihre Eigenschaften zu optimieren, verändert. Wahrscheinlich war dieses Verhalten, wie bei vielen heutigen Primaten und insbesondere Schimpansen, erlernt und kulturell tradiert. Wie die Befunde aus Swartkrans nahe legen, wurden neben Stein wohl verschiedene Rohmaterialien zur Problemlösung genutzt. Durch die schlechtere Erhaltungsfähigkeit ist allerdings jeder Artefaktfund aus organischem Material wie Knochen oder Holz ein extremer Glücksfall. Die Herstellung von Steinwerkzeugen weist auf den Gebrauch von Sekundärwerkzeugen hin (Haidle 1999; Haidle 2000). Die Veränderung eines Objekts mit Hilfe eines anderen Objekts, um dies für seinen Einsatz als Werkzeug tauglicher zu machen, dokumentiert nicht nur erweitertes Abstraktions- und Planungsverhalten, sondern auch eine ausgeprägte visuelle Kontrolle der Feinmotorik. Der schon sehr früh belegte Transport von Rohmaterial über mehrere Kilometer deutet auf eine Planung für die erweiterte Gegenwart bzw. nahe Zukunft hin. Das Problem wurde nicht direkt bei seinem Auftreten gelöst, sondern es wurde entweder ein Problem in naher Zukunft angenommen und daher der Stein vorsorglich mitgetragen, oder das Problem wurde wahrgenommen und dann in weiterer Entfernung das passende Lösungsobjekt gesucht. In beiden Fällen musste das Ziel über längere Zeit abstrakt im Geist verfolgt werden. Sollten sich die Hinweise auf Feuernutzung aus Swartkrans für das Oldowan bestätigen, so würde dies die Überwindung instinktiven Meidens einer potentiellen Gefahr und das Begreifen von Feuer als ein zur Problemlösung nutzbares Objekt schon in einer sehr frühen Phase der menschlichen Entwicklung belegen. Thomas Wynn und William McGrew (1989) gehen davon aus, dass die kognitiven Fähigkeiten der Oldowan-Träger nicht über das Potential heutiger Schimpansen hinausgehen, wenn man vom Rohmaterialtransport - die <?page no="82"?> 84 Miriam Noël Haidle mögliche Feuernutzung wurde nicht diskutiert - absieht. Allerdings wird dieses Erkenntnispotential von modernen Schimpansen nicht in dem Maße genutzt wie einst von den Oldowan-Trägern, wie die nur ausschnittweise überlieferten Werkzeuge des Oldowan-Technokomplexes belegen. Faustkeile im Acheuléen Das Acheuléen bzw. zeitgleiche Abschlagtechnokomplexe wurden hauptsächlich getragen von Homo erectus bzw. von ihm nahe stehenden Formen wie Homo ergaster, Homo antecessor und Homo heidelbergensis, die von einem Teil der Paläoanthropologen als eigenständige Arten betrachtet werden. Das Acheuléen ist durch einige Neuerungen gekennzeichnet, von denen bislang am augenfälligsten die bifaziellen Stücke, und hier besonders die Faustkeile, waren (Abb. 4). Über deren Funktion, den Herstellungsprozess und die hinter Faustkeilen stehende Absicht wurde und wird viel gestritten; vieles ist nach wie vor nicht endgültig geklärt. Die Frage nach der Intention versucht aufzuspüren, was eigentlich hergestellt werden sollte: Faustkeile oder Abschläge? Oder wurde beides genutzt? Davon abhängig wird die Funktion der Faustkeile diskutiert: Waren es lediglich Kerne, von denen die gewünschten Abschläge abgetrennt wurden, oder besaßen sie eine eigenständige Funktion? Wurden sie als Vielzweckgerät ähnlich einem Schweizer Taschenmesser genutzt? Experimente zeigen, dass sich Faustkeile sehr gut zum Abhäuten, Aufbrechen und Zerlegen großer Tiere eignen (Jones 1980). In anderen Versuchen wurden ihre Eigenschaften als Wurfgeschosse Abb. 4: Mittelpaläolithischer Faustkeil vom Speckberg bei Mauern: Ähnliche Faustkeile wurden bereits im Altpaläolithikum hergestellt. <?page no="83"?> 85 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! in der Technik des Messerwurfs bzw. Diskuswurfs (Jeffreys 1965; O’Brien 1981; O’Brien 1984) überprüft. Oder dienten sie als symbolisches Zeichen für einen bestimmten Rang oder eine Macht (Porr 2000)? Wurden die besonders ebenmäßig und symmetrisch geformten Stücke als Mittel zur Brautwerbung ähnlich einem leuchtenden Pfauenschwanz eingesetzt (Kohn u. Mithen 1999)? Der Herstellungsprozess von Faustkeilen und anderen beidseitig bearbeiteten Artefakten gliedert sich in viele einzelne, voneinander unabhängige Schritte. Diese stellen zwar am Ende eine Handlungskette dar - waren sie aber auch tatsächlich als Handlungskette mit dem klar definierten Endziel „Faustkeil“ geplant und vorher festgelegt? Die Meinungen zum Faustkeilproblem sind beinahe so vielfältig, wie es an diesem Problem Forschende gibt. Sie reichen von „Faustkeile sind nichts als Kerne“ und „der Artefakttyp Faustkeil ist nichts als ein modernes Forscherkonstrukt“ (Intention: Abschlagproduktion; Funktion: ausschließlich als Kern; Herstellungsprozess: einzelne, voneinander unabhängige Schritte) (Davidson u. Noble 1993; Noble u. Davidson 1991) bis hin zu „Faustkeile haben keinen direkten praktischen Nutzen und spiegeln eine starke symbolische Kompetenz und ein differenziertes Sozialleben wider“ (Kohn u. Mithen 1999). Die Faustkeile selbst sprechen für eine funktionale Erklärung als Zerlegungswerkzeug (Keeley 1980) mit unterschiedlichen Arbeitskanten. Einige weisen eine - wahrscheinlich beabsichtigte - ornamentale Gestaltung auf. Die Form der bifaziellen Geräte ist zumindest teilweise abhängig vom Rohmaterial und der Rohform, die meist aus einem großen Abschlag oder einem flachen Stein bzw. einer Platte besteht. Die Formgebung ist also nicht rein willkürlich, sondern zumindest grob vorgegeben. Vor allem bei späteren Formen ab etwa 800.000 Jahre vor heute ist jedoch nicht selten eine ausgeprägte Symmetrie in der Längsachse und Querachse zu beobachten. Sie weisen z. T. sehr gerade seitliche Kanten und ausgeprägte, fein gearbeitete Spitzen auf, was auf eine bewusste Ausarbeitung der Form schließen lässt. Einzelne Faustkeile mit Fossilien in der Mitte wie z. B. ein Stück aus West Toft, Südengland (Noble u. Davidson 1996) sind ein gutes Indiz für eine intentionelle Formgebung. Als symbolische Zeichen sind sie aber höchstwahrscheinlich überinterpretiert. Vermutlich war es die Freude am schmückenden Element, dass die Steinschläger die versteinerte Muschel erhalten ließ. Ausgefeilt bifaziell bearbeitete Riesenfaustkeile mit 30 bis 60 cm Länge, wie sie z. B. aus Isimila und Kalambo Falls bekannt sind (Howell 1955; Howell et al. 1962), sind sehr unhandlich in der Herstellung und in ihrer Größe nicht oder nur schlecht praktisch nutzbar. Eine intentionelle Formgebung ist wiederum nahe liegend. Der Symbolwert solcher Stücke hingegen ist allenfalls ikonisch, indem sie „Größe“ oder „Stärke“ darstellen, bzw. assoziativ, indem sie auf die Größe bzw. Stärke der Herstellenden verweisen. <?page no="84"?> 86 Miriam Noël Haidle Große Ansammlungen von Hunderten von Faustkeilen wie in Olorgesailie/ Kenia (Isaac 1977), Kalambo Falls/ Sambia (Clark 2001) oder Boxgrove/ England (Roberts u. Parfitt 1999) sind sicher nicht bei einem einmaligen Aufenthalt entstanden. Vielmehr akkumulierten sie über Jahrhunderte, möglicherweise auch über Jahrtausende hinweg an bevorzugten Stellen, wo Faustkeile gebraucht wurden - wie z. B. an bestimmten Tiertränken, wo leicht Beute gemacht werden konnte, die dann zerlegt werden musste. An anderen Orten oder zu anderen Zeiten wurden allerdings fast keine oder gar keine Faustkeile verwendet, jedoch ohne dass irgendeine mit den Faustkeilen in der Theorie verknüpfte Tätigkeit weggefallen wäre. Verschiedene Experimente haben die gute Nutzbarkeit der Geräte besonders beim Schlachten eines großen Tieres gezeigt. Gebrauchsspuren an ausgegrabenen Faustkeilen unterstützen diese Funktionsannahme, ziehen aber auch gelegentliche Holzbearbeitung in Betracht (Keeley 1980). Faustkeilkognition Die ersten Proto-Faustkeile zeigen wenig mehr als einzelne unabhängige Arbeitsschritte, wie dies auch bei Oldowan-Artefakten zu beobachten ist. Die Schlagtechnik wird aber zunehmend präziser, was durch den z. T. gezielteren Rohmaterialeinsatz unterstützt wird. Ob in den Anfängen lediglich die abgetrennten Abschläge oder auch die sowohl als Kerne als auch als Geräte nutzbaren Faustkeile das Herstellungsziel waren, muss offen bleiben. Bei vielen späteren Faustkeilen wurden aber ihre spezifischen Formen mit verdickter Basis, stabilen Schneidkanten zumindest im Spitzenbereich sowie einer relativ dünnen, sich verjüngenden Spitzenpartie zum Hauptziel. Dies erforderte eine Planung der Produktion als Abfolge voneinander abhängiger Handlungen: Es entsteht die Idee einer Handlungssequenz (Haidle 1999; Haidle 2000). Diese Idee einer Handlungsabfolge macht gegen Ende des Acheuléen auch die Entwicklung der sog. Levallois-Technik möglich - die Präparation eines Kerns mit dem Ziel eines bewusst geformten Abschlags. Sicherlich wurden auch die anderen Abschläge genutzt, aber diese Technik dokumentiert den Versuch, die Formgebung von Abschlägen (als Klingen, Spitzen, gleichmäßige Ovale) zu beeinflussen. Anhand der an den Artefakten ablesbaren geometrischen Fähigkeiten ordnet Wynn die Hauptkulturen des Altpaläolithikums zwei verschiedenen Stufen der kognitiven Entwicklung zu, wie sie Jean Piaget an Kindern beobachtet hat (Wynn 1985). Das Denken im Oldowan entspricht seiner Ansicht nach der präoperationalen Intelligenz kleiner Kinder (Wynn 1981). Die Verinnerlichung von Handlungen erlaubt dabei das Denken bzw. Durchspielen derselben; sie kann in die Zukunft projiziert und über Vergangenes <?page no="85"?> 87 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! kann nachgedacht werden. Das gedankliche Durchspielen von Möglichkeiten und damit der Denkspielraum bleiben allerdings begrenzt auf die Veränderung nur eines Merkmals und deren Auswirkung. Komplexe Handlungsabfolgen sind dadurch nicht möglich. Die Lösungen im Oldowan sind noch so einfach, dass sie mit Hilfe von Versuch und Fehlschlag und neuem Versuch erreicht werden können. Die dreidimensional fein ausgearbeiteten Faustkeile des Acheuléen mit den ihnen zugrunde liegenden langen Handlungsketten weisen nach Wynn jedoch auf operationale Intelligenz, wie sie bei heutigen Jugendlichen und Erwachsenen zu finden ist (Wynn 1979). Zu ihrer Herstellung müssen gedanklich verschiedene Variablen bearbeitet und koordiniert werden: Die einzelnen Abschläge dürfen nicht nur die Länge verringern, es muss auch ihr Einfluss auf die Breite, Dicke und Gesamtform bedacht werden. Dies erfordert eine komplexe Planung; die Fehlerkorrektur erfolgt nicht durch Ausprobieren, sondern durch gedankliches Durchspielen direkter bzw. gegenläufiger Handlungen. Holzgeräte im Acheuléen Nicht nur Faustkeile geben aber Aufschluss über die Erkenntnisfähigkeit im Acheuléen. Ein wichtiges Fenster zum Denken und Handeln von H. erectus und seinen Nebenformen sind die nur selten erhaltenen Holzgeräte. Aus Clacton-on-Sea ist schon lange die Spitze einer Lanze bzw. eines Speeres bekannt, die auf ca. 400.000 Jahre vor heute datiert wird (Oakley et al. 1977). Das Stück ist relativ kurz und schlecht erhalten und fand daher nicht die Beachtung, die es verdient hätte. Der einzige wirklich vergleichbare Fund ist eine Lanze aus Lehringen, die aber mit einer Datierung von ca. 125.000 Jahren vor heute schon aus dem Mittelpaläolithikum stammt (Thieme u. Veil 1985). Anfang der 1990er Jahre wurde im Braunkohletagebau von Schöningen eine altpaläolithische Jagdstation entdeckt, in der vor allem Pferde erlegt wurden. Das Außergewöhnliche dieser Fundstelle ist die extrem gute Erhaltung mehrerer Fichtenholzspeere (Abb. 5) und anderer Holzgeräte, möglicherweise Wurfhölzer und Klemmschäfte für Steingeräte (Thieme 1997; Thieme 1998). Die Holzartefakte sind nach Entfernung von Seitenästchen sehr fein überarbeitet und zugespitzt. Experimente mit Nachbildungen zeigen erstklassige Flugeigenschaften, was ihren Gebrauch als Wurfspeere und weniger als Stoßlanzen nahelegt (Thieme 1999). <?page no="86"?> 88 Miriam Noël Haidle Weitere Kognitionsmerkmale im Acheuléen Die Herstellung der Fichtenholzspeere von Schöningen erforderte, weit mehr noch als die Herstellung von Faustkeilen, eine bewusste Rohmaterialsuche und -auswahl. Die Formgebung war ohne Frage beabsichtigt; es gab kein mögliches anderes Ziel, wie es bei der Abschlagproduktion bei Faustkeilen der Fall war. Diese belegen damit eine bewusste Handlungsabfolge und machen die Annahmen zur immer wieder in Frage gestellten beabsichtigten Formgebung bei zumindest den ausgefeilteren Faustkeilen plausibel. Die Speere unterstützen auch in jeder Hinsicht Wynns Zuordnung der operationalen Intelligenz als Grundlage des Acheuléen-Komplexes. Die Herstellungsdauer ist bei Holzspeeren oder -lanzen stark ausgeweitet. In Versuchen wurden für die Nachbildung der Lanze von Lehringen 4,5 bis 5,5 Stunden benötigt (Veil 1991), während die Herstellung auch sehr feiner Faustkeile nur maximal 45 Minuten beanspruchte. Die Planung und Verfolgung des angestrebten Ziels „Speer“ mussten also viel länger aufrecht erhalten werden, wahrscheinlich auch über Unterbrechungen hinweg. Zudem sind die geschnitzten Holzgeräte so genannte Tertiärartefakte (Haidle 1999; Haidle 2000). Um das Gerät „Speer“ herstellen zu können, kann nicht einfach nur ein anderes unbearbeitetes Objekt zu Hilfe genommen werden: Es muss zuerst ein Werkzeug zur Bearbeitung hergestellt werden. Dies erfordert eine nicht nur zeitlich verlängerte, sondern auch erwei- Abb. 5: Ein Holzspeer aus Schöningen (© Förderverein Schöninger Speere e. V. / Heinz-Uwe Marquardt). <?page no="87"?> 89 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! terte Planung mit Zwischenzielen. Bislang wurden nur einfache Probleme wahrgenommen wie etwa das Zerlegen eines Tieres. Deren Lösung, z. B. die Herstellung eines Abschlags oder Faustkeils, stellte das Ziel einer Planung mit Objekten dar. Der Weg zur Problemlösung war also direkt. Holzspeere belegen jedoch die Planung mit Zwischenzielen wie der Herstellung eines Werkzeugs zur Herstellung des Holzspeers zur Lösung des Problems „Erlegen eines Tieres“. Natürlich müssen die Werkzeuge zur Herstellung von Speeren nicht unbedingt und immer extra angefertigt werden; die Planung eines Tertiärartefakts beinhaltet jedoch die Berücksichtigung solcher Zwischenziele. Darüber hinaus ist die Verwendung von Wurfspeeren nur sinnvoll bei gezieltem Werfen: Die Speere von Schöningen weisen damit auch auf eine Erweiterung der visuell kontrollierten Motorik hin. Trotz der enormen Erweiterung der Erkenntnisfähigkeit im Acheuléen wird aber noch nicht der moderne Kognitionslevel erreicht; es fehlen verschiedene Aspekte wie z. B. symbolisches Verhalten im engeren Sinne (Wynn 1995). Selbst wenn man die ausgefeilteren Faustkeile als Anzeiger symbolischen Verhaltens akzeptiert, so sind sie doch mit großer Wahrscheinlichkeit allenfalls unterstützend oder assoziativ symbolisch wirksam als Stellvertreter von Individuen mit bestimmten Eigenschaften. Wenn überhaupt, gilt dies sicher nur für besonders aufwendig gearbeitete oder anderweitig herausragende Stücke wie Fossilien- und Riesenfaustkeile, aber sicher nicht für die Masse der mehr oder weniger gut gearbeiteten Funde. Mit Sicherheit sind Faustkeile weder ikonisch noch willkürlich und daher für uns unverständlich repräsentierend (wie das Wort „Katze“ eine Katze repräsentiert und nicht einen Hund). Gegen eine repräsentierende Symbolik spricht die nahezu weltweite Verbreitung der Faustkeilform über Jahrhunderttausende hinweg, was wahrscheinlich auch unsere heutigen wenigen, erst seit kurzem weltweit verständlichen Symbole nicht erreichen werden. Hinweise auf mögliches repräsentierendes Symbolverhalten sind rar und in ihrer Interpretation höchst umstritten wie z. B. die ca. 350.000 Jahre alten radialen Schnittspuren auf Knochen von Bilzingsleben (Mania u. Mania 1999; Steguweit 1999). Anzeichen für ikonisches Symbolverhalten bietet möglicherweise die „menschliche Figur“ von Berekhat Ram in Israel, die auf ca. 250.000 bis 280.000 Jahre vor heute datiert wird. Die frauenähnliche Form eines kleinen basaltischen Lapilli-Tuff-Brockens wurde durch die Nachritzung der Halslinie sowie die eventuelle Nachbearbeitung von Armlinien unterstützt (d’Errico u. Nowell 2000). Auch andere Anzeiger moderner Erkenntnisfähigkeit fehlen noch im Acheuléen. So sind noch keine Bestattungen belegt und auch keine zusammengesetzten Geräte (sog. Kompositgeräte). Die Werkzeuge wurden nur durch Schlagen und Schneiden/ Schnitzen hergestellt und in Form gebracht und noch nicht durch andere Verfahren wie etwa Schleifen. Die Planung <?page no="88"?> 90 Miriam Noël Haidle begrenzte sich auf die eigene Person oder die ihr nahe stehende Gruppe. An den möglichen Bedarf ferner Gruppen oder unbekannter Personen, wie dies z. B. für gezielte Tauschgeschäfte oder Handel notwendig ist, wurde nicht gedacht (Haidle 1999; Haidle 2000). Sprache Allein die Annäherung an die Kognition im Altpaläolithikum ist schon ein schwieriges Unterfangen, auch wenn immerhin ein Teil der Produkte dieser Erkenntnisfähigkeit in Form von Artefakten zur Verfügung steht. Das Problem der Sprache im Altpaläolithikum kann jedoch nur durch Umwege über Primatenverhalten, die Entwicklung bei Kindern und die beschränkte Aussagefähigkeit fossiler Reste angegangen, die Möglichkeiten können nur grob umrissen werden. Was aber ist überhaupt Sprache? Moderne menschliche Sprachen setzen sich aus drei verschiedenen Elementen zusammen (Deacon 1994 2 ): Phoneme sind grundlegende Lauteinheiten ohne Bedeutung, die verschiedenste Kombinationsmöglichkeiten erlauben. Aus der Kombination von Phonemen mit zusätzlicher Zuordnung von bestimmter Bedeutung entstehen Morpheme oder Bedeutungseinheiten. Diese Wörter oder Namen sind willkürlich gewählt: Eine Blume heißt nur aufgrund allgemeiner Übereinkunft „Blume“. Es besteht also nur eine auf Konvention basierende Verbindung des Wortes zum assoziierten Ding; sie ist nicht angeboren bzw. physisch bedingt. Die Syntax schließlich ist die regelgebundene Kombination von Morphemen zu größeren Einheiten, z. B. Sätzen. Sie stellt die logische Beziehung zwischen den Bedeutungseinheiten her. Da die grammatischen Regeln bei allen Wörtern weitgehend gleich sind, versteht man auch die Bedeutung bei bislang unbekannten Wortkombinationen. Die Syntax stellt zudem die Bedeutung einer Wortkombination bei mehreren Möglichkeiten klar - z. B. wer oder was ist Subjekt, wer oder was Objekt. Im Streit um die Entwicklung der Sprache bzw. um den frühesten Nachweis von Sprache und die Beurteilung tierischer Kommunikation werden viele grundlegende Fragen berührt, meist, ohne dass näher auf sie eingegangen wird. Wann ist Sprache Sprache? Reicht es, die einzelnen Elemente Phoneme, Morpheme und Syntax nachzuweisen? Oder ist Sprache erst dann wirklich Sprache, wenn die Syntax so komplex wie unsere heutige Grammatik ist? Wenn ja, wie welche der modernen Grammatiken? Dies sind eher philosophische Fragen, die lediglich per willkürlicher Definition eindeutig entschieden werden können. Die Voraussetzungen für Sprache sind dagegen klar abzugrenzen. Zum einen muss Kommunikationsfähigkeit gegeben sein. Dazu gehören ein Bewusstsein über die eigene Motivation: „Was will ich mit meiner Äußerung <?page no="89"?> 91 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! mitteilen? “ und ein Bewusstsein über den Kommunikationsinhalt, dass z. B. „Apfel“ etwas anderes bedeutet als „Birne“ - also eine Kategorie A sich von B unterscheidet. Außerdem wird ein Bewusstsein über mögliche Wissenslücken beim Gegenüber benötigt sowie ein Bewusstsein, dass dieses fehlende Wissen überhaupt mitgeteilt werden kann. Die Kommunikationsfähigkeit ist also ein wichtiger Bestandteil sozialer Intelligenz. Zum anderen muss ein sprachwilliges Wesen nicht nur über die soziale Kompetenz der Kommunikationsfähigkeit verfügen, sondern es muss auch physisch dazu in der Lage sein, sich mitteilen zu können. Die neurologischen Voraussetzungen zur Erzeugung, zur Wahrnehmung und zum Verständnis von Sprachelementen bzw. entsprechender Zeichen werden unter dem Begriff der Sprachfähigkeit zusammengefasst. Die Lautfähigkeit hingegen bezeichnet das Vermögen, verschiedene Laute willkürlich zu erzeugen. Sie ist nur für die gesprochene Sprache von Bedeutung, aber bei Zeichensprachen z. B. irrelevant. Primatenkommunikation Als Beispiele für die innerartliche Verständigung bei Affen seien hier zwei experimentell untersuchte Gruppen angeführt. Bei wild lebenden Vervetmeerkatzen wurden mehrere akustische Kommunikationsarten beobachtet (Seyfarth u. Cheney 1993). Beim Anblick der Fressfeinde Adler, Leopard oder Schlange werden verschiedene Warnrufe ausgestoßen, auf die die Affengruppe in unterschiedlicher und typischer Weise reagiert. Beim Anblick fremder Gruppen der eigenen Art wird auf zwei unterschiedliche Weisen geschnattert - je nachdem, ob die bloße Wahrnehmung oder aber Ärger ausgedrückt werden soll. Verschiedene Versuche ergaben, dass die Warnrufe einen klaren Informationsgehalt besitzen, also als semantische Signale zu betrachten sind. Die Vervetmeerkatzen zeigten entsprechende Reaktionen auch bei Tonbandexperimenten ohne tatsächliche Anwesenheit von Feinden bzw. bei einer Veränderung der Rufe in Länge und Lautstärke. Gewöhnungsversuche mit Schnatterlauten weisen darauf hin, dass es sich auch bei diesen nicht nur um einfache akustische Reize handelt, sondern diese ebenfalls Bedeutungsträger sind. Die typischen Laute sind jedoch angeboren. Durch Imitation wird nur erlernt, wann sie auszustoßen sind und wie reagiert werden muss. Im Laborversuch wurden Schimpansen bzw. Zwergschimpansen oder Bonobos teils in Gebärdensprache trainiert, teils wurde ihnen die Bedeutung abstrakter Symbole auf einer Computertastatur beigebracht (Paul 1998; Savage-Rumbaugh u. Rumbaugh 1993). Einzelindividuen lernten über 120 Zeichen, nicht nur um Objekte zu bezeichnen, sondern auch Handlungen und Beziehungen. Schimpansen zeigten sich dabei in der Lage, zu täu- <?page no="90"?> 92 Miriam Noël Haidle schen und Wünsche zu äußern, also die Begriffe auch außerhalb des physischen Kontextes der mit ihnen verbundenen Dinge zu verwenden. Die Zeichen sind damit „Wörtern“ gleichzusetzen mit einer konventionellen Verknüpfung zum Assoziierten. Teilweise verknüpfen die Versuchstiere auch mehrere Zeichen wiederholt in sinnvoller Weise, was den Gebrauch einer einfachen Grammatik nahe legt. Ein Problem bei der Beurteilung der Laborversuche ergibt sich allerdings aus dem Umstand, dass Schimpansen und Bonobos zwar lernen können, mit Zeichen sprachähnlich umzugehen. Die Elemente dafür werden ihnen allerdings von voll sprachfähigen Menschen vorgegeben. Die Untersuchungen weisen aber zumindest eine weit entwickelte Kommunikationsfähigkeit bei einzelnen Individuen nach. Die Sprachfähigkeit ist z. T. auch vorhanden: Der einfache Umgang mit einer begrenzten Zahl von Zeichen ist erlernbar - in welchem Maße aber eine Ausbildung eines eigenen Schimpansenzeichensystems möglich ist, muss offen bleiben. Die Lautfähigkeit allerdings ist beim Schimpansen gegenüber dem Menschen stark eingeschränkt. Terrence Deacon (1994 2 ) fasst die Ergebnisse von Primatenversuchen so zusammen: “In the end they may tell us more about what we mean by language than about the abilities of other creatures.” Entwicklungspsychologische Untersuchungen Die Sprachentwicklung bei heutigen Kindern gibt Hinweise darauf, wie der Spracherwerb vor sich gehen kann, wie die Schritte von nichtsprachlicher Verständigung über den Gebrauch einzelner Wörter und einfacher Grammatik bis hin zur modernen vollgrammatischen Sprache eines Erwachsenen ablaufen können. Andrew Lock (1993) macht bei modernen Kindern fünf Stufen der Kommunikationsentwicklung aus: 1) Vorkommunikation (ca. 0 bis 9 Monate): In dieser ersten Phase können sich die Babys noch nicht bewusst und gezielt verständigen. Unmutszeichen oder Wohlbefinden begleitende Laute und Mimik werden von den Empfängern lediglich so gedeutet. Erst durch das Umfeld, also Eltern, Geschwister oder betreuende Personen, wird den Zeichen eine Bedeutung zugeordnet. In den ersten neun Monaten werden aber bereits die ersten Motive für eine Verständigung in der Art „Ich will dies“ oder „Ich will das nicht“ herausgebildet. Der andere Menschen direkt als Helfer instrumentalisierende Gedanke „Tu etwas, damit ich dies bekomme“ wird noch nicht bewusst vermittelt. 2) Vorsymbolische absichtliche Kommunikation (ca. 9 bis 15 Monate): In der späten Säuglingsphase dienen vor allem Gesten und Mimik der Verständigung. Sie sind noch eng an den spezifischen Kontext gebunden: <?page no="91"?> 93 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! Worte werden noch nicht voll rereferentiell, d. h. stellvertretend, benutzt. Die Bedeutung der Kommunikationsmittel ist also noch nicht losgelöst von der Umgebung denk- und erkennbar. Erstmals entwickeln sich in dieser Zeit aber stimmliche Entsprechungen für Gesten und Mimik. 3) Symbolische, referentielle Kommunikation (ca. 15 bis 24 Monate): Die zunehmende Lautbildung und Vokalisation von Namen ist kennzeichnend für diese erste Kleinkinderphase. Die Äußerungen sind weniger an Kontext gebunden; das Kind versteht Verbindungen zwischen Lauten und Objekten und lernt durch Namensgebungsspiele und Kategorisierungen laufend neue dazu. Die Entwicklung verläuft am Anfang langsam; später kommt es häufig zu einer regelrechten Namensgebungsexplosion, so dass mit durchschnittlich 24 Monaten die Bedeutung von ca. 328 Wörtern beherrscht wird. Diese Worte und Namen sind beim Kind nicht phonologisch organisiert, also nach Phonem-Komponenten, sondern werden ganzheitlich z. T. auch in ganzen Phrasen aufgenommen und gespeichert. Erst später können die Begriffe und Aussprüche in einzelne Elemente zerlegt und dadurch wieder neu zusammengesetzt werden. In dieser Phase werden Objekte nicht nur identifiziert, sondern es können zunehmend auch weitere Aussagen dazu gemacht werden. Die anfängliche Ein-Wort-Stufe wird bald von ersten Wortverknüpfungen abgelöst, die Besitz, Wiederholungen, Eigenschaften etc. anzeigen. Die frühen Wortkombinationen sind vor-grammatisch und folgen keinen festgelegten Regeln. 4) Grammatik (ca. 2 bis 5 Jahre): Erst in dieser Phase zeigen sich Unterschiede in der Sprachentwicklung der Kinder je nach Elternsprache. Nun werden die syntaktischen Hauptstrukturen erworben, die Prinzipien des Satzbaus der jeweiligen Sprache, die Bildung von Zeiten und Fällen etc. erlernt. 5) Post-syntaktische Entwicklung (ab ca. 5 Jahre): Mit ungefähr fünf Jahren haben Kinder die Grundzüge ihrer Muttersprache verinnerlicht. Nachfolgend wird die grammatikalische Kenntnis noch verfeinert, und es entwickelt sich zunehmend ein Verständnis der Syntax. Untersuchungen zur Sprachentwicklung bei modernen Kindern können zwar Anhaltspunkte liefern für die Entwicklung der Sprachfähigkeit im Laufe der Menschwerdung. Die Stammesgeschichte (Phylogenie) ist jedoch nicht direkt von der Entwicklung im Laufe eines individuellen Lebens (Ontogenie) ablesbar. Zum einen ist jede Ontogenie auch Teil der Phylogenie: Sie steht selbst unter Selektionsdruck und wird dadurch verändert. Eine genaue Abbildung der Stammesgeschichte im Zeitraffer kann die individuelle Entwicklung also nicht liefern. Zum anderen ist die ontogenetische Sprachentwick- <?page no="92"?> 94 Miriam Noël Haidle lung eine gelenkte Wiedererfindung (ich lerne, wie die anderen sprechen) in einem gänzlich anderen Umfeld als die phylogenetische Sprachentwicklung (wie entwickle ich Sprache, wenn niemand spricht). Heutige Kinder wachsen gewöhnlich in einem vielfältig sprechenden Umfeld auf. In früher Kindheit ruft das Lernen von Sprache außerdem tief greifende und permanente Veränderungen im Gehirn hervor, die ein weiteres Sprachlernen vereinfachen. Bei der Untersuchung der ontogenetischen Sprachentwicklung liegt das Hauptgewicht auf der Frage „Wie werden Kinder fähig, eine syntaktische Sprache zu erlernen? “ Die Phylogenie beschäftigt sich hingegen mit dem Problem „Wie erhielt die Sprache die syntaktische Struktur, die Kinder heute erlernen? “ Die Individualentwicklung dient daher vor allem der Hypothesenbildung über den Ablauf der Stammesentwicklung; sie eignet sich aber nicht zur Beweisführung, wie Homo sapiens zur Sprache kam. Sprachfähigkeit Die gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und heutigen Menschen wiesen mit großer Wahrscheinlichkeit eine Sprachfähigkeit ähnlich derjenigen moderner Primaten auf. Im Laufe der Menschheitsentwicklung ist an den Fossilien eine allgemeine relative Hirngrößenzunahme zu verzeichnen; diese sagt allerdings wenig über die Sprachfähigkeit der frühen Menschenformen aus. Mehr Hinweise kann nur eine genauere Betrachtung der mit Sprachbildung und Sprachwahrnehmung verknüpften Hirnregionen liefern (Tobias 1995). Da es aber keine erhaltenen Gehirne gibt, sind Schädelausgüsse natürlicher oder künstlicher Art das einzige Medium, das für solche Untersuchungen zur Verfügung steht. Zwischen der äußeren Form des Gehirns und der Innenseite der knöchernen Gehirnkapsel, des Calvariums, besteht eine enge Beziehung, so dass ein Ausguss der Hirnkapsel ein grobes Abbild des Gehirns liefert. Das Problem ist, dass man dafür auch gut erhaltene Calvarien benötigt. Bisher liegen solche z. B. von frühen Menschenartigen wie Australopithecus afarensis nicht vor. Zwei mit der Sprachfähigkeit eng verknüpfte Hirnregionen werden in der Sprachentwicklungsforschung als besonders wichtig erachtet: einerseits wegen ihrer Funktion, andererseits wegen ihrer relativ guten Beurteilbarkeit in Ausgüssen. Das Broca-Zentrum liegt ungefähr im unteren hinteren Drittel des Schläfenlappens und ist bei den meisten Individuen nur in der linken Hirnhälfte ausgebildet. Neurologische Ausfälle nach Unfällen oder Krankheiten zeigen, dass in diesem Areal die Lautbildung kontrolliert wird und die Verbindung der motorischen Lautbildungskontrolle mit der Syntax erfolgt. Das im unteren Teil des Parietallappens und im oberen Teil des Temporallappens zu lokalisierende Wernicke-Zentrum liegt zwischen den <?page no="93"?> 95 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! verschiedenen Hirnregionen für Sinneseindrücke wie Sehen, Hören und Fühlen. Das Wernicke-Zentrum ist mit der Benennung von Dingen und der Sprachwahrnehmung befasst; außerdem ist es vermutlich verantwortlich für Hirnregionen übergreifende Assoziationen. Bei heutigen Menschenaffen wurden nur kleine Vorläufer dieser beiden Sprachzentren nachgewiesen. Aufgrund ihrer schlechten Erhaltung konnten bislang Fossilien, die älter als 3 Millionen Jahre alt waren, nicht beurteilt werden. Jüngere Individuen von Australopithecus africanus aus Sterkfontein und Makapansgat in Südafrika weisen in der Regel eine Aufwölbung in der Broca-Region auf, sind aber in der Wernicke-Region flach. Lediglich ein Individuum zeigt möglicherweise eine leichte Wölbung dieses unteren Parietallappenteils. Der Schädelausguss eines Australopithecus robustus von der südafrikanischen Fundstelle Swartkrans lässt ebenfalls eine mögliche Ausbildung eines Wernicke-Zentrums erkennen. Erst bei H. habilis sind sowohl Brocaals auch Wernicke-Region klar ausgebildet. Phillip Tobias (1995) interpretiert die Untersuchungsergebnisse so, dass A. africanus eventuell ein fakultativer Sprecher war, der sich nur gelegentlich der Lautäußerungen als Mittel zur Verständigung bediente, eine Form von Sprache bei H. habilis aber zum obligaten Verhaltensrepertoire gehörte. Diese Entwicklung der Sprachfähigkeit habe möglicherweise schon vor der Herausbildung der robusten Australopithecinen und Homo-Vertreter stattgefunden. Tobias’ Ansicht nach könnte der gemeinsame Vorfahr der beiden Entwicklungszweige auch der erste Steingerätehersteller gewesen sein. Beim modernen Menschen ist die Verbindung der Sprachzentren gut nachgewiesen durch klinische und pathologische Hinweise, aber auch durch Untersuchungen gesunder Gehirne in Aktion mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie. Wendy Wilkins und Jennie Wakefield (1995) weisen allerdings darauf hin, dass die Interpretationen fossiler Schädelausgüsse noch andere Probleme bergen als den bloßen Nachweis der besonderen Ausbildung einer Hirnregion. So können die Zentren für andere als linguistische Zwecke ausgebildet worden sein, z. B. das Broca-Zentrum für kompliziertere manipulative Handlungen. Möglicherweise wurde die ursprüngliche Funktion der Hirnareale erst später, zu einem unbekannten Zeitpunkt, auf den Sprachbereich erweitert oder verlagert. Soweit man das an Ausgüssen unter Berücksichtigung dieser Einschränkung beurteilen kann, besaßen H. habilis und wohl auch H. rudolfensis ab ca. 2,5 Millionen Jahre vor heute die neurale Basis für Sprache. Wie diese Hirnareale aber tatsächlich genutzt wurden, muss offen bleiben. <?page no="94"?> 96 Miriam Noël Haidle Lautfähigkeit Die Lautformung ist ein wichtiges Element der menschlichen Sprache: Von modernen Sprechern können bis zu 25 phonetische Einheiten pro Sekunde übermittelt werden, bei nicht gesprochenen Informationen gelingen nur sieben bis neun Einheiten pro Sekunde. Wichtig für die Herausbildung von Sprache sind zum einen die neuralen Wahrnehmungs- und Lautbildungsmöglichkeiten, zum anderen aber auch ein der Sprache angepasster Stimmapparat. Lange Zeit gab es Diskussionen über die Lautfähigkeit des Neandertalers. Von altpaläolithischen Menschenformen wurde angenommen, dass sie noch weniger in der Lage waren, differenzierte Laute von sich zu geben. Begründet wurde die Ablehnung der Lautfähigkeit bei nicht modernen Menschenformen mit dem Bau des Rachenraums, der beim modernen Menschen anders ist als bei den fossilen Formen. Der harte Gaumen und damit auch der Mundraum sind bei heutigen Menschen kürzer; die Zunge ist weniger lang gestreckt und begrenzt den Mundraum nach unten und hinten; der Kehlkopf ist insgesamt nach unten gerutscht. Philip Lieberman sah in diesem modernen Rachenbau erweiterte Lautmöglichkeiten der oberen Luftwege, die es erlaubten, auch nicht-nasale Laute, die Vokale i, u, a und bestimmte Konsonanten wie k und g zu bilden. Dadurch konnten verständlichere und leichter unterscheidbare Laute hervorgebracht werden. In der Zwischenzeit wurde jedoch in der Kebara-Höhle in Israel das Zungenbein eines Neandertalers entdeckt, das mit dem eines anatomisch modernen Menschen praktisch identisch ist und auf einen sehr ähnlichen Bau des Rachenraumes hinweist. Lieberman (1994 2 ) nahm diesen Fund zum Anlass, seine frühere Ablehnung einer ausreichenden Lautfähigkeit beim Neandertaler zurückzunehmen. Er spricht heute von einer möglichen eingeschränkten Lautfähigkeit früher Homininen. Prinzipiell ist die Lautfähigkeit eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung gesprochener Sprache; die fehlende Beherrschung aller in modernen Sprachen verwendeter Laute besagt aber gar nichts. So gibt es z. B. einen in mehrere Sprachen übersetzten Roman, in dem nur Worte ohne den Vokal „E“ (Perec 1986) verwendet wurden, und auch heute beherrschen sehr viele Menschen verschiedene Laute anderer Sprachgruppen nicht oder nur unter großen Mühen, ohne in der Kommunikation innnerhalb ihrer eigenen Gruppe beeinträchtigt zu sein. Aussagen über die tatsächliche Fähigkeit zu einer wie auch immer gearteten kontrollierten Lautbildung bei frühen Menschenformen fehlen; lediglich die Ausprägung der Broca-Region kann vage Anhaltspunkte liefern. <?page no="95"?> 97 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! Sprache und Kognition im Altpaläolithikum Sowohl das Denken und die Erkenntnisfähigkeit als auch das Sprachvermögen der verschiedenen Träger altpaläolithischer Kulturen werden sich wohl nie im Detail erforschen lassen. Die Kombination verschiedenster Ansätze lässt aber zumindest ein schemenhaftes Bild der geistigen Fähigkeiten früherer Menschenformen entstehen. Naturgemäß müssen die Aussagen über die Sprachnutzung im Altpaläolithikum allgemein bleiben und können kaum in Entwicklungsabschnitte untergliedert werden. Zusammenfassend entsteht folgendes Bild des Entwicklungsstandes der drei Hauptkomponenten gesprochener Sprache in der älteren Altsteinzeit: ● Kommunikationsfähigkeit: Das Vermögen, sich innerhalb der eigenen Gruppe zu verständigen, war sicherlich mindestens so weit entwickelt wie bei modernen Menschenaffen - mit dem Bewusstsein über die eigene Motivation und über Kommunikationsinhalte, über mögliche Wissenslücken beim Gegenüber sowie über die Vermittelbarkeit des fehlenden Wissens. ● Sprachfähigkeit: Bei den frühen Vertretern der Gattung Homo waren die für die Sprachfähigkeit wichtigen Broca- und Wernicke-Regionen im Gehirn ausgeprägt. Die neurale Grundlage für Sprache war, soweit dies an Fossilien ersichtlich ist, vorhanden. Wiederum können moderne Schimpansen im Laborversuch herangezogen werden als Anzeiger eines Mindestmaßes an Sprachfähigkeit mit Benutzung willkürlicher Zeichen, die auch referentiell und nicht im gewohnten Kontext gebraucht werden, der Benennung von Objekten, Handlungen und Beziehungen, der eigenständigen Neu-Kombination von Benennungen und dem Gebrauch einfacher Syntax. ● Lautfähigkeit: Die Fähigkeit zur Lautbildung bei frühen Menschenformen bleibt ungeklärt. Untersuchungen der Individualentwicklung bei modernen Kindern könnten aber auf die Zuordnung von Lauten zu Gesten als Ausgangspunkt für das gesprochene Wort hinweisen. Dies ist lediglich das Mindestpotential, das sich begründet annehmen lässt. Ob und wie diese Fähigkeiten jedoch genutzt wurden, steht auf einem ganz anderen Blatt und lässt sich praktisch nicht überprüfen: Aussagen zur Sprache im Altpaläolithikum müssen daher mehr oder minder fundierte Spekulationen bleiben. Oft werden aber auch an steinzeitlichen Werkzeugen erkennbare kognitive Äußerungen als Indizien für Sprache bzw. Nicht-Sprache im Altpaläolithikum gesehen. Für die Zeiten vor der Herstellung von Steinartefakten können mindestens die kognitiven Fähigkeiten moderner Schimpansen angenommen werden <?page no="96"?> 98 Miriam Noël Haidle mit gruppenspezifischen Traditionen, Werkzeuggebrauch und Werkzeugherstellung sowie unspezifischen Problemlösungen. Die frühen Steingeräte des Oldowan belegen den Umgang mit Sekundärartefakten, eine verstärkte visuelle Kontrolle der Feinmotorik und die Planung in die erweiterte Gegenwart bzw. nahe Zukunft. Spätestens im frühen Acheuléen wird die Anpassungsfähigkeit an andere Umwelten erweitert, die visuelle Kontrolle der Feinmotorik ist weiterhin zunehmend. Die Tendenz zur Formgebung weist auf steigendes Abstraktionsvermögen und die bewusste Verfolgung von Handlungssequenzen hin. Im späten Acheuléen dann ist die Kontrolle der Feinmotorik so ausgeprägt, dass sie auch gezieltes Werfen erlaubt. Es gibt Belege für eine bewusste Formgebung und die erweiterte Planung mit Zwischenzielen. Untersuchungen an Steingeräten deuten darauf hin, dass gegen Ende des Altpaläolithikums kognitive Fähigkeiten vorhanden waren, die der Stufe der operationalen Intelligenz eines Erwachsenen in Piagets Modell zur kognitiven Individualentwicklung entsprechen. Im Altpaläolithikum gibt es allerdings noch keine eindeutigen Belege für repräsentierendes Symbolverhalten, und es wurden keine Bestattungen entdeckt. Zusammengesetzte Geräte (Kompositgeräte) sind aus dieser Zeit unbekannt, die zur Formgebung gebrauchten Techniken eingeschränkt. Es wird nur für die eigene Person bzw. die eigene Gruppe geplant, nicht jedoch für Fremde. Menschenaffe? Affenmensch? Mensch? Entgegen der weitläufigen Meinung stellt sich das Altpaläolithikum nicht als ein mehrere Millionen Jahre währender Einheitsbrei ohne große geistige Entwicklungen dar. Die Entwicklungsrate ist zwar deutlich geringer als in jüngeren Zeiten. Dies hängt aber einerseits damit zusammen, dass anders als heute keine erwachsenen Vorbilder vielfältige kulturelle Entwicklungen lehrten, die Kinder also nicht einfach die modernen Errungenschaften gelenkt wieder erfinden konnten. Andererseits erleichtern heute vorausgehende Entwicklungen in eine bestimmte Richtung weitere Entwicklungen in die gleiche Richtung. Allerdings gründen die vorgestellten Aspekte und Interpretationen unseres Wissens über Sprache und Kognition im Altpaläolithikum nur auf dem, was heute bekannt ist. Neue Funde oder andere Herangehensweisen an altes Fundgut können schon morgen die Interpretationen verändern. Die Hinweise und Belege für typisch menschliche Verhaltenskomponenten wie Sprache und zunehmende Erkenntnisfähigkeit im Altpaläolithikum sind aufgezeigt. Wie man sich dazu stellt, ist eine andere Sache. Es seien zum Schluss noch zwei Extrempositionen unterschiedlicher Deutungen angeführt. <?page no="97"?> 99 Menschenaffen? Affenmenschen? Menschen! Phillip Tobias zum einen ist ein Verfechter sehr früher gesprochener Sprache schon bei H. habilis, eventuell sogar schon rudimentär bei späten Australopithecinen: “(…) and I believe it is unlikely that such a culture could have been transmitted down the generations without some form of speech.” (Tobias 1995). Iain Davidson und William Noble (1993) hingegen vertreten die Ansicht, dass Sprache im engeren Sinn erst mit dem anatomisch modernen Menschen ab ca. 40.000 Jahre vor heute auftritt. Sie knüpfen ihre These an das Auftreten von repräsentierender Kunst in Europa und die Besiedlung Australiens - Leistungen, die nur mit moderner Sprache und Erkenntnisfähigkeit möglich gewesen seien. Alle anderen immer wieder als wichtige Entwicklungsschritte aufgeführten Phänomene seien lediglich entwickelt äffisch, stellten aber nichts tatsächlich Neues dar. Ihrer Meinung nach habe es vorher keine Planung gegeben, die über einfache Antworten für zufällig auftretende Probleme in momentaner Umgebung hinausreichte. Neben der reduzierten Quellenauswahl und der fragmentarischen Überlieferung gibt es ein Hauptproblem bei der Beurteilung von Sprache und Kognition in frühen Phasen der Menschheitsentwicklung: den subjektiven Standpunkt. Im Extrem heißt das: Ist menschlich nur modern menschlich? Oder ist menschlich alles, was nicht äffisch ist? Was macht für Sie einen „Menschen“ aus? Literatur Becker, P.-R. 1993: Werkzeuggebrauch im Tierreich. S. 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Jüngste Befunde zur Evolution und Migration fossiler Menschenformen zeigen, dass Homo ergaster ein in jeder Hinsicht für die „Eroberung der Welt“ optimal ausgestatteter Hominine war. Dagegen sind unsere Vorstellungen von den frühen Wanderungen unserer Vorfahren noch sehr vage. Zwar wissen wir heute, dass frühe Vertreter der Gattung Homo schon vor etwa 2 Millionen Jahren, also bald nach ihrem Erscheinen in Afrika, nach Eurasien vorgedrungen waren. Wie viele Wanderungswellen es gab - aus Afrika und zurück, mit oder ohne Vermischung, in kleinsten Gruppen oder als Exodus - und wie viele Artbildungen (Speziationen) in Afrika oder außerhalb des Stammkontinents erfolgten, ist uns jedoch noch weitgehend verborgen. Dieser Beitrag gibt einen aktuellen Überblick aus evolutionsökologischer Sicht und macht dabei deutlich: Paläoanthropologie ist theoriegeleitetes Hypothesentesten. Einleitung In den 1960er Jahren, als die meisten Paläoanthropologen noch ein Stufenleiter-Modell der Menschwerdung vertraten, war das Hominisationsprob- <?page no="103"?> 105 Evolution und Verbreitung des Genus Homo lem recht einfach gelöst. Danach sollte sich das Genus Homo aus der Art Australopithecus africanus entwickelt haben und dann innerhalb unserer Gattung eine schrittweise Evolution von Homo habilis über Homo erectus zum Homo sapiens abgelaufen sein. Heute ist diese Sichtweise durch zahlreiche Fakten widerlegt; dennoch haben wir keineswegs Klarheit über den stammesgeschichtlichen Weg zum modernen Menschen und demnach eine kurze „Halbwertszeit“ unserer phylogenetischen Modelle. Die Verfasser von Lehrbüchern der Paläoanthropologie empfinden die „Zerfallsrate“ besonders intensiv und sehen sich deshalb zu ständigen Ergänzungen und Revisionen veranlasst, was - positiv bewertet - Ausdruck reger, innovativer Forschungstätigkeit ist (Henke u. Rothe 1994; 1999a). Prinzipien und Methoden stammesgeschichtlicher Forschung Zunächst erscheint es dem Verfasser wichtig, prinzipielle und methodische Aspekte stammesgeschichtlicher Forschung aufzugreifen, zumal die Paläoanthropologie häufig den Eindruck vermittelt, dass sie vorwiegend eine narrative Wissenschaft sei und Paläoanthropologen - in wissenschaftlicher Hinsicht - „Prinzipien wie Segelschiffe“ hätten - will heißen, dass sie sich mit jedem neuen Fossil und jeder neuen Datierung in die Richtung bewegen, in die der „veröffentlichte Wind“ bläst. Wesentliche wissenschaftshistorische Trends sind: der sprunghafte Anstieg neuer Fossilfunde aufgrund systematisch geplanter und durchgeführter Grabungen, die steigende Multi- und Interdisziplinarität der Bearbeitung stammesgeschichtlicher Probleme mit positiven Konsequenzen für die Methodologie und empirische Forschung, die wachsende Bedeutung der Paläogenetik und Archäometrie für die Lösung phylogenetischer und paläoökologischer Fragen. Die lange Zeit geltende Auffassung, Stammesgeschichte sei an Fossilien, also an versteinerten Überresten früherer Lebewesen, direkt ablesbar, trifft nicht zu. Fossilien sind zwar wichtige Belege für stammesgeschichtliche Prozesse, sie liefern jedoch keine unmittelbare faktische Information über den Ablauf der Evolution. Phylogenese lässt sich also nie an den Funden selbst ablesen, und auch der Zuwachs an Fossilien bedeutet nicht automatisch mehr Klarheit über stammesgeschichtliche Abläufe. Der sprunghafte Anstieg von Fossilfunden ist nicht zufällig; er geht auf eine präzise Planung der Feldstudien in fundträchtigen Regionen zurück. Dennoch hängt der Erfolg von Grabungsexpeditionen, insbesondere das Auffinden von Homininenfossilien, d. h. der „Nuggets“ jeder Grabung, von vielen Zufallsfaktoren ab. Grabungskompetenz, Fleiß und Ausdauer sind zwar wichtige Voraussetzungen für den Erfolg, aber keineswegs eine Garantie. Was die wissenschaftliche Analyse und Interpretation von Fossilien betrifft, so ist das Vorurteil zu widerlegen, dass Laborarbeit die gegenüber <?page no="104"?> 106 Winfried Henke Feldstudien entschieden einfachere Art der Forschung sei. Sicherlich ist sie meist die weniger spektakuläre. Wer als Paläoanthropologe Ruhm ernten will, muss graben - nur dann erlangt er die gewünschte Aufmerksamkeit, die „unwiderstehlichste aller Drogen“ (Franck 1997; White 2000). Paläoanthropologie ist eine ernst zu nehmende Foschungsdisziplin, und die nicht selten zitierte populärwissenschaftliche Formulierung „Fossilien reden“ ist zweifelsfrei unzutreffend. Der renommierte Anthropologe Milford Wolpoff formulierte es so: Wer als Paläoanthropologe etwas über die Menschwerdung erfahren will, „lauscht“ in seinem Fossilienlabor vergeblich; er hat vielmehr im Rahmen der Darwinschen Evolutionstheorie bzw. des seither stetig fortentwickelten Gebäudes der Systemtheorie der Evolution Hypothesen zu formulieren, und er hat auf der Basis geeigneten Methodeninventars den Versuch zu unternehmen, die Hypothesen zu verifizieren oder zu falsifizieren. Paläoanthropologie ist also theoriengeleitete Forschung, „begründete“ Stammesgeschichte (Henke u. Rothe 1994; 1999a). Der Systemansatz zur Analyse der Stammesgeschichte des Menschen ist in der Abbildung 1 aufgelistet. Er verdeutlicht, dass wir, ausgehend von einer Kontrolltheorie, d. h. den allgemeinen Evolutionsprinzipien, über eine operationale Theorie zu biologischen Modellen kommen, die über eine sog. Mittlertheorie aufgrund Abb. 1: Systemansatz zur Rekonstruktion der Stammesgeschichte des Menschen (nach Foley 1991; aus Henke u. Ulhaas 2001, modifiziert). <?page no="105"?> 107 Evolution und Verbreitung des Genus Homo empirischer oder quasi-empirischer Tests „Fenster zur Vergangenheit“ öffnen. Dieser Ansatz zeigt, dass die Ansprüche der Paläoanthropologie hoch gesteckt sind und dass dieses Fach deshalb auf die intensive Kooperation mit Nachbardisziplinen (Abb. 2) angewiesen ist. Die intensive interdisziplinäre Vernetzung kennzeichnet die Attraktivität des Faches, das weit über eine reine Fossilkunde hinausgeht. Die Rekonstruktion des Evolutionsprozesses darf sich nicht nur auf die Analyse und Interpretation des morphologischen Formenwandels beschränken, sondern hat die spezifische psychophysische Konstitution des Menschen evolutionsbiologisch zu erklären und die besonderen evolutionsökologischen Rahmenbedingungen der Menschwerdung zu erfassen. Zielsetzung ist es, nicht nur die kennzeichnende Morphologie, z. B. Bipedie, Hirnstruktur, Kau- und Sprechapparat, sondern auch die Kulturfähigkeit, z. B. komplexe Werkzeugherstellung und -verwendung, Symbolsprache, Geschichtlichkeit und soziale Verantwortung als Anpassungsprozess zu verstehen (Henke u. Rothe 1999a; Osche 1983; Vogel 1975; 2000). Was den zuletzt genannten Punkt der Wissenschaftstrends betrifft, das innovative Feld der Paläogenetik und Archäometrie, so befindet sich die gegenwärtige Forschung in einem sehr dynamischen Prozess. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob es uns gelingen wird, taxonomische Fragen der Homininen-Evolution mittels alter DNA (aDNA) zweifelsfrei zu lösen, das Abb. 2: Paläoanthropologie - ein multidisziplinäres Arbeitsfeld (aus Henke u. Rothe 1994, modifiziert). <?page no="106"?> 108 Winfried Henke Ticken der „Molekularen Uhr“ zuverlässig zu erfassen oder den „Speiseplan“ und die Erkrankungsmuster fossiler Homininen mittels molekularbiologischer, biochemischer und biophysikalischer Verfahren präzise zu rekonstruieren (Herrmann et al. 1989). Die Konkurrenz, die die molekularbiologischen „High Tech“-Laboratorien den bisweilen etwas verstaubt anmutenden osteologischen Laboren machen, ist begrüßenswert und stimulierend - denn Konkurrenz belebt das Geschäft. Die Leistungsfähigkeit „klassischer“ Disziplinen, wie die Morphologie - man denke nur an die modernen bildgebenden Verfahren, z. B. Rasterelektronenmikroskopie, 3D- Computertomographie, Kinematographie - oder die Phylogenetische Systematik mit ihren komplizierten verwandtschaftsanalytischen Methoden, sollte man jedoch in ihrer Bedeutung nicht unterschätzen. Nur der Vergleich mit lebenden Primaten, die den Vorzug der allseitigen Erforschbarkeit haben, eröffnet Möglichkeiten, die stammesgeschichtlichen Adaptationen des Menschen zu interpretieren. Dabei sind die Wechselbeziehungen zwischen den Komponenten der Organismen und des Lebensraumes von essentieller Bedeutung, um letztlich die ökologische Nische der frühen Homininen zu rekonstruieren. Um ein stammesgeschichtliches Szenario zu erstellen und evolutionsökologisch relevante Aussagen über Vorläufer unserer Spezies zu treffen, gilt es, diese zunächst überhaupt erst einmal aufgrund ihrer morphologischen Eigenheiten zu identifizieren. Damit erlangt die älteste Disziplin der Biologie, die Systematik, die in den 1960er Jahren schon abgeschrieben schien, wieder erhebliche Bedeutung (Wägele 2000; Wiesemüller et al. 2003). Die Ordnung in der Vielfalt erkennen - aber wie? Systematik ist zunächst ein Mittel zur „Beherrschung der Mannigfaltigkeit der Organismen“ (aber auch unbelebter Dinge, wie z. B. Mineralien) oder - bezogen auf die Biologie - die „Theorie und Praxis in der Aufdeckung und Wiedergabe der Ordnung der lebenden Natur“. Systematik setzt Klassifikation der zu ordnenden Organismen (oder Objekte) voraus, d. h. die genaue Analyse ihres Erscheinungsbildes. Diese fußt auf Merkmalen, also auf gesondert erfassbaren, abgrenzbaren Eigentümlichkeiten oder Eigenschaften, die ihren Träger kennzeichnen und ihn zu beschreiben erlauben. Eine fundamentale Methode biologischer Forschung ist der Vergleich anhand deskriptiver oder messbarer morphologischer, anatomischer, physiologischer, serologischer, molekularbiologischer oder ethologischer Eigenschaften oder „Merk-Male“, die man 1. bemerkt, 2. sich merkt und auf die man 3. auch andere aufmerksam macht - mit anderen Worten: eine Einheit, die man beobachtet, festlegt und mitteilt (Werner 1970). <?page no="107"?> 109 Evolution und Verbreitung des Genus Homo Erst die Kenntnis der Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Organismen bzw. systematischen Gruppen ermöglicht die Konstruktion von Stammbäumen bzw. phylogenetischen Verwandtschaftsdiagrammen. Da die unüberschaubare Mannigfaltigkeit der pflanzlichen und tierischen Organismen in der Phylogenese über die fortlaufende Spaltung von Arten entstand, ist die Vielfalt der Organismen Ausgangspunkt der Systematik. Grundeinheit der Evolution ist die Art. Die kontroverse Diskussion über Artbegriff und Evolutionsvorstellungen kann hier nicht vertieft werden, ebenso wenig wie die unterschiedlichen Schulen biologischer Klassifikation (Evolutionäre Taxonomie, Phylogenetische Systematik und Numerische Taxonomie) (Rothe u. Henke 2001; Wiesemüller et al. 2003). Dennoch müssen in der nachfolgenden Diskussion die Speziationsprozesse während der Hominisation angesprochen werden. Erst auf dieser Ebene werden die gravierenden Diskrepanzen in den Stammbaummodellen transparent und nachvollziehbar. Aber nicht nur unterschiedliche Artkonzepte, sondern auch prinzipiell gegensätzliche Modelle wie die Kontroverse Gradualismus, d. h. eine kontinuierliche evolutive Transformation von Arten, versus Punktualismus, d. h. ein abrupter evolutionsgenetischer Wandel zu neuen Spezies, existieren nach wie vor. Stammbäume sind wie Blumensträuße - schön anzusehen, aber schnell verwelkt Die phylogenetische Rekonstruktion nimmt auf die definierten Arten und ihre Merkmalsausprägungen Bezug und folgt einer Serie logischer Schritte; einige sind in der Abbildung 3 festgehalten. Zunächst werden Morphoklines, d. h. Gradienten der Merkmalsentwicklung, ermittelt. Dann wird die Richtung des Gestaltwandels, die Polarität, bestimmt. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die Ausprägung verschiedener Merkmale von einem ursprünglichen Merkmalsstatus über Zwischenstadien zu abgeleiteten Ausprägungen entwickelt. Alle Artbildungsmodelle setzen für die Entstehung neuer Arten die Entwicklung evolutiver Neuheiten - abgeleitete Merkmale oder Apomorphien - voraus, weshalb die Stammbaumrekonstruktion allein auf diesen - im Gegensatz zu den ursprünglichen Merkmalen, den Plesiomorphien - aufbaut. In einem weiteren Schritt erfolgt die Konstruktion eines Kladogramms, d. h. einer Baumgrafik, wobei am einfachsten von einem polarisierten Morphokline ausgegangen wird und jene Arten, die ein oder mehrere Merkmale gemeinsam haben, auf demselben Ast des Kladogramms angeordnet werden. Damit wird angedeutet, dass sie miteinander näher verwandt sind als mit Spezies, mit denen sie keine Neuerwerbungen teilen. Dass die Dinge weit komplexer sind, zeigt sich immer dann, wenn sich mehrere Klado- <?page no="108"?> 110 Winfried Henke Abb. 3: Schritte der phylogenetischen Rekonstruktion: a Bestimmung eines Morphokline, b Konstruktion eines Kladogramms, c Konstruktion eines Stammbaums, d Erstellung eines Szenarios (aus Henke u. Rothe 1994, modifiziert). Adaptionen - Habitatdifferenzierung Ressourcen - Raubfeinde - Freßfeinde Lebensgemeinschaft - „ökologische Nische“ Adaptionen - Habitatdifferenzierung Ressourcen - Raubfeinde - Freßfeinde Lebensgemeinschaft - „ökologische Nische“ <?page no="109"?> 111 Evolution und Verbreitung des Genus Homo gramme ergeben, d. h. widersprüchliche Lösungen, wobei dann nach dem sog. Sparsamkeits- oder Parsimonieprinzip die einfachste Lösung als die wahrscheinlichste angenommen wird. Der nächste Schritt ist die Konstruktion des Stammbaumes. Kladogramme sind keine Stammbäume! Um einen Stammbaum zu erhalten, bedarf es weiterer Analyseschritte. Das dabei anzuwendende Prinzip basiert auf der maximalen Nutzung von Informationen, die nicht aus dem Kladogramm selbst abzulesen sind. Dazu gehören Angaben zur Stratigraphie, Chronologie und geographischen Verbreitung eines Taxon. Diejenige Stammbaum- Hypothese, die die meisten Informationen kompatibel miteinander vereint, hat den höchsten Wahrscheinlichkeitsgrad. Aufgrund neuer Informationen „wackelt“ ein Stammbaum nicht selten schon nach kurzer Zeit - das entspricht durchaus der Erwartung (Darwin 1871). Abschließend erfolgt die Erstellung eines Szenarios. Die Zeichnung eines umfassenden Lebensbildes unter Berücksichtigung des „life-history-concept“ erfordert die konzertierte Aktion aller paläoanthropologisch relevanten Disziplinen (Abb. 2): So wird uns nur der Vergleich mit heute lebenden Primaten zuverlässige Modelle über die Fortbewegungsweise unserer Vorfahren ermöglichen; nur der ethnoarchäologische Vergleich mit rezenten Wildbeutern kann uns hinreichende Informationen zur Rekonstruktion früherer Lebensweisen liefern; nur mittels der Methoden der Taphonomie - im Deutschen häufig unzutreffend als „Begräbniswissenschaft“ bezeichnet - werden wir den Vorgang der Fossilisation oder Fossildiagenese nachvollziehen können; d. h., mit elaborierten Verfahren wird der Übergang eines Organismus von der Biosphäre in die Lithosphäre, also in die Versteinerung, rekonstruiert. Nur die Paläogeologie und -geographie können die in vorgeschichtlicher Zeit existierenden Migrationswege der Homininen in Zusammenarbeit mit der Paläontologie und Zoogeographie aufzeigen, und in jüngerer Zeit schicken sich auch Molekularbiologen an, diese Aufgabe tatkräftig zu unterstützen. Nur in der Paläopathologie Geschulte werden in der Lage sein, über die Krankheitsbelastungen unserer stammesgeschichtlichen Vorfahren fundiert zu urteilen und erste Hinweise auf soziale und medizinische Hilfe finden; nur mittels ausgefeilter Verfahren der Archäometrie, d. h. mikro- und makromorphologischer sowie biophysikalischer und biochemischer Ansätze, werden wir die Fossilien differentialdiagnostisch richtig deuten und Fehlurteile minimieren können. Noch viele weitere Disziplinen wären zu kennzeichnen. Eines sollte deutlich geworden sein: Nur durch das Zusammenwirken unterschiedlicher Disziplinen der Feld- und Laborforschung werden wir der Herausforderung der Evolutionsbiologie gewachsen sein, den einmalig abgelaufenen, realhistorisch-genetischen Prozess der Menschwerdung angemessen zu rekonstruieren. Stammesgeschichtliche Beweise im engeren Sinne gibt es jedoch nicht - wir modellieren nur! <?page no="110"?> 112 Winfried Henke Diese Einleitung in Prinzipien und Methoden sollte verdeutlichen, dass der bisweilen geäußerte Vorwurf an die Paläoanthropologie, nur „Paläopoesie“ zu betreiben, bei voller Ausschöpfung der Möglichkeiten und bei Respektierung der Grenzen des Methodeninventars nicht gerechtfertigt ist. Der Mensch - nur eine weitere „einzigartige“ Art Als Anthropologe stellt man immer wieder fest, dass trotz aller technologischer Errungenschaften und der Verwissenschaftlichung unserer Welt vielen - und keineswegs nur den Kreationisten - das Phänomen der Menschwerdung im Rahmen der Systemtheorie der Evolution nicht hinreichend erklärbar erscheint. Die offenbar schwierig zu überwindende teleologische Vorstellung vom Menschen als „Krone der Schöpfung“ impliziert, dass das Kulturwesen Mensch mit anderen Maßstäben gemessen wird als die tierischen und pflanzlichen Organismen. Wenn es um den Menschen und seine Herkunft geht, reicht vielen Darwins Erklärungsprinzip eines „selbstorganisatorischen Prozesses“ offenbar nicht aus. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt wohl in der als unüberbrückbar erachteten Kluft zwischen Natur und Kultur. Wollen wir als Paläoanthropologen überzeugende Argumente für einen evolutiven Weg in die Kulturfähigkeit vorbringen, so gilt es, die evolutionsökologischen Rahmenbedingungen aufzuzeigen, die durch „natürliche Auslese“ zur „Kanalisierung“ oder Ausrichtung auf ein sich zweibeinig fortbewegendes, großhirniges, vernunftbegabtes, soziales und moralisches Wesen geführt haben. Will man die conditio humana evolutionsbiologisch verstehen, so lösen sich viele wissenschaftliche Fragen bereits bei einem Blick auf die weite Primaten-Evolution. Es soll hier nicht im Einzelnen auf die Evolutionstrends in der Primatenreihe eingegangen werden, sondern nur das Prinzip von Präadaptation und Prädisposition angesprochen werden, d. h. die Voranpassung der Primaten oder die „Plattform für die Menschwerdung“ (Vogel 1975), wie z. B. die im Baumbiotop erworbene und bewahrte allseitige Beweglichkeit der oberen Extremitäten sowie die Greiffähigkeit der Hand, das stereoskopische Sehen und das Farbensehen, die Verlängerung der Jugendentwicklung und der Sozialisation sowie das komplexe Sozialleben und die kognitive Leistungsfähigkeit. Der letzte Punkt verlangt besondere Beachtung, um die Überbrückung des „Rubikon“ zwischen Tier und Mensch zu verstehen: „(…) vorausschauendes Handeln und Planen nach abgewogenen Wahrscheinlichkeiten unter antizipatorischer Einbeziehung komplexer Situationen bzw. Konstellationen bei gleichzeitig beherrschter, oft restriktiver Kontrolle über das eigene Verhalten, all das müssen nicht-menschliche höhere Primaten bereits im sozialen Feld leisten, und genau das sind auch die entscheidenden Voraussetzungen für die technologische ‚Werkzeug‘-Entwicklung der Hominiden“ (Vogel 1975, 23). <?page no="111"?> 113 Evolution und Verbreitung des Genus Homo Die in der Primatenevolution erkennbaren Trends erweisen sich als „teleonomisch“ (sensu Pittendrigh 1958), d. h. in einer rückwärts gerichteten Betrachtung als „zweckmäßig“ - ganz im Sinne einer strikten Anwendung von Darwins Theorie. Es sei ergänzt, dass durch die „Soziobiologie“, wie Edward Wilson (1975) das von William Hamilton entwickelte theoretische Konstrukt für die darwinistische Erklärung der Entstehung des evolutiven Erfolges von kooperativen und altruistischem Verhalten bezeichnete, der entscheidende Ansatz zur Erklärung tierlichen und menschlichen Verhaltens geliefert wurde (Voland 2001). Aus dem Blickwinkel der Evolutionsbiologie ist der Mensch somit nur „eine weitere einzigartige Art“. Für die analytische Paläoökologie bedeutet das, die Einzigartigkeit des Menschen ausschließlich dadurch zu erklären, dass man seine spezifisch menschlichen Adaptationsstrategien als Großsäuger, bodenlebender Primat, tropisches Lebewesen, Savannenbewohner und als Hominine zu verstehen versucht (Foley 1991). Afrika - Wiege der Menschheit Obwohl bereits Darwin in „The Descent of Man and Selection in Relation to Sex“ (1871) aufgrund der vermuteten engen Verwandtschaft des Menschen mit den großen afrikanischen Menschenaffen Gorilla und Pan auf Afrika als „Wiege der Menschheit“ hingewiesen hatte, ignorierte man diesen Hinweis lange. Zu tief saß offenbar noch die „narzisstische Kränkung“, die seine Deszendenztheorie dem Menschen zugefügt hatte. Eine mögliche weitere Kränkung, den Verlust des eurozentrischen Weltbildes, wollte man nicht auch noch hinnehmen. Erst ein 1924 aus den Buxton-Kalksteinbrüchen von Taung (Republik Südafrika) geborgener Kinderschädel änderte diese Situation. Afrika rückte in den Mittelpunkt paläoanthropologischer Forschungen, als der junge Anatom Raymond Dart 1925 das kleine Fossil als Bindeglied (missing link) zwischen lebenden Menschenaffen und den Menschen interpretierte und als Australopithecus africanus beschrieb. Seit dieser Zeit sind auf dem „Schwarzen Kontinent“ systematische Feldstudien vorgenommen worden. Nach den erfolgreichen Grabungen von Robert Broom in Südafrika waren es vor allem die Aktivitäten von Louis Leakey sowie seiner Ehefrau Mary in Ostafrika, die den Grabenbruch zum „Mekka der Paläoanthropologen“ machten. Die Anzahl fossiler Homininenarten ist durch den Grabungserfolg zahlreicher Expeditionen in den letzten Jahrzehnten sprunghaft angestiegen (Abb. 4). Die aus Süd- und Ostafrika sowie dem Korridor zwischen diesen Regionen (Malawi) und neuerdings auch aus Nordostafrika (Tschad) beschriebenen frühen Homininen zählen - sofern sie nicht als Homo klassifiziert werden - zu anderen Gattungen wie Australopithecus, Paranthropus, Praeanthropus, Ardipithecus, Kenyanthropus <?page no="112"?> 114 Winfried Henke oder Orrorin, die der unsrigen mehr oder weniger nahe verwandt sind. Trotz großer Diskrepanzen in ihrer wissenschaftlichen Beurteilung verdeutlichen sie eines unzweifelhaft: In der Frühphase der Menschwerdung lebten verschiedene Genera und Spezies der Hominini z. T. zeitgleich und überwiegend auch in derselben Region (Abb. 4). Nach evolutionsökologischen Gesichtspunkten ist daher aufgrund des Konkurrenzausschlussprinzips eine Nischenseparation anzunehmen. Ferner ist festzustellen, dass es offenbar verschiedene Anläufe zur Menschwerdung gegeben hat, so genannte Adhominisationen. Etappen der Menschwerdung Konkurrenz macht erfinderisch - die ökologische Nische der Australopithecinen Die Aufspaltung des Homo-Pan-Gorilla-Klade erfolgte molekularbiologischen Datierungen zufolge vor 8 bis 5,5 Millionen Jahren. Primatenfossilien, die älter als 8 Millionen Jahre alt sind, können unter dieser Annahme Abb. 4: Chronologische Verteilung der Fossilien früher Hominini. <?page no="113"?> 115 Evolution und Verbreitung des Genus Homo nicht mehr als hominin angesehen werden. Die evolutionsökologisch wichtige Frage lautet: Was war die evolutive Strategie der Homininen? Dass sie unvergleichlich erfolgreich war, ist evident: Heute stehen 6 Milliarden Menschen, die nahezu alle Regionen der Erde besiedeln, den Menschenaffengattungen Gorilla und Pan gegenüber, deren auf Zentralafrika beschränkter Bestand auf rund 122.000 Gorillas und zwischen 105.000 bis 200.000 Schimpansen geschätzt wird - Tendenz drastisch sinkend, nicht zuletzt wegen des Buschfleischhandels. Die Erfolgsgeschichte der Menschwerdung begann offenbar damit, dass einige pliozäne Hominini eine zweibeinige Fortbewegungsweise entwickelten, während die Grazilisation des Kauapparates und die homininentypische Hirnentfaltung erst später mit dem Auftreten der Gattung Homo folgten. Lange Zeit bestand die Auffassung, die frühesten Homininen hätten bereits eine dauerhafte oder habituelle bipede Fortbewegungsweise entwickelt. Nach den gängigen Hypothesen soll die Bipedie direkt oder indirekt beim Wechsel vom tropischen Regenwaldzum Savannenbiotop erfolgt sein. Auch die 3,6 Millionen Jahre alten Fußspuren in der Vulkanasche von Laetoli (Tansania), die von A. afarensis stammen sollen, bestärkten diese Auffassung. Heute wissen wir, dass A. afarensis und wohl auch die anderen Australopithecinen zur Bipedie befähigt waren, jedoch nur im Sinne einer zeitweisen oder fakultativen, nicht jedoch ständigen bipeden Lokomotion. Eine Vielzahl menschenaffenähnlicher Merkmale der frühen Homininen spricht aus kinetischen und energetischen Gründen dafür, dass sie weitaus effizientere Baumkletterer waren als bislang angenommen. Der trichterförmige Brustkorb, die Biegung der Rippen sowie die Form der Schultergelenkgrube lassen annehmen, dass A. afarensis noch ein effektiver Brachiator, d. h. Hangler oder Kletterer, war. „Lucys“ Beweglichkeit im Geäst, die so genannte Arborikolie, unterschied sich jedoch von der rezenter Menschenaffen, da ihre untere Extremität zwar auf Bipedie spezialisiert war, diese Art der Zweibeinigkeit biomechanisch aber ganz anders war als die unsere. Untersuchungen an Fossilien von A. anamensis, einer aus Allia Bay und Kanapoi (Kenia) beschriebenen Art, zeigen, dass diese in einem Seeufer- und Galeriewaldgürtel noch vorwiegend in den Bäumen lebte. Das ergibt sich aus der Anatomie der Handwurzelknochen, die extreme Greifkräfte ermöglichte. Ein weiterer, 3,58 bis 3,22 Millionen Jahre alter „Museumsfund“ aus den Regalen der Universität Witwatersrand (Republik Südafrika) fügt sich mit bereits früher entdeckten Fossilien vom südafrikanischen Fundplatz Sterkfontein (STw 573) zusammen und ist die erste Entdeckung eines gut erhaltenen Australopithecinen-Schädels in Verbindung mit dem übrigen Skelett (Clarke 1999). Jüngste Datierungen begründen erhebliche Zweifel an dem höheren Alter. Die Spezieszuordnung ist noch offen: Australopithecus species indeterminatus. Da diese Art offenbar noch eine greiffähige Großzehe besaß, wird angenommen, dass auch sie mit hoher Wahrschein- <?page no="114"?> 116 Winfried Henke lichkeit noch baumlebend war. Da A. anamensis, A. afarensis und A. africanus ebenso wie A. species indeterminatus aus Sterkfontein keinen klaren Trend von arborikolen Kletterern zu bodenlebenden Zweibeinern erkennen lassen, sind sie als direkte Vorläufer von Homo umstritten. Die älteren Vertreter wie Ardipithecus und Orrorin sind ebenso wie die später auftretenden, hoch spezialisierten Paranthropus-Vertreter als Ursprungsformen der Gattung Homo gänzlich auszuschließen. Somit rückt die aus der Afar-Region stammende Art Australopithecus garhi, was in der Afarsprache „Überraschung“ heißt, in den engeren Kandidatenkreis der direkten Vorfahrenschaft von Homo. Die Fossilien aus den Hata Beds (Middle Awash, Äthiopien) passen nicht nur wegen ihres Alters von ca. 2,5 Millionen Jahren als Vorfahren, sondern auch aufgrund der gegenüber A. afarensis längeren unteren Extremitäten; jedoch widersprechen die vergleichsweise langen oberen Extremitäten dieser Auffassung. Was die so genannten robusten Australopithecinen (Grine 1988) betrifft, die heute von den meisten Autoren in das Genus Paranthropus gestellt werden (P. robustus, P. boisei und P. aethiopicus), so kommen sie sowohl aufgrund ihres Alters als auch wegen ihrer hochgradigen Spezialisierungen nicht als unsere Vorfahren in Frage. Sie zeigen einen deutlichen Trend zu sehr großen Zähnen, der Megadontie, und zu einer Angleichung der Vorbackenzähne an die Backenzähne, der Molarisierung. Auch die Kaufläche der Molaren vergrößert sich. Gleichzeitig ist eine Verkleinerung der Frontzähne festzustellen. Beide Trends können in Verbindung mit massiven morphologischen Strukturen im Gesichts- und Hirnschädel als Anpassungen an den Verzehr sehr großer Mengen energiearmer pflanzlicher Nahrung oder aber harter und zäher Kost, z. B. Graskörner, gewertet werden. Demnach waren die robusten Australopithecinen wohl unzweifelhaft herbivor, nämlich Blatt-, Früchte- und Körnerfresser, d. h. foli-, frugi- und graminivor. Das wird auch durch rasterelektronenmikroskopische Analysen an den Kauflächen wahrscheinlich gemacht. Paranthropus dürfte habituell oder zumindest saisonal härtere, widerstandsfähige Kost verzehrt haben, weshalb man annimmt, dass er vorwiegend in der Savanne lebte. Da diese Annahme aber mit verschiedenen Anpassungen an das Baumleben in Widerspruch steht, wird auch vermutet, dass Paranthropus nur saisonal die angestammten Waldbiotope verließ und die Nahrungsquellen der Savanne nutzte. Da Anpassungen im Rahmen einer Mosaikevolution erfolgen und stets als Muster ursprünglicher und abgeleiteter, also als plesio- und apomorphe Merkmale zu verstehen sind, ist die Frage aufgrund der mageren Fossildichte bislang nicht lösbar. Es ist als sicher anzunehmen, dass Paranthropus-Vertreter trotz ihrer geringen zeitlichen Distanz zu den ältesten Fossilien von Homo als direkte Vorläufer unserer Gattung auszuschließen sind. Heute setzt sich zunehmend die Auffassung durch, dass die frühen Australopithecus-Arten ihr Leben in den Bäumen keineswegs ganz aufgegeben <?page no="115"?> 117 Evolution und Verbreitung des Genus Homo hatten und noch vorwiegend im arborikolen Biotop Nahrung, Schlafplätze - möglicherweise Nester wie bei Pan - und Schutz vor Fressfeinden fanden. Da sie aber auch schon effiziente bipede Läufer waren, kann man sie am ehesten als zweibeinig laufende Menschenaffen ansehen. Ihr bodenlebender oder terrestrischer Lokomotionstypus unterscheidet sich von dem heutiger afrikanischer Menschenaffen, die sich quadruped, d. h. im Knöchelgang, dem sog. „knuckle walking“, fortbewegen. Die Fortbewegungsweise der Australopithecinen (sensu lato) hatte zwar über Millionen Jahre Bestand und war offenbar erfolgreich, aber evolutiv nur eine Nebenfunktion: Sie erlaubte es schließlich einigen Populationen, die Bäume länger und häufiger zu verlassen und zu Nahrungssammlern und möglicherweise Werkzeuge herstellenden Aasfressern oder Jägern zu werden. Dieses Szenario schließt ein, dass den Australopithecinen noch Merkmale fehlten, die das Attribut „menschlich“ verdienen. Ob A. garhi die ihm zugeschriebene Rolle als potentieller direkter Vorläufer von Homo erfüllt, ist gegenwärtig unklar. Er besaß offenbar noch ein kleines Hirnvolumen und ein afarensis-ähnliches, recht ursprüngliches Gesichtsskelett mit beachtlich großen Zähnen. Seine Körperhöhe soll bereits 140 cm betragen haben, vorwiegend aufgrund relativ langer unterer Extremitäten, die noch hanglertypisch sein sollen. Nicht so sehr diese Morphologie als vielmehr die Fundumstände prädestinieren A. garhi für die Vorläuferrolle von Homo: Er wurde nämlich zusammen mit Steingeräten entdeckt. Die pebble tools dienten möglicherweise zum Zerlegen eines Kadavers. Die in unmittelbarer Nähe gefundenen Tierknochen zeigen Schnittspuren, doch ist die Auffassung, dass die taphonomischen Belege A. garhi als Aasfresser oder gar Beutegreifer ausweisen, hochgradig spekulativ. Wenn A. garhi, der vielleicht das Baumklettern und die terrestrische Bipedie beherrschte, tatsächlich Urheber der Schnittmarken war und mit einfach behauenem lithischen Gerät den Kadaver der Antilope zerlegte - wobei nicht zu klären ist, ob es sich um Aas, abgejagte oder selbst erjagte Beute handelt - , würden zwei Grundannahmen über Australopithecinen erschüttert werden: einerseits die Auffassung, die Australopithecinen seien vorrangig herbivor gewesen, und andererseits, dass sie keine Werkzeuge herstellten. War A. garhi, wie Berhane Asfaw, Tim White et al. vermuten, wirklich eine Übergangsform zwischen einem „zweibeinigen Schimpansen“, der mit großen Zähnen Aas verzehrte, und einem großhirnigen, vorrangig karnivoren Homo (Asfaw et al. 1999)? Eine Überraschung - wie sein Name sagt - ist „garhi“ insofern nicht, als wir so ein Bindeglied zwischen den Genera Australopithecus und Homo erwarten müssen - denn das Schild „Wegen Umbau geschlossen“ existiert in der Evolutionsgeschichte nicht (Osche 1983). Was jedoch überrascht, ist der Umstand, dass dieses missing link auch entdeckt worden sein soll. Wer denkt da nicht an „selbsterfüllende Prophezeiung“? <?page no="116"?> 118 Winfried Henke Die Evolution des Genus Homo - ein Quantensprung Heutigen Annahmen zufolge haben die frühen Homininen wie A. anamensis und A. afarensis die feuchten oder humiden, geschlossenen Ufer- und Galeriewälder mit ihrem großen Nahrungsangebot an Früchten und Blättern nur saisonal und kurzzeitig zur Erweiterung ihrer Nahrungsressourcen verlassen. Das ist möglicherweise auch für den nicht nur vegetarisch lebenden A. garhi anzunehmen. Dagegen war der Lebensraum der robusten Australopithecinen aufgrund der Adaptationen ihres Kauapparates sehr wahrscheinlich die Savanne, die sich ab dem mittleren Miozän auf Kosten der schrumpfenden Regenwälder in Afrika ausbreitete. Savannenbewohner waren auch die ältesten Vertreter des Genus Homo, bekannt als Homo rudolfensis, Homo habilis und Homo ergaster. Ihrer Entstehung gilt unsere weitere Aufmerksamkeit. Sie war offenbar eng mit den paläoklimatischen Veränderungen im ostafrikanischen Grabenbruch und damit verbundenen neuartigen Überlebensstrategien korreliert. Mit der Schrumpfung des Regenwaldgürtels und der Entstehung offener Landschaften wurden isolierte Landschaftsinseln und ein Mosaik von Ökotopen mit engen Habitatgrenzen geschaffen. In diesen Refugien lebten kleine isolierte Populationen, die Artbildungsprozessen, der allopatrischen Speziation, unterlagen. Diese Form der Umweltveränderung bietet die Möglichkeit der Entwicklung evolutionärer Neuheiten aufgrund von Gendrift und diversifizierender Selektion. Allgemein gilt, dass eine in Raum und Zeit variable Umwelt evolutionären Wandel begünstigt und vielfältige Möglichkeiten der Einnischung oder Annidation bietet. Die wohl zunächst nur temporär und erst später permanent in die afrikanischen Savannen vorgedrungenen frühen Hominini hatten in diesem neuartigen Lebensraum zahlreiche Anpassungsprobleme zu lösen. Dabei verfolgten sie offensichtlich unterschiedliche Strategien. Wie bereits ausgeführt, entwickelten die robusten Australopithecinen einen massiven Kauapparat, der den Verzehr zäher, trockener pflanzlicher Nahrung erlaubte. Parallel dazu entwickelten einige australopithecine Populationen offenbar eine grundsätzlich andere Überlebensstrategie: Sie setzten neben pflanzlicher Nahrung auch auf die reichhaltigen fleischlichen Nahrungsressourcen, welche die Savanne mit ihrem riesigen Tierbestand bis heute bietet. Dabei ist aus verschiedenen Gründen zu vermuten, dass sie sich erst sehr allmählich aus den Schutzzonen der Galeriewälder dauerhaft in die offenen Landschaften vorwagten. Zum einen stellte das Aufsuchen der weit auseinander liegenden Wasserstellen extreme Anforderungen an die Hitzetoleranz der Individuen, zum anderen war das Problem der Bedrohung durch Beutegreifer und Aasfresser, vor allem Katzenartige und Hyänen, zu lösen. Auch das Bedrohungspotential durch bodenlebende Affen wie Parapapio, Papio, Macaca und Theropithecus sowie durch andere konkurrierende Primaten barg ein erhebliches Risiko für Leib und Leben. Spätestens seit Bernhard <?page no="117"?> 119 Evolution und Verbreitung des Genus Homo und Michael Grzimeks Klassiker „Serengeti darf nicht sterben“ weiß man, dass die Savanne schillernd und vielfältig ist. Definitionsgemäß unterscheidet man Savannenwälder, Baum-, Busch- und Grassavannen. Die abiotischen Elemente, welche die Unterschiedlichkeit der Savannen prägen, sind Niederschlag, Verdunstung, Temperatur, Höhe und Neigung des Geländes, Drainage, Bodenbeschaffenheit und Feuer. Das prägende Kennzeichen der Savanne ist die Saisonalität; denn sie erfordert eine komplexe und flexible Nahrungsstrategie, eine breite Nahrungsnische und eine hohe Mobilität. Im Gegensatz zum tropischen Regenwald zeichnet sich die Savanne durch niedrigere Qualität der Pflanzennahrung aus. Wegen hoher Kosten bei der Suche nach Pflanzennahrung und des intensiven Wettstreits um hochwertige Nahrung hat Karnivorie einen hohen Selektionsvorteil. Die intensive Nahrungskonkurrenz unter Fleischfressern macht gleichzeitig eine effektive Fressfeindvermeidung notwendig. Konkurrenzvermeidung ist der erste „Glaubenssatz“ der modernen Ökologie. Aufgrund der Kosten eines Wettstreits ist es für eine Population deshalb im Allgemeinen vorteilhafter, einen kleinen Teil eines ökologischen Raumes exklusiv zu besetzen als einen größeren mit anderen zu teilen, was zu einer komplexen Nischenvielfalt geführt haben dürfte. Der evolutionäre Erfolg der Gattung Homo, deren Vertreter physisch weder zu schneller Flucht noch zu großer Körperkraft befähigt und somit im Vergleich zu anderen Großsäugern nahezu wehrlos waren, kann nur dann richtig verstanden werden, wenn man diesen frühen Homininen besondere psychische Fähigkeiten zuerkennt. Nur so konnten sie zahlreiche Bedrohungen in dem neuartigen Lebensraum abwehren und den harten Wettbewerb um Nahrungsressourcen bestehen. Homo überlebte - im Gegensatz zum „Spezialisten“ Paranthropus - als „Generalist“, d. h. als eine Form, die das breite Nahrungsspektrum der Savanne einschließlich des reichhaltigen Angebots fleischlicher Nahrung nutzte. Seine wenig spezialisierte Nahrungsstrategie erwies sich im Wettstreit mit den Konkurrenten der frühpleistozänen ökologischen Gesellschaft letztlich als die erfolgreichere. Der gesteigerte Verzehr von Fleisch spielte dabei offenbar die entscheidende Rolle. Fossilien allein erlauben jedoch keinen Aufschluss darüber, ob das Fleisch durch Jagen oder aber durch Kleptoparasitismus, d. h. „Fleischklau“, oder andere Strategien von Aasfressern erworben wurde. Aufgrund von Freilandstudien an rezenten Aasfressern wird angenommen, dass die Fleischnahrung nicht durch Jagd, sondern durch Aassuche erworben wurde. Homo löste das Problem der Saisonalität der Savanne vermutlich auch durch die Erschließung schwer zugängiger Pflanzennahrung, z. B. Wurzelknollen. Nachdem unsere Gattung diesen evolutionären Weg eingeschlagen hatte, entwickelte sie in der Nahrungskonkurrenz vollkommen neue Strategien - dazu gehörten offenbar neben soziosexuellen Organsisationsformen, etwa einem veränderten Paarungs- und Fortpflanzungsverhalten, vermutlich auch <?page no="118"?> 120 Winfried Henke die ökonomische Kontrolle über Erwerb, Verteilung und Tausch von Nahrungsressourcen und innerartliche Kooperationsbeziehungen. Bis zu 2,5 Millionen Jahre alte lithische Geröllgeräte des Oldowan liefern unzweifelhafte Dokumente für Werkzeugherstellung und -nutzung, jedoch ist gezielter Werkzeugeinsatz nicht zwangsläufig ein Indiz für erfolgreiche Hominisation, wie das Beispiel frei lebender Schimpansen belegt. Um das komplexe Evolutionsgeschehen besser zu verstehen, wurden sukzessiv Konzeptmodelle entwickelt, u. a. das Jäger-Modell von Richard Lee u. Irven DeVore (1968), das Nahrungsteilungs-Modell von Glynn Isaac (1978) und das Sammler/ innen-Modell der feministischen Anthropologinnen Adrienne Zihlman u. Nancy Tanner (1978). Es folgten das Paarbindungs-Modell von C. Owen Lovejoy (1981) sowie das Ernährungsstrategie-Modell von Kim Hill (1982) und schließlich das bereits erwähnte Aasfresser-Modell von Robert Blumenschine u. John Cavallo (1992). Die Modelle werfen u. a. spannende Fragen bezüglich der Partnerbindungen (Stichworte: verdeckter Oestrus, Vaterrolle), der Geschlechterrollendifferenzierung (Nahrungsteilung, geschlechtstypische Nischen) und der sozialen Organisationsform (Polygamie vs. Monogamie) auf, d. h. sie betreffen Verhaltenskomponenten, die eng mit dem Erwerb von „Kulturfähigkeit“ zusammenhängen. Die Habilinen und das Dilemma ihrer „Glaubwürdigkeit“ Die Erstbeschreibung von Homo habilis erfolgte 1964 durch Louis Leakey, Phillip Tobias und John Napier. Dieser grazile Hominine aus den Olduvai Beds I und II wurde wegen der gegenüber den Australopithecinen höheren Hirnschädelkapazität (640 cm³) und anderer in Richtung der Gattung Homo weisender Neuerwerbungen als species nova beschrieben. Die Steigerung des Hirnvolumens passte zu der Vorstellung, dass die ältesten Vertreter unserer Gattung Werkzeughersteller waren, denn in Assoziation mit den Fossilien fand man Geröllsteine, die zum Teil ein- oder zweiseitig behauen waren. Die Annahme, dass es sich bei diesem „befähigten oder geschickten Menschen“ um ein Bindeglied zwischen grazilen Australopithecinen und dem asiatischen H. erectus handelt, war jedoch schon unter den Erstbeschreibern umstritten. Als man 1972 in Koobi Fora (Ost-Turkana) einen Schädel entdeckte, der später die Bezeichnung KNM-ER 1470 erhielt und dem man zunächst sogar ein Alter von 2,9 Millionen Jahren und eine Hirnschädelkapazität von ca. 800 cm³ zugeschrieben hatte, was später auf 1,85 Millionen Jahre sowie 775 cm³ korrigiert wurde, stieg die Akzeptanz. Weitere Funde folgten, u. a. der Schädel KNM-ER 1813 mit nur 500 cm³ Hirnvolumen, was einige als Hinweis auf das weibliche Geschlecht werten. Auch in Sterkfontein und Swartkrans (Republik Südafrika) wurde man fün- <?page no="119"?> 121 Evolution und Verbreitung des Genus Homo dig, so dass die „Glaubwürdigkeit“ von H. habilis zunächst stieg. Aus der einst stark umstrittenen Entdeckung war in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts eine akzeptierte Spezies geworden, die in das Gesamtbild passte. Aber das Teilskelett O. H. 62 (Olduvai Hominid) nährte Zweifel, ob bei den Habilinen der zweibeinig-aufrechte Gang überhaupt schon ausgereift war (Hartwig-Scherer u. Martin 1991). Das Hypodigma, d. h. die Gesamtheit aller Fundstücke, die einer Spezies - in diesem Falle H. habilis - zugeordnet werden, erschien einigen Anthropologen so heterogen, dass z. B. Valerij Alekseev von der Moskauer Akademie der Wissenschaften für den Schädel KNM-ER 1470 eine eigene Art, nämlich Homo rudolfensis, für vertretbar hielt. Um zu einer tragfähigen Klassifikation der Fossilien zu gelangen, wurde die innerartliche Variabilität mit derjenigen nicht-menschlicher höherer Primaten verglichen. Dabei konnte gezeigt werden, dass die Schädeldimensionen von KNM-ER 1813 und KNM-ER 1470 Unterschiede zeigen, die sogar den Sexualdimorphismus beim Gorilla übertreffen (Abb. 5). Die Folge war, dass man nach der mühsam erworbenen Akzeptanz von H. habilis nun sogar eine Differenzierung in zwei Arten für gerechtfertigt hielt: H. habilis (sensu stricto) und H. rudolfensis. Damit stellte sich aber folgendes Problem: Welche der beiden „habilinen“ Spezies steht in der zu den jüngeren Homo-Arten führenden Linie und welche repräsentiert nur einen Seitenzweig? Während einige Paläoanthropologen wohl eher Abb. 5: „Homo“ habilis s. str (KNM-ER 1813) versus „Homo“ rudolfensis (KNM- ER 1470) (Fotos D. Brill aus Johanson u. Edgar 1998). <?page no="120"?> 122 Winfried Henke „aus dem Bauch heraus“ wegen seines etwas höheren Alters sowie seines etwas größeren durchschnittlichen Hirnvolumens H. rudolfensis als den geeigneteren Vorfahr propagierten, erbrachten sorgfältig durchgeführte kladistische Analysen gegenteilige Befunde. Danach soll H. habilis (s. str.), die Art mit dem kleineren Hirnvolumen, der fehlenden Megadontie und den weniger langen Armen, uns näher verwandt sein (Abb. 6 u. 7). Auch Ian Tattersall und Jeffrey Schwartz (2000) halten diese Version für die wahrscheinlichere, haben aber Zweifel: Das Mysterium „Homo habilis“ besteht also weiter. Die Vielzahl ungelöster Probleme veranlassten Bernard Wood und Mark Collard zu einer Vergleichsstudie, in der die Merkmale Körpergröße, Körperform, Bewegungsmuster, Unterkiefer und Zähne, Ontogenese sowie Hirngröße erfasst wurden. Dabei teilten sie die Merkmalsmuster in drei Kategorien: dem modernen Menschen ähnliches Muster, den Australopithecinen ähnliches Muster und intermediäres Muster. Den Befunden zufolge fallen die Spezies H. rudolfensis und H. habilis (s. str.) aus dem für die Gattung Homo kennzeichnenden Raster heraus und zeigen enge Beziehungen zur Abstammungsgemeinschaft der Australopithecinen (Abb. 7). Dieser Befund überrascht insofern nicht sonderlich, als weder H. rudolfensis noch H. habilis (s. str.) als direkte Vorfahrenform von H. ergaster/ H. erectus Abb. 6: Stammbaummodell nach kladistischen Befunden von Strait et al. (1997) (aus Henke u. Rothe 1999a). <?page no="121"?> 123 Evolution und Verbreitung des Genus Homo überzeugen konnten (Wood u. Collard 1999; Henke u. Rothe 2001a; b). Eine Reklassifizierung von H. rudolfensis und H. habilis (s. str.) in das Taxon Australopithecus würde aber eine große Lücke zwischen den Australopithecinen und einem unzweifelhaften frühen Vertreter der Gattung Homo, als den wir nachfolgend H. ergaster kennenlernen werden, aufreißen. Alle Erfahrung lehrt, dass über die Habilinen noch nicht das letzte Wort gesprochen wurde. Es bleibt daher abzuwarten, ob letztlich doch einige Fossilien dem Hypodigma der Rückstufung auf Australopithecinen-Niveau, der „Dehumansierung“, trotzen werden. Die Entdeckung eines als Kenyanthropus platyops bezeichneten Hominiden legt nahe, dass H. rudolfensis auch einer weiteren Gattung angehören könnte (Henke u. Rothe 2003). Homo ergaster - ein „Musterknabe“ Das - müsste man es nicht leidenschaftslos sehen - „enttäuschende“ Ergebnis der Revision der Habilinen führt uns nun zu der Frage, wann Homo denn nun wirklich erstmals in Afrika auftrat. Die Fundgruppe, die geeignete anatomisch-morphologische Anpassungsmuster erkennen lässt, um ungenutzte Ressourcen der Savanne, sog. ökologische Lizenzen dieses ariden Lebensraums, zu nutzen, und die über geeignete körperliche und verhaltensbiologische Eigenschaften, sog. organismische Lizenzen, verfügt, ist Homo ergaster. Diese bisweilen auch als afrikanischer H. erectus bezeichnete Art wurde 1975 erstmals von Colin Groves und Vratja Mazák beschrieben. Typusexemplar oder Holotypus ist ein Unterkiefer aus Koobi Abb. 7: Kladogramm (nach Wood u. Collard 1999, modifiziert). <?page no="122"?> 124 Winfried Henke Fora (KNM-ER 992); aber mittlerweile ist die Art durch Fossilien wie das Kalvarium KNM-ER 3733, das eine Hirnschädelkapazität von 850 cm³ aufweist, sowie durch den Jahrhundertfund KNM-WT 15000 aus Nariokotome eindrucksvoll belegt. Das letztere, als „Turkana boy“ bekannt gewordene Individuum wurde von Allan Walker und Richard Leakey (1993) zunächst als H. erectus klassifiziert (Abb. 8). Es belegt, dass sich an der Grenze vom Tertiär zum Quartär eine einschneidende Entwicklung in der Primatenevolution vollzogen hat. Die Neuerwerbungen dieses Menschentypus sind ein erheblich vergrößertes Hirnvolumen, kleinere Kiefer und Zähne, schmale Hüften, ein enger Geburtskanal sowie eine deutlich gesteigerte Körperhöhe, verbunden mit einer schlanken, linearen Körpergestalt. Die anatomisch-morphologischen Veränderungen hatten physiologische und Abb. 8: Morphologische Kennzeichen des Schädels von Homo ergaster und von Homo erectus, dargestellt am Fund KNM-ER 3733 bzw. der Rekonstruktion eines weiblichen Sinanthropus nach Franz Weidenreich, Norma occipitalis von ZH XII (aus Henke u. Rothe 1999a). <?page no="123"?> 125 Evolution und Verbreitung des Genus Homo psychische Konsequenzen, die sich auch in den archäologischen Funden und Befunden widerspiegeln (Abb. 9) (Rogers et al. 1996; Henke u. Rothe 2001b). Archäologische Befunde aus Koobi Fora stützen die Annahme, dass dieser Menschentypus erstmals in der Lage war, dauerhaft in offene und trockene Biotope vorzudringen. Das erforderte klimatische Adaptationen. Homo ergaster ist aufgrund biomechanischer Optimierungen des bipeden Gangs, u. a. Schrittlänge und Beckenrotation, ein effizienter Langstreckengeher und -läufer. Die große Linearität seiner Körpergestalt und das damit verbundene günstige Verhältnis von Oberfläche zu Volumen lassen nach den geltenden Klimaregeln (Henke u. Rothe 1994) einen optimierten Widerstand gegen Hitzestress vermuten. Diese Anpassung konnte dann in den gemäßigteren Regionen zugunsten anderer Klimaadaptationen jedoch wieder aufgegeben werden. Die große Ähnlichkeit der extremen Schlank- und Hochwüchsigkeit von H. ergaster mit der Leptosomie heutiger Savannenpopulationen, u. a. der Bantu-Stämme, lässt auch weitere gleichartige, jedoch nicht mehr rekonstruierbare Hitzestress-bedingte Adaptationen annehmen wie Kraushaarigkeit, starke Hautmelanisierung und effiziente Schweißdrüsen. Die entscheidende Optimierung in dieser frühen Hominisa- Abb. 9: Anatomische Adaptationen und ihre physiologischen und psychischen Konsequenzen (nach Rogers et al. 1996; aus Henke u. Rothe 1999b). <?page no="124"?> 126 Winfried Henke tion betrifft jedoch die Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit und die damit verbundene innovative Kraft auf kulturellem Feld. Essentielle Voraussetzung für die Eroberung der Homo-spezifischen ökologischen Nische ist die sukzessive Erweiterung der tradigenetisch-kulturellen Evolution (Vogel 2000). Seine „ökologische Superstellung“ (sensu Osche 1983) verdankt der Mensch der kulturellen Evolution und in ökologischer Sicht vor allem der materiellen Kultur und der technischen Evolution, d. h. der Optimierung „extrakorporaler Werkzeuge“. Homo ergaster ist offensichtlich der an der Basis der Homo-Linie stehende „Musterknabe“, der eine unvergleichliche Karriere einleitete. Wie wir sehen werden, war er der erste - uns bekannte - Hominine, der Afrika verließ und in die übrigen Teile der Alten Welt immigrierte. Nach den Grundsätzen zoogeographischer Mobilität erlaubte ihm der Wechsel zur Karnivorie respektive Omnivorie einen entschieden weiteren Aktionsradius. Dem Prinzip der Eurytopie zufolge zeigen Fleischfresser eine deutlich geringere spezifische Biotopbindung. „Fleisch auf Hufen“ ist mobil und schmeckt überall auf der Welt mehr oder weniger gleich. Ferner ist Exogenie als ein Prinzip zu nennen, worunter die Eigenschaft einer Spezies verstanden wird, aufgrund relativ geringer Spezialisierungen für einen bestimmten Lebensraum, insbesondere für eng begrenzte Nahrungsressourcen, eine sehr breite Nahrungsnische nutzen zu können. Umweltphysiologische Aspekte kennzeichnen schließlich ein drittes allgemeines Prinzip zur Erklärung der Homininen-Expansion; jedoch lassen sich über die klimatischen Anpassungen früher Hominini nur plausibel-hypothetische Vermutungen anstellen (Übersicht in Foley 1991; Henke 1995; 1997; Henke u. Rothe 1994; 1999b). Dass die das tropische Afrika verlassenden Homininen-Populationen die Mobilitätskriterien erfüllten, zeigt ihre erstaunlich schnelle Verbreitung in Eurasien. Warum Homo schon bald nach seinem ersten Auftreten in Afrika auswanderte und sowohl in Kontinental- und Südostasien als auch vor den Toren Europas (Dmanisi) erschien, ist noch weitgehend spekulativ (Abb. 10). Waren es Neugier und Wanderlust, Klimaveränderungen, Ressourcenmangel, Raum- und Fressfeinddruck, Nischenkonkurrenz oder epidemiologische Ursachen? Am wahrscheinlichsten scheint die These der Abhängigkeit als Aasfresser oder Jäger von der Großfauna. Vergleichende Analysen an der Großsäugergesellschaft stärken die Auffassung, dass der frühe Mensch aus energetischen Gründen nur als obligater, partieller Fleischesser in der Lage war, Landschaften der gemäßigten Zonen mit Jahreszeitenwechsel erfolgreich besiedeln zu können, d. h. er befand sich in einem engen Abhängigkeitsverhältnis zu seiner potentiellen Beute. Ferner muss er gegenüber konkurrierenden Beutegreifern über eine ausreichende Bedrohungskapazität verfügt haben, um in dieser koevolutiven Beziehung zu bestehen. Die Rekonstruktion der Steinartefakte erlaubt die Feststellung, dass H. ergaster bereits vor 1,7 Millionen Jahren mit Beginn der Acheuléen- <?page no="125"?> 127 Evolution und Verbreitung des Genus Homo Abb. 10: Geographische Verteilung der Fundstätten von Homo in Afrika und der übrigen Alten Welt (aus Henke u. Rothe 1999c, modifiziert). Industrie über sehr effiziente Werkzeuge zum Zerlegen von Beute und Kadavern verfügte, die eine deutliche „Evolution“ gegenüber den bis zu 2,5 Millionen Jahre alten pebble tools zeigen. Wie effizient die Tradierung beim frühen Homo kommunikativ auch immer verlief, eines ist trotz aller offenen Fragen sicher: Es müssen subtile Wechselbeziehungen zwischen Mensch, Kultur und Umwelt zum Tragen gekommen sein, die Phillip Tobias (1989, 148) so beschrieb: “Man-plus-culture makes the environment; environment-plus-culture makes man; therefore man makes himself.” Wir müssen in unserer eigenen Evolutionslinie mit autokatalytischen Prozessen rechnen, die zu einer starken Beschleunigung der selbstorganisatorischen Entwicklung beigetragen haben. Frühe „Wanderlust“ - Migrationen des frühen Homo Möchte man den Migrationsprozess des frühen Homo verstehen, so gilt es, die relevanten Fossilien - und assoziierten Artefakte - sorgfältig nach Raum und Zeit zu sortieren (Abb. 11). Die frühesten archaischen Vertreter unseres Genus lebten, selbst wenn H. habilis (s. str.) und H. rudolfensis skeptisch beurteilt werden, in Ost- und Südafrika. Datierungen von Fossilien <?page no="126"?> 128 Winfried Henke und lithischen Werkzeugen, die das früheste Vorkommen von Homininen außerhalb Afrikas bekunden, machen die Besiedlung Asiens vor etwa 2 Millionen Jahren wahrscheinlich (Larick u. Ciochon 1996). Dagegen erfolgte die Einwanderung nach Europa wohl erst deutlich später. Einige Datierungen sind jedoch sehr umstritten. Im Falle von Longgupo (China) handelt es sich offenbar um keinen Homininen, und die maximale Datierung von 1,81 Millionen Jahren für die javanischen H. erectus-Funde ist sehr wahrscheinlich zu hoch. Auch das mit fast 1,9 Millionen Jahren angenommene Alter des 1991 in Dmanisi (Georgien) geborgenen Homininen-Unterkiefers (D 211) zweifelte man zunächst stark an (Gabunia et al. 1999). Es erschien vielen unwahrscheinlich, dass das inmitten des Geländes der mittelalterlichen Ruinenstadt in Süd-Georgien gefundene Fossil frühpleistozän sein sollte. Auch die Abb. 11: Zeittafel der Homo-Funde in Afrika, Europa und dem Nahen Osten (aus Henke u. Rothe 1999c). <?page no="127"?> 129 Evolution und Verbreitung des Genus Homo Morphologie des Fossils hielten viele doch eher mit einem jüngeren, evolvierteren Homo-Typus vereinbar, denn umfangreiche Vergleichsanalysen zeigten, dass der Unterkiefer nicht nur Affinitäten zu archaischen Formen wie H. ergaster (KNM-WT 15000) besitzt, sondern auch enge morphologische Ähnlichkeiten zu jüngeren Erectus-Funden (z. B. aus Zhoukoudian, China) aufweist (Bräuer et al. 1995; Henke et al. 1999). Als das georgischdeutsche Grabungsteam im Frühjahr 1999 zwei gut erhaltene Homo-Schädel fand, war die Sensation perfekt. Ihr hohes Alter von ca. 1,75 Millionen Jahren widerlegte alle Skeptiker. Die Schädel lassen keinen Zweifel: Der Dmanisi-Mensch existierte bereits zu Beginn des Pleistozän, d. h. zwischen dem Ende des Olduvai-Events und dem Beginn der folgenden, revers magnetisierten Matuyama-Periode. Er zeigt starke Ähnlichkeit mit dem afrikanischen H. ergaster, weshalb die Erstbeschreiber diese Homininen vorläufig als Homo ex gr. ergaster klassifizierten. Die Hirnschädel D 2280 und D 2282 sind mit Hirnvolumina von ca. 780 cm³ bzw. 625 cm³ extrem klein, wobei die Autoren den beachtlichen Unterschied zwischen beiden durch Sexualdimorphismus erklären. Andere wie Jeffrey Schwartz (2000) rechnen sogar mit der Möglichkeit, dass es sich, D 211 einbezogen, sogar um drei verschiedene Arten handeln könnte - eine taxonomische Aussage, die Milford Wolpoff u. Rachel Caspari (2000, 3) zu der wie auch immer zu verstehenden Äußerung veranlasste, dass sie dies „quite uncomfortable“ machen würde. Sollte die Klassifikation der Dmanisi-Homininen als H. ergaster durch weitere Befunde gestützt werden, gäbe es kein Herkunftsproblem. Die plausibelste - vielleicht auch tatsächlich zutreffende - Erklärung wäre eine sehr frühe Einwanderungswelle von H. ergaster über den Nahen und Mittleren Osten (Larick u. Ciochon 1996; Henke et al. 1999). Bald nach seinem ersten Auftreten in Afrika hätte Homo demnach den Weg nach Norden angetreten. Da in jüngster Zeit zwei weitere Schädel und postkraniale Skelettelemente entdeckt wurden, bleibt Dmanisi eine der erfolg- und aufschlussreichsten Grabungen. Die Levante - Kreuzungspunkt dreier Kontinente Die Levante wird damit zu einem Schlüsselgebiet der Migrationsgeschichte, denn sie bildet die Kreuzung zwischen drei Kontinenten. Durch sog. tools ist die frühe Anwesenheit von Menschen in Yiron (Israel) belegt. Ihr Alter von mehr als 2,4 Millionen Jahren ist jedoch äußerst problematisch. Dagegen bezeugen lithische Artefakte aus Erq-el-Ahmar, einem 1,96 bis 1,78 Millionen Jahre alten Fundplatz in Israel, die frühe Anwesenheit von Homininen in diesem Raum. Entschieden aussagekräftiger als die gefundenen zwei Kerngeräte sind die archäologischen und faunistischen Befunde von ‘Ubeidiya. Der 1,4 Millionen Jahre alte Siedlungsplatz, der von einem israelisch- <?page no="128"?> 130 Winfried Henke deutschen Grabungsteam erschlossen wird, weist neben Acheuléen-Geräten auch ein entwickeltes Oldowan auf. Damit besteht neben den archäozoologischen Befunden ein weiteres link nach Afrika. Der dazugehörige Mensch ist bislang fossil nicht dokumentiert, könnte aber mit neuesten Funden aus Bouri, Middle Awash (Äthiopien) identisch sein (Asfaw et al. 2002). Im Jahr 1996 gelang es einer schweizerisch-syrischen Grabungsgruppe in Nadaouiyeh Aïn Askar (Syrien), neben ovalen Acheuléen-Faustkeilen auch ein fast komplettes, 0,5 Millionen Jahre altes Os parietale zu bergen, das mit dem des asiatischen H. erectus starke Übereinstimmungen zeigt. Nach Aussage der Ausgräber Peter Schmid und Jean-Marie Le Tensorer (persönl. Mitteilung) sollen die archäologischen, faunistischen und paläoanthropologischen Befunde die Kluft zwischen dem afrikanischen H. ergaster und dem asiatischen H. erectus füllen. Hat diese Kluft überhaupt bestanden? Ausgewiesene Kenner des Fundmaterials beider Kontinente haben doch immer wieder auf das Fehlen von Autapomorphien der afrikanischen und asiatischen früh- und mittelpleistozänen Homo erectus (sensu lato)-Populationen hingewiesen (u. a. Rightmire 1998) und gegen eine Speziestrennung von H. erectus und H. ergaster plädiert, wie auch das Stammbaummodell (Abb. 12) exemplarisch verdeutlicht. Abb. 12: Speziationsmodell nach Rightmire (1998), modifiziert. <?page no="129"?> 131 Evolution und Verbreitung des Genus Homo Im Abseits? Fernost und Südostasien Der Ferne Osten lag weniger im Abseits als die heutige Landkarte vermuten lässt, denn der Sunda-Schelf verband Sumatra, Java und Borneo mit dem Festland, und Asien bildete zusammen mit Neuguinea und Tasmanien Sahul oder Groß-Australien. Die Rekonstruktion der Migrationswege von Homo gestaltet sich wegen der heute fehlenden Landbrücken besonders schwierig. Dass sich die ost- und südostasiatische Region hinsichtlich der mittelpaläolithischen Artefakte von der übrigen Alten Welt unterscheidet, ist hinlänglich bekannt, jedoch archäologisch nach wie vor ein kniffliges Puzzle. Wenn östlich der sog. „Movius-Linie“ nur das Oldowan bekannt war, aber kein Acheuléen, dann - so vermuten einige - könnte das folgenden Grund haben: Das Acheuléen fehlt in Ostasien schlichtweg deshalb, weil es noch nicht erfunden worden war, als die Immigranten ihre Ursprungsregion Afrika verließen. Danach muss der Bevölkerungsstrom, der nicht nur über den Nahen Osten, sondern auch durch den heutigen Bab-el-Mandab entlang der südöstlichen Ecke der Arabischen Halbinsel zum Persischen Golf und via Hormuz zum Indischen Subkontinent und weiter in den Fernen Osten gelangte, abgerissen sein. Damit war auch kein Kulturaustausch mehr möglich. Wenn so auch noch lange nicht erklärt ist, warum das Acheuléen bis Indien vordrang, bleibt doch zumindest der Befund, dass es in Asien möglicherweise so etwas wie eine Sackgassenentwicklung gab. Eine solche Auffassung würde gegen eine gradualistische Entwicklung in Festlandasien und Südostasien sprechen. Entgegen der Annahme einer gradualistischen Transition vom archaischen zum anatomisch-modernen Homo, die die Grundlage des multiregionalen Evolutionsmodells (Wolpoff 1996-1997) ist, müssten wir zumindest mit der Einwanderungswelle einer weiteren Homo-Spezies - H. sapiens - rechnen. Europa - Homo auf „eigenartigen“ Wegen? Sofern es sich bei H. ergaster und H. erectus tatsächlich um getrennte Arten handeln sollte, geraten wir hinsichtlich der Interpretation der europäischen Homo erectus-Fossilien in einen Erklärungsnotstand. Es gilt dann dringend zu prüfen, ob diese Homininen auch weiterhin diesem Taxon zugerechnet werden können - anders formuliert: Ist H. erectus ein valides Taxon der europäischen Homininen (Henke u. Rothe 1995)? Lange Zeit galt der Unterkiefer von Mauer bei Heidelberg als das älteste europäische Homininenfossil. Zusammen mit Funden aus Petralona (Griechenland), Tautavel (Arago, Frankreich), Bilzingsleben (Thüringen), Vértesszöllös (Ungarn), Boxgrove (Großbritannien) sowie Reilingen (Deutschland) bildeten sie die Gruppe der sog. „Ante-Neandertaler“, die zeitlich vor dem Erscheinen der Neandertaler auftraten. Auch heute noch ist der aus dem Cromer-Interglazial II-III (783.000 bis 660.000 BP) stammende „Heidelberger“ das älteste <?page no="130"?> 132 Winfried Henke Fossil nördlich der Alpen. Seinen phylogenetischen Status als Homo erectus aber hat er - nach Auffassung vieler Spezialisten - verloren. Er trägt wieder seinen ursprünglichen Namen Homo heidelbergensis Schoetensack, 1908 - warum, wird später verständlich (Condemi u. v. Koenigswald 1997; Rightmire 1998; Wood u. Collard 1999; 2000). Älter als der Mauer-Unterkiefer sind erst in jüngerer Zeit entdeckte Fossilien aus dem mediterranen Raum: sehr fragmentarische kraniale, postkraniale und dentale Fossilien aus der Gran Dolina der Sierra de Atapuerca (Spanien, Level TD-6 > 0,78 Millionen Jahre) sowie ein zwischen 0,8 bis 0,9 Millionen Jahre altes Kalvarium aus Ceprano (Italien). Archäologische Quellen machen zumindest in Südeuropa eine erste Besiedlung vor etwa einer Million Jahren und möglicherweise noch weit früher wahrscheinlich (Manzi 2001). Während das gut erhaltene Kalvarium aus Süditalien als H. erectus klassifiziert wurde (Ascenzi et al. 2000), halten Bermúdez de Castro et al. (1997) die Gran-Dolina-Fossilien für eine bislang unbekannte Spezies, die sie Homo antecessor tauften. Die species nova erntete bislang viel Kritik und wenig Anerkennung, da der Holotypus ein kindlicher Oberkiefer ist, der kennzeichnende Affinitäten zu H. sapiens aufweisen soll. Nach Auffassung der Erstbeschreiber soll H. antecessor sich von H. ergaster ableiten und der letzte gemeinsame Vorfahr der über H. heidelbergensis zu den Neandertalern führenden Linie auf der einen Seite sowie der zu H. sapiens führenden Linie auf der anderen Seite sein. Da H. antecessor aber in Afrika bislang nicht nachgewiesen wurde und das immature Fundmaterial extrem problematisch ist, wäre es ratsam gewesen, das Material weniger spektakulär zu präsentieren. Könnte es sich nicht möglicherweise nur um eine frühe Einwanderungswelle von H. ergaster handeln? In dem Stammbaummodell nach G. Philip Rightmire ist so ein letztlich fehlgeschlagener „Ausflug“ von afrikanischen H. erectus-Populationen, die Rightmire nicht von H. ergaster spezifisch absetzt, angedeutet. Da Ceprano auch als H. erectus angesprochen wird, würde Rightmires „Lösung“ die Annahme der Koexistenz von zwei unterschiedlichen Homininenspezies, die während des späten Frühpleistozän in Südeuropa lebten, umgehen. Sie wäre die sparsamste Lösung - aber auch die zutreffende? Sollten wirklich zwei Spezies immigriert sein, würde eine Kaskade von Fragen zu lösen sein: Wie wanderten H. antecessor und H. erectus nach Europa ein? Welche Passagen wurden gewählt? Gab es Zeiten, in denen die Niveauschwankungen des Meeresspiegels eine Passage zwischen Tanger und Gibraltar sowie ein „Inselhüpfen“ über die Große Syrte nach Italien erlaubten, oder erfolgte die Immigration nur über Kleinasien und den Bosporus? Ist der europäische H. erectus vielleicht ein Rückwanderer aus Asien, der möglicherweise auch nach Afrika re-immigrierte? (Henke u. Rothe 1999b). Hat es getrennte Einwanderungswellen in die Mediterraneis und nach Mitteleuropa gegeben? Von welcher Spezies leiten sich die jüngeren europäischen Homininen ab? Dieser Fragenkatalog, der nur einige <?page no="131"?> 133 Evolution und Verbreitung des Genus Homo Kernprobleme anreißt, zeigt die großen Forschungsdefizite auf, die nur durch die erwähnte konzertierte Forschung zu lösen sind. Uns soll hier besonders die letztgenannte Frage nach der Abstammung der mittel- und oberpleistozänen Homininen Europas interessieren. Zu ihrer Lösung tragen in den Neunzigern des letzten Jahrhunderts gefundene, einmalig gut erhaltene Homininen-Fossilien aus Atapuerca bei. Die etwa 700 Funde stammen aus der Sima de Los Huesos, die auf ca. 300.000 Jahre datiert wird und die damit deutlich jünger als die Gran Dolina ist. Die extrem variablen Fossilien aus der „Knochengrube“, darunter sehr imposante, fast vollständige Schädel, nehmen in einigen Fällen Merkmalsmuster der „klassischen Neandertaler“ in abgeschwächter Form voraus (Form der Überaugenwülste, Nackenwülste, Fehlen der Fossa canina), während sie in anderen Merkmalsausprägungen kaum neanderthalide Tendenzen erkennen lassen. Trotz der etwas irritierenden Variabilität der Stichprobe verfestigte sich durch die spanischen Fossilien die schon lange zuvor geäußerte Auffassung, dass die Ante-Neandertaler, die wir zuvor aus Mauer und von anderen Fundplätzen kennengelernt haben und die - mit erheblichen Zweifeln behaftet - als H. erectus klassifiziert worden waren, nicht länger diesem Taxon zugerechnet werden sollten. Da die Validität von H. erectus als europäisches Taxon der Homininen bereits in Frage gestellt war, tendierten aufgrund der neuen Funde und Befunde führende Paläoanthropologen zu der Auffassung, die Fossilien aus der Sima des los Huesos zusammen mit den anderen Ante-Neandertalern in der Spezies Homo heidelbergensis Schoetensack, 1908, zu vereinigen (Stringer u. Gamble 1993; Rightmire 1998; Tattersall u. Schwartz 2000). Der Ursprung von H. heidelbergensis wird in Afrika gesehen. Vertraute Fossilien, die bisher als H. erectus oder archaischer H. sapiens angesprochen wurden, wie die Schädelfunde von BrokenHill/ Kabwe (Sambia), Florisbad (Südafrika), Ndutu (Tansania) oder Bodo (Äthiopien), aber auch aus Nordwestafrika - z. B. Salé und Thomas Quarry (Marokko) -, werden in dem neuen Speziations-Modell H. heidelbergensis zugerechnet. Ob dagegen auch Fossilien aus China (Dali, Mapa, Xuncian) oder Hathnora (Indien) dazu gezählt werden sollten, ist umstritten. Bernard Wood u. Mark Collard (1999) betonen, dass die Bezeichnung H. heidelbergensis nur dann Priorität hätte, wenn das archaische Fundmaterial aus Europa, Afrika und Asien stammen würde. Sofern es sich aber bei dem afrikanischen und asiatischen Fundmaterial um gleich „gute“ Spezies handeln würde, wäre die korrekte Klassifikation der afrikanischen Form Homo helmei Dreyer, 1935. Sollte das Ngandong-Material, das überwiegend als H. erectus soloensis geführt wurde, nicht länger als H. erectus betrachtet werden, wäre dessen Klassifikation Homo soloensis Oppenoorth, 1932. Zugestandenermaßen zunächst etwas verwirrend, aber im Sinne der „Splitter“, die zahlreiche Speziationsereignisse während der letzten 2 Millionen Jahre annehmen, angeblich „systematisch“ - aber auch zutreffend (Abb. 13)? <?page no="132"?> 134 Winfried Henke Außer den aufgeführten Speziationen müssten zumindest noch zwei weitere im ausgehenden Mittelpleistozän erfolgt sein. Aus derselben Stammart H. heidelbergensis entwickelte sich in Europa der Neandertaler, der den alten Artnamen Homo neanderthalensis King, 1864, trägt, sofern er tatsächlich eine eigene Art bildete, während sich H. sapiens vor etwa 150.000 Jahren vom afrikanischen H. heidelbergensis abspaltete. Er gelangte sukzessiv nach Asien und Europa und verdrängte dort alle archaischen Populationen - so zumindest die Auffassung derjenigen, die für einen rezenten afrikanischen Ursprung plädieren. Während einige Paläoanthropologen eine Vermischung von archaischen und anatomisch-modernen Populationen durchaus zulassen, halten andere eine Hybridisierung für ausgeschlossen oder populationsbiologisch nicht relevant. Demnach wären die Neandertaler in Europa ebenso wie alle anderen archaischen Populationen der Alten Welt, z. B. der Solo-Mensch auf Java, nachkommenlos ausgestorben (Abb. 14). Beweist der Fund eines 18.000 Jahre alten Skelettes aus der Höhle Liang Bua auf der indonesischen Insel Flores möglicherweise das Überleben einer archaischen Spezies bis in jüngere Zeiten? Die von den Ausgräbern Peter Brown und Michael Morwood (Brown et al. 2004) als Homo floresiensis beschriebene neue Art unserer Gattung verfügte nur über eine Körperhöhe Abb. 13: Nach Auffassung der „Splitter“ simultan oder sukzessiv existierende pleistozäne Arten des Genus Homo. Evolutionsökologisch ist diese starke Diversifikation nicht begründet und daher wenig plausibel. <?page no="133"?> 135 Evolution und Verbreitung des Genus Homo von rund einem Meter sowie ein extrem kleines Gehirn (417 cm 3 ) (Falk et al. 2005, Falk im Druck). Steinwerkzeuge, Pfeilspitzen und Faustkeile belegen nach Ansicht von Archäologen, daß der „Hobbit“ trotz des kleinen Hirnvolumens eine beachtliche kognitive Leistungsfähigkeit besaß (Morwood et al. 2004). Der schier unglaubliche Fund wirft vielfältige Fragen auf: Woher kam diese Menschenform? Handelt es sich um Abkömmlinge des asiatischen Homo erectus? Läßt sich der ‚Zwergmensch‘ als Reliktpopulation erklären, die aufgrund eines knappen Nahrungsangebots entstand? Oder handelt es sich nur um einen sehr kleinwüchsigen Mikrozephalen unserer eigenen Art? So spektakulär die Fossilien auch sein mögen, sowohl ihre endgültige Bewertung als Seitenzweig des Homo erectus als auch ihre Interpretation als ‚geschrumpfter‘ Homo sapiens aufgrund von Ressourcenmangel erfordern kein Umschreiben der Stammesgeschichte. Ursprungsprobleme - wie alt ist der Homo sapiens? Was erheblich skeptisch macht gegenüber extremen Speziationsmodellen wie z. B. dem von Tattersall und Schwartz (2000), ist der Trend zum vorei- Abb. 14: Von einigen Paläoanthropologen angenommene „Out of Africa“-Migrationswellen archaischer Homo-Populationen. <?page no="134"?> 136 Winfried Henke ligen Splitting, zur Annahme von Artbildung auch bei geringsten Merkmalsunterschieden. Das Unbehagen resultiert aus der Feststellung, dass die Autapomorphien der aufgeführten mittel- und oberpleistozänen Arten offenbar weniger eindeutig sind, als „Splitter“ bisweilen beteuern. Das zeigt sich daran, dass die „Out of Africa“-Theoretiker in der Klassifikation der Fossilien selten konform gehen, dass fließende Zuordnungen zu H. heidelbergensis und H. neanderthalensis sowie zu H. heidelbergensis und H. sapiens erfolgen (z. B. Rightmire 1998; Tattersall u. Schwartz 2000; Bräuer 2001). Wenn dann offenbar auch noch erhebliche gradualistische Elemente in die Modelle einfließen wie ein hypothetisierter Übergang von einem früh-archaischen zu einem spät-archaischen und weiter zum anatomisch-modernen H. sapiens, werden die taxonomischen Probleme, die die Protagonisten des Out-of-Africa-Modells untereinander haben, sichtbar. Wenn ferner auch noch die Vermischung archaischer und moderner Populationen in Europa - aber auch in Asien - als modellkonform angesehen wird und schließlich von einigen Experten auch keine Autapomorphien der afrikanischen und asiatischen H. erectus-Populationen festgestellt, d. h. H. ergaster und H. erectus nicht als spezifisch getrennt gesehen werden, dann liegt dies Dilemma offenbar an grundsätzlich divergierenden Artvorstellungen. Wenn wir aber auf prinzipiell unterschiedlichen evolutionären Artvorstellungen aufbauen, dann müssen wir uns über Diskrepanzen in unseren Stammbaummodellen nicht wundern. Was hatten wir bezüglich der Artbildungsprozesse gelernt? Sie erfordern die physische Trennung der präexistierenden Spezies, die Unterbrechung des Genflusses zwischen den Komponenten. Die Isolation infraspezifischer Populationen ist somit eine Voraussetzung für Speziationsereignisse. Das Pleistozän sah dramatische klimatische Wechsel, eustatische Oszillationen und höchst bedeutsame Innovationen in der Menschheitsgeschichte - aber, so muss man fragen, ist dieses für Speziationsprozesse optimale Szenario auch ein Beweis dafür, dass so viele Artbildungen im Genus Homo seit dem Auftreten von Homo ergaster erfolgt sind? Eben diese Fragen beantworten die Protagonisten des multiregionalen Evolutionsmodells (MRE) mit einem klaren Nein (Wolpoff u. Caspari 2000; Wolpoff et al. 1993). Solange die Kontroverse „Transition versus Verdrängung“ („replacement“) nur auf der Basis der Fossildokumentation ausgetragen wurde, lag - intersubjektiv geurteilt - ein Patt vor. Als aber die mitochondrialen DNA (mtDNA)-Befunde an rezenten Populationen die Diskussion mehr und mehr beherrschten und aus dem Out-of- Africa-Modell das Recent-African-Origin-Modell (RAO) wurde, wendete sich das Blatt zugunsten der Out-of-Africa-Fraktion. Befunden an der mtDNA rezenter Frauen zufolge hat eine gemeinsame Vorfahrin aller heute existierenden mtDNA-Typen vor rund 200.000 Jahren in Afrika gelebt, die man „Eva“ bzw. „lucky mother“ taufte. Dieses Modell, das am besten durch die populäre Botschaft „Wir sind alle Afrikaner“ zu kennzeichnen ist, ist <?page no="135"?> 137 Evolution und Verbreitung des Genus Homo keineswegs unumstritten (u. a. Relethford 1999). Die Botschaft des RAO - dass wir alle Afrikaner seien - trifft ebenfalls auf das MRE zu, wenn auch die Multiregionalisten den Ursprung viel tiefer ansetzen (Abb. 15). Unterstützung für das RAO kam 1997 aus dem Münchener molekulargenetischen Labor von Svante Pääbo. Die Isolierung alter DNA aus dem Skelett des namengebenden Neandertalers aus der Feldhofer Grotte stellte einen gewaltigen Durchbruch in der Paläogenetik dar; denn erstmals war nun ein molekulargenetischer Vergleich der DNA eines Neandertalers mit der des anatomisch-modernen Menschen möglich. Mittlerweile liegen weitere Fossilanalysen an Neandertalern vor. Die aDNA-Befunde belegen, dass die Neandertaler ausstarben, ohne zur mtDNA rezenter Menschen beigetragen zu haben (Krings et al. 1997). Heißt das aber auch gleichzeitig, dass sie als unsere Vorfahren ausscheiden? Eben nein, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass die Neandertaler andere Gene zum Genpool rezenter Populationen beigetragen haben! Somit ist eine definitive Aussage über die phylogenetische Stellung der Neandertaler aufgrund der derzeitigen aDNA- Daten nicht möglich, was natürlich die Protagonisten des RAO anders sehen. Dass die Neandertaler „eigenartig“ waren, steht außer Zweifel (Henke 1999; Henke u. Rothe 1999c, Henke et al. 1996; Stringer u. Gamble 1993; Abb. 15: Multiregionales Evolutionsmodell ohne Speziationsereignisse (nach Frayer et al. 1993, modifiziert). <?page no="136"?> 138 Winfried Henke Tattersall u. Schwartz 2000). Das ist seit ihrer Entdeckung unumstritten. Aber waren die Neandertaler auch eine eigene Art? Eine eindeutige Antwort steht - bislang - trotz aller gegenteiligen Behauptungen der Molekularbiologen aus. Es wäre auch zu schön gewesen, in der Paläoanthropologie einmal auf eine einfache Frage eine einfache Antwort zu erhalten. Literatur Ascenzi, A., Biddittu, I., Cassoli, P. F., Segre, A. G. u. Segre-Naldini, E. 2000: A calvarium of Late Homo erectus from Ceprano, Italy. Journal of Human Evolution 31, 409-423. Asfaw, B., White, T. D., Lovejoy, O., Latimer, B., Simpson, S. u. Suwa, G. 1999: Australopithecus garhi: A New Species of Early Hominid from Ethiopia. Science 284, 629-635. Asfaw, B., Gilbert, W. H., Beyene, Y., Hart, W. K., Renne, P. R., WoldeGabriel, G., Vrba, E. S. u. White, T. D. 2002: Remains of Homo erectus from Bouri, Middle Awash, Ethiopia. Nature 416, 317-320. Bermúdez de Castro, J. M., Arsuaga, J. L., Carbonell, E., Rosas, A., Martínez, I. u. 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Das Bild vom Neandertaler Seit einigen Jahren steht der Neandertaler im Mittelpunkt des Interesses sowohl der Fachwelt als auch der breiten Öffentlichkeit: Wer war der Neandertaler? Was kann die heutige Forschung über diese Menschenform sagen? Wie und wann lebte der Neandertaler, wann verschwand er von der Bühne des Lebens? Welche Rolle spielte er vor etwa 40.000 Jahren, als erstmals anatomisch moderne Menschen nach Europa kamen, für die kulturelle Entwicklung (Bolus u. Schmitz 2006)? Das Bild, das man sich in der Vergangenheit vom Neandertaler machte, war oft nicht sehr positiv. Zahlreiche Rekonstruktionen aus dem 19. und 20. Jh. zeugen davon, dass er lange als ein grobes, wenig differenziertes, kulturloses, ja geradezu Furcht einflößendes wildes, fast nicht menschliches Wesen galt, das eine wenig ausgeprägte Technologie besaß, weitgehend von Aas lebte und kaum in der Lage war, unter kaltzeitlichen Bedingungen zu leben (Abb. 1a). Sehr oft hat er die Keule dabei - und damit einen Gegenstand, der sich einerseits ideal dazu eignet, Grobheit und Wildheit zu suggerieren, für den es andererseits aber keine archäologischen Nachweise aus der Zeit des Neandertalers gibt. Noch zu Anfang des 20. Jhs. waren im Field Museum in Chicago Plastiken ausgestellt, die ihn als geistig völlig minderbemittelt erscheinen ließen, und selbst heutzutage werden immer wieder Versuche unternommen, ihn als primitiven Vertreter innerhalb des Menschenstammbaumes abzuqualifizieren. <?page no="142"?> 144 Michael Bolus Daneben gab es aber auch stets um Objektivität bemühte Rekonstruktionen auf der Grundlage der Fossilfunde. In der jüngsten Vergangenheit schließlich versuchte man, das Aussehen des Neandertalers weit weniger reißerisch darzustellen, wie etwa die für das alte Neandertal-Museum hergestellte Neandertalerin (Abb. 1b) oder die Plastiken aus dem neuen Neanderthal Museum beweisen. Ihre Gesichter wurden auf der Basis konkreter Schädelfunde mit gerichtsmedizinischen Methoden rekonstruiert. Aufschlussreich ist vor diesem Hintergrund auch ein Experiment: Man zog einer Neandertaler-Rekonstruktion einen modernen Anzug an und belegte damit eindrucksvoll, dass man den so hergerichteten Menschen kaum von einem heutigen Zeitgenossen unterscheiden kann. Name und Forschungsgeschichte Benannt ist der Neandertaler nach dem Neandertal bei Düsseldorf, das seinen Namen wiederum im 19. Jh. zu Ehren des reformierten Predigers und Kirchenlieddichters Joachim Neander (1650-1680) erhielt, der während seiner Zeit als Rektor der Düsseldorfer Lateinschule häufig in dem Tal weilte. Abb. 1: Rekonstruktionen von Neandertalern einst und jetzt. a Zeichnerische Rekonstruktion nach originalen Skelettresten durch den tschechischen Künstler František Kupka aus dem Jahre 1909 (nach Bosinski 1985). b Plastische, wissenschaftliche Rekonstruktion einer Neandertalerin von W. Schnaubelt und N. Kieser - Atelier WILD LIFE ART - Germany (info@wildlifeart.de) (aus Henke et al. 1996). a b <?page no="143"?> 145 Wer war der Neandertaler? Die Entdeckung und die frühe Erforschung des Neandertalers sind eng mit den Namen zweier Forscher verbunden. Als Arbeiter 1856 im Neandertal bei Steinbrucharbeiten in der Kleinen Feldhofer Grotte ein menschliches Skelett fanden, das sie ohne weitere Beachtung mit der beim Kalkabbau störenden Höhlenfüllung ausräumten, gelangte die Kunde von dieser Entdeckung an den Lehrer und Naturforscher Johann Carl Fuhlrott (1803- 1877) aus Elberfeld. Dieser ordnete die Knochen einer dem heutigen Menschen vorausgehenden Menschenform zu. Es war dies eine zur damaligen Zeit geradezu ketzerische Aussage - die Existenz eiszeitlicher Menschen fand erst in den frühen 1860er Jahren durch bahnbrechende Funde in Frankreich größere Anerkennung. In der Fachwelt entbrannte ein heftiger Streit um Fuhlrotts These, obwohl bereits kurze Zeit nach der Auffindung der Bonner Anatom Hermann Schaaffhausen (1816-1893) die Reste ebenfalls richtig eingeschätzt hatte. Vor allem der berühmte und anerkannte Anatom, Prähistoriker und Politiker Rudolf Virchow stellte sich gegen Fuhlrott und wertete die von der heutigen menschlichen Anatomie abweichenden Merkmale als pathologische Veränderungen an einem modernen Skelett. Der Bonner Anatom Franz Josef Carl Mayer stellte nach anfänglicher Annahme eines hohen Alters der Knochen gar die These auf, der Tote sei ein Kosack gewesen, der 1814 gegen Frankreich gezogen war, und die zu beobachtende Krümmung der Oberschenkel sei auf das häufige Reiten zurückzuführen. Der eigentliche Durchbruch zugunsten des Neandertalers gelang erst 1886, als in der Höhle von Spy in Belgien zwei menschliche Skelette gefunden wurden, die die gleichen anatomischen Merkmale aufwiesen wie der Fund aus dem Neandertal und die damit die Annahme einer krankhaften Veränderung der Knochen widerlegten. Der bereits erwähnte Hermann Schaaffhausen veröffentlichte 1888 die erste wissenschaftliche Monographie zu dem Fund aus dem Neandertal und sorgte so für die endgültige Rehabilitierung Johann Carl Fuhlrotts, der diese Genugtuung allerdings nicht mehr erleben durfte, da er bereits 1877 verstorben war. Nachdem so der Boden für eine sachlichere Diskussion geebnet worden war, stellte sich heraus, dass es sich bei dem Typusexemplar aus dem Neandertal nicht um den ersten entdeckten Neandertaler handelte. Bereits 1829 oder 1830 hatte man in Engis in Belgien Schädelteile eines Kindes entdeckt und auch mehrfach abgebildet, diese aber erst etwa 100 Jahre nach ihrer Entdeckung als Teile eines Neandertalers identifiziert. Der erste entdeckte erwachsene Neandertaler stammt aus Gibraltar - er war 1848 gefunden worden. Der forschungsgeschichtliche Bogen spannt sich bis in die Gegenwart mit den Aufsehen erregenden Entdeckungen am Ende des 20. Jhs. Bereits im 19. Jh. waren die Höhlen des Neandertales durch den Steinbruchbetrieb <?page no="144"?> 146 Michael Bolus völlig zerstört worden, und die genaue Lage der Fundstelle von 1856 war unbekannt. Mittlerweile ist es jedoch gelungen, die Stelle der ehemaligen Kleinen Feldhofer Grotte exakt zu lokalisieren und die seinerzeit von den Arbeitern ausgeräumte Höhlenfüllung aufzufinden. Seit 1997 fanden sich bei systematischen Grabungen im alten Abraum nicht nur zahlreiche Werkzeuge aus der Zeit des Neandertalers, sondern auch weitere Neandertalerknochen, von denen einige an das 1856 gefundene Skelett angesetzt werden konnten. Darüber hinaus entdeckte man Reste mindestens zweier weiterer Individuen (Schmitz u. Thissen 2000; Schmitz et al. 2002). Eine umfassende Neuvorlage und Neubewertung des Namen gebenden Fundes sowie der Fundumstände erfolgt anlässlich des 150jährigen Jubiläums der Auffindung im Jahre 2006. Zeitliche und regionale Verbreitung Die Zeit des Neandertalers ist im Wesentlichen das Mittelpaläolithikum, das in Europa vor etwa 300.000 Jahren in der Sauerstoffisotopen-Stufe 8 begann und vor etwa 30.000 bis 35.000 Jahren in der Sauerstoffisotopen- Stufe 3 endete. Natürlich stellen diese Angaben keine scharfen Grenzen dar. Der Beginn des Mittelpaläolithikums überlappt sich, z. T. auch regional unterschiedlich, mit dem Ende des Altpaläolithikums und sein Ende mit dem Beginn des Jungpaläolithikums, das vor allem durch den anatomisch modernen Menschen bestimmt wurde. Der Mensch machte im Verlauf des Mittelpaläolithikums eine Entwicklung durch, und man kann unterscheiden zwischen älteren Neandertaler-Formen bzw. frühen Neandertalern, bei denen die noch zu beschreibenden typischen Merkmale nicht so stark ausgeprägt sind, und dem klassischen Neandertaler, der meistens gemeint ist, wenn von dieser Menschenform die Rede ist. Auch im vorliegenden Beitrag geht es insbesondere um den klassischen oder späten Neandertaler, der in die letzte Kaltzeit, die Würm- oder Weichsel-Kaltzeit, gehört, die vor etwa 115.000 Jahren begann. Bis zu ihrem Verschwinden vor etwa 30.000 Jahren besiedelten Neandertaler vor allem weite Teile Europas und Teile Vorderasiens. Fasst man frühe und klassische Neandertaler zusammen, so reicht ihre Verbreitung im Westen vom Atlantik mit einem deutlichen Schwerpunkt in Frankreich bis Usbekistan im Osten sowie vom südlichen Großbritannien im Norden bis Gibraltar und Italien im Süden und bis zur Levante im Südosten. Interessanterweise fehlen eindeutige Neandertaler bisher in den übrigen Teilen der Welt, insbesondere auch in dem ansonsten an Menschenfossilien so reichen Afrika (Abb. 2). <?page no="145"?> 147 Wer war der Neandertaler? Herkunft Wahrscheinlich entstand der Neandertaler aus Vorläufern des Mittelpleistozäns, die entweder eine späte Form des Homo erectus, in Europa z. B. Homo heidelbergensis, oder einen archaischen Homo sapiens darstellen (Henke u. Rothe 1994; 1999a). Hier ist die gelegentlich sehr kontroverse wissenschaftliche Debatte voll im Gange. Hominiden wie die etwa 400.000 Jahre alten H. heidelbergensis- Fossilien aus der Arago-Höhle bei Tautavel in Südfrankreich kommen gleichermaßen als eine Stufe in der Entwicklung zum Neandertaler in Frage wie die mehr als 300.000 Jahre alten Reste aus der Sima de los Huesos in Atapuerca und die Funde aus Bilzingsleben in Thüringen - beide wohl ebenfalls H. heidelbergensis zugehörig. Unklar ist dagegen die stammesgeschichtliche Stellung des Schädelfragmentes aus Reilingen bei Speyer. Nicht sicher datiert, aber möglicherweise mehr als 250.000 Jahre alt, ist der Schädel von Steinheim an der Murr, der vielleicht als früher Neandertaler bezeichnet werden kann. Immer wieder findet man für die älteren Formen auch die Begriffe Ante- oder Praeneandertaler, doch wird hier, in Abgrenzung zu den späteren klas- Abb. 2: Fundorte von Neandertalerfossilien. Rechtecke: frühe Neandertaler; Punkte: späte Neandertaler. Die beiden Dreiecke in Israel stehen für anatomisch moderne Menschen in mittelpaläolithischen Zusammenhängen. Die gerasterte Fläche gibt die mit gut 40 Funden stärkste Konzentration von Neandertalerfossilien westlich des französischen Zentralmassivs an; die gestrichelte Linie umreißt das Gebiet, das materielle Hinterlassenschaften von Neandertalern geliefert hat (ergänzt und modifiziert nach Trinkaus u. Howells 1980). <?page no="146"?> 148 Michael Bolus sischen Neandertalern, der Begriff frühe Neandertaler verwendet (Henke u. Rothe 1994; 1999a). Etwas problematisch in diesem Zusammenhang sind die Funde von Weimar-Ehringsdorf. Sie werden meist auf ein Alter von gut 200.000 Jahren datiert, zeigen aber bereits deutliche Merkmale der klassischen Neandertaler. Somit lassen sie sich Fossilien aus der letzten Warmzeit vor 130.000 bis 115.000 Jahren, der so genannten Eem-Warmzeit, an die Seite stellen. Diese weisen ebenfalls entsprechende Merkmale auf, sind aber noch keine unzweideutigen klassischen Neandertaler, wie z. B. die Schädel aus Saccopastore in Italien belegen. Noch vom Ende der vorletzten Kaltzeit um etwa 130.000 Jahre vor heute stammen u. a. die Funde aus Biache in Nordfrankreich. Mit Beginn der letzten Kaltzeit liegen dann ab etwa 115.000 Jahren vor heute die klassischen oder späten Neandertaler in recht großer Zahl vor. Als Beispiele seien hier nur La Ferrassie, Le Moustier, La Chapelle-aux-Saints, Shanidar, Kebara und das Typusexemplar aus dem Neandertal genannt (Abb. 3). Abb. 3: Der Schädel des Skelettes Shanidar 1, Irak, als Beispiel für einen klassischen Neandertaler (nach Trinkaus 1983). <?page no="147"?> 149 Wer war der Neandertaler? Anthropologische Charakterisierung Bis heute liegen Knochenreste von etwa 300 Neandertaler-Individuen vor, darunter auch einige mehr oder weniger vollständige Skelette (Henke u. Rothe 1999a, 237-257). Dadurch lässt sich der Neandertaler recht gut beschreiben und in seinen anthropologischen Merkmalen vom anatomisch modernen Menschen abgrenzen (für Details z. B. Henke u. Rothe 1999a, 245-248). Die wichtigsten Merkmale seien hier kurz am Beispiel des klassischen Neandertalers skizziert. Betrachten wir zunächst den Schädel La Ferrassie I (Abb. 4a): Besonders charakteristisch ist die flache, fliehende Stirn, die sich in einen lang gestreckten, relativ flachen Hirnschädel fortsetzt, welcher in der Rückansicht ein rundovales Profil zeigt. Das Gehirnvolumen beträgt im Durchschnitt 1520 cm 3 und ist damit größer als das des modernen Menschen mit durchschnittlich 1400 cm 3 . Der Gesichtsschädel besitzt hohe, gerundete Augenhöhlen mit kräftig ausgeprägten Überaugenwülsten und eine große und breite Nasenöffnung; Wangenbeingruben fehlen. Sehr charakteristisch ist schließlich der Unterkiefer mit dem fliehenden Kinn und der so genannten retromolaren Lücke hinter dem letzten Backenzahn, die beim modernen Menschen fehlt. Im Hinblick auf das postkraniale Skelett, also das Skelett unterhalb des Kopfes (Abb. 4b), zeigt sich der Neandertaler bei einer durchschnittlichen Körpergröße zwischen 1,55 m und 1,65 m und mit einem großen breiten Brustkorb robust und stämmig. Hände und Füße sind, wie die Oberarmknochen, kräftig entwickelt. Elle und Speiche sind im Verhältnis zum Oberarmknochen deutlich kürzer als beim modernen Menschen und weisen eine starke Schaftkrümmung auf. Die Oberschenkel sind stärker nach vorn gebogen, haben einen kurzen Schaft und eine dickere Knochenwand. Deutliche Unterschiede zum heutigen Menschen zeigt schließlich auch das Becken. Wesentlich stärker ausgeprägte Muskelansatzstellen an den Knochen als selbst bei durchtrainierten modernen Menschen deuten auf eine größere Körperkraft des Neandertalers hin. <?page no="148"?> 150 Michael Bolus Abb. 4: Anthropologische Charakteristik des klassischen Neandertalers. a Schädelmerkmale am Beispiel des Individuums La Ferrassie I (modifiziert nach Henke u. Rothe 1999a). b Typische Merkmale am postkranialen Skelett (Zeichnung S. Nash; nach Henke u. Rothe 1999b). <?page no="149"?> 151 Wer war der Neandertaler? Technologie Nach diesen kurzen anthropologischen Ausführungen soll nun ein Blick auf seine materiellen Hinterlassenschaften ein umfassendes Bild vom Neandertaler und seiner Zeit zeichnen. Die Technik der Steinbearbeitung war keineswegs einfach, wie oft behauptet wird. Vielmehr stehen die Methoden, derer sich der Neandertaler bediente, denen des modernen Menschen kaum nach. Ein gutes Beispiel ist die so genannte Levallois-Methode (Abb. 5) - eine sehr ausgefeilte Verfahrensweise, um ein Rohstück durch gezielt gesetzte Schläge so zu präparieren, dass die Form des sog. Zielabschlages im Voraus bestimmt werden kann (Bosinski 1985, Abb. 23). Es versteht sich von selbst, dass diese Bearbeitungsmethode ein hohes Maß an vorausschauender Planung erforderte. Zum einen war der Neandertaler in der Lage, recht komplizierte Handlungsketten, in diesem Falle die einzelnen Bearbeitungsschritte, zu reproduzieren; zum anderen musste er schon zu Beginn der Bearbeitung die Form des Zielproduktes vor Augen haben. Das Levallois-Konzept war in der Zeit der Neandertaler weit verbreitet, und mit dem regelhaften Auftreten dieser Bearbeitungsmethode vor ca. 300.000 Jahren wird von vielen Fachkollegen der Beginn des Mittelpaläolithikums angesetzt. Abb. 5: Schema der Levallois-Methode (nach Bosinski 1985). <?page no="150"?> 152 Michael Bolus Es finden sich beim Neandertaler aber auch andere ausgefeilte Steinbearbeitungstechniken. So galt die planmäßige Klingenherstellung bis vor kurzem vor allem als Domäne des modernen Menschen, und Neandertaler- Fundplätze mit hohem Klingenanteil waren die Ausnahme. Mittlerweile kennt man zahlreiche Plätze, an denen in größerem Umfang gezielte Klingenproduktion durch den Neandertaler belegt ist - in Frankreich beispielsweise Seclin, in Belgien Rocourt und in Deutschland den Tönchesberg (Beispiele in Conard 1992). Besonders eindrucksvolle Stücke (Abb. 6) stammen von der Fundstelle Etoutteville in Nordfrankreich (Delagnes u. Ropars 1996). Abb. 6: Mittelpaläolithische Klingen aus Etoutteville, Frankreich (zusammengestellt nach Delagnes u. Ropars 1996). <?page no="151"?> 153 Wer war der Neandertaler? Der Neandertaler besaß einen reich ausgestatteten Werkzeugkasten mit einer Vielzahl unterschiedlicher Geräte. Das Spektrum umfasst flächig bearbeitete Kern- und Abschlaggeräte sowie kantenretuschierte Abschlaggeräte (Bosinski 1967). An wesentlichen Kerngeräten finden sich zunächst Faustkeile (Abb. 7, 1), die meist aus Stein, gelegentlich aber auch aus Knochen gefertigt wurden, darüber hinaus Keilmesser (Abb. 7, 2) sowie z. T. sehr fein bearbeitete Blattspitzen (Abb. 7, 3), die mehrfach auch aus Abschlägen gefertigt sind. Die bei weitem wichtigste Gerätform bei den Abschlaggeräten ist der Schaber (Abb. 7, 4.5), der in mannigfachen Varianten - auch flächenretuschiert - vorliegt. Daneben finden sich diverse Spitzenformen (Abb. 7, 6), die wohl als Bewehrungen von Jagdwaffen anzusehen sind, aber auch Abschläge und Klingen, deren unbearbeitete Kanten zum Schneiden verwendet wurden. Abb. 7: Typische Steinwerkzeuge des Neandertalers von verschiedenen deutschen Fundplätzen. 1 Faustkeil, 2 Keilmesser, 3 Blattspitze, 4-5 Schaber, 6 Spitze (zusammengestellt nach Bosinski 1967). <?page no="152"?> 154 Michael Bolus Von Bedeutung für die Einschätzung der Planungstiefe beim Neandertaler ist das Rohmaterial, das er für seine Steingeräte verwendete. Zwar wurden meistens die in der näheren und weiteren Umgebung der Siedlungsplätze vorkommenden Rohstoffe genutzt, doch regelhaft treten darüber hinaus Stücke auf, deren Rohmaterial aus z. T. mehr als 100 km Entfernung stammt (Floss 1994). Solche Materialien, die in größerer Entfernung vom Siedlungsplatz beschafft wurden, lassen ermessen, wie groß das Schweifgebiet der Jägergruppen mindestens war, wie weit die Menschen Steinmaterial transportiert haben und auch, in welcher Form es transportiert wurde - z. B. als unbearbeitetes Rohstück, als vorpräparierte Knolle, als ausgewählte Grundform oder gar als fertiges Werkzeug. In jedem Falle ist Rohmaterialtransport über größere Entfernung ein weiterer Beleg für vorausschauendes Handeln. Beispielhaft ist hierfür eine Gruppe mittelpaläolithischer Fundplätze, die innerhalb der Kegel erloschener Vulkane in der Osteifel gefunden wurden. Regelhaft finden sich hier unmodifizierte Steinartefakte und auch Werkzeuge aus Feuerstein, der aus mehr als 100 km Entfernung stammt. Sie belegen das vorausplanende Fertigen, Aufbewahren und Transportieren von Steinartefakten sowie deren Nachschärfen. Und noch eine andere Verhaltensweise machen die genannten Fundplätze deutlich: Mehrfach fand man Steinblöcke von bis zu 20 kg Gewicht, die die Neandertaler über mehrere Kilometer auf ihre Siedlungsplätze in den Vulkankratern getragen haben - keine leichte Aufgabe bei einer Höhe der Vulkane von ca. 100 m. Auf einigen Vulkankuppen wie dem Plaidter Hummerich, dem Schweinskopf und den Wannen können die Blöcke als bewusst auf den Siedlungsplatz geschaffte Rohmaterialreserven interpretiert werden (Bosinski et al. 1986). Auf dem Tönchesberg dienten bis zu ca. 2 kg schwere Platten aus quarzitischem Schiefer als Ambosse und Arbeitsunterlagen (Conard 1992, 78-79). Damit liegen erneut schon für das Mittelpaläolithikum gute Hinweise auf ein vorausplanendes Verhalten vor, das dem Neandertaler oft nicht zugebilligt wird. Neben den Steingeräten finden sich mehrfach Knochen-, Geweih- und Holzartefakte. Faustkeile aus Knochen wurden bereits erwähnt. Aber auch das bekannte Beispiel aus Lehringen in Niedersachsen soll nicht unerwähnt bleiben: Man fand hier auf einer Fundstelle, die etwa 125.000 Jahre alt ist und damit in die letzte Warmzeit gehört, eine etwa 2,40 m lange Lanze aus Eibenholz zwischen den Knochen eines Waldelefanten (Thieme u. Veil 1985). Bis zu der sensationellen Entdeckung der etwa 400.000 Jahre alten Wurfspeere aus Schöningen in Niedersachsen (Thieme 1999) war diese Waffe eines der ältesten Holzgeräte der Menschheit überhaupt. Sie ist ein klarer Beleg dafür, dass der Neandertaler aktiver Jäger war, und auch sie belegt Vorausplanung, denn der Neandertaler rüstete sich im Voraus adäquat für die erfolgreiche Jagd aus. Zu seiner Ausrüstung gehörten im Falle von Lehringen auch zwei Dutzend unmodifizierte Steinartefakte, die zum Zer- <?page no="153"?> 155 Wer war der Neandertaler? schneiden der Jagdbeute verwendet und nach ihrer Verwendung liegen gelassen wurden. Im Übrigen ist eine effektive Jagd auf Großwild mit Wurfspeeren und Stoßlanzen nur als Gruppenaufgabe denkbar und erfordert ein hohes Maß an Organisation, Planung und Zusammenarbeit. Weitere Knochenprojektile des Neandertalers stammen auf deutschem Boden aus dem Vogelherd (Riek 1934) (Abb. 8, 3) und aus der Großen Grotte auf der Schwäbischen Alb (Wagner 1983) (Abb. 8, 4). Der Fundplatz Salzgitter-Lebenstedt in Niedersachsen lieferte gleich mehrere Knochenwerkzeuge, darunter angespitzte Mammutrippen, deren Verwendungszweck nicht klar ist (Gaudzinski 1998) (Abb. 8, 1.2). In der Ob azowa- Höhle in den polnischen Karpaten fand sich in einem kleinen Inventar mit einer Blattspitze eine Knochenspitze (Valde-Nowak et al. 2003), und in Buran-Kaya III auf der Krim liegt in einer etwa 32.500 Jahre alten mittelpaläolithischen Industrie ein aus einem Pferdeknochen gefertigter Gerätgriff vor (Yanevich et al. 1997). Die wegen der relativ zahlreich hier gefundenen Knochengeräte als Ausnahmefall anzusehende Fundstelle Arcy-sur-Cure in Burgund wird noch zu behandeln sein. Abb. 8: Mittelpaläolithische Knochenwerkzeuge. 1-2 Bearbeitete Mammutrippen aus Salzgitter-Lebenstedt, Niedersachsen, 3 Knochenspitze aus dem Vogelherd im Lonetal, 4 Knochenspitze aus der Großen Grotte bei Blaubeuren, beide Baden- Württemberg (1-2 nach Gaudzinski 1998; 4 nach Wagner 1983). <?page no="154"?> 156 Michael Bolus In jedem Falle dokumentieren die genannten Stücke durchaus eine Vielfalt und auch eine große regionale Verbreitung bei den Knochen-, Geweih- und Holzartefakten des Neandertalers. Subsistenz An dieser Stelle seien einige Sätze zur Subsistenz, d. h. zur Ernährung, des Neandertalers angeschlossen. Man findet sowohl Fundplätze mit Hinweisen auf gemischte Jagd, also Jagd auf mehrere Tierarten (z. B. Tönchesberg: Conard 1992), als auch Plätze, an denen - z. T. saisonal unterschiedlich - fast ausschließlich eine Tierart gejagt wurde. Beispiele hierfür sind der in den 1920er Jahren durch Otto Schmidtgen ausgegrabene Ausschnitt des Fundplatzes Wallertheim in Rheinhessen mit fast ausschließlich Wisentknochen (Gaudzinski 1995) sowie die französischen Fundstellen Mauran (Farizy et al. 1994) und Champlost (Farizy u. David 1992), ebenfalls jeweils mit Spezialisierung auf Wisent, und La Borde mit überwiegend Ur (Jaubert et al. 1990). Bei guten Erhaltungsbedingungen sind Detailuntersuchungen möglich. So findet man in der Fundschicht 2B auf dem Tönchesberg, einem der Osteifel-Vulkane, vor allem von den erlegten Rothirschen und Pferden hauptsächlich die Knochen der Fleisch tragenden Körperteile, z. B. obere Extremitäten, die viel Fleisch, Knochenmark und Fett lieferten (Conard 1992). Wahrscheinlich wurden diese Tiere nicht im Vulkankrater selbst erlegt, sondern nach einer Vorzerlegung am Jagdplatz überwiegend deren wirtschaftlich interessante Teile auf den Berg gebracht. Die meisten Langknochen wurden systematisch aufgeschlagen, um das für die Ernährung wichtige Knochenmark zu gewinnen. Neben der effektiven Jagd auf Groß- und auch Kleinwild geben Schildkrötenreste und Muschelschalen in Neandertaler-Fundplätzen erste Hinweise auf die Erschließung darüber hinausgehender Nahrungsressourcen im Mittelpaläolithikum (Stiner 1994, 158-198). Fischfang und Vogeljagd sind in größerem Umfang dann erst für den modernen Menschen im Jungpaläolithikum belegt. Das Sammeln pflanzlicher Ressourcen hinterlässt nur selten archäologisch sichtbare Spuren, so dass wenig über Sammeltätigkeiten bekannt ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass man es auch bei den Neandertalern mit kompetenten Sammlern zu tun hat. <?page no="155"?> 157 Wer war der Neandertaler? Siedlungsbefunde und Siedlungswesen Feuernutzung ist bereits im Altpaläolithikum belegbar und natürlich auch beim Neandertaler im Mittelpaläolithikum. Allerdings sind konstruierte Feuerstellen, d. h. Feuerstellen, die durch Eingraben in den Boden oder Umrahmung mit Steinen gebildet sind (Abb. 9), im Mittelpaläolithikum selten anzutreffen. Oft lassen sie sich nur durch eine Kartierung verbrannter Fundstücke sichtbar machen wie beispielsweise am Tönchesberg (Conard 1992, 60-61 u. Abb. 55). Auch beim Neandertaler sind Feuerstellen als Zentren für soziale Kontakte, Kommunikation und die verschiedensten Tätigkeiten anzusehen. Überzeugende Belege für Siedlungsobjekte des Neandertalers liegen kaum vor, obwohl es zweifellos Behausungen gegeben haben wird - denn die Lebenswelt war zumindest teilweise eine Kältesteppe mit Tieren wie Mammut und Wollhaarnashorn. Ohne Schutz vor den Elementen, wozu auch wärmende Bekleidung gehörte, hätte der Neandertaler kaum überleben können. Abb. 9: Mittelpaläolithische Feuerstellen in der portugiesischen Freilandstation Vilas Ruivas (nach G.E.P.P. 1983). <?page no="156"?> 158 Michael Bolus Auch das immer wieder in diesem Zusammenhang zitierte vermeintliche Siedlungsobjekt aus dem späten Mittelpaläolithikum von Molodova I, Schicht 4, in der Ukraine, das der Ausgräber A. P. Č ernyš als Haus mit einem Unterbau aus Mammutknochen mit einem äußeren Durchmesser von 8 m interpretierte (Bosinski 1985, 38-39), ist für einige Wissenschaftler als Behausungsgrundriss sehr fraglich. Sie gehen davon aus, dass wohl nicht alle Knochen in die Pläne eingetragen worden sind und somit der „Grundriss“ lediglich durch die selektive Auswahl der kartierten Funde zustande gekommen sein kann (Kolen 1999, 145). Höhlennutzung ist bereits im Altpaläolithikum nachweisbar, in Verbindung mit der Anlage von Feuerstellen in Europa spätestens seit dem Mittelpaläolithikum. Dabei scheint hier die Aufenthaltsdauer, u. a. nach Aussage der meist wenig intensiven Feuerspuren vor allem im westlichen Mitteleuropa, jeweils nur kurz gewesen zu sein. Demgegenüber trifft man außerhalb Europas in den mittelpaläolithischen Horizonten zahlreiche Feuerstellen an, so z. B. in der Kebara-Höhle im Karmel-Gebirge (Bar-Yosef et al. 1992), die hier, gestützt durch eine hohe Artefaktdichte und -anzahl in den Fundschichten, eine intensive Nutzung durch den Neandertaler über lange Perioden dokumentieren. Die Interpretation von Siedlungshorizonten in Höhlen ist wegen der schlechten Auflösbarkeit einzelner Begehungen immer sehr problematisch, und auch im Freiland lassen sich erst durch die großflächigen Ausgrabungen der letzten Jahre vor allem in Frankreich einigermaßen detaillierte Aussagen zur inneren Organisation mittelpaläolithischer Siedlungsplätze treffen (Conard 2001, 2004). Es deutet sich dabei an, dass der Neandertaler anscheinend weniger komplexe Siedlungsmuster hinterlassen hat als der anatomisch moderne Mensch des Jungpaläolithikums. Doch es bedarf sicherlich weiterer großflächig ausgegrabener Siedlungsplätze und ihrer Analysen, um das Bild weiter zu verdichten. Soziale Organisation und Gedankenwelt Welche Rückschlüsse lassen sich aus den materiellen Hinterlassenschaften des Neandertalers in Bezug auf seine Gedankenwelt und seine soziale Organisation ziehen? Eine Fundkategorie, der man im europäischen Mittelpaläolithikum sehr selten begegnet, sind Objekte aus dem Bereich der Symbolik und Kunst. Meistens handelt es sich um schwer interpretierbare Gegenstände, bei denen nicht sicher ist, inwieweit damit ein symbolischer Inhalt vermittelt werden sollte. Auch rote Farbbrocken mit eindeutigen Abreibespuren, im Jungpaläolithikum so häufig anzutreffen, finden sich in Europa nur selten in mittelpaläolithischen Zusammenhängen. Einige Stücke stammen aus Pech <?page no="157"?> 159 Wer war der Neandertaler? de l’Azé in Frankreich (Bordes 1972); dagegen war ein vergleichbares Stück aus Qafzeh bei Nazareth in Israel zwar mit einer mittelpaläolithischen Industrie vergesellschaftet, seine Benutzer waren jedoch moderne Menschen und keine Neandertaler (Vandermeersch 1969). Wenige weitere Beispiele, allerdings meist ohne deutliche Abreibespuren, lassen sich anschließen, so z. B. Stücke aus La Ferrassie im südwestlichen Frankreich. Zum Schmuck gehören wohl die selten anzutreffenden durchbohrten Zähne und Knochen, bei denen allerdings der mittelpaläolithische Fundkontext meist nicht über jeden Zweifel erhaben ist (Mellars 1996, 374- 375). Vorsicht ist ebenfalls geboten, da durch taphonomische Prozesse - z. B. Transportvorgänge, Tierverbiss und Einwirkung von Verdauungssäften - Löcher in Knochen entstehen können, die auf den ersten Blick kaum von intentionellen Durchbohrungen zu unterscheiden sind. Eine bedeutende Ausnahme ist die Grotte du Renne in Arcy-sur-Cure im nördlichen Burgund. In einem Kulturschichtpaket des Châtelperronien fanden sich nicht nur mehrere durchlochte bzw. eingekerbte Anhänger aus Tierzähnen und Fossilien sowie weitere Objekte aus organischem Material, die im weiteren Sinne zum Schmuck gehören (Abb. 10) (Baffier 1999; Arl. u. A. Abb. 10: Schmuck und bearbeitete Gegenstände aus organischem Material aus dem Châtelperronien (Schicht X) der Grotte du Renne in Arcy-sur-Cure, Burgund; die meisten - darunter Tierzähne und ein Fossil - sind als Anhänger getragen worden (1-6, 11-15 nach Arl. u. A. Leroi-Gourhan 1964; 7 nach Lorblanchet 1999; 8-10 nach Taborin 1990). <?page no="158"?> 160 Michael Bolus Leroi-Gourhan 1964), sondern auch ein Schädelbruchstück eines sehr späten, etwa 34.000 Jahre alten Neandertalers (Hublin et al. 1996) und isolierte Neandertalerzähne. Vor der Analyse der Menschenreste hatte man das Châtelperronien und auch die Funde aus der Grotte du Renne mit anatomisch modernen Menschen des Jungpaläolithikums in Verbindung gebracht, da auch die Steinwerkzeuge, die man im selben Fundhorizont entdeckte, recht „fortschrittlich“ wirkten. Aus Saint-Césaire (Charente-Maritime) in Frankreich gibt es jedoch einen weiteren, etwa 36.000 Jahre alten Neandertaler in einer Schicht des Châtelperronien (Lévêque u. Vandermeersch 1980), so dass dieser als Träger des Châtelperronien angesehen werden kann. Dagegen hielten alle bisher als mittelpaläolithische Knochenflöten angesprochenen Stücke einer kritischen Prüfung nicht stand - auch nicht das auf den ersten Blick recht überzeugend wirkende Stück aus Divje Babe I in Slowenien (Albrecht et al. 1998). Im Mittelpaläolithikum gibt es eine Anzahl von Gräbern mit klassischen Neandertalern, also Befunde, die erkennen lassen, dass eine Grube ausgehoben worden ist, um ein verstorbenes Individuum bewusst in der Erde niederzulegen - so z. B. in der Kebara-Höhle in Israel (Arensburg et al. 1985) (Abb. 11). Ein regelrechter kleiner Friedhof mit Neandertaler-Gräbern fand sich in La Ferrassie in Südwestfrankreich (Defleur 1993). Wie Abb. 11: Umzeichnung des Neandertaler-Skeletts aus dem Grab von Kebara, Israel (nach Arensburg et al. 1985 aus Defleur 1993). <?page no="159"?> 161 Wer war der Neandertaler? solche mittelpaläolithischen Gräber zur Zeit der Bestattung genau aussahen, wissen wir allerdings nicht. Eindeutige Gräber mit frühen Neandertalern wurden bisher nicht entdeckt. Inwieweit es Grabbeigaben in mittelpaläolithischen Gräbern gibt, ist sehr umstritten. Letztlich existieren hierfür kaum stichhaltige Belege. Das gelegentliche Vorkommen von Fundstücken im Zusammenhang mit Bestattungen hängt vielleicht eher damit zusammen, dass die Gräber oft in unmittelbarer Nähe von Siedlungshorizonten mit zahlreichen Siedlungsresten lagen und beim Ausheben bzw. Verfüllen der Grabgrube nach der Beisetzung Knochen und Steinartefakte ohne weitere Absicht in das Grab gelangten. Dies kann auch bei den selten vorkommenden roten Farbbrocken ohne Abreibespuren wie in der Bestattung von La Chapelle-aux-Saints in Frankreich gelten. Das Bestreuen der Toten mit rotem Farbstoff - im Jungpaläolithikum sehr häufig praktiziert - ist bisher für das Mittelpaläolithikum nicht eindeutig nachweisbar. Wir wissen, dass die Neandertaler gelegentlich rote Farbe zerrieben und vermutlich zu für uns nicht mehr verständlichen symbolischen Zwecken benutzt haben. Vorstellbar, wenngleich weniger wahrscheinlich, wären jedoch auch rein praktische Zwecke. Auch das Bett aus Blüten, auf das einer der Neandertaler von Shanidar im Irak bei seiner Bestattung gebettet worden sein soll, ist umstritten. Die nachgewiesenen Blütenpollen, die zu einer romantischen Verklärung des Bestattungsvorganges führten (Solecki 1971; Arl. Leroi-Gourhan 1975), könnten auch anders in das Grab gelangt sein (Gargett 1989, 176). Das Vorhandensein von Gräbern gibt, nach Ansicht zahlreicher Forscher, durch die reine Tatsache des Bestattens Verstorbener bereits einen Hinweis auf geistige Vorstellungen und ein Symbolsystem - vielleicht im Zusammenhang mit einem Fortleben nach dem Tode, vielleicht aber auch nur in dem Sinne, dass man einen Fixpunkt zur Erinnerung an die Angehörigen schaffen wollte. Da der Akt der Bestattung keinen materiellen Vorteil bringt, ist für den israelischen Forscher Avraham Ronen (1995) die Anlage eines Grabes „ein Hinweis auf das Wissen um den Tod und auf die Einsicht, dass das Leben außerhalb der Kontrolle des Menschen liegt. Ohne eine solche Erkenntnis können die Gräber nicht verstanden werden. Das Wissen um den Tod beinhaltet auch einen Zeitbegriff, Vergangenheit und Zukunft. Die Verbindung der Vorstellungen von Zeit und Tod führt zu dem Wissen um die Unvermeidlichkeit des eigenen Todes.“ Solche Reflexionen wären also auch dem Neandertaler zuzubilligen. Darüber hinaus liefern Gräber und die in ihnen beigesetzten Toten weitere Hinweise auf menschliches Sozialverhalten und menschliche Beziehungen. Ein gutes Beispiel ist Grab 1 von Shanidar im heutigen Irak (Abb. 3). Die anthropologische Untersuchung erwies, dass der hier bestattete 30bis 40-jährige Neandertaler-Mann zu Lebzeiten unter mehreren körperlichen Gebrechen litt. Ein Oberarmknochen ist stark deformiert, der zugehörige <?page no="160"?> 162 Michael Bolus Unterarm fehlt; dazu kommen weitere Knochenabnormitäten und Körperverletzungen. Man kann mit hoher Sicherheit davon ausgehen, dass er nicht arbeiten konnte und für sein Überleben auf die Fürsorge seiner Mitmenschen angewiesen war (Trinkaus 1983). Überhaupt lassen die robusten Neandertalerknochen sehr häufig verheilte Verletzungen erkennen, die andeuten, dass das Leben der Neandertaler oft hart und gefährlich war. Möglicherweise wurden Menschen, die nicht mehr zum Lebensunterhalt der Gruppe beitragen konnten, versorgt und gepflegt, da sie, obwohl körperlich hinfällig, aufgrund ihrer Lebenserfahrung über Kenntnisse und Informationen verfügten, die für die Gruppe von Bedeutung waren. Festzuhalten bleibt in jedem Falle, dass bereits der Neandertaler Menschen, die ohne fremde Hilfe nicht hätten überleben können, versorgte. Immer wieder fällt im Zusammenhang mit den Neandertalern auch das Schlagwort vom Kannibalismus. Und in der Tat gibt es mehrfach Knochen von Neandertalern, die Schnittspuren von Steinwerkzeugen oder sonstige anthropogene Modifikationen aufweisen. Nach einer kritischen Untersuchung muss jedoch gesagt werden, dass in kaum einem Fall eindeutige Hinweise auf kannibalistische Praktiken vorliegen. Die zu beobachtenden Spuren können meistens auch anders, etwa mit Sekundärbestattungspraktiken, erklärt werden (Orschiedt 1999, 23-50). Einige Bemerkungen zur Sprache: Archäologische Belege für den Grad der Sprachfähigkeit bei Hominiden sind nur sehr schwer beizubringen. Die für die Sprache besonders wichtigen Regionen im Gehirn scheinen bereits bei H. erectus gut entwickelt gewesen zu sein, und nachdem man 1984 in dem erwähnten Grab aus der Kebara-Höhle in Israel (Abb. 11) das gut erhaltene Zungenbein eines Neandertalers entdeckt hatte, das sich nicht von dem eines modernen Menschen unterscheidet, glaubte man, einen klaren Beleg für eine voll ausgereifte Artikulationsfähigkeit des Neandertalers in der Hand zu haben. Jedoch gaben andere Anthropologen zu bedenken, dass nur ein Teil des Zungenbeines verknöchere, andere Teile aber nicht erhalten und somit nicht vergleichbar seien. Darüber hinaus sind die anatomischen Gegebenheiten im Kehlkopfbereich beim Neandertaler anders als beim modernen Menschen, und es spricht einiges dafür, dass Ersterem nur eine begrenzte Bandbreite artikulierbarer Laute zu Eigen war. Sicher ist aber, dass er über ein differenziertes Kommunikationssystem verfügte, da sonst einige seiner komplexen Verhaltensformen nicht denkbar wären. Die Gruppenjagd auf Großwild als Ausdruck menschlicher Organisation wurde erwähnt. Auch Nahrungsteilung darf vorausgesetzt werden, denn Großwildjagd ist eher sinnvoll, wenn die Beute auf mehrere Individuen aufgeteilt wird, während erbeutete Kleintiere in kurzer Zeit von nur wenigen Individuen oder gar Einzelindividuen verwertet werden können. Damit hat die Großwildjagd andere soziale Konsequenzen als die Jagd auf kleine Tiere. <?page no="161"?> 163 Wer war der Neandertaler? Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Neandertaler einerseits ein Mensch mit sehr differenzierten Verhaltensweisen und der Fähigkeit zu komplexen geistigen Leistungen gewesen ist und keineswegs das dumme, unkultivierte Wesen, wie es einige der erwähnten Rekonstruktionen vermitteln. Klare Unterschiede zum anatomisch modernen Menschen sind andererseits nicht zu übersehen, und zwar sowohl in der Anatomie als auch in den materiellen Hinterlassenschaften. Man denke nur an die explosionsartige Entwicklung und Verbreitung von Kunst und Schmuck in Europa in den Industrien des anatomisch modernen Menschen - also Ausprägungen der materiellen Kultur, denen wir beim Neandertaler allenfalls in bescheidenen Anfängen begegnen. Verwandtschaft mit dem modernen Menschen Damit stehen wir nun vor der grundlegenden Frage: War der Neandertaler unser Vorfahr oder nicht? Gerade diese Frage ist Gegenstand einer ausgesprochen kontrovers geführten Diskussion, und man muss zugeben, dass sich für verschiedene einander widersprechende Vorstellungen Argumente anführen lassen. Insbesondere stehen sich zwei Modelle gegenüber, die jedoch unterschiedlich restriktiv gehandhabt werden und zu denen es jeweils gemäßigtere Positionen gibt (Abb. 12; Bräuer in diesem Band). Abb. 12: Vereinfachte Darstellung des multiregionalen Evolutionsmodells (oben) und des Out-of-Africa-Modells (unten) (aus Schmitz u. Thissen 2000 [© Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg], modifiziert nach Stringer u. Gamble 1993). <?page no="162"?> 164 Michael Bolus Auf der einen Seite steht die Out-of-Africa-Hypothese, die davon ausgeht, der anatomisch moderne Mensch habe sich ausschließlich in Afrika entwickelt und von dort aus die gesamte Welt erobert. Demnach sollen vor etwa 100.000 bis 120.000 Jahren moderne H. sapiens-Populationen sukzessiv nach Asien und später auch nach Europa gelangt sein und überall dort, wo sie auf archaische Bevölkerungen trafen, diese verdrängt haben, in Europa z. B. die Neandertaler. Innerhalb dieses Ansatzes gibt es wiederum Vertreter wie etwa Fred Smith und Günter Bräuer, die eine Vermischung von Neandertalern und modernen Menschen und entsprechenden Genfluss ausdrücklich zulassen (Bräuer u. Smith 1992; Smith u. Spencer 1984). Dagegen schließen andere eine Hybridisierung grundsätzlich aus oder gestehen, wie beispielsweise Christopher Stringer (1991), dem Neandertaler allenfalls einen verschwindend geringen genetischen Beitrag bei der Entstehung der heutigen Europäer zu - d. h. sie nehmen letztlich eine vollständige Verdrängung („replacement“) der Neandertaler an. Auf der anderen Seite steht die Hypothese von der multiregionalen Entwicklung des modernen Menschen, die davon ausgeht, dass dieser sich in verschiedenen Kontinenten aus den dort bestehenden Populationen entwickelte und dass die regional unterschiedlichen Entwicklungslinien aller modernen Bevölkerungen bis zu dem Zeitpunkt zurückreichen, als der Mensch erstmals Afrika verließ und die übrige Alte Welt besiedelte. Die Bevölkerungsunterschiede wurden trotz Migration und Genfluss seit der frühesten Besiedlung Asiens und Europas aufrechterhalten. Prominentester Vertreter dieser Vorstellung ist Milford Wolpoff (Thorne u. Wolpoff 1992). Folgt man der Out-of-Africa-Hypothese, so kann der Neandertaler nicht unser Vorfahr sein, obwohl Genfluss nicht ausgeschlossen ist. Das multiregionale Modell hingegen lässt zwei Möglichkeiten offen: einerseits den Neandertaler als direkten Vorfahren, andererseits eine parallele Entwicklung von Neandertaler und modernem Menschen auf der Grundlage von H. heidelbergensis. Dabei scheint die zweite dieser Möglichkeiten heutzutage fast einstimmig ausgeschlossen zu werden. Mittlerweile sind mehrere Arbeitsgruppen, darunter auch ein Tübinger Forschungsteam, damit beschäftigt, Gen-Untersuchungen sowohl an Knochen von Neandertalern als auch an Knochen früher moderner Europäer durchzuführen, um die Verwandtschaftsfrage zu klären. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es jedoch zweifellos zu früh, gesicherte Erkenntnisse zu fordern. Inzwischen deutet sich allerdings an, dass der Neandertaler nicht unser Vorfahr war. Doch ist die Datengrundlage zur Zeit noch zu dünn, um in dieser Annahme mehr als einen vorläufigen Trend zu sehen. Ebenso ungeklärt ist nach wie vor die Frage, ob wir mit dem Neandertaler und dem anatomisch modernen Menschen zwei unterschiedliche Spezies vor uns haben, also Homo neanderthalensis und Homo sapiens, oder ob es sich um Subspezies handelt, also Homo sapiens neanderthalensis gegenüber Homo sapiens sapiens. <?page no="163"?> 165 Wer war der Neandertaler? Das Ende der Neandertaler Ebenfalls ungeklärt ist bislang das Verschwinden der Neandertaler vor 27.000 bis 28.000 Jahren. Diese Frage kann nicht ohne die Frage nach dem ersten Erscheinen des modernen Menschen in Europa erörtert werden. Dazu müssen wir zunächst Europa verlassen und uns ein weiteres Mal der Levante zuwenden. Auf dem Gebiet des heutigen Israel schien nach Aussage älterer Radiokohlenstoff-Daten über eine Spanne von mehreren zehntausend Jahren eine Koexistenz von Neandertalern mit modernen Menschen zu bestehen (Bar-Yosef u. Vandermeersch 1993; Ronen 1995). Sogar unmittelbare Kontakte zwischen beiden Menschenformen, die jeweils in unterschiedlichen Höhlen lebten, wurden für möglich gehalten. Inzwischen gibt es eine Reihe neuer, verlässlicherer Datierungen für diese Fundstellen, und es zeichnet sich danach ab, dass in Qafzeh bei Nazareth sowie in Skhul im Karmel- Gebirge vor etwa 90.000 bis 110.000 Jahren moderne Menschen lebten, im benachbarten Tabun vor etwa 80.000 bis 90.000 Jahren Neandertaler und dann vor etwa 60.000 Jahren in Kebara im südlichen Karmel-Gebirge und vor etwa 50.000 Jahren in Amud nördlich des Sees Genezareth auch wieder Neandertaler. Ein Mann aus Amud ist gleichzeitig der jüngste Neandertaler der Levante und darüber hinaus das bisher größte bekannte Exemplar. Es handelt sich also eher um eine abwechselnde Besiedlung benachbarter Areale, wobei zunächst interessanterweise die modernen Menschen dort gewesen zu sein scheinen und danach, bis zu ihrem Verschwinden im Nahen Osten, nur noch Neandertaler nachzuweisen sind. Bemerkenswert bleibt in jedem Falle, dass beide Menschenformen mittelpaläolithische Industrien herstellten, die sich praktisch nicht voneinander unterscheiden. Während des gesamten genannten Zeitraums lebten in Europa ausschließlich Neandertaler, und erste Hinweise auf die Anwesenheit moderner Menschen treten dort nicht früher als vor 40.000 Jahren auf (Bolus 2005). Die bisher ältesten Knochenfunde anatomisch moderner Europäer stammen aus der rumänischen Höhle Pe tera cu Oase (Trinkaus et al. 2003). Sie sind etwa 35.000 Jahre alt und wurden ohne archäologischen Zusammenhang aufgefunden. Die Frage, wie der moderne Mensch nach Europa gelangte - möglicherweise über den Nahen Osten -, ist nicht zu beantworten und auch nicht Thema dieses Beitrags. Es gilt aber festzuhalten, dass sich in Europa die Hinweise auf eine zeitweilige Koexistenz von Neandertalern und anatomisch modernen Menschen häufen. Sehr junge Neandertaler mit einem Alter von 28.000 bis 30.000 Jahren kennt man beispielsweise aus Vindija in Kroatien (Smith et al. 1999) oder aus Zafarraya in Spanien (Hublin et al. 1995). Weitere Fundplätze aus diesem Zeitraum ohne Menschenfossilien lieferten mittelpaläolithische Industrien, die wahrscheinlich von Neandertalern hergestellt wurden. Andere Neandertalerfunde aus Portugal, Frankreich und dem nördlichen Kaukasus sind nur wenig älter (Golovanova et al. 1999; Straus 1996). <?page no="164"?> 166 Michael Bolus Zu dieser Zeit hatte das Jungpaläolithikum in Europa bereits eine Entwicklung von etwa 10.000 Jahren hinter sich (Bolus 2004). Ob sich Neandertaler und anatomisch moderne Menschen in Europa jemals begegneten, lässt sich bisher nicht belegen, erscheint aber durchaus wahrscheinlich. In diesem Zusammenhang muss noch einmal die Industrie des Châtelperronien genannt werden, die nur in Teilen Frankreichs und begrenzten Regionen Nordspaniens verbreitet ist. Es wurde bereits gesagt, dass sie durch zahlreiche „fortschrittliche“ Elemente gekennzeichnet ist, ihr Träger jedoch der Neandertaler war. Eine häufig vertretene Meinung besagt, diese Fortschrittlichkeit sei dadurch entstanden, dass Neandertaler und anatomisch moderne Menschen zusammentrafen und der Neandertaler neue Technologien und Fertigkeiten von den modernen Menschen übernahm und imitierte (z. B. Mellars 1989; 1996; Mellars et al. 1999). Gegner dieser Ansicht gehen davon aus, der Neandertaler sei, auch ohne solche Akkulturationsprozesse, in der Lage gewesen, die fortschrittlichen Technologien ohne Anstoß von außen zu entwickeln (d’Errico et al. 1998; Zilh-o u. d’Errico 1999). Auch in dieser Frage kann keine endgültige Lösung angeboten werden. Beide Möglichkeiten sind vorstellbar, obwohl der Verfasser eher die Kontakt-Theorie bevorzugt, ohne dem Neandertaler damit die grundsätzliche Fähigkeit zu Innovationen absprechen zu wollen. Darüber hinaus ist bei eventuellen Kontakten auch nicht a priori davon auszugehen, dass der Neandertaler automatisch der Nehmende und der anatomisch moderne Mensch der Gebende war. Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob es gar zu Vermischungen zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen gekommen ist. In jüngerer Zeit ist ein etwa 24.000 bis 25.000 Jahre altes Kinderskelett, das in Lagar Velho in Portugal in einer jungpaläolithischen Kulturschicht entdeckt wurde (Zilh-o u. Trinkaus 2002), Gegenstand andauernder kontroverser Diskussionen. Nach Ansicht des Anthropologen Erik Trinkaus und der Anthropologin Cidália Duarte vereinigt es Merkmale sowohl des Neandertalers als auch des anatomisch modernen Menschen und wird so von den Befürwortern einer Vermischung der Menschenformen als Beleg für die Richtigkeit ihrer Annahme ins Feld geführt. Andere Anthropologen widersprechen dieser Ansicht. So muss z. B. relativierend angeführt werden, dass gerade bei Kinderskeletten die diagnostischen anatomischen Merkmale noch nicht klar ausgeprägt sind und noch dazu bei dem Fund aus Lagar Velho der Schädel unvollständig und aus extrem kleinen Bruchstücken zusammengesetzt ist. Man kann also nur feststellen, dass vor etwa 28.000 Jahren der letzte Neandertaler verschwunden zu sein scheint. Auf genau welche Weise und weshalb er verschwand, bildet den Gegenstand verschiedener Spekulationen. Es muss jedoch betont werden, dass er nicht das Opfer planmäßiger Ausrottung durch moderne Menschen war, wie es gerade in letzter Zeit immer wieder in wenig gelungenen populären Zeitschriftenartikeln behaup- <?page no="165"?> 167 Wer war der Neandertaler? tet wird. Hierfür fehlen alle archäologischen Hinweise. Aber vielleicht ist der Neandertaler ja gar nicht spurlos verschwunden, und wir tragen immer noch Teile von ihm in uns, ohne uns dessen bewusst zu sein. 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Instituto Português de Arquelogia, Lisboa. <?page no="169"?> Günter Bräuer (Hamburg) Das Out-of-Africa-Modell und die Kontroverse um den Ursprung des modernen Menschen Zusammenfassung Zwei Jahrzehnte heftiger Diskussion zwischen Vertretern des multiregionalen Evolutionsmodells und des Out-of-Africa-Modells haben zu einer kaum mehr überschaubaren Fülle an Ergebnissen und Argumenten geführt, dabei auch zu Missdeutungen und Verzerrungen. Im Vordergrund dieses Beitrags stehen einige wesentliche Aspekte der Debatte: die Entwicklung des Out-of- Africa-Modells, die künstliche Polarisierung der Diskussion nach Erscheinen der Pionierarbeit über die mitochondriale DNA, die Dokumentation des anatomischen Modernisierungsprozesses in Afrika, die Ablösungsphase der Neandertaler und die Problematik von Vermischungen sowie die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität in China und Australasien. Grundlagen des Modells und Genflussproblematik Bereits in den frühen 1970er Jahren lagen mit den menschlichen Überresten aus der Omo-Kibish-Formation in Äthiopien und der Border Cave in Südafrika (Leakey et al. 1969; Protsch 1975) einige Indizien für eine mögliche frühe Existenz des modernen Menschen in Afrika vor; doch waren die Datierungen von bis zu 130.000 Jahren stark umstritten. Außerdem passten so frühe modern aussehende Funde nicht in das damalige Bild, wonach sehr urtümliche archaische Menschenformen mit dicken Überaugenwülsten, wie etwa vom Eyasi-See in Tansania (Abb. 1) oder von Broken Hill in Sambia, noch vor 30.000 oder 50.000 Jahren gelebt haben sollen (Protsch 1976). Die Situation war damals ziemlich unklar: Lebten archaische Menschen noch lange nachdem der moderne Mensch erschienen war, oder gab es gar parallele Entwicklungslinien in Afrika, ähnlich wie man sie lange Zeit für Europa angenommen hatte? Verstärkte Forschungen im Verlauf der 1970er Jahre lieferten dann immer weitere Datierungen sowie eine Anzahl bedeutender neuer Hominidenfunde (Bräuer 1981). Auf dieser veränderten Basis wurde vom Autor 1978 mit <?page no="170"?> 172 Günter Bräuer einer umfassenden Analyse des mittel- und spätpleistozänen Hominidenmaterials Afrikas begonnen, die darauf abzielte, die Evolution des Homo sapiens neu zu rekonstruieren. Die Ergebnisse sprachen gegen eine lange gleichzeitige Existenz archaischer und moderner Menschen, sondern legten vielmehr einen graduellen Entwicklungspozess von einem noch recht ursprünglichen früh-archaischen über einen deutlich moderneren spät-archaischen H. sapiens bis hin zum anatomisch modernen Menschen nahe. Letzterer war damit nicht nur bereits vor etwas mehr als 100.000 Jahren erschienen, sondern auch das Ergebnis einer nachvollziehbaren Entwicklungssequenz. Basierend auf dieser frühen Entstehung des modernen Menschen in Afrika und einer Analyse der Fossildokumentation in Europa und dem Fernen Osten schlug der Autor 1982 auf dem ersten internationalen Kongress der Paläoanthropologie in Nizza ein „Out of Africa“-Modell vor, das damals noch als „afro-europäisches Sapiens“-Modell bezeichnet wurde (Bräuer 1982); denn die besten Belege für einen Ablösungsprozess archaischer durch moderne Menschen kamen aus Europa (Bräuer 1984a). Dass es sich bei diesem Modell aber um ein globales Ablösungsmodell handelte, wurde 1983 auf dem Von-Koenigswald-Memorial-Symposium in Frankfurt verdeutlicht, indem auch für den Fernen Osten „Ablösung“ als der wahrscheinlichste Prozess aufgezeigt wurde (Bräuer 1984b). Übrigens lief zu Abb. 1: Früh-archaischer Homo sapiens-Schädel vom Eyasi-See, Tansania. <?page no="171"?> 173 Das Out-of-Africa-Modell dieser Zeit der populäre Film „Out of Africa“ (Jenseits von Afrika) mit Robert Redford und Meryl Streep noch nicht in den Kinos, der die Namensgebung des Modells möglicherweise erleichtert hätte. Ein Element dieser frühen Out-of-Africa-Hypothese war die Annahme, dass der Ablösungsprozess Vermischungen bzw. Genfluss zwischen den sich ausbreitenden modernen Populationen und den regionalen archaischen Gruppen in variablem Ausmaß einschloss; hierfür schienen gewisse Indizien an den Fossilfunden zu sprechen (Bräuer 1984a; b). Im Jahre 1987 erschien dann die Pionierarbeit über die menschliche DNA in den so genannten Mitochondrien, den Kraftwerken der Zelle (Cann et al. 1987). Die Studie sprach nicht nur für eine gemeinsame junge Wurzel der Menschheit vor rund 200.000 Jahren in Afrika und stützte damit das Outof-Africa-Modell, sondern beeinflusste auch stark die Diskussion mit den Multiregionalisten. Diese Gegner des Out-of-Africa-Modells vertraten und vertreten zum Teil heute noch die Ansicht, dass sich der moderne Mensch nicht nur in Afrika, sondern auch in verschiedenen anderen Regionen der Welt - wie Europa, China und Australasien - aus den dortigen archaischen Vorfahren entwickelt hat (z. B. Wolpoff et al. 1984; Frayer et al. 1993). Die Tatsache, dass bei der Studie von Rebecca Cann und Mitautoren keine stark abweichenden mitochondrialen DNA-Linien - etwa bei heutigen Asiaten - gefunden wurden, machte es unwahrscheinlich, „dass der asiatische Homo erectus viel zum Genpool des anatomisch modernen Homo sapiens beigetragen habe“ (Wilson et al. 1987, 167). Dies bedeutet aber nicht, dass aus molekularbiologischer Sicht Vermischungen während der Ablösungsphase grundsätzlich ausgeschlossen wurden. Cann (1992, 71) ist vielmehr der Ansicht, dass wir einfach 30.000 Jahre zu spät leben, um noch das Vorhandensein solcher mtDNA-Linien der Neandertaler zu sehen. Auch kann sie sich kaum vorstellen, dass eine Fortpflanzungsisolation zwischen den archaischen und den sich ausbreitenden modernen Populationen bestand (Cann persönl. Mitt. zit. in Bräuer 1992, 85). In ähnlichem Sinne äußerte sich der Stanford-Genetiker Luca Cavalli-Sforza (1989, 410), der keinen Grund für eine vollständige Ablösung oder Eliminierung der lokalen vor-modernen Gruppen sieht und sogar Vermischungen in größerem Ausmaß für möglich hält. Tatsächlich ist es bis heute nicht möglich, aus genetischer oder molekularbiologischer Sicht auszuschliessen, dass Genfluss stattgefunden hat: “No one can rule out the possibility that some of us could have inherited nuclear DNA from Neanderthal or H. erectus stock (…). Detection of an archaic lineage is so difficult that many geneticists despair that they will ever be able to prove - or disprove that replacement was complete. Says Oxford University population geneticist Rosalind Harding: ‘There’s no clear genetic test. We’re going to have to let the fossil people answer this one’” (Gibbons 2001, 1052). Somit kann festgehalten werden, dass es weder 1987 zutraf noch heute zutreffend ist, die molekular- <?page no="172"?> 174 Günter Bräuer biologischen Ergebnisse als Beweise für eine vollständige Ablösung ohne Genfluss anzusehen. Und obwohl auch von den meisten Out-of-Africa- Befürwortern für wenig realistisch gehalten (Stringer u. Bräuer 1994), fokussierten sich die Multiregionalisten genau auf diese extreme Interpretation, die sie kurioserweise selbst völlig ablehnen (z. B. Wolpoff 1992). Sie glaubten in dieser Strategie eine neue Chance zu erkennen: Anstatt multiregionale Evolution in den verschiedenen Teilen der Welt wirklich demonstrieren zu müssen, brauchten sie ihrer Meinung nach nur noch zu zeigen, dass es irgendwo außerhalb Afrikas Indizien für regionale Kontinuität über die archaisch-moderne Grenze hinweg gab, um das Out-of-Africa- Modell zu widerlegen (z. B. Clark 1992, 193; Frayer et al. 1993). Trotz der Fragwürdigkeit dieser Argumentation führte sie über Jahre hinweg zu einer künstlichen Polarisierung der Debatte, die ihre Eigendynamik besonders auch in populärwissenschaftlichen Magazinen entwickelte. Dabei haben die Multiregionalisten nicht nur die molekularbiologischen Ergebnisse inadäquat und einseitig benutzt. Sie haben außerdem noch den Versuch von Chris Stringer und Peter Andrews (1988), das extreme Ablösungsmodell anhand der vorhandenen paläoanthropologischen Fakten zu testen, fälschlicherweise so dargestellt, als sei das Out-of-Africa-Modell mit dem extremen Test-Modell identisch und der moderne Mensch gleichsam eine neue biologische Art, die alle archaischen Populationen auslöschte (Bräuer 1992, 84-86; Frayer et al. 1993; Stringer u. Bräuer 1994; Bräuer u. Stringer 1997). Diese Sichtweise entsprach aber keineswegs dem Ergebnis des von Stringer und Andrews (1988) durchgeführten Tests. Dieser zeigte nämlich, dass das Test-Modell zwar die meisten, aber nicht alle Fakten erklären konnte. So sahen die Autoren z. B. in Australasien einige Hinweise auf eine gewisse regionale Kontinuität, während sie beim Übergang von Neandertalern zu modernen Menschen wenig oder keine Kontinuität erkennen konnten. Aber auch dies bedeutet nicht, dass hier Genfluss ausgeschlossen werden könne. Stringer und Bräuer (1994) haben in ihrem Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Methods, misreading and bias“ betont, dass Genfluss sogar einen gewissen Grad an Kontinuität vortäuschen könnte. Obwohl also die Hauptvertreter des Out-of-Africa-Modells einschließlich der meisten Genetiker die extreme Interpretation einer vollständigen Ablösung ohne Vermischung, die so genannte „Eva-Theorie“, nicht favorisieren, haben sich die Multiregionalisten auf die Widerlegung gerade dieser Theorie konzentriert. Sie machten sich über Jahre hinweg glauben, dass es durch eine Gleichsetzung der extremen Eva-Theorie mit dem Out-of-Africa-Modell ein Leichtes sei, gleich die ganze Out-of-Africa-Hypothese zu widerlegen. Sie haben damit einen „Strohmann“ errichtet (Bräuer u. Stringer 1997, 193). Ihre Versuche allerdings, diesen dann in Frage zu stellen, sind für den wissenschaftlichen Fortschritt ohne wesentliche Bedeutung, da sie ein Modell zu widerlegen versuchen, das ohnehin wenig realistisch ist. <?page no="173"?> 175 Das Out-of-Africa-Modell Trotz extremer Titel wie „The case against Eve“ (Wolpoff u. Thorne 1991) oder „The End of Eve? Fossil evidence from Africa“ (Wolpoff u. Thorne 1993) führte diese inadäquate Strategie der Multiregionalisten letztlich in eine Sackgasse und trug mehr zur allgemeinen Verwirrung als zur Klärung bei (Bräuer u. Stringer 1997; Stringer 2001). In populärwissenschaftlichen Abhandlungen wird diese differenzierte Sichtweise oft weniger deutlich, da es dabei mehr um die Darstellung der unterschiedlichen Positionen geht und Polarisierung durchaus willkommen ist. Zahlreiche neuere Ergebnisse für Afrika, Europa und den Fernen Osten haben mittlerweile die Probleme des multiregionalen Modells immer deutlicher werden lassen, während ein realistisches Out-of-Africa-Modell, das Genfluss während der Ablösungsphase für möglich hält, breite Akzeptanz erfahren hat. Auch hinsichtlich der aktuellen Frage nach dem Ausmaß an Genfluss liegen neue Ergebnisse vor. Die Entstehung des modernen Menschen in Afrika Wenden wir uns zuerst Afrika zu - der Region, aus der heute die überzeugendsten Belege für eine Evolution zum modernen Menschen vorliegen. Der 1981 vom Autor vorgeschlagene graduelle Entwicklungsverlauf vom archaischen zum modernen H. sapiens (Bräuer 1984a) wurde während der nachfolgenden zwei Jahrzehnte durch zahlreiche neue Ergebnisse grundsätzlich bestätigt und in verschiedenen Details modifiziert (Bräuer 2001a). Wie damals vorgeschlagen, so repräsentieren auch heute noch Hominiden wie Bodo, Hopefield und Broken Hill den früh-archaischen H. sapiens, Laetoli H 18 und Florisbad die modernere, spät-archaische Form und Omo Kibish 1, Klasies River und Border Cave den frühen anatomisch modernen Menschen. Von den vielen Ergebnissen seit den 80er Jahren des 20. Jhs. können hier nur einige wichtige genannt werden. So zeigte sich, dass die Funde von Jebel Irhoud aus Marokko wesentlich älter sind als lange Zeit angenommen und dass sie keine engen Beziehungen zu den Neandertalern besitzen dürften (Grün u. Stringer 1991; Hublin 1992). Auch der Bodo-Schädel aus Äthiopien wurde aufgrund von 40 Ar/ 39 Ar-Messungen auf 600.000 Jahre zurückdatiert (Clark et al. 1994). Neuere Feldforschung und der Einsatz moderner Datierungsmethoden machten weitere Korrekturen bei der zeitlichen Platzierung verschiedener Hominidenfunde notwendig. So ergab sich für die Upper Ngaloba Beds bei Laetoli in Nordtansania, aus denen der spät-archaische Schädel Laetoli Hominid 18 stammt, ein Alter von mehr als 200.000 bis 300.000 Jahren (Manega 1995). Ferner erbrachten neue Forschungen am Eyasi-See nicht nur einen weiteren Hominidenfund, sondern deuteten darauf hin, dass die Fundschichten des Eyasi-Schädels (Abb. 1) - von <?page no="174"?> 176 Günter Bräuer Reiner Protsch (1976) auf nur 35.000 Jahre datiert - mit großer Wahrscheinlichkeit älter als 200.000 oder gar 300.000 Jahre sein dürften (Manega 1993; Bräuer u. Mabulla 1996). Für den zunächst ebenfalls von Protsch (1974) mittels 14 C anhand eines Tierknochens auf 39.000 Jahre datierten südafrikanischen Florisbad-Hominiden wurde 1985 von Ron Clarke nach genaueren Untersuchungen der Fundstelle ein Alter zwischen 100.000 und 200.000 Jahren vorgeschlagen. Wiederum ein Jahrzehnt später gelang es mittels der ESR-Methode, den einzigen vorhandenen Zahn des Florisbad- Hominiden direkt auf ca. 250.000 Jahre zu datieren (Grün et al. 1996). Fast zeitgleich mit dieser neuen Florisbad-Datierung wurde der bis dahin chronologisch nur sehr unsicher eingeordnete „Guomde“-Schädel KNM-ER 3884 von Ileret (Bräuer et al. 1992) direkt mittels Thorium/ Uranium (Gammastrahlen-Spektrometrie) auf ca. 270.000 Jahre datiert (Bräuer et al. 1997). Wie die Hominiden Laetoli H 18 und Florisbad, so steht auch dieser spätarchaische Schädel anatomisch gesehen dicht an der Schwelle zum modernen Menschen (Abb. 2). Erneute Forschungen an der Fundstelle des frühen anatomisch modernen Omo-Kibish-1-Skeletts haben ein Alter von ca. Abb. 2: Spät-archaischer Homo sapiens-Schädel (KNM-ER 3884) von Ileret, Kenia. <?page no="175"?> 177 Das Out-of-Africa-Modell 195.000 Jahren für dieses Individuum sowie wahrscheinlich auch für den in der Nähe gefundenen Omo-Kibish-2-Schädel ergeben (McDougall et al. 2005). In diesen mosaikartigen Übergang vom spät-archaischen zum modernen Menschen gehören auch die neuen Funde von Herto aus dem Middle Awash Äthiopiens, die zwischen 160.000 und 154.000 Jahre datiert Abb. 3: Schema der Homo sapiens-Evolution in Afrika. <?page no="176"?> 178 Günter Bräuer sind (White et al. 2003). Die Reste von drei Individuen umfassen einen gut erhaltenen Schädel eines Erwachsenen. Ein ähnlich hohes Alter haben ESR- und Thorium/ Uranium-Datierungen für den Singa-Schädel aus dem Sudan geliefert (McDermott et al. 1996). Diese und weitere neue Datierungen machten Revisionen des chronologischen Rahmens der Homo sapiens-Evolution in Afrika erforderlich (Bräuer et al. 1997; Bräuer 2001a). Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand existierte der spät-archaische H. sapiens vor etwa 300.000 bis 150.000 Jahren, während die früh-archaische Form schon vor mehr als 600.000 Jahren aus dem späten H. erectus hervorgegangen sein dürfte. Obwohl die Entwicklung vom spät-archaischen zum anatomisch modernen H. sapiens als ein mosaikartiges Kontinuum erscheint, ist Letzterer schon seit etwa 200.000 Jahren fassbar (Abb. 3). Auf die frühesten Modernen folgen mit ungefähr 120.000 Jahren etwas jüngere moderne Funde aus den Klasies-River- Mouth-Höhlen (Bräuer et al. 1992; Bräuer u. Singer 1996) sowie aus der Border Cave in Südafrika und anderen Regionen des Kontinents. Insgesamt ergibt sich heute ein aus vielen Mosaiksteinen zusammengesetztes und damit recht fundiertes Bild vom anatomischen Modernisierungsprozess in Afrika. Dieses wird auch durch die Tatsache gestützt, dass praktisch am geographischen Rande Afrikas, im Nahen Osten, anatomisch moderne Menschen schon vor etwa 100.000 bis 130.000 Jahren auftauchten. Diese frühen modernen Funde von Skhul und Qafzeh in Israel sind die ältesten Zeugnisse des modernen Menschen außerhalb Afrikas. Abb. 4: Neandertaler von La Chapelle-aux-Saints, Frankreich (links) und früher moderner Mensch von Mlade č , Tschechische Republik (rechts). <?page no="177"?> 179 Das Out-of-Africa-Modell Europa und die Ablösung der Neandertaler Obwohl aufgrund der beträchtlichen morphologischen Kluft (Abb. 4) und der zeitlichen Überlappung eine direkte Evolution der frühen modernen Europäer aus den Neandertalern heute von fast keinem Spezialisten mehr favorisiert wird, lassen jüngere Forschungsergebnisse selbst mögliche Indizien für ein gewisses Maß an regionaler Kontinuität in Europa zunehmend problematisch erscheinen. So galt das südliche Zentraleuropa bei Multiregionalisten über Jahre als eine mögliche Region evolutionärer Veränderungen vom Neandertaler zum modernen Menschen (Smith 1992). Insbesondere in den Neandertaler-Resten von Vindija wurde eine mögliche Kontinuität zu frühen modernen Menschen dieser Region, wie etwa von Velika Pe ć ina, gesehen. Neuere, direkte Datierungen an diesen Hominidenfunden mittels der 14 C-Beschleuniger-Methode haben nun ergeben, dass das Stirnbein von Velika Pe ć ina nicht wie bislang angenommen ca. 34.000, sondern nur 5.000 Jahre alt ist, und dass die jüngsten Neandertaler aus der G1-Schicht der Vindija-Höhle nur 28.000 oder 27.000 Jahre alt sind (Smith et al. 1999). Damit existierten Neandertaler zu dieser späten Zeit nicht nur in Südwesteuropa (Hublin et al. 1995), sondern auch noch in Zentraleuropa. Anatomisch moderne Menschen lebten aber in diesem Raum bereits vor etwa 35.000 Jahren, wie die Funde aus der Pe tera cu Oase aus Rumänien belegen (Trinkaus et al. 2003). Neueste direkte Datierungen ergaben auch ein Alter von ca. 31.000 Jahren für das gut erhaltene Skelettmaterial von Mlade aus der Tschechischen Republik (Wild et al. 2005). Auch in Verbindung mit dem Auftreten des Aurignacien in Zentral- und Westeuropa vor knapp 40.000 Jahren nehmen viele Forscher an, dass moderne Menschen als Träger dieser Kultur schon so früh über Europa verbreitet waren (z. B. Mellars 1999; 2005; Klein 2000; Bolus u. Conard 2001). Aufgrund der neuen Faktenlage stellt sich also kaum mehr die Frage nach evolutionärer Kontinuität in Europa, sondern nur die nach dem möglichen Ausmaß von Vermischungen zwischen Neandertalern und sich nach Europa ausbreitenden modernen Bevölkerungen während der Jahrtausende dauernden Periode der Koexistenz. Wenn es eine wesentliche Vermischung gab, dann sollten wir dies in der Morphologie der frühen modernen Funde erkennen können, denn die Neandertaler sind durch eine Vielzahl spezieller, d. h. apomorpher, Merkmale gekennzeichnet. Zur Untersuchung dieser Frage wurde das frühe tschechische Material von Mlade č ausgewählt und nach solchen Neandertalermerkmalen gefahndet (Bräuer u. Broeg 1998). Dieses Material wurde auch deshalb gewählt, weil Multiregionalisten wie Frayer (1986) zu dem Schluss gelangten, dass diese Funde sogar gute Belege für eine graduelle Evolution von den Neandertalern darstellen. Das Ergebnis der Neuanalyse von 15 Merkmalen des Schädels fiel - sogar für den Autor, der Vermischung immer <?page no="178"?> 180 Günter Bräuer Abb. 5: Frontalansicht des Stirnbeins von Mlade č 5 mit moderner Überaugenmorphologie (oben) (Foto H. Broeg) und Unterkieferäste der Mandibula von Pe tera cu Oase mit einseitiger Ausprägung eines horizontal-ovalen Foramen mandibulae (unten links) (Foto E. Trinkaus/ Romanian Academy). <?page no="179"?> 181 Das Out-of-Africa-Modell für möglich und wahrscheinlich gehalten hat - überraschend aus. Nicht ein einziges eindeutiges Neandertalermerkmal konnte in dieser frühen modernen Stichprobe gefunden werden (Bräuer u. Broeg 1998). Selbst das robuste männliche Individuum Mlade 5 zeigt, abgesehen vom Fehlen irgendwelcher spezieller Neandertaler-Merkmale, eine vollständig moderne Überaugenmorphologie mit kräftig entwickeltem Brauenbogen und einem seitlich angrenzenden flachen Überaugendreieck (Abb. 5). Auch Vergleiche der Profil- oder Mediansagittalkurven ergaben, dass Mlade 5 mit seiner leichten Vorwölbung des Hinterhauptsbeins größere Ähnlichkeiten zu den spät-archaischen Jebel-Irhoud-Hominiden Marokkos als zu europäischen Neandertalern aufweist, wie dies auch Smith et al. (1995, 201) festgestellt haben. Selbst wenn man der Ansicht ist, dass bei der Vorwölbung des Hinterhaupts Einflüsse der Neandertaler nicht ausgeschlossen werden können (Churchill u. Smith 2000), so deuten die neuen Ergebnisse insgesamt darauf hin, dass das Ausmaß an Genfluss zwischen Neandertalern und frühen modernen Populationen eher gering gewesen sein dürfte. Auch am modernen Unterkiefer von Pe tera cu Oase findet sich nur ein einziges anatomisches Detail - ein horizontal-ovales Foramen mandibulae -, das nach Trinkaus et al. (2003) möglicherweise auf Genfluss mit Neandertalern zurück zu führen ist (Abb. 5). Allerdings kommt dieses bei Neandertalern häufige Merkmal auch bei modernen Funden Afrikas vor (Groves u. Thorne 1999). In manchen Regionen Europas, wie etwa dem Schwäbischen Jura, haben neueste Untersuchungen nicht einmal Hinweise auf eine Koexistenz von Neandertalern und modernen Menschen liefern können (Conard u. Bolus 2003). Auch die gegenwärtig stark diskutierten Befunde an einem ca. 24.500 Jahre alten Kinderskelett von Lagar Velho in Portugal können an diesem Gesamtbild wenig ändern, sei es, dass die wenigen umstrittenen Merkmale wirklich auf Vermischung mit Neandertalern zurückzuführen sind oder nicht (Duarte et al. 1999; Tattersall u. Schwartz 1999). Zweifelhafte Hinweise auf Kontinuität im Fernen Osten China und Australasien werden von Vertretern des multiregionalen Modells ebenfalls als Regionen mit gut belegter evolutionärer Kontinuität vom H. erectus bis zu modernen Chinesen bzw. australischen Ureinwohnern angesehen (Wolpoff u. Thorne 1991; Frayer et al. 1993). Doch auch für diese Räume konnten neuere Forschungen wenig Unterstützung für diese Annahme liefern. Die Hypothese regionaler Evolution im chinesischen Großraum basiert im Wesentlichen auf dem angenommenen häufigen Vorkommen einer ganzen Anzahl vermuteter regionaler morphologischer Merkmale (Weidenreich 1943; Wolpoff et al. 1984). Aber schon Colin Groves (1989) hatte erhebli- <?page no="180"?> 182 Günter Bräuer che Zweifel an den vorgeschlagenen Merkmalen, und auch Phillip Habgood (1992, 280) gelangte zu dem Schluss: “It is evident that none of the proposed ‘regional features’ can be said to be documenting ‘regional continuity’ in east Asia as they are commonly found on modern crania from outside of this region (…), and are consistently found on archaic Homo sapiens and/ or Homo erectus crania throughout the Old World.” Auch Marta Lahr (1994) fand in ihrer Analyse von elf für Ostasien vorgeschlagenen regionalen Merkmalen, dass fast alle in rezenten Stichproben aus anderen Teilen der Welt und sogar bei ca. 10.000 Jahre alten Populationen aus Nordafrika häufiger vorkommen als in China. Eine neueste Untersuchung hat sich besonders detailliert der Mittel- und Obergesichtsregion gewidmet, da hier die meisten ostasiatischen Merkmale zu finden sein sollen. Die Analyse von über 30 Variablen lieferte das zwar nicht gänzlich unerwartete, aber in diesem Ausmaß überraschende Ergebnis, dass für keines der Merkmale eine geographische Verteilung gefunden werden konnte, wie sie nach dem multiregionalen Modell zu erwarten wäre (Koesbardiati u. Bräuer in Vorb.). Die meisten der Merkmale kommen in Afrika, Europa und Australien häufiger vor als bei heutigen Chinesen. Bemerkenswerterweise finden sich aber auch einige der vermuteten regionalen ostasiatischen Merkmale mit großer Häufigkeit bei den Inuit (Eskimos) Grönlands, die allerdings eine relativ junge Bevölkerung mit einer an die extremen Umweltbedingungen angepassten Gesichtsmorphologie darstellen. Wieso aber weisen gerade die Inuit einige angenommene ostasiatische Merkmale auf? Es scheint, dass die Auswahl vieler der schon in den 30er und 40er Jahren des letzten Jhs. vorgeschlagenen regionalen Merkmale von dem damals üblichen typologischen Denken bestimmt wurde, das mehr auf idealisierte, oft extreme Typen ausgerichtet war als auf die tatsächlich vorhandene Variabilität. Dieser überholte Ansatz dürfte somit auch noch spätere Forscher in ihrem Bemühen, regionale Evolution aufzeigen zu wollen, fehlgeleitet haben. Auch die fossilen Hominidenfunde Chinas sind wenig geeignet, regionale Kontinuität zu belegen. Obwohl sich die meisten angenommenen Kontinuitätsmerkmale mittlerweile als unhaltbar oder problematisch erwiesen haben, fehlen selbst diese bei Funden des archaischen H. sapiens. So besitzt etwa der ca. 200.000 Jahre alte Schädel von Jinniushan weder ein „wenig vorspringendes“ Mittelgesicht noch einen flachen Nasensattel noch fehlt ihm der Weisheitszahn; stattdessen springt das Hinterhaupt ähnlich vor, wie man es auch aus westlicheren Regionen kennt (Abb. 6). Eine Reihe weiterer Merkmale lässt Geoffrey Pope (1992) sogar daran zweifeln, dass dieser Hominid wie auch der von Maba in das Bild regionaler Evolution in China passen. Ebenso lässt der 150.000 bis 200.000 Jahre alte Dali-Schädel (Abb. 6) mit seinem massiven Überaugenwulst und anderen archaischen Merkmalen keine besonderen Ähnlichkeiten zu modernen Chinesen erkennen. <?page no="181"?> 183 Das Out-of-Africa-Modell Abb. 6: Archaische Homo sapiens-Vertreter Chinas: Jinniushan (oben) und Dali (unten). <?page no="182"?> 184 Günter Bräuer Abb. 7: Frühe moderne Funde Chinas von Liujiang (oben) und aus der Oberhöhle von Zhoukoudian (unten). <?page no="183"?> 185 Das Out-of-Africa-Modell Dagegen deutet ein nur 30.000 bis 40.000 Jahre altes Skelett von Laishui (Etler 1996; Lü persönl. Mitt.), dessen Schädel nach eigener Untersuchung einen Überaugenwulst und eine recht fliehende Stirn besitzt, darauf hin, dass archaische Menschen - ähnlich wie in Europa - noch zu dieser Zeit in China existierten und dann von modernen Populationen, etwa repräsentiert durch die Schädel aus der Oberhöhle der Peking-Mensch-Fundstelle bei Zhoukoudian oder von dem Fundort Liujiang im südlichen China (Abb. 7), verdrängt wurden. Bemerkenswert bei letzteren, 20.000 bis 30.000 Jahre alten modernen Funden (Liujiang könnte auch noch etwas älter sein) ist, dass selbst diese in ihrer Schädelform noch nicht den heutigen Chinesen ähneln, sondern mehr heutigen Afrikanern und Europäern, und dass sie besondere Ähnlichkeiten zu annähernd gleich alten Funden aus Afrika und Europa erkennen lassen (Bräuer u. Mímisson 2004; s. a. Kamminga 1992; Howells 1995). Diese Befunde stellen keine Stütze einer langen regionalen Evolution in China dar, sondern sprechen vielmehr dafür, dass sich die Eigenheiten der Schädelform heutiger Chinesen erst in den letzten Jahrzehntausenden herausgebildet haben (s. a. Stringer 1999). Auch für Australasien haben sich während der letzten Jahre zentrale Argumente der Multiregionalisten als nicht mehr haltbar erwiesen. So wur- Abb. 8: Über eine Million Jahre alter Homo erectus von Java: Sangiran 17 vor der Neurekonstruktion. <?page no="184"?> 186 Günter Bräuer den Merkmale des Gesichtsschädels lange als Hinweis auf regionale Kontinuität angesehen (Thorne u. Wolpoff 1981; Frayer et al. 1993), und dies trotz der Tatsache, dass es nur äußerst wenige solcher Überreste gibt und zwischen dem einzigen H. erectus-Exemplar mit gut erhaltenem Gesicht (Sangiran 17, Abb. 8) und den ältesten modernen Australasiaten eine Lücke von mehr als einer Million Jahren klafft. Bei den angenommenen Kontinuitätsmerkmalen soll es sich besonders um den stark vorspringenden Kiefer, eine Eversion bzw. seitliche Ausstellung des Jochbeins und einen sogenannten zygomaxillaren Höcker auf dem Jochbein handeln (Wolpoff et al. 1984). Doch schon allein die große zeitliche Differenz und die von den Multiregionalisten immer wieder betonte Annahme von Genfluss zwischen verschiedenen Populationen lassen es sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass solche Merkmalskombinationen über einen so langen Zeitraum erhalten geblieben sind und damit die Transformation von einer so massigen Anatomie des H. erectus zu der viel grazileren des modernen Menschen überdauert hätten (Nei 1998). Weitere gravierende Zweifel ergab eine vor einigen Jahren durchgeführte Neurekonstruktion des Schädels Sangiran 17. Dabei zeigte sich, dass die frühere von Milford Wolpoff (Thorne u. Wolpoff 1981) vorgenommene Rekonstruktion in den beiden genannten Formmerkmalen nicht korrekt ist: So springt der Kiefer wesentlich weniger nach vorn vor, und eine Eversion des äußerst massiven Jochbeins ist nicht vorhanden (Aziz et al. 1996). Überdies konnten Aziz et al. (1996, 20) wie zuvor auch Habgood (1989, 254) und auch der Autor bei der Untersuchung des Originals den betreffenden zygomaxillaren Höcker weder auf dem Jochbein noch auf dem Übergang zum Oberkiefer feststellen. Weitere Argumente gegen eine regionale Evolution in Australasien lieferten Neudatierungen der meist zum späten H. erectus gestellten Funde von Ngandong auf Java. Diese sehr archaischen Schädel (Abb. 9) sollen nach ESR- und Thorium/ Uranium-Datierungen nur etwa 30.000 bis 50.000 Jahre alt sein (Swisher et al. 1996) und wären damit praktisch gleich alt wie ein vollständig modernes Skelett vom Lake Mungo (LM 3, Abb. 9) in Südaustralien, für das verschiedene Datierungsverfahren 40.000 oder vielleicht sogar bis zu 60.000 Jahre ergeben haben (Bowler u. Magee 2000; Thorne et al. 1999). Somit kann eine regionale Evolution zwischen dem späten javanischen H. erectus und diesem frühen, zudem bemerkenswert grazilen modernen Menschen Australiens praktisch ausgeschlossen werden. Nichtsdestotrotz weist die Gesamtheit der australischen Funde eine beachtliche Variabilität auf mit sehr robusten und grazilen Schädeln; zu diesem Spektrum haben auch künstliche Deformationen beigetragen. Aber alle sind anatomisch modern, und robuste wie grazile Individuen kommen z. B. in dem ca. 20.000 Jahre alten Fundmaterial von Kow Swamp in Südostaustralien vor (Abb. 10). Andere robuste Schädel datieren sogar ins frühe Holozän. Es existieren bisher keine sehr alten robusten Funde, und die lange gehegte <?page no="185"?> 187 Das Out-of-Africa-Modell Abb. 9: Später Homo erectus von Ngandong, Java (oben), und annähernd gleich alter früher moderner Schädel von Lake Mungo (LM3), Australien (unten). <?page no="186"?> 188 Günter Bräuer Abb. 10: Zwei Schädel mit deutlich unterschiedlicher Stirnneigung von Kow Swamp, Australien. Die starke Abflachung der Stirn bei dem oberen Schädel dürfte weitgehend das Ergebnis künstlicher Deformation sein. <?page no="187"?> 189 Das Out-of-Africa-Modell Hoffnung der Multiregionalisten, dass der pathologisch veränderte robuste Schädel von Willandra Lakes (WLH 50) ein hohes Alter haben dürfte, ist durch eine neuere absolute Datierung auf ca. 14.000 Jahre geschwunden (Simpson u. Grün 1998). Nach unserem gegenwärtigen Kenntnisstand erschien somit die robuste Morphologie wesentlich später als die grazilere von Lake Mungo. Als mögliche Erklärung für die große Variabilität dürften Driftbzw. Zufallseffekte bei der Besiedlung des Inselkontinents anzunehmen sein, aber auch Anpassung an das zunehmend aridere Klima zum Maximum der letzten Eiszeit hin (Klein 1999; Bräuer 2001b). Ob Genfluss zwischen den Ngandong-Populationen und den sich ausbreitenden modernen Gruppen letztlich auch zur Variabilität der Australier beigetragen hat, erscheint angesichts der gegenwärtigen Faktenlage sehr fraglich. Vor dem Hintergrund dieses recht plausiblen Bildes der Menschheitsgeschichte in Australasien wurde 2003 ein weitgehend vollständiges Skelett bei Liang Bua (LB1) auf der indonesischen Insel Flores entdeckt, das seither viele Rätsel aufgibt (Brown et al. 2004). Das erwachsene Individuum war nur etwa einen Meter groß, hatte ein äußerst kleines Hirnvolumen von 417 cm 3 (Falk et al. 2005) und lebte noch vor 20.000 Jahren. Brown et al. (2004) sehen in diesem Hominiden am ehesten eine Zwergwuchsart, Homo floresiensis, die während langer Isolation der Insel Flores aus Homo erectus hervorgegangen ist. Der kleine Schädel (Abb. 11) besitzt u.a. einen Überaugenwulst, ein gewinkeltes Hinterhaupt und eine fliehende Kinnregion. Die- Abb. 11: Vergleich des Schädels LB1 von Flores (links) mit dem eines heutigen Menschen (© Peter Brown). <?page no="188"?> 190 Günter Bräuer se und andere Merkmale sowie das extrem kleine Gehirn lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass es sich beim Floresmenschen um eine Zwergwuchspopulation des modernen Menschen handelt, obgleich einige Forscher dies nicht ausschließen. Eine pathologische Mikrozephalie dürfte aber nicht die Ursache für das kleine Gehirn sein (Falk et al. 2005). Weitere Funde an der Fundstelle scheinen vielmehr dafür zu sprechen, dass diese zwergwüchsige Bevölkerung dort vor 90.000 bis vor 12.000 Jahren existierte (Morwood et al. 2005). Bemerkenswert an diesen neuen Funden ist auch, dass die Gliedmaßenproportionen des Floresmenschen eher denen von „Lucy“ mit relativ langen Armen ähneln als denen moderner Menschen. Dies dürfte aber sekundär durch Verkürzung der Beine entstanden sein. Der Fall Homo floresiensis ist jedenfalls noch weitgehend ungeklärt. Vielleicht werden künftige DNA-Analysen und weitere Funde hier mehr Klarheit bringen. Perspektiven Insgesamt zeigt dieser Einblick in einige strittige Punkte und wichtige neuere Ergebnisse, dass nach zwei Jahrzehnten heftiger Diskussionen zwischen Vertretern des multiregionalen Modells und der Out-of-Africa-Hypothese eine immer größere Zahl von Fakten aus allen Teilen der Welt zugunsten des letzteren Modells spricht (Abb. 12). Die Annahme einer multiregionalen Abb. 12: Out-of-Africa-Szenario. <?page no="189"?> 191 Das Out-of-Africa-Modell Evolution in den verschiedenen Großräumen der Alten Welt ist dagegen immer unwahrscheinlicher geworden (Bräuer 2001b; 2003). Obwohl beide Lager über die Jahre hinweg versucht haben, ihr jeweiliges Modell zu stützen und das andere zu widerlegen, konnte kaum erwartet werden, dass die zahllosen neu hinzu gekommenen Ergebnisse beide Modelle in gleicher Weise stützen würden. Trotz der zahlreichen Fakten zugunsten der Annahme einer monozentrischen Evolution des modernen Menschen in Afrika und seiner späteren Ausbreitung über die anderen Kontinente sind wir noch weit davon entfernt, diesen Ausbreitungs- und Ablösungsprozess sowie die Differenzierungen bis zu den heutigen Bevölkerungen zu verstehen. Danksagung Für die freundliche Überlassung der Fotos von Mlade č 5 und Pe tera cu Oase möchte ich Helmut Broeg und Erik Trinkaus danken. Literatur Aziz, F., Baba, H. u. Watanabe, N. 1996: Morphological study on the Javanese Homo erectus Sangiran 17 skull based upon the new reconstruction. Geological Research and Development Centre Bandung, Paleontology Series 8, 11-25. Bolus, M. u. Conard, N. 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Zur Beantwortung dieser Fragen werden verschiedene Kriterien berücksichtigt. Anhand archäologisch sichtbarer Daten entsteht der Eindruck, dass schon im Altpaläolithikum Menschen über weit reichende Fähigkeiten verfügten. Auch im Mittelpaläolithikum und im afrikanischen Middle Stone Age sind sehr weit entwickelte Verhaltensformen gut belegt. Anthropologischen und archäologischen Quellen zufolge besaßen spät archaische und frühe anatomisch moderne Hominiden bereits sehr ausgeglichene Fähigkeiten. Eindeutige Hinweise auf figürliche Kunst und Musikinstrumente dokumentieren eine voll entwickelte symbolische Kommunikation, die der des modernen Menschen entspricht. Belege dafür existieren ab dem frühen Jungpaläolithikum, also ab ca. 40.000 Jahren vor heute. Einleitung Die wesentlichen Schritte der Menschwerdung sind in ihren Grundzügen gut bekannt. Viele Phasen der anatomischen Evolution vom Affen zum Menschen sind belegt, und Jahr für Jahr füllen teils spektakuläre Entdeckungen weitere Kenntnislücken. Es gilt mittlerweile als nahezu sicher, dass die moderne Anatomie des Menschen über den Zeitraum des Mittelpleistozäns in Afrika entstand. Für die Definition von anatomischer Modernität ist die Frage von Bedeutung, ab welchem Zeitpunkt die Anatomie des fossilen Menschen innerhalb der anatomischen Variabilität des jetzigen Menschen lag. Ab diesem Punkt haben wir es mit dem anatomisch modernen Menschen zu tun, der meist als moderner Homo sapiens oder Homo sapiens <?page no="196"?> 198 Nicholas J. Conard sapiens bezeichnet wird. Belegt ist diese Entwicklung spätestens ab 100.000 Jahren vor heute durch Fossilfunde in Afrika und der Levante (Bräuer in diesem Band). Obwohl manche Anthropologen bis heute die Hoffnung auf einen direkten Zusammenhang zwischen anatomischer und kultureller Entwicklung nicht aufgegeben haben (Foley 1987; Foley u. Lahr 2003), ist es nach Meinung des Autors längst klar, dass allenfalls eine indirekte Beziehung zwischen anatomischer und kultureller Evolution besteht (Conard 1990). Denn gerade diese Eigenschaft, dass wir unabhängig von morphologischen Veränderungen unser Verhaltensrepertoire rasch ändern können, charakterisiert unsere Spezies. Von zentraler Bedeutung für die Forschung ist die Frage, ab wann die kulturelle Modernität archäologisch zu belegen ist. Dazu muss diese zunächst definiert werden. In Anlehnung an die oben erwähnte anatomische Modernität lässt sich fragen, ab wann die Komplexität menschlichen Verhaltens mit der unsrigen vergleichbar erscheint und sich innerhalb der Variabilität des Verhaltens moderner Menschen befindet. Es geht hier um die grundsätzlich einheitlichen geistigen Fähigkeiten der jetzigen Menschen. Alle Menschengruppen besitzen voll entwickelte kulturelle Fähigkeiten unabhängig von dem technologischen Niveau der jeweiligen Gesellschaft. Obwohl also der technologische Stand zwischen Populationen über verschiedenste Zeit- und geographische Räume stark variiert, sind ihre geistigen Fähigkeiten und ihre Befähigung, Informationen über die Manipulation von Symbolen auszutauschen, gleichwertig. So gesehen sind alle jetzigen Menschen gleich. So wie sie sich beliebig genetisch mischen können, sind sie auch in der Lage, sich innerhalb diverser kultureller Gruppen zu bewegen. Die hier relevanten Fragen sind, wann, wo und wie diese kulturelle Modernität entstanden ist. Bis heute herrschen mannigfache Meinungen über die Entstehung von modernen Verhaltensformen. Dabei ist auch von Bedeutung, wie man die kulturelle Modernität anhand archäologischer Hinterlassenschaften fassen kann (Wadley 2001). Zur Zeit wird in der Fachwelt heftig darüber diskutiert, ob z. B. Homo erectus, der Neandertaler und der frühe anatomisch moderne Homo sapiens bereits über unsere geistigen und intellektuellen Fähigkeiten verfügt haben (McBrearty u. Brooks 2000; Klein 1999; Zilh-o u. d’Errico 2003). Um diese Frage zu beantworten, werden zahlreiche archäologische Daten betrachtet und bewertet. Hypothesen und ihre Datengrundlagen Forschungsgeschichtlich gesehen, ist die Deutung der geistigen Entwicklung steinzeitlicher Menschen durch große Schwankungen gekennzeichnet <?page no="197"?> 199 Die Entstehung der kulturellen Modernität (Trinkaus u. Shipman 1992; Schmitz u. Thissen 2000; Auffermann u. Orschiedt 2002). Dabei ist die Betrachtung der Träger paläolithischer Kulturen ebenso sehr durch empirische Daten wie durch gesellschaftliche Einflüsse bestimmt. Die Neandertaler beispielsweise werden einmal als weit entwickelt, ein andermal als äußerst primitiv eingeschätzt (Bolus in diesem Band). Auch der Entstehungsort der kulturellen Modernität wurde in den letzten Jahren lebhaft diskutiert. Seit langem galt Europa mit den frühesten, ins Jungpaläolithikum datierten Belegen für Kunst, Schmuck und diverse technologische Innovationen als Ursprungsort der kulturellen Modernität und Heimat einer vermeintlichen Revolution in den Verhaltensformen des Menschen (zum Hintergrund s. Mellars u. Stringer 1989). In den letzten Jahren ist die Lage aber aufgrund vieler neuer Erkenntnisse wesentlich komplexer geworden (McBrearty u. Brooks 2000; d’Errico 2003). Zur Zeit gibt es mehrere Hypothesen, die die Entstehung und Verbreitung der kulturellen Modernität zu erklären versuchen. Eine dieser Hypothesen besagt, dass moderne Verhaltensformen schlagartig zu Beginn des Jungpaläolithikums entstanden sind. Vertreter dieser oft als traditionell eingestuften Interpretation betonen die Bedeutung der frühen Entwicklung der figürlichen Kunst in Europa vor rund 40.000 Jahren. Dabei spielt die Kunst des Aurignacien in Südfrankreich oder auf der Schwäbischen Alb eine bedeutende Rolle. David Lewis-Williams (2002) z. B. vertritt die Meinung, dass die Begegnung in Europa zwischen Neandertaler und modernem Menschen vor ca. 40.000 Jahren und die dadurch verursachte Konkurrenzsituation der Auslöser für die Entwicklung der kulturellen Modernität war. Diese Hypothese wäre leicht zu widerlegen, könnten figürliche Kunst oder andere eindeutige Hinweise auf symbolische Kommunikation außerhalb Europas zu einem früheren Zeitpunkt nachgewiesen werden. Eine alternative Hypothese geht davon aus, dass bereits im Mittel- oder sogar schon im Altpaläolithikum die archäologischen Hinterlassenschaften ein voll entwickeltes modernes Verhaltenssystem dokumentieren. Vertreter dieses Ansatzes sehen schon zur Zeit der archaischen europäischen Hominiden Hinweise auf eine weit entwickelte Vorausplanung, eine symbolische Kommunikation und eventuell sogar ein entwickeltes Spachvermögen. Da in den vergangenen Jahren die urgeschichtliche Forschung in Afrika beträchtlich an Bedeutung gewonnen hat, halten viele Kollegen diese Hypothesen für eurozentrisch und realitätsfern. Die Betonung der afrikanischen urgeschichtlichen Quellen geschieht in Anlehnung an die „Out of Africa“- Hypothese über die Entstehung des anatomisch modernen Menschen in Afrika. Eine solche Einstellung setzt keineswegs eine strenge Gleichzeitigkeit in der Evolution der anatomischen und kulturellen Modernität voraus. Sie betont jedoch die hohe Wahrscheinlichkeit, dass beide Entwicklungen ungefähr parallel verliefen. Sally McBrearty und Alison Brooks (2000) z. B. <?page no="198"?> 200 Nicholas J. Conard plädieren für eine langsame Entstehung moderner kultureller Fähigkeiten ab ca. 300.000 Jahren vor heute. Andere Kollegen neigen eher dazu, eine deutliche Veränderung der Verhaltensformen ab etwa 100.000 Jahren vor heute in Zusammenhang mit den ersten anatomisch modernen Menschen in Afrika und der Levante zu vermuten. Eine weitere Hypothese stammt von Richard Klein (2000). Er betont, dass die kulturelle Modernität schlagartig um 50.000 Jahre vor heute durch genetische Mutation entstanden ist. Seines Erachtens ist diese genetische Mutation eng verknüpft mit der Entwicklung von Sprachfähigkeit. Eine voll entwickelte Sprache im Sinne Kleins basiert auf der symbolischen Kommunikation mit abstrakten Begriffen und der Möglichkeit, Ideen und Ereignisse der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu formulieren. Es fällt auf, dass bislang nur Afrika, der Vordere Orient und Europa eine erwähnenswerte Rolle bei der Erforschung der kulturellen Modernität spielen. Forschungsgeschichtlich bedingt, haben nur diese Regionen eine ausreichende und somit annäherungsweise solide Datengrundlage geliefert. Die Neue Welt hingegen kann kaum eine Rolle gespielt haben, weil zum Zeitpunkt der Besiedlung von Nord- und Südamerika die kulturelle Modernität in der Alten Welt längst existierte. Trotzdem soll nicht unerwähnt bleiben, dass fast alle Erklärungsansätze breite Teile Asiens und Australien außer Acht lassen. Erst wenn die Quellenlage in diesen Regionen besser ist als gegenwärtig, werden wir wissen, ob unsere Annahmen gerechtfertigt sind. Um die hier vorgestellten Hypothesen zu prüfen, müssen wir jetzt die Daten aus den verschiedenen Regionen betrachten. Diese Daten sind mannigfaltig. Dazu gehören: die Präsenz figürlicher oder abstrakter Kunst, Beispiele von Schmuck und Musikinstrumenten, die Nutzung von Ocker oder von anderen Farbstoffen, die systematische Produktion von Klingen und Klingenwerkzeugen, Beispiele zeitlich und räumlich eng definierter kultureller Einheiten oder sich rasch verändernder archäologischer Kulturen, vielfältige organische Werkzeuge, Bestattungen mit oder ohne Grabbeigaben, Hinweise auf eine eindeutige Vorausplanung und auf entwickelte sprachliche Fähigkeiten, komplexe Siedlungsmuster und die interne Organisation von Fundplätzen, entwickelte Jagdtechnik, geschäftete Werkzeuge und Kompositgeräte sowie weitere Kriterien. Afrika Afrika ist der Kontinent mit der längsten Besiedlungsgeschichte und zugleich der Ort zahlreicher maßgebender Schritte in der menschlichen Evolution (Schrenk in diesem Band). In den letzten Jahrzehnten wurde die Erforschung der afrikanischen Steinzeit intensiviert, so dass nun eine ausreichende Datengrundlage vorhanden ist, um Hypothesen zu entwickeln und zu testen. <?page no="199"?> 201 Die Entstehung der kulturellen Modernität Für die jetzige Diskussion ist die Erforschung des Middle Stone Age (MSA) von besonderer Bedeutung. Diese Periode entspricht einem Zeitraum zwischen ca. 300.000 und 30.000 Jahren vor heute und ist in mancherlei Hinsicht vergleichbar mit dem Mittelpaläolithikum im westlichen Eurasien. Es muss betont werden, dass Afrika eine riesige Landmasse ist mit einer Fläche, die ungefähr dem Dreifachen von Europa entspricht. Daher kann man keineswegs davon ausgehen, dass der gesamte Kontinent die gleiche kulturelle Entwicklung erlebt hat. Selbstverständlich müssen wir regionale Unterschiede erwarten, die unter anderem durch die vielfältigen Umweltverhältnisse und demographischen Bedingungen beeinflusst wurden. Hier kann nur anhand weniger Beispiele die kulturelle Vielfalt des MSA präsentiert werden. Eine wesentlich detailliertere Darstellung dieser Frage gaben kürzlich McBrearty und Brooks (2000). Steintechnologie, Knochenbearbeitung Die Steinbearbeitungstechnologie des MSA ist im Großen und Ganzen gekennzeichnet durch radiale und in Levallois-Schlagtechnik präparierte Kerne. Oft kommen unsystematische Abbaustrategien hinzu. Systematischer Klingenabbau ist seit ca. 250.000 Jahren aus der Kapthurin Formation im kenianischen Baringo-Gebiet (McBrearty und Brooks 2000) gut belegt. Seit vielen Jahren ist unverkennbar, dass das MSA eine vergleichsweise hohe Diversität bei der Steinbearbeitung zeigt. Deutlich sieht man dies z. B. bei den Lupemban-, Bambatan-, Still Bay- und Mumba-Inventaren, auch wenn bislang das Ausmaß der Diversität noch nicht systematisch untersucht wurde (Clark 1988; McBrearty u. Brooks 2000). Von Interesse sind auch die vielen Howiesons-Poort-Inventare aus dem südlichen Afrika (s. Abb. 1). Diese Inventare haben eine ausgeprägte Klingenkomponente und sind darüber hinaus durch eine sehr hohe Standardisierung unter den retuschierten Formen gekennzeichnet. Zahlreiche dieser Werkzeuge sind durch retuschierte Segmente und Trapeze charakterisiert, und es ist nahe liegend, dass diese Funde in Kompositgeräte eingesetzt waren (Singer u. Wymer 1982; Deacon u. Deacon 1999). Nach ausgiebigen Versuchen, das Howiesons Poort zu datieren, scheint es mittlerweile sicher, dass diese Inventare meistens ca. 70.000 Jahre alt sind (Henshilwood et al. 2001). Schließlich sind spätestens am Ende des MSA spezielle lokale Inventare wie etwa die standardisierten mikrolithischen Spitzen-Komplexe aus der Rose-Cottage-Höhle oder die so genannten „Hollow Based Point“-Inventare aus der Sibudu-Höhle nachgewiesen (Wadley 2001). Sie datieren um 30.000 Jahre vor heute und liefern uns klare Hinweise auf lokale kulturelle Traditionen. Seit längerem wird diskutiert, ob und in welcher Häufigkeit MSA-Inventare eine Nutzung von Knochengeräten belegen. In den frühen Definitionen der afrikanischen Steinzeit galten organische Artefakte als für das Later <?page no="200"?> 202 Nicholas J. Conard Abb. 1: Trapeze, Dreiecke und schräg retuschierte Spitzen aus der Howiesons-Poort- Industrie von der Fundstelle Klasies River Mouth (nach Singer u. Wymer 1982). <?page no="201"?> 203 Die Entstehung der kulturellen Modernität Stone Age (LSA) charakteristisch. Obwohl seit Jahren vereinzelte Knochenwerkzeuge aus MSA-Fundschichten bekannt sind (Singer u. Wymer 1982), wurden in letzter Zeit öfter organische Werkzeuge vorgelegt (Brooks et al. 1995; Henshilwood et al. 2001; Vogelsang 1998). Im Falle des spektakulärsten dieser Funde, der Harpune aus Katanda im Kongo, herrscht Unklarheit über deren tatsächliches Alter. Bei anderen Funden aus dem Jungpleistozän gilt das Alter als gesichert. Diese Funde sind meist einfach zugespitzte pfriemenartige Werkzeuge, aber wir kennen auch gekerbte Knochen mit unbekannter Funktion von der Apollo-11-Höhle in Südwest-Namibia (Abb. 2) und vom Klasies River Mouth an der Südküste Südafrikas (Abb. 3) (Vogelsang 1998; Singer u. Wymer 1982). Die Knochenwerkzeuge des MSA datieren überwiegend aus dem Zeitraum zwischen 100.000 und 25.000 Abb. 2: Gekerbter Knochen aus dem MSA der Apollo-11-Höhle (nach Vogelsang 1998). Abb. 3: Bearbeitete, z. T. gekerbte Knochen aus dem MSA von der Fundstelle Klasies River Mouth (nach Singer u. Wymer 1982). <?page no="202"?> 204 Nicholas J. Conard Jahren vor heute. Sollte übrigens das Alter der Harpune aus Katanda wirklich bei 90.000 Jahren liegen, wäre dieses ein bemerkenswert früher Beleg für komplexe organische Technologie. Kleinräumige Nutzung Als ein weiteres relevantes Kriterium bei der Definition kultureller Modernität gelten die räumliche Organisation von Fundplätzen und die logistische Komplexität von Siedlungssystemen. Nach Lewis Binford (1998) sind erst im LSA eine räumliche Organisation von Fundplätzen und modulare Einheiten in Form von Feuerstellen, Aktivitätszonen oder Schlafplätzen zu beobachten; eine vergleichbare Standardisierung in der räumlichen Organisation ist für das MSA nicht bekannt. Lyn Wadley (2001) sieht allerdings Hinweise für eine systematische räumliche Organisation im späten MSA ab ca. 40.000 Jahren vor heute. Noch steckt die Forschung über die großräumige Nutzung der Landschaft aber in ihren Anfängen. Derzeit ist es noch nicht möglich, weit reichende Vergleiche zwischen den Siedlungsmustern in MSA und LSA zu ziehen. Subsistenz und Nahrungsbeschaffung Aspekte der Subsistenz als Indiz für kulturelle Modernität spielen ebenfalls eine bemerkenswerte Rolle. Hier stehen Fragen wie die Effektivität der Jagd und die Vielfalt der Nahrungsquellen im Vordergrund. Paläo-Ernährung ist allerdings keineswegs einfach zu rekonstruieren. Bislang haben nur wenige Fundplätze solide Informationen über die Subsistenz im MSA geliefert. Die besten Daten stammen aus dem südlichen Afrika von Fundplätzen wie Klasies River Mouth, Die Kelders und der Nelson-Bay-Höhle. Seit vielen Jahren herrscht eine lebhafte Debatte über das Jagdverhalten der MSA-Populationen (Binford 1984; Klein 1999; Marean 1998). Klein ist überzeugt, dass schon im MSA Menschen durchaus in der Lage waren, große Tierarten wie etwa die Elen-Antilope zu erlegen. Gefährlichere Tiere wie Kapbüffel und Wildschein wurden aber im LSA intensiver gejagt als im MSA. Unklar bleibt dabei, ob solche Beobachtungen einen direkten Hinweis auf die kulturellen Fähigkeiten der Menschen im MSA geben oder eher andere, äußere Faktoren, wie z. B. die Bevölkerungsdichte, die Menschen dazu brachten, gefährliche und für die Ernährung weniger interessante Tiere zu jagen. Die Elen-Antilope gilt übrigens bis heute wegen ihrer Köpergröße, ihrem hochwertigen Fleisch, dem Fett und dem Knochenmark als eine besonders beliebte Jagdbeute. Neben der Jagd auf Großwild wurden im MSA auch Muscheln und andere Meeresfrüchte gesammelt und verzehrt. Zum ersten Mal spielen diese Nahrungsquellen eine erhebliche Rolle. Entlang der Südküste von Afrika wurden mehrfach regelrechte Muschelhaufen aus dem MSA entdeckt. Nach John Parkington (2001) entsteht durch den Konsum von wichtigen Fettsäu- <?page no="203"?> 205 Die Entstehung der kulturellen Modernität ren eine bessere Ernährungslage, die die Entwicklung von Gehirn und Kognition stimuliert. Auf diese Weise versucht er zu erklären, warum so viele fortschrittliche Inventare vom Typ Still Bay und Howiesons Poort entlang der Küste belegt sind, während im Inneren des Kontinents kaum Hinweise auf komplexe Verhaltensweisen existieren. Diese „Fettsäuren-These“ ist zur Zeit allerdings umstritten. Als weiteres Zeichen der Entstehung komplexer Verhaltensformen haben Christopher Henshilwood und Richard Klein beobachtet, dass man im MSA entlang der Küste Südafrikas schon geangelt hat (Henshilwood et al. 2001). Schmuck Anfertigen und Tragen von Schmuck demonstrieren Gruppenzugehörigkeit, aber auch Individualität (Wiessner 1983). Eine derartige Information zu vermitteln, setzt die kontrollierte Nutzung von Symbolen voraus. Schmuck gilt daher als Ausdruck symbolischer Kommunikation und weist darüber hinaus auf ein gut entwickeltes ästhetisches Empfinden hin. Frühe Belege für Schmuck sind die durchlochten marinen Schneckengehäuse aus der Blombos-Höhle in Südafrika (Henshilwood et al. 2004). Diese Funde stammen aus MSA-Schichten und sind um ca. 75.000 Jahre vor heute datiert. Als weitere Belege sind uns die Straußeneiperlen vom Fundplatz Enkapune Ya Muto in Kenia bekannt, die aus frühen LSA-Schichten stammen und um 40.000 Jahre vor heute datieren (Ambrose 1998). Bis zu 33.000 Jahre alt sind die Straußeneiperlen aus der Schicht III der Mumba-Höhle in Tansania (Mehlman 1991). Diese Funde entstammen Schichten, die den Übergang vom MSA zum LSA darstellen. Andere Straußeneiperlen-Funde sind vielleicht vergleichbar alt oder älter, sichere Datierungen liegen jedoch nicht vor (Abb. 4). Andere Gebrauchsgegenstände Aus Straußeneischalen gefertigte Behälter und Wasserflaschen bilden eine weitere hochinteressante Fundgattung. Der Transport von Wasser oder anderen Stoffen in solchen Behältnissen dürfte eine hohe Vorausplanung benötigt haben. In den ariden Gebieten Afrikas hat der Wassertransport in Gefäßen die Menschen von natürlichen Wasservorkommen unabhängiger gemacht und zu erhöhter Mobilität und zur Besiedlung und Nutzung neuer Regionen geführt. Der Zeitpunkt für diese technologische Innovation ist daher von großer Bedeutung. Im späten MSA gibt es Hinweise auf Straußeneibehälter. Dazu gehören die durchlochten Straußeneifragmente aus der Apollo-11-Höhle (Vogelsang 1998). Zwischen natürlich und artifiziell durchlochten Straußeneischalen zu unterscheiden, ist allerdings schwierig. So zeigen neuere Untersuchungen, dass die Perforationen auch von Karnivoren wie beispielsweise Hyänen stammen können (Kandel 2004). <?page no="204"?> 206 Nicholas J. Conard Pigmente Der Gebrauch von Pigmenten spielt in der Diskussion über den Ursprung der kulturellen Modernität ebenfalls eine nicht unerhebliche Rolle. Vielfach wurden Farbstoffe und insbesondere Ockerreste auf MSA-Fundplätzen entdeckt. Das Vorkommen von Ocker umspannt den Zeitraum vom frühesten MSA vor ca. 300.000 Jahren bis zum späten MSA vor etwa 30.000 Jahren. Frühe Hinweise auf die Nutzung von Ocker kommen von Twin Rivers in Sambia, wo zahlreiche Ockerfragmente geborgen wurden (Barham 1998). Man geht davon aus, dass schon zu dieser frühen Zeit gemahlener Ocker als Pigment gedient hat. Viele MSA-Fundplätze aus dem Jungpleistozän wie etwa Klasies River Mouth (Singer u. Wymer 1982), Diepkloof, Hollow Rock Shelter (Watts 2002) und Blombos (Henshilwood et al. 2001 u. 2002) haben zahlreiche Ockerfragmente geliefert. Diese Funde zeigen gelegentlich geschliffene Oberflächen und Ritzungen. Nach dem gegenwärtigen Kenntnisstand darf man davon ausgehen, dass die Nutzung von Ocker als Pigment oder zu anderen Zwecken (Wadley 2005) eine weit reichende Tradition im afrikanischen MSA hat. Symbolische Darstellungen und figürliche Kunst Symbolische Darstellungen und figürliche Kunst als Ausdruck einer voll entwickelten symbolischen Kommunikation faszinieren den heutigen Be- Abb. 4: Perlen aus der Mumba-Höhle, Tansania (Foto H. Jensen). <?page no="205"?> 207 Die Entstehung der kulturellen Modernität trachter in besonderem Maße. Die ersten eindeutigen Belege für figürliche Kunst in Afrika datieren zwischen 25.500 und 27.500 Jahren vor heute. Es handelt sich um Tierdarstellungen und vermutlich ein Tier-Mensch-Mischwesen aus den oberen MSA-Schichten der Höhle Apollo 11 in Namibia (Vogelsang 1998). Diese Darstellungen sind keine stationäre Wandkunst, sondern Beispiele mobiler Kunst (Abb. 5). In jüngerer Zeit wurden gravierte Ockerstücke aus der Blombos-Höhle an der Südküste Südafrikas geborgen (Henshilwood et al. 2002). Auffallend sind zwei Fragmente, die leicht in eine Hand passen und eine Serie gekreuzter und paralleler Linien tragen (Abb. 6). Henshilwood und d’Errico sehen hierin Belege für eine symbolische Notation, wodurch eine konkrete Information gespeichert wurde und entsprechend von Gruppenmitgliedern wahrgenommen werden konnte. In ähnlicher Weise interpretieren Parkington et al. (2005) gravierte Straußeneischalen aus den Howiesons-Poort-Schichten von Diepkloof als Hinweise auf eine weit entwickelte symbolische Kommunikation an der Westküste Südafrikas vor ca. 70.000 Jahren. Bestattungen Schließlich sei noch auf die Rolle von Bestattungen und Grabbeigaben eingegangen. Bestattungen gelten als Hinweis darauf, dass Menschen eine Vorstellung vom Jenseits entwickelt und ein Glaubenssystem haben. Alle modernen Menschen besitzen religiöse Vorstellungen, die ohne eine Art symbolischer Kommunikation oder Sprache in detaillierter Form nicht weiter vermittelt werden könnten. Grabbeigaben können als eine Bestätigung Abb. 5: Steinplatte mit gemalter Tierdarstellung aus dem MSA der Apollo-11-Höhle (nach Vogelsang 1998). <?page no="206"?> 208 Nicholas J. Conard für solche religiösen Vorstellungen interpretiert werden. Schon aus weit früheren Perioden hat man in Sterkfontein in Südafrika (Clarke 2002), in Hadar in Äthiopien (Johanson u. Edey 1981) oder im kenianischen Westturkana (Walker u. Leakey 1993) weitgehend vollständig erhaltene Skelette gefunden. Diese Skelette waren aber nicht bestattet worden, vielmehr handelt es sich um paläontologische Vorkommen von Hominiden, die durch günstige Erhaltungsbedingungen weder stark umgelagert noch fragmentiert wurden. Im MSA und im nordafrikanischen Mittelpaläolithikum kommen öfter Menschenknochen vor, aber regelrechte Bestattungen mit intakten Skeletten sind unbekannt. Eindeutige Grabbeigaben sind ebenfalls erst aus dem LSA und dem nordafrikanischen Jungpaläolithikum bekannt. Unser Wissen über die steinzeitliche Archäologie Afrikas lässt den Schluss zu, dass die Evolution von modernen Verhaltensformen in Sinne der kulturellen Modernität nicht schlagartig und zeitgleich auf dem gesamten Kontinent erfolgte. Stattdessen sieht man ein unregelmäßiges Kommen und Gehen fortschrittlicher Merkmale über die Jahrhunderttausende des MSA hinweg. In dieser Zeit entstand die Anatomie des modernen Homo sapiens, aber es scheint keine direkte Verknüpfung zwischen körperlichem und kulturellem Wandel zu geben. Mit fortschreitender Evolution gewinnt der Mensch eine zunehmende Unabhängigkeit von seinem Körper, indem er zur Sicherung seines Lebensunterhalts seinen Geist und viele Gerätschaften einsetzt. Mit der Zeit sehen wir eine beinah beliebige Plastizität in der Kulturevolution, die sich bis zu unserem Zeitalter - wohlgemerkt mit vielen Stolperern - immer weiter beschleunigt hat. Spätestens im LSA begegnen uns diverse figürliche und abstrakte Darstellungen, außerdem Schmuck, Bestattungen mit Beigaben und vielfältige organische und anorganische technolo- Abb. 6: Ockerstück mit kreuzförmigen Einritzungen aus dem MSA der Blombos- Höhle (Foto K. Garrett). <?page no="207"?> 209 Die Entstehung der kulturellen Modernität gische Formen, was teilweise schon im MSA gut belegt ist. Sie sind Zeugen dafür, dass die Menschen des späten MSA und frühen LSA in Afrika die kulturelle Modernität erreicht haben. Eurasien Steintechnologie Betrachtet man die Steinbearbeitungstechnologie in Eurasien, stellt man fest, dass im Großen und Ganzen die Komplexität der Artefaktinventare mit der Zeit zunimmt. Charakteristisch für das Altpaläolithikum sind Abschlag- und Faustkeilinventare. Die Symmetrie und die Schneidekanten der Faustkeile und eine feine Bearbeitungsweise sprechen für weit entwickeltes Können und ästhetisches Empfinden (z. B. Roberts u. Parfitt 1999; Mithen 1996; Haidle in diesem Band). Im Mittelpaläolithikum, das vor ungefähr 300.000 Jahren beginnt, steigt die Zahl der Gerätformen. Vielfältige Abschlaggeräte und bifazielle Werkzeuge kommen vor, und Klingeninventare sind sowohl für den Vorderen Orient als auch für Europa mehrfach nachgewiesen (Abb. 7) (Conard 1990; Révillion 1994; Bar-Yosef u. Kuhn 1999). Dazu gibt es vereinzelte Hinweise auf kleine rückengestumpfte Werkzeuge wie vom Tönchesberg in der Osteifel, die, ähnlich jenen aus Howiesons- Poort-Inventaren im südlichen Afrika, wahrscheinlich geschäftet wurden und als austauschbare Kompositgeräte dienten (Abb. 7). Beschädigungen an Steinspitzen geben weitere Hinweise auf die Schäftung von Artefakten (Shea 1988). Man hat, wie Funde aus Europa und dem Vorderen Orient belegen, bereits im Mittelpaläolithikum Klebstoffe für Schäftungen benutzt (Mania u. Toepfer 1973; Boëda et al. 1996). In Westeuropa stand der letzten Kulturgruppe der Neandertaler des so genannten Châtelperronien neben diversen organischen Artefakten auch eine Reihe von vergleichsweise stark standardisierten Steinwerkzeugformen zur Verfügung, die oft aus Klingen hergestellt wurden. Verallgemeinernd kann man aber sagen, dass die Stein- und organischen Artefakte des Jungpaläolithikums und der anatomisch modernen Menschen einen höheren Grad der Standardisierung besaßen als die Werkzeugformen des Mittelpaläolithikums und der Neandertaler. Spitzen, Schneidegeräte, Stichel und andere Formen bilden besser organisierte Raum-Zeit-Einheiten, die in weiten Teilen Europas als Aurignacien, Gravettien und Magdalénien bekannt sind. Nach Ansicht vieler Urgeschichtler sind die Formengruppen oder „Kulturen“, die anhand von Artefakten definiert werden, im Jungpaläolithikum deutlicher erkennbar als im Mittel- oder Altpaläolithikum (z. B. Klein 1999). Dieses stimmt zwar, aber in vielen Regionen ist die Anzahl jungpaläolithischer Artefaktinventare gegenüber Funden aus früheren Peri- <?page no="208"?> 210 Nicholas J. Conard Abb. 7: Mittelpaläolithische Steinartefakte inklusive Klingen, Lamellen und rückenretuschierte Werkzeuge aus der Fundschicht 2B des Tönchesberg (nach Conard 1992). <?page no="209"?> 211 Die Entstehung der kulturellen Modernität oden auch deutlich höher. Jungpaläolithische Fundschichten sind außerdem viel leichter zu datieren und oft besser erhalten als ältere. Wie weiter unten ausführlicher dargestellt, haben wir allerspätestens mit den ersten Aurignacien-Gruppen ca. 40.000 Jahre vor heute mannigfaltige Hinweise auf ein voll entwickeltes kulturelles System, in dem symbolische Kommunikation und Sprache definitiv vorhanden waren. Umstritten bleibt, ob die durchaus komplexen und vielfältigen Werkzeugformen der Neandertaler eine ähnliche symbolische Kommunikation belegen. Hier gehen die Meinungen in der Fachwelt weit auseinander (Mellars 1996; d’Errico et al. 1998). Aus Sicht des Autors geben die Steinwerkzeuge keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Wie im Fall von Afrika müssen wir auch andere Fundgattungen betrachten, um die Entstehung der kulturellen Modernität näher zu definieren. Kleinräumige Siedlungsmuster Analysen über die Evolution der kulturellen Modernität haben in den letzten Jahren verstärkt die räumliche Nutzung und Organisation von Fundplätzen berücksichtigt (Binford 1996; Conard 2001; Wadley 2001). Auch hier ist die Datengrundlage in den späteren paläolithischen Perioden besser als in den früheren. Zum Beispiel sind Behausungen im Jungpaläolithikum wie etwa in Pincevent (Leroi-Gourhan u. Brézillon 1966) und Gönnersdorf (Bosinski 1979) mehrfach belegt, alle vermeintlichen Behausungen aus dem Alt- oder Mittelpaläolithikum aber sind umstritten. Nach Auffassung von Jan Kolen (1999) haben archaische Hominiden ihre Wohnplätze kaum räumlich strukturiert, und Aktivitäten wiederholten sich nicht am selben Ort innerhalb eines Areals. Demnach waren die Wohnplätze von archaischen Hominiden eher „Nester“ als Häuser oder Hütten (Kolen 1999). Der fehlende eindeutige Nachweis von Behausungen vor dem Jungpaläolithikum spricht für diese These. Dennoch gibt es mittelpaläolithische Fundplätze wie Abric Romani in Katalonien, wo wiederholte Muster von Funden um Feuerstellen für eine systematische räumliche Organisation sprechen (Vaquero et al. 2001). Auch andere eher kurzfristig benutzte Fundplätze wie Wallertheim A und D oder Tönchesberg 2B am Mittelrhein zeigen eine klare räumliche Gliederung von Funden und Befunden (Conard et al. 1998). Hier sind beispielsweise Feuerstellen sowie Orte, an denen Steinartfakte produziert und zurückgelassen wurden, eindeutig zu erkennen. Auch die Knochen von den besser erhaltenen Fundplätzen im Rheinland dokumentieren Aktivitätszonen, in denen Tiere verwertet und Knochen aufgeschlagen wurden, um an das nahrhafte Mark zu gelangen. Verschiedene Aktivitätszonen sind meist anhand unterschiedlicher Zusammensetzungen von Steinartefakten und Knochen identifizierbar. <?page no="210"?> 212 Nicholas J. Conard Größere ortsfremde Steine kommen auf mittelpaläolithischen Fundplätzen häufig vor. Manche dieser Steine dienten als Arbeitsunterlagen. Andere kommen in mehr oder weniger verstreuten Gruppen vor und sind möglicherweise Reste von einfachen Hütten oder Bauten. Behausungen sind normalerweise kaum auffindbar, weil alle organischen Baumaterialien wie Zweige, Holzteile und Leder über die Jahrzehntausende durch geologische und biologische Prozesse zerstört werden. Nur recht massive Bauten mit größeren Mengen an anorganischer Bausubstanz oder Knochen wären überhaupt noch nachzuweisen. Solche Unterkünfte sind für das Jungpaläolithikum mehrfach gut dokumentiert, aber sie fehlen vollkommen im Mittelpaläolithikum. Daraus kann man schließen, dass die Menschen im Mittelpaläolithikum ziemlich mobil waren und selten stabile Behausungen hergestellt haben. Der Autor würde das Fehlen von dauerhafter Architektur und die hohe Mobilität jedoch nicht als geringeres geistiges oder kulturelles Potential der archaischen Hominiden deuten wollen. Tatsache ist, dass die Hominiden im Mittel- und Jungpaläolithikum oft unter Felsdächern und in Höhlen Schutz gesucht haben und in Bezug auf die räumliche Verteilung der Funde nur unwesentliche Unterschiede zwischen beiden Perioden feststellbar sind. Rohmaterialtransport, regionale Siedlungsmuster und Planungstiefe Auch wenn es ist nicht leicht ist, die großräumige Nutzung der Landschaft zu rekonstruieren, ist die Herkunft von Rohmaterialien und vor allem von Steinartefakten doch ein hervorragendes Indiz für die Territorien und sozialen Netzwerke der Vergangenheit. Mit wenigen Ausnahmen gilt für alle steinzeitlichen Perioden Folgendes: Je weiter entfernt Steinrohmaterial von seinem Herkunftsort angetroffen wird, umso stärker bearbeitet, nachgeschärft und modifiziert sind die Funde (Floss 1994). Nur in seltenen Fällen werden unbearbeitete Rohstücke über große Entfernungen transportiert. Dieses Muster ist diktiert durch wirtschaftliche Effizienz und gilt für das gesamte Paläolithikum. Der Transport von Steinartefakten über längere Entfernungen nimmt aber mit der Zeit deutlich zu. Wir kennen Steinartefakte aus dem Mittelpaläolithikum, die über 100 km von ihrem Herkunftsort entfernt gefunden wurden. Zu nennen wären hier beispielsweise Artefaktvorkommen aus Maasfeuerstein auf Fundplätzen in der Osteifel (Floss 1994). Anhand solcher Funde lässt sich die Größe der Territorien der paläolithischen Gruppen belegen. Die verschiedenen Phasen der Rohstoffbearbeitung fanden an verschiedenen Orten statt, woraus sich Schlüsse ziehen lassen über Wanderwege und Wirtschaftssysteme. Für das Jungpaläolithikum häufen sich Nachweise komplexen Verhaltens. Einen radikalen Unterschied in der Rohmaterialversorgung zwischen Mittel- und Jungpalälithikum gibt es allerdings nicht. Entsprechend gibt es <?page no="211"?> 213 Die Entstehung der kulturellen Modernität kaum oder keine Hinweise auf eine plötzliche Revolution in der Wirtschaftsweise der archaischen und modernen Hominiden. Man muss also nicht grundsätzlich davon ausgehen, dass das Wirtschaftssystem der modernen Menschen hinsichtlich Organisation und Planungstiefe völlig von dem der Neandertaler abweicht. Wie wir noch sehen werden, liegen die kulturellen Unterschiede vielmehr im Bereich der Gedankenwelt und der sozialen Organisation als in der Steinbearbeitungstechnologie, dem Rohmaterialtransport und der Ernährung. Zahlreiche Schlüsselinformationen erhalten wir, wenn wir uns den organischen Fundgattungen zuwenden. Organische Werkzeuge Häufig wird zwischen der Herstellung und dem Gebrauch organischer Werkzeuge, dem modernen Menschen und der kulturellen Modernität ein Zusammenhang gesehen (Klein 1999). Im engeren Sinne ist dies sicherlich nicht so. Schon im Altpaläolithikum gab es vielgestaltige organische Werkzeuge. Man denke nur an die Belege für Faustkeile aus Knochen und Elfenbein (Mussi 2001) und die spektakulären Holzgeräte aus Schöningen in Niedersachsen (Abb. 8) (Thieme 1997). Die Bearbeitung der acht Speere aus Fichtenholz und der anderen Geräte ist auffallend perfekt. Diese Funde datieren auf ungefähr 350.000 Jahre vor heute und belegen eine überraschend weit entwickelte Technologie des Homo heidelbergensis. Vereinzelt sind ähnliche Holzwerkzeuge aus Clacton-on-Sea aus East Anglia in England oder aus Lehringen in Niedersachsen bekannt, aber Schöningen lieferte ganze Serien von Holzartefakten, die endgültig beweisen, dass schon im Altpaläolithikum organische Werkzeuge gang und gäbe waren. Diese Fundgattungen sind nur wegen der normalerweise ungünstigen Erhaltungsbedingungen völlig unterrepräsentiert. Die systematische Herstellung von feinen Holzgeräten ist von erheblicher Bedeutung im Hinblick auf die Thesen von Lewis Binford (z. B. 1989), Mary Stiner (1994) und anderen Kollegen. Sie haben das technologische Können des Mittelpleistozäns und den Erfolg bei der Jagd stark unterschätzt und daraus ein falsches und ausgesprochen primitives Bild vom archaischen Hominiden abgeleitet. Die Funde von Schöningen haben unser Verständnis von der menschlichen Evolution und der Kulturevolution schlagartig verändert. Ihre einmaligen Erhaltungsbedingungen spielen dabei eine bedeutsame Rolle. Aber auch andere Fundplätze des Alt- und Mittelpaläolithikums haben wichtige Hinweise auf diverse organische Artefakte geliefert. Man denke nur an die Harzfunde und Klebstoffreste von mittelpaläolithischen Fundplätzen wie Königsaue in Thüringen (Mania u. Toepfer 1973). Auch in Umm el Tlel in der Syrischen Wüste sind Klebstoffe gefunden worden (Boëda et al. 1996). Diese organischen Klebstoffe liefern direkte und indirekte Hinweise auf Kompositgeräte, die aus mehreren Teilen angefertigt wurden. <?page no="212"?> 214 Nicholas J. Conard Offenkundig hat man im Mittelpaläolithikum auch schon Werkzeuge aus Knochen benutzt. Allerdings gibt es wesentlich mehr und komplexere Geräte aus dem Jungpaläolithikum. Die Knochenwerkzeuge von mittelpaläolithischen Fundplätzen wie Salzgitter-Lebenstedt, Große Grotte und Vogelherd sind meist einfache Spitzen oder andere Formen mit oft unbekannter Funktion. Hingegen finden sich auf vielen jungpaläolithischen Fundplätzen, wie etwa auf der Schwäbischen Alb, ganz unterschiedliche Werkzeuge aus Knochen, Geweih und Elfenbein, häufig in großen Mengen (Conard u. Bolus 2003). Diese diversen organischen Werkzeuge sprechen für neue und möglicherweise komplexere Wirtschafts- und Verhaltensformen. Im frühen Jungpaläolithikum treten zahlreiche Spitzenformen auf, oft in hohen Stückzahlen und mit Standardmaßen. Im mittleren und späten Jungpaläolithikum erscheinen neue, oft verzierte Formen wie Lochstäbe, Speerschleudern und Harpunen. Die wesentlich größere Vielfalt der Formen und die Komplexität der organischen Werkzeuge sprechen für ein weiter entwickeltes Abb. 8: Altpaläolithischer Holzspeer aus Schöningen in Fundlage zusammen mit Pferdeknochen (Foto N. J. Conard). <?page no="213"?> 215 Die Entstehung der kulturellen Modernität kulturelles Vermögen im Jungpaläolithikum im Vergleich zum Mittelpaläolithikum. Dementsprechend schätzen viele Kollegen die materielle Kultur des Homo sapiens sapiens als wesentlich weiter entwickelt ein als die des Neandertalers. Subsistenz und Nahrungsbeschaffung In den letzten zwei Jahrzehnten diskutierte man häufig - und manchmal auch sehr kontrovers - die Rolle der Jagd und Subsistenz als Kriterium der kulturellen Modernität (Binford 1984; Klein 1999). Lange nahm man an, dass schon im Altpaläolithikum die Nahrungsbeschaffung teilweise oder gar überwiegend auf der Großwildjagd beruhte. Dank innovativer Forschungsansätze von C. K. Brain (1981), Lewis Binford (1981) and anderen wurde diese Interpretation in Frage gestellt. Es folgte eine Reihe von Untersuchungen, die angeblich bewiesen, dass es im Alt- und Mittelpaläolithikum keine aktive Jagd auf Großwild gegeben hat (Binford 1985; Stiner 1994). Stattdessen sollen archaische Hominiden Aasesser mit einer unterentwickelten Jagdtechnik gewesen sein. Damit wurde die aktive Jagd auf Großtiere eines der Schlüsselcharakteristika für die kulturelle Modernität. Analysen zahlreicher Fauneninventare aus dem Mittelpaläolithikum haben das Jagdverhalten der Neandertaler gut dokumentiert (Conard 1992; Conard u. Prindiville 2000; Marean 1998; Gaudzinski 1996; Gaudzinski u. Roebroeks 2000). Doch erst mit der sensationellen Entdeckung im altpaläolithischen Schöningen (Thieme 1997) war die internationale Fachwelt bereit, archaische Hominiden als kompetente Jäger zu akzeptieren. Der Nachweis verschiedener Holzgeräte, darunter acht Wurfspeere, zusammen mit den Skeletten von etwa 20 Wildpferden, hat diese wissenschaftliche Debatte weitgehend beendet. In der gegenwärtigen Forschung geht es um eine differenziertere Fragestellung - man versucht, vergangene Subsistenzformen zusammen mit Aspekten des Siedlungs- und technologischen Verhaltens der Hominiden zu rekonstruieren. Zumindest ist die frühere Vorstellung überholt, dass die aktive Jagd auf Großwild ein alleiniges Merkmal des modernen Menschen ist. Bestattungen Die Vorstellung von einem Jenseits und ein religiöses Glaubenssystem werden oft als ausschließliche Eigenschaft des Homo sapiens sapiens angesehen. Daher ist die Frage nach Ursprung und Verbreitung von Bestattungen im Paläolithikum von großer Bedeutung. Auch hier herrschen diverse Meinungen. Eine Position wird von Robert Gargett (1989) vertreten. Demnach kommen im Alt- und Mittelpaläolithikum keine Bestattungen vor. In der Tat scheinen die verhältnismäßig gut erhaltenen Skelette früherer Perioden <?page no="214"?> 216 Nicholas J. Conard ausschließlich durch glückliche Zufälle erhalten geblieben. Für das Mittelpaläolithikum sind vollständige Skelette von Neandertalern und frühen anatomisch modernen Menschen in Eurasien häufig belegt (Defleur 1993; Mellars 1996). Viele dieser gut erhaltenen Skelette sind aller Wahrscheinlichkeit nach bewusst bestattet worden. Auch wenn es andere plausible Alternativen gibt, sind die bei den Skeletten gelegentlich entdeckten Ockerstücke und das Ockerpulver höchstwahrscheinlich ein Teil der Bestattungsriten und nicht nur zufällige Vorkommen. Die Frage nach der Existenz von Grabbeigaben im Mittelpaläolithikum ist noch schwerer zu beantworten. Da Bestattungen oft in fundreichen Schichten belegt sind, ist es nicht überraschend, dass die Füllung der Bestattungsgruben diverse Artefakte und sonstige Funde enthält. So können Vorkommen von Hörnern, verschiedenen Artefakten und sogar Blütenpollen als Grabbeigaben gedeutet werden. Allerdings sind die archäologischen Zusammenhänge als Beweisgrundlage für diese Deutungen häufig anfechtbar (Gargett 1989). Demgegenüber stehen zahlreiche und teilweise sehr prächtige Einzel- und Gruppenbestattungen aus dem Jungpaläolithikum mit vielerlei Grabbeigaben und Schmuckstücken (Kölbl 2003; Wahl in diesem Band). Obwohl also Bestattungen im Mittelpaläolithikum vorkommen und höchstwahrscheinlich für eine Vorstellung vom Jenseits sprechen, sind die Befunde deutlich schwieriger zu interpretieren als diejenigen aus dem Jungpaläolithikum. Erst ab letztgenannter Periode finden wir in diesem Zusammenhang eindeutige Hinweise auf die kulturelle Modernität. Schmuck und Pigmente Schmuck hat - im engeren Sinn - keinen praktischen Nutzen wie etwa ein Werkzeug. Er soll in erster Linie Informationen über die Person vermitteln, die ihn trägt. Die Art und Weise, wie er gestaltet und getragen wird, bringt nicht nur die Identität eines Individuums, sondern auch seine Zugehörigkeit zur einer Gruppe zum Ausdruck (Wiessner 1983). Selbstverständlich ist Informationsvermittlung anhand von Artefakten nicht allein auf Schmuck beschränkt. Seine eigentliche Bedeutung liegt in seinem Symbolcharakter. Für den Urgeschichtler ist diese Fundgattung auch deshalb von großem Interesse, weil sich in ihr das ästhetische Empfinden seiner Hersteller und Träger spiegelt. Damit ist die Frage, ab wann in Eurasien Schmuck nachgewiesen werden kann, von ähnlich zentraler Bedeutung wie die Frage nach den Menschenformen, die ihn angefertigt und getragen haben. Die ältesten Schmuckvorkommen in Eurasien sind auf ein Alter von etwa 90.000 Jahren vor heute datiert und stammen aus dem Fundplatz Qafzeh in Israel (Bar-Yosef u. Vandermeersch 1993). In Qafzeh wurden durchlochte Schneckengehäuse aus Schichten mit einigen Bestattungen von anatomisch modernen Menschen und zahlreiche Ockerstücke geborgen (Hovers et al. <?page no="215"?> 217 Die Entstehung der kulturellen Modernität 2003). Erst um ca. 40.000 Jahre vor heute sind weitere Schmuckstücke, ebenfalls in Form von durchlochten Schneckengehäusen von küstennahen Fundplätzen wie Riparo Mochi in Italien, Ksar’ Akil im Libanon und Üçag ˇ zl in der Türkei belegt (Abb. 9) (Kuhn et al. 2001). Als gleich alt oder nur geringfügig jünger einzustufen sind die Schmuckfunde bei den späten Neandertalern der Châtelperronienkultur in Burgund (Baffier 1999) und bei der frühen jungpaläolithischen Aurignacien-Kultur auf der Schwäbischen Alb (Conard 2003a). Diese Stücke, in der Mehrzahl durchbohrte Zähne von Bären und Füchsen sowie geschnitzte Anhänger aus Elfenbein, sind ungefähr 35.000 Jahre alt (Abb. 10). Auch aus anderen Regionen wie etwa Südwestfrankreich haben wir zahlreiche Belege für Herstellung und Tragen von Schmuck im frühen Jungpaläolithikum (White 1989). Insgesamt gesehen, ist Schmuck in der Zeit der ersten anatomisch modernen Menschen und der Neandertaler äußerst selten. Dies ändert sich aber, als vor etwa 40.000 Jahren die modernen Menschen Europa besiedeln. Auch in anderen Erdteilen inklusive Australien (Morse 1993) scheint um diese Zeit erstmals Schmuck regelmäßig angefertigt worden zu sein. Doch warum hat das, nachdem anatomisch moderne Menschen in Afrika vor mehr als 100.000 Jahren entstanden sind, so lange gedauert? Wie erklärt man, dass diese Entwicklung in mehreren Erdteilen ungefähr gleichzeitig stattfand? Abb. 9: Durchlochte Schneckengehäuse aus der Üça zl -Höhle (nach Kuhn et al. 2001). <?page no="216"?> 218 Nicholas J. Conard Gegenwärtig wird in Fachkreisen sehr lebhaft darüber diskutiert, ob die Neandertaler eigenständig Schmuck entwickelt haben oder ob dazu erst der Kontakt zu den modernen Menschen nötig war. Nach Jean-Jacques Hublin und anderen Kollegen (1996) haben lediglich die letzten Neandertaler Schmuck getragen, und das auch nur, weil diese Innovation über Kontakte zum modernen Homo sapiens und über Akkulturationsprozesse angenommen wurde. Andere Kollegen wie Francesco d’Errico und Jo-o Zilh-o gehen davon aus, dass die Schmuckstücke der Neandertaler aus der Grotte du Renne in Arcy-sur-Cure älter sind als die ersten Hinweise auf moderne Menschen in Europa (d’Errico et al. 1999). Sie lehnen die Vorstellung vehement ab, dass diese Innovation nur über kulturelle Kontakte zu den modernen Menschen zustande kam. Hier werden auch andere Fundgattungen der Neandertaler wie z. B. geriebene Pigmente aus Pech de l’Azé in Südwestfrankreich (Bordes 1972) als weitere Beweise für eine komplexe Symbolik bei den Neandertalern angeführt. Abb. 10: An der Wurzel durchbohrte bzw. eingekerbte Fuchs-Eckzähne aus dem Châtelperronien der Grotte du Renne bei Arcy-sur-Cure in Burgund (nach Baffier 1999). <?page no="217"?> 219 Die Entstehung der kulturellen Modernität Eine endgültige Antwort auf diese Frage gibt es momentan nicht, weil eine genaue Datierung der Ereignisse zwischen 30.000 und 50.000 Jahren vor heute sehr schwierig ist (Conard u. Bolus 2003). Erst wenn eine bessere zeitliche Auflösung mittels 14 C oder anderen Datierungsmethoden gelingt, werden wir die kulturellen Entwicklungen in den zahlreichen Regionen Eurasiens mit der für diese Frage notwendigen Genauigkeit erfassen können. Symbolische Darstellungen, figürliche Kunst und Musik Der Zeitpunkt, ab dem figürliche Kunst entsteht, ist für archäologische Fachkreise von einzigartiger Bedeutung. Er ist gewissermaßen der am besten geeignete und sicherste Maßstab, an dem die Entstehung der kulturellen Modernität gemessen wird. Ab diesem Moment haben wir es mit Menschen zu tun, die vieles gemeinsam mit uns hatten und die sicherlich über eine entwickelte Sprache verfügten. Eine Gesellschaft, die figürliche Kunst zu produzieren vermag, ist gewiss auch in der Lage, ihre Aktivitäten und ihr soziales Verhalten anhand symbolischer Inhalte zu beleben und zu organisieren. Der aktive Einsatz von Symbolen in Sprache, Glaubenswelt und Alltag gehört zu den unerlässlichen Merkmalen der kulturellen Modernität. Auch die Befähigung, zu musizieren, zu singen und zu erzählen, ist ein Charakteristikum aller modernen Gesellschaften. Leider sind uns, solange es die Schrift nicht gibt, weder Wort noch Gesang überliefert. Vielmehr sind wir auf Musikinstrumente als Zeugnis vergangenen kulturellen Lebens angewiesen. Schon im Altpaläolithikum fallen Schnitte auf Knochen auf, die keine funktionelle Bedeutung haben, wie man es etwa an Funden in Bilzingsleben in Mitteldeutschland beobachtet hat (Mania 1990; Steguweit 2003). Auch gesammelte und möglicherweise modifizierte Naturprodukte wie in Berekhat Ram in Israel kommen vor (Goren-Inbar u. Peltz 1995). In vorjungpaläolithischen Zeiten wurden gelegentlich Fossilen gesammelt (Schäfer 1996). Allein die Schönheit und die Symmetrie von Faustkeilen oder Wurfspeeren im Altpaläolithikum sprechen für eine - allmähliche - Entwicklung ästhetischen Empfindens (Haidle in diesem Band). Ganz anders die ersten archäologischen Belege für figürliche Kunst: Sie erscheinen beinahe schlagartig mit Beginn des Jungpaläolithikums. Die ältesten Beispiele figürlicher Kunst tauchen vor 30.000 bis 40.000 Jahren auf. Es sind kleine, geschnitzte Skulpturen aus Mammutelfenbein aus den Höhlen der Schwäbischen Alb (Riek 1934; Hahn 1986). Wenn auch eine exakte Datierung zur Zeit noch nicht möglich ist, darf man annehmen, dass die kleinen Plastiken aus dem Vogelherd (Riek 1934), dem Hohlenstein-Stadel (Schmid 1989), dem Geißenklösterle (Hahn 1986) und dem Hohle Fels (Conard 2003b) deutlich älter als 30.000 Jahre sind (Abb. 11). <?page no="218"?> 220 Nicholas J. Conard Abb. 11: Aus Elfenbein geschnitzte Vogeldarstellung aus dem Aurignacien des Hohle Fels bei Schelklingen. Länge 4.7 cm (Conard 2003b; Foto H. Jensen). Abb. 12: Aurignacienzeitliche Nashorndarstellung aus der Grotte Chauvet (nach Chauvet et al. 1996). Diese Sammlung „schwäbischer Kleinkunst“ mit ihren Darstellungen von Pferd, Mammut, Löwe, Wisent, Bär, Vogel und einigen Mischwesen gehört zu den ältesten Fundkomplexen überhaupt und überrascht durch ihre Vielseitigkeit und hochwertige Ausführung. Ähnlich alt sind die stark stilisierten Darstellungen in der Fumane-Höhle in Norditalien (Broglio 2002), und wahrscheinlich nur geringfügig jünger sind Teile der großartigen Malereien <?page no="219"?> 221 Die Entstehung der kulturellen Modernität in der Grotte Chauvet (Abb. 12) (Clottes 2001) im französischen Ardèche. Auch die Gravierungen von Vulven und anderen Darstellungen aus den Felsdächern von La Ferrassie und Blanchard in Südwestfrankreich datieren aus dieser frühesten Phase der Kunst (Leroi-Gourhan 1995). Komplexität und Komposition der Tierdarstellungen in der Grotte Chauvet sind geradezu spektakulär. Man kann keineswegs behaupten, dass die früheste paläolithische Kunst auf irgendeiner Ebene primitiv wäre. Dementsprechend herrscht Einigkeit darüber, dass die Jungpaläolithiker sich in ihren kulturellen Fähigkeiten nicht grundsätzlich von den Menschen der Gegenwart unterscheiden. Diese frühesten Kunstwerke der Menschheit lassen uns teilhaben an ihrer damaligen Vorstellungswelt. Obwohl man nicht ohne weiteres zwischen verschiedenen Kulturgruppen verallgemeinern kann, weisen die anthropomorphen Figuren und vor allem die so genannten „Löwenmenschen“-Darstellungen aus dem Hohlenstein-Stadel und dem Hohle Fels doch auf einen Glauben, in dem Menschen und Tiere ineinander aufgehen. Zweifellos fühlten sich die aurignacienzeitlichen Bewohner der Schwäbischen Alb mit den Kräften der Natur und Tierwelt zutiefst verbunden. Noch wissen wir nicht genug, um die damaligen religiösen Vorstellungen im Detail zu rekonstruieren. Die hochkomplexe frühe Elfenbeinkunst der Region lässt jedoch keinen Zweifel daran, dass diese Menschen in jeder Hinsicht und nach archäologischen Maßstäben sämtliche Kriterien der kulturellen Modernität erfüllten. Abb. 13: Aus Mammutelfenbein hergestellte Flöte aus dem Aurignacien des Geißenklösterle bei Blaubeuren. Länge 18,7 cm (Conard et al. 2004; Foto J. Lipták). <?page no="220"?> 222 Nicholas J. Conard Dafür spricht auch die Entdeckung von drei Flöten aus den Aurignacienschichten des Geißenklösterle, die etwa 35.000 Jahre alt sind. Sie gelten als die bislang ältesten bekannten Musikinstrumente. Zwei der Flöten wurden sorgfältig aus Schwanenflügelknochen geschnitzt (Hahn u. Münzel 1995). Die dritte Flöte (Abb. 13) wurde in einem komplexen Verfahren aus Mammutelfenbein hergestellt, und sie wurde erst 2004 aus vielen kleinen Fragmenten rekonstruiert (Conard et al. 2004). Selbst wenn wir davon ausgehen müssen, dass die archäologisch fassbaren Hinterlassenschaften nur einen Bruchteil der einst vorhandenen Vielfalt präsentieren, kann die Existenz von Musik und Musikinstrumenten mindestens bis in das Aurignacien zurückverfolgt werden. Dass auch Neandertaler und andere archaische Hominiden Musik und Gesang kannten, ist zwar vorstellbar, allerdings gibt es hierfür trotz gegenteiliger Behauptungen bis heute keinen zuverlässigen Hinweis (Albrecht et al. 1998). Schlussfolgerungen und Ausblick Wir haben gesehen, dass die kulturelle Modernität in Afrika und Eurasien ein vergleichbares Alter besitzt. Dem jeweiligen kulturellen Merkmal entsprechend betrachtet man die Kulturentwicklung des Menschen aus einem etwas anderen Blickwinkel. Neueste Erkenntnisse weisen schon im Altpaläolithikum und im ESA auf eine weit fortgeschrittene kulturelle Evolution. Das Mittelpaläolithikum und das MSA präsentieren ein Mosaik von Innovationen und eine hohe Variabilität bei der Steinbearbeitung, der Werkzeugherstellung, der Subsistenz und anderen kulturellen Bereichen. Im frühen Jungpaläolithikum und im späten MSA ist die körperliche und kulturelle Evolution zum jetzigen Menschen erreicht. Die Menschen und ihre Gesellschaften kommunizieren mittels einer voll entwickelten symbolischen Sprache, sie fertigen komplexe organische und anorganische Werkzeuge und bestatten ihre Toten oft in Gräbern, zusammen mit Schmuckstücken und anderen Grabbeigaben. Sie bringen Musik und figürliche Kunst hervor. Auch in den kommenden Jahren werden Archäologen und Paläoanthropologen den Fragen über die Entstehungsmuster der kulturellen Modernität nachgehen. Denn noch sind viele Frage offen und viele Regionen unerforscht. Die künftigen Jahre werden mit neuen Funden und Befunden unser Bild von der Kulturevolution weiter prägen. Wenn wir an die Entdeckungen der letzten Jahre aus Boxgrove, Schöningen, Blombos, Diepkloof, Üçag ˇ zl und an die Höhlen der Schwäbischen Alb denken, können wir zuversichtlich sein, dass wir auf weitere und vermutlich auch frühere Belege kultureller Innovationen stoßen werden. Wir sollten festhalten, dass spätestens vor rund 40.000 Jahren mit dem Beginn des Jungpaläolithikums die kompletten Verhaltensmuster und kul- <?page no="221"?> 223 Die Entstehung der kulturellen Modernität turellen Fähigkeiten, die alle modernen Gesellschaften auszeichnen, präsent waren. Ob diese Entwicklung allmählich oder schlagartig erfolgte, ist bis heute nicht völlig geklärt. Auch gibt es kaum Grund zu vermuten, dass sie in allen Erdteilen ähnlich verlief. Es bleibt zu hoffen, dass zahlreiche neue Projekte in Gelände und Labor immer vollständigere, differenziertere und hochwertigere Rekonstruktionen der spezifischen Entwicklungen in vielen Regionen der Erde ermöglichen. Danksagung Ich danke Beatrix Haas ganz herzlich für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags. Michael Bolus, Francesco d’Errico, Harald Floss, Chris Henshilwood, Erella Hovers, John Parkington und Royden Yates danke ich für viele spannende Gespräche über die Themen, die hier behandelt worden sind. 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Mit Beispielen aus den Bereichen der eingesetzten DNA- Extraktionsmethoden, der DNA-Sequenzierung und der Homologievergleiche wird die Aussagekraft der einzelnen Studien dokumentiert. Aber auch Fehleinschätzungen, Artefakte und zum Teil voreilige Dokumentationen finden Erwähnung, um den kritischen Blick für Entwicklungen in diesem neuen, multidisziplinären Forschungsbereich zu schärfen. Einleitung Die letzte Jahrhundertwende bescherte der Molekularbiologie einen spektakulären Endspurt auf dem Weg zu einem wissenschaftlichen Meilenstein: der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms (Nature Sonderband 6822, 2001; http: / / www.nhgri.nih.gov), einem seit knapp 20 Jahren verfolgten Forschungsziel. Durch die fast lückenlose Aufklärung der Primärstruktur des Erbmoleküls DNA erhofften sich klinisch orientierte Genetiker neue Informationen über die für Krankheiten relevanten Gene. Den Evolutionsbiologen hingegen sollten die Daten fundierte Aussagen über inter- und intrapopulative Verwandtschaftsverhältnisse erlauben und zu einem tieferen Verständnis darüber führen, welche genetischen Merkmale uns von unseren allernächsten Verwandten, den Menschenaffen, trennen. Es ist noch zu früh, um beurteilen zu können, inwieweit all diese Erwartungen erfüllt werden. Aber bereits jetzt ist klar, dass dem Projekt „Humangenom“ weitere ähnliche Projekte folgen müssen. Über das kürzlich erschlossene Schim- <?page no="228"?> 230 Nikolaus Blin und Carsten M. Pusch pansengenom und die einiger weniger Säuger hinaus müssen weitere Glieder der Evolutionskette analysiert werden, um so verwandtschaftliche Verhältnisse genauer definieren und Abgrenzungen vornehmen zu können. Weniger, aber immer noch beträchtliche Aufmerksamkeit zog ein gänzlich anderer genetischer Forschungszweig auf sich: der Versuch, genetische Information aus Fundresten ausgestorbener Arten oder aus verstorbenen menschlichen Individuen zu erhalten. Die Entschlüsselung dieser so genannten altertümlichen DNA (aDNA) sollte erlauben, die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen unseren direkten Vorfahren besser fassen bzw. ihre Stellung zum modernen Menschen definieren zu können (Wohin gehört der Neandertaler? ). Nun war man in der Lage, früher lebende Spezies anhand genetischer Merkmale genauer in den Stammbaum einzuordnen (Waren die Dinosaurier wechselwarm? ) und ausgestorbene Arten genetisch zu rekonstruieren (Mammut oder gar Dinosaurier? ). Die Medienwelt, insbesondere die Filmindustrie, hat solche Themen aufgenommen und populär gemacht. So muss gefragt und diskutiert werden, was mit Hilfe molekularer und gentechnischer Methoden ernsthaft bewirkt werden kann und was letztendlich doch einer realistischen Basis entbehrt. Rezente DNA und Einsatzmöglichkeiten in der Forschung Spezies-Vergleiche Verwandtschaftsgrade zwischen einzelnen Spezies äußern sich nicht nur in morphologisch erfassbaren Merkmalen, wie sie lange Zeit der Erstellung von Stammbäumen gedient haben; vielmehr sind die stammesgeschichtlichen Abstände auch direkt an den DNA-Sequenzen - oder indirekt an den Genprodukten, den Aminosäureabfolgen der Proteine - ablesbar. Seit geraumer Zeit steht fest, dass der Grad der Homologie beträchtlich hoch ist, wenn bekannte DNA-Abschnitte bei Primaten verglichen werden. Aus der kompletten DNA-Sequenz des Schimpansen lässt sich eine Homologie zum H. sapiens von > 98 % ableiten. Mit anderen Worten: Der sichtbare Unterschied zwischen dem Menschen und seinem allernächsten Verwandten ist im Wesentlichen in einem DNA-Unterschied von ca 1,5 % zu suchen. Es überrascht nicht, dass die Aufklärung dieses geringen, aber bedeutsamen Unterschieds derzeit ein sehr aktuelles Forschungsprogramm darstellt. Da sich bei allen Lebewesen Stoffwechsel, Zellstruktur oder auch Energieumsatz bekanntlich in wesentlichen Grundzügen gleichen, ist zu erwarten, dass auch die in ihrer Evolution weiter voneinander entfernten Arten beim DNA-Vergleich viele Ähnlichkeiten zeigen. So liegt bei der Gegenüberstellung von Mensch und Maus die Homologie bei über 90 %; immer <?page no="229"?> 231 DNA und die Stammesgeschichte des Menschen noch etwa 75 % beträgt sie bei Mensch und Taufliege. An zwei Beispielen sollen solche DNA-Vergleiche diskutiert werden. Vor etlichen Jahren gelang es, vom menschlichen Chromosom 22 einen DNA-Abschnitt zu isolieren, der sich aus einem 48 Basenpaare (bp) langen Motiv in wiederholter, d. h. repetitiver, Anordnung aufbaut - so genannte Satelliten-DNA (Metzdorf et al. 1988). Da es sich herausstellte, dass solche Motive auch bei weiteren Primaten vorliegen (Scherthan et al. 1989), hat man deren DNA ebenfalls isoliert und mit der des Menschen verglichen. Die Abbildung 1 zeigt die 48-bp-Sequenz des Menschen. Unter dieser Abbildung sind die Abweichungen in der Sequenz von Schimpanse und Orang- Utan angegeben. Identische Positionen - und das ist die überwältigende Mehrheit - sind nicht angezeigt (Wundrack 1995). 10 20 30 40 | | | | Homo CAGAACACTGCTACGAGGGTCTGAATGTTTGTCCCTCACATAGGATTC Pongo .............G.TG...T............................... Pan ...............T ................................... Abb. 1: Vergleich des 48-bp-Motivs vom Menschen mit homologen Sequenzen aus Schimpanse und Orang-Utan. Nur die sich unterscheidenden Positionen sind angegeben. Das 48-bp-Motiv zeigt jedoch nur einen winzigen Ausschnitt der Gesamt- DNA. Es ist daher wissenschaftlich unzulässig, nur diesen einen Vergleich zum Aufbau eines Stammbaums heranzuziehen. Ein bedeutend höheres Maß an Information würde gebraucht, um einer Verzerrung des tatsächlichen Gesamtbildes entgegenzuwirken. In der Tat ist die Interpretation unzureichender Datensätze ein durchaus nicht seltener Fehler, der viele wissenschaftliche Dispute, auch auf dem Gebiet der Paläoanthropologie, verursacht hat. Die Abbildung 2 stellt daher einen umfassenden Ansatz dar, der für die phylogenetische Auswertung genetischer Daten sinnvoller ist. Hier werden DNA-Abschnitte der Geschlechtschromosomen von Primaten verglichen, die über mehrere Millionen Basenpaare lang sind (Bohossian et al. 2000). Der resultierende Stammbaum bestätigt den bisherigen, der auf anatomischen und morphologischen Daten aufbaut: Zuerst zweigt im phylogenetischen Modell der Evolution der Gorilla ab, erst danach der Schimpanse. Interessanterweise finden sich die untersuchten X-chromosomalen Bereiche beim Menschen auch auf dem Y-Chromosom - nicht so bei den Menschenaffen. Also ist der evolutive Abstand dieser Sequenzen der geringste, die Aufspaltung evolutiv die jüngste. <?page no="230"?> 232 Nikolaus Blin und Carsten M. Pusch Wie bereits angesprochen, können auch Vergleiche von Aminosäuresequenzen spezieller Proteine dazu dienen, die Evolution einzelner Funktionselemente zu studieren. Diese Resultate können komparativ-analytisch auch für Stammbaumanalysen herangezogen werden. Als anhand der so charakterisierten Aminosäuren in dem Protein Cytochrom b aus einer Vielzahl von Arten ein rein biochemischer Stammbaum konstruiert wurde, wich dieser in keinem wesentlichen Punkt von seinem Gegenpart ab, den die Zoologen bereits vor vielen Jahren aus der Betrachtung anatomischer Merkmale abgeleitet hatten (Esposti et al. 1993; Howell 1993). Die Konservierung einzelner Aminosäurepositionen über Zeit, geographische Distanz und Speziesgrenzen hinweg weist auf eine wichtige funktionelle Schlüsselrolle innerhalb der Eiweißmoleküle hin. Der Grad der Abweichungen hingegen kann als Maß für die evolutiven Abstände dienen. Sie können allerdings auch als Gradmesser für gezielte Umwandlungen angesehen werden, um das Protein für neue funktionelle Aufgaben vorzubereiten. Die Beibehaltung eines bestimmten Motivs im Verlaufe der Evolution soll am Beispiel der so genannten „Kleeblatt“-Domäne der „Trefoil factor“ (TFF)-Proteine (abgeleitet von einer 3-blättrigen Faltungsstruktur) demonstriert werden: Von dem einfachen Wurm Caenorhabditis über sessile marine Chorda-Tiere, die Tunikaten, bis zu Wirbeltieren wie Fisch, Frosch und Mensch hat sich die TFF-Sequenz, charakterisiert durch konstante Cysteinpositionen, erhalten (Abb. 3). Einfachere Einzeller wie die Hefe Saccharomyces besitzen dieses Motiv jedoch nicht (Sommer et al. 1999). Natürlich ist auch hier bei dem Entwurf von Abstammungsreihen Vorsicht geboten, nicht voreilig aus Einzelbefunden auf ein Gesamtbild zu schließen. Erst zahlreiche weitere Daten werden das korrekte Modell tatsächlich verifizieren. Da jedoch die molekularbiologisch erfassten Sequenzdaten mehr Informa- Abb. 2: Homologievergleich einer langen X-chromosomalen Sequenz zwischen Mensch, Schimpanse und Gorilla. Beim Menschen existiert auch eine entsprechende Kopie auf dem Y-Chromosom (nach Bohossian et al. 2000). <?page no="231"?> 233 DNA und die Stammesgeschichte des Menschen tion beinhalten, als man aus rein morphologischen, zumeist metrischen Merkmalen ableiten kann, ist diese Art der Analysen aus den phylogenetischen Vergleichen nicht mehr wegzudenken. Populationsvergleiche Wenn Unterschiede nicht zwischen den Arten, sondern zwischen einzelnen Exemplaren innerhalb einer Art beobachtet werden, können aus den vergleichenden Daten Rückschlüsse auf den Verwandtschaftsgrad einzelner Populationen, auf etwaige Besiedlungsmigration oder auf die zeitliche Entwicklung spezieller Merkmale gezogen werden. Wie beim Spezies-Vergleich werden auch hier für die Analyse heute lebende Individuen oder Organismen als so genannte Referenz benötigt. Ein Beispiel - das Besiedlungsmuster Polynesiens - soll solche Vergleiche illustrieren. Die heutige anthropologische Forschung geht von mehreren Besiedlungswellen aus, die, aus dem ostasiatischen Raum kommend, nachfolgend Australien, Neuseeland und die polynesischen Inseln erreicht haben. Einige wenige Stimmen, wie z. B. die von Thor Heyerdahl, widersprechen. Anhand entsprechender Grabungsfunde glauben sie, eine Besiedlung aus dem Osten, d. h. vom südamerikanischen Kontinent her, belegen zu können (Heyerdahl 1941; 1997). Diese konträren Hypothesen sind nun mit Hilfe von DNA-Analysen an Polynesiern und durch Vergleiche von DNA-Polymorphismen (also funktionell stillen Nukleotidveränderungen, so genannten SNPs) in Populationen aus östlicher und westlicher Nachbarschaft überprüft worden. Das Ergebnis unterstützt eindeutig eine Zuwanderung vom asiatischen Kontinent her (Serjeantson u. Gao 1995). Hier hat also die Molekularbiologie einen auf nicht ganz eindeutig interpretierbaren Funden von Kulturartefakten basierenden Disput beilegen können. Abb. 3: Aminosäure-Vergleich im TFF-Motiv in verschiedenen Proteinen (ZP = zona pelucida Protein, EGS = Schutzprotein der Eizelle, EDP = Protein der Epidermis) aus den Spezies Hs (Homo sapiens), Xl (Xenopus laevis), Aj (Anguilla japonica), Ss (Salmo salar), Cs (Cyona savignyi). Spezies/ Protein TFF-Domäne Vorläufer Länge (AS) Hs TFF1 CTVAP RERQNCGFPGVTPSQC ANKGCCFDDTVRGVPWCF 84 Hs ZPB CDSIPARDRLPCAPSPISRGDC EGLGCCYSSEE VNSCY 540 Xl ZPB CSAIKREDRLSCAKAPVSQDLC QGLGCCYTPSDPS MPCY 544 Aj ZP CKGDP FKRTDCGYPGITEGQC KAKGCCFDSSIVGVKWCF 446 Ss EGS CEVV DKDKVSCGLSGITAAQC QAISCCFDGR MCF 439 Cs EDP CALHDLRNRIDCGYVGISAAECEVTPYCCYNP X21VPWCF 741 <?page no="232"?> 234 Nikolaus Blin und Carsten M. Pusch Auch die „Out of Africa“-Hypothese, die die ursprüngliche Entstehung der Art Homo sapiens sapiens auf den afrikanischen Kontinent legt (Stringer u. Andrews 1988; siehe auch Bräuer, S. 171 dieses Bandes), wurde auf diese Weise sehr eindrucksvoll untermauert: Vergleiche der mitochondrialen DNA (mtDNA) verschiedenster Populationen rund um den Globus sprachen eindeutig für einen afrikanischen Ursprung des anatomisch modernen Menschen (Cann et al. 1987; Di Rienzo u. Wilson 1991; Vigilant et al. 1991). Somit können DNA-Untersuchungen an noch lebenden Arten oder an ausgewählten einzelnen Populationen durchaus auch phylogenetische Aussagen belegen, ohne dass auf prähistorisches Material zugegriffen werden müsste. Altertümliche DNA und ihre Bedeutung in der Forschung Ein neues, sehr vielseitiges und spannendes Einsatzgebiet für die DNA-Analytik wurde erschlossen, als man begann, ausgestorbene Tier- und Pflanzenarten und fossile bis prähistorische Funde menschlicher Individuen genetisch zu analysieren. Für Schlagzeilen sorgte beispielsweise die Untersuchung „jüngerer“ Grabfunde, die der russischen Zarenfamilie Romanov zugeschrieben wurden. DNA-Vergleiche mit noch lebenden Verwandten bestätigten die Richtigkeit der Vermutung und lieferten ein Beispiel für eine historisch-forensische Genanalyse (Gill et al. 1994). Nicht allzu altertümliche DNA isolierte man aus Mumien (Pääbo et al. 1988; Pääbo 1985; Handt et al. 1994) und aus dem Quagga, einem ausgestorbenen weitläufigen Zebra- Verwandten (Higuchi et al. 1984). Schließlich wurde altertümliche DNA von Magnolien aus dem Miozän (Golenberg et al. 1990), mehr als 25 Millionen Jahre alten Bienen (Cano et al. 1992) und sogar von Dinosauriern (Woodward et al. 1994) isoliert und charakterisiert. Kritiker bezweifelten allerdings die Existenz Millionen Jahre alter DNA. Tatsächlich wurden gewisse Unzulänglichkeiten bei der Aufarbeitung des Materials bekannt. Daraufhin führte man zum einen stringente Kontrollen durch, um eine Kontamination der Proben während der Analyse ausschließen zu können. Zum anderen setzte man einen unabhängigen Test zur Qualitätsbestimmung des alten Materials ein. So konnte das mittlerweile durchaus beschädigte Ansehen der neuen Disziplin Paläogenetik wieder hergestellt werden. Besagter Test erfasst den sowohl diagenetisch bedingten als auch milieuabhängigen Zerfall des Biomaterials, indem er bestimmte Eiweißbausteine, die sog. Indikator-Aminosäuren, untersucht. Im lebenden System existieren alle asymmetrischen Aminosäuren ausschließlich in der so genannten L- Form. Nach dem Ableben setzt ein Degradationsprozess ein, bei dem diese Bausteine nach und nach in die D-Form wechseln - ein Vorgang, der als Razematbildung bezeichnet wird. An einer Reihe von Funden sind nun die <?page no="233"?> 235 DNA und die Stammesgeschichte des Menschen Quotienten D-Form/ L-Form (stereochemische rechts-links-Verhältnisse von Molekülen) einzelner Aminosäuren bestimmt und mit der Polymerase-Kettenreaktions (Amplifikation von DNA Segmenten über die Methode der PCR)-Tauglichkeit der aDNA verglichen worden (Tabelle 1). Aus solchen Eichkurven ging hervor, dass bei Funden, die deutlich älter als 100.000 Jahre sind und deren Razematquotienten (D/ L für Asparaginsäure > 0.08) auf einen starken Abbau des Biomaterials hinweisen, jegliche PCR-Amplifikation zweifelhaft erscheint (Poinar et al. 1996). Darüber hinaus beschleunigen ungünstige Lagerungsbedingungen den Zerfall von Nukleinsäuren durch oxidative und hydrolytische Prozesse im alten Gewebe. Es verwundert daher nicht, dass beispielsweise Studien zu Migrationsbewegungen der Bevölkerungen im Niltal in den letzten Jahrtausenden bisher ohne Aussage blieben (Krings 1996). Nur in günstigen Fällen wird es möglich sein, analysierbares Material zu erhalten - wie etwa bei der geglückten Charakterisierung der hypervariablen Regionen mitochondrialer DNA des namengebenden Neandertalerfundes aus der Feldhofer Grotte bei Düsseldorf (Krings et al. 1997; Krings et al. 1999) oder unter Zuhilfenahme sehr aufwendiger molekulargenetischer Techniken (z. B. Pusch et al. 1998; Pusch et al. 2000). Und immer müssen treffende Kontrollen und kritische Dateninterpretation die molekularen Befunde überprüfen, damit vordergründig offensichtliche Beweise für genetische Ursachen von Krankheiten im altertümlichen Material entsprechend hinterfragt werden können (Pusch et al. 2004). Wenn aber die DNA-Gewinnung zu einem positiven Ergebnis führt, können anschließende genetische Untersuchungen sehr interessante Befunde liefern. So entdeckte man bei einer Ausgrabungskampagne bei Niederstotzingen im süddeutschen Raum in einem mittelalterlichen Gräberfeld ein Adeligengrab, in dem drei bewaffnete Merowinger ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Waren sie aus einem Adelsgeschlecht, möglicherweise Geschwister oder nur hervorragende Kämpfer des Stammes? Um mögliche Verwandtschaftsverhältnisse unter diesen drei Kriegern zu untersuchen, hat man ihre genetische Konstitution u. a. auch mit X/ Y-Geschlechtsmarkern Tabelle 1: Spezies Alter [D/ L] D [D/ L] A PCR Mammuthus 9.700 0,05 0,00 + Equus ferus 42.000 0,06 0,01 + Nothrotherium 13.000 0,17 0,01 - Glossotherium 15.000 0,34 0,29 - Eremotherium 13.000 0,60 0,27 - <?page no="234"?> 236 Nikolaus Blin und Carsten M. Pusch Abb. 4: Molekulargenetische Geschlechtsbestimmung mit Hilfe der chromosomalen Marker DYS390 (A) und Amelogenin (B). m männlich; w weiblich; k0 Leerkontrolle; km Positivkontrolle männlich; kw Positivkontrolle weiblich; M Längenstandard im Größenbereich von 50-150 bp. bestimmt (Zeller et al. 2000). Solche Marker, die DNA-Abschnitte von Geschlechtschromosomen repräsentieren, erlauben es, auch an schlecht erhaltenen oder sehr fragmentarischen Funden das männliche oder weibliche Geschlecht festzustellen (Abb. 4). Es wäre unfair, die Überraschung zu leugnen, die dem Test folgte. Während der größere der Drei erwartungsgemäß männlich war, war bei einer der kleineren Personen eindeutig das weibliche Geschlecht nachweisbar. Dieses entsprach in keiner Weise den kulturhistorisch zugrunde liegenden Erwartungen. Eine deutliche, wohl im Kampf zugezogene Knochenverletzung jedoch bestätigte, dass die Bewaffnung ein echtes Attribut und keine Grabbeigabe aus Höflichkeit oder nur wegen der Familienzugehörigkeit gewesen war. ➝ ➝ ➝ ➝ ➝ ➝ ➝ ➝ ➝ ➝ (B) Amelogenin 106 bp 112 bp m w k0 kw km (A) DYS390 120 bp ➝ ➝ ➝ ➝ ➝ m M w <?page no="235"?> 237 DNA und die Stammesgeschichte des Menschen Die dargestellte genetische Analyse erweist sich hier als eine sinnvolle Ergänzung der bisher üblichen archäologischen Techniken und kann durchaus für interessante neue Aspekte sorgen. Ausblick Die aufgeführten Beispiele belegen eindrucksvoll, welche Vielfalt an Informationen aus der molekulargenetischen Untersuchung historischer Funde und auch prähistorischen Materials gezogen werden kann. Vorausgesetzt werden allerdings penible Sorgfalt bei der methodischen Durchführung und kritische Interpretation der Resultate jenseits jeglicher Effekthascherei. Auch zeigen die bisherigen Daten, dass bei über eine Million Jahre alten Fundresten wohl kein verwertbares biologisches Material erhalten sein kann. Die genetische Rekonstruktion unserer recht entfernten Verwandten wie der bekannten Lucy, einem etwa 3 Millionen Jahre alten weiblichen Australopithecinen, wird daher nicht möglich sein. Das gilt natürlich erst recht für spektakuläre Fälle wie z. B. Untersuchungen an kreidebzw. jurazeitlichen Exemplaren von Tyrannosaurus rex. Auch wenn in einer so rasch fortschreitenden Wissenschaft wie der Molekularbiologie zukünftige Entwicklungen sehr schwer zu prognostizieren sind - sämtliche dargestellten Befunde sind noch keine 30 Jahre alt -, ist es durchaus vorstellbar, dass sich in 20 bis 30 Jahren ganze Institute ausschließlich mit dem genetischen Wiederaufbau ausgestorbener Arten beschäftigen. Dazu muss aber ausreichendes Erbmaterial zur Verfügung stehen - eine Voraussetzung, die für bestimmte Arten, wie z. B. den neuseeländischen Moa, die Dronte von den Inseln des Indischen Ozeans, das afrikanische Quagga oder gar das Mammut Sibiriens, gegeben sein könnte. Natürlich bedeuten solche Überlegungen und die reine Verfügbarkeit technischer Möglichkeiten nicht, dass wir als eine der vielen derzeit lebenden Spezies der Sorgfaltspflicht für unsere Umwelt enthoben sind. Auch eine neue Technik der genetischen Rekonstitution sollte kein Freibrief für das Abholzen der Urwälder, die Zerstörung der Korallenriffe und weiterer Biotope sein. Selbst dann, wenn man in der Lage wäre, vernichtete Spezies mühselig wieder zusammenzubasteln - wie immer man dabei vorgehen würde, die genetische Vielfalt ginge dabei verloren. Ein Rundblick in unsere nachbarschaftliche Umgebung erlaubt uns, die phänotypische Vielfalt unserer Spezies als Ausdruck unserer genetischen Variabilität zu beobachten. Dafür ist unser Auge trainiert. Bei einer anderen Zusammenstellung, einer Gruppe Menschen aus weit entfernten Ländern beispielsweise und erst recht bei anderen Tierarten, wie z. B. einer Schule Korallenfische, fällt das unvergleichlich schwerer. Dennoch: Obwohl für unser ungeübtes Auge die Unterschiede kaum auszumachen sind, repräsentiert sich auch hier eine genetische Vielfalt. Diese Vielfalt ist das eigentliche Potential einer jeden Art. <?page no="236"?> 238 Nikolaus Blin und Carsten M. Pusch Und auch wenn einige unvorteilhafte Mutationen die Randfelder einer Normalverteilung besetzen, ist doch die Mehrheit aller Erscheinungen vor allem Ausdruck der genetischen Variationsbreite. Daher können wir von „geeigneten“ oder „ungeeigneten“ oder gar „minderwertigen“ Genen ebenso wenig sprechen wie von „Supergenen“. Nur in ihrem jeweiligen Umweltkontext zeigt sich die Fitness einer genetischen Ausstattung. Als der H. sapiens sapiens in die Phase der sozio-kulturellen Evolution eintrat, also vor etwa 15.000 bis 30.000 Jahren, kamen Eigenschaften wie Sozialkompetenz, Lernverhalten und Gruppendynamik eine erheblich größere Bedeutung zu als vor einer halben bis einer Million Jahren, als Einzelgängertum und das Leben in kleinen Sippen oder Horden vorgeherrscht haben dürften. Wir wissen heute nicht, welche Überraschungen die weitere Evolution für uns bereithält. Aus biologischer Sicht ist es unhaltbar, heute ein genetisches Design des zukünftigen Menschen zu entwerfen und in der Keimbahn festzulegen. Trotz wachsender Kenntnisse um die evolutiven Kräfte - die nichts anderes sind als das Zusammenspiel ungerichteter Mutationen, hauptsächlich bedingt durch physikalische Einflüsse, d. h. Strahlung verschiedener Wellenlängen (United Nations Publications 1986), und der Selektion in Abhängigkeit von der jeweiligen Umwelt - sind wir nicht in der Lage, Aussagen über zukünftig benötigte Genpools zu machen oder ein quasi gerichtetes Gendesign für die auf uns zukommenden Aufgaben zu betreiben. In den Weiten des Weltalls mag es etliche Intelligenzen geben. Die immensen Entfernungen aber lassen uns allein in unserem Biotop. Bereits unser Nachbarplanet, der wohl doch leblose Mars, entzog sich bis dato unserer Erobererhand, was fehlgeschlagene Satellitenprojekte zu seiner Erkundung peinlichst belegen. Die Spezies Homo sapiens hat es in der eigenen Hand, wie sie mit diesem ihrem Biotop, dem Planeten Erde, als Lebensraum umgeht, und auch, wie sie die weitere Evolution für sich selbst gestaltet. Danksagung Allen Kollegen im neuen Studiengang Paläoanthropologie, insbesondere Herrn Prof. Conard, möchten wir für zahlreiche Anregungen danken. Die Osteologische Sammlung unter der Leitung von Herrn Dr. Czarnetzki war eine wertvolle Basis für eine Reihe von aDNA-Untersuchungen, und die erfreuliche Zusammenarbeit ist besonders erwähnenswert. Frau Dr. Zeller hat die molekulare Analyse des Adelsgrabes aus Niederstotzingen im Rahmen ihrer Dissertation durchgeführt; für die Überlassung der Daten sind wir zu Dank verpflichtet. <?page no="237"?> 239 DNA und die Stammesgeschichte des Menschen Literatur Bohossian, H. B., Skaletsky, H. u. Page, D. 2000: Unexpectedly similar rates of nucleotide substitution found in male and female hominids. Nature 406, 622-625. Cann, R., Stoneking, M. u. Wilson, A. C. 1987: Mitochondrial DNA and Human Evolution. Nature 325, 31-36. Cano, R. J., Poinar, H. N., Roubik, D. u. Poinar, P. O. 1992: Isolation and partial characterization of DNA from the bee Proplebeia dominicana (Apidae: Hymenoptera) in 25-40 million year old amber. Medical Science Research 20, 249-251. Di Rienzo, A. u. Wilson, A. 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Insofern spiegeln die Bestattungssitten einen gewichtigen Teil der Gedankenwelt unserer Vorfahren wider. Die Beziehungen der Lebenden zu den Toten lassen sich aus der Behandlung der körperlichen Überreste Verstorbener erschließen. Dass dabei zwischen Angehörigen der eigenen und Mitgliedern fremder Gruppen deutlich unterschieden wurde, ist anzunehmen. Vorwort „Die Urmenschen folgten keinen anderen Naturgesetzen als unsere heutige Generation; auch hier ist ein beständiger und sicher nicht der am wenigsten hartnäckige Kampf ums Dasein; denn gleich den Thieren vermehrt sich auch der Mensch in einer solchen Progression, daß wenn alle Menschen nur an Altersschwäche sterben würden, in Bälde eine Ueberbevölkerung, d. h. ein Mißverhältnis zwischen der Zahl der Lebenden und der Masse der Existenzmittel eintreten müßte.“ (…) „Wir sehen zuerst die Menschen, wie sie im Kampfe mit den reißenden Thieren ihre Höhlenwohnungen vertheidigen mußten, wir sehen, wie sie allmählich zu besserem Schutz und Wehr rohe Steinwaffen gebrauchen lernen und zur Ueberwindung der zahlreichen Schwierigkeiten des Lebens steinerne Werkzeuge ersinnen, die ihnen den <?page no="240"?> 242 Joachim Wahl Kampf um die Existenz besser bestehen halfen; wir sehen endlich auch, wie die ältesten Schädel schon die unverkennbaren Spuren gewaltsamer Verletzungen mit künstlichen Instrumenten tragen, wie also dieser Kampf ums Dasein nicht nur gegen die äußere, den Menschen umgebende Natur, sondern auch schon in Streitigkeiten zwischen Mensch und Mensch seine Wirkungen zu äußern begonnen.“ Diese Passagen entstammen dem Buch „Der vorgeschichtliche Mensch. Ursprung und Entwicklung des Menschengeschlechtes. Für Gebildete aller Stände“ von Friedrich von Hellwald, das im Jahre 1880 veröffentlicht wurde. Nur wenig mehr als einhundert Jahre später stieß man bei Talheim, Kreis Heilbronn, auf ein jungsteinzeitliches Massengrab, das die sterblichen Überreste von 34 Männern, Frauen und Kindern enthielt. Sie waren erschlagen oder durch Pfeilschüsse getötet und ihre Körper anschließend in einem eigens dafür ausgehobenen Erdloch entsorgt worden. Aus der Vielzahl möglicher Gründe für dieses Massaker seien nur drei genannt: Blutrache, Frauenraub oder Übernahme der vorhandenen Ressourcen. So repräsentiert dieser Fund in eindringlicher Weise den Kernpunkt des vorliegenden Beitrags - die Frage nach den Lebensbedingungen sowie der Art und Weise gewaltsamer Auseinandersetzungen in der Vorgeschichte (Abb. 1). Abb. 1: Tätliche Auseinandersetzung in Talheim vor 7.000 Jahren. Interpretation des Künstlers Tom Leonhardt in Anlehnung an die tatsächlich nachgewiesenen traumatologischen Befunde. <?page no="241"?> 243 Leben und Sterben in der Steinzeit Einleitung Der vorliegende Beitrag liefert weder eine vollständige Krankengeschichte des steinzeitlichen Menschen noch eine detaillierte Darstellung seiner vielfältigen Bestattungsrituale. Ebenso wenig sollen tätliche Gewalt oder Manipulationen an menschlichem Skelettmaterial einer moralischen Wertung unterzogen werden. Es geht vielmehr darum, schlaglichtartig die Aussagemöglichkeiten von Knochenresten mit Spuren pathologischer Veränderungen und perimortaler Gewalteinwirkungen sowie aus fraglichen Grabzusammenhängen in ihrem archäologischen Kontext bzw. vor dem Hintergrund der jeweiligen Lebensumstände zu beleuchten. Bei diesem Vorhaben geraten ganz unterschiedliche Lebensbereiche ins Blickfeld, denn Knochen und Zähne gestatten vielfältige Einblicke in die Welt unserer Vorfahren - je nachdem, ob sie uns isoliert als Streufunde, im anatomischen Zusammenhang als Bestattungen oder auf andere Weise beseitigte Leichname oder als bearbeitete Gegenstände profanen wie magischen Charakters entgegentreten und je nachdem, welche Untersuchungsmethoden zur Anwendung kommen. Die Knochen selbst geben Auskunft über das Sterbealter des Betroffenen, sein Geschlecht, seine Körpergröße, pathologische und verletzungsbedingte Veränderungen. Dazu kommen Hinweise auf die Ernährung, entweder direkt über Abrasionsmuster der Zähne und Spurenelementuntersuchungen am Knochen oder indirekt in Form von makroskopisch oder im Röntgenbild erkennbaren Phänomenen, die auf Entwicklungsstörungen und/ oder Mangelsituationen zurückgehen. Andere Spuren liefern Aufschlüsse über medizinische Kenntnisse und eventuell geschlechtsspezifische Verletzungsrisiken. Die Zusammenschau aller Individualdiagnosen einer Nekropole erlaubt weiterhin Aussagen zu Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und anderen demographischen Parametern einer bestimmten Populationsstichprobe. Die Analyse der Strontiumisotopenverhältnisse, die der lokalspezifischen Nahrungskette entsprechend ausfallen, liefert Anhaltspunkte dazu, ob einzelne Personen bodenständig, d. h. am Ort aufgewachsen, oder zugewandert sind. Traumatische Defekte können auf bestimmte Gerätschaften zurückgeführt und im Hinblick auf eine konkrete Täter-Opfer-Geometrie gedeutet werden. Anatomische Besonderheiten oder DNA-Analysen machen Verwandtschaftsdiagnosen möglich. Und aus dem Zustand und der Vollständigkeit der angetroffenen Skelettreste lassen sich die Bestattungssitten sowie andere (rituelle) Praktiken, aus dem Umgang mit den Toten nicht zuletzt auch Jenseitsvorstellungen ableiten. Typognostische Merkmale endlich liefern Details zur Evolutionsbiologie des Menschen und damit zusätzliche Anhaltspunkte zur Theorienbildung von Abstammungslinien und Stammbäumen. <?page no="242"?> 244 Joachim Wahl Die anthropologische Untersuchung von Skelettresten ist demnach der Schlüssel zu einer ganzen Reihe von Erkenntnissen und gleichzeitig ein Paradebeispiel für interdisziplinäre Forschung. Sie entfaltet ihr volles Potenzial erst im Zusammenspiel mit Nachbardisziplinen wie z. B. Ur- und Frühgeschichte, Archäologie, Völkerkunde, (Gerichts-)Medizin, Biochemie, Geologie und Paläontologie, Bodenkunde, Demographie, Soziologie und Konfliktforschung. Von den genannten Parametern können im vorgegebenen Kontext nur einige wenige grob angerissen werden. Ernährung Einer der unmittelbarsten Faktoren im Kampf ums Dasein ist zweifellos die Nahrungsbeschaffung. Je nach Lebensweise, Umwelt, Klima und sozialer Stellung sowie unter Ausnutzung der gegebenen technischen Möglichkeiten verbrachten unsere Vorfahren entweder nur wenige Stunden täglich mit der Deckung des Grundbedarfs, oder sie waren ständig auf der Suche nach Essbarem. Erst ein - gelegentliches - Überangebot ermöglichte eine gewisse Vorratshaltung. Da der Mensch über 98 % seiner Entwicklungsgeschichte als Jäger und Sammler verbrachte, stecken die entsprechenden Verhaltensweisen auch heute noch in uns. Als entscheidende Einschnitte gelten die Fähigkeit, Feuer zu entfachen und dessen Nutzung zur Nahrungszubereitung sowie die Entwicklung zunehmend komplizierterer Jagdwaffen und -methoden. Die Einführung von Ackerbau und Viehzucht erfolgte regional unterschiedlich (Schlott 1992). Die frühesten Menschenformen dürften sich in der Übergangszone zwischen Regenwald und Savanne mit reichlich pflanzlichem Angebot entwickelt haben. Dort bot sich als altgewohnte Rückzugsmöglichkeit noch die Flucht auf die Bäume. Man geht davon aus, dass sie sich u. a. auch als Aasfresser betätigten. Als aktive Jäger waren sie später abhängig von den regionalen Gegebenheiten. Das Spektrum an Jagdtieren und Sammelpflanzen korreliert unmittelbar mit dem Klima bzw. der Vegetation. Als typisch kaltzeitlich gelten z. B. Rentier, Moschusochse, Mammut und Wollnashorn, als typisch warmzeitlich Elefant, Damhirsch, Nashorn, Flusspferd und Wasserbüffel. Als indifferent eingeschätzt werden Riesenhirsch, Pferd, Rothirsch, Auerochse und Wisent. Dazu kommen je nach Lebensbereich u. a. noch Reh, Wildschwein, Gämse und Steinbock. Die Späteiszeit ist in unseren Breiten durch eine Tundravegetation gekennzeichnet. Mammute kommen nur noch vereinzelt vor, dafür aber Rentiere in großer Zahl. Die altsteinzeitlichen Rentierjäger deckten ihren Fleischbedarf fast ausschließlich aus dieser Ressource, Beerenpflanzen lieferten die zusätzlich erforderlichen Kohlehydrate (Behre 2002). Bei einer Mindestra- <?page no="243"?> 245 Leben und Sterben in der Steinzeit tion von 2.000 Kalorien pro Person und Tag in kaltem Klima ergibt sich für einen Clan von 30 Personen ein Bedarf von 50 bis 60 kg Fleisch täglich, was einem ausgewachsenen Wildrind oder zwei bis drei Rentieren pro Woche entspricht (Tannahill 1979a; Schlott 1992). Als Art der Nahrungsaufbereitung wird bereits für die Altsteinzeit neben direktem Garen über dem Feuer auch das Kochen mit heißen Steinen angenommen (Schlott 1992). Für die Zeit des Magdalénien (ca. 18.000/ 15.000 bis 11.500) lässt sich hinsichtlich der Jagdmethoden eine Spezialisierung - z. B. durch den Einsatz von Harpunen gegen größere Landsäugetiere - nachweisen. Mit der Verwendung von Speerschleudern werden Wurfweite und Durchschlagskraft der Speere entscheidend verbessert. Schätzungen zur Bevölkerungsdichte reichen bis zu 25.000 Menschen im Bereich Westdeutschlands. Eine weitere revolutionäre Innovation datiert in den Zeitraum von ca. 10.000 vor heute: die Einführung von Pfeil und Bogen. Mit dem Mesolithikum verdoppelt sich die Bevölkerung. Bevorzugte Jagdtiere sind Rothirsch, Reh, Ur und Wildschwein, dazu kommt der Fischfang mit ausgefeilten Methoden (ebd.). Unter den gesammelten Wildfrüchten dominieren die Haselnüsse, vielleicht auch nur aufgrund der besseren Erhaltungschancen ihrer harten Schalen. Den größten Einschnitt unserer Vorgeschichte stellt zweifellos die Einführung von Ackerbau und Viehzucht, die so genannte „Neolithische Revolution“, dar. Erfunden rund 2.000 Jahre früher im Gebiet des „Fruchtbaren Halbmonds“, erreichten diese Kenntnisse über Anatolien und Südosteuropa im 6. Jahrtausend v. Chr. Mitteleuropa, zusammen mit domestizierten Schafen und Ziegen, deren Wildformen bei uns nicht vorkamen. Mit der Sesshaftigkeit gehen Hausbau, Produktion von Keramik in größerem Stil, Herstellung geschliffener Steinbeile sowie eine explosionsartige Vermehrung der Bevölkerung einher. Rodungen ermöglichten kleinflächigen Ackerbau und Viehhaltung in Pferchen. In Ermangelung großer, freier Weideflächen musste höchstwahrscheinlich verstärkt mit Laubheu gefüttert werden, indem Zweige von Linden, Ulmen und Eschen geschnitten wurden (Behre 2002). Schweine trieb man, wie auch mancherorts noch im vorigen Jahrhundert, zur Mast in die Eichen- und Buchenwälder. Der Anteil von Jagdwild in den frühneolithischen Fundkomplexen ist regional unterschiedlich. Bei den Bandkeramikern Süddeutschlands stammt ein Großteil des konsumierten Fleisches von Wildtieren, im mitteldeutschen Raum spielen sie dagegen eine eher untergeordnete Rolle (Benecke 2002). Zur Anfertigung von Artefakten aus Tierknochen wurden jedoch Wildtierknochen und Geweih aufgrund ihrer höheren Elastizität und Druckfestigkeit gegenüber den spröderen Haustierknochen stets bevorzugt (Kokabi et al. 1994). Auf den sandigen Böden des norddeutschen Tieflands setzte die produzierende, sesshafte Lebensweise erst 1.500 Jahre später ein. Bis zum Beginn der so genannten Trichterbecherkultur ab etwa 4.100 v. Chr. lebten im ge- <?page no="244"?> 246 Joachim Wahl samten südwestlichen Ostseeraum noch Jäger und Sammler. Ihr Nahrungsspektrum bestand überwiegend aus Wild, Fisch, Muscheln und Seevögeln, lediglich die Idee der Keramikherstellung hatten sie bereits von den südlichen Bauernkulturen übernommen (Lübke 2002). Ihr „Markenzeichen“ sind die berühmten, „Kjökkenmöddinge“ genannten Muschelhaufen. Nach einer Berechnung von Christoph Schlott und Christoph Willms (1992) bilden rund 50.000 Austern das Kalorienäquivalent zu einem einzigen Rothirsch. Rückschlüsse auf die einstige Nahrung liefern allerdings nicht nur die Speiseabfälle, sondern auch die menschlichen Skelettreste selbst. Ähnlich der mikroskopischen Untersuchung von Gebrauchsspuren an Artefakten lassen sich über charakteristische Mikroläsionen wie linsenförmige oder furchenartige Defekte und Abnutzungsmuster auf den Kauflächen der Zähne bzw. deren Orientierung und Dimensionen auf die Bevorzugung prinzipiell unterschiedlicher Nahrungskomponenten schließen (Henke u. Rothe 1997). Sie hängen zudem vom Alter des Individuums, von der Härte des Zahnschmelzes sowie dem Druck und der Scherkraft beim Kauen ab. Derartige Abweichungen im Verhältnis so genannter pits (punktförmige Defekte) und scratches (Kratzer) wurden u. a. bei robusten und grazilen Australopithecinen gefunden. Eine einfache Zuordnung zum Verzehr z. B. bestimmter Pflanzenarten ist damit allerdings nicht möglich. Neben den ernährungsbedingten Alterationen spielt in diesem Zusammenhang zudem die Werkzeugfunktion des Kauapparates eine nicht unbedeutende Rolle (s. u.; Trinkaus u. Shipman 1993). Exakte Aussagen über die Verteilung vegetabilischer oder tierischer Nahrungsanteile versprachen Spurenelementanalysen des Knochenminerals. Inzwischen hat sich allerdings herausgestellt, dass die Mechanismen bei der Anbzw. Abreicherung bestimmter Minerale während der Lagerung im Boden noch nicht hinreichend genau abgeschätzt und gegenüber den Vorgängen im nativen Knochen abgegrenzt werden können (Fabig 2002). Seit einigen Jahren widmet man sich daher in verstärktem Maße der Analyse der Isotopenverhältnisse von Stickstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff, Strontium u.a. Elementen. Dass sogar in jüngeren Epochen Mitteleuropas nicht durchgehend mit festen Siedlungen, sondern ebenso mit Wanderbauern zu rechnen ist, zeigen Untersuchungen an endneolithischen Skelettresten aus dem Taubertal. Unter Berücksichtigung der klimatisch-geographischen Gegebenheiten, der offenbar vorwiegend auf proteinreichen Nahrungsmitteln tierischer Herkunft (Fleisch und Milch) basierenden Subsistenz, spezifischer Tätigkeitsmuster, die eher auf Hirten als auf Bauern schließen lassen, demographischer Parameter sowie des Fehlens eindeutiger Belege dauerhafter Behausungen kann - wie bereits in älteren Theorien zur schnurkeramischen Kultur vermutet - zumindest für Teilpopulationen dieser Region eine mobile, pastorale Lebensweise angenommen werden (Menninger 2005). <?page no="245"?> 247 Leben und Sterben in der Steinzeit Pathologie Pathologische Veränderungen an Zähnen und Knochen spiegeln lediglich einen kleinen Teil der Morbidität einer Population wider. Trotzdem ermöglichen sie wesentliche Einblicke in die Lebensbedingungen prähistorischer Bevölkerungen. Die meisten Krankheiten sind knochenstumm und hinterlassen bestenfalls indirekte Spuren in Form von Wachstumsstörungen, Atrophien oder anderen Sekundärerscheinungen. Zu den häufigsten Befunden gehört erwartungsgemäß der Nachweis von Stressfaktoren aufgrund von Mangelernährung und Infektionskrankheiten, die sich z. B. in Form von Cribra orbitalia (poröse Knochenauflagerungen im Bereich des Augenhöhlendachs), Schmelzhypoplasien (Wachstumsstörungen im Bereich des Zahnschmelzes) oder so genannten Harris-Linien (im Röntgenbild als horizontale Verdichtungslinien erkennbare Wachstumszonen im Bereich der Extremitätenknochen) manifestieren. Lage und Ausprägung bestimmter Entwicklungsstörungen erlauben dann auch bei älteren Individuen noch eine Zuordnung, in welcher Wachstumsphase eine Mangelsituation eingetreten ist. Diese Prozesse stehen vielfach in unmittelbarem Zusammenhang mit Hypovitaminosen wie Skorbut und Rachitis sowie unzureichender Versorgung mit bestimmten Spurenelementen, Proteinen und Mineralien, die wiederum den Boden für lebensbedrohende Erkrankungen bereiten und damit mitverantwortlich für eine hohe Kindersterblichkeit sind (Carli-Thiele 1996; Schultz 1990). Ebenso weit verbreitet sind Veränderungen im Bereich des Kauapparates und Verschleißbzw. Degenerationserscheinungen im Bereich der Wirbelsäule und Gelenke. Neben Entzündungen des Parodontiums, Anlagerungen von Zahnstein, Granulomen und Abszessen sind vor allem kariöse Defekte zu nennen sowie intravitale Zahnverluste, die meist ebenfalls auf Karies zurückzuführen sind (Abb. 2). Mit 2,5 % bzw. 2,8 % liegt z. B. die Kariesmorbidität in den bandkeramischen Serien von Stuttgart-Mühlhausen und Talheim noch deutlich unter dem für die endneolithischen Gräber der schnurkeramischen Kultur im Taubertal eruierten Wert von 3,7 %. In den nachfolgenden metallzeitlichen Epochen steigt dieser Anteil auf über 5 %, im Frühmittelalter auf ca. 10 %. Hier spielen genetische und soziale Aspekte eine Rolle, also Härte und Dicke des Zahnschmelzes sowie die Zusammensetzung der Nahrung, insbesondere aber die Ernährungsgewohnheiten wie das Quantum an Kohlehydraten, die Nahrungszubereitung und die Mundhygiene. Einer der ältesten Funde mit ausgedehnten kariösen Defekten ist der ins späte Mittelpleistozän datierte so genannte „Rhodesia- Mensch“ aus dem Bergwerk Broken Hill in Sambia, bei dem elf Zähne von Zahnfäule zerstört waren und zusätzlich mindestens vier Wurzelabszesse alleine im Oberkiefer diagnostiziert werden konnten (Gieseler 1974; Henke u. Rothe 1999). In dasselbe Umfeld gehört die Abkauung der Zähne, die vor <?page no="246"?> 248 Joachim Wahl allem von abrasiven Bestandteilen in der Nahrung, allerdings auch von der Neigung zum Knirschen und anderen Faktoren abhängig ist. Aufgrund rasch fortschreitender Abnutzung sind die Kauflächen der Zahnkronen im Neolithikum auch in höherem Alter fast frei von Fissurenkaries; die häufigste Form ist die Zahnhalskaries. Die tendenziell bei Frauen stärkere Abrasion könnte auf das Vorkauen der Nahrung während der Entwöhnungsphase der Säuglinge zurückgehen. Ein weiteres, in der Mehrzahl der untersuchten Serien beobachtetes Phänomen bei jungsteinzeitlichen Skelettresten sind auffallend stark abradierte obere Frontzähne. Da ihre Antagonisten im Unterkiefer einen geringeren, eher altersgemäßen Abnutzungsgrad aufweisen, ist dieser Befund nicht mit normalen Kauaktivitäten zu erklären. Es scheint vielmehr, als ob die Zähne im Rahmen bestimmter handwerklicher Tätigkeiten als „dritte Hand“ eingesetzt wurden - ein Phänomen, das häufig auch bei paläolithischen Gebissen angetroffen wird. Eine Werkzeugfunktion ergibt sich z. B. beim Walken von Leder, Pflanzenresten o. Ä., wenn das zu bearbeitende Material mit dem/ n Daumen von unten gegen die Zähne gepresst wird. Tatsächlich sind nicht wenige Frontzahnreihen zum Gaumen oder nach außen hin verrundet. Hochgradig abgekaute Zähne mit in die Pulpahöhlen eingelagertem Sekundärdentin weist u. a. die ca. 50bis 60-jährige Frau aus Binshof bei Speyer auf, die zudem durch deutliche Asymmetrien im Bereich des Gesichtsskelet- Abb. 2: Ober- und Unterkiefer eines spätmaturen Mannes aus dem bandkeramischen Massengrab von Talheim mit stark abgekauten Zähnen sowie verschiedenen krankhaften Veränderungen: Parodontose, Wurzelabszess, intravitaler Zahnverlust. <?page no="247"?> 249 Leben und Sterben in der Steinzeit tes auffällt und früher in das Gravettien gestellt wurde, nach jüngeren Untersuchungen aber in die Bronzezeit datiert wird (Henke 1982; Terberger und Street 2001). Degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule fallen in den vorliegenden Kollektiven aus dem Neolithikum meist altersgemäß aus und lassen nur selten auf übermäßige oder gar unphysiologische körperliche Belastungen schließen. Es handelt sich vorwiegend um Spondylose und Spondylarthrose in verschiedenen Stadien bis hin zur Blockwirbelbildung. Ähnliches gilt für arthritische Erscheinungen an den großen und kleinen Gelenken des Postkraniums. Als Beispiel sei der bislang als jungpaläolithisch und neuerdings als spätneolithisch-frühbronzezeitlich eingestufte frühmature Mann (Stetten I) aus der Vogelherd-Höhle bei Stetten ob Lontal genannt, von dem ein Blockwirbel aus der Lendenwirbelregion sowie eine fortgeschrittene Arthrose des rechten Kiefergelenks dokumentiert sind (Conard 2004; Czarnetzki 1983). Das Muskelmarkenrelief bestimmter Skelettregionen weist in verschiedenen Fällen auf ein gewisses Training hin, nach dem einzelne Körperpartien offensichtlich stärker beansprucht wurden als andere, wie z. B. die Oberarme von Individuum 4 der Mehrfachbestattung der Michelsberger Kultur aus Heidelberg-Handschuhsheim. Bei anderen Skeletten gehen derartige Hypertrophien quasi kompensatorisch mit schwerwiegenden pathologischen Erscheinungen einher - wie bei der jungen Frau aus Schwieberdingen, deren Grab am Übergang vom Mittelzum Jungneolithikum angelegt wurde. In diesem Fall haben Knochen auflösende Prozesse vom fünften Brustwirbel abwärts mindestens zehn Wirbel ganz oder teilweise zerstört (Abb. 3). Die Folge war ein Zusammenbruch des Stammskeletts mit dramatischer Abknickung der Wirbelsäule. Differentialdiagnostisch kommen als Ursache verschiedene Krankheitsbilder in Frage, u.a. eine chronische Niereninsuffizienz, am ehesten aber Knochentuberkulose und Brucellose, die über einen längeren Zeitraum bestanden haben müssen. Besonders ausgeprägt war die Nackenmuskulatur, um den Kopf so anzuheben, dass der Blick nach vorne möglich war. Das Muskelmarkenrelief im Arm- und Schulterbereich ist deutlich schwächer ausgebildet als das der unteren Extremitäten, da der Oberkörper kaum mehr belastet werden konnte (Joachim u. Wahl 2001). Eine weitere Gruppe von Befunden stellen die Frakturen und Luxationen dar. In neolithischem Kontext treten Knochenbrüche eher selten auf. Sie sind meist in Fehlstellung, aber ohne größere Kallusbildung verheilt und lassen sich in der Regel auf Stürze, manchmal auch tätliche Auseinandersetzungen zurückführen (Jurmain 1999). Die Behandlung zielte offenbar mehr auf die Ruhigstellung der betreffenden Körperpartie als auf die Einrichtung des Bruches. Zaghafte Hinweise zur medizinischen Versorgung einer Verletzung im Bereich des linken Jochbeins vermittelt der Befund eines etwa 50-jährigen Mannes aus dem bandkeramischen Gräberfeld von Stuttgart- Mühlhausen. Dabei waren allem Anschein nach kleinere Knochensplitter <?page no="248"?> 250 Joachim Wahl entfernt worden. Außerdem konnten entzündliche Reaktionen vermieden werden. Aus demselben Gräberfeld ist die verheilte Unterarmfraktur eines etwa 40bis 50-jährigen Mannes überliefert. Sowohl Ulna als auch Radius waren im distalen Schaftdrittel gebrochen, das typische Erscheinungsbild einer so genannten Parierfraktur. Der zeitgleiche Schädel eines maturen Mannes aus Tamm-Hohenstange weist einen verheilten Lochbruch oberhalb der äußeren linken Gehörgangsöffnung auf. In diesem Fall war die ca. 2 cm in das Schädelinnere ragende Trümmerpyramide nicht ausgeräumt worden, was eine Beeinträchtigung des betreffenden Hirnareals, möglicherweise Sprachstörungen, verursacht haben dürfte. Aufgrund harter Umweltbedingungen waren die Neandertaler vergleichsweise häufig von Knochenbrüchen betroffen. Lage und Schwere der Abb. 3: Sechster bis zehnter Brustwirbel einer vermutlich an einer Coinfektion von Knochentuberkulose und Brucellose erkrankten 20bis 25-jährigen Frau aus Schwieberdingen mit ganz oder teilweise aufgelösten Wirbelkörpern und markanter Abknickung der Körperachse nach vorne. <?page no="249"?> 251 Leben und Sterben in der Steinzeit Frakturen lassen sie am ehesten mit Verletzungen vergleichen, wie sie bei Rodeoreitern vorkommen. Auch die von Rudolf Virchow noch als altersbedingte Arthrose diagnostizierte Veränderung an der linken Elle des berühmten Neandertalers von 1856 konnte neuerdings als Folge einer Trümmerfraktur, die Drehung und Achsenabweichung im Schaftbereich als gut verheilte so genannte Monteggia-Fraktur angesprochen werden (Czarnetzki u. Pusch 2002). Die fehlende Kallusbildung spricht für eine gute Osteosynthese sowie ein Geschehen, das lange vor dem Tode des betroffenen Individuums stattgefunden hat. Der berühmte Fall des 35bis 40-jährigen Mannes aus der Shanidar-Höhle im Nordirak, dessen rechter Arm wahrscheinlich von Geburt an verkümmert war, belegt zudem, dass die Neandertaler mit Behinderten durchaus fürsorglich umgingen. Ähnliches gilt auch für die junge Bandkeramikerin aus Talheim (Ind. 84/ 4), die unter einer angeborenen Hüftgelenksluxation zu leiden, aber mindestens einmal geboren hatte. Ihr rechter Oberschenkelkopf ist pilzförmig deformiert, die zugehörige Hüftgelenkspfanne abgeflacht und erweitert. Das rechte Bein war demnach um einige Zentimeter kürzer und die Frau stark gehbehindert (Wahl u. König 1987). Die beachtliche Knochenexostose im oberen Schaftdrittel des 1892 von Eugen Dubois auf Java gefundenen linken Pithecanthropus-Femurs soll dagegen für den Betroffenen keine nennenswerte Behinderung dargestellt haben (Gieseler 1974; zur Nomenklatur dieses Stückes s. a. Henke u. Rothe 1999). Komplexere Untersuchungen zu Krankheitsbefunden an den Knochenresten jungsteinzeitlicher Kinder erbrachten u. a. den Nachweis entzündlicher und hämorrhagischer Prozesse, die teilweise rezidivierend, d. h. in Schüben wiederkehrend, auftraten und typische Symptome von Meningitis oder chronischer Entzündung der Nasennebenhöhlen darstellen (Schultz 1990). In offene Wunden eindringende Erreger führten ebenfalls zu entzündlichen Reaktionen wie Periostitis und Osteomyelitis. Aus dem frühneolithischen Friedhof von Stuttgart-Mühlhausen sind bei verschiedenen Individuen umschriebene Knochennekrosen oder -neubildungen überliefert. Sie belegen z. B. für den Mann aus Grab 71 einen Primärtumor im Weichteilbereich, der bereits plastische Metastasen gesetzt hat. Da andere Krebsarten eher mit osteolytischen Prozessen einhergehen, ist hier mit einiger Wahrscheinlichkeit Prostatakrebs zu diagnostizieren. Einen gutartigen Schädeltumor, ein so genanntes Meningeom, wies dagegen der zunächst ins Jungpaläolithikum gestellte 30bis 40-jährige Mann „Stetten II“ auf (Weber et al. 2002). Seine Datierung wurde jedoch durch neuere Untersuchungen in Frage gestellt (Conard et al. 2004). Die Veränderungen am rechten Scheitelbein eines jugendlichen Individuums aus der Lazaret-Höhle bei Nizza wurden wiederum als Folgen eines posttraumatischen Meningeoms diskutiert (Gieseler 1974). Nicht selten problematisch erscheint die Abgrenzung zwischen Krankheitsbefunden und Erosionsdefekten sowie zwischen pathologischen bzw. <?page no="250"?> 252 Joachim Wahl traumatischen Erscheinungen und taphonomischen Prozessen (Efremov 1940; Behrensmeyer et al. 1986). Als Beispiele seien lediglich die Verwechslungsmöglichkeiten von trampling marks, tooth puncture marks und Schlagspuren oder von Gefäßimpressionen, Verbiss- und Schnittspuren genannt (z. B. Eickhoff u. Herrmann 1985; Ubelaker 1991). Zur Differenzierung ähnlicher Erscheinungen bedarf es einer akribischen Analyse, denn so mancher Befund ist nur aufgrund von Fehlbeurteilungen bzw. so genannten Pseudospuren zunächst berühmt und später wieder entzaubert worden (s. u.). Gewalteinwirkungen Die drastischste Form des Kampfes ums Dasein ist die Anwendung von Gewalt. Dies kann in sehr unterschiedlicher Form und Dimension, unter verschiedenen Bedingungen und gleichzeitig aus gegensätzlicher Motivation geschehen. Zudem berührt dieser Themenkomplex nicht nur eine physische, sondern gleichermaßen eine psychische und eine philosophisch-emotionale Ebene. In diesem Dickicht aus genetischer Veranlagung und bewusstem Handeln sowie mystischer Vorstellung und tradierter Überlieferung ist es nahezu unmöglich, eine wertfreie Beurteilung vorzunehmen. Dies gilt umso mehr, wenn von jahr(hundert)tausendealten Kulturen lediglich minimale Sachüberreste oder Skelettteile vorliegen. So repräsentiert nach einer Zusammenstellung von Herbert Ullrich (1992) statistisch gesehen ein einziger europäischer Menschenknochenfund im Mindel-Glazial einen Zeitraum von über 10.000 Jahren, im Riß-Würm-Interglazial fast 2.000 Jahre, im Würm-I/ II-Interstadial knapp 300 Jahre und im Würm-III-Stadial drei bis vier Jahre. Der heutige Interpret früherer Lebensäußerungen ist dabei nicht frei von Ethnozentrismus. Es bleibt ihm also kaum mehr als der Versuch einer sachlichen Beschreibung. Doch schon hier tun sich erste Probleme auf, wie z. B. die Unterscheidung von Gewalteinwirkungen, die kurz vor oder nach dem Tode eines Individuums eingetreten sind. Der Knochen reagiert auf Biege- und Druckbelastung biophysikalisch gleich, solange er noch einen gewissen Anteil organischer Substanz enthält, und das kann - je nach Liegemilieu - noch Jahre nach dem Tode des Individuums der Fall sein. Man spricht daher von perimortalen Traumatisierungen, die um den Todeszeitpunkt herum entstanden und für einen längeren Zeitraum nicht von postmortalen Läsionen zu unterscheiden sind. Des Weiteren manifestieren sich, wenn keine Weichteile überdauert haben, Heilungserscheinungen und damit ein bestimmter Überlebenszeitraum am Knochen erst Tage nach dem Ereignis. Verheilten Defekten wiederum sieht man nicht an, ob sie erst einige Monate oder bereits mehrere Jahre vor dem Tode des Betroffenen entstanden sind. <?page no="251"?> 253 Leben und Sterben in der Steinzeit Charakteristische Frakturlinien, Bruchterrassen und Berstungsausläufer gehen auf Gewalteinwirkungen am Knochen zurück, wie sie aus verschiedenen Fundzusammenhängen aus dem Paläolithikum, Mesolithikum und Neolithikum bekannt sind. Dabei wurden sowohl vollständige Skelette als auch Einzelknochen mit unverheilten Traumatisierungen gefunden. Als Beispiele unterschiedlicher Deutung seien der bereits erwähnte, heute als Homo heidelbergensis eingestufte Rhodesia-Mensch sowie der 1933 in einer Kiesgrube bei Steinheim an der Murr gefundene, mindestens 300.000 Jahre alte Schädel erwähnt. Ersterer wird in eine frühe Phase des Middle Stone Age datiert und weist verschiedenartige Beschädigungen vor allem im Bereich des linken äußeren Gehörgangs in Form von Perforationen und rinnenförmigen Schürfungen auf (Gieseler 1974). Diese Defekte werden als Gewalteinwirkungen durch Zeitgenossen diskutiert, die versuchten, einem Verstorbenen die Schädelkapsel zu öffnen, könnten aber auch auf die Fangzähne eines Raubtieres zurückzuführen sein. Letzterer zeigt einen großflächigen Impressionsdefekt auf der linken Seite sowie Deformationen und Fehlstellen im Bereich der Schädelbasis, die von einem Untersucher als postmortal entstanden, von einem anderen als Hinweise auf eine tödliche Verletzung bzw. künstliche Erweiterung des Foramen magnum interpretiert werden (Czarnetzki 1983; Adam 1984). Der Schädel war mit der linken Seite nach oben liegend aufgefunden und die besagten Läsionen bereits vom Erstbeschreiber Fritz Berckhemer als durch den Druck des darüber liegenden Sediments angesprochen worden. Die Abtragungen in der Basalregion könnten während des Wassertransports entstanden sein. Die Schädeldachverletzung an dem mittelpaläolithischen Schädel eines achtbis neunjährigen Kindes aus Engis in Belgien ist dagegen eindeutig traumatischen Ursprungs (Ullrich 1997). Die Spuren an den Skelettresten des Jungpaläolithikers von Neuessing sehen so aus, als hätte man versucht, die Knochen in den Hüft- und Kniegelenken zu exartikulieren - vergleichbar mit den Befunden bei einem jungpleistozänen, ca. 25-jährigen Mann aus der Amud-Höhle in Israel (Gieseler 1953). Um weitere zweifelsfreie Fälle handelt es sich u. a. auch bei der mesolithischen Kopfbestattung aus der fast 50 m tiefen Höhle Hohlenstein-Stadel. Die drei Schädel stammen von einem 25bis 30-jährigen Mann, einer Frau von ca. 20 bis 25 Jahren und einem etwa eineinhalb bis zwei Jahre alten Kind, die nach Ausweis der epigenetischen Merkmale wahrscheinlich miteinander verwandt sind (Czarnetzki 1983). Bei beiden Erwachsenen liegen eindeutige Spuren stumpfer Gewalteinwirkung auf die jeweils linke Schädelseite vor; die Defekte am Kinderschädel stellen wohl eher Sprödbrüche dar. Schnittspuren an den mitgefundenen Halswirbeln belegen, dass die Köpfe der Getöteten noch im Muskel- und Sehnenverband vom Rumpf getrennt und anschließend in einer Rötelgrube im Bereich des Höhleneingangs mit Blick nach Südwesten (höhleneinwärts) niedergelegt wurden (Wahl 2000; Wahl u. Haidle 2004). <?page no="252"?> 254 Joachim Wahl Wie häufig es in der Frühzeit des Menschen zu tätlichen Auseinandersetzungen gekommen ist, lässt sich aufgrund der geringen Fundzahlen kaum beurteilen. Auch wenn die Archäologen über Jahrzehnte hinweg das Klischee des per se friedlichen Landwirts pflegten, dürfte es mit dem Beginn der Sesshaftigkeit, spätestens aber im mittleren bis jüngeren Frühneolithikum, öfter zu gewalttätigen Begegnungen auch zwischen Gruppen gekommen sein. Einer der spektakulärsten Funde der bandkeramischen Kultur stammt aus Talheim im Kreis Heilbronn. Dort wurde 1983/ 84 ein Massengrab entdeckt, das aufgrund zweier 14 C-Messungen auf ein kalibriertes Alter von ca. 7.000 Jahren datiert werden kann. Die Skelettgrube war ca. 3 m lang und Abb. 4: Rekonstruktion zur Lage der Individuen in dem bandkeramischen Massengrab von Talheim. Die gerasterten Flächen markieren die Kinder und Jugendlichen. <?page no="253"?> 255 Leben und Sterben in der Steinzeit bis zu 1,5 m breit, hatte schräg stehende Wände und eine ebene Sohle. Bei Geländebegehungen war bereits über 50 Jahre früher in einer Entfernung von 20 bis 30 m eine Siedlung dieser Kultur registriert worden. Die Knochen führende Schicht war auf 10 bis 12 cm komprimiert, die meisten Schädel infolge des Erddrucks und häufigen Wechsels zwischen feuchtem und trockenem Milieu postmortal deformiert. Zur Oberfläche hin waren die Skelette verzogen, lediglich noch einzelne Extremitäten und Wirbelsäulenabschnitte in ihrem anatomischen Zusammenhang erkennbar. Im Bereich der Grubensohle ließ sich dagegen die Körperhaltung einzelner Individuen klar nachvollziehen (Abb. 4). Es war offensichtlich, dass die Toten nicht in der für diese Zeit üblichen Hockstellung niedergelegt, sondern regellos in die Grube geworfen worden waren (Wahl u. König 1987). Die anthropologische Untersuchung ergab Skelettreste von 34 Personen: neun Männer, sieben Frauen, zwei Erwachsene unbestimmten Geschlechts sowie 16 Kinder (sieben infans I, sechs infans II und drei Jugendliche), die zweifelsfrei gleichzeitig beseitigt wurden. Das jüngste Individuum dürfte etwa zwei, das älteste um 60 Jahre alt gewesen sein. Unter demographischen Gesichtspunkten kann es sich durchaus um die (komplette) Population eines Dorfes handeln. Statistisch gesehen fehlen - wenn überhaupt - maximal drei bis vier Säuglinge. Nach der Verteilung der epigenetischen und odontologischen Merkmale sind für das gesamte Ensemble mindestens vier verschiedene Abstammungslinien anzunehmen, die u. U. mit ebenso vielen separaten Familienbzw. Wohneinheiten einhergehen. DNA-Analysen stehen noch aus. Die detaillierte Inspektion der Knochenreste erbrachte eindeutige Belege dafür, dass die Talheimer erschlagen worden waren. Charakteristische Frakturen und Kantenprofile sind infolge Gewalteinwirkung am frischen Knochen entstanden. Insgesamt weisen 20 Schädel Spuren unverheilter Traumatisierungen auf (Abb. 5). Bei der Hälfte davon lassen sich zwei, drei oder Abb. 5: Schädel eines adulten Mannes aus dem bandkeramischen Massengrab von Talheim mit geformtem, spitzovalen Lochbruch im Os occipitale: a ohne und b mit eingepasstem zeittypischen Steinbeil. a b <?page no="254"?> 256 Joachim Wahl noch mehr Defekte pro Individuum ansprechen. Es handelt sich meist um offene Schädel-Hirn-Verletzungen, die sofortige Handlungsunfähigkeit zur Folge hatten. Als Todesursachen sind dann Verbluten, zentrales Regulationsversagen, Hirnödeme oder Hirnblutungen anzunehmen Ein großer Teil der Verletzungen geht nach Ausweis der vorgefundenen geformten Randbegrenzungen auf zeittypische Steingeräte wie Flachhacken, sog. Schuhleistenkeile, und Pfeilspitzen zurück, die anderen auf stumpfe Gegenstände wie Keulen, Schleudersteine o. Ä. Der erwähnte 60-Jährige hatte Jahre vorher einen derartigen Angriff schon einmal überlebt und fiel letztlich doch einem solchen zum Opfer. Im Bereich des postkranialen Skeletts konnten demgegenüber nur wenige perimortal entstandene Gewalteinwirkungen festgestellt werden. Dabei ist selbstverständlich mit einer gewissen Dunkelziffer an Weichteilverletzungen zu rechnen, die keine Spuren an den Knochen hinterlassen haben. Unter Berücksichtigung der für diese Steinbeile bekannten Schäftungsart sowie der anatomischen Lage der einzelnen Defekte ließ sich in vielen Fällen die sog. Täter-Opfer-Geometrie rekonstruieren. Die Zusammenschau zeigt, dass die überwiegende Mehrzahl der Opfer von hinten angegriffen bzw. erschlagen wurde (Abb. 6). Auch Pfeilschussverletzungen, von denen insgesamt drei nachgewiesen werden konnten, erfolgten rücklings. Das Fehlen typischer Kampf- und Abwehrverletzungen im Schulter- und Armbereich lässt ebenfalls vermuten, dass keine nennenswerte Gegenwehr stattgefunden hat, die Opfer offenbar zu flüchten versuchten. Weitere aufschlussreiche Indizien sind das Fehlen von Nagespuren an den Knochen und jeglicher persönlicher Schmuck- oder Ausrüstungsgegenstände. Die Toten wurden demnach ausgeplündert und - möglicherweise von den Angreifern selbst - rasch beseitigt. Erst zehn Jahre später wurde eine Parallele zu Talheim aus Schletz/ Asparn a. d. Zaya in Niederösterreich bekannt (Teschler-Nicola et al. 1996). Im Graben einer befestigten linearbandkeramischen Siedlung fanden sich mehr als doppelt so viele Individuen wie in Talheim, die ebenfalls größtenteils erschlagen worden waren. Es gibt allerdings markante Unterschiede: In Schletz sind junge Frauen unterrepräsentiert; möglicherweise wurden sie als (Kriegs-)Beute verschleppt. Über 60 % der Skelettelemente weisen Verbissspuren auf; die Toten lagen demnach länger an der Oberfläche. Und die Traumata verteilen sich mehr oder weniger gleichmäßig auf alle Schädelregionen, was eher mit einem „normalen“ Kampfgeschehen einhergeht. Aus der Grotte de la Tourasse im Departement Haute-Garonne ist der Lendenwirbelkörper eines jüngeren Erwachsenen überliefert, in dem noch eine gestielte Feuerstein-Pfeilspitze steckt (Wells 1967). Sie ist von vorne, knapp links von der Mittellinie eingedrungen und muss die Bauchaorta durchschlagen haben, so dass das Opfer höchstwahrscheinlich verblutet ist. Zuletzt sei die Mehrfachbestattung der jungsteinzeitlichen Michelsberger Kultur erwähnt, die 1985 in Heidelberg-Handschuhsheim entdeckt <?page no="255"?> 257 Leben und Sterben in der Steinzeit Abb. 6: Talheim. Projektion aller durch die Einwirkung harter, stumpfer Gegenstände (a) bzw. durch Flachhacken (b) verursachten Defekte auf jeweils einen Schädel in verschiedenen Ansichten. a b <?page no="256"?> 258 Joachim Wahl wurde. Obwohl in der Ebene gelegen, wird sie mit einem der für diese Kultur typischen Erdwerke in Verbindung gebracht. Dort waren drei Erwachsene, eine frühadulte Frau sowie ein früh- und ein spätmaturer Mann zusammen mit drei Kindern und Jugendlichen zwischen ca. einem und zwölf bis 13 Jahren in Hockstellung beieinander begraben worden (Wahl u. Höhn 1988). Auch hier deuten die Diskreta auf Verwandtschaft hin. Die Skelette der vier Personen, die unter den gegebenen Erhaltungsbedingungen am besten überliefert sind, weisen eindeutige Anzeichen unverheilter Schlagbzw. Hiebverletzungen auf. Man darf vermuten, dass auch die beiden anderen eines gewaltsamen Todes starben. Alle zusammen sind dann aber im Gegensatz zu den genannten bandkeramischen Befunden pietätvoll beigesetzt worden. Dass Ackerbauern mehr Gründe haben, einen Krieg zu führen, als Jäger und Sammler, ist plausibel. Ihre Gemeinschaften umfassen meist eine größere Zahl von Menschen als diejenige der Nomaden; zudem müssen sie ihre Infrastruktur sowie Land und Ernte verteidigen (Leakey u. Lewin 1978). Demnach ist die These von der angeborenen Aggression nicht haltbar und auch nicht mit dem aggressiven Territorialverhalten der Tiere zu vergleichen. Konrad Lorenz (1963) hatte mit Blick auf Revier- und Rangkämpfe im Tierreich ebenso beim Menschen die arterhaltende Leistung der Aggression postuliert. Auch Robert Bigelow (1970) sah unter Bezugnahme auf Gordon Childe und Carleton Coon bereits Australopithecinen und Homo erectus häufiger in tödliche Kämpfe verwickelt, während die Mehrzahl der übrigen Forscher „von der Annnahme eines beinahe idyllischen prähistorischen Friedens auszugehen“ schien (ebd., 163). Und noch Ende der 1970er Jahre wurde der genetisch programmierte „Mordinstinkt“ des Menschen propagiert (Rosenthal 1979). Doch Kriege werden in der Regel von Führern geplant, um ihren Einflussbereich zu erweitern. „Krieg ist ein Kampf um Macht über Menschen und für Besitz, sei es Land oder Rohstoffe, was für Jäger- und Sammler-Gesellschaften nicht relevant ist“ (Leakey u. Lewin 1978, 223). Trepanationen und Amulette In unmittelbarem Kontext zu Schädeldefekten stehen die so genannten Trepanationen, die vor allem aus Mittelamerika und Afrika bekannt sind, aber für das Endneolithikum auch in Mitteleuropa in großer Zahl nachgewiesen wurden. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass ca. 80 % der Patienten (Mitteldeutschland 88 %, Dänemark 79 %, Ägypten 70 %) diese Eingriffe ohne moderne Anästhesie und Hygiene überlebten. Die Trepanationsproblematik an sich ist in einer Legion von Publikationen aus anthropologischer, medizinhistorischer und völkerkundlicher Sicht <?page no="257"?> 259 Leben und Sterben in der Steinzeit sowie unter methodischen Gesichtspunkten beleuchtet worden. Während verschiedene Autoren den Begriff weiter fassen, gelten nach Wolfgang Michael Pahl (1993) lediglich Eingriffe am Lebenden als Trepanationen. Herbert Ullrich (1997) grenzt sie zusätzlich noch gegenüber versorgten Verletzungen ab und erkennt ausschließlich Operationen an intakten Stellen des Schädels, die weder pathologisch noch durch Frakturen vorgegeben sind, als solche an. Er fand bei mehr als 40 % der Trepanierten Knochenbrüche und Missbildungen im Bereich des postkranialen Skeletts, über 30 % wiesen Anzeichen pathologischer Prozesse am Schädel, u. a. kariöse Defekte, auf. Seine Definition bezeichnet demzufolge intravitale Trepanationen als eine indirekte Methode der Heilbehandlung schmerzhafter Krankheiten und Gebrechen, die allerdings auf Erfahrungen mit der chirurgischen Behandlung von Schädeldachtraumen zurückzuführen sind (ebd.). Die Versorgung traumatischer Defekte setzt umfangreiche anatomischmedizinische Kenntnisse voraus. Dabei werden lose Splitter entfernt, die Öffnung erweitert und die knöchernen Wundränder geglättet. Die Regionen der großen Blutleiter müssen vermieden werden, da deren Verletzung unweigerlich zum Verbluten des Patienten führt. Unter den bekannten Methoden ist die so genannte Schabetechnik am weitesten verbreitet. In Mitteldeutschland wurden alleine 90 % der Trepanationen auf diese Weise durchgeführt. In den meisten Fällen kam dabei das Flächenschaben und sehr viel seltener das aufwändigere „Ringzonenschaben“ zum Einsatz (ebd.). Trepanationen sind besonders häufig in der linken Stirnbein-Scheitelregion lokalisiert und werden fast ausschließlich an männlichen Schädeln angetroffen. Sie sind vor allem aus Grabfunden der schnurkeramischen Kultur überliefert. Den Bandkeramikern waren sie nach dem bisherigen Stand der Forschung, mit einer Ausnahme aus Ensisheim (Alt et al. 1997), nicht bekannt. Vielleicht handelt es sich dabei aber tatsächlich nur um eine Forschungslücke, denn operative Eingriffe am Schädel sind auch für die frühe Jungsteinzeit anzunehmen (s. o.). Allerdings finden wir nicht in allen Fällen Indizien dafür, ob es sich um die Behandlung eines Schädeltraumas oder eine Schädelöffnung aufgrund bestimmter medizinischer Indikation, z. B. Verringerung des Hirndrucks bei sub- oder epiduralem Hämatom, gehandelt hat. Denkbar wären auch Schmerzbehandlungen, z. B. vor pseudomedizinischem Hintergrund, bei Epilepsie oder zur Befreiung „böser Geister“ oder postmortale Eingriffe zur Gewinnung von Amuletten, die je nach Technik von nicht überlebten Trepanationen kaum abzugrenzen sind. <?page no="258"?> 260 Joachim Wahl Abb. 7: Schädel eines spätmaturen Mannes aus dem der mittelneolithischen Rössener Kultur zugeordneten Gräberfeld von Sasbach-Jechtingen (Grab 72) mit verheilten Trepanationsspuren auf dem linken Scheitelbein. Der Eingriff war in Schabetechnik ausgeführt worden (Foto Joachim Wahl). Als Beispiele erfolgreich durchgeführter Behandlungen seien drei Befunde aus schnurkeramischen Gräberfeldern Südwestdeutschlands anfgeführt: die junge Frau aus einer Doppelbestattung aus Stetten a. d. Donau, die wahrscheinlich infolge von Geburtskomplikationen gestorben ist und bei der im Bereich der Trepanationsöffnung lediglich minimale entzündliche Veränderungen festgestellt werden können, der Mann aus dem Gräberfeld von Lauda-Königshofen, Grab 47, der wahrscheinlich unter Akromegalie litt und daher mit Sicherheit eine Sonderstellung innerhalb seiner Lebensgemeinschaft einnahm sowie der frühmature Mann aus Tauberbischofsheim-Dittigheim, Grab 32, der zwei verheilte Trepanationen, nämlich eine vollendete und eine unvollendete Trepanation unter Einsatz der Ringzonenschabetechnik, aufweist (Dresely 2004; Menninger 2005). Im letztgenannten Fall sind die Eingriffe in parasagittaler Richtung, länglich zungenförmig und parallel zueinander angelegt, während sie üblicherweise eine rundlich-ovoide Form aufweisen. Erst kürzlich wurde aus dem Nachbargräberfeld ein nach Lage, Form und Methode identischer Befund bekannt - möglicherweise die „Handschrift“ eines bestimmten Chirurgen oder einer „Chirurgenschule“? Nach vollständiger Vernarbung der Wundränder lässt sich nicht mehr unterscheiden, ob die Behandlung wenige Monate oder aber zehn, zwanzig <?page no="259"?> 261 Leben und Sterben in der Steinzeit Abb. 8: Aus menschlichem Schädelknochen hergestellte Zierscheibe aus dem endneolithischen Gräberfeld von Lauda-Königshofen: a Vorder-, b Rückseite. a b oder mehr Jahre überlebt wurde. Bei unverheilten Eingriffen ist zudem offen, ob ein Lebender mit fatalem Ausgang trepaniert wurde oder ein womöglich bereits vor Jahren Verstorbener, dem man vielleicht besondere Heil- oder Abwehrkräfte zusprach. Dass Letzteres nicht abwegig ist, zeigt das Schädelrondell aus dem bereits erwähnten schnurkeramischen Gräberfeld von Lauda-Königshofen, Grab 28, das in Form einer Zierscheibe mit Ritzlinien und zwei Durchbohrungen versehen und von einer spätadulten Frau als Haarschmuck oder Attribut getragen wurde (Abb. 8). Es ist ehedem aus dem rechten Scheitelbein eines älteren Erwachsenen angefertigt worden. Menschlichen Skelettresten wird häufig Amulettcharakter zugewiesen. Teile von verstorbenen Angehörigen könnten die Lebenden im Diesseits beschützen. Das gilt vielleicht auch für die durchbohrten Zähne, die aus Friesack in Brandenburg bekannt wurden und der so genannten Duvensee- Gruppe (ca. 7.000 bis 6.000 v. Chr.) zugewiesen werden. Ein ähnliches Motiv könnte hinter dem Knochenmaterial aus der Jungfernhöhle von Tiefenellern liegen. Den zerschlagenen Schädelteilen von insgesamt 20 Individuen (zwei Männer, vier Frauen und 14 Kinder) fehlen sämtliche Schneide- und Eckzähne. Möglicherweise wurden sie extrahiert und zur Amulettherstellung verwendet (Rind 1996), vielleicht gingen sie aber auch nur im Rahmen von Umlagerungen verloren. <?page no="260"?> 262 Joachim Wahl Bestattungssitten und Jenseitsvorstellungen In der Ethnologie ist kein Volk bekannt, das an einen ewigen Tod glaubt. In Variationen sind gewisse Jenseitsvorstellungen vorhanden (Cipoletti 1989). Analogieschlüsse hinsichtlich der Denkweise unserer Vorfahren sind zwar problematisch, doch lassen sich spätestens seit der Zeit der Neandertaler Ansätze einer Totenbehandlung erkennen, die den Lebenden offenbar gewisse Pflichten gegenüber den Toten oder vielleicht nur gegenüber bestimmten Toten zuwiesen. Man geht heute davon aus, dass etwa 80 % der Neandertaler vor dem Erreichen des 30. Lebensjahres starben und nur etwa 5 % älter als 40 Jahre wurden. Etymologisch gesehen bedeutet Bestattung: an seine Statt bringen und mit allem Nötigen versehen. Dieses Procedere beinhaltet sowohl den Akt des Bestattens mit allen rituellen Begleiterscheinungen als auch die Situation des Verstorbenen im Grab einschließlich der Grabbeigaben und Grabeinbauten. Früher sprach man davon, eine Braut zu „bestatten“ im Sinne von „ausstatten“. Die wichtigsten Grundgrößen, die auf eine Bestattung einwirken, sind - je nach ethnischer Zugehörigkeit und Tradition - Alter, Geschlecht, soziale Stellung, „Beruf“, Sterbeort, Todesumstände, Todesursache, „Religion“ und „rites de passage“, d. h. bereits erfolgte Übergangsrituale beim Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. Jeder dieser Parameter kann in unterschiedlicher Intensität auf jeden Aspekt des Bestattungsrituals und der Grabsituation Einfluss nehmen (Wahl 1994). Eine Bestattung ist grundsätzlich mit vorgegebenen Handlungsabläufen und bestimmten Zeremonien verknüpft. Die Funeralriten verfolgen dabei drei unterschiedliche Ziele, die sich gegenseitig nicht nur nicht ausschließen, sondern die typische Ambivalenz der Lebenden zu den Verstorbenen erkennen lassen: ● Vorkehrungen, die für die Reise ins oder den Aufenthalt im Jenseits gedacht sind und dem Wohle des Verstorbenen dienen sollen. Hierzu zählen beispielsweise persönlicher Besitz, Grabbeigaben oder Proviant. ● Maßnahmen, die den Angehörigen bzw. Hinterbliebenen dienen sollen und im Gegensatz gewissermaßen als Schutzmaßnahmen aus Angst vor dem Verstorbenen vollzogen werden. In diese Gruppe gehören u. a. Vorkehrungen aus Furcht vor Wiedergängertum bzw. vor der unberechenbaren Macht der Geister der Verstorbenen. ● Riten, die den Verstorbenen weiterhin mit den Lebenden verbinden. Damit kann man sich die Erfahrungen und Fähigkeiten des Toten zunutze machen oder sich dessen Wohlwollen sichern. In diese Kategorie gehört z. B. die Reliquienverehrung. <?page no="261"?> 263 Leben und Sterben in der Steinzeit Die im Rahmen einer Bestattung ablaufenden Kulthandlungen und Zeremonien sind im archäologischen Kontext kaum fassbar. Sie lassen sich lediglich aus der Behandlung des Verstorbenen, der Grabsituation o. Ä. indirekt erschließen, wobei wiederum nur diejenigen Vorgänge erkennbar sind, die Spuren an den Skelettresten oder im Boden hinterlassen. Besonders kompliziert sind die Verhältnisse dann, wenn zwei- oder mehrstufige Bestattungen durchgeführt wurden (z. B. Orschiedt 1999). Bei der Exhumierung einer nicht völlig skelettierten Leiche kann - je nach Verwesungsstadium - die Entfernung noch anhaftender Weichteilreste erforderlich sein. Zu erwarten sind dann Schnittspuren an den Knochen, u. U. auch Brand- und Schabespuren sowie möglicherweise Schlag- und Hackspuren, wenn der Leichnam erst zerlegt werden muss. Zusätzlich vorhandene Brandspuren können auch auf einen Bestattungsritus deuten, bei dem die Verbrennung der Knochen nicht beabsichtigt war, sondern lediglich eine symbolische Reinigung durch Feuer vorgenommen wurde (Peter-Röcher 1998). Eine Brandbestattung ist im Grunde bereits eine zweistufige Bestattung, da die Einäscherung und anschließende Bestattung mit verschiedenen rituellen Akten verbunden sind und die körperlichen Überreste zur endgültigen Deponierung normalerweise an einen anderen Ort verbracht werden. Eine Ausnahme liegt dann vor, wenn der Verbrennungsort auch gleichzeitig der Bestattungsort ist. Wenn lediglich bestimmte Teile des Körpers einer speziellen Behandlung unterzogen werden, ist der Übergang zwischen Bestattung und Phänomenen wie Anthropophagie und Schädelkult fließend (s. u.). Auch wenn man mit zunehmendem Alter des Fundguts ungünstigere Erhaltungsbedingungen annimmt, liefert bereits die Repräsentanz ur- und frühgeschichtlicher Menschenreste erste Hinweise darauf, dass eine gewisse Selektion stattgefunden hat. Nach einer Zählung aus den 1990er Jahren sind für das Alt-, Mittelu. Jungpaläolithikum übereinstimmend von ca. 80 % der Individuen Schädelreste nachgewiesen, postkraniales Knochenmaterial ist dagegen nur von 20 %, 35 % und 45 % überliefert. Von insgesamt fast 900 Individuen aus der Altsteinzeit Europas sind kein einziges altpaläolithisches, kaum mehr als 5 % der mittelpaläolithischen und nur wenig über 15 % der jungpaläolithischen Individuen durch (mehr oder weniger) komplette Skelette repräsentiert; die überwiegende Mehrzahl stellen singuläre Skelettelemente dar (Ullrich 1992; 1995). Dazu kommen zusätzliche Beobachtungen wie typische Defektmuster im Gelenku. Muskelansatzbereich, die auf Leichenzerstückelung hindeuten, und häufig mehrfache Kratzspuren, die erkennen lassen, dass die Knochen von anhaftenden Weichteilresten gesäubert wurden. Über 90 % der Einzelfunde sind Bruchstücke, und diese sind fast durchgehend in noch frischem Zustand gebrochen. Sie stammen vermutlich von ausgesuchten Personen und standen wahrscheinlich im Zusammenhang mit weiteren Totenriten. Für eine gezielte Auswahl scheint auch die angetroffene Verteilung <?page no="262"?> 264 Joachim Wahl des Sterbealters zu sprechen. Das Sterbemaximum liegt für den archaischen Homo sapiens bei Personen der Altersstufe infans II und für den anatomisch modernen Menschen bei juvenilen Individuen. Insofern weisen die erhobenen Daten auch auf eine gewisse Kontinuität des Totenkultes vom Mittelzum Jungpaläolithikum hin (ebd.). Demnach wären Reflektionen über Leben und Tod erstmals vom späten Homo erectus vor 500.000 bis 300.000 Jahren angestellt worden. Echte Grablegen scheinen allerdings von älteren Menschenformen als den Neandertalern nicht bekannt zu sein, wobei auch diese wohl nur gelegentlich ihre Toten begruben (Tattersall 1999). Mit zu den berühmtesten Neandertaler- Bestattungen gehören diejenigen des Jünglings von Le Moustier und des Alten von La Chapelle-aux-Saints sowie entsprechende Funde aus La Ferrassie, Kebara in Israel, Teshik-Tash in Usbekistan und Shanidar im Irak. Ob die Anlage dieser Gräber mit Jenseitsvorstellungen gekoppelt war, können wir weder beweisen noch widerlegen. Im Vergleich zu denjenigen anatomisch moderner Jungpaläolithiker wirken sie zwar eher flüchtig angelegt, und nur wenige enthalten „echte Grabbeigaben“, aber es gibt sie. Hinsichtlich der pollenanalytisch belegten Blumenbeigabe für Shanidar I, einen 35bis 40jährigen Mann mit verkümmertem rechten Arm, der von seinen Clanmitgliedern offenbar über viele Jahre hinweg mitversorgt worden war, wird allerdings auch diskutiert, ob die besagten Pollen nicht vielleicht durch bodengrabende Nagetiere nachträglich eingebracht worden sein könnten (ebd.). Eine der bekanntesten Neandertaler-Fundstellen ist das kroatische Krapina, wo 1899 und in den Folgejahren Skelettreste von mehreren Dutzend Individuen gefunden wurden. Die Knochen sind durchweg stark fragmentiert, einige weisen zudem Brandspuren auf. Sie galten demzufolge lange Zeit als unumstößliche Belege für Kannibalismus. Auch wenn manche Indizien, wie einzelne Schädel mit zerstörter Schädelbasis oder bestimmte Fragmentierungsmuster, in diese Richtung interpretiert werden könnten, geht man heute doch davon aus, dass es sich ursprünglich wohl um recht gut erhaltene Bestattungen gehandelt hat. Schabespurem deuten vielleicht auf sorgfältige Entfleischung bestimmter Knochen, also einen besonderen Totenritus hin. Und tatsächlich weisen nur 6,8 % der Schädelteile und 0,5 % der postkranialen Skelettelemente Brandspuren auf, die am ehesten darauf zurückzuführen sind, dass der Fundort seinerzeit mit Dynamit „ausgegraben“ wurde (Trinkaus 1985; Ullrich 1986; 1991). Man kann davon ausgehen, dass die Menschen der Altsteinzeit sowohl das Begräbnis des vollständigen Körpers als auch verschiedene Formen der mehrstufigen Bestattung kannten. Der Brauch, einzelne Knochen, vor allem Schädel oder Teile davon, über einen gewissen Zeitraum aufzubewahren und mit sich zu führen, dürfte am ehesten als Ahnenkult zu interpretieren sein, wie er für Jäger und Sammlergruppen mehrfach nachgewiesen wurde (Peter-Röcher 1998). <?page no="263"?> 265 Leben und Sterben in der Steinzeit Zu den eindrucksvollsten und in ihrer Intention unstrittigen Bestattungen aus dem Jungpaläolithikum gehören z. B. die Doppelbestattung eines 15bis 17-jährigen Jünglings und einer älteren Frau aus der Grotte des Enfants bei Grimaldi in Italien oder die auf ca. 23-24.000 Jahre datierten Grablegen aus Sungir in Russland, in denen offenbar reichlich mit Perlen verzierte Kleidung nachgewiesen werden konnte (Pettitt u. Bader 2000; Wunn 2000). Besondere Erwähnung verdient auch die mit 26.300 BP ins mittlere Jungpaläolithikum (Gravettien) datierte Mehrfachbestattung von Pr edmost. Dort sollten die Körper von 18 Personen mit zwei Mammutschulterblättern bedeckt niedergelegt worden sein. Nach der Repräsentanz bestimmter Skelettelemente sowie deren Position und dem Spurenbild auf den Knochen wurden allerdings ursprünglich keine intakten Körper, sondern lediglich disartikulierte Knochen deponiert (Ullrich 1996). Für das Mesolithikum sind dann erstmals Bestattungen auf regelrechten Friedhöfen nachgewiesen, wie die bekannten Gräberfelder von Téviec und Hoedic in der Bretagne. Als häufige Beigaben sind Unterkiefer von Hirsch und Wildschwein vertreten. Demgegenüber ist bei den mesolithischen Kopfbestattungen eher an einen rituellen Akt zu denken. Neben dem bereits erwähnten Befund aus dem Hohlenstein-Stadel sind hier die beiden Schädelnester aus der Großen Ofnet-Höhle bei Nördlingen zu nennen, die im Jahr 1908 in deren Eingangsbereich nur etwa 1 m voneinander entfernt entdeckt wurden und nach Kollagendatierungen auf ca. 6.500 v. Chr. eingestuft werden. Es handelt sich um flache, annähernd kreisrunde und mit Ocker ausgestreute Gruben. Darin waren insgesamt 33 Schädel, teilweise mit zugehörigen Halswirbeln, mit einheitlicher Blickrichtung gen Westen ausgerichtet deponiert worden. Über die Hälfte der Schädel stammt von Kindern und Jugendlichen, zehn von erwachsenen Frauen und nur fünf von Männern. Die meisten weisen unverheilte Schlagverletzungen auf, an den Halswirbeln von elf Personen können zusätzlich Schnittspuren festgestellt werden, die vom Abtrennen der Köpfe noch im Weichteilverband herrühren. Den Frauenschädeln lassen sich insgesamt ca. 200 durchbohrte Hirschzähne, den Subadulten zusammen etwa 4.000 durchbohrte Schneckenhäuser zuordnen. Was mit den restlichen Körpern geschah, lässt sich nur vermuten, da in einer Grube zwischen den Schädeln angekohlte Knochen und Holzkohlestückchen angetroffen wurden. Möglicherweise hat man sie verbrannt. An den Ofnet-Schädeln sind insgesamt 37 Gewalteinwirkungen anzusprechen, davon alleine zwischen zwei und sieben pro Individuum bei den Männern. Auch wenn sich gewisse Häufungen bezüglich ihrer Lokalisation ergeben, scheint deren Verteilung über den Schädel doch eher für ein Massaker als eine systematische Opferungszeremonie zu sprechen (Frayer 1997). Hinsichtlich der Interpretation von Schnittspuren auf Knochen liegen seit einigen Jahren Untersuchungen vor, nach denen bei genauer Betrachtung auch Rückschlüsse auf die Händigkeit des Verursachers möglich sein <?page no="264"?> 266 Joachim Wahl sollen (Bromage et al. 1991). Demnach scheint die Rechtshändigkeit bereits seit langer Zeit vorherrschend zu sein. Aus der Jungsteinzeit kennen wir dann Einzelgräber, Doppel- und Mehrfachbestattungen, kleinere Gräbergruppen und Nekropolen mit Grablegen von bis zu 200 Individuen und mehr, die - je nach Kulturzugehörigkeit - gewisse Eigenheiten aufweisen. So sind z. B. von den Bandkeramikern kaum, dagegen von den Schnurkeramikern sehr häufig Doppel- und Mehrfachbestattungen überliefert. Letztere zeigen in manchen Gräberfeldern auch bevorzugte Seitenlagen für Männer und Frauen. Aus der Michelsberger Kultur scheinen überhaupt nur „Sonderbestattungen“ vorzuliegen, und die Glockenbecherleute sind lediglich in kleinen Grabgruppen anzutreffen. Obwohl die Seitenlage mit angehockten Beinen als charakteristische Totenhaltung gilt, wurden aus der mittelneolithischen Rössener Kultur auch gestreckte Rückenlagen bekannt. Von den neolithischen Seeufersiedlungen wissen wir nichts über das Totenritual - vielleicht, weil diese nur saisonal bewohnt waren und/ oder die Toten andernorts bestattet wurden. In diesem Zusammenhang bemerkenswert ist die Tatsache, dass einige der bandkeramischen Friedhöfe sowohl Körperals auch Brandgräber enthalten. Dabei wissen wir bis heute nicht, nach welchen Kriterien die eine oder andere Bestattungsart gewählt wurde. Möglicherweise handelt es sich in diesen Fällen um Mischpopulationen aus Gruppen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und/ oder mit differenziertem mythisch-religiösem Hintergrund. Vielleicht spiegeln sich in diesen beiden so grundverschiedenen Formen der Totenbehandlung auch soziale oder chronologische Unterschiede wider. Nach ersten Untersuchungen scheinen zumindest das Alter und Geschlecht der Verstorbenen nicht Ausschlag gebend gewesen zu sein (Trautmann u. Wahl 2005). Neben den Ausnahmebefunden wie Talheim und Schletz und solchen aus Fundkomplexen der Michelsberger Kultur (s. u.) sei noch ein weiterer Sonderfall aufgeführt - die so genannte Knochentrümmerstätte aus dem Hohlenstein-Stadel, die nach neueren 14 C-Daten in das frühe Jungneolithikum datiert (Orschiedt 2002). Das Skelettmaterial stammt von mindestens 54 Personen, darunter mehr als die Hälfte Kinder und Jugendliche und mehr weibliche als männliche Individuen, die insgesamt zu 54 % durch Schädelknochen, zu 29 % durch Langknochen und nur zu 17 % durch Teile des restlichen postkranialen Skeletts repräsentiert sind. Die Knochenreste selbst sind gut erhalten; der Fehlbestand ist also nicht infolge Verwitterung abhanden gekommen. Nachdem dieses Material bei früheren Untersuchungen als Beleg für Anthropophagie gedeutet wurde, fand sich bei der Neubearbeitung kein einziger Hinweis auf gezielte Manipulationen (Orschiedt 1999). Weniger als 2 % der Knochen weisen Bruchkanten auf, die perimortal entstanden sind, und weniger als 3 % zeigen wohl eher zufällig entstandene Brandspuren. Hinsichtlich der selektiven Zusammensetzung dürfte es sich um Überreste einer mehrphasigen Bestattung handeln. <?page no="265"?> 267 Leben und Sterben in der Steinzeit Schädelkult und Anthropophagie Als Ursprung für Kopfjagd und Schädelkult muss die Vorstellung angesehen werden, man könne der seelischen Kraft einer anderen Person teilhaftig werden, indem man seinen Kopf erwirbt, denn im Kopf konzentrieren sich die geistigen und psychischen Kräfte des Menschen. Dabei belegt allein die Verwendung menschlicher Körperteile bei kultischen Praktiken wie Kopf- und Schädeldeponierungen, Schädelbecher oder Anordnungen von Leichen bzw. Leichenteilen noch kein Menschenopfer (Rind 1996). Schädelschalen sollen auch von den nomadischen Skythen noch hergestellt worden sein. Erst Anzeichen von Tötung, Schnittspuren oder andere Manipulationen können auf Opferhandlungen schließen lassen. Auch die bei Ritualen im tantrischen Buddhismus in Tibet verwendeten, oft kunstvoll verzierten Schädelbecher und Flöten aus Oberschenkelknochen verstorbener Mönche belegen durchaus nicht, dass die Betroffenen getötet wurden. Hinweise auf Kannibalismus liegen aus unterschiedlichen Quellen vor. Es handelt sich z. B. um Augenzeugenberichte von Missionaren oder Verleumdungen zu Propagandazwecken, um - potenzielle - Feinde als barbarische und primitive Untermenschen zu charakterisieren (s. a. Peter-Röcher 1998). So wird Derartiges beispielsweise von den Ureinwohnern Australiens, den Maori auf Neuseeland, den Huronen und Irokesen in Amerika sowie den Ashanti in Afrika beschrieben, bisweilen auch im Zusammenhang mit den Blutopfern der Azteken (u. a. Tannahill 1979a; b). Unumstößliche Belege sollen allerdings für die nordamerikanischen Indianer von Mancos vor ca. 900 Jahren vorliegen (White 1992). Bei einem derart emotional behafteten Thema gilt es jedoch, umso genauer zu beobachten und hinsichtlich der zugrunde liegenden Motivation differenziert zu interpretieren. Kannibalismus als Bestattungsform kommt bei Naturvölkern häufig vor, meist als Endstufe zwei- oder mehrstufiger Bestattungen, z. B. bei den Yanomami und anderen südamerikanischen Indianern (Spiel 1974; Preuss 1894). Auf diese Weise versucht man, Geist, Kraft, Stärke und sonstige Fähigkeiten des Verstorbenen in sich aufzunehmen. Bei den Alten verbirgt sich dahinter die Gewissheit, nicht im Boden von Würmern gefressen oder von Feinden ausgegraben und geschändet zu werden, sondern in den Körpern der Nachkommen gewissermaßen weiterzuleben. Dieser auf Angehörige des eigenen Stammes beschränkte, so genannte Endokannibalismus ist eine Bestattungsart, die nach Untersuchungen an 54 südamerikanischen Stämmen zu über 80 % bei Sammlern und Jägern angetroffen wurde. Der auf Mitglieder anderer Stämme zielende Exokannibalismus ist dagegen fast ausschließlich an sesshafte Ackerbauern gebunden und gilt als Folge von oder Motiv für Feindseligkeiten. Beide Formen sind mit rituellen Akten verknüpft und liefern gleichermaßen deutliche Hinweise auf ein ausgeprägtes Bewusstsein seiner selbst bzw. ein Bewusstsein von Leben und Tod (Lea- <?page no="266"?> 268 Joachim Wahl key u. Lewin 1978). Demnach wären die Schädel aus Choukoutien, wenn sie tatsächlich zur Entnahme des Gehirns aufgebrochen wurden, entweder ein endokannibalistisches Zeichen der Achtung und Würde, oder - weniger wahrscheinlich - ein ritueller Akt nach einem Kampf zwischen zwei Gruppen. Das Fehlen jeglicher Wirbelteile zeigt zumindest, dass keine „Schlachtung“ vor Ort stattgefunden hat. Der Nachweis von Kannibalismus in der Vorgeschichte ist - wenn überhaupt - nur indirekt möglich. Als Beurteilungskriterien wurden zwar Merkmale herausgestellt wie z. B. die intentionelle Eröffnung der Schädelbasis, bestimmte Frakturmuster, am frischen Knochen entstandene Brüche, Schlagmarken, Exartikulationsdefekte, fehlende Epiphysen, Brandspuren und die Repräsentanz einzelner Körperteile (Ullrich 1991; White 1992; Turner 1993). Aber auch, wenn Schnitt- oder Hackspuren und Feuereinwirkung an ein und demselben Menschenknochen erkennbar sind, ist damit letztlich noch nicht bewiesen, dass man das Fleisch auch tatsächlich verspeist hat. Eine geöffnete Schädelbasis gilt vielen Autoren als ausreichendes Indiz dafür, dass das Gehirn im Rahmen kultischer Handlungen entnommen wurde; der anschließende Verzehr desselben wird impliziert. Dies trifft für den von Karl Dietrich Adam (1984) beschriebenen Schädel aus Steinheim an der Murr zu, dessen Basis vom Vorderrand des Foramen magnum aus auf ein unregelmäßiges Loch von ca. 70 x 70 mm erweitert wurde, und für den Neandertaler-Schädel aus der Grotta Guattari bei San Felice Circeo (Monte Circeo) - auch, wenn beide Defekte verschieden (a)symmetrisch sind. Der Schädel vom Monte Circeo soll zudem noch innerhalb eines Steinkreises niedergelegt gewesen sein - ein weiterer Anhaltspunkt für den kultischen Charakter dieses Fundes. Die zerstörten Basen der Krapina-Schädel werden ebenso in Richtung Hirnentnahme gedeutet (Ullrich 1986). Hinsichtlich des Steinheimers wird von anderer Seite diskutiert und angenommen, dass der besagte Defekt während der Lagerung im Boden entstanden sei (z. B. Czarnetzki 1983). Zur Grotta Guattari wurde inzwischen bekannt, dass es sich um einen alten Hyänenbau handelt, dessen Boden voller Steine und Knochen lag, und der Schädel zunächst in fast völliger Dunkelheit aufgehoben und wieder niedergelegt worden war, bevor seine spektakuläre Fundsituation dokumentiert wurde (Tattersall 1999). Andere Schädel werden in ähnlicher Weise in einen Zusammenhang mit Kopfjagd und Schädelkult gestellt, z. B. die jungpleistozänen Schädel von Ngandong auf Java. Dort wurden von elf Schädeln ausschließlich Teile des Hirnschädels, davon mindestens drei mit Gewalteinwirkungen, und lediglich zwei Schienbeine gefunden (Gieseler 1974). Die ins Jungpaläolithikum datierte Kalotte eines etwa 50-jährigen Mannes vom Röthekopf bei Säckingen weist am umlaufenden Knochensaum „Gebrauchsspuren“ auf. Der Mann war durch einen Schlag auf die Stirn getötet, sein Schädeldach zu einer als <?page no="267"?> 269 Leben und Sterben in der Steinzeit Opfer- oder Spendengefäß gedeuteten Schale hergerichtet worden (Gerhardt 1977). Auch an der Kalotte aus dem Neandertal lassen sich im Bereich der Orbitaränder, am Unterrand des linken Scheitelbeines und am Hinterhaupt verschiedene Schnittspuren und Ausbrüche erkennen, die auf eine Zurichtung des Stückes als Schale hinweisen könnten. Der ebene Verlauf der Bruchränder bestärkt eine solche Vermutung (Czarnetzki 1977). Nach Orschiedt et al. (1999) sind die meisten Läsionen am Skelett des Neandertalers allerdings als Grabungsdefekte, Korrosion oder Fraßspuren anzusprechen; die am Schädel und Becken festgestellten Schnitt- und Hackspuren gingen auf die Durchtrennung der Nackenmuskulatur sowie auf weitere Manipulationen im Zusammenhang mit mehrstufigen Bestattungsritualen zurück. Vergleichbar scheinen die „Abnutzungsspuren“ an Kanten und Oberfläche der als Präneandertaler eingestuften, ca. 150.000 Jahre alten Kalotte von Ochtendung, die möglicherweise ebenfalls als Artefakt verwendet wurde (von Berg 1997). Auch andere Autoren gehen davon aus, dass die Neandertaler in Einzelfällen Artgenossen entfleischten, sehen dies aber eher im Rahmen mehrstufiger Bestattungsrituale als kannibalistisch motiviert (Tattersall 1999). Ähnlichen Fragestellungen, allerdings auf größerer Materialbasis und bei umfangreicherer Befunddokumentation, wurde für die neolithische Michelsberger Kultur nachgegangen (Wahl 1999). Für diese Kultur wurden vielfach spezielle Grabriten oder kultische Handlungen, u. U. im Zusammenhang mit Menschenopfern, angenommen, da in den Gräben der Michelsberger Erdwerke nicht selten Teilskelette oder isolierte Menschenknochen und manchmal auch mehr oder weniger vollständige Skelette im anatomischen Verband gefunden wurden. Demographisch gesehen sind diese Skelettreste nicht repräsentativ, und vieles spricht für eine unterschiedliche Genese des Materials. Die Studie umfasste die Knochenreste aus sechs verschiedenen Erdwerken mit einer Mindestindividuenzahl von insgesamt 139, darunter der namengebende Fundort. Jeder Knochen wurde nach seiner Fundlage, vor allem aber hinsichtlich der Spuren untersucht, die auf diagenetische bzw. taphonomische Prozesse wie Erosion, Tier- und Wurzelfraß, Gewalt- oder Feuereinwirkung u. a. rückschließen lassen. Die Bissmarken können in der Regel auf Hunde zurückgeführt werden, in einem Fall aufgrund des geringen Durchmessers und der Tiefe der vorgefundenen Läsionen auf die Fangzähne eines Fuchses. Sie finden sich vorzugsweise an den knorpelbedeckten und spongiosareichen Gelenkenden des Postkraniums. Ihre Häufigkeit an den Knochenresten vom Michelsberg beträgt bis zu ca. 50 %. In Ilsfeld treten derartige Defekte signifikant häufiger an Elementen der linken als an der rechten Körperseite auf. Es liegt nahe anzunehmen, dass die meisten dieser Skelettelemente aus ehemaligen Grablegen stammen, die nur unzureichend eingetieft waren und von Hunden angegraben wurden. Bei der Bestattung in rechter Seitenlage wären <?page no="268"?> 270 Joachim Wahl diese Partien exponiert, bei Rücken- oder Bauchlage sowie bei frei zugänglichen Leichen wäre die Wahrscheinlichkeit gleich groß, zuerst auf die linke oder rechte Seite zu stoßen. Für das Erdwerk von Bruchsal „Aue“ scheint sich in diesem Zusammenhang sogar eine geschlechtsspezifische Seitenlage anzudeuten - ein Muster, das aus verschiedenen Nekropolen des Endneolithikums durchaus bekannt ist. Fraßspuren an Schädeln bzw. Schädelteilen sind eher selten. Sie zeigen sich meist in Form von Nagespuren an charakteristischen Stellen wie dem Augenhöhlenrand und dem Foramen magnum. Hinweise auf Umlagerungen liegen aus allen Erdwerken vor. Es sind dies alte Bruchkanten, die am bereits mazerierten Knochen entstanden sind. Sie könnten auf Erdbewegungen in aufgelassenen Bestattungsarealen zurückgehen oder beim Aufschütten der Wälle oder Ausheben von Vorratsgruben entstanden sein. Häufig zu beobachten sind verkohlte Holzstrukturen in den Gräben der Erdwerke, die auf Schadenfeuer schließen lassen. Menschliche Skelettreste mit Brandspuren werden dagegen selten angetroffen. Das einzige Fragment, das in Ilsfeld auf Kontakt mit Feuer hinweist, wurde in der Literatur sogleich als Beleg für Anthropophagie herausgestellt und über Jahrzehnte als solcher tradiert. Es entpuppte sich im Rahmen der neuerlichen Untersuchung als Pferdeknochen. Demgegenüber wurden jedoch tatsächlich in vier der sechs Erdwerke einzelne angebrannte Menschenknochen gefunden. Nach detaillierter Begutachtung weisen sie stellenweise hitzebedingte Veränderungen auf, die Temperaturen bis über 800 °C belegen; zudem lassen sich bei einigen Schlag- oder Bissmarken nachweisen. Die Lage der am rechten Femur eines eher männlichen Erwachsenen vom „Hetzenberg“ angetroffenen Brandspuren sowie die ablesbaren Temperaturgradienten zeigen, dass dieser Knochen noch von Weichteilen bedeckt war, als er mit einem glühenden Holzbalken o. Ä. in Berührung gekommen ist. Demnach liegen zumindest in einigen Fällen Brandkatastrophen näher als kannibalische Intentionen. Stumpfe Gewalteinwirkungen könnten ebenso durch herabfallende Gebäudeteile verursacht worden sein. In Bruchsal „Aue“ sind interessanterweise vorwiegend Skelettreste von weiblichen Individuen betroffen, die sich bei feindlichen Überfällen womöglich am ehesten im Schutz ihrer Häuser aufgehalten haben. Bis auf das zahlenmäßig geringe Material aus Heilbronn-Klingenberg können in allen Erdwerken Menschenknochen mit Schlag-, Hieb- oder Schnittspuren nachgewiesen werden. Diese liegen sowohl am Schädel als auch im postkranialen Bereich und gehen auf die Einwirkung von Keulen, Schleudersteinen o. Ä., Steinbeilen und Steinklingen zurück. Ihre Lokalisation weist auf typische Kampfsituationen, gezieltes Abtrennen des Kopfes oder zufällige stumpfe Traumatisierungen, nicht aber auf eine Zerlegung der Körper zwecks Portionierung hin. Bemerkenswert ist, dass vielfach auch <?page no="269"?> 271 Leben und Sterben in der Steinzeit Kinder der Altersstufe infans I betroffen sind. Es wäre also nicht von der Hand zu weisen, an Opferungen o. Ä. zu denken, denn Anhaltspunkte für einen Schädelkult sind zweifelsfrei durch die so genannten Trophäenschädel aus Ilsfeld und Bruchsal „Aue“ gegeben (Abb. 9). Diese zeigen ein erweitertes Hinterhauptsloch sowie verwitterte Oberflächen, die damit zu erklären sind, dass sie auf einer Stange aufgespießt und über längere Zeit im Freien aufbewahrt, also der Witterung ausgesetzt waren. Das Ilsfelder Stück zeichnet sich zudem durch eine von innen nach außen entstandene Perforation in der Kalottenmitte sowie Schlagverletzungen in der rechten Schläfenregion und Nagespuren am rechten Orbitarand aus. Es wurde im Bereich eines Grabenkopfes, also in der Nähe einer Torsituation gefunden. Angesichts dieser Funde wäre zu überdenken, ob nicht manche erweiterten Schädelbasen auch im Paläolithikum möglicherweise nicht bei der Entnahme des Gehirns, sondern beim Aufspießen auf eine Stange entstanden sein könnten. Die systematische Untersuchung der Menschenknochen aus Befunden der Michelsberger Kultur spricht eindeutig gegen eine einheitliche Entstehungsgeschichte. Bestattungen stehen neben anderen Entsorgungsmaßnahmen, Gewalteinwirkungen am frischen Knochen neben Frakturen an länger erdgelagerten Skelettteilen und Manipulationen mit eher kultischem Hintergrund neben Artefakten profanen Charakters. Demzufolge dürfte es sich bei den Erdwerken tatsächlich am ehesten um befestigte Siedlungen gehandelt haben, die - wie auch heute noch jede größere Lebensgemeinschaft - ein Gemisch aus täglicher Routine, Religion, Unglücksfällen und Gewalt darstellen. Ähnlich wie die weiter oben beschriebene Knochentrümmerstätte vom Hohlenstein-Stadel wurde auch ein anderer spektakulärer Fund, der lange als Beweis für Kannibalismus im Neolithikum gehandelt wurde, im Laufe der Zeit „entzaubert“: die Jungfernhöhle bei Tiefenellern nahe Bamberg. Dieses Felsenloch wurde bei einer Rettungsgrabung im Jahr 1952 untersucht. Es enthielt Skelettreste von insgesamt 38 Personen, gut ein Drittel davon Kinder, die ursprünglich wohl nicht als vollständige Leichen eingebracht worden waren (s. a. Rind 1996). Nachdem zunächst angenommen wurde, hier seien noch ansässige Jäger und Sammler von Bandkeramikern getötet, zerlegt, gekocht und gegessen worden, fanden sich bei genauerer Inspektion des Knochenmaterials keinerlei Schnitt- und Hackspuren, die als Hinweise auf eine Tötung und/ oder Zerlegung hätten dienen und genauso wenig typologische Anhaltspunkte, die die ursprüngliche Interpretation hätten stützen können (Peter-Röcher 1998). Es handelt sich wahrscheinlich ebenfalls um Überreste mehrstufiger Bestattungen. Anhand von Begleitfunden und 14 C-Daten datiert das Material zwischen ca. 5.700 und 3.400 v. Chr. Aus der Bandkeramik sind jedoch bisher keine Parallelen bekannt. Auch die Spuren an den Skelettresten aus Zauschwitz-Weideroda, Kreis Borna, die als Überbleibsel einer Kannibalenmahlzeit gedeutet wurden, lassen sich <?page no="270"?> 272 Joachim Wahl Abb. 9: Trophäenschädel aus dem Michelsberger Erdwerk von Ilsfeld: in der Ansicht von unten mit erweiterter Schädelbasis und Perforation des Schädeldaches (a), mit Spuren von Tierfraß oberhalb der rechten Orbita (b) und in rekonstruierter Position unter Berücksichtigung der Fundumstände (c). a b c <?page no="271"?> 273 Leben und Sterben in der Steinzeit durchweg durch taphonomische Prozesse erklären (Orschiedt 1999; Petrasch 2000). Schließlich verweisen auf modernen Methoden basierende Nachuntersuchungen an Höhlenfunden immer häufiger auf differenzierte Bestattungssitten anstelle vermeintlicher, sensationsheischender Opferungspraktiken (Flint u. Leiber 1998). Literatur Adam, K. D. 1984: Der Mensch der Vorzeit. Führer durch das Urmensch-Museum Steinheim an der Murr. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart. 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Isensee Verlag, Oldenburg. <?page no="276"?> Wolfgang Maier (Tübingen) Biologische Grundlagen der Menschwerdung: Die Evolution der Halbaffen und Affen Zusammenfassung Der Mensch gehört zoologisch-systematisch zur Säugetierordnung der Primates. Daher sind Einsichten in die natürlichen Voraussetzungen der Menschwerdung nur über ein Verständnis der Evolutionsbiologie der Primaten zu gewinnen. Der Vergleich zwischen heutigen Halbaffen zeigt, dass Primaten ursprünglich kleine, nachtaktive Bewohner tropischer Wälder gewesen sind. Ihr Bewegungsapparat und ihre Sinnesorgane waren an agiles Klettern und Springen im peripheren Geäst der Baumkronen angepasst, wo sie ein breites Spektrum an tierischer und pflanzlicher Nahrung nutzten. Die arborikolen und omnivoren Grundanpassungen prägen bis heute die Biologie aller Primaten - einschließlich des Menschen. Mit der Ausbreitung des neuartigen Lebensraums der Savannen sind die Vorläufer des Menschen im oberen Miozän zum zweibeinigen Gang übergegangen. Die definitive Trennung der Funktionen von Fuß und Hand bahnte den Weg für die spezifische Evolution des Menschen, die eng mit den manipulativen Fähigkeiten der Hände verknüpft ist. Die quantitative Vermehrung des Großhirns um das Dreifache erfolgte erst in den letzten 2 Millionen Jahren. Systematik und Phylogenie Unter den Tieren haben die Primaten schon immer das besondere Interesse des Menschen gefunden. Intuitiv fühlt der Mensch seine Nähe zu diesen Tieren, und daher spielen in den Mythen der Naturvölker die Affen als Brüder des Menschen vielfach eine herausgehobene Rolle. Selbst in der christlichen Theologie des Mittelalters galten Affen als gefallene Menschen; auf den Jahrmärkten fanden Affen als Karikaturen des Menschen besondere Aufmerksamkeit. In der neuzeitlichen Wissenschaft wagte Carl Linné (1758) zum ersten Mal, den Menschen als Spezies Homo sapiens in seinem „Systema naturae“ aufzuführen. Bei Linné, der die vergleichend-anatomischen Untersuchun- <?page no="277"?> 279 Biologische Grundlagen der Menschwerdung gen seiner Zeit berücksichtigt hatte, bildet der Mensch mit den damals bekannten Tierprimaten und den Fledermäusen die Ordnung der Primates. Damit war der Bann gebrochen, der die naturhistorische Erforschung der Primaten behindert hatte. In zahlreichen Monographien wurden in den darauf folgenden Jahrzehnten die Biologie und die Klassifikation der Primaten immer weiter ausgebaut und verfeinert. Erst die Deszendenz-Theorie von Charles Darwin (1859) schuf die theoretischen Voraussetzungen, das natürliche System in ein genealogisches Verwandtschaftssystem umzudeuten. Während Darwin selbst in dieser Hinsicht eher zurückhaltend war, lenkte Ernst Haeckel (1866) sein Interesse auf die Stammesgeschichte, und auch der Begriff „Phylogenie“ stammt von ihm. Das Stammbaumschema der Primaten von Haeckel (1895) unterscheidet sich nicht mehr fundamental von den heutigen Vorstellungen. Darwin (1871) selbst hat sich dann in einem eigenen Werk mit der „Abstammung des Menschen“ befasst und seine Herkunft von afrikanischen Menschenaffen vermutet. In den darauf folgenden Jahrzehnten haben insbesondere immer neue Fossilfunde das Verständnis der Stammesgeschichte der Primaten - und damit auch des Menschen - vorangebracht. So kennen wir derzeit neben den etwa 220 lebenden mehr als 400 fossile Primatenarten. Die Primaten stellen diejenige Säugetierordnung dar, zu der auch der Mensch als zoologisches Objekt gehört - oder anders ausgedrückt: Der Mensch hat sich evolutiv aus der Gruppe der Primaten entwickelt. Zum Verständnis der Biologie des Menschen ist daher die Berücksichtigung der Primaten unerlässlich. In struktureller und funktioneller Hinsicht ist die Art Homo sapiens Teil der Ordnung der Primates. Im Hinblick auf die psychischen und moralischen Besonderheiten des Menschen hatte bereits Linné (1758) die vieldeutige Artdiagnose gewählt: „Nosce te ipsum“ (Erkenne Dich selbst). Primaten sind jedoch nicht nur wegen ihres direkten Bezuges zum Menschen von besonderem Interesse; auch aus zoologischer und evolutionsbiologischer Sicht nehmen sie unter den Säugetierordnungen eine gewisse Sonderstellung ein. Wir finden unter den heute lebenden Primaten nämlich Überlebende verschiedener Evolutionsstufen (Abb. 1). Naturgemäß sind die Vertreter älterer Evolutionsstadien nicht ohne eigene Spezialanpassungen geblieben, aber in grober Näherung lassen sie sich als evolutive Reihe interpretieren - man spricht daher auch von einer „aufsteigenden Primatenreihe“. Von besonderer Wichtigkeit ist die traditionelle Unterscheidung zwischen Halbaffen (Prosimiae) und Affen (Simiae). Die Simiae werden in Neuwelt- und Altweltaffen untergliedert, die Letzteren wiederum in „niedere“ („monkeys“) und „höhere“ Altweltaffen, die Menschenaffen („apes“). Diese Klassifikation spiegelt typologisches und anthropozentrisches Denken wider, <?page no="278"?> 280 Wolfgang Maier das heute durch die phylogenetische Systematik ersetzt wird. Danach sind die Prosimiae ein nicht gültiges paraphyletisches Taxon, insbesondere, wenn die Tarsiiformes (Koboldmakis) einbezogen werden. Unter der Annahme, dass die heute lebenden Halbaffen monophyletisch sind, bezeichnet man sie dann als Unterordnung Strepsirhini (Primaten mit Nasenspiegel). Allerdings sind ihr nackter Nasenspiegel und die Form ihrer Nasenöffnungen mit Sicherheit Plesiomorphien, also Primitivmerkmale, während der Zahnkamm Abb. 1: Stammbaumschema und Klassifikation der Primaten, eingetragen in den absoluten geologischen Zeitrahmen. Einige wichtige Fossilgruppen sind berücksichtigt. Die Breite der Evolutionsbahnen soll den ungefähren Artenreichtum repräsentieren. Hinter den Familien ist die heutige Artenzahl in Klammern gesetzt (modifiziert nach Martin, Fleagle u. a.). <?page no="279"?> 281 Biologische Grundlagen der Menschwerdung im Unterkiefer - er ist beim Fingertier und bei den Indris Madagaskars modifiziert - als Synapomorphie, d. h. abgeleitete Spezialhomologie, aufgefasst wird. Die Tarsiiformes, die keinen Zahnkamm besitzen, werden u. a. wegen ihres behaarten Rostrums mit den „echten“ Primaten (Simiae) als Unterordnung Haplorhini zusammengefasst. Das Stammbaumschema zeigt, dass die Primaten im Alttertiär durch eine beträchtliche Anzahl von Fossilgruppen repräsentiert sind. Nahezu alle dieser fossilen Primaten starben spätestens im Oberen Eozän, also vor mehr als 36 Millionen Jahren, aus. Es ist bis heute schwierig, die modernen Primaten auf spezielle Taxa des Eozäns zurückzuführen. An der Grenze zwischen Eozän und Oligozän existiert nämlich auch für viele andere Stammlinien ein dramatischer, als „Grande Coupure“ bezeichneter Faunenschnitt, der vermutlich durch eine weltweite Abkühlung des Klimas bedingt war. Oberhalb dieser ökologischen und evolutiven Zäsur finden sich dann die fossilen Vorläufer der modernen Primatentaxa. Ein viel diskutiertes Problem sind die Verwandtschaftsbeziehungen der Ordnung Primates zu anderen Säugetierordnungen. Vor etwa 100 Jahren wurde aufgrund zweifelhafter morphologischer Ähnlichkeiten eine engere Verbindung mit den Spitzhörnchen (Scandentia), Flattermakis (Dermoptera) und Fledermäusen (Chiroptera) angenommen („Archonta“-Konzept von Gregory, 1910). Molekulare Befunde der letzten Jahre scheinen jedoch die Berechtigung des Archonta-Konzepts zu stützen, wenn auch in letzter Zeit die Chiroptera anders gruppiert werden. Fossilfunde scheinen eine besonders enge Verwandtschaft der Dermoptera und der fossilen Paromomyidae nahe zu legen. Die ältesten Simiae sind aus dem Fayum Nordafrikas bekannt und reichen dort zu Schichten, die bis in das oberste Eozän datiert sind. Einige gleich alte Funde aus Ostasien sind in ihrer Zuordnung noch umstritten. Das Stammbaumschema der Catarrhini oder Altweltaffen (Abb. 2), in dem auch die Fossilfunde eingetragen sind, lässt deutlich erkennen, dass im unteren Miozän zunächst die Hominoidea mit verschiedenen fossilen Teilgruppen eine adaptive Radiation - d. h. eine Artenbildung in unterschiedliche Anpassungsrichtungen - erfuhren. Im oberen Miozän starben die meisten Vertreter der Hominoidea bis auf die wenigen heute bekannten Stammlinien aus. Abgesehen von der speziellen Erfolgsgeschichte des Menschen sind die heutigen Menschenaffen nur noch als Reliktgruppe anzusehen. Umgekehrt waren dagegen die Cercopithecoidea im Miozän nur spärlich vertreten, und sie erlebten ihre evolutive Entfaltung zur heute artenreichsten Teilgruppe der Primaten erst im Plio-Pleistozän. Ob zwischen dem Niedergang und Aufblühen dieser beiden Gruppen ein ursächlicher Zusammenhang besteht, ist Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. <?page no="280"?> 282 Wolfgang Maier Geographische Verbreitung Primaten sind auf die Tropen und Subtropen der Alten und Neuen Welt beschränkt; lediglich die australische Faunenregion haben sie nicht erreicht. Die Verbreitung der Primatentaxa zeigt eine korrelative Beziehung zur systematischen Gliederung. Es spiegelt sich in diesem Muster die stammesgeschichtliche Ausbreitung und regionale Entfaltung der systematischen Einheiten wider - aber auch paläoökologische und paläogeographische Ausbreitungsbzw. Isolationsbedingungen. Besonders auffällig ist die Sonderstellung Madagaskars, dessen Fauna geradezu durch die endemischen, d. h. nur dort vorkommenden, Primatenfamilien geprägt ist. Auch die Neue Welt, Neotropis, wird von einer einheitlichen oder monophyletischen Primatengruppe, den Platyrrhini, besiedelt. Es ist eine viel diskutierte Frage, wann und woher die Vorläufer der Neuweltaffen nach Südamerika gelangt sind. Die wahrscheinlichste Hypothese ist die, dass sie im oberen Eozän auf großen Treibholz-Flößen von Afrika her über den damals noch schmaleren Südatlantik an die Gegenküste verfrachtet wurden. Die ältesten fossilen Abb. 2: Aufgeschlüsselter Stammbaum der Altwelt-Primaten unter Berücksichtigung der wichtigsten Fossilfunde (modifiziert nach Szalay u. Delson 1979). <?page no="281"?> 283 Biologische Grundlagen der Menschwerdung Primaten Südamerikas, Branisella und Szalatavus, stammen aus dem oberen Oligozän von Bolivien. Die engeren faunistischen Beziehungen zwischen Afrika und Asien haben ihren Grund in günstigen Ausbreitungsbedingungen in jüngerer geologischer Zeit. Seit dem unteren Miozän, d. h. seit ca. 18 Millionen Jahren, existierten landfeste Verbindungen zwischen Eurasien und Afrika über das breite tertiäre Mittelmeer Tethys hinweg. Diese Landbrücke war sicher bewaldet und konnte von verschiedenen Primatengruppen, den Lorisidae, Hominoidea und Cercopithecoidea, zur Ausbreitung von Afrika nach Eurasien genutzt werden. Die circumtropische Verbreitung gibt auch Hinweise auf wesentliche ökologische Existenzbedingungen der Primaten: Aufgrund ihrer omnivoren und frugivoren Ernährungsanpassungen (s. u.) sind sie auf ein ganzjähriges Angebot an hochwertiger Nahrung angewiesen, wie es nur die tropische Vegetation anzubieten vermag. Die weitaus meisten Arten sind daher Bewohner tropischer Wälder, und sie sind an diesen Lebensraum auch optimal angepasst. Lediglich einige terrestrische Arten, beispielsweise Paviane und Makaken, drangen auch in subtropische Savannen oder sogar in gemäßigte Klimazonen vor. Schließlich konnte sich der moderne Mensch als Jäger und auch als Viehzüchter mittels kultureller Hilfsmittel wie Bekleidung, Behausung, Feuer usw. in die gemäßigten und sogar in die arktischen Zonen ausdehnen. Bewegungsapparat Mit der primären Anpassung an den Lebensraum der tropischen Regenwälder ist ein weiterer Funktionskomplex der Primaten verknüpft, nämlich ihre Arborikolie. Das bedeutet, dass eine Vielzahl von charakteristischen Besonderheiten der Primaten nur aus den Anpassungen an das Baumleben verständlich ist. Dies gilt auch für den Menschen, der erst vor nicht allzu langer Zeit sekundär zu einer terrestrischen Lebensweise überging. Es ist offenkundig, dass das Leben in den Bäumen vor allem den Bewegungsapparat und die Sinnesorgane beeinflussen muss. Von den Leistungen dieser Organsysteme ist dann zwangsläufig auch das Gehirn mit seinen spezifischen Koordinationsaufgaben betroffen. Das Skelett-Muskelsystem prägt in der Regel das Erscheinungsbild (Eidonomie) einer Tierart. Der Körperbau der Primaten ist durch schlanke, bewegliche Extremitäten gekennzeichnet. Sowohl die Hände als auch die Füße sind durch opponierbare Daumen (Pollex) bzw. Großzehen (Hallux) als Greiforgane ausgebildet. Daher hat man in der Vergangenheit Primaten oft auch als „Quadrumana“, d. h. Vierhänder, bezeichnet. Bei einigen Neuweltaffen kommt noch ein hoch enwickelter Greifschwanz als fünftes Hal- <?page no="282"?> 284 Wolfgang Maier teorgan hinzu. Diese Spezialisierungen erlauben es den Primaten, zum Nahrungserwerb auch in das ganz dünne periphere Geäst der Baumkronen zu gelangen. Meist findet sich hier das beste Angebot an Knospen, Blüten, Früchten und Samen - und außerdem viele Insekten. Nur die Flughunde (Megachiroptera) und die Vögel können noch effizienter an dieses ergiebige Nahrungsreservoir gelangen, und diese Tiergruppen stellen daher auch die wichtigsten Nahrungskonkurrenten für die Primaten dar. Besonders prägend sind die Greifhände und -füße, die in großer Formenvielfalt ausgebildet sind (Abb. 3). Die Innenflächen (Palmae und Plantae) dieser Greiforgane zeigen ein charakteristisches Muster an Hand- und Fingerballen. Diese weichen Druckpolster besitzen ein Oberflächenrelief aus feinen Epidermisleisten (Dermatoglyphen), das wie ein Reifenprofil die Haftung am Substrat verbessert. Durch ekkrine Schweißdrüsen, die einen dünnflüssigen Schweiß absondern, wird diese Leistenhaut geschmeidig gehalten. Die Unterhaut (Dermis) der Hautballen ist reichlich mit Tastrezeptoren ausgestattet. Die Endglieder der Finger und Zehen tragen bei den Primaten keine Krallen (Falculae), sondern Nägel (Tegulae). Allerdings können die Nägel bei vielen Arten so komprimiert sein, dass sie nicht ohne weiteres von Krallen unterscheidbar sind. Lediglich an der abspreizbaren Großzehe zeigen alle Primaten einen Plattnagel - eines der wenigen zuverlässigen diagnostischen Merkmale. Da der Greiffuß Äste als normales Substrat umfasst, liegt die Drehachse des Fußes in Höhe des Grundgelenks der Großzehe. Bei allen Primaten ist der proximale Teil der Fußwurzel (Calcaneus und Naviculare), der als Kraftarm dient, verlängert - insbesondere bei den so genannten Springern. Der Kopf, an dem stets die großen Augen dominieren, ist der dominanten visuellen Orientierung entsprechend sehr beweglich. Da Primaten häufig eine aufrechte Sitzposition einnehmen, wird der Kopf auf Kopfgelenken balanciert, die mehr unter dem Hirnschädel angeordnet sind. Die Körper- und Extremitätenproportionen sind vielfach berechnet und in ihrer Korrelation zu bestimmten Lokomotionsweisen untersucht worden. Verallgemeinernd kann Folgendes festgehalten werden: ● Bei Vierbeinigen oder Quadrupeden besteht ein mehr oder weniger ausgewogenes Längenverhältnis (Intermembralindex = 70-80) zwischen Vorder- und Hinterextremitäten. Allerdings werden die Extremitäten beim Laufen auf horizontalen und schrägen Ästen normalerweise stark abgewinkelt, um den Körperschwerpunkt zur Reduktion der Kippmomente möglichst niedrig zu halten. ● Bei Springern oder Saltatoren ist die Hinterextremität deutlich verlängert, da hiermit beim Absprung der Beschleunigungsweg verlängert wird. Zumeist wird auch mit den kräftigen hinteren Sprungbeinen gelandet. Dazu ist eine Körperrotation in der Flugphase erforderlich, die durch das <?page no="283"?> 285 Biologische Grundlagen der Menschwerdung Abb. 3: Hand- und Fußstrukturen ausgewählter Primaten. Charakteristisch ist die Ausbildung feiner Epidermisleisten und die Opponierbarkeit von Daumen bzw. Großzehe und den übrigen Fingern zur Bildung von Greif-Autopodien. Beim Menschen wird die Großzehe zur Bildung eines Stand- und Schreitfußes sekundär wieder angelegt (nach Biegert). Hochschlagen des langen Schwanzes erreicht wird. Der Schwanz dient auch als Balancierorgan, und er wird nur bei den großen oder terrestrischen Arten, z. B. bei Indris, manchen Makaken und den Menschenaffen, zurückgebildet. Die altweltlichen Menschenaffen reduzierten den Schwanz zu einem kurzen Steißbein (Coccygium), das dann mit seiner Muskulatur der Verfestigung des Beckenbodens dient. ● Die Hangler oder Brachiatoren hängen sich unter die dünnen Äste und erreichen dadurch eine stabile Gleichgewichtsposition. Für eine Fortbewegung durch Schwinghangeln nutzen sie die Pendelgesetze, was insbesondere zu einer Verlängerung der Arme führt. Bei Hanglern wird in der Regel die Hand zu einer Hakenhand entwickelt, und der Daumen wird zurückgebildet. Im Übrigen sind die Unterscheidungen zwischen den aufgeführten Bewegungstypen gleitend. Alle Primatenarten nutzen in der Regel jede der genannten Lokomotionsweisen in unterschiedlichem Ausmaß: Sie sind bei Bedarf kleine „Kunstturner“, die sich gewandt im dreidimensionalen Raum der Baumkronen orientieren und bewegen können. Prägend für die Körperform werden extreme Ausprägungen des Anpassungstyps. <?page no="284"?> 286 Wolfgang Maier Das Skelett-Muskelsystem wird nicht nur zur aktiven Fortbewegung oder Lokomotion, sondern auch zur Einnahme bestimmter Ruhepositionen, sog. „postures“, eingesetzt. Primaten haben insbesondere die Fähigkeit zum aufrechten Sitzen entwickelt, was vor allem im Geäst eine aktive Leistung ist. Vielfach sind am Sitzbein (Ischium) bestimmte Schwielen oder Höcker ausgebildet, und der Körper kann mit Hilfe der Greiffüße auch auf schmalem Substrat in stabiler Position gehalten werden. Dadurch werden die Hände für die Ergreifung, Manipulation und Ingestion von Nahrungsobjekten freigestellt - aber auch für die eigene oder soziale Körperpflege („Auto- und Allogrooming“). Hiermit ist eine gewisse Arbeitsteilung der beiden Extremitäten eingeleitet, die vor allem im Hinblick auf die evolutive Entstehung des Menschen große präadaptive Bedeutung besitzt (s. u.). Die Lokomotion steht primär im Dienst des Nahrungserwerbs; in zweiter Linie kann auch die Flucht vor Raubfeinden von Bedeutung sein. Primaten streifen auf der Nahrungssuche regelmäßig durch ein Revier oder „home range“, dessen Größe auf die Subsistenzerfordernisse der Individuen bzw. der sozialen Einheiten abgestimmt sein muss. Feldbeobachtungen haben gezeigt, dass alle untersuchten Arten bestimmte Etagen (Strata) des Walds bevorzugt nutzen. Insbesondere dort, wo verschiedene Primatenarten syntop, d. h. in ein und demselben Biotop, vorkommen, zeigt sich stets eine klar ausgeprägte artspezifische „Einnischung“ in bestimmte Strata und eine Bevorzugung der dort vorkommenden Nahrungsquellen (Abb. 4). Bei Kenntnis dieser „Biologischen Nischen“ lassen sich auch die ökomorphologischen Anpassungen des Bewegungsapparates und des Ernährungssystems der einzelnen Arten besser verstehen. Ernährungsbiologie Soweit bekannt, sind alle Halbaffen omnivor, d. h. sie ernähren sich von einer mehr oder weniger breiten Palette tierischer und pflanzlicher Nahrung. Ähnliches gilt für die echten Affen. Nur die Koboldmakis scheinen exklusive Karnivoren (Faunivoren) zu sein. Bei der Charakterisierung der Ernährungs-Nischen ist zunächst auffällig, dass nahezu alle Halbaffen nachtaktiv sind; lediglich einige madegassische Lemuren und Indris sind tagaktiv. Hingegen sind alle Simiae tagaktiv - mit der einzigen Ausnahme des neotropischen Nachtaffen Aotus. Es wird angenommen, dass die Nachtaktivität der Halbaffen in der Alten Welt eine Strategie darstellt, um die Konkurrenz mit den echten Affen zu vermeiden. Es spricht allerdings auch viel dafür, dass die nächtliche Lebensweise der Halbaffen evolutiv ursprünglich ist, da insbesondere ihr Tapetum lucidum, d. h. der reflektierende Augenhintergrund, für eine primäre Nachtaktivität spricht. Es wird vermutet, dass die Halbaffen damit vor allem dem <?page no="285"?> 287 Biologische Grundlagen der Menschwerdung Abb. 4: Verteilung der ökologischen Nischen von sieben sympatrischen und syntopen Primatenarten im Regenwald von Guayana, Südamerika. Jede Art nutzt die Stockwerke eines tropischen Primärwaldes in unterschiedlicher Häufigkeit (untere Reihe der Diagramme) und nimmt eine artspezifische Palette von Nahrungsobjekten zu sich (obere Reihe der Diagramme) (modifiziert nach Fleagle). <?page no="286"?> 288 Wolfgang Maier Konkurrenzdruck der Vögel ausgewichen sind, die vielfach auf ähnliche Nahrungsobjekte angewiesen und durch ihr Flugvermögen lokomotorisch überlegen sind. Da die überwiegende Mehrzahl der Vögel tagaktiv ist, können die nokturnen Halbaffen zusätzlich den Tagraubvögeln ausweichen - während die Eulen tatsächlich die wichtigsten Raubfeinde der Halbaffen sind. Bei der Erörterung der Ernährungsbiologie verdient das Gebiss besondere Beachtung. Zum einen schlagen sich in der Gebissstruktur ernährungsbiologische Anpassungen nieder (Ökomorphologie); zum anderen sind fossile Primaten zumeist - und oft ausschließlich - durch Gebissreste repräsentiert, so dass deren funktionsmorphologischem Verständnis große forschungspraktische Bedeutung zukommt. Die überwiegende Mehrzahl der fossilen und der lebenden Halbaffen ist durch eine bestimmte Gebissformel gekennzeichnet. In jedem Quadranten finden wir zwei Schneidezähne (Incisivi), einen Eckzahn (Caninus), drei Vorbackenzähne (Prämolares) und drei Backenzähne (Molares). In konventioneller Abkürzung wird dieser Sachverhalt folgendermaßen ausgedrückt: 2 1 3 3 2 1 3 3 Es sind einige wenige alttertiäre Fossilprimaten bekannt, die noch einen vierten Praemolaren aufweisen. Im Übrigen kam es im Verlauf der Primatenevolution zu verschiedenen weiteren Rückbildungen und Spezialisierungen. Die Indriidae Madagaskars und die Altweltaffen besitzen nur noch zwei Praemolaren, bei den Krallenäffchen (Callitrichidae) sind infolge einer sekundären Verzwergung die hinteren Molaren zurückgebildet. Bei den allermeisten Strepsirhini bilden die unteren Eckzähne mit den vorspringenden (prokumbenten) Schneidezähnen einen schaberähnlichen Kamm, der oft auch als Putzkamm bezeichnet wird. Dafür nimmt häufig der vorderste untere Prämolar die Form eines langen, spitzen Caninus an (Abb. 5b u. c). Während bei der Mehrzahl der Gruppen der Zahnkamm sechszähnig ist, ist bei den Indriidae ein Incisivenpaar ausgefallen und der Kamm ist nur noch vierteilig. Bei den Strepsirhini - mit Ausnahme von Daubentonia - sind die beiden oberen Schneidezähne meist klein und funktionell unbedeutend. Zwischen den inneren Zähnen bleibt eine mehr oder weniger breite Lücke, durch die der nackte Nasenspiegel (Rhinarium) mittels eines paarigen Epithelwulstes (Philtrum) zum vorderen Gaumendach zieht. Hier endet das Philtrum an einer Papille (Papilla palatina), an deren Seite sich die paarigen Stenonschen Gänge (Ductus nasopalatini) öffnen. Durch diese Gänge, die den primären Choanen - d. h. den inneren Nasenöffnungen - entsprechen, besteht eine Verbindung zu den Öffnungen des Jacobsonschen Organs, das bei den Halbaffen durchwegs gut entwickelt ist (s. Sinnesorgane). Das Jacobsonsche Organ fehlt allen Catarrhini; ontoge- <?page no="287"?> 289 Biologische Grundlagen der Menschwerdung Abb. 5: a Obere und untere Molaren der fossilen Art Palenochtha minor (Paromomyidae) aus dem Paläozän von Nordamerika. Links sind die Haupthöcker und die großen Bassins benannt; rechts sind die komplementären Kanten und Facetten dargestellt, die beim Kauen gegeneinander abscheren (rechts = vorne, oben = außen). b Obere und untere Gebisshälften des Halbaffen Galago demidovii (Zwerggalago aus Afrika) in Aufsicht. Der sechszähnige untere „Putzkamm“ besteht aus den beiden Incisiven (I) und dem Caninus (C); die Eckzahnfunktion übernimmt dann der vorderste Praemolar (P). Die beiden oberen Schneidezähne sind nur klein und kegelförmig. Die drei Molaren (M) gleichen in ihrer Kronenstruktur noch weitgehend derjenigen von Palenochtha. Bei den Galagos sind die hintersten Praemolaren weitgehend der Molarenstruktur angeglichen, d. h., sie sind molarisiert. c Vordergebiss von vier Galago-Arten in seitlicher Ansicht. Man erkennt den vorspringenden „Putzkamm“, den verschieden langen oberen Eckzahn sowie die in unterschiedlichem Maße caniniform ausgebildeten vorderen Praemolaren (nach Maier). <?page no="288"?> 290 Wolfgang Maier netisch wird es jedoch gelegentlich „rekapituliert“. Die Stenonschen Gänge sind bei den Cercopithecoidea und den Gibbons noch durchgängig, bei den Pongidae und Hominidae sind sie verschlossen. Am Osteocranium ist die Passage jedoch als paariges Foramen incisivum erhalten. Bei Erhalt des Rhinarium und des Philtrum, die beide primitives Säugererbe darstellen, ist die Oberlippe gespalten und am Zwischenkiefer fixiert. Der Verlust des Rhinarium bei den Haplorhini führt auch zu einer Rückbildung des Philtrum. Damit können die Oberlippen in der Mitte verwachsen und mobil werden; die oberen Schneidezähne nehmen dann ihre für die „höheren“ Primaten typische Meißelform an. Eine derarige Umwandlung der Oberlippen und des oberen Vordergebisses macht es möglich, bei der Nahrungsaufnahme von großen Früchten Bissen abzutrennen. Die Eckzähne sind meist etwas verlängert, bei den höheren Altweltaffen aber immer nur bei den Männchen. Ein solcher Geschlechtsdimorphismus offenbart, dass diese prominenten Eckzähne weniger dem Nahrungserwerb dienen, wie bei den echten Raubtieren, sondern vor allem als Droh- und Imponierwaffen eingesetzt werden. In der jüngsten menschlichen Evolution haben die Eckzähne eine deutliche Reduktion erfahren, wodurch auch das Diastema zwischen oberen Schneide- und Eckzähnen, die sog. „Affenlücke“, verschwand. Menschen imponieren auf andere Art und Weise. Die Vorbackenzähne (Prämolaren) sind meist einfach strukturierte Zähne. Die hinteren Prämolaren können sich an die Form der Molaren angleichen (Molarisierung), wobei dieser Prozess eigentümlicherweise bei den Buschbabies (Galagidae) am weitesten fortgeschritten ist. Die Reduktion der Zahl der Prämolaren von drei auf zwei bei den Catarrhini scheint sich bei den unteroligozänen Fossilien des Fayum entwickelt zu haben: Die primitiveren Parapithecidae zeigen noch drei Prämolaren, die fortgeschrittenen Propliopithecidae haben nur noch zwei davon. Unter anderem deshalb wird angenommen, dass die Neuweltaffen von afrikanischen Parapitheciden, die Altweltaffen von Propliopitheciden abstammen (Abb. 2). Die Backenzähne sind aufgrund ihrer komplexen Konstruktion besonders aussagekräftig. Unter den heute lebenden Primaten zeigt Galago demidovii das primitivste Molarengebiss (Abb. 5b). Es handelt sich um einen Molarentypus, der dem primitiven tribosphenischen Bautypus der therischen Säugetiere (Beutel- und Plazentatiere) noch sehr ähnlich ist. Die tribosphenischen Molaren besitzen schneidende und mahlende Funktionseinrichtungen auf der Kaufläche. Auch die Molaren der ältesten beschriebenen Primaten, Purgatorius aus der Kreide oder Palenochtha aus dem Alttertiär, sind ihm sehr ähnlich (Abb. 5a). Die oberen Molaren sind im Wesentlichen dreihöckerig; der hintere Innenhöcker (Hypoconus) ist erst angedeutet. Bei G. demidovii sind die beiden Zwischenhöcker Paraconulus und Metaconulus noch sehr gut entwickelt. An den unteren Molaren sind Trigonid und Talonid noch deutlich getrennt; allerdings ist das Paraconid schon stark redu- <?page no="289"?> 291 Biologische Grundlagen der Menschwerdung ziert. Die hier gezeigten Strukturverhältnisse werden bei den heute lebenden Halbaffen in mannigfacher Weise abgewandelt, wobei Beziehungen zur Ernährungsweise, aber auch zur phylogenetischen Verwandtschaft deutlich werden. Die Abbildung 5a veranschaulicht, dass die formal benannten Höcker- und Kantenstrukturen als Träger komplementärer Scherfacetten aufzufassen sind, zwischen denen die mechanische Zerkleinerung der Nahrung stattfindet. Komplementäre Kanten- und Facettenpaare, die jeweils durch bestimmte Schraffuren gekennzeichnet sind, bilden die eigentlichen Funktionselemente des Gebisses. Bei den Simiae ist der tribosphenische Bautyp deutlich abgewandelt, und lediglich die neuweltliche Gattung Saimiri besitzt noch sehr primitive Züge (Abb. 6). Der Hypoconus ist generell größer geworden und greift in das Trigonid des unteren Opponenten ein; das Trigonid wird dabei annähernd auf das Niveau des Talonid abgesenkt. Dadurch entstand ein vierhöckeriger Abb. 6: a Obere und untere Gebisshälften von Saimiri sciureus (Totenkopfäffchen aus Südamerika). b Vergleich der Funktionsstruktur der Molaren der drei wichtigen Großgruppen der Simiae (nach Maier). <?page no="290"?> 292 Wolfgang Maier Molarentyp, bei dem unter Nutzung des Trigonid und des Hypoconus eine deutliche Vermehrung der Funktionselemente festzustellen ist. In Konvergenz zu den Simiae hat sich eine Differenzierung des Molarengebisses auch bei den madegassischen Indriidae vollzogen. Während die Neuweltaffen ein breites Spektrum an Molarentypen zeigen, kommen heute bei den Altweltaffen nur noch zwei Bautypen vor: die bilophodonten Molaren der Cercopithecoidea und das so genannte Dryopithecus-Muster der Hominoidea (Abb. 6b). Bei den Cercopithecoidea sind sowohl an den oberen als auch an den unteren Molaren die inneren und äußeren Höcker durch gerade Querjoche (Lophen) verbunden. Dies führt zur Ausbildung von zwölf komplementären Scherkanten und Scherfacetten, also einer maximalen Nutzung der Funktionskontakte bei einem vierhöckerigen Zahn. Bei zahlreichen anderen herbivoren Säugetieren ist die Komplizierung des Molarenreliefs über ein bilophodontes Stadium gelaufen. Die Molaren der Menschenaffen und des Menschen wirken auf den ersten Blick primitiver als die bilophodonten Molaren ihrer Schwestergruppe, der Cercopithecoidea. Insbesondere an den oberen Molaren scheint ein Trigon vom Hypoconus durch eine hintere Schrägleiste (Crista obliqua) gut abgegrenzt; an den unteren Molaren fand vor allem das „Y5“- oder „+4“- Muster Eingang in die Lehrbücher. Eine genaue Untersuchung der Funktionskontakte ergibt jedoch, dass sich das untere Hypoconulid in die Kerbe zwischen Protoconus und Hypoconus einschleift und hier zwei zusätzliche Scherfacetten ausbildet; die Schrägleiste ist daher genau genommen nicht der alten Crista obliqua homolog. Die „Dryopithecus-Molaren“ aller Hominoidea tragen tatsächlich mehr Funktionselemente als die Molaren der Cercopithecoidea, aber die Vermehrung erfolgte in z. T. andersartiger Weise (Abb. 6b). Sinnesorgane Primaten sind vor allem Augentiere. Die Betonung des Gesichtssinns ist Ausdruck ihrer arborikolen Lebensweise, die eine visuelle Orientierung erfordert. Vor allem bei tagaktiven Primaten spielt auch die Ausbildung optischer Signale in der innerartlichen Kommunikation eine wichtige biologische Rolle. Vergleichsweise gut ist auch das Gehör ausgebildet, denn die Kommunikation durch ein differenziertes Lautrepertoire ist ebenfalls gut entwickelt. Die lautlich-akustische Kommunikation bildet die evolutive Grundlage für die Ausbildung der menschlichen Lautsprache. Hingegen sind der Geruchssinn und seine Organe in Rückbildung begriffen, denn im Geäst der Bäume ist die olfaktorische Kommunikation wenig effizient. Sie hat jedoch bei den meisten Halbaffen noch eine beachtliche Bedeutung, und dementsprechend werden bei diesen Tieren auch noch <?page no="291"?> 293 Biologische Grundlagen der Menschwerdung Duftdrüsen recht aktiv eingesetzt. Mit dem normalen Geruchssinn ist das Jacobsonsche Organ verkoppelt, das insbesondere der innerartlichen olfaktorischen Kommunikation zugeordnet ist und vor allem auf die Perzeption von Sexual- und Markierungsduftstoffen, den sog. Pheromonen, spezialisiert erscheint. Die Augen der Primaten sind groß, bei den nachtaktiven Halbaffen sogar sehr groß. Bei den primär nachtaktiven Halbaffen ist ein Licht reflektierender Augenhintergrund ausgebildet, der die Nutzung des Lichts verbessert. Bei den Koboldmakis und den Nachtaffen, die sehr wahrscheinlich sekundär nokturn geworden sind, fehlt das Tapetum ebenso wie bei den übrigen Affen. Weiterhin ist kennzeichnend, dass die Augen und die Orbitae am Kopf mehr oder weniger stark nach vorne orientiert sind. Diese Umorientierung wird durch die tendenzielle Reduktion des Riechorgans und der Nasenkapsel erleichtert. Durch die Konvergenz der Augen kommt es zu einer ausgedehnten Überlagerung der Sehfelder des rechten und linken Auges, womit die Voraussetzungen für stereoskopisches Sehen gegeben sind (Abb. 7). Räumliches Sehen und die Fähigkeit zur sicheren Entfernungsabschätzung sind wichtige Anpassungen für agile Baumbewohner. Außer der rostralen Ausrichtung der Augen ist für das stereoskopische Sehen auch der Umbau der Sehbahnen und der corticalen Projektionsareale von wesentlicher Bedeutung. Die Sehbahnen der medialen Hälften der Netzhaut (Retina) sind bei den Primaten gekreuzt (kontralaterale Projektion); die lateralen Hälften ziehen zur gleichseitigen Hirnhälfte (ipsilaterale Projektion). In der Area striata der Hinterhauptslappen des Großhirns werden die visuellen Informationen aus entsprechenden Punkten der beiden Retinae zusammengeführt und zu einem stereoskopischen Bild verrechnet (Abb. 7). Bei den tagaktiven Simiae ist immer eine Fovea centralis (gelber Fleck) aus besonders dicht stehenden Zapfen ausgebildet, die der Ort der besten Auflösung und des Farbsehens ist. Der Bereich der Fovea ist auch auf der Sehrinde überrepräsentiert (sog. foveales System). Wesentliche Punkte des Blickfelds werden durch Bewegung des Kopfes und der Augen auf die Foveae fokussiert. Primaten können auch im Nahbereich stereoskopisch sehen. Die Manipulation von Objekten kann dadurch optisch genau kontrolliert werden: Die optomotorische Tätigkeit der Hände ist daher ein Spezifikum der höheren Primaten - und es ist die evolutionsbiologische Voraussetzung der „handwerklichen Fähigkeiten“ und des „Begreifens der Objektwelt“ des Menschen. Farbsehen ist wahrscheinlich innerhalb der Primaten evolutiv unabhängig entstanden und hier unter allen Säugetieren am besten entwickelt. Es kommt nur bei wenigen tagaktiven Halbaffen und - mit Ausnahme der Nachtaffen - bei den Affen vor. Das grüne Sehpigment hat sich vermutlich erst vor etwa 40 Millionen Jahren durch eine Mutation des Gens für das <?page no="292"?> 294 Wolfgang Maier rote Sehpigment entwickelt. Das differenzierte Farbsehen erleichtert den Primaten die Entdeckung von Früchten und die Bewertung ihres Reifezustands. Tagaktive Primaten können durch Fell- und Hautfärbung sehr differenzierte Farbmuster ausbilden, die als visuelle Signale in der sozialen Kommunikation eine große Bedeutung gewinnen. Da Primaten außerdem eine differenzierte Formwahrnehmung besitzen, sind auch mimische und gestische Signale im sozialen Umgang wichtig. Die Fähigkeit zu differenzierter visueller Strukturanalyse stellt die Voraussetzung dafür dar, dass die Lautsprache ohne weiteres durch Schriftzeichen ergänzt werden konnte. Gehirn Eine Besonderheit der Primaten besteht auch darin, dass die lebenden Arten ein außerordentlich breites Spektrum an Körpermasse repräsentieren. Es reicht von ca. 30 g beim Mausmaki (Microcebus) und kann beim Gorilla mehr als 200 kg betragen. Das Hirngewicht reicht von weniger als 2 g beim Mausmaki bis zu etwa 1400 g beim Menschen. Diese Spannen machen einerseits die Vergleiche zwischen verschieden großen Taxa schwierig, andererseits kann man aber gerade daran den Einfluss der absoluten Körpergröße auf die Differenzierung von Organsystemen untersuchen. Aus anthropozentrischer Sicht wird den Primaten generell ein großes Gehirn (Encephalon) und damit eine überlegene Intelligenz zugeschrieben. Abb. 7: Visuelles System beim Spitzhörnchen und bei einem Halbaffen. Während sich beim Tupaia die Gesichtsfelder beider Augen nur wenig überschneiden, kommt es beim Primaten zu einer weitgehenden Überdeckung (nach Noback). <?page no="293"?> 295 Biologische Grundlagen der Menschwerdung Aber wie kann man überhaupt sinnvolle Vergleiche zwischen Gehirnen so unterschiedlich großer Primaten wie dem Mausmaki und dem Gorilla anstellen? Der einfache Index „Gehirngewicht zu Körpergewicht“ wird diesem Problem nicht gerecht, da erfahrungsgemäß kleine Säugetiere relativ größere Gehirne besitzen. Dagegen bringt eine Analyse mittels der Allometrieformel y = a · x b überzeugendere Ergebnisse; wenn man für y das Gehirngewicht G und für x das Körpergewicht K einsetzt, ergibt sich entsprechend: G = a · K b . Dabei ist a eine Konstante und b der Gößenkoeffizient. Durch Logarithmieren kann man diese Formel einfach in eine lineare Funktion umformen: log G = log a + b · log K Wenn nun logarithmierte Gehirn- und Körpergewichte aufgetragen werden, ergeben sich lineare Regressionsgeraden, die einfach miteinander verglichen werden können (Abb. 8). Abb. 8: Von zahlreichen Primatenarten sind die Hirngewichte gegen die Körpergewichte im doppeltlogarithmischen Koordinatensystem aufgetragen (nach Stephan). <?page no="294"?> 296 Wolfgang Maier Verschiedene Autoren haben eine Regressionsgerade für basale Insektivoren als Bezugslinie bestimmt. Der so genannte Progressionsindex sagt dann aus, um welchen Faktor das Gewicht des Gehirns - oder einer Teilstruktur des Gehirns - einer Art größer ist als das Gehirn eines gleich großen Insektenfressers (G p / G i ). Bezogen auf das gesamte Hirngewicht spricht man dann vom Encephalisationsgrad. Demnach besitzt der Mensch ein etwa 28fach größeres Gehirn als ein gleich schwerer - realer oder hypothetischer - Insektivore. Jedoch sind die Gehirne der übrigen Primaten und insbesondere der Halbaffen gegenüber den untersuchten Vertretern anderer Säugetierordnungen keineswegs auffallend vergrößert. Noch informativer wird die Progressions-Analyse, wenn nur der Neocortex, d. h. die sechsschichtige Großhirnrinde, verglichen wird - was methodisch aufwendig ist, da die Masse der grauen Substanz des Neopallium über histologische Schnittserien bestimmt werden muss. Jedoch sind psychische Leistungen von Säugetieren vor allem an den sechsschichtigen Neocortex (Isocortex) gebunden, von dem 1 mm 3 ca. 10 5 Neurone, 10 9 Synapsen und 4-5 km Axone enthält. Bei diesem Ansatz kommt die Sonderstellung mancher Primaten, vor allem aber die des Menschen, der einen Neenzephalisations-Index von 156 aufweist, besonders deutlich zum Ausdruck (Abb. 9). Von der qualitativen Seite aus ist hervorzuheben, dass bei Primaten - und besonders beim Menschen - die primären und sekundären Assoziationsareale der Hirnrinde eine progressive Entwicklung erfahren haben. In ihnen werden die Informationen aus den primären Projektionsgebieten koordiniert und integriert. Reproduktionsbiologie Die meisten Primatenarten bringen jeweils nur ein Junges zur Welt, dem dann eine intensive Brutpflege zuteil wird. Primaten sind also im Sinne der Soziobiologie „K-Strategen“, was bedeutet, dass sie sehr viel Energie in wenige Jungtiere investieren. Einige madegassische Halbaffen sowie die südamerikanischen Krallenäffchen gebären regelmäßig zwei Junge. Nach einer Trächtigkeitsdauer zwischen 60 Tagen beim Mausmaki und etwa 280 Tagen beim Gorilla werden die Jungen nur mäßig weit entwickelt geboren. Es handelt sich aber nicht um extreme Nesthocker mit geschlossenen Augen und nackter Haut. Die Jungen werden vom Muttertier häufig mitgetragen; manche Halbaffen legen sie aber auch in Nestern ab. Neugeborene können sich aktiv an der Mutter festklammern. Dieser Klammerreflex ist auch noch beim neonaten Menschen wirksam. Die Jungen sind zumeist nach wenigen Tagen recht mobil. Es gibt eine gewisse Korrelation zwischen der Körpergröße der Elterntiere, der Trächtigkeitsdauer und dem Geburtsgewicht der <?page no="295"?> 297 Biologische Grundlagen der Menschwerdung Jungen. Insgesamt ist festzustellen, dass das Gewicht der Neugeborenen, bezogen auf das Gewicht der Mutter, bei den Haplorhini um das 2-3fache höher ist als bei den Strepsirhini. Da nicht überall in den Tropen eine sehr ausgeprägte Saisonalität besteht, kommt es auch vielfach zu nicht jahreszeitlich gebundenen Brunftperioden, und die Jungen werden während des ganzen Jahres gezeugt und geboren. Es gibt aber auch eine saisonale Geburtenhäufung, die dann mit günstigen Klima- und Ernährungsbedingungen korreliert ist. Die Weibchen besitzen normalerweise einen gleichmäßigen Ovarialzyklus, der wie beim Menschen etwa eine Vier-Wochen-Periodik aufweist. In der Mitte des Zyk- Abb. 9: Von größter Aussagekraft über die Leistungsfähigkeit eines Gehirns ist der Progressionsindex des Neocortex. Hierin liegen die Indexwerte der Primaten etwa zwischen 10 und 60. Der Mensch ragt mit einem Progressionsindex von 156 weit darüber hinaus (nach Stephan). <?page no="296"?> 298 Wolfgang Maier lus, also zur Zeit des Eisprungs (Ovulation), geben die Weibchen vielfach olfaktorische oder visuelle Signale ab, die dann vor allem die ranghohen Männchen anlocken. Die zyklischen Perianal-Schwellungen bei manchen Makaken, Pavianen und bei Schimpansen sind als sexuelle Locksignale wohl bekannt. Die Primaten besitzen sehr unterschiedliche Weisen der Frühentwicklung und der Plazentation (Abb. 10): Die Strepsirhini zeigen eine sehr primitive non-invasive Plazenta, d. h., die Blastozyste ist ganz oberflächlich in das Uteruslumen eingebettet, und die Nährstoffe und Atemgase werden von den Embryonalhäuten durch Diffusion aufgenommen. Bei den echten Affen kommt es dann zur Ausbildung einer invasiven Plazenta, wobei das Aus- Abb. 10: Unterschiedliche Plazenta-Typen bei Primaten (nach Luckett). <?page no="297"?> 299 Biologische Grundlagen der Menschwerdung maß der Verwachsung mit der Uterusschleimhaut bei den Teilgruppen unterschiedlich ist. Bei den Hominoidea kommt es zu einer interstitiellen Einbettung der Blastozyste in das Endometrium; die Plazentarzotten entsprechen dem villösen Typus. Insgesamt besteht der Eindruck, dass im Verlauf der Primatenevolution eine zunehmende Differenzierung und Spezialisierung der Plazentation zu beobachten ist, die man als Effizienzsteigerung der Versorgung auffasst. Verhaltensökologie Die Verhaltensökologie möchte Strukturen der sozialen Organisation und des Verhaltens im Hinblick auf die Maximierung individueller Fitness untersuchen. Die ökologisch und ethologisch orientierte Freilandforschung der letzten Jahrzehnte hat eine Fülle von Daten über zahlreiche Primatenarten erbracht. Die wichtigste Bilanz dieser Untersuchungen besteht darin, dass es keine eindeutigen verhaltensökologischen Gesetzmäßigkeiten und Evolutionstendenzen innerhalb der Ordnung der Primaten gibt. In allen taxonomischen Gruppen wird vielmehr ein mehr oder minder breites Spektrum an Anpassungsstrategien genutzt. Die einfachste Art der sozialen Organisation ist die solitäre Existenzweise. Die Einzeltiere besetzen Reviere oder Streifgebiete von einer Ausdehnung, die ihre Lebensbedürfnisse zu decken vermag. Diese Reviere werden unterschiedlich intensiv gekennzeichnet und verteidigt. Der Revierabgrenzung können Duftmarken, Rufe, aber auch physische Konfrontationen dienen. Bei diesem Sozialmodell sind die Reviere der Individuen eines Geschlechts exklusiv, die größeren Reviere der Männchen überlappen aber die Reviere mehrerer Weibchen. Dadurch sind Sexualkontakte sichergestellt. Die solitäre Organisationsform, die eine gleichmäßige Nutzung eines Lebensraums durch die Artmitglieder gewährleistet, scheint primitiv zu sein, da sie auch in zahlreichen anderen Säugetierordnungen vorkommt. Innerhalb der Primaten kommt sie bei den meisten nachtaktiven Halbaffen, aber auch noch beim Orang-Utan vor. Genauere Untersuchungen der letzten Jahre haben jedoch ergeben, dass mit solitären Streifgebieten unterschiedlich komplexe Sozialstrukturen verknüpft sein können. Diese Beziehungen manifestieren sich insbesondere am Schlafplatz und in den sexuellen Beziehungen; man spricht daher heute auch von dispersen Sozialstrukturen. Vor allem bei den tagaktiven Affen bildeten sich komplexere Sozialstrukturen aus. Durch die besseren Sichtkontakte können die Gruppen kohärenter werden. Auch der Mensch zeigt im Hinblick auf seine Verhaltensökologie und seine sozialen Organisationsformen eine große Plastizität, die eng mit den ökonomischen Existenzbedingungen korreliert erscheint. <?page no="298"?> 300 Wolfgang Maier Evolutive Entstehung des Menschen In diesem abschließenden Abschnitt soll keineswegs die menschliche Evolution im Einzelnen verfolgt werden. Vielmehr sollen einige wenige allgemeine Prämissen und Prinzipien beleuchtet werden, die sich aus der Primaten- Verwandtschaft ergeben: Es ist keine Frage, dass sowohl der Bewegungsapparat als auch die Sinnesorgane des Menschen zutiefst durch die arborikolen Anpassungen der Primatenvorfahren geprägt sind. Allerdings scheinen sich dann im Mio- Pliozän bestimmte Dryopitheciden sekundär an eine mehr terrestrische Lebensweise adaptiert zu haben. Zwar halten sich auch die nah verwandten afrikanischen Menschenaffen großenteils am Boden auf, aber sie bewegen sich hier in der Regel quadruped, und sie haben eine Bindung an die Arborikolie beibehalten. Frühe Australopithecinen sind dann jedoch zu einer Bipedie übergegangen und haben dabei einen spezialisierten Stand- und Schreitfuß entwickelt (Abb. 11). Die Fußabdrücke von Laetoli beweisen neben den Fossilfunden unmittelbar, dass die Evolution des typischen menschlichen Fußes - mit sekundär adduzierten Hallux und der Ausbildung von Fußgewölben - spätestens vor ca. 3,5 Millionen Jahren abgeschlossen war. Damit war die Vorderextremität definitiv von Lokomotionsaufgaben Abb. 11: Modellhafte Vorstellung von der evolutiven Entstehung des zweibeinigen Gangs: Am Anfang standen baumbewohnende Hangler mit verlängerten Armen. Beim Gehen auf dem Boden befindet sich ihr Rumpf zwangsläufig in einer halbaufrechten Position. Unter bestimmten ökologischen und sozialen Bedingungen kam es dann zur völligen Aufrichtung (nach Franzen). <?page no="299"?> 301 Biologische Grundlagen der Menschwerdung entlastet und stand ausschließlich für andere Aufgaben bereit: Das von den Primaten übernommene optomotorisch kontrollierte Manipulieren von Objekten in sitzender Position trat ganz in den Vordergrund. Es ist sicher kein Zufall, dass sich lithische Artefakt-Kulturen seit etwa 2,5 Millionen Jahren nachweisen lassen; aber diese Leistung baute sicherlich auf älteren Fähigkeiten zur Fertigung und zum Gebrauch einfacherer Werkzeuge auf. Die planende Herstellung eines ganzen Spektrums von Werkzeugen verweist jedoch auf neue mentale Fähigkeiten, die offenkundig auch mit einer raschen Entfaltung der Hirnmasse korreliert sind. Die Verdreifachung des Hirnvolumens während der letzten 2 Millionen Jahre menschlicher Evolution ist durch zahlreiche Hirnschädelfunde gut dokumentiert (Abb. 12). Während Australopithecinen ähnlich wie die modernen Menschenaffen im Mittel etwa 400-500 cm 3 Hirnschädelvolumen aufwiesen, stieg diese Zahl dann rasch von Homo habilis (ca. 650 cm 3 ) über Homo erectus (ca. 950 cm 3 ) zum modernen Homo sapiens mit etwa 1400 cm 3 . Es ist eine der zentralen Fragen der Menschenevolution, durch welchen Selektionsdruck diese dramatische Steigerung der Hirnmasse - und hier vor allem des Neocortex - verursacht wurde. Weder im Bereich der sozialen Organisation noch im Bereich der Herstellung und Nutzung von Werkzeu- Abb. 12: Zunahme der Hirnschädelkapazität in der menschlichen Evolution. Der mutmaßliche menschliche Vorläufer Australopithecus africanus, der vor 2-4 Millionen Jahren existierte, wies etwa die gleiche Hirngröße auf wie die heutigen Menschenaffen. Innerhalb von 2 Millionen Jahren verdreifachte sich die Hirnmasse bis auf etwa 1400 cm 3 . Eine Reihe von evolutiven Zwischenstufen ist durch Fossilfunde gut belegt (Schraffierte Balken zeigen die artliche Variationsbreite, der Strich kennzeichnet den statistischen Mittelwert) (nach Tobias). <?page no="300"?> 302 Wolfgang Maier gen sind qualitative Umbrüche in einer Dimension zu erkennen, die eine derartige Steigerung der Hirnfunktionen zwingend erforderlich erscheinen lassen. Auch wenn eine Antwort letztlich spekulativ bleiben muss, kann vermutet werden, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt der Hirndifferenzierung dieses Organ selbst begann, neuartige Fragen zu erzeugen, die dann auch neuartige Antworten verlangten. Vermutlich war dieser veränderte Umgang mit dem eigenen Ich und der in Frage gestellten Außenwelt eng mit der Entwicklung lautsprachlicher Kommunikation verknüpft. Animistische und mythische Religionsformen, Ahnenkulte, Todesrituale und anderes binden bei so genannten Naturvölkern so viel Zeit und Energie, dass sie aus rein evolutionsbiologischer Sicht als dysfunktional angesehen werden müssen. Anders ausgedrückt bedeutet dies jedoch auch, dass der archaische Mensch eine so produktive ökologisch-biologische Nische erzeugt hatte, dass die nötigen Freiräume für eine extensive Reflexion und Ritenbildung gewährleistet waren. Retrospektiv lässt sich die intensivierte gedankliche Auseinandersetzung mit den eigenen Existenzbedingungen als Vorübung zu philosophischen und wissenschaftlichen Lösungsversuchen zur Weltdeutung verstehen. Weiterführende Literatur Allard, M. W., McNiff, B. E. u. Miyamoto, M. M. 1996: Support for interordinal eutherian relationships with an emphasis on primates and their archontan relatives. Molecular Phylogenetics and Evolution 5, 78-88. Alterman, L., Doyle, G. A. u. Izard, M. K. (Hrsg.) 1995: Creatures of the dark. 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Für die Interpretation der Evolution der höheren Primaten ist es daher notwendig, diese Entwicklung zu berücksichtigen und nicht einfach den heutigen Schimpansen als Modell für den gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Menschenaffen zu benutzen. Von den zahlreichen Menschenaffen des Miozän sind vor allem Proconsul und Sivapithecus besonders gut belegt. Im Folgenden soll exemplarisch anhand ausgewählter Studien demonstriert werden, wie die Paläoanthropologie und die Paläontologie die Biologie der ausgestorbenen Menschenaffen rekonstruiert und welche Rückschlüsse sich hieraus in Bezug auf den Ursprung des Menschen ziehen lassen. Einleitung Bei der Suche nach den gemeinsamen Vorfahren des heutigen Menschen und der modernen Menschenaffen ist es oft schwierig, die genauen Eigenschaften dieser Vorfahren zu charakterisieren. Da nur die rezenten Menschenaffen zu experimentellen Untersuchungen und Freilandstudien zur Verfügung stehen, werden leider immer wieder die Eigenschaften der Schimpansen und Gorillas in viel zu hohem Maße auf die gesuchten Vorfahren zurückprojiziert. Hierbei wird oft vergessen, dass die Linie der Menschenaffen, die nicht zu den modernen Menschen führt, ja eine ebenso lange Evolution wie die Menschenlinie durchlaufen hat und dabei ebenfalls, bedingt durch ökologische und klimatische Veränderungen, neue Anpassungen an ihren Lebensraum entwickelte. Dieses Problem war bereits Charles Darwin bewusst, und er schreibt in seinem Buch „On the Origin of Species“ in der ersten Auflage von 1859: “I have found it difficult, when looking at any two species, to avoid picturing to myself, forms directly intermediate between them. But this is a wholly false view; we should always look for <?page no="304"?> 306 Hans-Ulrich Pfretzschner forms intermediate between each species and a common but unknown progenitor; and the progenitor will generally have differed in some respects from all its modified descendants.” (1859, 280). („Ich habe es nur schwer zu vermeiden gefunden, mir, wenn ich irgend welche zwei Arten betrachtete, unmittelbare Zwischenformen zwischen denselben in Gedanken vorzustellen. Es ist dies aber eine ganz falsche Ansicht, man hat sich vielmehr nach Formen umzusehen, welche zwischen jeder der zwei Species und einem gemeinsamen, aber unbekannten Urerzeuger das Mittel halten; und dieser Erzeuger wird gewöhnlich von allen seinen modificierten Nachkommen in einigen Beziehungen verschieden sein.“) (1899, 358). Die Schwierigkeit der Rekonstruktion des gemeinsamen Vorfahren der Menschen und der Menschenaffen wird zusätzlich noch durch die Seltenheit des zur Verfügung stehenden Fossilmaterials erhöht. Zwar sind mittlerweile zahlreiche fossile Primaten bekannt, doch verteilen sich diese Fossilien über einen Zeitraum von ca. 60 Millionen Jahren und auf zahlreiche Linien innerhalb der Primaten. Als Folge hiervon bleiben für die hier zu behandelnde Fragestellung nur noch wenige fossile Vertreter übrig. Tatsächlich sind Primaten insgesamt auch fossil wesentlich schlechter überliefert als viele andere Säugetiergruppen. Dies hängt mit dem Fossilisationspotential zusammen, also mit der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Wirbeltier nach seinem Tode als Fossil erhalten werden kann. Dieses Fossilisationspotential ist nicht nur von der Struktur des jeweiligen Lebewesens abhängig, sondern auch von seinem bevorzugten Lebensraum. Während sich die meisten Primaten in der Körpergröße und Struktur nicht wesentlich von anderen, gut überlieferten Wirbeltieren unterscheiden, wirkt sich ihr Lebensraum deutlich negativ auf ihr Fossilisationspotential aus. Die meisten Primaten sind Waldbewohner. Durch den kontinuierlichen Eintrag von Pflanzenmaterial ist aber die Streuschicht der meisten Wälder ein Bereich, in welchem organisches Material sehr effektiv durch Invertebraten, Bakterien und Pilze zersetzt und wieder dem Kreislauf der Natur zugeführt wird. Dieses Recycling verhindert weitgehend, dass die sterblichen Überreste der Waldbewohner in dem darunter liegenden Sediment eingebettet werden können. Doch auch im Falle einer solchen Einbettung greifen Humussäuren und Pflanzenwurzeln die Knochen an und zerstören sie, bevor sie durch den Fossilisationsprozess stabilisiert werden können. Solche Ätzwirkungen von Pflanzenwurzeln sind häufig an der Oberfläche von fossilen Knochen und Zähnen zu beobachten. Diese Umstände bewirken, dass von waldbewohnenden Wirbeltieren nur in ausgesprochen seltenen Fällen durch besondere Umstände die Knochen als Fossilien erhalten bleiben. Die Seltenheit des Fossilmaterials bedingt, dass die wenigen zur Verfügung stehenden fossilen Vertreter sehr genau untersucht werden müssen, um möglichst viele Informationen über ihre Biologie und ihre Lebensweise zu erhalten. Vor allem die wenigen Fossilien, die mehr oder weniger voll- <?page no="305"?> 307 Die Evolution der Menschenaffen ständig erhalten sind, spielen hierbei eine wesentliche Rolle. Tatsächlich kann hin und wieder, wie weiter unten noch diskutiert wird, ein Einzelfund einen entscheidenden Baustein zum Puzzle der Rekonstruktion der Biologie fossiler Primaten liefern. Im Folgenden soll anhand von exemplarischen Studien demonstriert werden, wie auf der Basis des oft spärlichen Fossilberichtes die Biologie der fossilen Menschenaffen durch die Detektivarbeit der Paläoanthropologen und Paläontologen Schritt für Schritt rekonstruiert werden kann. Der zeitliche Rahmen, in dem man sich bewegt, wenn man die Evolution der Menschenaffen betrachten möchte, wird von der Molekulargenetik verhältnismäßig klar abgesteckt. Die Trennung zwischen den Hominoidea (Gibbons, Menschenaffen und Menschen) und den Cercopithecoidea (Hundsaffen) fand bereits relativ früh vor ca. 28 Millionen Jahren statt. Innerhalb der Hominoidea spaltete sich dann zunächst die Linie der Hylobatidae (Gibbons) von den Hominidae (Menschenaffen und Menschen) vor etwa 18 Millionen Jahren ab. Früher zählte man zu den Hominidae nur die Angehörigen der Menschenlinie. Vor allem durch die molekulargenetischen Daten wurde jedoch klar, dass eine Zweiteilung in Menschenaffen (früher: Pongidae) und Menschen (früher: Hominidae) nicht sinnvoll ist, da zum Beispiel der Mensch mit dem Schimpansen näher verwandt ist als Letzterer mit dem Orang-Utan. Daher fasst man heute die Menschenaffen und Menschen zu den Hominidae zusammen (z. B. Begun et al. 1997; McKenna u. Bell 1997). Die Aufspaltung zwischen dem Orang-Utan (Tribus Pongini) und den Gorillas, Schimpansen und Menschen (Tribus Hominini) liegt bei ca. 16 Millionen Jahren. Die Gorillas (Subtribus Gorillina) spalten sich vor etwa 7 bis 9 Millionen Jahren als eigene Linie ab, und die Schimpansen trennen sich von den Menschen vor etwa 6,2 bis 6,7 Millionen Jahren (Byrne 1997). Innerhalb dieses Zeitraumes sind zwar zahlreiche Primaten bekannt, doch für die Menschenaffen und ihre Evolution spielen vor allem zwei Formen, die vergleichsweise gut überliefert sind, eine wichtige Rolle; sie sollen im Folgenden deshalb auch eingehend diskutiert werden. Die eine dieser beiden Formen ist Proconsul (Abb. 1), einer der am besten belegten fossilen Menschenaffen. Die Gattung ist mit vier Arten über einen Zeitraum von vor 16 bis 22 Millionen Jahren bekannt. Von dieser Gattung sind Hunderte von fossilen Knochen gefunden worden, so dass nicht nur das Gebiss, sondern auch Großteile des Postcranialskelettes vergleichsweise gut bekannt sind. Die andere Form ist Sivapithecus (Abb. 2). Diese Gattung ist wesentlich schlechter bekannt als Proconsul. Sivapithecus ist aus einem Zeitraum von vor etwa 7 bis 12 Millionen Jahren aus Südasien bekannt. Dies bedeutet, dass die Menschenaffen im Laufe des Miozän eine Radiation durchlaufen und sich dabei geographisch von Afrika bis nach Asien hin ausgebreitet haben. Während in den sechziger Jahren des letzten Jhs. nur bruchstückhaf- <?page no="306"?> 308 Hans-Ulrich Pfretzschner Abb. 1: Rekonstruktion des Schädels von Proconsul (modifiziert nach Pilbeam 1984). Abb. 2: Der Schädel von Sivapithecus aus Potwar, Pakistan (modifiziert nach Johanson u. Edgar 1998). <?page no="307"?> 309 Die Evolution der Menschenaffen te Kieferreste vorlagen, die als Ramapithecus in die direkte Vorfahrenschaft des Menschen gestellt wurden, sind vor allem aus jüngerer Zeit der Schädel und das Armskelett durch neue, sehr gut erhaltene Fossilfunde belegt. Diese zeigen eindeutig, dass Sivapithecus in die Vorfahrenschaft des heutigen Orang-Utan einzuordnen ist. Ein Vergleich des Schädels mit dem eines rezenten Schimpansen und eines Orang-Utan zeigt deutlich diese Verwandschaft, zum Beispiel anhand der Gesichtspartie mit dem weit vorspringenden Oberkiefer oder der tiefen Grube unterhalb des Auges (Abb. 3). a b c Abb. 3: Vergleich der Schädel von Orang-Utan (a), Sivapithecus (b) und Schimpanse (c) (modifiziert nach Coppens 1994). Ergänzend zu diesen beiden Formen wird noch der Oberarmknochen von Kenyapithecus zur Diskussion herangezogen. Kenyapithecus ist aus dem Mittelmiozän aus Afrika bekannt. Schließlich liefert Oreopithecus, der Vertreter einer eigenen Linie, die schließlich ausgestorben ist und nicht weiter zu einem heutigen Vertreter der Menschenaffen führt, einen wertvollen Vergleich zu den restlichen Menschenaffen. Oreopithecus ist zwischen 7 bis 8 Millionen Jahren durch Funde aus Braunkohlegruben in der Toskana sehr gut belegt; weitere Funde sind auch von Sardinien bekannt. Fortbewegung Als erster Aspekt der Biologie der fossilen Menschenaffen soll die Fortbewegung diskutiert werden. Primaten haben ein ganzes Spektrum verschiedener Fortbewegungsarten entwickelt und weisen entsprechende Anpassungen in ihrem Skelett auf. Einige Halbaffen benutzen weite Sprünge, um von einem Baum zum nächsten zu gelangen und haben hierfür speziell konstruierte Fußgelenke mit verlängerten Fußwurzelknochen entwickelt. Das vierfüßige Laufen auf den Ästen wird ebenfalls von vielen Halbaffen, aber auch von höher evolvierten Primaten zur Fortbewegung im Geäst der Bäume benutzt. Die entsprechende vierfüßige Fortbewegung auf dem Boden wird <?page no="308"?> 310 Hans-Ulrich Pfretzschner von den Hundsaffen demonstriert. Eine andere Fortbewegung im Geäst, das Hangeln, wird typischerweise mit den Menschenaffen in Verbindung gebracht. Schließlich ist noch der aufrechte, bipede Gang des Menschen als Fortbewegung auf dem Boden zu nennen. Die Eigenart der heutigen Menschenaffen, sich hangelnd im Geäst fortzubewegen, ist lange Zeit als ein Charakteristikum dieser Primatengruppe gewertet und daher oft stillschweigend auf fossile Formen übertragen worden. Insbesondere ist der gesamte Merkmalskomplex, der sich bei hangelnden Menschenaffen im Postcranialskelett feststellen lässt, als Interpretationsmuster herangezogen worden, und fossile Formen, die einige dieser Merkmale aufwiesen, wurden mit einer hangelnden Fortbewegung in Verbindung gebracht. In der Tat umfasst das Hangeln jedoch eine Vielzahl von Einzelfunktionen, und die verschiedenen Bereiche des Postcranialskeletts, insbesondere des Armskeletts, sind an diese Funktionen angepasst. Vergleicht man die Hand eines Menschen mit der einer Katze, so wird sofort deutlich, dass die Krafteinleitung in beiden Extremitäten völlig unterschiedlich verläuft (Abb. 4). Während bei der Katze die Ansätze der Flexoren vor allem an den terminalen Phalangen sehr groß ausgebildet sind, nehmen sie beim Menschen von distal nach proximal zu (Aiello u. Dean 1990; Preuschoft 1987). Tatsächlich belastet eine Katze ihre Endphalangen sehr stark. Beim Beutefang oder beim Klettern liegt nahezu die gesamte Belastung auf den Endphalangen. Beim Menschen dagegen wird die Belastung eher in die basalen Phalangen eingeleitet. Beim Klettern auf Bäumen oder beim Tragen einer Tasche wird sofort deutlich, dass unsere Hand darauf hin ausgelegt ist, Dinge zu umgreifen und die Belastung im proximalen Bereich der Finger einzuleiten. Dieses Umgreifen ist zwar auch zum Hangeln notwendig, tritt jedoch nicht nur bei dieser Fortbewegung auf. In der Tat unterscheidet sich die Hand eines Hanglers deutlich von der eines Menschen. So ist beim Hangler der Daumen wesentlich kürzer ausgebildet, und die Phalangen sind gestreckter als dies beim Menschen der Fall ist. Wie beim Menschen sind jedoch die distalen Flexorenansätze kleiner als die proximalen ausgebildet (Abb. 4). Auch im Humerus lassen sich wesentliche Aspekte der Fortbewegung erkennen (Aiello u. Dean 1990; Rose 1997). Vierfüßig laufende Affen, wie zum Beispiel die Hundsaffen, besitzen am distalen Humerusgelenk eine glatte Gelenkwalze für die Gelenkung mit der Ulna und einen kugeligen Gelenkkopf für den Radius. Oberhalb dieses Gelenkkopfes findet sich eine tiefe Grube, in die der Radius bei starker Beugung hineingreift (Abb. 5). Bei hangelnden Menschenaffen ist die Gelenkwalze für die Ulna sattelförmig eingetieft und weist lateral einen scharfen Führungsgrat auf. Die tiefe Grube befindet sich nun über der Gelenkwalze für die Ulna. Der Gelenkkopf für den Radius ist kugelförmig und hat keine Grube (Abb. 5). Bereits Proconsul zeigt auf der distalen Gelenkfläche des Humerus eine Grube sowie einen <?page no="309"?> 311 Die Evolution der Menschenaffen scharfen Führungsgrat für die Gelenkung mit der Ulna, auch wenn er noch vergleichsweise flach ausfällt. Auch Sivapithecus besitzt diese beiden Merkmale; sie sind sogar schon etwas stärker ausgebildet als bei Proconsul. Auf den ersten Blick scheint dieser anatomische Befund für eine hangelnde Fortbewegung der beiden fossilen Arten zu sprechen, doch die genauere funktionsmorphologische Analyse dieser Konstruktion zeigt, dass eine solche Interpretation zu weit geht. Tatsächlich hängen die betrachteten Eigenschaften der distalen Gelenkwalzen des Humerus in erster Linie mit der Funktion der Pronation und Supination, also der Rotation des Unterarmes um seine Längsachse, zusammen (Rose 1997). Beim vierfüßigen Laufen schwingen die Arme in einer parasagittalen Ebene vor und zurück. Hierbei spielt die Pronations-Supinations-Funktion keine Rolle, und Radius und Ulna stützen sich gegenseitig, da sie zusammen als Einheit bewegt werden. Bei einer Betonung der Pronations-Supinations-Funktion der Vorderextremität rotiert der Radius um die Ulna. Er wird frei von der Ulna bewegt und stützt sie beim Vor- und Zurückschwingen nicht mehr seitlich ab. Deshalb muss nun die Ulna deutlich stärker geführt werden, um die seitliche Stabilität des Ellenbogengelenkes zu gewährleisten. Gleichzeitig verlangt die Rotation des Radius auch einen runden Gelenkkopf, und der stabilisierende Fortsatz, der in die Grube auf der Humerusseite eingreift, muss reduziert werden. Ein a b Abb. 4: Vergleich der Fingerknochen im Handskelett eines Löwen (a) mit denen im Handskelett eines Menschen (b). Während der Löwe an der terminalen Phalange die größten Flexorenansätze besitzt, sind diese beim Menschen an der ersten und der zweiten Phalange am stärksten ausgebildet (Pfeile). <?page no="310"?> 312 Hans-Ulrich Pfretzschner solcher Fortsatz wird nun an der Ulna entwickelt und entsprechend eine Grube am Humerus. Die betrachteten anatomischen Details beziehen sich also nicht auf den gesamten Fortbewegungskomplex des Hangelns, sondern nur auf die Gewichtung der Pronation-Supination gegenüber der parasagittalen Armbewegung (Rose 1997). Tatsächlich wird die Pronations-Supinations-Funktion nicht nur beim Hangeln als wesentliches Bewegungselement gebraucht, sondern auch beim Greifklettern. Die distale Gelenkrolle des Humerus weist also zunächst nur darauf hin, dass Proconsul und Sivapithecus greifend geklettert sind. Das Ausmaß des Hangelns an der Fortbewegung lässt sich hieran nicht überprüfen. Hierzu muss der proximale Gelenkkopf des Humerus betrachtet werden. Da bei Hanglern die Arme im Schultergelenk wesentlich weiter nach hinten gedreht werden als dies bei Greifkletterern der Fall ist, ist der Humeruskopf bei Ersteren deutlich weiter nach innen gedreht, während bei Greifkletterern der Humeruskopf nach Abb. 5: Vergleich der distalen (a) und proximalen (b) Humerusenden verschiedener Menschenaffen. Erläuterung im Text (modifiziert nach Rose 1997). <?page no="311"?> 313 Die Evolution der Menschenaffen vorne weist. Da von Proconsul und Sivapithecus das proximale Humerusgelenk nicht überliefert ist, soll Kenyapithecus zum Vergleich herangezogen werden. Am distalen Humerusglenk zeigt Kenyapithecus vergleichbare Anpassungen an die Pronations-Supinations-Bewegung, wie dies für Proconsul und Sivapithecus oben diskutiert wurde. Proximal weist der Humerus von Kenyapithecus jedoch einen nach vorne gerichteten Gelenkkopf auf, also eine Orientierung, wie sie bei laufenden und nicht bei hangelnden Affen auftritt (Rose 1997). Hieraus folgt, dass die betrachteten miozänen Menschenaffen, die zu den rezenten Menschenaffen führen, sich greifkletternd, aber nicht hangelnd fortbewegt haben. Tatsächlich finden sich klare Anpassungen im Humerus an das Hangeln bei Oreopithecus. Dieser fossile Primat ist jedoch einer blind endenden Seitenlinie zuzuordnen, die zu keinem der rezenten Menschenaffenvertreter führt. Damit haben aber die Primaten die hangelnde Fortbewegungsweise mehrmals unabhängig voneinander entwickelt. Nach dem bisher Gesagten haben Oreopithecus, die Orang-Utans und die Schimpansen und Gorillas das Hangeln unabhängig voneinander als Hauptfortbewegungsweise erworben. Diese Fortbewegungsweise, wiewohl für heutige Menschenaffen typisch, kann somit nicht generell als synapomorphes Merkmal für alle Menschenaffen gewertet werden. Das Greifklettern der miozänen Menschenaffen ist im Zuge der Zunahme der Körpergröße entwickelt worden. Viele kleinere Primaten, die auf den Ästen laufend klettern, benutzen ihren Schwanz als Balancierorgan. Verliert der Körper das Gleichgewicht, so kann eine kurze Seitwärtsbewegung des Schwanzes genügend Gegendrehmoment erzeugen, um den Körper wieder in eine stabile Stellung zurück zu dirigieren. Bei zunehmender Körpermasse reicht jedoch das durch den Schwanz erzeugte Drehmoment nicht mehr für eine solche Korrektur aus. Das Umgreifen der Äste erlaubt hingegen, über die Gliedmaßenmuskulatur ein entsprechend starkes Gegendrehmoment zu erzeugen. Daher haben die Menschenaffen mit zunehmender Körpergröße den Schwanz reduziert und das Greifklettern entwickelt. Ernährung Die Morphologie der Backenzähne lässt bei Säugetieren und somit auch bei Primaten mehr oder weniger detaillierte Rückschlüsse auf die Ernährungsweise zu. So zeigen die Molaren der fruchtfressenden Primaten höckerige Oberflächen, die überwiegend quetschende Funktion bei der Nahrungsaufbereitung haben (Henke u. Rothe 1997a; b). Die Höcker laufen an der Basis in kurzen Scherkanten aus. Bei den blattfressenden Arten werden diese Schneidekanten verlängert und verbessern dadurch die Scherfunktion der Zähne. Blätter enthalten im Vergleich zu den meisten Früchten einen höhe- <?page no="312"?> 314 Hans-Ulrich Pfretzschner ren Faseranteil und fordern deshalb eine verbesserte Schneidefunktion der Zähne. Die Summe der Länge der Scherkanten in Relation zur Länge des jeweiligen Molaren ist somit ein guter Indikator für die bevorzugte Nahrung der Primaten (Kay u. Ungar 1997). Trägt man diese Größen für die rezenten Menschenaffen in einem doppeltlogarithmischen Diagramm auf, so erhält man eine Gerade, um welche die Messwerte der einzelnen Menschenaffen streuen. Dabei liegen die blattfressenden Formen alle über der Geraden, während die fruchtfressenden Arten eher unter die Gerade fallen (Abb. 6) (Kay u. Ungar 1997). Vergleicht man die Ergebnisse für die rezenten Menschenaffen mit den Messwerten für ihre miozänen Vorfahren, so ergibt sich ein bemerkenswertes Bild. Die Gesamtstreuung ist zwar vergleichbar mit der Streuung bei den heutigen Menschenaffen, doch liegt die gesamte Punktwolke deutlich tiefer, also bei kürzeren Schneidekanten (Kay u. Ungar 1997). Zwei Interpretationsmöglichkeiten bieten sich für diesen Unterschied an: Einerseits könnten die miozänen Menschenaffen überwiegend Fruchtfresser gewesen sein, andererseits könnte die Zahnmorphologie bei allen Arten seit dem Miozän eine Entwicklung hin zu längeren Schneidekanten durchlaufen haben. Tatsächlich spricht bereits die Tatsache, dass die Streubreite bei beiden Gruppen die gleiche ist, dafür, dass eine ähnliche ökologische Variationsbreite für die fossilen Menschenaffen anzunehmen ist, wie man sie auch bei den modernen Formen findet. Auch ist es unwahrscheinlich, dass die ökologische Bandbreite, in welcher die Menschenaffen Abb. 6: Länge der Scherkanten im zweiten Molaren einiger Menschenaffen im doppeltlogarithmischen Maßstab gegen die Länge des Zahnes aufgetragen (modifiziert nach Kay u. Ungar 1997). <?page no="313"?> 315 Die Evolution der Menschenaffen lebten, sich so stark verschoben haben sollte. Dennoch braucht man zur Beantwortung der Frage nach dem Grund für die Verschiebung der biometrischen Charakteristika in der Zahnmorphologie der Menschenaffen weitere Informationen. Diese erhält man aus der mikroskopischen Oberflächenbeschaffenheit der Zähne und Schneidekanten, dem so genannten Abrasionsmuster. Durch die mechanische Belastung der Oberfläche beim Zerkleinern der Nahrung entstehen, je nach Funktion, charakteristische Abnutzungsspuren (Gordon 1982; Kay u. Grine 1988; Teaford 1985; 1988; Teaford u. Walker 1984). Wird die Nahrung zwischen den Zähnen zerquetscht, so erkennt man unter dem Mikroskop auf der Schmelzoberfläche der Zähne eine Vielzahl kleiner Gruben (engl. pits). Bei einem Überwiegen der Scherfunktion dagegen entstehen vorwiegend gerade, parallele Kratzer (engl. scratches). Meistens sind beide Formen von Abrasionspuren nebeneinander in einem Zahnbereich vorhanden, doch überwiegt, je nach der Funktion der Zähne, die eine oder die andere. Erst durch das Auszählen der Gruben und Kratzer und eine nachfolgende statistische Analyse lassen sich die Nahrungspräferenzen eindeutig aus diesen Abrasionsspuren erkennen. Bei den Blattfressern überwiegen die Kratzer deutlich die Gruben, während bei den fruchtfressenden Arten Gruben und Kratzer etwa gleich häufig auftreten (Abb. 7). Wendet man diese Methode auf die miozänen Menschenaffen an, so bestätigt die Analyse die Vermutung, dass die fossilen Menschenaffen keineswegs ausschließlich fruchtfressend waren, sondern dass sich hier durchaus dieselbe Bandbreite von Blattbis zu Fruchtfressern findet wie dies bei heutigen Menschenaffen der Fall ist. Das bedeutet, dass die Menschenaffen ihre ökologische Bandbreite zwar erhalten haben, die Effizienz der Molaren in der Zerkleinerung der Nahrung vom Miozän bis heute aber bei allen Ernährungstypen durch eine Verlängerung der Schneidekanten erhöht haben. Diese Erscheinung ist ein Beispiel für die so genannte „Red Queen“-Hypothese in der Evolutionsbiologie. In Lewis Carrolls Buch „Alice im Wunderland“ muss die rote Königin permanent laufen, um auf der Stelle zu bleiben. Genauso mussten die Menschenaffen laufend ihre Molaren verbessern, um dieselben ökologischen Nischen besetzt halten zu können. Dies deutet auf eine Konkurrenz mit anderen Organismen hin, die ebenfalls diese Nahrungsressourcen genutzt haben. Tatsächlich haben die Hundsaffen für eine gewisse Zeit ebenfalls noch die Wälder bewohnt, bevor viele von ihnen mehr und mehr zu bodenbewohnenden Steppentieren wurden, wie wir sie in Form der heutigen Paviane vorfinden. Die Hundsaffen zeigen nun von Anbeginn ihrer Evolution eine deutliche Tendenz zur Ausbildung von Schneidekanten auf ihren Molaren. Diese Schneidekanten entstehen als so genannte Querlophen durch die Verschmelzung von benachbarten Höckern. Die Konkurrenz der Menschenaffen zu den Hundsaffen war wahrscheinlich der Motor für die zunehmende Schneidekantenlänge der Menschenaffenmolaren in der Zeit vom Miozän bis heute. <?page no="314"?> 316 Hans-Ulrich Pfretzschner Abb. 7: Verhältnis von Gruben (pits) und Kratzern (scratches) auf den Zähnen rezenter, nichtmenschlicher Primaten. Deutlich erkennt man, wie der relative Anteil der Gruben mit zunehmender Herbivorie (nach oben) ebenfalls zunimmt. Beim Gorilla machen die Gruben schließlich 96 % aus (Daten aus Teaford 1988). <?page no="315"?> 317 Die Evolution der Menschenaffen Sozialleben Auch über das Sozialleben lassen sich aus den Fossilien Informationen gewinnen - was zunächst überraschend klingt, da Fossilien im Allgemeinen, wenn man von Spurenfossilien absieht, nur anatomische Strukturen überliefern und kein Verhalten. Tatsächlich weist aber der Körperbau der Wirbeltiere in zahlreichen Aspekten Anpassungen an spezielleVerhaltensweisen auf und somit auch an Verhaltenselemente, die mit der Sozialstruktur der ehemaligen Tiergemeinschaften zusammenhängen. In dieser Hinsicht ist vor allem der Sexualdimorphismus von Interesse, der sich im Skelett vor allem in Größenunterschieden zwischen den Geschlechtern einer Art niederschlägt. Zusätzlich zum Unterschied in der Körpergröße werden aber auch Strukturen, die eine „display“-Funktion übernehmen, also Signalcharakter haben, geschlechtsspezifisch ausgebildet. Bei den Primaten spielt hier die Größe und Form der Eckzähne eine wichtige Rolle. Die Eckzähne dienen nicht nur der Verteidigung gegen Raubtiere, sondern bei vielen höheren Primaten auch zur innerartlichen Kommunikation, vor allem bei Drohgebärden. Trägt man für höhere Primaten die Größe der Oberkiefereckzähne gegen die Körpergröße in einem Diagramm gegeneinander auf, so liegen die polygamen Arten in einem Polygon deutlich oberhalb der monogamen Arten (Abb. 8) Abb. 8: In diesem Diagramm ist der Sexualdimorphismus der oberen Eckzähne einiger höherer Primaten gegen den Körpergewichtsindex aufgetragen. Die hellen Kreise repräsentieren polygame Arten, die schwarz gefüllten Kreise monogame Arten. Erstere weisen einen deutlich stärkeren Sexualdimorphismus bei der Ausbildung der Eckzähne auf (modifiziert nach Plavcan u. van Schaik 1993/ 94). <?page no="316"?> 318 Hans-Ulrich Pfretzschner (Plavcan u. van Schaik 1993/ 94; Plavcan et al. 1995). Bei polygamen Primaten erhebt ein Männchen Anspruch auf eine Gruppe von Weibchen und muss diese Gruppe gegen konkurrierende Männchen verteidigen. Wie bei vielen anderen Säugetieren in derselben Situation auch, sind bei diesen Primaten die Männchen größer als die Weibchen und besitzen längere Oberkiefereckzähne, um den Konkurrenzkämpfen gewachsen zu sein. Die betrachteten miozänen Menschenaffen Proconsul und Sivapithecus fallen in das Polygon der polygamen Primaten, allerdings in den unteren linken Bereich der Punktwolke. Ihr Sexualdimorphismus bleibt damit deutlich hinter dem der Paviane zurück, aber er übersteigt noch immer die Verhältnisse der monogamen Primaten. Wahrscheinlich handelte es sich somit bei beiden Formen um polygame Primaten. Life-History Abschließend soll auf einen relativ jungen Aspekt in der Interpretation von Säugetierfossilien eingegangen werden, die so genannte „life-history“. Die life-history eines Lebewesens umfasst alle Daten, die mit dem Ablauf des Lebens in Zusammenhang stehen. Hierzu zählen Parameter wie die Tragzeit, die Entwöhnungszeit, die Geschlechtsreife, der Zeitpunkt der ersten Fortpflanzung, der Abstand zwischen zwei aufeinander folgenden Trächtigkeiten und schließlich die Lebensdauer. Diese Parameter sind nun einerseits eine Funktion der Körpergröße. Dies ist unmittelbar einsichtig, da ein großwüchsiges Tier eine längere Zeitspanne benötigt, um erwachsen zu werden, als ein kleinwüchsiges Tier. Damit verzögern und verlängern sich aber auch die übrigen life-history-Parameter. Noch stärker als die Koppelung mit der Körpergröße ist jedoch die Abhängigkeit der Parameter von der Gehirngröße. Ein großes Gehirn führt zu einer Verlängerung der einzelnen Lebensphasen, da es ebenfalls eine lange Entwicklungs- und Reifungszeit benötigt. Trägt man in einem doppeltlogarithmischen Koordinatensystem für viele Säugetiere die Zeitspanne bis zur Geschlechtsreife gegen die Körpergröße auf, so liegen die Primaten deutlich über der Punktwolke der übrigen Säugetiere. Dies bedeutet, dass Primaten wegen ihres größeren Gehirnvolumens generell später die Geschlechtsreife erreichen als andere gleich große Säugetiere (Abb. 9). Plottet man nun für die modernen Primaten die Tragzeit gegen die Körpergröße in einem doppeltlogarithmischen Koordinatensystem auf, so ergibt sich wieder eine gestreckte Punktwolke, wobei die Menschenaffen oberhalb des Durchschnittes zu liegen kommen, während die Hundsaffen unter den Durchschnitt fallen, also vergleichsweise kurze Tragzeiten aufweisen (Abb. 10). Auch der Abstand zwischen aufeinander folgenden Geburten fällt bei Menschenaffen länger aus als für den Durchschnitt, während er bei den Hundsaffen kürzer ist. Um die Aspekte der life- <?page no="317"?> 319 Die Evolution der Menschenaffen Abb. 9: Das Diagramm zeigt für eine Reihe von Säugetieren die Tragzeit gegen das Körpergewicht im doppeltlogarithmischen Maßstab aufgetragen. Die Primaten (Quadrate: Gibbon, Gorilla, Schimpanse, Orang-Utan, Pavian) liegen über dem Durchschnitt. Die restlichen Säugetiere (Kreise) liegen in der Mehrzahl unter der Regressionsgeraden (Daten aus Flindt 1995). history auf fossile Formen zu übertragen, müssen vermittelnde Parameter gefunden werden, da die oben genannten Parameter (Geschlechtsreife, Trächtigkeitsdauer etc.) an Fossilien nicht gemessen werden können. Zwar sind diese Parameter sehr gut mit der Gehirngröße korreliert, doch sind die meisten Primatenfossilien so fragmentarisch erhalten, dass eine zuverlässige Messung des Gehirnvolumens nicht möglich ist. Allerdings gibt es weitere vermittelnde Parameter, so etwa das Durchbruchsalter des ersten Molaren (M1). Dieses Durchbruchsalter ist bei Primaten sehr hoch mit dem Gehirngewicht korreliert (Abb. 11) (Smith et al. 1994). Von Sivapithecus parvada wurde in Pakistan ein Kieferstück geborgen, welches mit Hilfe des Zahndurchbruches Rückschlüsse auf die life-history dieses miozänen Menschenaffen zuließ (Kelley 1997). Es handelt sich bei diesem Kieferbruchstück derzeit um das bisher einzige Fossil von Sivapithecus, welches einen solchen Schluss zulässt. Leider ist dieses einzigartige Fossil bei nachträglichen Röntgenuntersuchungen verloren gegangen. Bei dem Fossil handelt es <?page no="318"?> 320 Hans-Ulrich Pfretzschner sich um ein Bruchstück des linken Unterkiefers (Abb. 12). Es enthält noch zwei Milchzähne. Hinter dem zweiten Milchzahn ist die Alveole des ersten Dauermolaren zu erkennen. Sie war vollständig ausgebildet und begann bereits wieder zu verwachsen, was auf einen frühen Verlust des ersten Molaren schließen lässt. In unmittelbarer Nähe des Fossils wurden zwei Sivapithecus-Incisiven gefunden (Kelley 1997). Da sonst keinerlei Primatenfossilien an der Fundstelle auftauchten, ist es sehr wahrscheinlich, dass die beiden Schneidezähne ebenfalls zu dem Fossil gehören. Für die weitere Interpretation dieses Fundes ist es von Bedeutung, dass bei allen Menschenaffen das Durchbruchsschema der Zähne das gleiche ist. Nur in Bezug auf die Durchbruchsalter unterscheiden sich die Arten, nicht jedoch in Bezug auf die Reihenfolge und die relative Entwicklung der Zähne zueinander. Da nun die beiden Milchpraemolaren noch im Gebiss vorhanden sind, der erste untere Molar bereits durchgebrochen war und der zweite Dauermolar, von dem noch ein kleiner Rest in dem Kiefer vorhanden ist, seine Krone bereits Abb. 10: Das Diagramm zeigt die Tragzeit gegen das Körpergewicht für verschiedene Primaten im doppeltlogarithmischen Maßstab aufgetragen. Innerhalb der Primaten fällt auf, dass die arborikolen Gibbons und Menschenaffen eher eine verlangsamte Entwicklung zeigen, während die bodenlebenden Hundsaffen eine verkürzte Entwicklung aufweisen (modifiziert nach Kelley 1997). <?page no="319"?> 321 Die Evolution der Menschenaffen Abb. 11: Durchbruchsalter des unteren M1 für verschiedene Primaten (Daten aus Kelley 1997). <?page no="320"?> 322 Hans-Ulrich Pfretzschner vollständig ausgebildet hatte, konnte Kelley (1997) hieraus schließen, dass der Entwicklungsstand des Gebisses demjenigen eines sechs Jahre alten Menschenkindes entsprach. Bei einem modernen Schimpansen braucht der erste Molar von seinem Durchbruch durch die Kieferoberfläche bis zu dem beobachteten Entwicklungsstadium etwa vier Monate. Wenn man nun das absolute Lebensalter des Sivapithecus-Individdums kennen würde, könnte man vier Monate abziehen und würde so das Durchbruchsalter des ersten Molaren erhalten. Mit diesem Alter könnte man dann über die Korrelation mit dem Hirnvolumen das Letztere bestimmen und hiermit wiederum in die Korrelationen zwischen life-history-Parametern und Hirnvolumen eingehen, um so etwas über die life-history der fossilen Form zu erfahren. Tatsächlich zeigen die beiden Schneidezähne noch keinerlei Abriebspuren. Sie waren zum Zeitpunkt des Todes des Tieres also noch nicht eruptiert. Die Schneidezähne beginnen etwa vier Monate nach der Geburt zu mineralisieren und sind noch im Aufbau begriffen, wenn der zweite Dauermolar die Kronenbildung vollendet hat (Kelley 1997). An ihrer Außenfläche lassen sich so genannte Perikymatien erkennen. Dies sind feine, wulstartige Verdickungen, die sich während des Zahnwachstums in regelmäßigen Zeitabständen auf der Oberfläche des Zahnschmelzes der meisten Säugetiere bilden. Insgesamt konnten 133 Perikymatien gezählt werden (Kelley 1997). Dies entspricht einer Zeitspanne von etwa 40 Monaten. Nun müssen noch die vier Monate hinzu addiert werden, die zwischen der Geburt und dem Beginn der Schneidezahnentwicklung liegen. Insgesamt ergibt sich somit ein Lebensalter des betroffenen Sivapithecus-Individuums von 44 Monaten. Zieht man nun die vier Monate ab, die zwischen der Vollendung der Krone des M2 und dem Durchbruch des M1 liegen, so erhält man bei Sivapithecus für den M1 ein Durchbruchsalter von 40 Monaten (Kelley 1997). Vergleicht man nun dieses Eruptionsalter des M1 mit demjenigen anderer Primaten (Abb. 13), so zeigt sich, dass Sivapithecus - ähnlich dem Schim- Abb. 12: Mandibularest eines juvenilen Sivapithecus parvada in Aufsicht (modifiziert nach Kelley 1997). Der schwarze Balken repräsentiert 1 cm. <?page no="321"?> 323 Die Evolution der Menschenaffen Abb. 13: Zusammenfassender Vergleich der oben diskutierten biologischen Charakteristika der beiden fossilen Menschenaffen Proconsul und Sivapithecus und der beiden rezenten Formen Pan und Papio. pansen - bereits eine deutlich verlangsamte Entwicklung durchlaufen hat, also ein relativ hohes Eruptionsalter aufweist. Eindeutig erkennt man auch die Verlangsamung der life-history von Schimpanse und Sivapithecus gegenüber den Hundsaffen. Für Proconsul gibt es nur eine grobe Schätzung des Hirnvolumens. Aus diesem resultiert ein deutlich jüngeres Durchbruchsalter des ersten Molaren von ca. 20 Monaten, etwa vergleichbar mit dem der Paviane. Berücksichtigt man jedoch, dass Proconsul erheblich kleiner war als die rezenten Paviane, so müsste man das Durchbruchsalter für den M1 eher mit dem von Cercopithecus vergleichen. Bei diesem beträgt es zehn Monate, ist also wesentlich kürzer als bei Proconsul. Hieraus lässt sich also schließen, dass beide betrachteten miozänen Menschenaffen, Proconsul und Sivapithecus, bereits eine menschenaffentypische verlängerte Entwicklung durchlaufen haben. Moderne Primaten zeigen immer dann eine verlangsamte Entwicklung, wenn sie stärker arborikol ausgerichtet sind. Durch diese Lebensweise wird die Sterblichkeit der Erwachsenen herabgesetzt, was vermutlich auf einen reduzierten Raubdruck in den Baumkronen zurückzuführen ist. Eine derartige Veränderung im Selektionsdruck begünstigt eine langsamere Reifung. Ist die Lebensweise dagegen eher bodenbezogen, wie zum Beispiel bei den Pavianen, so beschleunigt sich die Entwicklung (Kelley 1997). Hier sind die Gefahren auch für erwachsene Tiere größer, und damit ist es vorteilhaft, <?page no="322"?> 324 Hans-Ulrich Pfretzschner wenn sich die Individuen früher fortpflanzen. Die aus der Zahnentwicklung abzuleitende langsamere Entwicklung der fossilen Menschenaffen lässt somit auf eine eher arborikole Lebensweise schließen. Schlussfolgerung Insgesamt lässt sich somit die Biologie der fossilen Menschenaffen wie folgt zusammenfassen: In Bezug auf die Fortbewegung hat sich gezeigt, dass das Hangeln zwar für die rezenten Menschenaffen die typische Fortbewegung im Geäst der Bäume ist, dass dies jedoch keineswegs ohne weiteres auf die fossilen Vertreter projiziert werden darf. Tatsächlich haben sich sowohl Proconsul als auch Sivapithecus vorwiegend greifkletternd auf den Ästen fortbewegt. Da Sivapithecus eindeutig auf der Entwicklungslinie zum Orang-Utan liegt, folgt hieraus, dass das Hangeln der heutigen Menschenaffen erst nach der Auspaltung in die unterschiedlichen Linien entwickelt wurde. Damit hat sich die hangelnde „below-branch“-Fortbewegung innerhalb der Menschenaffen dreimal unabhängig voneinander entwickelt, nämlich einmal bei Oreopithecus, dessen Linie ausgestorben ist, dann beim Orang-Utan und schließlich bei den Schimpansen und Gorillas. Diese Fortbewegung ist also nicht als Synapomorphie der Menschenaffen zu bewerten, sondern als eine konvergente Entwicklung in den unterschiedlichen Gruppen. Die Ernährung umfasst sowohl bei den miozänen fossilen Formen als auch bei den rezenten Menschenaffen das gleiche weite Spektrum von frugivoren, omnivoren und herbivoren Typen sowie der möglichen Mischstufen. Alle Menschenaffen scheinen in ihrer Sozialstruktur ähnlich den Hundsaffen mehr oder weniger polygyn ausgerichtet gewesen zu sein. In ihrer lifehistory zeigen die Hundsaffen jedoch einen klaren Trend zur beschleunigten Entwicklung, verbunden mit einer zunehmend bodenbezogenen Lebensweise. Demgegenüber weisen die Menschenaffen bereits im Miozän auf der Stufe von Proconsul einen deutlichen Trend zur langsameren Individualentwicklung auf. Dies steht, wie auch an den Anpassungen an das Greifklettern abgelesen werden kann, mit einer stärker arborikolen Lebensweise in Zusammenhang. Ausblick auf den Menschen Wie sah die Fortbewegung der gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Menschenaffen aus? Von der Seite der Menschenaffen wissen wir nun, dass Proconsul, Sivapithecus und Kenyapithecus keine Hangler, sondern Greif- <?page no="323"?> 325 Die Evolution der Menschenaffen kletterer waren. Darüber hinaus kennen wir erst wieder von den Australopithecinen ausreichendes Skelettmaterial aus dem Postcranialbereich, um diese Frage zu diskutieren. Die Fußkonstruktion mit dem vergrößerten ersten Zehenstrahl, der nach vorne ausgerichtet ist, die Fußspuren von Laetoli und zahlreiche weitere anatomische Eigenschaften, so etwa das verstärkte Kniegelenk der Tibia, sprechen eindeutig für einen aufrechten Gang der Australopithecinen. Allerdings weisen jene gegenüber dem Menschen deutlich gekrümmte Mittelhandknochen auf. Obwohl diese Krümmung nicht so ausgeprägt ist wie bei den Menschenaffen, muss davon ausgegangen werden, dass diese Formen noch häufig geklettert sind. Man kann sich vorstellen, dass sie beispielsweise nachts Schutz im Geäst der Bäume suchten. Dennoch weisen die arborikolen Anpassungen der Australopithecinen nicht unbedingt auf ein Hangeln hin, sondern sind ohne weiteres mit einem Greifklettern vereinbar. Damit gibt es aber für die Brachiatorenhypothese keinen stichhaltigen Grund mehr. Als letzter gemeinsamer Vorfahre der Menschen und der Schimpansen und Gorillas kann durchaus auch ein greifkletterndes Wesen angesehen werden. Zum Abschluss soll noch kurz die Frage diskutiert werden, warum die Menschenaffen sich zunehmend arborikol entwickelt haben, während die Menschen sich stärker bodenbezogen weiterentwickelten. Nach Yves Coppens (1994) hat die tektonische Aktivität des ostafrikanischen Grabenbruchsystems zu einer Auffaltung von Gebirgsketten geführt, die überwiegend in N-S-Richtung verlaufen. Östlich dieser Gebirge, im Rift-Valley, trocknete die Landschaft aus und Savannen breiteten sich aus. In ihnen entstehen die Menschenarten als bodenlebende Primaten. Westlich der Gebirgszüge dagegen bleiben im feucht-tropischen Klima die dichten Urwälder erhalten. Dort entwickeln sich die modernen, hangelnden Menschenaffen. Literatur Aiello, L. u. Dean, C. 1990: An introduction to human evolutionary anatomy. Academic Press, Harcourt Brace & Company, Publishers, London. Begun, D. R., Ward, C. V. u. Rose, M. D. 1997: Events in Hominoid Evolution. In: D. R. Begun, C. V. Ward u. M. D. Rose (Hrsg.), Function, Phylogeny and Adaptations. Miocene Hominoid Evolution and Adaptations. Advances in Primatology, 389-415. Plenum Press, New York. Bonis, L. de 2001: Vom Affen zum Menschen. Spektrum der Wissenschaft Compact, Heidelberg. Byrne, R. 1997: The thinking Ape. Evolutionary Origins of Intelligence. Oxford University Press, Oxford. Coppens, Y. 1994: Geotektonik, Klima und der Ursprung des Menschen. Spektrum der Wissenschaft 12, 64-71. <?page no="324"?> 326 Hans-Ulrich Pfretzschner Darwin, C. 1859: On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life. John Murray, London. - 1899: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein. Neunte Auflage, Übersetzung von J. V. Carus, E. Schweitzerbart’sche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart. Flindt, R. 1995: Biologie in Zahlen. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart. Gordon, K. D. 1982: A study of microwear on chimpanzee molars: Implications for dental microwear analysis. American Journal of Physical Anthropology, 59, 195-215. Henke, W. u. Rothe, H. 1997a: Zahnphylogenese der nicht-menschlichen Primaten. In: K. W. Alt u. J. C. Türp (Hrsg.), Die Evolution der Zähne, 229- 278. Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin. - 1997b: Zahnphylogenese der Hominiden. In: K. W. Alt u. J. C. Türp (Hrsg.), Die Evolution der Zähne, 279-360. Quintessenz Verlags-GmbH, Berlin. Johanson, D. u. Edgar, B. 1998: Lucy und ihre Kinder. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg. Kay, R. F. u. Grine, F. E. 1988: Tooth morphology, wear and diet in Australopithecus and Paranthropus from Southern Africa. In: F. E. Grine (Hrsg.), Evolutionary History of the „Robust“ Australopithecines, 427-447. Aldine de Gruyter, New York. Kay, R. F. u. Ungar, P. 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Scanning Microscopy 2, 1149-1166. Teaford, M. F. u. Walker, A. 1984: Quantitative differences in dental microwear between primate species with different diets and a comment on the presumed diet of Sivapithecus. American Journal of Physical Anthropology 64, 191-200. <?page no="326"?> Die Autorinnen und Autoren BLIN, NIKOLAUS, Prof. Dr. rer. nat. Dr. h.c.; geb. 1946 in Poznan´, Polen. Von 1967-1972 Studium der Physik, Chemie und Biologie an der Universität Heidelberg; Studium der Mikrobiologie an der Universität Göttingen. Promotion 1975 an der Universität Heidelberg. Von 1975-1979 Postdoc an der Abteilung für Zoologie der Universität von North Carolina, Chapel Hill, USA. Von 1979-1980 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck- Institut für Molekulare Genetik, Berlin, und von 1980-1984 am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg. Habilitation 1981 an der Universität Kaiserslautern. Von 1984-1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Humangenetik der Universität des Saarlandes, Homburg/ Saar. Derzeit Professor für Molekulare Genetik am Institut für Anthropologie und Humangenetik der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Evolutionsgenetik, genetische Ursachen neurosensorischer Erkrankungen, Onkogenetik. BOLUS, MICHAEL, Priv.-Doz. Dr. phil.; geb. 1959 in Krefeld. Studium der Ur- und Frühgeschichte, Alten Geschichte und Deutschen Philologie in Köln und München. Promotion 1990 an der Universität Köln, Habilitation 2001 an der Universität Tübingen. 1998 bis 2004 Wissenschaftlicher Assistent und seit 2005 Wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl für Ältere Urgeschichte und Quartärökologie des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Übergang vom Mittelzum Jungpaläolithikum in Mitteleuropa; Aurignacien in Südwestdeutschland. BRÄUER, GÜNTER, Prof. Dr. rer. nat.; geb. 1949. Studium der Biologie, Anthropologie und Paläontologie in Aachen und Mainz. Promotion 1976, Habilitation 1984. Seit 1985 Professor an der Universität Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Analyse fossiler Hominiden, insbesondere Homo erectus und Homo sapiens. Zahlreiche Forschungsaufenthalte in Afrika und Ostasien. CONARD, NICHOLAS JOHN, Prof. Ph.D.; geb. 1961 in Cincinnati, Ohio, USA. Von 1979-1983 Studium der Anthropologie und Chemie mit einem Bachelor-Abschluss an der University of Rochester, New York, sowie von 1985-1986 Studium der Physik, Geologie und Anthropologie mit dem Abschluss Master of Science. 1982 Studium der Ethnologie und Chemie an der Universität Freiburg, 1984 und 1989 Studium der Ur- und Frühgeschichte an der Universität Köln. Promotion im Fach Anthropologie 1990 an der Yale University, New Haven, Connecticut. Von 1991-1993 Assistant Pro- <?page no="327"?> 329 Die Autorinnen und Autoren fessor am Dept. of Anthropology der University of Connecticut. Von 1993- 1995 Humboldt-Stipendiat, Museum Monrepos, Neuwied. Seit 1995 Lehrstuhl der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen und Direktor des Urgeschichtlichen Museums in Blaubeuren. Von 1998 bis 2000 Dekan der Geowissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen. Seit 2000 Leiter des Studiengangs Paläoanthropologie. Forschungsschwerpunkte: Paläolithische Archäologie, die Kulturevolution des Menschen sowie Neandertaler und erste moderne Menschen. HAIDLE, MIRIAM NOËL, Dr. rer. nat; geb. 1966. Studium der Urgeschichte, Vor- und Frühgeschichte, Anthropologie, Ethnologie und Geologie an den Universitäten Tübingen und Basel. Promotion 1996 über „Mangel - Krisen - Hungersnöte? Ernährungszustände in Süddeutschland und der Nordschweiz vom Neolithikum bis ins 19. Jahrhundert“. Margarethe-von- Wrangell-Habilitationsstipendiatin mit einem Projekt über „Die Entwicklung des planenden Denkens: Planungsmuster als Ansatz zur archäologischen Analyse des Objektplanungsverhaltens“. Seit 1995 Lehrbeauftragte an der Universität Tübingen; seit 1997 DAAD-Kurzzeitdozentin an der Royal University of Fine Arts Phnom Penh, Kambodscha, mit einem Forschungsprojekt zu kreisrunden Erdwerken des Mimotien. Koordinatorin des Studiengangs Paläoanthropologie an der Universität Tübingen. HENKE, WINFRIED, Prof. Dr. rer. nat.; geb. 1944. Studium der Biologie, Geowissenschaften, Philosophie und Pädagogik an den Universitäten Braunschweig und Kiel. Promotion 1971 in Kiel, anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Anthropologie der Universität Mainz. Habilitation 1990. Derzeit Akademischer Direktor und apl. Professor für Anthropologie. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Paläoanthropologie, Prähistorische Anthropologie, Bevölkerungsbiologie und Demographie. MAIER, WOLFGANG, Prof. Dr. phil. nat.; geb. 1942. Studium der Biologie, Anthropologie und Chemie in Tübingen und Frankfurt a. M. Promotion 1969 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. mit einem primatologischen Thema. 1970 Stipendiat in Südafrika zur Untersuchung pliopleistozäner Cercopithecoidea in Makapansgat. 1973 Professur für Humananatomie an der Universität Frankfurt a. M. Seit 1987 Lehrstuhl für Spezielle Zoologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Evolutionsbiologie der Primaten und anderer Säugetiere; Wechselbeziehung zwischen ontogenetischen Anpassungen und evolutiven Transformationen bei Säugetieren. PFRETZSCHNER, HANS-ULRICH, Prof. Dr. rer. nat.; geb. 1959. Studium der Chemie, Biologie und Physik in Kaiserslautern. Promotion 1989 an der <?page no="328"?> 330 Die Autorinnen und Autoren Universität Kaiserslautern, Habilitation 1995 an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität Bonn. Von 1989-1995 Wissenschaftlicher Hochschulassistent am Institut für Paläontologie der Universität Bonn. Seit 1999 Professor für Wirbeltierpaläontologie und Direktor des Museums am Institut für Geowissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Forschungsgebiete: Biomechanik des Zahnschmelzes, Biometrie der Wirbeltiere, Funktionsmorphologie und Fossildiagenese der Knochen. PREUSCHOFT, HOLGER, Prof. Dr. phil. nat.; geb. 1932. Nach Abschluss der Schulzeit in Frankfurt a. M. drei Jahre kaufmännischer Angestellter. Danach Studium der Biologie mit Schwerpunkt Anthropologie und Studium der Medizin. Promotion 1961 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. Von 1962-1970 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Anthropologie und Humangenetik in Tübingen. Habilitation für Anthropologie und Primatologie 1968. Im Jahr 1971 Hochuldozent in Tübingen und Gründungsmitglied des Sonderforschungsbereiches Paläoökologie. Ebenfalls 1971 Berufung zum Gründer und Leiter der Abteilung „Funktionelle Morphologie“ am anatomischen Institut der Ruhr-Universität Bochum. Von 1975-1978 Prorektor für Lehre der RUB, von 1980-1981 Dekan der Fakultät für naturwissenschaftliche Medizin. Den 1982 erhaltenen Ruf auf den Lehrstuhl Humanbiologie der Universität Wien nicht angenommen. Gastprofessuren am Dept. of Anatomical Sciences der State University of New York at Stony Brook, am Dept. of Anatomy der Kansai Medical University in Osaka, Japan, und an der Universität Wien. Von 1989-1992 Präsident der Gesellschaft für Anthropologie und Humangenetik, von 1993-1997 Präsident der Gesellschaft für Primatologie. Emeritierung 1997. Forschungsschwerpunkt ist der Zusammenhang zwischen Körperform und mechanischer Beanspruchung des Bewegungsapparates. Die Untersuchungen wurden bevorzugt an Menschen, Vormenschen und Tierprimaten durchgeführt. Seit 1987, gemeinsam mit Kollegen der l’Université Louis Pasteur Strasbourg, Aufbau eines Austausch- und Anerkennungssystems für Studenten der Medizin in Deutschland und den europäischen Nachbarländern. PUSCH, CARSTEN M., Dr. rer. nat.; geb. 1966 in Stuttgart. Studium der Biologie mit den Schwerpunkten Humangenetik, medizinische Mikrobiologie, Parasitologie und Paläontologie an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Diplomarbeit 1994 am Institut für Anthropologie und Humangenetik über die Analyse von Gensequenzen aus der Chromosomenregion 22q13.1. Promotion 1998 mit einer Arbeit über die Isolierung und Charakterisierung humaner DNA aus prähistorischen Knochen und der integrativen Typisierung von merowingerzeitlichen Individuen aus dem Reihengräberfeld von Neresheim. Von 1998-2001 Wissenschaftlicher Angestellter im <?page no="329"?> 331 Die Autorinnen und Autoren Molekulargenetischen Labor des Augenklinikums der Universität Tübingen. Attempto-Preisträger im Jahr 2001 im Bereich Neurobiologie. Gegenwärtig Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Anthropologie und Humangenetik der Universität Tübingen, Abteilung für Molekulare Genetik. Publikationen zur Paläogenetik, Anthropologie, Evolution, Ophthalmogenetik, physikalisch-genetischen Kartierung vererbter Erkrankungen, Innovation molekulargenetischer Techniken und zur Aufklärung von Chromatinstrukturen, insbesondere der repetitiven Bereiche des Säugergenoms. SCHRENK, FRIEDEMANN, Prof. Dr. phil. nat.; geb. 1956. Studium der Geologie, Paläontologie, Zoologie und Anatomie in Darmstadt, Johannesburg und Frankfurt a. M. Promotion 1987 an der Universität Frankfurt a. M., Habilitation 1994 an der Technischen Universität Darmstadt. Von 1987-1988 Wissenschaftlicher Assistent am Zoologischen Institut der Universität Tübingen, von 1989-1999 Leiter der Geologisch-Paläontologischen und Mineralogischen Abteilung des Hessischen Landesmuseums Darmstadt. Seit 2000 Professor für Paläobiologie der Wirbeltiere an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt a. M. und Leiter der Abteilung Paläoanthropologie und Quartärpaläontologie am Forschungsinstitut Senckenberg, Frankfurt a. M. Forschungsgebiete: Paläoanthropologie und Paläoökologie Afrikas; Ursprung und Ausbreitung der Gattung Homo. Geländearbeiten in Malawi, Tansania, Kenia und Mali. WAHL, JOACHIM, Priv.-Doz. Dr. rer. nat.; geb. 1954. Studium der Biologie (Anthropologie), Vor- und Frühgeschichte, Paläontologie und Ägyptologie in Frankfurt a. M. und Mainz. Promotion 1982, Habilitation 2002 an der Universität Tübingen. Seit 1983 Referent für Anthropologie beim Landesdenkmalamt Baden-Württemberg (jetzt Regierungspräsidium Stuttgart, Landesamt für Denkmalpflege). Von 1992-2001 Lehraufträge an den Universitäten Bonn, Marburg, Heidelberg, Mainz und Tübingen. Seit mehreren Jahren Berater für osteologische Gutachten des Instituts für Gerichtliche Medizin der Universität Tübingen. Publikationen zur prähistorischen Anthropologie Südwestdeutschlands vom Paläolithikum bis in die frühe Neuzeit. Arbeitsschwerpunkte: Neolithikum, Römerzeit, Traumatologie, Untersuchung von Leichenbränden. <?page no="330"?> Archäologie Francke Manfred K.H. Eggert Prähistorische Archäologie Konzepte und Methoden UTB 2092 M, 2., unveränd. Auflage, 2005, XVII, 412 Seiten, zahlr. Abb., 24,90/ SFr 43,70 UTB-ISBN 3-8252-2092-3 Dieser Band führt in systematischer Form in die grundlegenden Konzepte und Methoden der Prähistorischen Archäologie ein. Unter Berücksichtigung forschungsgeschichtlicher Aspekte werden Struktur und erkenntnistheoretische Voraussetzungen eines Faches entwickelt, dessen Quellen ausschließlich aus nichtschriftlichen Hinterlassenschaften bestehen. Die hier erstmals umfassend erörterten Konzepte und Methoden sind jedoch nicht nur für die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft, sondern für die Archäologie insgesamt von zentraler Bedeutung. „Die vorliegende Publikation ist mit vollem Recht als ein Standardwerk der Archäologie einzustufen. Es wird über viele Jahre seinen Platz sowohl als bedeutsames Nachschlagewerk als auch als Lehrbuch behalten. Obwohl die folgende Betonung überflüssig erscheint - es gehört in jede Instituts-, allgemein öffentliche und Privatbibliothek.“ TRIBUS 53, 2004 <?page no="331"?> Archäologie Reinhard Bernbeck Theorien in der Archäologie UTB 1964 S, 1997, 404 Seiten, 19,90/ SFr 34,90 UTB-ISBN 3-8252-1964-X Theoretische Grundlagen werden in den archäologischen Fächern in Deutschland kaum je angesprochen. Diesem Mißstand will die vorliegende Einführung abhelfen. Sie erörtert zunächst die Prinzipien der prozessualen Archäologie. In einem zweiten Abschnitt folgen u.a. Kapitel zur Raum- und Stilanalyse. Zuletzt wird auf neuere postprozessuale, marxistische und feministische Ansätze eingegangen. Die Darstellung bezieht Kurzbeispiele aus prähistorischem sowie historischem Kontext und einer Vielzahl geographischer Regionen ein. Zahlreiche Grafiken erleichtern das Verständnis des Textes. Eine ausführliche Bibliographie macht mit relevanter Fachliteratur bekannt. „Unprätentiös geschrieben, kommt der Band völlig ohne den berüchtigten Jargon der archäologisch-theoretischen Literatur aus. Ein ausgezeichnetes Lehrbuch also, in dem der Leser kompetent aufbereiteten Stoff, Anleitung zu Kritik und Raum für eigene Gedanken findet.” Frankfurter Allgemeine Zeitung Francke <?page no="332"?> Archäologie Francke Franziska Lang Klassische Archäologie Eine Einführung in Methode, Theorie und Praxis UTB 1991 S, 2002, 345 Seiten, div. Abb., 19,90/ SFr 34,90 UTB-ISBN 3-8252-1991-7 Das Buch stellt das Fach Klassische Archäologie auf knappem Raum, aber dennoch in seiner ganzen Bandbreite vor. Nach einer Erläuterung des geographischen und zeitlichen Rahmens, in dem sich das Fach bewegt, stellt ein Basiskapitel die Grundfragen der Klassischen Archäologie, die Geschichte der Wissenschaft und die unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Feldforschung vor. Kernstück des Buches bildet jedoch die ausführliche Darstellung der Methoden, die in der Klassischen Archäologie Anwendung finden: In den Kapiteln „Zeit”, „Objekte” und „Raum” wird in die Möglichkeiten zur Erstellung von Chronologien, Fragen von Stil, Form und ikonographischer Einordnung von Fundobjekten sowie in die Analyse verschiedener Raumkategorien eingeführt und die Ergebnisse für die praktische Arbeit aufbereitet. Ein Anhang mit nützlichen Internetadressen, einer Auswahlbibliographie und einem Register schließt den Band ab.