Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2010
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Vorwort
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2010
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Vorwort Am 13. März 1967 schreibt Theodor W. Adorno an Alexander Kluge, der zu dieser Zeit einen Film über die Kälte plant: Lieber Axel, [. . .] Du kannst nicht wissen, daß diese Frage mich seit geraumer Zeit beschäftigt, und zwar im allerernstesten Zusammenhang, nämlich dem, daß [. . .] die Barbarei sich unablässig reproduziert. Schon im Kommunistischen Manifest findet sich die Ahnung davon. [. . .] Ich würde nun sehr gern mit Dir einmal darüber geredet haben, wie und ob man in Deinem Plan diese Intention einsenken kann - es sei denn, daß eben dies, wie ich fast vermute, bereits Deine Absicht ist. Ein solcher Film käme einer Sache sehr nahe, die mich immer mehr beschäftigt: der Frage nach der Kälte. In dem Vortrag über Auschwitz habe ich darüber gesprochen, plane aber doch, wenn meine großen Pläne etwas weiter sind, einmal einen Essay über die Kälte zu schreiben. Mir ist gegenwärtig die wirklich unvergleichliche Stelle aus «Abschied von gestern», wo Lexi auf die Vorhaltungen der Untersuchungsrichterin sagt: Ich friere auch im Sommer. Darum geht es wirklich im allertödlichsten Ernst. [. . .] (Kluge, Stroh im Eis 4) Diesen Essay hat Adorno vor seinem Tod nicht mehr fertigstellen können, den Film hat Kluge erst über 40 Jahre nach dem Briefwechsel mit Adorno im Jahre 2010 realisiert. Er trägt den Titel Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd - Landschaften mit Eis und Schnee und besteht aus 31 unterschiedlich kurzen oder langen Sequenzen. Diese beschäftigen sich mit gescheiterten persönlichen und politischen Hoffnungen, mit der Ausbeutung der Natur durch den Menschen, mit dem Kältetod im Schneesturm in Galizien oder in Stalingrad, den Merkwürdigkeiten der Polarforschung, dem Verhältnis von Kunst und Kälte, der Ästhetik von vereisten Landschaften, der Schönheit eines schmelzenden Eiszapfens, dem Durcheinander der Flocken im Schneetreiben vor dem eigenen Fenster sowie mit einer Vielzahl von weiteren Winter-Szenen und Kälte-Erfahrungen. Begleitet wird der Film von einer Sammlung von Geschichten, die sich zum Teil auf Kapitel der DVD beziehen, zum Teil unabhängig davon gelesen werden können. Die Eingangserzählung «Stroh im Eis», die der Sammlung den Titel gegeben hat, enthält eine Kindheitserinnerung des Filmemachers: Jedes Mal im Winter, wenn das Thermometer unter Null fällt, eilt der Vater pünktlich um 11.30 Uhr, nur mit einem leichten Arztkittel bekleidet, aus dem Haus, schlägt mit der Spitzhacke Löcher in die Eisdecke des Gartenteiches und steckt ein Bündel Stroh ins Eis, um die Fische mit Sauerstoff zu versorgen: Mein Vater nannte das «den Fischen Freiheit geben». Er meinte damit, daß die kristalline Absperrung durch das Eis nie vollständig sein sollte. Es schwammen unter der Eisdecke dicke Karpfen und fettleibige Goldfische. Ihnen galt die Einfühlung meines Vaters. (7) Der Sohn hat diese Gewohnheit des Vaters als eine warmherzige Geste in Erinnerung behalten. Merkwürdigerweise hat sich der Vater bei dieser Aktion nie erkältet, er ist auch nie von der Uferböschung abgerutscht oder im Eis eingebrochen. Kluges mitempfindender Vater ist ein Gegenbild zu jenen «eisigen Helden», deren Männlichkeit sich durch Gefühlskälte herstellt - ein Typus, den Helmuth Lethen in seiner bahnbrechenden Studie Verhaltenslehren der Kälte (1995) analysiert hat und den Christoph Ransmayr in seinem Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) wiederaufleben lässt. Das Filmprojekt, das Werner Herzog auf der Basis dieses Romans Anfang der 90er Jahre realisieren wollte, hat sich schließlich zu dem Dokumentarfilm Encounters at the End of the World (2007) entwickelt. 1 Mit seinen Geschichten schreibt Kluge sowohl gegen die heroischen polaren Diskurse als auch gegen die emotionale und soziale Kälte an, die auf dem Theater der Gegenwart zunehmend zum Thema wird, wie z. B. die vielbeachteten Aufführungen von Falk Richters Unter Eis (2004) oder Elfriede Jelineks Winterreise (2010) zeigen. Durs Grünbein lässt in seinem Poem Vom Schnee (2003) die Kälte des Denkens mit Descartes beginnen. In einem Gespräch mit Kluge stellt der Autor eine Verbindung zwischen den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges und der Geburt des Rationalismus aus dem Geist des Schnees her. 2 Auch Kluge ist - im Anschluss an Adorno - der Meinung, dass die «Frage nach der Kälte» über die Zukunft des Menschen entscheiden wird: Wesentliche Eigenschaften, ohne welche die Menschheit nicht überlebt hätte, stammen aus der Eiszeit. So z. B. die für Warmblüter wichtige Unterscheidung zwischen heiß und kalt: Grundlage aller GEFÜHLE. Insofern kann man sagen, daß wir Menschen aus der Kälte stammen. Zugleich wird man aber beobachten können, daß Herzenskälte dauerhaft nicht zu ertragen ist. (Stroh im Eis 5) Der Film von Kluge fällt in eine Zeit, in der das Kältethema eine neue Aktualität gewinnt. Das Schmelzen der Gletscher und der Polkappen, das 100-jährige Jubiläum des legendären «Wettlaufs» von Amundsen und Scott zum Südpol, die zunehmende soziale Kälte in einer durch Wirtschaftskrisen und Bankenzusammenbrüche geschüttelten Welt lenken die öffentliche Aufmerksamkeit auf die «kalten Fronten», welche uns allen bedrohlich näher rücken. Zeitgleich mit dem Film Landschaften mit Eis und Schnee (2010) veröffentlicht Alexander Kluge zusammen mit Gerhard Richter das Buch Dezember (2010), das 39 Geschichten von Kluge und 39 Bilder von 2 Vorwort Richter enthält. Im Jahre 2011 publiziert Richter, der sich seit Jahren für polare Landschaften interessiert, das Buch Eis, in dem ein historischer Text über Grönland aus der Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste (1871) mit Bildern aus seinem Atlas (2006) so kombiniert ist, dass der Text von hinten wie von vorne gelesen werden kann. Auch bei den Bildern sind oben und unten auswechselbar. Eine solche Anordnung irritiert gezielt die Lesegewohnheiten und die Wahrnehmungsweisen. Um Irritationen der Wahrnehmungsweisen im Zusammenhang mit Kälteerfahrungen in Schnee und Eis geht es auch in dem vorliegenden Band. Er basiert auf Vorträgen, die auf der Tagung der German Studies Association (GSA) im September 2011 in Louisville gehalten wurden. Dort beschäftigten sich wohl nicht zufällig drei Sektionen unabhängig voneinander mit dem Kältethema. Im Mittelpunkt der ersten Sektion stand das Schnee- und Eis- Projekt von Kluge und Richter, in den beiden anderen Sektionen dominierten historische Zugänge zum Thema in der Literatur. Der vorliegende Band versammelt ausgewählte Beiträge aus der zweiten und dritten Sektion und wird ergänzt durch einige zusätzlich eingeworbene Texte. Wir danken Harald Höbusch für sein großzügiges Angebot, den Sonderband Cold Fronts. Kältewahrnehmungen in Literatur und Kultur vom 18. bis 20. Jahrhundert im Rahmen von Colloquia Germanica als polnisch-deutsches Herausgeberinnen-Team so betreuen zu dürfen, dass die unterschiedlichen Sprach- und Wissenschaftstraditionen respektiert werden und produktiv miteinander ins Gespräch kommen können. Inge Stephan, Berlin Monika Szczepaniak, Bydgoszcz Anmerkungen 1 Zu seinem damaligen Filmprojekt hat Kluge den Filmemacher befragt. Das Gespräch findet sich als Sequenz 21 («Schrecken des Eises und der Finsternis») auf der DVD Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd - Landschaften mit Eis und Schnee. 2 Das Gespräch findet sich als Sequenz 19 («Die Welt war kalt und jung! Durs Grünbein über die Entstehung des rationalen Denkens in Eis und Schnee bei Ulm») auf der DVD Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd - Landschaften mit Eis und Schnee. 3 Vorwort Bibliographie Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd - Landschaften mit Eis und Schnee. Filme. Dir. Alexander Kluge. Berlin: Suhrkamp, 2010. Kluge, Alexander. Stroh im Eis. Geschichten. Begleitheft zur DVD Wer sich traut, reißt die Kälte vom Pferd - Landschaften mit Eis und Schnee. Filme. Dir. Alexander Kluge. Berlin: Suhrkamp, 2010. — , und Gerhard Richter. Dezember. Berlin: Suhrkamp, 2010. Richter, Gerhard. Eis. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2011. — . Atlas. Hg. Helmut Friedrich. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2006. 4 Vorwort
