eJournals Colloquia Germanica 40/2

Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2007
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«vielleicht das interessanteste Land der Welt»: Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts

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2007
Gabi Kathöfer
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«vielleicht das interessanteste Land der Welt»: Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts GABI KATHÖFER U NIVERSITY OF D ENVER Ist es doch fast, als habe die Vorsehung die reichen Gefilde Mittel- und Südamerika dem deutschen Elemente vorbehalten. Denn während England berühmt ist, mit seinen Auswanderern […] Australien zu bevölkern, während Nord-Amerika noch lange Zeit zu thun haben wird, die unermesslichen Strecken […] auch nur mit einem dünnen Ansiedelungsnetze zu überziehen, scheint es, als könne Central- und Süd-Amerika seine Regeneration nur von dem dritten großen Wandervolke, von Deutschlands Söhnen, erwarten! (Gaebler 22) In ihrer bahnbrechenden Studie zu Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870 macht Susanne Zantop nicht nur auf die Bedeutung von kolonialen Fantasien für das Verständnis rassistischer und nationalistischer Bewegungen in deutscher Geschichte aufmerksam, sondern lenkt unseren Blick zudem auf Südamerika als Europas koloniales Lieblingsobjekt des neunzehnten Jahrhunderts. Die oben zitierte Textstelle aus Ernst Gaeblers Deutsche Auswanderung und Kolonisation (1850) ist ein Beispiel der zahllosen Manifestationen einer deutschen «fixation on South America» (Zantop 12). An Zantops Überlegungen und an germanistischen Studien anderer ForscherInnen zu der Südamerika-Obsession erstaunt jedoch die geringe Auseinandersetzung mit Brasilien, das im neunzehnten Jahrhundert ein Hauptziel der Emigration aus dem deutschsprachigen Raum darstellte. 1 Brasilien stand im Mittelpunkt vieler öffentlicher Diskussionen zu nationalen sowie kolonialen Fragen, denn die steigenden Auswandererzahlen wurden im neunzehnten Jahrhundert von einem wachsenden politischen Interesse an Kolonien in Übersee begleitet, und Brasilien erschien als ideales Ziel eines «migrationist colonialism» (Smith 25). Dieser Artikel beschäftigt sich mit Brasilien-Bildern im neunzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter europäischer Massenauswanderung, aber auch dem «goldene[n] Zeitalter des Reisens und der Reiseliteratur von Frauen» (Pelz 209). Anstatt mich im folgenden auf bekannte Brasilienbeschreibungen prominenter Politiker und Wissenschaftler wie Gustav Faber, Wilhelm Ludwig von Eschwege, Karl von Steinen oder Theodor Bösche zu konzentrieren, CG_40_2_s105-200End.indd 105 CG_40_2_s105-200End.indd 105 29.04.2009 14: 57: 57 Uhr 29.04.2009 14: 57: 57 Uhr 106 Gabi Kathöfer möchte ich Frauenperspektiven auf Brasilien in ihrer Relation zu zeitgenössischen Auswanderungsdebatten analysieren. Mit Ida Pfeiffer (1797-1858), Ina von Binzer (1856-1916) und Therese Stutzer (1841-1916) werden drei Abenteurerinnen vorgestellt, die eine mehr oder weniger lange Zeit in Brasilien verbracht und ihre Erlebnisse niedergeschrieben haben. Pfeiffers Eine Frau fährt um die Welt (1850), Stutzers Am Rande des brasilianischen Urwaldes (1889) und von Binzers Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien (1887) präsentieren eine Bandbreite an Erfahrungen und Funktionen von reisenden Frauen in Brasilien sowie eine Vielfalt an Genreformen, die Frauen für ihre Berichte wählten: Pfeiffer schrieb als Forscherin und Reisende ein Reisetagebuch, Stutzer verfasste als Pfarrersfrau Erzählungen über das Leben in deutschen Kolonien, und von Binzer veröffentlichte Briefe, die sie während ihrer Zeit als Kindermädchen in brasilianischen Familien verfasste. Die drei für diese Studie ausgewählten Texte waren im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert äußerst populär und erschienen in mehreren Auflagen. Ihre Popularität soll neben der Bedeutung der Texte als (Reaktion auf) koloniale und nationale Fantasien der Zeit auch als Diskussion individueller bzw. geschlechterspezifischer Heimat ausgelegt werden. Durch das komplexe Geflecht von Wunschbildern, Stereotypen, Definitionen, Interpretationen und deren ständigen Revisionen offenbaren die Texte die Vielzahl an Rollen, die weibliche Brasilienreisende des neunzehnten Jahrhunderts in der hybriden Identitätssphäre zwischen privater/ weiblicher und öffentlicher/ männlicher Sphäre, zwischen Kolonialfantasien und Humanitätsproklamationen, zwischen Selbst- und Fremderfahrungen einnahmen. 2 Dieser Artikel möchte anhand der außergewöhnlichen Perspektiven der drei ausgewählten Autorinnen die komplexe Funktion Brasiliens als mehrdimensionaler Erfahrungs- und Projektionsraum für kollektive wie individuelle Identitätskonzepte herausarbeiten sowie zur Wertschätzung von Reiseliteratur von Frauen als bedeutsame, auf die damalige Leserschaft einflussreiche und für die heutige Forschung aufschlussreiche kulturelle Quellen beitragen. Reiseliteratur ist nur «in den Zusammenhängen literarischer, philosophischer und überhaupt geisteswissenschaftlicher, anthropologischer und verwandter Entwicklungen im europäischen Kontext» verständlich (Brenner 10); so sind auch die Texte von Ida Pfeiffer, Therese Stutzer und Ina von Binzer in einem direkten Bezug zu der im Europa des neunzehnten Jahrhunderts viel diskutierten Massenauswanderung zu interpretieren. Brasilien war seit dem sechzehnten Jahrhundert ein beliebtes europäisches Reiseziel und Forschungsthema und entwickelte sich im neunzehnten Jahrhundert zu einem Hauptziel der europäischen Auswanderung. Im Hinblick auf den deutschsprachigen CG_40_2_s105-200End.indd 106 CG_40_2_s105-200End.indd 106 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts 107 Raum kam dem Land zwar im Vergleich zu den Auswanderungszielen der USA und Kanada quantitativ gesehen nur geringe Bedeutung zu, doch hatten die Kolonien in Brasilien einen starken Effekt auf das deutsche Selbstverständnis, was sich darin zeigte, dass in den deutschen Ländern, wie Fritz Sudhaus unterstreicht, «kein Land, in das die deutsche Auswanderung ihren Weg nahm, […] in Deutschland so viel umstritten und als Auswanderungsziel bekämpft worden [ist] wie Brasilien» (3). Die Diskussionen um Siedlungen in Brasilien waren besonders um die ökonomischen Umstände in Europa und Brasilien, um nationale und kulturelle Identität und nicht zuletzt auch um individuelle Freiheit zentriert. Die ökonomischen Gründe für die europäische Einwanderung nach Brasilien betrafen die Entwicklungen auf beiden Kontinenten. Auf der einen Seite stand die Unabhängigkeit Brasiliens, das durch dessen Umorientierung in der Wirtschaft enge ökonomische Beziehungen zu Europa aufbauen wollte. 3 Da am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts auf internationalen Druck die Sklaverei in Brasilien offiziell abgeschafft wurde, war die brasilianische Regierung bemüht, den dadurch entstehenden Mangel an Arbeitskräften durch ein alternatives Arbeitssystem mit europäischen Einwanderern zu lösen: «Brasilien stand vor der Notwendigkeit, den schwarzen durch den weißen Arbeiter zu ersetzen» (Sudhaus 20). Seit den 1820er Jahren wurde daher mithilfe von Agenten in vielen Zeitungen Werbung für eine Auswanderung nach Brasilien gemacht. Mit dem Versprechen einer kostenlosen Überfahrt und einer Ansiedlung auf eigenem Land hoffte man viele Europäer nach Brasilien locken zu können. 4 Auf der anderen Seite stand die Übervölkerung und wirtschaftliche Not in Europa, durch die immer mehr Menschen das Verlassen des heimatlichen Kontinents zur Lösung der eigenen Not und sozialen Krise in Betracht zogen. In den Ländern des deutschen Bundes wurde die Auswanderung in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts sodann äußerst positiv bewertet und als Lösung für die «überschüssige Menschenmasse» und als Heilmittel gegen innere Unruhen und Revolutionen aufgefasst. 5 Zudem war im deutschen Kontext die Vorstellung deutschsprachiger Siedlungen im Urwald Brasiliens eng mit dem Bewußtsein der eigenen kulturellen Identität verbunden, denn in den Werbungen wurde der Deutsche aufgrund seines starken Familiensinns sowie seiner Arbeitsliebe, Bescheidenheit und Autoritätshörigkeit als der ideale Siedler von Auswanderern anderer Nationalität unterschieden. 6 Diese Lobpreisungen der eigenen Kultur in den Auswanderungswerbungen steigerten das Nationalbewusstsein und verstärkten das Gefühl einer kulturellen Zusammengehörigkeit, das trotz der fehlenden nationalen Einheit Deutsche auf allen Kontinenten miteinander verbinden konnte. Nicht zuletzt bestanden auch durch die Vermählung des Kronprinzen Don Pedro I. mit der CG_40_2_s105-200End.indd 107 CG_40_2_s105-200End.indd 107 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 108 Gabi Kathöfer Großherzogin Leopoldine von Österreich im Jahre 1817 enge Beziehungen zwischen Brasilien und dem deutschsprachigen Raum. Das Auswanderungsfieber brach in Europa neben den ökonomischen und nationalen Bedürfnissen schließlich auch durch das steigende Verlangen nach individueller Freiheit aus. Die Auswandererfreiheit, die in den deutschen Ländern durch die Pariser Verträge in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts eingeführt wurde, spielte in den Diskussionen um Brasilien seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine entscheidende Rolle. 7 Durch negative Erfahrungsberichte von ausgewanderten Siedlern stellte man in der europäischen Heimat die Vorteile der neuen Freiheiten jedoch im zunehmenden Maße infrage. Grund für die negativen Nachrichten waren oft die Parceria- oder Halbpacht-Verträge, die die Einwanderer mit der Kaffeearistokratie in Brasilien abschlossen, durch die sie sich verschuldeten und sodann in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Agenturen und Großgrundbesitzern gerieten. In den Worten des bekannten Reiseschriftstellers Friedrich Gerstäcker: «Die Parcerieverträge klangen […] verlockend, und mit den Lobpreisungen deutscher Auswanderungszeitungen und Agenten, die ihre Landsleute gewissenlos an’s Messer lieferten, gelang es den brasilianischen Pflanzern, eine große Anzahl Deutscher in die vorgehaltene Schlinge zu locken» (455). Die Berichte einer Ausbeutung der Landsleute, einer weißen Sklaverei, veranlassten Befürworter und Gegner der Auswanderung dazu, in Zeitungsartikeln und Abhandlungen Brasilien entweder zu einem idealen Kolonialobjekt oder aber zu einem sozialen Alptraum zu erklären und Ratschläge oder Mahnrufe an Auswanderungswillige auszusprechen. 8 Auch die Regierungen in Europa versuchten sich seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einzuschalten und die Auswanderungsströme durch Gesetze einzudämmen, wie etwa durch das vorübergehende Auswanderungsgesetz von 1853 oder das Heydtsche Reskript der preußischen Regierung, das die Werbung für die Auswanderung nach Brasilien verbot. Diese Maßnahmen zeigten jedoch wenig Erfolg, denn, obwohl nach der ersten Auswanderungsphase in den 1820er Jahren zunächst ein starker Rückgang der Auswanderungszahlen zu verzeichnen war, erreichte die Emigration nach Brasilien aus dem deutschsprachigen Raum in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ihren Höhepunkt; am Ende des Jahrhunderts zählte man schließlich weit über hundert deutschsprachige Kolonien, größtenteils in Süd-Brasilien. Die zeitgenössischen Brasilien-Diskussionen müssen bei der Analyse der Brasilien-Texte Ida Pfeiffers, Therese Stutzers sowie Ina von Binzers berücksichtigt werden, denn diese Debatten vermittelten Vorurteile, die die Brasilienerfahrungen und -beschreibungen der Autorinnen beeinflussten oder CG_40_2_s105-200End.indd 108 CG_40_2_s105-200End.indd 108 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts 109 motivierten. Vor dem Hintergrund der Argumente für und gegen die Auswanderung nach Brasilien sind die im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert äußerst populären Texte der drei Frauen als begehrte Reflexionsräume zu Fantasien kultureller Überlegenheit, kolonialer Partizipation sowie individueller Freiheit zu lesen. Ida Pfeiffer (geborene Reyer) zählt zu den berühmtesten Abenteurerinnen des neunzehnten Jahrhunderts und ist eine der ersten Reiseberichterstatterinnen über Brasilien. Nach einem Lebensabschnitt als Mutter, Hausfrau und Ehegattin erfüllte sich die Wienerin mit 45 Jahren ihren durch Reiselektüre geweckten Kindheitswunsch und begab sich auf Reisen. 9 Ihre Reiselust beschreibt die Autorin in ihrem Vorwort zu Eine Frau fährt um die Welt (1850) selbst als eine natürliche, fast künstlerische Begabung, die sie mit den Berufungen zur Malerei oder Schriftstellerei vergleicht: «Wie es den Maler drängt, ein Bild zu malen, den Dichter, seine Gedanken auszusprechen, so drängt es mich die Welt zu sehen. - Reisen war der Traum meiner Jugend, Erinnerung des Gesehenen ist nun das Labsal meines Alters» (5). 10 Diese innere Berufung führte Ida Pfeiffer auf viele Fahrten und zwei Weltreisen, über die sie ausführliche Reiseberichte verfasste. Ihre Texte erschienen in vielfachen Auflagen und erfreuten sich im neunzehnten Jahrhundert einer enormen Beliebtheit, wenn sie auch vonseiten der Kritiker wenig Anerkennung bekamen, wie z.B. folgende verhaltene Bewertung aus dem Jahre 1887 andeutet: «Die von echter Wahrheitsliebe erfüllten schlichten Erzählungen ihrer Erlebnisse in selten betretenen Ländern wird aber Niemand ohne Interesse lesen, wie auch bedeutende Verbreitung und die wiederholten Auflagen ihrer Werke beweisen. Besonders als Jugendlectüre waren sie einst nicht unbeliebt» (Allgemeine Deutsche Biographie 91f.). 11 Von der Hervorhebung ihrer «Wahrheitsliebe», die in dem obigen Zitat als einzig bemerkenswerte positive Eigenschaft hervorgehoben wird, sind Ida Pfeiffers Berichte selbst dann genauso geprägt wie von einer ständigen Selbstpositionierung und -reflexion der Autorin; bereits im Vorwort legt sie ihre Position und Intention dar: Schon in mehreren Zeitungen ward ich Touristin genannt; dieser Name gebührt mir indessen, seiner gewöhnlichen Bedeutung nach, leider nicht. Einerseits besitze ich zu wenig Witz und Laune, um unterhaltend schreiben, und andrerseits zu wenig Kenntnisse, um über das Erlebte gediegene Urtheile fällen zu können. Ich vermag nur schmucklos das zu erzählen, was mir begegnet, was ich gesehen, und will ich etwas beurtheilen, so kann ich es blos von dem Standpuncte einfacher Anschauung aus. (5) Mit dieser in der Sekundärliteratur zu Pfeiffer viel zitierten Einleitung definiert die Abenteurerin ihre Rolle als gewöhnliche Frau ohne Schreib- oder Unterhaltungstalent sowie ohne politische oder pädagogische Intention. CG_40_2_s105-200End.indd 109 CG_40_2_s105-200End.indd 109 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 110 Gabi Kathöfer Durch diese Zurücknahme der eigenen Person und Urteilsfähigkeit behauptet Pfeiffer als reisende und beobachtende Frau jedoch eine Autorität, über die Welt außerhalb nicht nur der weiblichen Sphäre des Hauses, sondern auch außerhalb der Heimat und sogar Europas Aussagen zu machen. 12 Diese geschickte Strategie einer captatio benevolentiae, die die Frauenliteratur im neunzehnten Jahrhundert generell durchzieht, bestimmt Pfeiffers Reiseberichte, obwohl sie, wie Jane Robinson herausstellt, eine der wenigen Frauen war, «who never felt the need to qualify her impulse: she travelled because she wanted to see the world, and saw no reason why she shouldn’t» (25). Nach Brasilien reiste Pfeiffer 1846, sie besuchte zuerst Rio de Janeiro und reiste dann in das Innere des Landes, wo sie Eindrücke vom Urwald sammelte sowie Puri-Stämme und europäische Siedlungen besuchte. Pfeiffers Eindrücke während ihres dreimonatigen Brasilienaufenthaltes unterscheiden sich in ihrer Qualität als Reisebericht wenig von ihren Darstellungen anderer Länder; ihre eurozentrischen, allgemein gehaltenen Bemerkungen geben insgesamt nur einen «oberflächlich-schnellen Einblick» (Holdenried 162) von Land und Leuten, auf die sie sich nicht wirklich einlässt, sondern aus distanzierter Position beobachtet und urteilt. Hinter dieser Oberflächlichkeit kann in Pfeiffers Brasilienbeschreibungen aufgrund des direkten Bezugs zu den Auswanderungsdebatten der Zeit jedoch ihr soziales und politisches Engagement erkannt werden; diesbezüglich scheinen insbesondere ihre Äußerungen über die brasilianische Natur aufschlussreich. Ida Pfeiffers Brasilienbild ist insgesamt äußerst negativ. Selbst die unerschöpfliche Fülle und exotische Schönheit der Natur, die im Mittelpunkt der Auswanderungswerbung für Brasilien stand, wird von Pfeiffer durch den Verweis auf die Kurzweiligkeit ihrer Begeisterung dafür relativiert: Viel hatte ich in Europa gehört und gelesen von der Großartigkeit und Üppigkeit der Natur in Brasilien, von dem ewig heitern, lachenden Himmel. Von den wunderbaren Reizen des immerwährenden Frühlings. Es ist wahr, daß die Vegetation hier so reich, der Wachstum so kräftig und üppig ist, wie vielleicht in keinem Lande der Welt, und daß jeder, der das Wirken der Natur in vollster Kraft, in unaufhörlicher Tätigkeit sehen will, nach Brasilien kommen muß; - doch möge ja keiner glauben, daß hier auch alles schön, alles gut sei, daß es nichts gebe, was vielleicht den Zauber des ersten Eindruckes schwächen könne. Jubelt doch jeder über das immerwährende Grün, über die unaufhörliche Frühlingspracht und gibt am Ende gerne zu, daß das mit der Zeit seinen Reiz verliert. (27) Bereits in diesen einfachen Schilderungen der Natur Brasiliens wird Pfeiffers publikumsorientierte Darstellungsweise deutlich: bevor sie ihre Beurteilung des Klimas und der Natur näher darlegt, verweist sie auf die in Europa vorherrschenden Vorurteile und Vorbilder, mit denen sie selbst ihre Brasilienrei- CG_40_2_s105-200End.indd 110 CG_40_2_s105-200End.indd 110 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts 111 se angetreten hatte und die sie mit ihren LeserInnen teilt; sie knüpft sodann zunächst an die Erwartungshaltung und vorhandenen Brasilienbilder ihrer Leserschaft an und macht dann auf den illusorischen Charakter der populären Urwaldimaginationen aufmerksam. Das Versprechen im Vorwort, eine urteilsfreie und neutrale Beschreibung des Landes zu liefern, hält Pfeiffer somit bereits hinsichtlich der Schilderung des brasilianischen Klimas nicht mehr ein, sondern fügt warnende Bemerkungen hinzu, um auf diese Weise auch bei ihrer Leserschaft eine Entzauberung «des ersten Eindruckes» zu bewirken. 13 Obwohl sie es vermeidet, an dieser Stelle auf die Siedler in Brasilien zu verweisen, wird durch die vorsichtigen Einwände bereits der Ton ihres Brasilienberichts verständlich: es geht Pfeiffer um die Erläuterung des fremden Landes als potenzieller neuer Heimat für europäische Auswanderungswillige. Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich auch im Bezug auf Pfeiffers Erläuterung der Natur der Brasilianer. Trotz oder gerade wegen der erneuten Betonung ihrer unzureichenden Kenntnisse wagt es Pfeiffer, «Vermuthungen und Abhandlungen, die [nur] […] gelehrten Männern zukommen» (25), zu machen und die Mentalität der Brasilianer zu definieren: Sitten und Gebräuche lernte ich zu wenig kennen, um im Stande zu sein, ein geeignetes Urtheil darüber abzugeben, und ich darf mich daher nur auf einzelne Bemerkungen beschränken. Im Ganzen scheinen jene von den Europäischen wenig abzuweichen, denn die jetzigen Besitzer des Landes stammen ja von Portugal her, und so könnte man füglich die Brasilianer in das Amerikanische übersetzte Europäer nennen. Daß durch diese Uebersetzung manche Eigenschaften verloren gegangen, andere wieder hervorgetreten sind, ist wohl natürlich. Am stärksten tritt bei dem amerikanisch gewordenen Europäer die Sucht nach Geld hervor, die zur Leidenschaft wird und oft den furchtsamsten Weißen zum Helden macht. (29) Auch diese Textstelle ist in einem direkten Bezug zur Brasilienauswanderung zu lesen und verweist auf die Parcerie-Verträge, durch die viele Auswanderer in ein langjähriges Abhängigkeitsverhältnis gerieten und von den brasilianischen Großgrundbesitzern ausgenommen wurden. Auch hier unterläßt es Pfeiffer, direkte Bezüge zu den Schicksalen vieler Emigranten herzustellen. Dennoch ist die Bedeutung ihrer Kommentare für die zeitgenössischen Leser offensichtlich, sie dienen einer politischen Stellungnahme: Pfeiffers eurozentrische Bemerkungen zur brasilianischen Natur, sei es zu dem Klima oder den Menschen, beziehen sich immer wieder auf Themen und Stereotypen, die im Mittelpunkt öffentlicher sowie privater Südamerika-Diskussionen der Zeit standen. Pfeiffers Bewertungen der Brasilianer als «in das Amerikanische übersetzte Europäer» sind ein gutes Beispiel für das Gesamtbild ihrer Brasiliendarstellung als minderwertiges Europa-Imitat und unzureichendes Heimat-Surrogat, das sie in ihrem Bericht entwirft. Pfeiffers Brasilienbeschrei- CG_40_2_s105-200End.indd 111 CG_40_2_s105-200End.indd 111 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 112 Gabi Kathöfer bungen beinhalten somit trotz der im Vorwort proklamierten unpolitischen Absichten durchgehend kritische Stellungnahmen der Autorin zu einer der zentralen Fragen der Zeit. Indem sie in ihre «einfache[n] Anschauung[en]» immer wieder Reflexionen über Brasilien als zweiter Heimat ihrer Landsleute einfließen lässt, funktionalisiert sie Brasilien als Plattform politischer Partizipation. Besonders an Stellen, an denen Pfeiffer ihr Unwissen und ihre Unfähigkeit bekundet, erkennt man den ideologischen und politischen Charakter ihrer «echten Wahrheitsliebe»: die Verpflichtung zur Wahrheit im Bezug auf Brasilien bedeutet für die Autorin nicht nur die Aufgabe einer Darstellung, von dem «was mir begegnet, was ich gesehen», sondern auch die mehr oder weniger explizite Bezugnahme auf den politischen Auswanderungsdiskurs ihrer Zeit. Ihr Bericht kommt sodann streckenweise einem Auswanderungsratgeber gleich, d.h. er fungiert als pädagogisches Instrument und Versuch einer Beeinflussung der Auswanderungswilligen unter ihren LeserInnen. So überrascht es nicht, dass Ida Pfeiffer sich in ihrem Brasilienbericht schließlich nicht nur direkt an ihre Landsleute richtet, sondern auch eine Verbreitung ihrer «Wahrheiten» über das beliebte Auswanderungsziel in Südamerika propagiert: Zum Schlusse sei mir noch erlaubt, einige Worte an jene meiner Landsleute zu richten, die ihr Vaterland verlassen wollen, um an der fernen Küste Brasiliens ihr Glück zu suchen, - einige Worte nur, denen ich aber wünsche, daß sie möglichst bekannt, möglichst verbreitet würden. Es gibt in Europa Leute, die um kein Haar besser sind als die afrikanischen Sclavenhändler, Leute, die den Armen allerlei vorspielen von dem Ueberflusse an Naturprodukten daselbst und von dem Mangel an Arbeitern. Diesen Leuten ist aber wenig an dem Glücke der Armen gelegen, - nein, sie besitzen Schiffe, die sie befrachten wollen, und nehmen dafür dem getäuschten Opfer die letzten Reste seines kleinen Vermögens ab […]. Möge doch jeder, ehe er sein Vaterland verläßt, genau sich zu unterrichten suchen; möge er lange und reiflich überlegen und sich nicht von trügerischen Hoffnungen hinreißen lassen. Die Enttäuschung ist um so fürchterlicher, da sie erst erfolgt, wenn es zu spät ist, wenn der Arme der Noth und dem Elende schon unterliegt. (30f.) 14 Im Mittelpunkt ihrer Schilderungen steht das Prinzip der Enttäuschung, Desillusionierung und Warnung vor trügerischen Hoffnungen; aus dieser Perspektive gesehen fungiert ihr Brasilienbild in der Tat nicht als unterhaltender Bericht einer «Touristin», sondern als populärer und gesellschaftlich akzeptierter Kommunikationskanal, über den sie auf das Schicksal ihrer Landsleute Einfluss zu nehmen versucht. 15 Therese Stutzer führten gänzlich andere Beweggründe nach Brasilien als Ida Pfeiffer, und auch ihre Art der Darstellung und Reflexion ihrer Erfahrun- CG_40_2_s105-200End.indd 112 CG_40_2_s105-200End.indd 112 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts 113 gen unterscheidet sich gänzlich von Pfeiffers Reisebericht. Die Tochter des Leiters der Eisenhüttenwerke in Ilsenburg, Eduard Schott, folgte 1885 ihrem Mann Gustav Stutzer nach Brasilien und lebte als Pfarrersfrau ein Jahr lang in der deutschen Kolonie Blumenau, bevor die Familie aufgrund schwieriger finanzieller Umstände nach Deutschland zurückkehren musste. 1891 siedelte man dann zum zweiten Male nach Brasilien um, wo Gustav Stutzer die Verwaltung eines Urwaldgrundstückes zwischen S-o Paulo und Santos übernahm und als Landwirt, Viehzüchter und Förster tätig war. Nach 18 Jahren kehrten sie 1909 schließlich endgültig nach Deutschland zurück. Die von ihrem Mann verfasste Biographie Meine Therese. Aus dem bewegten Leben einer deutschen Frau (1917) gibt Aufschluss über die Erfahrungen seiner Frau als Kolonistin. 16 Seine bewundernden Bemerkungen über die «praktische Hausfrau, die sich vollkommen in neue Verhältnisse schickt, und […] scharfe Beobachterin von Land und Leuten» (87) bereichert er mit einigen ihrer Briefe, die er als «Kleinmalerei» unkommentiert in sein Buch mit aufnimmt; in ihnen kommt besonders die Isolation, Einsamkeit und der Mangel an Kultur, unter denen Therese in Brasilien litt, zum Ausdruck: Weißt Du, was hier so peinlich auf uns lastet? ? Die Unmöglichkeit, fort zu kommen. Man kann reisen, aber mit was für Strapazen ist es verbunden und mit was für Geldopfern! […] ‹Wir sitzen hier in einer Mausefalle›, klagen die Kinder. Es ist so enge und so ängstlich! […] Wenn ich so darüber nachdenke, was es wohl eigentlich ist, was uns hier belastet: der Mangel an geistigem Leben. Uns selbst unbewußt haben wir die geistige Luft drüben geatmet. Jetzt umgibt uns der Materialismus. […] Gehört nicht zu der Entwicklung des Menschen auch ‹das Schöne›, worunter ich alles begreife, was unseren höhern Sinn anregt und befriedigt, dem Geiste und Gemüte Nahrung gibt? […] Hier siehst Du nur die Natur den Kampf auskämpfen. Geh in den Urwald, und Du siehst den Kampf verkörpert vor Dir. (Meine Therese 105f.) Ihre Erfahrungen wollte Therese Stutzer nach ihrer Rückkehr aus Blumenau auch ihren Landsleuten mitteilen und verarbeitete sie daher in Form von kurzer Prosa; ihr Band Am Rande des brasilianischen Urwaldes gewann eine große Leserschaft. Der Grund für die Beliebtheit von Therese Stutzers Werk lag, wie Giralda Seyferth herausstellt, neben der Präsentation einer exotischen Fremde insbesondere in der Konzentration auf die Situation der Landsleute in der neuen Heimat: «Possivelmente chamaram a atenç-o do público alem-o porque s-o narrativas que têm um componente exótico, n-o só relativo à natureza brasileira e sua «exuberância», mas também à própria vida peculiar dos imigrantes na dificultosa situaç-o pioneira» (187). Die Texte berichteten über die Lebensverhältnisse und Schwierigkeiten in den deutschen Siedlungen und dienten daher als unterhaltsame Informationsquellen für viele Auswanderungswillige. CG_40_2_s105-200End.indd 113 CG_40_2_s105-200End.indd 113 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 114 Gabi Kathöfer Was Stutzers Schriften zudem von anderen Auseinandersetzungen mit Brasilien der Zeit unterschied, war die Berücksichtigung der Schicksale von Auswandererfrauen. Noch Mathilde Preiss beklagt 1925 die unzureichende Beschäftigung mit den Lebensgeschichten von Auswandererfrauen und betont deren zentrale Rolle in den Gemeinschaften in Übersee, denn: «Was nimmt der Auswanderer mit, der sich als Kolonist in Brasilien anzusiedeln gedenkt? Vor allem eine Frau» (193). Das Schicksal der Kolonistenfrauen wurde nicht nur in den vielen Texten und Abhandlungen zur Emigration nach Brasilien im neunzehnten sowie im zwanzigsten Jahrhundert vernachlässigt, sondern auch von Seiten der Migrationsforschung bislang unzureichend beachtet: «Zur Beantwortung der Frage nach ‹Erfolg› und ‹Mißerfolg› der Auswanderung wurde bisher meist die soziale Mobilität der Immigranten analysiert, und zwar anhand des Arbeitsplatzes des Familienoberhauptes […]. Die Arbeitswelt der Einwanderinnen lag in dieser Familie ‹verborgen›, sie wurde unter diesem Blickwinkel gar nicht oder nur am Rande wahrgenommen» (Bretting 9). 17 Hieran zeigt sich der Wert von Stutzers heute gänzlich in Vergessenheit geratenen Texten, denn die Autorin stellt in ihren Erzählungen diese verborgene Welt der Siedlerfrauen im neunzehnten Jahrhundert vor. Insgesamt überwiegt das tragische Element in Stutzers Werk sowie eine pessimistische Einschätzung der europäischen Ansiedlung in Brasilien. Der autobiographische Charakter ihrer Texte ist unverkennbar: das Leben der Frauen in Stutzers Schriften ist durch Isolation, Einsamkeit, schwere körperliche Arbeit, den Wunsch nach geistiger Tätigkeit und die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit bestimmt. Darüber hinaus thematisieren ihre Erzählungen die Unverantwortlichkeit der männlichen Mitglieder der Kolonien, deren Abwesenheit, Trinkerei, Spielerei oder Geldgier die schwierige Situation der Frauen verursachen bzw. verschlimmern. Ihre Geschichten enden häufig mit Ehebruch, Duellen, tragischen Unfällen und oft mit dem Tod ihrer Protagonistinnen. 18 Brasilien findet als Ort der Handlung zwar Erwähnung, es wird ihm als fremdem Land und neuer Heimat der Kolonisten jedoch kaum Beachtung geschenkt. Therese Stutzers Blick beschränkt sich gänzlich auf den Mikro-Kosmos der Kolonie; nur das Bild des wilden und tiefen Urwalds, auf den die Autorin auch im Titel ihres Buches verweist, wird in den Erzählungen wiederholend eingesetzt. Ein gutes Beispiel für Stutzers tragische Frauenschicksale in Brasilien ist die Erzählung «Marie Luise»: Marie Luise wird als träumerisches Kind von Auswanderern dargestellt, die in einer deutschen Kolonie in Brasilien aufwächst: «Nur die Mutter hat eine Ahnung von dem Seelenleben ihres Kindes. - Sie ist so anders als alle anderen, ihre schöne Marie Luise, ihr sonniges Herzblatt» (38). Mit sechzehn Jahren wird sie mit dem viel älteren Schmiedemeister Peter CG_40_2_s105-200End.indd 114 CG_40_2_s105-200End.indd 114 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts 115 Jürgens vermählt, den man «nach den Begriffen der Kolonie für einen reichen Mann» (39) hält. Als sich der Ehemann auf eine Geschäftsreise nach Deutschland begibt, nähert sich Marie seinem Stellvertreter Heinrich, der Luises Liebe zur Literatur und Kunst versteht und teilt. Als der Geschäftsmann schließlich zurückkehrt und von den Ereignissen in seinem Hause erfährt, verzeiht er seiner Frau zögernd und entschuldigt sich für seine fehlende Rücksicht und Zuneigung. Nach ihrer Versöhnung schlägt er seiner Frau vor, mit ihr zum Stadtplatz zu reiten, um der Tratscherei über seine Familie ein Ende zu machen, doch Marie Luise stürzt vom Pferde und verunglückt tödlich. Die Erzählung endet mit dem Verweis auf die Tochter Marie, die sich Jahre später «von ihrer Mutter erzählen [läßt], wieder und immer wieder» (63). Hauptaugenmerk der Autorin liegt auf den Erfahrungen deutsch-brasilianischer Auswanderer der ersten sowie zweiten Generation. Nach Giralda Seyferth handelt es sich bei Stutzers «Marie Luise» um ein «veícolo[ ] para divulgar o que Deeke chamou de Brasil Deutschtum - uma express-o de etnicidade» (187). Seyferth unterstreicht die Funktion der Erzählung als Diskussion eines brasilianischen Deutschtums, das sich durch eine allmähliche Entfremdung der Auswanderer von ihrem Vaterlande formiert. 19 Diesen Prozess einer Distanzierung von der europäischen Heimat führt Stutzer anhand der Figur des Ehemannes vor, den auf seiner Reise «[d]rüben in Deutschland […] nichts erfreut, nicht das Wiedersehen der Verwandten - sie waren mir fremd geworden, wir verstanden uns kaum mehr. In den großen Städten erdrückten mich die engen Straßen; das unruhige Leben und Treiben betäubte mich» (60). Diese Etablierung einer exklusiven Gemeinschaft in Brasilien wird in Stutzers Erzählung jedoch nicht zelebriert, sie wird im Gegenteil zum Gegenstand einer vehementen Kritik. Mit ihrer Männerfigur erstellt die Autorin ein kritisches Gesellschaftsbild der zweiten Generation von Auswanderern, dessen Entfremdung sich in Geldgier, fehlender Sensibilität und Kultiviertheit manifestiert. Darüber hinaus kontrastiert Stutzer in «Marie Luise» das erfolgreiche Leben des Ehemannes in den Kolonien mit dem tragischen Untergang seiner Frau: «Ihm selbst erging es sehr gut. Sein Geschäft blühte; er hatte mehr als je zu tun und seufzte nach tüchtiger Hilfe. […] So war er beständig in Anspruch genommen, zumal auch die Wahlen sich dem Ende näherten. Marie Luise sah und sprach ihren Mann nur wenig, sie lebte still mit ihren Kindern» (48). Maßlosem Freiheitsdrang, finanziellem Gewinn und der großen Abenteuerlust, die viele Auswanderungswillige im Europa des neunzehnten Jahrhunderts mit Brasilien assoziierten, setzt Stutzer im Hinblick auf ihre Protagonistin weibliche Heimatlosigkeit, Schutzlosigkeit und einen drohenden Kultur-, Moral- und Traditionsverlust entgegen. 20 CG_40_2_s105-200End.indd 115 CG_40_2_s105-200End.indd 115 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 116 Gabi Kathöfer Mit dem Tod der Protagonistin auf dem Weg zum Stadtplatz wird deutlich, dass sich für Stutzer dieses zivilisierte Frauenbild nicht mit dem Leben in der Kolonie aufrechterhalten lässt. Am Ende wird sodann ein neues Frauenbild entworfen, die ‹neue Mutter› und das weibliche Gegenstück zu dem ‹entfremdeten› Ehemann. Stutzer präsentiert eine «derbe[ ], kräftige[ ] Hausfrau» (62), die als Nachfolge der verstorbenen Marie das Zukunftsbild der deutschen Kolonistenfrauen in Brasilien repräsentiert. Im Dialog zwischen dieser ‹neuen Frau› und der Tochterfigur Marie als Repräsentantin eines verloren gegangenen Frauenbildes stellt Stutzer die Unvereinbarkeit beider Frauenbilder unter Beweis: Sie ist so zart und fein und so blaß. Sie hat die großen Augen ihrer Mutter und sieht träumerisch in die bunte Welt. «Warum bist du niemals lustig, Marie? » fragte einst ihre neue Mutter. «Du hast es doch gut.» «O ja, das habe ich; aber haben sie dir auch einmal deine Mutter tot ins Haus gebracht? » «Du hast doch jetzt eine neue.» Marie sah sie traurig an, stand auf und verließ das Zimmer. (62) Mit der Behauptung der neuen Mutterfigur sowie dem Austritt der Tochterfigur verarbeitet Stutzer ihre eigenen Erfahrungen «am Rande des brasilianischen Urwalds» und stellt eine negative Prognose für die Situation von Frauen aus. Brasilien fungiert bei Therese Stutzer somit als Diskussionsraum geschlechterspezifischer Identität: während Brasilien in der Männerwelt als Ort der neuen Heimat und neuer Möglichkeiten gefeiert wird, stellt das südamerikanische Land für die Kolonistenfrauen keinen Raum für eine freie Entfaltung bereit; im Gegenteil, durch das Defizit an kulturellen Werten, geistigem Austausch und sozialer Verantwortlichkeit erscheint Brasilien als ein ‹Unparadies› für gebildete Frauen wie Stutzer, die das Kolonieleben selbst als eine Einengung und Isolation erfahren hatte, wie die von ihrem Ehemann gesammelten Briefe belegen: «Mir ist’s gar einsam. […] Nun bin ich ganz allein» (Meine Therese 97). Zum Abschluss möchte ich kurz auf einen weiteren, aufschlussreichen Text zu Brasilien aufmerksam machen: Ina von Binzers Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien (1887). Ina von Binzer gehört zu den heutzutage wenig bekannten deutsch-brasilianischen Reiseschriftstellerinnen des neunzehnten Jahrhunderts; sie nahm an der zweiten großen Auswanderungswelle teil, die durch einen Übergang von einer Siedlungswanderung zur Arbeitswanderung gekennzeichnet war und an der auch junge, unverheiratete Mädchen teilnahmen, um «als Dienstmädchen, Kellnerinnen oder Zimmermädchen zu arbeiten und nicht zuletzt auch, um ihre Aussicht auf Heirat zu verbessern» (Bretting 10). 21 Von Binzer entschloss sich nach ihrer Schul- und Studienzeit, die sie in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen verbrachte und mit der Lehrerinnenprüfung abschloss, zur Übersiedlung nach Brasilien; sie verließ ihre Heimat 1881, da «in Deutschland bereits die ‹Überfüllung des Lehrerin- CG_40_2_s105-200End.indd 116 CG_40_2_s105-200End.indd 116 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts 117 nenstandes› beklagt» wurde (Mertin 260). Dort lebte sie als Kindermädchen und Lehrerin bis 1884; durch ihre drei verschiedenen Anstellungen lernte sie während ihres Aufenthalts sowohl das Stadtleben in S-o Paulo und Rio de Janeiro als auch das Landleben in der Provinz Rio und S-o Paulo kennen. 1884 kehrte sie nach Deutschland zurück und lebte in Berlin und später mit ihrem Ehemann Dr. Adolf von Bentivegni in Halle. Drei Jahre nach ihrer Rückkehr veröffentlichte die Abenteurerin ihren Briefroman Leid und Freud einer Erzieherin in Brasilien unter dem Namen Ulla von Eck. Dieses Buch scheint aus einer chronologischen Abfolge ihrer Briefe und Postkarten an die Freundin Grete zu bestehen, doch, wie Friedrich Sommer herausstellt, ist «in den Briefen ein wohldurchdachter Plan zu beobachten, nach welchem das Land und seine Bewohner, ihr Denken und Handeln der Empfängerin in belebtem Wechsel» vor Augen geführt wurden. Die Strukturiertheit ihrer Schrift zeigt sich bereits an der Aufteilung ihrer Briefe, von denen sie jeweils die gleiche Anzahl von Schriftstücken über die drei Aufenthaltsorte auswählte. Auch hinsichtlich des Inhalts ist ihre Schrift nach Sommer als ein «aus Wahrheit und Dichtung geschickt zusammengefügte[s] kleine[s] Werk» zu bezeichnen. Anders als Ida Pfeiffer, die nur einen oberflächlichen Blick auf Land und Leute Brasiliens richtet, und Therese Stutzer, die sich auf die deutschen Kolonisten konzentriert, bieten die Briefe von Binzers einen Einblick in das Familienleben und die Gesellschaft Brasiliens. Aufgrund ihrer Position als Erzieherin kann sie eine außergewöhnliche Perspektive auf Brasilien anbieten, wie sie selbst in ihrem Brief vom 1. Juli 1882 bezüglich ihres Umzuges von der Stadt aufs Land betont: Halb graut mir vor diesem ‹Stil›, halb bin ich aber auch neugierig darauf, das echte brasilianische Landleben kennenzulernen, von dem viele Hunderte, die Brasilien besuchen, nie einen Begriff bekommen. In dieser Weise sind wir Erzieherinnen im Vorteil gegen die Kaufleute und andere Europäer, von denen die wenigsten je die Küstenplätze verlassen, sondern die meisten nach zehn und zwanzig Jahren nach Europa zurückkehren, ohne das Land oder das Leben der Brasilianer im geringsten zu kennen, während wir, die wir direkt in den Familien leben, auf diese Weise ja alle Schikanen mitmachen müssen. (91) Wie bei Pfeiffer und Stutzer überwiegt der negative Eindruck von Brasilien: in den Augen aller drei Abenteurerinnen ist es ein Land der «Schikanen», und auch von Binzer schwankt zwischen einer Bewunderung der anderen Kultur und Natur und einer Abscheu davor. Was von Binzers Text jedoch von den beiden bereits besprochenen Schriften unterscheiden lässt, ist die Wahrnehmung der Fremde als Fremde, als etwas, das sie mit europäischen Werten und Sichtweisen nicht zu verstehen oder zu begreifen imstande ist: CG_40_2_s105-200End.indd 117 CG_40_2_s105-200End.indd 117 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 29.04.2009 14: 57: 58 Uhr 118 Gabi Kathöfer Ich war zuerst ganz berauscht, Grete, und trank all das Zauberische, Schöne, Fremdartige förmlich mit allen Sinnen ein … aber, wunderbar - weißt du, welcher Eindruck hiervon für mich der nachhaltigste ist? Der des fremdartigen, ja des absolut Fremden! Ich staune sie an, all diese südliche Pracht; ich bewundere sie, sie berauscht mich momentan mit ihrem verführerischen Zauber - aber ich verstehe sie nicht. (20) Das Fremde ‹berauscht›, aber bleibt in seiner Essenz unverständlich - immer wieder erläutert Ina von Binzer, wie sie die Gebräuche und Lebensweisen in Brasilien «irritieren» (12), denn sie «passen nicht» (11) zu ihrer Welt der «deutsche[n] Eichen» (12) oder «deutsche[n] Nerven» (15). Umso mehr zeigt sich bei von Binzer sodann die Funktion von Brasilien als Spiegel oder Reflexionsraum der eigenen Identität. Eine Schlüsselszene stellt diesbezüglich der Bericht über einen deutschen Naturforscher dar, der sich auf seiner Expedition vor den Einheimischen zu Tode fürchtet: Um die scharfe Biegung, die der Weg gerade neben dem Hause macht, stürzte es hervor, atemlos, bis an den Hals beschmutzt, einen Stiefel von einem Schlamm- Überzug bedeckt, den anderen dadurch ersetzt, brillenlos, hutlos, ohne Botanisiertrommel, das leere Schmetterlingsnetz wie eine Fahne in der Hand - die Reste eines deutschen Gelehrten, der ausgezogen war, Natur zu forschen! Keuchend sank er auf die Bank nieder, entsetzt starrte ihn der Doktor an und blickte dann hilfeflehend auf mich, die ich schon mein: ‹Was ist denn nur geschehen? › herausgestoßen hatte. ‹Geschehen! ach! oh! Ich werde verfolgt! Man will mich umbringen! Ermorden! Uff! ah, meine schönen Pflanzen - eine solche Orchis! Und diese interessanten Sandflöhe, o, ich hatte ein Prachtexemplar unter der Lupe …! › ‹Aber wer in aller Welt verfolgt Sie denn? › ‹Wer? Die Wilden, die Menschenfresser, die - ach! › […] Lächelnd und kopfschüttelnd übersetzte ich diese aufgeregten Aphorismen dem Doktor, der sie achselzuckend anhörte. Ganz atemlos kam jetzt der Neger näher, er hielt in der linken Hand das Handbuch der Botanik, in der rechten das von der Insektenkunde; […] ‹Sim, sim, Senhor›, sagte der Schwarze, ‹der deutsche Herr, der bei Senhor zum Besuch ist, ist verrückt.› Wir konnten beide das Lachen nicht unterdrücken. (42) Dieser Bericht, der nach Friedrich Sommer eher als «ein Erzeugnis ihrer dichterischen Phantasie, als ein Gebilde von Fleisch und Bein» einzuschätzen ist, zeigt «jene Weltfremdheit […], die scheinbar als eine berechtigte Eigentümlichkeit deutscher Gelehrter in jener Zeit zu gelten hat». 22 Diese Episode demonstriert sodann die Position der Autorin: sie fungiert als Vermittlerin zwischen den beiden Welten, zu denen sie enge Beziehungen aufgebaut hat. So sympathisiert sie abwechselnd mit beiden Seiten und kann über beide Kulturen sowie ihre eigenen Formulierungen und Beschreibungen spotten, wie z.B. über ihren Wunsch, ihre Freundin durch abenteuerliche Schilderungen zu beeindrucken: «‹Meine Negerin› - nicht wahr, das ist bis CG_40_2_s105-200End.indd 118 CG_40_2_s105-200End.indd 118 29.04.2009 14: 57: 59 Uhr 29.04.2009 14: 57: 59 Uhr Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts 119 jetzt noch das Beste an meinem Brief, das klingt doch nach was! » (8). Ohne Zweifel bleibt Ina von Binzer während ihres Brasilienaufenthaltes «gar starr germanisch» (16), und doch verleihen uns ihre Briefe Einblicke in unterschiedliche Lebensweisen und soziale Gruppen, sodass das Buch insgesamt einen wertvollen Einblick in das Leben im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts bietet, «um curiosíssimo depoimento da vida patriarcal do século passado». 23 Die drei hier analysierten Texte von Ida Pfeiffer, Therese Stutzer und Ina von Binzer bieten eine originelle Perspektive auf das Auswanderungsland Brasilien, die Auswanderungsdebatten in Europa und allgemein die gravierenden Veränderungen und Krisen im neunzehnten Jahrhundert. Jeder Text gleicht einem Mosaik, er setzt sich aus Fakten über Brasilien und Europa, populären Vorurteilen und Stereotypen über die Fremde und nicht zuletzt auch aus persönlichen Wunschvorstellungen der Verfasserinnen zur eigenen Person sowie zur Gesellschaft zusammen. Die politische Brisanz dieses komplexen Geflechts zeigt sich darin, dass jede Abenteurerin eine Strategie entwickelt, um die eigenen Meinungen zu dämpfen: Ida Pfeiffer betont ihre mangelnde Urteilsfähigkeit, Therese Stutzer verfasst fiktive Brasilienberichte und Ina von Binzer schreibt unter einem falschen Namen. Gerade durch diese Strategien eröffnet sich den Frauen in ihren Brasilientexten sodann wiederum ein Freiraum zur Diskussion unterschiedlicher Identitätsfragen. Dieser Freiraum kann von jeder Person unterschiedlich genutzt werden, und aufgrund dieser Funktionalisierung der Brasilienimagination zur Diskussion nationaler, geschlechtspezifischer oder individueller Identitätskonzepte ist Brasilien im neunzehnten Jahrhundert «vielleicht das interessanteste Land der Welt» (Pfeiffer 29). Anmerkungen 1 Zum Brasilienbild im neunzehnten Jahrhundert siehe etwa Alves; Briesemeister; Neumann; Sudhaus; Walker. 2 Sarah Mills betont die Vielzahl an Rollen für reisende Frauen: «the spatial frameworks which developed as a result of the clash between these constraints and women as agents, as producers of knowledge and viewers of landscape meant that a variety of spatial roles existed for women» (713). 3 Vgl. dazu etwa Sudhaus 24. 4 Zur Auswanderungswerbung siehe Alves. 5 «Nur die Auswanderung kann die unnatürliche Lage, in die die Staaten geraten, ändern. Die überschüssigen Massen müssen fort, um den Zurückbleibenden die frühere Ruhe und das verlorene Glück wiederzugeben» (Ackermann 15f.). 6 Visconde de Abrantes Schrift Memoria sobre meios de promover a colonisaç-o (1846) ist ein Beispiel solcher Beschreibungen deutscher Wesenheiten. Vgl. dazu Sudhaus 54ff. CG_40_2_s105-200End.indd 119 CG_40_2_s105-200End.indd 119 29.04.2009 14: 57: 59 Uhr 29.04.2009 14: 57: 59 Uhr 120 Gabi Kathöfer 7 In der Nationalversammlung wurde die Auswandererfreiheit dann als ein Grundrecht anerkannt. Vgl. Alves 25. 8 In einer Notiz aus Der Auswanderer heißt es z.B. dazu: «[S]o warnen wir unsere deutschen Landsleute feierlichst, nicht nach Brasilien sich verführen zu lassen, um als germanisches Blut einigen romanischen vornehmen Sklavenzüchtern als ‹weiße Sklaven› zeitlebens dienen zu müssen» (47: 751, zit. nach Sudhaus 63). Kerst nannte die Einwandererwerbung eine «beispiellose Schamlosigkeit eines Sklavenstaates, der den verruchten Menschenhandel, der an der afrikanischen Küste unterdrückt worden ist, in Deutschland organisiert» (I). 9 Zu Ida Pfeiffers Biographie siehe etwa Habinger; Holdenried; Jehle. 10 Im Vorwort zu Eine Frauenfahrt schreibt sie: «Manche glauben vielleicht, Eitelkeit sei die Veranlassung zu dieser großen Reise gewesen. Ich kann darauf nichts erwiedern, als: wer dies denkt, möge selbst eine ähnliche Reise unternehmen, um zu sehen, daß solche Beschwerden, solche Entbehrungen und Gefahren nur durch angeborne Reiselust, durch unbegränzte Mißbegierde überwunden werden können.» 11 Zur Rezeption ihrer Texte siehe Schutte Watt 340f. 12 In der Sekundärliteratur wird sie oft in einem Zwischenraum angesiedelt: «Unter den Blicken der Wilden wie der Zivilisierten und in konstanter Distanz zu beiden Welten (die Ida Pfeiffer oft und in kulturkritischer Absicht gleichsetzt) hält die Reisende einen Zwischenraum besetzt, in dem sie sich selbst überall als anders und fremd beschreiben kann» (Pelz 228). Auch Patricia Howe spricht von einem Zwischenraum, und zwar von dem Raum zwischen dem Häuslichen und dem Exotischen (334), in dem Pfeiffer sich als «receptive observer» sowie als «intrepid hero» zu definieren versucht (333). 13 Die Unattraktivität wird durch den Verweis auf die abschreckenden Städte weiter unterstrichen, die «an Plätzen, Straßen und Gebäuden dem Fremden durchaus nichts Anziehendes» (24) bieten. 14 An anderer Stelle schreibt sie über Petropolis: «Die Kolonie Petropolis liegt in der Mitte eines Urwaldes, 2500 Fuß über der Meeresfläche. Sie wurde erst vor ungefähr 14 Monaten begründet […]. Was für Elend mögen die Guten in ihrem Heimathlande erlitten haben, um einiger Joche Landes wegen einen fremden Welttheil aufzusuchen! » (33f.). 15 So kann der von ihr geschilderte Kampf mit einem «Neger», gegen den sie sich und ihre Begleitung im Urwald mit ihrem Sonnenschirm verteidigen kann, als Metapher ihres Schreibens gelten: durch ihre vorsichtigen Schilderungen versucht die Abenteurerin, sich als schreibende und reisende Frau gegen die Angriffe ihres Umfeldes zu beweisen, im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Frau gegen die Gefahren der Brasilieneuphorie anzukämpfen und ihre Leserschaft als deren potenziellen Opfer zu beschützen: «Wir führten keine Waffen bei uns, weil man uns diese Partie als ganz gefahrlos schilderte, und hatten zur Vertheidigung nichts als unsere Sonnenschirme […]; nun hielt ich mich für verloren, und nur die Verzweiflung gab mir den Muth, auch von meinem Messer Gebrauch zu machen. Ich führte einen Stoß nach der Brust des Negers, er wehrte ihn ab und ich verwundete ihn nur tüchtig an der Hand. […] [D]ie erhaltene Wunde hatte den Neger wüthend gemacht; er fletschte uns die Zähne entgegen wie ein wildes Thier und schwang sein Messer mit fürchterlicher Schnelligkeit» (32f.). 16 Auch die Biographie erschien in über zwanzig Auflagen. Vgl. Seyferth 186f. oder Huber 100. 17 Die zentrale Rolle der Frau in den Kolonien beschreibt Delhaes-Günther wie folgt: «Ohne die Mithilfe der Kolonistenfrauen wäre jedoch die Entstehung einer Siedlung undenkbar gewesen. Nicht nur waren diese Frauen damals wie heute auf dem Felde an- CG_40_2_s105-200End.indd 120 CG_40_2_s105-200End.indd 120 29.04.2009 14: 57: 59 Uhr 29.04.2009 14: 57: 59 Uhr Drei Abenteurerinnen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts 121 zutreffen, sondern versorgten auch nebenbei den Haushalt und die Kinder, deren Anzahl nicht selten 10 überstieg» (90). 18 Einige wenige Erzählungen enden mit einer Versöhnung oder einer Wiederherstellung eines friedlichen und glücklichen Lebens in der Kolonie, z.B. «Vor fünfzig Jahren». 19 «Veja-se, por exemplo, o conto Marie Luise: é uma história de casamentos arranjados de acordo com a tradiç-o, adultério e outros temas universais. Mas os diálogos apontam para a beleza da paisagem, o conflito envolvendo imigrantes recém-chegados e os já estabelecidos; Blumenau é apresentada como um lugar germanizado, espécie de continuidade da «terra natal», a colônia é o melhor lugar para se viver no Brasil, e a Alemanha torna-se uma pátria objeto de estranhamento quando um dos personagens viaja para uma visita aos parentes e «descobre» que sua Heimat está no Brasil» (Seyferth 186f.). 20 Offensichtlich verbindet Stutzer in ihrer Marie-Figur ihre eigenen Erfahrungen in den deutschen Kolonien mit einem dominanten Thema in verschiedenen erzählenden Nationalliteraturen des 19. und 20. Jahrhundert: dem Ehebruch als Konsequenz sozialer Langeweile und als einziger Möglichkeit eines Abenteuers für Frauen. Beispiele: Gustave Flauberts Madame Bovary (1856) in Frankreich, Lew N. Tolstois Anna Karenina (1875-77) in Russland, Leopoldo Alas’s La Regenta (1884/ 85) in Spanien, Theodor Fontanes Effi Briest (1894/ 95). 21 Horst Rößler beschreibt diese Phase als eine «Auswanderung von unqualifizierten ländlichen Arbeitskräften und Dienstmädchen, von städtischen Handwerkern und Arbeitern» (150). 22 Sommer schreibt des weiteren: «Erinnert doch die Figur ziemlich lebhaft an den vom Visconde de Taunay gestalteten Schmetterlingssammler Wilhelm Tembel Meyer, der sich im innersten Brasilien als Sonderling benimmt und sich in der poetischen Dichtung ‹Inocência› verewigt sieht». 23 Paulo Duarte schrieb das Vorwort zu den späteren Ausgaben in portugiesischer Sprache: Os meus Romanos. Alegrias e tristezas de uma educadora alem- no Brasil (1982). Bibliographie Abrantes, Visconde de. Memoria sobre meios de promover a colonisaç-o. Berlin: Unger, 1846. Ackermann, Franz. Das Kaiserreich Brasilien. Beobachtungen und praktische Bemerkungen für deutsche Auswanderer. 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