eJournals Colloquia Germanica 55/3-4

Colloquia Germanica
cg
0010-1338
Francke Verlag Tübingen
71
2023
553-4

Hubert Fichtes Barock

71
2023
Stephan Kammer
Aus literaturgeschichtlicher Perspektive scheinen Hubert Fichtes Einlassungen zum ‚Barock‘ in vielerlei Beziehungen ein Missverständnis. Das ist kaum zu korrigieren, wenn man sie, wie bisweilen geschehen, einfach beim Wort nimmt und Fichtes Aneignung zum Maßstab eines Epochenverständnisses setzt. Der Beitrag setzt auf einen dritten Modus der Lektüre und versucht, Fichtes Barock als „Möglichkeitsform“ (Bernd Mahr) zu verstehen, die erstens Patin für seine rhetorisch-polemische Strategie der ‚Übertreibung‘ stehen kann, zweitens ein Paradigma für die Vorstellung von Literatur als ‚Correspondance‘ bietet und drittens erlaubt, die Figur des ‚Manierismus‘ als anthropologisches Bezugskonzept zu reformulieren.
cg553-40179
Hubert Fichtes Barock. Eine poet(olog)ische Epochenmodellierung und ihr literaturgeschichtlicher Kontext Stephan Kammer Ludwig Universität München Abstract: Aus literaturgeschichtlicher Perspektive scheinen Hubert Fichtes Einlassungen zum ‚Barock‘ in vielerlei Beziehungen ein Missverständnis� Das ist kaum zu korrigieren, wenn man sie, wie bisweilen geschehen, einfach beim Wort nimmt und Fichtes Aneignung zum Maßstab eines Epochenverständnisses setzt� Der Beitrag setzt auf einen dritten Modus der Lektüre und versucht, Fichtes Barock als „Möglichkeitsform“ (Bernd Mahr) zu verstehen, die erstens Patin für seine rhetorisch-polemische Strategie der ‚Übertreibung‘ stehen kann, zweitens ein Paradigma für die Vorstellung von Literatur als ‚Correspondance‘ bietet und drittens erlaubt, die Figur des ‚Manierismus‘ als anthropologisches Bezugskonzept zu reformulieren� Keywords: Hubert Fichte, Barock, Modell, Poetologie, Hyperbel, Manierismus, Daniel Casper von Lohenstein Mit ‚Hubert Fichtes Barock‘ hat sich dieser Beitrag ein zwar nicht undankbares, aber doch zweischneidiges Thema vorgenommen� Das hat viele Gründe� Der erste ist sicherlich, dass der Begriff ‚Barock‘ heute zumindest für Literaturwissenschaftler kaum noch analytisches Potential bereithält� Von umstrittener epistemologischer Tragweite strenggenommen seit seiner Begründung, bleibt (das) ‚Barock(e)‘ eine prekäre Kategorie, deren Anzeichen „nicht am Leib der Dichtung umstandslos abgelesen und in klassifizierenden Merkmalen summativ zusammengezogen werden“ können; ‚Barock‘ selbst kann als Kategorie „ersichtlich nur das Resultat einer epochentheoretischen Konstruktion sein“ (Garber 1991, 16)� Die prosperierende Forschung zur Literatur des 17� Jahrhunderts - Literatur dabei in denkbar weitem Sinne verstanden - hat sich inzwischen (wie ich finde: mit guten Gründen) mehrheitlich für das offenere und trotz seiner Ambivalenz und größeren historischen Spannweite weitaus produktivere Eti- 180 Stephan Kammer kett der ‚frühen Neuzeit‘ entschieden und belässt den ‚Barock‘-Zuschreibungen allenfalls den Status von „apt metaphors for historical and stylistic movements “; genauerhin versteht man nun, was einst die Implikationen einer Epochenkategorie aufzurufen vermocht hat, als kommunikative Verhaltensweise: „a highly rhetorical, nonmimetic, even anticlassicist style […] that tends to the instrumental use of language“ (Reinhart 2007, xiv—xv)� Der Gegenstand meiner Ausführungen ist damit gleich in einem doppelten Sinn historisch� Dazu kommt zweitens allerdings, dass sich die nötige Historisierung in Sachen Barock selbst schon mit einer komplizierten Ausgangslage konfrontiert sieht� Denn was ‚Barock‘ sei, ist einerseits auch zu den Blütezeiten einschlägiger Forschung nicht ohne weiteres auf begriffliche Konsistenz zu bringen. Zwischen stilistischen Eigenarten und der Totalität eines Weltbilds bewegt sich die integrative Reichweite der - was schlimmer ist - oft genug unthematisierten Vorverständnisse in der ersten Phase der literaturwissenschaftlichen Barockforschung in den 1910er und 20er Jahren ebenso wie während ihrer zweiten Konjunktur in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts� An der Problematik, ja an den Aporien der ästhetischen, anthropologischen und/ oder literaturhistorischen Ordnungsfiktion ‚Barock‘ besteht andererseits zum Zeitpunkt von Fichtes entschiedener Beanspruchung längst kein Zweifel mehr� Nach den großen problem- und wissenschaftsgeschichtlichen Untersuchungen von Hans-Harald Müller (1973), Herbert Jaumann (1975) und Wilfried Barner (1975) mutet jeder pauschale, ungebrochene Rekurs auf ‚das Barock(e)‘ wenigstens im Namen der Literatur eigentümlich anachronistisch an; noch befremdlicher scheint fast nur die von Fichte wiederholt vorgetragene Behauptung, barocke Literatur (und Daniel Casper von Lohenstein im Speziellen) sei so etwas wie ein blinder Fleck germanistischer Literaturgeschichte (vgl. Fichte 1976, 16f.; Fichte 1978, 115 und 167; Fichte 1978/ 1987, 199). Drittens schließlich, so viel sei vorausgreifend eingestanden, hängt ein gewisses Unbehagen an ‚Hubert Fichtes Barock‘ mit ganz spezifischen Zügen dieser Aneignung zusammen� Sie scheint einem kaum eine andere Wahl zu lassen, als sich auf die Seite einer der beiden Parteien zu schlagen - das heißt: sich entweder vorbehaltlos der Aneignungsgeste Hubert Fichtes zu verpflichten oder der Sache des ‚Barock‘, wie sie in der ihr zeitgenössischen Forschung umrissen ist� Beide dieser Möglichkeiten sind bereits durchgespielt worden� Man kann sich, blind für die eben skizzierten Voraussetzungen, in einem Akt nachträglicher Autorfrömmigkeit auf Fichtes Okkupation des Barock einschwören, wie dies Michael Fisch (2001) unternommen hat� Dann handelte man sich im rekapitulierenden Argumentationsgang (so man denn auf einen solchen Wert legte), ja allein schon mit der scheinbaren Nebensache von Literaturnachweisen einige Konsistenzprobleme ein� Oder man kann sich der einschlägigen Forschungs- Hubert Fichtes Barock 181 perspektive zum ‚Barock‘ verschreiben� Dann allerdings wird man nicht umhin kommen, Fichtes radikale, ahistorische Zustutzung des Gegenstands zurückzuweisen� Diese habe insbesondere aus Lohensteins Werk „ohne Rücksicht auf Struktur und Funktion zeit- und geschichtslose Archetypen von sexuellen Wünschen herausgeschnitten“ und die voraussetzungsreiche Stringenz literarischer Darstellungsmöglichkeiten in eine „Treibhauskultur wild wuchernder Archetypen“ verwandelt (Meyer-Kalkus 1986, 20; vgl. auch Mannack 1991). Zumindest die letzten beiden Eigentümlichkeiten von Fichtes Barock-Beanspruchung könnten den Verdacht erwecken, dass dieser eine Variante des von Adorno angemahnten Missbrauchs des Barock als „Prestigebegriff“ (Adorno 1967/ 1977, 401) nicht allzu fern sei� Obgleich mir grundsätzlich die Entscheidung zugunsten einer der beiden eben genannten Parteien methodisch gewiss nicht schwer fiele, will ich dennoch versuchen, Fichtes spektakuläre, oft genug sogar plakative Aneignungsgesten einem dritten Modus der Lektüre zu unterziehen - einem, der kategorische Wertung und Parteinahmen aufschiebt, deswegen aber auch auf eine etwas aufwendigere Argumentationsführung angewiesen ist� Nur so wird es aber meines Erachtens möglich, das Bemerkenswerte und im besten Sinn Fragwürdige von Fichtes Intervention in den Blick zu bekommen� Es ergibt sich, wie ich in Thesenform zuspitzen wollte, aus einer Strategie: ‚Hubert Fichtes Barock‘ ist das mehr oder minder stillschweigend vorgenommene, aber folgenreiche Umfunktionieren eines Epochenbeziehungsweise Stilbegriffs zu einer „Möglichkeitsform“ (Mahr 2004, 161)� Barock wird so statt zum historischen Exempel zum Paradigma eines ‚Sprachverhaltens‘, wie Fichte das nennen wird, und zum Inventar „strukturierte[r] Denkmöglichkeiten“ (Mahr 2004, 165), kurz: zum Modell� 1 „Deutsche Literatur ist für mich barocke Literatur“, hält die siebte der ‚Übertreibungen‘ fest, mit denen Hubert Fichte 1976 sein Lesebuch eingeleitet hat (16) - was selbst unter dem Gesichtspunkt, dass Schriftstellerinnen und Schriftsteller im 20� Jahrhundert eine peer group der Barockrezeption bilden, ein „einigermaßen überraschendes Bekenntnis“ (Mannack 1991, 709) ist� Weniger verblüffend, aber nicht minder bemerkenswert sind die Charakteristika, mit denen Fichte dort seine Wertschätzung dieser Literatur begründet: „Orthographische Phantasie, grammatische Turbulenz, Bildungsraserei und Regelwut - sie zischt ab über die meisten Literaturen ihrer Epoche“ (16)� So einfach und eindeutig das Argument zu sein scheint, entpuppt sich Fichtes Lob beim genaueren Hinsehen als prekär, trägt es zum mindesten den Konfusionsanlass mit sich, der die Verhandlungen um barocke Literatur seit Anbeginn heimgesucht hat� Was ist Barock - ein Stil, eine Schreibweise, ein datierbarer Abschnitt der Literatur- 182 Stephan Kammer geschichte oder gar ein national(literarisch)es Alleinstellungsmerkmal? Für alle diese seit den 1910er Jahren diskutierten Optionen ließen sich Anhaltspunkte auch im Umfeld von Fichtes flottem Satz ausmachen, dessen Prädikat mit pyrotechnischer Semantik selbst einen einschlägigen Barocktopos aufzurufen scheint� Die Attribute, die er reiht, tragen überdies die Wertungspole von zweieinhalb Jahrhunderten Barockrezeption mit sich: In einem Koordinatennetz von Sprachinnovation, Schwulst und „Extroversion der Gelehrsamkeit“ (Schwind 1977, 61) bewegen sich die Aussagemöglichkeiten zur Literatur des 17� Jahrhunderts generell - nur dass das Tableau von durchaus kontroversen Aussagen darüber, was Barock sei und leiste, in Fichtes ‚Übertreibung‘ gleichsam stillgestellt scheint� Sehen wir uns also die ‚barocke‘ Basis dieser Aneignungsgeste, die im Zeichen der ‚Übertreibung‘ steht, genauer an� „[D]er Poet“, so will es eine der maßgeblichen zeitgenössischen Abhandlungen zur Poetik, „machet das Schöne schöner / das Abscheuliche abscheulicher / als es an ihm selbsten ist; Welche aber dieses nicht leisten können / […] sind Liebhaber der Poeterey / oder Versmacher / aber noch lang nicht Poeten / zu nennen“ (Harsdörffer 1650/ 1971, 6f.). Die Übertreibung - die rhetorische Tradition verhandelt sie als Trope und als Gedankenfigur unter dem Lemma ‚Hyperbel‘ - gilt Harsdörffer als Darstellungsfiguration, an deren Beherrschung sich in poeticis der Normalvom Ausnahmefall, und das heißt: der verseschmiedende Amateur vom berufenen Dichter unterscheiden lässt� Diese Selbstzuschreibung hat auch die frühe, stilbezogene Forschung gerne aufgegriffen - dem Barockdichter ist „kein Bild […] zu hoch und kein Wort zu stark, um dem Ausdruck Wucht und Nachdruck zu geben“ (Strich 1916, 42)� Doch mehr als nur spezielles Qualitätszeichen einer dichterischen Praxis ist die Hyperbel eine Figur des Barock selbst� Bereits eine der frühen ästhetischen Definitionen macht in der hyperbolischen Disproportionalität geradezu den strukturalen Kern barocker Darstellung aus: Nach dem Dictionnaire de Trévoux hat man es mit einer „Figur von barockem Geschmack“ dort zu tun, „wo die Proportionsregeln nicht eingehalten werden“ („une figure d’un goût baroque, où les règles des proportions ne sont pas observées“; zit. nach Buck 1980, 12). Bezogen auf die Literatur heißt das: Der explizite Verzicht auf die „traditionellen Maßhaltevorschriften“ (Windfuhr 1966, 38) der Rhetorik wird mit Harsdörffer zum Programm der Poetik� Das gilt für sämtliche Bereiche der poetischen Darstellung, wie die Betrachtungen zur ‚teutschen Wolredenheit‘ im dritten Teil des Trichters belegen� Schon den Vorstellungen, ja der Möglichkeit sprachlicher Beständigkeit setzt Harsdörffer das „flüchtige Quecksilber“ einer „durchgehenden Veränderung und wandelbaren Fügniß“ entgegen (Harsdörffer 1653/ 1971, 2), den puritas -Idealen nationalen oder sprachhistorischen Zuschnitts die Einsicht, dass „fast keine Sprache aus ihren Gründen erhoben rein und selbständig zu nennen“ sei (10)� Vor allem aber die Ausführungen zur ‚Zierlichkeit‘ der Rede setzen auf quantitative ebenso wie auf qualitative Entgrenzung: „wie aus den neun Zahlen viel hundert tausend entstehen / also können aus den jederman bekanten Wörtern / fast unzählige Redarten gefüget werden“ (71)� Manfred Windfuhr hat gezeigt, dass die Darstellungspraktiken des Barock einer regelrechten „Zentrifugalbewegung“ unterliegen, in der die für die klassische Rhetorik wichtigste Stillage des genus medium poetologisch beinahe bedeutungslos wird: „Die eigentliche humanistische Mittellage wird in der Barockzeit nur selten theoretisch gerechtfertigt oder praktiziert“ (Windfuhr 1966, 128)� Eine ars combinatoria , wie sie Harsdörffers Allegorie aufruft, zielt auf die vollständige Exploration des Möglichen, nicht auf das rechte Maß des Schicklichen� Fichtes ‚Übertreibungen‘ folgen dieser Logik der Maßlosigkeit und Hybridität, sie beschränken sich dabei allerdings nicht auf Stillagen und Wortgebrauch� Sie verabsolutieren die (Gedankenfigur der) Hyperbel einerseits im Dienst einer Assemblage von Texten und Textauszügen, die präsentieren soll, was die Vorrede in Frage und die Notwendigkeit des Barock-Plädoyers eben in Abrede gestellt hat: Deutsche Literatur - gibt es das überhaupt? Als ein Netz von Beziehungen - Correspondances? […] Und es spricht von der Inexistenz deutscher Literatur , daß dies weder im deutschen Sprachraum, noch auf der Welt bekannt ist - und nicht bekannt sein kann, denn das Wenigste ist ediert und oft in entlegenen und unerschwinglichen Ausgaben� […] Doch Correspondances? Gäbe es Deutsche Literatur, Deutschland als Welt in Literatur, deutsche Literatur in der Welt doch? (Fichte 1976, 11 und 16; meine Kursivierung) Die Behauptung der ‚Inexistenz‘ barocker Strukturmerkmale für die deutsche Literatur und ihre Geschichte, die Fichte hier vorbringt, wäre angesichts der eben auf ihren Höhepunkt gelangten dritten Phase germanistischer Barockforschung selbst dann kaum anders denn als hyperbolisch zu bezeichnen, wenn sie nicht ohnehin im Zeichen der ‚Übertreibungen‘ geäußert würde� Das Vorwort nimmt die Gedankenfigur und deren epochale Zuschreibung andererseits zum Ausgangspunkt einer strukturell anderen Literaturgeschichte, die als einigermaßen ambivalente Reaktualisierungssequenz hyperbolischer Ausdrucksweisen verstanden werden sollte: „Die Geschichte der Deutschen Literatur ist die Geschichte des unvorsichtigen Sprachgebrauchs: Schwarm, Sturm und Drang, Menschheitsdämmerung, Der Stürmer, Kahlschlag, Movens, Die Reihe mit dem leuchtend roten Rahmen“ (Fichte 1976, 18)� Dass weder histo- Hubert Fichtes Barock 183 184 Stephan Kammer ristisch der Eigenwert von Texten noch genealogisch die Brüche und Diskontinuitäten von Epochen, Stilformen oder Publikationsformaten im Fokus dieser Geschichte stehen, belegt eine Reihe kühner Übertragungen und Kurzschlüsse in Fichtes Skizze, belegt vor allem aber die Art und Weise, wie Fichte den Kronzeugen für seine Verhandlung über die In/ Existenz deutscher Literatur und von sprachlicher ‚Unvorsichtigkeit‘ in Szene setzt� Literaturgeschichtlicher Kreuzungspunkt dieser beiden hyperbolischen Strategien, die Fichte um das Signalwort ‚Barock‘ versammelt, ist Daniel Casper von Lohenstein� 2 Neben der paradigmatischen Rolle im Lesebuch , in dessen Textteil man von ihm ein Gedicht und einen Auszug aus dem dritten Akt der Agrippina findet, gibt es zahlreiche weitere Einlassungen und Bearbeitungen, in denen sich Fichte ab 1977 mit Lohenstein und seinen Texten auseinandersetzt� Allen voran ist die Bearbeitung des eben genannten römischen Dramas zu erwähnen, die als Rundfunkbearbeitung gesendet wird - wie wenig später die des Ibrahim Bassa - und die Fichte ein Jahr später als Bühnenfassung zum Druck bringt (Fichte 1978)� Daneben stehen Essays zu Lohenstein (Fichte 1978/ 1987) und eine auf ihn bezogene akademische Vortrags- und Lehrtätigkeit in Klagenfurt, Princeton und zuletzt Wien, im Januar 1986, kurz vor Fichtes Tod (Fichte 1986/ 1987)� 3 Die Matrix dieser Beschäftigungen stellt aber im Wesentlichen bereits das Vorwort zum Lesebuch bereit: Allen voran Daniel Casper, der es mit seinen Vorläufern Marlowe, Shakespeare, Calderon aufnimmt und mit seinen Zeitgenossen Corneille, Racine� Lohenstein! Vergessen� Auch von der Fachpresse� ‚Schwulst�‘ Bestenfalls� Daniel Casper von Lohenstein war ein schlesischer Diplomat, der zur Türkenzeit wichtige Missionen an den Hof in Wien erhielt, der vor seinen erlauchten Arbeitgebern Theaterstücke von der Melopoeia eines Jean Genet und der Phaenopoeia eines Arrabal durchzusetzen vermochte� Schwulst? Quatsch! Ein durch die Jahrhunderte fortgelabertes Fehlurteil, vom Wirte wundermild Tieck sanktioniert� Die Intrigenwelt des Kaiserhofes, die Lohenstein kannte, wird mit einer Ökonomie und Farbigkeit erstellt, oft in einem einzigen Satz - Kleist’sches Tempo, Kafka’sche Infamie� Hubert Fichtes Barock 185 Daniel Casper schafft eine konsonantische und vokalische Feinstruktur, die ihm durch barocke Freizügigkeit, wo Purpur und Purper, itzt und jetzt nebeneinander bestehen dürfen, erleichtert wird: Die Stellung von Vokalen, die Stellung von Verschlußlauten skandiert die Verse ein erstes Mal vor - bis zum Endreim hin� Daniel Casper reißt Psychologien auf, vor denen Freud als Epigon erscheint� Lohenstein, der seine Theaterstücke mit Daten von Hochhuth’scher Akribie versieht, schreibt die erste deutsche Psychopathia Sexualis� Das ödipale Drama und das Drama des Orest werden von ihm im Geschehen um Nero, der, wie Lohenstein wußte, den Ödipus gespielt hatte, zusammengespiegelt. Existierte die deutsche Literatur, hätten sich Hölderlin und Hans Henny Jahnn auf ihn berufen� (Fichte 1976, 16f�) Wenn Fichte Lohensteins Œuvre sprachlich-poetische und psychologisch-analytische ‚Freizügigkeit‘ gleichermaßen zuschreibt - genauerhin: seinen sechs Dramen, denn weder die Gedichte noch der enzyklopädische Großroman Arminius spielen für Fichtes Aktualisierung eine Rolle -, dann stellt er damit zunächst in der Tat ein Wertungsgefüge vom Kopf auf die Füße, das seit dem frühen 18� Jahrhundert und im großen und ganzen trotz aller Barock-Emphasen bis weit ins 20� Jahrhundert hinein intakt geblieben ist (vgl� Martino 1978)� Das Negativurteil, das im Namen der Schwulst-Kritik eine „hyperbolische Verschwendung“ (Bodmer/ Breitinger 1727, 48) der Tropik, eine „gekünstelte Verwirrung der Figurn“ (113) bemängelt, ist in der Rezeptionsgeschichte eine Konstante seit den maßgebenden Einwänden der Zürcher; der von Fichte nun positiv Herausgehobene muss als Namensgeber jener ‚Lohensteinischen Schule‘ herhalten, von deren poetischen Exzessen die Literatur am Ende der Epoche ihren schlechten Ruf davongetragen hat� Sekundiert beziehungsweise überlagert wird diese ästhetisch begründete Diskreditierung zeitweilig von der moralisch gefärbten Empörung über Lohensteins „poetischen Han[g] zur Grausamkeit und Unzüchtigkeit“ (Tieck 1817, xx), der sich in den „Henkerscenen der Epicharis, [der] Unsauberkeit der Agrippina, [der] Schlüpfrigkeit des Ibrahim Sultan, [der] Charakterlosigkeit der Sophonisbe“ (Müller 1882, 64) niederschlage� Und so mag dann die Behauptung „Vergessen� / Auch von der Fachpresse“ (Fichte 1976, 16) der Logik der Übertreibungen geschuldet sein, 4 die Reihung im europäischen Kanon frühneuzeitlicher Autoren und an der Spitze von Fichtes Barock eine komplementäre strategische Setzung - die Einschätzung, dass Casper von Lohenstein auch bei den meisten professionellen Leser*innen einen bestenfalls ambivalenten Ruf genießt, ist dagegen tatsächlich kaum zu bezweifeln� Verleiht Fichte noch in den Wiener Vorlesungen seinem Befremden darüber Ausdruck, dass selbst Herausgeber und Interpreten wie Klaus Günther Just, Herbert Heckmann oder Bernard Asmuth die Schwulst-Urteile und -Semantiken teilweise 186 Stephan Kammer gleichsam wider bessere Einsicht fortführten (Fichte 1978/ 1987, 472), trifft er punktgenau den eigentümlichen Distanzierungsbedarf, der seit den frühen germanistischen Forschungen allenthalben anzutreffen ist. „Für den Historiker verkörpert Lohenstein als Haupt der zweiten schlesischen Dichterschule den Tiefstand der deutschen Literatur; […] wer ihn, selbst mit Einschränkungen, schätzt oder sogar liebt, macht sich der künstlerischen Instinktlosigkeit verdächtig“ (Henninger, in Lohenstein 1961, 85)� Es wäre eigens zu klären, worauf diese habitualisierte Ambivalenz gründet; wesentlich dazu beigetragen haben dürfte sicher die historisch und sachlich gleichermaßen unpassende ästhetische Meßlatte literarischer „Ausdrucks- und Erlebniskunst“ (Conrady 1962, 260), die Karl Otto Conrady oder Klaus Günther Just schon Anfang der 1960er Jahre als Rezeptionshindernis barocker Literatur im allgemeinen und Lohensteinischer Verse im speziellen hervorgehoben haben: „nuancierten Gefühlsausdruck“ dürfe man da nicht suchen wollen, wo die Texte auf „durchschlagskräftige Rhetorik“ aus seien ( Just 1961, 17)� Indes ist es Fichtes Umwertung nicht um die literarhistorische Ehrenrettung einer Dichtungsform zu tun, die - mit noch sicherem Platz im übergeordneten paradigmatischen Gebäude der artes und vor allem der Rhetorik - die samt und sonders mindestens ein halbes Jahrhundert jüngeren Maßregeln einer subjektgebundenen Ausdruckskunst Literatur natürlich noch nicht einmal ignorieren muss� Eher als auf eine angemessene literaturgeschichtliche Einordnung des Œuvres, wie sie einige Jahre zuvor etwa Wilhelm Voßkamp (1967) unternommen hat, zielt Fichte auf eine bestimmte Form der Aktualisierung, die sich aus zwei Quellen speist: Lohenstein als Sprachkünstler und Anthropologen gilt es zu entdecken und zu würdigen - und das ist eine Kombination, die angesichts von Fichtes vielfach artikulierten Interessen das Postulat für diese ‚barocke Literatur‘ weniger überraschend macht� Dem entspricht die Konstellation, in der Fichtes Beschäftigung mit Lohensteins Trauerspielen zuletzt erscheinen wird: In der Ankündigung seiner Wiener Vorlesungen nennt er als viertes und letztes Thema „Für eine neue Wissenschaft vom Menschen“ (Fichte 1986/ 1987, 485); deren postume Erstveröffentlichung in der Zeitschrift Wespennest stellt den Ausführungen über die beiden Trauerspiele Agrippina und Ibrahim Bassa die Texte Mittelmeer und Golf von Benin. Die Beschreibung afrikanischer und afroamerikanischer Riten bei Herodot sowie Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen zur Seite� Wie ich eingangs behauptet habe, zielt diese Aktualisierung darauf, ‚Barock‘ zu einem Modell zu machen; das wird in den nächsten beiden Abschnitten abschließend zu belegen und zu präzisieren sein� Aber woraus speist sie sich? Versucht man, die beiden Komponenten von Fichtes Aktualisierung heuristisch voneinander zu trennen, fällt mit Blick auf die sprachlichen Darstellungsformen und -implikationen zunächst die Beanspruchung der auf Ezra Pound (1929/ 1954, 25; 1934/ 1991, 37) zurückgehenden Kategorien „Melopoeia“ und „Phaenopoeia“ (Fichte 1976, 17) auf - Kategorien, die Fichte zu „Kriterien der Sprache und des Denkens“ (Fichte 1976, 22) generell erklärt und die damit bereits die dezidiert nicht-historische, nicht-literatur geschichtliche Ausrichtung seines Interesses für Lohensteins Texte und Verfahren zu unterstreichen scheinen� Für „das Klangliche, Rhythmische“ sowie „die Kunst, die Literatur bildhaft zu machen“ seien Pounds „Parameter“ das rechte Maß: „bessere gibt es nicht“, hält Fichte am Ende seines Sade-Essays fest (Fichte 1975/ 1987, 128)� 5 Implizit dagegen bleibt, aber in programmatischer Hinsicht nicht minder aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Fichtes Rückgriff auf poetologische Kategorien, die Gustav René Hockes Ausführungen zum Manierismus in der Literatur (1959) bereitgestellt haben� Wie Pound zielt auch Hocke auf ein Inventar überzeitlicher Formen und Formeln, in denen sich die seiner Auffassung nach nichtbeziehungsweise anti-klassischen Spielarten der Literatur artikulieren� Mehr noch: der Konflikt zwischen „entspannende[r] Regularität“ (Klassik) und dem „spannungsvollen Irregulären“ (Manierismus) soll als Matrix der europäischen Kultur- und Literaturgeschichte generell gelten (Hocke 1959, 12)� In der panoramatischen Skizze, die vornehmlich auf Lyrik fokussiert ist, spielt Casper von Lohenstein zwar kaum eine Rolle - die Zuordnung zur zweiten Fraktion dürfte aber kaum in Frage stehen, „überreich an manieristischen Metaphern“ (Hocke 1959, 115), wie seine Dichtungen einer beiläufigen Bemerkung Hockes zufolge sind� Vom „Netz von Beziehungen - Correspondances“, als das Fichte Literatur versteht, über die Hervorhebung „sprachliche[r] Spielformen“ bis hin zur Qualifizierung des Deutschen als „dunkle Sprache“, von der „Intensität des Orakelspruchs, des Zen, des Concetto“, die als Zielvorgabe literarischer Darstellungsverdichtung ausgemacht wird, über den Roman fleuve bis zur Hervorhebung von „Litanei“ (Fichte 1976, 22), concordia discors und Kombinatorik (vgl� Fichte 1986/ 1987, 477) haben sich nicht nur die Übertreibungen reichlich bei Hockes Terminologie bedient; 6 das gilt noch für die poietische Expertise, die Fichtes Wiener Vorlesungen der neuerlichen Beschäftigung mit Caspers Texten voranstellen: „Poetik kommt von poieĩn, machen. / Von poieĩn verstehe ich etwas“ (Fichte 1986/ 1987, 8) - für Hocke ist „das bewußte, wissende, ‚machende‘ Dichten“ die „Grundtendenz“ manieristischer Literatur überhaupt (Hocke 1959, 30)� Doch bei solchen terminologischen Anleihen allein bleibt es nicht� Die Relevanz des Konzepts für die eigenen poetologischen Überlegungen und für die künstlerische beziehungsweise literarische Produktion etlicher Zeitgenossen hat Fichte bereits in seinem Romtagebuch von 1967 ausgestellt: Hubert Fichtes Barock 187 188 Stephan Kammer Bei Gustav René Hocke� Dessen Bücher über den Manierismus mich geprägt haben� Und eine ganze Generation in Deutschland� Es gäbe nicht Klaus Stoldt, Michael Mau, Horst Janssen, Paul Wunderlich ohne Gustav René Hocke, und wie ist es mit Heißenbüttel, Enzensberger, Grass, Lettau, Becker, Walser, Elsner, Buch, Baier? (Fichte 1992, 239) Im Zuge von Fichtes Suche nach einer poetischen Logik - vermerkt wird unter anderem die Lektüre des Logikers Josef Maria Bocheński und von „Fachbücher[n]“ über „[m]oderne Mathematik“ (Fichte 1992, 253f� und 231) 7 - trifft die Prägung durch das Manierismuskonzept auch im Romtagebuch bereits auf die Poundschen Kategorien� Deren Leistungsvermögen wird dabei gerade im Kontrast zur begeisternden Klarheit der mathematischen Logik allerdings differenzierter eingeschätzt, als das im oben zitierten Essay zu Sade der Fall zu sein scheint: Das Schriftstellerische ist das Unberechenbare� Auch hinterher� Phainopoieia� Meinetwegen� Melopoieia - auch noch� Aber Logopoieia� Wie will man Kitsch berechnen, Sentimentalität, Häme, Widersprüche, Zitate, Ironie, Geilheit, Diskrepanzen, Doppeldeutigkeiten� (Fichte 1992, 254) Ausgerechnet „the aesthetic content which is peculiarly the domain of verbal manifestation“ (Pound 1929/ 1954, 25), die poetisch selbstbezügliche Überlagerung von Rede- und Gebrauchsweisen der Sprache stellt Fichtes Revision dieser Kategorien damit zur Debatte� Und deshalb erhellt der (implizite) Rekurs auf die Manierismus-Tradition von Curtius und vor allem Hocke eher als die (explizite) Zitation von Pounds Sprachenergetisierungen die ganz spezifisch, nämlich modellbezogen ‚ahistorische‘ Fokussierung von Verhaltens- und Darstellungsweisen, die Fichtes Barock zugrundeliegen� Hat Arnold Hauser der Curtius-Schule kritisch entgegengehalten, sie bestrebe „aus dem Manierismus einen geschichtlich so gut wie indifferenten, sich naturgesetzlich wiederholenden, jedesmal die gleiche formale Struktur aufweisenden Stil zu machen“ (Hauser 1964, 38), so beschriebe dies gewiss auch Fichtes Einlassungen zum Barock - allerdings eben nur zur Hälfte� „Wer Lohensteins Verfahren als Schwulst missversteht“, gibt er noch einmal zu seiner Revision der literaturgeschichtlichen beziehungsweise stilkritischen Wertung zu bedenken, „verfuegt ueber geringe Einsicht in das Funktionieren des Unbewussten und der Magie, in Sprachverhalten und in die Aesthetik der Konzepte“ (Fichte 1978, 164)� Welterstellung und Problemaufriss soll der Lesebuch -Matrix zufolge Casper von Lohensteins Œuvre geleistet haben; das sind die epistemologischen Kriterien des Modells� Modelle sind, so pointiert Bernd Mahr, „ Gegenstände für sich “, „ Modelle von etwas “ und „ Modelle für etwas “� Demgemäß setze „von einem Modell zu sprechen […] ein Urteil voraus, das die drei Modi der Identität zum Gegenstand hat“ (Mahr 2004, 162)� Genau dies leisten nach Fichtes Kommentaren die Lohensteinschen Trauerspiele für das magische Verhalten� Um Sprachartistik, die Beschränkung aufs Ästhetische allein geht es dabei keineswegs, und deshalb kann der Fokus auf die poetischen Verfahren höchstens als erster heuristischer Zugang zu den Implikationen dieser Literatur dienen� Das hat zwei innig miteinander verschränkte Konsequenzen. Erstens sind die manieristischen Verfahren auch für Fichte mehr und anderes als dichtungsimmanente oder ästhetizistische Sprachfiguren. Zwar teilt er das christliche Transzendenzverständnis von Hockes großer Erzählung der abendländischen Kultur sicherlich nicht, aber an der grundsätzlich anthropologischen Fundierung von Rede- und damit Verhaltensweisen besteht auch bei ihm kein Zweifel. Zweitens ist es Fichte auf ganz spezifische Weise um mehr zu tun als nur um Formen literarischer beziehungsweise sprachlicher Darstellung� Im Unterschied zu Hocke rechnet Fichte ‚Spachverhalten‘ und Gesten, die sich mit dem deskriptiven Katalog des Manierismus benennen lassen, nicht ausschließlich, vielleicht noch nicht einmal primär dem Ästhetischen zu� Die oft bemühte und meist epistemologisch bequem halbierte Formel von der „Verwörterung der Welt“ (Fichte 1981/ 1987, 410), mit der er seine Problemstellung und sein Anliegen gleichermaßen bezeichnet hat, bezieht sich weniger auf ein Repräsentationsverhältnis als vielmehr auf eine Korrelation - betrifft also beide beteiligten Instanzen: Darstellung und Dargestelltes� Am Ende seines Sade-Essays von 1975 hat Fichte die Implikationen von Pounds Kategorien und des damit verbundenen Dichtungsverständnisses in diesem grundsätzlicheren Zusammenhang zur Verhandlung gestellt, der auch für seine Einlassungen zum Barock von Bedeutung ist� Es geht dort um den Fundamentalkonflikt zweier Literaturverständnisse, die sich in Dichotomien wie Gehalt vs� Gestalt, Inhalt vs� Form oder eben Dargestelltes vs� Darstellung zu artikulieren pflegen. Wer „den dargestellten Gegenstand selbst zum Kriterium von Literatur erheb[e]“ - was laut Fichtes zuspitzender Rekapitulation mittlerweile nur noch in der marxistischen und katholischen, also in allemal ideologisch-instrumenteller Literaturkritik üblich sei - sprenge damit „den Literaturbegriff selbst, der diese Sprengung nicht überstehen kann“. Für die Literatur müsse „[d]as Dargestellte […] egal“ sein� „[D]ie Art der Darstellung ist das allein Ausschlaggebende“, und zu deren Maß ziehe man „am besten“ die Hubert Fichtes Barock 189 190 Stephan Kammer Poundschen Kriterien zur Verfügung (Fichte 1975/ 1987, 129)� Diese L’art-pourl’art -Geste hat indes gerade nicht das letzte Wort� Die Parteinahme für die Sache der Darstellung nämlich, dies die Pointe des Sade-Essays, sieht sich von einer Literatur herausgefordert, bei der das Dargestellte, „das Unmeßbare nicht eine x-beliebige Imponderabilie“, sondern „das Wesentliche“ ist: [F]ür Sade’s mythisches, magisches Genie müssen wir unsere Parameter erweitern, wir müssen eine frühliterarische Schicht des phantastischen Faktischen anerkennen, Camp, Pop, aber nicht als Sprachfigur, als intellektuellen Kalkül, sondern unmittelbar, nur berichtete Fakten schon als Literatur in diesem Falle auffassen, so wie der Onanist nur berichtete Pornographie, wenn sie in seinen Rayon fällt, schon als geil bezeichnet, ob sie nun von Genet stammt oder ‚Mutzenbacher‘ heißt� […] Das Was ist also das Ausschlaggebende, nicht das Wie - wieder wie bei der Wichsvorlage� Daß es Worte sind, die die geile Geschichte erzählen, ist für den Onanisten das Entscheidende, daß es Worte sind, die dies Was übermitteln, ist für den Literaten Sade das Entscheidende� (Fichte 1975/ 1987, 128—130) Die Drastik des Vergleichs vermag an dieser Stelle nicht darüber hinwegzutäuschen, dass die Bezugsgröße eines ‚Dargestellten in Worten‘, an der die klassische Dichotomie von Darstellung und Dargestelltem zerbräche, ein prekäres, tentatives Unternehmen von Fichtes poetologischen Reflexionen bleibt. Dass einem „ein außerliterarisches Problem auf den Hals“ kommt, wenn man „das Außerliterarische als literarischen Topos“ auffasst (Fichte 1975/ 1987, 130), verschweigen diese Überlegungen nicht� Das Format des Problems und seine möglichen Artikulationen bilden den Kern von Fichtes Arbeits- und Forschungsfeldern in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre: der (literarischen, anthropologischen) Fragen nach den Riten, Mythen und magischen Handlungen, die kultur- und geschichtsübergreifend den Übertrag von Welt in Wörtern und den Übergriff der Wörter in Wirklichkeiten erkunden. Man könnte fragen, ob die Anlage dieses Wechsel- und Spannungsverhältnisses von Welt und Wörtern als ganze überhaupt in den Blick zu nehmen sei und ob sich Fichtes Verfahren auf einen Begriff oder eine Formel bringen ließe. Hocke hat das bekanntlich versucht; ‚Inkarnation‘ oder ‚Integration‘ aber, die er zum Beschluss seines Manierismus-Buches als Beschreibungsfigurationen nicht-dichotomer Verhältnisse vorschlägt, scheinen für Fichtes Unterfangen konzeptuell zu spannungsarm und anders als dieses, aber der Fundierung einer europäischen Kulturgeschichte in signo crucis entsprechend (vgl� Hocke 1959, 269f�), gleichsam auf erzwungene Versöhnung hinauszulaufen� Eine andere, formale Option, die komplexitäts- und spannungstolerante Figur der mise en abyme , die in den 1970er Jahren Karriere zu machen beginnt (vgl� Dällenbach 1977), vermöchte zwar die von Fichte aufgeworfene Logik von Oszillationseffekten und Metalepsen zu benennen, bliebe aber ganz auf der Seite der Repräsentation� Ergiebiger als solche konzeptuelle Labels scheint mir deshalb der Blick auf das Verfahren zu sein, mit dem Fichte die Aktualisierung des Barock als Modell ins Werk setzt� Dabei gilt es zunächst zu unterscheiden zwischen einer Remodellierung barocken Theaters, wie sie Fichtes Bearbeitung von Casper von Lohensteins Agrippina vorführt, und den Reflexionen zu Lohenstein, die sich im Umfeld und nach dieser Bearbeitung finden. In der Bearbeitung selber - so würde ich behaupten - wird aus Gründen dramaturgischer Komplexitätsreduktion konzeptuell unscharf, aber dennoch persuasiv sichtbar, worauf die Kommentare und Ausführungen zu Lohensteins Dramen modellbildend reagieren� Auf die Eingriffe in Text und Anlage des Trauerspiels hat Fichte in den Anmerkungen Bezug genommen - und zwar im Gestus offensiver Verteidigung: erwähnt er doch als erstes die „entscheidende Verfaelschung“, die das Trauerspiel mittels der Regieanweisungen zur „Sexshow umfunktioniert“ (Fichte 1978, 167)� Verschiebungen im Deutungsgefüge des Dramentexts nimmt Fichte überdies dadurch vor, dass er die allegorischen Zwischenspiele, die Reyen von Lohensteins Trauerspiel wegkürzt: „weil ich keine Allegorien mag“ (Fichte 1978, 168)� Weniger auffällig, aber strategisch mindestens so wichtig ist die konsequente Reduktion der politischen Rationalität der Agrippina - beziehungsweise die Überlagerung, wenn nicht Ersetzung dieses für Lohensteins Trauerspiel zentralen Verhandlungsgegenstands durch die dem Bezugstext gegenüber noch einmal massiv verstärkte Bedeutsamkeit der inzestuösen Verstrickung� 8 So wird etwa die Beratschlagung gestrichen, die Nero nach dem Mord an der Leiche der Kaisermutter mit Anicetus, Burrus, Paris und Seneca führt und die auf einen staatsklugen Gebrauch des Ereignisses zielt: „Daß man mit guttem Scheine / Dem großen Rath in Rom den Zufall bringe bey“ (V, 202-203)� Dabei fällt erstens der Vorschlag des Seneca weg, der statt der Kernverfahren höfisch-kluger Rede, der (Dis-)Simulation die persuasive Instrumentalisierung eines ‚faktischen Erzählens‘ nahezulegen scheint - „Streicht nur ihr [d� h� Agrippinas] altes Thun mit neuen Farben an“ (V, 212)� Noch nicht einmal Fichtes Nachwort, das auf der Ambiguität des Lohensteinschen Seneca in den beiden römischen Dramen insistiert (vgl� Fichte 1978, 145—57), nimmt auf diese gestrichene Passage Bezug, obwohl ihre Kontrafaktur der taciteischen Quelle dafür einen trefflichen Beleg böte - anders als bei Tacitus rapportiert, entwickelt Lohensteins Seneca seine Begründungserzählung als Einspruch gegen den unglaubwürdigsten Teil der Legitimationsstrategie, nämlich die Behauptung von Agrippinas Selbstmord nach dem missglückten Mordanschlag auf Nero, und nicht als deren Ergänzung� Was zweitens bei Lohenstein den Umschlag von Affektrede zu politischem Handeln markiert: dass nämlich Nero von der „Wärmbde“ der Leiche hervorgerufene(n) „Hitz und Durst“ durch „ein Glaß mit Weine“ besänftigt (V, 199-201), das Hubert Fichtes Barock 191 192 Stephan Kammer rückt durch Fichtes Streichung ans Szenenende und wird so zu einer perversästhetizistischen Geste: […] Reicht uns ein Glas mit Weine! Grosse Bewegung, um das Glas mit Wein herbeizuschaffen. Schliesslich wird es ihm gereicht. Ehe er trinkt, gehen alle - peinlich beruehrt - ab. Nero trinkt, mit der Leiche seiner Mutter allein. (Fichte 1978, 94) Wenn auch im anschließenden Dialog zwischen Nero und Poppäa die politischen Implikationen von Neros Muttermord und der angesteuerten Beseitigung der Octavia konsequent weggekürzt werden, wenn in der darauf folgenden Szene schließlich beim Auftritt von Agrippinas Geist entgegen Lohensteins Szenenanweisungen sowohl Poppäa, eine „Pantomimenpoppaea“ (Fichte 1978, 94) und Octavia mit auf der Bühne sind, dann spitzt sich die Dramenhandlung zur konzeptuell konfusen, aber dank ihrer Hyperbolisierung tatsächlich unübersehbaren ödipalen Verstrickung zu - eine weitere Regieanweisung lautet: Agrippinas Geist erscheint oben, so wie man sich im Mittelalter die Verwesenden vorstellte - mit Wuermern in den Augenhoehlen. Sie schaekert mit Oktavia und mit den Poppaeen und versucht Nero ein letztes Mal zu verfuehren. (Fichte 1978, 98) Bereits vor dem finalen Coup von Fichtes Bearbeitung - der Übernahme aus der Schlussszene von Hölderlins Sophokles-Übersetzung, in der Nero die Passagen des geblendeten Oedipus und der Magier Zoroaster die des Chores spricht; dem Auftritt eines ganzen Heers von „ Oedipusmasken “ (Fichte 1978, 112) - stellen diese Eingriffe „die Verstärkung der Inzestthematik“ als das „eigentlich[e] Zentrum von Fichtes Bearbeitungskonzept“ heraus (Asmuth, in Fichte 1978, 16)� Doch ist dies eben nur der dramaturgische Kniff, der auf seiten der Darstellung ins Werk setzt, was die entscheidende strukturbezogene Umbesetzung vorbahnt: Fichte eskamotiert an dramatischer Rede und Bühnenhandlung das, was man gemeinhin als (inhaltliches) Kennzeichen eines höfischen Repräsentationstheaters zu betrachten pflegt. Wilfried Barner hat auf die Bedeutung aufmerksam gemacht, die gerade der Gracián-Übersetzer Lohenstein für die Verschränkung prudentistischer Konzepte mit einem „im Theatralischen verwurzelt[en]“ „Weltverständnis“ hat; eine Verschränkung, die einen „grundlegenden Wandel des Welttheater-Verständnisses […] im Zeichen des ‚Politischen‘“ zur Folge hat (Barner 1970, 144f�)� Dagegen zielt Fichte, wie bereits in den abschließenden Reflexionen zu Sades Texten, über den Zuständigkeitsbereich der Darstellung hinaus, indem er auf eine Begründung im magischen „Sprachverhalten“ (Fichte 1978, 164) setzt� Fichtes Barock ist Modell einer ‚Verwörterung‘, die eine gleichzeitig und wechselweise repräsentative und performative Korrelation zwischen Zeichen und Dingen, Wörtern und Welt benennbar machen soll� Dem entspricht die Logik der Agrippina -Bearbeitung: Als Schauspieler stellt Nero Ödipus dar , als Agrippinas Sohn stellt er Ödipus her - die Oszillation zwischen diesen beiden Verhaltensweisen (Gesten, Worten, Handlungen) ist der Motor der Bearbeitung. Nero als Politiker wird dafür schon deshalb überflüssig, weil er als solcher Fichte zufolge ohnehin nur eine Funktion der ödipalen Verstrickung ist: „Mit siebzehn ließ ihn seine Mutter zum Kaiser ausrufen� / Er gab den wachhabenden Tribunen die Losung aus: Die beste Mutter“ (Fichte 1986/ 1987, 479)� Man darf sich vom „Theaterdonner“ (Asmuth, in Fichte 1978, 20) der Agrippina - Bearbeitung nicht davon ablenken lassen, dass Fichtes Schärfung des Barock als Modell nicht der anthropologischen Universalie des Inzest(verbot)s gilt - ein Modell für eine elementare strukturale Universalie zu erstellen, wäre ohnehin ein denkbar sinnloses Unterfangen� 9 Wenn das Triptychon von „Sade’s Werk“, „afrikanischen Einweihungsriten“ und „Ritualisierungen der Lederszene“ auf der Position der Literatur mit Casper von Lohensteins Trauerspielen neu besetzt wird, rückt ein konjunktives Element von Texten, Ritualen und Riten in den Fokus, das im Sade-Essay eher beiläufig und sicherlich nicht konsequent genug die Infragestellung des Verhältnisses von Darstellung und Dargestelltem begleitet hat: die „magische Prozedur“ (Fichte 1975/ 1987, 130f�)� Bietet die Bearbeitung auch „[s]tatt Magie Fickfuck“ (Fichte 1978, 167), so zielt das Modell doch uneingeschränkt auf erstere� Fichte hat deren dramatische Fassung in Lohensteins Trauerspielen - insbesondere in den „absurden Zeremonien“ ( Just 1961, 142) von Zoroasters Totenbeschwörung am Ende der Agrippina - bereits angetroffen, und dies wird es ihm erleichtern, Barock zum Modell dieser Verhaltensform zu erklären� Die ‚magische Prozedur‘ ist die konzeptuelle Antwort in den Ausführungen zu Lohenstein; sie programmiert die mythologisch und literaturhistorisch angereicherte, persuasiv überzogene Dramaturgie, die das Trauerspiel in ein radikal ödipales Drama verwandelt hat� Dabei glaubt Fichte bei Casper von Lohenstein eine spezifische literarische Verfahrensform anthropologischer Wissensgenerierung zu entdecken, die weder nur empirisch-situativ ist noch in der „unitarischen Schunkelei“ (Fichte 1981/ 1987, 408) eines idealistischen beziehungsweise ideologischen Universalismus einstimmt: Lohenstein geht in seinem Theaterwerk axiomatisch vor� Er setzt Gleichungen fuer menschliche Verhaltensweisen, die an immer neuen Orten, in immer neuen Kombinationen durch den rhetorischen Kodex schimmern� (Fichte 1978, 135) Damit Fichtes Barock zum Modell werden kann, ist allerdings noch ein weiterer Schritt nötig. Sowohl den dramaturgischen Eingriff als auch die kommentierende Intervention motiviert, dass Fichte die Aufmerksamkeit für die ‚magische Hubert Fichtes Barock 193 194 Stephan Kammer Prozedur‘ nicht als seine eigene interpretative Zutat versteht� Sie ist nichts, was seine Lektüre dem Epochenstil und den Texten aufzunötigen hätte, sondern wird als genuine Leistung dieser literarischen Texte eingeführt, die gegen die Rezeptionstradition allererst freizulegen wäre� In seinen Anmerkungen zum Ibrahim Bassa hat Fichte mithilfe einer aufwendigen Gegenüberstellung von Lohensteins Quellen (den Turcicae epistolae von Oghier Ghislain de Busbecq und Philipp von Zesens Scudéry-Übersetzung), den historisch späteren Forschungen Joseph von Hammer-Purgstalls und dem Dramentext behaupten können, „Lohenstein erfind[e] zur blumigen Geschichte der Scudéry-Zesen einen frühreligiösen Totenritus hinzu“ (Fichte 1978/ 1987, 234)� In dieser „ungeschichtliche[n] Fabel“ des jugendlichen Verfassers artikuliere sich zum ersten Mal eine „Geschichtsklitterung“, eine „inkonsequent[e] Geschichtsfälschung“. Sie bilde die poetisch legitime (und legitimierte) Möglichkeitsbedingung für „ein kaleidoskopisches Spiel, in dem Empfindungen, Riten, Verhaltensweisen als rhetorische Kürzel durcheinanderfallen“ (Fichte 1978/ 1987, 241f�)� Vergleichbares gilt für die Schlussszene der Agrippina � In ihr hat Lohenstein eine knappe Bemerkung in Suetons Nero-Vita zu einem Katalog magischer Worte, Prozeduren und Dinge anwachsen lassen, der sich über zweihundert Verse erstreckt und in den Auftritt der von den Erinnyen gejagten Muttermörder-Geister Orest und Alkmäon mündet� In Fichtes Lektüre handelt es sich bei diesen Eingriffen contra historiographiam nicht um dramaturgisch begründetes Spektakel oder Ausdruck exotistischer Vorlieben. Sie haben vielmehr den Charakter eines literaturspezifischen epistemischen Instruments� Die anthropologische Erkenntnisleistung des Barock als Modell magischen Verhaltens, die Fichte aufzeigen will, wird erstens befördert durch die strukturelle Ähnlichkeit ihres jeweiligen „Sprachverhalten[s]“ (Fichte 1978, 165): Die Sprachen der Magie und der barocken Literatur zeichnen sich durch ein hohes Maß an (und Bewusstsein für) Strukturierung und Formalisierung aus� Sie wird zweitens befördert durch die Transmissivität des Verhältnisses von ‚Sprachlichem‘ und ‚Außersprachlichem‘, wie sie eine durchgreifend rhetorisch begründete Kultur ermöglicht: Für die (höfische) Rhetorik sind Sprechakte Handlungen, unterstehen umgekehrt Handlungen und Gesten den Kriterien des Rhetorischen� Wenn Fichtes Modellbildung die magische Fundierung dieses Verhältnisses herausstellt, dann beruft sie sich zu Recht auf die elementare Grammatik magischen Verhaltens, die mit Wörtern auf Dinge und Verhalten zugreifen will und Gesten und Dinge als Artikulationselemente gebraucht - Zauberspruch und Ritual� „Rhetorische Figuren sind saekularisierte Zauberformeln“ (Fichte 1978, 166), heißt es dementsprechend im Kommentar zur Agrippina , und die Ketzerischen Bemerkungen wiederum bedienen sich für die Wahrnehmungs- und Darstellungsformen einer ‚poetologischen Anthropologie‘ gleichzeitig am Modell des Lohensteinschen Barock und aus Hockes Katalog des Manierismus: Poetisch freilegen, meine ich - nicht zupoetisieren Nicht den Wirt wundermild - sondern Lohenstein � Fantasie: Bei den Einweihungsriten der Leopardenmänner müssen einem The Leatherman’s Handbook aus New York und zu Jean Genets Enfant Criminel das Verhalten der Oasis Gabès einfallen dürfen� Redefiguren. Periphrasen� Spielformen� Concetti� (Fichte 1980, 363) Fichtes Barock erlaubt Spielzüge auf einem „widersprüchliche[n] Feld“ zu denken und zu tun, das die bei Lohenstein erarbeiteten Möglichkeiten strukturiert haben: „Verwörterung der Welt� / Magie und Tragödie� / Zauberspruch und Schriftstellerei“ (Fichte 1981/ 1987, 419)� Eine „Poesie“, die „analytisch“ zu sein vermag (Fichte 1978/ 1987, 196), weil sie die Logik der magischen Prozedur begriffen und inkorporiert hat - das ist es, wofür Casper von Lohenstein in Hubert Fichtes Barock Modell steht� Notes 1 Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Karin Krauthausen (Berlin)� Zu Fichtes Begriff des ‚Sprachverhaltens‘ vgl. die Abschnitte IV und V meines Aufsatzes� 2 Im Folgenden verwende ich, wie in der literaturgeschichtlichen Forschung weitgehend üblich, die nicht ganz unproblematische Namensversion ‚Lohenstein‘� Fichtes Texte wählen gelegentlich auch die namenslogisch näher liegende Variante ‚Daniel Casper‘� 3 Fichtes Wiener Vorlesungen wurden in der Zeitschrift Wespennest. zeitschrift für brauchbare texte und bilder 63 (1986) erstmals veröffentlicht. Ich hoffe sehr, dass Torsten Teicherts Entscheidung, die Zusammenhänge dieser einzelnen Ausführungen zu Lohenstein in Darstellung und Kommentar nahezu undurchsichtig zu machen, Titeländerungen und -ergänzungen scheinbar willkürlich vorzunehmen und Textzusammenhänge auseinanderzureißen (Fichte 1986/ 1987, 7—8 und 469—83), in keiner Beziehung symptomatisch ist für die editorische Praxis an Fichtes nachgelassenem Großprojekt Geschichte der Empfindlichkeit � Hubert Fichtes Barock 195 196 Stephan Kammer 4 Fisch (2001) nimmt, wie eingangs erwähnt, diese hyperbolische Geste beim Wort und schreibt allen Ernstes Fichte das Verdienst zu, Lohenstein als „Autor vor dem Vergessen und vor allem dem Mißverstehen gerettet“ zu haben� Das gelingt natürlich nur um den Preis einer ganzen Reihe von sachlich falschen Behauptungen und grotesken Verkehrungen� Die Aussage, dass die Aufführungsgeschichte Lohensteinscher Trauerspiele seit den späten 70er Jahren auf Fichtes Textbearbeitungen gründe (38, Anm� 41), erweist sich genau besehen schon beim ersten Beispiel - der von Gerhard Spellerberg und Peter Kleinschmidt eingerichteten Kölner Epicharis der Spielzeit 1977/ 78 - als falsch, wie das Programmheft belegt ( Epicharis. Die Welt des Daniel Casper von Lohenstein , Red� von Peter Kleinschmidt, Gerhard Spellerberg und Hanns-Dietrich Schmidt, Köln 1978, 5); grotesk ist es, wenn Fisch zum Verfasser zweier 1971 erschienener Lohenstein-Monographien anmerkt: „Die Arbeiten von Bernhard Asmuth bieten sowohl monographischen Einblick in Leben und Werk und erlauben ihm die Zusammenarbeit mit Hubert Fichte“ (37f�, meine Hervorhebung)� Dass im Übrigen die Lohenstein-Forschung vor Fichte (bis auf Justs Edition der Trauerspiele) auch aus den Fußnoten verschwindet, gehört zum eigentümlichen Bild, das dieser in jeder Hinsicht unzulängliche Aufsatz zu Fichtes Barock-Rezeption bietet� 5 Den Haupttitel des Essays in der Nachlassedition, „Der blutige Mann“, übernimmt Teichert begründungslos aus Fichtes Plänen zum Projekt der Geschichte der Empfindlichkeit , obwohl der Text zu Sade sichtlich nur ein Teil dieses übergeordneten, einem eigenen Band vorbehaltenen Korpus sein sollte: „Auf dem Original-Typoskript aus dem Jahr 1975 steht als Titel nur ‚Sade‘“ (Fichte 1987, 486)� 6 Man vergleiche nur einige beinahe willkürlich herausgehobene Passagen aus Hockes Manierismus-Abhandlung: Concetto (passim, z. B. 60); Roman fleuve (228f.); sprachliche Spielformen und Korrespondenzen (27—50); Kombinatorik (50—60)� 7 Bei den erwähnten Abhandlungen „über mathematische Logik“ und „Philosophie“ handelt es sich wohl um Bocheńskis Précis de logique mathématique (1948), ins Deutsche übersetzt unter dem etwas irreführenden Titel: Grundriß der Logistik (1954), und um Wege zum philosophischen Denken (1959)� 8 Fichte „verlagert das Schwergewicht der Handlung vom Muttermord, der bei Lohenstein die Hauptsache ist, auf die Inzestthematik“, merkt Bernhard Asmuth im Vorwort zur Agrippina -Bearbeitung an (Fichte 1978, 15)� Asmuth hat auch darauf aufmerksam gemacht, dass Lohensteins Trauerspiel selbst schon „das Band zwischen [Poppäas] Intrige und Agrippinas Inzest enger“ knüpfe als Tacitus’ zugrundeliegender Bericht (Asmuth 1971, 18)� „[D]as strukturelle Spannungsverhältnis zwischen Erotik und Politik“ ist „innerhalb von Lohensteins Dramatik der allumfassende, alles durchdringende Kontrast“ ( Just 1961, 143, i. O. kursiv); im selben Tenor Justs Vorwort zu der von Fichte konsultierten und hier mit Angabe von Akt- und Verszählung zitierten Textausgabe (Lohenstein 1955, xii—xix)� 9 Zu den Implikationen von Fichtes Strukturbegriff vgl. Kammer und Krauthausen 2020 sowie den Beitrag von Karin Krauthausen in diesem Heft� Works Cited Adorno, Theodor W� „Der mißbrauchte Barock�“ Ohne Leitbild. Parva Aesthetica [1967]� Gesammelte Schriften � Vol� 10�1� Ed� Rolf Tiedemann� Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977� 401—22� Asmuth, Bernhard� Lohenstein und Tacitus. Eine quellenkritische Interpretation der Nero- Tragödien und des „Arminius“-Romans � Stuttgart: Metzler, 1971� Barner, Wilfried� Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen � Tübingen: Niemeyer, 1970� Barner, Wilfried, ed� Der literarische Barockbegriff � Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1975� Bodmer, Johann Jacob und Johann Jacob Breitinger� Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft; zur Ausbesserung des Geschmackes: oder Genaue Untersuchung aller Arten Beschreibungen / worinne die außerlesenste Stellen der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründtlicher Freyheit beurtheilt werden � Frankfurt am Main/ Leipzig: o� A�, 1727� Buck, August� Forschungen zur romanischen Barockliteratur � Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1980� Conrady, Karl Otto� Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des 17. Jahrhunderts � Bonn: Bouvier, 1962� Dällenbach, Lucien� Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme � Paris: Seuil, 1977� Fichte, Hubert� „Sade“ [1975]� Homosexualität und Literatur I. Polemiken. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena 1 � Ed� Torsten Teichert� Frankfurt am Main: Fischer, 1987� 23—132� ---� Mein Lesebuch � Frankfurt am Main: Fischer, 1976� ---� Lohensteins Agrippina, bearbeitet von Hubert Fichte � Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1978� ---� „Ach des Achs! Anmerkungen zu Daniel Casper von Lohensteins Türkischem Trauerspiel Ibrahim Bassa“ [1978]� Homosexualität und Literatur I. Polemiken. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena 1 � Ed� Torsten Teichert� Frankfurt am Main: Fischer, 1987� 193—246� ---� „Ketzerische Bemerkungen für eine neue Wissenschaft vom Menschen�“ Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen IV. Santo Domingo - Venezuela - Miami - Grenada � Frankfurt am Main: Fischer, 1980� 359—65� Hubert Fichtes Barock 197 198 Stephan Kammer ---� „Mittelmeer und Golf von Benin� Die Beschreibung afrikanischer und afroamerikanischer Riten bei Herodot“ [1981]� Homosexualität und Literatur I. Polemiken. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena 1 � Ed� Torsten Teichert� Frankfurt am Main: Fischer, 1987� 407—22� ---� „Hubert Fichte warnt vor sich“ / „Appendix“ [1986]� Homosexualität und Literatur I. Polemiken. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena 1 � Ed� Torsten Teichert� Frankfurt am Main: Fischer, 1987� 7—8 / 469—83� ---� Homosexualität und Literatur I. Polemiken. Die Geschichte der Empfindlichkeit. Paralipomena 1 � Ed� Torsten Teichert� Frankfurt am Main: Fischer, 1987� ---� Alte Welt. Glossen. Die Geschichte der Empfindlichkeit � Vol� 5� Ed� Wolfgang von Wangenheim und Ronald Kay� Frankfurt am Main: Fischer, 1992� Fisch, Michael. „‚Der halb-geschmeckten Lust mehr reiffe Früchte‘. Hubert Fichtes Rezeption des literarischen und musikalischen Barocks, vornehmlich des Werkes von Daniel Casper von Lohenstein�“ „Ach, Neigung zur Fülle…“. Zur Rezeption ‚barocker‘ Literatur im Nachkriegsdeutschland � Ed� Christiane Caemmerer und Walter Delabar� Würzburg: Königshausen & Neumann, 2001� 29—42� Garber, Klaus� „Europäisches Barock und deutsche Literatur des 17� Jahrhunderts� Zur Epochen-Problematik in der internationalen Diskussion�“ Europäische Barock-Rezeption � Vol� 1� Ed� Klaus Garber� Wiesbaden: Harrassowitz, 1991� 3—44� Harsdörffer, Georg Philipp. Poetischer Trichter / Die Teutsche Dicht- und Reimkunst ohne Behuf der Lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen. 1. Theil [1650]� Nachdruck Hildesheim/ New York: Olms, 1971� ---� Prob und Lob der Teutschen Wolredenheit. Das ist: deß Poetischen Trichters Dritter Theil [1653]� Nachdruck Hildesheim/ New York: Olms, 1971� Hauser, Arnold� Der Ursprung der modernen Kunst und Literatur. Die Entwicklung des Manierismus seit der Krise der Renaissance � München: Beck, 1964� Hocke, Gustav René� Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst � Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1959� Jaumann, Herbert� Die deutsche Barockliteratur. Wertung - Umwertung. Eine wertungsgeschichtliche Studie in systematischer Absicht � Bonn: Bouvier, 1975� Just, Klaus Günther� Die Trauerspiele Lohensteins. Versuch einer Interpretation � Berlin: Erich Schmidt, 1961� Kammer, Stephan und Karin Krauthausen� „Für einen strukturalen Realismus (Einleitung)�“ Make it real. Für einen strukturalen Realismus � Ed� Stephan Kammer und Karin Krauthausen� Zürich/ Berlin: Diaphanes, 2020� 7—79� Lohenstein, Daniel Casper von� Römische Trauerspiele � Ed� Klaus Günther Just� Stuttgart: Hiersemann, 1955� ---� Gedichte � Ed� Gerd Henninger� Berlin: Henssel, 1961� Mahr, Bernd� „Das Mögliche im Modell und die Vermeidung der Fiktion�“ Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur � Ed� Thomas Macho und Annette Wunschel� Frankfurt am Main: Fischer, 2004� 161—82� Mannack, Eberhard� „Deutsche Schriftsteller des 20� Jahrhunderts als Rezipienten von Barockliteratur - Editionen, Imitationen, Interpretationen�“ Europäische Barock-Rezeption � Vol� 1� Ed� Klaus Garber� Wiesbaden: Harrassowitz, 1991� 705—28� Martino, Alberto� Daniel Casper von Lohenstein. Geschichte seiner Rezeption � Vol� 1: 1661-1800� Tübingen: Niemeyer, 1978� Meyer-Kalkus, Reinhart� Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von „Agrippina“ � Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 1986� Müller, Conrad� Beiträge zum Leben und Dichten Daniel Caspers von Lohenstein � Breslau: Koebner, 1882� Müller, Hans-Harald� Barockforschung: Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870-1930 � Darmstadt: Thesen-Verlag, 1973� Pound, Ezra� „How to Read“ [1929]� Literary Essays � Ed� T�S� Eliot� London: Faber & Faber, 1954� 15—40� ---� ABC of Reading [1934]� London: Faber & Faber, 1991� Reinhart, Max� „Introduction: German Literature in the Early Modern Period�“ Early Modern German Literature 1350-1700 � Ed� Max Reinhart� Rochester, NY: Camden House, 2007� xiii—liii� Schwind, Peter� Schwulst-Stil. Historische Grundlagen von Produktion und Rezeption manieristischer Sprachformen in Deutschland 1624-1738 � Bonn: Bouvier, 1977� Strich, Fritz� „Der lyrische Stil des 17� Jahrhunderts�“ Abhandlungen zur deutschen Literaturgeschichte. Franz Muncker zum 60. Geburtstage � Ed� Eduard Berend� München: Beck, 1916� 21—53� Tieck, Ludewig [sic], ed� Deutsches Theater � 2 vols� Berlin: Realschulbuchhandlung, 1817� Voßkamp, Wilhelm� Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein � Bonn: Bouvier, 1967� Windfuhr, Manfred� Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts � Stuttgart: Metzler, 1966� Hubert Fichtes Barock 199