Colloquia Germanica
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0010-1338
Francke Verlag Tübingen
121
2022
543-4
Formen des Mythos, Scheinhafter Fortschritt und In-Spuren-Gehen in Günter Grass’ Roman Ein weites Feld
121
2022
Christian Baier
Dieser Aufsatz untersucht Theo Wuttkes erfolgreiche Wiederverkörperung Fontanes in Günter Grass’ Roman Ein weites Feld im Kontext kontrastierender Mythos-Konzepte. Einerseits wird das Berlin der Wendezeit unter Rückgriff auf Walter Benjamins Passagenarbeit als eine zutiefst mythische Epoche beschrieben, geprägt von scheinbarem Fortschritt und den Phantasmagorien des Konsums. Andererseits stellt Fonty dieser Vorstellung des Mythos als schicksalhafter Gewalt eine mythische Lebensform in der Nachfolge Thomas Manns gegenüber, die es ihm erlaubt, sich über alle Wechselfälle hinweg der eigenen Identität zu versichern und die Ereignisse der Gegenwart in seinem Sinne zu deuten.
Indem der vorliegende Aufsatz die Kunstfigur Fonty als Adaption Mann’scher Mythos-Vorstellungen im Geiste Walter Benjamins interpretiert, eröffnet er nicht nur eine neue Perspektive auf Günter Grass’ Ein weites Feld. Die Analyse des Romans mittels dieser beiden kontrastierenden Mythos-Konzepte leistet darüber hinaus einen Beitrag zur vergleichenden Mythos-Forschung sowie zur Diskussion des Verhältnisses von Mythos und Moderne.
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Formen des Mythos. Scheinhafter Fortschritt und In- Spuren-Gehen in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 1 Christian Baier Seoul National University Abstract: Dieser Aufsatz untersucht Theo Wuttkes erfolgreiche Wiederverkörperung Fontanes in Günter Grass’ Roman Ein weites Feld im Kontext kontrastierender Mythos-Konzepte. Einerseits wird das Berlin der Wendezeit unter Rückgriff auf Walter Benjamins Passagenarbeit als eine zutiefst mythische Epoche beschrieben, geprägt von scheinbarem Fortschritt und den Phantasmagorien des Konsums. Andererseits stellt Fonty dieser Vorstellung des Mythos als schicksalhafter Gewalt eine mythische Lebensform in der Nachfolge Thomas Manns gegenüber, die es ihm erlaubt, sich über alle Wechselfälle hinweg der eigenen Identität zu versichern und die Ereignisse der Gegenwart in seinem Sinne zu deuten� Indem der vorliegende Aufsatz die Kunstfigur Fonty als Adaption Mann’scher Mythos-Vorstellungen im Geiste Walter Benjamins interpretiert, eröffnet er nicht nur eine neue Perspektive auf Günter Grass’ Ein weites Feld � Die Analyse des Romans mittels dieser beiden kontrastierenden Mythos-Konzepte leistet darüber hinaus einen Beitrag zur vergleichenden Mythos-Forschung sowie zur Diskussion des Verhältnisses von Mythos und Moderne. Keywords: Ein weites Feld , Günter Grass, Thomas Mann, Walter Benjamin, Mythos, Moderne Gestern wird sein, was morgen gewesen ist� Unsere Geschichten von heute müssen sich nicht jetzt zugetragen haben. Diese fing vor mehr als dreihundert Jahren an� Andere Geschichten auch� So lang rührt jede Geschichte her, die in Deutschland handelt� (NGA 10, 7) 2 Das auffälligste Merkmal von Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld (1995) besteht in der Angewohnheit des Protagonisten Theo Wuttke, sich in Verhalten, Aussehen und Redeweise als Wiederverkörperung des von ihm als ‚unsterblich‘ verehrten Theodor Fontane zu inszenieren� Zumindest intradiegetisch hat er damit Erfolg: Seine Rolle als Fonty wird allgemein akzeptiert, und der Respekt, den ihm seine Mitmenschen entgegenbringen, ist allenfalls leicht ironisch gefärbt. Das Archiv behandelt ihn als Autorität in Sachen Fontane, und bei einer Kundgebung am 4. November 1989 darf er vor 500.000 Menschen auf dem Alexanderplatz sprechen und die friedlichen Proteste mit der „Achtundvierziger Revolution“ (94) des vorherigen Jahrhunderts vergleichen� Der vorliegende Aufsatz situiert Theo Wuttkes Selbstinszenierung im Kontext zweier kontrastierender Mythos-Konzepte: Wiederholt wurde in der Forschung auf den Einfluss Thomas Manns verwiesen, ohne dass diese Verbindung bisher eingehend untersucht worden wäre. Entsprechend beginnt die Untersuchung mit einer Analyse der Mechanismen mythischer Vergegenwärtigung in der biblischen Tetralogie Joseph und seine Brüder , deren Figuren ihr Leben an vorgeprägten Mustern ausrichten. Anhand von Adrian Leverkühns Selbstinszenierung als moderne Faust-Gestalt im Roman Doktor Faustus wird anschließend die Möglichkeit einer mythischen Vergegenwärtigung im modernen Kontext untersucht� Andererseits wird das Berlin der Wendezeit in Ein weites Feld mit Hilfe der von Walter Benjamin in seiner Passagenarbeit entwickelten Vorstellung der Moderne als einer zutiefst mythischen Epoche beschrieben, geprägt von scheinbarem Fortschritt und den Phantasmagorien des Konsums. Günter Grass’ Adaption des Mann’schen In-Spuren-Gehens erscheint damit nicht als der Versuch, mythische Strukturen in eine moderne Welt zu integrieren, sondern als das Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Vorstellungen des Mythos. Während Fonty, in den Spuren Josephs und Leverkühns wandelnd, sich poetisch-spielerisch dem Vorbild Theodor Fontanes angleicht, wird seine Umwelt vom Mythos des kapitalistischen Fortschritts im Sinne Benjamins bestimmt: einer unerbittlichen, schicksalhaften Macht, der sich der Einzelne hilflos ausgeliefert sieht. Durch die detaillierte Analyse von Günter Grass’ Übertragung der von Thomas Mann entwickelten Kategorien mythischer Nachahmung in den modernen Kontext von Ein weites Feld schließt die vorliegende Argumentation eine Lücke, auf die in der Forschung wiederholt hingewiesen wurde� Die Bezugnahme auf die Mythos-Theorie Walter Benjamins erlaubt dabei nicht nur eine eingehende Beschreibung der Funktion und Mechanismen von Theo Wuttkes Selbstinszenierung, sondern eröffnet zugleich eine neue Perspektive auf die Romane Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus � Da die Mythos-Vorstellungen Thomas Manns und Walter Benjamins jedoch nicht nur als textanalytische Kategorien 602 Christian Baier fungieren, sondern durch ihre kontrastierende Abgrenzung auch konzeptionell geschärft werden, leistet der vorliegende Aufsatz darüber hinaus einen Beitrag zur vergleichenden Mythos-Forschung sowie zur Bestimmung des Verhältnisses von Mythos und Moderne� Die Welt von Thomas Manns Joseph und seine Brüder (1933-43) wird bestimmt von den drei miteinander verwobenen Strukturprinzipien der offenen Identität , des In-Spuren-Gehens und der rollenden Sphäre � Figuren wie Esau erblicken „die Aufgabe des individuellen Daseins darin […], ein mythisches Schema, das von den Vätern gegründet wurde, mit Gegenwart auszufüllen und wieder Fleisch werden zu lassen“ (7�1, 77)� 3 Sie gleichen die Umstände des eigenen Lebens dem überlieferten Muster an, so dass ihr Ich „gleichsam nach hinten offen[steht]“ (7.1, 72) und „[v]on Identität im heutigen Begriffsverständnis […] nicht die Rede sein“ kann (Schulz 76), wandeln in vorgegebenen Spuren und Führen wie Fonty ein „zitathafte[s] Leben“ (GW IX, 497). Die rollende Sphäre , diese „zentrale Denkfigur der Joseph-Tetralogie“ (Marx 157), unterscheidet sich vom In-Spuren-Gehen dadurch, dass sie das Übernatürliche mit einbezieht� Überzeugt, dass „ein Leben und Geschehen ohne den Echtheitsausweis höherer Wirklichkeit […] überhaupt kein Leben und Geschehen ist“ (7.1, 569), richten die Figuren ihr Verhalten nicht nur an überlieferten Vätergeschichten, sondern auch an mythischen Mustern aus (vgl� Assmann 1993; Borchmeyer)� Dies zeigt sich exemplarisch an Esau und Jaakob, die gemeinsam „das Brüderpaar“ (7.1, 149) bilden und in dieser Konstellation „nicht als unverwechselbare Personen, sondern als mythische Rollenträger“ agieren (Dedner 32). Seinen Ursprung hat das Muster der ‚feindlichen Brüder‘ in der ägyptischen Göttergeschichte von Seth und Osiris (vgl. 7.1, XXII), und besonders Esau bleibt zeitlebens der Rolle „Edoms, des Roten“ (7�1, 395) verhaftet: „Seine Art, die Dinge und sich selbst zu sehen, war durch eingeborene Denkvorschriften bedingt und bestimmt, die ihn banden […] und ihre Prägung von kosmischen Kreislaufbildern empfangen hatten�“ (7�1, 84) Das Beispiel Esaus zeigt die Ambivalenz einer solchen mythischen Existenz: Zwar wird er aufgrund seiner Gebundenheit an das vorgegebene Muster von seinem Vater „verflucht, statt gesegnet“ (7.1, 170), doch gewährt ihm seine Rolle zugleich Orientierung und Halt in dieser Krise: Mit ihrer Hilfe stabilisiert er seine Identität und findet nach dem Verlust seiner Erstgeburt einen neuen Platz in der Welt. Fünfundzwanzig Jahre später prahlt Esau gegenüber Jaakob: „Glaubst du, der Fluch, den ich dir verdanke, du allerliebster Spitzbube, habe mich zum grindigen Bettler gemacht und zum Hungerleider in Edom? Das wäre! Ein Herr bin ich dort und groß unter den Söhnen Seïrs.“ (7.1, 100) Formen des Mythos in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 603 604 Christian Baier Auch Joseph bedient sich mythischer Muster, um die eigene Identität zu konstituieren: Er ist „dermaßen hübsch und schön […], daß er auf den ersten Blick mehrmals halb und halb für einen Gott gehalten“ (7�1, 9) wird, und nutzt diese Eigenschaft, um sich als Personifikation des kanaanitischen Jünglingsgottes Tammuz-Adonis zu inszenieren. Als sein ältester Bruders Ruben ihm deshalb Vorhaltungen macht, gibt Joseph sich durch anspielungsreiche Rede als Inkarnation des Gottes zu erkennen: „Dem großen Ruben graute es. […] Er hielt den Joseph in diesem Augenblick nicht geradezu für eine verschleierte Doppelgottheit von beiderlei Geschlecht […]. Und dennoch war seine Liebe nicht weit vom Glauben�“ (7�1, 482) Als Joseph später von seinen Brüdern verprügelt und in den Brunnen geworfen wird, 4 deutet er das Geschehen als Erfüllung seiner Tammuz-Rolle, als Tod und Niederfahrt des Gottes, der mit Notwendigkeit die Auferstehung folgt� 5 Da er fähig ist, „die äußere Wirklichkeit und ihre mythische Innenseite zugleich zu schauen“ (Borchmeyer 11), befreit sich Joseph aus der Rolle des Opfers und gewinnt als Deutender selbst angesichts vollkommener Hilflosigkeit eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den Ereignissen. Wirklich wird Joseph dem mythischen Muster entsprechend nach drei Tagen aus dem Brunnen befreit, und auch bei seinem Fall in die „zweite Grube“ (8�1, 1362) von Zawi-Rê erfüllt sich die Voraussage, er werde „nach seiner Stimmigkeitsberechnung drei Jahre“ (8.1, 1362) im Gefängnis verbleiben. Die mythischen Zusammenhänge, auf die Joseph sich dabei beruft, werden vom Erzähler ausdrücklich bestätigt: „Was könnte einleuchtender und richtiger sein, als daß Joseph, entsprechend den drei Tagen, die er zu Dotan im Grabe verbrachte, drei Jahre lang und weder kürzer noch länger in diesem Loche lag? “ (8.1, 850). Wieder gelingt es Joseph, Ereignisse, denen er sich hilflos ausgeliefert sieht, nach Maßgabe mythischer Muster zu deuten und sie dadurch regelhaft und beherrschbar erscheinen zu lassen� Die genannten Beispiele zeigen, dass die „eingeborene[n] Denkvorschriften“ (7.1, 84) der offenen Identität, des In-Spuren-Gehens und der rollenden Sphäre nicht bloß kulturelle Konventionen darstellen, sondern ihnen in der fiktiven Welt von Joseph und seine Brüder ontologische Wirklichkeit zukommt: Diese Welt bildet „ein Rundes und Ganzes“ (8�1, 1422), eine mythische Ordnung, gemäß derer auf eine Höllenfahrt mit Notwendigkeit nach drei Tagen die Wiedererstehung folgt. Joseph bestätigt dieses mythische Grundgesetz, als er Benjamin beim Festmahl mit den Brüdern versichert, „daß es gar keine Niederfahrt gibt, der nicht ihr Zubehör folgte, das Auferstehn. […] Nein, die Welt ist nicht halb, sondern ganz“ (8�1, 1748)� Somit erfüllt die mythische Nachahmung drei wesentliche Funktionen: Sie dient der Stabilisierung der eigenen Identität, erlaubt die Erklärung der Welt Formen des Mythos in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 605 und eröffnet die Möglichkeit, selbst angesichts überwältigender Ereignisse ein Maß an Selbstbestimmtheit zu bewahren. Dabei hängt das Gelingen des In-Spuren-Gehens von den äußeren Umständen, dem planvollen Handeln der Figur und der mythischen Verfasstheit der fiktiven Welt ab: Ohne Josephs sprichwörtliche Schönheit wäre es ihm unmöglich, sich als Personifikation des Tammuz zu inszenieren� Ebenso notwendig sind seine Bemühungen, bei seinen Mitmenschen den Eindruck zu erwecken, „daß ein Höheres sich in ihm darstellte, als was er war, sodaß dies Höhere träumerisch-verführerisch ineinanderlief mit seiner Person.“ (8.1, 1772) Während Theo Wuttke diese beiden Voraussetzungen erfüllt, kann er sich, anders als die Figuren in Joseph und seine Brüder , nicht auf eine harmonisch-geschlossene Weltordnung berufen, die das Gelingen seiner Nachahmung verbürgt� Die Probleme, die sich aus der Übertragung mythischer Strukturen in einen modernen Kontext ergeben, werden nun anhand eines Werkes illustriert, das in dieser Hinsicht eine Mittelstellung zwischen der biblischen Tetralogie und Grass’ Roman einnimmt� Thomas Manns Doktor Faustus (1947) ist in mehrfacher Hinsicht als moderner Roman anzusehen: 6 Nicht nur entfaltet der Erzähler Zeitblom ein Panorama deutscher Geschichte vom Ende des Kaiserreichs bis zur Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald, 7 auch der Teufelspakt selbst ist von Adrian Leverkühns Wunsch motiviert, die „historische Verbrauchtheit und Ausgeschöpftheit der Kunstmittel“ (10.1, 199) zu überwinden, die im Roman als charakteristisch für die Spätmoderne präsentiert werden. Zugleich passt der deutsche Tonsetzer sein Leben der Vita des legendären Schwarzkünstlers Faust an, was eine unmittelbare Verbindung zur mythischen Nachfolge in Joseph und seine Brüder herstellt� 8 Kann Doktor Faustus aufgrund dieser Mittelstellung als Beispiel für die erfolgreiche Übertragung mythischen In-Spuren-Gehens in einen modernen Kontext angesehen werden und damit als Blaupause für die Analyse von Theo Wuttkes Fontane-Personifikation in Ein weites Feld ? Eine solche Übertragung ist nur legitim, wenn Leverkühns Wiederverkörperung der Faustgestalt unter den Bedingungen der Moderne tatsächlich gelingt. Die Forschung hat früh nachgewiesen, dass „Adrians Kindheits- und Jugendmilieu sowie sein Charakter und seine Begabung ganz dem des Faustus des Volksbuchs“ entsprechen (Nielsen 136): Wie sein frühneuzeitliches Vorbild verfügt Leverkühn über einen „geschwinden, hoffärtigen Kopf “ (10.1, 362) und beginnt zunächst ein Studium der Theologie, bricht dieses jedoch zugunsten der Musik ab, die aufgrund ihrer systematischen Zweideutigkeit in Manns Roman der schwarzen Magie des Volksbuches entspricht� 9 Damit sind die äußerlichen Voraussetzungen geschaffen, die es dem Komponisten erlauben, sein Leben 606 Christian Baier systematisch dem Muster des Faust-Mythos anzugleichen� Zu Leverkühns bewussten Anverwandlungen gehören etwa seine angeblichen Expeditionen in die Tiefen des Meeres sowie ins Weltall, 10 die „in Anlehnung an das Volksbuch konzipiert“ sind (10.2, 600), oder die symphonische Kantate D. Fausti Weheklag , in der er „das Leben und Sterben des Erzmagiers“ (10�1, 705) zum Gegenstand seiner künstlerischen Produktion macht� 11 Ihren Höhepunkt erreicht Leverkühns Wiederverkörperung in seiner stilisierten Neuinszenierung der Oratio Fausti ad Studiosos � 12 Vor einer zunehmend verstörten Versammlung deutet der deutsche Tonsetzer das eigene Lebens als Vergegenwärtigung des Faustischen Musters, bekennt sich zur Teufelsverschreibung, vollzogen in der sexuellen Vereinigung mit der syphilitischen Prostituierten Hetaera Esmeralda, bezeichnet alle seine Kompositionen als Teufelswerk und bezichtigt sich der Morde an seinem Neffen Echo sowie seinem Geliebten Rudi Schwerdtfeger, deren Tod er durch seinen Bruch der zentralen Klausel des Teufelspakts verschuldet habe: „Du darfst nicht lieben�“ (10�1, 363)� Doch Adrian Leverkühn scheitert mit dem Versuch, seine Zuhörer von dieser Identifikation zu überzeugen. Zahlreiche Anwesende verlassen schon während seiner Rede den Saal, und Dr. Kranich fasst die allgemeine Ablehnung in Worte: „Dieser Mann […] ist wahnsinnig. Daran kann längst kein Zweifel bestehen“ (10�1, 728)� Im Rahmen der vorliegenden Argumentation kann dieses Scheitern auf den Umstand zurückgeführt werden, dass Leverkühns Selbstinszenierung als moderner Faust von keiner mythischen Weltordnung verbürgt wird, so dass seine Behauptung einer Teufelsverschreibung mittels syphilitischer Infektion nur als Wahnvorstellung aufgefasst werden kann� Auch die Selbstbezichtigung, er trage die Schuld am Tode Nepomuk Schneideweins und Rudolf Schwerdtfegers, entbehrt jeder sachlichen Grundlage: Echo stirbt an „Cerebrospinal-Meningitis“ (10�1, 687), und Schwerdtfeger wird von Ines Institoris erschossen� 13 Im Gegensatz zu dieser beinahe einhelligen Ablehnung durch intradiegetische Figuren herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass Doktor Faustus nicht nur aufgrund seines Titels, sondern auch strukturell als Faustroman anzusehen sei, was das Gelingen von Leverkühns Faust-Nachfolge impliziert� 14 Ausgehend von dieser Diskrepanz lässt sich die These aufstellen, dass die legitimierende Funktion der mythischen Weltordnung in diesem Roman von Serenus Zeitblom übernommen wird: Seine rezeptionslenkenden Eingriffe verleihen Leverkühns imitatio Fausti auf der Ebene der literarischen Darstellung einen Anschein von Plausibilität, der ihr an sich keineswegs zu eigen ist. Da die Bedeutung der Erzählinstanz für die Komposition des Romans Doktor Faustus in der Forschung bereits ausführlich diskutiert wurde, 15 soll an dieser Stelle lediglich anhand dreier Beispiele gezeigt werden, wie der Erzähler die angebliche dämonische „Eigenfärbung der Geschichte“ (10.1, 223) mittels gezielter Rezeptionslenkung bewusst generiert, um die Existenz des Teufels und damit Leverkühns Selbstinszenierung als moderne Faustfigur plausibel zu machen. Diese Rezeptionslenkung beginnt bereits mit seiner Beschreibung Kaisersascherns, einer „verständig-nüchternen modernen Stadt“ (10.1, 58), der Zeitblom jedoch jegliche Modernität abspricht: Sie sei geprägt „von der Verfassung des Menschengemütes in den letzten Jahrzehnten des 15� Jahrhunderts“ (10�1, 56-7), und der Erzähler hält es für möglich, dass „plötzlich eine Kinderzug- Bewegung, ein Sankt Veitstanz, das visionär-kommunistische Predigen irgend eines ‚Hänselein‘ mit Scheiterhaufen der Weltlichkeit, Kreuzwunder-Erscheinungen und mystischem Herumziehen des Volkes hier ausbräche.“ (10.1, 58) Eine ganz ähnliche Umdeutung erfahren Jonathan Leverkühns harmlose naturwissenschaftliche Experimente, die Zeitblom mittels der Bezeichnung „die Elementa spekulieren“ (10�1, 25) in ein zweideutiges Licht rückt, da „das Unterfangen, mit der Natur zu laborieren, […] ganz nahe mit Hexerei zu tun habe, ja schon in ihr Bereich falle und selbst ein Werk des ‚Versuchers’ sei“ (10�1, 32)� Er lässt Adrians Vater auf diese Weise gezielt als dämonisch umwitterte Gestalt erscheinen, die neben einer Neigung zur Migräne auch die Veranlagung zum Teufelspakt an den Sohn vererbt habe� Selbst der sexuellen Vereinigung mit Hetaera Esmeralda, bei der Leverkühn sich mit Syphilis infiziert, verleiht Zeitblom ein dämonisch-zweideutiges Gepräge: Das Bekenntnis, er habe nie „ohne ein religiöses Erschauern dieser Umarmung gedenken können, in welcher der Eine sein Heil darangab, der Andere es fand“ (10.1, 226), ist nur dann verständlich, wenn der Erzähler die syphilitische Infektion im Sinne der Teufelsverschreibung auffasst, also von der Realexistenz des Teufels ausgeht. Serenus Zeitblom schildert Deutschland im ausgehenden 19� und frühen 20� Jahrhundert als eine Welt, in der irrationale und atavistische Impulse jederzeit wieder hervorzubrechen drohen, Naturwissenschaften als Hexenwerk gelten, eine syphilitische Infektion das Seelenheil gefährdet und „[d]ie Realität der Magie, des dämonischen Einflusses und der Verhexung“ (10.1, 163) nicht auszuschließen ist. Leverkühns Vergegenwärtigung des Faust-Mythos erscheint nur deshalb als überzeugend, weil die fiktive Welt, wie Serenus Zeitblom sie evoziert, keineswegs modern , sondern zutiefst atavistisch ist� Der Fall des deutschen Tonsetzers kann nicht als Blaupause für Theo Wuttkes Fontane-Personifikation herangezogen werden, da eine Umdeutung nach dem Vorbild Zeitbloms in Ein weites Feld nicht erfolgt� Dennoch erlaubt die Analyse des Doktor Faustus eine wichtige Einsicht für die Interpretation von Grass’ Roman: Anders als in Joseph und seine Brüder erscheinen die mythischen Muster im Faustus als Fremdkörper, die nur mit erheblichem erzählerischem Aufwand in den modernen Kontext des Romans integriert werden können. So lange Mythos und Moderne als gegensätzlich, sogar unvermittelbar erscheinen, geht die Formen des Mythos in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 607 608 Christian Baier Etablierung mythischer Muster in einem modernen Kontext unweigerlich mit einer Deformierung der fiktiven Welt einher. Für die Interpretation von Ein weites Feld ergibt sich daraus die Frage, ob das Verhältnis dieser beiden Begriffe auch anders als gegensätzlich gedacht werden kann. Walter Benjamins Analyse der mythischen Strukturen der Moderne bietet hier eine mögliche Antwort. Nicht erst seit Max Webers (87) Formulierung von der „Entzauberung der Welt“ ist die Ablehnung mythischer Erklärungsmuster konstitutiv für das Selbstverständnis der Moderne, doch wurde diese Abgrenzung schon früh als wirkungsmächtige (Selbst-)Täuschung entlarvt: nicht nur in der Dialektik der Aufklärung (1944), sondern auch in Walter Benjamins Passagenarbeit (1927-40)� Gerade in der Metropole Paris, diesem urbanen Zentrum moderner (Konsum-)Kultur, sieht Benjamin mythischen Kräfte am Werk. Indem er die „Passagen und Interieurs, die Ausstellungshallen und Panoramen“ (GS V, 59) 16 als materielle Manifestationen einer „Phantasmagorie der kapitalistischen Kultur“ (GS V, 51) auffasst, entlarvt Benjamin „modernity, the supposed epoch of enlightenment and progress, […] as nothing other than the pre-eminent time of myth“ (Gilloch 174). In dieser Sektion wird Walter Benjamins Vorstellung des Mythos anhand seiner Passagenarbeit charakterisiert und derjenigen Thomas Manns gegenübergestellt� Die Einsicht, dass die spezifische Konstellation in Ein weites Feld als Kombination dieser beiden Mythos-Konzepte aufgefasst werden kann, bildet die Grundlage einer eingehenden Analyse von Günter Grassʼ Roman. Im Zentrum von Benjamins Beschreibung des modernen Paris stehen die Prinzipien der nouveauté und des Fortschritts: Das Leben in der Metropole verspricht nie gekannte Erfahrungen, Innovationen treten an die Stelle überholter Technologien, und der Konsum neuester Produkte verheißt Glück und Wunscherfüllung. Benjamins Kritik zielt auf die Scheinhaftigkeit dieser Vorstellung: Neue Technologien „imitate precisely the old forms they were destined to overcome” (Buck-Morss 111), 17 und die einander pausenlos ablösenden Produkte des Konsums repräsentieren ein ewiges Versprechen von Wunscherfüllung: Das Moderne, die Zeit der Hölle. Die Höllenstrafen sind jeweils das Neueste, was es auf diese Gebiete gibt� Es handelt sich nicht darum, daß ‚immer wieder dasselbe‘ geschieht (a fortiori ist hier nicht von ewiger Wiederkunft die Rede) sondern darum, daß das Gesicht der Welt […] gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, daß dies ‚Neueste‘ in allen Stücken immer das nämliche bleibt“ (GS V, 1010-1; Gº, 17). Ausdrücklich verwirft Benjamin die Vorstellung einer Wiederkehr des Immer- Gleichen: „[D]as Immer-Wieder-Neue ist nicht Altes, das bleibt, noch Gewesenes, das wiederkehrt, sondern das von zahllosen Intermittenzen gekreuzte Eine und Selbe“ (G°19, GS V, p� 1011)� Diesen Unterschied, der sich für die Interpretation von Ein weites Feld als entscheidend erweisen wird, formuliert Graeme Gilloch wie folgt: „It is not that things recur, but that they do not change, that is crucial for Benjamin� History is the endless stream of the nothing-new; it is fundamentally at a standstill, not engaged in some cyclical motion“ (106)� Obwohl der vielbeschworene Fortschritt sich damit als scheinhaft erweist, wird ihm in der Moderne eine geradezu mythische Zwangsläufigkeit zugeschrieben. 18 Walter Benjamin führt diese „Reaktivierung der mythischen Kräfte“ (GS V, 494; K 1 a, 8) unmittelbar auf den Einfluss des Kapitalismus und seiner Fetischisierung der Konsumgüter zurück: „Die Eigenschaft, die der Ware als ihr Fetischcharakter zukommt, haftet der warenproduzierenden Gesellschaft selber an […]. Das Bild, das sie so von sich produziert und das sie als ihre Kultur zu beschriften pflegt, entspricht dem Begriffe der Phantasmagorie“ (GS V, 822; X 13a). Benjamin, der die Moderne als eine „von diesen Phantasmagorien beherrschte Welt“ (GS V, 1257-8; Ts 891) beschreibt, sieht diese Epoche damit geprägt von „hallucinatory mental processes that [are] deluded yet that [have] an undeniable reality of their own” (Cohen 207)� Grundlegend für jede Diskussion von Walter Benjamins Mythos-Konzept ist Winfried Menninghausʼ Einsicht (109), dass es einen kohärenten Mythos-Begriff bei Benjamin nicht gibt: „Ein stabiles Etwas dieses Namens ist eine Fiktion� Zwar lassen sich markante Elemente des Benjaminschen Mythos-Denkens ‚herauspräparieren‘, aber man kann und darf sie nicht zu einer falschen Einheit addieren.“ Während Menninghaus selbst (10-1) sein ‚Präparat‘ von sieben neuzeitlichen Traditionen des Mythos abgrenzt (109), unterscheidet Graeme Gilloch vier verschiedene Bedeutungen des Begriffs bei Benjamin (9-13). Im vorliegenden Kontext ist zunächst der aufklärerische Mythos-Begriff relevant, der in Benjamins Forderung nach einer ‚Auflösung‘ des mythischen zugunsten eines historischen Bewusstseins zum Ausdruck kommt� 19 Von besonderer Bedeutung für die Interpretation von Ein weites Feld ist jedoch die Vorstellung menschlicher Hilflosigkeit angesichts mythischer Mächte (vgl. Gilloch 10), die sich für Walter Benjamin wie für Günter Grass in den erbarmungslosen Zwängen des kapitalistischen Fortschritts manifestieren� Entsprechend kann Benjamins Mythos-Konzept als „direkter Gegenentwurf“ (Greiert 83) zum romantischen Mythos-Begriff aufgefasst werden: „Während […] die Frühromantiker den Mythos kritisch der Moderne entgegenstellen, verortet Benjamin die Moderne ganz und gar im Bann des Mythos“ (Greiert 83)� Diese „Fronstellung“ (Menninghaus 13) gegenüber dem romantischen Mythos erklärt sich nicht zuletzt aus dem zeithistorischen Kontext der Passagenarbeit : Angesichts des heraufziehenden Faschismus und seiner Instrumentalisierung des Mythos erweisen sich romantische Vorstellungen von mythischer Legitimation und Welterklärung als unhaltbar. Und so spricht aus Benjamins Be- Formen des Mythos in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 609 610 Christian Baier handlung des Mythischen eben auch die Absicht, „mythische Gehalte nicht der Reaktion und später dem Faschismus zu überlassen“ ( Janz 364). Der Widerstand gegen die faschistische Inanspruchnahme des Mythos bildet eine der wenigen Parallelen zu Thomas Mann, der in seinem zeitgleich mit der Entstehung der Passagenarbeit veröffentlichten Essay Bruder Hitler (1938) diagnostiziert, der Mythos befinde sich „auf der Stufe der Verhunzung“ (GW XII, 848). Getreu seines Vorsatzes, „den Mythos den faschistischen Dunkelmännern aus der Hand zu nehmen und ihn ins Humane ‚umzufunktionieren’“ (Wysling 192), bedient Mann sich mythischer Strukturen, um Joseph und seine Brüder zu einem „Roman des Widerstands“ (Kurzke 254) gegen faschistisches und nationalsozialistisches Gedankengut zu machen� 20 Während die biblische Tetralogie also formal wie stilistisch der romantischen Tradition verpflichtet ist, 21 sieht Walter Benjamin das probate Mittel, das kollektive Bewusstsein aus seinem phantasmagorischen Schlummer zu erwecken, in der aufklärerischen Überwindung des Mythos� Der Unterschied zwischen den Mythos-Konzepten Walter Benjamins und Thomas Manns lässt sich unter Rückgriff auf Hans Blumenberg (13) als Gegensatz von Terror und Poesie beschreiben, wobei ‚Mythos‘ entweder „als reiner Ausdruck der Passivität dämonischer Gebanntheit oder als imaginative Ausschweifung anthropomorpher Aneignung der Welt und theomorpher Steigerung des Menschen“ aufgefasst wird� Thomas Manns Behandlung des Mythos ist poetisch, spielerisch und imaginativ; das Wort von der ‚theomorphen Steigerung des Menschen‘ klingt wie auf einen Roman gemünzt, in dem „Götter zu Menschen, Menschen aber zu Göttern werden können“ (7.1, 569). Walter Benjamins kapitalistischer Fortschritts-Mythos, der sich als unpersönliche, schicksalhafte Macht manifestiert, gehört ebenso eindeutig auf die Seite des Terrors. 22 Im folgenden Abschnitt wird gezeigt, dass die Moderne, wie sie in Ein weites Feld dargestellt ist, unter Bezugnahme auf Walter Benjamins Passagenarbeit als eine zutiefst mythische Epoche beschrieben werden kann� Anders als im Doktor Faustus werden daher nicht mythische Prinzipien in eine ‚entzauberte‘ Welt integriert, sondern zwei gegensätzliche Auffassungen des Mythos einander gegenübergestellt: Während Theo Wuttkes Verkörperung Theodor Fontanes eindeutig in der Tradition von Thomas Manns romantisch-poetischer Mythos- Vorstellung steht, ist die Welt, gegen die er seine Lebensform zu behaupten hat, geprägt von Walter Benjamins Vision eines kapitalistischen Fortschritts- Mythos� Der Mythos des Fortschritts ist in Ein weites Feld auf verschiedenen Ebenen präsent. Die allgemeine Begeisterung zum Jahreswechsel 1989/ 90 sowie am 3� Oktober 1990 (60-3 und 453-9) macht deutlich, dass Mauerfall und Wiedervereinigung von der Allgemeinheit als Zeichen historischen Fortschritts aufgefasst werden� Die Reaktionen des westdeutschen Bauunternehmers Grundmann oder Martha Wuttkes naiver Jugendfreundin Inge Scherwinskis zeigen zudem, dass diese Entwicklung mit politischem und gesellschaftlichem Fortschritt gleichgesetzt wird: „Aber nu wird ja alles besser, wo wir die Einheit kriegen: Deutschland, einig Vaterland! “ (284)� Im Zentrum aber steht mit der Einführung des kapitalistischen Wirtschaftssystems der ökonomische Fortschritt, der im Roman vor allem in der Privatisierung ehemals volkseigener Betriebe zum Ausdruck kommt� Die mit dieser Abwicklung betraute Treuhandanstalt erscheint geradezu als institutionelle Manifestation des kapitalistischen Fortschritts- Mythos� Die Auswirkungen dieses Fortschritts werden in Ein weites Feld eindringlich, wenn auch nicht unvoreingenommen geschildert: „Ein Betrieb nach dem anderen wird für Nullkommanichts verscherbelt, woraufhin der Käufer ihn zumacht, damit ihm ja keine Konkurrenz erwächst“ (600). Millionen Ostdeutscher verlieren ihren ehemals sicheren Arbeitsplatz oder sind, wie Theo Wuttke es formuliert, „einem Enthauptungsprozeß unterworfen“ (607)� Die Ermordung des namenlos bleibenden Treuhand-Chefs macht deutlich, dass selbst hochrangige Repräsentanten des kapitalistischen Systems sich den „Gesetze[n] des Marktes“ (603) und ihrer inhärenten Gewalt nicht entziehen können. 23 Damit ist der Fortschrittsmythos, wie er in Ein weites Feld dargestellt wird, gemäß Hans Blumenbergs Einteilung zweifellos der Seite des Terrors zuzuordnen� Die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber diesen mythischen Kräften zeigt sich überdies in der drastischen Abwertung alles Ostdeutschen: Hoftallers fabrikneuer Trabant ist eines „der vieltausend zu Schrott erklärten [Ost-]Produkte“ (471), und bezogen auf die Evaluation des Juristen Eckhard Freundlich schreibt Fonty an seine Tochter, „nach den Regeln der bevorstehenden Einheit müsse, um diese als Sieg des Kapitalismus zu rechtfertigen, nicht nur jegliches Produkt unserer Machart, sondern auch alles östliche Wissen als nichtsnutz ausgewiesen werden.“ (341) Auch Freundlich fällt dem Fortschritt zum Opfer: Aufgrund einer Evaluation in den Vorruhestand versetzt, nimmt er sich das Leben (642)� In frappierender Übereinstimmung mit Benjamins Analyse manifestiert sich der kapitalistische Fortschrittsmythos in Ein weites Feld nicht nur in Gewalt und Terror, sondern auch in einer Phantasmagorie des Konsums. Aufgrund der unverkennbaren Absicht des Autors Grass, „den Mythos von der gelungen Einheit zu zerstören“ (Kube 358), 24 tritt diese allerdings meist nur indirekt in Erscheinung. Den Inbegriff einer solchen phantasmagorischen Verheißung bilden die von Helmut Kohl „versprochenen blühenden Landschaften“ (532), die der skeptische Priester Bruno Matull ohne Umschweife als „Trugbild“ (292) verwirft� Als ähnlich trügerisch erweisen sich auch die von der Währungsumstellung Formen des Mythos in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 611 612 Christian Baier geweckten Hoffnungen auf anhaltenden Wohlstand: Zwar kommen Emmi und Martha Wuttke bei einem Besuch im Kaufhaus des Westens in den Genuss der schönen neuen Warenwelt, so dass endlich „Kaufwünsche […] erfüllt, Träume in Tatsachen umgemünzt“ (148) werden und „lang entbehrter Konsum stattfinden“ (128) kann. Der Wohlstand ist jedoch nicht von Dauer, denn das neue Geld zieht sich, „nachdem es rasch Konsumgelüste gestillt [hat], eilig in den Westen zurück“ (148)� Bei einer Gelegenheit jedoch übersteigt die fiktive Wirklichkeit alle kapitalistischen Traumbilder: Als Martha Wuttke nach dem Unfalltod ihres Gatten ein beträchtliches Vermögen zufällt, verwandelt sich die „arme Ostmaus“ (128) unversehns in „eine karrierebewußte Geschäftsfrau […]; selbst ihr Parfum roch profitorientiert“ (743), und von Mutter Emmi wird berichtet, „sie fahre zum Einkaufen neuerdings mit Chauffeur.“ (722) Diese Episode, in Grass’scher Manier ins Märchenhafte spielend, kann als literarische Umsetzung von Walter Benjamins Phantasmagorie des Konsums aufgefasst werden. Damit sind zwei wesentliche Parallelen zwischen Benjamins kulturkritischer Analyse der Moderne und Günter Grass’ literarischer Kritik der deutschen Wiedervereinigung zu konstatieren: (1) die Dominanz des kapitalistischen Fortschritts-Mythos, mit Blumenberg als eine Form von Terror zu charakterisieren, und (2) die Existenz phantasmagorischer Traum- und Wunschbilder des Konsums, wenn auch in gebrochener Form. Eine dritte Parallele, die in der folgenden Sektion untersucht wird, betrifft (3) Grass’ Demaskierung des Fortschritts-Mythos als scheinhaft im Sinne der von Walter Benjamin postulierten Aktualisierung des Immer-Gleichen. Dieser Konstellation wird (4) Theo Wuttkes Wiederverkörperung Fontanes im Geiste der romantischen Mythos-Konzeption Thomas Manns gegenübergestellt� Die Infragestellung des historischen Fortschritts in Ein weites Feld symbolisiert der Paternoster, wobei sich in der Forschung verschiedene Positionen unterscheiden lassen: Für Maldonado Alemán (170) repräsentiert der Aufzug „das verbindende Element zwischen den verschiedenen Epochen“ deutscher Geschichte, und auch John Pizer (213) postuliert, Grass habe „a continuity among Friedrich II’s Prussia, Bismarck’s Prussia and Second Empire, Hitler’s Third Reich, and Kohl’s newly reunified Germany” ausdrücken wollen. Während diese Ansichten historischen Fortschritt zumindest möglich erscheinen lassen, kommt die Mehrheitsmeinung in der Kritik Iris Radischs (1995) zum Ausdruck, Grass mache „aus seinen Figuren Marionetten eines unabänderlichen und immer wiederkehrenden Weltenlaufs“ und entwerfe damit „a cyclical version of German history“ (Symons 84), die zwar „eine Wiederkehr des Vorherigen im neuen Gewand, jedoch keine entscheidenden Änderungen“ erlaube (Kube 357). 25 Gegenüber diesen beiden Standpunkten eröffnet Walter Benjamins Analyse der mythischen Verfasstheit der Moderne eine dritte Möglichkeit: weder die Andeutung historischen Fortschritts noch die zyklische Wiederholung des bereits Dagewesenen, sondern die unveränderte Aktualisierung des Immer- Gleichen in neuer Form� Diese vielgestaltige Stagnation findet ihren Ausdruck nicht im Paternoster, dem „Symbol der ewigen Wiederkehr“ (508), sondern in dem ehemaligen Haus der Ministerien selbst, das, im Jahr 1935 als Reichsluftfahrtministerium erbaut, im Verlauf des Romans von der Treuhand-Anstalt bezogen wird� Auch die Abfolge prominenter Vertreter der verschiedenen politischen Systeme, die Wuttke in den Kabinen des Paternoster imaginiert, ist als Visualisierung des Immer- Gleichen in neuer Gestalt zu verstehen: Nach einem Zusammentreffen mit dem „Chef der Treuhand“ (547) erinnert er sich einer Begegnung mit Hermann Göring und lässt anschließend in seiner Phantasie erst „den späteren Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht […] in sinkender Kabine aufkommen“ (548), dann „Ulbrichts Nachfolger […], den Ost und West ‚Honni‘ nannten“ (549). Obwohl Fonty darauf verzichtet, sich „die aus Bonn angereiste regierende Masse in eine Kabine gezwängt“ (549) auszumalen, stellt er Helmut Kohl gerade dadurch neben die Übrigen� Da er diese historischen Personen im Paternoster sieht, erinnert oder imaginiert, könnte man annehmen, sie illustrierten den Kreislauf ewiger Wiederkehr. Allerdings ist es nicht plausibel, Walter Ulbricht als Wiederverkörperung Hermann Görings oder Detlev Karsten Rohwedder als Re-Inkarnation Erich Honeckers aufzufassen� In der Wahrnehmung Theo Wuttkes erscheinen sie als Verkörperungen der verschiedenen politischen Systeme und stellen damit, aller äußerlichen und ideologischen Unterschiede ungeachtet, strukturelle Entsprechungen dar: Beispiele für das Immer-Gleiche in neuer Gestalt� Die prototypische Verkörperung einer Aktualisierung des Immer-Schon-Dagewesenen aber bildet die Figur des ewigen Spitzels Ludwig Hoftaller� 26 Bei Fontys „Tagundnachtschatten“ (39) handelt es sich um eine Fortschreibung des Protagonisten aus Hans-Joachim Schädlichs Roman Tallhover , der in Ein weites Feld kurzerhand zur Biographie erklärt wird. 27 Obwohl Unsterblichkeit im Roman eine „leitmotivische Prädikation des ‚Unsterblichen‘, nämlich Fontanes selbst“ (Ivanović 178) bildet, ist Hoftaller die einzige Figur, die tatsächlich alterslos erscheint: „[G]eboren am dreiundzwanzigsten März Achtzehnhundertneunzehn“ (105) beginnt er seine geheimdienstliche Karriere mit der Observierung Georg Herweghs im Jahr 1842 (vgl� 36), ist an allerlei historischen Ereignissen beteiligt und verschafft dem „Luftwaffengefreite[n] Wuttke seinen Druckposten als blutjunger Kriegsberichterstatter“ (75). Doch während Fonty in der Gegenwart des Romans als alter Mann auftritt, bezeugt Martha Wuttke, die Hoftaller „seit Jugendjahren als ‚Stoppelkopp‘ zu fürchten gelernt Formen des Mythos in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 613 614 Christian Baier hatte“ (187), des Tagundnachtschattens eigentümliche Alterslosigkeit: „So lief der schon damals bei der Reichsluftfahrt rum: Haare auf Streichholzlänge. Hat sich überhaupt nicht verändert seitdem. Hieß aber anders …“ (212). Das Phänomen der statischen Aktualisierung des Immer-Gleichen, das nach Walter Benjamin die Moderne auszeichnet, tritt in Ein weites Feld somit in dreifacher Gestalt in Erscheinung: als Manifestation institutioneller Kontinuität in Form eines Gebäudes, das unter drei verschiedenen Staatsformen dieselbe Funktion erfüllt; in Gestalt einer Reihe von Repräsentanten dieser Staats- und Wirtschaftssysteme; und schließlich in der Person des alterslosen Hoftaller� Gerade, weil der ewige Geheimpolizist nicht die Gestalt, sondern den Namen ändert, verkörpert Tallhover-Hoftaller nicht zyklische Wiederkehr des Vergangenen, sondern fundamentale Stagnation: „Hab ich ja immer gesagt: Im Prinzip ändert sich nichts�“ (749) Damit wird der Mythos des Fortschritts in Ein weites Feld ganz im Sinne Walter Benjamins als scheinhaft entlarvt� Während Hoftaller also Stagnation und Terror personifiziert, basiert Theo Wuttkes Wiederverkörperung Fontanes auf den Prinzipien der offenen Identität und des In-Spuren-Gehens, also auf der poetisch-romantischen Mythos-Vorstellung Thomas Manns� Obgleich in der Forschung wiederholt auf diese Verbindung hingewiesen wurde, 28 steht eine eingehende Untersuchung noch aus� Die einzige eigenständige Publikation zu diesem Thema beschränkt sich auf wenige Zitate aus Manns Essays und lässt Joseph und seine Brüder gänzlich unberücksichtigt� Angesichts dieser mageren Textgrundlage ist nicht verwunderlich, dass Frauke Bayers Analyse weder Thomas Manns Mythos-Konzept noch dessen Adaption in Ein weites Feld gerecht wird� Die wichtigste Parallele zwischen beiden besteht in dem Zusammenwirken äußerer Umstände und bewusster Anverwandlung, das eine Wiederverkörperung überhaupt ermöglicht. 29 Der Schönheit Josephs und dem „geschwinden, hoffärtigen Kopf “ (10.1, 362) Adrian Leverkühns entspricht der Umstand, dass Theo Wuttke nicht nur „in Neuruppin, zudem am vorletzten Tag des Jahres 1919 geboren“ (9) wurde, sondern auch in seinem Aussehen „der bekannten Lithographie von Max Liebermann aus dem Jahr 1896“ (44) ähnelt. Während sich Jaakobs Sohn absichtsvoll als Wiederverkörperung des Tammuz inszeniert und der deutsche Tonsetzer die Ereignisse seines Lebens mit Zeitbloms Hilfe im Sinne des Faust-Musters umdeutet, beruht Wuttkes Nachahmung Fontanes auf genauen Kenntnissen von Leben und Werk des Unsterblichen sowie zitatreicher Nachahmung seines typisch-plauderhaften Tonfalls. Zudem präsentiert sich Fonty als Zeitzeuge von 150 Jahren deutscher Geschichte, indem er die Wiedervereinigung mit der Reichsgründung von 1870/ 71 vergleicht und den ‚Raubtierkapitalismus‘ der Treuhand als Wiederkehr der Gründerzeit auffasst: „Fonty hat das Fortleben wie ein Programm durchexerziert� Deshalb nahmen wir ihn nicht nur beim geplauderten und […] zitatseligen Wort, sondern ließen uns überdies von seinem Anblick zu dem Glauben hinreißen: Er täuscht nicht vor� Er steht dafür� Er lebt fort�“ (47) Im Gegensatz zu Adrian Leverkühn gelingt es Theo Wuttke, sich in Aussehen, Sprache und Habitus so weitgehend seinem Vorbild anzugleichen, dass viele seiner Mitmenschen diese Selbstinszenierung nicht nur akzeptieren, sondern aktiv unterstützen. Die polyphone Erzählinstanz der Archivs bekennt: „Fonty spielte mit uns, und weil dieses Spiel in oft trister Zeit Spaß machte, spielten wir […] mit“ (196); 30 eine Komplizenschaft, die Martha Wuttke den Mitarbeitern zum Vorwurf macht: „[A]lle haben mitgemacht, na, Sie doch ganz besonders, die Herren Bescheidwisser vom Archiv“ (178)� 31 Die Bereitschaft seiner Mitmenschen, Wuttkes mythische Identifikation durch ihr Verhalten zu bestätigen, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass die Kunstfigur Fonty einen poetisch-romantischen Gegenentwurf zu dem Fortschritts-Mythos verkörpert, der alle anderen Aspekte ihres Lebens dominiert� Gleich zu Beginn des Romans erklärt die Erzählinstanz, Wuttkes eigenes Leben enthalte „Stoff genug, die Mühsal einer verkrachten Existenz zu spiegeln“ (9), nämlich derjenigen Theodor Fontanes: Ob schwieriger Vater oder uneheliche Kinder, ungeliebter Brotberuf oder fragwürdige Spitzeldienste, selbst psychosomatische Nervenleiden und ihre Behandlung durch autobiographisches Schreiben - immer ist der Protagonist bemüht, „seine eigene Biographie in Einklang mit den Zweideutigkeiten seines Vorbilds zu begreifen“ (236)� Wie Esau nach dem Segensbetrug die eigene Identität in der Rolle „Edoms, des Roten“ (7.1, 395) stabilisiert, so findet auch der Aktenbote und gescheiterte Kulturbund-Reisende Theo Wuttke über alle politischen Wechsel hinweg Halt und Bestätigung in der Rolle Fontys� Sie eröffnet ihm darüber hinaus die Möglichkeit, die Ereignisse der Gegenwart im Sinne überlieferter Muster zu deuten� Zwar handelt es sich dabei nicht um kosmische Kreislaufbilder, sondern um geschichtliche Parallelen, doch werden selbst die Auswirkungen der Deutschen Einheit berechenbar, wenn diese als historische Wiederkehr begriffen wird: „So wird es kommen, so oder ähnlich. Niemand siegt ungestraft� War siebzig-einundsiebzig nicht anders“ (397)� Wenn Fonty zudem die hochfliegenden Pläne des ‚Aufbau Ost‘ mit der Gründerzeit der Jahre 1871-73 und westdeutsche Investoren wie Heinz-Martin Grundmann mit den neureichen Protagonisten aus Frau Jenny Treibel vergleicht, beansprucht er damit eine Position deutender Überlegenheit, die Joseph Fähigkeit entspricht, die mythischen Muster hinter der kruden Wirklichkeit zu erkennen: Formen des Mythos in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 615 616 Christian Baier Was die da in Schwerin groß aufziehen wollen […] gefällt mir gar nicht. Alles Mumpitz! Erinnert mich kolossal an anno einundsiebzig […]. Gründerjahre nannte man das. Alles Fassade und hinten raus Mietskaserne. Skandale und Pleiten. Kann man in der Vossischen nachlesen: der Börsenkrach anno dreiundsiebzig. War eine einzige Baustelle, die Stadt. Und überall Grundmanns, wenn sie auch Treibel hießen, Kommerzienrat waren und in Berliner Blau machten […]. (316) Theo Wuttkes Blick auf die deutsche Geschichte unterscheidet sich grundsätzlich von der Aktualisierung des Immer-Gleichen, die Walter Benjamin als Merkmal der Moderne postuliert: In Theodor Fontane verkörpert Fonty eine konkrete Person, deren spezifisch-historische Lebenswelt ihm als Vorlage für die Interpretation der eigenen Gegenwart dient� Bei den Mechanismen, deren er sich zu dieser Vergegenwärtigung bedient, handelt es sich um Adaptionen der mythischen Prinzipien des In-Spuren-Gehens und der offenen Identität, und auch ihre Auswirkungen entsprechen jenen in Joseph und seine Brüder : Wie Esau bedient sich Theo Wuttke eines vorgeprägten Musters um die eigene Identität zu stabilisieren und seinen Platz in der Welt zu finden; wie Joseph nutzt er seine besonderen Einsichten, um sich die Welt zu erklären und angesichts überwältigender Umstände seine Eigenständigkeit zu bewahren. Dieser Wiederverkörperung ist es zu verdanken, dass Wuttke sich allen Vereinnahmungen entzieht und weder der Hoffnungslosigkeit noch den Lockungen des Kapitalismus verfällt: In seiner quasi-mythischen Rolle als Fonty setzt er dem Mythos als Terror, der sich in Ein weites Feld im unerbittlichen Diktat des Fortschritts manifestiert, eine poetische Form des Mythos entgegen� Doch hat Fontys mythische Lebensform nicht nur positive Auswirkungen, 32 stellt sie doch Ehefrau und Kinder vor die Wahl, entweder die ihnen zugeschriebenen Rollen zu erfüllen oder radikal mit Vater und Gatten zu brechen: „[W]ir haben uns fügen müssen und ja und amen gesagt, jedenfalls im Prinzip.“ (178) Während Emmi und Martha sich darein fügen, bleiben Wuttkes Söhne im Westen, weil sie das „Theater“ (177) nicht ertragen� Emmi Wuttke befürchtet zudem, ihr Ehemann könne die eigene Identität einbüßen: „Sie wagte das Fremdwort: ‚Er personifiziert sich schon wieder‘; denn nie konnte sie sicher sein, beim Gespräch am Küchentisch ihren Wuttke zu hören“ (196). Diese Gefahr des Identitätsverlusts wird im Roman durch die Darstellung von Fontys Beziehung zu seiner Enkeltochter Madeleine implizit bestätigt: Sie stellt nicht nur eine Abweichung vom historischen Muster dar, sondern deutet zugleich an, dass das Leben als Nachahmung nicht auf Dauer durchzuhalten ist, sondern Theo Wuttke „zum Erhalt seines Selbst einen Bezug zu den eigenen, gegenwärtigen Erlebnissen benötigt.“ 33 Entsprechend endet Ein weites Feld in mit dem märchenhaft anmutenden Ausbruch des Protagonisten aus seiner mythischen Rolle� 34 Dieser Aufsatz untersucht Theo Wuttkes erfolgreiche Wiederverkörperung Fontanes in Ein weites Feld im Kontext der kontrastierenden Mythos-Vorstellungen Thomas Manns und Walter Benjamins� Eine eingehende Betrachtung der biblischen Tetralogie Joseph und seine Brüder sowie des Romans Doktor Faustus zeigen dabei, dass die Rolle Fontys zwar in der Nachfolge Manns als strukturell mythisch anzusehen ist, die Übertragung mythischer Strukturen in einen modernen Kontext aber zu grundlegenden Schwierigkeiten führt, sofern Mythos und Moderne als antithetische Konzepte betrachtet werden. Die Bezugnahme auf Walter Benjamins Passagenarbeit löst nicht nur diesen Gegensatz auf, sondern lässt auch weitgehende strukturelle Entsprechungen zwischen Benjamins Beschreibung der Moderne und der fiktiven Welt von Ein weites Feld erkennbar werden: Der Mythos des kapitalistischen Fortschritts, der sich laut Benjamin einerseits in Phantasmagorien des Konsums, andererseits in unerbittlichen Zwängen manifestiert, findet seine Entsprechung in Martha Wuttkes wundersamer Wandlung zur erfolgreichen Geschäftsfrau sowie den gewaltsamen Todesfällen des Treuhand-Chefs und Professor Freundlichs. In genauer Übereinstimmung mit Benjamins Moderne-Kritik erweist sich der Mythos des Fortschritts auch in Grass’ Roman als scheinhaft: In Wahrheit ist die Moderne bestimmt von einer statischen Aktualisierung des Immer-Gleichen, die im Gebäude des Reichsluftfahrtministeriums, vor allem aber in der Figur des ewigen Spitzels Ludwig Hoftaller ihren literarischen Ausdruck findet. Dieser Form des Mythos, der als illusorisch und als unerbittlich zugleich erscheint, setzt Fonty ein poetisch-romantisches Mythos-Konzept entgegen. In der Tradition der Figuren Thomas Manns stehend, erlaubt ihm seine Wiederverkörperung Theodor Fontanes, sich der eigenen Identität zu versichern, die Ereignisse der Gegenwart in seinem Sinne zu deuten und sich dadurch selbst angesichts objektiver Machtlosigkeit eine gewisse Selbstbestimmtheit zu bewahren� In seiner mythischen Rolle als Fonty bleibt Theo Wuttke sich durch allen ideologischen Wandel hindurch treu, und ihr ist es zu verdanken, dass er weder der Verzweiflung erliegt noch der kapitalistischen Versuchung anheimfällt. Selbst die Frage, warum Wuttkes „Unsterblichkeitstick“ (178) in der fiktiven Welt von Ein weites Feld weitgehend akzeptiert wird, erklärt sich aus dieser Konstellation: Die Kunstfigur Fonty verkörpert eine Alternative zum kapitalistischen Fortschritts-Mythos, zu Gewalt und Terror, und das Bedürfnis, an diesem Gegenmodell teilzuhaben, bewegt seine Mitmenschen dazu, seine Nachahmung zu akzeptieren und zu unterstützen� Indem der vorliegende Aufsatz Theo Wuttkes Wiederverkörperung Fontanes als moderne Adaption der mythischen Prinzipien des In-Spuren-Gehens und der offenen Identität im Geiste von Walter Benjamins Passagenarbeit interpretiert, illustriert er nicht nur den Einfluss von Thomas Manns Mythos-Vorstellung auf Formen des Mythos in Günter Grassʼ Roman Ein weites Feld 617 618 Christian Baier Günter Grass’ Ein weites Feld � Er beschreibt diesen Roman darüber hinaus als ein Werk, das von dem Aufeinandertreffen zweier gegensätzlicher Mythos-Konzepte geprägt ist und leistet damit einen Beitrag zur vergleichenden Mythos- Forschung sowie zur Diskussion des Verhältnisses von Mythos und Moderne. Notes 1 The research for this article is supported by the program ‘Basic Research for the Humanities and Social Sciences for Mid-Career Researchers’ of the National Research Foundation of Korea (Project Number 100-20200087). - Mein wichtigster Dank gilt Olga Fedorenko, der ich den Hinweis auf Walter Benjamins Passagenarbeit sowie zahlreiche kluge Anregungen verdanke� Außerdem danke ich Kyoung-Jin Lee für ihre Auskünfte zum Mythos bei Benjamin sowie Hang-Kyun Jeong für seine Korrekturen und Verbesserungsvorschläge. 2 Die Werke Günter Grass’ werden mittels der Sigle NGA unter Angabe von Band- und Seitenzahl im Text zitiert nach Grass 2020� Bei Verweisen auf Ein weites Feld (NGA 14) wird ausschließlich die Seitenzahl angegeben� 3 Die Werke Thomas Manns werden, soweit bereits erschienen, unter Angabe von Band- und Seitenzahl im Text zitiert nach Mann 2002ff. Diejenigen Werke, die noch nicht in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe erschienen sind, werden mittels der Sigle GW unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert nach Mann 1974� 4 Vgl� 7�1, 539-45� 5 Vgl� Marx 171� 6 Vgl� Vaget� 7 Vgl� 10�1, 696� 8 Vgl� Nielsen� 9 Vgl� 10�1, 74� 10 Vgl� 10�1, 387-97� 11 Vgl� Marx 279-89� 12 Vgl� 10�2, 872� 13 Vgl� 10�1, 650-1� 14 Vgl� Assmann 1975: 197; Nielsen 143-6; Vaget 125; zur abweichenden Position vgl� Hamburger 406� 15 Vgl. Baier 2011: 193-203; Kindt. 16 Die Werke Walter Benjamins werden mittels der Sigle GS unter Angabe von Band- und Seitenzahl im Text zitiert nach Benjamin 1991� 17 Vgl� GS V, 228; F 7, 3� 18 Vgl� Janz 364� 19 Vgl� GS V, 571; N 1, 4� 20 Vgl� Baier 2018� 21 Vgl� Baier 2016� 22 Vgl� Janz 375� 23 Wenn John Pizer (2017: 205) ausführt, dass „German reunification was and continues to be perceived in some quarters as an instance of neocolonialism“, verweist er damit auf eine weitere Dimension der strukturellen Gewalt� Vgl� Thesz 2007: 65-6; Etaryan 230� 24 Vgl� McCracken 198� 25 Vgl� Balzer 216; Pontzen 37� 26 Vgl� Schwan 441; McCracken 196-7; Etaryan 244� 27 Vgl� 11� 28 Vgl� Schwan 323; Neuhaus 214� 29 Vgl� Gebauer 279; Thesz 2003: 445; Symons 64� 30 Vgl� McCracken 195� 31 Das Gelingen dieser Personifikation ist in der Forschung umstritten: Lutz Kube (352) kritisiert, Fontys unablässige Bezugnahme auf Fontane wirke „gelegentlich überanstrengt und bleib[e] vielfach funktionslos“, und Alexandra Pontzen (42) betrachtet Theo Wuttke gar als „Gefangene[n] eines Wahnsystems“� 32 Auch in Manns Romanen werden problematische Implikationen mythischer Nachahmung angedeutet: Weil es ihren mythischen Rollen entspricht, erklären sich einige der Brüder bereit, Joseph nach seiner Verprügelung kurzerhand umzubringen (vgl� 7�1, 548-9)� Im Doktor Faustus verkümmern Serenus Zeitbloms Leben und Persönlichkeit (vgl. 10.1, 454), weil er als „herzlich getreue[r] Famulus und special Freund“ (10.1, 718) in der Rolle Wagners an Leverkühns mythischer Wiederverkörperung teilhat. 33 Vgl� Thesz 2003: 446� 34 Gerade aus der Perspektive Walter Benjamins erweist sich die märchenhafte Dimension von Theo Wuttkes Ausbruch aus allen mythischen Strukturen als ausgesprochen stimmig: Im Märchen, so erläutert Benjamin anhand von Franz Kafkas „Märchen für Dialektiker“ (GS II, 415), finde sich das Mittel einer Überwindung mythischer Gewalten durch die Finten der Vernunft� Works Cited Assmann, Dietrich� Thomas Manns Roman Doktor Faustus und seine Beziehungen zur Faust-Tradition � Helsinki: Suomalainen Tiedeakatemia, 1975� Assmann, Jan. „Zitathaftes Leben. 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