Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
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2022
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Ästhetischer Überfluss. Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902)
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2022
Michiel Rys
Der vorliegende Aufsatz untersucht die sozialistische Rezeption von Friedrich Schillers Denkbild des ästhetischen Überflusses in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902). Nach einer Begründung, warum der Begriff sich wegen des essentialistischen Menschenbilds und des einseitigen Fortschrittsoptimismus als aporetisch erweist, wird in einem zweiten Schritt dargelegt, wie Preczangs Lieder die Aporien in einer moderneren Poetik, die das Schiller’sch-sozialistische Paradigma gleichzeitig fortschreibt und problematisiert, integriert.
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Ästhetischer Überfluss. Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902)5 2 7 Ästhetischer Überfluss. Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) Michiel Rys Universität von Leuven Abstract: Der vorliegende Aufsatz untersucht die sozialistische Rezeption von Friedrich Schillers Denkbild des ästhetischen Überflusses in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902)� Nach einer Begründung, warum der Begriff sich wegen des essentialistischen Menschenbilds und des einseitigen Fortschrittsoptimismus als aporetisch erweist, wird in einem zweiten Schritt dargelegt, wie Preczangs Lieder die Aporien in einer moderneren Poetik, die das Schiller’sch-sozialistische Paradigma gleichzeitig fortschreibt und problematisiert, integriert� Keywords: Ästhetik, Überfluss, Friedrich Schiller, Ernst Preczang, Prekarität „Work hard, play hard .“ Dieser Spruch fasst unser spätkapitalistisches meritokratisches Arbeitsverständnis, das auf einer strikten Abgrenzung von Arbeits- und Freizeit basiert, lapidar zusammen. Für eine Frist maximaler Produktivität wird das arbeitende Subjekt mit Zeit für Erholung, Befreiung von Verpflichtungen und Konsum kompensiert. Diese Trennung steht durch die anhaltende Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und die Entwicklung von Berufen, die die kreativen und kognitiven Fähigkeiten des Subjekts immer mehr für Marktzwecke vereinnahmen, zunehmend unter Druck, weshalb sie wiederum zu einem Desiderat der sozialen Bewegung geworden ist. In der Tat war die rechtmäßige Verteilung der Zeit für Arbeit und Spiel im 19. Jahrhundert als Plädoyer für den Achtstundentag schon eines der wichtigsten Kampfziele der Arbeiterbewegung. Die Debatte über die Beziehung von Arbeit und Spiel verweist indirekt auf die grundlegendere Frage, was es bedeutet sich als Mensch zu verstehen und zu handeln� In diesem Beitrag wird diese jeweils andere Konfiguration anthropologischer Denkbilder als Fort- und Umschreibung des von Friedrich Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung erarbeiteten theoretisch-anthropologischen Mo- 528 Michiel Rys dells problematisiert. Wenn Schiller die Bildung durch die ästhetische Erfahrung gleichzeitig mit Begriffen wie Spiel und Überfluss verknüpft und negativ der Arbeit gegenüberstellt, ebnet dies einer sozialistischen Kritik und Umdeutung den Weg� Zugleich ist, wie der vorliegende Beitrag zeigt, auch die sozialistische Rezeption von Schillers Begriffskonstellation nicht imstande, die ästhetische Erfahrung ohne die Arbeit als eine gemeinsame, klassenbildende Tätigkeit des Proletariats zu erkennen. Während Schiller und, in seiner Nachfolge, Sozialisten wie Ferdinand Lassalle die ästhetische Erfahrung immer in Bezug auf die Arbeit definieren, stellt sich die Frage, ob und wie sich diese Erfahrung in einem Verhältnis zu Phänomenen der „Prekarisierung“ bzw. des sozialen Abstiegs und der Klassen-Desidentifikation denken und poetisch umsetzen ließe. 1 So soll im Folgenden anhand einer Lektüre von Ernst Preczangs Liedern eines Arbeitslosen (1902) dargelegt werden, wie die literarische Beschreibung von Kündigung und Arbeitslosigkeit die Ambivalenz des in Wirtschaftstheorien virulenten Konzeptes des Überflusses, der sowohl auf Reichtum und Luxus als auf Überflüssigkeit und Ausschluss hinweisen kann, auf die Spitze treibt und bei Preczang eine andersartige Ästhetik des Prekären vorwegnimmt. In einem „Rückblick“ auf sein Leben beschreibt Ernst Preczang, der als einer der ersten deutschen Arbeiter-Dichter gilt, den harten Arbeitsrhythmus, dem er als Schriftsetzer im Berlin der 1880er Jahre unterworfen war: „Man kann am Tage sein Brot verdienen und in der Nacht Bücher lesen, lernen oder Verse schreiben. Man kann mit Hilfe von Tee oder starkem Kaffee die ruhefordernden Nerven zu neuer Anstrengung peitschen“ („Rückblick“ 23)� 2 Die kapitalistischen Arbeitsbedingungen haben zur Folge, dass das Subjekt die „Kräfte nicht nach eigener Neigung verwende[t]“ und dass sein „stärkster Schaffenstrieb gewaltsam unterdrückt werden muss“ (23-24)� Obwohl Preczang zwar arbeitet „um zu leben“, scheint dieses Leben ihm aus diesem Grund nicht „lebenswert“ oder qualitativ zu sein� Preczang versteht „Freude“ an der Arbeit als absolute Vorbedingung eines Lebens, das also auch für ihn, jenseits der Gesetze von Frage und Angebot auf dem Arbeitsmarkt, einen Mehrwert hat� Zugleich ist es die Mangelerfahrung, die ihn zum Sozialismus führt. Preczang… sah in der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung das langsame, mühselige, aber sichere Vordringen des neuen Geistes, der sich die Welt erobern sollte� Es ging mir, es ging uns allen zu langsam� Aber wir sahen doch Weg und Ziel, fühlten Erhebung und Trost� (25) Der politische Kampf des Sozialismus wird in ästhetischen Begriffen von visueller Wahrnehmung und Verbildlichung einer imaginären Zukunft erfasst. Der Verlauf dieses Kampfes wird dementsprechend auch als die Entwicklung Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 529 von neuen Wahrnehmungsmodi vorgestellt� Im Hinblick auf die Herausbildung dieser Empfindungsfähigkeit stellt sich die Frage, wie Praktiken und Formen der Sichtbarkeit eine ästhetische Erfahrung erzeugen können, die das Versprechen einer anderen Art des Zusammenlebens in sich trägt. Jacques Rancière spricht in diesem Kontext von Aufteilungen des Sinnlichen, um die künstlerischen und gesellschaftlichen Praktiken zu beschreiben, die den Spielraum des Sicht- und Sagbaren, des Denk- und Machbaren ausloten und so den Wirkungsbereich für Kunst und Politik bestimmen (Rancière Aufteilung 25-49; Aisthesis ix-xvi)� Preczang beschreibt das politische Projekt der Arbeiterbewegung als eine solche Neuverteilung eines existierenden sinnlichen Systems, denn für ihn liegt im andersartigen materiellen und affektiven Zugang zu einer nur scheinbar unveränderlichen Welt die Möglichkeit, die künftige Gemeinschaft als geteilte ästhetische Erfahrung zu antizipieren. Es handelt sich m.a.W. um eine ästhetische Erfahrung, die das Subjekt von einer dominanten Ordnung von Zeichen, Bildern und Affekten löst. Im „Glaube[n] an den Sozialismus“ und an die fortschreitende Realisierung seiner Ideale - Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit - entdeckt der Arbeiter, so Preczang, sich selbst als ein historisches, menschliches und kulturtragendes Subjekt. Preczang beschreibt diesen Prozess der Selbstfindung auf persönlicher Ebene als eine Entfaltung seiner literarischen Talente, wobei sein Ziel war, „von einer mehr äußerlichen Tendenzdichtung zu einer aus dem Reinmenschlichen, aus seelischen Quellen schöpfenden Kunst zu gelangen“ („Rückblick“ 26). Er plädiert für eine Anpassung der kapitalistischen Biopolitik, die nur die nicht-kulturellen Aspekte des Lebens der Arbeiter als Arbeitskraft verwaltet, vermehrt und ausnützt� Im Gegensatz zu diesem negativen biopolitischen Regime konzeptualisiert Preczang Freiheit positiv als die Entfernung jener Schranken, die eine Entfaltung der intrinsischen vitalen Anlagen und Triebe des Subjekts verhindern� Das wichtigste Hindernis ist - sogar wenn ein gewisser Wohlstand erreicht ist - der Zeitmangel, der „Arbeit und Freude, Arbeit und verfeinerte Kultur scheidet“ („Rückblick“ 22). 3 Humanität besteht so in einem Exzess von Energie, einem (ästhetischen) Überfluss, der - so Preczang - sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption von Literatur erzeugt werden kann� Preczangs Vernetzung von Motiven wie Arbeits- und Freizeit, Humanität, Freiheit, Kultur, Überfluss, Fortschrittsglauben und Ästhetik aktualisiert einen aufklärerisch-idealistischen Diskurs zur Beziehung von Leben und Kunst, dessen Matrix Rancière in Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen verortet� Den Schwerpunkt bildet dabei die grundlegende politische Frage, wie eine Lage der absoluten Unfreiheit in einen Zustand der Freiheit umgesetzt werden kann. In Schillers ästhetischer Theorie ist die Realisierung dieses Ideals die Erfahrung einer praktischen Tätigkeit, die den Kampf ums bloße 530 Michiel Rys Überleben übersteigt und das Subjekt in ein direktes Verhältnis zu demjenigen, was unter seinem Gattungswesen verstanden wird, versetzt: „der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch wo er spielt“ (Schiller 62-63)� Dieser Satz begründet zudem „das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwürigern Lebenskunst“ (63). Das folgert Schiller nach einer Ausführung über zwei gegensätzliche Prinzipien, die einander (nur) im spielerischen Umgang mit der Schönheit aufheben. Der ästhetische Trieb oder Spieltrieb hebt eine sonst unüberbrückbare Kluft zwischen zwei getrennt nebeneinander existierenden, subjektivierenden Trieben auf� Auf der einen Hand ist jeder Organismus wegen des sinnlichen Triebes den momentanen, veränderlichen Bedürfnissen und Nöten seiner körperlichen (tierischen) Natur verhaftet� Auf der anderen Hand zeichnet der Mensch sich durch seine Intelligenz wenigstens ansatzweise durch das Streben nach Vernunft, Wahrheit und Sittlichkeit aus. Schiller identifiziert diese aufklärerische Neigung zur Totalität als das spezifische Gattungswesen der Menschheit. Der Formtrieb generiert den Hang zur Gattung und ihren universellen Sittengesetzen. Der Gegenstand des Spieltriebs, das Idealschöne - so Schiller - „soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt […] sein, indem sie ja dem Menschen das doppelte Gesetz der absoluten Formalität und der absoluten Realität diktiert“ (58). Das Schöne, „dessen höchstes Ideal also in dem möglichstvollkommensten Bunde und Gleichgewicht der Realität und der Form wird zu suchen seyn“ (64), befriedigt die Forderungen sowohl der Empfindung (des Lebens) als der Vernunft (der Gestalt)� Die gesamte Darlegung zur Ästhetik als anthropologischer Grundkategorie ist durch diese Parallelen eingebettet in einer Diskussion zu den terroristischen, blutigen Exzessen, mit denen die französischen Revolutionäre 1789 die als universell und unveräußerlich proklamierten Menschenrechte durchzusetzen versucht haben� Wie viele Zeitgenossen stellte Schiller sich die Frage, wie man vorgehen muss, um „den Staat der Noth mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen“ (18), ohne bei dem „Bau einer wahren politischen Freiheit“ (9) in jene Gewalt zu verfallen, die aus der unvermittelten Konfrontation zwischen Gesetz und Leben folgt. Für viele Zeitzeugen symbolisiert die Guillotine die tödliche Konsequenz einer Politik, die die Menschenrechte (und -Pflichten) „unbestechlich“ auf die Körper der größtenteils noch in Armut lebenden und unvorbereiteten (bzw. unaufgeklärten) Bevölkerung einschreiben wollte (14-18). Schiller, entsetzt durch diese biopolitische Gewalt, beschreibt das Ästhetische als das einzige Instrument, das eine ausbalancierte Wechselwirkung und Aufhebung der entgegengesetzten Grundtriebe - Materie und Geist, Sinnlichkeit und Verstand - generieren und das Subjekt auf nicht-zwanghafte Weise zum sittlichen Bürger bilden kann. Der ästhetische Zustand oder die freie Stimmung, die beim Leser, Zuschauer oder Beurteiler des Kunstwerks ausgelöst wird, nimmt als „Pfand“ oder „Stütze“ die allmähliche Verwirklichung der Freiheit im Staate vorweg� Das Ästhetische sublimiert (und verschleiert) die Gewalt der praktischen Umsetzung der Ideale im Umgang mit dem Stoff, dem stellvertretenden Objekt biopolitischer Gewalt; das Ästhetische ist die präfigurative „Operation“, durch welche ein der Natur verhaftetes Individuum zum freien Teilhaber der Gattung Menschheit erzogen wird. So werden in der ästhetischen Erfahrung die Koordinaten ausgelotet, innerhalb derer die Verwirklichung der Freiheit - der Einsatz der politischen Aufklärung schlechthin - einen Anfang nehmen kann (14). Der Staat, etymologisch mit der Idee des Unveränderlichen verwandt, repräsentiert das Maß, in dem „sich die Theile zur Idee des Ganzen hinaufgestimmt haben“ (16). Kultur hat die Aufgabe, „einem jeden dieser Triebe seine Grenzen zu sichern“ (56), damit das Gesetz das Leben nicht zerstören würde. Nicht jedes Subjekt hat denselben Zugang zu dieser präfigurativen ästhetischen Erfahrung� Schiller zeigt an verschiedenen Stellen, dass die Verwirklichung der freien Stimmung durch das Zusammenspiel von individuellen und kontextuellen Umständen determiniert wird. Gewisse Passagen bringen politische, soziale und wirtschaftliche Faktoren ins Spiel, welche die ungleiche Ausbildung der ästhetischen Anlagen bei unterschiedlichen Individuen und Bevölkerungsschichten erklären sollen. Gerade diese Passagen und Argumente, die in der idealistischen Rezeption von G�W�F� Hegel und Friedrich Theodor Vischer als rhetorische Abgrenzungsstrategie gegenüber der Arbeiterklasse noch stärker zugespitzt werden, nehmen auch Preczangs Kritik an den biopolitischen Effekten des kapitalistischen Arbeitsregimes vorweg und bieten Anhaltspunkte für eine radikale - soziale - Lektüre� 4 Ein besonderes semantisches Feld in Schillers Darlegungen bildet so das (implizit) ökonomische Vokabular, das in der ästhetischen Theorie ein sozialkritisches Potenzial erzeugt. Schiller verwendet nämlich Begriffe wie Arbeit und Stand (oder Klasse). Schönheit setzt „Leben“ und „Gestalt“ in ein ideales Gleichgewicht. Weil die Gestalt das Objekt des Formtriebes ist, liegt die Erfahrung von Freiheit in Schillers ästhetischem System - so stellt sich in den letzten Briefen heraus - in der Form beschlossen. Der Stoff, das bloße, durch Bedürfnisse und Leidenschaften gezeichnete Leben, ist der Form unterlegen, soll laut einer eindeutigen Stelle sogar „vertilgt“ werden (88). Schönheit kann für Schiller aus diesem Grund keine explizite moralische Botschaft vermitteln, sie kann auch keinen didaktischen oder kathartischen Zwecken dienen� Sogar die „freye Einbildungskraft“ wird den formalen Gesetzen unterworfen. Freiheit lässt sich nicht zum Ausdruck bringen, sondern nur in der Gestaltung erfahren, als Stimmung oder Gemüt. Kunst verwandelt das Leben in ein andersartiges Sensorium, das es dem Subjekt erlaubt, „einen Schritt zurück[zu]tun“ und „augenblicklich von aller Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 531 532 Michiel Rys Bestimmung frei [zu] sein und einen Zustand der bloßen Bestimmbarkeit [zu] durchlaufen“ (80)� Der Zustand „unendlicher Unbestimmbarkeit“, in dem der Mensch „Null“ ist, ist einer der unbegrenzten Potenzialität ohne sicheres „Resultat, weder für den Verstand noch für den Willen“ (83)� Schiller sieht in der Erfahrung der zeitlosen (d.h. bei ihm durchaus klassischen) Form den Katalysator eines Subjektivierungsprozesses, den das Individuum durchlaufen muss um sich als geschichtliches und handlungsfähiges Wesen mit Gestaltungskraft in Bezug auf die Zukunft zu verstehen. Die „lebende Gestalt“ der Schönheit bildet den Schnittpunkt, wo die ästhetischen, wirtschaftlichen und historischen Bedeutungsebenen sich kreuzen und wo die Basis für jene Affekte gelegt wird, die das Subjekt in zunehmendem Maße die Entwicklung seiner Humanität, Freiheit und Gruppensolidarität aspirieren lässt. Während die ersten Briefe die synthetische Aufhebung der sinnlichen und formalen Triebe betonen, wird in den späteren Briefen zwischen der Befriedigung natürlicher Bedürfnisse und der ästhetischen Erfahrung auf mehr nuancierte Weise differenziert. Um die verschiedenen Spielarten und Stufen der ästhetischen Erfahrung eingehender zu erläutern, erarbeitet Schiller im letzten Brief den Topos der Ähnlichkeit zwischen dürftigem Individuum und Tier: „Das Thier arbeitet , wenn ein Mangel die Triebfeder seiner Thätigkeit ist, und es spielt , wenn der Reichthum der Kraft diese Triebfeder ist, wenn das überflüssige Leben sich selbst zur Thätigkeit stachelt.“ Erst nachdem die unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse eingelöst sind, ist ein Zustand erreicht, in dem Tier und Mensch den ästhetischen Spieltrieb aktivieren und entfalten können. Die Überwindung der Hindernisse, die die Natur stellt, ermöglicht „ein ästhetisches Übertreffen der Pflicht“ bzw. einen „ästhetischen Überfluss“. Das Ästhetische ist zunächst ein Exzess an Energie jenseits oder nach der Arbeit, ist anfänglich auch als Surplus zu einer Handlung möglich, die der Mensch „aus reinen Motiven der Pflicht bestimmt haben sollte“ (114-123). Hier erfüllt der arbeitende Mensch die „Anforderungen der Vernunft“ über einen anderen Weg, „über die Art, wie er wirkt, über die Form“ (93)� In anderen Briefen wird diese Thematik mit protosozialistischen Denkbildern als Klassenproblem avant la lettre , als Entzweiung der Gesellschaft vorgestellt� Der „zahlreichere Theil der Menschen wird durch den Kampf mit der Noth viel zu sehr ermüdet und abgespannt“, um seine ästhetischen Anlagen zu entwickeln (32-33). Ein zusätzliches Problem für diese Klasse bildet die Arbeitsteilung: „der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden� Ewig nur an ein einzelnes Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft“ (23). Während Schiller diese Klasse als „Wilde“ bezeichnet, sind diejenigen barbarisch, die die „Strahlen der Wahrheit“ leugnen und „Sklaven ihres Gefühls“ bleiben, obwohl sie „ein besseres Loos von dem Joch der Bedürfnisse frey macht“ (32)� Vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Semantik ist das Ästhetische, beschrieben als Überfluss, höchst ambivalent, wenn er für die „Wilden“ als Surplus gilt, für die „Barbaren“ umgekehrt als überflüssig erscheint. Trotzdem beharrt Schiller auf dem Ereignischarakter der ästhetischen Erfahrung als Überflusses: „Sobald er überhaupt nur anfängt, dem Stoff die Gestalt vorzuziehen […], so ist sein thierischer Kreis aufgethan, und er befindet sich auf einer Bahn, die nicht endet. Mit dem allein nicht zufrieden, was der Natur genügt, und was das Bedürfniß fordert, verlangt er Ueberfluß; anfangs zwar bloß einen Ueberfluß des Stoffes, um der Begier ihre Schranken zu verbergen, um den Genuß über das gegenwärtige Bedürfniß hinaus zu versichern, bald aber einen Ueberfluß an dem Stoffe, eine ästhetische Zugabe, um auch dem Formtrieb genug zu thun, um den Genuß über jedes Bedürfniß hinaus zu erweitern“ (115)� Obwohl der Mensch durch das Bedürfnis „alle seine Bestrebungen bloß auf das Materielle und Zeitliche“ zuspitzt, kann dies nicht verhindern, dass sogar die kleinste Aktivierung des ästhetischen Spieltriebs bzw. eine minimale, protoästhetische Erfahrung den Menschen „nach einer unbeschränkten Zukunft […] streben“ lässt (98). Im ästhetischen Nullzustand wird der Mensch sich paradoxerweise seiner Historizität bewusst, was ihn in eine affektive Lage versetzt, in dem er „ein unbegrenztes Verlangen“ bzw� „ein absolutes Bedürfniß“ spürt, das ihn dazu anregt, das Versprechen der Form - die Teilhabe an Gattung und Überfluss - tatsächlich einzulösen (98). In Schillers Denken resultiert die Erfahrung des Schönen so in einer unaufhörlichen, sich selbst verstärkenden Feedbackdynamik bzw. einem absoluten Bedürfnis nach Freiheit� Die letzte Charakteristik des Schiller’schen Denkrahmens führt zu zwei Einwänden bzw. Aporien mit weitgehenden Konsequenzen für die sozialistische Rezeption. Einerseits konzipiert Schiller die ästhetische Erziehung als ein unidirektionales Verfahren, das keine Rückfälle kennt. Der implizite Rückgriff auf den aufklärerischen Perfektibilitätsgedanken lässt sich lediglich im Modus fortschrittsoptimistischer Affekte denken. Andererseits bildet die zweite Aporie der essentialistische Charakter des Spiels selbst, das als anthropologische Grundkategorie einfach poniert wird� Wie oben ausgeführt wurde, konzeptualisiert Schiller den Subjektivierungsprozess durch die Teilnahme an ästhetischer Praxis auf der Folie eines „Null-Zustands“� Wie Christoph Menke zu Recht anmerkt, ist dieser Zustand für Schiller „nur deshalb ‚der Grund der Möglichkeit von allem‘ […] weil das Subjekt in diesem Zustand kein Vollzüge beginnender und verantwortender Akteur mehr ist�“ Das bedeutet auch, dass dieses außer- Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 533 534 Michiel Rys ordentliche Moment unbegrenzter Potenzialität „nicht zu der Wechselwirkung beiträgt, in deren Gelingen sich Subjektivität konstituiert und, mit der Selbstbeherrschung der Individuen, sich auch die Herrschaft der einen Klasse über die andere auflöst.“ Dass die ästhetische Erfahrung trotzdem politisch tauglich ist, ist ein Axiom, das Schiller als „bloße Behauptung“ nach vorne schiebt (Menke 61-64). Ohne die Annahme der Perfektibilität und des Spiels als Grunddimensionen des menschlichen Gattungswesens wird auch die Wirkungsmacht der ästhetischen Erfahrung an sich fragwürdig. Trotz (oder dank) dieser blinden Flecken hat Schillers Paradigma über die ästhetischen Theorien von Hegel und Vischer 5 (in divergierenden und auch indirekten Spielarten) in das kulturelle Selbstverständnis der Arbeiterbewegung Eingang gefunden� Zu einer sozialistischen Wiederverwertung und Umdeutung der idealistischen Humanitätsbegriffe hat vor allem der charismatische Redner Ferdinand de Lassalle beigetragen, in dessen Schriften die Arbeiterklasse zur geschichtstragenden Klasse bzw. zur Verkörperung einer sittlichen Idee erhoben wird� Nach Lassalle sind die Arbeiter „in der glücklichen Lage, daß dasjenige, was Ihr wahres persönliches Interesse bildet, zusammenfällt mit dem zuckenden Pulsschlag der Geschichte, mit dem treibenden Lebensprinzip der sittlichen Entwicklung“ (Bogdal 60). Für Lassalle hebt die Klassenzugehörigkeit die Fragmentierung in Einzelinteressen auf; die Arbeiterschaft wird so als Verkörperung der Menschheit versinnbildlicht, sie soll sich lediglich ihrer historischen Mission noch bewusst werden� Dieses ethische Projekt entspricht einer Dramenästhetik, die die sittlichen Ideen „zum inneren bewußten Gemeingut des Volkes“ machen will (Lassalle 10-11)� 6 Schillers Einfluss auf Lassalle zeigt sich nicht nur darin, dass die Arbeiterklasse als Garant der Moral und Träger des menschlichen Fortschritts verdichtet wird, sondern auch in der Beschreibung der Klassenbewusstwerdung als ästhetischer Erziehung. Wie Sabine Hake darlegt, war dieser Diskurs von Bildung und Kultur grundlegend im Selbstverständnis der Arbeiterbewegung als Kulturbewegung, die gerade die (kritische) Aneignung des bürgerlichen Kulturerbes als einen Schritt zur umfassenden Demokratisierung betrachtete (Hake 161)� 7 Die „Schiller-Debatte“ 1905 - 100 Jahre nach Schillers Tod - zeigt jedoch, dass die Bedeutung von Schillers Idealismus im Laufe des gesamten neunzehnten Jahrhunderts umstritten geblieben ist. In der Auseinandersetzung mit dem klassischen Kulturerbe wird nämlich zugleich auch die Identität des Proletariats bzw. dessen strategische Positionierung gegenüber der (klein-)bürgerlichen Klasse kritisch hinterfragt. Schillers Standort ist dabei äußerst ambivalent, erinnert sein abstraktes Freiheitsideal, wie es in den ästhetischen Briefen und den Dramen gefeiert wird, doch an eine transzendentale idealistische Philosophie� Vor allem Schillers Idee, dass die ästhetische Erfahrung eine Revolution in den Fakten ersetzt, scheint mit dem hegemonialen materialistischen Sozialismus im Grunde nicht zu versöhnen und wird von orthodoxen Marxisten als ideologischer Überbau, wenn nicht als Verklärung (und so als indirekte Legitimierung) der kapitalistischen Ausbeutungsmaschinerie betrachtet� 8 Den meisten sozialistischen Kritikern fehlt in Schillers Werken daneben vor allem der inhaltliche Wirklichkeits- und Aktualitätsbezug als Thematisierung der materiellen Bedürfnisse der Arbeiter; dadurch verfehlen sie aber Schillers eigentümlich ästhetisches Anliegen� Trotzdem wirkt die Schiller’sche Ästhetik, wo es im Kern um die Beziehung zwischen Kunst und Emanzipation geht, in der Poetik von Sozialisten und Arbeitern fort - mit Einbegriff von ihren zwei Aporien. 9 Sozialistische Schriftsteller wandten sich an Schillers Sturm-und-Drang-Dramen, mehr noch aber an seine Lyrik� Das in den Gedichten, Balladen und Liedern artikulierte Freiheitspathos und das Plädoyer für die universellen Menschenrechte fand indirekt, über die politische Agitationslyrik von Georg Herwegh („Gedichte eines Lebendigen“, 1841) und Ferdinand Freilingrath („Ça ira! “ , 1846) Nachfolge� Diese Lieder imitieren Schillers Vorbilder sehr oft formal, inhaltlich aber brechen sie infolge ihrer unmissverständlichen aktivistischen Botschaft eindeutig mit dem Schiller’schen Begriff des Ästhetischen. Zugleich standen die abstrakten, träumerischen Ideale auf gespanntem Fuße mit dem materialistischen Sozialismus, der die konkreten Nöte der Arbeiter als alternativen Gegenstand der Lyrik nach vorne schieben wollte; u.a. Heinrich Heine und Karl Marx lehnten diese Lyrik als zu schwärmerisch ab. 10 Die Anknüpfung an diese Traditionen (und die simultane Ablehnung der zu deterministischen und pessimistischen naturalistischen Poetik) 11 zeigt, inwiefern es den sozialistischen Schriftstellern zunächst um die Erregung von politisch verwertbaren Affekten und infolgedessen von Kampfbereitschaft ging. Trotz der Spannung zur stets dominanter werdenden marxistischen Orthodoxie hat sich diese Tendenz in der Produktion von propagandistischer Lyrik und Massenliedern - die oft als spielhafte Parodien oder Kontrafakturen existierender Originale und bekannter Melodien konzipiert sind - fortgesetzt. Die Lieder stärkten durch ihr Pathos den Kampfgeist, riefen zur Tat auf und stellten die (vagen) Umrisse des sozialistischen Staates in Aussicht� Die Lieder fanden zusammen mit engagierten Gedichten von (Klein-)Bürgern in Flugblättern, sozialistischen Zeitungen und in Anthologien wie Aus dem Klassenkampf (1894) und Max Kegels Sozialdemokratisches Liederbuch (1891) weite Verbreitung. Das gemeinsame Singen dieser Lieder, auch während der Arbeit oder auf Demonstrationen, hatte zudem einen genuin ästhetischen Effekt (im Schiller’schen Sinne), indem die Fabrikarbeit (vorübergehend) in einem Zustand der Solidarität suspendiert bzw. der Zwang der sozialen Verhältnisse um das ästhetische Surplus des Gruppengefühls ergänzt wurde. Dass das Leben in dem so- Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 535 536 Michiel Rys zialistischen Zukunftsstaat kurzweilig tastbar wurde, stärkte auch die Hoffnung, ein wichtiges Affekt im sozialen Kampf. Die Gesangkultur war eine der vielen Praktiken, durch die die politischen Affekte individueller Arbeiter evoziert und mobilisiert werden konnten� So konnten die Arbeiter sich als kollektiver sozialer Akteur verstehen und in der politischen Öffentlichkeit als aufbruchsgestimmtes, weltänderndes Proletariat auftreten (Hake 84-99). Die strukturelle Analogie mit Schillers Theorien liegt hier auf der Hand: die notwendige Arbeit wird um ein ästhetisches Surplus ergänzt, das die Hoffnung durch die Einfühlung in ein künftiges Leben anfeuert� Natürlich bildet Entwicklungen einer Arbeiterkultur das Komplement zu den radikalen wirtschaftlichen Veränderungen, die den Arbeiter als eigenständige, in einer sozialen Zwangslage eingebundene Figur erst hervorgebracht haben� Der Aufgang des Kapitalismus und die fortschreitende Industrialisierung können in dieser Hinsicht als Geschichte der Disziplinierung des arbeitenden Subjekts gedacht werden� Wie Michel Foucault auf exemplarische Weise in Überwachen und Strafen darlegt, ist die Fabrik ein Ort einer umfassenderen Topologie, in der das Leben des Arbeiters selbst reguliert wird, sodass seine physischen, kognitiven und affektiven Kräfte im Hinblick auf Produktionssteigerung und Effizienzmaximierung gebildet und verwertet werden. Die Arbeitsbedingungen im Kapitalismus produzieren eine Lebensform, die aus historischer Perspektive zunehmend von den Figuren des Lohnarbeiters und des Proletariats verkörpert wurde. So definiert Karl Marx das Proletariat im ersten Band des Kapital einerseits als „freie Arbeiter, Verkäufer der eignen Arbeitskraft“, die sich „von Dienstbarkeit und Zunftzwang“ im Feudalismus befreit haben� Andererseits ging die Befreiung mit einer „Expropriation“ einher, bei der „ihnen alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotnen Garantien ihrer Existenz geraubt sind“ (Marx 742-743)� Wenn eine Beziehung zum Kapital angegangen wird, wird diese Arbeitskraft kanalisiert. Erst dann kann der absolute Naturzustand zugunsten eines qualifizierten Lebens in der Form von Klassenzugehörigkeit aufgehoben werden. Wo Schiller das Spiel mit der Schönheit noch als anthropologische Grundkategorie betrachtete und das Spiel als zeitweilige Aufhebung der realen Unfreiheit und als präfigurative Erfahrung der zu realisierenden Freiheit verstand, gilt dies im Sozialismus mutatis mutandis für die Arbeit. Während Schiller das Spiel als Auftakt zur Teilhabe an der Totalität ponierte, gewinnt im Sozialismus die Arbeit als gemeinsame Aktivität diese identitätsstiftende Funktion. Wilhelm Liebknecht verteidigte auf dem sozialistischen Gründungskongress 1875 in Gotha den Namen „Sozialistische Arbeiter -Partei“ (SAP) mit einer Vorstellung der Arbeit als einer anthropologischen Grundkategorie: Die Arbeit ist das spezifisch menschliche, ist was den Menschen von dem Thier unterscheidet� Durch Arbeit wird der Mensch erst zum Menschen� Arbeiter heißt also Mensch - als Mensch sich bethätigender Mensch und Arbeiterpartei nennen wir uns nicht blos, weil wir die Arbeit als einzige wirthschaftliche Basis der Gesellschaft, den Arbeiter als einziges nützliches Mitglied der Gesellschaft anerkennen und darum die allgemeine Arbeitspflicht auf unser Banner geschrieben haben, sondern auch im Hinblick auf den echt menschlichen Charakter der Arbeit, weil die Arbeit alleinige Trägerin der Kultur und des Menschenthums ist, so daß Arbeiterpartei heißt: die Partei der wahren Kulturkämpfer, die Partei der für Kultur und Menschenthum ringenden Menschen. 12 Geht laut Schiller der Schritt vom nackten Individuum zum freien Subjekt durch den Spieltrieb und das Ästhetische, so sind es bei Liebknecht die Arbeit und Produktion, in denen sich das Menschliche erblicken lässt; das Projekt der sozialistischen Partei besteht nach Liebknecht darin, die Arbeit (und die gesamte Menschheit) von den kapitalistischen Zwangsverhältnissen zu befreien. Darin spiegeln sich dieselbe Aporien, die Schillers Denken charakterisierten� Einerseits wird die Menschheit im Hinblick auf eine essenzielle Tätigkeit poniert, andererseits wird die Arbeiterschaft durch die Umschrift der Perfektibilitätsidee als Trägerin eines stets voranschreitenden Emanzipation und Entfaltung von Kultur und Freiheit präsentiert. Obwohl die obige Beschreibung des Menschen als arbeitenden Tieres einen ausgesprochen inklusiven Charakter hat, wurden Arbeit und Arbeiter von vielen deutschen Sozialisten stets spezifischer (und deshalb exklusiver) definiert. Diese Entwicklung hat zwei Gründe: auf der einen Hand die Normalisierung der Lohnarbeit als Arbeitsmodell, auf der anderen Hand die Tendenz zur Ausgrenzung von anderen Spielarten der Arbeit und der Arbeitslosigkeit. Jürgen Kocka hat die erste Tendenz genau in dem Diskurs der Arbeiterbewegung nachgezeichnet: „Im Begriff des Arbeiters drang das Element des Lohnarbeiters nach vorn. […] Über Berufs- und Sektorengrenzen hinweg war Arbeiter, wer in einer bestimmten Abhängigkeitsbeziehung zum Markt und zum Kapital stand, die durch den Lohnarbeiterbegriff erfasst wurde, wenngleich sie in unterschiedlichen Formen auftrat“ (332-333). Karl Marx beschreibt das Proletariat um 1850 noch vielsagend als einen „buntschneckigen Haufen“, ein Konglomerat von heterogenen Berufskategorien, Identitäten und Interessen (Kocka 42-47; Eiden-Offe, 17-27). Erst um 1900 hatte sich der Fabrikarbeiter bzw� der besitzlose Proletarier, der für einen Gehalt die Arbeitskraft verkauft und dabei jeglichen Anspruch auf den Mehrwert verliert, als die prototypische, ja, normative Figur entpuppt (Kocka 331) - mit wichtigen Konsequenzen für die Weise, auf die den sozialen Kampf geführt wird. Das lässt sich aus dem wichtigsten Kampfmittel in Fabriken, dem allgemeinen Streik, ableiten, wobei es sich um eine bewusste Einstellung der Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 537 538 Michiel Rys Arbeit handelt - um einen kollektiven Akt der Arbeitsverweigerung und des Entzugs, der die Solidarität und das Gruppengefühl der Arbeiter voraussetzt und verstärkt. Die Fabrik als Arbeitsstelle spielte bei der Herausbildung eines Klassenbewusstseins eine grundlegende Rolle. In den Selbstbildern der Arbeiterklasse war so nicht nur eine Tendenz zur Abgrenzung von den Fabrikbesitzern und Bourgeoisie merkbar (nur die Kleinbürger bekleiden hier gelegentlich eine Ausnahmeposition, weil auch sie unter schwerem ökonomischen Druck standen und oft zu einem Arbeiterdasein gezwungen wurden), auch die Grenze zu denjenigen, die „herausgestoßen worden aus der menschlichen Gesellschaft“, wurde im Selbstverständnis der Arbeiter stets klarer markiert (Kocka 333). Für die Konzeptualisierung dieser Gruppe, die sich in einer Situation der totalen Prekarität befand, hatte Marx in seinen Schriften zur 1848-Revolution in Frankreich den negativ konnotierten Begriff „Lumpenproletariat“ introduziert� 13 Genau wie bei gegenwärtigen Konzepten wie Guy Standings „precariat“ oder Michael Hardts und Toni Negris „multitude“ handelt es sich dabei um eine disparate, bunte Gruppe von Arbeitslosen, Vagabunden und Bettlern ohne normative Beziehung zur Arbeit und zum Kapital und ohne traditionelles Klassenbewusstsein. (Standing; Hardt, Negri) Obwohl Marx im Kapital (1867/ 2013) die moralischen Assoziationen dieser zu „industrieller Reservearmee“ umgetauften Schicht getilgt hatte, ist der ursprüngliche, negativ konnotierte Begriff in Arbeiterkreisen dennoch maßgebend geblieben (Kocka 328-333) - eine affektive Aufladung, die die Konkurrenz zwischen Arbeitern um Arbeitsplätze und das Schreckbild des Pauperismus wohl verstärkten� Aus diesem Grund hegten viele Arbeiter und Aktivisten sogar am Ende des neunzehnten Jahrhunderts noch die Vorstellung, dass die Interessen der sozial Ausgestoßenen für die Arbeiterpartei nicht prioritär sein sollten (vgl. Kocka 328-333). Dieser Logik zufolge droht diese oft als unmoralisch und reaktionär angesehene Gruppe aus dem Projekt der Klassenbildung zu fallen. Jedenfalls können Arbeitslose kaum als Mitglieder einer Arbeiterschaft zeigen, die sich durch kollektiven Gesang oder Streiks als kollektiver sozialer Akteur manifestiert. Nur wer eine tatsächliche Beziehung zur Produktion anknüpfte, konnte voll teilhaben an Mitgliedschaft der Arbeiterklasse und der von ihm geführten Kampf um die Freiheit. Die sozial Ausgestoßenen stellen als besondere Figur des Entzugs die Umkehrung des streikenden Proletariats dar, sind statt einer Figur in einer Relation zur kapitalistischen Produktion ungebunden � 14 Ihre Prekarität ist in dieser Hinsicht doppelt, weil dieser heterogenen Gruppe neben dem Zugang zum Arbeitsmarkt auch derjenige zur proto-ästhetischen Erfahrung, die mit der Klassensolidarität einher geht, versperrt bleibt� So kippen der soziale und der ästhetische Überfluss der Proletarier - wie minimal sie in Realität auch sind - in die Überflüssigkeit der Prekären um, die lediglich eine Position am Rande oder außerhalb der politisch-ästhetischen Ökonomie einnehmen. Zwischen Zentrum und Peripherie gibt es eine Skala von Zwitterpositionen. So besteht die Figur des Prekären auch in einer relativen Gestalt, wenn ihre Vertreter einem Prozess des sozialen Abstiegs bzw� der Prekarisierung unterliegen� Eine prototypische Gruppe stellen hier natürlich die Arbeitslosen dar, die durch den Zwang der Umstände allmählich in einen unsicheren Zustand, wo das nackte Überleben gilt, versetzt werden. Als Schwellenfigur zwischen Norm und Peripherie problematisiert der Arbeitslose wenigstens das normative Selbstbild der Arbeiter� Nicht nur entlarvt er den exklusiven Essenzialismus des Arbeiterbegriffs, auch weist er durch seinen sozialen Abstieg in die Prekarität darauf hin, dass die Klassenbildung kein kontinuierlicher, stets fortschreitender Prozess ist� Was dieser graduelle objektiv-ökonomische Prozess des Rückschritts konkret für das arbeitslose Individuum auf affektiv-subjektiver Ebene bedeutet und wie es das gefährdete Verhältnis zur Arbeiterklasse selbst empfindet und wahrnimmt, bleibt bei alledem eine offene Frage, auf die Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) eine Antwort bieten� Preczang schreibt mit seinem Band Lieder eines Arbeitslosen die sozialistische Schiller-Rezeption auf eine auffallend eigensinnige Weise weiter, während er sich mit der Schwellenposition des Arbeitslosen auseinandersetzt� Die Lieder können größtenteils als eine poetische Verarbeitung persönlicher Erfahrungen betrachtet werden� Sie erinnern an eine Zeit, in der seine literarischen Versuche „in der physischen Ermüdung und in der stets vorhanden gewesenen, immer zudringlichen Sorge um das nackte Leben ertrunken“ sind („Rückblick“ 21). Preczang, der während seiner Buchdruckerlehre in Buxtehude, in der Nähe von Hamburg, mit den Ideen des Sozialismus und der Arbeiterbewegung in Kontakt kam, arbeitete in Berlin als Schriftsetzer (Münchow 411-417; Streisand 377-378)� In dieser Zeit war er mehrmals zeitweilig arbeitslos� Nachdem er in die sozialdemokratische Partei eingetreten war, veröffentlichte er ab Ende der 1880er Jahre seine ersten (heute in Vergessenheit geratenen) literarischen Texte, unter denen Gedichte, Lieder und Bühnentexte� 15 Preczang gilt als einer der ersten Arbeiter-Schriftsteller, dessen Werke in sozialistischen Kreisen positiv rezipiert wurden, obwohl sein Dichtungsbegriff wie eine vulgarisierte Schiller’sche Ästhetik anmutet. So definiert Preczang „Universalität“ als Quintessenz der literarischen Darstellung. Es könne zwar „nichts geben, was an sich von einer künstlerischen Wiedergabe ausgeschlossen wäre“, aber trotzdem handele es sich „nur um die Form“ („Rückblick“ 19). Die Aufgabe der Kunst ist „die Übertragung von Anschauungen in die Welt der Empfindungen“ bzw. „die Vermenschlichung, die Verkörperung alles Seienden in bildhaftem, gesteigertem Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 539 540 Michiel Rys oder konzentriertem Ausdruck“ („Rückblick“ 20)� Dass Preczang stark von Schiller beeinflusst wurde, zeigt sich u.a. darin, dass er nicht nur formal an die idealistische, in der Agitationslyrik der 1848er weiterlebende Tradition anknüpft, sondern sich strukturell auch auf Schillers Werke bezieht (Münchow 190-193) 16 und letztere für seine eigenen aktivistischen Zwecke wiederverwertet� In einem Schiller gewidmeten Gedicht beschreibt Preczang lobend, wie Schiller in seinen Dramen „der Menschheit Ideal“ enthüllt, worauf „[d]as trübe Bild der Gegenwart verblaßt“ („Rückblick“ 29)� Wie Preczang im Rückblick selbst darlegt, verstand er die Forderungen nach einer Verbesserung der sozialen Missstände als unveräußerliche Menschenrechte, ja, als kategorische Imperative. Eine solche Sichtweise weicht zwar grundsätzlich vom Materialismus der orthodoxen Sozialisten ab, doch übt Preczang in den Liedern eines Arbeitslosen auch eine subtile Kritik an den Grenzen der idealistischen Ästhetik. Im Oeuvre Preczangs und im Kanon sozialistischer Literatur nehmen die Lieder so eine einzigartige Position ein� Einerseits belegt die Sammlung die anhaltende Nachwirkung einer sozialistischen an Schiller geschulten Ästhetik, andererseits sucht sie die Grenzen dieses Paradigmas auf, indem sie es gleichzeitig entfaltet und problematisiert� Preczang hat sich mit dem Lied für eine Formtradition entschieden, die über das sozialistische Agitations- und Massenlied und die Protestlyrik des Vormärz auf Schillers lyrische Produktion zurückverweist� Der Form nach entsprechen die Texte den stringenten Merkmalen des Liedes: alle Gedichte haben einen ausgeprägten Rhythmus, geordnete Zeilenlänge und einen festen Strophenbau; sie evozieren eine Gattung, deren Merkmale einen überzeitlichen Anschein haben und das in den Liedern behandelte Thema bändigen. Die tradierten Gattungsvorschriften bieten feste Schranken und Instrumente, mit denen das arbeitslose Subjekt sein notdürftiges Dasein gestalten und bewältigen kann. Durch diese formalen Aspekte können die Lieder im Prinzip auch einfach gesungen werden, wodurch sie der unter Sozialisten und Arbeitern gängigen Praktik des kollektiven Singens als Teil der proletarischen Subjektivierung auf den ersten Blick sehr geeignet scheinen. Die Form impliziert das Versprechen von Solidarität und Gruppenidentität, das aber auf inhaltlicher Ebene nicht so gradlinig eingelöst wird� Dass Preczang gerade den Arbeitslosen - eine Figur der Not und Verzweiflung statt einer revolutionären Persona - als sprechendes Ich nach vorne treten lässt, sprengt sowohl den idealistischen als sozialistischen Rahmen des Ästhetischen� Dabei spielt, wie in dem Rest dieses Aufsatzes dargelegt werden soll, die Ambivalenz der Kategorie des ästhetischen Überflusses eine besondere Rolle. Das erste Lied, „Abschied“, zeigt, wie die Sprechinstanz sich von seinen bekannten Arbeitskameraden verabschiedet, um vom Schicksal „auf fremden Pfaden“ fortgeführt zu werden� Wegen politischer Gründe entlassen (bzw� „verraten“), versucht das Ich sich in seiner neuen Rolle als Arbeitsloser zurecht zu finden. Obwohl das Bild der Fabrikarbeit höchst zweischneidig ist und sowohl das Gruppengefühl wie die körperliche Erschöpfung zur Sprache kommen, liegt der Fokus auf den „Schatten“ der Arbeiterexistenz� Das Lied evoziert neben dem affektiven Grundton der ganzen Sammlung - einer Mischung von Angst, Unsicherheit, Beklemmung, Verfremdung - auf formaler Ebene einen Modus des Beharrens. Indirekt verweisen die Wiederholungen von Klangen und Wörtern auf die Zögerung oder sogar psychologische Unfähigkeit, die Geselligkeit des vertrauten Arbeiterlebens hinter sich zu lassen, wie in dieser Strophe: Und nun? … Fast will ein leises Weh Die Seele mir umkrallen, Und eine Stimme sagt mir: Geh , Eh gar die Tropfen fallen! Das Glas herbei! Und stoßet an Noch einmal , Kameraden! Noch einen Händedruck - und dann Fort ! Fort auf fremden Pfaden� (4; eigene Hervorhebung) Die Frage „und nun? “ bleibt durch die mit Interpunktion markierte Leerstelle unbeantwortet� Der Abschied von Vertrautem und die Angst vor dem Fremden bedeutet zugleich eine Art Befreiung von den kapitalistischen Zwangsverhältnissen und dem monotonen, tötenden Arbeitsrhythmus; es werden neue Potenzialitäten und hoffnungsreiche Perspektiven geöffnet, die im zweiten Gedicht, „Freiheit“, zunächst als Freude am mannigfaltigen Naturschönen exploriert werden. Die Natur löst beim lyrischen Ich ein (proto-)ästhetisches Erlebnis aus, das über das soziale Unrecht und die Pflichten hinaus eine zeitlose, universelle Freiheit vermuten lässt: Zeit? Was ist mir die Zeit? So wenig Wie den Blumen am Fenster, dem Stückchen Natur� Hab sie noch nie gesehen wie heute� Bin rein verwundert: wie schön! Zeit! Ach ja, nur die Zeit! Und wir Leute Lassen das Schöne nicht achtlos stehn. (5) Die Natur spricht zum Ich, das mit den Worten „Menschenherz, blüh“ zur weiteren Entwicklung seines ästhetischen Sensoriums angeregt wird. (5) Auf der einen Hand entpuppt sich die Erfahrung von Harmonie als Sehnsucht nach Vereinigung und/ als Intimität. („Hätt ich ein Mädchen, ich würde tanzen“; 5) Auf der anderen Hand nimmt das Hören einer inneren „Melodie“, auch durch die leitmotivische Wiederholung von „frei“, eine aktivistische Form an: Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 541 542 Michiel Rys Ah! Hier kann man atmen! Hier singen Freie Vögel ein freies Lied. Könnt ich doch auch in die Höhe mich schwingen, Wo mich kein Schutzmann und Staatsanwalt sieht� In mir klingen verbotene Weisen Frei und herrlich wie die Natur� Meine trunkenen Sinne kreisen Weltumspannend über die Flur� (6) Das Naturbild lässt als tastbarer Hinweis auf eine natürliche und universelle Freiheit eine etwaige Überwindung der Notlage vermuten� Demgegenüber wird materieller Überfluss noch in demselben Lied als eine Bedingung des ästhetischen Genusses identifiziert. Sobald das lyrische Ich denkt an die Tatsache, dass ihm die finanziellen Grundlagen fehlen, wird auch die ästhetische Erfahrung der Freiheit in der Natur problematisch: „Ich kam mir vor, wie ein kleiner Rentier, / Dem - leider - die Renten fehlen (7)�“ Die Assoziation der Motive der Natur, Schönheit, Freiheit, Gemeinschaft und Musik wird in den anderen Liedern weiter ausgearbeitet; mit diesen Motiven werden die Umrisse einer typisch humanistischen Lebensform als Teilhabe an einer Totalität evoziert. Wichtig in den Liedern sind die normativen Affekte der Zugehörigkeit. Das lyrische Ich hegt das Verlangen, der Norm der Lohnarbeit nachzukommen� Arbeit bedeutet ihm einen „Platz am Tisch des Lebens�“ (14) Auf der einen Seite will das lyrische Ich wieder ein produzierendes, nützliches Subjekt werden� Auf der anderen Seite lehnen die Arbeitgeber und Fabrikbesitzer die Bewerbungen fortwährend ab, was etwa in „Arbeit! “ mit der Anastrophe „Straßauf, straßab“ - der Sisyphos-Verweis liegt auf der Hand - verdichtet wird� (13-15) Die ständige Frustrierung der normativen Affekte resultiert in einem Zustand der angehaltenen und gesteigerten Gegenwartsbezogenheit - eine Lage im Zeichen von Ohnmacht, Wut und Scham, in der die Handlungsfähigkeit des Subjekts weitgehend eingeschränkt ist. Die existenzielle Erfahrung und das zukunftsgewandte Bild der Hoffnung und der Potenzialität in den ersten Liedern werden auf das momentane Jetzt und dessen unmittelbare physische Bedürfnisse reduziert� Genauer betrachtet kehren die Lieder in bestimmten Hinsichten die Entwicklung jenes „absoluten Bedürfnisses“ um, das für Schiller hauptsächlich in der ästhetischen Erfahrung und für die Sozialisten in dem gezielten Zusammenspiel von volksnaher Form und engagierter Botschaft vorhanden sein sollte� Die in Preczangs Liedern durchgeführte Verbindung von Gattung und Gegenstand konterkariert die humanisierenden Ansprüche des am Idealismus geschulten sozialistischen ästhetisch-politischen Projekts: in einer ihrer bevorzugtesten literarischen Formen - dem Lied - wird der Leser auf die Grenzen und blinden Flecken aufmerksam gemacht� Die Lieder eines Arbeitslosen artikulieren einen Bruch mit der sozialistischen Ästhetik, sowohl auf der Ebene des zukunftsgewandten, propagandistischen Inhalts als auf der Ebene der kollektiven Erfahrung� Die Lieder präsentieren sich nämlich als eine lyrische, persönliche Verarbeitung des Ausschlusses von den normalen ökonomischen Beziehungen. Der Arbeitslose sieht (und fühlt) allmählich seine durch den Lohn gesicherte Beziehung zur kapitalistischen Ökonomie sich auflösen. Von Klassenidentität und Solidarität ist in der Tat kaum noch die Rede; auch die Kampflust und Hoffnung auf eine bessere Zukunft verschwinden im Laufe der Liedsammlung� Der Verlust dieser sozialen Einbettung geht infolgedessen mit einem zusätzlichen Ausschluss von der ästhetisch präfigurierten Klassensolidarität einher. Die Lieder veranschaulichen den allmählichen Prozess, wobei dem arbeitslosen Subjekt die Teilnahme an der affektiven Ökonomie der Klasse und an dem normalen Klassenkampf abhandenkommt� Die Sprechinstanz ist in zunehmendem Maße den Natur- und Tageszyklen unterworfen, ohne sich noch irgendwelchen Ausblick auf eine Verbesserung oder Überwindung ihrer Situation vorstellen zu können. Während die Fabrikarbeit durch einen monotonen, entmenschlichenden Rhythmus geprägt war, bedeuten die Einförmigkeit und die Isolierung der Arbeitslosigkeit noch eine Steigerung dieser Erfahrung� Das Lied „Worte“ schildert in vier detailreichen Szenen, wie Arbeitgeber nicht imstande oder bereit sind, dem Arbeitssuchenden zu helfen. Das Lied endet mit einem Klimax: „Ich habe einen gekannt, / Dem ist es gerade wie Ihnen ergangen� Schließlich hat er sich aufgehangen“ (9)� In den nachfolgenden Liedern hat das lyrische Ich diese Worte verinnerlicht� Im Selbstmordmotiv überlagern und intensivieren sich die sozialen und affektiven Energien, die die Figur des überflüssigen Arbeitslosen prägen. Die Geschichte der Prekarisierung wird dabei vor allem im affektiven Bereich verhandelt, der sich parallel zur graduellen Demontierung des ästhetischen Empfindungsvermögens auf inhaltlicher Ebene entwickelt. Die finale Konsequenz der Ausschließung aus der Gemeinschaft ist ein prekäres Leben, das sich selbst außerhalb der Geschichte stellt und dessen Tod, wie Judith Butler (2016) darlegt, dem normativen Rahmen nach nicht bezeugt oder bemitleidet werden kann� Diese allerletzte Figur der Redundanz veranschaulichen die Lieder durch eine gezielte Verwendung des Topos und Motivs des Selbstmords, das am Anfang noch in Gleichgewicht mit dem positiven Thema der Liebe als gemeinschaftsbildenden Affekts erscheint: aber hält mich etwas an den Schollen Und stillt der Seele unheilvollen Zwist: Es sagt mir, daß wir leben, leben sollen, Weil ja die Liebe unser Leben ist� (10) Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 543 544 Michiel Rys Die Liebe bietet, als Versprechen von Gemeinschaft und Intimität, einen letzten Anhaltspunkt für das prekäre Subjekt, das ein vollwertiges, normales und qualitatives Leben anstrebt� Nur in der Liebe für Grete 17 ist das absolute Bedürfnis der Sprechinstanz nach Gemeinschaft und menschlicher Behandlung trotz der veränderlichen wirtschaftlichen Umstände noch befriedigt. Dieses basale Gefühl der Verbundenheit stellt darüber hinaus sogar die (proto-)ästhetische Wahrnehmung des Transzendent-Universellen wieder her� Im Zusammensein mit Grete… versank die kalte Welt Mit ihrem eitlen Plunder, Und um uns schlug sein Sonnenzelt Das ewigalte Wunder� (12) Grete verkörpert, indem sie das ästhetische Sensorium des lyrischen Ichs trotz seiner prekären Lage zu bewahren hilft, die Stimme der Hoffnung. Der positiven Grete-Figur wird aber eine andere Frauengestalt gegenübergestellt, „Frau Sorge“, die die negativen affektiven Effekte des sozialen Ausnahmezustands personifiziert und die niedergedrückte, verzweifelte Stimmung materiell tastbar macht� 18 Sie ist eine Projektion der Todesgedanken, der suizidalen Triebe: Dämmrung tastet um mich her Mit schmalen weißen Händen; Sie drückt auf meine Stirne schwer Und kriecht an allen Wänden. (16) Das lyrische Ich wird hin- und hergerissen zwischen den beiden Figuren und Bereichen, die auch als Opposition von Licht und Dunkel oder Gesundheit und Krankheit metaphorisiert werden. In Bezug auf diesen Schwellenbereich wird der Überfluss mitsamt der biopolitischen Konsequenzen zum einzigen Male explizit erwähnt. Als „gute Kur“ gegen eine Krankheit empfiehlt ein Arzt, selbst ein Mitglied der wohlhabenden Klasse, dem lyrischen Ich… „Des Morgens gute Sahne, süß und warm, Weißbrödchen, zart, mit Honig, aber echt! Das regt den Appetit an und den Darm Und schmeckt“, er lachte, „garnicht mal so slecht� - Zum weiten Frühstück wäre sehr gesund: Geschabtes Fleisch, vielleicht ein halbes Pfund; Dazu zwei frische Eier, nich zu hart, Bouillon und Butter, dann hat es ne Art! - Zum Mittagessen -“ „Bockwurst? “ fragt ich� - „Großer Gott! Zunächst ne Suppe - Taube oder Huhn! Dann Fisch in Butter, Braten, Fruchtkompott� Mit einer Bockwurst ist doch nichts zu thun! Nachmittags den Kaffee - sehr gute Sorte! Dabei ein wenig Kuchen oder Torte. Nicht viel! Schädlich ist aller Ueberfluß! (18-19) Die Ironie liegt natürlich in der Ambivalenz des Überflusses selbst bzw. darin, dass die Auflistung dem Arzt normal zu sein scheint, für einen armen Arbeitslosen hingegen eine überflüssige - exzessive, deshalb wohl schädliche - Mahlzeit ist. Der Mangel an Überfluss ist zudem der Grund, dass das arbeitslose Ich höheren Gesundheitsrisiken ausgesetzt ist. Die Lieder operieren daneben auch mit anderen Gegensatzpaaren wie Leben und Tod, um die besondere Position der prekären Sprechinstanz zwischen Inklusionswunsch und materieller Exklusionsrealität in Worte zu fassen. Die Begegnung mit anderen Arbeitslosen zeigt, dass der Lebenswunsch und das Verlangen ins „Heer der Arbeit“ aufgenommen zu werden in eine Todesneigung, Alptraum und Einreihung in die „Totenarmee“ der Arbeitslosen umkippen können. (13, 22) Die marginale Existenz der Arbeitslosen wird im Laufe der Sammlung zunehmend als Geister-/ Untoten-Dasein verdichtet, das allen Anschein von Menschlichkeit verloren hat; die Menschen sehen nicht nur unlebendig aus, sie haben auch die Fähigkeit zur ästhetischen Wahrnehmung verloren: Das sind doch nicht des Lebens Farben! Das zeichnete nicht die Natur! In grauer Haut des Schicksals scharfe Narben, Der Röte faltentiefe Spur. Und Augen! Augen ohne Seelen, Daraus kein Strahl mehr schien, Und andre, die in ihren Höhlen Finster und drohend glühn� (20) Der Arbeitslose verliert seine Kraft als geschichtstragendes und -gestaltendes Subjekt, eben weil seine rezeptiven Fähigkeiten zur ästhetischen Erfahrung allmählich zunichtegemacht werden. Dann aber träumt das lyrische Ich - der Traum ist neben der Geisterexistenz ein anderer Schwellenzustand - von einem Aufstand dieser Totenarmee gegen das Leben, womit der Leben- und Todgegensatz eine radikale, ja, revolutionär-subversive Konnotation gewinnt, die auch in den nachfolgenden Liedern eine Rolle spielt. Dem Traumgedicht zufolge kön- Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 545 546 Michiel Rys nen die Arbeitslosen - die Ausgestoßenen der Gesellschaft - sich erst als Tote zu einem „Heer“ vereinigen. Damit wird natürlich jene typische militärische Metapher aus dem Diskurs zu den revolutionierenden Klassen aktiviert, die auch schon im Bild der industriellen Reservearmee angelegt war: Ihr, aus dem Totenreich! Das Leben rief Noch einmal euch� Das Leben, das uns einst verstieß Und uns in Angst und Not Verderben ließ� Wir haben Ruh, seitdem wir starben, Doch unsre Brüder, unsre Kinder darben. Grad wie einst wir� - Die Hände wollen schaffen, Der Leib will Brot, Doch sie erschlaffen In Angst und Not� (25) Dieses Lied über die Wiederkehr des Ausgegrenzten, des Verdrängten lässt als einziges in der Sammlung eine Lektüre als aktivistische Allegorie zu: das Aufwachen des lyrischen Ichs kann sowohl buchstäblich wie metaphorisch - als Hinweis auf Kampfbereitschaft - gelesen werden. Obwohl diese motivische Verbindung wieder die Historizität und Handlungsfähigkeit des Subjekts als Mitglieds einer Klasse hervorzuheben scheint, ist das Bild des Todes innerhalb der gesamten Sammlung höchst ambivalent, bleibt doch auch dieses Gedicht noch von jenen negativen Konnotationen tangiert, die das Lied über die Verzweiflung und den Sterbenswunsch des lyrischen Ichs wachgerufen hatte. Die Lieder sprechen sich in der Tat nie eindeutig darüber aus, ob das lyrische Ich sich nach dem Aufwachen aus dem Traum tatsächlich als revolutionäres Klassensubjekt versteht� Über einen etwaigen Aufstand gegen die sozialen Missstände wird letzten Endes nur im irrealen (deshalb stets auch widerruflichen) Modus des Traums berichtet� Auf jeden Fall stellt das Traumlied es so vor, dass eine Lage, in der Arbeitslose alle materiellen und affektiven Bande zur kapitalistischen Produktion durchgeschnitten haben, den Ausgangspunkt für einen Aufstand bilden kann. Dass eine extreme Form der Prekarität bzw. eine Position der ökonomischen Überflüssigkeit den Start einer Revolution bedeuten könnte, weicht vom normativen Bild des Klassenkampfes als Prärogativ von den als Klasse vereinten (Lohn-)Arbeitern ab� Die Unbestimmtheit über die Position des lyrischen Ichs bleibt bis zum Ende der Sammlung ungelöst: der Tod kann der motivischen Logik der Lieder zufolge sowohl wortwörtlich als metaphorisch gelesen werden, entweder als Symptom einer totalen Verzweiflung oder als ein indirekter Hinweis auf ein weltänderndes Ereignis, bei dem das Heer der „Untoten“ sich dafür rächt, dass das nackte Leben der noch lebendigen Arbeiter in der kapitalistischen Produktion verbraucht wird� Wenn das lyrische Ich angibt, „[s]ich mit dem Leben schlagen“ zu müssen, ist damit gar noch nicht eindeutig ausgesagt, ob es dies entweder als einen persönlichen Streit mit dem Leben versteht, oder vielmehr als einen Klassenkampf der Überflüssigen gegen diejenigen, die das Leben zu Unrechte überflüssig genießen können. (30) Die (Un-) Toten kämpfen gegen diejenigen, die „inmitten der Stadt“ ein luxuriöses Leben führen, voller ästhetischen Überflusses, der durch den antiken Anschein nicht zufällig ein klassisches - Schiller’sches - Paradigma evoziert: Ein weiter Platz inmitten der Stadt, Umrahmt von marmornem Säulengang; […] Spiegel glänzen im Vestibüle, Schöner Damen funkelnde Schleppen Rauschen in seideknisterndem Spiele Auf den samtbeschlagenen Treppen. […] Auf der blumengeschmückten Bühne, Wo eine Silberfontäne springt, Rosenumgürtet, mit lachender Miene, Steht die Göttin der Freude und singt. Singt von Liebe und Glück und Reben, Daß ein Narr, wer die Freude vergißt; Singt das jubelnde Lied vom Leben, Wie es so schön, so herrlich ist. (23-24) Interessant ist vor diesem Hintergrund, dass die letzten Lieder die ästhetischen Themen des Anfangs wiederaufnehmen. Wo die ersten Lieder das ästhetische Empfindungsvermögen noch mit dem Motivkomplex des Naturschönen und der Musik zur Sprache brachten, sind die Melodien am Ende der Sammlung ausgestorben: an die Freiheitslieder kann nur im Präteritum erinnert werden; in den letzten zwei Liedern fallen alle Erinnerungen an das vormalige Leben der Vergessenheit anheim: Was klammerst du dich, Herz, an diesen Ort? Es ist ja doch umsonst� Wir müssen fort� Mein altes Ränzel muß ich wieder packen. Wohin ich geh? - Wo man vergißt! - Dorthin, wo Mehl und Wasser ist, Denn dort wird Brot gebacken� (28) Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 547 548 Michiel Rys Das lyrische Ich ist durch die Umstände dazu gezwungen, zu „wandern“ und die Geliebte zu verlassen� Auch die Inspiration von Gretchen ist im letzten Lied, das wie das Öffnungsgedicht einen „Abschied“ beschreibt und so die Sammlung einrahmt, total verschwunden� Zusammen mit der Liebe muss das lyrische Ich die Poesie aufgeben� Nach dem ersten Abschied vom Arbeiterdasein, bedeutet dieser zweite Abschied einen nächsten Schritt, wobei es aber unklar bleibt, ob es sich um ein Moment der totalen Verzweiflung oder eines der Potenzialität handelt. Das Bild einer umgekehrten Orpheus-Höllenfahrt zeigt nämlich nicht nur, wie die literarische Tätigkeit des lyrischen Ichs von materiellen Faktoren (bzw. von Überfluss) abhängig ist, es evoziert auch das ambivalente Todesmotiv: Hinunter, Herz! - O hätt ich eine Flöte! Ich ginge nicht, wie ich nun muß, so stumm - Ich blies und blies und säh mich garnicht um Nach meiner armen Grete� (28) Am Ende der Sammlung stellt sich heraus, dass materielle Not die ästhetische Erfahrung vollständig zerstören kann. Die letzten Lieder beschreiben auf inhaltlicher Ebene die Selbstaufhebung der Melodie und die Umkehrung der Beziehung zwischen Sinnes- und Formtrieb - ein Schiller’sches Thema, das hier dezidiert als Prekaritätsproblem umgedeutet wird. Preczangs Lied „Entschluß“ nimmt durch einen Kommentar auf den Leitgedanken des Idealismus Bertolt Brechts prägnanten Ausdruck „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ vorweg: „Den Menschen lenkt der Geist�“ Du lieber Gott! - Hochstirnges Wesen oder Hottentott: Mußt du mich um dein bischen Leben plagen, Dann lenkt dich weder Herz noch Geist Noch Seele oder wie man’s heißt, Denn dein Tyrann, das ist der Magen� (28) So spielt die Sammlung mit den intrinsischen Spannungen und Ambivalenzen in Schillers Idee des ästhetischen Überflusses. Die motivische Struktur der Sammlung reflektiert die eigentliche Ambivalenz der als Überfluss konzeptualisierten Erfahrung von Schönheit und Form. Auf dieser Folie und in kritischer Auseinandersetzung mit normativen Vorstellungen zu den Themen Arbeit, Arbeitslosigkeit und Redundanz introduziert Preczang eine differenziertere Vorstellung des Ästhetischen, das nicht (ausschließlich) vom Standpunkt des Exzesses, sondern auch von demjenigen des Rückfalls und der sozial-wirtschaftlichen Überflüssigkeit einen Anfang nehmen könnte. Die Lieder entscheiden sich aber nicht für eine dieser Positionen. Nicht zufällig überschneiden sich in der Metapher, die die besondere Prekarität des Arbeitslosen im Hinblick auf seinen Schwellenzustand erfasst, im Todesmotiv, die jeweils entgegengesetzten Themen (Revolution und Selbstmord), Affekte (Hoffnung und Verzweiflung) und Selbst- und Zeiterfahrungen (Historizität und Gegenwartsgebundenheit). Das Ergebnis ist aber in beiden Fällen, dass am Ende der Liedsammlung die Form als überholter und wirkungsloser Rest jenes normativen Selbstbildes der Arbeiter gilt, das die Klasse der vereinigten Lohnarbeiter als die Verkörperung der Forderung nach einer anderen Gesellschaft vorstellt. Die soziale Überflüssigkeit des Arbeitslosen entspricht paradoxerweise der inhaltlichen Entleerung dieser ästhetischen Form, deren Ambivalenz darin liegt, dass sie im Licht der fortschreitenden Prekarisierung selbst überflüssig geworden ist oder eben in der überflüssigen sozialen Position der Prekären selbst die Potenzialität und Hoffnung ansatzweise sucht und andeutet. Gerade diese Ambivalenz präfiguriert eine anders konzipiertes politisch-ästhetisches Projekt. Notes 1 Rezente soziologische Forschung (z�B� Nachtwey 2016) hat auf die allgegenwärtigen Tendenzen sozialen Abstiegs und sozialer Ausgrenzung und Desidentifizierung im Spätkapitalismus hingewiesen. Gerade diese Entwicklungen führen zu einer weitgehenden Fragmentierung des sozialen Bereichs, die sich nicht länger mit marxistischen Methoden und Begriffen beschreiben lässt. Vor allem der traditionelle, totalisierende Klassenbegriff wurde rezent einer radikalen Kritik unterzogen (u.a. Standing 2011; Hardt, Negri 2004), die die Diversifizierung und Zersplitterung zentral stellte. In diesem Aufsatz wird gezeigt, dass eine größere Aufmerksamkeit für die Vielfalt und Komplexität von Prozessen sozialer Mobilität auch unser Verständnis der Klassengesellschaft im 19. Jh. erheblich nuancieren kann (cf. Eiden-Offe 2017)� 2 Verwiesen wird auf folgendes unveröffentlichtes Typoskript, aus dem mit freundlicher Genehmigung des Fritz-Hüser-Instituts, das Ernst Preczangs Nachlass betreut, zitiert wird (Preczang „Rückblick“)� 3 Preczang findet seine Ideen über die Beziehung zwischen Leben und Kunst in Richard Dehmels Gedicht „Der Arbeitsmann“� Ein lyrisches Ich zeugt von einem bequemen Leben in relativem Luxus, beklagt sich jedoch über das einzige Ding, was fehlt, damit er so „frei“, „schön“ und „kühn“ wie die Vögel sein kann: „nur Zeit“. Der Kampf um die Zeit bzw. um eine Einschränkung des Arbeitstages auf acht Stunden war seit jeher einer der zentralen Ziele der Arbeiterbewegung� Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 549 550 Michiel Rys 4 Für eine komparative Analyse von den (proto-)sozialistischen Theoremen von Schiller und dem jungen Marx, siehe Daniel Hartley (163-182)� 5 Bei Hegel und Vischer wird die Kategorie des ästhetischen Überflusses weiter entwickelt und noch stärker als soziales Privileg einer Minderheit vorgestellt. In den „Vorlesungen über die Ästhetik“ erklärt Hegel, dass „auf dem idealen Boden der Kunst die Noth des Lebens schon beseitigt seyn.” Kunst soll das Ideale zum Thema erheben und „das ächt Ideale besteht nicht nur darin, daß der Mensch überhaupt über den bloßen Ernst der Abhängigkeit von diesen äußeren Seiten herausgehoben sey, sondern mitten in einem Ueberfluß stehe, der ihm mit den Naturmitteln ein ebenso freies als heitres Spiel zu treiben vergönnt.” (Hegel 330-331) Der ästhetische Bereich wird in engem Zusammenhang mit der Entfaltung des objektiven Geists gedacht, genauso wie Schiller Schönheit als eine Vorabnahme der Freiheit konzeptualisierte. In der Nachfolge von Hegel hat Vischer in seiner dreibändigen „Ästhetik“ neben einer historischen Darstellung auch eine Typologie der ästhetischen Formen aufgestellt, die sich an erster Stelle als eine normative Hierarchie der Gattungen präsentiert. Genau wie Schiller definiert Vischer das Schöne, insofern es sich mannigfaltig in vielerlei Formen manifestiert und in der Naturschönheit seinen Ursprung hat, als „real vermitteltes Sein“, als Artikulation einer Totalität. Lyrik ist die Gattung, wo „der lyrische Dichter“ dasjenige zur Sprache bringt, „was sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so, daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einer unerschöpften unendlichen Grund hineinzeigt� Es zittert ein Unaussprechliches zwischen seinen Zeilen: das reine, wortlose Schwingungsleben des Gefühls�“ (Vischer 1225) Vischer versteht das Lied aufgrund seiner Gattungsmerkmale als ästhetische Form schlechthin. Das Lied neigt wegen seiner einfachen, zugänglichen und unmittelbaren Eigenart „vom Individuellen […] nothwendig zum Geselligen“, was an Schillers Überlegungen über Form und Totalität erinnert. Volk wird bei Vischer nationalistisch und exklusiv gedacht, als eine Gruppe von Gleichgesinnten, die vor jeglicher Bildung intuitiv dieselben Sitten und ästhetischen Präferenzen hegen. Von diesem Kollektiv sind aber diejenigen ausgeschlossen, die „nicht mehr naiv und doch nicht gründlich gebildet oder durch Noth abgestumpft und verwildert“ sind - eine moderne soziale Schicht, die in Vischers Zeit aber stets umfangreicher wurde� (Vischer 1357) Nach diesen Mutationen der Schiller’schen Ästhetik ist der Arbeiter von der ästhetischen Erfahrung ausgeschlossen, was seiner sozialen Lage im kapitalistischen Regime entspricht� 6 Siehe in diesem Kontext auch Bogdal (57-60). 7 Hake kommt in Bezug auf die deutsche Arbeiterbewegung zu vergleichbaren Ergebnissen wie Jacques Rancière in his Proletarian Nights (Rancière 2012)� 8 So argumentiert etwa einer der einflussreichsten Literaturkritiker der Sozialistischen Partei, Franz Mehring, in seinem Aufsatz „Schiller, ein Lebensbild für deutsche Arbeiter“ (Mehring 25-89)� 9 Für einen detaillierten Überblick der verschiedenen Positionen in der Schiller-Debatte, siehe den von Jonas herausgegebenen Sammelband (1961)� 10 Für einen detaillierten Überblick, siehe Münchow (171-212)� 11 Allerdings sucht die Lyrik des Naturalismus Anknüpfung bei der Tradition des Vormärz (Heine, Freilingrath, Herwegh). Wie die Anthologie „Moderne Dichter-Charaktere“ (1885) - ein Querschnitt durch die naturalistische Lyrik - illustriert, lehnten die Naturalisten den klassischen und romantischen Kanon vor allem deshalb ab, weil sie mit neuen Schreibweisen einen Kurswandel im literarischen Feld einleiten und so eigenes Terrain gewinnen wollten� Obwohl die Gedichte moderne Themen (Großstadt, Entfremdung, Industrialisierung, Masse, die soziale Frage…) behandelten, kritisierten die sozialistische Kritik das operative Literaturkonzept als zu individualistisch. In der Tat messen sich die Naturalisten ein Ethos zu, das mit Leitbegriffen wie Priestertum, Kraftgenialität und Führertum beim Dichtungskonzept des Sturm und Drang anknüpft. Wie ein früher Kritiker, Friedrich Kirchner, 1893 schon anmerkt, haben die Naturalisten „wenig für die ‚Armen und Heimatlosen‘ gewirkt“; darüber hinaus haben sie das Elend und den Pessimismus der sozialen Realität „in den grellsten Farben“ hervorgehoben (zit� über Schutte 73-74)� Durch einseitige Darstellungen der grotesken, hässlichen Aspekte des Arbeiterlebens haben sie die Klassengegensätze nur zugespitzt, ohne die Möglichkeit einer Reform oder Revolution in Aussicht zu stellen� Gerade diese Charakteristiken haben die Sozialisten in der Naturalismus-Debatte 1896 an den Pranger gestellt, bevor sie die Poetik des Naturalismus aufgrund des Mangels an politisch verwertbaren Affekten ablehnten (Scherer 139-193; Stöckmann 62-87). 12 So weist das Protokoll des Kongresses nach (Kocka 330). 13 Siehe z�B� Marx ( Brumaire 160-161): „Neben zerrütteten Roués Wüstlingen mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie Vagabunden, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Maquereaus Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Literaten, Orgeldreher, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 551 552 Michiel Rys unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen[.]“ 14 Eine interessante, biopolitische Lektüre von Marx’ Vision der Entstehung der Arbeiterklasse und des nackten Lebens des Proletariats bietet Arne De Boever (149-181)� De Boever beschreibt das Proletariat anhand von Giorgio Agambens theoretischem Instrumentarium als eine der Formen des nackten Lebens bzw. des Lebens im Ausnahmezustand - Konzepte, die allgemeine Machtdynamiken beschreiben, durch die das Leben von bestimmten Subjekten aus einer politisch-juristischen Ökonomie zwar ausgeschlossen wird, ihren Gesetzen und deren Geltungskraft jedoch ausgesetzt bleibt� Das ist die Folge von Definitionen des Lebens, die immer auf Grenzziehungen beruhen, die ein gutes, qualitatives Leben zum exklusiven Prärogativ von gewissen Privilegierten erhebt� Die prototypische Figur ist für Agamben bekanntlich der altrömische homo sacer , der Verdammte, der wohl getötet, aber nicht geopfert werden kann. In modernen Zeiten verkörpern u.a. die Lagerinsassen, die sans-papiers und die Migranten die Figur des homo sacer (Agamben 1995)� 15 Eine Auswahl aus seinem Oeuvre wurde 1961 im Akademie-Verlag herausgegeben (Preczang 1961)� 16 Er übernimmt neben dem Handlungsmuster das zentrale Vater-Tochter- Motiv aus Kabale und Liebe in seinen Dramen Töchter der Arbeit (1898) und Im Hinterhause (1903) (siehe Münchow 190-193)� 17 Grete ist eine Figur mit einem konnotationsreichen Namen, die seit Goethes Faust neben einer Verkörperung des Allgemeinguten auch ein tragisches Opfer des (modernen, auch durch wirtschaftliche Motive inspirierten) Strebens nach Wissen und Kontrolle über die Natur darstellt. Auch das Leben der Grete in Preczangs Liedern ist der Spielball ökonomischer Kräfte und fällt der Entfremdung anheim. 18 Es handelt sich um einen intertextuellen Hinweis auf Goethes Faust II und auf ein Gedicht namens „Frau Sorge“ aus Heines Romanzero (1851)� Im letzten Akt von Goethes Tragödie besucht die Sorge Faust um Mitternacht als eine Ankündigung des bevorstehenden Todes. Sie lässt ihn erblinden nach einer kurzen Auseinandersetzung, in der sie beschreibt, wie sie denjenigen, den sie „besitzt“, an Nutzlosigkeit („dem ist alle Welt nichts nütze“) und Aussichtslosigkeit („Ewiges Düstre steigt herunter, / Sonne geht nicht auf noch unter“) leiden lässt. Die Effekte der Sorge sind unabhängig von ästhetischem Empfindungsvermögen („Bei vollkommnen äußern Sinnen / Wohnen Finsternisse drinnen“) und materiellem Wohlstand („Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle�“) (Goethe 331-333)� Heines Gedicht hebt die soziale Isoliertheit zusätzlich hervor: „Das Glück ist fort, der Beutel leer, / Und hab auch keine Freunde mehr“� Jeder Traum auf eine Wiederkehr der Freundschaft wird von der Sorge wie eine „Seifenblase“ zerplatzt. Das nächste Gedicht „An die Engel“ beschreibt den Tod der Sprechinstanz (Heine188-191)� Diese intertextuellen Anspielungen zeigen Preczangs Vertrautheit mit kanonischen Autoren und literarischen Vorbildern� Works Cited Agamben, Giorgio� Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life � Palo Alto: Stanford University Press, 1995� Aus dem Klassenkampf � Hg� v� Eduard Fuchs� Stuttgart: M� Ernst, 1894� Bogdal, Klaus-Michael. Zwischen Alltag und Utopie. Arbeiterliteratur als Diskurs des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a�M�: Syndikat, 1991� Butler, Judith� Frames of War. When Is Life Grievable? London: Verso Books 2016� De Boever, Arne� Plastic Sovereignties. Agamben and the Politics of Aesthetics � Edinburgh: Edingburgh University Press, 2017� Eiden-Offe, Patrick. Die Poesie der Klasse. Berlin: Matthes & Seitz, 2017. Foucault, Michel� Überwachen und Strafen � Berlin: Suhrkamp, 2013� Freilingrath, Ferdinand� Ca ira! Herisau: Verlag des Literarischen Instituts, 1846� Goethe, Johann Wolfgang� Faust. Eine Tragödie. Erster und zweiter Teil. Frankfurt a�M�: Beck, 1977� Hake, Sabine� The Proletarian Dream. Socialism, Culture and Emotion in Germany, 1863-1933 � Berlin: de Gruyter, 2017� Hardt, Michael and Antonio Negri� Multitude. 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Rancière, Posa und die Polizei�“ Spieltrieb. Was bringt die Klassik auf die Bühne? � Hg� von Felix Ensslin� Erfurt: Theater der Zeit, 2006� 58-69� Ästhetik und Prekarität in Ernst Preczangs Lieder eines Arbeitslosen (1902) 553 554 Michiel Rys Münchow, Ursula� Arbeiterbewegung und Literatur 1860-1914 � Berlin: Aufbau, 1981� Nachtwey, Oliver� Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2016� Preczang, Ernst� Auswahl aus seinem Werk � Hg� v� Helga Herting� Berlin: Akademie, 1961� ---� Lieder eines Arbeitslosen � Rahnsdorf, 1902� ---� Rückblick. Abschrift von hs. Manuskript � 1920� Rancière, Jacques� Aisthesis. Scenes From the Aesthetic Regime of Art � London: Verso Books, 2013� ---� Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien � Berlin: B_Books, 2006� ---� Proletarian Nights. The Workers‘ Dream in Nineteenth-Century France. London: Verso Books, 2012� Scherer, Herbert� Bürgerlich-oppositionelle Literaturen und sozialdemokratische Arbeiterbewegung nach 1890. Heidelberg: Metzler, 1974� Schiller, Friedrich� Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Ditzingen: Reclam, 2013� Schutte, Jürgen� Lyrik des deutschen Naturalismus 1885-1893 � Heidelberg: Metzler, 1976� Sozialdemokratisches Liederbuch . Hg. v. Max Kegel. Berlin: Dietz, 1891. Standing, Guy� The Precariat. The New Dangerous Class � London: Bloomsbury, 2011� Stöckmann, Ingo. Naturalismus � Heidelberg: Metzler, 2011� Streisand, Marianne� „Ernst Preczang�“ Lexikon sozialistischer Literatur � Hg� von Simone Barck, Silvia Schlenstedt, Tanja Bürgel, Volker Giel, Dieter Schiller und Reinhard Hillich� Heidelberg: Metzler, 1994� 377-378� Vischer, Friedrich Theodor� Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Band III: Dritter Theil: Die Kunstlehre. Zweiter Abschnitt: Die Künste. Fünftes Heft: Die Dichtkunst. Reutlingen: Mäcken, 1857.