Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
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0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
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KettemannElke Mettinger, Margarete Rubik, Jörg Türschmann (eds.), Rive Gauche. Paris as a Site of Avant-Garde Art and Cultural Exchange in the 1920s. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 144). Amsterdam & New York: Rodopi, 2010.
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Stephan Laqué
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Rezensionen AAA Band 38 (2013) Heft 1 79 Elke Mettinger, Margarete Rubik, Jörg Türschmann (eds.), Rive Gauche. Paris as a Site of Avant-Garde Art and Cultural Exchange in the 1920s. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 144). Amsterdam & New York: Rodopi, 2010. Stephan Laqué Die Anziehungskraft von Paris ist ungebrochen. Innerhalb der hochzentralisierten grande nation ist die Hauptstadt ein Dreh- und Angelpunkt der Macht, der Waren- und Verkehrsströme, des kulturellen Lebens und des nationalen Selbstverständnisses, der alle Ambitionen von Lyon, Marseille und Bordeaux zu hilflosen provinziellen Gesten reduziert. Bekanntlich bezieht in diesem Frankreich auch Verleihnix, der Fischhändler eines legendär unbeugsamen gallischen Dorfes, das in der Normandie direkt am Meer liegt, seinen Fisch nicht aus den Fanggründen vor seiner Haustür, sondern aus les halles in Paris - nicht immer frisch, aber dafür aus Lutetia, jenem Ort am Mittellauf der Seine, der trotz seiner erheblichen Distanz zum Meer natürlich auch der Mittelpunkt der französischen Seefischerei ist. Paris behauptet seine gleichsam zentripetale Anziehungskraft weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. Die Stadt ist eine willige Projektionsfläche für Kulturfreunde, Teilzeitbohémiens, Gourmets und Verliebte aus allen Teilen der Welt, die Paris erleben wollen, die Stadt zugleich aber zuallererst konstruieren und das Konstrukt in Textform (als Photographie, Brief, Zeichnung, Film, Reisebericht oder Erzählung - in touristisch-gelegentlicher oder in künstlerisch-kanonfähiger Form) verbreiten und für weitere Zuschreibung und Bearbeitung öffnen. Im Mittelpunkt eines solchen kulturellen Städtebaus steht zumeist eine besonders bedeutsame Epoche der betreffenden Stadt: London unter Königin Elisabeth I., das Venedig der Serenissima, München zur Zeit König Ludwigs II., das Wien der K u. K-Monarchie und eben das Paris der années folles der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Dieser Zeitraum im Paris des frühen 20. Jahrhundert, „an unequalled decade of artistic and creative achievements“ (7), steht im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes, der es, so der Klappentext, unternimmt, „to do justice to the polyphony of voices and point up the synergies that existed between the creative activities.“ Innerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschungsliteratur zu Paris ist dies ein ebenso naheliegendes wie lohnendes Unterfangen und in fünfzehn eigenständigen Kapiteln tritt der Band den Beweis an, dass zu dieser vielbetrachteten Epoche in der ebenso vielbetrachteten Metropole Paris längst noch nicht alles Wichtige gesagt ist. Die Einleitung präsentiert den Gegenstand des Bandes mit Michail Bachtin - und zwar nicht nur als Chronotop (7), sondern auch als Karneval, wobei die rive gauche als „carnivalesque collectivity bound together by ‚unofficial‘ ways of living and of creativity“ erscheint und Raum bietet für „carnivalesque renewal, spring, transition or even a turning of things upside down“ (8). Auf den folgenden Seiten führt die Einleitung diesen Reigen als ein Panorama der unterschiedlichen Künste vor: Malerei, Mode, Musik, Tanz, Photographie, Film und natürlich Literatur, der die bei weitem größte Aufmerksamkeit in Rezensionen AAA Band 38 (2013) Heft 1 80 diesem Band geschenkt wird. Zu Beginn werden hier jene wohlbekannten Namen zusammengeführt, die man mit Paris und dem Modernismus in Verbindung bringt: Ernest Hemingway, Josephine Baker, Coco Chanel, André Kertész, Igor Stravinsky, Max Ernst, Gertrude Stein, Marc Chagall und viele andere, die dem Sog des Paris der 20er Jahre folgten. Allerdings will der Band seine Aufmerksamkeit gerade nicht auf diese Größen des Kanons richten, sondern auf „the less-known artists and their works“ (11). Angesichts solcher Namen wie James Joyce, Jean Rhys, Georges Simenon und Thomas Wolfe, denen allen hier Kapitel gewidmet sind, darf man festhalten, dass dieses Ziel wohl nicht eingehalten werden konnte. Ein konsequenter Ausschluss der bekanntesten und damit oftmals eben auch der zentralsten und bedeutendsten Akteure der Pariser Avant-Garde wäre dem titelgebenden Projekt des Bandes, Paris umfassend als „a site of avant-garde art and cultural exchange in the 1920s“ zu betrachten, sicher auch nicht zuträglich gewesen. Paris zog in den 20er Jahren Künstler aus allen Teilen der Welt an, und Rive Gauche trägt der Breite der vertretenen Nationalitäten Rechnung, indem hier neben französischen Autoren Iren, Briten, Amerikaner, Kanadier, Belgier, Polen, Holländer, Lateinamerikaner und Deutsche mit ihren Reaktionen und mit ihrem Einfluss auf das Paris der années folles in den Blick genommen werden. Dieter Fuchs und Elke Mettinger eröffnen den Band mit Untersuchungen zu angloamerikanischen Künstlern in Paris, der größten Gruppe der Zuwanderer. Paris benennt neben der französischen Hauptstadt auch den mythischen Sohn des trojanischen Königs, und der Beitrag von Dieter Fuchs nimmt diese eher zufällige Übereinstimmung als Ausgangspunkt für Lesweisen von James Joyces Ulysses und F. Scott Fitzgeralds Babylon Revisited, in denen gezeigt wird, wie der homerische Text in den zwei Romanen einmal satirisch und einmal tragisch-apokalyptisch strukturbestimmend wird. Elke Mettinger würdigt in ihrem Kapitel mit Natalie Barney, Sylvia Beach und Jane Heap drei amerikanische Frauen, deren Bedeutung für die Verbreitung und Wirkung der Arbeit der Pariser Modernisten für gewöhnlich (zu) wenig Aufmerksamkeit erfährt. Der Beitrag von Margarete Rubik und jener von Eva Müller-Zettelmann und Rudolf Weiss betrachten Jean Rhys als Vorreiterin des literarischen Impressionismus. Beide Kapitel legen ihren analytischen Fokus auf Rhys’ Erzählkunst, wobei die Erzählsammlung The Left Bank and Other Tales als verfremdendes und entromantisierendes Bild der Pariser Subkulturen gelesen und der Roman Quartet auf seine strukturelle Bezogenheit auf den Impressionismus in der Malerei untersucht wird. Rhys’ Texte erweisen sich als intermedial angelegt und von einer „‚painterly‘ quality“ bestimmt (67). Die folgenden zwei Kapitel von Elke Frietsch und Petra Löffler betrachten die bildende Kunst ohne eine Vermittlung durch die Literatur: Die Maler des Surrealismus und ihr Sensorium für den sinnlichen und weiblichen Körper von Paris sowie den Film und die Photographie der 20er Jahre, die nach den großen Panoramen des 19. Jahrhunderts eine eher ephemere Schnappschussästhetik verfolgt. Paris ist hier „a mediated space seen through the eye of the camera“ (125). Rezensionen AAA Band 38 (2013) Heft 1 81 Stereotypen werden entworfen, geschaffen, gestützt und leben natürlich auch von der Kritik und der Korrektur. Eine Gruppe von drei Arbeiten untersucht im Anschluss an die Kapitel zur bildenden Kunst solche Texte, die etablierte Parisbilder unterwandern. Birgit Wagner liest René Crevels surrealistischen Roman La mort difficile als Korrektiv für das von amerikanischen Künstlern propagierte Frankreich- und Parisbild; Sylvia Schreiber wendet sich Georges Simenons Romanen um die Figur des Inspektor Maigret zu, die einen Blick unter ihre glänzende Oberfläche auf die düsteren Aspekte der années folles werfen; Manuel Chemineau betrachtet René Marans Roman Batouala als eine Zurückweisung der Stereotypen des Schwarzen, die im Rahmen der „vogue nègre“ (186) verbreitet und gefeiert wurden. Die folgenden sechs Kapitel beschäftigen sich mit Fallstudien zum kritischen Umgang mit dem mythischen Paris der 20er Jahre im Ausland. Friedrich Frosch betrachtet eine Fülle lateinamerikanischer Autoren, die sich von einem verbreiteten „Paris complex“ (204), der sich dem tonangebenden ästhetischen Trend unterordnet, emanzipieren und eine Haltung einnehmen „between irony, persiflage, carnivalization (in the Bakhtinian sense), cultural cannibalism and simple nonchalant disrespect“ (209). Martina Stemberger untersucht Bruno Jasieńskis geradezu aggressive Auseinandersetzung mit der blinden Parisbegeisterung seiner Zeit, die er in seinem Roman Je brûle Paris in ein Feiern einer kommunistischen Utopie ummünzt. Jörg Türschmann betrachtet die Probleme, die aus Prozessen des kulturellen Austauschs erwachsen, anhand von Claire Golls Eine Deutsche in Paris, dessen Protagonistin Paris zum Inbegriff eines verklärten Frankreichs erhebt. Herbert Van Uffelen breitet mit dem niederländischen Autor Edgar Du Perron das Leben und Werk eines Skeptikers und Kritikers der Avant-Garde aus. Du Perron benötigte die selbstgewählte Rolle des Außenseiters, um seine Umgebung genau betrachten zu können, und besetzte diese Rolle auch konsequent topographisch, indem er in Paris stets außerhalb der üblichen quartiers der Modernisten residierte. Bettina Thurner zeigt mit Thomas Wolfe einen weiteren Autor, der eine spannungsvolle Beziehung zu den Pariser Modernisten wählte. Der Amerikaner Wolfe widersetzte sich der Vereinnahmung in die Gruppe der amerikanischen Künstler in Paris, während er zugleich deren Nähe suchte. Paris blieb ihm so letztlich fremd: „What Paris taught Wolfe was that he would never belong“ (307). In dem Beitrag, der den Band beschließt, setzt sich Astrid Fellner mit der kanadischen Autorin Gail Scott auseinander, die zwar am Ende des 20. Jahrhunderts schreibt, sich aber in ihrem Roman My Paris mit den expatriates an der Seine befasst. Hier wird nicht nur das Paris der 20er Jahre konstruiert, sondern zugleich auch der französische Einfluss in Kanada, das New-World Paris in Québec, verhandelt: „This text […] self-consciously performs and produces the image of avant-garde Paris in order to reflect back to Canada a fractured and critical image of the many diversities of Montreal“ (313). Die Beiträge in diesem Band bieten Einblicke in ein breites Spektrum an Medien, Gattungen und Autoren - sowohl kanonische als auch weniger beachtete, die sich mit dem Paris der 20er Jahre auseinandersetzen. Mit dem Begriff des Kulturaustausches, unter dem die vorgelegten Betrachtungen zusammengefasst sind, ist der gewählte Titel des Bandes allerdings unnötig Rezensionen AAA Band 38 (2013) Heft 1 82 generell, da es in den Ausführungen zumeist deutlich spezifischer um Prozesse des Widerstands, der Subversion und der Abgrenzung geht. Diese Kritik trifft allerdings lediglich die Einführung, die hier durchaus programmatisch deutlicher hätte ausfallen können. Rive Gauche ist ein Blick auf viele Facetten und Winkel der spannungsreichen Konstruktion des Paris der années folles. Von seiner Anlage her ist der Band damit zwar innerhalb der kulturwissenschaftlichen Städtestudien sicher nicht Teil der Avant-Garde, doch ist das Ergebnis ausgesprochen lesenswert. Jeder, der ein Interesse an Paris hat (und wer hätte das nicht? ), findet in den perzeptiven Lektüren dieses wichtigen Bands viele Anstöße zum Lesen, Betrachten und Revidieren. Stephan Laqué Institut für Englische Philologie Ludwig-Maximilians-Universität München Jutta Ernst and Brigitte Glaser (eds.), The Canadian Mosaic in the Age of Transnationalism. (Anglistische Forschungen 406). Heidelberg: Winter 2010. Martin Löschnigg Since the late 1920s, the multi-ethnic make-up of Canadian society has been rendered through the model of a mosaic, in contrast to that of a ‘salad bowl’ or ‘melting pot’. In particular, the institutionalizing of multiculturalism since the 1970s has made this model, together with its associations of antiassimilationism and the peaceful co-existence of ethno-cultural groups within the national framework, part of Canada’s collective consciousness. Under the impact of cultural and economic globalization (or ‘transnationalism’), however, the contours of the mosaic’s individual pieces have been blurring. This process of transformation is investigated, from various perspectives, in the present volume. The editors’ introduction provides a lucid and balanced review of historical aspects of Canadian multiculturalism and of pertinent theoretical positions. With great critical acumen, Ernst and Glaser outline the cornerstones in the ongoing debate on multiculturalism as a socio-cultural policy, an ideology and discursive phenomenon, and a model for the structure of a diversified society like the Canadian. As they note, however, “[d]iaspora connections and other cross-border structures, which can all the more easily be sustained by advanced media technology, ultimately challenge older models such as the Canadian mosaic” (13). Indeed, as many of the essays collected in this vol-
