eJournals Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 41/1

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik
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2941-0762
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2016
411 Kettemann

Eckhard Lobsien, Schematisierte Ansichten: Literaturtheorie mit Husserl, Ingarden, Blumenberg. München: Fink 2012.

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2016
André Otto
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Rezensionen AAA Band 41 (2016) Heft 1 77 Eckhard Lobsien, Schematisierte Ansichten: Literaturtheorie mit Husserl, Ingarden, Blumenberg. München: Fink 2012. André Otto Eckhard Lobsiens phänomenologische Literaturtheorie ist ein sehr ungewöhnliches, geradezu unzeitgemäßes Buch. Es geht zurück auf die philosophische Schule, ohne die viele der modernen literaturtheoretischen Ansätze undenkbar wären, und betreibt in äußerst konzentrierter Form Literaturtheorie mit den drei im Untertitel genannten Figuren. Konzentriert heißt hier zunächst - und dies hat großen Anteil am Unzeitgemäßen dieses Buches -, dass Lobsien dabei weitestgehend auf eine Situierung in aktuellen literaturtheoretischen oder philosophischen Debatten verzichtet. Auch widmet er sich seinen Texten, seien diese literarischer oder philosophischtheoretischer Provenienz, ganz über dezidiert eigene Lektüren, ohne den ganzen Apparat an Sekundärliteratur aufzurufen, den man in der aktuellen Forschung erwarten würde. Stattdessen folgt er auf sehr ruhige und einlässliche Art dem ‚mit„ seines Untertitels: Er entwickelt eine phänomenologische Literaturtheorie, indem er nicht einfach über Husserl, Ingarden und Blumenberg nachdenkt oder ihre Vorschläge zusammenstellt, sondern mit deren Ansätzen weiterdenkt und sie so zu einem großen Teil überhaupt erst für Literaturtheorie fruchtbar macht. Dies geschieht nicht mit Blick auf eine systematische Einordnung in das jeweilige philosophische Denken besonders im Falle Husserls und Blumenbergs und eine Kommentierung ihres Werkes. Vielmehr liegt das Interesse klar auf der Entwicklung einer Theorie, wie literarische Texte Sinn herstellen und was dies für die Lektüre bedeutet. Überhaupt ist dies keine Literaturtheorie im sprachphilosophischen, kulturtheoretischen oder anthropologischen Sinne. Sie zentriert sich auf die Dimensionen literarischer Textualität, wie sie sich in der Lektüre präsentieren und erschließen. Sie ist insofern zu einem sehr großen Teil eine Theorie der Lektüre. Dies ist der eine wesentliche Aspekt des ‚mit„. Der andere betrifft den Umgang mit den Referenztexten und somit den drei genannten Autoren. Denn Lobsien leistet einen doppelten Brückenschlag. Einerseits macht er die Phänomenologie auf eine ganz neue Weise für die Literatur fruchtbar. Andererseits aber schreibt er in die phänomenologischen Theorien bzw. Philosophien Denkmöglichkeiten ein, die sich zum einen aus Lobsiens Rekontextualisierung und Funktionalisierung verschiedener Passagen (besonders im Falle Husserls) für ein Nachdenken über Literatur und Sprache ergeben. Diese philosophisch-systematisch nicht zusammenhängenden Ausschnitte werden von Lobsien konsequent auf ihre Bedeutsamkeit für eine Literaturtheorie zusammengetragen und produktiv gemacht. Zum anderen ergänzt Lobsien damit zugleich die Phänomenologie um ein systematisches Nachdenken über sprachliche und textuelle Medialität, die dort aufgrund - aber paradoxerweise auch immer trotz - der starken Wahrnehmungszentriertheit im Wesentlichen zu fehlen scheint, wenn man von der physikalisch und Rezensionen 78 physiologisch abgeleiteten Begrenztheit der Wahrnehmungsfähigkeit als zentralem Baustein einmal absieht. Somit führt das ‚Nachdenken mit„ zu einer gegenseitigen Kommentierung von Phänomenologie und Literatur(theorie), die jeweils unterschiedliche Bedingtheiten der Weltkonstitution in den anderen Bereich einschreiben und sie füreinander kommentierend fruchtbar machen. Eine zentrale These des Buches ist daher nicht von ungefähr die funktionale Strukturhomologie zwischen Phänomenologie und Literatur, besonders mit Bezug auf die Be- und Hinterfragung unserer Modelle von Welt. Literatur und Phänomenologie stellen für Lobsien gleichermaßen entautomatisierende und programmatisch verfremdende Weltzugänge dar, die über das Aussetzen der Selbstverständlichkeit neue Erkenntnisse hervorbringen können. So beschreibt er Literatur nicht nur aus phänomenologischer Perspektive, sondern stellt immer wieder die grundlegende Literaturhaftigkeit phänomenologischen Denkens, aber auch Schreibens heraus. Wenn Lobsien in seinem Denken mit Husserl, Ingarden und Blumenberg auch stets eine schöne Einführung in Grundkonzepte der Phänomenologie liefert und diese sehr klar darlegt, so ist doch der Hauptfokus dankenswerterweise ein ganz anderer. Programmatisch formuliert er bereits in der Einleitung, worum es ihm gehen soll. Ziel ist ein dezidiertes Besinnen auf die spezifische Leistung der Literatur, die abzusetzen wäre von verschiedensten neueren, besonders kulturgeschichtlichen Zugängen, die literarische Texte gleichsam als Quellen für ganz andere Fragestellungen heranziehen. In Lobsiens Perspektive würde der Literaturwissenschaftler dadurch zu einem Laien auf all den Gebieten, die die literarischen Texte zu behandeln scheinen, seien dies nun geschichtliche, politische, ökonomische, medizinische oder eben auch philosophische Fragestellungen. Gerade dagegen wendet Lobsien sich aber, womit auch klar ist, dass sein Ansatz nicht ein Wiederfinden phänomenologischer Theoreme in Literatur bedeuten kann. Gegen inhaltlichen Universalismus der Literaturwissenschaft setzt er einen vehementen Bezug auf die spezifische literarische Textualität. Und dieser will er sich phänomenologisch nähern. Das bedeutet zunächst eine Kritik der wirkmächtigsten phänomenologischen Literaturtheorie, über die er zugleich verschiedene Grundkonzepte phänomenologischen Denkens einführt, darunter zentral die zwei titelgebenden Begriffe des Schemas und der Ansicht. Anhand von Ingardens Konzeptualisierung der Ansicht führt Lobsien exemplarisch vor, worauf es ihm ankommt. Denn entgegen Ingardens als zu unspezifisch und suggestiv kritisierter Verortung auf den Ebenen literarischer Texte einerseits und seines zu metaphorischen Gebrauchs der Ansicht andererseits verwahrt sich Lobsien von vornherein gegen eine inhaltlich-mimetische Applikation phänomenologischer Zugänge. Für ihn bedeutet die schematisierte Ansicht gerade nicht, dass man in literarischen Texten Objekte wie in der normalen Wahrnehmung der Lebenswelt nur in stets unvollständigen Aspekten und Abschattungen bekommt, sich ein Gegenstand also nicht vollständig dem phänomenologischen Betrachter zeigen kann. Er zielt auf die Objekthaftigkeit des Textes selbst und seine notwendige Ansichtenhaftigkeit. Rezensionen 79 Dahinter steht der etwa aus der Lotmanschen Semiotik bekannte Ansatz, dass literarische Texte als Objekte immer bereits vollständig determiniert sind. Sie präsentieren ihre fiktiven Welten zwar immer nur in bestimmten Perspektiven und mehr oder weniger stark ausgearbeiteten Schemata, die entsprechend partiell sind und im Unterschied zur lebensweltlichen Ansicht auch nicht etwa durch das Einnehmen eines anderen Standpunkts anders zur Ansicht kommen können. Doch sind diese Konstruktionen von Welt immer in der unveränderlichen Textgestalt gegeben, die den einzigen Zugang zur fiktiven Welt des Textes darstellt. Die konstitutive Frage für eine phänomenologische Literaturtheorie besteht für Lobsien daher darin, wie die materiellsprachliche Medialität des Textes als schematisiert ansichtenhaft gegebenes Objekt fungiert und wie Literatur dergestalt über die unterschiedlichen semiotischen Ebenen des Textes Welt konstruiert. Ansichtenhaftigkeit meint somit für Lobsien mit Bezug auf Literatur nicht die Ingardensche Visualisierungsmetapher, sondern den spezifischen Textverlauf, seine Zeiteinteilung und räumliche Strukturierung. Dass diese nicht die im Text repräsentierte Zeit und den dargestellten Raum, sondern die Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Lektüre selbst betreffen, zeigt sich an der Zentralität des Grundsatzes der doppelten Lektüre, den Lobsien zusammen mit den beiden weiteren Grundsätzen literaturwissenschaftlichen Arbeitens, dem Text als Globalzeichen und dem Begriff der Negativität, seinen Überlegungen voranstellt. In der doppelten Lektüre zeigt sich Literatur nicht nur als sekundär modellbildendes System (vgl. 12). Auf diesem Theorem basiert ganz grundlegend ein phänomenologischer Textzugang, der den Text selbst als schematisierte Ansicht untersucht. Denn funktioniert eine erste Lektüre zunächst nach dem Normalcode der Sprache und lässt sich somit auf eine referenzielle Lektüre ein, die den Signifikanten hin auf sein Signifikat entschlüsselt, wodurch die Objekte auf der Inhaltsebene des Textes hervortreten, kommt mit der zweiten Lektüre die Phänomenologie des literarischen Textes zur Geltung. Hier geht es im weitesten Sinne um die Struktur des Textes, um Rekurrenzen und Wiederholungen, aber auch um Inkonsistenzen und Brüche und somit zentral um die Eigenlogik des Signifikanten. Im Unterschied aber etwa zu strukturalistischen Zugängen versteht Lobsien dies nicht als eine mehr oder weniger objektive Paradigmatik, die das Gewebe des Textes offenbarte. Vielmehr produziert die zweite Lektüre die je instabile und unvollständige Ansicht, die eine bestimmte Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Textes selbst wahrnimmt, die sich aber mit jedem Schritt der zweiten Lektüre wiederum ändern kann. Insofern ist die zweite Lektüre auch immer schon Teil der ersten, wenn man die Konzentration auf das Wie der Weltkonstitution durch den Text legt, etwa auf die Reihenfolge und sprachliche Realisierung der Informationsvergabe. Dies führt wiederum zu den anderen beiden Grundsätzen, da sich auf diese Weise die Einzelzeichen zu übergeordneten Zeichen fügen, die sich letztlich im Globalzeichen des Textes kondensieren. Dieses ist jedoch niemals vollständig zu entschlüsseln oder gar zu bezeichnen, sorgt doch die Negativität für das ständige Zuspätkommen und Anderssein der Lektüre, die aus der „Nicht-Fixierbarkeit der Texte, ihre[r] semantische[n] Unausschöpf- Rezensionen 80 barkeit; und d[em] literarische[n] Reden ins Nichts“ (14) resultiert. Mit jeder Lektüre, jedem Fortgang der Lektüre ändert und verschiebt sich das Hyperzeichen des Textes. Konsequenterweise projiziert Lobsien im Kapitel zu Zeit und Raum (Kap. 5) diese Prinzipien entsprechend auf die Wahrnehmung des Textes während der Lektüre. Besonders anhand der Zeit zeigt Lobsien, wie die Lektüre über die phänomenologischen Grundkonzepte der Protention und Retention voranschreitet und sich dabei Negativität im Sinne einer unabschließbaren Prozessualität einschreibt, die den Sinn nie feststellen kann. Wenngleich dies, wie so oft bei Ansätzen, die von Negativität ausgehen, unter Vorzeichen des Mangels und Verfehlens beschrieben wird, liegt hierin jedoch zugleich die Leistung und der Freiheitsgrad literarischer Textualität, wird somit doch gerade die Prozessualität von Weltwahrnehmung und Sinnkonstitution ansichtig. Wie diese Konstitution im Paradox der vollbestimmten Partialität vonstattengeht, klärt Lobsien zuvor anhand des Begriffs des Schemas und mit Bezug auf das Verhältnis von Kontingenz, Konsistenz und Unbestimmtheit im literarischen Text. Geht man davon aus, dass es Objekte immer nur in bestimmten Perspektivierungen gibt, so leistet der Begriff des Schemas die Möglichkeit einer Objektkonstitution, die sich auf mehr oder weniger viele Eigenschaften oder Teilaspekte des Gegenstandes stützt und diese dennoch aus dem Teil zum Ganzen einer Verstehenseinheit bringt. Aufgrund der jeweils bestimmten Informationen und deren begrenzter Anzahl, die ein Text geben kann, trifft dies auf Literatur in besonderem Maße zu. In diesem Sinne lassen sich Objekte in Texten immer nur als Schemata verstehen, da man von ihnen etwa durch eine andere Ansicht auch nicht mehr erfahren kann. Die zweite Lektüre stellt nun jedoch darauf ab, dass und warum die Objekte in den Texten immer nur über die jeweiligen Informationen gegeben sind und nicht über andere. Somit wird mit der zweiten Lektüre einerseits die Kontingenz der Textwelt ersichtlich. Andererseits wird diese auf Konsistenzerwartungen und die Reduktion von Unbestimmtheit projiziert. Darüber hinaus erfolgt hierbei der Schritt von der Ebene der Objekte im Text zur Ebene des Textes selbst, insofern sich die Textgestalt als eine Organisation von Unbestimmtheiten erweist, die immer auch anders sein könnte, aber in ihrem spezifischen So-Sein zu betrachten ist. Gerade literarische Texte machen über die zweite Lektüre somit den Übergang von der Möglichkeit zur Realisierung erlebbar, da sie anhand der schematisierten Ansichten Möglichkeiten entwerfen, von denen immer nur bestimmte realisiert und andere verworfen werden. Die „Möglichkeitsfrage“ (85) wird damit konsti-tutiv für literarische Texte, und die Prozessualität der Lektüre besteht im Nachvollzug dieser Textkonstitution als voll bestimmtem Textobjekt, das einen je für sich stimmigen Kontext über Kontingenzen erschafft. Mit Blumenberg beschreibt Lobsien dies als eine Verwirklichung dessen, was in der Welt nur möglich ist, wobei Kunst die Welt in ihrer schöpferischen Dynamik selbst imitiert - im Unterschied zur Repräsentation bestimmter Objekte der Welt (vgl. 92). Die Negativität, das Immer-Anders-Sein-Können und die konstitutive Unterbestimmtheit des Repräsentierten werfen die Frage auf, wie die Überführung der kontingenten Unbestimmtheit in Konsistenz erfolgen kann. Rezensionen 81 Hierfür entwickelt Lobsien ein gleichsam ethisches Verhältnis zwischen Leser und Text, das sich nach dem Verhältnis Ich - Leib und Ich - Anderer modelliert. Die Füllung der Unbestimmtheit orientiert sich am Weltwissen des Lesers, indem der Leser die Art und Weise, wie er sich selbst als Gesamtheit wahrnimmt, auf die Wahrnehmung des Textes überträgt. Dies kann wiederum nur über Analogieschlüsse in der Wahrnehmung des Anderen geschehen. Die nicht sichtbare Ganzheit des eigenen Körpers wird zum Leib erst aufgrund der sichtbaren Ganzheit anderer, die so zur Matrix des Eigenen werden. Analog wird die partielle Textwelt durch das Weltwissen und die Konsistenzprinzipien der eigenen Welt ergänzt, so lang der Text diesen nicht widerspricht. Das Globalzeichen des Textes in seiner nach Blumenberg entwickelten Einstimmigkeit gewinnt seine je vorläufige Bestimmung also aus einer konstitutiv paradoxalen Dynamik der Einheit der Differenz und des positivierenden, kreativen Umgangs mit Negativität anhand von Analogieverhältnissen, die auf Basis der intersubjektiven Nicht-Identität Einheit stiften. Gleichzeitig gibt Literatur somit auch uns selbst für uns als wahrnehmende und Welt konstituierend urteilende Subjekte ganz anders zu erleben. Die semiotische These vom Globalzeichen ist das genaue Korrelat zur Phänomenologie der Intersubjektivität, einschließlich ihrer produktiven Aporien. Wir erfahren im Lesen, in den Modi der ersten und zweiten Lektüre, das aus vielen, aber eben doch zahlenmäßig limitierten Informationen (oder Zeichen) bestehende literarische Werk als synthetisch stimmige, komplexhomogene, globale Darstellung (Mimesis) von Wirklichkeit und als Ausdruck oder Modell oder Symptom oder Form unserer selbst. (158 f) Allerdings wird hieran ein grundlegendes Problem des phänomeno-logischen Ansatzes gerade gegenüber poststrukturalistisch ausgerichteten semiotischen Zugängen deutlich. Denn Lobsien geht von einem insistenten Konsistenzpostulat aus, das sich als homogen setzt und diese Homogenität nach einem zwar phänomenologisch aporetischen, aber dennoch relativ kohärenten Wahrnehmungssubjekt formt. Dies bedeutet eine Einheits- und Einstimmigkeitserwartung an Texte und die von ihnen vorgenommenen Modellierungen von Welt. Dabei wäre es, entgegen Lobsiens Annahmen, durchaus möglich, Nicht-Kohärenz ganz anders auszuhalten und dies auch als der postmodernen Welterfahrung angemessener zu betrachten. Insofern wären solch leitende Imperative wie der folgende durchaus kritisch zu sehen: Überall gilt es, die Kontingenz jedes einzelnen Bausteins zu überführen in Konsistenz, die sich aus sich selber beglaubigt und sich in sich selber stabilisiert und damit den jederzeit erwartbaren Einbruch von Kontingenz abwehrt. (101) Sie verweisen jedoch auf die problematischen Prämissen der Phäno menologie, die zugleich philosophiegeschichtlich eine ihre großen Leistungen darstellt: die Verankerung der Philosophie im in der Welt - Rezensionen 82 situierten wahrnehmenden Bewusstsein und das Denken der Welt von dieser Verankerung aus. Diese ist qua Bewusstsein dann immer schon relativ zentriert, wenngleich der Selbstbezug über den Leib nach dem Modell der Intersubjektivität aporetische Brüche und Nicht-Identität einschreibt. Horizont einer solchen Zentrierung im Wahrnehmungsbewusstsein bleibt dennoch eine projektierte Sinnkohärenz, die auf Ordnung und die Integration ins Bekannte zielt. Dies zeigt sich besonders am Umgang mit der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit. Während etwa Deleuzesche Ansätze noch die Instanz des Virtuellen einführen, um Unbestimmbarkeiten denkbar zu machen, liegt der phänomenologische Fokus auf Unbestimmtheiten. Das heißt, dass sich Möglichkeiten immer nur aus den Abschattungen der Wirklichkeit ergeben, sie bleiben abhängig vom Wirklichen und seiner je subjektiven Erkenntnis. Entsprechend heißt ‚möglich„ auch nur: „Eröffnung von vordefinierten Spielräumen der Unbestimmtheit unter Ausschluß unauflösbaren Widerstreits“ (130). Es wären die Räume unauflösbaren Widerstreits, die nicht dem Einsinnigkeitspostulat subsumierbar wären und Unbestimmbarkeit als existenzielle Erfahrung zu einer Darstellung bringen könnten, die die subjektive Wahrnehmung auf ihre unterschiedlichen diskursiven und nicht-diskursiven Konstitutionsebenen und deren Irreduzibilität aufeinander verweisen könnte. Obwohl Lobsien mit der Fundierung des Literarischen im Möglichen letztlich eine anthropologisch zentrierte Mimesis der natura naturans zu denken scheint, bietet gerade seine Bestimmung der Funktion der Literatur jene radikaleren disruptiven Möglichkeiten, da sie im Verhältnis der textuellen Ebenen zueinander auch immer wieder die potenziell asignifikanten Brüche stark macht (ohne dies in dieser Form zu benennen). Ausgangspunkt für die Funktionsbestimmung ist abermals die doppelte Lektüre und die Dynamik, die sich durch sie hinsichtlich der Zeitlichkeit und Räumlichkeit des Textes ergibt. In ihr löst sich die Aufmerksamkeit von der Mimesis der dargestellten Welt in dem Maße, in dem Textordnung und dargestellte Ordnung auseinander treten und die Textualität in ihren eigenen potenziellen Organisationsmustern in verschiedenen Lektürestadien grundlegend und irreduzibel unterschiedlich wahrgenommen wird. Aus repräsentiertem Sinn wird dabei ein Prozess der Sinnkonstitution in der Lektüre, die sich auf verschiedene textuelle Ebenen stützt und etwa auch die Eigenlogik der Signifikanten in Form von Isotopien oder reinen Lautwiederholungen zu assimilieren sucht. Die im Begriff des Schemas verhandelte Problematik von Teil und Ganzem entkoppelt sich von dargestellten Gegenständen, um Textzeit und Textraum als Erfahrungen einer Verweisung oder Simultaneität unterschiedlicher Textteile untereinander und zueinander erfahrbar zu machen, die sich gegen herkömmliche Sinnzusammenhänge zu stellen vermag und Überblendungen einer amimetischen textuellen Eigenlogik schafft. Exemplarisch wird diese Ablösung von Wirklichkeit mit Bezug auf die Funktion von Literatur dann anhand des Urteilens und der mitlaufenden Reflexion entwickelt (Kap. 6). Die Frage des Urteils betrifft in ganz besonderer Weise das sprachphilosophische Problem der Wahrheitsfähigkeit Rezensionen 83 propositionaler Sätze, die dafür jedoch eine Referenz auf die Welt benötigen. Literatur setzt diese Referenz aus, präsentiert also auf der Oberfläche propositionale Sätze, ohne dass diese den Anspruch auf eine außertextuelle Wahrheitsfähigkeit hätten, wie bekanntermaßen bereits Sidney reklamierte. Dies heißt jedoch gerade nicht, dass man in literarischen Texten und bezüglich auf eine dort dargestellte fiktionale Welt nicht urteilen könnte. Ganz im Gegenteil üben literarische Texte für Lobsien die Prozesse des Urteilens selbst ein (vgl. 216), indem sie sich von der Weltreferenz lösen und damit den Vorgang des Urteilens von anderen Bedingungen seiner Wahrheitsfähigkeit gleichsam befreien und es stattdessen auf die textuelle Dynamik von Konsistenzbildungen in der doppelten Lektüre ankommt. Referenzgebundenes Urteilen wird dabei überführt in mitlaufende Reflexion der textuellen Bedingungen selbst. Literatur übt damit funktional nicht nur ein Urteilen an Quasi-Gegenständen. Sie ermöglicht das, wodurch sie zugleich wesentlich charakterisiert ist: die mitlaufende Reflexion ihrer eigenen materiellen Konsistenzbedingungen. Besonders anhand lautlicher Textlogiken zeigt Lobsien, dass dies die unterschiedlichen und auch prinzipiell asemantischen Ebenen des Textes einschließt. Lesen wird hier zu einem selbstreflexiven, metasprachlichen Prozess, den es so nur in Literatur gibt, da man nicht mehr nur etwas liest, sondern immer auch das Lesen selbst mitliest. Der literarische Text ist immer mitlaufende Reflexion seiner selbst, und so ist die Lektüre immer eine sich selber transparente, sich latent beständig mitthematisierende, sich reflektierende Operation. Was wir lesen, muss immer auch Lesen des Lesens sein: ein Mit-Lesen der Genese der Zeichen in einem Denken, das immer schon Denken des materiellen Zeichens sein musste, wiewohl es ‚eigentlich„ keine Zeichen denken ‚wollte„. (219) Lobsien nimmt gerade hier eine Korrektur und Erweiterung der Phäno menologie Husserls und Ingardens vor, weil er die materielle mediale Differenzlogik der Sprache affirmiert und sie nicht als mögliche Störung einer transzendenten Idealität negativiert. Damit öffnet er die Phänomenologie für eine medial basierte Aisthesis, die das subversive Potenzial des Sprachmaterials betont und zum entscheidenden Horizont und Ziel der Literatur und ihrer Theorie gleichermaßen macht. Durch die mitlaufende Reflexion bedingt Literatur eine Doppelung und Entautomatisierung der Wahrnehmung, da stets Möglichkeitshorizonte eingezogen werden, die ganz anderen Logiken als den gängigen Welt- und Wahrheitsbedingungen folgen. Damit bestimmt Lobsien auch das Verhältnis von Literatur und ihrer Theorie in einer Weise, der er mit seiner Zentrierung auf Lektüre stets folgt. Denn die mitlaufende Reflexion der Literatur auf sich bedeutet, dass Literatur einerseits immer auch schon ihre Theorie mitliefert. Andererseits ist Literaturtheorie stets auf Texte zu beziehen, für Lektüre fruchtbar zu machen und von dieser her zu denken. Entsprechend nimmt Lobsien kurze Beispiellektüren für jedes seiner Kapitel vor, die mehr machen, als nur die phänomenologischen Theoreme zu illustrieren. Sehr konzise liest er durchaus bekannte, haupt-sächlich, aber nicht nur, englische Texte aus verschiedenen Epochen, um damit die von ihm - Rezensionen AAA Band 41 (2016) Heft 1 84 beschriebenen Dynamiken gerade jenseits der Inhaltsebene plausibel greifbar zu machen. Nicht zuletzt in diesen Lektüren wird jeweils schön deutlich, was schematisierte Ansichten der Literatur sein könnten - und warum dieses Buch einen gewinnbringenden Ansatz zu Literatur, Literaturtheorie und Phänomenologie liefert und zugleich zur unabdingbaren Reflexion über die Methoden und Funktionen der Literaturwissenschaft auffordert. André Otto Institut für Englische Philologie Freie Universität Berlin Werner Wolf, Walter Bernhart und Andreas Mahler (eds.), Immersion and Distance: Aesthetic Illusion in Literature and Other Media. (Studies in Intermediality 6). Amsterdam/ New York: Rodopi, 2013. David Klein Was geschieht, wenn wir uns beim Lesen so sehr in die Lektüre vertiefen, dass wir das Buch nicht mehr aus den Händen legen wollen? Warum klammern wir uns im Theater oder im Kino vor lauter Spannung fest an die Armlehnen oder rufen dem Protagonisten, der in Gefahr geraten ist, im Stillen zu, er möge sich in Sicherheit bringen? Wie kommt es, dass wir beim Hören einer Sonate ins Träumen geraten und die Welt um uns herum vergessen? Und warum ist diese Erfahrung mal mehr und mal weniger intensiv? Warum lässt uns das eine Bild desinteressiert vorbeigehen, während das andere unseren Blick ganz für sich beansprucht? Warum verlassen wir bei der einen Inszenierung gelangweilt das Theater, während uns eine andere noch auf dem Nachhauseweg beschäftigt? Und welche Mechanismen sind am Werk, wenn die eine Erzählung alle Gedanken an das Hier und Jetzt verdrängt, während die andere uns kaum ins Bewusstsein tritt? Fragen wie diesen spürt der sechste Band der Studies in Intermediality systematisch und aus unterschiedlichen Blickrichtungen nach. Im Zentrum der dreizehn Einzelartikel steht dabei der Begriff der ‚ästhetischen Illusion‟ (aesthetic illusion), wie er im umfangreichen einführenden Artikel („Introduction“, 1-63) von Werner Wolf entwickelt wird. Ästhetische Illusion wird zunächst als ein lustvoller mentaler Zustand gefasst, der die Rezeption von solchen Artefakten kennzeichnet, die der Repräsentation dienen (6). Mit dieser basalen Definition sind bereits die wesentlichen Parameter gegeben: ‚Lustvoll„ ist der Zustand, insoweit er angenehm ist oder der Unterhaltung dient. So ist ästhetische Illusion auch bei der Rezeption von solchen Artefakten möglich, die Niederes oder Abscheuliches zum Inhalt haben, wie beispielsweise Hor-