Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2006
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INGE STEPHAN AND HANS-GERD WINTER (EDS.): Zwischen Kunst und Wissenschaft: Jakob Michael Reinhold Lenz. Bern & NY: Peter Lang, 2006. 312 pp. € 45,10.
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2006
Martin Kagel
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Besprechungen / Reviews 391 I NGE S TEPHAN AND H ANS -G ERD W INTER (E DS .): Zwischen Kunst und Wissenschaft: Jakob Michael Reinhold Lenz. Bern & NY: Peter Lang, 2006. 312 pp. € 45,10. D ER VORLIEGENDE B AND , M IT DESSEN E RSCHEINEN I NGE S TEP HAN UND H ANS -G ERD W INTER IHRE M EHR ALS ZW ANZIGJÄHRIGE Z USAM M ENARB EIT B EZÜGLICH L ENZ AB SCHLIE ß EN , VERSAM - M ELT B EITRÄGE , DIE ANLÄ ß LICH DER T AGUNG Lenz zwischen Kunst und Wissenschaft im Mai 2005 in Berlin vorgetragen wurden, sowie einige zusätzliche Aufsätze, die die Herausgeber nachträglich hinzugefügt haben. Sein Schwerpunkt liegt auf der Rezeption des Lenzschen Werkes und seiner Person durch Schriftsteller und bildende Künstler, im Bereich der klassischen Musik und im Film. Die Rezeption Lenz’ war schon 1984 Gegenstand einer eigenen Untersuchung von Stephan und Winter, und diese Linie wird von ihnen hier nun in der Rolle der Herausgeber fortgeführt. Der Band ist in drei Abschnitte unterteilt. Der erste gilt der bildkünstlerischen und musikalischen Auseinandersetzung mit Lenz. Teil II versammelt vier Beiträge zur wissenschaftlichen Erforschung des Lenzschen Werkes und seiner Biographie. Der dritte Teil schließlich konzentriert sich auf Aspekte der Rezeption in Lyrik und Essayistik, im Genre Kriminalroman und im Film. Dazu halten zwei Beiträge Rückschau: Götz Zuber-Goos blickt auf seine Berliner Inszenierung des Hofmeister zurück und Ulrich Kaufmann auf die unter seiner Leitung entstandene Jenaer Lenz- Ausstellung «Ich aber werde dunkel seyn» (beide 1996). Inge Stephan führt eingangs in das Werk Susanne Theumers ein, deren Radierungen An das Herz anläßlich der Tagung entstanden und dort auch ausgestellt wurden. Theumers Bilder, von denen fünfzehn in den Band aufgenommen wurden, halten intensive «Zwiesprache mit einem Autor,» in dessen Texten die Künstlerin «Erfahrungen aufbewahrt und Schreibweisen vorgebildet findet» (27), die für ihr eigenes Werk bedeutsam sind. Die meisten sind Gedichten Lenz’ zugeordnet, die sie zugleich reflektieren und interpretieren. Besonders eindrücklich fängt Theumer eine für Lenz zentrale Thematik ein, «die Gefährdung des Autors durch die Phantasie selbst» (26), ein Charakteristikum des Werkes, das bei ihr wie vielen anderen Künstlern auf starken Widerhall stieß. Dahingehend ließe sich auch eine Bemerkung Joachim Hamster Damms verstehen, der im Gespräch mit Hans-Gerd Winter Lenz’ Position als die des Schwächeren charakterisiert, eine Position, die unter den jüngeren Künstlerkollegen in der ehemaligen DDR zu recht - und zu unrecht - von denen reklamiert wurde, die sich unverstanden oder marginalisiert fühlten. Im Gespräch über seine Installation Lenz’ Brunnensturz, die ebenfalls aus Anlaß der Tagung entstand, offenbart Hamster Damm eine besondere Sensibilität gegenüber dem Livländischen Schriftsteller. «Dadurch, dass Lenz in entscheidenden Momenten das Falsche tat, grenzte er sich aus der Ordnung der Umwelt aus,» etwa ist eine Aussage, die ebenso schlicht wie treffend die Bedingung von Lenz’ schriftstellerischer Tätigkeit benennt, ohne den Autor, da Lenz das Subjekt dieser Ausgrenzung ist, zugleich bloß als Opfer zu begreifen. Die Installation selbst stützt sich auf den Bericht des Elsässer Pfarrers Johann Friedrich Oberlin, wonach Lenz sich in den Tagen seines Aufenthaltes im Steintal mehrere Male in einen neben dem Haus gelegenen Brunnen gestürzt hatte - laut Hamster Damm in therapeutischer Absicht. Lenz drohte, so der Künstler, «durch das Feuer seiner Imaginationen 392 Besprechungen / Reviews verzehrt zu werden. Er springt in den Brunnen, um das Feuer zu löschen. Durch die Abkühlung gewinnt er wieder ein Bewusstsein seiner selbst» (52). Gegenüber der engagiert beschriebenen künstlerischen Auseinandersetzung mit Lenz, zu der auch die Diskussion einer Vertonung des Lenz-Gedichtes «Gemählde eines Erschlagenen» durch Adriana Hölszky gehört (Peter Petersen), wirkt die wissenschaftliche vergleichsweise trocken. Erschwerend kommt bei den Beiträgen von Marianne Vogel und Inga Achilles dazu, daß die Autorinnen wenig Neues zu sagen haben. Achilles’ Entwurf einer «postmodernen» Lenz-Biographie führt als kritische Methode das ein, was im Falle des Stürmer und Drängers längst praktiziert wird - siehe z.B. Ulrich Kaufmanns Kommentar im Rückblick auf die Jenaer Ausstellung, daß diese «eine bewußte Synthese aus faktischer Dokumentation und vielfältigen Möglichkeiten, ein Leben zu inszenieren» (293) gewesen sei. Marianne Vogels Beitrag beginnt zwar ambitioniert, endet jedoch in Gemeinplätzen wie diesem, dass die Geschlechterforschung uns «empfindlicher für thematische Inkonstistenzen und auch Entwicklungen in Lenz’ Werk gemacht habe» (131). Das ließe sich wohl für die gesamte Lenz-Forschung der letzten zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Souverän arbeitet Hans-Gerd Winter in seinem Beitrag «Widersprüche zwischen den Lenz-Bildern in der Wissenschaft der letzten dreißig Jahre» heraus. Vom Sozialkritiker und Realisten über den «dunklen» Aufklärer und Vertreter einer postmodernen Ästhetik bis hin zum Repräsentanten einer weiblichen Textpraxis, wurden von der Forschung, wie Winter zeigt, je nach Erkenntnisinteresse und theoretischem Ort recht unterschiedliche, zum Teil miteinander unvereinbare Lenz-Bilder propagiert. Gesa Weinert versammelt im letzten Beitrag dieses Abschnitts eine Reihe von interessanten biographischen Bruchstücken aus ihren Recherchen «zur ersten historisch-kritischen Lenzedition» (147). Vom Geburtseintrag im Kirchenbuch des Seßwegenschen Kirchspiels bis hin zur mutmasslichen Grabstätte des Autors auf Moskaus Deutschem Friedhof gibt Weinert einen Einblick in die mühsame philologische Arbeit, die die Grundlage zukünftiger Lenz-Interpretationen zu legen versucht. Gleich zweimal sind sowohl Arnd Beise als auch Ulrich Kaufmann im dritten Teil des Bandes vertreten, Beise mit einem Beitrag zu Alfred Hrdlickas Lenz-Illustrationen und einem weiteren zu lyrischen Lenz-Porträts im 20. Jahrhundert. Die Gedichte von Peter Huchel, Kurt Messow, Johannes Bobrowski und Klaus Körner fallen gegenüber der Lyrik Lenz’ indessen sämtlich stark ab und erfassen den Autor, wo sie ihn nicht denunzieren, nur im Ton elegischer Verzweiflung. Auch Harald Gerlachs lyrisches Lenz-Porträt, das Ulrich Kaufmann in seinem zweiten Beitrag diskutiert, enthält viel geraunten Tiefsinn, aber wenig Originalität. Am Ende gerinnt es, wie viele andere Texte, lediglich zum Büchnerzitat. Die Gefährdung des Künstlers durch die eigene Phantasie? Diesbezüglich braucht man sich im Falle der lyrischen Lenz-Porträts offenbar keine Sorgen zu machen. Der Konflikt zwischen Lenz und Goethe ist Thema des 1992 für das deutsche Fernsehen entstandenen Lenz-Films von Egon Günther, den Hans-Ulrich Wagner in seinem ansprechenden Beitrag ausführlich darstellt. Günthers filmische Arbeiten kreisen seit über zwei Jahrzehnten um Figuren im Umkreis Goethes und dementsprechend zeichnet sich sein Lenz-Film durch die differenzierte Darstellung beider Poeten aus. An einer Stelle, so Wagner, gestehe Goethe «dem wohl wichtigsten Tra- Besprechungen / Reviews 393 banten in seinem Leben» zu, daß er das Genie sei, und entledigte sich damit nicht nur eines «poetischen Konzepts,» sondern bürdete dem jüngeren Weggefährten zugleich eine Verantwortung auf, «die katastrophale Folgen für Lenz haben wird» (258). Das läßt sich sehen. Weniger feinfühlig wird das Verhältnis von Lenz und Goethe in zwei Krimis dargestellt, die Ariane Martin in ihrem Beitrag untersucht: Goethes Mord (1999) von Hugo Schultz und Der rote Domino (2002) von Marc Buhl. Die ideologische Verbrämung der Freundschaft zum Schwarz-Weiß von Täter und Opfer durch beide Autoren ist angesichts der existierenden Literatur zu Lenz und Goethe und der Bemühungen der Lenzforschung um eine differenzierte Wahrnehmung des Verhältnisses geradezu skandalös. Ariane Martin nennt dies im Anschluß an Matthias Luserke-Jaqui eine «Lenz-Blockade,» ein Begriff, der nicht nur auf die Goethe-Falle verweist, sondern darüber hinaus auf das prinzipielle Problem mangelnden Austausches zwischen künstlerischer Rezeption und Literaturwissenschaft. Utopisches enthält diesbezüglich der Beitrag des Regisseurs Götz Zuber-Goos. Zu Beginn berichtet dieser hier von einer Zugfahrt von Hamburg nach Berlin nach dem Besuch einer Aufführung des Neuen Menoza im Hamburger Thalia Theater. Mit ihm im Abteil sitzt eine junge Frau, die zu seiner freudigen Überraschung das Lenz-Jahrbuch liest: «Sie erwies sich als Doktorandin von Inge Stephan und war ihrer Doktormutter nach Berlin gefolgt. In meiner Erinnerung befasste sie sich vornehmlich mit Lenz’ Dramen- und Theatertheorie, und so entstand schnell zur beiderseitigen Freude ein ausgesprochen lebendiges Gespräch. Mich interessierte an ihren Studien - dünnhäutig wie ich vor der Premiere war - die Rückversicherung meiner Interpretationsansätze […]; sie interessierte an meiner Arbeit wohl, wie sich ein Nicht-Literaturwissenschaftler einem solch ausufernden und heterogenen Text wie dem Hofmeister nähert» (274). Lebendige Begegnungen dieser Art, auch das dokumentiert der Band, sind leider nach wie vor viel zu selten. Gleichwohl wäre es wünschenswert, wenn es mehr wechselseitigen Austausch gäbe. Denn schliesslich sitzen wir nicht nur im selben Zug, sondern auch im selben Abteil. University of Georgia Martin Kagel K LAUS M ANGER AND U TE P OTT (E DS .): Rituale der Freundschaft. Heidelberg: Winter, 2006. 292 pp. € 45. Der von Klaus Manger und Ute Pott herausgegebene Band versammelt insgesamt 17 Aufsätze, die im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums «Rituale der Freundschaft» entstanden sind, welches das Halberstädter Gleimhaus gemeinsam mit dem Jenaer Sonderforschungsbereich «Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800» im Oktober 2003 veranstaltete. Der Zeitraum, auf den sich die Beiträge beziehen, erstreckt sich von der zweiten Hälfte des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Innerhalb dieses Rahmens konzentrieren sich die Autoren insbesondere auf die empfindsame Freundschaftskultur des Zeitalters der Aufklärung. Der Band ist mit insgesamt 11 Abbildungen versehen und enhält ein Personenregister.