Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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1968 als künstlerische Situation
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2020
Gerd Koenen
Als historisches Ereignis ist „1968“ schwer zu fassen. Und doch „ist etwas geschehen“ – ein Mentalitätswandel, eine Änderung des Lebensstils, der kulturellen Produktionen, die auf keine einheitliche Formel zu bringen sind, aber sich dem historischen Gedächtnis eingeprägt haben. In Westdeutschland trug der Konflikt zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration in besonders ausgeprägter Weise Züge eines Versuchs, sich neu zu erfinden. Künstler und Schriftsteller spielten dabei anfangs eine Vorreiterrolle – und stellten sich selbst „kulturrevolutionär“ in Frage. Das sektiererische Klima, das sich im „roten Jahrzehnt“ der 1970er Jahre in einer verblüffenden (heute großteils vergessenen oder verdrängten) Dominanz neo-marxistischer oder orthodox-kommunistischer Gruppen in Universitäten, Schriftstellerverbänden, Theatern usw. zeigte, wurde begleitet und übertrumpft durch das Realdrama eines Linksterrorismus, der (auch in seinem künstlerischen Nachhall bis heute) das Zeug zu einem deutschen Mythos eigener Art trug und trägt. Nüchterner betrachtet, war es eine kathartische Krise der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft im Ganzen.
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1968 als künstlerische Situation 1 Gerd Koenen Frankfurt am Main Abstract : Als historisches Ereignis ist „1968“ schwer zu fassen. Und doch „ist etwas geschehen“ - ein Mentalitätswandel, eine Änderung des Lebensstils, der kulturellen Produktionen, die auf keine einheitliche Formel zu bringen sind, aber sich dem historischen Gedächtnis eingeprägt haben. In Westdeutschland trug der Konflikt zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration in besonders ausgeprägter Weise Züge eines Versuchs, sich neu zu erfinden. Künstler und Schriftsteller spielten dabei anfangs eine Vorreiterrolle - und stellten sich selbst „kulturrevolutionär“ in Frage. Das sektiererische Klima, das sich im „roten Jahrzehnt“ der 1970er Jahre in einer verblüffenden (heute großteils vergessenen oder verdrängten) Dominanz neo-marxistischer oder orthodox-kommunistischer Gruppen in Universitäten, Schriftstellerverbänden, Theatern usw. zeigte, wurde begleitet und übertrumpft durch das Realdrama eines Linksterrorismus, der (auch in seinem künstlerischen Nachhall bis heute) das Zeug zu einem deutschen Mythos eigener Art trug und trägt. Nüchterner betrachtet, war es eine kathartische Krise der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft im Ganzen. Keywords : 1968, Generationskonflikt, Kulturrevolution. „Ende der Literatur“, Rotes Jahrzehnt, Terrorismus, deutscher Mythos In Hans-Magnus Enzensbergers späterer Rückschau auf den „Tumult“ von 1968 lag das „Utopische dieses Moments“ darin, „dass die unbewaffnete Produktivität des Künstlers […] ihre Entsprechung im tausendfältigen Rumor einer ganzen Nation“ gefunden habe (Enzensberger/ Sievers 23). So unbestimmt wie das Wort „Rumor“, worin Geräusch und Bewegung sich paaren, war die Sache selbst. Tatsächlich bleibt „1968“ unter den wichtigen historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts das am wenigsten greifbare. Natürlich war es ein bewegtes und bewegendes Jahr. Und doch wäre es ziem- 142 Gerd Koenen lich schwierig zu sagen, inwieweit es dramatischer gewesen ist als irgendein anderes Jahr des letzten Jahrhunderts. Warum hat es sich dann aber im kulturellen Gedächtnis so vieler - vor allem westlicher - Gesellschaften derart tief eingekerbt? Und welchen Sinn macht es, dieses magische Datum, diese Chiffre „1968“ mal als die Quelle aller möglichen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu denunzieren und mal als den Durchbruch aller möglichen Emanzipationen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen? Die Rede ist von einem Ereignis, das sich eben nur als ein Kulminations- oder Schnittpunkt vieler längerer und sehr widersprüchlicher Entwicklungslinien beschreiben lässt: Auf der einen Seite die jähe Springflut einer „Revolution steigender Erwartungen“, ein Ausbruch erotischer Lebensenergien und halluzinatorischer Weltgefühle, die sich aus den gesteigerten Lebensmöglichkeiten und Wahrnehmungshorizonten dieses „Golden Age“ der Rekonstruktionsjahre speisten. Aber diese Euphorien waren untrennbar vermischt mit einer Flut apokalyptischer Stimmungen und hypochondrischer Zwangsgedanken, die einer scheinbar unmittelbar drohenden Wiederkehr von Krise, Krieg und Faschismus galten und eine Realität eigener Ordnung waren - nicht nur in Deutschland. Dabei war, was die Bundesrepublik betrifft, bei halbwegs nüchternem Urteil auch damals schon zu erkennen, dass die 1966 gebildete „Große Koalition“ aus Christ- und Sozialdemokraten einen ersten Bruch in der erdrückenden Kontinuität der „Adenauer-Ära“ bedeutete. Sie nahm eine Reihe überfälliger Reformen in Angriff, baute die sozialen Sicherungssysteme weiter aus und leitete erste Schritte einer „neuen Ostpolitik“ ein. Aber Nüchternheit war am wenigsten gefragt. Im Gegenteil, die westdeutsche (Teil-)Nation war in eine Phase kollektiver Selbst(er)findung eingetreten. Und das war in gewisser Weise eben eine künstlerische Situation, in der die Literaten und Künstler als Seismographen und Verstärker fungierten, noch bevor und erst recht nachdem der Rumor ganz an die Oberfläche getreten war. Die „Gruppe 47“, die sich seit ihrer Gründung 1947 stets als ein Forum einer kritisch-engagierten Intelligenz betrachtet hatte und 1963 vom CDU-Geschäftsführer als die „geheime Reichsschrifttumskammer“ einer linken Tendenzliteratur denunziert worden war, löste sich bereits im Oktober 1967 unter dem Druck der neu entstandenen linksradikalen Studentenbewegung auf. Demonstranten hatten vor der idyllischen Tagungsstätte „Pulvermühle“ in Sprechchören gerufen: „Dichter! Dichter! “ Das war jetzt ein Schimpfwort geworden - das die Angesprochenen sich allerdings in sehr unterschiedlicher Weise zu Herzen nahmen� Aber bevor wir über die Künstler und die Schriftsteller reden, noch etwas über dieses ominöse „1968“ selbst. Zu seinen Merkmalen gehörte das jähe, völlig 1968 als künstlerische Situation 143 unvermutete Aufschießen dieser Bewegungen. Eben noch hatten Linke wie Konservative in die Klage über eine unpolitische, auf Konsum und Karriere orientierte Jugend eingestimmt, wie sie auch durch eine Vielzahl jugendsoziologischer Erhebungen untermauert wurde, da führte irgendein, gar nicht notwendig dramatischer Anlass zum Ausbruch. Noch am 15. März 1968 hatte sich „Le Monde“ verwundert gezeigt, wieso ausgerechnet in Frankreich als dem Land der Revolution par excellence verschlafene Ruhe herrsche, während in den USA, in Deutschland, Italien und anderswo die Jugend auf den Barrikaden sei, und hatte gespöttelt: „Man hat es schon erlebt, dass Länder sich zu Tode gelangweilt haben.“ Zwei Monate später war Frankreich wie kaum ein anderes modernes Land in Friedenszeiten durch Studentendemonstrationen, Barrikaden in Paris und einen Generalstreik fast völlig zum Stillstand gekommen. Soviel ist, wenn man den Gleichklang der radikalen Jugendbewegungen in so vielen, ganz verschiedenen Ländern um das Jahr 1968 herum in den Blick nimmt, mit bloßem Auge zu erkennen: Im Kern muss es um einen außerordentlichen Konflikt von Weltkriegs- und Nachkriegsgeneration gegangen sein. Eine andere plausible Erklärung ist schwerlich zu finden. „Der Bruch zwischen den Erfahrungswelten der vor und nach dem Kriege Herangewachsenen war im Falle des großen Krieges der Jahre 1939-1945 besonders tief. Das gilt für weite Teile der Welt. Das gilt insbesondere für die Imperialländer Europas. Und das gilt in höchstem Maße für Deutschland.“ So der Kulturhistoriker und Soziologe Norbert Elias in seinen „Studien über die Deutschen“ (528). Der kleinste gemeinsame Nenner aller jugendlichen Renitenzen war vielleicht das Gefühl einer Entwertung der eigenen Existenz. Die Elterngeneration leitete aus den schweren Zeiten, die sie (gleich auf welcher Seite der Kriegsfronten) durchgemacht hatten, einen energischen Anspruch auf eine nachholende Gestaltung ihres Lebens nach ihren Vorstellungen her. Ihrem termitenhaften Aufbaufleiß, der sich im fanatischen Drang zum Eigenheim oder zum Automobil niederschlug und einen Karriereplan für ihre fleißig gezeugten Kinder (die „Babyboomer“) mitenthielt, entsprach geradezu spiegelbildlich der Drang der Nachkriegs-Generationen zur Schaffung eigener, scharf abgegrenzter Jugend-Subkulturen. Dabei wären die unpolitisch-hedonistischen Subkulturen der späten fünfziger und frühen sechziger Jahre mit dem Prädikat „anti-autoritär“ womöglich sehr viel genauer bezeichnet als ihre politisierten Nachfolger. Sie, die „zornigen jungen Männer“ und „Halbstarken“, die „Teenager“ und „Twens“, die fast alle noch eine mehr oder weniger verschwommene Erinnerung an Kämpfe, Bombardements, Verwüstungen und Besetzungen hatten, waren vielleicht die ersten und eigentlichen Pioniere des Ausbruchs aus den Bigotterien der Nachkriegsjahre. 144 Gerd Koenen Umgekehrt wäre der sich steigernde Radikalismus der Jugend- und Studentenbewegungen von 1967/ 68 kaum zu verstehen ohne die heftigen Gegenreaktionen der jeweiligen Aufbaugeneration, die nicht nur ihre eigenen, noch längst nicht saturierten Lebensansprüche verteidigte, sondern die sich im Kern ihrer Lebensleistung gekränkt und getroffen fühlen musste. Ihre nach dem Krieg mühsam aufgebauten bürgerlichen oder kleinbürgerlichen Existenzen wurden jetzt als wahre Spießerhöllen denunziert und die „autoritäre Kleinfamilie“ als der Hort eines alltäglichen Faschismus und einer permanenten Unterdrückung jugendlicher Lebenstriebe entlarvt. Es war eine Schaukel gegenseitiger Aggressionen und Entwertungen, die das übliche Maß generationeller Auseinandersetzungen immer zunehmend überstieg - zumindest in der Phantasie. Das beantwortet freilich noch nicht die Frage, warum eine sich als „anti-autoritär“ deklarierende Bewegung mit einem derart frenetischen Eifer auf die ideologischen Erbschaften und Ismen, Kostüme und Ikonen eines vergangenen Zeitalters zurückgriff. Kritische Gesellschaftstheorien, ästhetische und literarische Neuerungen, zeitgemäße Formen eines Jugendprotestes hatte es schließlich mehr als genug gegeben, und in ihnen hatte man sich oft gerade noch bewegt. Als „Beatnik“, „Gammler“ oder „Hippie“, als zorniger junger Mann à la James Dean oder als schwarz gekleidete Existenzialistin à la Juliette Gréco, als Ostermarschierer mit der Friedensrune am Parka und Bob Dylans oder Joan Baez‘ „We shall overcome“ auf den Lippen war man in die Bewegung hineingegangen. Mit Marx’ „blauen Bänden“ unterm Arm, Lenins Was tun? in der Tasche oder schon das „Rote Buch“ Maos schwenkend, kam man aus der Drehtür des Jahres 1968 wieder heraus� Wie aus dem Nichts, waren auf den Büchertischen plötzlich alle Revolutionstheorien des 20. Jahrhunderts im Angebot, als Reprints, Raubdrucke oder reguläre Neuausgaben. Darin einen bloßen, unbegreiflichen Rückfall in Dogmatismus und ideologischen Traditionalismus zu sehen, wäre zu wenig� Vielmehr war die Lektüre dieser längst esoterisch gewordenen, aber gerade deshalb wieder brandneuen Schriften aus einer vergangenen Epoche für die „Neuen Linken“ des Westens ein Akt der fortlaufenden forcierten Selbsterfindung. Man wollte „zurück zu den Quellen“, um in den theoretischen Texten der „Klassiker“ oder ihrer revolutionären Nachfolger Antworten auf eine beunruhigende „jüngste Vergangenheit“ zu finden, auf die Weltkriegsepoche mit ihren Verwüstungen und Massenmorden, in deren Schatten man aufgewachsen war; gleichzeitig aber auch auf eine von neuen kalten und heißen Kriegen, vor allem dem in Vietnam, gezeichnete Gegenwart. Letztlich suchte man sogar etwas wie das Bewegungsgesetz der menschlichen Geschichte überhaupt, das „was die Welt im Innersten zusammenhält“. 1968 als künstlerische Situation 145 In diesem faustischen Impuls lag der Zauber einer Lesebewegung, die mehr als ein Jahrzehnt anhielt und in deren Verlauf heute unvorstellbar gewordene Mengen an Lektüren, vielfach in Form von Raubdrucken, verschlungen oder „geschult“ wurden - auch dies ein Wort (Schulung), das eben noch völlig unbekannt gewesen war, nun aber zur selbstverständlichsten Sache der Welt wurde. Die aus Margarinekisten oder Brettern und Backsteinen errichteten Bücherwände in den Studentenbuden, WGs und Kommunen füllten sich bis zur Decke mit Büchern, Broschüren und Ordnern, bis sie Altären glichen, in denen das erst noch zu studierende Geheimwissen der Menschheit verborgen war. Diese ganze Art, wo man saß, ging oder stand, fast „besinnungslos“ zu lesen, schwerstkalibrige Wälzer in Tag- und Nachtschichten zu verschlingen (oder verbissen daran zu kauen), philosophische oder sozialhistorische Großsysteme zu rekonstruieren und ihre Sprachen autodidaktisch zu erlernen, so wie Computerkids es ein, zwei Jahrzehnte später mit esoterischen Programmiersprachen getan haben, überstieg schon jedes bestimmte Interesse an empirischen Verhältnissen, der eigenen Zeit oder der aktuellen Politik. Es trug einen weithin monologischen, fast autistischen Charakter und zielte weder auf Wissen noch Verstehen im engeren Sinne� Vielmehr steckte darin der Drang, ein noch unbestimmtes, fluktuierendes Welt- und Lebensgefühl in feste Metaphern oder Formeln zu gießen und sich so eine Gegensphäre der Theorie, der Geschichte, im Grunde aber: der Literatur zu schaffen. Es lag in der Logik dieser existenziellen Such- und Selbstfindungsbewegung, dass jede/ r nach und nach begann, ideologische Präferenzen zu entwickeln, da am Ende ja axiomatisch irgendeine „revolutionäre Praxis“ und Organisation stehen sollte. So wurde man je nach Temperament und persönlichem, oft ganz zufälligem Umfeld vom Sozial- oder Liberaldemokraten, engagierten Christen oder Freidenker, kritischen Kritiker oder hedonistischen „Anti-Autoritären“ zum selbstgebackenen Marxisten, und bald schon Leninisten, dann Trotzkisten oder Maoisten oder alternativ zum (oft ähnlich doktrinären) Anarchisten, Syndikalisten oder Spontaneisten. Wie in einer existenziellen „Urwahl“ à la Sartre schien (fast) jede/ r früher oder später für einen der verfügbaren großen Ismen einschließlich der so bezeichneten politischen Richtung optieren zu müssen. Entsprechend füllte man in informelle politisch-ideologische Blöcke gegliedert, die wie die Contraden beim Palio in Siena unter ihren jeweiligen Fahnen, Insignien oder Ikonen antraten, mit wachsender Militanz die Straßen der großen und kleinen Städte, die von den Sprechchören widerhallten. Dabei schwelgte man in der eigenen physischen Präsenz als einer jugendlichen, rebellischen Masse, der immer zunehmend auch die große Medienbühne gehörte. Mehr noch: Man war selbst eins der Treibmittel der visuellen Massenmedien, die sich 146 Gerd Koenen eben in dieser Zeit explosiv entfalteten und deren Kameras sich mit lüsternem Interesse an den Gesichtern, Körpern, Gesten der jungen Demonstrant/ inn/ en weideten� Auf Seiten der Protestierenden musste diese von ihnen produzierte Bilderflut wiederum das Gefühl potenzieren, Teil einer globalen, weltverändernden Aufbruchs- und Ausbruchsbewegung zu sein. Überall gärte es schließlich, von den USA über halb Europa bis nach Asien und Lateinamerika, und ebenso bis nach Warschau, Prag oder Moskau - und bis nach Shanghai. Diese jugendlichen Protestbewegungen hatten, so schien es, die Kraft, sogar die großen Machtblöcke zu transzendieren und die erstarrten Verhältnisse aller Länder zum Tanzen zu bringen. Völlig falsch war das nicht - aber dennoch eine Halluzination. Denn in Wirklichkeit lebten die Radikalen der verschiedenen Länder in vollkommen getrennten Welten. Und die emphatischste „Solidarität“ war oft nur eine Form des offensiven Desinteresses und der praktischen Entsolidarisierung. So sympathisierten viele neue Linke in der Bundesrepublik wie in anderen westlichen Ländern mit den „Roten Garden“ der chinesischen Kulturrevolution, die - so meinten sie zu wissen - das verknöcherte, „revisionistische“ Regime der alten Parteigarde durch einen wiederaufgefrischten Geist der direkten, revolutionären Massendemokratie gestürzt und ersetzt hatten. Mao-Buttons tauchten an tausenden Mützen und Revers auf. Dabei hätten schon die wenigen verfügbaren Bilder misstrauisch stimmen müssen: die aufgeputschten adoleszenten Massen, die alle dieselben roten Büchlein schwenkten, um wie in einem Hexensabbat nach den Worten ihres verhimmelten Großen Vorsitzenden die „Schlangengeister und Rinderteufel“ auszutreiben und allerhand „schwarze Elemente“ zu enttarnen, in den Reihen der „alten Kader“ wie auch in ihren eigenen Reihen. Dass es sich um eine von oben orchestrierte „Spontaneität“ handelte, die in einem mörderischen Kampf aller gegen alle Hunderttausende das Leben kostete, konnte man auch damals aus den bruchstückhaften Informationen schon erschließen. Aber das alles wollten wir ja gar nicht wissen, im Gegenteil. Wir wollten uns eine Welt voller Freunde und Feinde zurechtschnitzen, eine weltweite Befreiungsbewegung, deren Teil wir sein würden - wir, die nach dem Wort des Che den „Kampf in der Brust der Bestie“ selbst aufgenommen hatten, in den Metropolenländern des Kapitalismus und Imperialismus also. So war das Doppeljahr 1967/ 68 bei allem apokalyptischen Wetterleuchten auch eine traumhafte Situation der Entgrenzung, ein magischer Moment des Aus-sich-Herausgehens und Heraustretens. Und so trügerisch und vielfach fragwürdig das war, lag darin der Vorschein von etwas Künftigem, Möglichem, dessen Erinnerung - wie ich auch heute, bei aller selbstkritischen Reflexion, sagen 1968 als künstlerische Situation 147 möchte - unverlierbar bleibt. Man fühlte sich unmittelbar zu allen Ereignissen in der Welt, und diese schienen unmittelbar zu uns. Alles ging uns an. Und nicht anders verhielt es sich mit der vergangenen Geschichte des eigenen Landes und der ganzen Welt, die man sich als ein Kontinuum von großartigen, wenn auch tragisch gescheiterten, immer wieder verratenen oder in die Irre gelaufenen revolutionären Ausbrüchen und Aufbrüchen neu erfand. Dabei lebte und schwelgte diese ganze Bewegung inmitten ihrer ausschweifenden Textversessenheit auch in Bildern und Musiken� Die Welt war Zeichen und Klang - ein riesiger, symphonischer Raum unterschiedlicher Sounds und Signale, Rhythmen und Gesänge, von alten Arbeiterliedern über metallische Eisler-Gesänge und russische Revolutionssongs bis zur Folklore aller Kontinente, und von dort weiter zu den Heartbeats des Rock’n’ Roll. Auch die neuen Götter des Pop, die Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Mike Jagger, traten ja jetzt im obligatorischen Gestus der Rebellen auf. „The time is ripe for fighting in the street, boys“, wie es in dem Lied der Stones hieß. Zugleich wirkte die Protestbewegung wie eine einzige Abfolge von Happenings, weshalb Happening-Künstler wie Josef Beuys, Wolf Vostell und Bazon Brock hier erst ihr eigentliches, breites Wirkungsfeld fanden. Noch stärker war das im Pariser Mai der Fall, der unter Parolen wie „Die Phantasie an die Macht“ oder „Seid Realisten, verlangt das Unmögliche“ sich als eine einzige, große Synästhesie des Protestes darstellte, in der die Farben und Töne, die Parolen und Banderolen, die Rhythmen und Bewegungen der Mengen zu einer theatralischen Gesamtinszenierung verschmolzen� Fast verstand es sich von selbst, dass diese Jugendbewegung auch eine Sphäre entgrenzter Erotik war, die aus ihrem ureigenen, sinnlichen Appeal lebte und sich nährte, - einem Appeal, von dem sich eine lüstern-geifernde Boulevardpresse und eine empörte Spießerwelt ständig ihre Scheiben abschnitt. In Wirklichkeit kämpfte die „sexuelle Revolution“, die allenthalben proklamiert wurde, längst an zwei vollkommen gegensätzlichen Fronten: Auf der einen Seite gegen eine nur noch mühsam und „autoritär“ behauptete Prüderie und bürgerliche Wohlanständigkeit - auf der anderen Seite aber gegen eine durch Medien und Werbung schwappende, kommerzialisierte „Sexwelle“, die bereits ungleich hemmungsloser war als alles, was man aus dem eigenen Leben als revolutionäre Bohème kannte. Das instinktiv gefühlte Resultat dieser Kommerzialisierung der Körper und jeglicher Sinnlichkeit und Intimität war ziemlich bald schon Entzauberung, Abstumpfung und völlige Austauschbarkeit. Eben das bezeichnete Herbert Marcuses Formel einer „repressiven Entsublimierung“ - mit der ich damals wenig anfangen konnte, heute sehr viel mehr (76-94). 148 Gerd Koenen Gleichzeitig trug die „befreite Sexualität“, die nach den Rezepten des kommunistischen Sexualtherapeuten Wilhelm Reich in „Kommunen“ oder im Milieu der Bewegung praktiziert wurde, nicht selten Züge eines gewaltsamen Selbstexperiments. Von jedem fröhlichen Hedonismus weit entfernt, sollte sie der Destruktion des eigenen bourgeoisen, autoritären, latent faschistischen „Charakterpanzers“ und der Produktion befreiter, kämpferischer, mit vitaler Lebensenergie aufgeladener revolutionärer Kader, Männer und Frauen dienen. So produzierten die Experimente mit Sex & Drugs, die in den aus dem Boden schießenden Kommunen unter den Postern von Mao und Che oder auch Lenin und Stalin betrieben wurden, inmitten der radikalsten Entbindung auch schon den Drang nach neuer Bindung: sei es in den rigoros sich selbst disziplinierenden marxistisch-leninistischen Parteiklonen und Kampfbünden der anbrechenden siebziger Jahre, oder eben in den entstehenden terroristischen Gruppen, die sich (wie willig oder unwillig auch immer) der Disziplin des Untergrunds unterwerfen mussten� Das alles führt uns zurück zu jenen Künstlern und Intellektuellen, die nicht mehr nur „Dichter und Denker“ sein wollten, sondern in einem Akt vermeintlicher kulturrevolutionärer Selbstabdankung das „Ende der Kunst“ oder den „Tod der Literatur“ proklamierten. Einige bekannte Maler verbrannten 1968 in Westberlin öffentlich ihre dekadenten Bilder oder gelobten, fortan nur noch politische Kunst für die Massen zu machen. Etliche, nicht nur jüngere Schriftsteller erklärten, alle schöne Literatur sei elitär und nutzlos, oder geradezu Opium für das Volk; nur noch ungeschminkte „Agitprop“ und den Massen verständliche „Kampftexte“ seien legitime Formen schriftstellerischer Betätigung. Und aus Frankreich wehten berauschende Parolen herüber wie „La poésie est dans la rue! “ - Die Poesie ist auf der Straße, das hieß: in den Demonstrationen und Barrikadenschlachten� Wer wollte, wer durfte in dieser Lage noch an seinem Schreibtisch sitzen! Peter Schneider gehörte vornweg zu denen, die eine umfassende „Kulturrevolution“ forderten und im Namen der revolutionären Phantasien, Bedürfnisse und Leidenschaften gleich auch das „Ende der Literatur“ überhaupt verkündeten - so in seiner „Rede an die deutschen Leser und ihre Schriftsteller“ im Kursbuch 16 (1969), in der er eine tote, versteinerte Welt ringsum schilderte: „Nein, auf diesen Straßen, auf diesen Balkons, an diesen Häusern, in diesen Fenstern sehe ich nichts, das irgendwie nach menschlichem Gebrauch aussähe […] Was wir da um uns herum sehen und erleben, ist überhaupt nicht mehr zu beschreiben, nur noch zu ändern“ (177). Um in einem begleitenden Programmartikel gebieterisch zu dekretieren: „Die Kulturrevolution ist die Eroberung der Wirklichkeit durch die Phantasie. Die Kunst ist im Spätkapitalismus die Eroberung der Phantasie 1968 als künstlerische Situation 149 durch das Kapital.“ Der Künstler selbst habe nun die Rolle des „Agitators, Propagandisten und Organisators der Revolution“ zu spielen (27). Freilich, Schneider war zu dieser Zeit noch kaum als Schriftsteller hervorgetreten, sondern sprach als studentischer Aktivist. Für die etablierteren Autoren selbst war es ein komplizierter Balanceakt, der die Form einer mehrfachen Pirouette um die eigene Achse annahm. Enzensberger, der nie zu fassende Herausgeber des Kursbuch, das in diesen Jahren zu einem intellektuellen Leitmedium wurde, hatte diese Debatte schon Jahre zuvor eröffnet. Gleich in der ersten Nummer 1965 hatte er Jean-Paul Sartre (der im Vorjahr den Nobelpreis mit prinzipiellen Argumenten abgelehnt hatte) zu Wort kommen lassen, der angesichts der moralischen Korruption des Literaturbetriebs für Schriftsteller nur noch die Möglichkeit sah, „vorübergehend auf die Literatur (zu) verzichten“ oder aber „die Probleme auf die radikalste und unerbittlichste Weise zu stellen“, sodass „jeder, der in Europa Romane zu schreiben“ fortfahre, „Verrat“ begehe (1965, 122-23). Enzensberger seinerseits hatte in einer Polemik gegen „Peter Weiss und die anderen“ im Jahr darauf unter Berufung auf Sartre auch die „engagierte Literatur“ kritisiert, weil auch sie nur das sei: Literatur (1966, 175). Als sich 1968 die Debatte über die Rolle und Funktion von Kunst und Literatur immer zunehmend verdichtete, setzte Enzensberger sich mit einer ganz diesem Thema gewidmeten Ausgabe des Kursbuch an die Spitze. Der beigelegte „Kursbogen“ auf Packpapier mit einem Manifest des langjährigen Suhrkamp-Lektors Walter Boehlich unter dem Titel „Autodafé“ schien alle Erwartungen zu bestätigen, wenn er etwa verkündete: „Die Kritik ist tot […] gestorben mit der bürgerlichen Welt, zu der sie gehört, gestorben mit der bürgerlichen Literatur, die sie schulterklopfend beseitigt hat“. Stattdessen bedürfe es einer Kritik, „die endlich die gesellschaftliche Funktion jeglicher Literatur als das Entscheidende versteht und damit die künstlerische Funktion als eine beiläufige erkennt“ (ohne Paginierung). Freilich, das Heft als Ganzes, das eine Vielzahl literarischer Texte von Beckett über Bachmann bis Cortazár und Lu Hsün enthielt, aber auch ein Mao zugeschriebenes Gedicht, entzog sich allen vorschnellen Erwartungen. Und namentlich Enzensberger selbst sprach in seinem Essay „Gemeinplätze, die neuere Literatur betreffen“, in schneidend ironischem Ton über alle die eifrig geläuteten „Sterbeglöcklein für die Literatur“ und die (eher ausgelassenen) „Leichenschmäuse“, die gerade erst der „Messeschlager“ in Frankfurt gewesen seien. Statt den „Verfassern schmaler Bändchen ‚Hände hoch‘ zuzurufen, müssten die militanten Gruppen gegen die mächtigen kulturellen Apparate vorgehen“ . Und die Schriftsteller selbst, „die sich mit ihrer Harmlosigkeit nicht abfinden können (aber wieviele werden das sein? )“ sollten sich einstweilen begrenzte, aber nützliche Arbeiten vornehmen, wie zum Beispiel Günter Wallraffs „Industriere- 150 Gerd Koenen portagen“ oder Ulrike Meinhofs politische Kommentare. Um nach feierlich zu dekretieren: „Die politische Alphabetisierung Deutschlands ist ein gigantisches Projekt. Sie hätte […] mit der Alphabetisierung der Alphabetisierer zu beginnen“ (1968, 196/ 1972, 52-53). Für Enzensberger war die Debatte über den „Tod der Literatur“ also selbst schon antiquiert - angesichts einer „Bewußtseins-Industrie“, die er an früherer Stelle bereits als „die eigentliche Schlüsselindustrie des zwanzigsten Jahrhunderts“ bezeichnet hatte. Es könne sich für Autoren und Intellektuelle daher nicht darum handeln, sie „ohnmächtig zu verwerfen“, sondern „sich auf ihr gefährliches Spiel einzulassen“ (1962, 17). Er selbst tat das, indem er das Kursbuch gründete und in einem der großen Verlage, in denen er ohnehin ein und ausging, herausgeben ließ. In einer skizzenhaften „Theorie der Medien“ - die viele Elemente eines visionären Vorgriffs auf das 20 Jahre später anbrechende Zeitalter des Internet enthielt - ging er 1970 angesichts der rasanten Entwicklungen auf diesem Gebiet wieder einen wesentlichen Schritt weiter, fast wie in einem intellektuellen salto mortale. Jetzt stellte er die Möglichkeit in den Raum, dass angesichts der neuen, elektronischen Medien und ihrer potentiellen Fähigkeit, „einen jeden zum Sprechen [zu] bringen“, der antiquierte Akt des Schreibens und mit ihm der „berufsmäßige Schreiber“ sowie der „Buchdruck als monologisches Medium“ als solche bald hinfällig werden könnten. Tragisch wäre das nicht: Denn dann könnte der Autor daran gehen, „sich selber als Spezialisten überflüssig zu machen“ und „als Agent der Massen“ zu arbeiten. „Gänzlich verschwinden kann er erst dann in ihnen, wenn sie selbst zu Autoren, den Autoren der Geschichte geworden sind“ (1970, 186/ 1974, 129). An diesem Punkt angelangt, aus Kuba zurück, nahm er selbst Abschied von den Massen, genauer gesagt: den eifrigen Adepten einer proletarischen Erziehung und „Alphabetisierung“. Liest man diese Utopien einer Verschmelzung von Literatur und Politik gegen den Strich, ist freilich schnell klar, dass hinter den Gesten vorgeblicher Selbstbescheidung ein neuer, hybrider Anspruch steckte: die „politische Alphabetisierung“ der Massen vermittels eines Autors, der als ihr Alphabetiseur und „Agent“ sie befähigte, selbst zu sprechen und ihre Geschichte zu machen. Dieter Wellershoff hat damals diese Vorstellungen als eine romantisch-elitäre Sehnsucht dechiffriert, die arbeitsteilige Gesellschaft wieder durch Formen unmittelbarer Gemeinschaft zu ersetzen. Im Hohn auf die angeblich folgenlose Literatur komme das altbekannte intellektuelle Unbehagen an der Anonymität des Marktes wieder zum Ausbruch - „und zwar umso bitterer, je offener der Markt für oppositionelle, vermeintlich tabuverletzende oder formal ungewohnte Produkte geworden ist“. Der Versuch, sich zum Sprecher, Agenten und Übersetzer einer politischen Bewegung aufzuschwingen, falle daher mit dem Bemühen 1968 als künstlerische Situation 151 zusammen, sich als Schriftsteller in einer neuen Medienwelt zu behaupten, die ihre „Mikrophone und Kameras an ihn herangeschoben“ hat und „die ihm, wie allen interessanten Personen […] das Angebot macht, dauernd in ihr anwesend zu sein“ (330-31). Hans Egon Holthusen hatte schon früher lakonisch festgestellt: „Interessant an der Sache ist, dass die weitgehende Politisierung der Literatur in den letzten Jahren zu einer Literarisierung der Politik geführt hat“ (22). Karl-Heinz Bohrer hat freilich gerade diesen Aspekt - mit der Empathie eines eher konservativen Beobachters - positiv aufgenommen, als er schrieb: Die 1968 allseits herbeizitierte Kulturrevolution sei in Wirklichkeit nur eine Metapher für „das ‚Kühne‘ schlechthin, […] das ‚Schöne‘“. Wenn aber Metaphern die wirkliche Revolution ersetzten, „dann ersetzen Wörter Handlungen, dann ist endgültig die große therapeutische Situation eingetreten: Wo nichts mehr möglich ist, lässt sich alles denken“ (104). Bohrers Formel von der „großen therapeutischen Situation“ könnte an Alexander Mitscherlich oder an Theodor W. Adorno denken lassen - allerdings aus anderer, fast entgegengesetzter Warte� Nicht um eine „Erziehung nach Auschwitz“ (Adorno) und um eine kollektive Selbstanalyse der deutschen „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) ging es demnach - sondern im Gegenteil: um ein freies Flottieren der Assoziationen und Metaphern, in dem sich „alles denken lässt“, ein Spiel mit Begriffen und Bedeutungen, die auf einen weitgehend unbewussten Prozess einer revolutionären, sprich: literarischen Selbsterschaffung hinausliefen. Ernst Jandl brachte das anlässlich einer „Autorenumfrage“ 1975 in ein ätzendes Aperçu, das mehr als nur skeptische Distanz ausdrückte: „Der nicht-literarischen Methode, Literatur zu produzieren, entspricht die nicht-medizinische Methode, Kranke zu heilen, die nicht-politische Methode, Politik zu machen […] Authentizität besitzt solches gewiss: der Wolfsrachen des Volksredners, die Querschnittslähmung des Langstreckenläufers“ (82-83). Gemeint war die Tatsache, dass aus dem historischen Anstoß von 1968 eine linksradikale Massenbewegung noch ganz anderen quantitativen und qualitativen Formats entstand, die sich schließlich zu einem langen „Roten Jahrzehnt“ addierte - jedenfalls in (West-)Deutschland, aber ähnlich auch in Italien oder in Japan, nicht zufällig den drei großen Anstiftern und Verlierern des verflossenen Weltkriegs� Früher als die meisten aus dieser Generations-Kohorte hatte Peter Schneider den „Wolfsrachen des Volksredners“ und die Symptome einer intellektuellen „Querschnittslähmung“, der diese Kohorte hyperpolitisierter Langstreckenläufer (zu denen der Autor dieser Zeilen sich ebenfalls zählen muss) damals verfiel, bei sich selbst bemerkt. In seiner Novelle Lenz von 1973 verarbeitete 152 Gerd Koenen Schneider seine Erfahrungen als revolutionärer Aktivist in Westberlin und Italien, indem er sein literarisches Alter Ego in die Gestalt des gleichnamigen, von den Behörden verfolgten und verstörten Helden Büchners schlüpfen ließ. Während der Sitzung der Betriebsgruppe einer maoistischen Kleinpartei in Westberlin, der Schneider damals selbst angehörte, lässt er seinen „Lenz“ sagen, oder vielmehr: empfinden (wie bei Büchner in der dritten Person, die das Gefühl einer fortschreitenden Selbstentfremdung spiegelte): „Er hörte immer dieselben Worte, sinnliche Erkenntnis, Bewußtsein, Proletariat, Strategie. In seinem Ohr setzte sich die getragene bruchlose Melodie dieser Sätze fest, es störte ihn, dass es keine Pausen, keine Neuanfänge, keine Anspielungen gab. Es kam ihm alles so artig, so nett vor-… Er stellte sich vor, dass sich andere Gruppen gleichzeitig an andern Orten trafen und im gleichen Tonfall die gleichen Sätze sagten“ (17). Eine politische Distanzierung sollte das allerdings keinesfalls sein, sondern, wie es im zeittypischen Ton des Klappentextes des „Rotbuch“-Verlages hieß: Es ging um die „Geschichte eines jungen Intellektuellen, der Ende der 60er Jahre in hohem Tempo durch die Landschaft läuft, die Landschaft der Einkaufsstraßen, Fabrikhallen, Kneipen, der großen Städte und der kleinen Gruppen“, der dabei „an emotionale Barrieren (stößt), die - bis in die linken Gruppen hinein - seinem Anspruch auf eine Dialektik von Hass und Glück, emotionalen und politischen Bedürfnissen im Weg stehen“. Also galt es, die „emotionalen und politischen Bedürfnisse“ dialektisch miteinander zu verbinden - was tatsächlich eine noch weitere Überfrachtung der selbstgesetzten Ansprüche bedeutete. Die 1968 im Umfeld der ersten Frauengruppen formulierte Parole „Das Private ist politisch“, die ursprünglich einen Schutz gegen die Abqualifizierung ihrer persönlichen Emanzipationswünsche durch die (durchweg männlichen) Matadore dieser Protestbewegung dienen sollte, lief „dialektischer Weise“ sehr bald darauf hinaus, dass die Politik auch den Raum alles ehedem Privaten und Persönlichen besetzte und ausfüllte, ob es sich um Familie, Beruf oder Lebensweise handelte. Diese Ausdehnung der „Politisierung“ auf immer neue Felder und Aktivitäten war tatsächlich eine der Triebfedern der Verwandlung der „Außerparlamentarischen Opposition“ von 1967/ 68 in eine wirkliche, generationell geprägte Massenbewegung mit revolutionärem Anspruch oder Gestus. Jedes Studium wurde obligatorisch jetzt zur Vorbereitung auf eine „revolutionäre Berufspraxis“. Die zu Hunderten aus dem Boden schießenden „Kinderläden“ dienten einer „antiautoritären“, das hieß: irgendwie revolutionären Erziehung von kleinen Kämpfern. Und auch die ersten Frauengruppen und -zentren wollten sich nicht einfach um spießige „eigene Belange“ kümmern, sondern sahen den Kampf gegen das Patriarchat als Teil einer revolutionären, antikapitalistischen Gesamtbewegung, landesweit und weltweit� 1968 als künstlerische Situation 153 Mitarbeit in einer Basisgruppe, Betriebsgruppe oder Roten Zelle, einem Lehrlingszentrum oder einem antiimperialistischen Komitee, einer Roten oder Schwarzen Hilfe; Mitgliedschaft in einer der Kaderorganisationen und Kaderparteien oder in einer ihrer „Massenorganisationen“; Aktivität in einer der „undogmatischen“ und „militanten“ Gruppen sozialistischer, anarchistischer, spontaneistischer oder radikalfeministischer Observanz, die in praktisch allen großen und kleinen Orten aufschossen; Teilnahme an den zahllosen Schulungen und Diskussionen, in denen es um die „Systemüberwindung“ oder den „antiimperialistischen Kampf“ ging; mehr oder weniger regelmäßige Beteiligung an Demonstrationen, Kundgebungen, Versammlungen oder illegalen Besetzungsaktionen, die fast rituell in Zusammenstößen mit der Polizei endeten; Überprüfungen durch den Verfassungsschutz, die Schulbehörden, die Gewerkschaftsleitungen oder den Werkschutz und politisch begründete Maßregelungen, Entlassungen und Berufsverbote - das alles dürfte als ein prägendes, wenn auch meist ephemeres Element in Hunderttausende Biographien dieser Alterskohorte eingelagert sein� Insofern handelt es sich um eine Generationserfahrung im vollen Sinne des Wortes, die noch textlastiger war als die eigentliche 68er-Bewegung� Unter der Parole „Zerschlagt das bürgerliche Copyright“ war nach 1968 ein schwarzer, grauer oder regulärer Markt für die neue, linke Bewegungsliteratur entstanden, anfangs hauptsächlich in Form von (vielfach illegalen) Reprints, vor allem von Texten aus den Links- und Exilverlagen der zwanziger und dreißiger Jahre, oder von vergriffenen Schriften wichtiger Theoretiker, die - wie die Texte des freudo-marxistischen Sexologen Wilhelm Reich - in hohen Auflagen verbreitet wurden. Dazu kamen aber zunehmend auch eigene, neue Titel, oder (wiederum oft illegale) Übersetzungen aus fremden Sprachen. „Theorie, wie Romane verschlungen“ (Felsch 64) und in kleine, schmucklose, handliche Formate gebracht, wie die „edition suhrkamp“ das seit 1962 bahnbrechend und erfolgreich begonnen hatte, wurde zum Treibsatz für ein neues linkes Verlagswesen, das bis 1973 etwa 25 „Kollektive“ umfasste, darunter auch eine Reihe dauerhaft erfolgreicher Neugründungen wie trikont, merve oder Wagenbach (Felsch 75). Sie konnten sich in fast allen großen und kleinen Städten auf ein Netz „linker Buchläden“ mit Namen wie „Roter Stern“ oder „Polibula“ (Politbuchladen) stützen, aber auch auf eigene, improvisierte Vertriebsorganisationen, die die überall aufgestellten Büchertische der politischen Gruppen und Kleinparteien belieferten - inmitten einer Flut von Zeitschriften, Zeitungen, Flugschriften, Büchern, die die politischen Fraktionen als „Agitprop“ in eigenen Verlagen und Druckereien produzierten und vertrieben. 154 Gerd Koenen Auch die Programme fast aller großen Verlage passten sich diesem Zeittrend an und produzierten in Massenauflagen Taschenbücher, vom Roten Buch Maos (als Fischer Taschenbuch) bis zum Handbuch der Stadtguerilla des Brasilianers Carlos Marighela (als Rowohlt-aktuell), von klassischen oder frisch kompilierten Faschismus- und Imperialismus-Theorien bis zur „Kritik der politischen Ökonomie“ - mit der viele Universitätsseminare aller Fächer jetzt obligatorisch begannen. Verlage wie die Europäische Verlagsanstalt (EVA) lebten für ein bis anderthalb Jahrzehnte ganz überwiegend von Texten, die den Zwecken einer neomarxistischen „Theoriebildung“ dienten. Aber auch vollkommen sektiererische Bewegungstexte wie Kommune II-Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums oder Schülerladen Rote Freiheit (die Titel waren hier Programm) oder vom Zeitjargon aufgeblähte Elaborate über „Bildungsökonomie“ und ähnlich verwickelte Spezialthemen tauchten in den Katalogen der etablierten großen Verlage auf und verkauften sich wie warme Semmeln. Der Theorie- und Begriffshunger, die Nachfrage nach Sinn und Orientierung überstieg bei weitem alles, was die noch so eifrigen Skribenten und Verleger heranschaffen konnten. Als ein weiteres, eigenes Segment des Buchmarkts im „Roten Jahrzehnt“ wären die ab 1966/ 67 en masse importierten, auf hauchdünnem Reispapier schön gedruckten Mao-Bibeln, Propaganda-Broschüren und Zeitschriften aus China zu nennen, von deren Verkauf Teile der Szene (darunter die Kommune 1) schon 1968 eine Zeitlang lebten, bevor ihr Vertrieb zum Privileg der maoistischen Parteien und Bünde der 1970er Jahre wurde. Dagegen war die Herausgabe der Gesammelten Werke Kim Il-Sungs eine der editorischen und kommerziellen Gründungstaten des Frankfurter Verlags Roter Stern, der seither und bis heute durch die Herausgabe sorgsam edierter Originalhandschriften von Kafka oder Hölderlin bekannt geworden ist. Im Gefolge der Legalisierung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) als gezähmter Verwandlungsform der 1956 verbotenen KPD wurden ab 1968/ 69 bedeutende Kontingente an DDR-Büchern zu hochsubventionierten Kampfpreisen in die Bundesrepublik exportiert, angefangen mit den berauschend nach Druckerschwärze duftenden, per se klassisch wirkenden „Blauen Bänden“ der MEW (Marx/ Engels-Werke) über die in orthodoxes Braun gebundenen Lenin-Werke (LW) bis hin zu dickleibigen Lehrbüchern der Geschichte und materialistischen Philosophie oder SED-Standardwerken der Faschismustheorie und Gegenwartsanalyse. Sie alle wurden weit über den engeren politischen Sympathisantenkreis hinaus studiert und geschult. Es wäre allerdings ganz lächerlich, wollte man den erstaunlichen Einfluss, den gerade auch die orthodoxen Kommunisten nach 1968 und bis in die 1980er Jahre 1968 als künstlerische Situation 155 hinein im Kulturleben der Bundesrepublik noch einmal gewonnen und ausgeübt haben, vor allem als ein Ergebnis der (durchaus beachtlichen und wirksamen) Finanzierungs- und Infiltrierungsbemühungen der DDR und ihrer diversen „Organe“ verstehen. Die Resonanz, die das „andere Deutschland“ gerade im Bildungs- und Kulturbereich fand, hatte in erster Linie mit der akuten Entfremdung vieler der in Bewegung geratenen jüngeren Westdeutschen von Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik selbst zu tun, weniger mit der positiven Attraktion der DDR. Allerdings machte die Öffnung, die die „neue Ostpolitik“ der Regierung Brandt-Scheel ab 1970 mit sich brachte, eindrücklicher als früher klar, dass dort „drüben“ ein ganz eigenes, eindrucksvolles Ensemble von Autoren, Malern, Theaterleuten, Filmemachern usw. am Werk war, deren Arbeiten jetzt in einem sehr viel breiteren Strom als bisher auch in Westdeutschland zugänglich wurden� So kam es, dass in den Künstlerverbänden der Bundesrepublik, und gerade im 1970 gegründeten „Verband deutscher Schriftsteller“ (VS), die der DKP nahestehenden oder lose verbündeten Autoren über eine weite Strecke das Sagen hatten. Zum „1. Kulturpolitischen Forum“ der Partei in Nürnberg kamen 500 Teilnehmer. Der Schriftsteller Martin Walser und der Sänger Franz-Josef Degenhardt gehörten zu den prominentesten. Kurz zuvor hatte Degenhardt noch im Jahr der Schweine gesungen: „Die, die uns jetzt verfolgen, / verstehen ihr Geschäft. / Weh dem, der jetzt noch sorglos / und ohne Waffe schläft“ (27). Statt sich dem neuen terroristischen Untergrund anzuschließen, der an der Jahreswende 1969/ 70 entstand, suchte der aus der tiefen westfälischen Provinz stammende Autor aber den Anschluss an die Partei, und über sie an das „sozialistische Weltlager“, das (hochgerüstet) gleich hinter der Elbe begann. Walser hat sein frisches Engagement für die neue „Partei der Arbeiterklasse“ schon 1972 in einem autobiographischen Roman Die Gallistlsche Krankheit affirmativ begründet und verarbeitet. Gallistl ist (nicht gerade originell) der Prototypus eines einsamen, an Selbstzweifeln über Sinn und Zweck seines Schreibens laborierenden Literaten, der in einem kommunistischen Freundeskreis Anschluss findet - wie Walser selbst ihn in der Gruppe um die Zeitschrift Kürbiskern mit Yaak Karsunke, Uwe Timm, Erika Runge und anderen gefunden hatte. In der Ankündigung des Suhrkamp-Verlages heißt es: „Seine neuen Freunde erklären ihm die Praktiken des Kapitalismus, sie geben ihm eine neue Sprache, sie verhelfen ihm zu einem anderen Bewusstsein […] Er ist süchtig nach Positivem. Immer wieder drohen Rückfälle in die alte Konkurrenz-Mentalität. Es bleibt ein Kampf, d. h. Gallistls Lage bleibt kritisch, aber er ist nicht mehr allein; er arbeitet mit anderen zusammen“ (127). Was Walser damit beschrieb, war tatsächlich der Prozess, der der DKP ihre beachtlichen „bündnispolitischen“ Erfolge brachte, die sie in der politischen 156 Gerd Koenen Realität der Bundesrepublik allerdings nicht umsetzen konnte, im Gegenteil: die sie zunehmend selbst in Verlegenheit setzten. Indem nämlich so viele „unbehauste Intellektuelle“, Künstler und Literaten bei ihr Anschluss suchten, musste sie sich selbst und ihren aus Ostberlin gesponserten und geführten Parteiapparat einer gärenden, rapide sich verändernden Wirklichkeit aussetzen, gegen die sie sich gleichzeitig (vergeblich) abzuschirmen suchte. Frauenbewegte Frauen, Schwule, die ihr Coming-out politisch verstanden wissen wollten, rebellische Jugendliche, die aus ihren Milieus ausbrechen wollten, protestantische Friedensfreunde, die gegen das Wettrüsten antraten, und katholische Drittweltgruppen, die eine „Theologie der Befreiung“ zu entwickeln suchten - sie alle drängten sich an die imaginäre Mutterbrust einer Partei, die längst intellektuell unfruchtbar und ausgetrocknet war und die ihren Rückhalt und Referenzpunkt in einem „Drüben“ jenseits der Elbe hatte, wo all dieses kleinbürgerliche, dekadente Unwesen nicht erwünscht oder erlaubt war. Erika Runge, die in ihren recht schlichten, aber erfolgreichen Interviewbänden (Bottroper Protokolle, 1968) und „Frauen. Versuche zur Emanzipation“ (1969) die disparaten Lebenssignale des in Auflösung begriffenen Ruhr-Proletariats und die widersprüchlichen Äußerungen weiblich-proletarischer Lebensentwürfe aufgezeichnet hatte, verkündete nach ihrem Beitritt zur DKP zwar tapfer und auf Parteilinie, das „Emanzipationsproblem“ sei kein „Geschlechterproblem“, sondern ein „Klassenproblem“. Nur boten ihre eigenen Bücher für diese patentierte Lösung überhaupt keinen Ansatzpunkt; und daher blieben diese Erklärungen eine bloße Liturgie, ein ideologisches Amulett. Noch schwieriger war es im Fall von Karin Struck, auch sie DKP-Mitglied, Arbeiterkind und Mitglied im 1970 gegründeten „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“. Ihr in Tagebuchform verfasster, autobiographischer Roman Klassenliebe von 1973 wurde von Kritikern als ein subtiles Abbild sozialer Sprachbarrieren (Arbeiterkind liebt bürgerlichen Intellektuellen) gepriesen. Aber ihre Kollegen im „Werkkreis“ fanden das alles viel zu „privat“ und monierten das Fehlen eines klaren Klassenstandpunkts. Dieser „Werkkreis“ war aus einer im Ruhrgebiet entstandenen „Gruppe 61“ hervorgegangen, die sich als Gegenstück zur bürgerlichen „Gruppe 47“ deklarierte und - nicht ohne Seitenblicke auf entsprechende Versuche in der frühen DDR (den „Bitterfelder Weg“) - bereits seit längerem bemüht hatte, Erfahrungen aus der Arbeitswelt in die Literatur hineinzutragen, möglichst aus der Feder „schreibender Arbeiter“ selbst. 1968 hinzugestoßene neue Mitglieder wie vor allem Günter Wallraff, dessen Undercover-Enthüllungen und Reportagen aus der „Unterwelt der Arbeit“ wie der Oberwelt der Zeitungsredaktionen, Justizbehörden oder feineren Gesellschaft seit damals und bis heute eine enorme Res- 1968 als künstlerische Situation 157 onanz gefunden haben, waren die Initiatoren der Gründung des „Werkkreises“, der vom Geist der Zeit getragen seinen Radius weiterspannen wollte. Von 1973 bis 1985 wurden in der vom Werkkreis herausgegebenen Buchreihe Literatur der Arbeitswelt einige Dutzend Bändchen als Fischer-Taschenbücher veröffentlicht, einige davon in hohen Auflagen (bis 150 Tausend) und mit Namen wie Angelika Mechtel oder Christian Geißler, die auch in der weiteren Literaturgeschichte der Bundesrepublik noch eine Rolle gespielt haben - nur eben nicht als Vertreter einer „Literatur der Arbeitswelt“. Es war gerade die im Statut verankerte Festlegung, wonach die in diesem Rahmen produzierte Literatur dem Zweck der Bewusstwerdung und Befreiung der arbeitenden Klassen zu dienen habe, die sich als Sackgasse erwies. So kam es, dass alle diese auf das orthodoxe kommunistische Milieu einstürmenden Eindrücke und Einflüsse unweigerlich den „klaren Standpunkt“ der Partei erschütterten. Schlimmer noch: Sie verstärkten in der DDR selbst die geistigen und politischen Gärungen, die ihrem staatssozialistischen System letztlich weitaus gefährlicher wurden als dem „Klassengegner“ in der Bundesrepublik. Viele jüngere DDR-Autoren sahen sich selbst als Generationsgenossen der westdeutschen 68er und fanden in der Bundesrepublik nicht nur unabhängige Verleger, sondern ein eigenes, breiteres und im Zweifelsfall sogar resonanteres Publikum als im eigenen Land - wie sich bei der umjubelten Konzertreise Wolf Biermanns 1976 durch die Bundesrepublik zeigte, die von den Ostberliner Behörden mit seiner Ausbürgerung beantwortet wurde. Die Proteste dagegen wurden in der DDR selbst wiederum zum Anstoß einer zunehmenden politischen Dissidenz und eines künstlerischen Nonkonformismus, die am Ende in den Umbruch von 1989 mündete. Aber mehr als alle Formen eines politischen oder künstlerischen Radikalismus im Gefolge von 1968 war es der Linksterrorismus der 1970er Jahre, der die geistig und politisch schon tief polarisierte Bundesrepublik in Atem hielten. Das erste künstlerische Echo wich dem Phänomen des (längst international gewordenen) Terrorismus selbst völlig aus und konzentrierte sich ganz auf die maßlosen Reaktionen einer konservativen Presse und Öffentlichkeit, die ihrerseits im Agieren der RAF und anderer, linksterroristischer Organisationen das logische Resultat der linksliberalen Reformen der Regierung Willy Brandts sah. Das gilt etwa für Joseph Beuys‘ Kunstaktion auf der „documenta 1972“ mit ihren in Filz- und Fettpantoffeln gestellten Schildern Dürer, ich persönlich führe Baader + Meinhof durch die Dokumenta (zu ergänzen war: „dann sind sie resozialisiert“) - die angesichts der Zuspitzungen dieser Zeit wie dem parallelen Münchner Olympia-Attentat geradezu erschreckend harmlos wirkte. Das gilt in ähnlicher Weise für Heinrich Bölls Novelle Die verlorene Ehre der Katharina 158 Gerd Koenen Blum, die ihren Erfolg 1974 ebenfalls weniger ihrer literarischen Qualität verdankte als ihrem Thema: der allgemeinen „Terror-Hysterie“ und insbesondere der Hetze der BILD-Zeitung - eine Hysterie und Hetze, die sich in absehbarer Weise gegen den Autor wendete und in selbstreferentieller Weise für den Erfolg seines Buches sorgte. Nur dass der deutsche Terrorismus selbst, den Bölls Erzählung in ein sehr altbackenes Schema eines „von der Gesellschaft“ an den Rand getriebenen Nonkonformismus fasste, mit der Gründung einer neuen, zweiten, noch ungleich extremer operierenden Generation der RAF und durch die symbiotische Verbindung konkurrierender deutscher Terrorgruppen mit nahöstlichen Organisationen und Geheimdiensten ganz neue Stufen erreichte. Am Ende war es der atemlose Zyklus spektakulärer Anschläge, mörderischer Geiselnahmen und professionell ausgeführter Terroranschläge sowie die einem Lehrstück von Peter Weiss gleichenden Stammheimer Prozesse gegen die führenden Köpfe der RAF, die sich zu einem Realdrama größten Formats auswuchsen. Das alles ist längst Teil einer bundesdeutschen Nationalmythologie geworden, die im nebligen Gemeinplatz vom „deutschen Herbst“ 1977 beziehungsreichen Ausdruck gefunden hat� Nichts fehlt hier in der Tat zu einem modernen Mythos - mit Zügen antiker Tragödie oder germanischer Götterdämmerung. Den primären Stoff lieferten die von einem großen medialen Echo begleiteten Hungerstreiks der schon 1972 verhafteten Kerngruppe der RAF gegen eine angebliche „Vernichtungshaft“, der sie als politische Häftlinge in Deutschland unterzogen würden, sowie die dazugehörige, von historischen und literarischen Anspielungen dicht durchzogene Kassiber-Literatur der Häftlinge, die wie auf die eigene Haut geschrieben wirkte und von Angehörigen oder Anwälten laufend nach draußen geschmuggelt wurde. Der nächste Akt war die ultimative Beglaubigung dieser Insinuationen durch das Selbstopfer des tapferen RAF-Soldaten Holger Meins 1975, dessen Leichnam wie der eines ausgemergelten KZ-Häftlings ausgestellt wurde; noch einmal gesteigert durch den als Mord vorangekündigten Selbstmord der prominenten Publizistin und RAF-Mitgründerin Ulrike Meinhof 1976, die in einem ersten, rasch „klassisch“ gewordenen Text ihre eigene „Isolationshaft“ mit einer Gaskammer in Auschwitz verglichen hatte. Einen nächsten dramatischen Höhepunkt lieferte, inmitten eines Crescendos sich immer noch steigernder Attentate auf Repräsentanten von Staat und Kapital, im Herbst 1977 die Geiselnahme, gefilmten und im Fernsehen ausgestrahlten Verhöre und Bitten des als „Boss der Bosse“ bezeichneten Vorsitzenden des Industriellenverbands Hans-Martin Schleyer sowie die parallele Entführung einer Lufthansa-Maschine durch ein palästinensisches Kommando in roten Che-Guevara-Shirts, das die Freilassung der deutschen Gefangenen verlangte. Der große, düstere Schlussakkord dieses ganzen Realdramas war schließlich der als nächtliche Exeku- 1968 als künstlerische Situation 159 tion inszenierte Kollektivselbstmord der im siebten Stock des Gefängnisses von Stammheim zusammengelegten Kerngruppe der RAF mittels hineingeschmuggelter Pistolen; und die Auffindung der Leiche des real aus nächster Nähe exekutierten Schleyer - die signalisierte: Der Kampf ging weiter. Diese ganze, sich über drei Jahrzehnte sich erstreckende, alle Formen eines politischen Handelns vollkommen sprengende, gigantische Inszenierung musste einen trüben Bodensatz deutscher (und immer zugleich auch europäischer) Erinnerungen aufwühlen. Selbst die Namen wirkten wie Erfindungen eines Dramaturgen: „Stammheim“ etwa könnte einem der Weihespiele Richard Wagners oder einer nordischen Saga entlehnt sein; eine Geisterburg jedenfalls, in deren siebtem Stock, nach Klaus Theweleits hysterischer Formel, das „Töterfleisch der Eltern nach analytischer Rettung“ durch das Opfer der Kinder schrie (427-28). Aber auch Ödipus Rex und das Thema des kollektiven Vatermords, als welcher die Erschießung Hanns-Martin Schleyers auch tatsächlich verstanden werden konnte, sind nicht weit� Tatsächlich trat das „rote Jahrzehnt“, das 1967 mit den Schüssen in Westberlin auf den Studenten Benno Ohnesorg (wieder: was für ein sprechender Name) begonnen hatte, mit den Schüssen in Stammheim im „Deutschen Herbst“ 1977 in eine Phase kathartischer Ernüchterung und Selbstreflektion ein. Diese Entwicklung fand, was die Kohorte der 68er betrifft, ihren plakativen Ausdruck im Farbwechsel von Rot zu Grün: mit der Gründung einer Partei „Die Grünen“ 1978, die deutliche Züge eines Generationsprojekts trug und sich der Ökologie als einem neuen, umfassenden Paradigma einer Gesellschafts- und Kapitalismuskritik verschrieb. Aber letztlich handelte es sich um eine kathartische Krise der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft im Ganzen, mit all ihren Unsicherheiten und ihrem tief verwurzelten Misstrauen in die eigene demokratische Stabilität und Zivilität. So hat 1968 mit allen Ausbrüchen eines „wilden Denkens“ und mit allen Irrungen und Wirrungen, die sich daran angeschlossen haben, für die Gesellschaft der Bundesrepublik letztlich eine produktive Herausforderung bedeutet. Entsprechend schwankt das Bild dieser Jahre im Magnetfeld der Widersprüche, die diese - scheinbar weltweit verbundenen - radikalen Jugendbewegungen durchweg geprägt haben. Wer sich hineinstürzte, befand sich in einer Drift voller Strömungen und Gegenströmungen, die man selbst nicht kontrollierte, obwohl man sich doch einer theoretisch vertieften „Bewusstheit“ und einer unbedingten Autonomie der eigenen Entscheidungen verschrieben hatte. Aus vergnügtem Hedonismus konnte in diesem Prozess - fast über Nacht - puritanischer Ernst werden, aus Egalitarismus Elitismus, aus einer antiautoritären Opposition ein neuer Autoritarismus, aus der Suche nach Individualität ein Bedürfnis nach 160 Gerd Koenen Gemeinschaft und Einordnung, aus pazifistischem Antimilitarismus ein Kult revolutionärer Gewalt, aus Zärtlichkeit und Partnerschaft emotionaler Autismus und erotische Segregation. Die Anfänge der Frauenbewegung, die vielleicht die dauerhaftesten Wirkungen erzielt hat, waren jedenfalls zunächst einmal Sezessionen und Rückzüge aus den Zentren dieser politischen Bewegung, in denen - gerade in der anomischen Offenheit aller Gremien und Meetings - sich faktisch eine machistische Hackordnung durchsetzte. Diese Widersprüche verhalten sich aber nicht einfach wie ideologischer Schein und nüchterne Realität, sondern gehören auf schwierige Weise zusammen� Es geht um die zwei (oder vielmehr, die vielen) Gesichter und um die tiefen Ambivalenzen ein- und derselben Bewegung, die sich auf keinen einfachen Nenner bringen lässt. Vielmehr setzte gerade diese radikale Widersprüchlichkeit der Motive und Antriebe sie erst mit dem größeren „Rumor einer Nation“ in Verbindung, dem sie expressiven Ausdruck gaben oder jedenfalls als Katalysator dienten. Eben das meinte Karl-Heinz Bohrers Wort von der „großen therapeutischen Situation“, die man auch als eine „künstlerische Situation“ im Sinne einer Neuerfindung verstehen kann. Enzensberger, der langjährige Wort- und Taktgeber, nannte dieses ganze rote Jahrzehnt unter der Überschrift „1970 ff.“ rückblickend „Eine Art Purgatorium“: „Eines Tages war alles vorbei. ‚Es überkommt mich, ich weiß nicht warum, eine große Ruhe.‘ Als ich diese zwei Zeilen hinschrieb, war die Zeit der Normalisierung angebrochen. War die Vernunft zurückgekehrt? Nein. Doch umsonst war der Tumult nicht gewesen […] Denn zu meiner Überraschung zeigte sich, daß unser wüstes Land ganz allmählich, fast hinter unserem Rücken, immer bewohnbarer wurde“ (2014, 243). Ätzender hatte sein Gedicht „Andenken“ von 1979 geklungen: „Also, was die siebziger Jahre betrifft / kann ich mich kurz fassen […] / Widerstandslos, im großen und ganzen, / haben sie sich selbst verschluckt […] / Daß irgendwer ihrer mit Nachsicht gedächte, / wäre zuviel verlangt“ (2006, 136). Notes 1 Vortrag gehalten am 21. 4. 2018 an der University of Kentucky im Rahmen der 71. Tagung der KFLC: The Languages, Literatures, and Cultures Conference� Works Cited Adorno, Theodor W. „Erziehung nach Auschwitz.“ Stichworte. Kritische Modelle 2� Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1969. 85-101. 1968 als künstlerische Situation 161 Bohrer, Karl Heinz. Die gefährdete Phantasie oder Surrealismus und Terror� München: Hanser Verlag, 1970. Böll, Heinrich. Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder: Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1974. Degenhardt, Franz Josef� Im Jahr der Schweine. 27 Lieder mit Noten. Hamburg: Hoffmann & Campe, 1970. Elias, Norbert. Studien über die Deutschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1992. Enzensberger, Hans Magnus. „Bewußtseins-Industrie.“ Einzelheiten.I: Bewußtseins-Industrie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1962. 7-17. —.-Peter Weiss und die anderen. Kursbuch 6 (1966): 171-86. —.-„Gemeinplätze, die neuere Literatur betreffend“. Kursbuch 15 (November 1968): 187-97. 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