Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt: Volker Schlöndorffs Ernst Jünger-Bild in Das Meer am Morgen und Der Fangschuß
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2011
Hans-Bernhard Möller
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Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt: Volker Schlöndorffs Ernst Jünger-Bild in Das Meer am Morgen und Der Fangschuß HANS-BERNHARD MOELLER U NIVERSITY OF T EXAS , A USTIN Welche Probleme werfen Kriege für interkulturelle Beziehungen auf und wie stellt Schlöndorff Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt dar? 1 Schlöndorffs Name und Leinwandwerk werden weithin mit Literaturverfilmung gleichgesetzt. Es gilt hier zu zeigen, welche Texte und Persönlichkeiten aus der Welt der Literatur er auswählt und verarbeitet, um Konflikte, Kollaboration und ihr jeweiliges Verhältnis zur Kultur zu veranschaulichen. Meine These ist, dass ihm Ernst Jünger als wesentliche Quelle für zwei Filme diente und Jüngers Funktion in Das Meer am Morgen anhand einer Analyse der Figur in beiden Filmen größere Tiefe erlangt. Auf jeden Fall spielt der Schriftsteller eine bedeutsame Rolle in dem Film Das Meer am Morgen, der im Februar 2012 in der Reihe «Panorama» auf der Berlinale in Deutschland erstaufgeführt (vgl. Abbildung 1) und am 23. März bei Arte im deutschen, französischen und belgischen Fernsehen gezeigt wurde. Zusätzlich verwertete Schlöndorff Jünger, wie hier nachzuweisen ist, schon für Der Fangschuß (1976), einen thematisch dem Meer am Morgen verwandten Film. Zugleich ist zu fragen, ob und inwiefern sich in den 35 Jahren, die zwischen der Entstehung der Filme liegen, Schlöndorffs Jünger-Bild gewandelt hat und welche Schlüsse in Bezug auf Schlöndorff als Filmemacher daraus zu ziehen sind. Zuerst zu Das Meer: Ausgehend von einem historisch verbürgten Vorfall vergegenwärtigt der Film anderthalb Tage im Oktober 1941. Im Internierungslager Chateaubriand in der Bretagne hält die Wehrmacht Franzosen in Gewahrsam, die mit den Interessen der deutschen Besatzer in Konflikt geraten sind (vgl. Abb. 2). Das Pariser Büro des Militärbefehlshabers Otto von Stülpnagel, dem Ernst Jünger in diesem Film und in der Wirklichkeit als Attaché zugeordnet war, erhält Meldung von dem tödlichen Attentat auf einen deutschen Offizier in der Stadt Nantes. Hitler fordert als Repressalie eine sofortige Massenerschießung. Der Film schildert nun, wie der deutsche Militärbefehlshaber und ebenso ein lokaler französischer Landrat sich bemühen, dieses Massenopfer zu verhindern oder wenigstens zu begrenzen, sodann wie man aus den bei Chateaubriand Internierten die Todeskandidaten bestimmt, und schließlich wie am Ende 27 Lagerinsassen exekutiert werden. Abb. 2: Insassen und Gendarmen im Internierungslager. (Volker Schlöndorff) Abb. 1: Auf dem roten Teppich des Friedrichstadt-Palasts vor der Premiere. Von rechts: Volker Schlöndorff, Leo Paul Salmain (Guy Môquet), Ulrich Matthes (Ernst Jünger), Thomas Arnold (Otto Abetz) und Harald Schrott (Hans Speidel) (Privatbesitz) 80 Hans-Bernhard Moeller Der Film Das Meer am Morgen ist keine Literaturverfilmung traditionellen Musters, die auf einer einzigen Vorlage beruht, vielmehr geht es um das Verweben von Motiven verschiedener Art, die der Filmemacher unabhängig verarbeitete. Hinzukommt Schlöndorffs außergewöhnliche persönliche Affinität zu dem Stoff, der ihn motivierte, selbst das Drehbuch zu schreiben. Der Regisseur hat wiederholt darauf hingewiesen, dass Filme, Literaturverfilmungen eingeschlossen, nur authentisch ausfallen, solange eine persönliche Beziehung zum Stoff zündet. «In an adaptation, it is not enough to base the film on the text; one must rediscover the author ’ s motivation, the force that made him write. I must find in myself equally powerful reasons,» äußerte er in seinem Vorwort zu einer amerikanischen Neuausgabe von Marcel Proust ’ s Swann in Love («On Adapting» vi). Ein solcher Bezugsfunken sprang offenbar über, als Schlöndorff 2010 die französische Fassung seiner Autobiografie Licht, Schatten und Bewegung in Frankreich vorstellte, 2 und der französische Journalist Pierre-Louis Basse dem Filmemacher sein Buch Guy Môquet. Une enfance fusillée überreichte. Als Siebzehnjähriger gilt Guy (Leo Paul Salmain) (vgl. Abb. 3) sowohl als der jüngste als auch repräsentativste unter den 27 am 22. Oktober 1941 in der Bretagne hingerichteten Geiseln. In eben diesem Alter hatte Schlöndorff selbst 1956 seine französischen Internatsjahre unweit von Chateaubriand angetreten und damals vage Andeutungen über ein Massaker deutscher Besatzer gehört (Schlöndorff - Matthes). Nunmehr ist er nicht nur aufgeklärt, sondern diese Geschichte liess ihn nicht mehr los. Abb. 3: Leo Paul Salmain als der siebzehnjährige Guy Môquet. (Provobis Film) 81 Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt Trotz des Titels ist Basses Buch keine lineare faktische Schilderung von Guy Môquets Lebenslauf und Tod. Es ist vielmehr in einer vermischten literarischen Form abgefasst, die vorwiegend Vorstellungen Basses von Guys geografischer und sozialer Umgebung, von Empfindungen der Titelfigur und auch Elemente aus der Familiengeschichte des Autors semi-fiktiv verknüpfen. So wie Klaus Harpprecht in Arletty und ihr deutscher Offizier (2011) häufig über Gemütsbewegungen und Reflexionen seiner französischen Titelfigur mutmaßt, tut Basse das in seinem Buch, wobei beide Autoren ihre Texte in die Zeitgeschichte einbetten. Aber beides sind schließlich nicht Bücher von Historikern, die als ihre primäre Aufgabe Fakten zu ermitteln pflegen. Im Gegensatz zu Harpprechts Perspektive ist Basses viel enger, persönlicher, und es geht ihm nicht um deutsch-französische Liebe in Zeiten des Zweiten Weltkriegs, sondern um brutale deutsche Repressalien gegen einen Heranwachsenden. Darüber hinaus setzt Basse mit seinem Buch auch seinem Großvater Pierre Gaudin und seiner Mutter Esther Basse ein Denkmal. Gaudin war in ebendem Lager Chateaubriand interniert (und überlebte später obendrein das KZ Dachau) und Esther Basse, seinerzeit Schulkind, half 1941, letzte Zeugnisse der todgeweihten Geiseln aus dem Lager sicher zu stellen, die sie in Wandbretter der Baracke gekerbt hatten. Auch diesen Familienmitgliedern muss Basse ihr Erleben imaginierend nachempfinden, denn das Kriegstrauma hatte ihnen die Sprache verschlagen: sie haben die Kriegszeit nicht mit Basse besprochen, obschon seine Mutter ihm das Andenken an Môquet quasi zur Aufgabe gemacht hat. Es gibt Hinweise, dass Schlöndorff sich für sein Drehbuch ferner auf Aufzeichnungen Gilbert Brustleins, eines der drei französischen Attentäter, gestützt oder zumindest darin recherchiert hat (Schlöndorff - Matthes; Brustlein). Aber diese letztere Quelle war weniger bedeutend für Schlöndorff als Basse und die zwei deutschen, die ihrerseits auch wesentlichere Elemente für Das Meer am Morgen lieferten. An vorderster Stelle ist hier Ernst Jüngers Zur Geiselfrage anzuführen. Wie auch im Film dargestellt, hatte Jünger, der seit dem 1. Juli 1941 in den Pariser Kommandostab General Otto von Stülpnagels beordert war (Mühleisen 338), von diesem deutschen Militärbefehlshaber die Anweisung erhalten, ein Dossier zur Geiselfrage zusammen zu stellen. Sowohl Vichy-Frankreich als auch breite Kreise der französischen Gesellschaft, die in Nord- und Südfrankreich direkt der deutschen Besatzung unterstellt waren, hatten seit dem Waffenstillstand vom 22. Juni 1940 weitgehend mit den Eroberern kollaboriert. Der französische Präsident François Hollande erinnerte am 22. Juli 2012 in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Razzia von «Vel d ’ Hiv» an «die dunklen Stunden der Kollaboration, 82 Hans-Bernhard Moeller unsere Geschichte und damit die Verantwortung Frankreichs.» Speziell mahnte er: Die Wahrheit ist, dass die französische Polizei auf der Grundlage von Listen, die sie selbst erstellt hatte, sich zur Aufgabe gemacht hatte, die tausenden von Unschuldigen festzusetzen, die am 16. Juli 1942 in die Falle gelockt waren. Dass die französische Gendarmerie sie in die Internierungslager geführt hat. Die Wahrheit ist, dass nicht ein deutscher Soldat, nicht ein einziger, für den ganzen Einsatz herangezogen wurde. («70. Jahrestag») Das französische Bürgertum erblickte im Dritten Reich ein Bollwerk gegen den Kommunismus, von dem es sich auch im Binnenland in Gestalt der starken kommunistischen Partei Frankreichs bedroht wähnte. Die französischen Stalinisten ihrerseits hielten still, solange der Molotow-Ribbentrop-Pakt in Kraft war. Erst seit der deutschen Invasion der UdSSR am 22. Juni 1941 begannen dann vor allem von kommunistischer Seite Überfälle auf die deutsche Besatzung. General von Stülpnagel suchte krasse Repressalien Berlins abzubremsen, damit sich das breite französische Volk nicht mit den Opfern der Vergeltungsmaßnahmen solidarisierte. Die Geiselakte, die Jünger führte, war zu Stülpnagels Beschwichtigungs- oder Rechtfertigungsversuchen bestimmt. Das Faszinierendste - und für Schlöndorff Bereicherndste - ist, dass Jünger seiner Akte als Anhang eine komplette eigenhändige deutsche Übersetzung der Abschiedsbriefe von den Todeskandidaten des Lagers Chateaubriand beifügte (Zur Geiselfrage 113 - 44). Eingedenk der Gestapo-Verfolgungen nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 hatte Jünger seine Durchschrift der Geiselakte vernichtet. Aber eine zweite Kohlepapierdurchschrift, die er wohl vor 1944 gelegentlich eines Heimaturlaubs mit nach Haus genommen hatte, führte letztendlich 2011 zur Veröffentlichung in Buchform in Jüngers Verlag (Zur Geiselfrage 147 - 49). Hier boten sich reichliche Anregungen sowohl für das Geschick der Geiseln als auch die Darstellung Jüngers. Als zweite deutsche Vorlage diente Schlöndorff Heinrich Bölls Das Vermächtnis, eine umfangreiche Erzählung, die gegen 1950 entstand, aber erst 1982 als Buch erschien. Nach Bernhard Sowinski hat Böll darin Erfahrungen aus seinem Dienst «an der französischen Kanalküste, wo er [. . .] neben Wachdiensten auch beim Bunkerbau beschäftigt war,» eingebracht (4). Dort diente der Soldat Wenk unter einem qualifizierten, kameradschaftlichen Oberleutnant und einem tyrannischen, alkoholabhängigem Hauptmann bis die Einheit an die Ostfront entsendet wurde, wo der Hauptmann den Oberleutnant erschoss, ohne dafür bestraft zu werden. Der zeitlich spätere Rahmen spielt satirisch mit dem Hauptmann als Opportunisten des westdeutschen Wiederaufbaus. Neben dem Atmosphärischen entlehnt Schlön- 83 Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt dorff hauptsächlich die Figur des Soldaten Otto (vgl. Abb. 4), den er frei nach Wenk und dessen Erlebnissen gestaltet. Ich komme später auf ihn zurück. Um diese Geschichte von Krieg und Konflikten zu erzählen, eine Geschichte, deren Ausgang historisch feststeht, wählte Schlöndorff einen relativ undramatischen, weniger illusionistischen, fast dokumentarischen Stil. Ihm lag offenbar daran, die Rädchen des Verwaltungsapparats von Berlin bis in das Lager bei Chateaubriand und bis hin an den Hinrichtungsplatz transparent zu machen, Rädchen, die unaufhaltsam auf den Tod der Geiseln zulaufen. Wie funktionierte die Kollaboration der französischen Gendarmerie? Wie wurden der Gendarmerievorsteher Touya und der junge Landrat Lecornu (vgl. Abb. 5), selbst der Exkommunist Chassagne, einmal hinein gezogen in die Verwaltungsapparatur, allmählich zu Kolloborateuren? Keine Befehlsverweigerung - alles verlief nach Vorschrift, wie am Schluss des Films die haarsträubende Exekution, die der deutsche Offizier laut vorlesend nach der Heeresdienstvorschrift 35/ 213 ausführen läßt. Um diesen Mechanismus vor Augen zu führen, verzichtete Schlöndorff weitgehend auf Personalisierung und Zuschaueridentifikation. Ungeachtet seiner Stellung als die Hauptfigur unter den Geiseln hebt Schlöndorff Guy Môquet im Fortgang der Filmerzählung relativ wenig hervor. (Der Siebzehnjährige wird zuweilen mit Sophie Scholl verglichen; beide wurden beim Verteilen von Flugblättern festgenommen.) Selbst wenn das offizielle Frank- Abb. 4: Jacob Matschenz in der Rolle des Soldaten Otto. (Provobis Film) 84 Hans-Bernhard Moeller reich alljährlich vorrangig des Märtyrers Guy Môquet gedenkt, war er eigentlich einer von 27 todesbestimmten Lagerinsassen. Guy erscheint auch im Bild häufig zusammen mit Timbaut, dem Wortführer der Internierten (vgl. Abb. 6). Entsprechend steht Ernst Jünger auf Seiten der Besatzer nicht hierarchisch an der Spitze seiner Gruppe. Er tritt vorwiegend mit seinem Vorgesetzten, General Stülpnagel (André Jung), auf. Diese Art Ästhetik stellt das Kollektiv oder die Gruppe mit dem Individuum auf eine Stufe. Als weiterer Aspekt eines solchen Stilwillens verringert sich die Identifikation des Zuschauers mit den hervorgehobenen Zentralcharakteren. Die minder identifikatorische Darbietungsweise sticht schon bei Ulrich Matthes ins Auge, der die Jünger-Rolle betont distanziert gibt («Attentat»). Darüber hinaus finden sich entsprechende filmische Kunstgriffe, wie die Bild/ Ton- Scheren, bekannt aus Filmen mit Brechtscher Ästhetik: Während die Bildsequenz weitergeht, springt der Ton zur nächsten Szene oder umgekehrt. Ähnlich wirkt die Tonsegmentierung bei den Voice overs während die Geiseln die letzten Botschaften an ihre Angehörigen schreiben. Ebenfalls schwächen verwinkelte Einstellungen, wie die von der Liste der Geiseln in der Lagerverwaltung und von Jünger und Speidel im deutschen Hauptquartier den Effekt des Vertrauten und Persönlichen. Insgesamt neigen diese Stilmittel zu einer minder identifikatorischen Darbietungsweise, personalisieren weniger und unterstreichen so den mechanischen Aspekt der Verwaltungsapparatur. Abb. 5: Die Vertreter der französischen Autoritäten, Gendarmeriechef Lucien Touya (Jean-Marc Roulot) und Landrat Bernard Lecornu (Sébastian Accart), und Kollaborateure vor der Hinrichtung der Geiseln (Volker Schlöndorff) 85 Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt Abb. 6: Timbaut (Marc Barbé), Führungspersönlichkeit unter den kommunistischen Geiseln, als Mentor der Titelfigur. (Les Canards Sauvages) Abb. 7: Disput zwischen Botschafter Otto Abetz, General Otto von Stülpnagel (André Jung), und Oberst Hans Speidel (Harald Schrott). (Volker Schlöndorff) 86 Hans-Bernhard Moeller Nichtsdestoweniger gelingt es Schlöndorff, gerade den Wert des einzelnen Menschenlebens im Krieg hervorzuheben. Er erzielt das durch drei Disput- Sequenzen, durch die er den Film als Werk strukturell zusammenhält und vereinheitlicht. Wie in seinem Film Der neunte Tag (2004) steht ein Streitgespräch im intellektuellen Zentrum von Meer am Morgen. Anders als dort tragen es in dem neuen Film aber nicht zwei Protagonisten aus; vielmehr ist es auf drei Erzähleinheiten aufgeteilt. Die deutschen Militärs einschließlich Jüngers, die Geiseln und die drei französischen Attentäter diskutieren, jeweils aus ihrer Perspektive, erregt die geforderte Sühne für das Attentat: Sollen die 150, die Hitler fordert, oder weniger Franzosen für die Handlung der Täter mit dem Leben bezahlen? Beispielsweise entsetzt sich im ersten Disput General von Stülpnagel in Paris über Hitlers Gebot, 150 Geiseln als Vergeltungsmaßnahme hinzurichten. Diese von Otto Abetz, Hitlers Botschafter in Frankreich, persönlich vorgetragene Forderung diskutiert er mit dem Botschafter, Oberst Hans Speidel und Ernst Jünger (vgl. Abb. 7). Der General sieht sich nicht als «Metzger,» mehr noch: er sorgt sich darum, dass Massenerschießungen das den Besatzern bisher günstige politische Klima untergraben würden. Er beauftragt Jünger, zusätzlich zu seinem Amt als Briefzensor nun die Geheimakte über Geiselerschießungen zu verfassen. Bei dem zweiten Disput, dem im Lager, erklärt eine ältere Geisel, Granet, so viele «Genossen sind ein hoher Preis» (vgl. Abb. 8). Ein Lehrer stimmt ihm Abb. 8: Désiré Granet (Philippe Résimont) und Mitgefangene in der Lagerbaracke während ihres Disputs. (Volker Schlöndorff) 87 Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt bei: «sollen die Täter bereit sein, mit ihrem Leben zu zahlen, statt Genossen erschießen zu lassen.» Im Laufe der Debatte äußert er auch: «Märtyrer sind was für den Vatikan. Ich kämpfe, um zu leben. Warum hauen wir nicht ab? » Zuguterletzt setzt der Wortführer der kommunistischen Geiselgruppe, Timbaut, genannt Tintin (Marc Barbé), sich mit seinem bitteren strategischen Argument durch: «Wenn so 30 von uns sterben [. . .] Hitler die Maske abreißen [. . .] vorbei die friedliche Kollaboration! » Im dritten Disput geraten die drei nicht aufgegriffenen Attentäter aneinander, als sie einen öffentlichen Anschlag lesen, der die Erschießung der ersten 50 Geiseln androht, sollten die Verantwortlichen sich nicht stellen. Marcel, der Jüngste von den dreien, kennt eine Handvoll der Opfer persönlich. «Und wenn wir uns stellen? Ich zumindest [. . .] besser als 50 Kameraden hinrichten lassen.» 3 Seine Mittäter entgegnen, sie dürften sich nicht stellen, damit die Besatzer annähmen, sie seien «mehr als einer. Eine richtige Armee, die wir bald sind.» Als Marcel beharrt, fällt der Anführer über ihn her (vgl. Abb. 9). Ein Schnitt endet die Prügel-Szene mit offenem Ausgang. Abb. 9: Die drei Attentäter geraten aneinander, als Marcel sich stellen will, nachdem ein Anschlag ihnen die bevorstehenden Geiselerschießungen bekannt macht. (Volker Schlöndorff) In diesen drei Konfliktsituationen schwankt der Wert des Menschenlebens offensichtlich zwischen humaner Signifikanz, Freundesbindung und politischem Kapital. Und stets spielt die Entscheidung über Kollaboration oder Verweigerung mit. Ob sich die deutschen Besatzer als Optimum das Modell Indien gewünscht haben, wo sich die über ein Jahrhundert anhaltende 88 Hans-Bernhard Moeller britische Herrschaft auf die Kollaboration der heimischen Kaufleute und Banker stützte? Das politische Moment in den Disputen ist unmittelbar greifbar in den polaren Argumentationen von Stülpnagels und Tintins, aber die Haltungen sind einander diametral entgegengesetzt. Dem General liegt an fortgesetzter Kollaboration der Besetzten; Tintin am Gegenteil. Allein welcher Unterschied bei der psychologischen Kriegsführung: Einerseits das Erwägen, ob man mit dem eigenen Leben zahlt, auf Seiten der Geiseln und des Attentäters Marcel. Andererseits pure Strategie beim General, der befürchtet, Massenerschießungen untergrüben das den Besatzern bisher günstige Klima. Die todgeweihten Internierten ringen sich zum patriotischen Altruismus durch. Gleich Schlöndorffs Pater Kremer aus Der neunte Tag und Agnieszka aus Strajk - die Heldin von Danzig (2007) entwickelt sich die Geiselgruppe zu Schlöndorffs charakteristisch kompromisslosen Helden. In seinem Dossier Zur Geiselfrage hat der geschichtliche Jünger wiederholt die unerschütterlich gefasste Haltung der Geiseln während der Exekution gewürdigt. Gemessen an ihrer Bestürzung und ihrem dennoch festen Standpunkt vermittelt Schlöndorffs Jünger im Film den Eindruck der Unbetroffenheit. Entsprechend hat der historische Jünger seine Chronik als militärisch objektiven Bericht abgefasst, ausgenommen vielleicht die erwähnten Abschiedsbriefe der Geiseln, die er persönlich ins Deutsche übersetzte und als Anhang seiner Schrift beifügte. 4 Als puren Beobachter zeichnet Schlöndorff Jünger auch in der Salon-Szene seines Films, u.zw. in mehr als einem Sinne. Der geschichtliche Jünger strebte ungeachtet der Kriegssituation danach, transnational den Stellenwert der Kultur zu respektieren. Bekanntlich konnte er sich in Paris außerhalb seiner Dienststunden in Zivilkleidung umtun und in den Kreisen der dortigen Intelligenz und besseren Gesellschaft als Repräsentant deutscher Kultur verkehren. Jüngers Pariser Tagebücher bezeugen regen Austausch mit Persönlichkeiten des kulturellen Lebens von Sacha Guitry über Jean Cocteau und Paul Firmin Léautaud, Gaston Gallimard und Paul Morand, bis hin zu Henry de Montherland (Kiesel 504). Schlöndorff hat die Sängerin in seiner Filmszene Charmille genannt, einer mehrerer Decknamen, die Jünger im Pariser Tagebuch für seine mehrjährige Geliebte Sophie Ravoux benutzte. Nach ihrem Gesangsvortrag führen die beiden folgendes Gespräch. Er eröffnet ihr, dass er mit dem Gedanken spielt, sich nach Ende des Krieges in Paris niederzulassen. 5 (Vgl. Abb. 10.) Charmille: «Sehen Sie denn ein mögliches Ende? [. . .] In der Tradition des Tyrannenmords? » Jünger: «Es gibt Leute, die so etwas vorhaben.» 89 Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt Ch.: «In Deutschland? » J.: «Auch hier.» Ch.: «Sie? » J.: «. . . ich bin eher Beobachter.» Ch.: «Zuschauer oder Voyeur? » J.: «Nein. Als Soldat bin ich Mann der Tat. Aber kein Mörder. [. . .] Jedenfalls fühle ich mich nicht berufen, ins Räderwerk des Weltgeschehens einzugreifen.» Ch.: «Das tun Sie aber, indem Sie hier sind als Offizier der Besatzungsmacht.» Schlöndorffs Jünger ist letzten Endes Teil des nationalsozialistischen Molochs, der die Geiseln so vernichtet, wie er in seiner gesamten Hegemonialsphäre destruktiv wütete. Davon abgesehen spielt diese Szene zusätzlich auf den Kontext des 20. Juli 1944 an. Charmilles «Tyrannenmord» und Jüngers «Auch hier» beziehen sich auf den Pariser Kreis, der bei der «Operation Walküre,» dem Stauffenberg-Attentat, mitwirken sollte. Bekanntlich war Jünger im Bilde über die Pläne des verschworenen Militärs, wenn auch nicht über alle Einzelheiten (Jünger SW 1.Abt. III: 241 - 243; Kiesel 525; Mitchell 48). Er schloss sich allerdings den Verschwörern nicht aktiv an, sondern arrangierte sich, obschon er durch seine Nähe zu deren Pariser Kreis Berlin suspekt schien. Entsprechend wirkt Schlöndorffs Jünger politisch unverbindlich. Abb. 10: Ernst Jünger (Ulrich Matthes) und Charmille (Ariel Dombasle) im Salon. (Provobis Film) 90 Hans-Bernhard Moeller Vielleicht um diese Neigung Jüngers zur politischen Unverbindlichkeit zu unterstreichen, hat Schlöndorff den Erzähleinheiten Lager Chateaubriand, Attentat und Pariser Hauptquartier noch eine vierte hinzugefügt, einen Küstenstandort der deutschen Armee in der Bretagne. Hierher verschlägt es nach einer Verletzung an der Ostfront Otto, einen jungen Soldaten, der in einem nicht-diktatorischen Land wahrscheinlich Wehrdienstverweigerer geworden wäre. Er ist die Figur, die Bölls früher Erzählung Das Vermächtnis nachempfunden ist, Böll/ Otto bietet als Kontrastfigur im Gegensatz zu Schlöndorffs passivem Jünger und seiner geschichtlichen Vorlage ein Bild des Protests, wie schmal die Toleranz für Andersdenkende im Dritten Reich auch immer gewesen ist. Sichtlich hat sich Schlöndorff in Das Meer am Morgen von der Welt der deutschen Literatur inspirieren lassen. Die Entlehnung aus Böll ist gestreift, die Anlehnung an Jüngers Dossier Zur Geiselfrage und überhaupt Elemente aus Jüngers Leben und Werk verdeutlicht, indessen sind die Bezüge zwischen Schlöndorffs Werk und Jünger längst noch nicht ausgeschöpft. Nachzuweisen ist noch, dass sich Schlöndorff auch in seinem früheren Film Der Fangschuß (1976) von Literatur hat anregen lassen, und inwiefern Jünger dabei mitspielt. Diente nicht eigentlich Marguerite Yourcenars Roman Coup de Grâce als Vorlage für Schlöndorffs Film aus dem Jahre 1976? Dem Meer entsprechend filmte Schlöndorff damals über französisch-deutsche Bezüge, drehte er eine deutsch-französische Koproduktion, handelt der Film von kriegerischen Auseinandersetzungen, geht aus mit eiskalten, wie routinemäßigen Exekutionsszenen, spielt im transnationalen Kontext und bietet sprachlich eine Mischung von Französisch und Deutsch. Noch wesentlicher als diese Parallelen zwischen den beiden Filmen ist für unseren Zusammenhang, dass in Schlöndorffs Schaffen Ernst Jünger und dessen Schriften über drei Jahrzehnte mit Unterbrechungen einen bedeutenden Faktor darstellten. Vor einem kurzen Inhaltsabriss des früheren Films ein Wort zu der wenig bekannten historischen Situation, in die er eingebettet ist. Im Baltikum ließen die Alliierten Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg trotz seiner Niederlage eine Schutztruppe aus Freiwilligen aufstellen, um das Vordringen der sowjetischen Räte und Armee einzudämmen. Das kam den deutsch-baltischen Großgrundbesitzern gelegen, die sich um ihre traditionelle Vormachtstellung und ihre Herrensitze sorgten. Der Fangschuß schildert Kämpfe, in denen die aus mehreren Nationalitäten bunt zusammen gesetzte Verteidigerschar das Schloss Kratovice - einst ein Vorposten des Deutschen Ritterordens - zu halten sucht. Es ist der Familiensitz Konrads von Reval und seiner Schwester Sophie, aber sein Waffenbruder, Erich von Lhomond, Freikorpsoffizier, übernimmt den Oberbefehl. Zwischen ihm 91 Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt und Konrads Schwester Sophie entspinnt sich in dem Kriegschaos eine Beziehung, die nicht weniger verwirrt ist als die militärische Lage. Sie verliebt sich in den wiedergefundenen Jugendgespielen, ohne Gegenliebe zu erfahren. Politisch sympathisiert sie mit den roten Räten, zu denen sie schließlich überläuft. Beim Rückzug vom Schloss wird Erichs Truppe in ein Feuergefecht verwickelt. Unter den Roten, die man gefangen nimmt, befindet sich auch Sophie, die vielleicht schon vorher mit ihnen kollaboriert hat. Als die Gefangenen hingerichtet werden, verlangt sie, dass niemand anders als Erich an ihr den «Fangschuss» vollstreckt, was er wie in Yourcenars Vorlage ausführt (vgl. Abb. 11). Abb. 11: Der Fangschuß. Erich von Lhomond (Matthias Habich) exekutiert Sophie von Reval (Margarethe von Trotta). (Studiocanal) Inwiefern hat sich Schlöndorff indessen beim Fangschuß außer an die französische Romanschriftstellerin auch an Jünger angelehnt? Der Protagonist Erich ist mit dem historischen Jünger der Stahlgewitter verwandt: Beide sind in ihren Mittbis Spätzwanzigern, Offiziere und Anführer einer rechtsnational eingestellten Truppe. Aus Yourcenars Roman wissen wir über den reiferen Erich, «Er hatte sich an den verschiedenen Bewegungen beteiligt, die schließlich in Mitteleuropa Hitler an die Macht brachten» (8). Sowohl Erich als auch Jünger verkörpern den maskulinen Stereotyp, der die deutsche Vormachtstellung in den drohenden Gefahren der Moderne des 92 Hans-Bernhard Moeller frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere im Krieg, verteidigt, wobei Ehre, Willenskraft und Mut zentrale Werte bilden. Beide gemahnen dabei zu einem gewissen Grad noch an das ältere Ideal des Kriegerstandes für Mannestugend. Beide sind mit kriegerischer Gewaltanwendung verbunden. Beide bilden komplexe Persönlichkeiten: «Ein Mann vom Typ Erich von Lhomonds lebt,» Yourcenar zufolge, «im Widerstreit mit sich selbst» (Yourcenar «Nachwort» 135). Was anders gilt für Jünger angesichts seines Nebeneinanders von Soldat und Ästhet, dem Widerstreit der Rollen wie Schlöndorff ihn in der Charmille- Szene in Meer am Morgen einzufangen sucht? Beide führen «Aufsicht bei der Erschießung» einer Person, die die eigene Sache im Stich gelassen hat, wie Jünger in einem Eintrag vom 29. Mai 1941 in seinem Ersten Pariser Tagebuch bezeugt (SW 1. Abt.Bd.II: 244 - 47). Es fällt schwer, vor den Parallelen zwischen dem historischen Jünger und Schlöndorffs Protagonisten die Augen zu verschließen. Sogar noch mehr als aus der Biografie Jüngers hat Schlöndorff dessen Schriften entlehnt. In Stahlgewittern diente ihm in mehrerlei Hinsicht als Quelle. In Yourcenars Roman sucht man vergeblich nach Details der kriegerischen Handlungen; sie bleiben abstrakt, bloße Nebensätze. Das passt zu ihrer Darstellungsform: ihr Roman ist angelegt als Erichs Erinnerung. Schlöndorff hingegen drehte einen Kriegsfilm. Er integrierte in den Fangschuß Episoden vom Grabenkrieg, die Jüngers berühmtem Kriegsbuch abgesehen sind. Dazu gehört auch ein heiteres Zwischenspiel, mit dem Jünger einmal die bluttriefenden aber dennoch grundsachlich und gestochen technisch beschriebenen Schlachtdarstellungen der Stahlgewitter unterbricht. So heißt es dort: «Selbst in diesem furchtbaren Augenblicken geschah etwas Witziges. Ein Mann neben mir riss sein Gewehr an die Backe, um wie bei einer Treibjagd auf einen Hasen zu schießen, der plötzlich durch unsere Linien sprang» (Jünger, SW Abt. I, Bd. I: 247). Diese Jagdepisode, die bei Yourcenar fehlt, taucht im Fangschuß auf der Rückreise der Militärs von ihrer Fahrt nach Riga wieder auf, als einer der Offiziere unvermittelt aus dem Auto ein Stück Wild erlegt. 6 Schlöndorff selbst hat in einem Interview und einer Mail die versteckte kritische Nachahmung von Jünger und dessen Kriegsaufzeichnungen bestätigt. 7 Dabei verweist er auf In Stahlgewittern. Offenbar hat Schlöndorff aber auch aus Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis zitiert. Dort finden sich folgende Passagen: Der erste Tote [. . .] jedem bohrt sich für alle Zeiten ein anderer Eindruck ins Hirn. Dem einen die Hand, wie eine Kralle in Moos und Erde geschlagen, dem anderen die bläulichen Lippen über die Weiße des Gebisses, dem dritten die schwarze, blutige Kruste im Haar. Ach, man konnte noch so vorbereitet sein auf diesen Augenblick, alles zerschellte an dieser grauen 93 Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt Gestalt am Wegesrand [. . .]. Diese Gestalt und die unzähligen, die noch folgten, erchienen immer wieder in ihren tausend verzerrten Stellungen mit zerrissenen Körpern und klaffenden Schädeln, bleiche, mahnende Geister irrer Grabenbesatzungen in den Minuten vorm Sturm, bis der erlösende Schrei zum Angriff erscholl. [. . .] Unverkennbar ist der Geruch des verwesenden Menschen, schwer, süßlich und widerlich haftend wie zäher Brei. Nach großen Schlachten brütete er so lastend über den Feldern. (Jünger, SW Abt. 2, Bd. VII: 20 - 21) Das Echo dieser Abschnitte findet sich im Fangschuß, als Konrad von Reval mit seiner Schwester Sophie einen Spaziergang in der Umgebung des Schlosses unternimmt (vgl. Abb. 12). Abb. 12: Der Fangschuß. Konrad von Reval (Rüdiger Kirschstein) beschreibt seiner Schwester Sophie auf einem Spaziergang die Grauen des Krieges. (Museum of Modern Art/ Film Stills Archive) Unverkennbar ist der Geruch, nach den Schlachten über den Feldern. Der erste Tote - jedem bohrt sich ein andrer Eindruck ins Hirn, dem einen die Hand, die wie eine Kralle auf die Erde schaut, dem andern die bläulichen Lippen über dem weißen Gesicht, dem andern - weißt du, man kann noch so gut vorbereitet sein, es ist immer wieder dasselbe Grauen; zerrissene Körper, klaffende Schädel, bleiche Gesichter. Man wird ungeduldig, man wartet auf den erlösenden Schrei zum Angriff. Wortwörtliche Entsprechungen also und über Erich hinaus sind sie auch mit Sophies Bruder Konrad verbunden. Spielt vielleicht schon das erste Wort des Dialogs, «unverkennbar,» voller Ironie mit der aufgewiesenen Intertextualität? Unter Intertextualität verstehen wir die Wiederverarbeitung oder -aufbereitung literarischer Vorlagen, und die literarisch-kulturellen Ingre- 94 Hans-Bernhard Moeller dienzien in Schlöndorffs Der Fangschuß sind offensichtlich wesentlich komplizierter, als die Forschung bisher annahm. Das kriegerische Element des Films lebt ebenso von Jünger wie von Yourcenar. Um Krieg, Konflikt und Kollaboration darzustellen, hat Schlöndorff also auch hier biografische und literarische Modelle aus der Welt der Kultur ausgeschöpft. Weil der Filmemacher mit Meer am Morgen zu der Thematisierung von Jünger zurückkehrt, stellt sich die Frage, ob sich sein Jünger-Bild in den 35 Jahren, die den Fangschuß und Das Meer trennen, in Einzelzügen gewandelt hat. In beiden Filmen bindet Schlöndorff Jünger in den Kontext von Krieg und vom Zerstörerischen von Konflikten ein. Während im Fangschuß sowohl die Gestalt Jüngers als auch dessen Bildsprache zur Darstellung der Konflikte dient, verfügt der Filmemacher in Das Meer am Morgen primär über die historische Gestalt des Schriftstellers, um Verhaltensweisen in Konfliktsituationen zu zeigen. Dabei kontrastiert er Jünger nicht nur mit einem an Böll gemahnenden Deutschen sondern auch - und vor allem - mit einem jungen Franzosen, die beide mehr Auflehnung gegen das Dritte Reich als Jünger ausdrücken. Damit liegt der Filmemacher auf den ersten Blick durchaus weiterhin auf der Linie des Neuen Deutschen Films. Andererseits ist das reine Nachleben Jüngers bei einer Hauptfigur des Neuen deutschen Films erstaunlich, wenn auch noch so kritisch rezipiert. Auf den zweiten Blick erweist sich freilich bei dem Schlöndorff des 21. Jahrhunderts auch noch ein Unterschied. In Übereinstimmung mit der Hauptrichtung des Neuen Deutschen Films fokussierte Der Fangschuß, so transnational er war, auf deutsche Belange: er implizierte Kritik an Jünger als Repräsentant des Militarismus und der deutschen Geschichte. In Das Meer am Morgen hingegen steht die französisch-deutsche Geschichte im Mittelpunkt, wenn deutsche Geschichte, dann unter europäischem Vorzeichen. Offenbar denkt der Urheber dieses Film europäisch, wenn er über seinen Film äußert: «Es ist eine kleine Geschichte, unendlich groß durch den Mut der Beteiligten, unerbittlich in ihrem Ablauf wie eine griechische Tragödie - und fast unverständlich im heutigen Europa. Es ist gut, sich an sie zu erinnern, wenn immer Europa infrage gestellt wird» (Das Meer am Morgen, Das Arte Magazin). In Zeiten, in denen Euro und europäisches Geschichtsgefühl eine schwere Krise durchlaufen, deutet Schlöndorff seinen Film geradezu als Appell zu Gunsten der Europäischen Union («Mehr Europa wagen»). Aber ist Das Meer am Morgen wirklich als Befürworter des Übernationalen anzusehen? Oder bedeutet der Film eigentlich doch ein hohes Lied auf das Nationale? Sind nicht Mut, Disziplin und Selbstlosigkeit, wie sie die Geiseln im Lager und die drei Attentäter in den zwei Disput-Szenen personifizieren, in den Dienst des französischen Nationalismus gestellt? Ist nicht auch die 95 Krieg, Kultur, Kollaboration und Konflikt hohe Wertung der Opferbereitschaft ein grundkonservativer Zug? (Aufopferung für die Allgemeinheit pflegt vom heutigen Zeitgeist weniger privilegiert zu werden als bürgerliche Zivilcourage.) Alle diese Tugenden sind allerdings von Schlöndorff in seinem Film höchst komplex dargeboten: es sind Kommunisten, also Internationalisten, die im Widerstand gegen Unterdrückung zu Gunsten der Nation ihr Leben hingeben. Die Grenzen zwischen Nationalem und Übernationalem verschwimmen hier. Wenn sich der reife Schlöndorff noch Reserven gegenüber dem Schriftsteller Jünger auferlegt, werden diese heutzutage durch das grenzüberschreitende Element sichtlich gemildert. Er ist sich gegenwärtig nämlich auch der mit Jünger geteilten Frankophilie, besonders der erwiderten Liebe zur französischen Kultur bewusst: «Ich habe damals in Frankreich Karriere gemacht, nicht obwohl, sondern weil ich Deutscher war. Dieses Schicksal teile ich mit Jünger» (Kilb Z 4). Er anerkennt auch weitere Parallelen und Affinitäten zu Jünger, vielleicht einschließlich der Neigung zum abgerückten Beobachten, die der Filmemacher seinen Charakteren von Törless über Oskar Matzerath bis zu dem Journalisten Laschen in Die Fälschung mitgegeben hat. Schon während Schlöndorffs Schul- und Studentenjahren in Frankreich will er von Jüngers sachlicher Observiertechnik in den Stahlgewittern, der Registriersprache im Zeitalter der technischen Kriege, angezogen worden sein («Volker Schlöndorff auf»). Allein er räumt ein: «Ernst Jünger ist mir als Figur [. . .] erst richtig durch die Lektüre des großartigen Tagebuchs Gärten und Straßen nahegekommen. Ich kann mir vorstellen, dass ich in diesen Zeiten als Offizier ähnlich gefühlt und gehandelt hätte» («Ich hätte wie « S. 3 von 4).» Ich kann mich gut mit beiden identifizieren,» äußert er kurz darauf im Rahmen der Berlinale 2012 im Bezug auf Jünger und die utopiegeleiteten kommunistischen Geiseln, allerdings nicht ohne hinterher zu schicken, er sei freilich auch gegen «den Jünger in mir» angegangen. 8 Man sieht, der reife Schlöndorff schätzt Jünger differenzierter ein als der Filmemacher des Neuen Deutschen Films in den 1970ern. Indessen veranschaulicht er den Schriftsteller auch noch 2012 eher als den Soldaten, der nicht nur mit Kultur sondern mit Krieg, Konflikt und Kollaboration befasst ist. Anmerkungen 1 Für konstruktive Kritik und Vorschläge bin ich Dr. Sheila K. Johnson und Marlis Schroeder zu Dank verpflichtet. Für die großzügige Hilfestellung mit Abbildungen schulde ich auch Volker Schlöndorff Dank. 2 Tambour battant: Mèmoires de Volker Schlöndorff, trad. Jeanne Etoré et Bernard Lortholary. Paris: Flammarion, 2009. 96 Hans-Bernhard Moeller 3 Vgl. «Volker Schlöndorff presente La mer à l ’ aube.» S. 2 von 4. 4 Vgl. dazu Schlöndorffs Aussage im selben Interview,» Volker Schlöndorff presente»: «Parfois, il les a méme embellies. On sent qu ’ il a essayé de les faire valoir. C ’ est l ’ un des rares moments où j ’ ai découvert une sorte de compassion.» 5 Vgl. Jüngers Eintrag von Paris als «zweite geistige Heimat» in SW II: 382. 6 Nebenbei gesagt, kehrt dieses auflockernde Zwischenspiel auch in Das Meer am Morgen wie eine Reminiszenz wieder, als in dem spannungsgeladenen Augenblick, als Kugeln um den Soldaten Otto herum pfeifen, ein Kamerad einen Hasen erlegt hat. 7 Volker Schlöndorff, «Ich hätte wie.» Ferner: Mail an den Verfasser 19. 12. 2011. 8 «Volker Schlöndorff auf der Berlinale.» S. 1 von 3. Bibliografie Basse, Pierre-Louis. Guy Môquet. Une enfance fusillée. Paris: Éditions Stock, 2000. Böll, Heinrich. Das Vermächtnis. 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