Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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David Scrase: Wilhelm Lehmann. Biographie. Übertragung aus d. Engl. v. M. Lehmann. Mainzer Reihe N. F. 10. Göttingen: Wallstein, 2011. 438 pp. € 34,00.
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Klaus Weissenberger
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Besprechungen / Reviews 203 To be sure, the reception of the two subsequent autobiographical texts of «Trilogie der Erinnerung» (424-44), consisting of Die Box. Dunkelkammergeschichten (2008), an imagined «Selbstporträt» from the perspective of Grass’s numerous children, and Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung (2010), presumably the writer’s last prose work, was far less controversial. As the title of the latter text suggests, it is a narrative about the gargantuan task Jacob and Wilhelm Grimm engaged in when they began compiling and editing the Deutsches Wörterbuch once they had lost their professorial positions at the University of Göttingen owing to their «Verfassungspatriotismus» (442). Perhaps unsurprisingly, Grimms Wörter also includes a pronounced autobiographical component that serves Grass to look back on his activities in the political realm. Yet there was no end of polemics. Grass’s poem «Was gesagt werden muß» (first published in SüddeutscheZeitung on 4 April 2012; then included in the collection Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte, 2012) again resulted in a «Skandal sondergleichen» (450), which was fuelled, Neuhaus claims, by the «fanatischen Vernichtungswillen» (458) of the writer’s opponents, among them Durs Grünbaum. Indeed, the scandal - to which Neuhaus devotes approximately nine pages - assumed an international dimension in that the «Anti-Kriegsgedicht» (457) was perceived as a critique of Israel’s secretive atomic weapons program; the entire discussion resulted not only in the charge of Grass’s presumed anti-Semitism but also in his being officially barred from visiting Israel. Despite Neuhaus’s tendency to dismiss criticism of Grass as either excessive or caused by less than honorable motives, the biography is eminently readable and offers a wealth of pertinent information. In addition, the text is supplemented by several brief sections devoted to photos of Grass, his family, and his work. However, in view of the numerous (undocumented) quotations from Grass’s writings and those of his critics, it would have been desirable to facilitate readers’ access to the biographer’s sources by including an index of names and works cited as well as a bibliography and/ or annotations to facilitate readers’ orientation. University of North Carolina at Chapel Hill Siegfried Mews David Scrase: Wilhelm Lehmann. Biographie. Übertragung aus d. Engl. v. M. Lehmann. Mainzer Reihe N. F. 10. Göttingen: Wallstein, 2011. 438 pp. € 34,00. Wohl als Resonanz auf die 1982 begonnene und 2009 abgeschlossene Werkausgabe des Lehmannschen Oeuvres hat sich in den letzten acht bis zehn Jahren eine wissenschaftliche Lehmann-Renaissance abgezeichnet, zu der die vorliegende Biographie entscheidend beiträgt. Rein äußerlich beruht der Band, von dem der erste Teil bereits 1984 in den USA erschienen ist, auf einer Übertragung aus dem Englischen, um in dieser Form bei einem größeren deutschen Leserkreis das Interesse an Lehmann zu wecken. Vom Aufbau her beruht die Darstellung auf zwölf Kapiteln, die jeweils drei Hauptaspekte behandeln: Die konkreten Fakten von Lehmanns Lebenslauf, seine Bezie- CG_45_2_s113-208_End.indd 203 14.07.15 20: 41 204 Besprechungen / Reviews hungen zu Personen, die im menschlichen oder literarischen Bereich für ihn von Bedeutung waren, und die Analyse von Lehmanns eigener literarischer Tätigkeit. Die Erarbeitung von Lehmanns äußerer Biographie basiert sowohl auf Lehmanns autobiographischer Schrift Mühe des Anfangs von 1952, seinen Tagebucheintragungen und seiner umfangreichen Korrespondenz als auch auf zeitgenössischen Berichten und Interviews. Dadurch erhält der Leser zum einen Einblick in die kleinbürgerlichen Verhältnisse, in denen Lehmann Ende des 19. Jahrhunderts aufgewachsen ist, und in den einengenden Konformismus seiner Mutter, mit dem diese das unsolide moralische und finanzielle Vermächtnis des Vaters bekämpfen zu müssen glaubte. Zum anderen lässt die genaue Darstellung von Lehmanns äußeren Lebensumständen die Bedeutung erkennen, die vor allem sein Bruder, Moritz Heimann, Oskar Loerke und Werner Kraft für seine emotionale und literarische Entwicklung hatten, da sie einen Gegenpol zum mütterlichen Konformismus und allgemeinen Philistertum darstellten, wovon er sich zu befreien suchte. Das Gleiche gilt für seine umfangreiche Lektüre nicht nur deutscher, sondern auch besonders englischer und irischer Literatur. Außerdem kultivierte Lehmann, der zum Einzelgänger und Außenseitertum direkt prädestiniert schien, die von Scrase zurecht betonte sehr frühe Neigung, «seinem Dasein den größten Sinn zu geben […], wenn er allein durch die Natur streifte» (60). Dagegen trifft dieser Befreiungs- und Emanzipationsaspekt auf die Beziehung zu seinen Ehepartnern, wenn überhaupt, nur bedingt zu. In der Ehe mit Martha Wohlstadt, die um fünfzehn Jahre älter war, hatten sich die Partner nach wenigen Jahren auseinander gelebt; dagegen war die Ehe mit Frieda Riewerts, einer ehemaligen Schülerin, wesentlich glücklicher, obwohl Lehmann ihr gegenüber seine Ansprüche als schöpferischer Autor sehr geltend machte und seine stundenlangen Wanderungen in der Landschaft grundsätzlich ohne sie unternahm. Ähnliches gilt für seinen Beruf als Lehrer, der ihm ironischerweise als beste Verdienstmöglichkeit blieb, obwohl er als Schüler keine guten Vorbilder kennengelernt hatte und später als Lehrer besonders in den administrativen Aspekten des Lehrberufs eine Beeinträchtigung seines dichterischen Talents sah. Letztendlich ist es die poetische Versprachlichung des Naturerlebnisses, die Lehmann zu einer Selbstbestätigung verholfen hat. Deshalb ist es für die Beurteilung von Lehmanns Werk wesentlich, dass Scrase den Nachweis erbracht hat, dass sowohl Lehmanns fiktionales Werk, Romane und Gedichte, als auch das Bukolische Tagebuch autobiographische Begebenheiten zum Anlass gehabt haben, aber, was die Romane betrifft, nicht als Schlüsselromane eingestuft werden können oder, im Falle der Gedichte, als simple Naturpoesie. Gerade an dem Grad der Poetisierung der autobiographischen Vorlagen lässt sich Lehmanns dichterische Entwicklung ablesen, die in sprachmagischen Manifestationen gipfelt, für die Scrase auf T. S. Eliots Begriff «objective correlatives» verweist: «Die kulturellen Entsprechungen Wilhelm Lehmanns beschwören die mystische Zeitlosigkeit einer Einheit mit der Natur herauf. Sie sind der Beitrag des Geistes und statten die Natur mit einer bewußten Identität, mit bleibender Dauerhaftigkeit aus» (329). Allerdings vermeidet es Scrase, über diese Ebene des Referierens hinauszugehen und zumindest an einigen von Lehmanns bedeutendsten Gedichten deren Durchbruch ins Sprachschöpferische und damit das sie Auszeichnende vorzuführen. Eine ent- CG_45_2_s113-208_End.indd 204 14.07.15 20: 41 Besprechungen / Reviews 205 sprechende Sonderstellung nimmt auch das Bukolische Tagebuch als Beispiel für ein schöpfungspoetologisches Tagebuch ein. Außerdem hätten die Essays mehr als kursorische Verweise verdient, da sie nicht nur der Präzisierung von Lehmanns Wirkungsintention dienen, sondern auch die Kriterien der Kunstprosa als spezifischer literarischer Gattung erfüllen. Diese Bemerkungen sind als Anregungen für die zukünftige Lehmann-Forschung zu verstehen und schmälern keineswegs das Verdienst des Autors, mit seiner Biographie nicht nur eine Lücke in der Lehmann-Forschung zu schließen, sondern auch einen der bedeutendsten, aber in Vergessenheit geratenen deutschen Dichter des 20. Jahrhunderts ins allgemeine und wissenschaftliche Gedächtnis zu rufen. Rice University, Houston, Texas Klaus Weissenberger Katharina Mommsen: «Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen» - Goethe und die Weltkulturen. Reihe: Schriften der Goethe-Gesellschaft 75 (Ed. Jochen Golz). Göttingen: Wallstein, 2012. 480 pp. € 28,00. This volume gathers twenty-five essays by the eminent Goethe scholar Katharina Mommsen. The individual pieces are based on keynote addresses and reprints of previous publications spanning many years of the author’s study of Goethe’s relationship to the East. In them Katharina Mommsen shows the diverse ways that the poetry, religion, and art of the East became a decisive resource for poetic inspiration and cultural renewal throughout Goethe’s life. Mommsen introduces her collection with an expression of admiration for Goethe’s ability to open himself up to encounters with otherness. In this respect she draws particular attention to Goethe’s great love and emulation of Hafez when he was already sixty years old, resulting in the West-östlicher Diwan, and his equally astounding openness to Chinese culture in his late seventies and early eighties when he studied Chinese poetry and wrote the Chinesische Tageszeiten. In both cases, according to Mommsen, Goethe assumes the speaking/ writing position of a poet - the Islamic mystic or the retired Mandarin bureaucrat - situated in the other culture. Mommsen points out that Goethe’s unique respect for other cultures and religions and his eagerness to be inspired by the great artists of these cultures was in turn recognized and celebrated by many cultures. She sees this confirmed by the fact that some of Goethe’s works have been translated into numerous languages, the most translated being Werther and Faust. The volume begins with two introductory essays touching on the issue of orientalism. Mommsen briefly mentions Edward Said’s influential study but sees her contribution primarily in singling out Goethe and some other German authors, such as Wieland, Lessing, Herder, Rückert, Georg Forster, and Alexander von Humboldt, as being free of an attitude that would glorify the West and vilify the East in the service of a colonialist agenda. (See p. 45). In many of the essays in this volume, Katharina Mommsen assumes a position similar to the one she praises in Goethe. She approaches the other, non-Western, non-Christian culture with much CG_45_2_s113-208_End.indd 205 14.07.15 20: 41
