eJournals Colloquia Germanica 42/4

Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2009
424

Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch

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2009
Gabriele Eckart
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Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch GABRIELE ECKART S OUTHEAST M ISSOURI S TATE U NIVERSITY G.E: Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen, lebe seit 1988 in den USA und unterrichte dort Deutsch, Spanisch und vergleichende Literaturwissenschaft. Ich interessiere mich für Ihre Bücher vor allem wegen der vielen Bezüge zur Weltliteratur, Cervantes, den Kassandra-Stoff oder Shakespeare in Ihrem neuen Erzählband Schwarzer Schnee. Am interessantesten finde ich Ihre Erzählung «Das Werk oder Doña Quichotte,» in der Sie mit Anna eine weibliche Don Quichotte-Figur entwarfen. In welchem Alter haben Sie Cervantes ’ s Roman Don Quichotte de la Mancha zum erstenmal gelesen? M.B: Vermutlich in der Schule, was in Klarschrift bedeutet, dass ich jahrelang einen Bogen drum machte. Als ich mit über Dreißig zufällig im Band blätterte, ereignete sich, was Elias Canetti prophezeit: Es steht nicht immer dasselbe in einem Buch. Je nach Alter, begegnet man gar einem völlig neuen Werk. Ich will nicht behaupten, dass ich beim Schreiben bewusst Bezug genommen hätte auf Cervantes; vielleicht hat das Leseabenteuer unbewusst weitergewirkt. G.E: Wie sind Sie auf die Idee einer Doña Quichotte gekommen? M.B: Ich habe die Erzählung vor unserem Treffen zum ersten Mal wieder gelesen und war überrascht, auf was für autobiographische Parallelen ich stieß. Beim Schreiben waren sie mir nicht bewusst gewesen. Es herrschte wohl das vage Gefühl vor, selbst eine Doña Quichotte-Existenz zu führen. Von Zeit zu Zeit überfiel mich eine Stinkwut, dass ich mir das Recht zu schreiben dauernd neu erkämpfen musste, und für meinen Mann . . . Nun ja, es hatte für ihn etwas Rührendes, dass Schreiben für mich einen derart hohen Stellenwert hatte. Obwohl die Figur des Stefan in jeder Hinsicht anders ist als mein Mann es war, haben mich beim Wiederlesen Gemeinsamkeiten überrascht. Der eigentliche Beweggrund zur Geschichte scheint mir aber, dass ich die Figur der Anna meiner eigenen Situation aussetzte, ohne autobiografisch zu schreiben - ich konnte sozusagen zusehen, wie die andere sich entpuppte. Möglicherweise wich ich auf die Malerei und Marionetten-Fabrikation aus, um beim Schreiben freier zu sein. Ich bin handwerklich höchst ungeschickt, Malerei und Bildhauerei hatten aber ihren festen Platz im Familienleben. Mein Mann war ein ausgesprochener Kunstkenner, der älteste Sohn bildete sich zum Plastiker aus. Nach der Publikation von Das Bildnis der Doña Quichotte meldete sich eine Malerin aus Luzern und lud mich zu einem Atelierbesuch ein: Sie hatte alle Bilder Annas gemalt und ihre Marionetten nachgebaut. Es funktionierte also, was ich imaginiert hatte, auch die Experimente mit Acrylfarbe, Eigelb und Ketchup. Ich war belustigt und zugleich gerührt, dass sich die Luzerner Künstlerin vollkommen auf meine Beschreibung verlassen hatte. Allerdings war mein Text aufs Technische hin überprüft worden von meiner Freundin, die Malerin ist. G.E: Der erste Satz Ihrer Erzählung lautet: «Ist es nicht lächerlich? » und bedeutet: Ist es nicht lächerlich für eine Schweizer Hausfrau mit zwei kleinen Kindern, Malerin werden zu wollen. Sehe ich das richtig, dass Ihre Protagonistin, Anna, auf sich selbst und ihren Wunsch zu malen mit Männeraugen schaut? Und dass Anna diesen Männerblick sozusagen verinnerlicht hat und sich selbst lächerlich vorkommt, als «muffige Hausfrau am Pinsel» oder «klecksende Mami,» erzeugt ihre tiefe Krise, in der sie sich als Doña Quichotte malt? M. B: Absolut. Die Frage ist ja, ob es einen unvermischt weiblichen Blick überhaupt schon gibt. Das ist auch ein Grundproblem beim Schreiben: Wir haben keine selbstverständliche, weibliche Tradition im Rücken und identifizieren uns unwillkürlich mit Werken von Männern. In den letzten 30 Jahren ist allerdings viel passiert, auch in der Literaturforschung. Sigrid Weigel, zum Beispiel hat ihre Untersuchung «Der schielende Blick» veröffentlicht; die These geht dahin, dass Autorinnen beim Schreiben mit einem männlichen und einem weiblichen Auge auf ihre Arbeit blicken. Anna hat diesen schielenden Blick als Malerin, weil sie den männlichen Kriterienkatalog nicht außer Kurs setzt und auf keine weibliche Tradition zurückgreifen kann. G.E: Cervantes ’ Don Quichotte und Ihre Anna laufen beide einem Traum nach. Der Spanier will mit dem Schwert in der Hand das Goldene Zeitalter errichten, Anna mit dem Pinsel in der Hand eine Malerin werden. Beide scheitern. Don Quichotte stirbt am Ende, nachdem er aus seinen Illusionen erwacht ist; Anna stirbt nicht. Aber sie resigniert; ihr Traum stirbt, und so stirbt sie in gewissem Sinne auch; statt Malerin wird sie Kunsthandwerkerin. Den wichtigsten Unterschied zwischen Don Quichotte und Anna sehe ich darin, dass der Spanier dadurch, dass er zu viele Ritterbücher gelesen hat, die Realität verkennt. Er ist verrückt. Anna verkennt die Realität nicht. Sie sieht Gabriele Eckart 364 die Schweizer Gesellschaft und die Rolle der Frau darin, wie sie sind. Und deshalb kann Anna nicht wirklich handeln, und auf Abenteuer losziehen auf dem Gebiet der Kunst. Habe ich Recht zu sagen, dass es Anna an einem Schuss Verrücktheit mangelt und dass sie deshalb scheitert? Ist sie trotz ihres großen Traums, auf neue Art zu malen, zu vernünftig? M.B: Die Frage ist, ob man verrückt sein muss. Oder ist es nur mangelnder Mut, seinen inneren Bildern nicht denselben Platz einzuräumen, wie der sogenannten Realität? Das Spannende ist ja, sich zu fragen, was Wirklichkeit überhaupt ist. Im Grunde die zeitgemäße Sicht auf Welt und Natur - also eine Art Mode, die gesellschaftlich sanktionierte Seh-Mode. Anna wartet permanent darauf, dass jemand kommt und ihre andere, ihre innere Wirklichkeit sanktioniert: «Mach mal. Tu mal. Deine Augen sind souverän.» G.E: In Ihrem Werkstattgespräch mit Maria Jori von 1995 fand ich noch einen interessanten Bezug auf einen weiblichen Don Quichotte: Sie freuen sich da über die Berufung der Feministin Sigrid Weigel zur Professorin an der Universität in Zürich, ärgern sich aber darüber, dass sie in Interviews andeutete, sich nicht länger auf Autorinnen einschränken zu wollen, dass es ihr vielmehr um Qualität gehe. Ich zitiere: «Ich fürchte heimlich, dass Frau Weigel an vorauseilendem Gehorsam litt und ihren Einstand im patriarchalischen Unibetrieb nicht als Doña Quichotte geben wollte.» Wie sehen Sie das heute? Ist aus Sigrid Weigel eine Kämpferin gegen Windmühlenflügel geworden, oder hat sie sich - so wie Ihre Anna am Ende - angepasst? M.B: Sie hat sich angepasst. Letztlich kann man es ihr nicht verargen, dass sie nicht zur Außenseiterin gestempelt werden wollte. Es gab zwei Frauen an der Universität Konstanz - Senta Trömer-Plötz und Luise F. Pusch - die feministische Sprachuntersuchung betrieben. Über kurz oder lang sind ihnen die Forschungsgelder entzogen worden . . . Den beiden Wissenschaftlerinnen passierte genau, was Anna in meiner Erzählung passiert ist. Man belächelte sie, dann wurde das Lächeln zum Unwillen: «Weiberzeugs! Eure Freiheit habt ihr gehabt und jetzt arbeiten wir alle mal wieder richtig.» Das ist die gängige Art und Weise, Frauen zu blockieren. Frau Weigel hatte keine Lust mehr, ihre Karriere aufs Spiel zu setzen. Jetzt ist sie in Hamburg, wenn ich nicht irre . . . Apropos Klima in der Schweiz: Ich hatte immer den Eindruck, die DDR und die Schweiz seien sich in manchem verdammt ähnlich. Eine Art Abschottung von der Welt wehte mich hüben wie drüben an, als wäre nach dem Krieg über beide Länder ein Konservenglas gestülpt worden: Sie machten politisch die europäische Entwicklung nicht mit. Die Schweiz betrieb nach dem Generalstreik 1918 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion immer dieselbe Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 365 stramme Antikommunismus-Politik. Einzig nach 1945 gab es eine kurze Zäsur, weil die Schweiz sich um die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen mit den Sowjets bemühte. Aber die heimkehrenden Spanienkämpferinnen und -kämpfer waren inhaftiert worden, und während man NSDAP- Splittergruppen tolerierte, wurde die Kommunistische Partei in der Schweiz von 1939 bis 41 verboten. Die DDR entstand aus der absolut konträren Position. Ich war oft in Ostberlin und in Leipzig und war konsterniert: Die gesellschaftlichen Umgangsformen heimelten mich an, die respektvolle Stille bei Lesungen, die etwas steifleinenen Diskussionen, die altväterische Höflichkeit. In Westberlin herrschte ein befremdlich anderes Klima - wir Schweizerautorinnen und - autoren waren den hitzigen Debatten und Angriffen nicht immer auf Anhieb gewachsen. Obwohl wir glaubten, im freisten Land der Welt zu leben, sind wir nach dem Krieg politisch und sozial unglaublich am Seil gelaufen . . . G.E: Die Frauen in der Schweiz haben erst 1971 das allgemeine Stimm- und Wahlrecht erhalten. Konnten die Frauen seither den politischen Kurs des Landes ändern? M.B: Es hat sich einiges getan, aber wir sind noch immer kein Vorzeigeland für die Stellung der Frau. Mit Doña Quichotte wurde ich 1989/ 90 zu vielen Lesungen eingeladen, auch an Unis. Manche Studentinnen monierten da: «Das ist nicht mehr unser Problem, wir leben jetzt partnerschaftlich mit Männern zusammen, da teilt man sich die Arbeit auf.» Es war unterschwellig ein aggressiver Ton gegen mich herauszuhören: «Ach du, mit deinem Kampf, der ist längst passé, wir haben jetzt alle Möglichkeiten.» Ich sagte: «Euer Wort in Gottes Ohr, rein gesellschaftlich hat sich nämlich nichts geändert, denkt bloß an die öffentliche Debatte um Krippenplätze.» Das funktioniert übrigens bis heute nicht. Meine Tochter dachte genau, wie die Studentinnen damals, sie führt eine andere Ehe, als ich sie geführt habe und meldete auch prompt: «Eure ist out, Mams! » Bloß musste sie um die zwei Krippenplätze für ihre Kinder kämpfen. Ihr Mann legt tatsächlich Hand an im Haushalt, er kann kochen, er nimmt sogar einen Tag pro Woche frei. Aber falls ein Kind Fieber hat, kann es bekanntlich nicht in die Krippe. Und dann? Wer bleibt zu Hause? Übrigens sind Kinderkrippen auch 2010 finanziell nicht gesichert. Der Staat muss sparen. Frage ist, wo. Es gibt reaktionäre Parteien, die SVP (Schweizerische Volkspartei) zum Beispiel, die das Thema Kinderbetreuung gerade neu lanciert hat: Wenn eine Frau Kinder will, dann soll sie zu Hause bleiben. Und wenn sie lieber weiter an ihrer Selbstverwirklichung bastelt, soll sie für die Kosten selber aufkommen - weshalb sollte die Gesellschaft Gelder freimachen, um sie zu entlasten? Allerdings sind heute zwei Drittel aller Mütter erwerbstätig und in Gabriele Eckart 366 den seltensten Fällen aus eigensüchtigen Motiven: Der Frauenlohn ist für die Familie nötig. Aber das politische Argumentationsmuster hinkt der gesellschaftlichen Realität hinterher. Ein Beispiel: Während der Schulferien bietet die Stadt Bern jeweils Programme an für schulpflichtige Kinder. Zur Wahl stehen beispielsweise Theaterspielen, Wandern, Orchestermusik, Sport . . . Aber letzten Samstagabend wurden meine jungen Freunde angerufen: Die beiden Kinder könnten am Montag nicht kommen, es seien zu wenige Anmeldungen für «Malerisches Gestalten» eingegangen. Meine Freundin rief aus: «Was sollen wir denn jetzt mit den Kindern machen, ich muss arbeiten . . .» Antwort: «Das ist Ihr Problem, wir sind nicht Ihr Kinderhütedienst.» Solch eine Antwort gibt man nur, wenn sie politisch sanktioniert ist, eben: Entweder Ihr wollt Kinder oder Ihr seid berufstätig. Auf andern Gebieten sehe ich allerdings große Fortschritte: Immer mehr Künstlerinnen setzen sich durch, vielleicht ist «durchsetzen» sogar das falsche Wort. Es ist ganz einfach selbstverständlich geworden, dass es Frauen und Männer gibt in jeder Kunstsparte und in jeder Funktion im Kulturbetrieb. Am Theater gab es vor dreißig Jahren beispielsweise keine Frau in der Regie; heute ist es gang und gäbe, das Schauspielhaus Zürich hat sogar seine erste Intendantin und ihre Leistung wird nicht kleingeredet . . . Ich glaube, wir haben in der Schweiz profitiert von der Großwetterlage in Europa. G.E: In «Das Werk oder Doña Quichotte» heißt es: «Autos hupten, Schritte kamen näher, der Briefträger tratschte mit dem Hauswart, eine Polyphonie der Alltäglichkeit rundum, satt und platt die Welt» (43). Diese Stelle lässt mich an ein Vorurteil denken, dass ich oft auf Konferenzen höre: Die Schweizer seien zu satt, den Schweizern gehe es zu gut. Sie hatten für zu lange Zeit keine existentiellen Probleme. Deshalb sei die im Augenblick einzig interessante Literatur aus der Schweiz diejenige, die von Einwanderern verfasst wird. Was ist Ihre Meinung zu diesem Vorurteil? M.B: Auf Anhieb würde ich sagen: Ins Schwarze getroffen! Und wenn ich etwas länger überlege . . . Neben der Scheibe! Die vielgerühmte Adelheid Duvanel war Schweizerin, Matthias Zschokke ist Schweizer, Lukas Bärfuss ist Schweizer. . . Und wie viele Autorinnen und Autoren in der Schweiz haben ausländische Wurzeln? Meine Vorfahren kommen aus Italien und aus Österreich. Aber ich möchte noch etwas berichtigen. Es stimmt nicht, dass wir als Nation keine existenziellen Probleme kannten. Die Schweiz war bis Anfang des 20. Jahrhunderts ein Auswanderungsland, die ärmsten Gemeinden setzten Prämien aus, damit möglichst viele zusammenpackten und außer Landes gingen. Es war nicht genug Essen da für alle. Im Tessin zum Beispiel, herrschte Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 367 noch vor knapp hundert Jahren Hungersnot. Aber es stimmt, dass wir von beiden Weltkriegen verschont blieben. Ich finde es interessant, dass sich bei Schweizer Schriftstellern eine Art Minderwertigkeitskomplex einstellte nach dem ersten Weltkrieg. Albin Zollinger schrieb Anfang 1931 seinem Kollegen Traugott Vogel: Frank Thiess schrieb in der Literarischen Welt über Ramuz und sagte dabei ungefähr, die CH könne jetzt keine großen Dichter von Weltgeltung hervorbringen - die bekannte Sache mit Saturn, Sattheit. Aber was das Schlimmste ist: Heimlich fürchte ich, dass schon etwas dran liegt, wir sind im Rückstand geblieben, es geht uns verhältnismäßig zu gut - lesen Sie, was diese deutsche Jugend erlebt, auch nationale Schmerzen müssen ihre Früchte zeitigen. So dünkt es mich oft, wir Neutralen können uns jetzt alle im Krieg versäumten Kugeln durch die Stirn jagen. So unsinnig es ist, den Kanonen den Fortschritt der Poesie zuzuschreiben. Ich bin so oft hundserschöpft . . . Frieden als Manko. Bis heute ist «Schicksal» in der Schweiz Privatangelegenheit geblieben - ein nationales Schicksal kennen wir nicht. Obwohl . . . Die hausgemachten Bankkrisen der letzten Jahre - für die Schweiz begannen sie mit dem Debakel um die nachrichtenlosen Vermögen und setzen sich jetzt fort mit dem Debakel der Schweizer Großbanken in Sachen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung. Etwas pointiert könnte man sich fragen, ob es zum weltweiten Anti-Helvetismus kommen wird, weil «Schweizerbank» und «Schweizerland» kaum noch zu unterscheiden sind. Ein Auswanderungsland wird die Schweiz deswegen nicht wieder werden. Aber das Odium, unlautere Profiteure zu sein, werden wir so schnell nicht los werden, wir horten nach wie vor Unrechtsvermögen aus Diktaturen und halten am Bankgeheimnis fest bis zum Geht-nicht-mehr. . . Es gibt die Reflexfrage: «Sind andere Länder besser? » Gewiss sind wir kein Sonderfall. Allmählich dämmert uns sogar, dass wir ohnehin nie einer waren. Und die Aschewolke aus Island hat uns vor Augen geführt, dass es keinen Deut hilft, der Europäischen Union nicht beigetreten zu sein, die Umweltverschmutzung steht nicht still an der Landesgrenze, sie macht nicht einmal Halt vor dem Gebirge. G. E.: Neben der Titelgeschichte in Ihrem 1989 veröffentlichten Erzählband Das Bildnis der Doña Quichotte gefällt mir am besten «Liebe Mutter, Wörter sind Nüsse,» wo sich die Mutter über Descartes ’ Grundsatz «Ich denke, also bin ich» mokiert. Glauben Sie jetzt, mit Ihrer Lebenserfahrung einer Frau von über siebzig Jahren, dass es besser heißen müsste: «Ich fühle, also bin ich? » M.B: Nur zu fühlen, finde ich eine ebenso halbbatzige Lösung, wie einzig in kausal verknüpften Zusammenhängen zu denken; beides zielt an der gelebten Gabriele Eckart 368 Wirklichkeit vorbei. Man müsste eine Synthese aus beidem machen: «Ich denke mit Gefühl» . . . Ich wohne fast Tür an Tür mit der Philosophin Carola Meier-Seethaler, sie hat 1997 ein Buch zu dieser Thematik veröffentlicht: Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft. G.E: Um noch einmal auf Don Quichotte zurückzukommen, er lernt ja auch nicht auf rein rationale Weise, «Ich denke, also bin ich,» sondern durch sinnlich unmittelbare, körperliche Erfahrung, durch Schmerz. M.B: Ich würde sagen, Don Quichottes anfängliche Wirklichkeit ist lediglich angelesen; was er als Schmerz erfährt, kann er wirklich begreifen. G.E: Bei Ihrer Anna ist das ähnlich: Sie lernt nicht, indem sie rationale Argumente hin- und herbewegt, sondern durch ihre sinnlich unmittelbare Erfahrung z. B. beim Kochen. Ich zitiere: «Die kochende Anna sah, wie die Holzkelle eine Diagonale bildete in der Tomatensoße. Das Hackfleisch daneben, der Kartoffelbrei, alles barst in flimmernde Farbpartikelchen, sie fügten sich zu Mustern; wenn Anna blinzelte, stäubten sie auf und fanden zu neuen Ordnungen.» M.B: Man könnte die Schraube noch ein bisschen weiter drehen. Männer haben ja ähnlich sinnlich-konkrete Erlebnisse. Sie rationalisieren sie nur sofort. Und die Frage ist, ob die Welt der Frauen, also Kochen usw., nicht seine Entsprechung hat in der Berufswelt der Männer. Die ursprünglich frauenspezifische Erfahrungswelt ist nicht eben glanzvoll. Wenn Männer ihr Arbeitspensum reduzieren und die Kinder betreuen, und kochen und waschen und putzen, bekommen sie klassische Frauenprobleme. Es gab am Schweizerradio eine Sendereihe über Hausmänner dazu, sie hieß «Hosenträger.» Man hat herausgefunden, dass Männer, die keinem Beruf mehr nachgehen, einen Hang zur Weinerlichkeit entwickeln: Wenn die Frau nicht rechtzeitig zum Essen kommt, verkocht es zur Zumutung. Und wer sieht überhaupt, was Hausmänner machen, außer sie machen es einmal nicht? G.E: In «Das Werk oder Doña Quichotte» beschreiben Sie den Gegensatz zwischen Leben und Funktionieren im Leben einer Ehefrau mit kleinen Kindern. Heute sind Ihre Kinder erwachsen, Ihr Mann starb, Sie wohnen allein. Glauben Sie, dass eine Frau in Ihrer jetzigen Situation, die mehr Zeit hat, das zu machen, was sie will als früher, in einem stärkeren Maße lebt als in jungen Jahren? M.B: Das überlege ich mir oft. Nach dem Tod meines Mannes bin ich in eine kleine Wohnung umgezogen in einem sehr viel lebhafteren Quartier, ich kann reisen, . . . allmählich genieße ich es sogar, allein zu leben: Ideal, um zu arbeiten. Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 369 Bloß geht es mir wie Anna, als ihre Kinder verreist sind und der ganze Alltagsdruck wegfiel: Statt drauflos zu malen, räumte sie Schränke ein und aus, schaffte Malutensilien an, merkte zu Hause, dass sie unbedingt neue Dias bräuchte, die sich auf die Leinwand projizieren ließen, kurz: Die ganze Woche über will sie permanent anfangen . . . Mir geht es nicht viel anders. Die Verlagssituation in der Schweiz ist nicht rosig, kein Verleger geht mehr ein Wagnis ein mit Manuskripten, die sich nicht als potentieller Bestseller präsentieren. Für mich ist dieses allgemeine Nicht-Warten auf Texte . . . Kurt Tucholsky fasst es in einem einzigen Satz zusammen: «Die beste Inspiration heißt Termin.» Aber vor allem hat mich der Selbstmord meines Mannes gründlich aus der Bahn geworfen, ich kann bis heute nicht einmal in Tagebucheinträgen dran rühren. Schreiben wollen und zugleich sein Inneres abriegeln ist unmöglich. Immerhin habe ich letztes Jahr den lange vorher entworfenen Erzählband Schwarzer Schnee abgeschlossen. Es geht mir im Grunde wie Anna, nach ihrem psychischen Schock: Ich funktioniere. Ich unternehme viel, alles wunderbar, aber kein tiefes Erleben. Wenn ich zurückdenke an meine Jahre im Ausland . . . Gibt es die selbstverständliche Intensität, diese unerklärlichen Lebensräusche, vielleicht nur in der Jugend? G.E: In vielen Ihrer Texte dominiert das Thema der «Ehe, die zwar funktioniert, aber aufhört zu leben.» Wie Sie sagen, sind in Ihre Gestaltung dieses Themas auch Ihre eigenen Lebenserfahrungen eingeflossen. Wie hat Ihr Mann auf Ihre Bücher reagiert? M.B: Bevor ich publizierte, hat er mich gebeten, nirgends über meine Schreibversuche zu sprechen, ich würde mich lächerlich machen. Zur eigentlichen Krise kam es mit dem Manuskript zu Fuß fassen. Er wollte, dass ich die Geschichte meiner Krankheit nicht publiziere und weigerte sich zugleich, sie zu lesen: Nach all dem Elend habe er es nicht nötig, mit Lektüre alles wieder aufzurühren. In der ersten Aufwallung wollte ich das Buch zurückziehen, aber mein Lektor nahm das Telefon nicht ab. Ich musste gleich nach Zürich reisen zu einer Fernsehaufzeichnung und dort übernachten. Die Fernsehleute glaubten, ich sei derart aufgeregt wegen der Sendung . . . Nachts, im Hotel, kam ich allmählich zur Besinnung: Bin ich die Autorin und entscheide, oder ist es mein Mann? Ich kehrte nach Hause zurück und beschied: «Ich werde Fuß fassen publizieren, ich muss es ganz einfach.» Mein Mann verlor nie mehr ein Wort drüber. Viele Jahre später, als er selbst krank war, sagte er: «Du hast diesen Zustand fantastisch beschrieben in Fuß fassen. Genau so bin ich jetzt.» «Wann hast du das Buch denn gelesen? » fragte ich. Er sagte: «Längst.» Gabriele Eckart 370 G.E: In Ihrem Interview mit Linda Hess-Liechti teilen Sie Frauen in zwei Gruppen ein: Erstens nicht-gebildete Frauen, die oft schwere Arbeit verrichten müssen und davon träumen, dass sie zu Hause bleiben könnten und ihr Mann käme für die Familie auf. Und, zweitens, privilegierte Frauen mit Bildung, die, weil sie kleine Kinder haben und vom Haushalt sozusagen aufgefressen werden, sich nicht beruflich verwirklichen können. M.B: Diese Unterteilung habe ich für Frauen in fester Partnerschaft gemacht. Es gibt aber unzählige Varianten von Frauenleben. Heute kann man in der Schweiz auch als Frau ohne festen Partner oder feste Partnerin leben und riskiert dafür keine gesellschaftliche Diskriminierung mehr. In südlichen und muslimischen Gesellschaften ist das kaum möglich. G. E. Ihr Thema ist fast immer das Drohende, Ängstigende innerhalb des geschützten bürgerlichen Kreises. Aber manchmal gehen Sie über das Thema hinaus. In der Erzählung «Das andere Land» lassen Sie eine Schweizerin die DDR besuchen und eine Frau treffen, für die diese zufällige Begegnung mit einer Westlerin dann verhängnisvoll wird. Waren Sie in der DDR vor der Wende? M.B: Über die Gruppe Olten (den «linken» Schriftstellerverband) konnte man in Westberlin ein Kutscher-Häuschen mieten, immer für ein, zwei Monate. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich das erste Mal 1986 oder 1987 dort war. Jedenfalls fuhr ich mit einer Freundin in den Ostteil und ihr Mann riet: «Hockt aufs Maul, die DDR ist eine Diktatur.» War ich aufgeregt. An der Friedrichsstraße wurden wir abgeholt von einem Lektor des Verlags Volk und Welt, er machte einen Rundgang mit uns, sogar ein Abstecher in einen Supermarkt gehörte dazu. Ich hatte den Eindruck, zwischen den Gestellen in meine Kindheit zurückzuwandern: Diese Verpackungen! «Schau dir das an,» sagte ich zu meiner Freundin, «alles noch genau wie damals bei uns.» «Trostlos,» sagte sie, «die haben ja überhaupt nichts, was dem Menschen Freude macht.» Diese Bemerkung hat mich verblüfft . . . Ja, es gab keine Erdbeeren, keinen Kaffee, keine Riesenauswahl, wie etwa im Kaufhaus des Westens mit seinen dreihundert Eis-Sorten. Andererseits war es exakt die Welt, in der wir beide in der Schweiz aufgewachsen waren. Der Lektor erzählte, seine Tochter studiere Musikgeschichte, eine Stelle beim renommierten Schott- Notenverlag sei von der Partei schon zugesprochen, da werde sie bleiben bis sie in Rente gehe. «So eine junge Frau,» dachte ich, «und das ganze Berufsleben schon zu Ende geplant.» Etwas später war ich von der Universität Leipzig zu einem Symposium über Schweizer Literatur eingeladen, eine Lektorin von Volk und Welt hatte mich die ganzen Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 371 Tage zu betreuen, was eigentlich bedeutete: sie hatte Meldung zu erstatten, zu wem ich in Leipzig Kontakt suchte. Und doch wehte mich auch da die Schweizer Vergangenheit an. Ein Germanistik-Professor aus Basel brachte es beim Frühstück auf den Punkt: «Was für ein Ansehen ein Professor in der DDR noch genießt, höchst undemokratisch, klar, sobald er den Daumen runterhält, ist ein Student erledigt, null Rekursmöglichkeit. Aber diese Ehrerbietung - sogar die Tür wird ihm aufgehalten. ‹ Es war einmal › - zu was für einer Plackerei ist eine Professur in der Schweiz verkommen! Ständig wird jede Äußerung in Frage gestellt, ständig müssen wir uns den Studenten gegenüber rechtfertigen und wehe, sie weisen uns einen Fehler nach.» Nur Willkur ist Macht ohne Abstriche, ich habe es in politischer Hinsicht beim Grenzübertritt Friedrichsstraße hautnah erlebt: Ich stand in der Warteschlange und der junge Westberliner vor mir brach plötzlich in Tränen aus: Sein Pass war zugeklappt worden und unter der Scheibe durch geschoben: «Einreisesperre, der Herr, Ihre Freundin im Osten werden Sie nie wieder treffen.» G.E: Waren Sie nach der Wende noch einmal in Ostdeutschland? M.B: Oft, natürlich. Das eine Mal ist mir in besonderer Erinnerung. Während des Krieges hatten meine Eltern Kontakt zu deutschen Emigranten, Juden und Kommunisten - wobei sich oft erst nach dem Krieg zeigte, wer Kommunist war, im Moment nämlich, da jemand in die Ostzone Deutschlands ausreiste. Ein besonders enger Freund, Erwin Reiche, ging schon 1945 und mauserte sich in der DDR schließlich zum Kulturbonzen. Erst mischte er die Karten beim Funk, dann war er bei der DEFA zuständig für Besetzungen. Anfang der siebziger Jahre starb Erwin, fast zeitgleich mit meiner Mutter. Seine Frau Friedel Nowak war im Krieg erste Salondame am Berner Stadttheater gewesen und für mich, als kleines Mädchen, die reine Lichtgestalt. Sie schrieb in den ersten Jahren aus Ostberlin von überwältigenden Erfolgen in Weimar und am Maxim Gorki Theater, später hörten wir, dass sie nun filme . . . Vater hatte den Kontakt aus politischen Gründen abgebrochen. Vor meiner ersten Berlinreise habe ich mich bei einem DDR Regisseur, der in Bern inszenierte, erkundigt, ob ihm Friedel Nowak ein Begriff sei. Er lachte: «Die kennen wir doch alle. Nennt sich Volksschauspielerin und ist eine Dame. Sehr liebenswert.» Er gab mir Friedels Adresse, aber kaum war ich im Kutscherhäuschen, traf ein Brief des Regisseurs ein, die Nowak habe einen Hirnschlag erlitten und sei nicht mehr ansprechbar. Ich konnte sie nur noch auf ihrem letzten Gang begleiten. Auf dem Friedhof versammelte sich kaum eine Handvoll Leute. Eine rüstige Frau mit Hornbrille erklärte: «Friedel hat sich selbst überlebt, das Publikum hat sie vergessen, wir sind ihre letzten Gabriele Eckart 372 Freunde. Und Sie sind offensichtlich Ausländerin . . . Sehr erfreut, ich bin die Blume.» Kurz und gut: «Die Blume» war bei der DEFA Sekretärin von Erwin Reiche gewesen und hatte Friedel die letzten Jahre über betreut. Ich besuchte Frau Blume erst nach der Wende; sie lebte in einem dieser Monsterbauten am Strausberger Platz, zwei Zimmer, Küche und Bad. Sie verteidigte sich sofort für etwas, das mir normal vorkam: dass sie zwei Zimmer bewohnte. Sie habe schließlich eine Prominente betreut. Aber das heiße noch lange nicht, dass sie mit der Stasi zusammengearbeitet habe. Frau Blume nahm die Hornbrille ab und sagte, ich müsse ihr glauben. Einzige Bedingung sei gewesen, dass die Stasi eines der beiden Zimmer für Treffs benutzen konnte. An diesem Punkt schossen ihr die Tränen ein: «Ich habe nichts gehört und nichts gesehen, ich bin jedes Mal außer Haus gegangen.» Aber die Nachbarn munktelten, eine Alleinstehende kriege kein zweites Zimmer umsonst. «Ich war nie im Leben Informantin,» sagte die Blume und trocknete sich die Augen, «ich wusste nicht mal, wen die Stasi in meine Wohnung bestellte.» Stimmte das? Frau Blume hat mich beschäftigt. Wie hätte ich selbst mich verhalten in der DDR? Hätte ich kleine Privilegien auch nicht unbedingt ausgeschlagen? Hätte ich stattdessen rübergemacht in den Westen, wie das hieß? Oder wäre aus mir tatsächlich eine Dissidentin geworden? Frau Blume hatte eine Tochter, einen Schwiegersohn und Enkelkinder, mit anderen Worten: Sie war erpressbar. Wäre ich es also nicht auch? Wird die Freiheit des Denkens in der Diktatur zum unerschwinglichen Luxus? Oder ist es die soziale Unsicherheit im freien Westen? Seit die DDR aufgehört hat zu existieren, ist das Leben für viele Bürgerinnen und Bürger jedenfalls sehr viel prekärer geworden. Die Mieten werden nicht mehr subventioniert, die Lebensmittel nicht mehr, alle Kinderkrippen kosten, früher waren sie gratis, die Arbeitslosenquoten sind im Vergleich mit Westdeutschland astronomisch . . . Diese gesicherten DDR-Existenzen, wie die Tochter des Lektors sie noch in Aussicht hatte! Es konnte ihr nichts passieren, solange sie sich nicht aufmüpfig zeigte. Und über Nacht war alle Sicherheit vom Tisch. Eigentlich ist es ein Jammer, der weit übers Persönliche hinausgeht: Der Kommunismus war eine Hoffnung, eine Art Menschheitstraum - er ist überall pervertiert zum schieren Terror. Ich besuchte 1991 im ehemaligen Ostberlin eine Matinée des Deutschen Theaters. Thema: «Wolfgang Langhoff und das Regime.» Meine Eltern hatten Langhoff während des Krieges kennen gelernt, er arbeitete als Schauspieler und Regisseur am Zürcher Schauspielhaus, und vor allem hatte er 1935 das autobiografisch geprägte Buch Die Moorsoldaten veröffentlicht. Die Lektüre beeindruckte meine Eltern zutiefst: Langhoff war nach dem Reichstagsbrand Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 373 1933 festgenommen worden als «Roter Hund» - die Nazis schlugen blitzschnell zu, um ihre politischen Gegner zu eliminieren, die ersten Konzentrationslager waren für Sozialisten und Kommunisten. 1934 entließ man Langhoff während einer kurzen Haftamnestie, es gelang ihm die Flucht in die freie Schweiz. Ach, wie mein Vater sich freute, als Friedel 1946 aus Weimar schrieb: «Jetzt ist Wolfgang Intendant der berühmtesten Bühne Berlins geworden.» Es klang wie: Jetzt ist alles ins Lot gekommen. An der Matinée 1991 spielte Langhoffs Sohn Thomas Tonbänder ab, die von der Stasi aufgenommen worden waren, Schauspieler trugen Passagen vor aus den Verhör-Protokollen. In einem seiner ersten Interviews in der DDR hatte Wolfgang Langhoff 1946 voll Zuversicht und Selbstbewusstsein verkündet: «Hier bauen wir Künstler am neuen Staat mit. Es ist zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, dass Literatur und Kunst nicht die Rolle der Zerstreuung oder Erholung zugewiesen wird.» Zehn Jahre später geriet er erstmals unter Druck, das Regime war schon pervertiert, ließ aber künstlerisch noch mit sich reden. 1963 musste Wolfgang Langhoff als Intendant zurücktreten. Die Umstände, wie er gegangen wurde, haben mich aufgewühlt. Dem einen Protokoll zufolge sagte er: «Ich wünschte, ich wäre tot. Ich weiß nicht mehr, wie ich vor meinen Söhnen bestehen kann, weil ich hier bleibe.» Matthias und Thomas Langhoff rebellierten gegen die Schauprozesse der Sowjetunion - sie verstanden den Zwiespalt des Vaters nicht. Seine Stimme auf Band: «Ich habe nicht die Kraft, ein zweites Mal zu emigrieren. Das hier ist doch mein Staat! Warum unterstellt man mir, ich sei ein Staatsfeind? » Sohn Thomas erzählte, dass sein Vater von der Stasi gedrängt wurde, öffentlich Selbstkritik zu üben, weil er das Stück Die Sorgen und die Macht von Peter Hacks auf den Spielplan gesetzt habe - damit hätte es sich mit der Schose und Langhoff werde Intendant des Deutschen Theaters bleiben. Eine ganze Nacht lang redeten Kollegen und Freunde auf ihn ein: «Das Wichtigste ist doch, dass du bleibst, sag «ja, ich bin ein Staatsfeind» und mach weiter! » Am Morgen war Wolfgang Langhoff nervlich am Ende, er sagte leise ins Mikrofon: «Ich bin ein Staatsfeind.» Am selben Abend wurde er abgesetzt. Und hatte das Letzte verloren, was seinen Stolz ausmachte: dass er immer nur seine Überzeugung vertrat. Wolfgang Langhoff starb drei Jahre später an Krebs. G.E: Lernten Sie auch ostdeutsche Schriftsteller kennen? M.B: Ich traf auf einer Lesung Elke Erb, sie hat sich vor allem als Lyrikerin einen Namen gemacht. Wir sagten fast gleichzeitig: «Leider kenne ich Ihre Bücher nicht,» und Elke Erb fügte an: «Sie wissen auch längst, dass es Wichtigeres gibt, hab ’ ich Recht? » Sie erzählte, wie schwer es vielen DDR- Gabriele Eckart 374 Schriftstellern falle, dass ihre Arbeit plötzlich den Vergleich mit Tausenden von Büchern aus dem deutschen Sprachraum und Zehntausenden aus fremden Sprachräumen aushalten müsse. Vor der Wende seien sie konkurrenzlos gewesen in der DDR und die Autorinnen und Autoren hätten eine entsprechend hohe Meinung von der eigenen Arbeit gehabt. Das Selbstwertgefühl blieb auch intakt, wenn ein Manuskript in der Zensur hängen blieb oder überhaupt nie eine Zeile publiziert wurde. Gerade die Tatsache, nicht gedruckt zu werden hieß ja: Ich bin vom Unrechtstaat gefürchtet, ich bin Dissident. G.E: Noch eine Geschichte geht über das Thema der Schweiz hinaus. In «Zeitläufte» aus Ihrem neuen Erzählungsband besucht die Signora das Holocaust Museum in Berlin. Ein Dokumentar-Film zeigt in einer Orginalaufnahme deutsche Landser, die Juden in Waggons verladen. Ein amerikanischer Tourist fragt sie: «Wo diese Film gedreht, wann exactly? » Sie antwortet: «Heute [. . .] nicht in Deutschland, aber heute.» An welche Weltgegenden dachten sie dabei? M.B: An Guantanamo, beispielsweise. Und lesen Sie die Berichterstattung über die Prozesse, die am Internationalen Gerichtshof laufen. Und was passiert in Gaza? Was ist im Kosovo passiert? Überall dieselben Versuche, ganze Volksgruppen auszurotten. Das Phänomen Holocaust blieb nicht auf Nazi-Deutschland beschränkt, es findet weltweit Nachahmung - was für Deutschland allerdings keiner Entlastung gleichkommt. G.E: Die Schweiz war ja auch nicht ganz unschuldig. Kennen Sie den Film Das Boot ist voll? In die Schweiz geflüchtete Juden werden darin während des zweiten Weltkrieges an der deutschen Grenze der Gestapo übergeben. M.B: Ja, leider hat der Film nicht übertrieben. Ich habe mich häufig damit beschäftigt. Auf Druck der Schweizerbevölkerung und den dezidierten Einsprachen der Flüchtlingsmutter Gertrud Kurz, hat die Regierung zeitweilig von Ausweisungen abgesehen und sogar die Grenzen für Juden wieder aufgemacht. Aber Sie haben Recht: Unzählige hat man gar nicht erst ins Land gelassen. In den Achzigerjahren habe ich mit einem Sänger des Stadttheaters Bern Tonband-Aufnahmen gemacht über die Kriegszeit in der Schweiz. Nach allem, was er erzählte, musste ich zum Schluss kommen, dass die Schweiz nahe an die DDR herankam in Sachen Einreise-Willkür. Man konnte sich nie drauf verlassen: «Das gilt nun, so wird es fortan gehandhabt.» . . . Der Sänger erzählte, in derselben Nacht seien zwei Schauspiel-Kollegen von Grenzbeamten angerufen worden. Die Eltern hatten es geschafft, über die grüne Grenze in die Schweiz zu gelangen, sie waren in einem Dorf festgenommen Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 375 worden. Man ließ sie anständigerweise ihre Söhne anrufen. Die taten alles, um den Eltern zu Hilfe zu eilen, aber nur einer hatte Glück: Seine Eltern durften in der Schweiz bleiben, das andere Paar musste zurück. Es hing vom jeweiligen Polizeibeamten ab, ob er sagte: «Na, geht mal zum lieben Sohn, damit er für Euch aufkommt.» Für den Lebensunterhalt jüdischer Flüchtlinge kam die Eidgenossenschaft nämlich nicht auf, das blieb Sache der hiesigen jüdischen Gemeinden. Für alle andern Flüchtlinge bezahlte die Schweiz - Kommentar überflüssig. G.E: Was wurde aus den abgewiesenen Eltern? M.B: Sie kamen in ein Lager. Mir kommt zuweilen der Satz Musils wieder in den Sinn, der in der Schweiz nicht nur kreuzunglücklich war, sondern auch alle anbetteln musste, um sich halbwegs über Wasser zu halten. Ich zitiere sinngemäß: «Später wird dieses Land sich mit unseren Namen schmücken . . .» Else Lasker-Schüler zum Beispiel musste die Schweiz auch verlassen, sie starb verarmt und elend in Palästina. 2006 gab es in Zürich zu ihren Ehren ein drei-tägiges Symposium, inklusive Abend-Konzert mit neu vertonten Gedichten, die eingangs rezitiert wurden von Maria Becker und Annemarie Blanc. Am Schauspielhaus gab es drei Aufführungen mit Hanna Schygulla in der Rolle Else Lasker-Schülers. «Später wird dieses Land sich mit unseren Namen schmücken.» G.E: In einem Interview, das Maria Jori 1995 mit Ihnen geführt hat, klagen Sie beide, dass in den Archiven so wenig Sekundärliteratur zu Schweizer Autorinnen zu finden ist. Für mich dagegen war es jetzt leicht, dieses Interview vorzubereiten; ich fand auf Ihrer Webseite fast alles, was ich brauchte. Die Vorteile sind klar; sehen Sie auch Nachteile dieser neuen elektronischen Medien? M.B: Höchstens bei meinen Enkeln. . . sie sind Facebook-addicted. G.E: Im «Album der Signora» fand ich die Skizze über Walter Benjamin «Im Flug erhascht» sehr interessant. Die Signora sieht im Flugzeug einen Mann mit Nickelbrille, glaubt ihn als Walter Benjamin zu erkennen und tritt in einen imaginären Dialog mit ihm. An einer Stelle schreiben Sie, seine Moskauer Erinnerungen hätte die Signora derart präsent, dass sie auf dem Weg zum Klo flüstern könnte: «Schweizer, würden Sie mich morgen früh bitte wecken? » M.B: Ein burlesker Text! Im Russischen heißt Hotelportier «Schweizer» . . . es amüsierte mich, dass die ganze Nation zu Hotelportiers gemacht wird. Gar nicht so ohne! Die Schweiz ist ja über den Tourismus geworden, was sie ist. Und in diesem unsinnig vernünftigen Dialog, sagt der Schweizer sinngemäß: Gabriele Eckart 376 «Ich wecke Sie, wenn es funktioniert.» Und Benjamin: «Heißt das, Sie wecken mich nicht? » «Doch», sagt der Schweizer, «wenn es geht . . .» Sache des Schicksals. Wissen wir denn, ob wir morgen noch leben, wissen wir, ob die Uhren über Nacht nicht stehenbleiben. . .? Eine Freundin von mir dissertierte über Walter Benjamin. Sie ist hochbegabt, arbeitet aber unsäglich langsam und mit derartigen Skrupeln, dass sie der geborene Schweizer Walter Benjamins ist. G.E: In Ihrer Erzählung «Nachkrieg» arbeitet die Ich-Erzählerin in London mit der Deutschen Inge zusammen, die 1947 vor den russischen Besatzern aus Ostdeutschland geflohen war. Sie hatte nach den Jahren des Überlebenskampfes Probleme mit der neuen Realität zurechtzukommen: «Es passiert nichts, das heißt Frieden. Kannst ihn nicht mal fressen. Aber deine Nerven zittern, sie können die Gefahrlosigkeit nicht orten. [. . .] Du bist am Durchdrehen vor lauter Frieden, und instinktiv willst du [. . .] zurück in die Angst - da bist du zu Hause.» Weil ich aus der DDR komme, verstehe ich dieses eigenartige Nachwirken der Angst sehr gut. Finden Sie als Schweizerin möglicherweise einen biographischen Bezug zu Inges Situation? M.B: Ich hatte eine psychisch labile Mutter, die nicht loslassen konnte und mich ständig kritisierte. Eigentlich spüre ich ihren Blick bis heute, obgleich sie vor vierzig Jahren gestorben ist, oder müsste ich sagen: Ich kann ohne ihren Blick nicht leben? «Ach, Luise, lass, das ist ein zu weites Feld.» (Fontane, Effi Briest) G.E: In Ihrem Doña Quichotte Text gibt es ein wunderschönes Bild: ein Junge fährt an einem Strand in Italien Fahrrad, kurvt dicht am Wasser entlang. Anna sieht vom Fenster aus seine Fahrspur wie eine Schrift, die das Meer beim Drüberschwappen immer wieder auswischt . . . Anna sieht die Schrift als eine symbolische Beschreibung ihrer vergeblichen Versuche zu malen. Wenn Sie auf Ihr Werk als Schriftstellerin blicken, was davon wird Ihrem Gefühl nach für immer da sein, unauswischbar von den Wellen der Zeit. . . M.B: Nichts. Am meisten tut es mir leid um das Pedroni-Kapitel in Fuß fassen, «Ich lebe schon lange heute, Signora. › » Aber dieses Bild am Meer. . . Anna tröstet sich ja damit, dass es zur Natur gehört, zu malen und es wieder zu löschen. In der Bibel wird im Buch Jeremia der Schreiber Baruch getröstet: Siehe, was ich gebaut, ich reiße es nieder, und was ich gepflanzt, ich reiße es aus. Und du begehrst Großes für dich? G.E: In einer Geschichte Ihres neuen Erzählungsbandes, «Ein Sommerlochstraum», wird am Rande eine Autorin namens Beutler erwähnt - fast so wie Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 377 Hitchcock in seinen Filmen manchmal kurz gezeigt wird, ohne, dass er irgendeine Rolle spielte. . . M.B: Ja, bei Hitchcock gefiel mir immer, dass er selbst ganz unspektakulär auftaucht, als kleiner Witz. G.E: Noch eine Bemerkung zu «Sommerlochstraum.» Ich finde es interessant, was Sie in dem Text über Gespräche sagen. In unseren Köpfen laufen, während wir uns unterhalten, Bilder ab, die eine Unzahl von Bezügen zu unserer Biografie haben. Wir streifen sie mit keinem Wort, aber sie beeinflussen, was wir sagen. M.B: Deshalb schwingt in jedem Gespräch auch ein Missverständnis mit. In jedes Argument funkt die eigene Biografie hinein. Erst, wenn wir das Biografische aufdecken, ist es möglich, einander zu verstehen. Auch die echte Auseinandersetzung ist nur so möglich. Ich brauche ja nur der Mutter eines Gesprächspartners zu gleichen, und er ist nicht recht imstande zu hören, was ich sage - seine Mutter spricht zu ihm. G.E: Wenn ich an die Zukunft denke, an die Bevölkerungsexplosion und die Umweltzerstörung, sehe ich schwarz. Ihr Pedroni, der krebskranke Schneider aus Fuß fassen, wäre trotzdem optimistisch. Welches Gefühl dominiert in Ihnen, wenn Sie an die Zukunft denken? M.B: Auswegslosigkeit. Wenn das Klima kippt, werden Tausende von Landstrichen unbewohnbar und Millionen von Ökoflüchtlingen werden aufbrechen und neuen Lebensraum suchen. Es wird ohne Zweifel zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen. Keine Nation will oder kann ganze Volksgruppen aufnehmen. Rein theoretisch könnten die Klimaveränderungen noch gestoppt werden. Aber dazu bräuchte es weltweiten politischen Konsens. Die Klimakonferenz in Kopenhagen hat gezeigt, dass es nicht machbar ist. Freiwillig lässt sich kein Land wirtschaftliche Zügel anlegen, um Energie zu sparen. Die menschliche Vernunft ist offenbar nicht ins Gehirn eingebettet, sie klebt nur als dünnes Häutchen obenauf. G.E: Weil Sie Enkelkinder haben, ist Ihre Angst um die Zukunft vielleicht noch größer als meine. M.B: Bei einer unmittelbaren Bedrohung, sagen wir in den nächsten fünf, zehn Jahren, mag das stimmen, aber auf lange Sicht. . . Die Imagination reicht soweit wie das Häutchen obenauf. . . Gabriele Eckart 378 G.E: Gibt es ein Thema, das Sie zurzeit sehr beschäftigt? M.B: Das Thema Tod. Einesteils stößt mich mein Alter mit der Nase drauf, anderseits hat es vom ersten Atemzug weg zu mir gehört: Der einzige Bruder war kurz vor meiner Geburt gestorben und hatte mehr Präsenz in der Familie als wir Lebenden. Allmählich sind die Toten in meinem Herzen in der Überzahl. Sie wohnen dort Wand an Wand mit meinen Kindern und ihren jungen Familien, Wand an Wand mit den Freundinnen und Verwandten - aber eben: die Trennwand steht nicht mehr in der Mitte. Es kommt zwar nichts Neues von den Toten, aber sie ziehen nicht aus. Ich meine das im Guten wie im Schlechten. Als sich mein Mann umgebracht hat, rückten mir meine Eltern wieder näher, ein Halt, Vater hatte meine Mutter überlebt und gesagt: «Ich muss es überstehen, es genügt nicht, zu wissen, dass es zum Leben gehört, ich muss es wollen.» Ich glaube, der Unterschied ist entscheidend. Dieses «wollen» hängt für mich persönlich zusammen mit der Einsicht, loslassen zu können. Nicht nur Menschen. Auch, was mir so wichtig war, meine Bücher und Stücke, der ganze Literaturbetrieb. Junge Autorinnen, neue Autoren stoßen nach. Ich finde, es gehört zu einer gewissen Seelenhygiene, dass man sich freuen kann, wenn sie neue Formen erproben, die zu unserer Zeit gar nicht möglich waren. Mit welcher Selbstverständlichkeit es auch Autorinnen heute tun und schreiben, was ich mir erträumte. Wenn ich mich nicht freuen kann darüber, kommt es für mich einer Bankrotterklärung gleich. Ich möchte meine Heiterkeit behalten, gerade weil ich Bescheid weiß über die Natur: Es vergeht auch, was eben erst sprießt. Vielleicht ist das Selbstironie. Ja, sich von außen zu betrachten und zu lächeln finde ich schön. G.E: Ihr Charakter Pedroni aus Fuß fassen verkörpert ja diese Haltung. Ihn gab es wirklich? M.B: Ja, er wurde in der Krankheit zu einer Art Lehrmeister für mich. Das hat mich beim Schreiben . . . Wenn Sie so wollen, hat es mich verpflichtet, Pedroni in seiner ganzen Vielfalt zu zeigen. Es war für mich ein Erlebnis, dass ein so völlig unintellektueller Mensch eine derartige Weite haben konnte. Und sich bis zuletzt nicht aus der Verantwortung stahl. Er sprach mich im Spitalkorridor an mit den Worten: «Ich sehe, dass Sie heute drauf und dran sind, sich aufzugeben, Signora.» Ich weiß nicht, ob ich den Mut hätte, eine Mitpatientin anzusprechen und sie dann kurzerhand zurechtzuweisen: «Sie wollen sich aufgeben, aber erst setzen Sie sich mal aufrecht hin . . .» Von einem Gesunden würde man das nicht hinnehmen; es wäre eine Zumutung oder Beleidigung, auf die man antworten möchte: «Du hast ja keine Ahnung, mit was für Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 379 Schmerzen ich fertig werden muss.» Aber wenn der andere auch Krebs hat und sagt: «Ich schaffe es und bin seit drei Jahren krank, da wirst du ja wohl in der Lage sein, nach zwei Wochen aufrecht im Stuhl zu sitzen . . .» G.E: Ich möchte noch einmal auf den Anfang unseres Gesprächs zurückkommen. In Ihrem Roman Die Stunde da wir fliegen lernen muss eine Kunsthistorikerin Paul Klees Zeichnung Vergesslicher Engel interpretieren. Was sie schreibt, scheint ihr überzeugend. Später kommen ihr Zweifel: Alles richtig, gewiss, irgendwie war immer alles richtig, was sie herausfand, aber es schien ihr nicht mehr wahr, und sie deutet Klees Engel ganz anders. Mir geht es genauso mit meiner Interpretation Ihres Doña Quichotte-Textes: Einerseits verkennt Anna nicht die Wirklichkeit, sie ist deshalb ganz anders als Don Quichotte, andererseits lernt sie nur durch sinnlich unmittelbare Erfahrung, d. h. genauso wie er! M.B: Da sind wir wieder bei Canetti: Es steht nicht immer dasselbe in einem Text. Lesen ist eine schöpferische Tätigkeit wie Schreiben. Das will man im Grunde als Schriftstellerin nicht ganz akzeptieren. Wenn ein Text geschrieben ist, ist er da. Nur nicht einfür allemal, nur nicht eindeutig und komplett. Er muss beim Lesen immer neu entstehen. Die biographischen Hintergründe sind bei jeder Leserin und jedem Leser anders, und im Laufe eines Lebens kommen ständig neue Erfahrungen und Erkenntnisse dazu, sie beeinflussen die Lektüre immer wieder anders. Gute Texte müssen nach meinem Dafürhalten mehrere Deutungen zulassen, sonst sind sie eingleisig und platt. Deshalb scheint mir Kürzen ein so entscheidender Vorgang beim Schreiben. Wenn viel Substanz da ist und sie auf kluge Art verknappt wird, bleibt Bewegung zwischen den Zeilen, das unsichtbar Gemachte schwingt nach und kann sich beim Lesen vielleicht wieder als Substanz entpuppen. Ich finde es übrigens faszinierend, wenn über einen Text von mir etwas geschrieben wird, das ich selbst nie entdeckt hätte. Eine fremde Interpretation kann eine Art Verblüffung auslösen: «Es stimmt ja; ich habe es bloß nicht so gemacht! » Eine Studentin hat beispielsweise über die Metaphern in Fuß fassen gearbeitet und festgestellt, dass ich einem strikten Rhythmus folgend «Feuer» und «Moos» verwende. Ich war perplex: Es stimmte! Plötzlich erinnerte ich mich wieder, dass ich einige Stellen im Text eliminiert hatte, weil irgendetwas mich störte. Sie hatten mit Moos und mit Feuer zu tun - aber das war es nicht, was mich irritierte, ich handelte völlig irrational, um zum Stimmen zu bringen, was ich nicht durchschaute. Die Studentin ist rational vorgegangen, hat den Text sozusagen zeilenweise vermessen, und ich entdeckte dank ihr, dass es rhythmisch zwingend gewesen war, die Stellen zu streichen. Gabriele Eckart 380 Es freut mich zuweilen auch, von einer Leserin zu hören, was ich geschrieben habe. Nach meinem Dafürhalten schrieb ich zwar meistens etwas anderes, oder ich habe nicht geahnt, dass man einen derartigen Schluss ziehen könnte aus dem Geschriebenen. Lesen ist eine schöpferische Tätigkeit, und wer ein Buch veröffentlicht, hat die richtige Lesart nicht gepachtet. G.E: Arbeiten Sie an einem neuen Buch? M.B: Ich plane seit etwa fünfzehn Jahren, über meine italienische Großmutter zu schreiben. Sie lebte im Haslital, hatte zwei uneheliche Kinder und wurde nie Schweizerin. Ich habe bündelweise Entwürfe und Notizen - aber das Buch ist nicht geschrieben.* Works Cited Weigel, Sigrid. «Der schielende Blick.» Die verborgene Frau: Sechs Beiträge zu einer feministischen Literaturwissenschaft. Ed. Inge Stephan and Sigrid Weigel. Berlin: Argument, 1983. 83 - 137. * Das Gespräch mit Maja Beutler fand Mai 2010 in Bern statt. Don Quixote im Rock: Maja Beutler im Gespräch 381