Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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«Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen». Erzählarrangements in frühen Prosatexten Brechts vor dem Hintergrund von Kiplings Kurzgeschichten
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Florian Gelzer
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«Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen». Erzählarrangements in frühen Prosatexten Brechts vor dem Hintergrund von Kiplings Kurzgeschichten FLORIAN GELZER U NIVERSITÄT B ERN Im Gegensatz etwa zu den Kalendergeschichten oder Flüchtlingsgesprächen sind die frühen Prosaarbeiten Bertolt Brechts aus den 1920er Jahren noch immer verhältnismäßig wenig bekannt. 1 Lange Zeit waren die Gesamtdarstellungen von Nadešda Dakowa und Kirsten Boie-Grotz sowie der Kommentar von Klaus-Detlef Müller überhaupt die einzigen größeren Darstellungen, die sich diesen, meist für Zeitschriften verfassten, Texten widmeten 2 - von einigen bemerkenswerten Einzelbeiträgen einmal abgesehen. 3 Eine Ausnahme bildet die preisgekrönte Erzählung Die Bestie, die, einhellig als «eine der besten von Brechts frühen Kurzgeschichten» eingeschätzt, 4 bereits früh ausgiebig untersucht wurde. 5 Mit der kompletten Überarbeitung des Brecht Handbuchs hat sich die Situation allerdings grundlegend verändert. Im Prosa-Band sind auch wenig beachteten Erzählungen Brechts eingehende Artikel gewidmet, welche die Texte aus der einseitigen früheren Zuordnung unter das Schlagwort ‹Neue Sachlichkeit› lösen, 6 sie auf dem neuen Stand der Erzähltheorie untersuchen und ihre Ästhetik gebührend würdigen. 7 Die nachfolgenden Ausführungen möchten an diesen neuen Forschungsstand anschließen und die Vorarbeiten um einige Aspekte ergänzen. Dabei wird von zwei Thesen ausgegangen: In Brechts Prosaarbeiten aus den 1920er Jahren lassen sich, erstens, einige grundlegende erzählerische Verfahren herausarbeiten, die die thematisch völlig heterogenen Texte verbinden und für eine Interpretation relevant sind. Diese charakteristischen Erzählarrangements wiederum sind, so wird zweitens argumentiert, in entscheidendem Maße auf die Beschäftigung Brechts mit Kurzgeschichten Rudyard Kiplings zurückzuführen. 8 Dabei soll es nicht darum gehen, Quellenforschung zu betreiben, vielmehr soll ein für die Prosatexte relevanter Hintergrund beleuchtet werden, ein Materialienbereich, den Brecht auf die ihm eigentümliche Weise verwendet und umfunktioniert. Die Ausführungen beschränken sich dabei auf eine einschlägige Auswahl von Texten vor allem aus dem für Brecht besonders produktiven Jahr 1926. Konkret sind folgende, allesamt 1925/ 26 entstandene Titel CG_42_2_s097-192End.indd 139 CG_42_2_s097-192End.indd 139 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 140 Florian Gelzer gemeint: Der Kinnhaken, Schlechtes Wasser, Vier Männer und ein Pokerspiel oder Zuviel Glück ist kein Glück, Gespräch über die Südsee, «Nordseekrabben» oder Die moderne Bauhaus-Wohnung, Das Paket des lieben Gottes, Barbara sowie Müllers natürliche Haltung. Hinzugenommen wurden einige früher entstandene Prosatexte: der ‹Bargan-Komplex› - gemeint sind die Erzählungen Bargan läßt es sein (1919), Bargans Jugend (1922) und Geschichten von St. Patriks Weihnachtskrippe (1922) - sowie die Detektivgeschichte Der Javameier (1921). 9 Zunächst werden, ausgehend von Jan Knopfs Charakterisierung von Brechts früher Prosa, zwei kennzeichnende Verfahren anhand der Erzählung Müllers natürliche Haltung herausgearbeitet, die hier mit den Schlagworten kommunikatives Umfeld und Erzähler als Beifahrer benannt werden. Diese werden in einem zweiten Schritt auf Erzählverfahren in ausgewählten Kurzgeschichten Rudyard Kiplings zurückzuführen versucht und in einem kurzen Fazit in einen größeren Kontext gestellt. In Jan Knopfs instruktiver Einführung zum Prosa-Band des Brecht Handbuchs (BH 3, 1-22) werden einige charakteristische Grundzüge von Brechts Erzählungen der 1920er Jahre skizziert. An diese nützliche Übersicht wird hier angeknüpft, ohne die Ausführungen im Einzelnen zu wiederholen. Unter anderem nennt Knopf folgende Eigenschaften als kennzeichnend: das Arrangement der Geschichte innerhalb einer Gesprächssituation; die «Mündlichkeit» des Erzählten; die Einführung eines (unten genauer erläuterten) «vermittelnden Erzählers» (14); die Bevorzugung von «Außenschau statt Psychologie» (13); das Augenmerk auf «Haltungen» (15) der Figuren; den «ironisch-distanzierten Stil» (17) sowie das «Spiel mit der Fiktion» (10-12). Diese Charakteristika sollen hier an einem Beispiel überprüft werden - wobei die genannten Stichpunkte als Orientierungshilfe dienen sollen und nicht als Merkmalskatalog, den es vollständig nachzuweisen gilt. Als Beispieltext sei der kurze Prosatext Müllers natürliche Haltung (285- 91) herangezogen. Einleitend wird dort ein mündlicher Erzählerkreis beschrieben: «Wir hatten gegessen, saßen bei einer Zigarre und durchsuchten unsern Bestand an Gesprächsthemen» (285). Die Rede kommt auf den in der Runde offenbar unbeliebten Ingenieur Müller: 10 «Das Aktuelle war durchgesprochen, und wir nahmen zunächst der Vorsicht halber noch einmal den Niedergang des Theaters vor, und dann kamen wir, nach und nach Mut schöpfend, auf Müller zu sprechen. Müller, den Ingenieur, Müller, den Erbfeind. Müller war ein heikles Thema, weil er, sogar wenn er nicht da war, sich als ein unfehlbarer Zankapfel erwies» (ebd.). Einer der Beteiligten, Pucher, bringt zum Thema Müller eine «schon etwas angegraute Geschichte aufs Tapet» (ebd.). Er hat einst mit Müller geschäftlich eine Flugreise von Berlin nach Köln unternommen. Für ihn war es der erste Flug überhaupt, wäh- CG_42_2_s097-192End.indd 140 CG_42_2_s097-192End.indd 140 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 «Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen» 141 rend Müller zuvor «schon mindestens ein dutzendmal geflogen» (286) war. Während der gesamten Reise versuchte der flugerprobte Müller nun, Pucher von der Gefährlichkeit des Fliegens zu überzeugen. Bei einer Zwischenlandung erzählte er ihm gar die Geschichte eines entfernten Bekannten, der auf einem Flug bei schlechtem Wetter beinahe abgestürzt war. Schließlich kamen Pucher und Müller unversehrt in Köln an. Dort eröffnete Müller dem Geschäftspartner jedoch überraschend, er fahre noch am selben Tag wieder nach Berlin zurück - und zwar mit dem Zug. Denn die Tatsache, dass Pucher auf dem Flug keine «natürliche Haltung» eingenommen habe - «die in diesem Falle Besorgnis auszudrücken hat» (291) -, sei Beweis genug, dass er kein verlässlicher Geschäftsmann sei: Pucher habe «einfach nicht jenes primitive Minimum an Mißtrauen, das jedes beliebige Vieh hat, und ohne das es auf einem Planeten wie diesem einfach zugrunde geht›» (ebd.). Die Geschichte (auf deren Inhalt hier nicht näher einzugehen ist) 11 weist einige typische formale Züge von Brechts Erzählungen dieser Zeit auf. Dazu gehört zunächst die einleitende Rahmung durch die Situation eines mündlichen Erzählakts: Ein Ich-Erzähler - der nur gerade im Anfangsabschnitt auftaucht - erinnert sich an eine gesellige Runde mit Freunden und dabei an Puchers Erzählung über Müller. Entsprechend ist der gesamte dem einleitenden Abschnitt folgende Text in Anführungszeichen gesetzt - er ist gleichsam ein einziges großes Zitat der Erzählung Puchers. Innerhalb der (Ich-) Erzählung Puchers wiederum wird die Erzählung Müllers wörtlich wiedergegeben, in der dieser die Flugreise des Bekannten schildert (287-89). Diese gestaffelte Konstruktion ließe sich mit erzähltheoretischer Begrifflichkeit präzise aufschlüsseln: Die Geschichte Puchers wäre mit Genette als metadiegetische (respektive hypodiegetische) Erzählung zu bezeichnen, die Erzählung Müllers wiederum als meta-meta-diegetische Erzählung beziehungsweise als Binnenerzählung (Müllers) innerhalb einer Binnenerzählung (Puchers). Aber so dargestellt, erschiene die Struktur von Müllers natürliche Haltung komplizierter, als sie sich dem Leser darbietet. Denn trotz der verschiedenen Erzählebenen ist sie von großer Übersichtlichkeit. Dies liegt daran, dass die einzelnen Ebenen nivelliert und auf den Zuhörerkreis ausgerichtet sind. Durch das eingangs eingeführte «wir» sowie die Bemerkung, dass es sich nur um eine von vielen Geschichten über den unliebsamen Müller handelt (285), ist zudem die (missliebige) Grundstimmung vorgegeben (‹Müller ist eine unmögliche Person›). 12 Die Geschichte wird jedoch nicht abgerundet - der Rahmen nicht geschlossen -, sondern endet mit der lakonischen Bemerkung: «Sprach’s und schlug sich seitwärts in den Lift» (291). Tonangebend ist der durchgängig mündliche Charakter des Erzählens. Zwischen der Kommunikationsebene der Gesprächspartner und der Ebene CG_42_2_s097-192End.indd 141 CG_42_2_s097-192End.indd 141 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 142 Florian Gelzer der Geschichte wird vom Erzähler wiederholt vermittelt, zum Beispiel mit Einwürfen wie: «wir kannten uns genau ebenso lange, wie wir ihn leider alle kennen» (285); «es hat gar keinen Wert, wenn ihr es bezweifelt»; «Ihr braucht gar nichts zu sagen» (286); «Aber jetzt begann erst der unangenehme Teil der Geschichte. Ich will das kurz machen» (289). Bei der besonders dramatischen Erzählung Müllers über den Beinahe-Absturz wird ins historische Präsens sowie in die Du-Form gewechselt: «jetzt hört das Motorengeräusch mit einem Schlage auf, der Sessel unter dir hebt sich in die Höhe, dein Kopf fällt vor und nach unten, und du saust, eventuell mit deiner aufheulenden Mitpassagierin direkt im Genick, unaufhaltsam in die Tiefe» (ebd.). Vergegenwärtigt man sich, dass diese wörtlich wiedergegebene Erzählung Müllers über ein Erlebnis eines entfernten Bekannten in die Erzählung Puchers eingelegt ist, und dass diese wiederum in toto vom Ich-Erzähler wörtlich wiedergegeben wird, dann stellt sich die Frage, ob hier die Gedächtnisleistung des Ich-Erzählers nicht etwas über die Gebühr beansprucht wird. 13 Doch weil der mündliche Charakter die Grenzen der Binnenerzählungen einebnet und wegen der Kürze der Geschichte fallen solche kleine erzähllogische Grenzfälle nicht störend ins Auge. Der Erzähler Pucher verdient noch etwas genauere Betrachtung: Vorgetragen wird eine Geschichte, ‹die ich selbst so erlebt habe› - was der Ursituation des Erzählens in Ich-Perspektive entspricht. Entsprechend berichtet Pucher über die Flugreise aus seiner Sicht, episodisch gegliedert, mit längeren Passagen zitierter Rede. Das Zentrum bildet allerdings nicht Pucher selbst, sondern Müller: Über weite Strecken besteht die Erzählung einzig aus der Beschreibung von dessen Verhalten sowie der Wiedergabe seiner Konversation: «Ungefähr nach zehn Minuten holte Müller aus seiner Brusttasche langsam sein Notizbuch hervor, schrieb mit einigen Unterbrechungen, wo er auf den Piloten vorn schaute, ein paar Zeilen auf ein Blatt, riß es aus und reichte es mir herüber» (286). Das Augenmerk liegt also auf dem sichtbaren, äußeren Verhalten Müllers sowie der Wiedergabe mündlicher Rede. Reflexionen, Schlussfolgerungen oder Kommentare über das Geschehen sind äußerst sparsam gestreut. So endet die Geschichte auch nicht in einer abschließenden Bilanz und es wird auch nicht mehr in die Gesprächsrunde zurückgeblendet; vielmehr bricht sie ohne Epilog oder Abrundung ab. Somit weist Müllers natürliche Haltung tatsächlich die von Knopf genannten Charakteristika auf (Mündlichkeit, Ich-Erzähler, Außenschau). Und auch die übrigen Punkte lassen sich ohne weiteres nachweisen: Dass «Haltungen», typische Verhaltensweisen, thematisch sind, wird bereits im Titel angedeutet - tatsächlich besteht ja der Kern der Geschichte in der Frage nach der ‹Richtigkeit› von Müllers «natürlicher» Haltung. Zudem weist die verschachtelte Erzählkom- CG_42_2_s097-192End.indd 142 CG_42_2_s097-192End.indd 142 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 «Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen» 143 position durchaus Züge eines «Spiels mit der Fiktion» auf - etwa wenn Pucher die Authentizität von Müllers Geschichte mit dem Hinweis anzweifelt, er (Müller) sei ja gar nicht daran beteiligt gewesen (288). Die für Müllers natürliche Haltung kennzeichnenden Merkmale lassen sich auch in anderen Geschichten des Korpus feststellen. So werden eine ganze Reihe von Erzählungen auf ähnliche Weise in einer geselligen Gesprächsrunde dargeboten - sie sind mithin ebenfalls in einem kommunikativen Umfeld situiert. Das Fragment Geschichten von St. Patriks Weihnachtskrippe zum Beispiel ist im exotischen Seemannsmilieu angesiedelt: «In den kleinen Kneipen in Chile, unter einem markerschütternden Lärm, der von Singen, Fluchen, Kartenspielen, Messerstechereien herrührt, erzählen Leute mit Eidechsen- und anderen Gesichtern täglich ergreifende und vergrinste Geschichten» (177). Der Text ergänzt die Erzählung Bargan läßt es sein um eine weitere Anekdote über den Seeräuber Bargan und sein Schiff «St. Patriks Weihnachtskrippe» - und macht zudem das Erzählen von Geschichten selbst zum Thema. In anderen Fällen wird in der einleitenden Rahmung das Milieu von Kneipen und Boxkämpfen evoziert: «Nach einem Großkampfabend im Sportpalast saßen einige Leute, mit mir im ganzen vier, immer noch in relativ blutrünstiger Stimmung, bei einem Glase Bier in einer Bierquelle Potsdamer Straße, Ecke Bülowstraße, und einer, ein Professionalboxer, erzählte die lehrreiche Geschichte vom Untergang Freddy Meinkes, des ‹Kinnhaken›» (Der Kinnhaken 205). In der Erzählung Schlechtes Wasser ist es eine Männerrunde auf einer Kolonialinsel, innerhalb derer die Geschichte dargeboten wird: «‹Gegen Gift gibt’s Gegengift›, sagte MacBride, philosophisch die Beine von sich streckend, und meinte anscheinend etwas ganz Bestimmtes damit» (235). Der Ich-Erzähler bringt sich als Besucher ins Spiel: «Ich war vormittags auf der Insel angekommen und hatte dort gleich einen ziemlich tristen Rummel miterlebt, nämlich das Begräbnis eines Weißen, den ein Eingeborener oder, wie es dann hieß, ein Mischling ins Jenseits befördert hatte […] MacBride hatte der Gerichtsverhandlung beigewohnt, und er war noch ganz voll davon. […] Dann erzählte er» (235-37). Die Weihnachtsgeschichte Das Paket des lieben Gottes beschwört dagegen eine heimelige Märchenerzähler-Atmosphäre herauf: «‹Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen und vergeßt den Rum nicht. Es ist gut, es warm zu haben, wenn man von der Kälte erzählt›» (276). 14 Das kommunikative Umfeld wird in der Regel nur eingangs rasch mit ein paar groben Strichen skizziert und am Schluss meist nicht mehr aufgenommen. 15 Die Erzählstimme ist dadurch stets hörerbezogen, adressiert an die intradiegetischen Zuhörer und besitzt Anredecharakter. Neben dem kommunikativen Umfeld ist die Perspektive des Erzählers entscheidend. Der Erzähler Pucher in Müllers natürliche Haltung ist zu- CG_42_2_s097-192End.indd 143 CG_42_2_s097-192End.indd 143 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 144 Florian Gelzer nächst dadurch gekennzeichnet, dass er an der Geschichte selbst beteiligt war und somit als Augenzeuge berichtet. Er selbst hat den ominösen Flug mit Müller unternommen, dabei aber eine eher passive Rolle gespielt. Auch in anderen Erzählungen des Korpus gehört die Erzählstimme gewöhnlich einer am Geschehen beteiligten Figur: In Der Kinnhaken erzählt «einer, ein Professionalboxer» (205), von seiner Begegnung mit dem Boxmeister Meinke vor einem Wettkampf. In Bargan läßt es sein stammt der Erzählbericht über die Beutezüge einer Seeräuberbande aus dem Mund eines Flibustiers (Seeräubers) selbst («Um Mitternacht seilten wir das Schiff in einer Bucht fest» [24]). Ebenso ist es ein Mitglied einer Schiffsbesatzung, das die Geschichte auf einem Schiff erzählt («Vier Tage war es schon gegangen, daß wir unter einem graugrünen, verseiften Himmel herumkullerten» [145]). Die Beispielreihe lässt sich beliebig verlängern: Der Javameier wird aus der Sicht eines Freundes des Detektivs und Fischhändlers Samuel Kascher dargebracht; das Gespräch über die Südsee findet zwischen einem Autor - dem Ich der Geschichte - und seinem Verleger statt; «Nordseekrabben» wird aus der Erinnerung eines Teilnehmers der Geschichte erzählt; Barbara wiederum ist aus der Perspektive eines verängstigten Beifahrers im Auto verfasst. Alle diese Erzähler sind mithin als Figuren Teilnehmer des erzählten Geschehens - und zwar in der überwiegenden Mehrzahl als Nebenfiguren, die mit den Protagonisten (z.B. dem Boxer Meinke, dem Detektiv Kascher, dem Ingenieur Müller) persönlich bekannt sind. 16 Sie fungieren als Beobachter des Geschehens, als Dialogpartner, Ratgeber- oder Freundfiguren. Typisch ist die Position des Beifahrers, Mitreisenden oder Mannschaftsmitglieds. Nie treten die Erzähler als Hauptfiguren in Erscheinung, sondern bleiben als periphere Ich-Erzähler oder Reflektorfiguren im Hintergrund. Diese Stellung wird hier mit dem Ausdruck Erzähler als Beifahrer bezeichnet. Die Dominanz der Perspektive der teilnehmenden Beobachter führt zwangsläufig zu interner Fokalisierung, das heißt die Wahrnehmung wird auf den Fokus des am Geschehen teilnehmenden Erzählers eingeschränkt. Allerdings werden die Geschehnisse meist nicht als im Fokus der Geschehensteilnehmer gespiegelt geschildert. Im Gegenteil weisen Brechts frühe Prosatexte gerade eine deutliche Tendenz zu externer Fokalisierung auf: Das von außen Sichtbare wird in den Fokus genommen - von der Möglichkeit zur Innensicht wird auffallend wenig Gebrauch gemacht. Erlebte Rede, innerer Monolog, reflexive Passagen kommen dagegen so gut wie gar nicht vor. Die Konzentration liegt auf den äußeren Vorgängen, dem Gestischen. 17 Dies ist allerdings nicht gleichzusetzen mit einem neutralen Berichtstil; durch die Erzählungen zieht sich vielmehr ein deutlich ironischer Grundton. 18 CG_42_2_s097-192End.indd 144 CG_42_2_s097-192End.indd 144 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 «Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen» 145 Als Zwischenbilanz kann festgehalten werden, dass Brechts frühe Erzählungen durch eine Mischung aus ‹Unmittelbarkeit› und ‹Mittelbarkeit› geprägt sind. Auf der einen Seite führen die mündliche Erzählsituation und das Arrangement der Gesprächsrunden zu einem hohen Maß an Anschaulichkeit, zu direktem und pointiertem Erzählen. Dabei wird häufig ein ‹dramatischer Modus› eingesetzt: Dialog- oder Gesprächspassagen werden direkt zitiert, also unvermittelt dargestellt (besonders ausgeprägt in den fast nur aus Dialogen bestehenden Texten Der Javameier und Gespräch über die Südsee). Dieser Zug wird auch von Dakowa betont: «Das Besondere der Erzählhaltung besteht […] darin, daß der Erzähler Brecht sehr deutlich die Situation der mündlichen Mitteilung herstellt, einer Erzählsituation, welche für einige Kurzgeschichten um 1926 charakteristisch ist.» Und weiter: «Im Unterschied vom [sic] ‹Tod des Cesare Malatesta› und der Skizze ‹Betrachtungen bei Regen› wird die Haltung des Zweifeln und Mißtrauens hier direkt formuliert und begründet. Dieses unvermittelte Verfahren bezeichnet zunächst eine konkretere Wendung des Erzählers zum realen Leben.» 19 Auf der anderen Seite wird diese ‹dramatische›, unvermittelte Darstellung jedoch gerade dadurch gefiltert, dass sie in der Regel durch eine vermittelnde Erzählerhaltung dargebracht wird. Knopf beschreibt dieses Arrangement folgendermaßen: Weiterhin prägte Brecht konsequent ein neuartiges ‹vermittelndes Erzählen› aus. Wie schon der Ich-Erzähler in Nordseekrabben weitgehend außerhalb der Handlung bleibt, setzt Brecht, obwohl ein Ich-Erzähler die Geschichte wiedergibt, den Erzähler als vermittelndes Medium ein und erfüllt damit gerade nicht, was die traditionelle Definition der ‹Ich-Form› zuschreibt (Ich als am dargestellten Geschehen beteiligte fiktive Figur, meist die Hauptfigur des Erzählten, das aus zeitlicher Distanz schildert, Nähe zum Autobiografischen u.a.). Der Erzähler ist einzig dazu da, seine Geschichte, und dazu häufiger auch noch einem (fiktiven) Kreis von Zuhörern […], zu übermitteln; selbst ist er am Geschehen nicht oder kaum beteiligt. 20 Präzisierend heißt es im Brecht Handbuch: «‹Vermittelnd› soll heißen, dass der Ich-Erzähler die ‹eigentliche› Geschichte indirekt vermittelt, also eine Art Medium bildet, durch das sich das Erzählte artikuliert» (BH 3, 14). Die Mischung aus ‹unvermittelter› und ‹vermittelter› Darbietungsweise bewirkt dabei einen eigenartigen Effekt: Einerseits erzeugt das kommunikative Umfeld - der Gestus des Mündlichen, des Gesprächs und der direkten Anrede - einen hohen Grad an Unmittelbarkeit. Anderseits behält die Erzählinstanz meist Distanz zum Geschehen, bietet es als ‹Fall› zur Besprechung an. 21 Meist tritt durch die Konzentration auf ‹Haltungen› der Parabelcharakter des Geschehens hervor, während das persönliche Schicksal der Beteiligten im Hintergrund verbleibt. 22 So erscheint Müllers natürliche Haltung weniger als Bericht über eine Flugreise denn als Studie über Instinkt und Intuition; Vier CG_42_2_s097-192End.indd 145 CG_42_2_s097-192End.indd 145 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 146 Florian Gelzer Männer und ein Pokerspiel, um ein anderes Beispiel zu nennen, beschreibt keine Abenteuerreise, sondern reflektiert über das Verhältnis zwischen Glück und taktischem Verhalten; und auch Der Javameier ist nicht eigentlich eine Detektivgeschichte, sondern eine hintergründige Studie über Wahrheit und deren (sprachliche) Vermittlung. Die innovative Leistung der frühen Prosa Brechts wurde erst verhältnismäßig spät erkannt. Das außergewöhnlich hohe Lob, das etwa Helmut Brandt ihnen angedeihen lässt, ist in der früheren Forschung eindeutig die Ausnahme: «Brecht ist als Kurzgeschichtenschreiber der erste deutsche Autor von Rang, er ist in diesem Genre, das so lange vornehmlich eine angelsächsische Domäne war, ein Beiträger zur Weltliteratur.» 23 Dass sich Brecht an ‹angelsächsischen› Vorbildern orientiert haben könnte, wurde nicht nur bei Brandt vermutet; doch ist die Forschung der Frage nach möglichen Anregungen zu den - im zeitgenössischen Kontext doch recht ungewöhnlichen - Themen und Erzähltechniken noch nie genauer nachgegangen. Im Folgenden wird die These vertreten, dass viele der oben beschriebenen Charakteristika der frühen Prosa Brechts bereits in den Kurzgeschichten von Rudyard Kipling vorgeprägt sind. In seiner klassischen Studie über Brechts Verhältnis zu Kipling hat James K. Lyon nachgewiesen, dass für Brecht von Kiplings Prosaarbeiten insbesondere die 1893 veröffentlichte Sammlung Many Inventions relevant war, 24 die ihm in einer Auswahlübersetzung von Leopold Lindau mit dem Titel Mylord der Elefant vorlag. 25 Diese enthält, in veränderter Anordnung, neun der 16 Geschichten aus Many Inventions. Lyon weist auf überzeugende Weise den Einfluss von vier Geschichten aus Lindaus Übersetzung in Gedichten und Bühnenstücken Brechts nach (die Prosaarbeiten Brechts sind offenbar gar nicht berücksichtigt). 26 Die übrigen Kurzgeschichten dagegen hätten mit Brecht nichts zu tun: Von den fünf noch vorhandenen Geschichten in Lindaus Sammlung handeln vier vom britischen Kolonialismus und Imperialismus, manchmal in humorvollem, manchmal in ernstem Ton. Diese Erzählungen sind: In the Rukh, The Disturber of Traffic, The Lost Legion und Judson and the Empire; die fünfte beschreibt ein phantastisches Seeabenteuer (A Matter of Fact). […] Keine von ihnen hat viel Affinität zu Brechts Arbeiten oder Gedanken. In dieser Phase seiner Entwicklung schien es, als ob er es vorzog, Kiplings Jingoismus unbeachtet zu lassen und nur nach literarischem Stoff zu fahnden, der seinen eigenen Interessen nahekam. 27 Dieser Behauptung soll hier widersprochen werden. Denn bei näherer Betrachtung lassen sich durchaus sowohl inhaltliche wie formale Berührungspunkte zwischen Brechts Prosa und den genannten Erzählungen feststellen. Zwei Beispiele sollen genügen. In Brechts Erzählung Vier Männer und ein Pokerspiel oder Zuviel Glück ist kein Glück befindet sich eine Gruppe von CG_42_2_s097-192End.indd 146 CG_42_2_s097-192End.indd 146 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 «Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen» 147 Schwimm-Champions mit ihrem Manager auf der Überfahrt von Kuba nach Nordamerika: «Sie saßen in Korbstühlen auf Havanna und vergaßen die Welt. Wenn es ihnen zu heiß wurde, tranken sie Eiswasser, abends tanzten sie Boston im Atlantic Hotel. Sie hatten alle vier Geld» (245). Diese Ausgangssituation gleicht nun offensichtlich derjenigen in Kiplings Erzählung Eine Tatsache (A Matter of Fact). Sie handelt ebenfalls von einer Gruppe von Männern, die alle demselben Beruf nachgehen (es sind Journalisten). Und auch bei Kipling befindet sich die Männergruppe auf einer Überfahrt auf einem Schiff und vertreibt sich die Zeit mit exzessiven Kartenspielrunden («Dann folgte eine lange Periode von ununterbrochenem Kartenspiel» [ME 158]). 28 Wenngleich die beiden Geschichten sehr verschieden verlaufen, sind doch die Ausgangslage - Männerrunde, Schifffahrt, Pokerspiel - und die dadurch evozierte Grundstimmung identisch. Ein weiteres Beispiel: Brechts kurze Kriminalgeschichte Schlechtes Wasser beginnt gleich nach der Ankunft des Ich-Erzählers auf einer Kolonialinsel. Anlass zu der in geselliger Runde dargebotenen Geschichte ist ein Kriminalfall, ein Eifersuchtsmord - und während die Vorgeschichte erzählt wird, wird der Mörder zum Hängen abgeholt (240). In Kiplings Frauenlieb (Love-O-Women) nun gerät der Ich-Erzähler ebenfalls im Kolonialmilieu an einen Mordfall. Und auch dort gibt das frische Verbrechen - ebenso ein Mord aus Eifersucht - Anlass dazu, in geselliger Runde einen Parallelfall zu erzählen. 29 Es wäre müßig, gezielt nach weiteren übereinstimmenden Einzelheiten zu fahnden. Brecht greift keine der Kipling-Geschichten vollumfänglich auf oder schreibt sie um. Die inhaltlichen Berührungspunkte - und darin ist Lyon zuzustimmen - betreffen eher die Idee für eine Ausgangslage oder ein Setting für einen einleitenden Rahmen. Aber diese Erzählarrangements sind es nun gerade, auf die es hier ankommt und die etwas genauer beleuchtet werden sollen. Auch bei Kipling wird nämlich in der Regel einleitend ein kommunikatives Umfeld geschaffen: Eine Verkehrsstörung (The Disturber of Traffic) zum Beispiel ist als nächtliche Unterhaltung zwischen dem Ich-Erzähler und dem Wärter eines Leuchtturms angelegt. Genauer: Der Erzähler erinnert sich an eine an der Seite Fenwicks, eines Leuchtturmwärters, verbrachte Nacht, in der dieser ihm unter anderem die Geschichte von Dowse, einem anderen Leuchtturmwärter, erzählte: «Ich gehe hier auf alle diese Geschichten nicht ein und auch nicht auf die wunderbare Weise, wie er [Fenwick] auf sie kam, und erzähle aus Fenwicks Munde nur eine - nicht die wenigst merkwürdige» (ME 53; Hervorhebung F.G.). 30 Auf ähnliche Weise erzählt der Ich-Erzähler in Mylord der Elefant eine Geschichte so weiter, wie sie der Irländer Terence Mulvaney - eine bei Kipling häufig, unter anderem in Soldiers Three auftretende Figur - einst berichtet hatte: «Was die Wahrheit der nachfolgenden Ge- CG_42_2_s097-192End.indd 147 CG_42_2_s097-192End.indd 147 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 148 Florian Gelzer schichte angeht, so kann man keinen Zweifel darüber hegen, denn Mulvaney selbst hat sie mir erzählt. - Es war an einem heißen Abend hinter den Elefantenlinien» (ME 75). Auch diese Geschichte wird in einer Soldatenrunde zum Besten gegeben. In Frauenlieb ist es noch einmal Mulvaney, der als Erzähler in geselliger Soldatenrunde fungiert. Auch in anderen Erzählungen, die über keine einleitende Rahmung verfügen, herrscht ein mündlicher und informeller Ton vor. So etwa in Eine Tatsache: «Wir waren unser drei, lauter Journalisten, die einzigen Fahrgäste auf einem kleinen Dampfer, einer Art Ozeanbummler, der überall hinlief, wohin ihn sein Besitzer schickte» (ME 157). Oder in Die beste Geschichte der Welt (The Finest Story in the World): «Er hieß Charlie Mears, war der einzige Sohn einer Witwe und wohnte irgendwo im Norden von London. […] Ich traf ihn zum ersten Mal in einem Café beim Billard» (ME 111). Die Einbettung in einem kommunikativen Umfeld sowie der überwiegende mündliche Gesprächston haben unter anderem zur Folge, dass die Geschichten lange Wiedergaben von direkter Rede, Unterhaltungen und Dialoge enthalten. Wie bei Brecht sind sie grundsätzlich vermittelt, von einem selbst als Figur auftretenden Erzähler und oft in geselliger Runde vorgetragen. Dabei wird intensiv von einem ‹dramatischen Modus› Gebrauch gemacht, was zum verhältnismäßig hohen Anteil an Zitaten und direkter Rede führt - bis hin zum Extremfall einer reinen Dialogerzählung wie Mrs. Hauksbee Sits Out. 31 Ferner ist an den Kurzgeschichten aus Many Inventions auffallend, dass bei vielen der (ursprüngliche) Ich-Erzähler an der Geschichte selbst beteiligt war und als Garant für deren Authentizität figuriert. 32 In Die beste Geschichte der Welt beispielsweise berichtet der Ich-Erzähler über seine Begegnung mit einem rätselhaften Schriftsteller namens Charlie Mears. In Eine Tatsache erinnert sich ein Ich-Erzähler an ein Abenteuer auf See. In Frauenlieb ist es Mulvaney, der eine Episode aus seiner früheren Soldatenzeit zum Besten gibt: «Ich kann Ihnen nicht recht beschreiben, wie mir das so in den Kopf gekommen ist, aber Mackie war das lebende Ebenbild eines Mannes, den ich gekannt habe, und der ungefähr dasselbe Leben führte, wie er. Und es ist jammerschade, daß er nicht dasselbe Ende genommen hat» (ME 210). 33 Für die Echtheit des Erzählten bürgt in vielen Fällen der Ich-Erzähler oder ein anderer Beteiligter als Augenzeuge - so etwa auch am Schluss von Mylord der Elefant: «Was halten Sie von der Geschichte, mein Herr? » «Ich will warten, bis ich Learoyd sehe.» «Ich bin hier! » erwiderte eine dunkle Gestalt, die aus dem Schatten heraustrat, «ich kenne die Geschichte.» «Und ist sie wahr, Jack? » «Jedes Wort! » (ME 107) CG_42_2_s097-192End.indd 148 CG_42_2_s097-192End.indd 148 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 «Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen» 149 Die knappen Ausführungen haben gezeigt, dass bereits in Kiplings Kurzgeschichten eine ähnliche Grundhaltung wie in Brechts früher Prosa begegnet. Es tritt ein Erzähler auf, der am Geschehen selbst beteiligt war oder eine ‹selbst erlebte› Geschichte weitererzählt. Dabei wird die Geschichte bevorzugt in einem kommunikativen Umfeld vorgetragen: dialogisch, gesprächsweise oder in einem Zuhörerkreis. Wie bei Brecht erscheinen die Erzählungen dadurch an einen intradiegetischen Zuhörer(kreis) adressiert, und der Leser hört sozusagen diesem Gespräch zu. Die Fokalisierung ist dabei grundsätzlich eine externe: Es wird von außen berichtet, die Geschehnisse werden kaum je psychologisiert, kommentiert oder besprochen - der Erzähler nimmt auch bei Kipling bevorzugt eine ‹Beifahrerrolle› ein. Im Unterschied zu Brecht sind jedoch einige Kurzgeschichten aus Many Inventions mit parabel- oder gleichnishaften Kommentaren abgeschlossen, die manchmal in gebundener Form erscheinen. So wird etwa am Schluss von Frauenlieb ein (von Brecht in die Ballade vom Weib und dem Soldaten eingearbeitetes) Soldatenlied angestimmt, das auf die Geschichte Bezug nimmt (ME 234). Auch ist die Rahmung der Geschichten meist vollständig und nicht nur einleitend wie bei Brecht: In Eine Verkehrsstörung zum Beispiel wird von einer Nachtwache erzählt, und am Schluss bricht der Morgen an («[D]ie Sonne war aufgegangen und überflutete die stille See mit Leben» [ME 72]). Nimmt man hinzu, dass den Geschichten in Many Inventions im Original überdies jeweils ein Mottogedicht vorangestellt ist, zeigt sich, dass sie insgesamt von größerer Geschlossenheit sind als die Kurzprosa Brechts. Die Beispiele sollten sichtbar gemacht haben, worin die Verwandtschaft zwischen Brechts Kurzgeschichten und denjenigen aus Kiplings Many Inventions liegt: Zum einen ist es offensichtlich, dass Kiplings exotische Soldaten- und Männerwelt auf Brechts frühe Prosa nachhaltig abgefärbt hat. Die Kapitäne und Seefahrer, Leuchtturmwärter und Dirnen, Kolonialsoldaten und Elefantentreiber, die Kiplings Erzählungen bevölkern, bilden ein Milieu, von dem Brecht zweifellos vieles übernommen hat - seien es einzelne Motive, Themengruppen oder auch nur den atmosphärischen Hintergrund. So sind etwa Brechts ‹Bargan-Erzählungen› (Bargan wächst wie Mogli im Dschungel auf) und überhaupt die zahlreichen Geschichten aus dem Kolonial- und Seemannsmilieu mit ihrem ruppigen, unsentimentalen Tonfall mit Sicherheit zu einem großen Teil von Kipling (in der Lindauschen Übersetzung) angeregt. Zum anderen jedoch - und darauf kam es hier an - weisen Brechts Erzählungen in ihrer Anlage, im Erzählarrangement, auffallende Gemeinsamkeiten mit denjenigen Kiplings auf: Es wird gerne übersehen, dass auch bei Kipling die (spannende) Handlung selbst oft überhaupt nicht im Vordergrund steht: Vielmehr erhalten die Geschichten ihr Gepräge dadurch, dass sie in einem CG_42_2_s097-192End.indd 149 CG_42_2_s097-192End.indd 149 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 150 Florian Gelzer kommunikativen Umfeld situiert werden und dadurch in ihrem fiktionalen Charakter zur Diskussion gestellt werden. Ein Beispiel: So handelt etwa Eine Tatsache gerade nicht bloß von einem «phantastische[n] Seeabenteuer», wie Lyon behauptet. 34 Zwar erleben die Protagonisten - allesamt Journalisten - tatsächlich auf See einen spektakulären Kampf mit einem phantastischen Ungeheuer und wittern darin die Story ihres Lebens. Die Pointe liegt jedoch darin, dass das Erlebnis vom «phantastischen Seeabenteuer» keiner Zeitung als Reportage verkauft werden kann, da es schlicht zu unglaubwürdig wirkt. So beschließen die Journalisten, das Erlebnis als «Erfindung, um mich deutlicher auszudrücken, als eine Lüge [zu] behandeln» (ME 176). Aus einer vordergründig nur unterhaltsamen Abenteuergeschichte wird so eine vertrackte Studie über Wahrheit, Lüge und Augenzeugenschaft: Denn mit dem Eingeständnis des Erzählers zur «Lüge» (mit der, paradox, eine wahre Geschichte glaubwürdiger gemacht werden soll) entlarvt er sich als unglaubwürdig - was den Wahrheitsgehalt der gesamten Geschichte in Zweifel zieht. So ist Eine Tatsache weit weniger als phantastische Story zu betrachten denn als Studie über die Glaubwürdigkeit des Erzählens - und als satirische Spitze gegen den Sensationsjournalismus. Auf ähnliche Weise entpuppt sich Die beste Geschichte der Welt als interessante Studie über Fiktion und Realismus: Der Erzähler lernt einen jungen Schriftsteller kennen, der über eine außerordentliche Einbildungskraft verfügt und imstande ist, ganze ‹nordische› Epen in formvollendeter Sprache und mit Spezialvokabular zu verfassen. Mit der Zeit stellt sich heraus, dass der Autor offenbar eine Wiedergeburt erlebt hat und deshalb sozusagen aus eigener Anschauung aus einem früheren Leben erzählt. Als er sich jedoch in eine Frau verliebt, verliert er die Fähigkeit aus seinem vorigen Leben zu erzählen. - Liest man Kiplings Kurzgeschichten einmal nicht von vornherein einseitig vor dem imperialistisch-kolonialistischen Hintergrund, erweist sich, dass sie von hoher Selbstbezüglichkeit und ‹Offenheit› sind, vor allem aber auch, dass sie in hohem Maße ein Spiel mit ihrer eigenen Authentizität treiben (die ja immer wieder bekräftigt wird). Eine Grundvoraussetzung für dieses «Spiel mit der Fiktion» ist, so scheint es, die beschriebene Anlage in einem kommunikativen Umfeld, die es erlaubt, das Erzählte von verschiedenen Seiten zu betrachten und auf der Ebene der Konversation zu besprechen. In dieser Anlage nun zeigt sich die tiefe strukturelle Verwandtschaft mit der frühen Prosa Brechts, die über oberflächliche Übernahmen von Motiven und atmosphärischen Elementen weit hinausgeht. Denn auch Brechts Kurzgeschichten erschöpfen sich nicht in den - ebenfalls oft exotischen, grellen oder spektakulären - Handlungen: Vielmehr verweisen auch sie regelmäßig auf ihre eigene Fiktionalität, stellen die Geschichten als ‹Fall› dar, präsentieren CG_42_2_s097-192End.indd 150 CG_42_2_s097-192End.indd 150 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 «Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen» 151 sich als Studien über verschiedene ‹Haltungen›. So ist etwa die Detektivgeschichte Der Javameier nicht nur geradezu ein Anti-Krimi ohne Auflösung; bei näherer Betrachtung stellt sich allmählich überhaupt die Frage, ob nicht der scheinbar allwissende Detektiv - von Beruf Fischhändler - seine ganze Beweisführung, oder gar den gesamten Hergang des ‹Falls›, selbst erfunden hat. Auch die Erzählung Barbara, in der der Erzähler wörtlich als Beifahrer (eines wutentbrannten Autofahrers) figuriert, ist mehr als nur eine unterhaltende Anekdote, sondern nimmt bereits den Technikkult der Neuen Sachlichkeit aufs Korn. Die Einbettung innerhalb eines kommunikativen Umfelds erlaubt es, den jeweiligen ‹Fall› zu einem Gesprächsthema zu machen, ihn zur Debatte zu stellen und die Aufmerksamkeit auf das Verhalten der Beteiligten zu lenken. Ein abschließender, gattungsübergreifender Vergleich mag helfen, das Gesagte zu illustrieren: Das Erzählarrangement in Brechts früher Prosa hat eine ähnliche Struktur und Funktion wie die Anlage der Gedichte im etwa gleichzeitig entstandenen Lesebuch für Städtebewohner. Am Schluss der in dieser Sammlung zusammengestellten Gedichte steht jeweils in Klammern eine Bemerkung, die das im Gedicht Gesagte rückwirkend perspektiviert: «[Das wurde mir gesagt]», «[Das hast du schon sagen hören]», «[Das habe ich eine Frau sagen hören]» oder «[Das habe ich schon Leute sagen hören]» etc. 35 Die lapidar wirkenden Einzelgedichte entfalten durch diese Parenthesen eine komplexe Rede- und Kommunikationssituation: 36 Die Verhaltensratschläge, die in den Gedichten geäußert werden, erscheinen als vermittelt, die Rede-Instanz der Gedichte berichtet offenbar über bereits zuvor Gehörtes. Der Leser (oder Zuhörer) mag zunächst dazu tendieren, die Gedichte als ‹authentisch›, als direkte Anrede eines lyrischen Ichs aufzufassen. Die Schlussbemerkungen jedoch rücken die Gedichte abrupt in einen neuen, größeren Kontext: Die direkte Ansprache erhält plötzlich eine indirekte, schräge Perspektive - P.V. Brady hat dafür den Ausdruck ‹obliqueness› verwendet. 37 Durch diese Technik der Schlussparenthesen wird die Kommunikationssituation des Lesebuchs ständig verändert. Auf ähnliche Weise nun ‹funktioniert› die Grundstruktur vieler Prosatexte Brechts aus derselben Zeit, die ebenfalls im Gestus des ‹Das habe ich schon Leute sagen hören› erzählt sind. Auch hier wird durch die Etablierung eines kommunikativen Umfelds unterbunden, dass der Leser die Geschichte nur einfühlend miterlebt und nur deren Handlung folgt. Vielmehr werden durch die komplexen Vermittlungsstufen und verschiedenen Perspektiven die Verhaltensweisen der Figuren in den Vordergrund - und damit zur Diskussion - gestellt. Dass sich diese ‹verfremdenden› Techniken nicht zuletzt ausgerechnet von Kipling herleiten, «A Marxist’s Imperialist Mentor» (Lyon), gehört zu den überraschenden Aspekten von CG_42_2_s097-192End.indd 151 CG_42_2_s097-192End.indd 151 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 152 Florian Gelzer Brechts früher Prosa. Ihre enge Verflechtung mit Brechts dramentheoretischen Konzepten jener Zeit liegt auf der Hand - sie aber ist noch nicht einmal ansatzweise untersucht. Anmerkungen 1 Die hier besprochenen Brecht-Texte sind alle enthalten in Bertolt Brecht, Werke, Bd. 19: Prosa 4. Geschichten, Filmgeschichten, Drehbücher 1913-1939, bearb. v. Brigitte Bergheim (Berlin, Weimar: Aufbau; Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1997). Im Folgenden wird unter Angabe der Seitenzahlen in Klammern aus diesem Band der «Großen Berliner und Frankfurter Ausgabe» zitiert. 2 Nadešda Dakowa, Die erzählende Prosa Bertolt Brechts 1913-1934 (Diss. [masch.] Leipzig 1962); Kirsten Boie-Grotz, Brecht - der unbekannte Erzähler: Die Prosa 1913- 1934 (Stuttgart: Klett, 1978); Klaus-Detlef Müller, Brecht-Kommentar zur erzählenden Prosa (München: Winkler, 1980). 3 Hier sind insbesondere die beiden wichtigen Aufsätze zu nennen: Jürgen C. Thöming, «Kontextfragen und Rezeptionsbedingungen bei Brechts frühen Geschichten und Kalendergeschichten», Text + Kritik, Sonderband Bertolt Brecht II (München: Edition Text + Kritik, 1973) 74-96; Helmut Brandt, «Zur Erneuerung des Erzählens in den Geschichten Bertolt Brechts», Erzählte Welt: Studien zur Epik des 20. Jahrhunderts, Hg. Helmut Brandt u. Nodar Kakabadse (Berlin, Weimar: Aufbau, 1978) 169-209. Vor allem zu den Bargan-Geschichten ferner Franco Buono, Poesia, mito e gioventu: Bertolt Brecht 1917-1922 (Bari: Edizioni Dedalo, 1983) [Übers.: Bertolt Brecht 1917-1922. Jugend, Mythos, Poesie, Dt. v. Bernt Ahrenholz u. Ursula Ladenburger (Göttingen: Steidl, 1988)]. 4 Müller, Brecht-Kommentar 89. 5 Eine Pilotfunktion nimmt dabei die wegweisende Studie von Joachim Dyck ein: «Ideologische Korrektur der Wirklichkeit. Brechts Filmästhetik am Beispiel seiner Erzählung Die Bestie,» Brechtdiskussion, Hg. Joachim Dyck, Heinrich Gossler u.a. (Kronberg/ Ts.: Scriptor, 1974) 207-60. Ferner Michael Morley, «‹Truth in Masquerade›. Structure and Meaning in Brecht’s Die Bestie», MLN 90 (1975): 687-95; Dieter Wöhrle, «Bertolt Brechts Geschichte Die Bestie. Ein Plädoyer für eine ‹mehräugige Wahrnehmung›», Diskussion Deutsch 139 (1984): 329-35; ders., «Die Erzählung Die Bestie - Oder: wie Brecht den Leser zum Regisseur macht», Brecht 90. Schwierigkeiten mit der Kommunikation? Kulturtheoretische Aspekte der Brechtschen Medienprogrammatik: Dokumentation, Hg. Inge Gellert u. Barbara Wallburg (Berlin, Bern u.a.: Lang, 1991) 141-49, 245f. 6 Diese Zuschreibung erfolgt am ausgeprägtesten bei Boie-Grotz, Brecht - der unbekannte Erzähler. 7 Vgl. Brecht Handbuch, Bd. 3: Prosa, Filme, Drehbücher, Hg. Jan Knopf (Stuttgart, Weimar: Metzler, 2002) (fortan mit BH abgekürzt). Die Einzelartikel folgen im Großen und Ganzen den von Knopf in der ersten Ausgabe des Handbuchs gelegten Argumentationslinien: Brecht-Handbuch. Lyrik, Prosa, Schriften: Eine Ästhetik der Widersprüche, Hg. Jan Knopf (Stuttgart: Metzler, 1984) 224-60 (hier findet sich auch bereits eine konzise Diskussion zum Verhältnis von Brechts Prosatexten zur ‹Neuen Sachlichkeit›, 241-46). Hinzuweisen ist ferner auf eine neue Studie zur Erzählung «Nordseekrabben»: Laura Wilfinger, «‹My home is my castle› oder Brecht an Bord der Bauhaus? », An Bord CG_42_2_s097-192End.indd 152 CG_42_2_s097-192End.indd 152 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 «Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen» 153 der Bauhaus: Zur Heimatlosigkeit der Moderne, Hg. Sonja Neef (Bielefeld: transcript, 2009) 57-76. 8 Zum Verhältnis Kipling-Brecht noch immer grundlegend James K. Lyon, Bertolt Brecht and Rudyard Kipling: A Marxist’s Imperialist Mentor (The Hague, Paris: Mouton, 1975). Im Folgenden wird auf die deutsche Fassung zurückgegriffen: Bertolt Brecht und Rudyard Kipling (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1976). 9 Die intrikate Frage, bei welchen der hier behandelten Texte die (allgemein unbestrittene) enge Zusammenarbeit Brechts mit Elisabeth Hauptmann als so bestimmend einzustufen ist, dass sie als Ko-Autorin - oder gar alleinige Verfasserin - derselben bezeichnet werden sollte, kann hier nicht diskutiert werden. Immerhin bemerkt auch ein so namhafter Brecht-Spezialist wie John Willett in der über hundertseitigen Fehlerliste zur berüchtigten Brecht-Monographie John Fuegis (der natürlich Hauptmann so viel Texte als möglich zuschreibt), dass zum Beispiel Barbara tatsächlich aus Hauptmanns Feder stammen könnte (vgl. John Willett u.a., «A Brechtbuster Goes Bust: Scholarly Mistakes, Misquotes, and Malpractices in John Fuegi’s Brecht and Company», The Brecht Yearbook 20 [1995]: 259-367, hier 295f.). Umso dringlicher macht sich das Desiderat einer vergleichenden Studie zu Hauptmanns und Brechts Prosaarbeiten dieser Jahre bemerkbar. 10 Zu fragen wäre, ob es sich um denselben Ingenieur Müller wie in der Erzählung «Nordseekrabben» handelt. Auch dort wird auf die Kriegserfahrungen Müllers angespielt: «Müller von der achten, der jetzt wieder Ingenieur ist» (268). Vgl. in Müllers natürliche Haltung: «Müller war im Felde, Stoßtrupp usw. Bekam das E.K.I. nur deswegen nicht, weil keine Disziplin im Leibe, ich weiß» (286). 11 Vgl. hierzu Mews’ Ausführungen (BH 3, 106-10). 12 Hierzu auch Dakowa: «Es ist auch hier interessant zu beobachten, daß die Berichterstattung von der negativen Perspektive aus erfolgt. Demzufolge erscheint der Vertreter der schließlich zu bejahenden richtigen Haltung [Müller] nicht unbedingt in einem günstigen Licht. Diese Irreführung des Lesers ist nicht zufällig, sondern beabsichtigt» (83). 13 Wobei immerhin denkbar ist, dass Müller mit der Geschichte des vermeintlichen Bekannten eigentlich ein eigenes Erlebnis erzählt. Diese Möglichkeit zieht bereits Knopf in Betracht (BH 3, 12). 14 Knopf fasst diese Einladung ganz wörtlich auf: «Die Geschichte will gehört, nicht gelesen werden» (BH 3, 12). 15 Eine Ausnahme bildet Der Kinnhaken (vgl. 209). 16 Nicht in dieses Muster passt die Erzählung Vier Männer und ein Pokerspiel oder Zuviel Glück ist kein Glück. Hierzu auch Mews: «[I]n Vier Männer und ein Pokerspiel [bleibt] der Erzähler anonym. Er wendet sich nicht an einen (meist männlichen) Zuhörerkreis, der sich zu einer geselligen Runde versammelt hat, sondern ganz allgemein an die Leser, die er in einer längeren Passage direkt anspricht […]. Als auktorialer Erzähler nimmt er bereits am Anfang das Ende vorweg» (BH 3, 90f.). Umso interessanter erscheint vor diesem Hintergrund ein Hinweis Elisabeth Hauptmanns, demzufolge der Anfangssatz ursprünglich in der ersten Person Plural («Wir saßen …») gestanden haben soll (Elisabeth Hauptmann, «Das Tagebuch von 1926», in: Sabine Kebir, Ich fragte nicht nach meinem Anteil: Elisabeth Hauptmanns Arbeit mit Bertolt Brecht [Berlin: Aufbau, 1997] 52). Somit wäre also auch dieser Text zunächst als Ich-Erzählung konzipiert gewesen. 17 Hierzu bereits Brandt: «Dieses Vonaußensehen der Dinge, das schon immer zu den grundlegenden Methoden klassischen Erzählens gehörte, ist für Brecht fraglos kennzeichnend. Während viele zeitgenössische Erzähler von Rang ihre Geschichten zuneh- CG_42_2_s097-192End.indd 153 CG_42_2_s097-192End.indd 153 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 154 Florian Gelzer mend erörternd ausbuchten und ihre epische Struktur stark reduzieren, werden sie bei Brecht erzählend oder berichtend uneingeschränkt entwickelt. Die ursprüngliche Geste des Erzählens oder Berichterstattens entfaltet sich wieder ungezwungen» («Zur Erneuerung des Erzählens» 200f.). 18 Darauf weist auch Knopf hin: «Die Geschichte [«Nordseekrabben»] ist durchaus nicht ‹in neusachlichem Stil› […] geschrieben, sondern sie wahrt in der Erzählsituation die ironische Distanz des vermittelnden Ich-Erzählers, der erst allmählich erkennt, worauf alles hinaus läuft» (BH 3, 63). 19 Dakowa 84 (Hervorhebung F.G.). 20 Jan Knopf, Bertolt Brecht (Stuttgart: Reclam, 2006) 259. 21 Und zwar in der gesamten Bedeutungsbreite von casus, wie sie auch Fredric Jameson (mit Rückgriff auf André Jolles’ ‹einfache Formen›) in seiner exzellenten Studie entfaltet (Fredric Jameson, Brecht and Method [London, New York: Verso, 1998] 118-22). 22 Etwas anders sieht es Dakowa: «Somit gestaltet sich die Erzähltechnik des jungen Brecht als eine perspektivische, vorwiegend gestisch-visuell gespiegelte Berichterstattung äußerer Vorgänge, welche dazu geeignet ist, die inneren, verborgenen Vorgänge zu beleuchten. Der Ertrag solch kontrapunktischer Verschlungenheit von verschiedenen Perspektiven des Berichtes ist in der Mehrschichtigkeit der Aussage zu ermessen» (72). 23 Brandt, «Zur Erneuerung des Erzählens», 172. 24 Hier wird auf die Gesamtausgabe zurückgegriffen: Rudyard Kipling, Many Inventions (New York: AMS Press, 1970 [ 1 1941]). 25 Mylord der Elefant: Mancherlei neue Geschichten von Rudyard Kipling, übers. v. Leopold Lindau (Berlin: Fleichel, 4 1913) (im Folgenden mit der Sigle ME abgekürzt). Die früheren Auflagen tragen den Titel Mancherlei neue Geschichten, sind ansonsten aber textidentisch. Lyon lobt die Vollständigkeit und «groß[e] Genauigkeit» (51) der Lindauschen Übersetzung, die auch die in die Erzählungen eingelegten Gedichte berücksichtige. Erstaunlicherweise erwähnt er aber einen massiven Eingriff des Übersetzers mit keinem Wort: Sämtlichen Erzählungen in Mylord der Elefant (mit Ausnahme von The Lost Legion) hat Kipling ein (eigenes oder fremdes) Gedicht vorangestellt; auf diese wichtigen Motti hat Lindau in seiner Übertragung konsequent verzichtet. 26 Dabei wäre vielleicht noch schärfer zu unterscheiden zwischen (manchmal wörtlichen) Übernahmen einerseits, Adaptionen und allgemeinen thematischen Anregungen andererseits: So ist die Lindausche Übersetzung des Schlussgedichts von Love-O’-Women (Lindau: Frauenlieb) (ME 234) nahezu wortgleich in Brechts Ballade vom Weib und dem Soldaten eingearbeitet. Und ein in The Finest Story in the World (Die beste Geschichte der Welt) eingerücktes Epenfragment (ME 144f.) entspricht mehr oder weniger Brechts Gesang der punischen Soldaten. Ferner darf My Lord the Elephant (Mylord der Elefant) wohl tatsächlich als Hintergrund für die ‹Elephantenszenen› etwa in Mann ist Mann, das «Lied vom achten Elefanten» in Der gute Mensch von Sezuan oder der ‹Keuner-Geschichte› Herr K.s Lieblingstier gesehen werden. Auch dass The Record of Badalia Herodsfoot (Authentischer Bericht über das Leben und Tun der Badalia Herodsfoot) zu den Quellen u.a. der Mahagonny-Oper und der Heiligen Johanna der Schlachthöfe gehört, erscheint durchaus plausibel. 27 Lyon 63. 28 Im Original: «Then came, in the intervals of steady card-play, more personal histories of adventures and things seen and suffered» (Kipling, Many Inventions 234). 29 Auffallend sind auch Details wie die Tatsache, dass in beiden Erzählungen eine Veranda als Schauplatz eine wichtige Rolle spielt (236; ME 205). CG_42_2_s097-192End.indd 154 CG_42_2_s097-192End.indd 154 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 «Nehmt eure Stühle und eure Teegläser mit hier hinter den Ofen» 155 30 «Omitting all those stories, and omitting also the wonderful ways by which he arrived at them, I tell here, from Fenwick’s mouth, one that was not the least amazing» (Kipling, Many Inventions 6; Hervorhebung F.G.). Solches Weitererzählen kommt auch bei Brecht häufig vor, etwa in Schlechtes Wasser: «Dann erzählte er. | Dieser Lewis hatte einmal, MacBride zufolge, eine Chance gehabt» (237; Hervorhebung F.G.): 31 Vgl. Kipling, Many Inventions 131-66. 32 Vgl. auch den Schluss von Jephson und das Reich: «Und wenn diese Mitteilungen, auf denen die vorstehende Erzählung aufgebaut ist, nicht wahrheitsgetreu wären, so würden meine Leser nicht im Hafen von Simons-Town einen kleinen, flachen Schraubendampfer sehen können […]. Die freundlichen Leser werden deshalb auch kaum umhin können, dem Berichte einen gewissen Glauben beizumessen» (ME 273). 33 Ein Blick in das Original macht deutlich, wie stark die Lindausche Übersetzung die Vorlage stellenweise glättet: «I can’t say fwhat that I mane to say bekaze I don’t know how, but Mackie was the spit an’ livin’ image av a man that I saw march the same march all but; an’ ’twas worse for him that he did not come by Macie’s ind» (Kipling, Many Inventions 333). 34 Lyon 63. 35 Bertolt Brecht, Aus dem Lesebuch für Städtebewohner, Werke, Bd. 11: Gedichte I. Sammlungen 1918-1938, bearb. v. Jan u. Gabriele Knopf (Berlin, Weimar: Aufbau; Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988) 157, 159, 162. Die Ausgabe setzt die Schlussbemerkungen in runde Klammern; hier sind sie - wie im Originaldruck - in eckige Klammern gestellt. 36 Detailliert untersucht z.B. in Walter Delabar, «Nomaden, Monaden. Versuch über Bertolt Brechts Aus dem Lesebuch für Städtebewohner», Bertolt Brecht (1898-1956), Hg. Walter Delabar u. Jörg Döring (Berlin: Weidler, 1998) 141-62. 37 P.V. Brady, «Aus einem Lesebuch für Städtebewohner. On a Brecht Essay in Obliqueness», GLL 26 (1972/ 73): 160-72. CG_42_2_s097-192End.indd 155 CG_42_2_s097-192End.indd 155 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06
