eJournals Colloquia Germanica 42/2

Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
2009
422

James Hodkinson and Jeffrey Morrison (Eds.): Encounters with Islam in German Literature and Culture. Rochester, NY: Camden House, 2009. 269 pp. $ 90.

61
2009
Ülker Gökberk
cg4220185
Besprechungen / Reviews 185 James Hodkinson and Jeffrey Morrison (Eds.): Encounters with Islam in German Literature and Culture. Rochester, NY: Camden House, 2009. 269 pp. $ 90. In ihrer Einleitung betonen die Herausgeber, dass die 2007er Tagung an der National University of Ireland, Maynooth, aus der der vorliegende Band hervorging, nicht nur wissenschaftliche, sondern auch aktuelle europäische Fragen behandelte. Mit dem Hinweis auf die jüngsten Spannungen zwischen dem Westen und der islamischen Welt stellen Hodkinson und Morrison zugleich die Angemessenheit von Samuel Huntingtons berüchtigtem Modell des Zivilisationenkonflikts in Frage. Sie merken an, dass die heutige europäische Konstellation, die demographisch wie kulturell den Islam in sich beinhaltet, binäre Gegenüberstellungen von Westen und Islam ausschließe. Der Reflexionsansatz der anregenden Studien in dieser Sammlung geht also von den konkreten gesellschaftlichen und politischen Konflikten des neuen Millenniums aus, um sich kritisch mit den gegenwärtigen Diskursen über den Islam in der europäischen Politik, in den Medien und intellektuellen Kreisen auseinanderzusetzen. So beziehen sich die Beiträger des Bandes implizit oder explizit auf neue Konstruktionen eines Fremdheitsbildes des Islams, die seit dem 11. September 2001 in der europäischen Vorstellung in Gang gesetzt wurden. Der Aufstieg des radikalisierten Islams einerseits, die zunehmende Anzahl von Einwanderern aus islamischen Ländern andererseits bereiteten den Weg zu neuen einseitigen Definitionen einer «Wir»-Gruppe gegenüber dem mohammedanischen Einwanderer als «der Andere». Unter Deutschlands Einwanderern aus islamischen Ländern machen diejenigen mit türkischer Herkunft bekanntlich die größte Gruppe aus. Gerade zu einer Zeit, in der die deutsche konservative Politik den Tod des Multikulturalismus verkündet und die Integration der (islamischen) Minderheiten als den einzigen Ausweg proklamiert, gewinnt das Erscheinen des Bandes Encounters with Islam in German Literature and Culture an Bedeutung. Die Bandbreite der Begegnungen mit dem Islam in deutsch-sprachigen Texten, die die Beiträger erforschen, ist groß. Untersuchungen zum Islambild im Mittelalter, die Besprechung der christlichen Darstellungsmodelle eines ketzerischen und perversen Islams in Turcica, Interpretationen von Herder, Goethes West-östlicher Divan, Novalis’ Heinrich von Ofterdingen und E.T.A. Hoffmanns Das Sanctus bieten neue Analysen und Ergebnisse an, die über Edward Saids Diskurskritik hinausgehen. Die Stellungnahmen in diesem Band entsprechen in vielerlei Hinsicht der Bezeichnung «post»: Sie sind post-Said, post-Gastarbeiterliteratur, postmodern und «post-9/ 11». So bietet diese zeitgemäße Veröffentlichung den German Studies neue Reflexionsebenen zu theoretischen wie auch aktuellen Themen an. Die internationale Gruppe der Beiträger könnte in sich als eine interkulturelle Begegnung bezeichnet werden. Die kritischen Überlegungen, die ich im Folgenden anstelle, weisen auf manche Lücken und Ungenauigkeiten in der Methodologie sowie Terminologie hin, die hier und da auftreten. Diese betreffen insbesondere die Analysen der deutsch-türkischen Begegnungen in der Moderne. Die Überlegungen meinerseits sollten dazu verhelfen, bei einer interdisziplinären Arbeit tiefgehender über methodologische Fragen nachzudenken. So scheint es mir, dass Encounters with Islam von einer gründlicheren CG_42_2_s097-192End.indd 185 CG_42_2_s097-192End.indd 185 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 186 Besprechungen / Reviews Kenntnisnahme des historiographischen Diskurses über das späte osmanische Reich und die türkische Republik hätte profitieren können. Schon der Buchdeckel, auf dem eine türkische Miniatur abgedruckt ist, veranschaulicht die zentrale Position, die die Anthologie den «Türken» als Vertretern des Islams einräumt. Die Kapitel hätten durch die Kenntnisnahme des türkischen Modernisierungsprozesses zu akkurateren Ergebnissen gelangen können; denn interdisziplinäre und interkulturelle Methodologien können erst im Schnittpunkt vielfacher Erwägungen erfolgreich ausgeführt werden. Immer wenn in den Beiträgen die spezifische türkisch-osmanische Geschichte der Neuzeit, insbesondere die der Reformbewegungen im neunzehnten Jahrhundert und der revolutionären Wende zur nationalistischen Republik außer Acht gelassen wird, entsteht auch ein undifferenziertes Türkenbild. Sowohl der Prozess der türkischen Modernisierung, der 1923 in die Gründung des säkularen Staates unter Atatürk einmündete, als auch die Reaktionen gegen diesen Prozess haben die Definition der türkischen Identität ein für alle Mal mitgeprägt. Ein weiteres Problem, das mit dem oben angeführten methodologischen Ansatz verbunden ist, betrifft den Gebrauch des Wortes «Muslim» und die Verschmelzung von «Türke» und «Moslem». Solch eine unspezifische Gleichsetzung kommt zum Beispiel vor, wenn die Herausgeber von einer «increased visibility of a Muslim presence at the heart of German culture» sprechen und damit hauptsächlich auf die türkischen Minderheiten hinweisen (2). Gewiss übersehen die Herausgeber nicht, dass die Identität dieser Gruppen von unterschiedlichen Tendenzen mitbestimmt wird (3). Doch wenn Hodkinson und Morrison im Zusammenhang der deutschen Gegenwartsliteratur auf die hybride Stellung der türkisch-deutschen Autoren eingehen, definieren sie diese wiederum als «Muslim writers» (14). Auch Karin Ye ş ilada, deren differenzierte Behandlung von türkischen Identitätskonstruktionen zwischen Glaube und Säkularismus anhand von Şenocaks Essays eine tragende Rolle im ganzen Buch spielt, bezeichnet Şenocak als «the German-Turkish Muslim», um ihn von «the German Christian» Christoph Peters zu unterscheiden (195). Inwiefern sind die deutschsprachigen Schriftsteller türkischer Herkunft Moslems? Man denke hier an die Vertreter der «Migrantenliteratur» aus der ersten Generation, wie Pazarkaya und Ören. Pazarkaya blieb festgeankert im Säkularismus, und Ören ist Marxist. Ist die Bezeichnung «Moslem» etwa Produkt eines Bewusstseins des «post-«, wie ich oben andeutete? Weist sie auf die Selbstdefinition der jüngeren türkisch-deutschen Autoren hin? Der Sinngehalt des Begriffs, d.h., seine zeitbedingten, kulturellen, religiösen oder ethnischen Bestimmungen sollten meines Erachtens in die Analysen miteinbezogen werden. Die Herausgeber weisen auch auf eine weniger erforschte Dimension der deutschtürkischen Begegnungen hin, wenn sie das türkische Exil deutscher Wissenschaftler 1933 und deren Beauftragung im neuen türkischen akademischen System besprechen. Hodkinson und Morrison schlagen vor, diese Begegnung anders als im Sinne von Saids kolonialistischem Paradigma zu lesen: «It is, however, difficult to overlook the power structure at play here: Turkish Muslims were acting as host to these people, and they were dependent upon its charity» (5). Im Lichte von Atatürks Nationalideologie und den offiziellen Anstrengungen, eine westlich orientierte, von der Reli- CG_42_2_s097-192End.indd 186 CG_42_2_s097-192End.indd 186 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 Besprechungen / Reviews 187 gion befreite türkische Gesellschaft zu konstruieren, wäre es verfehlt, die damaligen Behörden als «Turkish Muslims» zu bezeichnen. In ihrem Artikel über das Bündnis zwischen dem Wilhelminischen und Osmanischen Reich unternimmt es Rachel MagShamhráin, diesen Bund und die indirekte Teilnahme des Kaiserreichs am armenischen Genozid unter dem Vorzeichen eines vieldimensionalen Orientalismus zu lesen. Trotz eines theoretisch reichen Aufbaus und einer treffenden deutschen Diskursanalyse kommt auch hier die Bezugnahme auf die Historiographie der türkischen Modernisierung, die gerade zur Zeit der Jungtürken mit einem Ultranationalismus verkoppelt war, zu kurz. Die Türken in dieser Analyse sind leblos und klischeehaft, so wie die friedvolle anatolische Agrarkultur im Rosa Luxemburg-Zitat, auf dessen eurozentrische Prämissen MagShamhráin nicht eingeht (153). Hier sollte noch einmal auf die Beiträge zur türkisch-deutschen Literatur hingewiesen werden. Sowohl Ye ş ilada in ihrem oben erwähnten Artikel als auch Margaret Littler in ihrer Studie über drei türkisch-deutsche Schriftsteller berücksichtigen die doppelte Identität der Türkei als eine westlich orientierte und islamische Kultur. Ye ş ilada wirft die Frage auf, was es bedeutet, in der Zeit nach «9/ 11» ein «Muslim» in Deutschland zu sein (182-83). Littlers Ansatz zielt auf eine Lesart von Özdamar, Şenocak und Zaimoglu als minor literature im Sinne von Deleuze und Guattari. In ihrem Argument gegenüber Leslie Adelsons These, dass die türkisch-deutschen Autoren wenig mit dem Islam zu tun hätten, möchte Littler beweisen, wie der Islam durch thematische Komponenten und poetische Strategien im Werk dieser Autoren impliziert sei (222). Littlers einsichtige Interpretation und Adelsons stichhaltige These bieten interessante Ansatzpunkte zur weiteren Diskussion. Ich würde in Übereinstimmung mit Adelson sagen, dass es bei der Integrierung islamischer Motive und Themen den türkisch-deutschen Schriftstellern mehr um literarische Strategien und eine Art Selbstkonstruktion in der deutschen Öffentlichkeit geht als um die Widerspiegelung kultureller und religiöser Überzeugungen. Für diese Kinder einer Ära nach einem Traditionsbruch im Sinne von Gadamer ist die Erforschung der eigenen Ursprünge in der islamisch-osmanischen Tradition performativ und programmatisch zu verstehen. Richten wir abschließend unseren Blick zurück auf das Deckelbild. Dazu findet sich die folgende Information: «Image credit: Detail of the miniature Siege of Vienna by the Ottoman Army by Nakka ş Osman et. al. (1584), from the Topkapi Palace Museum, Istanbul, Turkey». Das Deckelbild repräsentiert offensichtlich die vielschichtige Thematik dieser Sammlung. Da die Miniatur der osmanischen Perspektive entstammt, steckt in der Wahl der Abbildung eine ironisch-kritische Geste, die herkömmliche Fremdheitskonstruktionen des Islams abbaut. Ich würde vorschlagen, den Miniaturmaler (Nakka ş ) Osman, der hier die erste Belagerung Wiens darstellt, in die kritischen Erwägungen mit einzuschließen. Osman, der große Meister des sechzehnten Jahrhunderts, wäre eigentlich eine bedeutsame Figur, den Schwebezustand der türkischen Kultur zwischen Tradition und Moderne, Ost und West zu untersuchen. Dies unternimmt der türkische Nobelpreisträger Orhan Pamuk in seinem Roman Benim Adim Kirmizi (Rot sei mein Name), indem er Nakka ş Osman zu einem Romanhelden macht und so den Kampf zwischen der traditionellen Buchillustrationskunst und der Einführung von westlichen Methoden der Malerei CG_42_2_s097-192End.indd 187 CG_42_2_s097-192End.indd 187 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06 188 Besprechungen / Reviews im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert darstellt. Hier wie auch in seinem Gesamtwerk geht es Pamuk um die schillernde Stellung der türkischen Identität zwischen Ost und West. Die hybriden türkisch-deutschen Autoren sind dialektisch je schon in diese schillernde Stellung einbeschlossen und transzendieren hiermit den Signifikant «Moslem». Reed College Ülker Gökberk W OLF G ERHARD S CHMIDT : Zwischen Antimoderne und Postmoderne: Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, 2009. 800 pp. € 99,95. Wolf Gerhard Schmidt’s Zwischen Antimoderne und Postmoderne: Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext delivers in its scope, depth, and detail an unrivaled account and analysis of German theater from 1945 to 1961. A second volume dealing with the same topic and time period for Austria and Switzerland is projected. When completed, Schmidt’s study will be a systematic and astonishingly comprehensive history of postwar drama in the German-speaking countries. Rather than focusing solely on the usual suspects (Brecht, Borchert, Hacks, Hildesheimer, Kipphardt, Müller, Weiss, Zuckmayer) and no-longer-so-usual suspects (Drewitz, Jahnn, Matusche, Schneider, Strittmatter, Weisenborn, Wolf), Schmidt excels at (re)introducing authors and plays into the postwar discourse that have long been forgotten or never really been known in the first place. Has anyone read the works of Wolfgang Altendorf, Egon Vietta, or Julius Vogel recently? Or Fred Denger’s strangely titled Die heilige Hannah von Auschwitz oder «Es muß noch vieles frisch gestrichen werden» (1945/ 46), or Hedwig Rohde’s Ein anderes Land (1946), which is, according to Schmidt, one of the earliest surviving German plays dealing with the Holocaust, or even Thomas Harlan’s Ich selbst und kein Engel (1958) which will be republished later this year? In the case of Denger’s drama the answer has to be «no» since not a single copy of this never-performed play has survived. Rohde’s play was premiered at the Ruhr-Kammerspiele in 1946 but exists only in the form of a self-published typescript. Thanks to his work as collector and literary historian, Schmidt widens our awareness of authors and plays that did not make it onto the stages of Hamburg, Munich, or Berlin but were performed (or publically read) in provincial theaters. His study makes a strong argument for acknowledging that drama and theater functioned in the 1950s as a privileged place and medium for postwar society to explore and debate social, ethical, and political questions. Starting from a summary of the sociocultural and political context of postwar theater in East and West Germany, Schmidt analyzes the wide variety of performance and staging models in postwar German theaters. With his preference for mathematical terminology, he develops for Fehling, Gründgens, Sellner the notion of «integral theater» - based on their conviction that no single interpretation or staging but only the play of all possibilities in several productions provides interpretive justice to the literary work. Brecht and Langhoff are subsumed CG_42_2_s097-192End.indd 188 CG_42_2_s097-192End.indd 188 23.12.11 22: 06 23.12.11 22: 06