Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2017
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Luftkrieg und Legende
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Christoph D. Weber
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Luftkrieg und Legende: Hans Erich Nossacks literarische Sinnbewältigung der Bombardierung Hamburgs im Sommer 1943 1 Christoph D. Weber University of North Texas Abstract: Since its publication in 1948, Hans Erich Nossack’s “Der Untergang” has become one of the most celebrated German eyewitness accounts of the devastating Allied air raids on Hamburg in July/ August 1943. The text marked a new beginning in Nossack’s literary career. As he repeatedly stated during the postwar years, the bombs destroyed all of his possessions and unpublished manuscripts - a catastrophic event that not only ushered in a “rebirth” but also a liberating break from the hated past. Viewed in light of Nossack’s private correspondence and diaries however, these statements reveal themselves to be fabulations. Key thematic elements of “Der Untergang” were already present in in Nossack’s essay “Gespräch vor der Katastrophe,” written in 1927. Although Nossack distances himself from the response of Hamburg’s party officials to the bombardment, his account nevertheless incorporates tropes similar to those deployed in Nazi propaganda. Nossack’s description of a break with the past, widely interpreted in secondary literature as referring to the liberation from the Nazi dictatorship, instead has its origins in his marital problems. After the war, the losses detailed in “Der Untergang” served as the basis for Nossack’s self-portrayal as a victim of National Socialism. Key Words: disaster narratives, Hans Erich Nossack, “Der Untergang,” WWII air raids, National Socialism Hans Erich Nossacks (1901—1977) Prosastück “Der Untergang,” das die verheerenden Auswirkungen der Hamburger Luftangriffe im Juli/ August 1943 schildert, hat mit W. G. Sebalds lobender Kritik ein erneutes literaturwissenschaftliches Echo gefunden. In seinen 1999 publizierten Züricher Vorlesungen Luftkrieg 158 Christoph D. Weber und Literatur würdigt Sebald den Bericht als einen der wenigen geglückten literarischen Aufarbeitungen des Bombenkriegs auf deutsche Städte. Trotz Nossacks “fatale[r] Neigung zur philosophischen Überhöhung und falschen Transzendenz” sei er der einzige deutschsprachige Schriftsteller gewesen, der noch während des Zweiten Weltkriegs das “tatsächlich” Gesehene “in möglichst unverbrämter Form” niedergeschrieben habe (57). Was den Bericht so besonders mache, sei dessen Wahrhaftigkeit: Das Ideal des Wahren, das in seiner, über weite Strecken zumindest, ganz unprätentiösen Sachlichkeit beschlossen ist, erweist sich angesichts der totalen Zerstörung als der einzige legitime Grund für die Fortsetzung der literarischen Arbeit. Umgekehrt ist die Herstellung von ästhetischen oder pseudoästhetischen Effekten aus den Trümmern einer vernichteten Welt ein Verfahren, mit dem die Literatur sich ihrer Berechtigung entzieht. (59) Joel Agee, Übersetzer der 2004 erschienenen englischsprachigen Ausgabe, äußert im Vorwort ebenfalls seine Bewunderung für Nossacks “Untergang.” Im Unterschied zu Sebald bemängelt er die darin aufzufindenden mythisch-märchenhaften Darstellungselemente nicht. Insbesondere habe ihn die Erzählerstimme beeindruckt: “This refusal to limit the meaning of ‘report’ to the transmission of facts was, for me, a revelation almost as startling as the narrator’s voice, which was personal, quiet, and tender, even when speaking about calamity. Although maybe that stillness was itself an aftereffect of disaster” (ix—x). Sowohl Sebald als auch Agee schneiden Kritikpunkte an, die in den Literaturanalysen von Nossacks Augenzeugenbericht nicht vereint besprochen worden sind. Es stellt sich die Frage, inwiefern Nossacks Schilderung von Hamburgs Zerstörung eine wahrheitsgemäße Dokumentation sei. Darüber hinaus ist die “stillness” des Erzähler-Ich von Belang, da sie implizit auf die Bewahrung der Fassung verweist, die ein normatives Prinzip in Nossacks Bewältigung der Katastrophenerfahrung ausmacht. In Interviews aus den Sechziger- und Siebzigerjahren konstatierte Nossack wiederholt, die Bombenangriffe auf Hamburg im Juli 1943 hätten eine Zäsur in seinem Leben bewirkt: “Für mich war der Untergang Hamburgs eine Art Befreiung: Das, was ich als junger Mensch nicht ganz fertiggebracht hatte, sondern nur halb - die Ablösung von Familie und Konventionen -, das ergab sich nun durch die völlige ‘Zerstörung der Vergangenheit’” (Rudolph 185). Die durch die “Operation Gomorrha” ausgelösten Flächenbrände forderten auch ihre Opfer. Nossack, dessen Schriftstellerkarriere bereits durch das “lebenlose Leben” des Nazi-Alltags beeinträchtigt worden war (“Leben,” 142), stand plötzlich vor dem Nichts: Luftkrieg und Legende 159 Ziemlich genau im Jahre 1933 wäre ich wohl als Schriftsteller an die Oberfläche getaucht. Es lagen die ersten Verträge vor. Da kam Hitler, und ich wurde verboten oder war unerwünscht. So habe ich meine besten zwölf Jahre verloren. 1943 verbrannte mir alles, Manuskripte und Tagebücher - ein schwerer Schlag. Das ist, was ich, ‘verlorene Vergangenheit’ nenne. (Bienek 88). Anknüpfend an Manfred Durzaks entlarvende Frage an den Autor, ob der hohe Stellenwert des “Untergangs” in seinem Werk nicht “Ansätze zu einer gewissen literarischen Legendenbildung” aufweise (369—70), werde ich in diesem Beitrag aufzeigen, dass Nossacks Äußerungen zu Hamburgs Untergang und der daran gekoppelten biographischen Schicksalswende in Widerspruch zu seinen Privataufzeichnungen stehen. Die im September 1943 neu begonnenen Tagebücher wie auch die Briefkorrespondenz aus den Jahren 1943—1956, die Gabriele Söhling jeweils 1997 und 2001 herausgegeben hat, legen den Grundstein für ein unverfälschteres Verständnis über sein literarisches Schaffen. Von Nossacks Schriften erreichte “Der Untergang” mit seinen mehreren Auflagen den größten Bekanntheitsgrad (der Bericht wurde 1948 im Sammelband Interview mit dem Tode erstveröffentlicht). Das Prosastück trug aber auch maßgeblich zur Legendenbildung um den abrupten Vergangenheitsbruch und postkatastrophischen Neufanfang bei. In seiner Darstellung des untergehenden und zerstörten Hamburgs inkorporierte Nossack tradierte Stereotypen aus dem Katastrophendiskurs, die u. a. Parallelen mit der damaligen NS-Luftkriegspropaganda aufweisen. Der strukturelle Rahmen, auf den sich Nossack in seiner Sinnbewältigung des Katastrophenereignisses besann, ist die eingangs erwähnte “Fassung.” Sie konstituiert ein Leitprinzip, das der Autor bereits in “Gespräch über die Katastrophe,” einem Aufsatz aus den Zwanzigerjahren, herausarbeitete und dessen Einfluss auf den “Untergang” in der Nossack-Forschung bislang nur marginal berücksichtigt worden ist (Gäthje 69—70; Buhr 46—47; Esselborn 89). Jene Frühschrift belegt, dass Nossacks lebenslange Faszination für die Katastrophenthematik bereits vor der Zerstörung Hamburgs vorhanden war. Sie stellt ebenfalls einen hermeneutischen Schlüssel bereit, der die Bedeutung der disparaten Dispositionen - Hass, Verzweiflung, Schweigen, Glückseligkeit - in Nossacks Vergegenwärtigung der durchlebten Extremerfahrung offenlegt. Wie sich zeigen wird, operiert Nossacks “Untergang” im Spannungsfeld zwischen Bezeugen und Verschweigen. Auf ergreifende Weise veranschaulicht der Text, was für ein schreckliches Ausmaß die Luftangriffe auf Hamburg und seine Menschen hatten. Gleichermaßen verschleiert er dasjenige, was die moralische Fassung des Autors hätte gefährden oder in Diskredit bringen können. Nossacks selbstauferlegte Tarnung lässt sich mittels der hinterlassenen Tagbücher und Briefe schrittweise aufdecken. 160 Christoph D. Weber Bevor ich mit der Inhaltsanalyse des “Untergangs” beginne, soll kurz auf Nossacks zögerliche Haltung gegenüber der Veröffentlichung seines Prosastücks eingegangen werden, da sie den Verdacht bestärkt, dass er darin wohl mehr von seinen privaten Konflikten offenlegte, als ihm lieb gewesen wäre. In der literaturwissenschaftlichen Rezeption wird der Bericht allgemein als ein autobiographischer Text gewürdigt. Analog zu Nossacks wiederholter Behauptung, bei der Zerstörung Hamburgs im Juli 1943 seien seine “standesamtliche” und geistige Biographie zusammengefallen (letztere betrifft den Werdegang seiner Schriftstellerkarriere) (Schmid und Simmerding 41—43), kommt es im “Untergang” zu einer Konvergenz zwischen dem Erzähler-Ich und dem Verfasser. Der Schriftsteller Hermann Kasack brachte dies 1961 in seiner “Laudatio” zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Nossack auf den Punkt: “Für mein Gefühl hat er mit diesem Bericht Der Untergang ein Stück deutscher Prosa geschrieben, das vorbildlich und für lange Zeit gültig ist. (…) Vielleicht ist Nossack diese dichterische Aussage so geglückt, weil das Ich des Berichtenden - als Zuschauer - mit dem Ich des Menschen - als Autor - hier ohne Trennung und Überschneidung zusammenfällt” (121). Kasacks Wertschätzung gründete sich auf eine jahrzehntelange Bekanntschaft mit Nossack und seiner literarischen Tätigkeit. Als Cheflektor des Suhrkamp Verlags setzte er sich für die Erstveröffentlichung der Nossackschen Manuskripte ein und befürwortete 1942 den Druck eines Gedichtbands mit dem Titel Vom Rand der Welt , der aufgrund der Kriegswirren nicht zustande kam. Nossack fand in Kasack eine Vertrauensperson, der er per Briefkontakt ausgiebig über die Entstehung und den Inhalt des “Untergangs” berichten konnte. Am 2. November 1943 kündigte er an, dass er “aus therapeutischen Gründen” ein Prosastück angefangen habe ( Briefwechsel 14). Einen Monat später, am 6. Dezember, äußerte Nossack seine Zweifel, ob er den Text jemals der Öffentlichkeit zugänglich machen werde: “Zum Veröffentlichen ist es übrigens doch nichts, selbst wenn es etwas taugt” (Briefe). Zwei Tage später gab Nossack die unmittelbare Fertigstellung des Prosastücks bekannt: “Es ist ein Bericht von ca. 27 eng beschriebenen Folioseiten über das, was ich in der Zeit vom 24. Juli bis ungefähr 15. August erlebte, mit dem Titel ‘Der Untergang’. Das Wort ‘Bericht’ ist vielleicht irreführend; wenn, dann ist es ein sehr intimer Bericht und man könnte es ebensogut ‘Bekenntnis’ nennen” ( Briefwechsel 19). Obwohl Nossack im Brief zukünftige Leser, “die einen solchen Bericht von uns, die dabei waren, erwarten werden” (19), in Erwägung zieht, wiederholt er seinen Vorbehalt, den Text an andere weiterzugeben. Gründe dafür seien nicht nur dessen “Intimität,” sondern auch die Ungewissheit, ob “es nicht schaden” könne (20). Nossacks Selbstzweifel mögen, wie Inge Stephan behauptet hat, von der Angst vor politischen Repressalien herrühren: “An eine Veröffentlichung des Texts war angesichts der offiziellen Luftkrieg und Legende 161 Endsieg-Euphorie zu der damaligen Zeit natürlich nicht zu denken” (307). Es ist jedoch bestechend, dass Nossack selbst nach Kriegsende wenig Interesse daran zeigte, den “Untergang” zu veröffentlichen. Am 1. Februar 1946 schickte er das Manuskript an seinen Schriftstellerkollegen Hans König zur Begutachtung. Im Begleitschreiben nennt Nossack den “Untergang” ein “rein persönliches Dokument,” das er nicht mehr durchlesen könne und er möchte von König wissen, ob darin etwas Überzeitliches zu finden sei ( Briefwechsel 230). Hartmann Goertz, der als Lektor des Wolfgang Krüger Verlags sich für die Publikation des Prosastücks in Interview mit dem Tode eingesetzt hatte, teilte Nossack am 11. Oktober 1947 mit, er habe den “Tatsachenbericht von 1943” nicht vorabdrucken lassen wollen, weil er ihm “zu privat erschien” (zit. nach Buhr 244). Hinsichtlich der positiven Rezeption, die “Der Untergang” nach der Erstveröffentlichung erhalten hatte, mutet sich Nossacks Befangenheit überraschend an. Sebalds monierte Neigung des Autors “zur philosophischen Überhöhung und falschen Transzendenz” kann als ein Tarnmanöver gedeutet werden, Aspekte, die die persönliche Biographie betreffen, zu typisieren und auf diese Weise zu verschleiern. Gleich zu Anbeginn des “Untergangs” gibt Nossack zu bekennen, dass er die Zerstörung Hamburgs “als Zuschauer” erlebt habe (198). Mit der Proklamation, Augenzeuge gewesen zu sein, wie “die Stadt als Ganzes” untergegangen sei, untermauert er das Anrecht, für alle, die die Katastrophe miterlebt haben, zu sprechen. Diese vorangestellte Erklärung, die das Ethos des Erzählers zu bestärken bezweckt, ist ein in Katastrophennarrativen verankertes rhetorisches Stilmittel. Ein weiteres, miteinhergehendes Stereotyp ist Nossacks Behauptung, er habe mit vielen Hunderten gesprochen, “die dabei” gewesen seien (198). Was er von diesen Frauen und Männern vernommen habe, sei äußerst schockierend gewesen: “[W]as sie erzählen, wenn sie überhaupt davon sprechen, ist so unvorstellbar grauenhaft, daß es nicht zu begreifen ist, wie sie bestehen konnten” (198). Von Bedeutung ist, dass Nossack selbst die alliierten Luftangriffe auf Hamburg vom 24. Juli bis zum 3. August 1943 nicht unmittelbar erlebte. Als die Bomben fielen und am 28. Juli einen Feuersturm auslösten, der bis zu 30.000 Menschen in den Tod riss (Hausschild-Thiessen 62), war er zusammen mit seiner Frau Gabriele (“Misi”) auf Urlaub in Maschen, einer Ortschaft, die etwa 25 Kilometer vom Hamburger Stadtzentrum liegt. Nossacks Bedürfnis, über die traumatischen Erfahrungen Zeugnis abzulegen, gerät mit der selbstauferlegten Aufgabe, das Unfassbare auszudrücken, in Konflikt. Um die Sprachlosigkeit, die semantischen Leerstellen zu überbrücken, durchmischt Nossack die faktisch verifizierbaren Einzelheiten seines Berichts mit Reflexionen und Darstellungselementen, die ihre Prämisse in Mythen und Märchen haben (vgl. Williams, Mythische 119—25). Daraus erklärt sich die hybride Textgestalt des Prosastücks, 162 Christoph D. Weber die zwischen einer der Öffentlichkeit zugewandten Berichterstattung und einem in sich gekehrten, verschlüsselten Selbstbekenntnis oszilliert. Nossacks Beschreibung der Hamburger Luftangriffe basiert auf der Ursprungsbedeutung des Nomens “Katastrophe.” Der aus der griechischen Dramaturgie stammende Begriff signalisiert eine Umkehr nach unten und schließt die aristotelische Definition der Peripetie, die eine plötzliche Wende im Lebensverlauf signifiziert, mit ein. Im deutschsprachigen Raum fand im 19. Jahrhundert die semantische Überbrückung des Katastrophenbegriffs von der Theaterbühne auf einen reell ereigneten Unglücksfall statt (Walter 17). Unter dem Lemma “Katastrophe” führt das Brockhaus’ Conversations-Lexikon von 1885 folgende Worterklärung an: “Aus der dramatischen Sprache hat sich alsdann dieser Ausdruck auch in das gewöhnliche Leben übertragen. Katastrophe pflegt man dann jede entscheidende, namentlich jede unglückliche Wendung zu nennen, selbst jedes unglückliche Naturereignis” (179). Der Rückgriff auf den Katastrophenbegriff erlaubt es Nossack, dasjenige, was die “Vernunft” niemals als “Wirklichkeit” zu begreifen vermag (199), in ein Ordnungs- und Sinngefüge zu überführen. Bezeichnenderweise verläuft die sprachliche Fixierung der Extremerfahrung gemäß tradierter Darstellungsmuster. Selbst wenn der genaue Zeitpunkt der Juli-Angriffe von 1943 nicht vorsehbar war, erinnert sich Nossack rückblickend an bestimmte Vorzeichen, die auf den Untergang hingedeutet haben. Im vorangegangenen Mai hatten “zwei große mövenartige Vögel” die Hamburger Katharinenkirche umkreist: “Sie waren manchmal schwarz und manchmal weiß, und ihre Schatten streifte beängstigend über Häuser und Wasser” (239). 2 Darüber hinaus schildert Nossack die abrupte Verschiebung vom präzum postkatastrophischen Zustand anhand eines Kontrastbildes: “Stellen Sie sich vor, Sie schlössen die Augen für eine einzige Sekunde, und wenn Sie sie wieder öffneten, wäre nichts mehr da von all dem, was vorher da war” (“Untergang” 216). Die Zäsur im linearen Zeitgeschehen veranschaulicht er zusätzlich mit der Metapher des Abgrunds, die sich leitmotivisch im Bericht wiederholt. Nossack verkürzt die Zerstörung Hamburgs, die während der “Operation Gomorrha” über mehrere Tage und Nächte andauerte, auf einen Schnittpunkt. Durch diese erzähltechnische Raffung lässt sich der plötzliche Zusammenbruch der einst vertrauten Lebenswelt und die daraus resultierende Entfremdung durchschlagend vermitteln. Nossack bekundet im “Untergang,” dass er ein kataklysmisches Ereignis antizipiert, wenn nicht gar herbeigewünscht habe. Diesen Tatbestand illustriert er mit dem Mythos der biblischen Flutkatastrophe: “Wir haben uns alle mit dem Gedanken einer Sintflut beschäftigt, die Zeitereignisse brachten es mit sich” (207). Der Rekurs auf den Sintflut-Topos kommt nicht von ungefähr, denn er war bereits zentraler Gegenstand in Nossacks ältester erhaltener Abhandlung “Gespräch vor der Katastrophe.” Für lange Zeit galt das 1927 verfasste Manuskript Luftkrieg und Legende 163 als “verschollen und vergessen,” bis ein Freund Nossacks, O. H. Strohmeyer, es unter seinen Papieren wiederfand und dem Schriftsteller zuschickte (51). Im Tagebucheintrag vom 1. August 1963 vermerkt Nossack den Erhalt des Aufsatzes, der von der alten Fragestellung handle, “was man im Falle einer Sintflut für nötig halten würde hinüberzuretten” (634). Ihm sei völlig entfallen, dass er schon “vor Hitler, vor der Ausbombung, vor der Atombombe” sich damit so intensiv beschäftigt habe und stellt fest, “[m]anche Motive, die ich später in Nekyia, also nach der Katastrophe verwandte, stehen da schon fast wörtlich” (634). Nicht nur in Nekyia , sondern auch in “Der Untergang” herrschen intertextuelle Verknüpfungen zu diesem “vergessenen” Text vor. Sowohl die Frage, “was wir über eine morgige Sintflut hinüberretten wollten, um es den Überlebenden zu erhalten” als auch die Klage des Indianers, “der als letzter seines Stammes am Meeresufer saß und rief: Was soll ich nun machen? Soll ich Orion werden? ” verweisen direkt auf diese Frühschrift (207—208). 3 Zu Recht ist festgestellt worden, dass die Zerstörung Hamburgs weder einen “entscheidenden Bruch” (Buhr 224) noch “die existentielle und metaphysische Grunderfahrung” in Nossacks literarischem Schaffen eingeläutet habe (Gäthje 69). Da das “Gespräch über die Katastrophe” Nossacks “Untergang” wesentlich präformiert hat, soll auf die überlappende Thematik beider Texte vertiefter eingegangen werden. Jenes Prosastück, das einen Dialog zwischen zwei Männern und einer Frau wiedergibt, verortet den Ursprung der Katastrophe im Kontrollverlust über die eigene Fassung bzw. über die Affekte Liebe und Wut. Wenn die Spannung zwischen der Fassung und demjenigen, was die “Fassung verschweigen soll” zu groß wird (53), bricht die Katastrophe herein. Der bestehende Status quo , die lebensweltliche Manifestierung der Fassung, droht dabei unterzugehen: Und wir würden leider sofort erkennen, daß all diese Dinge, Häuser, Städte, Gewohnheiten und Gesetze, die wir für unzerstörbar halten, weil Jahrhunderte ihre Kraft daran gegeben haben, sie auszubauen, kurz, daß diese ganze Fassung keine eigene Schwerkraft hat, die uns im Ernstfall einen Halt bieten könnte. Die Dinge haben nur das Gewicht, das wir ihnen geben, weil wir sie wollen und an sie glauben; was wir nicht mehr gebrauchen, hat jede Macht verloren. (54) Nachdem der Ausnahmezustand im Juli 1943 eingetroffen war, war für Nossack das Wort “hätte” am gefährlichsten (220), weil es schmerzhafte Erinnerungen an vergangene Versäumnisse weckte. Die Möglichkeit, dabei in Verzweiflung zu geraten und in den Abgrund abzustürzen, sei stets präsent gewesen: “Es hätte nur einer von uns zu schreien brauchen und wir wären alle verloren gewesen” (221). Worauf geachtet worden sei, “war nicht laut zu sein und nicht zu viel Gewicht zu haben” (221). Für die Bombenflüchtlinge Hamburgs sei es demnach äußerst wichtig gewesen, “daß alles die Haltung wahrte” (221). 164 Christoph D. Weber Das Gebot, vor den Augen anderer die Haltung zu bewahren, korreliert mit Nossacks früherer Ausführung über die Bedrohung, die vom Fassungsverlust ausgehe: Es bedürfe “der Gewalt der übrigen, um die Ruhe wieder herzustellen, und zwar muß es sofort geschehen; denn die Fassungslosigkeit ist eine rasch ansteckende Krankheit” (“Gespräch” 54). Daraus lässt sich die Bedeutung der “Erkenntnis” erschließen, die sich für Nossack aus den “schmerzlichen Monaten” nach Hamburgs Untergang ergeben hat ( Briefwechsel 23). Am 12. Dezember 1943 schrieb er Kasack, dass das 1926 verfasste Theatermanuskript “Die Rotte Kain” an erneuter Relevanz gewonnen habe, weil es den grundlegenden Fragepunkt adressiere: “Was wird am Tage nach der Sintflut oder Weltkatastrophe sein? Um das Leben und die Überlebenden zu erhalten, wird die Aufgabe für die Geistigen und Wissenden darin liegen: zu verschweigen! Also nicht zu vergessen” ( Briefwechsel 23). Das Nicht-Vergessen reklamiert einerseits die Einsicht, dass eine durch die Amnesie begünstigte Rückkehr in die alte Ordnung eine Scheinexistenz befördern würde (vgl. Schmid 32). In der Erinnerung an die Katastrophe und den daraus erfolgten Schwebezustand eröffnet sich dagegen der “Durchgang für Ewiges,” die “letzte Möglichkeit” für einen Neuanfang (“Untergang” 222). 4 Das Schweigen konnotiert andererseits ein Eingeständnis der selbstempfundenen Ohnmacht. Im Hinblick auf die durchlebten Schrecknisse bedarf es des Rückzugs aus dem öffentlichen Diskurs in die Privatsphäre, um die innere Fassung zu bewahren. Ein Aufschreien käme einem Akt der Verzweiflung oder des egoistischen Opportunismus in Krisenzeiten gleich. Dieser Kritikpunkt schlägt sich in Nossacks frühen Prosastücken nieder. Das Erzähler-Ich hinterfragt in “Der Untergang” die Aufrichtigkeit derjenigen, die vor der Katastrophe gewarnt und zur Vorbereitung ausgerufen hätten: “Wünschten sie nicht vielleicht die Katastrophe herbei, um andere auf die Knie zu zwingen, während sie selbst sich im Chaos beheimatet fühlten? Und trieb sie nicht die Lust, sich selber zu erproben, aber auf Kosten des vertrauten Daseins? ” (208). Die als Gegenmaßnahme proklamierte Verpflichtung zum Schweigen findet in Nekyia ihre komplementierende Erörterung. In Anlehnung an den Kassandramythos stellt sich der Erzähler die Frage, ob das Wissen, dass morgen die Sintflut eintreffen werde, weitervermittelt werden sollte: “Wenn man es den Leuten nun sagen würde, so hätte es doch nur zur Folge -vorausgesetzt, daß sie es glauben würden, was nicht wahrscheinlich ist, - daß die Sintflut schon heute hereinzubrechen begönne. Also muß man schweigen, obwohl es das Schwerste ist” (45). Ganz im Sinne einer magisch-mystischen Weltaneignung würde das Unheil durch dessen verbale Benennung heraufbeschwört statt abgewendet werden. Nossack verknüpft die Bürde des selbstauferlegten Schweigens mit der Gefühlslage der Melancholie, die das Spannungsfeld zwischen “der nackten Luftkrieg und Legende 165 Wahrheit und der Verzweiflung” absteckt ( Tagebücher 79). Im Tagebucheintrag vom 2. Oktober 1946 hält er fest, die Melancholie ist das Schweigen derer, die nicht anklagen wollen, weil sie wissen, daß anklagen den Kläger selbst trifft: denn helfen ist besser als anklagen; und das Verstummen derer, die nicht schreien wollen, weil ihr Schrei die Welt zerstören könnte. (…) Sie ist ein leises Zugeben unserer Ohnmacht, und dadurch ist sie eine lebenserhaltende Macht mitten im Untergang. (79) Die im “Gespräch über die Katastrophe” implizierte Korrelation zwischen der inneren und äußeren Fassung wird im “Untergang” fortgesetzt. Nossack umschreibt den Kulminationspunkt der freigesetzten Zerstörungskräfte allegorisierend mit der Verwandlung zweier Kiefern in schwarze Wölfe, die “gierig nach der blutenden Mondsichel sprangen” (207). Die von Menschenhand verursachten Verheerungen vermochten selbst die pastorale Heidelandschaft in Aufruhr zu versetzen. Im fahlen Licht eines Flakscheinwerfers getaucht, erblickt Nossack die “im Haß gegen sich selbst” aufgestandene Natur (207). Das in der Außenwelt hypostasierte Hassgefühl besitzt seinen Ursprung im Erzähler-Ich. Nossack räumt ein, er habe sich “jahrzehntelang” gegen den Ausbruch des Hasses gestemmt den Katastrophentag herbeigesehnt, um von der “Aufgabe des Wächters” erlöst zu werden (207). Sein persönliches Schicksal verschleift sich mit demjenigen seiner Heimatstadt: “Und wenn es so ist, daß ich das Schicksal der Stadt herbeigerufen habe, um mein eigenes zur Entscheidung zu zwingen, so habe ich auch aufzustehen und mich am Untergang der Stadt schuldig zu bekennen” (207). Koinzidierend mit der Vernichtung Hamburgs externalisiert sich der Hass und im Vollzug dieser psychischen Dissoziation fühlt sich das Erzähler-Ich “frei davon” (209). An der Schnittstelle, die den “Weg durch die verhaßte Vergangenheit” durchtrennt, entlädt sich die aufgestaute Spannung (209). Mit der Katharsis geht ein Moment der Fassungslosigkeit einher. Das Erzähler-Ich nimmt im Durchlauf dieser Grenzerfahrung die Rolle des am Meeresstrand sitzenden Indianers ein: Laut aufstöhnend wankt es “am Ufer der zerstörten Welt” hin und her (209). In der vierten und letzten Angriffsnacht wiederholte sich der kataklysmische Zwischenfall. Wegen eines starken Gewitters verfehlte das Bombergeschwader das Angriffsziel der Hamburger Innenstadt und warf seine Sprengkörper blindlings auf die umliegenden Gebiete ab. Um nicht getroffen zu werden, flohen Nossack und seine Frau aus der Ferienhütte in die brennende Heide. Diesmal “steigerte sich das Wüten der Welt gegen sich selbst über alle menschliche Vorstellungskraft hinaus” und die “Erde schüttelte sich im Todeskampfe” (210). Angesichts der unmittelbaren Bedrohung schilderte Nossack den misslungenen Luftangriff am 3. August als finalen Höhepunkt der “Operation Gomorrha.” Im neu begonnenen Tagebuch erwähnt er die “Hilfslosigkeit” und 166 Christoph D. Weber “zwei Kiefern, die wie zwei springende Wölfe nach der Mondsichel bissen” im Zusammenhang mit seinen Erinnerungen an den letzten Nachtangriff (10). Die im “Untergang” erfolgte Rückversetzung beider Schlüsselmomente - der Fassungslosigkeit und des Hassausbruchs der Natur - in die erste Bombennacht vom 25. Juli lässt sich aus dem Umstand erklären, dass der schicksalshafte Vergangenheitsbruch sich zu diesem Zeitpunkt ereignet haben soll. Am darauffolgenden Dienstag, den 27. Juli, vernahm Nossack, dass seine Wohnung ausgebombt sei und am Samstag, den 31. Juli, unternahm er zusammen mit seiner Frau die erste Fahrt in die verwüstete Stadt. Indem Nossack kursierende Gerüchte über Hamburgs Zerstörung als unwahr verwirft, nimmt er die Rolle des glaubwürdigen Chronisten ein. 5 Allerdings zerbricht, wie im folgenden Abschnitt aufgezeigt wird, die distanzierte Haltung des Erzähler-Ich zu den Schrecknissen in der Beschreibung der Leichenbergungen und des “schlagartige[n] Überhandnehmen[s] der an den ungeborgenen Leichen gedeihenden parasitären Kreatur” (Sebald, “Geschichte” 41). Im errichteten Sperrgebiet 6 der Ruinenstadt spielten sich abscheuliche Szenen ab: Man sah Zuchthäusler in gestreiften Anzügen darin arbeiten. Sie sollten die Toten bergen. Man erzählte sich, dass die Leichen, oder wie man die Reste ehemaliger Menschen sonst nennen will, an Ort und Stelle verbrannt oder in den Kellern durch Flammenwerfer vernichtet wurden. Aber in Wirklichkeit war es schlimmer. Sie konnten vor Fliegen nicht in die Keller gelangen, sie glitschten auf dem Boden aus vor fingerlangen Maden, und die Flammen mußten ihnen einen Weg bahnen zu denen, die durch die Flammen umgekommen waren. (235) In der Abfolge sich steigernder Schreckensbilder wird das Grauen der entfesselten Ungezieferverbreitung vor Augen geführt. Der beobachtete Einsatz von “Zuchthäuslern” (Häftlinge vom KZ-Neuengamme hatten an der Leichenbergung im abgesperrten Stadtteil Hammerbrook teilgenommen) lässt sich historisch belegen (vgl. Orth 145—55). Hingegen fand dort keine Verbrennung menschlicher Überreste statt. Im Bericht des Hamburger Polizeipräsidenten und SS-Brigadeführers Hans Julius Kehrl vom 1. Dezember 1943 wird notiert, dass man erwägt habe, Leichen an den Fundstellen zu verbrennen. Zum Zeitpunkt der Bergungen sei jedoch ein Großteil der Todesopfer durch die enorme Hitzeeinwirkung der Brände bereits verwest, verkohlt oder eingeäschert gewesen. Nachdem Fachärzte am 6. August 1943 eine von den Leichen ausgehende Seuchengefahr als belanglos erachtet hatten, entschloss man sich “insbesondere aus Pietätsgründen” die Toten in “Gemeinschaftsgräbern auf den Friedhöfen” beizusetzen ( Dokumente, Bd. II/ 2: 294). Die Möglichkeit, dass Leichen zu Fliegenbrutstätten werden könnten, wurde im Polizeibericht als gering eingestuft: “Nach jetzigem Augenschein ist die Fliegenbevölkerung des Gebietes anscheinend Luftkrieg und Legende 167 völlig zugrunde gegangen. Fliegen wurden nur in einem Falle außerhalb des Kellers beobachtet” (306). Zudem stellte man bei der Autopsie der geborgenen Leichen keine “Zeichen von Maden- und Rattenfraß” fest ( Dokumente , 1. Beiheft: 133; vgl. Lowe 403). Hinsichtlich der rekonstruierten Faktenlage erweisen sich die Erzählungen über die Leichenverbrennungen im Sperrgebiet als haltlose Gerüchte. Auf verblüffende Weise interveniert das Erzähler-Ich in diesem Fall nicht als korrigierende Instanz, sondern überspitzt die Szenerie mit der Schreckensdarstellung einer an den Toten gemästeten Maden- und Fliegenbrut. Das Sperrgebiet gestaltet sich zu einem locus terribilis , in dessen verschütteten Kellerräumen sich die Fauna auf groteske Weise vermehrte und durch das reinigende Feuer vernichtet werden musste. Nossacks Einwand, “in Wirklichkeit” sei es “schlimmer” gewesen, bezieht sich nicht auf die empirische Realität. Sein Bericht trägt vielmehr zur Mythenbildung um das Sperrgebiet bei, die über das Kriegsende hinaus fortwährte (vgl. Lowe 275). Gleichermaßen veranschaulicht das Erzähler-Ich den ungebremsten Vormarsch des Ungeziefers in den übrigen Stadtteilen als Manifestation einer aus den Fugen geratenen Lebenswelt. Größeres Ekel als die sich auf den Straßen tummelnden, fett gewordenen Ratten erregten die Fliegen, deren obszönes Treiben lupenhaft vergrößert wird: Große, grünschillernde, wie man sie nie gesehen hatte. Klumpenweise wälzten sie sich auf dem Pflaster, saßen an den Mauerresten sich begattend übereinander und wärmten sich müde und satt an den Splittern der Fensterscheiben. Als sie schon nicht mehr fliegen konnten, krochen sie durch die kleinsten Ritzen hinter uns her, besudelten alles, und ihr Rascheln und Brummen war das erste, was wir beim Aufwachen hörten. Dies hörte erst im Oktober auf. (236) Die monströsen Fliegen und Maden finden ihre Erwähnung nicht nur im “Untergang,” sondern auch in weiteren Prosastücken, die zusammen in Interview mit dem Tode erschienen. In “Kassandra” versucht Odysseus die Titelfigur darüber hinwegzutrösten, dass die Trojanerinnen nach dem Ende des Feldzuges sich mit den griechischen Soldaten vergnügen. Das sei vor tausend Jahren geschehen und werde sich auch in tausend Jahren wiederholen: “Wir dürfen es nicht ändern” (72). Nach einem Moment des Schweigens antwortet Kassandra daraufhin: “Dies, daß es so ist, und dann die großen schillernden Fliegen, die seit dem Brande der Stadt überall in der Sonne ihr Spiel treiben, das ist das Schlimmste” (72). Eine weitere intertextuelle Verbindung findet sich im “Bericht eines fremden Wesens über die Menschen.” Diesmal sind es Maden, die sich an einem verwesenden, die Kriegsvergangenheit symbolisierenden Leichnam laben. Ein Teil davon, der sich am Gestorbenen gemästet hat, zieht sich in seine Schlupflöcher zurück und wartet auf eine Auferstehung. Andere, die bisher nicht an der Mahlzeit teilnehmen durften, drängen sich neidvoll aus den Schlupflöchern und fressen sich 168 Christoph D. Weber fett. Dabei rühmen sie sich mit den Worten: “Seht, wir vertilgen den verfluchten Leichnam! ” (9). Ein derartiger selbstgerechter Umgang mit der Vergangenheit verschafft jedoch keinen Trost: “Die Menschen aber gleiten auf diesen Maden aus, und so werden ihre Bewegungen mißtrauisch und mutlos” (9). Die Wiederholung solcher bestimmten Motive in Nossacks Prosastücken, die die traumatisierenden Nachwirkungen der Kriegserfahrung thematisieren, konterkariert das Unterfangen, Hamburgs Untergang als ein singuläres Katastrophenereignis darzustellen. Durch den Zusatz einer symbolischen Referenz wird das ekelerregende Ungeziefer, das sich in der Ruinenstadt unkontrolliert ausbreiten konnte, vom zeitspezifischen Kontext entkoppelt. Die Schrecknisse, die aufgrund ihrer hyperbolischen Darstellungsweise bereits einen mystifizierenden Anstrich erhielten, werden stattdessen in ein überzeitliches Bezugssystem eingebunden. Die Maden und Fliegen geraten zu Chiffren eines parasitären Opportunismus, der in der Nachfolge periodisch wiederkehrender Katastrophen aufblüht und aus den Überbleibseln der untergangenen Vergangenheit Profit schlägt. Somit ist Sebalds Urteil, Nossack habe mit der tabubrechenden Darstellung der “widerwärtigsten Ausformungen der Trümmerfauna” ein “seltenes Dokument des Lebens in der Ruinenstadt” bereitgestellt (“Geschichte” 42), nur bedingt beizustimmen. Nossack geht es nicht darum, die verstörenden Eindrücke des Luftkriegs in einem sachlich-objektiven Duktus wiederzugeben. Die alptraumhaften Bilder “von der Vermehrung der sonst auf jede Weise unterdrückten Arten” transzendieren die zeitgeschichtliche Dimension (Sebald, “Geschichte” 42). In ihrer Symbolik verweisen sie auf das Spannungsverhältnis antithetischer Pole, das Nossack in seinem Leitprinzip der Fassung umrissen hat. Wie der über Jahre unterdrückte Hass dringt dasjenige, was die Fassung zu verdecken versuchte, im Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung an die Oberfläche. Folgend soll nun Nossacks Behauptung, Hamburgs Untergang habe “eine Art Befreiung” bzw. eine “Ablösung von Familie und Konventionen” herbeigerufen (Rudolph 185), kritisch beleuchtet werden. Wie sich zeigen wird, hatte der vermeintliche Bruch mit der Vergangenheit weit ambivalentere Ursachen und Folgen als der Schriftsteller in der Öffentlichkeit preisgeben wollte. Nachdem die Gedankenspiele über die Sintflut bittere Realität geworden waren, distanzierte sich Nossack von der Frage, was man im Falle einer Katastrophe hinüberretten sollte. Die darüber geführten Gespräche verwirft er im “Untergang” als “geistreiches Geschwätz” und “Prahlerei” (207). Grundlegend zum Gesinnungswandel trug die Einsicht bei, dass es unsinnig sei, überhaupt etwas aus der Vergangenheit hinüberzuretten: “[W]o war dann etwas, das uns so notwendig schien, daß wir uns bis zum letzten Atemzug dafür eingesetzt hätten? ” (207). In seinen Tagebuchaufzeichnungen kommt Nossack auf den Vergangenheitsbruch wiederholt zu sprechen. Am 18. August 1944 räumt er ein, “Sintflut und Untergang” habe Luftkrieg und Legende 169 er herbeigewünscht, um von der “Last der Gewohnheiten” befreit zu werden, “die nicht mehr zu unserem Wesen paßten” (20). Ein Umbruch sei notwendig gewesen, weil der Mut, die Lebensumstände “freiwillig” zu verändern, gefehlt habe (20). Jahre später, am 16. Dezember 1960, konstatiert Nossack, die Zerstörung Hamburgs habe ein Erwachen aus einer verlogenen und scheinhaften Lebensführung signalisiert, die 1933 nach den Hausdurchsuchungen eingesetzt habe: “Sehr seltsam und nicht gerade heroisch, daß die Befreiung nur möglich war, indem die Gefängnismauern von außen her und durch andre Mächte zum Einsturz gebracht wurden” (451). Die Frage stellt sich, wovon genau sich Nossack befreien lassen wollte. War es vielleicht das von der Hitlerdiktatur erzwungene “Exil” in den kaufmännischen Beruf, der ihn vom Schreiben ablenkte (vgl. Nossack, “Jahrgang 1901” 140)? Nossack kam das Jahrzehnt vor 1943 einem Totenreich gleich, in dem er die Gefahr, die von den Nationalsozialisten ausging, in charakteristischer Manier “durch ein Ausweichen und Verschwinden ins Schweigen” bannte ( Tagebücher 451). Jedoch ist eine alternative Interpretationsmöglichkeit im “Untergang” erschließbar, wenn man Nossacks Einwand, der Text sei ein intimes Bekenntnis, beim Wort nimmt. Der in der Nossack-Forschung wiederholt diskutierte Angelpunkt im “Untergang” ist die eigentümliche Epiphanie, die Nossack während der Rückfahrt in die Ruinenstadt Hamburg widerfährt. Im Gesamtgefüge des Berichts stellt sie den Gegenpol zur davor beschriebenen Hilflosigkeit in der hasserfüllten Natur dar. Statt Verzweiflung bewirkt der Verlust der Besitztümer ein euphorisches Glückgefühl im Erzähler-Ich: Da überkam mich, ich weiß nicht woher, ein so echtes und zwingendes Glücksgefühl, daß es mich Mühe kostete, nicht jubelnd auszurufen: Nun beginnt endlich das wirkliche Leben. Als ob eine Gefängnistür vor mir aufgesprungen wäre und die klare Luft der längstgeahnten Freiheit schlüge mir entgegen. Es war eine Erfüllung. (228) Im Beitrag “Zwischen Geschichte und Naturgeschichte” deutet Sebald Nossacks Epiphanie-Erlebnis als eine Reaktion auf die erblickte Trümmerlandschaft, die den baldigen Zusammenbruch der NS-Diktatur symbolisierte. Angesichts der ungeheuren Verwüstung habe sich Nossack dazu verpflichtet gefühlt, das “Skandalon” der erlebten Euphorie “durch die Kultivierung eines Bewußtseins der Mitschuld und Mitverantwortung auszugleichen” (351). Sebalds Argumentation bezieht sich auf Nossacks Parallelisierung des eigenen Schicksals mit demjenigen von Hamburg. Der Impetus für diese “Art der Gewissensforschung” sei aus “dem Skrupulantismus der Überlebenden entsprungen, der Scham‚ ‘nicht zu den Opfern zu gehören’” - eine Disposition, die “später zu einer zentralen moralischen Dimension der westdeutschen Literatur” werden sollte (351). Das “echte und zwingende Glücksgefühl” scheint neben dem zeitgeschichtlichen 170 Christoph D. Weber Verweis auf die prekäre Lebenssituation im Dritten Reich und der Schuldfrage, inwiefern die Katastrophe durch eine quietistische Haltung begünstigt worden sei, eine privatere, auf die eigene Person bezogene Ursache zu haben. Auffallend ist, dass Nossack sich dazu bekennt, die Deutung zur kathartischen Erfahrung “nicht zu geben wage” (227) und auf die Beschreibung des Epiphanie-Erlebnisses sogleich die Erinnerung an ein Gespräch mit seiner Frau folgt: Und doch muß auch Misi etwas Ähnliches empfunden haben. Ein paar Mal, wenn wir über unsere Zukunft zu sprechen versuchten, sagte sie mir, daß sie das Gefühl habe, jetzt böte sich mir meine letzte große Chance, die ich nicht versäumen dürfe. Meinte sie damit wirklich nur die lähmenden Kompromisse, in die wir uns aus Bequemlichkeit oder falscher Rücksicht verstrickt hatten, und die wir nun nicht mehr einzuhalten brauchten, da eine höhere Gewalt sie zerrissen hatte? (228) Nossack unterstreicht die Selbstreflexion mit der Frage, ob es sich hier “wirklich nur um ein ganz persönliches Gefühl” handle (229). Wenn dies zuträfe, dann “würde es nicht in diesen Bericht gehören” (229). Mithilfe Nossacks Tagebuchaufzeichnungen lässt sich eine von der Forschungsliteratur nicht in Betracht gezogene Erklärung für das befreiende Glücksgefühl rekonstruieren. Im Eintrag vom 25. September 1943 fasst Nossack den Inhalt der verbrannten Tagebücher zusammen und verweist vage auf einen im Sommer 1942 ereigneten Zwischenfall, der vor Hamburgs Untergang eine tiefgreifende Krise ausgelöst haben muss. Das Ereignis ließ ihn “auf schmerzlichste Art” seine “Grenzen erleben” und stellte alles in Frage, was er sich “zu sein einbildete” (9). Nach Kriegsende kommt Nossack am 31. März 1946 nochmals auf sein “unecht” gewordenes Leben zu sprechen, das lange vor 1945 angefangen habe. Auch hier spielt das Ereignis von 1942 eine entscheidende Rolle: Es war schon lange vor 1945 fühlbar, daß dies Leben unecht geworden war. Ein Durchbruch nach außen wurde immer nötiger, und es kostete eine übermäßige Anstrengung, die Fassade aufrechtzuerhalten; das Ereignis von 1942 zeigte, wie leicht sie ins Wanken kommen konnte, und zugleich die Gefahr, daß sie mich beim Zusammenbruch unter sich begraben würde. Nun wurde mir 1943 durch ein grausam gütiges Schicksal dies falsche Dasein völlig zerstört. Von der Vergangenheit, ich meine von der äußeren, blieb nichts. So wie ich ohne Heim, ohne Kleidung, Gebrauchsgegenstände, Luxus, Bücher etc. war, lag ich auch psychisch auf der Straße, und es mußte sich erweisen, was ich als Nackter galt. Zunächst, wie gesagt, fehlte es nicht an Versuchen, wieder so zu beginnen, wie es vorher war. Alle diese Versuche scheiterten sofort an Ekel. (72) Die Juli-Bombenkatastrophe von 1943 hat sich mittlerweile als Zäsur in Nossacks Autobiographie verfestigt. Was ist aber mit der Gefahr eines Zusammenbruchs gemeint, der sich beim Untergang Hamburgs im darauffolgenden Jahr dann Luftkrieg und Legende 171 auch im wahrsten Sinne des Wortes verwirklicht hat? Im gleichen Tagebucheintrag rekapituliert Nossack nochmals den Auslöser des Wandlungsprozesses zu einem öffentlich anerkannten Schriftsteller, der mit der Veröffentlichung seiner geretteten Manuskripte endlich die erhoffte Erfüllung finden sollte: [D]en Beginn der Wandlung - oder den Zusammenbruch des bisherigen - sehe ich jetzt ganz klar in dem Ereignis von 1942. (…) Wie sehr ich damals buchstäblich zitterte und völlig schutzlos war, wie leicht dies Ereignis für mich und andere hätte tragisch auslaufen können, läßt sich kaum ermessen. Doch gleichzeitig mit diesem Ereignis lernte ich den Suhrkamp-Verlag und Kasack kennen. Ich wurde zum ersten Mal nicht als Sohn meines Vaters, nicht als verschlossener Sonderling behandelt, sondern als Dichter. Dies hängt mit dem Ereignis zusammen, ja es ist wohl eigentliche Ursache. (73—74) Bei beiden Wendepunkten - 1942 und 1943 - wird eine negative Erfahrung in etwas Positiv-Produktives umgedeutet. Im ersten Zwischenfall handelt es sich, wie Gabriele Söhling eruieren konnte, um einen Ehebruch. Im August 1942 war Nossack nach Berlin gereist, um sich dort zum ersten Mal mit Peter Suhrkamp zu treffen. Mit Elly Rehbein, der Kassenführerin des Suhrkamp Verlags, die Nossacks Gedichtmanuskripte an den Cheflektor Hermann Kasack weitergeleitet hatte, kam es während des Besuchs “zu einem flüchtigen erotischen Abenteuer” (Söhling 106). Somit stellt sich heraus, dass Nossack mit der Auslöschung seiner verlogenen Existenz im Juli 1943 sich nicht nur einen Neuanfang für seine schriftstellerische Tätigkeit, sondern auch für sein Eheleben erhoffte. Daraus erklärt sich auch, warum er selbst nach Kriegsende sich davor sträubte, den für ihn so bedeutsamen Bericht der breiten Öffentlichkeit vorzulegen. Wie oben dargestellt, verheißt die Peripetie in Nossacks Biographie eine Befreiung von den aufgebürdeten Konventionen und Gewohnheiten. Es gilt aber auch festzuhalten, dass sie einen Kontrollverlust über das eigene Lebensumfeld einläutet. Das Individuum sieht sich als Spielball willkürlicher Schicksalsmächte, die im Unterschied zum christlichen Gott sich indifferent gegenüber dem Menschenwohl verhalten. Als Kehrseite der Euphorie setzt mit dem “Vergangenheitsverlust” eine Entfremdung zwischen dem Erzähler-Ich und der veränderten Realität ein, die im “Untergang” in der Form eines Märchens versinnbildlicht wird. Wie Christof Schmid darauf hingewiesen hat, handelt es sich dabei um die Darstellung einer durch den Zusammenbruch induzierten Neugeburt (30). Allerding gestaltet sich die postkatastrophische Welt alles andere als fürsorglich: “Es war einmal ein Mensch, den hatte keine Mutter geboren. Eine Faust stieß ihn nackt in die Welt hinein, und eine Stimme rief: Sieh zu, wie du weiterkommst. Da öffnete er die Augen und wußte nichts anzufangen mit dem, was ihn umgab. Und er wagte nicht, hinter sich zu blicken, denn hinter ihm war nichts als Feuer” (“Untergang” 217). Unversehens ist das auf seine 172 Christoph D. Weber Kreatürlichkeit zurückgeworfene Subjekt sich selbst überlassen. Der nach der Hamburger Bombennacht vom 25. Juli 1943 eingetretene Schwebezustand, die Gefahr in den Abgrund abzustürzen, währte infolge der äußerst schwierigen Lebensbedingungen fort. Die verwüstete Stadt blieb bis zum Kriegsende das Ziel weiterer schwerer Luftangriffe und Nossack war es nicht möglich, einen zufriedenstellenden Ersatz für seine ausgebombte Wohnung zu finden. Am 10. September 1944 notierte er in seinem Tagebuch: Dies Gefühl der völligen Verlassenheit und daß es keine Engel gibt, die für uns streiten, daß es gar nicht um uns geht, sondern daß wir nur zufällig in Mitleidenschaft gezogen sind und wie ein Ährenfeld von den Stürmen niedergelegt werden, die über uns dahinbrausen. Und ferner, daß wir auch nicht diesen Trotz und Willen haben, uns diesem Sturm gegenüber zu stellen und Stolz zu beweisen, wie es uns Jahrtausende zu lehren sich bemühten, sondern nur ein Dulden, ein Ducken, um es vielleicht zu überstehen. (33) Selbst nach dem erhofften Wendepunkt blieb Nossack ein Gefangener seiner lähmenden Selbstzweifel. Auffallend ist wiederum sein Unvermögen, offen gegen die untragbaren Lebensumstände anzutreten. Bezeichnenderweise überträgt er in demselben Tagebucheintrag die selbstempfundene Ohnmacht auf die Affektlosigkeit, die er bei den Hamburger Flüchtlingen beobachtet hatte. Trotz der inkommensurablen Verheerungen hätten sie davor abgesehen, Anklage gegen die Verursacher zu erheben: Wie stark habe ich dies an den Flüchtlingen im Juli 1943 bei der Hamburger Katastrophe empfunden, dies Neue. Wer sprach da von dem Feinde, der die Stadt vernichtet habe? Wer fand darin Genügen, die Eigenen zu hassen, die diesen Feind herbeigerufen hatten. Wo dies geschah, war es nur ganz an der Oberfläche, aber alle wußten irgendwie, daß das, was mit uns geschah, so groß war, daß es mit Worten wie Freund und Feind nicht erklärt werden konnte. (33—34) Im “Untergang” wird ebenfalls das Aufwallen von Hassgefühlen gegen die alliierten Streitkräfte und das nationalsozialistische Regime dementiert. Zu diesem früheren Zeitpunkt schildert Nossack die Schicksalsergebenheit der Hamburger Stadtbevölkerung jedoch nicht als Resultat einer resignierenden Willenslosigkeit. Sie bezeuge vielmehr, dass die Leidtragenden unmittelbar nach dem existentiellen Zusammenbruch ihre Haltung zu bewahren vermochten: “Dies alles muß einmal gesagt werden: denn es gereicht dem Menschen zum Ruhm, daß er am jüngsten Tage sein Schicksal so groß empfand” (227). Niemand habe sich dazu hinreißen lassen, “Aufstand und Unruhe” zu stiften: “Nicht nur die Feinde, sondern die eigenen Behörden haben sich hierhin verrechnet” (225). Da die wahre Urheberschaft der Katastrophe sich dem menschlichen Fassungs- Luftkrieg und Legende 173 vermögen entzogen habe, seien die Überlebenden den Vergeltungsgedanken ferngeblieben. Auch der Feind, so schlussfolgert Nossack dezidiert, “war für uns höchstens ein Werkzeug unkennbarer Mächte, die uns zu vernichten wünschten” (227). Bezeichnend ist, dass sowohl die Nationalität als auch die Parteizugehörigkeit der “Feinde” und “Machthaber” verschwiegen werden. Bezüglich der Frage, wer die Schuld an der Katastrophe zu tragen habe, blendet Nossack die zeitgeschichtlichen Bezüge zu Politik und Ideologie aus. In dieser Hinsicht ist die im “Gespräch vor der Katastrophe” thematisierte Gefahr der Fassungslosigkeit erfolgreich abgewendet worden. Die “Operation Gomorrha” konnte weder die Moral der Stadtbevölkerung brechen noch anarchistische Zustände herbeiführen. Ein Schwätzer, der “von Vergeltung und Vernichtung der Feinde durch Giftgas” zu reden angefangen habe, sei mit Faustschlägen diszipliniert worden. Wenn sich dieser Zwischenfall tatsächlich ereignet habe, so urteilt Nossack, dann sei er geschehen, “um eine entweihende Dummheit zum Schweigen zu bringen” (227). Zwischen Nossacks Bemerkungen über die vorbildliche Haltung der Überlebenden und den nationalsozialistischen Propagandaparolen, die in Nachfolge von Hamburgs Zerstörung im Juli 1943 verbreitet wurden, zeichnen sich eigentümliche Überschneidungen ab. Vorab ist anzumerken, dass die Moral der Stadtbewohner nach den schweren Bombenangriffen sich “dramatisch” verschlechterte (Büttner 44). Um die Stimmung zu heben, griff die NS-Propaganda auf tradierte Topoi und rhetorische Muster aus vorangegangen Katastrophennarrativen zurück. Im Aufruf an die Bevölkerung der Hansestadt verwendete Gauleiter Karl Kaufmann das Wort “Katastrophe,” um die Singularität des Extremereignisses hervorzuheben: “Eine Katastrophe unerhörten Ausmaßes ist über unsere Stadt gekommen. (…) Alle planmäßigen Vorbereitungen gegen den feindlichen Luftterror, die seit langer Zeit mit allen verfügbaren Mitteln getroffen waren, können bei dem Umfang der Schäden nicht die Hilfe bringen, die notwendig ist” (1). Gerhard Farwick, Hauptschriftleiter des Hamburger Anzeigers , erörtert in seinem Leitartikel “Hamburger Front” ebenfalls die Besonderheit des Bombardements: Wir wissen, daß der eine oder der andere sich in der Nacht der Not und vor den brennenden Trümmern seines Hauses verlassen vorkommen konnte, wir wissen, daß bei manchem der Glaube erschüttert zu werden drohte, wenn er nur Zerstörung und Tod in seiner Nähe sah und keine rettende Hilfe, aber keine menschliche Voraussicht konnte eine solche Katastrophe ahnen und danach Abwehrvorbereitungen treffen. (1) Durch die Chiffre “Katastrophe” gewinnen die verheerenden Luftangriffe den Anschein entfesselter Naturkräfte, die jegliche Schutzmaßnahmen zunichte machen und willkürlich Tod und Verderben bringen. Der herbeigezogene Kata- 174 Christoph D. Weber strophenbegriff kaschiert die Ohnmacht des Staatsapparats und erlaubt den Behörden, sich der Verantwortlichkeit zu entziehen. Erhellend dazu ist die Passage aus dem 1947 erschienenen Bericht Halt wacht im Dunkel von Hiltgunt Zassenhaus, die Zeugin der unmittelbaren Folgen der Juliangriffe auf Hamburg war: Zum erstenmal rollen über eine deutsche Stadt Großangriffe. Doch noch arbeitet die Propagandamaschine. Sie prägt ein Schlagwort, das zwar Vernichtung zugibt, sie aber als etwas Einmaliges, nie mehr sich Wiederholendes darstellt. Sie nennen es ‘Katastrophe’. Lautsprecherwagen und die in panischer Hast gedruckten und herausgeschleuderten Lappen sprechen von Hamburgs ‘Katastrophe’. Die Katastrophe - ein Unglück - etwas Unvorhergesehenes! Wer könnte die Partei dafür zur Verantwortung ziehen? Höhere Gewalt! (136) Obschon Nossack “kein Ohr” für die in den Zeitungen verbreiteten “Ausdrücke wie Luftpiraten oder Mordbrenner” hatte - schließlich schimpfte ja niemand gegen den “Feind” und wer gegen dieses Gebot verstieß, wurde “windelweich geprügelt” (227) - so verabsolutiert er wie die NS-Propaganda den Untergang Hamburgs zu einem beispielslosen Geschichtsereignis. Das grauenhafte Ausmaß der “Katastrophe” sprengt den Rahmen des menschlich Vorstellbaren und aufgrund der transzendentalen Überhöhung nimmt das Extremereignis die Aura des Erhabenen an. Hamburgs Zerstörung gestaltet sich zu einem Schicksalsschlag, der von einer opaken Eigengesetzlichkeit des Kriegsgeschehens zeugt, wogegen der Einzelne nichts auszurichten vermag. Eine derartig fatalistische Haltung ist in den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS in Nachfolge der “Operation Gomorrha” dokumentiert worden. In den “SD-Berichten zu Inlandsfragen vom 5. August 1943” steht: Gerade aus dem Luftkrieg ergibt sich für breiteste Volkskreise die Empfindung, daß man aufgrund der eigenen Einsatzkraft die Dinge nicht wenden kann, sondern daß sie - einmal entfesselt - sich gewissermaßen selbständig gemacht haben , und der Krieg sich nach Gesetzmäßigkeiten entwickelt, auf die wir kaum noch Einfluß nehmen können. (…). Durch dieses Ausgeliefertsein veränderte sich in Teilen des Volkes die Einstellung zum Krieg von Grund auf, und selbst vielen Volksgenossen, die sich in der Heimat aktiv und kämpferisch in das Kriegsgeschehen einordnen wollen, erscheine der Aufruf der Leidenschaft, der Standfertigkeit der Herzen und einer soldatischen Tapferkeit in der Heimat gegenüber der hereinbrechenden Wucht der Massentechnik einfach sinnlos . (5578—79) Um die drohende “November-Stimmung” bzw. den Autoritätsverlust des Staatsapparates zu unterbinden, instrumentalisierte die NS-Propaganda das bereits in frühneuzeitlichen Katastrophennarrativen verankerte Topos der Schicksalsgemeinschaft (Weber 73). Der Vernichtungsschlag gegen die Hansestadt vermochte das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Überlebenden nicht zu brechen: Luftkrieg und Legende 175 “Die so schwer Betroffenen sollen das Gefühl haben, daß unsere Gemeinschaft sich in der Stunde größter Bewährung auch als das beweist, was sie sein soll: als eine verschworene Kameradschaft” (Farwick 1). Nossack preist im “Untergang” ebenfalls die Standhaftigkeit der Stadtbewohner. Ihre tugendhafte Haltung manifestierte sich aber in Abgrenzung zu den Maßnahmen der Machthaber. Es sei keine Apathie gewesen, die die Überlebenden davor abgehalten habe, zu rebellieren. Jeder habe offen seinen Unmut geäußert und den Staat mit Verachtung bestraft, indem man ihn als “etwas völlig Nebensächliches” behandelt habe: “Es war ein Augenblick, wo sich der Mensch nicht mehr als der Sklave seiner Einrichtungen zeigte” (226). Sowohl Nossack als auch die NS-Propaganda greifen auf parallele Denkmuster zurück, um die traumatischen Folgen der Hamburger “Katastrophe” und die eskalierenden Luftangriffe auf deutsche Ziele sinnhaft zu bewältigen. Die Auslöschung einer Großstadt gerinnt zu einem unerhörten Schicksalsschlag, der die Zivilbevölkerung vereint und prüft. Nossack verlegt die Sinnbestimmung in den privat-individuellen Bereich: Den Vergangenheitsverlust erhebt er zu einer persönlichen Chiffre, die für ihn eine Befreiung von der “Last der Gewohnheiten” bedeutet. Im Gegensatz dazu deutet der apokalyptische Diskurs der Nazi-Ideologen die unaufhaltbare Zerstörung Deutschlands als einen notwendigen Läuterungsprozess, der in der Neugeburt der Nation münden werde. Beispielhaft ist der Leitartikel Robert Leys, Reichsleiter der NSDAP, der am 3. März 1945 als Replik auf die Bombardierung Dresdens im vorangegangenen Februar in der Berliner Gauzeitung Der Angriff erschien. Wie Ley bereits im Titel “Ohne Gepäck” ankündigt, begrüßt er das Wegbomben des als Altlast bemängelten Bürgertums: Das Schicksal hilft uns dabei, Tag für Tag, indem es in den endlosen Trecks, reich und arm, hoch und niedrig, eng zusammenführt und alle bürgerlichen Vorurteile im Glutofen verbrennt. Dasselbe gilt für die Menschen in den schwergeprüften Bombenstädten. Wie wollte jemand im Feuersturm brennender Straßen seine bürgerliche Standesfahne erheben! Auch die Salons sind verbrannt und die Zirkel, in denen man kleine Rebelliönchen vorbereitete, sind nicht mehr. (2) Wie der Verlust persönlicher Besitztümer als etwas Befreiendes umgemünzt werden kann, demonstriert Ley anhand einer Anekdote eines Kölner Freundes: Mein Haus ist abgebrannt. Meine Möbel und alles, was ich besitze mit. Und jetzt habe ich nur noch das, was ich auf dem Leibe trage. Ich bin fast glücklich, daß nun alles vorbei ist, daß [ich] nicht immer um all das bangen muß, keine Koffer mehr in den Keller zu schleppen brauche, mit einem Wort, daß ich aller Sorge um diese irdischen Dinge frei bin. (1) 176 Christoph D. Weber Die aus dem Katastrophendiskurs gewonnenen Darstellungsmuster lassen sich von beliebiger Seite in Beschlag nehmen. Da Nossack keine konkrete Stellungnahme zu den politisch-ideologischen Positionen im Kriegsgeschehen einnimmt und stattdessen Hamburgs Untergang weitgehend als eine persönliche Schicksalserfahrung schildert, eröffnen sich Lesearten, die den Textinhalt problematisieren. Man braucht nur die mystifizierende Formulierung, der Feind sei ein “Werkzeug unkennbarer Mächte” gewesen, “die uns zu vernichten wünschen” mit dem antisemitischen Stereotyp der jüdischen Weltverschwörung in Verbindung zu bringen und schon zerbricht Nossacks Distanzierung von der nationalsozialistischen Darstellung der anglo-amerikanischen “Terrorangriffe.” Der in diesem Beitrag noch zu besprechende Problempunkt, den Nossack im Zusammenhang mit der Zerstörung Hamburgs im Juli 1943 zu verschleiern versuchte, betrifft seine Behauptung, dass sämtliche unveröffentlichte Werke den Bränden zum Opfer gefallen seien. “Der Untergang” und seine Briefe belegen aber, dass von einem Gesamtverlust nicht die Rede sein kann. Während im Prosastück die verbrannten Tagebücher beklagt werden, zeigt sich Nossack angenehm überrascht, im Schreibtisch seines Kontors “einige Manuskripte” gefunden zu haben (238). Kurz nach der Fertigstellung des “Untergangs” bespricht er in seiner am 12. Dezember 1943 an Kasack zugeschickten Inventur ausführlich die zerstörten und geretteten Dramen ( Briefwechsel 23—37). Im gleichen Monat erhielt Nossack vom Salzburger Freund Max Felgitsch ein Exemplar des für ihn bedeutsamen Theaterstücks “Die Rotte Kain,” an dessen Umarbeitung er sogleich anfing (23). Die erste belegbare Aussage über die vermeintliche Vernichtung sämtlicher Manuskripte lässt sich im darauffolgenden Jahr verorten. In einem Brief vom 11. September 1944 schildert Nossack dem Zivilingenieur und Kulturförderer Karl Albin Bohacek die Schicksalsschläge, die ihm vom Veröffentlichen abgehalten hätten: Bei der Hamburger Juli-Katastrophe 1943 ist mir alles Geschriebene, was sich im Laufe von zwanzig Jahre angesammelt hatte, vernichtet worden, und was davon zu rekonstruieren war, ist dann wieder im Juni dieses Jahres verbrannt. Gerettet ist nur das, was schon beim [Suhrkamp] Verlag hinterlegt war und das ist keineswegs das, woran ich am meisten hänge. (Briefe) Der vorgebliche Gesamtverlust des Geschriebenen geschah beim schweren Luftangriff vom 18. Juni 1944. Eine Bombenexplosion riss den Geldschrank, in dem die verbliebenen Manuskripte enthalten waren, in den Keller des Kontors, wo er acht Tage lang in der Glut schmorte. Als der Tresor aufgeschweißt wurde, stellte sich glücklicherweise heraus, dass das Papier nicht verkohlt, sondern nur geröstet war. Ende 1945 begann Nossack mit der Restaurierung der in den Dreißiger- Luftkrieg und Legende 177 jahren verfassten Theaterstücke “Die Hauptprobe” (1933), “Über die Freiheit” (1934) und “Der Hessische Landbote” (1936), die er beim Suhrkamp Verlag unterbringen wollte ( Briefwechsel 143). Im Juni 1946 zerwarf sich Nossack aber mit Peter Suhrkamp und wechselte daraufhin zum Krüger Verlagshaus. Anfang 1947 gab der Verlag zu Werbezwecken bekannt, die “Manuskripte von Nossack seien 1943 bei den Bombardements vernichtet worden, indes seien einige Texte erhalten” (Italiaander 152). Insofern trifft Marcus Czerwinokas Vermutung, “Nossacks Darstellung seines erlittenen Verlusts” sei kein “originär von ihm initiierte[r], jedoch unterstützte[r] (…) Versuch, (…) im literarischen Feld der Nachkriegszeit Fuß zu fassen,” nicht zu (278). Wie der Brief an Bohacek darlegt, hat Nossack schon während des Krieges die unzutreffende Behauptung aufgestellt, seine literarischen Erzeugnisse seien allesamt im Bombenhagel vernichtet worden. Der “Gesamtverlust” der vor Juli 1943 entstandenen Texte wie auch das vorgebliche Publikationsverbot von 1933 bis 1945 finden ihre einschlägige Formulierung in Nossacks Antrag vom 28. Oktober 1948 an das Hamburger Amt für Wiedergutmachung. Um von den Behörden eine bessere Wohnung zugeteilt zu bekommen, stilisiert er sich darin zum Opfer der NS-Diktatur: Wegen meiner politischen Einstellung bis 1933 und nachher, wofür Sie anliegend zwei Zeugenaussagen finden, geriet ich selber in Gefahr und hatte als Schriftsteller, da ich von der damaligen Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen war, keine Möglichkeit zu veröffentlichen. Auch noch im Jahre 1941, als der Suhrkamp-Verlag, Berlin, einen völlig unpolitischen Gedichtband von mir veröffentlichen wollte, stiess er beim Propaganda-Ministerium meinetwegen auf Schwierigkeiten, die dies unmöglich machten. (Eine Zeugenaussage vom Suhrkamp-Verlag habe ich vor ein paar Tagen angefordert. Wegen der langen Postdauer nach und von Berlin, werde ich dieselbe nachliefern müssen, wenn es notwendig ist). Mit anderen Worten, ich gehörte zur Kategorie ‘Unerwünscht’. Die indirekte Folge dieses Nicht-Veröffentlichen-Dürfens war, dass mir mein gesamtes zehn-bis-fünfzehnjähriges Werk im Juli 1943 bei der Ausbombung vernichtet wurde. ( Briefwechsel 444) Der geplante Gedichtband, der erst 1947 mit verändertem Inhalt beim Krüger Verlag erschien, war dem Propagandaministerium jedoch niemals zur Begutachtung vorgelegt worden (vgl. Buhr 218—19). Brisant ist zudem, dass Nossack acht Tage zuvor den Suhrkamp Verlag um eine kolportierende Zeugenaussage gebeten hatte. In einem bislang unveröffentlichten Brief instruiert er seinen Mentor Kasack, wie dieser die Bescheinigung zu formulieren habe. Es handle sich darum, nachzuweisen, dass es, sagen wir ab 1941, dem Suhrkamp-Verlag unmöglich war, mich zu veröffentlichen, oder vom damaligen Propaganda-Ministerium die Genehmigung 178 Christoph D. Weber zu erhalten. Praktisch war es ja damals auch so, dass Sie oder Herr Suhrkamp mir sagten, wir dürften uns nicht einem einmaligen Nein aussetzen, weil ich dann für immer erledigt wäre usw. (…) Sie werden ja aus der kurzen Schilderung entnehmen können, wie der Inhalt ungefähr sein muss, dass er seine Wirkung tut. Ich habe eine grosse Abneigung gegen diesen Weg und noch nie davon Gebrauch gemacht, aber das Messer sitzt mir verdammt an der Kehle, und ausserdem sehe ich, wie jeder Feld, Wald- und Wiesen-Nazi sich besser zurechtschiebt, als ich. Wie gesagt, ich brauche das Ganze nur für meine Wohnungsangelegenheit. (Briefe) Nossacks Behauptung, dass die Falschaussagen über eine Benachteiligung während des Dritten Reichs sich auf die “Wohnungsangelegenheit” beschränken würden, hat sich in der Nachfolgezeit bis zu seinem Lebensende im Jahr 1977 nicht bewahrheitet. In den autobiographischen Glossen und Interviews vertrat er von nun an den doppelten Standpunkt, er habe einem Publikationsverbot unterlegen und aus genau diesem Grund sämtliche unveröffentlichte Manuskripte bei der Juli-Katastrophe von 1943 verloren. Diese Äußerungen haben sich spätestens mit der 2001 erfolgten Veröffentlichung von Nossacks Antrag auf die Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer im Oktober 1942 7 und dem Auffinden der als verloren gegoltenen Schriften im Deutschen Literaturarchiv Marbach als Legendenbildungen um die eigene Person entpuppt (vgl. Czerwionka 276—77). Eine Mitgliedschaft erwies von Seiten der Reichsschrifttumskammer als hinfällig, nicht weil Nossack als unerwünscht kategorisiert wurde, sondern weil seine “schriftstellerische Tätigkeit” zu diesem Zeitpunkt “nur gelegentlicher Art oder geringfügigen Umfanges” gewesen war ( Briefwechsel 638). 8 Es hat sich herausgestellt, dass Nossacks äußere, an die Öffentlichkeit gerichtete Biographie auf Selbstzeugnisse basiert, welche die in der Nazi- und Kriegszeit erlebten Ängste, Rückschläge und Selbstzweifel verfälscht wiedergeben. Die Kurzschließung persönlicher Schicksalsschläge - das vermeintliche Schreibverbot, die Flucht in die väterliche Firma, die völlige Vernichtung der Manuskripte und Besitztümer - mit der Zerstörung Hamburgs, die Tausende ins Elend gestürzt hatte, machte es möglich, sich nachträglich als Geschädigter der Nazi-Herrschaft zu profilieren. In den drei Nachkriegsjahrzehnten konkretisiert sich Nossacks Sinngebung, dass zeitgleich mit der Bombennacht vom 24. auf den 25. Juli 1943 sowohl eine Neugeburt als auch ein Erwachen aus der Amnesie des “lebenlosen” Nazi-Alltags geschehen sei (Nossack, “Leben” 64—65). Die Katastrophenerfahrung habe die Möglichkeit eröffnet, sich vom falschen Dasein zu befreien. Paradoxerweise verfangen sich Nossacks Bekenntnisse über die schicksalshafte Lebenswende in Falschaussagen über seine Person. Der Abgleich zwischen den autobiographischen Äußerungen, den Tagebuchaufzeichnungen und dem Briefwechsel hat aufgezeigt, dass Nossack selbst nach dem Luftkrieg und Legende 179 Untergang des Dritten Reichs sich der Öffentlichkeit nicht unverfälscht zur Schau stellen konnte. Fakt ist, dass weder nach der Juli-Katastrophe von 1943 noch nach 1945, der sogenannten “Stunde Null,” ein vollständiger Bruch Nossacks mit der Vergangenheit erfolgte. Sämtliche Dramen, die der Schriftsteller in den ersten Nachkriegsjahren zu publizieren beabsichtigte, waren während oder schon vor der Nazidiktatur entstanden. “Die Rotte Kain” wie auch “Die Hauptprobe,” beides Stücke, die zur Publikation und Aufführung gelangten, ließ Nossack 1951 im Zeitungsartikel “Über das Eigenleben von Manuskripten” kurzerhand wiederauferstehen. Der Rest der geretteten Dramen galt weiterhin als unwiederbringlich verloren. Hingegen beinhaltet Nossacks Bekennertext “Der Untergang” Aspekte der inneren Biographie, die durch gesteigerte Gefühlsaffekte gekennzeichnet sind. In mehreren Anläufen wird im “Untergang” der Versuch unternommen, die Verheerungen der Hamburger Bombenangriffe in Worte zu fassen. Infolge der traumatischen Katastrophenerfahrung kommt es neben dem euphorischen Glücksgefühl zum Ausbruch des Hasses oder zu surreal-hyperbolischen Schreckensschilderungen, die den Ekel vor der Trümmerfauna ausdrücken. Nossacks Zeugnis weist einen ausgeprägt subjektiven Blickwinkel auf, der das Innenleben des Autors aufdeckt. Demnach ist den Urteilen aus der jüngeren Nossack-Forschung, der Bericht sei nur beschränkt eine faktenorientierte Dokumentation über die “Operation Gomorrha,” beizustimmen (vgl. Stephan 308; Williams, “Rascheln” 217—18). Wie oben ausgeführt, rührt das Hassgefühl von Nossacks Desillusion über sein Eheleben und die nicht vorankommende Schriftstellerkarriere her. Seine wiederholten Bemerkungen über den Einfluss einer höheren Gewalt, die das Leben schlagartig in neue Bahnen zu lenken vermag, bezeugen die Ohnmacht, autark über die eigene Existenz bestimmen zu können. Als Prophylaxe gegen den inneren und äußeren Zusammenbruch rekurriert Nossack auf das Leitprinzip der Fassung. Nicht das Aufschreien, sondern das Schweigen verschafft Stabilität innerhalb des an sich verhassten Lebensumfelds. Um die verbleibendende Verzweiflung zu sublimieren, bietet sich das Schreiben als ein Therapeutikum an. Zehn Jahre nach Kriegsende setzte Nossack den Gedanken fort, dass ein drohender Fassungsverlust durch Verschweigen unterbunden werden könne. Am 17. Juli 1955 resümiert er in seinem Tagebuch selbstkritisch: Der Haß erzieht zur Schweigsamkeit, damit er nicht zur Unzeit und aus Versehen zum Ausbruch kommt. Es mag auch ein Versuch sein, ihn durch Schweigen zu neutralisieren. Aber zugleich wird ihm dadurch jedes Ventil genommen, das ist die Gefahr. Man könnte sagen, das Motiv meines Schreibens sei, einen Ausgleich zwischen diesen beiden Gefahren, der des Hasses und der des Verschweigens, zu schaffen. Kein sehr edles Motiv! (304) 180 Christoph D. Weber Notes 1 Die diesem Beitrag zugrundeliegende Forschungsarbeit wurde durch die großzügige Unterstützung eines Suhrkamp-Stipendiums vom Deutschen Literaturarchiv Marbach ermöglicht. Ich möchte mich auch bei Dr. Jennifer Jenkins für ihre kritische Durchsicht dieses Beitrags bedanken. 2 Dasselbe Unglücksomen spielt eine gewichtige Rolle in der Erzählung Nekyia , die er vor der Juli-Katastrophe im März 1942 begonnen und 1947 beim Wolfgang Krüger Verlag publiziert hatte (37—38; vgl. Williams, Mythische 122). 3 Vgl. die korrespondierende Stelle in “Gespräch über die Katastrophe”: “(…) Oder man wird wie jener Indianer, der als letzter von seinem Stamme übrigblieb, am Meeresstrande sitzen und sich fragen: Was soll ich nun machen? Soll ich Orion werden? ” (59). In der Kurzprosa “Das Märchenbuch,” die in der Sammlung Interview mit dem Tode erschien, gibt Nossack den 1921 von Theodor Koch-Grünberg herausgegebenen Band Indianermärchen aus Südamerika als Quelle für das Orion-Märchen an (138). Das sich darin befindende Märchen Epetembo weist den Satz “Soll ich Orion werden? ” auf (Koch-Grünberg 77), jedoch fehlen jegliche Bezüge auf ein Katastrophenereignis (vgl. Williams, Mythische 137). Nossack greift dasselbe Motiv im 1947 veröffentlichten Gedicht “Das Ende” auf: “Siehe, die Welt zerbrach,/ weil wir uneinig./ Am Strande, ach,/ Letzter nun wein ich” (24). 4 Vgl. der von Hans Geulen aufgezeigte thematische Dreischritt “Untergang, Übergang und äußerste Möglichkeit der Gestalten” in Nossacks “Untergang” (146). 5 Vgl. folgende Stelle in Nossacks “Untergang”: “Auch liefen die wildesten Gerüchte um: In Hamburg wären Seuchen ausgebrochen und es würde niemand über die Elbbrücke gelassen. Oder auch umgekehrt: Man käme nicht wieder heraus, jede brauchbare Kraft würde dort festgehalten. Dies alles entsprach nicht den Tatsachen oder stimmte nur halb” (218—19). 6 Über das im Hamburger Stadtteil Hammerbrook errichtete Sperrgebiet siehe Hautschild-Thiessen 244; Brunswig 298; Lowe 275—78. 7 Der vollständige Antrag wurde im Anhang von Söhlings herausgegebenem Briefwechsel 1943—1956 veröffentlicht (637—45). 8 Weiterführend zu dem sich hartnäckig haltenden Mythos von Nossacks Schreibverbot während der NS-Zeit siehe Williams, Mythische 17—18; Buhr 40; Dammann 227—28. Luftkrieg und Legende 181 Works Cited Agee, John. “Foreword.” The End. Hamburg 1943 . Hans Erich Nossack. Übers. John Agee. Chicago: Chicago UP, 2006. ix—xxi. Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie . Bd. 10. Leipzig: F. A. Brockhaus Verlag, 1885. Bienek, Horst. “Hans Erich Nossack.” Werkstattgespräche mit Schriftstellern. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1976. 85—101. Boberach, Heinz, Hrsg. Meldungen aus dem Reich. 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