Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2021
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Marc Lacheny: Littérature « d’en haut », littérature « d’en bas » ? La dramaturgie canonique allemande et le théâtre populaire viennois de Stranitzky à Nestroy
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2021
Thomas Nolte
Marc Lacheny: Littérature « d’en haut », littérature « d’en bas » ? La dramaturgie canonique allemande et le théâtre populaire viennois de Stranitzky à Nestroy. Reihe Forum Österreich 2. Berlin: Frank & Timme, 2016. 352 pp. € 49,80
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Irène Cagneau, Sylvie Grimm-Hamen, Marc Lacheny (Eds.): Les traducteurs, passeurs culturels entre la France et l’Autriche. Reihe Forum Österreich 10. Berlin: Frank & Timme, 2019. 268 pp. € 39,80. Marc Lacheny: Littérature «-d’en haut-», littérature «-d’en bas-»-? La dramaturgie canonique allemande et le théâtre populaire viennois de Stranitzky à Nestroy. Reihe Forum Österreich 2. Berlin: Frank & Timme, 2016. 352 pp. € 49,80. Die den Habsburger Vielvölkerstaat auszeichnende Mehrsprachigkeit scheint sich zumindest in der Forschung über diesen erhalten zu haben� So sind etliche einschlägige Studien zu dessen Literatur und Kultur in einer Sprache verfasst, die von derjenigen des Untersuchungsgegenstands abweicht - man denke nur an so illustre Beispiele wie Claudio Magris’ Il mito absburgico, Roger Bauers Le royaume de Dieu oder Carl E� Schorskes Fin-de-siècle Vienna� An diese Tradition der Mehrsprachigkeit knüpft die im Frank & Timme Verlag erscheinende Reihe “Forum Österreich” an, deren Bände mal auf Französisch, mal auf Deutsch, mal in beiden Sprachen erscheinen� Damit leistet die Reihe einen tatsächlichen Beitrag zum Kulturtransfer� Unter diesem Aspekt ist es nur stimmig, dass sich der jüngste, im Jahr 2019 erschienene Sammelband Les traducteurs, passeurs culturels entre la France et l‘Autriche in einem historischen Querschnitt mit den Übersetzern zwischen Frankreich und Österreich befasst und damit zugleich die Voraussetzungen für den Kulturtransfer beleuchtet� Mit den Übersetzern, so lassen uns die Herausgeber Irène Cagneau, Sylvie Grimm-Hamen und Marc Lacheny im Vorwort des Bandes wissen, greift dieser eine Figur auf, die lange Zeit im Schatten der von ihnen übersetzten Autoren stand und der von daher eine eher marginale Stellung zukam� Es mag dem in jüngster Zeit zunehmenden Interesse an Figuren des Dritten, Netzwerken und Konstellationen zu verdanken sein, welches dazu beigetragen hat, den Blick auch für diese bisher meist übersehene Figur zu schärfen� Der große Verdienst des Bandes liegt darin, dass er das Potenzial aufzeigt, welches der Untersuchung dieser Figur innewohnt� Dies tut er anhand von Übersetzungen zwischen dem österreichischen Kulturraum und Frankreich, die von den 1760er Jahren bis in die Gegenwart reichen� Der Band gliedert sich dabei in drei große Sektionen, die sich aus eher klassisch biographischen Darstellungen zu Übersetzern, aus Fragen der Rezeption und aus praktisch ausgerichteten Fallanalysen zusammensetzen� Die erste Sektion des Bandes wird von dem einzigen auf Deutsch verfassten Beitrag von Norbert Bachleitner eröffnet� Bachleitner zeigt anhand des in der Reviews 411 zweiten Hälfte des 18� Jahrhunderts für die Wiener Hofbühnen tätigen Übersetzers Joseph Laudes zentrale Mechanismen des literarischen Marktes auf� Diese Mechanismen treten im Bereich der Übersetzung besonders deutlich zutage, da die Übersetzer im 18� Jahrhundert unter den Schreibern, die ohnehin bereits prekären Bedingungen ausgesetzt sind, als Proletariat gelten� Der zunehmend auf Profit ausgerichtete Theatermarkt steht dabei in einem harschen Kontrast zu den Ansprüchen der von der Aufklärung angestoßenen Theaterreform, welche das Theater als eine Erziehungsanstalt begreift� Bachleitner zeigt in seinem Aufsatz, wie die Aussagen Laudes, der überzeugter Anhänger der Theaterreform war, immer wieder in einen unauflöslichen Widerspruch zu seiner Übersetzungspraxis geraten� Den Hauptteil des Sammelbandes macht die zweite, sich mit Fragen der Rezeption befassende Sektion aus� In einer Reihe von Beiträgen, die vom frühen 19� Jahrhundert bis in die jüngste Vergangenheit reichen, führt diese vor, dass die Übersetzer zentrale Schaltstellen bei der Vermittlung von Literatur besetzen und damit die Rezeption von Literatur steuern� So verfolgt etwa Irène Cagneau in ihrem Beitrag zu den französischen Übersetzungen Leopold von Sacher-Masochs die verschiedenen Metamorphosen, die dieser Autor im Verlaufe seiner Rezeptionsgeschichte erfahren hat� Die an Cagneaus Aufsatz direkt anschließende akribische Aufarbeitung Audrey Giboux’ der Übersetzungen Sigmund Freuds in Frankreich zeigt die Grabenkämpfe auf, die sich in der französischen Freud-Rezeption um dessen Werk entsponnen haben� Diese haben dazu geführt, dass ab den 1980er Jahren etwa zeitgleich zwei Übersetzungen von dessen Werk erschienen sind, die divergierende Übersetzungsansätze verfolgen� Während die von Jean Laplanche übersetzten und bei Gallimard erschienenen Einzelausgaben Freuds Eigenschaft als Schriftsteller und brillanter Stilist in den Vordergrund rücken, bleibt die unter anderem von Jean-Bertrand Pontalis verantwortete und bei PUF erschienene Gesamtausgabe möglichst nahe am Ausgangstext und an der für Freud spezifischen Terminologie, um so Freuds Eigenschaft als Wissenschaftler Rechnung zu tragen� Der die Sektion zu den Rezeptionsprozessen abschließende Beitrag von Lucie Taïeb, die ebenfalls als Übersetzerin tätig ist, gewährt aus einer gegenwartsnahen Perspektive einen Einblick in die Praxis� Dass dieser Beitrag den historischen Durchgang abschließt, ist in der Hinsicht gelungen, da er anhand der Übersetzungen von Friederike Mayröcker und Margret Kreidl den zentralen Stellenwert betont, den das persönliche Engagement der Übersetzer und die eher zufälligen Begegnungen, etwa auf Literaturfestivals, einnehmen� Taïebs Darstellungen mögen dabei helfen, bei der historischen Arbeit den Blick für scheinbare Nebensächlichkeiten zu sensibilisieren� 412 Reviews Die letzte Sektion vergleicht einzelne literarische Textpassagen jeweils im Original und in ihrer Übersetzung und hat damit eine praktische Ausrichtung� In dieser Sektion ist der Text von Elisabeth Kargl zu den Übersetzungen Ernst Jandls hervorzuheben� Da Jandl in seinen Texten vor allem mit dem konkreten Sprachmaterial arbeitet, entzieht sich sein Werk der Tendenz nach einer Übersetzung� Kargl untersucht nun die Strategien, die bei der Übersetzung Jandls angewandt wurden und zeigt anhand der von Alain Jadot und Christian Prigent vorgenommenen Übersetzung von Jandls Gedicht “wien: heldenplatz”, wie sich diese weniger am Wortlaut des Originaltextes orientiert, sondern die von Jandl eingesetzten Verfahren ins Französische überträgt� Die letzte Sektion führt damit auf der Textebene vor, was bereits für die vorherigen Sektionen galt, nämlich dass die Annäherung über die Ränder - der angeblich zweitrangigen Übersetzung - einen Weg in das Zentrum der Literatur bahnt� Eine Art Übersetzung leistet auch die 2016 ebenfalls in der Reihe “Forum Österreich” erschienene Habilitationsschrift von Marc Lacheny Littérature «-d’en haut- », littérature «- d’en bas- »- ? , die dem französischen Sprachraum eine umfassende Darstellung des Wiener Vorstadttheaters des 18� und des 19� Jahrhunderts bereitstellt� In der Einleitung klagt Lacheny den Missstand an, dass die österreichische Literatur häufig an den Maßstäben der von ihm so genannten ‘norddeutschen’ Literaturgeschichte gemessen wurde, was gerade anhand des Wiener Vorstadttheaters, welches auf eine langjährige eigenständige Tradition zurückblicken kann, oft zu einer unangemessen Darstellung, im schlimmsten Fall gar zu einer Abwertung dieses Theaters geführt habe� Lacheny dreht nun den Spieß um und verfolgt in dem ersten Teil seiner Arbeit den Einfluss, den das Wiener Vorstadttheater auf Repräsentanten der ‘norddeutschen’ Literatur wie etwa Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Schiller und Johann Wolfgang von Goethe ausgeübt hat� Hierbei dient ihm vor allem die auf dem Wiener Vorstadttheater beheimatete Figur des Hanswursts� Zwar gelingt es Lacheny durchaus überzeugend nachzuweisen, wie sich sowohl Lessing als auch Goethe wiederholt auf das von Hanswurst repräsentierte körperbetonte Theater beziehen, allerdings läuft dessen Darstellung immer wieder Gefahr, Hanswurst lediglich als allgemeine Trope für dieses Theater zu behandeln, sodass ein tatsächlicher Einfluss des Wiener Vorstadttheaters - etwa anhand konkreter Textbeispiele - eher selten greifbar wird� Im zweiten Teil zeigt Lacheny auf, wie wiederum die Stücke der deutschen Klassiker auf dem Wiener Vorstadttheater als Vorlage zu etlichen Parodien gedient haben, wobei hiervon aufgrund seiner damals enormen Popularität vor allem Schiller betroffen ist� Lacheny orientiert sich in seiner Darstellung maßgeblich an den Forschungen des Experten für das Wiener Vorstadttheater Jürgen Hein, indem er hervorhebt, dass die Parodierung der Klassiker nicht zwangsläu- Reviews 413 fig deren Abwertung bedeute, sondern sich auch als Respektbekundung lesen lasse beziehungsweise im Falle Johann Nestroys eher die falsche Aneignung der Klassiker durch das Bildungsbürgertum bloßstelle� Der bis dahin untersuchte Zusammenhang zwischen dem Wiener Vorstadttheater und den ‘norddeutschen’ Klassikern, so zeigt der dritte und letzte Teil der Arbeit, wird in dem Werk Franz Grillparzers greifbar, der sich aus beiden Traditionen bedient� Auf diese Verbindung führt Lacheny in einem anschließenden, zwischen Nestroys Parodien von Grillparzer und Friedrich Hebbel angestellten Vergleich zurück, dass Grillparzer im Gegensatz zu Hebbel besser abschneidet� Denn während Nestroys Parodie von Hebbels Judith eine vernichtende Abrechnung mit dem ‘norddeutschen’ Theater darstelle, seien Nestroys wiederholt anzutreffende parodistische Referenzen auf Grillparzers Dramen eher als Respektsbekundung zu verstehen� Lachenys Darstellung liefert eine umfassende Einführung in zentrale Fragestellungen, die das Wiener Vorstadttheater betreffen, und sein Ansatz, dieses weniger gegen die ‘norddeutsche’ Literatur auszuspielen, sondern vielmehr deren Gemeinsamkeiten aufzuzeigen, ist lobend hervorzuheben� Eberhard Karls Universität Tübingen Thomas Nolte 414 Reviews