Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2012
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Lebensgeschichte und politische Großerzählung: Die Brüder Grimm im Spiegel ihrer Biographen
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2012
Christoph Seifener
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Lebensgeschichte und politische Großerzählung: Die Brüder Grimm im Spiegel ihrer Biographen CHRISTOPH SEIFENER Korea University, Seoul In den von Etienne Francois und Hagen Schulze herausgegebenen Deutschen Erinnerungsorten werden zwar die Kinder- und Hausmärchen (Tatar 277ff.), nicht aber die Brüder Grimm selbst als lieu de mémoire gewürdigt. Betrachtet man allerdings die große Zahl von - vor allem populärwissenschaftlichen - Werken, 1 die sich in den vergangenen 130 Jahren kontinuierlich mit der Biographie der Brüder Grimm auseinandergesetzt haben, so wird deutlich, dass nicht nur die Märchen, sondern auch Jakob und Wilhelm Grimm selbst einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis der Deutschen inne haben. 2 Es existieren unter den gerade angesprochenen Schriften Werke, die in erster Linie die Selbstzeugnisse der Grimms aufarbeiten; Texte, die ihren Schwerpunkt auf die Darstellung der wissenschaftlichen Leistungen legen; Bildbände, die den Leser in die Zeit eintauchen lassen möchten, in der die Grimms lebten; Biographien für Kinder und explizit literarisch-fiktionale Adaptionen der Lebensgeschichten. Die Rolle, die solche Veröffentlichungen bei der Konstituierung eines kulturellen Gedächtnisses spielen, ist, wiewohl dieser Aspekt in der Biographieforschung bislang eher am Rande wahrgenommen wird, unbestritten (Klein, Lebensbeschreibung 81ff.). Biographien, so Astrid Erll, «stiften, kontinuieren, zirkulieren und hinterfragen kulturelles Gedächtnis» (Erll 86). Es dürfte dabei davon auszugehen sein, dass das Bild der Grimms, das die Biographen entwerfen, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen im Laufe der Zeit deutliche Veränderungen erfahren hat. Betrachtet man allerdings die Texte näher, so scheint deren Aufbau in literarischer Hinsicht jedenfalls von großer Konstanz geprägt. Die Mehrheit der hier untersuchten Werke orientiert sich an traditionellen biographischen Mustern, insbesondere an der Gelehrtenbiographie und an der «Tradition der Leben-und-Werk Biographie, wie sie für das 19. Jahrhundert charakteristisch ist» (Kruckis 556; vgl. Scheuer, Biographie: Studien zur Funktion 49). Das heißt, der Lebensweg der Grimms wird chronologisch anhand der Stationen Hanau, Steinau, Marburg, Kassel, Göttingen und Berlin nachvollzogen. In einem größeren Rahmen wird eine Dreiteilung des Lebens in «Kinder- und 2 Christoph Seifener Jugendzeit, Studium und Herausbildung der Persönlichkeit [und] Beginn der eigentlich schöpferischen Phase» (Klein, Einleitung 7), die nach Christian Klein ebenfalls prägend für die Biographik des 19. Jahrhunderts ist, in beinahe allen Texten beibehalten. Kapiteleinteilungen wie «Heimat und Familie», «Bildungsjahre in Kassel», «Studienjahre in Marburg», «Erste Schaffensjahrzehnte in Kassel» (vgl. Scurla) verdeutlichen dies und verweisen gleichzeitig auf die Programmatik des Bildungsromans, an die vielfach angeknüpft wird. Ebenfalls der chronologischen Ordnung folgend gehen die Autoren mehr oder weniger ausführlich auf die Publikationen der Grimms ein, wobei deren Werke zumeist in sehr engen Zusammenhang mit den Erfahrungen und der Persönlichkeit der Brüder gebracht werden. Die Persönlichkeitsentwicklung der Protagonisten selbst erscheint kontinuierlich, konsistent und teleologisch ausgerichtet. Immer wieder wird die organische Entwicklung bestimmter Anlagen behauptet, die bereits in der Kindheit der Grimms zutage treten, und dann im Erwachsenenalter voll zur Geltung kommen. 3 Autobiographische Quellen, wie die Lebensbeschreibungen der Brüder und Briefe von Jakob und Wilhelm gelten in der Regel als Garant für die Authentizität des Dargestellten. 4 Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt in dieser Hinsicht vor allem die Biographie von Steffen Martus dar, die ausdrücklich den Inszenierungscharakter autobiographischer Zeugnisse betont. Es fällt auf, dass eine Reihe von Anekdoten und bestimmte Äußerungen der Grimms in keinem der untersuchten Werke fehlen. Die Stelle aus Jakobs Brief an Wilhelm aus dem Juli 1805 etwa, in dem er schreibt, dass die Brüder sich «einmal nie trennen» wollen (Grimm 86), wird durchgängig in jeder Biographie zitiert. Während die Biographien solchermaßen auf den ersten Blick dutzendfach die gleiche historisch abgesicherte Geschichte zu erzählen scheinen, steht demgegenüber die in der Biographieforschung nahezu durchgängig vertretene Auffassung, dass Biographien «eine funktionalisierte Fiktion angenommener Wirklichkeit» darstellen (von Zimmermann 10). Unter dieser Perspektive verschiebt sich das Erkenntnisinteresse von den in der Biographie geschilderten Ereignissen der Vergangenheit hin zur Gegenwart und Position des Biographen. 5 Vor diesem Hintergrund soll es auch im Folgenden um die Frage gehen, in welche Beziehung die Biographen die Figuren der Brüder Grimm zu ihrer jeweils eigenen Zeit stellen. Dieser «Brückenschlag zur Gegenwart», die «Gegenwartsfunktion» der Texte also, stellt nach Helmut Scheuer ein wesentliches Moment jeder Biographik dar (Scheuer, Biographie. Überlegungen 12). In diesem Sinne ist die Biographie als «eine operationale Literaturform [anzusehen]; sie ist Zweckliteratur, das heißt, sie will etwas erreichen und steht Lebensgeschichte und politische Großerzählung 3 im Dienste bestimmter Normsysteme» (11). Christian von Zimmermann plädiert sogar dafür, die Geschichte der Biographie als «Geschichte der Einvernahme biographierter Gestalten für vielfältige historische, politische, soziale, ethische Zwecke zu schreiben» (von Zimmermann 37). An diese Überlegungen knüpft die vorliegende Arbeit an. Anhand der Analyse von Grimm-Biographien aus dem Kaiserreich, der DDR und der Bundesrepublik soll versucht werden, den Zusammenhang zwischen Biographik und kulturellem Gedächtnis zu präzisieren, indem aufgezeigt werden soll, inwiefern die Lebenswege der Grimms zur Untermauerung politischer Gründungs- und Orientierungsmythen herangezogen werden. Mit dieser Intention der Texte eng verbunden sind die literarischen Strategien, mit denen die Autoren den Gegenwartsbezug ihres Gegenstandes herstellen. Dabei kristallisieren sich zwei Vorgehensweisen heraus. Entweder werden die Brüder Grimm als Vorreiter einer Entwicklung dargestellt, die in der Epoche der Biographen zu einem Abschluss gekommen ist. Als Repräsentanten eines historischen Zustandes, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Biographie überwunden erscheint, werden die Grimms damit aber gleichzeitig in eine gewisse Distanz zur Leserschaft gerückt. Oder aber es werden Aspekte aus dem Leben der Grimms herausgegriffen, die es ermöglichen, Parallelen zur Gegenwart der Biographen zu ziehen. Die Brüder Grimm werden dadurch aktualisiert und zu jeweils ‹modernen› Figuren erhoben. Bei einem Lebenslauf, der so sehr von den Entwicklungen der Politik beeinflusst wurde, wie der der Grimms - man denke an den Einfluss der Napoleonischen Kriege und die Folgen der Göttinger Protestation - und bei einem Werk, das so sehr auch von politischen Intentionen geleitet wurde, wie das ihre - hier ist vor allem die Auseinandersetzung mit den Fragen der Reichseinheit zu nennen - verwundert es kaum, dass die Grimms auch von ihren Biographen zum Teil explizit politisch vereinnahmt werden (vgl. Saage-Maaß). Deutlich geschieht dies, wenig überraschend, in Werken aus der Kaiserzeit. «Welche Freude würde den Greis erfüllt haben», schreibt Albert Duncker in seiner 1885 erschienenen Biographie in Bezug auf Jakob Grimm, hätte er es noch erlebt, daß seine Deutschen von den Dänen das deutsche Schleswig, von den Franzosen Elsaß und Lothringen wiedergewannen, daß die Wogen der Nord- und Ostsee eine deutsche Kriegsflotte erblicken, daß das Banner des neu erstandenen deutschen Reiches weht auf den Wällen von Straßburg und Metz (Duncker 111). Der Tenor der Passage macht die Perspektive deutlich, unter der diese und andere zeitgenössische Biographien auf das Leben der Grimms zurückblicken. Das Engagement der Brüder für ein geeintes Deutsches Reich wird zu einer, 4 Christoph Seifener wenn nicht der zentralen Triebfeder ihres Wirkens erklärt. Ihre diesbezüglichen Vorstellungen und Wünsche aber, darin sind sich die entsprechenden Texte einig, sind im deutschen Kaiserreich von 1871 in jeder Hinsicht verwirklicht worden. 6 In Carl Frankes Biographie von 1899 erscheinen die Grimms geradezu als Propheten des preußisch-protestantischen Reichsgedankens. Dies betrifft insbesondere Jakob, dessen «tiefe Kenntnis von Deutschlands großer Vergangenheit […] dessen herrliche Zukunft ahnend schauen» lässt (Franke 126). Der Autor muss nicht extra erwähnen, dass er selbst Zeuge dieser herrlichen Zukunft unter Wilhelm II. sein darf. Nicht nur in der gerade zitierten Passage verfällt Franke in einen quasi-religiösen Duktus. Es ist bezeichnend, dass Jakob Grimm, das «Genie», von ihm immer wieder explizit in eine Reihe mit Martin Luther gestellt wird. Beide verbindet etwa ein besonderes Erweckungserlebnis, das als Leseerlebnis wiederum auf Augustinus verweist. Bei Jakob Grimm ist es der Moment der Begegnung mit mittelhochdeutscher Literatur. Wenn wir uns im Geiste vergegenwärtigen, wie Jakob Grimm […] zum ersten Male die Minnesänger in die Hand nimmt, so tritt uns unwillkürlich das Bild des jungen Luthers vor unser Auge, der das erste Mal eine vollständige Bibel erblickt. […] [Jakobs] Forschungstrieb wurde […] auf das Ziel hingewiesen, welches ihm die Vorsehung gesteckt hatte, auf die altdeutsche Sprache und Litteratur. (17) 7 Neben den religiösen Bezügen ist es offensichtlich der Rezeptionszusammenhang von «Luther dem Deutschen», innerhalb dessen der Reformator im 19.-und frühen 20. Jahrhundert als «Inbegriff nationalen Selbstverständnisses» aufgefasst wird (Hensing 11), der Luther als Referenzfigur anbietet. Luther erscheint in diesem Traditionsstrang insbesondere «als Träger oder Garant, Prophet oder Vollstrecker nationaler Programme und Sehnsüchte» (Hensing 7), erfüllt also genau jene Rolle, die Franke nun auch Jakob Grimm zuweist. Die Grimms werden zu Heilsfiguren stilisiert, durch die sich ein übergeordneter Wille vollzieht. In diesem Sinne wird von Franke wiederholt die Vorsehung bemüht. Sie war es beispielsweise, die «dem deutschen Volke ein auf das innigste verknüpftes Brüderpaar» sandte, das eine «übermenschliche Arbeit in einem Geiste» angehen konnte (Franke 3). Die Vorsehung hat den Deutschen aber nicht nur die Grimms geschenkt, sondern auch die Hohenzollern. Und die Wege beider sieht Franke durch die Berufung der Grimms nach Berlin geradezu schicksalhaft verbunden. So nahm Preußens Königsgeschlecht diejenigen großen Deutschen gastlich auf, welche die durch und durch ganz undeutsch gesinnten Fürsten von Hessen Kassel und Hannover so schnöde behandelt hatten. Das Schicksal hat die Brüder Grimm gerächt. Als des deutschen Reiches Auferstehungsstunde schlug, welche auch die Lebensgeschichte und politische Großerzählung 5 Brüder Grimm mit vorbereitet hatten, da stürzte es die Thröne jener ein, das edle Hohenzollerngeschlecht aber erhob es auf den deutschen Kaiserthron. (76) Ebenso bildet für Albert Duncker die Beziehung der Grimms zu Preußen und zu Friedrich Wilhelm IV. als Vertreter der Hohenzollern einen wesentlichen Hintergrund, vor dem sich die Lebensgeschichte der Brüder abspielt. Der Ausgangspunkt der Biographie, die erste Szene des Buches, zeigt Jakob Grimm in Berlin. Auf dem Höhepunkt seiner wissenschaftlichen Reputation, geehrt und in «sorgenfreie[r] Stellung, die ihm und seinem Bruder der edle Sinn König Friedrich Wilhelms IV. bereitet hatte», blickt er «mit der Ruhe eines wahrhaft Weisen» auf sein Leben zurück (Duncker 1). Die Perspektive, unter der sich die Biographie im Folgenden entfaltet, ist damit vorgegeben. Der Lebensweg der Grimms läuft dank der Unterstützung der Hohenzollern auf Berlin zu, den, das suggeriert der Text, ihrer Größe einzig angemessenen Ort, wo sie denn auch erst die «Höhe ihres Schaffens erklommen» (122). Genauso aber läuft die deutsche Geschichte in Dunckers Darstellung auf das neugegründete Kaiserreich der Hohenzollern zu. 8 Der wesentliche Beitrag der Grimms zur Reichsgründung besteht bei Duncker wie bei Franke darin, dass sie halfen, «das deutsche Nationalbewußtsein [zu] stärken und so [mit] an der Aufrichtung des gesunkenen Vaterlandes [zu] arbeiten» (Franke 34). Erst die Grimms hätten es den Deutschen überhaupt «zu Bewußtsein gebracht», dass sie zu einer Synthese von Altertum, Christentum und «ureigenste[m] Wesen» in der Lage sind, und somit ein «Volk von hoher geschichtlicher Mission» (153). Klingt in dieser Formulierung bereits an, dass Franke den Grimms ganz selbstverständlich zeitgenössische wilhelminische Ideologien wie die vom Sendungsbewusstsein der Deutschen unterstellt, so geht er noch einen Schritt weiter, wenn er fast die gesamten Forschungsleistungen der Grimms in den Dienst der aktuellen Tagespolitik und damit der wilhelminischen Sache stellt. Ohne die Grammatik Jakob Grimms beispielsweise, so behauptet Franke, wäre «sicherlich auch das Kaiserwort, daß das Deutsche Mittelpunkt des Unterrichts werden müsse, nie gefallen» (95). Damit spielt Franke auf den Versuch Wilhelms II. an, die Gymnasialbildung, und hier insbesondere den Deutschunterricht, zur «Bekämpfung der Sozialdemokratie und der gezielten intensivierten Propagierung einer imperialistischen Außen- und Kolonialpolitik», mithin zu einer «durchgreifenden Nationalisierung und Militarisierung» (Herrmann 350) zu instrumentalisieren. Die Sagen der Grimms wiederum befördern dementsprechend «Begeisterung für des deutschen Volkes große Vergangenheit, innige Liebe zum deutschen Lande und Wesen, heldenmütig zu Kampf und Tod für das Vaterland bereite Gesinnung» (58). So tragen sie direkt dazu bei, dem «Deutschthume die machtgebietende Stellung in Europa zu erhalten» (150). 6 Christoph Seifener Und auch die Märchen erfüllen ihre patriotische Aufgabe, indem sie helfen, soziale Gegensätze auszugleichen: «Indem aber die Brüder Grimm aus den dürftigen Hütten der unteren Stände die Märchen in die Kinderstuben der höheren führten, haben sie bewirkt, daß alle Stände des deutschen Volkes wenigstens während der Kinderjahre die gleiche geistige Nahrung genießen, und hierdurch ist unstreitig der schroffe Ständeunterschied gemildert worden» (51). Duncker und Franke schreiben, wie viele Biographen ihrer Zeit, mit an dem «nationale[n] Epos, dessen Hauptthema in der Sendung der Hohenzollerndynastie bestand, Deutschland zu erlösen und zu vereinigen» (Hamerow 32). Es handelt sich dabei um einen politischen Gründungsmythos im Sinne Herfried Münklers, um eine «Großerzählung[], aus [der] nationale Identität gewonnen wird» (Münkler 9ff.). Die Lebenswege der Grimms werden nun auf mehrfache Weise mit diesem Gründungsmythos des Kaiserreichs verflochten. Die Brüder fungieren innerhalb der nationalen Großerzählung in einer nicht unwichtigen Nebenrolle als Zeugen des Aufstiegs der Hohenzollern. Und es sind sehr brauchbare Zeugen, denn sie schlagen eine direkte Brücke zu den nationalen Bestrebungen des Bürgertums der ersten Jahrhunderthälfte. Die Biographien sind in diesem Sinne Teil der preußisch-nationalistischen Geschichtsschreibung, die «Preußen kurzerhand zum politischen Erben der 48er Ideale erklärte und damit die Verwirklichung nationaldemokratischer Forderungen vortäuschte» (Scheuer, Biographie: Studien zur Funktion 73). Im Rahmen einer Gelehrtenbiographie wird die Erzählung von der Sendung der Hohenzollern darüber hinaus in einen wissenschaftlichen Zusammenhang gerückt. Gleichzeitig werden die Grimms durch die Charakterisierung, die sie in den Biographien erfahren, als jeglicher eigener Machtinteressen enthoben und dadurch als besonders glaubwürdige Zeugen dargestellt. Denn Jakob und Wilhelm sind, darauf kommen die Biographen immer wieder zurück, «bescheiden», «unschuldig», «naiv» und vor allem «kindlich» (vgl. Franke 46, 55; Duncker 122). Bei diesen Eigenschaften handelt es sich aber wiederum, in der Nationalstereotypik der Zeit, um ‹spezifisch deutsche› Charaktermerkmale. Sie werden explizit als solche für die Grimms reklamiert, wenn Wilhelm Scherer, im Rückgriff auf Friedrich Schlegel, zu dem Urteil gelangt: Rechtlich, treuherzig, gründlich, genau und tiefsinnig, dabei unschuldig und etwas ungeschickt […] [ist der] Geist unserer alten Helden deutscher Kunst und Wissenschaft: […] vollkommener kam er selten zur Erscheinung als in Jakob und Wilhelm Grimm (Scherer 85f.). Für Franke erweist sich insbesondere Jakobs «kindliches Herz» - und auch hier gibt es in der Zuweisung und Konnotation dieser Eigenschaft deutliche Parallelen zum Lutherbild der Zeit (Münkler 193) - als «echt deutsch» (Franke 68). 9 Auf Grund solcher Herleitungen können die Grimms von Lebensgeschichte und politische Großerzählung 7 Duncker dann sogar zu den «Deutschesten der Deutschen» erklärt werden (Duncker-1). Diese Formulierung öffnet die Perpektive auf das besondere Verhältnis, in das die Biographen des Kaiserreichs die Grimms zu ‹dem Volk›, das in den Texten tatsächlich in zentralen Passagen personalisiert wird und monolithisch erscheint, stellen. Die Brüder, die - das werden die Autoren nicht müde zu betonen - selbst aus dem Volk stammen, befinden sich mit diesem in politischer und sozialer Hinsicht, in ihren Äußerungen und Bestrebungen in scheinbar völligem Einverständnis. Sie greifen die Wünsche des Volkes auf, sind in der Lage, sie zu formulieren und geben ihnen öffentlich Ausdruck. Die Grimms sind nach diesem Verständnis Sprachrohr eines einheitlichen Volkswillens. Insbesondere ihre Bescheidenheit, die von den Biographen immer wieder explizit behauptet und in zahlreichen Episoden beispielhaft vorgeführt wird, sorgt dabei dafür, dass die Grimms als Intellektuelle ‹dem Volk› nicht entrückt werden (Franke 69). Durch diese behaupteten Übereinstimmungen und die ausgesprochene Stellvertreterposition der Grimms gelingt es den Biographen natürlich umgekehrt auch, das Volk - und als solches dürfen sich die potenziellen Leser der Texte verstehen - in die politische Großerzählung einzubinden und es auf diese zu verpflichten. Auch die Biographen der DDR setzen die Grimms dezidiert in Beziehung zu den Gründungsmythen ihres Staates, indem sie die Brüder als Vorkämpfer des eigenen politischen und gesellschaftlichen Systems für sich reklamieren. Dies geschieht, indem die politischen Ereignisse, vor deren Hintergrund sich das Leben der Grimms abspielt, aus marxistischer Sicht als Ausdruck der Klassengegensätze zwischen Bauern, Bürgertum und Feudaladel gedeutet und die Grimms in dieser Auseinandersetzung eindeutig der Partei des Fortschritts zugeschlagen werden. Damit wird der Anschluss an Erzählungen erreicht, die in der DDR neben den primären, antifaschistischen Gründungsmythos des Staates traten. In ihnen wurden Ereignisse und Personen herausgestellt, denen in der deutschen Geschichte eine «fortschrittliche Rolle» zugesprochen wurde (Münkler 443), und die sich dadurch als Teil der «‹Vorgeschichte› der DDR in Anspruch nehmen ließen» (441). Die «fortschrittliche Gesinnung» der Grimms, die beispielsweise in der Biographie von Herbert Scurla immer wieder unterstrichen wird (Scurla 178, 221, 223), und die sich insbesondere gegen die Fürstenherrschaft richtet, 10 lässt die Grimms natürlich auch für die deutsche Einheit eintreten. Scurla gibt dem Nationalismus der Grimms aber eine andere Perspektive als die Autoren der Kaiserzeit, gegen deren chauvinistische Vereinnahmungen er die Brüder in Schutz nimmt (298), indem er ausführlich auch den Einfluss der Grimms «auf die nationale Selbstbesin- 8 Christoph Seifener nung der slawischen Völker» darstellt (175). 11 Das nationale Engagement der Grimms wird dadurch relativiert, denn es wird zu einem grundsätzlichen und nicht mehr nur ausschließlich auf Deutschland bezogenen Anliegen erklärt. Daneben aber ist der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit, der Glaube an den «Grundsatz der Gleichheit aller Menschen» (11) für Scurla eine wichtige Triebfeder der Grimms. Sie findet ihren deutlichsten Ausdruck in den Kinder- und Hausmärchen. Denn die «volkseigenen» Märchen verkörpern für Scurla die «menschliche Sehnsucht nach Erlösung aus Elend, Ungerechtigkeit und Unterdrückung» (72f.), sie sind - und hier zitiert Scurla bezeichnenderweise Positionen der DDR-Germanistik - die «wichtigste literarische Ausdrucksmöglichkeit des unterdrückten Volkes» (73). 12 Während Scurla aber immerhin einräumen muss, dass die Grimms nicht «in der Absicht über Land gegangen [sind], […] um der Gesellschaftsordnung, in der sie lebten und an die sie in ihrer ökonomischen Lage gebunden waren, […] den Kampf anzusagen» (75), geht Lore Mallachow in ihrer Biographie für Jugendliche, die allerdings als fiktionale Erzählung konzipiert ist, wesentlich plakativer vor. Sie lässt Wilhelm unter dem Eindruck der Märchen, die er sammelt, zu der Schlussfolgerung kommen: «Die Menschen sehnen sich nach Gerechtigkeit. Es wäre eine große Sache, etwas dafür zu tun, daß der Traum zur Wahrheit wird.» Jakob antwortet darauf: «Die Zukunft wird’s erweisen, Bruder.» (Mallachow 37) Dass damit direkt auf die staatliche Realität der DDR verwiesen wird, ist offensichtlich. An anderer Stelle formuliert Wilhelm die Hoffnung, dass die Märchen «geboren aus der Sehnsucht des Volkes nach Gerechtigkeit, […] uns Kraft geben, mit der fremden Herrschaft fertig zu werden» (50). Die fremden Herrscher sind aber in der Darstellung Mallachows eben nicht nur die Franzosen der Besatzungszeit, sondern die Adeligen und Fürsten, die eigennützig und rücksichtslos gegen die Interessen des Volkes handeln. 13 Demgegenüber steht das ‹geistige Vermächtnis› von Jakob und Wilhelms Vater, der seine Kinder auf dem Totenbett darauf verpflichtet, «auf das Recht [zu achten]», der ihnen «von den Menschenrechten […] erzählt, daß kein Stand sich über den anderen erheben darf, daß jeder sich bilden kann, satt zu essen hat» (10f.). Der jugendliche Leser der Biographie, der sich möglicherweise mit den Figuren Jakob und Wilhelm identifiziert, wird hier natürlich gleich mit in die Pflicht genommen, sich für diese Ziele einzusetzen. Immer wieder gestaltet Mallachow Szenen, in denen die Grimms direkt mit Vertretern des Adels konfrontiert werden und so Gelegenheit bekommen, ihre Opposition deutlich zu machen. Symptomatisch erscheint die erste Erfahrung, die Wilhelm Grimm macht, als er an der Universität ein Seminar besuchen will: Lebensgeschichte und politische Großerzählung 9 In diesem Augenblick versetzte ihm jemand einen Stoß in die Seite. […] Die Angreifer stießen weiter rücksichtslos mit den Ellenbogen, bis sie sich lachend in der ersten Bankreihe in Position setzten. Wilhelm wollte aufbrausen. Auch Jakob mußte sich auf die Lippen beißen, denn er hätte den Beleidigern - es waren junge Adelige-- gerne Widerpart gegeben. (26) Die soziale Herkunft der Grimms bildet bei Mallachow somit den entscheidenden Faktor zum Verständnis der Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Vor diesem Hintergrund erschließt sich dann auch das erneut besondere Verhältnis zwischen den Grimms und ‹dem Volk›, das Mallachow unterstellt. Tatsächlich greifen in dieser Hinsicht die sozialistischen Biographen bemerkenswerterweise auf die gleiche Vereinnahmungsstrategie zurück, die schon ihre nationalistischen Kollegen im Kaiserreich angewandt hatten, indem sie das Volk als homogene Masse und die Brüder Grimm als diejenigen darstellen, die die Wünsche und Sehnsüchte des Volkes zu artikulieren in der Lage sind. Die Autoren entwerfen dabei Bilder, die beim Leser den Eindruck erwecken, es mit der Beziehung zweier Individuen zu tun zu haben. Dies wird insbesondere dort deutlich, wo die Texte auf die Sammlertätigkeit der Grimms zu sprechen kommen. Die Märchen etwa empfangen die Brüder «unmittelbar aus dem Munde des Volkes» (Scurla 75), um sie dann in schriftlicher Form «ihrem Volke neu zu schenken» (Lemmer 17). Der Gegensatz zwischen den dem Volk verbundenen Grimms und dem Adel spielt in Mallachows Biographie auch noch in einem anderen Zusammenhang eine wichtige Rolle. Die Autorin steht nämlich, wie auch die anderen Grimm-Biographen der DDR, vor der Aufgabe, zu differenzieren zwischen den Grimms einerseits, die als Personen und in ihrem Wirken als vorbildlich dargestellt werden, und «den Romantikern» andererseits, die, wie Manfred Lemmer schreibt, zwar «[w]esentliche Impulse zur Beschäftigung mit dem Mittelalter und mit der Volksdichtung» gaben, die aber allmählich «zu einer Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft wie der modernen Umgestaltung des Lebens [gelangten, und] […] sich häufig den feudalen Kräften an[näherten]» (Lemmer 10). Lemmer rekuriert hier auf die ‹offizielle› Wertung und Einordnung der Romantik durch die DDR-Literaturwissenschaft, die in der Epoche die «reaktionäre Gegenposition zur deutschen Klassik» ausmachte und «den Anfang des Niedergangs der bürgerlichen Ideologie, der im Faschismus seinen Tiefpunkt» erreichte (Lehmann 183f.). Mallachow gelingt die Trennung zwischen den Grimms und der Romantik, indem sie eine gewissermaßen natürliche Differenz zwischen den aus einfachsten, bedrängten Verhältnissen stammenden Brüdern und den Romantikern von Arnim und Brentano unterstellt. Insbesondere Clemens Brentano wird zu diesem Zweck als eine Art Gegenfigur zu den Grimms aufgebaut. 14 10 Christoph Seifener Herbert Scurla hingegen beschreibt das Verhältnis der Grimms zur Romantik als allmählichen Emanzipationsprozess von wesentlichen Vertretern der Epoche, denen die Grimms zunächst starke Anregungen verdankten. Entscheidender Punkt ist hier nicht a priori der soziale Stand, sondern die Tatsache, dass erst im Laufe der Zeit «keine politisch-weltanschauliche Übereinstimmung mehr» mit den sich immer konservativer orientierenden Romantikern vorhanden war (Scurla 177). Weder «folgten die Brüder Grimm trotz ihrer Verbundenheit mit ihrem Universitätslehrer [Savigny; CS] [dessen] […] reaktionären Tendenzen», noch «folgten sie […] Brentanos späterem Weg in religiöse Verwirrungen» (176). Dementsprechend bedeutete der «Abschied von Kassel […] zeitlich gesehen zugleich ein[en] Abschied von der Romantik» (177). Im Gegensatz zu den rückwärts gewandten Romantikern werden die Grimms in der Darstellung Scurlas zu Vorreitern der modernen Wissenschaften. Auf diese Weise werden die Brüder von den DDR-Autoren nicht nur zur Beglaubigung der staatlichen Orientierungsmythen, sondern, wie schon im Hinblick auf die Einordnung und Wertung der Gattung Märchen, auch zur Bekräftigung der staatlichen Kulturpolitik herangezogen. Wie sehr die DDR-Biographien im Übrigen ideologischen Vorgaben verpflichtet sind, wird auch deutlich, wenn beispielsweise in der Biographie Manfred Lemmers eine Art Nobilitierung der Brüder im Sinne des Sozialismus stattfindet. Hier werden an hervorgehobener Stelle, nämlich am Ende der Darstellung, als abschließendes Urteil gewissermaßen, wohlwollende Äußerungen von Marx und Engels über die Grimms zitiert (Lemmer 41). Im Bildteil des Buches finden sich neben zeitgenössischen Darstellungen aus dem Lebensumfeld der Grimms auch Fotografien aller DDR-Germanisten, die an der Weiterführung des Wörterbuches beteiligt sind. In der DDR, das suggeriert diese Bildauswahl, wird das Werk der Brüder fortgeschrieben (92). Einen ähnlichen nobilitierenden Effekt hat es, wenn in Scurlas Biographie ausdrücklich auf die Beliebtheit der Kinder- und Hausmärchen in der Sowjetunion hingewiesen und die sozialistische Lesart der Märchen durch Äußerungen Lenins gestützt wird (Scurla 84, 72). Christian von Zimmermann weist darauf hin, dass es als expliziten Gegenentwurf «zur Idealisierung und Heroisierung der Einzelpersönlichkeit» seit dem 19. Jahrhundert in der Biographik «Tendenzen zu einer ‹Vermenschlichung› der besonderen Persönlichkeit gegeben» hat (von Zimmermann 189). Diese Tendenzen zeigen sich in Bezug auf die Grimms zuerst in Josephine Stielers Lebensbilder deutscher Männer und Frauen und begründen eine Rezeptionstradition, die sich insbesondere in der Bundesrepublik in den Werken von Karl Schulte Kemminghausen und Ludwig Denecke, bzw. von Irma Hilde- Lebensgeschichte und politische Großerzählung 11 brandt fortschreibt. Jakob und Wilhelm Grimm werden hier in erster Linie in ihren Familienbeziehungen wahrgenommen. Stieler etwa hebt immer wieder auf das Verhältnis der Brüder zu ihrer Mutter ab, das in sentimentalen Episoden als ausgesprochen innig und liebevoll geschildert wird. Die Grimms erscheinen so vor allem als ‹gute Söhne› und in gewisser Weise bleiben sie dies ein Leben lang. Bezeichnenderweise wird etwa bei Wilhelms Heirat mit Dorothea Wild extra betont, dass die Braut auch das Wohlgefallen der verstorbenen Mutter genossen habe (Stieler 206). Das ‹kindliche› Gemüt der Grimms kommt auch dadurch zum Ausdruck, dass die Brüder sich nach ihrer Entlassung in Göttingen scheinbar sorgenlos «voller Hingebung ihren Lieblingsstudien [widmen], ohne sich irgend mit Plänen für die Zukunft zu befassen» (209). Wie die naiven Helden der Märchen werden auch die Grimms für ihr schlichtes, bescheidenes Wesen ‹belohnt› und zwar mit einem rundum glücklichen Familienleben: «Beim Frühstück, Mittagessen, Thee [sic] und Abendessen versammelte sich alles in dem einfach, aber gemütlich eingerichteten Wohnzimmer […], und man kann sich kaum ein gemütvolleres, behaglicheres Zusammenleben denken» (206). Diese Perspektive auf das Leben der Brüder wird in der Biographik der Bundesrepublik wieder aufgegriffen. Die Bilder einer bürgerlichen Familienidylle etwa spielen insbesondere im Werk von Schulte Kemminghausen und Denecke eine entscheidende Rolle, und zwar sowohl im Hinblick auf die Kindheit und die Ursprungsfamilie der Grimms, wie auch auf das spätere Miteinander von Dorothea, Wilhelm, Jakob und den übrigen Geschwistern. Das familiäre Zusammenleben ist geprägt von Werten wie «Treue», «Sparsamkeit», «Gewissenhaftigkeit», «Rechtschaffenheit» und «Standhaftigkeit» (Schulte Kemminghausen et al. 7ff.). Dieser Tugendkatalog wird vor allem von Wilhelm und Jakob verkörpert und gepflegt und ist Garant für privates Glück und einen «bescheidenen bürgerlichen Wohlstand» (6). Jakob wacht über die Familie als Patriarch. Tatsächlich werden, im Gegensatz zur Betonung der Mutterrolle bei Stieler, in dieser Biographie die Vaterfiguren in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt. Jakob etwa ist in seinem Verhalten bemüht, ganz den Leitbildern des Vaters zu entsprechen. Auch der Mutter kommt nach dem Tod ihres Mannes vor allem die Aufgabe zu, «die Kinder […] weiter auf dem Weg des Vaters zu führen» und dadurch «die erste Gefährdung ihres Lebensweges» (11) zu überwinden. In dieser Formulierung nun wird die Konstellation deutlich, die nach Schulte Kemminghausen und Denecke konstitutiv für das Leben der Grimms ist. Denn das Familienglück ist immer wieder durch äußere Ereignisse bedroht. Insbesondere die Politik erscheint als etwas, das ausschließlich in Form von «katastrophenartigen Umbrüchen» eine äußere Bedrohung der ansonsten «konsequent aufsteigenden Lebensli- 12 Christoph Seifener nie» (10) darstellt und daher abgewehrt werden muss (vgl. 27f.). Dies gelingt den Brüdern vorbildlich allein durch ihre Freundschaftsbünde, die «wie eine Zauberhecke […] alle Stöße auffing[en]» (28), und ihren Familiensinn. Die Tatsache, dass Jakob und Wilhelm sich «lieb haben» wird zur «Waffe» gegen alle äußeren Widerstände erklärt (23). Mit dieser dezidierten Zurückweisung des Politischen und der Propagierung des Privaten entspricht die Biographie in vielerlei Hinsicht dem Zeitgeist der 50er und frühen 60er-Jahre in der Bundesrepublik. Von den «katastrophenartigen Umbrüchen», denen sich Jakob und Wilhelm Grimm ausgesetzt sehen - hier sind vor allem die Folgen der Napoleonischen Kriege gemeint - kann man durchaus Parallelen zur Wahrnehmung der Kriegserfahrung in der jungen Bundesrepublik ziehen. Nicht zuletzt als Reaktion auf die Zeit des Nationalsozialismus erfuhr die Familie im westdeutschen Staat eine «Reprivatisierung» (Vogel 43) und wurde gewissermaßen als Schutzraum betrachtet, auf den die Politik keinen unmittelbaren Zugriff haben sollte. Die bürgerlichen Tugenden, die in den 1950er Jahren familiäres Leben bestimmen und organisieren sollten: Sparsamkeit, Ordnungsfähigkeit in Zeit und Raum, […] Häuslichkeit, Planungs- und Einteilungsvermögen, Fähigkeit zum Lustaufschub- und Verzicht, Seßhaftigkeit, Gehorsam, Disziplin, Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Arbeitsfreude, Bescheidenheit (45) entsprechen genau jenen Werten, die auch die Grimmsche Familie für Schulte Kemminghausen und Denecke vorbildlich verkörperte. Und selbstverständlich findet auch das patriarchalisch geprägte Familienmodell, das in der Biographie zum Tragen kommt, seine Entsprechung in gesellschaftlichen Vorstellungen der Adenauer-Ära. Die familiären Werte, die Schulte Kemminghausen und Denecke in ihrer Biographie betonen, werden, da sie als allen historischen Entwicklungen und Veränderungen explizit entgegenstehend gekennzeichnet werden, als überzeitlich charakterisiert. Dies schlägt eine direkte Brücke von den Grimms zu den potentiellen Lesern der Biographie, ist doch die Lebenssituation der einen wie der anderen unter dieser Perspektive durchaus vergleichbar. Die Brüder werden somit in gewisser Weise zu Zeitgenossen der bundesrepublikanischen Leser erhoben. Dem entspricht nun auf der textuellen Ebene der Biographie, dass Schulte Kemminghausen und Denecke immer wieder konkrete Spuren aus der Zeit der Grimms beschreiben, die in der Gegenwart noch wahrnehmbar sind, und so die Kontinuitäten unterstreichen, die die Epoche der Grimms mit der Gegenwart verbinden. So betonen die Autoren beispielsweise, dass vor dem Amtshaus, das die Grimms in Steinau bewohnten «heute wie damals eine schattige Linde [steht]. Die Wohnung im Erdgeschoß atmet Erinnerung und noch heute ist spürbar, wie Landschaft, Menschen und Geschichte hier auf ein empfängliches Herz fruchtbar und prägend wirken konnten» (Schulte Lebensgeschichte und politische Großerzählung 13 Kemminghausen et al. 11). In ähnlicher Weise wird das Haus am Wilhelmshöher Tor beschrieben, «dessen Fenster heute noch auf die Bäume des […] Platzes hinausschauen» (10). Die zeitliche Distanz wird in solchen Passagen geradezu wegerzählt. Schulte Kemminghausen und Dennecke stilisieren, genau wie Irma Hildebrandt in ihrer Biographie der Brüder, die Grimms als Oberhäupter, Versorger und Ernährer ihrer Familie in schwieriger Zeit, womit sich die Texte in erster Linie auf die wechselnden politischen Konstellationen der napoleonischen Ära und der Restaurationszeit und die materielle Situation der Familie nach dem Tod des Vaters beziehen. Mit diesem Bild der Brüder gelingt den Autoren aber in gewisser Weise erneut ein Anschluss an eine nationale Großerzählung, diesmal der Bundesrepublik. Denn der westdeutsche Staat zeichnete sich nach Münkler gerade durch einen Verzicht auf politische Gründungs- und Orientierungsmythen aus (Münkler 455). An ihre Stelle trat der «bundesrepublikanische Gründungsmythos von Währungsreform und Wirtschaftswunder», der den «Fleiß und die Tüchtigkeit der Deutschen» (461) in den Mittelpunkt stellte und sich in erster Linie auf «individuellen Wohlstand» (10) bezog. Während die Biographien genau diese Komponenten- - Fleiß, Tüchtigkeit und gesicherte persönliche Verhältnisse - in Bezug auf die Grimms in den Vordergrund rücken, wird das politische und gesellschaftliche Engagement der Brüder bei Schulte Kemminghausen und Dennecke sowie bei Hildebrandt deutlich relativiert. Hildebrandt etwa betont fast entschuldigend, dass die Äußerungen Jakobs hinsichtlich der Grenzen eines zukünftigen Deutschen Reiches der «allgemeinen Stimmung» der Zeit und einem «Kollektivgefühl» (Hildebrandt 120) geschuldet sind. Jakob wird dabei aber nicht als Visionär und Vorkämpfer der Reichseinheit geschildert, der aus der Menge herausgehoben ist, wie dies in den Biographien der Kaiserzeit der Fall war. Das «Utopia Deutschland» (123), das Jakob vorschwebt, hat, nach Hildebrandt, auch wenig mit dem zu tun, was im martialischen wilhelminischen Kaiserreich Wirklichkeit wurde. «Das Deutsche» (123) im Grimmschen Sinne - Hildebrandt setzt hier nicht zufällig Anführungszeichen und macht so deutlich, dass der Begriff in ihren Augen zu problematisieren ist - kommt für die Autorin vor allem in den wissenschaftlichen Arbeiten der Brüder und den Ergebnissen ihrer Sammeltätigkeit zum Ausdruck. Ausdrückliche Würdigung erfahren in der Biographie die «Zivilcourage» und die «parlamentarische Arbeit» (123f.) der Grimms, mithin Formen des politischen Engagements, die in der demokratisch verfassten Bundesrepublik Vorbildcharakter genießen, doch treten diese Aktivitäten für Hildebrandt explizit hinter die kulturellen Verdienste der Brüder zurück. 14 Christoph Seifener Folgt man Herfried Münklers Überlegungen, so wurde «gegen Ende der 1990er Jahre das aus der alten Bundesrepublik in das vereinigte Deutschland übernommene politische Mythensystem von einem allmählichen Erosionsprozess erfasst» (Münkler 482). An seine Stelle sind nun aber, angesichts einer «Bedeutungssteigerung des Bildes gegenüber dem Text» und «dem Rückzug der Intellektuellen an der Arbeit am Mythos», keine neuen politischen Mythen getreten, sondern «Formeln und Parolen, dazu Bilder und Bildsequenzen, die Teilfunktionen politischer Mythen übernehmen» (486). Die Grimm-Biographie von Steffen Martus scheint Münklers These vom aktuellen Bedeutungsverlust des tradierten Mythensystems durchaus zu stützen. Martus versucht nämlich gerade nicht, den Grimms eine Rolle zuzuweisen, die es ermöglichen würde, sie in eine nationale Großerzählung einzubinden. Seine Darstellung lässt sich vielmehr in mancherlei Hinsicht als Entmythisierung der Lebensgeschichten lesen. Für Martus stellt die Modernität der Grimms den wesentlichen Schlüssel zum Verständnis ihres Werdegangs dar. 15 Geschildert wird die Biographie der Brüder vor dem Hintergrund «einer Zeit des Umbruchs», die «gleichermaßen die Sehnsucht nach dem Neuen, wie die Sorge um den Verlust des Althergebrachten erzeugt» (Martus 14). Gerade darin sieht Martus eine moderne Wahrnehmungsweise, deren Ergebnisse nirgendwo so deutlich zum Ausdruck kommen wie in den Tätigkeiten und Leistungen der Brüder als Wissenschaftler. Ihre Werke etwa verkörpern die oben angeführten beiden Seiten der Moderne, «jenes eigentümliche Bündnis von Traditionsverlust und -bewahrung, von Eigensinn und Gemeinschaftsgeist» (11). Modern erscheinen nicht nur die wissenschaftlichen Methoden und Arbeitsfelder der Grimms, sondern auch der Wissenschafts- und Publikationsbetrieb, in dem die Brüder sich bewegen und auf dessen Darstellung in der Biographie großer Wert gelegt wird (191, 197, 248, 287). Jakob und Wilhelm Grimm erscheinen gerade nicht als die naiven, weltfremden Forscher, als die sie in früheren Biographien gezeichnet wurden, sondern als aktive Netzwerker (89, 101, 105), die ihre Wissenschaftskarrieren strategisch planen und sich in einem modernen akademischen Umfeld behaupten und durchsetzen müssen. Die neue Lesart, die Martus mit dieser Perspektive verfolgt, kann exemplarisch anhand seiner Darstellung der Entscheidung der Brüder, gemeinsam zu arbeiten und zu leben, verdeutlicht werden. Sie wird nicht mehr nur als logische Konsequenz besonders tief empfundener brüderlicher Zuneigung verstanden, sondern als genau kalkulierter, bewusster Entschluss, geboren aus «gemeinschaftliche[m] Egoismus» (99), der dem Aufbau einer gemeinsamen Bibliothek dient und sich somit letztlich auch als nützlich erweist, wenn es darum geht, die Karrieren voranzutreiben. Mit dem gleichen Pragmatis- Lebensgeschichte und politische Großerzählung 15 mus machen sich, so Martus, die Grimms daran, sich zu «positionieren», zu «profilieren» und «Alleinstellungsmerkmale» zu entwickeln (291), um sich Marktanteile im Publikationsbetrieb zu sichern (167). Schon das Vokabular, auf das Martus zurückgreift, weist die Grimms als Wissenschaftler aus, die ohne Weiteres auch in die akademische Welt des 21. Jahrhunderts passen würden. Und tatsächlich schlägt Martus einen direkten Bogen in die Gegenwart, wenn er anführt, dass die beruflichen Sorgen der Grimms «fatal an die heutigen Klagegesänge auf den Gängen der Institute [erinnern] und auch die Lösungen [sich] ähneln» (337f.). Um sich als Wissenschaftler zu etablieren, müssen sich die Grimms mit einer «gewissen Skrupellosigkeit» gegen Konkurrenten durchsetzen (139). So beteiligen sie sich an dem «Spiel, Informationen zurückzuhalten, Klüngel zu bilden und durch persönliche Angriffe den Gegner zu disqualifizieren» (122). Die Diskrepanz zu dem Bild der unschuldigen und kindlichen Märchenerzähler könnte nicht größer sein. Zu der Strategie der Grimms, so sieht es Martus, gehört auch, «Imagepolitik» und «Selbstmarketing» zu betreiben (165, 188). Dabei probieren die beiden jungen Philologen Rollen aus […]. Jeder Autor oder Kritiker muss nach Verhaltensnormen in einer Situation suchen, in der Meinungen immer angreifbar sind, […] die Grimms bieten dafür das Konzept der ‹Brüderlichkeit› und der ‹Freimütigkeit› an (172). Martus hebt in dieser Passage deutlich auf den Hang der Grimms zur Selbstinszenierung ab. Tatsächlich zieht sich die Thematik der bewussten Stilisierung und Dramatisierung des eigenen Lebens durch die Brüder leitmotivisch durch die gesamte Biographie. Dies betrifft nicht nur den Versuch, innerhalb der Wissenschaft eine bestimmte Position zu besetzen. Darüber hinaus versuchen Jakob und Wilhelm Grimm zum einen, sich in ihrem Verhalten und in ihrer Wahrnehmung an angelesenen (literarischen) Vorbildern und Mustern zu orientieren (69, 97), zum anderen deuten sie den eigenen Werdegang rückblickend «aus strategischen Gründen» (19; vgl. auch 43, 80ff., 159) um. Indem Martus solchermaßen den Inszenierungscharakter des Lebens der Brüder offenlegt, macht er es unmöglich, die Taten und Äußerungen der Grimms als unmittelbaren und authentischen Ausdruck eines irgendwie gearteten Volksempfindens oder -willens zu verstehen. Die herausgehobene Stellvertreterfunktion der Grimms als Grundlage des Verhältnisses zwischen den Brüdern und ‹dem Volk› war aber in den bisher untersuchten Biographien die Voraussetzung dafür, sie als Zeugen oder gar Träger eines nationalen Gründungs- oder Orientierungsmythos zu betrachten. Für diese Rollen scheiden sie in Martus’ Text praktisch aus. Als Identifikationsfläche für den Leser bleibt die Modernität der Brüder. Sie macht die Grimms in gewisser Weise zu Zeitge- 16 Christoph Seifener nossen des Rezipienten. Der Begriff der Modernität kann aber in seiner Abstraktheit kaum identitätsstiftend im Sinne einer nationalen Großerzählung wirken. Martus’ Biographie bietet darüber hinaus einen weiteren Perspektivwechsel, der das hergebrachte Bild der Brüder in Frage stellt. Denn in seiner Schilderung lässt sich die Biographie der Grimms durchaus auch als eine Geschichte des Scheiterns lesen, insofern eine ganze Reihe von Jakobs und Wilhelms Projekten herausgestellt werden, die nicht den gewünschten Erfolg brachten, bzw. nicht die erhoffte Wirkung erzielten (vgl. 10, 193ff.). Für Günter Grass’ ‹Liebeserklärung› Grimms Wörter ist die Verbindung zwischen der Lebensgeschichte der Brüder Grimm und den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland konstitutiv. Allerdings erscheint Grass’ Darstellung geradezu als ein Gegenentwurf zur Vereinnahmung der Brüder für positiv besetzte politische Großerzählungen. Indem Grass die Biographie der Grimms durch Assoziationsketten immer wieder mit Episoden aus seinem eigenen Leben verknüpft, setzt er die verschiedenen Zeitebenen der Vergangenheit der Grimmschen Lebenswelt und seiner eigenen Gegenwart explizit zueinander in Verbindung. 16 Es geht ihm darum, Kontinuitäten aufzuzeigen, die sich durch die deutsche Geschichte vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis heute ziehen. Dadurch geraten auch andere Epochen des 19. und 20. Jahrhunderts in den Fokus seiner Aufmerksamkeit. So wird, um ein Beispiel zu nennen, eine Linie gezeichnet, die von der Göttinger Protestation und ihren Folgen über das Verhalten der deutschen Professoren im Nationalsozialismus bis hin zur aktuellen bundesrepublikanischen Asylpraxis führt. Stille kehrte [nach der Ausweisung der Sieben; CS] ein und hielt an […], denn fortan blieb man an deutschen Universitäten in sich gekehrt und tat vornehm abgehoben […], so daß - kein Wunder - knapp hundert Jahre nach der Protestation der Göttinger Sieben, als es landesweit dreiunddreißig schlug, aus Professorenmund keine Widerworte laut wurden […]. Denn nirgendwo […] war die Spur von einstigem Professorengrimm und jener studentischen Aufsässigkeit geblieben, die Wirkung zeigte, als drei der Göttinger Sieben […] nach dreitägiger Frist […] des Landes verwiesen wurden; man kann auch abgeschoben sagen, wie es nach gegenwärtiger Amtssprache der alltäglichen Praxis entspricht. (Grass 17) Zwei Aspekte lassen sich an dieser Passage verdeutlichen. Den Fluchtpunkt der deutschen Geschichte in den vergangenen 250 Jahren markiert für Grass die Epoche des Nationalsozialismus. Sie gibt die Perspektive vor, unter der gesellschaftliche und politische Entwicklungen als mögliche Vorgeschichte oder als Nachwirkungen des Nationalsozialismus betrachtet werden. Zum anderen verweist das obige Zitat auf das verbindende Element zwischen dem Lebensgeschichte und politische Großerzählung 17 Autor Günter Grass und Jakob und Wilhelm Grimm, das offensichtlich in der Rolle des Schriftstellers und Intellektuellen innerhalb der Gesellschaft besteht. Es geht Grass ebenso um die spezifischen Probleme einer Schriftstellerbzw. Gelehrtenexistenz, etwa in kontroversen Auseinandersetzungen mit Kollegen (121f.) und Verlegern (305ff.), wie um die Möglichkeiten des Eingreifens von Intellektuellen in die aktuelle Tagespolitik. Die Parallelisierung des Vorgehens der Göttinger Sieben mit Grass’ Eintreten für eine andere Asylpolitik ist hierfür ein Beispiel (79ff.), die Gegenüberstellung öffentlicher Reden mit politischem Bezug der Grimms und von Grass ein anderes (156ff., 217ff.). Darüber hinaus greift Grass aber auch ein wichtiges Topos der Grimm-Biographik auf, wenn er das Verhältnis von Intellektuellen und ‹Volk› thematisiert. Vor diesem Hintergrund sind die Passagen zu verstehen, in denen Grass ausführlich seine Schwierigkeiten schildert, bei Wahlkampfauftritten oder Gewerkschaftsveranstaltungen das Interesse von Arbeiterinnen und Arbeitern zu gewinnen (36ff., 132ff.). In allen diesen Punkten erscheinen die gesellschaftlichen und politischen Voraussetzungen, die die Intellektuellen heute und zu Zeiten der Grimms in Deutschland vorfinden, wenn auch in der Qualität verschieden, so doch in der Struktur vergleichbar schwierig. Grass bietet damit eine Lesart der historischen Entwicklung an, die die problematischen Aspekte, negativen Tendenzen und Fehlentwicklungen in der deutschen Geschichte betont und damit einer positiv-identitätsfördernden Interpretation der Genese aktueller gesellschaftlicher Zustände entgegenläuft. Gerade diese Gegenperspektive verweist aber noch einmal eindrücklich auf die erinnerungskulturellen Bezüge der Biographien, die weit darüber hinaus gehen, Jakob und Wilhelm Grimm als historische Persönlichkeiten ins kulturelle Gedächtnis einzuschreiben. Notes 1 Zur Bestimmung und Eingrenzung von populären Biographien vgl. Porombka 122ff. Porombka nennt Synthetisierung, Intimisierung, Personalisierung, Singularisierung, Typologisierung, Anekdotisierung, Dramatisierung und Überformung als wesentliche Kennzeichen des Genres. 2 Kulturelles Gedächtnis soll hier im Sinne der Begriffsbestimmung von Jan Assmann verwendet werden, als «den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern, und -Riten, in deren ‹Pflege› sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen (vorzugsweise, aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt» (Assmann 15). 3 Als durchaus repräsentatives Beispiel sei hier auf die Formulierungen Manfred Lemmers verwiesen: «[Wir sehen] die Brüder heranwachsen, sehen ihren Sinn und ihre Beob- 18 Christoph Seifener achtung sich an das Kleine, Gewöhnliche haften, eine Haltung aus der später eine ihrer wissenschaftlichen Kardinaltugenden, die ‹Andacht zum Unbedeutenden› erwachsen sollte» (Lemmer 8). 4 In diesem Zusammenhang spielt auch das vielfältige Bildmaterial, das zahlreichen Biographien beigefügt ist, insbesondere die Zeichnungen Emil Ludwig Grimms, eine wichtige Rolle. Es trägt ohne Zweifel auch zu dem Versuch der Autoren bei, Authentizität herzustellen. 5 An dieser Stelle kann natürlich eine Verbindung zu Erkenntnissen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnis- und Erinnerungsforschung gezogen werden, die die Deutungsleistung der Gegenwart im Hinblick auf erinnerte Ereignisse der Vergangenheit betonen (vgl. Erll). 6 Das in der Biographie Albert Dunckers ebenso wie dem Werk von Carl Franke unterstellte absolute Einverständnis der Grimms mit dem wilhelminischen Kaiserreich klingt überraschenderweise in einer der jüngsten biographischen Publikationen noch einmal, nun freilich negativ konnotiert, an. Andreas Venzke geht in seiner 2012 erschienenen Biographie für Kinder davon aus, dass «das obrigkeitsstaatliche deutsche Kaiserreich […] für die Grimms bestimmt der ideale Staat gewesen» wäre (Venzke 87). Eine Meinung, die in der Biographie durch die leitmotivische Erwähnung der Ordnungsliebe, und zwar einer fast krankhaft erscheinenden Ordnungsliebe Jakob Grimms, vorbereitet wird. Im Hinblick auf die Charakterisierung Jakobs trägt die Betonung dieses Charakterzugs dazu bei, ihn als einen etwas verschrobenen, durchaus auch unsympathischen Sonderling zu karikieren; bezogen auf politische Zusammenhänge ist sie Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen Beschränktheit (18ff.). 7 In dieser Rezeptionsperspektive werden auch die Kinder- und Hausmärchen unmittelbar neben Luthers Bibelübersetzung gestellt (vgl. Franke 48). 8 Auch Duncker kann wie Franke voller Genugtuung auf die ausgleichende Gerechtigkeit der Geschichte verweisen, wenn er bemerkt, dass sich die Bibliothek König Jeromes, die Jakob in Kassel zu verwalten hatte, nun glücklich im Besitz des deutschen Kaisers befinde (Duncker 31). Dass die Berufung der Grimms durch Friedrich Wilhelm IV. als «Regierungshandlung» geschildert wird, der «fast ganz Deutschland zujauchzte», zeigt ebenfalls augenfällig, wie Duncker eine Verbindung zwischen der Politik der Hohenzollern, dem Lebensweg der Grimms und dem Weg zur nationalen Einheit herstellt (94). 9 Vgl. hierzu auch Duncker 39. 10 So betont beispielsweise Scurla ausdrücklich, dass Jakob Grimm «trotz seiner Abhängigkeit vom Landesherren […] nicht zum Fürstenknecht geworden» ist (Scurla 170; vgl. auch 101). 11 Vor allem Jakob erscheint in diesem Zusammenhang als der «edelste Slawenfreund» (Scurla 172). 12 Zitiert nach: Therese Erler. «Vorwort.» Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Hg. Therese Erler. Berlin, Weimar: Aufbau Verlag, 1969. 516. 13 Den Fürsten, das ist eine Konstante in der Darstellung Mallachows, «gelüstet» es beispielsweise ständig nach Krieg, den dann das Volk «mit Gut und Blut bezahlen» muss (vgl. Mallachow 46, 128). 14 Bezeichnend ist die Episode, in der Brentano Wilhelm Grimm zu einer gemeinsamen Reise auffordert und auf dessen Bedenken, er habe kein Geld für eine Reise, Wilhelm anbietet, ihm das Geld zu leihen, nicht etwa, ihn einzuladen. «Da lachte Clemens Brentano, der Sohn aus reichem Hause. ‹Kannst es [das Reisegeld] mir ja später wiedergeben. Sollst mal sehen, wirst viele Bücher schreiben, und die bringen immerhin etwas ein, wenn auch Lebensgeschichte und politische Großerzählung 19 nicht gerade üppige Summen›» (Mallachow 74). Somit sieht Brentano in Mallachows Text auch die wissenschaftliche Arbeit aus rein ökonomischer Perspektive. 15 Dass es sich bei den Grimms um «moderne» Individuen handelt, unterstreicht Martus immer wieder (Martus 20, 54f., 71, 151). 16 Grass wählt in einzelnen Passagen eine explizit fiktionale Vorgehensweise, die es ihm ermöglicht, die Zeitebenen von Vergangenheit und Gegenwart aufzulösen, die Brüder Grimm einerseits im wahrsten Sinne des Wortes zu vergegenwärtigen und ihnen andererseits als Erzähler leibhaftig bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und so in einen direkten Dialog mit ihnen zu treten (60, 221, 227, 355ff.). Grass unterstreicht mit dieser Vorgehensweise die dezidiert subjektive Annäherung an die Grimms, die im Text durch Formulierungen wie «so sehe ich sie [die Brüder]» (13) audrücklich markiert wird. Durch die Entgrenzung der Zeitebenen verdeutlicht Grass letztlich den auch für die anderen Biographien konstitutiven Aspekt, dass die Deutung der Lebensgeschichten, die die Biographen vornehmen, sich erst aus einem Dialog der eigenen Gegenwart mit der Vergangenheit der Biographierten ergibt. Works Cited Assmann, Jan. «Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.» Kultur und Gedächtnis. Hg. Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1998. 9-19. Duncker, Albert. Die Brüder Grimm. Kassel: Verlag von Ernst Hühn, 1885. Erll, Astrid. «Biographie und Gedächtnis.» Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Hg. Christian Klein. Stuttgart, Weimar: Metzler, 2009. 79-86. Francois, Etienne und Hagen Schulze (Hg.). Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde. München: C.H. Beck, 2009. Franke, Carl. Die Brüder Grimm. Ihr Leben und Wirken in gemeinfasslicher Weise dargestellt. Dresden und Leipzig: Verlag von Carl Reißner, 1899. Grass, Günter. Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. 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