Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
121
2022
543-4
Das Verhängnis des Artikels 1 der französischen Menschenrechtserklärung 1789: Juli Zehs Corpus Delicti, ein Prozess als Veranschaulichung von Agambens biopolitischem Diskurs
121
2022
Alexander Juster
Vor dem Hintergrund der aktuellen Coronapandemie erhebt der Roman Corpus Delicti: Ein Prozess (2009) eine fiktionale Gesundheitsdiktatur zum zentralen Thema und erfährt dadurch eine Neurezeption. Die Autorin Juli Zeh setzt sich hier insbesondere mit dem Thema Biopolitik auseinander. Wenn letzteres zumeist mit dem französischen Philosophen Michel Foucault in Verbindung gebracht wird, so ist es dennoch nicht weniger interessant, den Blick auf Giorgio Agambens juristische Untersuchung dieser Problematik zu richten, dessen Theorie stark in Corpus Delicti: Ein Prozess einfließt. Ausgehend von der französischen Menschenrechtserklärung aus dem Jahre 1789 wird Agambens Konzept des ‚Homo sacer‘ kurz erläutert und anschließend durch die Folie von Zehs Roman näher untersucht.
cg543-40651
Das Verhängnis des Artikels 1 der französischen Menschenrechtserklärung 1789: Juli Zehs Corpus Delicti, ein Prozess als Veranschaulichung von Agambens biopolitischem Diskurs Alexandra Juster Universidad de Salamanca Abstract: Vor dem Hintergrund der aktuellen Coronapandemie erhebt der Roman Corpus Delicti: Ein Prozess (2009) eine fiktionale Gesundheitsdiktatur zum zentralen Thema und erfährt dadurch eine Neurezeption. Die Autorin Juli Zeh setzt sich hier insbesondere mit dem Thema Biopolitik auseinander. Wenn letzteres zumeist mit dem französischen Philosophen Michel Foucault in Verbindung gebracht wird, so ist es dennoch nicht weniger interessant, den Blick auf Giorgio Agambens juristische Untersuchung dieser Problematik zu richten, dessen Theorie stark in Corpus Delicti: Ein Prozess einfließt. Ausgehend von der französischen Menschenrechtserklärung aus dem Jahre 1789 wird Agambens Konzept des ‚Homo sacer‘ kurz erläutert und anschließend durch die Folie von Zehs Roman näher untersucht. Keywords: Coronapandemie, Biopolitik, Agamben, Gesundheit, Menschenrechtserklärung Juli Zehs Roman Corpus Delicti: Ein Prozess erfährt derzeit eine brisante Neurezeption vor dem Hintergrund der Coronapandemie, die die Welt seit bald zwei Jahren mit den Themen der Politisierung des Körpers sowie der Stellung des Rechts auf Gesundheit in Bezug auf andere Individualrechte konfrontiert� Fragen der Ausbalancierung zwischen den Grundrechten auf Leben, Bewegungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Privatsphäre 1 stellen sich ebenso, wie die Frage nach der Rechtmäßigkeit undemokratischer Eingriffe und Maßnahmen der Regierungen in den epidemiebedingt ausgerufenen Ausnahmezuständen, um eine schnelle Entscheidungsfindung durch die Exekutive, unter Ausschluss des Parlaments, zu ermöglichen. 652 Alexandra Juster In diesem aktuellen Kontext, in dem Biopolitik und Ausnahmezustände an höchster Aktualität gewinnen, scheint es interessant, den Roman Corpus Delicti: Ein Prozess 2 durch die Folie der Theorie des italienischen Philosophen Giorgio Agamben zum ‚Homo sacer‘ in Verbindung mit dem Ausnahmezustand zu betrachten� Agamben hebt insbesondere hervor, dass es der Artikel 1 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 sei, der erstmals die Rechte des Menschen an dessen Körper bindet, denn es sei die Geburt, die diese Rechte generiere: „ Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten “: Der erste Schritt zum biopolitischen Denken sei somit, laut Agamben, vollzogen� Der italienische Philosoph erklärt dieses Verhängnis aus einer juristischen Perspektive, die Corpus Delicti vor dem Hintergrund einer Gesundheitsdiktatur, in der die individuelle Freiheit der Gesundheit als höchstes kollektives Interesse weichen muss, übernimmt� Mit diesem Ziel, allen Bürgern die Gesundheit zu garantieren, verwaltet Zehs fiktiver Staat, die METHODE, totalitär die Körper seiner Bürger und stößt dabei auf erstaunlich geringen Widerstand, denn die Angst vor Krankheit und Tod führen zur innerlichen Akzeptanz normierten Verhaltens im Namen der zur Staatsräson erhobenen Gesundheit. Zumeist rückt vor allem Michel Foucault in den Vordergrund, wenn es zum Gespräch über Biopolitik kommt, seltener wird jedoch in literarischen Kreisen Giorgio Agambens juristische Annäherung an Biopolitik in den Mittelpunkt gestellt. Mit diesem Beitrag möchte ich versuchen, insbesondere Agambens Theoretisierung von Biopolitik, ausgehend von der Menschenrechtserklärung 1789, soweit zu erklären, dass dessen Eindringen in Corpus Delicti expliziert wird� Dass Agambens Theorie hier eine wesentliche Rolle spielt, geht schon aus einer Bemerkung Mia Holls hervor, als sie feststellt, dass sich Agamben im Bücherregal befindet: „Agamben - auch mit Widmung� Habe ich übrigens nie gelesen“ (Zeh, 2013 139)� In Fragen zu Corpus Delicti betont Zeh selbst ausdrücklich das Einfließen von Agambens Ideen in Corpus Delicti : „Agambens Ideen waren sehr wichtig für mich, nicht nur beim Schreiben von Corpus Delicti , sondern auch für die Weiterentwicklung meines politischen Bewusstseins� Vor allem das Buch Homo sacer hat mir geholfen, mein eigenes Unbehagen an der Biopolitik besser zu verstehen“ (Zeh, 2020 98)� Bevor es zur näheren Erläuterung von Agambens Theorie zum ‚Homo sacer‘ kommt, soll jedoch eine kurze Inhaltsangabe zum Roman Corpus Delicti vorangestellt werden� Vor dem Hintergrund der totalitären METHODE, deren Hauptvertreter Heinrich Kramer die „Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation (Zeh, 2013 10)“ zur offiziellen Staatsräson erklärt - „Gesundheit ist das Ziel des natürlichen Lebenswillens und deshalb natürliches Ziel von Gesellschaft, Recht und Politik (Zeh, 2013 9-10)“ - wird der Leser mit der Verurteilung der Biologin Mia Holl zur Einfrierung auf unbestimmte Zeit als Systemgegnerin konfrontiert� Regelmäßig übermittelt Mia die vorgeschriebenen persönlichen Gesundheitsdaten über Urin, Blut und sportliche Performanzen auf dem Hometrainer sowie Schlaf- und Ernährungsberichte und befolgt die obligatorischen lebens-hygienischen Maßnahmen, wie Reinlichkeit der Wohnung, Desinfizierungsmaßnahmen, Rauch- und Alkoholverbot, Verbot der Paarung mit immun nicht kompatiblen Menschen sowie das Verbot, in nicht desinfizierte Bereiche des Landes vorzudringen� Als Mias Bruder Moritz irrtümlich wegen Mord an Sibylle Meiler verurteilt wird und sich im Gefängnis das Leben nimmt, ist Mia darüber tief deprimiert. Sie wird in ihrer Trauer nur durch die unsichtbare ideale Geliebte, ein Geschenk von Moritz, unterstützt� In ihrem Gemütszustand ist Mia nicht imstande, alle gesundheitlichen Vorschriften zu befolgen und wird aufgrund ihrer Nachlässigkeit vor Gericht zitiert. Die Richterin Sophie kann jedoch kein Verständnis für das Ansuchen Mias, während dieser emotional schwierigen Zeit in Ruhe gelassen zu werden, aufbringen, denn selbst seelische Zustände unterstehen der Kontrolle durch den Staat. Zwei Tage nach der Gerichtsvorladung macht sich Mia des Rauchens schuldig und wird nunmehr strafrechtlich verfolgt� Als Vertreter des privaten Interesses 3 wird ihr der Rechtsanwalt Rosentreter zur Seite gestellt� Nach einem ungeschickten Härtefallantrag durch ihren Anwalt wird Mia zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt und noch dazu verdächtigt, der ME- THODE einen Justizirrtum mit Bezug auf Moritz’ Beschuldigung des Mordes zu unterstellen. Heinrich Kramer nutzt Mias Naivität, um Informationen über ihren Bruder Moritz zweckgebunden in der Zeitschrift DER GESUNDE MEN- SCHENVERSTAND zu verbreiten und so Mia mit angeblichen methodenwidrigen Umtrieben ihres Bruders in Verbindung zu bringen. Während Mia nun als Methodenfeindin auf der Anklagebank sitzt, gelingt es Rosentreter, inzidentell Moritz‘ Unschuld zu beweisen. Der daraus folgende Justizirrtum wird offenkundig und bewirkt eine endgültige Wende in Mias Einstellung zur METHODE: von der systemangepassten Bürgerin mutiert sie nun zur offenen Systemgegnerin. Dies ist ein harter Schlag gegen das totalitäre System, das keine Fehlerhaftigkeit duldet� Es gibt keine bessere Alternative als Mia zum Tode zu verurteilen, wobei im letzten Moment ihr Todesurteil in eine lebenslängliche Internierung in einer Erziehungsanstalt umgewandelt wird, um jegliches Märtyrertum zu unterbinden� Corpus Delicti: Ein Prozess - Agamben und die Menschenrechtserklärung von 1789 653 654 Alexandra Juster Agambens biopolitische Theoretisierung beschäftigt sich mit dem Zugriff der Macht auf das intimste Leben des Menschen, der in bestimmten Situationen zum ‚Homo sacer‘ degradiert und ungestraft getötet werden kann. In Corpus Delicti muss die Figur von Mia mit Agambens ‚Homo sacer‘ in Verbindung gebracht werden: Sobald Mia gegen die Gesundheitsregeln verstößt, verstößt sie gegen die Staatsräson der METHODE, die die Gesundheit zum obersten Prinzip der Gesellschaft erhebt� Dadurch, dass die Ideologie der METHODE direkt an den menschlichen Körper anknüpft, erfährt letzterer die Degradierung zum ‚Homo sacer‘, sobald das Gesundheitssystem der METHODE nicht mehr gewährleistet ist. Agambens Theorie zu diesem nackten Körper des ‚Homo sacer‘ kann besser erfasst werden, wenn letzterer die Souveränitätsverlagerung vom gesellschaftlichen Status des Menschen (Untertanen), der nicht an den biologischen Körper gebunden ist, auf den biologischen Körper selbst vorangestellt wird. In diesem Zusammenhang muss rückblickend die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 als eine Etappe in Richtung Biopolitik angesehen werden, indem sie die Grundrechte an die Geburt, d�h� an das nackte Leben, das Agamben mit dem Begriff ‚Homo sacer‘ bezeichnet, knüpft. So bindet Artikel 1 derselben Erklärung die gleichen Rechte und Freiheiten der Menschen an deren Geburt: „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits“� Eben diese Geburt, die Existenz als nacktes Leben, wird durch diese verhängnisvolle Formulierung zum biopolitischen Spielfeld, sobald Rechte und Freiheiten nicht mehr an vom Körper unabhängige Kriterien, wie objektive Kriterien der Staatsbürgerschaft, des Wohnsitzes, des sozialen Standes oder des Reichtums, sondern an den Körper selbst als physische Existenz anknüpfen. Früher in der Geschichte wurden Rechte und Privilegien, anstatt mit dem Körper selbst, mit dem altgriechischen Zensus (Reichtum), den altrömischen Gesellschaftsklassen (Patrizier, Plebejer) oder den mittelalterlichen Ständen (Klerus, Adel, Bürger, Bauern) assoziiert. In der neuen Ordnung wird der menschliche Körper nun, sobald er geboren wird, zur Grundlage der Macht des Souveräns, der darüber entscheidet, welcher physiologische Körper zu seinen Bürgern zählt und welchen Kriterien er entsprechen muss� Anders formuliert wird der einstige Untertan zum Bürger, dessen nacktes Leben zum unmittelbaren Träger der Volkssouveränität wird. Das Prinzip der Nativität und das Prinzip der Souveränität, die im Ancien régime - wo die Geburt das bloße Vorhandensein des ‚sujet‘, des Untertans, markierte - getrennt waren, vereinigen sich nun unwiderruflich im Körper des ‚souveränen Subjekts‘, um das Fundament des neuen Nationalstaates zu bilden. (Folkers & Lemke, 2014 200) Eine erste radikale biopolitische Darstellung, kurze Zeit nach der Erklärung der Menschenrechte von 1789, liefert das Pamphlet, das von Sade Dolmancé in Philosophie dans le boudoir von 1795 lesen lässt. Sade drückt sich hierin dazu aus, wie die neu zu adoptierende republikanische Gesetzgebung bezüglich der Sexualität auszusehen habe: Alle Frauen gehören von Natur aus allen Männern (sic), jeder Mann hat ein Anrecht darauf, jede x-beliebige Frau, die er begehrt - unabhängig von Alter, Ehebund, Einverständnis, affektiver Einwände usw. - sexuell zu benutzen. Dazu soll es überall Lusthäuser geben, in die sich zu begeben die Frauen gesetzlich gezwungen werden sollen, unter Androhung einer Strafe im Falle der Verweigerung, um sich untertänig und gehorsam den Lüsten des Mannes in allen ihren erdenklichen Formen zu unterwerfen, denn alle sexuellen Ausschweifungen seien naturgewollt� 4 Eine derartig liberale Gesetzgebung sollte die menschlichen Gelüste dahingehend befriedigen, dass kein Anlass bestehe, Unruhe in der Republik zu stiften. Alle sexuellen Ausschweifungen - Vergewaltigung, Inzest, Pädophilie, Sodomie - seien naturgewollt und dürfen daher, im Interesse des reibungslosen Funktionierens der Republik und im Namen der menschlichen Natur, nicht sanktioniert werden� 5 Es handelt sich hier um ein erstes abstoßendes Beispiel von Biopolitik, die die ungestrafte sexuelle Ausschweifung am weiblichen Körper, Inzest, Sodomie, Pädophilie und Mord legalisiert, um den gesellschaftlichen Frieden zu gewährleisten. In Corpus Delicti hingegen geht es darum, dieses Ziel der befriedeten Gesellschaft dank der obligatorischen Gesundheit aller zu erreichen, und dieses Ziel sei, wie es Heinrich Kramer stolz proklamiert, erreicht: Unsere Gesellschaft ist am Ziel� Im Gegensatz zu allen Systemen der Vergangenheit gehorchen wir weder dem Markt noch einer Religion� Wir brauchen keine verstiegenen Ideologien� Wir brauchen nicht einmal den bigotten Glauben an eine Volksherrschaft, um unser System zu legitimieren� Wir gehorchen allein der Vernunft, indem wir uns auf eine Tatsache berufen, die sich unmittelbar aus der Existenz von biologischem Leben ergibt� Denn ein Merkmal ist jedem lebenden Wesen zu eigen� Es zeichnet jedes Tier und jede Pflanze und erst recht den Menschen aus. Deshalb erheben wir es zur Grundlage der großen Übereinkunft, auf die sich unsere Gesellschaft stützt� Es ist der unbedingte, individuelle und kollektive Überlebenswille� (40) Sades und Kramers Vorschläge bedienen sich des menschlichen Körpers als politisches Instrument (Sexualität, Gesundheit) genauso wie die nationalsozialistische Diktatur im 20. Jahrhundert den menschlichen Körper zum Mittelpunkt seiner Rassenpolitik machte� Die Entstehung von Agambens Homo sacer wurde durch diese Schrecken des 20. Jahrhunderts und deren Kulminierung in den Konzentrationslagern der Nazis als Demonstration der totalen Politisierung des aller Rechte entblößten menschlichen Körpers zu erklären, motiviert: So bezeichnet ‚Homo sacer‘ den Corpus Delicti: Ein Prozess - Agamben und die Menschenrechtserklärung von 1789 655 656 Alexandra Juster seiner Rechte entblößten Menschen, des Opfers nicht mehr würdig, dem ungestraft das nackte Leben genommen werden darf: „[…] das nackte Leben, das heißt das Leben des homo sacer, der getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf “ (Agamben, 2002 18). Die Definition des ‚Homo sacer‘ im altrömischen Recht wurde von Festus überliefert: „At homo sacer is est, quem populis iudicavit ob maleficium; neque fas est eum immolari, sed qui occidit, parricidi non damnatur�“ 6 Im Lateinischen hat das Adjektiv ‚sacer‘ eine Doppelbedeutung, es kann sowohl ‚heilig‘ als auch ‚verflucht‘ bedeuten. 7 Im modernen Sinn könnte man die Idee der ‚Homini sacri‘ als die jener Menschen auffassen, die als einstige Bürger mit vollen Rechten durch Ausnahmebestimmungen zu Menschen ohne Rechte degradiert werden, die nun als nackte Körper nicht mehr durch das Rechtssystem geschützt sind und daher straflos dem Tod ausgesetzt werden können. Die extremste Form erfuhr die Idee des ‚Homo sacer‘ sicherlich im Rahmen der nationalsozialistischen Konzentrationslager sowie des eugenetischen Programms T4� 8 Das Konzept des ‚Homo sacer‘ kann nur in Verbindung mit dem rechtlichen Ausnahmezustand verstanden werden, das heißt der Suspendierung des geltenden Rechts basierend auf faktischen Gegebenheiten, die der Exekutive unter Ausschaltung des Parlaments außerordentliche Macht verleiht� Agamben schreibt dazu, „dass man das Dritte Reich vom juristischen Standpunkt als Ausnahmezustand betrachten kann, der sich zwölf Jahre lang hinzog“ (Agamben, 2006 8)� So leitet denn Carl Schmitt sein Werk Politische Theologie bedeutungsschwer mit dem folgenden Satz ein: „Souverän ist wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt, 1934 17)� Nur einen Tag nach dem Brand des deutschen Reichstages, am 28� Februar 1933, wurde die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat auf der Grundlage des Artikels 48 der Weimarer Verfassung von Hindenburg als Reichspräsident und Hitler als Reichskanzler unterzeichnet, unter dem Vorwand der immanenten kommunistischen Gefahr für den Staat: 9 Auf Grund des Artikels 48 Abs� 2 der Reichsverfassung wird zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte folgendes verordnet: § 1 Die Artikel 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 der Verfassung des Deutschen Reichs werden bis auf weiteres außer Kraft gesetzt. Es sind daher Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechts der freien Meinungsäußerung, einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und von Beschlagnahmen sowie Beschränkungen des Eigentums auch außerhalb der sonst hierfür bestimmten gesetzlichen Grenzen zulässig. (83) Ohne den Ausnahmezustand zu nennen, suspendierte diese Verordnung die wesentlichen Grundrechte und blieb, bis zum Fall des nationalsozialistischen Regimes, zwölf Jahre lang, von 1933 bis 1945, in Kraft. Eine der wesentlichen Praktiken dieses Ausnahmeregimes stellte beispielsweise die unbegrenzte Haft ohne Gerichtsverfahren dar, wodurch der willkürlichen Inhaftierung als Machtinstrument keine Grenzen mehr gesetzt waren (Balke 281)� Ein solcher Ausnahmezustand gilt, wie Kramer Mia aufklärt, auch für Staatsfeinde der METHODE in Corpus Delicti : „Eine notwendige Sicherheitsmaßnahme� Für Methodenfeinde gelten die Gesetze des Ausnahmezustands“ (Zeh, 2013 220)� Dabei ist es wesentlich anzumerken, dass im Ausnahmezustand das Recht, nicht aber der Staat zurücktritt, wobei die Unterscheidung zwischen privat und öffentlich deaktiviert wird (Balke 274), womit dem Zugriff zum Intimsten des Menschen, nämlich seinem Körper, Tür und Tor geöffnet werden. Das natürliche Leben, das nackte Leben, wird zum Gegenstand der politischen Macht im Ausnahmezustand (Genel 17)� Agamben erinnert in diesem Zusammenhang an die Auffassung der griechischen Klassiker, die streng das natürliche Leben (zōē) und dessen Privatsphäre in der Familie, mit der Funktion der Fortpflanzung (oikos), vom Leben in der öffentlichen Gesellschaft (bios in der polis) trennten. Das natürliche Leben und die menschliche Intimsphäre befanden sich hier in einem Verhältnis der Inklusion - Exklusion gegenüber der Politik. Dass Corpus Delicti dieses Verschmelzen von öffentlicher und privater Sphäre illustriert, indem die METHODE politisch auf den Körper der Bürger zugreift und allmächtig bestimmt, welcher Körper zu exkludieren sei, soll in der Folge aufgezeigt werden. Die METHODE bedient sich des Ausnahmezustandes, um ungestraft Systemgegner unschädlich zu machen, wobei Mia Holl das Konzept des ‚Homo sacer‘ im Ausnahmezustand reflektiert. Ihr Körper ist Spielball der Politik der ME- THODE, deren Macht weder vor dem ‚nackten‘ Körper noch vor der tiefsten Intimsphäre der Bürger Halt macht. Unter diesem Blickwinkel ist Mias Trauer um ihren verstorbenen Bruder Moritz eine öffentliche Angelegenheit, denn Privatsphäre gibt es in der ME- THODE nicht� Selbst die intimsten Bereiche des Menschen sind somit in der Gesundheitsdiktatur politisiert (Inklusion)� Folglich ist in Corpus Delicti auch das psychische Wohlbefinden eine öffentliche Angelegenheit, denn die Verbindung zwischen dem allgemeinen und dem persönlichen Wohl ist so eng, dass sie „keinen Raum für Privatangelegenheiten lässt“ (Zeh, 2013 64). Dieses Aufgehen der privaten in der öffentlichen Sphäre verweist auf Agambens ‚nackten‘ Körper im Ausnahmezustand, der die METHODE durch ein juristisches Artefakt, dazu legitimiert, in Mias Privatleben, bis in ihre tiefste psychologische Sphäre, einzugreifen. Körper und Psyche befinden sich sozusagen in einem vogelfreien Corpus Delicti: Ein Prozess - Agamben und die Menschenrechtserklärung von 1789 657 Zustand, sobald Mia nicht allen gesundheitlichen Vorschriften und Anforderungen entspricht� Man erinnere sich ebenfalls an das Unverständnis der Richterin Sophie dafür, dass Mia ihre tiefe, persönliche Trauer um ihren verstorbenen Bruder Moritz als private Angelegenheit betrachtet: „Ich hielt meinen Schmerz für eine Privatangelegenheit. Privatangelegenheit? fragt Sophie erstaunt. Hören Sie […] Frau Holl […] Ich muss Sie bitten mir zu erklären, was Sie mit Privatangelegenheit meinen“ (Zeh, 2013 58, 62)� Diese Überspitzung betont Zehs Überzeugung, dass „Der Umgang mit dem eigenen Körper […] zum intimen Bereich der persönlichen Freiheit“ (Zeh, 2020 93) gehört. Die freie Verfügung über den eigenen Körper, über gesunde und ungesunde Lebensweisen, über den eigenen Körper betreffende Entscheidungen, über Tod und Leben - man erinnere sich an Moritz, für den „das Leben ein Angebot ist, das man auch ablehnen kann (Zeh, 2013 31)“ - sind für sie der Kern eines demokratischen Systems. Der Verlust dieser intimen, privaten Freiheit droht, wie es Agamben in Homo sacer ausführt, in einem totalitären System zu münden, in dem der Mensch nur als systemkonformer Körper existiert, aber aus dem er auch, sobald er nicht mehr ‚systemkonform‘ ist, ungestraft ausgeschlossen werden kann� Jede Stellung gegen die Inklusion in der Exklusion impliziert unweigerlich das Ausscheiden aus dem System und somit das Austreten aus dessen Rechtssystem (Exklusion). Mia befindet sich genau in diesem rechtlich leeren Raum, dem Ausnahmezustand, auf den Zeh explizit hinweist und mutiert dadurch zum ‚Homo sacer‘, der seine Legitimität im Ausnahmezustand schöpft, wie Kramer, wie bereits erwähnt, Mia aufklärt: “Für Methodenfeinde gelten die Gesetze des Ausnahmezustandes“ (Zeh, 2013 220)� Agambens Konzeptualisierung des ‚Homo sacers‘, des nackten Menschen, der das Substrat der Machtpolitik bildet, als Versuch, das rechtliche Vakuum totalitärer Willkür zu erklären, wird somit in Corpus Delicti in der Figur von Mia verdeutlicht, dort wo sie, sich des sicheren Todes wähnend, feststellt: „Mir kann nichts passieren� Technisch gesprochen, bin ich jetzt eine Heilige“ (Zeh, 2013 204)� Indem sie sich den Mikrochip aus dem Arm reißt, betritt Mia den Raum dazwischen, zwischen Inklusion und Exklusion, wodurch sie sich dem rechtlichen Zugriff durch die METHODE entzieht: Hier, Kramer. Ein Geschenk für Sie. Auf dem ausgestreckten Handteller hält Mia ihm den blutigen Chip hin, den sie sich aus dem Arm gezogen hat� Nehmen Sie� Das bin ich. Ihr rechtmäßiger Besitz. […] Danke, sagt Kramer, zieht ein weißes Taschentuch hervor und schlägt den Chip darin ein. Der Rest bleibt hier und gehört niemandem mehr. […] Und damit allen. Vollkommen ausgeliefert, also vollkommen frei. Ein heiliger Zustand� (Zeh, 2013 262-263) 658 Alexandra Juster Mias Körper stellt sich mit der Entfernung des Mikrochips außerhalb des Systems der METHODE, sie ist nicht mehr drinnen, aber auch nicht draußen in Sicherheit, sie ist dazwischen im rechtlichen Vakuum, der straflosen Tötung ausgeliefert� Sie wird hier, wie Martin Weiß es ausdrückt, zum genuinen Produkt „der Politisierung des Menschen, ein ‚nacktes Leben‘ auf der ‚Schwelle‘ zwischen Natur (zōē) und bios“ (Weiß, 2003 273), ein ‚Sein‘ zwischen Menschlichem und Tierischen, zwischen Natur und Kultur, „zum im Menschen produzierten Nicht-Menschen“ (Weiß, 2003 274)� In diesem Zustand ist Mia weder im Besitz ihrer zutiefst menschlichen Intimsphäre, noch ist sie in die Gesellschaft integriert, sie wird zum Nicht-Menschen, zum ‚Homo sacer‘, degradiert� Die Entfernung des Mikrochips markiert somit Mias Austreten aus der biopolitischen Kontrollsphäre der METHODE und muss gleichzeitig als Endpunkt deren Machtausübung verstanden werden� Carla Gottwein sieht in den Begriffen des ‚heiligen Zustandes‘ sowie in der Tatsache des ‚Nicht-Opfer-Sein-Könnens‘ ebenfalls einen expliziten Hinweis auf Agambens Figur des ‚Homo sacer‘ (213-233)� Ich kann ihr jedoch nicht zustimmen, dort wo sie behauptet, dass der Status des ‚Homo sacer‘ die METHODE zwar dazu legitimiere, Mia aus dem Rechtssystem auszuschließen, nicht aber dazu, sie zu foltern. Meines Erachtens muss Agambens Konzeption dahingehend interpretiert werden, dass genau dieser Zustand des ‚Homo sacers‘ der METHO- DE das Rechtsinstrument liefert, willkürlich über Mias Leben zu bestimmen, die Folter miteingeschlossen. Dies erklärt sich, in meiner Sicht, aus der politischen Macht, den Ausnahmezustand zu verhängen und uneingeschränkt festzulegen, welcher ‚Körper‘ in diesen Ausnahmezustand einzutreten hat und welche Behandlung er zu erfahren hat� Die Macht, die das Rechtssystem zurücktreten lassen kann, ohne selbst zu verschwinden, erfährt notwendigerweise keine Limitierung durch das Recht� Zeh kommentiert selbst zur Frage der möglichen Folter Mias, in Fragen zu Corpus Delicti : Tatsächlich ist sie nun ein homo sacer, also eine Person, die für den Staat nur noch rechtloses, nacktes Leben darstellt, ähnlich wie ein Insekt, mit dem man tun oder lassen kann, was man will - es quälen, töten, einsperren oder einfach ignorieren. Ein Stück biologische Existenz, komplett ohne Rechte, der Willkür preisgegeben� Das ist der schreckliche Fluchtpunkt der Biopolitik� (Zeh, 2020 100-101) Carrie Smith-Prei interpretiert Mias Austreten aus dem System durch Rückzug in ihren eigenen Körper, wenn auch in Gefangenschaft, als einen Akt des Widerstandes: „Resistance first becomes possible through Mia’s marginalization and disenfranchisement from all forms of collectivity as she retreats into her individual body in imprisonment, which in turn makes her inaccessible to Corpus Delicti: Ein Prozess - Agamben und die Menschenrechtserklärung von 1789 659 systemic and rebellious discourses“ (Smith-Prei, 2012 114)� Mit diesem Austritt wird Mia, so Smith-Prei, wieder zum natürlichen, krankheitsanfälligen Körper, der nicht den Normen des unnatürlichen, gesunden Körpers der METHODE entspricht: „[…] the healthy body represents the systemic norm and the natural or unhealthy body the rebellious norm (Smith-Prei, 2012 115)“� Die Notwendigkeit von Mias Übergang vom ‚gesunden‘, also ‚methodenkonformen‘ zum rebellischen, ‚ungesunden‘ Körper als Zeichen der geistigen Selbsterhöhung und klaren Bekennung zu persönlichen Überzeugungen wird schon angekündigt, dort wo die ideale Geliebte Mia als Zaunreiterin definiert: Die Hexe ist ein Heckengeist. Ein Wesen, das auf Zäunen lebt. Der Besen war ursprünglich eine gegabelte Zaunstange. ‚Was hat das mit mir zu tun? ‘ ‚Zäune und Hecken sind Grenzen, Mia. Die Zaunreiterin befindet sich auf der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. Zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Körper und Geist� Zwischen Ja und Nein, Glaube und Atheismus� Sie weiß nicht, zu welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen. Erinnert dich das an jemanden? ‘ Darauf erwidert Mia nichts. […] Wer keine Seite wählt‘, sagt die ideale Geliebte, ‚ist ein Außenseiter. Und Außenseiter leben gefährlich. Von Zeit zu Zeit braucht die Macht ein Exempel, um ihre Stärke unter Beweis zu stellen. Besonders, wenn im Inneren der Glaube wackelt� Außenseiter eignen sich, weil sie nicht wissen, was sie wollen� Sie sind Fallobst� (Zeh, 2013 155) Mit dieser Metapher stellt Zeh eine deutliche Verbindung zu Agambens Binom ‚Ausnahmezustand - Homo sacer‘ her, denn die METHODE verfügt, im von ihr selbst verhängten Ausnahmezustand, über die Macht darüber zu entscheiden wer Feind und wer Freund ist - man erinnere sich an Schmitts bedeutungsvolle Feststellung: „Souverän ist wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt, 1934: 17) - und somit steht es ihr frei, Mia aus der Gesellschaft zu entfernen, ohne jegliche Bindung an ein Rechtssystem, denn sowohl die Exkludierte als auch die METHODE als Souverän stehen „in einer Ausnahme-Beziehung zur polis, insofern seine (des Souveräns, Anm. d. Verf.) Beziehung zur Rechtsordnung dadurch charakterisiert ist, dass er (ebenfalls, Anm� d� Verf�) außerhalb der Rechtsordnung steht (Weiß, 2003 280)“� Die METHODE, als originelle Schöpferin der auf der Gesundheit aller Bürger fundierenden Staatsräson und des damit verbundenen Normensystems, ist nicht selbst in dieses System inkludiert� Von dem Moment, an dem Mia sich gegen die METHODE entscheidet, steht es daher letzterer frei in ihre Intimsphäre einzudringen (Aufhebung des Naturzustandes), sie aus ihrer politischen Gemeinschaft auszuschließen (Entmenschlichung) und sie zu foltern, zu töten oder zu internieren. An kein Rechtssystem gebunden, denn Mia ist aus diesem hinausbefördert worden, kann die METHODE ungestraft und in aller Willkürlichkeit über Mias nacktes Leben 660 Alexandra Juster entscheiden, ohne darüber Rechenschaft abzulegen� Wenn auch die METHO- DE auf Mias Körper Zugriff nimmt, verlässt Mia dennoch den undefinierten Zwischenraum der Zaunreiterin, indem sie sich intellektuell festlegt und sich nun klar zu eigenen Überzeugungen bekennt� Auf diese Weise erlangt sie die geistige Freiheit, losgelöst vom Körper, der als wertloser Rest in den Händen der METHODE verbleibt� Man darf an dieser Stelle vermuten, dass Zeh sich der Metapher der gefährdeten Zaunreiterin in Verbindung mit dem Konzept des ‚Homo sacer‘ bedient, um Ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen, dass „nicht der Körper, sondern der Geist (prägt) unsere Identität als Menschen prägt. Diese Tatsache macht uns frei. Wir können unter allen Umständen, und seien sie noch so schrecklich, immer wieder zu uns selbst finden. Diese geistige Stärke wächst in uns ein Leben lang“ (Zeh, 2020 57)� Durch den Einbruch der öffentlichen Macht in die körperliche Intimsphäre des Menschen -denn nur letztere, nicht aber der Geist, ist greifbar - kommt es zur Verlagerung der Souveränität auf den physischen Körper als Träger derselben� Die Begründung der Macht in der alleinigen Existenz als physiologisches Lebewesen erfährt ihren Paroxysmus in der national-sozialistischen Diktatur, deren biopolitische Ideologie der deutsche Genetiker Othmar Verschuer im Jahr 1936 leider sehr gut auf den Punkt bringt: ‚Der neue Staat kann keine andere Aufgabe kennen als die sinngemäße Erfüllung der zur Forterhaltung des Volkes notwendigen Bedingungen�‘ Dieses Wort des Führers bringt zum Ausdruck, dass alle Politik des nationalsozialistischen Staates dem Leben des Volkes dient. […] Wir wissen heute: Das Leben eines Volkes ist nur garantiert, wenn rassische Eigenart und Erbgesundheit des Volkskörpers erhalten bleiben. (156) Volksrasse und-gesundheit werden, anknüpfend an den menschlichen Körper, zu Kriterien der Volkszugehörigkeit erhoben. Alle jene, die diesen biopolitischen Maßstäben nicht entsprechen oder sich dagegen erheben werden juristisch gesehen zu rechtlosen ‚Homini sacri‘, die ungestraft aus dem Volkskörper entfernt werden müssen und dürfen� Jener Bürger, der nicht den Gesundheitskriterien der METHODE entspricht, wird ebenso automatisch zum ‚Homo sacer‘ degradiert und folglich innerhalb des Rechtssystems der METHODE exkludiert, wodurch er, nunmehr jedes rechtlichen Schutzes entbehrend, vogelfrei ausgestoßen und/ oder getötet werden kann� Carl Schmitt bestätigt das biopolitische Verständnis der Nazidiktatur, indem er den Begriff des Politischen auf die Separation zwischen „bloßem Leben und politischer Existenz“ (Balke 304) gründet. Er definiert die politische Existenz als eine besondere Art des Seins, denn „etwas Totes, etwas Minderwertiges Corpus Delicti: Ein Prozess - Agamben und die Menschenrechtserklärung von 1789 661 662 Alexandra Juster oder Wertloses, etwas Niedriges, kann nicht repräsentiert werden. Ihm fehlt die gesteigerte Art (des) Sein(s), die einer Heraushebung in das öffentliche Sein, einer Existenz, fähig ist“ (1928 210). Die nationalsozialistische Diktatur Hitlers liefert zu dieser biopolitischen Trennung zwischen ‚Sein‘ und ‚Nichtsein‘, zwischen ‚wertem Leben‘ und ‚unwertem Leben‘, zwischen ‚Homo politicus‘ und ‚Homo sacer‘ nur zu zahlreiche Beispiele: Juden, Kommunisten, Homosexuelle und Behinderte fielen der Politik der Rassenreinheit zum Opfer und bestätigen den gefährlichen Schritt von Biopolitik hin zur Thanatopolitik. 10 Als Souverän über Tod und Leben, entschied der Führer über die Werteskala jedes einzelnen Lebens: „In der modernen Biopolitik ist derjenige souverän, der über den Wert oder Unwert des Lebens als solches entscheidet“ (Agamben, 2015 151)� Ebenso scheidet die METHODE in Corpus Delicti ‚gesundes‘ und deshalb ‚wertes‘ Leben von ungesundem und deshalb ‚unwertem‘ Leben� Wie Zeh in Fragen zu Corpus Delicti erläutert, ist Moritz‘ Erkrankung an Leukämie in seinen Jugendtagen ein Schandfleck in den Augen der METHODE, wodurch Moritz in der Werteskala des schutzwürdigen Lebens tief nach unten rutscht: Die Erkrankung ist ein schwarzer Fleck in der Familiengeschichte� Die METHODE hat versucht, dieses Vorkommnis aus den Akten zu tilgen, denn das Auftreten von Leukämie ist auch ein Schandfleck für das System, das ja durch Erbuntersuchungen und Zuchtauswahl - man darf innerhalb der METHODE seinen Partner nicht frei aussuchen - das Auftreten solcher Defekte zu vermeiden versucht� (Zeh, 2020 78-88) Die ‚Gesundheitspolitik‘ in Corpus Delicti scheint die nationalsozialistische Rassenpolitik 11 zu evozieren. Während im nationalsozialistischen Deutschland der Abstammungsnachweis (Ariernachweis) darüber entschied, ob ein Körper zu schützen und zu achten oder ob er, im Gegenteil, ungestraft zu sterilisieren, marginalisieren oder zu eliminieren sei, entscheidet in Corpus Delicti der körperliche Gesundheitszustand über Zugehörigkeit zur oder Ausschluss aus der METHODE� Die frühe Erlassung, schon im ersten Jahr des nationalsozialistischen Reiches am 14� Juli 1933, des Gesetzes ‚zur Verhütung erbkranken Nachwuchses‘, das die Sterilisierung ‚unwerter‘ Personen vorsah und wenig später des Gesetzes ‚zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes‘ (18� Oktober 1935), das die Ehe mit ebensolchen ‚unwerten‘ Personen verbot, zeugt vom biopolitischen Fundament der nationalsozialistischen Diktatur (Folkers & Lemke 221). Die nationalsozialistische Zielsetzung der ‚edlen Rassenreinheit‘ des deutschen Volkes durch Wertung und Abwertung nach erbbiologisch-rassistischen Kriterien jedes einzelnen Lebens (Balke 90) spiegelt sich in Corpus Delicti in Form der Zielsetzung des perfekt gesunden Körpers sowie dessen Wertung als ‚staatsfähig‘ wider. In derselben Fluchtlinie des perfekt gesunden Volkskörpers dürfen in Corpus Delicti nur immunologisch kompatible Menschen eine Verbindung eingehen, wie es denn auch die auktoriale Stimme kommentiert: „Jeder weiß, dass ‚Liebe‘ nur ein Synonym für die Verträglichkeit bestimmter Immunsysteme darstellt. Jede andere Verbindung ist krank“ (Zeh, 2013 127)� Es ist in diesem Zusammenhang interessant, Emmanuel Lévinas zu zitieren, der die verhängnisvolle biopolitische Ankettung des Menschen an seinen Körper skizziert: An seinen Körper gekettet verweigert sich der Mensch der Macht, sich selbst zu entkommen. Die Wahrheit ist für ihn nicht mehr die Anschauung eines fremden Schauspiels - sie besteht in einem Drama, in dem der Mensch selbst der Schauspieler ist� Der Mensch gibt sein Ja und sein Nein unter dem Gewicht seiner ganzen Existenz […]“. (Folkers & Lemke 223-224) Diese Ankettung an den Körper, die dem Menschen die Freiheit nimmt, indem er Ziel politischer Entscheidungen und Strategien wird und sich nicht einmal mehr durch geistige Erhöhung von sich selbst befreien kann, bringt Zeh in Corpus Delicti wiederum treffend auf den Punkt: Die Naturwissenschaft […] hat die lange Ehe zwischen dem Menschen und dem Übermenschlichen geschieden� Die Seele, Spross dieser Verbindung, wurde zur Adoption freigegeben. Geblieben ist der Körper, den wir zum Zentrum aller Bemühungen machen. Der Körper ist uns Tempel und Altar, Götze und Opfer. Heiliggesprochen und versklavt. Der Körper ist alles. (Zeh, 2013 170) Lévinas unterstreicht diesen, dem Menschen zum Verhängnis gewordenen, Zusammenfall von Geist und Körper, der jede geistige Erhebung über die körperliche irdische Hülle unmöglich macht, wobei gerade dieses physische Dasein zum Gegenstand politischen Kalküls wird. Aristoteles Trennung zwischen zoé und bios in der polis als Trennlinie zwischen privatem Leben und politischer Existenz wird ebenso zunichte gemacht, wie die Verselbständigung und Verehrung der Vernunft der Aufklärung. Lévinas sieht in dieser Ankettung des Menschen an seinen Körper nicht nur den Verlust der ideellen Freiheit, sich über die eigene Körperlichkeit zu erheben, sondern vor allem den Verlust der Menschlichkeit des Menschen selbst: „[…] l’humanité même de l’homme“ (208). 12 Dieser Verlust des ‚Menschlichen‘ findet seit der Menschenrechtserklärung von 1789 statt, die die Geburt des Menschen zu einem politischen Ereignis erhob� Seit diesem Moment sind Politik und Körper immer näher gerückt, noch teilweise getrennt durch den Ausnahmezustand, um im nationalsozialistischen Totalitarismus gänzlich zusammenzufallen: Gegenstand der Politik wurde der menschliche Körper selbst, der Ausnahmezustand konnte nicht mehr als solcher gelten, denn er wurde zum Corpus Delicti: Ein Prozess - Agamben und die Menschenrechtserklärung von 1789 663 664 Alexandra Juster Normalzustand von 1933 bis 1945: „Wenn Leben und Politik, die ursprünglich voneinander getrennt und durch das Niemandsland des Ausnahmezustandes miteinander verbunden waren, dazu tendieren, identisch zu werden, dann wird alles Leben heilig (im Sinne des ‚Homo sacer‘, Anm� der Verf�) und alle Politik Ausnahme (Folkers & Lemke 120-121)”. Politik, Leben, Euthanasie und Eugenik fielen somit zusammen und verwandelten die Biopolitik in Thanatopolitik, in der dem Führer die absolute Macht zukam, über den Wert oder Unwert des Lebens, ohne das Gewicht einer Gegenmacht, direkt zu entscheiden, mit einem Wort: die ganze Nation wurde zu ‚Homini saceri‘� Zeh verweist in Corpus Delicti auf diese Gefahren der Erhebung des Lebens, sprich der Gesundheit und anknüpfend an die menschliche Physis, zum höchsten, gesellschaftlichen Wert, denn die höchste Wertung des gesunden Lebens erlaubt der METHODE auch dessen Abwertung, wie im Fall von Moritz, bis hin zum Ausschluss, wie im Fall von Mia. Lebenserhöhung und Lebensverachtung bilden eine risikoreiche dualistische Einheit, die, im leichteren Fall, zu Freiheitsverlusten, Verboten und Strafen und, im schlimmeren Fall, zur Massentötung führen kann� Die Gefahr der politischen Anknüpfung an den Körper erhöht sich umso mehr als der Physis keine geistigen Werte entgegengesetzt werden, die imstande sind, dem Menschen über seine körperliche Existenz hinaus, Erhöhung und Freiheit zu verschaffen: Denn wenn der Körper heiliggesprochen wird und dem Menschen alles ist (vgl. Zeh, 2013 170), läuft er stetige Gefahr zum politisch manipulierbaren Objekt zu werden� Die eingangs erwähnte aktuelle Coronapandemie bestätigt denn Zehs Befürchtungen dieser Gefahr der Politisierung des menschlichen Körpers im Streben nach Gesundheit als höchstes Ziel, indem sich der Bürger, aus Angst vor Krankheit und Tod, undemokratischen Prozessen und Regelungen fügt, im vermeintlichen Glauben, so seine Gesundheit zu schützen� Die Ankettung an den gesunden, fitten, leistungsstarken und gesellschaftsfähigen Körper, lässt die geistigen Werte und Überzeugungen in den Hintergrund treten� Geistig unfrei, eingeschlossen in der Sorge um seinen Körper, läuft der Mensch immer größere Gefahr, zu ‚Fallobst‘ (vgl. Zeh, 2013: 155) in den Händen der Macht zu werden. Notes 1 Vgl. dazu Art. 1-14 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950. 2 In der Folge „Corpus Delicti“� 3 Strafverteidiger 4 Vgl� de Sade, 39-4� 5 Vgl� de Sade, 48-52� 6 Sacer aber ist derjenige, den das Volk wegen eines Delikts angeklagt hat; und es ist nicht erlaubt, ihn zu opfern; wer ihn jedoch umbringt, wird nicht wegen Mordes verurteilt (Agamben, 2002 81)� 7 Vgl� Weiß, 276� 8 Vgl� Zoecke� 9 Die Nationalsozialisten schrieben den Brand des Reichstages den Kommunisten zu, als Vorwand für ihre Gefährlichkeit für den Staat. Vermutlich wurde dieser Brand absichtlich durch die Nationalsozialisten zu diesem Zweck inszeniert� 10 Ein Schüler des griechischen Philosophen Aristippe, Hegesias, war dafür bekannt, dass er versuchte seine Mitbürger zum Selbstmord anzuregen, weshalb er „peisithanatos“ genannt wurde, derjenige der zum Sterben animiert (De Crescenzo 300)� 11 Dass die rassistische Wertung des Lebens Teil eines politischen Programmes ist, bestätigt Verschuer, wenn er mit Stolz Hitler als den ersten Staatsmann lobt, „[…] der die Erkenntnisse […] der Rassenhygiene zu einem leitenden Prinzip in der Staatsführung gemacht hat,“ denn der nationalsozialistische Rassismus „ist primär ein politisches Programm und nur sekundär eine Ideologie“ (Baumann 104)� Es galt durch Assimilation verborgene Juden, gleich den Marranen in Spanien, nach inquisitorischen Prinzipien aufzuspüren, zu trennen und zu vernichten� Raul Hilberg resümiert diesen Vernichtungsprozess in drei Etappen: “Definition, Entfernung und Konzentration“ (Balke 301)� Die nationalsozialistische Rassenpolitik fundierte auf zwei Zielsetzungen: der “erbbiologischen Bestandsaufnahme (Balke 83)” einerseits, und der biologisch-rassistischen Wertbestimmung des Einzelnen. Bereits 1933 wurde das Reichssippenamt geschaffen, dessen Aufgabe die Erfassung nicht nur des Einzelnen, sondern dessen Sippe war, um deren rassische ‚Reinheit‘ und ‚Erwünschtheit‘ festzustellen� Die Verweigerung der Ausstellung des Ausweises ‚deutschblütiger‘ Abstammung war einem Todesurteil gleichzusetzen. Bei dieser Arbeit der Erhebung der völkischen ‚Rassenreinheit‘ spielten die Ärzte im Dritten Reich nicht nur eine medizinische Rolle, sondern ebenso eine politische, indem sie sich zur Ideologie des Nationalsozialismus bekennen mussten und dazu verpflichtet waren, erbbiologische Daten in Sippschaftstafeln zusammenzufassen und an die Gesundheitsämter weiterzuleiten. 12 „Die Menschlichkeit des Menschen selbst“ (eigene Übersetzung)� Corpus Delicti: Ein Prozess - Agamben und die Menschenrechtserklärung von 1789 665 666 Alexandra Juster Works Cited Agamben, Giorgio� Homo sacer die souveräne Macht und das nackte Leben � Berlin: Suhrkamp Verlag, 2015� ---� Ausnahmezustand � Berlin: Suhrkamp Verlag, 2006� ---� Homo sacer die souveräne Macht und das nackte Leben � Berlin: Suhrkamp Verlag, 2002� Balke, Friedrich� „Beyond the Line: Carl Schmitt und der Ausnahmezustand“� Philosophische Rundschau , 55(4) 2008: 273-306� Baumann, Zygmunt� Dialektik d. Ordnung. Die Moderne und der Holocaust � Hamburg: Europäische Verlagsanstalt, 1992. De Crescenzo, Luciano� Les grands philosophes de la Grèce antique � Paris: Livre de Poche, 2000� de Sade, Dontatien A� Français, encore un effort si vous voulez être républicains � Ed� Sigismundo Andrade� 2019� Europäische Menschenrechtskonvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rom 4� XI� 1950� <https: / / www�echr�coe�int/ documents/ convention_deu�pdf>� Folkers, Andreas and Lemke� Thomas� Biopolitik: ein Reader � Berlin: Suhrkamp, 2014� Genel, Katia. „Le biopouvoir chez Foucault et Agamben.” Methodos, savoirs et textes (2004): Punkt 4� Gottwein, Carla. „Die verordnete Kollektividentität. Juli Zehs Vision einer Gesundheitsdiktatur im Roman Corpus Delicti”� Identität. Fragen zu Selbstbildern, körperlichen Dispositionen und gesellschaftlichen Überformungen in Literatur und Film � Ed� Corinna Schlicht� Oberhausen: Verlag Laufen, 2010, 213-233� Lévinas, Emmanuel. „Quelques réflexions sur la philosophie de l’hitlérisme”. Esprit (1932-1939), 3(26) (1934): 199-208� Schmitt, Carl� Verfassungslehre, von Carl Schmitt � Leipzig: Duncker und Humblot, 1928� ---� Politische Theologie Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität � Berlin: Duncker und Humboldt, 1934� Smith-Prei, Carrie� „Relevant Utopian Realism: The Critical Corporeality of Juli Zeh's Corpus Delicti”� In: A Journal of Germanic Studies 48 (1) (2012): 107-123� Von Hindenburg, Paul, et al. (1933). „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat [Reichstagsbrandverordnung].“ 28. Februar 1933. <https: / / www�1000dokumente�de/ pdf/ dok_0101_rbv_de�pdf>� Von Verschuer, Othmar� Rassenhygiene als Wissenschaft und Staatsaufgabe (Nr� 7)� Frankfurt am Main: Bechhold Verlag, 1936� Weiß, Martin G. „Biopolitik, Souveränität und die Heiligkeit des nackten Lebens: Giorgio Agambens Grundgedanke�“ Phänomenologische Forschungen (2003): 269-293� Zeh, Juli� Corpus Delicti: Ein Prozess . München: Btb Verlag, 8. Auflage. (Erstauflage 2009), 2013� ---� Fragen zu ‘Corpus Delicti’ � München: Btb Verlag, 2020� Zoeke, Barbara� Die Stunde der Spezialisten � Berlin: Die Andere Bibliothek, 2017�
