Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/0901
2017
503-4
Gehorsame Subjekte
0901
2017
Manuel Clemens
Der Artikel vergleicht das theatralische Auftreten zweier gehorsamer Subjekte und seine unterschiedlichen Auswirkungen. Als Vorlage für die klassische Untertanenfigur dient Heinrich Manns Roman Der Untertan; gegenwärtige Formen der Gehorsamkeit und der geistigen Verfassung eines Untertans liefert Joachim Zelters gleichnamiger Roman. Der Hauptunterschied dieser beiden Untertan-Erzählungen zeigt sich vor allem im Erfolg ihrer Inszenierungen: Während sich Heinrich Manns Untertan mit seinem autoritären und dominaten Auftreten durchsetzen kann und in der Gesellschaft zu reüssieren vermag, führt es Zelters gegenwärtigen Untertan regelrecht in den Untergang. Er kann aus seiner Schwäche keine Stärke mehr machen und zu einer Radfahrernatur werden, die einerseits erbarmungslos nach unten tritt und auf der anderen Seite immer darauf bedacht ist, sich nach oben brav zu ducken. Der eine interveniert sich mit seinen „falschen Projektionen“ (Adorno) in der Politik des Kaiserreichs, beim anderen kann von Intervention überhaupt nicht mehr die Rede sein. Stattdessen wird er zum Anhänger und Zuarbeiter eines charismatischen Politikers. Der gegenwärtige Untertan, so die These, bestimmt mit seinem (theatralischen) Auftreten nicht mehr selbst, sondern wird zum Anhänger der Theatralität eines anderen, welcher ironischerweise aus der Künstlerfigur hervorgeht, die den klassischen Untertan zu Fall gebracht hat.
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Gehorsame Subjekte: Theatralität in den Untertan- Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) Manuel Clemens The National Australian University, Canberra Abstract: Der Artikel vergleicht das theatralische Auftreten zweier gehorsamer Subjekte und seine unterschiedlichen Auswirkungen� Als Vorlage für die klassische Untertanenfigur dient Heinrich Manns Roman Der Untertan ; gegenwärtige Formen der Gehorsamkeit und der geistigen Verfassung eines Untertans liefert Joachim Zelters gleichnamiger Roman� Der Hauptunterschied dieser beiden Untertan-Erzählungen zeigt sich vor allem im Erfolg ihrer Inszenierungen: Während sich Heinrich Manns Untertan mit seinem autoritären und dominaten Auftreten durchsetzen kann und in der Gesellschaft zu reüssieren vermag, führt es Zelters gegenwärtigen Untertan regelrecht in den Untergang� Er kann aus seiner Schwäche keine Stärke mehr machen und zu einer Radfahrernatur werden, die einerseits erbarmungslos nach unten tritt und auf der anderen Seite immer darauf bedacht ist, sich nach oben brav zu ducken� Der eine interveniert sich mit seinen „falschen Projektionen“ (Adorno) in der Politik des Kaiserreichs, beim anderen kann von Intervention überhaupt nicht mehr die Rede sein� Stattdessen wird er zum Anhänger und Zuarbeiter eines charismatischen Politikers� Der gegenwärtige Untertan, so die These, bestimmt mit seinem (theatralischen) Auftreten nicht mehr selbst, sondern wird zum Anhänger der Theatralität eines anderen, welcher ironischerweise aus der Künstlerfigur hervorgeht, die den klassischen Untertan zu Fall gebracht hat� Keywords: Heinrich Mann, Joachim Zelter, Erich Fromm, Theodor W� Adorno, Frankfurter Schule, Autorität, autoritärer Charakter, Theatralität 1918 veröffentlichte Heinrich Mann den Klassiker Der Untertan � Er handelt von dem obrigkeitshörigen Mitläufer Diederich Heßling und dessen politischem 270 Manuel Clemens Aufstieg im Kaiserreich des 19� Jahrhunderts� Heßling ist ein ungefestigter Mensch, der seine Ichschwäche durch militärische Tugenden, Nationalismus und Kaisertreue kompensiert� In seinen Studienjahren tritt er einer schlagenden Studentenverbindung bei und findet durch sie nicht nur persönlichen Halt und Anerkennung, sondern auch eine streng monarchische Gesinnung, nach der er die Menschen in zwei Gruppen aufteilt: In diejenigen, die für den Kaiser und in diejenigen, die gegen den Kaiser sind� Dadurch weiß Heßling genau, wer Freund und wer der Feind ist und auch, was zu tun ist, wenn er auf die Feinde der Monarchie trifft. Im hierarchischen Gefüge der Wilhelminischen Gesellschaft ist er ‚nach unten’ autoritätseinfordernd und erwartet, dass man ihm den gleichen Respekt zeigt, den er ‚nach oben‘ - und das ist natürlich vor allem dem Kaiser - entgegenbringt� Durch intrigantes Vorgehen steigt er nach dem Studium zu einer politischen Größe in seiner Heimatstadt auf und es gelingt ihm, die sozialdemokratischen Honoratioren herauszufordern und schließlich zu entmachten� Am Ende des Romans ist sein Aufstieg vollbracht� Er ist ein erfolgreicher Unternehmer, der Liberalismus und Sozialismus gleichermaßen im Zaum hält und seine eigene Vormachtstellung gesichert hat. Er identifiziert sich mit den Weltmachtambitionen des Kaisers und hofft auf einen Krieg gegen England und Frankreich. Joachim Zelter beschreibt 2012 eine Untertanenfigur der 1970er oder 80er Jahre� Der Protagonist Friederich Ostertag ist ähnlich ich-schwach wie Diederich Heßling, verfügt aber nicht über dessen Feindbilder und Aufstiegswillen� Im Zentrum dieser Untertanenbeschreibung steht daher kein kampfbereites Individuum, sondern ein schwacher Sohn, der in seiner Kindheit von seinem Vater zu etwas gemacht wird, was er nicht ist� Der Vater ist nämlich von dessen Hochbegabung überzeugt, stellt ihn überall als Wunderkind vor und fordert von ihm bereits vor der Schulzeit ein streberhaftes und aufstiegsorientiertes Erwachsenenleben� Für kindliches Fantasieren und Spielen lässt er ihm keine Zeit� Der väterliche Plan wird Friederich jedoch zum Verhängnis: Da er weder hochbegabt noch sonst sonst irgendwie aus der Menge herausragt, muss er das, was er nicht besitzt, vorspielen - ein Kompensationsverhalten, das ihn stets der Lächerlichkeit preisgibt� In diesem Wechselspiel aus väterlichen Erwartungen und schulischen Enttäuschungen kommt er nur knapp durch die Schule� An der Universität wird aus ihm ein ruhiger und sogar guter Student� Als sozialer Außenseiter bewältigt er das Leben vor allem, weil er sich dem charismatischen Lebemann von Conti unterordnet, für den er zuerst die Hausarbeiten schreibt und später, als dieser Politiker geworden ist, dessen dienender Assistent wird� Während von Conti das Leben in vollen Zügen genießt, ist es Friederich, der im Hintergrund die Arbeit erledigt. So findet er Auskommen und Anerkennung. Als der Charismatiker die Zusammenarbeit mit ihm aufkündigt, fühlt sich Frie- Theatralität in den Untertan -Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) 271 derich so leer und sämtlicher Sicherheiten beraubt, dass er sich am Ende des Romans umbringt� In dem Vergleich dieser beiden Untertan-Erzählungen soll es vor allem darum gehen, wie sich die Schilderung einer autoritätshörigen Persönlichkeit um 1900 von einem autoritätshörigen Narrativ der Gegenwart unterscheidet und ob Zelters Protagonist eine treffende Beschreibung von Autoritätshörigkeit in einem liberalen Zeitalter darstellt� Dabei stehen vor allem die formel- und rollenhaften Verhaltensweisen der Untertan-Figuren im Vordergrund, weshalb sich die Analyse am Begriff der Theatralität 1 orientiert� Die Verwendung des Theatralitäts-Begriffs konzentriert sich dabei vor allem auf zwei seiner Hauptkomponenten. Da ist einerseits die Aufführungs-Situation des Darstellers, der auf ein Publikum angewiesen ist, das ‚mitspielen‘ oder zumindest zuschauen muss und auch die Wahl hat, nicht mitzuspielen oder die Aufführung einfach zu verlassen. 2 Hier zeigt sich bereits, dass bei Diederich das Publikum mitspielt, während es sich von Friederich meist abwendet� Andererseits gilt es, die jeweilige Inszenierung zu untersuchen, d� h� die Strategien, mit denen sich der jeweilige Darsteller in Szene setzt sowie deren beabsichtigte Wirkung und Grenzen� 3 Hier fällt vor allem die Oberflächlichkeit der beiden Untertanencharaktere auf, die bei Diederich zu Erfolg und für Friederich meist zu Niederlagen führt� Diese Strategien gehen vom jeweiligen Schauspieler aus und können auch ohne Publikumsbezug und dessen Reaktion analysiert werden� Die zentralen Untersuchungen zur Theatralität in Manns Untertan stammen immer noch von Carl Friederich Scheibe (1966) und Rainer Nägele (1973)� Auf dieser Grundlage werden vor allem die Differenzen zu Zelters Untertanenroman in den Blick genommen und mit dem klassischen Untertan der Wilhelminischen Epoche verglichen� I. Das Rollenspiel Sowohl die Kindheit und Jugend von Diederich Heßling (der Untertan um 1900), als auch die Kindheit und Jugend von Friederich Ostertag (der Untertan der liberalen Epoche nach 1968) sind von der Tatsache geprägt, dass sie eine Rolle spielen� Beide fühlen sich dazu angehalten, Eigenschaften vorzutäuschen, die sie nicht besitzen� Allerdings gelingt dies Diederich um einiges besser als dem Untertan der Gegenwart� Über Diederichs erste Schultage heißt es: Diederich betrat sie [die Schule] heulend, und auch die Antworten, die er wußte, konnte er nicht geben, weil er heulen mußte� Allmählich lernte er den Drang zum Weinen gerade dann auszunützen, wenn er nicht gelernt hatte - denn alle Angst 272 Manuel Clemens machte ihn nicht fleißiger oder wenig träumerisch -, und vermied so, bis die Lehrer sein System durchschaut hatten, manche üblen Folgen� (Mann 2001, 12) Etwas später findet sich Diederich an der Schule schon besser zurecht und sein Ansehen steigt, nachdem er einen jüdischen Mitschüler schroff zurechtweist. Vor allem den Klassenlehrer hat er nun auf seiner Seite: „Er bekam es leichter seitdem� Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die Gunst des neuen Ordinarius besaß� Unter ihm brachte Diederich es zum Primus und zum geheimen Aufseher�“ (Mann 2001, 15) Friederich Ostertags erste Schultage verlaufen ähnlich erfolglos, weil er denkt, er müsse - wie sein Vater es ihm beigebracht hat - im Unterricht bloß den Schein wahren und formale Ansprüche ohne Inhalt erfüllen, um ein guter Schüler zu sein: Zu Beginn seiner Schulzeit dachte er noch, es gehe in einer Schule darum, einen Raum auszufüllen oder eine Zeit abzusitzen. Es gehe um Höflichkeit oder die Fähigkeit, in einer Fremde Haltung zu bewahren� Es gehe um Kulissen, die man hin- und herschiebe, so wie der Lehrer die Tafel hin- und herschob� Ein Buch war für ihn eine Art Dekoration, wie ein Blumenstrauß oder eine Tapete� Wer käme auf die Idee, einen Blumenstrauß oder eine Tapete ernsthaft zu lesen� (Zelter 2012, 19) Diese oberflächliche Einstellung zum Lesen und Lernen hat für ihn jedoch fatale Folgen� Friederich kommt im Unterricht nämlich nicht mit� Im Gegensatz zu Diederich findet er aber keinen Sündenbock oder Gelegenheiten, sich durch ein Doppelspiel nützlich zu machen: In manchen Momenten hörte er noch verständliche Fragen: Name? Alter? Beruf des Vaters? Und er konnte Antworten geben� Und er gab diese Antworten mit einer Vorahnung, dass er über diese Anfangsfragen hinaus lange keine Antworten mehr geben könnte. [ ] In den darauffolgenden Stunden bemühte er sich noch mit Gebärden. Er nickte heftig, sobald der Lehrer anfing zu sprechen, so als würde der Lehrer ausschließlich Dinge sagen, die Friederich schon längst wusste, und Friederich versuchte das unter Beweis zu stellen, indem er lautstark zustimmte, was immer der Lehrer auch sagte� (Zelter 2012, 30 f�) Durch ihren unterschiedlichen Umgang mit Schwäche verläuft die Entwicklung der beiden Untertane in verschiedene Richtungen� Während sich Friederich lächerlich macht und von seinem Vater zu unerfüllbaren Leistungen angetrieben wird, entdeckt Diederich in seiner Schwäche einen Trick, den er zu einem System der Täuschung ausbaut� Sein absichtliches Weinen wird zwar entdeckt, jedoch hat er damit vorübergehend einen Weg gefunden, aus seiner Schwäche eine Stärke zu machen� Heinrich Mann beschreibt anschließend sehr genau, wie Diederich dieses System im Laufe seiner Schulzeit gerissen ausbaut, indem er Theatralität in den Untertan -Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) 273 diejenigen, die seine Lügen durchschauen, respektiert und diejenigen, die sich von ihm täuschen lassen, seine dadurch gewonnene Macht spüren lässt� Seine Verhaltensweise entspricht damit der „Radfahrernatur“ 4 , die sich einerseits, wenn die Macht von oben kommt, duckt und andererseits, wenn sie auf Schwächere trifft, nach unten tritt. Diederich gewinnt im Treten nach unten (gegenüber seiner jüngeren Schwester oder gegenüber dem einzigen Juden in seiner Klasse) sowohl als auch im Ducken nach oben (gegenüber strengen Lehrern) reale Macht� Die Krönung seiner schulischen Macht ist der Einsatz als Spion für einen Lehrer, für den er zu einem „geheimen Aufseher“ wird� Allerdings ist er ebenfalls stets darauf bedacht, selbst weiter nach oben zu gelangen, so dass er zum richtigen Zeitpunkt auch die etablierten Autoritäten herausfordern kann, vor denen er sich anfangs noch ducken musste� 5 Friederich ist mit seinem Rollenspiel zwar nicht erfolgreich, dennoch kommt er damit als passiver Untertan, und nicht als aktiver Intrigant wie Diederich, bescheiden weiter� Im Internat - das er auf Veranlassung des Vaters besucht, weil das Bestehen des Abiturs an einer staatlichen Schule nicht mehr aussichtsreich ist - darf er ‚Dabeisein‘, weil er für seine Kameraden stilvolle Liebesbriefe schreibt und glaubhaft vortäuschen kann, Franzose zu sein, weshalb man ihm im örtlichen Supermarkt Alkohol verkauft, auch wenn er noch unter sechzehn ist� Schwache Lehrer beherrscht er nicht, kümmert sich jedoch um sie� Er gewinnt dabei keine Souveränität oder Ichstärke, weil seine soziale Position immer von der Duldung Dritter abhängig ist� Im Studium muss er deshalb wieder nach einer neuen Führungsfigur suchen und findet sie diesmal in von Conti, auf dessen Anerkennung er für den Rest seines Lebens angewiesen sein wird� Seine Unterwürfigkeit bleibt stets auf dem Niveau von Diederich, als dieser der geheime Aufseher des Klassenlehrers war� Diederich dagegen findet umso mehr Anerkennung und Macht, je weiter er auf seinem Lebensweg voranschreitet� In der Burschenschaft respektiert man ihn schnell, und dort entwickelt er sich zu einem aggressiven Anhänger der Monarchie� Nach Beendigung des Studiums versteht er es, die väterliche Papierfabrik mit starker Hand zu führen und sich auch in der Lokalpolitik als Anführer zu behaupten� Die persönlichen Schwächen sind alle überspielt� Der Roman zeigt zwar an vielen Stellen seine immer noch vorhandene innere Halt- und Überzeugungslosigkeit, sowohl bei seinen politischen als auch unternehmerischen Tätigkeiten kommen ihm diese jedoch nicht in die Quere� Als Untertan funktioniert er gut und hat als Untertan Erfolg� Diederich ist somit ein tatkräftiger und Friederich ein schwacher Untertan� Im Sinne der Aufführungsseite des Theatralitäts-Begriffs zeigt sich, dass Diederichs Publikum sich nicht von ihm abwendet� Er hat zwar auch Feinde, wird aber immer einflussreicher und am Ende stellt sich niemand mehr gegen ihn. 274 Manuel Clemens Bei Friederich verhält es sich dagegen umgekehrt� Ihm läuft das Publikum weg und dauerhafter Erfolg stellt sich bei seinem unterwürfigen Verhalten nicht ein� Das soziale Gefüge, in dem sich Diederich bewegt, ist eines, das sich am Kollektiv und Zeitgeist orientiert� Hier beeindruckt seine Haltung, auch wenn sie nicht authentisch ist� Friederich dagegen agiert in einem liberalen und demokratischen Umfeld, das sich - was später noch ausführlicher beschrieben wird - eher am Individualismus orientiert als am Kollektiv� Diederichs Inszenierung seiner Person ist für Menschen gedacht, die sich ebenfalls an kollektiven Aufführungen, kaisertreuen Werten und Verhaltensweisen orientieren� Friederichs Inszenierung ist zwar auch für ein rollengläubiges Kollektiv gedacht, allerdings gibt es hierfür in der Zeit nach 1968 kein Publikum mehr� Diederich ist ein zeitgemäßer, Friederich ein unzeitgemäßer Untertan� Ersteren kann man auch als einen politisch orientierten Untertan verstehen, da der Umgang mit Schwäche und der Aufstieg zur Macht auf dem Feld der Politik geschehen� Friederich ist dagegen ein pseudo-humanistisch orientierter Untertan, da der von seinem Vater geplante Aufstieg vor allem über den klassischen Bildungskanon geschehen soll und er während seines Studiums der Soziologie im linken Milieu verkehrt� Es gibt eine Stelle in Manns Untertan , die diesen Unterschied deutlich aufzeigt: Übrigens genügte er [Diederich] bei zunehmender Schulpraxis in allen Fächern, ohne in einem das Maß des Geforderten zu überschreiten oder auf der Welt irgendetwas zu wissen, was nicht im Pensum vorkam� Der deutsche Aufsatz war ihm das Fremdeste, und wer sich darin auszeichnete, gab ihm ein unerklärliches Mißtrauen ein� (Mann 2001, 17) Friederich und vor allem sein Vater stehen der humanistischen Bildung dagegen nicht skeptisch gegenüber� Im Gegenteil, sie scheint geradezu das beste Mittel zu sein, um Friederichs Frühreife und Begabung zu bezeugen� So sagt der Vater über den privaten Lateinunterricht, den Friederichs Nachhilfelehrerin gibt: Wenn Friederichs neue Schule davon [vom Lateinunterricht] nicht beeindruckt sein würde� Zumal in der neuen Schule Latein gar nicht unterrichtet wurde� „Gerade deshalb“, so der Vater� Latein als ein Aufmischen, ein Vorpreschen oder wenigstens ein Ablenkungsmanöver� So der Vater� (Zelter 2012, 23) Goethe und Schiller werden auf Anweisung des Vaters ähnlich missbraucht: Und der Vater war begeistert: Goethe und Schiller� [ ] Welcher Lehrer könnte Friederich das verbieten� Goethe und Schiller� Wenn Friederich aus einem Schulbuch vorlesen soll und er spricht stattdessen Goethe und Schiller� Und der Vater erzählte das im ganzen Haus� „Friederich liest jetzt� Er liest Goethe und Schiller“� (Zelter 2012, 24) Theatralität in den Untertan -Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) 275 Der Vater möchte, dass Friederich auf schöngeistigen Gebieten reüssiert, und Friederich wehrt sich nicht dagegen, sondern versucht, das auferlegte Programm zu erfüllen� Ihm gelingt allerdings weder dessen Umsetzung noch das erfolgreiche Vorspielen� Diederichs Feindschaft gegenüber dem Schöngeistigen und Intellektuellen zeigt sich nicht nur in seiner Skepsis gegenüber Aufsätzen; später überträgt er diese auch auf das Künstlerische und beide Momente kommen für ihn in der Person des sozialdemokratischen Rechtsanwalts bzw� Schauspielers Wolfgang Buck zusammen (Nägele 1973, 44)� Da dieser für eine Welt steht, welche Diederichs Rolle entlarven könnte, muss er sie abwerten und bekämpfen� Es zeigt sich zusammenfassend, dass Diederich eine (vorgeblich) starke und politische, Friederich dagegen eine schwache und unpolitische Untertanenfigur ist� 6 Beide Charaktere sind in ihrer frühen Kindheit gleich schwach und mittelmäßig: Der eine kann seine Schwäche mit einer kollektiven Identität kompensieren, während der andere weniger das Kollektiv sucht, sondern eine einzige Person (von Conti), die für ihn aber genauso identitätsstiftend wirkt� Friederich wird ein Diener, Diederich dagegen ein einflussreicher Bürger. Die Frage ist nun, wieso der Untertan um 1900 politisch orientiert ist und der von Zelter entworfene Untertan seine Karriere als subalterner Möchtegern-Schöngeist beginnt, der anschließend der ergebene Assistent eines clownhaften Politikers wird� Das Clownhafte ist schließlich das, was Diederich an Wolfgang Buck und seiner Schauspielerkarriere verachtet� Ironischerweise - und dies ist das Thema des folgenden Abscnitts - entsteht der gegenwärtige Untertan genau in diesem individualistischen und ‚clownhaften‘ Umfeld, so dass man nicht nur von der Geburt Friederichs aus dem Geiste der Buckschen Lebensweise und dem Rollenspiel, sondern auch von einer Demontage des wilhelminischen Untertans durch den Geist dieser Lebensweise sprechen kann� II. Die Künstlerfiguren Heßling besiegt Buck, weil er politisch auf der Seite des Zeitgeists steht und diesen für seine Kampagnen nutzt� Die Familie Buck repräsentiert das Ende des Liberalismus, der im Umkreis von Heßling (und natürlich auch darüber hinaus) keine Chance mehr hat� Der alte Herr Buck stirbt und sein Sohn Wolfgang hat wenig Interesse, sich in die öffentlichen Angelegenheiten der kleinen Stadt einzumischen� Andererseits - und das ist für die folgende Analyse zentral - geht der junge Buck auch von selbst� Ihn zieht es als Lebemann und Schauspieler nach Berlin� Seine Arbeit als Rechtsanwalt nimmt er genauso wenig wie Monarchie und Kaisertreue besonders ernst� Der Liberalismus wird also nicht nur von Heßling besiegt, sondern geht auch an seiner eigenen Schwäche, der Unlust 276 Manuel Clemens zur politischen Auseinandersetzung, sowie unpolitischer Lebenslust zu Grunde� Scheibe und Nägele beschreiben Buck in diesem Sinne als einen Schauspieler ohne Substanz, für den es nicht mehr um das Wahre oder das Falsche geht, sondern nur noch darum, ob eine Inszenierung gut oder schlecht, mitreißend oder langweilig ist (Scheibe 1966, 225; Nägele 1973, 46 f�)� In Zelters Untertanenkonzeption ist das Verhältnis zwischen Untertan und Lebenskünstler genau umgekehrt: Während bei Mann mit Heßling ein Charakter dominiert, der in Bezug auf Monarchie und Kaisertreue gewinnt und den Künstlertypus verachtet, entwirft Zelter als Repräsentanten der auf den erwachsenen Friederich einwirkenden Autorität einen verantwortungslosen Lebemann. Der Bezugsrahmen, in den Friederich sich unterwürfig einordnet, ist weniger ein autoritärer als vielmehr ein liberaler und dekadent-lebensfreudiger� Die unpolitische und antiautoritäre Theatralität des jungen Buck 7 verweist sozusagen auf von Contis Aufstieg, dessen Talente ebenfalls nur vorgespielt sind; die Arbeit im Hintergrund leistet sein ewiger Assistent Friederich� Buck und von Conti haben somit nicht nur die Kreativität gemeinsam, sondern auch die Theatralität. Letzteres trifft aber auch auf Heßling zu. Schließlich sind sich Buck und Heßling darin einig, dass der Schauspieler der „repräsentative Typus von heute“ (Mann 2001, 313) ist� Heßling meint damit allerdings nur seinen Gegner Buck, während dieser ihm zustimmt, aber auch Heßlings Rollenspiel des kaisertreuen Untertans in diese Zeitkritik miteinbezieht (313)� Unsere Analyse kann auch von Conti noch in dieses Rollenspiel miteinbeziehen, wodurch eines deutlich wird: Diejenigen, die über Macht verfügen bzw� sich von sozialen Vorgaben emanzipieren möchten, spielen (im Kontext unserer Untersuchung) Theater� Friederich, der bescheiden im Hintergrund agiert, bleibt machtlos außen vor und wird von der Inszenierung von Contis vereinnahmt, d� h� er wird zu ihrem treuesten Zuschauer� Bucks sozialen Aufstieg - den man sich im Hinblick auf die Machtfigur von Conti vorstellen kann - erzählt Heinrich Mann selbstverständlich nicht mehr� Er konzentriert sich nur auf seinen Niedergang im Umfeld der kaiserlichen Autorität� Was der Roman allerdings auch nicht mehr erzählt, ist die Niederlage Heßlings und die der Monarchie, welche nach 1900 nicht mehr lange an der Macht sein wird� 8 Der Untertan endet mit einer Feier für die Einweihung eines Denkmals zu Ehren des Kaisers, die sich aber aufgrund eines Gewitters wieder auflöst, noch bevor sie richtig angefangen hat. Kurz nachdem das Denkmal enthüllt ist, beginnt nämlich ein heftiger Regensturm: Schon war die Inschrift „Wilhelm der Große“ zur Kenntnis genommen, der Schöpfer, durch eine Anrede ausgezeichnet, bekam seinen Orden, und gerade sollte auch der geistige Schöpfer Heßling vorgestellt und geschmückt werden, da platzte der Him- Theatralität in den Untertan -Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) 277 mel� Er platze ganz und auf einmal, mit einer Heftigkeit, die einem lange verhaltenen Ausbruch glich� Bevor noch die Herren sich umgedreht hatten, standen sie im Wasser bis an die Knöchel, Seiner Exzellenz lief es aus Ärmeln und Hosen� Die Tribünen verschwanden hinter Stürzen Wassers, wie auf fern wogendem Meer erkannte man, daß die Zeltdächer sich gesenkt hatten unter der Wucht des Wolkenbruches, in ihren nassen Umschlingungen wälzten links und rechts sich die schreiende Massen� (Mann 2001, 471) Das Unwetter kann im Nachhinein als ein Verweis auf den kommenden I� Weltkrieg, aber auch auf die Abschaffung der Monarchie und die Demokratie der Weimarer Republik gelesen werden� Der Glaube an die Demokratie ist mit dieser Schlussszene jedoch noch nicht sehr stark und alte Autoritäten noch nicht entthront; erst nach dem II� Weltkrieg etablieren sich in Westeuropa solide Demokratien, die sich wiederum im Zuge der antiautoritären 68er-Bewegung liberalisieren� 9 Der Typus des Künstlers musste natürlich erst noch einen Umweg über die Avantgarden der 1920er Jahre und der Counter Culture der 1970er Jahre nehmen, um zu einem gesellschaftlich akzeptablen Vorbild und Machttypus zu werden bzw� sich von einem Buck zu einem von Conti entwickeln zu können� Dies gelang dem kreativen Subjekt - wie Andreas Reckwitz in seiner Untersuchung über Die Erfindung der Kreativität schildert 10 - um das Jahr 1968� Mit dieser Entwicklung sind die sozialen und staatlichen Mächte entmachtet, die bis dahin den klassischen Untertan hervorgebracht haben� Während dieser nach Vorgaben agiert, die in einem erwartbaren Rahmen erfüllt werden, sprengt die Legitimität eines eher antiautoritär orientierten Subjekts diese Vorgaben� Der Vorteil dieser Sprengung ist, dass das Subjekt nun viel eigenständiger denkt und flexibler vergesellschaftlicht wird. Es ist die Macht des Individuellen, die sich emanzipiert: Schon Buck wollte Schauspieler werden und nicht wie Heßling innerhalb monarchischer Normen agieren� Diesen neuen kreativen Menschen repräsentiert von Conti� Er steht im Zusammenhang unserer Interpretation und vor dem Hintergrund des entmachteten Diederich Heßlings für den über Kunst und Schauspiel an Einfluss gewinnenden Wolfgang Buck, der jetzt sein Publikum gefunden hat� Der soziale Raum, welcher von Conti diese Möglichkeit gegeben hat, ist, so Reckwitz, ein liberaler und individueller, jedoch keineswegs ein machtfreier� Es ist ein Raum, der dem Subjekt geradezu den Zwang auferlegt, kreativ und eigenständig zu sein� Interessant ist nun zu sehen, was in einem mit dieser Anforderung ausgestatteten sozialen Feld aus Friederich wird, dessen Leben in der liberalen Epoche der BRD ja nicht auf kreative Eigenständigkeit ausgerichtet ist: Er bleibt unzeitgemäß subaltern und schreibt für von Conti die Magister- und Doktorarbeit� Von Conti 278 Manuel Clemens wird anschließend ein berühmter Politiker und Friederich sein Assistent und ich-loser Schatten� Zelter beschreibt sehr subtil, wie es sich von Conti aufgrund seiner erfolgreichen Theatralik leisten kann, Kompetenzen vorzutäuschen und andere für sich arbeiten zu lassen. Sein Spiel schafft es beispielsweise, die Kellnerinnen in den Cafés, in denen er oft tagelang sitzt, durch zu große und zu kleine Trinkgelder einerseits an sich zu binden und andererseits zu verunsichern� Bei ihm stimmen Aufführung, Inszenierung und Selbstsowie Fremdwahrnehmung überein. Ähnlich war es auch bei Diederich Heßling� Buck dagegen war eine Übergangsfigur, die deshalb aus der Rolle fiel, weil sich Aufführung, Inszenierung und Wahrnehmung nur an einen kleinen Kreis der liberalen und künstlerischen Elite richteten. Er ist damit eine ähnliche Außenseiterfigur wie Friederich. Letzterer versucht ebenfalls, sich mit Aufführung und Inszenierung an ein Publikum zu richten, erreicht mit seinem Rollenspiel jedoch niemanden� 11 Die Gründe für die Liberalisierung der westlichen Gesellschaft beschreibt Hannah Arendts Essay „What is Authority? “� Gleich zu Beginn stellt sie fest, dass der Essay eigentlich „What was Authority? “ heißen müsste, weil das Verschwinden der staatlichen und väterlichen Autoritäten für sie die zentrale Veränderung der Welt nach dem II� Weltkrieg ist� 12 Ronald Ingelharts Theorie des Wertewandels konzentriert sich, so kann man Hannah Arendt ergänzend hinzufügen, auf die ökonomische Basis dieses Autoritätsverlusts� Wertewandel entsteht für Ingelhart, weil mit zunehmendem Wohlstand, außenpolitischem Frieden, Bildung, Kommunikation und Mobilität die strenge Orientierung an materialistischen Werten wie Nahrung, Kleidung, Unterkunft und Sicherheit abnimmt und es zu einer Konzentration auf postmaterialistische Werte (politische Freiheit, Umweltschutz, Emanzipation von Autoritäten wie Kirche und Familie) kommt� 13 Darüber hinaus wirkt die kapitalistische Produktionsweise bereits seit dem 19� Jahrhundert individualisierend auf den Menschen ein� 14 Bucks Individualismus löst ihn von der Monarchie� Von Conti hat ihn seiner Zeit entsprechend perfektioniert und da er der Beste unter den Individuellen ist, vermag er auf diesem Wege über die anderen zu herrschen� Von Contis charismatische Theatralität stimmt genauso mit den Erwartungen der liberalen und postautoritären Gesellschaft überein wie ehemals der autoritäre und selbstbewusste Diederich� Sogar der Untertan Friederich orientiert sich nicht mehr am Kollektiv, sondern an einer einzelnen Person� Mehr kann er von den Angeboten zur Individualität allerdings nicht nutzen� Seine Unterordnung steht damit auch für die Schwäche, die Diederich Heßling in einer liberalen Gesellschaft ohne Rollenvorgaben hätte� Zelters untertan ist damit auch eine Beschreibung der Ich-Schwäche des klassischen Untertans, allerdings nicht vor dem Hintergrund der Wilhelminischen Gesellschaft, in der er sich mit dieser Schwäche immer Theatralität in den Untertan -Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) 279 noch aufspielen kann, sondern vor dem Hintergrund einer liberalen Epoche, in der er sich nur subaltern einordnen und die Möglichkeiten zum Ausbau von Ich-Stärke - Friederich studiert immerhin Soziologie, liest Marx, ironischerweise auch Herbert Marcuses Der eindimensionale Mensch und bewegt sich eher im alternativen Milieu seiner Universität - nicht nutzen kann� Diederich wird in der Figur Friederichs genauso als eine untergehende Person repräsentiert wie in Manns Untertan der liberale Vater von Wolfgang Buck� In Zelters untertan sind der autoritären Aufführung nicht nur die Zuschauer weggelaufen, sondern es gibt auch niemanden mehr, der diese zu inszenieren versucht� Nur Friederichs Vater fordert am Anfang des Romans noch ein unzeitgemäß-konservatives Rollenspiel von seinem Sohn ein, hat damit aber wenig Erfolg und in der weiteren Entwicklung Friederichs auch keinen Einfluss mehr auf ihn� Dies erkennt schlussendlich auch der Untertan selbst, weshalb es folgerichtig ist, dass Friederich am Schluss, als von Conti nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten möchte, den Freitod wählt� Die Zeit des klassischen Untertans ist schon längt abgelaufen, während die Epoche des kreativen Individuums in voller Blüte steht� Zelter deutet allerdings mit der selbstherrlichen Theatralität und den erfolgreichen Aufführungssituationen von Contis an, dass ein Zeitalter, welches diese Inszenierungen goutiert, auch den Rückschritt in die Monarchie einleiten könnte� Es ist zwar nur (der untergehende) Friederich, welcher sich die Rolle eines Monarchen für von Conti ausmalt, jedoch ist dieser Untertan ja nicht die einzige Figur, auf die von Conti anziehend wirkt� Stellvertretend für viele, die von Conti begeistert, blickt Friederich in die Zukunft dieses Erfolgsmenschen: „Und Friederich sprach von einer neuen Form politischer Ordnung, von einem anderen Gefüge, einem Gefüge wie einer Kathedrale, in der man nach oben schauen kann, zu hell leuchtenden Kuppeln [ ]�“ Er möchte sich das Undenkbare vorstellen und entwirft in Gedanken „[e]ine neue Form von Bindung und Gliederung und Steigerung� Wie immer man das im Einzelnen auch nennen könnte� Eine Art - ja, warum nicht, Monarchie“ (Zelter, 187)� In die Hierarchie einer Monarchie, zu der er wie in einer Kathedrale aufblicken könnte, würde er sich perfekt einordnen können und eine durch den Alleinherrscher von Conti gefestigte Ordnung als Erleichterung empfinden. Friederich - oder eben Diederich - fehlen die Formgeber des individualistischen oder postindividualistischen Zeitalters, welche Sabine von Dirke, Johanna Tönsing und Marc Petersdorff kritisch als die neuen Autoritäten beschreiben. Die Autorität des Staates und des Vaters, so der Tenor ihrer Analysen, wurde durch individualistische, leistungsbetonte Autoritäten ersetzt� Sie beschreiben diese, in Kombination mit den Anforderungen des Neoliberalismus, als äußerst anstrengend� Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass sich die Leidtragenden 280 Manuel Clemens - also die überforderten Individualisten sowohl als auch der überforderte Untertan - eines Tages wie Friederich nach einem entlastenden System umschauen werden� Eine „autoritäre Revolte“ (Weiß 2017), die sich mit Pegida, AfD (und Trump) ein stückweit in diese Richtung bewegen könnte, hat kurz nach dem Erscheinen von Zelters untertan begonnen� III. Schlussbetrachtung: Theatralität und Projektion Der Untertan der liberalen Epoche der BRD ist weniger der unzeitgemäße Untertan, wie er von Jochaim Zelter beschrieben wird� Dieser zeichnet sich nicht mehr vorrangig durch seine offenkundige Unterwerfung aus, sondern durch ein Unterordnen, das kreative und individuelle Formen annimmt� Untertanenfiguren wie Friederich sind heute Außenseiter und nicht mehr (untertänige) Anführer wie Diederich� 15 Erich Fromm und Theodor W� Adorno haben den Untertan psychoanalytisch beschrieben� 16 Fromm betrachtet ihn als das Resultat eines ungelösten Ödipuskomplexes und sieht darin die Ursache seiner Anpassung und Unterordnung� 17 Adorno geht in der Analyse einen Schritt weiter und beschreibt nicht nur den Mechanismus der Anpassung, sondern auch die Folgen der daraus resultierenden Triebunterdrückung� 18 Eine dieser Folgen, deren Beschreibung im Rahmen dieses Aufsatzes leider nur kurz skizziert werden kann, ist die „falsche Projektion“� 19 Damit ist gemeint, dass der autoritäre Charakter (bzw� der Untertan) sich nicht mehr um ein realitätsgerechtes Weltbild bemüht, sondern die Welt nur noch in Klischees und Feindbildern wahrnimmt� Dies scheint besonders auch auf Diederich Heßling zuzutreffen, der sein Leben als Erwachsener gänzlich nach dem Kaiser, der Monarchie und dem Nationalismus ausrichtet und alternative Weltsichten oder emotive Wahrnehmungen nicht zulassen kann� Genauso wie er selbst gehen für ihn auch die Mitmenschen in Rollen auf, die er schematisch nach Freund und Feind einteilt� Freund- und Feindbilder sind bei Friederich Ostertag zwar weniger von Bedeutung, jedoch gehört es zur Ironie von Zeltners Erzählung, dass der Leser von Conti nur aus der Perspektive seines Untertans erfährt� Und diese Perspektive ist stets so unkritisch und so bewundernd, dass sich Friederich am Ende von Conti nur noch in der Rolle des Monarchen vorstellen kann� Alles andere, so Friederich, wäre für von Contis Größe und Talent unangemessen� Darüber hinaus scheint sich Friederich, nach der Trennung von von Conti, auch kein anderes Leben als in Verbindung zu diesem vorstellen zu können� Sein Blick auf die Welt ist demnach ebenfalls stark eingeschränkt und unterliegt einer falschen Reproduktion der Wirklichkeit� Theatralität in den Untertan -Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) 281 In diesem Gehorsam gegenüber Klischees, Unwahrheiten und Idolen zeigt sich vermutlich die Haupteigenschaft der heutigen Untertanenfigur. Nägele betont, dass man im Hinblick auf Diederichs Entwicklung schon bald nicht mehr zwischen dem personalen Ich und dem Rollen-Ich unterscheiden kann, weshalb er den Untertan als einen umgekehrten Entwicklungsroman versteht: „Er [Der Untertan] erzählt die Geschichte eines verkümmernden Ich und eines wachsenden Rollen-Ich“ (Nägele 1973, 31)� Diederich, so Nägele, kann schließlich selbst nicht mehr zwischen Rolle und Realität entscheiden, weshalb er seine Rolle auch weiter spielt, wenn diese sich eindeutig gegen seine wirtschaftlichen Interessen richtet (31 f�)� Mit der Feststellung seiner Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen Realität und Projektion bestätigt sich Adornos These von der „falschen Projektion“ sowie die Wahrnehmungsfähigkeit als zentrales Problem des Untertanencharakters� Theatralität bemüht sich nicht um Erkenntnis; sie möchte die Dinge nicht so sichtbar machen oder auf sie blicken, wie sie tatsächlich sind� Den Gehorsam gegenüber Projektionen haben Diederich und Friederich, trotz ihrer Unterschiede, gemeinsam� In Frage steht, mit welcher Autoritätsform sich die jeweiligen falschen Projektionen verbinden� Gegenwärtig könnten sie sich vom kreativen Individualismus wegbewegen und über konservative und populistische Bewegungen - oder die Echokammern des Internets - wieder am Kollektiv zu orientieren beginnen� Friederich Ostertag könnte dann zu einem Diederich Heßling aufsteigen, und von Conti - sofern er sich nicht ebenfalls in Richtung von Manns Untertan entwickelt - wieder zu einer absteigenden Figur des Übergangs wie Wolfgang Buck werden. Denkbar wäre natürlich auch eine Untertanfigur, die dieses Schema verlässt und auf eine neue Weise Formen des Individuellen mit dem Kollektiven kombiniert� 20 Notes 1 Der Begriff der Theatralität wird hier im Sinne von Erika Fischer-Lichte und der auf Erving Goffman zurückgehenden Diagnose verwendet, dass die Gegenwart als eine „Kultur der Inszenierung“ zu verstehen ist� Dies bedeutet, dass sich in „allen gesellschaftlichen Bereichen einzelne oder gesellschaftliche Gruppen in der ‚Kunst‘, sich selbst und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene setze�“ Gleichzeitig geht diese Diagnose auch von einer „Kultur als Inszenierung aus“, was bedeutet, dass Kultur durch Inszenierung überhaupt erst hervorgebracht oder zumindest durch Inszenierung erst wahrgenommen wird�Auf das Gebiet der Politik übertragen bedeutet diese Beobachtung: „Politik wird nur noch als symbolische Inszenierung in den Medien erfahrbar� [ ] Eine schier endlose Abfolge von inszenierten Ereig- 282 Manuel Clemens nissen weist darauf hin, daß sich eine ‚Erlebnis- und Spektakelgesellschaft‘ gebildet hat, die sich mit der Inszenierung von Ergebnissen selbst hervorbringt und ständig neu produziert�“ Deshalb kann die Erfahrung der Wirklichkeit - und in dieser Hinsicht auch die oberflächlichen und inszenierten Verhaltensweisen und Überzeugungen des Untertans Diederich Heßling sowie seines Kontrahenten Wolfgang Buck als auch das Rollenverhalten Friederich Ostertags und seines Mentors von Conti - mit dem Theater verglichen werden� Fischer-Lichte schreibt zu dieser Gegenüberstellung: „Als Wirklichkeit (Theater) wird eine Situation verstanden, in der ein Akteur [ ] sich, einen anderen oder etwas vor den Blicken anderer (Zuschauer) darstellt oder zur Schau stellt� Kulturelle Wirklichkeit erscheint in diesem Sinne prinzipiell als theatralische Wirklichkeit“ (Fischer-Lichte 2004, 7 f�)� Untersucht man die Theatralität der beiden Untertanennarrative, dann bedeutet dies vor allem, den Aufführungscharakter der Verhaltensnormen, Affekte, Interaktionen und politische Überzeugungen und Gebärden in den Blick zu nehmen� 2 Fischer-Lichte 2004, 12 f� 3 Fischer-Lichte 2004, 14-16� 4 So bezeichnet auch Adorno den Charakter von Diederich Heßling (Adorno 1964, 97)� 5 F�C� Scheibe stellt zu Recht fest, dass Diederich seine „Rolle als Möglichkeit persönlicher Machterfahrung benutzt“� Das heißt, er weiß, dass er nur spielt, mit dem Spiel aber seinen Erfolg ausbaut (Scheibe 1966, 211)� Durch die „Machterlebnisse“, denen Diederich in Schule und Elternhaus ausgesetzt ist, lernt er, wie Macht funktioniert und wie man sie anwendet (212)� Durch Diederichs Glaube an seine Inszenierung und die realen Auswirkungen seines Spiel gewinnt die Rolle auch tatsächlich an Wirklichkeit (222)� 6 Da die Einleitung dieses Sammelbandes sowie einige der darin enthaltenen Beiträge sich explizit mit dem Konzept des autoritären Charakters beschäftigen, werden an dieser Stelle die Übereinstimmungen zwischen dem Untertan und dem autoritärem Charakter nicht weiter beschrieben� Es sei aber kurz angemerkt, dass Diederich Heßling, im Unterschied zu Friederich Ostertag, sicherlich für den rebellischen, aber letztendlich dennoch subalternen Untertan steht, auf den auch Fromm und Adorno verweisen� Hinter der scheinbaren Rebellion befindet sich bei ihm dann auf einer tieferen Ebene die Sehnsucht nach Autorität und Befehl� Vgl� Fromm 1980a, 249; Fromm 1980b, 131; Adorno 1973, 328� 7 Zu Wolfgang Buck als Décadence-Figur der Jahrhundertwende siehe Schröter 1971, 19-30� Renate Werner liest Bucks Dekadenz im Hinblick auf die letzte Generation der Buddenbrooks (Werner 1972, 241-43)� Theatralität in den Untertan -Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) 283 8 Auch die Infragestellung der väterlichen Autorität hatte ja durchaus schon in der Zeit des Untertans begonnen� Siehe hierzu Nitschke 2012, 381-439� 9 Müller 2011, 1-6 sowie Müllers detaillierte Diskussion dieser beiden Punkte in Kapitel 4 und 5� Der Titel der deutschen Übersetzung (2013) bringt es noch deutlicher auf den Punkt: „Das demokratische Zeitalter“� 10 Siehe Reckwitz 2012, 9-19� 11 Fischer-Lichte weist zu Recht auf das Widerstandspotential einer Aufführungssituation hin, da eine Aufführung nur durch die Interaktion von Akteur und Zuschauer zustande kommt. Das ‚Publikum‘ in den Aufführungen der Untertanenromane ist jedoch kein kritisches� Es verweigert die Zustimmung nur, wenn die Aufführung des Untertans nicht mehr dem Zeitgeist entspricht und stimmt zu, wie bei Diederich und von Conti, wenn die Aufführung zum Zeitgeist passt� Vgl� Fischer-Lichte 2004, 17 f� 12 Siehe Arendt 2006, 91-141� Für eine ausführliche Diskussion dieses Autoritätsverlustes für die Gegenwart siehe Verhaeghe 2015� 13 Inglehart 1977 sowie Doering-Manteuffel und Raphael 2008, 60-66. Vgl. hierzu auch Reckwitz 2017, 102-11 und 371-74� 14 Vgl� Mitscherlich 1973, 170-203� Auch Diederich Heßling modernisiert seinen Betrieb� 15 In der Nachkriegszeit beschreibt Wolfgang Koeppen den ehemaligen SS-General Gottlieb Judejahn, der nach Ende des Krieges ins Ausland geflohen ist, als einen selbstbewussten Charakter: „Wo Judejahn befahl, war Preußens alte Gloria, und wo Judejahn hinkam, war sein Großdeutschland� [ ] Judejahn war verjagt, aber er war nicht entwurzelt; er trug sein Deutschland, an dem die Welt noch immer genesen mochte, in seinem Herzen“ (Koeppen 1969, 438)� Fünfundzwanzig Jahre später beschreibt Nicolas Born einen ehemaligen SS-Offizier als eine komische Figur, die im Begriff ist, auszusterben: „Was hieß es schon, daß Rudnik [der ehemalige SS-Offizier] ein scheußliches Fossil war, ein etwas heruntergekommenes, gebrochenes, schäbiges und schnüffelndes Deutsches Reich, das täglich und wohlgemut überlebt und täglich noch kleine Siege erringt, hier und da auf der Landkarte� [ ] Ein paar solche Monster, zäh und schnurrgerade, liefen eben noch herum, ohne zu bemerken, daß sie kaum mehr in die Landschaft paßten, während die eigentliche, übriggebliebene Macht sich verwandelt hatte“ (Born 1979, 227�) 16 Den Zusammenhang zwischen dem autoritären Charakter und Manns Untertan stellt Adorno in einem Vortrag über Antisemitismus in der Nachkriegsgesellschaft selbst her: „Der autoritätsgebundene, der spezifisch antisemitische Charakter ist wirklich der Untertan, wie Heinrich Mann ihn darstellte [ ]“ (Adorno 1964, 97)� Diesen Zusammenhang ausführlicher untersucht haben Vogt 1971, 58-69 und Finsen 1985, 38-45� 284 Manuel Clemens 17 Siehe Fromm 1980b� 18 Siehe Horkheimer und Adorno 2002� Hier besonders das Kapitel „Elemente des Antisemitismus� Grenzen der Aufklärung“� 19 Für eine detaillierter Beschreibung der ‚falschen Projektion‘ und Adornos Weiterführung der Frommschen Analyse des autoritären Charakters siehe König 2016, 268-305� 20 In seiner jüngsten Untersuchung wendet Reckwitz seine Theorie der Singularitäten nicht nur auf kreative, sich selbstverwirklichende Lebenskünstler an, sondern auch auf konservative und politisch rechte Gruppierungen� Auch diese, so Reckwitz, streben nach Besonderheiten und Alleinstellungsmerkmalen (Reckwitz 2017, 413-17)� Works Cited Adorno, Theodor W� „Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute“� Das Argument 6�2 (1964): 88-104� —� Studien zum autoritären Charakter � Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973� Arendt, Hannah� „What is Authority? “ Between Past and Future � Hg� Hannah Arendt� New York: Penguin Books, 2006� Born, Nicolas� Die Fälschung � Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1979� Doering-Manteuffel, Anselm und Lutz Raphael. Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970 � Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008� Finsen, Hans Carl� „Der autoritäre Charakter und seine Welt in Heinrich Manns Der Untertan � Ein Beitrag zur Literaturdidaktik“� Augias 18 (1985): 38-45� Fischer-Lichte, Erika� „Einleitung: Theatralität als kulturelles Model“� Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften � Hg� Erika Fischer-Lichte und Christian Horn� Tübingen: Francke, 2004� Fromm, Erich� Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung � Hg� Wolfgang Bonß� Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1980a� —� Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil. Gesamtausgabe� Band� 1� Analytische Sozialpsychologie� Hg� Rainer Funk� Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1980b� Horkheimer, Max und Theodor W� Adorno� Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Gesammelte Schriften in 20 Bänden� Band� 3� Hg� Rolf Tiedemann� Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002� Inglehart, Ronald� The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics � Princeton, NJ: Princeton UP, 1977� Koeppen, Wolfgang� Der Tod in Rom � Stuttgart: Goverts, 1969� König, Helmut� Elemente des Antisemitismus. Kommentare und Interpretationen zu einem Kapitel der Dialektik der Aufklärung von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno � Weilerswist: Velbrück, 2016� Theatralität in den Untertan -Romanen von Heinrich Mann (1918) und Joachim Zelter (2012) 285 Mann, Heinrich� Der Untertan � Studienausgabe in Einzelbänden� Hg� Peter Paul Schneider� Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 2001� Mitscherlich, Alexander� Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie � München: Piper, 1973� Müller, Jan Werner� Contesting Democracy: Political Ideas in Twentieth-Century Europe � New Haven, CT: Yale UP, 2011� —� Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert � Berlin: Suhrkamp, 2013� Nägele, Rainer� „Theater und kein Gutes� Rollenpsychologie und Theatersymbolik in Heinrich Mann Roman ‚Der Untertan‘“� Colloquia Germanica 7 (1973): 28-49� Nitschke, Claudia� Der öffentliche Vater. Konzeptionen paternaler Souveränität in der deutschen Literatur (1755-1921) � Berlin/ Boston: De Gruyter, 2012� Reckwitz, Andreas� Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin: Suhrkamp, 2012� —� Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne � Berlin: Suhrkamp, 2017� Scheibe, Friederich Carl� „Rolle und Wahrheit in Heinrich Manns Der Untertan “� Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 7 (1966): 209-26� Schröter, Klaus� „Zu Heinrich Manns Untertan �“ Heinrich Mann. Untertan - Zeitalter - Wirkung. Drei Aufsätze � Hg� Klaus Schröter� Stuttgart: Metzler, 1971� Verhaeghe, Paul� Narcissus in Mourning. The Disappearance of Patriarchy. Lecture at the Sigmund Freud Museum Wien. Wien: Turia + Kant, 2015� Vogt, Jochen� „Diederich Heßlings autoritärer Charakter� Sozialpsychologisches in Heinrich Manns Der Untertan “� Heinrich Mann. Sonderband Text und Kritik � Hg� Heinz Ludwig Arnold� München: Text und Kritik, 1971� Weiß, Volker� Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes � Stuttgart: Klett-Cotta, 2017� Werner, Renate� Skeptizismus, Ästhetizismus, Aktivismus. Der frühe Heinrich Mann � Düsseldorf: Bertelsmann, 1972� Zelter, Joachim� untertan � Tübingen: Klöpfer und Meyer, 2012�