eJournals Colloquia Germanica 51/2

Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/61
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„Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Jenny Erpenbeck, Julia Franck, und Adriana Altaras

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„Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Jenny Erpenbeck, Julia Franck, und Adriana Altaras163 „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Jenny Erpenbeck, Julia Franck, und Adriana Altaras Agnes Mueller University of South Carolina Abstract: The representation of love relationships complicates the question of post-Holocaust representations of Jews in recent German-language fiction. The images of Jewish mothers and mother-child relationships examined in this article vary from the reproduction of stereotyped traits to critical reflection upon and undermining of processes of stereotyping. These shifting literary representations reflect changes in German-Jewish identity as well as the ways in which non-Jewish Germans can come to think about the past and present status of Jews in Germany in order to develop a capacity for complex and nuanced empathy. Keywords: Adriana Altaras, Jenny Erpenbeck, Julia Franck, motherhood, empathy, Jewish-German identity Was soll ich machen? Genau das, was er da vorne betreibt, ist das Thema meiner Rede. Das Abspulen und Benutzen bekannter Mahnformeln, das Instrumentalisieren des Holocaust. (Altaras 40) So denkt Adriana Altaras’ Protagonistin, eine jüdische Mutter zweier Söhne, als sie am 9. November eine Rede in der Frankfurter Paulskirche halten soll. In ihrem narrativ-autobiografischen, tagebuchartigen Erinnerungsstück Doitscha reflektiert Altaras’ Protagonistin über die Funktion, die das Judentum in ihrem Leben einnimmt, sowie über ihr schwieriges Verhältnis zur deutschen Erinnerungskultur. Anlass dieser Überlegungen ist die Rede des vor ihr sprechenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland� Was Altaras genauer moniert, ist jedoch nicht die Person des derzeitigen Vorsitzenden selbst, sondern vielmehr dessen Rolle sowie die Funktion, die er in seiner Position innerhalb dieser Erinnerungskultur einnimmt. Wer Altaras’ Prosastil kennt, weiss, dass 164 Agnes Mueller sie mit Humor schreibt, einem Humor, der mit Übertreibungen, aber auch mit präzisen Beobachtungen und der Zusammenstellung unerwarteter Kontraste, häufig unterlegt durch kulturelle Tabus, arbeitet. Die Rede von Altaras’ Protagonistin, die sich selbst lediglich als „Adriana“ ausgibt, stellt dann auch dementsprechend die rigide offizielle Holocaust-Erinnerungskultur der Deutschen in Frage, die ihr zufolge eine persönliche Beschäftigung mit dem komplizierten Diskurs der deutschen Schuld an der Shoah nicht zulässt. Ihre Beobachtungen führen ihren Sohn David zu der Feststellung, dass wenn sie mit ihren Anklagen erfolgreich wäre, die Deutschen schliesslich den 9. November als Erinnerungstag aufgeben müssten, und dass dies ebenfalls nicht in ihrem Interesse sein könne. Bemerkenswert ist in Altaras’ Text, der literaturgeschichtlich zwischen Autobiographie, Memoiren, und Stationenroman angesiedelt ist, dass durchgehend die Rolle der jüdischen Mutter explizit und implizit reflektiert wird. Die Überlegungen zur jüdischen Mutter werden dabei durchgängig vor dem Hintergrund des deutschen Holocaustdiskurses angeführt. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Altaras’ Mann deutsch und nicht jüdisch ist, und seine Perspektive sowie die der - teilweise religiös jüdisch erzogenen - Söhne ebenfalls in der ersten Person tagebuchartig dargestellt wird. Die Identität der jüdischen Mutter und der spezifisch weiblich reflektierte Holocaustdiskurs in der deutschen Erinnerungskultur sind dadurch in Altaras‘ Text eng miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung ist neu, da in früheren Repräsentationen jüdischer Mutterfiguren (wie beispielsweise in den stärker fiktionalisierten Darstellungen von Barbara Honigmann) diese weitaus weniger explizit mit der deutschen Schuld am Holocaust verbunden waren. Die kürzlich veröffentlichte Studie The Inability to Love: Jews, Gender, and America in Recent German Literature (2015) untersucht literarische Repräsentationen von Juden und jüdischer Identität aus der Perspektive nicht-jüdischer Deutscher. Die Schuld und Scham, die viele Deutsche gegenüber Juden noch immer im Kontext der Erinnerung an den Holocaust empfinden, zusammen mit langstehenden antisemitischen Vorurteilen, so die zentrale These, verhindern eine gründliche und emphatische, unvoreingenommene Auseinandersetzung mit jüdischer Identität bis zum heutigen Tag. Selbst fiktionale Texte von Autoren der zweiten und dritten Generation nach dem Holocaust reproduzieren daher weiterhin antisemitische Klischees, in Texten sichtbar durch die ausgestellte Unfähigkeit, Juden, oder Angehörige anderer ethnischer Minderheiten, zu lieben. Liebe wird hier im weiteren Sinne der Akzeptanz anderer und des emotional positiv Aufgenommenen verstanden. In vielen zeitgenössischen Texten wird dies durch Darstellungen von wiederholt scheiternden erotischen, partnerschaftlichen, oder familiären (Liebes-) Beziehungen zwischen Juden und „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Erpenbeck, Franck, und Altaras 165 Deutschen inszeniert. Dabei sind die Figurationen des Jüdischen oft mit tradierten antisemitischen Klischees belegt. Daraus ergibt sich eine neue Fragestellung, die dahingerichtet ist, wie zeitgenössische SchriftstellerInnen, die deutsch sind, und die sich selbst als (kulturell, ethnisch, oder religiös) im weiteren Sinne jüdisch schreibend identifizieren oder die als jüdisch schreibend identifiziert werden können, über Deutsche und Juden heute nachdenken. Meine vorläufige These geht davon aus, dass die jüngeren deutsch-jüdischen Texte neuartige Modi des Schreibens einführen, die den vorangegangenen Nexus der Festschreibung von Stereotypen auf bedeutsame Weise aufgreifen. Die Frage für diesen Beitrag lautet daher, inwieweit in diesen neueren deutsch-jüdischen Texten dementsprechend eine - ebenfalls neue - Fähigkeit zu lieben ausgestellt wird, im hier besprochenen Fall bezogen auf die Liebe von Müttern zu ihren Kindern. Es gilt innerhalb dieser komplexen Thematik zu erörtern, ob und wie jüdische Identität und die Selbstdarstellung von Autorinnen heutige Leserinnen dazu anhält, Bilder und Vorstellungen jüdischer Mütter in verschiedenen fiktionalen Repräsentationen auf das Bild oder das Stereotyp der jüdischen Mutter hin wahrzunehmen - oder zu hinterfragen. Die Texte, die dazu exemplarisch besprochen werden sind Julia Francks Die Mittagsfrau (2007), Jenny Erpenbecks Aller Tage Abend (2012), und der eingangs erwähnte „Roman“ von Adriana Altaras, Doitscha (2014). Während es sich bei dem Text von Altaras um ein stark autobiographisch gefärbtes Erinnerungsstück, bei Franck und Erpenbeck jedoch um eindeutigere Fiktionalisierungen in der Form von traditionellen Romanen handelt, wird die Frage nach der Funktion der Fiktion in der Darstellungsweise von Stereotypen von zentraler Bedeutung sein. Im weiteren Kontext dieser Frage stehen neuere Studien zur Emotions- und Empathieforschung, wie beispielsweise die Arbeiten von Suzanne Keen („A Theory of Narrative Empathy“) und N. Ann Rider („The Perils of Empathy“) innerhalb der Holocaustforschung. Die neuere Kritik an Texten die sich empathetisch mit der Holocaust-Vergangenheit befassen, also die eher die Form von Memoiren als die der Fiktion annehmen, ist dahingerichtet dass Empathie (im Gegensatz zu Sentiment) eine auf das eigene Empfinden gerichtete Anteilsnahme evoziert, die sich dann stärker auf die eigene Person bezieht als auf das eigentlich im Text dargestellte Geschehen. Derartige Überlegungen sind hier wichtig, weil auch die Stereotypenbildung beziehungsweise die absichtliche Hinterfragung und Dekonstruktion negativer Stereotypen auf eine empathische Auseinandersetzung mit dem als erlebt dargestellten abzielt. Das Stereotyp der jüdischen Mutter ist im kulturellen Umkreis der US-amerikanischen Imagination seit Beginn des 20. Jahrhunderts tradiert und findet seine Ausprägungen in der populären amerikanischen (Gegenwarts-)Literatur 166 Agnes Mueller (z. B. in den Romanen von Lily Brett, Philip Roth, etc.). Es handelt sich um eine überfürsorgliche, stark kontrollierende, ihrem Kind häufig Nahrung aufzwingende, übergewichtige, grossbusige Erscheinung, die durchaus stark negativ konnotiert ist. Das ist die Ausprägung/ Typisierung der jüdischen Mutter als jiddischer Mamme, bzw. es handelt sich um Familien ursprünglich aus Osteuropa, die mit den Pogromen der 1880er Jahre in die USA kamen. Dabei bezieht sich die neurotische Kontrollwut dieser Figur nicht auf religiöse oder spezifisch jüdische Aspekte der Erziehung, sondern auf allgemein weltliche Dinge, die allen Müttern - jüdisch oder nicht-jüdisch - als relevante Orientierungspunkte gemeinsam sind. Wie in Ruth Gay’s Memoiren Unfinished People von 1996 so überzeugend dargestellt, wurde dieses Klischee besonders durch den Exilstatus und die damit verbundenen Ängste dieser Mütter verstärkt: Später angekommen als die Generation der älteren, bereits etablierten Immigranten, die durch die 1880er Pogrome als Familien nach Amerika gekommen waren, und die damit in ihrer neuen Umgebung Trost und Zuflucht gefunden hatten, kamen Frauen wie Ruth als junge Teenager nach Amerika und fühlten sich dadurch stärker entwurzelt in ihrer kulturellen Identität als die Generationen vor ihnen. Die dadurch entstehenden Ängste, nicht nur bezüglich Mutterschaft sondern auch vis-à-vis Weiblichkeit und jüdischer Identität im allgemeinen, trugen stark zur Imagination der typisch jüdischen Mutter in Amerika bei. Die stereotype Repräsentation dieser dominanten, stets nörgelnden und mit moralisch erhobenem Zeigefinger ihre Kinder unter Druck setzenden, häufig als lächerlich ausgestellten jüdischen Mutter wurde allerdings seit den 60er Jahren nachhaltig unterminiert bzw. revidiert. „More recent images and imaginations defused the comic exaggerations of the overprotective mother,“ stellt Martha A� Ravits fest (5)� Das heisst, nach der soziologischen Studie aus dem Jahr 2000 wurden die misogynen oder karikaturesken Darstellungen der jüdischen Mutter weitestgehend durch aktuellere und weniger frauenfeindliche Bilder abgelöst. Dieser Wandel in der amerikanischen Popluärkultur ist jedoch nicht einem explizit formulierten Ziel, das Stereotyp zu unterminieren, geschuldet, sondern den veränderten Lebensumständen zeitgenössischer jüdischer Mütter, deren weibliche Identitäten nach ausserhalb der Familien expandierten, und so das Stigma der jüdischen Mutterfigur veränderten. Während bei Ruth Gay noch die empathische Identifikation mit einem solchen Mutterbild im Vordergrund stand, wich dies später den eher humorvoll-karikativen Darstellungen. In der neueren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur ist die Figur insgesamt weniger etabliert, aber durch das Werk beispielsweise Irene Disches (hier besonders der Roman Grossmama packt aus, 2005) fand auch hier die Wiederaufnahme des Bildes von der jüdischen Mutter in den Kanon populärer Alltagsbilder von Frauen statt. Bei Dische findet sich eine absichtsvolle Infragestellung „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Erpenbeck, Franck, und Altaras 167 des gängigen Bildes, indem ihre Texte das Klischee mit Ironie und Humor als Klischee sichtbar machen, um damit seine Stereotypen bildende Wirkung zu entkräften. Mona Körte und Matthias Lorenz haben unter anderem in dem Band Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz überzeugend dargelegt, dass genau dann von Antisemitismus (unter Umständen nur als latente Erscheinung sichtbar) gesprochen werden kann, wenn die dargestellten Stereotype nicht durch textuelle Strategien entkräftet werden. Der sogenannte „Artikulationseffekt“ („articulation effect“) der erstmals von Wolfgang Iser im Zuge der Rezeptionsästhetik formuliert wurde, mag damit im Kontext der Fiktionalisierung von Stereotypen eine entscheidende Rolle spielen. Demnach etabliert Fiktion - durch ständige Grenzüberschreitungen zwischen der Welt des Textes und der Welt des Lesers - die Ausformulierung dessen, was noch nicht durch soziale oder anderweitige Korrelative vorstrukturiert ist. Gleichzeitig ermöglicht Fiktion auch eine Imagination dessen was abseits vorformulierter Konstrukte denkbar - und damit im Leben umsetzbar - ist. An Stelle einer empathisch ausgerichteten Lesart evozieren diese Texte kritische Distanz und damit die Hinterfragung des dargestellten Subjektes (Rider). Bei dem genannten Roman Disches, dem für den deutschen Kulturkreis ausschlaggebenden Text, ist die jüdische Mutter in Gestalt der Grossmutter, die einfach nicht abtreten will, in ihrer Darstellungsform stark überzeichnet und wird somit unmissverständlich als Stereotyp entlarvt. Damit scheint es, als sei das Stereotyp der jüdischen Mutter heute kein Konstrukt mehr, das sich in der zeitgenössischen kulturellen Imagination weiterhin linear festschreiben lässt, und stereotype Abbildungen jüdischer Mütterfigurationen scheinen eher den Müttern der Vergangenheit zugeschrieben zu werden als denen der Gegenwart, sowohl im deutschsprachigen wie auch im U.S.-amerikanischen Kontext. Julia Francks Bestseller Die Mittagsfrau, im Erscheinungsjahr 2007 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, stellt die Figur der Selma Würsich aus, Mutter von Protagonistin Helene und deren Schwester Martha. Der Roman wurde nach der aufsehenerregenden Verleihung des Buchpreises auch in Bezug auf Francks Biographie rezipiert. Die Frage, wie jüdisch Julia Franck, die eine jüdische Grossmutter mütterlicherseits hat und mit 8 Jahren mit ihrere Familie aus der DDR geflohen ist, selbst sei, wurde von Franck so formuliert dass sie nicht als „jüdische Autorin“ rezipiert werden möchte (Spoerri, „Bitte keine jüdische Folklore“). In jüngerer Zeit hat Franck sich zudem für mehr Religionskritik in Deutschland ausgesprochen, eine Religionskritik die auch das Judentum nicht ausschliessen dürfe. (Main, „Wir brauchen den säkulären Staat“). Die Rezeption von Francks Erfolgsroman hat somit entscheidend zu einer erneuten Aufmerksamkeit gegenüber jüdischer Identitäten beigetragen. Selma wird im Roman als 168 Agnes Mueller geisteskranke, schöne, verführerische, animalistische belle juive dargestellt, mit schwarzem Haar und grünen Augen, die an einer Stelle einen heiseren, kehligen Ruf ausstösst. 1 Sander Gilman hat die Typisierung der belle juive, wie sie im 19. Jahrhundert antisemitisch kodiert wurde, bereits für die Forschung beschrieben. Es handelt sich hierbei um die sexuell verlockende, gefährliche, exotische „Andere,“ die den deutschen, nicht-jüdischen Mann verführt. Selma Würsich lebt im Bautzen der 1920er Jahre, und ihre sexuell kodierte Repräsentation als eine „Andere“ wird durch den Blick eines deutschen, nicht-jüdischen Mannes, der nicht ihr Ehemann ist, noch intensiviert: Frau Selma Würsich stand dort im Nachthemd, dessen Ausschnitt mehr von ihren Brüsten sehen liess, als ihr recht sein konnte� Gestickte Margeriten rankten sich entlang der Spitze. Das offene Haar aber wirbelte durch die Luft und ringelte sich auf ihren nackten Schultern, als lebe es. Die silbernen Fäden glänzten. Blindschleichen wanden sich auf ihren Brüsten� (Mittagsfrau, 107) Diese Darstellung evoziert das Bild einer Verführerin, die dieses Charakteristikum jedoch ihrer Aussenseiter-Rolle als Jüdin in Bautzen verdankt. Dabei ist Selma allerdings nicht einfach eine stereotyp abgebildete jüdische Mutter - jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Selma Würsichs überfürsorgliche Obsession ist nicht auf ihre Kinder gerichtet, - sie vernachlässigt ihre beiden Töchter stark - sondern auf materielle Objekte. Sie ist was wir im heutigen Sprachgebrauch eine „Messi-Frau“ nennen würden. Der Grund für ihre Störung scheint das Trauma, das aus der Totgeburt ihrer vier Söhne entstanden ist, zu sein. Während ihre Identität als deutsche Jüdin sowohl ihren Aussenseiter-Status als auch ihre Geisteskrankheit zu bestimmen scheint, ist sie eindeutig als eine negative Figur ausgestellt. Die Vernachlässigung ihrer Töchter führt schliesslich zu Helenes schockierendem Verlassen ihres Sohnes Peter nach dem Krieg, narrativer Rahmen und Haupthandlungsstrang des Romanes. Obwohl Selma (die mit einem nicht-jüdischen Deutschen verheiratet ist) ihre Religion nicht praktiziert, tritt die stereotype Abbildung als jüdische Verführerin und schliesslich als bösartige jüdische Mutter in den Vordergrund. Und obwohl ihre übermässige Fürsorge fehlgeleitet ist, sind die unterschwellig hervortretenden Charakteristika (Sorge, aggressive Kontrollwut, Übermass an mütterlichen Schutzinstinkten) von einer Art, die an die formulaische jüdische Mutter erinnern. Das Fehlen mütterlicher Liebe das die Protagonistin Helene durch die kompromittierende jüdische Identität ihrer Mutter erfährt, führt damit direkt zur verhängnisvollen Katastrophe des Verlassens ihres (jüdischen und deutschen) Sohnes. Julia Franck’s Abbildung solch einer Mutterfigur ruft Assoziationen mit einer anderen grausamen jüdischen Mutter aus der Zwischenkriegszeit ins Gedächtnis, nämlich der von Gertrud Kolmar� Kolmars Roman, 1931 verfasst „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Erpenbeck, Franck, und Altaras 169 und 1965 erstmals unter dem Titel Eine Mutter publiziert, viel später (1999) dann interessanterweise unter dem Titel Die jüdische Mutter, veranschaulicht eine geisteskranke und traumatisierte jüdische Mutter. 2 Hier, bei Kolmar, entdeckt die jüdische Mutter Martha Wolg, dass ihre fünfjährige Tochter brutal vergewaltigt worden ist und sich von ihren schweren körperlichen und seelischen Verletzungen nie erholen wird. Die Mutter wird in ihrer bereits bestehenden Einsamkeit und Isolation an den Rand des Wahnsinns getrieben. Sie prostituiert sich einem nicht-jüdischen Mann, um den Gewalttäter ihrer Tochter zu finden, und sie vergiftet daraufhin ihre Tochter, während diese noch im Krankenhaus liegt. Der Tod scheint der Mutter der einzige Ausweg für das Mädchen zu sein, eine Rettung aus dem ansonsten gleichsam unlösbaren Trauma der seelischen und körperlichen Verletzungen. Als die Mutter schliesslich erkennt, dass der Tod der Tochter durch sie selbst verursacht wurde, begeht sie Selbstmord. Kolmars jüdische Mutter hatte einen deutschen, nicht-jüdischen Mann, genau wie Selma, und in ihrer Abbildung ähnelt sie ebenso der belle juive, wenn sie sich prostitutiert, um den Vergewaltiger ihrer Tochter zu finden. Allerdings, und dieser Unterschied ist gravierend, zeigt Kolmars jüdische Mutter eine unmissverständliche Liebe zu ihrer Tochter, während Julia Francks Revision des Mutterdiskurses der Zwischenkriegszeit jüdische Mütter als verstörte und verstörende, negative und verrückte Figuren ausstellt, die in einem unlösbaren Konflikt zwischen dominanter deutscher Männlichkeit und jüdischer Weiblichkeit gefangen sind, und, daher, unfähig sind, zu lieben. Zudem geht die Schuldzuschreibung in Francks Roman so weit, dass die Mutter, die jüdische Mutter, die gleichzeitig als belle juive kodiert ist, für das gesamte Textgeschehen, inklusive des Verlassens des Sohnes, schuldig gesprochen wird. Im Kontext des Holocaust-Erinnerungsdiskurses erscheint eine solche Darstellung problematisch. Zum einen handelt es sich um eine Fiktion, die auf empathetisches Lesen ausgerichtet ist. Das heisst, die jüdische Mutter wird als jüdische Mutter dargestellt, aber nicht als Stereotyp entlarvt, und in dieser Rolle implizit durch die Leser- Innen bestätigt. Zum anderen ist es gerade die so ausgestellte Negativität der Figur der jüdischen Mutter, die diese als schuldig erscheint. Die Umkehrung von Opfer- und Täterdiskursen in der deutschen Nachkriegstliteratur ist ein längst bekannter Modus. Neu ist, dass durch die nicht hinterfragte Verwendung des Stereotyps der jüdischen Mutter in der Fiktion diese Umkehrung aufs Neue aktiviert wird, ohne dass dies durch die Autorin intendiert wird� Wäre Julia Francks Darstellung zweier Generationen jüdischer Mütter ein isolierter Einzelfall längst vergangener Modi, so könnten wir diesen Text aufgrund einer deutlich antisemitischen Kodierung ignorieren� Dass dies nicht der Fall ist, sondern eine grosse Ambiguität besteht, hat die vorangegangene Analyse ge- 170 Agnes Mueller zeigt (cf� Mueller, Die Unfähigkeit zu lieben). So zeigt Jenny Erpenbecks neuerer Roman Aller Tage Abend (2012) eine auf den ersten Blick thematisch verwandte Struktur, wenn auch die jüdischen Mütter insgesamt weniger sichtbar sind als die bei Kolmar und Franck. Wie Franck hat auch Erpenbeck einen DDR-Hintergrund, allerdings einen, der einen wichtigeren Stellenwert einnimmt als der Francks. Erpenbeck wurde 1967 in der DDR geboren und lebte bis zur Wiedervereinigung dort. Insofern ähnelt ihre Biographie der anderer DDR-Autorinnen, wohingegen ihre persönliche Verbindung zum Judentum keine öffentliche Erwähnung findet, denn Erpenbeck hält sich diesbezüglich bedeckt. Das Romangeschehen ist in Aller Tage Abend auf das individuelle Schicksal einer Frau im Rahmen des Zeitgeschehens der deutschen Geschichte des 20� Jahrhunderts gerichtet. Die Protagonistin kommt in fünf Büchern jeweils auf unterschiedliche Weise vor und stirbt auch fünfmal. In den Intermezzzi zwischen den Kapiteln wird sie jedoch wiederbelebt, und lebt im folgenden Buch ein weiteres mögliches Leben. Jenny Erpenbecks Text, um dies gleich vorwegzunehmen, dreht sich nicht hauptsächlich, und wohl auch nicht einmal eindeutig nebensächlich, um das Thema der jüdischen Mutter. Das Judentum insgesamt kommt, auf den ersten Blick, nur am Rande des Romangeschehens vor� Genau genommen ist es lediglich die Großmutter der Protagonistin, soweit wir die nach dem ersten, frühen Tod in Buch Eins viermal wieder auflebende Figur überhaupt als solche bezeichnen können, die greifbar und eindeutig jüdisch konnotiert auftritt. Die Tochter dieser jüdischen Großmutter, also die Mutter der eigentlichen Hauptfigur, wendet sich dezidiert vom Judentum ab, indem sie auf Anraten der Großmutter einen christlichen Mann heiratet, um sich zu assimilieren und sich und die darauffolgenden Generationen vor dem rapide ansteigenden Antisemitismus während der Weimarer Republik zu schützen. Nach der Halacha sind jedoch sowohl die Tochter wie auch die Enkeltochter der jüdisch-galizischen Großmutter, selbst wenn die Frauen mit einem nicht-jüdischen Mann verheiratet sind, und nicht jüdisch erzogen werden - eindeutig jüdisch. Nach den Nürnberger Gesetzen gilt die Protagonistin, mit zwei unmissverständlich jüdischen Großeltern, als ein „Mischling ersten Grades.“ Dies wird dann in Erpenbecks Text auch folgerichtig anhand der Deportation und der Ermordung der Protagonistin im Lager im Jahr 1941 - das ist das Thema des dritten Buches - veranschaulicht. Allerdings - und dies ist für die Analyse zu Trauma und Gedächtnis nach dem Holocaust von besonderer Bedeutung - wird sie im Zuge der stalinistischen Säuberungen nach Sibirien deportiert, und nicht aufgrund ihrer jüdischen Abstammung. Ebenso findet ihre Ermordung in Sibirien aufgrund ihrer kommunistischen Vergangenheit statt. In Anlehnung daran finden sich kaum Angaben zur jüdischen Herkunft der Protagonistin in Buch Drei. Dies bedeutet, dass im Text die kommunistische Vergangenheit der „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Erpenbeck, Franck, und Altaras 171 Hauptfigur nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitaus wichtigere Rolle für ihr zukünftiges Schicksal zu spielen scheint, als ihre jüdische Abstammung. In Buch Vier ist die 1902 geborene Heldin zu einer gefeierten Schriftstellerin in der DDR geworden, die bei einem Sturz auf der Kellertreppe umkommt, und deren 17jähriger Sohn in Teilen vergeblich versucht, ihre Vergangenheit zu rekonstruieren. Auch hier finden sich wenig direkte Anbindungen an das Judentum oder an ihre jüdische Abstammung. Allerdings ist das Bild der überfürsorglichen jüdischen Mutter hier sehr präsent: Erst nach ihrem eigenen Tod gibt sie die Identität der jüdischen Mutter auf, kann sie ihren Sohn nicht mehr schützen (217). Als sie selbst ein Kind war, hatte ihre eigene Mutter sie gewarnt, „Sei so gut und fall mir die Treppe nicht hinunter“ (214), und in Buch IV stirbt die Protagonistin durch den Sturz auf der Treppe. Die hier eingeflochtenen Sprechakte der Mutter stechen aus dem Narrativ hervor, weil sonst keine wörtliche Rede im Text vorkommt. Das heisst, die Äusserungen der jüdischen Mutter haben hier eine strukturell wichtige Funktion� Die jüdische Mutter aus Buch Vier, die hier gerade nicht in der typisierenden, negativ konnotierten Form dargestellt wird, ist ansatzweise in der Figur der Großmutter noch als liebevolle, leicht übermäßig bemutternde und sich sorgende Hausfrau erkennbar. Dabei ist ausschlaggebend, dass sie jüdisch ist, und sich um ihr Kind sorgt� Ihre Entscheidung, die Tochter mit einem nicht-jüdischen Mann zu verheiraten, entsteht aus der Besorgnis um ihr Kind� Ansonsten scheint sie auf den ersten Blick eher wenig Gemeinsamkeiten mit der stereotypen Repräsentation der jüdischen Mutter zu zeigen. Für die Protagonistin selbst hingegen, im 5. Buch dann als „Frau Hoffman“ benannt, gibt es einen Satz, der innerhalb des Textes eine Signalfunktion trägt, indem er in mehreren Büchern erscheint, und der der Charaktereigenschaft der „jüdischen Mutter“ paradigmatisch entspricht. „Junge, setz’ die Mütze auf,“ ist die Aufforderung an den Sohn, die die Protagonistin als „jüdische Mutter“ erscheinen lässt (217 und 282). Bemerkenswert ist hierbei, dass die Protagonistin diese Ermahnung an ihren Sohn auch dann noch ausspricht, als sie selbst 94 Jahre alt ist, und auch der Sohn selbstredend längst in einem Alter ist, in dem er wohl kaum mehr als „Junge“ durchgeht. Da es sich hier um eine Aussage handelt, die dem Geschehen in gleich mehreren Büchern sozusagen untergeschoben wird, ist sie sinn- und bedeutungsstiftend für die Charakterisierung der Protagonistin, die ansonsten eher schablonenhaft beschrieben wird. Diese Zuschreibungen durchbrechen somit die Fiktion des jeweiligen Handlungsstranges. Ebenso erscheint in dieser Zusammenschau die Tirade der Handarbeitslehrerin, dass die Protagonistin ihre Arbeit „schlunzig und schleissig“ gemacht habe (143, 190, 203), eine tragende Funktion im Text zu haben, da sie sich in mehreren Büchern als antisemitische Anklage wiederfindet. 172 Agnes Mueller Die Funktion der Wiederholungen in Erpenbecks Text ist insgesamt eine wichtige poetologische Strategie, die in der meist wörtlichen Wiederholung von Sätzen oder Satzbruchstücken, oftmals in Form von Zitaten, den Charakteren Identität verleiht und den LeserInnen außerdem signalisiert von welcher Figur gerade die Rede ist� Der sehr interessante Kontrast zwischen jüdischer Großmutter - die aber dem Stereotyp der jüdischen Mutter eher nicht entspricht - und angeblich nicht-jüdischer Protagonistin (deren Enkelin) die allerdings verdeckt immer noch jüdisch ist, und zudem mit dem Stereotyp der jüdischen Mutter belegt wird, steht dabei paradigmatisch für einen dialektisch-kritischen Ansatz, der sich in der Gesamtheit des Textes wiederfindet. Das heißt, dass die Ambivalenz jüdisch versus nicht-jüdisch über den ganzen Text hinweg auf verschiedenartige Weise variiert und durchgespielt wird, indem die angeblich nicht-jüdische Hauptfigur sich einerseits ihrer Vergangenheit niemals, und zwar bis in ihr hohes Alter am Tag vor ihrem Tod, ganz entledigen kann, dies aber andererseits nur subtil unter der Oberfläche des Textes hervorscheint. Sichtbar wird dies an mehreren bezeichnenden Stellen des Textes, wenn beispielweise in Buch Zwei unvermittelt folgende Aussage eher lapidar hingeworfen erscheint: „Feuer, Heuschrecken, Blutegel, Pest, oder Bären, Füchse, Schlangen, Wanzen, und Läuse wurden die Juden hier in Wien immer wieder genannt, aber sie hatte das nicht gewusst“ (Hervorhebung im Original, 81, vgl. auch 90). Die Spannung zwischen der Erzählerin und dem eingeschränkten Wissen der Protagonistin betont die Ambivalenz jüdisch-nichtjüdisch weiterhin. Diese Ambivalenz gegenüber jüdischer Identität wird in Buch Drei beispielsweise noch unterstrichen, indem die Protagonistin eben gerade nicht wegen ihrer jüdischen Herkunft deportiert und ermordet wird. An einer bisher noch nicht hinreichend besprochenen Figur wird diese Ambivalenz dann so deutlich, dass aus dem Text weitere wichtige Fragen entstehen. Die Mutter der Protagonistin, also diejenige „jüdische Mutter,“ die in der ersten Generation durch die Heirat mit einem Christen als nicht-jüdisch getarnt werden soll, ist in Buch Eins mit Rollen belegt, die stark an traditionelle Festschreibungen von jüdischen Frauen (nicht nur Müttern) erinnern, wie sie für die Kodierung der belle juive bereits beschrieben wurden. Die Verwandlung der Mutter in Buch Eins nach dem Tod der Protagonistin in eine berechnende Prostituierte evoziert dieses Bild, zumal sie sich zuerst einem deutschen, nicht-jüdischen Soldaten anbietet, und der Text dies auch genau in dieser Form - sogar mit der expliziten Zuschreibung dieser Mutter als jüdisch - präsentiert: „Beim dritten [Freier] war es ein Halstuch, (…) beim vierten na, kannst du dich nicht wehren, und fünften, gib mir deinen Mund, und sechsten, du jüdische Sau, vier fünf und sechs zusammengenommen ein neues Paar Schuhe“ (56). Dass diese Rolle der Mutter, die ja auch aus der Trauer um ihre verlorene Tochter sowie „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Erpenbeck, Franck, und Altaras 173 aus der wirtschaftlichen Not (ihr Mann ist nach Amerika ausgewandert) in die Prostitution rutscht, ansatzweise als belle juive kodiert ist, lässt auch für die Figur dieser Mutter auf eine verdeckte aber gleichzeitig sehr präsente jüdische Identität schließen, und wiederum auf eine, die sich an bereits etablierten und tradierten Rollendiskursen von jüdischen Frauen, die gegenüber Deutschen als „Andere“ beschrieben werden, orientiert. Die Mutter der Protagonistin wird auch am Ende von Buch Zwei als unmissverständlich jüdisch beschrieben, wenn sie auf Jiddisch zitiert wird, und zwar indem sie - hier wieder ganz typisch jüdische Mutter - ihr Kind ermahnt, nicht die Treppe hinunterzufallen (131). So erinnert diese Mutterfigur auch dezidiert an die eingangs zitierte und bei Kolmar abgebildete jüdische Mutter, die aus der Verzweiflung um ihre Tochter zur Prostituierten wird, und die auch dort als belle juive erscheint� Was jedoch zusätzlich bei Erpenbeck - durchaus in Anlehnung an die Darstellungsformen der jüdischen Mutter in dem Roman von Kolmar zu lesen - zum Ausdruck gebracht wird, ist in Buch Eins die implizite Schuld der Mutter am plötzlichen Tod ihres acht Monate alten Säuglings. In einer drastischen Umkehrung des Diskurses der Schuld der Deutschen am Holocaust nach dem 2. Weltkrieg erscheint hier die Mutter, die - teilweise verdeckt - jüdische Mutter als schuldig oder zumindest mitschuldig am Tod ihres Kindes� Während Schuld als dominante Emotion in den literarischen Diskursen nach dem Zweiten Weltkrieg zumeist den deutschen, nicht-jüdischen Protagonisten zugeschrieben wird, um damit an die grosse, nie zu bewältigende Holocaust-Schuld zu erinnern, erscheint Schuld hier nun als Topos, der explizit der jüdischen Mutter angehört. Die Schuld am Tod des Säuglings wird von den Eltern / Großeltern mit dem Nicht-jüdisch-sein des Mannes in Verbindung gebracht: Erst als das Kind schon da war, und sie es ihm unbedingt zeigen wollte, erfuhr sie dass der Grossvater an dem Tag, als sie, seine Enkelin, den Goj geheiratet hatte, für diese lebendige Braut die Totenwache abgehalten und trotz seiner Schwäche sieben Tage lang auf dem Bett gesessen hatte. (17) Das heißt, dass die jüdische Mutter der Protagonistin hier einerseits negativ als typisierte „jüdische Mutter“ abgebildet ist, mit Anklängen an die Figur der belle juive, gleichzeitig aber mit einem Schuldkomplex belegt wird, der ebenfalls in einen engen Zusammenhang mit ihrer jüdischen Herkunft rückt, auch wenn dies mit der tradierten Form der jüdischen Mutter oder der belle juive nicht in direkter Verbindung steht, und auch auf den ersten Blick so nicht sichtbar ist. Sehr ähnliche Kodierungen finden sich wie schon beschreiben bei Julia Franck, wo Selma wie auch insbesondere Helene, die Protagonistin, als „jüdische Mutter“ dargestellt wird, die ihr Kind vernachlässigt und schliesslich aufgibt, und wo ähnliche Festschreibungen dieser Mutter als Prostituierte / verführerische 174 Agnes Mueller Andere stattfinden, die ebenfalls einen deutschen, nicht-jüdischen Mann heiratet. Sowohl in Francks als auch in Erpenbecks Roman ist es damit die explizit jüdische Mutter die mit einem nicht-jüdischen Mann verheiratet ist, die neben Zügen der belle juive auch das Stereotyp der jüdischen Mutter repräsentiert, die am Schicksal des Verlassens ihres Kindes schuldig gesprochen wird. Zudem erscheint in beiden Texten jüdische Identität als verdeckt bzw. als gleichzeitig verschleiert und entlarvt� Die Fragen, die sich nun aus dieser Art der Darstellung von jüdischen Müttern bei Franck und bei Erpenbeck stellen, beziehen sich auf unsere Beurteilung solcher Kodierungen. Müssen wir in beiden Fällen mit traditionellen Rollenmodellen rechnen, die belles juives und jüdische Mütter als in den Protagonistinnen konvergierende antisemitische Tropen festschreiben? Tropen und Stereotype, die ausserdem zutiefst misogyn sind und uns implizit dazu anhalten sollen, diese Repräsentationen für uns zu akzeptieren? Oder laden uns die Texte vielmehr dazu ein, diese Festschreibungen zu dekonstruieren und als Stereotypen zu entlarven? Diese Frage ist zentral, wenn wir daran denken, wie Trauma, und insbesondere das Trauma der Shoah, über Generationen hinweg fortwirken kann. Für die Geschichtsschreibung und den Unterschied zur literarischen Fiktion hat dies unter anderem Dominick LaCapra überzeugend dargelegt. Die in LaCapra’s Writing History, Writing Trauma propagierte Verwendung der „middle voice“ als geeignetes Instrument der Fiktion, um die Unmittelbarkeit von Zeugenschaft an der Holocaust-Vergangenheit zu evozieren, gleichzeitig aber die Distanz zum Beschriebenen zu wahren, mag etwas konstruiert erscheinen. Dabei drückt LaCapras Ansatz, einen dem Altgrieschischen entliehenen Modus zu verwenden, das gerade für die literarische Fiktion so wichtige Bedürfnis aus, Holocaust-Trauma angemessen zu artikulieren. Wie bereits angeführt zeigt uns die neuere Antisemitismus-Forschung zudem, dass, wenn es sich um Stereotypen handelt, die vom Leser zu dekonstruieren sind, um als solche entlarvt zu werden, es notwendig ist, dass der Text selbst dafür eindeutige Markierungen aufweist. Matthias N. Lorenz und Michael Bogdal liefern hier in Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz die wichtigsten Ansätze� So stellt Bogdal drei verschiedene Kriterien auf, anhand derer wir die jeweils untersuchten Texte befragen können. Er bezeichnet Texte als antisemitisch, wenn sie (1) einen offensichtlichen, subjektiv intendierten Antisemitismus zum Ausdruck bringen; (2) einen unabsichtlichen, fahrlässigen (bewussten oder unbewussten) Gebrauch von Stereotypen enthalten, und (3) ein riskantes, dekonstruktives Spiel mit antisemitischen Klischees betreiben. Während nach Bogdal das erste Kriterium zwar leicht erkennbar, sein Auftreten in zeitgenössischen deutschen Texten aber unwahrscheinlich ist, sind das zweite und dritte Kriterium schwerer zu bewerten. Daher ist es umso dringlicher, Literatur, die antisemitische Sprache aufruft, „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Erpenbeck, Franck, und Altaras 175 gründlich und eng am Text zu analysieren� Gleichzeitig muss die Frage gestellt werden, welche Rolle die Empathie des Lesers bei der jeweiligen Fiktionalisierung einnimmt� In Erpenbecks Roman findet sich demenstprechend eine komplexe und wichtige Inszenierung der Fiktion: Jedes der fünf Bücher ist implizit im Konjunktiv gehalten. Obwohl der Konjunktiv nicht als grammatikalische Struktur durchgängig erscheint, beschreibt jedes der Bücher ein neues, anderes Leben der einzigen und immer gleichen Protagonistin. Fiktion wird hier nicht einfach als im Text auftretendes narratives Element etabliert, sondern durch die konjunktive Wirkung der verschiedenen Bücher, das „als wäre wenn,“ weiterhin fiktionalisiert. Dabei trägt Erpenbecks Roman insgesamt durch die narrativen Strategien der konjunktiven Fiktionalisierung (Fiktion innerhalb der Fiktion) eine aufklärerische Wirkung. Zudem wird der transformative Charakter der Fiktion in ihrer besonderen Entfaltungsmöglichkeit unterstrichen. Wir werden damit nicht nur an die Unhaltbarkeit, die Unverlässlichkeit literarischer Fiktion erinnert, sondern wir werden gleichzeitig explizit dazu angehalten, das Repräsentierte kritisch zu hinterfragen. Diese Offenheit gegenüber der Möglichkeit von Transformationen in uns, den LeserInnen, und damit die Möglichkeit, Dinge anders zu imaginieren als sie wirklich sind, ist, was in diesem Roman besonders hervorsticht. Diese Struktur beschreibt auch, was Erpenbecks literarische Fiktion grundlegend von der Julia Francks unterscheidet: Die jüdische Mutter in Aller Tage Abend muss in ihrer Darstellungsform kritisch hinterfragt werden. Besonders wenn wir sie mit den jüdischen Müttern in Francks Roman vergleichen, so unterstreicht Erpenbecks Roman die Konstruiertheit von Stereotypen - und entlarvt sie damit als Stereotypen. Im Gegensatz dazu sind in Die Mittagsfrau keinerlei Signale zu finden, die der Leserin signalisieren, dass sie die Darstellungsform von Selma Würsich oder Helene zu hinterfragen hat. Es ist an keiner Stelle im Romangeschehen die Fiktion als Fiktion ausgestellt, und die Konstruiertheit antisemitischer oder misogynistischer Stereotype wird nicht angesprochen. Die Empathie der Leser wird damit auf die Figuren selbst gerichtet, ohne diese jedoch in ihrer Identität zu befragen. In beiden Fällen geht es jedoch eindeutig um Texte, die spezifisch weibliche Traumata der Shoah zu verarbeiten suchen, und beide Texte bedienen sich der literarischen Fiktion. Ebenso werden in beiden Texten teilweise stereotyp dargestellte jüdische Mütter in Bezug auf die deutsche Schuld an der Vergangenheit negativ kodiert� Im Falle von Erpenbecks Roman geschieht dies allerdings, im Unterschied zu dem Julia Francks, mit dem expliziten Ziel, das Klischee durch die LeserInnen dekonstruieren zu lassen� 176 Agnes Mueller Was aber passiert demnach mit anderen zeitgenössischen Abbildungen dieser Figurationen, und dem eingangs genannten literarischen, aber weniger stark fiktionalisierten Text einer Autorin, die im heutigen Deutschland zuallererst als Schauspielerin bekannt ist? Adriana Altaras’ Porträt einer jüdischen Mutter ist liebenswert und positiv, und es gibt bei ihrer Darstellung keine sichtbaren Überbleibsel der stereotypen belle juive, obwohl die Protagonistin durchaus attraktiv ist. Ebenso finden sich keinerlei Anklänge von Überfürsorge, oder von einer Mutter die ihr Kind umbringt oder verlässt. Genaugenommen ist die jüdische Mutter bei Altaras keine „jüdische Mutter“ - wenn wir uns auf das Stereotyp beziehen wie es sich im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt hat� Altaras’ Beschreibungen von Mutterschaft sind chaotisch, schwierig, manchmal schmerzhaft für ihre Kinder (und für sie selbst), aber dies scheint hauptsächlich der Tatsache geschuldet dass sie eine prominente Karriere mit der Aufzucht zweier Söhne vor dem Hintergrund einer schwierigen deutsch-jüdischen Identität zu verbinden sucht. Anstatt das Judentum oder die jüdische Mutter durch ein althergebrachtes Klischee in deutlicher Form in den Text einzuschreiben, lebt Altaras’ Protagonistin das Judentum im täglichen Leben, und sie reflektiert dabei immer mit, was es bedeutet, in Deutschland jüdisch zu sein, als Jüdin mit einem nicht-jüdischen Deutschen verheiratet zu sein, wie der Holocaust erinnert wird, - und ebenso allgemeine und nicht-jüdische Aspekte der Kindererziehung. Altaras’ Memoiren, sofern diese Genrebezeichnung hier trägt, sind zu einem grossen Teil aus der Perspektive ihres Alter Ego geschrieben, und einige der Menschen, die in ihrem Leben wichtig sind (ihr Mann, ihre Söhne, ihre Therapeutin, ihre ältere Freundin, andere Freunde), bieten Perspektiven ihrer eigenen Wahrnehmung jüdischen Lebens in Deutschland an, was wiederum dem Familienleben der Protagonistin zu helfen verspricht. Ihr Standpunkt ist der einer emanzipierten Frau, die nüchtern eine grosse Breite verschiedener Themen anspricht und verarbeitet. Eines dieser Themen bezieht sich auf die höchst umstrittene Beschneidung ihrer Söhne, ein politisch wie auch privat hochbrisantes Thema, besonders seit der „Beschneidungsdebatte“ von 2012. Es ist in dem Text insgesamt deutlich angelegt, dass „Adriana“ explizit versucht, mit vielen eindeutig jüdischen Themen zurechtzukommen, andere wiederum sind eher allgemein weibliche-feministische, pädagogische, oder menschliche Themen. In allen Fällen werden diese mit grosser Direktheit und Ehrlichkeit angesprochen. Als sie beispielsweise ein Gespräch mit ihrem - ebenfalls jüdischen - Freund Raffi imaginiert, sagt dieser Folgendes: Die kommen zu deinen Lesungen, weil sie von dir Absolution erhalten möchten. Aber für die Erlösung sind wir (gemeint sind die Juden) nicht zuständig. Du fährst hin. Lässt „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Erpenbeck, Franck, und Altaras 177 dich feiern, gibst ihnen Einblicke in unsere Seelen. Das werden sie missbrauchen und gegen uns richten. (…). Sie werden uns immer übelnehmen, dass ihre Eltern es waren, die unsere Eltern vergast haben. Sie werden uns Auschwitz nie verzeihen. (Doitscha, 163) Der Gedanke, dass die Deutschen den Juden Auschwitz niemals verzeihen werden, wurde usprünglich durch den israelischen Psychoanalytiker Zvi Rex etabliert. Er ist mittlerweile zum geflügelten Wort geworden, um die schwierigen zeitgenössischen Diskurse um Schuld und Scham über die Shoah zu beschreiben, in denen viele Deutsche bis heute gefangen sind. Altaras’ Text bezieht sich häufig auf diese Konflikte, und durch ihren humorvollen Stil gelingt es ihr, sie direkt anzusprechen ohne über sie hinwegzugehen, oder sie als Tabu festzuschreiben. In weitaus direkterer und weniger fiktionalisierter Form als die beschriebenen Romane von Franck und Erpenbeck präsentiert sie die angesprochenen Probleme des deutschen Holocaustgedächtnisses auf einer privaten und alltäglichen Ebene. Während die besprochenen fiktionalen Darstellungen jüdischer Mütter bei Erpenbeck und Franck ebenfalls Referenzen zum deutschen Holocaustdiskurs evozieren, zwingt Altaras’ eher journalistischer Text uns, diese Referenzen im direkten und konkreten, durch private Erlebnisse bestimmten Kontext des deutschen Gegenwarts- und Tagesgeschehens zu sehen. Ist es daher ein Makel, dass Altaras’ Text nicht stark fiktionalisiert ist, besonders wenn wir an die Komplexität der in Erpenbecks Roman dargestellten Strukturen denken? Möglicherweise ja, unter literarhistorischen Gesichtspunkten. Den LeserInnen bleibt in Altaras’ Text weniger Raum zur Imagination, der komplizierte Diskurs der Holocaust-Schuld wird möglicherweise an einigen Stellen zu lapidar verhandelt. Die Leser-Empathie ist eindeutig auf das Erleben einer (attraktiven, gutsituierten und erfolgreichen! ) Frau gerichtet. Dennoch zieht sich eine emanzipierte und aufklärerische Mutterliebe als gestaltendes Paradigma durch das Textgeschehen und durch den jüdisch-deutschen Alltag einer erfolgreichen Frau� So spielen die Identitäten der verschiedenen Autorinnen in der Abbildung jüdischer Mutterschaft noch immer eine wichtige Rolle, ebenso wie die Wechselwirkungen von Fiktionalisierung und Erinnerungsprosa diese Bilder mitformt. Dabei gibt es innerhalb der Darstellungen in den hier besprochenen Texten eine durchaus progressive Bewegung, obwohl es sich um eine relativ kurze Zeitspanne der Veröffentlichungen der Texte (von 2007 bis 2014) handelt. Die Repräsentationen der jüdischen Mütter reichen von Abbildungen bösartiger, kontrollwütiger, und zerstörerischer Typen, die klischeeartige Imaginationen jüdischer Mütter aus dem frühen 20. Jahrhundert evozieren, hin zu zeitgenössischen, liebenden, und humorvollen Muttertypen die in ihrer Individualität als 178 Agnes Mueller emanzipiert und liebenswert beschrieben werden. Die komplexe Aufarbeitung des Stereotyps in Erpenbecks kunstvoller Fiktionalisierung lässt zudem darauf schliessen, dass in neuerer Zeit zumindest ein Aspekt der Wahrnehmung überlieferter und tradierter Klischees von Weiblichkeit im Kontext der Erinnerung an die Shoah eine deutliche Revision erfahren hat� Eine weiterführende Frage betrifft die nach der Leserschaft und nach deren Wahrnehmungen gegenüber den Mütterdarstellungen in den genannten Werken. Besonders in einer Zeit, in der die Rolle der Mutter durch die Medien ständig neu auf den Prüfstand gestellt wird, ist diese Frage von zentraler Bedeutung. Mütterbilder, wie sie heute in verschiedenen Medien (beispielsweise in fiktionalen Texten, Filmen, aber auch in Sachbüchern und Ratgebern, sowohl online wie in Printmedien) präsentiert und verhandelt werden, von Tiger Mom über Helicopter-Mom bis hin zu weitläufigeren Fragen nach der Vereinbarkeit von Beruf und Mutterschaft, haben ganz jenseits der Vergegenwärtigungen des Shoah-Diskurses in neuerer Zeit an Frequenz und Bedeutung zugenommen. Es scheint, als sei die Rolle der Mutter seit neuestem in den westlichen Kulturen insgesamt von einer tiefen Unsicherheit befallen, die sich in den Ausformulierungen unterschiedlichster - und häufig negativ konnotierter oder durch Ängste charakterisierter - Mütterbilder wiederspiegelt. Wie Joyce Antlers umfassende und aktuelle Studie You Never Call! You Never Write! zur Geschichte der jüdischen Mutter im amerikanischen Kontext so treffend auf den Punkt bringt: „You don’t have to be Jewish to be a Helicopter Mother“ (234). In dieser Hinsicht ist die Darstellung in Altaras’ Text wohl weniger überraschend und auch weniger bemerkenswert als es im Kontext der Repräsentationen spezifisch jüdischer Mütter oder des Stereotyps der jüdischen Mutter erscheinen mag, denn Mutterdarstellungen haben in jüngster Zeit ohnehin Hochkonjunktur. Die Autorin ist zudem prominent, d. h. Erwartungen der LeserInnen richten sich zu einem nicht unwesentlichen Teil auf den Aspekt der Neugier und des Voyerurismus an einer Art von Celebrity-Kultur. Dass damit die Thematik der Shoah-Repräsentation automatisch in den Hintergrund tritt, ist jedoch nicht eindeutig zu belegen, denn die wohlwollenden Rezensionen zu Doitscha in Die Welt und in der FAZ scheinen dem zu widersprechen - beide loben explizit Altaras‘ gelungene Darstellung des Jüdischseins in Deutschland (Batzinger und Hirsch). Dieser Umstand scheint darauf hinzudeuten, dass die Frage nach der deutschen Holocaust-Erinnerungskultur durch diese Art der Repräsentation jüdischer Mütter wiederbelebt wird. Eine gelungene Inszenierung der jüdischen Mutter vor dem Hintergrund der Fragen nach deutsch-jüdischer Identität scheint demnach auf Seiten der LeserInnen durchaus Resonanz zu finden - eine Resonanz, die möglicherweise dabei helfen kann, das Jüdischsein in Deutschland insgesamt jenseits „Jüdische Mütter“ in narrativen Werken von Erpenbeck, Franck, und Altaras 179 eines Aussenseiterdiskurses zu etablieren. Besonders im Kontext der eingangs erwähnten jüngeren Forschungen zu Affekt und Emotion innerhalb des Holocaust-Erinnerungsdiskurses (N. Ann Rider) wird die Empathie der LeserInnen auf ein Frauenbild gelenkt, das an ein vergangenes Stereotyp produktiv erinnert, damit einen bewussten Bruch erzeugt und durch die Neuformulierung zu einer kognitiven Empathie anregt. Abschliessend bleibt festzuhalten, dass die dezidierte und explizite Revision und Subversion eines überlieferten und hochproblematischen Stereotyps in dem Roman Jenny Erpenbecks eher dazu geeignet ist, jüdische Mütter als solche erkennbar zu machen und als Stereotypen zu entlarven. Im Gegensatz zu Altaras’ Text wird dies in Aller Tage Abend möglich, indem literarische Fiktion und Literarizität die zentrale Rolle im Text, sowie daraus entstehend, im Gespräch über den Text einnehmen. Mit anderen Worten ermöglicht literarische Fiktion eine Mobilisierung von Vorstellungswelten, die nicht an die Pragmatik sozialhistorischer Gegebenheiten gebunden sind. Durch Erpenbecks besondere Struktur der Fiktion innerhalb der Fiktion, der Konjunktivierung in Aller Tage Abend kann dieser Effekt neue Ausprägungen jüdischer Mutterfiguren - jenseits der bekannten Typisierungen - für ihre LeserInnen evozieren. Nicht nur werden damit bekannte Stereotypen entkräftet und der zeitgenössische Diskurs über Repräsentationen der Shoah neu belebt, es werden auch neue Identifikationsmodelle denkbar, für deutsche Mütter, für jüdische Mütter, und für Frauenbilder, die zwischen diesen Vorstellungswelten oszillieren� Wie Wladimir Kaminer über seine jüdische Mutter sagt: „Eine gute Mutter ist diejenige, die ihre Vorstellungen von der Welt und von den Werten nicht auf ihre Kinder projiziert, die im Grunde die Kinder begreift, die sich zurücknehmen kann aus dem Bild. Dafür braucht man viel Willenskraft. Das Ergebnis ist immer anders als die Absicht der Eltern“ (Kaminer in Roggenkamp). Diese wohl sehr treffende Aussage ist absichtsvoll so formuliert, dass sie für alle Mütter, nicht nur die jüdischen, Gültigkeit hat� Von der Autorin Erpenbeck selbst ist eine derartige Inszenierung oder gar Subversion des Bildes der jüdischen Mutter übrigens nicht notwendigerweise explizit intendiert, ebenso wie auch Erpenbecks jüdische Wurzeln kaum Eingang in das Gespräch über ihr Werk gefunden haben. Dieser Umstand belegt erneut, dass Stellungnahmen von AutorInnen gegenüber der Intention ihrer Werke oder auch (Selbst-) Darstellungen zur auktorialen Identität häufig nicht relevant sind in der tatsächlichen Wirkung der Texte auf einen bestimmten Diskurs. Es ist wichtig, besonders bei Identitätsfragen wie dieser, nicht in Muster zu verfallen, in denen AutorInnen einfach mit deren - versteckten, verdeckten, und der Auslegung bedürftigen - Aussagen gleichgesetzt werden. Auktoriale Intention ist somit eine Kategorie, die für die Analyse von Stereotypen in der 180 Agnes Mueller Fiktion aussen vor gelassen werden muss. Was stattdessen als zentral festzuhalten gilt, ist die erneuernde Wirkung der Fiktion auf eine zeitgenössische Leserschaft, für die Darstellungen jüdischer Mütter als überfürsorgliche Beschützerin, verführerische belle juive, und egozentrische und gefährliche Feministin ausgestellt und als langstehende antisemitische Festschreibungen entlarvt werden. Es wir so ein Bruch sichtbar, der zu einer cognitiven Verarbeitung dessen anregt, was früher (wie noch im Textbeispiel von Julia Franck sichtbar) eher diffus auf emotionaler Ebene wahrgenommen wurde. Damit wird es erneut möglich, zeitgenössische Mütter - jüdische, und auch deutsche - als liebend darzustellen, und gleichzeitig heutige LeserInnen auf neue Rollenmodelle hinzuweisen. Für den gesamtgesellschaftichen Diskurs der Erinnerung an die Shoah bedeutet dies, dass narrative Werke, und hier ganz besonders das Element der Fiktion, die Dekonstruktion antisemitischer Vorurteile entscheidend befördern. Notes 1 Wichtig ist hier dass von der gängigen Forschung Julia Francks Texte lediglich aufgrund ihrer Performanzen von Weiblichkeit, Mutterschaft, etc., untersucht werden, die jüdischen Elemente jedoch gänzlich aussen vor bleiben. So beispielsweise bei Alexandra Merley Hill und bei Valerie Heffernan. 2 Interessanterweise erscheinen die Neuauflagen des Textes bei Wallstein und bei Suhrkamp erst nachdem der Roman 1997 ins Englische übertragen wurde: cf. Barbara C. Frantz. Works Cited Altaras, Adriana� Doitscha: Eine jüdische Mutter packt aus. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014� Antler, Joyce� You Never Call! You Never Write! A History of the Jewish Mother. New York: Oxford UP, 2007. 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