Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2017
503-4
„Ich gehe von einem entschwindenden Individuum aus.“
0901
2017
Manuel Clemens
Thorben Päthe
cg503-40377
„Ich gehe von einem entschwindenden Individuum aus.“ Der Autor Joachim Zelter im Gespräch. Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus Manuel Clemens und Thorben Päthe Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Joachim Zelter über Literatur, Literaturbetrieb und Politik sowie seinen Roman untertan , der Heinrich Manns Klassiker auf die Gegenwart überträgt� Den Romanen, Erzählungen und Bühnenstücken von Joachim Zelter ist bei aller Verschiedenheit eines gemein: Immer wieder nehmen sie eindringlich - dabei aber nicht ohne den Hang zur politischen Satire oder das Gespür für das Tragikomische - relevante zeitgeschichtliche Themen und virulente soziopolitische Probleme in den Blick, indem sie den bis ins Groteske gesteigerten gesellschaftlichen Leistungswahn ebenso literarisch diskursivieren wie die Irrationalität politischer Machtentscheidungen oder die anhaltende Fragmentierung moderner liberaler Gesellschaften� Mit Schule der Arbeitslosen (2006) gelang ihm sein erster schriftstellerischer Erfolg, in dem er sprachlich pointiert wie gleichermaßen bitterböse eine an Orwell und Huxley angelehnte, beklemmende gesellschaftspolitische Dystopie über die strukturbedingte Langzeitarbeitslosigkeit und deren systematische Verwaltung zeichnete� In seinem Campusroman How are you, Mr. Angst (2008) verarbeitete er seine eigenen biografischen Erfahrungen mit dem Universitätsbetrieb, die er als Dozent für anglo-amerikanische und deutsche Literatur in Tübingen und Yale sammelte� Sein in diesem Jahr erschienener Radfahrerroman Im Feld greift als symbolisch realisierte Feldstudie im Sinne Bourdieus ebenfalls wieder zeitaktuelle Fragen um Milieubzw� Klassenzugehörigkeit, gesellschaftliche wie ökonomische Abstiegsängste und absurden Leistungsdruck auf, in denen Individuen sich weniger im sicheren Mittelmaß als vielmehr in ihrer singulären Identität auflösen - und damit wiederholt Züge jenes modernen ‚Untertanen‘ tragen, den Zelter bereits 2012 in seinem gleichnamigen Roman untertan beschrieben hatte� 378 Manuel Clemens und Thorben Päthe Von modernen Untertanen und die Satire als Widerstand Wer der gegenwärtigen Legitimitätskrise von Demokratien, aber auch der neuartigen und unübersichtlichen politischen Gemengelage, die von einem neoliberalen in ein neoautoritäres Zeitalter hinüberzugleiten scheint, literarisch nachspüren möchte, kommt an Ihrem Roman „untertan“ kaum vorbei. Sie haben diese politische Thematik 2012 in einer noch vergleichsweise ruhigen Zeit aufgegriffen, in der der liberale Konsens zwar durchaus schon brüchig, aber trotzdem noch tragfähig erschien - vor Pegida, vor den Wahlerfolgen der AfD und auch noch vor der Trump-Zäsur. Sind Ihre beiden literarischen Figuren Friederich Ostertag, der Untertan 2.0, und der charismatisch-korrupte Hochstapler von Conti von der Wirklichkeit eingeholt worden? Zelter: Eingeholt wäre vielleicht ein Stück weit zu prophetisch, aber sichtbarer, das heißt konturierter, bewusster und präsenter, ließe sich sicherlich sagen� Dabei wird, gerade mit Blick auf die eigenartige Verschränkung dieser beiden so gegensätzlichen Figuren vor allem ein maßgebliches Dilemma deutlich� Denn: Die überwältigende Mehrheit ist eher wie Friederich Ostertag� Diese Menschen verausgaben sich, während sich ein gesichertes Auskommen, geschweige denn gesellschaftlicher Aufstieg aber gerade nicht einstellen� Der Roman wirft aus diesem Grund - und nicht ganz frei von Zynismus - die Frage auf, inwiefern man heute mit einer Normalbiografie überhaupt noch Erfolg haben oder auch nur ein gesichertes Auskommen erlangen kann� Inmitten von Arbeitszwang und absurdem Leistungsdruck versucht man verstärkt sich von anderen abzuheben, eine Ausnahmeerscheinung zu sein, bekommt das aber nicht so ohne Weiteres hin und orientiert sich in der Folge ersatzweise an anderen Ausnahmeerscheinungen� Kurzum: Man strebt als ein Friederich Ostertag in Richtung eines von Conti� Liegt die Aktualität der Untertanenfigur somit in einer subalternen Orientierung der Ausgeschlossenen an der Elite? Zelter: Der Anglist Diedrich Schwanitz hat in seinem Buch Das Shylock-Syndrom (1997) gezeigt, wie es zu einem Zusammenschluss zwischen dem Adel und dem Mob kommen kann� Er verdeutlicht das anhand zahlreicher historischer Beispiele, nicht zuletzt anhand der Dreyfus-Affäre in Frankreich im ausgehenden 19� Jahrhundert� Damals kam es - unter Vorzeichen des Antisemitismus - zu einem zukunftsweisenden Bündnis zwischen Adel, Klerus und Großbourgeoisie einerseits, und den aufgeputschten Massen anderseits� Ähnliches kann man heute bei der AfD beobachten, in der es auch verhältnismäßig viele adelige Mitglieder bzw� Personen gibt, die einen elitären Hintergrund besitzen� Gewählt werden sie dennoch auch von Menschen, die sich als Verlierer oder Zukurzge- Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus 379 kommene verstehen und von charismatischen Figuren hochgehetzt werden� Im untertan ist von Conti so eine Figur, und Ostertag träumt sich sogar eine Monarchie für ihn herbei� Wenn man vom „untertan“ aus auf ihre anderen Romane wie „Die Schule der Arbeitslosen“ und „Im Feld“ blickt, dann gibt es dort ein gemeinsames Fundament, von dem Sie ausgehen und das Sie dann in unterschiedlichen Richtungen beleuchten. Und zwar eine kritische Auseinandersetzung mit einem global funktionierenden, informationskapitalistischen Wirtschaftssystem, das einerseits ungleiche Einkommens- und Arbeitsverhältnisse produziert und andererseits auch immer wieder Projektionsfiguren generiert. Zelter: Aus diesem Grund spielt der Mittelstand in meinen Werken eine große Rolle� Dieser Mittelstand bricht zusammen, weil, wie der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty gezeigt hat, das Einkommen aus Kapitalbesitz tendenziell größer ist als das in der Realwirtschaft� Gegen diese Entwicklung kommt der Mittelstand mit seiner traditionellen Arbeitsethik nicht an, weil dieser von Einkommen lebt und nicht aus unerschöpflichen Kapitalrenditen schöpfen kann� Das Auseinanderbrechen des Mittelstands, der keine Sicherheit mehr garantiert, ist letztendlich auch in meinem aktuellen Radsportroman Im Feld wieder ein wichtiges Thema� In diesem Roman gibt es drei verschiedene Radsportgruppen: eine langsame, eine mittlere und eine schnelle Gruppe� Der Protagonist entscheidet sich für die mittlere Gruppe, weil er denkt, dass er dort besser mitkommt, aus dem Glauben an die vermeintliche Sicherheit des Mittelstandes� In Wirklichkeit erlebt er aber genau dort, bildhaft gesprochen, die reinste Höllenfahrt� Wäre er in der schnellen Gruppe mitgefahren, wäre alles gut verlaufen� Die gleichermaßen paradigmatische wie traurige Pointe daran ist allerdings, dass schlussendlich nicht jeder in der vordersten Reihe mitfahren kann, um diesem sportlichen wie sozialen Horrortrip zu entgehen� Die prekären Figuren in Ihren Romanen, auch abseits vom „untertan“, wünschen sich aus dieser Schwäche heraus jemanden, der aufräumt und ihre Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ordnung umsetzt. Gerade die Protagonisten in „Die Schule der Arbeitslosen“ befinden sich ja in dem Schulungszentrum in einer sinnlosen Warteschleife, welche keine realen Möglichkeiten zum Finden oder Wiederfinden einer Arbeitsstelle schafft. Zelter: In der Schule der Arbeitslosen gibt es zwar keinen von Conti, allerdings Coaches bzw� Trainer, die in gewisser Hinsicht analog zu ihm als charismatische Führungsfiguren auftreten. Bei Lesungen sind die Szenen mit diesen Coaches immer die besten Stellen, weil das Publikum genau dort zu lachen anfängt� Die Coaches sind mit ihren Worthülsen, ihren Motivationsplattitüden und ihrer 380 Manuel Clemens und Thorben Päthe Überzeugung an die eigene Wichtigkeit so lächerlich, dass man sie nicht weiter entlarven muss� Das machen sie in ihrer leeren Phrasendrescherei ganz von allein� Als Figuren fungieren sie in dem Roman als überzeichnete, karikierte Akteure einer hochgesteigerten Obsession um Arbeit als Sinnzentrum und Lebenssinn� Doch schon im Vorgang des Beschreibens dieser Figuren ereignet sich eine Ästhetik des Lachens (oder besser noch: des Weglachens), mit der ich mich von dem Schrecken dieser Figuren befreie, und ich hoffe natürlich, dass es dem Leser ebenso ergeht� Hier gibt es im Übrigen auch eine Parallele zu Heinrich Mann und dem ‚Untertanen‘-Komplex, weil gerade Mann das gleichermaßen Monströse und Irrwitzige des Kaiserreichs in so einer pointierten Form darstellt, dass die Reaktion selbst heute noch derart ist, dass man über den Untertanen und die anderen autoritären Figuren nur lachen kann� Anders als die buchstäblich paraphrasierenden Coaches in der „Schule der Arbeitslosen“ beherrscht von Conti im „untertan“ allerdings die Klaviatur des Charismas und kann so überhaupt erst zur Projektionsfläche für Friederich avancieren, die jener in seinen Fantasien und Träumereien entwirft, bevor er sie anschließend zu realisieren versucht. Alles, was von Conti schafft, kommt von Friederich. Ist Ihre Untertanen-Analyse daher nicht genauso ein Hochstaplerroman? Das Porträt eines Hochstaplers von Conti, der aber als Projektionsfläche wichtig ist, weil er nicht nur den Fixpunkt für Friederich bildet, sondern ihm auch die Illusion verschafft, an einer besseren Welt zu partizipieren oder gar in sie hineinwachsen zu können? Zelter: Auf jeden Fall! Er wird sogar zum Instrument für Friederich� Zuerst arbeitet er für ihn, am Schluss kann er ihn aber auch zu einem gewissen Grad benutzen, um etwa über von Contis Strahlkraft an Frauen heranzukommen� Von Conti ist aber nicht nur eine Projektion von Friederich, sondern der ganzen Gesellschaft� Im tiefsten Inneren ist von Conti eine Nicht-Entität� Es gibt ihn eigentlich gar nicht� Man denkt dabei an einen Satz, der einmal über Hitler gefallen ist: „Den Menschen gibt es eigentlich gar nicht, er ist nur der Lärm seines eigenen Geredes�“ Das könnte man auch über von Conti sagen� Zudem verfügt er auch noch über die nötige wirtschaftliche Prosperität und er beherrscht das gesellschaftliche Spiel auf der Ebene der symbolischen Kapitalwerte� Mit dem kulturellen Kapital kann er schlafwandlerisch agieren, das sitzt wie selbstverständlich� Inwiefern unterscheidet er sich von den autoritären Bezugsgrößen eines Diederich Heßlings in Heinrich Manns „Der Untertan“? Zelter: Die Differenzen ergeben sich vor allem aus der veränderten historischen Konstellation� Von Conti steht, ebenso wie auch Friederich Ostertag im Gegensatz zu Diederich Heßling, für den Paradigmenwechsel in den 1980er Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus 381 Jahren, wo die Kritische-Theorie-Phase und das Zeitalter der 68er und Post-68er umkippt und zu einer neoliberalen konterrevolutionären Haltung wird� Das hatte ich beim Schreiben des Romans immer im Hinterkopf und dafür braucht man natürlich so eine Figur wie von Conti, der die alten Diskurse mit einer unverschämt dreisten Art durchbricht, indem er einfach nur provokant in Kaffeehäusern herumsitzt, mit teuren Autos zur Universität fährt und selbstverständlich Golf spielt� Während die Dozenten - Friederich und von Conti studieren schließlich beide Soziologie - noch im Sinne von Marcuse und Habermas Seminare zur Kritischen Theorie und zu herrschaftsfreien Diskursen anbieten, vermarktet von Conti sprachliche Äußerungen� Wie aus dem Nichts segelt von Conti in das Konstanzer Universitätsmilieu ein und verkehrt es am Ende in sein absolutes Gegenteil� Und zugleich beschreiben Sie damit eindringlich die Verschiebung von einem stärker politisch-militärischen hin zu einem ökonomischen Autoritarismus-Konzept. Zelter: Ja, das stimmt! In Manns Der Untertan ist das Sinnzentrum der Autoritarismus und der Militarismus, in denen die Majestätsbeleidigung die höchste Form der Blasphemie darstellt� Deshalb verwendet Mann auch ganze 70 Seiten im Roman auf die Beschreibung dieses Prozesses - auf einen Tatbestand, der aus heutiger Sicht keine Rolle mehr spielen würde� Heute wiederum sind im Kontext des Autoritarismus ökonomische Parameter viel entscheidender und aus diesem Grund wollte ich auch einen Roman schreiben, der die Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse aufdeckt� Gegenwärtige Äußerungen wie „Die Jugend ist unser Kapital“ oder „Bildung ist unser Rohstoff“ zeigen ja, dass Bildung als eigenständiger und eigengesetzlicher Wert in diesen Diskursen kaum noch eine Bedeutung besitzt� Salopp gesagt: Man schmeißt zwar mit Goethe und Schiller um sich, meint aber das Gegenteil� Man meint mit Bildung ja nur selten Bildung, sondern Ausbildung� Beides wird miteinander vermengt und verwechselt� In diesem Punkt hat mich Liessmanns Theorie der Unbildung sichtlich geprägt� Man könnte es auch noch einmal ganz anders formulieren: Es hat in den letzten Jahrzehnten ein tiefgreifender Wertewandel stattgefunden, auf zahlreichen Ebenen� Eine postmaterialistische Werteorientierung, die nach dem amerikanischen Politikwissenschaftler Ronald Ingelhart mit der 1968er-Bewegung zum Ausdruck kam, dreht sich in meiner Untertanenerzählung immer mehr um� Die allgemeine Prosperität der sechziger Jahre begünstigte nach Ingelhart das Aufkommen postmaterialistischer Wertorientierungen, Werte wie Umweltschutz, Selbstverwirklichung und politische Partizipation� Bei der Figur von Contis kippen diese ‚grünen‘ Werte und er lässt ihre Anhänger ins Leere laufen� 382 Manuel Clemens und Thorben Päthe Plötzlich muss sich die andere Seite ihm gegenüber rechtfertigen, weil er mit der Dreistigkeit seiner materialistischen Diskurse besser überzeugt� In dem Ehrgeiz der Vaterfigur Friederich Ostertags fallen alle diese Problematiken noch einmal, symbolisch wie symptomatisch, zusammen: die Ökonomisierung aller Lebensbereiche, das gebetsmühlenartige Trimmen des Sohnes als Repräsentant des ‚Mittelstandes‘, dem mit oberflächlichen Bildungsreferenzen - Goethe und Schiller - eine Gewinnermentalität implementiert werden soll, genauso wie das Registrieren von Friederichs fortlaufender Überforderung. Wird damit nicht bereits der Vater zum zentralen Krisenphänomen jener Mittelstandsideologie? Zelter: Friederichs Vater steht für den Stolz auf das altehrwürdige Familienunternehmen� Im Zentrum des Wohnzimmers hängt (wie ein Heiligenbild) das Gemälde des legendären Großvaters, Heinrich Ostertag, dem Erfinder des ‚Fang-den-Hut-Spiels‘� Der Vater verweist damit auf Genealogien, Traditionen, Signifikate und Spiele, die längst aufgebraucht sind, die in der Gegenwart ohne Bedeutung, ohne Durchschlagskraft und Relevanz sind� Es ist dieser brüchige, geradezu atavistische Familienname, in dessen Folge Friederich Ostertag nun als Schulversager, Internatslakaie und später dann als Wasserträger von Contis agiert� Er gehört von Anfang an (allein schon qua seines brüchigen familiären Hintergrunds) zu den gesellschaftlichen Verlierern. Er ist ein auffällig weicher, passiver Charakter, kein Diederich Heßling wie die Untertanenfigur bei Heinrich Mann, der ja durchaus auch zutritt und kämpfen kann� Friederich ist um ein Vielfaches untertäniger als Manns Untertan� Ich wollte den neuen Untertan nicht so aufgeräumt, sondern kafkaesker schildern, in einem Zustand vielfacher Auflösungen. Ich wollte eine „ontologische Basisverunsicherung“ beschreiben, wie sie Ronald D� Laing bei Kafka ausmacht� Mit Basisverunsicherung meine ich eine grundsätzliche Gefährdung oder Außerkraftsetzung des Individuums, wie es in Kafkas Erzählungen immer wieder zum Ausdruck kommt, wenn zum Beispiel eine Figur noch nicht einmal weiß, ob sie es überhaupt noch zum Bahnhof schafft. Friederich ist ein außer Kraft gesetztes Individuum oder Nicht-Individuum, der erst dann etwas erschaffen kann, wenn er es für andere Menschen tut. Er verfasst ja auch eine Doktorarbeit, schreibt sie aber nicht für sich selbst (für ihn wäre das eine Anmaßung), sondern für von Conti, so dass er paradoxerweise erst in einer Situation der Ausbeutung und Selbstausbeutung zu sich selbst kommt� Genau dieser paradoxe Modus erhält seine substanzlose Substanz� Um den Preis allerdings, beständig ein Anhängsel zu sein, schließlich kommt er nur unter diesen Schutzschildern zu eigenen Ideen� Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus 383 Umgekehrt leidet Friederich Ostertag aber auch unter der Last, kein eigenständiges Ich entwickelt zu haben, bis hin zu seinem suizidalen Entschwinden, das jenen Prozess des vergeblichen Subjektwerdens in der Ich-Auflösung noch einmal perpetuiert. Zelter: Meine Helden sind meist schwach und ich verleihe den repressiven Institutionen mehr Vitalität als ihnen� Hätte Friederich Ostertag mehr Vitalität, würde er irgendwann auf den Tisch hauen und sagen, dass es ihm jetzt reicht� Mit dieser Konstellation läuft man aber Gefahr, einen Trivialroman zu schreiben. Wenn das gefährdete Individuum sich am Ende wieder findet, mündet das Ganze in das Konzept des Bildungsromans: Der Held lernt etwas, dreht den Hebel um und dann habe ich einen Roman und Lösungen wie bei Hermann Hesse� Ich schreibe da lieber einen Anti-Bildungsroman� Der Leser soll sehen, wie oder was nicht funktioniert und daraus ex negativo lernen� Aus diesem Grund entwickelt sich der Protagonist auch nicht� Es gibt nur Gesten und kurze Momente des Aufflackerns, in denen man merkt, dass ihm durchaus etwas klar geworden zu sein scheint� Das Subversive bleibt da allerdings eher im Unbewussten� Das Sinnzentrum ist nicht mehr die handelnde Figur, sondern es sind die sozialen Gesten, wie es Mario Andreotti, sich auf Brecht stützend, beschrieben hat� Ich gehe von einem entschwindenden und nicht intakten Individuum aus, sondern von unerbittlichen Systemen, die auf das Individuum eindreschen� Das Eigene flackert nur in kurzen Enklaven auf. In diesem Kontext muss man unweigerlich an Ihren Roman „Die Würde des Lügens“ denken, der dem Protagonisten eine alternative Auswegstrategie anzubieten scheint, nämlich als Held eines Schelmenromans zu fungieren. Getreu dem Motto ‚Belüge das, was dich verrückt macht‘, versteht es der Erzähler dort, seiner divenhaften Großmutter mit bloßen Worten eine Welt vorzuspielen und mit dem Schein zu glänzen. Wäre das nicht ein Ausweg für Friederich Ostertag gewesen, der von seinem Vater in vergleichbarer Weise dazu angehalten wird, den Hochbegabten zu mimen? Anders gesagt: Ist dieser Held nicht der Sohn, den Vater Ostertag gerne gehabt hätte? Zelter: Ja, in gewisser Hinsicht ist der namenslose Held der Würde des Lügens Friederich Ostertag und von Conti in einem� Damit hat er zunächst Erfolg, wird aber zum Ende hin immer schwächer und am Schluss braucht die Großmutter seine Parallelweltangebote nicht mehr� In diesem Moment verschwindet er dann konsequenterweise auch von der Bildfläche. Die Lügen können ihn nicht ewig tragen� Und irgendwann auch nicht mehr die Großmutter� Es hat sich ausgelogen� Wenn ich an dieser Stelle noch einmal auf meinen aktuellen Roman Im Feld zurückkommen darf: Hier entschwindet der Protagonist ebenfalls, so wie auch Friederich Ostertag durch Suizid verschwindet� Alle diese Figuren teilen, wenn Sie so wollen, eine strukturelle Verwandtschaft, denn bei allen von ihnen ist es 384 Manuel Clemens und Thorben Päthe kein plötzliches oder jähes Ende oder ein überraschender Tod, der diese Figuren ereilt, sondern vielmehr ein Auflösungs prozess � Dieses prozessuale Absterben ist ein Phänomen, das man generell in gegenwärtigen modernen Gesellschaften beobachten kann und deshalb ein zeitdiagnostisches Potenzial enthält: Man trennt sich nicht nach einem heftigen Streit, sondern geht allmählich und ohne große Auseinandersetzung auseinander� Man macht keinen radikalen Abschluss wie in der klassischen Literatur, sondern kommt sich meist auf diffuse Art näher, dann hört man plötzlich nichts mehr voneinander, dann telefoniert man ein oder zwei Jahre nicht mehr miteinander, bis der Kontakt restlos einschläft� All das sind auch Formen von Ver- und Entschwinden� Dieser Prozess der scheiternden Subjektgenese einerseits und den Hochstaplern oder schelmenhaften Geschichtenerfindern andererseits scheinen vor diesem Hintergrund des individuellen Ent- und Verschwindens als zwei Seiten eines Problems, das nicht zuletzt im Kontext eines neoliberalen ökonomischen Autoritarismus aufgeworfen wird. Zelter: Das stimmt, wobei dieser autoritäre Ökonomismus nur ein Grundthema meiner Bücher bildet� Insbesondere mit Blick auf die Identitätsentwürfe und -zuschreibungen sind sie letztendlich auch Künstlerromane, das heißt Romane, die das Scheitern der Kunst und der Künstler thematisieren, und dies im Angesicht gewaltiger institutioneller Kräfte und Mächte� Bereits die Schule der Arbeitslosen kreist um die Frage, wie man Menschen den - hier muss man natürlich an Kafka denken - ‚Prozess‘ macht� Das heißt bei mir: den Prozess unter modernen Bedingungen zu machen, also unter den Vorzeichen der heute alles beherrschenden Lebensfragen nach beruflichem Scheitern oder Erfolg. Die Frage, warum man arbeitslos ist, was man falsch gemacht hat, wie es nur so weit hatte kommen können, wo man hätte umsteuern können … - all das läuft parallel zu Fragen wie: Warum man als Autor noch immer auf der Stelle tritt? Was man vielleicht ändern sollte? Ob nun sich selbst, sein Leben oder seine Romane. Man feilt an ihnen wie Arbeitslose an ihren Lebensläufen. Man erfindet sich und seine Bücher noch einmal neu. Lebensläufe werden dabei so fiktional wie Romane, so wie umgekehrt Romane gerade damit Erfolg haben, dass sie sich als Umsetzung spektakulärer Lebensläufe gerieren� Alles und jedes verliert seine Integrität und existentielle Tragweite, wird Teil eines doppelten Prozesses: Prozess im Sinne einer gnadenlosen Abrechnung mit dem eigenen Scheitern, und Prozess im Sinne ständigen Umsteuerns, Umgestaltens, Umschreibens� Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus 385 Der Raum der Literatur als politische Zeitdiagnostik oder Eskapismus? Wir haben das Gespräch mit Fragen zum Verhältnis von Literatur und Politik bzw. Literatur und Wirklichkeit begonnen und sind jetzt auf den Literaturbetrieb zu sprechen gekommen. Das ermöglicht uns eine Frage zu stellen, die wir bereits am Anfang stellen wollten: Politisch, sozial und wirtschaftlich hochgradig prekäre und instabile Zeiten; autoritäre und populistische Symptome wie Putin, Trump und Erdogan; Verschiebungen und Erschütterungen der geopolitischen Tektonik; Legitimationskrisen des westlichen Liberalismus - das postmoderne „anything goes“, das in den vergangenen Jahrzehnten alles erlaubte und auch jedwede Form von adressatenorientierter Kritik referenzlos im Nirgendwo verhallen ließ, stößt an seine Grenzen. Das schlichte Säkularisierungsparadigma erweist sich als gleichermaßen folgenreich wie falsch, Fragen von und nach Geltungsansprüchen sind im Zuge der Diskussionen eines posthistorischen und postfaktischen 21. Jahrhundert plötzlich zunehmend en vogue. Neue - oder neue alte? - Feinde kehren als längst verabschiedete Wiedergänger zurück und bilden wieder maßgebliche Signifikate in der politischen Kartographie. Lange Rede, kurzer Sinn: Sind es nicht gerade herrliche Zeiten für Literaten? Zelter: Wenn man ein sehr vitaler Literat ist, ja� Die gegenwärtige Zeit bietet einem sehr viel an, aber man muss auch genau den richtigen Ton treffen und genau den richtigen Ansatzpunkt finden. Apropos ‚fake news‘ oder ‚alternative facts‘: Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang kurz erwähnen, dass Trump und andere hier an die amerikanischen Pragmatisten andocken� Die amerikanischen Pragmatisten William James und John Dewey haben vor gut hundert Jahren - natürlich wesentlich reflektierter - genau eine solche Idee entwickelt: Wahrheit ist das, was mich befriedigt� Dahinter steht die erkenntnistheoretische Überlegung von der Transformation einer unbefriedigten in eine befriedigende Erkenntnissituation� Und die vereinfachte Antwort von James und Dewey lautet: Wenn es mich befriedigt, dann ist es einfach wahr� Und dabei bedeutet der Begriff Verifikation eben nicht nur eine objektive Unterstützung oder Überprüfung meiner Thesen, sondern er bedeutet die aktive dynamische Umsetzung dessen, was ich wahrhaben möchte: veritatem facere� Also etwas wahr machen, was nicht unbedingt wahr ist, aber wahr sein sollte� Wahrheit wird in der Philosophie der amerikanischen Pragmatiker so zu einem dynamischen Begriff, was wiederum bei Philosophen wie Bertrand Russell harte kritische Reaktionen hervorgerufen hat� Genauso offensichtlich ist nun aber auch die Differenz zu Trump und seinen Schergen, und doch wird dieses dynamische Wahrheitsverständnis plötzlich zu einer Realität, fernab von erkenntnistheoretischen Fragestellungen und herausgelöst aus dem Kontext postmoderner oder philosophischer Diskurse, vielmehr 386 Manuel Clemens und Thorben Päthe ganz in deren Gegenteil� Ein barbarischer Mensch ohne Bildung inszeniert das in schlafwandlerischer Sicherheit (wie ein von Conti) und dann ist es, um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen, wiederum wahnsinnig schwer für einen Autoren, dafür eine literarische Sprache zu finden. Trump ist bereits eine hochgesteigerte Absurdität, dem kein absurdes Drama oder kein noch so grotesker Roman mehr beikommen kann� Er ist der Literatur um viele Schritte voraus� Genau deshalb ist es so schwer, dem literarisch beizukommen� Man müsste, um mit Odo Marquard zu sprechen, in einer völlig absurden und durchfiktionalisierten Realwelt die Literatur neu definieren: nicht mehr als Fiktion, sondern als Anti-Fiktion� Ich leide gewissermaßen darunter, das Gefühl zu haben, dass mir immer mehr die Sprache oder die Bilder oder die literarische Form zu deren Beschreibung abhanden kommt� Ich beneide zum Beispiel auch Autoren wie Heinrich Mann oder, aktueller, den von Ihnen in einem Ihrer Aufsätze zurecht angeführten Michel Houellebecq aufrichtig, die es wiederholt geschafft haben, das politische Gegenwartdilemma so auf den Punkt zu bringen� Persönlich bin ich da angesichts der AfD und des Faschismus bzw� Neofaschismus überall in Europa sehr ratlos und wenn ich versuche, literarisch darauf zu reagieren, merke ich, dass man völlig hilflos ist. Schlicht und einfach, weil einem wirklich alles abhanden kommt, die Sprache, die Bilder, … Welche Rolle kann Literatur im politischen Diskurs spielen? Zelter: Nicht zuletzt diejenige negativer Utopien: So negativ wie Brave New World oder 1984 � Das wäre dann nicht der Entzug des Individuums, sondern der Entzug der Utopie� Sie entwickeln eine Negativität, die auch Houellebecq immer wieder erreicht: Die negativen Utopien schockieren einerseits, ermöglichen andererseits aber auch den Abgleich mit aktuellen Lebenswirklichkeiten, so dass kraft des Schreckpotentials dystopischer Horrorbilder Korrekturen in der politischen Agenda vorgenommen werden können� Darin könnte eine Aufgabe der Literatur bestehen� Die Dinge ihre schlimmstmögliche Wendung annehmen zu lassen (Dürrenmatt), um es genau dazu nicht kommen zu lassen� Für mich ist Literatur keine Erbauungsliteratur, und es ist auch nicht die Aufgabe eines Schriftstellers, literarisierte Lösungsvorschläge vorzulegen� Veränderungspotentiale ergeben sich vielmehr ex negativo, wie im Roman Schule der Arbeitslosen � Aufgrund des unerträglichen Szenarios, das der Roman entfaltet, und des unmenschlichen Umgangs mit den Arbeitslosen, den er beschreibt, können letztendlich neue Schlussfolgerungen entstehen, wie etwa das Grundeinkommen für alle oder auch die Abschaffung der Verwaltung von Massenarbeitslosigkeit� Aber diese Auswege müssen dann wiederum außerhalb der Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus 387 Literatur entwickelt werden, die Literatur kann dafür nur ein Impulsgeber sein� Aber ein wichtiger� Trotz Ihres Plädoyers für die Bedeutung der Gegenwartsliteratur gewinnt man momentan nicht selten den Eindruck, dass sie sich oft ins Belanglose, Behagliche, Selbstbezügliche, Referenz- und Aussagelose, zurückzieht. Zelter: Stimmt, Ihre Beobachtungen decken sich auch mit meiner Wahrnehmung des Literaturfeldes� Ich beschreibe diese Tendenz oft als Neo-Biedermeier oder Neo-Adenauer. Die vermeintliche Postmoderne ist einer diffusen Prämoderne gewichen, so dass wir mittlerweile dort sind, wo wir im Biedermeier schon einmal gewesen sind� Als ob alle Diskurse der Moderne vergessen und rückabgewickelt wären und die Vorstellung von der Moderne bzw� was die Moderne überhaupt ist, was moderne Literatur ausmacht, inwiefern es eine andere Moderne gegeben hat oder geben kann, nicht einmal mehr theoretisch gedacht werden können, weil diese Kategorien nicht mehr präsent sind� Weder im Diskurs noch als Reminiszenz� Das gilt für nicht wenige Autoren der Gegenwartsliteratur, aber noch viel mehr für das herrschende Paradigma der Literaturbewertung und des Buchmarktes� Was man vor dreißig Jahren noch als Trivialliteratur abgetan hätte, erlangt heute fast schon den Rang ernstzunehmender Literarizität� Die Maßgaben und Maßstäbe haben sich kontinuierlich verschoben, in Richtung Eingängigkeit, Unterhaltung und Botschaft� Analoge Erfahrungen mache ich diesbezüglich regelmäßig bei Lesungen in Schulen� Wenn ich die Schüler dort frage, was sie lesen und bestenfalls auch selber schreiben, dann sind das fast ausnahmslos Fantasy-Romane� Wenn es nicht Fantasy-Romane sind, dann sind es historische Romane, denen sich wiederum die eher reiferen oder älteren Autoren zuwenden� So verschieden all das auf den ersten Blick sein mag: Neo-Biedermeier, Neo-Fantasy, historischer Roman - sie alle eint der gemeinsame Nenner eines eskapistischen Fluchtpunktes� Weg von den realen Problemfeldern, Literatur als Form von Sublimierung, Erbauung oder Ablenkung� Inwiefern lässt sich diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen nicht nur im Hinblick auf thematische und zeitliche Strukturen, sondern auch auf gattungsspezifische Fragen und die allgemeine Form der Literatur beobachten? Stichwort Digitalisierung, soziale Netzwerke, Kindle, Smartphone. Welchen Einfluss hat das auf Ihren Schreibprozess und den Gegenstandsbereich Literatur? Könnte es sein, dass sie sich vorwärts zurück in Richtung der früheren Zeitungs- und Zeitschriftenromane entwickelt mit täglich einer halben Seite in Form eines Blogromans entwickelt? Mal eben schnell zwei Seiten Romanlektüre zum Frühstück, weil dazu die Aufmerksamkeitsspanne gerade noch reicht? 388 Manuel Clemens und Thorben Päthe Zelter: Fakt ist, dass die Literatur auf allen Ebenen immer mehr zurückgedrängt und, darin besteht zumindest eine große Gefahr, auch bedeutungsloser wird� Wenn ich bei meinen Lesungen ins Publikum schaue, liegt das Durchschnittsalter zwischen 60 und 70 Jahren� Nicht zuletzt deshalb habe ich die starke Befürchtung, dass Literatur in 20 bis 30 Jahren in dieser Form, wie wir sie kennen und wie wir sie bisher beforschen, gar nicht mehr geben wird� Das Gleiche gilt für gattungsspezifische Formen wie die des Romans, die dann vielleicht Vergangenheit sein werden� Und davon ist dann natürlich auch die Literaturwissenschaft betroffen, die mit dem Literaturbetrieb letztendlich einen autoreferenziellen Pakt eingeht� Man versucht zu retten, was man noch retten kann, hat allerdings schon gar nicht mehr die Gesprächspartner in der Gesellschaft, um diese Brücken zu schlagen, weil die Gesellschaft völlig gleichgültig ist� Das ist ein Teufelskreis� Und in meinem konkreten Fall läuft es beim Schreiben immer mehr darauf hinaus, dass ich mir unbewusst überlege, wie denn ein Roman geschrieben sein muss, damit ich meine Lesungen überlebe� Damit die Leute nicht aufstehen und gehen� Schließlich muss ich auch in der tiefsten Provinz die Zuhörer bei der Stange halten� Über diese Lesungen (im Verbund mit Literaturstipendien und -preisen) wird der Patient Literatur bzw� Autor schließlich am Leben gehalten� Es wäre ein Irrglaube anzunehmen, dass man allein oder auch nur primär vom Verkauf seiner Bücher leben könnte� Einige Autoren, die ich kenne, sind in Anbetracht dieser tiefgreifenden Strukturveränderungen von Betrieb, Publikum und Medienwandel zu Self-publishing übergegangen� Das bedeutet die völlige Auslieferung an den Markt - ohne irgendeine Abfederung, ohne alle herkömmlichen Vermittlungsinstanzen� Da gibt es keine Großkritiken mehr, die für einen schwierigen oder komplexen Roman vielleicht noch um Verständnis werben könnten� Die Idee der Literaturkritik, wie Oscar Wilde sie idealtypisch in The Critic as Artist formuliert hat, die Kritik als hochgesteigerte Kunst der Rezeption und Vermittlung, all das fällt weg� Übrig bleiben nur noch der eingängige Text (möglichst billig) und der reine Markt� Am Ende adaptieren diese Autoren affirmativ die mediale Schnelllebigkeit und produzieren in rasender Geschwindigkeit einen Thriller oder einen Liebesroman nach dem anderen, den man für einen Euro im Netz kaufen kann� Produktion ist dabei als Abgrenzungsbegriff sehr ernst gemeint: Es dauert dann zwar nur noch ein, zwei Wochen, so etwas zu schreiben, es geht rasend schnell, ist aber auch eine Form der Entliterarisierung, weil die Idee eines umfassenden Schreibprozesses als ästhetischer Obsession verloren geht oder ad absurdum geführt wird� Auch Sie haben ein Profil bei Facebook… Zelter: Ja, seit einem halben Jahr und aus dem gleichen medialen Selbstvermarktungszwang heraus, wie viele meiner Autorenkollegen, die es als letzten Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus 389 verzweifelten Versuch ansehen, ihre Lesungen zu füllen und die Leute dazu zu bringen, Bücher zu kaufen. Aber der Effekt ist eigentlich, dass kein Mensch diese Bücher kauft, denn die sind ja schließlich alle bei Facebook online� Ein Like ist ja noch keine Lektüre oder ein Gang zu einer Lesung� Es ist eher ein beiläufiges Schulterklopfen in einer Welt, die nur noch online ist, die vor lauter Facebook gar nicht mehr dazu kommt, ein Buch zur Hand zu nehmen� Leser kommen dabei immer seltener zum Lesen, Autoren immer seltener zum Schreiben - also ein weiterer Baustein einer zunehmenden Entliterarisierung, zumindest einer Entliterarisierung dessen, was Literatur bislang ausgemacht hat� Nach nur wenigen Wochen Facebook fiel mir auf: Plötzlich hatte ich spürbar Probleme, ein Buch über mehr als zehn Seiten hinweg zu lesen, weil ich diese Art der Rezeption gar nicht mehr gewöhnt war� Facebook bedeutet eine völlige Zerstückelung von Zeit, von Sprache, von Aufmerksamkeit, befeuert eine neue Rezeptionsästhetik, wenn Sie so wollen� Und dieser Prozess wird ausgerechnet von den Autoren selber mitbetrieben, das heißt sie und ich vernichten quasi ihren eigenen Beruf und ihre eigene Existenz in diesen sozialen Medien, ohne es hinreichend zu reflektieren. Wenn ich über diese Veränderungen, die bis in die gebeugte Körpersprache reichen, wenn Menschen andächtig gebeugt mit ihren Smartphones durch die Welt wandeln, vielleicht in Erwartung eines Likes, wenn ich über diese Veränderungen nachdenke, ertappe ich mich manchmal bei dem Gedanken, dass man vielleicht so unverschämt sein sollte zu sagen: Wir machen wieder Goethe und Shakespeare und wenn es die Leute umbringt, ist es mir völlig egal! Ich lese das jetzt von Anfang bis Ende vor oder ich schreibe einen Roman, von dem ich weiß, dass kein Mensch das hören will, denn ihr bekommt ihn zu hören, ob ihr wollt oder nicht� Das Schlimme ist - und ironischerweise hat mir das wiederum meine Facebooknutzung schmerzlich vor Augen geführt -, dass die Entsprachlichung und Entliteraririsierung eben nicht nur da stattfindet, wo wir sie vielleicht erwarten, wie etwa in Fußballstadien, sondern in unseren ureigensten kulturellen Feldern� Selbst in den akademischen Milieus spielt Literatur kaum mehr eine große Rolle� Und nicht zuletzt geht durch den ökonomischen Druck, überlegen zu müssen, wo man das nächste Stipendium oder die nächste Lesung herbekommt, sehr viel an Denken und Autonomie, an Sprache und Literatur verloren� Apropos Sprache und, glücklicherweise noch, Literatur: Schreiben bedeutet auch ein Ringen mit oder um die eigene Sprache bzw. eine Sprache finden, um das auszudrücken, was man sagen will und letztendlich dann auch ein Ringen um und Auseinandersetzungen mit Gattungen, mit neuen Gattungsformen, mit Gattungstraditionen. Und da zeigen Ihre Romane starke Strukturäquivalenzen zum Institutionenroman, Sie haben Ihre Bezüge zu Kafka ja ebenfalls bereits angesprochen, 390 Manuel Clemens und Thorben Päthe und zugleich scheinen Ihre Romane in der brevitas das ‚klassische‘ Romankonzept zu unterlaufen. Zelter: Genau! Zugleich zeigt sich aber auch hier ein Stück weit die strukturelle Gewalt unserer Gesellschaft, weil insbesondere die Verlage strukturelle Vorgaben machen� Das ideale Buch hat zwischen 250 und 300 Seiten und kostet 20 Euro� Dabei wird die ökonomische Logik ‚für 3,99 ein Kilogramm Schweinefleisch‘ auf literarische Textmengen bzw. Seitenzahlen übertragen. Gemäß dieser Logik ist Im Feld ein teures Vergnügen, schließlich bekommt man für 20 Euro nur 160 Seiten� Diese zunehmenden ökonomischen Transformationen restrukturieren auch den literarischen Betrieb völlig neu� Wenn ich beispielsweise einen Verlagswechsel anstreben würde, könnte ich das nicht mit einem so kurzen Roman leisten, sondern nur mit einem Paukenschlag, der allerdings primär quantitativ gedacht wird: 500 Seiten, und am besten noch ein historischer Roman. Episch breit aufgestellt. Mit viel Handlung und Hoffnung und einer Vielzahl transzendentaler Signifikate. Das ist fast wie eine Promotionsordnung. Mein Verlag braucht sich demnach keine Sorgen zu machen: Insgesamt werden meine Texte immer noch kürzer, da ich mich als Phonozentriker und nicht als Logozentriker sehe� Ich setzte beim Schreiben sehr stark auf meine Lesungen, die für mich eine eigene Kunstform sind, die auf die Wirksamkeit von Sprache setzt, jenseits von Marktmechanismen oder sonstigen externen Beglaubigungen des Literaturbetriebs� Bei mir steht das phonozentrische Erlebnis, das Performative, im Mittelpunkt� Das ist bei all meinen Büchern der Ansatz� Zum einen aus ästhetischen Gründen, weil ich daran glaube, aber zum anderen auch aus ökonomischen Gründen, weil es ganz wichtig ist, dass der Autor eben Lesungen hat� Weil der Autor davon lebt� Ist dieses literarische Ringen um eine neue Form und eine neue Sprache auch analog zu setzen mit dem Ringen um eine neue politische Form oder neue politische Sprache oder das Bewusstmachen eines Sprachwechsels bzw. eines intendierten Sprachwechsels mit einem gesellschaftspolitischen Impetus? Zelter: Das ist natürlich sehr zweischneidig, weil gerade diese kurzen Sätze, diese Anti-Thomas-Mann-Sätze, auch als Charakteristika der Bild-Zeitung oder von Trump-Reden angesehen werden könnten� Andererseits versuche ich natürlich über die Genrewahl bewusst Themen zu suchen, wo ich mit diesen kurzen Sätzen und Wiederholungen operieren kann� Und natürlich würde ich gerne, vielleicht gar nicht für die Politik oder die Gesellschaft, aber zumindest doch für die Literatur eine gewisse Eindeutigkeit und Sogwirkung erzeugen, die den Leser dazu bringt, weiterzulesen� Dahinter steckt die vielleicht naive Hoffnung, der Literatur doch noch eine Chance zu geben, dass sich die Leute nicht von ihr abdrehen, das heißt, ihr durch eine bestimmte Art von Syntax und Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus 391 auch eine bestimmte Art der Komik, die mir sehr wichtig ist, beim Schreiben, eine Stimme zu geben� Zielt Ihre angesprochene Vereindeutigung, die auf der anderen Seite ja in ihren literarischen Texten keine simple Desambiguierung bedeutet, vor allem auf ein ironisch-satirisches Vexierspiel mit dem hohen Komplexitätsgrad politischer Diskurse, die Sie bewusst zuspitzen und verknappen? Also auf eine Vereindeutigung von Tendenzen wie ökonomischen Zwängen, die sich als ein Subtext durch Ihre Romane ziehen und dadurch sprachlich ausgestellt, greifbarer und sichtbarer werden? Zelter: Ja, eine Entschleierung, Verdeutlichung, eine Konkretisierung und Übertreibung! Wie für Heinrich Mann liegt auch für mich in dieser Form der Übertreibung ein großes Potenzial, wobei gerade dies bei Manns Der Untertan oft kritisiert wurde� Ich erinnere mich noch an die wütenden Reaktionen meiner Großmutter, die Heinrich Manns Roman als „äußerst tendenziös“ zurückgewiesen hat� Die Kombination Politik und Satire hat es in der deutschen Literatur (anders als in England) nicht leicht� Es haftet dem etwas Zweitrangiges, wenn nicht gar etwas Verruchtes an� Es gibt den schönen Satz: „Etwas zur Kenntlichkeit entstellen“� Und das versuche ich (genauso wie Mann) in meinen Texten zu machen� So zu übertreiben, dass selbst Leute, die über keine ausgeprägte literarische Sensibilität verfügen, merken, dass da etwas nicht stimmt� Mein eigener Ansatz ist dabei, nicht von links zu überholen, sondern von rechts: Die Dinge so zu pervertieren und auf die Spitze zu treiben, dass man ahnt, irgendwas stimmt da doch nicht, oder man über etwas lacht, das eigentlich schon gar nicht mehr lustig ist oder es vielleicht auch nie war� In diesem Lachen stecken bzw� verstecken sich oftmals Abgründe� Auch deshalb ist Oscar Wilde für mich eines meiner großen Vorbilder. Denn er hat es geschafft, sich als angepasster Rebell sich schlafwandlerisch in der englischen Gesellschaft zu bewegen, ihr aber gleichzeitig ständig den Spiegel vorzuhalten und sie ad absurdum führen konnte [sic]� Nach Frank Harris (Wildes erstem Biografen) war der Skandalon von Wildes Homosexualität eigentlich nur ein Vorwand, um ihm literarisch den Prozess zu machen: für seine fröhliche Dekonstruktion der ideologischen Gemeinplätze der viktorianischen Gesellschaft, so unterhaltsam und formvollendet, dass kaum jemand etwas von der Ungeheuerlichkeit eines solchen Vorgangs bemerkt hat� Wilde hat es verstanden, als irischer Außenseiter vollkommen in der englischen Upper Class integriert zu sein, ihren Akzent besser zu beherrschen als jeder gebürtige Engländer, aber dennoch immer Ire zu sein� Diese Art von Schreiben, aus dem Innen heraus trotz allem die nötige Distanz zu wahren, ist mir persönlich sehr wichtig� Die Leute qua Sprache und qua Performance der Lesung zu verzaubern, so dass ihnen aber irgendwann auffällt, dass da doch irgendwas gar nicht stimmt oder stimmen kann� Ich habe einmal geschrieben, dass meine 392 Manuel Clemens und Thorben Päthe Romane Minigolfanlagen gleichen, auf denen unbedarfte Spaziergänger herumwandeln, bis die Sprengsätze irgendwann in die Luft gehen� Anders als die auch von Verlagen gewollten Fantasy-Romane, die sich weniger an dilemmatischen gesellschaftlichen Strukturen oder Weltentwürfen abarbeiten, sondern mit dem ‚Ausweg All’ antworten? Zelter: Ja, dort fliegt man im Regelfall davon. Für mich und mein Schreiben hingegen spielen Fragen nach der Transzendierung sozialer Verhältnisse eine maßgebliche Rolle� Bereits in meinen eigenen literaturwissenschaftlichen Forschungen war einer der wichtigsten Grundbegriffe für mich dieser Aspekt der Weltimmanenz: Die Welt ist, wie sie ist, mitsamt ihrer eigenen gnadenlosen Logik, und weder dieser weltlichen Immanenz noch ihrer Logik kann ich ausweichen� Aber was ich kann, ist sie zu transzendieren: durch ästhetische Verfahrensweisen, durch Übertreibungen, das Überzeichnen oder durch gestisches Schreiben. Kleine Oasen, wo punktuell mal etwas aufflackert, was da nicht reinpasst� Aber ich kann die Welt nicht umlügen in der Art, dass ich sage, ich setze mich auf einen Teppich und fliege einfach davon. Das könnte man natürlich leicht schreiben, aber es wäre in etwa so, als ob ich jetzt plötzlich anfangen würde, als Pazifist Hunde zu erschießen. Helmut Schmidt hat den Satz geprägt, „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen“. Ist die Zeit großer Visionen oder vielleicht besser großer Ideen vorbei und Rückzugsgefechte ins Kleine und Private die einzig mögliche, richtige Konsequenz? Oder sind Trump und seine autoritär-populistischen Mitstreiter umgekehrt ein Zeichen dafür, dass große, verbindend-verbindliche politische Narrative fehlen? Ein Anzeichen dafür, dass die gegenwärtige Hilflosigkeit eines politischen Liberalismus auch daraus erwächst, dass man eben jedweden emanzipatorischen und gewissermaßen eschatologischen Anspruch weder eingelöst noch aufrecht erhalten hat, dass es eben keine realpolitische Angleichung an die bzw. der Ideale gegeben hat? Gibt es gegenwärtig nicht vielmehr wieder eine Ideen-Sucht? Zelter: Im direkten Gegensatz zu Schmidts Äußerung ließe sich noch einmal Oscar Wilde in Stellung bringen, der in seinem auch heute noch sehr lesenswerten Essay The Soul of Man under Socialism im Jahr 1891 geschrieben hat: „A map of the world which does not include Utopia ist not worth even glancing at“� Anders als Schmidt setzt er die Utopie als Grundidee seines ganzen Schreibens voraus, ohne die es seinem Verständnis nach überhaupt keine Humanität geben könne� Um noch einmal auf die Fantasy zurückzukommen: Utopie und Fantasy scheinen wesensverwandt und sind dennoch sehr unterschiedlich� Sie stehen eher in einem negativen Zusammenhang zueinander als in einem positiven. Fantasy scheint mir der eskapistische Schmierstoff, um vorgeblich Der ‚Untertan‘ als Krisenfigur des politischen Neoliberalismus 393 alternativlose Wirklichkeiten unangetastet zu lassen� Man wendet sich von bestehenden Wirklichkeiten ab, da man keine Chance einer Veränderung oder Veränderbarkeit mehr sieht� Man behandelt die diesseitige Welt im Sinne eines Als-Ob-Nicht� Als ob sie schon gar nicht mehr von Relevanz wäre� Utopien setzen dagegen auf die Veränderbarkeit und Überschreitung im Hier und Jetzt� In diesem Gegeneinander scheint Fantasy zurzeit weit wirksamer zu sein als das utopische Denken� Tatsächlich liegt darin auch einer der Gründe, warum ich die Universität schlussendlich verlassen habe� Ich hatte in den frühen 90ern noch ein Proseminar, in dem es um Utopien ging und ich die Studierenden gefragt habe, welche utopischen Entwürfe in der heutigen Welt für sie denkbar sein könnten� Es hat niemanden interessiert, weil man die Welt nur noch unter einer ausschließlichen Maßgabe von Faktizität gesehen hat� Einer gnadenlosen Weltimmanenz, so dass sie es noch nicht einmal theoretisch anders denken wollten oder konnten� Ob und wie die Welt besser sein könnte oder was ihre ideale Welt wäre, war nicht mehr denkbar� Und meines Erachtens hat sich daran bis heute nicht viel verändert� Wir leben in einem Zeitalter, in dem die Dinge vermeintlich alternativlos sind, wie Frau Merkel sagt, wo wir sehr a-utopisch sind� Wenn man überhaupt utopisch arbeitet, dann eher dystopisch, orientiert an ‚worst possible scenarios‘� Wobei auch die Literaturgeschichte zeigt, dass Dystopien immer viel erfolgreicher waren und sind als Utopien� Huxley hat ja nicht nur Brave New World geschrieben, sondern auch eine positive Utopie mit dem Titel Island (1962, dt� 1973), in der er den Entwurf einer besseren Welt darstellt� Im Unterschied zu Brave New World hat dieses Buch aber kein Mensch gelesen und um ehrlich zu sein: Es ist auch eher langweilig zu lesen� Noch eine letzte abschließende Frage: Wer gewinnt dieses Jahr die Tour de France? Zelter: Ich nicht� Ich schätze Christopher Froome� Das Gespräch führten Manuel Clemens und Thorben Päthe� Die Tour de France 2018 gewann im Übrigen der Brite Geraint Thomas, der (ursprünglich vorgesehene) Edelhelfer und moderne ‚Untertan’ des Gesamtzweiten Christopher Froome�