eJournals Colloquia Germanica 43/4

Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2010
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Edel sei der Mensch – und strafe Goethes Aufsatz zur Beibehaltung der Todesstrafe für Kindesmörderinnen

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2010
Rüdiger Scholz
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Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BESTELLEN! Eva Hoffmann Goethe aus Goethe gedeutet 2., durchgesehene Auflage 2011, 630 Seiten geb. €[D] 98,00/ SFr 137,00 ISBN 978-3-7720-8413-3 „Schlüssel liegen im Buche zerstreut, das Rätsel zu lösen...“ Goethe Es gibt in Goethes Leben ein Zentrum, das den Großteil seiner Dichtung durchstrahlt: die starke Bindung an eine Frau. Ihr Tod stürzte ihn in jungen Jahren in Verzweiflung und Schuldgefühle, bis er endlich Beruhigung fand in ihrer lebenslangen Feier und, wie er gewiß war, in von ihr empfangenen Zeichen. Sein eigener Unsterblichkeitsglaube fand Bestätigung, indem er „Sie“ - Neuplatoniker, der er war - als einen Abglanz göttlicher Wahrheit erlebte. Dies behielt er für sich. Da er sich als Glied einer Reihe „wiederholter Spiegelungen“ in Einklang wußte mit Dichtern der Vergangenheit, mit Dante, Petrarca oder Hafis und ihren ähnlichen Geschicken, offenbarte er sich im Sinne des von ihm gerühmten Analogiedenkens. Zudem gab er vielfältige Hinweise auf Geheimes, größere und kleinere „Schlüssel“, „das Rätsel zu lösen“. Solch ein Schlüssel, die Dichtung Trilogie der Leidenschaft, öffnet Wege rückwärts und vorwärts durch das Werk. 033411 Auslieferung April 2011 12 08.04.11 13: 52 Edel sei der Mensch - und strafe Goethes Aufsatz zur Beibehaltung der Todesstrafe für Kindesmörderinnen RÜDIGER SCHOLZ U NIVERSITÄT F REIBURG Im Zusammenhang mit dem Todesurteil für Johanna Catharina Höhn, die ihr ohne Hilfe geborenes Kind unmittelbar nach der Geburt in einem Anfall von Panik getötet hatte, verlangte Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar, Mitte Oktober 1783, nach dem Vorliegen des Todesurteils, von jedem seiner drei Räte des Geheimen Consiliums ein schriftliches Votum zu der Frage, ob im Staat Sachsen-Weimar die Todesstrafe für das Delikt der Tötung des neugeborenen Kindes durch die ledige Kindesmutter abgeschafft oder beibehalten werden sollte. Die Antwort auf diese Frage war mit dem Schicksal Johanna Höhns verbunden: Im Fall der Beibehaltung würde sie hingerichtet werden. 1 Das Geheime Consilium war die eigentliche Regierung. Alle Entscheidungen blieben diesem Gremium vorbehalten. Ihm gehörten neben Herzog Carl August an: Jacob Friedrich Freiherr von Fritsch (1731 - 1814), seit 1754 im Staatsdienst, Wirklicher Geheimer Rat seit 1772; er war der Dienstälteste. Christian Friedrich Schnauss (1722 - 1792) war zwar älter als Fritsch, aber erst seit 1779 Geheimer Rat. Johann Wolfgang Goethe, seit 1782 von Goethe (1749 - 1832), war der Jüngste, seit 1779 Geheimer Rat. Eine Verteilung von Aufgabengebieten gab es in diesem Gremium nicht. Carl August hatte, das Todesurteil für Johanna Höhn voraussehend, 2 schon im Mai für die Abschaffung und damit für die Begnadigung Johanna Höhns plädiert, die Räte seiner Verwaltungsbehörde, der sog. «Regierung», hatten einzeln dazu schriftliche Stellungnahmen abgeben müssen. Jetzt mußten auch die Geheimräte sich schriftlich äußern. Goethe hat sich dagegen gesträubt. Erst teilte er mit, dass er sich nicht «getraue», seine Gedanken «hierüber in Form eines Voti» abzufassen. Das ist seltsam, denn er war ausgebildeter Jurist mit Universitätsexamen und mit, wenn auch kurzer, Praxis als Rechtsanwalt. Gerade über die Todesstrafe hatte er beim Abschluß des Jurastudiums eine These verfaßt, 3 er kannte die Rechtsliteratur darüber. Obwohl das Votieren alltägliches Geschäft im Geheimen Consilium war, wollte Goethe kein Votum abgeben, sondern statt dessen einen Aufsatz einreichen, was er auch getan hat. Als Schlußfolgerung dieses Aufsatzes teilte er mit, dass es nach seiner «Meinung räthlicher seyn mögte die Todtesstrafe beyzubehalten». Die beiden kurzen Texte im vollständigen Wortlaut: Da Serenissimus clementissime regens gnädigst befohlen daß auch ich meine Gesinnungen über die Bestrafung des Kindermords zu den Ackten geben solle, so finde ich mich ohngefähr in dem Falle in welchem sich H.[err] Hofrath Eckardt befunden als diese Sache bei fürstl. Regierung cirkulirte. Ich getraue mir nämlich nicht meine Gedancken hierüber in Form eines Voti zufassen, werde aber nicht ermangeln in wenigen Tagen einen kleinen Aufsatz unterthänig einzureichen. Weimar d. 25. Oktbr 1783 JWGoethe. Da das Resultat meines unterthänigst eingereichten Aufsatzes mit beyden vorliegenden gründlichen Votis völlig übereinstimmt; so kann ich um so weniger zweifeln selbigen in allen Stücken beyzutreten, und zu erklären, daß auch nach meiner Meinung räthlicher seyn mögte die Todtesstrafe beyzubehalten. d. 4 Nov. 1783 JWGoethe. 4 Der Aufsatz liegt nicht bei den Akten, er ist verschwunden, auch in Goethes privatem Nachlaß fand er sich nicht. Über die Gründe zu spekulieren, ist müßig. Für die Vermutung, Goethe habe den Aufsatz möglicherweise zurückgefordert, weil er ihn in einem schlechten Licht zeigt, 5 gibt es keinen Beweis oder auch nur Anhaltspunkt. Dass Goethe nachweislich eigene Briefe «aus politisch empfindlichen Korrespondenzen» zurückgefordert und vernichtet hat, 6 reicht zur Vermutung nicht aus, dass er dies auch mit seinem Aufsatz zur Todesstrafe getan hat. Vielleicht hat sich jemand von der Regierung den Aufsatz ausgeliehen und dann nicht mehr zurückgegeben. Auch die Voten der Regierungsmitglieder sind verschwunden, und auch die Reinschrift des Todesurteils lag nicht bei der Akte B 2754, obwohl auf dem Deckblatt vermerkt; die Konzeptfassung fand sich bei den Akten des Schöppenstuhls. Aus der Schlußfolgerung ist zu entnehmen, dass Goethe nach Abwägen von Für und Wider sich für die Beibehaltung der Todesstrafe bei Kindesmord aussprach. Ob er auf den konkreten Fall einging, läßt sich nicht erschließen. Seither wird bedauert, das wir die Argumentation Goethes nicht studieren können. Es gibt aber ein Dokument Goethes aus dem Jahr 1783, in welchem diese Frage erörtert wird: Das ist das Gedicht Edel sei er Mensch, 1783 veröffentlicht, 1789 von Goethe mit dem Titel Das Göttliche versehen. Ich werde im folgenden darlegen, welche Position Goethe darin zu Strafen einnimmt. Meine These ist, dass Goethe in diesem Gedicht jene Argumentation formuliert, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch sein Aufsatz formuliert hat. 286 Rüdiger Scholz Das Gedicht wurde im November 1783 im Tiefurter Journal «dem Weimarer Kreise mitgeteilt», 7 in jener handschriftlichen, nur in elf Exemplaren hergestellten Zeitschrift für den Weimarer Kreis um Anna Amalia. Es gibt eine handschriftliche Fassung Goethes. 8 Wann es genau entstand, ist unbekannt, aber offenbar im Laufe des Jahres 1783; Karl Otto Conrady vermutet mit Recht im «Spätherbst». 9 In dieser Zeit entschied sich das Schicksal von Johanna Höhn. Am 25. September erging das Todesurteil, am 25. Oktober sträubte sich Goethe gegen das ihm abgenötigte Votum, am 4. November reichte er seinen Aufsatz ein und votierte für die Beibehaltung der Todesstrafe und damit für die Hinrichtung. Am 28. November wurde Johanna Catharina Höhn hingerichtet. Die zeitliche Nähe des Gedichtes zum herausragendsten Weimarer Geschehen des Jahres 1783, der Hinrichtung von Johanna Höhn, ist evident. Hinzu kommt der thematische Bezug. Das Gedicht erörtert das Thema der ethischen Wertung menschlicher Handlungen und ausdrücklich auch die Frage des Rechts des Menschen zu strafen. Zeit und Thema stiften den Zusammenhang. Die Gleichzeitigkeit von Goethes Äußerungen zum Recht des Menschen zu strafen und in seinem Votum zur Beibehaltung der Todesstrafe für Kindestötung unmittelbar nach der Geburt durch die ledige Kindesmutter macht das Gedicht Edel sei er Mensch zu einem politischen Text. Das Gedicht ist Goethes Beitrag zur Frage der Abschaffung der Todesstrafe. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neigte sich die erregte gesamteuropäische Diskussion um die Todesstrafe gerade für dieses Delikt der Abschaffung zu, die in einigen Ländern, z. B. Rußland und Schweden, 1783 schon abgeschafft war und in den nächsten Jahren in weiteren Staaten abgeschafft wurde - nur nicht in Sachsen-Weimar. Der Hintergrund war das Vordringen des modernen Schuldstrafrechts, welches das aus dem Mittelalter stammende Vergeltungsstrafrecht ablöste, von dem die Carolina, die Peinliche Hals-Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, beseelt war. Damit waren die Umstände der Tat für das Strafmaß zu berücksichtigen, und hier gab es in der sozialen und psychischen Notlage der allein gelassenen Dienstmägde bei der unehelichen Geburt mit der drohenden Folge des Verlustes des Arbeitsplatzes Entlastungsgründe für die Mutter. Goethes Schwager Johann Georg Schlosser beispielsweise hatte sich für die Abschaffung der Todesstrafe ausgesprochen. Wie kritisch auch in Weimar die Todesstrafe für dieses Delikt gesehen wurde, zeigt das Reskript des Herzogs vom 13. Mai 1783, in dem Carl August für die Abschaffung und damit für die Begnadigung zu lebenslanger Haft eintrat. Dort heißt es: 287 Edel sei der Mensch Wenn man erwägt, unter was für Umständen die That verübt wird, und wie leicht es geschehen kann, daß das Gemüth einer [eingefügt: ] unehelich schwangern] Weibes=Person, [eingefügt: ] bey oder kurz nach ihrer Entbindung,] in einem Augenblicke der Schwäche und Betäubung, durch den Eindruck der Furcht [eingefügt: ] vor] der sie, wenn ihre uneheliche Schwangerschaft bekannt würde, unausbleiblich erwartenden Schande und denen dabey aus der Belästigung mit einem Kinde für sie erwachsenden Beschwerlichkeiten übermeistert und zu Faßung, auch jählinger Ausführung des unnatürlichen Entschlußes, das unglückliche Geschöpf, von deßen Daseyn sie alle diese Übel zu besorgen hat, aus dem Wege zu reumen, hingerißen wird: So kann es nicht fehlen, daß diese Betrachtung nicht unter der Abscheu, den das Verbrechen selbst erweckt, einiges Mitleiden gegen die Verbrecherin mit mischen, und einen Bewegungs=Grund zu Milderung der Strafe an die Hand geben sollte. 10 Das war ein bewegendes Plädoyer für die Berücksichtigung der Tatumstände für das Strafmaß, eine beeindruckende Argumentation für die generelle Abschaffung der Todesstrafe für dieses Delikt. Den Höhepunkt der Kritik zeigte Wilhelm Bodes Bemerkung, die Hinrichtung von Johanna Höhn erscheine ihm als «Staatsmord». 11 Goethe selbst war in seinem berühmten Roman Die Leiden des jungen Werthers von 1774, der ihm Weltruhm einbrachte, für das Schuldstrafrecht eingetreten, er hatte mit seinem Faust, dessen erste Fassung in Abschriften in Weimar seit 1775 kursierte, dieses Thema aufgegriffen und Margarete ihr Kind im Zustand des temporären Wahnsinns töten lassen, also die Tat in Richtung Schuldunfähigkeit gewertet. In dem Iphigenie-Drama, das seit 1779 in der Prosafassung existierte und 1779 in Ettersburg aufgeführt wurde, mit Goethe als Orest und, ab der dritten Vorstellung, mit Herzog Carl August als Pylades, wird in Gestalt der Titelheldin für den Verzicht auf Tötung plädiert. Kurz: Goethes Plädoyer für die Beibehaltung der Todesstrafe für Kindestötung und damit für die Hinrichtung von Johanna Höhn erscheint nicht nur heute, sondern auch schon 1783 nicht zu Goethes Werken zu passen, sie erscheint als ein extrem inhumanes Verhalten. Das passt auch so gar nicht zusammen mit dem Aufruf zu humanem Handeln in dem Gedicht Edel sei der Mensch, dessen Anfangs- und Schlußverse eigentlich wie eine Selbstermahnung Goethes klingen, Leben zu erhalten. Neuere Veröffentlichungen betonen daher zu Recht die Divergenz zwischen der hochethischen Dichtung und Goethes konkretem Handeln. Karl Otto Conrady hat sich 2007 ausführlich mit der Frage beschäftigt, wie beides bei Goethe zu verstehen sei. Er verweist darauf, dass neben der Aufforderung, edel, hilfreich und gut zu sein, dem Menschen auch das Recht zu richten und zu strafen zugesprochen wird und dass der Appell des Gedichtes «unspezifisch allgemein, ethisch abstrakt» sei. 12 288 Rüdiger Scholz Dass Goethe aus tiefster Überzeugung für die Todesstrafe plädierte, dass es ihm darauf ankam, das Recht auf die Verhängung und Exekutierung der Todesstrafe zu verteidigen, zeigt der Mittelteil des Gedichtes Edel sei der Mensch. Um das zu erläutern, dient ein Blick auf das Ganze des Gedichts. Hier der vollständige Text: Edel sei der Mensch, Hilfreich und gut! Denn das allein Unterscheidet ihn Von allen Wesen, Die wir kennen. Heil den unbekannten Höhern Wesen, Die wir ahnen! Ihnen gleiche der Mensch! Sein Beispiel lehr ’ uns Jene glauben. Denn unfühlend Ist die Natur: Es leuchtet die Sonne Über Bös ’ und Gute, Und dem Verbrecher Glänzen wie dem Besten Der Mond und die Sterne. Wind und Ströme Donner und Hagel Rauschen ihren Weg Und ergreifen Vorübereilend Einen um den andern. Auch so das Glück Tappt unter die Menge, Faßt bald des Knaben Lockige Unschuld, Bald auch den kahlen Schuldigen Scheitel. Nach ewigen, ehrnen, Großen Gesetzen Müssen wir alle Unseres Daseins Kreise vollenden. Nur allein der Mensch Vermag das Unmögliche: Er unterscheidet, Wählet und richtet; Er kann dem Augenblick Dauer verleihen. Er allein darf Den Guten lohnen, Den Bösen strafen, Heilen und retten, Alles Irrende, Schweifende Nützlich verbinden. Und wir verehren Die Unsterblichen, Als wären sie Menschen, Täten im Großen, Was der Beste im Kleinen Tut oder möchte. Der edle Mensch Sei hilfreich und gut! Unermüdet schaff ’ er Das Nützliche, Rechte, Sei uns ein Vorbild Jener geahneten Wesen! Man darf über den plakativ edlen Anfangs- und Schlußversen den Mittelteil nicht übersehen. Hier werden Natur und Mensch als Gattung unterschieden. Goethe betont, dass zwar der Mensch «nach ewigen, ehrnen, / Großen Gesetzen», denen der Natur, leben muß, dass aber anders als die Natur, die keine Moral kennt, und anders als «das Glück», das, «unter die Menge» «tappt» und sowohl unschuldige Knaben - nicht aber unschuldige Mädchen! 289 Edel sei der Mensch - wie Schuldige beglückt, es dem Menschen vorbehalten ist, zu unterscheiden, zu wählen, zu richten, zu belohnen und zu strafen: «Nur allein der Mensch / Vermag das Unmögliche: / Er unterscheidet, / Wählet und richtet; [. . .] / Er allein darf / Den Guten lohnen, / Den Bösen strafen, [. . .]». Wie stark Goethe den Menschen und sein Vermögen zu ethischen Beurteilungen im Gegensatz zur Natur sieht, die keine Gefühle kennt, zeigt, dass er vier Strophen dieser empfindunglosen Amoralität der Natur widmet, von denen die erste konstatiert, dass auch dem «Verbrecher» die Sonne leuchtet und Mond und Sterne glänzen. Dass in einem solchen Gedicht das Recht des Menschen zu strafen betont wird, ein Recht, das den Menschen über die Natur stellt, mutet seltsam an. Man erwartet eher Verse über Sympathie, Freundschaft und Menschenliebe. Die Strophen des Mittelteils (V. 13 - 48) haben Auswirkungen auf den Schluß. Dass in der letzten Strophe der edle, hilfreiche und gute Mensch aufgefordert wird, «das Nützliche, Rechte» «unermüdet» zu schaffen, schließt offenbar das Strafen ein: Das «Rechte» bezieht sich auf «richtet». Wir alle haben das Gedicht offenbar falsch verstanden. «Das Göttliche» in der späteren Überschrift und in der zweiten Strophe verweist auf den Menschen als Gattung, und dieses Göttliche des Menschen bezieht sich neben dem Edlen und Guten auch auf das allein dem Menschen vorbehaltene Vermögen, ethisch zu urteilen und zu richten. Goethe hat offenbar unter dem Edlen, Hilfreichen und Guten auch das Strafen verstanden: Der Mensch «allein darf / [. . .] den Bösen strafen» wäre dann die Kernaussage, die das Göttliche des Menschen (mit)begründet. 13 Das Gedicht Edel sei der Mensch ist mit seiner Aufforderung an den Menschen, Gutes, Nützliches, Rechtes zu tun, zugleich eine Rechtfertigung des strafenden Menschen. 14 Ich halte es für möglich, ja wahrscheinlich, dass Goethe mit seinem Gedicht und dessen zwei Gesichtern - Gutes tun und strafen - in der aktuellen Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe für die Tötung des eben geborenen Kindes durch die ledige Kindesmutter den Standpunkt des harten Strafens rechtfertigen will. Die Rechtfertigung liegt darin, dass Goethe das Strafen allein den göttlichen Wesen und den Menschen vorbehält, basierend auf der allein diesem zukommenden Unterscheidung des Guten und Bösen. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Für mich sieht es so aus, dass das Gedicht den Kern der Argumentation des verloren gegangenen Aufsatzes Goethes zur Frage der Abschaffung oder der Beibehaltung der Todesstrafe für dieses Delikt enthält. Die abstrakte Begründung für die Beibehaltung der Todesstrafe würde auch erklären, dass Goethe für seine Argumentation die Form eines Aufsatzes wählte. Goethe argumentierte auf der obersten philosophi- 290 Rüdiger Scholz schen Ebene, seine ethisch philosophische Begründung passte nicht zum Stil eines Votums. Gegen die seit 1764 laufende internationale Diskussion über die Abschaffung der Todesstrafe überhaupt und die Zuspitzung der Abschaffung bei Kindestötung in der Zwangslage der ledigen Mutter hält Goethe am Recht der Bestrafung auch durch Hinrichtung fest, selbst bei diesem Delikt. Mit seinem Votum für das Edle, Hilfreiche und Gute wehrt er das Gegenargument ab, sein Votum für die Hinrichtung sei brutal, unmenschlich, sei «Staatsmord», zerstöre den Glauben an das Gute im Menschen. Die Argumentation Goethes ist nicht neu. Die Begründung für die Verhängung der Todesstrafe und das Recht auf Hinrichtung von Verurteilten geschah von jeher mit der Gottnähe des Menschen. Denn zumindest nach christlicher Auffassung darf nur Gott über Leben oder Tod entscheiden, weshalb z. B. Selbsttötung als verwerflicher Mord gewertet und mit dem Ausschluß vom Gemeindefriedhof geahndet wurde und Abtreibung verboten war. Im Alten Testament jedoch sollte nach I. Mose 9,6 das Blut eines Mörders durch Menschen vergossen werden. Schnauss verweist auf dieses Bibelzitat, rückt es aber etwas beiseite: «Ich übergehe den Grundsatz: Wer Menschenblut vergeußt p.» 15 Mit der Fähigkeit zu moralischen Urteilen und daraus folgenden Sanktionen bis zur Hinrichtung maßt sich der Mensch ein Gott vorbehaltenes Recht an. Nach Goethes Argumentation im Gedicht Edel sei der Mensch zu Recht, denn die Göttlichkeit des Menschen erhebt ihn über die Natur, die weder den Guten belohnen noch den Bösen bestrafen kann. Umgekehrt wurde die Abschaffung der Todesstrafe auch und in erster Linie damit begründet, es stehe dem Menschen nicht zu, Leben auszulöschen, denn alle Menschen, auch die Verbrecher, seien Gottes Geschöpfe. Nicht jeder Mensch durfte strafen, schon gar nicht mit dem Tode. Das ‹ göttliche › Recht zu strafen war seit Jahrhunderten Staat und Herrscher vorbehalten. Die niedere Gerichtsbarkeit des Adels schloß die Verhängung der Todesstrafe aus. Selbstjustiz war verboten. Ein entscheidendes Merkmal von Staatlichkeit war und ist das Gewaltmonopol. Unter diesem Leitsatz wurden Duelle auch in absolutistischen Regimen verboten, deren Hauptstütze der Adel war, der das Recht auf Duelle aus dem mittelalterlichen Faustrecht für sich beanspruchte. Goethe tritt mit seiner naturrechtlichen Begründung des Rechts zu strafen für das Herrschaftrsrecht ein, über Tod oder Leben zu verfügen, aber er begründet es mit dem Recht der Gattung Mensch: Ein Verzicht auf die Todesstrafe erschien Goethe, so die Argumentation des Gedichts, offenbar ein Schritt des Menschen zurück in den rohen Naturzustand. 291 Edel sei der Mensch Im Hinblick auf das Gedicht Edel sei der Mensch stellt der Kontext der Entstehungsgeschichte die bisherige Interpretation auf den Kopf. Wer hätte gedacht, dass dieses Gedicht, welches in der ersten und letzten Strophe im Sichtbar-Machen des Göttlichen «mit Hilfe der Humanität des Menschen», so Gerhard Kaiser, seine Kernaussage zu haben scheint, 16 in Wahrheit in der Rechtfertigung der Beibehaltung der Todesstrafe und der Rechtfertigung der Hinrichtung von Johanna Höhn seine Entstehung, seinen Sinn und seinen Zweck hat? Dass «das sittlichste Gedicht Goethes», so Max Kommerell, 17 in seinem Kern ein Plädoyer für die Todesstrafe und die aktuelle Hinrichtung einer verurteilten Frau ist, dürfte eine sensationelle Erkenntnis sein. Notes 1 Eine ausführliche Darstellung der Höhn-Geschichte in: Rüdiger Scholz (Hg.), Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn. Kindesmorde und Kindesmörderinnen im Weimar Carl Augusts und Goethes. Die Akten zu den Fällen Johanna Catharina Höhn, Maria Sophia Rost und Margaretha Dorothea Altwein (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004) 6 - 28. Die Dokumente auch in: Volker Wahl (Hg.), «Das Kind in meinem Leib». Sittlichkeitsdelikte und Kindsmord in Sachsen-Weimar-Eisenach unter Carl August. Eine Quellenedition 1777 - 1786 (Weimar: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger, 2004). 2 Carl Augst am 13. Mai an seine Regierung: «Wir haben Uns aus denen von Euch mit Euren Berichte vom 2 ten My. anhero eingeschickten, bey dem hiesigen Amte wider die bey selbigem, wegen begangenen Kinder=Mords in Verhaft sitzende Johanna Höhnin, aus Tannroda, ergangenen Untersuchungs=Acten umständlichen Vortrag thun laßen, und finden leyder! den Fall [. . .] so beschaffen, daß mit Gewißheit vorauszusehen, daß, [. . .], nach denen vorhandenen Gesetzen, wider die Verbrecherin auf eine Todes=Strafe werde gesprochen werden.» Scholz, Das kurze Leben 65, Anm. 1. 3 Positiones Juris, 53. These: «Ponae capitales non abrogandae» (Todesstrafen sind nicht abzuschaffen). Zwei Thesen weiter (Nr. 55) stellt Goethe fest, es sei unter den Gelehrten strittig, ob Kindesmöderinnen hinzurichten seien: «An foemina partum recenter editum trucidans capite plectanda sit? quaestio est inter doctores controversa.» (Ob nicht einer Frau, die ihre kürzlich geborene Leibesfrucht ermordet, der Kopf abzuschlagen sei? Diese Frage ist unter den Gelehrten kontrovers.) Johann Wolfgang Goethe, dtv- Gesamtausgabe (München: dtv, 1962) XIII, 158. 4 Scholz, Das kurze Leben 87, Anm. 1. 5 Das vermutet Sigrid Damm, Christiane und Goethe (Berlin: Insel Verlag, 1998) 90. 6 W. Daniel Wilson, Das Goethe-Tabu: Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar(München: dtv, 1999) 351. 7 Johann Wolfgang von Goethe, Werke: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. 11. Aufl. Hg. Erich Truntz (München: dtv, 1978) I, 537. 8 Sie befindet sich im Düsseldorfer Goethe-Museum. Goethe, Werke I, 537. 9 Karl Otto Conrady, «Goethes Gedicht ‹ Edel sei der Mensch › im Schattten eines Todesurteils. Ein Vortrag zur Information und Reflexion». In: Peter Hanau/ Carl A. 292 Rüdiger Scholz