eJournals Colloquia Germanica 41/1

Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2008
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Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945–1947

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2008
Rüdiger Scholz
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Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 RÜDIGER SCHOLZ U NIVERSITÄT F REIBURG Die Geschichte der Heine-Wirkung ist einer der spannendsten Kriminalromane der deutschen Gesellschaftsgeschichte, ein singulärer Fall in der Geschichte der deutschen Öffentlichkeit, von Heines Lebzeiten bis zum jüngsten Jubiläumsjahr 2006. Kein anderer deutscher Schriftsteller war über den langen Zeitraum von über eineinhalb Jahrhunderten Kristallisationsfigur umstrittener gesellschaftspolitischer Anschauungen‚ um keinen Autor wurde so gestritten, um kein Denkmal so gerungen wie um das von Heinrich Heine. Die Erforschung dieser Nachwirkung hat mit der Bedeutung dieser Wirkungsgeschichte nicht Schritt gehalten. Es gibt nur Teildarstellungen, für begrenzte Zeiträume, für einzelne Themen, begrenzt durch die Auswahl von Quellen. Dasselbe gilt für die Quellensammlungen. Etwas besser in Gang kam die Forschung zur Rezeption erst nach dem großen Krach zum Jubiläum 1972. Die Folgen dieser Situation sind unterschiedliche Bewertungen, je nach Quellenauswahl und Zeitausschnitt. 1 Während die Erforschung der Heine-Rezeption in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945 weit voran gekommen ist, 2 trifft dies auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zu. Hier hat sich die These gebildet und verfestigt, dass «die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft» «den politischen Heine» «weitgehend den ‹Sozialisten› und ‹Kommunisten›» überließ, dass «die meisten Heine-Artikel der ersten Nachkriegsjahre» «möglicherweise kontroverse Themen von vornherein» gemieden hätten, 3 und dass sich das negative Heine-Bild der Nationalsozialisten bis 1972 fortgesetzt habe. «Die Nazi-Kritik an Heine» setzte sich auch nach 1945 durch, «der antisemitische Bannstrahl gegen den Dichter [blieb] noch zwei Dezennien in Kraft.» 4 Auch aus DDR-Sicht wird das bestätigt: «Von einer grundlegenden Neubewertung des Dichters kann [in Westdeutschland] jedoch in den ersten Nachkriegsjahren ebensowenig gesprochen werden wie von einer systematischen Popularisierung seines Werkes.» 5 Diese Urteile sind das Resultat von zwei Umständen. Von vorwiegend germanistischen Veröffentlichungen in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts sind sie rückgeschlossen auf die ersten Nachkriegsjahre, und sie sind Interpretationen von Texten aus Zeitschriften, Sammelwerken, Vor- 60 Rüdiger Scholz worten zu Ausgaben und von Äußerungen prominenter Autoren, Texte, die Goltschniggs und Steineckes Sammlung von 2008 ausmachen. Die Heine-Ausgaben 1945-1947 und die Zeitungsartikel dieser Jahre ergeben jedoch ein gänzlich anderes Bild. Bei den Ausgaben von Heine-Texten nach dem 8. Mai 1945 läßt sich eine Vernachlässigung oder gar eine Ausgrenzung nicht bestätigen. Im Gegenteil: In den zweieinhalb Jahren bis Ende 1947 erschienen in Deutschland eine dreibändige Heine-Ausgabe, siebenunddreißig Heine-Auswahlausgaben und ein Heine-Almanach, 6 dazu je zwei in der Schweiz, in Österreich (eine von ihnen ist mit 832 Seiten die umfangreichste) und in England, je eine Ausgabe in Frankreich und in den USA. In Moskau war 1937-1940 eine vierbändige Heine-Ausgabe, besorgt von E.F. Knipowicˇ, erschienen. Bis 1949 kamen in Deutschland 14 weitere Ausgaben hinzu und eine zweibändige in Moskau. 7 Diese achtunddreißig deutschen Ausgaben der Jahre 1945 bis 1947 - die einbändigen in einem Umfang von 29 bis 300 Seiten, acht unter 70 Seiten, die meisten (19) um 100 Seiten umfassend, zehn über zweihundert Seiten (zwei Ausgaben erlebten in kurzer Zeit eine zweite Auflage) - diese Ausgaben sind eine ganz außergewöhnliche Würdigung, die noch mehr wiegt, wenn man die Papierknappheit bedenkt. Dabei sind die vielen Heine-Texte in Tageszeitungen und Zeitschriften noch gar nicht gerechnet. Kein Schriftsteller ist in dieser Nachkriegszeit mehr verlegt worden als Heine, und das allein schon ist ein Politikum. Der Berliner Telegraf spricht am 13. Dezember 1947 von «einer wahren Sintflut von Heine-Einzelausgaben» in der Nachkriegszeit. Das kann man auch nicht klein reden, wenn man feststellt, dass knapp ein Drittel (11 Auswahlausgaben) der Lyrik aus dem Buch der Lieder und aus dem Romanzero gewidmet ist, dem nur drei Ausgaben des Wintermärchens gegenüberstehen (eine in Ost-Berlin, die allerdings schon 1945, in zweiter Auflage 1946, zwei in Westdeutschland), denn es gibt auch eine Ausgabe der Neuen Gedichte, des Rabbi von Bacherach und des Schnabelewopski, und in der dreibändigen Ausgabe sind die Bände 2 und 3 dem politischen Heine gewidmet. Und es stehen in mehreren Auswahlsammlungen auch politische Texte. 8 Außerdem ist zu bedenken, dass die Wiedergewinnung Heines als des überragenden deutschen Lyrikers des 19. Jahrhunderts eine politische Tat war angesichts der Versuche, Heine in der NS-Zeit auch als Lyriker herabzusetzen. Wir können uns heute nur noch mühsam vorstellen, welche Rolle Heine als Lyriker über hundert Jahre lang in der deutschen Geschichte gespielt hat, in unzähligen Veranstaltungen mit Heine-Gedichten und vor allem Liedern nach Heine-Gedichten. 9 Eine ganze Heerschar von Komponisten fühlte sich von seinen Gedichten angezogen. Er war und ist mit weitem Abstand Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 61 der meist vertonte deutsche Dichter, dessen Lyrik besonders durch die Gebrochenheit, durch die offene oder unterschwellige Negation des romantischen Gefühls, die Trauer in der Lust und die ironische Distanz zum Schmerz als ungeheuer modern empfunden wurde. Die Nazis wollten diese deutsche Heine-Literatur und -Kultur zerstören. Dass nach dem Mai 1945 Sammlungen mit Heine-Lyrik erschienen, war nur konsequent. 10 Auch die Presseartikel zu den beiden Jubiläen - 90. Todestag am 17. Februar 1946 und 150. Geburtstag am 13. Dezember 1947 - ergeben ein anderes Bild: 1946 und 1947 steht in Deutschland der politische Heine im Vordergrund und im Rampenlicht, auch in den Westzonen. Die folgende Darstellung stützt sich in erster Linie auf diese Zeitungsartikel. Bei diesem Material zählt nicht so sehr der Verfasser - oft nur ein Redaktionskürzel oder nur eine redaktionelle Einleitung zum Abdruck von Heine-Texten - sondern die Zeitung, nach Erscheinungsort, Verbreitungsgebiet und politischer Richtung. Die Vielzahl der Heine-Würdigungen in der deutschsprachigen Presse erst ergibt - natürlich unter Einschluß der Aufsätze in Zeitschriften und Sammelwerken, den Auswahl-Ausgaben von Heine- Werken samt deren Vorworten und den Monographien -, das Heine-Bild in der Öffentlichkeit. Über Zeitungen als Quellen kommt man besser an die privaten Meinungen über Heine heran. Nicht nur für den hier behandelten kurzen Zeitraum, sondern über die gesamten 150 Jahre Nachwirkung entfalten Zeitungsartikel oft klarer, als stärker von der Verfasserindividualität getragene Äußerungen, die Wünsche, die an Schriftsteller, zumal als «Dichter», gestellt werden, besonders wenn diese, wie Heine, eine gewisse national repräsentative Größe erreicht haben. Zeitungsartikel sind auch sehr gute Indikatoren für den jeweiligen politischen Umgang mit dem Autor und seinen Werken in Parteien und Vereinen. Da die Landes- und Stadtbibliothek Düsseldorf schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts einen Zeitungsausschnittdienst («Literarisches Bureau Clemens Freyer», später «ARGUS Nachrichten-Bureau») beauftragt hatte, Heine- Artikel zu sammeln, gibt es im Heine-Institut Massen von Zeitungsartikeln, auch für die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings klafft eine Lücke zwischen März 1934 und Ende 1945, und die Sammlung für 1946 und 1947 ist offenbar unvollständig. 11 Aber selbst das vorhandene Material für die Jahre 1946 und 1947 ist umfangreich. 12 Die von Haß getragene Verunglimpfung Heines durch nationalsozialistische Journalisten und Schriftsteller und die Verdrängung Heines durch die offizielle deutsche Kulturpolitik 1933-1945, aber auch die herausragende Rolle Heines als Identitätsfigur vieler Exildeutscher bilden den Hintergrund für die 62 Rüdiger Scholz Heine-Publizistik nach Ende des Krieges. Hinzu kommt die sich schon abzeichnende Spaltung Deutschlands mit unterschiedlichen Heine-Wertungen in den beiden Teilstaaten. Die Heine-Präsenz in der deutschen Presse ist beachtlich groß. Zu den vielen Gedenkartikeln im Februar 1946 und vor allem im Dezember 1947 kommen die Meldungen von neuen Heine-Ausgaben, Heine-Feiern, Heine- Denkmälern und zu weiteren Anlässen. Als z.B. im August 1947 Ferdinand Maßmanns 150. Geburtstag ansteht, ist dies Anlaß, über Heines Spott gegen ihn zu reden (Volkswille, 22.8.1947). Die letzten Nachkommen Heinrich Heines werden aufgespürt und darüber wird berichtet (Badische Zeitung, 23.9.1947). Aus Alfred Meißners Geschichte meines Lebens wird 1947 die Begegnung Meißners mit Heine als 87seitiges Buch veröffentlicht. 13 In der Presse der Nachkriegszeit fällt die Würdigung Heines fast uneingeschränkt positiv aus; es gibt kaum Einwände. Die saarländische SPD, die CDU, Die Welt und Ferdinand Lion sind die Ausnahmen. Der Gegensatz zwischen Ost und West ist noch nicht so festgefahren wie 1956. Walther Vontin, Mitglied des Vorstands der Hamburger Heine-Gesellschaft, hält in Hamburg und Düsseldorf Festreden; seine Heine-Biographie - die erste deutsche nach 1945 - erscheint dagegen 1949 im ostzonalen Aufbau-Verlag Berlin. So unterschiedlich das Bild Heines auch erscheint: Die Rückbesinnung auf die Schmähung und Unterdrückung Heines im nationalsozialistischen Regime ist die große Gemeinsamkeit aller, die über Heine schreiben. Die Verdammung des Nationalsozialismus eint die Publizisten aller vier deutschen Besatzungszonen, wie Ernst Reich 1947 in der Dresdner Zeit im Bild formuliert hat: Heinrich Heine ist 1945 aus seinem zweiten Exil, aus der Vertreibung durch eine barbarische Kulturfeindlichkeit wieder nach Deutschland zurückgekehrt, und er lehrt uns von neuem, daß das Wort, der Geist, die Dichtung Dienst am Menschen und an der Zukunft der Menschheit sind. (Ernst Reich. «Heinrich Heine als revolutionärer Dichter. Zum 150. Geburtstag am 13. Dezember 1947.» Zeit im Bild, Dresden, 2. Jg., 10. und 12. Dezember 1947, hier 12. Dezember, Schlußsatz.) So auch in der redaktionellen Einleitung in den Hessischen Nachrichten zum Gedenken von Heines 90. Todestag 1946: Es ist wohl ein einmaliger Vorgang, daß ein Volk gezwungen wird, einen Dichter, dessen Werke zu seinem «eisernen Bestand» gehören, von dem manche Gedichte sogar zu Volksliedern wurden, aus seiner Ehrenhalle, ja aus seinem Gedächtnis zu entfernen. Es ist schlimm, wenn Lebende der Propaganda zum Opfer fallen - aber noch schlimmer ist es, wenn einer, der schon lange tot ist, nicht mehr öffentlich genannt werden darf. Und warum? Weil er jüdischer Abstammung war und weil er Deutschland, das er wahrscheinlich mehr geliebt hat als die meisten Nazis, nicht Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 63 geschmeichelt hat, sondern die Deutschen durch Spott und Kritik aufrütteln und aus ihrem Winterschlaf wecken wollte. Am 17. Februar 1856, vor 90 Jahren, ist er gestorben - wann wird er sein einziges Denkmal in Deutschland wiedererhalten, wann werden wir ihm neue bauen? («Heinrich Heine zum Gedenken.» Hessische Nachrichten, 16. Februar 1946.) Eine beachtliche Würdigung wurde Heine 1946 zuteil: In Bremen wird die Hohenzollernstraße in Heinrich-Heine-Straße umbenannt - ein wohl einmaliger Vorgang gegen das preußische Herrschergeschlecht und für dessen Kritiker Heine. Viele Zeitungen leiten ihre Artikel und Heine-Textauszüge ein mit Heines Rolle in der Nazi-Zeit, z.B. der Schweinfurther Volkswille am 12. Dezember 1947: «Heinrich Heine war nicht nur in den vergangenen zwölf Jahren Gegenstand heftiger literarischer Fehden.» 14 Das Westdeutsche Tageblatt am 13. Dezember 1947: «Des zwölf Jahre Geächteten aus diesem Anlaß [150. Geburtstag] zu gedenken, ist besonders ehrenvolle Chronistenpflicht.» Otto Flakes Heine-Aufsatz beginnt: «Das Exil ist beendet, der Verbannte kehrt zurück.» 15 Zu diesem einigenden Thema: gegen den Nationalsozialismus, gehören auch die drei Artikel von 1946, einer von Friedrich Hirth im Neuen Mainzer Anzeiger, der zweite von Axel Eggebrecht in den Norddeutschen Heften, der dritte von Hans Günther Cwojdrak im Ost-Berliner Start, alle mit demselben Thema: Der vom NS-Regime hoch verehrte Dichter Dietrich Eckart, der am Putsch 1923 teilgenommen hatte, verwundet wurde, an den Folgen der Verwundung starb und so zum Märtyrer des NS-Regimes avancierte, war ein glühender Heine-Verehrer, der 1893 eine Auswahl von Heine-Gedichten mit Biographie veröffentlicht hatte. 16 Die Gedenkartikel in den Zeitungen werden ergänzt durch die Berichte von Veranstaltungen. 1947 gibt es zahlreiche Heine-Feiern. Belegt durch Presseberichte sind Feiern in Düsseldorf, Hamburg, mehrere in Berlin, in Frankfurt, Dortmund (Kulturabteilung der KPD, Kreis Dortmund), Mainz, Heidelberg, Tübingen, in der Nürnberger Volkshochschule; mit Sicherheit in noch mehreren anderen Städten. Zum 90. Todestag Heines am 17. Februar 1946 findet im großen Saal des Hamburger Rathauses eine Gedenkfeier der «Hamburger Kulturschaffenden» statt, bei der Walther Vontin die Festrede hält. Im Verlauf der Feierlichkeiten wird am Haus Esplanade 39, in dem Heine öfter bei seiner Schwester zu Gast gewesen war, eine Plakette mit dem Heine-Relief von dem zerstörten Haus des Heine-Verlegers Campe angebracht. Der klare politische Bezug kennzeichnet die weit überwiegende Mehrzahl der Zeitungsartikel zu den beiden Jubiläen. Die Themen sind durch die histo- 64 Rüdiger Scholz rische Lage nach Ende des Zweiten Weltkrieges und durch Heines Person und Werk vorgegeben. Beim politischen Heine geht es um das Thema Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, mehr um Heine den Europäer als um Heine den Deutschen, um Heine den Demokraten, den Sozialisten und den ambivalenten Kommunisten, den Revolutionär, den Propheten - um seine Vision einer Gesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit. Weniger thematisiert wird Heine der Jude und sein Umgang mit seinem Judentum. Beim Werk geht es natürlich um Heine als bedeutendsten deutschen Lyriker des 19. Jahrhunderts, um sein Verhältnis zur Romantik, um Liebes- und Naturlyrik gegen politische Lyrik, um den eleganten, artistischen Stil seiner Prosa, um seine scharfen Satiren, um Heine den Feuilletonisten. Das auffallendste und wichtigste ist der Ernst, mit dem versucht wird, Heines Person und Werk als eine Einheit zu sehen und den Lyriker nicht von dem politischen Publizisten zu trennen oder gar beide gegeneinander auszuspielen. Das trifft nicht für alle Artikel zu, das Thema Lyriker oder Politiker bleibt, aber das Votum für die Einheit des politischen Publizisten und des Lyrikers ist eindeutig, und es fällt auf, dass der Lyriker eher vom Politiker her gesehen wird als umgekehrt. 17 In Walther Vontins Festrede in Düsseldorf am 14. Dezember 1947 heißt es: Heine «bekennt sich in der Tat zu beidem: zur Poesie und zur Politik. […] Man hat häufig versucht, den Politiker Heine gegen den Dichter auszuspielen - und umgekehrt. In Wahrheit aber gehören beide Elemente zueinander, das poetische und das politische, beide zusammen bestimmen den einmaligen Charakter Heines.» 18 Herbert Roch 1947: Aus seinen Liedern tönen Sehnsucht und Heimweh nicht minder innig, als der Ruf nach Befreiung und revolutionärer Tat stark und anfeuernd aus ihnen aufklingt. Er ist Lyriker und zugleich Journalist; in seinen aus den Bedürfnissen des Tages entstandenen Artikeln, oft von lyrischem Schwung und Überschwang und in seiner Lyrik von journalistischer Frechheit und Keckheit. (Herbert Roch. Deutsche Schriftsteller als Richter ihrer Zeit, Berlin, Weiss: 1947, 70-75, hier 71. Der Artikel auch in Goltschnigg/ Steinecke, II: 455-59.) In der Bielefelder Freien Presse würdigt «ex.» in dem Gedenkartikel am 15. Dez. 1947 Heine als einen «Poeten der zugleich Philosoph und Politiker, Journalist und Beobachter, Träumer und Kämpfer war. […] Man müßte meinen, daß die Resonanz diesmal anhaltender sein dürfte, denn seit jeher standen die demokratischen europäischen Länder in unmittelbarem Verhältnis zum Werk Heines.» Rup Remm im Aschaffenburger Main-Echo unter der Überschrift «Dichter und Prophet» am 12. Dez. 1947: «Aber Heinrich Heine hat ja nicht nur auf der Schalmei geblasen. Die Posaunenstöße seiner revolutionären Lieder brachten einmal die ganze europäische Reaktion in Erregung und Verse von so fortreißender Wucht wie ‹Die schlesischen Weber› Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 65 sind kein zweitesmal geschrieben worden; […] Ist dies ein politisches Lied, so hat Heinrich Heine nicht die Dichtkunst, sondern die Politik als das eigentliche Feld seiner spitzen und glänzenden Feder bezeichnet.» Die Neue Berliner Illustrierte feiert Heine als «unsterblichen Sänger von Liebe und Freiheit» und druckt sein Gedicht enfant perdu ab: «Verlorner Posten in dem Freiheitskriege, Hielt ich seit dreißig Jahren treulich aus.» (2. Dezemberheft 1947) Bei Axel Eggebrecht, der am 13. Dezember 1947 den Festvortrag in der Hamburger Heinrich Heine-Gesellschaft hält, dominiert der politische Dichter. Die Lübecker Nachrichten am 16. Dez. 1947: Eggebrecht habe gesagt: «Als europäischer Geist und deutscher Dichter, der als erster die deutsche Sprache in den Dienst der Gesellschaftskritik gestellt habe, sei Heine auch heute ein kämpferisches Vorbild.» Das Badener Tagblatt schreibt in einem kurzen Artikel, hervorgehoben durch Majuskeln, durch zwei dicke Striche und zwei Spalten übergreifend, am 12. Dezember 1947: «Er war ein faszinierendes geniales Irrlicht, das sich oft zu einer solchen Leuchtkraft entflammte, dass von ihr die ganze politische Situation Deutschlands bis in unsere Tage in eine unbestechliche Klarheit gesetzt wurde.» In den Karlsruher Badischen Neuesten Nachrichten titelt der Verfasser Dr. Hans Rempel am 13. Dezember 1947: «Der Dichter und die Politik». Im Wiesbadener Kurier erscheint am 13.12.1947 der Gedenkartikel unter der Überschrift: «Heinrich Heine als politischer Schriftsteller». Für den Verfasser Wolfgang Drews ist Heine «der politische Publizist», «ein Dichter und ein Revolutionär», er hat sich «zu dem großen politischen Publizisten» entwickelt. «Einstweilen ist uns der Publizist nötiger als der Lyriker und Plauderer. Er steht an der Rampe unserer turbulenten Szene und schaut in die Zukunft.» Die alten Vorwürfe - Atheismus, Blasphemie, Taufe aus egoistischem materiellem Interesse, ließ sich vom Onkel und von der französischen Regierung bezahlen, «Frivolität», Kritik des Nationalismus - tauchen entweder gar nicht auf oder wiegen nicht mehr schwer. Otto Doderer läßt im Wiesbadener Kurier am 13. Dezember 1947 eine solche Aufzählung alter Vorurteile enden mit dem Satz: «- heilig war ihm trotzdem die Unantastbarkeit der individuellen Freiheit.» «Der Bösewicht, als der Heine gemeinhin gilt und als der er erscheinen wollte, ist er gewiß nicht gewesen.» Der Begriff «Rasse» spielt keine Rolle mehr, aber nicht ganz, wie Erich Ruprechts Einleitung zur Ausgabe des Buchs der Lieder beweist. Dass ‹Rasse› als positiver Begriff nicht sofort aus der öffentlichen Diskussion verschwand, zeigt Hans-Erich Fabians Artikel «Rasse und Religion» am 12. Juli 1946 in Der Weg. Zeitschrift für Fragen des Judentums, in dem er fordert, «die Rassentheorie heute als das zu behandeln […], was sie seit je gewesen ist, als ein Phantom.» 66 Rüdiger Scholz Die Themen werden häufig abgehandelt am Faden der Lebensgeschichte, verstärkt wird das unendliche Leid von Heines acht Jahren Matratzengruft beschworen - Leid als Person, als Jude, als emigrierter Deutscher. Thema ist dabei auch die Art von Heines Künstlertum. Heine wird auch in den Westzonen als Sozialist und als Revolutionär gewürdigt. Noch ist es möglich, dass Seelmann-Eggebert in der - westdeutschen - Rhein-Neckar-Zeitung Heine als «deutschen Sozialisten» im positiven Sinn bezeichnet: Heinrich Heine ist ein deutscher Sozialist, der mit den Entrechteten fühlt und den Unterdrückten ein besseres Leben erkämpfen will. […] Und er ist mit der dichterische Wegbereiter auch der geistigen und sozialen Revolution unserer Tage, die das Werk von 1848 und 1918 vollenden soll. (Seelmann-Eggebert. «Heinrich Heine, der Deutsche. Gedanken zu seinem 90. Todestag.» Rhein-Neckar-Zeitung, 16. Februar 1946: 8) Die Rhein-Neckar-Zeitung steht damit nicht allein da. Auch Unsere Stimme aus Schwenningen im Schwarzwald stellt zum Gedenktag am 13. Dezember 1947 eine Seite zusammen, die den sozialrevolutionären Heine feiert. Sie bringt Auszüge aus dem Wintermärchen, die Passage über die deutsche Revolution aus Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, das Gedicht Weltlauf, Heine und Marx, alles unter der These: «Wie denn wahre Kunst nicht unpolitisch sein kann, weil sie das Leben, den Gegenstand der Politik, zum Vorwurf hat, so lernte er in Paris den jungen Marx kennen.» 19 Unser Tag zitiert am 12. Dezember 1947, neben Versen aus dem Wintermärchen, die Passage über den Kommunismus aus den Geständnissen. Der ungenannte Verfasser: «Deutschland ein Wintermärchen» sollte unsere Hausbibel werden, und wenn uns bei seiner Lektüre die Schamröte ins Gesicht steigt, dann sind wir schon halb gesund, dann werden wir schnell den zweiten Schritt tun, wir werden anpacken, wo es nottut. Wir werden aus «Deutschland ein Wintermärchen» mit unseren «fleißigen Händen» ein Deutschland der Freiheit machen und werden die Ernte einer demokratischen Erneuerung hereinholen. Damit werden wir Heines großes Vermächtnis erfüllt haben. Ähnlich auch das deutschsprachige Ausland. K. Bielig nennt Heine in der Wiener Volksstimme einen «Revolutionär». 20 Einen scharfen politischen Artikel schreibt der Schweizer Peter Rot in der Berner Tagwacht vom 12. Dezember 1947 unter der Überschrift: «Heinrich Heine und die Radfahrer». Rot zitiert die Stelle aus Heines Geständnissen, dass den Kommunisten die Zukunft gehört, und setzt fort: «Mögen sie nur weiterlügen, daß es nie ein Dachau gegeben, daß Heinrich Heine, die Juden und die Radfahrer: also die Sozialisten, alles Unheil verschuldet haben.» Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 67 Die Würdigung Heines als Politiker und Revolutionär kann auch darin bestehen, dass etwa die Bad-Kreuznacher Rheinisch-Pfälzische Rundschau am 15. Dezember 1947 oder das Oberndorfer Schwabenecho. Organ der demokratischen Volkspartei am 12. Dezember 1947, Heines Vision einer deutschen Revolution aus Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland abdrucken. 21 Oder wenn Der Rundfunk in der Sowjetischen Besatzungszone Erinnerungen von Marx’ Tochter Jenny an den familiären Umgang zwischen Marx und Heine sendet. Mit dem Blick auf den politischen Publizisten wird Heine mit Voltaire verglichen. Roger Giron hält in der Europäischen Rundschau Heine für einen «glänzenden Geist» und «Nachkommen Voltaires». «Für sein ungezwungenes, spontanes Wesen, das wahrhaft bleibt, selbst bis in seine Widersprüche, für den kühnen Kämpfer für Freiheit und Toleranz. Wie sollte man diesen liebenswerten Menschen nicht lieben? » (1947, Heft 16, 756f.) Als Nachfolger Voltaires sieht ihn auch Roch: Er war wie Voltaire der geborene Todfeind jener Minderheit, die sich auf Grund ihrer Geburt und Herkunft dazu berechtigt glaubte, über die Mehrheit zu herrschen, von deren Fleiß sie existierte. Voltaire war einer der geistigen Väter der Revolution, Heine war einer von den Enkeln, die das Vätererbe verwalteten. Und er hat dieses Erbe nicht vertan, sondern vermehrt. [… Heine war der] Vorkämpfer eines freien, demokratischen Staates, der bis heute noch nicht verwirklicht ist. (Herbert Roch, Deutsche Schriftsteller als Richter ihrer Zeit, Berlin, Weiss 1947, 70-75, hier 71f. Der Artikel auch in Goltschnigg/ Steinecke II: 455-59.) 22 Mit der Nennung Voltaires wird nicht nur das Thema Aussöhnung Frankreich-Deutschland angeschnitten, sondern nach der Zeit der faschistischen Antiaufklärung Heine in die große europäische Aufklärung gestellt. Weitere Belege für die bevorzugte Sicht Heines als Politiker: Die Frankfurter Rundschau druckt unter der Überschrift «Der Geist als Waffe» am 13. Dezember 1947 einen Auszug aus Walther Pollatscheks neuestem Heine-Buch 23 als Gedenkartikel ab, in dem beklagt wird, «daß wir bis heute keine Biographie besitzen, die ihn als Politiker richtig darstellt.» Heine sei gegen «die Diktatur des Besitzbürgertums» gewesen und habe wie Engels den «‹bornierten Gleichheitskommunismus›» verworfen «in der Vorausahnung von Faschismus und Nationalsozialismus.» In derselben Ausgabe erscheint ein Auszug aus der Festrede von Hans Mayer an der Universität Frankfurt, in dem es u.a. heißt: «Verzweifelt suchte dieser Künstler eine Zukunftsvision, die gleichzeitig seinen Durst nach sozialer Gerechtigkeit und sein Künstlertum zu befriedigen vermöchte.» Daneben wird der berühmte Eingang des Wintermärchen abgedruckt, zugleich mit einem Bericht über die Neuenthüllung von Georg Kolbes Heine-Denkmal in der Frankfurter Taunusanlage. 68 Rüdiger Scholz Im Westberliner Tagesspiegel, 13. Dezember 1947, sitzt Heine für Herbert Pfeiffer zwischen sämtlichen Stühlen. Er kann keine andere Heimat haben. […] Keine politische Partei, weder die Demokraten noch die Aristokraten, keine literarische Richtung, weder die Romantiker noch die Jungdeutschen, keine religiöse Konfession, weder die Christen noch die Juden, konnten und können ihn ganz für sich beanspruchen. Er war ein Geist von Universalität. […] Die Kälte seines Geistes, sein Pessimismus, sein Nihilismus wurden immer wieder korrigiert von einem warmen Herzen. Sein Weberlied, noch vor dem Kommunistischen Manifest entstanden, ist die erste packende soziale Anklage in der modernen Dichtung. Die Neue Zeit. Zeitung des schaffenden Volkes an der Saar. Organ der Kommunistischen Partei des Saargebietes meint am 13. Dezember 1947: «Er kämpfte bereits damals für die Herstellung einer Demokratie in Deutschland, um die wir nach 100 Jahren immer noch ringen. Der politische Kämpfer und Demokrat Heinrich Heine sollte in ähnlicher Weise wie der Lyriker zum Gemeinbesitz des deutschen Volkes werden.» Selbst Konservativere wie Emil Belzner, der in einem zweiten Artikel der Rhein-Neckarzeitung auf derselben Seite am 16. Februar 1946 unter dem Titel «Zeitgenosse Heine» den «ewigen Kampf um den Geist» beschwört, sagt: «Die Welt wird nie so vollkommen werden, daß der Kampf, den er geführt hat, nicht weitergeführt werden müßte.» 24 Natürlich gibt es im Konzert des enthusiastischen Lobes auch, vorsichtig, ablehnende Töne. In die nur laue Würdigung der SPD mischt sich leise Kritik. «Nach den Jahren der Stille und Verpönung, die auch über dem Namen Heinrich Heines gelegen haben, erinnern wir uns heute anläßlich seines 150. Geburtstages (13. Dezember) wie mit neuem Stolz an diesen großen deutschen Lyriker und spöttischen Kritiker seines Jahrhundersts.» (Das Volk. Organ der Sozialdemokratischen Partei Badens, Freiburg, 13. Dezember 1947). Dieses formelhafte Lob ist für eine Partei wie die SPD sehr wenig, zu wenig. Vorbehalte gegen Heine hat auch die Volksstimme. Organ der sozialdemokratischen Partei fuer das Saargebiet, die verspätet am 17. Dezember 1947 unter dem Titel «Gespräch über Freiheit» eine Passage aus den Englischen Fragmenten abdruckt mit folgender Einleitung: «Journalist oder Dichter […] ist eine entscheidende Frage, ob man mehr den flüssigen Prosastil, die politische Anpassungs- und Auffassungsgabe, das Reagieren auf Zeitströmungen und das Finden leicht einprägsamer politischer Leitsätze preisen soll oder die klingenden Verse, deren Musikalität die Komponisten seit Schumanns Tagen immer wieder begeistern.» Ein weiteres Beispiel für Heine-Kritik: Die Rheinische Zeitung druckt am 13. Dezember 1947 das Gedicht Frau Venus und eine Passage aus der Romantischen Schule - «Der politische Zustand Deutsch- Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 69 lands» - als Beispiele für den nicht «überlebten Teil» von Heines Werk ab mit der Einleitung: Daß er dann durch die sture Borniertheit des Nationalsozialismus doch noch zu dem echten Märtyrertum gelangte, das er sich zu Lebzeiten wie einen zu weiten Mantel umzulegen liebte, ist der geschichtlichen Ironie zweiter und weniger reizender Teil. - Inzwischen sind seine dichterischen und menschlichen Schwächen so offenbar geworden, daß es darüber keiner Worte mehr bedarf. Überlebt ist deshalb ein großer Teil seines Werks keineswegs. Und auch die CDU hat Einwände. In Der Westen. Organ der Christlich-Demokratischen Union kann Dr. J. Kohl am 12. Dezember 1947 unter dem Titel «Das Lied von der Lorelei» nur den Lyriker Heine loben: «Zu den meist umstrittenen Persönlichkeiten der deutschen Dichtung gehört Heinrich Heine. Nicht oft hat sich auf ein Haupt so viel Verstand, Witz, Phantasie, künstlerische Empfindung und Gestaltungskraft vereinigt; selten aber hat uns auch ein entschieden großer Dichter so sehr durch Verleugnung eigner Würde und Selbstverachtung verletzt wie er.» Im September 1947 kommt es zu einem kleinen Eklat, als Dr. Paul Kauhausen (1898-1957), der Leiter des Düsseldorfer Stadtarchivs, für das er seit 1939 tätig ist, zur Enthüllung der neuen Heine-Plakette an dessen Geburtshaus in der Bolkerstraße in Düsseldorf - die alte wurde 1934 von den Nazis entfernt - Heine würdigt und sagt, es sollten «die dunklen Vorgänge, die des Dichters Leben beflecken, einmal vergeben und vergessen sein.» Das zitiert - kritiklos - die Rheinische Post. Die Düsseldorfer Zeitung Die Freiheit empört sich darüber in einem Artikel am 26. Sept. 1947 unter der Überschrift «Der große Dichter und der kleine Spießer». Der Verfasser «Stichling» fragt, welche Flecken denn gemeint seien: «Hat Heine etwa nicht immer die Freiheit über alles geliebt? Oder hat er seine Gesinnung kleiner Vorteile wegen verraten? » Und Stichling entlarvt «Herrn Dr. Kauhausen» als Mitglied der NSDAP. 25 Ebenselbe Düsseldorfer Zeitung Rheinische Post kritisiert nur wenige Wochen später am 8.10.1947 die übertriebene, weil im Zeichen der Entnazifierung opportune Verbrüderung mit Heine: «daß sich einige Herren gebärden, als hätten sie seit Jahr und Tag mit Heine an einem Tisch gesessen.» Drei weitere Beispiele für die Würdigung Heines als Gesellschaftskritiker: In der Gießener Freien Presse schreibt Herbert Wolf am 24. Januar 1947: «Nicht verwunderlich ist es, daß gerade die Zeitgedichte des großen Lyrikers und Satirikers heute noch und wieder besonders ansprechen. Die konservativen Besitzenden und die radikalen Habenichtse ironisiert Heine in seinem Zeitgedicht ‹Die Wanderratten›», das dann folgt. In Die Freiheit, Düsseldorf, wirbt L.H. am 12.12.1947 weniger für den «Dichter» als den «Feuilletonisten» Heine: «Wir wünschen uns am 150. Geburtstag des Dichters endlich ein 70 Rüdiger Scholz Heine-Buch, das die literarische, menschliche und politische Erscheinung Heinrich Heine auch denen nahebringt, denen er durch eine abwegige Erziehung bis heute verschlossen war.» Oder Gerhard Schäke in der Mainzer Allgemeinen Zeitung am 12. Dezember 1947: «In den Sauerteig warmer satter Bürgerlichkeit hat er Blitze geschleudert. Mit vorurteilsfreier, liebevoller Ernsthaftigkeit kämpfte er in der trübsten Zeit geistiger Reaktion gegen die Einöde heuchlerischer Gesellschaftsmoral. Seine Schlachtfelder hießen Politik, Patriotismus und Religion. Er hatte viel zu sagen, und was er sagte, war gut und treffend». Es war zu erwarten, dass Heine gebührend als Europäer gewürdigt wird, der für die Aussöhnung mit Frankreich kämpfte. 26 Beispiele für dieses häufige Thema: «Zu denken wäre dabei an seine Rolle als Vorkämpfer jenes deutschfranzösischen Kulturverständnisses, um das wir uns heute wieder einmal innig bemühen, das aber vielleicht nie so umfassend praktisch verkörpert gewesen ist wie im Wirken dieses Juden mit dem manchmal beinahe ingrimmigen deutschen Herzen und dem in Paris geschliffenen Geist.» 27 «Warum zog es ihn im Jahr nach der Julirevolution unwiderstehlich und endgültig nach Paris, wo er für den geistigen Brückenschlag zwischen beiden Nationen mehr gewirkt hat als irgendein Zeitgenosse? » (Wolfgang Schimming. «Dichter und Streiter». Neue Zeit, Stuttgart, 13. Dezember 1947). Heine «hat sich frühzeitig ‹aus dem Sumpf der Nationalselbstsucht hervorwinden können›, bis ihn das Leben und sein Schicksal zum guten Europäer machte, und gleich zu einem, der für Europa stritt und litt, und der, obwohl er das Wort ‹europamüde› geprägt hat, europagläubig geblieben ist.» (Felix Stössinger. «Heinrich Heine zum 150. Geburtstag» Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 300, 13., 15. und 16. Dez. 1947.) 28 -«Für die deutsch-französische Verständigung hat dieser Rheinländer mehr getan, als man gemeinhin annimmt.» (Karl Kühne, «Die Spottdrossel der Romantik. Heinrich Heine als Lyriker und Verständigungspolitiker.» Der Schlüssel, Frankfurt, 1. 1947, 16. Folge, 14. Dezember). Nach Kühne hat «der Politiker Heine [..] einen dämonischen Einfuß ausgeübt». Natürlich fehlt nicht die Verbindung zu Deutschland als Geburtsland Heines. «Heine ist trotz seines Europäertums nie entwurzelter Weltmann und noch weniger, wie Marx, internationaler Sozialist geworden. […] Heine ist ein Deutscher von Jahrhundertbedeutung.» (Ulrich E. Böhm. «Ueber Heinrich Heine.» Schwäbisches Tagblatt, Tübingen, 12. Dezember 1947) Obwohl das Wort Jude häufiger vorkommt, wird Heines Judentum selten thematisiert. Hannah Arendts Heine-Würdigung erscheint erst 1948. 29 Es sieht so aus, als ob deutsche Journalisten dieses heikle Thema eher meiden. Es scheint mir nicht zufällig zu sein, dass ein Schweizer Blatt, die Neue Zürcher Zeitung, sich damit auseinandersetzt. Felix Stössinger geht in seinem längeren Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 71 Beitrag, der in drei Teilen abgedruckt wird, im Dezember 1947 auf die Belastung dieses Themas ein: Man muß Heine in seiner Ganzheit erfassen, und erst nachher kann die Diskussion um den Wert seiner Lyrik und seiner Prosa zu Resultaten kommen, die Bestand haben. Aber wie wäre das möglich, so lange man feindlich oder ängstlich an seinem Judentum vorüberginge? Eine eng- und dummdeutsche Gesinnung nahm daran Anstoß, daß Heine als Jude nicht ihren Deutschbegriffen Genüge tat; als ob nicht die Abweichung ein Wert sein könnte. Aber auch Angstjuden wurden Heine nicht gerecht; sie litten wie an einem Makel, daß andere «deutscherer», «deutschester» und «deutscherester» sein könnten als Heine - um dieses schon angebrochene Rückert-Zitat fortzusetzen. (Felix Stössinger, «Heinrich Heine zum 150. Geburtstag (13. Dezember)». Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe, Nr., 300, 13., 15. und 16. Dezember 1947, hier 13. Dezember) Auch der Schweizer Literarhistoriker Fritz Strich geht in seinem Festvortrag zum 150. Geburtstag Heines in der «Jüdischen Vereinigung Zürich» auf den Juden Heine ein: Alle Widersprüche, die man so falsch als Heines Charakterlosigkeit brandmarken möchte, ergeben sich aus dieser tragischen Dissonanz in ihm, die in seinem Janusgesicht Goethe gegenüber nur nach außen in Erscheinung tritt, und die in Wahrheit noch mehr ist als dies, nämlich das tragische Geheimnis europäischen Judentums. Heines Zwiespalt [ist] als Symptom des jüdischen Europäers oder des europäischen Juden [zu deuten], der tragischen Situation eines jüdischen Dichters, dessen Gestalt von europäischem Geist geformt war. Wenn irgendein Dichter und Schriftsteller so hat Heine das europäische Leben durch sein Wort, ob in Poesie oder Prosa, revolutioniert. Er war eine europäische Großmacht, die im Kampf um die Verwirklichung der Menschenrechte, um die Vernichtung alter Vorurteile und Dogmen, um die Emanzipation nicht nur der Juden, sondern aller von Tyrannei bedrückten Rassen, Völker und Klassen führend war. Heines Poesie und Prosa stellt das aktivistischste Künstlertum dar, das es je gegeben hat. 30 Detmar Heinrich Sarnetzki, der Heine als deutschen Patrioten zeigt, leitet seine Würdigung ein mit einer langen Passage über die Ausgrenzung jüdischer Schriftsteller durch das NS-Regime: In der ganzen Aktion gegen das jüdische Schrifttum war die Unterdrückung oder, um im Jargon des Nationalsozialismus zu reden, die Ausmerzung Heines eine der absonderlichsten und sinnlosesten Handlungen. («Heinrich Heines Wiederkehr.» Die Rheinpfalz, Ludwigshafen, 13. Dez. 1947; dass. in Kölnische Rundschau, 12.12.1947, 5 ). Die in Berlin 1946 gegründete Wochenzeitschrift Der Weg. Zeitschrift für Fragen des Judentums würdigt Heine 1947 «als Dichter und Juden», und auch 72 Rüdiger Scholz der Gedenkartikel 1947 über Heines Mutter betont Heines jüdische Herkunft. 31 Auch Die Welt, die Heine als Vermittler zwischen Deutschland und Frankreich preist, ihn als Antikommunisten reklamiert, sich um eine «neue Erklärung seiner faszinierenden Menschlichkeit» bemüht, «die voller Flecken ist, die Schlacken hat», «Gedichte von zwittrigstem Reiz» «ohne Beispiel» «in unserer Literatur» findet, die Heine als Kämpfer lobt, «solange dabei die Manschetten nicht zerknittert werden» und ihm bei einem Dutzend Gedichten eine «Lyrik reinster und sauberster Empfindung» bescheinigt - Die Welt will Heine als Juden würdigen: Heute geschieht die «Ehrenrettung». Sie vollzieht sich in Heine-Gesellschaften und wird sich großtun in unzähligen Artikeln zu seinem 150. Geburtstag -, indem die Festredner die Tatsache seiner Judenschaft entweder unter den Geburtstagstisch fallen lassen oder sich schlechten Gewissens für die Erwähnung einer ‹Belanglosigkeit› entschuldigen. Daß Heine Jude war […], das ist nicht einen Deut weniger wichtig, wie daß er Düsseldorfer war, ohne ganz Deutscher zu sein […] und in seinen Mannesjahren Pariser, ohne Franzose zu werden […]! (Kurt W. Marek. «Heinrich Heine und die Leser von heute.» Die Welt, 13. Dez. 1947, 4.) Was das Jüdische an Heine ist, sagt der Verfasser Marek dann aber nicht. Zugreifender ist da Erich Ruprecht, der spätere Literaturprofessor in Freiburg, der in seiner «Einführung» zur Ausgabe des Buchs der Lieder 1946 Heine als Deutschen reklamiert, aber in bedenklicher Weise am Rassenbegriff festhält: Diese Geltung schließt nicht aus, macht vielmehr ein wenig verständlich, daß Heine in Deutschland selbst nicht in gleichem Maße ausgezeichnet, sondern im Gegenteil sogar immer wieder als nicht im eigentlichen und reinen Sinne deutsch abgewertet wurde. So konnte es schließlich geschehen, dass er seiner Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse wegen auf viele Jahre ganz aus der Reihe der deutschen Dichter gestrichen wurde […] Dieser schmerzliche Ruf echter Liebe [im Gedicht: Denk ich an Deutschland in der Nacht] eines Menschen, der in seinem weltweiten Deutschtum die Grenzen der Rasse gesprengt hat […] Heine ist zweifellos ein deutscher Dichter von einmaliger Bedeutung. (Erich Ruprecht. «Einführung.» Heinrich Heine, Buch der Lieder. Lahr: 1946, 7) Ähnlich wertet Rudolf Pechel 1946 Heine erst als Juden im Sinne der Religionszugehörigkeit, sagt dann aber fast im Stil des NS-Vokabulars: «Die Tragik ergibt sich aus einem letzten Fremdsein bei aller kulturellen und gefühlsmäßigen Verwurzelung im deutschen Volkstum, die immer wieder im Gefühl des Juden durch einen ahasverischen Zug in Frage gestellt wird.» 32 Erich Lichtenstein erörtert 1947 nur Heines Distanz zum Judentum seiner Zeit und Heines angebliche späte religiöse Rückkehr zum Gott der Juden. 33 Oft bleibt es bei Formeln wie im Westdeutschen Tageblatt am 13. Dezember 1947: «Er war ein Gläubiger und eine Lästerer, ein Jude und ein Christ, Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 73 ein guter und ein böser Mensch.» In Die Zeit am 11.12.1947 nennt Herbert Fritsche Heines Dichtungen mit dem Thema Judentum mit dem Ziel, Heines Rückkehr zum christlichen Vatergott, «zur großen Heimkehr in den Abgrund der Liebe» zu würdigen. Und die Sowjetische Besatzungszone? Der Unterschied zu den drei Westzonen ist noch nicht groß. Es gibt wie dort sowohl inhaltlich bürgerliche wie entschieden sozialistische Beiträge. Heine wird als Europäer, Deutscher, Vermittler zischen Frankreich und Deutschland, Revolutionär und Evolutionär, als Sozialist und Antikommunist, als Kämpfer und Prophet, Liebeslyriker und Stilist gewürdigt. Auffällig ist allein die häufigere Verwendung des Wortes «Volk» im Sinne von Proletariat. 34 Dr. Herman Friedemann würdigt in Der Morgen am 7.12.1947 Heine als Deutschen, als Europäer, als Demokraten, als Aristokraten, alles einmündend in den Satz: «Er war ein Künstler.» In der auch in Westdeutschland erscheinenden Berliner Zeitschrift Denkendes Volk schreibt Georg Gustav Wieszner über den «Volksbildner Heine» und dessen ambivalentes Verhältnis zu Revolution und zum Volk: «Kritische Diskussion setzt Heine leidenschaftlicher Revolte, unbedachtem Umsturz entgegen und will so Evolution verbürgen, denn er glaubt an das Volk - vor dem er sich insgeheim fürchtet.» 35 In derselben Zeitschrift berichtet Wilhelm Matull von einer Diskussion über Heine in einer Arbeitsgemeinschaft der Volkshochschule. «Auch ein sozialistischer Hörer hatte bei aller Anerkennung der positiven Leistungen des Dichters für den Werdeprozeß der Arbeiterbewegung doch an ihm auszusetzen, daß er auf seinem politischen Lebenswege oft geirrt und geschwankt hätte.» Dagegen der Kursleiter: Heine «habe dazu beigetragen, Grenzpfähle des Vorurteils umzureißen und eine europäische Kulturgemeinschaft vorbereiten zu helfen.» 36 Die neu gegründete Schweriner Zeitschrift Heute und Morgen widmet Heine zwanzig Seiten. Ein Auszug aus Walther Victors kleinem Roman Die letzten sechs Nächte des Heinrich Heine, 1936 in der Schweiz zuerst erschienen und als 64seitige Schrift in Hamburg 1947 erneut veröffentlicht, wird unter der Überschrift «Heines politische Problematik» eingeleitet mit einem Vorspann, der beginnt: «Heinrich Heine ist nicht nur als Lyriker zu Weltruf gelangt. Seine politischen Gedichte, seine Satiren auf die Reaktion, seine sozialen Kampfverse haben ihn auch als politischen Dichter bekanntgemacht.» Anschließend wird unter der Überschrift «Der politische Dichter» Heines Gedicht Die Weber abgedruckt, eingeleitet mit einem Zitat von Friedrich Engels: «Heinrich Heine, der größte von allen lebenden deutschen Dichtern, hat sich unseren Reihen angeschlossen und einen Band politischer Gedichte veröffentlicht. Darunter auch einige, die den Sozialismus verkünden.» 37 74 Rüdiger Scholz Im Sonntag, der «Wochenzeitung für Kulturpolitik, Kunst und Unterhaltung», wird am 7. Dezember 1947 «die dritte Nacht» von Walther Victors Erzählung abgedruckt. Walther Victor war der Festredner bei der Heine- Feier im «Kulturbund zur Erneuerung Deutschlands» in Ostberlin, Oberstleutnant Dymschitz bei den Feiern im Theater am Schiffbauerdamm und der Volksbühne im Deutschen Theater. 38 In der Berliner «Öffentlichen Wissenschaftlichen Bibliothek» Unter den Linden gibt es eine Heine-Ausstellung zu dessen europäischer Nachwirkung. Von Walther Victor stammt auch der Gedenkartikel im Neuen Deutschland am 13. Dezember 1947: «Heine war unser…» nämlich der ins Exil Gegangenen - (nicht der Kommunisten! ). Dieselben Themen wie im Westen. In der Berliner Zeitung Der Start. Illustriertes Blatt der jungen Generation sagt Hans Günther Cwojdrak unter der Überschrift «Heinrich Heine und die Heutigen» am 12. Dezember 1947: «Heinrich Heine stand sein Leben lang auf der Seite der Demokratie, auf der Seite des Volkes, im Lager der Zukunft. […] Heine hatte schon früh, als der Sozialismus noch in seinen utopischen Kinderschuhen steckte, die Bedeutung der kommenden Bewegung erkannt.» Und er formuliert als Aufgabe, «den ganzen Heine wiederzuentdecken, ihn auszugraben aus der bürgerlichen Literaturkritik. Dann werden wir ihn als eine Dreiheit begreifen lernen, die in Wirklichkeit eine Einheit ist: als Sänger des Volkes, als Dichter der Freiheit und als Propheten des Fortschritts.» In der Ostberliner Lehrergewerkschaft, dem Mitteilungsblatt des Verbandes Lehrer und Erzieher Groß- Berlin im FDGB, schreibt Prof. Dr. M. Stammer am 5. Dezember 1947: «Das Herz des Dichters schlägt für Deutschland, das Auge des Politikers blickt auf Frankreich, ja darüber hinaus auf Europa. Heine glaubt sich zu einer politischen Mission berufen. Er will der geistige Mittler zwischen Frankreich und Deutschland sein.» «Als 1933 die Flammen des Scheiterhaufens auch sein Werk umzüngeln wollten, hat, im Herzen wohl bewahrt und im Dunkel des Schreibtisches wohl verborgen, die Heineausgabe der Willkür ungeistiger Ketzerei sich zu entziehen vermocht.» 39 In Sie, der Berliner Illustrieren Wochenzeitung, verteidigt Wolfgang Goetz Heine gegen alte Vorurteile wie «schwankender Charakter», unechte Gefühle, kein Patriot, hat sich von der französischen Regierung kaufen lassen, sexuelle Unsittlichkeit. Der Ost-Berliner Vorwärts (jetzt ohne Ausrufezeichen) druckt am 13.12.1947 einen Auszug aus Heines Aufsatz Verschiedenartige Geschichtsauffassung, aber ohne den Schlußsatz, das Zitat von Saint Just: «Le pain est le droit du peuple.» Wolfgang Harich, der bald darauf - 1951 - eine neue Heine-Werkausgabe veranstaltete, schrieb am 13.12.1947 in der Berliner Täglichen Rundschau unter der Überschrift: «Zwischen Romantik und Demokratie. Zu Heinrich Heines 150. Geburtstag»: Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 75 Aber das Größte an Heine ist, daß er dem modernen Intellektuellen, dessen Gefahren, dessen individualistische Vorbehalte und ästhetizistische Neigungen er als ständige Beunruhigung in sich trug, den Weg zur Demokratie, das Bekenntnis zum Sozialismus und die rückhaltlose Bejahung der Revolution noch vorlebte. Die sozialistische Vereinnahmung Heines rief natürlich Kritiker auf den Plan. In der Westberliner Zeitung Der Kurier heißt es am 13. Dezember 1947 unter der Überschrift: «Das Weltkind in der Mitte»: Nachdem 12 Jahre lang sein Name nicht mit Ehren genannt werden durfte, ist jetzt ein anderes Heine-Convenu im Entstehen: man macht aus dem empfindlichen, allezeit auch selbstkritischen Beobachter einen propagandistischen Mitläufer des proletarischen Sozialismus. Wie wenig das zutrifft. Zwiespältig auch Friedrich Hirths Aufsatz über «Heinrich Heine und Karl Marx» in Alfred Döblins «Monatsschrift für Literatur und Kunst» Das goldene Tor 1947, in dem er zwar Heines «kommunistische Tendenzen» nennt, dann aber seine Vereinnahmung Heines für den Antikommunismus von 1933 wiederholt. 40 Aber immerhin sagt er in der Stuttgarter Zeitschrift Neues Europa korrekt: Heine verhehlte nicht, was der Menschheit harre, wenn der Kommunismus zur Macht gelangt sein werde. Ihm graute davor. Aber vor die Wahl zwischen diesem und den deutschen Übernationalisten gestellt, entschied er sich für ersteren. (Friedrich Hirth. «Heinrich Heine und wir. Zum 150. Geburtstage des Dichters 13. Dezember 1947.» Neues Europa, Stuttgart, 2., 1947, Heft 24, 22-24, hier 24.) In der Saarbrücker Zeitung - das Saarland wird damals von Frankreich aus verwaltet - würdigt Hirth Heinrich Heine als Vermittler zwischen Frankreich und Deutschland, der in Paris ständig in der Angst lebte, daß deren [der Übernationalisten] Aufreizungen gegen das französische Nachbarvolk schließlich zum kriegerischen Zusammenstoß führen müßten. Nach den Schrecknissen, die das deutsche Volk durchleben mußte, wird niemand Heine das Zeugnis versagen können, daß er die Zukunft seherischen Auges vorausgeahnt hat. («Heinrich Heine. Zu seinem 150. Geburtstag, 13. Dezember 1947»). Merkwürdig, daß Hirth nur die «Schrecknisse» des deutschen Volkes, nicht aber des französischen nennt. Natürlich finden sich auch eindeutige Ablehnungen. So sagt etwa Ferdinand Lion 1946 in Das goldene Tor, Heine sei nur «ein Politiker wider Willen» gewesen, der Politik «im tiefsten» «fremd». 41 1947 wertet er Heine ab: Dieser neue europäische Narziß ist ein Komödiant, der, um sich über sein Leben zu trösten, fortwährend den Applaus des Publikums braucht; die Politik war für Heine nur eine seiner Bühnen, auf der er sich agieren sieht. (Ferdinand Lion. Romantik als 76 Rüdiger Scholz deutsches Schicksal, Stuttgart-Hamburg, Rowohlt, 1947: «Die Heinesche Freiheit»: 127-39, hier 129.) Weniger scharf Walter A. Berendsohn 1947 in der Zeitschrift Der Bogen: «Trotz aller Regsamkeit in der politischen Arena blieb Heine geistiger Aristokrat. […] er ist kein Politiker und er ist ein Dichter». Aber er sagt auch in Bezug auf Heine: «Wem das Wort als geistige Waffe einmal zum Erlebnis geworden ist, der fühlt immer wieder, daß seine Meisterschaft ihn im besonderen Maße mitverantwortlich macht für das politische Geschehen.» 42 Die Rheinische Post am 10. Oktober 1947: «Wer aber das Bedürfnis hat, sich mit dem Menschen Heine (auch dem ‹Politiker›, der er nie war) auseinanderzusetzen», … (P.V. «Ein offenes Wort zur Ehrung Heines»). Und natürlich gibt es auch Artikel, die den Lyriker Heine hochloben, aber meist mit einem Verweis auf Heine als politischen Publizisten, etwa Ernst Penzold in Fränkischer Tag am 13.12.1947: «Es gibt nur Dichter. Heine gehörte zu ihnen und verdient es, daß man ihn zu seinem 150. Geburtstag feiere, indem man ihn liest und ein paar seiner schönsten Gedichte auswendig lernt.» Dazu druckt aber die Redaktion den Abschnitt über «die sogenannte politische Dichtkunst» und über «Talent und Charakter» aus der Vorrede zum Atta Troll ab. In der Hofer Frankenpost fragt Penzold unter der Überschrift «Dichter und Träumer» am 13.12.1947: «Aber war er nicht selber ein politischer Dichter? » Heines nur als Lyriker gelten lassen nur wenige, etwa Heinz Stolz unter dem Titel «Wandel seiner Gestalt» in der Rheinischen Post am 13. Dezember 1947, der Heine als Schauspieler, «halb Hamlet, halb Posa, die Rolle, in die ihn Ehrgeiz und lauter Applaus jetzt hineingedrängt haben», lächerlich macht. Aber auch hier ist auffällig: das Jahrzehnte lang beliebte Thema, wessen Lyrik die größere Kunst darstelle, Goethes oder Heines, taucht nur einmal auf. Stolz’ Artikel ist zudem in der Rheinischen Post nur einer unter mehreren. Das Hervorheben von Heines Bedeutung als Lyriker bedeutet nicht immer seine Entpolitisierung. Wenn Friedrich Hirth am 12. Dezember 1947 in der Frankfurter Neuen Presse unter der Überschrift «Frankfurt, Heine und das Schicksal» schreibt, dass «die gesamte französische Lyrik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts […] unter dem starken Einfluß des Heineschen Vorbildes» steht und er den französischen Vertreter beim Bundestag über Heines Zuordnung zum «Jungen Deutschland» zitiert, dann wird damit Heines gesellschaftspolitische Bedeutung thematisiert. Gewürdigt wird Heine auch als glänzender Stilist, etwa von Fritz von Woedtke in der Hamburger Allgemeinen Zeitung am 12. Dez. 1947, wenngleich mit abwertenden Untertönen: Heine sei «der erste Artist der deutschen Sprache» (Überschrift), «das Genie des Neurotikers». Mit Nietzsche wird Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 77 Heine als größter Lyriker gepriesen, aber er war «in Wirklichkeit weit mehr ein enfant terrible, ein faszinierter und faszinierender Amokläufer; nein, Amoktänzer denn ein politischer Märtyrer.» Mit weniger Kritik bei Dr. Hermann Friedemann in Der Morgen am 7.12.1947 unter der Überschrift «Der Junggebliebene»: «Vieles hat Heine verspottet; doch wenn es mit etwas ihm Ernst war, so war es der Wille zur Form und die Pflege der deutschen Sprache. Seine Prosa kann bezaubern wie seine Lieder.» «Ein raffinierter Prosastil und eine scharfe Ironie machen ihn zu einem der größten deutschen Feuilletonisten.» Das meinen die Heidelberger Rhein-Neckar-Zeitung am 6. Dezember 1947, die Stuttgarter Zeitung am 13. Dezember 1947 und die Passauer Neue Presse in ihrer Einleitung zu Ernst Penzoldts Gedenkartikel am 12.12.1947. Von einer Verdammung wie bei dem früher viel zitierten Karl Kraus keine Spur. Herbert Roch sieht im Heine-Abschnitt seines Buches Deutsche Schriftsteller als Richter ihrer Zeit, in Berlin 1947 erschienen, diesen Stil politisch: Er ist der erste, der sich sämtliche Kunst- und Stilmittel des Zeitalters der beginnenden Industrialisierung, der verklingenden Posthornromantik, all seine sozialen und revolutionären Spannungen sowie die idyllischen Überbleibsel aus vergangenen Tagen zu eigen macht und sie zu einer neuen Form zusammenfaßt. («Heinrich Heine.» 70-75, hier 71) 43 Gewürdigt wird auch Heines Ironie, die so oft in der Vergangenheit verdammt wurde: «Der Witz Heines ist das geistige Scheidewasser, welches die Auflösung alter Epochen und verlebter zustände bewirkt. In ihm manifestiert sich der Zerfall der deutschen Romantik.» (Stettner, «Heinrich Heine und die romantische Ironie.» Der Volkswille, Schweinfurth, 12.12.1947.) Ähnlich politisch ist Felix Stössingers «Richtigstellung» der Beziehung Richard Wagners zu Heine in der Berliner Neuen Zeitung am 15. Dezember 1947. Wagner habe nicht nur die Geschichte von Fliegenden Holländer von Heine, sondern sich auch dessen bewunderten Sprachstil angeeignet, Heine aber verleugnet, ohne ihn ganz aufgeben zu können - eine «Haßliebe» auf dem Hintergrund von Wagners Antisemitismus. 44 Es gibt auch gänzlich unpolitische Artikel wie den in der Lüneburger Landeszeitung am 12. Dezember 1947 über Heines Aufenthalte in Lüneburg oder den kommentarlosen Abdruck des Textes «Die Stadt Düsseldorf ist sehr schön» 45 in der US-amerikanischen deutschen Gefangenenzeitschrift Der Ruf am 15. Juli 1945 unter der Überschrift «Apfeltörtchen in Düsseldorf». Auch diese Artikel sind eine Art Wiedergutmachung, denn sie rücken Heine ins öffentliche Bewußtsein. Solche Beiträge bilden aber weitaus die Minderheit. Auch bei den unpolitischen Würdigungen wird im Vorspann oft auf Heines Verfemung in der NS-Zeit hingewiesen. Die Nordsee-Zeitung Bremerhaven 78 Rüdiger Scholz druckt z.B. am 12. Dezember 1947 unter der Überschrift «Ein vergessener Dichter» ein Stück aus der Harzreise mit folgenden einleitenden Worten ab: Am 13. Dezember jährt sich zum 150. Male der Geburtstag des großen, während der 12 Jahre des «gelenkten» Geisteslebens verfemten und totgeschwiegenen deutschen Dichters Heinrich Heine. Niemand wußte es wie er, ätzende Ironie und zarte Lyrik, ruhig fließende Prosa und Verse von prickelndem Esprit in einem dichterischen Schaffen von überströmender Fülle zu vereinigen. Die Präsenz Heines in der Presse und im weiteren Sinn Publizistik ist nach dem Krieg auch deswegen so wichtig, weil es so schnell keine neuen Schulbücher und keine neuen Gedichtbände gab und weil die alten Nationalsozialisten öffentlich weiter vertreten waren. Will Vespers Lyrik-Anthologie Die Ernte erschien noch 1946 und 1950 in der unveränderten nationalsozialistischen Fassung, also ohne Heine-Gedichte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in sehr vielen Zeitungsartikeln und anderen Publikationen behauptet, die Nationalsozialisten hätten Heines Gedichte aus den Anthologien und Lesebüchern verbannt, nur das Loreley-Gedicht sei weiter abgedruckt worden, aber mit der Unterschrift: «Verfasser unbekannt» oder «Dichter unbekannt». 46 Diese Behauptung ist eine der wirkungsmächtigsten Legenden in der Literaturgeschichte, Hunderte Male wiederholt, selbst bis in die aktuelle Gegenwart; sie findet sich in der allgemeinen Publizistik noch in den Gedenkartikeln zum 150. Todestag 2006. Im Laufe der sechs Jahrzehnte hat sich die Formulierung «Verfasser unbekannt», die 1946/ 47 noch dominiert, zu «Dichter unbekannt» verändert. Angesichts der ungeheuren Popularität dieser griffigen Legende erledigt sich das Thema nicht durch den - 1998 endgültig erbrachten - Nachweis, daß die Behauptung falsch ist. Emotionalisierte Phantasien verbinden sich mit der Legende: Ein Sieg des Geschmähten über die Nationalsozialisten, des genialen Dichters über die Barbaren, des Ohnmächtigen über die mächtigen Gewalttäter, des Juden über die Judenmörder, Davids über Goliath. Als Metapher steht die Legende für das allgemeine Vergessen des größten deutschen Lyrikers und revolutionären Dichters des 19. Jahrhunderts, für den Untergang der Aufklärung, für die Wirkungslosigkeit von Heines Utopie einer sozial gerechten Gesellschaft. Durch die Verschiebung von «Verfasser unbekannt» zu «Dichter unbekannt» wird die übliche Formulierung unter alten Volksliedern oder auch Märchen in Anthologien beschworen, und es schwingt etwas von der Atmosphäre des Mythischen der unbekannten Dichter von alten Dichtungen mit - einem «Märchen aus uralten Zeiten», wie Heine im Gedicht sagt -, was wie- Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 79 derum Assoziationen zur uralten Geschichte der Vertreibung der Juden und der Figur des ewig umherschweifenden Juden auslösen kann, die Heine ja in der Geschichte des Fliegenden Holländers gestaltet hatte. In einigen Texten verbindet sich die Legende auch mit der Loreley als «Volkslied». Die Legende belebte besonders in der Zeit nach dem 8. Mai 1945 die Heine- Renaissance in Deutschland. Die Genugtuung, daß selbst in der mörderischsten aller Diktaturen Heine nicht ganz ausgemerzt werden konnte, beflügelte Phantasien vom Überleben-Können unter stärkster Lebensbedrohung und von der letztlich geistigen Ohnmacht der Nationalsozialisten. Die Legende wurde zur Klammer aller Heine-Publizisten, und sie hielt den Bezug zur Diffamierung Heines in der NS-Zeit wach. Zur Beurteilung ist ein kurzer Exkurs zur Heine-Rezeption in der NS-Zeit notwendig. Der Erfinder der Legende ist Walter A. Berendsohn. In seinem 1935 im dänischen Exil in Kopenhagen veröffentlichten Buch, Der lebendige Heine im germanischen Norden, Berendsohns erster publizistischer Reaktion auf die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, heißt es gleich im ersten Kapitel: Gegenwärtig herrschen in Deutschland die Anhänger des Rassenwahns. Die Denkmäler Heines werden entfernt, seine Bücher verbrannt und verboten, sein Name in den Bann getan, obwohl man in grober Unwissenheit manchmal seine Verse im Kampf verwendet. Die «Loreley» in seiner Fassung wird weiter abgedruckt und gesungen, aber darunter steht: «Verfasser unbekannt». 47 Diese Passage enthält neben der Legende «Verfasser unbekannt» vier weitere Behauptungen: Heine-Denkmäler wurden entfernt, Heines Bücher seien verbrannt, sie seien verboten und Heines Name mit Tabu belegt worden. Von diesen Behauptungen ist uneingeschränkt richtig das Entfernen von Heine- Denkmälern. Bei den anderen trifft das nicht oder nur eingeschränkt zu. Volker Dahm hat 1979 nachgewiesen, dass Heines Werke bei den Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 nicht den Flammen übergeben wurden, dass bei Liederabenden und im Rundfunk Lieder mit Texten von Heine nicht verboten waren und dass bis zum vollständigen Verbot aller «voll-» und «halbjüdischen» Autoren im April 1940 kein Verbot des Verkaufs von Heines Schriften im gesamten Reichsgebiet bestand; nur in Bayern gab es ein Verbot des Vertriebs durch Leihbüchereien (Dahm, 160-65). Heines Name war auch nicht tabu, wie nationalsozialistische Artikel 1936 und 1937 über Heine zeigen, die gegen Heines offenbar wenig gebrochene Popularität in der Bevölkerung anschreiben. Mit dieser Richtigstellung kommt man in die fatale Lage, das nationalsozialistische Regime wider Willen aufzuwerten. Das wäre angesichts des Ausmaßes der Schmähungen Heines absurd. 48 Bei der Präsenz Heines in 80 Rüdiger Scholz der öffentlichen Diskussion ist nicht zu vergessen das Vokabular des Hasses in NS-Artikeln, das alle Grenzen der Kritik eines toten Dichters überstieg und gegenüber einem toten Schriftsteller einmalig in der deutschen Geschichte ist. Diese Schmähungen spielten sich ja nicht nur unter dem Stichwort «Kultur» im Feuilleton ab. Hitler selbst hatte sich schon vor 1933 mit seiner These von Heine als geheimem Komplizen einer Weltverschwörung an der Verdammung Heines beteiligt, im September 1930 im Völkischen Beobachter. 49 Infolgedessen kann man der Präsenz Heines in der NS-Publizistik nichts Positives abgewinnen - allenfalls, wie Steinecke gesagt hat, dass «es keinen einzigen Versuch gab, ihn - mit welchen Verbiegungen auch immer - in eine Ahnenreihe der Kinder des Dritten Reiches zu rücken». 50 Martin Hollenders Begriff der «Haßliebe» der Nationalsozialisten gegenüber Heine kann man angesichts des brutalen Vokabulars nicht zustimmen; von Liebe keine Spur. Man darf nicht vergessen, dass Antisemiten sich von Heine bedroht sahen, dessen Präsenz in der Öffentlichkeit als Beispiel für die Macht der Juden stand. Es waren Ängste vor dem Verlust der ökonomischen Existenz infolge kapitalistischer Krisen, als deren Urheber vielen die Juden galten; der Hass war existentiell. 51 Mir scheint, dass die Präsenz von Heine-Texten, vor allem auch der Liedtexte, von der Schwäche des nationalsozialistischen Regimes zeugt, und dass letztlich Berendsohn Recht hatte mit seiner Behauptung, die in der Legende von Loreley-Verfasser/ Dichter unbekannt steckt, dass die nationalsozialistischen Barbaren sich nicht trauten, Heines Namen und seine Dichtungen ganz auszulöschen. Ich dokumentiere im Folgenden das Wirken der Legende nach dem 8. Mai 1945 bis zum Gedenktag am 13. Dezember 1947 im Zusammenhang der deutschsprachigen Heine-Publizistik, vor allem der Heine-Presse. In der langsam anlaufenden Publizistik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tritt sofort gehäuft die Formel von «Verfasser unbekannt« auf. Dabei stützen sich nicht alle Autoren auf Berendsohn. Von der Lgenden-Fassung «Dichter unbekannt» gibt es zwei Variationen, diejenige unter der Loreley in Schulbüchern und Gedichtanthologien, die andere auf Programmzetteln von Liederabenden. Und bei der Loreley-Version wiederum werden zwei verschiedene Arten von Quellen angegeben. Auch die These von den verbrannten Heine-Werken findet sich häufig. Z.B. in Horst Lommers Heine-Gedicht «Austreibung des Geistes. 10. Mai 1933» in seiner Gedichtsammlung Das tausendjährige Reich, 1946 im Aufbau-Verlag erschienen, das nach dem Impressum «in den Jahren 1934 bis 1945 in Deutschland geschrieben» wurde. «‹Treu›, so spricht der braune Zwerg [Goebbels],/ ‚dem Parteiprogramme,/ werf ich Heines Lebenswerk/ Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 81 in die braune Flamme» (25). 52 Auch in der Wiener Freien Presse: «Auf den Scheiterhaufen, die im Frühjahr 1933 die Nazis der deutschen Literatur errichteten, die nichts von Terror und Rassenhaß und nichts von Völkerverhetzung und Militarismus wissen wollten, fanden sich besonders zahlreich die Werke Heinrich Heines.» 53 In der Lehrergewerkschaft, dem Mitteilungsblatt des Verbandes Lehrer und Erzieher Groß-Berlin im FDGB am 5. Dezember 1947: «Als 1933 die Flammen des Scheiterhaufens auch sein Werk umzüngeln wollten, hat, im Herzen wohl bewahrt und im Dunkel des Schreibtisches wohl verborgen, die Heineausgabe der Willkür ungeistiger Ketzerei sich zu entziehen vermocht» (573). Berendsohns «verbrannt und verboten» in Bezug auf Heine wurde zum Schlagwort, auch weil Richard Drews und Alfred Kantorowitz, zwei Emigranten, die Formel - in Umstellung beider Begriffe - als Titel ihres Buches über deutsche Literatur im Faschismus wählten und gleich zu Beginn auf Heine verwiesen. 54 Die Herleitung von «Dichter unbekannt» unter Programmtexten zu Liederabenden bringt der mit «-nd» gezeichnete Gedenkartikel «Gebürtig aus Düsseldorf… Heinrich Heines Geburtstag jährt sich am 13. Dezember zum 150. Male» im Münchner Mittag vom 12. Dezember 1947: Ganz war er auch im Dritten Reich nicht unterzubringen. Wenn im Konzert Schuberts «Fischermädchen» oder Schumanns «Grenadiere» gesungen wurden, stand im Programmheft: «Dichter unbekannt». Dass in Programmheften zu Liederabenden mit Liedern nach Heine-Texten Heine als Verfasser tatsächlich nicht genannt wurde, belegt der Artikel im nationalsozialistischen Schwarzen Korps von 1937: «Was will die einsame Träne? » der moniert, dass bei einem Berliner Liederabend 1937 im Programmheft bei Heine-Gedichten der Verfasser fortgelassen wurde. Für die Unterschrift «Dichter unbekannt» gibt es bislang aber keinen Beleg. Ein dritter Beleg stammt aus den USA: Unter der Überschrift «Dichter unbekannt…! » schreibt der deutsche Kriegsgefangene Heinz Ohff aus dem Camp Gruber in Oklahoma in Der Ruf. Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA, in der Ausgabe vom 1. Januar 1946 einen Artikel zu Heines Gedicht Ich hatte einst ein schönes Vaterland. Darin berichtet er, wie ein mutiger Deutschlehrer in der NS-Zeit seinen Schülern Heine nahe gebracht hatte und ihm sogar das obige Heine-Gedicht mit der Feldpost nach Rußland zusandte: «Man denke: er sandte das Gedicht eines Juden einem deutschen Soldaten ins Feld.» Dann heißt es: «Während dieser Jahre stand in einem süddeutschen Lesebuch unter dem Gedicht ‹Leise zieht durch mein Gemüt liebliches Geläute› der seltsame Satz: ‹Dichter seit 1933 unbekannt›.» 55 82 Rüdiger Scholz Während der Faschismuszeit gibt es in der Exil-Publizistik fast keine Belege. Der erste Beleg aus der Nachkriegszeit stammt vom 4. Januar 1946. 56 Die Neue Zeitung, Berlin, veröffentlicht unter der Überschrift «Heinrich Heine, eine Wiedergeburt», Texte von Heine mit einem Vorspann, in dem es heißt: Heinrich Heine (1797-1856), geboren in Düsseldorf, gestorben in Paris, war zwölf Jahre hindurch in Deutschland verboten. Deutsche Truppen schändeten sein Grabmal in Paris. 57 Aber nicht nur im Ausland, wo er neben Goethe als Deutschlands größter Lyriker gilt, lebte er weiter. Am Rhein sang man weiter die «Loreley», Dichtung eines «unbekannten Verfassers». Die deutsche Jugend freilich, die aufwuchs in Dunkelheit, kennt Heine kaum. Die Formulierung setzt die Geschichte als bekannt voraus, und der Bezug ist eindeutig Berendsohn. Otto Flake dagegen bringt die Version «Volkslied». Er sagt in der Einleitung zu einer Auswahl von Heines Werken, die 1947 in Baden-Baden erschien, unter der Überschrift «Heinrich Heine. 1945»: Sogar seine bittersten Feinde haben ihm bescheinigt, daß er sich nicht unterdrücken lässt. Als sie 1933 die Schulbücher reinigten, strichen sie seinen Namen unter der Loreley, diese selbst aber nicht - sie blieb als angebliches Volkslied stehn. Ein größere Verbeugung auszudenken fiele schwer und ein skrupelloseres Verfahren ebenso. 58 Es gibt auch die Verbindung von «Verfassser unbekannt» und «Volkslied». Am 16. Februar 1946 veröffentlicht Hermann Lücke unter der Überschrift «Heinrich Heine und Bremen» im Weserkurier einen Artikel, der mit den Worten beginnt: Heines literarische Bedeutung ist so unbestritten, daß sogar das dritte Reich seine Loreley als Volkslied «eines unbekannten Verfassers» gelten lassen musste. Vier Tage später steht in dem Gedenkartikel «‹Nichts als nur ein Dichter›. Zum Gedenken an Heinrich Heines 90. Todestag» in der Rheinischen Zeitung vom 20. Februar 1946 zu lesen: Dem Dritten Reich blieb es vorbehalten, alle Werke Heinrich Heines zu verbannen und unter seine «Loreley» in den Lesebüchern die Worte «Verfasser unbekannt» zu setzen. Im Gedenkartikel zu Heines 90. Todestag «Unsterblicher Dichter: Heinrich Heine» steht in den Aachener Nachrichten am 15. März 1946: Dem Dritten Reich blieb es vorbehalten, alle Werke des nach Goethe größten deutschen Lyrikers im 19. Jahrhundert zu verbannen und unter seine unsterbliche «Loreley» in den Lesebüchern die treuherzigen Worte «Verfasser unbekannt» zu setzen. Wie weitere Textstellen dieses Artikels zeigen, hat der Redakteur der Aachener Nachrichten den Artikel der Rheinischen Zeitung benutzt. Möglich ist Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 83 auch, dass beiden Artikeln ein Text einer Agentur zugrunde lag, der redaktionell verändert wurde. 59 Im Abstand von mehreren Monaten bringt die Wiener Freie Presse unter der Überschrift «Heinrich Heine. Eine Lese seiner Werke», am 7. September 1946, in einer Rezension zu Herbert Eulenbergs Sammlung von Heine-Texten, die These: Aber, daß ein Jude sich durch ein Volkslied populär machen konnte, durften die Nazis nicht dulden. Darum wurde in allen Liedersammlungen, die das Lied von der Lorelei enthielten, der Name des Verfassers unterschlagen und der Wahrheit zuwider angegeben: V e r f a s s e r u n b e k a n n t ! Im Bericht über eine Heine-Feier mit Herbert Eulenberg in Düsseldorf heißt es: Wie kläglich der Versuch scheitern mußte, Heine aus dem Bewußtsein der Deutschen oder der Welt streichen zu wollen, kennzeichnet allein das Beispiel der Lorelei. 60 Aus diesen Belegen ergibt sich, dass die Geschichte vom «Verfasser unbekannt» sofort zum Kernbestand von Heine-Artikeln in Deutschland wurde und zum Gedenktag des 90. Todestages im Februar 1946 in der Presse ihren ersten Höhepunkt erlebt. Noch heißt es durchgehend «Verfasser», nicht «Dichter». Auffallend ist auch, dass sich in der Presse der Sowjetischen Besatzungszone die Legende seltener findet. Das nächste Gedenkdatum, der 150. Geburtstag im Dezember 1947, zeigt, wie sich das «Verfasser unbekannt» durchgesetzt hat. Ich lasse die Belege ohne Zwischenkommentar folgen: «Ich weiß nicht, was soll es bedeuten…», das in nazistischen Liederbüchern die Unterschrift trug: Verfasser unbekannt… (Peter Theek. Für Dich, Berlin, Dezember 1947) Selbst sein Name sollte vertilgt werden; war ein Lied, wie Heines «ich weiß nicht, was soll es bedeuten», schlechterdings nicht umzubringen, so log man ihm einen «unbekannten Verfasser» an. Ein Toter, um dessentwillen die Haßmühle sich so lächerlich macht, muß ungeheuer lebendig sein. Und eben dies ist Heine. (Hermann Friedemann. «Der Junggebliebene. Zu Heinrich Heines 150. Geburtstag.» Der Morgen, 7.12.1947) Und als dann in den zwölf Jahren der Naziherrschaft nicht nur die Schriften Heines, sondern sogar sein Name in Deutschland verboten waren, als man seine «Loreley», die auch die Nazis nicht aus dem deutschen Volke herauszureißen vermochten, einem «unbekannten» Dichter zuschrieb, da hat […] die sozialistische Sowjet-Union […] sein «Buch der Lieder» […] in Hunderttausenden von Exemplaren herausgegeben und in der Welt verbreitet. (A. Freiberg. «Ein Kämpfer für Freiheit und Demokratie. Zum 150. Geburtstag von Heinrich Heine am 13. Dezember.» Neues Leben, Ludwigshafen, 12. Dezember 1947) 84 Rüdiger Scholz Und das größte Kompliment, das dem Dichter des «Buches der Lieder» je gemacht wurde, erwiesen ihm die Bücherverbrenner des Tausendjährigen Reiches, indem sie die «Loreley» in ihre Schulbücher aufnahmen und schamhaft hinzusetzten: Volkslied, Verfasser unbekannt. (Fritz von Woedtke. «‹Der erste Artist der deutschen Sprache›. Zu Heinrich Heines 150. Geburtstag am 13. Dezember.» Hamburger Allgemeine Zeitung, 12. Dezember 1947) Aber selbst bis in die Liederbücher des Dritten Reiches behauptete sich die volksliedhafte Kraft des Dichters Heine mit seiner «Loreley» («Verfasser unbekannt»). (St-e. «Die Spottdrossel aus Düsseldorf. Zu Heinrich Heines 150. Geburtstag am 13. Dezember.» Hamburger Echo, 12. Dezember 1947) Die junge Generation kennt von ihm kaum den Namen, denn bei den Nazis war er verfemt, so dass die «Loreley», eins seiner schönen Gedichte, das aus dem Liederschatz des Volkes nicht mehr wegzudenken ist, mit dem Zusatz «Von einem unbekannten Dichter» gedruckt werden mußte. (Martin Ketzscher. «‹Denk ich an Deutschland…›», Tribüne. Tageszeitung des freien deutschen Gewerkschaftsbundes, 12. Dezember 1947) Der kleine Reklameminister [Goebbels] äffte gern seinen [Heines] antithetischen Stil mit den ansteigenden Finales nach, aber er duldete ihn nicht mehr unter den deutschen Klassikern und die beflissenen Trabanten versuchten ihm sogar den Ruhm der «Loreley» zu nehmen, die sie nicht entbehren konnten und mit dem Lügenetikett «Altes Volkslied. Dichter unbekannt», in ihren Lesebüchern beließen. (Wolfgang Drews. «Der politische Heine.» Zu guter Stunde. Schwäbische Donauzeitung, Ulm, 13. Dezember 1947: Auch Schwäbische Landeszeitung, Augsburg, 12.12.1947; auch: Südkurier, Konstanz, 12.12.1947. Auch: Württembergisches Zeit- Echo. Haller Nachrichten, Stuttgart, 13. Dezember 1947. Und in Der Sozialdemokrat, 12.12.1947, dort unter dem Titel: «Der Rebell und die Grazien») Es ist umso mehr an der Zeit, als wir Jahre hinter uns haben, in denen Heinrich Heine nicht mehr genannt werden durfte, in denen in den Lesebüchern bei der zum Volkslied gewordenen Loreley stand: Verfasser unbekannt. (Thomas Rainer. «150 Jahre Heinrich Heine. Ein Sprecher Deutschlands.» Unsere Stimme, Schwenningen, 13. Dezember 1947) Die junge Generation kennt von ihm [Heine] kaum den Namen, denn bei den Nazis war er verfemt, so daß die «Loreley», eins seiner schönen Gedichte, das aus dem Liederschatz des Volkes nicht mehr wegzudenken ist, mit dem Zusatz «Von einem unbekannten Dichter» gedruckt werden mußte. (Redaktioneller Vorspann zu: Martin Ketzscher. «‹Denk ich an Deutschland…›» Tribüne. Tageszeitung des deutschen Gewerkschaftsbundes, Berlin, 3., 13. Dezember 1947.) «Dichter unbekannt» war in den Schulbüchern der Nazizeit unter dem Text der «Loreley» zu lesen: man wagte nicht, auf dieses Gedicht zu verzichten, das zu den volkstümlichsten der deutschen Sprache gehört,… (Die Woche im Bild. Illustrierte Beilage der Berliner Zeitung, 14. Dezember 1947) Die lyrische Anmut des Dichters, von dem auch in den vergangenen zwölf Jahren die Lorelei trotz des Vermerkes: Dichter unbekannt, nicht totzuschweigen war. (ex. «Heinrich Heine. Zu seinem 150. Geburtstag.» Freie Presse, Bielefeld, 15. Dezember 1947) Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 85 Trieb man doch das klägliche Vernichtungsspiel gegen ihn soweit, unter sein Lied von der Lorelei, das allzu volkstümlich war, als daß man es in den Liederbüchern hätte unterschlagen können, «Verfasser unbekannt» zu schreiben. (-th. «‹Verfasser unbekannt›. Main-Post, Würzburg, 16. Dezember 1947) Auch Walter Berendsohn meldet sich 1947 wieder zu Wort: Das Denkmal [Heinrich Heine-Denkmal im Hamburger Stadtpark] wurde bald darauf entfernt, und auch sein Name unter dem Lied von der «Loreley», dessen Verfasser nun «unbekannt» war, - schlug man doch sogar vor, zu den Kompositionen Schuberts und anderer deutscher Tondichter neue «arteigene» Texte dichten zu lassen. (Walter A. Berendsohn. «Das Wort als Waffe. Zum Gedenken an Heinrich Heine.» Der Bogen, Wiesbaden, 2., 1947, Nr. 12, 4) 61 Aus der Fülle der hier abgedruckten Belege ergibt sich: Die Legende, 1946 in der Presse etabliert, wird 1947 weiter gesponnen. Das «Verfasser unbekannt» wird variiert zu: «Volkslied, Verfasser unbekannt»; «Von einem unbekannten Dichter»; «Volkslied». Wolfgang Drews verbreitet seine Version: «Altes Volkslied. Dichter unbekannt» gleich in fünf Zeitungen. Es findet sich auch die Verbindung der Legende mit dem Verbot von Heines Schriften und Namen und der Bücherverbrennung. Redakteure nehmen sich das Recht zu redigieren, zu eigenen Formulierungen, auch wenn es sich um ein Zitat handelt, dessen exakter Wortlaut wichtig wäre. Kein einziger Artikel bemüht sich um die Quelle der ersten Behauptung dieser Legende. Interessant auch, dass Walter Berendsohn nach dem Krieg so tut, als handele es sich um eine anderswo belegte Tatsache. Ihm war 1947 offenbar nicht bewußt, dass er selbst der Erfinder der Legende war. 1956, beim nächsten Gedenkdatum, dem 100. Todestag, wiederholt sich das «Verfasser/ Dichter unbekannt» in Zeitungsartikeln und auch anderswo - etwa in Adornos berühmten Rundfunkvortrag und auch gedruckten Essay Die Wunde Heine. 62 Die Legende hat ihren festen Platz in der Heine-Publizistik - bis heute. Dass die Legende so zugkräftig war, so oft wiederholt wurde und immer noch wird, ist verständlich. Besonders in der Nachkriegszeit war diese kleine Geschichte eine Art subversiver Sieg über den Nationalsozialismus, ein Sieg, der die Nazis lächerlich machte, ein Sieg eines Juden über sie, eine symbolische Verbeugung Hitlers vor dem großen jüdischen Dichter, Lust und Balsam für alle, die unter der Nazi-Diktatur gelitten hatten. Wohl auch deshalb machte sich niemand die Mühe, die Behauptung zu überprüfen. In Bezug auf Heine vereinigen sich in der Legende die immer wieder diskutierten Gegensätze von Lyriker und Politiker. Betroffen ist ein erzromantisches Gedicht, ein Märchen über Naturgewalt, sexuelle Verführung und Tod, als Lied in der Vertonung von Silcher zur nationalen Kultur gehörend und zur 86 Rüdiger Scholz Schnulze verbraucht, etwas völlig Unpolitisches, das durch die Verfemung ihres Autors wegen dessen jüdischer Herkunft zum Politikum wird. Die Legende vom «Verfasser/ Dichter unbekannt» erzählt eine Geschichte von der politischen Dimension romantischer Liebeslyrik. Die lange Nachwirkung von Berendsohns Legende ist, politisch gesehen, positiv. Sie hält die Verbindung zu den Ungeheuerlichkeiten des Nazi-Regimes aufrecht. Die endlosen Wiederholungen von «Verfasser/ Dichter unbekannt» unter der Loreley bilden ein einigendes Band aller Heine-Sprecher/ innen, dass Heines Bedeutung für die Gegenwart sich mit ergibt aus dem Versuch der Nationalsozialisten, Heine aus der deutschen Geschichte zu streichen. Verständlich ist der Erfolg dieser Legende auch durch die Bedeutung, die Heine und seine Werke in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts gespielt haben. Die vielen Anfeindungen, die das Bild Heines in allen Epochen der deutschen Geschichte prägen, zeugen zwar vom Gegenteil des Vergessen- Werdens, wie auch der Aufschwung nach 1945 und dann seit 1970, aber die Klage darüber, dass das Bild Heines falsch sei, ist benachbart der Phantasie, der eigentliche Heine sei vergessen. Die Legende vom «Dichter unbekannt» versichert uns zugleich, dass sich das Gute, das Eigentliche, das Wahre in der Literatur- und der allgemeinen Geschichte durchsetzen werde, und in schlimmen Zeiten sogar subversiv. Die Legende wird zum Mythos, zum punktuellen Trost, zur Wunschphantasie, zum Glauben an die historische Gerechtigkeit. Die Heine-Rezeption in den ersten drei Nachkriegsjahren, insbesondere in der Presse, widerlegt die Behauptung, man hätte Heine, zumindest in Westdeutschland, weiterhin nur als Lyriker gelten lassen. Die Gedenkartikel, wie die gesamte Presse über Heine, zeigen, dass Heine als weitsichtiger politischer Publizist gewürdigt wird, mit seinen gesellschaftspolitischen Kritiken und Forderungen im Vordergrund des Interesses steht, in West wie Ost. Für fast drei Jahre erscheinen den Verfassern (es gibt kaum Verfasserinnen) Heines Person als Kämpfer für eine sozialistische Gesellschaft, für Demokratie und Völkerverständigung, und seine Werke als aktuelle politische Literatur, als Prophetie der faschistischen Katastrophe und als Wegweiser zu einer sozial gerechteren Gesellschaft. In der Presse gibt es kaum Ansätze zur Trennung des «Dichters» der Gedichte vom politischen Publizisten. Es ist wohltuend zu lesen, dass in den Artikeln «die Kunst» als eigene Kategorie fast fehlt, der sich 1956 Theodor W. Adorno - wieder - bedienen wird, die sich in der Germanistik der 50er Jahre in der Bundesrepublik zum antikommunistischen Fetisch der erneuten Trennung von Literatur und Politik entwickelt und den Heine-Gegnern die Plattform liefert. Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 87 Diese so positiven Nachkriegsjahre politischer Literaturpublizistik stehen in ihrem Vorbild fast einzig da, nicht nur in der Geschichte der Heine- Wirkung, sondern in der deutschen Geschichte überhaupt. Nach dem Desaster der nationalsozialistischen Herrschaft ist die Gesellschaft und in ihr die politische Öffentlichkeit offen für einen Neuanfang als demokratischer Staat, offen sogar für Formen der Kontrolle über Großbetriebe. Angesichts der Unterstützung des NS-Regimes durch Konzerne der deutschen Industrie gibt es eine ernsthafte Diskussion über eine Form von Sozialismus in ganz Deutschland. Das Ahlener Parteiprogramm der Christlich Demokratischen Union (CDU) von 1947 formuliert sozialistische Vorstellungen in Bezug auf die Wirtschaft. Nicht nur kommunistische Blätter in Westdeutschland, die es bis 1956 noch gibt, sondern auch die bürgerliche Presse diskutiert sozialistische Modelle der Eigentumsverteilung. Aus diesem politischen Klima heraus erklären sich die Würdigung Heines als sozialistischer Gesellschaftskritiker und die geringen Unterschiede zwischen der Heine-Wertung in den vier Besatzungszonen. Heine ist da kein Sonderfall. Die Wertung von Goethes Faust-Figur - um ein weiteres berühmtes Beispiel zu nennen - wendet sich nach dem 8. Mai 1945 von der Glorifizierung als Held des Fortschritts im Kaiserreich und im NS-Regime zur Wertung als Antititan. Die Interpretation des Faust als einer warnenden Gestalt, eines negativen Helden, eines Zerstörers und Mörders, dessen Utopie scheitert, ist der Haupttenor der deutschen Faust-Interpretation nach Kriegsende. Mit dem gesellschaftlichen Wandel im Westen zum strikt prokapitalistischen und vehement antisozialistischen System und der Vertiefung der Spaltung zum sozialistischen System in der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR ändern sich auch die Wertungen von Schriftstellern und ihrer Werke. Die antititanische Faust-Interpretation z.B. behauptet sich nur kurze Zeit; seit 1950 setzt sich die alte Bewertung wieder durch - in West und Ost. 63 Ähnlich bei Heine. Mit dem neu gegründeten westlichen Teilstaat beginnt auch die erneute Heine-Verdammung. Den Anfang der strikten Ablehnung machen nach Ferdinand Lions Beginn 1947, wie oben zitiert, Heinz Politzer in der Neuen Rundschau 1948 und der Rheinische Merkur 1951. 64 Die alten Themen und Ablehnungen kehren wieder, Heines Lyrik, sein Witz und seine Prosa werden kritisiert, Goethe, Eichendorff, Hölderlin, Clemens Brentano und Geibel sind die größeren Künstler, Heines Charakter ist schwankend und korrupt, sein Glaube fraglich, seine deutschen patriotischen Gefühle unsicher. Heine wird zurecht gebogen, er war angeblich vehement gegen den Kommunismus, kämpfte nur gegen die «Philister» seiner Zeit. Dass Heine gesagt hat, den Kommunisten gehöre die Zukunft, macht ihn in den Zeiten des paranoiden Antikommunismus zum Feind. Während Hei- 88 Rüdiger Scholz ne in der DDR als Pro-Kommunist gefeiert wird, ist er im Westen bei einem Teil der Publizisten als Atheist, Pornograph, schlechter Dichter, hohler Journalist und Kommunist verfemt. Unter ihnen sind viele Germanisten: Walther Killy, Gerhard Storz, Emil Ermatinger, Walter Muschg, Emil Staiger, Helmut Prang, Heinz Politzer, Martin Greiner und Gerhard Nebel, auch Theodor W. Adorno. Friedrich Sieburg, Dolf Sternberger, Curt Hohoff und Golo Mann verpacken ihre Ablehnung in ein Pseudolob; Hermann August Korff wandelt sich nur scheinbar vom Heine-Gegner 1923 zum Heine-Befürworter 1953. Der Streit wird so kleinkariert, dass Erich Kästner 1956 in Bezug auf die Heine-Wertung von Deutschland als «motorisiertem Biedermeier» spricht. Obwohl die Ablehnung massiv und wortreich erfolgt, bleibt die westdeutsche Presse bis einschließlich des Jubiläumsjahrs 1956, in dem eine Flut von Würdigungen erscheint, Heine überwiegend gewogen. Danach wird der Kampf um das Heine-Bild in der deutsch-deutschen Öffentlichkeit härter, bis zum offenen Schlagabtausch in der BRD 1972 um die Benennung der Düsseldorfer Universität, der eine neue Situation schafft. Anmerkungen 1 Hermand, Kröger und Heine und die Nachwelt I. und II (im folgenden zitiert unter den Namen der Herausgeber Goldschnigg/ Steinecke) und die dort verzeichnete Literatur. 2 Vor allem durch Dahm. Ferner Kortländer 1998, Peters, Hollender, Goldschnigg/ Steinecke II. 3 Goldschnigg/ Steinecke II: 126f. Laut Vorwort (7) hat Steinecke den darstellenden Teil 1933-1956 geschrieben. - So auch Hermand: man sei «in der ersten Phase der westlichen Heine-Rezeption von 1945 bis etwa 1965 allen historischen oder gar politischen Themen, die eine eigene ideologische Stellungnahme erfordert hätten, peinlichst aus dem Wege gegangen» (119). 4 Peters, Die Wunde Heine. Vgl. das Kapitel «Die Ächtung» 107-17; Zitat 114. 5 Feudel 186. 6 Heine Almanach auf das Jahr 1947 im neu gegründeten Heinrich Heine Verlag in Mengen in Württemberg; bringt «Heinrich Heine. Gedichte, Gedanken und Einfälle», dazu eine Würdigung von Heinrich Mann und einen Artikel über die Mouche. 7 Alle Angaben nach Wilhelm/ Galley. 8 Aber es heißt schon im Hamburger Echo am 12.12.1947: «Neben den seit dem Zusammenbruch zahlreich erschienenen Heine-Auswahlbänden, bei denen tüchtige, geschäftewitternde Verleger zumeist nur den Dichter des ‹Buches der Lieder› kennen, gibt es nur wenige gute Ausgaben.» Dann wird die dreibändige Ausgabe des Aufbau-Verlages gelobt: «Das ist keine von Zuckerbäckern angefertigte Heinebüste, sondern ein klares zeitliches Bildnis.» 9 Auf den Lyrik-Boom zwischen 1856 und 1906 verweisen auch Goltschnigg/ Steinecke I: 45; dabei sind in ihrer Darstellung die unzähligen Heine-Abende und Heine-Matineen noch gar nicht mitgerechnet. Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 89 10 Das gegen Goltschnigg/ Steinecke II: 126. Und gegen Bernig, der die sechs Ausgaben des Buchs der Lieder 1945/ 46 als Ausdruck kleinbürgerlicher spätromantischer Sentimentalität, als «Nostalgie» wertet (106). Das halte ich für ein Fehlurteil. 11 Dazu Hollender 156. Der letzte im Heine-Institut vorhandene Zeitungsartikel mit dem «Argus»-Anhänger stammt vom 17. März 1934. 12 Bernig hat dieses Material offenbar nicht eingesehen, denn nur so sind seine Fehlurteile zu erklären: «Heines 150. Geburtstag 1947 ging in den westlichen Besatzungszonen wie in den östlichen noch einigermaßen unbeachtet vorüber» (107). «In den Jahren 1945-1950 dominiert in den Publikationen der Lyriker Heine den Prosaschriftsteller und Feuilletonisten, wobei eine Differenzierung die Gewichte deutlich in Richtung des Liederbuchs verschiebt» (109). «Die westdeutsche Heine-Rezeption hält sich zumeist fern von der ausschließlich politischen Bedeutung des heineschen Oeuvres» (112). Das Gegenteil ist richtig für die Rezeption bis 1947. - Auch Bernigs überzogene Kritik an der SBZ- und DDR-Heine-Wertung führt zu Fehlurteilen. 13 Meißner, Alfred. Die Matratzengruft. Meissners Besuche bei Heine im Wortlaut. Baden- Baden, Kepler: 1947. 14 Stettner. «Heinrich Heine und die romantische Ironie.» Der Volkswille, Schweinfurth, 12.12.1947. 15 Einleitung zu Heinrich Heine. Gedichte - Prosa - Briefe. Ein Brevier, Baden-Baden, Kepler: 1947. Wieder abgeduckt in O.F., Die Verurteilung des Sokrates, Heidelberg, Schneider: 1970: 274-81; auch in Goltschnigg/ Steinecke II: Nr. 97. 16 Hirth, Friedrich. «Heinrich Heine - Prophet deutschen Schicksals. Dietrich Eckarts Bekenntnis zu Heine.» Neuer Mainzer Anzeiger. 11. Mai 1946: 5. - Eggebrecht, Axel. «Ein seltsamer Heine-Freund.» Norddeutsche Hefte, Hg. Axel Eggebrecht und Peter von Zahn im Auftrage des Nordwestdeutschen Rundfunks, Hamburg 1., 1946, H. 3: 21-23. - Cwojdrak, Hans Günther. «Heinrich Heine und die Heutigen.» Der Start. Illustriertes Blatt der jungen Generation, 12. Dezember 1947. 17 Für diese Einheit von Dichter und politischem Kämpfer ist in der Weimarer Republik insbesondere Heinrich Mann eingetreten, anders als sein Bruder Thomas. Dazu Goltschnigg/ Steinecke II: 39. 18 Vontin, Walther. Heinrich Heine. Festvortrag anläßlich des 150. Geburtstages des Dichters (13.12.1947), gehalten in Düsseldorf, Sonntag, den 14. Dezember 1947: 2 (Das Typoskript der Rede befindet sich im Düsseldorfer Heine-Institut). Goltschnigg/ Steinecke II: 131 übergehen Vontins Rede. «In Düsseldorf war Friedrich Hirth der Festredner.» - Hirth sprach bei einer Feier im Städtischen Theater. Bericht darüber in Allgemeine Zeitung. Ausgabe Mainz. Neuer Mainzer Anzeiger, Nr. 104, 16. Dez. 1947. Zu Vontin und seiner Heine-Biographie von 1949 Goltschnigg/ Steinecke II: 129. 19 Rainer, Thomas. «150 Jahre Heinrich Heine. Ein Sprecher Deutschlands.» Unsere Stimme, Schwenningen, 13. Dezember 1947. 20 Bielig, K. «Von der Tat des Wortes. Zu Heinrich Heines 90. Todestag am 17. Februar.» Volksstimme, Wien: Nr. 41, 16. Februar 1946: 2. 21 Auch in anderen Publikationen geschieht das, etwa bei Rosteutscher, J.H.W. Die Wiederkunft des Dionysos. Der naturmystische Irrationalismus in Deutschland. Bern, Francke: 1947: 43f. 22 Man vergleiche dagegen die Wertung Voltaires bei Salzer 1927, 1183: «so kam in Heine etwas von der zerfressenden Schärfe Voltaires zutage, der mit giftigem Witz das Heilige aus der Menschenseele bannte.» 23 Pollatschek, Walter. Heinrich Heine. Gandernheim i. Odenwald/ Neckargemünd, Die Wende: 1947. Pollatschek ist einer der ganz wenigen, meines Wissens der einzige in der 90 Rüdiger Scholz umfangreichen Heine-Literatur bis heute, der die Passage mit Heines schärfster Kapitalismus-Kritik aus dem Börne-Buch zitiert, Richelieu, Robespierre und Rothschild seien «drei terroristische Namen» (125). 24 Belzner ist der erste Preisträger des vom Schutzverband deutscher Autoren 1948 gestifteten Heine-Preises. 1956 wehrt sich Belzner am 18. Februar in der Rhein-Neckarzeitung vehement dagegen, dass «eine durch und durch restaurative, ja reaktionäre Gegenwart Heinrich Heine gewissermaßen zu ihrem Vorläufer, zu ihrem Propheten machen kann, machen möchte! » 25 Kauhausen hat 1952 und 1955 wieder Gelegenheit, sich von dem «manchmal wirklich getrübten Charakterbild Heinrich Heines» zu distanzieren. 26 Auch auf französischer Seite wurde Heine für die Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland in Anspruch genommen. Die erste Heine-Biographie nach Kriegsende, 1946, stammt von Victor Bernard - 95 Kapitel auf 413 Seiten -, der trotz all dem Leid, das Deutsche den Franzosen angetan haben, seine Biographie über einen Deutschen rechtfertigt mit der Ausnahmeerscheinung Heines bei der Völkerverständigung. Das Vaterland Voltaires dürfe Hitler nicht gewinnen lassen, Heine sei zu rehabilitieren. Henri Heine. Paris: Editions Bernard Grasset, 1946. 27 Münchner Mittag, 12.12.1947: -nd, «Gebürtig aus Düsseldorf … Heinrich Heines Geburtstag jährt sich am 13. Dezember zum 150. Male.» 28 Dass. in: Vision. Deutsche Beiträge zum geistigen Bestand. Eine Zweimonatsschrift. Konstanz: 1, 1947: 426-33. 29 Dazu Steinecke in Goltschnigg/ Steinecke II: 134. 30 Strich, Fritz. «Goethe und Heine. Ein in der Jüdischen Vereinigung Zürich 1947 gehaltener Vortrag zur Feier von Heines 150. Geburtstag», Der Dichter und die Zeit, Bern, Francke: 1947: 185-225, hier 191, 194, 195, 196. Ich kann Steineckes Urteil von Strichs «Entpolitisierung und Harmonisierung Heines» für die Zeit bis 1947 nicht zustimmen; sie trifft erst auf Strichs 1955 als Einleitung zur Heine-Gedichtausgabe in der Büchergilde Gutenberg erschienenen Aufsatz «Heine und die Überwindung der Romantik» zu. Steinecke in Goltschnigg/ Steinecke II: 131. Zwar liebt Strich erkennbar Goethe mehr als Heine und wertet die Lyrik des letzteren ab, aber er sagt auch: «Goethes Weg zu seinem Ziel hieß Bildung, Heines Weg zu dem seinigen aber: Revolution» (199). Das Interesse von Fritz Strich an Heine ist schon durch seine Heine-Ausgabe von 1925 belegt. Zu den 10 Text-Bänden erschien 1930 als Band 11 ein Kommentarband, in dem Strich aus der späteren Sicht Wolfgang Koeppens vor kommenden düsteren Zeiten warnt. Dazu Koeppen, «Bekenntnis.» Geständnisse. Heine im Bewußtsein heutiger Autoren. Hg. Wilhelm Gössmann. Düsseldorf: Droste, 1972. 40f. 31 Hoffmann, Else. «Heinrich Heines Mutter», Der Weg, 2., 12. Dezember 1947: 5. Im April 1946 druckte Der Weg einen Ausschnitt «Aus dem Fragment: Der Rabbi von Bacherach. Heinrich Heine» ab, aber ohne redaktionellen Kommentar: Nr. 7, 12. April 1946. In Nr. 44, 27. Dezember 1946, Heines Gedicht Brich aus in lauten Klagen von 1824. 32 Pechel, Rudolf. «Heinrich Heine.» Aufbau. Kulturpolitische Monatsschrift. 1946: 726f. Pechels Text auch bei Goltschnigg/ Steinecke II: 444-49. Kritik daran übt auch Bernig 108f. 33 Lichtenstein, Erich. «Heinrich Heines Heimkehr.» Aufbau, Berlin: 3. 1947: 424-28, hier 426f. 34 Dazu Reese 279-91. 35 Wieszner, Georg Gustav. «Der Volksbildner Heine.» Denkendes Volk. Berlin, Braunschweig, Hamburg: 1, 1946/ 47: 374-76, hier 376. Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 91 36 Matull, Wilhelm. «Wiedergeburt Heinrich Heines? » Denkendes Volk, Berlin, Braunschweig, Hamburg: 1, 1946/ 47: 371-74, 374. 37 Victor, Walther. «Heines politische Problematik.» Heute und Morgen. Schwerin: 1, 1947/ 48: 494-96. «Der politische Dichter», ebenda: 497. Eine Polit-Satire ist Willi Bredels Darstellung des Schicksals des Hamburger Heine-Denkmals: «Ein Heine-Märchen», ebenda: 499-501. 38 Nachtexpress. Die illustrierte Abendzeitung, Berlin: 12. Dezember 1947. 39 Stammer, Prof. Dr. M. «Heinrich Heine zum Gedächtnis.» Lehrergewerkschaft. Mitteilungsblatt des Verbandes Lehrer und Erzieher Groß-Berlin im FDGB, 5. Dezember 1947: 73f., hier 74 und 73. Für den Schulgebrauch erschien im Pädagogischen Verlag Berthold Schulz die 32seitige Broschüre: Heinrich Heine. Zum 150. Geburtstag 1947. 40 Hirth, Friedrich. «Heinrich Heine und Karl Marx.» Das goldene Tor, Baden-Baden- Lahr, 2., 1947: 1065-79, hier 1071 und 1072f. Dem Beitrag über Heine und Marx stehen gegenüber Hirths zuvor veröffentlichter Aufsatz über die Mouche in derselben Zeitschrift, «Heinrich Heines letzte Liebe»: 408-21, und sein Aufsatz über Heines Beziehung zur Fürstin Belgiojoso, Genius, Rheinische Bilder und Studien, 1.4, Mainz: 1947: 366-90. - Zu Hirths zwiespältiger Haltung siehe Jäger. - Über die Mouche, Elisabeth Krienitz = Camilla Selden, gibt es auch einen Artikel von Detmar Heinrich Sarnetzki in der Kölnischen Rundschau, 16.12.1947. 41 Lion, Ferdinand. «Fragment über Heine.» Das Goldene Tor. Monatsschrift für Literatur und Kunst, Hg. Alfred Döblin, 1, 1946: 108, 110. 42 Berendsohn 1947, 6f. 43 Die latente Abwertung Rochs bei Steinecke wird Rochs politischem Artikel über Heine nicht gerecht. Vgl. Goldschnigg/ Steinecke II: 128. 44 In gekürzter Fassung auch in Stössinger, Felix. «Heinrich Heine zum 150. Geburtstag.» Neue Zürcher Zeitung, Fernausgabe Nr. 300, 13., 15. und 16. Dez. 1947 (letzter Abschnitt). 45 Aus Heinrich Heine. Reisebilder II. «Ideen. Das Buch Le Grand», VI. Kapitel. 46 Heines Gedicht hat keine Überschrift, sondern müßte nach der Anfangszeile Ich weiß nicht was soll es bedeuten zitiert werden. Im Buch der Lieder schreibt Heine im Gedicht den Namen «Lore-Ley», spätere Ausgaben haben auch «Lorelei». Überwiegend eingebürgert hat sich «Loreley». Obwohl nicht ganz korrekt, setze ich den Namen in Kursivschrift: Loreley. 47 Berendsohn 1935, 21. Bernd Kortländer gebührt das Verdienst, die Quelle entdeckt und die Behauptung über die Loreley endgültig widerlegt zu haben - erst 1998! 48 Auch Steinecke wehrt sich dagegen: «Eine auf Fakten beruhende […] Darstellung ‹entschuldigt› das Regime nicht, sondern zeigt, dass die Strategie der ‹Ausrottung› Heines anders [..] geschickter und zynischer angelegt war als bisher weitgehend angenommen.» Heine-Jahrbuch (2008): 175. 49 «Wer hätte geahnt, daß der elegante, in der besten Pariser Gesellschaft angesehene Dichter und elegante Dandy und Lebemann, zu gleicher Zeit geheimer Komplize einer furchtbaren ökonomischen und sozialen Ketzerei war, die hunderte von Jahren alten, talmudischen Spekulationen entsprossen war und dazu bestimmt, durch die Mitarbeit der geschickt mißbrauchten Arbeiter der ganzen Welt, die Weltherrschaft in die Hände einziger geschickt als Befreier der Handarbeiter verkleideten Adepten zu spielen.» Hitler, Adolf. «Jüdische Weltherrschaft auf dem Rücken mißbrauchter Arbeiter. Heinrich Heine als Prophet des jüdischen Weltkönigtums. Wie er Karl Marx unterstützte.» Völkischer Beobachter, 1930, Nr. 229, 26. September, Beiblatt. Zur Erinnerung ein paar 92 Rüdiger Scholz Zitate aus Der Stürmer vor 1933: «für den jüdischen Virtuosen Heine, diesen ausgemachten, notorischen Lumpen. […] Wer von der Lumpenhaftigkeit Heines noch nicht überzeugt ist» (Nr. 41, Okt. 1925). «Heinrich Heine (Bückeburg) war zeitlebens ein Saukerl. […] diesem notorischen jüdischen Lumpen» (Nr. 45, Nov. 1925). «Das Schwein auf dem Montmartre» als fette Überschrift. Im Text: «Heine-Bückeburg war einer der größten jüdischen Schweinekerle» (Nr. 52, Dez. 1925).«Heinrich Heine. Der Knoblauchdichter» als Überschrift. Im Text: «ein dichtendes Schwein» (Nr. 41, Okt. 1926). «einer der größten Gaukler und Gesinnungslumpen aller Zeiten, der Jude Heinrich Heine» (Nr. 11, März 1931). Das setzt sich nach 1933 fort: Heine wird «Äußerlichkeit und Herzensdürre, die unfruchtbare Wortklauberei und die krankhafte Sucht nach Sinnverdrehung, die skrupellose Denkweise und die innere Unfruchtbarkeit, der Schmutz der Gesinnung und die Kunst der Nachahmung» nachgesagt: Pütz, Hans. «Der jüdische Literat Heinrich Heine als Begründer des Literaturmarxismus.» Westdeutscher Beobachter, Köln: Nr. 70, 18. Februar 1934: 22-24; dass. in Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart. München: 1934. Zu Pütz Steinecke Heine-Jahrbuch (2008): 179; dort ist der Titel nicht ganz korrekt zitiert. - «Sudeleien dieses Dichters, […] ein zynisches, freches Jüdlein», «dessen Erdenwallen […] weiter nichts als eine einzige Selbstbesudelung» war: Schneemann, Emil. «Heinrich Heine. Der Schmutzfink im deutschen Dichterwald.» Deutsche Turnzeitung. Amtliche Zeitung der deutschen Turnerschaft, Berlin: 79, 1934, Nr. 47, 6f.: Nr. 48, 6f. Schneemanns Titel wiederholt den Titel des 1893 in Düsseldorf erschienenen Buches von Dr. König. Witten; 1929 druckte der Völkische Beobachter dieses Buch in Fortsetzungen nochmals ab. - Münchhausens berüchtigtes Zitat: «Ich nenne Heinrich Heine einen Schweinehund» von 1936 fällt da gar nicht aus dem Rahmen. Münchhausen, Börries Frhr. v. «Heinrich Heine in deutschen Tönen.» Deutsche Zukunft. Wochenzeitung für Politik. Wirtschaft und Kultur, Berlin, 4., 1936, Nr. 18, 3. Mai, 15f.; Nr. 19, 10. Mai, 14. Wiederholt in Die Auslese, 1936, S. 516-18. «Heines Leben und Heines Dichtung, beide entbehren jeder wahren, tiefen Empfindung. Beide sind letztlich eine unstete Scharlatanerie, eine tägliche Lüge, wandelnde Zersetzung, Verkörperung des Ahasvers.» Fervers, Kurt. «Der Petrarca des Laubhüttenfestes.» Berliner Salons. Die Geschichte einer großen Verschwörung. München: 1940: 151-72, hier 172. 50 Steinecke, Heine-Jahrbuch (2008): 198. In anderer Formulierung: Goltschnigg/ Steinecke II: 110. 51 So heißt es in dem Heine-Artikel von Hans Pütz 1934 im Weltkampf und im Westdeutschen Beobachter: «Eine fremde Rasse, selbst heimat- und wurzellos, da ohne eigenes Land und eigene Sprache, hatte dem deutschen Volke von Internationalität der Kunst wie auch der gesamten Kultur erzählt, nur zu dem einen Zweck, diesem Volks seine Kultur ‹vorzumachen›, d.h. es entwurzeln und selbst ein Schmarotzerleben führen zu können. In diesem Sinne allein müssen und können wir nur Heines Sendung sehen, er war ‹auserwählt›, um unsere Rasse, unser Volk zu vernichten.» Westdeutscher Beobachter Nr. 70. 18. Februar 1934: 23f. - Hollender (165) bringt weitere Belege aus dem Winter 1943/ 44. 52 Zitiert auch bei Goltschnigg/ Steinecke II: 129. Zu Lommer und seinem Gedichtbuch ebenda 179, Anm. 307. 53 Wiener Freie Presse. «Heinrich Heine. Eine Lese seiner Werke.» 7. September 1946. 54 verboten und verbrannt. Deutsche Literatur - 12 Jahre unterdrückt. Berlin/ München, Ullstein: 1947: 6: «‹Schmutz und Schund› - das waren die Werke von […] Voltaire und Heine». Dazu Dahm 160. Zitiert auch von Steinecke, Heine-Jahrbuch (2008): 174f. Heine in der deutschen Presse der Nachkriegszeit 1945-1947 93 55 Ohff, Heinz, «Dichter unbekannt…! » Der Ruf. Zeitung der deutschen Kriegsgefangenen in den USA. Hg. Die deutschen Kriegsgefangenen in den USA, Nr. 20, 1. Januar 1946: 4. - Dieser frühe Gedenkartikel zum 90. Todestag Heines wurde in Auslese, einem Auswahlsammelheft des Ruf, mit minimalen Abweichungen, noch einmal wiederholt (8). - Zu Ohffs Angabe ist zu bemerken, dass die Worte «Dichter seit 1933 unbekannt» nicht in einer NS-Publikation gestanden haben können. Denn die Formulierung kann nur ironisch gemeint sein, als Satire von einem Gegner des Totschweigens Heines, also von einem Anti-Nationalsozialisten. Der Beleg für Ohffs Behauptung hat sich nicht finden lassen. 56 Da offensichtlich das ganze Jahr 1945 über seitens des Heine-Instituts kein Auftrag für einen Zeitungsausschnittsdienst bestand, müßte die Presse der vier Besatzungszonen ab Mai 1945 auf Heine-Artikel geprüft werden. In den Weimarer Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur, heute Klassik Stiftung Weimar, fehlen im Heine-Konvolut, das ich eingesehen habe, ebenfalls Pressebelege für das Jahr 1945. 57 Das Grab Heines, eine der am meisten besuchten europäischen Wallfahrtsstätten durch die Jahrzehnte hindurch, wurde von den Nazis aber nicht eingeebnet. Zur Geschichte des Heine-Grabes Kortländer 2004, 504. 58 Zitiert nach Flake, Otto. Die Deutschen. Aufsätze zur Literatur und Zeitgeschichte. Hamburg, Rütten & Loening: 1963: 31-38, hier 32. Flake, Otto. Heine-Brevier. Baden- Baden, Kepler: 1947. Auch in F., O. Die Verurteilung des Sokrates. Biographische Essays aus sechs Jahrzehnten. Heidelberg, Schneider: 1970; Heine: 274-81, hier 275. Dort steht aber unter der Überschrift: «Heine» die Jahreszahl 1947. 59 Es scheint mir bezeichnend, dass Friedrich Hirth, einer der besten Kenner der Heine- Publizistik, in seinem Artikel «Der tote Heine singt noch immer. Der Dichter der ‹Loreley› und die Nazizensur». Neuer Mainzer Anzeiger, 8. Juni 1946, mehrere Vorgänge von der Unterdrückung Heines im Dritten Reich berichtet, aber nicht die Geschichte mit «Verfasser unbekannt». 60 «Düsseldorf ehrt Heinrich Heine.» Neue Rhein-Zeitung, Düsseldorf: 17. Oktober 1946. 61 Den Versuch, Liedern von Heine-Gedichten neue Texte zu unterlegen, hat es tatsächlich gegeben; siehe Wendt. 62 Zuerst Westdeutscher Rundfunk, Februar 1956, dann Texte und Zeichen, 2. 1956: 291- 95. Danach noch oft abgedruckt. 63 Scholz 73-84. 64 Heinz Politzer, «Heinrich Heine», Die Neue Rundschau 59 (1948): 1-29. - Gert H. Theunissen, «Wesen des Journalismus. Versuch über Görres und Heine», Rheinischer Merkur, 19.10.1951: 7. Dass mit Heinz Politzer ein jüdischer österreichischer Emigrant gegen Heine schrieb, belegt, dass nicht alle Emigranten Heine schätzten. Bibliographie Berendsohn, Walter A. Der lebendige Heine im germanischen Norden. Kopenhagen: Det Schonbergske Forlag, 1935. -. «Das Wort als Waffe. Zum Gedenken an Heinrich Heine.» Der Bogen (2.12.1947 [Wiesbaden]): 4-8. 94 Rüdiger Scholz Bernig, Jörg. «Vergessenheit und Instrumentalisierung. Die deutsche Heine-Rezeption im ersten Nachkriegsjahrzehnt.» Heine-Jahrbuch 43 (2003): 105-23. Dahm, Volker. Das jüdische Buch im Dritten Reich. München: Beck, 2. überarbeitete Auflage 1993. Zuerst: «Das jüdische Buch im Dritten Reich.» Archiv für Geschichte des Buchwesens XX (1979): 1-300. XXII (1981): 301-912. Feudel, Werner. «Positionen und Tendenzen in der Heine-Forschung der BRD.» Streitpunkt Vormärz. Beiträge zur Kritik bürgerlicher und revisionistischer Erbeauffassungen. 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