eJournals Colloquia Germanica 43/4

Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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LYN MARVEN AND STUART TABERNER(EDS.):Emerging German-Language Novelists of the Twenty-First Century.

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Corinna Kahnke
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dieser Dämmerzeit, die der Steidl-Verlag 2001 in einem dicken Wälzer herausbrachte, attestiert Strauss die morbid expressionistische Ästhetik der repräsentativen Weimarer Maler und Zeichner George Grosz, Otto Dix und Rudolf Schlichter. «Dass die abgebildeten Menschen keinen glücklichen Eindruck machen, ist allen Zeichnungen gemeinsam: es gab einfach nichts zu lachen» (77). In den Jahren der amerikanischen Emigration machte Erika Mann nach ihrem Vater sicherlich die erfolgreichste Karriere als medienwirksame Intellektuelle und schließlich als erfolgreiche Kriegsberichterstatterin der BBC in Ägypten, Marokko, Algerien, Palästina und später im Irak und Iran. Nach dem Ende des Krieges berichtete sie in amerikanischer Uniform aus München, Berlin, Weimar, Köln, Frankfurt und Dachau. Einzigartig an diesem großen Familienroman ist auch, dass nicht nur der pater familias, sondern auch drei seiner sechs Kinder, nämlich Erika, Klaus und Golo, homosexuell veranlagt waren. Während Thomas Mann bis ins Patriarchenalter das Geheimnis seiner Sexualität hütete, hat sich sein Sohn Klaus bereits mit achtzehn Jahren dazu bekannt und sie in den frei-frivolen Jahren der Weimarer Republik auch offen ausgelebt, nur um sich später im Amerika der beginnenden McCarthy-Ära unter anderem als sexuell pervers diffamiert zu finden. Während Thomas Mann nach dem Zweiten Weltrieg noch einmal die Wehmut einer aussichtslosen Verliebtheit ergriff, trieb Klaus Mann in dieser Zeit eine ganz andere Schwermut um. Er fühlte sich, obgleich er die Zeit des Dritten Reiches im Ausland und im aktiven Kampf gegen das Nazi-Regime verbracht hatte, mitverantwortlich für Deutschlands europäische Katastrophe: «Dies unselig problematische, schuldbeladene Volk, gehöre ich nicht zu ihm? Ich fühle mich mitschuldig» (130). Enttäuscht, dass der Kampf der Intellektuellen für eine bessere Welt gescheitert war, verstieg er sich schließlich in den Vorschlag eines kollektiven Freitods der kulturellen Eliten: «Hunderte, ja Tausende von Intellektuellen sollten das tun, was Virginia Woolf, Ernst Toller, Stefan Zweig, Jan Masaryk getan haben. Eine Selbstmordwelle, der die hervorragendsten Geister zum Opfer fielen, würde die Völker aufschrecken» (15). Man darf sehr bezweifeln, dass diese Selbstauslöschung der Eliten die Überlebenden des Weltkrieges, die Täter und Opfer der Gewalttaten, zu besseren Einsichten bewegt hätte. Während Klaus Mann nach Kriegsende schließlich den Freitod wählte, machte sein Bruder Michael zunächst als erfolgreicher Musiker und schließlich als promovierter Germanist in Amerika Karriere, doch auch sein Leben sollte letztendlich in einem Tod enden, der höchstwahrscheinlich ein Freitod war. Bekanntlich ist der Kern der Mann-Familie auf Grund der einsetzenden Denunzierung durch die Agenten McCarthys Anfang der fünfziger Jahre in die Schweiz zurückgekehrt. Noch am amerikanischen Flughafen befürchteten Erika und Thomas Mann, so Klaus Pringsheim, dass man sie wegen ihrer angeblichen Kommunismus-Sympathien verhaften und am Verlassen des Landes hindern würde. Auch die nächste Mann-Generation blieb vom Trauma der erzwungenen Emigration nicht verschont. Der kleine Frido Mann, Michael Manns Sohn und Thomas Manns Lieblingsenkel, musste bereits als Kind durch die Tischgespräche der Familie in Kalifornien erfahren, dass sein Herkunftsland das Reich des Bösen schlechthin war. Strauss folgerte: «Das führte dahin, dass er jahrelang jeden Schurken auf der Kinoleinwand für einen bösen Deutschen hielt und ihn in seiner Phantasie Englisch mit deutschem Akzent sprechen ließ» (63 — 64). 350 Besprechungen/ Reviews Während von den drei Töchtern Thomas Manns Erika die letzten Jahre ihres Lebens nach ihrer Rückkehr in die Alte Welt in wachsender Enttäuschung und Verbitterung verbrachte, schlugen sich Monika und Elisabeth in verschiedenen Ländern diesseits und jenseits des Atlantiks mehr oder weniger erfolgreich durchs Leben. Golo Mann ist in gewisser Hinsicht die traurigste Gestalt unter den Mann-Kindern. Er wagte es erst nach dem Tode seines Vaters aus dessen langen Schatten zu treten und profilierte sich im Laufe der Jahre zu einem anerkannten Historiker, nur um von der radikalisierten Studentenbewegung als ausgemachter Reaktionär verschrieen zu werden, sodass er sich mehr und mehr in sein Schweizer Refugium zurückzog. Frido Mann ist der letzte Spross der Mann-Familie, der sich als Autor fiktionaler und autobiografischer Bücher, einer Sintflutoper und nicht zuletzt einer Romantrilogie einen Namen gemacht hat. In letzterer erkundet er die Welt seiner brasilianischen Vorfahren, und so verliert sich schließlich die Spur dieser in vielfacher Hinsicht so außergewöhnlichen Familiengeschichte wieder in jenem Mutterland, dem einst ein wesentlicher Teil ihrer kreativen Kräfte entsprungen war. Dem Werk ist ein Verzeichnis der für diese Studie wesentlichen Primär- und Sekundärtexte sowie ein Anmerkungsverzeichnis der verschiedenen Kapitel angeschlosssen. Insgesamt hat Dieter Strauss mit diesem Band der reichen Literatur zu Leben und Werk der Manns eine ebenso unterhaltsame wie aufschlussreiche Studie hinzugefügt, in der die Epoche der Emigration und ihre zahlreichen persönlichen und historischen Tragödien auf vielfache Weise zur Anschauung gelangen. Old Dominion University Frederick A. Lubich J AN K NOPF : Bertolt Brecht. Lebenskunst in finsteren Zeiten. Biografie. München: Carl Hanser Verlag, 2012. 559 pp. € 27,90. Although there certainly is no dearth of biographies on the subject of Bertolt Brecht, virtually all of them tend to be somewhat dated in that their publication preceded the opening of the Berlin Wall on 9 November 1989 and German (re)unification in the following year. Without doubt, these unexpected events in the political realm created the conditions for Brecht ’ s eventual, unanticipated, and virtually universal acceptance in all of Germany and beyond after decades of acrimony fueled primarily by the Cold War. As one of the subheadings of the biography under discussion puts it succinctly: «Der Kalte Krieg: Kein Platz für Weigel, Brecht und ihr [Berliner] Ensemble» (483 - 87). Yet the process of Brecht ’ s posthumous recognition reached its climax on occasion of the celebration of his one-hundredth birthday in 1998 - an event that turned into a veritable media spectacle and overshadowed essentially futile attempts to diminish the stature of Brecht such as that by John Fuegi in his controversial Brecht & Company. Sex, Politics, and the Making of the Modern Drama (1994; an expanded and revised German version was published in 1997). Such a remarkably positive and fairly universal acknowledgment was not necessarily to be expected in the case of Brecht who had famously written «Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! » in his well-known and often quoted poem «An die Nach- 351 Besprechungen/ Reviews geborenen.» Although the poem was first published in 1939 during Brecht ’ s exile in Scandinavia and hence specifically refers to his fate as a refugee from Nazi Germany, Jan Knopf, a renowned Brecht expert who, among other notable contributions to Brecht scholarship, served as one of the editors of the thirty-volume Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (1988 - 2000) and editor of the fourvolume Brecht-Handbuch (2001 - 2003), draws explicit attention to those proverbial dark times in the subtitle of his biography - thereby perhaps not entirely convincingly implying that Brecht ’ s entire life was exclusively engulfed by dark times. These dark times Brecht came to grips with by means of his Lebenskunst or ability to master challenging situations during his life. As a consequence, Knopf goes beyond the confines of a conventional life story by including fairly extensive references to and brief explications of those political, economic, and cultural developments during Brecht ’ s lifespan with which the subject of his biography had to contend and to which he responded via his writings. Knopf clearly indicates the interrelatedness of Brecht ’ s biography and the events that shaped it by establishing a pertinent historical framework as evidenced by the designation of the four chapters of the biography - each of which is subdivided into numerous, comparatively brief sections which are usually headed by pithy formulations. The chapter headings correspond to the commonly accepted periodization of German history during Brecht ’ s lifetime. Thus in the comparatively brief first chapter, entitled «Deutsches Kaiserreich (1898 - 1918),» which depicts Brecht ’ s essentially bourgeois childhood and youth in Augsburg as well as the beginnings of his writings, Knopf also draws attention to the jingoistic tendencies prevalent in the German Empire before and during World War I by referring, for instance, to the infamous «Hunnenrede» (1900) of Wilhelm II, in which the Emperor ordered the German troops embarking for China to crush the so-called «Boxer Rebellion» without mercy (14). Moreover, Knopf sketches the unsettling consequences of the First World War such as «die Entmachtung des bürgerlichen Individuums» (53) - a process that is reflected in Brecht ’ s early plays Baal and Trommeln in der Nacht. «Weimarer Republik (1918 - 1933),» the second and lengthiest chapter, is devoted to what may be defined as Brecht ’ s rise to prominence during a period that constituted presumably the least «finster[e]» period of his life. Notably Brecht ’ s attempts to become established in Berlin, the cultural center of the Weimar Republic, were ultimately successful as the extraordinary and almost legendary success of Die Dreigroschenoper (1928), a collaborative effort with Kurt Weill, shows. Conceivably, the heading of one of the subsections, «Auto, Technik, Sex» (179 - 84), puts in a nutshell Brecht ’ s extra-literary preoccupations and pursuits - not necessarily in this order - such as his uncanny ability to acquire cars without sufficient funding or his noteworthy indulgence in promiscuity, the beginning of which Knopf dates at about 1919/ 1920 (39). Paula Banholzer («Bi»), Hedda Kuhn, and Marianne Zoff in Augsburg and Munich, as well as collaborator Elisabeth Hauptmann, remarkable actress and Brecht ’ s future wife Helene Weigel, and talented working-class co-author Margarete Steffin in Berlin played important roles in Brecht ’ s life. The third chapter, entitled «Deutscher Faschismus (1933 - 1945/ 47),» deals with Brecht ’ s exile in Scandinavia and the United States (the year 1947 denotes Brecht ’ s 352 Besprechungen/ Reviews