eJournals Colloquia Germanica 49/4

Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2016
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Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern: Gewalt und Naturbeherrschung in Wilhelm Raabes Erzählung “Die Innerste”

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2016
Sabine Wilke
Wilhelm Raabe wird oft als Skeptiker von Modernisierung in der deutschen Literaturgeschichte gehandelt. In letzter Zeit hat sich diese Perspektive der literarischen Modernisierungskritik auf den Realismus Raabes noch zugespitzt, indem Raabes dezidierte Kritik speziell an Umweltphänomen noch mehr ins Licht gerückt ist. Diese Tendenz, Raabes Texte als Indikatoren und Verhandlungsorte von Umweltphänomenen zu lesen, wird in diesem Aufsatz vertieft und um das Thema der Wasserregulierung ergänzt, das bisher in der Literaturwissenschaft nicht genug thematisiert wurde. Hier wird eine Interpretation vorgeschlagen, die “Die Innerste” als literarischen Kommentar auf die zeitgleichen und sich zunehmend verschnellernden Prozesse von Naturbeherrschung liest, der aber letztendlich ambivalent gegenüber seiner Thematik bleibt. Eine solche ökokritische Perspektive ergänzt die psychologische Lektüre der Texte des poetischen Realismus um den Aspekt der Umweltgeschichte, wobei die Verflechtungen von Literatur und Umwelt stärker in den Mittelpunkt rücken.
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Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern: Gewalt und Naturbeherrschung in Wilhelm Raabes Erzählung “Die Innerste” Sabine Wilke University of Washington Abstract: Wilhelm Raabe wird oft als Skeptiker von Modernisierung in der deutschen Literaturgeschichte gehandelt� In letzter Zeit hat sich diese Perspektive der literarischen Modernisierungskritik auf den Realismus Raabes noch zugespitzt, indem Raabes dezidierte Kritik speziell an Umweltphänomen noch mehr ins Licht gerückt ist� Diese Tendenz, Raabes Texte als Indikatoren und Verhandlungsorte von Umweltphänomenen zu lesen, wird in diesem Aufsatz vertieft und um das Thema der Wasserregulierung ergänzt, das bisher in der Literaturwissenschaft nicht genug thematisiert wurde� Hier wird eine Interpretation vorgeschlagen, die “Die Innerste” als literarischen Kommentar auf die zeitgleichen und sich zunehmend verschnellernden Prozesse von Naturbeherrschung liest, der aber letztendlich ambivalent gegenüber seiner Thematik bleibt� Eine solche ökokritische Perspektive ergänzt die psychologische Lektüre der Texte des poetischen Realismus um den Aspekt der Umweltgeschichte, wobei die Verflechtungen von Literatur und Umwelt stärker in den Mittelpunkt rücken� Keywords: ecocriticism, modernization, realism, environmental history, water Wilhelm Raabe wird oft als Skeptiker von Modernisierung in der deutschen Literaturgeschichte gehandelt (Göttsche, Kropp, Parr 287 ff�)� Mit recht, denn seine Romane und Erzählungen sind voller Charaktere, deren Lebenswelten zusammenbrechen und den moderneren Technologien weichen müssen, zum Beispiel der Müller Pfister in Pfisters Mühle , der seine Müllersaxt von der Wand nimmt und seinen Beruf unter dem Druck der industriellen Bachverschmutzung durch die nahgelegene Zuckerfabrik aufgibt� In letzter Zeit hat sich diese Perspektive 332 Sabine Wilke der literarischen Modernisierungskritik auf den Realismus Raabes noch zugespitzt, indem Raabes dezidierte Kritik speziell an Umweltphänomen noch mehr ins Licht gerückt ist, etwa am Beispiel der eben erwähnten Verschmutzung von Gewässern durch chemische Abfälle in Pfisters Mühle (Wanning 193 ff�; Wilke, “Pollution” 195 ff�) oder am Beispiel des Ausßus touristischer Infrastrukturen im Harz in Unruhige Gäste (Wilke, “Tourismus” 153)� Diese Tendenz, Raabes Texte als Indikatoren und Verhandlungsorte von Umweltphänomenen zu lesen, möchte ich in diesem Aufsatz, der sich mit der Erzählung “Die Innerste” beschäftigt, vertiefen und um das Thema der Wasserregulierung ergänzen, das bisher in der Literaturwissenschaft nicht genug thematisiert und problematisiert wurde� Bei der Innerste handelt es sich um einen Nebenfluss der Leine in Niedersachsen, der im neunzehnten Jahrhundert im Zuge der immer systematischeren Beherrschung von Natur ermöglicht durch moderne Technologien, die der Umwelthistoriker David Blackbourne anhand der Regulierung des Rheins beispielhaft beschrieben hat, begradigt und damit reguliert wurde (Blackbourne 15 ff�)� Was speziell die Situation der Innerste und ihrer Herkunft im Harz und den damit verbundenen Problemen mit Sedimentierung anbelangt, kann man detailliert bei Wikipedia mit Bezug auf zeitgenössische Umweltprobleme erfahren: An der Quelle ist die Innerste zunächst ein gering belasteter Fluss (Gewässergüteklasse (GWK) I-II), im weiteren Verlauf erreicht sie jedoch eine kritische Belastung (GWK II-III)� Aus den Halden des Erzbergbaus im Harz und aus den Rauchgasen bei der Verhüttung stammen Schwermetalle, die sich in den Sedimenten der Innerste ablagern, die Konzentration von Cadmium, Blei und Zink ist dort stark erhöht� Zum Schutz der Flussauen vor den Schwermetallen wurde daher die Innerste unterhalb von Langelsheim eingedeicht� Die Einleitung nicht oder unzureichend geklärter Abwässer sorgt bereits oberhalb von Hildesheim für übermäßige Schaumbildung und stark riechbare Verschmutzung, was durch die geringeren Anforderungen für kleinere Klärwerke verursacht wird� Vom Oberlauf bis Holle finden sich entlang der Innerste-Ufer seltene Schwermetallrasen� (“Innerste”) Zu den Problemen von Sedimentierung mit Schwermetallen kommt der Bau der Innerstetalsperre in den sechziger Jahren sowie anhaltende Hochwasserprobleme, die letztendlich zum Anlegen von Naturschutzgebieten in der jüngsten Zeit geführt hat: Als Naturschutzgebiet ausgewiesen wurde 2008 das NSG-BR 131 “Mittleres Innerstetal mit Kanstein”� Dieses liegt im Naturraum Innerste-Bergland und erstreckt sich auf das Innerstetal von Langelsheim am Nordharzrand bis Groß Düngen und hat eine Fläche Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern 333 von etwa 563 ha� Das NSG umfasst den Flusslauf der Innerste und seine Aue sowie natürliche Steilhänge und Hochebenenflächen des Kanstein bei Langelsheim� Die Innerste weist hier überwiegend den dynamischen und verzweigten Lauf eines typischen Harzvorlandgewässers auf� Auwald-Fragmente, Uferstaudenfluren und zum Teil gut ausgebildete Flussschotter-Magerrasen sowie sekundäre Teiche und Gräben prägen die Aue, auf dem Kanstein wachsen Kalk-Magerrasen und Blaugrasrasen� (“Innerste”) Die ältere Forschung zu diesem Text hat diesen Themenkomplex der Umweltbelastung der Innerste zumeist übergangen bzw� als reinen Aberglauben abgetan, der irgendwie in den Text Einlass gefunden hat und in erster Linie zur plastischeren Gestaltung des Kriegsgeschehens diene (Spiro 200)� In der Tat spielt die Geschichte vor dem Hintergrund des Siebenjährigen Krieges um 1760, der auf brutale Weise Land und Leute dezimiert hat—also vor mehr als einhundert Jahren vor der Zeit der Entstehung der Erzählung 1876� Auch was diesen Aspekt der militärischen Verwüstung von Land und Leuten anbetrifft, finden sich in Raabes Text etliche Passagen, die immer wieder gerade auch auf den Umweltaspekt der kriegerischen Auseinandersetzungen hinweisen und das Erzählen der Vorgänge auf der Figurenebene erweitern und ergänzen, beispielsweise wenn von der Zeit seit der Schlacht bei Lutter am Barenberge die Rede ist, nachdem “die Leine und die Ihme […], viel zu viele niedergeschlagene Wälder und verbrannte Wohnstätten der Menschen an ihrem Wege [sahen], um bleiben zu können, was und wie sie waren” (Raabe, “Die Innerste” 110)� Ich möchte von dem Zugriff der neueren Forschung auf diesen Text als einer Inszenierung der Problematisierung von und poetischen Reflexion auf das Projekt des realistischen Erzählens ausgehend eine Interpretation vorschlagen, die “Die Innerste” als literarischen Kommentar auf die zeitgleichen und sich zunehmend verschnellernden Prozesse von Naturbeherrschung liest, der letztendlich ambivalent gegenüber seiner Thematik bleibt� Die historisch reale Bekämpfung der Wildheit des Flusses, die in der Zeit der Erzählung erfolgt, muss in ihrer Gewaltsamkeit dem Text abgerungen werden, der diesen Prozess eher tendentiell absegnet und zwar dadurch, dass der Regulierungsprozess zumindest kurzfristig als “Erfolgsgeschichte” markiert wird und der Modernisierung und ihrer Folgen damit stillschweigend applaudiert wird� Dass die reale Umweltgeschichte aber immer wieder in den Text drängt, zeugt gleichzeitig aber auch von der Skepsis, die der literarische Text—und damit auch sein Autor und Erzähler—thematisch und poetologisch dem Erzählen der Gewalt von Naturbeherrschung entgegenbringt� Eine solche ökokritische Perspektive ergänzt die psychologische Lektüre der Texte des poetischen Realismus um den Aspekt der Umweltgeschichte, wobei die Verflechtungen von Literatur und Umwelt stärker in den Mittelpunkt rücken� 334 Sabine Wilke Benno von Wiese hatte noch die Flussbegradigung als notwendig und sogar als begrüßenswert gewertet: “Mit dem Erlöschen des Dämonisch-Bösen in der Menschenwelt- - wenigstens im Bereich dieser Erzählung- - ist zugleich auch die dämonische Kraft des Flusses gebrochen” (Wiese 214)� Das hat, nach Wiese zu urteilen, sein Gutes, denn nun kann sowohl die Menschenwelt wie auch die Umwelt aufatmen, denn alle bösen Geister sind von da ab erfolgreich gebannt und können die guten und ehrlichen Menschen, die in den Geschichten agieren, nicht mehr stören� Die Modernisierung muss voranschreiten als Projekt des Fortschritts, egal, was für Opfer dabei verlangt werden� Diese Opfer sind einfach notwendig� Raabe ist aber der Schriftsteller des späten neunzehnten Jahrhunderts, der mit großer Akribie immer wieder gerade diese Opfer literarisch detailliert beschreibt� Ob er sie persönlich als notwendigen Teil von Modernisierung angesehen hat, mögen Biographen entscheiden� Die Ebene des literarischen Textes lässt auf jeden Fall die Möglichkeit offen, auf den Prozess der zunehmenden Naturbeherrschung kritisch zu reflektieren und die Verwicklungen der Poetologie in diesen Prozess näher zu untersuchen� In der Literarisierung der Geschichte des Flusses versteckt sich, so die These hier, die Möglichkeit, den Text gegen den Strich zu lesen, und zwar nicht als die Geschichte von Verführung und Tod (edler) Figuren durch (böse) Naturgeister (die Herausgeber der Braunschweiger Ausgabe Butzmann/ Oppermann 493), sondern als Geschichte von Fesselung und Tod der Natur durch den Menschen� Florian Krobb hat in seiner Interpretation der “Innerste” bereits das Thema der Flussregulierung direkt angesprochen und den Aberglauben als Ausdrucksform für Umweltphänomene interpretiert (95), seine These aber nicht weiter mit Lektüre und Argumenten unterfüttert� Das möchte ich hier nachliefern und um die wichtige Ebene der Verknüpfung von Poetologie und Umweltwissen erweitern in einer Interpretation der Erzählung, die die psychologische Ebene der Figurendarstellung mit der ökokritischen Perspektive auf Literatur und Umwelt ergänzt� Dadurch wird unser Blick auf diese Erzählung des poetischen Realismus komplexer, weil das literarische Umweltwissen hervortritt und die psychologische Ebene konterkariert� Raabes Stoff speist sich aus einer Vielzahl von Anregungen, die teils aus Raabes eigener Lektüre und teils aus persönlichen Erlebnissen stammen� Die Herausgeber der Braunschweiger Ausgabe, Hans Butzmann und Hans Oppermann, sprechen in ihrem Kommentar zum Text von dem Sagenmaterial, besonders von den Naturgeistern, die den Stoff ausmachen (Butzmann/ Oppermann 493—522)� Günther Witschel nennt als mögliche weitere Quellen Raabes Studium des Neuen Hannoverischen Magazins von 1800—1803, also historischen Archivmaterials, sowie die Lektüre von Johann Wilhelm von Archenholtz’ Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756 bis 1763 � Darin beschreibt Archenholtz Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern 335 eindringlich diesen Krieg, in dem sich Preussen als einflussreichste politische Macht letztendlich durchgesetzt hat� Hinzu käme Raabes Lektüre von Goethes Wilhelm Meister sowie auch Raabes Aufenthalt im Harz im Jahr 1874 (Witschel 4)� Genau diese Quellenstudien entsprechen auch den einzelnen Erzählsträngen: einmal die Verschmutzung des Wassers, dann die Geschichte der Flussregulierung, der kriegerische Hintergrund, und letztlich das Sagenmotiv vom Fluss, der nach etwas Lebendigem verlangt� Dabei ist von der Verschmutzung der Innerste eigentlich nur in dem ersten Rahmenkapitel die Rede, in dem die Erzählsituation ausgebreitet wird� Der Erzähler nennt die Geschichte eine “wahre Geschichte, so wie sie erzählt wird” (Raabe, “Die Innerste” 103)� Mit anderen Worten: so, wie sie erzählt wird, ist sie wahr, nicht an und für sich� Nur erzählte Begebenheiten können wahr sein, was auf Raabes Überzeugung von dem Konstruktionscharakter jeglichen Geschichtssinns hindeutet (Krobb 92)� Erzählt wird die Geschichte als Rahmen- und Binnengeschichte, wobei der Rahmen die Umweltproblematik offen zur Schau stellt, wogegen die Binnengeschichte(n) sich eher an den Figurenperspektiven orientieren� Vorgestellt wird die Innerste als ein “Fräulein,” so wie ihre Freundinnen Leine und Ihme, also noch unbegradigte Flüsse, die alle weiblich kodiert sind, so wie es die Tradition vorsieht (Böschenstein 103)� Das Fräulein sei eine “arme herzynische Najade oder Nymphe,” die verderbt, frech, boshaft, scheußlich, wild, heimtückisch und sogar blutdürstig sei (Raabe, “Die Innerste” 103)� Die Analogie von Fluss und Fräulein wird in der Charakterbeschreibung der Innerste stringent durchgehalten, die damit aber auch erzählerische Handlungskraft erhält: Von ihrem Ursprunge mitten im wilden Harzgebirge an bis zu ihrer Ausmündung im Amt von Rethen verschlechtert sich ihr Charakter von Schritt zu Schritt, und alle Glocken und alle Pfaffengesänge von Hildesheim treiben ihr die bösen Teufel nicht wieder aus� […] Selten aber auch geriet ein unschuldig hellblickend, klaräugig Bergwässerlein und Quellnixlein sofort bei seinem Austritt aus dem dunklen Schoß der Erde in so schmutzige Hände als diese arme herzynische Najade oder Nymphe� […] Mit dem Auswurfe des Harzes, dem verderblichen Puchsande geschwängert, bleiben ihre Begierden unordentlich und wird sie von Zeit zu Zeit von unheimlichen Gelüsten ergriffen, und dann schreit sie� (103—4) Die noch unbezähmte Natur, die hier als wildes Fräulein mit unheimlichen Gelüsten dargestellt wird, ist allerdings keinesfalls eine Apotheose auf noch unberührte Natur� Das durchkreuzt die Bemerkung des Erzählers von dem verderblichen Puchsand, der das Fräulein “schwängert�” Dieser verderbliche Puchsand ist nämlich das Resultat von frühindistrieller Verschmutzung� Martin Stern hat hier hisorisch recherschiert und berichtet: 336 Sabine Wilke 1760 sind es die vielzuvielen sogenannten Pochwerke, welche im bodenschätzereichen Harzrandgebiet die Innerste verunreinigen; jetzt, 1874, beim zweiten großen Modernisierungsschub der durch die Reparations-Milliarden angeheizten und überhitzten Gründerjahre, ist es die Hochindustriealisierung, welche die Flüsse-- wie bald auch die Luft-- verpestet� (13) Raabes Erzähler blickt also aus der Perspektive der um ein wesentliches verschlimmerten Umweltbelastung des späten neunzehnten Jahrhundert auf die ersten Anzeichen von Verschmutzung im achtzehnten Jahrhundert zurück und verknüpft sie mit dem Sagenmotiv, allerdings in einer kausalen Verbindung: die Innerste schreit, weil sie als Geschwängerte ihren unordentlichen Gelüsten Freiheit schaffen muss� Es ist die Umweltbelastung, die als Kern des Sagenstoffs fungiert, die dem Motiv der jährlichen Forderung eines lebenden Opfers und letztendlich auch ihrem Schreien unterliegt� Mythischer Stoff und Motivgeschichte verdecken hier den historischen Wahrheitsgehalt der Geschichte, eine poetologische Entscheidung, die Interpreten dieser Geschichte zu dem Trugschluss geführt hat, der Text ließe die Entscheidung offen, ob der Fluß schreie “aus elementarer Wildheit oder infolge von frühindustrieller Verschmutzung” (Schrader 313)� Die Begierden bleiben durch die Verschmutzung unordentlich-- waren also vorher schon manifest -, aber die unheimlichen Gelüste, die zum Schreien treiben, sind die Konsequenz davon� Genau dieses Schreien wird durch das Erzählen der Geschichte zum Stoff von Aberglauben degradiert, der eine vergangene, heute nicht mehr geltende Wahrheit illustriert� Aus der Retrospektive summiert der Erzähler am Schluss: Die Innerste ist reguliert worden wie die Ihme und die Leine; sie hat zwar auch jetzt noch ihre Nücken und Tücken und verlangt dann und wann wohl ein Lebendiges zum Fraß, aber daß sie danach schreie, glaubt heute kein Mensch mehr� (195) Die regulierte Innerste ist von einem wilden schwangeren Fräulein zu einem gierigen Tier geworden, das einem veralteten Wissen entstammt, das zur Zeit der Erzählung nicht mehr gilt und von daher lediglich als Sagenstoff aus alten Zeiten fungieren kann� Interessant ist nun, dass auf der Figurenebene die Frage, ob dieses alte Wissen noch gelte, unentschieden bleibt� Martin Stern behauptet sogar, “[d]ie Figuren wie auch die Leser sollen im Unklaren darüber verbleiben, ob naturmagischer Spuk oder nur menschliches Verhalten oder nur physikalische Phänomene als Gründe für das Geschehen anzunehmen sind” (4)� Anhand des Motiv des Schreiens kann man das exemplarisch nachvollziehen: handelt es sich nun um die Darstellung einer sagenhaften Anekdote oder um eine psychologische Wahrheit oder um eine noch ganz andere symbolische Ebene? Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern 337 Tatsächlich wird in der Geschichte dreimal von einem Schrei gesprochen� Der erste Schrei fällt bei der Verlobungsfeier des Müllersohnes Albrecht Bodenhagen mit Lieschen Papenberg und er wird an dieser Stelle noch mit sagenhaften Elementen verwoben: Der alte Müller, der mit aufgestemmten Armen, das Kinn in der Hand, behaglich nickend zugehorcht hatte, fuhr mit einem Male zusammen, hielt sich mit beiden Händen am Tische und tat einen Ruck an demselben, daß die Krüge und Gläser auf ihm erklirrten und übereinanderfielen� Er stand auf den Füßen, aber nicht fest; er horchte� […] “Wer will nun noch dagegen reden? Wollt ihr Euch nun auf Eure eigenen Ohren verlassen, Gevatter Schulze, oder im kommenden Sommer wieder auf Euren Göttingenschen Hofrat? Wer hat es eben nicht gehört?!” (136) Nur der alte Müller hört den Schrei, weder “die Weiber rundum” noch der am Ofen schlafende Hund� Der zweite Schrei, den der alte Müller hört, kann psychologisch als Hassschrei Doris Radebreckers aufgefasst werden, die sich gegen die Verbindung von Bodenhagen mit Papenberg aufbegehrt; so zumindest empfindet es der Korporal Brand, der zu Bodenhagen meint: “Die Innerste hat wohl nicht geschrien, wie der Alte vermeinte; aber die Doris da oben an der Innerste könnte wohl gelacht haben� Was meinst du, Abrecht? ” (141)� Der dritte und letzte Schrei fällt dann während der Weihnachtsfeier nach dem Eindringen der drei französischen Soldaten in die Mühle, der möglicherweise den Kampf des Bösen, Wilden und der Unordnung gegen die Ordnung symbolisch darstellen könnte (Witschel 12—13): Auch der Meister Bodenhagen und der Knappe Fritz sprangen jetzt hervor aus ihrer Verschanzung, und es wurde eine Verfolgung durch den Garten gegen die Innerste zu� Noch ein kurzes Ringen fand auf dem Windeise des übergetretenen Flusses statt, und da ertönte zum letzten Male, aber auch am markdurchdringendsten, der schlimme, gespenstische Schrei: es ging ein Knattern durch das Eis-- und das Wasser bekam doch seinen Willen in diesem Jahre siebzehnhundertsechzig: unter dem Eise weg trieb eine Wasserleiche abwärts gegen die Stadt Sarstedt zu, ist jedoch erst im März des nächsten Jahres, als der Tauwind blies, zutage gekommen� (183) Eine symbolische Lektüre würde allerdings die Umweltperspektive ganz in den Hintergrund drängen und auf der Figurenebene verhaftet bleiben� Eine größere Beachtung der Umweltthematik entgegen der Intentionen von Figuren und Erzähler kann eine psychologische oder symbolische Interpretation des Schreis in eine Lektüre verwandeln, die auf die realen Verschmutzungsprozesse zurückführt, die im poetischen Realismus nur indirekt zum Ausdruck kommen� Was das anbetrifft, hat Moritz Baßler sogar von einem Einbruch von Romantik in die realistische Erzählweise dieser Geschichte gesprochen: 338 Sabine Wilke Raabe baut in der Folge die topische Allegorie (Fluss als Frau) aus, indem er von Schwängern und Begierden spricht, und entautomatisiert sie damit gewissermaßen auch-- der Text bleibt sozusagen metaphorisch kontaminiert� Das Schreiben, als Teil dieses allegorischen frames eingeführt, stellt sich später als ein auf den Fluss bezogener Aberglaube heraus� Dieser aber wird, und das ist das eigentlich Erstaunliche, auf beiden Erzählebenen beglaubigt, vom auktorialen Erzähler selbst und in Bezug auf den jungen Müller, die Hauptfigur dieser Diegese� Ein Fluss, der schreit und dann ein Todesopfer fordert, ist aber, als Unheimliches, kein realistischer Erzählgegenstand� Als sin- Zeichen würde er eine Welt voraussetzen, in der das Phantastische real ist, und also als legi- Zeichen auf die Wahrheit des Wunderbaren verweisen� Das wäre-- verfahrenshistorisch verortet-- Romantik� (Baßler 226—27) 1 Der Grund für eine solche romantische Verfahrensweise liegt in der Ambivalenz des realistischen Textes gegenüber der Erkenntnis, dass seinen Stoffen-- hier der Erzählung von den verheerenden Kriegsfolgen und fortschreitenden Prozessen von Naturbeherrschung anhand des Beispiels von Flussregulierungen-- und damit auch ihren sagenhaften Manifestationen ein Umweltwissen zugrunde liegt, das von Gewalt zeugt, sich darüber aber so direkt nicht äußern will und kann und auf der Figurenebene wie auch auf der Erzählebene sprachlich-symbolisch umgeformt wird durch die Verfahren von Metaphorisierung und Metonymisierung� Baßler geht diesen Prozessen kritisch auf die Spur, vor allem was den letzten gespenstischen Schrei der Innerste beim Kampf des Korporals Brand mit Doris Radebrecker auf dem Eis anbetrifft: Das Opfer der Innerste ist also sie selbst in ihrer unheimlichen Doppelstruktur� Mit einer Gewaltsamkeit, die durchaus untypisch für Raabe und den Poetischen Realismus insgesamt ist, hebt die tödliche Vereinigung von Frau und Fluss die metaphorische Konstruktion auf: Geschrien hat eine Frau, und die Innerste ist nur ein Fluß� Das Unheimliche ist damit metonymisch entmachtet und der Realismus gerettet� Daß die Innerste “schreie, glaubt heute kein Mensch mehr”, so lauten die letzten Worte der Novelle� (230) Für den Realismus gilt, lieber den Stoff ins Psychologische umzuformen-- ein erzähltechnisches Verfahren, das aus feministischer Perspektive von Irmgard Roebling kritisch bewertet wurde (161)-- als der Gewalt der kommenden Flussregulierung und der realen Verschmutzung im Zeitalter der Hochindustriealisierung ins Auge zu sehen� Die Literatur transportiert hier Vermeidungsstrategien, um allerdings über die Hintertreppe der poetologischen Reflexion diese Strategien wieder in Frage zu stellen� Gleich zu Beginn der Binnenerzählung, im zweiten Kapitel, in dem Albrecht Bodenhagen die Mühle verlässt und Soldat im Siebenjährigen Krieg wird, ist Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern 339 von brutalen Kriegsschlachten die Rede� Die Brutalität dieser kriegerischen Auseinandersetzungen wird mit einer fast modernen psychologischen Einsicht begründet, und zwar mit der menschlichen Lust an Grausamkeiten� Diese Lust sei derart intensiv, dass sie sogar auch die Naturgeister verändere und sie boshaft werden ließe� Von der allgemeinen Einstellung zum Bösen heisst es in auktorialem Ton: Schon lange ging man nicht mehr mit bloßem Grusel oder gar einem behaglichen Lächeln zu Bett, wenn man am Winterabend hinter dem warmen Ofen ein neues Histörchen von [dem Dreißigjährigen Kriege] vernommen hatte� Seit der Schlacht bei Lutter am Barenberge, wo die Linguisten den Dänenkönig klopften und sein Heer ausreuteten, und gar seit der Schwedenzeit hatte sich das gründlich zum Schlimmen und Bösen geändert� Mit der Menschennatur verwandelte sich in jener greulichen Zeit auch der Sinn der Geister in allen Elementen� Wo sie schalkhaft gewesen waren, wurden sie nun boshaft� Ihr spaßig Lachen wurde zu hämischem Grinsen, und wie der Mensch fanden auch die Geister nunmehr ihre Lust an der Grausamkeit, dem Elend, dem Verderben� (110) Die Geister spiegeln somit die menschliche Psyche� In dieser sagenhaften Formulierung steckt aber im Kern die Einsicht, dass der Mensch in die Natur eingreift und dass diese Eingriffe sich nicht zum Guten gewendet haben, obwohl das Projekt der Flussregulierung gerade das Gegenteil erwirken sollte: die Natur soll gezähmt und für den Menschen regulierbar werden� Die wilde, “boshafte” Natur der unbegradigten Flüsse soll bezwungen werden, damit die Natur den Menschen untertan ist und von ihnen für ihre Zwecke besser genutzt werden kann� Die Sage enthält somit ein Umweltwissen, dass diese naïve Annahme auf den Kopf stellt und die Natur als Opfer und Spiegel von menschlicher Grausamkeit darstellt� Der Effekt des brutalen und zerstörerischen Krieges wird gleich im folgenden dritten Kapitel weiter auf seine Umweltaspekte untersucht, wo zunächst von der Weihnachtsfeier im engsten Familienkreis der Bodenhagens die Rede ist: Meister Christian Bodenhagen in der Mühle an der Innerste nahm keinen andern an seiner Statt an� Er hatte ja seinen Sohn zurück und konnte ihm aufladen, was ihm beliebte; und Vater, Mutter und Kind waren und blieben allein und feierten Weihnachten im engsten Familienkreise� Man hat diesmal aber nicht gesehen, daß sie einen Tannenbaum mit goldenen Äpfeln und Nüssen behängten und mit Lichtern besteckten� (118) Gleich im nächsten Satz erfahren die Leser allerding, dass “der ganze Torgauer Wald die Elbe hinunter nach Hamburg und durch des Obersten Colignons Werbetaschen so nach und nach in die Taschen von sechzigtausend neuen Rekruten” floss (118): 340 Sabine Wilke Und was an gutem Holz in den Lagern von Dresden, Freiberg und Dippoldiswalde in den Brandhütten der Österreicher und Preußen in Rauch aufging während des harten Winters, ist von der gütigen Mutter Natur auch erst lange Zeit nachher ersetzt worden� (118) Der Erzähler sieht also den Krieg als strukturellen Faktor in dem ökonomischen System einer Holzwirtschaft, die nicht nachhaltig angelegt ist und in der die menschliche Lust auf Grausamkeit nicht nur den Kriegsgegner trifft, sondern auch die betroffene Natur, und damit die Landschaft massiv verändert und vom Menschen umgestaltet wird (Mauch 22—30)� Die Frage ist, was die Funktion des Erzählstrangs um den Korporal Jochen Brand ist, Bodenhagens kriegsvorgesetzten Unteroffizier, der im vierten Kapitel bei den Bodenhagens auftaucht, dann im fünften Kapitel die Geschichte von der Sägemühle Radebrecker und dem Schicksal von Doris Radebrecker erzählt? Genau an diesem Punkt wird die Sage von der Innerste in die Binnengeschichte eingeführt und damit effektiv das Erzählen von dem zerstörerischen Element des Krieges auf die allegorische Fluss/ Frau Analogie umgelenkt� “Hm, die Innerste! ” erwidert Brand, “[s]ie sagen, daß die Innerste dann und wann schreie und dann jedesmal ein Lebendiges für ihren Hunger verlange” (Raabe, “Die Innerste” 130), ohne den Sagenstoff weiter zu kommentieren� Stattdessen betrachtet er lieber Bodenhagens Verlobte� Es war wahrlich ein bildsauberes Mädchen, und es stand zierlich in seinem Sonntagsstaat, und es war, als ob ein fröhlicher Schein von ihm ausgehe in der grauen Umgebung an dem trüben Februartage; die Innerste aber spiegelte nicht das hübsche, zierlich Bildnis wieder, sie kroch schlammig und heimtückisch hin, mürbe, schmutzige, schwarze Eisstücke treibend� (131) Dass Lieschen Papenberg zwar bildhübsch ist, sich aber nicht im Wasser der Innerste spiegelt, liegt von daher nicht so sehr an ihr oder ist Konsequenz irgendeiner symbolischen Handlung, sondern an der ernormen Verschmutzung, die den Fluss schlammig und besonders “heimtückisch” macht, wobei die junge Braut fast vom Schmutzwasser verschlungen wird: Und plötzlich regte sich der Stamm, auf welchem die junge Braut stand� Fort und fort hatte die Innerste unter ihm genagt, und er sank tiefer gegen ihren Spiegel, und sie verschlang ihn jetzt, daß nur der allerletzte Wurzelstumpf noch vorragte� Mit einem Schreckensschrei sprang das Mädchen von diesem hinab und auf festen Boden; auch die beiden Männer am Zaun hatten einen Angstruf ausgestoßen und eilten rasch durch den Garten nach dem Mühlstege, der kommenden Freundschaft entgegen� “Da hättest du mich beihnahe aus der Innerste auffischen müssen! Weshalb holtest du mich auch nicht herüber, Albrecht? ” rief die junge Braut schmollend� Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern 341 “Die Innerste ist eine Canaille, Junger Papenberg! ” sagte der Korporal Brand […]� (131—32) Dabei ist es gerade der Korporal Brand, der im sechsten Kapitel die Allegorie von Fluss und Frau als Interpretationsrahmen der Handlung um die Innerste vorschlägt und Albrecht rät, die traute Idylle des beschaulichen Heims zu verlassen, bevor es zu spät ist, und seiner wahren Begierde zu folgen� “Bleib draußen! Geh nicht wieder in das Haus zur Freundschaft zurück� […] Der Alte ruiniert dich, die Freundschaft ruiniert dich, und die Jungfer Papenberg ruiniert dich allermeist� Die Innerste aber holt dich bei guter Gelegenheit einmal wirklich, und die Freundschaft und Verwandtschaft wird dir keine Stange hinhalten, um dich aufs Trockene zu holen� […] [Die Armee] ist der eine Weg aus deinem Jammer; der andere aber geht hier am Bache hinauf, immer den Bergen zu� Schleich dich zurück nach der Buschmühle, grüße Doris Radebrecker von mir und bestelle ihr, sie solle dir schon um meinetwillen den Hals nicht umdrehen�” (142—43) Allerdings erhält er von dem Erzähler Unterstützung in dieser allegorischen Interpretation des Geschehens, der gleich im folgenden siebten Kapitel die Sage von der Innerste noch einmal wiederholt und diesmal sogar noch weiter ausschmückt und mit grausamen Details unterfüttert: Wenn das Wasser, die Innerste, geschrieen hat, so will sie ihren Willen haben, und wehe! wenn sie den nicht kriegt� Ein lebendiges Landtier fordert sie für ihren gierigen Hunger, und am liebsten ist ihr ein schwarzes Huhn; weshalb, das weiss man nicht� Bekommt sie ihren Willen nicht in Zeit von vierundzwanzig Stunden, wird ihr das Huhn nicht mit gebundenen Füßen und Flügeln in den Rachen geworfen, so hilft sie sich selber� Sie versteht es, sich selber zu helfen, und holt sich einen Menschen-- ohne Gnade und Gegenwehr eines Menschen! -- , und zwar noch in dem nämlichen Jahre� Manchmal wartet sie heimtückisch boshaft bis in die letzte Stunde; aber sie erhascht ihre Opfer, und sollte es auch erst in der letzten Minute des letzten Dezembertages geschehen� (146)� Zu der Charakterzeichnung der grausamen Boshaftigkeit der Innerste kommt noch Handlungsbereitschaft mit Intentionalität hinzu, die der Natur im Kern dieses Sagenstoffes zugeschrieben wird� Dass es aber letztendlich der Korporal Brand selber ist, der diesem gierigen Hunger der Innerste zum Jahresende am Ende der Geschichte zum Opfer wird, leitet sich konsequent ab aus meiner These von der Ambivalenz des realistischen Erzählens gegenüber seiner Umweltthematik� Die Handlungskraft von Natur wird im Sagenstoff auf das Verschlingen von Opfern reduziert, was die eigentliche Kausalität von menschlicher Grausamkeit und Naturzerstörung geschickt verschleiert� 342 Sabine Wilke Interessant und für unsere Zusammenhänge ausschlaggebend ist der Hinweis der Herausgeber, dass die Rivalität der beiden Hauptfiguren Bodenhagen und Brand, was ihre Beziehung zu Doris Radebrecker anbelangt, die in der ersten Fassung noch als zentrales Motiv die Erzählung dominiert, später von Raabe abgeschwächt wurde (493 ff�), was zum Teil den weiteren Handlungsverlauf erklärt: Brand geht zur Mühle und versucht Doris auszureden, dass sie sich an Bodenhagen rächt (167)� Doris ist aber zu keinem Einlenken zu bewegen� Bodenhagen hätte sie damals heiraten sollen, jetzt soll er die Rechnung bezahlen, und Doris schickt Brand fort mit der Drohung: “ihr sollt mich nicht umsonst die Innerste nennen! ” (168)� Da stieß Doris Radebrecker einen Schrei aus, der auch ein Geschluchz war� “Was habe ich denn mit euch ? Was habe ich mit dir, Jochen Brand? Mit dem armen Tropf, dem Weichmaul, dem blöden Schäfer, der den tollen Bodenhagen spielte, hab ich’s� Was weisst du von mir und ihm? -- Er hat mehr gekriegt, als ihr anderen alle, und es war eine Zeit, da hätte er mich wohl zu einem lieben, guten Weibe machen können! Und jetzo soll er die Rechnung zahlen, der Müller von Sarstedt, und ihr-- ihr sollt mich nicht umsonst die Innerste nennen! ” (168) Die Rivalität zwischen den beiden Männern, was ihre Beziehung zu Doris Radebrecker anbelangt, wird zwar auf der Figurenebene und als Hauptmotif der Erzählung literarisch abgeschwächt, was uns vor einer ins Psychologische gehobenen Interpretation des Handlungsgeschehens bewahrt, aber die Fluss/ Frau Allegorie des weiteren Handlungsverlaufs wird dadurch verfestigt� Zwar drängen die Erzählungen des Kriegsgeschehens immer wieder in die Geschichte in Gestalt von vandalierenden französischen Soldaten oder Gesindel, das sich zwischen den Heeren herumtreibt, ein (190)� Auch die Natur meldet sich wieder, indem der Fluss bedrohlich anschwillt, die Sägemühle ruiniert und den Mühlgarten überschwemmt: Greulich wälzte sich den ganzen November durch die trübe Flut in das Hildesheimische, und manchen Ortes bekam mehr als ein braver Mann Gelegenheit, sich ein Lied von den zeitgenössischen Poeten zu verdienen, kriegte jedoch, soviel uns bewußt ist, keines� Auch die Mühle zwischen Groß-Förste und Sarstedt hatte ihre liebe Not, sich der bösen, schlammigen Strudel zu erwehren; und was man an Tischen und Bänken und sonst dergleichen auffing an dem Wehr, damit hätte man beinahe einen vollkommenen Haushalt einrichten können� (177) Aber weder die Ebene der politischen Geschichte noch die der Umweltgeschichte können sich letztendlich auf der Figurenebene als Wahrheit und als Wissen durchsetzen� Stattdessen treibt eine kreischende Frauenstimme die vandalierenden Kerle an, bricht durch das Eis und eine Frauenleiche wird gefunden� Brands Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern 343 Erklärung ist, wie schon vorher, psychologischer Natur: “es war unsere Doris, mit der ich mich auf dem Eise zerrte! ” (194) ruft er Albrecht zu als er nach einem Messerstoß im Sterben liegt� Geschichte und Natur äußern sich in diesem Text nur indirekt durch die Figuren vermittelt, oft in Form von mythischen Sagenwesen, was die Verfangenheit des realistischen Erzählens in einer mythischen Naturkonzeption zeigt� Raabes Quelle, die “Bemerkungen für Badende” aus dem Neuen Hannöverischen Magazin spricht noch von jenen Mittelwesen, “an deren Existenz nicht ohne Gefahr zu zweifeln sei” (Stern 17)� Die Wahrheit, die in dieser Quelle eingeschrieben ist, zeugt aber von einem Umweltwissen, das sich gegen die Tendenz der realistischen Psychologisierung und den symbolischen Interpretationsrahmen behauptet, und zwar durch die Verdoppelungen und metaphorischen Kontaminationen, die dem Text eigen sind: Schmutz und Verschmutzung belasten die Thematik und verweisen auf die Gewalt der bevorstehenden Flussregulierung� Baßler hat dieses Textverfahren als eine konsequente poetische Überkodierung bezeichnet: “Überall scheint verborgene Bedeutung hindurch, nirgends kann man sich auf ganz sicherem Terrain wissen” (230)� Der Schmutz des Pochsands sei übrigens ein Abfallprodukt bei der Reinigung des Erzes und entstammt damit dem Bildbereich, dem der Poetische Realismus seinen programmatischen zentralen Begriff der Läuterung oder Verklärung entnimmt� Diese Läuterung aber scheitert, vielleicht gerade weil Die Innerste-- was ja auch der Name des Textes selber ist-- von Anfang an mit konstitutiver metaphorischer Verunklärung belastet ist� (Baßler 231) Damit schließt der Text direkt an die Thematik der Verschmutzung von Gewässern in Raabes Erzählung Pfisters Mühle und indirekt an die Thematik der Ansteckung in Unruhige Gäste an� Alle diese Texte inszenieren ihre Thematik auch als poetologische Projekte, indem sie eine spezifische Verfahrensweise entwickeln, die das Problem der Reinigung und Läuterung sowohl auf thematischer, sprachlicher wie auch poetologischer Ebene scheitern lassen� Pfisters Mühle muss der modernen Reinigungsfabrik, die auf giftigen chemischen Prozessen aufbaut, weichen und somit scheitert auch das poetologische Projekt des realistischen Erzählens dieser Prozesse (Wanning 193; Wilke, “Pollution” 195)� Die touristische Infrastruktur von ehemals abgelegenen und idyllischen Badeorten im Harz wird gnadenlos angelegt und standing weiter ausgebaut (Wilke, “Tourismus” 155 ff�), die Innerste wird reguliert und Bodenhagens Kornmühle 1803 nahrungslos und dann 1820 letztendlich abgebrochen� Wie gesagt, auch diese Mühle an der Innerste steht heute nicht mehr; aber es haben nach dem Meister Albrecht noch zwei Bodenhagen drauf gesessen� Erst seit dem Jahre 1803, als die Franzosen unter Mortier im Hannoverschen waren, ist sie allgemach 344 Sabine Wilke nahrungslos geworden und endlich um das Jahr 1820 abgebrochen� Die Innerste ist reguliert worden wie die Ihme und die Leine; sie hat zwar auch jetzt noch ihre Nücken und Tücken und verlangt dann und wann wohl ein Lebendiges zum Fraß; aber daß sie danach schreie, glaubt heute kein Mensch mehr� (Raabe, “Die Innerste” 195) Eine ökokritische Lektüre, wie sie hier vorgeschlagen wurde und die weder den Perspektiven der Figuren noch der des realistischen Erzählers stringent folgt, kann den Zusammenhängen von mythischem Sagenstoff, thematischer Behandlungsweise (Krieggeschehen, Modernisierung, usw�), formalen Aspekten der Erzählweise und zurückgedrängtem Umweltwissen (Verschmutzung der Gewässer im Zeichen sich andeutender Industriealisierung, Konsequenzen von Flussregulierung, usw�) auf die Spur gehen und ein Wissen freilegen, das die historischen Prozesse der menschlichen Naturaneignung literarisch komplex und zugleich ambivalent gestaltet� Dieses literarisch gestaltete Umweltwissen muss im Fall der Lektüre von “Die Innerste” noch der Figurenebene entrungen werden und zwar dadurch, dass die Zurückdrängung dieser Wahrheiten mit der exzessiven Überkodierung des Textes, die Baßler analysiert hat, abgewogen wird� Dadurch wird der Blick frei auf die literarische Gestaltung des Verhältnisses von Figuren zu Natur und Umwelt, das in dieser Erzählung neu verhandelt wird� Durch die Einsicht in diese Verhandlung wird eine ökokritische Perspektive auf die literarischen Strategien des poetischen Realismus geworfen, die sich mit dem Thema Mensch und Umwelt im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert immer deutlicher auseinandersetzen� Raabe als der Kritiker von Modernisierung, wie er in der jüngeren Forschung erscheint, kann somit auch als Skeptiker von Naturaneignung und gewaltsamen Prozessen der Naturbefriedung verstanden werden, zwar noch in ambivalenter Form, wie wir anhand der Lektüre von “Die Innerste” gesehen haben, aber doch bereits diagnostisch als Zeichen für ein neues Zeitalter, das den menschlichen Fortschritt mit Zurückdrängung von Natur sich erkämpft� Eine Erzählung, die auf thematischer Ebene von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern spielt, entpuppt sich als literarischer Verhandlungsort von verschiedenen Einstellungen gegenüber Modernisierungstechniken, die alle auf die systematische und gewaltsame Beherrschung von Natur hinauslaufen, deren Konsequenzen literarisch gestaltet werden, hier beispielsweise im Motiv der jährlichen Forderung des Wassers� Literarische Texte werden somit zu wichtigen Schaltstellen, an denen die kulturelle Imagination von Umweltphänomenen geprägt wird� Mein Text versteht sich von daher auch als Beitrag zu einer erweiterten Sicht auf die Literatur und ihr natürliches und kulturelles Umfeld, das durch sie gestalterische Form erlangt� Von wilden Wassern und boshaften Naturgeistern 345 Notes 1 Baßler greift hier auf eine begriffliche Unterscheidung von Charles Sanders Pierce zurück, der in seiner Semiotik von verschiedenen Eigenschaften von Zeichen ausgeht: die Sin-Zeichen sind Gegenstände oder Sachverhalte, die existieren, ohne dass sie bereits mit einem Begriff belegt sind; die Legi-Zeichen sind Regeln, die als Zeichen wirken� Works Cited Archenholtz, Johann Wilhelm von� Geschichte des Siebenjährigen Krieges in Deutschland von 1756 bis 1763. Mannheim, 1791� Baßler, Moritz� “Metaphern des Realismus-- realistische Metaphern�” Epochen und Metapher: Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit. Hg� Benjamin Specht� Berlin: de Gruyter, 2014� 219—31� Blackbourne, David� The Conquest of Nature: Water, Landscape, and the Making of Modern Germany � Göttingen: V&R unipress, 2008� Böhme, Gernot und Hartmut Böhme� Feuer, Wasser, Erde, Luft: Eine Kulturgeschichte der Elem ente� München: Beck, 2004� Böschenstein, Renate� “Undine und das fließende Ich�” Sehnsucht und Sirene: Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien � Hg� Irmgard Roebling� Pfaffenweiler: Centaurus, 1992� 101—30� Goettsche, Dirk, Florian Kropp und Rolf Parr, hgg� Raabe Handbuch: Leben-- Werk-- Wirkung. Stuttgart: Metzler, 2016� Goodbody, Axel und Barbeli Wanning, hgg� Wasser-- Kultur-- Ökologie: Beiträge zum Wandel im Umgang mit dem Wasser und seiner literarischen Imagination � Göttingen: V&R unipress, 2008� “Innerste�” Wikipedia�org/ wiki/ Innserste� 13 January 2017� Krobb, Florian� “Geschichtssinn und Narrativität in Wilhelm Raabes ‘Die Innerste�’” Das schwierige neunzehnte Jahrhundert � Hg� Jürgen Barkhoff, Gibert Carr und Roger Paulin� Tübingen: Niemeyer, 2000� 89—99� Mauch, Christof� Mensch und Umwelt: Nachhaltigkeit aus historischer Perspektive � München: Oekom, 2014� Raabe, Wilhelm� “Die Innerste�” Sämtliche Werke , Bd� XII� Hg� Hans Butzmann und Hans Oppermann� Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1969� 101—95� —� Pfisters Mühle � Sämtliche Werke � Bd� XVI� Hg� Hans Oppermann� Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1970� 5—178� —� Unruhige Gäste � Sämtliche Werke � Bd� XVI� Hg� Hans Oppermann� Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1970� 179—337� Roebling, Irmgard� “Nixe als Sohnphantasie: Zum Wasserfraumotiv bei Heyse, Raabe, Fontane�” Sehnsucht und Sirene: Vierzehn Abhandlungen zu Wasserphantasien � Hg� Irmgard Roebling� Pfaffenweiler: Centaurus, 1992� 145—204� 346 Sabine Wilke Schrader, Hans-Jürgen, hg� Wilhelm Raabe: Krähenfelder Geschichten � Frankfurt: Insel, 1985� Spiro, Heinrich� Raabe: Leben-- Werk-- Wirkung. 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Interpretationen II � Düsseldorf: Bagel, 1962� 198—215� Wanning, Barbeli� “Wenn Hechte ans Stubenfenster klopfen: Beschädigte Idylle in Wilhelm Raabes Pfisters Mühle �” Natur-Kultur-Text: Beiträge zu Ökologie und Literaturwissenschaft � Hg� Catrin Gersdorf und Sylvia Mayer� Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2005� 193—205� Wilke, Sabine� “Pollution as Poetic Practice: Glimpses of Modernism in Wilhelm Raabe's Pfisters Mühle �” Themenheft zu “Dirty Nature: Grit, Grime, and Genre in the Anthropocene�” Hg� Heather Sullivan und Caroline Schaumann� Colloquia Germanica 44�2 (2014): 195—215� —� “Tourismus als Inversionsfigur: Wilhelm Raabes Unruhige Gäste (1884) als Tragico-- Komico-- Historico Pastorale�” Themenheft zu “Tourismus�” Literatur für Leser 44�4 (2013): 153—68� Witschel, Günther� Raabe Interpretationen: “Die Innerste,” “Das Odfeld,” “Stopfkuchen.” Bonn: Bouvier, 1969�