eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 39/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
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0171-5410
2941-0762
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2014
391 Kettemann

Doris Feldmann/Christian Krug (Hrsg.), Viktorianismus. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Einführung. (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik, 38). Berlin: Erich Schmidt, 2013.

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2014
Gero Bazer
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Rezensionen Doris Feldmann/ Christian Krug (Hrsg.), Viktorianismus. Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Einführung. (Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik, 38). Berlin: Erich Schmidt, 2013. Gero Bauer Viktorianismus: Eine literatur- und kulturwissenschaftliche Einführung, herausgegeben von Doris Feldmann und Christian Krug, bietet einen einführenden Überblick über aktuelle Forschungsschwerpunkte, Methoden und Themenfelder der anglistischen Viktorianismusforschung. Dabei ist die explizite Zielsetzung des Buchs, „aktuelle literaturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Theorien und Methoden“ (11) zu verknüpfen und gleichzeitig den Begriff ‚Viktorianismus‘ als Epochenbezeichnung neu zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen: Es geht den HerausgeberInnen „nicht darum, die Bezeichnungen abzulehnen, sondern ihre jeweiligen Funktionen zu analysieren“ (13). Gleich zu Beginn stellen Feldmann und Krug klar, dass „‘der Viktorianismus‘ keine klaren Epochengrenzen hat“ (12) und der Begriff, eine „Zuschreibungskategorie[] post factum“ (ebd.), folglich kein einheitliches, zeitlich und kulturell fest zu umfassendes Phänomen beschreibt. Dementsprechend ist das Buch auch keine chronologisch aufgebaute ‚Geschichte‘ des Viktorianismus, sondern eine an thematischen und methodischen Schwerpunkten orientierte Sammlung von Fallstudien. Das Ziel, Literatur- und Kulturwissenschaft zu verbinden, kommt für Feldmann und Krug vor allem im Anspruch zu tragen, die Idee der Textualität sowohl auf nicht-textuelle kulturelle Produkte (z.B. aus den bildenden und darstellenden Künsten oder der Werbung) auszuweiten als auch tatsächliche Texte in ihrer materiellen Kulturfunktion zu analysieren (cf. 14 f.). Dabei reflektieren sie immer wieder die eigene Verortung in den jeweils relevanten Wissenschaftstraditionen, z.B. den britischen und amerikanischen Cultural Studies und der deutschen Kulturwissenschaft (cf. 15 f.). Ziel der vorliegenden Arbeit soll sein, deutsche und englische Kulturwissenschaften zu verbinden und sie an „gemeinsamen kulturwissenschaftlichen Prämissen“ (16) zu orientieren. AAA - Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik Band 39 (2014) · Heft 1 Gunter Narr Verlag Tübingen Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 1 90 Die HerausgeberInnen haben den Anspruch, eine „neue Art von Kulturgeschichte zu schreiben“ (18), nämlich eine „Alltagsgeschichte unterschiedlicher kultureller Gruppen, einschließlich ihrer Codes und Institutionen sowie Mentalitäten und Praktiken“ (ebd.; Herv. dort). Hierbei sei bereits erwähnt, dass die Studie sich dennoch fast ausschließlich auf Perspektiven und Produkte der Mittelschichten konzentriert, eine angesichts der historisch bedingten kulturellen Dominanz dieser sozialen Gruppe und ihrer hohen literarischen und marktwirtschaftlichen Produktivität allerdings auch wenig überraschende Tatsache. Als roter Faden dominiert in allen Kapiteln eine Rückbindung kultureller Phänomene der Zeit an marktwirtschaftliche Prozesse und ihre immer stärker als ‚Spektakel‘ inszenierten Manifestationen (z.B. die Great Exhibition). Beispielsweise stellt Doris Feldmann fest, „wie sehr der literarische Markt schon im Viktorianismus mit einer weitverzweigten Warenkultur verbunden war“ (59). Diesen durchgängigen Fokus auf die Interaktion zwischen Kultur und Marktwirtschaft begründen Feldmann und Krug damit, dass „die ideelle Dimension von Kultur - also Wertesysteme, Ideen bzw. Anschauungen und Bilder bzw. Vorstellungen - immer an materielle Vermittlungsprozesse gebunden bleibt, von sozioökonomischen Strukturen durchzogen und ihrerseits wiederum für diese konstitutiv ist“ (18). Weitere Konstanten der Studie sind wiederholte Verweise auf den im 19. Jahrhundert stattfindenden Prozess der diskursiven Herausbildung eines englischen ‚Nationalgefühls‘ und einer ‚nationalen Identität‘ durch die Überhöhung von Leitfiguren (Königin Viktoria als ‚Mutter der Nation‘; cf. 143-148) einerseits und die Abgrenzung vom als kulturell verschieden konstruierten ‚Anderen‘ (Stichwort Orientalismus) andererseits. Auf einer abstrakteren Ebene thematisiert der Band außerdem immer wieder, wie im 19. Jahrhundert, vor allem durch die Ausdifferenzierung der modernen Wissenschaften, verstärkt versucht wurde, der (wirtschaftlich, kulturell, sozial) immer komplexer werdenden Alltagswelt durch Taxonomien eine im Sinne von Foucaults ‚Ordnung der Dinge‘ greif-, überschau-, und bewältigbare Dimension zu verleihen. Die von insgesamt sieben AutorInnen verfassten zwölf Kapitel des Buchs folgen einem gleichbleibenden Aufbau: Die jeweils thematisierte Fragestellung oder Methodik und das relevante kulturhistorische Phänomen werden kurz skizzenartig eingeführt und der/ die AutorIn gibt einen historischen Abriss und eine Einordnung. In einem zweiten Schritt wird die jeweilige Methodik/ das jeweilige Phänomen an einem literarischen/ künstlerischen/ architektonischen/ wirtschaftshistorischen Beispiel demonstriert. Dabei entsteht ein Bild des ‚Viktorianismus‘, das zwar keinen Anspruch auf Gesamtheit im Sinne chronologischer Geschichtsschreibung haben kann, dennoch aber erfolgreich nicht nur relevante aktuelle Methodiken der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung vorführt, sondern zudem mit seinen Beispielen auch wichtige und kulturell wirkmächtige RepräsentantInnen der Zeit vorstellt. Dass sich hierbei eine gewisse Engführung im Sinne des ‚Kanons‘ nicht vermeiden lässt, ist zum Einen in Hinblick auf den einführenden Charakter der Studie nicht weiter störend; zum Zweiten beeindruckt auf der anderen Seite die Fülle an verschiedenem ‚Handwerkszeug‘, das im Verlauf dieses schmalen Rezensionen AAA Band 39 (2014) Heft 1 91 Bandes angewandt wird, was die HerausgeberInnen bereits in der ambitionierten Einführung explizit reflektieren: „Methodisch kombinieren wir in den Kapiteln vor allem psychosemiotische, idologiekritische, sozialhistorische und diskursanalytische Ansätze.“ (22) Die Studie ist in sechs „Themenkomplexe“ und „paarweise Sektionen“ (19) unterteilt: Der Bereich des „Populären“ (ebd.) wird anhand von Douglas Jerrolds Melodrama The Rent Day und der „Eisenbahn als Fetisch in der visuellen Kultur“ vorgestellt. Es folgt eine Sektion zu „Autorenschaft und Vermarktung“ mit den Beispielen Charles Dickens und Elizabeth Gaskell (männliche und weibliche Autorschaft). Weniger literaturals kulturhistorisch geprägt sind die beiden Kapitel zu „Veränderungen der viktorianischen Gesellschaft“ (20), die sich mit den sozialkritischen Schriften Henry Mayhews (London Labour and the London Poor) und Elizabeth Gaskells (North and South) und den gesellschaftlich-wirtschaftlichen Auswirkungen der Great Exhibition 1851 auseinandersetzen. Der vierte Komplex thematisiert auf einer abstrakteren Ebene „viktorianische Anschauungen oder Denkmuster“ (ebd.) am Beispiel zeitgenössischer Geschlechter- und Sexualitätsdiskurse sowie evolutionsbiologisch geprägter Romane von Robert Louis Stevenson (The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde) und H. G. Wells (The Time Machine). Als viktorianische „Repräsentationsfiguren“ und Katalysatoren der neuen Vorstellung von einer ‚britischen Nation‘ fungieren Königin Viktoria und der kulturell wirkmächtige Dracula-Mythos. Abschließend beleuchtet das letzte Kapitel das „Nachwirken des Viktorianismus“ (21) in der Gegenwart anhand neoviktorianischer Bearbeitungen des Sherlock-Holmes-Stoffes. Der Band rezipiert ausführlich aktuelle und relevante ältere deutsch- und englischsprachige Forschungsliteratur der betreffenden Themenfelder. Eine Literaturliste am Ende jedes Kapitels bietet nicht nur eine vollständige Auflistung aller zitierter und referenzierter Texte, sondern auch jeweils etwa fünf Titel zur weiterführenden Lektüre. Die aufgenommene Literatur wird nicht nur unterstützend eingesetzt, sondern die bisherige Forschung wird auch kritisch beleuchtet und hinterfragt. Auch auf theoretischer Ebene sind die AutorInnen auf dem neuesten Stand. So bietet der Band eine Fülle theoretischer Reflexionen, die in einer solch kurzen Einführung nicht oft anzutreffen ist. Im Kapitel zu „Geschlechter- und Sexualitätsdiskursen“ wird nicht nur auf die inzwischen ausführlich rezipierte Debatte zur kulturellen Überformung von Geschlecht im Sinne Judith Butlers hingewiesen (cf. 113), sondern auch auf die teils weniger präsente These Thomas Laqueurs, der in seiner medizinhistorischen Forschung eine transhistorisch konstante Vorstellung einer biologischen Binarität von Geschlecht im Sinne eines ‚two-sex model‘ erfolgreich in Frage gestellt hat (cf. 113). Somit ergibt sich für die folgenden Ausführungen zu viktorianischer Geschlechtlichkeit und Sexualität ein sehr differenziertes Bild. Allerdings überrascht etwas, dass in einer Studie, die sich das 19. Jahrhundert als Fokus wählt, im Kapitel zu Geschlechtern und Sexualitäten zeitgenössische Diskurse zu Homosexualität keinen höheren Stellenwert einnehmen. Hier wird lediglich an einer Stelle auf „eine Vielzahl nicht-reproduktiver Sexualpraktiken sowie marginalisierte Subjektpositionen [...] (wie Homosexualität, ménage à Rezensionen 92 trois oder Masturbation)“ (122) hingewiesen. Gerade in einem Band, der im positiven Sinne wiederholt starken Bezug auf feministische Forschungen zur sexualisierten Objektposition viktorianischer Frauen unter einem konsumierenden ‚male gaze‘ nimmt, wäre eine ausführlichere Thematisierung der sich im 19. Jahrhundert immer stärker ausdifferenzierenden Binarität homosexuell - heterosexuell wünschenswert gewesen. Positiv fällt auf, dass die AutorInnen darum bemüht sind - auch über die Auswahl der eigenen Forschungsgegenstände -, auf eine im viktorianischen England kaum präsente Unterscheidung zwischen ‚Hoch‘- und ‚Populärkultur‘ zu verweisen. So reicht die Bandbreite thematisierter ‚Texte‘ von der Dichtung Robert Brownings und Alfred Tennysons (cf. 113-119) bis zu aktuellen Kino- und TV-Adaptionen des Sherlock-Holmes-Stoffes (cf. 167-180). Gerade letzteres Kapitel präsentiert in anschaulicher Weise, wie in der Gegenwart über Techniken der Adaption und Appropriation - sowohl in neu geschaffenen ‚kulturellen‘ Texten als auch in der wissenschaftlichen Viktorianismusforschung - ein selektives und den Bedürfnissen der heutigen Zeit (Stichwort Nostalgie) entsprechendes Bild der ‚Epoche‘ des Viktorianismus konstruiert wird. Das Konzept des Bandes geht insgesamt auf. Es gelingt den AutorInnen aller Kapitel, immer wieder mehrere Ebenen anzusprechen: Historische Abrisse, Metareflexionen zum eigenen Vorgehen und dichte Analysen der ausgewählten Forschungsgegenstände wechseln einander auf produktive Weise ab. Die Sprache ist größtenteils präzise und dem einführenden Charakter der Studie angemessen. Die AutorInnen explizieren immer wieder argumentative Ziele und reflektieren ihr eigenes Vorgehen. Einige wenige Abschnitte verlieren sich etwas in unnötig kompliziertem Fachjargon, und an manchen Stellen werden Kenntnisse philosophischer und theoretischer Konzepte vorausgesetzt, die das Buch für Studierende im Grundstudium teils wohl schwer zugänglich machen werden. Sehr hilfreich ist allerdings das ausführliche Glossar, das viele im Verlauf des Bandes aufkommende Schlüsselbegriffe (z.B. Abjekt, Heterotopie, Semiotik) noch einmal kurz und prägnant definiert bzw. einführt. Außerdem endet jedes Kapitel mit einer knappen Zusammenfassung der wichtigsten Argumente, wodurch ein leichter Zugang im Sinne eines Studienbuchs gewährleistet ist. Gero Bauer Englisches Seminar Eberhard-Karls-Universität Tübingen Deutschland