Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2020
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“Ich bin Europa”: Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität in Falk Richters FEAR und Safe Places
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2020
Daniele Vecchiato
The article analyses the representation of Europe in Falk Richter’s plays FEAR (2015) and Safe Places (2016), which were written in response to two recent EU crises, namely the rise of far-right populism following Angela Merkel’s Willkommenskultur towards Syrian refugees, and the Brexit referendum. Richter stages Europe as a white woman, vulnerable and yet ruthless, full of contradictions, torn apart by the politics of her own member states. It is this fragility and disunity that allows neofascist politicians (whom the author calls the “zombies”) to raise their voice and gain more and more popular consensus. With postdramatic techniques and a disruptive,
agitprop style, Richter draws on the tradition of political theatre to promote the idea of a united and inclusive Europe as the only possible antidote to stop far-right populism and guarantee a democratic and pacific future for the continent.
cg513-40383
“Ich bin Europa”: Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität in Falk Richters FEAR und Safe Places Daniele Vecchiato Università degli Studi di Padova Abstract: The article analyses the representation of Europe in Falk Richter’s plays FEAR (2015) and Safe Places (2016), which were written in response to two recent EU crises, namely the rise of far-right populism following Angela Merkel’s Willkommenskultur towards Syrian refugees, and the Brexit referendum� Richter stages Europe as a white woman, vulnerable and yet ruthless, full of contradictions, torn apart by the politics of her own member states� It is this fragility and disunity that allows neofascist politicians (whom the author calls the “zombies”) to raise their voice and gain more and more popular consensus� With postdramatic techniques and a disruptive, agitprop style, Richter draws on the tradition of political theatre to promote the idea of a united and inclusive Europe as the only possible antidote to stop far-right populism and guarantee a democratic and pacific future for the continent� Keywords: contemporary drama, migration, populism, European Union, Falk Richter, Robert Menasse In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Europa wird der Kontinent als ein gedankliches Konstrukt aufgefasst, das nicht unbedingt klar umrissene geografische oder politische Konturen aufweist, sondern sich durch eine Pluralität von ideengeschichtlichen, identitären und nicht selten auch utopischen Vorstellungen und (Selbst-)Visionen definieren lässt� 1 Europa ist ein „fast endloses, immer wieder neu einsetzendes Gespräch“ (Schlögel 35) über seine Grenzen und Zugehörigkeiten, über seine historischen Grundlagen und soziokulturellen Voraussetzungen, über die gemeinsamen Werte und Bedürfnisse seiner Völker, über die Art und Weise, mit der interne Krisen und Konflikte 384 Daniele Vecchiato gelöst werden� In diesem Kontext einer fließenden Diskursbildung und einer kontinuierlichen Sinnkonstitution stellt sich die Frage nach der Rolle und den Aufgaben der Literatur und insbesondere des Theaters bei der Definition des Konstrukts Europa: In welchem Maße können künstlerische Ausdrucksformen und kulturelle Praktiken dazu beitragen, Identitätsentwürfe und Denkmodelle zu entwickeln, die über politische und wirtschaftliche Vorstellungen hinausgehen? Lässt sich jenseits der inhaltlichen Entfaltung von Themen und Motiven, die Anknüpfungspunkte zur politischen Aktualität liefern, eine „Poetik des Europäischen“ (Wetenkamp 13) erkennen, für die bestimmte ästhetische Verfahren zur sprachlichen Inszenierung verschiedener Vorstellungen von Europa charakteristisch sind? Durch welche produktions- und rezeptionsästhetischen Mechanismen können insbesondere dramatische Werke mit dokumentarischem Charakter und ausgeprägter Referenzialität eine seismografische Analyse gegenwärtiger Zustände anbieten und dabei neue Perspektivierungen und Erklärungsversuche wagen? Im Zuge der aktuellen Europa-Krise 2 sind in den letzten Jahren zahlreiche Werke im deutschsprachigen Raum erschienen, die Fragen zur politischen Integration der EU, der Konstruktion einer europäischen Identität oder der Rolle Europas in einer zunehmend globalisierten Welt aufwerfen� Während vor allem essayistische und narrative Texte mittlerweile gut erforscht sind (vgl� etwa Büssgen, Wetenkamp, Rebien), steht hingegen die literaturwissenschaftliche Europa-Forschung in Bezug auf die Produktion dramatischer Texte noch am Anfang, 3 obwohl gerade Theaterstücke besonders interessante Fallstudien darstellen: Mit ihren performativen und figurativen Eigenschaften halten Dramen nämlich die Möglichkeit bereit, „Europa als einen Körper zu denken“ und „die ubiquitäre und unabgeschlossene Verfasstheit des Europabegriffs und des mit ihm bezeichneten Territoriums in ein klar umgrenztes und allgemein verständliches Vorstellungsbild zu gießen“ (Tropper 14—15)� Darüber hinaus kann das Theater selbst als eine Metapher für die europäische Gesellschaft gelesen werden, für einen Ort also, an dem jedes Individuum allein und zugleich Teil einer heterogenen Gemeinschaft ist, wie der Schweizer Theaterautor Milo Rau im Hinblick auf seine Europa-Trilogie (2014—2016) beobachtet hat: „[T]heatre becomes a metaphor […] for European society, where you have a strange mélange of generations, stories, historical and political backgrounds� All this is what theatre is: a strange family that has to go through terrible times together“ (Pearson und Rau)� Als besonders repräsentative Beispiele einer intensiven Auseinandersetzung mit Europa im deutschen Gegenwartstheater werden im Folgenden zwei Stücke des 1969 in Hamburg geborenen Autors und Regisseurs Falk Richter untersucht, die sich mit eindrücklicher Anschaulichkeit und Vehemenz der politischen Lage Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 385 auf dem Kontinent widmen: FEAR (UA 2015) und Safe Places (UA 2016)� Dabei werden nicht nur die thematische Aussagekraft der Stücke und deren Bezug auf aktuelle politische Debatten herausgearbeitet, sondern auch die ästhetischen Verfahren analysiert, mit denen Richter seine Idee eines engagierten Theaters umsetzt� Der Fokus richtet sich insbesondere auf den beiden Texten zugrunde liegenden „Europa-Diskurs“ 4 sowie auf Richters Plädoyer für eine nachnationale Europäische Republik, welches der Autor im intertextuellen Dialog mit Robert Menasse entfaltet� In der Überzeugung, dass „ästhetische Dispositive nie abgetrennt von ihrem historischen und sozialpolitischen Kontext zu analysieren sind“, werden Richters Texte aus der Perspektive der Applied Theatre Studies gelesen, das heißt als eminent politische Projekte, die darauf ausgerichtet sind, „mit dem Ziel der Veränderung in das soziale Gefüge einer Gemeinschaft wie in die Handlungsmuster von Individuen, die diese Gemeinschaft ausmachen, mit theatralen Mitteln einzugreifen“ (Warstat et al� 14)� Seit den Anfängen seiner Karriere als Theatermacher versteht Falk Richter das Theater als Ort der gesellschaftlichen Reflexion und zugleich als Aktionsraum für politische Einmischung� In früheren Stücken wie Kult! (UA 1997) und Gott ist ein DJ (UA 1999) wie auch später in Die Verstörung (UA 2005) und TRUST (UA 2007) seziert Richter die medialisierte Gesellschaft und die Entseelung zwischenmenschlicher Beziehungen (vgl� Seidler, Hentschel 193—97, Stegemann, Tigges)� Noch kritischer sind Werke wie PEACE (UA 2000), Electronic City und Unter Eis (beide UA 2004), in denen die Thematisierung der Mediengesellschaft mit einer Kritik der Kriegs-, Arbeits- und Ausbeutungssysteme der Gegenwart verbunden wird (vgl� Béhague 169—73, Kemser, Heimburger 340—52, Lehmann 156—62, Klimant)� Können die genannten Texte noch als work-in-progress-Stücke gelesen werden, mit denen Richter eine eigene Sprache für eine neue Art politischen Theaters suchte, so entfaltet der Dramatiker in den 2010er Jahren einen sehr charakteristischen Stil, den er in seinen neueren Produktionen - von SMALL TOWN BOY (UA 2014) bis hin zu Arbeiten wie VERRÄTER. Die letzten Tage (UA 2017) - konsequent durchhält� Es handelt sich um einen „neodramatischen“ Stil (vgl� Bremer 250), der mithilfe typischer postdramatischer Mittel (wie der Anhäufung heterogener Textfragmente und Materialien) Ansätze von Figuren und Geschichten zeigt, auch wenn die Struktur und die Handlung der Stücke offen, porös und verhandelbar bleibt: Anstatt Geschichten zu konstruieren mit einem Anfang, einem Mittelteil und einem Ende, in denen Figuren eine geradlinige Biografie durchlaufen, kann ich unterschiedliche Intensitäten nebeneinanderstellen […]� Ich kann anfangen, etwas zu erzählen, und dann durch einen plötzlich einbrechenden Moment des DISCONNECT abbrechen, eine andere Richtung einschlagen, Genre, Textform, Erzählform unvorbereitet neu ausrich- 386 Daniele Vecchiato ten, die Diskursebene wechseln, von einer Metaebene auf das Ereignis schauen, von Text zu Tanz übergehen, von Sprechen zu Singen, alles in Geräusch auflösen, plötzlich die Reset-Taste drücken und einen neuen Anfang suchen� (Richter, Disconnected 99—100) Einerseits schreibt dieser für Richters Poetik strukturierende Moment des abrupten Bruchs und Wechsels die Tradition des epischen Theaters Bertolt Brechts und des politischen Theaters Erwin Piscators fort und verfolgt somit dieselbe verfremdende Wirkung, die Zuschauenden „zwischen Beobachtung, Sich-Einlassen, Versinken in Empathie, Distanz wahren, Bewerten, Zwischenbilanz ziehen“ schwanken zu lassen (ebd� 96)� Andererseits will der disconnect jene traumatische Erfahrung des Bruchs und der Verunsicherung widerspiegeln, die laut Richter ein konstitutives Merkmal menschlicher Existenz in unserem Zeitalter darstellt: Das Leben, das wir heute führen, kann uns vor ganz unerwartete BRÜCHE, ÄNDERUN- GEN, CUTS, STÖRUNGEN stellen� […] Eine Firma kann plötzlich zusammenbrechen, […] ein Terrorakt kann eine Stadt, ein ganzes Land in den Ausnahmezustand versetzen […]� Der Euro kann zusammenbrechen, das Vertrauen in den Staat, in einen anderen Menschen kann in Sekundenschnelle wegbrechen, das Schengen-Abkommen kann über Nacht rückgängig gemacht werden […]� Der Bruch, der disconnect, ist also das dramatische Ereignis unserer Zeit� Und damit gehen brüchige Strukturen einher, eine fundamentale Unsicherheit, […] das Gefühl, auf tragische Weise unvorhersehbaren Ereignissen ausgeliefert zu sein� (ebd� 98—99) Solche Erfahrungen müssen sich nach Richter in der Struktur und der Dramaturgie eines Theaterstückes der Gegenwart niederschlagen� Ähnlich wie bei René Pollesch oder Yael Ronen entstehen Richters Texte oft im Gruppenprozess: Der Regisseur oder die Regisseurin sammelt Materialien, die als Ausgangspunkt dienen und während der Proben mit dem Ensemble im Workshop-Modus bearbeitet, diskutiert und um weitere Texte ergänzt werden, so dass am Ende ein bestimmtes Thema aus mehreren Perspektiven beleuchtet wird� Diese kooperative, vom „Fragenrausch des Autorregisseurs“ geleitete Arbeitsweise lässt die Bühne „zum space of emergence und zum Forschungslabor“ (Birgfeld 174) werden, in welchem Momente der Reflexion, des Austauschs und der Improvisation zur Gestaltung eines Textes beitragen, der immer provisorisch erscheint und theoretisch bei jeder Performance adaptiert und revidiert werden kann� Eine solche Poetik und eine solche Dramaturgie sind auch für die Europa-Stücke FEAR und Safe Places charakteristisch, wie im Folgenden gezeigt werden soll� 5 FEAR wurde am 25� Oktober 2015 an der Berliner Schaubühne uraufgeführt und sorgte monatelang für Aufregung in der politischen und kulturellen Landschaft Deutschlands (vgl� Wulff, Laudenbach, von Becker)� Das Stück entstand als Reaktion auf rassistische Gewalt, die in Deutschland im Spätsommer 2015 Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 387 begann, nachdem Angela Merkel in ihrer viel beachteten „Wir schaffen das“-Rede die kurzzeitige Öffnung der Grenzen für Geflüchtete (vor allem Syrer) angekündigt hatte, um zu versuchen, die sogenannte „Flüchtlingskrise“ 6 im Sinne der Willkommenspolitik zu lösen� Explosiv ist das Stück, weil es den Aufschwung rechtsnationaler Bewegungen thematisiert und sowohl nationalistische und xenophobe Bewegungen wie die Alternative für Deutschland und PEGIDA als auch Anti-Gender-Aktionen wie die „Demo für alle“ 7 an den Pranger stellt� Richter setzt sich also insgesamt mit jenen Vertretern der sogenannten „Neuen Rechten“ auseinander, die Identitäten, die sich außerhalb der Kategorie des „weißen heterosexuellen Christen“ positionieren, in Frage stellen� Die Neuen Rechten kennzeichnet er im Stück als „die Untoten“, als „Zombies“ (Abb� 1), die begraben liegen unter den massenvernichtungsanlagen und leichenbergen der schlachtfelder aber sie kriechen alle wieder aus den gräbern der diskursfriedhöfe und stolpern mit blutleeren augen durch die öffentlich rechtlichen fernsehanstalten die internetforen die blogs die kommentarspalten und durch die verwaisten straßen der zusammenbrechenden leblosen landschaften fernab unserer wahrnehmung� (Richter, Ich bin Europa 24) Abb. 1: FEAR von Falk Richter� © Arno Declair, gedruckt mit freundlicher Genehmigung der Schaubühne, Berlin� 388 Daniele Vecchiato Als Beispiele für Zombies, die mit ihren Hasspredigten die öffentliche Debatte vergiften und bei den Wählern immer breitere Zustimmung finden, nennt Richter namentlich Politiker wie Frauke Petry, Hedwig von Beverfoerde, Beatrix von Storch und rechtsradikale Aktivisten wie Akif Pirinçci� Dies hat ihm - neben Protest und Morddrohungen - auch drei gerichtliche Verfahren eingebracht, die jedoch alle zugunsten des Autors und der Schaubühne ausgegangen sind (vgl� Bednarz)� Um die Aufführung des Stückes zu legitimieren und die Kunstfreiheit des Regisseurs und der Beteiligten an der Produktion zu verteidigen, haben die Leiter der Schaubühne Thomas Ostermeier und Friedrich Barner einen Text in Theater heute veröffentlicht, in dem sie erklären, dass die Zombies in Richters Stück als jene Vertreter „menschenverachtende[r] Ideen und Ideologien [zu deuten sind], die wir in Deutschland nach dem Ende der Nazidiktatur durch den erfolgreichen Aufbau einer Demokratie, die europäische Einigung, die Überwindung des Ost-West-Konfliktes und die friedliche Wiedervereinigung ein für alle Mal für überwunden und verschwunden hielten und die jetzt wieder erscheinen“ (Barner und Ostermeier 69)� Die Schlüsselfrage von FEAR wird in einem Monolog explizit formuliert: „wie gehen wir mit jemandem um, der bereits tot ist, wie bekämpfen wir ein denken, das tot ist, und das zwei weltkriege ausgelöst und begleitet hat� […] wie töten wir argumente, die längst schon tot sind? “ (Richter, Ich bin Europa 47—48)� Die Antwort sucht Richter in einem Theater, das mit allen Mitteln um die Aufmerksamkeit des Publikums ringt, um „die Erregungslogik, die unsere Öffentlichkeit heute bestimmt, mit ihren eigenen Waffen zu schlagen“ (Schreiber 8)� Da unsere Sprache - wie Richter in einem anderen Stück schreibt - durch „das rechtsnationale Brainwashing […] derart ausgehöhlt“ wurde, „dass alles, was nicht mehr so voll erregungszustandsmäßig knallt, irgendwie lahm oder impotent klingt“ (Richter, Ich bin Europa 229), rekurriert der Theatermacher auf aggressive Satire, um trotz der generellen Erhöhung der Lautstärke im öffentlichen Diskurs Gehör zu finden� FEAR erweist sich somit als ein gegen die Propaganda der Neuen Rechten gerichtetes Stück in bester Agitprop-Manier� In Einklang mit seiner Ästhetik des disconnect und in der Tradition des politischen Theaters arbeitet Richter mit verschiedenen Materialien und Textsorten: Zusätzlich zu den traditionellen Monologen und Dialogen der Schauspieler integriert er Input-Fragen für Improvisationssequenzen, Suchergebnisse von Netzrecherchen zu den Neuen Rechten oder zu den klinischen Namen diverser Phobien, Songs, Tanzperformances, sowie Plakate und Videoclips mit Bildern von Persönlichkeiten aus der deutschen und internationalen Politikszene� Besondere Aufmerksamkeit erregen die Audiocollagen von Readymade-Zitaten aus Interviews mit „Demo für alle“-Teilnehmern, PEGIDA-Sympathisanten und Demonstranten vor dem Asylbewerberheim in Freital, die Richter in den Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 389 Text integriert� Die so entstehende Polyphonie ermöglicht es, die Stimmen der Rechtsradikalen unmittelbar zu hören und gleichzeitig die Einfältigkeit ihrer Slogans zu entblößen: „Volksverräter“, „Lügenpresse“, „Die kommen hier zum Einbrechen, die kommen hier zum Klauen“, „Die kriegen einen Haufen Geld“, „Ich habe auch nichts gegen Ausländer“, „Ich bin kein Nazi“� Diese Rhetorik auf der Bühne zu reproduzieren ist selbst für die Schauspieler so widerwärtig, dass sie sich in einer kurzen metatheatralischen Szene weigern, weiterzuspielen (57—58)� Und doch wird durch diese Polyphonie erst deutlich, dass sich die im Titel des Stückes angesprochene Angst nicht nur auf die Furcht vor den Rechten bezieht, sondern sie impliziert auch die Summe ihrer eigenen, Tag für Tag in öffentlichen Hassreden zum Ausdruck kommenden Ängste, die im Stück als das Unbehagen angesichts der Komplexität der heutigen Welt gedeutet werden - einer Welt, die nicht mehr in nationalen Grenzen denkt, die pluralistische Konzepte von Zusammenleben und Familie hat und sich nicht in überschaubare Kategorien einordnen lässt� Den Höhepunkt in diesem szenischen Sammelsurium bildet ein Monolog auf Englisch, I am Europe, der - ins Deutsche übersetzt, variiert und erweitert - in drei der vier weiteren Texte von Richter vorkommt, die 2017 in der dramatischen Anthologie Ich bin Europa zusammen mit FEAR erschienen sind� 8 Einerseits kann der Titel I am Europe als eine Anspielung auf das Hashtag Je suis Charlie gelesen werden, das im Frühjahr 2015 nach den Terroranschlägen in Paris schnell weite Verbreitung in den sozialen Medien fand, und impliziert somit eine grundsätzliche Solidarität mit Europa und dessen Werten� Andererseits wirft der Titel die Frage nach einer fassbaren Identität Europas auf: Was ist eigentlich Europa? Oder: Wer ist Europa? In FEAR überlässt Richter die Antwort Europa selbst, die in der Gestalt einer weißen, blonden Frau auftritt� Wenn die Figur Europa einen weiblichen Körper erhält, so folgt diese Darstellung der traditionellen, patriarchalisch geprägten Imagologie des Kontinents als Frau, 9 die mit dem antiken Mythos vom Raub der Europa verbunden ist� Im Mythos ist Europa eine phönizische Prinzessin, die von Zeus nach Kreta entführt wird, wo sie aufgrund der Vergewaltigung durch den Gott drei Kinder gebärt: Konstitutiv für die Gründungsgeschichte des Kontinents ist also - neben der Erfahrung sexueller Gewalt - eine Geschichte der erzwungenen Migration� Europa ist also von Anbeginn durch kulturelle Hybridität gekennzeichnet - ein Element, das aber im kulturellen Gedächtnis durch die traditionelle Personifizierung des Kontinents als weiße Frau überdeckt wird� Im Fall Richters kann die Repräsentation Europas durch einen weißen Körper als kritische Reproduktion einer bestimmten Wunschvorstellung von Europa gedeutet werden, die eine Idee rassischer Überlegenheit vertritt und die die Integration von Menschen anderer Hautfarbe oder Herkunft in ihrem 390 Daniele Vecchiato homogenisierenden Identitätskonstrukt nicht vorsieht� Darüber hinaus trägt Richters Europa-Figur in den Uraufführungen von FEAR und Safe Places keinen klassisch anmutenden Peplos, in Anspielung an die Europa-Allegorien der bildenden Kunst, sondern einen modernen Business-Anzug, der an das Europa der Bürokraten erinnert und eine Idee von Fortschritt, Effizienz und Sauberkeit evoziert (Abb� 2)� Abb. 2: Constanze Becker als Europa und das Ensemble in Falk Richters Safe Places� ©-Birgit Hupfeld, gedruckt mit freundlicher Genehmigung vom Schauspiel Frankfurt� In ihrem Monolog definiert sich Europa zunächst durch eine Liste von Attributen und Zahlen, die auf den ersten Blick neutral erscheinen, tatsächlich aber polemisch aneinandergereiht sind, um den Fokus auf die wenig beachteten bzw� nicht anerkannten ethnischen und linguistischen Minderheiten des Kontinents zu lenken: I am twelve stars I‘m 47 territories I am 742 million people I am 150 languages on one continent - only 23 of them are „official“ (Richter, Ich bin Europa 37) Im Modus der Liste verweilend (vgl� hierzu Wetenkamps Artikel im vorliegenden Heft), präsentiert Europa im nächsten Schritt ihre verschiedenen Gesichter, ihre historischen Ambivalenzen� Europa - das immer deutlicher als das Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 391 westeuropäische „avantgardistische Kerneuropa“ (Derrida und Habermas 33) profiliert wird - ist einerseits Hort größter zivilisatorischer und kultureller Errungenschaften, gleichzeitig aber auch der Schauplatz ungeheurer Verbrechen gegen die Menschheit: I‘m all your wars I‘m all your liberties […] my parents were nazis, were humanists, were discoverers, were colonialists went to North America and killed all the Indians, raped South America, I went to Australia and committed genocide, I took most of Asia, I took most of Africa, I forced Africa to speak MY LANGUAGES and to believe in MY BIBLE I AM HIGH CULTURE I AM ART I AM BEETHOVEN I AM SHAKESPEARE I AM WORLD HERITAGE (Richter, Ich bin Europa 37) Richter zeichnet also kein eindeutiges Europa-Bild, sondern lässt wie im freien Assoziationsspiel mehrere Bilder entstehen, die aus der Akkumulation disparater Eigenschaften, geistesgeschichtlicher Erscheinungen und historischer Verantwortungen resultieren� Europa erscheint somit als ein verführerischer Sehnsuchtsort - „I AM EVERYTHING YOU DESIRE“ (37) -, aber hinter der Fassade von Kultur, Wohlstand und Fortschritt versteckt sich ein jahrhundertelang von Kriegen zerrissener Kontinent, der durch Kolonialismus und Ausbeutung reich geworden ist und mit Indifferenz weiter nach Profit strebt: I DO WHATEVER IT TAKES TO MAINTAIN MY WEALTH I fuck up the climate I let little children work for me in China and Bangladesh, I sell weapons to African tribes and Arab dictators (ebd�) Offensichtlich bietet Richter kein apologetisches Europa-Bild, sondern integriert in den Diskurs zur Identität des Kontinents auch dessen problematische Geschichte, mitsamt aller Verbrechen, die auf seinem Boden und in seinen Kolonien begangen worden sind - und werden� 10 Zynisch akzeptiert Richters Europa-Figur Konflikte und Gewalt solange Chaos und Instabilität außerhalb der Kontinentsgrenzen bleiben: „I WANT THE VIOLENCE TO BE ELSEWHERE / NOT HERE / STAY OUT OF MY TERRITORY“ (39)� Ihre eigene Geschichte verdrängend, weigert sich Europa, Geflüchtete anzunehmen, um die Sicherheit ihrer Grenzen zu gewährleisten� So deutet die Europa-Figur ausdrücklich auf Frontex hin, die Europäische Grenz- und Küstenwache, die jedoch angesichts der kriegsbedingten Migrationsbewegungen weitgehend machtlos geworden ist: „They are coming they are entering my borders / Frontex is not protecting me anymore / And I feel so old so exhausted“ 392 Daniele Vecchiato (39)� 11 Am Ende des Monologs erscheint Europa dermaßen verwirrt und überfordert, dass sie fast Mitleid beim Zuschauer erweckt: Right now I am not sure where to go backwards forwards or make no movement at all […] I am getting afraid of my own people My own people don‘t trust me They don‘t trust my parliament They don‘t trust my currency I AM CONFUSED I am afraid I don‘t know WHO I AM I have no identity There is a lot of FEAR (ebd�) FEAR stellt die Krise der europäischen Identität in einen direkten Zusammenhang mit dem Aufkommen rechtspopulistischer 12 Bewegungen, die in den letzten Jahren für erstaunlich viele Menschen attraktiv geworden sind� Während das verunsicherte Europa nicht in der Lage ist, seine Identität „jenseits der freien Zirkulation von Waren und der gemeinsamen Währung“ zu definieren, füllen die neuen Rechten diese Leere „mit einfachen, hetzerischen und ausgrenzenden Antworten“ (Haarmann 245)� 13 Die Krise Europas wird im Laufe des Stücks spezifischer mit der Krise der Europäischen Union identifiziert� Diese hat, dem Stück zufolge, in der Uneinigkeit der Union, im Mangel einer wirklich gemeinsamen Politik und in der fehlenden Konstruktion einer gesamteuropäischen Nation ihren Ursprung: I am not a unique nation I am a group of individualists I move in many many different directions I am torn in many different directions I am torn and twisted (Richter, Ich bin Europa 38) In diesen Zeilen, die den Antagonismus konkurrierender Nationalstaaten als Grund für den aktuellen Zustand von Zerrissenheit in der Europäischen Union plakativ machen, scheint Richter die Idee einer „nachnationalen Demokratie“ aufzugreifen, für die Robert Menasse in Der europäische Landbote (2012) und in zahlreichen anderen Aufsätzen plädiert hat� 14 Dieser Idee zufolge sollte die EU eine stärkere supranationale Identität entwickeln, die den Partikularismen der Staaten inklusive und solidarische Wertvorstellungen entgegensetzt, um eine Rückkehr der Nationalismen zu vermeiden: Damit das fragile, orientierungslose Europa wieder zu sich finden und eine wirkungsvolle Opposition gegen das Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 393 Avancieren der „Zombies“ leisten kann, muss es einträchtiger denken und handeln, die Egoismen der einzelnen Staaten durch Verträge und Reformen auflösen und die internen Konfliktsituationen harmonisieren� Diese in FEAR nur implizit angedeuteten Bedeutungsschichten erfahren im Stück Safe Places, das im Juni 2016 - mitten in der Zeit des Brexit-Referendums - entstanden ist 15 und am 9� Oktober desselben Jahres am Schauspiel Frankfurt uraufgeführt wurde, deutlichere Konturen� Ähnlich wie FEAR weist auch dieses Stück die Form einer Textmontage auf, wobei der dokumentarische Charakter hier weniger prominent ist und sich die Schauspieler vor allem in langen, intensiven Monologen äußern, die den modernen „Denkrausch“ versprachlichen, jenes „Zuviel“ an Bildern und Gedanken, das im literarischen Medium „bearbeitet, strukturiert, geordnet werden will“ (Richter, Disconnected 94)� Zugleich ist diese Tendenz zum Selbstgespräch, die sich auch in anderen Werken Richters feststellen lässt, Ausdruck einer allmählichen, verzweifelten Vereinsamung des Individuums, das - mit der Größe der Weltereignisse konfrontiert - Momente der Überforderung, Erschöpfung und Ungewissheit erlebt, die es mit niemandem teilen kann: „Dialoge sind nicht mehr zeitgemäß� Menschen reden nicht miteinander“ (Richter, Ich bin Europa 216)� Deutlicher noch als FEAR kreist Safe Places um die aktuellen Probleme Europas, um seine Identität, um sein wachsendes Bedürfnis nach Sicherheit� Im Herzen des Stückes stehen fünf Monologe mit dem vielsagenden Titel Festung Europa, die zum Teil erweiterte Abschnitte des Ich bin Europa-Monologs sind� In diesen Monologen wird die Krise der EU geschildert, die von finanziellen und gesellschaftlichen Problemen, von Migrationsphänomenen und dem ubiquitären Euroskeptizismus begleitet wird (Richter, Ich bin Europa 161—71)� Die Idee der Festung, die die innere Einheit des Kontinents bei äußerer Abschottung des „Fremden“, des nicht-europäischen „Anderen“ suggeriert, wird heutzutage in öffentlichen Debatten von Vertretern xenophober Bewegungen häufig in positivem Sinne verwendet� Da der Begriff „Festung Europa“ historisch aufgeladen ist und gerade während des Zweiten Weltkriegs in der nationalsozialistischen Propaganda den vom Deutschen Reich und Italien besetzten Teil Europas bezeichnete, scheint Richter mit dessen Verwendung darauf aufmerksam zu machen, dass zwischen den Neuen und alten Rechten sowohl ideologische als auch sprachliche Kontinuitäten bestehen� Die Monologe Europas werden in Safe Places durch die Slogans eines „VÖLKISCHE[N] WIR, DAS IMMER LAUTER WIRD“, unterbrochen (166)� Dies mutiert schnell zu einem „WIR, DEM ALLES ZU VIEL WIRD“, nach dem Stichwort: „WIR SCHAFFEN DAS NICHT“, einer Persiflage von Merkels bekannter Parole (168)� Kontrapunktisch tritt auch ein „Fremder aus dem Krisengebiet“ auf 394 Daniele Vecchiato die Bühne, der nicht versteht, warum die Europäer Angst vor ihm haben, da er ja eigentlich vor dem Terror geflüchtet ist, um in einem neuen Land Schutz zu suchen: „I have NOWHERE to go� / So I come to your territories for safety and you‘re scared of me! You‘re scared of someone who is running away from war, whose children got killed, you‘re scared of someone who / has no safe place“ (167)� 16 Hier wird deutlich, dass der im Titel des Stückes anklingende Sicherheitsbedarf nicht nur aus der Perspektive der Europäer gesehen wird, sondern - dem Richter‘schen Prinzip der Polyphonie getreu - auch die Sehnsucht der Flüchtlinge nach „sicheren Orten“ zum Ausdruck bringt mit dem Ziel, die Empathie der Zuschauer zu fordern� Die Einzelstimme des „Fremden“ ist jedoch zu leise angesichts der Rhetorik der Festung Europa, die inzwischen mit derjenigen des völkischen WIR nahezu deckungsgleich geworden ist: ES IST NICHT PLATZ FÜR ALLE DA� Das tut uns leid, aber es gibt Grenzen� UND WIR BRAUCHEN GRENZEN, sonst verlieren wir die Kontrolle, und das wollen wir nicht� (170) Durch dieses Nebeneinander von Stimmen, das die EU-Krise und die Migrationswellen der letzten Jahre begleitet und kommentiert, erscheint das Stück als eine Art Think Tank, in dem Ideen entwickelt werden sollen, „wie das auseinanderbrechende Europa zu retten sei“ (163)� Stichwortartig wirft ein Schauspieler Fragen zur Zukunft der EU auf: Was WOLLEN wir? Haben wir überhaupt gemeinsame Ziele? […] Haben wir eine gemeinsame Erzählung? Ist Nation ein falsches Konzept? Kann eine europäische Republik die alten Nationalstaaten ablösen? Ist die Europäische Union mittlerweile ein so unübersichtliches, komplexes System, dass es einstürzen MUSS und Platz machen muss, wofür? Was kommt dann? Was kommt NACH dieser Union? Wonach SEHNEN wir uns? Gibt es das überhaupt, dieses „Wir“? (ebd�) Die Frage nach dem europäischen „Wir“ ist nach dem Brexit, der ja zusammen mit den Migrationsphänomenen den zeitgeschichtlichen Kontext des Stückes bildet, drängender denn je� Mit dem Hinweis auf die Möglichkeit einer „europäischen Republik“ bezieht sich Richter explizit auf die von Menasse sowie von Politikwissenschaftlern wie Ulrike Guérot vertretene Idee einer endgültigen Überwindung der Nationalstaaten und die Gründung einer „transnationalen Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 395 Demokratie“ als einzige Lösung für die bereits fortgeschrittene Krise der EU (vgl� Guérot und Menasse; zu Richters Rezeption dieser Theorien vgl� Baschung)� An anderer Stelle fragt sich eine Figur: „Wie schaffen wir ein Europa, in dem nicht jede Nation nur damit beschäftigt ist, DIE GRÖSSTEN VORTEILE für ihre eigenen Landsleute herauszuholen, SONDERN WIRKLICH ECHT gesamteuropäisch gedacht wird“ (Richter, Ich bin Europa 176)� Diese Frage bleibt im Stück offen� Was den Zuschauern als Europäern allerdings nahegelegt wird, ist, dass die Rückkehr der Nationalismen eine gefährliche Involution zur Folge haben könnte, durch die der Kontinent in seine dunkle, kriegerische Vergangenheit zurück katapultiert werden könnte� Somit wird Europa - oder, besser, die Europäische Union - im Stück auch als ein historisches Friedens- und Kooperationsprojekt dargestellt, was heutzutage allzu oft in Vergessenheit gerät� Die Szene, in der ein Schauspieler vom jüngsten Abendessen mit der Familie erzählt, ist in diesem Sinne erhellend: Während die jüngeren Verwandten einstimmig und wie in einem Trance-Zustand gegen die „Asylschmarotzerinvasoren“ schimpfen (180), protestiert leise der Opa, der das Dritte Reich miterlebt hat: „die sind alle noch da, die sind nicht weg, weißt du, die waren nur eine Zeitlang unsichtbar, aber die wollen wieder zurück an die Macht, die wollen wieder zurück“ (181)� Diese Gegenüberstellung ist einerseits interessant, weil sie eine Umkehrung der geläufigen Stereotypen bei der Darstellung zwischengenerationeller Verhältnisse in deutschen Familien anbietet: Es ist nicht der Nazi-Opa, sondern die jüngere Generation, die Europa gefährdet� Andererseits hebt die Szene die Bedeutung des Gedächtnisses als das einzige wirksame Mittel gegen die Auferstehung der „Zombies“ hervor - ein Thema, das Richter am Ende seines Stückes mit einem längeren Zitat aus Menasses Europäischer Landbote (7—10) noch stärker akzentuiert� Mit dem Menasse-Zitat wird an die Geburt der Europäischen Union als Antidot gegen Nationalismen erinnert, die Europa in seiner langen Geschichte von Kriegen und Konflikten zerrissen haben: Wenn man auf einer Europakarte alle politischen Grenzen, die es im Lauf der geschriebenen Geschichte je gegeben hat, mit einem schwarzen Stift einzeichnet, dann liegt am Ende über diesem Kontinent ein […] engmaschiges schwarzes Netz […]� Wenn man dann auf dieser Karte für jeden Krieg, der in Europa je stattgefunden hat, mit einem roten Stift eine Linie zwischen den kriegführenden Parteien zieht, […] dann verschwindet das Netz der Grenzen völlig unter einem rotgefärbten Feld� […] Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es die meisten Menschen langweilt, wenn man […] die Geschichte der EU erzählt� Ich bin ein Freund dieser Langeweile� Denn ich wünsche weder mir noch jemandem anderen die zweifellos extrem spannende Geschichte, die ein Zerbrechen der EU und der Rückfall in ein Europa der konkurrierenden Nationen […] zur Folge hätte[n]� (Richter, Ich bin Europa 192—93) 396 Daniele Vecchiato Menasse sieht das europäische Projekt als die Realisierung einer „Assoziation freier Regionen, definiert durch Friede, Demokratie, kulturelle Vielfalt und soziale Gerechtigkeit“ (Menasse, „EUtopia“ 43)� Dieses positive Bild, das auf die Gründungsprinzipien der Europäischen Union zurückgreift, scheint sowohl von der Europa-Figur in FEAR als auch von den fremdenfeindlichen, aggressiven Stimmen in Safe Places stark abzuweichen� Richter verwendet es als Kontrastfolie, als Mahnung zu einem menschlicheren, solidarischeren Zusammenleben, als ein utopisch angelegtes Modell: Gegen das Europa der Populismen und Nationalismen müsse das inklusive Projekt einer auf gemeinsamen Werten basierenden Europäischen Union gerettet werden, um den „Rückfall in die Barbarei“ zu vermeiden� 17 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Falk Richter mit den Stücken FEAR und Safe Places über den Zustand des europäischen Projekts in Zeiten seiner größten Krise Bilanz zieht� Im Gegensatz zu anderen Europa-Stücken der Gegenwart, die sich primär mit den Themen Migration und Flüchtlingspolitik beschäftigen (wie Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen, UA 2013) oder alternative Europa-Vorstellungen und die Mechanismen von Demokratie und politischer Partizipation erkunden (wie Preenacting Europe der Gruppe Interrobang, UA 2014, oder Hausbesuch Europa von Rimini Protokoll, UA 2015), setzt sich Richter mit der Identität Europas sowie der Rückkehr alter Nationalismen auseinander, die das Ideal eines progressiven, inklusiven, offenen Europas bedrohen� Obwohl sein Urteil über die Geschichte und die Gegenwart Europas ambivalent ist, erweisen sich beide Stücke insgesamt als Plädoyer für die Europäische Union, die als Bollwerk angesehen wird gegen jedwede von rechtspopulistischen Parteien in Europa verbreitete Form von Angst und Misstrauen� Mit Menasse sieht Richter in der angestrebten Überwindung der Nationalstaaten und der Formung einer „nachnationalen“ europäischen Politik ein mögliches Antidot gegen den Aufstieg illiberaler Bewegungen, die die Entfaltung eines friedlichen, demokratischen, vielfältigen Europa bedrohen� Programmatisch erprobt Richter mit diesen Stücken radikale ästhetische Mittel, um die Stimme zu erheben gegen die „Hassmenschen, die in ihren Netzwerken und auf der Straße ihr Unverständnis gegenüber der Welt, ihre Angst davor, zu verschwinden, ihren Hass auf alles, was sie nicht verstehen, so laut herausbrüllen, dass […] alle vorsichtigen Ansätze für ein anderes Miteinander weggebrüllt werden“ (Richter, Ich bin Europa 176)� Gleichzeitig versucht er im dramatischen Medium, die Komplexität und Nuanciertheit politischer und sozialer Phänomene zum Ausdruck zu bringen und allen Beteiligten - auch den im öffentlichen Diskurs marginalisierten - eine Stimme zu verleihen� Damit entsteht auf der Bühne ein politischer Gegendiskurs zu den vereinfachenden und nivellierenden Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 397 Darstellungen der Rechtspopulisten, der die Zuschauer dazu anspornt, über die Vielschichtigkeit politischer Zusammenhänge zu reflektieren und sich nicht von demagogischen Sprüchen und Lösungsansätzen verführen zu lassen� Notes 1 Hierzu vgl� Lützeler, Delvaux und Papiór, Frevert, Segebrecht, Biendarra und Hart� 2 Aufgrund der ökonomischen Krise von 2008, der Migrationsphänomene im Zuge des Arabischen Frühlings, der Rückkehr verschiedener Formen von Nationalismen, des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union und der wachsenden Skepsis gegenüber den sogenannten „Brüssel-Bürokraten“ können die letzten Jahre als einen der schwersten Einschnitte in der Geschichte des geeinten Europa betrachtet werden (vgl� Beck)� 3 Die bisher wichtigsten Beiträge finden sich im komparatistisch angelegten Sammelband Vorstellung Europa (2017) von Bloch, Heimböckel und Tropper sowie in der neuesten Studie Performing Statelessness in Europe (2018) von Wilmer� Zum Thema der Migration(en) mit besonderem Blick auf deutschsprachige Bühnen vgl� auch Sharifi und Wilmer� 4 Der Begriff „Europa-Diskurs“ wird hier mit Christine Ivanovic als heuristische Kategorie für die Analyse von Texten verwendet, „in denen in konstitutiver Funktion Europa als Spielort fungiert oder als Thema verhandelt wird“ und die „mittelbar oder unmittelbar auf politische Einflussnahme abziel[en]“ (Ivanovic 36)� 5 Die Analyse der Stücke bezieht sich vorwiegend auf die veröffentlichten Textfassungen in der Sammlung Ich bin Europa (2017), mit gelegentlichen Beobachtungen zu den stilistischen und darstellerischen Merkmalen der Inszenierungen an der Berliner Schaubühne (FEAR, UA 2015, Regie von Falk Richter) bzw� am Schauspiel Frankfurt (Safe Places, UA 2016, Regie von Falk Richter und Anouk van Dijk)� 6 Soziologin und Politikwissenschaftlerin Hannah von Grönheim argumentiert, dass es sich bei der Bezeichnung „Flüchtlingskrise“ nur um die „Konstruktion eines Sicherheits-bedarfs“ handelt, mit der nahegelegt wird, dass Europa durch Migrationsphänomene bedroht ist, um eine Politik der Abschottung und Abwehr zu legitimieren und zu verstärken (104—05)� 7 Die „Demo für alle“ ist die deutsche Version der „Manif pour tous“, einer Bewegung, die sich 2012 in Frankreich als Reaktion auf die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und des Adoptionsrechts homosexueller Paare gebildet hat� In Deutschland wurden die Proteste von der Initiative „Be- 398 Daniele Vecchiato sorgte Eltern Baden-Württemberg“ im Zuge der Debatte um den Bildungsplan 2015 initiiert, der darauf abzielte, die Akzeptanz sexueller Vielfalt von Schülerinnen und Schülern sowie die Toleranz gegenüber Regenbogen- und Patchworkfamilien zu fördern� Darin sahen „Demo für alle“-Teilnehmer nicht nur eine Verletzung traditioneller christlicher Werte, sondern auch das Risiko einer vermeintlichen „Frühsexualisierung“ von Kindern durch eine nebulös evozierte „Gender-Theorie“ (vgl� Hark und Villa)� 8 Die Wiederverwertung und Variation einzelner Textstücke in verschiedenen Dramen ist keine Seltenheit im Werk Falk Richters� Wenn dies in einigen Fällen der Notwendigkeit geschuldet sein mag, in kurzer Zeit Texte für die Bühne zu produzieren (eine Tendenz, die zum Beispiel Kathrin Röggla als ein bedenkenswertes Charakteristikum des Gegenwartstheaters beschreibt, vgl� Röggla 13), handelt es sich beim Ich bin Europa-Monolog eher um ein gedankliches Kontinuum, das sich durch die Stücke der gleichnamigen Sammlung zieht� 9 Wie Sigrid Weigel gezeigt hat, ist die geschlechtliche Konnotation von Gründungsmythen und allegorischen Stadtdarstellungen der Ausdruck patriarchalischer Denkmuster, weil sie in den meisten Fällen den weiblichen Körper zum reinen Signifikanten, zum entsinnlichten und entindividualisierten „Zeichenkörper“ degradiert (168)� Zu den genderspezifischen und interkulturellen Aspekten des Mythos von Europa siehe auch Frevert und Pernau� 10 Auf kultur- und geschichtswissenschaftlicher Ebene ist die Debatte um ein gemeinsames „europäisches Gedächtnis“ bereits avanciert (vgl� etwa Rigney oder Friedemann et al�)� 11 Frontex ist kein neues Thema auf deutschsprachigen Bühnen: Bereits 2013 inszenierte Hans Werner Kroesinger am Berliner Theater Hebbel am Ufer die dokumentarische Arbeit FRONTex SECURITY und stellte dabei die Frage nach der Einseitigkeit der Sicherheit in Europa, die nur noch nach innen und nicht für die Geflüchteten zu gelten scheint, die Schutz suchen� 12 Der schwer zu konturierende und stark debattierte „Populismus“-Begriff wird hier nach den Thesen des Politikwissenschaftlers Jan-Werner Müller (129—35) als eine antipluralistische Form von Politik verstanden, die auf der Unterscheidung zwischen Volk und Elite besteht und vorhandene Stimmungslagen durch bestimmte Strategien zum Machterwerb verstärkt und ausnutzt� Zum Verhältnis von Gegenwartsliteratur und Populismus vgl� u�a� Schaffrick� 13 Den Soziologen Martin Riesebrodt und Ernst-Dieter Lantermann zufolge wird der Rückgriff auf Fundamentalismen, Nationalismen und regressive Ideologien gerade in Kontexten von politischer und sozialer Komplexität, Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 399 von Unsicherheit und Unübersichtlichkeit besonders attraktiv, weil er alte Weltbilder und einfache, klare Antworten verspricht (zitiert in Schuster 254—55)� 14 Vgl� etwa die Aufsätze im Band Heimat ist die schönste Utopie. Reden (wir) über Europa, besonders Es gibt nichts Schöneres (57—69), Heimat ist die schönste Utopie (70—82), Zukunftsmusik (120—32), Europa Countdown (147—57) und FAQ Europa (158—75)� 15 Der Brexit wird jedoch nur ein einziges Mal im Stück erwähnt, nämlich auf S� 162� 16 Die Verwendung verschiedener Sprachen ist konstitutiver Bestandteil des Theaters von Falk Richter, der mit internationalen Ensembles arbeitet� Auffällig ist in FEAR, dass Englisch sowohl von der Figur Europa als Sprache der internationalen Kommunikation, als auch vom Flüchtling verwendet wird, um seine „Fremdheit“ auch sprachlich zu markieren� In Safe Places wiederum spricht Europa Deutsch� 17 Hier zitiert Richter aus einem Video-Interview von Menasse, das auf Youtube zu finden ist: http: / / www�youtube�com/ watch? v=bUHJF-qFCpA (Minute 5: 05)� Works Cited Barner, Friedrich, and Thomas Ostermeier� „Liberales Lebensumfeld�“ Theater heute 11 (2016): 69—70� Baschung, Sibylle� „Europa sind wir alle - und wer macht‘s? “ Ich bin Europa. 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Interdisciplinary Contributions to Contemporary Cultural Debates� Berlin: Peter Lang, 2014� Bloch, Natalie, Dieter Heimböckel, and Elisabeth Tropper, eds� Vorstellung Europa - Performing Europe. Interdisziplinäre Perspektiven auf Europa im Theater der Gegenwart� Berlin: Theater der Zeit, 2017� 400 Daniele Vecchiato Birgfeld, Johannes� „‚Die einzige Frage, die bleibt, lautet: Wie konnten wir so leben? Warum haben wir nichts dagegen unternommen? ‘ Falk Richters Konzept eines politischen Theaters des zugerichteten Subjekts�“ Disconnected. Theater Tanz Politik. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik� Ed� Johannes Birgfeld� Berlin: Alexander Verlag, 2018� 169—77� Bremer, Kai� Postskriptum Peter Szondi. Theorie des Dramas seit 1956� Bielefeld: transcript Verlag, 2017� Büssgen, Antje� „Der Europa-Diskurs von Intellektuellen in Zeiten der Krise� Zu Robert Menasses und Hans Magnus Enzensbergers Europa-Essays der Jahre 2010—2012�“ Der literarische Europa-Diskurs. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 70. Geburtstag� Ed� Peter Hanenberg and Isabel Capeloa Gil� Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013� 193—215� Delvaux, Peter, and Jan Papiór, eds� Eurovisionen. Vorstellungen von Europa in Literatur und Philosophie� Amsterdam: Rodopi, 1996� Derrida, Jacques, and Jürgen Habermas� „Nach dem Krieg� Die Wiedergeburt Europas�“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31 May 2003� 33—34� Enzensberger, Hans Magnus� „Die eurozentrische Liste�“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6 January 2001� 1� Frevert, Ute� Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert� Frankfurt a�M�: Fischer, 2003� Frevert, Ute, and Margrit Pernau� „Europa ist eine Frau: jung und aus Kleinasien� Beitrag zum Themenschwerpunkt ‚Europäische Geschichte - Geschlechtergeschichte‘�“ Themenportal Europäische Geschichte (2009)� www�europa�clio-online�de/ essay/ id/ artikel-3548� 7 February 2019� Friedemann, Pestel, Rieke Trimcev, Gregor Feindt, and Félix Krawatzek� „Promise and Challenge of European Memory�“ European Review of History / Revue européenne d’histoire 24�4 (2017): 495—506� Grönheim, Hannah von� Solidarität bei geschlossenen Türen. Das Subjekt der Flucht zwischen diskursiven Konstruktionen und Gegenentwürfen� Wiesbaden: Springer VS, 2018� Guérot, Ulrike� Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie� Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2016� Guérot, Ulrike, and Robert Menasse� „Manifest für die Begründung einer Europäischen Republik�“ Die Presse, 23 March 2013� http: / / diepresse�com/ home/ presseamsonntag/ 1379843/ Manifest-fuer-die-Begruendung-einer-Europaeischen-Republik� 23 July 2019� Haarmann, Nils� „Europa in der Krise - Krise der europäischen Identität�“ Ich bin Europa. FEAR und andere Theaterstücke� Berlin: Theater der Zeit, 2017� 244—50� Hark, Sabine, und Paula-Irene Villa, eds� Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen� Bielefeld: transcript Verlag, 2015� Der Diskurs um Rechtspopulismus, Migration und nachnationale Identität 401 Heimburger, Susanne� Kapitalistischer Geist und literarische Kritik. Arbeitswelten in deutschsprachigen Gegenwartsautoren� München: edition text + kritik, 2010� Hentschel, Ingrid� Dionysos kann nicht sterben. Theater in der Gegenwart� Berlin: LIT, 2007� Ivanovic, Christine� „Europa als literaturwissenschaftliche Kategorie�“ Der literarische Europa-Diskurs. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 70. Geburtstag� Ed� Peter Hanenberg und Isabel Capeloa Gil� Würzburg: Königshausen & Neumann, 2013� 22—49� Kemser, Dag� „Neues Interesse an dokumentarischen Formen� Unter Eis von Falk Richter und wir schlafen nicht von Kathrin Röggla�“ Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas� Ed� Hans-Peter Beyerdörfer� Tübingen: Niemeyer, 2007� 95—102� Klimant, Tom� „‚Drecks-Gehirncomputer‘� Figur und Identität bei Falk Richter� Ein Beitrag zur epistemologischen Dimension zeitgenössischer Dramatik�“ Junge Stücke. Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater� Ed� Andreas Englhart and Artur Pełka� Bielefeld: transcript Verlag, 2014� 259—71� Lantermann, Ernst-Dieter� Die radikalisierte Gesellschaft. Von der Logik des Fanatismus� Munich: Blessing, 2016� Laudenbach, Peter� „AfD-Populisten wollen keine Zombies sein� Die Alternative für Deutschland erregt sich über die Inszenierung ‚Fear‘ an der Berliner Schaubühne� Richtige Kritik an der politischen Rechten sieht aber anders aus�“ Süddeutsche Zeitung, 12 November 2015� http: / / www�sueddeutsche�de/ kultur/ aufregung-um-theaterstueck-afd-populisten-wollen-keine-zombies-sein-1�2730315� 8 July 2019� Lehmann, Stephanie� Die Dramaturgie der Globalisierung. Tendenzen im deutschsprachigen Theater der Gegenwart� Marburg: Schüren, 2014� Lützeler, Paul Michael� Plädoyers für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915—1949� Frankfurt a�M�: Fischer, 1987� —� Der Schriftsteller als Politiker. Zur Europa-Essayistik in Vergangenheit und Gegenwart� Stuttgart: Steiner, 1997� —� Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart� Baden-Baden: Nomos, 1998� —� Kontinentalisierung. 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Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik� Ed� Johannes Birgfeld� Berlin: Alexander Verlag, 2018� Riesebrodt, Martin� Cultus und Heilsversprechen. Eine Theorie der Religionen� Munich: C� H� Beck, 2007� Rigney, Ann� „Transforming Memory and the European Project�“ New Literary History 43�4 (2012): 607—28� Röggla, Kathrin� Die falsche Frage. Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik� Ed� Johannes Birgfeld� Berlin: Theater der Zeit, 2015� Schaffrick, Matthias� „‚Das wird man ja wohl noch sagen dürfen�‘ Rhetorik und Poetik der populistischen Phrase�“ Das Politische in der Literatur der Gegenwart� Ed� Stefan Neuhaus and Immanuel Nover� Berlin: De Gruyter, 2019� 79—108� Schlögel, Karl� Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent� Munich: Hanser, 2013� Schreiber, Daniel� „Warum wir ins Theater gehen�“ Ich bin Europa. 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