Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
111
2023
562-3
“Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle
111
2023
Arne Höcker
How does a blog become a novel? How do small forms relate to large ones? How does the present turn into history? And how do theory and praxis intersect in the daily act of writing? These are some of the questions addressed in Rainald Goetz’s 1999 novel Abfall für Alle that had started out as an Internet diary. Between February 1998 and January 1999, Goetz kept a practice of taking notes that he posted on his website on a daily basis. Consisting of various materials from shopping lists, descriptions of quotidian routines to more elaborate but mostly fragmented poetological reflections, these notes capture the everyday practice of writing and can therefore be emphatically characterized as Gegenwartsliteratur in a literal sense. The publication of the collected written material as a novel changes this perspective on the act of writing and confronts the literary practice with its formal demands, presence with repeatability, and praxis with theory. This paper focuses on Abfall für Alle as a novel and discusses the poetological consequences that go along with the media transfer. In particular it focuses on the Poetikvorlesungen that Goetz presented at the University of Frankfurt and that he decided to include in the novel where they confront the daily attempts to capture the everyday reality of writing with the – failing but productive – attempts to reproduce this practice under the conditions of academic and poetic discourse.
cg562-30295
“Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle 295 “Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle Arne Höcker University of Colorado, Boulder Abstract: How does a blog become a novel? How do small forms relate to large ones? How does the present turn into history? And how do theory and praxis intersect in the daily act of writing? These are some of the questions addressed in Rainald Goetz’s 1999 novel Abfall für Alle that had started out as an Internet diary. Between February 1998 and January 1999, Goetz kept a practice of taking notes that he posted on his website on a daily basis. Consisting of various materials from shopping lists, descriptions of quotidian routines to more elaborate but mostly fragmented poetological reflections, these notes capture the everyday practice of writing and can therefore be emphatically characterized as Gegenwartsliteratur in a literal sense� The publication of the collected written material as a novel changes this perspective on the act of writing and confronts the literary practice with its formal demands, presence with repeatability, and praxis with theory. This paper focuses on Abfall für Alle as a novel and discusses the poetological consequences that go along with the media transfer. In particular it focuses on the Poetikvorlesungen that Goetz presented at the University of Frankfurt and that he decided to include in the novel where they confront the daily attempts to capture the everyday reality of writing with the - failing but productive - attempts to reproduce this practice under the conditions of academic and poetic discourse� Keywords: Rainald Goetz, theory of the novel, writing, poetics, Gegenwartsliteratur, German literature, Roland Barthes Von Februar 1998 bis Januar 1999 führte Rainald Goetz im Internet Tagebuch� Heute würde man von einem Blog sprechen. So entstand über den Zeitraum von einem Jahr eine Serie bis auf die Minute genau datierter Eintragungen, die von Listen, Skizzen, Beschreibungen, kurzen Erzählungen bis zur Poetik- 296 Arne Höcker vorlesung reichen und die mit dem Anspruch auftreten, den gegenwärtigen, flüchtigen und an sich kontingenten Moment erfassen zu wollen. Ende 1999 erschien Abfall für Alle bei Suhrkamp als Roman in Buchformat� Wurde das Internet-Tagebuch noch emphatisch als revolutionärer Versuch gefeiert, den neuen medientechnischen Bedingungen eine neue Literatur abzuringen, so erschien einigen FeuilletonrezensentInnen die Entscheidung, daraus ein 864-seitiges Buch zu machen, als eine Art Regression, wenn nicht gar als unliebsame Erinnerung daran, dass auch literarische Erzeugnisse einem Markt unterworfen sind, der nicht nur nach künstlerischen, sondern primär nach ökonomischen Regeln funktioniert. Dass die “Minutendinger,” wie Goetz seine Eintragungen zuweil bezeichnet - Textfetzen, Notizen, fragmentarische Aufzeichnungen und auf das Hier und Jetzt zielende und datierte Tagebucheinträge - nun in einem Zusammenhang verfügbar waren, der als Roman ausgewiesen wurde, wollte all denjenigen, die unter Roman zuallererst einen les- und konsumierbaren und also zumeist narrativ gestalteten Text verstanden, nicht sofort einleuchten. Was im Medium des Internets als tägliche Lektüre für Minuten funktioniert habe, müsse als Buch - und als Roman zumal - scheitern� Insbesondere die Gattungsbezeichnung Roman erschien vielen RezensentInnen als unangemessen und unangebracht unzeitgemäß. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung etwa schrieb Eberhard Rathgeb, dass der Titel “Roman eines Jahres” altmodisch und heimelig anmute. Schon von außen “schimmer[e]” das Buch “nach einer runden und wärmenden Geschichte, die einem sogar guttun könnte, so wie einem ja auch ein bequemes Sofa angenehm entgegenquillt, nachdem man stundenlang durch den Tag marschiert ist” (Rathgeb n. pag.). Nun löst Abfall für Alle dieses angebliche Versprechen der Romangattung keinesfalls ein. Statt die Notizen, Aufzeichnungen, Textfetzen, Protokolle, Exzerpte und “Minutendinger” in einen ordnungsstiftenden Gattungsraum “Roman” zu stellen und damit rahmend zugänglich zu machen, vermittelt der “Roman eines Jahres” den Eindruck der Unüberschaubarkeit und steht dem Einsatz des Tagebuches damit diametral entgegen. Denn war die einzelne Tagebuchnotiz noch als Versuch aufzufassen, den Wirrnissen des Tages ein Moment der Verlässlichkeit und Notwendigkeit abzugewinnen, so hebt die Zusammenstellung der “Minutendinger” im Roman gerade ihre Zufälligkeit und Kontingenz hervor, was durch das Monumentale des 864 Seiten starken Buches, das 923 Gramm Gewicht auf die Wage bringt, noch verstärkt wird. Die Leichtigkeit, mit der sich die täglichen kleinen Notizen im Internet in den Alltag integrieren ließen - “Abfall für Alle. Mein tägliches Textgebet” (Goetz, Abfall 357) - weicht im Roman einer “Gewichtigkeit, die dieser Text als ganzes für mich hat�” Goetz spricht in einem Interview diesbezüglich von der Besonderheit des Buchformats und der besonderen “Art, wie die Widersprüche in einem kleinen Ziegelstein, die Vielzahl der Widersprüche, da geballt “Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle 297 vorliegen” (Goetz, Jahrzehnt 154)� Mit dem Übergang vom Internet-Tagebuch zum Buch-Roman vollzieht sich auch eine Änderung in der Ausrichtung der Referenz auf die Form. Lassen sich die kleinen Formen, die im Internet-Tagebuch zum Einsatz kommen, als Aufzeichnungsverfahren der Gegenwart verstehen, so gewinnt der Roman seine Form am Zusammenhang dieser heterogenen Elemente als Spur einer Schreibweise� Bevor hier jedoch weiter auf dieses Verhältnis von kleiner Form und Roman eingegangen werden kann, muss zunächst eine Besonderheit von Goetz’ Internet-Tagebuch angesprochen werden, das sich, worauf Elke Siegel hingewiesen hat, in einem ganz wesentlichen Aspekt von anderen literarischen Tagebüchern unterscheidet: “[A]lthough all other literary diaries are written and then published at some later date - whether after the intended time span or posthumously - Goetz’s Internet diary went about as far as possible in minimizing the delay between inscription and publication” (Siegel 236—37). Mit Abfall für Alle habe Goetz, so Siegel weiter, eine öffentliche Form des Schreibens betrieben und Gegenwartsliteratur im wörtlichen Sinne� Doch auch wenn Goetz’ Tagebuch sich einer unmittelbaren Rezeption anheimgibt, so bleibt es in einer anderen wichtigen Hinsicht dem Tagebuchschreiben treu: Es schert sich nicht um seine Leserschaft, richtet sich nicht an sie und bleibt ganz allein auf das schreibende Ich ausgerichtet, das sich und sein Schreiben so unmittelbar wie möglich der Kritik übergibt. Nicht um deren Einfluss auf das Schreiben aber geht es Goetz im Internet-Tagebuch, sondern allein darum, den Authentizitätsgrad zu steigern, der dadurch entsteht, dass das Geschriebene zugleich der Öffentlichkeit übergeben wird� Das Internet wird somit für Goetz zu einem interessanten literarischen Schreibwerkzeug, aufgrund der Geschwindigkeit, mit der es Text prozessiert, und dadurch eine besondere Nähe zur Gegenwart herstellt. Beobachtet wird, wie sich das schreibende Ich unter veränderten medialen Bedingungen, die sich Ende der 90er Jahre schon sichtbar auf alle gesellschaftlichen Bereiche der Kommunikation und Informationsvermittlung auszuwirken begonnen haben, sprachlich konstituiert. “Das Kollektiv sucht nach Schriftformen, die näher an der mündlichen Rede dran sind,” so Goetz in Bezug auf die durch das Internet sich verändernden literarischen Sprechweisen: “Da arbeitet jetzt quasi ein millionenfaches, tippendes Schreiberheer an solchen Formulierungsausweitungsprozessen. Das finde ich natürlich faszinierend” (Goetz, Jahrzehnt 146)� Auch wenn sich die herkömmliche Literaturkritik Ende der 90er Jahre teils noch schwer damit tat, die Versuche, dem Internet neue Schreibweisen abzugewinnen, als Literatur anzuerkennen (vgl. dazu Schumacher 42—44), so war Abfall für Alle auch als Internet-Tagebuch ein dezidiert literarisches Projekt, das sich von Anfang an in einen Hallraum tradierter literarischer Referenzen und Prämissen stellte. In einem nahezu klassischen Sinne führt das Schreiben 298 Arne Höcker bei Goetz die Frage nach der sich gegenseitig bedingenden Konstruktion von Form und schreibendem Ich durchgehend mit. Eine Frage, die mit der Literatur wie mit ihrer Theorie verbunden ist, seit sich literarische Form nicht mehr aus Poetiken und Rhetoriken herleiten lässt. Anders gesagt: seit der Roman die für den literarischen Diskurs maßgebende Form ist� Und damit ist die Perspektive genannt, aus der dieser Aufsatz im Folgenden Abfall für Alle als Roman und nicht als Internet-Projekt in den Blick nehmen soll� Was also macht, abgesehen vom Medium, aus einem Blog einen Roman? Die Frage ist hier zunächst weniger als Frage nach einer Gattungsbestimmung zu verstehen als die nach der Romanform und ihrer Beziehung auf die Praxis des Schreibens, von der der Roman Abfall für Alle selbst handelt. “Abfall war,” so erklärt Goetz in einem Interview, “von der Grundidee her die Fiktion, auf die Realität des Alltags einen sprachlichen Zugriff zu kriegen. Und der Roman, der sich daraus entwickelt hat, ist der Entwicklungsroman der Form des Romans selbst” (Goetz, Jahrzehnt 149)� Diese Aussage schließt gleich in mehrfacher Hinsicht an einige zentrale Themen der Romantheorie an� Der Verweis auf den intendierten Realismus und den sprachlichen Zugriff auf die Lebenswirklichkeit ruft Georg Lukács’ Theorie des Romans auf den Plan, der die notwendige Prozesshaftigkeit der Romanform aus der für ihn prägenden Dissonanz von Leben und Form ableitete: “Die Kunst ist - im Verhältnis zum Leben - immer ein Trotzdem; das Formschaffen ist die tiefste Bestätigung des Daseins der Dissonanz, die zu denken ist. Aber in jeder anderen Form […] ist diese Bejahung etwas der Formung Vorangehendes, während sie für den Roman die Form selbst ist. […] So erscheint der Roman im Gegensatz zu dem in der fertigen Form ruhenden Sein anderer Gattungen als etwas Werdendes, als ein Prozeß” (Lukács 62). Mehr noch aber klingt in der Bestimmung von Abfall für Alle als eines “Entwicklungsromans der Form des Romans selbst” eine Formulierung Friedrich Schlegels an, der in seinem Brief über den Roman zu dem Schluss kam, dass die Frage nach der Form des Romans aufgrund seiner prinzipiellen Gattungsunzugehörigkeit dem Roman selbst schon notwendig eingeschrieben sei und dass eine Theorie des Romans, “die im ursprünglichen Sinne des Wortes eine Theorie wäre: eine geistige Anschauung des Gegenstandes,” selbst ein Roman sein müsse (Schlegel 336). Als zentrales Charakteristikum des Romans hat Schlegel deshalb “die chaotische Form” hervorgehoben, die der klassischen Ordnung eine auf ihre eigene Komplexität rekurrierende Ganzheit entgegensetzt und gerade das Widersprüchliche ihrer Elemente betont. Als eigenständige Gattung, so Schlegel, würde sich der Roman seiner eigenen Möglichkeiten berauben� Anders gesagt führt der Roman - jedenfalls der Roman, den Schlegel als “romantisches Buch” bezeichnet - seine Theorie stetig mit und kompensiert seine eigene Formlosigkeit damit, dass er das Leben, dessen Darstellung er bezweckt, auf die poetischen Bedingungen “Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle 299 bezieht, die ihm in den bestehenden und tradierten Gattungsformen zur Verfügung stehen. Denn der Roman schließt alle anderen Gattungen ein, er baut auf kleinen und einfachen Formen auf, ohne sich ihrem Diktat zu unterstellen. Damit reflektiert der Roman das Leben und die Welt in ihrer radikalen Subjektivität und beobachtet den prägenden Einfluss von sprachlichen Formen auf die vom Roman betriebene “Selbstgeschichte” (Schlegel 337)� Ich möchte in meinen nun folgenden Lektüren von Abfall für Alle dieses Verhältnis der kleinen Form zur großen Form des Romans als eine Praxis des Schreibens der Gegenwart in den Blick nehmen� Wenn dabei auch das Spannungsfeld von Literatur und Theorie in den Fokus rückt, dann ist das nicht etwa einer bestimmten und allerdings vorhandenen Vorliebe des Romanautors Goetz noch meiner eigenen geschuldet, sondern ist dem Roman als Frage nach seiner Form selbst eingeschrieben� “Los gehts. Mittwoch, 4.2.98, Sonnentag, Berlin. Anruf von Herrn Häberlen. Ich soll jetzt mal mit Texten rüberkommen” (Goetz, Abfall 13)� Schon Eckhard Schumacher hat in seiner prägnanten wie scharfsinnigen Analyse von Abfall für Alle auf die Paradoxie des Anfangs hingewiesen, dessen Gegenstand kein besonderes, einschneidendes und bemerkenswertes Ereignis ist, sondern ganz im Gegenteil die Gleichförmigkeit und Gewöhnlichkeit des Alltäglichen. “Alltag,” so Schumacher, “hat immer schon angefangen als das, was sich wiederholt, nicht einzigartig ist, nicht aus der Reihe fällt - und gerade deshalb schwer zu fassen ist” (Schumacher 116)� Und trotzdem wohnt auch diesem wie jedem Anfang ein Zauber inne, der hier darin besteht, dass ein schreibendes Ich in den Raum des Textes tritt und sich dem Medium der Schrift überantwortet� Dass dies kein selbstverständlicher oder gar banaler Schritt ist und nicht ohne Zwang und Disziplin vonstatten geht, auch das ist dem Anfang des Romans bereits eingeschrieben. Noch vor der Datierung markiert das “Los gehts” einen Übergang durch den Aufruf, den das in den Text eintretende Ich an sich selbst richtet, und dem dann sogleich mit dem Anruf von Herrn Häberlen eine Instanz zugeordnet wird, die diese Illusion der Selbstschöpfung mit einem äußeren Zwang konfrontiert� So ist schon der Anfang des Romans mit einer Spannung von Autonomie und Dependenz versehen, aus dem das Schreiben seine Dynamik beziehen kann, indem es das Ich und seine sozialen wie medialen Wirklichkeiten miteinander in Beziehung setzt und auf die Frage der Form und die Praxis des Schreibens weiter zuspitzt. Das aber ist eine Ausgangslage des Romanschreibens, die sich auf nicht geringe literarische Vorgänger berufen kann. “Der Zauber des Anfangs und das ‘Zögern vor der Geburt’” hat Gerhard Neumann einmal einen Aufsatz über Franz Kafkas Poetologie des riskanten Augenblicks genannt und von dem für Kafkas Roman-Protagonisten spezifischen Problem gesprochen, sich der Welt in ihrer räumlichen wie auch sozialen Dimension zu vergewissern (vgl. 300 Arne Höcker Neumann 423). Kafka hat damit den Finger auf die Wunde des Romans schlechthin gelegt, der an jedem seiner Anfänge voraussetzen muss, was erst am Ende herauskommen soll. Denn das Subjekt des Romans soll immer schon sein, was es - durch die vom Roman ermöglichte Bezugnahme auf sich selbst und das eigene Leben - erst noch werden muss� Die Gegenwart des Romans und die des Subjekts stimmen nicht überein. Im Tagebuch schrieb Kafka über den der Subjektivität fest eingeschriebenen Widerspruch, den der Roman aufzuheben verspricht oder der ihm jedenfalls als Formproblem zugrunde liegt: Unmöglichkeit das Leben, genauer die Aufeinanderfolge des Lebens zu ertragen. Die Uhren stimmen nicht überein, die innere jagt in einer teuflischen oder dämonischen oder jedenfalls unmenschlichen Art, die äußere geht stockend ihren gewöhnlichen Gang. Was kann anderes geschehn, als daß sich die zwei verschiedenen Welten trennen und sie trennen sich oder reißen zumindest an einander in einer fürchterlichen Art. (Kafka, Tagebücher 877) Wie für viele seiner literarischen Zeitgenossen gilt auch für Kafka, dass das Tagebuch nicht nur Datenspeicher ist, sondern mehr noch Experimentierfeld für literarische Versuchsanordnungen� Tagebuch schreiben ist literarische Praxis; “PRAXIS, ein Wort, das Abfall für Alle von Anfang an nachhaltig durchsetzt” (Schumacher 118). Denn großgeschrieben begleitet “PRAXIS” die Leser des Romans durch den Text, insbesondere auch da, wo dieser theoretisch wird. Dass das kein Widerspruch sein muss, lässt sich mit Verweis auf Rüdiger Campes These belegen, “dass es den modernen europäischen Roman ohne Theorie nicht geben kann, und zwar ohne eine Theorie des Lebens nicht geben kann […]. Roman, Theorie und Leben […] bilden einen für die Gegebenheit der modernen Literatur zumindest in der europäischen Tradition charakteristischen Zusammenhang” (Campe 193). Und so findet sich konsequenterweise im Zentrum des Romans Abfall für Alle eine auf die Praxis des Schreibens bezogene Theorie des Schreibens, eine als “PRAXIS” betitelte Poetikvorlesung, die der Autor im Sommersemester 1998 an der Goethe-Universität Frankfurt hielt und die nicht lange braucht, um die Frage zu stellen, deren Beantwortung man sich von einer Poetikvorlesung erwarten könnte: “Hallo Frankfurt. / Ha. / Also. Nein: / / Was ist eigentlich ein Roman? / / Ein Roman ist ein Stück Prosa von mindestens 300 Seiten, / das die ganze Welt umfaßt.” Eine Erzählung sei im Gegensatz dazu “etwas Kleines, Schnelles, Böses, ein Ausschnitt, etwas Ungerechtes, ein Zeitpartikelchen, eine Gewalttat. Eine Sache von 100, 200 Seiten.” Ein Theaterstück: ein Text, “der so geschrieben ist, daß er seine Erfüllung erst erfährt, wenn er auf der Bühne realisiert wird, als Theaterstück” (Goetz, Abfall 229)� Ein Roman also ist - und das ist hier das wesentliche Unterscheidungskriterium - Entgrenzung, er will alles und umfasst nicht weniger als die ganze Welt� Wo soll man also anfangen mit einem Roman? “Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle 301 Zurück zum Anfang von Abfall für Alle , Kapitel römisch Eins, erster Absatz: Ausruf, Datierung, Platzierung, Anruf, Deadline. Zweiter Absatz: “ganz am Anfang / trete hier also ein in diese Institution - siehe Foucault - alles bisher Gesagten - und dann gleich aber natürlich das ABREISSEN sofort - loslegen - irgendwo von außen intervenieren lassen - bloß nicht rumsuhlen im Alten / PRAXIS” (Goetz, Abfall 13). Die Institution alles bisher Gesagten wäre mit Foucault gesprochen die Ordnung des Diskurses. “Ich setze voraus,” schreibt Foucault in seiner 1970er Antrittsvorlesung am Collège de France, “daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen” (Foucault 10—11). Auch das Romanschreiben ist Teil dieser Prozeduren, auf deren Voraussetzungen es basiert, die es in sich aufnimmt, sich ihnen einschreibt und von denen es sich wieder abstoßen muss, wenn es sich nicht im Alten rumsuhlen will: “WAS / sind das für Tage, die - / was ist das für ein Land, in dem - / wer bin ich, um hier zu - / / VORSICHT Literatur” (Goetz, Abfall 15)� Es ist kein Zufall, dass der Verweis auf die Institution des Diskurses den Roman Abfall für Alle eröffnet und der Bezug auf die literarische Tradition Biographiezentrierten Geschichtenerzählens rigoros zurückgewiesen wird, wann immer es sich in den Text einschleicht und sich einzuschreiben droht� Die Intention des Tagebuches dreht sich hier um, denn es geht nicht mehr darum, wie vielleicht noch bei Kafka, sich eine Subjektposition zu erschreiben, einen sicheren und unverrückbaren Standort, von dem aus sich die Welt und von der Welt erzählen ließe. Stattdessen schreibt Goetz “Minutendinger,” immer wieder abreißende, unterbrechende, rhythmisierende Einträge, die Gegenwart markieren sollen: “Ich las die Tagebücher von Jünger, Krausser oder Rühmkorf, und dachte immer: wenn man doch nur wüsste, wie es JETZT steht, was er JETZT macht, JETZT denkt” (Goetz, Abfall 357)� Goetz’ “Minutendinger” bleiben gewissermaßen am “Nullpunkt der Literatur”: Es geht in ihnen um den immer wieder sich erneuernden und immer wieder neu zu erschreibenden Bezug von einer Schreibweise des Jetzt zur Institution alles bisher Gesagten� Und so schreibt sich der Text von Abfall für Alle fort, indem er immer wieder von Neuem ansetzt, beim “JETZT,” das sowohl authentische Gegenwart markieren soll als auch, wie Schumacher betont, immer schon “eine Form des Zitats, eine zitierende Wiederholung eingeführter Formen” ist (Schumacher 126). Was Goetz durchweg als “PRAXIS” heraufbeschwört ist die Aktualisierung des Schreibens aus einem Formenrepertoire, aus dem es seine Impulse bezieht und von dem es sich zugleich immer wieder abstoßen muss� So hat schon Schumacher die von Goetz gleich zu Beginn genannten Techniken des Loslegens und Abreißen-lassens als wesentliche 302 Arne Höcker Strukturmomente der hier vorgeführten Schreibverfahren bestimmt� In den fünf Frankfurter Poetikvorlesungen, die in mehrfacher Hinsicht als eine Art Zentrum des Romans verstanden werden können, wird diese Bewegung des Schreibens ausgehend von der Frage der Form thematisiert. Im Kontext des Romans Abfall für Alle funktioniert die Poetikvorlesung als Reflexion auf das Romanschreiben, genau aus denselben Gründen, aus denen sie als Vorlesung, wie Sibylle Peters erklärt, scheitern musste. Denn Goetz, so Peters, hatte die Vorlesung zunächst als Performance angelegt: “In Anlehnung an das Modell des freien Vortrags sollte sich der Frankfurter Hörsaal in das Labor des Autors verwandeln, in einen Ort, an dem sich die Produktion von Literatur in gewisser Weise selbsttätig vollzieht und zwar im Zuge einer Rückwendung des alltäglichen, des medialen, des momentanen Sprachgebrauchs auf sich selbst, der der Autor Rainald Goetz als Medium dienen sollte” (Peters 152)� Die im Roman enthaltenen Vorlesungsmanuskripte hingegen bleiben einer Schreibweise verpflichtet, die den gesamten Roman Abfall für Alle durchzieht, und fügen sich somit fast nahtlos in den Text ein. In der letzten der Frankfurter Veranstaltungen reflektiert Goetz das Verhältnis der Vorlesung zum Schreiben des Internet-Romans: Im Verhältnis zur Praxis Veranstaltung hier hat Abfall eine komische Rolle gespielt. Eine große Zahl von Einträgen war als Vorbereitung für hier gedacht, Abfall wurde erster Produktionsort für Argumente, Strukturüberlegungen, Formulierungsversuche, die später alle in Praxis eingebaut und verwendet werden sollten. Und erst neulich kam es mir richtig zu Bewußtsein, daß ein genau umgekehrter Effekt eingetreten war: ich wollte die in Abfall schon gesagten Sachen in Praxis nicht noch einmal wiederholen. Als würde man einem alten Freund die gleiche Story noch einmal auftischen, und der: ey, Alter, das haste doch neulich schon erzählt. O. Tschuldigung. Soll nicht wieder vorkommen. (Goetz, Abfall 358) Dass sich das Problem der Wiederholung hier stellt, hat natürlich zunächst etwas mit dem Internet als Ort öffentlichen Schreibens zu tun, denn das Frankfurter Vorlesungspublikum konnte die Vorwie Nachbereitung der Praxis-Veranstaltung dort jeden Tag verfolgen. Zugleich aber fordert der Ort der Vorbereitung und des Notierens nun selbst Geltung ein, “will Abfall plötzlich Autonomie” (Goetz, Abfall 313)� Die sich in Abfall etablierenden Schreibweisen zwingen der Poetikvorlesung nun eine gewisse Nachträglichkeit auf und legen PRAXIS auf den Modus der Wiederholung fest, so dass das Resultat, auf das sich das Schreiben von Anfang an richtete, am Ende nur die Einlösung einer Praxis war, die sich in ihrem Versuch Gegenwart zu erschreiben selbst aufhebt� Wo in der Poetikvorlesung die Praxis des Schreibens als ein Angriff auf die Gegenwart aus der Perspektive der Form - großgeschriebener PRAXIS - in den Blick genommen wird, scheitert sie als ein Projekt, dessen Ende eigentlich immer schon “Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle 303 vorgeschrieben war. Das ist die Einsicht, die Goetz zu Beginn seiner letzten Vorlesung mit der Erfahrung verknüpft, von der Romane seit jeher erzählen. “Was ist also ein Roman? ” fragt Goetz hier noch einmal: Wir haben es hier erlebt, ganz anders, als ich zumindest es mir vorgestellt hatte. Und insofern wahrscheinlich genau so, wie es die Ordnung dieser Form vorsieht: mutig zieht der Held hinaus ins Leben, verwickelt sich in Weltgeschichten, besteht sie irgendwie und kehrt schließlich zurück nach Hause, erschöpft, bereichert um Wissen und Erfahrung und niedergedrückt davon, von Vernunft und Verstehen, geschlagen. Bereit sich abzufinden mit dem Vorgefundenen und dem Erlebten, mit der Welt, wie sie sich gezeigt hat, und mit dem Platz, den sie ihm zugewiesen hat dabei. Bereit auch, diese eigentlich traurige Geschichte zu erzählen und dabei zu VERWANDELN, in den Roman. In etwas für andere Sichtbares, Faßbares, Abgeschlossenes und Benutzbares, in etwas Sinnvolles und Ermutigendes also. (Goetz, Abfall 351) Die Entscheidung, die Frankfurter Vorlesungen in den Roman Abfall für Alle zu integrieren, der wiederum selbst von der Vorbereitung der Vorlesungsreihe handelt, rückt die tägliche Praxis des Notierens und Schreibens in einen weiteren Diskurs- und Formzusammenhang, aus dem sie ihre Spannung und Dynamik beziehen soll ohne sich darauf eingrenzen zu lassen� Wie das in der Praxis aussieht, darum sollte es in den Poetikvorlesungen gehen: So beginnts also, mit der Formphantasie. Ich möchte schreiben - einen ROMAN. Denkt fast jeder in seinem Leben irgendwann, richtigerweise. […] Und davon soll diese Veranstaltung handeln. Von dem Vorgang, der von diesem seltsam vagen, aber doch auch nicht ganz unpräzisen, Traumartigen - von dieser traumartigen Gestalt zu etwas ganz Konkretem schließlich führt, was in Form eines Textes vorliegt. […] LABOR Nochmal: so beginnt es also. Diffus, chaotisch, wirr, bißchen geträumt. Montäglich bedrückt, morgendlich zuversichtlich. Es beginnt auch, von einer noch grundsätzlicheren Sicht her gesehen, mit dem Schrei, mit dem die meisten von uns wahrscheinlich diese Welt hier begrüßt haben� Oder eben: mit der Stille des Erwachens am Morgen� (Goetz, Abfall 229—30) Diese Beschreibung des Anfangens findet sich gleich zu Beginn der ersten Frankfurter Poetikvorlesung und ist nicht besonders originell� Vielmehr gleicht sie einer Ansammlung poetologischer Gemeinplätze. Man könnte zunächst an Gottfried Benns “Laboratorium für Worte” (Benn 74) denken und dem von diesem beschriebenen Heranfühlen von Substantiven� Dem folgt die Geburtsphantasie einer literarischen Schöpfung, die ich früher bereits in Bezug auf Kafka erwähnte. Und das Erwachen: bei Kafka “der riskanteste Augenblick am Tag,” bei Walter Benjamin “die dialektische kopernikanische Wendung des Eingeden- 304 Arne Höcker kens” (Benjamin 490). Die Betonung der Unoriginalität dieses Anfangsszenarios ist allerdings nicht als Kritik an Goetz gemeint, sondern spricht hier selbst für ein literarisches Verfahren, das in diesem Fall unter dem Vorzeichen “Poetikvorlesung” steht. Die Frankfurter Poetikvorlesung gibt vor, dass sie sich “in freier, noch zu findender Form” entwickeln solle als “Praxisgespräch zwischen dem Dozenten und seinem studentischen Publikum” (zitiert in Bohley 228)� Goetz folgt diesen Vorgaben aufs Wort, betitelt seine Vorlesung “PRAXIS” und spricht vom morgendlichen Glück, mit frischem ausgeschlafenem Blick, noch unberührt unschuldig von den Wirrnissen des Tages, loslegen zu können, dem schöpferischen Genius freien Lauf zu lassen. Tatsächlich bestimmt sich aber Form hier nicht in dieser Beschreibung schöpferischer Freiheit, sondern in einer Praxis, die noch diese Beschreibung selbst bestimmt: im Zitat oder den Vorgaben des Diskurses, dem poetischen Diskurs, dem sich die Vorlesung verschreibt und widmet. Wer einen Roman schreiben will, verhält sich damit immer schon zu allem, was über das Romanschreiben gesagt worden ist und gesagt werden kann. Wer eine Poetikvorlesung hält, hat es mit dem Poetikdiskurs zu tun, vor dessen Hintergrund jede Anrufung schöpferischer Originalität selbst nur peinlich unoriginell sein kann. Tatsächlich aber ist Goetz’ Poetikvorlesung nicht nur Anrufung einer Praxis, sondern selbst Praxis. Nicht da jedoch wo sie von Poetik spricht, sondern da, wo sie auf die Gegenwart der Vorlesung selbst reagiert. In der ersten der fünf Vorlesungen wird Goetz, da redet er gerade von Luhmanns Abschiedsvorlesung und Foucaults Ordnung des Diskurses , unterbrochen: nee! , das geht mir zu weit! , entschuldigung! , Kollege. Das lenkt mich ab, tut mir leid. - Zum schreienden Kind, zum Vater. Pause. Gemurmel. Wie war das? Ach ja, genau. In Japan, jetzt DJ-Gipfel, auch so ne Diskussion. Meint die eine Maus: ja, das mit den Raves, das wäre ja alles ganz toll. Aber wie wäre es eigentlich mit den Müttern? Wieso gäbe es keine richtig geilen Raves für Frauen mit kleinen Kindern? Und dann meinten die Japaner in ihrer unendlichen Höflichkeit: ja, selbstverständlich, meinte der DJ Tobi, wir organisieren das dann, Sonntag-nachmittag, machen wir dann Rave mit Müttern. Sage ich nur, weil Raven Gehen ist vielleicht doch eine Veranstaltung, die für kleine Kinder nicht so wahnsinnig geeignet ist. Und vielleicht ist auch so eine Vorlesung hier eben nicht der Ort, wo kleine Kinder maximal optimal aufgehoben sind. (Goetz, Abfall 233) Die Unterbrechung der Vorlesung - gewissermaßen als Einbruch der Wirklichkeit in den poetologischen Diskurs - wird in der zweiten Poetikvorlesung wieder zum Anlass für poetologische Reflexionen auf die literarische Praxis. Goetz berichtet nun davon, dass er nach seiner ersten Vorlesung von einer Frau angesprochen wurde: “Textet die dann los, auf mich ein, als wäre ich ihr WG- Mitbewohner, und erzählt mir, wie sie das fand, wie ich das mit dem Kind gehan- “Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle 305 delt hatte, das da in der ersten Reihe saß und krähte” (Goetz, Abfall 261)� Was Goetz danach ausführt, bleibt auf der Ebene des Inhalts höchst problematisch und maximal unPC , könnte man sagen. Allerdings geht es hier genau um das, was gesagt werden kann und was nicht - also wieder Foucault -, und was in Bezug zu Fortschritt und Frauen gesagt werden kann und was nicht; davon, verkündet Goetz jetzt, würde also das Buch Das Jahrzehnt der schönen Frauen handeln: „Und wenn ich neulich, bei der Formphantasie als ersten Begriff sagte: Politik - ist damit die Perspektive bestimmt, unter der das Büchlein diese Probleme sehen will” (Goetz, Abfall 262)� Der Gegenstand von Goetz’ Schreiben also ist die Beobachtung von Diskursen aus der Perspektive sozialer Systeme, Foucault und Luhmann: “Es geht darum, daß das Fenster zur Welt aufgemacht wird� Daß Praxis für mich hier also in erster Linie heißt, zu 90 oder 95 Prozent: Rezeption. Rezeptivität. Aufnehmen. Im Hinblick auf die Sprache, in erster Linie: wie wird Sprache in allen Weltbereichen verwendet. Und das heißt für jedes einzelne Wort, für den Hallraum jedes einzelnen Worts� Von da her begründet sich für mich eine möglichst ungeordnete Faszination für alle Formen, die Welt hereintragen” (Goetz, Abfall 232)� Für die Poetikvorlesung heißt das also: Beobachtung literarischer Rede aus der Perspektive des Systems Literatur� Für den Roman? Vorschlag: Beobachtung von Form aus der Perspektive des Lebens� Daraus ergibt sich die Spannung des Romans: “Ich wollte die Verbindung des literarischen Schreibens zu seinen lebensalltäglichen Wurzeln nie ganz aufgeben, davon irgendwie auch immer ausgehen, vom Schreiben von Briefen, Tagebüchern, Tabellen und Listen, von Einkaufszetteln und kleinen Notizen wie: bin gleich zurück” (Goetz, Abfall 321)� Auf formaler Ebene sei das “Spezialgebiet Leben […] vielleicht sogar das experimentellste und riskanteste Schreiben” (Goetz, Abfall 322), weil es wirr und chaotisch, mit der Form in Konflikt bleibt. Das Leben ist schnell, ungestüm und impulsiv, das Schreiben langsam, zaudernd, unsicher, tastend: “Als ich den Begriff vom Writer’s Block zum ersten Mal hörte,” schreibt Goetz, “verstand ich überhaupt nicht, was damit gemeint ist. […] Ich hatte gedacht, diese Blockade WÄRE Schreiben” (Goetz, Abfall 322)� Was macht nun aus Rainald Goetz’ Abfall für Alle: Roman eines Jahres einen Roman? Nimmt man die Poetikvorlesung als Goetz’ Theorie der Dichtung ernst, dann könnte eine Antwort vielleicht so lauten: Abfall für Alle ist ein Roman, weil hier das Romanschreibenwollen, die Form- oder besser Romanphantasie, mit einer Schreibweise konfrontiert wird, die sich dem Notieren der Gegenwart verschrieben hat, dem “einfachen wahren Abschreiben der Welt” (Goetz, Hirn 19), wie Goetz einmal an anderer Stelle schrieb. Weder Foucault noch Luhmann lassen sich als theoretische Garanten für diese Antwort herbeizitieren, stattdessen Roland Barthes. Zwischen 1978 und 1980 hat Barthes die Vorbereitung 306 Arne Höcker des Romans zum Gegenstand seiner Vorlesungen am Collège de France gemacht und dabei einen Problembereich des Romanschreibens markiert, der auch für Goetz zentral ist: Kann man aus der Gegenwart eine Erzählung (einen Roman) machen? Wie lässt sich die in der schriftlichen Äußerung implizierte Distanz mit der Nähe in Einklang - oder in eine Dialektik - bringen, mit der Erregung der unmittelbar erlebten Gegenwart? […] Ich komme also auf jenen einfachen, in der Tat unerbittlichen Gedanken zurück, dass die “Literatur” […] immer aus dem “Leben” gemacht wird. […] Doch wenn es mir anfangs auch schwierig erscheint, aus dem gegenwärtigen Leben einen Roman zu verfertigen, wäre es falsch zu sagen, man könne Gegenwart nicht in Schrift verwandeln. Man kann die Gegenwart schreiben, indem man sie aufzeichnet (Barthes, Vorbereitung 53—54). Während die Notiz, wie Barthes weiter ausführt, eine Öffnung aufs Reale mit sich bringt und das Problem des Realismus aufwirft, drängt sich dem, der einen Roman der Gegenwart schreiben will, die Frage auf, wie ein Übergang von der Notiz zum Roman gelingen könne. “Für mich ein psychostrukturelles Problem,” schreibt Barthes, “denn das bedeutet vom Fragment zum Nichtfragment überzugehen, das heißt, ein anderes Verhältnis zum Schreiben, zur Äußerung zu finden, und das heißt wiederum, das Subjekt, das ich bin zu verändern: fragmentiertes Subjekt […] oder überströmendes Subjekt […]. Anders gesagt, der Kampf zwischen kurzer und langer Form” (55). Im Notieren stößt die Form- oder Romanphantasie auf die Realität des Schreibens. Selbst wenn die Romanphantasie immer an die Idee gebunden bleibt, einen vollständig neuen Roman schreiben zu wollen und sich nicht mit Altem und schon Geschriebenem zufriedengeben will, so ist mit dem Roman ein Unterschied gesetzt zu den großen logischen Kategorien der Äußerung. Folgt man Barthes, so ist der Roman eine Schreibweise des Neutrums, weder Bejahung, noch Verneinung, noch Frage: “Der Roman ist ein Diskurs ohne Arroganz; ein Diskurs, der mich nicht unter Druck setzt - und deshalb Lust weckt, selber Zugang zu einer Diskurspraxis zu finden, die den anderen nicht unter Druck setzt” (50). Das haben die kleine Form der Notiz und die große Form des Romans gemein: sie bleiben zur Form hin offen, schließen sich nicht ab, diskriminieren nicht und finden ihre Form am Schreiben und am Diskurs selbst. In diesem Sinne zitiert Barthes Proust: “Die Ereignisse erzählen heißt die Oper nur über das Libretto vermitteln; schriebe ich einen Roman, würde ich versuchen, die Musik eines jeden Tages herauszuarbeiten” (Barthes 57). Die Musik eines Tages ist für Barthes, aufgrund persönlicher Präferenzen, das Haiku, für Rainald Goetz, die Minutendinger, Abfall für alle, “mein tägliches Textgebet”: “Ausgangspunkt ist die rein formale Vorgabe, daß die Seite sich jeden Tag aktualisieren muß. Es geht um den Kick des Internets, der für mich mehr als in Interaktivität in der Geschwindigkeit, in Gegenwartsmöglichkeit, in “Minutendinger”: Romanphantasie in Rainald Goetz’ Abfall für Alle 307 Aktivitätsnähe besteht” (Goetz, Abfall 357). Im Internet hat das Geschriebene, Notierte zugleich eine öffentliche, also soziale Dimension und eine flüchtige, also historische� Im Medium des Buches wird daraus die Spur einer Schreibweise, durch die sich der Schreibende als Romansubjekt jeweils immer wieder neu in Bezug auf Sprache und Diskurs - also wieder Soziales und Historisches - konstituiert. Der Klappentext von Abfall für Alle , und selbst paratextueller Bestandteil des Romans, also ernst zu nehmen, fasst diesen Gedanken am Ende prägnant zusammen und soll darum auch hier das letzte Wort bekommen: Schließlich war, ein Traum, der wahr geworden ist, das Buch entstanden, das ich bin. Das ich immer schreiben wollte, von dem ich immer dachte, wie könnte es gelingen, das einfach festzuhalten, wie ich denke, lebe, schreibe. Von Seiten des Todes her gesehen. - Was mir also gefällt am Buch Abfall: der Realismus der Ideen-Vorrang die Banalität der Dämonie des Alltags das Schreiberleben die Stille der mediale Lärm die Fiktionalität der auftretenden Personen die argumentative Pedanterie das Tasten das urteilsmäßige Rumholzen die Gleichwertigkeit aller Dinge die Poetologie, die ästhetische Theorie strukturell fragmentarisch, fragmentiert von Zeit die Zeitmaschine das Jahr die Minutendinger und ihre Plausibilität die Sekundengedanken: der Wahn Tag für Tag, die Erzählung Zahlen und Ziffern ALLES IST TEXT und über und unter und in allem: Melancholie Keiner weiß, was als nächstes passiert. Davon erzählt Abfall für alle. Wie es war, als man noch nicht tot war und nicht daran dachte, wie es weiter geht. Augenblick, Moment� Und jetzt? (Goetz, Abfall Klappentext) 308 Arne Höcker Works Cited Barthes, Roland. Am Nullpunkt der Literatur . Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982. ---� Die Vorbereitung des Romans. 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