Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur
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Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte
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Jan Riel
Kerstin Gothe
Kaum eine Entwicklung repräsentiert die digitale Transformation der Mobilität besser, als die Entwicklung des autonomen Fahrens. Diese wird auch starke Auswirkungen auf die Verkehrsinfrastruktur und den öffentlichen Raum insgesamt haben. Im Vordergrund der Diskussion steht derzeit der Ausbau der (straßenseitigen) Infrastruktur für Sensorik und C2X-Kommunikation. Doch autonomes Fahren wird absehbar wesentlich mehr Auswirkungen auf die Infrastruktur und den
öffentlichen Raum haben als nur zusätzliche verkehrstechnische Komponenten.
Der Beitrag diskutiert am Beispiel der Stadt Karlsruhe mögliche Auswirkungen des autonomen Fahrens im Jahr 2040 auf das Verkehrsgeschehen und den öffentlichen Raum. Es werden ein „Trend-“ und ein „Sharing“-Szenario gegenübergestellt – mit ihren Chancen und Risiken für die Stadt. Da Straßen einen Lebenszyklus in einer Größenordnung von mehreren Jahrzehnten haben, sind bereits heute Entscheidungen angeraten, wenn die Entwicklung in eine stadtverträgliche und nachhaltige Richtung gehen soll.
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1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 205 Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte Prof. Dr.-Ing. Jan Riel Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft 76133 Karlsruhe, Deutschland Prof. em. Kerstin Gothe Karlsruher Institut für Technologie 76131 Karlsruhe, Deutschland Zusammenfassung Kaum eine Entwicklung repräsentiert die digitale Transformation der Mobilität besser, als die Entwicklung des autonomen Fahrens. Diese wird auch starke Auswirkungen auf die Verkehrsinfrastruktur und den öffentlichen Raum insgesamt haben. Im Vordergrund der Diskussion steht derzeit der Ausbau der (straßenseitigen) Infrastruktur für Sensorik und C2X- Kommunikation. Doch autonomes Fahren wird absehbar wesentlich mehr Auswirkungen auf die Infrastruktur und den öffentlichen Raum haben als nur zusätzliche verkehrstechnische Komponenten. Der Beitrag diskutiert am Beispiel der Stadt Karlsruhe mögliche Auswirkungen des autonomen Fahrens im Jahr 2040 auf das Verkehrsgeschehen und den öffentlichen Raum. Es werden ein „Trend-“ und ein „Sharing“-Szenario gegenübergestellt - mit ihren Chancen und Risiken für die Stadt. Da Straßen einen Lebenszyklus in einer Größenordnung von mehreren Jahrzehnten haben, sind bereits heute Entscheidungen angeraten, wenn die Entwicklung in eine stadtverträgliche und nachhaltige Richtung gehen soll. 1. Fragestellung Autonom, smart, nachhaltig. Begleitet von diesen Schlagworten kursieren zahlreiche Visualisierungen zum autonomen Fahren. Fast alle zeigen belebte, urbane Räume mit hoher Aufenthaltsqualität, in denen Radfahrer, Fußgänger und autonome Fahrzeuge sich in harmonischem Miteinander bewegen [1]. Ruhender Verkehr ist nicht erkennbar, einmal abgesehen vielleicht von einem wartenden autonomen Mini-Shuttle. Die Straßeninfrastruktur und der öffentliche Raum insgesamt unterscheiden sich zumindest in den Visualisierungen deutlich vom Bestand, den wir heute kennen. Straßen und Plätze, die heute geplant und gebaut werden, werden zum Zeitpunkt der Verfügbarkeit von automatisierten Fahrzeugen (in 10 bis 20 Jahren) noch lange nicht am Ende ihres Lebenszyklus angelangt sein. Sollte die Entwicklung des autonomen Fahrens also mit der Gestaltung und Nutzung des öffentlichen Raums zusammenhängen, muss dies bereits heute in der Planung berücksichtigt werden. Hinzu kommen die Veränderungen aufgrund des Klimawandels (CO 2 -Reduktion, Klimaanpassung, Umgang mit Starkregenereignissen etc.), die neue Anforderungen an die Straßenräume mit sich bringen. An diesen Fragestellungen setzt das Forschungsprojekt AutoRICH an, aus dem im Folgenden berichtet wird [2]. Am Beispiel der Stadt Karlsruhe werden zwei Szenarien entwickelt und bezüglich der Entwicklung der Verkehrsleistung ausgewertet. Die Auswirkungen auf die Straßeninfrastruktur und den öffentlichen Raum werden für beide Szenarien gegenübergestellt. 2. Szenarien übergreifende Annahmen In der Literatur werden große Spannbreiten diskutiert, ab wann die Technologie des autonomen Fahrens marktreif und verfügbar sein und eine nennenswerte Marktdurchdringung stattgefunden haben wird. Während mehrere Studien die Verfügbarkeit der neuen Technologie um 2030 sehen (Klein, Altenburg, 2019, S. 168) [3] kommt Bazilinskyy (2019, S. 193) [4] bzgl. der Marktdurchdringung zum Schluss, dass um 2040 ein nennenswerter Anteil autonomer Fahrzeuge auf den Straßen zu erwarten ist. Als Prognosehorizont von AutoRICH wird in Anlehnung an die Literatur daher das Jahr 2040 gewählt. Dieser passt auch zum Zeithorizont der Bevölkerungsprognose 2035 der Stadt, welche bis dahin durch Nachverdichtung und Arrondierung von einem Bevölkerungszuwachs um 25.000 Einwohnern ausgeht. Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte 206 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Als Durchdringungsgrad autonomer Fahrzeuge legen wir in unserer Studie einen Anteil von 60% zu Grunde, ca. 40 % nutzen weiterhin manuell gesteuerte Fahrzeuge. Dabei stützen wir uns auf die Ergebnisse einer eigenen Online-Umfrage aus dem Jahr 2020. Wir gehen schließlich davon aus, dass die rechtlichen, technischen und ethischen Fragen geklärt sind, dass autonome Fahrzeuge also verkehrssicher und fahrerlos fahrend (Level 5) auf dem Markt sind und im Mischverkehr zusammen mit den konventionellen Fahrzeugen fahren. Zwar können autonome Fahrzeuge aufgrund ihrer Sensorik und der Kommunikation mit anderen Fahrzeugen (C2C) oder der Infrastruktur (C2I) zu höheren Verkehrsdichten und zu höheren Kapazitäten von Straßen beitragen, dies aber vor allem dann, wenn die autonomen Fahrzeuge nicht im Mischverkehr mit konventionellen Fahrzeugen unterwegs sind. Getrennte Fahrspuren für beide Systeme halten wir im vorhandenen Straßenraum jedoch weder für umsetzbar noch für wünschenswert. Abbildung 1: Getrennte Fahrspuren für verschiedene Verkehrsarten in Peking (Foto: Gothe) Die Kapazität von Fahrstreifen und Knotenpunkten bleibt also auch 2040 auf dem heute bekannten Niveau. 3. Zwei Szenarien AutoRICH zeigt zwei unterschiedliche, aber realistische Entwicklungen auf, die im Zusammenhang mit dem autonomen Fahren eintreten können. Den Faktoren Fahrzeugbesitz, Mobilitätsverhalten und der Gestaltung des öffentlichen Raums kommt in den Szenarien eine Schlüsselrolle zu. In einem Szenario „Trend“ ist die Entwicklung von privatwirtschaftlichen Interessen und individuellem Fahrkomfort geprägt. Im Szenario „Sharing“ dagegen werden politikgetriebene Entwicklungen im Sinne des Gemeinwohls unterstellt. Folgende Tabelle zeigt die „Grundhaltung“ beider Szenarien im Vergleich: Einflussfaktor Szenario „Trend“ Szenario „Sharing“ Besitzform Kfz Autonome Fahrzeuge sind (unreguliert) als Privatfahrzeuge käuflich. Der Privatwagen genießt weiterhin hohen Stellenwert. Autonome Fahrzeuge werden nur als öffentliche Fahrzeuge für Mobilitätsdienstleister zugelassen. Sharing Car-Sharing bleibt ein Nischenprodukt, Anbieter kooperieren nicht. Zentrales Fahrten- und Flottenmanagement durch den örtlichen Verkehrsverbund (KVV) Öffentlicher Raum Der öffentliche Raum bleibt in seiner heutigen Form erhalten. Fließender und ruhender Verkehr beanspruchen weiterhin den größten Teil der Fläche. Der öffentliche Raum wird transformiert. Flächen werden zu Gunsten von Begrünung, Aufenthaltsqualität und Klimaanpassung neu verteilt. Parken im öffentlichen Raum wird reduziert. Fahrzeugflotte Fahrzeuge können weiter entfernt parken. Mangelnder Parkraum „vor der Tür“ entfällt als Anschaffungshürde. Die Fahrzeugflotte wächst. Durch die massive Sharing-Nutzung kann das Mobilitätsbedürfnis mit einem Bruchteil der bisherigen Fahrzeugflotte befriedigt werden. Parkierung Der Flottenzuwachs muss in zusätzlichen (Groß) garagen untergebracht werden. Die stark verkleinere Flotte (Sharing) entlastet den öffentlichen Raum vom Parken. Tabelle 1: Grundhaltung der Szenarien Im Folgenden werden die beiden Szenarien in ihren Ausprägungen näher erläutert. 3.1 Szenario „Trend“ Im Szenario „Trend“ steht die technologische Weiterentwicklung bzw. die Verfügbarkeit autonomer Fahrzeuge im Vordergrund. Ein grundlegender Paradigmenwechsel bleibt aus. Dies betrifft sowohl die Wertevorstellungen der Bevölkerung als auch die Haltung der Stadtverwaltung. Diese greift z.B. nicht regulierend in neue Ge- Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 207 schäftsmodelle ein, die mit der neuen Technologie möglich werden Besitz- und Nutzungsform autonomer Fahrzeuge: Grundsätzlich können (autonome) Fahrzeuge in Privatbesitz, in Besitz eines (privaten) Mobilitätsdienstleisters oder in Besitz eines öffentlichen Verkehrsunternehmens sein. Hinsichtlich der mit dem Auto gefahrenen Kilometer und der Emissionen ist es dabei zunächst unerheblich, ob die Fahrt in einem privaten oder in einem „geteilten“ Auto zurückgelegt wird. Die Besitzform autonomer Fahrzeuge steht jedoch in direktem Zusammenhang mit der Nutzungsform (Privatwagen vs. Sharing-Dienste / MaaS) und damit mit der Flottengröße und der für diese erforderliche Parkierung. Im Szenario „Trend“ ändert sich an der Besitzform der Fahrzeuge wenig: Der Privatwagen ist weiterhin populär und macht den Großteil der zugelassenen Kfz aus. Sorgen aus den frühen 2020er Jahren, autonome Fahrzeuge könnten den Fahrspaß zu sehr einschränken, werden durch neue Ausstattungsmöglichkeiten der Fahrzeuge kompensiert. Sharing-Angebote bleiben insgesamt ein Nischenprodukt, das über die Attraktivität der ohnehin schon bestehenden stationären Car-Sharing-Flotte sowie der Free-Floating-Flotte kaum hinausgeht. Auch Ride-Sharing-Dienste bleiben im Szenario „Trend“ ein Nischenprodukt: Die Mobilitätsdienstleister tauschen keine Kundendaten aus und können die Fahrzeuge daher nicht optimal besetzen. Der wesentliche Einsatzbereich autonomer Fahrzeuge bleiben also die Fahrzeuge im Privatbesitz. Dabei werden neue Gruppen von Nutzenden erschlossen: Personen ohne Führerschein, Kindern, alten und behinderten Menschen bietet die neue Form der Fortbewegung die Chance, ohne Begleitung bequem mobil zu sein. Dies sorgt für zusätzliche Wege, die ohne das neue Angebot gar nicht oder mit einem anderen Verkehrsmittel zurückgelegt worden wären. Fahrzeugflotte und Parkraum: Parkraum gilt nach wie vor als ein knappes Gut. Für Besitzer manuell gesteuerter Fahrzeuge ist damit die Verfügbarkeit eines Abstellplatzes in fußläufiger Entfernung ein maßgebliches Kriterium zum Kauf (oder Nicht-Kauf) eines Autos. Die Möglichkeit autonomer Fahrzeuge, sich auch weiter entfernt vom Wohnort selbstständig einen freien Stellplatz zu suchen, führt im Szenario „Trend“ dazu, dass insbesondere in der Innenstadt und den dichten innenstadtnahen Wohnquartieren ein eigenes, autonomes Auto leichter zu halten ist. Wir gehen daher bei dem Szenario „Trend“ davon aus, dass sich die Zulassungsdichte der Pkw insbesondere in der Innenstadt deutlich erhöht und an das Niveau der Einfamilienhaus-Quartiere annähert. Die Karlsruher Kfz-Flotte wächst damit von derzeit 140.000 auf 156.000 Fahrzeuge. Die zusätzlichen autonomen Fahrzeuge im Szenario „Trend“ können jedoch nicht mehr im öffentlichen Straßenraum untergebracht werden. Der zusätzliche Parkraumbedarf wird durch neue Parkbauten gedeckt. Wir gehen hier zwar von günstigen automatischen Parkhäusern mit geringerem Platzbedarf aus, die auch dezentral in bestehenden Baulücken untergebracht werden können. Dadurch entstehen trotzdem zusätzliche Leerfahrten zwischen Parkhaus und Einsatzort. Abbildung 2 zeigt symbolhaft die Verteilung von 30 neuen Parkbauten, die mit einer Kapazität von jeweils 500 Plätzen den Zuwachs der Fahrzeugflotte auch ohne zusätzliche Belastung des öffentlichen Straßenraums aufnehmen müssten. Die roten Kreise zeigen den Einzugsbereich mit einem Radius von 1 km dar. Abbildung 2: Neue Großgaragen rund um die Innenstadt, um den Zuwachs der Fahrzeugflotte aufzufangen (blau: bestehende Garagen) Straßennetz: Das Straßennetz entsprich im Szenario „Trend“ im Großen und Ganzen dem heutigen Netz. Veränderungen wie der Ausbau von Radschnellverbindungen werden zwar vorangetrieben, jedoch überwiegend additiv zum bestehenden Straßennetz und nicht zu dessen Lasten. Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte 208 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Abbildung 3: Querschnittsaufteilung der Kaiserallee entspricht dem heutigen Zustand [6] Öffentlicher Raum: Seine Gestaltung ist wie bisher in hohem Maße vom fließenden und ruhenden Kfz-Verkehr geprägt. Die folgende Abbildung zeigt einen Querschnitt der Kaiserallee, sowie die Flächenanteile für die verschiedenen Verkehrs- und Nutzungsarten. Tabelle 2: Anteil der Verkehrsflächen nach Verkehrs- und Nutzungsarten Nutzung Parken Kfz ÖV Rad Fuß Grün Anteil 11 % 53 % 18 % 8 % 8 % 10 % Potenziale für eine Anpassung an den Klimawandel durch zusätzliche Begrünung bzw. Beschattung der Straßenräume bestehen im Szenario „Trend“ daher kaum. Auch die Schaffung von Lieferzonen gelingt nur in Einzelfällen bzw. diese werden durch verzweifelte Parkplatzsuchende regelwidrig belegt. Dies stellt die Kurier-, Express- und Paketdienste vor große Schwierigkeiten. Wegehäufigkeiten und Wegelängen: Im Szenario „Trend“ können Bewohner*innen die autonomen Fahrzeuge nach ihren individuellen Vorstellungen nutzen, so wie bisher ihre privaten, manuell gesteuerten Fahrzeuge. In unserer Online-Befragung wurde nach Altersgruppen abgefragt, ob Wegezwecke häufiger oder weniger häufig mit dem Auto zurückgelegt würden, wenn es denn heute schon autonome Fahrzeuge - egal ob als Privatfahrzeug oder als Sharing-Angebot gäbe. Es wurden keine Einschränkungen vorgegeben, daher entsprechen die Angaben der Befragten den Randbedingungen des Szenarios „Trend“ und werden hier als Grundlage für die quantitative Abbildung des Mobilitätsverhaltens im Verkehrsmodell verwendet. Ergebnisse: Folgende Tabelle 3 zeigt die Zunahme der Wege gemäß der Online-Umfrage: Tabelle 3: Zunahme von Wegen bei freier Verfügbarkeit autonome Fahrzeuge Alter Arbeit Dienst Ausbildung Private Erledigung Einkauf Holen / Bringen Freizeit bis 14 Jahre „Kinder“ 14 - 17: „Jugendliche“ +321% +151% +137% 18 - 24: „Junge Erwachsene“ +157% +479% +239% +204% +101% +199% +80% 25 - 64: „Arbeitsalter“ +69% +104% +103% +64% +106% +53% 65 - 74: „Rüstige Rentner“ +146% +52% +82% +88% Ab 75: „Hochbetagte“ +189% +77% +100% Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 209 Gewichtet nach heutiger Wegeanzahl und Bevölkerungsanteil der Altersgruppen ergibt sich eine Zunahme allein der Wegeanzahl um 82% gegenüber heute. Noch nicht berücksichtigt für die Berechnung der Verkehrsleistung sind hierbei Leerfahrten sowie die Möglichkeit, dass auch weiter entfernt liegende Ziele akzeptiert würden, wenn (z.B. auf dem Weg zur Arbeit) die Fahrzeit anderweitig genutzt werden könnte. Aber auch unabhängig von diesen zusätzlichen Effekten ist erkennbar, dass der unregulierte Einsatz autonomer Fahrzeuge zu einer enormen Zunahme der Verkehrsleistung führen würde. Die Belastung des Straßennetzes würde an vielen Stellen dessen Kapazität übersteigen und zu einem Kollaps des Straßenverkehrs führen. Mit der Zunahme der Verkehrsmenge auf den Straßen an sich würde zunächst eine deutliche Abnahme der Aufenthaltsqualität und Attraktivität der Stadt einhergehen. Außerdem würde diese Entwicklung weiteren städtischen Gesamtzielen massiv entgegenstehen: Im selben Maße wie die Verkehrsleistung würden die Emissionen steigen und durch die nach wie vor starke Belegung des öffentlichen Raums durch den ruhenden Verkehr sind keine Maßnahmen zur Klimaanpassung im öffentlichen Raum möglich. Das Eintreten des Szenarios „Trend“ sollte daher dringend vermieden werden. 3.2 Szenario „Sharing“ Im Szenario „Sharing“ unterstellen wir, dass die Stadt Karlsruhe sowohl in gemeinderätlichen Gremien, als auch aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen mehr Spielräume zur Umsetzung ihrer Nachhaltigkeitsziele hat und diese nutzt. Der Klimawandel ist dabei ein zusätzlicher Treiber für Veränderungen auf (kommunal) politischer Ebene: Dieser hat ab den späten 2020er-Jahren gravierende Auswirkungen auf Stadtgrün, Versorgung und Gesundheit der Bevölkerung, was auch zur Überwindung heutiger parteipolitischer Gräben führt. Im Szenario „Sharing“ macht die Stadt Karlsruhe also in hohem Maße von den Möglichkeiten Gebrauch, Mobilität im Sinne des Gemeinwohls selbst zu gestalten. Besitz- und Nutzungsform autonomer Fahrzeuge: Im Szenario „Sharing“ hat der Gesetzgeber den Kommunen die Entscheidungskompetenz gegeben, Privatpersonen die Zulassung autonomer Fahrzeuge zu untersagen bzw. nur in Ausnahmefällen (z.B. Behinderung) zu gewähren. Autonome Fahrzeuge werden daher in diesem Szenario nur als geteilte Fahrzeuge zugelassen, die entweder nach dem Prinzip des stationsbasierten Car-Sharing oder als Ride-Sharing-Fahrzeuge eingesetzt. Straßennetz: Tempo wird 30 als Regelgeschwindigkeit auf den Hauptstraßen eingeführt und Tempo -20 in den Quartieren. Mehrere vierstreifige Straßen werden außerdem zu zweistreifigen zurückgebaut und ebenfalls mit niedrigeren Tempolimits belegt. Der MIV wird damit insgesamt langsamer und unattraktiver, was schon unabhängig von den Auswirkungen des autonomen Fahrens zu einer Reduzierung des MIV-Anteils am Modal-Split führt. Abbildung 4: Vorrangstraßennetz im Szenario „Sharing“ Fahrzeugflotte: Basierend auf unserer Umfrage nutzen 60 % der Bewohner ausschließlich autonome Fahrzeuge. Dieser Anteil der Bevölkerung besaß bisher 84.000 Fahrzeuge, die nun im Wesentlichen durch Ride-Sharing-Fahrzeuge ersetzt werden. Die verbleibenden 40 % der Bewohner verändern ihre Mobilitätsgewohnheiten nicht und nutzen weiterhin ihre manuell gesteuerten Fahrzeuge (56.000 Fahrzeuge). Friedrich (2019, S. 19 und S. 49) [5] ermittelte für den Raum Stuttgart, dass bei einem Verkehrsangebot aus Schienenverkehr und einer ausschließlich aus Ride-Sharing-Fahrzeugen bestehenden Fahrzeugflotte die Wege der Bevölkerung mit 7 % der heutigen (Privatwagen)Flotte zurückgelegt werden können. Auf die Karlsruher Fahrzeugflotte übertragen bedeutet das, dass die o.g. 60 % der Bevölkerung anstatt mit einer Flotte von 84.000 Fahrzeugen mit nur 6.000 Fahrzeugen mobil sind. Zusammen mit den Fahrzeugen der verbleibenden Nutzer konventioneller Fahrzeuge beträgt die Flottengröße für den Personenverkehr im Szenario „Sharing“ insgesamt 62.000 Fahrzeuge und ist damit um mehr als die Hälfte der heutigen Größe geschrumpft. ÖPNV: Der schienengebundene Personennahverkehr bildet nach wie vor das Rückgrat des ÖPNV, Netz und Kapazitäten werden weiter ausgebaut. Mit dem Einsatz von Ride-Sharing-Fahrzeugen im großen Stil verschwimmt jedoch die Grenze zwischen ÖPNV und (privatem) Pkw- Verkehr zunehmend: Fahrtwünsche von Nutzern laufen ebenso beim Verkehrsverbund KVV zusammen wie die Disposition und Routenplanung der kleinen Shuttle-Busse. Diese ersetzen den bisher stark linienorientierten Busverkehr weitgehend und bilden damit ein kostengünstigeres und flexibleres Angebot des ÖPNV. Parken: Mit der Halbierung der Fahrzeugflotte geht eine massive Entlastung des öffentlichen Raums vom ruhenden Verkehr einher, was Spielräume für dessen Transformation schafft. Im Szenario „Sharing“ werden außerdem Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte 210 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 zahlreiche private Stellplätze entbehrlich. Dies führt zu einer Renaissance der Quartiersgaragen, die den öffentlichen Raum zusätzlich vom ruhenden Verkehr entlasten können: In den Garagen werden auch weitere Dienstleistungen für das Quartier angelagert, zum Beispiel Paket-Abholstationen, Kioske sowie Leihstationen für Lastenräder und andere Geräte, die der Einzelne nur selten braucht. Die multifunktionalen Quartiersgaragen dienen damit auch als Mobilitätshubs in den Quartieren und als Haltestelle für die Ride-Sharing-Services. Öffentlicher Raum: Damit ergeben sich große Chancen für den öffentlichen Raum: Neben der Möglichkeit zur Entsiegelung, Begrünung und Klimaanpassung entstehen auch multifunktionale Seitenstreifen am Fahrbahnrand, auf denen mit unterschiedlicher Priorität oder zeitlich gestaffelt für verschiedene Nutzungen zur Verfügung stehen: Als Fläche für Aufenthalt und gemeinschaftliche Aktivität, als Ladefläche, als befristete Parkfläche für Liefer- oder Handwerkerdienste oder als Haltestelle für Ride-Sharing-Shuttles beziehungsweise als Kurzzeitstellplatz für Car-Sharing-Fahrzeuge. Abbildung 5: Querschnittsaufteilung der Kaiserallee im Szenario „Sharing“ Nutzung Parken Kfz ÖV Rad Fuß Grün Anteil 11 % 17 % 18 % 19 % 36 % 10 % Tabelle 4: Anteil der Verkehrsflächen nach Verkehrs- und Nutzungsarten Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 211 Abbildung 6: Klauprechtstraße Karlsruhe, heute bzw. im Szenario „Trend“ (Foto und Rendering: [6]) Ergebnisse: Mit der im Szenario „Sharing“ möglichen Transformation des öffentlichen Raums werden Straßen wieder zu Lebensräumen. Aus ehemals für die parkenden Fahrzeuge versiegelten Flächen werden versickerungsfähige Grünstreifen im Sinne der Klimaanpassung. Sie gliedern den Straßenraum, sie nehmen bei Starkregen Wasser auf und kühlen bei Hitze durch Verdunstung. Bäume spenden Schatten im Sommer. Die Modellierung der Verkehrsleistung in AutoRICH ist noch nicht abgeschlossen. Wir rechnen jedoch mit ähnlichen Ergebnissen wie Friedrich (2019), der in seinem Szenario mit SPNV und Ride-Sharing-Flotte einer Reduzierung auf ca. 63% erreichte. Damit verbunden sind Entlastungen von Emissionen, Trennwirkung und Gefährdungspotenzial im Straßenverkehr. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht ist das Szenario „Sharing“ alternativlos. Abbildung 7: Klauprechtstraße Karlsruhe im Szenario „Sharing“ (Foto und Rendering [6]) 4. Ausblick: Diese Veränderungen werden sich nicht von heute auf morgen vollziehen, ein tatsächlicher Umbau der Stadt wird auch in 20 Jahren noch nicht abgeschlossen sein. Aber es wird deutlich: Das autonome Fahren bietet die Chance zu einem ökologischen Stadtumbau und zu einer Mobilität, die nicht mit Verzicht verbunden ist. Es bietet sich die Chance zu einer Ausgestaltung lebenswerter Städte, in denen der öffentliche Raum für neue Nutzungen (zurück-)erobert wird. Digitalisierung und Infrastruktur bedeuten also zusammen betrachtet weit mehr als nur die Digitalisierung der Infrastruktur. Diese hat bereits begonnen, ebenso die Digitalisierung der Mobilität. Beide Prozesse wirken zusammen und bergen enorme Chancen, aber auch Risiken. Beide zeigen sich deutlich an den Szenarien im Rahmen von AutoRICH. Um die Chancen zu nutzen, muss der Umbau der Infrastruktur aber bereits heute und im öffent- Wie autonomes Fahren die Straßen der Städte verändern könnte 212 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 lichen Raum beginnen - auch wenn noch keine autonom fahrenden Fahrzeuge unterwegs sind. Literatur [1] „Mobilitäts-Mix als Lösung“ in: https: / / www.bosch.com/ de/ stories/ wirtschaftlicheauswirkungen-autonomen-fahrens/ , Abruf vom 24.04.2021 [2] Forschungsprojekt AutoRICH, Autonomes Fahren - Risiken und Chancen für die Städte, gefördert im Rahmen des Förderprogramms Smart Mobility durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Baden-Württemberg. Beteiligt: Hochschule Karlsruhe, Technik und Wirtschaft, Karlsruher Institut für Technologie, Koehler & Leutwein GmbH & Co KG, Fraunhofer IOSB, Prof. Dr. Wilko Manz, Kaiserlautern. [3] vgl. Klein, T. A., & Altenburg, S. (2019). Autonomes Fahren—Steuern oder überrollt werden? Straßenverkehrstechnik, 03/ 2019, 166-174, Seite 168 [4] Bazilinskyy, P., Kyriakidis, M., Dodou, D., & de Winter, J. (2019). When will most cars be able to drive fully automatically? Projections of 18,970 survey respondents. Transportation Research Part F: Traffic Psychology and Behaviour, 64, 184-195, https: / / doi.org/ 10.1016/ j.trf.2019.05.008 [5] Friedrich, M., Hartl, M. (2016) MEGAFON - Modellergebnisse geteilter autonomer Fahrzeugflotten des öffentlichen Nahverkehrs, Stuttgart [6] Straßenschnitte und Rendering: Lisa Matzdorff