Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2021
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Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß
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2021
Damianos Grammatikopoulos
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Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß Damianos Grammatikopoulos New Brunswick, NJ Abstract: This paper examines the interrelations between Kafka’s novel The Castle and Michael Haneke’s film adaptation of the same name by emphasizing elements that can be classified as not media-specific: the visual and particularly acoustic aspects in the novel and the linguistic qualities in the film. The first segment of the essay offers an in-depth look into the field of adaptation studies and the article as a whole suggests an alternative view on the relationship between source text and adaptation. The further analysis is centered on central motifs (letters, telephones, and other devices) in both works and the means that each medium employs to highlight them. Keywords: Kafka studies, adaptation studies, film studies, intermediality, intertextuality, literary criticism Im Film erkennt der Mensch den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stimme. Experimente beweisen das. Die Lage der Versuchsperson in diesen Experimenten ist Kafkas Lage. (Benjamin 436) Seit der jüngsten Kafka-Forschung liegen Bemühungen vor, Kafkas Texte mit anderen Medien und insbesondere mit dem Filmmedium in Beziehung zu setzen. Neben Max Brod, der schon 1927 thematische Parallele zwischen Kafkas Roman Der Verschollene (den Brod unter dem Titel Amerika veröffentlichte) und Charlie Chaplins Filmen konstatierte (Alt 8), haben Theodor W. Adorno und Walter Benjamin ebenfalls Aussagen über die Verwandtschaft zwischen Kafkas Texten und dem Stummfilm getroffen. In den “Aufzeichnungen” zu seinem Essay “Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages” behauptet Benjamin, dass Chaplins Werke einen “wirklichen Schlüssel zur Deutung Kafkas” innehaben 20 Damianos Grammatikopoulos (1194). In seinem Brief an Benjamin vom 17. Dezember 1934 untermauert Adorno Benjamins Stellungnahme und nimmt eine ähnliche Position ein, wenn er angibt, dass Kafkas Romane die “letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum stummen Film” sind (Adorno 106). In der neueren Kafka-Forschung wird oft darauf verwiesen, dass Kafkas Texte enge Bezüge zu einer Vielzahl von Medien unterhalten. Beispielsweise rekonstruiert Hanns Zischlers berühmt gewordene Arbeit “Kafka geht ins Kino” den kulturellen Kontext zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Prag, in den Kafka eingebettet war, und unternimmt den Versuch, die Auswirkungen des Stummfilms auf Kafkas biographische Schriften ans Licht zu bringen. Peter-André Alt geht in seiner Kafka-Analyse einen Schritt weiter, wenn er in seinem Buch “Kafka und der Film” die Hypothese aufstellt, Kafkas Texte wiesen Merkmale einer filmischen Schreibweise auf. Er beteuert dabei, ähnlich wie Benjamin, dass eine “kinospezifische Struktur von Kafkas fiktionalen Entwürfen […] den Charakter eines Schlüssels für die Analyse seiner poetischen Einbildungskraft” gewinnen könnte (11). Filme und Graphic Novels erfreuen sich in der Kafka-Forschung ebenfalls großer Beliebtheit. In Extraterrestrial Kafka: Ahead to the Graphic Novel bearbeitet Henry Sussman die Relationen zwischen Kafkas Oeuvre und Graphic Novels, während die Autoren des Sammelbandes Mediamorphosis: Kafka and the Moving Image, um nur ein Beispiel aus diesem Strang der Forschung zu nennen, sich mit Kafkas Weiterwirken in Filmen bzw. Literaturverfilmungen befassen. Besagte Ansätze sind von einer doppelten Zielrichtung gekennzeichnet: Zum einen sind sie darum bemüht, mediale Bezüge in Kafkas Texte ins Auge zu fassen, um die Auswirkungen des jeweiligen Mediums, in der Regel des (Stumm-) Filmes, auf Kafkas literarisches Schaffen nachzuweisen, zum anderen sind sie daran interessiert, Kafkas Nachleben in anderen Medien ausfindig zu machen. Oliver Jahraus fasst diese Problemlage folgendermaßen zusammen: “Unter der Überschrift Kafka und der Film sind zwei Bereiche zu beleuchten und aufeinander zu beziehen: Der eine eröffnet sich mit der Frage, wie Kafka zum Film stand, und der zweite, wie der Film zu Kafka steht” ( Jahraus 224). Literaturverfilmungen fallen eindeutig in den zweiten Forschungszweig. Während aber Studien zum Thema Kafka-Adaptionen in der Regel die Frage der Werktreue aufwerfen und darauf konzentriert sind, Auslassungen und Umdeutungen in den filmischen Ableitungen zu besprechen - Jahraus spricht hierbei von einer “Verlustrechnung” (330) - schlägt die vorliegende Arbeit einen Ansatz vor, der Adaptionen als mediale Fragmente eines ohnehin fragmentierten (schriftlichen) Werkes betrachtet. Im Folgenden geht es darum, den aktuellen Stand der Adaptionsforschung eingehender zu erläutern, um diese Problemlage und deren Bedeutung für die jüngere Kafka-Forschung darzulegen. Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 21 Seit den Anfängen der Adaptionsforschung war das wichtigste Kriterium, an dem man den Erfolg einer Verfilmung messen könnte, die Treue des Filmes zur Vorlage, der sogenannte fidelity discourse. In Novel To Film fasst Brian McFarlane die oben erwähnte Problemlage folgendermaßen zusammen: “Fidelity criticism depends on a notion of the text as having and rendering up to the (intelligent) reader a single, correct ‘meaning’ which the filmmaker has either adhered to or in some sense violated or tampered with” (McFarlane 8). McFarlane gibt zwar oft an, sich vom Bereich der Werktreue distanzieren zu wollen, dies gelingt ihm allerdings nur teilweise, denn in seiner Analyse steht ein Vergleich zwischen Original und Adaption d. h. die Frage, was die filmische Umsetzung ausgelassen und was sie hinzugefügt hat, im Mittelpunkt. Welche Auswirkungen besagte Änderungen auf die Vorlage haben und welche Wechselwirkung man hier beobachten kann, wird jedoch nur am Rande besprochen. George Bluestone gilt dabei als der erste Kritiker, der Werktreue als einen äußerst problematischen Begriff behandelte und eine alternative Theorie zu der kritischen Auseinandersetzung mit Verfilmungen vorlegte. In seinem Werk Novels into Film legt Bluestone Nachdruck auf die medienspezifischen Eigenschaften der Medien Film und Literatur und hebt ihre Differenzen hervor, die einen direkten Vergleich zwischen ihnen, Bluestone zufolge, im Grunde unmöglich machen. Unabhängig davon, ob die filmische Aufarbeitung dem Text nahe bleibt oder nicht, bleibt ein Film in seiner Struktur als audiovisuelles Medium ein Werk, das mit dem literarischen Medium, als ein genuin linguistisches Mittel, wenige Gemeinsamkeiten hat. Werktreue erweist sich daher, so Bluestone, als ungeeignet für eine kritische Auseinandersetzung mit Verfilmungen. “Like two intersecting lines, novel and film meet at a point, then diverge. At the intersection, the book and shooting-script are almost indistinguishable. But where the lines diverge, they not only resist conversion; they also lose all resemblance to each other” (Bluestone 63). Es wird allerdings oft darauf hingewiesen, dass Bluestone, trotz seiner originellen Herangehensweise, in seiner Analyse implizit dem Medium Literatur den Vorrang gibt. 1 Sein Beitrag hat sich dennoch als wegweisend erwiesen, weil sich sein Ansatz auf die besonderen narrativen Strukturen der jeweiligen Werke bezieht und diese Medienspezifizität bleibt bis heute ein zentrales Anliegen in modernen medienwissenschaftlichen Diskussionen. In Irina Rajewskys Werk “Intermedialität” z. B. ist der Begriff des Intermedialen ohne klare Grenzen zwischen den diversen medialen Gruppen nicht denkbar. Intermedialität wird in diesem Zusammenhang von den verwandten Disziplinen Intramedialität und Transmedialität abgegrenzt. Dem Präfix “intra-” entsprechend bezeichnet das erste Feld Bezüge, die sich innerhalb eines einzigen Mediums abspielen (intertextuelle und intramediale Verweise zwischen zwei oder mehreren literarischen Texten). Transmedialität bezieht sich hingegen auf 22 Damianos Grammatikopoulos Phänomene, in denen das Ursprungsmedium irrelevant ist, wie das z. B. der Fall, Rajewsky zufolge, bei der Parodie ist. Wichtig ist hierbei, wie die Autorin betont, dass in beiden Fällen keine Überschreitung von Mediengrenzen stattfindet. Der Begriff des Intermedialen wird entsprechend erst dann eingesetzt, wenn dies der Fall ist. 2 Als ein Vorgang, bei dem mindestens zwei Medien involviert sind, bilden Adaptionen laut Rajewsky nur einen Forschungszweig des intermedialen Gegenstandsbereiches, der von ihr als “Medienwechsel” bzw. “Medientransfer” bezeichnet wird. 3 Verfilmungen kann man tatsächlich dem Bereich des Intermedialen zuordnen, wenn das Entscheidende hierbei die Übertretung von Mediengrenzen ist, doch das Präfix “inter-”, das zu Deutsch soviel wie “zwischen” bedeutet, verweist nicht auf eine Überschreitung hin, sondern auf Gegebenheiten, die sich zwischen zwei oder mehreren Medien abspielen. Wenn das Überschreiten von Mediengrenzen das Entscheidende ist, dann wäre vielmehr das Präfix “trans-” für derartige Phänomene geeignet, denn “trans-” deutet auf eine Transformation, Transliteration und Transgression hin, d. h. auf eine Überschreitung von einem klar demarkierten Bereich einerseits und einem Transfer von Inhalten andererseits. In seinem Buch Convergence Culture beschäftigt sich der Medienkritiker Henry Jenkins mit der Fusion von Medien verschiedener Art (Medienkonvergenz) einerseits und Narrativen andererseits, die über mehrere Medien hinweg erzählt werden. Der Begriff transmedia storytelling, 4 den er hier prägt, weist auf eine Geschichte hin, die über Filme, Comics, Animationen und Computerspiele erzählt wird, wie das z. B. bei der “Matrix”-Serie der Fall ist: A transmedia story unfolds across multiple media platforms, with each new text making a distinctive and valuable contribution to the whole. In the ideal form of transmedia storytelling, each medium does what it does best - so that a story might be introduced in a film, expanded through television, novels, and comics; […] Any given product is a point of entry into the franchise as a whole. Reading across the media sustains a depth of experience that motivates more consumption. ( Jenkins 135) Adaptionen fallen allerdings nur bedingt unter die Kategorie von transmedia storytelling, weil sie nicht als Fortsetzung, sondern als modifizierte Version einer transmedialen Geschichte aufgefasst werden können. Dass sie medienübergreifend bzw. transmedial sind, ist evident, denn bei jeder Umsetzung sind mindestens zwei Medien involviert. Sie sind aber auch intermedial (zwischenmedial), weil das Auftreten einer Adaption Einfluss auf die Bedeutungsdimension der Vorlage nimmt, die sich wiederum auf die Adaption zurückwirkt. Daraus ergibt sich ein neues, komplexes Narrativ, dessen Verständnis von allen hier involvierten Medien abhängig ist. Das Grenzgebiet, auf dem die Wechselwirkungen zwischen Vorlage und Adaption(en) zutage treten, kann man sich als eine Grenze Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 23 vorstellen, die die jeweiligen Medien nicht nur voneinander trennt, sondern auch miteinander verbindet. Die Präsenz einer Grenze lässt zudem die Möglichkeit einer Grenzüberschreitung offen, ja sie lädt sogar dazu ein. Grenzen sind selten stabil, wie die Geschichte uns lehrt, sondern oszillierend und in stetiger Bewegung und das gilt laut Rajewsky vor allem für Mediengrenzen, die ja historisch bedingt sind: “Wie das spezifisch Filmische, Literarische oder Musikalische zu definieren ist, auf das bestimmte Texte rekurrieren oder rekurrieren könn(t)en, lässt sich somit immer nur unter Berücksichtigung des Kriteriums der Historizität beantworten” (37). Besagte Mediengrenzen werden trotz ihrer vergänglichen Natur von den Türhütern der jeweiligen Wissenschaften streng bewacht und es drohen schwere Konsequenzen für den Eindringling, der unbefugt seinen Fuß über die Schwelle setzt. Für den Adaptionsforscher ist der Schritt ins Ungewisse trotzdem lohnenswert, denn eine Verfilmung und deren Interpretation gehen immer mit einem Akt der Medien- und Fachüberschreitung einher. Vor diesem Hintergrund stellen Adaptionen ein Phänomen von inter-, d. h. transmedialen Weiterverarbeitung, Imitation, Reproduktion und Iteration dar, das sich durch die Geschichte der meisten Medien, alt oder neu, wie ein roter Faden zieht. Im Hinblick auf die transmediale Wiederholbarkeit mehr oder minder bekannter Stoffe, die von den meisten narrativen Medien praktiziert wird, stellt James Naremore Verfilmungen auf die gleiche Stufe mit allen repetitiven und technisch reproduzierbaren Erzählformen und fordert eine fachübergreifende, transmediale Theorie: The study of adaptation needs to be joined with the study of recycling, remaking, and every other form of retelling in the age of mechanical reproduction and electronic communication. By this means, adaptation will become part of a general theory of repetition, and adaptation study will move from the margins to the center of contemporary media studies. (Naremore 15) Die vorliegende Studie geht Naremores Forderung teilweise nach, obgleich kein ausführlicher, transmedialer Ansatz hier vorliegt. Das Ziel der Untersuchung in den folgenden Abschnitten beschränkt sich vielmehr darauf, die Wechselwirkungen zwischen Vorlage (Kafkas Das Schloß) und Verfilmung (Hanekes Das Schloß) in ein neues Licht zu rücken und sie als Teil des gleichen unstabilen und sich stets ausdehnenden Narratives zu betrachten. Das Augenmerk der Analyse richtet sich demgemäß nicht auf einen Vergleich zwischen dem Kafka’schen Prätext und dessen Adaptionen und lässt darüber hinaus die Frage nach Werktreue außer Acht. Die These, die hier aufgestellt wird, ist dabei folgende: Es ist nach dem Erscheinen einer Adaption im Grunde genommen nicht mehr möglich, die Vorlage isoliert von ihrer transmedialen Ableitung zu besprechen, denn von diesem Zeitpunkt an geht das Original, das keines mehr ist, in eine 24 Damianos Grammatikopoulos enge Beziehung mit seiner transmedialen Reproduktion ein. Erzähltext, falls es sich überhaupt um einen Text handelt, und mediale Umsetzung(en) schmieden ein Gefüge, das nicht mehr auflösbar ist. Dass besagter Kontext durch weitere, zukünftige Umsetzungen weiter ausgedehnt werden kann, legt Zeugnis von der Unmöglichkeit ab, eine in sich abgeschlossene Interpretation zu liefern, denn die Bedeutungsdimensionen der ursprünglichen Geschichte verschieben sich durch den Einsatz von Adaptionen ununterbrochen. Von der hier erwähnten interpretativen Unabgeschlossenheit ist auch die vorliegende Studie betroffen, denn sie befasst sich zwangsläufig nur mit einer einzigen Verfilmung und nimmt entsprechend nur einen Teil des intermedialen Kontextes in Acht, den der Ausgangstext generiert hat. So wendet sich die folgende Analyse Passagen in Kafkas Roman zu, die von einer besonderen audio-visuellen Beschaffenheit gekennzeichnet sind, um sie anschließend mit Szenen aus Michael Hanekes “Schloß”-Verfilmung (1997) in Verbindung zu setzen. Oft diktiert der Beamte so leise, daß der Schreiber es sitzend gar nicht hören kann, dann muß er immer aufspringen, das Diktierte auffangen, schnell sich setzen und es aufschreiben, dann wieder aufspringen u.s.f. Wie merkwürdig das ist! Es ist fast unverständlich. (Kafka 281) Gleich zu Beginn des Romans ist festzustellen, dass Geräte, wie der Telefonapparat z. B., Laute von sich geben, die auf keinen Referenten zurückzuführen sind. Dieses Phänomen kommt zu Beginn des ersten Kapitels klar zum Vorschein, als K. im Schlossdorf ankommt und Zuflucht in einem naheliegenden Wirtshaus findet. Als er vom Schlosskastellan (Schwarzer) aufgefordert wird, seine Erlaubnis vorzulegen und seinen Aufenthalt in der Gemeinde des Schlosses nachzuweisen, behauptet K. vom Grafen des Schlosses als Landvermesser berufen worden zu sein. Um das Missverständnis zu klären, entscheidet man sich, telefonisch Kontakt mit den Behörden bzw. der “Zentralkanzlei” aufzunehmen. Das telefonische Gespräch zwischen Schwarzer und einem gewissen Herrn Fritz, der am anderen Ende der Leitung spricht, entwickelt sich zuungunsten K.s., denn die Zentralkanzlei bestreitet K.s Aussagen und seine Behauptung, das Schloss habe ihm einen Auftrag erteilt. Schwarzer legt auf und ist bereit, K. aus dem Wirtshaus zu vertreiben: Einen Augenblick dachte K., alles, Schwarzer, Bauern, Wirt und Wirtin würden sich auf ihn stürzen, um wenigstens dem ersten Ansturm auszuweichen, verkroch er sich ganz unter die Decke, da - er steckte langsam den Kopf wieder hervor - läutete das Telephon nochmals und wie es K. schien, besonders stark.“ (12) Die Lautstärke des Telefons greift im ogiben Zitat in das Geschehen ein und modifiziert durch ihren Einsatz den Ausgang des Disputes, denn Schwarzer wird Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 25 anschließend von derselben Zentralkanzlei informiert, dass K.s Behauptung der Wahrheit entspricht: “K. horchte auf. Das Schloß hatte ihn also zum Landvermesser ernannt” (12). Das Läuten des Apparates agiert hier wie ein Reflexmechanismus des Schlosses, wie ein Alarmsignal, dem Laut der “elektrischen Glocke” (440) im Gang des Herrenhofes nicht unähnlich, und dank seines Einsatzes erhält K. die Genehmigung, im Schloss bleiben zu dürfen. Damit einhergehend spricht Avital Ronell in ihrer Auseinandersetzung mit Kafkas Roman von einer stetigen Intervention seitens des Schlosses, wenn Kommunikation in Stillstand zu geraten droht. Sie hebt allerdings den trügerischen Wert dieser Form von Kommunikation hervor, die keine ist: Often, when K. finds the villagers’ speech incomprehensible, or when the villagers remain aggressively mute, the castle intervenes as the single source of apparently significative communication. But these communication acts usually point ironically and even ‘joyously’ to dashing the possibility for communication. (Ronell 192) Dass K. als Landvermesser im Schlossdorf anerkannt wurde, ist nicht auf den Telefonapparat zurückzuführen, über den K. ein Gespräch führt, sondern auf die Stimme des Gerätes. Nicht dem Telefongespräch, sondern dem Klingeln des Apparates hat K. zu verdanken, und es ist die Stimme des Telefons, an der Spuren des Schlosses lesbar werden. Michael Levine unterstreicht dabei die gestische Dimension von akustischen Phänomenen im Roman und weist sie in Kafkas Texten als eine besondere Form von Geste (“gesture”) aus: So persistent is this connection that it would appear as though the most radical gestures of Kafka’s texts had to be performed with a musical soundtrack or acoustic accompaniment-that is, unless these sounds were themselves more than mere accompaniments and actually performed the very gestures in question. (Levine 206) Das Zitat thematisiert die Tragweite der Gesten der Kafka’schen Figuren und spielt somit auf Benjamins Kafka-Abhandlung an: Dann erst wird man mit Sicherheit erkennen, daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden. (Benjamin 418) Die von Benjamin postulierte Unentwirrbarkeit der Kafka’schen Gesten wird von Levine auf die auditive Ebene der Texte übertragen, auf der sich ähnliche Mechanismen abzeichnen. Am Anfang des zweiten Kapitels (“Barnabas”) findet ein zweites Telefongespräch statt, das dem Leser die prekären Kommunikationsbedingungen des Romans erneut vor Augen führt. K.s Gehilfen informieren ihn, dass es nicht 26 Damianos Grammatikopoulos möglich sei, ohne Erlaubnis das Schloss zu betreten. Daraufhin befiehlt er ihnen, den “Kastellan” anzurufen und ihn zu bitten, ihm eine Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen. Den Gehilfen gelingt es allerdings nicht, K. mit dem Kastellan in Kontakt zu setzen, und so entschließt sich K., selbst anzurufen: Aus der Hörmuschel kam ein Summen, wie K. es sonst beim Telephonieren nie gehört hatte. Es war wie wenn sich aus dem Summen zahlloser kindlicher Stimmen - aber auch dieses Summen war keines, sondern war Gesang fernster, allerfernster Stimmen - wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug so wie wenn sie fordere tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör. K. horchte ohne zu telephonieren, den linken Arm hatte er auf das Telephonpult gestützt und horchte so. Er wußte nicht wie lange, so lange bis ihn der Wirt am Rocke zupfte, ein Bote sei für ihn gekommen. “Weg”, schrie K. unbeherrscht, vielleicht in das Telephon hinein, denn nun meldete sich jemand. (Das Schloß 36) Dass dem Motiv des “Schreiens” im obigen Zitat eine große Bedeutung zukommt, ist hier evident. Um das rätselhafte “Summen” des Apparates zu bezwingen, reagiert K. mit einem Schrei (“Weg”), “vielleicht in das Telefon hinein”. Dieses Schreien setzt seinerseits das Telefongespräch in Gang. Schließt man einen Zufall aus (es wäre der zweite), liegt die Vermutung nahe, dass es die Intensität von K.s Stimme war, die das Summen der Hörmuschel zum Schweigen brachte und die Verbindung mit Oswald herstellte. Was des Weiteren hervorsticht, ist die Empfindlichkeit des Apparates gegenüber bestimmten Lauten und Lautstärken. Die Anmerkungen des “Vorstehers” und dessen verzwickte Argumentationen im fünften Kapitel (“Beim Vorsteher”), in denen eine eigenartige Klassifikation zwischen “privatem” und “amtlichem” Kommunikationsverkehr eingeführt wird, bezogen sowohl auf Telefongespräche als auch auf Briefe, eröffnen eine weitere Perspektive bezüglich der Funktion und Bedeutung des Telefonapparates und der Geräusche, die es generiert. Als K. im besagten Kapitel dem Vorsteher einen Besuch abstattet und ihm mitteilt, er sei vom Schloss als Landvermesser ernannt worden, entgegnet dieser, dass jedwede Bemühungen, telefonischen Kontakt mit den Schloss-Behörden aufzunehmen, vergeblich sind: In Wirtsstuben u. dgl. da mag es [das Telefon] gute Dienste leisten, so etwa wie ein Musikautomat, mehr ist es auch nicht. […] Im Schloß funktioniert das Telephon offenbar ausgezeichnet; wie man mir erzählt hat wird dort ununterbrochen telephoniert, was natürlich das Arbeiten sehr beschleunigt. Dieses ununterbrochene Telephonieren hören wir in den hiesigen Telephonen als Rauschen und Gesang, das haben Sie gewiß auch gehört. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzige Richtige und Vertrauenswerte, was uns die hiesigen Telephone übermitteln, alles andere ist Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 27 trügerisch. Es gibt keine bestimmte telephonische Verbindung mit dem Schloß, keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet […]. (115-116) K. ist inzwischen mit den musikalischen Eigenschaften des Apparates bestens vertraut. Das penetrante “Summen”, dieser “Gesang fernster, allerfernster Stimmen” (36), bezieht sich dem Anschein nach auf das Rauschen der Hörmuschel. Den Erläuterungen des Vorstehers zufolge ist das einzige “Richtige und Vertrauenswerte” das eben genannte Summen, die Geräusche, die das Gerät generiert und nicht der Inhalt der Gespräche. Anstatt eine Verbindung zwischen zwei Teilnehmern herzustellen, verkompliziert die Apparatur des Kafka’schen Schlosses diesen Prozess, weil die fehlende “Zentralstelle” zufällige und nicht die gewünschten Teilnehmer einschaltet, die ihrerseits die Gespräche als Zerstreuung wahrnehmen. Aus den Zeilen der obigen Passage lässt sich noch herauslesen, dass Kommunikation mittels Telefons im Schloss anscheinend doch möglich ist (“Im Schloß funktioniert das Telephon offenbar ausgezeichnet”). Das charakteristische Summen der Hörmuschel, das K. im zweiten Kapitel in seinen Bann riss, ist auf das kontinuierliche Telefonieren der Beamten und Diener im Schloss zurückzuführen und ist infolgedessen ein Produkt desselben, unzugänglichen Bereichs. Das Summen der Hörmuschel kann entsprechend als eine Spur des Schlosses gelesen werden. Von Avital Ronell wird dieses verbotene und ersehnte Gebiet des Romans als “locus of meaning” beschrieben. The castle, one of the primary fictions that the novel pursues, excites our curiosity by provoking the belief, shared at times by characters and commentators alike, that somewhere beyond the lowly bureaucrats, in some secluded chamber, there resides, with an air of serene majesty, the translucent embodiment of meaning. (Ronell 196) In mancherlei Hinsicht ähnelt die vergebliche Suche nach dem Schloss dem aussichtlosen Forschen nach dem Unbewussten. Achim Geisenhanslükes Überlegungen in “Das Schibboleth der Psychoanalyse”, in dem die psychoanalytische Arbeit mit einer “archäologischen Tiefenwissenschaft” verglichen wird, sind im Blick auf die eben genannte Verschränkung besonders aufschlussreich: An diesen unbehaglichen und unheimlichen Ort schattenhafter Wesenslosigkeit zu gelangen, ist das ebenso erstrebte wie unmögliche Ziel der Psychoanalyse, ein Unterfangen, das Freuds Technik zugleich mit der Topik literarischer Unterweltsfahrten verbindet. […] Sich auf Freud einlassen heißt daher noch immer, sich auf die Suche nach einem unzugänglichen Ort zu machen, der Heimat wie Exil der Psychoanalyse gleichermaßen markiert. (Geisenhanslüke 9) Ähnliches gilt auch in Kafkas Roman. Der Eintritt ins Schloss wird sowohl dem Protagonisten als auch dem Leser und Interpreten gleichermaßen verweigert. 28 Damianos Grammatikopoulos Sich auf die Suche nach dem Schloss zu begeben, gleicht einer Farce. Dessen gut gehütetes Innere ist allerdings durch eine Reihe von Supplementen erreichbar. Sind es Träume und Erinnerungen, die die Spuren des Freud’schen Unbewussten lesbar machen, so sind es Surrogate wie das Summen und Rauschen der Hörmuschel, anhand deren man die Auswirkungen des Kafka’schen Schlosses im Roman deuten kann: “So habe ich das allerdings nicht angesehen”, sagte K., “diese Einzelheiten konnte ich nicht wissen, viel Vertrauen aber hatte ich zu diesen telephonischen Gesprächen nicht und war mir immer dessen bewußt, daß nur das wirkliche Bedeutung hat, was man geradezu im Schloß erfährt oder erreicht”. (Das Schloß 117) Der Vergleich des Telefons mit einem Musikautomaten von Seiten des Vorstehers im gleichnamigen fünften Kapitel lässt erahnen, dass die von ihm geschilderten musikalischen Dimensionen des Apparates sich vor allem auf dessen “Gesang” und “Summen” beziehen. Seine Aussagen lassen sich aber auch im Blick auf das Klingeln des Telefons erweitern. In Hanekes gleichnamigen Filmadaption ist die Verschränkung von Telefon und Musikautomaten besonders aufschlussreich. In der ersten Szene des Filmes, im Vorspann, als K. zum ersten Mal die Wirtsstube betritt, ist Musik im Hintergrund zu hören, die, wie man bald feststellt, intradiegetisch ist (sie kommt von einem Musikautomaten bzw. einem Radio). Der Film wird zudem von keinem Soundtrack begleitet. Die Musik, in den spärlichen Szenen, in denen sie vorkommt, ist immer intradiegetisch, was angesichts der vorangegangenen Überlegungen zur Bedeutung der Laute und Geräusche im “Schloß”-Roman von Bedeutung ist. Es sei allerdings angemerkt, dass Haneke eine Abneigung gegen Soundtracks hat und Musik im Allgemeinen in seinen Filmen vermeidet, wie er selbst in einem Interview mit Michel Cieutat angibt (Zitat aus dem Französischen von Peter Brunette): I love music too much to use it to cover up my mistakes! In film, it’s often used this way, no? Besides, in a “realist” film, where does the music come from, excluding the times when it comes from a radio that’s been turned on? Now, in my film there are no situations in which one would be listening to music. And I would have found it dishonest to try to cover up mistakes. (Brunette 152) Wie aus dem Zitat ersichtlich wird, kommen Geräten in Hanekes Filmen, die Geräusche von sich geben (das Medium des Fernsehers wäre hier ebenfalls zu nennen, obwohl es in der Schloß-Verfilmung verständlicherweise nicht eingesetzt wird), eine besondere Bedeutung zu. Gleich zu Beginn des Filmes, nachdem K. (gespielt von Ulrich Mühe) das Wirtshaus betreten hat, ruht der Kamerablick auf dem Musikautomaten, der nun in Großaufnahme und damit im Detail zu sehen ist. In derselben Einstel- Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 29 lung drückt der Wirt auf einen Knopf und die Musik kommt zum Stillstand. Der Wirt erteilt anschließend K. die Erlaubnis, in der Wirtsstube schlafen zu dürfen, und dieser schläft in der Folgeeinstellung ein. Während der Kamerablick auf K. ruhen bleibt, hört man im Hintergrund das Drücken desselben Knopfes und die Musik fängt erneut an zu spielen. Die Sequenz endet mit einem langatmigen Schnitt, einem von insgesamt 30, die den Film in 30 klar strukturierte Sequenzen oder, wenn man so will, Kapitel untergliedert (in der Vorlage sind es 25). Es sei an dieser Stelle erneut auf Hanekes eigentümliche Stilmittel verwiesen und den regelmäßigen Einsatz von Schwarzblenden in seinen Filmen: I […] am always fighting a little bit against this idea of identification. I give the spectator the possibility of identifying, and immediately after, with the help of the black shots for example, I say to him or her: Stop a little bit with the emotional stuff and you’ll be able to see better. (Brunette 142) Diese rezeptionsästhetische Technik rückt Hanekes Werk in die Nähe des Neuen Deutschen Films, wie Daniela Sannwald anmerkt: So ließe sich Hanekes Verwendung von Schwarzblenden zwischen den Szenen womöglich als buchstäbliche Umsetzung der damaligen Forderung nach den Lücken zwischen den Filmbildern verstehen, die der mündige Zuschauer selbst zu schließen habe. (Sannwald 7) Ob man den Schwarzblenden im Film die hier formulierte Funktion zuschreiben kann oder nicht, sei dahingestellt. Was sich aber aus ihrem Einsatz ergibt, ist eine fragmentierte Geschichte, die in ihrer Struktur dem “Schloß”-Roman sehr nahekommt. Der Film zeigt dadurch eine in weiten Strecken eigentümliche Treue zur Vorlage auf, die sich sowohl auf der inhaltlichen bzw. wörtlichen Ebene als auch auf der formalen abspielt, wie sich im Folgenden zeigen wird. Die zweite Filmsequenz nach der Schwarzblende beginnt mit einer Großaufnahme von K., der von einer Hand geschüttelt und dadurch geweckt wird. Im Hintergrund ist immer noch Musik zu hören. Es folgt das Gespräch zwischen K. und Schwarzer, von dem schon im letzten Kapitel die Rede war. Als K. Schwarzer nach dem Schloss fragt, schaltet der Wirt die Musik aus. Stille bricht ein und alle Blicke im Wirtshaus richten sich auf K. Das Ausschalten des Automaten wird in dieser Szene als narratives Mittel eingesetzt, um Spannung aufzubauen und die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf einen bestimmten Moment im Filmgeschehen zu lenken. Das Ausschalten des Apparates und die damit einhergehende Unterbrechung der Musik markieren einen Bruch in der inszenierten Handlung, was vom Zuschauer als Indikation einer Änderung wahrgenommen wird. Es ist, anders formuliert, die plötzlich auftretende Stille im Film (ein wiederkehrendes und komplexes Motiv auch im Roman), die diesen Effekt in der 30 Damianos Grammatikopoulos Filmszene erzeugt. In Knut Hickethiers Analyse der auditiven Ebene des Filmmediums wird der Einsatz von Stille in Filmszenen folgendermaßen geschildert: Ein tonloses Geschehen auf der Leinwand wirkt unvollständig, unwirklich, wie tot. Ein ständiges, leicht unregelmäßiges Hintergrundgeräusch signalisiert uns dagegen Lebendigkeit, auch den vom Hörenden aufrechterhaltenen Kontakt mit der Welt. Im Film wird deshalb eine sogenannte “Atmo” erzeugt, eine akustische Atmosphäre, die den Wirklichkeitseindruck des Visuellen wesentlich steigert. Sie ist auch anwesend, wenn sonst nichts zu hören ist und eine “spannungsgeladene Stille” beabsichtigt ist. (Hickethier 91) Die Gegenüberstellung von Musikautomaten und Telefon im Film kann im Blick auf die Aussagen des Vorstehers im Roman als visuelle Interpretation der Vorlage gedeutet werden: “In Wirtsstuben u. dgl. da mag [das Telefon] gute Dienste leisten, so etwa wie ein Musikautomat, mehr ist es auch nicht” (Kafka 115-116). Im anschließenden Telefongespräch zwischen K. und Oswald in der filmischen Umsetzung der Hörmuschel-Sequenz, ist es die Stimme aus dem Off, welche die Laute des Geräts mündlich wiedergibt. Das “Summen” der Hörmuschel kann man im Film nicht hören. Was man aber hören kann, ist die Schilderung des Summens vom Off-Erzähler (Udo Samel), der in Anlehnung an die Vorlage diese wortgetreu zitiert. Die Off-Stimme - ein genuin literarisches Stilmittel, das aufgrund von Konventionen als solches nicht mehr wahrgenommen wird - überschreitet hier ihre Funktion als additives, erzählerisches Mittel, indem sie Vorgänge im Film schildert, die während ihres Einsatzes zeitgleich auch mit audio-visuellen Mitteln wiedergegeben werden. Sie erzählt die Geschehnisse und Dialoge, die wir als Zuschauer auch ohne ihren Einsatz in derselben Szene sehen und hören können. Durch diese Überlappung und Iteration, sowohl auf inhaltlicher 5 als auch auf narrativer Ebene, reflektiert der Film seine Verwandtschaft zur Romanvorlage und offenbart, zum zweiten Mal, die starke Einflussnahme des Neuen Deutschen Films auf Hanekes Werk. 6 Das Telefon als technisches Kommunikationsmedium im Roman ist zudem mit sexuellen Konnotationen aufgeladen. Die Verwendung des Wortes “Hörmuschel”, ein Gefüge, das den Stamm des Verbes “hören” und das Substantiv “Muschel” zu einem Nomenkompositum zusammenfügt, steht stellvertretend für die libidinösen Zustände in der Geschichte. Vor allem das Wort “Muschel” ist aufgrund seiner Mehrdeutigkeit von besonderem Interesse. Der Duden führt dabei folgende Bedeutungen an: “in Gewässern lebendes, zum Teil essbares Weichtier”, “Kurzform für: Hörmuschel, Kurzform für Sprechmuschel” und “Vagina [Gebrauch: salopp]”. 7 Das Wort für Vagina wird darüber hinaus in der deutschen Umgangssprache oft durch ein Wort ersetzt, das im Deutschen fast wie ein Homonym des Nomens “Muschel” klingt. 8 Während der allgemeine Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 31 Gebrauch des Wortes “Hörmuschel” in der deutschen Sprache Zeugnis von der schon erwähnten sexuellen Konnotation des Hörens mittels einer Apparatur legt, werden die sexuellen Anspielungen im Film und im Roman auf die Spitze getrieben. In der folgenden Passage, die im vorangegangenen Kapitel schon zitiert wurde, wird Hören als ein Akt von Penetration geschildert, was es teilweise auch ist: “wie wenn sich aus diesem Summen in einer geradezu unmöglichen Weise eine einzige hohe aber starke Stimme bilde, die an das Ohr schlug so wie wenn sie fordere tiefer einzudringen als nur in das armselige Gehör” (36). In Hanekes Verfilmung wird der Musikautomat Kafkas Hörmuschel gegenübergestellt. Dass der Musikautomat im Film in den Kontext der obigen Überlegungen gestellt werden kann, belegt unter anderem dessen Name und die zahlreichen Großaufnahmen, die ihn im Detail zeigen. Achtet man genauer auf diese Einstellungen, wird einem klar, dass der Musikautomat ein Radio der Firma “Hornyphon” ist (made in Vienna - Abb. 1). Abb. 1: Das “Hornyphon” (Michael Haneke: Das Schloß)- Kafkas “Tele-phon” wird somit durch Hanekes “Horny-phon” erweitert. Dem ersten Wort des Kompositums, dem Adjektiv “horny”, werden im Englischen vier Bedeutungen zugeschrieben, 9 von denen die ersten zwei hervorstechen. Haneke scheint hiermit einerseits auf die Aussagen des Vorstehers anzuspielen, der das Telefon mit einem Musikautomaten vergleicht (bezogen auf seine Funk-tion), und andererseits auf den libidinösen Kraftaufwand der Kafka’schen Figuren, allen voran K.s, die stets den Versuch unternehmen, durch diverse Supplemente Kontakt mit dem Schloss aufzunehmen. Zu diesen Supplementen 32 Damianos Grammatikopoulos gehören Telefongespräche und Briefe d. h. schriftliche und mündliche Nachrichten, sowie Personen, die oft als Mittel zum Zweck genutzt werden. Begehrlich sucht man nach Spuren des Schlosses und dessen hochrangigen Repräsentanten Klamm, die nur durch Substitutionen zugänglich sind. For we learn by observing the characters that in the world of The Castle, the desire to reach the castle or Klamm, whether expressed sensually or verbally, always carries with it the force of an erotic drive. […] Driven by an erotic pulsion toward the castle or Klamm, the characters encounter an implicit interdiction which they however appear to accept: they are never allowed in their sensual or interpretative “performances” to achieve a moment that even remotely approximates satisfaction. The text thus interlaces sensuality with interpretation as it advances a poetics of desire manifesting the characters’ consent to incompleteness, to time and to the repetition of desire in time. (Ronell 197) Ronells Begriff “poetics of desire” bezeichnet eine im Kafka’schen Text manifeste, triebgeladene Begierde der Charaktere, die mit einem unvermeidlichen Misslingen einhergeht. Dieses Unvermögen offenbart sich auch in den zahlreichen Briefen, ein weiteres Kommunikationsmedium im Film und im Roman, auf dem ebenfalls die Hoffnung ruht, Spuren des Schlosses ausfindig zu machen. Man könnte auf dieser Grundlage alle Ersatzformen im Roman und in der Filmadaption, die von den Akteuren als Mittel verwendet werden, um eine temporäre aber nicht vollständige Befriedigung zu erreichen, als “horny-phon” bezeichnen. In ihnen entlädt sich zeitweilig die auf das Schloss ausgerichtete, libidinöse Frustration der Protagonisten, auch wenn sie als Mittel nur stellvertretend für das Objekt ihrer Begierde stehen. “Aber nun höre wie es sich mit den Briefen verhält, mit den Briefen an Dich […]” (Kafka, Das Schloß 282) Im Roman wird von mehreren Briefen berichtet: die zwei Briefe von Klamm an K. (40, 187), Sortinis Brief an Amalia (302, 303), dessen Inhalt man nur andeutungsweise von Olgas Aussagen erfährt, und Olgas Brief an Barnabas (357), der eher als Empfehlungsbrief einzustufen ist. K.s zweite mündliche Nachricht an Klamm (192-93) wird interessanterweise schriftlich festgehalten, obwohl Barnabas sie mündlich an Klamm überliefern soll. Bleiben wir aber bei dem ersten Brief von Klamm an K. Der Brief trägt die schwerwiegende Unterschrift des “Vorstandes” Klamm, ist an K. adressiert und bezieht sich auf K.s Ankunft und seine neue Stelle: Sehr geehrter Herr! Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen. Ihr nächster Vorgesetzter ist der Gemeindevorsteher des Dorfes, der Ihnen Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 33 auch alles Nähere über Ihre Arbeit und die Lohnbedingungen mitteilen wird und dem Sie auch Rechenschaft schuldig sein werden. Trotzdem werde aber auch ich Sie nicht aus den Augen verlieren. Barnabas, der Überbringer dieses Briefes, wird von Zeit zu Zeit bei Ihnen nachfragen, um Ihre Wünsche zu erfahren und mir mitzuteilen. Sie werden mich immer bereit finden, Ihnen soweit es möglich ist, gefällig zu sein. Es liegt mir daran zufriedene Arbeiter zu haben. (Das Schloß 40) Im gleichen Kapitel (“Barnabas”) folgt eine beispiellose Interpretation des Briefes von K. Er behauptet, der Brief beinhalte Widersprüche, die so sichtbar seien, “daß sie beabsichtigt sein mußten” (41), spricht von Stellen “wo er offen oder versteckt als ein kleiner […] Arbeiter behandelt” (41) werde, und interpretiert auch den Satz “wie Sie wissen” (43) als eine geheime Drohung, eine implizite Kampfansage. Im fünften Kapitel (“Beim Vorsteher”) wird schließlich der Interpretationsprozess ad absurdum geführt. Der Vorsteher im gleichnamigen Kapitel deutet Klamms oben zitierten Brief aus einer Perspektive, aus der Inhalte sich als sekundär erweisen. Indem er Briefe und Telefongespräche in “amtliche” und “private” unterteilt und K.s Brief als einen privaten Brief einstuft, führt er K. vor Augen, dass er den Brief “missverstanden” habe und dass er nicht “in die herrschaftlichen Dienste angenommen” sei, wie der Brief behauptet. Die Botschaften aller Kommunikationsmedien im Roman sind demnach inhaltslos (aber keineswegs bedeutungslos), vor allem dann, wenn sie als Wegweiser benutzt werden. Damit ist allerdings nur teilweise das McLuhansche Grundprinzip “the medium is the message” gemeint, nach dem das eigentliche Signifikante nicht die Botschaft, sondern das Medium an sich ist. Im Zentrum der Geschichte steht vielmehr die Geste der Überbringung von Botschaften und weniger eine Unterscheidung zwischen Form und Inhalt. Dieselben Medien agieren dabei als Supplemente, indem sie dem Empfänger eine temporäre, trügerische Hoffnung gewährleisten und ihm glauben lassen, durch sie Kontakt mit dem Schloss herstellen zu können. Den Briefen und allen schriftlichen Dokumenten kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, weil sie von einer materiellen Qualität gekennzeichnet sind. Olgas Aussagen im 16. Kapitel sind diesbezüglich besonders aufschlussreich. In ihrem Versuch, K. die komplexen Kommunikationsbedingungen im Schloss nahezubringen, erläutert sie den Umgang mit Briefen in den Kanzleien in folgender Weise: Inzwischen sucht der Schreiber aus den vielen Akten und Briefschaften, die er unter dem Tisch hat, einen Brief für Dich heraus, es ist also kein Brief den er [Klamm] gerade geschrieben hat, vielmehr ist es dem Aussehen des Umschlags nach ein sehr alter Brief, der schon lange dort liegt. … Der Schreiber allerdings macht es sich leicht, gibt Barnabas den Brief, sagt: “Von Klamm für K.” und damit ist Barnabas entlassen. (283) 34 Damianos Grammatikopoulos Anhand von Olgas Schilderungen wird das Sender-Empfänger-Modell auf den Kopf gestellt. Man weiß nicht mehr, trotz der Unterschrift, von wem und wann die Nachricht geschrieben wurde und zu welchem Zweck. Was übrig bleibt, ist die bloße Geste der Überbringung der schriftlichen Nachricht, deren Auslieferung vom Boten und deren Empfang vom Adressaten. In Hanekes Filmadaption kommt dem Motiv des Briefes ebenfalls eine zentrale Rolle zu. Sowohl im Roman als auch in Hanekes Verfilmung erhält K. den ersten Brief direkt nach dem Telefongespräch mit Oswald (Hörmuschel-Szene). Die anschließende schriftliche Nachricht ist folglich von einer Bewegung gekennzeichnet, die den Übergang von einem Medium (Telefon) zum anderen (Brief) markiert. Dieselbe Szene scheint darüber hinaus von einer logozentrischen Kritik durchzogen zu sein, denn schriftliche Nachrichten werden in den Vordergrund und mündliche in den Hintergrund gerückt (die schriftliche Nachricht erfolgt nach dem verwirrenden telefonischen Gespräch, von dem bereits die Rede war). Diese These wird jedoch im Kapitel “Auf der Straße” im Roman entkräftet, als K. seine zweite mündliche Nachricht an Klamm zwar schriftlich festhält, dennoch darauf besteht, Barnabas solle sie an Klamm mündlich vortragen. 10 Im Film, auf der anderen Seite, sticht das Zusammenspiel von drei Medien ins Auge: Telefon, Musikautomat und Brief. Das Aus- und Einschalten des Musikautomaten in der filmischen Hörmuschel-Szene wird auch hier als narratives Mittel eingesetzt, um Spannung auf- und abzubauen. Der Musikautomat wird an dieser Stelle erst dann ausgeschaltet, als K. die Entscheidung fällt, selbst die Kanzlei anzurufen und erst nachdem er die Aussage trifft: “Ich werde selbst telefonieren”. Der Protagonist wird in einer Großaufnahme im Profil gezeigt, bevor man zur nächsten Einstellung, ebenfalls in Großaufnahme, wechselt, in der der Musikautomat im Mittelpunkt steht. Man sieht die Hand des Wirtes und den Knopfdruck auf dem Apparat, bevor die Musik abgestellt wird. Nach einem Wechsel zu einer Nahaufnahme sieht man die Bauern, die sich allmählich von hinten um K. gruppieren, während er mit Oswald telefoniert. Kurz vorm Ende des Dialogs entfernen sich die Bauern von der linken Seite des Bildes und der Musikautomat wird sichtbar (Abb. 2). Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 35 Abb. 2: Das Telefonat (Michael Haneke: Das Schloß)- Abb. 3: Der Brief (Michael Haneke: Das Schloß)- Direkt nach dem Telefongespräch tritt Barnabas in den Bildraum ein, stellt sich vor und übergibt den ersten Brief an K. Der Brief wird in einer Großaufnahme und in Aufsicht gezeigt. Auf der Rückseite des nassen Umschlags liest man die Überschrift: “An den Landvermesser im Brückenhof.” Es handelt sich hier um eine Ergänzung von Haneke, da diese Überschrift im Roman nicht vorkommt. Der Brief wird aus dem Umschlag gezogen, auseinandergefaltet, und in der 36 Damianos Grammatikopoulos gleichen Einstellung vor der Kamera gehalten. Die Zeilen des Briefes aus der Vorlage, die bereits zitiert wurden, werden im Film nicht vollständig wiedergegeben. Einzelne Sätze werden ausgelassen (Abb. 3). Der Kamerablick bleibt auf den Brief fixiert, während K. den Brief laut liest. Als Zuschauer kann man den Brief in dieser Einstellung aus der Sicht des Protagonisten lesen, während man ihn zeitgleich von K. (Ulrich Mühe) hören kann. Eine eigenartige, iterative Transponierung findet statt: Schrift wird mündlich wiedergegeben, was die akustische Dimension der Sprache hervortreten lässt. Es folgt eine Reihe von abwechselnden Großaufnahmen in einem Schuss-Gegenschuss-Dialog zwischen K. und Barnabas. K. liest den Brief während der Schuss- Gegenschuss-Sequenz zu Ende und spricht seine (erste) mündliche Nachricht an Klamm aus, die Barnabas weiterleiten soll. 11 K.s mündliche Botschaft im Film ist identisch mit der Passage, die im Roman vorliegt. Der Film rückt somit das Zusammenspiel von schriftlicher und mündlicher Sprache einerseits und die Verschränkung zwischen visueller und auditiver Ebene andererseits in den Vordergrund. Noch bevor K. den letzten Satz seiner mündlichen Nachricht ausspricht, wird er vom Musikautomaten unterbrochen, der plötzlich eingeschaltet wird und die Szene musikalisch untermalt. Der Kamerablick bleibt dabei in Großaufnahme auf K. fixiert (im Hintergrund links und rechts hinter ihm sind seine Gehilfen zu sehen); der Apparat wird nicht gezeigt. Von der Musik deutlich abgelenkt, richten K., die Gehilfen und nach dem Cut auch Barnabas ihren Blick auf das Radio, was die zentrale Rolle des Apparates in dieser Szene von Neuem hervorhebt. K. führt den letzten Satz seiner mündlichen Botschaft zu Ende bevor Barnabas “alles wortgetreu” (mündlich) wiederholt. Im gleichen Abschnitt im Roman werden keine Musikapparate oder Musik im Allgemeinen erwähnt. Das Wort “Musikautomat” wird erst vom Vorsteher im gleichnamigen Kapitel erwähnt, in dem Telefongespräche mit der Musik in Wirtstuben verglichen werden. Damit scheint die Figur des Vorstehers einerseits auf die Irrelevanz solcher Inhalte aufmerksam machen zu wollen und andererseits die Selbstständigkeit der Laute hervorzuheben, die sie generieren. Die Anwesenheit eines Musikapparates in beiden Szenen im Film, in denen telefoniert wird, scheint eine Anspielung auf diese Aussage zu sein oder vielmehr eine audiovisuelle Interpretation der gleichen Aussage, die den Inhalt von Telefongesprächen und schriftlichen und mündlichen Botschaften als arbiträr darstellt, wobei gleichzeitig ihre supplementäre Funktion unterstrichen wird. Die hier besprochenen Medien und Medieninhalte sind folglich nur als “hornyphone” Supplemente wertvoll, da sie als solche den Protagonisten eine temporäre, trügerische Befriedigung verschaffen, und ihnen Hoffnung geben, durch sie, vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, das Schloss betreten zu dürfen. Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 37 Zu Beginn der 19. Sequenz im Film begegnet man einer ähnlichen repetitiven Konstellation. In einer Großaufnahme aus der Perspektive des Protagonisten wird ein handschriftlich generiertes Protokoll gezeigt, das K. laut vorliest, während man als Zuschauer das Dokument zeitgleich lesen kann: Es ist klar, daß der Landvermesser Frieda nicht liebt, aber er wird nicht von ihr lassen, solange er noch irgendwelche Hoffnung hat, daß seine Rechnung stimmt. Er glaubt nämlich in ihr eine Geliebte des Herrn Vorstandes erobert zu haben und dadurch ein Pfand zu besitzen, das nur zum höchsten Preis eingelöst werden kann (Abb. 4). Abb. 4: Das Protokoll (Michael Haneke: Das Schloß)- Die letzten Worte des letzten Satzes (“eingelöst werden kann”) werden nicht laut ausgesprochen. Während K. immer noch dabei ist, den Brief vorzulesen, fokussiert sich der Kamerablick in einer Großaufnahme auf K.s Gesicht, der von dem Inhalt des Dokumentes sichtlich enttäuscht und verärgert innehält und seinen Blick auf Momus und die Wirtin richtet. Es folgt das Protokoll-Verhören. Die Szene ist nicht nur aufgrund ihrer iterativen Struktur interessant, auf die man bereits eingegangen ist, sie sticht auch im Blick auf ihr Verhältnis zur Vorlage hervor. Im Gegensatz zum Roman, in dem der Inhalt des Protokolls nicht preisgegeben wird, kann man in der oben beschriebenen Filmszene das Protokoll deutlich lesen. Achtet man jedoch genauer auf den Roman, stellt man schnell fest, dass der Inhalt des Briefes im Film auch im Roman vorkommt und zwar im 14. Kapitel (“Friedas Vorwurf”), das von den Vorwürfen Friedas an K. durchzogen ist: 38 Damianos Grammatikopoulos Es sind vielleicht die gleichen Worte, welche die Wirtin gebrauchte, auch sie sagt, daß Du erst seitdem Du mich kanntest zielbewußt geworden bist. Das sei daher gekommen, daß Du glaubtest in mir eine Geliebte Klamms erobert zu haben und dadurch ein Pfand zu besitzen, das nur zum höchsten Preise ausgelöst werden könne. Über diesen Preis mit Klamm zu verhandeln sei Dein einziges Streben. (Das Schloß 245) Ein Abschnitt aus dem Roman wird somit durch ein Copy-Paste-Verfahren aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen und in der Zeitfolge des Filmes in eine andere, frühere Stelle eingefügt. Durch diesen Akt des Zitierens lädt der Film ein, die obige Szene im Verhältnis zu der Vorlage zu lesen, was dazu führt, Friedas Vorwürfe als die Vorwürfe der Wirtin zu identifizieren. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen erweist sich die Beziehung zwischen Vorlage und Filmadaption als besonders komplex und wechselseitig. Die Vorzüge einer simultanen Lektüre von Text und Verfilmung sind evident. Durch den Prozess der Transliteration, der Übersetzung von einem Medium ins andere, entsteht ein Spiegelbild oder vielmehr ein Trugbild der Vorlage, das für den Roman ebenso unabdingbar ist, wie der Text für den Film. Der Verdienst einer Interpretation, die mehrere Versionen einer Narration miteischließt, liegt nicht nur darin, die Beziehungen zwischen Vorlage und Verfilmung(en) zu besprechen, sondern besagte Medien in eine vielschichtige Wechselbeziehung treten zu lassen. Eine derartige transmediale Lektüre ist imstande, Verhältnisse ans Licht zu bringen und Motive zu erleuchten, die konventionellen, monomedialen Herangehensweisen verschlossen geblieben wären. So steht die hier vorgelegte Verfahrensweise im Zeichen einer Weiterverarbeitung Kafka’scher Stoffe, die allerdings weniger den Transformationsvorgang zum Gegenstand der Untersuchung macht, sondern Ausgangstext und Verfilmung als Bestandteile eines fragmentierten Korpus betrachtet. Adaption bedeutet in diesem Sinne nicht Anpassung an ein anderes Medium, sondern Änderung durch einen Prozess des transmedialen Simulierens. Der hier beschriebene Simulationsvorgang ähnelt dabei einer Transplantation, d. h. der Verpflanzung von organischen Körperteilen an einen anderen Ort. Die Transplantate der Vorlage, die auf den neuen Körper transplantiert werden, bewirken indessen Modifikationen, die sowohl auf den Spender als auch auf den Empfänger Auswirkungen haben. Durch die hier skizzierte Prozedur wird eine Verknüpfung zwischen Spender (Vorlage) und Empfänger (Adaption) hergestellt, die nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Zwischen Schrift und Film: Franz Kafkas und Michael Hanekes Das Schloß 39 Notes 1 “However, as soon as Bluestone focuses on the ‘unique and specific properties’ of each medium, it becomes obvious that his discussion is underpinned by a continued belief in the intrinsic superiority of literature.” (Aragay 13). 2 “Intermedialität: Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“ (Rajewsky, Intermedialität 13)� 3 Unter das Stichwort Intermedialität subsumiert Rajewsky insgesamt drei Kategorien, die sich mit intermedialen Phänomenen auseinandersetzten: Medienkombination (der Photoroman, die Klangkunst etc.), Medienwechsel (Literaturverfilmungen d. h. Adaptionen) und intermediale Bezüge (filmisches Schreiben, Literarisierung des Films etc.). 4 Der Begriff hat sich im Deutschen als “transmediales Erzählen” eingebürgert. 5 Von einer einzigen Ausnahme abgesehen, werden Passagen aus der Vorlage vom Off-Erzähler wortgetreu zitiert, ohne jegliche Änderungen oder Auslassungen vorzunehmen. 6 “Die Wahrnehmung von Handlung ist jeweils anders, ob man sie durch Kommentar oder im Bild beschreibt. Durch die doppelspurige Beschreibung kann eine Intensivierung und wechselseitige Verfremdung erreicht werden, die sowohl den sprachlichen wie den bildlichen Ausdruck erst bemerkbar macht” (Reitz, Kluge, und Reinke, “Wort und Film” 19). 7 “Muschel.” Duden Online. www.duden.de/ rechtschreibung/ Muschel Web. 2. Nov. 2020. 8 Das Wort “Muschi” hat in der deutschen Umgangssprache die gleiche Bedeutung mit dem Wort “Vagina”. 9 “1. (informal) sexually excited: to feel horny. 2. (informal): sexually attractive: to look horny. 3. made of a hard substance like horn: the bird’s horny beak. 4. (of skin, etc.) hard and rough: horny hands.” Oxford Learner’s Dictionaries, s.v “horny”. Web. 2 Nov. 2020. <https: / / www.oxfordlearnersdictionaries.com/ definition/ english/ horny? q=horny>. 10 “aber Du mußt es doch mündlich ausrichten, einen Brief will ich nicht schreiben, er würde ja doch wieder nur den endlosen Aktenweg gehn” (Kafka, Das Schloß,193)� 11 “‘Richte also Herrn Klamm meinen Dank für die Aufnahme aus wie auch für seine besondere Freundlichkeit, die ich als einer, der sich hier noch gar nicht bewährt hat, zu schätzen weiß. Ich werde mich vollständig nach seinen Absichten verhalten. Besondere Wünsche habe ich heute nicht’. Barnabas, der genau aufgemerkt hatte, bat den Auftrag vor K. wiederholen zu dürfen, K. erlaubte es, Barnabas wiederholte alles wortgetreu” (Kafka, Das Schloß, 45-46). 40 Damianos Grammatikopoulos Works Cited Adorno, Theodor W. “Aus der Korrespondenz mit Theodor W. Adorno.” Benjamin über Kafka: Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Ed. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1981. 100-110. Alt, Peter-André. Kafka und der Film: Über kinematographisches Erzählen. Munich: C.H. Beck, 2009. Aragay, Mireia. “Introduction. Reflection to Refraction: Adaptation Studies Then and Now.” Books in Motion: Adaptation, Intertextuality, Authorship. Ed. Mireia Aragay. Amsterdam: Rodopi, 2005. 11-34. Benjamin, Walter. Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Vol. 2. Ed. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991. Biderman, Shai, and Ido Lewit. Mediamorphosis: Kafka and the Moving Image. London: Wallflower P, 2016. Bluestone, George. Novels into Film. 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