eJournals Colloquia Germanica 41/1

Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur nach 1870/71: Conrad Ferdinand Meyers historische Novelle Der Heilige

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2008
Daniela Puplinkuhuisen
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Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur nach 1870/ 71: Conrad Ferdinand Meyers historische Novelle Der Heilige 1 DANIELA PUPLINKHUISEN U NIVERSITEIT G ENT «O Bücher, aus denen eine europäische Luft weht, und nicht der liebe nationale Stickstoff! Wie das den Lungen wohlthut! » (Nietzsche, KSB 5, 318) «Wie national ist das 19. Jahrhundert wirklich? » fragt der Literaturwissenschaftler Claude D. Conter provokatorisch zu Anfang seiner diskurshistorischen und interdisziplinär angelegten Monographie Jenseits der Nation. Das vergessene Europa des 19. Jahrhunderts, in der er vor der Folie von Politik, Theologie, Philosophie, Historiographie und Recht die Europabilder und -ideen nachzeichnet, die literarische - publizistische, besonders aber belletristische - deutschsprachige Schriften während der Zeitspanne 1815-1871 entwerfen. 2 Conter deutet mit seiner Ausgangsfragestellung auf den strittigen Wahrheitsgehalt der allgemein verbreiteten Anschauung voraus, dass «das Thema Nation im Deutschland des 19. Jahrhunderts neben Liebesleid und Naturgefühl das wichtigste Thema» (Vietta 15) gewesen ist. Anknüpfend an seine kritischen Zweifel erhellt er, dass ‹Nation› und ‹Europa› bis in die 1850er Jahre eher als einander ergänzende kollektive Identitätsangebote fungiert haben und zwar insofern, als sich die deutsche Idee der Nationswerdung kontinuierlich wegen der diversen Europa-Visionen konsolidiert hat, die zahlreiche namhafte zeitgenössische Autoren (wie Joseph von Eichendorff, Heinrich Heine, Adelbert Stifter) und heute weitgehend vergessene Modeschriftsteller (wie Heinrich Zschokke, Ernst Willkomm) in ihren (nicht-)fiktionalen Werken experimentell gestaltet haben. Das Ereignis der fehlgeschlagenen Deutschen Revolution von 1848/ 49 markiert laut Conter eine Zäsur im Hinblick auf literarische Inszenierungen eines Europa-Konstrukts (d.h. einer seinerzeit nur gedanklich existierenden sozialen Struktur): Es leitet nämlich sowohl eine Stagnation des wechselseitigen Bedingtseins von nationalem und europäischem Diskurs ein als auch ein langsames Auseinanderstreben 34 Daniela Puplinkhuisen der beiden eben genannten Diskursformationen. Nach dem Krimkrieg von 1853 bis 1856 zwischen Russland auf der einen und dem Osmanischen Reich, Frankreich und Großbritannien auf der anderen Seite verfestigt sich - wie Conter spezifiziert - die Spaltung des Kontinents in Ost und West zunehmend, sodass die politische Idee ‹Europa› an Bedeutsamkeit verliert und allmählich ganz aus der öffentlichen Debatte und aus der Literatur ausgegrenzt wird. Die deutschsprachigen Autoren rücken in ihren (fiktionalen) Texten vom Völkerfrühlingsgedanken ab, der die politische Hoffnung auf eine länderübergreifende Verbrüderung versinnbildlicht. Stattdessen lenken sie die Aufmerksamkeit verstärkt auf politische Themen, die vom deutsch-nationalistischen Interesse geprägt sind: «Bald nach dem Scheitern der Revolution wird der Traum von den Vereinigten Staaten von Europa noch einmal kurz heraufbeschworen, die Idee des Völkerfrühlings aber […] desillusioniert und vom Nationaldiskurs destruiert» (Conter 675). 3 Auch nach 1871 vertreten europäische Intellektuelle (z.B. Eduard Löwenthal, Johann Philipp Becker, Jacob Burckhardt, Friedrich Nietzsche), wie Jean Nurdin und Paul Michael Lützeler belegen, einen prospektiven übernationalen Ansatz. 4 Nurdin und Lützeler klammern aber - im Gegensatz zu Conter - fiktionale europäische Diskursmanifestationen (fast) vollständig aus. Eine Ausnahme bildet Friedrich Nietzsches Utopie vom ‹guten Europäer›, weil diese auf der Schnittstelle zwischen Philosophie und Literatur zu situieren ist. Schließlich weisen Nietzsches Schriften - durch typisch literarische Erzählstrategien (z.B. Metaphern, Motiven, Denkfiguren wie das [Post-]Nationale) bzw. Leerstellen, die einen Auslegungsspielraum eröffnen - große Ähnlichkeiten mit literarischen Texten auf. 5 Es kann hier nur angedeutet werden, welche Charakteristiken für den «zukünftigen Europäer» (KSA 2, 309-10) maßgeblich sind, der sich für die Entstehung der «Mischrasse […] des europäischen Menschen» (ibid.) engagiert und der - wie Elisabeth Kuhn (61) und Ralf Witzler (199) nachweisen - ein bleibendes Thema in Nietzsches Oeuvre von Menschliches, Allzumenschliches 1 an bis Ecce Homo (wie in den Nachgelassenen Fragmenten) ist: 6 Die wesentliche Eigenschaft des ‹guten Europäers›, die alle seine übrigen Vorzüge potentiell beinhaltet, ist, dass er sich vom traditionellen europäischen Moralverständnis zugunsten eines neuen loslöst bzw. - mit Witzler (27) zu reden - «die Überwindung der europäischen Moral betreib[t] oder geleistet ha[t]». 7 Also hebt ihn seine innere Grundeinstellung, die Nietzsche an anderer Stelle als (heimatlose) Freigeisterei umschreibt, vor dem vermittelmäßigten Europäer des neunzehnten Jahrhunderts heraus, der in vielerlei Hinsicht traditionsverhaftet (d.h. abhängig von Staat und Gesellschaft) ist: «Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm aufgrund seiner Herkunft, Umgebung, seines Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 35 Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden [historischen, kulturellen, philosophischen, politischen, D.P.] Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel» (KSA 2, 189, Hervorhebung D.P.). 8 Somit ist auch der Sinn der «Gespräch mit den Königen»-Variante für den vierten Teil von Also sprach Zarathustra nachvollziehbar, die suggeriert, dass Nietzsche in der Zarathustra-Figur den ‹besten Europäer› gedanklich vorwegnimmt: «Ob du gleich ein Weiser bist, der aus dem Morgenlande kommt: halten wir dich doch für den besten Europäer (denn du lachst über unsere Völker und Volksdienerei und sprichst: geht auch dem schlechten Geruche aus dem Weg! )» (KSA 14, 331). Wie das Zitat prononciert mitteilt, gewährleistet vorrangig Zarathustras externe (orientalische) Beobachterposition eine kritische Perspektive auf das/ die europäisch-abendländische/ n Moralverständnis/ se bzw. Werte, sodass er die erforderliche Voraussetzung für die Entstehung des ‹guten Europäers› erfüllt. Nietzsche nimmt als Zarathustras legitimen Nachfolger dessen «Doppelgänger», «Schatten» bzw. den «Wanderer» in Aussicht. 9 Hauptsächlich mit letztgenannter Figur insinuiert er, dass seine Utopie vom ‹guten Europäer› kein «letztes Ziel» kennt, sondern einen fortschreitenden Reifeprozess (innerhalb fester Rahmenbedingungen) impliziert. 10 Für den schweizerischen Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer hege ich erstens wegen seiner Herkunft ein besonderes Interesse: Denn die Schweiz gilt - nach Lützeler (249) - als «der geeignete Ort, um Themen zu diskutieren, welche die Grenzen nationaler Belange und Interessen transzendier[ ]en.» Zweitens wird Meyer in Betracht genommen, weil er sein Leben lang im krisengeschüttelten Spannungsfeld zwischen den Erbfeinden Deutschland und Frankreich manövrierte, das durch den zwischenstaatlichen Krieg von 1870/ 71 aktualisiert wurde: Er wuchs zweisprachig auf und war von Kindesbeinen an mit den Traditionen beider Länder verbunden. Obwohl er lange Zeit in Lausanne, Genf (beides Welschschweiz) und Paris lebte, schenkte er nicht nur französischer Literatur seine Aufmerksamkeit, sondern europäischer Literatur im Allgemeinen. So hat er sich nachweislich mit den Schriften von Victor Hugo, Henri de Saint-Simon, Johann Wolfgang Goethe und Heinrich Heine eingehend befasst, sodass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass er ihre essayistischen Europa-Visionen kannte. 11 Wie gut der Autor mit den Werken Nietzsches vertraut war, der zeitgleich mit ihm in der Schweiz lebte und arbeitete, ist nicht eruiert. Fest steht lediglich, dass Meyer im Zeitraum zwischen 1886 und 1888 Jenseits von Gut und Böse gelesen hat und vermutlich um Nietzsches Utopie vom ‹guten Europäer› als pazifistische Alternative zum übersteigerten Nationalismus der einzelnen europäischen Länder wusste (Bridgwater 569). 12 Drittens wird auf Meyer fokussiert, weil er 36 Daniela Puplinkhuisen seine Aufmerksamkeit intensiv auf kontinentale politische Angelegenheiten richtete. Seit 1868 besuchte er regelmäßig François Wille, einen aus Deutschland in die Schweiz emigrierten Journalisten, der mit Bismarck persönlichen Kontakt hatte und dessen Politik gegen Frankreich und Österreich beipflichtete (Jäger 22). Trotzdem ist das Versepos Huttens letzte Tage, das anlässlich der Gründung des Deutschen Kaiserreiches auf dem deutschen Büchermarkt erschien, Meyers einziges literarisches Werk, in dem er sich zu politischen Streitfragen explizit äußert, und zwar bringt er dem neu gegründeten Kaiserreich unter Wilhelm I. seine Sympathie entgegen. 13 In seinen zahlreichen historischen Novellen sowie in seinem historischen Roman Jürg Jenatsch bezieht der Schweizer scheinbar nicht Stellung zu ideologischen (zwischenstaatlichen) Konflikten, was ihm den Ruf einbrachte, ein unpolitischer Autor zu sein. Mich beschäftigt dennoch die Frage, warum ausgerechnet historische machtpolitische Auseinandersetzungen gleichbleibend der erzählerische Grundstoff in seinem Oeuvre sind. Unter Berücksichtigung der historischen Novelle Der Heilige - die Rahmenerzählung wurde in der Deutschen Rundschau in mehreren Teilen von 1879 bis 1880 (Novemberbis Januarheft) vorabgedruckt und erschien wenig später in Buchform - soll textorientiert dargelegt werden, dass Meyer am Gedankenaustausch bezüglich der imagined community ‹Europa› teilnimmt. 14 Der im Beitrag vorgestellte Denkansatz ist insofern abweichend, als er sich - im Gegensatz zu den von Conter, Lützeler und Nurdin verwendeten Methoden - auf einen europäischen Subtext konzentriert, der alleinig durch narrative und rhetorische Repräsentationstechniken insinuiert wird. 15 Daran anknüpfend lautet die Interpretationshypothese für Der Heilige, dass machtpolitische Auseinandersetzungen als Textstrategie funktionieren und dass Meyer mittels der Inszenierung der Textwelt die Notwendigkeit eines postnationalen Zusammenschlusses suggeriert. Diesen politischen Diskurs evozieren Figurenpräsentation und -interaktion, intertextuelle Allusionen auf die Bibel/ Bibelzitate, Raumsemantik sowie figürliche Formen (z.B. der Gral als politisch-ideologische Metapher). Schließlich verhandelt Der Heilige vordergründig keine Europa-Vision: Die Rahmenhandlung bildet Hans der Armbruster, der - vom Text als Augenzeuge und Aktant gesetzt - retrospektiv die Geschichte von Thomas Becket, dem englischen Reichskanzler und späteren Erzbischof von Canterbury, erzählt. Dabei versteht sich Hans in der Nachfolge der neutestamentarischen Johannes-Gestalt. Er lässt damit durchblicken, dass das Erzählte den Stellenwert eines Offenbarungstextes hat: «Nachts sah ich sie [König Heinrich II. und Thomas Becket, D.P.] aufeinanderstoßen mit Rauch und Feuer, wie der Apostel Hans in seiner Offenbarung schreibt, und Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 37 keins meiner Weiber […] konnte es unterlassen, mich mit Angst und Grauen aus dem Schlafe zu rütteln.» (H 16, Hervorhebung D.P.). 16 Im Textverlauf manifestiert er diese biblisch inspirierte Binnen-Erzählerrolle, indem er Motive und Themen sowohl aus den alttestamentarischen Erzählungen (z.B. aus dem Buch Genesis) aufgreift, als auch aus den neutestamentarischen «Evangelien» (H 83) und der Johannesapokalypse. 17 Wenn Hans seine Verbundenheit zum apokalyptischen Szenario betont, verdeutlicht er einerseits, dass sein spezifischer Blickwinkel auf einen konkreten Krisenmoment bezogen ist, den es zu überwinden gilt. 18 Andererseits transzendiert bzw. mythisiert er damit das dargestellte Geschehen/ die handelnden Figuren, sodass der Text für ein bestimmtes politisches Kollektiv und für einen bestimmten politischen Kontext verbindlich ist. 19 Handlungsschauplatz der Binnenerzählung ist vorrangig das hochmittelalterliche «Engelland», Stoff der Zwist zwischen Becket und dem englischen König Heinrich II., der durch den tragischen Tod von Beckets Tochter Gnade ausgelöst wird. Die historische Novelle erreicht ihren Höhepunkt in der Ermordung Beckets durch vier Ritter Heinrichs II. und beleuchtet, kurz gesagt, seine Involvierung in die politischen Verhältnisse seiner Zeit sowie die Validität seiner Heiligkeit. Meyer hat sich bei der Darstellung der historischen Begebenheiten sehr an überliefertes Quellenmaterial gehalten und zwar an Augustin Thierrys Conquête de L’Angleterre sowie an mittelalterliche Chroniken. 20 In Der Heilige verhandelt Meyer machtpolitische Streitfragen im weitesten Sinne am Topos ‹Kulturkampf›, der in der Rahmen- und in der Binnenerzählung allgegenwärtig ist. 21 Die Rahmenhandlung thematisiert den Kirchenstreit zwischen den Chorherrn des Zürcher Großmünsters und «den Frauen vom fürstlichen Stifte» (H 12). Streitgegenstand der konfessionellen Spannungen, die zugleich geschlechtsspezifisch markiert sind, ist die Rechtsgültigkeit der Heiligsprechung Thomas Beckets, dessen Gedenktag die weibliche Glaubensgemeinschaft unter Anleitung eines Luzerner Pfaffen feiern und den die Ordensbrüder sowie der Rat der Stadt Zürich missbilligen. Außerdem begründet die Rahmenhandlung eine mündliche Erzählsituation: Chorherr Burkhard fordert Hans den Armbruster auf, ihm in seiner behaglichen Stube die Streitigkeiten zwischen dem englischen König und Becket darzulegen, die der Bogenbauer während seiner Dienstzeit am englischen Hof unmittelbar verfolgen konnte. Der Geistliche erhofft sich eine unterhaltsame, vergnügliche Geschichte und wohlbegründete Argumente zum aktuellen, konfessionellen Konflikt, die seine Position sowie die seiner Parteigänger bekräftigen, wird jedoch am Ende in beiderlei Hinsicht enttäuscht, weil sein Gegenüber keine Agitation betreibt und sich demgemäß nicht vereinnahmen lässt: «Hans […] hatte ihm einen qualvollen Kampf und zwei schmerzver- 38 Daniela Puplinkhuisen zogene Menschenangesichter gezeigt, und diesem Eindruck war er nicht gewachsen» (H 187). Vielmehr bewirkt das Erzählte eine Destabilisierung der häuslichen Idylle: Während Chorherr Burkhard anfangs noch vor «der golden flackernden Flamme des Herdes […] in seine[m] mit weichen Vliesen überlegten Armstuhl […] in vergnügter Stimmung» (H 11) entspannt Platz nimmt, bebt er am Ende angstvoll am ganzen Körper («Herr Burkhard legte ihm [Hans, D.P.] die zitternde Hand auf die Schulter» [H 146]). Auch die Binnengeschichte verwebt in Form von Hans’ rückblickender Schilderung der vermeintlich historischen Fakten verschiedene Handlungsstränge, die den Kulturkampf bzw. das Instrumentalisieren von Konfessionsfragen verhandeln: Der Fokus liegt wegen des Erzählanlasses allerdings auf der Auseinandersetzung zwischen Heinrich II. und Becket, die durch die kirchenreformatorischen Absichten des englischen Königs bedingt ist. Die Relevanz dieser weltanschaulich-politischen Interessenkonflikte für die Problemstellung dieses Beitrags - die textliche Inszenierung von einer Europa- Vision - wird verständlich, vergegenwärtigt man sich, dass zeitgenössische Spannungen auf dem europäischen Kontinent auch mittels der politischen Inanspruchnahme von Glaubensfragen legitimiert wurden. Beispielsweise funktionalisierten deutsche bzw. französische Anhänger die religiöse Frage im Vorfeld des Krieges von 1870/ 71, um skrupellose Propaganda zu betreiben und die aggressive Kriegspolitik zur Durchsetzung nationalstaatlich-egoistischer Machtinteressen zu rechtfertigen. Folglich ist das kulturkämpferische Paradigma in Meyers historischer Novelle ein Authentizitätssignal, das die erzählte Welt als Entwurf von Realität kennzeichnet bzw. erlaubt, «historische Romane als Zeitromane zu lesen» (Hirschmann 8). - Die figürliche Form der beiden Zürcher Stiftskirchen, die «am Ausfluss der Limmat wie zwei Behelmte […] stehen» (H 8), ist als textliche Referenz auf die Konfliktgeladenheit glaubenstechnischer Themen sowie die Kriegslust der oppositionellen Parteigänger zu lesen. Der Text distanziert sich energisch von einer zeitgenössischen kulturkämpferischen Parteinahme, indem er konfessionelle Argumentationsstrategien und Denkmuster als hohle Phrase entlarvt. Besonders der Präsentationsmodus der Binnengeschichte leistet diesbezüglich Konstitutives: Der fiktive Erzähler Hans treibt ein illustres und ironisches Spiel in Sachen Glaubensfragen, indem er sich stereotyp religiöse Floskeln aneignet, um diese selbstreflexiv kritisch-spöttisch zu inszenieren: Da erfaßte mich plötzlich eine große Kümmernis und ein Erbarmen mit meinem siechen Mütterlein und auch mit dem blutigen Leiden unseres Heilands, den die Juden grausam gemartert haben, und ich schlug den Manasse hart mit Fäusten, daß er starb. Gott rechne mir diesen Mord nicht zu! (H 18) Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 39 In identischer Weise belächelt er die Scheinheiligkeit weltlicher und geistlicher Machtinstanzen: Heinrich II. nennt er z.B. «ein[en] christliche[n] König» (H 52), der hin und wieder «schlimmer als heidnisch» (H 52) sündigt bzw. charakterisiert er Repräsentanten der Kirche gleichermaßen allzumenschlich verwerflich und ruchlos: «[Der heilige Vater in Rom] hat eine Leidenschaft, durch welche wir ihm menschlich nahe kommen können. Mit gelehrter Hast sammelt und betrachtet er Münzen und […] kann er deiner Goldstücke, o Herr, nie genug bekommen» (H 80-81). Demnach deutet Hans’ Erzählattitüde darauf hin, dass, obschon er auf religiöse Inhalte bzw. biblische Szenarien eingeht, diese textlich nicht als sinnstiftend (im Sinne einer Orientierungshilfe) angeboten und diskutiert werden, sondern - entsprechend den Regularitäten des Realismus (Krah 84) - zeichenhafte Bedeutung haben. Der Topos ‹Kulturkampf› und die damit verbundene Inanspruchnahme von konfessionellen Themen zum (politischen) Selbstzweck dienen in Der Heilige also in doppelter Hinsicht als Textstrategie: Sie leisten erstens einen Beitrag zur Konstituierung von zeitgenössischer Realität und zweitens zur Semiotisierung dieser Realität. Während sich die Rahmenerzählung von Der Heilige ausschließlich auf die deutsche Reichsstadt Zürich konzentriert, weist die Binnenerzählung eine komplexe räumliche, abgesehen von einer Ausnahme, gar ‹europäische› Basisstrukturierung auf. 22 Das hängt damit zusammen, dass Hans der Armbruster auf dieser Erzählebene die Schlüsselstationen seines Bildungsweges reflektiert: Er schildert Anekdoten seiner Jugendjahre, 23 die er im Deutschen Reich verlebte, sowie Episoden aus seiner Gesellenzeit, während der er in Frankreich, Aquitanien, im heidnisch-orientalischen Granada und hochmittelalterlich-christlichen England das Bognerhandwerk kennen und perfektionieren lernte. Deshalb deute ich den fiktiven Berichterstatter als Figur europäischer Interaktion. Das Motiv des Wanderns bekräftigt Hans’ weltoffene Haltung. Anschließend soll mit Jurij M. Lotmans Konzept der Raumsemantik (311ff.) auf den textlichen Raum England fokussiert werden, zumal dieser eine heterogene Struktur aufweist. 24 Lotmans strukturalistisch-semiotisches Raummodell erscheint mir ein praktikables Instrument - auch angesichts der beabsichtigten europagerichteten Lektüre -, weil sein Analyseverfahren dahingehend ausgerichtet ist, textliche Raumkonzeption und -organisation als Beschreibungskategorien für soziale, politische und ideologische Modelle der Welt zu interpretieren. England ist in der erzählten Welt in zwei disjunkte Teilräume gegliedert, die topologisch durch den Gegensatz von außen-innen differenziert sind. Als Außenraum bezeichne ich das englische Königreich mit den Mittelpunkten London bzw. Schloss Windsor, das aufgrund seiner nati- 40 Daniela Puplinkhuisen onalistischen Ausrichtung die diversen chauvinistischen Länder des europäischen (christlich-abendländischen) Kontinents im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert repräsentiert. Als kontrastiven Innenraum benenne ich die wäldlichen «weiten Besitztümer» (H 38) Beckets, die vom nationalistischen Außenraum umschlossen sind, aber textlich nicht exakt lokalisiert werden. Das Erscheinungsbild des Innenraums insinuiert, dass er nicht der Zentralgewalt des englischen Königs unterliegt. Das Differierende wird narrativ als Fremdes modelliert: Denn statt der vertrauten christlich-abendländischen Züge trägt der Naturraum ‹Forst› mit dem verträumten, geheimnisumwitterten Waldschlösschen als Mittelpunkt primär exotische, heidnisch-orientalische Wesensmerkmale. Dennoch deutet die im nachfolgenden Zitat vorherrschende idyllische Sprache (cf. die Diminutivform ‹Schlösschen› bzw. die betonte Schlichtheit der Burganlage [‹glatt›, ‹klein›, ‹schlank›]) die textliche Präferenz für den Innenraum an. Auch das Blau der Schlosskuppel (Symbolfarbe für Harmonie, Freundlichkeit/ Freundschaft) und das Gelb der Mauern (Symbolfarbe für Licht, Sonne, Wärme) bestätigen den positiven Eindruck: Auf einer […] Waldwiese stand ein Schlößchen, wie ich seinesgleichen wohl im Königreiche Granada gesehen hatte. Es war von hohen glatten Mauern aus gelbem Steine umgeben, über welchen eine kleine blauschimmernde Kuppel emporstieg und schlanke dunkle Baumspitzen ragten, die ich Zypressen genannt hätte, wären wir unter einem südlicheren Himmel gewesen. (H 45) Die topologische Kategorisierung außen-innen wird überdies mit semantischen Gegensatzpaaren verbunden, die den beiden polaren Räumen einen bestimmten Wert zuerkennen. Die Gegensatzpaare vertraut - fremd, künstlich - natürlich, böse - gut, geschlossen - offen lassen sich dem semantischen Feld England - ‹Morgenland› zuordnen. 25 Dabei fällt auf, dass das christlichabendländische (nationalistische) Sozialsystem in der Textwelt durchweg negativ konnotiert ist, weil menschliche Entartung, «Willkür und Zuchtlosigkeit» (H 56) permanente Konflikte heraufbeschwören. Symptomatisch ist, dass die zivilisatorische Dekadenz des Außenraums gar die privat-häusliche Sphäre der englischen königlichen Familie erfasst: Die Lebensgemeinschaft des Monarchenpaares Heinrich II. und Ellenor gründet nicht auf Liebe, sondern ist eine Zweckehe, die vier Königssöhne sind charakterlich so verschieden, dass ein verträgliches Miteinander kaum möglich ist. 26 Zu letzteren Befunden passt, dass Becket die Atmosphäre innerhalb des Monarchenhauses als morbid kennzeichnet, indem er sie als «Pesthauch [allegorisiert, D.P.], in dem nichts Reines gedeiht» (H 58). Der heidnisch-orientalisch konnotierte Innenraum bildet einen schroffen Kontrast zum Außenraum. Er fungiert textstrategisch als idealisierte Miniatur einer in sich funktionierenden Gesellschaft und verheißt eine potentielle Er- Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 41 lösung aus der abgründig schlechten christlich-abendländischen (außertextlichen) Gegenwart. Des Weiteren umfasst er konkrete Reformvorschläge: Die Figurenkonstellation spiegelt ein alternatives Modell von Gesellschaft wider, in der heterogene Nationalitäten und Kulturen (Sarazenen-Sachsen-Welsche, Christen-Heiden) aufeinander treffen und harmonisch zusammenleben. Das konkurrenzlose Nebeneinander von christlichen Attributen («einem […] Sankt Joseph […] in der Mauernische für […] Dienstleute» [H 53]) und heidnischen Symbolen («mit arabischen Lettern bedeckte Pergamente», «heidnische Märchen» [H 53]) sowie verschiedener Sprachen (arabisch, französisch/ italienisch, englisch) evoziert ein Klima von Duldung. Konkretisiert wird die semantisch aufgeladene topologische Ordnung durch den topographischen Gegensatz Stadt - Wald (Forst), wobei das Motiv ‹Wald› infolge der narrativen Inszenierung mit dem literarischen Topos locus amoenus bzw. Goldenes Zeitalter parallelisiert wird, weil er dem alttestamentarischen Paradiesgarten vor dem Sündenfall und damit einem außermoralischen Zustand «jenseits von Gut und Böse» (KSA 2, 15) 27 auffallend ähnelt: Die Waldwiesen glänzen in üppig-ursprünglichem «goldgrün […]» (H 45), «jagdfreie[s] Wild» (H 48) streift allerorten durch das Buschwerk bzw. «spielt […] und weidet […] in den Waldlichtungen wie im Paradiese» (H 38), ein «klares Wässerlein» (H 55) gewährleistet die Wasserversorgung für alle Waldlebewesen (cf. Gen, 2, 4b-25). Wegen der natürlichen Grenze zwischen den beiden polaren Teilräumen ist aber die Bedrohung des friedvollen Innenraums durch Repräsentanten des verwerflichen Außenraums konstant zugegen, und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die bukolische und liebliche, zum Verweilen einladende Naturlandschaft zum Ort der Sünde bzw. zum Ort des Todes mutiert. Der Text präsentiert den englischen König, also den ranghöchsten Vertreter des unmoralischen Kulturraums, als die Figur, von der das größte Gefahrenpotential für den heidnisch-orientalischen, idyllischen Innenraum ausgeht. Denn er führt Heinrich II. als launenhaften und deshalb unberechenbaren Despoten ein sowie als «Förderer und Pfleger der edeln Wurf- und Schießkunst» (H 31). Die Affinität des Monarchen zu Waffen deute ich als ein textliches Signal für seine konfliktuöse und gewaltträchtige Wesensart. Hinzu kommt, dass er sich aufgrund seines bevorzugten Zeitvertreibs, der Jagd, uneingeschränkt im textlichen Raum England bewegt, sodass er einen immerwährenden Bedrohungsfaktor für den pazifistischen Naturraum verkörpert, weil er wegen seiner einseitigen und brutalen Charakterausprägung nicht flexibel ist. 28 Aufschlussreich im Kontext ‹Jagd› ist außerdem, dass in der erzählten Welt neben dem Begriff ‹Jäger› allegorisch der alttestamentarische Name «Nimrod» (H 34) für den englischen König verwendet wird. Der biblischen Über- 42 Daniela Puplinkhuisen lieferung zufolge gilt Nimrod als «der erste Gewaltherrscher auf Erden» (Gen, 10,8-9) sowie als derjenige, der den Turmbau von Babel initiierte und deshalb für die confusio linguarum (Babylonische Sprachverwirrung) verantwortlich war. Demzufolge wird seine Rebellion gegen Gott als die Brutstätte von sozialen Rivalitäten und Konflikten angesehen, die seitdem auf den Verlauf der Menschheitsgeschichte in negativer Weise einwirkt. Die Allegorie ‹Nimrod als nationalistisch-chauvinistischer englischer König› antizipiert die Wesensgleichheit der beiden Figuren und verweist auf eine narrative Metaebene, durch die Heinrich II. eine abschreckende Exempelfunktion zuteil wird: Anstatt dem Interesse des Gemeinwohls zu dienen, führt seine triumphalistische Regierungsattitüde zu enormer gesellschaftlicher Disparität. Die Negativfunktion des Monarchen als Inbegriff des weltlichen Bösen wird dadurch verstärkt, dass er des Weiteren mit der Judasgestalt verknüpft wird. Erstens wird das Silberstück, das Heinrich II. einem Sachsenkind schenkt, mit dem Judaslohn in Verbindung gebracht, indem es mit den «dreißig verfluchten Silberlingen» (H 103) identifiziert wird. Zweitens assoziiert der Text bei der Wiedergabe der beabsichtigten Versöhnung zwischen dem englischen König und Becket das ausstehende kirchliche Versöhnungsritual «Friedenskuss» (H 116) mit dem Judaskuss, der nach dem Matthäusevangelium den Treubruch des Apostels besiegelte (Mt, 26, 48). Im Unterschied zum «Nazarener» (H 118) verweigert Becket allerdings diese symbolische Handlung und zwar mit der Begründung, dass Heinrichs II. Reuegeste die Schwere seines Vergehens nicht aufwiegt: «Den Verräter Judas hat er geküßt, der ihn […] verkauft und in den Tod geliefert hat; aber ob er den Mund geküßt hätte, der die Seele seines Kindes vergiftete und den Leib der Unschuld verdarb, daran muß ich zweifeln» (H 118). 29 Ansonsten wird die Allegorie ‹Judas als englischer Monarch› in Anlehnung an das Johannesevangelium konzipiert, das - anders als die (synoptischen) Evangelien nach Matthäus, Markus und Lukas - den Verräter zugleich als «Satan» bezeichnet. 30 Denn Heinrich II. ist mit mephistophelischen Attributen ausgestattet: Ich interpretiere die materiellen Gefälligkeiten, die er sowohl Beckets Diener namens Äscher als auch dem fiktiven Berichterstatter Hans zukommen lässt, als Mittel, um eine Art Teufelspakt zu besiegeln. Schließlich will Heinrich II. damit beider Wohlwollen erlangen bzw. beider Schweigen erkaufen, weil sie Mitwisser seiner außerehelichen Vergnügungen sind. 31 Auch die Flammensymbolik (z.B. «seine […] Augen brannten wie zwei Flammen» [H 32]), die ihn typisiert sowie seine Rolle des Faktenverdrehers, Verleumders lege ich als textliche Marker für die Teufelhaftigkeit des englischen Königs aus. 32 Das positive Gegenbild zu Heinrich II. repräsentiert die Becket-Figur, für die der Text deutlich eine Präferenz aufbaut. So heißt es, Becket «verkörper[e] Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 43 Weisheit» (H 53), er sei der «klügste […] Mann der Erde» (H 74) und gelte als «das Vorbild und die Mode des Jahrhunderts» (H 37). Dass Becket diese Vorbildfunktion ausfüllt, gründet darauf, dass er im textlichen Raum England der einzige ist, der sich einer kategorischen Festlegung auf einen der zwei vorher differenzierten Teilräume entzieht. Für ihn stellt die strukturelle Grenze zwischen Kultur- und Naturraum infolge seines Anpassungsvermögens keine Verbotsgrenze dar, sodass er zwischen beiden kulturell, religiös sowie sprachlich verschiedenartigen Räumen pendeln kann, ohne die räumliche Ordnung zu verletzen. Als Reichskanzler des englischen Königs repräsentiert er einerseits das christlich-abendländische Sozialsystem des Außenraums, andererseits stellt er als imaginierter König des heidnisch-orientalischen Innenraums etwas Anderes dar, das zuvor bereits als zukunftsorientiertes, alternatives Sozialsystem markiert wurde. So überrascht es nicht, dass Becket in der Textwelt generell als hybride Identität inszeniert wird, die das Aufeinandertreffen und Ineinanderwirken von Gegensätzen verkörpert. Er wird als «Sohn […] des Sachsen und der Sarazenin» (H 28) eingeführt, der den Geruch der väterlichen Ölfässer und Warenballen verabscheut habe. In den Dienst eines schwelgerischen normännischen Bischofs sei der Jüngling zuerst getreten, dort habe er französisch lispeln gelernt, und kein ehrliches sächsisches Wort sei mehr über seine Lippen gekommen. Um seinen von Vaterseite sächsischen Ursprung zu verwischen, habe er von den Händen dieses Normannen, als ein Leichtfertiger, die ersten Weihen empfangen. Dann […] habe [er] […] sich als Ritter aufgetan. Durch Aquitanien und Spanien sei er an die maurischen Höfe gezogen, von seinem mütterlich heidnischen Blute getrieben, und beim Könige von Cordova in die höchste Gunst gekommen. […] Nach seiner Heimkehr habe [es ihm] glücken können, König Heinrich […] unvergänglich an sich zu binden. (H 28) 33 Außerdem wird Becket als geschlechtlich ambivalente Figur verortet. Zwar ist er sexuell als männlich signifiziert, jedoch besitzt er ebenfalls weiblich anmutende Wesenszüge. So heißt es z.B., dass er «verzärtelt […]» (H 39) sei, «sein […] Antlitz […] eine ernste Lieblichkeit» (H 29) besitze und ihm «das Ungestüm und die Schärfe eines männlichen Blutes» (H 37) mangele. Daher nenne ich Becket einen Exponenten des Dritten; bei der Begriffsbestimmung berufe ich mich auf Claudia Bregers und Sven Dörings Definitionsansatz: «So oszilliert das ‹Dritte› stets zwischen den Oppositionen, die es durchkreuzt, und bezeichnet einen Versuch, binäre Denkstrukturen zu überwinden, während es doch unweigerlich auf sie bezogen bleibt» (3). 34 Beckets Zwischenposition ist im Kontext ideologischer Relationen zu sehen. In dieser Hinsicht sind erstens die Attribute aussagekräftig, die ihn im christlich-abendländischen Außenraum näher typisieren, wie der «gleich- 44 Daniela Puplinkhuisen mäßig milde […] Schein einer griechischen Ampel» (H 49), unter dem er die englischen Staatsgeschäfte tätigt, sowie die «weißen und ruhigen Gliedmaßen der Marmorweiber, die er in seinen Palästen aufgestellt hatte» (H 41), weil sie ihn faszinierten. Ich messe diesen Objekten zeichenhafte Bedeutung bei: Sie verweisen auf die Klassik, die sich an der griechischen Antike orientierte und dementsprechend nach Harmonie, Humanität, Vollkommenheit und der evolutionären Fortentwicklung der Gesellschaft zu einem den aufklärerischen Idealen entsprechenden Staates strebte. Einen ähnlichen Stellenwert hat der «arabische […] Schimmel des Kanzlers» (H 48), der Becket auf fast allen seinen Wegen begleitet. Denn die weiße Farbe des Pferdes versinnbildlicht Gerechtigkeit sowie die Reinheit seines Charakters. 35 Zweitens sind biblische Anspielungen aufs engste mit Beckets Fähigkeiten bzw. ideologischen Grundsätzen verknüpft. Mit dem Hinweis darauf, dass er dem «unschuldige[n] Joseph» gleiche, wird, neben dem Vorzug der Sittlichkeit, seine Weitsichtigkeit betont; immerhin besaß die biblische Josephgestalt die Gabe, Träume zu deuten (Gen, 40-41). Überdies wird der Reichskanzler in eine assoziative Nähe zum alttestamentarischen «König Salomo» (H 29) gerückt. Dieser Regent des vereinigten Königreichs Israel gilt einerseits als Friedens- und Wohlstandsbringer, andererseits als vorbildlich tolerant, weil er in seinem Herrschaftsgebiet andere Kulturen und Religionen duldete. Übertragen auf Becket suggerieren diese Deutungsangebote, dass er sich nicht mit der egoistisch-revolutionären Machtpolitik Heinrich II. identifiziert, 36 sondern für das Prinzip des friedlichen Koexistierens und der kulturellen Integration einsteht. Der Text bestätigt diese Vermutung: Schließlich engagiert er sich als Reichskanzler im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür, schroffe Gegensätze auf gesellschaftlicher und politischer Ebene auszugleichen und Gerechtigkeit walten zu lassen. Aufgrund seines diplomatischen Geschicks bzw. seiner subtilen Überredungskunst (cf. die Adjektive ‹sanft›, ‹mild›, ‹schön›, ‹geschmeidig›) gelingt es Becket oft sogar, die Entscheide des englischen Königs nach seinem Willen zu lenken. Dass sein Redefluss mit dem Edelmetall ‹Gold› assoziiert wird, unterstreicht das Edle seiner Absichten: Aber das Geschöpf, ehrwürdiger Herr, war dem Schöpfer unentbehrlich geworden und unterjochte ihn mit seinem sanften Eigensinne. Oft habe ich dabeigestanden, wann der Kanzler den König […] noch beim Überschreiten der Schwelle aufhielt, seine Rollen vor ihm entfaltete und den Unbändigen durch den Zwang seiner milden Worte nötigte, ihm Gehör zu schenken, und ich mußte mich wundern, wie er, den Stift in der einen und das Pergament in der anderen Hand, Herrn Heinrichs hingeworfenen Bescheid wiederholte und entwickelte, denselben in eine schöne, geschmeidige Rede verwandelnd, daß es nur so strömte, wie flüssiges Gold. (H 36- 37) Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 45 Darüber hinaus verharrt Becket nicht auf nationalstaatlichen Dualismen, sondern introduziert eine postnationale (europäische) Kategorie, indem er Hans nicht nach seiner deutsch-nationalen Herkunft klassifiziert, sondern ihn einen «Sohn Japhets» (H 77) nennt, der dem Alten Testament zufolge als Ahnherr aller Europäer gilt. 37 Weil diese Bezeichnung kompositorisch in der Textmitte von Der Heilige situiert ist, ist ihr besondere und symbolhafte Bedeutung beizumessen. Die Reihe der Identifikationen Beckets mit biblischen Gestalten setzt sich nach dem Tod seiner Tochter Gnade bzw. nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Canterbury fort, jedoch mit dem Unterschied, dass er von jetzt an vorrangig mit dem Messias (aus dem Neuen Testament) verknüpft wird. In diesem Sinne markieren diese Geschehnisse einen Wendepunkt/ eine Zäsur. 38 U.a. wird Becket mit dem «Christkind im Stalle» (H 103) verglichen, seine klösterliche Behausung im französischen Exil zur «himmlische[n] Stadt» (H 113) in Beziehung gesetzt 39 und seine Rückkehr nach Canterbury mit Jesu Einzug in Jerusalem parallelisiert (cf. Mt, 21,1-11): «Auf einer frommen Eselin sei der Primas eingeritten; wahr sei […], daß das Volk Gewand vor ihm ausgebreitet und, was Grünes in dieser Winterzeit vorhanden, auf seinen Weg gestreut habe» (H 124). Die Tötungsszene, in der er durch William Tracys Schwert niedergestreckt wird, stellt die Kreuzigung Jesu nach: «Ich aber trat neben Herrn Thomas, der mitten vor dem Hochaltare stand, die Arme öffnend, wie der Gekreuzigte über ihm, als hätte sich dieser verdoppelt» (H 135). Doch im Unterschied zum Märtyrertod des bibischen Messias sühnt Beckets Ableben weder die Sünden der Welt, noch stellt es der Menschheit Frieden in Aussicht. Dafür spricht der Umstand, dass Becket die (christliche) Heilserwartung energisch zurückweist: «Diese Erde dampft und stinkt noch von Blut und Greuel … und Schuld und Unschuld wird gemordet wie vor deiner Zeit» (H 77). Daneben ist Beckets Wandlung an seinem äußeren Erscheinungsbild erkennbar. Er schmückt sich nicht mehr mit prunkvollen Roben, sondern hüllt sich in einfache Kutten: «Er, den ich nicht anders hatte zu Hofe kommen sehen als im kostbarsten Aufzuge […], trug ein grobes, härenes Gewand, und die Zehen seines nackten, auf Sandalen wandelnden Fußes glänzten unter der dunklen Wolle hervor wie Elfenbein» (H 91). Hinzu kommt, dass er zusehends abmagert; es ist die Rede davon, dass «seine Leiblichkeit […] zusehends abnahm und schwand» (H 103). Beckets textliche Funktion als Exponent des Dritten besteht anfangs also darin, dass er in der Textwelt als Vermittlerfigur präsent ist. Sein Raumverhalten bestätigt das: Er durchkreuzt die strukturelle Grenze zwischen den polaren Räumen Stadt und Wald zwar, aber überwindet diese nicht. Mit Lotman zu reden: Becket ist eine bewegliche Figur, der es zusteht, die Grenze zwi- 46 Daniela Puplinkhuisen schen Kultur- und Naturraum zu überschreiten, sodass er konsequenterweise kein Ereignis entfaltet. Sowohl der Messiaskomplex als auch sein körperlicher Verfall signalisieren aber, dass Beckets reformatorische Pläne, England neu zu begründen und zu organisieren, letztlich scheitern. Stattdessen steht der Bruch des Staatssiegels Symbol für das Zerwürfnis zwischen Heinrich II. und Becket bzw. antizipiert er den Ausbruch von (zusätzlichen) Konflikten in England (cf. «Das Staatsiegel […] war […] zersprungen, und eine feine Spalte lief mitten und durch den edeln Stein und das Wappen von England» [H 95]). Die Tatsache, dass das kaputte Siegel auf dem «Tisch mit den vier Drachenfüßen» (H 95, Hervorhebung D.P.) steht, zeigt an, dass das Böse über das Gute gesiegt hat. Denn der Drache versinnbildlicht in der Johannesapokalypse den Satan. 40 Im Gegensatz zu den historischen Hauptfiguren handelt es sich bei Beckets Tochter Gnade 41 um eine von Meyer frei erfundene Figur. 42 Obschon sie in der erzählten Welt nur sporadisch zugegen ist, birgt sie etwas Geheimnisvolles in sich. Vor allem das Alternieren des Textes zwischen den verschiedenen Namen deute ich als Aufforderung an den Leser, genau zu prüfen, warum das sarazenische Mädchen mal «Gnade», «Grace» oder vereinzelt auch «Grazia» genannt wird. Dazu führe ich den roten Faden von Lotmans Raumsemantik weiter und greife eine seiner Thesen auf, die lautet, dass die Raumgestaltung eine «Sprache [ist], die die anderen, nichträumlichen Relationen des Textes ausdrückt» (330). Projiziert auf meine Problemstellung würde das bedeuten, dass Gnade, die ausschließlich eine Raumbindung zum Naturraum aufweist, eine äquivalente textstrategische Funktion erfüllt wie der Teilraum als Ganzes sowie ihr Vater als der imaginierte König des heidnisch-orientalischen Außenraums. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang, dass Gnade zweifach mit ‹Mythos› in Verbindung gebracht wird, nämlich mit dem Gralsmythos und dem altgriechischen Mythos vom Raub der Prinzessin Europa: Zum einen setzt der Text Gnade implizit als personifizierte Allegorie des «heiligen Gral[s], […] dem Kelch mit dem kostbaren Blute [Jesu, D.P.]» (H 49), der den Überlieferungen zufolge wundertätige Kräfte besitzt und Glückseligkeit spendet. 43 Für diese These spricht überdies, dass das Mädchen als Blutsverwandte Beckets, der im Text die Messias-Rolle verkörpert, im übertragenen Sinne tatsächlich mit dem Blut Jesu übereinstimmt. Ihr Vater zeigt Ähnlichkeiten mit dem Gralskönig, weil er als hütende Instanz seine Tochter in einem Waldschlösschen im Innenraum isoliert. Beckets Diener Äscher und Gnades Zofe Monna Lisa repräsentieren folgerichtig die Gralsritter, da sie das Mädchen umgeben sowie vor Eindringlingen schützen. Die Gesellschaft des christlich-abendländischen Außenraums ist gleich geartet wie die Grals- Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 47 gemeinschaft, weil sie unter einem Mangel leidet, was sich stellvertretend in den Feindseligkeiten zwischen Normannen und Sachsen ausdrückt sowie in den Bildern der gescheiterten Ehe des englischen Königspaares bzw. des schwierigen Verhältnisses der vier Königssöhne untereinander. Darüber hinaus suggeriert die erzählte Welt, dass Becket in seiner Rolle als Gralskönig Richard Löwenherz als seinen legitimen Nachfolger auserkoren hat. Der dritte Sohn Heinrichs II., den er in sein Herz geschlossen hat, soll, so sein Wunsch, Gnades Identität enthüllen und sie heiraten: Darüber entschlummerte ich, und der Traumgott betrog mich mit allerhand Gaukelspiel. […] Mir war, als trete ich wieder aus dem Walde hinter Herrn Heinrich, dessen Antlitz sich plötzlich verjüngte und in das seines Sohnes Richard verwandelte. Der unbändige Königssohn pochte an das Tor des Waldschlosses und zertrümmerte die Pforte mit einem Schlage seiner gepanzerten Faust. Aber der treue Äscher warf sich ihm dreist in den Weg, und Monna Lisa zürnte in tugendhaften Tränen. Doch siehe, da trat der Kanzler, Gnade an der Hand haltend, aus dem Inneren des Schlosses, und die Rechte Richards ergreifend, führte er die beiden unter die Wölbung der Bäume. Diese aber verwandelte sich in die Wölbung der Halle von Windsor. Vor Heinrich und Ellenor, die elterlich blickten, kniete das von Schönheit duftende Brautpaar. (H 60) Das Textfragment evoziert eine versöhnliche Stimmung. Würde sich Beckets Hoffnung verwirklichen und Richard tatsächlich seine Nachfolge als Gralskönig antreten, würde sich die Lage in England zum Guten wandeln. Deshalb deute ich die erträumte eheliche Verbindung zwischen Richard und Gnade als Allegorie der (politischen) Integration. Der Gral fungiert als politisch-ideologische Metapher, Gnade hat Symbolwert für die gesellschaftssowie kulturübergreifende Synthese. 44 Aufgrund der Grenzüberschreitung zwischen Kulturraum und Naturraum, die der englische König realisiert, wird Beckets Hoffnung zunichte gemacht. Denn indem Heinrich II., der nur eine Raumbindung zum christlich-abendländischen Außenraum hat, in den oppositionellen Innenraum einbricht, tastet er die Grundordnung des textlichen Raums England an - mit Lotman zu reden: Er entfaltet das Sujet, das die ideologischen Systeme der erzählten Welt transformiert. 45 Insbesondere seine Verliebtheit in Gnade sowie sein Vorhaben, sie zu entführen, haben sowohl eine unwiderrufliche semantische Umkehrung des topologischen Innenraums zur Folge als auch eine unaufhaltsame Ereigniskette von Lüge und Betrug, deren tragischen Endpunkt Gnades Tod markiert. Zum anderen lese ich Gnades Entführung als literarische Neugestaltung des altgriechischen Mythos vom Raub der Prinzessin Europa durch Zeus. 46 Immerhin plant der verliebte englische König, wie der Göttervater, «die klei- 48 Daniela Puplinkhuisen ne[…] Dame übers Meer» (H 51) zu bringen. Der Text stellt das Mädchen, der antiken Vorlage entsprechend, als Verkörperung der jungfräulichen Unschuld dar, das die Trennung vom Vater hinnimmt, weil es in seiner kindlichnaiven, schwärmerischen Liebe zum rangobersten Repräsentanten Englands ein unbeschwertes Leben «unter einem warmen Himmel» (H 52) beginnen will. Doch im Unterschied zu den antiken Erzählungen des Europa-Mythos (z.B. den literarischen Überlieferungen des Moschos und des Ovid) wohnt Meyers Neuinszenierung destruktives Potential inne. Eine Entmythologisierung findet statt: Der Archetyp dient neuen Zwecken, indem er in Der Heilige als Erzählschablone und Darstellungsraster fungiert, um zu illustrieren, dass der europäische Synthesegedanke im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert unzeitgemäß ist. 47 Die Verknüpfung Gnades mit einem «Lämmchen» (H 62) bestätigt das eben Erwähnte. Denn der Text stellt so einen Konnex zur Apokalypse des Johannes her, in der das Lamm das einzige Lebewesen «im Himmel, auf der Erde und unter der Erde» repräsentiert, das befähigt ist, die Buchrolle mit den sieben Siegeln zu öffnen und dadurch das Geschehen der Endzeit in Gang setzt: Schließlich bedingt das Entsiegeln der Buchrolle die Visionen von den sieben Siegeln, die Visionen von den sieben Posaunen sowie die darauf folgenden Ereignisse (einschließlich des Niederringens des Bösen und der darauf folgenden Niederkunft des himmlischen Jerusalem, das als Symbol für den Frieden auf Erden einsteht). 48 Während die Schriftsteller, denen sich Conter, Nurdin und Lützeler in ihren Untersuchungen (vorwiegend) zuwenden, explizit zur zeitgenössischen Realität Stellung beziehen und konkrete Reformvorschläge unterbreiten, verbirgt sich der schweizerische Autor Meyer hinter der Maske historischer Faktizität: Seine Europa-Visionen sind Vexierspiele, die sich als Gedankenexperimente nicht definitiv auf ein prospektives Sozialmodell festlegen lassen. Immerhin evozieren bloß typisch literarische Repräsentationstechniken wie Figurenpräsentation und -interaktion, intertextuelle Allusionen auf die Bibel und figürliche Formen (in erster Linie die politisch-ideologische Metapher ‹Gral›) ein Bewusstsein europäischer Identität. Die Becket-Figur vertritt im Unterschied zu den übrigen Figuren ein Denken in europäischen Kategorien. Daneben weist Becket weitere Ähnlichkeiten auf zu Nietzsches Zarathustra, wenngleich jedwede Beeinflussung ausgeschlossen ist: Beide stammen u.a. aus dem Morgenland. Sowohl Beckets als auch Zarathustras fremdländische Herkunft macht ihre kritische Sichtweise auf die fragwürdigen europäischen Moral- und Wertevorstellungen möglich. Durch den hochsymbolischen Tod von Gnade insinuiert der Text, dass Beckets gesellschaftlicher und kultureller europäischer Synthesegedanke dem Zeitgeist des ausgehenden neunzehnten Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 49 Jahrhunderts nicht entspricht. Das Erzählte erhält somit den Status einer regressiven Apokalypse: «Ausgehend von einem Ursprung maximaler Fülle kommt es zu einer ‹Vertreibung aus dem Paradies›» (Nagel 61), was impliziert, dass sich die Situation zunehmend verschlechtert, aber das reinigende Geschehen ausbleibt. Anmerkungen Ich möchte Jaak De Vos danken für die hilfreichen Kommentare zu einer Erstfassung des Manuskripts. 1 Der Aufsatz ist entstanden im Rahmen eines breit angelegten Forschungsprojektes, das vom Fachbereich ‹Deutsche Literatur› der Universität Gent durchgeführt wird. Der Titel des Fachgruppenprojektes lautet «Der gute Europäer. Analyse der Evolutionen des Ideopoems ‹Europa› in ausgewählter deutscher Prosaliteratur von 1870-1933», wobei ich vornehmlich fiktionale Texte des (Spät-)Realismus in Betracht nehme. Ziel des Beitrags ist es, auf der Grundlage einer konkreten Textanalyse von Meyers historischer Novelle theoretische Nuancierungen des auf Edward Verhofstadt zurückgehenden Terminus ‹Ideopoem› auszuführen. Schon die Etymologie des Kompositums ‹Ideo-poem› insinuiert, dass der Begriff ein typisch textuelles Phänomen markiert, denn er meint dem Wortsinne nach ‹dichterisch/ poetisch› begründetes System mit ‹idee›haftem Sinn. Der belgische Literaturwissenschaftler führt ‹Ideopoem› in Ergänzung und/ oder Konkurrenz zu ‹Weltbild/ Weltanschauung/ Ideologie›, das/ die ein Text fragmenthaft generiert. ‹Vexierspiele› verwende ich in Anlehnung an Hugo Aust, der den Terminus einsetzt, um die konzeptuelle Offenheit sowie Vielschichtigkeit von Meyers historischem Roman Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte herauszustreichen (101-03). 2 Conters Textkorpus umfasst also sowohl fiktionale (Erzählungen, Gedichte, Dorfgeschichten, Zeitromane, Reiseberichte usw.) als auch nicht-fiktionale Werke (Traktate, Pamphleten, Essays, Zeitschriften[artikel]), «die bereits in Paratexten auf Europa hinweisen» (47, Hervorhebung D.P.). Alle Formen historischen Schrifttums klammert er wegen deren «gattungsspezifischen und literaturtheoretischen Besonderheiten» gänzlich aus (44). 3 Cf. auch: «Mit der Generation der gescheiterten Europadenker, die sowohl die Gleichgewichtsapologeten als auch die Völkerbundstrategen umfasst, verschwindet der Europagedanke als politisches Modell aus der Diskussion und aus der Literatur» (675). Allerdings räumt Conter ein, dass das Bewusstsein einer europäischen Identität in der Literatur der 1850er/ 60er Jahre als implizites Konstrukt wohl noch hervortritt und zwar im Zuge des technisch-industriellen Fortschritts bzw. der zivilisatorischen Überlegenheit des Kontinents gegenüber fremdländischen (z.B. afrikanischen) Völkerschaften (656). 4 Der Schwerpunkt von Nurdins Studie liegt auf dem juristischen und politischen Europadiskurs (1850-1918). Lützeler stellt in seiner diachronischen Abhandlung den Europadiskurs in nicht-fiktionalen Schriften seit dem Anfang der napoleonischen Ära bis zum Ende des Kalten Krieges dar. Infolge der hohen Frequenz von essayistischen Beiträgen zum literarischen Topos ‹Europa› introduziert er gar den Begriff der ‹Europa-Essayistik›. 50 Daniela Puplinkhuisen 5 Beispielsweise weist Lützeler mit der Benennung «Dichterphilosoph» (191) auf diese hybride Zwischenposition von Nietzsches Werken hin. Auch Alexander Nehamas und Benjamin Biebuyck machen auf die Literarisierung von Nietzsches Philosophie aufmerksam. 6 Henning Ottmann betont für meinen Geschmack zu sehr, dass sich das nietzschesche Zukunftsideal vom ‹guten Europäer› auf die Zeitspanne von 1876-1882 beschränkt (121ff.). Für das Thema ‹Nietzsche und Europa› relevant sind darüber hinaus die Beiträge in Nietzscheforschung 14. Nietzsche und Europa - Nietzsche in Europa, Europa-Philosophie sowie die Monographien von Stefan Elbe und Christian J. Emden (vorrangig behandelt das sechste Kapitel, das mit «The idea of Europe and the limits of genealogy» überschrieben ist, Nietzsches experimentellen Entwurf von einem zukünftigen Europa, 286-323). 7 Witzler führt fernerhin aus, was die «post-moralischen Tugenden» der Zukunftsgestalt, die er in Verantwortlichkeit, Vornehmheit und mentale Stärke gliedert, beinhalten (198- 214). Es sei bemerkt, dass Nietzsche ‹Europa› als Kultur-Begriff auffasst, der keine geographischen bzw. politischen Implikationen mit sich bringt: «Namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Cultur-Begriff ‹Europa›; sondern nur all jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben» (KSA 2, 650). Cf. dazu auch Balduin Noll (39ff. bzw. 51) und Theo Meyer (26). 8 Auch Fred Lönker (194-95) akzentuiert das Wechselverhältnis zwischen «gutem Europäer›› und «Freigeist›› bei Nietzsche. In Jenseits von Gut und Böse kennzeichnet Nietzsche den gebundenen zeitgenössischen Europäer übrigens als «eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmäßiges», wobei er in erster Linie das Christentum als Wurzel für diese negative Evolution anführt (KSA 5, 83). Der Zusammenhang zwischen «Europäertum›› und (positiv konnotierter) «Heimatlosigkeit›› ist z.B. aus folgendem Textfragment der Fröhlichen Wissenschaft ersichtlich: «Wir Kinder der Zukunft, wie vermöchten wir in diesem Heute zu hause zu sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin einer sich sogar in dieser zerbrechlichen, zerbrochenen Übergangszeit noch heimisch fühlen könnte» (KSA 3, 628-29). Ausführliche Überlegungen zu diesem Konnex stellt Damir Barbaric´ an. 9 Cf. «Der gute Europäer. / - - - Als er ihn nämlich aber ansah, schrak Zarathustra sein Herz zusammen: so zum Verwechseln ihm selber ähnlich sah sein Nachfolger aus, in der Tracht und dem Bart, nicht allein, sondern in der ganzen Art./ Wer bist du? fragte Zarathustra heftig. Oder bin ich’s selber? […] Vergieb mir, oh Zarathustra, diese Mummerei, antwortete der Doppelgänger und Schatten, und willst du einen Namen für mich, so nenne mich den guten Europäer./ […] Mitunter nannte ich mich auch den Wanderer,/ öfter aber noch Zarathustra’s Schatten» (KSA 14, 337). 10 Cf. «Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, - wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht» (KSA 2, 362-63). 11 Betsy Meyer führt in ihrem Erinnerungsbuch alle oben aufgeführten Schriftsteller mit Ausnahme von Saint-Simon an. Das Ideengut dieses französischen soziologischen und philosophischen Autors war C.F. Meyer infolge seiner ausführlichen Thierry-Lektüre bekannt, der nach Napoleons Sturz im Jahre 1815 gemeinsam mit Saint-Simon zahlreiche Artikel - sogar kurzlebige Zeitschriften wie z.B. L’industrie (1816-1818) - verfasste und veröffentlichte. Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 51 12 Bridgwater räumt ebenfalls ein, dass Meyer von Helene v. Druskowitz, die er im Oktober 1884 kennenlernte und die (zeitweise) ebenfalls eine gute Bekannte Nietzsches war, zusätzliche Informationen über Werke des Dichterphilosophen erhalten haben könnte. Inhaltliche Entsprechungen der Schriften Meyers und Nietzsches führt er auf gemeinsame (geistige) Vorbilder wie z.B. Jacob Burckhardt, Friedrich Theodor Vischer, Arthur Schopenhauer sowie Michel de Montaigne zurück. Heinz Wetzel führt am Beispiel von Meyers Der Heilige vor, wie genau und zahlreich die Übereinstimmungen zwischen letzterem Text und Nietzsches Ideengut sind. Einen direkten Einfluss schließt er jedoch kategorisch aus: «Daß Meyer noch vor der Vollendung seiner Novelle die Aphorismensammlung Menschliches, Allzumenschliches gelesen hat, ist jedoch so unwahrscheinlich wie die Annahme, daß Nietzsches Zur Genealogie der Moral durch die Lektüre des Heiligen beeinflusst wurde» (204). 13 David A. Jackson und Michael Andermatt belegen, dass Meyers Deutschlandbegeisterung in Huttens letzte Tage primär aus publikationsstrategischem Kalkül resultiert. So führt Jackson (60ff.) an, dass Meyer sich infolge der Bekanntschaft mit dem Ehepaar Wille sowie dem Zirkel um Schriftstellerin und Wagner-Geliebte Mathilde Wesendonck bewusst war, dass sein (angestrebtes) Zielpublikum, «das national-liberale Bürgertum [,] von seinen literarischen Lieferanten eine hundertprozentige Parteinahme für Deutschland verlangen würde». Andermatt (174-75) zeigt die Adressatenbezogenheit der Parteinahme Meyers auf, indem er auf die Widersprüchlichkeit medial verschiedener Äußerungen des Schweizers aufmerksam macht. Er veranschaulicht anhand konkreten Textmaterials, dass der Autor sich ausschließlich für den Literaturbetrieb «als seit je überzeugter Preußen- und Reichsfreund» definierte. Seine Privatkorrespondenz lässt laut Andermatt darauf schließen, dass Meyer sich weder eindeutig mit der deutschen noch mit der französischen Seite im Kulturkampf identifizieren konnte. 14 «‹Nationality› or ‹nation-ness›, as well as nationalism are cultural artefacts of a particular kind» (Anderson 13). Mit Anderson zu reden, gibt es keine Nationen, sondern ist die nationale Identität ein Modell, das lediglich aufgrund bestimmter historischer Konstellationen zu verwirklichen war. Ich entlehne den Ausdruck «imagined community» von Anderson, jedoch mit dem wesentlichen Unterschied, dass ich sein Deutungskonzept der Nation als ‹erfundener› bzw. ‹imaginärer› Gemeinschaft auf einen postnationalen/ europäischen Kontext projiziere. 15 Unter ‹Subtext› versteht der Beitrag - nach Holger Erhardt - eine der Erzähloberfläche unterliegende, verrätselte Sinnschichtenstruktur, die durch den Leser zu rekonstruieren ist. Daneben postuliert Erhardt einen Bewusstheitsgrad des Autors: «Auf Fontane angewendet bedeutet diese Subtexttheorie im Grundsatz […], dass der Autor die Mehrdeutigkeit der Sprache nutzt, um zur Oberflächensemantik verschwiegene Unterbedeutungen hinzutreten zu lassen, wobei diese beiden sich scheinbar widersprechen bzw. beziehungslos nebeneinander stehen können» (115). 16 Dazu passt, dass ausgerechnet das zwölfe Jahrhundert, in dem Der Heilige spielt, als Kulminationspunkt der mittelalterlichen Offenbarungsliteratur gilt. Bereits Gunther H. Hertling zeigt an, dass Hans der Armbruster «als eine Art neutestamentliche Johannes- Gestalt am Leben des Heiligen» (129) teilnimmt bzw. sein Lebenslauf von dem des Erzbischofs von Canterbury ebenso wenig trennen lässt «wie das Leben des ‹Knechts› Johannes vom Leben Jesu Christi». 17 Das Textfragment alludiert auf die Messiasschlacht mit dem Drachen (ab Offb, 19,11). Melissa De Bruyker schlägt vor, den Begriff ‹Erzähler› zu verwenden für die textimmanente Aktualisierung von Diskursen: «ein kohärentes Geflecht von außertextuell vor- 52 Daniela Puplinkhuisen handenen Repräsentationstechniken, stilistischen Merkmalen und Subtexten mit einer bestimmten präskriptiven Ordnung». 18 Cf. «Die apokalyptische Botschaft richtet sich an Menschen, die nach Erlösung verlangen, […] weil sie unter den Bedingungen ihrer Existenz in einem Maße leiden, dass eine Wendung zum Besseren nicht mehr möglich erschein. Die Apokalypse verspricht nicht eine bloße Verbesserung der Verhältnisse, sondern eine radikale Verwandlung der Wirklichkeit, sie verspricht Erlösung durch Vernichtung der alten, unvollkommenen und verdorbenen Welt» (Vondung 177). 19 Interessanterweise gehen die zwölf Sterne des 1955 eingeführten Europa-Wappens auf eine Stelle aus dem zwölften Kapitel der Offenbarung des Johannes zurück. Sie verweisen nämlich auf die apokalyptische Frau, von der es heißt, dass sie «ein[en] Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt» (Offb, 12,1) trage (Wollscheid 45). 20 Meyer in einem Brief an Julius Rodenberg am 26. Mai 1879: «Wenn es Sie interessieren sollte, wie viel mir die Quellen zum Heiligen geboten haben, finden Sie den geschichtlichen Rohstoff ziemlich vollständig in Augustin Thierrys ‹Conquête de l’angleterre›» (Zitiert nach Langmesser 53; Orthographie und Interpunktion stimmen exakt mit der Vorlage überein). Weitere Aussagen Meyers bezüglich seiner Quellen für Der Heilige führen Zäch/ Zeller im Apparat zu besagter historischen Novelle in Bd. 13 (301ff.) an. Des Weiteren belegt Travis R. Hardaway, dass Meyer neben Conquête de l’angleterre auch mittelalterliche Chroniken (z.B. J.P. Mignes Patrologiae Cursus Completus, Sir Roger Twysdens Historiae Anglicanae Scriptores Decem) als Vorlage dienten, indem er auf Abweichungen des Schweizers von Thierrys Werk hinweist. 21 Zum Kulturkampf im neunzehnten Jahrhundert sowie zum literarischen Topos ‹Kulturkampf› speziell in Der Heilige cf. auch Andermatt. Er interpretiert in seiner Abhandlung die Uneinigkeiten des Staates mit der Kirche als hoch artifizielles autobiographisches Verspiegelungsverfahren, nämlich als verschlüsselte «Auseinandersetzungen des Autors mit seiner toten Mutter», zu der Meyer ein ambivalentes Verhältnis hatte. Meyers Hang, seine emotionalen Bekenntnisse verschlüsselt niederzuschreiben, ist der Forschung hinreichend bekannt und wird unter dem Topos ‹Maske› wissenschaftlich dargelegt. Folgende Stelle aus einem Brief Meyers an Felix Bovet bildet einen wesentlichen Beleg für sein schriftstellerisches Kalkül: «[I]ch benutze die Form der historischen Novelle schlicht und einfach, um darin meine Erfahrungen und meine persönlichen Gefühle unterzubringen; ich ziehe sie dem Zeitroman vor, weil sie mich besser maskiert und den Leser mehr auf Distanz hält. Auf diese Weise bin ich hinter einer sehr objektiven und höchst künstlerischen Form im Innern völlig individuell und subjektiv» (zitiert nach Andermatt 180). 22 Mit der Kennzeichnung Zürichs als ausdrücklich deutsche Reichsstadt macht Meyer auf ständige Grenzverschiebungen in nationalen Kontexten aufmerksam und stellt auf diesem Wege unterschwellig eine ‹völkische Rassereinheit› in Frage (immerhin ist Zürich seit 1351 nicht mehr dem Deutschen Reich, sondern der Schweizer Eidgenossenschaft zugehörig). Auch das südspanische Granada nimmt eine Sonderstellung ein, aber im europäischen Kontext: Von 711 bis 1492 wurde die Stadt nämlich von orientalisch-islamischen Herrschern regiert und gehörte somit über mehrere Jahrhunderte hinweg dem christlich-abendländischen (‹europäischen›) Kulturraum nach konfessionellem Ermessen nicht an. Indem Meyer implizit auf die historische Dynamik der Grenze zwischen Okzident und Orient hinweist, problematisiert er eine generalisierende Betrachtungsweise hinsichtlich der Fragen: Was ist (europäisch) eigen bzw. was ist fremd? Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 53 23 Beiläufig führt Hans dabei auch die Kreuzzugthematik ein, indem er äußert, dass sein Vater «sich das Kreuz anheftete und nach dem gelobten Lande zog, aus welchem er nicht zurückkehrte» (H 17). Das ist nicht zufallsbedingt, sondern steht in Beziehung zum Wunsch nach zwischenstaatlicher Synthese innerhalb Europas, der textlich nahe gebracht wird. Schließlich «gingen von den Kreuzzügen des 11. und 12. Jahrhunderts» - wie Ute Frevert (28) hervorhebt - «Identifikationsangebote […] aus», die «die kulturelle Identität der ‹Gläubigen›, also der Europäer, [gegenüber den Ungläubigen aus dem Morgenland, D.P.] gefestigt haben». 24 Die Wahl des Schauplatzes England ist für die Binnengeschichte von richtungweisender Bedeutung: Denn der Mythos um den ‹Heiligen Gral›, dem ich bei der Interpretation des textstrategischen Fungierens von Thomas Beckets Tochter Gnade einen besonderen Stellenwert zuerkenne, erscheint ab dem ausgehenden zwölften Jahrhundert in mannigfaltiger Form in der mediävistischen Epik im Umkreis der kelto-britischen Artus-Sage. 25 Das erstgenannte Adjektiv des jeweiligen Gegensatzpaares fungiert als Beschreibungskriterium für den christlich-abendländischen Kulturraum, sodass das verbleibende Adjektiv folgerichtig jeweils den heidnisch-orientalischen Naturraum charakterisiert. 26 «Warum Herr Heinrich mit Frau Ellenor in die Ehe getreten war, […] das offenbart sich jedem, der die Weltkarte betrachtet und darauf die Länder zählt, die sie ihm zubrachte» (H 40) bzw. «Denn da sie [die vier Königssöhne, D.P.] von verschiedener und unbrüderlicher Natur waren, mußte gewehrt werden, daß sie nicht mit der Schießwaffe aufeinander losgingen» (H 70). 27 Schließlich markiert das Essen der verbotenen Früchte vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse den Sündenfall (Gen, 3,5-6). 28 Zwar hat auch Hans eine Vorliebe für Kampfmittel, jedoch ist diese - in seiner textlichen Rolle als Bogenbauer sowie Dienerfigur - in erster Linie beruflich bedingt. Heinrich II. hingegen verwendet Waffen aus purer Lust am Töten. So nimmt er bei seinem ersten Erscheinen eine Krähe willkürlich ins Visier, um die Funktionstüchtigkeit einer Armbrust zu erproben. Mit dem ersten Schuss verkehrt er die textlich evozierte friedvolle Situation zu seinem Vergnügen ins Gegenteil: Er «schoss nach einer Krähe, welche sich auf die, da es windstill war, bewegungslose Fahne des Schlossturms gesetzt hatte; und ein helles Lachen ging über sein Antlitz, wie sich die Fahne drehte und das Tier flatternd in die Dachrinne stürzte» (H 32). Als zusätzliches (historisches) Argument dafür, dass sich der negative Bedeutungshorizont der Waffenaffinität nur auf Heinrich II. beschränkt, möchte ich vorbringen, dass das Jagen ein konventionelles Motiv für die königlich-höfische Sitte ist, an der Nicht-Adlige - wie Hans als «Dienstmann» (H 13) und deshalb ständiger Begleiter des englischen Königs - sowieso nur passiv teilhaben durften. 29 Das Scheitern der angestrebten Aussöhnung wird sowohl durch die ungünstigen Witterungsbedingungen als auch durch die landschaftlichen Gegebenheiten - der Heideboden gilt als nährstoffarm und sauer - antizipiert: «Es war an einem grauen Tage und auf einer trübseligen Heide, daß die Herren zusammentrafen» (H 117). 30 Cf. «Jesus antwortet: ‹Der ist es, dem ich den Bissen eintauchen und geben werde.› Und er tauchte den Bissen ein, nahm ihn und gab ihn dem Judas […]. Nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.» Joh, 13,26-27 (Hervorhebung D.P.). 31 «Und während seine Linke mir den Mund zuschloß, warf mir seine Rechte eine mit Edelsteinen besetzte Spange zu, die er sich vom Hute gerissen. Das Gold, das er im Beutel trug, hatte er alles dem alten Äscher in die Hände geschüttet» (H 47). 32 Cf. Etymologie des Begriffs ‹Teufel› von griechisch ‹diábolos›, wörtlich ‹der Durcheinanderwerfer› im Sinne von egoistischem Lügner. 54 Daniela Puplinkhuisen 33 Ich bin mir durchaus bewusst, dass oben genanntes Textzitat ideologisch gefärbt ist, in dem Sinne, dass es Beckets Werdegang aus sächsischer Perspektive (d.h. aus dem Blickwinkel des niederen Volkes/ des ‹kleinen Mannes›) reflektiert. Ich intendiere hier jedoch lediglich, die Zwitterhaftigkeit der Herkunft des englischen Reichskanzlers und späteren Erzbischofs von Canterbury textlich zu illustrieren. 34 Figuren der/ des Dritten erleben derzeit primär unter den Synonymen Hybridität, Dritter Raum sowie im postkolonialen Diskurs eine Konjunktur. Ich möchte den Begriff, der - wie Breger und Döring mit Referenz auf Sigmund Freud übrigens bestätigen - alles andere als innovativ ist, für meine Zwecke produktiv machen, indem ich ihn mit dem alternierenden und synthetischen Charakter der Becket-Figur in Verbindung bringe. 35 Das Bild Beckets auf seinem Schimmel nimmt die ihm zugedachte Rolle als (vermeintlicher) Friedensbringer vorweg. Denn es kongruiert mit derjenigen Gestalt aus der Johannesoffenbarung, die den Sieg über den Satan (die feindlichen Mächte) einläutet: «Da war ein weißes Pferd, und der, der auf ihm saß, heißt ‹Der Treue und Wahrhaftige›; gerecht richtet er und führt er Krieg» (Offb, 19, 11-12). 36 Die Bilder der «Schlange, welche die Haut wechselt» (H 93) bzw. des «schlanken, schmeidigen Aal[s]» (H 100) manifestieren, dass der König den Kanzler nicht im Griff/ unter Kontrolle hat. 37 Japhet tritt im 1. Buch Mose der Bibel, in der Schöpfungsgeschichte, in Erscheinung. Er überlebt laut Bibelüberlieferung (nebst sieben nächsten Angehörigen) die dreihunderttägige Sintflut auf der Arche Noah (Gen, 7, 16). Zudem formuliert die alttestamentliche Bibel eine Ursprungstheorie, der zufolge alle Völker nördlich von Israel (Gomer, Magog, Madaj, Jawan, Tubal, Meschech sowie Tiras) stammesverwandt mit Japhet sind (Gen, 10, 1-10, 32). 38 «Waren aber die Worte des Kanzlers nicht allesamt christlich, so wurden es seine Werke je mehr und mehr. Es schien in jenen Tagen, als wolle Herr Thomas, müde seines Glanzes, der Herrlichkeit sich entkleiden und, selbst ein friedloser und herzkranker Mann, Übel heilen und Frieden bringen, soweit seine Macht reichte» (H 78, Hervorhebung D.P.). Die Tatsache, dass das wichtigste Organ des Körpers beschädigt ist, deutet auf Beckets Tod voraus. 39 Gemeint ist «die heilige Stadt Jerusalem, wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam» aus der Johannesapokalypse (Offb, 21, 10). 40 «Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt» (Offb, 7, 9). 41 ‹Gnade› (von althochdeutsch ‹gin da› für ‹göttliches Erbarmen›/ ‹Hilfe›/ ‹Schutz›) meint im Christentum vor allem die «Zuwendung Gottes zu den Menschen und unverdiente Vergebung menschlicher Sünde» (Brockhaus 216). Des Weiteren ist ‹Gnade› ein frequent vorkommender Begriff in der Johannesapokalypse. 42 Über einen direkten Nachkommen Beckets existieren in den historischen Quellen keine Angaben. R. Foß stellt die These auf, dass die Gnade-Episode in Anlehnung an das Liebesabenteuer Rosamunde Cliffords mit Heinrich II. nachgebildet wurde (442). Manfred R. Jacobsen und Evelyn M. Jacobsen zeigen in ihrer Untersuchung, dass Tristan und Isolde Vorlage für die Gnade-Episode gewesen sein könnte. 43 Möglicherweise bezieht sich Meyer, was die Inszenierung des Grals betrifft, auf Robert de Borons Geschichte des Heiligen Grals zurück. Denn auch Meyer verbindet - wie De Boron - den Gral «eng mit der Heilsgeschichte, mit der Erlösung der Menschheit». Hinzu kommt, dass der Gral sowohl bei Meyer als auch bei De Boron ein Gefäß ist, das das Blut Jesu enthält und in England lokalisiert wird. Alle Informationen zur Gralserzäh- Vexierspiele europäischen Denkens in deutscher Prosaliteratur 55 lung von De Boron habe ich dankbar von Volker Mertens (86) übernommen und verwendet. 44 John Osborne vernachlässigt diese Funktion des Gnade-Motivs, wenn er streng urteilend bemerkt: «Ein störendes Bild der Korruption durch die uneingeschränkte Macht wird dargestellt, aber die Behandlung schwankt auf etwas unbestimmte Weise zwischen dem Abstrakt-Allegorischen und dem Individuell-Pathologischen. Es ist also keineswegs bloß Prüderie, wenn man die Gnade-Episode bedauert, denn dadurch wird die politische Dimension geschwächt und die Geschichte teilweise trivialisiert» (85). 45 Cf. Lotman 339: «Das Sujet ist ein ‹revolutionäres Element› im Verhältnis zum ‹Weltbild›». 46 Übrigens entspricht es der gängigen ikonographischen Tradition, Europa als weiblichen Körper abzubilden (Weidner 13f.). 47 Iser dokumentiert am Beispiel von James Joyces Ulysses, wie der Schriftsteller den Mythos als Archetyp in seinem modernen Roman zeitgemäßen Konventionen und Diskursen anpasst, sodass sich für den Leser ein «Spiegelungsverhältnis» (370) bzw. ein «Interaktionsspiel» (380) zwischen homerischer Odyssee und der literarischen Neubearbeitung erschließt. Der antike Mythos fungiert also in Ulysses als Vehikel (373), das dahingehend angelegt ist, die tradierte Überlieferung für die jeweils zeitgenössische Gegenwart (im Falle von Joyce das zwanzigste Jahrhundert) zu aktualisieren. 48 Ab Offb, 6, 1. Bibliographie Andermatt, Michael. «Conrad Ferdinand Meyer und der Kulturkampf. Vexierspiele im Medium historischen Erzählens». Conrad Ferdinand Meyer. 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