eJournals Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur 1/1

Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur
dtv
2748-9213
2748-9221
expert verlag Tübingen
61
2021
11

smartBRIDGE Hamburg – prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings

61
2021
Christof Ullerich
Marc Wenner
Martin Herbrand
Zyklische, handnahe Inspektionen nach DIN 1076 [1] bilden die Datenbasis für die Instandhaltungsplanung unserer Ingenieurbauwerke, die Berechnung von Zustandsnoten erfolgt dabei auf Grundlage erkannter Schäden. Die Dokumentation der Prüfung erfolgt überwiegend im Programmsystem SIB-BW. Das System sorgt für einen vergleichsweise einheitlichen Bewertungsstandard und ermöglicht in begrenztem Umfang retrospektive und prospektive Betrachtungen für die Instandhaltungsplanung. Neuere Entwicklungen wie BIM oder die in anderen Wirtschaftszweigen etablierte kontinuierliche, sensorbasierte Zustandserfassung bleiben bislang konzeptionell unberücksichtigt. Vor dem Hintergrund der digitalen Transformation stellt sich die Frage, wie sich die etablierte manuelle und die digitale Zustandsbeurteilung sowie BIM generierte Daten in eine durchgängige digitale Prozesskette integrieren lassen und welcher Nutzen sich so generieren lässt. Die Hamburg Port Authority (HPA) hat daher das Projekt „smartBRIDGE Hamburg“ initiiert, das prototypisch, anhand der Köhlbrandbrücke in Hamburg das Konzept des digitalen Zwillings pilotiert. Der digitale Zwilling dient dazu BI-Modell sowie analoge und elektronische Zustandserfassung konzeptionell zu vereinigen und die über mehrere Schichten aggregierten Daten unterschiedlichsten Nutzergruppen bedarfsgerecht bereitzustellen. Der Beitrag stellt Prämissen und Grundüberlegungen zur Projektinitiierung vor. Er wurde bereits in der Zeitschrift „Bautechnik“ Ausgabe 2/2020 veröffentlicht [2].
dtv110237
1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 237 smartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings Dipl.-Ing. Christof Ullerich Hamburg Port Authority AöR, Hamburg, Deutschland Dr.-Ing. Marc Wenner MKP GmbH Marx Krontal Partner, Hannover, Deutschland Dr.-Ing. Martin Herbrand WTM Engineers GmbH, Hamburg, Deutschland Zusammenfassung Zyklische, handnahe Inspektionen nach DIN 1076 [1] bilden die Datenbasis für die Instandhaltungsplanung unserer Ingenieurbauwerke, die Berechnung von Zustandsnoten erfolgt dabei auf Grundlage erkannter Schäden. Die Dokumentation der Prüfung erfolgt überwiegend im Programmsystem SIB-BW. Das System sorgt für einen vergleichsweise einheitlichen Bewertungsstandard und ermöglicht in begrenztem Umfang retrospektive und prospektive Betrachtungen für die Instandhaltungsplanung. Neuere Entwicklungen wie BIM oder die in anderen Wirtschaftszweigen etablierte kontinuierliche, sensorbasierte Zustandserfassung bleiben bislang konzeptionell unberücksichtigt. Vor dem Hintergrund der digitalen Transformation stellt sich die Frage, wie sich die etablierte manuelle und die digitale Zustandsbeurteilung sowie BIM generierte Daten in eine durchgängige digitale Prozesskette integrieren lassen und welcher Nutzen sich so generieren lässt. Die Hamburg Port Authority (HPA) hat daher das Projekt „smartBRIDGE Hamburg“ initiiert, das prototypisch, anhand der Köhlbrandbrücke in Hamburg das Konzept des digitalen Zwillings pilotiert. Der digitale Zwilling dient dazu BI-Modell sowie analoge und elektronische Zustandserfassung konzeptionell zu vereinigen und die über mehrere Schichten aggregierten Daten unterschiedlichsten Nutzergruppen bedarfsgerecht bereitzustellen. Der Beitrag stellt Prämissen und Grundüberlegungen zur Projektinitiierung vor. Er wurde bereits in der Zeitschrift „Bautechnik“ Ausgabe 2/ 2020 veröffentlicht [2]. Cyclic inspections by hand according to DIN 1076 [1] are the basis for planning maintenance and repair measures for our engineering structures. The calculation of condition ratings is performed based on detected deficiencies. The documentation of the inspection is done primarily within the program system SIB-BW. The system offers a comparably uniform rating standard and enables a limited retrospective and prospective view for maintenance planning. New developments like BIM or continuous, sensor-based monitoring, which is established in other branches, are not yet conceptually integrated. In light of the digital transformation the question arises how the well established manual and the digital assessment as well as BIM generated data can be unified within one continuous process chain and which benefits can by created by doing so. Therefore, the Hamburg Port Authority (HPA) has initiated the “smartBRIDGE Hamburg” project which prototypically tests the concept of the digital twin using the Koehlbrandbruecke in Hamburg. The digital twin is used to conceptually unify the BI-model as well as analogue and electronic assessment data and to provide aggregated data in a form that meets the needs of different user groups. This paper presents premises and basic considerations prior to project initiation. It has already been published in the journal “Bautechnik” in issue 2/ 2020 [2]. 1. Intention Ausgangspunkt der Initiative ist die Überlegung, die Datengrundlage für Prognostik im Sinne „Was wird wann passieren? “ (prädiktive Instandhaltung) zu verbessern, indem man den zyklischen Informationsfluss (Bauwerksprüfung) durch einen kontinuierlichen (Sensorik) ergänzt. Die klassische Erhaltungsplanung ist primär reaktiv. Prädiktive Instandhaltung ist aus Sicht eines Infrastrukturbetreibers wie der Hamburg Port Authority (HPA) wünschenswert, denn durch kontrollierte Schadensentwicklung und anschließend kontrollierte Alterung werden Maßnahmen potenziell besser plan-, steuer- und koordinierbar. Gleichzeitig kann der Ressourceneinsatz optimiert und nachhaltiger gestaltet werden, was letztlich eine bessere Verfügbarkeit und weniger Verkehrsstörungen verspricht. smartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings 238 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Abbildung 1: Köhlbrandbrücke Hamburg (hpa-Bildarchiv: Martin Elsen) Diese Aspekte kommen besonders zum Tragen, wenn es schon Defizite gibt, deren Parameter es kontinuierlich zu überwachen gilt. Die HPA beschäftigt sich sehr intensiv mit der Optimierung ihrer Instandhaltungsstrategie, denn das gewachsene, multimodale Verkehrsnetz des Hafens muss täglich erhebliche Verkehrsmengen bewältigen. Im bereits hoch ausgelasteten Verkehrsnetz des Ballungsgebietes Hamburg sind Kompensationsreserven rar, folglich verursachen Erhaltungsmaßnahmen, Ersatzneubauten und Havarien heute nahezu immer schwere Störungen im Verkehrsfluss. Hafenwirtschaft, Sondertransporte, Spediteure und Pendlerverkehr erwarten jedoch eine durchgängig hohe Leistungsfähigkeit und Verfügbarkeit der Infrastruktur. Neben dem Status Quo gilt es die zukünftige Entwicklung zu berücksichtigen: Der Individualverkehr und das Transportgewerbe stehen in der nächsten Dekade vor gewaltigen Veränderungen. Stichworte sind hier Mobilität als Service, autonome Mobilitäts- und Transportplattformen sowie die Kommunikation von Fahrzeugen mit infrastrukturellen Einrichtungen (C2X). Mobility 4.0 verheißt völlig neue digitale Verkehrsdienstleistungen mit robotischer Effizienz, was potentiell zu bisher unbekannten Nutzungsintensitäten führt. Dass diese Entwicklung kommt ist unstrittig. Wie sie sich konkret darstellt, lässt sich nicht vorhersehen. Vorhersehbar ist jedoch, dass der mit der Entwicklung einhergehende massive Grad der Vernetzung ganz neue Maßstäbe an die Planung, Durchführung und Koordination im Bereich der Bauwerksunterhaltung setzen wird. Im besten Fall gibt es durch die Vernetzung der Transportsysteme mehr systemische Redundanzen, im schlechtesten Fall nur weitere Abhängigkeiten. Von Infrastrukturbetreibern, wie der Hamburg Port Authority (HPA), wird erwartet, dass sie die daraus resultierenden Veränderungen antizipieren und proaktiv strategisch berücksichtigen. 2. Fachliche und allgemeine Einordnung Zum Verständnis des Umsetzungskonzeptes ist es notwendig eine fachliche und allgemeine Einordnung vorzunehmen. Für Ingenieurbauwerke ist seit 1930 die handnahe, zyklische Inspektion nach DIN 1076 [1] (mehrfach überarbeitet) Stand der Technik. Die Dokumentation der Prüfung nach RI-EBW-PRÜ [3] erfolgt meist im Programmsystem SIB- BW, wobei die Struktur und der Umfang der Bauwerksdaten durch die ASB-ING [4] definiert werden. Zusammen mit der RPE-Ing [5] hat Deutschland ein sehr gutes, einheitliches, konzeptionell schlüssiges und bewährtes System zur Erhaltung von Ingenieurbauwerken. Anzumerken und zu beklagen ist in diesem Zusammenhang, dass es kein einheitliches Bauwerksmanagement- System (BMS) gibt. Wie viele anderen Infrastrukturbetreiber wendet auch die HPA die durch den obigen Kanon der Regelungen vorgegebene Methodik an. Vor dem Hintergrund der digitalen Transformation besteht ein hohes Interesse die Prozesse in Richtung einer digitalen Prozesskette zu entwickeln und dabei die Zustandsbeurteilung eng mit dem Erhaltungsmanagement System (EMS) [6] der Hansestadt zu verbinden. Der Beitrag fokussiert dabei die Asset Klasse Brücken und konstruktive Bauwerke. Das Erhaltungsmanagement der Hansestadt kennt eine strategische und eine operative Ebene [Bild 2]. An der Schnittstelle der Ebene werden fachtechnische Daten in finanztechnische Daten transformiert. Das hier behandelsmartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 239 te Thema ist der operativen Ebene zuzuordnen. Es geht um die Bestands- und Zustandserfassung (1) und die Prognostik bzw. daraus abgeleitete Szenarien (2) gemäß [Bild 2]. Der Zweck ist Werterhalt durch ausreichende Investitionen. Erhaltungsziel ist es, einen Bauwerkszustand und eine Tragfähigkeit sicherzustellen, die den regelmäßigen Verkehrsbedürfnissen genügen. Abbildung 2: Elemente des zentralen Unterhaltungsmanagements und Prozess der Operativen Ebene des Erhaltungsmanagements (Quelle: Drucksache 21/ 13592 3. Sensorik Die Durchführung zyklischer Inspektionen (zeit- oder nutzungsabhängig) bildet auch in vielen anderen Wirtschaftsbereichen die Grundlage für Handlungs- und Entscheidungsprozesse im Rahmen des Erhaltungsmanagements. In nahezu allen Bereichen werden diese Inspektionen heute durch automatisierte, sensorbasierte Zustandsbeurteilungen begleitet oder ergänzt. Entsprechende IT-Systeme geben Auskunft zu aktuellen Betriebs- oder Vitalparametern und erzeugen die Datenbasis für Handlungsstrategien. Im Vergleich zum Maschinenbau sind die Assets im Bauwesen und speziell im Brückenbau sehr individuell ausgebildet (Unikate) und von vergleichsweise großer räumlicher Ausdehnung. Im Vergleich zu anderen Geräten des täglichen Gebrauchs sind Bauwerke darüber hinaus für eine sehr hohe Lebensdauer angelegt (>50 Jahre), sodass sich Schäden oft graduell über große Zeiträume entwickeln. Deshalb kann die automatisierte Zustandsbeurteilung heute (und auch weit in der Zukunft) immer nur Teilaspekte einer vollumfänglichen Bauwerksinspektion abdecken und unterstützend funktionieren. Die zyklische Inspektion nach DIN 1076 wird noch viele Jahrzehnte das Kernelement der Zustandsbeurteilung bleiben müssen und die Sensorik wird sich auf Assistenzfunktionen beschränken. Extrapoliert man jedoch die Entwicklung aus anderen Wirtschaftsbereichen ist davon auszugehen, dass Sensorik auch im Bereich der Infrastruktur für Individual- und Netzbetrachtungen zunehmende Verbreitung finden wird. So scheint es durchaus zweckmäßig bei komplexen Bauwerken grundsätzlich eine sensorische Grundausstattung für sensible Bauteile vorzusehen, die dann im Lebenszyklus des Bauwerkes bedarfsgesteuert ergänzt werden kann. Wird diese Ausstattung mit der Erstellung geplant, so wie ein Inspektionskonzept für die Bauwerksprüfung, sind Aufwand und Kosten dafür im Gesamtaufwand marginal. Vorteile sind: • Durch die kontinuierliche Datenerfassung entsteht eine Datenhistorie, mit der sich im Zuge der Inspektion gefundene Schäden plausibilisieren lassen. Die Beurteilung von Schäden (z. B. OSA) kann schneller erfolgen, da bereits Messdaten vorliegen. • Die Datenhistorie ermöglicht es ungestörte oder gestörte Alterungsverläufe zu detektieren und zu verfolgen, was die Grundlage für eine Prognostik ist. • Einflüsse von Nutzungsänderungen oder Sondernutzungen (Schwertransporte, Überladung, Verkehrslenkungsmaßnahmen) können verfolgt werden. • Durch die kontinuierliche Überwachung von maßgebenden Stellen wird die Bauwerksprüfung der überwachten Defizite (Sonderprüfung) entlastet. • Die Wirksamkeit von Kompensationsmaßnahmen kann überwacht bzw. individualisiert werden. • Aus den Daten können zusätzliche Dysfunktionen, Schäden oder kritische Entwicklungen von Schäden erkannt werden, die im Zuge einer Inspektion zu begutachten sind. Aus den Messungen können der Ort und der Zeitpunkt einer erforderlichen Inspektion anlassbezogen definiert werden. smartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings 240 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Abbildung 3: DBV Merkblatt Brückenmonitoring Klassisches Monitoring [7] [Bild 3], wie wir es heute im Bereich der Infrastruktur betreiben, ist primär reaktiv oder anlassbezogen: Monitoring wird eingesetzt, wenn das Problem da ist. Der Gedanke kontinuierlicher Zustandserfassung über Sensorik im gesamten Lebenszyklus ist bisher kaum etabliert. Folglich gibt es auch keinen übergreifenden Standard (wie z.B. für Streckenstationen) oder einen konzeptionellen Rahmen (z. B. Digitaler Zwilling), in den sich entsprechende Systeme einfügen. Die Wertschöpfung aus den Daten bleibt mangels durchgängiger digitaler Prozesse auf der Fachebene [Bild 4] stecken. Es gibt bereits seit längerem unterschiedlichste Bestrebungen automatisierte Zustandsbeurteilung von Brückenbauwerken zu realisieren. Insbesondere die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) widmet sich dem Thema in einem 2011 aufgelegten Projektcluster „Intelligente Brücke“ [8] und hat hier unschätzbare Grundlagenarbeit geleistet. Abbildung 4: Wertschöpfung aus Daten Das Projekt „smartBRIDGE Hamburg“ identifiziert sich ausdrücklich mit den dort vorgestellten Zielen. Gegenüber dem primär forschungsgetriebenen Projektcluster verfolgt „smartBRIDGE Hamburg“ einen agilen, operativ getriebenen Ansatz. 4. BIM In Deutschland wurde die Einführung der digitalen Arbeitsmethode Building Information Modeling (BIM) für Infrastrukturprojekte durch das BMVI festgeschrieben. BIM ist eine Planungsmethode, deren Ergebnis ein physisches Objekt und eine digitale Repräsentanz in Form eines bauteilkatalogbasierten Modells ist. smartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 241 Abbildung 5: BIM Anwendungsfall sensorische Planung Je nach Level of Detail (LOD) bildet dieses Modell das Bauwerk mehr oder weniger detailliert ab. Nach Fertigstellung werden die Daten mit dem Bauwerk an den Betrieb übergeben. Zwangsläufig stellt sich die Frage, wie diese hochwertigen und aufwendig erstellten Datenmodelle in der Bauwerkserhaltung effizient und sinnvoll genutzt werden können. Leider ist festzustellen, dass das Know-how darüber, welche Daten langfristig im Betrieb gebraucht werden und wie diese fachgerecht aufzubereiten sind, selten vorhanden ist. Ohne einen regulatorischen Rahmen ist zu befürchten, dass BIM bei vielen Infrastrukturbetreibern nicht als Digitaler Zwilling, sondern als Datenmüll endet. Die HPA pilotiert daher neben den klassischen Anwendungsfällen (Planung und Durchführung von Grundinstandsetzung sowie Rückbau) die Möglichkeiten zur Schadensvisualisierung am Modell. Für den Anwendungsfall ist zur Zeit überwiegend Handarbeit erforderlich ein typisches Beispiel für eine unvollständige digitale Prozesskette. Wünschenswert wäre eine Integration von BIM in SIB-BW oder zumindest eine Schnittstelle von SIB-BW zu BIM, die einen direkten Schadensimport aus dem SIB-BW Programmsystem zulässt. Für den Bereich der Ingenieurbauwerke sollte dies nicht schwerfallen, da die Bauteil-Taxonomie durch die ASB-Ing vorgegeben ist. Die Vorteile wären jedoch vielfältig, u. a.: genaue Ortung der Schäden, zeitliche Verfolgung der Schadensentwicklung, Vernetzung der Schäden nach Ort und Kategorie und Ermöglichung einer detaillierten Analyse. Im Kontext des Projektes wird das BI-Modell für den Anwendungsfall der sensorischen Planung [Bild 5] und Dokumentation verwendet. Ergänzend wird das BI-Modell [Bild 6] so aufbereitet und konvertiert, dass es als Benutzerschnittstelle des Digitalen Zwillings und zur Visualisierung des Zustands-Status nutzbar ist. Dies ermöglicht es für verschiedene Nutzergruppen einen intuitiv nutzbaren Zugang zu den Daten bereit zu stellen. Die erwähnte Transformation ist erforderlich, da das aktuelle Datenmodell von BIM für diesen Anwendungsfall nicht direkt nutzbar ist. Abbildung 6: Modell zur Visualisierung am Bauwerk (aus BI-Modell abgeleitet) smartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings 242 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 5. Digitaler Zwilling Ein Digitaler Zwilling ist eine digitale Repräsentation bzw. eine aktive, dynamische Simulation, die alle Daten und die damit gespeisten Modelle vereint. Der Digitale Zwilling aktualisiert sich selbst, wobei er unterschiedlichste Ressourcen (Services) nutzt, um sein reales Gegenstück möglichst genau repräsentieren zu können. Der Begriff ist unspezifisch, wie z. B. „Lebewesen“, welcher vielfältige individuelle Ausprägungen kennt. Letztendlich ist ein digitaler Zwilling das, was man daraus macht. Seine Detaillierung und seine Ausstattung (Sensorik, Analytik, Geometrie- und Simulationsmodelle) richten sich, ähnlich wie die Level of Detail (LOD) bei BIM, nach dem Anwendungsfall. Ein digitaler Zwilling kann sich aus mehreren digitalen Zwillingen zusammensetzen und digitale Zwillinge lassen sich vernetzen. Dies ist eine sehr wichtige Eigenschaft für Infrastrukturbetreiber. Denn Infrastrukturbetreiber möchten nicht nur einzelne Objekte analysieren dies ist primär die Sicht der operativen Ebene. Auf der strategischen Ebene besteht vielmehr der Bedarf nach Netzanalysen oder Analysen von Asset-Klassen, was sich über vernetzte Zwillinge realisieren lässt. Ein weiterer Aspekt ist die Fähigkeit verschiedene Informationen in einem einheitlichen Format zu repräsentieren. Im betrachteten Kontext wäre das z. B. der Zustands- Status eines Brückenbauwerkes. Zuvor muss natürlich die Analyse der Daten erfolgen, um den aktuellen Status zu ermitteln. Um ihr Gegenstück aus der realen Welt im Sinne von Verhalten korrekt zu beschreiben, werden Algorithmen benötigt. Meist handelt es sich dabei um Simulationsmodelle, die die Eigenschaften und das daraus resultierende Verhalten des digitalen Zwillings simulieren. Ein BI-Modell ist kein digitaler Zwilling, denn ein digitaler Zwilling ist ein dynamisches, vernetzungsfähiges Modell eines Assets und besitzt Kopplung zur realen Welt [Bild 7]. BI-Modelle sind statische Modelle, die sich ohne manuelle Eingriffe (händische Modellpflege) nicht ändern, sie lassen sich nicht vernetzen. BIM ist nicht für betriebliche Echtzeitreaktionen ausgelegt, was die Nutzbarkeit im Kontext des Unterhaltungsmanagements einschränkt. Es gibt daher Bestrebungen die Capability Map von BIM zu erweitern. Die Abgrenzung zwischen BIM und Digitalem Zwilling verdeutlicht, dass der Digitale Zwilling ein (dezentrales) Metakonzept ist und BIM sowie sensorische und manuelle Zustandserfassung nur eine Teilmenge dieses Konzeptes sind. 6. Ingenieurbauwerke als Digitaler Zwilling Vor dem Hintergrund des Netzgedankens ist ein Einzelbauwerk, wie eine Brücke, nur ein Datenpunkt im Verkehrsnetz, dessen Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit (allg. Status) es zu berücksichtigen gilt. Brücken kommt eine besondere Bedeutung zu, da sie Zwangspunkte für den Verkehrsfluss darstellen und i. d. R. nicht ohne weiteres ertüchtigt oder ersetzt werden können. Die Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit von Streckenabschnitten oder ganzer Teilnetze hängt ggf. von wenigen Einzelbauwerken ab. Abbildung 7: Schema Interaktion digitaler und realer Zwilling smartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 243 Das Konzept des digitalen Zwillings [Bild 7] ist als konzeptioneller Rahmen sehr attraktiv, da es ausreichend groß und flexibel ist, um BIM, die etablierten Prozesse der Zustandsbeurteilung nach DIN 1076 und automatisierte Zustandserfassung (Sensorik) zu vereinen. Das Konzept ist auch mächtig genug, um Simulationen, Schädigungs- und Strukturmodelle (z. B. FEM, Probabilistik) sowie Erhaltungsstrategien (RPE-Ing) zu integrieren. Dennoch kann man sich fragen, ob ein dynamisches Modell im Ingenieurbau sinnvoll und zweckmäßig ist. Um diese Frage positiv zu beantworten, muss man einige Prämissen bejahen: • Es besteht der Anspruch die Verfügbarkeit und Leistungsfähigkeit (Status) von Einzelbauwerken, Teil- oder Gesamtnetzen ad hoc beurteilen zu können. • Es besteht der Anspruch netzweite Analytik (AI/ ML) und / oder Simulationen (Prognostik) auf Basis einer starken Datensammlung / Datenhistorie durchzuführen. • Es besteht der Anspruch den gesamten Lebenszyklus und den Zustandsverlauf (Stichwort RPE-Ing und Instandhaltungsstrategie) von Einzelbauwerken aber vor allem auch des Gesamtnetzes dynamisch verfolgen und prognostizieren zu können. • Es besteht der Anspruch dies über eine möglichst durchgängige und damit effiziente digitale Prozesskette zu realisieren, um die strategische und die operative Ebene des Erhaltungsmanagement möglichst nahtlos digital zu verbinden Aus obigen Prämissen lassen sich im Kontext technologische Bedarfe ableiten: 1. Systeme zur automatisierten Zustandserfassung und -überwachung, welche die etablierten Beurteilungs- und Inspektionsprozesse nach DIN 1076 unterstützen, ergänzen oder integrieren. 2. Leistungsfähige Techniken, die es den Infrastrukturbetreibern und Eigentümern ermöglichen ad hoc den Bauwerksstatus oder Netzstatus zu bewerten und zu visualisieren. 3. Tools, die den Baulastträger beim Lebenszyklus-Lebenszyklus Management (ASB-ING) unterstützen. Punkt eins formuliert den hardwareseitigen Bedarf (Sensorik und intelligente Bauteile) und lässt sich heute nur begrenzt befriedigen, wir stehen hier am Anfang der Entwicklung. Der in Punkt zwei formulierte Bedarf kann mit den heutigen Techniken zur Visualisierung nahezu vollständig bedient werden, auch wenn BI-Modelle leider (noch) nicht als Datenbasis direkt verwendet werden können. Zu Punkt drei gibt es z. B. in [3 und 5] Ansätze, die die Möglichkeit einer softwaretechnischen Umsetzung bieten. 7. smartBRIDGE Hamburg Inhalt des Projektes [Bild 8] ist die Erstellung eines Großdemonstrators mit dem Schwerpunkt auf sensorischer Zustandserfassung. Die erfassten Daten werden anschließend in den fachbezogenen Kontexten verarbeitet und ausgewertet. Dieser Auswertungsprozess verläuft kaskadierend über mehrere Stufen mit dem Ziel einer fachlichen Bewertung und einer abschließenden Abstraktion auf die Stufe von Kennzahlen (Condition Indicators). Die Zustandskennzahlen (Condition Indicators) ermöglichen es Dritten (in der Regel keine Fachleute) einen schnellen Überblick über den Zustand des Bauwerks zu gewinnen. smartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings 244 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 Abbildung 8: smartBRIDGE Hamburg Globalziel ist es dabei, die aktuell vorhandenen, technologischen Möglichkeiten zur Bauwerksüberwachung und Zustandserfassung in einem breiten Spektrum zu erproben und eine Methodik zu entwickeln diese in Kennzahlen zu abstrahieren. Die Systemarchitektur soll so ausgelegt sein, dass ein modulares, adaptives und massiv skalierbares System zur integralen Bauwerksüberwachung entsteht. Gegenüber klassischen Monitoringsystemen, die primär problembezogen konzipiert werden und bei denen die Datenauswertung auf Fachebene endet, grenzt sich das Projekt „smartBRIDGE Hamburg“ durch sein Metakonzept (Digitaler Zwilling) ab: „smartBRIDGE Hamburg“ integriert klassisches Monitoring, geht jedoch konzeptionell und in der strategischen Zielsetzung deutlich darüber hinaus. Das gewünschte Ergebnis ist eine 360 Grad Sicht auf das Bauwerk, sowohl auf visueller als auch auf bautechnischer Ebene. Die in den jeweiligen Handlungsfeldern [Bild 9] zu instrumentierenden Subsysteme sind somit nur ein Teilaspekt der Projektzielsetzung. Abbildung 9: Handlungsfelder und Anwendungsfälle Das Ziel ist Reduktion von Komplexität und eine intuitive und transparente Informationsbereitstellung für einen möglichst breiten Nutzerkreis. Konkret handelt es sich um die Öffentlichkeit, Eigentümer oder Entscheider, die mit hochaggregierten Daten arbeiten. 8. Ausblick Das Thema Digitaler Zwillinge ist nicht so neu wie es ggf. scheint. Wir alle besitzen schon einen mehr oder weniger gut ausgestatteten Digitalen Zwilling im Internet. Durch unsere Interaktionen mit dem Netz (Handy, SuchsmartBRIDGE Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings 1. Fachkongress Digitale Transformation im Lebenszyklus der Verkehrsinfrastruktur - Juni 2021 245 anfragen, Onlinekäufe, Navigation, Fitnesstracker und soziale Medien) speisen wir mehr oder weniger intensiv und permanent unser digitales Ich. Erweitert und zentralisiert man diesen Datenbestand um Daten aus anderen Bereichen (Krankenkasse, Rentenkasse, Versicherung, Bankdaten, Arbeitgeber) erhält man eine eindrucksvolle digitale Repräsentation der eigenen Person. Verknüpft mit mächtigen Analysewerkzeugen (KI / Statistik) ergeben sich nahezu unbegrenzte Möglichkeiten. Was mit Blick auf den Datenschutz unbedingt zu verhindern ist, ist in der unbelebten Welt der Produkte und Assets durchaus wünschenswert. Per se wird diese Entwicklung dort getrieben, wo Daten erzeugt werden und einen hohen Wert darstellen, denn der digitale Zwilling entsteht durch Datenaustausch mit seinem realen Konterpart. Mobility 4.0 wird daher das Zentrum der Entwicklung sein. Als Infrastrukturbetreiber möchte die HPA diese Entwicklung frühzeitig aufgreifen und aktiv mitgestalten, indem vorhandenes Fachwissen genutzt und in neue, innovative Prozesse transformiert wird. Diese Transformation gilt es nachhaltig zu gestalten, also Innovation nicht um ihrer selbst willen zu betreiben, sondern am Bedarf auszurichten. Das Projekt „smartBRIDGE Hamburg“ fühlt sich diesem Gedanken verpflichtet. Literatur [1] DIN 1076 (1999): Ingenieurbauwerke im Zuge von Straßen und Wegen - Überwachung und Prüfung. Stand Nov. 1999, Beuth Verlag GmbH, Berlin [2] Ullerich, C., Grabe, M., Wenner, M., Herbrand, M. (2020): smartBridge Hamburg - prototypische Pilotierung eines digitalen Zwillings, Bautechnik 97 H. 2, S. 118-125, Verlag Ernst & Sohn [3] RI-EBW-PRÜF (2017): Richtlinien für die Erhaltung von Ingenieurbauten (RI-ERH-ING) - Richtlinie zur einheitlichen Erfassung, Bewertung, Aufzeichnung und Auswertung von Ergebnissen der Bauwerksprüfungen nach DIN 1076. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur [4] ASB-ING (2013): Anweisung Straßeninformationsbank Segment Bauwerksdaten, Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung, Abteilung Straßenbau [5] RPE-ING (2019): Richtlinie für die Planung von Erhaltungsmaßnahmen an Ingenieurbauwerken. Entwurf [6] Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft: Drucksache 21/ 13592, Grundsätze des Erhaltungsmanagements der Freien und Hansestadt Hamburg [7] DBV-Merkblatt „Brückenmonitoring“, Fassung August 2018, Deutscher Beton- und Bautechnik- Verein e.V., Berlin 2018 [8] Bundesanstalt für Straßenwesen (2018) Intelligente Brücke [online]. [Zugriff am: 28. Okt. 2019]. https: / / www.intelligentebruecke.de/ ibruecke/ DE/ Home/ home_node.html