Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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KLAUS MANGER AND UTE POTT (EDS.): Rituale der Freundschaft. Heidelberg: Winter, 2006. 292 pp. € 45.
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Martin Kagel
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Besprechungen / Reviews 393 banten in seinem Leben» zu, daß er das Genie sei, und entledigte sich damit nicht nur eines «poetischen Konzepts,» sondern bürdete dem jüngeren Weggefährten zugleich eine Verantwortung auf, «die katastrophale Folgen für Lenz haben wird» (258). Das läßt sich sehen. Weniger feinfühlig wird das Verhältnis von Lenz und Goethe in zwei Krimis dargestellt, die Ariane Martin in ihrem Beitrag untersucht: Goethes Mord (1999) von Hugo Schultz und Der rote Domino (2002) von Marc Buhl. Die ideologische Verbrämung der Freundschaft zum Schwarz-Weiß von Täter und Opfer durch beide Autoren ist angesichts der existierenden Literatur zu Lenz und Goethe und der Bemühungen der Lenzforschung um eine differenzierte Wahrnehmung des Verhältnisses geradezu skandalös. Ariane Martin nennt dies im Anschluß an Matthias Luserke-Jaqui eine «Lenz-Blockade,» ein Begriff, der nicht nur auf die Goethe-Falle verweist, sondern darüber hinaus auf das prinzipielle Problem mangelnden Austausches zwischen künstlerischer Rezeption und Literaturwissenschaft. Utopisches enthält diesbezüglich der Beitrag des Regisseurs Götz Zuber-Goos. Zu Beginn berichtet dieser hier von einer Zugfahrt von Hamburg nach Berlin nach dem Besuch einer Aufführung des Neuen Menoza im Hamburger Thalia Theater. Mit ihm im Abteil sitzt eine junge Frau, die zu seiner freudigen Überraschung das Lenz-Jahrbuch liest: «Sie erwies sich als Doktorandin von Inge Stephan und war ihrer Doktormutter nach Berlin gefolgt. In meiner Erinnerung befasste sie sich vornehmlich mit Lenz’ Dramen- und Theatertheorie, und so entstand schnell zur beiderseitigen Freude ein ausgesprochen lebendiges Gespräch. Mich interessierte an ihren Studien - dünnhäutig wie ich vor der Premiere war - die Rückversicherung meiner Interpretationsansätze […]; sie interessierte an meiner Arbeit wohl, wie sich ein Nicht-Literaturwissenschaftler einem solch ausufernden und heterogenen Text wie dem Hofmeister nähert» (274). Lebendige Begegnungen dieser Art, auch das dokumentiert der Band, sind leider nach wie vor viel zu selten. Gleichwohl wäre es wünschenswert, wenn es mehr wechselseitigen Austausch gäbe. Denn schliesslich sitzen wir nicht nur im selben Zug, sondern auch im selben Abteil. University of Georgia Martin Kagel K LAUS M ANGER AND U TE P OTT (E DS .): Rituale der Freundschaft. Heidelberg: Winter, 2006. 292 pp. € 45. Der von Klaus Manger und Ute Pott herausgegebene Band versammelt insgesamt 17 Aufsätze, die im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums «Rituale der Freundschaft» entstanden sind, welches das Halberstädter Gleimhaus gemeinsam mit dem Jenaer Sonderforschungsbereich «Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800» im Oktober 2003 veranstaltete. Der Zeitraum, auf den sich die Beiträge beziehen, erstreckt sich von der zweiten Hälfte des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Innerhalb dieses Rahmens konzentrieren sich die Autoren insbesondere auf die empfindsame Freundschaftskultur des Zeitalters der Aufklärung. Der Band ist mit insgesamt 11 Abbildungen versehen und enhält ein Personenregister. 394 Besprechungen / Reviews Wenig überraschend ist angesichts der Themenstellung und des Tagungsortes, daß sich zahlreiche Beiträge um Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) gruppieren, in dessen Freundschaftstempel - eine Porträtgalerie seiner Freunde - sich sowohl der von ihm persönlich betriebene Freundschaftskult als auch generell die weit verbreitete Freundschaftskultur des 18. Jahrhunderts manifestierte. Die Diskussion des Archivcharakters der Porträtsammlung (Ute Pott), ihre Bedeutung im Diskurs über Denkmäler (Martin Disselkamp, Doris Schumacher) sowie verschiedene von Gleim geführte Brieffreundschaften - Gleim und Wilhelm Heinse (Barbara Rodt), Gleim, Friedrich Nicolai, und Christian Adolf Klotz (Rainer Falk), Gleim und Anna Louisa Karsch (Anne Kitsch), Gleim und Johann Heinrich Voß (Frank Baudach), Gleim und Johann Gottfried Herder (Bernd Auerochs), Gleim und Christoph Martin Wieland (Andrea Heinz) - nehmen denn auch mehr als die Hälfte des Bandes ein. In anderen Beiträgen werden unter anderem Goethes Freundschaftsbegriff im Kontext seiner Naturlehre (Olaf Breidbach), die Freundschaft von Goethe und Schiller (Jutta Heinz) und das Freundschaftsmotiv bei Jean Paul (Peter Horst Neumann) untersucht. Zwei Beiträge, die den Band kurioserweise umrahmen, fallen aus dem thematischen Rahmen heraus, die der beiden amerikanischen Literaturwissenschaftler Karl Guthke und Theodore Ziolkowski. Diese sind nicht nur die einzigen Auslandsgermanisten, die in der Anthologie vertreten sind, sie sind auch die einzigen, deren Aufsätze den Begriff der Freundschaft nicht schon im Titel annoncieren, und das aus gutem Grund: ihre Beiträge haben nur wenig mit der Themenstellung gemein. Karl Guthke diskutiert den «Tod in der Anakreontik,» der, wie sich herausstellt, «in der Welt der Lebensfrohen eine Sache der anderen» (15) ist, verdrängt oder «mit einem Lächeln […] auf den Lippen» (17) imaginiert wird. Theodor Ziolkowski widmet sich dem Thema «Chronotopologie als Methode» mit Konzentration auf Jena und das Jahr 1795. Chronotopologie ist laut Ziolkowski «nichts mehr und nichts weniger als die Beschäftigung mit der literarischen Kultur eines bestimmten und räumlich begrenzten Orts zu einer bestimmten und begrenzten Zeit» (264), die der Literaturwissenschaftler auf möglichst umfassende Weise darstellen sollte: durch Beziehungen zwischen Texten, zwischen dem konkreten und literarischen Umfeld von Texten, und zwischen den Autoren selbst. Bei der «Methode» handelt es sich dabei um ein Gemisch aus Positivismus und Diskursanalyse, das weder sonderlich innovativ erscheint noch zu aktuell relevanten Fragestellungen hinleitet. Auch Guthkes Etüde über den Tod wartet mit eher mageren Ergebnissen auf. «Sprachlich tiefste Provinz natürlich,» (22) heißt es hier an einer Stelle über die Versuche des Gleimschen Grenadiers, seine Lyrik Freund Hein zu öffnen. Das klingt gut. Der Forschungsgewinn solcher Urteile freilich ist gering. An sich beginnt der Band also erst mit Klaus Mangers Aufsatz: «Rituale der Freundschaft - Sonderformen sozialer Kommunikation,» der sich auf gut dreißig Seiten dieser Themenstellung widmet. Manger verweist darauf, daß sich in Freundschaftsbünden «Erfahrungs- und Fiktionswirklichkeit» in «ritualisierten Formen» (24) vermischen und zahlreiche dieser Formen außerliterarisch sind, das heisst weder auf Literatur angewiesen sind noch über Literatur vermittelt werden. Eine systematische Differenzierung der Funktion des Ritualischen in verschiedenen Freundschaftsformen nimmt Manger gleichwohl nicht vor. Das ist bedauerlich, zumal sich der Besprechungen / Reviews 395 Autor dem Literaturverzeichnis nach zu urteilen vergleichsweise intensiv mit Ritualforschung beschäftigt hat und so auch eine Diskussion des parareligiösen Charakters von Freundschaftsritualen hätte einschließen können, auf die er, wie einige andere Autoren des Bandes, immerhin verweist. Eines der Rituale der Freundschaft im 18. Jahrhundert ist der Freundschaftskuß, Gegenstand des aufschlußreichen Beitrages von Dieter Martin. Martin zeigt anhand von Briefen und Abbildungen, wie im Akt des Küssens unter Freunden und Freundinnen jene Spannung zum Ausdruck kommt, die dem Verhältnis von Freundschaften und heterosexuellen Liebesbeziehungen grundsätzlich unterliegt: «Als intimer Mundkuß steht der Freundschaftskuß des 18. Jahrhunderts in spannungsvollem Verhältnis zum erotischen Liebeskuß. Besonders die Männerfreundschaften der Empfindsamkeit betrachteten ihn nicht als Vorstufe des einzig wahren Liebeskusses, sondern als seine mindestens ebenbürtige, für gleichgeschlechtlichte Freunde reservierte Alternative» (67). Ganz so unerotisch wie Martin es gern hätte, war der Kuß unter Freunden und Freundinnen dabei wohl nicht. Im Gegenteil, gerade dessen tiefe Ambiguität, die Martin selbst herausarbeitet, scheint hier repräsentativ. Instruktiv ist auch der Beitrag Michael Maurers, betitelt «Freundschaftsbriefe - Brieffreundschaften,» worin dieser sowohl die zentrale strukturelle Bedeutung des Briefes für Freundschaftsbeziehungen hervorhebt als auch in zwölf Thesen wesentliche Elemente der Verbindung zweier Medien - Freundschaft und Brief - benennt. Im 18. Jahrhundert ist der Brief der bevorzugte, häufig der einzige Ort, an dem Freundschaft in vollem Umfang realisiert werden kann, ein Ort, an dem «die Differenz zwischen Leben und Literatur, zwischen Wirklichkeit und Brief neu austariert» (79) wird. In ihrem Beitrag zu Gleim und Wieland sekundiert Jutta Heinz dieser These: «Die Briefe stiften nicht nur Freundschaft, in ihnen wird Freundschaft geschenkt und inszeniert erlebt» (163). Es ist erstaunlich, daß sich in einem Band, der im Jahre 2006 zum Thema Freundschaft erscheint, kein Beitrag findet, der Frauenfreundschaft und Männerfreundschaft differenziert. Dies überrascht nicht nur angesichts einer florierenden Geschlechterforschung, sondern auch, weil Frauenfreundschaft ein wichtiges Desiderat der Forschung zum Thema darstellen könnte, welches, einmal ausführlich untersucht, auch die Beziehungen unter Männern in neuem Licht erscheinen lassen würde. Schon vor Jahren hat Eve Kosofsky Sedgwick in der einschlägigen, auch in der Germanistik rezipierten Untersuchung Between Men: English Literature and Homosocial Desire nachgewiesen, daß Freundschaften unter Männern im 18. und 19. Jahrhundert häufig auf der imaginierten oder realen Instrumentalisierung von Frauen und der Unterdrückung von Weiblichkeit basierten. Die Analyse von Frauenfreundschaften im Deutschland des 18. Jahrhunderts könnte demnach neue, bisher unbekannte Dimensionen der Emanzipation zutage fördern oder zeigen, wie in puncto Freundschaft in einer von Männern dominierten Gesellschaft emanzipatorische und repressive Momente Hand in Hand gehen. Viel ist in den Beiträgen von «Freundschaft» die Rede, gemeint ist aber fast immer nur eine Form, diejenige, der sich die männlichen Vertreter des aufsteigenden Bürgertums bedienten. Neben der Beschreibung und Bewertung der intensiven Freundschaftskultur der Empfindsamkeit nehmen es mehrere Beiträge auf sich, auch den historischen Wandel 396 Besprechungen / Reviews im freundschaftlichen Umgang festzuhalten. So erläutert Bernd Auerochs in einem sehr gelungenen Beitrag zu Gleim und Herder, wie Spannungen zwischen beiden auf Grund von Herders Anbindung an den Sturm und Drang entstehen. Die von Gleim favorisierte Geselligkeit etwa ist für die Stürmer und Dränger von deutlich geringerer Bedeutung als Authentizität in der Freundschaft. Auch Andrea Heinz spricht diesen Wandel an, wenn sie über den wechselnden Ton in Wielands Briefen schreibt, daß dieser das «Du» ab Mitte der 70er Jahre dem formalen «Sie» in seinen Briefen vorzieht, um so der Recodierung von Intimität gerecht zu werden. «‹Bruder› als Zeichen der Intimität und der Verwandtschaft erscheint als eine Art Steigerung von ‹Freund,› und die männliche Brüderschaft löst die empfindsame Freundschaft ab» (173). Freundschafts- und Erinnerungskultur sind im 18. Jahrhundert eng miteinander verbunden, und das Denkmal in seiner sozialen und politischen Dimension spielt in dieser Beziehung eine herausragende Rolle. Gleims Freundschaftstempel, ein Denkmal besonderer Art und gleichwohl ein Denkmal, weist seiner Zeit voraus. Während die literarische Bedeutung des «deutschen Anakreon» noch zu Lebzeiten deutlich abnahm, agierte Gleim, so Doris Schumacher, «hinsichtlich der Denkmalskultur genau umgekehrt immer kreativer und zukunftsweisender» (251). Dies tat er, indem er bürgerlichen Schriftstellern Denkmalswürdigkeit zusprach und das Denkmal in einen neuen nationalen Kontext einband. Denn der Freundschaftstempel ist zugleich ein Musentempel und die Aufnahme darin ein nationales Verdienst. Daß die Ausstellung solcher Verdienste zugleich das exemplarisch Menschliche erfassen sollte, erzeugte einen Widerspruch in der Denkmalskonzeption, der, so zeigt es Martin Disselkamp in seinem klugen Beitrag, die besondere «Ortlosigkeit» (191) des Freundschaftsmonuments erklärt. Die gesellschaftlich exzentrische Position lebensferner Perfektionsideale läßt, mit anderen Worten, die Verortung des Denkmals in der Gesellschaft nur mittelbar zu. Was der Titel verspricht, eine Analyse der Rituale der Freundschaft, hält der Band insgesamt nicht. Hier spiegelt sich ein Mangel an Konzeption, der offenbar schon dem Colloquium selbst unterlag. Möglicherweise hatten die Herausgeber einfach unterschätzt, wie schwierig es ist, Freundschaft theoretisch zu erfassen und auch konzeptionell in eine klar umrissene Diskussion einzubinden. So zerfällt der Band weitgehend in eine Sammlung von Einzelbeträgen, von denen man einige freilich nicht missen wollte. University of Georgia Martin Kagel L AURA M ARTIN : Benedikte Nauberts Neue Volksmärchen der Deutschen: Strukturen des Wandels. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006. 379 pp. € 49,80. Benedikte Naubert, the late eighteenth-century author of novels and fairy tales, gained scholarly attention in the mid-1980s when feminist scholars were (re)discovering early female writers who had been excluded or simply ignored in the literary canon, and when studies like Manfred Grätz’s Das Märchen in der deutschen Aufklärung (1988) were exploring the development of the Märchen before the Grimms. Laura Martin’s study draws from and builds upon that scholarship.