eJournals Colloquia Germanica 41/2

Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2008
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CHRISTINE ACHINGER: Gespaltene Moderne: Gustav Freytags Soll und Haben. Nation, Geschlecht und Judenbild. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2007. 380 pp. € 48,00.

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2008
Bettina Matthias
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Besprechungen / Reviews 181 the 1990s to the present as «After Reunification» is predictable, 1989/ 90 being a sort of political and cultural Stunde Null, and Mews is correct in seeing it as an admixture of old and new. Mein Jahrhundert was surely mostly about the former, even as Im Krebsgang parsed the intersection of old problems and new beginnings. The controversial Brisanz of past and present surfaced in the memoir (even if the autobiography was about much more than the Waffen-SS revelation). Since then, of course, Die Box (2008), a sequel to the memoir, as well as Grass’s journal of the immediate Wendezeit, Unterwegs von Deutschland nach Deutschland (2009), have been published, each testing the validity of Mews’s chronological categories. Finally, an evaluation of Grass’s other writings - poetry, drama, essays, and of his art - would significantly inform and possibly refute Mews’s categorization. Perhaps my musings are moot, yet they do speak to the implicit agenda of the book as a whole. In taking stock of Grass at the hands of his critics, the novelist is celebrated, to which an ever immodest Grass would likely say - «Es freut mich, daß ich Arbeitgeber bin […].» University of Cincinnati Richard E. Schade C HRISTINE A CHINGER : Gespaltene Moderne: Gustav Freytags Soll und Haben. Nation, Geschlecht und Judenbild. Würzburg: Königshausen und Neumann, 2007. 380 pp. € 48,00. Vor etwa 20 Jahren erstand ich für ganze 10 DM eine Taschenbuch-Ausgabe von Gustav Freytags Roman Soll und Haben, der, so hatte ich in meinem Hauptseminar zum realistischen Roman gehört, zur Standardlektüre des deutschen Lesepublikums gehört hatte, bevor er besonders nach dem Zweiten Weltkrieg seiner antisemitischen und stereotypenhaften Züge wegen eher ins literarische Abseits geriet. Erst im Jahr 2007 gelang es mir, mich Hunderte von Seiten lang mit dem Schicksal des biederen Anton Wohlfahrt zu beschäftigen. Dass die Literaturwissenschaft wie auch der literarische Markt dieses Buch in den letzten Jahrzehnten eher ignoriert hatten, wunderte mich nach Abschluss der Lektüre nicht so sehr. Auf diesem Hintergrund erstaunte es mich nun zunächst, dass Christine Achinger sich in ihrer über 350-seitigen Doktorarbeit Gespaltene Moderne: Gustav Freytags Soll und Haben. Nation, Geschlecht und Judenbild ausschließlich mit diesem Roman befasst. Schnell macht Achinger jedoch klar, dass es sich lohnt, tiefer in diesen Roman einzusteigen, der vom Veröffentlichungsjahr 1855 an bis weit nach dem Ersten Weltkrieg Generationen von bürgerlichen Lesern und Leserinnen faszinierte und ihr Selbstverständnis spiegelte, wenn nicht gar mitprägte: «Eine genaue Lektüre [des Romans, BM] […] ist auch ein Beitrag zum Verständnis der Entwicklung bürgerlichen Denkens, zur Analyse des Zusammenhangs zwischen Erfahrung des Aufstiegs der bürgerlichen Gesellschaft und spezifischen Konzeptionen von Rasse, Geschlecht und Nation und ihrer vielfältigen Vermittlung, sowie zur Geschichte des modernen Antisemitismus. Gerade die illiberalen Züge des Romans eines liberalen Autors vermögen Aufschluß zu geben über einige der grundlegenden Probleme bürgerlichen Denkens selbst» (11). 182 Besprechungen / Reviews Achingers Ansatz ist ambitioniert: Der Titel ihrer Arbeit verrät bereits, dass sie es sich zum Ziel gesetzt hat, das Phänomen «Moderne» (das für sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt und durch Industrialisierung, Kapitalismus und das erstarkende Bürgertum charakterisiert ist und damit nicht den Zeitraum der Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert meint) in all seiner Problematik mit Freytags Roman in Verbindung zu setzen. Dabei diskutiert sie so gut wie alle wesentlichen Themen und Strömungen, die sozial und kulturell (und sogar psychologisch) im 19. Jahrhundert relevant waren, um letztlich auch die Ästhetik des Romans mit den Ergebnissen ihrer vorangehenden Diskussionen abzugleichen. Frauenbild, Geschlechterverhältnis und -diskurs und Männlichkeitsideal können so ebenso diskutiert werden wie der Kolonialdiskurs, koloniale Modelle des 19. Jahrhunderts und das Amerikabild dieser Zeit; der Wunsch der Deutschen nach nationaler Identität und Einheit ebenso wie die Ablösung des alten, feudal gegliederten Gesellschaftsgebildes durch das bürgerlich geprägte. Achingers Diskussion des zum nationalen Grund- und Hauptwert stilisierten Arbeitsethos - dem «Sinn für die Arbeit in der deutschen Weise, […] als moralischer Imperativ statt als Mittel zum Erwerb, als ordnungs- und gemeinschaftsstiftende Aktivität, nicht als Beförderung der eigenen wirtschaftlichen Interessen» (167) - führt logisch zu einer eingehenden Diskussion der Position des Romans dem Kapitalismus gegenüber. Und die notwendige Beschäftigung mit der Frage, ob und inwieweit der Roman dem Antisemitismus des 20. Jahrhunderts Vorschub geleistet oder Modell gestanden hat, schließt eine Betrachtung der politisch Liberalen des 19. Jahrhunderts ein, zu denen auch Freytag gehörte und dessen Positionen Juden und Frauen gegenüber in seinen theoretischen Schriften zwar liberal-progressiv waren, in seinen Roman aus unterschiedlichen Gründen nicht unbedingt eingeflossen sind. Ein Rundumschlag ist es, den Achinger beabsichtigt - und der ihr beeindruckend gelingt. Schon früh in ihren Ausführungen identifiziert sie die Idee der «deutschen Arbeit» als das positive Leitbild, das den Bürger Anton Wohlfahrt auf seinem Entwicklungsweg leitet und das ihn, als Sympathie- und Ideenträger, sowohl von den die «schlechte» Moderne repräsentierenden wuchernden Juden, die den authentischen Bezug zu ihrer Arbeit und deren Produkten verloren haben, als auch von den rückwärtsgewandten Aristokraten, die den Sprung ins 19. Jahrhundert mit seinen Anforderungen an den positiv tätigen, also «deutsch» arbeitenden Menschen nicht vollzogen haben, trennt. Polnische Aufständische wie amerikanische Spekulanten, das wilde «Naturkind» Lenore wie der «Über-Mensch» Fink, der ästhetisierende und der Welt abgewandte Jude Bernhard und natürlich vor allem der jüdische Emporkömmling Veitel Itzig, all diese Figuren zeigen Wege, die in der Moderne möglich geworden sind oder im Gegensatz zu ihr noch bestehen - und die die harmonische Eingliederung in das deutsche nationale Ganze nicht erlauben. Im Begriff der «deutschen Arbeit», so Achinger, propagiert Freytag ein Ethos der Selbstbescheidung, in dem die Idee individuellen Glücks und Erfolgs dem Ziel des nationalen Fortschritts untergeordnet ist bzw. von letzterem abhängig ist. Eine solche «Verklärung» des Arbeitsalltags im mittleren 19. Jahrhundert entspricht dann den Maximen eines poetischen Realismus, den sich der Roman in seinem Motto («‹Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit.›», 26) bereits auf die Fahnen geschrieben hat und der, wie Achinger gegen Ende ihrer Studie ausführt, Besprechungen / Reviews 183 der Ästhetik Hegels und dem von ihm in der Moderne identifizierten Konflikt «‹zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse›» (318) ein Modell erfolgreicher künstlerischer Darstellung eines universell interessierenden Individualschicksals entgegenstellt. Achingers Arbeit ist ein Steinbruch und nicht unbedingt dazu angetan, auf einmal gelesen zu werden. Jedes Kapitel allein könnte bereits genug Material für eine Doktorarbeit liefern, und ihre detaillierten und genauen Diskussionen der existierenden Forschungsliteratur weisen sie als gewandte und extrem belesene Literatur- und Kulturwissenschaftlerin aus. Es ist eine Grundsatzfrage, ob Doktorarbeiten, die ebendiese ausführlichen Debatten mit existierenden Positionen zum Thema führen, in dieser Form auch veröffentlicht werden sollten. Achingers exzellente Diskussionen besonders der Problemkreise Liberalismus und «Judenfrage», Nationalismus und Andersartigkeit, und auch ihre sehr genauen und gut nachvollziehbaren Einzeldeutungen von Figuren, Konstellationen und Fragen der Romanästhetik sind so fundiert und gehen weit über den «Aufhänger» Soll und Haben hinaus, dass sie auch ein Publikum ansprechen, das generell Interesse an der Entwicklung eines deutschen nationalen Identitätsbewusstseins im 19. Jahrhundert hat. Die zum Teil langen Diskussionen und Erwiderungen auf Forschungsbeiträge machen es aber eher mühsam, das Interesse nicht zu verlieren (nicht zuletzt auch, da Achingers Prosa extrem wissenschaftlich und damit nicht immer leicht zugänglich ist). So wäre Christine Achinger vielleicht besser beraten gewesen, ihre Arbeit für den generellen Buchmarkt noch einmal zu revidieren, wie es in den USA von Verlegern erbeten wird. Dessen ungeachtet ist Achingers Arbeit beeindruckend und zeigt, dass es möglich ist, Tiefen- und Breitenbetrachtung erfolgreich miteinander zu vereinen und als Resultat eines «close readings» einen Beitrag zu liefern, der die Kultur- und Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts und des deutschen Liberalismus neu beleuchtet und dem es gelingt, am Beispiel nur eines Buches die komplexe Problematik, in die sich das liberale Bürgertum des 19. Jahrhunderts verwickelte, zu beleuchten und historisch differenziert von vorschnellen Kategorisierungen und Urteilen zu befreien. Middlebury College Bettina Matthias H ANS R UDOLF V AGET (E D .): Thomas Mann’s The Magic Mountain. A Casebook. Oxford: Oxford UP, 2008. 288 pp. $ 29.95. Besides the introduction Hans Rudolf Vaget wrote two essays for this well-balanced volume containing four more original and several previously published essays, all by English-writing authors. He wants to offer «helpful perspectives» and «fresh approaches developed by a new generation» while also revisiting «some of the familiar issues of the literature on the Magic Mountain» (8). Vaget’s essay «The Making of The Magic Mountain» draws on Mann’s letters and the by now published diaries and concludes: «To an astonishing degree [Mann] proceeded […] in an almost improvisational fashion» (16). Mann re-arranged chapters, changed and added characters under the impression of - among many others - his meetings with Georg Lukács and Gerhart Hauptmann, and his readings of Spengler: