Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2006
393-4
«Wir in Weimar» Adele Schopenhauer im Briefwechsel mit Johann Wolfgang von Goethe
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2006
Anja Peters
cg393-40291
«Wir in Weimar» Adele Schopenhauer im Briefwechsel mit Johann Wolfgang von Goethe ANJA PETERS U NIVERSITY OF L ONDON Adele Schopenhauer verdankt das Interesse an ihrer Person in der Literatur- und Kulturgeschichte seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem ihrer Verbindung zu zwei «großen Männern». Zum einen gehört sie zu den bemerkenswerten Frauengestalten des 19. Jahrhunderts durch ihren Bruder, den Philosophen Arthur Schopenhauer. Vielleicht wichtiger noch ist allerdings ihre Eigenschaft als «Frau des Goethekreises». Ihre quasi-töchterliche Beziehung zu Goethe sowie ihre enge Freundschaft mit Goethes Schwiegertochter Ottilie bereiteten ihr einen bescheidenen Bekanntheitsgrad und ermöglichten die - lückenhafte - Überlieferung ihrer Briefe. In jüngerer Zeit findet sie jedoch auch des öfteren Erwähnung in Arbeiten über ihre Mutter Johanna Schopenhauer, deren Romane und Reiseberichte vor allem in der feministisch orientierten Literaturkritik Interesse erregt haben. 1 Was diese Arten der Beschäftigung mit Adele Schopenhauer gemeinsam haben, ist, dass selten ihre eigene Person oder gar ihre literarischen Produkte im Vordergrund stehen, sondern sie diesen Untersuchungen lediglich als Vehikel eines auf andere gerichteten Forschungsinteresses dient. 2 Das Bild, das von ihr in der Vergangenheit gezeichnet wurde, entspricht dabei häufig dem misogynen Stereotyp der «alten Jungfer». Betont wurden dabei ihr unansehnliches Äußeres, ihr häufig schroffes Auftreten und ihre emotionale Instabilität, die sich vor allem in eingebildeten Liebschaften geäußert habe. 3 Als positive Aspekte ihres Charakters wurden andererseits ihre großes Talent für minutiöse Scherenschnitte hervorgehoben, sowie ihre Bildung und Liebenswürdigkeit, die Zeitgenossen wie Hermann Pückler-Muskau erwähnten. Der vorliegende Beitrag soll dazu dienen, Adele Schopenhauer als komplexere Persönlichkeit zu präsentieren, als dies bisher geschehen ist. Vor allem soll ihr Fall dazu genutzt werden, weitere Einsichten in die sozialen Situationen von Frauen an den Rändern kultureller Zentren und Eliten im 19. Jahrhundert zu gewinnen. Untersucht werden soll, wie Adele Schopenhauer in einem kulturellen Umfeld, das ihr als unvermögender, alleinstehender Frau des Bürgertums eine untere Position im sozialen Raum zuweist, gesellschaftlich überlebt. Zu verfolgen sind ihre Strategien der Selbstkonstruktion und 292 Anja Peters -repräsentation sowie der Kommunikation, mit deren Hilfe sie sich bemüht, ihre Zugehörigkeit zum Weimarer Kreis zu markieren, um auf diese Weise ihre Handlungsspielräume zu erweitern. Adele Schopenhauer ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Ein Blick auf ihren Umkreis zeigt, dass solche Strategien auch von anderen Frauen - mehr oder weniger erfolgreich - angewandt wurden, um ihre Talente und Neigungen zur Geltung zu bringen. So suchte beispielsweise Annette von Droste-Hülshoff über Adele Schopenhauer und Sibylle Mertens-Schaaffhausen Kontakte zu den intellektuellen Kreisen in Weimar, Bonn und Köln. Sibylle Mertens-Schaffhausen wiederum hatte sich durch die Heirat mit dem Bankier Ludwig Mertens die gesellschaftliche und finanzielle Grundlage geschaffen, ihren Neigungen und Interessen nachzugehen. Durch ihre enge Freundschaft mit Adele Schopenhauer konnte Mertens-Schaaffhausen zudem Verbindungen zu Ottilie von Goethe und dem Dichter selbst etablieren. Eine solche Herangehensweise an die Lebenssituationen und -dokumente von Frauen zu Beginn des 19. Jahrhunderts soll deren Verbindungen und Freundschaften jedoch keineswegs als sozialen Opportunismus abwerten. Vielmehr sollen ihre Handlungen und Äußerungen (vor allem in Briefen) als Indizien gelesen werden, die Aufschluss geben über individuelle Bemühungen, von den Rändern des kulturellen Lebens in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu dessen Zentren vorzudringen. Ein solches Projekt kann von einer kulturwissenschaftlichen Herangehensweise an Texte profitieren. Die Disziplin der «Cultural Studies» interessiert sich für solche gesellschaftlichen Gruppen an den Rändern der «Hochkultur», die in hegemonischen Strukturen moderner Gesellschaften am wenigsten Macht besitzen. Betrachtet wird dabei unter anderem, wie diese Gruppen ihr eigenes Verständnis und ihren eigenen Gebrauch kultureller Produkte entwickeln, um auf diese Weise Identitäten zu artikulieren (During 6). Diese Betrachtungsweise von Kultur ist für eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen der intellektuellen Elite in Deutschland um 1800 und ihren Randgruppen von Nutzen. Als eine dieser Randgruppen können jene Frauen identifiziert werden, die Strategien entwickeln, sich dem kulturellen Raum dieser Eliten anzunähern. Teile dieser Strategien manifestieren sich in ihren Korrespondenzen untereinander und mit etablierten Mitgliedern der dominanten Gruppen in kulturellen und sozialen Zentren. Diese Briefe können daraufhin untersucht werden, wie die Autorinnen in diesem Medium Identitäten artikulieren bzw. konstruieren und somit ihre Zugehörigkeit zu dominanten gesellschaftlichen Gruppen markieren. Im Fall von Adele Schopenhauer sowie ihrer Mutter Johanna geschieht dies weitgehend über die Person Johann Wolfgang von Goethes, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch «Wir in Weimar» 293 zu Lebzeiten bereits den Status einer kulturellen Ware erlangt hatte. Dieser «commodified Goethe» (Henke 16) soll in der vorliegenden Untersuchung als eines jener kulturellen Produkte betrachtet werden, die von marginalisierten Gruppen und Individuen zur Erschaffung und Bestätigung der eigenen Identität benutzt wurden. 4 Betrachten wir «Weimar um 1800» als kulturelles Feld im Sinne Bourdieus, erscheinen bestimmte Verhaltensweisen Adele - sowie Johanna - Schopenhauers als Versuche, ihre Position im Feld zu verteidigen und zu verbessern. Sie benutzen das höchstwertige «Kapital» dieses Feldes, nämlich die persönliche Vertrautheit mit Goethe, um ihr Machtdefizit, das sie als bürgerliche, alleinstehende Frauen besitzen, zu kompensieren. Als Textgrundlage dient mir in dieser Untersuchung Adele Schopenhauers Briefwechsel mit Johann Wolfgang von Goethe aus den Jahren 1820 bis 1831. Diese Grundlage kann nur ausschnitthaft sein. Für ein vollständigeres Bild müssten Schopenhauers Briefwechsel mit einem größeren Kreis von Korrespondenten berücksichtigt, sowie der Untersuchungszeitraum erweitert werden. Dies wird allerdings dadurch erschwert, dass die Editionslage der Briefe Adele Schopenhauers problematisch ist. 5 Am besten dokumentiert ist ihr Briefwechsel mit ihrem Bruder in Ludger Lütkehaus’ Ausgabe des Familien- Briefwechsels. Der größte Teil ihrer Korrespondenz mit Annette von Droste- Hülshoff, die in der historisch-kritischen Droste-Ausgabe dokumentiert ist, ist nicht erhalten. Die vorhandenen Briefe sind oft nur lückenhaft überliefert. Zahlreiche Originale sind verloren und einige in der HKA abgedruckten Versionen haben ihre Textgrundlage in der Droste-Ausgabe Wilhelm Kreitens aus dem Jahr 1887. 6 Ein Teil der Briefe an und von Adele Schopenhauer ist in Briefausgaben von Beginn des 20. Jahrhunderts zu finden, die sich auf den weiblichen Kreis um Goethe konzentrieren und in denen das letztendlich auf Goethe gerichtete Erkenntnisinteresse editorische Entscheidungen wesentlich beeinflusst. In der 1912 von Wolfgang von Oettingen herausgegebenen Auswahl aus Briefen von und an Ottilie von Goethe, stellt Oettingen in der «Einleitung» eine Frage, die symptomatisch für die Herausgabe von Frauenbriefen dieser Zeit ist: «Wer diesen Band durchblättert […] der legt vielleicht die heurige Gabe der Goethe-Gesellschaft mit der Frage ‹was sollen diese pages d’amour? ! › verwundert aus der Hand. Wie kommen solche Geschichten, deren Held nicht einmal Goethe selbst ist, in die Reihe unserer ehrbahren dunkelgrünen Goethe-Bände? » (O. Goethe, Nachlass V). Oettingen rechtfertigt die Veröffentlichung des «Gezwitscher[s]» (V) dieser Briefe damit, dass man Goethe nur dann wirklich verstehen könne, wenn man sich auch mit der Weimarer «Komparserie» (V) beschäftige. Zu dieser 294 Anja Peters gehören dann auch Ottilie von Goethe und ihre Freundinnen, deren Briefe zwar ungekürzt, aber in einer Auswahl abgedruckt werden. Weitere lückenhafte Abdrucke von Schopenhauers Briefen liegen in einem Ottilie von Goethe gewidmeten Band aus dem Jahr 1923 vor. Dem Herausgeber H.H. Houben geht es hier darum, Ottilie von Goethes «Leben im Schatten des Titanen» (O. Goethe, Erlebnisse V) in ihren Briefen und denen ihrer engsten Freundinnen darzustellen. Dabei ist es selbstverständlich immer noch Goethes Leben, das das eigentliche Erkenntnisinteresse der Veröffentlichung darstellt. Ottilie nimmt für Houben einen besonderen Platz im Kreise der «Frauengestalten, die Goethes Lebensweg kreuzten» ein, da sie es ist, «auf die der letzte Blick des sterbenden Olympiers fiel» (V). Die Briefe Sibylle Mertens-Schaaffhausens und Adele Schopenhauers dienen in diesem Zusammenhang wiederum nur zur «Erklärung der Ottilienbriefe und zur Verknüpfung des biographischen Zusammenhanges» (XVII). Dieses sehr spezifische Interesse an Schopenhauers Briefen führt somit zu eklatanten Kürzungen, die ihre Verlässlichkeit als Textgrundlagen stark limitieren. Was aus einer ersten Sichtung dieser bruchstückhaft überlieferten Briefe und ihrem biographisch-historischen Kontext hervorgeht, ist, dass für Adele Schopenhauer bei der Konstruktionen multipler Identitäten in ihren Briefen die Festigung sozialer Bindungen und die Etablierung sozialer Netzwerke im Mittelpunkt standen. Zu den problematischsten sozialen Bindungen Adele Schopenhauers gehörte sicherlich die zu ihrem Bruder, was sich auch in ihrer Korrespondenz wiederspiegelt. Hier reicht das Spektrum der Präsentationen ihres Selbst von der liebe- und verständnisvollen Schwester, klugen Ratgeberin und Beschützerin bzw. Verteidigerin der Mutter bis zur distanzierten, kühl rechnenden Geschäftspartnerin. Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht auch Adele Schopenhauers Briefe an Hermann Hauff, den Redakteur der literarischen Zeitschrift Morgenblatt für gebildete Stände, für die sie in den 40er Jahren Beiträge über Italien lieferte. Hier tritt sie als Autorin mit persönlicher und schriftstellerischer Integrität auf und weist wiederholt auf ihre Eingebundenheit in den Literaturbetrieb hin. So bezieht sie sich beispielsweise in einem Brief vom 10. September 1847 auf den erfolgreichen Autor und Kritiker Levin Schücking, um ihre Zugehörigkeit zu einflussreichen literarischen Kreisen zu markieren. Im Briefwechsel mit ihren Freundinnen etabliert und pflegt Adele Schopenhauer ein soziales Netzwerk mit Frauen, die - abgesehen von engen emotionalen Bindungen - ihr den Zugang zu gesellschaftlichen Zirkeln und intellektueller Beschäftigung ermöglichen. Während ihr schwesterliches Verhältnis zu Ottilie ihr geradezu den Status eines Mitgliedes des Goethe-Haus- «Wir in Weimar» 295 haltes verschafft, eröffnet ihr die Freundschaft mit Sibylle Mertens-Schaaffhausen den Umgang mit der Bonner intellektuellen Elite. Es kann nicht überraschen, dass der Abdruck des Briefwechsels zwischen Adele Schopenhauer und Johann Wolfgang von Goethe im Goethe-Jahrbuch des Jahres 1898 den bedeutenden, männlichen Korrespondenten in den Mittelpunkt stellt. Die Veröffentlichung macht diese marginale Stellung schon in der Überschrift deutlich. Ludwig Geiger nennt seinen Beitrag «Dreizehn Briefe Goethes an Adele Schopenhauer. Nebst Antworten der Adele und einem Billet Börnes an Goethe». Die Präposition «nebst» macht das Erkenntnisinteresse dieses Beitrages überdeutlich. Im Zentrum stehen Goethes Briefe, und die rein reaktiven «Antworten» Adele Schopenhauers dienen lediglich der Erläuterung jener Briefe. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die noch heute in der Literaturwissenschaft übliche Nennung der weiblichen Person beim Vornamen, eine unangebracht familiäre Diminuierung der «Frau» zum «Mädchen». Als sei allerdings schon damit der weiblichen Briefpartnerin zu großer Raum in der Veröffentlichung der Goethe-Briefe zugestanden, fügt Geiger noch ein «Billet» eines anderen «großen Mannes», nämlich Börnes, hinzu. Auch Geigers Anmerkungen zu den Briefen lassen keinen Zweifel, dass er seine Veröffentlichung als Beitrag zur Goethe-Forschung und der Goethe-Verehrung versteht. In seiner editorischen Notiz weist er darauf hin, dass die Briefe Goethes «buchstäblich genau abgedruckt» seien, während er «den Briefen Adelens gegenüber … freier [verfuhr]» (J.W. Goethe 87). Der Wortlaut des großen Dichters ist dem Herausgeber heilig, während Adele Schopenhauers «Briefchen» (92) der Korrektur und der Auslassung vermeintlich unwichtiger Passagen bedürfen. Bei diesen Auslassungen handelt es sich zumeist um Beschreibungen ihres täglichen Lebens, Umgangs und künstlerischen Tätigkeiten. 7 Es besteht also kein genuines Interesse an biographischen Details ihres eigenen Lebens, sondern ihr Schreiben erhält seine Legitimation nur in Bezug auf Goethe. So befasst Geiger sich in dem Großteil seiner Anmerkungen auch mit Erläuterungen von Umständen und Personen aus dem Umfeld Goethes, die in den Briefen Erwähnung finden. Adele Schopenhauers Briefe dienen ihm lediglich als Informationsquelle über den Dichter, nicht als Dokumente über die Schreiberin selbst. Sie interessiert nur als Goetheleserin und -bewunderin. Nur selten kommentiert Geiger das Schreiben Schopenhauers, und dann schätzt er seinen Wert in Bezug auf das «rührende» (118) Interesse, das Schopenhauer für Goethes Interessen und Wohlergehen zeigt oder rügt sie für ihre «Klatschereien» (117). Jene Passagen, in denen Schopenhauer Aussagen zu Goethes Werk macht, werden gar nicht oder nur vage kommentiert. So 296 Anja Peters schreibt Geiger beispielsweise zu Schopenhauers Erläuterung der Aufnahme des Goethe-Schiller-Briefwechsels in Bonn im Vergleich zu Weimar lediglich, «das schöne Urtheil über die Schiller-Goethische Correspondenz» bedürfe «keines weiteren Commentars» (112). In Vermeidung der Beurteilung des intellektuellen Wertes von Schopenhauers Kommentar nimmt Geiger Zuflucht zu einem ästhetischen und daher der «weiblichen Natur» entsprechenden Urteil über ihre Aussagen. Diese Haltung Goethe-Korrespondentinnen gegenüber ist angesichts des Zeitpunkts der Veröffentlichung des Briefwechsels natürlich nicht überraschend. Ganz abgesehen von der problematischen Legitimation weiblichen Schreibens im 19. Jahrhundert, lag das Erkenntnisinteresse der Goethe-Forschung in dieser Zeit vor allem in der positivistischen Aufarbeitung von Goethes Leben und Werk. Das Goethe-Jahrbuch war seit 1885 mit der im gleichen Jahr gegründeten Goethe-Gesellschaft verbunden, die sich die Erschließung und Verbreitung des Werkes Goethes zur Aufgabe gemacht hatte. Auf die politische Dimension dieses Unternehmens hat Karl Robert Mandelkow hingewiesen: Goethe geriet, wie die Literatur der deutschen Klassik überhaupt, zum «einigende[n] und einheitsstiftende[n] Band einer zerrissenen und geschlagenen Nation» (Mandelkow 66). Dass Adele Schopenhauer - wie andere Goethe-Korrespondentinnen - unter diesen Voraussetzungen nicht als «bedeutende» Persönlichkeit in ihrem eigenen Recht wahrgenommen wurde, ist kaum verwunderlich. Bevor wir uns dem Briefwechsel zwischen Adele Schopenhauer und Goethe selbst zuwenden, ist es notwendig, die historische und persönliche Situation der Briefpartner zu skizzieren, um die Konstruktionen persönlicher Identität in ihrem kulturellen und aktuellen Kontext zu beurteilen. Johanna Schopenhauer hatte 1806 nach dem vermutlichen Selbstmord ihres Mannes Weimar bewusst als Wohnort gewählt in der Hoffnung, das kulturelle Leben dieses Ortes gebe ihr die Gelegenheit, ihre - in der Konvenienzehe mit dem viel älteren und psychisch labilen Heinrich Floris Schopenhauer zu kurz gekommenen - Interessen und Talente weiterzuentwickeln. Eine Hürde, die sie bei ihrer Integration in die Weimarer Gesellschaft nehmen musste, war jedoch deren aristokratisch-höfisches Gepräge, das zu einer kaum überwindlichen Kluft zwischen Adel und bürgerlichen Kreisen führte (Dahnke 1125). Trotz dieser Widerstände gelang es Johanna Schopenhauer, die in Weimar bald für ihre Großzügigkeit und Liebenswürdigkeit bekannt wurde, durch ihr tiefes Interesse an Kunst und Literatur sowie ihre Fähigkeiten als Salonière ihre Teezirkel zu einem Anziehungspunkt für die bürgerliche und adelige Gesellschaft Weimars zu machen. Bei diesen Zusammenkünften, die zweimal die Woche stattfanden, trafen die Gäste auf einen entspan- «Wir in Weimar» 297 nten und umgänglichen Goethe, der sich dort offensichtlich bald zu Hause fühlte. Johanna Schopenhauer kam bei ihrer Eingliederung der Zufall zur Hilfe, als sie kurz nach ihrer Ankunft bei der Besetzung Weimars durch französische Truppen ihren Mut und ihre Geistesgegenwart unter Beweis stellen konnte. Sie unternahm aber auch wohl geplante Maßnahmen, den Standesdünkel zu überwinden. So benutzte sie beispielsweise nach der Übersiedlung nach Weimar den Titel der Hofrätin, einen Titel, den ihr Mann nie in Anspruch genommen hatte. Eine weitere Entscheidung, nämlich als erste die frisch verheiratete Christiane von Goethe zum Tee zu empfangen, war durchaus riskanter, gewann ihr jedoch Goethes Respekt und Zuneigung. Die bis dahin von der Weimarer Gesellschaft geschnittete Christiane, fand nach der herzlichen Aufnahme im Schopenhauerschen Haus größere Akzeptanz in gesellschaftlichen Zirkeln. 8 Die Nähe zu Goethe und seiner Familie diente Johanna Schopenhauer somit als «Eintrittsbillet» in die Weimarer Gesellschaft, in der sie sonst aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft einen schweren Stand gehabt hätte. Dieser Mechanismus ist dem ähnlich, den Liliane Weissberg in Bezug auf die Goethe- Verehrung jüdischer Frauen beschrieben hat (250). Weissberg argumentiert, dass ein wesentliches Kriterium der jüdischen Assimilation in der Übernahme des bürgerlichen Bildungsideals bestand. Wesentlicher Bestandteil dieser «Akkulteration» war für Frauen wie Rahel Varnhagen und Dorothea Schlegel die Annäherung an Goethes Schriften und seine Person. So schreibt Rahel Varnhagen nach einem Besuch des Dichters: «Goethe war diesen Morgen um Viertel auf zehn bei mir. Dies ist mein Adelsdiplom» (zitiert in Gooze 42). Johanna Schopenhauer diente die Aufnahme in die höfischen Zirkel um Goethe unter anderem dazu, den Vorwürfen ihres Sohnes zu begegnen, sie verrate das Ansehen seines Vaters. Indem sie in Briefen an ihn ausführlich ihren fast täglichen Umgang mit Goethe schildert, benutzt sie ihr enges Verhältnis zu dem auch von Arthur verehrten Dichter als Legitimation für ein Leben als unabhängige Frau, das Arthur ihr streitig machte. Adele Schopenhauer muss somit schon als junges Mädchen die Bedeutung der Integration in die höfische Kultur und den Goethekreis erfahren haben. Johanna förderte nicht nur den gesellschaftlichen, sondern auch den familiären Umgang Goethes in ihrem Haus. In einem Brief an Arthur berichtet sie sichtbar stolz über den Besuch Goethes zum Weihnachtsfest 1806: Göthe ist ein unbeschreibliches Wesen, das Höchste wie das Kleinste ergreift er, so saß er denn den Feyertag eine lange Weile im letzten meiner drey Zimmer mit Adele und der jüngsten Conta einem hübschen unbefangenen 16jährigen Mädchen, wir sahen von weitem der lebhaften Conversation zwischen den dreyen zu ohne sie zu 298 Anja Peters verstehen, zuletzt giengen all drey hinaus, und kamen lange nicht wieder, Göthe war mit den Kindern in Sophiens Zimmer gegangen, hatte sich dort hingesezt und sich Adelens Herrlichkeiten zeigen lassen, alles Stück vor Stück besehen, die Puppen nach der Reihe tanzen lassen, und kam nun mit den frohen Kindern und einem so lieben milden Gesichte zurück, wovon kein Mensch einen Begrif hat der nicht die Gelegenheit hat ihn zu sehen wie ich.» (Schopenhauer, Familien-Briefwechsel 134) Johanna Schopenhauer betont in dieser Passage, dass sie nicht nur zum gesellschaftlichen Umkreis, sondern geradezu zum familiären Umfeld Goethes gehört. In ihrer Schilderung teilt sie den räumlichen Rahmen des berichteten Geschehens in drei Bereiche ein, die sich durch einen wachsenden Grad an häuslicher Intimität und Privatheit unterscheiden. Aus dem Salon, in dem ihre Gesellschaft stattfindet, beobachten sie und ihre Besucher die Unterhaltung Goethes mit den beiden Mädchen «im letzten [ihrer] drey Zimmer.» Goethe hatte sich offensichtlich von der Öffentlichkeit der Gesellschaft entfernt und sich in einen der inneren Räume zurückgezogen. Johanna betont die Entfernung zum formalen Geschehen und damit die Intimität der Situation, indem sie darauf hinweist, dass die Unterhaltung im Salon nicht zu verstehen war. Dann entzieht Goethe sich mit den Kindern auch den Blicken der Gesellschaft in das Zimmer der Bediensteten, wo er nicht Geheimrat und Dichterfürst ist, sondern ein freundlich-großväterliches Familienmitglied. Es stellt sich die Frage, warum Johanna diese Szene, die sie nach eigener Aussage nicht gesehen hat, schildern kann. Man könnte vermuten, dass sie doch einen heimlichen Blick in das Zimmer geworfen hat, oder aber, dass sie Adele nach Einzelheiten gefragt hat. Wie dem auch sei, Adele Schopenhauer wird verstanden haben, dass ihre Mutter großen Wert darauf legte, in der Weimarer Gesellschaft eine geradezu familiäre Sonderstellung im Kreis um Goethe einzunehmen. Es lässt sich vor diesem Hintergrund auch vorstellen, dass Adeles enge Freundschaft mit Ottilie von Pogwisch nach ihrer Verheiratung mit August von Goethe von Johanna begrüßt, wenn nicht gar gefördert wurde. Diese Annahme wird durch eine Passage aus einem Brief Johannas an Ottilie von Goethe aus dem Jahr 1820 unterstützt. Sie drückt hier ihre Freude über den verbesserten Gesundheitszustand der schwangeren Ottilie aus und begründet ihre Teilnahme mit den Worten: «und alles dies versteht sich von selbst denn Du bist ja auch mein Kind, mein liebes, liebes Kind, das sich so mit meiner Adele mir ins Herz geschlichen hat, ich weiß selbst nicht wie» (J. Schopenhauer, Wechsel 371). Indem sie sich selbst als Muttergestalt in Ottilies Leben darstellt, stärkt Johanna ihre quasi-familiäre Verbindung zur Goethe-Familie. Sie legt zudem viel Wert darauf, dass dieses besondere Verhältnis, das sie ihrer Aussage nach «Wir in Weimar» 299 zu Goethe hat, auch im weiteren Goethezirkel bekannt wird. So schreibt sie beispielsweise 1821 an den Kunstsammler Sulpiz Boisserée, nachdem sie ihm ihren und Goethes zurückgezogenen Lebenswandel geschildert hat: «Doch stehe ich mit Goethes Haus fortwährend in der freundlichsten Verbindung, der alte Herr hat meine Adele gern, ich liebe seine Schwiegertochter und bin Patin des jüngsten seiner Enkel, so stehen wir durch unsere Kinder in fortwährendem Verkehr und wissen voneinander, wenn wir uns auch wenig sehen» (373). Johanna Schopenhauer beschwört hier gegenüber Boisserée, der ihr bei der Publikation ihrer literarischen Arbeiten behilflich war, nicht nur die Häufigkeit ihres Kontaktes mit der Ikone Goethe, sondern beschreibt ihr Verhältnis auch als ein gleichberechtigtes: Sie beide sind Eltern, die sich durch die Freundschaft ihrer Kinder nahe stehen. Sie distanziert sich damit von der Menge der Goetheverehrerinnen und etabliert sich gegenüber einflussreichen gesellschaftlichen Gruppen als Vertraute des großen Dichters, ein Status, der sicherlich auch dem Verkauf ihrer Bücher förderlich war. Für Adele Schopenhauer sind diese frühen Jahre in Weimar eine glückliche und anregende Zeit. Weimar ist Anziehungspunkt für die intellektuelle Elite, mit der Adele im Haus ihrer Mutter zusammentrifft. Ihre künstlerische Begabung wird in der örtlichen Zeichenschule gefördert, und Goethe äußert sich positiv über ihr schauspielerisches Talent, das sie in Liebhaberaufführungen und Maskenzügen unter Beweis stellen darf. In diesen Jahren entwickelt sich ein enges freundschaftliches Verhältnis zu Goethe, der Adeles Begabung und Sensibilität zu schätzen weiß und dem jungen Mädchen gegenüber schon bald in eine Vaterrolle tritt. Die stabile finanzielle Lage ihrer Familie sowie die feste Einbindung in soziale und kulturelle Praktiken des Bildungsbürgertums ermöglichen Adele Schopenhauer somit die weitgehend problemlose Identifikation mit einer dominanten gesellschaftlichen Gruppierung. Der überlieferte Briefwechsel zwischen Adele Schopenhauer und Johann Wolfgang von Goethe entstand hingegen erst zwischen 1820 und 1831. Für Adele Schopenhauer waren dies Jahre großer finanzieller und persönlicher Instabilität. 1819 hatte sie und ihre Mutter die Hiobsbotschaft erreicht, dass das Danziger Bankhaus Muhl, dem sie den größten Teil ihres Vermögens anvertraut hatten, bankrott war. Im Juni 1819 reisten sie nach Danzig, um vor Ort effektiver die Verhandlungen um einen Vergleich zu führen. Das folgende Jahr wurde für Adele und ihre Mutter zu einem Kampf, den sie an zwei Fronten zu kämpfen hatten. Zum einen führten sie zähe Verhandlungen mit dem Konkursverwalter des Bankhauses, um zumindest einen Teil ihres Vermögens zu retten. Zum anderen kam es zu erbitterten brieflichen Auseinandersetzungen mit Arthur, der nur einen kleinen Teil seines Vermögens bei 300 Anja Peters Muhl angelegt hatte und nicht an einem Vergleich interessiert war, was wiederum die Zahlungen an seine Schwester und Mutter gefährdete. Neben dem endgültigen Zerbrechen ihrer Bindung an den Bruder litt Adele vor allem unter der Aussicht, ihr - kostspieliges - Leben in Weimar aufgeben zu müssen. Die Bedeutung, die ihre soziale Einbindung in die Weimarer Gesellschaft für sie hatte, versuchte sie Arthur in einem Brief aus Danzig im Juli 1819 deutlich zu machen: «Wenn ich nur nicht Weimar verlassen muss bin ich zu allem entschlossen, auf das Schlimmste gefasst, ich will gern alles übrige opfern und mir verdienen, was ich brauche, aber Ottiliens und ueberhaupt meiner Freunde Verlust zu tragen halt ich mich selbst für zu schwach» (Schopenhauer, Familien-Briefwechsel 291). Diese Briefstelle sollte vor dem Hintergrund ihrer Beziehung zu Arthur gelesen werden. Schopenhauer betont ihrem Bruder gegenüber, der sie in seinen Briefen der Habsucht und Unehrlichkeit bezichtigt, dass sie durchaus zu Verzicht und harter Arbeit bereit sei. Zudem verweist sie auf ihr «symbolisches Kapital», nämlich ihre gesellschaftlichen Beziehungen in Weimar, um ihre Stellung ihm gegenüber zu stärken. Sie erinnert ihn durch die Erwähnung Ottilies und ihrer weiteren Freunde, dass seine Schwester kein Niemand ist, sondern der deutschen intellektuellen und gesellschaftlichen Elite nahesteht. In einem weiteren Brief zieht sie ihm gegenüber zwar dann doch in Erwägung, Deutschland zu verlassen, doch scheint dies weniger ein realistischer Plan als ein weiterer Versuch zu sein, Arthur an die gesellschaftlichen Verbindungen seiner Schwester zu erinnern: «In der höchsten Noth, aber auch nur in der HÖCHSTEN, verlasse ich mein Vaterland und gehe als Gouvernante nach RUSSLAND. Durch die Kaiserin und unsere Hoheit erhielte ich leicht recommandationen und kann vielleicht in wenigen Jahren meine Zukunft sichern» (292). Aus dieser gestärkten Position heraus kann sie auch Arthurs Druck, ihre finanzielle Situation durch eine vorteilhafte Heirat zu stabilisieren, begegnen: «Heirathen kann, WILL ich nicht ohne Neigung, ein jeder kennt seine Kraft, was tausende drückt ist mir nichts, was tausende tragen würde mich zerdrücken» (292). Unter dem apologetischen Mantel der Schwäche, Teil des ihr als Frau zugehörigen Habitus, präsentiert sie sich Arthur gegenüber als willensstarke, unabhängige Frau, deren gesellschaftliche Einbindung in die Weimarer Gesellschaft sie unangreifbar macht. Die Rückkehr nach Weimar wurde zwar möglich, jedoch nur unter weiterhin schwierigen Vermögensverhältnissen. Johanna Schopenhauer lebte nach wie vor über ihre Verhältnisse und auch ihre literarischen Projekte fingen ihre Ausgaben nur zum Teil auf, so dass sie auf das Einkommen ihrer Tochter zurückgriff. Zudem bekamen beide - nun ohne Vermögen - im adelig-höfischen Weimar die Inadäquatheit ihrer bürgerlichen Herkunft zu spüren. Am 3. Feb- «Wir in Weimar» 301 ruar 1821 schreibt Adele in ihr Tagebuch: «so quält mich der Mutter wachsender Widerstand gegen Weimar. Sie fühlte nun erst, wie viel sie dadurch, dass sie nicht zum Adel gehöre, einbüße, da sie nicht mehr in ihrem Haus viel Menschen sah» (Tagebücher 70). Auch ihre engste Vertraute, Ottilie von Goethe, nun Mutter von zwei Kindern, fand immer weniger Zeit für ihre Freundin. Adele ging mit dieser neuen Situation um, indem sie sich bemühte, die Haltung der höfischen Gesellschaft zu verstehen und zu verinnerlichen. Sie fährt fort: «Alle Unbilligkeit gegen meine Freunde ist vergangen, denn ich erkenne die Unmöglichkeit, dass sie öfter kommen könnten, ich begreife ganz leicht die Änderungen, die mancher Wechsel in und um uns selbst in ihnen hervorruft, ich bin nicht mehr ungerecht, ich war es aber» (71). Sie beschwört weiterhin ihre Freundschaft mit jenen, die sie nun vernachlässigen, es wird jedoch deutlich, dass sie durch das veränderte Verhalten der Weimarer Gesellschaft gekränkt ist. Auch wenn Adele Schopenhauer den Grund für diese Abkühlung ihres sozialen Umfelds auf die Tatsache zurückführte, dass sie nicht dem Adel angehörte, lässt sich argumentieren, dass ihre Situation weitaus ernsthafter war, als sie es selbst wahrnahm oder wahrnehmen wollte. Der finanzielle Bankrott hatte sie nicht nur noch weiter von den Adelskreisen entfernt, sondern gefährdete zudem ihre Integration ins bürgerliche Gesellschaftsleben. Die Teilhabe an «Bürgerlichkeit» basierte nicht zuletzt auf einer stabilen Einkommenssituation, die die Partizipation an bürgerlichen Praktiken, wie dem Besuch des Teehauses oder der Ausrichtung einer Abendeinladung, ermöglichte (Kaschuba 404). Es folgten Jahre, die durch Reisen und die intensive Freundschaft zu Ottilie von Goethe erfüllt waren, in deren komplizierte Beziehungen Adele Schopenhauer stets emotional tief mit verstrickt war. In diese Zeit fallen zudem zwei verunglückte Beziehungen ihrerseits, die nicht zur erhofften Eheschließung führten. Für Adele Schopenhauers Identitätskonstruktion bedeutet dies, dass sie als unscheinbare, gebildete, unvermögende und - daher - unverheiratete Frau andere gesellschaftlich anerkannte Formen der Identität entwickeln musste. Den gehobenen gesellschaftlichen Status und die feste Verankerung im Bürgertum, die sie beide nur durch eine vorteilhafte Verheiratung erlangen konnte, versuchte sie - wie auch ihre Mutter - als «Weimarerin» zu erreichen. So betont sie beispielsweise in einem Brief an Ottilie von Goethe aus dem Jahr 1833, in dem sie die gemeinsame Bekannte Anna Jameson der Unaufrichtigkeit beschuldigt: «Wir in Weimar sind das nicht gewöhnt, wir haben ein großartigeres kühneres Vertrauen» (O. Goethe, Erlebnisse 13). Obwohl sie sich zu diesem Zeitpunkt schon fest am Rhein niedergelassen hat, beschwört sie hier die Werte der Weimarer Gesellschaft sowie ihre eigene Zugehörigkeit zu ihr. 302 Anja Peters In Bourdieus Sinne zeigt sich hier gleichzeitig die unreflektierte Übernahme der Werte eines kulturellen Feldes, sowie deren Ausnutzung zur eigenen Positionierung im Feld durch die Ausgrenzung anderer. Als Dokument der Beziehung Adele Schopenhauers zu Johann Wolfgang von Goethe in dieser Zeit müssen vor allem dessen Tagebücher herangezogen werden. Die Häufigkeit und die Natur ihrer Besuche im Goetheschen Haushalt weisen auf ein enges, fast familiäres Verhältnis hin. Mit teilweise bis zu 30 Besuchen jährlich gehörte Adele Schopenhauer zu den häufigsten Gästen des Dichters, der sich in dieser Lebensphase weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Nach 1823 war Goethe vor allem mit der Ordnung und Gesamtausgabe seines Werkes beschäftigt und verließ kaum noch den Bezirk um Weimar und Jena. Die Verbindung nach außen erhielt er durch den Empfang von Besuchern und eine umfangreiche Korrespondenz aufrecht. Mit Bezug auf Adele Schopenhauer verzeichnet Goethe in diesem Zeitraum in seinem Tagebuch zumeist nur «Nach Tische Adele Schopenhauer» (Tagebücher VI: 266; VII: 30; VIII: 19) oder «Abends Adele Schopenhauer» (VI: 176; 182). Ausführlichere Einträge beschreiben Aktivitäten wie das Rezitieren von literarischen Texten (VIII: 3), die Betrachtung von Kunstdrucken (VI: 250) oder auch Gespräche über Schopenhauers «schickliche und häusliche Zustände» (IX: 142). Hieraus ergibt sich ein Bild Goethes als intellektueller Mentor und Mitte der 1820er Jahre zunehmend auch als väterlicher Ratgeber Schopenhauers. 9 1829 wurde die finanzielle Belastung des Lebens in Weimar untragbar, so dass Mutter und Tochter dauerhaft an den Rhein zogen, wo Adele Schopenhauers enge Freundin Sibylle Mertens-Schaaffhausen ihnen ein Haus in Unkel zur Verfügung stellte. Hier verkehrte Schopenhauer in Bonner intellektuellen Zirkeln und besuchte unter anderem Friedrich Schlegels - speziell für Frauen gehaltene - Vorlesungen. Zudem widmete sie sich der Schulung und Weiterbildung ihres Zeichentalentes. Trotz dieser gelungenen Reintegration in bürgerliche Kreise blieb Weimar für sie jedoch weiterhin Orientierungspunkt, Heimat und Quelle ihrer Identität. Die Stadt hatte sich zu dieser Zeit zu einem Museum seiner selbst entwickelt. Herder, Schiller und Wieland waren gestorben, wurden jedoch in offiziellen Zeremonien am Leben erhalten. Übriggeblieben war allein Goethe als das «bedeutendste Ausstellungsstück» (Oellers und Stegers 263). Für Adele Schopenhauer blieb der enge Kontakt nach Weimar von essentieller Bedeutung. Für einen ständigen Informationsfluss aus Weimar benötigte sie jedoch ein ausgeprägtes Netz von Briefpartnerinnen. So wirft ihr Ottilies Mutter, Henriette von Pogwisch, 1832 in einem Brief scherzhaft vor: «Was haben Sie nur für Correspondentinnen dass sie nicht wissen wie die «Wir in Weimar» 303 arme Marianne Dankelmann verheyratet Rocheid schon seit vorigem May todt ist» (20). Es war offensichtlich eine Frage des Stolzes unter Frauen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, über ein möglichst großes Netz von «Correspondentinnen» zu verfügen, sowie auch eine Form des Vertrauensbeweises. So ist beispielweise Henriette von Pogwisch gekränkt, als sie erfährt, dass Adele Schopenhauer jemand anderen als sie um Nachrichten aus Weimar gebeten habe (39). Informationen über das gesellschaftliche Leben in Weimar waren offensichtlich eine kostbare Ware, Teil des «kulturellen Kapitals», mit dem man seine Nähe zum kulturellen Zentrum Deutschlands unter Beweis stellte und das man nicht ohne weiteres an andere weitergab. Rainer Baasner weist auf diese, sozialen Status und Identität stiftende, Funktion von Korrespondenzen hin: «Briefe zu bekommen hieß, in ein funktionierendes Netz sozialer Interaktion eingebunden zu sein, ernstgenommen zu werden, Gegenstand des Interesses fernlebender Personen zu sein und als kommunikativer Gegenpart gebraucht zu werden» (Baasner 19). Keine ihrer «Correspondentinnen» konnte Adele aber die Weimarer Ikone Goethe selbst ersetzen. Diese Briefe sollen im folgenden daraufhin untersucht werden, wie Adele Schopenhauer sich in ihrem Verhältnis zu Goethe definiert und wie sie ihre Bekanntschaft mit dem Dichter zur Stärkung ihrer gesellschaftlichen Position benutzt. Ein erstes formales Anzeichen für Adele Schopenhauers Strategie, sich als quasi-Familienmitglied Goethes zu verstehen, lässt sich an den Anrede-Formeln der Briefe ablesen. Während sie ihren Briefpartner 1820 noch als «lieber bester Geheimrath» anredet, werden die Begrüßungsformeln mit den Jahren vertraulicher. So spricht sie ihn ab 1824 wiederholt als «lieber Vater» und «theurer Vater» an. Nachdem der Briefwechsel längere Zeit ruht, ist sie jedoch verunsichert und bittet um Erlaubnis, ihn immer noch so vertraulich anreden zu dürfen: «Längst, lieber Vater, (gönnen Sie mir’s der alten Art treu zu bleiben), längst wollte ich Ihnen schreiben» (J.W. Goethe, «Dreizehn Briefe» 60). Goethe geht auf diese Definition ihres Verhältnisses durchaus ein und nennt sie «meine gute Adele» (54), «theuerstes Adelchen» (68) und «mein liebes Adelchen» (84). 1829 und 1831 relativiert er dieses Verhältnis allerdings auch hin und wieder mit Anreden wie «theure liebe Freundin» (73) und «theuerste Freundin» (82). Diese Beschwörung eines familienähnlichen Verhältnisses zeigt sich auch in Adele Schopenhauers Repräsentation ihres Verhältnisses zu Ottilie. Schon in einem Brief von Mitte September 1820 spricht sie von Ottilie und sich selbst als «uns Mädchen» (53). Ende August 1824 macht sie Ottilie zur Überbringerin ihrer Glückwünsche zu Goethes Geburtstag, indem sie die Freundin und sich selbst zur selben Person stilisiert: «Lieber Vater Ottilie liegt wohl 304 Anja Peters in diesem Augenblicke in Ihren Armen und sagt Ihnen mit Auge und Mund alles was mein Herz hier wiederholt» (57). Durch die Hervorhebung der Wesensgleichheit mit Goethes Schwiegertochter, die das artikuliert («Auge und Mund»), was sie selbst fühlt («Herz»), transportiert sie sich selbst in die «Arme» Goethes. Wie auch ihre Mutter, betont sie wiederholt ihr besonderes Verhältnis zu Goethe. So leitet sie in dem selben Brief eine Nachricht über Arthur mit den Worten ein: «Ihnen, lieber gütiger Vater muß ich davon sprechen, denn hier wie überall trennt sich mein Inneres von dem Außenleben und keiner sieht den schnelleren Herzschlag» (59). Die Anrede «Vater», sowie ihre Beteuerung, dass sie nur ihm gegenüber ihre wahren Gefühle äußern könne, konstruiert ein vertrautes Vater-Tochter-Verhältnis. In einem Brief aus dem Jahr 1827 fasst sie dieses Vertrauensverhältnis prägnant mit den Worten zusammen: «Spreche ich einmal, so ist’s zu Ihnen» (61). Das Maß, zu welchem sie ihre Identität und ihr Selbstvertrauen aus Goethes charismatischer Nähe bezieht, wird in dem selben Brief deutlich. Sie schreibt: «Nur Sie nicht zu sehen, fällt mir sehr schwer, Ihre unendliche Güte ließ mich oft glauben, es sei Vieles in mir, was fern von Ihnen mir gebricht, das fühle ich täglich» (62). Die Entfernung von Weimar, und damit von Goethe, scheint jedoch nicht nur ihr Vertrauen in die eigene Stärke, sondern auch ihren Glauben an Goethes Gunst zu erschüttern. Sie weist Goethe von Zeit zu Zeit darauf hin, dass ihr seine Zuneigung keineswegs selbstverständlich ist. So schreibt sie beispielsweise, als sie sich für einen Ring bedankt: «Denn es ist ein wunderbares und unverdientes Glück ihnen lieb zu sein.» Immer wieder bedarf sie der Bestätigung, dass sie immer noch die selbe «Stellung» bei Goethe einnimmt (63). Bleiben Briefe von Goethe aus, so sucht sie die Schuld bei sich und entschuldigt sich für Vergehen, von denen sie nicht weiß, dass sie sich ihrer schuldig gemacht hat: «Ihr Schweigen, lieber Vater, sollte vielleicht meine Feder hemmen, denn fast fürchte ich Ihnen misfallen zu haben, ist dem so, so vergeben Sie das Einzelne um des Ganzen willen und schelten Sie lieber, als dass Sie mir so ganz verschwinden» (67). Wieder stellt sie sich in die Position der Tochter, die vom Vater für ihre Missetaten «gescholten» wird. Auf diese Weise beugt sie einer etwaigen Verärgerung Goethes zweifach vor. Zum einen nimmt sie alle Schuld auf sich, zum anderen appelliert sie an ihr familienähnliches Verhältnis, in dem Verstimmungen leicht zu beheben sind. Adele Schopenhauer benutzt somit den ihr als Frau zugeordneten Habitus - Kindlichkeit, Demut, Bescheidenheit - zur Aneignung symbolischen Kapitals, nämlich der Nähe zu Goethe. Die so geschaffene Zugehörigkeit zum engeren Weimarer Kreis dient ihr gegenüber anderen zu einer gesellschaftlich machterfüllten Position, die sich «Wir in Weimar» 305 unter anderem darin zeigt, dass sie um Handschriften Goethes gebeten wird. In einem Brief vom März 1828 bittet sie Goethe um die Zusendung einer Handschrift, distanziert sich jedoch gleichzeitig von dem Kult um die Person des Dichters: Ich fand unter vielen Menschen die mich nichts angiengen, einen einzigen Mann, deßen Erinnerung mir immer unbeschreiblich rührend seyn wird, und dieser Mensch dem ich recht sehr viel danke quält mich um eine Handschrift von Ihnen. Herzlich bitte ich Sie theurer Vater, gewähren Sie’s zum erstenmal, denn noch nie habe ich Sie gebeten mir eine zu geben. Mein Pult bewahrt manche Zeile Ihrer geliebten Hand, aber es ist sorgfältig verschlossen. (67) Diese Passage zeigt, dass Goethe-Handschriften die Funktion einer Ware hatten, die gegen Hilfestellungen und Gefallen getauscht wurde. Ein Goetheautograph zu besitzen, hieß, dem Dichter oder einem seiner Briefpartner nahe zu stehen, stellte eine materielle Verbindung zwischen der Ikone Goethe und dem Besitzer der Handschrift her. Adele Schopenhauer bedient sich des Marktwertes ihrer Beziehung zu Goethe in einer schwierigen Lebenssituation. 1828 befindet sie sich in Köln und zieht die Stadt als neuen Wohnort in Betracht. Hier muss sie sich in einem ihr unbekannten Gesellschaftskreis erst noch eine Position erkämpfen. Für Adele Schopenhauers Bonner Freundin Sibylle von Mertens-Schaaffhausen war eine Verbindung zum Goethe-Kreis, die sie auch durch einen Briefwechsel mit Ottilie von Goethe untermauerte, natürlich von großem Interesse. Sibylle Mertens-Schaaffhausen besaß eine bemerkenswerte Sammlung antiker Kleinkunst und hatte sich selbst zu einer Expertin auf diesem Gebiet ausgebildet. Durch Adeles Vermittlung beschaffte sie für Goethe zahlreiche Kunstgegenstände und etablierte dadurch eine persönliche Beziehung zu dem Dichter. Aber auch Goethe profitierte von dem durch Adele Schopenhauer gestifteten Kontakt nach Bonn. In zahlreichen Briefen bittet er sie um die Beschaffung und Vermittlung von Kunst- und Sammelgegenständen. Diese Rolle übernahm Schopenhauer sicherlich einerseits aus emotionaler Verbundenheit, gleichzeitig stellte sie jedoch auch eine wichtige Basis ihres gesellschaftlichen Ansehens in Bonn dar. In ihrer Bitte um das Autograph versucht Adele Schopenhauer bezeichnenderweise, sich von ihrem Anliegen zu distanzieren, indem sie Goethe gegenüber betont, dass es sich hier um einen außergewöhnlichen Einzelfall handle: Sie besitze eine große Anzahl von Goethes Handschriften, diese seien für sie jedoch private Dokumente und daher unveräußerlich. Adele Schopenhauer stellt auf diese Weise heraus, dass Goethes Briefe für sie einen höheren Wert haben als für andere. Während andere Goethes Autographen als Reliquien eines Kults um den Dichter und kulturelle Ware betrachten, haben sie für sie 306 Anja Peters selbst eine private, persönliche Bedeutung, die im kulturellen Feld, in dem sie handelt, als höherwertig angesehen wird. Ihr Anliegen, das die Gefahr eines Vertrauensbruches in sich birgt, da Goethe die Bitte als Ausnutzen ihrer Beziehung verstehen könnte, wird von ihr auf diese Weise zum Vertrauensbeweis umgestaltet. Dies zeigt, dass es sich bei den Bemühungen um Zugehörigkeit zum Weimarer «Feld», um einen Drahtseilakt handelt. Zum einen setzt Schopenhauer ihr symbolisches Kapital ein, um sich gesellschaftliche und materielle Vorteile zu «erspielen», andererseits gefährdet dieses «Spiel» ihren Status als Goethe- Vertraute. Daher muss sie sich wiederholt von jenen abgrenzen, die Goethe als bloßes Kult- und Marktobjekt verstehen. Teil dieses Drahtseilaktes war auch der Wettbewerb mit anderen «Spielern». Als Beispiel mag hier ein Vorfall aus dem Jahr 1821 dienen. Goethes Geburtstagsgeschenk an Adele Schopenhauer in diesem Jahr war eine mit einer persönlichen Widmung versehene Ausgabe der Wanderjahre. Durch einen Irrtum wurde der Band jedoch an Goethes Frankfurter Bekannte Marianne Willemer geschickt. Diese sandte ihn an Adele, welche sich jedoch weigerte, den Band aus zweiter Hand anzunehmen. Erst als Goethe das Buch mit einem scherzhaften Entschuldigungsvers versehen direkt an Adele schickte, nahm sie es an (93). Diese Empfindlichkeiten lassen auf eine Konkurrenzsituation unter Mitgliedern des Goethekreises schließen. Zieht man in Betracht, dass Goethes Beziehung zu Willemer als Mitautorin des Divan weitaus intensiver war als zu Adele Schopenhauer, wird deutlich, warum diese so sensibel auf den Postirrtum reagierte. Vor diesem Hintergrund des Konkurrenzkampfes um Goethes Zuneigung und Aufmerksamkeit leuchtet ein, dass Adele Schopenhauer jede Gelegenheit nutzt, anderen ihr enges Verhältnis zu Goethe zu signalisieren. 1824 beschreibt sie Goethe gegenüber, wie sehr es sie amüsiert, wenn sie Zeugin wird, wie andere von Angst und Ehrfurcht vor der Weimarer Ikone erfüllt sind. Auf einer Badereise nach Wiesbaden im August 1824 trifft sie Annette von Droste-Hülshoffs Onkel Werner von Haxthausen, den Goethe einige Jahre zuvor ermuntert hatte, die von ihm gesammelten Volkslieder zu veröffentlichen: «Gestern kam unvermuthet Haxthausen, dem ich der serwischen Lieder wegen den Text las und dessen komische Reue und wohlgefälliger Schreck, das SIE dessen noch gedächten, mich unendlich belustigten» (58). Ihre «Belustigung» war gegenüber Haxthausen als Signal ihres eigenen engen Verhältnisses zu Goethe gedacht. Auch auf ihren Badereisen bekamen Johanna und Adele das Fehlen eines Adelsprädikats zu spüren, ein Mangel der durch einen Hinweis auf die Freundschaft mit Goethe sicherlich gemildert «Wir in Weimar» 307 werden konnte. 10 Die Erwähnung in dem Brief soll aber auch Goethe zeigen, wie sehr sie sich selbst als eine seiner engsten Vertrauten versteht. Indem sie Haxthausen Vorhaltungen macht, weil dieser die abgesprochene Veröffentlichung nicht in die Wege geleitet hat, stilisiert sie sich zudem zur Stellvertreterin Goethes in literarischen Angelegenheiten. Diese Position als «Botschafterin» Goethes nimmt sie immer wieder ein. So berichtet sie zum Beispiel im Dezember 1827 von ihrem Besuch bei dem Maler Carl Begas und seiner Familie: «Ihrer, theurer Vater, ward mit Freude und Dank gedacht, denn Ihr Lob hatte des Künstlers Herz sehr erfreut und die Freude erneute sich bei den Seinen, als ich Sie nannte» (66). Die «Nennung» Goethes ist für Adele Schopenhauer Teil des kulturellen Kapitals, das ihr als «Eintrittsbillet» in künstlerische und intellektuelle Kreise dient. Ihre enge Beziehung zu Goethe macht sie zur begehrten Gesprächspartnerin. Dies geschieht durchaus mit Goethes Billigung und Unterstützung. So schreibt er bei der Übersendung der von ihr erbetenen Handschrift: «sehr gern trage ich dazu bey wenn Sie einem neuerworbenen Freunde etwas Angenehmes erzeigen wollen» (68). Er ist sich des Wertes seiner Bekanntschaft und der Kommodifizierung seiner Person also offensichtlich bewusst und weiß auch, wie wichtig seine Unterstützung für Adele Schopenhauers gesellschaftliches Überleben ist. So übersendet er ihr auch wiederholt kleine Kunstgegenstände, «zu gefälliger Austheilung an Wohlwollende» (73), mit deren Hilfe Schopenhauer ihre enge Bindung an Goethe demonstrieren kann. Dieses Verständnis Goethes für Schopenhauers Situation geht auch aus seinem letzten überlieferten Brief an sie aus dem Jahr 1831 hervor. Hier weist Goethe darauf hin, dass einer seiner «geprüftesten Freunde und Mitarbeiter» nach Bonn umziehe und hofft: «Möge das ewige Gesetz der sittlichen Wahlverwandtschaften auch Sie mit dieser werthen Familie zusammenbringen» (87). Dies ist eine deutliche Aufforderung an Schopenhauer, seinen Namen zu benutzen, um sich weitere gesellschaftliche Verbindungen zu verschaffen. Allerdings besitzt er das Feingefühl, nicht auf den Marktwert der Nennung seines Namens hinzuweisen und stattdessen die mögliche Bekanntschaft als «sittliche Wahlverwandtschaft» zwischen ihr, sich selbst und dem besagten Freund darzustellen. Adele Schopenhauers kulturelles Kapital, ihre Bildung, die ihr auf dem Heiratsmarkt eher hinderlich war, setzt sie im Feld der Weimarer intellektuellen Elite gewinnbringend ein. Informationen darüber, in welchen Maße Adele Schopenhauer formalen Unterricht genoss, sind spärlich. In einem Brief an Arthur aus dem Jahr 1836, in dem sie ihm ihren sparsamen Lebenswandel vorrechnet, erwähnt sie, dass ihr «sehr mittelmäßiger Unterricht» (Schopen- 308 Anja Peters hauer, Familien-Briefwechsel 380) kaum Kosten verursacht habe. Wie viele Frauen in ihrer Situation bildete Adele Schopenhauer sich autodidaktisch durch Lektüre. Wichtig war dabei der Austausch mit Ottilie von Goethe, mit der sie Bücher gemeinsam las. Zusammen wagten sie sich auch an Arthurs Die Welt als Wille und Vorstellung. Adele gesteht Arthur jedoch, dass sie «zu viele fremde Worte und Andeutungen» fände, die ihr das Verstehen erschwerten. Sie fragt ihn um Rat, an wen sie sich wenden könne, um ihr bei der Lektüre behilflich zu sein, doch bittet sie ihn gleichzeitig um Stillschweigen: doch wollte ich lieber gestehen das sittenloseste Buch gelesen zu haben als ein Werk der Art - Du kennst die Narren nicht, mit denen ich lebe. Häser könnte mich verrathen und ich wäre geliefert. Ich weiß wenig, doch zeige ich das schon nicht gern - und es ist auch gut so; denn uns Frauen kleidet vieles Wissen schlecht. Meinem inneren Leben ist dagegen etwas Ernst nöthig, darum lerne ich wo ich kann und weiß, doch da ichs im äußern nicht brauche, laß ichs ganz tief DARINNEN hausen und leben. (274) Adele Schopenhauer identifiziert hier die an sie gestellten Erwartungen ihres gesellschaftlichen Umfeldes, das die Lektüre philosophischer Werke für Frauen für unangebracht, lächerlich, wenn nicht gar unmoralisch hält. Gleichzeitig ist es für sie jedoch eine Selbstverständlichkeit, das Werk des Bruders zu lesen und zu versuchen es zu verstehen. Sie löst dieses Dilemma durch die Vorstellung eines «inneren» und eines «äußeren» Selbst. Ihr ist durchaus bewusst, dass sie nach außen ihren intellektuellen Ehrgeiz verbergen muss, um in den Augen ihrer Umgebung nicht ihre Weiblichkeit zu verlieren (und damit ihre Heiratschancen weiter zu verschlechtern). 11 Sie besteht aber gleichzeitig auf die Existenz eines «darinnen», in dem eine von ihr als authentisch empfundene Ernsthaftigkeit stattfinde. Ihre Transgression der gesellschaftlichen und kulturellen Normen, findet somit wiederum in den Grenzen des Habitus statt, d.h. im Rahmen der Unsichtbarkeit und Unhörbarkeit, dem Rückzug in eine als «natürlich weiblich» konstruierte Innerlichkeit. In der oben zitierten Passage fährt Adele Schopenhauer ohne Absatz fort: «Goethen sah ich sehr viel» (274), was auf die gedankliche Verbindung zwischen ihrem Verlangen nach Bildung und Besuchen bei Goethe hinweist. In ihrer prekären Situation als nach Bildung strebende Frau ist Goethes Zuwendung von immenser Bedeutung. In ihrer Funktion als Vermittlerin zwischen Goethe und ihrem Bruder, erfährt sie zum Beispiel, was Goethe zu Arthurs Die Welt als Wille und Vorstellung zu sagen hat. So teilt sie Arthur, nachdem sie Goethe das Buch überbracht hat, mit, was Goethe zu Ottilie über das Werk gesagt habe und übersendet ihm einen Zettel, auf dem Goethe einige Gedanken skizziert hatte. Zudem hofft sie «nächstens […] ihn wieder «Wir in Weimar» 309 allein zu sprechen» (274), ein Gespräch also, in dem sie mit Goethe über Arthurs Werk zu sprechen hofft. Wenn Adele Schopenhauer in ihren Briefen an Goethe literarische Werke und Neuigkeiten aus intellektuellen Kreisen erwähnt, lässt sich dies einerseits als Manifestation ihres genuinen Interesses an zeitgenössischer Literatur lesen. Es ist andererseits aber auch Teil ihrer Strategie, ihre Zugehörigkeit zu diesen Kreisen zu konstruieren und zu markieren. Ihr Urteil über literarische Werke ist stets apologetisch eingekleidet. Mitte September 1820 hatte Goethe sie um ihr Urteil zu August Hagens Olfried und Lisena gebeten. Nur durch diese Aufforderung findet sie - so schreibt sie - den «Muthe allerlei des wunderlichen Buches halber zu fragen, oder auch zu sagen» (J.W. Goethe, «Dreizehn Briefe» 53). Ihr ist bewusst, dass es ihr als junger Frau nur angemessen ist, Goethe etwas über das Buch zu «fragen». In einer Transgression dieses ihrem Geschlecht angemessenen Verhaltens fügt sie jedoch noch an, dass sie auch selbst etwas zu «sagen» habe. Ihre Rechtfertigung kann nur sein, dass sie, wenn Goethe sie etwas frage, antworten müsse: «Ihre Güte spielt mir die Feder in die Hand, und ich möchte sie so gern nehmen, wenn ich nur die Mädchen- oder Hasennatur ueberwinden könnte, ich fürchte vielleicht etwas dummes zu sagen, und doch muß alles heraus, wenn mich mein lieber Geheimerrath frägt! » (53). In dieser Passage liegt ein deutliches Beispiel dafür vor, was Bourdieu als den Handlungsspielraum innerhalb der durch das kulturelle Feld festgelegten «Spielregeln» betrachtet. Adele Schopenhauer zitiert, was die Gesellschaft als «natürlich» weiblich betrachtet: Kindlichkeit und Unsicherheit («Mädchen- und Hasennatur»). Gleichzeitig artikuliert sie ihr Bedürfnis, sich diesen Verhaltensregeln zu entziehen, den ihr eigenen Habitus zu «ueberwinden». Sie ist sich jedoch der Notwendigkeit, diese Transgression zu legitimieren, bewusst. Zunächst benutzt sie ein Argument, das sie zuvor schon ihrem Bruder gegenüber benutzt hat, nämlich, dass sie «darinnen» intellektuelles Interesse und Potenzial besitze. Um es «heraus» zu lassen, bedarf es einer ganz besonderen Legitimation. Diese besteht in ihrem Fall in der literarischen und quasiväterlichen Autorität Goethes. Im folgenden Brief kommentiert sie Hagens Buch ausführlich. Ihre erste Beurteilung folgt dem, was als «weibliches» - nämlich emotionales und subjektives - Urteil von ihr zu erwarten war: das Buch habe ihr «Freude» gemacht, sei zu ihrem «Herzen» vorgedrungen und habe ihr Vorstellungskraft angeregt. Es folgt dann eine scherzhafte Kritik am Helden, der ein «Leichtfuß» und «Schwächling» sei. Bevor sie jedoch eine ernsthaftere Kritik des Dichters und seiner Sprache vornehmen kann, bedarf es nochmals eines apologetischen Einschubs. Sie habe nun gerade mal «Muth» gefasst, schreibt sie, und wolle 310 Anja Peters daher ihre Gedanken zu dem Buch «bekennen», eine Formulierung, mit der sie Kritik an ihrem Urteil und die Einsicht in ihr schuldhaftes Betragen selbst vorwegnimmt. Es folgt nun eine phantasievolle Beschreibung des Dichters als «Küchenjunge», wodurch sie sich die «unedlen Bilder» erklärt. Es scheint, als wage sie ihre Sprachkritik an dem Werk nur zu artikulieren, indem sie diese in eine umständliche Erklärung einkleidet, die jederzeit als «tolle Nebenidee» abgetan werden kann. Sie nimmt sodann sogar diese zaghafte Kritik an den ungeschickten Metaphern Hagens zurück, indem sie beteuert: «Der Dichter ist so wahr, dass er nicht nur das Schöne der Natur, sondern oft auch all ihre Mängel uns bringt» (55). Abschließend folgt nochmals eine ausführliche Entschuldigung für diesen ausgedehnten Literaturkommentar: «Mein guter lieber Geheimerrath seyn Sie mir nicht böse, ich habe im Schreiben vergessen, wem ich schriebe und mich so keck und bestimt geäußert, dass mir mit einem Male sehr bang wird» (55). Auch hier gelingt es ihr jedoch, die Gefahr, Goethe zu missfallen, dadurch zu bannen, dass sie ihr transgressives Verhalten zum Liebesbeweis umdefiniert: «sehen Sie nur aus der Überwindung, mit der ich nun schicke, was ich nicht anders schreiben kann; Sie aber vielleicht nicht loben können, wie sehr ich Sie liebe» (55). Wie auch in späteren Briefen ist Adele Schopenhauer schon hier bemüht, sich von den Goethe bewundernden Ja-Sagern abzusetzen. Indem sie hervorhebt, dass sie um der Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit ihres Verhältnisses Willen, die Gefahr eingeht, ihn durch ihr literarisches Urteil zu verärgern, definiert sie sich als enge Vertraute Goethes, deren Verhältnis zu der Weimarer Ikone nicht nur eine emotionale, sondern auch eine intellektuelle Basis besitzt. Goethes Antworten auf Adele Schopenhauers Literaturkommentare sind in einem freundlich-scherzhaften Ton gehalten. Ohne im einzelnen auf ihre Gedanken einzugehen, dankt er ihr für ihr «frauenzimmerliches» Urteil und deutet an, dass ihre Vorstellung des Dichters als «Küchenjunge» wohl auf ihr Geschlecht zurückzuführen sei, da «Sie als würdige Haustochter, auch wohleinmal am Heerd ein Geschäft treibe[n]» (56). Ebenso wie weibliches Schriftstellertum, fällt für Goethe wohl auch weibliche Literaturkritik in die Kategorie des «Dilettantismus», der nur zur Nachahmung, nicht jedoch zu eigener kreativer Leistung fähig ist. Nur selten werden sonst im Briefwechsel literarische Themen angesprochen. Ab und zu spricht Adele Schopenhauer jedoch von ihrer Lektüre und ihrem literarischen Geschmack. So berichtet sie am 10. November 1827 aus Rödelheim bei Frankfurt über literarische Gespräche mit der dortigen Gesellschaft. Auch hier tritt sie als selbsternannte Vertreterin Goethes auf und «Wir in Weimar» 311 profitiert gesellschaftlich von ihrer Verbindung zu dem Kreis um Goethe: «Der mir von Herrn Desvoeux geschenkte Tasso machte Aufsehen und erregte bei denen, die ihn sahen, warme Theilnahme» (61-62). Zudem nimmt sie die Position als Informationsquelle für Goethe in literarischen Dingen ein. So berichtet sie, dass in Frankfurt nun fast nur englische Literatur gelesen werde und dass sie den ihr zuvor unbekannten Autor Börne völlig selbständig «ausgefunden» habe (62). Mit ihrer selbstbewussten Beurteilung Börnes signalisiert sie, dass sie für ein literarisches Urteil nicht von anderen abhängig ist, sondern in diesem Gebiet eigenen Sachverstand besitzt. Schopenhauer signalisiert jedoch nicht nur ihr Interesse und Verständnis für literarische, sondern auch für naturwissenschaftliche Gegenstände. Im August 1824 schildert sie detailliert ihre Beobachtung eines Regenbogens: «da bildete sich ein ganz dunkelpurpurner Regenbogen, der gegen die Endpunkte heller ward, aber eigentlich durchweg einfarbig blieb. Nach minutenlangem Hinsehen glaubte ich zwar sehr Blasses Grün zu sehen, die Mutter aber sah es nicht und wahrscheinlich bildete es sich in meinem Auge» (59). Schopenhauer spricht hier Goethes wissenschaftliches Interesse für optische Phänomene an und scheint sich gewissermaßen als wissenschaftliche Assistentin zu verstehen, die Goethe Beobachtungsmaterial für dessen Studien liefert. Ihren Sachverstand, wiederum im literarischen Bereich, stellt sie auch mit ihrem Kommentar zur Aufnahme des Goethe-Schiller-Briefwechsels in Bonn unter Beweis, indem sie den in Weimar herrschenden Personenkult um Schiller und Goethe von dem Bonner Interesse an den in dem Briefwechsel vorgebrachten Ideen absetzt: Die Leute hier sind so allgemein damit beschäftigt, mit den Details so genau bekannt, das Einzelne der damaligen Interessen tritt wieder so gegenwärtig und nah und weckt eine solche Menge Gedanken in diesen Männern, dass ich mir gestehen muß, noch nichts ähnliches erfahren zu haben. Denn in unserm weimarischen Kreis war mehr Enthusiasmus als Interesse, … es war nicht diese jugendfrische und doch ernste Theilnahme an dem Gange fremder Ideen, sondern Vorliebe für ein einzelnes Talent oder für eine Persönlichkeit. (75-76) Adele Schopenhauer artikuliert hier explizit die «Spielregeln» des Weimarer «Feldes». Die Bewunderung Schillers und Goethes bestimmt dort das intellektuelle Klima sowie die soziale Hierarchie. Mit ihrem Wechsel nach Bonn bewegt sie sich zwar noch in einem vergleichbaren Feld, sie erkennt und bewertet jedoch die Unterschiede in der Definition des symbolischen Kapitals. In Bonn ist es das Interesse an dem «Gange fremder Ideen», der die Zugehörigkeit zu dem intellektuellen Zirkel kennzeichnet. Im Vergleich dazu behindert die Fixierung auf Goethe als kulturelle Ikone in Weimar die Entfaltung eines anspruchsvollen intellektuellen Klimas. Wo es um Persönlich- 312 Anja Peters keiten und nicht um Ideen geht, kann keine anregende Diskussion zustande kommen. Diese nur angedeutete Kritik an den Weimarer Verhältnissen zeigt, dass Adele Schopenhauer den erlernten Habitus der «Weimarerin» durchaus distanziert betrachten konnte. Sie erfüllt die in ihm angelegten Denk- und Verhaltensweisen, reproduziert sie jedoch nicht vollständig. Insofern zeigt sich eine von Bourdieu in seiner Feldtheorie beschriebene Möglichkeit der «Transformation». Die Strategien der Akteure haben in diesem Fall zum Ziel, die etablierte Ordnung in Frage zu stellen und auf diese Weise eine höhere Machtposition im Feld einzunehmen. Adele Schopenhauer versucht dies, indem sie einen wesentlichen Wert des Weimarer Feldes, nämlich die kritiklose Verehrung Schillers und Goethes, in Frage stellt und ihn durch einen höherwertigen, das genuine intellektuelle Interesse an ästhetischen und philosophischen Konzepten ersetzt. Der Erfolg dieser Strategie war sicherlich begrenzt, da sie als Frau nicht die «Spielfeldposition» einnahm, von der aus solche Spielzüge möglich waren. Durch das Fehlen einer formalen Bildung, die ihr die Teilnahme an solchen Diskussionen ermöglicht hätte, bestand ihr Kapital eben in der persönlichen Beziehung zu Goethe. Es zeigt jedoch, dass sie die Regeln, nach denen um Machtpositionen in der sozialen Hierarchie gekämpft wurde, kannte und in der Lage war, sie zu ihrem eigenen Vorteil ausnutzen. Im Vorhergehenden wurde versucht, den Briefwechsel zwischen Adele Schopenhauer und Johann Wolfgang von Goethe, wie er im Goethe-Jahrbuch 1898 vorliegt, im Rahmen eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes als Dokument der «mentalen Kultur einer Gesellschaft» (Nünning und Sommer 19) zu lesen. Schopenhauers Briefe und die aus diesen ersichtlichen Verhaltensweisen erwiesen sich dabei als Funktionselemente einer Strategie, die eigene Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich dominanten Gruppe zu markieren. Dies konnte im Rahmen des vorliegenden Beitrags und aufgrund der problematischen Editionslage der Briefe Schopenhauers nur ausschnitthaft geschehen. Wünschenswert bleibt daher eine weitere Erschließung und Untersuchung der Korrespondenzen nicht nur Adele Schopenhauers, sondern weiterer Frauen, sowie anderer marginalisierter gesellschaftlicher Gruppen, deren soziale Praxis darauf abzielt, etwaige Machtdefizite in kulturellen Feldern durch Formen der Selbstdefinition zu kompensieren. Auf diese Weise könnte ein wichtiger Beitrag zur weiteren Ausleuchtung der Thematisierung und Erzeugung von Selbstidentität zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland geleistet werden. «Wir in Weimar» 313 Notes 1 Vgl. Gilleir und Schlimmer. 2 Während eine Aufarbeitung der Biographie Adele Schopenhauers in jüngster Zeit von Gabriele Büch geleistet wurde, hat die Literaturwissenschaft sich noch wenig für die Autorin Schopenhauer interessiert. Eine Anzahl von Gedichten, die Haus-, Wald- und Feldmärchen (1844), die Romane Anna (1845) und Eine dänische Geschichte (1848) sowie ihre autobiographischen Aufzeichnungen (Tagebücher, Tagebuch einer Einsamen) bieten noch reichliches Material für die Beschäftigung mit Adele Schopenhauer als Schriftstellerin. Domietta Seeligers Dissertation aus dem Jahre 2004 bietet den ersten ausführlicheren Überblick über das fiktionale Werk der Autorin. Wertvolle Einblicke in nicht-fiktionale Arbeiten ermöglichen die von Waltraud Maierhofer herausgegebenen Notizen Schopenhauers zu ihrem geplanten Florenz-Reiseführer. 3 Seit der Aufklärung wurde das Unverheiratetsein nicht nur als Verstoß gegen gesellschaftliche Normen, sondern vor allem als Vergehen gegen die Natur verstanden. Die Natur räche diesen Verstoß, so war es in zahlreichen Abhandlungen zu lesen, durch eine Reihe von Krankheitsbildern, wie allgemeine körperliche Schwäche, Melancholie oder gar Wahnsinn, sowie durch eine abstoßende Hässlichkeit. Die «alte Jungfer» war Objekt des Spottes und zahlreicher Vorurteile, wie ihre Launenhaftigkeit und «Mannstollheit» (Baumgarten 116-23). 4 Im folgenden werde ich mich der durch Pierre Bourdieu geprägten Terminologie bedienen, insbesondere der Vorstellung des «kulturellen Feldes», in dem eine Reihe von Institutionen, Regeln, Ritualen, Konventionen und Kategorien zusammenwirken. Positionen in diesen hierarchisch gegliederten Feldern können die Mitglieder sich durch ökonomisches oder auch symbolisches Kapital «erspielen». Ein weiteres zentrales Konzept Bourdieus ist der «Habitus», d.h. die verinnerlichten Werte, Haltungen und Verhaltensweisen, der Mitglieder eines Feldes. Die unreflektierte Übernahme der Logik und der Werte des Feldes, d.h. die Annahme, diese entsprächen einer «natürlichen», «essentiellen» Ordnung, macht Individuen zu Komplizen eines Prozesses, in dem auf sie symbolische Macht ausgeübt wird. Allerdings ist für Bourdieu von entscheidender Bedeutung, dass diese verinnerlichten kulturellen Regeln Spielraum für Improvisation bieten. Handelnde reagieren auf kulturelle Konventionen und Kontexte auf verschiedene Weisen und können so die «Spielregeln» des Feldes zu ihrem Vorteil nutzen. Dieses strategische, durch Selbstinteresse motivierte Handeln, wird jedoch wiederum von den Werten und Erwartungen des Habitus determiniert (Webb, Schirato, Danaher 21-44). 5 Der größte Teil des brieflichen Nachlasses Adele Schopenhauers liegt zu weiten Teilen noch unerschlossen im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar vor. 6 Über die Art der von Kreiten vorgenommenen und in der HKA durch Punkte markierten Auslassungen lässt sich nur spekulieren. Es ist jedoch anzunehmen, dass er nach zum Ende des 19. Jahrhunderts üblichen Prinzipien handelte. Ihm musste das wichtig erscheinen, was sein Erkenntnisinteresse unterstützte, nämlich biographische Details der Dichterin Droste und die Beurteilung ihres literarischen Werkes durch andere. Und so handeln die überlieferten Passagen dieser Briefe Schopenhauers auch hauptsächlich von dem literarischen Schaffen Drostes, während persönliche Mitteilungen Schopenhauers über sich selbst rar sind. 7 Vgl. Brief 9, 25.-27. Dezember 1827; Brief 17, 28. August-10. September 1829; Brief 22, 10. Januar 1831. 314 Anja Peters 8 Vgl. Johanna Schopenhauers Brief an Arthur Schopenhauer, 24. Oktober 1806: «ich dencke, wenn Göthe ihr seinen Namen giebt, können wir ihr wohl eine Tasse Thee geben. Ich sah deutlich, wie sehr mein Benehmen ihn freute; es waren noch einige Damen bey mir, die erst formell u steif waren und hernach meinem Beyspiel folgten. Göthe blieb fast 2 Stunden u war so gesprächig und freundlich wie man ihn seit Jahren nicht gesehen hat. Er hat sie noch zu niemand als zu mir in Person geführt. Als Fremde u GroßStädterin traut er mir zu, daß ich die Frau so nehmen werde, als sie genommen werden muss, sie war in der That sehr verlegen, aber ich half ihr bald durch, in meiner Lage und bey dem Ansehn u der Liebe, die ich mir hier in kurzer Zeit erworben habe kann ich ihr das gesellschaftliche Leben sehr erleichtern, Göthe wünscht es und hat Vertrauen zu mir, und ich werde es gewiß verdienen» (Schopenhauer, Familien-Briefwechsel 108) 9 Aus Adeles Tagebucheintragungen geht hervor, wie abhängig sie von Goethes Wohlwollen ist. So reagiert sie extrem gekränkt und mit Unwohlsein, als Goethe sie während der Proben für eine Aufführung kritisiert (Tagebücher 7). 10 Nach einem Ball in Karlsbad, bei dem sie von nur einem Bekannten zum Tanzen aufgefordert worden war, vermerkt Adele im Juli 1821 in ihrem Tagebuch: «Die Fete war höchst brilliant und interessierte mich ungemein. Doch ich gehöre nicht zu diesen Fürstenzirkeln, ich bin dort deplaziert, ich war mit der Mutter gewiß die einzige Bürgerliche, alles war Fürst oder wenigstens Graf» (Tagebücher 89). 11 Anselm von Feuerbach, der die Schopenhauers 1815 kennenlernt, ist deutlich abgestoßen von Adeles Gelehrsamkeit, die, wie er schreibt, «mit entsetzlichem Geistesgepolter rasselte und stolzierte» (A. Schopenhauer, Einsamen XIX). Works Cited Baasner, Rainer. «Briefkultur im 19. Jahrhundert. Kommunikation, Konvention, Postpraxis.» Briefkultur im 19. Jahrhundert. Ed. Baasner, Tübingen: Niemeyer, 1999. 1-34. Baumgarten, Katrin. 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