Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2017
503-4
Haltlose Souveränität
0901
2017
Marc Petersdorff
Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass in Rainald Goetz’ Roman Johann Holtrop eine Nachfolgefigur des ‚klassischen‘ autoritären Charakters beobachtet werden kann. Dieser ‚neue‘ autoritäre Charakter soll hier mit seinen Bedingungen und Mechanismen untersucht werden, insofern sie aus dem Text zu erschließen sind. Um diese spezifische Konstellation von Autorität sichtbar zu machen, wird hier über die Tradition der Klugheitslehren auf den Begriff der Souveränität zurückgegriffen. Die These, die hier aufgestellt wird, ist folgende: An der Figur Johann Holtrops lässt sich ein autoritärer Charakter beobachten, der nicht mehr wie der ‚klassische‘ autoritäre Charakter handelt. Er wird vielmehr dadurch autoritär, dass er unter der Annahme der eigenen Souveränität operiert, diese aber letztlich nirgends positionieren kann und so in einen wahllosen Imitationsprozess gerät, der schließlich in einem Leerlauf enden muss. Über diesen Umweg der eigenen Souveränität gerät er in den Bann einer Autorität, die letztlich doch wieder über Unterwerfung funktioniert.
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Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters Marc Petersdorff Yale University Abstract: Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass in Rainald Goetz’ Roman Johann Holtrop eine Nachfolgefigur des ‚klassischen‘ autoritären Charakters beobachtet werden kann� Dieser ‚neue‘ autoritäre Charakter soll hier mit seinen Bedingungen und Mechanismen untersucht werden, insofern sie aus dem Text zu erschließen sind. Um diese spezifische Konstellation von Autorität sichtbar zu machen, wird hier über die Tradition der Klugheitslehren auf den Begriff der Souveränität zurückgegriffen. Die These, die hier aufgestellt wird, ist folgende: An der Figur Johann Holtrops lässt sich ein autoritärer Charakter beobachten, der nicht mehr wie der ‚klassische‘ autoritäre Charakter handelt� Er wird vielmehr dadurch autoritär, dass er unter der Annahme der eigenen Souveränität operiert, diese aber letztlich nirgends positionieren kann und so in einen wahllosen Imitationsprozess gerät, der schließlich in einem Leerlauf enden muss� Über diesen Umweg der eigenen Souveränität gerät er in den Bann einer Autorität, die letztlich doch wieder über Unterwerfung funktioniert� Keywords: autoritärer Charakter, Nachfolgefigur, Souveränität, Klugheitslehre, Beobachtung, Rainald Goetz, Johann Holtrop Der vorliegende Beitrag geht davon aus, dass in Rainald Goetz’ Johann Holtrop eine Nachfolgefigur des ‚klassischen‘ autoritären Charakters beobachtet werden kann, wie er von verschiedenen Mitgliedern der Frankfurter Schule identifiziert wurde. Dieser ‚neue‘ Charakter soll hier mit seinen Bedingungen und Mechanismen untersucht werden, insofern sie aus dem Text zu erschließen sind� Es ist klar, dass dabei der Schlüsselbegriff der Autorität zur Disposition steht. Dieser soll hier im Zusammenhang mit dem Begriff der Souveränität analysiert werden� Die These, die hier aufgestellt wird, ist folgende: An der Figur Johann 356 Marc Petersdorff Holtrops lässt sich ein autoritärer Charakter beobachten, der nicht mehr durch Unterwerfung unter eine idealisierte Führerfigur funktioniert und dadurch ein Repressionsverhältnis legitimiert, das wiederum an anderen in einer Hierarchie Untergebenen reproduziert werden muss� Dieser Charakter ist vielmehr dadurch autoritär, dass er unter der Annahme der eigenen Souveränität operiert, diese aber letztlich nirgends positionieren kann und so in einen wahllosen Imitationsprozess gerät, der schließlich in einem Leerlauf enden muss� Über diesen Umweg der eigenen Souveränität gerät er letztlich doch in den Bann einer Autorität, die eine Unterwerfung fordert, wie man sie bereits am ‚klassischen‘ autoritären Charakter beobachten konnte und die letztlich sogar, im Falle von Holtrop zumindest, über diesen hinausgeht� Wenn man sich die Frage nach dem autoritären Charakter, seinen Hinterlassenschaften oder seinem Fortbestehen stellt, dann ist klar, dass erst einmal von dem Konstrukt ausgegangen wird, das von Gustave Le Bon, Sigmund Freud und anderen angestoßen und erstmals von Erich Fromm so bezeichnet wurde: Ein Mensch, der auf Komplexität und Unbekanntes mit einem beschränkten Fundus merkmalsarmer Typen reagiert, sich im Denken, Fühlen und Verhalten in extremer Weise anzupassen versucht - oft auf Kosten seiner eigenen Bedürfnisse und überhaupt seiner Eigenheiten - und der sich durch einen unkritischen Gehorsam gegenüber Autoritäten und die Idealisierung einer Führerfigur auszeichnet, der er in irgendeiner Form zu ähneln versucht� Er ist des Weiteren eine Figur, die starke destruktive Tendenzen aufweist, die sich irgendwann - möglichst wiederholt - an jenen entladen, die als schwächer wahrgenommen werden und/ oder außerhalb der eigenen Gruppe stehen� 1 Bekanntermaßen ist dieses Konstrukt auch das Leitbild für die Studien zum autoritären Charakter gewesen, die Adorno und andere Ende der 40er Jahre in Kalifornien durchführten und das so zu einer wesentlichen Orientierungsgröße für soziopsychologische Betrachtungen und Untersuchungen der folgenden Jahrzehnte wurden (Adorno 1995)� In Anbetracht dieser Ausgangslage mag sich die Frage stellen, was für ein Interesse eine literaturwissenschaftliche Betrachtung an einem soziopsychologischen Konstrukt hat bzw� mit welcher Berechtigung sie sich an diesem Konstrukt bedient� Ich möchte diese Frage zumindest streifen, bevor ich auf Goetz’ Text eingehe� Ein wesentlicher Grund liegt in der Geschichte dieses Konstrukts: Noch bevor psychologische und soziologische Arbeiten dem autoritären Charakter nachgehen, findet er eine detaillierte Darstellung in der Figur Diederich Heßlings im Roman Der Untertan von Heinrich Mann� Es scheint, dass die Literatur einen nicht unwesentlichen Anteil an der Identifizierung dieses Charakters geleistet hat� Vielleicht kann man auch so weit gehen, zu behaupten, die Literatur habe den autoritären Charakter überhaupt erst als Figur konzipiert und damit beobachtbar gemacht� Allerdings kann die Überlegung, was Literatur und Soziologie/ Psychologie oder was Figuralität und empirische Beobachtungen verbindet, hier nicht weiter verfolgt werden� Vorausgesetzt wird jedoch, dass es sich bei dem autoritären Charakter auch um ein literarisches, genauer um ein figurales Phänomen handelt, eben weil er eine Figur ist� Als solches kann es eine Tradition begründen, die als literarische mit ihren Fortsetzungen und Brüchen zu untersuchen ist� Genau dies soll hier im Fall von Rainald Goetz’ Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft geschehen� Kurz zum Inhalt: Im Vordergrund steht der im Titel des Textes benannte Johann Holtrop, der im Deutschland Ende der 90er und Anfang der Nullerjahre Geschäftsführer eines absatzmächtigen Medienunternehmens ist, dessen Kerngeschäft aus Printmedien besteht und das gerade versucht, in den neu aufkommenden digitalen Markt zu expandieren� Die Erzählung setzt ein, als Holtrop in den höchsten Rängen der Firmenhierarchie angekommen ist, inmitten seiner größten Erfolge und größtmöglichen Machtfülle� Von da an entfaltet der Text seinen Abstieg� Dieser wird herbeigeführt und immer weiter beschleunigt durch die vermehrte Fehleinschätzung anderer, die Überschätzung seiner eigenen Macht und Fähigkeit, seinen steigenden Konsum von Barbituraten und endet zunächst damit, dass Holtrop den Medienkonzern verlässt und in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wird� Davon erholt, begegnet er der Hauptaktionärin eines weiteren Großkonzerns, der er verspricht, ihr Unternehmenaus seinem maroden Zustand herauszuführen� Der Abstieg wiederholt sich diesmal im Schnellverfahren und endet damit, dass Holtrop Selbstmord begeht� Zur Organisation des Textes sei kurz schon einmal gesagt, dass die Erzählordnung chronologisch verfährt und als Erzählperspektive eine personal-auktoriale Mischform vorliegt: Die Erzählung fokussiert zum einen auf Holtrop mit kleineren Exkursen in die Innenwelt anderer Figuren� Zum anderen ist eine erzählende Stimme ganz klar auszumachen, die wertend bzw� verurteilend und stellenweise mit Invektiven in ihre eigene Erzählung eingreift� Weitere literarische Elemente werden im Laufe der Analyse herangezogen� Es sei ebenfalls noch angemerkt, dass der Text in der Kritik zumeist als Schlüsselroman gesehen wurde� So wurde behauptet, dass der Roman von Thomas Middelhoff, dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Konzerne Bertelsmann AG und Arcandor AG,„handelt“ ( Jungbluth 2012)� Dort, wo man den Roman nicht durchweg als Schlüsselroman lesen wollte, deutete man zumindest etliche andere Elemente als nicht-literarisch� So setzte man die Erzählerstimme mit Rainald Goetz selbst gleich und stellte das Urteil aus, es handele sich um „Giftzwergprosa“ 2 , in der der Autor als Erzähler seine Abscheu aus der eigenen moralischen Überlegenheit heraus kundtut� Diese Lesart wird für die folgende Analyse nicht von Belang sein, da sie die Literarizität des Textes größtenteils ignoriert� Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 357 358 Marc Petersdorff Ich möchte die Analyse mit einer Textpassage beginnen, die in fast programmatischer Weise aufzeigt, warum sich die Frage nach dem autoritären Charakter in Goetz’ Text anbietet: Die Türen wurden nicht aufgerissen, aber die elektrische Spannung schnellte hoch in jedem Raum, den Holtrop betrat� Die Körper der Menschen erstarrten in Konzentration, um sich nichts anmerken zu lassen vom Schreck, von der Faszination, die das Erscheinen des Vorstandsvorsitzenden Johann Holtrop, der natürlich besonders höflich abwiegelnd auftrat, auslöste� Das war ein Kick, der Holtrop Energien zuführte, die er als Chef auch brauchte, aber in der Hand haben musste, sich nicht anmerken lassen durfte� „Gleiche der Ratte nie“, so ein Spruch seines Großvaters, den der von Bismarck oder Seneca, vielleicht auch von Nietzsche oder irgendeinem anderen damals gerade aktuellen Haudegen für Unternehmerweisheiten hergeleitet hatte� Die gegenseitige Abhängigkeit von Ober und Unter machte Distanz erforderlich, für deren Einhaltung der Ober verantwortlich war� (Goetz 2012, 34-35) In dieser Passage finden sich etliche Merkmale wieder, die aus den traditionellen Bestimmungen des autoritären Charakters bekannt sind� Es liegt eine klare Hierarchie vor, die es möglich macht, zwischen Oberen und Unteren zu unterscheiden. Diese Hierarchie wird von den Untergeordneten affektiv („Schreck“ und „Faszination“), sensorisch („elektrische Spannung“) und kognitiv („Konzentration“) erfahren und gefestigt („Die Körper der Menschen erstarrten“)� Gustave Le Bon hat diese Wirkung unter dem Begriff des Prestige zusammengefasst und sie mit der Hypnose verglichen� 3 Das Prestige sorgt für eine Unterordnung, die nicht auf rationaler Erkenntnis und freiwilliger Zustimmung basiert, sondern auf Furcht und einer gewissen Lust, die das hierarchische Geschehen zu einem Spektakel werden lässt� 4 Ein weiterer Topos aus dem Autoritätsdiskurs ist die „gegenseitige Abhängigkeit“� 5 Holtrops Position verleiht ihm keine Autarkie� Auch Holtrop muss seine Position erfahren können und dazu benötigt er die Reaktion auf die eigene Wirkung (vgl. Fromm 1941, 145 ff.). Diese Erfahrung wird selbst als rauschhafte Lust beschrieben („ein Kick“)� Er ist also nicht nur rein differenziell, sondern auch in seinem Erleben auf seine Untergebenen angewiesen� Diese Lust unterliegt jedoch Einschränkungen: Der Machtvorsprung fordert dem Oberen eine Impulskontrolle ab, der die Untergebenen nicht unterliegen („Distanz […], für deren Einhaltung der Ober verantwortlich war“)� Dieser Unterschied ist strukturell wichtig, da er als wesentlicher Faktor das Gefälle zwischen Oben und Unten legitimiert und dadurch stabilisiert: Man ist oben, weil man sich essentiell von den Untergebenen unterscheidet� Die Lust an der eigenen Überlegenheit zu zeigen, hieße erstens, sich den Unteren anzugleichen („gleiche der Ratte nie“) und zweitens dadurch den Unteren die Macht zuzugestehen, durch ihre Reaktion den Oberen überhaupt erst als Oberen erfahrbar Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 359 zu machen� Der autoritäre Charakter verlangt, dass die gegenseitige Abhängigkeit nie als solche erscheint� Einher mit der Lust an der Hierarchie geht - ein weiterer Topos des Autoritätsdiskurses - die Verachtung für die Unteren, in gewisser Weise das sadistische Gegenstück zu dem Schrecken, den diese erfahren: Holtrop setzt die Untergebenen mit Ratten gleich� Was in diesem Zusammenhang jedoch auffällt, ist etwas, das nur noch bedingt in das bekannte Autoritätsschema passt, nämlich Holtrops diffuses Vorgehen in der Wahl seiner Maximen: Was Seneca, Bismarck und Nietzsche am ehesten zu verbinden scheint, ist die Wahllosigkeit, mit der sie aus dem europäischen Bildungskanon abgerufen werden� Von der direkten Imitation einer zumeist väterlichen Figur, die auch die Oberen im ‚klassischen‘ Autoritätsgefüge kennzeichnete, lässt sich hier wenig finden. Selbst der Großvater scheint in der Beliebigkeit der Referenzen aufzugehen� Das Vage und Ungeordnete wird noch eine besondere Rolle spielen, wenn es darum geht, das Spezifische an Holtrops Charakter zu bestimmen� Ich möchte diesen Aspekt hier aber noch aufgreifen, um auf einen weiteren traditionellen Topos aus dem Autoritätsdiskurs zu verweisen, der an anderer Stelle explizit entfaltet wird: Die meisten Leute gehen unvorbereitet in die Verhandlungen, das konnte man sich zunutze machen, außerdem sind die Leute wirr, also steuerbar, die meisten wollen sogar gesteuert werden, sie wollen auch etwas davon merken, ein sie entlastendes Moment, etwas penetrant Direktivistisches will aber keiner spüren müssen, wozu er sich dann auch noch ganz explizit irgendetwas Konkretes bewusst denken müsste� (Goetz 32) Unterwerfung dient der Entlastung� Auch dies ist ein vertrauter Topos aus dem Autoritätsdiskurs� 6 Wir finden hier allerdings noch ein weiteres Moment, das sowohl den Zustand des Unteren als auch die Möglichkeit seiner Steuerung betrifft: Wer gebieten will, darf in seinen Anweisungen ein bestimmtes Maß an Genauigkeit nicht überschreiten� Präzision und Herrschaft schließen sich aus� Als letzten Aspekt, der belegt, inwiefern Goetz’ Text traditionelle Autoritäts-diskurse bedient, möchte ich auf die Totalität verweisen� Dazu soll folgender Ausschnitt Aufschluss geben: Außerdem hatte Holtrop die unangenehme Chefallüre, die Leute, die ihm zuarbeiten, auch privat an sich zu binden und jeden einzelnen quasi als Freund auf sich zu verpflichten, der Chef also als Diktator, der Freundschaft einforderte. Ohne diese Zumutung anzunehmen, in Holtrops privaten Kreis aufgenommen zu werden, konnte man Holtrop nicht unterstellt sein� Für Leute, die von Macht fasziniert waren, war die Teilhabe an Holtrops Macht das Höchste� Damit spielte Holtrop� (Goetz 96) Autoritätsgefälle werden besonders dort stimuliert, wo eine Trennung zwischen verschiedenen Sphären verschoben oder sogar aufgehoben wird� 7 Die Gefolg- 360 Marc Petersdorff schaft Holtrops hat sich nicht nur beruflich, sondern auch privat zu erweisen. Der Untergebene ist nicht nur Angestellter, sondern Freund� Die Bezeichnung als „Diktator“ kann zugleich als deutlicher Verweis auf jene Tradition gelesen werden, die den Zusammenhang zwischen Herrschaft und dem ganzheitlichen Zugriff auf die Untergeben untersucht hat. Nach diesen Überlegungen waren totalitäre Zustände für den autoritären Charakter besonders zuträglich, da sie keinen Bereich mehr übrig ließen, in dem dieser Charakter sich noch anders als durch seine Gefolgschaft erfahren musste� Die drei zitierten Passagen haben also etliche Hinweise darauf gegeben, dass Holtrop und sein Umfeld in der Tat im Zusammenhang mit traditionellen Autoritätsdiskursen gelesen werden können� Allerdings erscheint die Figur von Holtrop selbst, wenn man ihn in den Autoritätsdiskurs einbettet, erst einmal als die klassische Führungsfigur und nicht als der folgsame Untertan� Der folgende Bezug auf die Tradition der Klugheitslehren, deren Nachwirkung in dem Text aufgezeigt werden soll, wird jedoch den Weg dahin ebnen, Holtrop selbst in die Nachfolge eines sich unterwerfenden Charakters zu stellen� Neben dem Autoritätsdiskurs ist in Goetz’ Text noch die Nachwirkung einer Tradition zu verzeichnen, die von frühneuzeitlichen Manualen begründet wurde und die sich mit der Frage beschäftigt, wie Macht zu erlangen und zu erhalten ist. Diese Tradition, an deren Anfang Niccolò Machiavelli steht, firmiert oft unter dem Titel der Klugheitslehre� Mit der Figur des Johann Holtrop werden wesentliche Topoi der Klugheitslehre abgeschritten� Einer dieser Topoi lief frühneuzeitlich unter dem rhetoriktheoretischen Schlagwort des aptum , also dem Gebot, sich unterschiedlichen Situationen bzw� unterschiedlichen Adressaten anzupassen� 8 Über Holtrop heißt es: „So machte er schnell Karriere, hell und brilliant, wie er im Auftreten war, die optimierte Summe aller, eines jeden, der ihm gerade gegenüber stand, so hatte er seinen Aufstieg in der Firma gemacht […]“ (Goetz 25)� Er vermag es also, dem jeweiligen Adressaten ein idealisiertes Ebenbild zu präsentieren („die optimierte Summe […] eines jeden, der ihm gerade gegenüber stand“)� Gemäß der Klugheitslehre ist dies die wesentliche Fähigkeit, um das Gegenüber für sich einzunehmen und zu überzeugen, und das heißt letztlich auch immer: das Gegenüber zum eigenen Zweck einzusetzen� 9 Ein weiteres Element, das Holtrop beherrscht und das ebenfalls wesentlich zur Programmatik der Klugheitslehren gehört, ist das Element des richtigen Zeitpunktes, des Kairos � 10 Hierzu heißt es, als Holtrop ein Fest verlässt, das zu Ehren des Patriarchen des Unternehmens veranstaltet wird: „[…] genauso heute Abend […], aus dem dekorierten Festsaal der Schönhausener Stadthalle seinen Abgang wieder einmal zum richtigen Zeitpunkt genommen, früh, aber nicht zu früh, dafür blitzartig schnell“ (Goetz, 25)� Zu dieser Inszenierung gehört ein Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 361 weiterer Punkt, der traditionell unter dem Begriff der Autoaffektion läuft, also dem Verfahren und der Fähigkeit, sich auf die vorgefasste Rolle so einzulassen, dass man möglichst glaubt, das Dargestellte in dem Moment tatsächlich zu sein, Repräsentation möglichst vollständig in der Präsenz aufgehen zu lassen� 11 Hierzu heißt es: „Das Loblied war gelogen� Es klang auch sehr grell� Aber Holtrop dachte in diesem Moment genau so, wie er sprach, er war mit der Lüge selbst komplett identisch� Die Leute wollten gelobt werden, diesen Gefallen konnte Holtrop ihnen tun“ (Goetz 102)� Das Lob des Gegenübers ist ein weiterer Topos genauso wie die Notwendigkeit, eine Art Miniaturanthropologie anzulegen, indem man Typen aufstellt� 12 Typologien machen das Gegenüber in seinem Verhalten überschaubar, kalkulierbar und damit in gewisser Weise steuerbar� Dieses typologische Verfahren wird an einer Stelle signifikanter Weise mit dem Moment der Hierarchie verbunden� Es scheint, dass hierarchische Verhältnisse einen bestimmten Typus besonders schnell zum Vorschein kommen lassen� An der Art des folgenden Lachers konnte Holtrop erkennen, mit welchem Typus Mensch er es bei dem aktuellen Exemplar von Gegenüber zu tun hatte, der subalterne Idiot, der froh war, sich als erstes gleich ein bisschen locker lachen zu dürfen, ja, zu sollen, war leider der bei weitem häufigste Fall, wofür die Leute selber kaum verantwortlich zu machen waren, das lag, wie Holtrop wusste, an seiner Position� (Goetz 34) Es ist allerdings nicht Holtrop allein, der die Topik der Klugheitslehren beherrscht� Auch von anderen Figuren lassen sich Verhaltensweisen beobachten und Aussagen lesen, die fast wörtlich aus frühneuzeitlichen Manualen entnommen zu sein scheinen: „Nach einem Moment der Stille sagte Ritter: ‚Auch die Aufrichtigkeit verliert mit der Zeit ihr Geheimnis’“ (Goetz 113)� 13 Diese Bemerkung steht in Verbindung mit einer wesentlichen Tätigkeit des klugen Verhaltens, die jedem Handeln vorausgeht, nämlich der Beobachtung� Das Beobachten ist Voraussetzung für das eigene strategische Wissen� Es ist die Bedingung für Typologien und auch noch für etwas anderes, das wesentlich dafür ist, sich in Machtkonstellationen zu bewegen und zu behaupten: Es versucht, die Strategie des anderen zu erkennen, um ihr entsprechend begegnen zu können� Dazu muss die Beobachtung zwischen der geplanten und der ungeplanten Selbstdarstellung des anderen unterscheiden können� In der Einleitung habe ich angekündigt, dass ich den autoritären Charakter, wie ich ihn glaube in Goetz’ Text sehen zu können, mit dem Begriff der Souveränität erfassen will� Es ist nun genau diese Scheidestelle zwischen dem kontrollierten und dem unkontrollierten Verhalten und der Möglichkeit ihrer Beobachtung, an der die Souveränität ins Spiel kommt� Ganz allgemein mag Souveränität als die Möglichkeit einer Gruppe oder eines Individuums bestimmt werden, Macht auszuüben� Traditionell wird die Souveränität an der Macht 362 Marc Petersdorff festgemacht, Gesetze zu erlassen oder aufzuheben� 14 Es ist kein Zufall, dass Theorien zur Souveränität und Klugheitslehren zur selben Zeit ihre Hochkonjunktur erfahren� Die Klugheitslehre ist einerseits für den Souverän gedacht und sein Bestreben, Macht zu erhalten; andererseits adressiert sie jene, die sich im Umfeld des Souveräns aufhalten oder aufhalten wollen und dort versuchen zu reüssieren� Klugheitslehren und Souveränitätsdiskurse verbindet dabei nicht nur ein allgemeines Interesse daran, wie Macht zu erhalten sei� Es verknüpft sie vielmehr auch ein spezifisches Paradox, das der Souveränität innewohnt und, wie es Carl Schmitt in der Formulierung prominent gemacht hat, dass Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet (Schmitt 1922, 13 ff.). Das Paradox besteht darin, dass der Souverän außerhalb und vor der Ordnung steht, die er selbst begründet, die ihn aber erst innerhalb ihrer selbst überhaupt zum Souverän erhebt� Es gibt also ein Außen und eine Vorzeitigkeit gegenüber der Ordnung geregelter Macht, die es eigentlich nicht geben darf, die es aber zugleich geben muss. Damit befindet sich Souveränität in einer prekären Lage, da die bestehende Ordnung wesentlich mit der Möglichkeit ihrer Zerstörung verbunden bleibt: Würde sich die Souveränität aber von der Bedingung der Möglichkeit ihrer Zerstörung loslösen, verlöre sie ihre Macht� Die bestehende Ordnung hätte keine Gewalt mehr, sich als solche geltend zu machen� Diese Gleichzeitigkeit von Ordnung und potentieller Zerstörung ist durch Walter Benjamins Kritik der Gewalt vertraut (Benjamin 1977, 179-203)� Es sind nun die Klugheitslehren, die von genau dieser Gleichzeitigkeit beziehungsweise dem Paradox der Souveränität - natürlich noch ohne dieses als solches zu benennen - Gebrauch machen: Sie verlangen in der Regel, in zwei Ordnungen zu beobachten und zu handeln� Die eine Ordnung ist die der bestehenden Gesetze� Es sind die Regeln, die verlangen, dass sich alle an sie halten� Dies ist die rein reproduktive Seite von Souveränität� Die andere Ordnung bewegt sich jenseits dieser Regeln. Es ist die Ordnung, in der Versuche stattfinden, Regeln zu umgehen, zu brechen oder zu ersetzen� Man könnte dies die generative Seite von Souveränität nennen� Es ist gleichsam ein Ausnahmezustand, der latent, unter der Hand, die ganze Zeit mit geschieht� Solange sie nicht in den offenen Ausnahmezustand umschlägt, ist das Signifikante an dieser generativen Seite, dass sie wesentlich parasitär funktioniert: Sie setzt voraus, dass es Regeln gibt, damit sie sich selbst an sie nicht hält� Diese Ordnung, zumindest wie sie die Klugheitslehren voraussetzen, muss sich dabei zugleich auf das Bestehen der Regeln verlassen, um sich im Zweifelsfalle doch wieder auf sie berufen zu können� Sie sind der notwendige Rückzugsraum, wenn die eigenen Spiele der Regellosigkeit verloren werden oder die der anderen auffliegen. Die generative Seite benötigt zudem Regeln als Deckmantel, unter dem sie operieren kann� Diesen Deckmantel zu verlieren oder sogar abzuwerfen, hieße, alles aufs Spiel Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 363 zu setzen� Es würde ein Taktieren unmöglich machen und ließe nur noch Raum für reine bzw. rohe Gewalt und die Herbeiführung des offenen Ausnahmezustandes� Die Beobachtung spielt im Gefüge dieser doppelten Ordnung eine zentrale Rolle: Sie ist das, was sich aus der Fähigkeit speist, das Geschehen jenseits der offiziellen Ordnung bemerken, verstehen und voraussagen zu können, um gegebenenfalls im eigenen Sinne einzugreifen� Die Beobachtung muss dabei ‚mitlaufen’ können, während sich der Beobachtende selbst in der offiziellen Ordnung bewegt� Das Beobachten ist zudem wesentlich, um die Versuche der anderen zu registrieren, ihrerseits zu beobachten, inwiefern man selbst jenseits der offiziellen Ordnung agiert oder agieren will. Es schließt insofern auch den Bezug auf sich selbst mit ein: Den anderen in seinem eigentlichen Tun zu erfassen, erfordert auch, sich selbst beobachten zu können, weil das Tun des anderen sich auch aus dieser Beobachtung speist� 15 Es ist nun genau dieses Zusammenspiel aus Beobachtung und den zwei Ordnungen der Souveränität, das man ebenfalls in der Unternehmenswelt von Goetz’ Text vorfinden kann. In einer Passage, die Holtrops berufliche und strategische Genese im Schnellverfahren durchläuft, wird genau dieses doppelte Feld der Beobachtung abgeschritten: Während dieser Jahre seines Berufsanfangs hatte sich auch Holtrop in das überall herrschende System der alle einenden Verachtung hineingelebt und damit arrangiert, Kollegen, die Verachtung auf sich ziehen mussten, ganz zu Recht, gab es schließlich überall� Zugleich aber hatte er gegenüber der Verachtung als Prinzip von Führung innerlich Distanz gewonnen in dem, wie er nicht wusste, verboten naiven Glauben an die höchst besondere Andersartigkeit seiner selbst […]� Holtrop glaubte einschränkungslos an die Freiheit seines selbstbestimmten Handelns� Und die strukturierte Kaputtheit des Systems der Verachtung erzeugte bei ihm vor allem den Überlegenheitsgedanken: gut, dass ich weiß, dass alle so kaputt sind, denn dann kann ich davon profitieren. (Goetz 24-25) Was hier weiter zum Vorschein kommt, sind nicht nur die zwei Ordnungen der Souveränität. Es wird ebenfalls offensichtlich, dass im Falle der beschriebenen Unternehmenswelt das Gefüge dieser Ordnungen bereits beschädigt ist� Dieser Schaden ist wichtig, weil er schließlich zum Komplex des autoritären Charakters führen wird. Der Schaden firmiert hier als eine „Kaputtheit“, die attestiert wird, weil die Verachtung - eine Einstellung, die offensichtlich in der inoffiziellen Ordnung operieren sollte - das Verhältnis aller zu allen bestimmt und damit schon fast unverhohlen in die offizielle Ordnung eingreift. Diese Kaputtheit herrscht allerdings in beiden Ordnungen. Während die offizielle Ordnung - der Raum von Gesetzen, Regeln, ihrer Beachtung und der Achtung anderer - nämlich droht 364 Marc Petersdorff amoralisch zu werden, leidet hier die inoffizielle Ordnung - der Raum, in dem Gesetze und andere nur als strategische Größen gelten - unter Ineffizienz. Und an genau dieser Stelle kommt die besondere Rolle, die Souveränität in diesem Text spielt, zur Geltung: Alle Teilnehmer „des Systems“ wollen selbst Souverän sein und glauben auch, dies sein zu können� Wie es in der Passage heißt, ist Holtrop nicht einzig darin, „einschränkungslos an die Freiheit seines selbstbestimmten Handelns“ zu glauben� Es ist allerdings nicht diese missliche Selbsteinschätzung selbst, auf welche die Kaputtheit der beiden Ordnungen zurückgeht� Es ist vielmehr eine wesentliche Unfähigkeit, aus der diese Kaputtheit resultiert, nämlich die Unfähigkeit, sich selbst in Bezug auf andere zu beobachten� Dies wirkt sich wiederum auf die Beobachtung anderer aus und führt damit zu ihrer Fehleinschätzung� Setzten Selbst- und Fremdbeobachtung in der Klugheitslehre sich gegenseitig voraus, so scheitern sie im Assperg-Konzern auch aneinander und miteinander� Wie bereits erwähnt beschränkt sich dieses Scheitern dabei nicht auf Holtrop, sondern es zeigt sich an etlichen anderen Figuren� Über einen Kollegen heißt es: „Verrückterweise wusste Zischler nicht, dass er nicht der einzige war, der seine Kollegen für Deppen hielt, dass jeder jeden so sah, Zischler hielt sich in seinem Hochmut für einzigartig, er war hier sozusagen der absolute Superdepp“ (Goetz 150)� Und über einen weitereren: „Das war die von Sprißler so sehr verachtete Dummheit von Thewe, dass er sein Verhalten nicht als das nahm, wie es wirkte, sondern wie er es meinte“ (Goetz 78)� Am stärksten manifestiert sich diese Unfähigkeit zur Beobachtung seiner selbst und anderer jedoch in Holtrop: „Aber auch in Blaschke irrte sich Holtrop, dessen Menschenkenntnis durch überwertige Egoorientierung auffallend schwach ausgeprägt war“ (Goetz 67). Es ist nur konsequent, dass aus der Unfähigkeit zur Selbstbeobachtung auch resultiert, den Glauben an die eigene Einzigartigkeit nicht auch anderen zuschreiben zu können� Daher kann auch die Systematizität des eigenen Verhaltens nicht erkannt werden. Es scheint, dass genau dieser spezifische Mangel an Gespür für die eigene Systemzugehörigkeit ebenfalls dazu führt, dass die Selbstbezüglichkeit, welche die inoffizielle Ordnung bestimmt, sich schließlich auch in der offiziellen Ordnung niederschlägt� Wo zum Beispiel ein Gutachten referiert werden soll, wird dies als Gelegenheit zu einer Selbstdarstellung genutzt, in der sich die Vorstellung von Wissen auch zugleich schon zu erschöpfen scheint� In ein schülerhaft ordentliches Schema wird die Pseudopräzision einer möglichst angeberhaft abstrakten Begrifflichkeit, hier billig der Systemtheorie entlehnt, quasi automatisch hineingefüllt� Die so erzeugte Wissenschaftlichkeitsanmutung war dazu da, das Gutachten möglichst weit weg von der Realität der begutachteten Wirklichkeit zu positionieren, um seiner Funktion zu entsprechen, Realwissen über Realität zu stören� (Goetz 48) Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 365 Was Präsentation von Information sein soll, reduziert sich auf den Informanten� Wie die Textstelle aber auch zeigt, bleibt es dabei nicht� Der Solipsismus des individuellen Auftretens innerhalb des Konzerns erfüllt zugleich einen weiteren Zweck, nämlich den Raum zu schützen, in dem sich dieser Solipsismus überhaupt erst in der angezeigten Form entfalten kann� Es ist die Rede von einer „Funktion […], Realwissen über Realität zu stören“� Diese Formulierung lässt sich in der Tat als Manifestation eines überspitzten Invektivstils lesen� Innerhalb des Textes ist sie aber auch durchaus als Aussage über Struktur ernst zu nehmen� Als eine solche besagt sie, dass in dem Raum, den der Konzern zur Verfügung stellt, Wissen nur als ein Wissen innerhalb des Konzerns möglich ist� So wirkt sich der Solipsismus, der in der Unfähigkeit gesehen werden konnte, sich selbst in Bezug auf andere und umgekehrt zu beobachten, auf die Institution selbst aus� An einer anderen Stelle heißt es im Text: „Jedes Ressort steuerte sich selbst in eigener Verantwortung� Das übergeordnete Kollegialprinzip bedeutete außerdem, dass alle für alles verantwortlich waren, zuletzt aber auch jeder für nichts konkret“ (Goetz 150). Die inoffizielle Ordnung der Souveränität hat also begonnen, sich die offizielle anzugleichen. Für den Konzern heißt dies, dass das Souveränitätsbestreben der Einzelnen auf der Ebene des Kollektivs institutionalisiert wird� Durch diese institutionelle Dynamik wird Realität als Wissen über das, was nicht der Konzern ist, abgespalten� Der Konzern ist ein abgeschotteter Raum� Diese Abschottung ermöglicht eine Einstellung, in der Konsequenzen außerhalb des Konzerns irrelevant werden� Relevant ist einzig die Eigendynamik, die sich im Inneren dieses Raums abspielt� 16 Wo soll also nun der autoritäre Charakter verortet werden und inwiefern passt er auf Holtrop? Die Antwort findet sich dort, wo die Dynamik der Institution wiederum auf die Einzelnen zurückwirkt, die die Institution ja erst mit ihrem eigenen Verhaltensdispositiv erschaffen hatten. Wie bisher gezeigt wurde, schafft es der Konzern, die Wirklichkeit der Außenwelt auszublenden und erfolgreich eine eigene Version von Wirklichkeit zu erzeugen: Indem die Teilnehmer ja von einem bloßen Wunsch nach Souveränität motiviert sind, aber zugleich unfähig sind, denselben Wunsch auch in anderen zu verorten, merken sie nicht, dass ihr Verhalten kollektiv ihren Solipsismus wiederum auf der Ebene des Konzerns zum bestimmenden Faktor der Konzernstruktur macht� Auf einer kollektiven Ebene wird also die Charakterstruktur der einzelnen Teilnehmer gespiegelt bzw� reproduziert. Dabei bleibt es aber nicht. Es findet nämlich so etwas wie eine Rückkoppelung statt: Holtrop zumindest reproduziert die kollektive Struktur auch wieder in sich� Das Autoritäre entsteht genau durch diese doppelte Reproduktion � Was heißt das genauer? 366 Marc Petersdorff Den ‚klassischen’ autoritären Charakter kennzeichnete sein Verhältnis zur Menge bzw� Masse und zu den Führern dieser Masse� Wichtig an diesem Verhältnis war, dass der autoritäre Charakter letztlich nie alleine auftreten konnte� Er musste immer in ein Kollektiv eingebettet sein, für das er exemplarisch und sogar repräsentativ einstehen konnte. Dieses Kollektiv definierte sich dadurch, dass es jemandem folgte. Diese Führerfigur musste, im Gegensatz zum autoritären Charakter, wiederum einzigartig sein, vorgeblich zumindest� 17 Diese Einzigartigkeit allein reichte jedoch nicht� In einer ihrer wesentlichen Eigenschaften - dem starken Willen - musste die Führerfigur ihrer Gefolgschaft nämlich auch entsprechen (vgl� Freud 1963, 228)� In ihrem starken Willen potenzierte sie das, wovon die Masse glaubte, dass es sie definierte. Die Herausforderung der Führer bestand also daraus, ein Manöver zwischen Gleichheit und Ungleichheit zu bewältigen� Der autoritäre Charakter, wie man ihn in Goetz’ Text finden kann, ist nichtmehr dadurch gekennzeichnet, dass er folgen will� Dieser Charakter will selbst Führer sein� Was ihn auf den ersten Blick jedoch tatsächlich noch den Führern der Autoritätstheorie gleichen lässt, ist, dass er mit der Unterscheidung zwischen Gleichheit und Einzigartigkeit zu operieren scheint: „Gleiche der Ratte nie“ (Goetz 35)� Was ihn jedoch wiederum von diesen Führern unterscheidet, ist, dass diese Unterscheidung in invertierter Form auftaucht: Man gleicht den anderen erstens darin, dass man ihnen nicht gleichen will und zweitens in dem Wunsch, sich außerhalb der geteilten Wirklichkeit zu bewegen, um diese letztlich souverän beherrschen zu können: „Mir doch egal, dachte und sagte jeder über jeden, was die Null, der Typ neben mir, plant, vermeldet oder beabsichtigt, es wird ja sowieso nichts, der kann es nicht, dachte jeder über jeden“ (Goetz 24)� Der Unterschied zwischen dem, was gleich und ungleich ist, scheint sich also aufzuheben� In ihrem Wunsch, Souverän zu sein und in ihrem Glauben, einzigartig zu sein, sind die Akteure letztlich also auch austauschbar� Dies ist aber nicht der einzige Aspekt, in dem Holtrop sich dem Typus des autoritären Charakters annähert� Ein weiterer und vielleicht noch wichtigerer Aspekt ergibt sich aus dieser spezifischen Form der Souveränität selbst. Das Spezifikum der Souveränität, wie wir sie bei Holtrop und seinen Kollegen finden, ist, dass sie letztlich keinen eigenen Inhalt hat: In dem bloßen Wunsch, Souverän zu sein, hat sich die Vorstellung davon verloren, wodurch die bestehende Ordnung eigentlich ersetzt werden soll� Souveränität wird so an einer wesentlichen Stelle ausgehöhlt� Bestand sie sonst daraus, aus dem Ausnahmezustand heraus Gesetze zu setzen, so hat sie im Falle von Holtrop und seinen Kollegen einen solchen positiven Inhalt nicht mehr� Es ist nun genau diese Stelle ihres ausgehöhlten Solipsismus, an dem man die Rückwirkung des Konzerns auf seine einzelnen Akteure Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 367 beobachten kann� Was sich nämlich in Holtrop durch seinen Mangel an einem eigenen motivierenden Ideal verdoppelt, ist wiederum der Konzern selbst mit der ihm eigenen Dynamik� Die bereits besprochene Geschlossenheit des Konzerns kann Ideale nur als etwas selbst Produziertes zulassen� Wenn in diesem Gefüge Ideale entstehen, dann können es konsequenter Weise also nur solche sein, die er bereits stillgestellt - gewissermaßen vernichtet - hat� Als etwas Lebendiges würden sie drohen, die reine Selbstbezüglichkeit des Konzerns infrage zu stellen� So heißt es über den von Holtrop entlassenen Thewe, nachdem er Selbstmord begangen hat: „Der tote Thewe war für die Leute plötzlich Ikone und Inbild des Guten, ganz anders als der lebende, jetzt im Nachhinein stand er für das gute alte Assperg, das von den Asspergianern jahrelang verachtet und gehasst worden war“ (Goetz 194)� Was hier das Gute genannt wird, verweist also umgehend zurück auf den Konzern selbst� Ideal und Norm tauchen zudem nur als etwas auf, das in der Vergangenheit des Konzerns stattfindet und in dieser Vergangenheit nicht wirklich als Norm und Ideal gewirkt hat� Orientierungsgrößen können also nicht als autonome Gebilde existieren� Es ist genau diese Selbstbezüglichkeit des Konzerns, die sich wiederum in Holtrop abbildet und schließlich das ersetzt, was in der Souveränität sonst als Ideal der angestrebte Machtinhalt gewesen wäre� 18 Eine Souveränität, die sich über einen Inhalt rechtfertigt, wäre eine Souveränität, die etwas von außen integriert� Der Solipsismus jedoch, der hier sowohl den Konzern als auch seine obersten Angestellten determiniert, macht eine solche Integration von außen unmöglich. Wenn etwas von außen Eingang findet, dann muss es auch wieder verschwinden� Es muss in diesem - wenn auch etwas trivialen - Sinne verstanden werden, dass Holtrop nicht „fern“sieht, wenn es heißt, dass er von dem „Beobachtungstool“ Fernseher keinen Gebrauch macht� 19 Genau diese charakterologisch und institutionell bedingte Kurzsichtigkeit macht die Kurzlebigkeit, aber auch die Wahllosigkeit aus, mit der Autoren in der oben bereits zitierten Textpassage angeführt werden: „’Gleiche der Ratte nie’, so ein Spruch seines Großvaters, den der von Bismarck oder Seneca, vielleicht auch von Nietzsche oder irgendeinem anderen damals gerade aktuellen Haudegen für Unternehmerweisheiten hergeleitet hatte“ (Goetz 35). Es scheint definierend für diese Unternehmensweisheiten und ihre Quellen zu sein, dass sie austauschbar sind� Dieselbe diffuse Imitation lässt sich programmatisch noch klarer an anderer Stelle finden: „Holtrop selbst merkte nicht, wem er was nachplapperte, wo er sich bediente und von wem er was übernommen oder gestohlen hatte� Er hatte Sehnsucht nach Tiefgang, genau weil er selbst keinen Zugang dazu hatte, und sehnte sich nach großen Fragen, die sich ihm nicht stellten“ (Goetz 126)� 20 368 Marc Petersdorff Die Imitation ist einerseits notwendig, weil sie immer wieder den kurzlebigen Inhalt stellen muss, den der Wunsch nach Souveränität letztlich nicht haben kann� Gleichzeitig dient sie auch einer hierarchieinternen Funktion: Sie kann Ideale von anderen kurzzeitig übernehmen, um wiederum diesen gegenüber das Ideal zu repräsentieren� Dies war zum Beispiel in der Szene zu beobachten, in welcher der Vorstandsvorsitzende einen Raum betrat� Beide Aspekte von Imitation müssen aber diffus sein, weil der Imperativ der Selbstbezüglichkeit in Akteuren und Konzern eben nicht zulässt, dass etwas integriert wird, das nicht identisch mit ihnen ist� Man kann in diesem Zusammenhang so weit gehen, zu sagen, dass es der Akt der konzerninternen Repräsentation selbst ist, der die Entleerung des Ideals sicherstellt� Schon allein in diesem Mangel an Präzision und Festlegung, mit dem sich Macht mitteilt, scheint also noch ein Topos des ‚alten’ autoritären Charakters wieder aufzuscheinen� Der wichtigste Topos, der aber hier schließlich in abgeänderter Form wiedergefunden werden kann, ist der der Unterwerfung: Holtrop, in einer diffusen Imitation, die zuerst durch seine Unfähigkeit zur Beobachtung und dann durch den bloßen, letztlich inhaltsleeren Wunsch nach Souveränität angetrieben wird, unterstellt sich dem Solipsismus des Konzerns. Es ist eine Form der Ichauflösung, die sich nur in einer reinen Abgeschlossenheit nach außen hin vollziehen kann� 21 Der zweite Aspekt, der autoritäre Mechanismen reproduziert, ist also die angesprochene diffuse Imitation. Diese kann aber auch noch in einer anderen Hinsicht als Unterwerfung betrachtet werden, nämlich in der Dynamik, aus der sie sich speist und die sie selbst wiederum anzutreiben scheint� Diese Dynamik wird an einer Stelle so beschrieben: „Das Verhalten wirkte unruhig, von schnellen Einfällen fahrig gesteuert, aber auch wie das normale wirre Agieren des allein lebenden Menschen, der sich keiner Beobachtungsinstanz ausgesetzt fühlte und dadurch von nichts diszipliniert“ (Goetz 117)� Abgesehen von den bereits besprochenen Aspekten der Unfähigkeit, zu beobachten, dem daraus resultierenden Glauben, alleine zu agieren, der solipsistisch bedingten Orientierungslosigkeit und dem daraus resultierenden diffusen Aktionismus findet sich hier auch beschrieben, was das inhaltslose Souveränitätsbestreben auslöst� Die ersten beiden Epitheta dieser Passage sind „unruhig“ und „schnell“� Der Prozess steuert auf eine Form der Verausgabung zu� An anderer Stelle heißt es: Holtrop startete zwar immer bis zu fünf Aktionen gleichzeitig, das entsprach seinem Selbstbild vom hyperaktiven Mensch und Macher, der immer maximal unter Strom steht und den Reichtum seiner inneren Vieldimensionalität kaum bändigen kann, aber in Wirklichkeit war er gar kein echter Multitasker, im Gegenteil� Holtrop war Hektiker, permanent von der Vielzahl und Gleichzeitigkeit seiner Aktivitäten über- Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 369 fordert, überlastet, fahrig stolperte er der jeweils neuesten, letztgestarteten Aktivität, den Blick schon auf die übernächste gerichtet, hinterher, und die meisten angefangenen Dinge blieben einfach nicht zuende gebracht irgendwo um ihn herum liegen� (Goetz 171) Diese Dynamik versucht Holtrop vermehrt durch das Psychostimulans Tradon anzuheizen� Es passt im Sinne der expansiven Kraft dieser Dynamik auch, dass Holtrop die Grenzen des Konzerns irgendwann nicht mehr erkennt� Er setzt das dem Konzern zugehörige Verhalten in der Öffentlichkeit fort, wo es als ein Zusammenbruch gewertet wird, was wiederum zum Aufenthalt in einer Nervenheilanstalt führt� 22 Dass der Prozess sich beschleunigt wiederholt, nachdem Holtrop aus der Anstalt entlassen ist, scheint konsequent der Logik einer solipsistischen Dynamik zu folgen, die letztlich keinen externen Zugriff erlaubt und nur eine Reproduktion aus sich selbst heraus zulässt� Ebenfalls dieser Logik folgt der Tod Holtrops: Er rennt auf einem Gleis einer fahrenden Lokomotive entgegen� Zwar will er im letzten Moment noch vom Gleis abspringen, doch die einmal in Gang gesetzte Dynamik lässt diese Verlangsamung nicht zu� Es erscheint logisch, dass am Ende keine Entschleunigung steht, sondern der Versuch, die eigene Geschwindigkeit dadurch über sich hinaus zu potenzieren, dass man sie delegiert und sich in dieser Delegierung selbst auslöscht� Dieses Ende manifestiert sich, auch im wörtlichen Sinne, als äußerste Unterwerfung� In diesem Sinne kann auch Holtrops Name gesehen werden: eine hohle Trope, eine inhaltslose Wendung, eine fortwährende und schließlich endgültige Ersetzung durch nichts� Bevor ich zum Fazit komme, möchte ich noch auf die erzählende Stimme selbst eingehen� Es ist in der Kritik wiederholt behauptet worden, es handele sich hier um Goetz selbst, der kommentierend und beschimpfend in seine eigene Erzählung eingreift� Das hieße jedoch, die Möglichkeiten des Mediums Literatur zu übersehen� Man kann nämlich durchaus das Vorgehen dieser Stimme selbst in einen literarischen Bezug zu ihrer eigenen Erzählung setzen� Was ich zuvor als diffuse Imitation beschrieben habe, das wahllose und immer wieder kurzzeitige Angleichen austauschbarer Bezugsgrößen, scheint sich nämlich rhetorisch in der Erzählung selbst niederzuschlagen� Dazu reicht allein ein Blick auf den Anfang des Textes� Der Roman beginnt mit einer fast märchenhaften Beschreibung der Niederlassung in Krölpa, die ziemlich rasch in eine Invektive umschlägt, die sich ihrerseits zu einer Amplifikation aufbaut, die entfaltende Darstellung eines Gegenstandes, die unter anderem durch Anhäufung von Vergleichen entsteht� Das Bezeichnende an diesen Vergleichen, die sich immer weiter steigern, ist besonders der letzte Teil, der einen Anlauf zu nehmen scheint, der einerseits 370 Marc Petersdorff spiegelt, was der Verurteilung, deren Teil sie ist, selbst zukommt und die bezeichnender und konsequenter Weise nur in einem Vergleich mit nichts abbrechen kann: „So falsch, so lächerlich, so blind gedacht, so infantil größenwahnsinnig wie, wie, wie - „ (Goetz, 11)� Diese Stelle lässt etliche Deutungen zu� Es mag durchaus ein Topos der Sprachlosigkeit sein� Dieser mag sich aus der Abscheu vor dem eigenen Gegenstand speisen oder aus dem Bestreben nichts anderes durch den Vergleich zu kontaminieren� In Anbetracht der Mechanismen, die sich an den Figuren beobachten lassen, halte ich es aber ebenfalls für möglich, in dieser Kombination aus amplifikatorischer Fülle, aus Redundanz und Abbruch eine rhetorische Vorwegnahme zu sehen, welche das Verfahren des Konzerns wie auch der einzelnen Konzernmitglieder und besonders Holtrops abbildet beziehungsweise vorbildet� Überhaupt lässt sich die erzählende Stimme wiederholt als Dopplung des erzählten Gegenstandes verstehen� Aus dem Standpunkt ihrer Beobachtung heraus scheint sie ebenfalls vom Glauben angetrieben, in einer inoffiziellen Ordnung zu operieren, aus der heraus sich die Minderwertigkeit der beobachteten Figuren feststellen und die eigene Überlegenheit erfahren lässt� In genau diesem Urteil, das sich außerhalb des Geschehens wähnt, ist die erzählende Stimme aber schließlich nur eine Fortsetzung oder sogar eine rhetorisierte Reproduktion der beschriebenen Figur: In ihren Invektiven benutzt sie immer wieder Vergleiche, die sich verschiedener, oftmals wahllos erscheinender Gegenstände bedienen, um letztlich ebenfalls am Ende der eigenen Mittel anzukommen und diesen Vergleich durch nichts zu ersetzen. Auch hier eine hohle Trope also. Auffällig ist auch, inwiefern das Ende der erzählenden Stimme an das Ende Holtrops gekoppelt ist� So wie Holtrop scheint sie einem Ende zuzulaufen, das sie noch einmal kurz verzögert, indem sie dem Tod den Sinn abspricht und sich dadurch über ihn zu erheben scheint, dieser Tod aber doch letztlich auch die erzählende Stimme einholt, die schließlich endet und sich gleichsam ebenfalls an ein Außen delegiert, das das eigene Ende bedeutet� So scheint auf der Ebene des Erzählens eine systemisch vorgegebene Selbstüberschätzung zu einer weiteren Variante von Unterwerfung zu werden� Was Johann Holtrop mit dem autoritären Charakter ‚klassischer’ Provenienz verbindet, ist die Hierarchie, in der dieser operiert und die Mechanismen der Unterwerfung, die mit dieser Hierarchie einhergehen� Was Holtrop von diesem Charakter unterscheidet, ist die spezielle Form der Unterwerfung, die sich bei Holtrop und seinen Kollegen selbst vorfindet. Diese vollzieht sich dadurch, dass der Typus eines Holtrop selbst Führer sein will und Souveränität anstrebt� Dieses Bestreben zeigt sich zunächst im vertrauten Doppelspiel in zwei Ordnungen, in dem man sich einerseits an Regeln hält und andererseits versucht, jenseits der Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 371 Regeln zu agieren, um diese letztlich selbst bestimmen zu können� Was die Figur eines Holtrop dabei schließlich in die Unterwerfung treibt, ist, dass er nicht beherrscht, was er braucht, um wirklich außerhalb der offiziellen Ordnung zu operieren, nämlich eine adäquate Beobachtung anderer und seiner selbst� Dies führt zu einem Ideal von Souveränität, das sich nicht mehr über einen festen Inhalt, sondern nur noch über Souveränität selbst definieren kann. Es ist genau diese Inhaltlosigkeit eines Ideals, das nur noch durch die eigene Form - Souverän sein zu wollen - operieren kann, die schließlich die Unterwerfung eines Holtrop herbeiführt� Was sich dabei wiederum der unterworfenen Figur aufprägt, ist ebenso kein fester Inhalt� Woran sich die Figur nun orientiert, ist vielmehr eine doppelte Reproduktion ihrer selbst, die dadurch zustande kommt, dass die Unternehmenswelt, die dem einzelnen nun seinen Inhalt vorgibt, selbst nur eine kollektivierte Form des hermetisch verfahrenden Solipsismus der einzelnen Mitglieder ist, aus der diese Unternehmenswelt besteht� In ihrer Unterwerfung begegnet die Figur eines Holtrop also letztlich nur der eigenen Inhaltslosigkeit� Da diese Inhaltslosigkeit aber nicht als solche erscheinen kann, muss sie vorgeben Inhalte zu haben� Aufgrund ihres Solipsismus können diese Inhalte aber nie wirklich internalisiert werden� Was folgt, ist eine Dynamik sich verflüchtigender Scheininhalte. Es ist diese Dynamik aus gehaltloser Souveränität und diffuser Imitation, die sich, im Fall von Johann Holtrop zumindest, in einem Leerlauf erschöpft, der unter seiner eigenen Bewegung zum Erliegen kommt� Dieses Erliegen kann schließlich als ein finaler Akt der Unterwerfung gedeutet werden, eine Form der Ichauflösung, die zum einen an den ‚klassischen’ autoritären Charakter anschließt und diesen zum anderen in ihrer Totalität übersteigt� Notes 1 Diese Aufzählung besagt natürlich nicht, dass diejenigen, die zur Erfassung des autoritären Charakters beigetragen haben, alle dieselbe Definition vertreten� Es handelt sich hier vielmehr um einen Querschnitt� Für einen Überblick über die Geschichte des Begriffes, der damit verbundenen Forschung und der gegenseitigen Beeinflussung beziehungsweise Abwendungen einschlägiger Autoren siehe: Samelson 1993; Ripple, Kindervater und Seipel 2000� 2 Siehe Weidermann 2012� Eine ganz ähnliche Betrachtung fand sich auch auf literaturkritik.de , wo es hieß, dass „Rainald Goetz unentwegt als kommentierender allwissender Erzähler ins Geschehen eingreift“ (Mohr 2012)� Die Reduktion auf den Schlüsselroman und das Urteil der Selbstgerechtigkeit, in dem Erzähler und Autor identifiziert wurden, teilte ebenfalls die Frankfurter Rundschau (Halter 2012)� Überraschend nah kam man einem literarischen Verfahren in der Neuen Zürcher Zeitung , schrieb das Erzählen jedoch schließlich auch Goetz selbst zu, als sei die erzählende Stimme etwas, das präzise von ihrer eigenen Erzählung zu trennen sei� Die Kritik lautete: „Als gelte es, das verwerfliche Treiben seiner Akteure zu verdoppeln, vermeidet er alles, was seinem Buch stilistische oder poetische Vorzüge geben könnte“ (Moritz 2012)� 3 Prestige wird auch oft als Nimbus übersetzt: „Der Nimbus ist in Wahrheit eine Art Zauber, den eine Persönlichkeit, ein Werk oder eine Idee auf uns ausübt� Diese Bezauberung lähmt alle unsre kritischen Fähigkeiten und erfüllt unsre Seelen mit Staunen und Ehrfurcht� Die Gefühle, die sie hervorrufen werden, sind unerklärlich wie alle Gefühle, aber wahrscheinlich von derselben Art wie die Suggestion, der ein Hypnotisierter unterliegt� Der Nimbus ist der mächtige Quell aller Herrschaft“ (Le Bon 2014, 123)� Es ist Freud, der in seiner Kritik an diesen Begriff und den Zusammenhang mit der Hypnose anknüpft (Freud 1963, 228)� 4 Dieser Lustcharakter ist bereits besonders von Erich Fromm hervorgehoben worden (Fromm 1987, 121-22)� 5 Wilhelm Reich beschreibt besonders „ den Blick nach oben “ als kennzeichnend für den autoritären Charakter (Reich 1971, 71)� Allerdings verwendet Reich selbst diesen Begriff noch nicht. 6 Es ist zum Beispiel der zentrale Gedanke in Erich Fromms Escape from Freedom � Fromm behauptet hier, dass ein tendenziell masochistischer Charakter es nicht schafft, die negative Freiheit, also die Befreiung von Pflichten, Zugehörigkeiten und metaphysischen Bedrohungen, in eine positive Freiheit umzuwandeln� Solch ein Charakter erfährt Freiheit in erster Linie als Isolation, Orientierungslosigkeit und Überforderung� Sein Ich in der Unterwerfung unter Führungsfiguren aufzugeben, bedeutet in diesem Zusammenhang eine Entlastung (Fromm1941, 164)� 7 Als prominentes Beispiel der Totalitarismus-Theorie wäre hier Hannah Arendts Origins of Totalitarianism zu nennen (Arendt 1994, 336 ff.). 8 Geht es bei den Begriffen des prépon und aptum zunächst um die sprachliche Anpassung an die jeweiligen Adressaten, so erfährt dieser zunächst rhetorische Begriffskomplex im Laufe des 16. Jahrhunderts eine Wendung, die das gesamte Verhalten beziehungsweise die gesamte Selbstdarstellung betrifft. Das prominenteste Beispiel findet sich in Baldassare Castigliones Der Hofmann von 1528 (siehe Castiglione 1996)� 9 Als rhetorische Strategie wird dieses Vorgehen bereits in Aristoteles’ Rhetorik beschrieben (Aristoteles 2002, 20-23)� 10 Auch hier handelt es sich um einen ursprünglich rhetoriktheoretischen Begriff. Seine älteste Nennung und Beschreibung lässt sich bei Gorgias von Leontinoi finden (siehe Gorgias von Leontinoi 1989). 372 Marc Petersdorff 11 Die älteste detaillierte Beschreibung dieses Verfahrens lässt sich bei Quintilian im sechsten Buch der Institutio Oratoria finden (siehe Quintilian 2001). 12 Auch diese Typologie - wenn auch ohne diese Bezeichnung - findet sich bereits als begriffliches Vorgehen und strategisches Verfahren in Aristoteles’ Rhetorik (Aristoteles 2002, 26-36)� 13 Der Ausspruch scheint die Strategie weiterzutreiben, die Gracián in seinem Handorakel in der dreizehnten Maxime ausbreitet� Dort heißt es zur Wahrheit als Mittel zur Täuschung: „Indem jetzt die Verstellung ihre Künste erkannt sieht, steigert sie sich noch höher und versucht nunmehr durch die Wahrheit selbst zu täuschen: sie ändert ihr Spiel, um ihre List zu ändern, und läßt das nicht Erkünstelte als erkünstelt erscheinen, indem sie so ihren Betrug auf Aufrichtigkeit gründet“ (Gracián 2004, 10)� 14 Die erste umfangreiche Bestimmung erhält der Begriff der Souveränität in Jean Bodins Livres de la République oder Über den Staat : „Der Begriff der Souveränität beinhaltet die absolute und dauernde Befehlsgewalt […]� Souveränität bedeutet höchste Befehlsgewalt“ (Bodin 1976, 19)� 15 In der frühen Neuzeit ist das Thema der Selbst- und Fremdbeobachtung zumeist in den Diskurs um Simulatio und Dissimulatio eingebettet� Zwar konzentriert sich dieser Diskurs oft auf die spezielle Unterdrückung und Vortäuschung von Affekten - und ihre Lesbarkeit -, allerdings werden unter dieser Praktik der gesteuerten Visualität und ihrer Lesbarkeit die eigenen Absichten und Pläne oft mitgedacht� 16 In diesem Sinne erscheint es auch konsequent, dass Holtrop das eigene Tun als Kunstgeschehen begreift: „Er liebte den Craze, das Provisorische, das Flirren in den Augen der Spinner, die ihm ihre Geschäftsvisionen, Träume und Phantasien als morgen schon herbeigewirtschaftete Realität verkauften, alles Lügen, aber herrlich und von allen geglaubt� Wirtschaft war endlich Kunst geworden, der schönste und größte Weltfreiraum für alle wirklich abenteuerlich gesinnten Menschen, der Kapitalismus leuchtete, hell und wild wie noch nie“ (Goetz 107-08)� 17 Fromm weist schon von Anfang an darauf hin, dass auch die Figur des Führers letztlich austauschbar ist� 18 Es mag in diesem Zusammenhang verwunderlich erscheinen, dass der Hauptfigur eine besondere Stellung zugesprochen wird, wenn sie sich in Abscheu von ihrem Umfeld distanziert, und im selben Zuge Holtrop zugestanden wird, er habe eigene Ideen, die er aufgeben müsse (siehe Hammelehle 2012)� 19 „Zu dem einfachen Gedanken, dass er durch sein Nichtfernsehen von einem Beobachtungstool der Weltverhältnisse, speziell der Stimmung im deutsch- Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 373 374 Marc Petersdorff sprachigen Raum, abgeschnitten sein könnte, dass das auch für seine Arbeit von Nachteil sein könnte, kam Holtrop an diesem Abend nicht“ (Goetz 242)� 20 Hierin lässt sich eine weitere Umkehrung eines Topos aus der Klugheitslehre sehen� Dort war das Ideal, die beste Summe aller Ratschläge als eigene Ansicht vorzubringen� So heißt es bei Gracián im Handorakel: „Da redet man nachher in der Versammlung für viele, indem aus eines Munde so viele reden, als man vorher zu Rate gezogen hat: so erlangt man, durch fremden Schweiß, den Ruf eines Orakels“ (Gracián 2004, 11)� 21 Insofern ist es auch problematisch, obwohl es nahezuliegen scheint, im Falle von Holtrop und Co� von Narzissmus zu sprechen� Es ist zwar in der Tat so, dass Holtrop die Anerkennung anderer benötigt, wenn er sich ihren Blick vorstellt und sich in ihrem Blick als Ideal imaginiert� Dazu heißt es an einer Stelle: „Holtrop ließ sich gerne von anderen, speziell jüngeren Menschen dabei beobachten, wie er war und was er machte, denn er fand sich selbst, auch wenn er vor langer Zeit einmal gespürt hatte, dass das eine fundamental unzulässige Empfindung war, zuletzt unweigerlich doch: erstaunlich gut gelungen, ein besonders geglücktes Exemplar Mensch“ (Goetz 98-99)� Wenn man allerdings Narzissmus als eine Selbstbezüglichkeit versteht, die ihre Legitimation doch wieder von außen benötigt, dann scheint Holtrop dieses Verständnis von Narzissmus sogar zu übersteigen� Die Pointe dieses Blickes nämlich ist, dass Holtrop sich nicht nur im Blick des anderen imaginiert� Der Blick scheint selbst imaginiert� Sogar in seiner letzten Möglichkeit, seinen Narzissmus nach außen hin zu öffnen, nämlich in der Abhängigkeit von Anerkennung, versperrt sich Holtrop� In Anlehnung an seinen Konzern verlegt sich Holtrop auf eine reine Reproduktion aus sich selbst heraus� 22 „Ein klein wenig nur zu sehr hatte Holtrop sich mit seinem vielleicht zweiminütigen Ausbruch im George V am falschen, nämlich öffentlichen Ort aus der Normalität der Welt hinausgelehnt, und schon hatte die Welt ihn aus ihrer Normalität der Welt gänzlich ausgestoßen und hinein in einen Orkus der Rechtslosigkeit verbannt, auf unbestimmte Zeit“ (Goetz 301)� Works Cited Adorno, Theodor W� Studien zum autoritären Charakter Übers� Milli Weinbrenner� Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995� Arendt, Hannah� The Origins of Totalitarianism � New York: Harcourt, 1994� Aristoteles� Werke in deutscher Übersetzung � Band� 4� Halbband 1� Rhetorik � Hg� Hellmut Flashar� Berlin: Akademie Verlag, 2002� Haltlose Souveränität. Johann Holtrop als Nachfolgefigur des autoritären Charakters 375 Benjamin, Walter� Gesammelte Schriften � Hg� Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser� Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977� Bodin, Jean� Über den Staat � Auswahl. Übers� Gottfried Niedhart� Stuttgart: Reclam, 1976� Castiglione, Baldassare� Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance � Übers� Albert Wesselski� Berlin: Wagenbach, 1996� Freud, Sigmund� Das Unbewußte. Schriften zur Psychoanalyse � Frankfurt am Main: Fischer Verlag, 1963� Fromm, Erich� Escape from Freedom � New York: Rinehart & Company, 1941� Goetz, Rainald� Johann Holtrop: Abriss der Gesellschaft � Berlin: Suhrkamp, 2012� Gorgias von Leontinoi� Reden, Fragmente und Testimonien � Hg� und Übers� Thomas Buchheim� Hamburg: Meiner, 1989� Gracián, Balthasar� Handorakel und Kunst der Weltklugheit � Hg� Arthur Hübscher� Übers� Arthur Schopenhauer� Stuttgart: Reclam, 2004� Halter, Martin� „Die Party ist vorbei� Rainald Goetz neuer Roman“� fr.de. Frankfurter Rundschau, 7� Sept� 2012� Web� 8� Sept� 2018� Hammelehle, Sebastian� „Im Rudel beißen, einsam sterben� Neuer Roman von Rainald Goetz“� spiegel.de. S piegel Online, 5� Sept� 2012� Web� 10� Sept� 2018� Horkheimer, Max, Erich Fromm, Herbert Marcuse et al� Studien über Autorität und Familie. Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung (Schriften des Instituts für Sozialforschung, Hg� Max Horkheimer)� Lüneburg: zu Klampen Verlag, 1987� Jungbluth, Rüdiger� „Rainald Goetz: ‚Johann Holtrop’� Tickt so die Wirtschaft? “� zeit.de � Zeit Online, 6� Sept� 2012� Web� 9� Sept� 2018� Le Bon, Gustave� Psychologie der Massen � Übers� Rudolf Eisler� Hamburg: Nikol, 2014� Mohr, Peter� „Rien ne va plus� Rainald Goetz’ Roman ‚Johann Holtrop’“� literaturkritik. de � literaturkritik�de, 26� Sept� 2012� Web� 12� Sept� 2018� Moritz, Rainer� „Dokument einer literarischen Anmaßung“� nzz.ch. Neue Zürcher Zeitung, 13� Sept� 2012� Web� 15� Sept� 2018� Quintilian� Institutio Oratoria. The Orator’s Education � Hg� und Übers� Donald A� Russell� Cambridge, MA: Harvard UP, 2001� Reich, Wilhelm� Die Massenpsychologie des Faschismus � Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1971� Ripple, Susanne, Angela Kindervater und Christian Seipel� „Die autoritäre Persön-lichkeit: Konzept, Kritik und neuere Forschungsansätze“� Autoritarismus. Kontroversen und Ansätze der aktuellen Autoritarismusforschung � Hg� Susanne Ripple, Angela Kindervater und Christian Seipel� Opladen: Leske + Budrich, 2000� Samelson, Franz� „The Authoritarian Character from Berlin to Berkeley and Beyond: The Odyssey of a Problem“� Strength and Weakness. The Authoritarian Personality Today “� Hg� William F� Stone, Gerda Lederer und Richard Christie� New York: Springer, 1993� Schmitt, Carl� Politische Theologie: Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränitätstheorie � Berlin: Duncker & Humblot, 1922� Weidermann, Volker� „’Johann Holtrop’ von Rainald Goetz� Die böse Botschaft der Literatur“� faz.net. Frankfurter Allgemeine, 1� Sept� 2012� Web� 19� Sept� 2018