eJournals Colloquia Germanica 43/1-2

Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2010
431-2

Kältelehren der Winterreise

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2010
Ulrike Vedder
cg431-20131
Kältelehren der Winterreise ULRIKE VEDDER H UMBOLDT -U NIVERSITÄT Z U B ERLIN Das Universum der Tonkunst ist eine Landschaft des Todes. Weiße Wüsten, Eis, gefrorene Flüsse, Bäche, Seen! Riesige Scheiben Arktis, durchsichtig bis zum Grund, keine Tatzenspur des Raubtiers Eisbär. Nur geometrisch angeordnete Kälte. Schnurgerade Frostlinien. Totenstille. Alle zehn Finger kann man stundenlang dagegen pressen, und das Eis zeigt keine Spur eines Abdrucks. (Jelinek, «Clara. S.» 127) In Elfriede Jelineks Stück Clara S., musikalische Tragödie (UA 1982) spricht die Komponistin und Pianistin Clara Schumann diese Sätze über das «Universum der Tonkunst«. Eine zwar geordnete, doch unbeeindruckbare und spurlos bleibende Landschaft aus Eis und Tod, «durchsichtig bis auf den Grund«, ohne dass zu sehen wäre, welchen Prozessen und Operationen, welchen Projektionen und Zerstörungen, welchen Ein- und Ausschlüssen sich diese eisige grandiose Landschaft verdankt - ein starkes Bild in diesem Stück über die Zerstörung weiblicher Kreativität und über die Abgründe des Geniekults, die anhand der beiden im Stück auftretenden Künstler Robert Schumann und Gabriele d ’ Annunzio exerziert werden. Montiert aus Tagebüchern und Briefen Clara Schumanns aus dem 19. Jahrhundert, aus Romanen von Gabriele d ’ Annunzio um 1900 und aus Ria Endres ’ Studie Am Ende angekommen (1980) über Männlichkeiten in Thomas Bernhards Texten wird hier in plakativer Dramatisierung ein Angriff auf die Prätexte und die in ihnen wirksamen Weiblichkeitsbilder geführt. Wenn Elfriede Jelinek in ihrer Winterreise (2011) den Zyklus Die Winterreise von Wilhelm Müller und Franz Schubert aufgreift, wie sie in ihren Texten immer wieder Prätexte aufnimmt und ‹ zerschreibt › , so treibt sie damit ihr über Jahre entwickeltes Textverfahren fort, das auf Kombinatorik anstelle von auktorialer Erfindungsgabe setzt, auf uneigentliches Sprechen anstelle von originellen Selbstäußerungen, auf diskurskritisches Zitatwesen anstelle von utopischen Gegenentwürfen, auf Textflächen anstelle von figurenkonturierender Rede. Auch hier also finden sich wörtliche Zitate und szenische oder semantische Anspielungen auf die Winterreise; die acht Szenen der Jelinekschen Winterreise lassen sich mehr oder weniger je einem Lied, also acht aus 24 Liedern aus Müllers/ Schuberts Zyklus zuordnen. Auch hier werden Diskurspartikel der Gegenwart zusammengeführt, Figurenidentitäten aufgelöst, Machtverhältnisse und die darin zentrale Kategorie des Geschlechts analysiert. Dabei aber geht es Jelinek nicht, wie in so vielen anderen ihrer Texte, um eine erhellende Zertrümmerung der ‹ Vorlagen › und ihrer identitäts-, diskurs- und machtpolitischen Implikationen, einschließlich der Destruktion männlicher Weiblichkeitsprojektionen, sondern um eine vielschichtige produktive Bezugnahme. Zwar enthält Jelineks Winterreise eine Fülle brutaler Sprachszenen und Identitätszertrümmerungen, doch verfährt sie in anderen Passagen geradezu behutsam. So sind beispielsweise die wenigen zarten Momente eines ins Pflegeheim abgeschobenen, dementen Vaters gegenüber seiner Tochter, die den Vater dort ‹ abgeworfen › hat, wie es heißt, an Winterreise-Zitate gebunden: «Erkennst du noch mein Bild, Kind? [. . .] Weißt du denn nicht mehr, wie ich ausgesehen habe? Schreib im Vorübergehen ans Tor dir gute Nacht. Damit du mögest sehen, an dich hab ich gedacht. Ich weiß schon, du liest das sicher nicht» (Jelinek, «Winterreise» 79 - 80). Dass dieser Versuch einer Begegnung, dieser kleine Moment der Wärme seitens des verloren gegebenen Vaters nur im Zitat artikulierbar ist, liegt zum einen sicherlich «in der Logik von Jelineks sarkastisch überhöhendem Sprachverfahren, das kaum Öffnungen lässt für eine konventionelle Identifikation von und mit ihren Figuren» (Caduff 24). Zum anderen liegt es aber auch in Jelineks Verständnis von Schuberts musikalischem Verfahren, das sie als eines der Entortung und des Verlorengebens beschrieben hat. So hebt Jelinek in ihrem Essay «Zu Franz Schubert» (1998) an dessen Musik hervor, dass in ihr «etwas da ist, das uns gleichzeitig weggenommen ist«, und sie begreift Schubert als einen Komponisten, dem wie wenigen anderen, während er die Zeit angehalten hat, [. . .] der Raum davongelaufen ist, das heißt: alles was um die Dinge so herumliegt. Notgedrungen muß, um etwas zu bestimmen, ja Raum und Zeit angeführt werden, Biedermeier, Metternich ’ sche Zensur, Verschlüsselung, Verschleierung, etwas meinen ohne es zu sagen, etwas sagen ohne es zu meinen, aber daß etwas von vorneherein ein Ding ist, über das nichts zu erfahren wäre, weil es zwar ein Gewolltes und Gemachtes [. . .] ist, aber nicht ein wollig Umstricktes und nicht ein Eingemachtes, das man behalten könnte, in die Sammlung legen und anschauen bzw. anhören, wann immer man möchte. Die Winterreise ist also - trotz ihres Status eines im Symbolischen hoch im Kurs stehenden Kulturguts - in gewisser Weise unverfügbar, kein «Eingemachtes«, kein warm und «wollig Umstricktes«. Die Kälte, die in ihr vorherrscht, stellt sich demnach als ein Modus dieser Unverfügbarkeit der 132 Ulrike Vedder Kunst dar. Zugleich aber lässt sich die Kälte auch als gesellschaftliche Vereisung begreifen; sie kann als Vorbote des Todes fungieren; sie steht im Zusammenhang mit ‹ Verhaltenslehren der Kälte › , die das Überleben sichern sollen (wie Helmut Lethen sie für den Habitus der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre bestimmt hat). Zudem verweist die Kälte auf Bildlichkeiten von Erhabenheit oder heroischer Männlichkeit, und sie bezeugt - als Herzenskälte - die Untauglichkeit für die romantische Liebe und ihre Diskurse. In Müllers Gedichtzyklus waltet die Kälte zunächst äußerlich, in Form von Schnee und Eis; dann mehr und mehr auch im Innern des Wanderers, dem - mit dem Verlust der «glühenden Augen» seiner Geliebten und seinen «heißen Tränen» darüber - die Wärme immer mehr verloren geht, bis im 20. Gedicht des Zyklus er mit dem Phänomen der «Nebensonnen» konfrontiert ist: mit einem optischen Phänomen, das durch die Brechung der Sonnenstrahlen an den Eiskristallen in der Atmosphäre entsteht und so die Sonne in neben ihr stehenden «Nebensonnen» spiegelt, die ein kaltes Licht geben, ohne die Wärme der Sonne. Im 23. Gedicht dann mit dem Titel «Mut! » formuliert der Wanderer tatsächlich eine Art ‹ Verhaltenslehre der Kälte › , die ihn retten soll: Fliegt der Schnee mir ins Gesicht,/ Schüttl ich ihn herunter./ Wenn mein Herz im Busen spricht,/ Sing ich hell und munter./ / Höre nicht, was es mir sagt,/ Habe keine Ohren./ Fühle nicht, was es mir klagt,/ Klagen ist für Toren./ / Lustig in die Welt hinein/ Gegen Wind und Wetter! / Will kein Gott auf Erden sein,/ Sind wir selber Götter. (Müller 43) Im 24. und letzten Lied ist die zerstörerische Kälte an den Leiermann delegiert, der, «[b]arfuß auf dem Eise«, alles gehen lässt, «wie es will», während der Wanderer von «meinen Liedern» (44) spricht und so zum Sänger und Autor wird: «Das Schlußgedicht stellt nichts Geringeres in Aussicht, als daß die Lieder neu anheben und die während der Winterreise gesungenen Lieder nun als Winterreise gesungen werden» (Bosse/ Neumeyer 158). Dass sich also aus solchen vielfachen Kältebildern keine ‹ Lehre › heroischer Männlichkeit destillieren lässt, versteht sich. Dementsprechend bietet sich Müllers Gedicht-Zyklus für das Schema einer von Wissensdrang getriebenen Entdecker- oder Forschungsreise in die Kälte nicht an. Vielmehr geht es in den folgenden Lektüren der Texte von Wilhelm Müller und Elfriede Jelinek um deren an die Kälte gebundene Poetik der Unentschiedenheit und Ausweglosigkeit, die sich gegen eine Absorption in ideengeschichtliche oder sozialphilosophische Interpretationen sperren. Hier wäre etwa an Manfred Franks Studie Die unendliche Fahrt (1979) zu denken, in der er seine Bezugnahme auf Müllers Winterreise unter die Generalmaxime einer ‹ zerbrochenen Ökonomie der Heimkehr › gestellt hat. 133 Kältelehren der Winterreise Anders als Wilhelm Müllers Gedichtzyklus Die schöne Müllerin (1820), versehen mit dem Zusatz «Im Winter zu lesen«, erzählt Die Winterreise keine Geschichte, auch wenn sich Stationen einer Wanderschaft und mithin so etwas wie Handlungselemente erkennen lassen. Im Zentrum aber steht das lyrische Ich, ein ‹ Hinausgetriebener › , in der Forschung wahlweise ‹ Wanderer › oder auch ‹ Flüchtling › genannt; Elfriede Jelinek spricht gar von ‹ Deserteur › . Ein vielfach Fremder mithin, wie die ersten beiden Verse des Zyklus konstatieren: «Fremd bin ich eingezogen/ Fremd zieh ich wieder aus» (Müller 7). Dass das Ich sich der eisigen Umgebung und ihrer Todesnähe dermaßen aussetzt, dass ihm die Tränen erfrieren, es eine Krähe um «Treue bis zum Grabe» anfleht und es einen Friedhof als Wirtshaus bezeichnet, wird nicht ausreichend motiviert - oder umgekehrt: Gründe für sein zielloses Unterwegssein scheint es zunächst mehrere zu geben, sie erscheinen aber widersprüchlich und unzureichend: spielt doch das erste Lied des Zyklus, «Gute Nacht«, auf die Untreue der Geliebten an, möglicherweise aber auch auf die des Ich, das der unsteten Liebe unterstellt zu sein scheint: «Die Liebe liebt das Wandern, - / Gott hat sie so gemacht - / Von einem zu dem andern - / Fein Liebchen, Gute Nacht! » (8) Als ein weiterer Grund für den Aufbruch wird aber auch eine drohende Vertreibung genannt, der der Wanderer zuvorkommt, sowie eine - jedenfalls im vergangenen Mai - in Aussicht gestellte Ehe, vor der das Ich möglicherweise flieht, zumal wenn man die Tradition der Studentenlieder um 1800 einbezieht, in denen sich immer wieder die Angst vor dem Ende des Studiums formuliert findet, das mit dem Weg in Ehe und Philisterei einhergehe. Es handelt sich also um einen durchaus widersprüchlichen Aufbruch des Wanderers. Festhalten lässt sich aber doch, dass sein Aufbruch zur Unzeit, in den Winter und in die Nacht hinein, eine Kontrafaktur zum gängigen Wanderlied darstellt, das zu Beginn des Tages bzw. im Frühjahr situiert ist und - wie etwa Ludwig Uhlands Wanderlieder (1811) - auf den Zyklus der Jahreszeiten zielt; Müllers Gedichte hingegen bleiben in Schnee und Eis stecken. 1822 veröffentlicht Wilhelm Müller die ersten zwölf Lieder (in Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1823), ein Jahr später eine zweite Sammlung von zehn Gedichten. Der um zwei weitere Gedichte erweiterte Zyklus aus 24 Liedern erscheint dann 1824 im zweiten Band der Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten. Fällt einem hier Jean Paul als stilistisches Vorbild ein, so lässt sich die Titelgebung als ironische Anknüpfung an die romantische Formulierungstradition verstehen - in jedem Falle aber ist die Publikation als Hinterlassenschaft gekennzeichnet, d. h. Müller zeichnet nicht als Autor, sondern als Herausgeber bzw. als Nachlassverwalter, was die Lieder zum einen als gleichsam authentische Volkslieder, zum andere als ‹ Erbe › kennzeichnet. Damit ist zugleich die Frage 134 Ulrike Vedder von Aneignung und Tradition, die eingangs für die neueren Adaptionen angesprochen wurde, auch für Müllers Gedichte aufgeworfen, wobei es interessant ist, dass Müller den Begriff des ‹ Zeitgemäßen › für seine Lieder stark macht, wenn er in einer Besprechung «Über die neueste lyrische Poesie der Deutschen» (1827) den «heillose[n] Irrthum einiger Modedichter der nächsten Vergangenheit» kritisiert, der darin bestehe, «dass sie Volkslieder zu geben meinten, wenn sie alterthümliche Phrasen, unbeholfene Wendungen, auch wohl gemeine Derbheiten aus den alten Vorbildern nachäffend zu neuen Verbindungen zusammenfügten. Keiner Dichtungsart liegt es mehr ob als der lyrischen, zeitgemäß zu sein.« 1 Das Zeitgemäße als Maßstab der Aneignung einer Tradition lenkt den Blick zunächst auf die politische Zeitgenossenschaft der Lieder, die im Bild der eisigen Erstarrung der politischen Verhältnisse nach den Karlsbader Beschlüssen bzw. unter Metternich sich erweist. Darüber hinaus richtet sich die Zeitgemäßheit der Gedichte auf die sozialen und kulturellen Umbrüche bzw. den Modernisierungsschub um 1800, der auch vor dem Wandern nicht haltmacht, schlägt er sich doch im Verlust einer ständischen und institutionellen Bindung des Wanderns nieder, das nun nicht mehr an zunftgemäßes Verhalten der Handwerker oder an eine spezifische Ausbildungsphase gebunden ist, sondern das auf den «natürlichen Menschen, genauer, [. . .] die männliche Jugend» zielt sowie auf «das Paradigma von Bildung überhaupt» (Bosse/ Neumeyer 42 - 43). Damit aber kommt die Zeitgemäßheit der sprachlichen und künstlerischen Dimension in den Blick, die nicht nur die von Müller inkriminierten «alterthümlichen Phrasen» und «Derbheiten» aus seinen Liedern ausschließt, welche ja durch eine große Einfachheit der Sprache gekennzeichnet sind, sondern zudem eine «Selbstreflexion der Kunst» (9) in das Wanderlied einziehen lässt. In welcher Weise diese Zeitgemäßheiten mit dem Phänomen der Kälte verbunden sind, sei nun an drei von Müllers Gedichten gezeigt. Schon bald nach der Abschiedsszene des ersten Gedichtes wird im vierten Lied, «Erstarrung«, die eisige verschneite Landschaft mit der Erinnerung an Blüten und grünes Gras kontrastiert, die metonymisch für die Geliebte stehen, mit der das Ich hier lustwandelte, und die nun unerreichbar unter dem Schnee liegen, den auch die heißen Tränen des Ich nicht zum Schmelzen bringen können. So weit, so konventionell, ließe sich sagen, wenn nicht Strophe 4 und 5 gerade nicht das Projekt der Schneeschmelze verfolgen würden, das ein Anknüpfen an vergangene Zeiten verspricht, sondern umgekehrt das Bewahren der Erinnerung an die Geliebte gerade an Kälte und Eis koppeln. Im ersten Lied «Gute Nacht» hatte es schon geheißen: «Und auf den weißen Matten/ Such ich des Wildes Tritt» (Müller 7); dort hatte sich 135 Kältelehren der Winterreise das Ich also schon als Spurensucher und Zeichenleser eingeführt, wenn auch zunächst im Bildfeld des Jägers, der dem Wild folgt. Dies wird im vierten Lied «Erstarrung» zunächst als Suche nach einem «Angedenken» an die Geliebte weitergeführt: «Ich such im Schnee vergebens/ Nach ihrer Tritte Spur» (13). Aber der Wanderer, dem alles zum Zeichen werden soll, findet keine Spur, keinen Abdruck, denn es ist gerade der Schnee, der den «Boden«, «wo wir oft gewandelt«, bedeckt, alle alten Spuren verdeckt - und somit keinen ‹ durchdringenden › Blick erlaubt. In einer erstaunlichen Wendung wird dann das Herz als «wie erfroren» bezeichnet, das damit das Bild der Geliebten zu bewahren weiß. Die Schmerzen und das ‹ wie erfrorene › Herz sagen dem Ich «von ihr«; wenn die Schmerzen schweigen, wenn das kalte Herz schmilzt, wird die Geliebte vergehen. Es ist also die starrende Kälte, der das Ich das Bild der Geliebten in seinem Herzen verdankt, mithin auch das Sprechen seiner Schmerzen. Wenn aber die Schmerzen sprechen, dann äußern sie sich in der Winterreise im Lied, so dass nicht nur das Bild der Geliebten erst dank der Kälte bewahrt wird, die außerhalb und innerhalb des Ich herrscht, sondern auch das Lied «Erstarrung» erst dank der Kälte, als poetisches Verfahren, vom Schmerz sprechen und singen kann. Und damit kann das Lied zum «Angedenken» werden, das sich «mit von hier» nehmen und jederzeit wiederholen lässt (vgl. Bosse/ Neumeyer 134 - 35). Im achten Lied «Auf dem Flusse» wird die Frage von Spur und Abdruck in eine Schreibszene der Kälte überführt. Die Eisdecke über dem Fluss erscheint als weißes Blatt, das «keinen Scheidegruß» gibt, also schreibt der Wanderer nun selbst. Der gefrorene Fluss, «kalt und unbeweglich«, stellt die Schreibfläche dar, die Zeichen aufnimmt: verletzende Zeichen, die mit «einem spitzen Stein» ‹ eingegraben › werden, und verletzte Zeichen, «ein zerbrochner Ring» (Müller 19). Dieser zerbrochne Ring deutet als Zeichen einer verlorenen Liebe auf die Geliebte; er lässt sich zudem als symbolon verstehen, als das zerbrochene Zeichen, das auf sein fehlendes Gegenstück verweist, das die Wahrheit einer Botschaft bezeugen wird. Darüber hinaus fungiert der zerbrochne Ring als Zeichen eines reflektierenden und sich erinnernden Bewusstseins, das sich weder schließt noch wiederfindet, sondern hier nur «Nam ’ und Zahlen» (19) nennt - so dass, nimmt man die Parallele zwischen dem Ring und dem Liederzyklus selbst hinzu, der zerbrochne Ring auf das Zustandekommen des Zyklus unter den brüchigen Bedingungen der Kälte vorausweist, das wir gleich anhand des letzten Liedes sehen werden. In der letzten Strophe wird deutlich, dass der Wanderer schreibt, nicht um mit seiner unerreichbaren Geliebten zu kommunizieren, sondern um das eigene einsame Herz anzusprechen, das wie der vereiste Fluss so starr daliegt, dass selbst das Eingraben der Zeichen mit spitzem Stein die Eisschicht nicht 136 Ulrike Vedder durchdringen kann. Dass es darunter aber «so reißend schwillt«, merkt man dem Fluss nicht an, das weiß nur das Herz von sich selbst. Die Instanz des wissenden Herzens ist damit, dank der Schreibszene der Kälte, für den weiteren Verlauf des Liederzyklus etabliert - bevor es dann, wie schon gesehen, im 23. Gedicht «Mut! » zum Verstummen gebracht bzw. durch munteren Gesang übertönt wird: nicht hören, nicht fühlen, auf Gott nichts geben. Prompt kommt das Herz nicht mehr zur Sprache. Auf dieses mutwillige ‹ Überlebensprogramm › aber folgt noch ein letztes Lied, «Der Leiermann«, das eine andere ‹ Kältefunktion › aufweist und auf kein - verstummtes, wissendes oder erstarrtes - Herz mehr setzt, sondern auf den Leiermann, eine zwiespältige Figur, die niemand hören will, durch die aber die Lieder des Wanderers zur Winterreise, dem Gedichtzyklus, werden. Der Leiermann, der noch «hinterm Dorfe» (44) steht und dort, fast erstarrt und barfuß auf dem Eis, mechanisch seine Leier dreht, erscheint zunächst wie ein Todesbote, der den Wanderer ans ersehnte Ziel, den Tod führt. Zugleich stellt der ‹ wunderliche Alte › eine Spiegelfigur für den jungen Wanderer dar, in der dieser seine Zukunft sehen kann: hin und her schwankend am Ende einer Wanderung, aber nicht am Ziel; ohne eigene Stimme, ohne Antwort auf seine Musik; in seiner Drehbewegung befangen, kurz vor dem Verschwinden in Kälte und Eis. In der Forschungsliteratur ist der Alte mit der Leier als ‹ depotenzierter Orpheus › (Wittkop 152) gedeutet worden, worauf auch die ihn umkreisenden brummenden Hunde hinweisen, hat doch Orpheus mit seinem Lyra-Spiel und Gesang nicht zuletzt die wilden Tiere befriedet. Dieser verstummte Orpheus vermag ohne seinen Gesang den Tod nicht mehr zu bannen, doch ist er andererseits diejenige Figur, durch die der Wanderer, mit «meinen Liedern» von der Winterreise, zum Autor und Sänger der Winterreise wird; auch das letzte Lied ist also ein poetologisches Gedicht. Es gehört zu den Topoi der Irrfahrten und unendlichen Reisen, um den Preis des eigenen Untergangs eine letzte Botschaft an die Nachwelt zu adressieren und so zum Heros eines Überlebens in der Literatur zu werden - ein bekanntes transzendierendes Moment in Untergangsszenarien. Der Sänger und Autor aber, der hier im letzten Lied aus dem Zusammentreffen zwischen Wanderer und Leiermann entsteht und so aus seinen Liedern einen musikalisch-poetischen Zyklus macht, welcher nunmehr als Kunstwerk von vorn wieder ertönen kann, ist ein ganz unheroischer; nicht zuletzt, weil in den Liedern reflektiert wird - z. B. im eben angesprochenen Gedicht «Auf dem Flusse» mit dem zerbrochnen Ring - , dass dieser Zyklus, zustande gekommen unter den brüchigen Bedingungen der Kälte, für die der Leiermann steht, nicht das ganze Erlebte wiedergeben kann und auch den Sänger nicht seiner selbst zu versichern vermag. 137 Kältelehren der Winterreise Das brüchige, an die Kälte gebundene Moment einer Konstitution des Liederzyklus als Kunst, wie es «Der Leiermann» vorführt, stellt ein ganz anderes Modell dar als die - an den Topos des Eises und der Kälte gebundene - narrative Konstruktion heroischer Männlichkeit, die Inge Stephan in ihren Überlegungen zum Kältekult in der Literatur um 1900 erkennbar gemacht hat: als gebunden an Hegemonialstreben und die Kolonisierung der vermeintlich ‹ weißen Flecken › mit ihren Geschlechtercodierungen, die aber auch zeitgenössisch, d. h. vor der Neuen Sachlichkeit mit ihren habituellen virilen Verhaltenslehren der Kälte, schon ironisiert und kritisiert worden ist. Hier aber, nach 1800, haben wir es mit Kälte- und Todeskonstellationen zu tun, deren Unverstandenheit, die in der Rezeption der Romantik häufig zu Todessehnsucht und Todesfaszination gerinnt, bekanntlich Thomas Manns Bezugnahmen auf die Winterreise in seinem Roman Der Zauberberg motiviert hat. In dessen Grammophon-Kapitel wird ein solches schwärmerisches Missverständnis einer «Sympathie mit dem Tode» (Mann 906) durch Hans Castorp vom Erzähler als «ahndevolle Halbgedanken» eingeordnet, die sich seinem innigen, entrückten Hören des «Lindenbaum«-Liedes als eines ‹ Seelenzaubers › verdanken: Hans Castorps Gedanken oder ahndevolle Halbgedanken gingen hoch, während er in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge saß, - sie gingen höher, als sein Verstand reichte, es waren alchemistisch gesteigerte Gedanken. Oh, er war mächtig, der Seelenzauber! Wir alle waren seine Söhne, und Mächtiges konnten wir ausrichten auf Erden, indem wir ihm dienten [. . .], um als Seelenzauberkünstler dem Liede Riesenmaße zu geben und die Welt damit zu unterwerfen. (907) Am Ende des Romans stolpert Castorp mit dem Lied «Der Lindenbaum» auf den Lippen übers Schlachtfeld, in dem er verschwinden wird: Er macht sich auf, er taumelt hinkend weiter mit erdschweren Füßen, bewußtlos singend: Und sei-ne Zweige rau-uschten, Als rie-fen sie mir zu - Und so, im Getümmel, in dem Regen, der Dämmerung, kommt er uns aus den Augen. (993 - 94) Das Taumeln mag an das Schwanken des Leiermanns erinnern, das bewusstlose Singen an das mechanische Leiern - im Zentrum dieses Abschieds von Hans Castorp aber steht die Lücke, die das bloße Rauschen des Lindenbaums hinterlässt, das aber doch etwas bedeuten muss: «als riefen sie mir zu - «. In dieser Unterstellung eines Sinns besteht gerade das Unverstandene. Dass er dieses Lied auf den Lippen hat, weist ihn demnach nicht als Ergebnis eines humanisierenden Prozesses aus, den er sieben Jahre lang auf dem Zauberberg durchlaufen habe, wie in Teilen der Sekundärliteratur behauptet, 138 Ulrike Vedder mit dem Argument, schließlich singe er weder «Deutschland, Deutschland über alles» noch «Die Wacht am Rhein«, sondern halte im Lied vom «Lindenbaum» fest «an den Werten [. . .] der Menschlichkeit«, wodurch er den Tod «überwindet» (Schumann 40). Vielmehr ist das im Grammophon- Kapitel ausformulierte retrospektiv romantisierende Todesideal, das im Lied sich vermeintlich ebenso aussprechen soll wie die wahrhaft-nationale Seele des Volkes, durch Thomas Manns Roman als ein Konstituens jener kollektivregressiven Begeisterung zu begreifen, die Hans Castorp als kriegsfreiwilligen Vertreter seiner Generation auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs geführt hat. Diese These verschärft Ingeborg Bachmann für den Zweiten Weltkrieg, wenn sie ihr Gedicht «Früher Mittag» (1952) mit dem Vers «Still grünt die Linde im eröffneten Sommer» einsetzen lässt - eine programmatische Verkehrung der Winterreise in den Sommer, der Nacht in den Mittag. Dann wird ein Vers aus dem «Lindenbaum» - zusammen mit Goethes Lied vom «König in Thule» - an die Vergesslichkeit gegenüber den erst kurz zurückliegenden Verbrechen gekoppelt: «Sieben Jahre später/ fällt es dir wieder ein,/ am Brunnen vor dem Tore,/ blick nicht zu tief hinein,/ die Augen gehen dir über.» (Bachmann 44) Solche geschichtspolitischen Bezugnahmen auf die jeweils jüngste Vergangenheit lassen sich auch an Müllers und Schuberts Zyklus selbst konstatieren. Dafür bietet das bereits genannte Gedicht «Die Nebensonnen» ein Beispiel, das mit «Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn,/ Hab lang und fest sie angesehn» einsetzt und mit den Versen endet: «Nun sind hinab die besten zwei./ Ging ’ nur die dritt erst hinterdrein! / Im Dunkel wird mir wohler sein» (Müller 38). Üblicherweise werden die beiden Nebensonnen als die Augen der Geliebten gedeutet, die nun also untergegangen seien - haben doch Augensterne oder eine Verknüpfung zwischen geliebten Augen und dem Sonnenlicht im Repertoire der Liebesbilder ihren festen Platz. Es gibt aber auch eine politische Deutung, auf die der Musikwissenschaftler Ludger Rehm aufmerksam gemacht hat. Denn den Nebensonnen schreibt der Volksglaube prophetisches Vermögen zu: «Wenn man drei Sonnen am Himmel sieht, so gibt es Krieg«, so das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens; und der Sieger einer Schlacht lasse sich aus den Größen- und Richtungsverhältnissen der Nebensonnen erkennen. So habe sich etwa die Niederlage Napoleons gegen Russland 1812 angekündigt. In diesem Sinne stehen die Nebensonnen für Wilhelm Müllers Hoffnung auf die Befreiungskriege gegen Napoleon, an denen er teilgenommen hat, mehr noch: für die Hoffnung auf eine demokratisch-liberale Gesellschaftsverfassung. Diese Hoffnung ist allerdings seit 1815 dahin, die Nebensonnen «sind hinab«. Dieses Vergehen der Neben- 139 Kältelehren der Winterreise sonnen hat Franz Schubert im Lied mit einem Sarabandenton verbunden, der, so Rehm, das alte höfische Herrschaftssystem repräsentiere (206). Solche Anspielungen, die sich der omnipräsenten Zensur verdanken, lassen sich auch aus anderen Liedern herauspräparieren und sind beispielsweise dem Zeitgenossen Heinrich Heine nicht entgangen, hat der doch selbst parallel an «Volkslieder[n] der neueren Gesellschaft» gearbeitet sowie an und über Wilhelm Müller geschrieben. So lässt sich Heines Deutschland ein Wintermärchen mit seiner konsequenten Bildlichkeit der politischen Erstarrung an verschiedenen Stellen als freimütiger Anschluss an die Winterreise verstehen, beispielsweise beim Leichenbegängnis Napoleons, der, nach seiner Auferstehung, zum zweiten Mal in starrender Kälte begraben wird: Mißtönend schauerlich war die Musik./ Die Musikanten starrten/ Vor Kälte. Wehmütig grüßten mich/ Die Adler der Standarten./ / Die Menschen schauten so geisterhaft/ In alter Erinnrung verloren - / Der imperiale Märchentraum/ War wieder heraufbeschworen./ / Ich weinte an jenem Tag. Mir sind/ Die Tränen ins Auge gekommen,/ Als ich den verschollenen Liebesruf,/ das ‹ Vive l ’ Empereur! › , vernommen. An solche Zeitgemäßheiten schließt Elfriede Jelineks Winterreise an, aus der nun drei Szenen vorgestellt seien. Sie sollen zeigen, mit welchen Verfahren und welchen Bezüglichkeiten auf die Winterreise und deren Kälten Jelinek zum einen aktuelle Ereignisse und deren massenmediale Bedingungen aufgreift, wie etwa den sog. ‹ Entführungsfall › Natascha Kampusch; wie sie zum anderen mit gegenwärtigen identitätspolitischen Infragestellungen, mit medien- und geschlechtertheoretischen Entwürfen umgeht, wenn sie in einer Szene ein weibliches Ich sprechen lässt, das an der Diskrepanz zwischen seinen Liebeswünschen und deren instantaner Befriedigung per Internet verzweifelt; wie Jelinek zum dritten schließlich anhand der bereits genannten letzten Szene, die sich auf den «Leiermann» bezieht, einen Ort der Rede entwirft, von dem aus heute überhaupt gesprochen werden und - mit allen postdramatischen, dekonstruktiv-subjektkritischen Wassern gewaschen und konfrontiert mit einer Flut an übertönenden medial geprägten Stimmen - doch etwas gesagt werden kann, über Verlassenheit und Todesnähe, über das Lebenwollen und den Preis des Überlebens: in einer Szene, in der eine gealterte Autorin auftritt, deren Ort der Rede «längst im dunklen Wasser unter dem Eis» situiert ist (Jelinek, «Winterreise» 125). In all diesen wie auch in den anderen Szenen geht es immer wieder um Wanderschaft im Sinne von Unterwegssein und Vorübergehen, von Vertreibung und Verlassenheit, von Fremdheit und Verschollensein; es geht um Bilder von Kälte und Eis; und es geht, wie in allen Texten Jelineks, um Macht- und Geschlechterverhältnisse. Was also geschieht, wenn ein postdramatisches «Theaterstück» den Rück- 140 Ulrike Vedder bezug auf das 19. Jahrhundert unternimmt? Wobei von einem Theaterstück nicht eigentlich gesprochen werden kann, handelt es sich doch um Textstücke ohne Rollenvorgaben, Dialoge oder Regieanweisungen, in denen vielmehr «Ich«- und «Wir«-Reden einander ins Wort fallen; um Monologe von nur ansatzweise konturierten Protagonisten, die «exemplarische und entindividualisierte Sprachhüllen» voll von «verschiedensten Diskursen und Sprechweisen» sind (Gürtler 103). Eine polyphone Textpartitur also, die mit Zitaten aus der Winterreise durchsetzt ist. In der vierten Szene des Stücks widmen sich die «Ich«- und «Wir«-Reden jenem massenmedialen Spektakel, das, vor allem in Österreich, nach der Rettung des Entführungsopfers Natascha Kampusch aus ihrer jahrelangen Gefangenschaft einsetzte. In Jelineks Text wird der Name nicht genannt, so wie auch keine der Stimmen diesem Mädchen zugeordnet ist, sie selbst kommt nicht zur Sprache. Stattdessen gehören alle Stimmen einem Publikum an, das nun aber nicht die Gefangenschaft oder deren Unbeschreiblichkeit kommentiert, sondern die öffentlichen Auftritte des Mädchens nach der Befreiung. Die Szene nimmt Verse aus dem Lied «Erstarrung» auf: Da ist einer Schritte Spur, und jetzt ist sie weg, hat geendet in dem weißen Kastenwagen, den keiner kennt, den nur sein Besitzer kennt. Suche vergebens. Kinderfüße sind herumgewandelt, und dann endete ihre Spur eben. Ein Schrei will kommen, doch die Stimmbänder machen nicht mit, geht der Schrei halt wieder, stumm, er konnte nicht herauskommen. Es wird nicht herauskommen. Das Mädchen wird erst viel später wieder herauskommen. (34) Wir hätten am liebsten, wenn uns endlich niemand mehr sagte von ihr. [. . .] Unser Herz schmilzt keiner, unsere heißen Tränen durchdringen nicht Eis, nicht Schnee, bis wir die Erde sehen und bis die Erde uns sieht, bis sie uns trägt, bis sie uns erträgt. Unsere Tränen wischen wir uns selber weg. Unsere Bilder fließen dahin und sind fort. Wieso drängt die ihr Bild uns auf [. . .]? Das wollen wir. Daß sie zurück muß. Daß es noch nicht vorbei ist. Daß es für uns noch nicht vorbei ist wie für sie. (42 - 43) Das unerbittliche «Wir» möchte das Mädchen ein weiteres Mal zur Seite schaffen, ihr Bild zum Verschwinden bringen, das in Konkurrenz mit dem eigenen davonfließenden Bild gerät. Nicht nur, dass die Sensationslust allzu rasch verflogen ist. Sondern die Provokation seitens des Objekts dieser Sensationslust besteht darin, in seinem Beschriebenwerden selbst das Wort zu ergreifen und die massenmediale Vermarktung für eigene biographische Inszenierungen, wie hilflos auch immer die ausfallen mögen, zu nutzen. Die Winterreise-Zitate sorgen dabei zunächst für ein sprachliches Repertoire (Tränen, Schmerzen, Angedenken, Herz, Bild), mit dem das «Wir» seine demonstrative Herzenskälte formuliert. Aus dem Müllerschen Kontext herausgelöst, erscheint dieses Repertoire nurmehr als Kitschvokabular 141 Kältelehren der Winterreise und forciert damit die Unangemessenheit der Rede, in der das «Wir» ja nicht zuletzt von seinen eigenen Irritationen, ja Zerstörungen spricht. Die Rede von Herz, Tränen und Angedenken erscheint zudem auch deshalb so unangemessen, weil die Stimmen dekontextualisiert und depersonalisiert sind und nicht zu Subjekten gehören, wie sie die Literatur des ‹ Ichs › um 1800 entwickelt hat. Mit dem entstellenden Zitieren taucht aber sozusagen der entstellte Geist dieser Subjekte wieder auf, ein Gespenst dieses Ich. Dem Müllerschen «Ich«, dem Wanderer, wird gerade in seiner Verlorenheit alles zum Zeichen und zum Spiegel seiner selbst, so wie auch der «Wir«-Diskurs in Jelineks Stück permanent in jedem Gegenstand und jedem Gegenüber sich seiner selbst versichert und über den Ausschluss der Anderen sich fortschreibt: «Man sieht uns nicht, aber diesmal sind einmal und für immer wir die Einmaligen, und wenn sie sich vordrängt, dann stellen wir uns vor sie hin, als Unverwechselbare, die auch wir sind, die wir auch sind, nicht nur sie, auch wir! , wir sogar mehr als sie! » (36) In der sechsten Szene stellt sich diese Frage nach dem gespenstisch gewordenen Subjekt aus einer anderen Perspektive: anhand des Problems der Post. In Wilhelm Müllers Lied «Die Post» versetzt das Warten auf einen Brief der verlorenen Geliebten den Wanderer - beim Erklingen des Posthorns - in einen Dialog mit seinem ‹ hoch aufspringenden › Herzen. Damit entspricht er dem zeitgenössischen Liebes- und Mediendiskurs, der den Liebesbrief als dasjenige Format entwickelt, in dem das Subjekt ‹ zu sich selbst kommt › ; anders gesagt: der den Liebesbrief als Former des Subjekts begreift, weil er Herzenssprache und die eigene Innenwelt an das eine passgenaue Gegenüber adressierbar macht, das - im Idealfall - in derselben Weise antwortet. Es geht bei einem solchen außerordentlich wirkmächtigen Subjektentwurf also nicht zuletzt um Verknappung: Es gilt, auf den einen Brief des einzig geliebten Gegenübers zu warten, mit dem Herzenswärme zu Herzenswärme kommt - ein Modell, das Wilhelm Müller mit dem pochenden Rhythmus seines Gedichts inszeniert: Von der Straße her ein Posthorn klingt,/ Was hat es, daß es so hoch aufspringt,/ Mein Herz? Die Post bringt keinen Brief für dich: / Was drängst du denn so wunderlich,/ Mein Herz? Nun ja, die Post kömmt aus der Stadt,/ Wo ich ein liebes Liebchen hatt,/ Mein Herz! Willst wohl einmal hinübersehn,/ Und fragen, wie es dort mag gehn,/ Mein Herz? (Müller 17) 2 Elfriede Jelineks Winterreise greift diesen Konnex zwischen Subjekt und Post auf, indem sie eine Szene dem Internet mit Partnerbörsen und Mailverkehr widmet. Mit der medienspezifischen Instantaneität von Emails, die im 142 Ulrike Vedder Moment des Absendens ihren Adressaten erreichen, und zwar ohne Posttage und Zustellzeiten, fällt das Warten aus, und mit ihm der Modus des Aufschubs und der Nachträglichkeit, in dem jeder Brief - und wieviel mehr jeder Liebesbrief - immer zu spät kommt und gerade auf diese Weise das Liebesbegehren zu befördern in der Lage ist. Internet und Mails hingegen setzen auf Massenhaftigkeit statt auf Verknappung; auf «jeden, der erreichbar ist» (Jelinek, «Winterreise» 72) statt auf ‹ die Eine › oder ‹ den Einen › ; auf permanente Präsenz statt auf Abwesenheit; auf infantilen Narzissmus statt auf das Begehren nach dem anderen: [. . .] alle wollen ja lustig sein, ich nicht, ich will Mama und die Möglichkeiten der äußersten Liebe, welche sie mir bot, ein Verhängnis, denn sowas hab ich nie wieder gekriegt, nicht einmal ansatzweise [. . .], was drängst du denn so wunderlich, mein Herz? Es nützt dir ja nichts, das ganze Drängen nützt dir nichts, jawohl, es stimmt schon [. . .], da jagen sie herum, die Herzen, meins wird schon auch dabei sein, mal sehn, was heute für dich dabei ist, was für dich drin ist. (60 - 61) Das Netz verspricht prompte Befriedigung, ohne dass ein liebendes Subjekt am abwesenden Anderen erst entstehen müsste: «eine Gebärmutter für Menschen, die aber immer schon total fertig sind, wenn sie rauskommen» (64). Der universellen, lückenlosen Vernetzung und ihrer Aufhebung der Abwesenheit entspricht in Jelineks Text das unaufhörliche, fraglose Monologisieren. Da hinein interferieren allerdings einzelne Worte, Verse und Fragen aus Wilhelm Müllers Gedicht, das heißt aus einer rhythmischen Struktur, die sich aus An- und Abwesenheit speist und die zudem einen anderen Ton evoziert, der die Geschäftigkeit des Netzes, wo Abwesenheit als Störfall gilt, irritiert. Und so heißt es am Ende dieser Szene: Welche Stadt denn überhaupt? Ach, egal. Dem Netz ist das alles eins. [. . .] Einfach jede Stadt, überall, dorthin kommt, von dort geht alles hin und umgekehrt. [. . .] Der Mensch ist überall dort, er ist je schon dort, und sein Telefon geht immer mit ihm mit. Die Liebe ist genauso: immer erreichbar [. . .], für jeden, der erreichbar ist, und das ist jeder. Jeder ist der, der erreichbar ist. [. . .] Irgendwo hatte ich ein liebes Liebchen, keine Ahnung. Keine Ahnung. (72) In der achten und letzten Szene, die auf das abschließende 24. Lied «Der Leiermann» von Müller bezogen ist, treffen nochmals ein «Wir» und ein «Ich» aufeinander: ein tüchtiges «Wir«, das im Schnee Ski laufend in Bewegung ist, und das «Ich» einer alten Autorin, die niemand hören will: Ihre Leier steht nicht still, die scheint nie mehr stillestehen zu wollen, aber wieso leiern Sie dann das ewig gleiche alte Zeugs daher, wo Ihnen doch eh keiner zuhört? [. . .] Willst vielleicht zu unseren Liedern deine Leier drehn, wunderliche Alte? Unsere Lieder sind viel schöner! (119) 143 Kältelehren der Winterreise Und während das «Wir» sich auf diese Weise im Schnee vergnügt, versinkt das «Ich» im Eis, das an der Stelle unter den Füßen schmilzt: Sie haben Ihre Stimme selbst versenkt, als Sie sich auf dieses brüchige Eis gestellt haben, noch dazu barfuß! , ungeschützt! [. . .] Wir glauben, daß Sie [. . .] sogar unter Wasser Ihre Leier drehen werden, leider, und immer nur in dieselbe Richtung [. . .], doch Sie sind längst im dunklen Wasser unter dem Eis, [. . .] Sie rufen von unten herauf, aus der Ferne in die Ferne. Doch dort ist niemand mehr. (124 - 25) Mit der Rede einer alten Autorinnenfigur, die von «unter dem Eis«, schon von Seiten des Todes aus, noch weiterspricht, wird das Bild einer unterirdischen Tradierung aufgeworfen, einer ‹ Unterströmung › , «aus der Ferne in die Ferne«, die von Müllers zu Jelineks Winterreise geführt hat und möglicherweise darüber hinaus weiterläuft. Denn in dieser alten Autorinnenfigur wird die ‹ Poetik der Verlorenheit › , wie sie Müllers letztes Gedicht entworfen hat, durch Jelinek aufgenommen. Beide bieten mit ihren Figuren oder Sprechstimmen keine bündigen Verhaltenslehren; alle Rationalitäts- oder Klugheitsoptimierung, die die Modernisierungserfahrung seit dem 19. Jahrhundert angesichts katastrophaler Bedrohungen eingefordert hat, sind in weite Ferne gerückt. Dabei verschiebt Jelinek die ‹ Poetik der Verlorenheit › in zwei Hinsichten auf entscheidende Weise: bezüglich Alter und Geschlecht. Jelineks Text nutzt diese beiden Kategorien sowohl als Kategorien der Kritik an dem, was hier als «Wir«-Rede daherkommt, als auch, um die Frage von Tod und Kontingenz aufzuwerfen, ohne dabei an eine - vermeintlich romantische - Todesüberhöhung anzuschließen, im Gegenteil: «Ich möchte so gern noch leben! » (117) lautet der einfache Satz des Ich; dieser Satz ist «die gleiche alte Leier» (117), die niemand hören will: «Ich möchte so gern noch leben! » Dass die «wunderliche Alte» an diesem Satz festhält, gegen alle Wahrscheinlichkeit, markiert zugleich den Versuch, anders als im eingangs angeführten Zitat aus Clara S., doch einen Abdruck im Eis zu hinterlassen. Dem steht allerdings das ungerührte «Wir», das in Jelineks Winterreise das letzte Wort behält, entgegen: «Sie waren schon vorher niemand, und das bleiben Sie auch. Was Sie reden leerer Schall, Sie sind eine Fremde überall» (127). Anmerkungen 1 So Müller in seiner Besprechung «Über die neueste lyrische Poesie der Deutschen» 1827, zit. n. Wittkop 21. 2 Jochen Hörisch spricht hier von einem «seltsam wohlgemuten Lied»: «Die Formel ‹ nun ja › zählt nicht gerade zum unverzichtbaren Inventar der leidenschaftlichen Liebessemantik. Und die Wendung ‹ wo ich ein liebes Liebchen hatt › zeugt nicht eben von tiefer 144 Ulrike Vedder Verzweiflung. Auch lassen sich innigere Fragen an die Geliebte denken als die, ‹ wie es denn gehe? › » (Hörisch 62). Bibliographie Bachmann, Ingeborg. Werke. Hg. Christine Koschel, Inge von Weidenbaum und Clemens Münster. Bd. 1. München: Piper, 1984. Bosse, Heinrich und Harald Neumeyer. «Da blüht der Winter schön.» Musensohn und Wanderlied um 1800. Freiburg i. Br.: Rombach, 1995. Caduff, Corina. «Vertrieben aus Zugehörigkeit. Jelineks ‹ Winterreise › ». Jelinek Jahrbuch 2 (2011): 25 - 40. Frank, Manfred. Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1979. 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