Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2010
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«Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute.» Zur Verunsicherung der Wahrnehmung in Adalbert Stifters «Eisgeschichte»
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2010
Kathrin Maurer
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«Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute.» Zur Verunsicherung der Wahrnehmung in Adalbert Stifters «Eisgeschichte» KATHRIN MAURER U NIVERSITY O F S OUTHERN D ENMARK Zahlreiche Texte des österreichischen Schriftstellers Adalbert Stifter enthalten Eis- und Schneelandschaften wie z. B. die Schilderung der von einem Schneefall überraschten Kinder in der Erzählung «Bergkristall» (1845/ 53) oder die beklemmende Beschreibung eines heftigen Schneesturms in der Erzählung «Aus dem bairischen Walde» (1867). Als Stifters berühmtester Text über Eis und Schnee gilt jedoch seine sogenannte «Eisgeschichte,» 1 die Teil der in mehreren Fassungen vorliegenden fiktiven Autobiographie Die Mappe meines Urgroßvaters ist. 2 In der «Eisgeschichte» schildert der in einem böhmischen Dorf lebende Arzt Augustinus das Ereignis eines beeindruckenden meteorologischen Phänomens, nämlich die mehrtägige vollkommene Vereisung der Landschaft während eines schneereichen Winters. Augustinus als Ich-Erzähler beschreibt in seinen Lebensaufzeichnungen, wie das Winterwetter die ihm sonst so vertraute Umgebung in ein undurchdringliches Weiß hüllt und er damit an seinen täglichen Patientenbesuchen gehindert wird. Er versucht sich in der entstellten Umgebung zu orientieren, doch seine Augen scheinen ihm keinen zuverlässigen Dienst mehr zu leisten. Immer wieder muss er das Gesehene neu interpretieren und verarbeiten. Diese durch Eis und Schnee hervorgerufenen Sehstörungen möchte ich zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu Stifters «Eisgeschichte» machen. Im Folgenden werde ich darlegen, wie Stifters Beschreibung der Eislandschaften und die damit verbundene Störung der Wahrnehmung die wirklichkeitsschaffende und konstruktive Konstitution des menschlichen Sehens reflektiert. Diese spezielle Sichtweise des Eises in Stifters Text soll in Verbindung mit Hermann von Helmholtz ’ Theorien der visuellen Wahrnehmung gebracht und als eine gegen abbildtheoretische Modelle der Wirklichkeitsrepräsentation gerichtete ästhetische Reflexion gelesen werden. Neuere Forschungsansätze haben auf die diskursive Verbindung zwischen Stifters Texten und denen des Naturwissenschaftlers Helmholtz aufmerksam gemacht, indem sie auf die gemeinsamen Aspekte einer abbildtheoretischen Wahrnehmungskritik sowie einer Theorie über die Naturgesetze hingewiesen haben. 3 Augustinus beschreibt in der «Eisgeschichte» die Auswirkungen des extremen Winterwetters. Der Schnee fällt ohne Unterlass: «Einmal waren wir vier Wochen in ein fortdauerndes graues Gestöber eingehüllt, das oft Wind hatte, oft ein ruhiges dichtes Niederschütten von Floken war» (294). Die Dorfbewohner schützen sich durch warme Kleidung, entsprechende Nahrung und das Abdichten ihrer Wohnräume gegen die Gefahren der Kälte. Nach den Schneefällen beginnt ein lang anhaltender Eisregen, der zu einer totalen Vereisung und Vergletscherung der Landschaft führt: «[. . .] der Regen floß fein und dicht hernieder, aber nicht in der Gestalt von Eiskörnern, wie im Winter oft, sondern als reines fließendes Wasser, das erst an der Oberfläche der Erde gefror, und die Dinge mit einem Schmelze überzog» (297). Der Wald, die Wege, die Bäume und die Gegenstände des Alltags sehen durch den Eisüberzug ungewohnt und fremd aus. Die Vereisung hat die Dinge dermaßen deformiert, dass Augustinus Schwierigkeiten hat, sich in seiner gewohnten Umgebung zurechtzufinden. Auf dem Weg zu seinen Patienten in Eidun und anderen Dörfern muss er im Wald bei Thaugrund mit seinem Knecht Thomas umkehren, da der Wald zu vereist und verschneit ist. Nachdem sie ihr Fuhrwerk bei einem Nachbarhof versorgt haben, kommen sie nur auf Umwegen nach Hause. Augustinus hat Mühe, sein Haus in dem «fahlen Glanz» (309) der vereisten Umgebung überhaupt noch zu erkennen. In der Forschung sind die Eislandschaften in Stifters «Eisgeschichte» häufig in einen autobiographischen Zusammenhang gestellt worden, der auf Stifters zunehmende Vereinsamung und Krankheit anspielt. 4 Auch der Aspekt der Identitätssuche und deren Verarbeitung im Genre der Autobiographie stellt einen wichtigen Deutungsansatz dar. 5 Neben diesen Lesarten gibt es eine ganze Reihe von sprachtheoretischen Interpretationen, die in Stifters Beschreibung des Eises eine Allegorie auf die Beschaffenheit und die Funktionsweise der literarischen Rede sehen. Zu einem der prominentesten Vertreter dieser Lesart gehört Martin Heidegger, der in seinem Aufsatz «Adalbert Stifters Eisgeschichte» in der Vereisung der Landschaft das Wesen der dichterischen Sprache versinnbildlicht sieht. Stifters Schilderung der vereisten Welt deute auf den zeigenden Gestus der Sprache, der weder metaphysisch-diskursiv noch intersubjektiv konfiguriert sei, sondern die welteröffnende und wahrheitskonstituierende Dimension der poetischen Sprache aufzeige. Diese Omnipräsenz des Deiktischen, die laut Heidegger in Stifters Text vorliegt, erklärt wohl auch die sechsseitige wortwörtliche Übernahme einer Stifterpassage, die Heideggers Aufsatz zu gut zwei Dritteln dominiert. Sprachtheoretische Forschungsarbeiten haben diesen selbstrefe- 36 Kathrin Maurer rentiellen Gestus der Sprache Stifters weiter entfaltet. In enger Auseinandersetzung mit Martin Heideggers und Walter Benjamins Sprachtheorie erörtert Eva Geulen die Verselbständigung der sprachlichen Bedeutung in Stifters Text. 6 Ihrer Meinung nach entwickelt Stifters Sprache keine außertextuelle Referenz, sondern beschreibt, indem sie die buchstäbliche und metaphorische Bedeutungsebene nivelliert, eine innertextuelle und innersprachliche Wirklichkeit - ein Zusammenhang, den Geulen mit Stifters eigener Wortschöpfung der «Worthörigkeit» zum Ausdruck bringt. 7 Die Figur des Eises steht in diesen sprachphilosophischen Deutungen somit auch für die Prozesse der literarischen Verschriftlichung. Die Dynamik zwischen den verschiedenen Aggregatzuständen des Flüssigen und Festen symbolisiert die Entwicklung der mündlichen Mitteilung zur literarischen Schriftkultur und kennzeichnet die Erstarrung des Lebendigen im kalten Wort. 8 In diesen sprachtheoretischen Auslegungsvarianten fungiert das Bild der Vereisung als eine Allegorie auf die poetische Selbstreferenzialität. So innovativ diese Lesarten auch sind, übersehen sie jedoch, dass die Figur der Vereisung nicht nur als Sinnbild für die Literarizität von Stifters Texten zu verstehen ist, sondern auch die Beschaffenheit visueller Wahrnehmung und deren poetologischer Fixierung aufzeigt. Stifter war ein Augenmensch, wie u. a. seine leidenschaftliche Betätigung als Landschaftsmaler belegt. Stifter malte sein Leben lang und fühlte sich zur bildenden Kunst weitaus mehr berufen als zur Schriftstellerei. 9 Auch seine Texte reflektieren seine Begeisterung für das Sehen, indem sie oft zum Hinschauen auffordern und der Blick, das Bild und das Auge zentrale Motive sind. Die «Eisgeschichte» bildet da keine Ausnahme. Die vereiste und somit äußerlich veränderte Landschaft fordert die visuelle Wahrnehmung des Erzählers geradezu heraus. Er muss seine Umgebung immer wieder genau anschauen, um sie erkennen und deuten zu können. Augustinus sieht oft in den Schnee, der die Welt mit einem undurchdringlichen Weiß bedeckt hat; er blickt in den Winterhimmel und schaut auf das schillernde glänzende Eis: Die blauen mitunter bleifarbenen Wolkenballen waren nicht mehr an dem Himmel, der dafür in einem stillen Grau unbeweglich stand, welches Grau an allen Stellen dasselbe war, und gegen das Dunkel von Bäumen konnte ich erkennen, daß ein feiner dichter Regen nieder falle. Als ich aber auf die Gegenstände des Bodens blikte, sah ich auf ihnen ein schilleriges Glänzen, das nicht die Farbe des Schnees war, in welchen Regen eingesickert, sondern das blasse Glänzen eines Überzuges, der über Schneeflächen und Schneehügel gelegt war. (297) Augustinus ’ Beschreibungen seines eigenen Sehens vermitteln eine physiologische Dimension, indem vor allem die Farbreize, die von der veränderten Umgebung und den ungewöhnlichen Lichtverhältnissen ausgehen, hervor- 37 «Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute» gehoben werden. Augustinus ’ Augen reagieren auf den physischen Stimulus des Lichts, der seine Wahrnehmung der Außenwelt beeinflusst. Der Erzähler schildert seine subjektiven visuellen Eindrücke wie z. B. die verschiedenen Farbschattierungen des Waldes (meist blaue, weiße und graue Töne in gradueller Abstufung), den Verlust von scharfen Kontrasten und das Blenden des weißen Schnees. Die wandhafte, dunkle Erscheinung des Waldes wird zu einer Projektionsfläche, auf der Augustinus den Regen erkennen kann, und der vereiste Boden verändert die Farbe des weißen Schnees in ein blasses Glänzen. Der Text spiegelt ein Sensorium von visuellen Sinneseindrücken wider. Augustinus scheint jedoch seinen Augen nicht mehr trauen zu können, denn seine Wahrnehmung befindet sich im Modus der permanenten Sinnestäuschung: «Aber es war eine Täuschung gewesen» (308). Sein Blick versucht ständig, eine sich ihm entzogene Wirklichkeit neu zu erschließen: «[. . .] als ich des Morgens die Augen öffnete, und es nach und nach lichter wurde, war alles ganz anders, als ich erwartet hatte» (297). Die Vereisung hat den Boden der vertrauten Welt verdeckt, das Weiß der Landschaft wird zu einem Projektionsfeld für neue Sehmöglichkeiten. Für Augustinus erscheint ein vereister umzäunter Obstgarten: «An mehreren Planken waren die Zwischenräume verquollen, als wäre das Ganze in eine Menge eines zähen Stoffes eingehüllt worden, der dann erstarrte. Mancher Busch sah aus wie viele ineinander gewundene Kerzen oder wie lichte wässerig glänzende Korallen» (301). Das Eis lässt die Oberfläche des Zaunes wie verpackt erscheinen, und die Büsche suggerieren eine glitzernde Unterwasserwelt. Augustinus reagiert auf die Vereisung, indem er das Gesehene mit neuen Formen vergleicht. Seine mit Eis behangene Regenkappe nimmt er wie eine «Kriegshaube» (299) vom Kopf, die vom Eis gebeugten Bäume erscheinen als «Leuchter» (304), der Berg liegt wie eine «ungeheure gläserne Spiegelwalze» (308) da und «wie tausend bleiche Perlen» (299) hängen die gefrorenen Regentropfen in den Mähnen der Pferde. Augustinus benutzt immer wieder die modale Konstruktion des «als-ob» und konstruiert dadurch hypothetische Vergleichssätze, die seine Wahrnehmung in den Modus des Irrealis setzen. Die Dinge erscheinen nicht mehr als die ihm bekannten, sondern er muss sich ihre Bedeutung erst neu erschließen. Dabei übersetzt er die erinnerte Bedeutung in neue Zusammenhänge; die verschneiten und vereisten Gegenstände werden zu Zeichen, deren Sinn er erst durch Vergleiche entziffern kann. Die sprachtheoretische Forschung zu Stifters «Eisgeschichte» sieht gerade in diesen Übersetzungsversuchen den Schlüssel, um die Brechung der Referenzfunktion der Sprache zu zeigen und auf die sprachliche Verfasstheit der Wirklichkeit zu verweisen. Doch anstatt einer dekonstruktiven Lektüre geht es mir darum, den wirk- 38 Kathrin Maurer lichkeitsschaffenden und konstruktiven Aspekt des Sehens zu untersuchen, den Stifters Erzählung durch die Figur des Eises betont. Dabei weist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, Augustinus ’ Wahrnehmung strukturelle Ähnlichkeiten mit Helmholtz ’ Ausführungen über das menschliche Sehen auf. Als Arzt, Physiologe und Physiker verknüpfte Helmholtz die Wissensbereiche der Biologie, der Neurophysiologie und der Physik. Seine Betrachtungen über das menschliche Sehen stellen die multidisziplinäre Dimension seines Schaffens besonders dar, da sie die Aspekte der mechanistischen Optik mit organologischen Theoremen über die menschliche Wahrnehmung verbinden. Helmholtz ’ Überlegungen zur Beschaffenheit, Funktionsweise und Leistung des Sehens sollen in meinem Beitrag zu einer neuen Lesart von Stifters «Eisgeschichte» inspirieren, wobei ich mich auf ein paar ausgewählte Gesichtspunkte beschränken möchte. Helmholtz vergleicht in seiner frühen Schrift «Ueber das Sehen des Menschen» (1855) die Eigenschaften des menschlichen Auges mit denen der Camera obscura. Genau wie diese in der Form eines dunklen Behälters Bilder projizieren kann, weist das menschliche Auge Ähnlichkeiten zum Modell der Lochkamera auf. Das menschliche Auge als ein Kamera-Auge zu sehen war in der Experimentalphysik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts keine Seltenheit. Doch Helmholtz, als einer der Pioniere der organischen Physik, erweitert dieses optische Modell auf entscheidende Weise, indem er eine Brücke zwischen den physikalischen Gegenständen der mechanistischen Optik und ihrer physiologischen Subjektwahrnehmung schlägt. Schon Descartes hat mit dem Modell der Camera obscura auf die Wahrnehmungsweisen des menschlichen Sehens geschlossen. Er experimentierte mit einem von den Außenhäuten befreiten Ochsenauge, dessen Linse er in einen abgedunkelten Raum mit nur einer einzigen punktuellen Lichtquelle hängte. In die Innenseite dieser Linse schob er eine gewölbte Scheibe (z. B. ein Papier oder eine Eierschale), auf der sich wie auf einer Netzhaut die Bilder der Außenwelt projizierten. Dieses Experiment gilt als das Beispiel, welches demonstriert, dass der Mensch die äußere Welt nicht direkt wahrnimmt, sondern innere Bilder betrachtet, die sich in seinem Kopf bilden. Diese Sichtweise wird laut Claus Zittel von Kulturtheoretikern als das «klassische Modell der Wahrnehmung für die Neuzeit» (290) gesehen, da es sich gegen einen strikten Abbildungsrealismus wendet. 10 Entsprechen diese inneren Bilder nun genau der Außenwelt oder kann man sich nie gewiss sein, was das menschliche Auge eigentlich sieht? Eine schwierige Frage, die bis heute Gegenstand der Hirnforschung ist und die zahlreichen philosophischen Debatten über Wahrnehmung und Kognition dominiert. Für meine Inter- 39 «Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute» pretation ist demnach wichtig festzustellen, dass Helmholtz auf der Seite der Skeptiker eines Repräsentalismus einzuordnen ist. Für ihn schließt nämlich das Bild der Linse an die subjektiven Erkenntnisleistungen des Gehirns an, weshalb die Repräsentation der Außenwelt immer schon ein Produkt der Vorstellungskraft darstellt. Das menschliche Gehirn empfängt über die Nervenbahnen physiologische Reize, die von der Umwelt in Form von Licht und Ton ausgesendet und dann vom Gehirn verarbeitet werden. Damit entsteht die Perzeption des Gesichtssinnes aus einer direkten sinnlichen Affizierung: «Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigentümlichkeit der äusseren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht giebt, kann sie als ein Zeichen derselben gelten, nicht aber als Abbild» (Helmholtz, Die Thatsachen in der Wahrnehmung 12). Das Auge empfängt also lediglich Zeichen und Signale der Außenwelt, die vom Gehirn erst zu einer Welt konstruiert werden müssen. Der Mensch sieht insofern keine Abbilder der Welt, sondern zwischen Welt und Wahrnehmung schiebt sich die Interpretationsleistung des Gehirns. Helmholtz bezweifelt damit die Vorstellung, dass das Auge eine objektiv vorhandene Wirklichkeit ablichtet und stellt darüber hinaus die nativistischen, sich auf angeborene Fähigkeiten berufenden Wahrnehmungstheorien in Frage. Die Realität erscheint ihm vielmehr als eine Konstruktion aus verschiedenen Wahrnehmungsreizen, die in Abhängigkeit zu der evolutionären und historischen Entwicklung des wahrnehmenden Subjekts steht. Dieses konstruktive Sehen kann man auch in Stifters «Eisgeschichte» beobachten. Gerade der durch die Vereisung hervorgerufene Entzug des gewöhnlichen Blicks macht die Beschaffenheit des Sehens deutlich. Das ständig wachsende und sich scheinbar unendlich ausdehnende Eis projiziert perzeptive Leerstellen, die von Augustinus ständig neu visualisiert und hermeneutisch erschlossen werden müssen. Augustinus bringt die durch die Vereisung veränderte Umwelt mit einem prägnanten Satz auf den Punkt: «Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute» (301). Dieses «Ding» verweist dabei nicht auf einen konkreten Gegenstand, denn obwohl Augustinus die veränderten, nun wie «Korallen» (301) glänzenden Obstbäume schildert, bezieht sich sein Kommentar auf seine gesamte Lebensumwelt, die sich durch das Ereignis des Eisregens verändert hat. Augustinus beschreibt seine Umwelt nur noch als ein unbestimmtes Ding: «Wir harreten, und schauten hin, ich weiß nicht, war es Bewunderung oder Furcht, in das Ding hinein zu fahren» (304). Die Wirklichkeit erscheint also nicht als eine objektive und stabile Gegebenheit, in der Augustinus sich ohne Mühe orientieren kann und von der seine Augen verlässliche Abbilder produzieren, sondern als etwas Unbestimmtes und Undeutliches. Durch den Schnee 40 Kathrin Maurer entzieht sich die Welt. Augustinus findet sich nur zurecht, indem er die Realität durch Vergleiche neu auslegt. Dadurch werden die Eisfiguren zu Chiffren, die den Interpretationsprozess zwischen Auge, Subjektivität und Außenwelt markieren. Immer wieder zeigt der Text, wie die Gegenstände in den neuen Licht- und Wetterverhältnissen anders erscheinen und wie Augustinus sie erst allmählich erkennen kann. Das «Geglizzer und Geglänze» (304) der Eislandschaft entzieht dem Betrachter die Möglichkeit einer objektiven Wahrnehmung. Ebenso wie die Figur des Eises in den sprachphilosophischen Ansätzen auf die Literarizität der poetischen Rede verweist, reflektiert sie die Konstruktionsleistung des menschlichen Sehens. Doch kann man deshalb schließen, dass Stifters Text einen radikalen wahrnehmungstheoretischen Konstruktivismus vorgibt? Wird die im literarischen Medium abzubildende Realität zu einer kontingenten und rein subjektiven Konstruktion? Interessant ist, dass sowohl Stifters als auch Helmholtz ’ Werke sich mit dem Konstruktivismus auseinandersetzen und diesen zu relativieren bzw. zu kompensieren versuchen. Bei aller konstruktivistischen Modernität darf man Helmholtz ’ Theorien jedoch nicht dahingehend interpretieren, dass sie die Außenwelt als eine von Subjekt zu Subjekt gänzlich verschiedene Konstruktion festlegen. Obwohl das menschliche Auge lediglich die Zeichen wahrnehmen kann, geht Helmholtz von gegebenen Gesetzen aus, die die Wirklichkeit a priori strukturieren. Wenn also unsere Sinnesempfindungen in ihrer Qualität auch nur Zeichen sind, deren besondere Art ganz von unserer Organisation abhängt, so sind sie doch nicht als leerer Schein zu verwerfen, sondern sie sind eben Zeichen von Etwas, sei es etwas Bestehendem oder Geschehendem, und was das Wichtigste ist, das Gesetz dieses Geschehens können sie uns abbilden. (Die Tatsachen in der Wahrnehmung 13) In Helmholtz ’ Theorie des Sehens ist zwar eine «zeichenhafte Entsprechung an die Stelle der originalen Abbildung getreten» (Frost 298), doch diese Eindrücke sind gerade durch das Gesetzmäßige der Außenwelt bedingt. Die Zeichen, die die Sinne registrieren, können keine Abbilder der Dinge in der Welt liefern, aber sie können die Existenz der Naturgesetze anzeigen. Insofern kann die Wirklichkeit keine reine Konstruktion («leerer Schein») sein, sondern muss eine Gesetzmäßigkeit aufweisen, die vom Menschen wiederum erkannt werden kann. Für Helmholtz bestimmend in diesem Zusammenhang ist das Gesetz der Kausalität, das dem Prinzip von Ursache und Wirkung folgt und dadurch die Außenwelt organisiert und prognostizierbar macht. In Stifters literarischem Werk kann man ebenfalls über die konstruktive Beschaffenheit des Sehens (und der Sprache) Hinweise auf derartige substantielle und allgemeingültige Naturgesetze feststellen. Silke Brodersen hat ein sogenanntes «phänomenologisches Sehen» in Stifters Roman Der Nach- 41 «Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute» sommer (1857) und den Begriff des «sanften Gesetz[es]» im Hinblick auf Helmholtz ’ populärwissenschaftliche Schriften erörtert. Doch auch in Stifters «Eisgeschichte» liegt diese Spannung zwischen einem konstruktivem Sehen und der Annahme einer substantiellen Wirklichkeit vor. Bei allen «alsob»-Konstruktionen, die Augustinus angesichts der Schneemassen vollzieht, beruft er sich auch immer wieder auf die Existenz einer naturgegebenen Ordnung. Trotz der Ungeheuerlichkeit der vereisten Landschaft und der damit verbundenen Entstellung der vertrauten Welt kann der Erzähler die Gesetzmäßigkeiten der Natur dennoch berechnen. Er betont nicht nur die sich zyklisch wiederholenden Jahreszeiten - ein Motiv, das sich übrigens durch alle Texte der Mappe meines Urgroßvaters zieht - , sondern kennt auch die meteorologischen, physikalischen und biologischen Regeln der Natur. Er kann beispielsweise vorhersehen, wann die Äste unter der Last des Eises brechen werden: «Ein neuer Baumsturz sei nicht mehr zu befürchten; denn die Bäume tragen das Eis, welches sie noch haben, nunmehr sehr leicht, und es schwindet sichtlich zusammen» (320). Weiterhin betrachtet Augustinus die frisch gebrochenen Zweige und schließt nach genauer Untersuchung der Bruchstelle auf den Zeitpunkt der Vereisung (300). Er weiß auch, dass die Nadelbäume das Eis auf andere Art und Weise tragen als die Hausdächer und zieht daraus den Schluss, dass die Eisschichten auf den Dächern so schnell wie möglich zu entfernen seien (314). Man könnte noch viele Beispiele dieser Ursache-Wirkung-Verknüpfungen geben, von denen Augustinus ’ Beobachtung der Welt geprägt ist. Seine Schlüsse auf bestimmte Naturgesetze bilden einen konstanten Pol in seiner Wahrnehmung, die die durch das Eis veranlassten Orientierungsstörungen auffangen sollen. Augustinus kann sogar vorhersehen, dass der aufkommende Sturm, vor dem sich die Dorfbewohner fürchten, im Gegensatz zu der lang andauernden Windstille die «Erlösung» (317) bringen werde. Die Erlösung steht hier für den Wetterumschwung sowie symbolisch für die Präsenz einer göttlichen Ordnung. Somit bekommen die Naturgesetze bei Stifter eine metaphysischreligiöse Konnotation, 11 die bei Helmholtz nicht zu finden ist. Doch die Parallele zwischen physiologischer Wirklichkeitskonstruktion einerseits und naturgesetzlicher Ordnung andererseits beschreibt einen auffallenden Zusammenhang zwischen den Werken des Naturwissenschaftlers und denen des österreichischen Schriftstellers. Eine Verbindung, die nicht nur die wohlbekannte enge Vernetzung naturwissenschaftlicher und ästhetischer Diskurse im 19. Jahrhundert veranschaulicht, sondern auch Stifters poetologische Funktionalisierung dieser Erkenntnisse zeigt. Auch die Art und Weise, wie die naturgesetzliche Ordnung sich in die Vorstellungswelt des Menschen einprägen soll, ist in Stifters und Helmholtz ’ 42 Kathrin Maurer Texten ähnlich. Für beide Autoren spielt die kognitive Leistung der Erinnerung eine wichtige Rolle, um sich in der Welt wahrnehmungstechnisch zurechtzufinden. Bei Helmholtz besitzt für die Abbildung von Gesetzmäßigkeiten das Gedächtnis eine zentrale Funktion, denn der Mensch eignet sich im Zuge seiner Entwicklung die Wirklichkeit über Erinnerungsleistungen an. Die Orientierung in der Außenwelt wird erlernt und gespeichert. Dadurch kann Helmholtz beispielsweise auch erklären, dass man sich trotz Sinnestäuschungen noch immer in der Umwelt zurechtfinden kann. Erst das Gedächtnis ermöglicht die Feststellung einer Wiederholung von Geschehnissen in der Außenwelt und bildet die Basis für die Schlussfolgerungen, die einen gesetzmäßigen Zusammenhang bestätigen. Ähnlich wie beim kindlichen Spracherwerb erlernt der Mensch die Bedeutungen der Außenwelt über Konventionen, die vom Gedächtnis gespeichert werden. Auch in Stifters «Eisgeschichte» spielt das Erinnern eine wichtige Rolle und ermöglicht eine zentrale Orientierungsleistung in der Wirklichkeit. Augustinus versucht sich in der verschneiten Umgebung zurechtzufinden, indem er die «ursprüngliche» Landschaft in sich aufruft. Die Erinnerung an den Zustand ohne Schnee ist lebenswichtig für seine Fahrten durch den Winterwald. Als er sich einmal nur noch schwer an die Wege erinnern kann, zieht er es vor, seinen Knecht Thomas mitzunehmen: Ich sah das alles ein, was mein Knecht Thomas sagte, und da ich mich auch nicht ganz genau erinnerte, ob überall, wo ich zu gehen vor hatte, keine Bäume ständen, oder ob ich nicht einen viel weiteren Umweg zu machen oder gar wieder zurük zu gehen hätte, wenn ich nicht vordringen könnte, so gestattete ich ihm, daß er mitgehe, damit wir unser zwei wären, und die Sache mit mehr Kräften beherrschten. (307) Zusammen mit Thomas besitzt Augustinus mehr Kräfte. Einerseits sind die Kräfte physisch zu verstehen, da sich die beiden mit vereinten Kräften besser den Gefahren des Eises stellen können. Anderseits kann die Rede von der Kraft in dieser Passage auch als Fähigkeit aufgefasst werden, die Erinnerungsleistungen zu aktivieren und dadurch die Ordnung der Dinge wieder erkennen zu können. Helmholtz verwendet den Begriff der Kraft häufig synonym für den des Gesetzes. Das Gesetzmäßige kann nur dadurch erkannt werden, dass die Erscheinungen in der Welt der Phänomene erinnert und durch Wiederholung induktiv wahrgenommen werden. Auch für Stifter besitzt die Erinnerung eine «metaphänomenale» Kraft, mit der sich der Mensch in seiner persönlichen Lebensumwelt sowie in seiner Geschichte zurechtfinden kann. Die Mappe meines Urgroßvaters ist das Erinnerungsprojekt per se. Durch den Rat des Obristen, seine alltäglichen Lebens- und Arbeitserfahrungen aufzuschreiben, erlangt Augustinus seine seelische Ausgeglichenheit wieder und gewinnt sogar seine verflossene Verlobte Margarita 43 «Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute» zurück. Durch das erinnernde Aufschreiben seiner Vergangenheit und damit das schriftliche Verarbeiten seiner Erlebnisse lernt Augustinus, seine eigene Identität zu finden und sich in die Ordnung des Dorfes einzufügen. Das Erinnern beschreibt einen heilsamen und lebensbejahenden Prozess der sozialen und geschichtlichen Integration. Stifters «Eisgeschichte» verarbeitet somit auf ästhetischer Ebene zentrale Aspekte der Helmholtzschen Wahrnehmungs- und Kognitionstheorie und schreibt - bei allen Bemühungen um Realitätstreue - gegen einen strikten Abbildrealismus an. Diesen Sachverhalt kann man auch als eine direkte Auseinandersetzung mit dem Medium der Fotografie deuten, 12 zumal Stifter von den Möglichkeiten der damaligen Fotografie durchaus begeistert war und das Attribut «fotografisch» verwendet, um die Realitätsnähe seiner Texte auszudrücken (Begemann, Die Welt der Zeichen 370). Doch trotz seiner Faszination blieb er der Fotografie gegenüber skeptisch; eine Haltung, die er in einem Brief an seinen Freund und Verleger Gustav Heckenast im Jahr 1857 zum Ausdruck brachte: Im ganzen bin ich den Photographien feind, sie müssen außer Verhältnis sein, weil jede Sammellinse nur treue Bilder gibt, wenn der Gegenstand nicht in der Raumtiefe sondern in einer Ebene ist, die parallel der Linsenbreite ist, und weil jeder Mensch in dem Augenblicke, als er von der Linse gefangen wird, starr sein muss, also nicht er ist, wobei meistens der Mangel an Leben in den Photographieen rührt. («Brief an Gustav Heckenast» 35) Stifter scheint die Mechanik der Fotografie gut zu kennen, da er das Potential der Verzerrung der fotografischen Abbildung treffend erwähnt. Weiterhin weist er auf die Leblosigkeit der Fotografie und das Erstarren der abfotografierten Menschen vor der Kamera hin. Stifter will nicht nur einfach die Wirklichkeit im Sinne einer naturalistischen Ästhetik kopieren, sondern die lebendige Wirklichkeit in der Kunst neu konstituieren. Die Fotografie stellt sich gerade durch ihre Kapazität einer totalen Mimesis als antiästhetisches Medium dar; eine Auffassung, die übrigens von vielen Schriftstellern des deutschsprachigen Realismus geteilt wurde. Stifter war eben vor allem Zeichner und Schriftsteller, und wenn er sich als Augenmensch auf das Sehen spezialisierte, so war dies kein Sehen, das eine Daguerreotypie erfordert: «Ich möchte alle, die ich liebe, in recht lebendigen farbigen Bildern und nicht in toten Photographien als Kunstfreund sehen» («An Gräfin Anna Revertera de Salanda» 50). Die Figur des Eises in Stifters Erzählung steht nun - etwas überraschend - für den Wunsch nach Lebendigkeit in der Kunst. Die Vereisung bei Stifter funktioniert nämlich gerade nicht fotografisch als Erstarrung alles Lebendigen (oder als Verschriftlichung, die das Lebendige in toten Buchstaben 44 Kathrin Maurer einfriert), sondern verkörpert eine eigene Vitalität. Der erstarrte Wald entwickelt sich ja, wie oben gezeigt, zu einem lebendigen sensorischen Raum. Das Sehen in Stifters «Eisgeschichte» ist immer ein lebendiges Sehen; ein visuelles Affiziertsein durch die Farben, die Lichtverhältnisse und die Witterung. Obwohl Augustinus sich in der Eislandschaft zu verirren droht, beginnt er auf eine neue Weise durch das Eis zu sehen und sich die Wirklichkeit dynamisch zu erschließen. Dementsprechend herrscht im Wald auch keine Totenstille, sondern der Eiswald wird zu einem lebendigen Klangraum, in dem es braust, kracht, saust und rauscht. Immer wieder registriert Augustinus die Geräusche der Vereisung: «zartes Klingeln» (299), «zitterndes Brechen» (299), «dröhnende[r] Fall» (304), «Knall» (304), «Geschinner» (304). Das Eis tötet nicht ab, sondern entwickelt durch akustische Signale und Schallwellen eine eigene Lebendigkeit. Die Prozesse des Schmelzens und Gefrierens, die diese Klangkulisse verursachen, bedeuten kein Totfrieren, sondern symbolisieren lebensspendende Energien. Auch das Eis, das Augustinus in seiner Eiskammer zu ärztlichen Zwecken sammelt, hat eine heilende Wirkung. 13 Diese Hinwendung zum Lebendigen deutet auch auf die ideale Denkrichtung von Stifters realistisch-ästhetischem Programm. Begemann verweist in Bezug auf Stifters Real-Idealismus auf seine Nähe zur klassischen Kunstautonomie Goethes (Die Welt der Zeichen 387). So wie Goethe das Lebendige als eine Brücke zwischen Idealität und Realität sieht, versucht auch Stifter die Wirklichkeit im Kunstwerk gleichzeitig zu erschaffen und zu transzendieren. Auch wenn man diesen Real-Idealismus in Stifters eigenen ästhetischen Reflexionen finden kann, ist wichtig festzustellen, dass sie auch immer wieder an ihm scheitern. Wie bei Helmholtz geht es bei Stifter um die Spannung zwischen dem physiologisch-konstruktiven Wahrnehmen und der Annahme von substantiellen Naturgesetzen. Helmholtz versucht diese Spannung mittels erkenntnistheoretischer Argumente aufzulösen, und auch Stifters «Eisgeschichte» strebt dies an. Doch wo der naturwissenschaftliche Text diesen Widerspruch auf argumentativer Ebene harmonisieren kann, zeigen Stifters literarische Texte die Brüche eines solch real-idealistischen Konzepts auf. Wie meiner Argumentation zu entnehmen ist, drohen Augustinus ’ gewohnte Wahrnehmungsweisen sich in der Schnee- und Eislandschaft zu verlieren. Augustinus ’ Augen halten zwar an den wahrnehmungstechnischen Routinen fest, doch sie sind ständig der Gefahr ausgesetzt, dass das Eis und der Schnee diese Erinnerungsspuren vollkommen «ausweißen» und damit unsichtbar machen. Die Naturgesetze werden zwar aufgerufen und als allgemeingültige Sinnhorizonte angegeben, doch der Schock und die Unordnung, die der Eisregen verursacht hat, werden nicht so schnell vergessen 45 «Ich hatte dieses Ding nie so gesehen wie heute» werden. So bemerkt Augustinus, als sich das Ende der Eiszeit bereits andeutet: «Ich werde die Größe und Herrlichkeit der Erscheinung nie vergessen» (327). In diesem Satz treffen sich ein ängstliches Erschauern und eine Faszination für den Ausnahmezustand, den das Ereignis des Eisregens mit sich brachte. Augustinus ’ Wahrnehmung pendelt ständig zwischen den Polen der Instabilität und der Stabilität hin und her und macht dabei die Orientierungsverluste kenntlich, die dann durch das Aufrufen von Naturgesetzen und religiösen Ordnungsschemata zu kompensieren versucht werden. Damit repräsentiert die Figur der Vereisung auch ein typisches «Stifter-Moment», das sich in der Dynamik zwischen dem Auflösen von und dem Beharren auf festen, sinnstiftenden Strukturen dokumentiert. Ein Spannungsfeld, das sich in seinen Texte immer wieder zeigt und sie somit an die Ränder des Übergangs zwischen vormodernen und modernen Weltsichten platziert. Anmerkungen 1 Stifter hat seinen Text nicht eigens so betitelt, doch der Einfachheit halber verweise ich in meiner Analyse auf die «Eisgeschichte». 2 Ich konzentriere mich auf die 4. Fassung (Lesetext). 3 Die Verbindung zwischen Hermann von Helmholtz ’ optischer Theorie und Stifters Realismuskonzeption wird in den Arbeiten von Sabine Frost und Silke Brodersen erörtert. Ich konzentriere mich vor allem auf das Eis als eine Figur, die das menschliche Sehen veranschaulicht und gehe dabei ausschließlich auf Stifters «Eisgeschichte» ein. 4 Siehe in dieser Hinsicht den Aufsatz von Friedbert Aspetsberger. 5 Mit Hinblick auf die Rolle von Identität und Autobiographie siehe den Beitrag von Cornelia Blasberg. 6 Siehe dazu auch die semiotisch orientierte Arbeit von Christian Begemann. 7 Isolde Schiffermüller knüpft eng an Geulens Thesen an und zeigt anhand von dekonstruktiven Lesarten die differentielle Konstitution der «sich-versprechenden» Sprache auf. 8 Frost zeigt jedoch, dass die Opposition zwischen Oralität (Flüssigkeit, Wasser, Regen, Leben) und Literalität (Eis, Vergletscherung, Erstarrung, toter Buchstabe) in der autobiographisch strukturierten Erzählung Die Mappe meines Urgroßvaters, in der sich Augustinus ja durch das Aufschreiben der eigenen Lebenserfahrungen Heilung erhofft, aufgebrochen wird. Die Eismetapher kennzeichnet nicht stringent die erstarrende und leblose Konservierungskraft der Schrift, sondern, wie Frost betont, einen offenen und dynamischen Identitätsfindungsprozess im Medium des autobiographischen Schreibens (125 — 60). 9 Siehe dazu auch Erika Tunners Aufsatz über die Rolle des Sehens bei Stifter. 10 Als Beispiel für diese These nennt Zittel die Arbeit von Jonathan Crary. Zittel hat jedoch diese Sichtweise auf Descartes in Frage gestellt, da sie dennoch eine Form des Repräsentalismus suggeriert, der von Descartes kritisiert wurde (291). 46 Kathrin Maurer 11 Siehe Brodersen (12) und Begemann «Metaphysik und Empirie: Konkurrierende Naturkonzepte im Werk Adalbert Stifters». 12 Zur Rolle der Fotografie im literarischen Realismus des 19. Jahrhunderts siehe Christiane Arndt. 13 Siehe dazu auch Frosts Anmerkungen über die lebensaffirmierende Rolle des autobiographischen Schreibens, die sich in den Prozessen des Schmelzens und Gefrierens ausdrückt (125 — 60). Bibliographie Arndt, Christiane. Abschied von der Wirklichkeit: Probleme bei der Darstellung von Realität im deutschsprachigen literarischen Realismus. Freiburg: Rombach, 2009. Aspetsberger, Friedbert. «Die Aufschreibung des Lebens: Zu Stifters Mappe.» Vasilo 27 (1978): 11 - 38. Begemann, Christian. Die Welt der Zeichen: Stifter-Lektüren. Stuttgart: Metzler, 1995. — . «Metaphysik und Empirie: Konkurrierende Naturkonzepte im Werk Adalbert Stifters.» Wissen in der Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt. Tübingen: Niemeyer 2002. 92 - 196. Blasberg, Cornelia. «Wer bin ich bisher gewesen? Identität als Problem in Adalbert Stifters Die Mappe meines Urgrossvaters.» Ordnung, Raum, Ritual: Adalbert Stifters artifizieller Realismus. Hg. Sabina Becker und Katharina Grätz. Heidelberg: Winter, 2007. 101 - 24. 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