eJournals Colloquia Germanica 39/3-4

Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2006
393-4

ALFRED L. COBBS: Migrants’ Literature in Postwar Germany. Trying to Find a Place to Fit in. Lewiston, New York: The Edwin Mellen Press, 2006. 188 pp. $ 109.95.

91
2006
Ülker Gokherk
cg393-40425
Besprechungen / Reviews 425 Walserzitat von 1996 abschließt, das dem Buch als Motto gedient hat, zudem es dort heißt: «[…]Wenn ich etwas begreife, dann ist es der Zwang, sich lebenslänglich mit den Scheußlichkeiten der deutschen Geschichte beschäftigen zu müssen» (8). Hadek begibt sich mit ihrem Projekt auf schwieriges Gelände. Zum einen müssen mit ihrem Ausgangspunkt komplexe Fragestellungen und die damit verbundenen moralischen Dilemmas behandelt werden. Diese Fragen befinden sich aber zwischen verschiedenen Disziplinen der Germanistik, der Soziologie und der Rechts- und Geschichtswissenschaft, die für die relevanten Felder bereits umfassende Forschungsquantitäten bereitgestellt haben und die hier natürlich nur ansatzweise referiert werden können. Zum anderen ist es fragwürdig, ob die Art der gestellten Forschungsfragen mit einer literaturwissenschaftlich orientierten Arbeit beantwortet wurden. Bietet Walser uns mit seinem Werk wirklich alternative Wege zur Bearbeitung der Vergangenheit? Ich denke, dass der Leser dieser Dissertation eher zu dem Schluss kommt, dass Walser sich zwar mit dem Thema Vergangenheit intensiv und in verschiedensten Formen beschäftigt hat, nicht aber dass er wüsste, wie damit umzugehen sei. Växjö Universitet Bärbel Westphal A LFRED L. C OBBS : Migrants’ Literature in Postwar Germany. Trying to Find a Place to Fit in. Lewiston, New York: The Edwin Mellen Press, 2006. 188 pp. $ 109.95. Seit dem Aufbruch in das einundzwanzigste Jahrhundert definiert sich Deutschland gesetzlich als ein Einwanderungsland. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht verschafft hiermit den ausländischen Bevölkerungsgruppen der Bundesrepublik, die seit Jahrzehnten nur de facto als Migranten in Deutschland wohnten, die Möglichkeit der offiziellen Einwanderung. Wie Cobbs in seiner Einleitung bemerkt, rückt folglich die Frage nach der deutschen Identität erneut in den Vordergrund. Im Lichte dieser Entwicklungen öffnen sich auch neue Perspektiven zur langwierigen Multikulturalismusdebatte in Deutschland. Die Einblicke, die das vorliegende Buch Migrants’ Literature in Postwar Germany anbieten, gewinnen ihre Relevanz gerade im Zusammenhang mit dieser Übergangsphase. Eine Auseinandersetzung mit der aktuellen Identitätsfrage erfordert auch ein tiefgehenderes Verständnis der gesellschaftspolitischen Vergangenheit. Der Beitrag von Cobbs’ Studie zur Germanistik besteht darin, den Leser an die Geschichte der Arbeitsmigration und der Migrantenliteratur zu erinnern, um ein solches Verständnis aufzubauen. Durch diese methodologische Grundlage unterscheidet sich die Annäherung von Cobbs von anderen gegenwärtigen literaturkritischen Ansätzen, die die Darstellungen der Alteritätserfahrung überwiegend anhand von kulturtheoretischen Modellen untersuchen. Im Gegensatz zu solchen Studien gilt Cobbs’ Interesse direkt den sozialpolitischen Tatsachen, in deren Rahmen er die literarischen Texte einbeschliesst. Im folgenden soll aufgezeigt werden, welche Vor- und Nachteile diese Annäherung mit sich bringt. Gerade der historisierende Ansatz in Migrants’ Literature in Postwar Germany erweist sich nicht nur für Germanisten, sondern auch Kultur- und Sozialwissenschaftler ausserhalb German studies als aufschlussreich. Die Geschichte der neueren Migration, anfangend mit dem bilateralen Abkommen zwischen Deutschland und 426 Besprechungen / Reviews Italien, dem 1961 ein ähnlicher Vertrag mit der Türkei und in den darauffolgenden Jahren mit anderen südeuropäischen und nordafrikanischen Ländern folgte, wird dem Leser in anschaulicher Form vermittelt. Dieser Überblick verhilft dazu, die literarischen Texte in Bezug auf die unterschiedlichen Phasen der offiziellen Ausländerpolitik zu untersuchen. Cobbs wählt für dieses Anliegen repräsentative Werke unterschiedlicher Gattungen aus der ersten Generation der Migrantenautoren, unter ihnen die in den 70er Jahren entstandene epische Trilogie des Berliner Türken Aras Ören, die märchenhaften Erzählungen des in Syrien gebürtigen Rafik Schami und die Satiren von Sinasi Dikmen. Der Roman Die zarte Rose meiner Sehnsucht (1979) der türkischen Schriftstellerin Adalet Agaoglu wird deshalb in das Repertoire eingeschlossen, weil der Roman einen heimkehrenden Gastarbeiter als Hauptfigur behandelt. Cobbs integriert auch zwei Autoren der zweiten Generation sowie zwei Filme, in denen das Schicksal von Asylsuchern dargestellt wird, Jan Schüttes Drachenfutter (1987) und Xavier Kollers Reise der Hoffnung (1990). Er zeigt auf, wie die einzelnen Werke die subjektive Erfahrung der Begegnung mit dem Fremden gestalten und wie sie sich kritisch mit der Ausländerpolitik und ihrem ideologischen Nachschlag in der deutschen Gesellschaft auseinandersetzen. In der Darlegung der subjektiven Dimension geht Cobbs auf Themen wie Marginalisierung, Entfremdung, Schwund des Zugehörigkeitsgefühls und der persönlichen Identität ein, während im sozialpolitischen Kontext Begriffe wie «Anpassung», «Integration», «Assimilation», «Ausländerfeindlichkeit» und «Kulturdifferenzen» untersucht werden, die dem jeweiligen zeitgeschichtlichen Diskurs angehören. So zum Beispiel zeigt der Autor auf, wie Rafik Schami in seinen satirischen Erzählungen die steigende Ausländerfeindlichkeit und die Debatte um die Anpassungspolitik der 80er Jahre projeziert. Die künstlerische Darstellung der tragischen Folgen der Asylpolitik der Bundesrepublik und der Schweiz wird vor allem durch die zwei Filme erforscht, die sich auf die späten 80er und frühen 90er Jahre beziehen. Cobbs bemerkt schon zu Anfang, dass das Thema Identität, verbunden mit der Frage nach deutscher Staatsbürgerschaft der Einwanderer politische Implikationen habe, da es sich hier um Machtverhältnisse handle. Folglich setzt sich der Autor zum Ziel, die Bedeutung der angeführten Texte als politische Kritik zu ergründen. Wie er beispielsweise in Örens Trilogie aufzeigt, betrifft Örens Kritik nicht nur die diskriminierende Ausländerpolitik der damaligen Bundesrepublik, sondern auch die wirtschaftliche Reformpolitik der Türkei und die Gleichgültigkeit der türkischen Regierung gegenüber den Gastarbeitern in Deutschland. Doch kommt Cobbs auch zu der Schlussfolgerung, dass die Stärke eines politischen Plädoyers für die Rechte der Migranten in den untersuchten Werken unterschiedlich auftritt. Cobbs’ Behandlung der ausgewählten Werke als Spiegelbild der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse und als Herausforderung an diese ist meines Erachtens besonders aufschlussreich, wenn sie sich auf die Migrationsgeschichte der Bundesrepublik bezieht. Diese traditionelle sozialkritische Methode kommt jedoch meiner Meinung nach zu kurz, wenn es um die Analyse der einzelnen Texte und Filme geht. Wie ich schon erwähnte, erweist sich das Buch als eine informative Quelle der bundesrepublikanischen Migrationsgeschichte für Wissenschaftler in und ausserhalb der Germanistik. Da die literarischen Texte vorwiegend nur in deutscher und türkischer Besprechungen / Reviews 427 Sprache vorliegen, unternimmt der Autor, zunächst den Handlungsablauf und die Themen einzuführen. Tiefgehendere Analysen, die daraus folgen sollten, werden manchmal durch ausführliche Bestandaufnahmen ersetzt. So zum Beispiel wird Örens Trilogie im Hinblick auf die Kritik der türkischen politischen Ökonomie analysiert, während die Symbolik, die das Bild des türkischen Kreuzberger Proletariats als Kollektiv impliziert, nicht angesprochen wird. Örens marxistischer Standpunkt bleibt auch unberührt trotz des Hinweises auf Nazim Hikmet. Die im Signifikat Landwehrkanal angedeutete Geschichte der Spartakusrevolution bleibt auch unberücksichtigt. Die Hauptfigur in Agaaoglus Roman und seine Selbstidentifizierung mit seinem in Deutschland erworbenen Mercedes sollte eher als Farce als eine Lehre über einen tragischen Identitätsverlust verstanden werden. In Kollers Film weist der tragische Tod des kurdischen Jungen, der in den Schweizer Alpen zu Tode erfriert, symbolisch auf das in der Eröffnungsszene eingeführte Opferlamm, angedeutet durch den Tannenzweig im Mund des sterbenden Kindes. Selbst ein kurzer hermeneutischer Schritt auf solche Dimensionen hätte die Analysen in Cobbs’ Studie von einem allzu deskriptiven Ansatz befreit. Ich muss auch bemerken, dass Cobbs’ Besprechung der modernen türkischen Politik als Gegenstück zur deutschen Migrationsgeschichte nicht nur ziemlich oberflächlich, sondern auch zum Teil ungenau geführt wird: im Zusammenhang mit Ören weist der Autor auf den blutlosen Staatsstreich von 1950 und die gewaltsamen von 1960, 1971 und 1980 hin (S. 39). Eigentlich vermerkt aber 1950 keinen blutlosen Umsturz, sondern das Jahr der ersten demokratischen Wahlen, als deren Folge Atatürks Partei die Macht an die Demokrat Parti abgab, die dann 1960 in einem blutlosen Streich von der Militär abgestürzt wurde. Weiterhin führt der Autor das schwere Schicksal der kurdischen Minderheit in der Türkei auf die Kemalistische Regierung zurück («Kemalist government», S. 46). Wahrscheinlich ist hier die offizielle Staatsideologie gemeint. Der türkische Satirist heisst Aziz Nesin, nicht Nezin (S. 138). Anatolia ist nicht der Name einer östlichen Provinz (S. 169, Fussnote 31), sondern der der ganzen türkischen Halbinsel im asiatischen Kontinent. Zuletzt hält Cobb leider den türkischen Titel des Films Reise der Hoffnung, Umuda Yolculuk, für einen türkischen Romanschriftsteller (S. 3 und 145) und meint sogar, dass «[t]he perspective in Koller’s film adaptation of the book shows that he has been able to convey the force of Yolculuk’s message in the novel» (151). Koller hat für seinen Film mit der türkischen Autorin Feride Cicekoglu zusammengearbeitet, wie Cobbs anführt. Darüber hinaus habe ich keine Information über einen Roman erstellen können, auf dem der Film basieren soll. Selbst wenn es eine solche Quelle gibt, heisst der Autor gewiss anders als Umuda Yolculuk. Zum Schluss würde ich vorschlagen, dass die Lektüre von Migrants’ Literature in Postwar Germany durch Vergleiche mit folgenden Primärwerken bereichert werden könnte: Günter Wallraff, Ganz unten; Selim Özdogans Roman Mehr und Fatih Akins Film Gegen die Wand als ergänzende Stücke zu Akif Pirinccis Tränen sind immer das Ende. Reed College Ülker Gökberk