Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
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0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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2009
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KettemannVon der Vollendung zum vollendeten Scheitern. Zu: Gesa Schubert, Die Kunst des Scheiterns. Die Entwicklung der kunsttheoretischen Ideen Samuel Becketts.
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2009
Hans H. Hiebel
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Rezensionen 170 1 Zit. als “DBVJ” Von der Vollendung zum vollendeten Scheitern. Zu: Gesa Schubert, Die Kunst des Scheiterns. Die Entwicklung der kunsttheoretischen Ideen Samuel Becketts. Berlin: LIT, 2007. Hans H. Hiebel Gesa Schuberts Vorhaben ist die Darstellung der zentralen theoretischen Konzepte Becketts im Hinblick auf Kontinuität und Akzentverschiebung; dieses Vorhaben ist als gelungen zu bezeichnen - bis auf den Umstand, dass manche kaum verständlichen Thesen Becketts letztlich apokryph bleiben mussten. Im Zentrum aller Ausführungen stehen die Sprachkritik, die Subjekt-Objekt-Krise in Malerei und Literatur und das - als Lösung aller Widersprüche gesehene - Prinzip eingestandener Ohnmacht bzw. unverhohlenen Scheiterns. Das Vorgehen der Vf. ist chronologisch: am Anfang steht ein - m.E. alles zum Thema Relevante erfassender - Forschungsbericht; dessen wichtigste Informanten, auf die später auch wieder zurückgegriffen wird, sind Acheson (1997), Brockmeier (2001), Fletcher (1964), Hartel (2000), Henning (1988), Oppenheim (2000), Pilling (1997) und Pothast (1989), um nur die allerwichtigsten Autoren und nur ausgewählte Arbeiten derselben zu nennen. Im Hinblick auf biographische Details und entstehungsgeschichtliche Daten greift G. Schubert auf Knowlsons autorisierte Biographie (1996), aber auch auf das umstrittene Buch von Deirdre Bair (1978) zurück. Die erste Analyse gilt der 1929 erschienen Würdigung von Joyces Finnegans Wake bzw. Work in Progress: Dante…Bruno. Vico…Joyce. 1 Als wichtigstes Anliegen des Essays hebt die Vf. den “unmittelbaren Ausdruck” (“direct expression”; S. 26), hervor, den Joyce aus Vicos Scienza nuova übernommen habe; auch Vicos Vorstellung von der “zyklischen Entwicklung der Gesellschaft” habe Beckett zufolge auf Joyce gewirkt (S. 27). Vico ging davon aus, dass am Ursprung der Sprache deren sinnliche und konkrete Ausdrucksweise stehe, wie sie sich in den “Hieroglyphen” präsentiert habe (S. 27). Beckett habe diese Direktheit im Sinn, wenn er schreibt: “His [Joyce’s] writing is not about something: it is that something itself.” (Zit. S. 27; DBVJ: 26f.) Bei Joyce sei, Beckett zufolge, so fährt die Vf. fort, die neue Sprache das “ästhetische Äquivalent seiner purgatorischen Weltauffassung” (S. 29). Dieses irdische Purgatorium aber sei nach Beckett gekennzeichnet durch “the absolute absence of the Absolute” (zit. S. 30, DBVJ: 33). Mit “sittlicher Belehrung” habe solche Darstellung nichts zu tun (S. 31). Joyce zeige nur innerhalb der Sprache den Prozess von “Keimen, Reifen und Verwesung” (S. 30). (Wie wir dies zu verstehen haben, zeigen indes weder Beckett noch die Vf. Diesem Mangel an Anschaulichkeit werden wir indes in der Studie der Vf. immer wieder begegnen.) Entscheidend sei, dass Beckett hier die Sprache - der Joyce nicht das mindeste “Misstrauen” entgegenbringe - noch als “verbesserungsfähiges Instrument” betrachte (S. 31). Beckett habe dann 1956 über Joyce geäußert: “He was making words do the absolute maximum of work. […] He’s tending toward omniscience and omnipotence as an artist.” (Zit. S. 33) Beckett selbst habe sich aber zu diesem Zeitpunkt von einem derartigen Ziel AAA Band 34 (2009), Heft 1 Rezensionen 171 schon gänzlich abgesetzt (was im Übrigen in der Beckett-Literatur schon häufig betont worden ist): “I’m working with impotence, ignorance.” (Zit. ebd.) Unwissenheit wird also später, so die Vf., als solche zu einer schöpferischen Quelle, während sie 1929 noch als Ursprung von Neugier, Wissensdurst und Sprachmächtigkeit gilt (S. 33f.). Le Concentrisme ist der Titel eines Vortrags, mit dem sich Beckett 1930 einen Jux am Trinity College in Dublin erlaubte; ein angeblich existierender “Jean du Chas” wird dort als Urheber eben dieser Theorie des “Konzentrismus” angegeben, der es darauf angekommen sei, das “zentripetale” Erleben von der Banalität des “sozialen Lebens” bzw. dem “horizontalen Leben” abzugrenzen (S. 35). Die Vf. nimmt den Jux, der voll erotischer Anspielungen steckt, ernst, in gewissem Sinne zu Recht, denn die Trennung von ästhetischem Bewusstsein einerseits und Alltagsbewältigung andererseits wird auch spätere Äußerungen Becketts immer wieder prägen. In seinem Vortrag verwirft Beckett die biographische Kunstbetrachtung und jegliche akademische Pedanterie. Am Ende des Vortrags fällt der entscheidende Satz, dass die - über der Unterhaltung stehende - Kunst verstehbar, aber unerklärlich sei: “parfaitement intelligible et parfaitement inexplicable” (zit. S. 38). Im Essay Proust, der 1931 erschien, unternahm es Beckett ein weiteres Mal, ein Werk von Weltrang zu beleuchten: Prousts Recherche. Nicht das Autobiographische und Gesellschaftsbezogene des Werks, sondern sein ästhetischer Aspekt, der sich im künstlerischen Selbstfindungsprozess Marcels zeige, ist Gegenstand der Untersuchung. Als wichtigstes Thema, so die Vf., erschien Beckett die “Zeit” bzw. die unwillentliche Erinnerung: “involuntary memory”, “mémoire involontaire”, nach Beckett das “Leitmotiv” des Romans (S. 43). Ihr spreche er einen besonderen “Wahrnehmungs- und Erkenntnismodus” zu, welcher eine “authentische Erfassung der Wirklichkeit” ermögliche (S. 43). Die Vf. blickt in diesem Zusammenhang - eingehender als alle bisherige Forschung - auf den Einfluss Schopenhauers (s. S. 47ff.). Mit mathematischen und musikologischen Erläuterungen versucht die Vf. den genial-sprunghaften und hermetischen Sätzen Becketts beizukommen; trotz all ihrer Mühen bleiben aber Thesen - wie z.B. die ersten Sätze des Essays: “The Proustian equation is never simple. The unknown, choosing its weapons from a hoard of values, is also the unknowable” - letztlich dunkel oder zumindest ohne Anschauungshilfen. Auf diesen ersten Absatz kommt die Vf. immer wieder zurück, wenn sie die Janusköpfigkeit der Zeit (“that double-headed monster of damnation and salvation”, zit. S. 48) und die Anspielung auf den Speer des “Telephus” erläutert (S. 48). Der Rost des Speers war im Mythos das Heilmittel für den vom Speer Verwundeten. Die Zeit (als Erinnerung) heilt, was die Zeit (als Erleben) an Wunden hinterlassen hat (S. 48ff.). Nach Beckett geht es um die “dual significance of every condition and circumstance of life” (zit. S. 49). Lebensvollzug mit Hilfe von Gewohnheit bzw. Langeweile steht der substanziellen Lebensbewältigung - durch ästhetische Kontemplation - gegenüber; Beckett unterscheide also zwei Bewältigungsarten: “boredom of living” und das substanzielle “suffering of being” (zit. S. 50). Er gehe davon aus, dass Proust durch Schopenhauers Ideen beeinflusst worden sei, nach welchen die Welt Vorstellung eines Subjekts ist und zugleich Objektivation des Willens (als des unerkennbaren Dinges an sich) (s. S. 51). Zeit gilt als Grund von Gewohnheit einerseits und von Erinnerung andererseits. Prousts “creatures […] are victims of […] Time” (zit. S. 52). Das ist die Seite der Verdammnis. Sie erstreckt sich auf die Beziehung Rezensionen 172 Beobachter-Beobachtetes und Begehrender-Begehrtes, was Beckett am Beispiel der eifersüchtigen Liebe Marcels Albertine gegenüber illustriere (s. S. 52). Das Objekt des Begehrens kann nach Beckett, so die Vf., “höchstens partiell besessen werden” (S. 53). Dazu kommt die Tatsache, dass das Individuum sich keine Identität bewahren könne, sondern eigentlich als eine “Sukzession von Individuen” zu verstehen sei (S. 53). Da das Subjekt Beckett zufolge immer wieder stirbt, um einem neuen Subjekt Platz zu machen, ergibt sich eine unentwegte Kette von Leiden (s. S. 54). Bei Schopenhauer wechselt - wie bei einem Pendel - das Subjekt zwischen “Schmerz” und “Langeweile” (ebd.): “The pendulum oscillates between these two terms: Suffering […] and Boredom” (zit. S. 55). Versagung ist für Schopenhauer die Regel, die allerdings Ausnahmen zulasse, für Proust bzw. Beckett ist Versagung jedoch das “einzig mögliche Schicksal des subjektiven Verlangens” (S. 55). Langeweile ergibt sich aus dem Versuch, sich für Leiden unempfindlich zu machen. Gewohnheit ist sein Mittel, sie gehört zur Strategie der Lebensbewältigung im Alltag; Proust spricht von “l’influence anesthésiante de l’habitude” (zit. S. 56). Becketts Satz, “Proust does not deal in concepts, he pursues the Idea, the concrete” (zit. S. 58), versucht die Vf. erneut durch einen Hinweis auf Schopenhauer zu erläutern; Schopenhauer ordnet den “Begriff” dem Alltag, der Lebensbewältigung zu und behauptet, für die “Kunst” sei er “unfruchtbar” (zit. S. 59). Die Vf. macht in der Folge deutlich, dass Beckett der “ästhetischen Betrachtungsart”, der Kunst, den Vorzug vor lebenspraktischen Strategien gibt. (S. 60) Beckett selbst verweist auf die Antithese von Begriff bzw. verstandesmäßigem Erfassen von “cause and effect” einerseits und Schopenhauers Auffassung, dass die “artistic procedure” eine unbegriffliche Kontemplation der Welt sei, “independently of the principle of reason”, andererseits (zit. S. 61). Carola Veits Diktum, “Der Dualismus ist das tragende Prinzip für Becketts gesamtes Werk” (Veit 2002: 11), trifft also auch auf die theoretischen Überlegungen Becketts zu. In den ersten Bereich, den Bereich der gewöhnlichen Lebensbewältigung, gehöre nach Beckett, so die Vf., die “Normalform der Erinnerung”, eine Unterform der “Gewohnheit”; sie liefere - wie der Intellekt überhaupt - nur ein verzerrtes Bild des “Realen”, das der Vermeidung von Leid und Unordnung diene (S. 63f.). Dass Befriedigung unmöglich ist, demonstriere Beckett am Mythos des Tantalus. Zeit ist trügerisch: Hoffnung entstehe durch die illusionäre Vorstellung, Erfüllung sei zu einem “späteren Zeitpunkt” möglich; so entfalte die Zeit ihr “verdammendes Potential” (S. 67). (Franz Kafka hat eine ähnliche Idee in seiner Parabel vom ewigen Aufschub, Vor dem Gesetz, entfaltet.) Die Vf. versucht an dieser Stelle eine Deutung des Satzes von der “Proustschen Gleichung” zu liefern, indem sie auf die “rationalen Zahlen” verweist - auf diese Weise aber die Aussage nur noch kryptischer macht, als sie ohnehin schon ist. Nach der Vf. illustriert Beckett an der Beziehung Marcel-Albertine die zuvor getroffenen Bestimmungen. Die Subjekt-Objekt-Beziehung wird als die Beziehung unerfüllten Begehrens ausgemalt: “One only loves that which is not possessed, one only loves that in which one pursues the inaccessible” (zit. S. 68, Anm. 67) - “our thirst for possession is, by definition, insatiable” (zit. S. 69). Entscheidend für diese Logik ist die Tatsache, dass “habit” unsere Vorstellungen formt bzw. dass “arbitrary images of memory and imagination” uns das Reale verstellen (zit. S. 69). Der eifersüchtige Marcel ist folglich “Opfer seiner Gewohnheit” (S. 69). Im Widerspruch dazu Rezensionen 173 steht die These Becketts, dass die Liebe der Kunst verwandt sei, dass die liebende Wahrnehmung Albertines - in visionären Momenten - für Marcel ein reiner Akt “of understanding - intuition” sei (zit. S. 70). Der Künstler könne indes von dieser visionären Wahrnehmung nur Zeugnis ablegen und dürfe sich selbst nicht in die Lebenspraxis verstricken. In diesen Zusammenhang gehört nun wesentlich die Erörterung der “unwillentlichen Erinnerung”; hier bekommt die “Zeit” den Charakter eines “erlösenden Potentials” (S. 71ff.). Nach Beckett ist “a subconscious and disinterested act of perception” die Vorbedingung der diesem Akt folgenden unwillentlichen Erinnerung. “The man with a good memory does not remember anything because he does not forget anything.” (Zit. S. 62) Beckett greift hier das Proustsche Bild geschlossener Gefäße auf, die später unter Umständen geöffnet werden können. Erfahrung ist “imprisoned in a vase filled with a certain perfume […]. These vases are suspended along the height of our years, and, not being accessible to our intelligent memory, are in a sense immune.” (Zit. S. 72f.) Die Eindrücke sind sozusagen, so erläutert die Vf., mit einer Schutzschicht umgeben. Weshalb sie indessen in der “Höhe unserer Jahre” aufgehängt sind, wird von der Vf. nicht erklärt. An diesem Beispiel zeigt sich m.E., dass die Vf. in der Regel die wichtigen Aspekte eines Zitates durchaus ausdeutet, dass sie aber doch schwierigere Komponenten umgeht und unkommentiert stehen lässt. Die unwillentliche Erinnerung könne, das versteht sich von selbst, nicht willentlich herbeigeführt werden; sie sei von “inneren und äußeren Zufällen abhängig” (S. 73). Eine “diminished tension of consciousness following upon a phase of extreme discouragement” sei eine Vorbedingung - ebenso wie das “miracle of analogy” (zit. S. 74), d.h. das zufällige Auftauchen einzelner kontingent-kontextueller oder analoger Elemente. Für Proust werde mit der unwillentlichen Erinnerung die “außerzeitliche” “Essenz” der Dinge sichtbar, d.h. die Realität, das wahre Leben erkannt (“notre vraie vie, la réalité”, S. 77). Beckett verschmelze diese Ausführungen mit dem Gedanken, dass die unwillentliche Erinnerung die Erkenntnis der Idee (nicht des Begriffs! ) ermögliche; “the ideal and the real, imagination and direct apprehension, symbol and substance” kämen hier zu einer Einheit, ergäben “the ideal real, the essential, the extratemporal” (zit. S. 77). Bei Schopenhauer ist, so zeigt die Vf., die “Anschauung” Ausdruck des kontemplativen Subjekts, dieses ist “reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis”; nur das “Was” interessiert, nicht das “Wo”, das “Wann”, das “Warum” und das “Wozu” (zit. S. 81f.). Im Aufbieten der Parallelen bei Schopenhauer ist der Spürsinn der Vf. bewundernswert. Sie weist an dieser Stelle allerdings auch auf eine Abweichung hin: Während Schopenhauer von Schmerzfreiheit spreche und Proust vom Glücksmoment der unwillentlichen Erinnerung, sei die Aufdeckung der wahren Realität nach Beckett sowohl “schön” als auch “bedrohlich”, ihre Erkenntnis sei stets auch mit Schmerz verbunden (S. 84). So ergibt sich für Beckett erneut die schon erwähnte Polarität von “boredom of living” und “suffering of being”; Letzteres wird als “our first nature” und “deeper instinct” vom gewöhnlichen Lebensinstinkt geschieden (zit. S. 85). “Suffering […] opens a window on the real and is the main condition of the artistic experience.” (Zit. S. 87) Zeit offenbare sich hier als “pensum”, als eine Art Purgatorium, dem im Aufdecken einer “invisible reality” aber auch erlösende Funktion zukomme (zit. S. 88). Dies entspreche wieder Schopenhauer, für den die Verneinung des Willens zum Leben zugleich Rezensionen 174 2 Ein Beispiel statt vieler anderer: Einmal erzeugt, einmal vernichtet die Eifersucht die Liebe. Cf. Marcel Proust (1972-1975). Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (werkausgabe edition suhrkamp), Bd. 9: Die Gefangene I (1975), p. 121 (“Die Angst [der Eifersucht] ist von neuem da, und ebenso die Liebe.”); p. 255 (“wie die Eifersucht die Liebe verdoppelt”); p. 201 (“Durch tausend [eifersüchtige] Vermutungen, die ich anstellte, suchte ich mein Leiden auszuschmücken, ohne damit meine Liebe wirklicher zu machen.”) eine Steigerung des ästhetischen Zustands bedeutet habe (s. S. 89). Weisheit, “wisdom”, sagt Beckett, bestehe nicht in der Befriedigung, sondern in der “ablation of desire” (zit. S. 90). Der Künstler definiere sich aber Beckett zufolge, so fährt die Vf. fort, nicht nur durch die außergewöhnliche Wahrnehmung der wahren Realität, sondern auch durch die “Suche nach dem adäquaten Ausdruck” (S. 91). Diese wird als Übersetzungsarbeit definiert. Becketts Fazit erscheint der Vf. - zu Recht - als widersprüchlich: Zum einen werde noch “Kunst als Gelingen” (und nicht als “Scheitern”) verstanden, zum anderen heiße es: “There is no communication because there are no vehicles of communication.” (Zit. S. 95) (Nebenbei bemerkt, scheinen mir Prousts Reflexionen und Sentenzen in der Recherche - zu Liebe, Eifersucht, Realität, Phantasie, Kunst, Erkenntnis und selbst zu Erinnerung - schon an sich häufig widersprüchlich-nichtstringent, zumindest vielgestaltig-diffus bzw. poetisch-nichtdiskursiv zu sein. 2 ) Das ästhetische Gelingen realisiert sich bei Proust, so Beckett, im Ersetzen von “intelligence” durch “affectivity” (zit. S. 96), in einer Art “Impressionismus” und in exakter, doch kontemplativer Perzeption, im Gebrauch von “Hieroglyphen” für die “Idee” als dem Nicht-Begrifflichen (S. 94), in Relativismus und Perspektivismus, in verfremdender Metaphorik und vor allem in einer der Musik analogen Verfahrensweise (S. 96ff.). Musik ist für Beckett - nach der uns aus Le Concentrisme bekannten Formulierung - “perfectly intelligible and perfectly inexplicable”, sie ist die “immateriellste […] aller Künste” (zit. S. 100 u. 102). Sie ist Prousts Muse. Wieder gilt Schopenhauer als Quelle, seiner Auffassung nach offenbart die Musik, so die Vf., das “tiefste Innere unseres Wesens”; Musik sei autonom, von der “erscheinenden Welt ganz unabhängig” (zit. S. 101f.). Im nächsten Kapitel hebt die Vf. aus den Kritiken und Briefen von 1934-37 einige Grundideen Becketts hervor, so vor allem den Gedanken des “Subjekt-Objekt- Problems”, d.h. der sich in der Moderne zeigenden “Kluft” zwischen Wahrnehmung und Welt (S. 108). So spreche Beckett in dem Artikel “Recent Irish Poetry” vom “breakdown of the object” und der “rupture in the lines of communication” (zit. S. 113). Diesen Bruch gelte es, so Beckett, anzuerkennen (wie dies z.B. Rimbaud, Eliot oder Pound getan hätten) und nicht zu vertuschen. In der Malerei, der sich Beckett nun verstärkt zuwendet, sei dieser Bruch offensichtlich zum Thema geworden. Beckett meint, beispielsweise Cézanne sei sich dieser Kluft voll bewusst gewesen und habe dies offengelegt, indem er Landschaft als “unapproachably alien” gesehen und auf jede Romantisierung und Symbolisierung verzichtet habe (zit. S. 118). Ähnliches äußere Beckett, so die Vf., im Hinblick auf den irischen Maler Jack Yeats. Die Vf. hebt sodann den Aspekt der aufkeimenden Sprachkritik hervor, der Beckett von seinen optimistischen Vorstellungen in Dante…Bruno. Vico…Joyce abgebracht habe. Vor allem die Rezeption Mauthners wird als die Quelle der neuen Rezensionen 175 3 Texte aus Disjecta werden zitiert unter “Disjecta” und Seitenangabe. Sprachskepsis hingestellt. Für Mauthner sei “Welterkenntnis” durch Sprache unmöglich; daher das Plädoyer für radikale “Sprachkritik” und letztlich für den “Selbstmord der Sprache” (zit. S. 123f.). Die Vf. sieht diese Gedanken in Becketts deutsch verfasstem Brief an Axel Kaun gespiegelt. Dort heißt es: “Ein Loch nach dem andern in ihr [der Sprache] zu bohren, bis das Dahinterkauernde, sei es etwas oder nichts, durchzusickern anfängt - ich kann mir für den heutigen Schriftsteller kein höheres Ziel vorstellen.” 3 (Disjecta: 52) Beckett gehe hier allerdings, so die Vf., von einer verhüllten “Sphäre jenseits der Sprache” (und nicht von einem Nichts) aus (S. 124). (Hier spiegelt sich vielleicht Prousts Vorstellung von der fast unzugänglichen wahren Realität.) Zersetzende Sprachkritik im sprachlichen Medium selbst sei nun das Ziel; ihre Vollendung, wie Beckett selbst sage, realisiere sich im “Schweigen” (S. 124). Obwohl Destruktion das Ziel dieses Verfahrens sei, könne man hier jedoch noch nicht von einer Poetik des “Scheiterns” sprechen (S. 127). Der Weg hin zu ihr, so scheint mir indessen, ist allerdings schon deutlich zu erkennen. In der Folge analysiert die Vf. den 1938 verfassten Text Les deux besoins, den auch Peter Brockmeier für einen zentralen und maßgeblichen hält (2001). Im Grunde gehe es hier um ein drittes Verlangen, den “grand besoin”, der sich Beckett zufolge aus der Überlappung der zwei Bedürfnisse bzw. Nöte ergibt und der als Brennpunkt das “schöpferische Selbstdenken”, die “autologie créatrice”, beinhaltet (zit. S. 129). Was hier ausgiebig zitiert, aber leider nur bruchstückhaft übersetzt und kaum erläutert wird, bleibt m.E. bei allem Bemühen letztlich doch rätselhaft. Die Illustration des Konzepts durch Hinweise auf das Verhältnis von rationalen und irrationalen Zahlen verdunkelt eher, als dass er erhellte. Das große Verlangen, auch “être besoin” genannt, unterscheidet sich, so der Gedankengang, radikal von den beiden anderen Bedürfnisse vom Typ “avoir besoin” (zit. S. 130). Dem “besoin dont on a besoin” (“avoir besoin de qc.”) wird das Zweite, der “besoin d’avoir besoin” (“besoin d’avoir qc.”), gegenübergestellt. Der “besoin dont on a besoin” könne, wenn er sich seiner selbst bewusst werde, über sich hinausgelangen (zit. S. 131). Beckett gibt seine Idee in Form eines Diagramms, in dem sich zwei gleichseitige Dreiecke überlagern, wieder. Die Überlagerung ergibt den “grand besoin”, “l’autologie créatrice”, wo der Künstler “se met à la question, se met en question, se resout en question, en question rhétoriques sans fonction oratoire” (zit. S. 133). Zugleich gilt dieser Ort als “Hölle der Unvernunft”, “enfer d’irraison”, und erweist sich als Ort einer “série de questions pures” (zit. S. 134). Die Vf. meint hier folgern zu müssen, dass die Kommunizierbarkeit dieses Ortes durchaus möglich ist und dass dieses Konzept Becketts offensichtlich die “Lebenspraxis” nicht ausschließe, sondern klar als Bedingung erkenne (S. 132, 135). Die “reinen Fragen” bringt die Vf. in plausibler Weise in Verbindung mit Becketts Satz über die “Löcher”, die in die Sprache zu bohren seien (S. 135). Beckett mache deutlich, dass dem großen Verlangen, “das auf nichts anderes verweist als auf die Notwendigkeit seines Wesens, ein irrationaler Faktor eigen sein muss” (S. 137): “l’être qui est besoin et la nécessité où il est de l’être” (zit. S. 134). Das große und reine Verlangen verweile “immerfort im Status des Verlangens” (S. 137). Die Vf. meint, dass dieses unstillbare Verlangen jener besondere Bewusstseinsmodus ist, den Beckett in Proust als “erste Natur des Menschen” Rezensionen 176 bezeichnet habe. Er erlaube dem Künstler “Einsicht in sein ureigenes Erleben” (S. 139). Den hier implizierten “Schaffensdrang” bezeichne Beckett in einer Studie zum Lyriker Denis Devlin als “need” (zit. S. 141). Auch von “pure interrogation” sei in diesem Essay wieder die Rede (zit. S. 142). Im Grund wird in der Studie der Vf. aber nicht klar, wie man sich die “deux besoins” vorstellen soll, wie sich das “Bedürfnis, dessen man bedarf” und das “Bedürfnis, ein Bedürfnis zu haben” eigentlich voneinander unterscheiden und was die Überlappung beider bedeutet; weder liefert die Verf. klärende Übersetzungen noch erhellende Erläuterungen. Bezeichnenderweise wird dann im praktischen Teil (S. 192ff.) auch kein einziges Mal auf diesen Text über die “besoins” Bezug genommen. Wie verhält sich das Konzept zu den Überlegungen in Proust bzw. bei Schopenhauer, wo vom Willen einerseits und der Willen-losen Kontemplation andererseits die Rede ist? Existiert hier eine Kompatibilität? Lässt sich der “grand besoin” vielleicht auf das “interesselose Wohlgefallen” Kants beziehen, das sich bekanntlich durch die Distanz gegenüber materiellen und auch gegenüber moralisch-praktischen Interessen bzw. Bedürfnissen oder Nöten auszeichnet? In der Besprechung der theoretischen Texte von 1945 bis 1966 geht es vor allem um Becketts Reflexionen über die Malerei, speziell um seine Freunde Bram und Geer van Velde. Den ersten Essay, “La peinture des van Velde ou le Monde et le Pantalon”, erschienen 1945/ 46, hat Beckett später als “Geschwafel” mit “apodiktischen Sätzen” charakterisiert (zit. S. 147). (Vermutlich hat der späte Beckett, der sich nach 1966 kaum mehr theoretisch artikulierte, in dieser Weise von allen seinen theoretischen Versuchen gedacht.) Statt für die Malerei einen “gesellschaftlichen Nutzen” zu beanspruchen, habe Beckett, so die Vf., vom “Kunstfreund” behauptet, er wolle “nur genießen” (zit. S. 148). Dementsprechend sei es für Beckett beispielsweise unsinnig, Jack Yeats, der nur unter “ästhetischen Gesichtspunkten” zu begreifen sei, als irischen Nationalmaler zu klassifizieren (S. 149). Maler oder Kunstfreund: “Il ne pense qu’a son plaisir” (zit. S. 151). Beckett könne, so sagt er selbst, nur wiedergeben “ce que je les vois faire” (zit. S. 154). In “Le Monde et le Pantalon” wie auch in “Peintres de l’empêchement” zeige Beckett die unterschiedlichen Wege auf, die die beiden Maler-Brüder gegangen seien, wobei er aber letztlich seine Vorliebe für Bram van Velde verrate, dessen abstrakte Bilder von 1940/ 41 er wegen ihrer “mondartigen Leere” (“un vide lunaire”) bevorzuge (zit. S. 155). Seine Objekte finde Bram van Velde “im Inneren seines Schädels” (zit. S. 155). Beide Maler gingen von der Erkenntnis aus, dass “grundlegende Probleme der Darstellung nicht lösbar seien” (S. 156). Diese Malerei “ohne bildnerische Mittel” und ohne “Ausdruck”, so die Vf., denke die moderne Idee “von der Loslösung der gestalterischen Mittel von ihrer Repräsentationsfunktion” konsequent weiter (S. 157). In “Peintres” fasse dann Beckett wenig später zusammen: “Ici […] [e]st peint ce qui empêche de peindre” (zit. S. 157). (Zu bedauern ist, dass die Vf. hier keinerlei Reproduktionen der schwer zugänglichen Werke der Brüder van de Velde einfügt, aber auch nicht durch nähere Deskription den reichlich abstrakt bleibenden Thesen einige Anschaulichkeit vermittelt.) Eine Paradoxie tut sich auf, die auch die Vf. nicht auflöst: Durch die Verneinung von Ausdruck und bildnerischen Mitteln gelinge es dennoch, das “reine Objekt” zur Ansicht zu bringen: “C’est la chose seule, isolée par le besoin de la voir, par le besoin de voir.” (Zit. S. 159) (An dieser Stelle wäre auch ein Rückblick auf die Reflexionen über das Sehen im Essay Les deux besoins sinnvoll gewesen; vgl. dazu S. 133.) Rezensionen 177 In “Peintres de l’impêchement”, veröffentlicht 1948, geht es erneut um die “Maler der Verhinderung”, G. und B. van Velde; beide seien bereit, der Subjekt-Objekt-Krise nicht mehr auszuweichen (S. 163). “L’objet de la représentation resiste toujours à la représentation” (zit. S. 164). Die surrealistische Malerei hält Beckett für “intellektuelle Ideenkunst” und vergleicht deren Oberflächlichkeit mit jener der Realisten (S. 164f.). Die Unmöglichkeit der Objekt-Repräsentation sei indessen immerhin von Malern wie Matisse, Braque oder Kandinsky durchaus erkannt worden, doch erst die van Velde hätten diese Unmöglichkeit bzw. Ohnmacht fruchtbar gemacht. Während G. van Velde sich um ein “Enthüllen ohne Ende […] auf das Unenthüllbare hin” bemühe, gehe es B. van Velde um ein “Einhüllen” und eine “Einkerkerungskunst” (zit. S. 168). Ein letztes Mal beschäftigt sich Beckett mit den van Velde bzw. nur mehr mit Bram van Velde in Three Dialogues von 1949, in denen “B.” und “D.”, der Vf. zufolge, für Beckett und den Kunstkritiker Duthuit bzw. für den irrationalen Phantasten einerseits und den kühlen Logiker andererseits stehen. Tal Coat gilt, ähnlich wie der frühe Matisse, als Maler unvollständiger Objekte, Masson als Maler der “Leere” (“the void”, zit. S. 179), der sich noch am Begriff des Ausdrucks festhalte und doch zugleich an ihm aufreibe, aber sich jedenfalls nicht der Ohnmacht des Künstlers unterwerfe. Bram van Velde habe sich demgegenüber als erster dieser Situation gestellt und ihr voll zugestimmt: “to be an artist is to fail” (zit. S. 179; s. S. 170-180). Eine hoffnungslose Situation: “in the event [he] cannot paint, since he is obliged to paint” und: “in the event [he] paints, since he is obliged to paint.” (Zit. S. 180) Woher die Hilflosigkeit? “Because there is nothing to paint and nothing to paint with.” (Zit. S. 180) Die Mittel (als Mittel der Darstellung oder des Ausdrucks) sind obsolet. Die Vf. bringt an dieser Stelle die “obligation to paint” mit dem großen “besoin”, das sich rationalem Verstehen entziehe, in Verbindung (S. 181). Bram van Velde sei - Beckett zufolge - der erste gewesen, dessen Hände nicht durch die Gewissheit, “that expression is an impossible act”, gelähmt worden seien (zit. S. 182). Die Abscheu vor vorgetäuschtem “Können” kennzeichne diesen Maler, den “B.” auch als “inexpressive” charakterisiere (zit. S. 183). Inhalt, Mittel, Veranlassung, Vermögen, ja auch Bedürfnis spielen keine Rolle mehr. Die nicht-expressive Expression expliziert “B.” folgendermaßen: “The expression that there is nothing to express, nothing with which to express, nothing from which to express, no power to express, no desire to express, together with the obligation to express.” (Zit. S. 183) Die Verpflichtung zu konsequentem Scheitern ist das Ziel: Bram van Velde sei der erste gewesen, der erkannt hatte: “to admit to be an artist is to fail, as no other dare fail, that failure is his world and the shrink from it desertion, art and craft, good housekeeping, living” (zit. S. 185). Damit ist nach der Vf. der teleologische Gang der Reflexion an sein Ziel gekommen. Zu Recht geht sie davon aus, dass alle Reflexionen Becketts über die Kunst sich letztlich auf ihn selbst und seine eigene Entwicklung beziehen. Mehrfach bringt sie eine Bemerkung Bekketts aus einem Gespräch mit Israel Shenker zur Geltung: “I’m working with impotence, ignorance. I don’t think impotence has been exploited in the past. There seems to be a kind of esthetic axiom that expression is achievement - must be an achievement.” (Zit. S. 190) Meines Erachtens könnte Endgame als Beispiel für die Realisierung der zentralen Anliegen Becketts genommen werden. Dort herrschen die “Fragen” ohne Antwort, dort werden in die erwartbare Sprache “Löcher” gebohrt, dort gibt es weder eine Objekt-Repräsentation noch eine Form von Ich-Ausdruck, dort verkehrt sich der Joyce’sche Wortreichtum in Armut, dort erscheint die Handlung als ein Rezensionen 178 4 Hier versteckt sich eine zentrale Gemeinsamkeiten ansprechende - Anspielung auf Joyce. Cf. James Joyce (1960). Ulysses. London: The Bodley Heade, p. 60 und 175 (“allwombing tomb”, “tomb womb”). auswegloses Scheitern und verläuft nach eigenen Gesetzen: “Irgend etwas geht seinen Gang”. (1976: 110) Aber nicht an diesem Stück, sondern an der Prosa Becketts versucht die Vf. die theoretischen Ideen des Autors zu illustrieren (S. 200-239). Dies geschieht auf leider nur wenigen Seiten und leider in der Form, dass fast ausschließlich explizite Äußerungen herangezogen werden und nicht die Gestalt der Werke mit ihrer Fülle von Implikationen betrachtet wird. Zunächst geht es um die Prosa von 1929 bis 1936: Assumption, Dream of Fair to Middling Women, More Pricks than Kicks und Murphy. In Dream gehe der Erzähler mit der Künstlichkeit und Lebensferne von Balzac und dem Credo der Naturalisten ins Gericht (s. S. 200f.). Es gehe Beckett und seinem Erzähler um die Enthüllung von Bereichen, die dem konventionellen Roman verschlossen blieben (s. S. 202). Die Figuren würden so komponiert, dass ihr Eigenleben und ihre Vielgesichtigkeit keine Festlegungen und keine Integration in ein kohärentes Textgefüge erlaubten; der Versuch, sich dem Formlosen und der Diskontinuität der Realität anzunähern, drohe den Text zu sprengen (s. S. 204). Die Absicht des Erzählers, die auch Flächen schrecklichen Schweigens (“terrible silences”, zit. S. 206) anstrebe, werde aber de facto nicht realisiert. Anders als in Dream käme allerdings in Assumption, More Pricks than Kicks und in Murphy mit dem Tod der Hauptfigur eine Annäherung an ein solches Schweigen zustande. In Assumption fürchte der Held, in einen Schrei ausbrechen zu müssen; als dieser “Dammbruch” schließlich erfolge, sterbe er (S. 208). In More Pricks than Kicks sterbe der Held an einer Überdosis von Narkosegas und Murphy komme - in ähnlicher Weise - durch eine Gasexplosion um. Alle Figuren der frühen Texte kennzeichne künstlerischer Ehrgeiz und die Zerrissenheit zwischen den Anforderungen der Lebenspraxis einerseits und dem Bedürfnis, sich in den Mikrokosmos des Geistes zurückzuziehen, andererseits. Belacqua in Dream möchte sich in den Bereich des “Limbo and the wombtomb” 4 zurückziehen, Murphy meditiere in seinem Schaukelstuhl (zit. S. 210). Murphy, den es in die Irrenanstalt ziehe, wo er der “großen Welt” zu entkommen suche, schwärme darüber hinaus auch von der Abgeschlossenheit der Gummizelle, der “little world” (zit. S. 211). Dennoch könne er nicht den letzten Schritt tun, er sei auf das Guckloch in der Zelle und damit auf das percipi, das Wahrgenommenwerden, d.h. die “große Welt”, noch immer angewiesen (S. 212). Hier zieht die Vf. eine Parallele zu Becketts Proust und den Begriffen der “ersten” und der “zweiten Natur”, d.h. Kontemplation und Lebensinstinkt (S. 211). Einen Bezug zu den “deux besoins” und den Reflexionen über die Malerei stellt die Vf. leider nicht her. Im Kampf zwischen den beiden Naturen zerreiben sich - ihr zufolge - die Helden der frühen Prosatexte; stets seien sie genötigt, Zugeständnisse an die zweite Natur zu machen. Konsequenterweise scheiterten dann auch die literarischen Projekte der jeweiligen Erzähler (s. S. 213). In Murphy zeige sich andererseits, dass das Eintauchen in die “kleine Welt”, wenn es denn kompromisslos geschehe, notwendig zur Zerstörung führen müsse: Murphy sei in dem Moment völlig isoliert, als er in Mr. Endons Augen dessen völlige Abgekehrtheit und Isoliertheit wahrnehme, d.h. sein, Murphys, Nicht-Wahrgenommen- Rezensionen 179 Werden klar erkennt. Die Konsequenz sei, dass er sich auflöse, d.h. der Gasexplosion zum Opfer falle (s. S. 215f.). (Es wird hier nicht deutlich, ob dieser Aspekt der “ersten Natur” aus Proust parallel gesetzt wird.) Die Tode der Helden der frühen Prosa erweisen sich der Vf. zufolge dementsprechend als “poetologische Morde” (S. 216). Ihnen fielen auch die ratlosen Erzähler, die das sich andeutende unnennbare Chaos nicht zu bewältigen in der Lage seien, zum Opfer. (Sie verstehen es sozusagen noch nicht, produktiv zu “scheitern”.) Im nächsten Kapitel behandelt die Vf. die Prosa nach 1946: Molloy, Malone meurt, L’Innommable, Le Dépeupleur und Worstward Ho. Die neue Welt, die sich nun zeige, sei mehr und mehr eine “monde mentale”, “das Leben” werde mehr und mehr ausgeblendet (S. 220). In L’Innommable seien die Ablösung von der Außenwelt und der Reduktionsprozess an ein Extrem gelangt. Angaben zu Ort und Ich seien nun unmöglich geworden. Das sprachlich nicht fassbare Sein des Namenlosen ist, so die Vf., eben nicht sagbar (s. S. 221). Indem der Erzähler zu keinen Gewissheiten gelange, realisiere sich sein “Scheitern” (S. 223). Und so findet die Vf. in L’Innommable denn auch ihr entscheidendes Stichwort vom “Scheitern”: “je suis en train d’échouer”. (Zit. S. 223) Über sein Alter Ego, Worm, urteilt der Erzähler treffend: “Ne sentant rien, ne sachant rien, ne pouvant rien, ne voulant rien.” (Zit. S. 224) Das erinnert in der Tat an die Three Dialogues (“nothing to express, nothing with which to express, nothing from which to express, no power to express, no desire to express, together with the obligation to express”) und an das Bekenntnis: “I’m working with impotence, ignorance”. Und auch jener Zwang, jene “Obligation”, wird in L’Innommable - und zwar unentwegt - zur Sprache gebracht: “il faut continuer, je ne peux pas continuer, il faut continuer, je vais donc continuer.” (Zit. S. 226) Inszeniert werde, so die Vf., ein permanentes Scheitern; im Gegensatz zu den Erzählern des Frühwerks gäben die Erzähler jetzt nicht mehr auf, sie gelängen nicht an den Punkt eines endgültigen und totalen Scheiterns; es gehe bei diesem permanenten Scheitern um ein bloßes Weitermachen, ein Sinn-freies Weitermachen. Natürlich hat die Vf. hier eine treffende Parallele von Theorie und Praxis hervorgehoben, allein, sie spitzt alles ausschließlich auf dieses “Scheitern” zu, zeigt jedoch nicht, worin die Kunst des Scheiterns - eine eklatante Paradoxie - denn eigentlich besteht, was uns dieses “Scheitern” denn interessant macht, und sie betrachtet praktisch nur die Explikationen, nicht aber, wie gesagt, die Gestalt der Werke und ihre vielfältigen Implikationen. Man ist versucht, sich unbedingt eine weitere Studie zu wünschen, die dieser Aufgabe detailliert nachkäme, nachdem sie Becketts Theoreme noch einmal aufgerollt hätte. Zum Depeupleur bemerkt die Vf., dass das Stück als Parabel des Menschenlebens gesehen werden könnte; sie weist aber wieder, ihrem Thema treu bleibend, auf das Scheitern des Erzählers hin: Die von ihm entworfene Welt sei nicht stimmig, sie erscheine bewusst als bloße Konstruktion. “Das Prinzip des sicheren Verfehlens - das Scheitern - ist dem Text eingeschrieben.” (S. 231) Natürlich ist auch der Inhalt des Textes ein Scheitern: Im höllengleichen Zylinder erschlaffen die Personen, die Leitern hochklettern, mehr und mehr, die Zahl der Erschöpften, “Besiegten”, nimmt zu - ohne dass dieser Prozess doch jemals an ein Ende gelangen würde (S. 229ff.). In Worstword Ho ist der Vf. zufolge das Scheitern besonders konsequent in Szene gesetzt worden. Auch hier gibt es nur ein “Weitermachen” ohne Fortschritt. Das Selbstgespräch des Erzählers, ohne Ort, ohne Personalität, ohne Bild, bringt Rezensionen 180 erneut das essentielle Stichwort: “Fail again. Fail better.” (Zit. S. 234) Das Sprechen selbst schon erscheint als Verfehlung. Das “Missgesagte” führt bis zum Nicht-Machbaren, zum “nohow on”, und bis zum “unworsenable worst.” (Zit. S. 234f.) Hier werde die Spitze des “unverhohlenen Scheiterns” erreicht: “I’m working with impotence, ignorance.” (Zit. S. 237) In Worstward Ho gibt es sozusagen fast nur Explikationen, das erleichtert es der Vf., Parallelen zwischen theoretischen und literarischen Äußerungen Becketts festzustellen. Auch L’Innommable enthält zahllose Explikationen, die an Becketts theoretische Äußerungen erinnern. Gleichwohl muss nochmals gesagt werden, dass Form und Substanz der literarischen Werke nicht wirklich erkundet werden, um dann mit Gewinn auf die theoretischen Ideen Becketts bezogen werden zu können. Außerdem ist zu bedauern, dass im Praxisteil - zur Verwunderung des Lesers - nur sehr vereinzelt auf die Theoreme Becketts zurückgegangen wird; das zur Theorie Zusammengetragene wird also leider nur in wenigen Verweisen für die Betrachtung der literarischen Praxis fruchtbar gemacht. Wie zu sehen war, wird insbesondere ein Bezug zum Essay über die “deux besoins” überhaupt niemals hergestellt. Auch ist verwunderlich, dass wichtige Prosawerke wie die Textes sur rien und L’Expulsé, Le Calmant, La Fin oder auch Comment c’est und Company überhaupt nicht betrachtet werden. Es ist bedauerlich, dass die Vf. die Dramen - Godot, Endgame, Krapp’s Last Tape, Happy Days - und die späten kurzen Stücke (wie etwa Play, That Time, Not I, Nacht und Träume usw.) überhaupt nicht betrachtet hat. Es wird nur ganz knapp darauf hingewiesen, dass in den Dramen die fruchtlose Suche nach Bedeutungen inszeniert werde, dass als ihr Grundprinzip der Satz aus Endspiel gelten könne: “Irgend etwas geht seinen Gang.” (Zit. S. 238) Eine Verknüpfung zwischen den dramatischen Werken und Becketts theoretischen Äußerungen, insbesondere den Texten über Malerei, dem Brief an Axel Kaun und der Arbeit über die “deux besoins”, hätte Fruchtbares zutage fördern können. Man darf allerdings die Studie nicht überfordern; auch die Welt wurde nicht an einem Tage gemacht, sondern in 13,7 Milliarden Jahren. So hinterlassen die knappen Ausführungen über Becketts Praxis letztlich mehr Fragen als Antworten. Das soll indessen nicht heißen, dass in der Studie der Vf., vor allem im theoretischen Hauptteil, nicht eine beeindruckende Bestandsaufnahme geleistet und eine Summe von höchst relevanten Reflexionen zusammengetragen worden ist. Es ist richtig, dass sich Beckett nach 1966 kaum mehr theoretisch äußerte; hat er sich endgültig von seinem “Geschwafel” und seinen “apodiktischen Sätzen” (zit. S. 147) distanziert? Zum Abschluss sei eine späte - von G. Schubert nicht berücksichtigte - Bemerkung (von m.E. großer Tragweite) zitiert, die implizit auch andeutet, weshalb sich Beckett schließlich weitgehend theoretischer Äußerungen enthielt: “Endspiel wird blosses Spiel sein. Nichts weniger. Von Rätseln und Lösungen also kein Gedanke. Es gibt für solches ernstes Zeug Universitäten, Kirchen, Cafés du Commerce usw.” (Beckett 1983: 114) Bibliographie 1. Theoretische Texte von Samuel Beckett (1965). Proust. In: Samuel Beckett. Proust. Three Dialogues: Samuel Beckett & Georges Duthuit. London: John Calder. 7-93. Rezensionen 181 (1983). Bram van Velde. In: Beckett (1983). 151. (1983). Dante … Bruno . Vico … Joyce. In: Beckett (1983). 19-33. (1983). Disjecta: Miscellaneous Writings and a Dramatic Fragment. Hg. von Ruby Cohn. 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Is not theory singularly inadequate in times often designated as postcommunist and postcolonial, times that also force us to confront the conse- AAA Band 34 (2009), Heft 1