Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2021
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Fontane Goes to J-School. Theodor Fontanes Englandjahre und die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth-Zeitalter
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2021
Petra S. McGillen
Theodor Fontane lebte von 1855 bis 1859 als Korrespondent der preußischen Regierung in London und verfasste Zeitungsartikel über die dortige Kunst-, Theater- und Presseszene, von denen er anschließend eine Auswahl unter dem Titel Aus England in Buchform veröffentlichte. Diese insgesamt wenig beachteten Texte sind bisher vor allem als “Stilübungen” des zukünftigen Romanschriftstellers angesehen worden. Dieser Aufsatz argumentiert, dass sich ein neuer Zugang zu Aus England eröffnet, wenn insbesondere Fontanes Artikel über englische Tageszeitungen stärker in ihren medienhistorischen Entstehungskontext eingebettet und als das aufgefasst werden, was sie primär waren: professionelle Analysen des Journalismus in der damaligen Welthauptstadt der Presse. Am Beispiel des Kapitels über die Londoner Times wird gezeigt, dass Fontanes Beobachtungsinteresse vor allem der Entstehung journalistischer Autorität und der Beeinflussung der öffentlichen Meinung galt. Die Erkenntnisse, die Fontane durch seine Analysen und nicht zuletzt durch seine eigenen Gehversuche als Korrespondent gewann, erlaubten es ihm, ein komplexeres Verständnis von journalistischer Deutungsmacht und Meinungsbildungsprozessen zu entwickeln, als es die preußische Regierung besaß. Verfasst in der Formierungsphase des modernen Journalismus, lassen Fontanes Analysen Rückschlüsse darauf zu, wie sich öffentliche Autorität denken ließ, als sich die journalistische Profession noch nicht auf die uns heute geläufigen Normen von Objektivität, Distanz und Neutralität verständigt hatte.
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Fontane Goes to J-School. Theodor Fontanes Englandjahre und die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth-Zeitalter Petra S. McGillen Dartmouth College Abstract: Theodor Fontane lebte von 1855 bis 1859 als Korrespondent der preußischen Regierung in London und verfasste Zeitungsartikel über die dortige Kunst-, Theater- und Presseszene, von denen er anschließend eine Auswahl unter dem Titel Aus England in Buchform veröffentlichte. Diese insgesamt wenig beachteten Texte sind bisher vor allem als “Stilübungen” des zukünftigen Romanschriftstellers angesehen worden. Dieser Aufsatz argumentiert, dass sich ein neuer Zugang zu Aus England eröffnet, wenn insbesondere Fontanes Artikel über englische Tageszeitungen stärker in ihren medienhistorischen Entstehungskontext eingebettet und als das aufgefasst werden, was sie primär waren: professionelle Analysen des Journalismus in der damaligen Welthauptstadt der Presse. Am Beispiel des Kapitels über die Londoner Times wird gezeigt, dass Fontanes Beobachtungsinteresse vor allem der Entstehung journalistischer Autorität und der Beeinflussung der öffentlichen Meinung galt. Die Erkenntnisse, die Fontane durch seine Analysen und nicht zuletzt durch seine eigenen Gehversuche als Korrespondent gewann, erlaubten es ihm, ein komplexeres Verständnis von journalistischer Deutungsmacht und Meinungsbildungsprozessen zu entwickeln, als es die preußische Regierung besaß. Verfasst in der Formierungsphase des modernen Journalismus, lassen Fontanes Analysen Rückschlüsse darauf zu, wie sich öffentliche Autorität denken ließ, als sich die journalistische Profession noch nicht auf die uns heute geläufigen Normen von Objektivität, Distanz und Neutralität verständigt hatte. Keywords: Fontane, Theodor, Aus England, Korrespondent, Geschichte des Journalismus, Autorität 12 Petra S. McGillen Im September 1855 wurde Theodor Fontane von seinem damaligen Arbeitgeber, der preußischen Centralstelle für Preßangelegenheiten, in dienstlicher Mission nach London geschickt. Im Auftrag der reaktionären Regierung Otto Theodor von Manteuffels sollte er als Presseagent fungieren und vor Ort eine “deutsch-englische Correspondenz” aufbauen, ein Nachrichtenbüro, das sowohl in englischen als auch in deutschen Blättern mit “offiziösen” Artikeln für eine preußenfreundlichere Stimmung zu sorgen und die Regierung über die Haltung und die neuesten Entwicklungen in der englischen Presse zu informieren hatte. 1 Hintergrund der Abordnung Fontanes nach London war der Krimkrieg: Angesichts immer lauter werdender Kritik in der britischen und deutschen Öffentlichkeit an Preußens neutraler Position hielt die Regierung Manteuffel eine gezielte pressepolitische Intervention für nötig. Vor allem die liberale Berichterstattung Max Schlesingers und Jakob Kauffmanns, die in London seit Jahren das erfolgreiche Nachrichtenbüro Englische Korrespondenz betrieben und die einflussreichsten überregionalen deutschen Zeitungen (wie z. B. die National-Zeitung, die Allgemeine Zeitung und die Kölnische Zeitung) mit Neuigkeiten aus der englischen Metropole versorgten, störte die preußische Regierung (Streiter-Buscher 39). Fontanes mehr schlecht als recht getarntes Unternehmen sollte die Gegenstimme zu Schlesinger/ Kauffmann bilden und deren Nachrichtenbüro den Rang ablaufen. Die “deutsch-englische Correspondenz” wurde zwar wegen Erfolglosigkeit nach wenigen Monaten wieder geschlossen; im Anschluss verblieb Fontane aber noch bis Januar 1859 als Presseattaché des preußischen Gesandten Graf Albrecht von Bernstorff vor Ort, um der Regierung weiter Bericht zu erstatten und seine Arbeit als Korrespondent für verschiedene regierungsnahe Berliner Zeitungen fortzusetzen. Dieser rund dreieinhalbjährige London-Aufenthalt ist unter dem Begriff der “Englandjahre” in die Forschung eingegangen und vor allem daraufhin befragt worden, was Fontane aus dieser Zeit für sein späteres Schaffen als Romancier mitnehmen konnte. Charlotte Jolles zufolge schaute Fontane sich bei der englischen Presse viele der Kunstgriffe ab, die für sein Romanwerk stilprägend werden sollten, wie etwa die versteckten Anspielungen, die geschickte Zitatverwendung und den leichten Plauderton (“Fontane als Journalist” 114); kürzlich erweiterte Iwan D’Aprile diesen Befund um die These, auch das Realismus-Verständnis des künftigen Romanautors Fontane habe in London eine entscheidende Prägung erfahren und sei dort auf eine neue, “empirische Grundlage” (203) gestellt worden. Die Fokussierung auf den erst noch kommenden Romanautor hat weitgehend in Vergessenheit geraten lassen, was Fontane während der Englandjahre eigentlich tagaus, tagein produzierte: Im Rahmen seiner Mission verfasste er zahlreiche Zeitungsartikel über die Londoner Kunst-, Theater- und Presseszene für Die Zeit und andere Berliner Blätter, von denen er nach seiner Rückkehr eine Die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth - Zeitalter 13 Auswahl unter dem Titel Aus England in Buchform erneut veröffentlichte. 2 Bis heute sind diese als Auftragsarbeiten im Regierungsdienst und “Stilübung[en]” ( Jolles, “Fontanes Studien über England” 81) abgetanen Texte selbst in Fachkreisen wenig rezipiert worden. Ein neuer und lohnender Zugang zu Aus England eröffnet sich aber, wenn man die teleologische Perspektive auf den späteren Romancier ausklammert und insbesondere die Aufsätze über die Londoner Tageszeitungen in ihrem eigentlichen Entstehungskontext liest. Dann zeigen die Aufsätze, dass die Englandjahre für Fontane nicht nur eine Stilschule waren, sondern auch eine Journalismus-Schule, genauer gesagt: eine Intensiv-Fortbildung im internationalen Pressegeschäft, die aus heutiger Sicht aufschlussreiche Einblicke in die Medienlandschaft der 1850er-Jahre vermittelt. In London setzte Fontane sich mit einer vollkommen anderen Medienwelt auseinander als in Berlin. Londoner Tageszeitungen operierten mit einem viel höheren Unabhängigkeitsgrad von der Regierung und hatten für Berliner Verhältnisse immense Auflagen 3 ; internationale Nachrichtenagenturen sowie “zahllose Exiljournalisten” (D’Aprile 186—7) - darunter Größen wie Karl Marx, Lothar Bucher und Wilhelm Liebknecht - konkurrierten miteinander um die Berichterstattung aus der Welthauptstadt. Hier stand er unter Druck, sich mit der “deutsch-englischen Correspondenz” durchzusetzen; hier erfuhr er am eigenen Leib und mit bis dato ungekannter Intensität, was es hieß, um Meinungshoheit und journalistische Autorität zu kämpfen. Die Frage nach journalistischer Autorität ist denn auch das tonangebende Thema für seine in Aus England versammelten Arbeiten über die englische Presse. Nachdem Fontane mit seinem eigenen Nachrichtenbüro kläglich gescheitert war und es gerade nicht vermocht hatte, die öffentliche Stimmung zu beeinflussen, verlegte er sich darauf, die Macht der englischen Presse aus der kritischen Beobachterperspektive zu hinterfragen und seine Vorgesetzten sowie seine Berliner Leserschaft über die internen Mechanismen des englischen Pressewesens aufzuklären: Er wolle deutschen Lesern gern anschaulich machen, “wie viel oder wie wenig es mit der Autorität der englischen Presse auf sich hat” (265). Es werde nämlich Zeit, dass man auf dem Kontinent “das wirkliche Gewicht der englischen Preßstimmen” (265) richtig zu beurteilen lerne. Im Folgenden soll Fontanes Untersuchung zur Autorität der englischen Presse näher beleuchtet und in ihrer Argumentation nachvollzogen werden. Das Hauptaugenmerk wird seinem umfangreichen Aufsatz über die Londoner Times gelten, der den Schlussstein von Aus England bildet und in dem, wie Fontane betont, seine “Gesammt-Erfahrungen” (VII) auf dem Gebiet der Presse zusammengefasst sind. Eine Doppelthese wird die Lektüre des Times-Kapitels leiten: zum einen, dass Fontanes Perspektive auf die Autorität der englischen Presse vorgeprägt war von seinem eigenen praktischen Scheitern; zum anderen, dass er aber gerade 14 Petra S. McGillen durch die Erfahrung des Scheiterns ein komplexeres Verständnis von journalistischer Autorität und Meinungsbildungsprozessen entwickelte, als es seine Arbeitgeberin - die Presseabteilung der preußischen Regierung - besaß, die noch mit einem vergleichsweise kruden Konzept von Meinungsbildungsprozessen agierte. Der medienhistorische Kontext, in dem Fontane die Macht der Londoner Tagespresse untersuchte, verleiht seinen Ansichten zu journalistischer Autorität aus heutiger Sicht große Relevanz. Fontane verfasste seine Analyse der englischen Presse während eines Schlüsselmoments der Journalismus-Geschichte, nämlich auf der Schwelle zur Massenpresse und zur Professionalisierung journalistischer Praxis. 4 Einerseits erlangten Tageszeitungen auf beiden Seiten des Ärmelkanals ein immer größeres Selbstbewusstsein und wurden sich Journalistinnen und Journalisten zunehmend ihres Einflusses auf das politische und öffentliche Leben bewusst; andererseits hatte die Profession als ganze weder im deutschen noch im englischen Sprachraum die “stock professional norms” (Carlson 484) verbindlich ausgehandelt, auf die sie sich während der Hochphase der Massenmedien im zwanzigsten Jahrhundert zur Begründung ihrer Autorität berufen sollte: Objektivität, Distanz, Neutralität. Die deutsche Presse verstand sich Mitte der 1850er Jahre als verlängerter Arm der Politik; Zeitungen blieben gerade nicht objektiv und neutral, sondern ergriffen Partei (Birkner 149—55). Ähnlich verhielt es sich mit englischen Zeitungen. Sie ließen sich, wie Fontane es auf den Punkt brachte, zwar nicht so einfach festen Parteien zuschlagen wie deutsche, aber auch sie betrieben keine Wahrheitssuche, sondern “Advokatur” (Aus England 312) für oder gegen bestimmte Prinzipien und Positionen. Was Fontane in London beobachtete, war also das Ringen um Autorität zu einer Zeit, die man als das pre-truth age charakterisieren könnte: Medien gewannen insgesamt an Macht, zugleich aber verlief journalistisches Handeln noch weitgehend ungenormt, und objektive Wahrheitsfindung gehörte noch nicht zur geläufigen Zielvorstellung von gelungenem Journalismus. Diese medienhistorische Situation lässt das mittlere neunzehnte Jahrhundert überraschend nahe an das einundzwanzigste - das post-truth age - heranrücken. So besteht derzeit in der Journalismus-Forschung und der Profession Konsens darüber, dass durch den Niedergang der klassischen Massenpresse auch journalistisches Handeln immer weiter seine Konturen verliert, sich das Berufsbild “Journalist/ in” wieder auflöst und der gesamte Berufsstand durch die Erosion der Normen Objektivität, Neutralität und Distanz in eine schwere Autoritätskrise geraten ist (Carlson; Vos und Thomas 2001). Fontanes Ansichten über journalistische Autorität im pre-truth age lassen sich somit aus der Perspektive des post-truth age neu lesen: Seine Analyse bietet die Chance zu beobachten, wie journalistische Autorität ohne Rekurs auf die klassischen Normen gedacht werden kann. Die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth - Zeitalter 15 Es ist für Fontanes Darstellung der Presse in Aus England keine Frage, dass die großen Londoner Zeitungen der 1850er Jahre grundsätzlich im Machtkampf miteinander liegen und - geeint nur in der Gegnerschaft gegenüber der Regierung - mit verschiedenen “Waffen” und “politischen Manövern” um Deutungshoheit, um die Gunst des Publikums und natürlich um Einnahmen streiten (218, 225, 246). Zugleich steht für ihn fest, dass man den Kampf zwischen Blättern wie dem Morning Chronicle, dem Morning Herald und der Daily News nicht immer ganz ernst zu nehmen braucht. Nicht umsonst spricht er im selben Atemzug verniedlichend von den “Messerchen”, die die englischen Zeitungen “rundum am Gürtel” (218) tragen. Den leisen Unernst verliert Fontanes Metaphorik jedoch schlagartig, sobald er sich im letzten Kapitel seiner Untersuchung der Londoner Times zuwendet. Für ihn ist sie schlicht das “Weltblatt” (308), ihre politische Bedeutung unbestritten, ihre “Machtfülle” ein Faktum und ein Grund, sie “mit ihrer eigenen Elle” (311) zu messen. Seiner deutschen Leserschaft diese Ausnahmestellung zu vermitteln, ist Fontanes erstes Anliegen im Times-Kapitel. Dazu stellt er zunächst einmal die in Preußen geläufige Vorstellung vom Abhängigkeitsverhältnis zwischen Staat und Presse auf den Kopf (D’Aprile 195). Die Times ist kein Regierungsorgan oder Parteiensprachrohr, sondern selbst “Großmacht”, um deren “Gunst und Bündniß” sich schon “die größten Staaten” (311) beworben hätten. “Sie hat die Macht, den Einfluß, die Bedeutung eines Staats”, betont Fontane, “und jede Art freier Action, die Staaten für sich in Anspruch nehmen, bildet ebenso ein natürliches Vorrecht der ‚Times’”. Aus dieser Machtstellung heraus betreibe die Times daher auch keine Politik nach irgendeinem “Partei=Programm” (311), sondern schließe Allianzen und löse sie wieder, wie es ihren internen Prinzipien entspreche. Zur Illustration dieser Machtstellung wählt Fontane eine imperiale Bildersprache, die er konsequent auf jeder Beschreibungsebene zur Anwendung bringt. Die Gebäude der Times erheben sich im Londoner Zeitungsviertel “wie ein Castell, das, auch äußerlich, die ganze Situation beherrscht” (248); der “Grund und Boden, auf dem sich alle diese Baulichkeiten erheben”, ist durch das Imperium Romanum, “Cäsaren” und “Päpste” (309) historisch bedeutsam vorgeprägt; und die Gründer- und Eigentümer-Familie, das “Haus John Walter”, bezeichnet Fontane mit vollem Ernst als “Dynastie”, die seit der Gründung des Blattes 1785 dieselbe Entwicklung genommen habe, die man “in der Geschichte junger Staaten […] so oft wahrzunehmen” vermöge - der erste “schafft eine Armee, der zweite schlägt die Schlachten und gründet das Reich, der dritte erbt die Schöpfung seiner Väter […] und freut sich an Tanz und Zitherspiel, während die Minister das Land regieren und thun und lassen, was ihnen beliebt” (305). Selbst in der Schilderung der Druckmaschine der Times, einem “eisernen Ungeheuer” aus acht zusammenhängenden Dampfschnellpressen, kommt ein Bild 16 Petra S. McGillen imperialen Herrschens zum Vorschein. So wie nach klassischer Vorstellung in einem Imperium die Macht vom Zentrum in die Peripherie ausgestrahlt wird, werden in Fontanes Beschreibung die weißen Papierbogen “mit Rapidität” um den Druckzylinder “herumgefegt” und “nach allen Seiten hin als Zeitungsblätter herausgeschleudert” - immer “in vier Sekunden acht Bogen” (310). Nachdem Fontane seiner Leserschaft die Ausnahmestellung der Times dergestalt vor Augen geführt hat, ist sein zweites Anliegen in dem Kapitel zu erklären, was die Ursachen für den “Erfolg” und die “Herrschaft” (315) des Blattes sind. Fontane geht diese Frage geradezu proto-soziologisch an, indem er seine durch “jahrelange” Recherchen und zahllose Gespräche mit englischen Kollegen gewonnenen Erkenntnisse systematisiert. Er unterscheidet vier Faktoren, die in Wechselwirkung miteinander die Machtstellung der Times begründen: “Die Erfolge wurzeln: 1) im Aufrechthalten eines gewissen Mysteriums, 2) in der Vermeidung geschäftlichen Schlendrians, 3) in dem klugen Belauschen der öffentlichen Meinung, 4) in dem Styl und der Art ihrer Leitartikel” (315). Dass Fontane in seiner Analyse ausgerechnet auf diese vier Faktoren verfiel, war kein Zufall. Vielmehr hatte ihn das gerade erlebte Scheitern seines eigenen Nachrichtenbüros für genau diese Faktoren besonders sensibilisiert. Mit Nachdruck galt das für die beiden erstgenannten Punkte, das notwendige Maß an “Mysterium” und die “Vermeidung geschäftlichen Schlendrians”. Fontane hatte weisungsgemäß unbedingt vertuschen sollen, dass die preußische Regierung hinter der “deutsch-englischen Correspondenz” steckte; seine Vorgesetzten hatten ihn instruiert, die Meinungsmache am besten wie unabhängige Berichterstattung aussehen zu lassen, wovon sie sich erhofften, mit den lancierten Artikeln bei deutschen und englischen Zeitungen leichter Gehör zu finden (D’Aprile 188). In der gut vernetzten Londoner Emigranten-Szene hatte sich aber so schnell herumgesprochen, wer eigentlich hinter dem Nachrichtenbüro stand, dass Fontanes Unternehmung binnen weniger Wochen enttarnt war und er sich sogar den wenig schmeichelhaften Titel “Regierungs-Schweinehund” zuzog (D’Aprile 189). So erscheint es geradezu folgerichtig, dass Fontane in seiner Analyse dem erfolgreichen “Aufrechterhalten eines gewissen Mysteriums” hohe Bedeutung beimisst. Die Times war geheimnisumwittert. Sie agierte Fontane zufolge mit “ausnahmelos geschlossen[em] Visir” (316). Den damaligen Eigentümer, John Walter III., habe kaum je ein Mensch gesehen; und selbst die Arbeitsweise von Regierungen sei leichter zu durchschauen als die des Ausnahmeblattes, wie Fontane vernehmbar zynisch bemerkt: “[…] wie vertraulich-menschlich eine Regierung! Ihre Organe sind faßbar, allerhand Gestalten von Fleisch und Blut gehören ihr zu, die Möglichkeit einer Annäherung ist gegeben […]” (316). Im Gegensatz dazu sei schlichtweg kaum bekannt, wer die Blattmacher der Times seien, es existiere lediglich “ein grauer, gestalt- und Die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth - Zeitalter 17 namenloser ‚Editor of the Times’, an den man sich brieflich wendet, als schriebe man an sein Schicksal” (316). Die Times bewahrte Fontane zufolge ihren mysteriösen Nimbus durch Geld und bezahlte ihre Mitarbeiter bestens, erwartete im Gegenzug für ein üppiges Gehalt und eine großzügige Pensionsregelung aber absolute Diskretion, was Betriebsinterna anging (317). Geschickt leitet Fontane seine Analyse so auf den zweiten Erfolgsfaktor über, die Art und Weise der Geschäftsführung oder “die Vermeidung geschäftlichen Schlendrians”. Auch hier ist der Einfluss seines eigenen Scheiterns auf seine Sichtweise deutlich und die Spitze gegen seinen Arbeitgeber unübersehbar. Die preußische Regierung hatte ihn zum Aufbau der “deutsch-englischen Correspondenz” nämlich mit einem miserablen Budget von 1500 Talern und genau einem Mitarbeiter, Rudolf Wentzel, ausgestattet, während andere Regierungen ganz andere Summen und Personalressourcen für gezielte Meinungsmache aufbrachten. 5 Das tägliche Arbeitspensum, das die Einrichtung und der Betrieb der “deutsch-englischen Correspondenz” erforderte, war aber für zwei Leute mit knappem Budget unmöglich zu schaffen - Fontanes Berichten an seine Vorgesetzten und seinen privaten Briefen lässt sich entnehmen, dass er üblicherweise von neun Uhr morgens bis tief in die Nacht schuftete, um die wichtigsten englischen Zeitungen zu durchforsten, gehetzt eigene Artikel zu verfassen und aus all dem irgendwie die Korrespondenz zusammenzukleben. Zu allem Überfluss ruhten auf Fontanes Schultern außerdem noch all die logistischen und administrativen Aufgaben, die das Tagesgeschäft erforderte, wie er unablässig betonte. So beklagte er sich am 1. Dezember 1855 brieflich bei seinem Berliner Vorgesetzten, Ludwig Metzel: Das Geld wird knapp; wer muß auf die Gesandtschaft, wer muß sich eine weiße Weste etc. anziehn … wer anders als pp. Fontane. Er läuft 2 mal vergebens hin; wer muß an den Grafen Brandenburg eine Art Eingabe machen? Natürlich ich … Ich bin noch nicht fertig, da schickt der Drucker einen Brief und zeigt mir an, daß das Papier verbraucht und die höchste Noth sei. Wer muß Hals über Kopf nach Drury-Lane um das Papier zu kaufen? ich. Wer muß jeden Tag (und zwar im Gallopp) auf die Druckerei und von der Druckerei auf die Post? ich. Wer muß die Abendblätter lesen und extrahiren bis tief in die Nacht hinein? ich! und endlich und letztens, wer muß die Spalten füllen und au fond den ganzen Bericht liefern? ich. Da haben Sie ein Bild meines Lebens. (HA IV/ 1: 450) Daran sollte sich während der gesamten Zeit, in der Fontane und sein Compagnon versuchten, die “deutsch-englische Correspondenz” zum Laufen zu bringen, nichts ändern. So schrieb Fontane am 20. Februar 1856 wiederum an Ludwig Metzel, in dem “Uebermaß von Arbeit […], in dieser täglich wiederholten 18 Petra S. McGillen Angst und Abhetzerei” werde er nicht nur zermürbt, sondern auch “jeden Tag dümmer” (HA IV/ 1: 480). Den Erfolg und die Machtstellung der Times sah er in Aus England nun in einer Art von Geschäftsführung begründet, die zu der von ihm erlebten wiederum das genaue Gegenteil bildete. Er ging davon aus, dass die allermeisten und die besten Leitartikel des Blattes “bereits im Laufe des Tages vorher, also mit verhältnißmäßiger Muße, von außerhalb wohnenden, nicht direkt zum Stab der ‚Times’ gehörenden Gentlemen” (308) geschrieben wurden und dass die erfolgreichsten unter ihnen sich eines Jahresgehalts von 2000-Pfund Sterling “fast wie einer Sinekure” erfreuten. Die Times bezahlte ihre Mitarbeiter aber nicht nur mehr als anständig, sondern rekrutierte durch einen klugen Schachzug auch dauernd frische Kräfte: Fontane zufolge benutzte sie die “Eingesandts”, also die Leserbriefe an die Redaktion, als Nachwuchs- und Talentpool und versuchte, die Verfasser zur Mitarbeit zu gewinnen, sobald Leserbriefe ein besonderes “Darstellungs-Talent” oder bemerkenswerte Expertise vermuten ließen (319). So schützte sich die Times vor jener Monotonie, Verdummung, und vor jenem “Mangel an Esprit”, der die “bedenklichste aller Zeitungs-Eigenschaften” sei und den er für sein eigenes Dasein im Hamsterrad der “deutsch-englischen Correspondenz” so bitter beklagt hatte (319). Zur guten Geschäftsführung und somit auch dem Erfolg der Times gehörten nach Fontane außerdem mutige Investitionen in neue Technologien und erfinderisches Denken. Er nennt hier die Nutzung von Telegraphenverbindungen “im großen Styl” (318), durch die es möglich sei, politische Reden, noch während sie gehalten würden, an die Redaktionen zu übermitteln; den Aufbau eines weltweiten Korrespondentennetzes; den frühen Einsatz der Dampfschnellpresse und die zeitweilige Einrichtung einer Paketschifffahrt, durch die es John Walter II. einmal gelungen sei, siegreich aus einer Fehde mit der englischen Regierung um den Versand der Times hervorzugehen. Sämtlichen Beispielen, die Fontane nennt, ist gemeinsam, dass sie sich auf die Schnelligkeit beziehen, mit der die Times Nachrichten produzieren und als materiale Güter befördern konnte. Gerade mit diesen Aspekten, dem Tempo und der widerständigen Materialität, hatte Fontane in seinem eigenen Unternehmen durchweg gerungen. Seine Vorgesetzten hatten ihm im Grunde vom ersten Tag an vorgeworfen, dass die “deutsch-englische Correspondenz” zu langsam war, um für deutsche Zeitungen wirklich relevant zu sein (HA IV/ 1: 452—3), zugleich aber viele seiner Ideen zur Verbesserung der Geschäftsführung - er schlug beispielsweise vor, seine Londoner Wohnung direkt neben die Druckerei zu verlegen und dadurch wertvolle Zeit zu sparen - abgelehnt. Die Kreativität im Umgang mit Problemen, die er an der preußischen Presseabteilung eindeutig vermisste, sah er in John Wal- Die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth - Zeitalter 19 ter II� und der Times insgesamt in Reinform verkörpert und schrieb ihr in der Erklärung der Macht des Blattes eine wichtige Rolle zu. Das bis hierher Gesagte lässt vermuten, dass Fontanes Analyse der Times vor allem eine zwischen den Zeilen versteckte Abrechnung mit seinem Arbeitgeber war. 6 Fontanes Auseinandersetzung mit dem dritten und dem vierten Erfolgsfaktor der Times - ihrem Verhältnis zur öffentlichen Meinung und dem Stil ihrer Leitartikel - zeigt aber, dass es in seiner Analyse um weitaus mehr ging, als der preußischen Centralstelle durch die Hintertür einen Denkzettel zu verpassen. Vielmehr wird hier ersichtlich, um wie vieles komplexer sein praxisgesättigtes Verständnis vom Entstehen journalistischer Autorität war als das der preußischen Presseabteilung. Zu dem Zeitpunkt, als Fontane seine Aufsätze über die englische Zeitungslandschaft verfasste, wurde die Idee einer öffentlichen Meinung ein “powerful rhetorical device and motivating factor for politicians” (Tworek 37). So verkündete etwa Abraham Lincoln 1858: “Public sentiment is everything. With it, nothing can fail; against it, nothing can succeed” (zitiert nach Tworek 37). Zugleich war es eine ungelöste Frage, ob und wie man “die öffentliche Meinung” im Sinne erfolgreicher Staatslenkung formen könne und ob Zeitungen eher als Ausdruck der öffentlichen Meinung anzusehen seien oder als Werkzeug zu ihrer Beeinflussung. Die preußische Regierung hatte ein “instrumentelles Verständnis” (D’Aprile 196) von der Presse und agierte unter der grundsätzlichen Annahme, man könne “von oben” Druck auf Zeitungen ausüben, auf dass sich “unten” die gewünschte öffentliche Meinung bilde. Nicht umsonst wies sie Fontane zusätzlich zu seiner offiziösen Korrespondenten-Tätigkeit an, gezielt den Chefredakteur des englischen Morning Chronicle zu bestechen und so für die Veröffentlichung möglichst vieler pro-preußischer Artikel in England zu sorgen. 7 Dahinter stand natürlich die Erwartung, auf diese Weise gezielt zur Leserschaft durchgreifen und deren Meinungsbildungsprozess steuern zu können. Die instrumentelle Sichtweise spiegelte sich auch in den internen Arbeitsabläufen der preußischen Centralstelle für Preßangelegenheiten und ihrer Nachfolgeorganisationen wider. So waren die Mitarbeiter der Berliner Pressezentrale angewiesen, monatlich Rechenschaft über die Anzahl der propagandistischen Artikel abzulegen, die sie erfolgreich bei deutschen Zeitungen platziert hatten (Wappler 29) und ihre (vermeintliche) Einflussnahme somit zu quantifizieren. Diese Vorgehensweise deutet darauf hin, wie direkt sich die Centralstelle die Manipulation der öffentlichen Meinung durch Zeitungen vorstellte. Der Ansatz der Centralstelle deckte sich mit dem Verständnis von Meinungsmache, das die deutsche Führungselite noch an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert pflegte und das “public opinion” mit “published opinion” gleichsetzte (Tworek 36). 20 Petra S. McGillen Fontane wusste jedoch aus eigener Erfahrung, dass diese direkte und instrumentelle Vorstellung aus mehreren Gründen viel zu simpel war. Öffentlicher Einfluss ließ sich nicht einfach so erkaufen - schon gar nicht in England: “Niemand wird glauben”, schrieb Fontane in Aus England, “einen [englischen] Minister durch ein paar Rebhühner oder eine große Ananas bestechen zu können” (254). Ganz ähnlich verhalte sich es mit einer so großen Institution wie einer Londoner Zeitung, deren Verhältnisse für derlei Beeinflussungsversuche schlichtweg “nicht kleinlich genug” (254) seien. Doch selbst wenn es einmal glücken sollte, einen einzelnen englischen Blattmacher zu bestechen, hielt Fontane diese Strategie letztlich für sinnlos, da er an eine direkte Beziehung zwischen Presse und öffentlicher Meinung schlicht nicht glaubte. So weist er in Aus England ausdrücklich darauf hin, dass keine Zeitung einfach so “die” öffentliche Meinung “macht” (319). Vielmehr geht seine Analyse von einem andauernden und komplizierten Wechselspiel zwischen “Machen” und “Aufgreifen” der öffentlichen Meinung aus, das je nach Thema der Berichterstattung anders verlief. Die Stimme der Times hatte seiner Untersuchung zufolge unter anderem deswegen so viel Gewicht, da die Times-Redaktion diese Beziehung verstanden hatte und das Wechselspiel besser beherrschte als jede ihrer Konkurrentinnen. Im Grunde lasse sich eine öffentliche Meinung nur gegenüber Fragen und Ereignissen machen, die “zu dunkel oder zu indifferent” seien, um nicht ohnehin schon von einer bereits existierenden öffentlichen Meinung begleitet zu sein, so Fontane. Wo aber eine öffentliche Meinung […] bereits Leben hat, da wird sie von der “Times” respektirt, und nach einigen vorsichtig ausgestreckten Fühlern, die das Terrain nochmals rekognosziren sollen, zieht sie sich in ihr Haus zurück, um dann, wenn sie sich im Gegensatz zu derselben befand, in rascherer oder kürzerer Zeit, nach entgegengesetzter Richtung hin einzulenken. (320) Die Klugheit der Times, fasst Fontane diesen Gedanken zusammen, “besteht in dem richtigen Erkennen, wohin denn eigentlich, der Zahl oder der Bedeutung nach, die Majorität der Stimmen neige” (320). Auf die hier artikulierte Vorstellung von der Zeitung als Medium, das die öffentliche Stimmung “abtastet”, wird später zurückzukommen sein; erst einmal gilt es festzuhalten, wie deutlich Fontane sich gegen die Idee positioniert, man könne die öffentliche Meinung mit Hilfe von Zeitungen wunschgemäß formen. 8 In Fontanes Analyse ist implizit noch ein weiterer Grund enthalten, warum ein instrumentelles Presseverständnis und die Vorstellung einer unmittelbaren Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu kurz griffen: wegen der Unberechenbarkeit der Leserschaft. Die deutsche Führungselite hatte, wie Tworek gezeigt hat, eine unterkomplexe Idee von der Leserschaft und sah Zeitungsleserinnen Die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth - Zeitalter 21 und -leser als ein formbares Kollektiv an, dessen Verhalten vorhersehbar war und dessen Reaktionen auf Geschriebenes kontrolliert werden konnten (Tworek 44). Nicht so Fontane. Er beschreibt in Aus England den Leser als einen abgeklärten und gezielt handelnden Konsumenten. Das Verhältnis zwischen Zeitungen und ihren Lesern könne seitens der Leser “jeden Tag gelöst werden”, und es sei “einfach ridikül”, vom “guten Glauben” und der “politischen Unschuld” der Zeitungskäufer zu sprechen: “Wer […] in England Fourpence für seine Zeitung bezahlen kann, der hat das Paradies hinter sich” (258). Die Unabhängigkeit, die Fontane der Leserschaft ganz grundsätzlich unterstellte, drückt sich auch in seiner Beschreibung der typischen Zeitungslektüre aus. Leser sind wählerisch - aus dem reichhaltigen Angebot, das sie vor sich haben, suchen sie sich je nach Zeitbudget und Interessenlage das heraus, was sie individuell wollen, wie Fontane anhand seiner eigenen Times-Lektüre zeigt: Alle Tage, neben der Masse des andern Stoffs, vier Leitartikel lesen, ist unmöglich; ich kam deshalb schließlich zu einem Verfahren, das aller Wahrscheinlichkeit nach von sehr vielen Lesern innegehalten wird. Den rasch geschriebenen, blos paraphrasirenden Leitartikel liest man gar nicht, höchstens den Schlußsatz, der die Meinung enthält; die eigentlichen Leader aber, die das Produkt reiferer Ueberlegung, größerer Sorglichkeit und größeren Talents sind, behandelt man wie verschiedene Arten Fisch, von denen man, je nach Art, das Kopf- oder Schwanzstück bevorzugt. Ist die politische Frage, woran der Artikel anknüpft, von wirklichem Belang, so leistet man auf die Eingangs-Anekdote Verzicht; umgekehrten Falles hört man zu lesen auf, so wie die Anekdote ihr letztes Wort gesprochen hat. (322—23) Eine Zeitung, so lässt sich Fontanes Bild des Fisch zerlegenden Leser-Essers entnehmen, mag zur Veröffentlichung bringen, was sie will; letzten Endes macht sie der Leserschaft nur ein Angebot, ohne kontrollieren zu können, ob, wie und in welchem Umfang dieses Angebot vom Einzelnen wahrgenommen wird. 9 Implizit ist damit auch gesagt, dass eine Presseabteilung, die von einer gesichtslosen, steuer- und berechenbaren Leserschaft ausgeht, bei ihren Versuchen der Meinungsmache nur scheitern kann. Angesichts überversorgter und zugleich wählerischer Leserinnen und Leser muss eine Zeitung, um Autorität zu erlangen, ihr Publikum immer wieder aufs Neue für sich gewinnen. In Fontanes Auseinandersetzung mit der Macht der Times spielt daher der Stil der Artikel - der vierte von ihm genannte Faktor - eine entscheidende Rolle. Am Stil entscheidet sich, ob sich die Leserinnen und Leser momentan faszinieren lassen oder zum nächsten Artikel, dem nächsten Standpunkt, der nächsten Zeitung übergehen. Monotonie ist daher um jeden Preis zu vermeiden. Wie das gelingen kann, sieht Fontane im Times-Leitartikel perfektioniert, in dem der “Feuilleton-Styl” über “die letzten Reste des Kanz- 22 Petra S. McGillen lei-Styls und ähnlicher mißgestalteter Söhne und Töchter lateinischer Klassicität” (321) gesiegt habe. “Lange Perioden sind verpönt; rasch hintereinander, wie Revolverschüsse, folgen die Sätze”, pointiert Fontane die Merkmale dieses Stils. Das Bild der Revolverschüsse lässt schon ahnen, dass dieser Stil ganz auf momentane Wirksamkeit ausgerichtet ist, was Fontanes nähere Beschreibung bestätigt: Der gut geschriebene “Times-“Artikel ist eine Arabeske, die sich graziös um die Frage schlingt, ein Zierrath, eine geistreiche Illustration; er ist kokett und will gefallen, fesseln, bezwingen, aber es fällt ihm nicht ein, auf alle Zeiten hin überzeugen zu wollen […]. Witz und Pathos sind seine liebsten Waffen und lösen sich untereinander ab […]. Wie Voltaire hält er nur eines für verpönt - die Langeweile. Elegant, blendend, pointirt; kein Gericht, das nährt, aber eine Sauce, die schmeckt. (321) Das entscheidende Vermögen und stilistische Erfolgsrezept der Times besteht also darin, mit ihren Leitartikeln nicht Substanz (“Nahrung”) zu liefern, sondern ein kurzzeitiges Erlebnis, eine starke Wirkung (“Sauce“). Genau an dieser Stelle, der momentanen Wirksamkeit, schließt sich in Fontanes Argumentation der Kreis zur Frage, in welchem Verhältnis die Times zur öffentlichen Meinung steht und warum ihr Einfluss weiter reicht als der anderer Blätter. Die Times unterscheide sich von den englischen Durchschnittszeitungen wie der Morning Post oder dem Morning Herald dadurch, dass sie nicht einfach den immer gleichen (Partei-) Standpunkt zum Ausdruck bringe und dadurch stets dasselbe - und begrenzte - “Maaß von Wichtigkeit” (324) habe, sondern keiner Partei angehöre. Es könne ihr deshalb passieren und passiere ihr “sehr oft”, dass sie mit ihrer Position “völlig in der Luft schwebt” und dass der “bestgeschriebene Artikel, den jeder liest, nicht schwerer wiegt als ein Strohhalm und, politisch betrachtet, hinter dem armseligsten Leader einer Partei-Zeitung zurückbleibt” (324). Genau darin, in der Parteilosigkeit der Times, liege aber auch “die Wurzel ihrer Kraft”, wie Fontane fortfährt. Denn: Von dem Augenblick an, wo sie [= die Times] den Ton trifft, der in der einen oder andern Frage das englische Volk durchklingt, wo also das, was sie sagt, zum Ausdruck des Volkes, statt der Partei wird, überragt sie alle übrigen Blätter um eben so viel an Macht und Bedeutung, wie das Ganze stärker ist, als die einzelnen Theile. (324) Die Besonderheit der Times besteht Fontane zufolge also darin, feine Antennen für die Stimmung (den “Ton”) zu besitzen, die über Parteigrenzen hinweg zu großen Fragen existiert, diese Stimmung aufzugreifen und in stilistischer Perfektion zum Ausdruck zu bringen. Dann wird aus der Faszination und Resonanz, die der mitreißend geschriebene Leitartikel in den Leserinnen und Lesern entfacht, politisches Gewicht, denn dann kommt “das Volk” in der Zeitung zu ei- Die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth - Zeitalter 23 nem wirkungsvollen Ausdruck seiner selbst. Wie in Fontanes erster Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen der Times und der öffentlichen Meinung ist es ihm aber auch an dieser Stelle wichtig, eine Einschränkung vorzunehmen und zu betonen, dass die Leitartikel die Stimmung im “Volk” nicht einfach “machen”. Zwar könne die Stimme der Times “unter Umständen die Bedeutung von ganz England haben”, aber: […] man glaube in solchem Fall doch ja nicht, daß die “Times” der Gott sei, der in den Erdkloß England den lebendigen Odem eines Leitartikels geblasen und das Lehmbild dadurch belebt habe; nur die Tuba ist sie, durch die dann das eigenste Fühlen der Nation laut und vernehmlich spricht. Der Einfluß der “Times” reicht nur so weit, wie sie, bewußt oder unbewußt, unter dem Einfluß des nationalen Geistes steht. (324) Die Zurückweisung des Bildes, wonach die Leserschaft einen “Erdkloß” darstellt, dem die Times erst göttlichen Atem einhauchen muss, bevor er zu leben beginnt, unterstreicht noch einmal, wie entschieden Fontane sich gegen die Vorstellung verwahrt, man könne mit einer Zeitung die öffentliche Stimmung von oben (also gottgleich) dirigieren - für ihn ist die Zeitung eine verstärkende Vermittlerin (“Tuba”) schon vorhandener Stimmungen und Strömungen, ein Medium im Wortsinn, aber kein Werkzeug. Daraus folgt für Fontane aber auch, dass die Machtstellung der Times nie konstant ist, sondern ihr Einfluss ständigen Schwankungen unterliegt (325). So kommt seine Analyse zu dem Schluss: “[Die Times] ist schwach und stark, gewichtig und ungewichtig, je nachdem. Festzustellen, wann sie das eine ist und wann das andere, ist unmöglich; wechselndes, immer neugestaltiges Leben läßt sich nicht in Formeln bringen” (325). Noch in seiner Schlussfolgerung erteilt Fontane somit dem bürokratisch-statischen und instrumentellen Verständnis von journalistischer Macht derjenigen preußischen Institution eine Absage, in deren Auftrag er seine Analyse der englischen Presse verfasst hatte. Man mag von Fontanes Pointe, dass die Times dann ihre größte Macht entfaltete, wenn aus ihr “das Volk” sprach, enttäuscht sein und den Rekurs auf den “nationalen Geist” - ein im neunzehnten Jahrhundert viel bemühtes Konstrukt - essentialistisch und nicht eben originell finden, sollte darüber aber nicht das eigentlich Bemerkenswerte an seiner Analyse übersehen: Indem Fontane in Aus England maximale journalistische Autorität explizit vom Parteistandpunkt abkoppelte, sprach er sich eindeutig für die Vorzüge einer freien Presse aus. In der Parteilosigkeit der Times lag die Chance, für viel weitere Teile der Bevölkerung zu sprechen, als das ein parteiisches Blatt vermochte. In dieser Hinsicht ging seine Vorstellung von journalistischer Autorität über das, was in der deutschen Medienlandschaft seiner Zeit möglich war, weit hinaus. Er konzipierte auf diese Weise eine Form von Journalismus, die ihre Autorität weniger 24 Petra S. McGillen aus politischer Zugehörigkeit bezog als vielmehr aus dem genauen Beobachten und pointierten Beschreiben gesellschaftlicher Stimmungen. Zwei weitere Kernpunkte seiner Untersuchung waren ihrer Zeit voraus - das Plädoyer für eine anständige Bezahlung von Journalistinnen und Journalisten, auf dass sie ihrer Arbeit mit dem nötigen gedanklichen Freiraum nachgehen konnten, und der Ansatz, keine gesichtslose und formbare Leserschaft vorauszusetzen, sondern von individuellen Leserinnen und Lesern auszugehen, die ihre eigenen Lektüre-Modi ausbildeten und immer aufs Neue gewonnen werden wollten. Es gehört zu den vielen Widersprüchen in Fontanes Biographie, dass er sich, nachdem er all diese Erkenntnisse gewonnen hatte, nach seiner Rückkehr aus London der rechtskonservativen Kreuzzeitung anschloss, in deren Redaktionsräumen er dem Pre-truth-Zeitalter für eine weitere Dekade seines Lebens verhaftet bleiben sollte. Notes 1 “Offiziös” bezeichnet den halbamtlichen Status der Korrespondenzberichte. Während sie inhaltlich “reine Regierungspropaganda” vermittelten, sollten sie nach den Privatmeinungen der Verfasser aussehen und somit einen Anschein von Unabhängigkeit bewahren. Siehe hierzu sowie zu Fontanes Dasein in London ausführlich D’Aprile 181—226. 2 Zum Entstehungskontext, Inhalt und zur Rezeption von Aus England siehe genauer die Verf., “Aus England” (erscheint vors. Dezember 2020). - Zitate aus Aus England wurden in der Orthographie nicht modernisiert. Zitate aus Fontanes Briefen folgen der Hanser-Gesamtausgabe/ Sektion IV unter Verwendung der üblichen Abkürzungen für die Band- und Seitenzahlen. 3 Fontane beziffert die Auflage der Times mit 50.000 bis 60.000 Exemplaren. Im Gegensatz dazu hatte beispielsweise Die Zeit in ihrer erfolgreichsten Phase Mitte der 1850er Jahre eine Auflage von 6500 Exemplaren und die Vossische Zeitung von 14.000 Exemplaren. Siehe Berbig, Fontane im literarischen Leben, 54; 74. - Noch um 1900 bestand einer der Hauptunterschiede zwischen der englischen und der deutschen Presseszene darin, dass die deutsche viel dezentraler strukturiert war. Tworek zitiert eine frühe Statistik, der zufolge 75- Prozent der deutschen Zeitungen im Jahr 1898 mit Auflagen von 3000 Exemplaren oder weniger erschienen, während nur 10-Prozent mit Auflagen von 7000 Exemplaren oder mehr gedruckt wurden. Siehe Tworek 31—32. 4 Die Professionalisierung des Journalismus verlief im deutschen und englischen Sprachraum aller sonstigen Unterschiede zwischen den jeweiligen Medienlandschaften ungeachtet nahezu zeitgleich. Wie Tworek zeigt, erfolgten die Gründungen der ersten nationalen Berufsverbände und der ersten Die Entstehung journalistischer Autorität im Pre-truth - Zeitalter 25 Journalismus-Schulen in Deutschland, England und den USA im Zeitfenster zwischen den 1880er und den 1910er Jahren weitgehend parallel. Siehe Tworek 34. 5 Fontanes Brief an Metzel vom 20. Februar 1856 ist zu entnehmen, dass Schlesinger jährlich 4000 Rthlr zur Verfügung standen. Siehe HA IV/ 1: 481. Eine noch viel gewaltigere finanzielle Diskrepanz stellt auch Wappler fest, der aus Akten des Preußischen Geheimen Staatsarchivs rekonstruiert hat, dass der Pressefonds der preußischen Regierung Ende der 1850er Jahre auf 31.000 RT festgelegt wurde, während Österreich für die “Organisation der Presse” zu diesem Zeitpunkt etwa 250.000 RT aufwandte. Siehe Wappler 80—81. 6 In der Tat schlägt D’Aprile vor, Fontanes “Wahrnehmungen, Schilderungen und Wertungen […] immer im Kontrast zu den preußischen Presseverhältnissen und in Bezug auf das deutsche Lesepublikum” (194) zu sehen. Dem soll hier nicht widersprochen werden; ganz im Gegenteil soll dieser Befund erweitert und präzisiert werden. 7 Der Bestechungsversuch ist in Fontanes Tagebuch sowie in Berbigs Theodor Fontane Chronik (598) dokumentiert. Siehe dazu auch D’Aprile 195—97. 8 Als Romanautor sollte Fontane genau dieses lebendige Spiel unterschiedlicher Diskurse zum konstitutiven Prinzip seiner Prosa machen, wie Norbert Mecklenburg unter dem Stichwort der “Romankunst der Vielstimmigkeit” einschlägig gezeigt hat. Zur Übersetzung der Stimmenvielfalt in ein poetologisches Schreibverfahren siehe die Verf., The Fontane Workshop, 230—243. 9 Fontane praktizierte diese vollkommen freie und sprunghafte Lektüreweise virtuos und bezog daraus kreative Energie für sein eigenes Schreiben. Siehe hierzu die Verf., The Fontane Workshop, 173—82. Works Cited Berbig, Roland. Theodor Fontane Chronik. With Josefine Kitzbichler. Berlin: De Gruyter, 2010� —. Theodor Fontane im literarischen Leben. Zeitungen und Zeitschriften, Verlage und Vereine. With Bettina Hartz. Berlin: De Gruyter, 2000. Birkner, Thomas. Das Selbstgespräch der Zeit. Die Geschichte des Journalismus in Deutschland 1605—1914. Köln: Herbert von Halem Verlag, 2012. Carlson, Matt. “Rethinking Journalistic Authority: Walter Cronkite and Ritual in Television News.” Journalism Studies 13.4 (2012): 483—498. D’Aprile, Iwan Michelangelo. Fontane. Ein Jahrhundert in Bewegung. Reinbek: Rowohlt, 2019� Fontane, Theodor. Aus England. Studien und Briefe über Londoner Theater, Kunst und Presse. Stuttgart: Ebner & Seubert, 1860. —. Werke, Schriften und Briefe. (HA) Ed. Walter Keitel and Helmuth Nürnberger. 22 vols. Munich: Carl Hanser Verlag, 1971—97. Jolles, Charlotte. “Fontane als Journalist und Essayist.” Jahrbuch für internationale Germanistik 7.2 (1975): 98—119. —. “Fontanes Studien über England (1972).” Charlotte Jolles - Ein Leben für Fontane. Gesammelte Aufsätze und Schriften aus sechs Jahrzehnten. Ed. Gotthard Erler with Helen Chambers. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2010. 73—83. McGillen, Petra S. “Aus England.” Theodor-Fontane-Handbuch. Ed. Rolf Parr, Gabriele Radecke and Peer Trilcke, Berlin: De Gruyter [in preparation]. —. The Fontane Workshop: Manufacturing Realism in the Industrial Age of Print. New York: Bloomsbury Academic, 2019. Mecklenburg, Norbert. Theodor Fontane. Romankunst der Vielstimmigkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1998. Streiter-Buscher, Heide. “Zur Einführung.” Theodor Fontane: Unechte Korrespondenzen 1860—1865. Ed. Heide Streiter-Buscher. Berlin: De Gruyter, 1996. 1—66. Tworek, Heidi J.S. News from Germany: The Competition to Control World Communications, 1900—1945. Cambridge, MA: Harvard UP, 2019. Vos, Tim P., and Ryan J. Thomas. “The Discursive Construction of Journalistic Authority in a Post-Truth Age.” Journalism Studies 19.13 (2018): 2001—2010. Wappler, Kurt. Regierung und Presse in Preußen. Geschichte der amtlichen preußischen Pressestellen 1848—1862. Leipzig: Noske, 1935.