eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 38/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
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2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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2013
381 Kettemann

Kurt Schlüter, Polyhymnia: Demokratische Heldenverehrung nach antikem Vorbild in Jugendgedichten von S.T. Coleridge. (Paradeigmata 16). Freiburg: Rombach, 2011.

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2013
Cristoph Bode
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Rezensionen AAA Band 38 (2013) Heft 1 72 Kurt Schlüter, Polyhymnia: Demokratische Heldenverehrung nach antikem Vorbild in Jugendgedichten von S.T. Coleridge. (Paradeigmata 16). Freiburg: Rombach, 2011. Christoph Bode Auf den ersten Blick scheint diese kleine Abhandlung des verdienten Freiburger Anglisten Kurt Schlüter wie seltsam aus der Zeit gefallen: Mit seinen etwa 71 Seiten (zu denen freilich noch einmal sieben Seiten back matter kommen) hat der Text einen Umfang, der ihn für die Herausgeber wissenschaftlicher Fachzeitschriften als Aufsatz zu lang, für Verlagslektoren als Monographie aber viel zu kurz scheinen lässt. Schön, so denkt man, dass sich hier ein Autor geweigert hat, das, was er zu sagen hat, auf das Prokrustes-Bett solcher formalen Sachzwänge schnallen zu lassen, und der dazu einen Verleger fand, der einsah, dass nicht immer der Schwanz des etablierten Formats mit dem Hund des wissenschaftlich Angemessenen, das doch sein eigenes Maß ist, wedeln darf. Gegenstand von Schlüters Untersuchung ist eine Serie von Sonnets on Eminent Contemporaries, die der junge Samuel Taylor Coleridge “vor mehr als 200 Jahren” (7) in der Morning Chronicle publizierte. Diese Sonette, so Schlüter, seien Beispiele des sogenannten Heroischen Sonetts (vgl. dazu Schlüter 2007), Preisgedichte auf herausragende, vorbildliche Menschen ihrer Zeit, deren Verherrlichung im jeweiligen Gedicht in ihrer Vergöttlichung gipfele. Dazu verwende, so Schlüter, das Heroische Sonett die rhetorische Gestalt der antiken Gebetshymne, mit der typischen Abfolge von invocatio (feierliche Anrufung einer Gottheit), dynamis (preisende Beschreibung ihrer Macht und ihrer Kräfte) und preces (an die Gottheit gerichtete Bitte). Dem jungen Coleridge sei diese Form von den Oden Thomas Grays und William Collins’ bekannt gewesen, wesentlich für diese seine Sonett-Folge sei aber das Vorbild Miltons mit den Sonetten der Fairfax, Cromwell, Vane-Gruppe gewesen - nur habe das bislang merkwürdigerweise noch keiner erkannt. Nach den hinleitenden Teilen “Vorrede” (7-9) und “Antiker Heroenkult und neuzeitliches Heroisches Sonett” (11-16) wendet sich Schlüter der Analyse von sechsen dieser Folge zu und zwar den Sonetten an, auf oder über (diese Präpositionen scheinen mir nicht unwichtig) Joseph Priestley, Richard B. Sheridan, Edmund Burke, William Pitt jr., La Fayette und Tadeusz Kosciuszko (wozu man noch das auf die Himmelfahrt des Grafen Stanhope zählen kann, das im zweiten Teil behandelt wird). Des Verfassers Ausführungen sind immer sehr informativ und gelehrt. Man erfährt viel über textliche und mythische Anspielungen, formale Vorläufer, auch Zeitgeschichtliches und Biographisches zu diesen Persönlichkeiten. Anderes dagegen bleibt auffällig vage: Wann genau erschienen diese Sonette? Von Dezember 1794 bis Januar 1795. Das wird aber bei Schlüter nirgends klar gesagt, man muss es dem Band 16 der Collected Works (sog. Bollingen Edition) entnehmen - oder der vorzüglich annotierten Norton Critical Edition von Coleridge’s Poetry and Prose (eds. Nicholas Halmi, Paul Magnuson, Raimonda Modiano). Wie viele Sonette Rezensionen AAA Band 38 (2013) Heft 1 73 waren es denn insgesamt? Elf. Bei Schlüter steht das nicht, ebenso wenig wie er darlegt, warum er diejenigen auswählte, die er auswählte, und andere beiseiteließ, wie etwa das an die Schauspielerin Sarah Siddons oder das an William Godwin, den Autor von Political Justice. Nun sollte man meinen, wenn einer schon so selektiv vorgeht (was ihm ja unbenommen ist! ), dann müssten wenigstens die ausgewählten Gedichte besonders deutliche Beispiele für das “Paradigma Heroisches Sonett” (59) sein, für “diese kleine Unterart der lyrischen Dichtung” (27), zumal ja auch eingeräumt wird, dass “[n]icht alle Texte der Serie auf den ersten Blick dem Paradigma des Heroischen Sonetts zuzuordnen” sind (32). Doch weit gefehlt! Coleridges “Sonnet: To Burke” ist - wie man sich leicht denken kann - gar nicht der Versuch, diese Galionsfigur der Reaktion zu vergöttlichen: Es ist vielmehr eine bittere Abrechnung (der allegorischen Figur der Freiheit in den Mund gelegt) mit dem verblendeten Kritiker der Französischen Revolution, den die Freiheit noch nicht wieder an ihre Mutterbrust drücken kann, solange sein Auge noch von Irrtum verunklart ist (“That error’s mist had left thy purged eye: / So might I clasp thee with a Mother’s joy! ”). Anfangs wollte Coleridge Burke noch zugutehalten, wenigstens bestechlich sei er nicht gewesen (vgl. Z. 9) - wenig später aber annotierte er in einem Nachdruck, diese Annahme sei leider falsch gewesen, Burke sei für seinen politischen Lagerwechsel mit Pensionen in Höhe von £ 3.700 pro Jahr belohnt worden. Von Schlüter ist dieses Detail von Coleridges abermals gesteigerter Enttäuschung jedoch nicht zu erfahren. Zwar weiche der Text in seinem dynamis-Teil von der Konvention eindeutig ab (44) - es werden nicht lobenswerte Taten geschildert, sondern “ziemlich klägliche[s] Versagen” (44) - , aber man könne sich “vorstellen, dass Coleridge aus dem Heroischen Sonett, einem rhetorischen Instrument für den Ausdruck höchster Bewunderung, nicht sogleich [sic! ] ein Werkzeug leidenschaftlichen Verdammens machen wollte” (47). Weil dem Sonett das typische happy ending fehle, werde “das Geschehen aber nicht entschieden abgeschlossen” (47). Das ist schon ein merkwürdiges Heroisches Sonett, das vor allem von den Irrtümern des Gepriesenen handelt und ihm Versöhnung verweigert, solange er im Irrtum verharrt. Ende offen? Bei dem Sonett auf den verhassten Premierminister William Pitt jr. ist es aber nicht anders: Selbstverständlich fällt hier auch Schlüter auf, dass die Abneigung gegen Pitt, ja seine Verteufelung so weit geht, dass man von einem “Anti-Heroischen Sonett” sprechen müsse (49-58). Aber auch das mit den “Bauelementen” (57) der Gebetshymne will hier (wie anderswo) nicht so recht aufgehen: Die preces richtet sich ja nicht etwa an den Heroen, sondern an die Figur Mercy, sie möge, da ja ihrer strengeren Schwester Justice die Hände gebunden sind (durch Pitt! ), ihre Donnerkeile umso kräftiger gegen den Elenden schleudern. Wahrlich eine interessante Transformation des Heroischen Sonetts! Nun war aber ja nur zu erwarten, dass, wenn ein junger Parteigänger der Revolution und Anhänger republikanischer Ideen wie Coleridge sich dichterisch mit den Gegnern der Revolution befasst, das Modell ‘Heroisches Sonett’ so weit nicht würde tragen können. Wie aber nun, wenn er sich seinen verehrten Vorbildern zuwendet? Im Priestley-Sonett fehlt mindestens ein wesent- Rezensionen AAA Band 38 (2013) Heft 1 74 liches Element des Heroischen Sonetts, nämlich die Anrede des Protagonisten - sein Name wird lediglich genannt. Zum Sheridan-Sonett bemerkt Schlüter gleich zu Anfang, es schiene sich am weitesten vom Paradigma zu entfernen (31) - “dieses Gedicht [kommt] ohne den Versuch der Andeutung oder gar der Darstellung einer Apotheose aus” (32). (Aber die fehlte auch schon beim Priestley-Gedicht.) Wenngleich: “Analytiker, die von der These ausgehen, dass beide Texte [das Sonett auf Priestley und das auf Sheridan] der gleichen Art angehören, werden [...] auch in letzterem noch formale Relikte dieser Gattung sowie Reste einer mythologisch-informierten Phantasie erkennen können” (32). Mit diesem Trick werden schließlich auch die beiden noch ausstehenden Sonette (auf La Fayette und Koscuiszko) ins Corpus zurückgeholt: “Wenn ihre Zugehörigkeit zum Paradigma Heroisches Sonett nicht sogleich [wieder diese Formulierung! ] erkannt wird, so mag das dem Erfindungsreichtum des Verfassers zuzuschreiben sein, seiner Freude an kreativer Verwandlung und Weiterentwicklung” (59). Selbst wenn im Gedicht auf den polnischen Freiheitskämpfer die “entscheidenden strukturbildenden Merkmale” (61) so rigoros reduziert sind, “dass die Gattung kaum wiederzuerkennen ist” (66)? Das scheint mir die entscheidende Frage zu sein: Wie weit muss sich eigentlich ein Gedicht vom Modell des Heroischen Sonetts entfernen, um nicht mehr ‘Heroisches Sonett’ genannt werden zu können? Nach Schlüter sehr weit. Das könnte auch erklären, weshalb niemand außer Schlüter diese Sonette bislang als Heroische Sonette begriffen und weshalb nur Carl Woodring anno 1961 sie überhaupt als eine Gruppe behandelt hat (aber auch nur in politisch-inhaltlicher Hinsicht). Das ist des Pudels Kern: Auch die Herausgeber der Standard-Werkausgabe betrachten diese Sonette nicht einmal als “ein Gesamtwerk” (geschweige denn eine Folge von Heroischen Sonetten), wie Schlüter auf Seite 52 einräumt (obwohl diese Herausgeber an der Verweisstelle sagen, Coleridge “did not think of them as a group” - was ja schon etwas anderes ist). Coleridge selbst fasste sie 1796 mit einer Reihe anderer Gedichte unter “Effusions” zusammen und publizierte sie auch unter diesem Titel neu. Voran stellte Coleridge dieser neuen Sammlung ein Zitat aus den Fourteen Sonnets (1789) des von ihm hochverehrten William Lisle Bowles - er war sein Vorbild in formaler wie in inhaltlicher Hinsicht für all diese Sonette. Bei Schlüter aber fehlt jeder Hinweis auf Bowles (wie auch das Sonett “To Bowles” selbst) und die Information über das Aufgehen der Sonnets on Eminent Contemporaries (und das sind eben heroes and villains) in der Sammlung Effusions (die zarten, höchst verhaltenen Andeutungen oben auf Seite 50 und in Fußnote 34 können da wohl nicht ernsthaft zählen). In den abschließenden Teilen “Das Motiv der Apotheose in der propagandistischen Kunst des Absolutismus” (69-73), “Nachwirkungen des antiken Heroenkults in der modernen Demokratie” (75-78) und dem angehängten Exkurs “Über den Versuch, eine neue literarische Mythologie zu erschaffen” (79-85) geht es um Rubens’ Gemälde der Himmelfahrt James’ I., um die Freiheitsstatue in New York und das Lincoln Memorial in Washington sowie, überraschenderweise, nicht etwa um Byron, Shelley und Keats, sondern um Milton, Gray und Collins. Thematisiert wird also leider nicht der funktionalisie- Rezensionen AAA Band 38 (2013) Heft 1 75 rende Hellenismus der zweiten Generation der englischen Romantiker und ihre - wie T.S. Eliot ein ähnliches Vorgehen bei sich und James Joyce nannte - mythologisierende Methode (was vielleicht nahegelegen hätte), sondern abermals ein Vorläufertum, dessen mögliche Bedeutung mir jedoch eher behauptet als bewiesen zu sein scheint. Gerade weil diese letzten drei Teile nicht zwingend zu Schlüters Abhandlung gehören, muss man wohl das Eingangsurteil auf den zweiten Blick revidieren: Dieser Text hätte sich durchaus kürzen lassen, ohne dass Wesentliches verlorengegangen wäre, zumal sich auch bestimmte Informationen und Einschätzungen wiederholen (was wiederum auffällig mit der Vagheit oder dem Verschweigen anderer Punkte kontrastiert). Bisweilen stolperte der Rezensent über Ausdrücke wie “Kunstwille” (7) oder “Gestaltungswille des jungen Genies” (67). Das Apodiktische der Aussage, der pädagogische Wert dieser Gedichte sei “unvergänglich” (8), ließ ihn genauso perplex zurück wie die Mitteilung, “[a]ls Ambiguität wird in der englischen Sprache die Fähigkeit bezeichnet, einen Kuchen zu essen, aber ihn dennoch zu behalten” (33). Doch da liegt nicht das Hauptproblem dieser Studie, scheint mir. Es besteht vielmehr in der konkreten, praktischen Beantwortung der alten hermeneutischen Frage, bis zu welchem Punkt ein Begriff (wie etwa ‘Heroisches Sonett’) eigentlich noch eine den Text aufschließende Wirkung haben kann und von welchem Punkt an er den Zugang eher verstellt. Dass man sich diesem Punkte nähert, merkt man in der Regel an der Zunahme von Selektion, von Ausblendungen und an der Dehnung und Streckung von Konzepten, bis sie ihr ursprüngliches Gegenteil bedeuten. Prokrustes eben - zwar nicht in der Form, aber im Inhalt. References Schlüter, Kurt (2007). “Politik und Mythos: Das Heroische Sonett.” Anglia 125. 411-429. Christoph Bode Institut für Englische Philologie LMU München